Roswitha Fröhlich
Mias Geheimnis
Eine Kindergeschichte
Bilder von Stolle Wulfers
Rowohlt
rororo rotfuchs Her...
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Roswitha Fröhlich
Mias Geheimnis
Eine Kindergeschichte
Bilder von Stolle Wulfers
Rowohlt
rororo rotfuchs Herausgegeben von Renate Boldt und Gisela Krahl
Originalausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, Juni 1985
Copyright © 1985 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Umschlagillustration Stolle Wulfers
rotfuchs-comic Jan P. Schniebel
Umschlagtypographie Manfred Waller
Alle Rechte vorbehalten
Satz Garamond (Linotron 202)
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
580-ISBN 3-499-20394-4
Erklärung Bevor ich anfange, möchte ich eine Erklärung abgeben: Jawohl, ich habe die Kette genommen, und ich habe auch den Brief von M. und die betreffenden Sätze in Esthers Notizbuch gelesen, und ich habe vorübergehend hinterher kurz gelogen, was ich sonst nicht tue. Falls jemand denkt, ich tue es immer, so irrt er sich. Um dies nachzuweisen, habe ich mir geschwo ren, alles ganz genau zu erzählen und die volle Wahrheit zu sagen. Mia Mischke Holzangerweg 6 PS: Was mit dem Vogel und mit dem untersten Schrankfach los war, kann ich nicht genau sa gen. Jedoch bin ich der Meinung, daß man sich so was nicht einbilden kann.
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Wie alles angefangen hat
Esther sagt, das sei damals alles nur Einbildung von mir gewesen - also das mit dem Vogel und allem anderen. Und dabei weiß ich genau, daß es mit Einbildung überhaupt nichts zu tun hatte, sondern nur mit Esthers Verbotsschild, oder mit ihrer Geheim schublade, wie man's nimmt. Denn wenn Esther mich einfach in ihr Zimmer hineingelassen hätte, ohne den Extra-Hinweis, hätte ich hinterher nicht die Rachezettel und Drohtelegramme erhalten, und ich hätte es überhaupt nicht nötig gehabt, mich wegen der ganzen Sache so aufzuregen. Doch nun der Reihe nach: Angefangen hat es an diesem Dienstag morgen im vergangenen Juli, als alle Leute schon verreist waren und Jan und Esther plötzlich unbedingt zu Oma Wuppertal wollten, weil sie keine Lust zum Wandern hatten. Ursprünglich hatten wir nämlich vor, zu fünft in den Schwarzwald zu fahren, zum Pilzesuchen, und ich hatte mich schon darauf gefreut. Und dann sind Jan und Esther plötzlich auf die Idee gekommen, daß Pilzesuchen das Langweiligste von der Welt sei, und sie haben sich einfach bei Oma Wuppertal angemeldet. Natürlich gab es einen ziemlichen Krach deswegen, weil Jan und Esther sowieso immer so unsportlich sind, findet Vater. Aber das ist eine andere Geschichte und gehört nicht hierher. An diesem Dienstag morgen also haben Vater und 5
Jan bereits unten im Auto gesessen und wie wild gehupt, weil der Zug nach Wuppertal in dreißig Minuten losfahren sollte und Esther immer noch nicht fertig war. Esther ist meistens noch nicht fertig, wenn wir irgendwohin fahren wollen. Sie ist fünfzehn, und in der Pubertät, sagt Jan. Er ist vierzehn. Daß Jan und Esther meine Geschwister sind, brauche ich ja nicht extra zu betonen. Ich war damals neun, heute bin ich fast zehn. Ich heiße Mia, mit Nachnamen Mischke. »Das nächste Mal könnt ihr zu Fuß zum Bahnhof laufen!« sagte Vater, als Esther immer noch nicht erschien. Mutter ist schnell nach oben gerannt, um sie endlich zu holen. Und dann hat man nur noch Ge schrei gehört. »Bist du wahnsinnig geworden?« schrie Mutter. »Selber wahnsinnig!« hat Esther zurückgeschrien. »Mit meiner Tür kann ich machen, was ich will!« »Sieh mal nach, was da los ist«, hat Vater zu mir gesagt, und ich bin hinter Mutter hergerannt. Esther war gerade dabei, mit dem Schuhabsatz einen Nagel in die Tür zu schlagen. Weil es aber ihre neuen Turnschuhe waren, gab der Absatz immer nach, und es hat nicht geklappt. Das Schild war aus weißer Pappe, ungefähr dreißig mal vierzig Zentimeter groß und mit schwarzem und rotem Filzstift beschrieben. Die Aufschrift lautete: BETRETEN STRENGSTENS UNTERSAGT
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Jedenfalls war es das, was ich in der Eile erkennen konnte. Esther hat dann schnell einen Streifen Tesa film genommen und das Schild locker an der Tür befestigt. Dann ist sie wütend vor uns her die Treppe hinuntergehumpelt. Den einen Schuh hatte sie noch in der Hand. Nur Jan, der sich extra den neuen Sturz helm aufgesetzt hatte, winkte uns dann beim Abschied zu und hat sich dabei sogar eine Art Kußhand abge rungen. Mit dem Sturzhelm geht er nämlich sogar ins Bett neuerdings. Esther hat nur immer geradeaus gesehen und sich kein einziges Mal umgedreht, als Vater endlich losgefahren ist. Und dann sind sie bei Reinmillers um die Ecke gebogen, und Mutter und ich waren allein. Mutter war ziemlich deprimiert, glaube ich. »Immer muß zum Schluß so was passieren«, sagte sie und legte den Arm um meine Schulter. »Nur gut, daß wir wenigstens dich noch haben.« »Esther spinnt eben«, tröstete ich sie. »Da kann man nichts machen.« Sie hat dann das Frühstücksgeschirr weggeräumt, und im Haus ist es plötzlich unheimlich still gewesen. Ich habe überlegt, was ich jetzt anfangen könnte. Es ist mir aber absolut nichts eingefallen. Wenn alle anderen schon am Meer oder wer weiß wo sind, kann es entsetzlich öde sein. Gott sei Dank ist Mutter dann auf die Idee gekom men, daß ich schon mal meinen Koffer packen könnte, weil wir ja am Samstag losfahren wollten. Sie hat mir den kleinen grünkarierten Koffer gegeben, 7
und ich bin langsam die Treppe hinauf in mein Zimmer gegangen. Und bei dieser Gelegenheit habe ich Esthers Tür schild näher betrachtet. Esthers Zimmer liegt nämlich direkt neben meinem. Ich war entsetzt, ehrlich gesagt. Außer der Schrift in Druckbuchstaben hat nämlich noch ein Extra-Hinweis für mich drauf gestanden ganz klein, unten in der linken Ecke. Mia! - habe ich entziffert. - Wenn du mein Zimmer betrittst, bist du des Todes! Verstanden?! Wer in meinen Klamotten herumschnüffelt, muß büßen! Ich habe überlegt, ob ich das Verbot einfach sofort übertreten soll, weil ich mir so was nicht bieten lasse. Aber irgendwie hatte ich doch nicht den Mut dazu, obwohl es mir eigentlich zu blöd war, das überhaupt so ernst zu nehmen. Ich habe dann noch eine Weile dagestanden und innerlich den Kopf geschüttelt, sozusagen. Dann bin ich ganz schnell weitergegangen, habe den Koffer vor meinen Schrank gestellt und mit dem Einpacken begonnen. An Esthers Schild habe ich bewußt nicht mehr gedacht. Ich muß sagen, daß ich mich richtig gefreut habe, als mir Polke, Hunstein und Theophil entgegengefal len sind. Ich wußte gar nicht mehr, daß sie immer noch dort im Schrank lagen. Es war das unterste Schrankfach. Ich benutze es eigentlich nur, um alles hineinzustopfen, was mir beim Aufräumen im Weg 8
ist. Ich hatte gerade nach meiner Taschenlampe gesucht, und dabei sind sie zum Vorschein gekom men. Allerdings kamen sie mir jetzt viel kleiner vor als früher und auch längst nicht mehr so vornehm. Jedenfalls was Hunstein und Theophil betrifft. Mit Polke ist das etwas anderes, weil er schon immer das Gegenteil von vornehm gewesen ist. Er ist aus Wolle. Oma Wuppertal hat ihn mir mal gehäkelt. Hunstein gehört zur Puppenstube, die inzwischen auf dem Speicher steht. Und Theophil ist ein Pinguin. Mir fiel ein, daß ich ihn immer in die Badewanne mitgenom men und hinterher mit Badeöl eingerieben hatte. So sah er auch aus. »He, Polke«, flüsterte ich, »auch noch am Leben?« Polke hat gegrinst, weil er sowieso nichts anderes kann als grinsen. Dann habe ich die drei ein bißchen herumhopsen lassen und mit der Taschenkleiderbürste, die ich gerade mit Joki getauscht hatte, saubergebürstet. Vorübergehend kam mir sogar der Gedanke, die drei mit in den Koffer zu packen. Aber dann habe ich mir vorgestellt, was das Zimmermädchen in der Pension Tannengrund für ein Gesicht macht, wenn sie sie auf meinem Bett sitzen sieht, und ich habe sie in den Schrank zurückgelegt. Als ich mein Zimmer wieder verließ, habe ich ge merkt, daß Esthers Tür nur angelehnt war, obwohl ich hätte schwören können, daß sie vorher geschlossen gewesen ist. Ich habe mir aber keine Gedanken darüber gemacht und auch gar nicht erst versucht, in 9
das Zimmer hineinzusehen. Was sollte schon los sein? Vielleicht Fußangeln oder Giftschlangen? Trotzdem ist mir das mit der angelehnten Tür später immer wieder eingefallen. Der restliche Tag ist dann ziemlich langweilig ge wesen. Gegen Abend hat Esther angerufen. Ich habe es aber nicht richtig mitbekommen, weil gerade »Das Höllenriff« im Fernsehen war und ich drüben im Sessel gelegen habe. Nur daß Mutter und sie ziemlich lange miteinander gesprochen haben, habe ich gemerkt. Und daß Mutters Stimme etwas aufgeregt klang. Mutter hat aber gelacht, als sie wieder ins Zimmer kam. »Esther ist wieder normal«, sagte sie, »ich soll dich übrigens schön grüßen.« Mutter hat dann vor sich hingesummt, höchst ver gnügt, und den Abendbrottisch gedeckt. Ich habe mich aber weder um das Tischdecken noch um Esthers Grüße kümmern können, weil der Film gerade so spannend war. Und dann, als Vater schon zu Hause war, ist mir plötzlich schwindlig geworden, und ich habe mich freiwillig vorzeitig in mein Bett begeben. Das tue ich nur, wenn's wirklich nicht anders geht. »Das kommt vom vielen Fernsehen«, sagte Vater. Aber Mutter hat ihm einen ganz empörten Blick zugeworfen. Denn erstens sehe ich gar nicht so viel fern, und zweitens spürt Mutter es immer, wenn man wirklich was hat. 10
Wie es zum erstenmal gespukt hat In dieser Nacht habe ich es dann zum erstenmal festgestellt. Ich meine das mit dem Spuken, oder wie man es nennen will. Aber vielleicht war es ja auch gar kein Spuk, weil ich ja alles wirklich gesehen bezie hungsweise gehört und gefühlt habe. Zum Beispiel den Eilbrief. So was kann man sich doch nicht einbilden. Aber nun der Reihe nach: Ich habe also geschlafen und bin plötzlich wach geworden. Von diesem merkwürdigen Rascheln. Es klang, als ob ich unterm Bett Ratten oder Mäuse hätte. Natürlich habe ich mich zuerst nicht gerührt und mir lauter Beruhigungssprüche eingeredet. Als das Rascheln dann aber immer lauter wurde und überhaupt nicht mehr aufhörte, habe ich meine Nachttischlampe angeknipst und unters Bett gesehen. Und dann habe ich die Zettel entdeckt. Es waren mindestens zwanzig Stück. Die meisten lagen ziemlich weit unten, fast unterm Fußende; zwei lagen direkt dort, wo mein Kopf gerade war, und einer - ein etwas größerer - lag unter meinem Nachttisch. Die Postkartensammlung, die sonst immer dort liegt, war nicht mehr vorhanden. Das Rascheln hat dann wieder aufgehört. Statt dessen war jetzt ein leises Poltern zu hören - ungefähr so, als ob jemand davonschleicht und dabei über verschiedene Gegenstände stolpert. Erst als ich die geöffnete Schrank tür sah, wurde mir klar, daß das Poltern von dort kam. 11
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Die Tür war nur einen Spaltbreit geöffnet - etwa so breit wie meine Faust. Ich habe nur dagelegen und den Atem angehalten. Und dann habe ich die Stimmen gehört. Es waren drei verschiedene Stimmen. Sie kamen aus dem Schrank, wie die Poltergeräusche. Unten, aus dem untersten Fach. Zuerst dachte ich, daß sie mir bekannt vorkommen. Aber als ich genauer hinhörte, merkte ich, daß sie fremd klangen und mich nur an irgendwas erinnerten. Es klang, als ob sie sich zankten. »Idiot!« zischte die erste. »Selber Idiot!« zischte die zweite zurück. Dann folgte eine längere Diskussion, der ich nur einzelne Worte wie »Angeber«, »Schnüffler«, »Lind wurm«, »Feigling« entnehmen konnte. Während sie noch diskutierten, war auch die dritte Stimme zu hören. Sie klang etwas ölig. Ungefähr so wie die von Herrn Schuster, wenn er uns bittet, nicht während der Mittagszeit Rollschuh zu laufen. »Ruhe sei mit euch! Ruhe sei mit euch!« tönte sie, wesentlich lauter als die anderen. Wenn ich vor Schreck nicht halb gelähmt gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich gelacht. Aber natürlich war mir nicht nach Lachen zumute. Im Gegenteil - ich schrumpfte förmlich zusammen vor lauter Angst, die drei dort könnten plötzlich vor mir stehen oder auf meinem Bett weiterdiskutieren. Und dann geschah es: Kaum hatte ich den Gedan 13
ken zu Ende gedacht, wurde die Schranktür mit einem Ruck weiter aufgestoßen, und eine vermummte Gestalt torkelte heraus. Sie sah ungefähr so aus wie der Mann aus Marokko auf Jokis Reiseprospekt, nur viel, viel kleiner. Er rieb sich sein Hinterteil, fluchte etwas Unverständliches vor sich hin und humpelte dann, immer noch fluchend, wieder in das Schrank fach zurück. Die Schranktür wurde geschlossen. Von innen. Wer sie geschlossen hat, konnte ich nicht erkennen, weil man nur die zehn Finger sah, die sie zuzogen. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich die Zettel unter mei nem Bett etwas genauer untersuchen müßte. Und auch, daß ich die vermummte Gestalt eben nach dem Verbleib meiner Postkarten-Sammelmappe hätte fragen können. Aber abgesehen davon, daß es jetzt zu spät dafür war, hätte ich auch gar nicht den Mut gehabt. Im Schrank herrschte jetzt absolute Stille. Ich vergewisserte mich, daß die Tür auch wirklich fest geschlossen war. Dann setzte ich mich neben das Bett und machte mich an die Arbeit. Es waren Geheimbotschaften, soviel stand schon mal fest. Denn schon nach flüchtigem Durchsehen merkte ich, daß kaum etwas auf den Zetteln zu entziffern war. Höchstens die einzelnen roten und schwarzen Buchstaben, die überall als Unterschrift standen. P., H. und TH. konnte ich erkennen. Und auch, daß das eine Rot etwas heller war, schon fast 14
rosa. Ich versuchte es trotzdem mit dem Entziffern und begann mit dem Zettel unterm Nachttisch. Also mit dem größten. Er war mit TH. unterschrieben - das waren schwarze Buchstaben.
konnte ich mühsam zusammenkriegen. Alle Buch staben, die fehlten, waren durch kleine Kreuze ersetzt. Ebenfalls in schwarz. Ich legte den Zettel beiseite und probierte es weiter. Diesmal mit den zwei Zetteln unterm Kopfende. Sie waren mit P. unterschrieben rot. Hier konnte ich etwas mehr erkennen, obwohl die Zettel total verkleckst waren und so aussahen, als seien sie erst mal gründlich zusammengeknüllt worden.
stand auf dem einen. Und auf dem anderen:
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Ich erschrak. »Acht uf dein Uhr«? Was sollte das heißen? Warum sollte ich auf meine Uhr achten? Ob der etwa meine Armbanduhr meinte? Ich bin dann, so schnell ich konnte, aufgesprungen und habe auf meinem Nachttisch nachgeguckt. Die Uhr war weg. Oma Wuppertals neue Arm banduhr. Dann habe ich wie eine Verrückte mit Suchen an gefangen - aber umsonst. Die Uhr war weder in der Schublade noch unterm Kopfkissen, noch unter der Matratze, noch unterm Bett, noch auf dem Bett. Auch unterm Schrank habe ich nachgeguckt. Sogar meinen Koffer habe ich durchwühlt. Aber auch da war nichts zu finden. Ich habe fast geheult vor Verzweiflung. Genau in diesem Augenblick ist dann das Gepolter im Schrank wieder losgegangen. Allerdings blieb diesmal die Schranktür geschlossen. »Idiot!« habe ich wieder gehört. »Idiot, Idiot, Idiot!« Und dann, wie vorher: »Selber Idiot! Selber Idiot! Selber Idiot!« Und wieder die dritte, ölige Stimme dazwischen: »Ruhe sei mit euch! Ruhe sei mit euch! Ruhe sei mit euch!« Ich habe eine Mordswut bekommen, bin zum Schrank hingerannt und habe ihn aufgerissen. Es rührte sich nichts. Nicht einmal ein Rascheln oder Atmen war zu hören. Ich blieb stehen und rührte mich auch nicht. 16
Dann, nach einigen Sekunden, flogen direkt neben mir zwei Filzstifte wie Pfeile durch die Luft und landeten vor meinem Bett. Es folgten mein alter Radiergummi, zwei Fotos von Jan und Esther, ein Kaugummi, die Taschenlampe, ein zerfleddertes Mickymausheft, das Gesangbuch von Oma Wuppertal, ein paar Farbnäpfchen aus dem Tuschkasten und mein ausgedienter Tintenkuli. Zum Schluß flog mir auch noch das Schönschreibheft entgegen, aus der ersten Klasse. Ich erkannte es sofort. Ich wollte mich gerade bücken, um es aufzuheben, als sich jemand auf meinen rechten Fuß setzte - vorne auf die Zehen. Es war wieder die vermummte Gestalt. »Au verdammt!« zischelte sie und rappelte sich auf. »Na warte, du Feigling! Das kriegst du zurück!« Und schon war sie wieder im Schrank verschwunden. Dann folgte wieder Gepolter, als wenn zwei sich verprügelten, dazu wütendes Gezischel und mitten hinein die ölige Stimme. »Aber meine Herren! Aber meine Herren! Auf diese Weise werden wir den Konflikt nie lösen! Ruhe sei mit euch!« Jetzt konnte ich auch das andere Gezischel verste hen: »Sofort gibst du die Uhr zurück, verstanden? Sofort!« »Nur, wenn ich die Postkarten kriege!« kam sofort die Antwort. Ich kniete mich nieder. So also war das! Hier war meine Uhr zu finden! Und die Sammelmappe dazu! »Psst!« machte ich vorsichtig. »Psst!« Keine Antwort. Wieder das absolute Schweigen 17
wie vorher. »Würden Sie bitte so freundlich sein und mir meine Uhr zurückgeben?« fuhr ich fort. »Sie ist ein wertvol les Erbstück!« Wieder nichts. Kein Ton. »Aber so hören Sie doch mal zu!« versuchte ich es zum drittenmal. »Ich kann ohne diese Uhr nicht leben! Sie ist mein ein und alles!« Nichts. Dann, nach ziemlich langer Zeit, hörte ich es rascheln. Jemand kroch mir entgegen und gab mir ein Zeichen. »Schnell! Zur Seite!« flüsterte es dicht neben mir. Ich trat zur Seite, neben meinen Koffer. Dann wußte ich, wer es war. »Polke!« rief ich erleichtert. »Was machst du denn hier?« Polke hielt den Finger vor den Mund. »Leise, habe ich gesagt! Die elenden Schnüffler da drin haben Riesenohren!« Er deutete auf den Schrank und zog mich noch ein Stück weiter. Was dann kam, ging so schnell, daß ich es kaum verstehen konnte. Polke zischelte drauflos, ohne ein einziges Mal Luft zu holen. »Hunstein ist im Besitz deiner Uhr! Wir stehen in Verhandlungen. Wenn die Verhandlungen zu deinen Gunsten ausgehen, wirst du die Uhr morgen früh um sechs Uhr einunddreißig an der gewohnten Stelle wiederfinden. Ende.« »Und was ist mit meiner Sammelmappe?« fragte 18
ich. Aber Polke war schon wieder in den Schrank zu rückgeflitzt. Ich bin wie erstarrt stehengeblieben. Hunstein ist also der Schuft, habe ich gedacht und mich ziemlich darüber gewundert. Hunstein war nämlich früher Haushaltsvorstand. Dann wurde mir auch klar, wem die ölige Stimme gehörte. Theophil natürlich. Die Stimme hatte er schon immer. Also gut - morgen um sechs Uhr einunddreißig, habe ich mich dann beruhigt. Polke wird's schon schaffen. Nur mit den Postkarten, das war verdammt ärgerlich. Wahrscheinlich hatte Polke sie als Pfand zurückbehalten. Mir fiel ein, daß ich die restlichen Zettel noch nicht gelesen hatte, hinten unterm Fußende. Ich habe mich also noch mal neben das Bett gesetzt und angefangen, sie zu entziffern. Sie waren mit H. unterschrieben. Also von Hun stein. Jetzt wußte ich ja, was die Unterschriften zu bedeuten hatten. Es waren lauter blöde Sprüche, genauso unleserlich wie die anderen Zettel.
stand auf dem ersten. 19
Und auf dem zweiten:
Und in dem Stil ging's weiter. Ich habe mich dann nicht mehr um das alberne Geschreibsel gekümmert und wollte mich gerade wieder aufrichten, als ich noch etwas dort liegen sah - ganz hinten schimmerte es mir weiß entgegen. Es war ein Brief, wie ich jetzt sah. Ich angelte ihn hervor. Der Brief war verschlossen und mit drei Mark fünf zig frankiert. Es war ein Eilbrief. Ich suchte nach einem Absender, konnte aber kei nen entdecken. Und dann habe ich den Inhalt studiert. Das heißt, ich brauchte ihn nicht lange zu studieren. Denn alles, was auf dem Blatt feinsten Schreibpapiers stand, war dies:
Sonst nichts. Kein Datum, keine Ortsangabe, keine Erklärung. Ob das E. etwa Esther heißen sollte? Ich steckte den Brief schnell unter mein Kopfkis sen, weil mir gerade nichts Besseres einfiel, und stieg in mein Bett. Am liebsten wäre ich ins Schlafzimmer 20
geflohen, zu den Eltern, weil ich richtig geschlottert habe vor Angst. Ich hätte es auch bestimmt getan, wenn nicht genau in diesem Augenblick noch etwas viel Aufregenderes passiert wäre. Ich hatte die Bettdecke über die Ohren gezogen. Ganz hoch, so daß nichts mehr von mir zu sehen war. Dann - ruck-zuck - hat jemand die Decke weggezerrt, und eine zarte, weiche Hand hat sich auf meine Stirn gelegt. Es war Lady Agatha. Ich habe es ganz deutlich gesehen, obwohl ich, genaugenommen, Lady Agatha gar nicht kenne. Aber sie war es bestimmt. Sie beugte sich über mich und gab mir einen Kuß auf die Stirn. Dann lächelte sie mir zu, machte eine Art segnende Bewegung und wandelte langsam zur Tür zurück. Erst jetzt habe ich gesehen, daß sie über und über mit Schmuck behängt war. Sogar an den Knöcheln, unter ihrem Ballrock, glitzerte und blitzte es wie von Brillanten. Das Licht bei mir im Zimmer brannte noch, hundertfach spiegelte es sich wider, während Lady Agatha durch die Tür nach draußen trat. Ich habe mich aufgerichtet und ihr nachgestarrt. Ich war zugleich begeistert und entsetzt. Der Prinz de Rosa fiel mir ein. Ob Lady Agatha sich jetzt mit ihm treffen würde, habe ich überlegt. Dann habe ich mein Licht ausgeknipst und nur noch an den Prinzen de Rosa gedacht. Die Zettel und alles andere Zeug aus dem Schrank habe ich einfach liegenlassen. 21
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Der blauschwarze Vogel, und wie ich in Esthers Zimmer geraten hin Man muß wissen, daß mein Bett direkt am Fenster steht, also mit dem Fußende neben der linken Gardi ne. Vom Kopfende aus, wenn man ganz gerade liegt, kann man eben noch Reinmillers Fernsehantenne und die obere Dachkante beobachten. Und im Sommer natürlich den Nußbaum, der aber schon zu Schusters gehört. Im Winter, wenn die Äste kahl sind, fällt der Baum nicht weiter auf. Im Sommer aber kann es passieren, daß sich dort dauernd etwas bewegt, ohne daß man herausbekommen kann, was es eigentlich ist. Ich erzähle das, damit man das mit dem Vogel ver steht, und warum ich dann trotzdem mein Zimmer verlassen habe, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Aber ich muß mit dem Morgen beginnen. Also - an dem Morgen nach dem merkwürdigen Erlebnis mit Polke und den anderen habe ich zuerst nach meiner Uhr gesehen und festgestellt, daß Polke sein Versprechen gehalten hatte. Die Uhr lag ordent lich auf meinem Nachttisch. Ich habe es etwa um sechs Uhr fünfundfünfzig kontrolliert. Und auch sonst sah alles wieder ziemlich aufgeräumt aus. Jedenfalls konnte ich weder die Sachen, die aus dem Schrank geflogen waren, noch die Zettel unterm Bett entdek ken. Nur die Sammelmappe hat ein Stück weiter 23
hinten gelegen als sonst, aber das kann auch Einbil dung gewesen sein. Und dann ist Mutter gekommen und hat meine Temperatur gemessen. Sie betrug achtunddreißig drei. »Mein Gott, Mia«, hat sie gesagt, »was machen wir denn jetzt? Hoffentlich bist du wieder gesund bis zur Reise!« Sie ist ziemlich verzweifelt gewesen, und ich ei gentlich auch. Weil mir auch wirklich ziemlich schlecht und fiebrig gewesen ist, und weil ich mir vorgestellt habe, daß ich nun womöglich bis zur Abfahrt im Bett bleiben muß. Mutter hat mir dann das Frühstück und die Grippe tropfen gebracht und erzählt, daß sie ausgerechnet heute dringend zum Zahnarzt müsse. Sie könne den Termin nicht verschieben, und ob es mir sehr viel ausmache, trotz des Fiebers zwei, drei Stunden allein zu bleiben. »Natürlich macht es mir nichts aus«, habe ich ge antwortet, obwohl ich Alleinsein, ehrlich gesagt, nicht ausstehen kann. Mutter hat also das Haus verlassen. Es war etwa gegen neun Uhr zwanzig. Ich habe dann versucht, wieder einzuschlafen, und dabei an alles mögliche gedacht. Besonders daran, daß es alle anderen augenblicklich wesentlich besser hatten als ich. Ferdl Reinmiller zum Beispiel war mit seinen Eltern nach Teneriffa geflogen, Scherry Schuster war mal wieder in Italien, und Joki, meine 24
beste Freundin, war bereits seit zwei Wochen in Marokko. Die Postkarte, die sie mir versprochen hatte, war immer noch nicht gekommen. Auch Jan und Esther hatten es besser - das stand fest. Wahrscheinlich ließen sie sich jetzt gerade von Oma Wuppertal das Frühstück servieren, hinten in ihrer Küchenecke. Falls sie nicht noch schliefen, was sehr viel wahrscheinlicher war. Bei Oma kann man sich immer ausschlafen. Außer sonntags, weil sie findet, daß man eigentlich zur Kirche gehen müßte, womöglich noch zum Frühgottesdienst. Oma ist sehr fromm, und ich finde das gut. Überhaupt finde ich katholisch besser als evangelisch, ganz allgemein. Bei uns ist leider nur Vater katholisch, wie Oma. Auch das mit den zusätzlichen Namenstagen, die man dann noch feiern kann, finde ich besser. Obwohl das natürlich nur eine Äußerlichkeit ist und man sowieso nicht viel geschenkt bekommt an diesem Tag. Das weiß ich von Ferdl, der bekommt gar nichts. Und Joki? Die schwamm wahrscheinlich jetzt gera de im Meer oder ließ sich von der afrikanischen Sonne bestrahlen, unter Palmen. Irgendwie habe ich das Gefühl gehabt, daß heute ihre Karte kommen würde. Ich spüre so was meistens. Obwohl - man kann sich natürlich auch täuschen. Mir ist dann auch die vermummte Gestalt von der Nacht wieder eingefallen und überhaupt diese ganze seltsa me Geschichte. Und wer war die Dame, die sich da über mein Bett gebeugt hat? Ob es wirklich diese 25
Lady Agatha gewesen war, die ich mal im Fernsehen gesehen habe? Die mit den vielen Brillanten und den vierzig Leibwächtern, die dauernd gestört haben? Eigentlich hatte ich mich damals über die Geschichte geärgert, weil es immerzu nur um die Brillanten gegangen ist, und immer wenn es spannend wurde und der Geliebte - also dieser Prinz de Rosa - aufge treten ist und man hat gedacht, jetzt küssen sie sich oder so, haben die Leibwächter dazwischengehauen und ihn verjagt, weil sie ihn für einen Brillantendieb hielten. Aber spannend war die Geschichte trotzdem, schon allein wegen der Lady, weil die immer so hochvornehm tat und in Wirklichkeit die Brillanten auch nur geklaut hatte, bei einem Juwelier. Und bis es rausgekommen ist, hat sie ein tolles Leben geführt, und keiner hat was gemerkt. Ich kontrollierte dann noch mal die Zeit. Es waren immer noch nicht mehr als zehn Minuten vergangen, seit Mutter das Haus verlassen hatte. Und dann ist mir Herr Hunkele eingefallen, unser Briefträger. Er ist sehr nett. Er weiß, daß ich die Postkarten sammle. Meistens biegt er gegen zehn Uhr fünfundvierzig hinten bei Reinmillers um die Ecke und ist gegen zehn Uhr achtundvierzig bei uns. Reinmillers - Schusters Mischkes - Krähwinkels. Das ist die Reihenfolge. Ich habe es schon häufiger beobachtet. Ich habe mich dann trotzdem ans Fenster gestellt und auf Herrn Hunkele gewartet, weil er manchmal 26
auch früher kommt. Ich habe die Gedankenübertra gung gemacht, das ist eine Erfindung von Joki und mir. Das geht so: Die Augen fest schließen, die Finger der rechten Hand spreizen und dazu den Übertra gungsspruch leise vor sich hin sagen, mit dem Namen von demjenigen, den man gerade herbeiruft. »Hunke le, Hunkele, komm herfür, trete jetzt durch diese Tür«, habe ich gemurmelt. Aber eigentlich wußte ich schon vorher, daß es nichts nützt, weil Herr Hunkele feste Dienststunden hat. Es geht nur bei Leuten ohne feste Dienststunden. Ich probierte es dann noch einmal, aber auch das nützte nichts, und da habe ich mich wieder ins Bett gelegt. Und dann sah ich den Vogel - oben auf Reinmillers Fernsehantenne. Ich bin erschrocken, irgendwie kam er mir fremdar tig vor. Er war groß, blauschwarz und sah von der Antenne aus direkt zu mir herüber. Jedenfalls schien es mir so, obwohl ich mir natürlich sagte, daß er mich gar nicht durch die Fensterscheibe sehen konnte. Mein Fenster war nämlich geschlossen, wegen der Hitze, und überhaupt. Ich mag keine offenen Fenster, wenn ich allein im Haus bin. Vielleicht spiegelte er sich nur? Aber aus dieser Entfernung? Ich behielt den Vogel genau im Auge. Immer wie der hatte ich das Gefühl, daß sich unsere Blicke begegneten und er mich genauso scharf beobachtete wie ich ihn. Dann, ohne den Kopf zu wenden, öffnete 27
er den Schnabel, und ich hörte ein merkwürdiges Krächzen. Während ich noch darüber nachdachte, was daran so merkwürdig war, flog der Vogel plötzlich auf, und ich konnte gerade noch erkennen, wie er mit weit ausgebreiteten Flügeln im Nußbaum verschwand. Ich habe dann eine Zeitlang ganz still gelegen. Mir war unheimlich zumute. Aber dann sagte ich mir, daß es nur ein ganz gewöhnlicher schwarzer Vogel gewesen ist, der drüben auf der Antenne gesessen hat wie hundert andere schwarze Vögel vor ihm, und daß es keinen Grund zur Aufregung gibt. Trotzdem bin ich dann schnell aus dem Bett und aus dem Zimmer gegangen und habe mir Mühe geben müssen, nicht mehr an den Vogel zu denken. Im Haus war es fürchterlich still, und auch draußen auf der Straße so wie immer, wenn alle Nachbarn verreist sind. Nur Krähwinkels waren noch da. Ich habe überlegt, ob ich Frau Krähwinkel kurz besuchen sollte. Aber Frau Krähwinkel ist nicht so jemand, den man einfach mal eben besuchen kann; und es kam ja sowieso nicht in Frage, weil ich Mutter doch verspro chen hatte, im Bett zu bleiben. Ich bin dann rüber ins Bad gelaufen. Auf Esthers Tür habe ich bewußt nicht geachtet, ich meine, ob sie angelehnt war oder nicht, sondern ich bin so schnell wie möglich daran vorbeigerannt. Das heißt, einmal habe ich mich umgeguckt, aber nur ganz flüchtig. Ich habe mich auf den Badewannenrand gesetzt und erst mal überlegt, was ich jetzt machen soll. Um mich 28
herum sah es nach eiligem Aufbruch aus. Wahrscheinlich hatte Mutter Angst gehabt, den Zahnarzttermin zu versäumen. Neben mir auf dem Hocker lag ihr japanischer roter Morgenrock, der aus Seide, mit den Silbermustern. Ich habe ihn übergezogen. In dem langen Türspiegel, vor dem sich Esther immer stundenlang frisiert, sah ich aus wie ein Priester aus Oma Wuppertals Kirche. Also - nicht genauso, aber sehr ähnlich. Die roten Ärmel hingen wie Schleppen herunter. Ich habe dann so ein bißchen Theater gespielt, mit segnenden Bewegungen . und so, auch eine Art Singsang gesummt, mit etwas zittriger Stimme, so wie die Leute in der Kirche immer singen. Und dann sind mir Esthers Indientücher eingefallen, weil nämlich eigentlich noch eine Schärpe gefehlt hat um den Hals. In Oma Wuppertals Kirche tragen die Priester immer solche Schärpen. Ich habe überlegt, ob man wegen eines einzigen Indientuchs Esthers Verbot übertreten darf. Aber dann habe ich mich plötzlich so wahnsinnig über Esthers blöde Heimlichtuerei geärgert, daß ich einfach losmarschiert bin - direkt zu ihrer Tür. Natürlich habe ich zuerst ein bißchen abgewartet und habe bis zehn gezählt, wie vorm Kopfsprung. Dann habe ich die Luft angehalten, habe die Klinke runtergedrückt - und schon hatte ich die Schwelle übertreten. Es hat weder geknallt noch geschossen. Nur das Schild hat ein bißchen hin und her gewackelt, was ein 29
leise scharrendes Geräusch verursachte. Aber sonst war nichts Aufregendes zu bemerken. Im Gegenteil das Chaos sah vollkommen vertraut aus: Das erste, was mir ins Auge stach, war Esthers knallgelbe Bluse mit den Keulenärmeln, die sie gerade erst mit ihrer Freundin Lizzi getauscht hatte gegen den blauen Minirock, in dem sie so dicke Beine hatte. Esther hatte gesagt, es sei der beste Tausch ihres Lebens. Die Bluse lag auf einem größeren Kleider haufen hinten auf dem Bett, wo sich sowieso immer alles stapelt, besonders, bevor Esther wegfährt. Ich habe die Bluse beiseite gelegt und erst mal weiter nach Indientüchern gesucht. Esther besitzt mindestens zwanzig Stück davon. Aber leider waren keine dabei, obwohl ich jedes einzelne Stück in die Hand genommen habe. Auch mit Esthers Wandschrank klappte es nicht. Der Schlüssel war nämlich abgezogen und nirgendwo zu finden. Immerhin sind mir bei der Gelegenheit die alten Ballerinaschuhe begegnet, die ehemals weißen, mit denen Esther damals so angegeben hat. Sie lagen unterm Bett. Ich habe den Staub weggepustet und sie anprobiert und dann auch gleich anbehalten, obwohl Esther Schuhgröße neununddreißig hat und ich nur Große fünfunddreißig. Und dann habe ich den Rüschenrock entdeckt hinten auf dem Korbsessel neben dem Tisch. Und damit hat eigentlich alles erst richtig angefan gen. 30
Denn wenn ich den Rock nicht entdeckt hätte, wäre ich nicht auf die Idee mit der Lady Agatha gekommen und nicht in die Briefkastenrosen gefallen, und ich hätte auch die Kette nicht genommen und hinterher nicht alles verstecken müssen. Und vor allem: Das Notizbuch und der Brief wären mir nicht in die Hände gefallen. Aber davon mehr im nächsten Kapitel. Zuerst noch eine Zwischenerklärung.
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Zwischenerklärung Obwohl ich es bereits am Anfang erwähnt habe., möchte ich es noch einmal wiederholen: Das mit dem Notizbuch und dem Brief war ein Versehen. Man nennt dies eine VERKETTUNG UNGLÜCKSELIGER UMSTÄNDE, hat Vater später zu mir gesagt. Außerdem hatte ich ja auch das hohe Fieber. Mia
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Die unglückselige Verkettung oder warum ich Esthers Schublade geöffnet habe Ich mußte den Stapel festhalten, bis ich den Rock hervorgezerrt hatte, weil er ganz zuunterst lag und weil der Stoff ziemlich sperrig ist. Die Rüschen sind gestärkt und mit schwarzer Spitze besetzt. Der ganze Rock ist zartrosa. Ich sah ihn mir genauer an. Es war der, den Esther neulich im Second-Hand-Shop erstanden hat, ziemlich teuer, und wegen dem es Krach gab, weil Mutter ihn affig fand und Esther gesagt hat, daß sie ihr gestohlen bleiben könnte mit ihrem altmodischen Oma-Geschmack. Ich finde den Rock toll, er sah auch fast wie neu aus. Ich konnte gar nicht begreifen, warum Esther ausgerechnet ihn hiergelassen hatte. Wahrscheinlich aus Versehen. Oder aus Wut, weil sie wegen Oma Wuppertals enger Wohnung nicht alles mitnehmen durfte und Mutter zeigen wollte, auf was sie alles verzichten mußte. So ist Esther, ihre Wut kommt manchmal an den verrück testen Stellen heraus. Ich probierte den Rock an. Er reichte mir bis zu den Knöcheln. Er stand mir gut, nur in der Taille war er etwas zu weit, obwohl ich den Morgenrock ja noch drunter hatte. Ich ging an Esthers Tisch, um nach einer Sicherheitsnadel zu suchen. Aber auf dem Tisch lagen lauter andere Sachen, nur keine Sicherheitsna 33
deln. Und auch sonst war nichts zu entdecken, was als Rockbefestigung geeignet gewesen wäre. Den Rock hielt ich mit der linken Hand fest, damit er nicht rutschte. Und dann habe ich Esthers Schublade aufgezogen. Zuerst habe ich nur gesehen, daß sie ziemlich voll gestopft war, mit Zetteln, Briefen, Glitzerhaarclips, Notizbüchern,
Bravo-Heften und lauter solchem Zeug. Ganz oben drauf lag ein Zettel mit der Aufschrift PRIVAT, rot unterstrichen. Was jetzt kommt, erzähle ich nur ungern. Aber wenn ich es nicht erzähle, versteht man hinterher die ganzen Zusammenhänge nicht. Natürlich habe ich 34
zuerst gewartet, bevor ich mich entschloß, den Brief zu lesen. Und es war auch nur der allerkleinste Brief von allen, nämlich der, der direkt unter dem Zettel mit der Aufschrift lag. Der Briefumschlag war weiß - also ganz normal. Und ich habe den Brief auch ganz schnell wieder in den Umschlag zurückgetan, nach dem ich einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. Etwas Genaueres habe ich also gar nicht entziffern können, schon allein deshalb, weil die Schrift so unleserlich war, daß man sowieso nichts erkennen konnte. Oder nur einige Worte. Irgendwas von »darling« stand da und »abhauen« oder »zusammen abhauen« und »auf den Himalaja türmen«, und dann noch ganz normale Sätze, die nur von der KolibriDisco handelten und von einem Typ namens Mäcki. Zum Schluß kam mehrmals das Wort »Indien« vor. Als Unterschrift war nur ein großes M. zu erkennen. Sonst nichts. Natürlich habe ich mir überlegt, wer M. ist. Dann fiel mir ein, daß es sich nur um Mitschi han deln konnte, den Typ aus der Colmarer Straße, bei dem sich Jan manchmal das Mofa ausleiht. Er kommt ziemlich oft zu uns, aber immer nur zu Jan. Jedenfalls hatte ich bisher diesen Eindruck gehabt. Dann fiel mir allerdings ein, daß Mitschi in letzter Zeit viel seltener gekommen war oder sogar überhaupt nicht mehr. Jan hatte sich sogar noch darüber beschwert, daß er jetzt niemanden mehr zum Mofa-Ausleihen hatte. Ob Esther inzwischen mit ihm Schluß gemacht hatte? 35
Oder umgekehrt? Ich versuchte, auf dem Brief einen Poststempel zu entdecken, aber es war keiner vorhanden. Wahr scheinlich hatte Jan die Briefe heimlich übergeben. Nachdem ich den Brief ordentlich zurückgelegt hatte, schloß ich die Schublade schnell wieder, wobei mir beim Zuschieben noch etwas anderes ins Auge fiel. Nämlich das Notizbuch, das weinrote. Ich hatte es schon mal bei Esther herumliegen sehen. Das blöde Verbotsschild fiel mir leider erst ein, als ich das Wichtigste bereits gelesen hatte. Es waren nur ein paar Sätze, aber die haben mir gereicht, ehrlich. Es hat mich richtig umgehauen, was da stand. Das heißt, zuerst habe ich mir noch eingeredet, L. soll nicht Lilo, sondern Lizzi bedeuten, weil Esther mit der dauernd Krach hat. Dann ist mir aber klar geworden, daß nur Mutter damit gemeint sein konnte. Esther sagt näm lich meistens Lilo zu Mutter, weil sie das toll findet, und weil die Lizzi das auch tut. Überhaupt hat alles nur auf Mutter gepaßt und irgendwie an die Sätze erinnert, die Esther auch sonst manchmal losläßt, wenn sie eine Wut hat. Ich habe also dagestanden, das Notizbuch in der Hand, und der Rock ist runterge rutscht, und ich habe richtig Herzklopfen bekommen beim Entziffern. Dies sind ein paar von den Sätzen: »L. hat mal wieder Terror gemacht wegen dem Kolibri. Manchmal könnte ich sie umbringen, echt. Ich hasse, hasse, hasse sie!!!!« Das letzte »hasse« war mehrmals unterstrichen. Und dann, auf der nächsten 36
Seite: »M. und ich haben beschlossen, abzuhauen irgendwohin. Das Gefängnis hier hält man ja nicht mehr aus. Kreta vielleicht oder Indien.« Ein Datum stand nicht dabei, so daß man nicht erkennen konnte, ob die Eintragungen neu oder alt waren. Sie sahen ziemlich neu aus, nach der Kulitinte zu urteilen. Mir wurde ganz schlecht. Ich konnte nicht mehr weiterlesen und machte das Buch zu. Abhauen ... hassen ... umbringen... Plötzlich begriff ich auch, was das Verbotsschild zu bedeuten hatte. Ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn Mutter das zu Gesicht bekäme. Wahr scheinlich würde sie einen Herzschlag kriegen, habe ich gedacht, obwohl man ja von Esther einiges gewöhnt ist. Aber wenn sich einer hinsetzt und es extra aufschreibt ... das hat was zu bedeuten, dachte ich. Oder ob Esther das Buch mit Absicht hiergelassen hatte - als Warnung? Damit irgendeiner es liest und dann Bescheid weiß? Mutter? Vater? Ich? Mit ei nemmal hatte ich den Gedanken, ich müßte das Buch sofort vernichten. Aber wie? Anzünden und ins Klo schmeißen? Oder in Fetzen zerreißen und zuunterst in die Mülltonne werfen, gut verteilt, damit man die Fetzen nicht mehr zusammensetzen konnte? Oder war das dann Diebstahl? Hausfriedensbruch, oder wie man das nennt? Oder ob ich die Stellen unkenntlich machen sollte mit Filzstift? Aber dann würde Esther 37
es mit Sicherheit merken, während beim Vernichten noch Hoffnung bestand, daß sie das Buch für verloren oder verkramt oder sonstwie abhandengekommen hielte. Das Buch war vollgeschrieben bis zur letzten Seite. Womöglich wußte Esther gar nicht mehr, daß es noch existierte? Aber darf man etwas Fremdes einfach vernichten? Ich entschloß mich dann, das Notizbuch so zu las sen wie es ist - also ohne Veränderungen - und es so weit wie möglich nach hinten in die Schublade zurückzustopfen, mit ein paar Zetteln und Briefen darüber. Du mußt es vergessen, habe ich mir vorgebetet, du hast es einfach überhaupt nicht gesehen. Dann habe ich meinen Rock wieder hochgewur stelt, habe die Glitzerclips, die in der Schublade gelegen hatten, ins Haar gesteckt und die Keulenär melbluse um die Schulter gelegt, so daß die Keulen wie ein hoher Kragen aussahen. Und dann bin ich wieder ins Bad zurückgegangen.
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Zwischenerklärung Wenn ich manchmal nicht alles ganz genau zu sammenkriege, ist das nicht gelogen, sondern es liegt daran, daß von jetzt ab alles so schnell gegangen ist. Darum ist es schwierig, die Rei henfolge genau zu beachten. Mia
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Wie ich mich in Lady Agatha verwandelte und endlich Jokis Postkarte ankam Von jetzt ab ging alles ganz schnell, und eigentlich weiß ich gar nicht mehr so genau, wie alles weiterging - ich meine, in der Reihenfolge. Aber ich will versu chen, es zusammenzubringen. Ich habe also die gelbe Bluse genommen, sie umge legt und mich wieder vor den Türspiegel gestellt. Und dann ist mir diese Lady wieder eingefallen, Agatha, die mit dem Brillantschmuck und den Leibwächtern, und ich war sehr froh, daß sie mir eingefallen ist, weil mich das nämlich auf andere Gedanken brachte. Den Rock, der mir in Esthers Zimmer immer runterge rutscht war, habe ich mit ein paar Clips aus Mutters Waschbeutel zusammengesteckt, zwei davon habe ich an die Ohrläppchen getan, damit es aussieht wie Brillant-Ohrringe. Und dann ist mir Mutters Kette eingefallen, und ich bin an ihren Nachttisch im Schlafzimmer gegangen, das ist so ein weißes Brett. Da liegt meistens lauter Zeug rum. Daß die Kette, also der kleine Anhänger daran, wirklich aus echten Brillanten besteht, habe ich erst später erfahren, als alles rausgekommen ist. Und auch, daß es das Haupt geschenk zu Mutters vierzigstem Geburtstag war, hatte ich vergessen. Obwohl ich ja damals dabeigewe sen bin, als Vater ihr die Kette überreicht hat. »Für 40
meine liebste Lilo!« hat er gesagt. Mutter trug die Kette dann fast täglich. »Mein edel stes Stück« sagte sie immer. Aber auch das ist mir im Moment nicht eingefallen. Ich habe nur immer gedacht, daß dieses Geschmeide hervorragend zu Lady Agatha paßt, und daß ich damit jetzt fast so aussehe wie sie. Und dann habe ich mir noch die lila Turban-Badehaube aufgesetzt, die in der Badewanne lag, und bin hinunter in den Garten gewandelt. Unterwegs wäre ich beinahe gestolpert, wegen der Ballerinaschuhe, und ich bin ganz vorsichtig weiter geschritten. Ich begab mich zu den Rosen. Weil der Prinz de Rosa der Lady immer Rosen mitbringt. Wir haben überall Rosen im Garten. Ich achte sonst nicht so darauf, aber in diesem Augenblick paßten sie sehr gut zu allem. Ich habe mir eingebildet, ich wäre im Schloß Quizzlefizz, wo nämlich die Lady mit den Leibwächtern wohnt, und habe dabei an den Prinzen gedacht, und wie er mir gleich entgegeneilen wird, und daß ich jetzt hochvornehm tun muß, um mich nicht zu verraten. »Nun, gnädiges Fräulein, duften die Rosen gut?« hat plötzlich eine Stimme gefragt, dicht über mir. Ich hatte mich gerade über den gelben Rosenstrauch direkt neben dem Briefkasten gebeugt. Es war Herr Hunkele. Von welcher Seite er sich angeschlichen hat, kann ich nicht sagen. Vielleicht ist er auch den ganz normalen Weg gekommen, und ich hatte es nur 41
überhört. »Ja ... ja«, habe ich geantwortet und mich schnell aufgerichtet. Ich kam mir etwas blöd vor, aber Herr Hunkele schien nichts Blödes an meinem Kostüm zu finden. Jedenfalls hat man ihm nichts angemerkt. »Dreimal dürfen Sie raten, was ich für Sie habe, Gnädigste«, sagte er und drückte mir einen mittleren Stapel Post in die Hand. »Die oberste Karte ist an ein gewisses Fräulein Mia Mischke adressiert, jawohl!« Dann hat er ganz gespannt auf mein Gesicht ge guckt, und ich habe vor Aufregung keinen Ton herausgebracht. Die Karte war von Joki, aus Marokko. Ich wollte losrennen, ins Haus, um die Karte ganz allein für mich zu lesen, aber ich hatte vergessen, daß ich in Esthers Schuhen gar nicht rennen konnte. Jedenfalls lag ich plötzlich mitten in den Briefkasten rosen, und Herr Hunkele ist in den Garten gekommen und hat mir wieder herausgeholfen. »Na, so ein Pech«, sagte er, »der schöne Rock!« und zeigte dabei auf eine Stelle unten am Rocksaum. Daß er das gesagt hat, ist mir aber erst später wie der eingefallen. Im Moment hörte ich überhaupt nicht zu und dachte nur an Jokis Karte. Ich habe die Post auf den Dielentisch geschmissen, bin hinauf in mein Zimmer gerannt - ohne Schuhe natürlich, die hatte ich unterm Arm -, habe mich auf mein Bett gesetzt und erst mal laut gepfiffen vor Vergnügen. Jokis Karte, Jokis Karte, Jokis Karte... Was anderes hatte ich wirklich nicht mehr im Kopf. 42
Den Text kann ich noch auswendig. »Liebe Mia, hier ist es sehr schön. Wir sind schon viel geschwommen. Wie geht es Dir? Viele Grüße, Deine Joki.« Den Text konnte man schnell auswendig lernen. Joki schreibt nicht so gern Postkarten. Ich habe dann ausführlich das Foto auf der Rück seite betrachtet. Eine vermummte Gestalt mit einem weißen Umhang, die durch eine weite, öde Sandwüste ein Kamel hinter sich herzieht, war da zu sehen. Das Foto war sehr schön, allerdings ziemlich unheimlich. Der Poststempel war zehn Tage alt. Also hatte Joki doch sofort nach der Ankunft geschrieben, oder fast sofort. Und dann holte ich meine Sammelmappe, die im mer unter meinem Nachttisch liegt, und begann mit der Einordnung. Das mache ich immer, wenn Neuzu gänge kommen. Zuerst habe ich alles durchgezählt. Mit Jokis Karte waren es siebenundzwanzig Stück. Inzwischen besitze ich genau dreißig, weil Oma Wuppertal mir drei Karten aus der Kur geschickt hat. Das heißt, zwei Karten darf man eigentlich nicht mitzählen. Nämlich die, die ich mir selbst mal geschrieben habe, aus Husum, und die von Jan vor zwei Jahren. Damals hatte ich gerade mit dem Sammeln begonnen. Jans Karte besitzt nämlich weder eine Briefmarke noch einen Poststempel. Jan hatte sie einfach so in den Kasten gelegt und gedacht, er mache mir wer weiß 43
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was für ein tolles Geschenk. Dabei hat er es nicht einmal für nötig gehalten, eine richtige Adresse draufzuschreiben, sondern nur »An Mia!« hingekrit zelt. Auf die Rückseite - da, wo sonst das Foto ist hatte er drei krakelige Figuren hingeschmiert, die Polke, Hunstein und Theophil darstellen sollten. Ich legte Jans Karte beiseite und machte mich dann weiter an die Arbeit. Also: numerieren, in die Regi straturliste eintragen und so weiter. Dann habe ich den Kartengeheimtrick gemacht, den nur Joki und ich kennen. Er ist ähnlich wie die Gedankenübertragung. Er geht so: Man nimmt alle Karten auf einmal in die Hand, läßt sie fächerförmig auf eine möglichst glatte Fläche fallen und sieht dabei nach links. Die Karte, die am weitesten rechts liegt, ist die Besinnungskarte. Also derjenige, der sie geschrieben hat, denkt gerade an einen. Jokis Karte lag als dritte von rechts, aber mit dem Kopf nach unten - dann ist es immer noch gültig. Die rechteste war meine eigene aus Husum und fiel darum sowieso aus. Ich dachte zwölf Sekunden an Joki. Das gehört dazu, daß man umgehend zwölf Sekunden zurück denkt. Seit ich die Armbanduhr habe, ist es auch einfacher, die Zeit einzuhalten, als früher, wo ich immer umständlich zählen mußte. Und dann ging alles Schlag auf Schlag. Ich wollte gerade die Buchstabengesamtzahl er 45
rechnen - also von allen Karten zusammen -, als mir siedendheiß einfiel, daß Mutter gleich aus der Stadt kommen würde und ich immer noch die Sachen von ihr und Esther anhatte. Es war bereits neun Minuten vor zwölf. Überhaupt ist mir da alles wieder eingefal len. Besonders, daß ich versprochen hatte, im Bett zu bleiben, und plötzlich war mir auch ziemlich schwind lig und heiß, was ich die ganze Zeit über kaum gemerkt hatte. Vielleicht war mir aber auch nur deshalb so heiß, weil ich so aufgeregt war. Jedenfalls hatte ich nur noch den einen Gedanken, daß nichts von meinem Herumlaufen und allem anderen herauskommen durfte. Ich rannte so schnell wie möglich in Esthers Zim mer, schmiß die Schuhe unters Bett, die Glitzerclips in die Schublade, Rock und Bluse auf die Kleiderhau fen, rannte weiter ins Bad, warf die Badehaube in die Wanne, die Haarclips in den Waschbeutel, den JapanMorgenrock wieder auf den Hocker. Dann rannte ich zurück in mein Zimmer und stieg ins Bett. Und dann entdeckte ich die Kratzer an meinem Knöchel. Sie bluteten ziemlich stark. Die verdammten Briefkastenrosen, dachte ich und wischte das Blut mit Spucke weg. Ich untersuchte meinen übrigen Körper nach Rosenkratzern, konnte aber nur noch welche am linken Handgelenk entdecken, wo ich sowieso schon die zwei Mückenstiche hatte, an denen ich dauernd rumgekratzt hatte. Im Gesicht blutete ich nicht, wie 46
ich beim Abtasten feststellte. Und dann fiel mir was Entsetzliches ein - der Rock und die gelbe Bluse. Wenn die etwas abbekommen haben, bin ich des Todes, dachte ich. Ich also wie eine Verrückte wieder in Esthers Zimmer zurück, Rock und Bluse auf dem Fußboden ausgebreitet und alles genau untersucht. An der Bluse war nur ein kleiner Blutfleck, den ich schnell wegrei ben konnte. Aber am Rock - ich habe gedacht, mein Pulsschlag setzt aus: ein mittelgroßes Dreieck unten am Rocksaum! Dazu zwei kleine Blutspritzer direkt daneben. Von da ab habe ich mich nur noch im Kreis ge dreht, so kommt's mir heute vor. Ich hatte nämlich die idiotische Idee, das Dreieck so schnell wie möglich zusammenzunähen, bevor Mutter kam und was merkte. Ich habe also nach Nähzeug gesucht, drüben in der Schlafzimmerkommode, und es auch sofort gefunden. Dieses kleine grüne Plastiktäschchen, das immer dort liegt. Ein Faden war bereits eingefädelt, so daß ich wenigstens damit keine Zeit mehr verlieren mußte. Der Faden war gelblich. Es ging also gerade noch mit der Farbe. Ich habe den Rock auf Esthers Tisch gelegt und wie wahnsinnig drauflosgenäht. Ich nähe ganz gut. Wahrscheinlich wird man überhaupt nichts mehr sehen hinterher, habe ich mir eingeredet. Und dann ging unten die Haustür auf, und Mutter kam. Sie rief irgendwas. Ich habe nicht geantwortet, 47
weil ich auch gar keine Zeit dazu hatte. Ich habe nur gedacht: Wohin jetzt mit dem Zeug, bevor sie die Treppe raufkommt? Dann habe ich den Faden mit den Zähnen abgerissen und dabei die Kette berührt oder gesehen - jedenfalls hatte ich sie immer noch am Hals und konnte sie nicht mehr ins Schlafzimmer zurück bringen, weil Mutter bereits heraufkam. Sie darf nichts merken, dachte ich. Sie darf auf keinen, keinen Fall was merken. Das war richtig eine Panik. Und dann habe ich Esthers Schublade aufgezogen, habe die Kette dort hineingeschmissen und das Nähtäsch chen hinterher und bin gerade noch mit allem fertig geworden, als Mutter bereits oben im Flur stand. »Klo«, murmelte ich statt einer Begrüßung, »ich war gerade auf dem Klo...« Mutter sah mich erstaunt an. »Mialein«, sagte sie, »wie geht's dir denn? War's sehr schlimm, so allein?« Ich schüttelte den Kopf, zum richtigen Antworten war ich nicht fähig. Mein Herz schlug wie wild. Ich stieg ins Bett und deckte mich bis oben hin zu. »Und? Was hast du so gemacht?« fragte Mutter weiter. »Meinst du, dein Fieber ist etwas besser geworden?« Sie legte mir die Hand auf die Stirn und erschrak. »Mein Gott, Kind! Du glühst ja!« Meine Temperatur betrug achtunddreißig neun. »Da haben wir's«, sagte Mutter und setzte sich auf mein Bett. »Ist das nicht schlimm? Fühlst du dich denn sehr schlecht, mein armes Würmchen?« 48
»Armes Würmchen«, sagte sie - ehrlich. »Och -« machte ich - »eigentlich nicht. Ich bin auch 'n bißchen rumgelaufen, aber nicht viel.« Merkwürdigerweise war ich erleichtert, daß mein Fieber so gestiegen war. Irgendwie hatte ich nämlich das Gefühl, daß ich nun entschuldigt bin für alles, sozusagen. Im Fieberwahn ist man ja nicht voll zurechnungsfähig. Außerdem dachte Mutter jetzt nur noch an mein Gesundwerden, und alles andere war unwichtig. Ich schloß die Augen. Mutter klopfte die Bettdecke noch mal zurecht und hauchte mir einen Kuß auf die Haare. »Und nun schlaf ein bißchen...« sagte sie. »Schlafen macht gesund...« Ich hörte, wie sie leise aus dem Zimmer ging.
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Wie der Vogel zum zweitenmal erschienen ist, und wie ich aus Versehen gelogen habe »He, Sie!« krächzte plötzlich eine Stimme dicht an meinem Ohr. Und noch einmal: »He, Sie! Ich muß Sie dringend sprechen!« Ich richtete mich auf. Es war der blauschwarze Vogel. Er saß direkt vor mir auf meinem Bett. »Ja ... a...?« fragte ich. »Bitte?« Der Vogel hüpfte ein Stück näher. »Wo haben Sie meinen Brief?« krächzte er. »Schnell! Ich will meinen Brief wiederhaben!« Ich überlegte, was er wohl meinen könnte. »Welchen Brief?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Ich habe keinen Brief...« Der Vogel kam noch näher. »So? Wirklich nicht?« krächzte er höhnisch. »Vielleicht schauen Sie einmal unter Ihrem Kopfkissen nach. Mir ist ganz so, als läge dort ein kleiner hübscher Brief.« Dann fiel mir alles wieder ein. Natürlich! Unterm Kopfkissen! Hatte dort nicht gerade erst ein Brief gelegen? Hatte ich ihn nicht sogar selbst dorthin gelegt? Ich hob das Kissen hoch und wurde etwas verlegen. Der Brief lag genau so dort, wie ich ihn hingelegt hatte. »Oh ... bitte schön«, sagte ich und überreichte ihn 50
dem Vogel. »Na also. Warum nicht gleich...« krächzte er, wäh rend er den Brief unter den Flügel klemmte. »Haben Sie ihn wenigstens gelesen?« Ich nickte. »Ja, ja ... natürlich ... natürlich habe ich ihn gelesen ... ganz genau sogar...« »Und? Was haben Sie dazu zu sagen? Teilen Sie meine Meinung oder nicht?« Der Vogel sah mir gespannt in die Augen. »Och...« antwortete ich. Ich merkte, daß ich mich verraten hatte. Ich hatte den Brief ja gar nicht gelesen! Außerdem war ja nur der verschnörkelte Buchstabe darin enthalten gewesen. Was sollte man da lesen? »Tja ... also...« stotterte ich. »Wenn Sie mich so fragen...« Aber noch während ich versuchte, mir eine kluge Antwort zurechtzulegen, flog der Vogel plötzlich auf, schwang sich mit weit ausgebreiteten Flügeln durchs Fenster und war nicht mehr zu sehen. Ich rieb mir die Augen und tastete nach dem Brief, den er beim Fortfliegen verloren hatte. Vorsichtig öffnete ich den Umschlag und holte den Bogen heraus. Der Buchstabe sah unverändert aus - ver schnörkelt und kaum zu entziffern, genau wie erwartet. Ich legte den Brief wieder unters Kopfkissen zu rück und überlegte, wie ich mich verhalten sollte, falls der Vogel noch einmal zurückkäme. Aber es war schwierig, das Richtige zu entscheiden. Immerhin hatte ich bereits eine falsche Auskunft gegeben. 51
Gelesen ... nicht gelesen ... gelesen ... nicht gelesen... Oder sollte ich ihm einfach erzählen, daß ich den Brief zwar gelesen, aber nicht verstanden hätte? Das wäre eine Möglichkeit, dachte ich. Wenigstens wäre es nicht direkt gelogen, weil ich den Buchstaben ja wirklich nicht richtig entziffern konnte. Ich wartete und behielt das Fenster im Auge. Ich wartete und wartete und wartete .. »Mialein«, flüsterte eine Stimme dicht über mir. »Du, Mialein, hörst du mich?« »Hn?« knurrte ich verschlafen. »Was ist denn los?« »Ach, schlaf nur weiter«, sagte die Stimme. »Es ist nichts Besonderes. Ich wollte dich nur fragen, ob du zufällig meine kleine goldene Kette gesehen hast ... die vom Geburtstag, du weißt schon. Sie ist nämlich spurlos verschwunden...« »Kette?« murmelte ich. »Was denn für 'ne Kette? Nein, nie gesehen...« Also war der Vogel doch wiedergekommen? Aber was hatte er jetzt mit einer Kette gemeint? Und warum redete er plötzlich so anders? »Schon gut«, flüsterte die Stimme, »schlaf schnell weiter... Das Ding wird sich schon irgendwo finden...« Die Stimme entfernte sich, und alles war wieder ganz still. Merkwürdig, dachte ich. Ist das nicht wirklich sehr merkwürdig? Zuerst der Brief und jetzt die Kette Und dann saß ich aufrecht im Bett und wußte, was los war. Die Stimme eben war Mutters Stimme 52
gewesen, und die Kette, nach der sie gefragt hatte, war die Kette in Esthers Schublade! Ich blieb stocksteif sitzen und hielt die Luft an. Jetzt also war's passiert. Mutter suchte die Kette! In wenigen Sekunden würde sie in Esthers Zimmer gehen, würde die Schublade öffnen, würde Esthers Notizbuch aufschlagen und lesen, daß Esther sie umbringen will. Ich atmete wieder aus und bekam solch ein Herz klopfen, daß mir die Ohren dröhnten. Alles fiel mir jetzt wieder ein, alles. Der Rock, das Dreieck, das Verbotsschild, das Herumlaufen, der ganze verbotene Vormittag. Und hatte ich nicht eben auch noch gelogen? Hatte ich nicht einfach behauptet, ich wüßte von nichts? Ich versuchte, das Gespräch mit der Stimme, also mit Mutters Stimme, noch einmal zusammenzube kommen, aber es gelang mir nicht. Wahrscheinlich war es doch nur ein Traum gewesen. Ja. Wahrscheinlich war es nur ein Traum gewesen. Mit Sicherheit. Mit allergrößter Sicherheit... Ich legte mich wieder zurück und merkte, daß mein Herzklopfen immer weniger in den Ohren dröhnte. Nur ein Traum, dachte ich, nur ein Traum... Als ich das nächste Mal aufwachte, stand Vater an meinem Bett. »Armes Hascherl«, sagte er und strich mir die Haa re aus der Stirn, »fühlst du dich etwas besser? Mutter 53
sagt, du hättest dauernd geschlafen?« Ich nickte und lächelte ihm zu. Jedenfalls gab ich mir Mühe, so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Und dann kam der Abend, und draußen wurde es immer dunkler, und immerzu habe ich auf den Nuß baum gestarrt und mir eingebildet, daß der Vogel dort lauerte.
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Zwischenerklärung An dieser Stelle möchte ich etwas über unsere Ordnung beziehungsweise Unordnung sagen. Ich meine die in unserer Familie. Das ist näm lich ziemlich genau bei uns eingeteilt. Und zwar so: Vater ist mit Abstand der Ordentlichste. Dann kommt Mutter, die es längst nicht so genau nimmt. Und dann - mit riesigem Abstand - kom men Esther, Jan und ich. Ich erwähne dies nur, damit man das mit der Kette richtig versteht. Ich meine, daß sie einfach so herumgelegen hat. Daß ich mir trotzdem dau ernd den Kopf zerbrochen habe und daß es da mit immer schlimmer geworden ist vor lauter schlechtem Gewissen, hängt wahrscheinlich wieder nur mit dem Fieber zusammen. Man kann es also nicht einfach als Lüge bezeichnen, daß ich mit dem Erzählen so lange gewartet habe. Außerdem ist da ja auch noch die Sache mit dem Notizbuch gewesen. Schon deshalb konnte ich nichts erzählen. Mia
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Wie Theophil fromme Gesänge anstimmte und Polke gerade noch rechtzeitig mit dem Mofa angebraust kam. Auch vom Vogel ist schon wieder die Rede Es zischelte. Natürlich wieder das unterste Schrank fach, dachte ich und nahm mir vor, mich nicht darum zu kümmern. »Idiot!« - »Selber Idiot!« - »Ruhe sei mit euch!« Auch das kannte ich schon. Ich drehte mich zur Seite und hörte einfach nicht zu. Erst als ich ganz deutlich einzelne Sätze verstehen konnte, begann ich allmählich, mich dafür zu interes sieren. »Nicht-Erzähler sind Sünder!« rief die erste Stim me. Offenbar gehörte sie Theophil. »Selber Sünder, selber Sünder!« Das war Polke, wenn mich nicht alles täuschte. Er fügte gleich noch etwas hinzu, und zwar so laut, daß es wahrscheinlich im ganzen Haus zu hören war. »Schwerkranke dürfen alles! Verrrstannndennn!?« brüllte er. Und dann hörte ich etwas, das genauso klang wie in Oma Wuppertals Kirche, beim Frühgottesdienst. Es war eine Art Sprechgesang. Vermutlich stammte er wieder von Theophil. 56
»Lügen ha-a-aben ku-urze Beine«, sang er. »Ket tenklauer si-i-ind Schweine!« Er wiederholte es ungefähr fünfmal, als ihm jemand mit entsetzlichem Gekreische ins Wort fiel. Es klang ungefähr so, als ob einer vor lauter Wut kein einziges Wort mehr zustan de bringt. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, aber ich kam nicht dazu. Kaum hatte ich nämlich meine Arme in die Höhe gehoben, um sie gegen den Kopf zu pressen, als mir etwas ekelhaft Glattes am Unterarm klebte und nur mit Mühe wieder abzuschütteln war. Ich sah, wie es auf der Erde landete und sich sofort wieder aufrappelte. Hunstein! dachte ich. Das kann nur Hunstein sein! Er glänzte, wie er schon früher in der Puppenstube geglänzt hatte. Ich sprang aus dem Bett. »Ruhe!« schrie ich. »Wenn ihr mich nicht sofort in Ruhe laßt -« Ich wollte treten, um Hunstein endgültig aus meiner Nähe zu entfernen. Aber Hunstein war schneller. »Rrrrach is süüüßßß!« brüllte er mir ins Ohr und hielt sich an meinen Haaren fest. »Merrrke diesssss! Hähähähähä!!!« Ich schüttelte ihn ab, hörte ihn wieder zu Boden fallen und rannte aus dem Zimmer. Ich überlegte, wohin ich fliehen könnte. Der Garten fiel mir ein. Ich raste die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus - direkt vor die gelben Strauchrosen am Briefkasten. Ich wollte mich gerade dahinter verstecken, als ich dicht neben mir eine ganz andere Stimme hörte. Ich zuckte zusammen. 57
»Lady Agatha?« stotterte ich entsetzt. »Aber was machen Sie denn hier?« Lady Agatha sah mich höhnisch an. »Hallo, Lieb ling«, sagte sie spitz, »auf dich habe ich gerade gewartet! Hier - weißt du schon das Neueste?« Sie drehte sich ziemlich angeberisch zur Seite und hob ihren Rock in die Höhe. »Da! Fetz! Fetz! Fetz!« höhnte sie und hielt mir lauter rosa Fetzen unter die Nase. »Ach bitte...« stotterte ich wieder und wollte gerade die Hände vors Gesicht halten, um die elenden Fetzen nicht mehr sehen zu müssen, als ein merkwürdiges Geräusch hinter uns auftauchte. Ich nahm meine Hände wieder herunter und sah, wer es war: Polke kam auf seinem Mofa angebraust und näherte sich mit rasender Geschwindigkeit dem Rosenstrauch. »Sso«, machte er und bremste scharf. »Das hätten wir geschafft. Wenn man nicht überall gleichzeitig seine Augen hat...« Dann sprang er von seinem Sitz, lief direkt auf Lady Agatha zu und biß sie so lange in die nackte Wade, bis Lady Agatha laut zu schreien begann. »Au! Au! Au! Du verfluchtes Biest! Aber warte dir geb ich's!« Sie ergriff ihre vornehme Handtasche und versuchte auf Polke einzuschlagen. Polke aber hatte längst sein Mofa wieder bestiegen und war mit lautem Getöse davongerattert. Ich sah mich um. Lady Agatha war verschwunden. Jedenfalls schien es so. Ich hatte mich nämlich gerade 58
wieder beruhigt und wollte ins Haus zurückgehen, als 59
mir etwas an den Hinterkopf flog und leise klirrend zu Boden fiel. Ich bückte mich, um es aufzuheben, weil ich natürlich sofort erkannt hatte, was es war. Aber kaum hatte ich das golden schimmernde Ding berührt, kam mir jemand zuvor. Dann hörte ich nur noch eilige Schritte und ein immer leiser werdendes höhnisches Gelächter. Das Ding war weg. Ich ging in mein Zimmer zurück. Hunstein und Theophil waren nicht mehr zu sehen, und auch Polke war wahrscheinlich längst wieder im Schrank. Dafür entdeckte ich jemand anderen - hinten auf dem Fensterbrett. Es war der blauschwarze Vogel. Vermutlich hatte er die ganze Sache unten im Garten beobachtet. »Nun?« krächzte er schadenfroh. »Ist der Ausflug gut bekommen?« Ich antwortete nicht und tat so, als ob ich ihn nicht sähe. »Aber, aber«, krächzte der Vogel weiter, »wer wird denn gleich beleidigt sein? Ich wollte mir nur die Anfrage erlauben, ob Sie den Brief jetzt endlich gelesen haben?« Ich räusperte mich. Richtig! Der Brief! Ich hatte ihn vollkommen vergessen! Du mußt jetzt höflich sein, nahm ich mir vor. Ganz höflich und geschickt. Wenn du dich verrätst, wirst du den Kerl niemals los... »Einen Moment bitte«, antwortete ich so ruhig wie möglich. »Aber vielleicht gestatten Sie, daß ich mir meine Antwort erst reiflich überlege. Es ist nämlich 60
einiges dazwischengekommen seit Ihrem letzten Besuch, müssen Sie wissen...« »Von mir aus...« krächzte der Vogel und wandte den Kopf zur Seite. Fast ein wenig ängstlich, so kam es mir vor. Als ob er die Schranktür beobachten wollte. »Ich zähle leise bis zwölf. Bis dahin werden Sie ja wohl soweit sein...« Ich hob das Kopfkissen hoch und blinzelte erstaunt. Der Brief war nicht mehr da. »Oh, Verzeihung«, murmelte ich, »da muß ein kleines Versehen passiert sein. Aber - um ehrlich zu sein: Ich habe den Brief gar nicht entziffern können... Der Inhalt war etwas verschnörkelt...« »Aha?« Der Vogel wandte den Kopf wieder in meine Richtung. »Sie wollen also behaupten, daß Sie den Brief gelesen und doch nicht gelesen haben?« »Och...« machte ich. »Wenn Sie es so nennen wol len...« Blitzschnell überlegte ich, ob ich ihm das Verschwinden des Briefes beichten sollte oder nicht. »Außerdem ist da noch etwas«, begann ich vorsich tig, »der Brief ist nämlich -« Ich brauchte den Satz nicht zu vollenden. Denn gerade als ich erklären wollte, daß der Brief leider abhanden gekommen sei, öffnete sich die Schranktür, und Polke flitzte heraus, direkt auf das Fensterbrett zu. »Raus!« zischte er. »Aber sofort! Briefe und son stiges sind unsere Sache, verstanden?« Polke ver 61
schwand wieder im Schrank. »Krrrr...« machte der Vogel und wandte sich ab mit einem so bösartigen Funkeln in den Augen, daß mir angst und bange wurde. Dann drehte er sich um und flog mit weit ausgebreiteten Flügeln davon. Hoffentlich hat Polke ihn für immer vertrieben, dachte ich. Erschöpft legte ich mich schlafen. Ich war so müde wie noch nie. Als ich das nächste Mal wach wurde, war es bereits hell draußen, und ich begann zu grübeln ... und wußte kaum noch, was das Schlimmste von allem war... Im Zimmer war es jetzt ruhig. Nur drüben bei den Eltern hatte der Tag begonnen. Deutlich hörte ich sie hin und her laufen.
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Wie ich merkte, daß Mutter was gemerkt hat Vaters Aufstehgeräusche kenne ich genau. Erst ausführliches Gähnen, wie im Raubtierkäfig, dann ein bißchen Fitneßtraining vorm Schlafzimmerfenster mit entsprechenden Begleitworten - »Jupp« und »Hopp« und so weiter -, dann Klodeckel, Wasserrauschen, Rasierapparat-Surren, Zähneputzen und Gurgeln, Prusten und, bei guter Laune, irgendein Lied beim Abnibbeln, meistens gepfiffen. Ich sah auf meine Uhr - es war sechs Uhr dreiund fünfzig - und wartete auf das Lied. Aber es kam nicht. Dann hörte ich, wie Mutter ins Bad ging und sie leise miteinander sprachen. Ich konnte nichts verstehen, jedenfalls nichts Genaues. Erst als die Badezimmertür wieder geöffnet wurde, bekam ich ein paar Sätze mit, immer noch leise. Wahrscheinlich wollten sie mich nicht wecken. »Hast du denn wirklich überall nachgeguckt?« fragte Vater. »Ja doch«, antwortete Mutter etwas ärgerlich, »überall. Das Ding ist einfach nicht aufzutreiben.« »Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?« »Gestern oder vorgestern - ich weiß es nicht mehr so genau.« »Und wenn du mal bei unserer Lady Esther nach guckst? Vielleicht -« 63
Die Tür wurde wieder geschlossen, und ich verstand nichts mehr. Das heißt - ich hatte genug verstanden. Mein Puls setzte plötzlich aus, falls es so etwas gibt. Ehrlich, ich hatte das Gefühl, als hörte mein Herz plötzlich auf zu schlagen. Die Kette! dachte ich. Sie können nur die Kette gemeint haben! Ich wußte es so genau, daß ich eigentlich gar nicht erst hin und her überlegen mußte. Also hatte Mutter wirklich schon was gemerkt, und die Erscheinung gestern am Bett war gar keine Erscheinung gewesen. Ich sah zur Schranktür. »Polke...« rief ich leise. Aber die Tür war geschlossen, kein Rascheln oder sonst ein Lebenszeichen war zu hören. Außerdem - wie konnte mir Polke jetzt helfen? Es mußte etwas geschehen, und zwar sofort. Denn wenn Mutter erst einmal an Esthers Schublade ging Der Gedanke war so entsetzlich, daß ich es noch einmal mit »Polke«-Rufen versuchte. Dann sprang ich aus dem Bett, etwas wackelig, weil ich wahrscheinlich immer noch Fieber hatte, und horchte von der Tür aus, was die Eltern weiter redeten. Von der Kette sprachen sie nicht mehr, das war schon mal sicher. Irgend etwas vom Titisee und Wanderschuhen bekam ich mit. Aber da sich beide jetzt im Schlafzimmer aufhielten und die Tür fest geschlossen war, hörte ich immer nur Bruchstücke. Vielleicht waren sie schon beim Kofferpacken. Jedenfalls wurden Schranktüren geöffnet, einmal auch 64
die Kommodenschublade, wie Ich zu hören glaubte. Das ist die, die etwas quietscht, wenn man sie auf zieht. Ich wußte es noch von gestern, als ich das Nähzeug herausgeholt hatte. Das Nähzeug! Womöglich suchte Mutter jetzt nach dem grünen Täschchen? Ich merkte, daß einer von beiden zur Tür ging, und rannte wieder zum Bett. In meinem Kopf drehte sich alles. Sofort muß etwas passieren! dachte ich. Sofort! Die Kette muß aus Esthers Schublade verschwinden, bevor Mutter anfängt zu suchen! Sofort! Sofort! Dann hörte ich, wie Mutter leise an meine Tür kam und horchte. Die Tür war angelehnt, wie immer. Ich atmete gleichmäßig und stellte mich schlafend. Ich mußte Zeit gewinnen - Zeit zum Nachdenken. Dann, kurz darauf, hörte ich, wie Vater draußen davonfuhr und Mutter wieder leise nach oben kam. Gleich würde sie mir das Frühstück bringen. Ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte. Ich hasse Lügen, ehrlich. Aber wenn ich an Esther dachte und ihre Sätze im Notizbuch... Ich mußte lügen, oder wenigstens Theater spielen. Es blieb mir nichts anderes übrig. Jedenfalls so lange, bis die Kette wieder auf Mutters Nachttisch lag. Als Mutter dann wirklich mit dem Frühstück kam und sich besorgt und freundlich auf mein Bett setzte, stand mein Plan endlich fest: Sobald sich die erste Gelegenheit ergab, würde ich nach nebenan schlei chen, die Kette unauffällig aus Esthers Schublade 65
entfernen und wieder ins Schlafzimmer bringen. Zusammen mit dem Nähtäschchen, das Mutter ganz bestimmt noch nicht vermißte. Nur so konnte vermie den werden, daß Mutter in Esthers Notizbuch blätterte und womöglich an einem Herzschlag starb. Erst dann, wenn die Aktion geglückt und Mutter wieder mit der Kette am Hals bei mir erschien, würde ich alles andere beichten. Schließlich ging es hier nicht nur um Ehrlichkeit, sondern darum, Mutter zu retten... »Und wie hast du geschlafen?« fragte Mutter, wäh rend meine Gedanken weiterliefen. »Fühlst du dich besser? Meinst du, daß du's schaffst bis zur Reise?« Sie fragte noch mehr. Ich kann es nicht wiederho len, weil die Worte an mir vorüberflogen und ich nur mechanisch antwortete, wie eine Puppe, die man aufgezogen hat. »Ja, ja, gut geschlafen ... ja, ja, Samstag wieder gesund .., ja, ja, immer noch etwas müde...« und so weiter. Mutter schien nichts aufzufallen. »Kein Fieber mehr«, stellte sie fest, nachdem sie meine Temperatur gemessen hatte. »Ist das nicht fabelhaft? Gestern hatten wir richtig Sorgen um dich... Aber heute mußt du noch liegenbleiben, nicht wahr?« »Ja, ja ... klar ... natürlich...« Ich legte mich zurück und lächelte, so gut es ging. Ich fühlte mich miserabel. Mein Plan! dachte ich. Das einzige, was mich interessiert, ist mein Plan! Mutter ging wieder nach unten und räumte in der 66
Küche herum. Ich schlich in den Flur, so leise wie möglich. »Mia?« Der Ruf kam sofort. Mutter hört immer alles, was sie nicht hören soll. Dann war sie auch schon wieder oben, und ich hörte, wie sie hastig hin und her lief. Wahrscheinlich packte sie die Koffer. Vielleicht wollte sie auch nur in meiner Nähe bleiben, fürsorglich. Ich lag wieder im Bett, wie gefesselt. Meinen Plan konnte ich fürs erste aufgeben, soviel war mir klar.
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Wie die Kette plötzlich nicht mehr da war Ich wartete und wartete. Es war jetzt zwölf Uhr dreißig, und noch immer hatte sich keine Gelegenheit ergeben, meinen Plan durchzuführen. Mutter blieb ununterbrochen in meiner Nähe. Sie packte immer noch Koffer. Sooft ich in den Flur oder ins Schlaf zimmer ging, um die Lage zu überprüfen, stand sie an irgendeinem Schrank und holte Wäsche und anderes Zeug heraus. Einmal, vom Bett aus, hörte ich auch, daß sie in Esthers Zimmer ging, sich aber nicht länger darin aufhielt. Es wurde auch keine Schublade aufge zogen, so weit ich es beurteilen konnte. »So ein Saustall!« hörte ich sie sagen, als sie wie der im Flur stand. »Lady Esther lernt's nie!« Es klang irgendwie beruhigend. Denn wenn jemand gerade sein eigenes Todesurteil gelesen hat, redet er bestimmt nicht anschließend vom Saustall. Das Notizbuch hatte sie also bestimmt noch nicht ent deckt. Und dann hörte ich, wie drüben auf der anderen Straßenseite ein Wagen vorfuhr. Ich sah aus dem Fenster. Ein Taxi. Reinmillers waren zurück! Wahr scheinlich waren sie mit dem Nachtflugzeug geflogen. Ich war froh, daß sie gerade jetzt kamen. »Hallo, Ferdl!« rief ich hinunter. »Hallo, Mia!« Ferdl war gerade aus dem Auto ge 68
stiegen. »War's schön in Teneriffa?« »Wie?« fragte Ferdl zurück. Er war dabei, seinen Schnorchel und eine Badetasche ins Haus zu transpor tieren. »Ob's schön war in Teneriffa«, wiederholte ich. »Ja!« antwortete Ferdl und war für eine Weile nicht mehr zu sehen. Ich habe dann noch weiter am Fenster gekniet und beobachtet, wie Herr Reinmiller seiner Frau die Gepäckstücke zureichte und Frau Reinmiller ihn ziemlich wütend ansah, weil er wohl auch mal was tragen sollte. Überhaupt machten sie einen verkrachten Eindruck. Aber immerhin waren sie so braungebrannt, daß ihre Gesichter aus der Ferne wie Schokoladeneier glänzten. Ferdl ist dann wieder auf der Straße erschienen, und ich habe ihn gebeten, mich möglichst umgehend zu besuchen, da es entsetzlich langweilig sei. »Ich bin nämlich krank!« habe ich gerufen. Frau Reinmiller hat zu mir nach oben geguckt und irgendwas zu Ferdl gesagt, was ich nicht verstehen konnte. »Bist du ansteckend?« rief Ferdl. »Nein! Ehrlich nicht!« habe ich versichert, obwohl ich gerade in diesem Augenblick ziemlich stark husten mußte. »Überhaupt nicht!« Frau Reinmiller hat dann an Ferdls Stelle geantwor tet, daß er vielleicht später irgendwann mal käme, und hat ihn vor sich her ins Haus geschoben. Ferdl ist erst sechseinhalb. Er läßt sich noch ziemlich viel gefallen. Dann habe ich gemerkt, daß Mutter inzwischen 69
nicht mehr oben, sondern unten in der Küche war und mit Geschirr klapperte. Mein Plan fiel mir wieder ein. Jetzt oder nie, dachte ich und schlich mich aus dem Zimmer. Wahrscheinlich machte Mutter jetzt das Mittagessen. Es würde bestimmt eine Weile dauern. »Ich koche dir Grießbrei!« rief Mutter von unten. »Einverstanden?« »Ja, ja!« rief ich zurück. Ich stand vor Esthers Tür. Mutter schien nichts Besonderes aufzufallen. Ich wartete einige Sekunden, öffnete die Tür so geräuschlos wie möglich und ging direkt an Esthers Tisch. Die Schublade knarrte etwas beim Öffnen. Ich zog sie weit auf, weil die Kette nach meiner Berech nung in der hinteren Mitte liegen müßte. Aber sie lag nicht dort. Auch nicht in der vorderen Mitte, auch nicht ganz hinten, auch nicht auf dem Fußboden, unterm Bett, unterm Schrank, auf dem Kleiderhaufen - nirgends. Die Kette war eindeutig verschwunden. Ich überprüfte, ob wenigstens das weinrote Notiz buch noch an derselben Stelle lag wie gestern, und war einigermaßen beruhigt. Es sah unverändert aus. Dann lief ich ins Schlafzimmer, wo die Tür Gott sei Dank weit offen stand, so daß ich mühelos hineinge langen konnte, und schlich zum Nachttischbrett. Es war leer, oder fast leer. Nur das Foto von Esther, Jan und mir stand dort, in dem Silberrahmen, und der kleine rote Wecker - wie immer. Ich zog die Kommo denschublade auf, die entsetzlich quietschte. Das grüne Nähtäschchen lag ordentlich zuoberst, 70
als sei es gerade erst dort hingelegt worden. Ich kam mir vor, als ob ich spinne. War womöglich alles doch nur ein Traum gewesen? Ich hörte, daß Mutter von der Küche aus ins Wohn zimmer ging und telefonierte. Mit wem, konnte ich nicht feststellen. Vielleicht mit Esther, um sie zur Rede zu stellen wegen der Kette? Oder um ihr zu sagen, daß sie alles gelesen hätte? Es klang normal, was ich hören konnte, also nicht besonders laut und nicht besonders aufgeregt oder traurig. Und dann, als ich gerade wieder im Bett lag, ist Mutter mit dem Grießbrei gekommen, hat sich zu mir auf die Bettkante gesetzt, und ich habe nur gestarrt. Gestarrt, gestarrt, gestarrt. Nämlich auf ihren Hals, an dem die Kette im schönsten Brillantenglanz schimmerte. Mutter stellte das Tablett auf meine Knie. »Hier, mein Schatz. Und nun iß schön. Damit du wieder zu Kräften kommst. Dann schaffen wir's bestimmt bis übermorgen. Was glaubst du?« Ich glaubte gar nichts, aber auch gar nichts. Ich saß nur da, das Tablett vor mir, den Löffel bereits in der Hand, und versuchte, Ordnung in meinem Kopf zu schaffen. Das Durcheinander, das darin herrschte, sah ungefähr so aus: Wenn ich jetzt sage, wie die Kette in die Schublade geraten ist, denkt Mutter, warum ich es gestern nicht gleich gesagt habe. Wenn ich es nicht sage, lüge ich zum zweitenmal, obwohl Nicht-Erzählen keine Lüge 71
ist. Einerseits ist Nicht-Erzählen für Esther besser, weil Mutter dann keine Nachforschungen anstellen kann und das mit dem Notizbuch nicht rauskommt. Andererseits - wenn ich es nicht erzähle, bleibt der Verdacht auf Esther hängen, und das ist gemein. Hundsgemein sogar. »Nun iß mal endlich!« sagte Mutter und stand wie der auf. »Oder hast du immer noch keinen Hunger?« »Doch, doch...« sagte ich schnell und schob einen Löffel voll Brei in den Mund. »Und wie!« Ich begann, eifrig in mich reinzumampfen, während meine Gedanken sich weiterdrehten. Mutter stand noch immer neben meinem Bett. Ich prüfte ihren Gesichtsausdruck. Sah sie verzweifelt aus? Nein, eigentlich nicht. Nur ein etwas abgehetzter Zug lag um ihren Mund, eher bekümmert als vergnügt, aber das konnte schließlich auch andere Gründe haben. Plötzlich fragte ich etwas, was ich überhaupt nicht fragen wollte: »Hast du eigentlich früher Notizbücher geführt?« Mutter war gerade auf dem Weg zur Tür und sah sich um. Erstaunt, wie es mir schien. »Notizbücher? Nein!« sagte sie lachend. »Wie kommst du denn darauf?« »Och, nur so«, sagte ich. »Es ist mir gerade so ein gefallen...« Mutter ging wieder nach unten, und ich stellte das Tablett auf den Fußboden. Hatte sie eben wirklich gelacht? Vollkommen normal, wie über eine x-beliebige Sache? 72
Ja, ja, ja, dachte ich. So und nicht anders ist es ge wesen. Gelacht hat sie, wie über eine x-beliebige Sache... Und die Kette ist wieder an ihrem Hals. Und kein Mensch will jemals mehr von mir wissen, warum sie in Esthers Schublade war, und warum ich gelogen habe, und was gestern vormittag los war... GERETTET! dachte ich. ICH BIN GERETTET! Ich war so erleichtert, daß ich am liebsten laut ge sungen hätte. Aber natürlich habe ich's nicht getan, sondern mich weiter ganz normal verhalten. Nur nicht auffallen, habe ich gedacht, nur nicht auffallen. Irgendwann, viel später, ist dann der Ferdl gekom men und hat sich weit ab von meinem Bett gesetzt, weil er Frau Reinmiller versprochen hatte, sich nicht anzustecken. Die Unterhaltung mit ihm war nicht übermäßig spannend, weil er überhaupt nichts Genaues über Teneriffa wußte. Immerzu hat er entweder die Achseln gezuckt oder die verkehrten Antworten gegeben. Die Unterhaltung ging ungefähr so: Ich: »Erzähl mal, wie war der Nachtflug?« Ferdl: »Och ... gut...« Ich: »Warst du im Cockpit?« Ferdl: »Nö...« Ich: »Habt ihr Satelliten gesehen?« Ferdl: »Eigentlich nicht.« Ich: »Oder die Mondsonde?« Ferdl: »Wieso?« Ich: »Und wie war's jetzt wirklich in Teneriffa?« 73
Ferdl: »Schön. Heiß.« Ich: »Gibt's da Eingeborene?« Ferdl: »Klar!« Ich: »Und Wasserschildkröten?« Ferdl: (Achselzucken) Ich: »Wohnt man da in Bambushütten?« Ferdl: »Nö. Im Hotel.« Also, Ferdl hat wirklich nichts gewußt. Wir haben dann noch ein bißchen Memory gespielt, und ich habe ihm die Karte von Joki gezeigt, und dann ist er wieder gegangen. Beim Gutenachtsagen später wäre mein Fieber dann fast wieder angestiegen, weil Mutter so einen traurigen Eindruck machte. Oder verändert, ich weiß es nicht mehr genau, was es war. Vielleicht war es auch nur Einbildung, oder es hing mit etwas ganz anderem zusammen. Mit den Zahnschmerzen viel leicht, die wieder schlimmer geworden waren... Jedenfalls habe ich alles nur immerzu auf die Schub lade und das Notizbuch geschoben, und die Gedanken haben wieder angefangen, sich im Kreis zu drehen. Und ich habe plötzlich gewußt, daß ich überhaupt nicht gerettet bin, sondern daß alles eher noch schwie riger geworden ist, und daß es nichts nützt, etwas zu verschweigen, nur, weil man nicht danach gefragt wird. Irgendwann muß ich dann doch eingeschlafen sein. Jedenfalls weiß ich nichts mehr bis zu dem Augen blick, als ich diese Stimme hörte und es mir langsam dämmerte, daß ich ganz schnell wach werden müßte. 74
Wie Herr Hunkele mich besucht hat und ich die Telegramme verbrannt habe Herrn Hunkeles Stimme klang merkwürdig verän dert, fast unfreundlich oder sogar wütend. Das heißt, zuerst habe ich gedacht, es sei mal wieder der Vogel, dem etwas Neues eingefallen war. Auch weil zuerst das Wort »He!« kam - genau wie beim Vogel. Und dann, als ich schon erleichtert aufatmen wollte, weil es nur der Herr Hunkele war, ging es fast noch schlimmer weiter als bei den Vogelbesuchen. »Nun, Gnädigste?« fragte er fast drohend. »Wie ist es? Wollen wir die Diskussion wiederaufnehmen oder nicht?« »Welche Diskussion denn?« erkundigte ich mich. Wir standen in meinem Zimmer, direkt vorm Fenster. Herr Hunkele lachte spöttisch: »Welche Diskussi on! Welche Diskussion! Ha, ha, ha! Als ob Sie es nicht ganz genau wüßten, meine Gnädigste! Ganz genau! Ganz genau!« Ich schluckte und wollte mich abwenden, aber Herr Hunkele hielt mich am Ärmel fest. Es war der gelbe Blusenärmel. »Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie soeben siebenundzwanzig Telegramme erhalten haben? Vielleicht sind Sie so gütig und prüfen zuerst ihren Wortlaut, bevor Sie mir freche Antworten geben!« 75
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Er öffnete seinen Postbeutel und drückte mir die Telegramme in die Hand. »Danke«, sagte ich, »danke.« Plötzlich hörte ich ein leises Gezischel neben mir. »He, Mia! Hör doch mal her!« Ich sah mich um. Es war Polke. Gott sei Dank! Ich hatte das Gefühl, er sei mein Retter. »Ja?« flüsterte ich zurück und beugte mich zu ihm hinunter. »Von dem Rock darf er nichts erfahren!« zischelte Polke. »Wenn er dich fragt, sagst du einfach ›Der Rock? Wieso? Der Rock? Wieso?‹ Verstanden?« »Ja«, flüsterte ich wieder. »Und was ist mit den Telegrammen? Soll ich sie überhaupt öffnen?« Polke nickte eifrig. »Wichtiger Inhalt!« Und damit war er wieder verschwunden. Wohin, konnte ich nicht erkennen. Herr Hunkele stand immer noch dort, nahe vorm Fenster. Ich versuchte, in seinem Gesicht zu erkennen, ob er Polkes Gezischel eben mit angehört hatte. Aber da öffnete er auch schon den Mund und stellte die erwartete Frage. »Darf man auch wissen, Gnädigste, was mit dem Rock der Lady Esther geschehen ist?« erkundigte er sich streng. »Hmm...« zögerte ich, »och...« »Nun? Raus mit der Sprache! Wer zögert, ist schuldig!« Endlich fiel mir ein, was Polke gesagt hatte. »Der Rock? Wieso? Der Rock? Wieso?« antwortete ich und 77
sah Herrn Hunkele direkt in die Augen. Herr Hunkele brach in schallendes Gelächter aus. »Der Rock? Wieso? Der Rock? Wieso?« äffte er mich nach, und mir begann das Herz bis in den Hals hinein zu klopfen. Dann aber drehte sich Herr Hunkele ruckartig um, und ich konnte nichts mehr von ihm sehen. Nur sein Gelächter hörte ich noch, immer leiser und leiser werdend. Polke hat also recht behalten, dachte ich. »Danke«, flüsterte ich in die Richtung, in der er vorher verschwunden war. »Vielen Dank, Polke!« Dann begann ich, die Telegramme zu öffnen, eins nach dem anderen. Ich muß sagen, der Inhalt war entsetzlich. Das heißt, die ersten fünf wirkten noch ziemlich normal, obwohl ich überhaupt nicht begriff, warum sie gerade an mich gerichtet waren. Das wurde mir erst klar, als ich später alle siebenundzwanzig Stück auf meinem Tisch ausgebreitet hatte. Und hier ist die Reihenfolge - also die, die ich dann später errechnet habe. DROH DROH DROH DROH DROH STOP HI STOP MA STOP LA STOP JA STOP MITSCHIESTHER STOP 78
GUT ANGE STOP KOMMEN STOP ABHAU GEGLÜCKT STOP MUTTER MUTTER MUTTER STOP HEUL STOP HASSEHASSEHASSE STOP KOLIBRI STOP DISCO DISCO DISCO STOP KETTE STOP BRILLANT STOP LÜGLÜGLÜG STOP ROCKWIESO ROCKWIESO ROCKWIESO STOP HAHAHA STOP E STOP Die restlichen sechs hatten alle den gleichen Inhalt, genau wie die zwei am Anfang, die man ebensogut auch an einer anderen Stelle hätte einordnen können. Sie bestanden nur aus DROH DROH DROH STOP einmal auch nur in zweifacher Wiederholung, also nur DROH DROH STOP. »Polke«, rief ich leise, als ich mit der Zusammen stellung fertig war. »Hallo, Polke! Kannst du mal kommen? Ich ... bin ... so...« Die letzten Worte brachte ich vor lauter Heulen nicht mehr heraus. Ich schmiß mich auf mein Bett und schluchzte ins Kopfkissen, damit es nicht so laut klang und Herr Hunkele nichts merkte, falls er doch noch in der Nähe war. 79
Aber kein Polke erschien. Ich setzte mich auf und trocknete mir die Tränen. Ich muß mich zusammennehmen, dachte ich, die Sache eilt. Die Telegramme müssen verschwinden, und zwar sofort. Aber wie? Ob ich sie einfach ins Klo schmeißen sollte? Oder in kleine Fetzen zerreißen und zuunterst in die Mülltonne werfen, gut verteilt, damit niemand sie finden konnte? Nie, nie, nie? Oder war ich etwa verpflichtet, sie den Eltern zu zeigen, damit sie wissen, wo Esther sich aufhält? Womöglich würden sie sie überall suchen, nur weil ich das Telegramm-Geheimnis nicht preisgegeben habe? Ich kam nicht weiter mit meinen Überlegungen. Unschlüssig hielt ich den Stapel Papier in der Hand und wünschte mir, daß er sich in Luft auflöste... Als ich gerade zu dem Schluß gekommen war, daß ich die Eltern doch lieber informieren sollte, spürte ich, wie mir jemand etwas in die Hand drückte - etwas Kleines, Rechteckiges. Ich hielt es dicht vor die Augen, um es besser er kennen zu können. Es war ein winziges Päckchen Streichhölzer, so wie man sie immer an Meseburgs Kiosk als Zugabe bekommt, nur kleiner. »Polke?« fragte ich. Aber es kam keine Antwort. »Und was soll ich damit machen?« fragte ich weiter. Immer noch keine Antwort. Dann wußte ich's plötzlich von allein, was ich damit machen sollte. Es ging fast wie von selbst. Ich stapelte 80
die Telegramme auf meinem Nachttisch, holte die Blumenvase mit den drei Rosen von Mutter, damit ich notfalls löschen konnte, und hielt ein Streichholz an das Papier. Es brannte sofort. Das einzige, was übrigblieb, waren ein paar hauchdünne Reste. Wie schwarze Fetzen sahen sie aus. Ich war kolossal erleichtert. Das wäre geschafft, dachte ich. Kein Mensch wird jemals etwas von den Telegrammen erfahren. »Danke, Polke!« flüsterte ich zum Schrank hin. »Danke für die tolle Idee!« Aber Polke meldete sich immer noch nicht. Wo möglich war gar nicht er es gewesen, der mir die Streichhölzer gegeben hatte, sondern jemand anderes? Aber wer außer mir sollte ein Interesse daran haben, die Telegramme zu vernichten? Hunstein vielleicht? Aber warum? Ich wollte gerade gründlicher darüber nachdenken, als plötzlich das Fenster aufflog und ein so heftiger Windstoß von draußen hereinfegte, daß alles wie wild durcheinanderwirbelte und die schwarzen Fetzen wie ein Bienenschwarm vor meinen Augen tanzten. Sie segelten durch die Luft, drehten sich, zerstoben in winzige Teile und schwebten wieder zu Boden. Im Nu war alles mit dem schwarzen Zeug bedeckt. »Hilfe!« rief ich. »Hilfe!« Sogar auf meinem Ge sicht klebten die Fetzen. Ich wischte sie fort, rieb sie mir aus den Augen, aus dem Haar, von den Händen es nützte nichts, immer neue kamen hinzu. »Hilfe!« 81
rief ich wieder. »Hilfe!« Dann, unvermittelt wie er gekommen war, hörte der Wirbelsturm wieder auf, und im Zimmer war es so ruhig, daß ich es um so mehr mit der Angst bekam. Immerhin war ich noch in der Lage, das schwarze Zeug mit den Händen zusammenzukehren und vorsichtig aus dem Fenster zu streuen. Draußen war ein Gewitter aufgezogen - jetzt merkte ich es. Ich sah zu, wie die Asche draußen weggepustet wurde, und setzte mich erschöpft auf mein Bett. Von Erleichte rung spürte ich nichts mehr. »Polke«, versuchte ich's noch einmal, »was hat das alles zu bedeuten?« Aber auch jetzt blieb Polke stumm. Vielleicht be fand er sich gar nicht im Schrank. Dann, endlich, sah ich ihn herankriechen - vorsich tig, als wolle er nicht entdeckt werden. »Psst!« machte er und sah zu mir herauf. »Kannst du mich hören?« »Klar!« Ich beugte mich hinunter. »Dieser Idiot von Vogel hat das Fenster aufgesto ßen! Der wollte dich nur reinlegen! Außerdem halte ich es für wahnsinnig, so wertvolle Telegramme zu vernichten! Kümmere dich lieber um deine Schwester, verstanden?« »Du warst es also nicht, der mir die Streichhölzer gegeben hat?«fragte ich. »Pff«, machte Polke verächtlich. »Ich bin doch nicht blöd! Bedank dich lieber bei Hunstein...« Und 82
damit war er auch schon wieder fort. Ich konnte gerade noch sehen, wie er im Schrank verschwand. Ich blieb sitzen und dachte nach. Was hatte er gesagt? ›Kümmere dich lieber um deine Schwester‹? Was mochte er damit gemeint haben? Ich stand auf und schloß das Fenster.
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Zwischenerklärung Inzwischen, nachdem ich gründlicher darüber nachgedacht habe, bin ich der Meinung, daß es sich in dieser Nacht doch nur um Einbildung gehandelt hat. Denn erstens war Herr Hunkele am nächsten Tag wieder ganz normal, und zwei tens habe ich mich mit eigenen Ohren davon überzeugen können, daß sich Esther in Wupper tal aufhielt. Die Telegramme waren eindeutig gefälscht. Mia
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Wie ich mit Esther telefoniert habe Der Freitag begann mit einer Art Eingebung. Als ich aufwachte, war sie da, die Eingebung, ganz selbstverständlich. Allerdings dauerte es eine Weile, bis ich sie in die Tat umsetzen konnte. Eine gute Stunde später war es endlich soweit. Ich zog mich an, vergewisserte mich, daß Mutter draußen im Garten beim Rosenschneiden war, und ging nach unten zum Telefon. Oma Wuppertals Nummer kann ich auswendig. Oma war sofort am Apparat. »Mialein, du? So früh schon? Wie geht's dir denn? Bist du wieder ganz gesund?« »Ja, ja ... völlig. Danke. Kann ich Esther mal spre chen?« Oma Wuppertal tat so, als hätte ich einen hervorra genden Witz gemacht. »Esther? Jetzt? Mitten in der Nacht?« Oma lachte herzlich. »Da scheinst du dein Fräulein Schwester aber schlecht zu kennen.« »Ich möchte sie trotzdem sprechen. Es muß sein. Könntest du sie bitte wecken? Sofort?« Oma Wuppertal pfiff leise vor sich hin, ungefähr so wie Scherry Schuster, wenn er der Vivi Krautlechner hinterherguckt. »Na, wenn's so dringend ist...« meinte sie, und ich hörte, wie sie ins Zimmer neben der Küche ging, um Esther zu wecken. »Estherlein, Liebling, wach auf! Die Mia muß dich dringend sprechen! Schnell!« 85
Ich hörte Esther knurren: »Hn? Wer? Jetzt?« Sie schien sich wieder auf die Seite zu drehen und weiter zuschlafen. Oma versuchte es noch einmal. »So hör doch mal, Liebling! Es ist dringend! Mia hat es ganz ernst gemeint. Irgend etwas Wichtiges, verstehst du?« Esther schien nicht zu verstehen. »Bestell ihr, daß sie mich gern haben könnte...« Aus. Wieder eine Pause. »Also los! Auf!« Oma wurde energisch. »Mia wird schon ihre Gründe haben...« Endlich war Esther am Apparat. »Sag mal, spinnst du? Kann man sich nicht mal im Urlaub ausschlafen?« Ich blieb ruhig. Ich hatte mich gut vorbereitet. »Bist du allein?« fragte ich. »Ja. Oma ist auf dem Balkon. Jan pennt noch. Also los! Was gibt's?« Esther wurde etwas freundlicher. »Paß auf«, sagte ich, »ich rede, und du antwortest mit ›Ja‹ oder ›Nein‹. Wenn ich plötzlich auflege, ist Mutter ins Zimmer gekommen, und ich rufe später noch mal an, okay?« »Okay. Nun mach schon!« »Erstens: Ich war in deinem Zimmer. Ist das schlimm?« »Ja.« »Zweitens: Ich mußte aus bestimmten Gründen deine Tischschublade öffnen. Warum, erkläre ich dir später.« 86
»Was?« rief Esther. »Du bist wohl -« »›Ja‹ oder ›Nein‹, bitte«, unterbrach ich sie. »Jetzt kommt das Wichtigste. Soll ich die Notizbücher vernichten oder nicht?« »Welche Notizbücher?« fragte Esther erstaunt. »Wovon redest du überhaupt?« »Zum Beispiel das weinrote. Mit den Sätzen über L. Du weißt schon.« »Ach so!« machte Esther, als hätte sie wirklich erst jetzt begriffen, wovon ich rede. »Das alte Ding da! Und was ist damit los?« »Da stehen so...« Ich geriet plötzlich ins Stottern. Und dabei hatte ich mich wirklich gut vorbereitet. »Da stehen so furchtbare Sachen drin«, brachte ich schließlich heraus. Ich habe mich ziemlich über mich geärgert, daß ich das nun so blöde gesagt hatte. »Über ... L.«, habe ich dann noch mal wiederholt. »Wenn Mutter das liest...« Esther lachte, allerdings nur leise. »Also ich will dir mal was sagen, ja? Wenn Mutter meine Tagebücher liest, ist sie selber schuld. Außerdem weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich da alles zusammengeschrieben habe. Das ist doch mindestens schon ein Jahr her.« »Ich soll es also nicht vernichten?« Ich heulte fast. Warum, weiß ich auch nicht. »Nein, verdammt noch eins. Das ist doch 'n Doku ment. Dokumente vernichtet man nicht! Außerdem ist das meine Sache und nicht deine, verstanden?« »Ja.« 87
»Noch was?« fragte Esther. »Ja, 'n Brief von Mitschi habe ich auch gelesen.« »Mitschi?« fragte Esther. »Wieso denn Mitschi?« »M.«, sagte ich. »Der kleine weiße Brief unter dem Zettel.« Esther holte tief Luft. »Was?« rief sie wütend. »Nun reicht's mir aber! Fremde Briefe lesen ist gemein. Hundsgemein! Kapiert?« »Ja.« Esther wurde immer wütender. »Wie bist du über haupt dazu gekommen, he? Oder glaubst du vielleicht, ich habe das Schild nur zur Verschönerung ange bracht? Ich hab's doch extra draufgeschrieben, daß du nicht schnüffeln sollst!
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Aber so was wird ja bei Mischkes glatt übersehen. Kennt man ja schon. Und überhaupt stinkt's mir, wie man zu Hause -« Esther machte eine kleine Pause. Im Hintergrund hörte ich Schritte. Wahrscheinlich war Oma in die Küche zurückgekommen. Das Telefon steht dort auf der Anrichte. »Esther?« fragte ich vorsichtig in die Pause hinein. »Esther, hörst du mich?« »Ja doch... Moment mal...« »Esther, noch einmal ›Ja‹ oder ›Nein‹, geht das?« Die Schritte gingen zur Tür. »Macht Schluß, Kin derchen«, sagte Oma, »das wird zu teuer.« Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. »So, weiter«, sagte Esther in verändertem Tonfall. Vielleicht war Oma doch noch in der Nähe. »Hast du noch was auf Lager?« »Ja. Leider.« »Los, mach schnell!« »In deinem Rüschenrock ist ein Dreieck. Ich bin damit in die Briefkastenrosen gefallen.« Wieder eine Pause. Esther schien nicht zu begreifen. »In meinem Rüschenrock -? Was soll das heißen?« »Weil ich ihn anprobiert habe. Und dann bin ich ausgerutscht und in die Briefkastenrosen gefallen.« »Briefkastenrosen? Also noch mal langsam: Du meinst meinen neuen rosa Rock? Und der ist zerfetzt?« »Ja. Ein bißchen. Ich habe ihn aber schon fast wie der zugenäht.« »Was ist'n hier los?« hörte ich eine andere Stimme 89
im Hintergrund. »Habt ihr sie nicht mehr alle? Einen brutal aus dem Bett zu schreien!« Es war Jan. Er ging hörbar an den Spültisch und ließ das Wasser laufen. »Und was zahlst du mir dafür?« fragte Esther. »Ich brauch demnach was Neues. Ersatz. Kapiert?« »Och...« machte ich. Mit dem Bezahlen hatte ich nicht gerechnet. »Ich hab noch was auf'm Sparbuch, glaube ich.« »Okay. Darüber können wir noch verhandeln. Mo ment - Jan spritzt hier mit Wasser rum. Herrgott noch mal - muß das sein?« Das war an Jan gerichtet. »Schluß jetzt! Mir reicht's!« Das galt wieder mir. »Esther!« rief ich. »Warte! Leg noch nicht auf!« Esther schnaubte. Wahrscheinlich verdrehte sie die Augen. »Jaaa?« Jan begann jetzt laut zu singen. Dazu dröhnte plötz lich das Radio im Hintergrund. »Esther? Hörst du mich noch?« »Ja doch! Verdammt!« »Esther? Willst du wirklich -« Ich stotterte schon wieder. »Ich meine, ob du wirklich abhauen willst, mit - eh - M.?« »Abhauen? Wieso? Wer sagt das?« »Es steht in dem Brief...« »In welchem?« »Von M. In dem kleinen weißen. Unter dem Zettel.« »Ach so. Klar haue ich ab. Irgendwann bestimmt, das kannst du glauben.« »Aber nicht sofort?« 90
Esther lachte. »Nein, nein, nein«, machte sie ge dehnt, als ob sie mein Gerede jetzt allzu sehr anöde. »Kannst dich wieder abregen. Und Lilo kannst du 'nen Gruß bestellen. Bist du jetzt beruhigt?« Ich schluckte. Mir war plötzlich höchst vergnügt zumute. »Also denn - das war's. Danke.« Ich legte auf und rannte schnell aus dem Zimmer. Mutter war noch immer im Garten. Ich sah von der Haustür aus, wie sie an den Briefkastenrosen herum schnitt. »Na?« machte sie, ohne aufzusehen, »Willst du mir helfen?« Ich ging an ihr vorbei, lächelnd wie Lady Agatha. Ehrlich, die ist mir plötzlich wieder eingefallen. Ich kehrte um und blieb neben Mutter stehen. Sie sah immer noch nicht auf. »Übrigens«, sagte ich, »ich habe eben mit Esther telefoniert. Ich soll dich grüßen.« Mutter richtete sich auf und sah mich an. »Mit Esther? Jetzt? Aber warum denn das?« »Nur so. Ich mußte ihr was mitteilen. Sie hat natür lich noch gepennt.« »Hoffentlich habt ihr euch kurz gefaßt. Die Tele fonrechnung war mal wieder katastrophal.« Mutter begann wieder mit dem Schneiden. »Ich war nämlich in ihrem Zimmer«, fuhr ich fort. »Da ist das auch mit der Kette passiert.« Mutter nahm den Korb mit den abgeschnittenen 91
Rosen und trug ihn zum nächsten Strauch, direkt neben mir. Das Wort »Kette« schien sie nicht in sich aufgenommen zu haben. »Ich meine, daß die Kette in Esthers Schublade gelegen hat.« Mutter setzte den Korb ab, stellte ihn auf den Kiesweg. Ich merkte, daß sie schon wieder an was anderes dachte. Außerdem kam Frau Reinmiller gerade von drüben ans Gartentor. »Na, Mia? Wieder gesund?« Ich nickte. Ich hätte Frau Reinmiller auf den Mond schießen können. Zu allem Übel kam auch noch Ferdl hinterher. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »Olé«. Er sah ziemlich blöd aus darin. Ich habe ihn bewußt nicht beachtet und bin ein bißchen hin und her gelaufen. Mutter stellte Frau Reinmiller ein paar Fragen. »Es war traumhaft schön!« sagte Frau Reinmiller. »Ein Himmel wie Seide! Und das Frühstück -« Ich entfernte mich. Frau Reinmillers kreischende Stimme kann einen wahnsinnig nerven. Ferdl kam hinter mir her. »Gehn wir Eis essen?« fragte er. »Ich könnte dich einladen.« »Och«, sagte ich, »vielleicht später.« Ferdl wich nicht von meiner Seite. »Ihr wandert, nicht wahr? Ich finde Wandern blöd.« »Ich nicht.« »Am Strand bei uns waren Super-Surfer.« »Interessant.« »Surfen ist gar nicht so einfach, das kannst du 92
glauben.« »Glaub ich.« »Und im Bus ist die Klimaanlage ausgefallen. Es waren mindestens sechzig Grad.« »Im Schatten.« »Im Bus! Der Fahrer mußte das Lenkrad mit Stoff umwickeln, sonst hätte er's nicht anfassen können.« »Toll.« »Ferdl!« rief Frau Reinmiller. »Kommst du mit, oder bleibst du noch hier? Ich muß jetzt einkaufen gehen!« »Okay«, rief Ferdl zurück. »Ich bleibe!« Frau Reinmiller verabschiedete sich und schwebte von dannen. Wahrscheinlich fühlte sie sich immer noch wie in Teneriffa. Das Gespräch über die Kette konnte ich erst mal vergessen. Das war mir klar. »Gehn wir jetzt Eis essen?« fragte Ferdl schon wieder. »Von mir aus...« Wir gingen zur Venezia-Eisdiele. Die doppelte Portion Pistazieneis, die ich mir bestellte, hat Ferdl ganz schön viel gekostet. Als wir zurückkamen, war Mutter nicht mehr im Garten zu sehen. Dafür aber jemand anderes, nicht im Garten, aber an der Gartentür. Nämlich Herr Hunkele. »Nun, Mia? Hast du dich von deinem Sturz wieder erholt?« fragte er freundlich. »Ja, natürlich!« antwortete ich. »Den Rock habe ich inzwischen wieder zusammengenäht.« Ich war irgendwie erleichtert, Herrn Hunkele zu sehen. 93
Eigentlich sah er so aus wie immer. »Soso...« machte er und gab mir die Post. Ich merk te sofort, daß zuoberst eine Postkarte lag, eine ziem lich bunte mit knallblauem Himmel und weißen Häusern. Aber sie war nicht an mich adressiert, sondern an Esther. Bitte nachsenden! stand neben der Anschrift. Die Unterschrift lautete M. Ich vermied es, den Text zu lesen, dessen Schrift mir bekannt vorkam, und studierte nur den vollen Namen, oben links, gegenüber vom Datum. »Mike Zöllner« stand dort, oder so ähnlich. »Z. Zt. Heraklion, Kreta«. »Soll ich die Karte sofort nachschicken?« fragte ich Herrn Hunkele. »Was meinen Sie?« »Abgemacht«, sagte er und zückte seinen Kuli, »das haben wir gleich.« Ich nannte ihm Oma Wuppertals Adresse. Herr Hunkele legte die Karte auf sein Knie, adressierte sie um und ließ sie in einem Extrafach seiner Tasche verschwinden. »Danke, vielen Dank!« sagte ich, während Herr Hunkele weiter zu Krähwinkels ging. Es war jetzt zehn Uhr dreiundfünfzig. Ferdl, der uns die ganze Zeit über beobachtet hatte, stand immer noch neben mir. »Tolle Briefmarke«, sagte er, »hast du die gese hen?« Ich nickte flüchtig. »Tolle Briefmarken von Esther gehen mich nichts an. Und was machen wir jetzt?« Wir beschlossen, uns hinten in die Liegestühle zu 94
legen, die Esther und Lizzi meistens mit Beschlag belegten, und wanderten langsam nach hinten in den Garten. Eigentlich war es ein richtig schöner Morgen, und auch das Vogelgezwitscher überall in den Bäu men paßte dazu. »Sag mal«, fragte ich Ferdl nach einer Weile, »lügst du eigentlich manchmal?« »Och...« machte Ferdl und sah in den Himmel. »Eigentlich nicht direkt... Warum willst'n das wissen?« »Nur so«, erwiderte ich, »es interessiert mich eben.« »Hmhm.« Ferdl drehte sich zu mir um. »Du hast wohl bestimmte Gründe, wie?« fragte er. »Nö...« machte ich. »Es ist mehr so allgemein... Und was würdest du antworten, wenn dich jemand fragt, ob Nicht-Erzählen dasselbe wie Lügen ist?« Ferdl begriff nicht sofort. »Noch mal bitte«, sagte er. »Was du auf die Frage antworten würdest, ob Nicht-Erzählen dasselbe wie Lügen ist«, wiederholte ich. Ferdl überlegte einen Augenblick. Dann grinste er, als hätte er wer weiß was Geheimes herausgefunden. »Du meinst wegen der Postkarte eben, nicht wahr?« »Hahaha«, machte ich und gab es auf. Ferdl war einfach noch zu blöd für solche Fragen. Dann erzählte er wieder von seinen Super-Surfern in Teneriffa, und ich stellte mich halb schlafend, weil ich Wichtigeres zu bedenken hatte.
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Wie ich endlich alles erzählt habe Der Nachmittag verlief äußerst hektisch. »Urlaub! Ferien! Es kann losgehen!« rief Vater, als er früher als sonst nach Hause kam. Dann rannte er wie ein Ver rückter hin und her, schleppte Koffer ins Auto, putzte seine Wanderschuhe, bürstete den Rucksack mit Seifenschaum, rief Mutter zu, ob sie die Wanderkarte eingepackt habe, suchte nach seiner Sonnenbrille und so weiter. Es war so, wie es immer ist, bevor wir wegfahren, nur noch etwas hektischer. Ich stand meistens irgendwo herum. Mein Koffer war fertig gepackt, von mir aus hätte es sofort losgehen können. Zweimal habe ich die Gedankenübertragung mit Joki gemacht, weil ich sie etwas fragen wollte. Joki ist nämlich mutiger als ich, viel mutiger sogar. »Joki, Joki, komm herfür, trete jetzt durch diese Tür«, habe ich gemurmelt. Aber irgendwie war Joki zu verschwommen vor meinen Augen, um sie richtig zu fragen. Außerdem hätte sie mir meine Frage wahrscheinlich sowieso nicht beantworten können, weil sie ja die Zusammenhänge nicht kannte. Da hätte ich ihr viel zuviel erklären müssen. Erst beim Abendbrot war alles wieder einigerma ßen ruhig und normal. Und das mit meiner Frage hat sich dann plötzlich sozusagen von selbst erledigt. Es war nämlich so, daß Vater mitten beim Essen erstaunt auf Mutters Hals sah und dann direkt an schließend einen Satz sagte, der eine Art Signal für 96
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mich bedeutete. »Na, Lilo«, sagte er, »da hast du ja deine Kette wiedergefunden. Und? War sie bei unserer Lady?« »Ja«, antwortete Mutter ziemlich unaufmerksam, weil sie gerade Tee einschenkte. »Natürlich. Ich hätt's mir ja gleich denken können...« Ich erschrak. Gab's das wirklich, daß eine Mutter einfach nicht zuhört, wenn man ihr was erzählt? Ich wußte es doch ganz genau, daß ich das Wichtigste bereits gesagt hatte - heute morgen, bei den Rosen. Wahrscheinlich war die blöde Frau Reinmiller daran schuld. Und dann war plötzlich alles ganz einfach. Ich habe nämlich sozusagen von allein geredet. Ich meine, ich brauchte mich überhaupt nicht mehr anzustrengen, um endlich alles das zu erzählen, was ich mir zurechtge legt hatte. Und auch das Problem, ob ich heute morgen schon ausreichend gebeichtet hatte, war plötzlich gar kein Problem mehr. Genau das war es nämlich gewesen, was ich Joki hatte fragen wollen. »Esther ist unschuldig«, begann ich ganz ruhig. Beziehungsweise fast ganz ruhig. »Ich habe es doch bereits mitgeteilt, daß ich es war. Esther kann über haupt nicht das Geringste dafür.« »Wofür?« fragte Mutter, ohne ihr Tee-Einschenken zu unterbrechen. Sie sah mich nicht einmal an, während sie es fragte. »Für die Kette«, antwortete ich. »Ich meine dafür, daß sie in ihrer Schublade lag.« 98
»In ihrer Schublade?« fragte Vater und nahm sich eine neue Wurstscheibe. »Was meinst du damit?« »Ich meine«, fuhr ich fort, »weil ich doch das Näh zeug gebraucht habe, wegen dem Rüschenrock, und dann alles so schnell ging, und Mutter schon die Treppe raufgekommen ist, und ich in der Eile nicht gewußt habe, wo ich die Kette lassen sollte... Und dann habe ich sie einfach in die Schublade geschmis sen, mit dem Nähzeug zusammen, weil ich doch nicht wollte, daß alles herauskommt. Und weil ich doch das Fieber hatte und versprochen hatte, daß ich im Bett bleibe...« Die Eltern sahen mich an, als hätte ich schon wie der hohes Fieber und würde phantasieren. Außerdem mußte ich mir plötzlich Mühe geben, nicht loszuheu len, was bestimmt auch etwas merkwürdig gewirkt hat. Ich habe aber nicht geheult, nur meine Stimme hat ein bißchen wacklig geklungen. »Also nun noch mal von vorn«, sagte Mutter und hörte endlich mit dem Tee-Einschenken auf. »Was erzählst du da? Du hast die Kette -« Sie sagte das fast mitleidig, so wie die Wissner in der Schule, wenn man nicht weiter weiß und sie wiederholt noch mal den Anfang, um einem nachzu helfen. Ich holte Luft und begann von neuem, das heißt, ich sagte alles noch mal, nur mit anderen Worten. »Also - ich war doch allein, ja? Am Mittwoch war das, als das mit dem Zahnarzt war. Und dann habe ich 99
plötzlich den -« Ich wollte »Vogel« sagen, aber dann fiel mir noch gerade rechtzeitig ein, daß ich von dem nichts erzählen wollte. Weil es ja vielleicht doch nur Einbildung gewesen ist, und weil die Eltern nicht denken sollten, ich bilde mir wer weiß was ein, wenn ich allein im Haus bin »Und dann ist es mir plötzlich zu öde geworden im Bett, und ich bin ins Bad gegangen und habe den Morgenrock anprobiert und -« »Den Morgenrock?« Das war wieder Vater. »Was denn für 'n Morgenrock?« »Meinen roten wahrscheinlich«, sagte Mutter, als ob sie mich verteidigen wollte, »der ist gut geeignet zum Verkleiden, ich weiß...« Ich nickte. »Ja, sehr gut sogar. Und dann ist mir eingefallen, daß noch eine Schärpe fehlt, weil ich mir nämlich eingebildet habe, daß ich so 'ne Art Priester bin, und dann habe ich aus Versehen plötzlich in Esthers Zimmer gestanden und habe nach den Indien tüchern gesucht. Weil die doch so als Schärpe geeig net sind. Und dann -« »Mein Gott, Mia«, unterbrach mich Vater ziemlich ungeduldig, »so genau brauchst du's nun wirklich nicht zu erzählen. Was war los mit der Kette? Das ist doch viel wichtiger! Ich meine, warum läßt du den Verdacht erst auf Esther sitzen und erzählst nicht gleich, was passiert ist. Das ist doch unfair. Und auch 'n bißchen feige. Findest du nicht auch?« Jetzt mußte ich leider doch losheulen. Aber ich 100
beherrschte mich. Jedenfalls gab ich mir Mühe, mich zu beherrschen. »Aber sie wußte doch gar nicht, daß ich meine Kette vermisse«, log Mutter. Ich wußte, daß sie gelogen hatte, und ich wußte auch, daß Mutter es wußte. Das machte eigentlich alles noch schlimmer. »Doch...«, sagte ich mit ziemlich zittriger Stimme. »Ich hab's gewußt. Ich habe doch gehört, wie du mich gefragt hast, ob ich nicht wüßte, wo die Kette ist. Und als ich da ›nein‹ gesagt habe, konnte ich doch hinter her nicht mehr zugeben, daß es nicht stimmte...« »Und warum nicht?« fragte Vater. »Mutter ist doch kein Unmensch! Je eher man was zugibt, um so besser... Du tust ja gerade so, als ob wir dir den Kopf abreißen... Jedenfalls finde ich's schlimmer, man beschuldigt seine Schwester, die überhaupt nichts dafür kann, als daß man eine Schwindelei zugibt. Das ist meine Meinung, falls du sie wissen willst.« Vater war alles andere als mitleidig. Im Gegenteil er wirkte fast wütend. Eigentlich hatte ich ihn selten so erlebt, weil er mich sonst immer in Schutz nimmt gegen Jan und Esther. Wenn die die Überlegenen spielen oder so. Mutter fing noch mal mit der Wissner-Methode an: »Also, Liebling«, sagte sie geduldig, »du warst plötzlich in Esthers Zimmer ... und dann - wie ging's weiter?« »Und dann habe ich den Rüschenrock anprobiert, und da sah ich plötzlich aus wie Lady Agatha -« 101
»Wie wer?« fragte Vater. »Wie so 'ne Lady, die ich mal im Fernsehen gese hen habe. Und dann habe ich die Kette genommen, weil die Lady immer soviel Schmuck trägt, und dann -« »Wo lag die Kette?« Vaters Stimme klang immer noch ziemlich wütend. »Auf dem Nachttisch, im Schlafzimmer.« »Klar«, sagte Mutter. »Da hatte ich sie hingelegt. Und dann?« »Und dann bin ich in den Garten gegangen -« »In den Garten?« fragte Mutter entsetzt. »Aber du solltest doch im Bett bleiben! Du hattest doch Fieber!« Ich konnte vorübergehend nicht weitersprechen, weil mir plötzlich alles zuviel wurde. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Und mit dem Heulen konnte ich mich auch nicht mehr beherrschen. Plötz lich lag Vaters Hand auf meiner Schulter. »Nun komm, nun komm«, tröstete er mich. »Ist doch alles halb so schlimm... Wir haben ja auch mal gelogen, früher, Mutter und ich...« Ich mußte immer mehr heulen, konnte gar nicht mehr reden vor lauter Heulen. Das heißt, ich habe trotzdem weitergeredet, irgendwie. »Und dann ist Jokis Postkarte gekommen, und ich bin vor Aufregung in die Briefkastenrosen gefallen, und der Rock hat ein Dreieck gehabt, und das habe ich nähen wollen, und dann ist Mutter gekommen, und dann -« »Und dann hast du alles in die Schublade ge 102
schmissen«, beendete Vater meinen Satz. »Nun wissen wir's also genau.« Er nahm die Hand wieder fort und begann weiterzuessen. »Und nun reicht's auch, finde ich.« Er nahm sich ein Stück Käse. »Findet ihr nicht auch? Ich würde sagen«, meinte er und biß in sein Brot, »es handelt sich um eine Verkettung unglückseliger Umstände. Und das kann schließlich jedem mal passieren. Abgemacht?« Ich sagte nichts darauf. Mir war so elend wie noch nie in meinem Leben. »Nun iß was«, sagte Mutter. »Morgen ist ein an strengender Tag.« Wir haben dann ziemlich schweigsam weitergeges sen, und keiner hat mehr darüber gesprochen. Ich habe nur gemerkt, daß die Eltern doch noch darüber nachgedacht haben. Ich weiß nicht, woran ich es gemerkt habe. Ich glaube, an ihren Gesichtern. Als wir vom Tisch aufstanden und Vater schon wieder draußen am Auto war, fing Mutter dann doch noch mal davon an. Ich habe ihr gerade geholfen, das Geschirr rauszutragen. »Nur eins will mir nicht in den Kopf, Mia«, sagte sie leise und auch ziemlich traurig, wie's mir schien, »nämlich warum du mir das alles nicht gleich erzählt hast. Das war doch ein richtiges Theaterspielen, was du da veranstaltet hast... Und darüber bin ich wirklich ziemlich böse. Und enttäuscht. Daß du die Kette genommen hast - meinetwegen. Und daß du dich hinterher so aufgeregt hast - auch das kann ich 103
verstehen. Nur nicht, daß du so lieb und freundlich getan hast, obwohl du so 'n schlechtes Gewissen hattest. Findest du das nicht auch ziemlich schlimm?« »Ja«, sagte ich und wunderte mich über mich selbst, wie ruhig ich das rausbrachte. »Ja. Sehr schlimm sogar.« »Na, dann ist's ja gut«, sagte Mutter und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. »Dann brauchen wir ja nicht weiter darüber zu reden.« Ich ging nach oben in mein Zimmer. Eigentlich hatte ich nur noch den Wunsch, daß dieser Tag endlich zu Ende wäre. Von Esthers Notizbuch hatte ich nichts gesagt. Das immerhin war mir gelungen. Und das war ja die Hauptsache. Langsam, ganz langsam begann ich nun doch, mich auf die Reise zu freuen.
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Wie wir endlich losgefahren sind »Haben wir auch wirklich alles eingepackt?« fragte Mutter beim Einsteigen. »Ich habe das Gefühl, wir haben die Hälfte vergessen.« Vater fuhr los. »Das Gefühl hast du immer«, meinte er fröhlich, »du kannst ja noch mal aufschließen und alles durchsuchen.« Mutter antwortete nichts darauf. Nur ich hatte lei der noch etwas zu bemerken. »Meine Uhr!« sagte ich ziemlich dünn. »Ich hab meine Uhr vergessen!« »Himmelkreuzdonnerwetter noch mal!« fluchte Vater. »Daß man auch nie normal losfahren kann wie andere Leute!... Also gut - kehren wir wieder um...« Er gab eine Art Schnaubton von sich. Er wendete und fuhr zurück. Wir waren sowieso erst in der Keilmeyerstraße. Es gab also keinen Grund zur Aufregung. Ich schloß auf, rannte nach oben, sah auf meinen Nachttisch und hielt die Luft an vor Schreck. Die Uhr war weg! »Es ist doch wirklich wie verhext!« rief ich. »Gibt's hier vielleicht Gespenster?« Dann atmete ich auf. Die Uhr lag auf meinem Kopfkissen - wahrscheinlich hatte ich sie vorhin dort liegenlassen. Während ich sie umband, drehte ich mich schnell zum Schrank um und sah gerade noch, wie die Schranktür von innen zugezogen wurde. Ich 105
schloß sie noch einmal richtig ab und rannte wieder auf die Straße. »Noch mal kehre ich nicht um«, sagte Vater, »daß ihr's wißt.« Seine Stimmung hatte sich wieder gebessert. »Ab morgen wird gewandert, wandert, wandert...« sang er vor sich hin. »Und jeden Tag gibt's Pilze ... Pilze ... Pilze...« sang Mutter, ebenfalls höchst vergnügt. Ich lehnte mich zurück und sah ihr Gesicht im Rückspiegel. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich ungeheuer erleichtert. »Esther und Jan sind schön blöd, daß sie nicht mit kommen«, fuhr Mutter fort. »Gerade Esther hätte es so nötig, mal an die frische Luft zu kommen... Immer hat sie nur ihre Discos und Rüschenröcke im Kopf...« »So ist es«, sagte Vater und überholte einen Laster. »Und bei unserem Mialein dürfen wir das alles dann noch einmal erleben. Stimmt's?« Er drehte sich kurz zu mir um und grinste. Ich hielt den Mund und grinste zurück. Nur solche verdammten Notizbücher werdet ihr nie bei mir finden, dachte ich. Ich schwöre es, so wahr ich hier sitze. Dann lehnte ich mich noch weiter zurück, hörte auf das gleichmäßige Motorengeräusch und machte eine längere Gedankenübertragung mit Joki, um ihr ausführlich alles zu erzählen.
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