Manfred Weinland
Metamenschen Bad Earth Band 21
ZAUBERMOND VERLAG
Bad Earth Hardcover Nr. 21 Metamenschen von Manfr...
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Manfred Weinland
Metamenschen Bad Earth Band 21
ZAUBERMOND VERLAG
Bad Earth Hardcover Nr. 21 Metamenschen von Manfred Weinland
erschienen: März 2010
Dem Aquakubus entronnen, kreuzt die RUBIKON in sicherem Abstand zur Festung der Treymor. An Bord scheint langsam wieder alles seinen gewohnten Gang zu nehmen – bis Assur einen Vorschlag unterbreitet, der dramatische Konsequenzen nach sich zieht. Zur gleichen Zeit nehmen auch die Geschehnisse auf der fernen Erde einen so nie erwarteten Verlauf. Reuben Cronenberg, Alleinherrscher über die Erde-MondSphäre, sieht sich einem Gegner gegenüber, den er nicht auf der Rechnung hatte. Und der eigene Ansprüche geltend macht – auf alles …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen
schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen,
Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Die RUBIKON aber kehrt in die Milchstraße, ins Angksystem zurück und informiert die Bractonen über ihre besorgniserregende Entdeckung. Eine Expedition ins galaktische Zentrum bringt es dann an den Tag: Der kosmische Bereich, in dem die Menschen siedeln, steht vor dem Kollaps, vielleicht das ganze bekannte Universum. Den verwaisten Platz der von Kargor mobil gemachten CHARDHIN-Station hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes hat eine Negaperle eingenommen. Im Heimatkontinuum der ERBAUER scheint man beschlossen zu haben, das EXPERIMENT (unser Universum!) rigoros zu beenden. Nur unter Einsatz fast aller vorrätigen Tridentischen Kugeln gelingt es schließlich, die Negaperle zu eliminieren und eine neue »gesunde« CHARDHIN-Station im Milchstraßen-Black-Hole zu installieren. Die Gefahr scheint gebannt, doch wieder einmal machen die Treymor von sich reden. Der Aquakubus, die vielleicht größte technische Leistung der Foronen, befindet sich in ihrer Gewalt. Nur noch Taurt und ein paar Getreue leisten Widerstand. Die RUBIKON kann dem Terror, der in Tovah'Zara Einzug gehalten hat, mit knapper Not entkommen. Indes spitzt sich auch anderenorts die Lage zu – auf der fernen Erde beispielsweise …
Prolog GEGENWART Ein Baum – und andere Rätsel Jelto flanierte tief gebeugt die von ihm eigenhändig angelegten Wege entlang und nahm das Bild der Verwüstung wohl zum hundertsten Mal seit Verlassen des Aquakubus in sich auf. Eine Woche war es her, dass sie aus Tovah'Zara geflüchtet waren. Eine Woche, in der John Cloud die RUBIKON in ein Versteck gesteuert und dort gehalten hatte. Es befand sich in relativer Nähe zu der »Sonne«, hinter deren Maske der uralte Wasserwürfel sich verbarg – seit dort Treymor das Sagen hatten. In dieser Woche hatte Jelto den Schock zu verdauen versucht, der ihn bei seiner Rückkehr auf die RUBIKON erwartet hatte. Während der Abwesenheit des Großteils der Crew hatten die Treymor eine Säuberungsaktion ohne Gleichen durchgeführt. Ihr Ziel war es gewesen, jeglichen Widerstand an Bord zu brechen, der von Lebewesen ausgehen konnte. Der Ex-Besatzung, die vor dem Aufbringen des Rochenraumers spurlos von Bord verschwunden war und von der zu dem Zeitpunkt Teile wieder gesichtet worden waren. Die Treymor hatten eine tödliche Strahlenwelle durch das Schiff laufen lassen, der insbesondere die Gewächse des kleinen Paradieses zum Opfer gefallen waren, das Jelto im hydroponischen Garten geschaffen hatte. Seitdem präsentierte sich dieser Ort als Wüste. Das Erdreich war von ungesunder Farbe, nicht mehr schwarz und saftig wie der Humus, den Jelto hier ausgebreitet hatte. Alles wirkte krank und für alle Zeit verdorben, und im ersten Moment hatte Jelto tatsächlich geglaubt, noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen. Mit dem Komplettaustausch des Nährbodens. Inzwischen jedoch hatte er mittels seiner speziellen Psi-Kraft, die er über seine Aura entfaltete,
herausgefunden, dass längst nicht alles verloren war, was im Garten einmal spross und gedieh. Schon wenige Zentimeter unter der Oberfläche hatten Kulturen überlebt. Wurzelgeflechte, Myzelien, Samenkörner … Und dennoch fand Jelto für sich selbst keinen Weg, sich dieser Hoffnung zu widmen, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Er selbst war innerlich so tot wie der Boden, auf dem er dahinschritt. Verständlich wurde dies, wenn man bedachte, dass der Florenhüter jedes Pflänzchen, jeden Busch und jeden Baum als sein Kind betrachtete. Und hier waren nicht nur vereinzelt ein paar Gewächse eingegangen, was trotz aller Fürsorge und Pflege immer einmal passierte, hier waren – so schien es zunächst – alle seine Zöglinge ausgerottet worden. Er hatte so viel Zeit mit ihnen verbracht, so oft zu ihnen gesprochen und ihren lautlosen Stimmen gelauscht. Viele – die meisten eigentlich – von ihnen waren außerirdischen Ursprungs. Und in manch einer Gattung hatte ein Kollektivgedächtnis geschlummert, das anzuzapfen sein größter Ehrgeiz gewesen war. Auf diese Weise hatte er viel über die Herkunftswelten seiner Zöglinge erfahren; Dramen, Tragödien … aber mitunter auch beschwingte Komödien, die an ihn herangetragen worden waren. Hier in seinem Garten hatte Jelto in meditativer Ruhe Ausflüge in mannigfache Welten unternommen, indem er sich einfach nur dem öffnete, was seine Kinder ihm anboten. Und jetzt wandere ich über einen Friedhof, in dessen kränklicher Erde offenbar noch Spuren von Leben zu finden sind – Leben, das nicht von der Säuberungswut der Treymor erreicht und umgebracht wurde … aber will ich mich seiner annehmen? Will ich noch einmal ganz von vorne beginnen, auf das Risiko hin, dass auch das, was ich diesem Boden entlocke, irgendwann, durch irgendein Ereignis, wieder hin weggerafft wird? Genau diese Angst ließ ihn zögern. Ließ ihn nun schon zum hundertsten Mal in der zurückliegenden Woche mit sich hadernd durch die Ödnis flanieren. Bislang hatte er eine Antwort, die ihn überzeugt hätte, nicht gefunden. »Diese Barbaren!«
Jelto zuckte zusammen. Unweit von ihm stand ein Narge. Er hatte nicht bemerkt, wie er in den Garten gekommen war. Aber es genügte ein Blick, um zu sehen, dass es sich bei dem geflügelten Humanoiden mit der ockergelben Haut weder um Jiim noch um dessen Junges Yael handelte. Charly! Eine andere Möglichkeit blieb nicht, denn es gab nur diese drei … (diese zwei, korrigierte sich Jelto) Nargen an Bord der RUBIKON. Misstrauisch wandte er sich dem in besonderer Weise mit Yael verbundenen Phantom zu. »Was tust du hier?« »Mitleiden.« »Mit wem?« »Mit dir natürlich. Wem sonst?« Jelto machte ein paar schnelle Schritte auf das weder reale noch völlig irreale Wesen zu, von dem Jiim ihm in einer stillen Stunde erzählt hatte. Charly war kein Unbekannter mehr. Anfänglich hatte ihn selbst Sesha verleugnet, aber inzwischen schien erwiesen zu sein, dass er existierte, irgendwie jedenfalls. Sein Schöpfer war Yael, der damit ein noch weitgehend unerforschtes Paratalent demonstrierte, von dem er lange selbst nichts geahnt hatte. Jelto glaubte sich zu erinnern, dass Charly bei seinen ersten Auftritten noch von perfekt menschlicher Gestalt gewesen war und sich erst nach und nach den Nargen angeglichen hatte. Warum und wieso – darüber schieden sich die Geister, selbst Yael schien dazu keine gefestigte Meinung zu haben. Charly machte keine Anstalten, vor Jelto zurückzuweichen. Mit stoischem Gleichmut stand er in einem ehemaligen Blumenbeet. Jelto brauchte fünf Schritte, um den imaginär-realen Nargen mit seiner Aura zu berühren. Zwei weitere Schritte, und Charly tauchte komplett in das vitalisierende Licht, das Jeltos Körperzellen erzeugten. Es war mehr als bloße Helligkeit, es war Jeltos sechster Sinn. Über die Aura kommunizierte er mit seinen Pflanzenkindern, und über die Aura leitete er ihnen die Energie zu, die sie zum besonderen Gedeihen anregte. Jelto hatte keine Ahnung, wie – und ob überhaupt – Charly darauf
reagieren würde. Aber das Yaels Vorstellung entsprungene Wesen reagierte tatsächlich. Vorbei war es mit der Ruhe. Ein gellender Schrei, der in Jeltos Ohren dröhnte … … und Charly sprang zurück, als wäre er mit flüssigem Feuer übergossen worden. Wild flügelschlagend hob er ein paar Meter vom Boden ab, brachte sich damit endgültig aus der Reichweite der Aura und zeterte: »Warum tust du mir weh? Ich war freundlich zu dir – oder nicht? Dankst du es mir so?« »Es tut mir leid«, log Jelto und winkte Charly zu sich herunter. »Komm wieder her. Ich achte in Zukunft darauf. Ich wusste ja nicht, dass … nun, dass du allergisch auf mein Licht reagierst.« »Das hast du mit Absicht getan!«, grollte Charly weiter. Er entfernte sich ein Stück weit und landete erst wieder, als er gut zehn Meter zwischen sich und den Florenhüter gebracht hatte. »Ich wundere mich, dass du so darauf reagierst«, sagte Jelto. »Warum ist das so? Menschen … nein, alle, die ich sonst kenne, empfinden den Kontakt mit meiner Aura eher wohltuend, erfrischend.« Charly spulte sein ganzes Repertoire an Flüchen ab. Schließlich wandte er sich dem Schott zu und machte Anstalten, sich zurückzuziehen. Jelto wusste genug über Charly, um zu bezweifeln, dass er das Schott gebraucht hatte, um hierher zu gelangen. Demzufolge konnte sein Abgang in diese Richtung nur dramaturgischen Zwecken dienen. »Bleib noch!« Charly schüttelte schmollend den Kopf. »Hast deine Chance gehabt. Jetzt verdufte ich. Wo ich nicht gemocht werde –« Den Rest des Satzes schenkte er sich. »Seit wann legst du Wert darauf, gemocht zu werden? Da hat Yael mir ganz andere Dinge erzählt.« Jeltos Stimme holte ihn ein, und er kam zum Stehen. Drehte sich um. Sein Gesicht war zu einer Grimasse aus Verärgerung, Wut und
Verachtung verzerrt. »Yael … ausgerechnet!« »Dein Freund.« »Das war er vielleicht mal. Hat mich schwer enttäuscht.« »Was ist passiert?« Jelto setzte sich langsam in Bewegung, näherte sich aber nicht weiter als auf fünf Schritte. Charly schien mehr als nur eine Aversion gegen die Aura zu haben. Offenbar hatte ihm der Kontakt, obwohl so kurz, schwer zugesetzt. »Immerhin, heißt es, hat er dich erschaffen.« »Heißt es.« Charly verzog das Gesicht noch stärker. »Muss gehen. Will. Ich komm auch so schnell nicht wieder. Haste jetzt davon, Grünauge. Haste jetzt davon.« Jelto wollte einen weiteren Versuch starten, Charly zum Bleiben zu bewegen, doch das bestenfalls halb reale Wesen löste sich einfach vor seinen Augen auf. »Weg … So ein Biest.« Jelto überlegte kurz. »Sesha?« »Ich höre.« Jelto zögerte. Er konnte sich die Antwort auf die ungestellte Frage, wohin Yael gegangen war, bereits denken: Charly? Da war kein Charly … »Ach, nichts.« Gedankenversunken wandte sich Jelto wieder den tiefer gelegenen Gartenregionen zu. Und so merkte er nicht, dass jeder seiner Schritte etwas hinterließ, das sich wie ein hauchdünnes Ärmchen aus dem Boden bohrte. Ohne es gezielt darauf anzulegen, wirkte seine Aura offenbar bereits auf die letzten Lebensspuren, die das Treymor-Verbrechen noch hinterlassen hatte. Erste zarte Pflänzchen reckten sich der Kunstsonne entgegen. Aber sie sahen anders aus als das, was einst an den betroffenen Stellen gediehen war. Noch winzig klein, strömten sie bereits etwas zutiefst Bedrohliches aus, am Verstörendsten dabei … ihr Aussehen …
John Cloud sah aus dem Fenster des Hauses, in dem er längst mehr als nur Gast war. Sein Blick schweifte über die verödeten Vorgärten, die ursprünglich unter Jeltos Anleitung entstanden, die Zerstörungsorgie der Treymor während der Besatzungszeit an Bord der RUBIKON aber nicht überstanden hatten. Mit einer Ausnahme. Der Lebensbaum, dessen Samen Jelto vom Planeten Vil mitgebracht hatte, schien den alles sonstige Leben auslöschenden Strahlengewalten getrotzt zu haben. Er war inzwischen mannshoch, sein Stamm etwa armdick, und Dutzende Zweige bildeten eine reich beblätterte Krone. »Verrückt …«, murmelte Cloud und vergaß kurz das eigentliche Thema, um das sich sein Gespräch mit Assur gedreht hatte. Die RUBIKON kreuzte in sicherem Abstand (wobei, was war schon sicher?) zum Aquakubus. Sieben Tage konnten einem vernunftbegabten Lebewesen kurz oder lang vorkommen, je nachdem, unter welchen Bedingungen und Verhältnissen es sie verbrachte. John Cloud kam die zurückliegende Woche wie eine halbe Ewigkeit vor. Er hasste die Vorstellung, nicht zu wissen, was im Kubus vorging, und vor allem: nicht helfen zu können. Taurt und seine letzten Getreuen waren völlig auf sich gestellt, vielleicht schon nicht mehr am Leben. Die Treymor machten ernst. Sie hatten begonnen, die Weltenkugeln und jedes größere Objekt außerhalb der Ewigen Stätte, das den Widerständlern Zuflucht bieten konnte, zu zerstören. Es schien ihnen nicht nur egal zu sein, was dabei mit all den Bewohnern dieser Lebensräume geschah, es war ihn egal. Cloud hatte die Anführerschaft der Treymor aus nächster Nähe kennengelernt. Eine Erfahrung, auf die er gern verzichtet hätte. Im Nachhinein empfand er sie dennoch als wertvoll, auch wenn ihm die Nuancen der treymorschen Mentalität weiterhin verborgen geblieben waren. Konnte es wirklich sein, dass eine Spezies jenseits aller Moral angesiedelt war und sich allein von Machtinteressen leiten ließ? Natürlich kann das sein. Wie naiv bin ich denn? Selbst unter Menschen
gibt es Beispiele zuhauf für eine solche »Denke«. Er musste sich nur einen gewissen Reuben Cronenberg ins Gedächtnis rufen – der Inbegriff von Unmoral und Machtstreben … Assur trat neben ihn. Sofort roch er den Duft ihres Parfüms. Es war verführerisch, aber das hätte es gar nicht gebraucht, um die schlanke Angkgeborene bezaubernd zu finden. Cloud war froh, ihr begegnet zu sein. Sie hatte seinem Leben eine gewisse Normalität geschenkt, auf die er lange hatte warten müssen. Zugleich wirkte Assur unendlich geheimnisvoll, und obwohl sie im Alltag auf einer Wellenlänge tickten, maßte sich Cloud nicht an zu glauben, sie auch nur halbwegs zu durchschauen – was auch daran liegen mochte, dass Assur selbst längst nicht alles über sich zu wissen schien. Die Angks waren auf unbekannte Weise für ihren Dienst an Bord der RUBIKON »präpariert« worden. Dahinter steckte Kargor, und niemand hegte inzwischen noch einen Zweifel, dass er seine Aktion »gut gemeint« hatte. Fakt aber war und blieb: Die Angks insgesamt waren jederzeit für Überraschungen gut, das hatten sie erst kürzlich wieder bewiesen, als sie die von ihnen bewohnten Häuser an Bord wie … ja, Cloud fiel kein treffenderes Wort ein … Transmitter benutzt hatten. »He!« Assur knuffte ihn in die Seite. »Was heißt hier ›verrückt‹? Du solltest es eigentlich unterstützen. Ein Mann sollte das generell, wenn es um die Pläne seiner Frau geht – aber hier steht noch viel mehr auf dem Spiel. Die Risiken dürften begrenzt sein, der mögliche Gewinn dafür umso größer.« Cloud löste den Blick von draußen und drehte sich zu Assur um. »Ich meinte mit ›verrückt‹ nicht deinen Vorschlag.« »Sondern?« Ihre Augen glitzerten misstrauisch. Er hob die Hand und zeigte mit gespreiztem Daumen hinter sich. »Den Baum dort.« Sie sah über seine Schulter hinweg. »Ist es nicht verrückt, dass er völlig unversehrt die Strahlenhölle überstanden hat?« Sie nickte. »Ich sehe ihn jeden Tag, und wir sprachen auch schon darüber. Es fällt schließlich jedem auf, der hier wohnt.«
»Richtig. Und ich bat auch schon mehrfach Jelto, sich der Sache anzunehmen. Es könnte von künftiger Bedeutung sein zu erfahren, wie der Baum im Stande war, der Welle zu trotzen. Leider stoße ich auf taube Ohren. Jelto ist –« »Er steht immer noch unter Schock und total neben sich«, fiel Assur ihm ins Wort. »Wenn du mich fragst: Der Baum kann warten, Jelto hingegen bräuchte dringend therapeutische Hilfe.« »Die lehnt er aber ab. Rigoros.« »Du bist der Commander.« Er legte den Kopf schief. »Willst du damit sagen, ich müsste ihm befehlen, sich einem Seelenklempner anzuvertrauen?« »Seelenklempner in dem Sinn haben wir nicht. Aber Sesha enthält ein vergleichbares Programm. Manchmal helfen schon Gespräche. Es bliebe alles unter Jelto und der KI. So würde ich versuchen, es ihm schmackhaft zu machen.« Cloud nickte. »Vielleicht hast du recht. Ich hatte einfach gehofft, er fängt sich wieder von allein. Aber keiner von uns kann vermutlich nachvollziehen, was die Zerstörung der Gärten für jemanden bedeutet, der mit seinen Pflanzen fast schon in Symbiose lebt …« Assur lächelte. »Rede mit ihm. Auf dich hört er. Auch wenn du nicht befiehlst.« Ein Grinsen bildete sich auf Clouds Gesicht. »Zum Glück ist er keine Frau.« »Was soll das heißen?« »Nur dass Frauen oft nicht mal dann auf mich hören, wenn ich befehle.« »Hast du das denn schon mal probiert? Privat, meine ich.« Ihre Stimme wurde plötzlich ganz rauchig – und Cloud ganz anders ums Herz. »Assur …« Sie hielt ihn sich spielerisch auf Distanz. »Wir sind noch zu keinem Ergebnis in der eigentlichen Frage gekommen.« Cloud seufzte. »Du weißt, was mich zögern lässt. Von wegen: ›Die Risiken dürften begrenzt sein …‹« »Das sind sie – definitiv.«
»Wie kommst du darauf? Dein Vorhaben –« Wieder schnitt sie ihm das Wort ab. Mit einem hingehauchten Kuss. »Das Schiff würde niemals zulassen, dass einem Angk etwas passiert. Offenbar muss es die Komponenten beschützen, die die Bractonen ihm hinzugefügt haben.« »Von Jarvis wissen wir, dass Sesha kaltblütig versuchte, die Angks zu töten, während die RUBIKON sich in Treymorgewalt befand.« »Von Sesha wissen wir, dass sie den letzten Schritt nie gegangen wäre. Ihr innerer Widerstreit zwang sie sogar, schizophrene Züge zu entwickeln, nur um Schiff und Besatzung schützen zu können.« Cloud dachte über ihre Argumente nach. »Okay«, sagte er schließlich. »Das Leben an sich steckt schon voller Risiken. Von mir aus kannst du es tun – starte deine Untersuchung der Häuser. Aber gib auf dich Acht. Ich will dich nicht verlieren.« Die letzten beiden Sätze sprach er mit großem Ernst, was ihr ein dankbares Lächeln zu entlocken schien. Vielleicht war es aber auch nur die Vorfreude auf das abenteuerliche Vorhaben, das sie in Gedanken bestimmt schon vorbereitete. »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch.« »Darf ich mir jemanden zur Unterstützung aussuchen?« »Wenn derjenige damit einverstanden ist.« Sie nickte. »Das gilt es, herauszufinden.« »Hast du schon jemanden fest im Auge?« »Im Auge ja – aber sie weiß es noch nicht.« »Sie?« Irgendwie hatte er erwartet, dass sie sich für Jarvis entscheiden würde. »Um wen handelt es sich?« Sie verriet es ihm. Zuerst starrte Cloud sie ungläubig an. Dann aber nickte er. »Offenbar glaubst du wirklich, dass dein Vorhaben mit keinerlei ernsthaftem Risiko für Leib und Seele verbunden ist, sonst würdest du das nicht wollen …«
Einen Mikrokosmos wie diesen hatte Winoa noch nie zuvor betre-
ten. Aber sie folgte einer Einladung, der sie nicht hatte widerstehen können. Flügelrauschen. Als sie den Kopf hob, sah sie Yael auf sich zukommen. Sie spürte den Windstoß seiner letzten Schwingenschläge, als er wenige Schritte von ihr entfernt landete. »Schön, dass du gekommen bist!« »Das klingt, als hättest du nicht daran geglaubt.« »Oh!« Er mimte den Erschrockenen. »Ich merke, ich muss mich vorsehen.« »Wieso?« »Weil du ein gutes Gespür hast, dich in andere hineinzuversetzen.« »Also stimmt es?« »Ein bisschen, ja.« »Soll ich lieber wieder gehen?« Sie wandte sich halb um zu dem Schott, das kaum auffiel in der vorgegaukelten Welt, in die sie gekommen war. »Nein. Nein!« Er trat auf sie zu. »Geh nicht, bitte. Ich benehme mich furchtbar. Aber … aber ich hab auch eher selten Besuch.« »Mädchenbesuch?« »Was macht das für einen Unterschied, ob es …« Er schwieg abrupt, biss sich auf die Unterlippe. »Ich sollte besser den Mund halten, wie?« »Vielleicht reicht es schon, wenn du öfter dein Hirn einschaltest, bevor du ihn aufmachst.« Sie lächelte. Er schwieg. Dann zeigte er hin zu dem Dorf, das in der Ferne zu sehen war. »Komm. Ich zeig dir, wo ich mit meinem Elter lebe. – Natürlich nur, falls es dich interessiert.« »Es interessiert mich sogar sehr. Ist Jiim da?« »Ich weiß nicht. Warum?« »Nur so.« Sie schlenderten nebeneinander zum Dorf am Schrund. Winoa war begeistert. Alles wirkte täuschend echt. Die Brise. Die Wärme. Die Sonne. Der Himmel im Ganzen. Und ganz zu schwei-
gen von der fantastischen Landschaft, die sich vor ihren Blicken ausbreitete. »So war deine Heimat wirklich?«, fragte sie fasziniert, als sie beim ersten Baum, dessen Krone eine Hütte trug, stehen blieben. »Mein Elter sagt das, ja. Als wir Kalser einen Besuch abstatteten … du weißt schon, ist noch nicht lange her … war alles sehr verändert. Aber wenigstens scheint mein Volk eine Zukunft zu haben. Danach sah es, wie Jiim erzählt, für eine lange Zeit nicht aus. Wenn du Richtung Horizont blickst, siehst du nichts als ewiges Eis, ewigen Schnee. Nur hier beim Schrund … so nennen wir den Abgrund, aus dessen Tiefe genügend Wärme aufsteigt, um diese Enklave hier in ein winziges Stück fruchtbares Land zu verwandeln … herrschen Bedingungen, die ein Leben und Überleben erst möglich machen.« Er sah Winoa von der Seite her an. »Du denkst jetzt bestimmt: Die spinnen, die zwei Nargen, dass sie sich ihr Zuhause nicht ein bisschen … netter gestalten. Ein Fingerschnipsen würde ja genügen. Sesha war und ist uns behilflich bei der Gestaltung unserer Welt.« Winoa schüttelte fast empört den Kopf. »Ich finde es toll hier. Was meinst du mit ›netter‹? Auf mich wirkt es so authentisch. Und wie ich hörte, kann man endlos durch die Weite streifen, man stößt nirgends gegen eine Wand. Irgendwelche Dimensatoren ermöglichen das …« Yael bestätigte auch dies. »Es ist die perfekte Illusion. Oft vergesse ich völlig, dass das hier keine reale Umgebung ist.« Winoa lächelte. »Willst du meine Hütte sehen – oder Freunde kennenlernen?« »Du hast hier Freunde?« Yael zeigte auf die überall zu erkennende Bewegung. Dutzende Nargen schufen ein Dorfbild, das einem Idyll gleich kam. »Aber es sind doch … Hologramme.« »Das vergisst man schnell – zumindest, solange man sie nicht anfassen will.« Winoa lachte auf. »Du unterhältst dich mit ihnen?« »Klar. Manchmal unternehme ich auch Ausflüge mit dem einen oder anderen. Wenn mein Orham keine Zeit oder keine Lust hat.« »Orham … damit meinst du deinen Elter?«
»Aber ja.« »Meine Eltern sind getrennt.« Yael schien unsicher, was er darauf erwidern sollte. »Ich hatte nie mehr als einen. Das reicht auch – glaube ich.« »Wenn man's nicht anders gewöhnt ist …« »Wahrscheinlich.« »Bist du traurig, weil dein Vater und deine Mutter nicht mehr zusammenleben?« Winoa überlegte, zuckte dann mit den Schultern. »Manchmal. Aber nicht so sehr. Ich hab sie ja immer noch beide. Und jetzt hab ich sogar zwei Zimmer in zwei verschiedenen Häusern.« »Auch ein Aspekt …« Yael grinste. »Komm jetzt. Ich zeig dir meine Hütte – sie hat nur einen Raum, und den teile ich mir mit meinem Orham.« Er zeigte auf einen etwas entfernt stehenden Baum. »Wie komme ich da hoch?«, fragte Winoa skeptisch. »Gibt's einen Lift? Oder eine Antigravplattform?« »Ich bin dein Lift – wenn es dir nichts ausmacht, dich von mir umarmen zu lassen.« Sie sah ihn aus großen Augen an. »Du willst mich hochtragen?« »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich lass dich schon nicht fallen.« »Wer redet von Angst? Hey! Das ist klasse! So was wollte ich schon immer mal – ohne technischen Schnickschnack fliegen …« Yael sah sie verblüfft an. Dann winkte er sie zu sich. Winoas Herz klopfte bis zum Hals, als er sie mit Gurten und einem seltsam anmutenden Tragegeschirr, das wie zufällig in der Nähe lag, an sich befestigte. Instinktiv schlang sie die Arme um seinen schlanken Körper. »Bereit?«, fragte Yael. »Bereit!«, jauchzte Winoa. Der goldene Jungnarge hob ab. »Du bist ganz schön stark«, kicherte Winoa auf halber Strecke. »Ich hoffe nur, du hältst durch.« »Dich Fliegengewicht schaffe ich allemal«, gab er zurück. Vorsichtig setzte er sie auf dem Balkon ab, der die Hütte umlief
und von einem meterhohen Geländer gesichert wurde. Winoa genoss jede Sekunde, bevor Yael sie abschnallte. Aber natürlich zeigte sie das nicht. Die Hände um das Gelände gelegt, blickte sie nach unten. »Wie hoch ist das?« »Gut zwanzig Nargenlängen.« »Wow.« »›Wow‹ bedeutet wohl ›erstaunlich‹?« »Könnte man so übersetzen.« »Komm.« Er winkte sie zur offenen Tür der Hütte. »Mal sehen, ob mein Orham da ist.« »Och«, sagte Winoa, »muss ja nicht sein, oder? Manchmal stören die Alten auch ein bisschen, oder?« Yael feixte. »Stören ist noch harmlos ausgedrückt. Ey, die können richtig nerven.« Da sie laut sprachen und keine geharnischte Erwiderung darauf aus dem Inneren der Hütte erfolgte, konnten sie eigentlich davon ausgehen, dass sich Jiim nicht darin aufhielt. So war es auch. Die Hütte gehörte ihnen ganz allein. Und Yael ließ es sich nicht nehmen, Winoa in die Feinheiten nargischer Lebensart einzuführen, angefangen vom Schlafgeschirr, das von den Deckenbalken baumelte, bis hin zur bevorzugten Nahrung – Feggwürmern, die Jiim von ihrem Abstecher nach Echt-Kalser mitgebracht hatte und die von Sesha inzwischen so zahlreich geklont worden waren, dass sie kaum noch vom Speiseplan wegzudenken waren. Winoa fand die behaarten Würmer eklig und machte auch kein Hehl daraus, als Yael sie einen Blick in die mit Laub und Erde ausstaffierte Vorratskiste werfen ließ. So dick wie Winoas Daumen und so lang wie ihr Unterarm wanden sie sich mit borstigen Stoppeln im lockeren Erdreich und lugten hier und da zu einem Drittel oder auch bis zur Hälfte daraus hervor. Augenlos schaukelten die Leiber hin und her, als folgten sie einem unhörbaren Takt. »So mögen sie ja eklig sein«, zeigte Yael Verständnis für Winoas Reaktion, »aber frittiert sind sie ein wahrer Gaumenschmaus.« »Frittiert?« Sie schüttelte sich.
Er zeigte in die Küchenecke, wo ein bauchiger Topf an einer schweren Eisenkette über einem lustig flackernden Feuer hing. »Klar. In etwas Triggelschleim frittiert schmecken sie –« »Danke.« Winoa würgte. »Das reicht. Der Appetit ist mir komplett vergangen. Bringst du mich …« Sie wandte sich dem Ausgang zu. »… wieder nach unten? Bitte.« Offenbar merkte er, dass er zu weit gegangen war. »Hey!« Schnell kam er auf sie zu und fasste sie an den Oberarmen. »Das war nur Spaß … ein ziemlich blöder, ich weiß, tut mir leid. Ich war auch sauer, aber glaub mir, ich wollte dich nicht verjagen, höchstens …« »Höchstens?« Sie schaute in seine Augen, die nicht allein ob ihrer Fremdartigkeit faszinierten. »… ein bisschen necken.« Sie legte die Stirn in Falten. »Necken setzt voraus, dass man jemanden mag. Leute, die man nicht leiden kann, neckt man nicht, sondern ärgert sie.« Er hielt ihrem Blick stand. »Kann sein.« Sekundenlang starrten sie sich nur schweigend an. Schließlich reichte es Winoa. »Und wann«, fragte sie ungeduldig, »willst du Idiot mich endlich küssen?« Yaels Gesichtsausdruck wäre einen Schnappschuss wert gewesen. Er wollte etwas erwidern, stammelnd, aber er kam nicht dazu, denn Winoa verschloss ihm den Mund mit ihren Lippen. Im selben Moment rief von draußen jemand ihren Namen.
Assur wartete ab, bis Yael ihre Tochter am Fuß des Baumes abgesetzt hatte, dann ging sie auf sie zu. Yael grüßte etwas fahrig und vertiefte sich dann in die Arbeit, Winoa aus den Gurten zu lösen, die sie während des kurzen Flugs gesichert hatten. »Ich suche dich schon eine Weile. Am Ende musste ich Sesha fragen, wo ich dich finden kann.« »Ich bin hier«, sagte Winoa. Es klang leicht abweisend, fast schon ein wenig verärgert. Assur genügte ein langer Blick auf beide, um zu begreifen, dass sie
störte – und schon gestört hatte. »Ich freue mich, dass ihr euch angefreundet habt«, versuchte sie, die Situation zu entkrampfen. »Ihr versteht euch gut, das habe ich schon bemerkt. Hat Yael dir seine Hütte gezeigt?« Winoa nickte verschlossen. Assur lag ein »Ich wollte dir nicht nachschnüffeln« auf der Zunge, aber sie schluckte es gerade noch hinunter. »Ich wollte mit dir reden, dich etwas fragen.« »Überrascht mich jetzt nicht wirklich.« Assur lachte und versuchte sich in ihre eigene Teenagerzeit zurückzuversetzen. Winoas plötzliche Verstocktheit kam ihr gar nicht mehr so fremd vor. »Ich meinte …« Sie lächelte in Yaels Richtung, obwohl der Jungnarge es immer noch vermied, sie anzusehen. »… unter vier Augen.« »Oh, Mutter!« Winoa ließ keinen Zweifel daran, wie peinlich ihr das alles war. »Kommst du bitte?« »Wohin?« »Nach draußen. Du kannst dich neu mit Yael verabreden. Aber das, worum ich dich bitten möchte, ist wichtig. Mir wichtig.« Sie hatten immer einen guten Draht zueinander gehabt. Momentan jedoch war davon wenig zu spüren. Winoa stampfte einmal mürrisch mit dem Fuß auf, ihr Blick schleuderte Blitze in Assurs Richtung … und wurde ganz weich und verlegen, als er sich Yael zuwandte. »Danke für die Tour«, sagte sie. »Wir sehen uns …« »Ja. Keine Ursache. War … nett.« Yaels Schüchternheit entschädigte Assur für die schlechte Laune ihrer Tochter, die sie nun ausbaden durfte. Sie mochte den jungen Nargen, den auf seine Art – ebenso wie die Angks und vieles andere an Bord – ein Geheimnis umgab, das bislang nur in Ansätzen hatte gelüftet werden können. Nur allzu klar in Erinnerung war ihr noch sein Verschwinden nach Portas, der Tabuwelt des Angksystems. Mit einem Gewaltakt
hatte die RUBIKON unter Johns Führung es geschafft, den Verschollenen ausfindig zu machen und zu bergen. Erstaunlicherweise hatten die Schiffssysteme kaum Verwertbares über die Oberflächenverhältnisse auf Portas aufzeichnen können. Der Planet war und blieb ein Mysterium. »Find ich auch.« Winoa wandte sich widerstrebend ihrer Mutter zu und widmete ihr die Aufmerksamkeit, die sich Assur von Anfang an gewünscht hätte. »Wohin geht's? Was liegt an? Was kann so wichtig sein, dass –« »Ich dachte, wir verbringen ein wenig Zeit miteinander – so wie früher.« Für einen Moment verlor sich der mürrische Ausdruck auf Winoas Gesicht, so als erinnerte sie sich auch an Zeiten größerer Gemeinsamkeiten. Kurz vor Erreichen des Schotts, das sie aus der Pseudowelt hinausführen würde, fragte sie: »Ist irgendwas? Steckst du in einer Sinnkrise?« Assur musste lachen. »Ganz so schlimm ist es nicht – hoffe ich zumindest. Aber was ist verkehrt daran, etwas Zeit miteinander zu verbringen?« »Kommt darauf an, wie.« Assur sagte es ihr in dem Moment, als sie auf den Gang hinaustraten und sich das Trennschott nach Pseudokalser hinter ihnen schloss. Winoa blieb verdutzt stehen. »Echt?«, brachte sie über die Lippen und wirkte ehrlich erstaunt. Es klang regelrecht erschrocken. »Tut mir leid, wenn ich dich …« Assur überlegte, ob sie nicht doch zu weit gegangen war. Das Risiko, das sie John gegenüber verneint hatte, schien ihr plötzlich nicht mehr ganz so vernachlässigbar. »Leid? Hey, Mum. Wenn das dein Ernst ist, dann …« »Dann?« »… ist das grandios! Ich bin natürlich dabei. Wann geht's los?« Ein Welle von Wärme durchströmte Assurs Bauch. Sie legte den Arm um Winoas Tochter und schaute ihrer Tochter tief in die Augen. »Freut mich, dass ich dich a) noch überraschen kann und du b) offenbar Feuer und Flamme bist.« Sie drückte Winoa. »Wann es los-
gehen kann? Gleich. Sofort. Alles, was wir brauchen, sind wir beide. Du und ich. Es wird … fantastisch!« Die Abenteuerlust hatte sie gepackt. Und das war ansteckend, wie Winoas gerötete Wangen verrieten. »Mit deinem Dad habe ich bereits gesprochen. Er ist einverstanden. Wenn wir … nun ja, du kennst ihn, da unterscheidet er sich nicht wirklich von dem Mann, mit dem ich jetzt zusammen bin … wenn wir versprechen, vorsichtig zu Werke zu gehen.«
»Ich an deiner Stelle würd mir das nicht gefallen lassen.« Yael zuckte zusammen, als sich Charly hinter ihm hervorschob, als hätte er das Geschehen schon längere Zeit verfolgt. »Was willst du?«, herrschte Yael ihn unfreundlich an. »Was ich will? Das, was ich immer tue, wenn ich bei dir bin. Wir waren mal Freunde – schon vergessen?« »Waren … ja«, murmelte Yael. Ein Schatten schien sich auf sein Gesicht zu legen. »Aber du hast dich verändert. Du bist nicht mehr der, der mein Freund war. Ich wünschte, es wäre noch so und ich müsste mich nicht …« »Nicht was?« »Vor dir fürchten.« »Das tust du doch gar nicht. Ich wollt', es wäre so.« Charly griente. »Noch einmal: Was willst du?«, fragte Yael unwirsch. »Dir ein bisschen Dampf unter den Hintern machen.« »Inwiefern?« »Wie ich schon sagte: Ich an deiner Stelle würd mir das nicht bieten lassen.« »Wovon bei Maron redest du?« »Na, deine Kleine.« »Hör auf, sie so zu nennen!« Yael machte einen Schritt auf Charly zu und stieß ihn mit gewölbtem Brustkorb an. Für Außenstehende mochte das Bild, das sie boten, an das Balzverhalten einiger Säugetier-Gattungen erinnern. Charly flatterte kurz mit den Flügeln, als müsste er um sein
Gleichgewicht kämpfen. »Hey! Biste verknallt?« »Verschwinde!«, fauchte Yael. Und nicht nur das, er wünschte sich, von der lebensechten Projektion in Frieden gelassen zu werden. Für einen Moment sah es so aus, als würde seine Hoffnung in Erfüllung gehen. Charly verblasste, wurde durchscheinend … kehrte dann aber wieder in alter Frische zurück. »Denkste! Mit mir nicht, mein Ex-Kumpel, mit mir nicht!« »Du bist eine Plage! Ich muss einen Weg finden, dich … dich …« »Ja? Spuck's aus, Alter. Klappt sowieso nicht!« »Dich ungeschehen zu machen«, schnappte Yael. Charly lachte wiehernd. »Brauchst mich aber noch. Wirst schon sehen. Braucht mich alle noch. Bin wertvoll.« Sprach's und stakste Richtung Schrund, wo er sich einfach vornüber in den Abgrund fallen ließ. Von den Holo-Nargen nahm keiner Notiz davon. Für sie schien – im Gegensatz zu Lebewesen – Charly immer noch nicht zu existieren. Yael verspürte keinen Impuls, nachzusehen, was aus Charly geworden war. Es war ein fast schon typischer Auftritt des »Wesens«, das seit seiner Rückkehr aus der Nonzone wie ausgewechselt wirkte – und die Indizien, dass genau das geschehen war, dass etwas oder jemand ihn ausgetauscht hatte, häuften sich. Yael bekam eine Gänsehaut. Er überlegte, ob er nach seinem Orham suchen und mit ihm sprechen sollte. Dann aber wanderten seine Gedanken zu Winoa und dem, was Charly gesagt hatte: »Ich an deiner Stelle würd mir das nicht gefallen lassen.« Yael wusste intuitiv, was der Plagegeist damit gemeint hatte. Er grübelte noch eine Weile, dann fasste er einen Entschluss. Nachdem er eine kurze Nachricht an seinen Elter hinterlassen hatte, machte er sich auf die Suche nach Winoa. Ihre Mutter hatte es dringend gemacht. Vielleicht waren sie in Not und brauchten Hilfe. Yaels erste Anlaufstelle war das Dorf der Angks …
»Danke, dass du gekommen bist.«
»Wenn der Commander ruft …« Jeltos faltenlose Mimik blieb unbewegt. Aus ernsten grünen Augen sah der Florenhüter Cloud an. »Halb so offiziell reicht, danke.« Cloud lächelte und lenkte Jeltos Schritte die Straße zwischen den Häusern entlang, die das Angkdorf bildeten. Der holografische Himmel, der sich über den HightechBauten spannte, wurde von einer Kunstsonne dominiert. Ein paar Schäfchenwolken komplettierten die Illusion. Cloud begrüßte die Möglichkeiten, die sich der Besatzung an Bord der RUBIKON boten, um einen eigentlich klinisch sterilen Lebensraum so zu dekorieren und auszustaffieren, dass man die echte Natur eines Planeten kaum vermisste. Aber alle »Kulisse« ersetzte nicht die Akzente, die Jelto vor dem Wüten der Treymor gesetzt hatte und von denen momentan nur noch einer übrig war. Vor ihm kamen sie wenig später zum Stehen. »Der Lebensbaum von Vil …« Jelto nickte beinahe andächtig. »Du kennst seine Geschichte, John.« »Ja, ich kenne sie. Sie ist bemerkenswert. So bemerkenswert wie die ganze Gesellschaft dort.« Für einen Moment schweiften Clouds Gedanken zu dem plastischen Bericht, den Jelto nach seiner Rückkehr gegeben hatte. Die Vilaner lebten in großer Nähe zur Natur und zu ihren Verstorbenen. Im Grunde waren ihre Bäume Sinnbild für den Tod, nicht für das Leben. Irgendwie aber auch für die neue Saat, die aus dem Tod eines Lebewesens hervorzugehen vermochte. Jeltos Blick verriet, dass auch er in Erinnerungen schwelgte. So kurz der Aufenthalt auf Vil auch gewesen sein mochte, so intensiv war er doch von ihm erlebt worden. Plötzlich kehrte Jeltos Blick ins Hier und Jetzt zurück. Er wusste, was Cloud von ihm wollte. »Ich werde tun, was ich kann. Es muss einen Grund geben, weshalb der Baum die Zerstörungswelle als einzige Ausnahme überstanden hat. Und diesen Grund finde ich heraus.« Cloud nickte. »Vielleicht können wir daraus einen Nutzen für die Zukunft erzielen.« »Vielleicht.« Jelto wirkte schon wieder geistesabwesend. »Wie geht es in deinem Garten weiter? Hast du dich inzwischen
entschieden, ob du ihn neu anlegst, oder …« Jelto schüttelte den Kopf. »Du brauchst eine Aufgabe.« »Die hast du mir doch gerade gegeben.« »Sie wird dich, so wie ich dich kenne, nicht lange beschäftigen.« »Nur keine zu hohen Erwartungen, Commander.« Jelto zwinkerte ihm zu. Cloud klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter. »Du machst das schon. Ich höre von dir. Tut mir leid, wenn ich es so kurz mache, aber da hinten … kommt gerade jemand, mit dem ich noch ein paar Takte zu reden hätte.« Er hatte Assur entdeckt, die sich in Begleitung ihrer Tochter näherte. Jelto glaubte zu verstehen, nickte und wandte sich dem Baum zu. Cloud ging den Angks entgegen, hinter denen in diesem Moment eine auffällige Gestalt auftauchte. Sie erinnerte entfernt an einen grotesk gezeichneten Engel. Cloud erkannte auf den ersten Blick Yael, den Jungnargen mit der goldenen, nicht ockerfarbenen Haut, wie es bei seinem Volk normalerweise üblich war. Aber an Jiims Sprössling war nichts normal. Irgendetwas von Jiims Ganfrüstung hatte auf ihn abgefärbt. Yaels Fähigkeiten grenzten in vielerlei Hinsicht an Zauberei und waren größtenteils unerforscht. Immer wieder, seit er geschlüpft war, überraschte er seine Umwelt mit neuen Eskapaden. Was aber nicht seine Schuld war. Yael war eine Seele von einem Nargen. Charakterlich gab es an ihm nicht das Geringste auszusetzen, auch seine pubertären Auseinandersetzungen mit Jiim hatten sich auf ein kaum noch spürbares Level zurückgeschraubt. Dennoch war und blieb er unberechenbar. Und jetzt holte er zielstrebig zu Assur und Winoa auf, in einem Tempo, das ihn sie noch vor Cloud erreichen ließ. Cloud sah, wie sich Assurs Miene leicht verfinsterte, als sie sich zu dem Nargen umdrehte. Dann war auch Cloud bei der Gruppe. »Ärger?«, raunte er Assur zu, die ihn längst bemerkt hatte.
Sie ließ Yael nicht aus den Augen. Winoa war dem »jungen Mann« entgegengeeilt und redete jetzt auf ihn ein. Beide gestikulierten heftig, ihre Unterhaltung jedoch wurde so leise geführt, dass nicht einmal Wortfetzen zu Cloud und Assur drangen. »Wir waren nicht anders – als wir so jung waren, oder?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen. »Ich stelle mir das Leben auf den Angkwelten immer etwas verklärt vor«, gab er zu. »Durchlebt ihr dort wirklich ebenso alle Problemphasen des Lebens wie … na ja, wie die Menschen, mit denen ich einst aufwuchs?« Sie wusste, woher er kam. Und ebenso gut, worauf er ansprach. »Pubertät ist etwas Universelles«, behauptete sie und löste widerstrebend den Blick von den zwei Teenagern. »Hast du etwas anderes geglaubt?« Er schüttelte den Kopf. »Was ist das Thema ihrer … Auseinandersetzung?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich schuld. Ich habe sie vorhin gestört.« »Wobei?« »Nicht, was du gleich wieder denkst. Aber sie hatten sich wahrscheinlich etwas ungestörte Zweisamkeit versprochen. Jiim war nicht zu Hause. Sie hatten …« »… sturmfreie Bude.« »Was?« »So nannte man das bei uns früher.« »Du warst bestimmt ein schlimmer Finger.« Sie lachte. »Ich war das Harmloseste, was du dir überhaupt vorstellen kannst«, versicherte er. »Schade. Ich sehe dich lieber etwas verwegener.« Verdutzt schaute er sie an. »Egal. In meiner Jugend war ich wählerisch, im Alter wird man milde und sieht über die Fehler seiner Partner eher hinweg …« Sie lachten beide. Winoa kam zu ihnen. Als Cloud zu der Stelle blickte, wo sie bei Yael gestanden hatte, befand sich der Narge immer noch dort. Sein
Gesichtsausdruck war grimmiger denn je. »Hi Commander.« Sie sagte es ernster als sonst. Er sah sie forschend an. Dann nickte er hin zu Yael. »Kann ich schlichten?« Sie schüttelte den Kopf. Cloud war erstaunt, wie erwachsen sie plötzlich wirkte. »Damit komme ich schon klar. Ich gehör ihm ja nicht. Auch wenn ich ihn ziemlich mag. Aber es gibt Dinge …« Sie verstummte. »Worum ging es denn?«, fragte Assur. Für einen Moment sah es so aus, als wollte Winoa damit nicht herausrücken. Doch dann sagte sie: »Er will unbedingt dabei sein – und das geht nicht. Ich weiß, dass es nicht geht. Aber er sieht es nicht ein.« »Was?«, fragte Assur. »Wo dabei sein?« »Bei unserer Exkursion.« Jetzt dämmerte es auch Cloud. »Bei der Erforschung der … Häuser?« Sie nickte verärgert. »Und das willst du nicht?« »Auf keinen Fall!« »Es wäre auch zu gefährlich – für ihn«, warf Assur ein, die genauso überrascht schien wie Cloud. »Er ist nun mal kein Angk. Für dich und mich, mein Kind, ist es ungefährlich …« Glaubte oder hoffte sie das? Erstmals fiel Cloud eine leichte Unsicherheit, ein Schwanken in ihrer Stimme auf. Und er begriff: Sie hat mich reingelegt. Sie ist sich überhaupt nicht sicher. Aber wieso riskiert sie dann Winoas Gesundheit? Wahrscheinlich, weil sie sich selbst noch besser einreden konnte, alles im Griff zu haben, wenn sie ihre Tochter mit einbezog. Oder aus irgendeinem anderen obskuren und unerfindlichen Grund. Frauenlogik eben. Cloud seufzte. »Hört sich logisch an«, sagte er. »Müsste Yael eigentlich auch einleuchten – oder?«
»Er ist ein ziemlicher Sturkopf«, sagte Winoa, was aus ihrem Mund aber eher wie eine Auszeichnung klang. »Ich werde, wenn ihr das wollt, mit ihm sprechen«, bot Cloud an. Während Assur noch zögerte, nickte Winoa. »Du bist der Commander. Auf dich muss er hören. Viel Glück.« Sie zwinkerte ihm zu. Cloud wusste, dass er einen Narren an ihr gefressen hatte. Sehr vielen anderen hätte er die unverhohlene Schadenfreude nicht durchgehen lassen. Bevor er sich zu Yael aufmachte, wandte er sich noch einmal an Assur. »Sesha ist instruiert, euch jedwede Unterstützung angedeihen zu lassen. Trotzdem lege ich dir ans Herz, noch einmal in dich zu gehen. Ist es wirklich eine so gute … und vor allem gefahrlose … Idee, im Zweiergespann mit deiner Tochter an die Erforschung der Häuser zu gehen? Wenn du wenigstens sagen würdest, du nimmst dir Jarvis an die Seite. Er hat auch seine Erfahrungen mit dem Phänomen dieser Konstrukte gemacht. Er könnte dir –« »Es ist ungefährlich, ich bleibe dabei. Die Häuser … das, was hinter ihnen steht … wurde für Angks gemacht. Es birgt für Angks keinerlei Gefahrdungspotenzial.« »Und woher willst du das wissen?« »Ich weiß es.« Frauenlogik die Zweite. Cloud umarmte sie zum Abschied, ebenso Winoa, die ihm ins Ohr flüsterte: »Keine Sorge, ich pass auf sie auf.« Gegen seinen Willen musste er lächeln. Er winkte ihnen zu und ging dann zu Yael, der immer noch wie angewurzelt an der Stelle stand, wo ihn Winoa verlassen hatte. »Hi«, sagte Cloud. »Verschwinde!«, fauchte der verliebte Narge.
Bis eben noch schien das Leben im »Dorf« seinen gewohnten Gang genommen zu haben. Doch noch ehe Assur und Winoa ihr Haus betreten konnten, strömten aus allen Richtungen Angks herbei, ange-
führt von Rotak, der mehr war als der gewählte Sprecher der Sonderbegabten. Für Assur war er der Ex-Partner, für Winoa der Vater, der diese Rolle nie einbüßen würde. Assur kannte und respektierte die Beziehung, die Vater und Tochter miteinander verband. Aber sie beharrte auch auf Akzeptanz, was ihre neue Rolle Rotak gegenüber anging. Die Rollen waren klar verteilt. Aber darum ging es Rotak gar nicht. Er stellte sich ihnen im Namen der Gemeinschaft aller Angks in den Weg. »Ich habe mit den anderen darüber gesprochen, was ihr vorhabt«, sagte er. Sein Ton war angemessen – ernst, aber nicht hysterisch. Warum auch? »Ich habe es offen mit dir besprochen, nie ein Geheimnis daraus gemacht.« Assur gab sich selbstbewusst, während Winoa halb hinter ihr Deckung bezog. Assur gestand ihr dieses Privileg zu; sie war eben doch noch ein Kind, auch wenn sie diesbezüglich Minuten zuvor noch ihre Zweifel gehegt hatte. »Die Gemeinschaft hätte es lieber von dir erfahren.« »Warum?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte. Es missfiel ihr nur, sich – und ihm samt den anderen – einzugestehen, dass sie sich tatsächlich eines frappierenden Versäumnisses schuldig gemacht hatte. Sie hätte umgekehrt auch von Rotak und jedem anderen Angk erwartet – und verlangt –, dass man sie in etwas so Elementares einbezog wie das Projekt, das sie mit Winoa in Angriff nehmen wollte. Rotak schüttelte den Kopf. »Du und ich, wir wissen beide, dass diese Frage unter deiner Würde ist.« Sie schwieg. Sah ihn an. Musterte die Gesichter hinter ihm. Niemand war wütend auf sie, das sah sie und es hätte sie beruhigen können. Aber die Besorgnis, die sie in ihren Gesichtern las, war mindestens ebenso belastend. »Wir werden vorsichtig sein«, versprach sie. »Ihr werdet es unterlassen«, sagte Rotak. Kopfschüttelnd stemmte sie die Fäuste in die Taille. »Du hast mir
nichts zu befehlen. Der Commander dieses Schiffes hat mir grünes Licht gegeben. Das ist alles, was ich brauche.« »Ist das so?« Er musterte sie eindringlich. »Hast du aufgehört, eine von uns zu sein, ein Teil des Ganzen?« Sie verneinte. »Ich bin und bleibe dem Ganzen verpflichtet und loyal. Aber meiner Meinung nach tangiert das nicht mit meinem Vorhaben. Ich gefährde niemanden.« »Du setzt alles aufs Spiel«, warf ihr Rotak vor. »Und ich halte dich für zu klug, um dir abzunehmen, dass du das nicht weißt.« »Unsere Häuser bergen ein Geheimnis.« »Ich weiß. Wir alle wissen das. Aber ist das ein Grund, es lüften zu müssen? Die Bractonen schenkten uns dieses Dorf, das mehr ist, als wir erwarten durften – und mehr als John Cloud sich erhoffen konnte. Wir tun alles zum Wohle des Schiffes und seiner Besatzung, dazu wurden wir von den Bractonen befähigt. Sie gaben uns vieles mit auf unseren Lebensweg, aber niemals das Versprechen, uns jedes ihrer Geheimnisse enthüllen zu müssen. Ist es nicht mehr als genug, dass wir ihre Technologie nutzen dürfen? Müssen wir sie bis ins letzte Detail hinterfragen und verstehen lernen? Sind wir dazu überhaupt fähig? Bedenke, von wem wir sprechen. Sie sind die ERBAUER. Sie haben mehr erschaffen als das Angksystem, unser ursprüngliches Zuhause.« Sie wusste, worauf er anspielte. Die Bractonen hatten die Ewige Kette initiiert, und die Ewige Kette hatte das Universum, in dem sie alle lebten, erzeugt. Die Tridentischen Kugeln, auch CHARDHINPerlen genannt, wachten über die Fortexistenz des Kosmos. Primitive Völker hätten eine solche Ballung an Macht als Gottheit bezeichnet und verehrt. Und sie? Was war sie im Begriff zu betreiben, sie, Assur? Gotteslästerung, dachte sie und begriff erstmals die volle Tragweite dessen, was Rotak und die anderen, die sich vor ihr versammelt hatten, ihr vorwarfen. »Ich … wir werden vorsichtig zu Werke gehen – und respektvoll«, versprach sie. »Du bist nicht davon abzubringen«, sagte Rotak resignierend. Sei-
ne gerade noch straffen Schultern sanken unmerklich ein. »Ich verdanke den Bractonen, so wie jeder Angk, alles«, sagte sie. »Aber im Gegensatz zu dir oder euch zweifle ich an, dass sie nicht wollten, dass wir uns weiterentwickeln und Geheimnisse, die uns in unserer Entwicklung und in unserem Selbstverständnis weiterbringen könnten, unangetastet lassen. Vielmehr glaube ich, dass sie von uns erwarten, dass wir uns mit der von ihnen zur Verfügung gestellten Technologie auseinandersetzen. – Das ist meine Sicht der Dinge. Wer kann sie widerlegen? Wer kann mir die Garantie und den unumstößlichen Beweis liefern, dass ich mich irre, meine Einstellung falsch ist – und eure, die sich Zurückhaltung und Anbetung ins Wappen geschrieben hat, die richtige?« Rotak fixierte sie stumm. Für einen Moment sprang der lange erloschen Funke, der sie einst zusammengeführt hatte, wieder zwischen ihnen über. Sie spürte seine aufrichtige Bewunderung – und seinen Respekt. »Es ist, wie es ist«, sagte er, gab den anderen ein Zeichen und zog sich zurück. Winoa löste sich aus dem Schatten ihrer Mutter und sah sie an, als erblicke sie sie zum ersten Mal, so wie sie wirklich war. Nicht als Mutter, sondern als Frau, als Angk. »Wow«, sagte sie. Und nach einer kleinen Pause: »Können wir jetzt endlich?« Sie nickte zum Haus. »Ja«, sagte Assur. In der Ferne redete John immer noch mit Yael. Er musste die Zusammenrottung gesehen haben, hatte aber nicht eingegriffen. Auch eine Form von Respekt. Mit neuem Selbstbewusstsein ausgerüstet, übertrat Assur, gefolgt von ihrer Tochter, die Schwelle eines Hauses, das viel mehr war als nur ein Haus. Sie hoffte, es niemals bereuen zu müssen, an den Grundfesten dieses Geheimnisses rütteln zu wollen.
»Wie gehen wir vor?«, fragte Winoa, als hätte es die Verzögerung
durch Yael nie gegeben. Vielleicht war sie auch froh, erst einmal eine Tür zwischen sich und den Jungnargen gebracht zu haben. Assur lächelte ihre Tochter an. Es war einer dieser Momente, in denen sie spürte, wie der Stolz in ihr aufwallte, und sie empfand es keineswegs als Schande, stolz auf dieses Mädchen zu sein, das mit seinen weizenblonden Haaren, die wellig bis zur Schulter fielen, vielfach aber auch einfach als störrische Strähnen in alle Himmelsrichtungen zeigten, der figurbetonten, zugleich aber auch lässigen und an den Bordalltag angepassten Kleidung – Dreiviertelhosen, bauchfreies T-Shirt, sandalenähnliche Schuhe – mehr und mehr aus ebendiesen Schuhen herauswuchs. Wie alle Eltern wurde auch Assur einmal mehr schmerzlich bewusst, wie schnell die Zeit verflog. Die Bilder, die sie in sich trug, unterstrichen das. Bilder eines Säuglings, der ihr frisch nach der Geburt von einer Tavnerin, die als Amme fungiert hatte, zwischen die Brüste gelegt worden war, oder einer bereits in frühem Kindesalter oft aufmüpfigen und frechen Göre, die mehr als einmal eine Suchaktion nach sich losgetreten hatte; einmal sogar bis zu einer anderen Angkwelt, weil es Winoa irgendwie gelungen war, sich eine Passage über einen kobaltblauen Turm und die Energiestraßen zu ergattern … Selbst im Nachhinein blieb Assur noch fast das Herz stehen, wenn sie sich vor Augen hielt, was alles hätte passieren können. Das Haus war ihnen vertraut. Sie lebten hier seit Monaten – so wie andere Angks andere Häuser an Bord der RUBIKON bezogen hatten. Die Grundsteine der Architektur, in der sich die neuen Besatzungsmitglieder geübt hatten, waren bereits im Angksystem gelegt worden – unter der Regie der ERBAUER. Doch das war weder der Neu-Crew selbst noch der alten Stamm-Crew zunächst bewusst gewesen. Die Bractonen hatten einen Gedächtnisblock in den Gehirnen der Angks etabliert. Er war erst gelöst worden, als es den ERBAUERN gefiel. In der ersten prekären Situation, in die die RUBIKONBesatzung nach Verlassen des Ersten Reichs geschlittert war. Seither waren sich die Angks ihrer Möglichkeiten bewusst: Sie vermochten mit dem Schiff zu verschmelzen und es auf diese Weise aufzuwerten. »Tuning« hatte irgendjemand es einmal genannt. Die
Angks steuerten im Bedarfsfall ein geistiges und paranormales Potenzial bei, das von den Bractonen hinterlegte Defensiv- und Offensiv-Gimmicks aktivierte: die Ghost-Generatoren beispielsweise, mit dem sie die Treymor im Milchstraßenzentrum entscheidend hatten narren und ablenken können, um die Installation einer neuen Tridentischen Kugel erst zu ermöglichen. Zuvor hatte sich hinter dem Ereignishorizont anstelle der von Kargor zum Raumschiff umfunktionierten Station eine sogenannte »Negaperle« zu manifestieren versucht. Wer diesen Vorgang initiiert hatte und ob überhaupt eine intelligente Macht dahinter steckte, war bis heute ungeklärt. Ebenso gut konnte es möglich sein, dass die Negaperle vom Universum an sich wie eine Art Krebsgeschwulst auf astrophysikalischer Ebene hervorgebracht worden war. Andererseits sprach die Präsenz der Treymor, die eine »Heilung« oder »Reparatur« der betroffenen kosmischen Zone mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln hatten verhindern wollen, für eine bislang unbekannte Macht, die im Hintergrund die Fäden zog … und deren Erzfeinde offenbar die Bractonen waren. Assur wusste, dass viel über die Identität eines solchen Feindes spekuliert wurde. Die ERBAUER selbst konnten nicht dazu befragt werden. Seit geraumer Zeit verschanzte sich das Angksystem hinter einer undurchdringlichen Chaoswolke, von der nicht wenige sogar fürchteten, es könnte sich um keinen Schutzschild handeln, sondern bereits um die Überreste des Ersten Reichs – weil eine unfassbare Katastrophe das Angksystem in den Abgrund gerissen hatte. Eine Katastrophe von derselben Macht initiiert, die an der Entstehung der Negaperle beteiligt gewesen war? Dieselbe Macht vielleicht auch, auf die die Treymor im Aquakubus offenkundig gewartet hatten …? Obwohl Assur nur streiflichtartig Revue passieren ließ, was in jüngster Zeit an elementaren Veränderungen passiert war, wurde ihr ganz seltsam zumute, als sie an das immense Gefahrenpotenzial dachte, das auf die Milchstraße jetzt schon lauerte. »Wie immer«, beantwortete sie endlich Winoas berechtigte Frage nach der Vorgehensweise. »Wir nehmen Kontakt auf mit dem Ge-
webe des Schiffes. Wir kontaktieren es.« »Dann sprechen wir mit Sesha?« Sie schüttelte den Kopf. »Das dachte ich auch lange. Aber Sesha hat damit nichts zu tun. Für mich fühlt es sich jedes Mal eher so an, als existiere eine zweite Künstliche Intelligenz, die nur für die Häuser, nur für unsere Verschmelzung damit und die Zurverfügungstellung unserer Kräfte zuständig ist.« »Sesha hätte das längst bemerkt – und moniert«, erwiderte Winoa nicht ganz zu unrecht. »Sie kann manchmal eine ganz schöne Diva sein.« »Zicke trifft es eher, oder?« Beide lachten. Sesha intervenierte nicht. Schon öfter hatte Assur das Gefühl gehabt, dass die angestammte Bord-KI nur dann Zugang zu den Häusern erhielt, wenn deren Bewohner es ausdrücklich wollten. Das war momentan nicht der Fall. »Lass uns anfangen«, sagte Assur. »Setzen wir uns, machen wir es uns bequem – für das Resultat macht es keinen Unterschied, ob wir uns die Beine in den Bauch stehen, oder uns hinfläzen.« Sie nahmen nebeneinander auf dem weichen Sofa Platz. Dann nickten sie sich zu … und fühlten sich in die Struktur des Materials ein, auf dem sie saßen. Es gehörte ebenso zur RUBIKON wie Boden, Decke oder Wände. Oder jedes beliebige Einrichtungsdetail. »Bleiben wir zusammen?«, fragte Winoa. »Ganz bestimmt«, versprach Assur, während sie das Gefühl hatte, mit dem Objekt, auf dem sie Platz genommen hatte, zu verschmelzen. »Es geht los.« Sie sagte es in eine veränderte Umgebung, denn das Mobiliar und alle anderen Charakteristika des Raumes verschwanden. Eine kalte Brise fegte über sie hinweg. Es wurde dunkel. Eisig beinahe. »Mum!« Aber Assur antwortete ihrer Tochter nicht mehr. Assur war fort.
Es hatte anders ablaufen sollen, alles hatte anders ablaufen sollen. Zaghafter. Vor allem aber kontrollierter. Nun, gerade mit der Kontrolle war es so eine Sache. Sie war schon vorbei, bevor Assur für sich auch nur die Illusion hätte aufbauen können, alles im Griff zu haben. Närrin! Assur ließ kein gutes Haar an sich. Sie spürte es nur einen Moment, nachdem der gewohnte Anblick ihrer Inneneinrichtung verblasst war. Etwas ging schief. Gehörig schief. »No!« Ihr Ausruf bedeutete nicht nein – sie bediente sich lediglich der Abkürzung von Winoas Namen, der ihr immer über die Zunge glitt, wenn sie an irgendetwas zu knabbern hatte – in der Regel am Verhalten ihres Töchterchens, ihrem Benehmen, das nicht immer zu Freudensprüngen Anlass kam. Hier und jetzt aber war Winoa unschuldig. Ich hab's verbockt. Ich ganz allein. Ich hätte auf den Vater meines Kindes hören sollen … Die merkwürdige Umgebung lenkte sie ab. Es war kein unbekannter Ort in dem Sinn, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, wo sie gelandet war. Aber gerade das bereitete ihr ein verdammtes Unbehagen! Das Licht war geschwunden – nicht vollständig, sodass Kohlrabenschwärze sie umgab, aber immerhin doch so weit, dass es den Anschein hatte, als würde irgendetwas die normale Helligkeit im Hausinnern schlucken. Hausinnern – ja! Denn sie befand sich zweifellos immer noch in den Wänden, die sie mit ihrer Tochter betreten hatte. Der Raum als solcher war … schien identisch zu sein. Allein, ihm fehlte jegliches Mobiliar. Nackt und leer präsentierte er sich, dazu voller Düsternis und Kälte. Assur kam sich vor, wie in einem Gefrierschrank. Sie sah an sich herunter. Sie hockte nicht länger auf dem Sofa, auf das sie sich zusammen mit ihrer Tochter gelümmelt hatte, sondern
war halb eingesunken in den Boden des Hauses. Der Kontakt mit dem Schiff war also hergestellt – auch hier, in diesem veränderten Zuhause. Aber wo war Winoa? Warum gab sie keine Antwort, reagierte nicht auf ihren Ruf? Und wohin zum Teufel war das Mobiliar verschwunden? »Sesha?« In dem Moment, in dem sie nach der KI rief, erteilte sie ihr die Freigabe, Zugriff auf das Gebäude zu nehmen. Aber Sesha schwieg so beharrlich wie Winoa. »Sesha!«, wiederholte Assur, diesmal bedeutend dringender. Der Erfolg – beziehungsweise Misserfolg – blieb derselbe. Verstört konzentrierte sich Assur und legte die Handflächen neben sich auf den frostkalten Boden, bei dem es sie nicht überrascht hätte, wäre er mit einer Schicht Raureif überzogen. Sie stemmte sich aus dem Boden, der sie mit einem schmatzenden Geräusch freigab. Im Stehen drehte sie sich um ihre Achse. Aber nichts änderte sich. Dieser Raum war völlig kahl, und der nächste, in den sie sich unsicheren Schrittes begab, ebenso. Das zunächst noch beherrschbare Unbehagen schlug langsam in Panik um, kippte in Hysterie. So schnell sie konnte, eilte sie zur Haustür. Riss sie auf. Wollte hinausstürmen … Stattdessen bremste sie ab. Ihr Schwung verpuffte. Ihr Elan ebenfalls. Nicht dass draußen nichts gewesen wäre. Aber was sie sah, ließ ihr das Herz noch tiefer in die Hose rutschen. Dieselbe Düsternis, wie sie das Haus auszeichnete, dieselbe Kargheit und Verlassenheit, zeichnete auch das Angkdorf aus, das sich ihren Blicken darbot. Assur hasste die eisige Hand, die ihr die Luft abzuschnüren schien. »No!«, krächzte sie erneut. Ihr Blick flog über die Straße, über die angrenzenden Häuser, den großen Platz mit dem Brunnen, wo sie oft und gern gesessen hatte … als hoch oben noch die holografische Sonne berückende Sommertage gezaubert hatte.
Diese Sonne war verschwunden, die Düsternis allgegenwärtig. Assur drehte sich um und schrie sich fast die Lunge aus dem Leib – erst nach ihrer Tochter, dann nach Sesha … und zu guter Letzt wieder nach Winoa und beliebigen anderen Personen, die sie an Bord des Schiffes schätzen gelernt hatte. Das Schweigen wurde greifbar. Es drückte wie ein Gewicht auf ihre Schultern, ihre Seele. Schließlich hielt sie es im Haus nicht mehr aus, taumelte nach draußen … und torkelte durch das hässliche Grau, das alle Farben an Bord gestohlen hatte. Und mit den Farben … so schien es zumindest … waren sämtliche Mannschaftsmitglieder verschwunden.
Cloud bereute es, sich eingemischt zu haben. Yael zeigte keinerlei Gesprächsbereitschaft. Er war wie viele Jugendliche in seinem Alter. Was die Erwachsenen sagten, interessierte ihn nicht. Nicht die Bohne. Unablässig blickte er zu dem Haus, in dem Assur und ihre Tochter verschwunden waren. »Sie hat dir doch erklärt, dass sie etwas Zeit mit ihrer Mutter verbringen will – du bist ja nicht abgeschrieben. Aber respektier, dass sie nicht immer wie eine Klette an dir kleben will. Junge, das wird sie beeindrucken, glaub mir. Je weniger du klammerst, desto mehr kommt sie auf dich zu. Ein klein wenig Lebenserfahrung bringe ich ja nun auch mit –« Bei diesem Satz wandte Yael ihm zum ersten Mal das Gesicht zu – zumindest empfand Cloud es als Premiere für diese Begegnung. »Ich will sie weder erdrücken noch an ihr kleben wie eine … wie sagtest du?« »Klette.« »Eine Klette, ja. Ich mache mir lediglich Sorgen um sie. Das scheint keiner zu kapieren. Ich will zu ihr, um im Notfall einschreiten zu können!« Seine Stimme vibrierte leicht. Seine Aufregung übertrug sich auf Cloud. Aber er wiegelte ab. »Dort, wo sie hingehen … wenn man es
nennen kann … würdest du auf verlorenem Posten stehen. Diese Technologie ist nicht für dich und mich gemacht. Sie ist auf Angks einjustiert. Wir können sie – im Glücksfall – benutzen. Aber wir wären außerstande, so in ihre Basis vorzustoßen, wie Assur und Winoa es vorhaben zu tun.« »Von genau der Gefahr spreche ich die ganze Zeit!« Cloud schüttelte den Kopf, gab sich dann einen Ruck. »Ich gebe zu, anfangs teilte ich deine Bedenken. Aber Assur hat mir glaubhaft versichert, dass sich die Bractonentechnik niemals gegen sie wenden –« Er hörte auf zu sprechen. Weil er merkte, wie sich Yaels Augen weiteten. Sein Blick war an ihm vorbei gerichtet. Dorthin, wo – Yael hob ab. Mit einem energischen Schlag beider Flügel schwang er sich in die Lüfte, und dann konnte Cloud ihm nur noch hinterher schauen, wie er pfeilschnell auf Winoa zu jagte. Es sah fast wie ein Angriff aus. Das aber täuschte, und zwar gewaltig. Wenn es überhaupt einen Angriff gegeben hatte, dann bereits dort, woher Winoa gerade gerannt kam: Sie stürmte aus ihrem Haus … allein! Ihr Gesicht war angstverzerrt. Cloud spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. »Sesha?« »Commander?« »Status bei …« Er schilderte kurz, worüber genau er Rapport haben wollte. Seine Legitimation hob jede eventuell bestehende Einschränkung in Sachen Intimsphäre auf. Die KI scannte das Haus, in dem Cloud manche zärtliche Stunde mit Assur verbracht hatte. Aber daran wagte er jetzt gar nicht denken. Er rannte bereits dorthin, wo Yael gelandet war. Zu Winoa. »Kind!«, rief er, als er bei ihr und dem Nargen ankam. »Was ist passiert? Du siehst aus, als wäre dir –« Sie warf sich an seine Brust, zitterte, schluchzte. Yael bedachte Cloud mit einem schrägen Blick, aber das war dem Commander egal. Völlig egal in dieser Situation. »Sie ist verschwunden – ich weiß nicht, wohin! Mum ist einfach
verschwunden. Von einem Moment zum anderen war ich allein! Wir hatten gerade begonnen, mit dem Gewebe des Schiffes zu verschmelzen …« Das Gewebe des Schiffes. Irgendwie störte sich Cloud an der seltsamen Ausdrucksweise. Aber sie verkam zur absoluten Nebensache. Assur … war verschwunden? »Du musst dich irren. Komm.« Er fasste sie an den Armen und drehte sie vorsichtig in die Richtung des Hauses, dessen Tür weit offen stand. Er sah gerade noch Yael darin verschwinden – und realisierte erst da, dass der Narge sich auf eigene Faust von ihnen abgesetzt hatte. Verdammt, was will er eigentlich beweisen? Von seinem Elter hat er das nicht! »Zeig mir, wo … und wie … du sie verloren hast. Los schon, Winoa! Wir müssen Assur finden … Sesha?« »Negativ«, antwortete die KI aus dem Off. »Sämtliche Scans ohne Ergebnis. Das Haus ist frei von Personen … korrigiere: war frei. Yael hat es betreten. Er …« Es kam selten vor, dass die KI beim Sprechen ins Stocken geriet. Es sei denn, man fuhr ihr über den »Mund« – was Cloud aber nicht tat. »Was ist?«, wurde er aufmerksam. »Sesha?« »Der Narge Yael ist soeben ebenfalls verschwunden.« Cloud blieb stehen. Winoa an seiner Hand wurde ebenfalls zurückgehalten. »Wiederhol das!« »Der Narge Yael ist auch nicht mehr zu orten.« »Wie soll das gehen?« »Ich schicke Bots …«, bot Sesha an. »Warte noch«, bremste Cloud die KI. »Ich bin gleich da. Ich werfe selbst einen Blick rein. Die Bots können immer noch eingreifen. Verständige Jarvis. Ich will ihn hier haben. So schnell es geht!« »Verstanden.« Es war Winoa, die nun Cloud Richtung Haus zog. Von weitem kam ihnen Rotak entgegen. Offenbar war ihm die Aufregung nicht
entgangen. »Commander!« Er gestikulierte wild. »Ist etwas? Soll ich …?« Cloud wollte ihn nicht auch noch am Hals haben. Nicht jetzt. Er schätzte Rotak, aber momentan zählten andere Dinge. Er erreichte das Haus. Immer noch stand die Tür offen. Ein vorsichtiger Blick hinein, während er gegen Winoas Bemühen ankämpfte, an ihm vorbei ins Innere zu schlüpfen. »Sieht aus wie immer. Harmlos. Unverdächtig. Bis auf …« Er brauchte nicht weiterzusprechen. Winoa wand sich aus seinem Griff. Schon war sie drinnen. »Bis auf die Leute, die fehlen. Mum … Yael …« Sie holte Luft: und rief, so laut sie konnte: »Mum! Yael!« Cloud überlegte, ob er es wagen sollte, ihr ins Innere zu folgen. Er war kein Angk. Auch Yael war keiner, und jetzt war er weg. Assur ist eine Angk, und sie ist auch weg. Das schon mal zu der schönen Ausnahme, die die Regel bestätigt … Hinter ihm entstand ein seltsames Geräusch. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, woher es rührte. »Danke, dass du gekommen bist.« »Schneller ging nicht.« Jarvis hatte transitiert. Offenbar war es Sesha gelungen, ihn mit knappen Sätzen über die Brisanz der Lage zu informieren. »Soll ich rein?« Cloud zögerte. »Winoa ist drin.« »Ja, seh ich. Und?« »Gerade ist Yael im Haus von der Bildfläche verschwunden – ich weiß nicht, ob Sesha dir das schon übermittelt hat.« »Hat sie.« »Gut. Ich …« »Ich geh rein. Es ist nicht das erste Mal. Selbst wenn der Mechanismus mich schnappt, werde ich damit schon fertig. Er mag mich. Er würde mir nie –« »Das hat Assur auch gesagt«, fuhr er ihm in die Parade. »So hat sie mich überhaupt erst rumgekriegt. Ich Idiot! Ich hirnverbrannter –«
Er blickte unablässig ins Haus. Winoa ging wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Räume, tauchte immer mal kurz auf, um dann wieder so lange zu verschwinden, bis sie wieder in Clouds Blickfeld geriet. »Komm her!« Er unterstrich seine Aufforderung mit unmissverständlichen Gesten. »Komm wieder da raus. Es ist zu –« Sie schüttelte den Kopf. Stur und verzweifelt. Jetzt ging es schon um zwei Personen, die ihr am Herz lagen. »Ich hol sie.« Jarvis drängte sich an ihm vorbei. Äußerlich war ihm nicht anzusehen, dass ein Nanorobot hinter seiner täuschend lebendigen Erscheinung steckte. Selbst Cloud vergaß bisweilen, wie die Natur des Freundes tatsächlich beschaffen war, seit sein Originalkörper in Sobeks Händen gestorben war. Jarvis hatte mindestens einen solchen Dickschädel wie Winoa. Einmal losgelassen, war er kaum noch zu stoppen. Aber das wollte Cloud in diesem Moment auch nicht mehr. Angespannt sah er zu, wie Jarvis mit einem Affenzahn auf Winoa zuraste … sie sich schnappen wollte … … aber ins Leere lief. Noch bevor er bei ihr war, verschwamm die Gestalt des Mädchen wie hinter einer Doppelbelichtung. Und dann war sie komplett verschwunden.
Yael wusste sofort, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Aber Erkenntnis und Einsicht kamen zu spät. Wo bin ich?, dachte er. Eben noch hatte er sich in einem der Räume von Winoas Zuhause befunden, und jetzt … stand er in einem unbekannten Bereich des Schiffes – falls es überhaupt noch die RUBIKON war. Er sah sich um. Schwaches, trübes Licht erhellte die Szene. Seine Augen stellten sich darauf ein. Aber schon die Art der Beleuchtung schürte die Überzeugung, nicht mehr an Bord des Rochenraumers zu sein. So sah es dort nirgends aus – oder? Jedenfalls nirgends, wo er jemals gewesen war. Die Decken lagen höher, viel höher, als in normalen Gängen der
RUBIKON. Alles wirkte verlassen, als hätte hier noch nie jemand gelebt. Ich brauche Hilfe. Aber von wem sollte er die bekommen? »Sesha?«, rief er versuchsweise. Keine Antwort. Es hätte ihn auch überrascht. Das hier war nicht mehr der Rochenraumer, die frühere Foronenarche. Aber was dann? Ein Gebäude auf einem fernen Planeten – oder ein fremdes Fahrzeug? Die eigentliche Frage aber war und blieb: Warum hatte das Haus ihn hierher versetzt – und wo waren Winoa und ihre Mutter? Wieso hatte ihr Verschwinden sie nicht ebenfalls hierher geführt? Er zuckte zusammen, als Charly neben ihm materialisierte. An ihn hatte er gar nicht mehr gedacht. Und an die Möglichkeiten, die der imaginäre Freund – war er das noch, Betonung auf Freund? – ihm eröffnete. »Hätte ich dich noch ein Weilchen schmoren lassen sollen?«, kiekste Charly. »Was meinst du damit?« »Na, wie du schon die ganze Zeit aus der Wäsche guckst …« »Du hast mich beobachtet?« »Klar.« »Wie soll das gegangen sein?« »Verrat ich nicht.« »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich noch mal blicken lässt. Du warst so komisch … vorhin.« »Echt? Worum ging's denn? Hab ich vergessen, sorry.« »Das glaube ich dir nicht.« »Hey.« Charly schlug ihm auf den Flügelansatz. »Du lernst ja dazu, hätte ich nicht erwartet. Großes Kompliment, weiter so. Obwohl – mehr Spaß macht's, wenn ich dich dran kriege.« Er griente. Yael machte aus seinem Ärger keinen Hehl. »Einfache Frage: Kannst … oder besser: willst du mir helfen?« »Klar, was liegt an?«
»Das weißt du ganz genau!« »Will's aber hören. Also?« »Kannst du herausfinden, wo ich hier gelandet bin?« »Kann's versuchen.« »Dann tu es!« »Nicht in dem Ton, sonst …« Yael seufzte ergeben. »Okay. Bitte. Tu's für uns.« »Ich hab keinen Schiss. Ich halt's überall aus.« »Ich weiß. Wer in der Nonzone war …« Charlys Gesicht verfinsterte sich. Überraschend lenkte er dann aber ein. »Okay. Ich tu's. Für uns.« Er grinste unverschämt. Und verschwand.
Cloud stand immer noch vor der offenen Tür von Assurs Haus. »Komm da raus! Sofort!« »Und wenn nicht?«, fragte Jarvis. »Stell ich dich wegen Befehlsverweigerung vor ein Kriegsgericht!« »Du machst mir Spaß …« Schmollend kam Jarvis aus dem Haus, das für mehrere Personen zur Falle geworden war. Was ging hier vor? Hatte Assur nicht unablässig die Harmlosigkeit ihres Vorhabens betont? Und hätte es das nicht auch tatsächlich sein müssen? Was hatte sie denn so Gravierendes getan, das diese Folgen zeitigen konnte? »Sesha? Neue Erkenntnisse?« »Negativ«, kam die Antwort aus dem Off. »Vielleicht hab ich ja was …« Jarvis klopfte sich gegen die Brust, die den alten, längst dahingeschiedenen Jarvis vorgaukelte. »Wie meinst du das?« »Ich war drin, oder?« Obwohl Cloud nicht wusste, worauf Jarvis hinaus wollte, ging er darauf ein. »Dem kann ich nicht widersprechen. Du warst auf eigene Rechnung drinnen. Das stößt mir immer noch sauer auf.« »Ja, ja, ich weiß. Ich bin kein Vorbild. Ich mache viele Fehler. Nur manchmal … sehr, sehr selten … rette ich uns allen auch den Arsch
mit meinen Eskapaden.« Er grinste. »Du bist unverbesserlich. Dann schieß halt los. Was meintest du mit: ›Vielleicht hab ich was‹?« »Ich schätze«, begann er, »es macht einen gehörigen Unterschied, ob Sesha von hier draußen scannt und etwas über die Vorgänge im Haus herauszufinden … oder ob man es von drinnen tut.« »Du hast gescannt?« »Das geht fast automatisch. Sämtliche Systeme und Sensoren meines Nanokörpers arbeiten auf Höchstlast, wenn ich in den Einsatz gehe – und das war gerade einer.« »Unautorisiert«, konnte sich Cloud auch jetzt den Hinweis nicht verkneifen. »Meinetwegen auch das.« »Und?« »Ich überspiele gerade an Sesha.« »Sesha?«, wandte sich Cloud an die KI. »Angekommen«, antwortete sie. »Und was genau ist ›angekommen‹?« »Ein Bild.« Wow, dachte Cloud. Aber er beherrschte sich. »Zeigen!« Sesha ließ vor ihm ein Hologramm erstehen. Darin war die Einrichtung des Raumes zu sehen, in dem sowohl Assur, als auch Winoa und Yael verschwunden waren. Winoa war noch zu sehen. Es musste aufgenommen worden sein, bevor auch sie entführt wurde … oder wie immer man es nennen wollte. »Das ist doch nichts Be-« »Abwarten«, riet ihm Jarvis. »Gleich.« Und tatsächlich schob sich im Moment von Winoas Verschwinden über die Einrichtung ein … ein anderes Bild … Darauf sah das Innere des Hauses völlig anders aus. »Wo ist das? Wo soll das sein? Grau, düster, ohne Farben. Die Konstruktion … fremd – oder?« Jarvis nickte. »Könnte ein anderes Raumschiff, eine Station oder ein Gebäude auf irgendeiner unbekannten Welt sein.«
»Wohin das Haus Verbindung hat?« »Offenbar.« Spätestens seit die Häuser ihre Transmitterfunktion bei der Evakuierung aus dem Aquakubus offenbart hatten, war es für Cloud nichts an den Haaren Herbeigezogenes mehr, sich vorzustellen, dass jedes Haus ein Tor zu einem – möglicherweise sehr fernen – Ort darstellte. »Das bringt uns nicht viel weiter – oder doch?«, wandte er sich an Jarvis. Er brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass der Freund noch etwas in petto hatte. »Das Bild allein … nein.« »Aber?« »Ich habe noch ein bisschen mehr aufgezeichnet – und auch das ist bereits an Sesha weitergeleitet.« »Verwertbar, Sesha?« »Durchaus, Commander.« »Was ist es?« »Es sind Parameter, aus denen sich das Ziel der Versetzung unserer vermissten Personen herauslesen lässt.« »Wirklich?« Die Erleichterung überrollte ihn. Damit hatte er nicht gerechnet. »Absolut, Sir.« »Seit wann so formell?« »Ich dachte, zur Abwechslung …« Jarvis lachte wiehernd. »Das hattet ihr abgesprochen, oder?« Cloud grinste säuerlich. Aber sofort wurde er wieder ernst. Sie scherzten hier, während die Verschwundenen vielleicht gerade um ihr Leben kämpften und jede Sekunde zählte. »Wo liegt dieses ominöse Ziel? Schnell, mach schnell, Sesha!« »Hier«, erwiderte die KI. »Hier …« Schlaueres als die Wiederholung des Wortes fiel ihm nicht ein. »Ich fürchte, ich verstehe nicht –« »Es ist auch nicht zu verstehen, Commander, Sir. Den aufgezeich-
neten Parametern zufolge wurden Assur, Winoa und Yael zwar abgestrahlt … aber zu Koordinaten, die absolut identisch sind mit denen, wo sie sich vor der Abstrahlung befanden. Bis auf Millimeter identisch sind diese Daten.« »Das hieße aber doch …« »… dass sie immer noch da sein müssten«, bestätigte Sesha. »Sind sie aber nicht«, grunzte Jarvis, der sich offenbar auch mehr erhofft hatte. »Ein weiteres ungeklärtes Rätsel – statt Antworten. Na prima.« Cloud ballte die Hände zu Fäusten. »Und jetzt?« »Jetzt …«, setzte Jarvis an, wurde aber von der Bord-KI unterbrochen. »Die Ortungssysteme melden hohe Aktivität!« »Wo?«, fragte Cloud sofort. »Im Haus … irgendwo im Angkdorf?« »Negativ. In dem Quadranten, aus dem die RUBIKON sich kürzlich absetzte.« »Der Aquakubus?« Cloud und Jarvis tauschten Blicke. »Korrekt.« »Welcher Art sind die, wie du es so schön unpräzise ausgedrückt hast, ›Aktivitäten‹?«, mischte sich Jarvis in den Dialog mit Sesha ein. »Wäre es eine echte Sonne, die dort leuchtet«, erwiderte Sesha prompt, »würde ich sagen, sie steht kurz vor einem letzten Aufbäumen ihrer Energie – vor einem Supernova-Ausbruch.«
1. VERGANGENHEIT In der Zone Die Nacht gab es nur noch dem Namen nach. Ewiges Zwielicht regierte die Welt. L'lewed und Choom kannten es nicht anders. Sie waren im Immerschein geboren … und würden im Immerschein sterben. Wie jeder Bewohner des Konkavraums. »Wir sollten eine Pause machen«, sagte L'lewed und strich sich durch das eisgraue, scheitellos bis auf die breiten Schultern fallende Haar. Choom lachte, aber es klang mehr wie ein Knurren. Er kratzte sich an den Bartstoppeln, die seine Wangen zierten. »Wir sind seit drei Tagen unterwegs und stehen immer noch mit leeren Händen da. In weniger als zwölf Stunden werden wir abgeholt, und ein neues Team übernimmt die Suche. Willst du ihnen das Feld überlassen?« »Haben wir denn die Wahl?« »Nein.« Choom fasste seinen Kumpan scharf ins Auge. »Eben nicht. Und deshalb müssen wir alles tun, um doch noch Erfolg zu haben!« »Erfolg lässt sich nicht erzwingen«, seufzte L'lewed. Er wusste, dass Choom sich insgeheim als Chef ihres Duos fühlte. Aber das entsprang lediglich einer krankhaften Selbstüberschätzung. L'lewed war nicht gewillt, sich irgendjemandem außer dem Prior unterzuordnen. Sie waren Partner. Mit wahrer Freundschaft hatte das nichts zu tun, obwohl sie im Gefahrenfall füreinander durch dick und dünn gingen. Aber nur, weil hier draußen einer allein keine Chance hatte und auf die Unterstützung eines Begleiters angewiesen war. Sie bildeten eine Zweckgemeinschaft auf Zeit. Und wie Choom es so treffend festgestellt hatte, würde diese Partnerschaft noch ziemlich
genau zwölf Stunden anhalten. Danach … L'lewed versuchte, keinen Gedanken an das Danach zu verschwenden. Nicht jetzt schon. Vielleicht hatten sie wirklich noch Glück. Die Zone war unberechenbar. Möglich, dass sie in letzter Minute über eine Anomalie stolperten. Wenn dem so war, würde der Prior sie mit Geschenken überhäufen. Sie würden für den Rest ihres Lebens ausgesorgt haben – so hieß es zumindest, auch wenn weder L'lewed noch Choom jemals einem so vom Glück Begünstigten begegnet waren. Der Nachteil an Anomalien lag klar auf der Hand: Sie waren extrem rar gesät. Dennoch erzählte man sich grandiose Geschichten über sie und ihre Finder. Letztere sollten über die ganze Welt verstreut leben, ein Dasein in Saus und Braus führen. Es gab sogar Stimmen, die wissen wollten, dass Findern Residenzen ähnlich der Wolkennadel überlassen wurden. Dort hausten sie, hieß es, umgeben von unvorstellbarem Prunk. »O doch, das lässt es sich!«, widersprach Choom L'leweds Behauptung. »Das Glück ist mit dem Tüchtigen! Wenn du unbedingt eine Pause willst, dann nimm sie dir eben. Aber bleib in meiner Nähe. Und pass auf, wo du dich hinsetzt!« L'lewed wollte nicht als Weichling dastehen. »Der Mensch muss auch mal ausruhen. Du hast recht mit den zwölf Stunden. Aber seit wir hier abgesetzt wurden, haben wir höchstens fünf, sechs Stunden Schlaf gehabt … verteilt über drei volle Tage. Das macht einen kirre. Das verstellt den Blick und beeinträchtigt die Antennen. Wenn wir uns ein bisschen erholen, und seien es nur zwei, drei Stunden, könne wir die verbleibende Zeit sehr viel effektiver nach Fundorten spüren. Ich bin müde, wie ausgehöhlt. So kann ich nicht suchen, und du auch nicht, wenn du ehrlich bist. Es wäre der totale Zufall, in dieser Verfassung auf etwas zu stoßen, das uns –« »Schon gut!« Choom hob ärgerlich die Hand. »Du stimmst mir zu?« L'lewed musterte ihn ungläubig. »Ich habe uns zweiundsiebzig Stunden lang durch die Zone gehetzt, ohne messbaren Erfolg. Von mir aus …« Er kratzte sich erneut am Bart. »… tanze ich zur Abwechslung mal nach deiner Pfeife.
Aber falls wir auch damit keinen Erfolg haben, weiß ich nicht, wie ich –« Diesmal unterbrach L'lewed ihn. »Einverstanden. Darfst mir eine reinhauen, wenn sie uns abholen und wir ihnen nichts zu bieten haben, außer uns selbst. Wird sowieso das kleinere Übel sein. Uns stehen keine sehr rosigen Zeiten bevor. Versager landen schnell im Abseits.« »Meine Rede. Wer pennt zuerst?« »Du, wenn du willst.« »Klar will ich. Mein Entgegenkommen muss schließlich belohnt werden. Was machst du währenddessen?« »Ich bleibe bei dir. Der Radius, in dem ich mich bewege, während du schläfst, wird nicht größer als zehn Meter sein. Und dasselbe erwarte ich später von dir. Zwei Stunden. Dann weck ich dich. Und du lässt mich auch nicht länger pennen. Klar?« »Glasklar.« »Na dann.« Choom sah sich nach einem geeigneten Plätzchen um. Das Totmoos, das die Zone bedeckte, bot ein vergleichsweise weiches Polster. Choom hielt auf eine Mulde zu und legte sich hinein. Den Kopf bettete er auf seinen rechten Oberarm. »Beeil dich«, zischte L'lewed ihm zu. »Womit?« »Mit schlafen!« Choom verzog das Gesicht und schloss die Augen. Wenig später verrieten seine schlaffe Haltung und die flachen Atemzüge, dass er weggenickt war.
L'lewed erwachte, ohne dass sich an den Lichtverhältnissen etwas geändert hätte. Er kannte es nicht anders. Kein Mensch auf der Welt kannte es anders – na ja, mit einer Ausnahme vielleicht. Es kursierten die verrücktesten Geschichten. »Chom!« L'lewed liebte es, das eine »o« zu verschlucken. Genau, wie sein Partner ihn oft nur »Lew« nannte. Das Leben, darin waren sich bei-
de einig, war zu kurz, um immer alle Silben auszusprechen. Choom gab keine Antwort. Er hatte L'lewed irgendwann abgelöst, sodass auch der sich etwas hinlegen konnte. Damit hatten sich beide etwas erholt … nur, dass Choom plötzlich unauffindbar schien … L'lewed richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er klopfte sich imaginären Staub von der Kleidung und kreiselte langsam um die eigene Achse. So weit das Auge reichte, zeigte die Zone ihr gewohntes Gesicht. Die wellige Landschaft wurde vom Totmoos geprägt, aber es gab Erhebungen: uralte Mauerreste, groteske Felsformationen und die Überbleibsel eines Waldes, der einmal gigantische Ausmaße gehabt haben musste und die Zone ringförmig umschlossen hatte. Auch die Zone selbst war riesig. Aber das allein begründete nicht die Schwierigkeit der Sucher, einen Zeitstein zu finden. Wie genau diese Objekte, nach denen der Prior suchen ließ, entstanden waren, würde wohl ein ewiges Rätsel bleiben. Fakt aber war – so hatte sich herausgestellt –, dass es die Wahrscheinlichkeit eines Fundes in keiner Weise erhöhte, je mehr Menschen die Zone durchkämmten. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrte, dass Zeitsteine extrem … L'lewed suchte nach dem treffenden Begriff und entschied sich für … scheu waren. Als optimale Suchkonstellation hatte sich ein Zweierteam erwiesen. Aber auch hier war ein Erfolg alles andere als vorprogrammiert. Viele kehrten so, wie L'lewed es auch für sich und Choom befürchtete, mit leeren Händen zurück, und dann erwartete sie statt der Gunst des Priors dessen Bann. Versager wurden für niederste Arbeiten abgestellt und die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals eine zweite Chance erhielten, sich zu beweisen, war geringer als alles, worauf man sonst in seinem Leben noch hoffen konnte. »Choom!« L'leweds Stimme bekam einen leicht vibrierenden Klang. Er war mehr als nur verärgert, er kochte vor Wut, weil sein Partner sein Versprechen gebrochen hatte, ebenfalls in der Nähe zu bleiben und nur in Sichtweite zu suchen. Weit und breit war nichts von ihm zu sehen. Verdammter Oy! Oys wurden die Angehörigen der untersten Kaste genannt, in der
L'lewed und Choom unweigerlich landen würden, wenn auch noch die letzten paar Stunden bis zur Abholung ohne greifbaren Erfolg verrannen. »Psivermaledeit, Choom! Wo steckst du? Haben dich die Grabmäuse gefressen?« Grabmäuse waren tückische Biester, nur kamen sie in der Zone normalerweise nicht vor. Fast alles, was lebte, mied dieses Gebiet. Nur komplette Narren begaben sich auf ein Terrain, wo die Naturgesetze keinen Pfifferling wert waren. L'lewed kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Die umgebende Stille und Bewegungslosigkeit machten ihm klar, dass etwas passiert war. Choom neigte nicht zu primitiven Späßen. Sein Schweigen – mehr noch aber sein Verschwinden – war ein unmissverständliches Signal, dass Gefahr in Verzug war. Höchste Gefahr. L'lewed blickte auf den Chronometer, der die Missionszeit anzeigte. Normale Uhren funktionierten in dieser Umgebung nicht, auf sie war kein Verlass. Das Gerät an seinem Handgelenk, in dem eine simple Mechanik von einer aufgezogenen Stahlfeder bewegt wurde und den Countdown bis zur Abholung herunterzählte, hatte bislang anstandslos seinen Dienst verrichtet. Anhand der verbliebenen Markierungen konnte L'lewed ablesen, dass er länger geschlafen hatte, als er es beabsichtigt hatte. Ich hab meine Pause ziemlich überzogen, dachte er grimmig. Aber nur, weil er nicht da war, um mich zu wecken! Auch das wies darauf hin, dass etwas passiert war, das Choom schlichtweg daran hinderte, sich bemerkbar zu machen und jetzt auf L'leweds Rufe zu antworten. Da er keinen noch so klitzekleinen Hinweis hatte, wohin sich Choom entfernt haben konnte, stand L'lewed zunächst ratlos und mit hängenden Schultern da. Bis … ja, bis sich ein besonderer Sinn meldete und ihn sich wie von einer Kompassnadel geleitet in eine bestimmte Richtung drehen ließ. Wie eine glühende Nadel bohrte sich ein Schmerz in seinen Hinterkopf, als sein Gesicht zu einer Felserhebung in knapp hundert Metern Entfernung zeigte. Das Gefühl, das L'lewed dabei ungeachtet des Schmerzes noch überkam, war
unmissverständlich. Treffer!, dachte er, erfreut und bestürzt zugleich. Während des Schlafs hatte sein sechster Sinn brachgelegen und sich nicht bemüßigt gefühlt, sich bemerkbar zu machen. Umso heftiger aber tat er es jetzt. Erneut krümmte sich L'lewed unter einem bohrenden Kopfschmerz. Für einen Moment verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Er wischte sich Tränen aus dem Gesicht, bevor er langsam auf die Felsformation zuging. Hatte Choom den Hinweis auf einen Zeitstein vor ihm vernommen? Aber wenn ja, warum hatte er L'lewed nicht erst wachgerüttelt, bevor er dem Richtungsimpuls folgte? Die Antwort lag eigentlich auf der Hand: Er wollte den Erfolg nicht teilen. Wenn einer eines Zweierteams alleine fündig wurde, brauchte er den Triumph nicht zu teilen. Der Prior hatte kein Problem zu erkennen, ob der Lohn eines Fundes zwei Personen gebührte oder nur einer. Und obwohl dieses Verhalten wenig typisch für Choom zu sein schien, entflammte der Zorn in L'lewed mit jedem Schritt, den er sich den Felsen näherte, mehr. Ob er seinem Partner Unrecht tat oder nicht, ließ sich auch dort nicht zweifelsfrei sagen. Tatsache aber war, dass Choom an einer kinderkopfgroßen Anomalie klebte. Und dass er gerade die furchtbarste Metamorphose durchlebte, die ein Mensch sich überhaupt vorstellen konnte.
Choom wer alt, steinalt, und im nächsten Moment so klein und hilflos quäkend wie ein Neugeborenes … nein, nicht wie – er war ein Neugeborenes. Und im nächsten Moment wieder der Choom, wie ihn L'lewed kannte. Um einen Lidschlag später zum fleisch- und blutlosen Gerippe zu mutieren … das wiederum ein Junge von zehn Jahren wurde, der … L'lewed schluckte und versuchte sich der morbiden Faszination dieser Körperwechsel zu entziehen, die Chooms Gestalt stakkatoartig veränderten. Mal jung, mal uralt, mal kraftstrotzend, dann wie-
der nur bleiche Knochen, die um den Zusammenhalt rangen. Von solchen »Nebenwirkungen« eines Zeitsteins hatte jeder, der sich für die Zone bewarb oder in ihr gewesen war, schon einmal gehört. Aber es mit eigenen Augen zu sehen – geschweige denn es, wie Choom, zu erleben –, war etwas völlig anderes. »Idiot, warum warst du auch so gierig? Gierig und unvorsichtig?« L'lewed trat einen Schritt näher. Nur noch ein paar Meter trennten ihn von seinem Partner, der gerade seine vergangenen und künftigen Lebensalter durchlief. All den Gesichtern, die er dabei präsentierte, war nur eines gemein: Es waren Grimassen. Fratzen der Qual. Nicht einmal, in keiner Phase und Verfassung, wirkte Choom entspannt oder sogar zufrieden. Was immer ihn vergewaltigte, es war mit unsagbarem Leid verbunden. Ohne den Blick von der bizarren Gestaltenschau zu nehmen, tastete L'lewed nach der Tasche an seinem Gürtel, öffnete den Verschluss und zog die beiden Handschuhe aus hauchdünnem Gewebe hervor, die vor einer Anomalie schützten und auf die Choom aus unbekanntem Grund verzichtet hatte. Anschließend nahm L'lewed aus einem anderen Behälter einen Sack, der aus dem gleichen Material gefertigt war. Darin konnte das abnorme Objekt, der Zeitstein, gefahrlos verstaut werden. Hieß es. Zigmal hatten Choom und er es an einem Simulationsgegenstand geübt. Warum Chooms Gier dann doch über seinen gesunden Menschenverstand gesiegt hatte, war für L'lewed unerfindlich. »Hast es nicht besser verdient, Blödmann. Hast es nicht besser verdient.« Vorsichtig bewegte er sich auf seinen mal zuckende, mal zappelnden und dann wieder wie erstarrt stehenden Ex-Partner zu. Er überlegte, wie er Choom von dem Stein, an dem er klebte, am besten lösen konnte. Waren die Handschuhe wirklich ein probates und verlässliches Mittel, um einem Schicksal zu entgehen, wie es Choom zum Verhängnis geworden war? Und wenn ja, würde L'leweds Körperkraft ausreichen, die unselige Verbindung aus Mensch und Anomalie zu lösen? Ebenfalls ungeklärt war, was anschließend aus Choom werden
würde? Besiegelte L'lewed das Todesurteil des Mannes, wenn er ihn von dem Kraftquell trennte, der ihn diese abstrusen Metamorphosen durchlaufen ließ? War Choom überhaupt noch am Leben oder gaukelte der Stein die unterschiedlichen Stadien seines Lebens nur vor? Im Grunde, stellte L'lewed wenig überrascht fest, war es ihm egal, was aus Choom wurde. Das Einzige, was ihn interessierte, war, wie er den Stein ohne Risiko für sich selbst bergen konnte. Angespannt streckte er die behandschuhten Finger nach dem kopfgroßen Objekt aus, neben dem Choom kniete und das er mit seinen mal knöchernen, mal faltigen und ein anderes Mal jugendlich glatten Händen umfasste. L'lewed schien er nicht wahrzunehmen. Sein Geist war im jeweiligen Augenblick seiner Altersphase gefangen. »Arschloch«, grunzte L'lewed … und legte nun selbst die Hände an den ovalen Stein. Man erzählte sich, dass sich jede Anomalie anders anfühlte. Es gab solche, die wahrhaftig hart und fest wie ein Felsbrocken waren, aber genauso gut konnte das Ding, das man berührte, weich und nachgiebig wie Halbgefrorenes sein oder sogar luftig wie ein Gas. In jedem Fall aber ließ es sich mit einem Beutel, wie L'lewed ihn bereithielt, bergen und sicherstellen. Soweit die Theorie. Mit hämmerndem Herzen erwartete L'lewed, dass etwas ebenso Schreckliches wie das, was Chooms in seine Gewalt gebracht hatte, von den Berührungspunkten auch auf ihn übergehen und ihn unter seine Knute zwingen würde. Doch die Handschuhe bewährten sich. Nicht einmal ein Prickeln war zu spüren. Nur eine seltsame Kälte, die ungemindert durch das Gewebe des Schutzes drang. Sie hatte etwas Abseitiges. L'lewed war versucht, sich vor Ekel zu schütteln, aber er beherrschte sich. Noch immer lagen auch Chooms Finger um den Stein. L'lewed musste alle Kraft aufbieten, die in seinen Muskeln steckte, um dem anderen Sucher den Anomaliestein zu entreißen. Ein schmatzendes Geräusch, als würden sich Saugnäpfe von einer Oberfläche lösen, begleitete den Moment, da sich L'lewed als der Stärkere
durchsetzte. Mit dem Objekt zwischen den Händen stürzte er zu Boden. Der Aufprall war schmerzhaft, er schrammte sich Ellbogen und Gesäß, aber es gelang ihm, den Fund festzuhalten. Als er aufsah, entdeckte er Choom, der unverändert flackernd dastand. Sein Körper machte noch immer die Metamorphose verschiedener Alterungsstufen durch. L'lewed war verblüfft. Er hatte erwartet, dass der unheimliche Vorgang zu einem Ende kommen würde, sobald die Verbindung zwischen Choom und dem Stein unterbrochen wurde. Doch das schien nicht der Fall. Die Berührung der Anomalie wirkte nach. L'lewed legte den Fund kurz ab, um besser aufstehen zu können. Kaum war er wieder oben, bückte er sich aber und verstaute den Stein in dem mitgebrachten Beutel, dessen Öffnungsnaht sich durch bloßes Andrücken lückenlos schließen ließ. Danach hätte L'lewed auch wieder die Handschuhe abstreifen können, doch bevor er das tat, tippte er mit dem Zeigefinger der Rechten vorsichtig Choom gegen die Brust. »Hey!«, rief er. »Lebst du noch? Hörst du mich?« Zu seiner Verblüffung antwortete eine Stimme, die alle Lebensalter durchlief: »Danke. Ich schulde dir unendlichen Dank …«
Bevor L'lewed auf die Worte, die ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagten, reagieren konnte, lenkte ihn ein Geräusch ab, das schon eine ganze Weile am Rand seiner Wahrnehmung erklungen war, aber erst jetzt tatsächlich in sein Bewusstsein rückte. Er blickte in die Richtung, aus der es kam, und sah einen klobigen Karren, der von insgesamt acht bleichen Pferden gezogen wurde. Vorne auf dem Bock saßen gleich zwei Kutscher, die Gesichter vermummt. Jeder hielt die Pferde einer Seite in Schach, wobei er auf Synchronität mit seinem Nachbarn bedacht sein musste und dies auch meisterlich bewerkstelligte. Eine solche Kutsche hatte L'lewed und Choom in die Zone gebracht und das vorherige, erfolglos gebliebene Team mitgenommen. Nun würde es sie abholen – und die beiden nächsten Sucher bringen, die ihr Glück versuchen konnten.
L'lewed wunderte sich, dass die Kutsche so früh kam. Nach seiner Schätzung hätten bis zu ihrer Ankunft noch ein paar Stunden verstreichen müssen. Aber er schloss nicht aus, dass er im Sog der Ereignisse jedes echte Zeitgefühl hatte missen lassen. »Hoh!«, brüllten die Kutscher unisono. Unter den eng anliegenden Anzügen zeichneten sich beeindruckende Muskelpakete ab. Ihre Gesichter hingegen blieben auch weiterhin unkenntlich. L'lewed hatte kein einziges Mal während der Herreise Gelegenheit erhalten, hinter die Vermummung zu blicken. Empathen, die auf Tiere spezialisiert waren und sie wie kein normaler Mensch zu lenken vermochten, galten als extrem scheu. Fast augenblicklich kam die Kutsche zum Stehen. L'lewed überlegte kurz, dann eilte er dem Gefährt entgegen. Noch bevor er es erreichte, öffneten sich die seitlichen Türen des Karrens, und zwei Gestalten – eindeutig weiblichen Geschlechts – sprangen heraus. Schweigend gingen sie zu den Kutschern, die ihnen ihr Gepäck hinabreichten. L'lewed wurde daran erinnert, dass auch er und Choom mit ein paar Habseligkeiten angereist waren. Doch gegenwärtig hatte er keinen Sinn dafür. Er schwenkte den silbrig glänzenden Sack mit dem Anomaliestein und sagte: »Es kam zu einem Unglück. Helft mir. Mein Partner –« Einer der Vermummten unterbrach ihn brüsk. »Was ist in dem Beutel? Ist es das, was ich denke?« L'lewed nickte eifrig. Die beiden Frauen neben der Kutsche begannen aufgeregt miteinander zu flüstern. Begehrlich strichen ihre Blicke über den Sack in L'leweds Hand. »Wirf!«, rief der Kutscher, der bislang geschwiegen hatte, und streckte L'lewed die Hand entgegen, die keine Zügel hielt. L'lewed wollte bereits ausholen, dann aber zögerte er. »Ihr müsst helfen. Er lebt. Ich habe mit ihm gesprochen. Aber allein … schafft er es nicht. Er braucht Hilfe. Dringend.« Beide Kutscher blickten in die Richtung, aus der L'lewed gekommen war. Keine zwanzig Meter entfernt stand Choom, und über sei-
ne Haut, sein Haar, selbst seine Kleidung legten sich im Sekundentakt wie Masken unterschiedliche Zustandsformen. »War unvorsichtig, der Dummkopf, wie?«, schnarrte der Kutscher links auf dem Bock schließlich, ohne Anstalten zu machen, abzusteigen. »Ist selbst schuld«, bekräftigte sein Kollege zur Rechten. »Aber wir können ihn nicht –« L'lewed verstummte unter dem sezierenden Blick der beiden Augenpaare, die über den Lederbahnen, die die Köpfe umspannten, sichtbar waren. Eine Weile wogte es zwischen L'lewed und den Kutschern hin und her. Willenskraft gegen Willenskraft, Ego gegen Ego. L'lewed war verblüfft, als beide Kutscher die jeweiligen Zügel, die sie hielten, fallen ließen und sich vom Bock schwangen. Mit energischen Schritten marschierten sie an L'lewed vorbei auf Choom zu. L'lewed folgte ihnen zögernd. Er wusste nicht, was ihren Meinungsumschwung herbeigeführt hatte, aber ihm schwante Böses. Keinen Moment glaubte er, dass sie zu Choom gingen, um ihm zu helfen. Sie würden ihn … Doch wieder überraschten sie ihn. Nachdem sie eine Minute vor Choom ausgeharrt und ihn gemustert hatten, kam wieder Bewegung in sie. Einer zerrte etwas aus seiner Riemenkleidung hervor. Es erinnerte an den Beutel, in dem L'lewed den Anomaliestein verstaut hatte – nur war es deutlich größer. Vorsichtig und mit vereintem Bemühen stülpten sie das Gewebe über den Flackernden … und ließen ihn komplett darin verschwinden. Danach stieß der eine Vermummte Choom an, sodass er dem anderen entgegenfiel. Der fing ihn auf, und gemeinsam schleppten sie ihn zur Kutsche. L'lewed folgte ihnen wie betäubt. »Er wird ersticken«, wandte er schwach ein. Niemand beachtete ihn. Die beiden weiblichen Sucher schienen an Choom wenig interessiert zu sein, dafür umso mehr an dem Beutel, den L'lewed noch immer nicht aus der Hand gegeben hatte. »Man wird sich um ihn kümmern«, versprach einer der Kutscher
und forderte L'lewed auf, zu Choom in die Kabine zu steigen. »Ein interessanter Fall. Ein sehr interessanter Fall. War noch nie da, wenn ich das richtig sehe. Und jetzt den Beutel! Wenn du wirklich Glück hattest …« Widerstrebend händigte L'lewed dem Kutscher den Fund aus. Der warf einen Blick in den Sack, schnaubte anerkennend … und warf ihn seinem Zwilling zu. »Und jetzt rein mit dir! Los! Wir fahren zurück. Du wirst es kaum erwarten können, oder?« Als L'lewed nicht antwortete, sondern sich einfach mit deutlichem Unbehagen in die Kutsche begab, wo Choom bereits wie in einem Leichensack verstaut war, wandte der Kutscher sich an das Frauen-Duo: »Ihr kennt eure Frist. Und gerade habt ihr erlebt, dass es keineswegs unmöglich ist, was von euch erwartet wird. Strengt euch an – wir kommen zur vereinbarten Zeit wieder!« Der Kutscher wuchtete die Tür ins Schloss, kaum dass L'lewed eingestiegen war und sich auf die Bank gequetscht hatte. An den Erschütterungen, die den Karren durchliefen, erkannte er, dass die Kutscher wieder auf ihren Bock kletterten. Kurz darauf fuhr das Gefährt mit atemberaubender Beschleunigung an. Die Zonenlandschaft huschte an den winzigen Sichtluken vorbei. L'lewed hatte ein irreales Gefühl, insbesondere wenn er zu Choom blickte, der schweigend in der silbrigen Haut verharrte, die über ihn gestreift worden war. »Choom?« Der Partner gab auch nach mehrmaligem Zuruf keine Antwort. L'lewed hielt es für möglich, dass er schon nicht mehr unter den Lebenden weilte. Zu seiner eigenen Verwunderung gewöhnte er sich aber irgendwann an die obskure Gesellschaft. Schließlich fand er sogar die Muße, die Augen zu schließen. Wenig später war er eingeschlafen. Wach wurde er erst wieder am vorläufigen Ziel, dem Sammellager. Hier verlor er Choom aus den Augen, und jeder, den er nach dem Ex-Partner fragte, erweckte den Eindruck, als weile er nicht mehr unter den Lebenden, als hätte ihn die seltsame Zeitkrankheit
dahingerafft. Es dauerte drei volle Wochen, um ein ausreichendes Kontingent an Passagieren zusammenzubekommen, dass die Überfahrt über eine raue See lohnte. Aber auch diese trostlose Zeit des Wartens und der Ungewissheit verging. Unter all denen, die an Bord des Schoners durften, war L'lewed der einzige Gewinner. Alle anderen würden ihre Leben als Oys beschließen. Nur er war zum Privilegierten geworden und bekam sogar eine eigene Kabine zugewiesen, die nicht luxuriös, aber immerhin sauber und abschließbar war. Was wollte er mehr? Von Choom hatte er seit der Ankunft im Lager nichts mehr gesehen und gehört. Inzwischen ging L'lewed vom Tod des Expartners aus. Umso überraschter war er, als der Kapitän ihn auf halber Strecke zum Ziel in seine Kajüte bat und ihn dort mit dem Totgeglaubten konfrontierte.
Der flackernde Mann saß hinter Glas. L'lewed fragte sich, ob das Möbel, in das man ihn verfrachtet hatte, wohl normalerweise als einfacher Schrank diente und nur zweckentfremdet worden war – für Choom, der tatsächlich … zu flackern schien. Der Effekt wurde durch die noch rasender gewordene Abfolge von Erscheinungsbildern erzeugt, die ihn mal jung, mal in mittleren Jahren und dann wieder alt, uralt, oft sogar als Skelett zeigten, das in sich zusammengesunken hinter den Scheiben der »Vitrine« kauerte. »Ein eigenartiges Schicksal«, sagte der Kapitän und reichte L'lewed einen Becher, dem ein strenger alkoholischer Geruch entströmte. L'lewed nippte daran und verzog das Gesicht. »Zu stark?«, fragte der Kapitän und zeigte auf einen von zwei gepolsterten Stühlen, die unmittelbar vor der Vitrine platziert waren; so konnte man die Schau bequem genießen – falls sie einem dann nicht doch zu makaber war. L'lewed fühlte sich unwohl bei Chooms Betrachtung. »Wäre …«,
setzte er an, doch dann brachte er es nicht übers Herz, die Frage, die ihm auf der Zunge lag, laut zu stellen. Immerhin hatte er die Erfahrung gemacht, dass Choom ihn auch in diesem bemitleidenswerten Zustand hören und verstehen konnte. Der Kapitän trank aus seinem Becher und lehnte sich entspannt zurück. »Du meinst«, erriet er tatsächlich L'leweds Gedanken, »ob es nicht besser wäre, ihn zu erlösen? Seiner Qual ein Ende zu bereiten, indem man ihn … nun, tötet?« L'lewed zuckte zusammen. Im Nachhinein war er doppelt froh, es nicht ausgesprochen zu haben, denn schon aus fremdem Mund klang es furchtbar. »Nein! Nein, ich …« »Schon gut, schon gut.« Der wuchtige Kapitän lächelte verstehend. Sein faltiges Gesicht erinnerte an eine verschrumpelte Frucht. Nur die Augen … die Augen sahen aus wie die eines jungen Mannes, der darauf brannte zu erfahren, was das Leben für ihn bereithalten mochte. »Ich weiß, er hört uns. Aber zugleich scheint sich sein Geist auf einer anderen Ebene zu befinden. Der größte Teil davon jedenfalls.« »Ihr habt mit ihm gesprochen?« »Wir plaudern ab und zu miteinander, aber ja.« L'lewed spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. »Und was … was sagt er dann so?« »Hat mir erzählt, wie er der Verlockung nachgab und dabei jede Vorsicht außer Acht ließ. Und wie du dann später kamst, um die Früchte seiner Arbeit einzuheimsen.« Jetzt lachte er noch breiter. »Das hat er gesagt?« »Wortwörtlich«, versicherte der Kapitän. »Aber dass wir uns nicht falsch verstehen. Er macht es dir nicht zum Vorwurf – und ich gewiss auch nicht. Wir beide gratulieren dir, du bist ein Glückskind. Er hingegen …« L'lewed folgte dem Fingerzeig. Chooms morphendes Gesicht hatte sich ihm jetzt voll und ganz zugewandt, und der Blick seiner Augen bohrte sich in den von L'lewed. Plötzlich winkte er ihn näher zu sich heran.
L'lewed zögerte, schaute zum Kapitän. Der hatte den Becher schon wieder an den Lippen, und zum ersten Mal fiel L'lewed auf, dass er bereits stark angetrunken war. Wahrscheinlich war das nicht sein erster Trunk für heute. Zögernd erhob er sich schließlich, weil er meinte, der Kapitän habe ihm aufmunternd zugenickt. Er trat dicht an das Glas der Vitrine, und der flackernde Mann darin beugte sich vor. »Ich neide dir dein Glück nicht, alter Freund. Ich schwöre, ich gönne dir alles, womit du beschenkt werden wirst.« Leise raunend kamen die Worte, sodass der Kapitän sie gewiss nicht verstehen konnte. »Und der Prior wird sich erkenntlich zeigen. Das weiß ich, und das weißt du …« Kurze Pause, dann: »Ich bitte dich nur um eines.« Der Kapitän hustete laut. L'lewed drehte sich zu ihm um und sah, dass der bullige Mann versuchte, sich aus seinem Sitz zu stemmen. Aber er fiel wieder zurück und fluchte. »Um was?«, zischte L'lewed Choom zu, der ebenso leise wie der Flackernde sprach. »Lass mich nicht bei ihm. Überlass mich ihm nicht!« Trotz des Flüstertons schienen sich Chooms Worte in L'leweds Gehör zu fräsen. Erneutes Husten lenkte ihn ab. Der Kapitän stand jetzt genau hinter ihm. »Was hat er gesagt?«, verlangte er zu wissen und zeigte mit seiner mächtigen Pranke auf den Flackernden. »Es … war nicht zu verstehen«, log L'lewed. Sein Blick streifte Choom, und er meinte, sowohl Hoffnung, als auch Dankbarkeit in den Augen des Bedauernswerten zu lesen. »So? Wirklich nicht?« Der Kapitän wischte sich mit Unterarm und Handrücken über den Mund. Dazu lachte er aufgekratzt. »Vielleicht ist er müde. Muss anstrengend sein, ständig die Haut zu wechseln.« »Das tut er schneller als in der Zone, wo ich ihn aus den Augen verlor«, sagte L'lewed rau. »Man hat ihn in einen Sack gesteckt. Später, im Lager, wurde er weggebracht. Ich habe nicht erwartet, ihn hier anzutreffen.« »Fand's ein nettes Souvenir«, lallte der Kapitän. »Mal was anderes.
Hat sonst keiner – glaub ich. Kann sein, dass ich ihn im Zielhafen verhökere. Keine Ahnung, was er einbringen könnte. Man hat ihn mir geschenkt – quasi.« »Quasi«, wiederholte L'lewed mit leichtem Ekel. Er hatte dieses Wort noch nie gemocht, weil es für ihn kein Wort im eigentlichen Sinn war. Quasi … Das bedeutete alles und nichts. »Vielleicht verkauft Ihr ihn … mir?« Plötzlich schien der Kapitän völlig nüchtern. »Dir?«, fragte er misstrauisch. »In der Zone gehörten wir zusammen. Wir waren ein Sucherteam. Irgendwie fühle ich mich für ihn … verantwortlich.« »Verantwortlich.« »Ja.« »Er wäre nur eine Last. Schau ihn dir an. Der Kerl ist faszinierend – für ein paar Stunden oder Tage. Aber dann … na ja, dann langweilt er bereits. Du würdest einen großen Fehler –« »Wie viel wollt Ihr für ihn?« Der Kapitän hielt in seinen schaukelnden Bewegungen inne. »Du meinst es ernst, was? Richtig ernst.« »Das tue ich.« »Ein Glückskind wie du. Einer, dem der Segen des Priors sicher ist – und damit die Welt offen steht … Ich weiß nicht, ich weiß nicht …« Er kratzte sich an seinem ungepflegten Bart. »Wenn er das hört, wenn er erfährt, dass ich dich übers Ohr gehauen hab – und so wird er das sehen, kein Mensch würde viel für diese Monstrosität ausgeben, kein Mensch –, werd ich seinen Zorn zu spüren bekommen. Darauf leg ich's nicht an. Bin ein einfacher Seefahrer. Werd nie reich oder ein solcher Glückspilz sein wie du – aber leben … einfach leben, will ich trotzdem. Mir nicht in die Suppe spucken lassen. Von keinem. Auch nicht von –« »Er wird es nicht erfahren. Von mir bestimmt nicht!« Noch während L'lewed eindringlich sein Versprechen gab, fragte er sich, welcher Teufel ihn gerade ritt. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben. Aber … die Welt ist schlecht. Nicht der Prior – bewahre! Aber die Welt und ihre einfälti-
gen Menschen … nichts als Scherereien hat man. Glaub's mir.« »Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen«, erwiderte L'lewed. »Ich wiederhole: Von mir habt Ihr nichts zu befürchten. Gebt mir den Flackernden, und ich werde mein Glück mit Euch zu teilen wissen.« »Du meinst, du könntest deinen künftigen Einfluss für mich in die Waagschale werfen?« Der Kapitän sah L'lewed aus tränenfeuchten Augen an. L'lewed zuckte die Achseln. »Falls ich wirklich belohnt werde, so wie alle Sucher es sich erträumen, werde ich dich nicht vergessen.« »Ich glaube dir.« Der Kapitän wirkte wahrhaftig wie ausgewechselt, keine Spur mehr von Trunkenheit. Er zeigte auf das makabre Ausstellungsstück. »Er gehört dir, wenn du wirklich willst. Beachte nur ein paar Vorsichtsmaßregeln. Ich möchte nicht, dass dir der Gefallen, den ich dir tue, zum Verhängnis wird.« L'lewed lauschte in sich, um herauszufinden, ob er sich über das Erreichte freute. Aber alles, was er fand, war eine zunehmende Verunsicherung. Letztlich hatte er sich mehr aufgrund Chooms eindringlicher Bitte als aus eigenem Antrieb für den Anomaliegeschädigten eingesetzt. Wohin würde das führen? »Wie habt Ihr ihn mit Nahrung versorgt?«, wandte er sich an den Kapitän. »Nahrung? Er isst und er trinkt nichts. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er Luft zum Atmen braucht. Im Grunde bin ich froh, ihn loszuwerden. Er wurde mir zunehmend unheimlicher.« L'lewed war ob des Bekenntnisses verblüfft, kommentierte es aber nicht. Er beschloss, Choom selbst nach seinen Bedürfnissen zu fragen, sobald sich die Gelegenheit dazu unter vier Augen ergab. Für den Moment verabschiedete er sich vom Kapitän und kehrte in seine Kabine zurück. Er wollte sich gerade schlafen legen, als es an die dünne Sperrholztür klopfte. Er öffnete und sah zwei verschwitzte Matrosen, die den Vitrinenschrank samt Inhalt unter Deck gewuchtet hatten. Der Schrank war mit Tüchern verhangen, die mit-
tels Seilen daran gehindert wurden zu verrutschen. Offenbar wollte der Kapitän verhindern, dass seine Männer einen Blick hinein warfen. Seeleute waren im Allgemeinen abergläubisch. Der Flackernde hätte zu Protesten bis hin zur Meuterei führen können. »Was –« »Ein Geschenk des Kapitäns. Ihr wüsstet Bescheid, sagte er, Erhabener. Tretet zur Seite.« Keuchend wuchteten sie das Möbel in die Kabine, die danach kaum noch Platz zum Stehen bot. Erst als die beiden Matrosen gegangen waren, wich die klaustrophobische Anwandlung, die L'lewed gepackt hatte. Er schloss die Tür und schob den Riegel vor. Nach kurzem Zögern löste er die Knoten der Stricke und wickelte sie ebenso wie die Tuchbahnen ab. Bis zuletzt erwartete er, einen leeren Schrank vorzufinden. Doch Choom starrte ihn stoisch durch das Glas hindurch an. Mit einer in jeder Altersfärbung heiser krächzender Stimme sagte er: »Danke. Das werde ich dir nie vergessen!«
Der Rest der Überfahrt verlief, von ein paar Wetterkapriolen abgesehen, ohne besondere Ereignisse. Zumindest empfand L'lewed dies so. Hätte man ein Mitglied der Schoner-Mannschaft befragt, hätte sich dies aber wahrscheinlich etwas anders angehört. Für die Besatzung erweckte L'lewed zunehmend den Eindruck eines Sonderlings, der sich mehr als zu Beginn der Überfahrt zunehmend vom »gemeinen Volk« abgrenzte. Selbst der Kapitän bekam ihn nur noch selten zu Gesicht – was diesen auch zu stören schien, denn er schickte immer wieder nach L'lewed, um ihn »auf ein Gläschen«, wie er es nannte, zu sich in seine Kajüte einzuladen. L'lewed schlug die meisten dieser Offerten aus. Er verbrachte seine Zeit lieber mit … Choom. Der Flackernde war ein begnadeter Gesprächspartner – viel mehr als in den Tagen, in denen L'lewed, im Sucher-Team eng mit ihm verschweißt, es bemerkt hatte. Viele Ansichten des Flackernden gingen weit ins Philosophische. Der Kontakt mit dem Anomaliestein hatte seinen geistigen Horizont fraglos aufs Entschiedenste erwei-
tert. Er hatte »hinter« die Grenzen geblickt, die das normale Weltbild eines Menschen gemeinhin bestimmten. Aber er war nicht nur klug, sondern auch unglaublich anteilnehmend an dem, was L'lewed bewegte. Binnen kürzester Zeit entdeckte L'lewed in Choom den Freund, den er nie gehabt hatte, einen, dem er alles anvertraut hätte, ohne Sorge haben zu müssen, dass sich dieses Vertrauen jemals gegen ihn wenden könnte. Choom benötigte im Zustand des permanenten Alterswechsels zu L'leweds Überraschung keinerlei Nahrung, nicht einmal Wasser. Woher er seine nicht schwindende Lebenskraft (falls man sein Los noch als Leben bezeichnen mochte) nahm, blieb L'lewed ein Rätsel, das auch Choom nicht lösen konnte oder wollte. Und so wenig er Essen und Trinken brauchte, so wenig benötigte er offenbar Schlaf. Wann immer L'lewed des Nachts aus seinem Schlummer erwachte, weil ihn die Blase drückte oder ihn der Vollmond weckte … der flackernde Freund war bereits wach und blickte ihn im Licht einer Öllampe mit der für L'lewed beinahe schon normal gewordenen Gesichterschau durch die Vitrinenscheibe hindurch an. L'lewed hatte ihm inzwischen mehrfach angeboten, ihn regelrecht gedrängt, den Schrank, der ihm selbst wie ein Gefängnis vorkam, zu verlassen und gern auch in der zweiten Koje zu schlafen, über die die Kabine verfügte. Doch dieses Angebot lehnte Choom jedes Mal freundlich aber bestimmt ab, als würde es ihm, so abstrus dies auch anmuten mochte, im Inneren des Schranks gefallen. »Was ist mit dir passiert, Freund?«, wandte sich L'lewed fast täglich an den Flackernden. »Kannst du dich heute an das erinnern, was dir widerfahren ist? Im Moment des Kontakts mit der Anomalie, meine ich, du weißt schon.« Aber Choom verneinte ein ums andere Mal. »Ich trage keine Bilder, keine Empfindungen dazu in mir. Ich war wie tot, wie ganz und gar leer. Mein Dasein füllte sich erst wieder, als du … du mich davon losgerissen hast. Ich landete in einem Sack, wie der Anomaliestein auch. Und als er sich das nächste Mal auftat … sah ich mich dem Mann gegenüber, aus dessen Fängen du mich holtest. Er war
schrecklich, und er tat Schreckliches.« »Was genau tat er dir an?« Stunden, bevor das Schiff im Hafen ankam, schien Choom zum ersten Mal gewillt, Details über seine Zeit im Schrank, bevor L'lewed ihn dort vorgefunden hatte, preiszugeben. Zuvor haue er sich höchstens einmal in vagen Andeutungen verloren, sich aber nie zu einer echten Aussage hinreißen lassen. »Er …« Der flackernde Freund setzte zum Sprechen an, verstummte aber sogleich wieder. »Sag es«, drängte L'lewed sanft. »Wir können über alles reden – das musst auch du gemerkt haben. Wir stehen uns näher als in der Zone, sehr viel näher. Hab Vertrauen.« »Es ist schwierig – weil du die Tragweite dessen, was er tat, wahrscheinlich nicht ermessen kannst.« »Versuch es, rede darüber.« Der Flackernde zögerte noch immer, und während er dies tat, schien die Geschwindigkeit, in der die »Gesichterschau« vonstattenging, nachzulassen. Für einen Moment sah es beinahe so aus, als würde es Choom gelingen, sich auf sein ursprüngliches Alter einzupegeln. Doch dann nahm das »Panoptikum« wieder Fahrt auf. Choom seufzte gequält: »Er … besitzt einen winzigen Splitter.« »Der Kapitän?« Choom nickte. »Einen winzigen Splitter wovon?« »Eines Anomaliesteins.« Für einen Augenblick war L'lewed völlig fassungslos und ungläubig. »Niemand …«, setzte er an. Choom nickte hinter Glas. »Ich weiß, ich weiß. Niemand außer dem Prior sollte – dürfte! – im Besitz eines Fundes aus der Zone sein. Aber der Kapitän … hat einen. Und ich fürchte fast …« »Was? Was fürchtest du?« In diesem Moment flog die Tür der Kabine auf, als wäre draußen auf dem Gang etwas explodiert. Nicht nur L'lewed zuckte zusammen, auch Choom in der Vitrine sah aus, als wollte er sich in den hintersten Winkel seines Gefängnisses zurückziehen.
Im Türviereck stand der Grimassen schneidende Kapitän und erweckte den Eindruck, als hätte er schon länger an der Tür gelauscht, bevor er sich zu diesem brachialen Auftritt entschlossen hatte. »Dass ich mir auch deinen Fund unter den Nagel reiße – stimmt's Flackernder?« Choom im Schrank röchelte entsetzt. Vielleicht war es seine Art der Zustimmung. »Niemand würde es wagen«, keuchte L'lewed, nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte, »den Prior zu hintergehen. Niemand!« »Ach«, grinste der Kapitän. »Aber ich tat es schon öfter. Denn zufällig sammeln wir dieselben edlen ›Steine‹. Und wer will es mir verübeln, dass ich mich bediene, wann immer die Gelegenheit günstig erscheint?« »Nichts bleibt dem Prior verborgen. Er –« »Ach, du dummer Junge. Glaubst das Märchen vom Allwissenden und Allgegenwärtigen, ja? Nun, er weiß gewiss viel, der Prior, aber es gibt eine Methode, ihn auszutricksen. Es gibt immer, aber für jeden ganz individuell eine Methode, die fruchtet. Man muss sie nur finden … oder gesegnet sein.« »Gesegnet?« L'lewed kam zu dem Befund, einem Wahnsinnigen in die Hände gefallen zu sein. Wie der Kapitän allerdings bislang unerkannt durch die Maschen des Systems hatte schlüpfen können, war und blieb ihm ein Rätsel. Sein Gegenüber lachte mit blitzenden Augen. »Man sieht's mir nicht an, ich weiß. Aber gerade das ist mein großes Plus. Niemand durchschaut meine Fassade. Nicht, solange ichs nicht zulasse.« »Ich wiederhole es noch einmal«, krächzte L'lewed. Er hatte das Gefühl, mit seinen Worten gar nicht bis ins Bewusstsein des Kapitäns vorzudringen. Dennoch spürte er, dass er es zumindest versuchen musste. Solange sie miteinander sprachen, würde der Kapitän die unausgesprochene Drohung, die sich hinter seinen Äußerungen verbarg, nicht in die Tat umsetzen. Er will mich umbringen! Davon war L'lewed inzwischen felsenfest überzeugt. Der Irre ist hinter meinem Fund her, wie Choom es sagte. Und dafür geht er über Leichen. Was hab ich davon, wenn der Prior ihn hinter-
her zur Rechenschaft zieht. Dann bin ich längst am Verfaulen … Ihm musste dringend etwas einfallen, wie er sich den Kapitän vom Leib halten und die Adepten des Priors verständigen konnte, die sich ebenfalls an Bord befanden. Ohne es zu merken, schüttelte sich L'lewed. Ihm wollte einfach nicht in den Kopf, wie der Kapitän glauben konnte, dass er es schaffen würde, all diese Mechanismen zu übergehen. Der Prior war in jedermann präsent. Wann immer er wollte, meldete sich seine Stimme in den Köpfen seiner Untertanen. Wann immer er wollte, schlüpfte er in ihre Körper, sah, was sie sahen und hörte, was sie hörten … oder sprachen. Wenn dem aber so war – wo blieben dann die Adepten, um den vor Gier rasend gewordenen Kapitän in seine Schranken zu weisen? Stattdessen trat dieser Verrückte mit wildem Grinsen noch zwei Schritte auf L'lewed zu, stürmte die Kajüte und fuchtelte mit etwas herum, das zweifelsfrei als tödlicher Dolch zu erkennen war. L'lewed versuchte zurückzuweichen. Aus dem Schrank schrie Choom etwas, das aber im irren Gelächter des Kapitäns unterging. L'lewed spürte das Holz der Kajütenwand in seinem Rücken. Der Kapitän baute sich mit blutunterlaufenen Augen vor ihm auf und holte mit der Klinge über seinen Kopf hinweg aus. Als er zustieß, schloss L'lewed mit seinem Leben ab. Ganz am Rande seiner Wahrnehmung hörte er Glas splittern. Etwas zuckte von der Seite heran und blockte den Dolchstoß ab. Der Kapitän brüllte in seiner Wut und Enttäuschung laut auf, verstummte aber jäh. Benommen starrte L'lewed auf die flackernde Hand, die sich wie eine Zange um die Kehle des Kapitäns geschlossen hatte, dessen Züge zu einer Grimasse des Grauens gefroren … … bevor sie, wie der gesamte Körper, verdorrten und zu Staub zerfielen. Staub, der auf die Planken fiel, während sich Chooms flackernder Arm durch die geborstene Scheibe zurück in den Schrank zog, aus dem sie kurz zuvor hervorgebrochen war. L'lewed war immer noch wie betäubt, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen oder irgendetwas zu sagen. Erst der Lärm von Schritten
riss ihn aus seiner Versunkenheit. Kurz darauf stürmten zwei Adepten des Priors die kleine Kabine. Ihr Blick streifte die Überreste des Kapitäns, die wie ein Haufen flockiger Asche über den Boden verteilt waren, und die Art, wie ihre Blicke darauf verweilten, jagte L'lewed einen eisigen Schauder über den Rücken. Er spürte intuitiv, dass sie wussten, worum es sich dabei handelte, so als könnten sie aus den sterblichen Überresten auf das Aussehen zu Lebzeiten rückschließen. L'leweds Magen krampfte sich zusammen. Er wollte etwas sagen, aber der größere der beiden Adepten kam ihm zuvor. Die Tunika, die ihn kleidete, leuchtete in grellem Türkis. L'lewed erinnerte sich an seinen Namen – Igorac. Igorac hatte L'lewed im Sammellager betreut und war schließlich mit an Bord des Schiffes gegangen. Von da ab war er jedoch zu L'leweds Verwunderung nicht mehr bei ihm vorstellig geworden. Nun zeigte sich, warum. »Du bist ein wahrhaft Würdiger«, wandte er sich mit einem Respekt an L'lewed, den er bei ihren früheren Begegnungen durchaus haue missen lassen. »Adept?«, krächzte L'lewed. »Ich bin froh, dass Ihr –« »Sag mir, wie du ihn überwunden hast«, unterbrach Igorac ihn und zeigte auf den Staub zu ihren Füßen. »Ihr wisst, um was … oder wen es sich handelt?« Der Adept nickte nur knapp. »Ich kann den Staub lesen.« »Lesen?« Igorac machte eine ungeduldige Geste, worauf L'lewed nicht anders konnte, als knapp, aber mit Bedacht zu berichten, was vorgefallen war – und wie der Flackernde in seine Kabine gelangt war. Igorac lauschte ebenso wie sein Begleiter und nickte dann. »Seine immensen Kräfte hätten ihm zu Ruhm und Ehre gereichen können – in Diensten des Priors. Aber offenbar zog er es vor, den Pfad von Lüge und Betrug zu beschreiten … was ihn geradewegs in die Vernichtung führte.« »Er … wollte den Fund, den ich …« L'lewed zögerte, sein Blick zuckte zur Vitrine und dem darin befindlichen Choom. »… den er
und ich machten. Er wollte ihn für sich ganz allein und klang dabei so, als wäre es nicht das erste Mal, dass er den Prior um Zonengold betrügt.« Zonengold war ein anderes Wort für die Zeit- oder Anomaliesteine. »Das glaube ich gern«, sagte der Adept neben Igorac. »Wir waren ihm auf der Spur. Deshalb kam ich mit an Bord. Aber ich muss eingestehen, dass mich meine Mission geradewegs in den Tod geführt hätte, wäre es dir …« Er lächelte und nickte auch Choom wohlwollend zu. »… und ihm nicht gelungen, diesen Verbrecher zu bezwingen.« Er schürzte die Lippen. Schwarze Augen leuchteten in einem asketisch schmalen Gesicht, dessen Wangenknochen streng hervortraten. »Aber sag mir, wie. Wie habt ihr ihn ausgeschaltet? Das hier ist Staub, wie ihn normalerweise die Zeit erschafft. Viele Jahrzehnte, die einem Leichnam zusetzen, bis er …« Er verstummte, als wäre klar, worauf er hinaus wollte. In diesem Moment erhob Choom das Wort. »Ich wusste selbst nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Zumal ich Menschen auch berühren kann, ohne dass ich ihnen die Lebenszeit stehle, die ihnen eigentlich noch zur Verfügung stünde. Aber vorhin … vorhin wollte ich, dass dieser Mann für seinen feigen Hinterhalt büßt. Ich wollte, dass er nie wieder jemanden hintergehen, foltern oder töten kann!« Chooms Stimme durchwanderte wieder jede Altersstufe. Mal kindlich, mal reif, mal brüchig … L'lewed war nach wie vor davon fasziniert. Igorac nickte. »Seine Psi-Kraft war erstaunlich. Damit zwang er nicht nur die Mannschaft dieses Schiffes unter seine geistige Fuchtel, sondern auch jeden Passagier und damit auch uns. Erst als er verging, erwachte ich aus dem Traum, den er mir aufgezwungen hatte, ohne dass ich es merkte.« »Was hätte er mit uns getan?«, fragte L'lewed. »Wir wären alle des Todes gewesen«, behauptete der Adept im Brustton der Überzeugung. »Unsere Leichen hätte er im Meer versenkt und sich dann mit seiner Beute unerkannt und unbehelligt davongemacht.«
L'lewed schluckte. »Und die anderen Passagiere? Die Besatzung?« »Vielleicht hätte er aus den Oys ein paar neue Crewmitglieder rekrutiert – aber der Großteil wäre mit uns über Bord gegangen. Nur seine Mannschaft hätte er behalten. Für ihn kein Risiko, da er sie ganz und gar unter seinen Willen gezwungen und sich Untertan gemacht hatte.« L'lewed versuchte zu begreifen, in die Fänge welchen Monstrums er und die anderen geraten waren. »Aber er war dem Prior verantwortlich! Wie konnte er da –« »Wir alle sind dem Prior verantwortlich – und der Prior sieht in uns alle hinein«, pflichtete Igorac ihm zu. »Aber dieser hier …« Der Adept trat in den Haufen der sterblichen Überreste, dass der Staub aufgewirbelt wurde. »… vermochte es offenbar, sich gegen alle Einblicke zu wappnen und zu verstellen. Er gaukelte selbst dem Prior etwas vor, was nicht existierte.« »Ich dachte nur …« »Ja?« »Ich dachte immer, der Prior sei … allmächtig.« »Er war einmal ein Mensch wie du und ich – und damit ist und bleibt er fehlbar.« L'lewed riss die Augen weit auf. Igorac trat vor ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Bevor wir uns missverstehen: Ich liebe und verehre meinen Lehrer. Er ist – nicht nur für mich – die höchste Instanz. Aber nichts und niemand ist so vollkommen, dass es nicht verbesserungswürdig bliebe. Wir alle, die dem Prior dienen, sind angehalten, an seiner Vervollkommnung mitzuwirken. Das wirst auch du bald erkennen, denn er wird dich empfangen und dir seine Pläne mit dir kundtun. Ängstige dich nicht davor. Du und er … der Flackernde dort … ihr seid vom Schicksal geadelt. Niemand vor euch durfte sich je des Danks unseres Höchsten so gewiss sein wie ihr …« An diesem Tag auf See verstand L'lewed noch nicht, was der Adept damit meinte. Aber er sollte es erfahren, kaum dass das Schiff die Küste des Kontinents erreichte, auf dem der Prior residierte.
Die Ankunft in der Priorei, wie die Umgebung samt Kern der Residenz des spirituellen Oberhaupts der Menschheit genannt wurde, gestaltete sich für L'lewed zu einem Erlebnis, das seine kühnsten Träume und geheimsten Erwartungen übertraf. Vom Hafen aus ging es in einer Kutsche zum alles überragenden Turm, von dem aus der Prior die Geschicke der Welt lenkte. Nie war L'lewed ihm begegnet – und nie hatte er ein solches Empfangskomitee, ein solches Aufgebot von Würdenträgern gesehen, wie an dem Tag, da er, geleitet von Igorac, seiner Zukunft entgegenfuhr, die der Adept ihm in höchsten Tönen prophezeit und in den beeindruckendsten Farben ausgemalt hatte. Schon allein die Kutsche, die sie an der Hafenmole bestiegen, war ein Ausbund an Pomp, den sich L'lewed aber gerne gefallen ließ. Er war inzwischen zu der Einsicht gelangt, dass seine bittersten Tage weit hinter ihm lagen. Nie mehr würde er Not in irgendeiner Form leiden müssen, sich nie mehr Gedanken machen müssen, ob er als gemeiner Oy in Diensten eines tyrannischen Hausherrn landen würde. Oys wurden wie Menschen zweiter … nein, dritter Klasse behandelt. Ihr Wort galt nichts gegen das ihres jeweiligen Herrn, in dessen Haus selbst kleine Kinder über ihn bestimmen und – gegebenenfalls – auch richten durften. Ein Oy war Abschaum, unwertes Gelicht einer ansonsten strahlend unter dem Segen des Priors gedeihenden Gesellschaft! Nein, nie mehr Angst haben, nie mehr mich sorgen müssen … Spätestens mit Besteigen der Kutsche, die wie aus blendend weißem Elfenbein gefertigt aussah, gezogen von sechs Doppelgespannen fahler Pferde, deren Fell so behandelte beziehungsweise entfernt worden war, wie L'lewed es bislang nur vom Hörensagen kannte. Die Zugtiere wirkten nackt, aber zugleich auch unbändig in der Kraft, die ihre durch die transparente Haut sichtbare Muskulatur ausdrückte. Kurz vor Betreten der Kutsche, deren Kabine Platz für das ganze Gefolge Igoracs bot und sogar in einzelne Abteile gegliedert war, erhaschte L'lewed einen Blick auf das schlagende Herz eines der Rös-
ser. Es war mit das Faszinierendste, was er jemals gesehen hatte – auch wenn es Chooms Zeitkrankheit natürlich nicht toppen konnte. Apropos Choom: Der flackernde Geselle wurde ebenfalls in die Kutsche aufgenommen, auch wenn die anderen Adepten – sechs an der Zahl, für die Igorac offenbar als höchste Instanz fungierte – ihn mit in ein anderes Abteil nahmen und sich dort um ihn kümmerten. L'lewed fand wenig Zeit, dies zu bedauern. Die Fahrt zur Residenz, die sich wie ein dicker Dorn in den Himmel schraubte, verging wie im Fluge. Die Vorhänge an den Fenstern verhinderten neugierige Blicke ins Innere, gewährten aber einen tadellosen Blick nach draußen. So sah L'lewed erstmals, wie schäbig und beschränkt die Welt gewesen war, in der man ihn groß gezogen hatte. Die Dörfer und Weiler, die seine Heimat gewesen waren, bevor seine Talente als Sucher und Spürer erkannt worden waren, wirkten gegen die saubere Ordnung der Priorei, mit der jedes noch so kleine Gebäude, jede Straße und jede Fabrik angeordnet waren, wie eine primitive Anhäufung von Bauten und Menschen, die es eigentlich nicht verdient hatten, überhaupt zu existieren. L'lewed fühlte, wie die Scham übermächtig in ihm zu werden drohte. Was für ein Dasein hatte er gefristet – im Gegensatz zu all den Leuten, die den Weg der Kutsche kreuzten und von denen selbst die Niedersten reich wirkten im Vergleich zu den Menschen, die L'lewed zeitlebens begleitet und zu denen er selbst gezählt hatte. Sein Seufzer, entsagungsvoll und voller Bitterkeit und Melancholie, entging Igorac nicht, der ihm gegenüber auf einer zweiten Bank des Abteils saß. »Du machst dir schon wieder Sorgen«, mutmaßte er in dem mittlerweile sattsam bekannten Tonfall, der L'lewed verheißen sollte, dass er sich über nichts und niemanden mehr grämen müsse. Nie mehr, von nun an bis an sein Lebensende! »Nein«, widersprach er. »Ich bin nur … wie erschlagen von dem, was ich da draußen sehe – oder von dem Gefährt, in dem wir reisen.« Die Luft im Inneren der riesigen Kutsche war angereichert mit Va-
nillearomen, und die Straße draußen, die vom Hafen aus kerzengerade auf die Residenz zuführte, schien nur für Fahrzeuge wie dieses angelegt worden zu sein, denn es hätten ohne weiteres zwei oder gar drei davon nebeneinander darauf fahren können. Tatsächlich aber lag diese Allee, was Kutschen dieser Größe anging, fast verwaist da. Nur kleinere Vehikel und ein Heer von Fußgängern nutzten sie. »Wenn das dich schon ins Schwelgen bringt oder sprachlos macht«, versprach Igorac, »wird dich der Himmelsdorn restlos umwerfen.« »Himmelsdorn?« »Der Turm, in dem wir alle …« Seine Handbewegung verriet, wen er damit meinte: seine engste Gefolgschaft. »… leben. Unter der Sonne des Herrn.« L'lewed blickte zur Residenz, die immer größer zu werden schien, weil die Kutsche sich ihr immer mehr näherte. »Wer … hat die Residenz erbaut?« »Mächtige Wesen, keine Menschen.« »Wann?« L'lewed kannte die Märchen und Legenden, die sich um all dies hier rankten – aber vielleicht wusste Igorac etwas, das über der verklärten Darstellung stand, wie sie in weiten Kreisen der Bevölkerung kursierte. Igorac lächelte verständnisvoll. »Du bist wissbegierig, das ist gut und wird dem Prior gefallen.« »Werde ich ihn wirklich treffen?« »Daran besteht kein Zweifel.« »Woher willst du das wissen?« »Er wird sehen wollen, wem er den Stein zu verdanken hat. Du ahnst nicht, wie wichtig er für ihn ist. Aber du wirst es erfahren – sobald er es für richtig erachtet.« »Ich … habe ihn nicht allein gefunden. Choom war es, der –« »Das alles ist ihm längst bekannt. Du weißt doch, was es mit der Allgegenwart des Herrn auf sich hat. Er ist in dir und er ist in mir. Er ist in einem jeden von uns, schaut durch unsere Augen und hört durch unsere Ohren. Kein Gedanke bleibt ihm verborgen. Er ist die
Liebe und der Respekt. Ihm verdanken wir Wohlstand und eine leuchtende Zukunft.« »Amen«, sagte L'lewed. Aber konnte nicht verhindern, dass er an den Kapitän denken musste, dem es offenbar gelungen war, selbst den Prior lange Zeit zu täuschen und zu hintergehen.
Als die Kutsche das große Tor im Sockel des Turms passierte, schien die Welt, die L'lewed über so viele Jahre geprägt hatte, endgültig hinter ihm zurückzubleiben. Er schloss die Augen und ergab sich dem Gedanken, dass er vielleicht nie mehr nach draußen zurückkehren würde. Entweder weil der Prior ihn fortan dicht an seiner Seite halten wollte – oder … die unschönere Variante … weil alles, was Igorac versprochen hatte, am Ende ganz anders kommen würde. Es gab keine Garantie, dass der Prior die erfolgreichen Sucher tatsächlich belohnen würde. Ebenso gut konnte er sich ihrer schnellstmöglich und auf billigst brutale Weise entledigen wollen … Unsinn! Wie denkst du über den Herrn? L'lewed war erschrocken über sich selbst. Igoracs Gefolge drängte aus den anderen Abteilen, während Igorac selbst die Ruhe in Person blieb und erst einmal jedem den Vortritt zu lassen schien, der aus der Kutsche heraus wollte … … oder musste. Im Nachhinein, als sie endlich auch ausstiegen, erkannte L'lewed die Wahrheit: Rund um die Kutsche hatten die anderen Adepten und deren Lakaien eine wahrscheinlich nicht nur zufällig zeremoniell anmutende Aufstellung bezogen. Sie alle warteten einzig auf Igorac und … … mich! L'lewed hatte einen ganz trockenen Mund, als er begriff, wie ehrerbietig ihm begegnet wurde. Dabei wurde ihm erst spät bewusst, dass innerhalb des Turms eine ganz andere Helligkeit herrschte als draußen. Alles war viel klarer und reiner, als gäbe es Maschinen, die Licht waschen konnten. Woher es kam, ließ sich auf die Schnelle
nicht erkennen. Aber es war da, und schattenlos leuchtete es alles und jeden innerhalb des riesigen Raumes aus, in dem die Kutsche zum Halten gekommen war. L'leweds Blick fand die Pferde, die noch nackter und durchscheinender in diesem Licht wirkten; sie standen wie zu Statuen erstarrt da, als hätte sie jemand … abgeschaltet. Die pochenden Herzen waren die einzige an ihnen momentan feststellbare Bewegung. Plötzlich näherte sich aus den Augenwinkeln ein Ding, wie L'lewed es noch nie zuvor gesehen hatte: Niemand trug es, und es hatte auch kein Tier, das es hinter sich herzog, dennoch … schwebte es nabelhoch in der Luft und bewegte sich mit immensem Tempo auf ihre Gruppe zu. Eine Plattform, auf der Sitze montiert waren, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Bänken in der Kutsche hatten. Sie schienen ungepolstert und aus demselben Material wie die Plattform selbst gefertigt zu sein – Metall. Igorac bemerkte L'leweds neue Dimension des Staunens. »Du wirst dich daran gewöhnen.« Mehr sagte er nicht. Stattdessen winkte er einen der ihm unterstellten Adepten zu sich heran. Der Mann trug den Sack, in dem L'lewed immer noch den Fund aus der Zone vermutete, und überreichte ihn Igorac mit ausdruckslosem Gesicht. Der Erste der Adepten hievte den Fund auf die schwebende Plattform und signalisierte dann L'lewed, ihm zu folgen. Auf unsichtbaren Stufen, von denen er genau zu wissen schien, wo sie sich befanden, erklomm er das Vehikel. Von oben streckte er L'lewed die Hand entgegen, die dieser sofort ergriff und sich hinaufhelfen ließ. Kaum hatte er Platz genommen – und erwartete, dass sie Fahrt aufnehmen würden, erschien Choom und bestieg die Plattform ebenfalls. Er tat es ohne fremde Hilfe, seine Bewegungen waren linkisch, aber L'lewed erinnerte sich, dass dies auch schon vor dem Zonenzwischenfall Chooms Art gewesen war. Stumm blickte er den Flackernden an, der neben ihm Platz nahm, während Igorac an der Spitze des Schwebers stehen blieb und die Arme nach etwas ausstreckte, das so unsichtbar war wie die Stufen, mittels derer er aufgestiegen war.
Wie Elmsfeuer umspielten plötzlich schwarze Flämmchen die Hände des Adepten. Sofort begann das Vehikel, sanft zu beschleunigen und in die Tiefen des Turms vorzustoßen. »Der Prior erwartet uns«, sagte Choom. »Vielleicht kann er mir mein Leben zurückgeben.«
Schon die Pforte sah … seltsam aus. Sie erweckte den Anschein, nicht mehr nur aus Metall oder einem anderen toten Werkstoff gefertigt worden zu sein, sondern aus etwas vage Lebendigem. Vielleicht einem Holz, das auch über die Verarbeitung hinaus noch lebte, wuchs, erblühte, sich veränderte … Die Plattform hielt davor. »Steigt ab«, verlangte Igorac. Hohl hallte seine Stimme von den Wänden des kahlen Flurs wider. L'lewed und Choom gehorchten zögernd, während der Adept unverändert am Bug des Schwebers stehen blieb. »Und Ihr, Adept?«, fragte L'lewed. »Die Audienz betrifft nur euch beide«, sagte Igorac, bückte sich und warf L'lewed den Sack zu, in dem der fast gewichtlose Anomaliestein lagerte. »Hier – vergesst nicht, das mitzunehmen. Es ist eure Eintrittskarte in eine bessere Welt.« »Ihr … Ihr lasst uns alleine?«, fragte jetzt auch der Flackernde mit deutlichem Unbehagen. »Ihr kennt den Herrn. Wäre es nicht besser –« »Ihr sorgt euch umsonst. Der Herr war stets mit uns. Der Herr kennt euch besser, als ihr selbst euch kennt. Geht, lasst ihn nicht warten. Vielleicht bin ich noch da, wenn ihr zurückkehrt. Vielleicht aber …« »Ja?«, fragte L'lewed unbehaglich. Igorac winkte ab, aber L'lewed bildete sich ein, in seinen Augen zu lesen: Vielleicht aber kehrt ihr auch nie zurück. Er ballte die Hand, die den Sack nicht umklammert hielt, zur Faust. Dann nickte er Choom zu. »Komm. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Alles wird gut.«
Er schnitt eine Grimasse ob seiner eigenen Naivität, aber Choom nickte und schloss sich ihm an. Gemeinsam traten sie auf die große Tür zu, die sich vor ihnen gerade einen so großen Spalt weit öffnete, dass sie nebeneinander hindurchtreten konnten. L'lewed wollte noch einen Blick über die Schulter hin zu Igorac werfen, aber dann unterließ er es doch, und drei Schritte später nahm eine Umgebung ihn in sich auf, die ihn den Adepten komplett vergessen ließ. Zugleich wurde ihm klar, wie wenig gesichertes Wissen draußen über den Prior im Umlauf war. Die Monstrosität dort auf dem Thron, der das Zentrum des Raumes, das Zentrum der gesamten Etage, markierte, jedenfalls entsprach keiner der glorifizierten Beschreibungen des Höchsten der Hohen. »H-herr …« Mehr brachte L'lewed nicht über seine Lippen. »Tritt vor«, grollte der wuchernde Zellhaufen.
»Zeig es mir.« Wieder dröhnte die Stimme durch L'leweds Hirn. Vielleicht sprach das entstellte Etwas auch, aber den eigentlichen Nachhall und Nachdruck erzeugte die telepathische Stimme, die sich durch L'leweds Geist fräste. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass sich auch Choom unter dem mentalen Ansturm krümmte. »Herr?« War er es, der das sagte? L'lewed hatte das Gefühl, Blut im Mund zu schmecken, als seien Äderchen geplatzt, Häute gerissen. »Mein Leben!« »Euer … Herr? Ich fürchte, ich –« »Den Stein! Zeig mir, was du mir mitgebracht hast aus … der Zone! Ihr wart erfolgreich – beide. Jeder auf seine Art. Nun will ich ihn sehen – zum ersten Mal mit meinen Augen!« L'lewed holte tief Atem. Fahrig nestelte er am Verschluss des Sacks. Er war ungeschickt, dennoch gelang es ihm, den Stein nach geraumer Zeit so weit hervorzustülpen, dass das Material des Sacks
L'leweds Finger weiter schützte, das Fundstück aber dennoch gut sichtbar wurde. Er hielt es dem Prior entgegen. (Prior? Das ist der Prior?) »Aaaah. Es strömt. Ich spüre seine Energie. Ein … wunderbarer Fund. Der beste, der mir je überbracht wurde. Igorac versprach nicht zu viel. Das schenkt mir viele Jahre, viele, viele Jahre …« L'lewed wollte, er hätte die Andeutungen verstanden. Aber gleichzeitig übte die Gegenwart des Priors einen solchen mentalen Druck auf ihn aus, dass er nach und nach in die Knie ging. Er musste alle Kraft aufbieten, um die Arme, die dem monströsen Gebilde entgegen hielten, was es zu schauen wünschte, oben zu lassen. »Du brauchst dich nicht zu sorgen. In meiner Nähe kann es dir nicht schaden. Ich leite die schädlichen … für dich schädlichen … Energien ab. Du kannst es berühren, mit bloßer Hand. Es wird dich ignorieren. Willst du? Willst du deinem Herrn vertrauen?« L'lewed spürte, wie sich dünne scharfe Plättchen aus Eis unter seine Haut schoben. Vom Kopf bis zu den Zehen. Es war nicht real, aber das machte keinen Unterschied. Voller Grauen schüttelte er sich. Der Prior … das Ding auf dem kaum noch erkennbaren, weil abseits überwucherten Thron … lachte dröhnend. Alles, was diese Monstrosität ausmachte, geriet in Bewegung. Gleichzeitig wurde der Boden unter L'leweds und Chooms Füßen transparent, und beide sahen, dass das entartete Zellgewebe, das vor ihnen weite Teile des Raumes dominierte, seine Fortsetzung unter der Oberfläche des Bodens fand. Für einen Moment überkam L'lewed die Vorstellung, die aberwitzige Gehirnmasse könnte den ganzen Residenzturm ausfüllen und sich sogar noch wurzelartig unter der Fläche der Priorei erstrecken. Ahnungslos lebten, arbeiteten und schliefen Menschen in den Bauten darüber, während unter ihnen – Nein, das wollte er sich nicht vorstellen! »Ich … will …!« »Dann nimm den Stein … und komm zu mir. Ganz zu mir. Dein die Zeiten durchsprintender Freund mag stehen bleiben und war-
ten.« Kein Zweifel, dass er mit seiner letzten Bemerkung Choom meinte. L'lewed warf dem … Freund einen hilflosen Blick zu. Der alte, junge, skelettierte und dann wieder rosig kindliche Kopf nickte ihm aufmunternd zu, als wollte er sagen: »Geh nur, geh. Er wird dir nichts tun. Er ist der Herr, ihm können wir vertrauen …« L'lewed schluckte den Köder – hatte er überhaupt eine Wahl? Vorsichtig schälte er den kopfgroßen Stein aus der Ummantelung des Sackes, der bislang vor den Einflüssen der Anomalie geschützt hatte. Und schon … kam L'leweds Haut ungeschützt damit in Berührung. Er erwartete das Ärgste, trotz aller salbungsvollen Versprechen des Priors. Aber er fühlte … nichts. Fast nichts. Tatsächlich war es, als berührte er einen x-beliebigen Stein. »Siehst du …« L'lewed hob den Blick von dem Fund aus der Zone. Er blickte hoch zu dem breiigen, kaum noch mit Konturen behafteten Schädel, aus dem heraus ihn die punktkleinen Äuglein des Priors anstarrten – mit solcher Intensität anstarrten, als wären es Strahlen aus einem Brennglas, die sich mühelos einen Weg bis auf den Grund von L'leweds Seele bahnten. Ein Loch in ihn hinein brannten. L'lewed ächzte hilflos und musste ohnmächtig mit ansehen, wie er sich langsam in Bewegung setzte und auf den Prior zuging, dessen Gestalt so sehr mit dem umgebenden Zellgewucher verschmolzen war, dass sie kaum noch als eigenständige Form erkennbar war. Seine Schuhe berührten die gallertartige Masse, in der zähflüssig Blut zirkulierte. Er unterdrückte seine Abscheu. »Er ist wunderschön«, seufzte der Prior. Der Stein, dachte L'lewed, während rechts und links … zu allen Seiten … Nebel um seinen Geist aufstiegen. Hinter sich hörte er Choom aufstöhnen. Es hörte sich alarmierend an, und für einen Moment gelang es L'lewed, die Nebel, die nach ihm griffen, zurückzuzwingen. Seine Umgebung wurde kristallklar. Und er selbst …
Zuerst hielt er es für eine optische Täuschung, doch dann … Ich – flackere! Jung … alt … jung … alt … Wie ein unheimliches Morsealphabet veränderten sich seine ausgestreckten Arme, und fast flehend richtete er seinen Blick auf den Prior. »Ihr hattet versprochen …« Der Blick der Löcher brennenden Augen brachte ihn zum Verstummen. »Wirf!«, forderte die monströse Verwachsung ihn auf. Und L'lewed holte mit seinem die Lebensalter durchlaufenden Arm weit aus … … und warf. Mit einem feuchten Geräusch prallte die Anomalie gegen den Prior und versank langsam in seinem plumpen, abstoßenden Leib. Für einen Moment sah es so aus, als würde der ganze gewaltige Organismus zu wogen beginnen. Dann begann er zu leuchten. Überirdisch hell. »Was für eine Wohltat …« Der Prior schien bereits in anderen Sphären zu weilen. Als wäre er ein Drogensüchtiger, der endlich seine lang ersehnte Dosis Gift bekommen hatte. »Herr …« »Nenn mich Vater«, kam es aus den Bergen von Fleisch und anderem Gewebe. »Vater … ich …« L'lewed wandte sich hilflos zu Choom um. »Wir hoffen, Euch gedient zu haben.« »Das habt ihr, Kinder, das habt ihr. Der Stein bedeutet Leben für mich. Viele weitere Jahrhunderte. Ich spüre, dass ihr etwas Besonderes seid, beide. Solche wie euch habe ich lange gesucht. Dient mir weiter. Begleitet mich durch die … Jahre … mehr Jahre, als ihr euch erträumen könnt … Wollt ihr das?« »Ja«, sagte L'lewed. »Ja«, wisperte Choom. »Dann ist es besiegelt. Ihr seid die Ersten, mit denen ich teile. Versteht ihr, was ich meine? Kommt her – legt euch auf mich, schmiegt euch an mich. Ich lade euch auf. Diesen Trip werdet ihr nie verges-
sen. Kommt … es ist genug für uns alle da … Macht schon, bevor ich es mir anders überlege, meine Kinder, macht schon!« Sie wussten beide nicht, auf was sie sich einließen. Sie ahnten beide nicht, dass der Prior es ernst meinte. Aber dies war der Tag, dies war die Stunde … da sie ihre Sterblichkeit ablegten … für eine lange, lange Zeit zumindest.
2. VIELE JAHRE SPÄTER – eine Kolonie wird entdeckt »Choom, L'lewed, ich habe eine Aufgabe für euch. Aber seht euch vor, ihr werdet Entbehrungen auf euch nehmen müssen – und es könnte auch durchaus gefährlich werden.« Die beiden Männer, die Cronenberg zu Zwillingen der besonderen Art gemacht hatte, tauschten Blicke miteinander, dann wandten sie sich wieder dem Wesen zu, das sie als ihren Vater betrachteten. Er hatte sie nicht gezeugt, nicht in ihrem alten Leben zumindest, aber ihm hatten sie es zu verdanken, dass sie noch immer lebten. Und dass er sie in seiner unermesslichen Gnade bei sich aufgenommen hatte – an realer Kinder statt. »Die Zone?«, fragten sie unisono. Der Prior verneinte. »Nein, o nein … leider nicht die Zone. Obwohl ich euch dort gut gebrauchen könnte. Alle, die nach euch kamen, waren nicht annähernd so erfolgreich. Die letzten Erträge sind kümmerlich … und selbst das ist noch übertrieben.« »Wir könnten es noch einmal versuchen. Ich stünde sofort bereit, Vater«, versicherte Choom. »Und ich bin überzeugt, L'lewed wäre auch nicht abgeneigt, noch einmal zurückzukehren an den Ort, wo unser zweites Leben begann, das ewige …« »Nichts ist ewig«, scheute sich Cronenberg nicht, die bittere Wahrheit beim Namen zu nennen. »Doch darum soll es heute nicht gehen. Noch einmal: Ich habe eine Aufgabe von einiger Brisanz für euch – und ich wüsste keinen, dem ich sie sonst anvertrauen könnte.« Er winkte ab. »Nein, kommt mir nicht mit den Adepten! Ich vertraue keinem. Nur euch. Uns verbinden besondere Strömungen. Die Anomalie … sie hat euch zu dem gemacht, was ihr seid … und sie pulst auch in mir, anders zwar, aber unsere Verwandtschaft wurde
so besiegelt.« »Das ist uns bewusst, Vater, und wir sind stolz, Teil von dir sein und an dem teilhaben zu dürfen, was dir wichtig ist.« L'lewed verneigte sich. »Worum genau geht es?« »Eine Expedition«, sagte Cronenberg. »Ich schicke euch auf eine Expedition.« »Das klingt … abenteuerlich«, ließ sich Choom vernehmen. Er flackerte. Aus dem müde wirkenden Greisengesicht wurde ein Mann in der Blüte seiner Jahre und vor Energie strotzend. »Vielleicht wird es das – abenteuerlich. Aber wie ich schon sagte, es könnte auch sehr, sehr gefährlich werden. Viele sind in den Jahren verschwunden. Von keinem gab es jemals wieder auch nur die kleinste Spur.« »Ihr macht uns neugierig, Vater – über die Maßen neugierig.« L'lewed flackerte ebenfalls. Bei ihm wich die Jugend dem Alter. Aus von Fältchen umrahmten Augen sah er hinauf zu dem aberwitzigen Geschöpf, das den Thron fast unter sich begrub. »Ich muss es euch ein wenig anpreisen – die nüchternen Fakten … nun, sie sind nicht wirklich dazu angetan, an etwas Großes zu glauben, das dahinterstecken könnte.« Wieder tauschten die Zwillinge Blicke untereinander. »Ihr zweifelt selbst an der Bedeutung, Vater, und doch wollt Ihr uns –« »Ich sagte nicht, dass ich daran zweifle, sondern sprach von nüchternen Fakten.« »Läuft das aber nicht auf dasselbe –« »Nein!«, unterbrach der Prior einen seiner Zwillinge barsch. »Ich habe in den Jahrzehntausenden, die ich den Tod nun schon betrüge und mir vom Leib halten konnte, eines gewiss verfeinert, auch wenn alles andere an mir eher … grober geworden ist: meine Intuition.« »Intuition, Vater?« »Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede, Choom! Deine Ignoranz reizt mich manchmal, dir weh zu tun, das weißt du. Überspanne den Bogen nicht.« »Es war nicht meine Absicht, Vater.« Cronenberg grunzte. Er sehnte sich nach etwas Pflege. Aber zuerst
musste er die Zwillinge mit seinem Wunsch vertraut machen. Sie erwarteten zu recht mehr Details. »Früher hieß die Landmasse, zu der ich euch schicke, Grönland. Sie ist enorm groß, fast so groß wie der Kontinent, auf dem wir uns befinden und der einst Nordamerika genannt wurde.« Beide Namen sagten den Zwillingen nichts. Wie auch. Sie entstammten einer anderen Zeit. Dem Heute. Das Gestern fand nur noch Raum in Cronenbergs gigantischem Gehirn, das manches lieber vergessen hätte, es aber nicht konnte. »Grönland war, obwohl es ›Grünland‹ bedeutet, vor langer Zeit so gut wie komplett mit einer dicken Eisschicht bedeckt.« »Eis …« L'lewed sah ihn irritiert an. Er verstand so wenig wie Choom, was Cronenberg ihnen vermitteln wollte. »Eis« war ein Aggregatzustand des Wassers, der in natürlicher Form auf der Erde nicht mehr vorkam. Das PSI, das alles durchtränkte und selbst das Vakuum zwischen Erde und Mond zu einem Bereich gemacht hatte, in dem – zumindest für speziell daran angepasste Menschen – ungeschütztes Leben möglich war, hatte schon vor ungezählten Generationen die Pole und sämtliche Gletscher schmelzen lassen. Weltweit war der Meeresspiegel erheblich angestiegen. Hier und da waren Dämme errichtet worden, um allzu verheerende Folgen für die Bewohner bedrohter Küstengebiete zu mindern, aber kleine Inseln und Archipele, die früher das Bild der Erde mit geprägt hatten, waren spurlos in den Fluten versunken. Nein, Eis wie dereinst keine Seltenheit, gab es rund um den Erdball nicht mehr – nirgends. Nichtsdestotrotz waren Choom und L'lewed klug genug, um sich mit einiger Hilfestellung vorstellen zu können, was Eis war … und wie es ausgesehen haben mochte, wenn es ganze Landstriche überzog. »Ihr werdet den Landweg nach Neufundland … auch ein Name, der euch nichts mehr sagt … nehmen und dort an der Küste auf ein Schiff wechseln, das von einem mir garantiert treu ergebenen Kapitän geführt wird. Es ist Teil einer ganzen Flotte, die eurem Oberbefehl unterstellt ist. Ihr leitet die Expedition, die euch über den Ozean
bis nach Grönland führen wird. Und dort, wo es heute wirklich grün ist … zumindest in dem Sinne, dass dort, wie überall im Konkavraum Gewächse gedeihen, die auf PSI ein- und umgestellt sind … werdet ihr zu einem drei Kilometer hohen Bergmassiv aufbrechen, bei dem über die Zeiten immer wieder Menschen verschwanden, ohne dass je eine Ursache bekannt wurde. Es ist gefährlich, lebensgefährlich, und dass ich trotzdem euch entsende, meine Kinder, unterstreicht, wie viel Vertrauen ich in euch setze. Ihr hattet schon in der Zone das unwahrscheinliche Glück für einen Jahrtausendfund. Ich bin überzeugt, wenn überhaupt jemand das Rätsel jenes fernen Gebiets lösen kann, dann ihr.« »Was erhofft Ihr Euch von der Enträtselung, Vater?«, fragte Choom ungeniert. Immerhin war ihm bekannt, dass sein »Vater« sich normalerweise nicht sonderlich um die Gesundheit seiner Untertanen sorgte – dafür gab es einfach zu viele von ihnen. Jeder, so seine Prämisse im Allgemeinen, war ersetzbar. »Den Erhalt der Kontrolle«, erwiderte Cronenberg. »Und das seht Ihr in Gefahr?«, fragte L'lewed ernst. »Schlagt in eine Glasfläche ein winziges Loch. Es wird kaum sichtbare Haarrisse hervorrufen, die den Gesamtkörper anfällig für jede weitere Erschütterung machen. Und bevor alles zusammenbricht …« »Wir werden unser Möglichstes tun, das zu verhindern«, rief Choom schnell. Cronenbergs feister Schädel nickte. »Ich weiß, meine wackeren Kinder, ich weiß.« L'lewed kam ein Gedanke. »Die, die verschwunden sind …« »Was ist damit?«, fragte der Prior. »Müsstet Ihr den Grund nicht kennen, Hoher Vater?« »Dein Verstand arbeitet klar. Das freut mich. Natürlich weißt du, dass ich sie begleitet habe – jeden Einzelnen, der dorthin ging. Ich sah durch ihre Augen, lauschte durch ihr Gehör und schmeckte mit ihren Zungen. Aber nur …« »Vater?« »Nur, bis sie jenes Gebiet erreichten, von dem ich spreche. Dort,
bei jenem Berg, brach die Verbindung zu jedem von ihnen ab. So plötzlich, dass ich in keinem Fall noch rechtzeitig warnen konnte. Das sollt ihr wissen, und ihr hättet es auch noch erfahren. Aufs Beste vorbereitet sollt ihr das Wagnis eingehen.«
Choom und L'lewed reisten noch am selben Tag ab. Der Große Vater hatte eine Depesche vorbereitet, in der jedes Detail seiner bisherigen Planung festgehalten war. Während der langen Kutschfahrt bot sich für die Zwillinge mehr als genug Gelegenheit, sich einzulesen. Choom machte kein Hehl aus seiner Skepsis. »Wir werden nichts finden. Weder werden wir verschwinden wie angeblich so viele vor uns, noch werden wir ein Mysterium antreffen.« »Du zweifelst an Vaters Wort?« Choom schüttelte den Kopf. Sie hatten sich beide daran gewöhnt, in die zwischen den Altern wechselnden Gesichter des jeweils anderen zu starren. »Ich bezweifele lediglich, dass er uns den wahren Grund unserer Mission genannt hat.« »Was willst du damit andeuten?« L'lewed wirkte regelrecht schockiert über diese Aussage seines »Bruders«. »Vielleicht will er uns prüfen. Unsere Loyalität, unseren Sachverstand …« »Aber er lobte ausdrücklich unsere Loyalität. Keinem vertraut er mehr –« »Das sagte er.« »Auch das, meinst du, soll gelogen gewesen sein?« »Ich würde es nicht so drastisch ausdrücken – aber lassen wir uns überraschen.« »Wir werden lange unterwegs sein, viele Wochen.« Choom nickte. »Auch das gibt mir zu denken.« L'lewed schüttelte vehement den Kopf. »Es ist absurd. Du unterstellst Vater Motive, die ich niemals in Erwägung ziehen würde. Er will uns nicht los werden – wie du es gerade durchklingen lässt. Was sollte ihn dazu bewegen?« »Wir – ganz einfach wir als … Kraftfresser.«
L'lewed schien keine Idee zu haben, was Choom damit meinte. Aber Choom erklärte es unaufgefordert. »Wir alle partizipieren von dem, was wir ihm aus der Zone mitbrachten – ich brauche dir nicht zu erklären, was das war.« »Die Anomalie.« »Zeit. Greifbar, stofflich gewordene Zeit. Äußerlich wie ein Stein aussehend. Aber von solcher Kraft, dass sie die Sterblichkeit verbannen kann. Seit wir sie berühren durften … es … altern wir permanent – aber in jede Richtung. Vater hingegen wirkt äußerlich immer gleich. Offenbar vermag er die Anomalie, die er sich einsetzte, zu kontrollieren.« »Kontrolle«, murmelte L'lewed. »Kontrolle ist sein ein und alles …« Choom ging nicht darauf ein. Stattdessen fuhr er fort: »Und irgendwie zweigt diese seine Kontrolle und Steuerung der Anomalie genügend Energie ab, um auch noch für uns den Alterungsprozess … na ja, nicht zu stoppen, wie bei Vater, aber doch so im Wandel zu halten, dass wir inzwischen schon viel länger leben als normale Menschen. Du weißt, wir wären eigentlich schon Tattergreise, eher sogar tot, aber bis auf die flüchtigen ›Ahnungen‹ solcher Lebensabende haben wir damit nichts am Hut. Wir leben, weil Vater es uns gestattet. Aber es kostet ihn zugleich Energie, die der Stein liefert. Und diese Energie fehlt ihm selbst. Es brauchte wieder einmal einen wirklich großen Fund aus der Zone, um das Dilemma zu beseitigen, dem wir alle drei uns unaufhaltsam nähern. Irgendwann ist die große Anomalie, die wir fanden, aufgebraucht, erschöpft, und dann …« »Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst. Was hat das mit unserer Reise nach … Grünland zu tun? Ich verstünde es ja, wenn er uns in die Zone entsenden würde. Was wir einmal schafften, könnten wir vielleicht auch ein zweites Mal …« »Die Zone ist verrückt. Vater glaubt, und vielleicht ist es tatsächlich so, dass niemand jemals zwei Funde machen könnte. Weil die Zone das nicht will. Sie beschenkt dann und wann einen Sucher … und damit den Prior. Aber sie verschwendet sich nicht an jemanden,
den sie schon mal erwählte.« »Das sind alles nur Ideen.« »Ich glaube daran.« »Tu das. Aber noch einmal: Warum sollte Vater uns nicht mehr in seiner Nähe haben woll-« Noch während er die Frage formulierte, dämmerte ihm plötzlich, worauf Choom offenbar hinauswollte. »Du meinst …? O nein! Niemals! Das würde Vater niemals tun!« »Hast du nie bemerkt, wie egoistisch er denkt und handelt?« »Nicht uns gegenüber.« »Er hat einen Narren an uns gefressen, das ist wahr. Aber ich bin überzeugt, das übertüncht seine Selbstsucht nur solange er es sich leisten kann, mit uns zu teilen.« »Die Kraft der Anomalie, meinst du?« Choom nickte. »Aber er würde uns niemals wegschicken, um … um uns seine Gunst zu entziehen. Wir würden jämmerlich und elend krepieren, sobald er …« »… uns den Krafthahn zudreht.« Choom nickte. »Das würden wir.« Sie konnten so offen sprechen, weil sie allein waren. Und weil ihr »Vater« keinen Zugriff mehr auf sie hatte, auf ihre Gehirne, seit die Anomalie sie zu »Flackernden« gemacht hatte. »Dafür müsste er uns aber nicht erst nach Grünland schicken!« Choom nickte. »Das habe ich mir auch schon überlegt. Ein relativ großer Aufwand, um sich gegen unsere Vorwürfe zu wappnen, wenn wir den Verlust der Zeitenergie bemerken … Einigen wir uns darauf, dass ich wahrscheinlich danebenliege mit meiner Unterstellung, falls dort, wohin diese Fahrt geht, tatsächlich die angekündigte Flotte auf uns wartet.« »Du meinst, so weit ginge seine Inszenierung dann doch nicht?« Choom nickte. Aber bevor sie Gewissheit erlangten, vergingen etliche Tage. Das Reisen in den techniklosen Zeiten, in denen sie lebten, war mühsam und beschwerlich, vor allem aber langsam …
Neufundland … L'lewed begann die Namen, die Vater ihnen genannt hatte, lieben zu lernen. Sie hatten, was die Namen ihrer Zeit und Welt seiner Meinung nach vermissen ließen: Seele, Bedeutung. Durch eine raue Landschaft waren sie auf holprigen Wegen, die oftmals nur wie eine Ahnung solcher schienen, bis zum Meer gelangt. Hier schmiegte sich eine kleine Stadt an die schroffen Felsentreppen, die hinunter zum Wasser führten. Eine Stadt, die aus der Ferne eher von Ameisen oder anderen Insekten erschaffen zu sein schien, als von Menschen. Wie krumme Körbe oder die Stöcke von Hornissen erhoben sich die Bauten von den breiten Terrassen. Sie alle schienen in schwankender Bewegung erstarrt, was aber kaum den Tatsachen entsprechen konnte. Dafür existierten sie schon zu lange, und keiner der Bewohner dieser absonderlich anmutenden Hafenstadt schien in der Sorge zu leben, dass sie eines Tages über seinem Kopf zusammenstürzen könnten. Die Kutsche stoppte, als der Hafen zum ersten Mal in Sicht kam. Choom und L'lewed wurden vom Kutscher aufgefordert, auszusteigen und die Aussicht auf sich wirken zu lassen. Der Kutscher war keiner jener Gesellen, wie sie ihn im Zusammenhang mit der Zone kennengelernt hatten, glücklicherweise nicht. Im Gegenteil, er war ein famoser Kerl, der sie an den Abenden, die sie gemeinsam unter freiem Himmel oder unter dem Dach irgendeiner Kaschemme am Wegesrand verbrannt hatten, bestens unterhalten hatte. Offenbar ging er, solange er zurückdenken konnte, für den Prior auf große Fahrt. »Ihr seid wie Gespenster«, hatte er sie bei der ersten Begegnung begrüßt, »aber ich hab keine Angst vor euch. Spuk hab ich schon in allen Gewändern gesehen. Wenn ihr wüsstet, was es auf der Welt alles gibt. Gesehen habt ihr bestimmt noch nicht so viel wie ich. Ich war in allen Richtungen des Windes. Ich kenne die Welt wie meine Westentasche!« Das mochte übertrieben sein, aber Pell, wie er sich nannte, hatte wohl wirklich viel gesehen. Sein Repertoire an Geschichten war unerschöpflich. Aber mit ebenso großer Begeisterung, wie er sich selbst
gern reden hörte, hörte er auch seinen Fahrgästen zu. Choom und L'lewed jedenfalls entstiegen der Kutsche auf einer Anhöhe, von der aus sie freie Sicht hinab zur Hafenstadt und weit hinaus auf See hatten. Seit damals, seit der Rückkehr aus der Zone, waren sie nicht mehr an Bord eines Schiffes gegangen. Aber nicht nur die Aussicht, sondern auch der Rückschluss, den sie daraus zogen, ließ ihre Herzen höher schlagen. »Er hat nicht zu viel versprochen, oder?«, sagte L'lewed fast andächtig. »Vater?« Choom schüttelte den Kopf, als wäre er peinlich berührt ob des Verdachts, den er gegen den Prior erhoben hatte – wenn auch nur unter vier Augen. Dort unten lag sie, die Flotte, von der er gesprochen hatte. Mit ihr sollte es gen Grünland gehen, um ein geheimnisvolles Verschwinden von Menschen aufzuklären, das den Prior zu beunruhigen schien. Was genau dahintersteckte, würden sie erst vor Ort herausfinden können – wenn überhaupt. Aber L'lewed und Choom waren zuversichtlich. Zumal die Angst ein wenig aus ihrem Nacken gewichen war. Die Angst, schon bald nicht mehr flackern zu dürfen und zu können … weil ihnen der Saft abgedreht worden war …
Auch die Fahrt über den Ozean bis hin zu den Fjorden der großen Landmasse, auf der sich Unerklärliches zu tun schien, verlief völlig komplikationslos. Vater hatte nicht zu viel versprochen: Dieser Kapitän war von einem anderen Kaliber, freundlich und wohlgesonnen, vollkommen dem Prior zugetan. Und damit auch Choom und L'lewed, die wie selbstverständlich das Oberkommando über die aus zehn Schiffen bestehende Flotte übernahmen. Zehn Schiffe – die Zwillinge waren beeindruckt … und spätestens jetzt vom hohen Grad der Bedeutung überzeugt, die der Prior dieser Expedition beimaß.
Aufgrund günstiger Winde erreichten sie die Küste Grünlands in wenigen Tagen. Dort gingen die Schiffe vor Anker. Beiboote setzten die Truppen an Land ab, die den weiteren Vorstoß zur höchsten Erhebung der Landmasse sichern und das dortige Gebiet durchkämmen sollten. Auch Zugpferde und Wagen setzten zum Ufer über. Die dortigen Vorbereitungen zum geordneten Aufbruch verschlangen zwei volle Tage, was vor allem daran lag, dass in der Stadt Proviant gefasst wurde, der keinen Platz mehr auf den Schiffen hatte. Insgesamt zweimal 1332 Mann – Choom und L'lewed eingeschlossen – brachen schließlich ostwärts auf. Eine richtige Armee. Choom staunte nicht schlecht über die Bewaffnung der Soldaten. »Ich wusste nicht einmal, dass all dies existiert – du, Bruder?« L'lewed verneinte wahrheitsgemäß. »Wir wissen vieles nicht. Du hast wie ich das Schiff durchwandert. Auch darin lagert so manches Vernichtungsmittel. Was ich mich die ganze Zeit frage: Gegen wen oder was soll all dies eingesetzt werden? Vor allem scheint es nicht erst für unsere Expedition ersonnen worden zu sein.« »Die Welt, in der wir leben, ist dir und mir nur in Bruchstücken bekannt. Der Einzige, der den Gesamtüberblick hat, ist unser Vater. Möglich, dass es Gegenden gibt, in denen Gewaltausbrüche unter den Menschen – Oys vermutlich, die nichts haben, was sie aufs Spiel setzen, von ihrem Jammerleben einmal abgesehen – an der Tagesordnung sind. Ich hoffe, ich täusche mich, aber auszuschließen ist es nicht.« »Nein, Bruder, das ist es wahrlich nicht.« Sie zogen fünf Tage lang auf den Mannschaftskarren ins Landesinnere. Dann endlich konnten ihre Augen in der Ferne das Ziel ausmachen. Den Namenlosen Berg. So hatte der Prior ihn in seiner Depesche bezeichnet … und damit ganz nebenbei doch benamt.
Sie errichteten das Basislager am Fuß des Berges, etwa einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der es in den Jahren davor zu Verlusten gekommen war.
»Es gibt offenbar keine verlässlichen Muster, nach denen die Verschollenen verschwanden«, sagte Choom, während sie sich fertig machten, um den Berg zu ersteigen. Zuvor hatten die Soldaten ihn in respektvollem Abstand umlaufen und dabei mit ihren Ferngläsern abgesucht. Ohne Befund. Es gab weder Spuren Vermisster noch Hinweise auf Gefahren. Selbst die größten Optimisten hatten das jedoch auch nicht erwartet. Keiner glaubte, an der Ersteigung des Gefahrengebiets vorbeizukommen. »Nein. Zu manchen brach der Kontakt früh ab, zu anderen erst, als sie enge Schluchten innerhalb des Felsmassivs passierten. Allen war nur eines gleich: Sie waren von einem Moment zum anderen dem ›Zugriff‹ unseres Vaters entzogen. Das darf uns nicht passieren.« »Und wie groß sind unsere Chancen, mehr Glück als die Gescheiterten zu haben?« »Wir sind anders als sie?«, erwiderte L'lewed. Es war typisch für ihn, dass er es nicht als selbstbewusste Feststellung in den Raum stellte, sondern wie eine Frage betonte. Meist belächelte Choom das mangelnde Selbstbewusstsein seines Schicksalsbruders. Heute nicht. Er war nicht gekommen, um zu scheitern. Und er erwartete von L'lewed, dass der sich das verinnerlichte. Nur so hatten sie wirklich eine Chance. Sie mussten an sich glauben. »Gehen wir. Unsere Begleiter, davon bin ich inzwischen fest überzeugt, wurden zum Töten erzogen und ausgebildet. Mit ihnen an der Seite müssen nicht wir uns fürchten – sondern das, was hier vielleicht meint, uns auflauern zu müssen! Los jetzt – ich höre schon die Schusssalven in meiner Vorstellung. Wahrscheinlich fließt bald Blut. Sehen wir einfach nur zu, dass es nicht unsres ist …«
Der Berg flößte Respekt ein. Es gab eine Hochebene, die der Teiltrupp, den Choom anführte – L'lewed war mit einem anderen Kon-
tingent auf der anderen Seite der Erhebung unterwegs – schon nach wenigen Stunden erreichte. Alles wirkte harmlos, nirgends gab es das geringste Anzeichen einer Bedrohung. Der Prior stand in pausenloser Verbindung mit seinen Soldaten. Wenn er Choom sprechen wollte, tat er es über den Nächststehenden. So auch jetzt. »Lass dich nicht täuschen, Sohn.« »Ich gebe mir Mühe, wachsam zu bleiben, Vater.« Es war seltsam, mit einem eigentlich Wildfremden auf diese Weise zu sprechen, aber mit der Zeit schlich sich auch hier Routine ein. »Achtet auf Verzerrungen.« »Verzerrungen?« »Das ist alles, was ich bei den Malen davor zu erkennen glaubte, bevor es losging.« »Was meint Ihr mit Verzerrungen?« »Der Blick desjenigen, durch den ich schaute, wurde unscharf. Und dann –« »Vater?« Der Soldat stand mit offenem Mund vor Choom. Dann war er fort. Choom wirbelte herum und wollte einen Alarmschrei ausstoßen. Doch all die vielen Männer, die ihn hierher begleitet hatten, waren dem Beispiel des Einen gefolgt. Wohin Choom auch blickte, er sah nur kniehohes Gras, das sich im Wind bog. Fahles Gras, das sich ebenso von PSI ernährte wie jede andere Pflanze, die Choom kannte. Er spannte jeden Muskel in seinem Körper an. Von fern, von der anderen Seite des Hochplateaus aus, kam ihm eine winzige Gestalt entgegengerannt. Es dauerte eine Weile, bis er L'lewed erkannte. Dann fing er selbst an zu rennen, und sie trafen sich ungefähr in der Mitte der Hochebene. »Sie sind verschwunden!« »Ich weiß.« »Von einem Moment zum anderen.« »Bei mir dasselbe. Mitten im Gespräch mit Vater.«
»Aber sie können nicht einfach weg sein!« »Es wird eine Erklärung geben – wir müssen sie nur finden. Dass du und ich nicht betroffen sind, bestätigt Vaters Annahme … oder Hoffnung … wir könnten dagegen gefeit sein.« »Ja, aber wenn es nur eine Täuschung der Sinne wäre, dürften die anderen nicht unserer Wahrnehmung entschwunden sein. Unsere Immunität – so sie existiert – müsste sie uns weiter sehen lassen!« »Offenbar nicht.« »Dann ist es keine Sinnestäuschung.« »Kann es sowieso nicht sein.« »Wieso?« »Weil sie – die Verschwundenen früherer Vorfälle – dann ja irgendwann wieder aufgetaucht wären und berichtet hätten. Wenigstens einer von ihnen.« »Es sei denn, die Sinne der Betroffenen werden so sehr genarrt, dass sie sich zu Tode stürzten.« »Hätten wir sie dann nicht finden müssen? Ihre Gerippe wenigstens?« Ihr Dialog bestätigte und unterstrich nur eins – ihre eigene und umfassende Ratlosigkeit diesem Phänomen gegenüber. »Vater wird die informieren, die im Basislager zurückblieben. Sie werden bald nach uns suchen«, meinte L'lewed schließlich. »Mach dir keine falschen Hoffnungen.« »Warum?« »Weil auch sie wahrscheinlich verschwinden, bevor sie zu uns stoßen.« »Aber –« »Es ist nur ein Bauchgefühl.« Choom schnitt eine Grimasse. Als kleiner Junge, der kurz darauf wieder Mann … und schließlich selbst nur Totenkopf war, wie die Skelette, von denen sie gerade gesprochen hatten. Auf seltsame Weise aber lebte er selbst in diesem Zustand. Die Anomalie war kaum weniger rätselhaft als das Mysterium, das diesen Berg umfing. »Und was sollen wir jetzt tun? Was können wir tun?«, fragte L'lewed. »Umkehren?«
»Niemals!« Der Totenkopf bleckte die Zähne. »Gerade jetzt, wo es anfängt, interessant zu werden?«
Sie wanderten stundenlang über das Plateau und fühlten sich an ihre Zeit in der Zone erinnert. Auch dort hatten sie Ausschau nach etwas gehalten, von dem sie vorher nicht einmal ansatzweise wussten, wie es genau beschaffen sein würde. Ein Déjà-vu wurde es trotzdem nicht. »Verdammt, merkst du das auch?«, rief Choom irgendwann. »Was meinst du?« »Alles wird … unscharf …!« Davon hatte der Große Vater gesprochen – im Zusammenhang mit Vorzeichen, die den bisherigen Verlusten an Menschen vorausgegangen waren. Aber die Soldaten waren schon seit Stunden von der Bildfläche verschwunden. Unwahrscheinlich, dass jetzt erst – Plötzlich fiel es auch L'lewed auf. »Ist das … ein Angriff?«, ächzte er. »Möglich. Wir sollten aufpassen.« Chooms Hand lag an der Waffe, die an seinem Gürtel befestigt und die identisch war in ihrer Ausführung mit jener, die L'lewed am Gürtel trug. Vater hatte darauf bestanden, dass auch sie sich bewaffneten. »Die Pistolen haben Doppelmagazine. Ihr könnt durch die Wahl der beiden Abzüge, über die die Waffe verfügt, wählen zwischen Letal- und Betäubungsmunition. Bei Gefahr für das eigene Leben, empfehle ich die Letalversion. Falls ihr es verantworten könnt, die andere.« »Falls es zu bedrohlichen Situationen kommt, wird sich kaum sicher abschätzen lassen, ob einfache Betäubung anzuraten ist«, hatte Choom eingeworfen. »Diese Entscheidung überlasse ich euch – ich verlange nur, dass ihr ihn mir bringt.« »Ihn?« »Den Kadaver dessen, was mich … uns … auf den Plan gerufen hat.«
»Verstehe.« Das war Geschichte. Aktuell war: Er verstand gar nichts mehr. Um sie herum begann sich etwas herauszuschälen, was nur noch rudimentär mit der Landschaft zu tun hatte, durch die sie sich seit Stunden bewegten. Das Plateau wies plötzlich frappierende Veränderungen auf. »Was ist das da vorne?«, fragte L'lewed. »Sieht aus wie ein Krater. Eine Mulde … Senke … wie es dir beliebt.« Choom hatte sich bereits mit gezogener Waffe in Bewegung gesetzt. L'lewed folgte ihm auf den Fuß. Die ganze Zeit hatte er Angst, auch noch seinen »Zwilling« zu verlieren. Das wäre der Super-GAU gewesen. Er lief schneller, bis er auf Schulterhöhe mit Choom war. Nebeneinander erreichten sie den Kraterrand. »Das ist nicht natürlich entstanden, oder?«, murmelte L'lewed. »Glaub nicht.« Choom kratzte sich mit der Mündung seiner Handwaffe an der linken Backe. »Das sind … Stufen. Sie führen in die Mitte der Mulde.« »Dort ist eine Öffnung, sieht aus wie ein Schacht«, ergänzte L'lewed. Der Durchmesser des vermeintlichen Kraters betrug etwa hundert Meter. Der Schacht, den sie von hier oben aus sahen, hatte höchstens noch fünf Meter Durchmesser. Trichterförmig liefen die Stufen, die nicht für Menschen geschaffen schienen – sie waren zu hoch –, darauf zu. »Sollen wir?«, fragte L'lewed. Statt Antwort zu geben, machte sich Choom bereits an den Abstieg. Sie erreichten den Senkrechtschacht gleichzeitig. Er war ein dunkles, schwarzes Loch, das ins Innere des Bergs … oder geradewegs ins Nichts führen konnte. »Du gehst vor«, sagte Choom. Bevor L'lewed protestieren konnte, versetzte Choom ihm einen
Schubs. L'lewed wurde überrumpelt. Bevor er zu einer Gegenwehr ansetzen konnte, taumelte er bereits über den Rand und stürzte in die Tiefe.
»Woher hast du das gewusst?« Sie schwebten nebeneinander. Choom war unmittelbar gefolgt. »Ich habe die Hand ausgestreckt. Hast du es nicht bemerkt? Der Auftrieb war mehr als zu ahnen. Es war, als greife man in ein Polster, das gleich über dem Rand beginnt.« »Trotzdem hätte ich mich zu Tode stürzen können. Du hattest keinen wirklich stichhaltigen Beweis, dass –« »Hab dich nicht so. Ein Restrisiko ist immer und überall dabei. Falls es dich tröstet. Ich halte uns für unzerstörbar.« »Du spinnst.« »Kann sein. Aber ich glaub dran. Und wenn man nur fest genug an etwas glaubt …« »Du denkst, die Energie der Anomalie, die Vater uns zufuhrt, schützt uns auch vor gewaltsamen Toden?« »Wär doch eine klasse Option, oder?« »Klasse, o ja. Träum weiter. Wohin sinken wir eigentlich?« »Nach unten.« »Witzbold.« Chooms Grinsen war nur zu erahnen. Dann wurde es plötzlich hell um sie. Und das, was sie zu sehen bekamen, war wie ein Schock. Weil es eine Erkenntnis beinhaltete, die sie beide gleichzeitig schaudern ließ. Das hier … die Wesen, von denen es in der Welt im Innern des Berges nur so wimmelte … waren keine Menschen. Nur … was waren sie dann?
»Sie scheinen uns nicht zu sehen.«
»Aber wir sehen sie – falls das kein Traum ist.« »Ich tippe mal auf Realität, allerdings eine, die ich so nie sehen wollte.« »Meinst du ich?« L'lewed merkte, wie ihn eine neuerliche Gänsehaut überlief. »Woher kommen die? Und … was tun sie hier?« »Sich verstecken?« L'lewed formulierte das Naheliegende. »Mit Erfolg, wie man sieht. Nicht einmal Vater kann etwas von ihnen geahnt haben. Aber seine Intuition … sie ist unbezahlbar. Wer sonst hätte aus dem Verschwinden einiger Menschen auf etwas so Folgenschweres getippt wie das da?« »Wir müssen weg – und ihn informieren. Wenn sie uns erst entdecken und in ihre Gewalt bekommen …« Er hätte es besser nicht gesagt. Es war, als hätte er damit einen Bann gebrochen, einen Zauber, der sie bis dahin der Wahrnehmung dieser … Wesen entzogen hatte. Die Stadt im Berg – ja, das war es, eine ganze Stadt, ebenso bizarr wie ihre Bewohner – schien von einem Moment zum anderen den Atem anzuhalten. Und dann bogen die seltsamen Gestalten, obgleich sie keine Augen hatten, keine gewöhnlichen und erkennbaren zumindest, die Enden ihrer abstrusen Körper nach oben, als würden sie einen inneren Kompass nach Choom und L'lewed ausrichten. Das verhaltene, fast angenehme Raunen, das bis dahin die Luft erfüllt hatte, erstarb schlagartig, und die einsetzende Stille schien die Trommelfelle der beiden Störenfriede so schmerzhaft wie ohrenbetäubender Lärm zu attackieren. Sie fühlten sich nicht nur ertappt, sie waren es auch. Aber L'leweds Vorschlag war trotzdem nicht umsetzbar. Weil die Kraft – das »Polster« – auf dem sie abwärts schwebten, nur diese eine Richtung zu kennen schien. Unaufhaltsam sanken sie den … Achten entgegen. Verrückt, dachte L'lewed. Ihre Körper sind entfernt menschlich – zumindest in ihren groben Umrissen. Aber sie bestehen nicht aus geschlossenem Gewebe, sondern aus unzähligen »Schleifen«, die wie Achten geformt sind. Ineinander verhakt, ein jedes mit dem benachbarten, entsteht ein so
verblüffendes Ganzes, dass schon der Anblick meinen Verstand zu zerrütten droht … Das alles kann nicht wahr sein. Wesen ohne Augen, ohne Mund und sonst wie geartete »Details« … komplett nur aus identisch gestalteten Achten bestehend … DAS IST WAHNSINN! Es war tatsächlich so, dass der bloße Anblick das menschliche Gehirn an seine Grenzen führte. Und erst die Bauten der Stadt … auch da wiederholte sich das Motiv der Acht. Als wäre diese Form ihnen heilig. Als bestimme sie ihr ganzes Dasein. Wer – welche Schöpfung – dachte sich etwas so Aberwitziges aus? »Ich kann gar nicht hinsehen …«, stöhnte L'lewed. »Ich ertrag's auch kaum«, gab ihm Choom recht. »Aber ich glaub, ich weiß, wie wir sie uns vom Leib halten …« Bevor L'lewed die Absicht seines Zwillings erahnen oder gar verhindern konnte, hatte Choom bereits mit der Waffe angelegt … und den Abzug betätigt. Unzweifelhaft hatte er sich für die Letal-Variante entschieden. Denn krachend schlugen die Projektile in den erstbesten Außerirdischen ein, den er aufs Korn genommen hatte. L'lewed stieß einen krächzenden Schrei aus. Er ahnte – nein, wusste –, dass damit nichts gewonnen war. Im Gegenteil, von nun an war die Katastrophe nicht mehr zu stoppen. Sie würden hier nicht mehr lebend herauskommen. Und sie hatten nicht einmal andeutungsweise genügend Munition, um mit dem Heer von Achten, das ihnen entgegenwogte, fertig zu werden. »Hör auf!« Sein Schrei erreichte nichts bei Choom. War es Panik oder der Irrglaube, tatsächlich etwas mit Brachialgewalt bewirken zu können, was Choom antrieb. Was immer es war, die Taktik ging nicht auf. Von irgendwoher raste etwas heran und traf den Zwilling, der sofort in Flammen aufging. Sein brennender Körper sank mit L'lewed weiter hinab. Obwohl er sicher war, ebenfalls gleich getroffen zu werden, ver-
zichtete L'lewed darauf, noch irgendeines dieser Wesen mit in den Untergang zu reißen. Er schloss die Augen, um Chooms verbrennendes Greisengesicht, das keine Kraft mehr zur Veränderung hatte, nicht länger anstarren zu müssen. Und dann flutete es auch über ihn hinweg. Etwas … … das Ende …
So glaubte er. Doch als er nach ungewisser Zeit erwachte, die Augen aufschlug, fand er sich fast unversehrt in einem Raum aus Achten wieder. Das Material der Wände, des Bodens und der Decke war ihm nicht bekannt, aber es sah aus wie dünne, biegsame Zweige, irgendetwas Gewachsenes, das so geflochten war, wie die Körper der fremdartigen Wesen, die dafür Vorbild schienen. Eines dieser Wesen war bei L'lewed. Es beugte sich über ihn. L'lewed war immer noch überzeugt, dass er umgebracht werden sollte. Er wollte zurückzucken, wegkriechen … aber eine Stimme hielt ihn auf. »Ich tue dir nichts. Du hast auch uns nichts getan. Du bist anders. Wir sind anders. Wir müssen reden.« Woher die Stimme kam, war nicht ersichtlich. Vielleicht gelangte sie direkt in sein Bewusstsein, L'lewed vermochte es nicht zu sagen. Seine Kehle war trocken, wie ausgedörrt. »Wasser … Hast du … Wasser?« Eine Hand aus Achten reichte ihm einen Behälter, den L'lewed gar nicht zu genau anschauen durfte, weil die Form ihn verwirrte. Sie kratzte an seinem Verstand. Wie alles hier. »Ist mein Bruder … tot?« »Er war dein Bruder?« »Nicht … biologisch. Aber wir teilten uns … ein Schicksal.« »Du bist anders. Wir sahen nie zuvor jemanden wie dich … wie
euch.« »Um es zu erklären, müsste ich weit ausholen. Aber –« »Aber?« »Ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe.« »Warum nicht?« »Ihr habt meinen Bruder getötet, ihr werdet auch mich –« »Du hast nicht gemordet.« »Gemordet … ja, das hat er wohl getan. Aber wohl eher aus Entsetzen, Erschrecken … du verstehst? Es ging mit ihm durch …« »Du redest seltsam. Keine Acht versteht dich. Keine Acht.« »Wer – wer seid ihr? Wie kommt ihr hierher? Warum kamt ihr hierher?« »Waren Freunde – Verbündete … vor urlanger Zeit. Felorer und Jay'nac.« »Wer sind Felorer? Oder … Jay … wie sagtest du doch gleich?« »Jay'nac.« L'lewed nickte. Er richtete sich auf. In dem Maße, wie er sich erhob, zog sich die Achtengestalt zurück. Der Abstand zu ihm blieb immer gleich. »Wir sind Felorer. Die anderen Jay'nac.« »Welche anderen?« »Denen wir dienten.« »Ich kenne keine Jay'nac … aber ich kannte auch keine Fel …« »Felorer.« »Du bist ein Mensch. Ein Erinjij.« »Erinjij? Nie gehört. Mensch – ja.« »Die Zeiten haben sich gewandelt. Felorer hüteten das Schwarze Auge. Das Auge, durch das nicht nur Blicke, sondern auch Wanderungen möglich waren.« »Was für ein Auge soll das sein?« »Fern von hier … Hinter dem Wall.« »Wall?« »Euer … Himmel. Den ihr geschlossen habt. Ihr seid so grotesk … Erinjij … Niemand ahnte, was aus euch werden würde. Niemand, kein Jay'nac, kein Felorer. Aber die Große Verheerung kam. Einst.
Wir sahen sie nahen. Der einzige Ausweg, der uns blieb, war, hierher zu kommen. Ins Exil. Konnten ein wenig retten von den Schätzen, die uns groß machten. Aber nur ganz wenig. Hüten es seither. Arbeiten daran, es wieder in Gang zu setzen, um irgendwann heimzukehren in unseren Himmel.« L'lewed verstand kaum ein Wort. Nur dass die Felorer, diese Wesen, die aus unzähligen Achten geformt waren, offenbar von fern der Erde kamen – ursprünglich. Irgendetwas hatte sie hier stranden lassen, vor langer, langer Zeit. Weder der Prior noch andere hatten es bemerkt, und hätten die Felorer sich nicht dazu hinreißen lassen, Menschen verschwinden zu lassen … »Ihr seid auch Mörder.« L'lewed erklärte stockend, was er damit meinte. Der Felorer wirkte empört. »Nie Tod gesät. Immer nur gehindert, heimzukehren und zu verraten, was hier ist. Ahnten es. Viele. Manche hochbegabt in Dingen, die wir nicht beherrschen. Wir beherrschen andere Dinge. Können Raum biegen. Naturgesetze … beugen …« »Du willst behaupten, ihr hättet nie einen Menschen umgebracht …?« »Nur Bruder dein. Zwilling, wie du sagst. Böse. Böse wird bestraft. Felorer friedlich, aber keine Opfer. Vergelten eigene Tode. Böse. Wir trauern nicht um Mörder.« L'lewed ließ die Worte auf sich wirken. »Wenn das stimmt, was wurde dann aus den Leuten, die … ihr zu euch nahmt? Sie hätten es niemals hingenommen, von euch versklavt zu werden – nicht ohne Gegenwehr. Denke … hoffe ich …« »Ihr Erinjij seid merkwürdig. Sonderbar.« »Nenn uns nicht so – Erinjij! Was bedeutet das?« »Die Jay'nac wussten es. Wir haben es vergessen. Nicht Gutes aber.« Die anfängliche vage Sympathie, die sich bei L'lewed für den Felorer entwickelt hatte, begann zu schwinden. L'lewed fühlte sich ungerechtfertigt von dem Wesen angegriffen, das absonderlich war,
aber ihn sonderbar nannte. Ihn und alle Menschen. »Komm. Ich führe dich zu ihnen. Du kannst deine Gliedmaßen wieder bewegen. Unser Schutz hat dich nicht nachhaltig beeinträchtigt.« Schutz – so nannte er offenbar das, was L'lewed vorübergehend in die Ohnmacht gerissen hatte. Wie er wohl das nannte, was Choom verbrannt hatte? L'lewed erhob sich, kam zum Stehen. Er hatte erwartet, um sein Gleichgewicht kämpfen zu müssen, aber der Felorer behielt recht: Es ging ihm gut – unter den gegebenen Umständen zumindest. »Hast du einen Namen? Haben Felorer Namen?« »Ich heiße Velvert. Ein sehr verbreiteter Name unter den Meinen.« »Velvert. Ich bin L'lewed.« »Liu?« »So ähnlich spricht man es aus, ja.« »Dann folge mir jetzt Liu.« »Wohin?« »Zu denen, die euch vergessen haben.« Und er führte L'lewed zum Gefängnis der Felorer – oder war es ihr Friedhof?
Die Stadt der Achten im höchsten Berg von Grünland hielt mehr Überraschungen bereit als L'lewed oder irgendein Mensch auf Erden auch nur ahnen konnten. Velvert führte L'lewed durch andere Felorer hindurch, die keine Aggression zeigten, als der seltsame »Erinjij«, dessen Erscheinungsbild permanent wechselte, durch ihre Straßen lief. Vor einem Achtengebäude, das im Gegensatz zu den bräunlich hellen Bauten der Umgebung vollkommen schwarz war, blieb Velvert stehen. »Sie sind darin. Du würdest sagen, sie schlafen.« »Wer?« L'lewed ahnte die Antwort, aber er wollte es hören. »Die wir uns holten.« »Menschen.« »Ja.«
»Du willst sie mir zeigen?« »Du sollst erkennen, dass wir nicht töten.« »Sie leben darin? Als Gefangene? Was soll das für ein Leben sein? Jeder Tod wäre besser!« L'lewed war aufgebracht. Nachhaltiger denn je rückte ihm Chooms Tod ins Bewusstsein. Choom hatte das Feuer auf die Felorer eröffnet. Dennoch: Sie waren die Eindringlinge. Dies war die Erde. Die Welt der Menschen. Mit welchem Recht töteten sie Menschen in ihrem ureigenen Territorium? »Du verstehst es nicht. Noch nicht. Komm.« Die Achtenhand fasste ihn am Arm. Sie war nicht kalt und nicht warm. Eine Tür entstand. Achten fielen in sich zusammen, verblassten. So sah es aus. Was tatsächlich geschah, entzog sich L'leweds Sinnen. Dann war er im Innern … des Mausoleums …
»Sie sind tot! Ihr habt sie also doch –« »Wir haben sie nicht umgebracht. Gelagert. Nur gelagert. Jederzeit könnten wir sie …« »… wecken?« Sie lagen da wie tot. L'lewed bezweifelte, dass er sich täuschte. Diese Außerirdischen waren durchtrieben. Nur … warum wollten sie ihn glauben machen, nicht zu morden? Warum brachten sie ihn nicht auch einfach um? »Wir sind friedliebend. Einst hatten wir einen Traum. Er verblasst immer mehr. Aber einst …« »Was soll das für ein Traum gewesen sein?« L'lewed hörte sich wie einen Fremden sprechen, als stünde er neben sich. »Heimzukehren.« »Wo ist das – wo ihr zuhause seid?« »Das wissen wir nicht.« »Das habt ihr vergessen?« »Es ist zu lange her. Nicht einmal die Jay'nac konnten es uns sagen – manche glauben, sie wollten es uns nicht verraten.«
»Warum nicht?« »Damit wir bleiben.« »Und warum solltet ihr das – bleiben?« »Sie brauchten uns.« »Wofür?« »Um ihre Straßen zu verwalten.« »Straßen.« L'lewed hätte fast laut aufgelacht. »Sternenstraßen«, wurde Velvert präziser. »Wir öffneten ihnen Tore. In fernste Bereiche des Alls. Tore wie das …« »Wie was?« »Wie das in eurem Sonnensystem.« »Was ist ein … Sonnensystem?« »Du weißt nicht, was eine Sonne ist?« »Erklär es mir.« »Ihr seid zu bemitleiden. Was hat man euch nur angetan?« »Niemand hat uns etwas angetan. Vater wacht über uns. Passt auf, dass uns nichts zustößt.« »Dieser … Vater … ist er es, der den Wall befahl? Den Wall um diesen Planeten, der das Sonnenlicht aussperrt und –« »Schon wieder dieses Wort – Sonne. Erklär es mir – oder hör auf, darüber zu reden!« L'leweds Blick schweifte über die Toten. Die Schlafenden. Was immer sie waren. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn sie wirklich aufgeweckt worden wären. Glaub ihm nicht. Mörder. Es sind Mörder. Du siehst hier ihre Opfer. Und wäre Choom nicht verbrannt, würde er auch hier – Plötzlich dröhnte Lärm zu ihnen herein. Die Wände des Gebäudes, in das Velvert L'lewed geführt hatte, konnten die Flut von Geräuschen nicht fernhalten. Velvert war plötzlich nicht wiederzuerkennen. Hektisch wandte er sich dem Ausgang zu. »Warte!« Aber der Felorer achtete nicht auf ihn. Er tat irgendetwas, das die Tür neu erstehen ließ. L'lewed heftete sich dicht an seine »Fersen«,
weil er fürchtete, hier für immer eingesperrt zu bleiben, wenn sich die Tür schloss und nur der Felorer vorher hinausgelangt war … Draußen erwartete ihn das Chaos – aus Felorersicht. Er selbst war erleichtert, all die Soldaten zu sehen, die die Stadt im Berg stürmten. Die ihre Waffen sprechen ließen – ohne jedes Erbarmen. Ein Außerirdischer nach dem anderen wurde niedergemäht. Nur vor Velvert warf sich L'lewed in dem Moment, als Soldaten ihn bedrängten. »Nicht töten! Nicht ihn! Wir brauchen Gefangene. Vater wird es uns danken … Wo kommt ihr überhaupt her? Wie konntet ihr mich finden?«
Die Heimkehr wurde zum Triumphzug. Auch wenn dieser Triumph teuer erkauft worden war, wie L'lewed fand. Chooms Tod war durch nichts aufzuwiegen. Auch nicht durch den Gefangenen, den sie wie eine Trophäe durch die Straßen der Priorei führten. Für die Bewohner der Stadt war es eine Attraktion … und ein Fabelwesen zugleich. Kein Mensch. Ein Geschöpf aus Achten. Aber lebendig. Irgendwie … lebendig. »Wie konntest du mich retten, Vater?«, fragte L'lewed, als er dem Prior endlich gegenübertreten konnte. Oben im Thronsaal. Adepten begleiteten ihn und kümmerten sich um den Felorer, der seinen tückischen Zauber nicht wirken konnte. Allein, als Individuum, war er zu schwach. Offenbar brauchte er die Summe seiner hingemetzelten Artgenossen, um Täuschungen zu errichten, wie es ihnen in Grünland gelungen war. »Wie viele Überlebenden gab es bei … ihnen?« Der Große Vater zeigte auf Velvert. »Wenige. Sie alle sind noch in ihrer Stadt – aber jetzt unter unserer Gewalt.« »Und er ist der, der dich schonte. Verschonte, mein Sohn?« »Ihm ist nicht zu trauen!«
»Ich weiß.« »Er gehört zu denen, die Choom umbrachten!« »Auch das weiß ich. Aber ich weiß auch … erst durch Chooms Tod, der in mir widerhallte und die Illusion, die die Felorer schufen, um ihr Versteck zu sichern, niederriss, konnte ich meine verbliebenen Soldaten zu dir schicken. Chooms Tod war das Fanal, das sie leitete.« »Wir haben die anderen nicht gefunden. Die, die verloren gingen, als wir das Plateau erklommen. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt. Und er …« L'lewed zeigte auf Velvert. »… spricht nicht mehr, seit die Seinen niedergemacht wurden von uns.« »Er ist undankbar. Weiß er das?« »Er versteht unsere Sprache.« »Ich erinnere mich an solche wie ihn.« L'lewed war maßlos verblüfft. »Ihr … kennt die Felorer?« »Ich bin alt. Ich sah die Welt, als sie noch anders war. Ich habe dir und Choom davon erzählt. Erinnere dich.« »Aber Ihr habt nie von solchen wie ihm … erzählt.« »Ein Versäumnis, das gestehe ich ein.« »Entschuldigt. Es war keine Kritik …« »Ich weiß. Ich werde es wiedergutmachen. Du hast es verdient, mein ganzes Wissen mit mir zu teilen, nicht nur die Krumen, die ich dir bislang hinwarf …« L'lewed spürte einen Schauer der Erregung. Zugleich hatte er das Gefühl, dass etwas fehlte – etwas, das für immer verschwunden war. Nichts konnte diese Leere in ihm füllen. Kein noch so großes Wissen. Er dachte an Choom, seinen Schicksalsbruder, den die Felorer ihm genommen hatten. Dafür hasste er sie. »Was geschieht nun mit ihm?« Er zeigte auf den Gefangenen. »Ich muss darüber nachdenken. Aber vielleicht hast du ja eine Idee?« »Vielleicht«, erwiderte L'lewed. Vor seinem geistigen Auge erschienen die Laboratorien, die es in dem himmelwärts strebenden
Herrscherpalast gab. Dort wurden Kindern lebende Zellen des Priors eingesetzt. Zellen, die so präpariert waren, dass sie sich mit ihren eigenen verbanden. Fresszellen nannte der Große Vater es. L'lewed war erschrocken, als er zum ersten Mal hörte, was auch ihm einst zugefügt worden war. Aber dies war der Weg, um alle Menschen mit dem Prior zu verbinden. Die Adepten hatten unter Anleitung des Priors ein Verfahren entwickelt, das höchste Kenntnisse der menschlichen Erbanlagen voraussetzte. Der Große Vater nannte es Gentechnologie, wenn er darüber sprach, und das tat er oft. Inzwischen wusste L'lewed, dass er einer Zeit entstammte, als diese Form der Technologie in ihren Kinderschuhen gesteckt hatte. Doch schon damals waren damit Menschen mit besonderen Fähigkeiten erschaffen worden. Prototypen, die nie die Chance hatten, auszureifen. Ein fragwürdiger Ehrgeiz erwachte in ihm. Der Ehrgeiz, es nicht nur besser zu machen, sondern zu perfektionieren. Die Felorer mit ihren noch unerforschten Talenten erschienen ihm plötzlich wie ein Geschenk des Schicksals. »Gebt mir freie Hand, Vater.« Der Prior musterte ihn streng. »Was schwebt dir vor, mein Kind?« Er nickte hin zu ihrem Gefangenen. »Welche Marter, welche Todesart hast du dir für ihn ausgedacht?« »Etwas Besseres als Marter oder als ein Tod, der zu gut für jemanden wäre, der Mitschuld trägt an Chooms Sterben …« »Das will ich genauer wissen!« »Dann höret, o Vater …«
Es dauerte Jahre, den ersten Prototypen der Neuzeit zu »bauen«. Velvert war dabei eine erstaunliche Hilfe. Velvert mauserte sich zu L'leweds engstem Vertrautem und beinahe zu einem … er scheute
das Wort, aber es kam dem am nächsten … Bruderersatz. Zumal Velvert ihm half, seine »Gesichter« besser zu kontrollieren. Es ging nur über die Kraft des eigenen Willens. Und dieser Wille gestattete es L'lewed mit der Zeit und vielen Konzentrationsübungen, die der Felorer für ihn ersann, wenigstens jene Altersstufen bei sich auszublenden, die ihn als Kleinkind oder fleischloses Skelett zeigten. Über all dem aber vergaß L'lewed nie, dass auch Velvert ihn eigentlich hätte hassen müssen. »Spielst du mir deine Sympathie nur vor?«, fragte er ihn deshalb ungezählte Male während ihrer immer enger werdenden Freundschaft. »Warum sollte ich?« »Um dir … ›Hafterleichterungen‹ zu erschleichen?« »Ich fühle mich nicht wie in Haft.« »Ja, du sagtest ja auch, unsere Leute, die du mir in jenem Haus gezeigt hast, erinnere dich, seien nicht tot.« »Damals waren sie es nicht – heute sind sie es wahrscheinlich. Die Kolonie existiert nicht mehr, oder? Ihr habt alles zerstört, was wir über so lange Zeit aufbauten.« »Sie existiert nicht mehr, nein. Wie hätten wir sie dulden können? Wie hätte Vater sie dulden können?« »Wir schadeten niemandem.« »Das zu glauben fällt schwer. Hattet ihr nie … Eroberungsgelüste?« »Wir wollten nur heim. Irgendwann. Eines Tages.« »Ohne zu wissen, wo das ist.« »Ohne zu wissen, wo das ist«, bestätigte Velvert. »Ihr seid verrückt.« »Es sind nur noch wenige Verrückte«, erinnerte ihn der Felorer. »Die, die ihr am Leben ließet. Für Experimente.« »Du hasst mich also doch.« »Ich vermisse die Meinen.« »Ihr habt den Krieg angefangen. Hättet ihr nicht Choom –« »Alles wäre genauso gekommen. Ihr hättet einen Grund gefunden, uns zu knechten. Wir beobachten die Erinjij seit langem. Sie finden
immer Gründe, andere zu unterjochen.« »Wir haben diese Welt seit Urzeiten nicht mehr verlassen.« »Aber davor … und wenn ihr sie eines Tages wieder verlasst … ihr führtet immer Kriege.« »Und deine so verehrten Jay'nac?« »Die Anorganischen? Sie waren anders – aber nicht so viel anders … und nicht so viel besser.« »Was wurde aus ihnen?« »Ich weiß es nicht.« »Warum haben sie nie nach euch gesucht?« »Sie mussten sich vermutlich ihrer eigenen Haut erwehren. Die Vernichtungswelle, die die Milchstraße durchlief, verschonte kein technokratisiertes Volk.« »Was du darüber erzähltest, habe ich nie verstanden.« »Wir haben es selbst kaum begriffen.« »Und wer steckte dahinter?« »Wir wissen es nicht. Aber es war Keelonzauber. Die Zeitbetrüger – kein anderer hätte das vermocht …« »Vater erzählte auch von ihnen. Von ihnen stammt auch dieser unglaubliche Turm. Und das, was … was Vater heute ausmacht, ihn so mächtig macht.« »Die Zuchthirne … ja, sie gehen auch auf die Herrschaft der Keelon zurück. In jenem Zeitalter bewohnte jeden Residenzturm ein einziger Keelon. Sie nannten sich Master. Herren. Weil sie es waren, die Herren dieser Welt. Dafür mussten sie Blut vergießen, viel Blut. Auch die Keelon waren nicht besser als Erinjij, als Jay'nac.« »Das klingt immer so, als wären die Felorer die einzigen ›Guten‹.« »Wir dienten immer nur den Kriegstreibern. Wir hatten nie eigene Ambitionen zu herrschen. Alles, was wir wollen und suchen …« »… ist ein Weg nach Hause, schon gut.« L'lewed nickte. »Wo immer das ist.« »Auch ich werde sterben, ohne es je zu erfahren. Und wenn der letzte Felorer gegangen ist …« »Was dann?« Velvert wirkte über den eigenen Gedanken erschrocken. »Viel-
leicht erlischt all dies dann …« Er zeigte um sich. »Warum sollte es?« L'lewed schüttelte den Kopf. »Ich denke manchmal, all das könnte ein Traum sein. Mein Traum. Und wenn ich gehe, erlischt er. Was sollte dann noch bleiben?« Er ist verrückt. Verrückt vor Gram und Einsamkeit. L'lewed wollte eine verächtliche Bemerkung machen, aber er brachte es nicht über die Lippen.
»Ist er das?«, fragte der Prior durch den Mund des Adepten, den er wie eine Prothese handhabte. »Das ist er«, erwiderte L'lewed. »Er sieht nicht … besonders aus«, sagte der Große Vater. »Er ist der erste Versuch, aber wenn alles nach Plan läuft, wird er Euch, Vater, hoffentlich verblüffen.« »Ich ließ dir all die Jahre freie Hand …« »Dafür danke ich dir.« »Wobei ich mit Besorgnis feststellen musste, dass du freundschaftliche Bande knüpftest zu einem … du weißt, wen ich meine.« »Wir kamen uns nah, das stimmt, auf spiritueller Ebene, Vater.« »Ich weiß nicht, ob ich das gutheißen kann – und weiter werde.« »Ohne seine Hilfe, ohne sein Fachwissen …« »… und ohne seine Gene«, ergänzte der Prior. »… wäre ich noch nicht halb so weit.« »Das stellt dir keinen guten Leumund aus.« »Ihr wisst, dass das allenfalls die halbe Wahrheit ist. Wir Menschen … er nennt uns Erinjij, wusstet Ihr das, Vater? Nun, wir Menschen sind nicht so begnadet wie die Felorer, die von der Natur Einblicke in das Gefüge gewährt bekommen, den Kosmos als Ganzes … Es gibt einen Kitt, so erklärte Velvert es mir, ohne den nichts zusammenhielte. Dieser Kitt, das sind die universell gültigen physikalischen Gesetze. Sie greifen tief hinein in alles, auch in das, was wir Leben nennen. Und so erlangte ich Einsichten, die letztendlich zu dem führten, was Ihr heute hier seht, Vater …« »Einen nackten Mann.«
»Ware Euch eine nackte Frau lieber gewesen?« »In frühen Jahren, als ich noch nicht mein Handicap hatte, ja. Gewiss, ganz bestimmt.« Er lachte heiser aus fremdem Mund. Der Adept wirkte gequält, vermochte aber nicht aufzubegehren … und hätte es auch unter keinen Umständen getan. »Ihr seid mit Eurem Los unzufrieden, Vater?« Es war das erste Mal, soweit L'lewed zurückdenken konnte, dass der Prior indirekt einräumte zu leiden. »Sprechen wir nicht über Dinge, die nicht zu ändern sind. Es geht um ihn hier … oder muss ich sagen: es?« »Nein, wie Ihr bereits festgestellt habt, Vater, es ist ein Er. Der … Erste seiner Art.« »Seine Art sieht etwas mager aus. Ich hatte ihn mir durchtrainierter … imposanter vorgestellt.« »Daran lässt sich feilen.« »Beim nächsten?« »Vielleicht schon an diesem. Er ist ja noch jung.« »Du meinst, er … wächst? Er altert, verändert sich?« »Langsamer als üblicherweise. Aber nichtsdestotrotz: ja. Aber natürlich. Wolltet Ihr Unsterblichkeit?« »Du weißt, was ich will. Zumal du damit an mich herangetreten bist. Den perfekten Kämpfer, den unbesiegbaren Krieger wolltest du mir … bauen. Ist dir das gelungen?« »An den Feinheiten muss sicherlich noch gefeilt –« »Das hörte ich schon einmal. Langweile mich nicht. Du hast meine Gunst, keine Frage. Aber es gibt Dinge, die ich nicht dulde. Meine Zeit zu verschwenden beispielsweise. Deshalb: Kann er mehr als nur daliegen?« L'lewed nickte. Er versuchte, nicht beleidigt zu sein. Er kannte seinen Vater. Er wusste, welch unfassbares Glück er hatte, dass der Prior ihm gewogen war. In all den Jahrzehnten hatte er viele kommen und gehen gesehen, die genau dieses Glück nicht hatten. An den Liegenden gewandt, sagte L'lewed: »Erhebe dich, öffne die Augen.« Die Lider glitten nach oben. Seine Pupille war schwarz. Als L'le-
wed den Blick des Adepten daran verhalten sah, wollte er in alte Muster verfallen. »Daran fei-« Er verkniff es sich im letzten Moment. »Stell dich vor uns.« Der Mann gehorchte wie eine Marionette. Die Führungsfaden waren unsichtbar, aber L'lewed schien sie dennoch fest in Händen zu halten. »Das ist alles.« »Natürlich nicht.« »Kann er Kunststückchen.« »Eins.« »Eins nur … so. Und welches.« L'lewed gab dem Nackten das verabredete Zeichen. Der Mann zerfiel.
Der Adept trat neben den Staub, zu dem der Mann zerfallen war. Als er mit dem Fuß hineinstieß, wusste L'lewed, dass nicht er, sondern der Prior dies tat. »Ich bin nicht amüsiert. Du willst mir also eine Armee schaffen mit Kriegern, die … vor ihren Gegnern zu Staub werden? Das wird jeden Feind aus der Bahn werfen, ich gratuliere.« Der Sarkasmus war beißender als Säure. Der Adept wankte. L'lewed wusste, was das bedeutete. »Wartet, Vater, bitte – bleibt!« Der Prior hatte sich schon halb zurückgezogen, aber er ließ sich erweichen. Die Spannung kehrte in den Körper des Adepten zurück. »Du kannst es nicht mehr retten. Arbeite weiter. Ich bemühe mich um Geduld – und Nachsicht. Aber stehle mir nicht länger –« Der Prior merkte, dass mit seinem Wirtskörper etwas nicht stimmte. Der Adept blickte an sich herab. Der Staub hatte sich wie eine Kruste um sein linkes Bein – mit dem er hineingetreten hatte – gelegt. Und wanderte jetzt langsam aufwärts. »Taub … sein Bein wird … taub!« »Das ist erst der Anfang, Vater.«
»Du meinst …?« »Es lebt – immer noch, aber ja.« »Du erstaunst mich.« »Spürt Ihr weitere Details, oder soll ich sie erklären?«, fragte L'lewed hilfsbereit. »Moine Dschunge.« »Deine Zunge? Entschuldigt, aber Ihr sprecht plötzlich so undeutlich.« Der Adept verzog das Gesicht. Hinter seinen Augen war ein Blick eingesperrt, der nicht dem Prior, sondern dem eigentlichen Besitzer des Körpers gehörte. Und dieser begann nun auch zu begreifen, dass etwas Unumkehrbares mit ihm geschah. L'lewed sparte sich sein Mitleid für andere Gelegenheiten auf. »Ör hoat Schmörzen.« »Das wird sich bald erledigt haben.« »Woil er schdirbt?« »Genau deshalb, Vater. Könntet ihr in einen anderen wechseln und es Euch von … von außen ansehen? Ich will mir nicht Euren Zorn zuziehen, nur weil ich Euch mitleiden ließ …« Der Adept erschlaffte, dann sank er zu Boden, wo er sich schreiend zu winden begann. Die Tür des Laborraums öffnete sich, und ein anderer Adept trat ein. Für L'lewed stand es außer Frage, dass sein Vater nun in ihn geschlüpft war. »Das ist interessanter, als ich zunächst annahm. Entschuldige, Sohn.« »Ich wollte Euch damit überraschen.« »Das ist dir gelungen. Die Masse überzieht ihn immer mehr. Was tut sie ihm an? Wie tut sie es?« »Sie saugt sein isoelektrisches Feld in sich ein.« »Sein …?« »Velvert nannte es so.« Der neue Wirt des Priors verzog das Gesicht. »Und was genau habe ich darunter zu verstehen?« Die Schreie des Befallenen erstarben, die Zuckungen erlahmten. »Er erklärte es mir so: In jedem Menschen existiert ein elektrisches
Feld. Unsere Gehirne, unsere Nerven … sie sind durchdrungen von Elektrizität.« »Die das hier … aufsaugt?« Der Adept wies auf die Kruste, die das Opfer überzog. L'lewed nickte. »Eindrucksvoll«, lobte der Prior. »Aber«, wiegelte L'lewed bescheiden ab, »noch nicht alles.« »Noch nicht alles?« L'lewed nickte. Das war der Moment, in dem der vermeintliche Staub, die amorphe Kruste, sich wieder zusammenfügte … zu dem, was sie zuvor gewesen war. Vor den Blicken des Priors formte sich wieder der nackte Mann, der wenig später völlig unversehrt vor ihm stand, während der erste Wirtskörper tot am Boden liegen blieb. »Das«, stammelte der Adept, der Mühe hatte, die Gefühle zu transportieren, die der Prior ihm induzierte, »übertrifft alles, was ich mir jemals erträumte. Du bist ein Genie, mein Junge!« L'lewed übte sich weiter in Bescheidenheit. »Es ist ein fraktales Phänomen. Velvert beschreibt es als –« »Verschone mich mit dem Geschwätz des Felorers! Es ist … grandios! Ich nehme davon so viele, wie ich kriegen kann!« Es war die Geburtsstunde einer einzigartigen Armee – die Jahre später selbst die mächtigen Treymor das Fürchten lehrte …
3. Ein Kommen und Gehen Die endlose Karawane zog hin zur Wolkennadel … und – jenseits des Monuments – wieder von ihr weg. »Ich habe Angst, Vater.« »Das brauchst du nicht.« »Ich habe aber Angst. Große Angst. Ich will wieder nach Hause!« »Wir werden sofort danach wieder heimgehen.« »Den ganzen weiten Weg?« »Es ist die Wallfahrt, der sich niemand entziehen kann, Tochter.« Moira schaute mit tränenfeuchten Augen zu ihm hoch. Während des Marsches hatte er sie sich immer wieder auf die Schultern gesetzt, weil sie nicht mehr hatte laufen können oder wollen. Sie liebte ihren Vater. Er war immer für sie da. Aber dass er sie dazu zwang … »Wir mussten alle einmal hierher kommen.« Fahfre zeigte hinter und vor sich, wo die Schlange voller Menschen war. Menschen, so müde wie sie beide, manche noch viel erschöpfter. Auch Alte waren darunter, die ihre Enkel an der Hand führten – vielleicht waren die Eltern frühzeitig gestorben. »Wen immer du hier siehst – er war im Turm. Es ist ein Gebot … nein, es ist das GESETZ. Du wirst es noch begreifen lernen. Eine Welt braucht Regeln. Und der Prior ist unser aller Hüter.« Moira hob flehend die Arme. »Heb mich wieder hoch. Trag mich, bitte. Ich kann nicht mehr. Meine Beine tun so weh.« Das war nicht übertrieben. Seit Wochen zogen sie durch die Lande. Zum Schlafen legten sie sich irgendwo an den Wegrand – so wie alle es taten, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Aus allen Richtungen waren sie zu dem Knotenpunkt geströmt, von dem aus nur noch eine einzige Straße zum Ziel führte: zur Wolkennadel. Zu ihren Füßen erstreckte sich die größte Stadt, die Moira je gesehen hatte.
Wie ein steinernes Geschwür wirkten die Gebäude rund um die Nadel. Sie erweckten den Eindruck, sich selbstständig ausgebreitet zu haben, wie eine Krankheit, die immer mehr um sich greift. Moira wusste natürlich, dass es nicht so sein konnte. Menschen hatten die Häuser errichtet. Menschen bewohnte sie oder irrten durch das Labyrinth der zahllosen Gassen, die nur dazu gedacht schienen, die Welle von Pilgern, die dem Turm entgegen strebte, rechtzeitig zu brechen. Aber wie viele Ankömmlinge mochten von der Stadt schon verschlungen worden sein? Je näher sie kamen, desto weniger wirkte der Schmelztiegel wie ein bloßes Geschwür; vielmehr erinnerte das Häusermeer bald schon an einen unersättlichen Moloch, der sich von ahnungslosen Wanderern ernährte. Arglos liefen sie ihm in die Falle. Das pulsierende Treiben der Stadt diente nur als Lockmittel, genau wie die Wolkennadel, die weithin erkennbar alles anzog, was ihrer ansichtig wurde … Moira fror plötzlich, obwohl sich die Temperatur wahrscheinlich nicht verändert hatte. Es war immer noch lau, das Licht der Energie, die alles durchtränkte – PSI –, hätte eigentlich beruhigend auf jeden, der es wahrnahm, wirken sollen. Moira fühlte sich jedoch zunehmend davon isoliert. Sie schauderte. Fahfre, auf dessen Schultern sie zwischenzeitlich wieder saß, merkte es. »Du sollst aufhören, dir Sorgen zu machen!« Er klang ungehalten, aber sie kannte ihn. Er legte nur ein wenig Schärfe in die Stimme, um sie aus ihrem Angsttaumel zu reißen, in den sie sich immer mehr hineinsteigerte. »Ich will ja aufhören! Aber … ich weiß nicht, wie!« Ihre Finger gruben sich in sein dichtes, bleiches Haar. Er spürte die scharfen Nägel und unterdrückte einen Schmerzlaut. »Moira! Du tust mir weh!« Sie zuckte zusammen. »Vater …« »Was ist?« »Du warst doch drin …« Sie streckte den kurzen Arm aus; Fahfre gewahrte die Bewegung über sich und sah den Finger, der zur Wolkennadel wies. »Was genau tun sie dort mit mir … mit uns?«
»Darüber darf niemand sprechen, der es erlebte.« »Warum nicht?« »Es ist … ein Gelübde.« Er versuchte, sie nicht spüren zu lassen, wie sehr er sich bei diesen Worten verspannte. Er war stets bemüht, die Bilder von damals, Bilder aus der Zeit, als er so jung wie Moira gewesen war, nicht allzu klar aus dem tröstlichen fernen Winkel seiner Erinnerung aufsteigen zu lassen. Sie waren nichts für schwache Nerven. Und es fiel ihm unsagbar schwer, Moira zu belügen. Ihr weiszumachen, dass es nicht schlimm sei, was die Wolkennadel für sie bereithielt … für sie und jedes andere dieser Tausende und Abertausende kleiner unschuldiger Kinder … »Vater!« »Ja, Kleines?« »Ich will nicht zu ihm!« Niemand will das, mein Kind. Er erschrak. Wenn er belauscht wurde … und wurden sie das nicht alle … immer …? »Du wirst später darüber lachen. Über dich selbst und deine unbegründete Angst!« Unbegründet? Wie kann ich es zulassen, dass sie dasselbe erleidet, wie ich? »Versprich es mir! Versprich mir, dass es nicht schlimm ist.« »Ich …« Er räusperte sich. »… verspreche es dir.« Er lachte, aber es klang nicht heiter. Die Frau, die vor ihnen ging, eine Mutter mit einem kleinen Sohn an der Hand, beide müde und schmutzig vom Staub der Wege wie Fahfre und Moira auch, drehte den Kopf und blickte Fahfre in einer Weise an, dass er sich in Grund und Boden schämte. Wie kannst du nur?, fragte der Blick. Sei doch einfach still, anstatt sie hinters Licht zu führen. Das wird sie dir nicht verzeihen. Sie liebt dich – noch. Aber nach dieser Erfahrung wird sie dich wahrscheinlich hassen … Fahfre wurde wütend, er ballte die Hände zu Fäusten. Die Frau sah es und wandte sich wieder nach vorne. »Was ist, Vater?« »Nichts, Kind. Wir sind gleich da – in der Stadt zumindest. Von da an ist es nicht mehr weit. Wir werden zu essen und zu trinken be-
kommen, und wir können uns stärken. Der Prior sorgt für die Seinen …«
Sie hatten sich durch das Gewühl der Stadt gekämpft und erreichten das Große Tor der Verheißung – wie es genannt wurde. Das riesige Portal wurde von Adepten des Priors flankiert. Ihre Häupter lagen tief unter den Kapuzen ihrer sprechenden Kutten verborgen. In den metallisch schimmernden Webfäden der Kleidung sammelten sich die Spiegelbilder der Herbeieilenden, und aus dem Gewebe heraus klangen Melodien, in denen jeder Ankömmling seinen Namen zu erkennen glaubte. Fahfre wusste noch, wie heftig er damals erschrocken war, als er das erste Mal vor den engsten Dienern des Priors stand. Und er wusste auch, dass Moira ihren Namen hörte, während er den seinen vernahm. Die Melodie war verzaubernd. Fahfre spürte, wie ihm leichter ums Herz wurde, als er sie an sich heranließ, und er hoffte, dass sie auch Moira helfen würde, ihre Angst in den Griff zu bekommen. »Das Kind wird erwartet. Die Amme kommt gleich«, wisperte es Fahfre wenig später entgegen. Und wenn ihn nicht alles täuschte, seine Erinnerung nicht trog, vernahm Moira in dieser Zeit die Worte: »Du wirst erwartet. Folge deiner Trösterin …« Auch zu ihm war eine der Frauen mit den steinernen Gesichtern, ganz in Schwarz gekleidet, gekommen. Sie hatte ihn aus der Hand seiner Mutter, die ihn damals geleitete, genommen und mit in die Wolkennadel genommen, mit zu – Moiras kleine Finger krampfen sich um seine Hand, als sie fortgezogen wurde. Die Amme hatte das gleiche kalte und starre Gesicht wie jene, die Fahfre aus dem Schutz seiner Mutter gepflückt und weggebracht hatte. Er würde es bis zu seinem letzten Atemzug nicht vergessen können. Arme, arme Moira, dachte er. Dann fiel eine von Dutzenden kleinen Türen, die in das große Tor eingelassen waren, hinter ihr zu, und wie ein schallender Gong
pflanzte sich der Knall durch Fahfres Bewusstsein, riss die alten, nie heilenden Wunden noch mehr auf. Was tun wir unseren Kindern nur an? Warum begehrt niemand dagegen auf? Aus demselben Grund, weshalb er nicht aufbegehrte. Das Fremde in ihnen verhinderte es. Das Fremde in einem jeden, der einmal durch eine solche Tür gezerrt worden war …
Moira spürte den beruhigenden Einfluss der fremden Hand, die sich zunächst wie eine metallische Klaue, derb und brutal, um ihren Arm geklammert hatte. Doch kaum schloss sich die Tür hinter ihnen und geriet der Hexenkessel draußen aus dem Blick, überkam Moira eine ganz unnatürliche Ruhe. Fast augenblicklich hörte sie auf, an ihren Vater zu denken, der außerhalb zurückgeblieben war, weil keine Mutter, kein Vater – oder welche Begleitperson auch immer – dem kindlichen Kandidaten hierher folgen durfte. Moira merkte, wie die neue Umgebung sie überwältigte und in ihren Bann zog. Als könnte die Amme den Wandel fühlen, ließ sie Moiras Arm los. Das Mädchen blickte erwartungsvoll zu der Frau mit dem porzellanstarren Gesicht auf. »Wo sind … die anderen?« Noch während sie sich draußen gesträubt hatte, waren ihr die anderen Kinder aufgefallen, die von anderen Ammen geholt und durch andere Türen ins Innere der Wolkennadel gebracht worden waren. Doch hier, auf der anderen Seite des großen Portals, waren … nur sie. »Schweig!« Die Stimme war wie beißender Rauch, nur dass sie nicht die Augen angriff, sondern sich über das Gehör ins Innere von Moiras Kopf zu nagen schien. »Bitte … sprich mit mir.« »Deshalb sind wir nicht hier.« »Ich weiß, aber … bitte.« »Du meinst zu wissen?« Zum ersten Mal verzog sich das Gesicht
der Amme und bewies damit, dass sie zu Regungen im Stande war. »Oh, du dummes Kind.« »Was meinst du damit?« »Schweig! Sonst …« Sie blickte um sich. Nach oben, nach rechts, links, nach vorn und hinter sich. »Komm jetzt.« Ohne dass sie erneut die Klauenhand um sie legte, hatte Moira das Empfinden, von ihr hinter sich hergezogen zu werden, tiefer in den seltsamen Bereich hinein, den sie betreten hatten. Ein absonderlicher Ort, in der Tat. Ein Ort, der ganz und gar nicht wie ein Raum in einem Gebäude – erst recht nicht in der Wolkennadel – wirkte, sondern fast wie die Eingeweide von etwas … Organischem. Moira wusste nicht mehr, welche Vorstellungen sie im Vorfeld mit dem Gebäudeinneren verbunden hatte, es war ihr entglitten. Aber gewiss nicht diese. Alles war noch viel verstörender, als sie es erwartet hatte. Und ihr Vater war auch schon hier gewesen? Alle Kinder kamen hierher? Moira blieb entschlossen stehen. Es war, als würde sie das unsichtbare Band, das sie an die Amme kettete, mit einem scharfen Messer durchtrennen. Die Frau wirkte überrascht, fast erschrocken, als sie ebenfalls innehielt und sich nach Moira umsah. »Wie heißt du?«, fragte Fahfres Tochter. Die Amme zögerte. »Liliane.« »Liliane. Wie schön. Warum bist du so … böse, Liliane?« »Böse?«, echote sie, schien mit dem Wort nichts anfangen zu können. »Mein Vater sagte, ich bräuchte keine Angst zu haben. Aber wenn du so unfreundlich bist, bekomme ich automatisch –« »Lügner!«, zischte sie. »Wie?« »Dein Vater ist ein Lügner.« »Wie kannst du –« »Schweig! Er kennt die Wahrheit. Alle, die hier waren, kennen sie.
Aber auch du wirst dein Kind eines Tages belügen. Wer könnte es dir verdenken?« Moira sank das Herz in die Hose. Plötzlich war die Angst wieder da, stärker denn je. Und die Amme, an der nur der Name menschlich wirkte, schien sich auch wieder so weit in der Gewalt zu haben, dass ihre unsichtbare Schlinge, mit der sie Moira hinter sich herzerrte, wieder griff. Mit furchtgeweiteten Augen stolperte Moira hinter ihr her. Kurz darauf erreichten sie die Initiierungskammer. Sie war so voller Licht, dass es im ersten Moment in den Augen schmerzte. Und so kahl, dass Moira sich zuerst nicht vorstellen konnte, bereits am Ziel angekommen zu sein. Aber Liliane blieb stehen. »Wir sind da. Warte. Du brauchst nichts zu tun.« Und mit diesen Worten ging sie. Das Licht wurde noch strahlender. So unglaublich intensiv, dass sich alles um Moira herum aufzulösen schien. Dann aber kamen die Männer. Adepten. Ihre Kutten waren wie Zungen, die bei jedem Schritt über das Weiß leckten, es in sich aufsogen. Moira wurde gepackt. Moira schrie und bettelte. Aber sie schnallten sie mühelos auf etwas Hartes. Ein Tisch? Von oben aus dem Weiß schwang etwas herab, das ein Schlauch sein konnte … oder ein Tentakel. Sekunden vergingen. Das Ding berührte Moiras fixierten Körper, kroch und tastete sich daran hoch bis zum Ohr. Es stülpte sich darüber, und eine Weile war alles ruhig. Kein Schmerz. Bis … … etwas in Moiras Ohr hineinfloss. Nass. Warm. Nicht unangenehm, solange es sich damit begnügte, in ihr Ohr zu rinnen. Dann aber fing die breiige Flüssigkeit an zu brennen, als würde eine Flamme gegen die schützenden Häute von Moiras Gehirn ge-
halten. Sie brüllte und wand sich, aber es gab kein Entkommen, keine Abwehr, und mit der Zeit verwischten Qual und Fantasien, vermengten sich miteinander, sodass Moira ein Schmatzen zu hören glaubte, das aus ihrem Kopf kam, als würde sich etwas an ihr laben. Einer der Adepten raunte: »Es schlägt nicht bei ihr an.« »Dann ist sie Ausschuss«, erwiderte ein anderer. »Lasst sie. Wenden wir uns dem nächsten Kandidaten zu. Einem, der unsere Mühe wert ist …« Die Stimmen streiften bestenfalls Moiras Wahrnehmung, und über all dem verlor sie das Bewusstsein.
Als sie zu sich kam, schaukelte sie in den Armen der Amme. Ihr war schlecht. »Was –« »Nicht sprechen!« »Aber –« »Warte, bis wir draußen sind.« Draußen?, echote es in Moiras Kopf. Die Umgebung flog förmlich an ihr vorbei, mit irrwitziger Geschwindigkeit. Und schon dieses Tempo, das ihr mit jeder Sekunde bewusster wurde, verhinderte, dass sie weitere Fragen stellte. Hätte sie gesprochen, sie hätte sich übergeben müssen. Alles drehte sich um sie. Das, was man mit ihr gemacht hatte … Gemacht? Erinnerungen wie Streiflichter surrten durch ihren Geist. Sie versuchte sie festzuhalten, aber sie entzogen sich ihr. Vielleicht zu ihrem Glück. Dann ein anderer Gedanke: Vater? Sie war mit ihm zur Wolkennadel gekommen. Ohne ihn hinein gegangen. Die Amme … die Amme, die sie jetzt trug … (Warum eigentlich? Konnte sie nicht selbst gehen? Ging es ihr so schlecht?) WAS WAR PASSIERT? Gerade als sie sich entschloss, die Frage laut zu stellen – auch wenn es sie würgte, auch wenn die Übelkeit ihr den Magen umdre-
hen würde –, änderte sich die schreckliche Hast. Von einem Moment zum anderen verlor alles an Tempo. Abrupt blieb die Amme stehen. »Wir sind da.« Sie setzte Moira ab, stellte sie auf ihre eigenen Füße. Moiras Schwindel endete. Sie befand sich in einem unbekannten Raum. Andere Menschen hielten sich hier auf – aber keine Kinder. Nur Erwachsene. »Ist sie das?« »Ja! Kümmert euch um sie. Ich muss zurück. Bevor es auffällt …« Moira wollte protestieren. »Nicht! Geh nicht! Lass mich hier nicht allein mit all den …« Aber sie brachte kein Wort über die Lippen. »Große Kraft. Nur nicht erkannt. Sie sind so dumm. Vielleicht wird es sich eines Tages rächen. Aber wir sind zu wenige. Noch viel zu wenige.« Moira wusste nicht, wer sprach. Die Amme ging. Sie bewegte sich tatsächlich so … schnell. So widernatürlich schnell … »Bitte …«, krächzte Moira. »Ich will … zu meinem Vater …!« Eine Frau kam zu ihr. Sie sah gütig aus. Aber ihre Worte straften diesen Eindruck Lügen. »Das geht nicht, kleines Mädchen. Es geht wirklich nicht. Es tut uns leid, so leid. Aber … du bist tot …«
»Tot?« Fahfre starrte die Amme aus glasigen Augen an. Es schien Stunden zu dauern, bis er das nächste Wort über die Lippen brachte. Es war dasselbe wie zuvor – nur anders, schrecklicher betont. »TOT??« Die Amme nickte. »Schwach, so schwach. Schlecht vorbereitet. Kommt vor. Selten. Aber manchmal sterben sie.« Es war, als würde ihm das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust gerissen. Wieder … und wieder … und wieder … »Wo ist sie? Ich will zu ihr! Sofort! Du Ungeheuer! Gib mir mein Kind zurück!« »Schon weg. War nötig. Totes immer gleich weg. Der Prior ver-
langt es. Bewahr sie in deinem Kopf, wie du sie kanntest. Geh. Geh jetzt heim. Wenn du noch Kinder hast, bring sie besser vorbereitet. Nicht so ängstlich. Das Herz. Das kleine Herz … viel zu viel Angst … Musst besser Acht geben. Andere tun es auch. Nur starke Kinder sind des Priors würdig. Weißt du doch. Solltest du wissen. Geh jetzt, geh.« Er hatte das Gefühl, ihr die einzige Antwort geben zu müssen, die sie verdiente. Er ballte die Faust. Hob den Arm. Wollte zuschlagen. Aber da waren plötzlich die Adepten. Sie geißelten ihn mit Peitschen, die das Fleisch von den Knochen schälten – wenn der Hieb demnach geführt wurde. Aber die Amme setzte sich für ihn ein. »Er hat seine Lektion erhalten. Er wird sich beruhigen. Schickt ihn heim. Schickt ihn nur heim!« Sie drehte sich um. Eine Tür klapperte. Sie war weg. Mein Kind, dachte Fahfre. Wo ist mein Kind? Es konnte nicht sein, dass es tot war. Moira … Er ging nicht heim. Er tat nur so, als würde er einlenken, sich beruhigen. Statt heimwärts zu ziehen, blieb er in der Stadt. Überlegte, schmiedete Pläne, wie er in die Wolkennadel gelangen könnte … zu seiner Tochter. Selbst wenn sie wirklich tot war – ein Albtraum! –, wollte er wenigstens ihre Leiche! Sie hatten kein Recht, sie ihm vorzuenthalten. Nicht einmal der Prior hatte dazu ein Recht …
Jahre später Es war ein kleiner Ort. Aber alles … nein, nicht alles … manches war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Am Dorfeingang spielten Kinder. Ihr Anblick brachte eine dunkle Saite in ihr zum Klingen. Sie musste kurz stehen bleiben. Ihre Hand fuhr zur Kehle, die ihr eng wurde. Doch dann befreite sie sich mit einer entschlossenen Bewegung von dem Albdruck und ging weiter.
»Wer bist du, wie heißt du?« Eines der Kinder kam ihr entgegen gerannt. Fremde waren hier eine Seltenheit. Die Gegend war ländlich. »Du kannst mich Owana nennen.« »Owana? Ich bin Ilnu.« Das Mädchen war etwa vierzehn. Sie hatte es also schon hinter sich. »Owana« war erstaunt, dass sie so fröhlich wirkte. Irgendwie verband sie das Verbrechen, das an den Menschen begangen wurde, immer als ein Akt, der ihnen genau das raubte: den Frohsinn, die Freude am normalen Leben. »Ilnu, ich bin auf der Durchreise. Kannst du mir sagen, ob es hier jemanden gibt, der Reisenden ein Quartier für eine Nacht gibt. Vielleicht auch für zwei Nächte … ich weiß es noch nicht. Ich will nichts geschenkt. Ich habe schöne Dinge. Damit bezahle ich, was ich verbrauche.« »Schöne Dinge?« Ilnus Neugier war geweckt. »Zeigst du sie mir?« »Später vielleicht. Also?« »Die alte Maja hatte schon Gäste. Von anderen weiß ich's nicht.« »Und ihr … deine Eltern?« Ilnu schüttelte fast erschrocken den Kopf. »Die nicht.« Sie schaute etwas betreten zu Boden. »Leider.« Owana gab einem Impuls nach und strich dem Mädchen über den Kopf. Sie war höchstens doppelt so alt wie Ilnu, sie hätten Schwestern sein können – aber es gab auch so junge Mütter mit Kindern, die dann schon in Ilnus Alter waren … »Führst du mich zu dieser Maja?« Ilnu nickte heftig. Sie schaute kurz zu den anderen Kindern, die Abstand hielten. Wahrscheinlich hatte man ihnen eingebläut, sich nicht mit Fremden abzugeben. Ilnu, sofern es ihr auch eingetrichtert worden war, setzte sich offenbar nur allzu bereitwillig über das Verbot hinweg. Schon nach wenigen Minuten erreichten sie das schiefe Haus am Ortsende. Die alte Maja saß auf einer Holzbank davor und musterte die Ankömmlinge schon von weitem. »Wen bringst du mir denn da, Ilnu?« »Einen Schlafgast.«
»So? Und woher kommt denn dieser … Schlafgast?« »Von weit her«, sagte Owana und fragte sich, ob die Alte sie wohl durchschaute. Aber vom üblichen Argwohn abgesehen, schien Owanas Anblick nichts in ihr zu wecken. »Ich habe gerne Gesellschaft – und du siehst freundlich aus. Komm nur, ich zeig dir die Stube, in der du schlafen kannst.« Ilnu machte einen Knicks, wie Owana ihn selten gesehen hatte, dann lief sie davon. »Wolltest du nicht –«, rief Owana ihr noch hinterher, aber Ilnu ließ sich nicht aufhalten. Owana folgte Maja schulterzuckend ins Haus. So war es also, heimzukommen – nach all den Jahren, die sie nun schon tot war. Tot … aber auch vergessen?
Als sie ihr kleines Gepäck verstaut hatte, verabschiedete sie sich von Maja mit dem Hinweis, sich noch ein wenig die Beine vertreten zu wollen. »Die Beine? Haben die noch nicht genug? Du musst Stunden gelaufen sein …« »Ich bin doch jung!« Das schien Maja zu überzeugen. »Bis später. Ich koche uns ein Süppchen. Gemüse aus dem eigenen Garten – willst du?« »Gerne. Bis dann …« Den Weg, den sie nehmen musste, kannte sie noch genau. Aber was würde sie dort, am Ende, erwarten? »Gibt auf dich Acht!«, legte Maja ihr noch ans Herz. »Die jungen Männer hier …« Sie machte eine wedelnde Bewegung, als hätte sie sich die Hand verbrannt. »Du bist verdammt hübsch, verdreh ihnen nicht den Kopf.« »Ich bin ganz brav.« Sie mussten beide lachen. Owana wünschte, sie hätte bleiben können. Hier war es so ganz
anders als im Schatten des mächtigen Turms, der ihr Leben bestimmte, seit sie es verloren hatte …
»Störe ich bei der Arbeit?« Fahfre blickte von dem Holzrahmen auf, den er zwischen die Backen des Schraubstocks gespannt hatte. Die Feile in seiner Hand machte die Drehung mit, als er sich der Frau zuwandte, die in der offenen Werkstatttür stand. »Stören? Nein.« Er schüttelte den Kopf. Sein schütteres Haar war voller Späne. Vorhin hatte er gehobelt, und immer wenn er das tat, sah es aus, als würde es schneien, mit solcher Kraft und Leidenschaft ging er dabei zu Werke. Die Arbeit war alles, was ihm geblieben war. Darin ging er auf. Er lebte nur noch, wenn er schuftete. Und er schuftete jeden Tag so lange, bis er müde genug war, um nach einem Happen einfach auf sein Schlaflager zu fallen und in ohnmachtsgleiche Gefilde abzudriften. »Was willst du?« »Ich kam zufällig vorbei.« »Ich kenne dich nicht. Bist nicht von hier.« »Nein. Auf der Durchreise. Bin bei der alten Maja untergekommen.« »Alt? Lass sie das bloß nicht hören!« »Aber sie ist –« »Niemand will hören, dass er alt ist. Dann lüg lieber. Manchmal sind Lügen gut.« Sie schien ihn anzusehen, als wollte sie sagen: Ich weiß. Ich kenne mich damit aus. Ein abstruser Gedanke. Er schob ihn gleich wieder beiseite. Hübsch war sie. Jung. Über das Alter brauchte sie noch nicht nachzudenken. »Auf der Durchreise, so, so. Hast du's noch weit? Es gibt Kutschen. Aber ich hörte keine Kutsche.« Er lächelte ein karges Lächeln. »Und ich hätte es gehört, wenn eine durch den Ort gekommen wäre.« »Das glaub ich.«
»Siehst du.« Er wunderte sich, wie gelöst er war. Er konnte sich nicht erinnern, in den letzten Jahren, so aufgekratzt jemandem gegenübergetreten zu sein, schon gar keiner Fremden. »So war es perfekt. Du lernst schnell – das mit dem Lügen, meine ich.« Auch über ihr Gesicht huschte ein Schmunzeln. »Weiß.« »Willst du reinkommen?« Er zeigte auf einen Holzschemel neben der Tür. »Komm lieber raus.« »Ich …?« Es war seltsam, wie sie miteinander umgingen. Er war das nicht gewohnt. Nicht mehr. Trotzdem überwand er sich. Er nickte, legte die Feile auf die Werkbank und ging zum Ofen in der Ecke, wo immer ein Topf mit heißem Wasser vor sich hin köchelte. Damit füllte er zwei Tassen auf, die einigermaßen sauber waren und in die er zuvor jeweils einen Löffel Tee gegeben hatte. Mit einer Tasse in jeder Hand trat er wenig später ins Freie. Sein Blick ging automatisch nach links, wo die selbst gezimmerte Bank stand. Das Mädchen … die junge Frau … saß schon dort und sah ihm entgegen. Ihm wurde weh ums Herz. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, wie er glaubte, reichte er ihr die schönere der beiden Tassen, die, an deren Hand nicht überall scharfe Scharten vom unachtsamen Spülen entstanden waren, und setzte sich neben seine Besucherin. »Du kamst also mal eben so vorbei – zufällig«, sagte er und nippte an seinem Tee. Er war noch sehr heiß. Es war besser, ihn etwas abkühlen zu lassen. Das sagte er ihr auch. »Ich mag keinen lauwarmen Tee«, erwiderte sie. Er zuckte zusammen. »Was ist?«, fragte sie. »Habe ich –« Er winkte ab. »Nein, nein, kein Problem. Es ist nur … ich kannte mal jemanden, für den konnte alles nicht heiß genug sein. ›Verbrenn dir nicht den Mund, Kind‹, habe ich immer gesagt. Aber sie hat dann auch nur gelacht wie du gerade und …« Seine Stimme erstick-
te. »Sie?« »Ein kleines Mädchen. Hübsch, nicht immer lieb, oft frech. Kurzum …« Er blinzelte sich eine Träne aus jedem Auge. »… perfekt.« Obwohl er gerade noch gewarnt hatte, den Tee zu trinken, solange er nicht abgekühlt war, fanden seine Lippen selbstvergessen wieder an den Tassenrand und schlürften vom Inhalt. »Wäre jetzt wohl so in deinem Alter … verflixt! Merkst du das auch? Irgendwas fliegt in der Luft … Pollen …« Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. »Wer war sie – deine … Tochter?« »Wie kommst du darauf?« Es klang erbost. Im ersten Moment. Aber dann nickte er. »Ja. Aber sie lebt nicht mehr. Ist jung … jung gestorben.« »Das muss schrecklich gewesen sein.« Er schielte zu ihr hinüber. Nickte. »Man verliert alles. Alle Kraft. Alle Lust. Aber man kann nichts tun. Nicht mal sich selbst … oh, ich war oft kurz davor, aber jedes Mal fehlte mir das letzte Quäntchen Entschlossenheit, es zu tun, ihr zu … folgen.« »Das darfst du auch nicht! Das hätte sie nicht gewollt!« »Sicher nicht.« Er nickte. Schwieg. Nach einer Weile fragte er: »Auch Kinder?« Er schüttelte den Kopf. »Unsinn. Bist so jung. Und wenn du welche hättest, wären sie bei dir …« »Ich will keine Kinder.« Er sah sie erstaunt an. »Keine Kinder? Warum? Jeder will doch …« Sie verneinte. »Wie ist deine Tochter gestorben?« »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es nicht?« »Nicht genau.« »Erzähl … natürlich nur, wenn du willst.« Er erzählte von der Initiierung und dass irgendetwas schiefgegangen war. Man hatte ihm nie gesagt, was. Er hatte lange darum gekämpft, wenigstens ihren Leichnam wiederzubekommen – vergebens. Sie nickte. »Und da wundert es dich, dass ich keine Kinder will?«,
fragte sie. Er überlegte lange. »Nein«, sagte er dann. »Es überrascht mich nur – wenige denken so … weit …« Sie zuckte mit den Achseln. »Hast du keine Frau?« »Sie starb schon vor meiner Tochter. Es gibt Krankheiten, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Fiel einfach um. Eines Tages.« Er schlürfte von seinem Tee. »Wenigstens blieb ihr so erspart, was ich erleiden musste.« Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Es durchfuhr ihn seltsam. Es war mehr als eine bloße Berührung. So viel Wärme, so viel Verständnis und Zuneigung, was da auf ihn überströmte. Er riss die Augen auf. Für einen Moment sah er Moira vor sich. Aber es konnte nicht sein. »Wo immer sie jetzt ist, sie hat dich lieb. Und sie würde nicht wollen, dass du dich ewig grämst. Ich denke, es geht ihr gut. Sie hat eine Aufgabe, hat ihre Bestimmung gefunden, in der sie aufgeht …« »Was redest du da?« Er stand auf, als sie aufstand. Sie stellte die Tasse auf der Bank ab. »Danke für den Tee.« Er schluckte, räusperte sich. »Sag«, versuchte er, sie noch etwas zum Bleiben zu bewegen. »Kennen wir uns? Haben wir uns schon irgendwo gesehen? Ich wüsste zwar nicht, wo, aber …« Sie lächelte. Als sie ging, sah es aus, als würde sie schweben. Moira, dachte Fahfre und stellte sich vor, sie wäre es tatsächlich. »Leb wohl, alter Mann … du warst ein guter Vater. Ich bin sicher, sie dachte so.« »Sie …« »Moira. Dein Kind.« Sie ging. Fahfre hatte keine Kraft, ihr nachzulaufen. Keine Kraft zu fragen, woher sie den Namen seiner Tochter kannte. Er wollte glauben, dass sie gekommen war, um ihn zu besuchen.
War in dieser Welt Platz für Engel? Er entschied, ja. Als er an diesem Abend all seinen Mut zusammengenommen hatte und an Majas Tür klopfte, öffnete ihm die Hausherrin. »Fahfre … Was ist?« »Kann ich sie sprechen?« »Wen?« »Die Frau, die bei dir abgestiegen ist.« »Owana?« »Owana? Sagte sie, dass sie so heißt?« Er schüttelte den Kopf. »Aber das stimmt nicht. Es ist … ja, denk ruhig, ich sei übergeschnappt, aber ich weiß, dass es wahr ist … es ist meine Tochter! Moira! Sie ist gar nicht tot … Sie haben sich geirrt damals.« Er wollte Maja beiseiteschieben. »Ist sie da drin?« Maja widerstand seiner Hand. »Sie ist nicht mehr da.« »Nicht mehr da? Aber …« »Ich habe mich auch gewundert. Sie war spazieren, und als sie wiederkam, war sie irgendwie verändert. Sie sagte, sie habe es sich überlegt, wollte doch lieber noch ein Stück weiter. Ich konnte sie nicht zwingen, hierzubleiben, oder?« Fahfre drehte sich um. »Wohin ist sie gegangen? In welche Richtung?« Maja zeigte dorfauswärts. »Aber das ist Stunden her. Du wirst sie nicht mehr einholen.« Fahfre war wie betäubt. Die nächsten Tage, Wochen und Jahre wartete er auf Moiras Wiederkehr. Bis zu seinem Tod hoffte er. Wenigstens das hatte sie ihm schenken können. Die Frau, die ihm die Wahrheit nicht hatte sagen dürfen – um nicht alle zu gefährden, die ein Leben in den Schatten führten. Ohne das Stigma, das sie zeitlebens zu Gefangenen machte, zu seinen Sklaven … Reuben Cronenberg, das Monster aus der Vergangenheit, hatte viele Feinde. Er wusste es nur noch nicht.
4. GEGENWART Erschütterungen Der Prior geruhte, sich beißen zu lassen. Um ihn her schimmerte der Thronsaal der Residenz in amethystviolettfarbenem Licht. Sanfte Klänge aus verborgenen Lautsprechern berieselten Reuben Cronenberg, während die handspannengroßen Putzerschleichen sich um seinen grotesk fetten Körper wanden, sich zwischen die überlappenden Wülste schlängelten, eine Weile darin verborgen blieben, dann aber wieder herausglitten, um sich dem nächsten Wulst zuzuwenden. »Vater …« Cronenberg hob die trägen Lider, die noch schwerer als beim letzten Öffnen geworden zu sein schienen, gerade so, als hätte jemand an unsichtbaren Fäden Gewichte daran aufgehängt. L'lewed stand am Fuße des Sockels. Sein Gesicht unterhielt Cronenberg auch nach so langer Zeit noch bestens. In die gerade noch fast teilnahmslosen Augen trat ein Funke von Interesse. »Sohn … so früh hatte ich dich nicht erwartet«, wandte er sich an den Greis, der bei L'lewed keinen Zugriff mehr auf dessen Geist hatte, nicht mehr, und sich demzufolge nicht telepathisch mit ihm verständigen konnte. Obwohl auch L'lewed, wie jeder Hohlweltbewohner, mit den Fresszellen geimpft worden war. Diese Initiierung diente zu Cronenbergs Schutz, und darüber hinaus versetzte sie ihn in die Lage, jederzeit auf das geistige Potenzial von vielen Millionen Menschen zurückzugreifen. »Wenn ich störe …«, sagte L'lewed. »Nein. Nein … Tritt näher, wir müssen sprechen. Deshalb habe ich nach dir gerufen. Wie ist die Stimmung draußen?« Es war Geplänkel. Der Prior wusste, wie die Stimmung war. Wenn
nicht er, wer dann? Der endlose Zug der Pilger, der zum Turm und wieder von ihm weg verlief, war alle Tage gleich. Bei Wind und Wetter, bei Sonne, Regen oder Sturm. Sie kamen aus allen Teilen der Welt, brachten ihre Jüngsten, noch bevor diese das 6. Lebensjahr vollendet hatten. So war der Brauch. L'lewed erinnerte sich, wie er diesen schicksalhaften Weg gegangen war, an der Hand seiner älteren Schwester. Bis zum Turm war alles erträglich gewesen, aber in dem gewaltigen, himmelwärts strebenden Bauwerk selbst … Noch heute schüttelte es ihn, wenn er sich die verschwommenen Bilder ins Gedächtnis rief. »Wie alt bist du, Sohn?« »Hundert mal hundert Jahre.« »Eine lange Zeit.« »Die ich Euch zu verdanken habe, ehrwürdiger Vater.« Cronenberg gluckste. Das Gesicht des Jungen, der vor ihm stand, strahlte ihn so faltenlos und vital an, dass er hätte neidisch werden können. Aber er hatte andere Vorzüge, war einzigartig. Kein anderes intelligentes Geschöpf vermochte, was er vermochte. Der Thronsaal war sein ewiger Kerker … aber nur, was seinen unansehnlichen, katastrophal gewucherten Körper anging. Seinem Geist hingegen … standen alle Türen offen. Türen in jeden beliebigen seiner Untertanen. Entfernung spielte dabei keine Rolle. Der lange Arm des Priors – oder besser: sein Auge, sein Ohr – reichte noch über Lichtjahrabgründe hinweg. Nein, er hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Dies hier war mehr, als er sich je hatte erhoffen dürfen, damals, in den fernen Jahren eines längst der Vergessenheit anheimgefallenen Kalenders. Er, Reuben Cronenberg, prägte das Gesicht der Welt, seit er im einstigen Gigahirn dieser Residenz aufgegangen … mit ihm verschmolzen war. Doch diese Vereinigung war nicht das einzige Geheimnis seiner Unsterblichkeit. Er, L'lewed, kannte den Grund. Ihm, L'lewed, hatte Cronenberg es mit zu verdanken, dass er heute noch sein durfte.
»Ich verdanke dir gewiss auch hundert Mal hundert Jahre, mein Sohn, wahrscheinlich mehr. Viel, viel mehr. Und solange es in meiner Macht steht, werde ich dich davon partizipieren lassen. Wenn nicht du, wer hätte es dann verdient? Wenn du wüsstest … aber was rede ich, du weißt es natürlich … wie gering die Ausbeute der anderen Sucher in all den Zeiten war.« »Die Zone scheint ausgelaugt«, erwiderte L'lewed. »Ihr wisst, Vater, dass ich es auch noch einmal wissen wollte und mein Möglichstes gab … allein, es war vergebens. Die Zeit der Anomalien ist offenbar vorbei. Ich fürchte um Euch …« Cronenberg lauschte in sich. Er wollte es nicht wahrhaben, aber da lauerte tatsächlich, gut zugedeckt, aber nicht begraben, Furcht in ihm. Furcht, wie sonst nur die Niederen sie kannten. »Vielleicht. Vielleicht hast du recht, und sie ist ausgelaugt, erschöpft – die Zone«, krächzte Cronenberg. Dazu hob er etwas an, das einmal ein simpler Menschenarm gewesen, nun aber zu einer grotesken Masse verkommen war, und winkte L'lewed damit näher zu sich heran. »Bleib ein wenig und leiste mir Gesellschaft. Lass uns schwelgen. In Erinnerungen. Weißt du noch, wie wir uns kennenlernten, persönlich kennenlernten, hier oben? Wie du das erste Mal zu mir kamst?« L'lewed nickte. »Ich erinnere mich an alles, als wäre es gestern gewesen. Es begann in der Zone. Alles begann in der Zone – ohne sie hätte ich nie Eure Gunst erlangen können … Vater.« Cronenberg gluckste. »Komm. Noch näher. Setz dich, wo immer es dir beliebt. Ich lasse sie noch einmal auferstehen. Die vergangene Zeit. Die Tage, die nur noch in deinem und meinem Gedächtnis leben …« L'lewed sträubte sich nicht dagegen. Obwohl nicht alles schmerzfrei war, was der Große Vater ihm im Laufe der Zeit an eigenen Gedächtnisinhalten zugänglich gemacht hatte. »Ich beginne jetzt …« Und L'lewed schloss die Augen, ließ sich von gelebtem Leben überrollen. Es war, als wäre er wieder mittendrin …
… in der Zone. Doch unerwartet schnell wurde er wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Er und der Prior. Etwas geschah. Etwas, das Reuben Cronenberg zwang, den Systemalarm auszulösen …
Der Weltraum erzitterte zum ersten Mal, als Falstaff gerade die Neutrinoröhre des erbeuteten Raumschiffs überprüfte und die Ergebnisse auf der Nachrichtenmatrix vermerkte, die er weisungsgemäß zur Residenz abstrahlte. Falstaff wurde schwindlig. Sein Körperverbund drohte sich aufzulösen, und zwar unkontrolliert. Nachdem er die Übelkeit, die diesen Vorgang begleitete, endlich so weit niedergekämpft hatte, dass er wieder handlungsfähig war, taumelte er aus dem Maschinenraum. Er wuchtete sich in eine bereitstehende Expresshülse, die ihn innerhalb weniger Augenblicke in die Schiffszentrale schoss, wo ihn Kardelen bereits erwartete. Im Gegensatz zu Falstaff kämpfte der jedoch nicht – zumindest nicht erkennbar – um seinen inneren Zusammenhalt. »Was ist passiert?«, keuchte Falstaff, während sein Blick den Rundum-Bildschirm absuchte, der eigentlich für die Facettenaugen einer außerirdischen Lebensform gemacht war. Doch er taugte auch für menschliche Sehorgane. Wie so vieles andere an Bord der eroberten Schiffe. »Ich weiß es nicht. Das Zentrum der seismischen Aktivität liegt außerhalb.« Mit außerhalb meinte er die Oortschale, die den Erde-Luna-Komplex wie ein steinernes Korsett umgab. Über so lange Jahrtausende hatte es die Heimat vor Entdeckung geschützt und für vermutlich im ganzen Kosmos einzigartige Umweltbedingungen gesorgt. Vor einiger Zeit jedoch war dieser Schutz löchrig geworden. Es war zu Übergriffen von außen gekommen. Zuletzt hatten X-förmige Raum-
schiffe mit insektenartigen Intelligenzen die Oortschale angegriffen und ihr Lücken zugefügt. Sie hatten dafür gebüßt. Falstaff war auf das Geleistete ebenso stolz wie jeder andere Fraktale. »Wie weit außerhalb?«, fragte er. Kardelen spielte bereits die Daten ein, die die Raumschiffsensoren ermittelt hatten. »Weit«, sagte er. »Der Sektor ist speziell und wird im Regelfall gemieden. Du weißt, warum.« Falstaff brauchte nur einen kurzen Blick auf die Zahlenkolonnen zu werfen, um die Positionsdaten zuordnen zu können. »Ist der Prior verständigt?« Kardelen starrte ihn an, als hätte er gefragt, ob die Oortschale rund sei. »Selbstverständlich. Er weiß, was wir wissen – was für eine absurde Frage.« Falstaff hatte das Gefühl, wieder von Schwindel erfasst zu werden. Dazu überfiel ihn Scham. Kardelen hatte recht, natürlich. Eine Fragestellung, wie er sie vorgebracht hatte, entbehrte jeglicher Logik. »Geht es dir nicht gut?«, fragte Kardelen auch schon. »Es ging mir schon besser. Spürst du nichts? Gar nichts?« Kardelen sah ihn fragend an. Falstaff rief noch einmal die aufgezeichneten Messresultate der Schiffsortung ab, dann sagte er: »Die zeitliche Übereinstimmung kann kein Zufall sein. Ich habe nie zuvor an dergleichen gelitten …« »Wovon sprichst du?« »Die Aktivität auf Höhe der Bahn des Wurmlochs … Als die Erschütterung des Raumzeitgefüges dort zum ersten Mal auftrat … glaubte ich, ein Beben in mir drin zu spüren. In meinem Kopf, nein, in jeder einzelnen Zelle meines Körpers!« »Es ist … als würde ich beginnen, auseinanderzubrechen. Aber nicht willentlich, wie während eines Kampfes, sondern unfreiwillig.« Falstaff hatte Schweiß auf der Stirn stehen, Schweiß, der wie ein öliger Film aussah und dem ein unangenehmer Geruch anhaftete. Kardelen sah ihn entsetzt an. »Du musst dich untersuchen lassen.« »Ich weiß. Ich kenne meine Pflichten.«
Noch während sie sprachen, traf eine Botschaft ein, die ihnen beiden zugleich in die Gehirne gepflanzt wurde. Wie viele Fraktale befinden sich an Bord? Für einen Moment war Falstaff außerstande zu sprechen. Die Aura, die jede einzelne Silbe der telepathischen Stimme umgab, zwang ihn fast in die Knie vor Ehrfurcht. Der Prior! Es war etwas völlig anderes, ihm Nachrichten zu schicken, als Nachrichten von ihm zu erhalten. »Sechshundertsechsundsechzig«, antwortete Kardelen bereits. 666 – der Prior liebte solche Zahlen. Einer der sechshundertsechsundsechzig fühlt sich an, als läge er im Sterben. Obwohl der Prior Falstaff nicht beim Namen nannte, hatte der keinen Zweifel, dass nur er gemeint sein konnte. Kardelen warf ihm einen bitteren Blick zu. Zugleich sagte er, an den Prior gewandt: »Es gab einen Zwischenfall, Excellence. Ich habe noch keine näheren Informationen dazu, aber vielleicht wisst Ihr …« Ich lausche und blicke in meine Kinder. Aber nicht in tote Dinge. Es ist richtig: Etwas geht vor, draußen, jenseits des steinernen Himmels. »Haben wir Erlaubnis und Befehl, das Problem zu klären, Excellence?« Falstaff hasste es, wenn Kardelen sich aufführte, als könne ihn nichts und niemand überraschen. Aber vielleicht musste man so sein, um überhaupt ein Alpha werden zu können. Ihr habt den Befehl. Aber kümmert euch auch um den Einen, von dem ich sprach. Sein Name ist … »… Falstaff«, ächzte Falstaff. Das Wort kam wie Erbrochenes aus seinem Mund. Er hatte keine Möglichkeit, es zurückzuhalten, weil in diesem Moment der Prior direkt auf ihn zugriff und sich seiner Zunge bediente. »Ich habe verstanden, Excellence. Danke für Euer Vertrauen.« Kardelen verbeugte sich ins Nichts. »Verschwinde aus der Zentrale!«, zischte er anschließend Falstaff zu. »Geh in deine Kabine und verlasse sie erst wieder, wenn ich es dir erlaube – das wird nicht vor unse-
rer Rückkehr sein.« Falstaff zögerte. »Mir geht es schon wieder besser.« Kardelens Augen funkelten ihn an. »Danach klang der Prior aber nicht – und du willst ihn doch nicht eines Fehlers bezichtigen?« Falstaff schloss kurz die Augen. »Nein«, sagte er dann. »Natürlich nicht.« Mit hängenden Schultern kehrte er dem Alpha den Rücken und fuhr mit der Expresshülse in den Mannschaftsbereich. Unterwegs bekam er mit, wie die ACHAT in Alarmbereitschaft versetzt wurde und Fahrt aufnahm. Ziel war der äußere Weltraum, der über so viele Jahrtausende hinweg tabu gewesen war für jeden Bewohner der Erde-Mond-Sphäre.
Kardelen stellte sich in den Steuerschirm. Technospürer, speziell begabte Psioniker, hatten die Funktionsweise der Beuteschiffe entschlüsselt und den Menschen zugänglich gemacht. Es war eine Technologie von atemberaubender Intensität. Wann immer Kardelen in den holografischen Steuerschirm trat – ein Feld unablässig interagierender Funktionen, die sowohl die Bordsysteme erfassten als auch den Weltraum über Millionen von Kilometer hinweg, und das war nur die Feinortung! –, fühlte er sich, als hätte er Vastapulver geschnupft. Die Kommandovorrichtung erweiterte die Sinne und sensibilisierte für die leiseste Veränderung auf dem Schiff und um es herum. Mit äußerster Konzentration gelang es Kardelen, den unschönen Zwischenfall mit Falstaff beiseitezuschieben. Zwischen ihnen beiden hatte eine unausgesprochene Rivalität bestanden, seit sie gemeinsam an Bord der ACHAT versetzt worden waren. Kardelen hatte immer den Eindruck gehabt, dass Falstaff ihm das Oberkommando über das Schiff neidete. Aber gesprochen hatten sie nie darüber. Und würden es auch niemals tun. Die aktuelle Entwicklung – worin der Grund auch immer liegen mochte – spielte Kardelens Ehrgeiz in die Karten, als unangefochtener Herr über die ACHAT zu gebieten. Natürlich war er dem Prior unterstellt, das waren sie alle. Aber der Prior, dessen war er sich si-
cher, schätzte die Art von Eifer, die Kardelen in jeder Sekunde seines Daseins praktizierte; Spötter meinten, sogar noch im Schlaf. Binnen kürzester Zeit war die Besatzung der ACHAT über den neuen Befehl informiert. Die Übertragungswege an Bord waren dank der zur Verfügung stehenden Technik kurz. Alles war schnell und effektiv handhabbar. Dass die Treymor ihnen dennoch eine Reihe ihrer Schiffe, mit denen sie den Angriff gegen die Oortschale geführt hatten, überlassen mussten, lag einzig und allein an der Natur der Kämpfer, mit denen sie es zu tun bekommen hatten. Fraktale. Ein Schreckenswort für jeden, der glaubte, sich mit der Menschheit anlegen zu müssen – davon war Kardelen überzeugt. Er selbst war ein Fraktaler. Die 665 anderen an Bord waren Fraktale … auch wenn einer von ihnen neuerdings an seltsamen Ausfallerscheinungen litt. Ausfallerscheinungen von solcher Ausprägung, dass der Prior über ihn wie über einen Verstorbenen gesprochen hatte … Gegen seinen Willen durchfuhr Kardelen ein Schauder. Die sensible Technik reagierte augenblicklich. Überall um ihn her leuchteten Warnsymbole auf. Jetzt war er gezwungen, Falstaff tatsächlich aus seinem Gedächtnis zu verbannen – zumindest bis zum Abschluss der Mission. Fast dankbar vertiefte sich Kardelen in die Kontrollmechanismen der ACHAT. Das Schiff nahm Fahrt auf, durchstieß ein von den Treymor erzeugtes Leck in der Oortschale … und beschleunigte jenseits des steinernen Himmels. Die ACHAT nahm Kurs auf die Koordinaten innerhalb des Sonnensystems, wo der Weltraum zu zittern begonnen hatte. Dort lag die Umlaufbahn eines Objekts, das sich wie ein Exot im Verbund der Planeten und Monde ausnahm. Ein Schwarzes Loch umkreiste die Sonne zwischen den Bahnen von Mars und Saturn. Vom Prior hatten die Fraktalen, die für den Weltraum ausgebildet worden waren, erfahren, dass dort, wo jetzt ein Anachronismus kreiste, früher der größte Planet dieses Systems sein Muttergestirn umlaufen hatte, ein Gasriese namens Jupiter.
Der Prior hatte diesen wundersamen verschwundenen Planeten noch erlebt. Doch dann war er von Aggressoren in das verwandelt worden, was noch heute dort zu beobachten war: ein gefräßiges Schwerkraftmonster, das durch Teleskope betrachtet aussah, als hätte jemand ein Loch ins Weltall gestanzt. Darauf nahm Kardelen jetzt Kurs, und leichte Unruhe befiel ihn, wenn er über die möglichen Ursachen für das »Zittern des Alls« ausgerechnet auf Bahnhöhe des verwandelten Jupiter spekulierte. Gleichzeitig aber brannte er auch darauf, die Ursache zu ergründen. Ein Erfolg würde seine Stellung beim Prior festigen. Und nach ihrer Rückkehr in den Heimathafen der ACHAT konnte er sich dann in aller Seelenruhe um Falstaff kümmern. Es gab immer Mittel und Wege, unliebsame Konkurrenten loszuwerden. Insbesondere, wenn sie bereits auf- und in Ungnade gefallen waren …
Falstaff fühlte sich isoliert und abgelehnt – und mehr noch, er war am Boden zerstört, weil er vom Prior selbst als tot bezeichnet worden war. Was hieß das? Er lebte – was genau sollte »tot« sein an ihm? Der Befehl, seine Kabine aufzusuchen und sie nicht mehr bis zum Abschluss der Mission zu verlassen, war von Kardelen allen Fraktalen an Bord vermittelt worden. Dennoch hielt Falstaff es nur wenige Minuten in der Abgeschiedenheit der spartanisch eingerichteten Wohnzelle aus. Ungeachtet der Konsequenzen, die sein Verhalten nach sich ziehen würde, verließ er die Kabine dann wieder und ging wankend zurück zur Zentrale. Er fühlte sich durch den Wolf gedreht, weil er noch immer jedes der von den Ortungen bestätigten »Beben« auch in sich erlebte. Erschütterung um Erschütterung durchlief ihn. Schweißgebadet langte er in der Zentrale an. Kardelen bemerkte sein Wiedererscheinen sofort. Aber statt Falstaff anzugehen, winkte er ihn fahrig zu sich. Karde-
len stand im Kommandoschirm, einem speziellen Licht, über das er Zugriff auf alle Schiffssysteme hatte. Der Bildschirm, der rund um die Zentrale verlief, zeigte dort, wohin Kardelens Blick gerichtet war, den Weltraum. Eingeblendete Markierungsringe hoben offenbar den Bereich hervor, der als Quell der seismischen Erschütterungen ermittelt worden war. »Es ist etwas Unvorhersehbares geschehen«, empfing ihn Kardelen, ohne seinen Blick vom Schirm zu wenden. »Ich kann nichts Spektakuläres erkennen – aber in mir …«, setzte Falstaff an. »Hier an Bord ist etwas Unvorhersehbares geschehen«, unterbrach ihn Kardelen. »Und … was?« »Wir alle wurden getrennt vom … Prior.« Falstaff dachte zuerst an den Schiffsfunk. Doch dann sah er, dass auch Kardelen unter körperlichen Beschwerden litt – und ein Blick in die Runde der anderen Anwesenden bestätigte, dass auch sie … litten. Falstaff erfasste instinktiv, was hier vorging. »Ihr spürt es auch … jetzt spürt ihr es auch … alle!« Kardelen nickte und rang um Fassung. »Wir sind im Zielsektor. Und hier begann es. Du hast es nur schon früher erspürt … Ich leite jetzt die Umkehr ein. Hier geht etwas vor, das –« »Der Prior wird nicht erfreut sein, wenn wir ohne Resultate heimkehren.« »Der Prior schweigt. Er erreicht uns nicht mehr. Wir sind ohne Stimme! Ohne Leitung … Du weißt, was das heißt!« »Es heißt …« Falstaff gab sich einen Ruck und straffte sich. »… dass unsere Eigeninitiative und -verantwortung gefragt ist. Ich bin dafür zu bleiben. Unser Auftrag lautet, die Ursache des Phänomens zu ergründen. Wenn wir das schaffen, ist uns die Hochachtung des Priors gewiss. Kneifen wir aber, erwartet uns allenfalls Verachtung. Wollen wir das?« Kardelen wirkte betroffen, all dies ausgerechnet von ihm, Falstaff, vor Augen geführt zu bekommen. Dann aber überwand auch er
sich. »Du hast recht – mein Respekt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sagen würde …« »Mir wäre es lieber, wenn du es auch so meintest.« Falstaff wies hin zum Bildschirm. »Die Beben in mir … und damit auch in euch, nehme ich an … kommen in immer rascherer Folge. Lässt sich das auch auf den Schirm bringen? Was sagen die Sensoren?« »Die Sensoren sagen das hier …« Kardelen nahm ein paar Justierungen vor, dann erschienen neue Markierungen in der Schwärze des Alls. »Alles konzentriert sich auf dieses Gebiet hier …« Eine neue Markierung – diesmal kein Beben, sondern das Schwarze Loch umrahmend, das die Stelle von Jupiter eingenommen hatte. »Dann ist dies die Ursache. Das Black Hole verändert sich. Vielleicht … wird es instabil …« Kardelen wirkte skeptisch, zugleich kämpfte er um sein inneres Gleichgewicht, wie offenbar mittlerweile jeder Fraktale an Bord. Die Einflüsse des Schwarzen Lochs – oder dessen, was dort vorging – unterbanden offenbar jedweden Kontakt des Priors zu ihnen – auch das war, wenn Falstaff es richtig einschätzte, beispiellos in der Geschichte. »Wir sollten näher heran.« »Noch näher?« Kardelens Stimme vibrierte vor Ablehnung. »Vielleicht gibt es ein bislang unentdecktes Objekt, das das Schwarze Loch als Ortungsschatten nutzt.« »Was für ein Objekt sollte das sein?« »Vielleicht ein Schiff der Treymor. Eine Vorhut, die für all die kundschaftet, die noch nachfolgen werden.« »Ich hoffe, du hast Unrecht – aber versuchen wir es. Mit aller Vorsicht.« Kardelen leitete die Kurskorrektur ein. Der Antrieb trat in Aktion. Die ACHAT beschleunigte mit Fabelwerten. Was für ein Schiff!, konnte Falstaff selbst in dieser Situation nicht umhin, Bewunderung zu empfinden. Bewunderung für einen Feind, der zu solchem in der Lage war. Dann aber verkehrte sich Bewunderung in einen Schwur: Und trotzdem werden wir euch besiegen! Wenn ihr es wagt, uns noch einmal
anzugreifen, werden wir euch wieder besiegen. Und wieder. Und wieder! Ein Fraktaler fürchtete sich vor nichts. Wie auch? Was konnte denn schlimmer sein als der Tod? Und den hatte jeder Fraktale bereits hinter sich …
»Was geht da draußen vor? Vater?« L'lewed war schockiert wie selten. »Sind es die, die uns schon einmal angriffen?« »Es könnte sein.« »Gibt es Attacken gegen den steinernen Himmel?« »Noch nicht. Die ACHAT ist, während sie unterwegs war, um Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, stumm geworden.« »Stumm?« »Sämtliche Gehirne an Bord versagen sich meinem Zugriff – fast wie damals, als ihr die Felorer entdecktet …« Die Erinnerung brandete über L'lewed hinweg und spülte die letzten Reste fremder Bilder hinweg, die der Prior ihm zugeführt hatte. Alles war noch so frisch, das Selbsterlebte … Chooms Tod … wie sie hinab gesunken waren zur verborgenen Stadt … wie es eingeschlagen war in Chooms ungeschützten Körper … »Was wollt Ihr dagegen unternehmen, Vater? Weitere Schiffe entsenden?« »Wir haben nicht endlos viele.« »Das ist mir klar.« »Ich muss sorgsam damit umgehen. Du weißt, die Spürer arbeiten daran, Matrizen zu erstellen, um die eigene Produktion in Gang zu bringen. Aber das kann … das wird noch dauern. Bislang war die Zeit mein Freund, meine Verbündeter. Doch alles ist im Wandel. Die Wirkung der Steine lässt nach. Vielleicht …« »Was, Vater?« »Vielleicht muss ich bald zu drastischen Mitteln greifen, um wenigstens mich selbst zu erhalten …« »Ich verstehe.« L'lewed verstand tatsächlich. Er und Choom hatten es schon vor vielen Jahren in Betracht gezogen, dass ihnen der Große Vater eines Tages ganz egoistisch die Kraft entziehen könnte,
mit der er ihre Leben schützte. Er hatte es nicht getan, lange nicht. »Ich bleibe Euch verbunden – bis in den Tod, Vater. Niemand hätte mir mehr gegeben als Ihr es tatet.« »Ich habe nicht mit Verständnis gerechnet, Sohn. Das macht es fast noch schwerer.« »Eine Bitte habe ich.« »Welche?« »Wenn es so weit ist – sagt es mir nicht, tut es einfach. Ich will gehen, ohne zu hadern.« »Ich verspreche es.« Damit wandte der Prior sich wieder dem zu, was nur eine Bedrohung sein konnte. Die ACHAT und ihre Besatzung schwiegen nicht zufällig. Niemals. Sie sind es. Sie sind zurückgekommen. Sie … wollen es wissen … Er versetzte auch die restlichen Schiffe in erhöhten Alarm. Sie verließen die Hohlwelt, blieben jedoch in einem bodennahen Orbit um die Hohlweltschale. Ortung!, verlangte Cronenberg. Ergebnisse! Er erwartete schlechte Nachrichten. Aber nicht, dass sie so schlecht sein würden …
Die ACHAT wurde zum Spielball unerklärlicher Gewalten, als sie eine unsichtbare Grenze über- und eine bestimmte Distanz zum Jupiter-Black-Hole unterschritt. Von einem Moment zum anderen ging ein Schlag durch das Schiff. Sämtliche Fraktalen an Bord wurden aus ihrem Verbund gesprengt. Es dauerte Sekunden, bis sie sich wieder in ihre Form gepresst hatten. Kardelen richtete sich benommen auf. »Was war das?«, ächte Falstaff. In die Schiffsinstrumente vertieft, antwortete Kardelen: »Das Schwarze Loch …«
»Was ist damit?« »Die Sensoren können es nicht mehr anmessen.« »Es kann nicht verschwunden sein!« »Die Instrumente behaupten das Gegenteil. Vielleicht waren die Beben, die wir spürten, das Höherdimensionale, das diesen Vorgang einleitete und ankündigte – wir wussten es bloß nicht zu deuten.« Kardelen suchte händeringend nach einer Erklärung, die alles abdeckte. Auch die gekappte Verbindung zum Prior. Plötzlich stöhnte er auf. »Was ist?« »Neue Situation«, rief Kardelen und zeigte auf den Panoramaschirm. Dort blitzte etwas auf. »Was ist das?« Es wurde immer größer. Obwohl es noch weit weg war. Und obwohl sein Licht Zeit brauchte, um bis zur ACHAT zu gelangen … »Weg! Notbeschleunigung! Kardelen – weg hier, sonst …« … verschlingt es uns, wollte er rufen. Aber Kardelen hatte bereits gehandelt. Die ACHAT beschleunigte mit irrwitzigen Werten. Das rettete sie … und alle an Bord …
»Eine was?«, fragte L'lewed entgeistert. Er glaubte sich verhört zu haben. Der Prior wiederholte geduldig. »So wird es mir gezeigt – ich blicke auf die Instrumente der erdnahen Schiffe. Ihre Ortungsresultate sind eindeutig, lassen keinen Spielraum.« »Aber Ihr sagtet gerade, Vater …« »… dass das Schwarze Loch, das einst aus Jupiter entstand, urplötzlich zu etwas anderem geworden ist. Zu einer Sonne von derselben Strahlkraft wie Sol …« »Aber das ist …« »Unmöglich, mein Sohn?« Der haarlose Schädel an der Spitze der enormen Körpermasse nickte. »Das sollte es sein, eigentlich. Aber
die Werte sprechen eine andere Sprache. Unser System hat seit …« Er machte eine kurze Pause. »… exakt achtundzwanzig Sekunden zwei Sonnen. Die zweite kreiste um die angestammte, dort wo vorher das Schwarze Loch war … Ich habe noch keine weiterführenden Fakten, geschweige denn eine Erklärung. Die Schiffe müssen näher heran …« Wieder schwieg er kurz. »Eine neue Hiobsbotschaft: Überall kommt es zu Ausfällen bei Fraktalen. Vorher berichten sie einhellig von sonderbaren Erschütterungen, die sie in sich spüren. Dann bricht ihr Verbund auseinander. Manche finden sich wieder, andere scheinen irreparabel geschädigt zu sein … Die ACHAT gibt wieder Lebenszeichen … Ich empfange Bilder von dort. Dasselbe Problem. Aber auch sie kämpfen dagegen an.« »Was geschieht da draußen, Vater?« »Falls wirklich die Treymor dahinterstecken«, sagte er, »haben wir ein Problem. Dann habe ich sie unterschätzt. Solche Macht habe ich ihnen nicht zugetraut.« »Du hältst es für denkbar, dass sie … die Sonne gezündet haben … und auch für alles andere verantwortlich sind?« »Wie ich schon sagte: Ich hoffe und wünsche es nicht, aber … Achtung: neue Aktivität!« L'lewed drängte darauf zu erfahren, was der Prior damit meinte. Aber der Große Vater konzentrierte sich jetzt ganz auf die Geschehnisse jenseits der Oortschale … Millionen Kilometer von der Erde entfernt. L'lewed war vergessen. Für den Moment jedenfalls. Und Cronenbergs Sinne reisten in jeden erreichbaren Wirtskörper, von dem er sich Aufschluss über das Fiasko versprach, das sich anbahnte …
Kardelen bemerkte es als Erster. »Ein Raumschiff!« Falstaff beugte sich vor … tief hinein in die Holoinstrumente. »Tatsächlich …«
Es löste sich aus der Korona der neu entstandenen Sonne. »Größe … Aussehen … Antriebsart …?« Kardelen stellte die Fragen, die er sich selbst am besten beantworten konnte. Weil er immer noch an vorderster Front stand. Die Informationsschauer der Sensoren regneten auf ihn herab. Erst wenn er die Freigabe erteilte und sie in den allgemeinen Schirm leitete, erfuhren auch andere, was vorging. Falstaff drängte unablässig, und Kardelen gab nach. Eine kurze Neujustierung der Anlage … und schon flutete alles ungeprüft und ungefiltert auf den Panoramaschirm. Im nächsten Moment keuchte er: »Der Prior!« Falstaff verfluchte das Gefühl, das ihm suggerierte, dass er immer noch von der Verbindung zum Großen Vater ausgeschlossen war. Irgendetwas schien irreparabel geschädigt zu sein in ihm – ausgelöst durch die Schockfronten, die der Sonnengeburt vorausgegangen waren? »Was sagt er?« »Wir sollen näher heran …« Falstaff riss die Augen auf. »Aber …« »Er erfährt gerade von unserer Sichtung … dem Raumschiff …« Falstaff hörte nicht länger hin. Seine Aufmerksamkeit wurde von dem Objekt gefesselt, das aus der Korona der Jupiter-Sonne hervorgetreten war. Es beschleunigte mit nie gemessenen Werten … und entfernte sich von der ACHAT, anstatt ihr entgegenzufliegen. Falstaff war erleichtert. Dann aber erkannte er, wohin das Schiff sich wandte. »Es hat Erdkurs genommen …«, schnappte er Wortfetzen aus Kardelens Bericht an den Prior auf. Er formulierte laut, wahrscheinlich um seine Gedanken zu fokussieren und es dem Großen Vater zu erleichtern, die Verbindung zu ihm aufrecht zu erhalten. Die Form des Schiffes entsprach nichts bislang Bekanntem – erst recht nicht dem Standard, den sie von den Treymor kennengelernt hatten. Es sieht aus wie mehrere frei nebeneinander gelagerte Ringe … fast wie
die Ringe des Saturn. Aber seine Größe ist … wenig spektakulär. Er las die Werte auf dem Schirm. Ein Messfehler, oder war das Schiff tatsächlich so klein? Durchmesser des äußersten Rings: achtzig Meter. Achtzig Meter. Ein Zwerg. »Sind weitere Schiffe zu erkennen?«, wandte sich Falstaff an Kardelen. In diesem Moment war ihm gleichgültig, ob der noch in Kontakt und Austausch mit dem Prior stand. Er wollte Informationen. So viele wie nur möglich. Seine eigene Person rückte in den Hintergrund, mögliche Strafen für sein Fehlverhalten nahm er billigend in Kauf … »Negativ«, erwiderte Kardelen überraschend kooperativ. »Der Prior hat sich zurückgezogen. Seine letzte Botschaft war, er konzentriert sich jetzt auf erdnahe Kräfte – zumal das fremde Schiff Kurs dorthin genommen hat.« »Es reagiert auf keinen Kommunikationsversuch«, las Falstaff aus den Einblendungen heraus, dass sich Kardelen darum bemüht hatte. Standardprozedere – zumindest, seit sie wussten, dass da draußen andere waren, mit denen es zur Konfrontation kommen konnte. Lange Zeit hatte es nur sie selbst gegeben – auch im Bewusstsein jedes Einzelnen. »Nein. Es ignoriert alles Bisherige. Fliegt stur seinen Kurs. Der Prior will es abfangen, notfalls vernichten. Die orbitalstationierten Schiffe haben klare Anweisung erhalten.« »Ist das nicht vorschnell …?« Noch während er es sagte, begriff Falstaff, dass er zu weit ging. Kardelens Blick schien ihn töten zu wollen. »Du lernst es nicht mehr, oder?« Falstaff schwieg, ging aber davon aus, dass Kardelen ihn nach der Rückkehr zur Erde anschwärzen würde. Er wusste nicht, warum es ihn nicht in dem Maße ängstigte, wie es der Fall hätte sein müssen. »Unsere Befehle?« »Dem Fremden folgen.«
Auch die ACHAT nahm Erdkurs. So wurde sie eingebunden in die Kampfhandlungen, die kurz darauf erfolgten … und deprimierend einseitig verliefen …
5. Eine neue Zeitrechnung Cronenberg versuchte sich vor der Vorahnung zu verschließen, aber tief in ihm drin rumorte es beträchtlich, und er fühlte, dass er einen historischen Moment erlebte. Das wahrhaft Epochale daran aber war, dass er zum ersten Mal seit Äonen nicht das Gefühl hatte, der Initiator dieses Moments zu sein. Etwas/jemand hatte ihm das Heft des Handelns aus der Hand gerissen. Wer? »Hoher Vater, ich –« »Schweig, L'lewed!« Er hatte ganz vergessen, dass sein Ziehsohn noch bei ihm war. »Es ist wichtig, dass ich mich jetzt nicht ablenken lasse – auch nicht von dir.« »Soll ich Euch allein lassen?« »Nein. Nur still sein sollst du. Ich sage es dir, wenn die Krise … bereinigt ist.« »Ich habe verstanden.« Daran zweifelte Cronenberg nicht. L'lewed blieb gar nichts anderes übrig, als sich seinem Verlangen zu beugen. Wieder tauchte der Prior hinein in die Hirne der Fraktalen, die draußen im All, außerhalb der Oortschale, auf Abfangkurs zu dem Systemeindringling gegangen waren. Ein fast winziges Raumschifflein … Cronenberg hatte Mühe, dem Drang zu widerstehen, es zu unterschätzen. Aber etwas in ihm wollte den Gegner klein halten. Zugleich war da dieses Rumoren, das zunehmend anschwoll und ihn warnte. Das, was dem Erscheinen des fremden Schiffes vorausgegangen war, gab allein schon mannigfach Anlass zur Sorge. Etwas/jemand hatte eine zweite Sonne im System installiert? Auf
Höhe der ehemaligen Jupiterbahn? Die Ortungsergebnisse der Beuteschiffe sprachen eine eindeutige Sprache. All dies erinnerte Cronenberg geradezu schmerzhaft an jene Tage, die inzwischen Jahrzehntausende zurücklagen. Als die Keelonmaster zur Invasion auf die Erde angesetzt hatten. Erst war Jupiter »gefallen« … in der Form, dass eine Lichtjahre weit überlegene Technologie ihn in ein Black Hole mit Wurmlochcharakter verhandelt hatte. Und aus diesem Wurmloch waren bald darauf die Äskulapschiffe der Eroberer gekommen … Parallelen gab es also durchaus. Mindestens ebenso viele wie Unterschiede. Diesmal hatte sich ein Black Hole in eine Sonne verwandelt. Und statt einer ganzen Armada war aus ihr eine Konstruktion hervorgekommen, die gerade mal achtzig Meter im Durchmesser aufwies und die aus mehrfach gestaffelten Einzelringen zu bestehen schien. Ein Raumschiff(lein) war es zweifellos, aber es strahlte weder Bedrohung noch besondere Stärke aus. Ich lasse mich schon wieder aufs Glatteis führen, dachte Cronenberg. Je näher das Schiff der Hohlwelterde kam, desto mehr wuchs in Cronenberg die Überzeugung, dass er sich jetzt keinen Fehler erlauben durfte, sonst … Immer noch keine Kommunikation möglich?, wandte er sich an die Führer sämtlicher X-Schiffe. Die Antwort lautete überall gleich. Auch von der verfolgenden ACHAT, die dem neuen Stern im System am nächsten gekommen war und nun dem Fremdschiff hinterher flog, kam ein kategorisches Nein. Der oder das Fremde machte keine Anstalten, das Konfliktpotenzial zu senken. Es steuerte weiter auf hartem Konfrontationskurs. Jedem anderen hätte Cronenberg Lebensmüdigkeit unterstellt – hier blieb er, für sich selbst überraschend, zurückhaltend. Einiges sprach dafür, dass dieses Fahrzeug, das nur noch eine knappe Million Kilometer von der Erde-Mond-Sphäre trennte … und das jetzt noch einmal beschleunigte, wie die Schiffssensoren soeben meldeten, Selbstbewusstsein nicht nur vorgaukelte.
Das war kein Bluff. Das war … demonstrierte Überlegenheit …? Cronenberg zögerte, den Feuerbefehl an seine Schiffe zu erteilen. Was ihn zögern ließ, war zum einen die Angst vor einem Ergebnis, das seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte … zum anderen aber auch die Sorge, dass das Schifflein in der ersten Salve vergehen könnte und er nie erfahren würde, wer oder was sich mit welchen Absichten an Bord befunden hatte. Die zweite Variante erschien ihm jedoch zunehmend vernachlässigbar. Weil das Ringschiff nach einem mühelosen Zwischenspurt plötzlich wenige zehntausend Kilometer über der Oortschale auftauchte und im Bruchteil einer Sekunde … von Maximalgeschwindigkeit auf vollkommenen Stillstand abbremste. Nichts, was Cronenberg jemals gesehen hatte – oder von dem er auch nur Gerüchte gehört hätte –, vermochte so etwas. FEUER!, befahl er seinen Kräften, als der Vorwärtsdrang des Eindringlings untolerierbar wurde.
Die Plasmakanonen der X-Schiffe schickten Stoßfronten aus Tod und Verderben gegen das kleine Ringschiff. Das konzentrierte Feuer und die dabei freigesetzte Energie hätte ein anderes X-Schiff mühelos zerrieben. Hier aber … Wie kann das sein?, dachte Falstaff … sah es aus, als perlten sämtliche Gewalten an der Außenhülle des Ringschiffs ab – wie Wassertropfen von einer Wachsschicht. Sie wurden in den umliegenden Weltraum abgeleitet, wo die Plasmafahnen rasch abkühlten und verwehten. Damit war bereits die mächtigste Waffe eines X-Schiffes zum bloßen Spielzeug degradiert. »Neue Befehle?«, keuchte Falstaff in Kardelens Richtung. Dem Führer der ACHAT stand mehr als bloßer Schweiß auf der Stirn – im unwirklichen Schein des Steuerlichts sah es fast so aus, als schwitze er Blut statt Wasser. Als Kardelen nicht antwortete, begriff Falstaff, wie ernst die Lage
war. Den Rest an Erkenntnis brachte ihm der Blick auf den Panoramaschirm, wo die Aktivitäten und Resultate abgebildet waren, die die anderen X-Schiffe erzielten. Zero. Bei null lag die »Erfolgs«quote. NULL. »Wir –« Falstaff wollte erneut dazu ansetzen, von Kardelen etwas über die neuen Befehle des Priors zu erfahren, als er stutzte. Aber es war kein Irrtum, die Anzeige auf dem Panoramaschirm war eindeutig. Das Ringschiff hatte wieder Fahrt aufgenommen, näherte sich der Oberfläche der Oortschale und strich in gerade mal fünfhundert Kilometern Abstand darüber hinweg, als … … als suchte es eine Möglichkeit zum Durchschlüpfen. Ein Leck …, dachte Falstaff. Die ACHAT hatte jetzt zu den anderen X-Schiffen aufgeschlossen. Distanz zum Ringschiff: variierend, dank permanenter Schubkorrektur aber nicht größer als dreißigtausend und nie geringer als zwanzigtausend Kilometer. Damit sind wir die Einheit, die dem Fremden am nächsten ist, dachte Falstaff. Er bezweifelte, dass das ein gutes Omen war. Neben ihm krümmte sich Kardelen plötzlich, als hätte ihm jemand ein spitzes Eisen in den Unterleib gerammt. Keuchend richtete er sich wieder gerade auf. Seine Lungen arbeiteten wie ein löchriger Blasebalg. »Was ist los? Soll ich übernehmen?« Falstaff drängte ihm bereits entgegen. Aber Kardelen trieb ihn zurück. »Lass mich. Es ist alles … in Ordnung.« Er schürzte die Lippen. »Soweit etwas in Ordnung sein kann, wenn …« »Was ist los? Neue Befehle?« Kardelen nickte krampfartig. »Der Prior hat uns auserkoren.« »Uns?« »Die ACHAT.« »Wozu ›auserkoren‹?«
»Ich habe den Befehl erhalten, es auf andere Weise zu versuchen als mit den offensichtlich wirkungslosen Bordwaffen – und zwar solange das Feindschiff noch diesseits der Oortschale ist.« »Aber wenn wir keine Waffen mehr einsetzen …« »Wir haben den Befehl, auf Kollisionskurs zu gehen«, unterbrach ihn Kardelen. »Mit anderen Worten: Wir sollen den Feind rammen.«
Cronenberg blickte durch viele Augen auch durch die von Kardelen an Bord der ACHAT. Der Kollisionsbefehl war ein letzter verzweifelter Versuch, doch noch eine Wirkung bei dem Ringschiff zu erzielen, es möglichst zu vernichten. Je länger diese Demonstration ungleich verteilter Macht andauerte, desto mehr verging dem Prior die Lust, die Insassen des Ringschiffs kennenzulernen. Er hielt es sogar möglich, dass es gar keine Besatzung hatte, sondern einfach nur eine Maschine war … eine Maschine, die dazu gebaut worden war, selbst stärkster Gegenwehr zu trotzen und die sich im entscheidenden Moment als Bombe entpuppen würde, die alles in einem bestimmten Radius mit sich ins Verderben reißen würde. Darum hatte er die Attacke noch außerhalb des steinernen Himmels befohlen. Möglich, dass die Distanz, die die Bewohner der Erde-Mond-Sphäre geschützt hätte, bereits jetzt unterschritten war – aber ihnen blieb keine andere Chance. Jetzt oder nie!, dachte Cronenberg düster und in dem Bewusstsein, vielleicht selbst gleich in seine Atome zerblasen zu werden – je nach Wirkungsgrad der freigesetzten Energie. Die ACHAT, das sah er durch Kardelens Augen, raste wie ein Geschoss auf das Ringschiff zu … … und erreichte es in diesem Moment mit einer Geschwindigkeit von mehr als tausend Kilometern pro Sekunde. Die freigesetzte kinetische Energie hätte ausgereicht, einen der kleineren Monde zu spalten.
Kardelens Tod und der der übrigen Besatzung der ACHAT wurde zum kurzlebigen Feuerwerk in Cronenbergs Geist. Als es erlosch, erfuhr er von anderen Stimmen, dass auch dieser Versuch mit Brachialgewalt … gescheitert war. Das Ringschiff bewegte sich in unverändertem Abstand zur Oortkugel, während von der ACHAT nur noch eine fluktuierende Trümmerwolke zeugte …
Das Ringschiff durchstieß eines der Löcher, die die Treymor in den steinernen Himmel gesprengt hatten, und drang in den Konkavraum vor. Cronenberg war wie gelähmt. Nicht einmal die Aufopferung der ACHAT hatte auch nur den kleinsten registrierbaren Erfolg bei diesem Gegner erzielt. Das sind keine Treymor, dachte er. Aber wer dann? Die letzte verbliebene reguläre »Waffe« waren die Fraktalen, die er dem gegnerischen Fahrzeug entgegenzuwerfen versuchte. Mithilfe ihrer psionischen Kräfte lösten sie ihre Körper in Tausende und Abertausende Partikel auf und ließen sich dem Ringschiff entgegentreiben. Doch statt die Hülle des Objekts zu durchdringen, wie sie es bei den X-Schiffen vermocht hatten, prallten sie daran ab, wie zuvor schon das Plasma der Geschütze. Es gab kein Durchkommen, in keinem »Aggregatzustand«. Das Ringschiff steuerte indes den ehemaligen nordamerikanischen Kontinent an. Cronenberg war klar geworden, dass es nicht »blind« flog, sondern auf Daten zurückgriff, die ihm eine Orientierung ohne lange Suche und eigene Erkundung ermöglichten. »Wir können es nicht aufhalten. Es ist … unangreifbar.« Es war das erste Mal seit Minuten, dass er wieder zu L'lewed sprach. »Vater?« »Wir bekommen Besuch, mein Junge. Mach dich besser schon mal
darauf gefasst …«
Das Ringschiff schwebte – wie schon seit seiner Entdeckung – auch jetzt ohne erkennbaren Antrieb über Meer und Land. Innerhalb von Minuten hatte es Cronenbergs Residenz, eines der ausgedienten Äskulapschiffe der Keelon, erreicht. Hier bezog es Position über der Spitze des Bauwerks, das die Menschen als »Wolkennadel« verehrten, auch wenn es die Wolken nicht ganz erreichte. Es war stets das Wahrzeichen von Cronenbergs Macht gewesen, nun aber dokumentierte es nur noch seine Ohnmacht. Er rechnete mit allem, was Gewalt und Terror an Facetten bereithielt. Was für ihn keine Option im Dickicht der Möglichkeiten war – keine vorstellbare zumindest –, war etwas, das sich letztlich als harmlos erweisen würde. Dazu war zu viel passiert. Niemand kam und ließ sich unter Feuer nehmen, um dieses feindselige Engagement am Ende auch noch zu belohnen. Nein, im Grunde rechnete der Prior jeden Moment damit, dass das Ringschiff Schleusen öffnete, die Tod und Vernichtung auf die Residenz und alles, was sie beherbergte, herabregnen lassen würden. Unten in der Stadt, die sich über Jahrtausende um die Wolkennadel herum gebildet und erweitert hatte, war längst offene Panik ausgebrochen. Menschen rannten schreiend durch die Gassen und versuchten das offene Umland zu erreichen. Viele schafften es nicht einmal im Ansatz, wurden von anderen zu Fall gebracht und zu Tode getrampelt. Jeder Sterbende ein Nadelstich in Cronenbergs Wahrnehmung. Er war mit jedem Initiierten verbunden. Und er musste an sich halten, sich das Chaos nicht aus immer anderen Augen anzusehen, es sozusagen »live« mitzuerleben, als renne er selbst mit all den Menschen um sein Leben … »Vater …« L'lewed riss ihn aus seinen Gedanken. »Junge?« Die Gesichter wechselten auf L'lewed Antlitz wie lange nicht mehr, auch ihm machte die Furcht zu schaffen. Er hatte sich so we-
nig unter Kontrolle wie in den ersten Tagen, als die Anomalie ihn infizierte. »Werden wir sterben?« »Wir werden sterben«, erwiderte Cronenberg und zwang sich zu einem ruhigen Ton. »Ob schon jetzt oder erst in Jahren … ich weiß es nicht. Es liegt nun nicht mehr in unserer Hand.« Mit einem Mal schüttelte ihn ein heiseres Lachen. »Vater, was ist?« Er kam wieder zu Atem. »Ich musste nur gerade daran denken, dass ich mir wohl völlig unnötig Sorgen um das Nachlassen der Zeitsteine in mir machte. Etwas nimmt mir … und damit auch dir, Junge … gerade dieses ›Luxusproblem‹ ab.« Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment sah er durch die Augen mehrerer Adepten, die auf seine Weisung hin auf die Balkone hinausgetreten waren, obwohl sich alles in ihnen dagegen sträubte, dass das Schiff begonnen hatte, sich herabzusenken. Die Öffnung des kleinsten, innersten Rings reichte aus, um das Turmende »einfädeln« zu lassen. Es glitt so weit daran herab, bis es aufsetzte. Eng an die Außenwand der Residenz anliegend, kam es zur Ruhe und sah jetzt aus wie die Krempe eines spitzen Hutes. Cronenberg wechselte zu seinen eigenen Augen, die hinter Fettwülsten fast verschwanden, aber immer noch klare Bilder des Thronsaals lieferten. Während er auf die Wand blickte, wurde ihm bewusst, dass dies ungefähr die Höhe war, in der das Schiff »angelegt« hatte. Und noch während ihm dies klar wurde, löste sich der Teil der Wand, auf den er gerade starrte, in einem bemerkenswerten Effekt auf. Es sah aus, als verflüssige sich das Metall, ohne Hitze zu entwickeln und ohne einfach herabzutropfen. Es wurde einfach weich und … durchlässig … und im nächsten Moment trat eine Gestalt durch es herein in den Thronsaal. Ein Humanoide. Aber weder menschlich noch mit irgendetwas vergleichbar, was sich über die Äonen in Cronenbergs Gedächtnis niedergeschlagen hatte. L'lewed schrie kurz auf. Ein Schrei, der aus den tiefsten Tiefen sei-
ner Seele hervorzubrechen schien. Dann verstummte er wie abgeschnitten. Er sank auf die Knie und ließ sich neben dem Großen Vater zu Boden sinken, rollte sich ein wie ein Embryo … schluchzte.
Er sah aus wie geronnene Dunkelheit … Cronenberg wusste nicht, warum der Anblick gerade diese Assoziation in ihm hervorrief, aber offenbar empfand er so bis tief in sein Unterbewusstsein hinein. Er war aber auch groß, fast ein Riese. Einen aufrecht stehenden Menschen hätte er um etwa zwei Haupteslängen überragt. Ich bin da kein Maßstab, dachte Cronenberg. Erstens sitze ich erhöht auf meinem Thron, und zweitens habe ich enorm an Masse zugelegt … die ursprünglich nicht meine eigene war. Erstaunlich nur, dass er trotz seiner stark erhöhten Position auf »Augenhöhe« mit dem Fremden war – nur dass jener Fremde Augen vermissen ließ. Ölig schwarz schimmerte sein Körper vom Scheitel bis zur Sohle. Die athletische Figur wurde von den Muskelbündeln unterstrichen, die sich reliefartig unter seiner Haut abzeichneten. Er wirkte nackt, aber ein Geschlechtsteil war nicht zu erkennen. Dort, wo es bei einem Mann – und als solcher trat er insgesamt auf, die pure Männlichkeit, was seine Statur anging, schlechthin – positioniert gewesen wäre, war nur glatt schimmernde Haut. Und erst der Kopf, keine Augen, kein Mund, keine Nase, keine Ohren – nur … ein senkrechter Schlitz, der sich ab und zu wie unter Atemwegen rautenartig verformte, mal breiter wurde, dann wieder strichdünn. Vornehmlich dort am Kopf erschienen auch immer wieder seltsame Lichtschimmer, als spuke unter der Haut etwas herum, das Glutröte streute … mal hierhin, mal dahin. Ansonsten dominierte die Schwärze, die feucht glänzte und doch bei genauem Hinsehen trocken wirkte, staubtrocken … Gemessenen Ganges kam der Fremde auf Cronenberg zu. Seine Schritte verursachten keinen Klang auf dem Boden, der überall Risse und Unebenheiten aufwies. Ausläufer des Gigahirns quollen hier und da hervor, bildeten Zellhaufen, Verknotungen … Fallstricke –
denen der Unbekannte niemals auswich, niemals ausweichen musste, weil die Hindernisse vor ihm zurückwichen. Für Cronenberg, der mit der lebenden Masse verbunden war, fühlte es sich jedes Mal an, als durchliefe ihn ein schwacher Stromschlag. Dennoch hielt er alles zurück, was die Situation vollends aus dem Ruder hätte laufen lassen können, Adepten und Fraktale hielten sich im Hintergrund, zumal er sich keinerlei echte Hilfe von ihnen versprach. Die größte Angst war sonderbarerweise aus ihm gewichen. Nun obsiegten Neugier und ein nie ganz zu unterdrückender Hang zur Überheblichkeit. Die Angst stand dir gut – bewahre sie dir doch noch ein wenig. Sie gefällt mir. Er wusste, dass das nicht seine Gedanken waren. Etwas stahl sich in seinen Geist. Mühelos. Ironisch. Im Ansatz sogar … zynisch. Ich bin nur noch hier, wandte er sich an den Dunklen, weil ich, wie du siehst oder längst weißt, gar nicht weg könnte. Mit Mut hatte es nie zu tun – es freut mich, dass dir das nicht zuwider ist. Wer immer du bist. Nun musste sich zeigen, ob dies die Art von Kommunikation war, die bei dem Fremden fruchtete. Zu seiner Überraschung verlegte der sich aber nunmehr aufs Verbale. »Ich heiße Croxgk.« »Ich hoffe, ich werde nie gezwungen sein, das zu buchstabieren.« Er schnitt eine Grimasse. »Meinen Namen kennst du?« Er zeigte keine Überraschung darüber, dass der Fremde seine Sprache so perfekt und akzentfrei beherrschte, als wäre er auf der Erde geboren. »Ich kenne ihn.« »Was ist der Grund deines … Kommens, Croxgk? Haben die Treymor dich geschickt?« »Die Treymor … geschickt? Wie könnten sie einen wie mich schicken?« »Ich weiß es nicht. Es war nur eine Frage. Der Gedanke ging mir durch den Kopf.« »Er ist blasphemisch.«
»Dann bist du also ein Gott.« »So wie dieses Wort in deinem Sprachgebrauch gängig ist, könnte man das sagen.« Cronenberg war der Spielchen müde – und sagte dies auch. »Was willst du? Warum bist du gekommen?« »Ich werde …« Der Fremde ließ sich offenbar ungern davon abbringen, bei seiner den Ernst der Lage negierenden Ausdrucksweise zu bleiben. »… diesen ganzen Laden hier übernehmen – wenn du gestattest.«
L'lewed hörte unwillkürlich auf zu schluchzen. Spätestens nach der letzten Bemerkung des ungebetenen Besuchers erwartete er, dass der Prior sein wahres Gesicht zeigte – jene unversöhnliche Strenge, mit der er zeitlebens kleine und kleinste Vergehen geahndet hatte. Aber der Prior ließ sich auch jetzt noch nicht aus der Reserve locken. Welche Strategie verfolgte er? War bereits Verstärkung unterwegs? Hatte er via Gedankenbefehl Fraktale oder Adepten angefordert? Irgendetwas musste er vorbereiten. L'lewed klammerte sich an diese Hoffnung wie an einen Strohhalm. »Und wenn ich …« Der Prior räusperte sich. »… es nicht gestatte?« »Stirbt er hier.« Zu L'leweds Entsetzen zeigte der furchteinflößende Besucher auf ihn. Ein spitzer Schrei entfloh seiner Kehle. »Vater …«, krächzte er. »Du bist sein Vater?«, fragte der Dunkle. »Nicht biologisch.« »Wieso ist er … so?« Immer noch zeigte der schwarze Arm wie eine groteske Lanze auf L'lewed. »Lies es in meinen Gedanken. Und lies auch, wie ich über dein Ansinnen denke.« Die Stimme des Priors klang jetzt so fest und stark, dass L'lewed aufhörte, sich Sorgen zu machen, wirkliche Sorgen zumindest. Aber dann fiel ihm ein – wie hatte er das überhaupt vergessen können, selbst für einen Moment? –, wie viel Überlegenheit
der Fremde schon im Vorfeld dieser Begegnung demonstriert hatte … und sein Herzschlag setzte fast aus vor nackter Angst. »Du fürchtest um deine Stellung. Das brauchst du nicht. Sie bleibt so weit unangetastet.« Wovon redeten sie? Und was war mit ihm? Der Drohung, die immer noch im Raume hing? »Du würdest mir die Versuche, dich und dein Fahrzeug gar nicht erst hierher gelangen zu lassen – dich zu vernichten – nachsehen?« Glaubhaft versicherte der Dunkle: »Warum sollte ich dir ankreiden, es versucht zu haben? Jeder bei Verstand hätte das getan.« »Aber es hätte dein Ende bedeuten können.« Der Humanoide machte eine Handbewegung, die wohl Amüsement ausdrücken sollte. »Das hätte es nicht. Gewiss nicht. Du überschätzt deine Macht.« Der Prior schien nachzudenken. Indes trat der Dunkle näher, ganz nah, an L'lewed heran. Zum ersten Mal spürte L'lewed die extreme Kälte, die von dem Wesen ausging. »Jetzt sehe ich es«, sagte er. »Du leitest etwas in ihn, unablässig. Entfernung scheint dabei keine Rolle zu spielen. Es ist eine Art primitive Energie …« Primitiv? L'lewed traute seinen Ohren nicht. Aber der Dunkle sprach bereits weiter. »Vielleicht sollte man das einmal stoppen …« Der Prior schritt auch jetzt nicht ein. Dann merkte es L'lewed: Etwas hatte sich verändert. »Das Alter steht ihm gut, findest du nicht?« Dauerhaft verändert. »Warum tust du das?«, fragte der Große Vater an den Besucher gewandt. L'lewed wurde kalt. Lag es an der Nähe des Fremden? »Um meine Macht zu demonstrieren?« »Er ist mir wichtig.« »Du brauchst ihn nicht mehr. In Zukunft wirst du für solche Spielsachen keine Zeit mehr haben.« Sie sprechen über mich – immer nur über mich, dachte L'lewed be-
reits halb erfroren. Er sah an sich herab. Er blickte auf einen Greis mit welker Haut, die sich nicht mehr veränderte, nicht mehr verjüngte, so sehr er sich auch darauf konzentrierte. »Ist es wirklich nötig?« »Ja.« »Aber er leidet.« »Dann erlöse ihn.« Schweigen. L'lewed hob den müden, schweren Kopf. In seinem Nacken knirschte es, als reibe Knochen über Knochen. Er blickte aus trüben Augen zu seinem Vater hinauf. Aber sie erblindeten, bevor er die Stelle fand, aus der der Prior zu ihm herunterschaute. »Dann sei es …« L'lewed hörte auf, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren.
Für eine Weile hatte Cronenberg nur Augen für L'lewed. Schon Chooms Tod hatte ihn mitgenommen, aber nun war auch der andere der Zwillinge … gegangen. »Wie hast du das gemacht?«, wandte er sich an Croxgk. »Ich habe es einfach getan.« »Wie?« »Über so etwas Simples brauche ich nicht nachzudenken, es geschieht, weil ich will, dass es geschieht.« »Wie Götter eben so sind …« »Du fängst an zu begreifen.« »Wir stehen wieder am Anfang«, sagte Cronenberg. »Du hast getötet. Es scheint dir eine gewisse Befriedigung zu bereiten, was keine völlig unbekannte Regung für mich ist. Aber nun sind wir einmal im Kreis gelaufen und stehen uns wieder gegenüber mit der einzigen Frage, die zählt: Was willst du? Wozu bist du gekommen?« »Was meine Kundschafter mir berichteten, klang ideal.« »Deine Kundschafter?« »Die Treymor.« »Also doch …«
»Ich verneinte nur, dass sie mich schickten. Das konnte ich so nicht stehen lassen.« »Geht über deine Würde, was?« Je ohnmächtiger sich Cronenberg fühlte, desto weniger Mühe gab er sich, dies zu verbergen. »Würde … Moral … Das alles sind keine Kategorien, in denen wir denken.« »Ihr seid viele?« »Wir sind genug.« »Und jetzt überrennt ihr mal eben meinen Planeten. Wo stecken die anderen? Und was ist mit der Sonne, die ihr … oder du … gezündet habt?« »Man sieht nicht immer das, was wirklich ist.« »Soll heißen …?« Cronenberg wusste nicht, wie der Humanoide es machte, aber plötzlich … sah er durch dessen Augen … oder irgendjemanden, der weit draußen zwischen Mars und Saturn vor einem gleißend hellen Stern »stand« und darauf starrte. Mitten hinein starrte in die versengende Glut, die grelle Helligkeit und die thermonuklearen Prozesse, die in den entfesselten Gewalten einer Kernfusion abliefen. Das war die eine Sekunde. In der anderen … erlosch die »Sonne«, und Reuben Cronenberg blickte auf etwas völlig anderes … noch viel, viel Wahnsinnigeres …
6. Die andere Seite des Schiffes Charly ging … und Yael legte innerlich einen Schalter um. Von dem Moment an begleitete er den imaginären Kumpel so eng wie irgend möglich. Im Grunde wurde er Charly. Und als diese Projektion, der er kraft seines Geistes sogar materiellen Status verleihen konnte, durchstreifte er die Umgebung, in die es ihn verschlagen hatte. Seltsamerweise wirkte sie durch Charlys Augen betrachtet ungeheuer frisch und echt, während seine eigenen Blicke Yael immer nur ein beklemmendes Grau zeigten. Die neue Art zu sehen holte feinste Nuancen aus den Bereichen heraus, durch die Charly sich bewegte. Schon bald revidierte Yael seine erste Überzeugung: Vielleicht war dies doch die RUBIKON. Nur eine Sektion, in die er noch niemals zuvor einen Fuß gesetzt hatte … Das Grundmuster kam ihm vertraut vor. Die Details hingegen sprachen klar gegen foronische oder menschliche Architektur. Yael ließ Charly vor einer Wand innehalten, die das Weitergehen plötzlich verhinderte. Er war in eine Sackgasse gelaufen, einen »blinden« Gang. Das würde ihn nicht wirklich aufhalten, nicht als Charly, aber zunächst einmal blieb er stehen und nahm die Wand näher in Augenschein. Sie war nicht aus dem Metall gemacht, das auf der RUBIKON Verwendung gefunden hatte. Das hier wirkte fast wie … Er stutzte, ungläubig. Wie Kalk? Ich muss mich irren, dachte er. Seine Finger fuhren darüber. Es fühlte sich auch an wie kalkartige Ablagerungen. Und die Riefen und Bahnen, die sich darauf abzeichneten … Muscheln, kam ihm in den Sinn. Einkerbungen wie bei Muschelschalen … Er zog die Hand zurück, Charlys Hand, und trat durch die Wand, die egal wie fest sein konnte, für seine Projektion stellte sie kein Hindernis dar.
Auf der anderen Seite fand der Gang seine Fortsetzung. Auch er endete hier jedoch als Sackgasse. Charly/Yael drehte sich um … und erkannte Einbuchtungen, die ihm vorher entgangen waren. Mit wieder materieller Hand fuhr er hinein … … und die Wand entpuppte sich als simples Schott, das beiseite glitt. Okay, dachte Yael. Dieses »Okay« hatte ihm Jiim beigebracht, und der wiederum hatte es von Jarvis aufgeschnappt. Keine unbedingt typische Nargenausdrucksweise. Aber sie hatte was, an das man sich gewöhnen konnte. Er ging weiter. Wände und Decke, selbst der Boden, schienen jetzt überall aus Muschelkalk gemacht. An manchen Stellen schimmerten sie wie Perlmutt. Charly erreichte das Ende des Gangs. Hier war kein Schott. Dahinter öffnete sich ein Raum von gewaltigen Ausmaßen. Er erinnerte schwach an Pseudokalser, denn auch hier … standen Pyramiden – wie in der gefakten Toten Stadt. Aber alles andere fehlte. Es gab keinen Schrund, keine eisüberzogene Landschaft … nur diese Perlmuttschicht am Boden und ferne Pyramidenbauten, von denen sich kaum schätzen ließ, wie groß sie wirklich waren. Vielleicht waren es Holografien, die der bloßen Dekoration dienten. So wie vieles in der nachgebauten Kalser-Sphäre … Aber vielleicht, dachte Yael, der Charly wie ein Periskop lenkte, sind sie auch echt. Und dann … … dann wollte er wissen, was es damit auf sich hatte. Ob sie eventuell sogar bewohnt waren. Er zögerte nicht, Charly die Flügel entfalten und in Richtung der Bauten gleiten zu lassen.
Winoa fühlte sich in der Klemme. In der Psycho-Zwickmühle. Der Ort, an den sie »gerutscht« war, so bezeichnete sie es für sich, missfiel ihr von Sekunde zu Sekunde mehr.
Vor allem, weil es hier so einsam war. So menschenverlassen. Sie wusste nicht, ob dies noch die RUBIKON war. Aber im Grunde spielte es auch keine Rolle. Alles, was sie noch wollte, war: zurückgelangen. Heim, ins Dorf, zu den anderen Angks und ihrer Mutter! Nur war die ja auch verschwunden … auch »weggerutscht« … bei dem Versuch, hinter den Mechanismus zu kommen, der die Häuser im Angkdorf in Transmitter verwandelte. »Mum!« Assur antwortete nach wie vor nicht. Dafür war das Echo, mit dem der Ruf zurückgeworfen wurde, umso unheimlicher. Winoa zitterte. Irgendwo vor ihr schien sich der Gang zu verbreitern. Sie fiel in einen leichten Trab, der wie von selbst immer schneller wurde. Und dann sah sie die riesigen Gehäuse. Schnecken, dachte sie. Sie hatte Schnecken immer gemocht. Auf der Angkwelt, auf der sie aufgewachsen war, hatte es so viele verschiedene Arten von Schnecken gegeben, dass man fast bei jedem Schritt über sie stolperte … Na ja, nicht wirklich stolperte. Dazu waren sie zu klein und zerbrechlich. Man musste aufpassen, dass man sie nicht zertrat. Aber wann immer Winoa leere Gehäuse gefunden hatte, hatte sie sie mit nach Hause genommen und ihrer Sammlung einverleibt. Ein Gehäuse schillerte hübscher als das andere. Aber das da … waren Giganten. Bedeutete das, dass hier irgendwo auch Riesenschnecken herumschleimten? Ohne es zu merken, wurde ihr Tempo immer langsamer. Als sie das erste Gehäuse – größer als das Haus im Angkdorf – erreichte, blieb sie stehen, weil ihr plötzlich ein Schauder zwischen den Schulterblättern hinab rieselte. Sie schrie leise auf. Offenbar blieb der Schrei nicht ungehört. Von irgendwo hinter dem gewundenen Schneckenhaus rief eine Stimme: »Winoa – bist du das?« Assur! Winoa vergaß alle Angst und rannte los. Wenig später fiel sie ihrer
Mutter in die Arme. Doch nach der ersten Wiedersehensfreude kehrte die Ernüchterung ein. »Tut mir leid«, sagte Assur auf die Bitte ihrer Tochter hin, doch endlich wieder zurückzugehen, heim, »ich weiß auch nicht, wo wir sind … und wie wir von hier wieder wegkommen könnten.«
Charly landete auf dem Dach der größten Pyramide. Im selben Augenblick geschah etwas, was noch niemals vorgekommen war: Charly … zog Yael hinter sich her. Eben noch in die Wahrnehmung des imaginären Nargen vertieft und über ihn sehend und hörend, stand Yael plötzlich neben Charly auf der abgeflachten Spitze der Pyramide. Er war völlig überrascht. »Wie hast du das gemacht?« »Ich hab nichts gemacht. Bin hierher geflogen. Großer Kundschafter. Scout. Weißt schon. Du wolltest, dass ich das tue.« »Und wie komme ich hierher? Ich war gerade noch dort, wo wir uns trennten.« »Keinen Schimmer. Du bist der Boss.« »Daran kommen mir langsam Zweifel.« Charly zuckte mit den Schultern. Seine Flügel waren hoch aufgerichtet, als wollte er sich jeden Moment in die Lüfte schwingen und davonmachen. »Sauer?«, fragte er. »Wenn du wirklich nichts gemacht hast, kann ich nicht sauer auf dich sein – höchstens auf mich. Weil ich immer noch nicht herausgefunden habe, wie das alles funktioniert.« »Das mit mir?« »Beispielsweise.« Charly ließ die Flügel etwas sinken. »Wollen wir rein?« »In die Pyramide?« Yael war sich noch unschlüssig. »Soll ich vorgehen? Wie eben? Probieren wir's einfach noch mal. Vielleicht klappt's.« »Was?«
»Dass du nachkommst.« Yael sah sich um. Jetzt erst merkte er, dass sich auch seine eigene Wahrnehmung auf die Umgebung eingepegelt zu haben schien. Er sah alles immer noch so klar und bunt und »echt« wie durch Charlys Augen. »Hier ist keine sichtbare Tür.« »Brauch ich auch nicht.« »Ich weiß … Okay, wir machen's so. Du gehst vor. Ich sondiere erst mal über dich. Dann versuche ich, es bewusst zu steuern, dir nachzufolgen.« »Klasse Taktik.« Charly ließ sich kichernd in den eigentlich massiven Boden sinken. Kaum war er weg, schaltete Yael auf »Fremdsicht« um. Der Raum, für den der Boden, auf dem Yael nach wie vor ausharrte, die Decke darstellte, verblüffte damit, dass er bis hinab zum gut und gerne vierzig Meter tiefer liegenden Boden reichte. Mit anderen Worten: Es gab keine einzelnen Etagen, das Innere der Pyramide war ein einziger großer Bereich ohne Zwischenwände oder sonstige Unterteilungen. Charly war bereits unten gelandet. Das Licht, das aus den Wänden drang, schien Melodien zu tragen. Yael wünschte sich ebenfalls ins Innere … … und fand sich neben Charly wieder. Er fragte sich, ob er auf diese Weise an beliebige Orte gelangen konnte, zu denen er Charly vorausschickte. Und ob er das schon immer gekonnt hätte – zumindest seit Charly aufgetaucht war. Hätte er nur wissen müssen, dass es des bloßen Gedankens bedurfte, der Projektion zu folgen? Er beendete sein unnützes Grübeln. »Leer. Vollkommen leer. Hätte ich nicht gedacht«, sagte Charly. »Es wurde Zeit«, sagte eine sphärische Stimme, die die angenehme Hintergrundmelodie benutzte, um sie zu Worten zu verdichten – Worte, die Yael verstand. Jiims Sprössling zuckte zusammen. Er blickte suchend in alle Richtungen.
Nichts. »Hast du das auch gehört?«, wandte er sich an Charly. »Was?« »Die Stimme? Sie sagte: ›Es wurde Zeit.‹« »Geniale Textzeile. Hätte mir auch einfallen können. Vielleicht mach ich einen Song draus.« Charly quietschte. »Aber zu deiner Frage: Nein.« »Du hast es wirklich nicht gehört?« »Wer sollte es denn gesagt haben?« »Genau das ist die Frage.« »Hm.« »Geh in die Mitte …« »Da! Da war es wieder!« Yael packte Charly an den Schultern. »Du musst es auch gehört haben!« »Ich wünschte, du würdest von dem Trip runterkommen …« Yael gab es auf. Er ließ Charly stehen und suchte die Mitte der Bodenfläche auf. Er konnte sie nicht hundertprozentig genau bestimmen, hoffte aber, in etwa richtig zu liegen. Eine Weile geschah nichts, außer dass Charly gelangweilte Flugversuche unternahm. Aber die Thermik hier drinnen war schlecht. Eigentlich war sie gar nicht vorhanden. »Du bist der Auserwählte.« Wieder bündelte sich die leise, angenehme Musik, die die Pyramide erfüllte, zu Tönen, die Yael als Worte wahrnahm. »Ich bin kein Auserwählter – was soll der Unsinn?« »Was?«, schnappte Charly aus der Entfernung. Yael winkte ungehalten ab. »Tritt ein – wir müssen reden. Es geht um große Dinge. Große Gefahren. Mit deiner Hilfe werden wir sie meistern. Du musst vermitteln.« »Vermitteln?« »Mit der anderen Ebene.« Charly kam misstrauisch näher. »Hey, du willst mich hochnehmen, oder? Führst hier Selbstgespräche, um mich kirre zu machen. Aber so nicht, Freundchen. Das wäre Rollentausch, und da hab ich auch noch ein Wörtchen mitzureden!«
Er war unverbesserlich. »Lass ihn einfach stehen. Wir warten. Komm.« Yael hatte das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen … nachgiebiger wurde. Aber er bekam Angst vor der eigenen Courage. Statt sich auf das Wagnis einzulassen, konzentrierte er sich auf Charly und schickte ihn aus der Pyramide hinaus … irgendwohin … ohne Plan, ohne Sinn und Verstand. Es war, als würde Panik über ihm zusammenschwappen. Charly raste davon. Wände waren kein Hindernis. Unter Yael löste sich der Boden jetzt mit einem Schlag auf. Er fiel. Aber im Fallen ließ er sich von Charly dorthin ziehen, wo der bereits angekommen war. Wwwwuuusch! Er glaubte noch, einen enttäuschten Seufzer zu hören, dann stand er neben Charly. Und neben Assur und Winoa …
War es wirklich bloßer Zufall, dass Charly bei ihnen gelandet war … und somit auch Yael? »Yael!«, rief Assur – und kam damit ihrer Tochter zuvor. »Wie machst du das? Charly ist bekannt für seine Kabinettstückchen, aber dass jetzt auch du wie aus dem Nichts irgendwo erscheinst …« Winoa drängte sich zwischen ihre Mutter und ihn. »Was sie sagen will: Wir freuen uns, dich zu sehen. Wir freuen uns wirklich!« Assur verzog das Gesicht. »Das ist ja wohl selbstredend. Trotzdem möchte ich wissen, wie –« Ihre Umgebung löste sich auf. Alles wurde eng, als müssten sie zu dritt – Charly mitgerechnet sogar zu viert – auf einem Bierdeckel zusammenrücken. Im nächsten Moment standen sie im Haus. In dem Haus, das sie zuvor sonst wohin geschickt hatte. »Schnell raus hier!« Assur überwand ihre Verblüffung als Erste. »Bevor es …«
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Zu dritt stürmten sie hinaus. Charly war verschwunden. Wahrscheinlich hatte Yaels Unterbewusstsein entschieden, ihn nicht mehr zu brauchen. Draußen war das Dorf, draußen waren die vertrauten Gesichter … Assur stöhnte vor Erleichterung. Einer, der auf sie aufmerksam wurde, war Jelto, der sich offenbar gerade wieder – oder immer noch? Wie lange waren sie eigentlich weg gewesen? – um den Baum kümmerte, der die Treymor-»Säuberung« überlebt hatte. »Assur! Winoa … Yael … John ist gerade mit Jarvis weg, um von der Zentrale aus nach euch zu suchen. Aus dem Sarkophag, sagte er. Er hoffte, dort den direkteren Draht zum Schiff zu bekommen … Aber Jiim ist unterwegs hierher. Als er das von Yael hörte, war er nicht zu bremsen …« Jelto nickte Yael zu. »Geht's euch gut? Was war denn los? Wo wart ihr?« »Wenn wir das selbst nur wüssten …« Assur lächelte gequält, empfand die Sorge Jeltos aber als wohltuend. »Wir gehen gleich zu John … Da kommt ja auch schon Jiim …« Yaels Elter kam völlig außer sich bei ihnen an und umarmte seinen Sprössling mit Armen und Flügeln. »Maron sei Dank!« Yael gab sich verschlossen. »Was ist, Kind?« »Genau das muss ich herausfinden. Es sprach von einer großen Gefahr … und davon, dass ich vermitteln soll.« »Du redest Unsinn. Komm erst mal wieder zu dir. Das hat dich alles ziemlich mitgenommen …« »Du verstehst nicht. Ich habe es gehört. Es sprach zu mir. Und fast hätte ich es getroffen …« Jiim ließ ihn nicht mehr aus seinen Fittichen. Verständnisvoll nickend führte er ihn fort. Winoa wollte ihm folgen, aber Assur hielt sie zurück. »Später, ja? Du hast ja gemerkt, dass es ihm nicht gut geht.« »Wenn er es gehört hat, hat er es gehört!« »Wir werden uns darum kümmern. Ich werde mit John sprechen – auch darüber. Jetzt komm.«
Sie mieden die Türtransmitter. Dadurch wurde der Weg in die Zentrale um einiges länger. Aber für den Moment war ihnen das lieber. Den möglichen Tücken der Technik wollten sie sich nicht schon wieder ausliefern.
Nachdem sie gegangen waren, blieb auch Jelto nicht mehr lange im Dorf. Er kehrte zurück in den verwüsteten hydroponischen Garten. Der Baum hatte sein Geheimnis noch nicht preisgegeben. Er lebte. Nur das war bislang klar. Er lebte, aber er »sprach« nicht zu dem Mann mit der Aura, die normalerweise zu jeder Pflanze eine Verbindung aufbauen konnte. Es schien, als läge noch eine Menge Arbeit vor dem Florenhüter. Aber zunächst erwartete ihn eine Überraschung. Im Garten. Während seiner Abwesenheit hatte die »verbrannte Erde« neues Leben sprießen lassen. Aber es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den abgestorbenen Gewächsen, die hier zuvor gediehen. Es sah nicht einmal auf den ersten Blick wie Vegetation aus. Vielmehr hatte es die verdrehte Form von handgroßen … Muscheln – oder düster glänzenden Schneckenhäusern …
Als sie die Zentrale stürmten, wollte sich Cloud gerade hinter den Deckel des Kommandosarkophags zurückziehen. Jarvis hielt ihn zurück. Er sah die Ankömmlinge zuerst. Sofort sprang Cloud wieder aus dem Sitz und lief ihnen entgegen. »Sesha sagte schon, dass ihr zurück und auf dem Weg hierher seid. Aber als es dauerte, wollte ich über den Sitz schauen, wo ihr so lange bleibt …« Er umarmte Assur und küsste sie innig. Nachdem er sich von ihr gelöst hatte, fragte er: »Was war denn nur los?« »Wir können dir alles haarklein berichten – aber wie und warum es geschah … und wo wir letztlich waren … das weiß ich immer noch nicht.« Cloud nickte. »Es gibt noch etwas anderes, was uns beschäftigen
wird.« Assur sah ihn abwartend an. »Der Kubus … Tovah'Zara … Der gigantische Würfel, der sich als Sonne getarnt hat, ist, während ihr fort wart, ebenfalls verschwunden.« »Verschwunden?«, wiederholte Assur. »Ja, es scheint nicht einfach nur wieder eine neue Form der Maskierung zu sein, Sesha ist der Überzeugung – und die Ortungsdaten scheinen es zu belegen –, dass der Kubus transitiert ist.« Assur erbleichte. »Weiß man schon, wohin?« »Das ist das Problem. Die Treymor scheinen mehr an der alten Technik gedreht zu haben, als gut für uns ist. Der Sprung verursachte hier keine Erschütterung des Raumzeitgefüges … und auch nicht am Wiedereintrittspunkt. Damit wird es schwer bis unmöglich für uns, den neuen Standort herauszufinden …« »Das sind keine guten Nachrichten.« Cloud nickte. »Aber jetzt erst einmal zu euch …«
7. Der Grundstein wird gelegt Da war Wasser. Grün gespenstisch schimmerndes Wasser inmitten des eisigen Alls. Und in diesem Wasser … bewegten sich Körper … Formen … Fahrzeuge, wie Cronenberg noch keine gesehen haue. Das Absurdeste aber war die Größe dieses Objekts. »Eine Lichtstunde Kantenlänge«, sagte Croxgk. »Es ist ein gewaltiger Würfel. Wir haben ihn nur übernommen, nicht erbaut. Er ist nach euren Maßstäben alt. Er wurde nach unseren Bedürfnissen modifiziert und uns von den Treymor übergeben.« Die Treymor – immer wieder die Käferartigen. Von einem Moment zum anderen fand sich Cronenberg – auch visuell – in seinem Thronsaal wieder. »Woher haben sie ihn?«, fragte er. »Den Würfel? Genommen«, sagte Croxgk. »Sie haben ihn sich genommen. Der Stärkere nimmt sich immer, was er braucht. Was ihm gefällt. Wovon er sich Nutzen verspricht.« »Das hätte auch auf meiner eigenen Agenda stehen können.« »Vielleicht.« Croxgk blieb verhalten. »Solange du keinen Stärkeren über dir hattest. Von nun an ist das jedoch so. Und so bleibt dir nur eine Wahl: Zusammenarbeit … wenn auch nicht zu Bedingungen, die du diktieren könntest, es gibt nur Bedingungen, die du akzeptieren kannst.« »Und wenn ich mich weigere?« »Das wird nicht geschehen.« »So sicher bist du dir?« »Wer einmal die Süße der Macht geschmeckt hat …« »Du sagtest gerade, dass ich genau das einbüßen werde – Macht.«
»Nicht nach außen hin – nur nach innen.« Cronenberg seufzte. »Ich bleibe der … Prior … und repräsentiere vordergründig das Regime?« »So wird es sein.« »Aber die Fäden im Hintergrund zieht ihr. Die Pfeife, nach der ich zu tanzen habe, die gehört euch.« »Sehr metaphorisch, aber … ja.« In der aktuellen Situation sah Cronenberg keinen Verhandlungsspielraum. »Ich bin einverstanden.« »Wie ich schon sagte …« »Nachdem das geklärt ist …« Cronenbergs Blick wischte über den Boden, als könnte er allein damit schon den ungeliebten Anblick seines toten Ziehsohns beseitigen. »… wie geht es nun weiter?« »Eine berechtigte Frage.« Croxgk hob den linken Arm. Er winkelte ihn so an, dass die siebengliedrige Hand auf den toten L'lewed zeigte. Sofort löste sich feiner Nebel wie schwarzer Rauch aus den Spitzen der Finger und schwebte L'lewed entgegen. Als er ihn erreichte, hüllte er ihn ein, verdichtete sich so stark, dass L'lewed jedem Blick entzogen wurde … und kehrte dann wieder zu Croxgks Fingern zurück, strömte in sie zurück. Die Stelle, wo der Tote gelegen hatte, war leer. »Ungewöhnlich in seiner Konsistenz«, sagte Croxgk, »aber … schmackhaft.« Cronenberg graute plötzlich. Bevor er sich dazu äußern konnte, erhob bereits Croxgk wieder das Wort. »Um deine Frage von eben mit einer Gegenfrage zu beantworten: Was passiert, wenn ein Mensch ein Haus erwirbt, das zwar enormes Potenzial hat, aber so, wie es dasteht, noch nicht annähernd seinen Vorstellungen entspricht?« »Er … renoviert es nach seinen Vorstellungen?« Croxgk klatschte in die Hände. Der hallende Ton versetzte die Ganglien des Gigahirns in unangenehme Schwingungen – für Cronenberg hatte dies die Folge, dass sich sein Bewusstsein leicht trübte und er sich wie trunken fühlte. »Genau das«, erklärte Croxgk, »werden auch wir tun. Du wirst deine Welt nicht wiedererkennen.«
Die erbeuteten X-Schiffe liefen mit ihren Besatzungen die Häfen des Konkavraums an. Der Prior hatte es so angeordnet, denn der Prior hatte vorläufig keine weitere Verwendung für sie. Der enttarnte Wasserwürfel samt allem, was er beinhaltete, und das Ringschiff, samt allem, was es beherbergte, waren in den Rang von willkommenen … nein, mehr: privilegierten Gästen erhoben worden. Jedwede Feindseligkeit ihnen gegenüber würde mit schwersten Strafen geahndet werden. Aber niemand würde sich gegen das Gebot der Gastfreundschaft hinwegsetzen. Der Prior hatte gesprochen – zu allen seinen Schäfchen –, und das Wort des Priors war Gesetz. Der Prior selbst aber rückte immer mehr ins Abseits … eine Rolle, mit der er sich weder anfreunden konnte noch wollte und die ihm auch nicht ansatzweise gefiel. Er sann nach Lösungen aus der Misere. Aber alles, was Croxgk ihm an weiteren Beispielen seiner Macht demonstrierte, bewirkte nur, dass Cronenberg sich leer und ausgelaugt, ideenlos fühlte, was mögliche Maßnahmen gegen diese absurde Invasion anging. Vorläufiger negativer Höhepunkt für ihn war, als Treymorschiffe aus dem Wasserwürfel kamen und in den Konkavraum eindrangen. Sie operierten nach Belieben über Erde und Mond und nahmen – daran gab es nicht den leisesten Zweifel – wo immer sie es für wert erachteten, Stichproben. Stichproben der Vakuumvegetation ebenso wie Stichproben der Menschen. Aber Cronenberg kontaktierte als Reaktion darauf nicht Croxgk, sondern Croxgk kontaktierte ihn – als wüsste er zu jeder Sekunde, was den Prior bewegte. »Es gefällt dir nicht, was die Treymor treiben.« »Das ist gelinde ausgedrückt. Ich hatte Zeit, nachzudenken, und ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich das, was du angekündigt und bereits in die Tat umzusetzen begonnen hast, nicht mittragen werde.« »Das wäre zu respektieren. Es sagt mir aber auch, dass du eine sta-
bilere Persönlichkeit bist, als ich zunächst annehmen musste. Ein großes Plus.« Cronenberg wusste nicht, was Croxgk mit diesem Kompliment, so es überhaupt eines war, bezweckte. »Ich habe entschieden, lieber zu sterben als dir … oder euch … weiter auch noch Hilfestellung bei solchem Tun zu leisten.« Croxgk war erstaunlich, wieder einmal. Denn er lachte. Ja, er lachte. Auch wenn die Art, in der es geschah, fremd blieb, kam die Reaktion doch bei Cronenberg als Heiterkeitsausbruch an. »Bevor du deinen Abschied nimmst«, sagte Croxgk, »interessiert es dich vielleicht zu sehen, wie weit wir in der kurzen Zeit bereits gekommen sind.« »Womit?« »Mit dem, was ich ankündigte: die ›Renovierung‹, du erinnerst dich.« Er erinnerte sich. Aber bis auf das Erscheinen der Treymor und ihre ungehinderten Flüge hatte sich im Konkavraum, soviel er wusste, noch nichts Großartiges verändert. »Es betrifft auch nicht das Innere der Hohlwelt«, sagte Croxgk als Reaktion auf seine Überlegung. »Offenbar habe ich mich missverständlich ausgedrückt. Wir … die Meinen … werden deiner Erde und der seltsamen … seltsam beeindruckenden Sphäre darüber … kein Haar krümmen.« Cronenberg ärgerte sich, dass Croxgk es erneut schaffte, ihn im Dunkeln tappen zu lassen und zu verunsichern. Im nächsten Moment hatte der Invasor seinen Geist wieder entführt; für ihn offenbar nicht die geringste Anstrengung. Diesmal fand sich Cronenberg nicht vor einer Sonne wieder, die wie ein Vorhang fiel, um das preiszugeben, was dahinter verborgen gelegen hatte, sondern … über der Oortschale, ein Stück weit davon entfernt im Vakuum des Alls. Wobei es eine Weile dauerte – und auch der geistigen Hilfestellung durch Croxgk bedurfte –, um Cronenberg begreifen zu lassen, dass das, was sich unter ihm zeigte, die Oortkugel war. Denn ihr Gesicht hatte sich binnen kürzester Zeit enorm gewandelt. Und wenn Cro-
nenberg Croxgk richtig verstanden hatte, waren das erst die Anfänge. Überall waren Bauten im Entstehen begriffen, flirrte Luft – ja, Luft – oder pflügten monströs anmutende Maschinen den felsigen Boden um. »Ihr …« Selbst seinem Geist versagte die Stimme. »Am Anfang ist es eher die Grobarbeit, die geleistet wird, und deshalb sind die sichtbaren Fortschritte noch relativ unansehnlich – aber die Details werden schon bald nachfolgen. Es wird eine Welt, die unser würdig ist … ja, du hörst richtig, wir prangern Würde und Moral als einen Makel der Schwachen an, aber in gewissen Bereichen des Lebens trachten auch wir nach … gut, nennen wir es besser Harmonie … Es wird eine Welt, wie sie harmonischer für meine Art nicht sein könnte.« Endlich begriff Cronenberg, was auf der Außenseite der Oortschale vorging. »Ihr terraformt, ihr schafft eine atembare Atmosphäre …« »Terraformen ist wohl der falsche Begriff, aber ich verstehe und bejahe, was du meinst, Prior. Wir nehmen viel, ich weiß, aber wir sind auch bereit zu geben … und zu teilen. Frag irgendeinen Treymor, er wird es bestätigen. Sie nennen uns nicht umsonst die … VÄTER.« »Das tun sie?«, ächzte Cronenberg. »Soll ich einen von ihnen zu dir bringen? Du kannst ihn in Ruhe und ohne meine Aufsicht nach uns befragen – nach allem, was dir in den Sinn kommt.« »Wozu sollte das noch gut sein?« Die Resignation kehrte in Cronenberg zurück, obwohl auch sie bereits vergiftet war von etwas, über das er sich schämte, keine Gewalt zu haben. Er hasste es, tief in sich einen Hauch von Reue zu spüren – Reue, all das, was hier im Werden begriffen war, nun verlassen zu müssen. Aber er selbst hatte so entschieden. Ich Narr! Wie betäubt fand er sich im Thronsaal der Wolkennadel wieder. Croxgk war bei ihm … und noch Dutzende, die aussahen wie er. Woher waren sie gekommen, was wollCronenberg glaubte zu begreifen. »Scharfrichter. Sind das deine
Scharfrichter?« Croxgk verneinte. »Du bist uns wertvoll – du musst nur selbst wieder daran glauben. Wir arbeiten bei allen Völkern, die wir auserwählen, mit deren vielversprechendsten Mitgliedern eng zusammen. Das hat sich bewährt. Sinnloses Blutvergießen bedeutet uns nichts. Erinnere dich, wie ich reagierte, als ich zu dir kam. Ich wurde attackiert. Aber ich nutzte meine Möglichkeiten nicht – das hätte ein Massaker zur Folge gehabt. Mir liegt nicht an Vergeltung. Es geht um höhere Ziele.« »Wovon redest du?« »Ich rede von einer Erneuerung meines Angebots – und einem Bonus, den ich dir zugestünde, falls du mit allen Konsequenzen und im vollen Bewusstsein, dass es danach von deiner Seite kein Zaudern mehr geben darf, auf unsere Seite wechselst.« »Du würdest immer noch an mir festhalten?« »Ohne Einschränkung.« Cronenberg betrachtete die anderen, die waren wie Croxgk. »Und was wäre dieser … Bonus?« »Das werden sie dir zeigen.« Croxgk wies auf seine Artgenossen. »Sie müssen dich kurz betäuben«, kündigte er an. »Kein Grund zur Beunruhigung. Die Narkose hat keine bleibenden Nachwirkungen. Das, was sie mit dir tun, hingegen schon.« »Mit mir … tun?« Gerade hatte er noch sterben wollen. Doch jetzt … »Du wirst nichts davon spüren. Und es lohnt jeden Funken Angst, den du gerade erträgst.« Cronenberg erschauderte. Die Humanoiden in Schwarz handelten, noch während sie näherkamen. Er versank in tiefer Bewusstlosigkeit. Leise Zweifel, ob die Dunklen nur eine Narkose oder den Tod brachten, blieben … … bis er wieder die Augen aufschlug. Croxgk war als Einziger noch bei ihm. »Wohin …?« »Ihre Arbeit ist erledigt. Sie sind dorthin gegangen, wo sie aktuell
gebraucht werden und von entscheidendem Nutzen sein können.« Croxgk winkte ihm zu. »Doch jetzt: Komm zu mir.« Cronenberg verkrampfte sich. Croxgk verhöhnte ihn. Zum ersten Mal seit seinem Erwachen blickte er an sich herab. Er saß auf dem Thron, den er schon eine halbe Ewigkeit ausfüllte. Doch etwas war anders geworden. »Was ist geschehen?« »Du siehst es – du musst nur noch anfangen, es zu akzeptieren.« Cronenberg stützte Arme, die erst wieder lernen mussten, dass muskuläre Kraft ein Segen war, auf die Sitzfläche des Throns und stemmte sich zittrig hoch. Seine Beine trugen ihn nicht – noch nicht –, aber der winzige Moment, bevor er wieder nach unten sackte, genügte, ein Glücksgefühl zu entflammen, wie er es in all den Jahrtausenden nicht mehr hatte genießen können. »Croxgk …« »Unsere Verbündeten sind uns wichtig, wie oft soll ich es noch betonen? Sag jetzt nichts. Lerne, ihn wieder zu benutzen. Du erhältst von uns alle Unterstützung. Es geht schneller als du denkst.« Schweigend blickte Cronenberg an sich herunter … und weiter … dorthin, wo noch immer Ausläufer des Gigahirns wucherten. Aber sie waren nicht mehr mit ihm verbunden. Er war frei. Er bemerkte die Tränen, die über seine aufgedunsenen Wangen liefen, erst, als sie sich salzig in den Mundwinkeln sammelten. Als er wieder aufblickte, war er allein. Croxgk war gegangen. Aber vorher hatte er ein Geschenk hinterlassen, das eines Gottes mehr als würdig war …
Erst Tage später trafen sie erneut zusammen. »Ich hörte«, sagte Croxgk zur Begrüßung, »du machst gute Fortschritte … und: Ja, es ist zu sehen. Aber du musst deinen Körper noch mehr quälen – er wird es dir mit Kraft und Ausdauer danken.« Cronenberg maß Croxgk mit Blicken, aus denen die Skepsis noch nicht restlos verflogen war. »Ich werde nie so aussehen wie ein …
Wie nennt ihr euch eigentlich? Wie nennt ihr euch selbst, dein Volk, deine Art? Du sagtest bislang nur, dass die Treymor euch als ihre … VÄTER bezeichnen und verehren.« »Ich bin ein Auruune.« Cronenberg nickte zum Dank für diese Information. »Und von wo genau aus der Milchstraße kommt ihr – falls ich das überhaupt wissen darf?« Croxgk trat mit ihm vor eine der Apparaturen, die zwischenzeitlich von Auruunen installiert worden waren. Mit dieser hier war ein allumfassendes Sehen innerhalb des gesamten Konkavraums und darüber hinaus möglich. Cronenberg bedurfte dafür nicht einmal mehr der Augen anderer Menschen, womit sich ihm auch Bereiche erschlossen, wo gerade kein Untergebener zur Stelle war. Ein klarer Gewinn. Die momentane Reichweitengrenze des Beobachters, wie Croxgk das Gerät schlicht nannte, lag knapp hinter der einstigen Jupiterbahn. Der Aquakubus war damit gerade noch sicht- und einsehbar. Ja, die visuellen Impulse, die das konsolenartige Gerät direkt auf Cronenbergs Netzhäute projizierte, ermöglichten ihm tatsächlich die Sicht in – fast – beliebige Bereiche des unfassbar großen Wasserwürfels. Die Einschränkung betraf den Kern des Konstrukts, den Croxgk, offenbar von den Treymor übernommen, Ewige Stätte oder Silberstadt nannte. Was dort vorging, entzog sich nicht nur Cronenbergs Wahrnehmung, sondern offenbar auch seiner Kompetenz. Aber damit kam er zurecht. Seit er seine persönliche Mobilität auf nie erhoffte Weise zurückerlangt hatte, war er überzeugt, dass eine für beide Seiten erquickliche Zusammenarbeit mit den Auruunen möglich war. Croxgk aktivierte den Beobachter und nahm Einstellungen vor. Während er es tat, antwortete er auf Cronenbergs Frage. »Wir entstammen nicht dieser Galaxie.« Cronenberg war ehrlich überrascht. »Von wo dann? Aus … Andromeda vielleicht?« »Meine Heimat liegt sehr viel weiter entfernt. Für dich kaum vorstellbar weit. Aber das tut nichts zur Sache. Ich bin gekommen, um
dir einmal mehr zu zeigen, wie wertvoll wir für dich sein können – im Gegenzug erwarten wir jedoch nichts Geringeres als deine absolute Treue. Ganz gleich, was jemals geschehen wird.« »Du hast mir bislang nicht viel … eigentlich nichts … über eure Motive verraten. Gut, ihr scheint euch auf der Oberfläche der Oortkugel eine Welt nach eurem Ideal zu errichten … so viel zumindest ist mir durchaus klar geworden. Aber das hättet ihr gewiss an jedem x-beliebigen anderen Ort im Universum gekonnt. Habe ich Recht?« »So weit …« »Es verrät nichts darüber, was Auruunen … und Treymor … wirklich anstreben.« »Die Treymor sind treue Kinder. Mehr nicht.« Cronenberg fühlte sich für einen Moment an seine eigenen Kinder erinnert – an all die Millionen, die über das Erde-Mond-System verstreut lebten und von denen ein jedes schon in jungen Jahren das eingepflanzt bekam, was es fortan untrennbar mit ihm, dem Großen Vater, verband. »Und was uns angeht …« Croxgk wandte Cronenberg sein »Gesicht« zu – der senkrechte Balken darin vibrierte schwach. »Unsere Motive sind seit Ewigkeiten unverändert. Du wirst bald darin eingeweiht. Zuvor aber … ich deutete es schon an … werde ich deinen Blick auf ein Übel richten, das dir offenbar bei all deinem Streben entgangen ist, das aber – irgendwann – zum Problem werden könnte. Es ist nie gut, Gegner in den eigenen Reihen zu haben.« Cronenberg spürte, wie sehr ihn die Worte des Auruunen trafen. »In den eigenen Reihen …«, echote er. »Was willst du damit sagen?« »Sei unbesorgt«, wiegelte Croxgk ab. »Wir regeln das. Nimm es als weiteres Geschenk. Doch sei dir auch bewusst, dass danach der Ernst des Alltags einkehren wird. Von heute an wirst du auch uns beschenken müssen – mit all deiner Kraft und Entschlossenheit.« »Dazu habe ich mich entschieden, und dazu bin ich mehr als bereit. Ich will endlich anfangen. Ich brauche aber noch mehr Wissen darüber, wie ich euch am sinnvollsten dienen kann.« »Das wirst du bekommen. Und jetzt …« Croxgk nahm eine letzte Justierung vor. Der Beobachter summte. Auf Cronenbergs Neuhäuten
erschien das kristallklare Außenbild der Wolkennadel, die immer noch von Croxgks Schiff gekrönt war. Sein Kommen und Gehen fand in anderer Weise statt, die Cronenberg noch nicht durchschaute. Der Auruune, nur so viel war klar, bedurfte gar keines Vehikels. Er wechselte die Orte frei nach Laune. »Pass gut auf …« Es hätte der Ermahnung nicht bedurft. Cronenberg ging völlig in dem auf, was der Auruune ihm nun zeigte. Aus den saturnartigen Ringen drang ein Licht, das in Windeseile den gesamten Turm hinabkroch. Es wanderte sogar noch über den Bodensockel hinaus, wie der Beobachter, der Cronenbergs »Weg« begleitete, verriet. Cronenberg sah das gesamte Innenleben der ehemaligen Keelonresidenz vor sich offengelegt. Wie durchscheinend waren sämtliche Wände, und auf jeder Etage war Bewegung zu sehen: Adepten, die den Befehlen des Priors Folge leisteten … auf Erdgeschossebene dann all die Kinder, die ihrer Initiierung entgegensahen, begleitet von gestrengen Ammen … Bislang war nichts darunter, was Croxgks Worten einen tieferen Sinn verliehen – oder sie gar erklärt hätte. Doch dann ging der Blick des Beobachters über die Erdgeschossebene hinaus … nach unten. »Ich wusste nicht …«, entfuhr es Cronenberg. »… dass deine Residenz so weit hinab reicht?«, hörte er den Auruunen fragen. Cronenberg nickte, ohne aus dem entlarvenden Blick der Maschine entlassen zu werden. Es war, als würde er einem Adepten die Stufen hinabfolgen und durch dessen Augen blicken. Nur war sein Sehfeld nicht so eng begrenzt, als wäre er auf einen Wirt angewiesen. Tiefer und tiefer drang er nach unten. Wo auch Bewegung war. Wo Gestalten waren. In Räumen, von deren Existenz Cronenberg bis heute nicht einmal geahnt hatte, obwohl er sich stets als Herr der Welt wähnte … »Unmöglich …« »Es gehört bald der Vergangenheit an.«
»Wer sind all diese Leute?« »Abtrünnige … Verräter … eine Horde Verschwörer – wie immer der Prior …« Croxgk schien der Titel zu amüsieren.»… es zu nennen beliebt.« »Aber –« »Sie haben sich bei dir eingenistet. So nah dem Zentrum deiner Macht, dass es dir wahrscheinlich nicht so bald in den Sinn gekommen wäre, mit ihnen auch nur zu rechnenmit ihnen auch nur zu.« »Es gibt keine …« Cronenberg verschluckte das Wort »Verräter«. »Sie hätten sich nie in solcher Zahl an mir vorbeistehlen können. Ich blicke in alle, die für mich arbeiten. Niemand könnte mich in dieser Form hintergehen …« »Und doch geschah es auch schon früher, oder?« »Worauf willst du hinaus?« Croxgk nannte ihm das Beispiel jenes Kapitäns, der ihn einst beinahe um den ertragsreichsten Anomaliestein aller Zeiten betrogen hätte. Wie der Auruune darüber Kenntnis erlangt hatte, blieb sein Geheimnis. Cronenberg spürte, wie seine neuen alten Beine ihm den Dienst zu versagen drohten. Alle jüngst erarbeitete Kraft fuhr aus ihnen heraus. »Ich werde sofort einen Trupp Fraktale –« »Nicht nötig«, sagte Croxgk. »Nicht nötig?« »Nein. Ich erledige das für dich. Und danach reden wir über das Gegenteil dessen, was jetzt geschieht – über lebenserhaltende Maßnahmen. Dich betreffend. Du wirst ihrer bedürfen, denn das, was dich über viele Jahrtausende vom Sterben fernhielt, steht dir nicht mehr zur Verfügung.« Cronenberg fühlte einen Stich im Herzen. Doch Croxgk beruhigte ihn: »Du bist ein Günstling der Auruunen. Also sei unbesorgt. Es gibt eine Lösung. Und sie wird dir gefallen …« Cronenberg wollte nachfragen. Dieses Thema war ihm noch wichtiger als das Verschwörernest, das ihm ja nicht weglief … im Gegensatz zu seinem Leben, das ihm unter den Fingern zerrann, wenn nicht bald, wenn nicht sofort – Doch dann zeigte ihm Croxgk, wie
Auruunen mit Verrätern verfuhren. Und diesem Schauspiel, das der Beobachter in grausamer Detailtreue übertrug – gerade so, als sollte es sich warnend in Cronenbergs Bewusstsein brennen, es ja selbst nie an Loyalität gegenüber seinen Gönnern mangeln zu lassen –, konnte er sich nicht entziehen. Und während die bis zuletzt ahnungslosen Verschwörer in dem Licht, das sie entlarvte, starben, noch während sie davon aufgefressen wurden, wisperte der Beobachter Cronenberg ihre Namen zu. »Poona … Jared … Gol … Harros … Moira …« Er hatte nie auch nur von einem von ihnen gehört. Keiner war jemals auffällig geworden. Cronenberg seufzte. Die Bilder verblassten. Die Kraft kehrte in seine weich gewordenen Knie zurück. »Danke«, wandte er sich an Croxgk. Der Auruune legte seine siebengliedrige Hand auf Cronenbergs Schulter. »Dann lass uns jetzt zum Tagesgeschäft übergehen. Es gilt, das bislang brach liegende, verschenkte Potenzial deiner Millionen Kinder zu erschließen – gegen einen Feind, wie du ihn dir selbst in deinen kühnsten Träumen nicht auszumalen vermagst …« ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die
Treymor
Jiim
Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Käferartige, aufrecht gehende Insektoiden, ca. 1,60 m groß, Facettenaugen, zwei kurze Fühler. Ursprünglich wahrscheinlich nahe des Milchstraßenzentrums ansässig, zwischenzeitlich aber galaxisweit aktiv. Ihr jüngster Coup. Sie haben den Aquakubus unter ihre Kontrolle gebracht und ihn hinter einem Tarnfeld, das eine normale Sonne vorgaukelt, versteckt. Innerhalb des Kubus haben sie die dominierende Spezies, die Vaaren, gezielt ausgerottet. Auch die übrigen Bewohner leiden unter den Eroberern … ohne es jedoch zu merken. Schuld daran ist ein spezieller Stoff, den die Treymor den Wassern des Kubus beimengen und der bei den damit in Berührung kommenden Heukonen und Luuren die Vorstellung schürt, es mit Wohltätern zu tun zu haben. Der Botenstoff macht blind für die Realität … und süchtig nach falschem Glück. Im Herzen des Kubus, der Ewigen Stätte, gehen die Treymor dubiosen Machenschaften nach. In der sogenannten Silberstadt treiben sie die Entwicklung der eigenen Art und Technik voran. Doch entgegen früherer Meinung scheinen sie keine Einzelkämpfer zu sein, sondern mächtige Förderer zu haben. Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat.
Yael
Charly
Jiims Junges, das einen rasanten Wachstumsprozess absolviert und dessen Gefieder überdies in der Farbe von Jiims Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlägt es kurzzeitig nach Portas im Angksystem, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er … anders ist, als sein Orham Jiim es je erwarten konnte … Ein rätselhaftes Geschöpf, das offenbar von Yael ins Leben gerufen wurde, wie genau, weiß noch niemand – eine Art »unsichtbarer Freund«, der jedoch durchaus physischer Natur ist. Er kann von anderen nur wahrgenommen werden, wenn Yael das will. Und nicht selten kommt er aufwieglerisch daher wie ein moderner »Karlsson vom Dach«. Er ist der geborene Anstifter …
Vorschau Der träumende Tod von Manfred Weinland
Auf den Spuren der Ganf … Ein bislang unbekannter Planet macht von sich reden. Kentyr stellt die bekannten Gesetze der Physik auf den Kopf. Und die RUBIKON-Crew erhält die dringende Bitte, sich unverzüglich dorthin zu begeben – um zu retten, was noch zu retten ist. Denn die Geschehnisse auf dem »Planeten der zwei Welten« sind eng verknüpft mit dem Schicksal des Angksystems und seiner Bewohner – Bractonen und Menschen …