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Eine neue Ära des Horrors hat begonnen … METAHORROR ist eine Explosion des Schreckens und des Unheimlichen, eine faszinierende Sammlung abgründiger Phantasien, die in bisher unbekannter Weise die dunklen Landschaften unseres Inneren ausloten. METAHORROR sprengt alle Grenzen der phantastischen Literatur und setzt neue Maßstäbe für die 90er Jahre und darüber hinaus. »Das Abgründige ist hier erstaunlich überzeugend dargestellt … höchst bemerkenswert.« Stephen King
METAHORROR Herausgegeben von Dennis Etchison
Deutsche Erstausgabe
Scan by celsius232 K&L: tigger Freeware ebook, Oktober 2003 Kein Verkauf!
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/9773 Titel der Originalausgabe METAHORROR
Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Werner Heilmann Copyright © 1992 by Dennis Etchison Vorwort: Copyright © 1992 by Dennis Etchison Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1996 Quellenverzeichnis: s. Anhang Umschlagillustration: Don Punchatz / Agentur Luserke Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: (2405) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-453-09299-6
FÜR Ramsey, Jenny, Tamsin und Matthew Campbell
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
8 TEIL EINS Etwas ist geschehen
BARRY N. MALZBERG & JACK DANN, Melancholie und die abstrakte Wahrheit SCOTT EDELMAN, Sind Sie oder waren Sie? LAWRENCE WATT-EVANS, Ein Stich RICHARD CHRISTIAN MATHESON, Verstümmler … JOYCE CAROL OATES, Martyrium KIM ANTIEAU, Heckenrose
16 25 36 40 43 67
TEIL ZWEI Noch lange hin bis zum Morgen LISA TUTTLE, Ersatz DONALD R. BURLESON, Ziggles RAMSEY CAMPBELL, Am anderen Ende KARL EDWARD WAGNER, Tote sind das einzig Wahre M. JOHN HARRISON, Gifco WHITLEY STRIEBER, Eins mit dem Tier
83 105 119 143 170 189
TEIL DREI Willkommener Tod THOMAS TESSIER, Zum Lob der Narretei WILLIAM F. NOLAN, Der Besuch GEORGE CLAYTON JOHNSON, Der Klang der Wahrheit DAVID MORRELL, Niemand wird dir was tun STEVE RASNIC TEM, Unter der Erde ROBERT DEVEREAUX, Bucky geht zur Kirche
203 224 231 243 270 289
TEIL VIER Wahrscheinlich der Teufel BARRY N. MALZBERG, Dumbartons Oaks CHELSEA QUINN YARBRO, Novene PETER STRAUB, Das Geisterdorf
309 316 341
Zu den Autoren Quellenverzeichnis
386 392
Vorwort »Weißt du, jetzt hast du immer noch nicht erklärt, warum Schriftsteller über irgendwelche Verrückte und die fürchterlichen Sachen, die sie anstellen, schreiben müssen!« »Du meinst ihre Hinwendung zum Außergewöhnlichen?« »Zum Außergewöhnlichen?« »Und du störst dich an der Verwendung von Symbolen.« »Symbole sind das?« »Natürlich. Kunst besteht aus Symbolen, so wie dein Körper aus lebendem Zellgewebe besteht.« »Aber warum benutzen sie dann diese …?« »Symbole des Grotesken und der Gewalt? Weil ein Buch kurz ist und ein Menschenleben lang.« »Das verstehe ich nicht.« »Denk mal darüber nach.« »Du meinst, es kommt auf die Konzentration an?« »Genau. Das Furchtbare muß komprimiert dargestellt werden.« So schrieb Tennessee Williams in seinem Vorwort zu Reflections in a Golden Eye (Spiegelbild im goldnen Auge) von Carson McCullers. Wie allen ihren Werken liegt auch diesem kurzen Roman das Thema Isolation und seelische Entfremdung zugrunde. Aber Williams hätte das gleiche seinen eigenen Theaterstükken und Erzählungen voranstellen können, in denen ebenfalls Figuren, die am Rande der Gesellschaft leben, mit tragischer Verkennung der Folgen zwanghaft nach Liebe und Erlösung suchen. Bei ihm waren es Krüppel, Sträflinge, Prostituierte und Psychopathen, bei ihr Taubstumme, Bucklige, Zwerge und Schizophrene; und bei beiden Autoren kulminierte die dramatische Entwicklung oft in einem Moment extremer Gewalt – Mord, Kastration, Selbstmord – oder niederschmetternder Resignation und völliger Verlassenheit. Kurz gesagt, was diese 8
Autoren uns mitzuteilen haben, ist nur wenig ermutigend. Und dennoch gehören ihre Werke zu den stärksten und bewegendsten der modernen Literatur. Die Akteure in ihrem Schmerz und ihrem Leid sind unvergeßlich und berühren uns durch und durch menschlich. Der Grund dafür ist, daß sowohl McCullers wie Williams mit den dunkleren Seiten des Lebens vertraut waren und daß es ihnen gelang, das Grauen anschaulich und in allgemeingültiger Form darzustellen. Ich erwähne das alles nur, um die Leser des vorliegenden Buchs daran zu erinnern, daß sich diese Themen oft auch in der sogenannten seriösen Literatur finden und die Beschäftigung damit zu einer Tradition gehört, die weiter zurückreicht und viel umfassender ist, als die Spezialisten auf diesem Gebiet überhaupt ahnen. Denn seit Horror ein so populäres und erfolgreiches Genre geworden ist, scheinen manche Schriftsteller (und selbst Kritiker, die es eigentlich besser wissen müßten) die Meinung zu vertreten, sie hätten diese Literatur, die von Gewalt, Schmerz und dem Grotesken handelt, erst erfunden, was – bestenfalls – von einer Naivität zeugt, die ich unerträglich finde. Vom Standpunkt der Vermarktung aus gesehen, ist diese Haltung natürlich nur logisch, da eine Einordnung in bestimmte Schubladen den Verkauf fördert. Wenn Sie was ganz Bestimmtes haben wollen, suchen Sie es dort, wo man auf so etwas spezialisiert ist oder zumindest den Anschein dafür vortäuscht. In unserem Fall allerdings führt es dazu, daß der Leser nicht nur Williams und McCullers in diesem Zusammenhang gar nicht beachtet, es entgehen ihm z. B. auch Bücher wie The Seven Who Were Hanged von Andreyev, Johnny Got His Gun von Trumbo und zahllose andere, deren Titel allein schon eine so lange Liste ergäbe, daß die Seiten dieses Buches dafür kaum ausreichen würden. Mit anderen Worten, wenn man seine Lektüre nur auf das beschränkt, was für ein spezielles Publikum angeboten wird, ahnt man womöglich nicht, was einem alles entgeht. Die starre Einteilung in verschiedene Genres dient nur den Interessen 9
bestimmter Gruppen und nicht unbedingt dem Leser. Ich habe als Schriftsteller und Herausgeber getan, was mir möglich war, um gegen eine solche Haltung anzugehen, indem ich Literatur schreibe und präsentiere, die zum größten Teil nicht mit den herkömmlichen Schablonen arbeitet, sondern originell ist und alle Kategorien sprengt. Wie ich schon früher gesagt habe, liegt mir nichts daran, willkürlich gesetzte Beschränkungen auch noch zu zementieren. Diese Einstellung hat sich gelegentlich nachteilig auf meine Karriere ausgewirkt. Leichter wäre es gewesen, mit gängigem Material zu arbeiten und ganz gezielt und folgsam bestimmte Erwartungen zu erfüllen – leichter und doch sinnlos. Sei’s drum, mir kommt es auf etwas völlig anderes an: Ich möchte die Grenzen dieses enggefaßten Gebiets erweitern, indem ich Althergebrachtes in Frage stelle und darauf dränge, sich ein wenig öfter an wirklich lohnende Themen heranzuwagen. Ob ich damit etwas erreichen kann oder ob diese Anregungen sich unter dem Druck der gegebenen Verhältnisse in unserem trägen Literaturbetrieb abschleifen und versanden, bleibt abzuwarten. Sie, die Sie diese Worte heute lesen, kennen vielleicht bereits die Antwort; ich nicht, und eine Vorhersage zu machen, ist schwierig. Metahorror hat daher nicht nur gute Unterhaltung zum Ziel, sondern möchte ein Gebiet neu definieren, bereichern und erweitern, von dem ich hoffe, daß es sich nicht in alle Ewigkeit von anderen Literaturgattungen abschottet. Die wechselseitige Befruchtung durch das Niederreißen der Schranken kann allen nur nutzen, egal auf welcher Seite sie stehen. Zum Beispiel hat unser Genre heute sehr viel mehr zu bieten als ›Gewalt und Grausamkeit, dilettantisch zu einem attraktiven kommerziellen Produkt verpackt‹, wie J. G. Ballard es einmal umschrieben hat. Es ist letztlich eine Literatur in extremis; ihre zentrale Thematik ist das Leben und der Tod. Woher kommen wir? Was fangen wir mit unserem Leben an? 10
Was kommt danach? Alles andere ist dagegen unerheblich; auch ein Kunstwerk ist, mehr noch als ein Leben, nur eine kurze zeitliche Erfahrung. Du meinst, es kommt auf die Konzentration an? Genau. Das Furchtbare muß komprimiert dargestellt werden. Die besten ›Horror‹-Autoren sind diejenigen, die sich nicht damit begnügen, bereitwillig die Erwartungen ihres Publikums zu erfüllen. Sie sind empfänglich für die großen Fragen, wozu in erster Linie der Tod gehört, über den hinaus es keine Gewißheit gibt; denn sicher läßt sich nur eines sagen, nämlich daß wir sterben werden. Mir persönlich erscheint für solche Themen die Kurzgeschichte unvergleichlich gut geeignet, da sie eine Darstellung in verdichteter oder konzentrierter Form fördert, obwohl ich immer wieder zu hören bekomme, daß die meisten Leser Romane vorziehen. Allgemein herrscht die Auffassung, daß sich nur Romane gut verkaufen – und das trotz des riesigen Erfolgs und der beständigen Neuauflagen von Kirby McCauleys Dark Forces (1980), von Douglas Winters Prime Evil oder meinem eigenen Buch Cutting Edge, ganz zu schweigen von Büchern mit Erzählungen von Lovecraft und Bradbury, Gates und Salinger u. a. … Das sind Ausnahmen, heißt es, die die Regel bestätigen. In Wirklichkeit ist diese Regel lediglich das zwingende Ergebnis einer falschen Einstellung. Wenn von einem Buch nur eine relativ kleine Auflage gedruckt wird, weil die Verkaufsabteilung der Ansicht ist, daß es sich nicht absetzen läßt, und wenn diese Auflage dann ohne das geringste Bemühen um ein klein wenig Werbung dafür erscheint, ist das Resultat natürlich genau wie vorhergesagt. Aber an wem liegt das? Dahinter steckt die Theorie, Romane seien irgendwie besser oder wichtiger – was erstens völlig abwegig ist und zweitens 11
gerade für die heutige Zeit, in der so viele Ablenkungen miteinander um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren und kaum jemand zum Lesen kommt, nicht gilt. Erst recht läßt sich aus dem Umfang eines Kunstwerks kein Qualitätsmaßstab ableiten. Würde irgend jemand behaupten, daß Poesie, die ganz extrem mit den Feinheiten der Sprache arbeitet, minderwertig ist als Prosa? Oder daß eine Fotografie von Ansel Adams oder Edward Steichen, hinter der bis zum fertigen Bild eine Vielzahl kreativer Prozesse stecken, von der künstlerischen Leistung her geringer einzuschätzen wäre als bewegte Filmbilder mit vierundzwanzig Aufnahmen pro Sekunde? Dennoch scheint im Moment, zumindest in der Verlagswelt, die Annahme vorzuherrschen, daß mehr besser ist. Warum? Ein Grund mag sein, daß sich heute nur wenige gestandene Autoren, die ihr Handwerk verstehen, die intensive Beschäftigung mit Kurzgeschichten leisten können, da das Honorar kaum über dem liegt, was man vor zwanzig Jahren erhielt und nicht einmal hoch genug ist, die Inflationsrate auszugleichen. Folglich sind die meisten Kurzgeschichten, die derzeit in diesem Genre erscheinen, die Arbeiten von Anfängern, die noch dazulernen müssen, aber darauf brennen, etwas zu veröffentlichen, und sei das Honorar noch so schlecht; oder sie stammen von wetterwendischen Schreiberlingen, die auf jeden Zug aufspringen, von den Strichern, Scharlatanen, selbsternannten Berühmtheiten und Huren, wie sie so typisch sind für die Kulturszene der ReaganBush-Ära. Daß es bei solchen Widrigkeiten überhaupt noch gute Kurzgeschichtenautoren gibt, ist fast schon ein Wunder. Aber es gibt sie, wie dieses Buch belegt. Ich war überrascht und begeistert, daß mir Hunderte von Manuskripten unverlangt zugesandt wurden. Offensichtlich hat hier im Land sogar etwas wie eine Renaissance eingesetzt. In Dutzenden von Kleinverlagen erscheinen Zeitschriften für Literatur der Gattung Horror/Dark Fantasy, so wie es früher bei Science Fiction, Fantasy und 12
Krimis der Fall war, wo die Kurzgeschichte jahrzehntelang fast ausschließlich in solchen Blättern florierte. Ich habe neben Arbeiten von namhaften Autoren, die im Verlauf ihrer Karriere oft auch ganz andere Sachen geschrieben haben, für dieses Buch die allerbesten Geschichten noch nicht so bekannter Autoren ausgewählt.* Entsprechend meinem Grundsatz, nur wirklich Interessantes zu präsentieren, ungeachtet dessen, ob es in irgendein Schema paßt, habe ich mehrere Stories aufgenommen, über die mancher Leser vielleicht anfangs stutzt, die er aber schließlich ungemein lohnenswert finden wird. In Scott Edelmans ›Sind Sie oder waren Sie?‹ geht es nicht um Hexen oder Werwölfe, sondern um einen sehr realen Vampir, um den fanatischen Hetzer Joe McCarthy, um den Kongreßausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe und um das Erbe der Schwarzen Listen. ›Novene‹ von Chalsea Quinn Yarbro handelt von politischem Terror in einem anderen (absichtlich nicht näher bestimmten) Teil der Welt. Steve Rasnic Tem rückt mutig das Thema AIDS – vielleicht der einzige noch existierende und bösartigste Horror – ins Blickfeld. Die stets überraschende Joyce Carol Oates behandelt in ihrer brutalen Fabel, die aus dem in Kürze erscheinenden Sammelband Tales of the Grotesque stammt, Sexismus und Testosteronvergiftung. Und ›Das Geisterdorf‹ von Peter Straub spielt nicht in irgendeiner Kleinstadt in New England, sondern führt uns zurück nach Vietnam, wo das Geheimnis aufgedeckt wird, auf das in ›Blue Rose‹ und ›Koko‹ nur angespielt wurde. Doch das ist lediglich ein kleiner Querschnitt. Weitere erstaunlich unkonventionelle Stories (von denen jede einzelne *
Die für dieses Projekt zuständige Redakteurin, Jeanne Cavelos, verdient besonderen Dank dafür, daß sie die talentiertesten dieser Autoren einer breiteren Öffentlichkeit vorstellt. Ihre bemerkenswert mutige Reihe, Abyss Books, klammert sich nicht an irgendwelche Traditionen, sondern legt allein den Maßstab hervorragender Qualität an. 13
eine Glanzleistung darstellt, wie ich hinzufügen könnte) stammen von Ramsey Campbell, Karl Edward Wagner, David Morrell, Whitley Strieber, Lisa Tuttle, Barry N. Malzberg, Jack Dann, William F. Nolan, M. John Harrison, George Clayton Johnson, Richard Christian Matheson, Thomas Tessier, Lawrence Watt-Evans und Donald R. Burleson; daneben gibt es zwei fürchterlich schöne Arbeiten von Autoren, die mir, wie ich gestehen muß, bislang unbekannt waren, Kim Antieau und Robert Devereaux. Die Anerkennung für das erstaunlich hohe Niveau gebührt nicht mir – ich bin nur der Vermittler –, sondern dessen zweiundzwanzig außergewöhnlichen Schriftstellern. Ihre Arbeiten sind insgesamt sowohl inhaltlich wie stilistisch wundervoll variantenreich, und, wie Sie wissen, kommt es mir genau darauf an. Alles in allem hat dieses Buch eine einzigartig anregende, ja sogar erhebende Wirkung, was es vielleicht von allen anderen Horroranthologien unterscheidet. »Glückselig«, schrieb Pindar über die Initiation in die eleusinischen Mysterien, »wer seines Weges wandelt, nachdem er dies erblicket. Er kennt das Ende des Lebens gleichermaßen wie dessen von den Göttern geschenkten Beginn.« Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Johannes 14, 17-18 Dennis Etchison
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TEIL EINS Etwas ist geschehen
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BARRY N. MALZBERG & JACK DANN
Melancholie und die abstrakte Wahrheit Dies hier ist kein geistlicher oder medizinischer Rat. Eine präzise Diagnose ist es aber doch. Ertrag sie mit mir. Damit wir’s ein für allemal klären. Und so fängt’s an: Wir haben 1963, und du bist mit einem Mädchen namens Mollie zusammen. John F. Kennedy ist vor drei Wochen (du kannst es nachschlagen) auf der 22. umgelegt worden, und LBJ sagt uns, wir werden weitermachen … Weitermachen, womit? ›Dankeschön‹ und ›Call Me Irresponsible‹ sind Tag und Nacht im Radio zu hören, Gott steh uns bei. Du warst in einer College-Bar in Hempstead, Long Island, wo ein Typ eine bombige Jazztrompete spielt, und du hast das Mädchen aufgegabelt, das sein erstes Semester an der Hofstra macht und von irgendwo aus dem Norden stammt, wahrscheinlich aus Cohoes. Mollie sagt, sie war das einzige jüdische Mädchen auf der High school, und jedes weitere Wort aus ihrem Mund klingt wie ›aou‹. Du hast sie mit in dein möbliertes Zimmer im zweiten Stock von Mr. Seitmans Gästehaus in East Meadow genommen. Du hast gedacht, du würdest sie ins Haus schmuggeln müssen, aber der herrschsüchtige, halbblinde Mr. Seitman ist ausgegangen, um Bingo zu spielen, und jetzt hältst du dich sicher hinter geschlossenen Türen auf und beeindruckst Mollie auf Teufel komm raus mit deinem Jazz-Fachwissen. Du studierst Musik am gleichen College wie sie (Mollie hat ein Theaterwissenschaftsexamen gemacht) und bist dir völlig sicher, daß dein Name eines Tages im jährlichen Jazz-Poll des Playboy stehen wird. Und clever bist du auch, denn du studierst Musikwissenschaft; wenn also das Schlimmste eintritt, kannst du tagsüber 16
den Pauker mimen und nachts in Clubs auftreten. Der Barras juckt dich nicht, denn du hast es mit der Magenschleimhaut, und im Augenblick läßt du gerade die klassische Aufnahme von Louis Armstrongs ›A Monday Date‹ laufen, auf der er nach dem Trompetensolo mit einer brillanten Gesangseinlage weitermacht. Mollie hat offenbar gerade angedeutet, daß sie so etwas wie eine Jungfrau ist. Sie meint zwar, Keuschheit sei in diesen Zeiten die einzig gültige Option für eine Frau, aber gegen oralen Sex hat sie nichts. Jedenfalls ist sie nicht streng dagegen. 1963, vor und nach Kennedys außergewöhnlicher Pechsträhne, war es in College-Kreisen ziemlich schick, Jungfrau zu sein (selbst dann, wenn man keine war), also ist ihr Bekenntnis keine Überraschung für dich. Es ist dir auch nicht unangenehm. »Sicher«, stimmst du ihr verständnisvoll zu. »Sicher.« Mollie sieht so aus, als hätte sie ein ansehnliches Paar Brüste unter ihrem hautfarbenen Mohairpullover, und du rechnest hoffnungsvoll damit, sie bald nackt zu sehen, aber (und das macht die Sache wirklich spannend), auf dieser Zweierparty bist du die echte Jungfrau. Du weißt nicht, wie du es ihr beibringen oder deine Unerfahrenheit verschleiern sollst. Zum Glück jedoch weiß sie, daß du sie haben willst; sie spürt deine Unbeholfenheit und holt dich gekonnt vom Haken, indem sie den ersten Schritt macht. Das Wichtigste ist, du wirst einen Abgang haben. Abgänge sind keineswegs Routineergebnisse in deinem Leben – jedenfalls nicht solche, müßte man hinzufügen, die von Frauen ausgelöst werden. Du hast den ganzen Abend darüber nachgedacht. Jetzt ist das Licht gedämpft, und der rotierende Glitzerglobus, den du an die Decke gehängt hast, bewegt sich. Die Plakate an den Wänden leuchten wie Neon: Friedenssymbole, astrologische Zeichen und jede Menge fantastische Lebewesen und Nereiden erwachen plötzlich zu radioaktivem Leben, während der Raum den Eindruck erweckt, als drehe er 17
sich in allen möglichen Farben um seine eigene Achse. Mollie und du, ihr raucht den sagenhaften guten roten Panamesen, den ein Kumpel aus der Band bei dir gebunkert hat. Mollie hat ihre Kleider abgelegt – sie ist fast nackt –, jetzt seid ihr zwar so stoned, daß ihr die Musik schon mit euren Gedanken verwechselt, aber du kriegst es auf die Reihe; du läßt deine Finger über ihre Gänsehaut gleiten, schmiegst dich an sie und reibst dich an ihr, kostest ihren nach Nikotin schmeckenden Mund, denkst auf musikalische Weise an dies und jenes (und keineswegs mehr an JFK, den armen Hund, den ein Texaner gerade umgenietet hat), und dann bist du … Umgewandelt. Es hebt dich hoch und raus, mein Alter, es hebt dich so hoch, wie die Kugeln JFK aus dem Wagen hochgehoben haben, es reißt dich förmlich hoch, und dann … Ertragen wir’s zusammen. Ich tue mein Bestes, um es zu erläutern. Die Sache geht weiter und weiter, aber es ist lebenswichtig, sie auf die Reihe zu kriegen; ohne Erinnerungen gibt’s kein Verstehen, Mollie, noch jetzt spüre ich deine Arme, die mich umschlingen, und deine Zunge, und dann … Jetzt bist du irgendwo. Du bist hier. Du bist an diesem Ort. Es ist, als würde der Wind dich eine Treppe hinunterwerfen. Es ist, als würde ein elektrischer Schlag dich aus dem Tiefschlaf reißen. Und du bist hier, mein Alter, ohne Übergang – Reiß! Peng! – und du sitzt in einem großen Büroraum, den man in kleine Nischen unterteilt hat. Die Pinnwandoberfläche der einsfünfzig hohen Nischenteiler ist pulverblau, der Warenhausteppich zeigt ein trübes Braun. Die Nischenteiler stehen rechts von dir, und in den Nischen hocken sechs Leute, jeder in einer, sie telefonieren, bis sie sich plötzlich alle umdrehen und dich ansehen, dich anstarren, auf eine Erklärung warten. Du hast offenbar 18
irgendein eigenartiges Geräusch erzeugt, und wer kann’s dir verübeln, wo doch gerade noch Mollies Gesicht in deinem Blickfeld war. Und jetzt siehst du das … Du siehst die sechs Leute an und würdest am liebsten »Scheiße, was geht hier vor?« sagen. Doch damit würdest du deine Einstellung sofort preisgeben. Nicht ohne Grund verfügst du über die Gerissenheit der sechziger und einen Rest der Verschmitztheit der späten fünfziger Jahre. Dir brummt die Birne jetzt noch von der Kifferei (vielleicht war das Zeug zu gut), deswegen sagst du, dein cooles Ego an die Lage anpassend: »Weitermachen, Leute. Der Computer hat mir nur ‘n Schlag verpaßt.« Das Aussprechen dieses Wortes fällt dir leicht. Computer. 1963 war es noch ein Fachausdruck, wie Astronaut und Satellit, aber irgendwie hast du Zugang zu ihm gehabt. Wie dem auch sei, dennoch ist dir alles hier neu, und als du deine Hände ansiehst, weißt du, daß du älter geworden bist. Du bist keine zwanzig mehr, das steht fest. (Ich wünsche dir, daß du’s wärst!) Deine Hände sind stabil und weisen die harten Zeichen der Zeit auf, und du weißt, jetzt weißt du’s wirklich, wenn du eine Hand vor die Augen hebst, wirst du Falten und einen borstigen, steifen Schnauzbart fühlen. So stürmt die Zeit voran. Sie versetzt einen nicht nur körperlich. Vielmehr hat sich verschoben. Doch den Umständen gemäß zeigst du dich erstaunlich gelassen. Inzwischen hast du natürlich genug Zeit gehabt, um darüber nachzudenken: über deine Gelassenheit, deine Fusion, deine Anpassung an das Unmögliche. Weil du eben zweigeteilt bist: Da haben wir den abgewürgten, gelähmten Teil deines Ichs, der hier gelandet ist, und dort den entfernten und kalten Teil, mit dem du gerade verschmolzen bist. Es ist das entfernte ›Ich‹, das Computer versteht und über den genauen Zweck dieses Büros informiert ist: Das Büro dient dazu, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen etwas zu verkaufen, das niemand braucht 19
und keiner haben will. Du verkaufst ›Unterhaltung‹. Dies hier ist die Abonnentenaufreißabteilung eines KabelTV-Senders. Aber der junge – verlagerte – Teil deines Ichs fragt sich, wie, zum Henker, du ausgerechnet hier gelandet bist. Im absoluten Nichts. Du hattest doch vor, ein gottverdammter Musiker zu werden. Eigentlich müßtest du jetzt einen Auftritt im ›Metropol‹ oder in der ›Halbnote‹ absolvieren. Im schlimmsten Fall müßtest du einen Lehrauftrag haben, vielleicht nicht gerade in Juillard, aber gegen eine annehmbare Universität wäre ja auch nichts einzuwenden. Aber ganz bestimmt dürftest du nicht den Chef von sechs Halbtagskräften spielen, die am Freitagabend arbeiten. Und dein entfernter, älterer Teil – das Ich, das du immer schneller kennenlernst, das Ich, das sich aufgrund seiner zweiundvierzigjährigen Erfahrungen und Frustrationen bis zum geht nicht mehr angepaßt hat – hat dir überhaupt nichts zu sagen. Weil du durchblickst, Alter. Du blickst voll durch. Eine junge Frau von etwa zwanzig sagt mit einem plumpen Lächeln: »Yeah, das passiert mir auch schon mal, wenn ich was eingebe. Da kriegt man echt das Flattern, nich?« Ihre Haut ist tief gebräunt, und sie hat rehbraune Augen. Es ist offenkundig, daß ihre lange, weißblonde Haarmähne gefärbt ist; die Spitzen sind von zahllosen Bleichaktionen abgebrochen. Der Teil deines Ichs, mit dem du verschmolzen bist, das ausgebrannte, zynische ›Ich‹, das sich mit Computern auskennt, weiß, daß sie Franny heißt. Sie ist jetzt seit sechs Monaten hier – für diese Branche ist das lange. Vor kurzem hast du sie gefragt, ob sie mit dir essen gehen würde, und sie hat gesagt: »Nein, nicht mit verheirateten Männern; das hab’ ich einmal mitgemacht; ich hab’ die Nase voll.« Auch das: eine Demütigung, obwohl du der Boß bist und den Laden hier beherrschen solltest. 20
Jetzt kennst du also den einen oder anderen Zwischenfall aus dem Leben dieses Mannes. Obwohl alles neu und aufregend ist, weißt du jetzt, daß ungefähr zwanzig Jahre vergangen sind und du mit deinem älteren Ich verschmolzen bist, aber ob er wirklich du ist oder ein Faksimile, das sich geschlagen gegeben hat, weißt du noch nicht genau. Die Hoffnung rankt noch immer in deinem Herzen. Dir hätte so etwas eigentlich nicht passieren können. Doch zusammen mit der Verlagerung kommt die sofortige Reife, und du erfährst die reine Wahrheit, wenn dir auch klar ist, daß es einer Art Tod gleichkommt, sie in ihrer Gänze hinzunehmen. Langsam und zaghaft, schnell und verzweifelt, hast du die Antworten. Und hast doch wieder keine. Das Dröhnen der Droge ist verklungen – bestimmt hat das Reißen es hervorgerufen –, und du befindest dich dermaßen eiskalt und klar auf der Ebene der reinen Funktion, daß es dich entsetzt. Obwohl du an den Schalthebeln sitzt, hast du die Kontrolle verloren. Du kapierst, daß JFK schon halb solange tot ist, wie er gelebt hat, und Phil Spector ist auch nicht mehr da. »Na, komm schon«, sagst du so freudlos, wie du dich in deiner Aufsichtsposition fühlst, »jetzt wird weitergearbeitet.« Und als wüßtest du, was du hier machst, als gehörtest du dazu (Und du gehörst dazu! Du gehörst dazu!), widmest du dich wieder dem Computer. Während ein Teil deines Ichs verwundert gafft, sieht sich der andere die Liste der PR-Vertreter des Senders an, tipp im gleichen Atemzug Namen und Adressen und beantwortet die auf dem Bildschirm erscheinenden geheimnisvollen Fragen mit J und N. Der Bildschirm erinnert dich an die leuchtenden Plakate in deinem abgedunkelten Zimmer in East Meadow, an das Zimmer, in dem du vor ein paar Sekunden Mollies Mund geküßt hast; er war noch feucht und süß und rot und schmeckte nach Erdbeeren, denn sie hatte ihn erst kurz zuvor bemalt.
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Draußen sein und reinschauen … Drinnen sein und rausschauen das ist mein Mantra. Da bin ich gerade zwanzig und geb’ mir Mühe, einen Treffer zu landen, und im nächsten Moment bin ich zweiundvierzig und beaufsichtige den Verkauf von Kabelanschlüssen in der Provinz, die Mollies Heimatstadt Cohoes mit einschließt. Ich bin mit einer Frau namens Ellen Aimes verheiratet; für mich ist es die erste Ehe, für sie die zweite. Wir sind seit achtzehn Jahren verheiratet und haben eine Tochter: Mollie. (Aufgrund eines irrwitzigen Zufalls und eines boshaften, aber dämlichen Schicksals heißt Ellens Mutter ebenfalls Mollie.) Einmal pro Woche üben wir behutsam Geschlechtsverkehr aus, immer im Bett und in der Missionarsstellung. Ellen ist Mathematiklehrerin an einer Realschule. Ich verdiene ungefähr fünfundzwanzigtausend im Jahr, Ellen verdient dreißig. Ich fahre einen 83er Pontiac Catalina und sammle Schallplatten – Bebop und Modern Jazz. Aber ich trete nirgendwo auf. Ich habe nicht mal ein Instrument im Haus. Ich brauche kein achthundert Pfund schweres Piano, das mich an mein Versagen erinnert. In der Zeit vor meiner … Verschmelzung, Rückkehr, Fusion (nenn es wie du willst) war ich in drei ehebrecherische Beziehungen verwickelt, die eine Gesamtzahl von acht Geschlechtsverkehren ergeben haben; keine davon war besonders erfolgreich, und alle betrafen jüngere Mitarbeiterinnen. Ellen weiß nichts davon; sie weiß auch nicht, daß ich gerade aus meiner Vergangenheit gerissen und in meine Zukunft geschleudert worden bin; das Dazwischen habe ich nicht erlebt. Aber eins weiß ich: Würde ich es jemandem erzählen – irgend einem –, ich käme in ernsthafte Schwierigkeiten. Es brächte Unruhe ins Leben; es würde das Leben auf den Kopf stellen. Mein Leben würde gefährlich werden, ich wäre schlecht beraten. Ich kriege es nicht in den Griff. Ich muß Rechnungen bezahlen. Ich muß ein Leben – ja, ein Leben – führen. Mollie braucht einen Vater. Sie ist elf Jahre alt und 22
fängt an, mich auf eine heilsame, stumpfsinnige Art zu hassen. Wie, frage ich dich, kann ich jemandem davon erzählen? Wie kann ich, außer in dieser Rückbesinnung, mein Schicksal und auch meine Verfassung deutlich machen? Nur dies: Ich war mal zwanzig; der Schuß, der JFK umgebracht hat, muß mich irgendwie in mein neues Leben hinauskatapultiert haben; jahrelanges Schauen von draußen nach drinnen, und dann bin ich selbst drin und schaue hinaus, und dann, und dann … Dann noch ein Schuß, ein weiteres Katapultieren – und ich bin vierzig, verheiratet, Vater; ein erfolgloser Ehebrecher (vielleicht kann man es als Erfolg bezeichnen, daß ich nicht erwischt worden bin); der traurige Fall eines sich abrackernden Mannes am Rande der mittleren Jahre; und mir ist klar, daß ich drinsitze und hinausschaue. Gewaltsam vertrieben sitze ich in der Falle; ich habe keinen Augenblick, keinen einzigen Augenblick in der Mitte erlebt. Aber ich habe die Verschmelzung mit großer Leichtigkeit aufgenommen. Ich hätte sie doch auch in den ersten Momenten der mittleren Jahre verlieren können – doch ich habe mich in die Zukunft eingeklinkt, sie gerettet. Eingeklinkt … Und ich nehme den Auftragsschein für eine Neuabonnentin in Cohoes (der all dies nämlich ausgelöst hat), und starre ihn nur an, starre ihn nur an. Bist du es, Mollie? Bist du es, was ich da sehe – erster und zweiter Vorname, neuer Nachname? Habe ich das aus dir gemacht? Einen Namen und eine Adresse auf einem Auftragsschein? Ich werde dich nie anrufen. Es wäre eine Katastrophe. Ich werde dich anrufen. Es wird eine Katastrophe. Du hast vor, sie anzurufen, nicht wahr, Alter? Wenn du’s tust – ach, du armer Hund –, wenn du’s tust: 23
Bringt es dich dann wieder zurück? Glaubst du das? Glaubst du das? Glaubst du das?
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SCOTT EDELMAN
Sind Sie oder waren Sie? ASTIGMATISMUS: Wenn er auf sein Leben zurückblickt, ist ihm, als fehle ihm die richtige Brille. Oder vielleicht – was passender wäre, wie er meint – der dazugehörige Anhang mit Erläuterungen, Tabellen, Kommentaren und Anmerkungen. Als Lexikograph, der sich hauptsächlich über seine Arbeit definiert, würde dieser Verlust sein Leben mehr als alles andere bedeutungslos machen. Während er über seine Freunde und seine Familie nachdenkt, steigt daher in ihm die Befürchtung auf, daß sie ihr Gewissen den jeweiligen Trends anpassen könnten, und der Sinn des Lebens erscheint ihm so wenig existent wie Larry Parks Karriere oder so düster wie das Klopfen der Hand, die eine Vorladung überbringt. ZWEIFEL: Niemand konnte verstehen, warum er auf einmal zu fragen begann: »Was würdest du tun? Was würdest du machen?« Es war plötzlich sehr wichtig geworden zu erfahren, wie ihr Verhalten sein könnte. Er weiß nicht genau, warum, und wenn er seinen Zorn und seine widersprüchlichen Empfindungen in Worte zu fassen versucht, um es zu erklären, mißlingt es ihm. Dabei verdient er seinen Lebensunterhalt mit Worten; Worte sind sein Leben, und trotzdem schafft er es nicht – ausgerechnet in dieser Situation, wo es wirklich darauf ankommt, daß die Worte für ihn das ausdrücken, was sie sollen. Er wünscht sich so sehr, daß sie ihn richtig verstehen, doch wenn er sich bemüht, ihnen seine innersten Empfindungen offenzulegen, zeigen sie sich verwirrt statt verständnisvoll. Manchmal befürchtet er allerdings, diese verwirrten Blicke rühren weniger daher, daß es ihm nicht gelungen ist, sich verständlich zu machen, sondern gerade daher, weil es ihm gelungen ist. 25
VERFINSTERUNG: In seinen Träumen sind die Menschen, die er kennt, für gewöhnlich aussagewillige Belastungszeugen. Der Schauplatz ist immer der gleiche. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal einen Traum hatte, der nicht mit dieser Obsession in Verbindung stand. Einen Traum, der an seinem Arbeitsplatz spielte, in der Schule oder zu Hause. Er ist nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt je solche Träume hatte. Sicher weiß er nur, daß diese Menschen, wenn er sie jetzt in seinen Nächten sieht, angespannt wirken, daß wahre Schweißbäche ihre Gesichter von allen Sünden reingewaschen haben – und daß Namen genannt werden. Die meisten Namen sind nicht zu verstehen; sie gehen unter im Gemurmel und dem unterdrückten Aufstöhnen der Menge. Der einzige Name, den er beständig ausmachen kann, ist sein eigener. Ist das die Achtung, die mir entgegengebracht wird, denkt er in seinen Träumen. Und dann: Es könnte vermutlich schlimmer sein. Doch es kommt auch vor, daß diese Gesichter zu denjenigen mit den Hämmern in den Händen gehören, die darauf lauern, ihn zum Schweigen zu bringen, selbst wenn sie ihn zum Reden auffordern. Im Wachzustand ist er nie ganz sicher, wer wohin gehört, wer Inquisitor ist oder willfähriges Opfer. Aber kein einziger verweigert sich jemals der Zusammenarbeit mit den Menschen, die ihn bedrohen, und pfeift auf die Folgen. Und das enttäuscht ihn. NACHFORSCHUNG: Bei einem Wort hat er es in der Hand, genau dessen Aussage zu bestimmen, doch bei Menschen ist das nie der Fall. GESCHICHTE: Er versucht sich zu erinnern, ob es eine Zeit gegeben hat, als es anders war, aber trotz aller Bemühungen gelingt es ihm nicht. Es wäre leichter, eine Spule Mikrofilm in einem Kürbisbeet zu finden. Er kann sich nicht erinnern, je frei von Angst, frei von Furcht gewesen zu sein, auch wenn er 26
sicher ist, daß es eine solche Zeit gegeben haben muß. War sein Leben nicht früher einmal ruhig und friedlich, als er zusammen mit den Kollegen, die wie er an dem Wörterbuch arbeiteten, ins Büro ging und sich zuversichtlich der Aufgabe widmete, aus dem Chaos der Geschichte die Abstammung der vorliegenden Begriffe herauszuschälen? Gab es nicht einmal eine Zeit, als diese Aufgabe sein Leben so erfüllte, daß kein Raum mehr blieb für seine Obsession? Jetzt ist die Angst sein ständiger Begleiter. Sein Leben ist ihm abhanden gekommen, so wie es bei Träumen manchmal geschieht: Alles zerbröckelt, sobald man sich genauer damit beschäftigt. Er weiß nicht einmal mehr genau, ob er überhaupt gelebt hat und nicht vor einem Monat voll erblüht ins Dasein gesprungen ist, wobei ihm seine Obsession als frischgedruckte Mitgliedskarte übergeben wurde. EPIPHANIE: Jahrzehnte sind vergangen, und immer noch weigern sie sich, nebeneinander zu sitzen, dachte er, als er die Dokumentation im Fernsehen verfolgte. Noch immer vergeben sie nicht. Wie wundervoll muß es sein, solch leidenschaftlichen Zorn zu empfinden! Sich zu einem Anklagepunkt zu bekennen, ist schwieriger als den ganzen Prozeß zugewinnen. Er wußte nicht, was ihn trauriger machte: daß er sich keine wirklichen Freunde oder keine lebenslangen Feinde erworben hatte. Allmählich begann er an seinem Leben zu rütteln, wie man als Kind an einem Lieblingsspielzeug rüttelt, um endlich zu erfahren, wie es funktioniert; als sei es für ihn ein vollkommenes Geheimnis, in welches Kästchen jeder einzelne seiner Bekannten gehörte. BRIEFUMSCHLÄGE: Als er an diesem Morgen seine Büropost erhält, ist ihm, als komme sie aus einer anderen Zeit. Die Umschläge tragen braune Altersflecken. Der Packen Druckfahnen liegt schwer in seiner Hand. Ist es die Transkription seiner 27
Zeugenaussage? Dieser Umschlag hier? Enthält er die Entscheidung, die Deborah Kerr nun verkünden soll, daß der Oscar an Robert Rich geht? Er öffnet ihn, findet nur Druckfahnen, Mitteilungen und die übliche Post, und er ist tief enttäuscht. ANSCHULDIGUNG: Es war drei Uhr morgens, als er zum erstenmal von seiner Frau zu wissen verlangte, was sie tun würde, wenn. Sie drehte sich schläfrig zu ihm um. »Das sollte ich mal tun«, sagte sie. »Dich mitten in der Nacht aufwecken und die Fragen stellen, die du gar nicht verstehst, weil du zu benommen bist. Wovon redest du?« Es erschien ihm zu lächerlich, seine Frage zu wiederholen, und so sagte er nur, daß es wahrscheinlich nicht weiter wichtig sei. STERNE: Zu einer früheren Zeit hätte er vielleicht überlegt, wer sich ihm wohl angeschlossen und gleichfalls einen gelben Stern getragen hätte, aber heute, ein Jahrzehnt später – nein, nein, fast fünf Jahrzehnte später, verbessert er sich –, ist eine andere Zeit, und überhaupt ist das hier etwas ganz anderes. Etwas speziell Amerikanisches. Es war richtig, sich gerade diese und keine andere Frage zu stellen. TIMING: Ein Lehrer könnte in der Schule seiner Tochter und den anderen Schülern sagen, sie sollten melden, falls sie jemals irgendein ›eigenartiges‹ Buch oder eine Zeitschrift bei Freunden ihrer Eltern entdeckten, das stillschweigend die offenkundige Aufforderung beinhaltete, auch ein wachsames Auge auf die eigenen Eltern zu haben. Wie würde seine Frau reagieren? Würde sie melden, daß er eine liberale Zeitung las und gelegentlich laut Passagen aus den Leitartikeln zitierte? Daß er Fernsehansprachen des Präsidenten gewohnheitsgemäß mit Schnauben kommentierte? Daß seine Großeltern immer noch in einem fremden Land lebten? Würde sie jemals begreifen, was wirkliche Liebe bedeutet? Verstehen, was Loyalität heißt? 28
Würde sie ihn in naiver Unschuld verraten? Oder mit einem verschlagenen Lächeln? Er zweifelte nicht an der Tatsache, daß sie ihn verraten würde. Er fragte sich nur, wie und wann. SIGNIFIKANZ: Schläft seine Frau mit seinem besten Freund? Diese Frage beunruhigte ihn nicht länger. Früher malte er sich, nach Abwägung aller möglichen Anzeichen, die auf eine ehebrecherische Beziehung hinzudeuten schienen, kunstvoll ausgearbeitete Geschichten aus. Jedes fremde Haar, jeder Duft, der womöglich von einem Rasierwasser herrühren konnte, rief Bilder von leidenschaftlichen Begegnungen hervor, die alle Szenen dieser Art aus Hollywoodfilmen Konkurrenz machten. Doch jetzt sind seine Verdächtigungen und Selbstquälereien anderer Natur. Die Hand des Freundes umfaßt in seinen Fantasien nicht mehr länger die Brust seiner Frau, sondern ein Mikrofon. Nicht mehr die Zärtlichkeiten, die seine Frau diesem Freund zuflüstert, erfüllen ihn mit Angst, sondern daß diese Lippen seinen eigenen Namen hauchen. Ehebruch erscheint ihm längst nicht mehr ein so gravierender Verrat zu sein. SYNCHRONISATION: Er begann seine Zeit zu verfluchen und betete um die Rückkehr eines repressiveren Jahrhunderts. Er spielte mit dem Gedanken, sich auf die Liste einer anderen Partei als Wahlberechtigter eintragen zu lassen, um die Erfüllung seines Wunsches zu beschleunigen, und gab diesen Gedanken erst auf, als ihm klar wurde, daß er nicht wußte, ob eine Stimmabgabe für die Republikaner oder die Demokraten wohl eher das Vergangene zurückbringen würde. Er wollte alles tun, damit es schneller geschah und verfluchte sich dafür, daß er sich nicht entscheiden konnte, was zu tun war. Er war überzeugt, daß er ohne den Druck dieser Prüfung nie seinen eigenen Wert erfahren könne. »Sind Sie oder waren Sie jemals?« würden sie ihn fragen, wenn der Tag kam. Und was würde er antworten? Was würden die anderen sagen? 29
CINESCOP: Als die Dokumentation wiederholt wurde, war er bereit. Er saß in seinem Wohnzimmer, preßte ein Fernglas an die Augen und meinte, im Hintergrund der grobkörnigen Bilder einzelne Gestalten identifizieren zu können. War das seine Mutter, die sich eben vorbeugte und Roy Cohn etwas ins Ohr flüsterte? Möglich, daß sie dort gewesen wäre, keine Frage. Doch ehe er wirklich etwas deutlich erkennen konnte, schwenkte die Kamera schon wieder zur Seite. Er hörte seine Frau ins Zimmer kommen, wandte sich aber nicht zu ihr um. Sie verstellte ihm den Blick. Er wartete eine Sekunde. Zwei. »Entschuldige«, sagte er schließlich und starrte weiterhin durch das Okular. Einen Moment lang blieb noch alles schwarz. Dann hörte er ein Klicken, und als er wieder auf den Bildschirm schauen konnte, sah er dort einen Zeichentrickfilm. FRAGEN: Ein Kollege erkundigt sich beiläufig, mit wem er gestern zum Mittagessen war, und er fühlte sich plötzlich bedroht. Oberflächlich gesehen, scheint es eine ganz belanglose Frage zu sein, aber aus welchem Grund stellt er sie? Sie leben in Amerika, einem Land, in dem jeder seinen Umgang frei wählen kann. Verdammt noch mal, was ging es jemand anderen an, mit wem er sich zum Essen traf! Weshalb mußte er ein solches Verhör erdulden! Der Kollege musterte ihn unsicher und fragt: »Ist alles in Ordnung mit dir?« – »Ich verweigere die Aussage«, erwidert er. Der Mann nickt und geht weg. PERSPEKTIVE: Er beginnt sich zu fragen: Wo gehöre ich hin? Die Träume kommen jetzt so oft, daß er selbst noch den ganzen Tag über den Geruch des raucherfüllten Saals in der Nase hat. Sämtliche Randfiguren seines Lebens treten auf. Und während er sie dabei beobachtet, wie sie aussagen oder mit Nachdruck auf eine Aussage drängen, versucht er, sich über seinen Standpunkt klar zu werden. Wo bin ich denn bloß? Gebt mir meinen Platz. Immer wird er wach, wenn er gerade die 30
Sitzfläche seines ihm zugedachten Stuhls fühlt. Es scheint ihm wichtig zu wissen, wo er im Traum hingehört, aber sie haben sich in Mitläufer verwandelt und verweigern ihm vorerst noch seinen Platz. LISTE: Als die Frau ihm den Aktenordner über den Tisch hinweg zuschiebt, öffnet er ihn mit zitternden Händen. Beim Anblick der Namensliste wird ihm übel. Langsam beginnt er zu nicken. »Ich kann jetzt nicht auf alle einzeln und ausführlich eingehen«, sagt er. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß ich so bald schon dazu gezwungen würde.« Seine Stimme bebt nervös. »Ich kann es nicht. Ich kann Ihnen nicht das geringste über diese Leute sagen. Ich will nicht. Diese Methode ist einfach … ist einfach nicht amerikanisch. Ich lehne das ganze Konzept ab, das hinter dieser Liste steht!« Er zerknüllt die Seiten. »Ich lehne diesen Ausschuß ab. Ich lehne …« Er hat Kopfschmerzen, und als er in die Runde schaut, sieht er, daß um den Tisch herum, wie üblich bei der wöchentlichen Besprechung, seine Kollegen sitzen. Er legt die Seite vor sich und glättet sie. Die Liste besteht aus Slangwörtern, über deren Aufnahme in die neueste Ausgabe entschieden werden soll. Er entschuldigt sich und verläßt den Raum. Halb erwartet er, daß ihn auf der anderen Seite der Tür Reporter mit Fragen bestürmen, die er nicht beantworten kann. MASKE: Er hält behutsam die Zigarette zwischen seinen Lippen, um vielleicht daraus Kraft zu ziehen. Murrow hat geraucht. Für ihn ist das gleichbedeutend mit der Aussage, daß auch Gott geraucht hat. Als er schließlich das Streichholz anreißt, zittert es in seiner Hand. Es ist sein erster Versuch zu rauchen. Nach einer halben Stunde gibt er auf. Die Zigarette ist immer noch nicht angezündet; ihr Ende und mehrere seiner Finger sind angesengt.
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SCHWARZE LISTE: Die Tür fällt ganz leise hinter ihm ins Schloß, aber für ihn klingt es ohrenbetäubend. »Vielleicht hätten wir schon früher mal miteinander reden sollen«, sagt sein Chef. Sie sind allein. Sein Vorgesetzter deutet auf einen Stuhl; er nimmt mit einem Gefühl des Unbehagens Platz. »Ich habe Geschichten gehört …« – »Lügen!« ruft er hastig und springt auf. »Lügen und Unterstellungen! Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat, aber ich lasse mir diese schmutzigen Methoden nicht gefallen, ganz gewiß nicht …« Plötzlich hält er inne und schaut hinab auf seine Hände. »Tut mir leid«, sagt er. Sein Chef legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich wollte Ihnen eine kurze Erholungspause vorschlagen«, flüstert er, »aber vielleicht wäre ein Urlaub die bessere Idee. Ich glaube, Sie sollten … Sie sollten zu einem Arzt gehen.« Sie versuchen mich zum Schweigen zu bringen, denkt er. AUTOBIOGRAPHIE: Er hat jetzt sehr viel freie Zeit. Zwar war er nie ein großer Leser, doch nun stapeln sich die Bücher um ihn herum wie die Wände eines Bundesgefängnisses, etwa in Ashland, Kentucky oder vielleicht Danburry, Connecticut. Er hatte nicht geahnt, daß es so viele Bücher gab. Er hatte nicht gewußt, daß es so viele Überlebende gab, die immer noch Geschichten erzählten und nach wie vor nicht vergessen konnten. Es ist immer noch nicht vorbei. So viele Jahrzehnte sind vergangen, und es ist immer noch nicht vorbei. Registriert es irgend jemand? fragt er sich. Oder reden diese Leute bloß mit sich selbst? Er liest jedes Wort, als sei dort detailliert sein eigenes Leben beschrieben; mit zäher Beharrlichkeit wiederholt er jede Geste, jede Handlung, alle Aussagen, ganz egal, von welcher Seite sie kommen, als stammten sie von ihm selbst. Er versucht sich in den jeweiligen Rollen wiederzufinden, aber sie passen ihm alle nur schlecht wie Schuhe, die lange von einem anderen getragen worden sind.
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HORROR: Als er in das Gitterbett seiner Tochter blickt, schaut ihm aus den Laken Roy Cohns kanzeröses Gesicht entgegen. Wilder Haß überwältigt ihn beim Anblick dieser krebszerfressenen Herrlichkeit. Selbst das Wissen, daß Cohn schließlich an AIDS starb, stillt nicht diesen Haß, denn hier hat er ihn vor sich, oder etwa nicht? Vom Verstand her begreift er zu seinem Erstaunen die Tatsache, daß er tot ist, dennoch funkeln ihn die bösen Augen unter den schweren Lidern tückisch an. Er merkt, daß ihm die Finger jucken und daß sein Atem sich beschleunigt. Wütend ballt er die Hände zu Fäusten. Nervös fährt er bei einem Geräusch hinter sich zusammen. Ist es der Senator aus Wisconsin?* Nein, es ist seine Frau, die in der Tür des Kinderzimmers steht. »Was hast du gerade gedacht?« fragt sie mit einem Blick auf seine Hände. Er weiß nicht, wie er es ihr sagen soll und zuckt nur die Schultern. Sie ergreift seine Hand, zieht ihn langsam aus dem Zimmer und schließt leise die Tür. REINKARNATION: Er hat einen Videorecorder gekauft und die Dokumentation aufgezeichnet. Ein Glück, daß es diesen automatischen Wiederholungslauf gibt. Das Gerät spult jedesmal zurück, wenn das Band abgelaufen ist, und startet gleich noch einmal. Ununterbrochen sitzt er im Wohnzimmer und schaut es sich an; nur wenn Hunger oder Erschöpfung ihn zwingen, hört er auf. Während er noch an den letzten Bissen kaut oder seine Augen noch schlafverkrustet sind, eilt er bereits wieder ins Zimmer. Inzwischen benutzt er das Fernglas nicht mehr, denn er findet, daß er damit zu weit weg ist. Statt dessen drückt er jetzt seine Nase an den Bildschirm. Er sucht nach sich selbst. Seine Augen schmerzen vor Überanstrengung. Das Band ist durch das beständige Abspielen so unscharf geworden, daß er nicht mehr sicher ist, ob dort auf dem Bildschirm *
Gemeint ist McCarthy. Namen und Anspielungen in dieser Geschichte beziehen sich auf die »McCarthy-Ära«, während der in den USA Hetzjagd auf alle Kommunisten gemacht wurde. 33
wirklich der Untersuchungsausschuß agiert oder irgendein verrückter Rorschachtest stattfindet. Seine Frau betritt das Zimmer und schiebt ihn schimpfend vom Fernseher weg, holt die Kassette aus dem Rekorder, zieht das Band heraus und wirft es wie Luftschlangen über den ganzen Boden. Er versucht sie mit Gesten zu beschwichtigen, aber er wagt nicht, sie zu berühren. »Jetzt hör mir gut zu!« schreit sie. »Du hast lange genug überlegt, was du damals getan hättest. Sieh dir lieber mal an, wie du dich heute verhältst!« Wütend schleudert sie die Kassette in seinen Schoß und stolziert aus dem Zimmer. Nach einem Moment beginnt er langsam, das Band wieder aufzurollen. PAUSE: Sie verbirgt sich vor ihm in der Dunkelheit, und er hat das Gefühl, daß sie sich am hellen Tag genauso vor ihm verstecken würde. Er kann die Worte, die sie zu ihm sagt, kaum glauben. »Was meinst du damit – gehen?« fragt er. Bei ihrer Antwort wünscht er allerdings, sie hätte die Aussage verweigert. »Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Wenn es nur um mich ginge …, aber wir haben jetzt eine Tochter. Ich kann es einfach nicht mehr länger riskieren.« Er möchte sie anbrüllen, sie auffordern zu bekennen, wer sie dazu angestiftet hat. Hast du keinen Anstand? denkt er. Sag mir, wer mich angeschwärzt hat. Nein, das ist es nicht – hilf mir, will er sagen. Es gibt so vieles, das er sagen möchte. Statt dessen schweigt er. Seite an Seite liegen sie wach nebeneinander, bis er, gerade als die Sonne aufzugehen beginnt, einschläft, während sie weiter auf die Risse an der Decke starrt. ANTWORT: Der Schweiß brennt ihm in den Augen, und die Menge, die ihn umringt, scheint zusammenzuschmelzen. Bei ihren Fragen überkommt ihn jedoch das Gefühl, als sei er es, der schmilzt. Es waren nicht die heißen Scheinwerfer oder der beißende Rauch, sondern die verdammten Fragen. Sind Sie? 34
Waren Sie jemals? Erinnern Sie sich? Wann hatten Sie das erste Treffen mit …? Waren Sie anwesend? Warum haben Sie nicht? Die Fragen kommen so schnell, daß dazwischen keine Zeit für eine Antwort bleibt. Panik erfaßt ihn, und der heiße Schweiß tropft von seiner Stirn, als würde sein Gehirn ausgedrückt wie ein Schwamm. Wer war sonst noch da? Wie kommt es, daß …? War Ihnen damals nicht klar …? Schließlich kann er es nicht länger ertragen und stürmt aus dem Zimmer, verfolgt von seinen Inquisitoren. Er rennt ins Bad, knallt die Tür hinter sich zu und stemmt eine Schulter dagegen, damit sie nicht hereinkönnen. Ihre Fragen gleiten unter der Tür durch wie unerwünschte Post. APOTHEOSE: Er könnte schwören, daß das Wasser zischt, als er sich damit sein erhitztes Gesicht bespritzt. Jetzt ist er wach und weiß, daß er in seinem eigenen Badezimmer steht, wohin er aus einem Traum geflüchtet ist. Seine Frau schläft nebenan, aber trotzdem … Immer noch hört er die gemurmelten Fragen von der anderen Seite der Tür. Er starrt in den Spiegel, ohne die Gesichtszüge, die er dort sieht, zu erkennen, obwohl es seine eigenen sind. Und dann sieht er, daß an den Stellen, wo die Wassertropfen die Haut getroffen haben, Rauch aufsteigt und daß seine Züge sich zu verändern beginnen. Er fängt an, sich zu erkennen. Dieses schweinische Gesicht. Die Stoppeln. Das bist du, Joe, nicht wahr? Genau der wäre ich gewesen, nicht wahr? Ein Schauder des Entsetzens überläuft ihn und weicht rasch einem Gefühl der Freude. Er trocknet sich ab und ist nun bereit, die Tür zu öffnen und sich seinen Befragern zu stellen. Wenigstens weiß ich, wer ich bin.
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LAWRENCE WATT-EVANS
Ein Stich Du erinnerst dich noch gut daran, nicht wahr? Du erinnerst dich an dieses Gefühl, als das Messer hineinglitt. Du spürst noch die Anspannung deines Unterarms, als du ihn zu dir heranzogst. Du erinnerst dich an den Geruch seines Atems, seines Schweißes, du spürst noch den groben Stoff seines Hemds. Du erinnerst dich an sein Keuchen, seine Gegenwehr. Du weißt noch, wie fest sich deine Hand um das Messer schloß, das tolle Militärmesser deines Bruders, das du dir, ohne zu fragen, ausgeborgt hattest. Die Haut über deinen Knöcheln spannte sich, als du es durch das Hemd schräg unter die Rippen schobst, ins Fleisch hinein. Du erinnerst dich an den Widerstand, und daß du mehr Kraft als erwartet anwenden mußtest. Doch du hast es getan, hast zugestoßen so fest du konntest, und die Klinge glitt hinein, sein Atem wurde plötzlich zu einem Röcheln, und sein Kopf sank nach vorne; er fiel gegen deine Schulter, seine Wange streifte dein Gesicht, und du fühltest, wie sein Körper zuerst starr wurde und dann schlaff. Du rochst Urin, und als du die Feuchtigkeit spürtest, merktest du, daß du zwischen seinen Beinen standest und deine Schenkel gegen seinen Unterleib drücktest. Du hörtest sein Messer zu Boden fallen. Du erinnerst dich an deine Angst, die Scham, die Verwirrung und den Adrenalinstoß in deinen Adern. Du erinnerst dich an die sonderbare Erleichterung, eine Erleichterung, die du nicht begreifen konntest. Dann hast du ihn losgelassen, bist einen Schritt zurückgewichen und hast das Messer herausgezogen. Er fiel dir bleischwer entgegen und warf dich fast um, und du gingst noch einen 36
Schritt zurück. Da stürzte er zu Boden und rührte sich nicht mehr; du hast dich umgedreht und bist gelaufen. Deine Schritte hallten auf dem Pflaster. Du warst außer dir vor Entsetzen über die Ungeheuerlichkeit deiner Tat. Du hattest einem Menschen das Leben genommen und warst überzeugt, daß man dich erwischen und bestrafen würde. Aber das passierte nicht, stimmt’s? Niemand hat dich geschnappt. Du warst bloß ein verängstigtes Kind in einem Kampf zwischen zwei Straßengangs, und sie haben dich nie erwischt; keiner wußte, wer es getan hatte. Und im Herbst gingst du wieder in die Schule, hast im nächsten Juni deinen Abschluß gemacht und sogar ein Stipendium gewonnen, womit niemand gerechnet hatte, und du bist aufs College gegangen, hast Maschinenbau studiert und gute Leistungen gebracht. Du warst ruhig, hast nie jemanden belästigt, bist nie zur alten Bande zurückgekehrt – du hast dich an alles erinnert, aber du wolltest nicht darüber nachdenken. Also hast du nicht darüber nachgedacht. Du hast über Spannungen und Kupplungen und Zugfertigkeiten nachgedacht und über die Menschen um dich herum, die nie in den Straßen gekämpft hatten, über die Mädchen, die mehr von deinen intellektuellen Leistungen beeindruckt waren als von deinen Narben. Du hast über die Zukunft nachgedacht, da du jetzt wußtest, daß du eine haben würdest. Du hast dich auf dein Abschlußexamen konzentriert, du hast einen Job bekommen, bist befördert worden, du bist mit Frauen ins Bett gegangen und hast schließlich geheiratet. Und du hast nie den Bandenkrieg erwähnt oder das Messer, mit dem du zustachst, oder den Jungen, der zu Boden fiel und dort in seinem eigenen Blut lag. Du hast nie darüber nachgedacht. Aber du hast dich immer daran erinnert. 37
Und deine Frau bekam ein Baby, und du hast dich mit ihr zerstritten; sie hat dich verlassen und den plärrenden Balg mitgenommen, und du hast deine ganze Energie auf die Firma konzentriert. Du hast gekämpft. Du hast intrigiert. Du hast alles getan, was du konntest, um Aufträge an Land zu ziehen, um die Firma erfolgreich zu machen, um alle wissen zu lassen, daß du derjenige bist, der das Geld herbeischafft. Du hattest Macht. Und nach nicht allzu langer Zeit hattest du die Firma. Man hat Respekt vor dir; Sir, sagen sie, wenn sie dich ansprechen. Du hast Frauen – keine billigen Flittchen, keine wirrköpfigen Collegemädchen, keine Ehefrau, die mit dir Positionskämpfe austrägt, sondern schlanke junge Frauen, die sich von Macht und Wohlstand angezogen fühlen. Männer respektieren dich, fürchten dich. Du ißt, was du dir nur wünschst, und besuchst stets die besten Restaurants. Du trinkst besten Brandy. Du schläfst auf den feinsten Laken, die herrlich kühl und glatt sind. Alles kannst du dir kaufen, was du nur willst. Aber du erinnerst dich immer noch. Und jetzt denkst du auch darüber nach. Jetzt hast du Zeit. Du schaust zurück und erinnerst dich, und manchmal liegst du wach und beginnst zu schwitzen. Du hast einen Jungen umgebracht. Du hast einen Mord begangen und bist nie dafür bestraft worden. Heute käme keiner auf die Idee, dich zu verdächtigen. Und selbst wenn, was könnte man dir anhaben? Du bist mit einem Mord davongekommen. Du liegst da, erinnerst dich an das Gefühl, wie das Messer hineinglitt, und du lächelst. Du weißt, daß du etwas hast, das andere Männer, die Männer, mit denen du konkurrierst, nicht haben. Du besitzt dieses Wissen, diese beruhigende Gewißheit, daß du über die Rücksichtslosigkeit verfügst, die du brauchst, um deine Feinde zu ver38
nichten. Du hast getötet. Du könntest es jederzeit wieder tun. Damit bist du allen überlegen, nicht wahr? Du erinnerst dich an das Gefühl, wie das Messer hineinglitt. Und du weißt, daß du nie wieder ein so ungeheuer starkes Erlebnis haben wirst. Du weißt, daß dieser Mord mit siebzehn Jahren der Höhepunkt deines Lebens war. Du weißt, daß alles andere, was seither war, daneben verblaßt. Und du liegst auf deinem feinen glatten Laken, die Frau neben dir streichelt deine Wange, und du erinnerst dich an das Gefühl, wie das Messer hineinglitt.
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RICHARD CHRISTIAN MATHESON
Verstümmler TAGEBUCHEINTRAGUNGEN 14. Oktober Ich blute. Ich kann es hören. Ich lausche, bis das Geräusch verstummt. Das Blut muß zur Ruhe kommen. 16. Oktober Jemand hat mich heute verletzt. Immer verletzt man mich. Niemand kümmert es. 22. Oktober Ich hasse alle. Ich bemühe mich so sehr. Es ist Zeit, zu bluten. 29. Oktober Mitternacht. Ich bin einsam. Ich presse das Messer auf meine Haut. Die Klinge ist kühl. Ich lasse sie durch das Fleisch waten. Schließe meine Augen. Lehne mich zurück. Warme Wellen brechen sich auf meiner Haut. Ich bin in Sicherheit. 30. Oktober Ich bin traurig. Ich hasse mich selbst. Ich möchte schlafen. Wie ist das alles nur gekommen? 5. November Wieder so ein entsetzlicher Tag. Ich warte darauf, daß das Blut heraussickert, mich im Tageslicht besucht. Es ist schüchtern, denn es fürchtet sich vor dem Licht. Aber ich weiß, es sehnt sich nach meiner Aufmerksamkeit. Möchte Gesellschaft. Ich schmiere es auf meine Handfläche. Lächle ihm zu. Bringe es in 40
Bewegung; es spielt gern. Ehe es schläfrig wird und stirbt, lecke ich es auf. Erlaube ihm wieder zurückzukehren, durch dunkle Gänge meine Kehle hinunterzukriechen, heimzugehen. 11. November Ich kann mit niemandem zusammen sein. Will nicht, daß man meinen Körper sieht. Die alten Narben, die runzligen Verbrennungen. Meine geheimen Erinnerungen. Ich bin glücklich mit meinen Schnitten und Wunden. Ich lausche auf das Heilen der Haut. 17. November Ich bin wütend. Ich reiße meine Narben auf, brauche Gesellschaft. Das Blut kommt heraus, um mich zu begrüßen. Sein schüchternes Zögern macht mich ungeduldig. Ich ziehe die Haut auseinander. Schäle den Schorf ab. Stehe vor dem Spiegel. Beobachte, wie ich rot werde. Ich schlafe nackt auf sauberen Laken. Ich fühle, wie die weiche Baumwolle das Blut aufsaugt und trinkt. Ich schlafe. 24. November Sie haben mich heute wieder verletzt. Warum verletzen sie mich? 10. Dezember Ich habe mich mit Chemikalien verätzt. Hab’ mir Arme und Genitalien verbrannt. Mein Gesicht. Es beruhigt mich. Zischt wie Regen. Der Duft ist herrlich. Ich weiß schon, was ich mir zu Weihnachten wünsche. 24. Dezember Heiligabend. Ich habe die Geschenke für mich eingepackt. Die Feiertage sind eine gute Zeit. Ich zähle an solchen Tagen nicht auf Familie oder Freunde. Sie haben noch nie ein Interesse an 41
mir gehabt, rufen mich nie an, haben mich nie geliebt. Sie lehnen mich ab. Warum lieben andere mich nicht auch so, wie ich mich liebe? 25. Dezember Eine neue Schere. Sie durchschneidet die Haut, gräbt nach Knochen. Ein schimmernder Jäger auf der Pirsch nach Gewebe und Flüssigkeit. Ich öffne mein zweites Geschenk. Ein Bügeleisen. Ich schalte es ein und lausche auf das metallische Klikken, ziehe mich aus und presse es an mein Bein. Das Fleisch schmilzt. Es versiegelt mich, schützt mich vor der Welt. Ich hätte gern Freunde. Ach was. Ich fühle mich sicher und behaglich. Es ist Weihnachten, und ich blute. Kein Mensch versteht mich. Keiner hat mich je verstanden. Aber ich bin in Sicherheit. Und mir ist warm. Ich erkenne, wie glücklich ich doch bin. In einer Welt voller Grausamkeit und Erbärmlichkeit bin ich nie allein. Habe nie Schmerzen. 2. Januar Ein neues Jahr. Ich lausche auf das Heilen meiner Haut. Ich warte darauf, zu bluten.
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JOYCE CAROL OATES
Martyrium 1 Was für ein feines, glattes Baby er war, wie er da vibrierend vor Vitalität und Freßlust aus dem Geburtskanal seiner Mutter glitschte, ein Baby von makelloser Gestalt: Zwanzig unversehrte rosa Zehen mit schon nadelspitzen, fast mikroskopisch kleinen Nägeln, rosa Öhrchen, einer mißtrauisch zuckenden und bebenden winzigen Nase. Relativ schwach die Augen, die wohl Bewegungen, nicht aber Gefahren, Strukturen, Farbschattierungen erkennen konnten. (Vielleicht war er sogar farbenblind und – da ihm dieser Defekt nie bewußt wurde – ›blind‹ auch in einem sekundären, metaphysischen Sinne.) Bereits erstaunlich kräftig der kleine Ober- und Unterkiefer mit seinen Muskelscharnieren; nadelspitzt, bestens ausgebildet die Zähne. (Mehr über diese Zähne in Kürze!) Ein Schwanz wie ein Fragezeichen, rosa, haarlos, fadendünn. Und die zuckenden Schnurrhaare, nicht länger als zwei Millimeter, steif wie die Borsten einer winzigkleinen Bürste.
2 Was für ein schönes Baby sie war, Babygirl von den liebenden Eltern genannt, in heißer, zärtlichster und zugleich sinnlichster Liebe empfangen, bestimmt dazu, von Liebe erdrückt, von Liebe verschlungen zu werden, ein amerikanisches Babygirl, das behutsame Hände in den Brutkasten legten. Vergißmeinnichtblaue Augen, seidenweiches hellblondes Haar, Rosenknospenlippen, winzige Stupsnase, ebenmäßige weiße Haut. 43
Stillende Mütter aus den Schwarzengettos wurden aufgerufen, Milch aus ihren schönen, schweren Ballonbrüsten zur Verfügung zu stellen, Muttermilch gegen Bezahlung, denn so gehaltvolle Milch hatte die Mutter von Babygirl nicht zu bieten. Der Brutkasten filterte verschmutzte Luft heraus und pumpte ihr reinen Sauerstoff in die Lunge. Sie hatte keinen Grund zum Schreien wie andere Säuglinge, deren Jammer so deutlich vernehmbar, so irritierend war. Die Brutkastenluft, feucht und warm wie im tropischen Regenwald, bekam Babygirl prächtig, sie blühte, gedieh, wuchs.
3 Und wie er wuchs, dieser selbst für seine Mutter Namenlose. Wie er innerhalb von Tagen sein Gewicht verdoppelte, verdreifachte, vervierfachte, sich inmitten des Geschwistergewimmels behauptete, gerissen, getrieben, immer hungrig. Ob er deshalb in jeder wachen Minute unablässig kaute – nicht nur Eßbares, sondern auch so scheinbar Unverdauliches wie Papier, Wolle, Knochen, bestimmte Metalle, wenn sie dünn genug waren – ob er kaute, weil er hungrig war oder weil es ihm einfach Spaß machte – wer könnte es sagen? Das Wachstum seiner Schneidezähne betrug zwischen zehn und zwölf Millimeter in einem Jahr, schon deshalb mußte er sich bemühen, sie kurz zu halten, damit sie ihm nicht von unten ins Gehirn drangen und damit sein Leben gefährdeten. Hätte seine Großhirnrinde ein höheres Maß an kognitiven Fähigkeiten beinhaltet, hätte er über das Dilemma einer Spezies spekulieren können: Ist so ein Verhalten willkürlich oder unwillkürlich? Was ist Zwang, wenn es ums Überleben geht? Wer kann sich – eingebunden in die Natur – unnatürlich benehmen?
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4 Babygirl quälte sich nie mit solchen Fragen. In ihrem glasgedeckten Brutkasten nahm sie zu – hundert Gramm um hundert Gramm, Pfund um Pfund, essend, schlafend, essend, schlafend, und ehe man sich versah, drückten ihre Knie von innen an die Decke, trübte ihr Atem das Glas. Die Eltern beobachteten das schnelle Wachstum mit leiser Sorge, aber auch mit Stolz auf die rosig-weibliche Schönheit, die kleinen spitzen Brüste, die gerundeten Hüften, den Grübchenbauch und Grübchenpo, das krause zimtfarbene Schamhaar, die schönen pupillenlosen Augen mit den dichten Wimpern. Weil Babygirl am Daumen lutschte, bestrichen sie ihn mit einer scheußlich schmeckenden, leuchtend orangefarbenen Jodmixtur und registrierten voller Genugtuung, wie sie spuckte und würgte und sich krümmte, wenn sie das Zeug in den Mund bekam. Als sich an einem milden Apriltag im Brutkasten eine weinrot geronnene Blutspur zwischen Babygirls runden Schenkeln zeigte, waren alle erstaunt und ein wenig peinlich berührt, aber was hilft’s, sagte Babygirls Vater, die Natur läßt sich nicht überlisten, ja, nicht mal einen Aufschub läßt sie sich abhandeln.
5 Nicht zu zählen das Heer der Geschwister; in der Gasse wimmelte, im Lagerhauskeller zappelte und piepste es, seine grenzenlose Vermehrung bis in alle Winkel der Welt war ihm Gewähr dafür, nicht auszusterben. Denn von allen kreatürlichen Ängsten ist, so heißt es, die größte nicht die vor dem Sterben, sondern vor dem Aussterben. Hunderttausende von Blutsverwandten waren wohl ein Trost, aber auch Anlaß zu ernster Sorge, denn sie alle waren ständig ausgehungert, das Quiekquiekquiek des Hungers vervielfachte sich ins Unermeß45
liche. Er lernte, mit Hilfe seiner hektisch klickenden Zehennägel senkrechte Wände zu erklimmen, bis an die Grenze seiner Kraft zu rennen, seinen Feinden die Kehle herauszureißen, zu springen, zu fliegen – bis zu vier Meter weit in den leeren Raum hinein, von einem Hausdach zum nächsten – und so seine Verfolger abzuschütteln. Er lernte es, notfalls das lebend pulsierende Fleisch seines Opfers im Laufen zu verschlingen. Den Genuß knackender Knochen spürte er bis in seine Kiefer, das kleine Hirn vibrierte vor Glück. Er schlief nie. Sein Herz jagte ständig wie im Fieber. Er mied Ecken und Winkel und Verstecke, aus denen es keinen Fluchtweg gab. Er würde ewig leben! – Und dann stellten ihm eines Tages seine Feinde eine Falle, die primitivste Falle, die sich denken läßt, und witternd und quiekend und zitternd vor Hunger sprang er den schimmeligen Brotköder an und löste den Federmechanismus aus; eine Stange sauste auf seinen Nacken nieder, zerschmetterte das zarte Rückgrat und hätte fast noch den armen erstaunten Kopf abgetrennt.
6 Sie logen ihr vor, es sei nur eine Geburtstagsparty – für die Familie. Erst kam das rituelle Bad, dann die Salbung des Körpers, das Rasieren und Zupfen unerwünschter, das Locken und Kräuseln erwünschter Haare. Achtundvierzig Stunden ließ man sie fasten, achtundvierzig Stunden wurde sie gemästet, mit einer Drahtbürste scheuerte man die zarte Haut, rieb scharfe Kräuter in die Wunden, schnitt die kleine Klitoris ab und warf sie den gackernden Hühnern im Hof hin, nähte die rasierten Schamlippen zu, fing das herausschießende Blut in einem goldenen Kelch auf. Die vorstehenden Zähne wurden mit Hilfe einer Zange gewaltsam gekürzt, die große, gekrümmte Nase mit einem gekonnten Handkantenschlag gebrochen, damit 46
Knochen und Knorpel zu einer gefälligeren Form zusammenwachsen konnten. Ein Korsett schnürte Babygirls pummelige Siebzigzentimetertaille auf schlanke zweiundvierzig Zentimeter, so daß die weichen Hüften und Schenkel, die prachtvollen Ballonbrüste hervorquollen und die Eingeweide in den Brustraum gedrückt wurden. Erst tat sie sich schwer mit dem Atmen und hatte rosa Bläschen vor dem Mund, aber bald kam sie gut zurecht und freute sich ihrer klassischen Stundenglasfigur, ihrer neuen Macht über die entflammbare Fantasie der Männer. Sie kleidete sich in Romantisch-Altertümliches oder in Raffiniertes, Seidig-Hautenges mit aufregendem Ausschnitt und anschmiegsamem Rock; wenn sie lief, humpelte sie auf bezaubernde Art ein wenig, die Grübchenknie rieben aneinander, die schmalen Fesseln zitterten vor Anstrengung, an dem Strumpfhalter aus schwarzer Spitze waren hauchdünne Seidenstrümpfe mit schwarzer Naht befestigt, sie schwankte ein bißchen in ihren hohen, spitzen, weißen Stöckelschuhen aus Satin, bis sie den Bogen raus hatte. Sie hatte ihn jedoch sehr bald raus, die schamlose Schlampe. Kichernd strich sie sich übers Haar, machte kleine Flatterbewegungen mit den Händen, schwenkte den fetten Hintern. Die Brustwarzen unter dem paillettenbesetzten Oberteil waren hart und spitz vorstehend wie Erdnüsse, die Schlafpuppenaugen blank, durchgehend veilchenblau ohne störende Pupillen. Babygirl war nicht eins von diesen berechnenden Miststücken, die ständig überlegen, wie man so einen armen Trottel am besten ausnimmt, sie kam aus guter Familie, der Stammbaum ließ sich nachprüfen, sie hatte (auf der Innenseite des linken Schenkels) eine Nummer eintätowiert, man konnte sie weder verlieren noch verlegen, und auch weglaufen konnte sie nicht, die Fotze, um sich spurlos irgendwo in Amerika zu verkrümeln, wie so viele es machen, man liest das ja ständig. Man besprühte sie mit den exquisitesten Düften – ein Hauch davon, und du hast, wenn du ein Mann bist, ein richtiger Mann, ein Fieber im Blut, das nur ein Akt hindern kann; man 47
verteilte Kopien des ärztlichen Untersuchungsbefundes, frei von Geschlechts- und anderen Krankheiten, jawohl, und Jungfrau war sie, kein Zweifel, auch wenn sie manchmal einen total falschen Eindruck vermittelte, armes Babygirl, wie es da grinsend herumstöckelte und durch die Finger hindurch errötend seine Freier beäugte. Diese vollen Scharlachlippen, diese fleischigen Konturen …, selbst die Vornehmsten, Sittenstrengsten mußten bei diesem Anblick an die fleischigen Lippen der Vagina denken.
7 Widerliches Ungeziefer! Eklig-wuseliges Gezücht! Sie waren wütend auf ihn, weil es ihn gab, als habe er, in dieser Form wiedergeboren, mit Bedacht diese Spezies gewählt, trüge mit grausamer Lust die Keime des Typhus in seinem Gedärm, den Virus der Beulenpest in seinem Speichel, Gifte aller Art in seinen Exkrementen. Sie wünschten ihm den Tod, die ganze Art gehöre ausgerottet, da gebe es gar nichts, sagten sie, wenn sie, ohne genau zu zielen, auf die Müllkippe schossen, wo er angstvoll quiekend von einem Versteck zum anderen hetzte und wo ihm, wenn die Kugeln einschlugen, der Gestank des hochspritzenden Mülls in die Nase stieg. Sie gaben ihm die Schuld am Knacken von Geflügelknochen zwischen Raubtierkiefern, sie konnten es nicht beweisen, aber sie gaben ihm die Schuld daran, daß ein Wurf Ferkel bei lebendigem Leib aufgefressen worden war, und was war mit dem Baby in der Erdgeschoßwohnung in der Eleventh Street, das die Mutter zwanzig Minuten unbeaufsichtigt gelassen hatte, um im Laden an der Ecke nur mal Zigaretten und Milch zu holen – o Gott nein! Oh, oh, sag nichts, ich will’s gar nicht wissen – und mit dem Feuer, das in einer kalten Januarnacht ausbrach und das man nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte, weil irgendwelche elek48
trischen Leitungen bis auf die blanken Drähte angenagt waren, aber was konnte denn er dafür, wo waren die Beweise bei hunderttausend Geschwistern, die alle dieser unersättliche Hunger und ein unstillbarer Nagedrang umtrieb? Eine kreischende, johlende Kinderhorde verfolgte ihn mit Steinwürfen über die Dächer hinweg und traf ihn, als er verzweifelt an einer Backsteinmauer hochkletterte, er hatte es fast schon geschafft, da verloren seine Zehennägel den Halt, er rutschte ab, stürzte …, fiel ins schwindelnde Nichts eines Luftschachts …, fünf Stockwerke tief …, schrie quietschend im freien Fall …, zappelnd und kreischend, stürzend wie ein Stein, die roten Augen entsetzt aufgerissen, denn auch solche Geschöpfe kennen das Entsetzen, nur nicht das Wort dafür, es ist in ihnen verkörpert, wortwörtlich. Jede Zelle seines Körpers gierte nach Leben, jedes Teilchen seines Seins ersehnte Unsterblichkeit, genau wie bei dir und mir. (Man tut gut daran, sich über das jahrhundertelange Leiden der Kreatur keine Gedanken zu machen, rät Darwin.) So stürzte er also vom Dachrand und durch den Luftschacht, etwa hundertsiebzigmal so tief, wie er groß war, gemessen von der Nase bis zum Steiß (aber ohne den Schwanz, der ausgestreckt länger ist als er, nämlich zwanzig Zentimeter!), und wir sahen zu und grinsten uns eins, denn er würde platt wie eine Briefmarke unten ankommen, das dreckige kleine Vieh, man stelle sich also unsere Wut, unsere Empörung vor, als er auf den Füßen landete! Ein bißchen mitgenommen, aber heil und ganz! Unversehrt! Ein Sturz, bei dem sich unsereins sämtliche Knochen im Leib gebrochen hätte, doch er sträubte nur die Schnurrhaare, kringelte den Schwanz und machte sich davon. Und die stinkende Nacht teilte sich wie schwarzes Wasser und nahm ihn schützend auf.
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8 Die National Guard Armoury war an diesem Abend zum Sonderpreis vermietet worden, es war eine flaue Zeit, und auf der weitläufigen, verräucherten Galerie saßen aufmerksame, auf Hochglanz polierte Männer, die Gesichter verschwommen wie Traumgesichter, den unbestimmten, klebrigen Blick auf Babygirl gerichtet. Wurstfinger stocherten im Schritt, Genitalien wie schwere, rötlich reife Riesenfeigen spannten die Hosen. Sorgsam ausgewählte, handverlesene Gentlemen sind das. Ernstzunehmende Herren. Die meisten ignorieren betont die fliegenden Händler, die in der Armoury ihre Waren anpreisen; es ist wohl kaum die rechte Zeit für Bier, Coke, Hotdogs, Popcorn; die brennenden Männerblicke fixieren Babygirl, Herrgott, sieh dir das an! In der Welt von heute ein richtiges Weib zu finden, ist keine Kleinigkeit, wir wünschen uns eine altmodische Frau, ideal wäre das Mädel, das den Papa selig geheiratet hat, das wäre unser Ideal, aber wo findet man so was in dieser verderbten Welt? Und Babygirl warf die schimmernden zimtfarbenen Locken zurück, machte ein reizendes Schmollmündchen, zeigte bei einem strahlendem Lächeln die weißen Zähne und sagte in rauchig-heiserem Singsangton die hübschen Jamben auf, die sie zu diesem Anlaß selbst verfaßt hatte. Dann wirbelte Babygirl das straßbesetzte Stöckchen, warf es hoch bis unter die Balkendecke der Armoury, wo es im Scheitelpunkt des Fluges eine verzauberte Sekunde lang in der Luft zu hängen schien, um dann in die ausgestreckten Hände von Babygirl zurückzukehren. Die Glotzer auf der Galerie fingen spontan an zu klatschen, und Babygirl knickste, errötete, senkte den Kopf, hielt inne, um die Strumpfnähte geradezuziehen, schob einen Ohrring zurecht, rückte am Hüfthalter, der so tief ins Fleisch ihrer Schenkel schnitt, daß man dort noch tagelang rote Striemen sehen würde. Babygirl kicherte und warf Kußhände, ihre schöne Haut glühte, während der Auktionator herumstolzierte und 50
mit seinem Handmikrophon fuchtelte wie ein Schmierenschauspieler. Georgie Bicks heißt er, ein großmäuliger, dickbäuchiger Typ in Smoking mit rotem Kummerbund, hey, höre ich fünftausend, höre ich achttausend, wie wär’s denn mit zehn … zehn … zehntausend, die hohe Stimme gespenstisch-beschwörend, so daß sie sogleich anfangen zu bieten. Ein japanischer Gentleman gibt sein Gebot ab, indem er sich ans linke Ohrläppchen faßt, ein dunkelhäutiger Gentleman mit Turban signalisiert mit einer Bewegung der schwarzen Glitzeraugen. Hey, höre ich fünfzehntausend, höre ich zwanzigtausend, höre ich fünfundzwanzig … fünfundzwanzig … fünfundzwanzigtausend, und ein gut aussehender teutonischer Gentleman mit Schnurrbart kann nicht widerstehen. Und immer weiter: Ein Gentleman aus dem Mittelmeerraum, ein Gentleman mit kahlrasiertem Kugelkopf, ein Gentleman aus Texas, ein schwergewichtiger, schwitzender Gentleman, der sich die rote Knopfnase reibt, höre ich dreißigtausend, höre ich fünfunddreißigtausend, höre ich fünfzigtausend, zwinkernd zerrt er Babygirl näher zum Rand der Plattform, komm schon, Schätzchen, nicht so schüchtern, komm schon, Süße, wir wissen doch alle, warum du heute abend hier bist, zier dich nicht, du Fotze, blöde Fotze, beachten Sie diese Zitzen, Gentlemen, diesen Atombusen, und nicht nur der hat gewaltige Sprengkraft, haha! Und vom zweiten Rang signalisierte ein bisher unbeachteter, gut aussehender weißhaariger Gentleman mit weißbehandschuhter Hand: Ja.
9 Er war des Kämpfens müde, hatte Schuppen und madenwimmelnde kleine Wunden am ganzen Körper; der einst so stolze Schwanz war brandig, die Spitze abgefault, trotzdem nagte er 51
sich weiter klaglos-stoisch durch Holz, durch Papier, durch Isolierungen, durch dünnes Blech, unvermindert die Freßlust, der Rausch und Taumel von Kiefern, Zähnen, Eingeweiden, After, als sei die ihm zugebilligte Zeit so unbegrenzt wie sein Hunger. Hinge es nur von ihm ab, so würde er sich durch die ganze Welt nagen und sie in Haufen feuchter, fester, schwacher kleiner Kötel wieder ausscheiden. Die Natur aber hat es anders bestimmt. Sie billigt der Art, zu der er gehört, eine durchschnittliche Lebensspanne von nur zwölf Monaten zu – wenn alles gut geht. Und an diesem Maimorgen geht eben nicht alles gut im vierten Stock des nur zum Teil genutzten alten Backsteinbaus in der Sullivan Street, wo im ersten Stock die Metropolitan Bakery, angesehenste aller Bäckereien am Ort, untergebracht ist, Spezialität: ›Hochzeitstorten seit 1945‹. Er hat sich in einem versteckten Winkel eingenistet, nagt nervös an etwas nur theoretisch Eßbarem herum (dem harten, plattgewalzten Rest eines seiner Geschwister, das auf der Straße von einem Fahrzeug erfaßt und von den nachfolgenden zermalmt wurde, bis es nur mehr zweidimensional schien), und er leidet schnuppernd und zwinkernd hungrige Höllenqualen hier im vierten Stock, zusammen mit seinen vielen tausend Gefährten, denn es gehört zu den Besonderheiten der Natur, daß dann, wenn BRAUNE und SCHWARZE zusammen in einem Gebäude hausen, die BRAUNEN (als die Größeren und Aggressiveren) die unteren Geschosse besetzen, während die SCHWARZEN (eher scheu und philosophisch) in die oberen Stockwerke verbannt werden, wo sie sich mit der Nahrungsbeschaffung schwerer tun. Er frißt also oder versucht zu fressen, als plötzlich ein Geräusch wie ratschende Seide zu hören ist und ein pelziges Etwas fauchend auf ihn zugeflogen kommt; die Schneidezähne sind länger und bedrohlicher als seine, die Hinterbeine wirbeln wie Rotorflügel. Jeder Floh, jede Zecke auf seinem entsetzensstarren kleinen Körper ist hellwach, jede Zelle fleht um Schonung, aber Sheba mit dem bepelzten 52
Mondgesicht kennt keine Gnade. Sie ist eine wunderschöne silbergraue Kätzin, um ihrer zärtlich schnurrenden Schmusemasche willen, von ihrer Herrin heißgeliebt, an diesem Maimorgen aber treibt in dem alten Backsteingebäude, in dem die Metropolitan Bakery untergebracht ist, Sheba die Lust am Töten um, die Lust, ihre Zähne in ein Opfer zu schlagen. In engster Umarmung sind die beiden ineinander verkrallt, jaulend, kreischend, er will ihr an die Halsschlagader, aber die raffinierte Sheba ist ihm zuvorgekommen, wild rollen sie im Dreck herum, nicht nur Shebas fürchterliche Zähne, sondern auch ihre wütend kratzenden Hinterbeine besorgen das Geschäft des Tötens. Noch läßt er sich nicht unterkriegen, ja, er hat ihr ein Dreieck aus einem Ohr gefetzt, aber es ist zu spät, man sieht, daß die schwergewichtige Sheba siegen wird, noch quiekst und beißt er ums liebe Leben, da hat sie ihm schon die Kehle herausgerissen, hat ihn förmlich ausgeweidet, seine Gedärme legen sich in schleimigen Bändern um ihren Fuß. Was für ein Lärm! Was für ein Jaulen! Als ob es jemandem ans Leben geht! Und dann stirbt er, und sie macht sich daran, ihn zu verschlingen, frisches, sprudelndes Blut ist am besten, zukkendes Muskelfleisch ist am besten, die schöne Sheba schließt die Kiefer um den kleinen Knubbelkopf und zermalmt seinen Schädel, sein Hirn, und er verlöscht. Wie ein Licht. Und die gierige Mieze (die gar nicht hungrig ist, denn natürlich wird sie von ihrer Herrin liebevoll gepflegt und gefüttert) frißt ihn an Ort und Stelle, zerbeißt seine Knochen, kaut seine Knöchel, schluckt ratenweise den schuppigen Schwanz, die zierlichen rosa Öhrchen, die blutunterlaufenen Augen, die Schnurrbartborsten und natürlich das saftige Fleisch. Und putzt sich hinterher gründlich, damit nichts, auch nicht der Hauch einer Erinnerung, von ihm bleibt.
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10 Nur: Rücksichtslos aus ihrem Verdauungsschlaf gerissen durch ein verdächtiges Grummeln in den Gedärmen, muß die arme Sheba plötzlich heftig erbrechen, taumelt ungraziös und kläglich miauend die Treppe hinunter bis in den hintersten Winkel der Metropolitan Bakery. Aber niemand hört sie, die Ärmste, als sie sich, auf einem Balken über einem der riesigen Bottiche mit vanilleduftendem Tortenteig schwankend, die Seele aus dem Leib, will sagen ihn aus dem Leib kotzt, ein kurzatmig krampfiges Würgen, bei dem ganz zum Schluß seine Schnurrhaare in zentimeterlangen Stücken herauskommen. Arme Mieze! Zahm und wehleidig läuft sie nach Hause, ihre Herrin nimmt sie liebevoll hoch, streichelt, schilt, wo warst du nur, Sheba! Und Sheba kommt an diesem Tag schon früh zu ihrem Abendessen.
11 Mr. X ist der verliebteste, hingebungsvollste Freier und später der glückseligste Bräutigam, der sich denken läßt. Er bedeckt das rosige Gesicht von Babygirl mit Küssen, zieht sie so heftig an sich, daß sie Oh! ruft und die ganze Hochzeitsgesellschaft, allen voran ihr Daddy, in entzücktes Gelächter ausbricht. Mr. X ist ein würdiger, gut aussehender älterer Herr. Er ist das Salz der Erde. Er geleitet Babygirl auf die spiegelnde Tanzfläche, als die Band ›I Love You Truly‹ spielt; wie elegant er tanzt, wie souverän er seine Braut führt, die blutrote Nelke im Knopfloch, blitzende Eissplitter in den Augen, starres weißes Prothesenlächeln; wie anmutig das Paar sich wiegt und dreht, Babygirl in einem atemberaubend schönen alten Brautkleid, das vor ihr Mutter, Großmutter und Urgroßmutter getragen haben, auch der Trauring ist ein Erbstück, Maiglöckchen sind in das zimt54
farbene Haar der Braut geflochten. Wenn Babygirl lacht, sieht man das kirschrote Innere ihres Mundes. Oh! quietscht sie, als der frischgebackene Ehemann sie an seine Brust drückt, sie direkt auf die Lippen küßt. Seine großen starken Finger streicheln über ihre Schultern, ihre Brüste, ihren Steiß. Man bringt mit Champagner Trinksprüche auf sie aus, es werden vergnügte, alkoholbeschwingte Reden gehalten, das alles geht bis weit in den Abend hinein. Der Erzbischof höchstpersönlich spricht feierlich psalmodierend einen Segen. Babygirl sitzt auf dem Schoß von Mr. X, ihrem Bräutigam, läßt sich von ihm mit Erdbeeren und Hochzeitstorte füttern und füttert ihrerseits mit Erdbeeren und Hochzeitstorte, und unter Küssen und Gelächter lecken sie sich gegenseitig die Finger ab. Beim Kauen der Torte spürt Babygirl zu ihrer Bestürzung etwas Zähes, Sehniges, Borstiges wie Knorpel oder Knochensplitter oder ganz kleine Drahtstücke, aber sie ist zu gut erzogen, um den Fremdkörper auszuspucken, wenn es denn ein Fremdkörper ist, und schiebt ihn diskret mit der Zunge auf die Seite, hinter die Bakkenzähne, da ist er gut aufgehoben. Mr. X, ein Gentleman, spült seine Hochzeitstorte mit Champagner herunter, schluckt alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Das ist der glücklichste Tag meines Lebens, flüstert er Babygirl ins rosa Öhrchen.
12 Es war ein verhaltenspsychologisches Experiment zum Phänomen der Konditionierung, das im Scientific American veröffentlicht werden und dort einiges Aufsehen erregen sollte, aber natürlich war er, das arme Opfer, weder informiert, noch hatte er in das Experiment eingewilligt. Halb verhungert in seinem Maschendrahtkäfig hockend, zwanghaft an den eigenen Hinterbeinen nagend, lernte er rasch, noch auf die kleinste Geste seiner Folterer zu reagieren. Der über Monitor kontrollierte 55
Herzschlag jagte angstvoll, die haßerfüllten Augen rollten in ihren Höhlen, ein mehr als physisches Mißbehagen fraß sich nach wenigen Stunden in seine Seele wie Schwefeldioxyd. Doch die Folterer ließen nicht von ihm ab, galt es doch, Dutzende von Kurven und Tabellen auszufüllen, waren doch Dutzende junger Assistenten an dem Experiment beteiligt. Um das Phänomen der Angst an den stummen Kreaturen seiner Spezies zu messen, setzten sie ihn unter zunehmend starke Elektroschocks, bis tatsächlich Rauchwölkchen von seinem Schädel aufstiegen. Sie verbrannten ihm das Fell mit glühenden Nadeln, stachen ihm glühende Nadeln in den empfindlichen After, ließen seinen Käfig über einem Bunsenbrenner langsam immer tiefer sinken, lachten Tränen über das Gekasper, mit dem er den Käfig zum Scheppern und Schwanken brachte. Sie ließen den Käfig mit einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern kreisen und vermerkten überrascht, daß er nicht nur auf ihre Gesten reagierte, sondern auch auf das, was sie sagten, als könne er jedes Wort verstehen; und – das war das erstaunlichste und sollte zum Kernpunkt des umstrittenen Artikels im Scientific American werden – nach achtundvierzig Stunden reagierte er unweigerlich schon dann, wenn jemand an eine Fortsetzung der Folter nur dachte (was voraussetzte, daß die Experimentatoren tatsächlich auch bei ihrer Arbeit im Labor dachten). Eine erstaunliche wissenschaftliche Entdeckung, die man nach seinem Tod bedauerlicherweise nicht ein einziges Mal wiederholen konnte, die folglich für die Wissenschaft gänzlich ohne Wert war und in den Kreisen der Experimentalpsychologie meist nur milde belächelt wurde.
13 Mr. X vergötterte sein Babygirl. Liebevoll badete er sie in duftendem Schaum, kämmte und bürstete ihr wellig-lockiges, 56
hüftlanges zimtfarbenes Haar, schäkerte mit ihr, steckte die Zunge in sie hinein, brachte ihr nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht das Frühstück ans Bett, ließ es sich nicht nehmen, mit dem eigenen Rasiermesser den pfirsichfarbenen Flaum abzurasieren, der ihren schönen Körper bedeckte, sowie die unansehnlich borstigen Haare an Unterarmen und Beinen und im Schritt. Wochenlang, monatelang. Bis eines Nachts sein Penis den Dienst verweigerte und er merkte, daß Babygirl samt Grübchenpo und -nabel, Babygirl mit den großen vergißmeinnichtblauen Augen und dem schmeichelhaften Oh! mit den aufgeworfenen Rosenknospenlippen ihn schlicht und einfach langweilte. Daß ihre ausdruckslos näselnde Stimme ihm auf die empfindlichen Nerven ging, ihre Angewohnheiten ihn anekelten. Mehrmals ertappte er sie dabei, daß sie sich in vermeintlich unbeobachteten Augenblicken den fetten Hintern kratzte oder ungeniert in der Nase popelte; häufig stank das Badezimmer, wenn sie herauskam, nach ihren Fürzen und Exkrementen; ihr Menstruationsblut befleckte das weiße Linnen der ererbten Bettwäsche, ihr krauses Haar verstopfte Abflüsse, morgens muffelte ihr Atem wie sein ältestes Paar Schuhe. Mit großen, traurig fragenden Kuhaugen sah sie ihn an, oh, was ist denn, Schatz, oh, liebst du mich nicht mehr, was habe ich dir denn getan? Und sie ließ sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seinem Schoß nieder, legte ihm die runden Arme um den Hals und blies ihm ihren deftigen Atem ins Gesicht. Da spreizte er rücksichtslos die Beine, und Babygirl landete mit einem ungraziösen Plumps auf dem Fußboden. Als sie stumm zu ihm aufsah, schlug er ihr mit dem Handrücken so heftig ins Gesicht, daß sie Nasenbluten bekam. Willst du wohl, du Luder, raunzte er, na, wird’s bald, wirst du wohl, hey …!
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14 Er paarte sich. Immer wieder und wieder. Paarungen ohne Ende. Paarungen bis zum Wahnsinn. Auf der Höhe seiner Manneskraft zeugte er Dutzende, Hunderte, Tauende von Nachkommen. Jetzt rennen sie quieksend überall herum, wuseln ihm ständig um die Füße, drängen ihn beiseite, wenn er frißt, rotten sich gegen ihn zusammen, eine regelrechte Gang, ganz erstaunlich, wie schnell diese Winzlinge heranwachsen, eben noch zwei Zentimeter lang, den nächsten Tag vier, den darauf acht – winzige, aber vollkommen ausgebildete Zehen, Pfoten, Ohren, Barthaare, eleganter Ringelschwanz, Schneidezähne. Ungebremste Freßlust. Und unvermittelt packte ihn das Entsetzen: Ich kann nicht sterben, ich bin unendlich vervielfacht. Er konnte nichts dafür! In diesem Moment legten seine Feinde klebrig-schimmlige Giftklümpchen aus, um die Nachbarschaft von ihm und seiner Brut zu befreien, aber er konnte nichts dafür! Es war ein Fieber, das ihn ergriffen hatte, ihn und etliche seiner Schwestern, fast täglich, so schien es, nein, tatsächlich täglich, wenn nicht stündlich, keine Ruhe und keine Rast, keine Zeit zur Besinnung; ein zwei Zentimeter langes Ding wie ein fleischerner Nippel oder Kolben, heiß und blutprall, stieß rasch und unermüdlich wie eine Pleuelstange aus dem weichen Beutel zwischen seinen Hinterbeinen hervor, und er konnte nicht widerstehen, der Trieb war noch zwanghafter als das Nagen, war noch genußvollere Marter, er war nur ein Anhängsel und deshalb unschuldig. Seine Feinde aber kümmert das nicht, sie verschwören sich gegen ihn, grausam und kaltblütig legen sie Klümpchen dieses köstlichen Giftes aus, zuckrig, klebrig, brotschimmelig, er müßte es eigentlich besser wissen, aber er kann nicht widerstehen und stürzt sich in das Meer quieksender und zappelnder Junger, ein wogendes Meer, dunkle Wellen, Welle auf Welle in fiebernder Freßlust, wie ein einziges Freßorgan, aber es ist ein 58
teuflisches Gift, das sie nicht an Ort und Stelle umbringt, die armen Viecher, sondern rasenden Durst hervorruft, so daß er und Tausende seiner Söhne und Töchter kurz nach dem Fressen aus dem Haus stürzen und sich verzweifelt auf die Suche nach Wasser machen, um diesen grauenvollen Durst zu stillen. Es zieht sie zum Hafen, zum Fluß, die Menschen schreien auf, als sie die dunkle Woge heranbranden sehen, glitzernde Augen, Schnurrhaare, nahezu nackte rosa Schwänze, von nichts und niemandem nehmen sie Notiz in ihrem Drang zum Wasser, einige ersaufen im Fluß, andere Trinken und trinken, bis ihr armer Leib – wie vorgesehen – sich bläht und wölbt und platzt. Und mit Gasmasken versehene städtische Arbeiter maulen heftig, weil sie die Leichen, kleine Berge von Leichen, in eine lange Reihe von Müllwagen schaufeln und hinterher Gehsteig, Fahrbahnen, Docks abspritzen müssen. In einer Düngemittelfabrik wird man ihn und seine Nachkommen zu Brei zerquetschen, zu körnigem Pulver zermahlen, zu privater und gewerblicher Nutzung verkaufen. Von Gift ist dann natürlich nicht mehr die Rede.
15 Mit zunehmender und unerklärlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber den Gefühlen seiner Frau brachte Mr. X noch im ersten Ehejahr sogenannte ›Geschäftsfreunde‹ mit nach Hause, die Babygirl anglotzten, sie im Bad besichtigten, ihr lüsterne Bemerkungen ins Ohr flüsterte, sie anfaßten, begrapschten, belästigten – wobei Mr. X häufig zigarrerauchend in aller Ruhe zusah! Zuerst war Babygirl so verblüfft, daß sie überhaupt nichts begriff, dann brach sie empört und verletzt in Tränen aus, bat den Rohling um Schonung, bekam einen Koller, warf Seidenunterwäsche und dergleichen in einen Koffer und lag dann in einer Pfütze auf dem Badezimmerfußboden, Tage und 59
Nächte vergingen im Delirium; ihre Wärter verpflegten sie widerwillig und unregelmäßig, man versprach ihr Sonnenschein und grüne Wiesen und etwas Schönes zu Weihnachten, versprach viel und hielt nichts, und dann stand eines Tages ein Maskierter in militärischer Lederkluft in der Tür, die behandschuhten Hände in die Seite gestemmt, messingbeschlagener Gürtel, Pistolenhalfter an der Hüfte, spiegelnd schwarze Lackstiefel, deren Spitze Babygirl demütig küßte; sie kroch vor ihm, wickelte das lange zimtfarbene Haar um seine Knöchel. Gnade, bettelte sie, tu mir nicht weh, ich bin dein, in guten und in schlechten Tagen, wie ich es vor Gott geschworen habe. Und in der (unter diesen Umständen ja durchaus naheliegenden) Annahme, dies sei in Wirklichkeit Mr. X, begleitete Babygirl ihn bereitwillig in das eheliche Schlafzimmer, zu dem antiken Himmelbett mit den Messingpfosten, und überließ sich widerspruchslos seinem Stoßen und Stöhnen, dem ausgedehnten und schmerzhaften Liebesakt. Was heißt schon Liebe, diese Kränkung, dieser Schmerz! Und erst zum Schluß, als der Maskierte triumphierend die Maske abnahm, sah Babygirl, daß es ein Fremder war – und daß Mr. X am Fußende des Bettes stand, eine Zigarre zwischen den Lippen, und in aller Ruhe zusah. In der Wirrnis der kommenden Wochen und Monate gab es eine lange Reihe dieser ›Geschäftsfreunde‹, nie war es zweimal derselbe. Mit zunehmender Grausamkeit zwang Mr. X, schon lange kein Gentleman mehr, sie seiner gefesselt im Ehebett liegenden Frau auf: Einer hatte rasiermesserscharf gefeilte Fingernägel, die ihren weichen Körper zerkratzten, einer schuppig-glänzende Haut, einer schlackernde Kehllappen wie ein Truthahn, einer einen kahlen Schädel mit Totenkopfgrinsen, bei einem fehlte ein Stück Ohr, bei einem zogen sich nässende Ekzeme wie ausgefallene Tätowierungen über den ganzen Körper. Und Babygirl, die Ärmste, wurde ausgepeitscht, wenn sie nicht parierte, wurde mit Zigaretten verbrannt, geschlagen, getreten, herumgestoßen, halb erstickt und 60
halb erwürgt und halb ertränkt, sie schrie in ihren speichelnassen Knebel hinein, sie strampelte und krümmte sich, blutete in klebrigen Fäden, wofür Mr. X. weil es ihn anwiderte, sie nach Ehemännerart zusätzlich durch Entzug seiner Zuwendung bestrafte.
16 Er war so benommen vom Hunger, daß er in dem Versteck unter einem Backsteinstapel, wo er sich vor seinen Feinden verbarg, seinen eigenen Schwanz zu benagen begann – erst zögernd, dann mit gieriger Lust, bis es kein Halten mehr gab: seinen armen dünnen Schwanz, die Pfoten mit den zwanzig rosa Zehen, seine Hinterbeine, erlesene Filets und Koteletten, Innereien und Brust und Bauchspeicheldrüse und Hirn und alles – abgenagt bis auf die Knochen, so daß die erstaunliche Symmetrie und Schönheit des Skeletts deutlich zutage tritt; jetzt ist er müde, zufrieden und müde, er putzt sich mit zierlichen Pfotenbewegungen und rollt sich in der warmen Septembersonne zu einem Schläfchen zusammen. Ein Seufzer durchzittert ihn: Köstlicher Friede. Nur: Zwei schlaksige Bengel aus der Nachbarschaft schleichen sich an, wie er da auf seinem Lieblingsbackstein liegt und döst, fangen ihn in einem Netz und werfen den entsetzt Quieksenden in eine Schachtel, klappen den Deckel zu, der mit Luftlöchern versehen ist. Per Fahrrad wird er einem Gentleman mit makellos gekämmtem weißem Haar und gepflegter Sprache geliefert, der jedem Jungen fünf Dollar zahlt und sich beim Anblick des in einer Ecke der Schachtel Kauenden entzückt die Hände reibt und leise in sich hineinlacht. Prächtig, prächtig …, du scheinst mir ein zäher kleiner Bursche zu sein. Zu seiner großen Überraschung wird er von dem weißhaarigen Gentleman gefüttert, nicht unfreundlich im Nacken gepackt und 61
inspiziert, die schlanken, makellos ausgebildeten Gliedmaßen werden begutachtet, besonderes Interesse finden die verwegenen Schneidezähne. Und dann ein halblauter Satz, schwer atmend, erregt, zufrieden: Ja, ich denke, du bist der Richtige, alter Junge.
18 Babygirl, die Ärmste, hatte sich, obschon sie das Haus, ja, häufig auch die Schlafräume im Obergeschoß nicht mehr verlassen durfte, bewundernswert tapfer und gutwillig auf die veränderten Lebensumstände eingestellt. Den größten Teil des Tages träge im Bett liegend, ihre Nägel manikürend, Luxuspralinen knabbernd, die ihr der eine oder andere der ›Geschäftsfreunde‹ und manchmal in einer romantischen Anwandlung Mr. X selbst mitgebracht hatte, sah sie fern (am liebsten die Erweckungsprediger), beklagte nach Art amerikanischer Hausfrauen still für sich ihr Los, pflegte ihre Wunden, schnitt Zeitschriftenrezepte aus, tratschte am Telefon mit Freundinnen, kaufte per Versandhauskatalog ein, las die Bibel, sorgte sich um ihr Gewicht, ihren Gemütszustand und die Zukunft, zupfte die Augenbrauen, salbte sich mit duftenden Cremes, trug Optimismus zur Schau, gab sich Mühe. An die beängstigende Richtung, in die ihre Ehe trieb, versuchte sie nicht zu denken, denn Babygirl war nicht eine dieser Ehefrauen, die ständig nur nörgeln und meckern. Man stelle sich also ihre Überraschung und ihr Entsetzen vor, als Mr. X eines Tages nach Hause kam, die Treppe hoch ins Schlafzimmer stürmte, in dem sie mit weißen Seidenkordeln an die Messingpfosten des Ehebetts gefesselt war, und triumphierend seinen Kamelhaarmantel aufschlug – schau, was ich dir mitgebracht habe, mein Schatz!, und mit zitternden Fingern den Reißverschluß der Hose herunterzog, und unter Babygirls fassungslosem Blick sprang er 62
heraus, quieksend, rotäugig, Schaum vor den gefletschten Zähnen, den langen Schwanz aufgestellt. Babygirls Schreie waren herzzerreißend.
19 Mit wissenschaftlichem Interesse verfolgten Mr. X und seine Kumpane die Beziehung zwischen Babygirl und ihm (ein griffiges Kürzel, das nichts verriet): Wie sich das Paar zunächst überaus energisch, ja hysterisch gegeneinander sträubte, wobei Babygirl noch durch den Knebel hindurch schrie, als sie sich im Bett mit ihm zusammen gefangen sah – dieser Kampf, diese Verrenkungen! –, wie er in animalischer Panik und wütender Empörung biß und kratzte wie ums liebe Leben, indes Babygirl trotz ihrer schlaffen Muskeln und ihrer scheinbaren Trägheit sie um ihr Leben kämpfte. Stundenlang ging das so, eine ganze Nacht lang und die nächste und die darauf. Noch nie hatte Burlingame Way, die reizvolle Wohnstraße, in der Mr. X residierte, etwas so Fesselndes zu bieten gehabt.
20 Er wollte nicht, nein, nein, er wollte nicht, mit aller Kraft seines bepelzten kleinen Seins wehrte er sich, als Mr. X ihn mit Gewalt dorthin schob – Babygirl, die Ärmste, hilflos, an Händen und Füßen gefesselt, blutete aus tausend Wunden, die seine Klauen und Zähne geschlagen hatten, warum zwang man ihn dorthin, mit der Schnauze voran, dem Kopf voran, warum dorthin, er würgte, war am Ersticken, versuchte sich den Weg freizubeißen. Aber Mr. X schob ihn, während die Kumpane ehrfürchtig staunend das Bett umstanden, mit bebenden Händen immer tiefer hinein in den blutwarm pulsierenden, festen 63
und doch elastischen Tunnel zwischen den rundlichen Schenkeln von Babygirl, bis nur noch das glänzend bepelzte Ende des Rumpfes und die baumelnden Hinterbeine und natürlich der zwanzig Zentimeter lange rosa Schwanz zu sehen waren. Weil er verzweifelt die fleischigen Wände benagte, die ihn so fest umschlossen, spritzten Blutfontänen hoch, die ihn fast ertränkten wenn sich Babygirls Beckenmuskeln in unwillkürlichen Spasmen zusammenzogen, erstickte er fast, und wie der Kampf ausgegangen wäre, hätten nicht er und Babygirl in der gleichen Sekunde das Bewußtsein verloren, ist völlig offen. Selbst Mr. X und seine Kumpane, die buchstäblich außer sich waren vor ruchloser Erregung, atmeten auf, als für diese Nacht der Agon* vorbei war.
21 So wie Jeanne d’Arc im Martyrium auf dem Scheiterhaufen von Rouen, als die Flammen immer höherschlugen, um sie zu verschlingen und einzuäschern, in höchster Verzückung ausgerufen haben soll: »Jesu! Jesu! Jesu!«
22 Und wer muß die Schweinerei wegputzen? Mit einer Migräne, eine durchweichte Binde zwischen den wundgescheuerten Beinen, sie mag gar nicht hinschauen, wenn sie in allen spiegelnden Flächen das geschwollene Kinn, das blaue Auge sieht, leise vor sich hinweinend schleicht sie herum, in Hausschuhen, in dem pseudojapanischen, gesteppten Hausmantel. Der einzige Trost ist, daß in den meisten Zimmern ein Fernseher steht, so *
Agon: Wettkampf im Griechenland der Antike. 64
daß sie, auch wenn der Staubsauger jault, nie allein ist: Sie hat Pfarrer Tim, Bruder Jessie, Prediger McGowan aus Alabama. Wenigstens ein Trost. Denn nicht genug damit, daß eben jener Mann, der vor allen anderen für Babygirls seelisches Wohl verantwortlich ist, ihr Schmach und Schande angetan hat, nicht genug damit, daß sie benommen ist nach dem körperlichen Trauma, an das sie sich nur undeutlich erinnert, das aber, wie sie genau spürt, die Gefahr einer Infektion, des Wiederaufbruchs ihrer alten Frauenleiden, der Unfruchtbarkeit in sich birgt – nein, sie selbst (wer sonst?) muß am nächsten Morgen putzen. Bettwäsche, blutbefleckte Bettwäsche sauberzubekommen ist keine Kleinigkeit. Auf Händen und Knien versucht sie (mit sehr geringem Erfolg) die Flecken auf dem Teppich zu beseitigen. Dann saugt sie. Und der Staubbeutel ist voll, und sie hat, wie üblich, Probleme damit, den neuen einzusetzen. Ihr ist schwindlig, ein paarmal durchfährt sie ein schneidender Schmerz, so daß sie sich hinsetzen und tief durchatmen muß. Und die Binde zwischen den Beinen ist zu einer harten, dicken Blutwurst geworden. Und die Stahl wolle zerbröselt ihr zwischen den Fingern, während sie tapfer versucht, die Auflaufform sauberzumachen, und dabei in Tränen ausbricht. Ach, wo ist die Liebe hin! Und dann überrascht er sie eines Abends bei diesen melancholischen Betrachtungen, und auch die Kinder machen mit, was ist denn heute, Babygirls Geburtstag ist heute, und sie hatte sich gequält und gedacht, daran erinnert sich ja doch keiner, aber als sie in das Restaurant kommen, das Gondola ist eins der wenigen wirklich guten italienischen Lokale in der Stadt, wo man auch Pizza bestellen kann, wartet schon das Personal mit Happy Birthday! und Luftballons, fast ein wenig vorwurfsvoll klingt es im Chor: Hast du etwa gedacht, wir hätten es vergessen? Und Babygirl bestellt einen Ginfizz, der ihr sofort zu Kopf steigt, und sie kichert und klopft sich mit den Fingern auf die Lippen, um einen kleinen Rülpser zu unterdrücken. Später schimpft ihr Mann mit einem der Jungen, 65
aber sie hängt sich da nicht rein, sie geht zur Toilette, überprüft ihr Make-up in der schmeichelhaft rosigen Beleuchtung des Spiegels. Ja, der Bluterguß unter dem linken Auge geht zurück, sorgfältig legt sie Klopapier auf den Toilettensitz, um sich keine ansteckende Krankheit zu holen, seit Aids paßt Babygirl da noch viel mehr auf, dann sitzt sie auf dem Klo, und in ihrem Kopf herrscht einen Augenblick beglückende Leere, und dann dreht sie den Kopf, ganz zufällig, aber womöglich hat sie doch etwas gespürt, und sieht, nicht zehn Zentimeter entfernt, auf dem schmuddeligen Sims des Fensters mit der Milchglasscheibe die rot blinzelnden Augen eines großen Nagers, ogottogott, es ist eine Ratte, diese Augen, die sie anstarren, ihr Herz tut einen schmerzhaften Schlag und bleibt um ein Haar stehen. Die Schreie von Babygirl dringen durch sämtliche Wände.
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KIM ANTIEAU
Heckenrose Alles war weiß, als sie die Augen öffnete, und die ganze Umgebung war ihr fremd. Die Schwester war ebenfalls weiß. »Guten Morgen, Kindchen«, sagte die Schwester. »Wissen Sie, wo sie sind?« Sie schüttelte den Kopf und suchte nach dem Fenster. Vielleicht wüßte sie es, wenn sie das Sonnenlicht sah, wenn sie sah, daß die Welt tatsächlich existierte. Alberner Gedanke. Sicher existierte die Welt. Sie selbst sollte nicht mehr existieren, soviel stand fest. »Drehen Sie sich um.« Die Stimme der Schwester war genauso nett wie die Erinnerungen, die sie noch besaß. Sehr viele waren es allerdings nicht. Sie drehte sich um. Die Schwester streifte das Laken zurück und schob ihren Krankenhauskittel hoch. »Schauen Sie mal her, Kindchen. Womöglich hilft das Ihrer Erinnerung auf die Sprünge.« Sie wandte den Kopf, machte ein Hohlkreuz und betrachtete ihren nackten Körper. Eine kleine rote Rose, umgeben von einer Dornenkrone, blühte auf ihrem weißen Hinterteil. Sie berührte sie. »Vielleicht heiße ich Rose.« »Meinetwegen Rose, Schätzchen.« Die Schwester schob den Kittel und das Laken wieder zurecht. »Wir wissen’s auch nicht. Jedenfalls sind Sie hier aufgetaucht und hatten die Arme voller Glassplitter, lauter tiefe Schnitte.« Rose hob ihre bandagierten Arme. »Sie haben erzählt, Sie seien durch eine Fensterscheibe gefallen.« Die Schwester lächelte. »Wir haben beschlossen, es mal zu glauben und Sie nicht in die Psychiatrie zu stecken. Jetzt 67
müssen Sie bloß brav dieses Dreckzeug essen, das man hier eine Mahlzeit nennt, sich ausruhen und gesund werden. Pfeifen Sie einfach, wenn Sie was brauchen.« Die Schwester in Weiß lächelte. Einen Moment lang hatte Rose den Eindruck, sie sei in eine schimmernde Rüstung gekleidet. Rose schüttelte den Kopf, und die Schwester war verschwunden. Mit geschlossenen Augen durchforschte sie ihr Gedächtnis. Nichts. Außer der Erinnerung an einen Mann, der ein Gerät mit einer Nadelspitze in der Hand hielt, ganz ähnlich wie das, das sie im Werkunterricht in der High School bei der Brandmalerei benutzt hatten. »Bist du hergekommen, um verwandelt zu werden?« fragte er. »Ich glaube nicht«, antwortete sie. »Ich will bloß eine Rosentätowierung.« Er summte ein Stückchen aus Beethovens Fünfter, während er im Rhythmus der Melodie auf ihrer Haut stichelte. Nachdem er fertig war, strich er ein Pflaster darüber glatt und reichte ihr eine Karte mit Pflegehinweisen, als habe sie gerade einen Pullover gekauft. Sie zog ihre Hose hoch und ging nach Hause. Nach Hause? Es gelang ihr nicht, sich davon ein Bild zu machen; sie sah nur die Spiegelung ihres Körpers in der Fensterscheibe, als sie das Pflaster abzog und den Schorf betrachtete, der sich dort gebildet hatte, wo mit Nadel und Farbe die Rose eintätowiert war. »So«, sagte sie, »ich bin wieder heil. Ich bin wieder ich selbst. Mein Körper gehört mir.« Rose öffnete die Augen und wollte die weiße Schwester rufen, um ihr zu erzählen, was ihr eingefallen war. Doch dann schloß sie die Augen und schlief ein. Am nächsten Morgen, nachdem sie das Dreckzeug gegessen hatte, das man hier Mahlzeit nannte, stieg Rose aus dem Bett, suchte ihre blutbefleckten Kleider zusammen und zog sich an. Sie hatte Angst, bis sie an die Rose dachte, die auf ihrem Hinterteil blühte; dabei wurde sie ganz ruhig. Langsam ging sie hinaus in den Flur, nahm den Lift und fuhr hinunter in die 68
Eingangshalle. Durch eine Drehtür kam sie nach draußen und erblickte eine Welt, die sie nie zuvor gesehen hatte – hell und lärmend. Weiß und bunt. Nein, hell und bunt. Sie durchsuchte ihre Taschen, während sie die Straße entlangging und das Krankenhaus hinter sich ließ. Vierzig Dollar steckten zusammengeknüllt in ihren Jeans. Das war es. Sie summte Tschaikowskis Ouvertüre 1812 und ging in Richtung der hohen Gebäude und Brücken, die den Fluß oder die Schnellstraße überspannten. Tauben umschwirrten sie und lauerten auf Almosen. Sie erinnerte sich an nichts als an die Rose und das Gefühl ihrer Haut unter ihrer Hand. Sie lächelte. Die Wonnen der Einfältigen. Als sie ins Stadtzentrum kam, flogen die Tauben schimpfend weiter zum Parkplatz des Burger-King. Rose bog in eine Straße namens Burnside ein und blieb schließlich vor einer Tür stehen mit der Aufschrift: TÄTOWIERUNGEN. GARANTIERTE SAUBERKEIT. ZUTRITT NUR FÜR KUNDEN ÜBER 18. Vorsichtig wickelte sie den Verband von ihren Armen. Schorf hatte sich über den Schnittwunden gebildet. Sie ließ den verkrusteten Verband in eine Mülltonne fallen, öffnete die Tür und ging hinein. Der Mann mit der Nadel schaute auf und lächelte. Er war es, an den sie sich erinnert hatte. »Tut mir leid, Schätzchen. Wegmachen kann ich’s nicht mehr.« »Ich will’s gar nicht weggemacht haben. Ich will noch eine.« Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und betrat sein Reich aus Schablonen und Nadeln, Farben und Erinnerungen und betrachtete die Zeichnungen an den Wänden. »Willst du dir diesmal was aus meinen Standardbildern aussuchen? Beim letzten Besuch wolltest du das, das noch niemand sonst hat.« Er stand neben ihr und deutete auf eine Blume. »Wie wäre es denn damit?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte ein Kind. Hier auf mei69
nen Arm. Hast du irgendein Kind? Ich muß mich erinnern.« »Nein, aber ich kann eins zeichnen.« Er hatte lockiges schwarzes Haar und trug an allen sichtbaren Stellen seines Körpers Tätowierungen. Ein Drachen spuckte Rauch auf seinem rechten Arm, Jupiter kreiste, von Sternen umringt, auf seinem linken. Darunter schwebte ein Schmetterling. Sie folgte ihm zu seinem Arbeitsplatz hinter dem Zeichentisch. Er wollte, daß sie sich hinlegte; sie wollte lieber sitzenbleiben. Vor sich hinsummend rieb er ihren linken Arm mit Alkohol ab, ließ die Stelle trocknen und zeichnete dann ein kleines Mädchen. Rose beobachtete die Bewegungen seiner Hände und wußte, daß sie das auch konnte. Zeichnen. Ihr Leben skizzieren. Niemand sonst kam in den Laden. Nach einiger Zeit hörte er auf und fragte, ob ihr das kleine Mädchen gefalle, das er gezeichnet hatte. Sie betrachtete ihren Arm. »Dieses kleine Mädchen bin ich.« »Ja«, sagte er. »Ich weiß.« »Ich erinnere mich nicht, ob ich sie gemocht habe.« Das Mädchen war kleiner, als Rose es sich vorgestellt hatte, vielleicht zwei Jahre alt. Der Mann begann Farbe auf ihrem Arm zu verteilen, dann stach er in ihre Haut. Als er fertig war, dunkelte es draußen bereits, und das Mädchen blies zwei Kerzen auf einem Kuchen mit blauem Zuckerguß aus. »Eines Tages, mein lieber Bruder Charlie, wird irgendein kleiner Stecher sie kriegen«, sagte ihr Onkel Bobbie, »und alles ist vorbei. So ist das nun mal mit Mädchen. Das hat Dad schon immer gesagt.« Er lachte und verschüttete sein Bier, während die Mutter den Kuchen anschnitt. Rose schaute ihren Vater an und sah die Angst in seinen Augen; sie war erst zwei Jahre alt, aber sie sah es, und Bobbie war vielleicht dreizehn und eigentlich zu jung, um Bier zu trinken. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Der Tätowierer legte ihr die Hand auf den Arm. Sie wich zur Seite. »Entschuldige«, sagte er. »Du willst wohl nur berührt werden, wenn es weh tut.« 70
Erneut betrachtete sie das kleine Mädchen. Mit gespitzten Lippen versuchte es in alle Ewigkeit die Kerzen auszublasen. »Kannst du mir beibringen, wie man das macht?« fragte sie. »Dich selbst verwandeln? Oder das Tätowieren?« »Mit einer Nadel zu zeichnen.« »Hast du Geld?« »Vierzig Dollar und zwei Erinnerungen«, sagte sie. »Ich könnte hierbleiben. Saubermachen. Und auch sonst alles tun, was du willst.« »Kratz nicht an deiner Tätowierung.« Er wollte ihr die Karte mit den Hinweisen geben. Sie schaute ihn stumm an. »Na gut«, nickte er, als habe er es schon die ganze Zeit über gewußt. »Ich will noch eine«, sagte sie. »Auf den rechten Arm. Eine Schlange.« Er stand auf, ging zur Tür, schloß ab und ließ die Jalousien herunter. »Dreh dich um, damit ich von der anderen Seite her arbeiten kann.« Er nahm eine seiner Schablonen und drückte sie auf ihren Arm. Rose konnte den Umriß einer Schlange erkennen. Sie schaute auf die Bandage an ihrem linken Arm und stellte sich das Mädchen darunter vor, während der Tätowierer die Schlange aufzeichnete. Als er fertig war, legte er seine Instrumente zur Seite. »Mehr kann ich heute nicht machen«, sagte er und ging die Treppe hinauf zu seiner Wohnung. Sie lauschte einige Minuten lang auf sein schweres Atmen, ehe sie aufstand, die Nadeln reinigte und die Farben wegräumte. Dann ging sie in das kleine Büro hinter der Werkstatt und rollte sich auf einer durchgesessenen Couch zusammen. Als sie aufwachte, war es noch dunkel. Sie fühlte sich gehetzt, als müsse sie unbedingt rasch etwas beenden, etwas, das sie angefangen und irgendwie verdorben hatte. Im Licht der Schreibtischlampe betrachtete sie ihre Arme. An den Stellen, wo das Glas die Haut zerschnitten hatte, sah man jetzt schwarze, 71
zackige Linien. Sie erinnerte sich daran, wie sie ratlos in einem Motelzimmer gestanden hatte. Ihre Mutter war tot. Zu viele Schlaftabletten. Ihr Vater war tot. Zu viele Zigaretten. Und sie lebte. Ihr Körper schmerzte. Dieser Körper, der nicht ihr gehörte. Die Tätowierung juckte. Sie hatte ihr nicht geholfen, wieder Ruhe zu finden. Vieles hatte ihr stechende Schmerzen zugefügt, genau wie ihr Vater es befürchtet hatte: Männer, Junge, das Leben. Es tat so weh, als sei sie innerlich voller Glassplitter. Wütend hatte sie die Fäuste gehoben und gegen das Fenster schlagen wollen, das hinaus auf den Parkplatz ging und hatte plötzlich gewußt, wie sie Frieden finden konnte. Es endete damit, daß sie in diesem Krankenhaus landete, wo sie Dreckzeug aß und von der weißen Schwester gewaschen wurde. Sie streifte den Verband über dem kleinen Mädchen mit seinem Geburtstagskuchen ab. Dabei löste sich der Schorf, und dem Mädchen traten Tränen in die Augen. Sie hatte das Gespräch mitangehört und gewußt, daß sich ihr Leben verändern würde. Rose entfernte auch den anderen Verband. Die Schlange warf ihre Kruste ab, und Rose war acht Jahre alt und beugte sich zu Hause im Hinterhof über eine durchsichtige Schlangenhaut. Wohin ist die Schlange bloß verschwunden, dachte sie. Was für ein leichtes Leben. Wenn es dir nicht mehr gefällt, streif es einfach ab und beginn von vorne. Sie streckte einen Finger aus und berührte vorsichtig die Haut. Sie war ganz trocken. »Wenn es eine Giftschlange war, kannst du sterben.« Sie schaute auf. Onkel Bobbie. Er lächelte. Wie immer wirkte sein Lächeln irgendwie unnatürlich. Sie wußte nicht genau, warum. Er hob die Schlangenhaut auf und lief damit weg. Sie folgte ihm in den Wald, wo die Eichen und Ahornbäume gerade die Blätter abwarfen. Plötzlich hörte sie seine Schritte nicht mehr. Sie war allein. Dann sprang Bobbie hinter einem Baum hervor 72
und stieß sie zu Boden, schleuderte die Haut in die Luft, so daß sie weit weg niederfiel, und lachte unaufhörlich. Er streifte ihr die Hosen ab und seine ebenfalls. Als es vorbei war, versprach er, ihr ein Pony zu schenken, wenn sie es niemandem erzählte. Rose schaltete das Licht aus. Jetzt hatte sie vier Erinnerungen. Den ganzen Tag lang schaute sie dem Mann zu, wie er Bilder in die Haut anderer Leute stach. Sie kümmerte sich um seine Farben und die Nadeln und putzte den Boden. Abends zählte sie das Geld und gab es ihm. Er tätowierte sie, wenn sie allein waren. Ein Blutstropfen, der nach seiner Stichelei auf ihrem rechten Unterarm perlte, brachte ihr Bobbie zurück, wie er lächelnd den Reißverschluß seiner Hosen hochzog; sie preßte ihre Hände zwischen die Beine und weinte. Er befahl ihr, still zu sein. Ihre Eltern hatten Angst, sie bei jemand Fremden zu lassen, der nicht zur Familie gehörte. Angst vor der Außenwelt. Onkel Bobbie hat recht, sagten sie zueinander, es gibt Millionen Burschen da draußen, die nur darauf warten, dem Kind weh zu tun. Ein Weidenbaum brachte ihren Vater zurück. Sie lehnte den Kopf an sein Knie. Er streichelte ihr Haar, während er seine Zeitung las. Die Mutter kniete in ihrem Garten und flüsterte mit den Blumen. »Ich hab’ noch nie jemanden gesehen, bei dem es so schnell verheilt«, sagte der Tätowierer. Er schien müde zu sein, als spüre er alles genauso wie sie. Sie nickte und nahm ihm die Nadel ab. »Darf ich es mal versuchen?« »Tu dir nicht weh.« »Dreht es sich dabei nicht genau darum?« fragte sie und hielt die Nadel bereit wie ein ungeduldiger Schriftsteller seinen Stift. »Nein«, sagte er und ging die Treppe hoch. Sie wartete, bis sie sein schweres Atmen nicht mehr hörte; dann begann sie zu 73
zeichnen. Sie versuchte eine Blume, aber es wurde eine verbogene Sonne daraus, die ihr die Erinnerung an einen Sommer zurückbrachte, als sie vier Jahre alt war und Bobbie seine Finger zwischen ihre Schenkel schob, während er irgend etwas bei sich zwischen den Beinen packte. Der komische Bobbie. Rose lachte über sein Gesicht, bis es ihr weh tat. Dann begann sie zu weinen und wollte zu ihrer Mutter. Die Sonne brannte so heiß, und die Blumen welkten. »Mama«, flüsterte sie. Sie versuchte erneut, Blumen zu tätowieren, diesmal auf ihren Schenkeln. Zuerst Veilchen, dann Rosen, Gardenien, Rhododendren, ein blühender Garten entstand auf ihrer Haut, und sie kniete neben ihrer Mutter auf der Erde. Ihre Mutter weinte; die Tränen zeichneten sanfte Spuren in den Staub auf ihrem Gesicht. »Was ist? Was hast du?« fragte Rose. Sie war zehn, und ihre Kehle schmerzte, weil sie sich so bemühte, nicht auch zu weinen. Bobbie lauerte irgendwo im Gebüsch; immer lauerte er ihr auf, und Mama weinte. Am Morgen kam der Tätowierer die Treppe herunter. Er betrachtete ihre Schenkel. »Du bist eine Künstlerin.« »Ich bin meine eigene Sixtinische Kapelle.« Sie hielt die Nadeln hoch. »Machst du mir den Rücken?« »Warum?« »Ich muß mich erinnern.« »Aber war es vorher nicht schöner? Als du nichts wußtest?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte auch nichts, als ich zwei Jahre alt war, und sieh dir an, was passiert ist.« »Bei dir bildet sich kaum Schorf«, sagte er. »Bei mir kommen gleich die Narben.« Sie zog ihr Hemd und das Leibchen aus. Es störte sie nicht, daß er sie sah. Er stichelte auf ihrem Rücken, ließ die Farbe 74
einwirken und hielt die Erinnerungen dauerhaft fest. Sie konnten aus ihrem Gedächtnis gelöscht werden, aber nicht mehr von ihrer Haut. »Was hast du gezeichnet?« fragte sie, als er eine Pause machte. »Kannst du das nicht erkennen? Erinnerst du dich nicht daran, wie du als Kind mit deinem Bruder oder deiner Schwester in der Badewanne lagst? Ihr habt euch gegenseitig immer den Rücken mit Seife eingeschäumt und darin was gezeichnet, meistens Worte, und der andere mußte es dann erraten.« »Ich hatte keine Geschwister«, sagte sie. »Aber ich erinnere mich an eine Cousine, Mary. Wir haben zusammen gespielt. Manchmal badeten wir miteinander, als wir noch ganz klein waren. Ja, jetzt erinnere ich mich.« Es war schön gewesen, sie zu berühren und von ihr berührt zu werden. Der Körper der einen war das Zeichenbrett für die andere, voller Wasser und Seife. »Wir ließen Plastikschiffchen schwimmen und spielten, wir würden uns die ganze Welt ansehen.« »Das ist das Bild, das ich auf deinen Rücken gezeichnet habe«, sagte er. Sie stand auf und ging ins Bad. Dort gab es einen bis zum Boden reichenden Spiegel, in dem sie sich betrachtete. Zwei Mädchen standen auf einem Segelboot. Sie hielten sich an den Händen gefaßt und winkten den Meerjungfrauen im Wasser zu. Das Boot hüpfte auf den Wellen. Eine Flagge mit einer Rose flatterte in der Brise. Rose lächelte. Manche Erinnerungen waren schön. Sie ging zurück in die Werkstatt des Tätowierers. »Du verstehst, daß ich das tun muß?« »Ja«, sagte er. »Es ist ein Teil meiner Arbeit. Verwandlungen, weißt du. Manchmal ist es schwierig.« Sie nickte. Auf ihre linke Wade zeichnete sie eine Dame, die in einem Bett aus Haut lag, ganz umrahmt von goldenem Haar. Ihre Augen waren geöffnet, aber Rose wußte, daß sie tot war. Die 75
offenen Augen hatten Rose überrascht. Sie war an einer Überdosis Tabletten gestorben. Methodisch hatte sie eine nach der anderen eingenommen. »Warum?« fragte Rose ihre Mutter, die eine der kleinen weißen Pillen schluckte. »Weil ich überall Schmerzen habe. Ich bin tausendfach verletzt worden.« Hatte Bobbie auch mit ihr gespielt? »Ich brauche dich. Du mußt hier bleiben«, sagte Rose. Sie begann zu weinen. Wo war ihr Vater? Zur Arbeit? Er war mit dem Auto weggefahren. Die nächsten Nachbarn, die Nelsons, waren in Urlaub. Ob sie sonst irgend jemand holen konnte? Sie lebten zu weit von der Stadt entfernt. Draußen auf dem Land, wo niemand ihnen etwas Böses tun konnte. Die Mutter hatte das Telefonkabel aus der Wand gerissen. »Bobbie hat immer mit mir gespielt«, sagte Rose verzweifelt. Sie war zwölf und hoffte, wenn sie ihr alles erzählte, würde sie bei ihr bleiben. »Was meinst du damit?« Diesmal schluckte sie vier Pillen. »Na ja, sein Ding in mich gesteckt«, sagte Rose. Hör auf, Mom. Bleib bei mir. »Erzähl’s deinem Vater. Er wird dich beschützen.« Das war alles. Mehr hatte ihre Mutter ihr nicht zu sagen nach all den Qualen, die sie erlitten hatte. »Er hat mir ein Pony versprochen.« »Ich bin so müde«, sagte die Mutter. Rose lief die Treppe hinunter zur Tür, rannte in den staubigen Nachmittag hinaus und weiter, immer weiter durch den Wald in Richtung des Hauses, in dem Bobbie mit seinen Eltern wohnte. Nachts arbeitete er in der Stadt. Vielleicht war er jetzt daheim. Sie hämmerte wie rasend an die Tür. Nach einer Weile hörte sie irgendwo im Haus seine Stimme. Noch vom Schlaf benommen, öffnete er. 76
»Was machst du denn hier?« »Mama!« rief sie. »Sie hat zu viele Schlaftabletten genommen. Bitte, du mußt was tun.« Er ließ sie herein. Dann telefonierte er mit der Polizei und bestellte einen Krankenwagen. Sie haßte ihn, verachtete ihn und haßte auch sich selbst. Aber er würde ihre Mutter retten. Er nahm sie bei der Hand, und sie liefen hinaus zu seinem Auto. Er fuhr sie zurück nach Hause. Zusammen gingen sie die Treppe hoch. Ihre Mutter lag auf dem Bett, ganz umrahmt von ihrem Haar, wie ein goldblondes Schneewittchen, das auf den Märchenprinzen wartet. Die Augen waren geöffnet. Bobbie fing an zu weinen. Rose ging weg. Sie wußte nicht mehr genau, wohin sie gegangen war. Ihre Seele war eine Zeitlang auf Wanderschaft. Sie hatte geglaubt, sie sei mit acht Jahren gestorben, aber das war ein Irrtum gewesen. Jetzt starb sie. Durchbohrt vom Stachel des Todes ihrer Mutter. Sie zeichnete einen Garten auf ihre andere Wade. Unkraut und Dornen rankten bis zum Knie hinauf. Mitten im Unkraut stand ein Mann. »Er hat sich danach nie mehr um mich gekümmert«, sagte sie. »Wer? Dein Vater?« fragte der Tätowierer. »Nein«, sagte Rose. Tränen brannten in ihren Augen. »Bobbie.« Sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich erbrechen. »Ich habe ihn gehaßt, aber außer ihm gab es niemanden. Ja, so war es wohl. Mama hatte mich schon lange, ehe sie starb, verlassen. Und mein Vater war … eben mein Vater.« Der Tätowierer nahm die Nadel. Rose legte sich auf den Bauch, und er begann zu zeichnen. Auf ihrem Hintern entstand ein Gewirr aus dunklen Heckenrosen, die sich bis zum Rücken rankten. Kein Weg führte hindurch. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihr Schlafzimmerfenster offengelassen hatte. Die Jungen wußten, wo sie einsteigen konnten, und das taten sie, einer nach dem anderen. Es kümmerte sie nicht, wer sie waren. Sie öffnete einfach nur die Schenkel. 77
Irgendwie mußte sie die Leere in sich füllen. Das Wildrosengebüsch zerstach ihre Haut; der Tätowierer zeichnete Blutstropfen, die ihre Beine hinunterrannen. Sie berührte das Blut und erinnerte sich daran, wie sie siebzehn gewesen war. Ihr Vater war betrunken. So hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Aber er war außer sich vor Trauer. Er weinte und fing an, sie Joanie zu nennen. Das war der Name ihrer Mutter. Sie ging ins Badezimmer und frisierte sich das Haar anders, betupfte ihre Wangen mit Puder, legte die Perlenkette ihrer Mutter um den Hals, schlüpfte in das blaugeblümte Kleid, das ihre Mutter oft getragen hatte, vor allem im Garten, und dann ging sie zurück zu ihrem Vater. In der Dunkelheit öffnete sie sich ihm, ohne etwas zu begreifen, und er drang schluchzend in sie ein, bis er mitten in seinen kraftvollen Bewegungen die Augen aufschlug und vor Entsetzen schrie, weil er wußte, daß sie es war – und trotzdem machte er weiter. Danach rollte er sich auf dem Boden zusammen und fragte, warum sie das getan hatte. »Tut es weh?« fragte der Tätowierer. »Ja.« Rose wischte sich die Tränen weg und setzte sich auf. »Ich will, daß du meine Brüste tätowierst.« Er zeichnete Blumen und Restaurants, Neonlichter und Cowboys. Es tat weh. Er zeichnete ihre Reise quer durch das Land. Nachdem ihr Vater sie weggeschickt hatte, war sie zuerst zu Bobbies Haus gegangen. Er hatte eine Ehefrau und ein Kind, und er wich ihrem Blick aus. Rose wandte sich ab. Sie hoffte, daß er sein kleines Mädchen nie so berühren würde, wie er es mit ihr gemacht hatte. Etliche hundert Meilen fuhr sie mit einem Lastwagenfahrer, bei dem sie eingestiegen war. In der Nacht ließ sie sich von ihm nehmen. Sie fühlte sich innerlich trocken, und er sagte, es mache nicht viel Spaß mit ihr. »Ich will keine, die mich nicht will.« Er warf sie hinaus in die Dunkelheit. Der nächste verprügelte sie. Der Tätowierer zeichnete die schwarzen und blauen Flecke auf ihre Haut. Die Schläge 78
hatten ihr nicht sehr viel ausgemacht. Sie hatte sie verdient. Berührungen taten nun einmal weh. Schließlich landete sie in Tuscon, fünfzehnhundert Meilen von Zuhause entfernt, und arbeitete dort in einem Restaurant. Aus irgendeinem Grund rief sie Bobbie an und sagte, wo sie war. Sie schaute hinab auf ihre Brüste und sah den Umschlag, las die Anschrift auf dem Brief. Der Tätowierer biß sich auf die Lippen, während er die Nadel ansetzte. »Es ist zu meinem eigenen Besten«, sagte sie. »Es ist gegen deinen Tod«, sagte er. Sie nickte. Der Brief teilte ihr mit, ihr Vater sei gestorben. Ein Jahr nach dem Tod, an dem sie gegangen war. Lungenkrebs. Sie blieb in Tuscon und fuhr nicht zur Beerdigung. Ein Kaktus wuchs aus ihrem Nabel. Eine alte Indianerin versuchte, ihre Seele zu heilen. Aber sie konnte sich nicht von ihr berühren lassen. Von niemandem konnte sie sich berühren lassen. Als sie neunzehn wurde, ging sie nach Norden. Dort fand sie den Tätowierer und ließ sich von ihm eine Rose auf ihren Körper gravieren. Jetzt war es ihr Körper. Auf die Körperseiten malte er ihr Zuhause, so daß es sie umhüllte. Sie war nie wieder heimgekehrt. Irgendwann hatte sie gehört, daß man das Haus verkauft hatte. Eine andere Familie lebte jetzt dort. Nachdem sie die Rose erhalten hatte, glaubte sie, alles würde besser werden. Es müßte besser werden, denn sie hatte einen Grund, weiterzuleben: Sie hatte ihren Körper wieder zurückbekommen. Statt dessen stand sie in einem Motelzimmer und wollte sterben. Der Tätowierer trat zurück. Er weinte. »Du bist überall voll Schorf.« Sie war nackt bis auf die Tätowierungen. »Bist du glücklich, daß du dich erinnert hast?« »Nein«, sagte sie. »Danke.« »Geh nicht«, sagte er. »Du bist sehr gut. Eine Künstlerin. Du 79
könntest Menschen verwandeln.« »Ich kann nicht mal mich selbst verwandeln«, sagte sie und zog sich an. Ihr ganzer Körper schmerzte. »Ich könnte dir am Anfang helfen«, sagte er. Sie schwieg. »Bleib wenigstens, bis der Schorf weg ist.« »Na gut. Dann bleibe ich noch heute nacht.« Er wollte ihren Arm berühren, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Ich gehe ins Bett.« Langsam stieg er die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Rose setzte sich auf die Couch im Büro. Ihr Körper war jetzt bedeckt mit Erinnerungen, und sie bereiteten ihr Schmerzen. Sie zog ihr Hemd aus; das Pochen ließ etwas nach. Am liebsten hätte sie geweint. Die Erinnerungen verbrannten ihre Haut. Die Schmerzen waren unerträglich. Sie stand auf und zog ihre Hosen aus. Wie konnte sie damit weiterleben, wie sollte sie das alles aushalten? Sie berührte eines der Gesichter auf ihrem Körper. Es war Bobbie. Er spähte ihr von der rechten Schulter entgegen. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund, der Schorf fiel von ihr ab und wurde zu Blütenblättern, roten, gelben, blauen, die langsam zu Boden sanken und auf dem Teppich liegenblieben. Jetzt konnte sie all ihre Erinnerungen deutlich sehen. Ihr ganzes Leben war in ihre Haut eingeprägt. Sie ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Ihren ruinierten Körper. Bobbie hatte sie ruiniert. Sie getötet. Sie zum Schlaf verdammt, bis sie gestorben war. Ihre Mutter hatte sie zugrundegerichtet. Ihr Vater hatte sie zugrundegerichtet. Sie war nur ein Kind gewesen. Alle hatten ihr etwas genommen und vergessen, es ihr zurückzugeben. Sie begann zu weinen und dachte an die Stunden, in denen sie sich an nichts erinnert hatte. Als sie von der weißen Schwester umsorgt worden war. Ein neugeborenes Baby, um das man sich kümmerte, das man liebte, streichelte. Nichts hatte sie gewußt, gar nichts. Jetzt wußte sie alles. Bobbie trank zu viel. Seine Frau hatte ihn verlassen. Ihr 80
Vater war tot; er hatte ihr nie vergeben und nie eingesehen, daß er schuldig geworden war, nicht seine Tochter. Ihre Mutter war tot. Es war ihr gleichgültig gewesen, was sie zurückließ. »Zeit zum Aufwachen«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Sie griff in das Gerank um die Rose auf ihrem Hintern und zog einen Dorn heraus. Ihre Haut juckte. Raschelte. Sie setzte sich auf den Boden und preßte den Dorn fest auf ihren Kopf, bis ihr Blut in die Augen lief. Es war gut gewesen, sich zu erinnern, zu erkennen, daß sie ja nur ein Kind gewesen war. Ihre Mutter hatte sich dafür entschieden zu sterben; Bobbie hatte sich dazu entschieden, sie zu verletzen; ihr Vater hatte sich entschieden, ihr die Schuld zu geben. Es war vorbei. Jetzt war es Zeit zur Heilung. Dadurch, daß sie alles wieder vor sich gesehen hatte, war es irgendwie verständlich geworden. Sie erinnerte sich an die Schlangenhaut und wie sie als Kind darüber gestaunt hatte, daß eine Schlange ihr altes Leben abwerfen und ganz neu anfangen konnte. Sie streckte sich, daß es knackte, rieb sich auf dem Teppich – und ihre Vergangenheit begann von ihr abzufallen. Ganz leicht ließ die tote Haut sich abschälen. Sie fühlte sich trocken und kühl an, genauso wie die Schlangenhaut damals. Leblos. Welk. Die Blumen verschwanden, Bobbies Gesicht, die Augen ihrer Mutter, das Unkraut, das Schiff auf ihrem Rücken, die Schlange, das Blut, alles. Sie stand auf und schüttelte sich. Die letzten Hautstücke lösten sich; die Vergangenheit blieb auf dem Teppich liegen. Sie betrachtete ihren Körper. Er war weiß und rosig. Ganz neu. Nur die Rose auf ihrem Hintern war noch da, ohne die Krone aus Dornen. Der Tätowierer stand in der Tür. Er bückte sich und hob die Haut auf. Rose berührte seinen Arm. »Laß sie. Ich brauche sie nicht mehr.« Sanft strich sie mit der Hand ihre Rosentätowierung glatt und lächelte. »Ich bin wieder ich selbst.«
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TEIL ZWEI Noch lange hin bis zum Morgen
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LISA TUTTLE
Ersatz Mit schlechtem Gewissen, weil er sich nicht von Jenny zur Arbeit hatte fahren lassen, ging Stuart Holder durch das graue nördliche London zur U-Bahn-Station. Gleichzeitig war er erleichtert, einer erneuten sinnlosen Streiterei ausgewichen zu sein. Er hielt den Blick auf den Gehsteig gesenkt, der übersät war mit Schachteln aus irgendeinem Schnellimbiß und weißen Papiertüten, und entdeckte plötzlich zwischen den Hundehaufen, den Bierdosen und Kippen ein ganz schauerliches Etwas. Es hatte ungefähr die Größe einer Katze, eine lederartige Haut ohne irgendwelches Fell und dünne, staksige Gliedmaßen, die viel zu schwächlich schienen für den bauchigen, proportionslosen Körper. Das Gesicht mit den winzigen hellen Augen und einem nassen Schlitz anstelle eines Mauls erinnerte an einen bösartigen Affen. Die Kreatur hatte ihn bemerkt und setzte sich ungelenk und wie von einem Krampf durchzuckt in Bewegung, wobei sie einen erstickten Laut ausstieß, der einem Würgen glich und ihn zusammenzucken ließ, als habe er auf Metall gebissen. Der Anblick dieses wimmernden, krabbelnden Dings mit seinen schuppigen Klauen war einfach ekelhaft und grauenvoll. Dabei hatte er wahrhaftig keine Phobien; er fand sogar Insekten faszinierend und fing regelmäßig Spinnen, Wespen und Eintagsfliegen ohne sie zu verletzen, um sie vorsichtig ins Freie zu bringen, während Jenny sich hilflos kreischend schüttelte. Doch das hier war etwas ganz anderes. Es handelte sich bestimmt nicht um irgendeine seltene Abart einer flügellosen Fledermaus, die aus einem Zoo entwichen war. So etwas fand man garantiert in keinem Nachschlagewerk der Welt abgebildet, vielmehr war es eine Kreatur, die gar nicht existieren 83
dürfte, ein Irrläufer der Natur, etwas vollkommen Fremdartiges, Unheimliches. In einem Anfall aggressiver Wut sprang er einen Schritt vor und trat zu. Der kurze, schrille Schrei traf ihn bis ins Mark, aber er hatte es bereits unter seinem Schuh zerquetscht. Als er danach seine Sohle an der Gehsteigkante abkratzte, konnte er sich nicht mehr länger beherrschen. Vornübergebeugt erbrach er sich in eine rotweiß gestreifte Schachtel mit Hühnerknochen und zerknülltem Papier. Zitternd wischte er sich wieder und wieder mit seinem Taschentuch den Mund ab und überlegte, ob ihn irgend jemand beobachtet hatte. Verstohlen schaute er sich um. In stetigem Strom krochen die Autos im morgendlichen Berufsverkehr vorbei. Gegenüber bummelten ein paar Schulmädchen herum, vor einem Zeitschriftenladen stand ein Mann und rauchte. Aber auf seiner Straßenseite hatten die Geschäfte, ein Hähnchengrill und eine Sanitärhandlung mit Badezimmereinrichtungen, noch geschlossen, und die nächsten Fußgänger waren fast hundert Meter entfernt. Bis zu diesem Augenblick hatte Stuart noch nie in seinem Leben getötet. Mücken und Fliegen, das ja, vermutlich auch einige andere Insekten, einmal ein Hornissennest zerstört, aber mehr nicht. Er hatte nie auf dem Land gelebt und sich daher auch nie für die Jagd interessiert. Sein Vater hatte mal Giftköder für Ratten ausgelegt, und er wußte noch, wie er diese Biester auf einem verwilderten Grundstück, wo er als Kind spielte, mit Ziegelsteinen beworfen hatte. Allerdings waren Ratten auch nicht mit anderen Tieren zu vergleichen; sie erweckten bei niemandem Sympathie. Manche Tiere mußte man einfach töten, wenn sie sich nicht vertreiben ließen. Er zwang sich, noch einmal genau hinzuschauen, ob das Ding wirklich nicht mehr lebte. Schließlich wollte er es nicht einfach hilflos liegenlassen, bis es qualvoll verendete. Aber 84
sein Absatz hatte der Kreatur den Kopf bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht; sie war eindeutig tot. Er spürte Erleichterung und einen Anflug von Befriedigung, dem sofort ein merkwürdiges Unbehagen folgte, während er weiterging, als drohe durch seine Schuld ein Unheil. War er berechtigt gewesen, es einfach aus einem gewalttätigen, irrationalen Impuls heraus zu töten? Er wußte ja nicht einmal, um was es sich handelte. Möglicherweise hatte es irgend jemandem gehört, der sein Tierchen jetzt überall suchte. Ihm wurde heiß und kalt vor Scham und Ekel über sich selbst. An der Ecke blieb er stehen und wartete neben fünf oder sechs anderen Fußgängern darauf, die Straße überqueren zu können. Da er niemandem ins Gesicht schauen mochte, blickte er nach unten. Und da hockte es und war wieder lebendig geworden. Er unterdrückte einen Aufschrei. Nein, natürlich war es nicht dasselbe; es mußte ein zweites Tier sein. Beinahe automatisch hob er den Fuß und fühlte erneut das verrückte Verlangen, es zu zertreten, obwohl er gleichzeitig entsetzt war über diesen fast zwanghaften Reflex. Das schmale, nasse Maul bewegte sich, als wolle es sprechen. Die Ampel sprang um; alle anderen überquerten bereits die Straße. Sie waren in Gedanken versunken und hatten nichts bemerkt. Nur eine Frau in einem eleganten Kostüm stand regungslos auf dem Bürgersteig und schaute mit einer Mischung aus Faszination und Ekel auf dem Gesicht nach unten. Ob er den ritterlichen Beschützer spielen und das Vieh für sie töten sollte? Aber wahrscheinlich würde sie seine Gewalttätigkeit eher abstoßen. Er wollte nicht, daß sie ihn für ein Monster hielt, das über das Knacken der zarten Knochen frohlockte und es genoß, wie Fleisch und Eingeweide unter seinem Schuh zu Brei wurden. Mühsam riß er seinen Blick los und beschloß, das fremdartige Wesen zu verschonen. Doch während er die Straße über85
querte, fragte er sich bereits, ob er richtig gehandelt hatte. Stuart Holder arbeitete als Lektor bei einem Verlag, dessen Geschäftsräume ganz in der Nähe von St. Paul lagen. Jenny war dort Sekretärin gewesen, als sie sich vor fünf Jahren kennengelernt hatten, aber inzwischen hatte sie eine Stellung als Redakteurin bei einem anderen Verlag und seit kurzem sogar einen eigenen Wagen zu ihrer Verfügung. Er hatte sie ermutigt, Fahrstunden zu nehmen und war stolz gewesen, daß sie es geschafft hatte. Doch auch wenn er nie darüber sprach und sie in ihrem Ehrgeiz unterstützt hatte, war ihm bewußt, daß ihr Erfolg ihn irgendwie verunsicherte, als befürchte er im Hinterkopf, sie würde eines Tages merken, daß sie ihn nicht mehr brauchte. Das war auch der Grund, warum er ständig meckerte und sie kritisierte, wenn sie hinter dem Lenkrad saß und er auf dem Beifahrersitz. Wieder einmal nahm er sich vor, damit aufzuhören. Er mußte sich einfach ändern, denn sein Verhalten gefährdete ihre Beziehung wahrscheinlich viel stärker als ihr beruflicher Erfolg. Hätte er heute morgen ihr Angebot, ihn zu fahren, doch nur angenommen. Selbst ein ausgewachsener Ehekrach unterwegs wäre besser gewesen, als dauernd an das winzige, angstverzerrte Gesicht dieses Geschöpfs denken zu müssen, das er getötet hatte. Als er das Gebäude betrat, wischte er sich wiederholt die Schuhe am Teppich ab. Um den Tisch seiner Sekretärin drängten sich zwei Lektorinnen und eines der Mädchen aus der Werbeabteilung. Sie wandten sich mit den schuldbewußt abwehrenden Mienen zu ihm um, wie sie typisch für Frauen waren, die Geheimnisse besprochen hatten, von denen Männer nichts wissen sollten. Er setzte ein Lächeln auf, obwohl auch in ihm Abwehr aufstieg. »Soll ich einer der Damen eine Tasse Kaffee holen?« »Entschuldigung, Stuart, wollten Sie eine Tasse …?« Während die anderen sich verzogen, räumte seine Sekretärin rasch eine große weiße Papiertüte mit dem Aufdruck NEXT von ihrem Schreibtisch. 86
»War nur ein Scherz, Frankie.« Er holte sich immer selbst seinen Kaffee, weil er mit dieser Ausrede ein wenig herumwandern konnte, und mußte ihr dann jedesmal von neuem versichern, daß sie keineswegs ihre Pflichten als Sekretärin vernachlässigte. Flüchtig überlegte er, ob NEXT wohl ein Laden war, der besonders raffinierte Reizwäsche verkaufte, aber er fand, es wäre unfair, sie damit aufzuziehen. Am liebsten hätte er gleich Jenny angerufen und ihr erzählt, was passiert war. Allerdings wäre es wahrscheinlich gar nicht so leicht, ihr alles zu erklären, vor allem nicht übers Telefon, aber er würde sich schon besser fühlen, wenn er nur ihre ruhige, vernünftige Stimme hören könnte. Doch bezwang er sich bis kurz nach Mittag, ehe er wie jeden Tag um diese Zeit ihre Nummer wählte. Ihre Sekretärin teilte ihm mit, sie sei in einer Besprechung. »Richten Sie bitte aus, daß Stuart angerufen hat«, sagte er und wußte, daß sie ihn wie immer zurückrufen würde. An diesem Tag meldete sie sich jedoch nicht. Fünf Minuten vor fünf rief Stuart schließlich erneut bei ihr an und erfuhr, seine Frau sei bereits gegangen. Es war mehr als ungewöhnlich für Jenny, so früh Feierabend zu machen, und genauso ungewöhnlich, daß sie auf seinen Anruf nicht reagiert hatte. Ob sie krank war? Eigentlich blieb er stets bis weit nach sechs im Büro, aber heute schob er kurzerhand ein Manuskript in seine Aktentasche und verließ das Gebäude, um sich in den Feierabendverkehr zu stürzen. Vielleicht war sie immer noch wütend auf ihn? Allerdings war Jenny kein Mensch, der still vor sich hinschmollte. Sie hielt mit ihren Empfindungen nicht hinterm Berg, und Lügen waren zwischen ihnen genausowenig üblich wie diese Spielchen, bei denen man so tat, als sei man nicht da oder habe ›vergessen‹, einen Anruf zu erwidern. Nachdem er aus der U-Bahn ausgestiegen war, schaute sich Stuart auf dem Heimweg ständig um, behielt mißtrauisch den 87
Bürgersteig und die Rinnsteine im Auge, und ein- oder zweimal zuckte er zusammen – aber es war jedesmal nur ein flatterndes Papier. Von der Kreatur, die er heute morgen gesehen hatte, gab es nirgends eine Spur. Die Überreste des Tieres, das er zertreten hatte, waren ebenfalls verschwunden, vielleicht von einem streunenden Hund gefressen worden, vielleicht in irgendeine fremde Dimension oder woher es auch immer gekommen sein mochte zurückgekehrt. Kurz bevor er von der Hauptstraße abbog, fiel ihm auf, daß andere Fußgänger ebenfalls unverkennbar argwöhnisch Bürgersteig und Straßenrand musterten. Irgendwie fühlte er sich dadurch in seinem Verhalten gerechtfertigt. Bei dem Verkehr, der in London herrschte, wunderte es ihn nicht, daß er vor Jenny zu Hause war. Während er auf sie wartete, machte er sich eine Tasse Tee, goß sie dann aber mit einem kurzen Fluch ins Waschbecken und schenkte sich statt dessen einen doppelten Whisky ein. Er hatte gerade ausgetrunken und fühlte sich schon sehr viel besser, als er hörte, wie die Eingangstür aufgeschlossen wurde. »Oh!« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht erinnerte ihn an die Frauen im Büro, die ihm heute morgen das Gefühl gegeben hatten, an seinem eigenen Arbeitsplatz ein lästiger Störenfried zu sein. Daß sie ihm jetzt zulächelte, änderte an seinem Mißmut auch nichts mehr. »Ich hatte nicht erwartet, daß du schon so früh zu Hause bist.« »Ich auch nicht. Ich habe bei dir angerufen, aber es hieß, du seist bereits gegangen. Hast du dich nicht wohlgefühlt?« »Mir geht es wunderbar!« »Du siehst auch wunderbar aus.« Seine Verärgerung verschwand, während er sie betrachtete. Er mochte ihr Aussehen: die knabenhaft schlanke Figur, das kurzgeschnittene lockige Haar, ihr blasses Gesicht und die hellblauen Augen. Heute waren ihre Wangen gerötet, als ob sie aufgeregt wäre. Unsicher biß sie sich auf die Unterlippe und musterte ihn kurz 88
mit einem abschätzenden Blick, ehe sie herausplatzte: »Was hältst du davon, uns ein Haustier zuzulegen?« In Stuart stieg die grauenvolle Gewißheit auf, daß sie nicht von einem Hund oder einer Katze redete. Er überlegte, ob der Whisky auf nüchternen Magen an dem Schwindelgefühl schuld war, das er empfand. »Es hockte unter meinem Auto. Wenn ich nicht zufällig gesehen hätte, wie es dorthin lief, hätte ich es bestimmt überfahren.« Sie schüttelte sich vor Entsetzen. »Herrgott, Jenny, du hast es doch nicht mit heimgebracht!« »Natürlich!« erwiderte sie entrüstet. »Ich konnte es ja nicht einfach auf der Straße sitzenlassen – da hätte es am Ende wirklich noch jemand überfahren.« Oder es zertreten, dachte er, und ihm wurde klar, daß er ihr nie erzählen konnte, was er getan hatte – ein Grund für ihn, sich noch schlechter zu fühlen. Vielleicht irrte er sich aber auch, und sie hatte bloß eine Katze gerettet. »Was ist es denn?« Sie lachte ein wenig nervös. »Ich weiß nicht. Etwas sehr Seltenes, glaube ich. Hier, schau mal.« Sie nahm die große Stofftasche von ihrer Schulter und öffnete sie, damit er hineinschauen konnte. »Ist das nicht ein schrecklich süßes Ding?« Wie konnten zwei Menschen, die sich so nahe standen und sich in vieler Hinsicht so ähnlich waren, derart unterschiedliche Empfindungen haben? Auch jetzt wieder verspürte er nur den Drang, es zu vernichten, während sie sich offensichtlich in diese abscheuliche Kreatur verliebt hatte. Obwohl er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, konnte er nicht verhindern, daß er bei ihren Worten zusammenzuckte. »Süß?« Es versetzte ihm einen Stich, als sie vor ihm zurückwich und schützend die Tasche an sich drückte. »Na gut«, sagte sie, »ich weiß, es ist nicht gerade schön, aber was soll’s? Ich fand es zuerst auch furchtbar …« Sie zögerte, als fiele es ihr schwer, sich an ihren ersten Eindruck zu erinnern oder einzuräumen, daß er negativ gewesen war. »Aber dann, ja, dann merkte ich, 89
wie hilflos es war. Es brauchte mich. Schließlich kann es doch nichts dafür, wie es aussieht. Findest du nicht, es erinnert irgendwie an Psammy?« »An was?« »Psammy. Du kennst doch das Buch Psammy sorgt für Abenteuer.«* Er kannte zwar den Titel, aber im Gegensatz zu ihr war er mit altmodischen Kinderbüchern nicht sonderlich vertraut. Ungeduldig schüttelte er den Kopf. »Das Ding da stammt nicht aus irgendeinem Buch, Jen. Du hast es von der Straße aufgelesen und keine Ahnung, was es ist oder woher es kommt. Wer sagt dir, daß es nicht gefährlich ist? Außerdem könnte es irgendwelche Krankheiten haben.« »Gefährlich!« schnaubte sie abfällig. »Das kann man nie wissen.« »Ich habe ihn den ganzen Tag bei mir gehabt, und er hat weder mir noch sonst jemandem im Büro was getan. Er hat es gern, wenn man ihn hält und hinter den Ohren krault.« Das veränderte Pronomen beunruhigte ihn noch mehr. »Es könnte Tollwut haben.« »Sei nicht albern.« »Du bist albern. Immerhin ist es wohl kaum ein einheimisches Tier, oder? Es könnte alle möglichen üblen Parasiten aus Südamerika oder Afrika oder von sonstwoher einschleppen.« »Das ist ja der reine Rassismus. Ich habe keine Lust, mir das noch länger anzuhören. Außerdem hast du getrunken.« Damit stolzierte sie aus dem Zimmer. Hätte er sein Glas noch in der Hand gehabt, wäre er wahrscheinlich bereit gewesen, es vor Wut an die Wand zu werfen. Er schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, langsam ein- und auszuatmen. Diese Geschichte war schlimmer als irgendein Streit, den sie bisher in ihrer Ehe gehabt hatten. Jenny vertrat ihre Standpunkte in vielerlei Hinsicht nachdrücklicher als er, daher setzte sie ihre Wünsche gewöhnlich durch, 90
was ihn sonst nicht weiter kümmerte. Aber das hier war etwas ganz anderes. Diese Kreatur duldete er auf keinen Fall in seinem Haus, das würde er ihr unmißverständlich klarmachen. Dazu mußte er sich aber erst einmal beruhigen, was ihm auch gelang, bis seine Frau zurückkehrte. »Es tut mir leid«, sagte er, obwohl er fand, daß es eigentlich an ihr gewesen wäre, sich zu entschuldigen. Sie zuckte nur gleichgültig die Schultern und wich seinem Blick aus. »Möchtest du irgendwohin zum Essen gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Ich habe noch zu arbeiten.« »Soll ich dir etwas zu trinken holen? Ich bin dir erst einen Whisky voraus, Schatz.« »Tut mir leid, ich war unfair.« Sie entspannte sich. »Ja, schenk mir ein Glas ein. Und dir auch eins.« Sie setzte sich auf die Couch, stellte die Tasche zu ihren Füßen ab und holte diese Kreatur heraus. »Wo ist denn mein kleiner Liebling?« zirpte sie. Normalerweise hätte er sich neben sie gesetzt, aber nachdem er das mißgestaltete Bündel auf ihrem Schoß beäugt hatte, reichte er ihr ein Glas und zog sich auf die andere Seite des Raums zurück. »Hoffentlich wirst du jetzt nicht wieder wütend, aber findest du nicht, daß die Anschaffung eines Haustieres ein Thema ist, worüber wir erst einmal diskutieren und uns dann miteinander abstimmen sollten?« Er sah, wie sich ihre Schultern wieder verspannten, obwohl sie scheinbar ruhig blieb und weiter das Ding streichelte. »Normalerweise schon. Nur ist das hier etwas anderes. Ich hatte es schließlich nicht geplant. Die Sache ist einfach passiert, und nun habe ich ihm gegenüber eine gewisse Verantwortung. Oder ihr gegenüber«, kicherte sie. »Wir wissen nicht mal, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist, nicht wahr, Schätzchen?« »Sicher mußtest du etwas tun, als du es gefunden hattest«, 91
sagte er betont sachlich. »Aber es schlicht zu behalten ist möglicherweise nicht unbedingt die beste Lösung.« »Ich setze ihn bestimmt nicht wieder auf die Straße.« »Nein, nein, bloß … meinst du nicht, es wäre sinnvoll, wenn es sich einmal jemand anschaut, der was davon versteht? Bring es zu einem Tierarzt, laß es untersuchen … Vielleicht braucht es Spritzen oder sonst was.« Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, und einen Moment lang hatte er Mühe, nicht zu explodieren, aber dann beherrschte er sich wieder. »Komm schon, Jenny, sei vernünftig! Du kannst doch nicht einfach ein fremdes Tier von der Straße hereinschleppen und kurzerhand behalten. Du weißt ja nicht mal, was es frißt.« »Ich habe ihm heute mittag etwas Obst gegeben. Das hat es gefressen. Na ja, es hat den Saft aufgesaugt. Kauen kann es, glaube ich, nicht.« »Na bitte! Vielleicht hat es mit dem Fruchtsaft nur seinen Durst gelöscht und braucht in Wirklichkeit jeden Tag die Hälfte seines eigenen Körpergewichts an lebenden Insekten oder etliche lebende Kleintiere. Meinst du wirklich, du brächtest es fertig, es dauernd mit Mäusen oder Kaninchen zu füttern?« »Ach, Stuart.« »Also, was ist? Bringst du es wenigstens zu einem Tierarzt, um dich zu überzeugen, daß es gesund ist? Zumindest das kannst du doch tun.« »Und dann kann ich es behalten? Wenn der Tierarzt sagt, daß alles mit ihm in Ordnung ist und daß es nichts zu fressen braucht, was unmöglich zu beschaffen ist?« »Dann können wir weiter darüber reden. Komm, jetzt schmoll nicht; ich bin nicht dein Vater, der dir was verbieten will. Wir sind Partner, und Partner treffen keine einsamen Entscheidungen, wenn es sich um etwas handelt, das beide betrifft. Partner diskutieren miteinander, suchen nach Kompromissen und …« 92
»Hier kann es keinen Kompromiß geben.« Er war wie vor den Kopf gestoßen. »Was heißt das?« »Entweder gewinne ich und behalte es, oder du bekommst recht, und ich gebe ihn weg. Wo ist da ein Kompromiß?« Aus genau solchen Gründen werden Kriege geführt, dachte Stuart, aber er hütete sich, es auszusprechen. Scheinbar ruhig und vernünftig, in der Hoffnung, möglichst überzeugend zu klingen, erklärte er: »Der Kompromiß besteht darin, daß wir uns bemühen, den Standpunkt des anderen zu verstehen. Du läßt das Tier untersuchen, ob es wirklich gesund ist, und ich, ich sperre mich nicht von vornherein dagegen, ein Tier zu haben und will sehen, ob ich vielleicht anfange, ihn … zu mögen. Hat er schon einen Namen?« Sie wich seinem Blick aus. »Nein … wir können später einen aussuchen – zusammen. Wenn wir ihn behalten.« Obwohl er keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür hätte nennen können, war er sicher, daß sie ihn anlog. Schlaflos wälzte Stuart sich in dieser Nacht im Bett. Immer wieder sah er das winzige, grauenhafte Gesicht vor sich und hörte den Schrei dieses Wesens, als sein Fuß auf ihm landete. Ein solcher Anfall von blindwütigem Zorn war ihm ganz fremd, aber er konnte weder die Tat noch die Befriedigung, die er dabei empfunden hatte, abstreiten. Während er neben der friedlich schlafenden Jenny lag und die Kreatur, die sie gerettet hatte – ein Ebenbild seines Opfers –, im Badezimmer kauerte, konnte er nur versuchen, irgendwie damit zu Rande zu kommen. In seiner Fantasie beherrschte er sich, zügelte seine Wut und verschonte das fremdartige Tier. Gleichzeitig bemühte er sich, seinen Zorn und die Angst zu analysieren und anstelle dieser typisch männlichen Aggressivität Jennys typisch weibliche Reaktion nachzuempfinden. Vielleicht hatte sie intuitiv richtig gehandelt. Wenn er ein wenig länger gewartet hätte, statt gleich 93
zuzutreten, wäre ihm möglicherweise klar geworden, wie überzogen sein Verhalten war. Armes kleines Ding, so ein armes, hilfloses Ding, es braucht mich, es ist harmlos, deshalb tue ich ihm auch nichts. Langsam baute er in sich dieses Gefühl auf, ihr Gefühl, und plötzlich gelang es ihm, hinter dem Zorn, hinter der Angst und dem Haß … nicht Liebe, das wäre übertrieben, aber Mitleid zu verspüren. Warm und wohlig war dieses Gefühl, es machte ihn weichherzig und ließ ihn in einen angenehmen Schlaf sinken, in dem er träumte, daß Jenny ihm zulächelte und ihn liebte und, daß es keinen Platz für irgendwelche Mißverständnisse zwischen ihnen gab. Mitten in der Nacht erwachte er mit einem schmerzhaften Druck auf der Blase. Er war schon aus dem Bett und draußen im Rur, ehe ihm einfiel, was dort im Bad lauerte. Unschlüssig blieb er vor der Tür stehen. Er mußte unbedingt ganz dringend pinkeln und hatte schon die Hand nach dem Lichtschalter im Flur ausgestreckt, fürchtete sich aber davor, die Tür zu öffnen und hineinzugehen. Ihm wurde klar, daß er weniger Angst vor dieser Kreatur hatte, die nicht größer als ein Fußball war und ihm kaum etwas tun konnte; er fürchtete sich vielmehr vor seiner eigenen Reaktion. Seine Empfindung ähnelte diesem wilden Schwindelgefühl, das er manchmal in bestimmten Höhen verspürte. Es war nicht die Angst davor zu stürzen, sondern die Befürchtung, er könnte die Kontrolle verlieren, diesem selbstzerstörerischen Drang nachgeben und springen. Er wollte dieses Ding nicht töten! Selbst wenn er nicht kurz vor dem Einschlafen eine erstaunliche Verwandlung seiner Gefühle erlebt hätte, wäre Jennys Zuneigung zu diesem Geschöpf Grund genug, um ihn zurückzuhalten – aber irgendein dunkler Trieb, der stärker war als er selbst, könnte ihn vielleicht veranlassen, alle Vernunft über Bord zu werfen. Schließlich ging er weiter zur Haustür und hinaus auf den 94
kleinen, unkrautüberwucherten Platz, der als gemeinschaftlicher Vorgarten fungierte, wo allerdings hauptsächlich die Mülltonnen aufbewahrt wurden. Er zitterte in der feuchtkalten Luft in seinem dünnen Baumwollpyjama und bewässerte die mickrige Forsythie oder was immer es war, das Jenny voller Optimismus im letzten Jahr hier angepflanzt hatte. Drinnen im Flur stieg erneut dieses Unbehagen in ihm auf, und es verstärkte sich noch, denn jetzt brannte im Bad Licht, und hinter der halbgeöffneten Tür hörte er Jennys leise Stimme. »Na, na, es tut dir ja niemand was, ich verspreche es. Du bist hier in Sicherheit. Schlaf schön weiter. Schlaf wieder ein.« Ohne stehenzubleiben, ging er vorbei, denn er wußte, daß sie ihn nur als lästige Störung empfinden würde. Eingelullt von dem gedämpften Murmeln ihrer Stimme schlief er wieder ein, während er noch darauf hoffte, daß sie bald zu ihm kommen würde. Stuart hatte normalerweise keinen Grund, Jennys Worte anzuzweifeln, aber als sie ihm berichtete, sie sei bei einem Tierarzt gewesen, der erklärt habe, es sei alles vollkommen in Ordnung, glaubte er ihr nicht. »Hat er gesagt, was für ein Tier es ist?« »Er wußte es nicht.« »Er wußte nicht, was es ist, aber er war sicher, daß ihm nichts fehlt?« »Mein Gott, Stuart, was soll das? Es ist für jedermann, außer für dich, ganz offensichtlich, daß mein kleiner Freund gesund und glücklich ist. Was willst du denn noch – eine Geburtsurkunde?« Ihr ›Freund‹, den sie fest an sich drückte, schien sich nicht sonderlich wohl zu fühlen. Eigentlich wirkte er ziemlich jämmerlich. »Was meinst du mit ›jedermann‹?« »Alle meine Kolleginnen zum Beispiel«, erwiderte sie schulterzuckend und küßte spielerisch den spitzen Kopf des Dings, 95
ehe sie ihn anschaute. »Sie sind regelrecht eifersüchtig.« Erst jetzt fiel ihm ein, daß sie ihn nicht wie üblich beim Nachhausekommen geküßt hatte. Die ganze Zeit hatte sie dieses widerliche Ding an sich gedrückt. »Ich werde ihn behalten«, verkündete sie ruhig. »Wenn es dir nicht paßt, dann …« Ihr Schweigen schien eine unsichtbare Wand zwischen ihnen aufzurichten. »Tut mir leid, aber mein Entschluß steht fest.« Soviel zum Thema gleichberechtigte Partnerschaft, dachte er. Obwohl er tief getroffen war, beschloß er, einfach darüber hinwegzugehen. »Sollen wir uns heute abend mal in indisches Essen gönnen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte daheim bleiben. Es gibt was Interessantes im Fernsehen. Geh du nur. Du könntest mir was mitbringen, wenn es dir nichts ausmacht. Ein Spinatbahjee und ein paar Nans würden mir reichen.« »Und was ist mit … deinem kleinen Freund?« »Alles bestens. Ich habe ihn bereits gefüttert.« Sie lächelte verschwörerisch, ehe sie aufschaute und anerkannte, daß er sich bemühte. »Danke.« Er ging los und ließ sich zwei Portionen zum Mittagessen einpacken. Auf dem Rückweg kaufte er in einer Spirituosenhandlung das mexikanische Bier, das Jenny am liebsten mochte. Aus einem Radio tönte ein sentimentales Liebeslied, an das Stuart sich erinnerte: Seine Mutter hatte es immer gesungen, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Entsetzt merkte er, daß ihm Tränen in die Augen stiegen. Am Abend machte Jenny in dem leerstehenden Zimmer ein Bett auf dem Sofa zurecht und erklärte: »Er kann nicht im Bad bleiben; das geht einfach nicht. Das verstehst du doch.« »Und deshalb mußt du bei ihm schlafen?« »Sieh mal, er ist verwirrt, alles ist für ihn neu und fremd, ich bin das einzige, was er kennt. Ich muß bei ihm bleiben. Er 96
braucht mich.« »Er braucht dich? Und was ist mit mir?« »Ach, Stuart?«, sagte sie ungeduldig. »Du bist ein erwachsener Mann. Du kannst doch mal ein oder zwei Nächte allein schlafen.« »Und dieses Ding kann das nicht?« »Nenn ihn nicht Ding.« »Wie soll ich es sonst nennen? Hör mal, du bist nicht seine Mutter – es braucht dich nicht so sehr, wie du glaubst. Es war doch gestern nacht im Badezimmer ganz zufrieden – und wenn es hier drinnen allein bleibt, wird’s auch in Ordnung sein.« »So? Was weißt du denn schon von ihm? Du möchtest ihn doch am liebsten umbringen, nicht wahr? Gib’s ruhig zu.« »Nein.« Er war bestürzt, das sie die Wahrheit erraten hatte. Wenn sie wüßte, daß er bereits eines dieser Wesen getötet hatte, würde sie ihm nie verzeihen. »Das stimmt nicht. Ich würde … ich könnte ihn genausowenig verletzen wie dich.« Ihr Gesicht wurde sanfter. Sie glaubte ihm. Was er wirklich empfand, war unwesentlich, denn wenn er diese Kreatur tatsächlich verletzte, obwohl er ihre Einstellung kannte, wäre es so, als würde er gegen sie persönlich gewalttätig werden, und sie wußten beide, daß er es nie so weit kommen lassen würde. »Nur für einige Nächte, Stuart. Bloß bis er sich eingewöhnt hat.« Was blieb ihm übrig, als es zu akzeptieren. Er konnte nur hoffen, daß sie ihn immer noch liebte und diese Geschichte nicht ewig dauern würde. Bis dahin hieß es, nicht die Nerven zu verlieren. Die Tage vergingen, und Jenny bot ihm längst nicht mehr an, ihn zur Arbeit zu fahren. Auf seine Frage meinte sie, es sei ein Umweg für sie, und bei dem starken Berufsverkehr würde sie dauernd zu spät kommen. Außerdem fände sie es albern, ihn die kurze Strecke bis zur U-Bahn zu bringen, vor allem, da sie 97
nirgends parken und ihn aussteigen lassen könne, und überhaupt würde der Spaziergang ihm guttun. Es waren lauter einleuchtende Gründe, die er früher selbst angeführt hatte, aber ihre Ablehnung traf ihn trotzdem, da er sich erinnerte, wie gern sie sonst jede Minute mit ihm zusammengewesen war und wie bereitwillig sie dafür jeden Umweg in Kauf genommen hatte. Ihr scheußliches Hätschelvieh war jetzt ihr ständiger Begleiter, egal wohin sie ging. Sogar zur Arbeit nahm sie ihn in einer Tragetasche mit, wo er in ein Nest gekuschelt hockte, das sie für ihn aus Stoffresten zurechtgemacht hatte. »Natürlich ist einiges anders geworden. Aber ich habe deshalb nicht aufgehört, dich zu lieben«, sagte sie, als er versuchte, mit ihr über die bestürzenden Veränderungen in ihrer Ehe zu reden. »Es ist doch wahrhaftig nicht so, als hätte ich mir einen anderen Mann gesucht. Er nimmt dir nichts weg; du bist immer noch mein Ehemann.« Allerdings war ganz offensichtlich ein Ehemann nicht gerade das, an dem ihr noch besonders viel lag. In seiner Fantasie begann er sich auszumalen, wie er es tötete, diesmal nicht in einem Anfall blinder Wut, sondern nach einem sorgfältig ausgeklügelten Plan. Vielleicht könnte er es vergiften oder irgendwie verschwinden lassen und so tun, als sei es weggelaufen. Wenn es dieses Ding nicht mehr gab, konnte er hoffen, daß Jenny es vergessen würde und wieder ihm allein gehörte. Aber er hatte nicht die geringste Chance. Jenny war förmlich besessen von diesem Vieh und behandelte es wie eine Kostbarkeit, die man keinen Augenblick lang unbeaufsichtigt lassen konnte. Selbst wenn sie ein Bad nahm oder zur Toilette ging, war es bei ihr hinter der verschlossenen Tür. Sein Angebot, ein paar Minuten darauf achtzugeben, quittierte sie nur mit einem Lächeln, als sei der Gedanke vollkommen abwegig, und er wagte nicht, deswegen einen Streit vom Zaun zu brechen. Er ging zur Arbeit, manchmal mit Kollegen auf ein paar Drinks, aber hauptsächlich verbrachte er möglichst viel Zeit 98
mit Jenny, obwohl sie nie allein waren. Er suchte zwar keine offene Auseinandersetzung, konnte sich allerdings nicht den Versuch verkneifen, an ihr Mitleid zu appellieren, wenn es sich irgendwie ergab. Hin und wieder machte er scheinbar beiläufige Bemerkungen, die sie von seinem Sinneswandel überzeugen sollten, damit sie ihm im Lauf der Wochen oder Monate genügend vertrauen und ihn mit dieser Kreatur allein lassen würde – und dann, später, könnten sie vielleicht ihre Ehe wieder kitten. Nach einer ausgedehnten Mittagspause kehrte Stuart eines Tages ins Büro zurück und entdeckte neben dem verlassenen Schreibtisch seiner Sekretärin eine der Cheflektorinnen, die dort auf dem Boden kauerte, etwas vor sich hinflüsterte und dabei leise lachte. »Linda?« Mit einem Ruck fuhr sie hoch und stand verlegen auf. Sie errötete und wich seinem Blick aus, was ganz untypisch war für diese dynamische Karrierefrau. »Ach, Stuart, ich habe nur …« Frankie kam mit einem Stapel Fotokopien zurück. »Aha!« meinte sie betont. Linda errötete noch stärker. »Wollte gerade gehen«, murmelte sie und verließ fluchtartig den Raum. Ehe er noch eine Frage stellen konnte, sah Stuart auf dem Boden neben der offenen Schreibtischschublade die Kreatur, eine zweite verkrüppelte Fledermaus ohne Flügel. Sie schaute zu ihm auf, öffnete das schlitzartige Maul und stieß ein leises, trauriges Zischen aus. Rund um eines der streichholzdünnen Beinchen trug sie ein zierliches Goldkettchen, mit dem sie an der untersten Schublade befestigt war. »Es gibt Leute, die würden einfach alles klauen, was nicht angebunden ist«, sagte Frankie trocken. »Leute, von denen man es nie und nimmer vermutet hätte.« Er schaute sie mit unverhohlenem Ärger an und bemühte sich 99
nicht, seinen Ekel zu verbergen. »Tiere sind im Büro eigentlich nicht erlaubt, Frankie.« »Es ist kein Tier.« »Was sonst?« »Ich weiß nicht. Sagen Sie’s mir.« »Es mag sein, was es will, Sie können es jedenfalls nicht hierher mitbringen.« »Ich kann es doch nicht zu Hause lassen.« »Warum nicht?« Sie wandte sich ab und kramte in ihren Papieren. »Ich kann es nicht allein lassen. Es könnte sich verletzen – oder fliehen.« »Da besteht wohl kaum Hoffnung.« Sie bedachte ihn mit einem Blick, der ihm das Gefühl gab, sie wisse genau, daß er nicht von ihrem Tierchen redete. »Was hält Ihr Freund davon?« »Ich habe keinen Freund«, entgegnete sie wütend, aber dann grinste sie plötzlich. »Oder muß ich etwa einen haben?« »Sie können das Tier nicht hier behalten, was es auch immer sein mag. Bringen Sie es heim.« »Jetzt sofort?« fragte sie erstaunt. Am liebsten hätte er gesagt, jawohl! Dann dachte er allerdings an die Manuskripte, die nicht abgeschickt, die Briefe, die nicht getippt werden würden, die Verzögerungen und das Durcheinander und seufzte. »Bringen Sie es einfach nicht wieder mit. In Ordnung?« »Klar.« Er fühlte sich ausgelaugt und müde. Egal, was er sagte, sie würde genausowenig einlenken wie seine Frau. Am nächsten Tag würde sie es wieder mitbringen und an den kommenden Tagen ebenfalls, vielleicht heimlich, vielleicht aber auch ganz offen, bis er entweder nachgab oder gezwungen war, sie zu feuern. Er ging in sein Büro, schloß die Tür und legte den Kopf auf seinen Schreibtisch.
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An diesem Abend überraschte er Jenny, wie sie die Kreatur mit ihrem Blut fütterte. Anders konnte man es nicht nennen. Das Vieh mochte ein Vampir sein – das war es offenkundig –, doch seine Frau war kein hilfloses Opfer, sondern hellwach, ja eigentlich schien die ganze Sache sogar eher von ihr auszugehen. Sie drückte die Kreatur fest gegen ihren Arm und ließ sie aus einer Ader trinken. Er merkte, daß sie damit rechnete, er würde losbrüllen und toben, aber er konnte keinen Ton herausbringen. Stumm schaute er ihr zu, und allmählich entspannte sie sich wieder, ohne ihn weiter zu beachten. Als das Tier gesättigt von ihr abließ, hielt sie es weiter fest an sich gedrückt. Mit der anderen Hand griff sie zum Nachttisch, wo ein Fläschchen mit medizinischem Alkohol bereitstand. Sie feuchtete etwas Watte an und preßte sie auf die winzige Wunde. Dann schaute sie endlich zu ihm auf. »Er muß etwas essen«, sagte sie ruhig. »Und kauen kann er nicht. Er braucht Blut. Nicht sehr viel, aber …« »Und er braucht es von dir? Du kannst nicht …?« »Ich kann nicht irgendein armes, verschrecktes Kaninchen oder einen Hund für ihn festbinden, nein.« Sie verzog das Gesicht. »Ehrlich, stell dir das bloß mal vor. Du weißt ja, wie zimperlich ich bin. So ist es doch sehr viel einfacher. Es tut gar nicht weh.« Mir tut es weh, dachte er. Aber er konnte es nicht sagen. »Jenny …« »Ach, nun fang nicht wieder damit an!« rief sie wütend. »Ich hole mir bestimmt keine Krankheiten von ihm, und das bißchen, was er braucht, ist so wenig, daß es wirklich nichts ausmacht. Ich mag es sogar. Wir beide mögen es.« »Jenny, bitte nicht. Bitte. Mir zuliebe. Gib es weg.« »Nein.« Sie drückte das häßliche Vieh dich an sich und musterte Stuart, als sei er ein gefühlloser Henker. »Tut mir leid, 101
Stuart, wirklich, aber darüber brauchen wir gar nicht erst zu reden. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, gehst du besser.« Nun passierte genau das, was er die ganze Zeit vermieden hatte – eine Kraftprobe, die das Ende bedeuten konnte. Er versuchte, seine Argumente zu ordnen, um sachlich mit ihr zu reden, und erkannte plötzlich, daß es sinnlos war. Sie hatte sich entschieden – was gab es da noch zu reden? Und als er sie jetzt anschaute, wurde ihm klar, daß sie ihn zwar an die Frau erinnerte, die er liebte, daß er aber nicht mit der Frau leben wollte, die sie geworden war. Natürlich könnte er sich weigern zu gehen. Immerhin hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Warum sollte er sein Zuhause aufgeben, zumal diese Wohnung zur Hälfte ihm gehörte? Aber er konnte Jenny nicht mit Gewalt auf die Straße setzen. Sie hätte ja nicht einmal gewußt, was tun, und er fühlte sich immer noch für sie verantwortlich. »Ich packe eine Tasche und rufe kurz jemanden an«, sagte er ruhig. Er kannte einen Kollegen, der nach einem Untermieter suchte, und wenn alle Stricke rissen, hatte sein Bruder für ihn ein freies Zimmer. In Gedanken hatte er sich bereits mit der Situation abgefunden. Nachdem sie die finanzielle Seite geregelt und sich formell getrennt hatten, bezog er eine Wohnung in einer Nebenstraße der Holloway Road, in der Nähe von Archway. Sie lag nahe genug, daß Jenny zu Fuß vorbeikommen könnte, falls sie ihn einmal sehen wollte, doch sie kam nie. Er schaute manchmal bei ihr herein, aber es war bitter, sich dort, wo sie einmal gemeinsam zu Hause gewesen waren, als unwillkommener Besucher zu fühlen. Frankie hatte er nicht entlassen müssen; sie reichte eine Woche später die Kündigung ein und berichtete, ihr sei ein Job in der Redaktion von The Women’s Press angeboten worden. Unwillkürlich fragte er sich, ob dort so ein Haustierchen im Büro vertraglich gestattet war. 102
Er erfuhr nie, ob die Kreaturen Namen hatten, woher sie gekommen waren oder wie viele es überhaupt gab. Waren sie nur in Islington aufgetaucht? (Frankie hatte eine Wohnung irgendwo in der Nähe der Upper Street.) Es gab keine einzige Meldung in den Nachrichten oder eine offizielle Bestätigung ihrer Existenz, aber er registrierte gelegentlich in anderen Zusammenhängen versteckte Anspielungen und manche flüchtige Blicke. Eines abends ertappte er sich auf dem Heimweg dabei, wie er die Frau betrachtete, die ihm in der U-Bahn gegenübersaß. Sie war ungefähr so alt wie er, Anfang dreißig, hatte rotblondes Haar, grünliche Augen, eine fast durchscheinende Gesichtsfarbe und war recht auffallend gekleidet mit einem langen schwarzen Wollrock, einem preiselbeerroten KaschmirUmhang und hohen weichen Lederstiefeln. Auf der rechten Brustseite trug sie eine schlichte runde Goldbrosche, an der ein zierliches Kettchen befestigt war, das wie eine Uhrenkette unter dem Umhang verschwand. Während er sie interessiert musterte, überlegte er, woran ihn diese Kette erinnerte. Er war sicher, daß er so etwas ähnliches schon vorher bei anderen Frauen gesehen hatte. Der Zug hielt in Archway, und als er aussteigen wollte, stand auch diese attraktive Frau auf. Er paßte seine Schritte ihrem Tempo an, so daß die nebeneinander durch den Bahnhof ging, und suchte nach irgendeinem Vorwand, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Schließlich war er jetzt wieder ein alleinstehender Mann, und sie war vielleicht ebenfalls allein. Aber wie stellten Singles in London es an, Bekanntschaften zu schließen? Erneut schaute er sie von der Seite her an in der Hoffnung, sie würde seinen Blick erwidern. Ihre rechte Hand spielte mit der Goldkette, und plötzlich sah er unter dem Umhang, der sich leicht geöffnet hatte, die Kreatur, die sie darunter trug, dicht an ihren Körper gedrückt und an dem schmalen Goldkettchen befestigt. 103
Abrupt blieb er stehen und ließ sie vorausgehen. Es dauerte eine Weile, bis er sich in der Lage fühlte, die Treppe zur Straße hinaufzusteigen. Inzwischen wußte er nicht mehr genau, ob es nicht doch Einbildung gewesen war. Aber der flüchtige Blick auf das, was er gesehen hatte oder zu sehen glaubte, hatte ihn derart durcheinandergebracht, daß er in die falsche Richtung einbog, als er den Bahnhof verließ. Ehe er es bemerkte, stand er in der Straße, wo Jenny wohnte und wo auch er einmal daheim gewesen war. Statt umzukehren, entschied er, an ihrem Haus vorbei bis zur nächsten Kreuzung weiterzugeben. In den Zimmern zur Straße brannte Licht, und die Gardinen waren geschlossen. Seine Schritte wurden immer langsamer. Das Verlangen, dort in diesen Räumen wieder zu Hause zu sein, wieder zu ihr zu gehören, war überwältigend. Ob ihr vielleicht noch etwas an ihm lag? Ob sie sich manchmal auch so einsam fühlte wie er? Dann sah er die winzige dunkle Gestalt, die sich mit ausgestreckten Vorder- und Hinterbeinen gegen das Glas preßte. Hilflos kratzte sie an der Scheibe und wünschte sich vergeblich, draußen zu sein. Während er das Tier beobachtete und spürte, daß es in umgekehrter Weise den gleichen Schmerz wie er empfand, bewegten sich die Gardinen; er sah seine Frau, die danach griff und die Kreatur herein zu sich in das warme, helle Zimmer holte. Dann wurden die Gardinen fest zugezogen, und er fühlte sich endgültig ausgeschlossen.
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DONALD R. BURLESON
Ziggles Joyce wußte es noch nicht, aber es hatte bereits begonnen. Sie war müde und litt unter Kopfschmerzen. Nur noch zehn Minuten durchhalten! Mit einem erzwungenen Lächeln griff sie nach einer Handvoll Blätter und wandte sich an ihre Klasse. »So, Kinder – Zeit für unser lustiges Bilderrätsel.« Das übliche Stimmengewirr quittierte ihre Ankündigung, und sie dachte: Ich wünschte, jemand würde mir mal eine kleine Freude machen. Aber immerhin war damit das Signal gegeben, daß der Tag beinah geschafft war, und die Kinder waren bestimmt nicht halb so froh darüber, wie sie selbst. Natürlich lechzten ihre Schüler auch nicht nach einem Wodka-Martini, den sie sich zu Hause genehmigen wollte. Joyce ging durch das Klassenzimmer und teilte die Seiten aus. »Ist es wieder ›Wer findet die Tiere?‹, Miß Keating?« rief Cindy ungeduldig, die ganz hinten ihren Platz hatte. »Nein, Cindy, heute nicht«, sagte Joyce lächelnd. »Es macht doch mehr Spaß, wenn es mal etwas anderes ist, meinst du nicht?« »Ja, Ma’am.« Es klang eher pflichtgemäß als überzeugt. »Ist es ›Was stimmt nicht mit diesem Bild?‹, Miß Keating?« fragte Brad, der auf der anderen Seite des Gangs neben Cindy saß. »Nein, auch nicht, Brad«, entgegnete Joyce. »So.« Nachdem die letzten Blätter ausgeteilt waren, kehrte Joyce zu ihrem Pult zurück. Hinter ihr wurde eifrig mit Papier geraschelt. »Wer will uns die Anweisungen vorlesen?« Mehrere Kinder hoben die Hand. Sie deutete auf ein Mäd105
chen. »Wendy.« Die kleine Wendy begann zu lesen. »Such – die – Geschichten …« »Gesichter.« »Die Gesichter, die – auf dem – Bild – ver… versteckt sind. Du kannst – zwölf – Gesichter – finden. Suche – gr… grün …« »Gründlich.« »Gründlich.« »Gut, Kinder, dann fangt an und meldet euch, sobald ihr zwölf Gesichter gefunden habt.« Alle beugten schweigend wie Mönche in stummer Versenkung die Köpfe über die Seiten. Joyce überflog gleichfalls das Bild. Die Zeichnung stellte eine Hügellandschaft dar; im Vordergrund eine Wiese mit Bäumen, die im Hintergrund dichter standen, darüber ragten Berge auf, am Himmel zogen Wolken. Methodisch prüfte sie die Abbildung und fand rasch die Gesichter. Zwei waren geschickt in die Wolken eingezeichnet, ein anderes etwas weniger unauffällig in den Stamm eines Baums, ein weiteres ins Gras der Wiese, einige versteckten sich im Blattwerk der Bäume und in den Konturen der Berge. Und da, noch eins, Nummer zwölf. Nach und nach hoben einzelne Kinder die Hände; zuerst Jerry, dann Tammy, Heather und Mollie, Melissa, Brad und Paul und andere. Barbara in der ersten Reihe schaute immer noch mit großen Augen auf ihr Blatt und meldete sich eifriger als ihre Mitschüler. »Miß Keating?« »Barbara?« »Ich hab’ dreizehn gefunden.« »Was für ‘n Quatsch«, lachte Tom, der hinter ihr saß. »Es sollen zwölf sein.« »Das ist nicht nett, Tom«, mahnte Joyce. »Du meinst also, du hast dreizehn Gesichter gefunden, Barbara?« »Ja, bestimmt.« Sie warf Tom über die Schulter einen beleidigten Blick zu und streckte ihm die Zunge heraus. 106
»Ich sehe auch dreizehn«, nickte Jimmy heftig. »Ich auch«, ertönten die Stimmen von Melissa und Heather. »Ich auch!« rief Russ eine Sekunde später. Na ja. »Wie ist es, Kinder? Sind dort wirklich dreizehn Gesichter?« »Nein«, protestierten Wendy, Susie, Bill, Julie, Steve und andere im Chor. Auch die kleine Karen auf einem der letzten Plätze schüttelte entrüstet den Kopf. »Bloß zwölf.« »Nun«, sagte Joyce, »dann wollen wir uns von jemandem, der meint, er habe dreizehn gefunden, erklären lassen, wo diese Gesichter überall sind.« Fünf Hände fuhren hoch. Komisch, dachte Joyce, daß anscheinend immer diese fünf, die berüchtigten Fürchterlichen Fünf, die Dinge anders sehen. Aber vielleicht haben sie ja recht. »Russ, ich glaube, du hattest dich als erster gemeldet.« Russ, der überaus zufrieden dreinschaute – fast selbstgefällig, dachte Joyce – begann: »Zwei hat’s in den Wolken.« »Sind in den Wolken.« Er stutzte einen Moment, ehe er fortfuhr und ein Gesicht nach dem anderen aufzählte. Genau diese zwölf hatte sie ebenfalls gefunden. Aber dann: »Und dieses komische runde links hinter dem Baum. Das ist das dreizehnte.« Sie betrachtete verwirrt ihr Blatt. Was für ein Gesicht meinte er? »Laß mich doch mal sehen, ob ich dich richtig verstanden habe, Russ«, sagte sie und ging zu seinem Tisch. Konnte es sein, daß ihre Kopie fehlerhaft war? »Zeig mir mal dein Blatt.« Bereitwillig deutete er auf einen Stelle des Bildes, die sie mit Sicherheit überprüft hatte. Trotzdem spähte dort tatsächlich ein merkwürdiges Gesicht hinter dem Stamm eines Baums hervor, ein rundes, grinsendes Gesicht, das bei weitem nicht so gekonnt wie die anderen gezeichnet war. Eigentlich war es nur ein Kreis mit zwei kleinen dunklen Augenpunkten und einem breiten, halbrunden Mund. Um den Baumstamm war außerdem ein angedeuteter Arm geschlungen, ein Arm, der nur aus einer 107
einzigen Linie bestand, mit einer spinnenartigen Hand am Ende. Es war – irgendwie ziemlich widerlich. Wie hatte sie es nur auf ihrem Blatt übersehen können? »Ich finde nichts«, meldete sich Cheryl. Heather wandte sich zu ihr um. »Dann bist du ganz schön doof, Cheryl, weil’s doch jeder sehen kann.« »Heather, das sagt man aber …«, begann Joyce. »Da ist aber wirklich eins«, bekräftigte Jimmy, und Melissa, Heather, Russ und Barbara nickten. »Gar nicht wahr«, protestierte Mollie. »Doch!« fuhr Barbara sie an. Ein regelrechter Streit brach aus, und Joyce beeilte sich einzuschreiten. »Hört zu, Kinder, ich habe das Gesicht jetzt auch gesehen, deshalb denke ich, es sind tatsächlich dreizehn. Aber denen, die es nicht gefunden haben, kann ich das nicht verdenken, denn mir ging es zuerst ja genauso. Also wollen wir uns deswegen nicht streiten, okay?« Es war tatsächlich ein langer Tag gewesen, und der Gedanke an einen schönen Wodka-Martini wurde mit jeder Minute verlockender. Der Philipps-Park war menschenleer, sehr zu ihrer Erleichterung. Sie setzte sich auf eine Bank ziemlich in der Mitte der Anlage, atmete tief durch, streckte die Beine aus und genoß die Stille. Die letzten Strahlen der Sonne verschwanden hinter den Bäumen, und der Himmel schimmerte im Westen rot wie eine überreife Melone. Es war nicht allzu kühl, sondern ganz angenehm für Mitte Mai in New Hampshire. Sie zog einen Roman aus ihrer Tasche und machte es sich bequem, um ein halbes Stündchen zu schmökern. Nach einem Tag wie heute hatte sie es sich verdient, ein wenig auszuruhen, ehe sie heimging und ihr Abendessen kochte. Allmählich wurde es dunkler, und sie nickte einen Moment lang über ihrem Buch ein. Vielleicht hatte sie auch etwas län108
ger gedöst, sie wußte es nicht, denn als sie die Augen öffnete und ihre Brille abnahm, waren am Himmel nur noch ein paar dünne Purpurfäden zu sehen, und es hatte merklich abgekühlt. Sie schlug den Mantelkragen hoch, klappte ihr Taschenbuch zu und steckte es wieder ein. In einiger Entfernung führte ein älteres Paar seinen Hund spazieren, und über das Rasenstück hinter dem Gehweg tollten Kinder, deren Bewegungen sie an das zuckende Gleiten von Wasserwanzen erinnerten. »Hallo, Miß Keating!« klang es zu ihr herüber. Sie schaute genauer hin und erkannte Melissa und Heather, die ihr zuwinkten. Sie winkte zurück, angelt eine Zigarette aus ihrer Tasche und entzündete sie hinter der schützenden Hand. Gegen die Bank gelehnt schaute sie hinüber zu den Kindern. Melissa, Heather und noch jemand spielten dort unter den Bäumen und jagten sich in wilden Kreisen um einen großen Ahorn. Gedämpft klang ihr Lachen herüber. Als sie aufstand, um zu gehen, stutzte sie einen Moment, rieb sich die Augen und setzte ihre Brille wieder auf. Nein, sie hatte sich getäuscht; dort drüben waren nur die beiden, nur Heather und Melissa. So kurz vor den Schulferien waren begreiflicherweise alle noch unruhiger als üblich, was ihr heute ganz besonders auf die Nerven gegangen war. Konnte man nach nur neun Jahren Schuldienst schon ›ausgebrannt‹ sein? Jedenfalls war es eine Erleichterung, daß sie jetzt die Bilderrätsel austeilen konnte. Das würde die Kinder bis zum Unterrichtsschluß beschäftigen. »Ist es wieder ›Suche die Gesichter‹, Miß Keating?« wollte Jimmy wissen. »Nein, Jimmy. Diesmal nicht.« »Gesichtersuchen haben wir nie mehr gemacht«, beklagte er sich. »Das kommt ein anderes Mal wieder dran. Heute ist es ›Tiere im Versteck‹. Das macht bestimmt Spaß.« Als die Blätter ausgeteilt waren und die Kinder sich darüber109
beugten, überflog sie ebenfalls das Bild. Es zeigte eine belebte Straße, und in die Szenerie versteckt waren verschiedene Tiere eingezeichnet. In der gestreiften Markise eines Schaufensters lauerte ein Zebra, der Kopf einer Katze spähte aus dem zerknitterten Mantel eines Mannes, wie üblich fanden sich andere Tiere – ein Hund, eine Kuh – in den Wolken. Insgesamt zählte sie vierzehn, genau wie angegeben. Die ersten Hände hoben sich; die Kinder hatten sie ebenfalls entdeckt. Barbara war sichtlich aufgeregt. »Und er!« »Was meinst du, Barbara?« Mit einem unguten Gefühl ging Joyce zu dem Mädchen, um sich ihr Blatt anzuschauen. »Hier, Miß Keating, hinter dem Auto. Da ist Ziggles.« »Wer ist das?« Joyce betrachtete das Bild. Wieder dieses runde, schlicht gezeichnete, nichtssagende Gesicht, dessen kleine dunkle Augen sie direkt anzustarren schienen. Die dürren Hände umklammerten das Heck eines geparkten Autos, das den größten Teil der Gewalt verbarg. Es war verrückt, aber irgend etwas an diesem Ding erinnerte sie an Ken mit seinen schlaksigen Armen und den langen Fingern. Hastig unterdrückte sie den Gedanken. »Ziggles, Miß Keating«, wiederholte Russ. Cheryl, Mollie und Brad waren empört. »Da ist doch gar nichts.« »Guckt richtig hin, ihr Idioten«, sagte Heather. »Klar ist da was.« Joyce verspürte einen dumpfen Schmerz, der in ihrem Kopf zu pochen begann. »Nun mal langsam, Kinder – ruhig jetzt!« Die Streithähne verstummten und wechselten nur noch feindselige Blicke. »Also, was soll diese Geschichte mit Ziggles? Ich weiß auch nicht, warum so ein Männchen hier auf dem Bild ist, aber wie kommt ihr auf diesen Namen?« Jimmy schaute sie an, als sei sie eine arme Schwachsinnige. »Weil er so heißt.« Joyce besann sich auf den pädagogischen Grundsatz, nie die 110
kindliche Kreativität zu ersticken. »Sehr schön, das ist ein interessanter Name. Wer von euch hat ihn sich denn ausgedacht?« Melissa schüttelte den Kopf, daß ihre Zöpfe flogen. »Er heißt einfach so. Weil er solche Arme und Beine hat« – sie zeichnete mit ihrem Zeigefinger Zickzacklinien in die Luft –, »und weil er sich beim Gehen so schlängelt.« Die Kinder lachten, einige allerdings ausgelassener als die anderen. Wie üblich, dachte sie, scheinen mal wieder die Fürchterlichen Fünf das alles am meisten zu genießen; manche der anderen betrachteten immer noch stumm und verwirrt ihr Blatt, da sie nichts finden konnten. »Na, jedenfalls haben wir alle die gesuchten Tiere entdeckt, nicht wahr?« »Ja, Miß Keating.« Sie kehrte zu ihrem Pult zurück und räumte hastig die Lehrerkopie weg, ohne allzu genau draufzuschauen. Langsam verhallten draußen das Motorengebrumm der letzten Busse, die wie schwerfällige Dinosaurier quietschende Kinder in ihren Bäuchen transportierten. Den Korridor entlang hingen große Anschlagtafeln, auf denen, dicht an dicht wie die Schuppen auf einem Fisch, die Kunstwerke der Zweit- und Drittklässler befestigt waren. Der scharfe Geruch nach getrocknetem Klebstoff und Farbe konnte einen regelrecht benommen machen, und sicher lag es nur daran und an dem trüben Licht, daß sie sich einbildete, ein blasses, neugieriges Gesicht würde ihr aus dem bunten Gewimmel auf Melissas Bild von einem Bauernhof zunicken. Rasch wandte sie ihren Blick ab und sah Mr. O’Connell, den Schuldirektor, auf sich zukommen. »Sie sehen ein wenig müde aus, Joyce«, grüßte er freundlich. »Das bin ich auch«, nickte sie und erwiderte sein Lächeln. Er zupfte ein Fädchen von seiner Tweedjacke und zwinkerte. »Diese Zweitklässler halten einen auf Trab, was?« 111
»Kann man wohl sagen.« »Nun, es ist ja bald geschafft. Das Schuljahr ist fast vorbei. Der Sommer lugt schon um die Ecke.« Irgendwie wünschte sie, er hätte nicht ausgerechnet diese Umschreibung benutzt. Diesmal war es die Variante ›Was ist falsch an diesem Bild?‹. Wie immer freuten sich einige Kinder, andere schienen enttäuscht. Über ihre Blätter gebeugt suchten sie nach den fünfzehn Fehlern, die es darauf geben sollte. Joyce prüfte ihre eigene Kopie und hatte sie rasch gefunden: den Hund mit der Pfote, die in die falsche Richtung wies, den Wasserhahn im Baumstamm, das Auto mit viereckigen Reifen, das Wohnungsfenster mit der Jalousie auf der Außenseite, den Mann mit nur einem Schuh und die übrigen Fehler. Hände reckten sich in die Höhe. »Cindy, kannst du uns die fünfzehn Dinge nennen, die nicht stimmen?« Cindy zählte sie stockend auf, weil sie einige erneut suchen mußte, wobei Tommy und Steve zwei Fehler ergänzten, die sie ausgelassen hatte. »Das sind fünfzehn«, sagte sie schließlich. »Sechzehn!« rief Russ. O nein, dachte Joyce. Nicht schon wieder! Draußen vor dem Fenster hatte leichter Regen eingesetzt, und das erste Donnergrollen war zu hören. »Russ! Was ist denn sonst noch falsch auf dem Bild?« Er klatschte grinsend in die Hände, und Melissa und Jimmy, Heather und Barbara taten es ihm nach. »Na ja, Ziggles ist nicht drauf!« Ausnahmsweise hatte die Wettervorhersage gestimmt, und sie hatte zum Glück ihren Regenmantel mitgenommen. Es war nicht weit von der Schule bis zu ihrer Wohnung, aber als sie durch den verlassenen Park ging, regnete es bereits heftiger. 112
Die Tropfen klatschten auf die Plastikkapuze ihres Mantels, und sie fröstelte. In einiger Entfernung bewegte sich etwas; anscheinend war sie doch nicht allein im Park. Aber der Regen machte es schwierig, genaueres zu erkennen, und wegen der grauen Wolken am Himmel war es so dunkel geworden, daß einige der bogenförmigen Straßenlampen über dem Gehweg, die sich automatisch einschalteten, aufzuflackern begannen. Je eher sie nach Hause kam, wo sie sicher war und es warm und trocken hatte, desto besser. Warm und trocken, ja – aber wieso kam sie jetzt auf sicher? Endlich hatte sie den Park hinter sich und eilte weiter. Auf dem Bürgersteig stand regelrecht das Wasser. Es wäre gescheiter gewesen, wenn sie sich ein Taxi gerufen oder jemand gebeten hätte, sie im Auto mitzunehmen. Niemand außer ihr war verrückt genug, in diesem Wetter draußen herumzulaufen und eine Lungenentzündung zu riskieren. Bis auf den, wer immer das sein mochte, der hinter ihr durch die Pfützen stapfte. Hastig drehte sie sich um. Auf den ersten Blick schien dort etwas Faseriges an einem Laternenpfosten zu hängen. Aber es war nur der heftige Regen, der über die abgeblätterte, rissige Farbe strömte. Nirgends auf der Straße sah man auch nur eine Menschenseele. Sie begann vor Kälte zu zittern und wechselte auf die andere Seite. Wieder platschte jemand hinter ihr her. Das war doch albern! Noch mal würde sie sich nicht umschauen. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte. Warum sollte sie auch länger als unbedingt nötig in dieser Kälte bleiben? Besser, sie beeilte sich, nach Hause zu kommen. Und irgend jemand oder irgend etwas folgte ihr ebenfalls mit immer rascheren Schritten. Sie begann zu laufen. Die ungewohnte Anstrengung brachte sie außer Atem, und der regennasse Gehsteig war so rutschig, daß sie fast gestürzt wäre. Sie konnte sich gerade noch an 113
einem Pfosten festhalten. Als sie sich wieder aufrichten wollte, umschlangen dürre, schwarze Finger, die hart, klebrig und feuchtkalt waren, von hinten ihr Gesicht. Schreiend schlug sie danach, um sich zu befreien. Es waren die nassen Durchziehbänder ihrer Kapuze. Zu Hause genehmigte sie sich einen Drink und dachte an Ken (war das nicht schon seit langer Zeit endgültig vorbei?), weinte sich aus und nahm dann einen zweiten Drink, wobei sie über sich selbst lachte. Sie versuchte zu lesen, sank aber bald in einen unruhigen Schlaf voller Träume, in denen eine verrückte Gestalt durch den Regen lief, eine Gestalt, die aus Zickzacklinien zu bestehen schien, aus zackigen dunklen Bleistiftstrichen, auf denen ein simpler Kreis saß, der nickte und lächelte, während spinnenartige Hände nach ihrem Gesicht griffen. Als sie aufwachte, war es so spät, daß sie es gerade noch pünktlich in die Schule schaffte. Sie war fest entschlossen, die Nerven zu behalten und sich nicht durch den Druck, unter dem ihr Leben stand, kurz vor Ende des Schuljahres mattsetzen zu lassen. Die wenigen Tage bis zu den Ferien würden vorübergehen, und dann konnte sie sich den ganzen Sommer lang erholen. Das Wichtigste war, sich permanent zu beschäftigen und keine verrückten Gedanken aufkommen zu lassen. Tatsächlich ließen ihre Kopfschmerzanfälle nach, und es ging ihr allmählich wieder besser. Morgens kam sie lächelnd zur Arbeit, und nach Schulschluß fühlte sie sich nicht mehr ganz so erschöpft. Sie würde es schaffen. Daß sie strenger auf Disziplin bei den Schülern achtete, half ebenfalls. Die Kinder sollten ruhig wissen, daß sie sich von ihnen nicht unterdrücken lassen wollte. Auch diese Fürchterlichen Fünf durften nicht aus der Reihe tanzen, sonst würde sie dafür sorgen, daß sie es bereuten. Und es schien zu funktionieren; alles in allem herrschte Ordnung in ihrem Klassenzimmer. 114
Während der Bilderrätselzeit achtete sie darauf, daß die Sache rasch über die Bühne ging. Heute hatte sie sogar wieder einmal ›Suche die Gesichter‹ ausgewählt und sich vorgenommen, keinerlei Unsinn zu dulden. Es gab fünfzehn Gesichter auf dem Bild und keines mehr, basta. »Ich hab’ sechzehn gefunden«, meldete sich Heather mit einem verschlagenen Grinsen. Jimmy und Melissa kicherten. »Er-er-er ist da!« rief Russ und zog augenrollend eine komische Grimasse. Barbara hielt sich gackernd die Hand vor den Mund. Die meisten anderen schienen eher verunsichert zu sein. »Damit wollen wir heute nicht schon wieder anfangen«, erklärte Joyce und stopfte ihr eigenes Blatt in die Aktentasche, ohne draufzuschauen. »Es sind noch zehn Minuten. Ihr könnt in der Zeit eure Pulte aufräumen.« Am letzten Schultag trieben Russ und Jimmy von Anfang an nur Unsinn. Gleich am Morgen bewarfen sie sich mit Tafelschwämmen, aus denen solche Wolken von Kreidestaub aufstiegen, daß die anderen Kinder zu husten begannen. Joyce schnappte sich die beiden Störenfriede und führte sie zurück zu ihren Plätzen. »Falls ihr euch einbildet, daß euch nichts passieren kann, bloß weil es der letzte Schultag ist, seid ihr auf dem Holzweg.« Pack sie bei ihrem Ehrgefühl, dachte sie und fügte hinzu: »Benehmen sich so etwa Drittkläßler?« Dem Himmel sei Dank, daß heute früher Schluß war. Die Scherereien waren allerdings noch längst nicht vorbei. Melissa schüttete einen Becher Farbe auf den Boden, was ein nervenaufreibendes Chaos aus Gekicher, wilden Anschuldigungen und Beschimpfungen hervorrief. Joyce hätte beinah schwören mögen, daß sie den Farbbecher absichtlich umgestoßen hatte. Heather und Barbara heckten ständig hinter vorgehaltenen Händen irgendwelche Bosheiten aus, und gegen elf Uhr hatte Joyce es gründlich satt. 115
»Also gut! Russ, Heather, Barbara, Melissa, Jimmy – ich habe euch gewarnt, stimmt’s? Ob dies nun der letzte Schultag ist oder nicht, mir reicht es jetzt mit diesem Unsinn. Ihr fünf bleibt nach Schulschluß hier. Immerhin wollt ihr demnächst Drittkläßler sein, und da müßt ihr lernen, auch die Verantwortung für das, was ihr macht, zu tragen.« Einige der anderen Kinder verbargen nicht ihre Genugtuung. Ihr selbstgefälliger Gesichtsausdruck schien zu sagen: Das geschieht ihnen recht. In den Fluren verhallte das letzte Läuten der Schulglocke, und das Motorengebrumm der abfahrenden Busse entfernte sich. Joyce musterte die fünf, die noch auf ihren Plätzen saßen, und zog einige Blätter aus einem Papierstapel. »Das hier sind ein paar zusätzliche Rechtschreibübungen«, sagte sie, ohne sich um das leise Murren zu kümmern. »Ihr werdet daran arbeiten, bis ich euch sage, daß ihr gehen könnte.« Sie teilte die Blätter aus. Es war schwierig, den Gesichtsausdruck der Kinder zu beschreiben – eigentlich schienen sie gar nicht so verdrossen oder besonders mißvergnügt zu sein. Aber genau hätte sie es nicht zu sagen gewußt. Manchmal wirkten die Augen von Kindern richtig – alt. Sie kehrte zu ihrem Pult zurück und beschäftigte sich mit dem üblichen Papierkram, der zum Ende eines Schuljahres anfiel. Zunächst bemerkte sie kaum, daß sich draußen der Himmel verdunkelt und ein stetiger Regen eingesetzt hatte. Offenbar zog ein Gewitter herauf. Na ja, dachte sie, notfalls muß ich ein paar dieser kleinen Nichtsnutze mit dem Taxi heimfahren. Aber wenigstens habe ich klargemacht, daß ich mir in meiner Klasse nicht alles gefallen lasse. Sie kniff die Augen zusammen. Das Licht war so schlecht geworden, daß sie kaum noch die Formulare auf ihrem Pult lesen konnte, und durch die Anstrengung begannen wieder ihre Kopfschmerzen. Sie würde gleich Schluß machen. Als sie aufschaute, sah sie, daß die Kinder mit gesenkten 116
Köpfen über ihre Arbeit saßen; nur Barbara erwiderte ihren Blick und lächelte etwas sonderbar, ehe sie mit ihrer Aufgabe weitermachte. Man könnte beinahe glauben, sie hätten alle nach dem Unterricht unbedingt noch hierbleiben wollen, diese fünf, die sich den ganzen Tag über wie kleine Teufel benommen hatten, überlegte sie. Das Licht wird ja immer schwächer. Es ist so dämmrig hier, daß ich kaum noch etwas sehen kann, und ich darf wirklich nicht zulassen, daß sie sich unter solchen Bedingungen die Augen verderben. Erneut schaute sie auf. Die sechs merkten anscheinend nicht, wie dunkel es geworden war, und arbeiteten nach wie vor ruhig an ihren Aufgaben. Kinder sind ganz schön zäh, dachte sie, manchmal schon direkt leichtsinnig; ob sie sich die Augen verderben oder nicht, sie lesen einfach weiter, weil es gar nicht kümmert, daß … Die sechs? Mit einem Ruck schaute sie hoch. Was hatte sie sich bloß eingebildet? Melissa, Jimmy, Heather, Barbara, Russ. Fünf. Aber in dem immer diffuseren Licht schien ihr, daß sie nicht mehr auf ihren früheren Plätzen saßen. Hatte sie sich weiter nach hinten gesetzt! Sie kniff die Augen zusammen; ihre Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Natürlich saßen sie genau dort, wo sie sitzen sollten; es lag nur an der zunehmenden Dunkelheit und dem dumpfen Hämmern in ihren Schläfen, weshalb sie geglaubt hatte, sie undeutlicher zu sehen. Und als sie das nächste Mal aufschaute, sagte sie sich, daß ganz bestimmt bloß das miserable Licht und ihre Kopfschmerzen daran schuld waren, daß sie den Eindruck hatte, die sechs Kinder säßen weiter hinten, ganz weit hinten in der dunklen Ecke des Zimmers, und grinsten sie von dort her unausstehlich frech an. Was für ein hysterischer Unsinn! Hastig senkte sie den Blick und schrieb rasch weiter. 117
Jetzt hatte sie schon wieder gedacht: die sechs! Bestürzt schaute sie auf. Und es waren sechs, und nun kam er auf seinen grauen Beinen aus Bleistiftstrichen in einem ruckhaften Tanz daher; die große weiße Scheibe seines Gesichts mit den winzigen punktförmigen Augen nickte grinsend, seine langen dürren Arme fuchtelten in Zickzacklinien durch die Luft, die spinnenartigen Finger waren in beinah obszönem Eifer gespreizt; rasch wie ein zuckendes Irrlicht bewegte er sich an den Stühlen vorbei durch das dunkler werdende Zimmer. Unwillkürlich schloß sie die Augen, und ob es diese sehnigen Finger waren, die einen Moment lang ihre brennenden Wangen Wangen streichelten oder einfach ein feuchtkalter Windhauch vom Fenster her, konnte sie nicht sagen, aber es spielte auch keine Rolle mehr, denn nun hatte er sich auf sie gestürzt.
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RAMSEY CAMPBELL
Am anderen Ende »Pook.« »Ist dort Mrs. Pook?« »Wer will das wissen?« »Mein Name … mein Name ist Roger, und ich denke, es wird Sie interessieren, was ich Ihnen abzubieten habe.« »Das behaupten Sie. Sie wissen doch gar nichts über mich.« »Würden Sie jetzt nicht gern wissen, wie ich ausschaue?« »Warum, was haben Sie denn an?« »Ich meine, Sie würden doch bestimmt gern mein Gesicht sehen?« »Nicht wenn es aussieht, wie Sie klingen. Mum, hier ist so ein Perverser am Telefon.« »Moment mal, haben Sie nicht eben gesagt, Sie seien Mrs. –« »Er fragt, ob ich ihm gern zusehen würde.« »Wer spricht dort, bitte? Was reden Sie da für ein Zeug mit meiner Tochter?« »Mein Name ist Rmm … mein Name ist Ralph, und ich denke, es wird Sie interessieren, was ich Ihnen anbieten möchte.« »Das bezweifle ich. Kenne ich Sie überhaupt?« »Mein Name ist Ralph.« »Mir ist kein Ralph bekannt, aber ich bin sicher, daß ich Ihre Stimme kenne. Was soll das?« »Er hat gesagt, er heißt Roger, Mum, nicht Ralph.« »Hat er aber jetzt behauptet. Charlie? Charlie, geh mal an den Zweitanschluß und hör mit.« »Mrs. Pook, wenn ich Ihnen nur schnell erklären dürfte …« »Charlie, nun geht doch mal an den anderen Apparat. Da ist einer dieser Perversen dran, die sich gern am Telefon austoben. Er weiß nicht mal seinen eigenen Namen.« 119
»Wer zum Teufel ist da? Was wollen Sie von meiner Frau?« »Mein Name ist Ralph, Mr. Pook, und vielleicht kann ich mit Ihnen sprechen. Ich rufe im Auftrag von …« »Wer immer das ist, Charlie, er heißt bestimmt nicht Ralph.« »Mein Name ist doch nicht wichtig, Mr. Pook. Ich möchte Ihnen gern …« »Sie haben mir hier nicht zu sagen, was wichtig ist oder nicht, schon gar nicht an meinem eigenen Telefon. Was wollen Sie? Woher haben Sie diese Nummer?« »Aus dem Telefonbuch. Darf ich ein paar Minuten lang Ihre Zeit in Anspruch nehmen? Wir möchten Ihnen gern eine Möglichkeit anbieten, mit der Sie Mißverständnisse wie dieses vermeiden können.« »Ach, jetzt heißt es wir? Sie und wer noch?« »Ich rufe an im Auftrag von …« »Charlie, ich glaube, ich weiß, wer …« »Hören Sie, mein Bester, mir ist egal, wieviele von eurer Sorte ihr seid. Sagen Sie mir bloß, wo ich Sie finden kann, und wir regeln die Sache von Mann zu Mann.« »Leg einfach auf. Leg einfach auf.« »Was nuscheln Sie da vor sich hin, Bürschchen? Wohl die Stimme verloren?« »Mrs. Pook, sind Sie noch da?« »Jetzt lassen Sie mal meine Frau aus dem Spiel. Das hier ist eine Sache zwischen uns beiden, kapiert! Wenn Sie noch ein Wort zu ihr sagen …« »Schon, gut Charlie. Ja, ich bin hier.« »Mrs. Pook, ist Ihr Vorname zufällig Lesley?« »Jetzt reicht’s, Mann! Ich warne Sie! Noch ein einziges verfluchtes Wort …« »Leg einfach auf«, sagte sich Speke erneut, und diesmal schaffte er es. In dem langgestreckten Raum schwirrten von anderen Stimmen gesprochen vielfache Echos seiner Worte. »Ich rufe im Auftrag von …« – »Möchten Sie nicht …« Die 120
weißen Schreibtische mit den Kollegen, die er kaum kannte, die Wände, die im indirekten Licht kreideweiß leuchteten, die tiefschwarzen Kolonnen aus Namen, Adressen und Zahlen auf den Seiten vor ihm – seine ganze Umgebung war ihm während des Gesprächs so fremd geworden, daß ihm alles sinnlos erschien, und die einzige Möglichkeit, die ihm einfiel, dieses Gefühl abzuwehren, war das Sprechen. Er strich Pook durch und wählte die nächste Nummer. »Mrs. Pool?« »Am Apparat.« »Dürfte ich ein paar Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?« »Soviel wie Sie wollen, wenn es Ihnen was nützt.« »Mein Name ist Roger, und ich rufe im Auftrag der Face to Face Communications an. Eigentlich hätte ich das gleich zu Beginn sagen sollen.« »Bei mir brauchen Sie nicht nervös zu werden, besonders nicht am Telefon.« »Bin-bin ich gar nicht. Ich wollte fragen, ob Sie jetzt nicht gern sehen würden, wie ich ausschaue.« »Das ist leider schlecht möglich.« »Am Telefon, meinen Sie. Nun, deshalb möchte ich Ihnen anbieten …« »Nein, und überhaupt …« »Ich versch-verscht-ver-stehe nicht …« »Bis vor ein paar Jahren hätte ich Sie sehen können. Sehen Sie so aus, wie sie klingen?« »Wahrscheinlich.« »Dann tut es mir leid, daß ich blind bin.« »Nein, es ist meine Schuld. Ich meine, das ist nicht meine Schuld, meine ich, ich bin es, der sich entschuldigen muß, das ist …« Es gelang ihm, den Hörer von seinem Mund, der immer noch weiterbrabbelte, wegzureißen und aufzulegen. Er schloß fest die Augen und strich den Namen durch, doch die Stimmen um ihn herum, die Bruchstücke der gleichen Phrasen wieder121
holten, zwangen ihn, sie wieder zu öffnen. Er heftete seinen Blick auf die nächste Zeile in der Kolonne, nahm den Hörer und wählte. »Mr. Poole?« »Ja.« »Sie sind Mr. Poole?« »Etwa nicht?« »Ich frage ja nur.« »Wieso, glauben Sie mir nicht?« »Sie – Sie klingen nicht …« Speke hatte eher den Eindruck, es sei eine Frau, die sich bemühte, möglichst tief zu sprechen – wie Lesley, dachte er, oder sogar ihrer Tochter, falls das ihre Stimme gewesen war, die sich bei den Pooks am Telefon gemeldet hatte. »Mein Name ist Roger«, sagte er hastig, »und ich ruft im Auftrag der Face to Face Communications an. Ob Sie mir wohl ein paar Minuten Ihrer Zeit opfern würden?« »Die von jemand anderem kann ich Ihnen wohl schlecht opfern.« »Nun, be-sch-bes-timmt würden Sie jetzt gern mein Gesicht sehen.« »Was ist daran so sehenswert?« »Nicht speziell mein Gesicht, sondern das jeden Anrufers. Ich möchte Ihnen einen kostenlosen einmonatigen Test der neuesten Errungenschaften in der Kommunikationstechnologie anbieten, des Videophones.« »Damit Sie sehen können, ob ich nicht jemand anderer bin? Was haben Sie geglaubt, wer ich bin?« »Wann?« »Ehe ich sagte, ich sei der, der ich bin.« »Verz… Verzeihung, aber Sie klingen genau wie …« »Scheint, als hätten Sie die falsche Nummer«, sagte die Stimme, dann wurde aufgelegt. Sie schien sich in seinem Kopf festgesetzt zu haben und löschte alle anderen Stimmen um ihn herum aus. Er legte den Hörer zurück und ging den Gang entlang zum Schreibtisch der 122
Aufseherin, wobei er das Gefühl hatte, ständig über seine eigenen Füße zu stolpern. Die Aufseherin verglich fertig ausgefüllte Anträge mit Namen und Adressen im Telefonbuch. »Wie läuft es, Roger?« fragte sie, ohne daß sie zu ihm aufgeblickt hätte. »Beinah so unsicher wie ein Lotteriespiel, Mrs. Shillingsworth«, brachte er ohne Stottern heraus. »Ich überlege, ob ich meine Methode ändern soll.« »Bei allen anderen funktioniert es doch offenbar«, sagte sie und deutete nachdrücklich auf die Formulare. »Haben Sie irgendeinen Kunden für mich?« »Heute noch nicht. Das meine ich ja.« Sie hakte ein Kästchen auf dem Formular ab, das sie gerade prüfte, ehe sie aufschaute und ihn ruhig mit ihren großen Augen musterte. »Was also schlagen Sie vor?« »Viel-iel-leicht könnten wir einfach ein bißchen mehr unsere eigenen Stimmen benutzen. Ich meine, unsere eigenen Worte.« »Ich werde mich erkundigen, wenn der Chef sich das nächste Mal über Bildschirm meldet. Hat man Ihr Gerät übrigens schon installiert?« »Es wäre eigentlich längst fällig gewesen, aber wir warten immer noch.« »Es ist wichtig für Sie, nicht wahr?« »Früher habe ich nicht geglaubt, daß es eine Rolle spielt, ob man die Gesichter der Leute sieht, mit denen man spricht, aber jetzt weiß ich, daß …« »Die Kunden haben natürlich Vorrang, aber ich muß sowieso mit den Technikern sprechen. Was ihre Anrufe betrifft, können Sie bis zu einem gewissen Grad nach Gefühl reagieren. Nur nicht gereizt werden.« Sie senkte rasch den Blick, räusperte sich und griff nach dem nächsten Formular. »Probieren Sie es noch eine halbe Stunde, und wenn Sie bis dahin kein Glück gehabt haben, dann lasse ich Sie gehen.« Speke hatte nach diesem Gespräch das Gefühl, eingezwängt 123
zu sein in diese Phrase, die ihm selbst mit jedem Anruf rätselhafter klang. »Mein Name ist Roger, und ich rufe an im Auftrag von …« Nur noch eine halbe Stunde … »Mein Name ist Roger, und ich rufe …« Nur noch achtundzwanzig Minuten … »Mein Name ist Roger, und ich …« Nur noch sechsundzwanzig … »Mein Name ist Roger …« Vierundzwanzig Minuten, zweiundzwanzig, zwanzig, eintausendundachtzig Sekunden, neunhundertsiebenundfünfzig, achthunderteinundvierzig, siebenhundertund… »Mein Name ist Roger, und ich rufe an im Auftrag von Face to Face Communications.« »Wirklich?« »Ja, würden Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit opfern? Bestimmt wünschen Sie sich in diesem Moment, Sie könnten mein Gesicht sehen.« »Wirklich?« »Ja, mir ginge das jedenfalls so. Ich möchte Ihnen einen kostenlosen einmonatigen Test der neuesten Errungenschaft in der Kommunikationstechnologie anbieten, des Videophones.« »Wirklich?« »Ja. Sie haben sicher Bekannte, die bereits eins besitzen, doch vielleicht meinen Sie, es sei ein Luxus, den Sie sich nicht leisten könnten. Ich darf Ihnen aber versichern, Mr. Pore, daß unsere Experten die Kosten auf ein Niveau gesenkt haben, das Ihrer Brieftasche und sogar me-meiner entspricht. Wenn Sie uns erlauben, unser neuestes Modell für einen Monat ganz unverbindlich bei Ihnen zu Hause zu installieren, können Sie sich selbst überzeugen.« »Wirklich?« »So ist es.« »Na, weiter.« 124
»Entschuldigung, Sie-Sie wollen also einen Versuch machen?« »Ich dachte, deshalb rufen Sie an, Roger.« »Ja, natürlich. Einen Mom-mom… Ich wi-will …« Speke war immer stärker überzeugt davon, daß Pore sich über ihn lustig machte. Er nahm ein Formular von dem Stapel neben dem fünfzehn Zentimeter großen Bildschirm, auf dem es weiterhin flackerte, als wollten sich die elektronischen Störungen zu einem Gesicht formieren. »Ich will nur rasch ein paar Einzelheiten aufschreiben«, sagte er. Pore antwortete jedesmal lediglich mit einem Grunzen, als er Namen und Adresse vorlas. Auch auf die Frage, wann es ihm am besten passe, gab er nur einen unbestimmten Laut von sich, so daß Speke Zeiten vorschlug, die für ihn selbst am günstigsten gewesen wären, obwohl er nicht das geringste mit der Sache zu tun hatte. Als er den Hörer auflegte, war seine halbe Stunde fast vorbei, aber jetzt konnte er nicht Feierabend machen, nachdem ihm vielleicht ein Verkauf geglückt war. Er schob das Formular an den Rand seines Schreibtischs, damit es die Aufseherin einsammeln konnte, suchte in der Kolonne im Telefonbuch den Eintrag Pook, Charles, und strich ihn so kräftig durch, daß es aussah, als sei ein schwarzer Schlitz in der Seite. Im gleichen Moment wünschte er, er hätte sich die Nummer eingeprägt. »Mein Name ist Roger, und ich rufe an im Auftrag von …«, wiederholte er während der Heimfahrt. Auf den erleuchteten Schaufensterscheiben entlang der zweispurigen Fahrbahn zeichneten sich Ziffern ab oder spiegelten sich im Licht der Straßenlampen und Scheinwerfer. Zwei Meilen lagen zwischen dem Bürogebäude und dem Hochhaus, wo er wohnte, und die ganze Zeit über konnte er kein einziges Gesicht erkennen, selbst nicht wenn er in den Rückspiegel schaute. Große nackte Glühbirnen erhellten den Parkplatz rund um das Hochhaus; in 125
ihrem grellen Licht umkreisten ihn seine eigenen Schatten, als er aus dem Mini stieg und zum Eingang lief. Im ersten Augenblick kamen ihm nur wirre Zahlenfolgen in den Sinn, aber dann tippte er doch die richtige Kombination für die Haustür ein und konnte hinein. Obwohl hier nur gutgestellte Besserverdiener wohnten, schien es, als habe ein Kind im Lift Unordnung hinterlassen, der auf jedem Stockwerk hielt. Im siebenten wartete jemand mit langem Haar, der sich aber dem zweiten Lift zuwandte, als sich Spekes Tür öffnete, so daß er sein oder ihr Gesicht nicht sehen konnte. Bis die Person sich bewegte, hatte Speke geglaubt, es sei eine Schaufensterpuppe, die als kleiner Kontrast dort aufgestellt worden war, da die zahllosen Stockwerke ansonsten alle identisch aussahen. Im fünfzehnten konnte er endlich aus dem wackeligen Kasten aussteigen und eilte zu seiner Tür. Stef war zu Hause. In der Küche und im Schlafzimmer brannte Licht, und in dem schmalen Flur voller Poster von englischen Filmen, die in andere Sprachen synchronisiert worden waren, roch er, daß das Abendessen gleich fertig war. Speke schloß leise die Tür und schlich am Schlafzimmer und am Bad vorbei ins Wohnzimmer, aber er hatte gerade erst das Licht über der Bar eingeschaltet, als Stef aus dem Schlafzimmer auftauchte. »Soll ich uns Drinks machen, Roger?« »Mir rrr…«, sagte Speke, und erst im zweiten Anlauf schaffte er es zu sagen: »Mir recht.« »Rum haben wir keinen, falls du nicht welchen gekauft hast. Sonst ist aber, glaube ich, so ungefähr alles da.« »Was immer am schnellsten geht.« Speke setzte sich, um seine Ungeduld zu verbergen. Dann sprang er auf, küßte sie auf die Stirn und faßte sie rasch um die nackte Taille. »Laß nur, ich mach das schon, wenn du nach dem Essen sehen willst.« »Ich ziehe mich erst an, soll ich?« »Du sollst.« 126
Während sie hinaus in den Flur ging, betrachtete er ihre glänzende schwarze Unterwäsche, die halb durch das lange blonde Haar verdeckt war, und öffnete den Wodka. Ein Schluck schien ihm genug, um seine Gereiztheit zu vertreiben. Er machte zwei Bloody Mary zurecht, wobei er in sein Glas mehr Wodka goß, und trug sie in die Küche. Stef hatte sich einen Kimono übergestreift und stellte Teller auf den Servierwagen. »Viel zu tun heute?« fragte er. »Wir haben die ganze Woche über eine Gruppe Studenten im Studio. Ich habe ihnen gezeigt, was du alles mit Ton und Bild machen kannst.« »Was kann ich denn machen?« »Fang nicht wieder so an. Was man damit machen kann. Morgen lasse ich sie dann mal allein improvisieren.« »Ich weiß, wie du dich bemühst.« Sie verteilte die Portionen Coq au vin, rollte den Servierwagen ins Wohnzimmer, schaltete das Licht über dem Eßtisch ein und stellte die Teller darauf. »Was ist los?« fragte sie dann. »Ich bin …« »Na komm, Roger. Was immer es ist, rück besser raus damit.« »Ich bin sicher, daß ich mit Lesley und Vanessa gesprochen habe.« »Wieso sagst du das?« »Weil du es hören wolltest.« »Du brauchst mir nichts zu erzählen, wenn du nicht willst.« Speke leerte sein Glas und entkorkte eine Literflasche argentinischen Rotwein. »Ich hatte jemanden am Telefon und glaubte, es sei Lesley, aber es stellte sich heraus, daß es die Tochter war.« »Warum mußt du nach all dieser Zeit immer noch an sie denken?« Speke füllte ihr Weinglas und schenkte sich selbst zum zweitenmal ein. »Weil ich auch mit dem Ehemann gesprochen 127
habe. Obwohl ich nicht glauben kann, daß Lesley sich mit so jemandem eingelassen hat; erst recht nicht, daß sie ihn geheiratet hat.« »Nun, wir alle …« Stef schwieg, weil sie zu essen begonnen hatte und ausgiebiger kaute, als Speke für nötig hielt. »Was heißt denn – so jemand?« meinte sie schließlich. »Angehört hat er sich wie ein aufgeblasenes Großmaul.« »Manche finden sich mit schlimmeren Partnern ab.« »Aber wenn sie mit ihm zurechtkommt, warum konnte siesie-d-dann … außerdem, was ist mit Vanessa? Sie muß noch in die Schule gehen, sie mü…« »Roger, wir waren uns doch einig, daß du versuchst, sie zu vergessen.« »Wmm«, sagte Speke. Diesmal war es weniger ein Stottern als der bewußte Entschluß, sich selbst zum Schweigen zu bringen. Er trank sein Glas aus und füllte es gleich noch einmal. Nachdem er eine Flasche Dessertwein geöffnet hatte, den sie zur Eiscreme tranken, fand er es schade, ihn schon wieder zu verkorken. Stef ließ sich ebenfalls nachschenken, hielt aber dann die Hand über ihr Glas. »Ich muß früh aufstehen«, sagte sie. Erst beim Abwasch fiel ihm ein, daß sie diese Ausrede vielleicht nur vorgebracht hatte, weil sie wollte, daß sie sich liebten. Als er allerdings ins Schlafzimmer kam, schlief sie schon. Er löschte das Licht und überlegte, ob er noch den Fernseher einschalten sollte, aber die Aussicht, Bilder auf einem Schirm zu betrachten – Abbilder des wirklichen Lebens, die doch nicht mehr wirklich waren –, hatte seinen Reiz verloren. Also setzte er sich im Wohnzimmer wieder an den Eßtisch und leerte die Flasche, während er aus dem Fenster auf das benachbarte Hochhaus blickte. Das Fenster ähnelte ebenfalls einem Schirm – einem Computer-Bildschirm, auf dem sich willkürlich rätselhafte Muster aus erleuchteten Rechtecken bewegten –, aber 128
wenigstens sah er darauf keine Gesichter, nicht mal sein eigenes. Nachdem er die Flasche geleert hatte, blieb er noch einige Zeit sitzen und ging dann ins Bett. Er erwachte mit dem Eindruck, es habe gerade jemand etwas zu ihm gesagt. Wenn es Stef gewesen war, mußte es vor mehr als einer Stunde gewesen sein, ehe sie zur Arbeit gegangen war. Im Sonnenlicht, das ins Zimmer strömte, tanzten Staubfäden in der Luft. Speke setzte sich auf und wartete, bis das Schwindelgefühl nachgelassen hatte; dann erledigte er vorsichtig eins nach dem anderen – duschen, rasieren, ein großes Glas Orangensaft trinken, seine Getreideflocken, die in Milch schwammen, mit reichlich Zucker essen und mehrere Tassen Kaffee hinuntergießen, sehr stark, so daß er das Gesicht verzog. Anschließend machte er sich daran, die Wohnung aufzuräumen. Er wischte überall Staub, außer auf den Flaschen hinter der Bar, da es dort nicht nötig war, ging zweimal mit dem Staubsauger durch die Zimmer, stellte die Waschmaschine an und räumte die Wäsche, als sie fertig war, in den Trockner. Er ordnete die Teller im Küchenschrank und das Besteck in den Schubladen neu und sortierte Konservendosen und abgepackte Lebensmittel in alphabetischer Reihenfolge. Dabei wurde ihm klar, daß er hoffte, dies alles würde ihn so lange beschäftigen, bis Stef nach Hause kam, aber seine einzige Gesellschaft blieb das beständige Gefühl, gerade eine Stimme gehört zu haben. Stef war noch nicht heimgekehrt, als es Zeit für ihn wurde, zur Arbeit zu fahren. Der Himmel, und die Sonne wohl ebenfalls, hatte an diesem späten Nachmittag die gleiche Farbe wie die erloschenen Glühbirnen über dem Parkplatz. Alles um ihn herum – die Autos, die kahlen jungen Bäume, die Gardinen in den Fenstern der kreideweißen Hochhäuser – schien ins Einfarbige verblassen zu wollen. Bei zügigem Tempo wäre er auch zu Fuß rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz, aber im Auto würde er sich vielleicht weniger schutzlos fühlen. Obwohl er langsam fuhr, 129
gelang es ihm nur, eine Handvoll Gesichter zu erspähen, die alle ungewöhnlich weit weg zu sein schienen. Einige Kollegen standen bereits an ihren Schreibtischen in dem langgestreckten Raum, hängten ihre Jacketts über die Stuhllehnen oder tranken etwas aus Plastikbechern. Speke legte die Formulare und das Telefonbuch ordentlich vor den Bildschirm auf seinem Tisch und sah plötzlich, daß die Aufseherin ihn zu sich winkte, wobei sie mit einem Finger zuerst auf ihren Mund und dann auf ihr Ohr deutete. »Ja, Mrs. Shillingsworth?« fragte er, als er nahe genug herangekommen war. »Pore.« »Pmm …?« »Mr. Pore. Mr. Roger Pore. Sagt Ihnen der Name irgendwas?« »Ja, er hat gestern abend einen kostenlosen Probemonat bestellt.« »Sie bestätigen es also?« »Si-sicher. Er war mein einziger Fang.« »Und Sie hatten das Gefühl, Sie müßten mir einen Kunden liefern?« »E-etwa nicht?« »Nur wenn es ein echter ist. Seine Frau sagt, er hat nie mit jemandem gesprochen.« »Das muß sie falsch verstanden haben, oder die Techniker haben sich geirrt. Techniker meinen immer …« »Ich selbst habe mit ihr geredet, Mr. Speke, weil mich einiges auf Ihrem Antragsformular stutzig machte. War es ein Schotte, mit dem Sie gesprochen haben?« »Ein Schotte … Nein, er klang eher so wie ich.« »Mr. Pore ist Schotte.« »Woher wissen Sie das, wenn Sie mit seiner Frau gesprochen haben?« »Sie sind beide Schotten. Ich habe es gehört.« »Was, seine Frau klingt wie ein Scho…? Ich meine, Ent130
schuldigung … ich muß, vielleicht habe ich …« »Wenn ich Sie wäre, würde ich mich heute abend etwas mehr bemühen, statt es mit solchen Methoden zu versuchen.« Mrs. Shillingsworth musterte ihn über den Rand des Formulars, das sie in die Hand genommen hatte und dann über dem Papierkorb zerknüllte, ehe sie es fallen ließ. »Sie sind aber nicht ich«, murmelte Speke auf dem Rückweg zu seinem Tisch. Erst nachdem er sich hingesetzt hatte, merkte er, daß er zu weit gegangen war. Er wollte gerade wieder aufstehen, als ihm ein Gedanke kam. Hastig ergriff er das Telefonbuch und schlug die Seite auf, die ihm zugeteilt war. Pontin, Ponting, Pool, Poole … Er zwang sich, die Spalte ganz langsam zu lesen, aber es war kein Pook eingetragen. »Altes Telefonbuch«, sagte er sich und ging zum Tisch links von ihm, wo er sich überzeugte, daß das Telefonbuch eine aktuelle Ausgabe war, ehe er es auf der gleichen Seite öffnete. Ponting, Pool. Er beugte sich tief darüber, als könne der gesuchte Name zwischen den einzelnen Einträgen hindurchgerutscht sein, dann ging er zum nächsten Tisch und zum übernächsten. Ponting, Pool, Ponting, Pool … Er merkte nicht, daß Mrs. Shillingsworth ihn offenbar beobachtet hatte. »Da sitzen Sie«, sagte sie energisch und deutete auf den leeren Schirm an seinem Platz. Er setzte sich eilig und schlug das Telefonbuch auf. »Mrs. Pook«, flüsterte er wieder und vor sich hin, bis er sich selbst sagen hörte: »Mrs. Spuk.« Zwischen Ponting und Pool war ein schwarzer Tintenstrich – breit genug, da war er ziemlich sicher, um genau einen Eintrag zu verdecken. Er hob die Seite bis dicht an sein Gesicht und drehte das Buch in verschiedene Winkel, um vielleicht irgendwie herauszufinden, was unter diesem Tintenbalken stand. Plötzlich sah er, daß die Aufseherin immer noch zu ihm herüberschaute. Rasch nahm er den Hörer von der Gabel und wählte die erste nicht gekennzeichnete Nummer. 131
Als der Bildschirm zu flackern begann, glaubte er, er habe endlich ein Videophon angerufen, aber dann ließ das Flackern nach. »Poridge?« sagte eine Stimme. »Nur Cornflakes für mich.« »Bitte?« »Ich-ich r-rufe im Auftrag von Face to Face Communications an und hätte gern gewußt, ob Sie mir ein paar Minuten opfern könnten.« »Zucker?« »Was?« »Sogar reichlich Zucker in Ihre Cornflakes.« »Woher wissen Sie das? Wie kommen Sie darauf?« »Ich glaube, das ist genug Süßkram«, lautete Mr. Poridges undeutliche Antwort, bevor er das Gespräch beendete. Speke war dankbar, die Stimme los zu sein, deren femininer Klang ihm nicht gefallen hatte. Er prägte sich die nächste Nummer ein, und während er wählte, drehte er das Telefonbuch, um zu sehen, ob bei verändertem Lichteinfall erkennbar war, was dort unter diesem dicken Tintenstrich stand. »Pork«, sagte eine Frau. »Wer ist da?« Der Bildschirm flackerte so stark, daß Speke glaubte, die Antwort auf ihre Frage zeichne sich gleich darauf ab. Oder lag es nur an seinen Augen? Der Schirm blieb leer. »Miß Pork«, sagte er, »mein Name ist Roger, und ich frage mich …« »Ebenfalls.« »Was ebenfalls?« »Ich frage mich, was ich mir da anhören muß.« »Sie müssen gar nichts. Ich fra-frage einfach, das heißt, ich rufe im Auftrag von Face to Face Communications an.« »Und Sie haben einen Auftrag für mich?« »Nein, ich habe den Auftrag, Sie zu fragen, ob Sie nicht wünschten, das wir uns jetzt sehen könnten.« »Wirklich?« Speke blickte von der Zeile, die mit Tinte ausgestrichen war, 132
zum Bildschirm. Das Flackern hatte zugenommen. »Warum?« sagte die Stimme. »Weil ich dann sehen würde, ob Sie – ob Sie nicht bloß klingen wie …«, brabbelte Speke, ehe er es schaffte, den Hörer auf die Gabel zu knallen. Er hielt den Kopf gesenkt, bis er schließlich doch einen Blick riskierte. Obwohl Mrs. Shillingsworth nicht zu ihm herüberschaute, war er überzeugt, daß sie ihn beobachtet hatte. Er wiederholte laut die nächste Nummer und veränderte zentimeterweise die Lage des Telefonbuchs. Irgend etwas war kurz davor, sichtbar zu werden: die Ziffern unter der Tinte oder das Bild hinter dem unruhigen Geflacker auf dem Schirm? Er wählte die Nummer, die er vor sich hinmurmelte, und blickte hoch, runter, hoch, runter … »Porne«, drang eine Stimme an sein Ohr. »Mein Name ist Roger, und ich frage …« »Porne.« »Ich frage mich, welche Nummer ich gerade gewählt habe.« »Unsere. Porne.« So lautete der Name im Telefonbuch, aber Speke argwöhnte, daß er unwillkürlich die Zahlen gewählt hatte, die vielleicht, ohne daß er es bewußt wahrgenommen hatte, für einen winzigen Sekundenbruchteil unter der schwarzen Tinte sichtbar gewesen waren. »Kenne ich Sie nicht?« fragte er. »Woher?« »Von hier drinnen.« Speke tippte sich an die Stirn und grinste den Bildschirm an, auf dem seine Zähne als weißliche Linien wie ein abgenagter Knochen mitten in einem blassen, verschwommenen Fleck erschienen. »Bestimmt wünschten Sie, Sie könnten mein Gesicht sehen.« »Warum, was machen Sie denn gerade?« Speke verdeckte mit einem Antragsformular den Bildschirm, denn mit jedem Flackern schien die Spiegelung seines Gesichts ihm immer fremder zu werden. »Finden Sie nicht, daß Ihr 133
Name ziemlich vielsagend ist?« »Was meinen Sie damit, junger Mann?« »Sie sind eine Frau, nicht wahr? Aber nicht so alt, wie Sie mich gern glauben lassen wollen.« »Was fällt Ihnen ein! Das werde ich Ihrem Vorgesetzten melden!« »Woher wissen Sie, daß ich einen habe? Jetzt verraten Sie sich! Und seit wann ist es eine Beleidigung, einer Frau zu sagen, sie sie nicht so alt, wie es den Anschein hat? Kommt mir vor, als hätten Sie was zu verbergen, Missis oder Miß.« »Also, Sie junger …« »Ganz so jung auch nicht mehr. Aber auch nicht alt. Tatsächlich sind wir im gleichen Alter, das weißt du doch sehr gut.« »Was erlauben Sie sich! Charles, komme mal her und sag diesem, diesem …« »Ach, er heißt Charles, ja? Viel zu hochgestochen für diesen Affen.« Speke legte den Hörer auf und las die nächste Nummer ab. Den Blick auf die Ziffern geheftet wählte er und hoch das Blatt hoch, mit dem er den Bildschirm abgedeckt hatte. Mitten in dem unruhigen Geflacker stand immer noch sein Grinsen; es war fast, als sei sein restliches Gesicht hinter einer exakt angepaßten Maske verborgen. Er ließ das Blatt fallen, und eine Stimme, die aus seinem Kopf zu kommen schien, drang aus dem Hörer: »Posing.« »Wer?« »Hier spricht Miß Posing.« »Warum melden Sie sich einfach mit diesem Namen am Telefon? Erwarten Sie wirklich, daß ich glaube, irgend jemand habe einen solchen Namen?« »Wer ist da?« »Das haben Sie mich schon beim vorletzten Anruf gefragt. Oder möchten Sie wissen, ob ich Sie erkannt habe?« Mrs. Shillingsworth schaute zu ihm herüber. Er hatte nicht gemerkt, mit welcher Lautstärke er gesprochen hatte, auch 134
wenn seine Stimme die einzige gewesen war, die er in dem überfüllten Raum wahrgenommen hatte. Panik steig in ihm auf bei der Gewißheit, daß hinter allen Personen, mit denen er am Telefon gesprochen hatte, ein und dieselbe Stimme gesteckt hatte, nicht nur heute abend, sondern schon früher – er mochte lieber gar nicht darüber nachdenken, wie lange das schon so ging. »Jedenfalls trotzdem vielen Dank!« rief er laut, um Mrs. Shillingsworth zu zeigen, daß alles in Ordnung war, und um gleichzeitig den Chor ringsum zu übertönen, der litaneiartig begonnen hatte zu singen: »Ich spreche …« Die einzige, die er hören wollte, die er unbedingt hören mußte, war Stefs Stimme. Aber jetzt konnte er sich nicht mehr an ihre Nummer erinnern. Er starrte auf den flackernden Balken aus schwarzer Tinte und blätterte an einer Ecke des Telefonbuchs die Seiten auf, bis er die Nummer gefunden hatte. Dabei sah er, daß sie sich auf gleicher Höhe befand wie der dicke Tintenstrich. Er ließ die aufgeblätterten Seiten zurückfallen, so daß er wieder die ihm zugeteilte vor sich hatte, legte sich ein Formular zurecht und hielt seinen Stift bereit, während er wählte, damit Mrs. Shillingsworth nicht merkte, daß es ein privates Gespräch war. Kaum hatte er die letzte Ziffer gewählt, sagte die bisher deutlichste Stimme: »S und V Studios.« »Stef?« »Einen Moment.« Die Stimme schien sich in Spekes Schädel zurückzuziehen. »Vanessa, ist Stefanie noch hier?« »Gerade weg.« »Gerade weg, wie ich höre. Gibt’s was auszurichten?« »Ist bereits geschehen«, sagte Speke und grinste krampfhaft. »Bitte?« »Sie vergessen, Ihre Stimme zu verstellen.« Speke legte den Hörer auf und überzeugte sich, daß die Leitung wirklich unterbrochen war. »Ich rede«, tönte eine Stimme, dann fiel eine andere ein. Sämtliche Bildschirme um ihn herum schienen rhythmisch im Takt des pulsierenden schwarzen Tintenstrichs 135
auf der Seite vor ihm zu flackern. Er schob so heftig seinen Stuhl zurück, daß er gegen den nächsten Tisch stieß und war aufgestanden, ehe Mrs. Shillingsworth zu ihm herüberschaute. Wahrscheinlich hätte er kein Wort herausgebracht, deshalb bedeutete er nur mit einem Handzeichen, daß er zur Toilette ginge. Sobald die Tür des langgestreckten Raums sich hinter ihm schloß, rannte er aus dem Gebäude und lief zu seinem Wagen. Er fuhr so schnell nach Hause, daß die Gestalten auf den Bürgersteigen miteinander zu verschmelzen schienen wie die einzelnen Bildaufnahmen bei einem Film. Nachdem er so dicht wie möglich am Eingang geparkt hatte, sprintete er die wenigen Meter, während sein Schatten ihm vorausrannte. Welche Nummer er eintippte, merkte er gar nicht, aber die Tür öffnete sich. Der Lift hielt in jedem Stockwerk, und er wünschte, er hätte daran gedacht mitzuzählen, denn als er aus dem Kasten torkelte, schienen ihm die Wohnungsnummern im Flur viel zu hoch. Rasch sprang er zurück und drückte den Knopf zu seinem Stockwerk, ehe die Türen sich schließen konnten, aber sie öffneten sich prompt wieder, er war doch im richtigen. Er taumelte in den Korridor und schloß seine Wohnung auf. Die Tür fiel hinter ihm zu. Im Dunkeln hastete er blindlings zur Bar, als es läutete. Er kehrte eilig um und prallte gegen die Tür. »Ja?« brüllte er. »Ich bin’s.« Speke schaute durch den Spion. Draußen stand eine Puppe, auf deren geschwollenen Kopf man Stefs Gesicht geklebt hatte. »Hast du keinen Schlüssel?« »Ich hab’ die Hände voll! Hast du unterwegs nicht meine Blinkzeichen gesehen? Ich bin wer weiß wie lange direkt hinter dir gewesen.« »Ich hab’s manchmal im Spiegel flackern sehen«, glaubte Speke sich zu erinnern. »Das war ich. Also, machst du nun auf, oder willst du mein 136
Gesicht nicht sehen?« »Komische Frage.« Speke merkte, daß er vor dem Gedanken zurückschreckte, die Puppe mit ihrem Gesicht auf diesem überdimensionalen, knollenförmigen Kopf würde hereinkommen. Aber da hatte er schon die Hand ausgestreckt und schob den Riegel zurück, und Stef, die Arme voller Einkaufstüten, zeichnete sich vor der leeren Wand des Korridors ab. Er nahm ihre Tüten, stellte sie in die Küche und flüchtete zur Bar. »Drink«, hörte er seine Stimme sagen und trank einen Schluck aus der nächstbesten Flasche, ehe er das Licht einschaltete und rief: »Einen Drink?« Sie kam nicht. Er folgte ihr in die Küche, da erst im Flur und dann dort das Licht angeknipst worden war. »Iß vorher etwas«, sagte sie und nahm das Glas, das er ihr reichte. »Die Mikrowelle ist gleich fertig.« Der Blick auf den Schirm der Mikrowelle, hinter dem sich ein Plastikbehälter wie irgendeine neuartige Schallplatte drehte, jagte ihn zurück zur Bar. Dort stand er immer noch, als Stef das Deckenlicht im Zimmer einschaltete und den Servierwagen hereinschob. »Roger, was …« Hastig unterbrach er sie, damit sie nicht sagen konnte, irgendwas stimme nicht. »Wer heißt bei euch Lesley?« »Leslie ist einer der Toningenieure. Ich habe ihn doch manchmal schon erwähnt.« »Ton, ach so, und das ist alles?« Seine Stimme hob sich. »Was ist mit Vanessa?« »Roger …« »Nicht Roger, Vanessa.« Stef verteilte das vegetarische Nudelgericht auf die Teller und schaute ihn wortlos an, bis er seinen nahm. »Du hast mir gesagt, es gebe keinen solchen Namen, bis irgendein Autor ihn erfunden hat.« »Jetzt gibt es ihn.« »Dort, wo ich arbeite, nicht.« 137
Die Stimme schien Speke im Stich gelassen zu haben. Mit beifälligen Lauten kaute er und suchte verwirrt nach Worten. Bis Stef die Eiscreme brachte, hatte er schon reichlich der zweiten Flasche Wein zugesprochen und bereits vergessen, was er versucht hatte zu begreifen. Ja, es erschien ihm inzwischen ganz unwichtig. Tatsächlich konnte er gar nicht verstehen, warum sie ihn so besorgt anschaute. Rundum zufrieden war er schließlich ins Bett gegangen, als ein Gedanke in seinem Kopf aufblitzte. »Stef?« »Ich schlafe schon.« »Natürlich schläfst du nicht«, sagte er und richtete sich auf, um sie anzuschauen. »Du hast gesagt, wir wären uns einig gewesen. Wer? Wer ist wir?« Ohne die Augen zu öffnen, fragte Stef: »Wovon redest du, Roger?« »Von uns doch wohl, oder nicht?« Er mußte sich abwenden. Vielleicht lag es an dem flackernden Dämmerlicht, aber ihr Gesicht erschien ihm fast so flach wie das Kopfkissen. Er schloß die Augen. Vermutlich ließ das Flackern nach, wenn er endlich einschlief. Hatte das Telefon geläutet? Er erwachte und glaubte, sich deutlich an dieses grelle Geräusch zu erinnern, das in seinem Schädel widerhallte. Er war allein im Bett, und das Licht war nicht mehr das Licht des frühen Morgens. Als die Klingel erneut schrillte, schob er das Laken weg und tappte den Flur entlang zur Gegensprechanlage an der Wohnungstür. »Spmm?« »Wir bringen Ihr Videophon, Chef.« Sofort setzte das Flackern wieder ein. Speke rannte ins Wohnzimmer, riß das Fenster auf und spähte hinaus. Fünfzehn Stockwerke weiter unten luden zwei Haarbüschel mit Armen und Beinen Kartons aus einem Lieferwagen. Sie verschwanden im Eingang, und kurz darauf läutete es erneut. Speke sprintete zur Sprechanlage. »Ich kann Sie jetzt nicht gebrauchen. Gehen 138
Sie weg.« »Sie haben uns um diese Zeit bestellt, so steht es hier auf dem Formular«, sagte die verzerrte Stimme. »Wann sollen wir sonst kommen?« »Nie. Ihr Auftrag könnte ohne weiteres gefälscht sein. Mit Ton und Bild kann man alles machen«, protestierte Speke, ehe er überhaupt merkte, was er da sagte. Er eilte wieder zum offenen Fenster und wartete, bis die Haarschöpfe zum Lieferwagen zurückkehrten, dann schnappte er sich ein paar Kleidungsstücke, streifte sie über und hörte nur noch, wie die Tür hinter ihm zufiel. Wegen des Flackerns konnte er nicht fahren. Die Stockwerke des Hochhauses waren wie Einzelbilder eines steckengebliebenen Films gewesen, und jetzt ähnelten die Gestalten, denen er auf dem Bürgersteig begegnete, Bildern aus einem Film, der langsam, Aufnahme für Aufnahme, abgespult wurde. Der Film mit den Autos auf der Fahrbahn lief schneller. Die Straße, auf der er ging, verzweigte sich und führte ihn zu einer perspektivisch kleiner werdenden Reihe von Lagerhäusern. An einer ansonsten leeren Wand entdeckte er ein Metallschild und entzifferte im Näherkommen die in weißem Licht erstrahlende Inschrift S & V STUDIOS. Mit seinem ganzen Gewicht lehnte er sich gegen die farblose Tür, die im Vergleich mit der dicken Wand zerbrechlich wirkte, und stolperte in einen Raum, der aus vier einfarbigen Gesichtern bestand, die genauso groß waren wie die indirekt beleuchtete Zimmerdecke. An einem breiten Tisch saß eine junge Frau mit dem Rücken zu einem der flachen Gesichter, dem Porträt irgendeines Schauspielers. »Kann ich Ihnen helfen?« »Vanessa?« fragte Speke zerstreut und überlegte, welche Namen zu den Gesichtern gehörten. »Ja?« sagte sie wie ertappt. »Wer sind Sie?« »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie das nicht wüßten.« »Ich habe erst heute morgen hier angefangen.« Sie schob ihm 139
ein Besucherbuch zu. »Wenn Sie mir bitte …« Speke rannte bereits an ihrem Tisch vorbei den Korridor entlang. Hinter großen gläsernen Scheiben zu beiden Seiten befanden sich Tonstudios oder Räume voller Bildschirme, auf denen es fast ebensosehr flackerte wie vor seinen Augen, und dann sah er einen Raum, in dem sich Studenten drängten, deren Gesichter unausgereift wirkten. Sogar Stefs Gesicht wirkte so. Sie hielt ihnen irgendeinen Vortrag, obwohl Speke ihre Stimme nicht hören konnte, bis er die schwere Tür aufstieß. Mitten im Wort brach sie ab, aber er hatte gemerkt, wie fremd ihre Stimme klang. »Du hast gesagt, wir wären uns einig gewesen – ich soll versuchen, sie aus meinem Gedächtnis zu streichen!« rief er. »Wer! Wer ist wir?« »Nicht hier, Roger. Nicht jetzt.« Speke schloß die Augen, um die flackernden Gesichter nicht mehr sehen zu müssen. »Wer redet da? Was glaubst du, wie du klingst?« »Tut mir leid, Leute. Bitte, entschuldigt. Er ist …« Er wußte nicht, welche Geste Stef dabei machte, als sie nicht weitersprach, und er wollte es auch nicht sehen. »Lüg mich nicht an!« rief er. »Versuch nicht, mich so einfach abzuspeisen. Ich habe Vanessa gesehen. Ich gehe nicht eher, bis du mir Lesley zeigst.« Ohne Vorwarnung wurde er rückwärts aus dem Raum geschoben, und die Tür fiel ins Schloß. »Roger«, sagte Stefs flache Stimme. »Komm wieder zu dir. Lesley und Vanessa sind … Es war nicht deine Schuld, du mußt dir nicht dauernd die Schuld geben, aber sie sind tot.« Ihre Stimme schien von irgendwo weit her durch das Flakkern zu ihm zu dringen. »Wer sagt das?« hörte er sich mit einer Stimme fragen, die ebensoweit entfernt schien. »Du. Du hast es mir erzählt, und du hast es dem Arzt erzählt. Es hatte nichts mit dir zu tun, erinnere dich doch. Es passierte, nachdem du Schluß gemacht hattest.« 140
»Ich habe Schluß gemacht?« wiederholte Speke in einem Tonfall, der völlig leblos klang. »Nein, ich nicht. Du vielleicht. Oder sie.« »Roger, nicht …« Er wußte nicht, wer es war, der versuchte, Stefs Stimme zu imitieren, aber sie rief ihn auch nicht zurück. Sie schrumpfte hinter ihm zusammen wie das Bild auf einem Monitor, der abgeschaltet worden war, genauso wie ihr Gesicht vermutlich gerade schrumpfte. Schnell floh er hinaus zwischen die Lagerhäuser, die wenigstens solide genug erschienen, um sich nicht ebenfalls plötzlich zu verwandeln. Doch war nicht alles ein Geisterbild, das er erst empfing, wenn es schon gar nicht mehr existierte? Galt das nicht gleichermaßen für ihn selbst? Mit dieser Vorstellung wollte er nicht allein sein, vor allem nicht, da die Echos seiner Schritte so klangen, als würden sie sich gleich in eine Stimme verwandeln. Hastig rannte er in Richtung der belebten Einkaufsstraßen. Das war ein Fehler. Aus der Entfernung schienen die Gesichter, die ihm entgegenkamen, jegliche Form annehmen zu können; aus der Nähe gesehen waren sie dann aber ganz flach – aufgeklebte Bilder von Gesichtern, die durch irgendeinen komplizierten Trick, den er einfach nicht durchschauen konnte, so manipuliert wurden, daß es schien, als liefen sie hintereinander oder kreuz und quer durcheinander. Das Gewirr aus Wortfetzen und unverständlichen Lauten klang wie eine einzige Stimme, die durch einen technischen Effekt ständig abgewandelt wurde, damit der Eindruck entstand, es seien viele verschiedene, und soweit er hören konnte, skandierten sie in einer bestürzenden Vielfalt unzusammenhängender Rhythmen: »Memm, Rmm, wmm, rmm …« Er hielt sich die Ohren zu. Die Gesichter schwollen an und umdrängten ihn, egal wohin er sich auch wandte. Zwischen zwei Bekleidungsgeschäften sah er eine Gasse und kämpfte sich dorthin durch, wobei er gegen Hindernisse rempelte und spürte, daß sie weit weniger körper141
lich waren, als sie zu erscheinen versuchten. Im Schutz der Mauern erklangen die Stimmen etwas gedämpfter; er ließ die Hände sinken und sah, daß die Gasse zu einer Bar führte. Es gab nichts Realeres als diese Bar – sie war so real, daß er fast den Alkohol zu riechen glaubte. Daheim hatte er reichlich Getränke, aber der Gedanke, dort, im fünfzehnten Stock neben dem offenen Fenster, zu trinken, vergrößerte nur seine Panik. Ein paar Drinks sollten genügen, alles wieder zurechtzurücken, und dann konnte er vielleicht nach Hause gehen. Er huschte auf Zehenspitzen durch das Gäßchen, so daß seine Schritte kein Echo erzeugten, das ihm folgen konnte, und betrat die Bar. Einen Moment lang glaubte er, es sei noch geschlossen. Eine einsame Leuchtröhre hing über der Theke am anderen Ende des langgestreckten Raums, der ansonsten im Dämmerlicht lag, und niemand saß an dem kleinen runden Tischchen. Als Speke die Tür hinter sich schloß, erschien allerdings eine Gestalt aus dem Gang hinter dem Tresen. In Spekes Ohren begann es im Takt des Flackerns zu pochen, während er sich innerlich darauf vorbereitete, das zu hören, was er zu hören fürchtete. Wenn schon, Hauptsache, er bekam seinen Drink. Er ging weiter; der andere kam ihm entgegen und sagte: »Hier gibt’s bloß Memm«, und dann: »Bloß mich.« Keiner von ihnen bemühte sich jetzt noch, seine Stimme zu verstellen oder sie auch nur menschlich klingen zu lassen. Als die Gestalt näher kam und das Licht auf ihr Gesicht fiel, dachte Speke daran, daß hinter jeder Bar ein Spiegel war, und ganz plötzlich hatte er Angst, seinen Mund zu öffnen.
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KARL EDWARD WAGNER
Tote sind das einzig Wahre Ryan Chase ging zur Mittagszeit die Southampton Row entlang und freute sich auf ein kühles Pils. Glücklicherweise gab es hier jede Menge Pubs. Er bog auf den Cosmo Place ein, der hinter dem Bloomsbury Park Hotel und an der Kirche von St. George the Martyr vorbei zum Queen Square führte. Es war ein ungewöhnlich sonniger Septembertag, deshalb beschloß er, nicht in der Bar unten an der Ecke einzukehren, sondern sich vor The Swan oder The Queen’s Larder einen Tisch im Freien zu suchen. Da beim Swan fast alle Plätze besetzt waren, schlenderte er einige Meter weiter zu The Queen’s Larder, holte sich ein Pils und ließ sich draußen an einem der Holztische nieder. Ryan Chase war von Geburt Amerikaner und obendrein erklärter Kosmopolit. Genauer gesagt trieb er sich rund die Hälfte jedes Jahres in den mehr oder weniger zivilisierten Gegenden der Welt herum – wobei er vorzugsweise in Hotels abstieg, denn primitive Lebensumstände waren nicht gerade sein Geschmack. Einen Monat oder zwei verbrachte er meist in London, da er dort Freunde hatte und die Möglichkeit, ein Studio zu benutzen. Das restliche Jahr bestand aus langen Arbeitsperioden in seinem Studio in Connecticut, wo er seltsam bezwingende Porträts malte, oft aus der Erinnerung an Menschen heraus, denen er auf seinen Reisen begegnet war. Diese Bilder erzielten erstaunlich hohe Preise in exklusiven Galerien – was ihm seine Reisen und seine exzentrischen Gewohnheiten ohne weiteres ermöglicht hätte auch ohne den festen Betrag, der ihm aus dem Familienvermögen zustand und den sein Vater ihm monatlich auszahlte, obwohl er eigentlich verlangt hatte, daß er Jura studieren und als Anwalt in sein Unternehmen eintreten 143
solle. Chase war mit den meisten seiner Arbeiten zufrieden und empfand doch gleichzeitig alle als einen eher unzulänglichen Kompromiß zwischen dem, was er gegenwärtig leisten konnte und dem, was er letztlich tatsächlich ausdrücken wollte. Eines Tages, so hoffte er, würde es ihm gelingen, seine Visionen zu verwirklichen. Er betrachtete sich selbst als echten DekadenzMenschen, den es in ein fin de siécle verschlagen hatte, das weit trostloser war als die dekadente Zeit des letzten Jahrhunderts. Aber dekadent zu sein hieß ja auch, romantisch zu sein. Daneben verfügte er allerdings über einen gesunden Pragmatismus und konnte ein Glas Pils im heutigen Bloomsbury genießen, ohne wehmütig von einem Glas Absinth im Paris der Belle Époque zu träumen. Das Bier war ausgezeichnet, das Wetter wunderbar, und Chase kramte zufrieden ein paar Postkarten aus seiner Jackentasche. Bis er sein zweites Bier getrunken hatte, waren alle mit Grüßen und Adressen beschrieben. Er überlegte gerade, ob er sich ein drittes Glas und vielleicht einen kleinen Imbiß genehmigen sollte, als sich ihm jemand näherte. Die süßliche Alkoholfahne und der muffige Geruch alter Lumpen war unverkennbar. Automatisch griff Chase nach einer Münze. »Ich will Sie nicht beim Schreiben stören, Chef, aber hätten Sie nicht ein bißchen Kleingeld übrig für einen armen Kerl, der dringend was zwischen die Zähne braucht?« Ryan Chase sah nicht wie ein Tourist aus, allerdings auch nicht wie ein Brite. Er war etwas über vierzig, um die 1 Meter 80 groß, wurde zu seinem Leidwesen allmählich ein wenig rundlich um die Taille, aber dafür zeigte sich noch kein Grau in seinem gepflegten schwarzen Bart, und er war stolz auf sein dichtes Haar, das er zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Seine mit zahllosen Nieten und Reißverschlüssen bestückte schwarze Lederjacke stammte vom Kensington Market, die Hosen von Bloomingdale, sein T-Shirt vom Rodeo 144
Drive und seine Tennisschuhe von einem Flohmarkt in Stamford. Die sanften blauen Augen verbarg er hinter einer getönten Pilotenbrille aus Armeebeständen. Dank dieser Erscheinung und seiner Vorliebe, vor einem Pub im Freien zu sitzen und Postkarten zu schreiben oder Skizzen zu entwerfen, war Chase in London häufig das Opfer von Schnorrern und Drogensüchtigen, die immer zahlreicher zu werden schienen. Deshalb hatte er stets etliche Münzen in seinen Taschen, denn er war erstens ein recht gutherziger Mensch, und zweitens prägte er sich gern Gesichter ein, die in die Abgründe der Hölle geblickt hatten. Aber als Chase aufschaute, sah er, daß dieser Penner schon in der Hölle selbst gewesen war, und er ließ die Münze in der Tasche. Diesen Mann hatte der Suff fest in seinen bösen Krallen. Schuhe und Kleidung waren abgerissen und löchrig, und der schmutzige Regenmantel zeigte, daß er offenbar häufiger im Freien geschlafen hatte. Weiße Asche rieselte von seinen Lumpen herunter wie der Putz von einem zerfallenen Gemäuer, und der hochgewachsene Körper darunter schien nur noch ein hageres Skelett. Die langen Finger der Hand, die er hoffnungsvoll ausstreckte, hatten schmutzverkrustete Nägel, die abgebrochenen Krallen ähnelten; Asche und Ruß klebten in seinem ungepflegten Bart und dem zottigen, von Grau durchzogenem Haar, das schwarz oder braun sein mochte. Bei seinem Gesicht mußte Chase an Sax Rohmers Beschreibung von Fu Manchu denken: das Antlitz wie Shakespeare und Augen wie Satan. Allerdings erinnerten sie mehr an den gefallenen Engel Luzifer. Es waren grüne Augen mit einem bernsteinfarbenen Schimmer, in denen Hochmut und Verzweiflung, Stolz und Intelligenz flackerten, die selbst der Alkohol nicht hatte zerstören können. Unter der jammervollen Hoffnungslosigkeit schwelte noch immer eine spürbare Wut. Ryan Chase kannte sich aus mit menschlichen Gesichtern, und er wußte, daß dieser Mann jeden Pfennig, den er hier 145
erbettelte, gleich in neuen Fusel umsetzen würde. Impulsiv wie es seine Art war, stand er auf. »Warten Sie einen Moment. Ich spendiere Ihnen was.« Als Chase mit einem Bier und einem Glas Apfelwein aus dem Pub zurückkam, umschlich der Penner die Kirche von St. George the Martyr und schien die Informationstafel an der Stuckwand zu betrachten. Chase reichte ihm den Apfelwein. »Hier, das ist besser für Sie als Schnaps.« Der Mann zitterte ziemlich stark, aber er hielt das Glas mit beiden Händen umfaßt, beugte sich darüber und trank gierig ein wenig, bis er es anheben konnte. Er hatte es bereits geleert, ehe Chase auch nur den ersten Schluck genommen hatte. An die Kirchenwand gelehnt, wischte er sich den Bart ab. Ein Schauder überlief ihn, aber das Zittern seiner Hände hatte aufgehört, sobald sich der Alkohol in seinem Körper ausbreitete. »Danke, Chef. Ich mache mich jetzt besser auf die Socken, ehe mich jemand bemerkt. Man sieht es nicht gern, daß ich hier herumhänge.« Seine Aussprache war gut, wenn auch durch den Alkohol ein wenig verwaschen, weshalb Chase nicht genau einordnen konnte, woher er stammte. Nachdem er ebenfalls sein Glas ausgetrunken hatte, musterte er das Gesicht dieses Mannes und spürte, daß ihn irgendeine tragische Geschichte umgab. Großzügig und womöglich etwas leichtsinnig geworden durch das ungewohnt rasche Trinken, erklärte er: »Mein Geld nehmen sie hier ganz gern. Setzen Sie sich an den Ecktisch da drüben, und ich hole uns noch was.« Chase kaufte diesmal auch einige Päckchen Chips, und als er wieder nach draußen kam, wartete der Mann tatsächlich auf ihn. Er hatte sich bei irgendwem eine Zigarette erbettelt und schaute ihm mißtrauisch und etwas unsicher entgegen. Gierig griff er nach dem Apfelwein, lehnte aber die Chips ab. Nachdem er sein Glas geleert hatte, wirkte er ein wenig lebendiger. 146
»Wohl bekomm’s, Kumpel«, sagte er. »Wirklich freundlich von dir. Es ist mir nicht immer so mies gegangen, weißt du.« »Essen Sie ein paar Chips, und ich spendiere Ihnen noch einen.« Unnötig, daß Sie dafür als Gegenleistung eine gute Story zum besten geben, hätte Chase beinahe hinzugefügt, aber er spürte unter diesem heruntergekommenen Äußeren noch einen Rest von Stolz und wollte seinen Gast nicht beleidigen. Obwohl er sein Glas kaum angerührt hatte, ging er ins Lokal, um Nachschub zu holen. Wenigstens waren in Apfelwein neben dem Alkohol auch einige Nährstoffe, zumindest glaubte er das. Es half dem Burschen vielleicht über den heutigen Tag. Diesmal ließ sein Gast sich Zeit zum Trinken. Sein Zittern war vorübergehend verschwunden, und er hatte die Haltung eines geprügelten Hundes verloren. Mit einem Anflug von Würde erklärte er: »O ja, Kumpel, früher war ich mal ganz oben. Dann habe ich alles bis aufs letzte Hemd verloren. Und jetzt ist es so weit mit mir gekommen.« Offensichtlich war dies seine bewährte Masche, um ein paar weitere Gläser herauszuschinden, aber Chase war Maler, kein Schriftsteller, daher interessierte ihn die Lebensgeschichte des Mannes weniger als sein Gesicht, und seit dieses Gesicht wieder etwas lebendiger zu werden begann, hatte er immer stärker den Eindruck, daß es ihm irgendwie bekannt vorkam. Er öffnete die zweite Tüte Chips. »Und?« »Ich bin Nemo Skagg. Oder war es wenigstens. Mal von mir gehört?« Chase wollte schon erwidern: »Klar, und ich bin Elvis.« Doch als er mit seinem geschulten Blick die verwitterten Züge betrachtete, erkannte er verblüfft, daß es die Wahrheit war und flüsterte nur: »Jesus Christus!« Nemo Skagg. Gründer und treibende Kraft von Needle – wahrscheinlich der einflußreichsten und wichtigsten Kultbande in den Anfangsjahren der Punkrock-Bewegung. Die Gruppe existierte immer noch, doch ohne Nemo Skagg war sie bei 147
weitem nicht mehr so erfolgreich wie früher und nur ein blasser Abklatsch des Originals. Rolling Stone und ähnliche Blätter schrieben damals ausführlich und mit allen skandalösen Einzelheiten über Skaggs rasanten Zusammenbruch, aber das war Jahre her, und heute kannte sicher kaum noch jemand auch nur den Namen. Den Namen einer lebenden Legende, die längst tot war. »Das letzte, was ich über Sie gelesen habe, war, daß Sie wie ein Einsiedler irgendwo in Kensington lebten«, sagte Chase. »Sie glauben mir nicht?« Eine Mischung aus Trotz und Stolz lag in diesem verwunderten Blick. »Doch, schon.« Chase hatte das Gefühl, als müsse er sich entschuldigen. »Ich erkenne Ihr Gesicht.« Er wischte sich seine Hände an den Hosen ab und suchte nach einer passenden Antwort. »Zufälligerweise habe ich noch die frühen Platten von Needle und auch das Soloalbum, das Sie gemacht haben.« »Aber hören Sie sich die Sachen noch an?« Chase empfand zunehmend stärkeres Unbehagen; trotzdem war er viel zu fasziniert, um sich einfach zu verabschieden. »Na, ich glaube, das ist eine neue Runde wert.« Der Kellner musterte sie allmählich mit unverhohlener Mißbilligung, wenn er draußen die Gläser einsammelte. Nemo Skagg deutete in Richtung der Great Ormand Street. »Da drüben in The Sun gibt’s auch anständigen Apfelwein«, meinte er. Es waren nur wenige Schritte, aber Chase nutzte die Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Nemo Skagg. Der strahlendste Komet der ganzen Szene. Der schrillste, geschmackloseste und progressivste Punkrocker. Der Retter der Welt vor dem öden Discogedudel und den lahmen Nachzüglern der sechziger Jahre. Ein absoluter Punk-Star im großen Stil mit einem einschlägigen Drum und Dran: Parties, Randale auf der Bühne, Drogen, Skandale, Verhaftungen, Krankenhausaufenthalte. Am Ende hörte man nur noch von ihm, wenn er mal wieder im Knast oder in einer Klinik gelandet war – dann hatte die Presse 148
nicht einmal mehr für das Interesse. Ein Jahrzehnt später war Nemo Skagg für die Welt vergessen. Chase hatte angenommen, er sei tot, aber bei rechter Überlegung konnte er sich tatsächlich an keine entsprechende Meldung erinnern. Doch selbst seinen Tod hätte vielleicht nicht mal jemand bemerkt. The Sun war wie üblich voller Studenten. Chase drängte sich an ihnen vorbei zur hufeisenförmigen Bar und balancierte zwei Krüge mit Apfelwein nach draußen. Nemo hatte einen Platz an der Hauswand gefunden und sich eine weitere Kippe geschnorrt. An die Wand des Pubs gelehnt, blinzelte er in den sonnigen Septembertag und betrachtete die Passanten. Chase trank selten Apfelwein, und nach dem Bier wirkte das Gebräu doppelt stark. Er merkte, daß er bereits leicht benebelt war. »Tatsächlich waren es drei Soloalben«, sagte Nemo. »Das hatte ich vergessen.« »Sie waren alle Scheiße.« »Ich weiß gar nicht mehr, ob ich die anderen zwei je gehört habe.« »Ich bin Scheiße. Wir alle sind Scheiße.« »Die ganze Welt ist Scheiße«, ergänzte Chase gutmütig. »Auf die ganze Scheiße!« Nemo hob seinen Krug. Sie stießen unsicher miteinander an. Nemo trank in einem Zug aus. »Du bist ein anständiger Kerl, Kumpel. Du hast immer noch nicht gefragt, was du die ganze Zeit fragen möchtest: Wie ist das alles gekommen?« »Na ja, ich glaube nicht, daß es irgendeine Rolle spielt, oder?« Nemo widersprach nicht. »Borg mir ‘nen Fünfer, und ich zahle diese Runde. Dann wird Nemo Skagg dir alles erzählen.« Im White Hart in der Drury Lane hatte Chase einmal einem Rentner, der mit einem wüsten Cockney-Akzent von seinen Abenteuern während des Rückzugs aus Dünkirchen schwadroniert hatte, acht große Guinness spendiert. Chase hatte kaum jedes zehnte Wort verstanden, aber sich unterdessen das Ge149
sicht eingeprägt, und dieses Porträt galt als eine seiner hervorragendsten Arbeiten. Bereitwillig kramte er einen Fünfer hervor. Das Personal in The Sun war tolerant genug, um Nemo zu bedienen, der kurz darauf mit zwei Gläsern und einem Päckchen Zigaretten zurückkam. Dafür konnte das Geld kaum gereicht haben, also war er nicht völlig blank gewesen. Seine Miene hellte sich auf, als er hörte, daß Chase nicht rauche, und er zündete sich eine an. Chase stellte sein leeres Glas auf den Fenstersims, lehnte sich gegen die Wand und seufzte zufrieden. Es war ein gutes Gefühl, hier so gemütlich zu sitzen. »Dann los, Kumpel. Frag nur. Hast ja schließlich was dafür berappt.« Chase nahm sich fest vor, daß dieses Glas sein letztes sein würde. »Na gut, was ist also mit Nemo Skagg passiert? Zuletzt hörte ich, daß er noch ein paar Millionen und ein Haus in Kensington hätte, aus dem der Lärm wilder Orgien durch die Nacht dröhnte.« »Da hast du’s genau richtig erfaßt, Kumpel. Sex, Drogen und Alkohol – das war’s, was mich in den Ruin getrieben hat. Gar nicht zu reden von sogenannten Managern, die allesamt miese Gauner waren, und den betrügerischen Plattenfirmen. Tja, das war die ganze Scheißgeschichte.« »Nicht sehr originell.« Chase überlegte, ob er rasch austrinken sollte. »Das Leben ist nie originell«, meinte Nemo. Dank der richtigen Menge an Alkohol und Nikotin hatte sich sein ganzes Verhalten deutlich verändert. Ohne den Dreck und die schäbigen Klamotten hätte man leicht glauben können, einen Mann in den Sechzigern vor sich zu haben, der ein ausschweifendes Leben geführt hatte. In Wirklichkeit konnte er jedoch höchstens halb so alt sein. Auf alle Fälle war er aufgeweckt genug, um Charles Freigiebigkeit nicht übermäßig zu strapazieren und ihn weiter anzuschnorren. 150
»Natürlich ist das nicht der wahre Grund.« »War es eine Frau?« fragte Chase, den der Apfelwein langsam gefühlsduselig machte. »Welche Frau hätte das zuwege bringen können? Komm, trink aus, Kumpel. Spendier uns die Fahrt mit der U-Bahn zur Ken High Street, und ich zeig dir, was Sache ist.« An diesem Punkt hätte Ryan Chase sein noch halbvolles Glas hinstellen, sich entschuldigen und in sein Hotel zurückkehren sollen. Statt dessen trank er aus, stolperte mit diesem eindeutig verrückten Nemo Skagg zur U-Bahn-Station Holborn und stieg in einen Zug. Irgendwie hatte ihn die Abenteuerlust gepackt, und er redete sich ein, er sei auf einer Art Suche – einer Suche nach Wahrheit, nach der Wahrheit hinter den Masken, die jeder Mensch trug. Die U-Bahn schoß schwankend durch die unterirdische Dunkelheit und hielt ruckend an überfüllten Bahnsteigen. Chase hatte sich auf einen Sitz fallen lassen, um nicht herumgestoßen zu werden. Ihm erschien alles so unwirklich wie eine Fahrt mit der Geisterbahn. Passagiere eilten hinaus und schwärmten in dichten Trauben herein, lauter Menschen, die ins Nirgendwo schauten; vorbeifahrende Züge beleuchteten blitzartig die engen, rußigen Tunnelwände; an den Mauern der Bahnsteige hingen grellbunte Poster. Nemos Gesicht grinste ihm entgegen. Er umklammerte einen Haltegriff. »Alles klar, Kumpel?« »Muß pinkeln.« »Mich drückt’s auch ganz schön. Beim nächsten Halt.« Also stiegen sie in Notting Hill Gate aus, statt den Zug zur High Street Kensington zu nehmen, was ganz gut war, weil sie zu Fuß die Kensington Church Street entlanggehen konnten, die wunderbarerweise nur bergab führte in Richtung Kensington High Street. Der Spaziergang und die frische Luft weckten nach diesem klaustrophobischen Erlebnis Chases Lebensgeister, und noch besser fühlte er sich, nachdem er seine Blase 151
erleichtert hatte. Immer wieder blieb er vor einem der zahlreichen Antiquitätenläden stehen, an denen sie vorbeikamen. Schauderhafte viktorianische Scheußlichkeiten und barocke Greuel lauerten dort hinter den Scheiben, aber auch ein paar Gemälde erspähte er im Halbdunkel. Chase war mehrmals in Versuchung hineinzugehen. Nemo zerrte ihn allerdings jedesmal weiter. »Du willst dir doch nicht solchen Mist ansehen, Kumpel. Das ist alles bloß eine Menge toter Scheiße. Trinken wir erst ein Glas.« Mittlerweile hatte Chase sich damit abgefunden, eine ausgewachsene Zechtour zu finanzieren. Sie kehrten im Catherine Wheel ein, und Chase holte Krüge mit Lagerbier, während Nemo Skagg eine Bank an der Ecke in Beschlag nahm. Von dort aus beobachteten sie die vorbeiziehende Menge auf der Kensington Church Street. Aus dem Pub duftete es nach Curry und Chili, und Chase überlegte, wie er dieser ganzen Sache am besten ein Ende machen könne. Zumindest sollte er mal etwas essen. »Ich glaube nicht, daß du mir deinen Namen gesagt hast.« Nemo Skagg wurde immer lebhafter, was einen noch bestürzenderen Kontrast zu seiner erbärmlichen äußeren Erscheinung bewirkte. »Ich heiße Ryan Chase.« Chase, der zunehmend stärker den Alkohol spürte, sah in dem verkommenen Rockstar nicht mehr länger ein Objekt des Mitleids, sondern einen verwundeten Helden, der ein Leben auf vollen Touren geführt und es restlos ausgekostet hatte. »Nett, dich kennenzulernen, Ryan.« Nemo Skagg streckte seine Klauenhand aus. »Woher aus den Staaten kommst du?« »Ich lebe in Connecticut. Dort habe ich ein Studio.« »Ich dachte mir, daß du Künstler bist. Und eindeutig keiner von der Sorte, der hungernd in einer Mansarde dahinvegetiert. Was machst du?« »Meistens Porträts. Arbeiten für Galerien. Läuft ganz gut.« 152
Chase bemerkte das leere Glas des anderen. Seufzend stand er auf, um Abhilfe zu schaffen. Als er zurückkam, sagte er mit demonstrativer Entschlossenheit: »So, da sind wir nun in Kensington. Und jetzt?« »Du bist also wirklich ein Fan?« Das Bier hatte Chase in eine sentimentale Stimmung versetzt. »Needle war der absolute Gipfel des Punkrock«, antwortete er schwärmerisch. »Euer erstes Album, Excessive Bodily Fluids, hat Maßstäbe für eine ganze Generation gesetzt. Euer zweites, The Coppery Taste of Blood, ist und bleibt eines der zehn besten Rockalben, die es je gegeben hat. Wenn ich mal sterbe, kommen diese Scheiben mit mir in die Gruft.« »Im Ernst?« »Also, wir haben tatsächlich eine Familiengruft, und ich habe immer schon daran gedacht, sie mit ein paar hübschen Sachen auszustatten, an denen mir ganz besonders liegt. Wie die alten Ägypter. Ich meine, tot zu sein ist bestimmt langweilig.« »Dann glaubst du an ein Leben danach?« »Das spielt eigentlich keine Rolle, oder? Trotzdem kann es nichts schaden, wenn man auf alles vorbereitet ist.« »Genau. Na ja, ist sowieso alles Scheiße.« Nemo Skaggs Augen waren klarer geworden, und Chase fand seinen Blick jetzt durchdringend und verstörend. Er war froh, als Nemo den Kopf zur Seite wandte und die Passanten betrachtete. Chase rülpste und schaute auf seine Uhr. »Tja, wie gesagt, da sind wir also nun in Kensington.« Er hatte sich auf das nachmittägliche Abenteuer in der Hoffnung eingelassen, Nemo Skagg würde ihm sein früheres Haus hier in der Nähe zeigen, ihn mit Anekdoten über all die Verrücktheiten, die sich dort abgespielt hatten, unterhalten, ihm vielleicht sogar einige seiner ehemaligen Freunde und Kollegen vorstellen. Wie es jetzt schien, würde voraussichtlich einzig und allein ein schlimmer Kater dabei herausspringen. »Genau.« Nemo, der noch um einiges sicherer auf den Bei153
nen war als Chase, stand auf. »Gehen wir. Ich habe gesagt, ich zeig’s dir.« Chase trank sein Bier aus und folgte ihm die Kensington Church Street entlang, vorbei an der Kirche in die Ken High Street, wo sie mit einiger Mühe die Straße überquerten. Auf dem Bürgersteig herrschte jetzt ein lebhaftes Gedrängel. Tätowierte Mädchen staksten auf Stiletto-Absätzen daher und ließen unter schwarzen Lederminiröcken ihre Strumpfbänder blitzen; Touristen in karierter Freizeitkleidung und von Cellulitis geschlagen, schwankten unter der Last ihrer Kameraausrüstungen; junge Burschen in zerschlitzten Jeans mit Ringen in Nasen, Ohren und Lippen trugen chromstrotzende Motorradjacken zur Schau; gelangweilte Angestellte der verschiedenen Läden stapften unbeeindruckt und gleichgültig durch die Gegend. Nemo Skagg steuerte den Haupteingang des Kensington Market an und wandte sich zu Chase um. »Hier ist dein verfluchtes Leben danach.« Chase war eher daran interessiert, ein Klo zu finden, aber er folgte ihm bereitwillig. Ken Market bestand aus rund drei Stockwerken, in denen sich kleine Läden und winzige Stände drängten, wo man alles mögliche kaufen konnte – von Platten und Schmuck über T-Shirts und Tatoos bis hin zu Punkmode und dem einschlägigen Zubehör wie Springerstiefeln und Minikleidern aus Latex. Man konnte sich die Brustwarzen durchstechen lassen, ein neues Paar Handschellen anprobieren oder dermaßen mit Metall bestückte Lederjacken erwerben, daß selbst eine Panzergranate daran abgeprallt wäre. Chase, der sich an das Swinging London der Beatles-Ära erinnerte, bezeichnete Ken Market immer als pervertierte Carnaby Street. »Sag mir noch mal«, rief er Nemo Skagg hinterher, »warum wir hier sind!« »Weil du es wissen wolltest.« Nemo zog ihn mit sich durch die beängstigend engen Gänge und deutete auf die ausgelegten 154
Waren. »Schauen Sie hier, mein lieber Watson.« Mehr als hundert Verkäufer hockten wie lauernde Spinnen in diesem Labyrinth aus winzigen Zellen. Ein Mädchen mit hennafarbenem Haar in schwarzen PVC-Klamotten musterte sie gleichgültig hinter ihrem Tisch voller Accessoires aus nietenbesetztem Leder. Ein Pakistani sortierte stapelweise in Zellophan abgepackte T-Shirts. Eine ausgemergelte Fixerin im Lederharnisch bewachte ihren Vorrat an Schallplatten – die leeren Hüllen hatte sie ausgelegt, die dazugehörigen Scheiben versteckt. Ein alternder Teddyboy ordnete seine Sammlung an Postkarten – von denen so manche aus Zensurgründen nie von der Post befördert werden würde. Zwei Skinheads glotzten ihnen aus dem Zwielicht eines Tatoo-Studios entgegen. NATÜRLICH TUT’S WEH hieß es auf dem Reklameschild über den Eingang. Motorradfahrer in Lederkluft begutachteten massive Gürtel mit dicken Schnallen, auf denen die verschiedenen Markennamen prangten: Vincent, BSA, Triumph, Norton, Ariel, AJS – hier gab’s keine japanischen Schrottmühlen. »Was siehst du?« flüsterte Nemo im Verschwörerton. »Reichlich bizarre Leute, die bizarre Sachen kaufen und verkaufen?« Chase hatte sich immer gewünscht, mal eine Vincent zu besitzen. »Es sind lauter tote Dinge. Selbst die Motorräder.« »Ich verstehe.« »Nein, du verstehst nicht. Folg mir und lerne.« Nemo Skagg blieb vor einer Auslage mit Postern stehen. »Sieh her – James Dean. Jim Morrison. Jimi Hendrix. Alle tot.« Er wandte sich zu einem Regal mit Postkarten. »Elvis Presley. Judy Garland. John Lennon. Marilyn Monroe. Alle tot.« »Und hier.« Er deutete auf einen Stapel T-Shirts. »Sid Vicious. Keith Moon. Janis Joplin. Brian Jones. Alle tot.« Nemo wirbelte herum und zeigte auf einen Teenager in einem Roy-Orbison-T-Shirt. Ihre Freundin hatte die ganze Jacke 155
mit Bildchen von James Dean beklebt. Sie betrachtete ein Pooster von Nick Drake. Nemo brüllte ihnen zu: »Sie sind alle tot! Eure Helden sind Geister!« Es brauchte schon einiges, um in dieser Umgebung Aufmerksamkeit zu erregen, aber Nemo Skagg gelang es. Chase packte seinen Arm. »Komm weiter, Kumpel. Wir haben genug gesehen, und ich hätte gern ein Bier.« Aber Nemo riß sich los, als sie an einem Stand vorbeikamen, wo Schallplatten von Sid und Elvis, Jim und Jimi verkauft wurden. Das gelangweilte Mädchen hinter der Theke trug einen BH aus schwarzem Latex und musterte Nemo angewidert. Entweder war ihr Gesicht gestern nacht schwer zerschlagen worden, oder sie hatte hemmungslos mit Lidschatten gewütet. »Irgendwas von Needle?« fragte Nemo. »Nee. Probier’s mal oben bei Dez und Sheila. Ich glaube, die hatten neulich ein Exemplar von Vampire Serial Killer. Haben sie vielleicht immer noch.« »Warum hast du nichts von Needle auf Lager?« »Wer will schon was von Needle? Die sind ätzend.« »Ich meine die frühen Alben. Mit Nemo Skagg.« »Wer ist das?« »Jemand, der noch nicht tot ist.« »Das ist dann sein Problem, nicht wahr?« »Weißt du, wer ich bin?« »Ja. Du bist ‘n Suffkopf, und jetzt schieb ab.« Chase nahm Nemo Skagg am Arm und zog ihn mit sich. »Komm schon, Kumpel. Hier gibt’s nichts.« Sie zwängten sich vorbei an lebensgroße Postern von James Dean, ganzen Wänden mit John-Lennon-T-Shirts, Ständern voller Postkarten von Marilyn Monroe; Betty Page starrte mit großen Augen, gefesselt und geknebelt, aus Xotiques Laden für Fetischismus-Mode; Jim Morrison lebte als Tätowierung auf der breiten Brust eines stachelköpfigen blonden Jungen wieder 156
auf. Ein Punk-Pärchen mit identischen Einstichspuren auf den Unterarmen trug passende T-Shirts mit den Bildern von Sid und Nancy. An einem Stand, der schmerzloses Durchstechen der Ohrläppchen verhieß, spielte jemand lautstark Buddy Holly. Ein brennender Schädel grinste auf dem Rücken eines Motorradfahrers, der am Ausgang herumhing und möglichen Interessenten seinen mageren Arsch in fleckigen Lederjeans feilbot. Draußen begrüßte sie noch immer der gleiche angenehme Septembernachmittag, und selbst die mit Auspuffgasen geschwängerte Luft der Ken High Street erschien Chase frisch und klar. Nemo Skagg murmelte leise vor sich hin und zitterte wieder stärker. Chase bugsierte ihn durch den Verkehr zurück in die relativ ruhige Ken Church Street. »Schnappsladen. Gleich da vorne.« Nemo reagierte wie von Reflexen gesteuert. Er zog Chase in den Laden und griff sich wortlos zwei Viererpackungen Tennant’s Super. Chase nahm einige Sandwiches mit undefinierbarem Belag und zahlte alles zusammen an der Kasse. »Da lang.« Nemo ging voraus zu einem eisernen Tor hinter der Kirche an der Ecke. Es führte in einen Friedhof, einen ruhigen, von einer Mauer umgebenen Garten mit Gehwegen und Bänken, in dem späte Rosen blühten. Chase entdeckte eine weinberankte Laube; einige Sarkophage aus verwittertem Stein warfen graue Schatten auf das kurzgemähte Gras, hier und da standen alte Grabsteine, deren Schrift kaum mehr zu entziffern war, andere waren in das Backsteingemäuer der Kirche eingefügt; Rotkehlchen pickten an wurmzerfressenen Holzäpfeln, und Spatzen und Tauben näherten sich hoffnungsvoll den beiden Männern, als sie sich setzten. Der Verkehrslärm klang gedämpft und wie aus weiter Ferne, obwohl es nur wenige Schritte bis zur Straße waren. Chase kannte diese Gegend in Kensington sehr gut, aber daß es hier einen Friedhof gab, hatte er nicht gewußt. Ihm fiel ein, daß Nemo Skagg ein Haus ir157
gendwo in diesem Stadtteil gehabt hatte. Möglicherweise war er oft hier gesessen, wenn ihm nach ein wenig Stille zumute war. Nemo öffnete eine Dose Bier, nahm einen Schluck und winkte ab, als Chase ihm ein Sandwich anbot. Chase verschlang das mit Kresse und Gurke belegte Brot, um endlich irgendwas in den Magen zu kriegen. Er genoß die Ruhepause, nippte an seinem Bier und wartete. Nemo Skagg hatte bereits die zweite Dose geöffnet, bevor er plötzlich sagte: »So, Kumpel, jetzt weißt du’s.« Chase hatte inzwischen beschlossen, sich irgendwo ein Taxi zu suchen, sobald der Feierabendverkehr vorbei war. Nach einem solchen Besäufnis wie heute nachmittag würde er eine Fahrt mit der U-Bahn bestimmt nicht mehr ertragen. »Bitte?« »Man muß tot sein. All ihre Helden sind Geister. Sie verehren nur die Toten. Die Musik, die Poster, die T-Shirts – alles nur Tote. Ihnen treu zu sein, ist sehr leicht. Was tot ist, verändert sich nie. Wird nie alt. Verliert nie seinen Glanz. Besser, man fällt tot um, als langsam zu verblassen.« »He, nun komm schon.« Chase glaubte zu begreifen. »Natürlich gibt’s den obligatorischen Krimskrams mit toten Superstars. Reine Nostalgie, Kumpel. Aber daneben existieren zehnoder zwanzigmal so viele neue Gesichter, neue Gruppen, neue Stars.« »Ach ja? Dann komm mal in einem Jahr zurück, und ich verspreche dir, daß neunzig Prozent dieser neuen Gesichter weg vom Fenster sind, längst vergessen und ersetzt durch einen Haufen verfluchter neuer Scheiße. Aber die verdammten James-Dean-Poster und die verdammten Elvis-Jacken, die verdammten Doors-Platten und die verdammten John-LennonShirts, mit Kugellöchern drei Pfund extra, wirst du immer noch finden. Es ist so, Kumpel; sie stehen bloß auf die Toten, denn die ändern sich nie, sind immer da, immer zu deiner Verfügung. 158
Du hast am liebsten James Dean als Wichsvorlage? Hier ist er, hübsch wie am Tag, als er ins Gras gebissen hat. Willst du’s von Marilyn Monroe besorgt kriegen? Pump einfach die aufblasbare Monroe-Puppe auf. Aber, mein Lieber: Hätte James Dean seinen Porsche zu fahren gelernt, dann wäre er inzwischen ein fetter alter Opa mit Toupet und Doppelkinn wie Paul Newman oder Marlon Brando. Marilyn Monroe wäre eine blöde alte Kuh, die den Bullen in Beverly Hills Ohrfeigen verpassen würde – wenn sie nicht gerade in Werbespots im Fernsehen Windeln für Erwachsene oder Gebißhaftcreme anpreist. Jim Morrison würde eine Kette vegetarischer Restaurants betreiben, Jimi Hendrix eine Golden Oldie Tournee mit Otis Redding machen. Elvis würde vor drallen alten Schreckschrauben in Las Vegas spielen, Buddy Holly Gebrauchtwagen in Chattanooga verkaufen. Wieviele Bilder von fetten, verwelkten fünfzigjährigen Knackern hast du eben gesehen, Ryan? Willst du das neueste Paul-McCartneyAlbum kaufen?« Chase beschloß, Nemo Skagg den Rest des Biers zu überlassen. Damit hätte er wenigstens genug für diese Nacht. »Also meinst du, daß es am besten ist, jung zu sterben, ehe deine Fans zu jemand anderem überlaufen? Adieu, Ruhm, das war’s. Keine sonderlich rosige Zukunft, ein toter Star zu sein, oder?« »Manchmal ist es auch nicht rosig, ein Lebender zu sein, nachdem man alles verloren hat.« Chase, der schon kurz davor gewesen war, die Geduld mit Nemo Skagg zu verlieren, änderte erneut seine Meinung. In diesem armen Schlucker steckte mehr als ein versoffener, abgewrackter Musiker, der verbittert darüber war, daß andere nach wie vor Beifall und Anerkennung genossen. Er beschloß, sich doch noch eine Dose zu genehmigen und weiter zuzuhören. »Du hast gesagt, du bist Künstler, stimmt’s? Malst Porträts?« »Nun, meine Bilder sind …« 159
»Und du findest, daß du ziemlich gut bist?« »So sagen manche Kritiker.« »Na schön. Was passiert, wenn sie eines Tages behaupten, es sei gar nichts mehr mit dir los, deine beste Zeit liege hinter dir, dein Talent, oder was es auch immer war, das du einmal hattest, sei flötengegangen? Was passiert, wenn du erkennen mußt, daß sie recht haben? Wenn du weißt, daß der entscheidende Funke für immer dahin ist und daß du nur noch dir selbst und den anderen was vormachst? Schätze, du wärst ganz zufrieden, wenn du dann Porträts von aufgeblasenen alten Opas pinseln dürftest, die damit die Sitzungszimmer ihres Aufsichtsrats schmücken.« »Ich glaube kaum, daß es dazu kommen wird«, entgegnete Chase etwas gereizt. »Ging mir nicht anders. Niemand glaubt das. Du bildest dir ein, wenn du’s erst mal an die Spitze schaffst, bleibst du auch da oben. Vielleicht stimmt das für ein paar wenige, aber für die meisten eben nicht. Manchmal sind es die Fans, die es als erste bemerken, und manchmal dämmert es dir selbst. Du sagst dir zwar, daß die Fans ein launischer Haufen sind, aber nach einer Weile weißt du im Grunde genau, daß es mit dir vorbei ist. Und dann beginnt dein allmählicher Verfall. Dann fängst du an, die zu beneiden, die ganz oben waren, als sie abgetreten sind. Sie sind für alle Ewigkeit unverändert in der Zeit und der Erinnerung festgehalten – wie Fliegen in Bernstein.« Die Schatten auf dem Friedhof wurden länger, und Chase vermutete, daß der Küster bald die Tore schließen würde. Das erste welke Laub wehte raschelnd auf die Grabsteine nieder. In der ruhigen Luft hing der schwere Duft der letzten Rosen. Chase gehörte nicht zu denen, die andere Menschen dauernd berühren müssen, deshalb tippte er Nemo Skagg nur flüchtig auf die Schulter. »Glaub mir, jeder macht mal solche Phasen durch; wir haben all unsere Tiefpunkte. Genau deswegen hat man ja das Comeback erfunden. Du kannst dich immer noch 160
aufrappeln und alles wieder auf die Reihe kriegen.« »Vergiß es, mein Lieber. Kapierst du nicht? Was ich einmal hatte, gibt’s nicht mehr. Es ist vorbei mit mir.« »Aber du könntest Hilfe bekommen …« »Das ist das Schlimmste daran, Kumpel. Es wäre so leicht, es einfach auf die Drogen und die Sauferei zu schieben und dir einzureden, daß du schon wieder auf die Beine kommst. Ein paar Monate in einer schicken Klinik, und im Nu bist du wieder auf Tournee und präsentierst deine tollen neuen Songs. Nur läuft die Sache so nicht. Mit Drogen und dem Saufen fängst du ja erst an, nachdem du irgendwie weißt, daß du’s verloren hast. Um den Schmerz zu betäuben.« Nemo Skagg trank sein Bier aus und zielte mit der Dose auf den nächsten Mülleimer, den er jedoch verfehlte. Scheppernd rollte die Dose den Weg entlang. »Jeder Künstler hat etwas in sich – etwas Einmaliges, Erstklassiges –, das er geben kann. Manche haben mehr, manche weniger; aber es ist immer nur eine begrenzte Menge. Wenn das erst mal weg ist, kannst du nichts mehr nachlegen. Du bist wie ein benommener Boxer, der hofft, daß der Gong schlägt, ehe er endgültig auf dem Arsch landet. Es ist für dich vorbei, da kannst du dir noch so sehr das Gegenteil wünschen und noch so verzweifelt alles probieren. Es steckt einfach nicht mehr in dir drin, und wenn’s weg ist, kannst du genausogut gleich tot sein. Und zu wissen, daß du es endgültig verbraucht hast – das ist der grausamste Tod überhaupt.« Ryan Chase seufzte bedrückt und merkte, daß sie irgendwie das ganze Bier ausgetrunken hatten. Er war reichlich benebelt, und außerdem wurde es langsam dunkel. Mitleidig fragte er: »Kann ich dich irgendwo absetzen? Ich will mir ein Taxi suchen. Muß zurück.« Nemo schüttelte den Kopf. »Schon gut, Kumpel. Meine Bleibe ist nicht weit von hier. Willst du nicht auf einen Drink 161
mitkommen? Fürchte, ich muß dich deswegen noch mal anhauen.« Wer A sagt, muß auch B sagen, dachte Chase und stimmte wider besseres Wissen zu. Warum sollte er sich nicht ansehen, wo Nemo Skagg lebte? Auf Nemos Vorschlag kaufte er eine Flasche Whisky, und sie schwankten weiter. Es wurde allmählich immer dunkler. Chase folgte Nemo Skagg in blindem Vertrauen durch die Straßen von Kensington und Chelsea mit ihren zahlreichen Abzweigungen. Selbst am hellen Tag und in nüchternem Zustand hätte er keinen Schimmer gehabt, wohin es ging. Er ahnte nur, daß er bald einer der wenigen Auserwählten sein würde, der einen gefallenen Engel in seiner privaten Hölle besuchen durfte. Zumindest damit lag er richtig. Chase war nicht sicher, was er genau erwartet hatte, aber ein wenig bombastischer hatte er es sich schon vorgestellt – vielleicht ein heruntergekommenes Herrenhaus –, doch für Nemo Skagg gab es solch romantischen Luxus längst nicht mehr. Er schob ein Brett in einem zerfallenen Zaun beiseite, schlüpfte hindurch und winkte Chase, ihm zu folgen. Blindlings stolperte Chase hinter ihm her. Es ging steil abwärts durch wucherndes Unkraut, über Schutt und zerbrochenes Mauerwerk. Irgendwann strich Nemo ein Streichholz an und entzündete eine Kerze. Es war das Kellergeschoß einer Baustelle oder genauer gesagt eines Abbruchhauses. Ein Gebäudeblock war abgerissen und der Großteil des Schutts beseitigt worden, aber das hier geplante Bürogebäude hatte man dann nie verwirklicht. Verblaßte Plakate auf dem Bretterzaun am Rand des Gebäudes verhinderten, daß Passanten von diesem Anblick belästigt wurden. Ratten und halbwilde Katzen streiften durch das verwahrloste Trümmergrundstück und gingen den wenigen Menschen, die hier unterschlüpften, aus dem Weg. Nemo Skagg hatte sich aus Planken und Zaunbrettern an ei162
ner der Grundmauern eine Art Anbau errichtet; eine Öffnung in der Mauer führte in ein Kellergewölbe, das vermutlich einmal als Lagerraum gedient hatte, doch ob es Kolben oder ausgesuchte Weine beherbergt hatte, war ein Geheimnis, das nur die verwitterten Steine kannten. Im Licht der Kerze wurde seine Einrichtung sichtbar – zerbrochene Möbel, eine modrige Matratze mit Lumpen anstelle von Bettzeug, eine erloschene Feuerstelle, die überquoll von Holzkohle und Asche; ringsum standen jede Menge leeres Dosen und dreckiges Geschirr. Der verbleibende Raum dieser Grotte war mit ganzen Stapeln halbverrotteter Pappkartons und Blumentöpfen vollgestellt. Vor Dieben brauchte Nemo Skagg keine Angst zu haben, denn hier gab es eindeutig nichts zu holen. »Such dir einen Platz.« Er entzündete eine zweite Kerze und kramte nach Gläsern, die er aus einem Pub geklaut hatte, reichte Chase eines und schenkte Whisky ein. Chase setzte sich auf eine Holzkiste, denn er war längst über den Punkt hinaus, wo ihn der Schmutz gestört hätte. Der Whisky überdeckte nicht den Geruch nach billigem Fusel, der noch in seinem schmierigen Glas hing. »Auf deine Gesundheit, Ryan«, prostete Skagg ihm zu. »Und auf unsere Freundschaft.« Chase versuchte sich zu erinnern, ob er Nemo gegenüber den Namen seines Hotels erwähnt hatte. Wahrscheinlich nicht, also würde dieses Abenteuer bald vorbei sein und keine unliebsamen Folgen haben. Er trank. Sein Gastgeber schenkte nach. »So sieht’s also aus«, sagte Chase schroff. »Nichts mehr mit Ruhm und Reichtum. Auf Wiedersehen, du Haus in Kensington. Willkommen im Kellerloch der künftigen Tiefgarage.« »Es war in Chelsea«, erwiderte Nemo gleichmütig. »Das Haus war in Chelsea.« »Now he gets his kicks in Chelsea, not in Kensington anymore«, sang Chase unbekümmert. Nemo sah keinen Grund, beleidigt zu sein; ihm war nur der 163
Whisky wichtig. »Trotzdem«, fuhr er fort, »ich konnte wenigstens alles mitnehmen, was wirklich zählt.« Er kroch hinter den Stapel Pappkartons, der bedrohlich ins Schwanken geriet, und zog nach einigem Rumoren das Wrack einer elektrischen Gitarre hervor. Mit einer Verbeugung reichte er sie Chase und füllte erneut ihre Gläser. Chase wußte, daß Nemo Skagg auf der Bühne gewohnheitsgemäß seine Instrumente vor Horden kreischender Fans in Stücke zerschlagen hatte. Er kannte sich mit Gitarren nicht weiter aus, aber trotzdem sah er, daß es sich um ein handgefertigtes Einzelstück handelte, das vermutlich ebenfalls das Opfer eines solchen Gewaltausbruchs geworden war. Der geknickte Steg war immer noch mit Saiten bespannt, und aus dem mißhandelten Schallkörper baumelten ein paar Drähte. Vorsichtig reichte er sie zurück. »Sehr schön.« Nemo kratzte mit seinen langen Fingernägeln über die Saiten. Nachdem Chases Augen sich an das Kerzenlicht gewöhnt hatten, entdeckte er zwischen den Töpfen und Kisten ein paar turmhohe ausgeschlachtete Lautsprecherboxen und einige halbverkohlte Verstärker. Nichts, das sich zu klauen lohnte. Nichts, das es wert war, aufgehoben zu werden. Geister – zerstört und tot. Wie Nemo Skagg. »Ich glaube, ich habe noch irgendwo eine Dose Bohnen.« Er hielt eine Kerze an einen schmierigen Papierfetzen und entzündete ein paar Holzstückchen. Bald flackerte ein kleines Feuer in der dunklen Höhle. Der Rauch trieb durch das Eingangsloch nach draußen. »Ist schon gut«, sagte Chase. »Ich muß mich wirklich auf den Heimweg machen.« »Ach, wir haben die Flasche ja noch gar nicht ausgetrunken.« Nemo schenkte ein. »Trink! Früher habe ich für meine Fans natürlich bessere Parties gegeben.« »Prost«, sagte Chase und trank. Er wußte, daß es ihm morgen hundsmiserabel gehen würde. 164
»Also, Ryan.« Nemo räkelte sich auf einem Sessel ohne Beine, aus dem kaputte Sprungfedern ragten. »Du würdest wohl gern wissen, wo das ganze Geld geblieben ist.« »Ich glaube, das hast du mir bereits erzählt.« »Was ich dir erzählt habe, war die Version, die alle gern hören wollen, obwohl es teilweise die Wahrheit ist. Du ahnst gar nicht, wie erstaunlich viel Zaster du dir die Nase hochziehen und in den Arm jagen kannst, und wie schnell das eine bestimmte Sorte Aasgeier anzieht, die dich umkreisen und sich ihren Anteil abbeißen, bis nichts mehr übrig ist, womit du sie füttern kannst. Aber die simple und überraschende Wahrheit ist, daß ich den letzten Rest meines Vermögens für meine Fans ausgegeben habe.« Chase befürchtete allmählich, daß er die ganze Nacht hier verbringen müsse, wen er jetzt nicht aufbrach. Er beendete kurzerhand Nemos traurige Geschichte: »Und dann zeigte sich, daß deine Fans eine flatterhafte, launische Bande waren.« »Nein, Kumpel. Nicht diese Fans. Schau sie dir doch an.« Nemo Skagg kroch tiefer in seine Höhle und holte eine Blumenvase, die er zärtlich streichelte und anschließend hochhielt, damit Chase sie im Licht betrachten konnte. Er sah, daß es in Wirklichkeit eine Urne war. »Das hier ist Saliva Gash. Behauptete, sie sei achtzehn und hing dauernd hinter der Bühne herum. Eines Nachts hat sie nach einem Konzert eine Überdosis genommen. Ihre Familie in Pimlico wollte sie nicht haben. Nicht mal die Urne. Ich habe für die Einäscherung im Krematorium bezahlt und ihre sterblichen Überreste behalten. Sie war ein viel zu liebes Ding, um einfach irgendwo verstreut zu werden.« Ryan Chase suchte betroffen nach Worten, aber Nemo griff bereits nach einer anderen Urne. »Und das hier ist Slice. Seinen richtigen Namen habe ich nie erfahren. Er stand immer in der ersten Reihe und feuerte uns mit lautem Gebrüll an. Dann hat er sich nach einer Show die 165
Pulsadern aufgeschlitzt. Niemand hat Anspruch auf seine Leiche erhoben. Ich habe für alles Nötige gezahlt. Hier – das ist Dave aus Belfast. Sinnlos besoffen streckte er den Arm aus, um eine U-Bahn anzuhalten. Er verfing sich mit seiner Jacke, und ich bezweifle, daß sie alles, was von ihm übrig war, aufgelesen haben. Seine Urne fühlt sich jedenfalls ziemlich leicht an.« »Schon gut«, sagte Chase, als Nemo ihm das Gefäß reichen wollte, damit er sich überzeugen könne. »Ich kann das nicht beurteilen.« »Ist dir je aufgefallen, daß ganz London vollgestopft ist mit verdammten Friedhöfen, daß aber niemand dort beerdigt wird, falls er nicht vor dem beschissenen Burenkrieg ins Gras gebissen hat? Es gibt in London einfach keinen Platz für einen schlichten Durchschnittsbürger. Alle Welt wird heutzutage verbrannt, und dann kriegt man eine verfluchte Schachtel voll Asche, die man mit nach Hause nehmen kann. Das heißt, falls es irgendeine Sau gibt, die sich überhaupt darum schert und sie nicht nur bis zum nächstbesten Mülleimer trägt.« Nemo zog einen der Kartons hervor. Die verrottete Pappe zerriß, und eine Plastiktüte fiel heraus. Sie zerplatzte auf den Ziegelsteinen; kreideweiße Asche stäubte über Nemos Hosen und Schuhe. »Scheiße. Ich kann nicht lesen, was hier draufsteht. Du?« Er reichte Chase den verschimmelten Pappkarton und schenkte Whisky nach. Chase griff automatisch nach beidem. Er hatte Kopfschmerzen und fühlte sich benommen. »Ich hab’ zuerst anständige Urnen für alle gekauft«, erklärte Nemo. »Als dann mein Geld futsch war, mußte ich mir anders helfen. Trotzdem war ich meinen Fans gegenüber loyal. Ich habe sie bei mir behalten, nachdem ich das Haus und überhaupt alles verloren hatte.« Die schimmlige Pappe in Chases Händen fing Feuer. Er schüttelte seine Benommenheit ab und ließ die Schachtel fal166
len. Im Licht der auflodernden Flammen konnte er hunderte ähnlicher Schachteln und Urnen sehen, die überall in der Gruft hoch aufgestapelt waren. »Es ist eine ganze Generation, die niemand haben wollte«, fuhr Nemo fort und trank nun direkt aus der Flasche. »Nur ich habe für sie gesprochen – und mit ihnen gesprochen. Sie wollten mich, ich wollte sie. Die Fans heutzutage haben nur noch tote Stars im Kopf. Scheiß auf sie. Ich lebe noch, und ich habe mein Publikum aus toten Fans, die mich lieben.« Trotz aller Vorsätze trank Chase seinen Whisky und betrachtete Nemo Skagg. Umgeben von weißlicher Asche und im flackernden Licht eines Feuers thronte er in diesem schmutzigen Loch wie ein gescheiterter Wagnerheld. »Von überall her kamen sie nach London; es sind nicht nur Kids aus dem East End. Sie haben auf die ganze Gesellschaft geschissen, und die Gesellschaft hat es ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Tot waren sie genausowenig erwünscht wie lebendig. Drogen, Selbstmorde, Verkehrsunfälle, vielleicht eine zerbrochen Flasche in einer dunklen Gasse oder eine Vergewaltigung und ein Messerstich in irgendeinem besetzten Haus. Angefangen habe ich mit den Fans, die ich kannte, dann kamen die armen Schweine dazu, von denen mir meine Kumpel erzählten. Nach einiger Zeit ließ ich ein paar Leute in den Leichenhallen der Krankenhäuser für mich Ausschau halten nach den Kindern, um die sich niemand einen Dreck scherte. Sicher, oft hatten sie Familien, aber ich kann dir sagen, sie waren immer von Herzen froh, daß ich die Kosten übernahm und mich um den lieben Verblichenen kümmerte – Gott hab ihn selig, zum Glück ist er weg! Sie waren tot aller besser dran, auch die, die mir das zuerst nicht glauben wollten, und da mußte ich einfach ein wenig nachhelfen. Na ja, irgendwann ging mir dann das Geld aus. Ich bereue nicht, es für sie ausgegeben zu haben. Scheiß auf den Ruhm. Wenigstens habe ich immer noch meine Fans.« 167
Nemo Skagg nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, merkte, daß sie leer warf, warf sie weg und griff nach der kaputten Gitarre. Mit seinen Krallen strich er über die lockeren Saiten. »Und du, Ryan, alter Knabe, du hast doch gesagt, du seist auch so ein treuer Fan.« »Ja. Nemo. Ja, das habe ich wahrhaftig gesagt.« Chase stellte das leere Glas ab und spannte seine Muskeln an. »Also, es war echt toll, daß du hierher zu mir hinter die Bühne gekommen bist. Wir haben später noch mehr Zeit füreinander. Hoffe, du genießt das Konzert.« »Ich gehe nur mal schnell pinkeln, während du dich einspielst.« Chase stand langsam auf und ging rückwärts zum Eingang des Kellerlochs. »Beeil dich ein bißchen.« Nemo stöpselte Drähte in die demolierten Lautsprecher und regulierte einige Knöpfe an den ausgebrannten Verstärkern. Er schaute sich in seinem finsteren Loch um. »Mir scheint, heute habe ich ein echt kritisches Publikum.« Es war stockfinster, als Chase aus dem Anbau stolperte. Er kämpfte sich durch wuchernde Brennesseln und Distelgestrüpp, stürzte zweimal über einen Schutthaufen, den er nicht gesehen hatte, rappelte sich aber jedesmal mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf. Nackte Panik trieb ihn vorwärts. Jenseits des Bretterzauns konnte er den Schein der Straßenlampen sehen. Keuchend, grunzend, fluchend stürmte er blindlings durch das dunkle Gelände voll Trümmer und Geröll; die Angst verlieh ihm zusätzliche Kräfte, und zuletzt lächelte ihm das Glück. Er fand endlich die schuttübersäte Böschung, kroch auf Händen und Füßen hinauf und zwängte sich durch den morschen Bretterzaun. Als er schluchzend auf die Straße stürzte, drang von unten das Brüllen des Publikums zu ihm herauf und die hämmernden Rhythmen von Nemo Skaggs Gitarre. Er rappelte sich auf und 168
flüchtete vor dem wüsten Getöse dieser bislang unbekannten Needle-Hits. Nemo Skagg hatte wirklich nie aufgegeben.
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M. JOHN HARRISON
Gifco Ein paar Monate nachdem unsere Tochter als junges Mädchen im Teenageralter gestorben war, kauften meine Frau und ich ein Haus in Peckham im Süden Londons. »Guter Gott«, sagte meine Frau am Tag unseres Einzugs. Sie war von Peckham nicht gerade angetan, aber mir gefiel es dort. Auf der Hauptstraße wimmelte es von Billigläden; fettverschmierte Papiere und Schachteln aus irgendeinem Imbißladen trieben im Rinnstein; am Freizeitzentrum sahen wir, daß ein Teil der Schrift über dem Eingang heruntergefallen war, und einen Tag darauf fehlten noch mehr Buchstaben. Peckham stach von dem benachbarten East Dulwich (einem reichen Viertel, wo zur damaligen Zeit noch der Premierminister lebte) genauso kraß ab wie eine alte Pennerin, die sich an ein Schaufenster im West End lehnt. Jeden Morgen machten sich in reicher Zahl die Irren und Versager widerstrebend auf den Weg die Rye Lane hinunter nach Peckham hinein, um ihre Einkäufe zu erledigen. Es gab Psychotiker, die sich frei in der Gemeinde bewegten und eine merkwürdige Schlagseite nach links hatten; gescheiterte alte Kriminelle mit leerem, nach innen gerichtetem Blick; fette Frauen in Jogginghosen und Pantoffeln – sie alle schlurften ihres Wegs, trotteten dumpf dahin oder gingen seitwärts wie Martinique-Landkrabben. Ungehemmt redeten sie mit sich selbst und stießen unwillkürlich Schreie aus, wenn ihre Träume oder Ängste sie erfaßten oder gerade nachließen. Die Straße säumten große, kräftige Roßkastanien, die in Blüte standen und deren Laubwerk ein so dichtes Dach bildete, daß es selbst um neun Uhr morgens draußen vor der JetPapierfabrik dämmrig war. Die Kastanienblüten sahen aus wie sonderbare kleine Pagoden aus flackerndem Licht und erinner170
ten mich oft an William Blakes ›Baum voll Engel‹. Ein Stück weiter die Rye Lane hinunter sah man die Reste eines alten Heckenzauns aus Stechpalmen, Weißdorn- und Holundersträuchern. Das Gebüsch war von einer Staubschicht überzogen, teilweise zertrampelt und voller Abfall aus dem dahinterliegenden Haus. Handwerker und Maurer hatten sicher monatelang, vielleicht jahrelang an dem Gebäude gearbeitet, aber der Zusammenbruch des Immobilienmarktes Ende der Achtziger hatte ihnen die Lust genommen, und sie waren nur noch halbherzig tätig. Als ich zum erstenmal daran vorbeikam, waren die Fenster mit billigen hellen Holzbrettern vernagelt. Quer über eines dieser Fenster stand in grauem Grundierlack: GIFCO, WIR SIND HIER. Diese Botschaft begann hoch oben links, aber der Schreiber schien rasch seine Zuversicht verloren zu haben, denn die Worte stürzten in die Ecke rechts unten ab, wobei die Buchstaben immer kleiner und unleserlicher wurden. Es erinnerte beinahe an einen Hilfeschrei, und ich fragte mich, wer das wohl geschrieben hatte. Niemand lebte mehr dort; das Haus war stumm und leer. Gifco war nie erschienen. Oder vielleicht doch? Vielleicht hatten der oder die Schreiber während der Wartezeit, die ihnen in der Dunkelheit hinter den Brettern wohl endlos vorkam, seine Person ebenso grundlegend falsch eingeschätzt wie seine Pläne und die Rolle, die sie darin spielten. Als ich zwischen all den anderen Irren daran vorbeiging, stieg mir der faulig-süße Duft der Weißdornblüten in die Nase, und ich blieb immer wieder stehen, als ob ich jemanden meinen Namen rufen hörte. Später an diesem Tag klingelte ein Polizist an meiner Tür. Eifrig um Korrektheit bemüht, zeigte er mir zweimal seinen Dienstausweis: einmal an der Tür und dann noch einmal drinnen auf der Treppe. Er war ein bedächtiger junger Mann in Jeans, einem dicken Pullover und ochsenblutfarbigen 171
Dr. Marten-Schuhen, der ruhig erklärte, daß er von meinem Balkon im zweiten Stock aus einige Häuser weiter unten in der Rye beobachten wolle. Ich sagte, ich hätte nichts dagegen, fragte aber, ob das nicht ziemlich unbequem für ihn sei? Er zeigte mir eine billige Sporttasche und meinte: »Mit dem, was ich hier dabei habe, könnte ich tagelang überleben.« Viel mehr als eine blaßblaue Windjacke aus Nylon und ein Funksprechgerät schien es allerdings nicht zu sein. »Hallo?« rief er in das Gerät. »Ich bin jetzt auf Posten.« Er hatte eine jungenhafte Ausstrahlung und schien hellauf begeistert von seiner Tätigkeit. »Das wird prima«, erklärte er. »Echt prima.« Ich brachte ihm einen Stuhl und eine Tasse Tee und entdeckte, daß er zu seiner Tarnung zwei große Bahnen aus schwarzer Plastikfolie aufgehängt und auf der niedrigen Mauer des Balkons einige Blumentöpfe umgestellt hatte. Das Funkgerät lag vor ihm. Er war dankbar für den Tee. »Das hier ist ein richtig hübscher Platz an der Sonne.« »Ich liebe die Sonne«, sagte ich. »Ich bin sehr oft hier draußen.« »Wenn irgendwas Aufregendes passiert, rufe ich Sie«, versprach er und grinste. »Ist spannender, als es sich später im Fernsehen anzuschauen.« Danach blieb alles ruhig; nur ein- oder zweimal hörte ich ihn in das Funkgerät sprechen. Ungefähr eine Stunde später ging er kurz weg und kam nach zehn Minuten wieder zurück. »Das alles tut mir leid«, sagte er, als ich ihn hereinließ. »Es ist etwas passiert. Aber nicht weiter spektakulär.« Er nahm eine zweite Tasse Tee, und diesmal blieb er viel länger draußen auf seinem Posten. Manchmal sprach er in sein Funkgerät: »Colin an Kontrollstelle. Kontrollstelle? – Ich habe gerade ein IC 3 gesehen; ist hinten am Haus irgendeine Leiter hochgeklettert. Kontrollstelle, hast du verstanden? Ja, ja, ich bestätige die Meldung. Nein, er ist eine Leiter hoch und hinten durch eine Tür rein. 172
Trägt eine blaue Jacke, eine Skijacke: ein IC 3.« Seine Stimme wurde lebhaft. »Zweiter Stock, rechtes Fenster. Ja!« rief er. Dann: »Links von dir, links!« Ich war auf den Balkon gegangen und genauso aufgeregt. Hinter der Plastikfolie gedrängt, reckten wir die Hälse, um zu verfolgen, was da vor sich ging. Ich glaubte, eine schmächtige Gestalt zu sehen, die in einem Garten herumlief; ein Kind oder ein Teenager: ein IC 3. Plötzlich merkte ich, in welche Richtung er schaute. »Ist das nicht das Haus mit den vernagelten Fenstern?« Er starrte mich an. »An Ihrer Stelle würde ich kein Wort darüber zu irgend jemandem verlieren.« Später, als er seine sämtlichen Sachen wieder in die Tasche packte, fügte er hinzu: »Schließlich müssen Sie hier in der Gegend leben.« Das Funkgerät sprudelte und stotterte aus dem Innern der Tasche vor sich hin. Ab und zu war die Stimme einer Frau herauszuhören, die wie ein Kind klang, das in eine leere Büchse spricht, um sich wichtig zu machen. »Paul? Paul?« schien sie zu fragen. Er zog den Reißverschluß der Tasche zu. »Kann ich bitte Ihr Klo benutzen?« Er lachte. »Ich glaube, ich werde für den Rest des Tages nicht mehr dazu kommen – das ist meine letzte Chance.« »Er war nett«, berichtete ich meiner Frau, als sie heimkam. Sie hatte ihre Zweifel. »Daß es oft besser ist, etwas zu verschweigen, kommt dir nie in den Sinn«, sagte sie. In dieser Nacht hatte ich einen Alptraum, in dem ich mich vor den Menschen versteckte. Ich eilte durch die Straßen und suchte ständig Deckung hinter Bäumen, Gebäuden, Autos oder sonst was. Eine Stimme sagte: »Das doppelte Paradoxon. 173
Leben ist nicht Tod, und der Tod ist es auch nicht.« Dann erwachte ich in einem leeren Schlafzimmer. Es war drei Uhr morgens und stockdunkel. Ein rhythmisches Klopfen, gedämpft, aber so nachdrücklich, als schlage jemand Nägel in eine Kellerwand oder poche zwei, drei Häuser weiter an eine schwere Tür, das ich in meinem Traum gehört hatte, setzte sich auch jetzt noch fort. Als es nicht nachließ, stand ich unsicher auf. Die Schlafzimmertür war offen, die Treppe dunkel. »Mary?« Das dumpfe Hämmern ging weiter. »Mary? Bist du da? Ist alles in Ordnung?« Ich wanderte von einem Zimmer zum anderen und suchte sie. Sämtliche Türen im Haus standen offen. Orangefarbenes Licht flutete von der Straße herein, fing sich in den Spiegeln, kroch über die Kaminsimse, hob in jedem Raum etwas hervor. Im Wohnzimmer war an diesem Abend ein Buch, Das Sexualverhalten der Frau, ein Stück aus dem Regal gezogen worden – sein Schatten fiel schräg über fünf oder sechs andere Bücher. In der Küche stand neben einem Messer, einem Frühstücksbrett und einem Laib Brot eine Braun-Kaffeemühle, als hocke dort ein kleiner Götze. Oben in einem Raum an der Schmalseite des Hauses war etwas in den leeren Kamin gefallen und auf dem Rost zerbrochen. »Mary?« Auch dort keine Spur von ihr. Draußen auf den Straßen Peckhams gab es viele geparkte Autos – und Engel. Obwohl ich nackt war, empfand ich eine wohlige Behaglichkeit, als treibe ich in irgendeiner warmen Flüssigkeit; ich hatte eine leichte Erektion, die sich kurz verhärtete, als ich die Gardinen im Wohnzimmer streifte. Gleichzeitig war ich voller Angst, ohne den Grund dafür zu kennen, aber sie verfolgte mich genauso beharrlich wie dieses Geräusch. »Mary?« Schließlich ging ich zurück ins Bett und sah, daß sie dort wach in der Dunkelheit lag. 174
»Was ist los?« flüsterte sie. »Ich …« »Was ist denn?« »Ich dachte, du wärst aufgestanden«, sagte ich. »Dieses Geräusch …« »Ich höre nichts.« »Bist du nicht aufgestanden? Da! Es ist doch ganz deutlich!« »Ich kann nichts hören.« Zitternd beugte ich mich über sie. »Ich bin durchs ganze Haus gegangen. Mir wird gar nicht mehr warm.« Sie legte ihre Arme um mich. »Was hast du gemacht, daß du so aufgeregt bist?« »Hör doch!« Manche Träume, das weiß ich, streift man nur sehr schwer ab. Das flimmernde Licht bleibt noch einige Zeit, das Gefühl des Eingeschlossenseins löst sich nur ziemlich langsam auf. Du kommst dir vor wie in Trance, und während du darauf wartest, die Welt wieder zu begreifen, sinkst du zurück in den Traum und hast keine Angst mehr. Aber dieses hämmernde Geräusch, so gedämpft und so beharrlich, hatte etwas Schreckliches. »Wie fühlst du dich?« fragte meine Frau am nächsten Morgen. »Oh, gut, gut.« Doch ich wußte, daß dieses Klopfen keine Einbildung gewesen war. Irgend etwas war ins Haus gekommen. »Das hoffe ich«, sagte sie. »Mir geht es gut.« Danach richtete ich nachts meinen eigenen Beobachtungsposten auf dem Balkon ein. Es war schwer, etwas genauer zu beobachten, aber ich glaubte, bei diesem Gifco-Haus ein beständiges Kommen und Gehen auszumachen. Es kamen Besucher und Lieferanten. Schwarze Mülltüten aus Plastik wurden in den Garten geschafft und dort möglicherweise vergraben. Am Tag jedoch lag er verlassen hinter seiner Weißdornhecke 175
in der heißen Sonne. Eines Morgens trieb mich die Neugier dazu, mir einen Weg durch die Hecke zu bahnen, ein Brett an einem der Fenster im Erdgeschoß abzureißen und einzusteigen. Die Luft in diesem Raum war abgestanden und drückend schwül. Nach kurzer Zeit spürte ich sie in meinen Lungen, in meinem Herz, in allen Höhlungen meines Körpers. Ein einzelner dünner Sonnenstrahl fiel über den Betonboden. In seinem gelblichen Licht sah ich Fetzen von altem grünem Linoleum, einen staubigen Sessel. Ich stand einige Zeit da, eingehüllt in eine absolute Stille, obwohl auf der Rye Lane bereits der übliche Verkehr zur Mittagszeit eingesetzt hatte. Die Hitze strahlte von den Motorhauben der modernen kleinen Wagen ab. In Peckham wimmelte es von provisorischen Bücherständen, die an einem Tag auftauchen und am nächsten wieder verschwinden – ein Tisch vor dem Fenster eines Friseurs oder eines Möbelgeschäfts, darauf vielleicht dreißig oder vierzig eselsohrige Taschenbücher, gibt Kunde davon, daß wieder ein Haus leer steht: Es sind die Bücher von Verstorbenen, von Zwangsgeräumten, von Leuten, die auf Dauer in ein Hospital eingewiesen wurden. An diesem Morgen hatte ich an solch einem Tisch einen alten Roman gekauft. Ich zog ihn heraus, hockte mich in diesen vollkommenen Sonnenstrahl und begann die erste Seite zu lesen: »Als kleiner Junge saß ich oft regungslos im Garten in der Sonne, die Hände flach auf die rauhen Steine des Gartenwegs gepreßt, und wartete mit anhaltender, fast schmerzlicher Hoffnung darauf, daß etwas geschehen würde, was auch immer es sein mochte; etwas, das genau dieser Zeitpunkt für mich bereithielt, mit einer Offenbarung, die in ihm schlummerte.« Als ich das Wort Offenbarung las, hörte ich jemand durch die Eingangstür hereinkommen. Schritte erklangen im Flur. Ich klappte das Buch zu und stand auf. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich Sie hier finden würde.« 176
Es war der Polizist, Collin. »Wann haben Sie angefangen, für Gifco zu arbeiten?« Colin, so entdeckte ich, lebte zusammen mit seiner Mutter in Peckham. Er arbeitete erst seit einem Jahr als Polizist. Sein Gesicht war schmal, und um den Mund zeigten sich bereits die Folgen der ständigen Bemühung, die innerliche Anspannung zu unterdrücken. Seine Augen allerdings waren klar und kindlich geblieben. Er hatte die Gewohnheit, einen anzustarren, nachdem er etwas gesagt hatte, als erwarte er irgendeine ganz bestimmte Antwort und wisse, daß man nie erraten würde, was er selber hören wolle. Irritiert erwiderte man diesen Blick. Auf meine Frage, was er so die ganze Zeit treibe, sagte er: »Ach, ich lese viel.« Am liebsten mochte er Science-fiction-Romane, wovon er eine ziemlich große Sammlung besaß, oder Sachbücher über Konzentrationslager, die bei W. H. Smith angeboten wurden. Er hatte Primo Levi gelesen, aber Wieslaw Kielar gefiel ihm besser. In diese Lektüre vertiefte er sich in der kleinen Wohnung seiner Mutter im oberen Stockwerk eines düsteren viktorianischen Hauses – und vergaß darüber den Gasboiler über dem Bad, die losen Dielenbretter und die Türrahmen, die sich jeden Sommer verzogen, wenn der Londoner Lehm austrocknete. Seine Mutter, die stets während der Nachrichtensendung um zehn oder früher eindöste, benutzte das einzige Schlafzimmer. Colin mußte daher auf der Klappcouch im Wohnzimmer schlafen; meistens aber ließ er statt dessen den Fernseher laufen und trank in dem flackernden Zwielicht Zwei junge Bier Asiatinnen aus der Dose. lebten im Stockwerk darunter. Eine von ihnen war eine paranoide Schizophrene, die ambulant behandelt wurde und oft mitten in der Nacht loskreischte. »Schaff diesen Dreck hier raus!« hörte Colin sie plötzlich nach langen Schweigeperioden schreien. »Die Leute nebenan«, erzählte er mir, »mußten ihre Hunde 177
abschaffen. Sie gerieten immer außer Rand und Band, wenn sie anfing, und heulten, bis es hell wurde.« Es ginge ihr im Moment nicht sonderlich schlecht, meinte er, weil er seine Stereoanlage tagsüber laut laufen lasse. »Das hält sie wach, und deshalb schläft sie dann nachts besser.« Er war besorgt um sie, trotz der Schwierigkeiten, die sie verursachte. »Wir haben immer ein Auge auf sie. Ihre Freundin muß ja arbeiten gehen.« Ansonsten interessierte Colin vor allem sein Auto. Er besaß einen alten Hillman Avenger, rehfarben, bis auf einige kastanienbraune Stellen, wo er ihn abgeschmirgelt und zum Neulakkieren vorbereitet hatte. Im Innern roch es nach Öl, Halfords Lufterfrischern und exotischen Lebensmitteln wie in einem der Kleintaxis Peckhams. Seine Mutter, die das ebensowenig kümmerte wie das rostfleckige Chrom und das morsche Lenkrad, spendierte ihm jede Woche ein neues Hampelmännchen oder ähnliche Kinkerlitzchen. Sie hatte auch einen Sticker gekauft, auf dem die Warnung stand: »Demolierst du mein Auto, demolier ich deine Fresse.« Im Sommer befestigten sie samstags innen an den Scheiben eine gehäkelte Decke, so daß der Rücksitz vor der Sonne geschützt war. Colin fuhr sie dann langsam durch die Straßen bis nach Dulwich Village, damit sie sich die herrschaftlichen Häuser mit ihren Erkerfenstern und die hundert Jahre alten Bäume ansehen konnte. Er war ihr jüngstes Kind, ein Nachzügler, und er lernte langsam. Nach dem Tod seines Vaters entwickelte er die ausgeprägte Neigung, sich mit besessener Leidenschaft auf etwas zu stürzen – Kampfflugzeugmodelle, militärgeschichtliche Enzyklopädien in wöchentlichen Sammelausgabe und überhaupt alles, was man sammeln konnte –, und es hatte sie ziemlich verwirrt, als er immer unabhängiger und verschlossener wurde. »Ein sehr selbständiger Mensch«, erzählte sie den Leuten. »Gar nicht wie die anderen drei.« Diese unschuldige Besessenheit schlummerte in ihm, bis Gifco schließlich eine Verwendung dafür fand.
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Wir redeten an diesem ersten Morgen so lange miteinander, daß ich zu spät zum Mittagessen heimkam. Draußen vor dem Nachbarhaus war ein Ford-Lieferwagen geparkt, auf dem in dicken Lettern HAUSRÄUMUNGEN/NACHLÄSSE stand. Ein älterer, sehr emsiger Mann mit rosigem Gesicht, grauem Haar und einer Brille, der Jogginghosen von Marks & Spencer trug sowie eine Strickjacke und ein Halstuch, stapelte die Sachen auf dem Bürgersteig, während sein jüngerer Kollege alles in den Lieferwagen warf. Der ältere Mann lachte viel und machte häufig Scherze. »Glücklich?« hörte ich ihn sagen. »Ich bin nicht glücklich!« Sesselkissen, ein hölzernes Bügelbrett, zwei schwarze Zinnbüchsen, ungefähr fünfundvierzig Zentimeter hoch, mit rostigen Ecken; ein graues zweireihiges Jackett und ein rosa Hemd; alte Töpfe aus Aluminium; Plastiktüten aus einem Supermarkt, vollgestopft mit Kleidung: alles landete dort drinnen, sogar das wirre Drahtbündel aus Kleiderbügeln, die an der Garderobe zurückgelassen worden waren. Eine Trittleiter wurde hineingeschleudert wie ein Speer. Im ersten Stock fand ich meine Frau. »Jemand ist nebenan gestorben«, sagte sie. Sie stand am Fenster und schaute hinab auf die Straße. Ich konnte sie kaum hören, da der Fernseher so laut gestellt war. »Vielleicht ziehen sie nur um«, entgegnete ich. »Warum werfen sie dann seine Matratze so gleichgültig in den Lieferwagen? Sieh mal diese Socke! Wenn man umzieht, läßt man nicht einfach eine Socke auf der Straße liegen.« Sie strich mit der Hand über die Fensterscheibe. »Das sind lauter Sachen, die mal jemandem gehört haben.« Durch die Wand konnte man nebenan den älteren Mann energisch die Treppe auf und ab rennen hören. »Da, fang mal!« rief er. »Jesus«, flüsterte meine Frau angewidert. Der Stapel im Innern des Lieferwagens geriet ins Schwan179
ken. Einen Moment lang sah es aus, als würde alles umkippen und herausfallen. Mit wachem, aufmerksamem Blick fixierte der junge Mann das Gerümpel, wobei er sicheren Stand suchte wie ein Fußballtorwart, der einen Strafstoß zu halten hat. Aber dann geschah doch nichts; er zuckte die Schultern und ging davon. »Sie schmeißen alles einfach bloß so rein«, flüsterte meine Frau. »Diese Sachen gehören jemandem«, wiederholte sie und fragte dann: »Kannst du nicht den verdammten Fernseher abstellen?« »Du warst es, die ihn eingeschaltet hat«, sagte ich. »Du hast ihn selbst angestellt.« »Wir werden die nächsten sein. Mach dir nichts vor. Uns werden sie als nächste hinten in einen Lieferwagen schmeißen.« Drei Wochen nachdem ich ihn kennengelernt hatte erschien Colin im Gifco-Haus, wo er nervös seinen Mantel aufknöpfte und wie ein Tourist die vielen Bücher anstarrte, die ich rings um die Fußleisten aufgereiht hatte. »Ich bin bereit«, sagte er, »wenn Sie soweit sind. Wohin geht’s?« Gifco hatte ihm nichts erzählt. Ich ließ ihn einen Blick auf das Polaroidfoto werden, das mir übergeben worden war. Es zeigte ein ziemlich hübsches Mädchen im Teenageralter. Sie trug die Uniform irgendeiner Privatschule – weiße Bluse, königsblauen Pullover mit V-Ausschnitt und grauen Faltenrock. Durch einen Fehler beim Entwickeln des Films war ihr Gesicht ohne Farbe geblieben, so daß es leer und unfertig wirkte. Die Hände im Schoß zusammengefaltet, saß sie nach vorn gebeugt auf einer Gartenbank. Im Hintergrund konnte man eine Tür im neo-georgianischen Stil erkennen; einige Rosenbüsche auf Hochstämmen, die in grauer, mit Unkraut durchsetzter Erde wuchsen; einen schwarzen BMW. Etwas an 180
ihrer Haltung mit dem gebeugten Rücken, den gefalteten Händen und ihrer Art, geradeaus ins Nichts zu starren, erinnerte mich an ein Gemälde. Mir fiel nicht ein, von wem es stammte. »Es wäre gut, wenn wir hinkommen, ehe es dunkel wird«, mahnte Colin. Sein Auto hatte einen kleinen Defekt: Wenn man einmal die Scheinwerfer eingeschaltet hatte, konnte man nicht mehr anhalten. »Die Elektronik hat so ihre Tücken.« »Wir fahren über die M 1«, sagte ich. Unterwegs stellte sich heraus, daß er ein ziemlich ungeduldiger Fahrer war. Aggressiv und mit Vollgas drängelte er sich durch den Freitagnachmittagsverkehr. Doch in der Nähe von Luton begannen sich auf allen drei Fahrbahnen die Autos zu stauen. »Trotzdem schön, draußen zu sein«, sagte er. »Nichts zu meckern an dieser Kiste«, brüstete er sich ein wenig später. »Solange man volle Pulle fährt.« Dann: »Schauen Sie sich den an. Nein, dort, der da drüben! So ein Wichser, was? Drei Liter, Einspritzmotor, Antiblockiersystem – und was macht er? Kriecht mit achtzig Kilometern die Stunden dahin. Achtzig beschissene Kilometer die Stunde!« Als es niemanden mehr gab, den er überholen konnte, wurde er unruhig, schaltete das Radio ein und wieder aus, stellte die Belüftung an und wieder ab. Er hatte die Marotte, mit dem linken Fuß auf das Gaspedal zu wechseln und den rechten Fuß zwischen Sitz und Tür hochzuziehen. Das Ganze konnte er bewerkstelligen, ohne daß sich die Drehzahl des Motors merklich änderte, obwohl das Auto manchmal, während seine Aufmerksamkeit abgelenkt war, beunruhigend durch den Windschatten eines Achtachsers schlingerte. In einem Nebel aus Auspuffgasen brach sich das Sonnenlicht auf der Windschutz181
scheibe. Wir beobachteten zwei Krähen, die zögernd von der Standspur hüpften und nur widerwillig im Stich ließen, was sie dort gerade gefressen hatten. »Früher habe ich einen Lieferwagen gefahren«, erzählte er plötzlich. »Für eine Baufirma. War ein Mietwagen. ›Er läuft heiß, wenn man bloß ein bißchen länger hundert fährt‹, behaupteten wir, als wir ihn zurückbrachten.« Er lachte leise vor sich hin. »Und der Kerl vom Autoverleih sagte: ›Ein solcher Lieferwagen fährt überhaupt keine hundert.‹ Irre, Kumpel!« Er warf mir einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob ich ihm glaubte. »Einen Monat lang hatte ich diesen Job.« »Warum probieren wir es nicht ein paar Kilometer weit auf der A 5 und biegen dann bei Rugby auf die M 6 ein?« »Na gut.« Als wir die Autobahn verließen, segelte schwankend ein Ford-Kombi, vollgestopft mit Kindern, Sportwagen und Bettzeug, auf der Mittelspur an uns vorbei. »Ist das zu glauben?« Schließlich waren wir in Cheshire. »Jetzt könnte ich eine Tasse Tee vertragen.« Er legte seine Füße auf das Armaturenbrett, rieb sich erschöpft die Augen und schaute über den Parkplatz des Little-Chef-Restaurants auf einen Streifen Land mit einigen frischgepflanzten Bäumen, unter denen karges Gras wuchs. In der zunehmenden Dämmerung rannten ein paar Kinder rund um den Sockel eines rosafarbenen viereinhalb Meter hohen Drachens aus Fiberglas. »Wer baut denn bloß so ein Monstrum für Kinder?« meinte er und rutschte hinter dem Lenkrad hin und her, bis er einen Arm in seine Jacke aus wasserdichtem Stoff stecken konnte, die er linkisch über die Schultern zog. Er schien ehrlich bestürzt. »Wer sollte den in so was seine Kinder spielen lassen wollen?« »Bleiben Sie hier«, sagte ich. »Ich bringe Ihnen Tee.« »Klar, Mann.« 182
Im Little Chef gab es einen Teppichboden mit einem Muster aus Hakenkreuzen, deren einzelne Balken jeweils in einem kleinen Chefkoch endeten, der lächelnd einen gefüllten Teller hochhielt. An einem Tisch saßen drei Vertreter vor ihrer Mahlzeit aus Cheeseburgern, Fritten und einigen öltriefenden Blättern grünen Salats. Hin und wieder las einer von ihnen einen Absatz aus Today vor; die anderen lachten. Ich fand das Mädchen in der Abteilung für Nichtraucher. Sie war vielleicht dreizehn Jahre alt. »Überzeugen Sie sich, daß sie es ist«, hatte Gifco mir eingeschärft. Sie merkte, wie ich sie mit dem Polaroidfoto verglich und tat, als schaue sie aus dem Fenster, durch das sie die Autos auf dem Parkplatz sehen konnte; dahinter die Berge von Derbyshire, die sich weit nach Süden und Osten erstreckten, und davor den Fiberglasdrachen mit seinem schaffen Maul, der wie eine Disney-Figur hilflos gute Laune verkörpern sollte. Sie trug den gleichen Faltenrock wie auf dem Polaroid, dazu eine weiße Bluse, aber ihr Haar war zu einem Zopf geflochten. Als ich nähertrat, roch ich den leichten Duft von Wrights Seife. »Gifco hat mich geschickt, dich abzuholen«, sagte ich. Man hatte mich eindringlich ermahnt: »Sorgen Sie dafür, daß Sie das als erstes sagen – ›Gifco hat mich geschickt‹.« Eine Kellnerin erschien. Ich bestellte eine Kanne Kaffee, setzte mich und wartete, bis sie ihn serviert hatte. Dann fügte ich hinzu – denn was hätte ich sonst sagen können? –, »er freut sich darauf, dich zu sehen.« Colin spähte zur Tür herein, um sich zu erkundigen, ob sein Tee fertig sei. »Um Himmels willen!« rief ich. »Ich bringe ihn schon!« Er verschwand und eilte mit hochgezogenen Schultern rasch zum Auto zurück. Ich winkte dem Mädchen, nahm seine Siebensachen an mich und ging zur Theke, um zu zahlen. »Alles klar, Sir?« fragte die Frau an der Kasse. »Ja, danke.« »Möchten Sie noch was?« 183
Ich sah, wie sie das Mädchen besorgt anstarrte. »Nein, danke«, sagte ich. Die M 6 war völlig leer. Von dem Moment an, da Colin die Zufahrt hinunterschoß in die Dunkelheit, die nur selten von einem entgegenkommenden Scheinwerfer unterbrochen wurde, umgab uns der Wille eines anderen wie der Geruch im Innern des Autos. Trotz unserer Geschwindigkeit schienen wir irgendwie nicht voranzukommen. Colin redete kein Wort mit mir. Wenn die Gegenwart des Mädchens uns beide voneinander isolierte, schien das, was ich über sie wußte, uns alle drei von unserem Menschsein loszulösen. »Das Opfer«, hatte Gifco mich belehrt, »hat seine ganz eigenen Kräfte.« Sie machte es sich auf dem Rücksitz bequem und war zuerst so still, daß ich nach ein paar Minuten fragte: »Ist alles in Ordnung?« »Mir gefällt dieses graue Fell«, sagte sie und berührte den Sitzschoner. »So weich wie eine Katze.« Dann: »Mir wird nicht oft im Auto schlecht.« »Ist dir warm genug?« »Das letzte Mal, als wir mit Daddy auf der Autobahn gefahren sind, haben wir drei tote Katzen gesehen«, sagte sie plötzlich. »Zu Hause entdeckten wir dann, daß unsere eigene Katze in einen Rasenmäher geraten war. An einem Vorderbein war das ganze Fleisch weggerissen. Wo sonst die Haut war, konnte man lauter komische Linien sehen. Man weiß nie, ob es Knochen oder Sehnen sind oder sonst was, nicht? Sie hat uns dauernd mit der Pfote angetippt und geschrien, und überall in der Küche war Blut. Mammy war ganz komisch danach. Jedesmal, wenn sie etwas am Straßenrand oder im Rinnstein sah, mußten wir anhalten.« Sie lachte. »Ist das ein toter Vogel?« äffte sie ihre Mutter nach. »Ist das der Gehstock von jemandem oder nur ein zerbrochener Regenschirm?« Möglicherweise entnervt, begann nun auch Colin zu reden … 184
Er hatte als kleiner Junge den tollsten Film gesehen, den es überhaupt gab. »Flying Tigers, verdammt aufregend!« Jetzt las er gerade ein Buch über das Auschwitz-Museum. »In Birkenau«, sagte er, »hat man den weiblichen Gefangenen das Haar abgeschnitten, ehe sie vergast wurden, und es dann an Fabriken verkauft als Füllmaterial für Matratzen. Ist das zu glauben?« Ich erklärte, das sei es durchaus. »Aber das schlimmste ist – sagen Sie mir, wenn ich mich irre –, daß in manchen Betten immer noch einige dieser Matratzen liegen könnten. Oder etwa nicht?« Er machte sich Sorgen um seine Mutter. »Sie soll demnächst für ein paar Tage ins Maudsley.« Es hatte sich herausgestellt, daß sie an irgendeinem Knochenleiden erkrankt war. Ein gebrochenes Handgelenk war nach zwei Monaten in Gips noch nicht verheilt und mußte wahrscheinlich genagelt werden. »Es passiert immer jemand anderem, nicht wahr? Krebs, Flugzeugabstürze, Fahren im Suff, nie bist du es, dem das zustößt.« Einen Moment lang starrte er stumm geradeaus. »Es passiert immer jemand anderem.« Er wollte ironisch sein, aber es klang viel eher melancholisch. »Schauen Sie!« Unsere Schatten wurden durch die Scheinwerfer des Wagens hinter uns auf ein enormes Hinweisschild geworfen. Für kurze Zeit wirkten wir so überlebensgroß wie auf einer Filmleinwand – und dennoch irgendwie so gemütlich wie die Silhouette eines alten Ehepaares, das zusammen in seinem Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Dann ging die Fahrt weiter wie eine Serie von langen, zähen Momenten, die ohne Zusammenhang ineinander übersprangen, bis wir die Außenbezirke von London erreichten, wo der Verkehr sich unter dickem orangefarbenem Licht im Kriechtempo dahinschleppte und Auspuffgase die 185
abrupten Schnitte zwischen den einzelnen Bildern ausfüllten. Vor dem Odeon-Kino in Holloway kämpften zwei Männer miteinander. Das Mädchen war eingeschlafen, ihr Gesicht war ausdruckslos, den Kopf hatte sie gegen das Fenster gelehnt. Bei jeder Bewegung des Wagens rutschte er hin und her. Sie schien es nicht zu spüren, als ich mich umdrehte und einen zusammengefalteten Pullover dazwischenschob. Später – es könnte auch im gleichen Moment gewesen sein – schaute ich auf und glaubte, blühende Rosen in einem Garten auf dem Dach des Polytechnikums von North London zu sehen. Rasenflächen umrahmten breite, symmetrische Beete mit ›Ballerinas‹, die auf Hochstämmen aufgepfropft waren; zwischen ihnen blühten Lilien. Hundsrosen und Schneeballblüten ergossen sich wie ein Schwall dicker, schwachrosa Sahne über alte Backsteinmauern und Pfade, auf denen samtiges hellgrünes Moos schimmerte. Weiße Kletterrosen überwucherten einen Apfelbaum; die Zweige einiger Weiden fluteten wie gelbes Haar in starkem Wintersonnenlicht über die Brüstungen des Gebäudes; Heckenrosen bildeten ein dichtes Gewirr. Ein weißer Leopard kauerte zwischen den Rosen. Er war viermal so groß wie im wirklichen Leben, und sein Schwanz peitschte hin und her wie der einer Hauskatze. Andere Gebäude hatten enorme Mengen alles überwuchernder Blumen hervorgebracht; weitere Tiere ruhten sich dort aus oder liefen wie eingesperrt zwischen den Versorgungsrampen und der zentralen Heizungsanlage hin und her – Paviane, riesige Vögel, eine Schlange, die sich langsam um sich selbst drehte. »Die irdische Rose ist die Lilie des Himmels.« Der schwere Duft von Rosenöl war so stark, daß die ganze Straße davon erfüllt schien; wie Lichtstrahlen durch einen Schleier drangen durch diesen Duft die scharfen Gerüche der Menschen nach gebratenen Nahrungsmitteln, Bier, Benzin. Colin bremste plötzlich. »Jesus!« sagte er. 186
Das Heck eines Kühllasters, der in großen weißen Lettern den Schriftzug TRANSFIGORANTE trug, ragte nur wenige Zentimeter von der Windschutzscheibe entfernt auf. Ich sprang mitten auf der Straße aus dem Wagen und brüllte durch die offene Tür in die Hitze, den Gestank und Colins bleiches, überraschtes Gesicht: »Ich laufe von hier aus nach Hause.« »Was?« Heftig knallte ich die Tür zu. »Ich laufe!« Die ganze Nacht lang lag ich wach. Meine Frau drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere. »Kannst du immer noch nicht schlafen?« fragte sie. »Ich mache mir eine Tasse Tee.« »Verbrauch nicht die ganze verdammte Milch.« Am nächsten Morgen ging ich zögernd zum Gifco-Haus. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, aber ich fand dort weder Colin noch das Mädchen. Abgesehen von den aufgereihten Büchern war das Zimmer, das wir benutzten, dunkel und leer. Im Lauf der Wochen hatten sich in ihm Hitze und Feuchtigkeit aufgestaut, so daß man kaum noch atmen konnte und den Eindruck hatte, die drückend schwere Luft würde sich gleich in etwas anderes verwandeln. Das Zimmer besaß einen ganz unverwechselbaren Geruch. Aber heute war noch etwas dazugekommen. Parfüm. Schweiß. Irgendein scharfer Körpergeruch, bei dem mich eine gespenstische Vorahnung überfiel. Ein Lichtstrahl zog sich über den Boden und traf auf zwei Polaroidfotos zwischen den Linoleumfetzen. Ich hob sie auf. Eines zeigte das Mädchen, das wir aus Cheshire zurückgebracht hatten. Es lag mit gespreizten Beinen in einer Ecke des Raums und war nackt bis auf ein weißes, spitzenbesetzes Höschen mit hohem Beinausschnitt, um den Schamhügel zu betonen, das für eine doppelt so alte Frau bestimmt war. Ihre Rippen und die kindlichen Brustwarzen zeichneten sich im Licht 187
der vierzig Watt Birne ab, in den Höhlungen der Schultern sammelten sich Schatten. Ihr Gesicht trug einen versonnenen, in sich gekehrten Ausdruck, aber man konnte beinahe hören, wie sie ungezogen über etwas lachte, das ein Erwachsener gesagt hatte. Das andere Foto zeigte eine Frau, die starke Ähnlichkeit mit meiner Ehefrau hatte. Sie trug einen langen pinkfarbenen Unterrock aus Satin, ihr Haar war zerzaust, ihr Gesichtsausdruck nur schwer zu deuten. Ich erinnerte mich daran, wie meine Frau einige Zeit nach dem Tod unserer Tochter zu mir gesagt hatte: »Warum schlafen wir nicht mehr miteinander?« Und dann: »Ach, um Himmels willen, ist ja auch egal.« Ich wartete auf Colin, aber er kam nicht. Der halbe Nachmittag war schon vorüber, als ich schließlich das Haus verließ und durch die Rye Lane zurückging. Beladen mit Plastiktüten aus dem Supermarkt schleppten sich Frauen im heißen Sonnenschein den Hügel hinauf. »Ich glaube, John läßt mich doch diese Uhr kaufen«, hörte ich eine von ihnen sagen. »Du weißt schon, diese Nilpferduhr. Er hat sie sich nämlich neulich im Argus-Katalog angeschaut.« Als ich nach Hause kam, war meine Frau weg. Ich ging durch alle Räume und rief: »Mary, Mary?« Im Schlafzimmer herrschte Chaos, die Gardinen waren halb zugezogen, Make-up und Unterwäsche aus den Schubladen gerissen und über den Teppich verstreut – lauter Anzeichen eines Kampfes, aber nicht unbedingt mit jemand anderem. Die Badewanne war mit heißem Wasser gefüllt, Dampfschwaden trieben durch das ganze Zimmer. Es roch stark nach Rosenöl, das sie besonders liebte. Auf das beschlagene Fenster hatte sie etwas in Spiegelschrift geschrieben, mit sorgfältigen Großbuchstabe, so daß man es von draußen lesen konnte: GIFCO, LASS UNS IN RUHE. Die Tür zum Balkon stand weit offen.
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WHITLEY STRIEBER
Eins mit dem Tier Barbie roch Zigarettenrauch und bekam Lust, selbst eine zu rauchen. »Ken, sind hier irgendwo Zigaretten?« »Boomie hat vor ein paar Wochen das Wohnzimmer damit vollgestopft. Das weißt du doch.« »Was soll ich mit diesen Baumstämmen! Ich meine unsere Puppenmarlboros.« »Die kann man nicht rauchen.« Kens Stimme klang genervt. Wirklich ein Heini, dieser Ken. Er gab sich noch nicht einmal den Anschein, als ob er die Wendeltreppe zu ihrem Schlafzimmer hochkommen wolle. Dafür tat er aber doch wahrhaftig, als rede er mit dieser doofen Elvispuppe, die Boomie sonst in der Garage einquartiert hatte. Jedesmal, wenn die Großen weggingen, legte die Elvispuppe los mit ihrem ›Haon dowg, haoon dowwggg‹, wieder und immer wieder. Hoffentlich hatte Boomie sie bald so satt, daß sie ihr den Kopf mit diesen entsetzlich seelenlosen Glotzaugen abriß, wie der scheußlichen Trachtenpuppe, die Grammy ihr geschenkt hatte. Ken war so anders. Ein Junge sollte auf Coke stehen, auf Fritten und alle möglichen Sportarten, die gerade angesagt waren. Er sollte nach Haarwasser riechen, Klein-Doofie-Witze erzählen und bei einem Rendezvous einen Kuß erwarten. Oder, falls sie verheiratet wären, ohne irgendwelche ärgerlichen Abweichungen die Rolle von Hugh Beaumont spielen. Da hatten sie hier nun dieses wunderschöne Heim und einen großen weißen Ferrari und alles, und von ihm kam immer und immer nur Gejammer und Gewinsel. Sie seufzte erbittert. Nie würde sie Ken loswerden. Ein Jammer, daß die Mr. Bill-Show nicht mehr lief. Sie hatte gehofft, Beaky würde im Zusammenhang damit irgendwann mal auf die Idee kommen, Ken den 189
Kopf zu zerquetschen, ihm die Arme auszureißen oder so was. Nie würde Ken erwachsen werden. Bestimmt blieb er einfach so, wie er war. Boomie zog ihm manchmal die Hosen runter. »Ohoho«, kicherte Barbie. »Was soll das?« »Ich dachte gerade an deinen Penis.« Ken hatte gar keinen, bloß so eine Art Beule. Beaky hatte mal vorne etwas in seine Hose gestopft und wußte wohl, wie ein richtiger Penis aussah. Ken war eben jämmerlich unterentwickelt – ein schrecklicher Fehlschlag in dieser Hinsicht. Barbie hatte Make-up, einen ganzen Schrank voll Kleider und alles, was dazugehörte. Aber was nutzte das, wenn sie nie ausging? Warum gab es auch keinen Barbie-Nachtclub oder ein Barbie-Kino, wo man richtige Filme spielte? Sie wollte Dumbo sehen und Mary Poppins und 101 Dalmatiner. »Ich will ausgehen, Ken. Ich bin dazu gemacht, mit jemandem auszugehen und so. Warum können wir nicht mal miteinander weg?« »Klappe, du miese Schlampe. Selbst wenn ich einen Penis hätte, brächte es niemandem was. Du hast ja keine Vagina.« »Ach, fick mich!« »Genau das kann ich eben nicht. Falls ich nicht irgendwo einen Bohrer finde, der funktioniert.« »In deinem Werkzeugkasten ist einer; nimm den!« »Ein Spielzeugbohrer, der nicht läuft und auch nie laufen wird. Ich habe ihn mir angeschaut; er hat überhaupt keine beweglichen Teile. Es ist nur ein Klumpen aus billigem Plastik wie die ganze übrige Scheiße hier.« »Meine Kleider sind hübsch.« »Blödes Gelump aus einem Alptraum von Barbara Cartland. Und erst die Overalls, in die man mich steckt! Jesus, ich sehe aus wie eine lächerlich kostümierte Farmerpuppe.« »Du könntest mit deinem Freund Elvis die Kleider tauschen.« »Wie denn, wenn man sich keinen einzigen Millimeter be190
wegen kann? Und womit – etwa mit diesen schlampig gemachten Händen? Die Finger sind bloß angedeutet und kleben alle zusammen. Nicht mal knicken lassen sich die Mistdinger.« Barbie tat, als betrachte sie ihre Hände und rieche daran. »Meine Hände sind hübsch. Meine Haut ist hübsch. Ich rieche herrlich!« »Nach Plastik.« Gerne hätte sie ihn näher bei sich gehabt. Ken mochte vielleicht eine absolute Null sein, aber außer ihm hatte sie schließlich niemand anderen. Elvis würde sie jedenfalls nicht mal einen Blick schenken. Er hatte billiges Plastikhaar. »Ich wünschte, Boomie würde mir meine rosa Hosen und den Pullunder anziehen, mir meine Pferdeschwanzperücke aufsetzen und mich zum Strand bringen«, sagte sie. »Ich könnte dort liegen, in die Sonne schauen und der Brandung lauschen.« »Und was ist mit mir? Was ist mit dem alten Ken? Erst willst du dich an mich kuscheln, und in der nächsten Sekunde hast du nur noch den Strand im Kopf. Barbie, du kannst dich auf gar nichts konzentrieren, nicht mal eine Sekunde lang.« »Ich will rauchen. Boomie und Teresa rauchen. Beaky hat es ihnen beigebracht.« »Jedesmal, bevor Beaky ihnen Zigaretten gibt, läßt er sie ihre Röcke hochheben.« »Ich ließe Beaky auch unter meinen Rock schauen, wenn er mir das Rauchen beibringen würde.« »Blöde Idiotin.« Ken tat, als schließe er die Augen. Sie haßte es, wenn er das machte. »Komm schon, Ken, sei nicht so eklig. Warum tun wir nicht, als würden wir dieses herrliche Schinkensandwich essen …« »Das auf dem Küchenfußboden herumliegt, seit Boomie das Interesse an uns verloren und vergessen hat, daß wir existieren! Und du willst doch nicht wirklich, daß Beaky an dir rumfummelt? Kapierst du nicht? Er ist erst elf, aber er mißbraucht beide Mädchen direkt vor unseren Augen, weil es ihm scheiß191
egal ist. Wir sind ja bloß Puppen und können nicht reden und absolut nichts dagegen tun!« »Er hat seine Hosen ausgezogen und Boomie hinschauen lassen. Ganz ausgezogen hat er sie. Bumm-tatta, bumm-tatta, bums!« »Du verrückte Schlampe! Er entblößt sich wie ein sexbesessener Pavian! Aber die Mädchen nutzen ihn genauso schamlos aus!« »Ich finde, er ist sehr romantisch. Wie sie sich immer alle verkleiden … die Mädchen in Mommies aufreizend engen Röcken, und er zieht sich an wie du, Ken, ohne Unterhosen.« »Klar trägt er keine Unterhosen! Diese Kinder kommen hier herein und treiben Sexspielchen, und ich kann nicht die Bohne dagegen machen! Verflucht, könnte ich mich nur richtig erinnern – war ich nicht – habe ich nicht … O Gott, ich war Psychologe!« Sie versuchte zu begreifen, weshalb er sich dauernd so aufregte. Er lag auf der Seite, direkt an der Wand. Das mußte es sein: Diese ungezogenen Mädchen sollten ihn nicht auf die Seite legen. Sie müßten doch wissen, wie schlecht sich ein Mann fühlt, wenn er monatelang einfach so daliegt und auf einen kaputten Spielzeugfernseher starrt! Aber eigentlich war er ja überhaupt kein Mann. »Wir sind keine Puppen«, kreischte Ken. Er grunzte, stöhnte, versuchte, sich zu bewegen. »Wir sind in der Hölle! Die Hölle ist das Spielzeugland! O Gott, kapierst du? Dabei habe ich doch gar nichts Schlechtes getan. Nein, bestimmt nicht! Ich war Kinderpsychologe, mein Name war Harvey Feinman. Ich bin gestorben, Barbie!« »Ach, Ken, ich hasse es, über den Tod zu reden, das weißt du!« »Haooon, haoonn«, legte die Elvispuppe los. »Haoon dowwggggg!« »Halt die Klappe, du elender Jammerlappen! Du bist ja gar 192
keine Barbie-Puppe, keine echte jedenfalls.« Die Richtung, die diese Unterhaltung nahm, gefiel ihr nicht. Nein, gar nicht. »Ach, Ken, ehrlich – ich wünschte, ich hätte mein Strandkleid an und meinen hübschen rosa Wasserball dabei. Du könntest deine Badehose anziehen, und dann gingen wir an den Strand.« »Wir sind verloren, wir sind vergessen! Andere erwartet der Himmel, das ewige Leben, und was ist unser Los? Wir müssen krankhaft sexbesessenen Kindern zuschauen, die sich gegenseitig unter ekstatischen Verrenkungen wie die Irren befummeln! Und dabei weiß ich, wie man sie rettet, sie erlöst!« »Haaaoooonnnnn …« »Klappe, Arschloch. Elvis ist tot, und du bist auf dem besten weg, in der Mülltonne zu landen! Du fliegst auf den Müll, ha ha! O Scheiße, ich klinge bereits wie Ken, der kurz vor dem Überschnappen steht – hohlköpfig und dämlich und beschissen! So eine Kacke! Ich bin Psychologe, mein Name ist Harvey Fummammmfumma – wie zur Hölle ist mein Name!« »Feinman.« »Genau! Ja, richtig! Danke, Puppe. Wenn ich Psychologe bin, muß ich auch den Fachjargon kennen! Und ich kann mich entsprechend ausdrücken! Ich muß nicht klingen wie der unterbelichtete Strandcasanova einer verfluchten Puppe! Eine regressive Verlagerung des Bewußtseins – siehst du! Scheiße, jawohl! Aus dem Gedächtnis zeichnete der Patient für mich ein beeindruckendes Bild seiner Mutter und bot – und bot … Barbie, ich glaube, ich will dieses Sandwich! Ich will dieses Plastiksandwich! Hilf mir, Barbie!« Er war völlig außer sich, gar kein Zweifel. Warum konnte er sich nicht einfach entspannt zurücklehnen und den Spielzeugschallplatten lauschen, die sich auf dem Plattenteller der tragbaren Barbie-Stereoanlage drehten? Warum nicht? Sie machte es doch auch. Sie tat es den ganzen Tag lang. Ken war einfach so – durch und durch anders. »Ich mag keine Jungen, die an193
ders sind«, sagte sie schüchtern. »Ich glaube nicht, daß ich dich mag, Ken.« »Haaaoooonnnn dowwwggggg …« »Hound dog!« brüllte Ken. »Gottverdammt, Elvis, es heißt hound dog!« »Ken, er singt, weil er traurig ist. Hast du nie das Gefühl gehabt, irgendwie ganz am Boden zu sein und deswegen unbedingt was singen zu müssen? ›When the ole hooty-owl hootyhoos to the dove …‹ Fühlt man sich da nicht gleich besser? Ach, Ken, du bist so anders!« »Und du bist Ruth Rausch, weltweit als Koryphäe auf dem Gebiet der Psychometrie anerkannt, der erste Mensch, der die Chaos-Theorie in das vierdimensionale psychometrische Modell eingefügt hat und erfolgreich das Auftreten von psychopathologischem Verhalten unter den Insassen eines Gefängnisses voraussagte!« »Hä?« »Ain’t nothin’ but a …« »Klappe! Halt’s Maul, Elvis!« »Haaaooouuuunnn dooowwwggg!« Barbie ließ sich den Namen Ruth Rausch durch den Kopf gehen. »Marlboros«, sagte sie. »Marlboros?« »Ich habe Marlboros geraucht. Kettenraucherin. Meine Güte, wie ich gestunken habe. Ich hatte Teer und Nikotin im Blut. Es war herrlich.« »Ja! Weil du lebendig warst. Lebendig!« »Oh … ich kann mich an Kolibris erinnern und an meinen Hochzeitskuchen, und meine Großmutter trug ein weißes Kleid … und ich erinnere mich an Briefmarken und Jarlsberg-Käse und Chevys und Moulin-á-Vent!« »Ich erinnere mich an Trinksprüche, an den Verband amerikanischer Psychoanalytiker und den Gedanken ans Arschfikken!« 194
»Ich erinnere mich an Frühstücksspeck und durchgehend geöffnete Restaurants und Karamelcreme, und meine Mutter hatte einen Leberfleck an ihrem linken Arm!« »Oh, ich hatte Kinder! Sie hießen Jennifer und Scott, und ich mußte sie verlassen, als sie noch ganz klein waren. Ach, Barbie …« »Ruth!« »Ruth, ich vermisse meine Kinder! Ich will meine Barbies wiederhaben!« »Harvey, wir müssen hier raus. Irgendwas müssen wir machen, bei irgend jemand müssen wir doch Einspruch einlegen können.« Sie erinnerte sich an einen Gerichtssaal, an einen Clown mit einem falschen Heiligenschein – oder war es ein Engel gewesen, irgendein mieser, drittklassiger Engel namens Scrubble oder so, und er hatte gesagt, sie könne einen Ferrari und alle möglichen Kleider haben – »ICH BIN BETROGEN WORDEN!« »Haaouunn dooowwwgggg!« »Er weiß es! Er hat uns die ganze Zeit hier mit seinen gräßlichen Glasaugen in diesem Plastikkopf mit den scheußlich nach hinten gestriegelten Kunststoffhaaren beobachtet. Ich verfluche dich, Elvis!« Sie hätte am liebsten ausgespuckt, aber sie hatte keinen Mund, keinen richtigen, und konnte deshalb nur so tun, als ob! »Ruth, wir waren gemeinsam auf einer Konferenz. Wir standen in einem Fahrstuhl, und statt daß er uns hinaufbrachte zur Gästesuite von Roche Pharmaceuticals, fuhr er nach unten. Er fuhr sehr, sehr schnell, und dein …« »Mein Kleid! Der Rock fliegt hoch bis über meinen Kopf! Ich hebe vom Boden ab, wir werden gegen die Decke geschleudert …« »Und dann sind wir – wir sind …« »Es sieht aus wie ein Gerichtssaal! Wir werden abgeurteilt.« »Ich dachte – das Finanzamt – Steuerhinterziehung. Ist das 195
auch eine Sünde?« Ruth erinnerte sich an die Verhandlung. Es hatte ein Popmusik-Quiz gegeben, bei dem Harvey nicht in der Lage gewesen war, zehn Hits von Rosemary Clooney zu nennen, und so waren sie zu dieser Hölle verurteilt worden. Sie erinnerte sich, wie sie durch eine schemenhafte Welt trieben, durch einen Wald, dessen Wunder ihnen bewußt wurden, eine pulsierende Straße hinunter, hinein in dieses Haus, in dem das wahre Licht Gottes leuchtete, zu den Kindern Boomie und Beaky und Teresa, und sie hatte geglaubt, sie sei direkt im Himmel gelandet, als sie in Boomies Armen lag, und ganz plötzlich wußte sie, daß sie eine Barbiepuppe war, und eine prickelnde Erregung hatte sie erfaßt – unbeschreiblich und durch nichts zu übertreffen … »Wir sind … es ist eine Falle!« Harvey antwortete nicht. Er war mucksmäuschenstill geworden, und Ruth wußte, warum. Jemand stürmte in den Keller; man hörte lautes Gebrüll, heftiges Atmen, das Schmatzen von Lippen, man roch den schweren, salzigen Geruch von Jungen. Plötzlich ertönte Beakys Stimme: »LOS, JUNGS, WIR MURKSEN IHRE PUPPEN AB!« »O Scheiße«, sagte Harvey. Sie fühlte, wie die großen Hände des kleinen Jungen sie packten; sie sah einen Kratzer, einen Schmutzfleck und Schweißperlen auf dem breiten, glatten Handrücken, als sie hochgehoben wurde, hinauf bis zum Gipfel der Welt – ihr Haus war jetzt nur noch ein bißchen Plastik an der Wand eines Spielzimmers im Kellergeschoß. »O Gott, Ken, mit uns hat jahrelang niemand gespielt!« Es roch scharf nach verschwitzter Haut und Zigaretten, und sie sah die gelben Nikotinflecke an den Fingern, die ihren Leib zerdrückten. Ken schoß verschwommen an ihr vorbei, dann gab es einen schrecklichen Ruck, und ganz plötzlich war alles dunkel; es stank nach vergammelten Süßigkeiten und Popcorn, nach alten 196
dreckigen Taschentüchern und Schweiß. »O Ken …« »Harvey, bitte, Liebes. Nenn mich von nun an Harvey.« Elvis wurde hinterhergeworfen und landete auf ihnen. Er war größer und erstaunlich schwer. Ruth war völlig verdreht, ihr Kopf stand schief, Arme und Beine waren verkrümmt. Sie erinnerte sich daran, daß sie hübsch gewesen war, sie erinnerte sich an Oralsex, sie erinnerte sich daran, wie sie ihren Patienten zuhörte, während sie die Fliegenkleckse an der Decke zählte. Sie erinnerte sich an richtiges Essen und das wundervolle Gefühl, Stuhlgang zu haben, und wie Männerküsse schmeckten, und ans Tanzen, ans Autofahren und den Geruch gebackener Bohnen, und den Klang der Stimme ihres Versicherungsagenten. »Ich bin lebendig! Ich war immer ganz lebendig!« »WIR MACHEN DIE SCHEITERHAUFEN GLEICH DA DRÜBEN.« »DEINE MOMMA …« »DIE IST IM SUPERMARKT. DAS WIRD ECHT GEIL.« »ICH WILL JEMAND RICHTIG LEBENDIGEN AUF EINEM SCHEITERHAUFEN VERBRENNEN.« »GEHT NICHT, NICHT HINTER UNSERER GARAGE.« »DIESER SCHWACHSINNIGE ALTE GORDO. DEN LOCKEN WIR IN CLANCYS WALD!« »UND WENN MAN UNS ERWISCHT …?« »MACHT AUCH NICHTS; WAS KANN UNS SCHON PASSIEREN? WIR SIND DOCH NOCH NICHT STRAFMÜNDIG! ICH MÖCHTE GERN MAL SEHEN; WIE EIN MENSCH BRENNT.« »ICH AUCH.« Ruth schrie und kreischte, aber sie war vollkommen wehrlos. Sie fühlte, wie eine enorme Faust sie in die Höhe hob und spürte den Strick, der rund um ihren Körper gewickelt wurde, ehe man sie an dem Pfosten in einem Scheiterhaufen festband. Der blonde Junge mit den sanften kindlichen Augen und den 197
unschuldigen Lippen eines Babys wirkte so rein wie das Sonnenlicht. Ihr gegenüber stand Ken, aber es gab noch weitere Scheiterhaufen, ungefähr zehn, mit Puppen, die sie nie zuvor gesehen hatte – eine Barbie ohne Haare, ein paar altmodischere Puppen, eine Wonder-Woman, auch Elvis, und alle waren an Pfählen in Scheiterhaufen festgebunden. Die Jungen sammelten weitere Zweige, die sie zu Füßen der Puppen stapelten. Ruth war schlecht vor Angst. Sie erinnerte sich an die Arme ihres Ehemannes und die Umarmung ihres Vaters und die Verleihungsurkunde ihres Doktortitels an der Wand und an die Tatsache, daß ihre Autoversicherung bald ablaufen würde. Die Jungen spritzten auf jeden der kleinen Stapel etwas Feuerzeugbenzin. »Wir sind lebendig!« schrie Harvey. »Lebendig!« »Gott hilf uns!« »Ihr Kinder! Halt! Könnt ihr nicht sehen, was ihr da macht! Laßt das!« Sie hörten nicht den Hauch einer Antwort, denn alles wurde übertönt vom Gesang der Vögel und den lockenden Rufen der Zikaden. Es war ein sanfter Sommertag, am blauen Himmel trieben kleine weiße Wolken, irgendwo in der Nähe ratterte ein Rasenmäher, und ein Engel sang. In seinem Lied vernahm Ruth etwas ganz Außergewöhnliches, das sie zu der Erkenntnis brachte, daß nichts, gar nichts so war, wie es erschien, alles war vollkommen anders, alles auf der Welt verlief nach Regeln von unvorstellbarer Kompliziertheit und Wirkungskraft; es waren Regeln, die der menschliche Geist bislang nicht einmal im Ansatz erahnt hatte, und das war der Grund dafür, warum der Engel ihr als eine große, auf und ab wippende Mickey Mouse erschien, die eine Gondel trug, vollbesetzt mit verängstigten Touristen. Der Garten Eden? Die Akademie-Brücke? Dann kam das Feuer, ein eifrig vorandrängendes kleines 198
Feuer, das eilig auf ihre Beine zuraste. Sie versuchte, irgendein Zeichen zu machen, damit die Jungen erkennen würden, was wirklich geschah. Aber die saßen Hand in Hand nebeneinander wie Babies, die sich einen spannenden Film anschauten; in ihren Augen spiegelten sich die Flammen, und das Feuer kam näher und näher. Dann jaulte Harvey auf, denn seine Beine standen in Flammen. Er verbrannte, er verbrannte bei lebendigem Leib, und keiner wußte es; er war nur irgendeine alte Puppe, wen scherte das schon? Aber ihm tat es weh; sie konnte seine Schreie hören. Auch andere begannen jetzt zu kreischen; das krächzende Ma-ma der älteren Puppen mischte sich mit dem furchtbaren Schrei »Haaaooooouuuuunnnn doooowwwwgggg«, der zum Himmel aufstieg. Glasaugen versanken in brodelnden Plastikgesichtern, und Schmerzen, die schrecklicher waren als alles, was sie sich jemals hätte vorstellen können, zerfraßen ihre Beine, gruben sich tief wie mit Krallen in sie hinein, bereiteten ihr entsetzlichere Qualen als ein menschliches Wesen sie erfahren konnte. Rauch und Feuer hüllten sie ein und erstickten sie; die Flammen loderten aus ihrem Mund, ihrer Nase; ihre Augen sanken zurück in den Kopf, und von weit, weit her hörte sie: »AAAHHHH, OOOOOHHHH, SCHAU SIE DIR AN!« Einer der Jungen lachte, und einer schrie: »HAB DOCH GESAGT, DAS IST GEIL!« Und ganz ehrfurchtsvoll alle zusammen: »SIE SEHEN AUS WIE SCHMELZENDE MENSCHEN, BEAKY.« Dann ist es dunkel, und ihr ist kalt, so furchtbar kalt, als spüre sie die Kälte aller gequälten Frauen, die es je auf der Welt gegeben hat, und ein Engel steht vor ihr mit Eintrittskarten zum Garten, und sie darf endlich hinein. Überall um sie herum sind riesige purpurfarbene Blumen, in deren Adern rotes Blut pulsiert, und gewaltige Traubenbüschel 199
voller Beeren, die Giganten zur Nahrung dienen, und die Götter schreiten in ihrem Garten einher wie Dinosaurier; in ihren Augen leuchtet lebhafte Neugier. Sie war eine Beere geworden und Harvey ebenfalls, eine kleine fleischige Beere, und ein riesiger Gott mit einem Schlangenhals kommt heran, streckt seine lange Zunge aus und zieht sie in Richtung seines Mauls. Sie riecht seinen stinkenden Atem, als sie hoch hinaufgehoben wird in die dampfige, uralte Luft des Gartens, eine dicke, säuerliche Beere im Maul eines Dinosauriers. Undeutlich erkennt sie, daß dies schon lange her ist, und sie fühlt sich sehr verloren. Sie wird gekaut, und es tut irgendwie schrecklich weh, als ob sie in einem abstürzenden Lift zerschmettert oder von einer Dampfwalze überrollt würde. »Mein Name ist Ruth, und ich erinnere mich an Kirschcola.« Sie kennt die wahre Natur der Welt. Ein Schraubstock umfaßt ihre Brust. Sie kann nicht reden, kann nicht einmal mehr denken, aber sie kennt die absolute Wahrheit! »Haaaooouuunnn dooowwwggg!« Elvis ist eine Rakete; sie haben Feuerwerkskörper in seinen Leib gesteckt, und er zischt hinauf in den Himmel; flackernd fährt Elvis himmelwärts, in den ewigen Himmel, auf Grund des Urteils zweier sadistischer kleiner Jungen, die nicht mal einen Roman lesen und St. Petrus nicht von Adolf Eichmann unterscheiden können. Und Harvey – er lebt im Klappern des Eisenbahnzugs, im Zischen der großen Türen und im Heulen der Masse, er ist die Dunkelheit und das nächtliche Leid, eine Fotografie auf einer Anrichte, die Erinnerung eines Jungen an seine Bar Mitzvah, das Blinzeln eines Augenlids, und dann ist nur noch Vergessen … Die riesigen Tiere des Gartens gleiten oder schreiten einher, manche fliegen mit Fledermausflügeln, und es gibt Insekten mit Augen wie die Kanzeln in Bombenflugzeugen. Außerhalb der atmosphärischen Hülle der Welt gab es einen Meteor, der 200
sich seit Beginn der Zeit im Fallen befunden hatte; er tropfte von den Fingern Gottes, ehe der Erdball ein geschmolzener Strahl am Himmel war. Bald wird er den Garten zerschmettern, als Schwert des Engels, und Dante, der an der Seufzerbrücke zaudert, wird einen Kiesel in den Po werfen … Alles, was den Dinosauriern folgt, wird ein Traum sein. Sie schwimmt in der schwappenden Säure eines Bauchs, wird eins mit den Atomen des Tieres, verliert alle Erinnerungen an Barbie und Ruth und Ken, an alles, was sie jemals gekannt hat, an William Blake und Sauerteigbrot und eßbare Geburtstagskerzen und den Gestapohenker Klaus Barbie; sie spürte, wie sie eingeht in das Wesen des Tieres, in sein dichtes, zitterndes Fleisch, die formlosen Höhlen seines Gehirns, wo inmitten der Erinnerungen an Beeren und Blätter unausgereift die gesamte Zukunft der Welt schlummert.
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TEIL DREI Willkommener Tod
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THOMAS TESSIER
Zum Lob der Narretei Die Straßenkarte auf dem Beifahrersitz, die Klimaanlage im Wagen und Saties Klaviermusik aus den Lautsprechern machte die Fahrt nach Norden zu einem ungetrübten Vergnügen. Gott sei Dank für solche kleinen Annehmlichkeiten, durch die das Leben erträglich wurde, besonders in einem Sommer wie diesem. Es war August. Die drückend heiße Luft schien zu einer schwülen, gelatineartigen Masse geronnen, in der alles erstickte. Die Menschen bewegten sich, wenn überhaupt, nur träge und benommen, als trieben sie in einer zähen Schmelzflüssigkeit. Oben in den Adirondacks, in kühler und trockener Gebirgsluft, war es sicher besser. Roland Turner befand sich jedoch nicht, wie zahllose andere Urlauber, auf der Flucht in eine angenehmere Umgebung. Er war vielmehr – das hoffte er zumindest – auf einer Entdeckungsreise, auf einer Ein-MannExpedition, deren Ziel eine echte architektonische Spinnerei war. Roland war einer der ganz wenigen Amerikaner, die der Folly Fellowship angehörten, einer in London beheimateten Vereinigung, die sich erklärtermaßen darum bemühte, ›das Vergnügen an einsamen und vernachlässigten Bauwerken und Anlagen ohne irgendwelche Zweckdienlichkeit zu fördern, sie zu schützen und solche extravaganten Konstruktionen ins Bewußtsein zu rücken‹. Vor zwei Jahren hatte er zufällig von dieser Organisation erfahren, als er in einer Buchhandlung in Connecticut über eine Ausgabe ihres vierteljährlichen Magazins stolperte. Die Fotografien waren faszinierend, der Text spannend und witzig. 203
Eine typisch englische Überspanntheit, dachte er damals, eine dieser Geschichten, die ein Jahr oder zwei Bestand haben und dann allmählich im Sand verlaufen, wenn die Begeisterung und die finanziellen Mittel abnehmen. Er erkundigte sich brieflich, ob die Gesellschaft noch existiere und erhielt zu seiner Überraschung tatsächlich Antwort vom Präsidenten und Herausgeber der Verbandszeitschrift persönlich, einem gewissen Gwyn Headley. Die Gesellschaft war nicht nur nach wie vor aktiv, sie wuchs sogar und hatte weltweit mehr als fünfhundert Mitglieder, wovon die meisten natürlich Bürger des Vereinigten Königreichs waren. Roland schickte sofort einen Scheck für den Mitgliedsbeitrag und bestellte zudem eine Reihe früherer Ausgaben des Magazins, eine Mappe mit Farbpostkarten und ein Exemplar von Headleys Standardwerk: Follies: A National Trust Guide (Cape, 1986). Alte Monumente, Schlösser und Ruinen hatten etwas Romantisches und Geheimnisvolles an sich, das Roland schon immer gefallen hatte. Er sah in ihnen greifbare Zeugnisse der Vergangenheit und stellte sich gern vor, wie das Leben in jenen Zeiten gewesen sein mochte. Vielleicht lag dies daran, weil er selbst ein ganz alltägliches und eher eintöniges Leben führte. Roland besaß eine Druckerei, einen kleinen Betrieb, der gewerbliche Anzeigenblätter und Reklamebroschüren für den Westchester County Markt druckte. Im Lauf der Jahre hatte er sich dank langer und harter Arbeit eine gesicherte Existenz aufgebaut und leitete jetzt ein solides, gesundes Unternehmen. Negativ zu Buche schlug nur, daß sein Privatleben etwas dürftig war. Er hatte eine Reihe kurzer Beziehungen hinter sich, aber keine war je soweit gediehen, daß er auch nur an eine Ehe gedacht hätte. Jetzt war er in den sogenannten besten Jahren und machte sich nicht mehr besonders viel aus Frauen. Er hatte Freude an klassischer Musik, an einem guten Buch, wobei er Sachbücher über Geschichte oder historische Romane bevorzugte, und 204
er besaß eine besondere Vorliebe für architektonische Verrücktheiten. Dazu konnte ein Gebäude, eine Gartenanlage, eine Grotte oder ein anderes Bauwerk gehören, das unter bewußter Mißachtung herkömmlicher Regeln entworfen worden war und bei dessen Anblick es einem buchstäblich ›den Atem verschlug‹, wie Headley es in seinem dicken Wälzer ausdrückte. Da er beruflich so stark eingespannt war, hatte Roland es bisher noch nicht geschafft, nach England zu reisen, aber es war ihm gelungen, ein paar amerikanische Spielarten aufzuspüren, wie zum Beispiel das ›Heilige Land‹ in Waterbury und die Watts Towers in Los Angeles. Außerdem hatte er in Virginia ein ganz normal bewohnbares, aus Bierflaschen erbautes Haus besucht, eine vier Morgen große Sahara, die es in den Wäldern von Maine gab, und ein Wohnhaus in den Bergen von Tennessee, das der Arche Noah nachempfunden war. Den amerikanischen Narreteien fehlte natürlich die Atmosphäre verlorener Größe und Pracht, das Kennzeichen klassischer britischer Exemplare, aber dafür verkörperten sie oft einen fast heroischen Irrwitz, der ungeheuer einnehmend wirkte. Roland freute sich bereits jetzt auf die Zeit in seinem Leben, wo er endlich zwei oder drei Monate lang durch England, Schottland und Wales reisen konnte, um in aller Ruhe einige der Wunderlichkeiten zu inspizieren, über die ihm vorläufig nur zu lesen möglich war – wie das Raumschiff in Aysgarth, das ›Haus in den Wolken‹ in Thorpeness und Clavell’s Tower in Portmeirion; ganz zu schweigen von all den großartigen architektonischen Skurrilitäten, die man immer noch in und rund um London fand. Solche Spielereien sind das Salz in der Suppe der bunten Vielfalt der menschlichen Kultur, hatte er in einem Brief geschrieben, den Mr. Headley aus irgendeinem unverständlichen Grund noch nicht zur Veröffentlichung im Magazin der Follies Fellowship für geeignet befunden hatte. In seiner Freizeit feilte 205
Roland weiter an seinen Überlegungen und brachte Bemerkungen über die amerikanischen Besonderheiten, die ihm aufgefallen waren, zu Papier. Und dann war vor zwei Wochen die Nachricht aus London gekommen, daß es Gerüchten zufolge eine ›ziemlich spektakuläre Anlage‹ auf dem Grundstück des ehemaligen Sommersitzes der Jorgensons in Glen Allen im Staat New York gebe. Ob es Mr. Turner wohl möglich wäre, die Sache zu überprüfen und darüber Bericht zu erstatten? Falls sich herausstelle, daß es ein lohnendes Objekt sei, wäre man für Fotografien und Notizen dankbar. Roland faxte auf der Stelle seine Antwort: »Und ob!« Er brauchte eine Weile, um Glen Allen auf der Karte zu finden. Es war offensichtlich ein kleines Dorf in den Adirondacks, etwas nördlich vom Big Moose Lake, also eine Fahrt von gut dreihundert Kilometern. Damit war die Sache eindeutig ein Unternehmen für ein Wochenende – freitags hinfahren und einen ländlichen Gasthof suchen, den Samstag mit der Erforschung des Grundstücks der Jorgensons verbringen und am Sonntag die Rückfahrt nach Rye. Roland floh schon am Mittag aus dem Büro und war ein paar Minuten später bereits auf der Autobahn. Soweit überhaupt irgend jemand davon wußte, machte er einen kleinen Ausflug aufs Land. Roland hatte sein Hobby nur einmal einem anderen Menschen gegenüber erwähnt, Parry Brennan, die im letzten Jahr kurz für ihn gearbeitet hatte. Sie war geschieden, und er bildete sich ein, sie ganz gern zu haben. Aber mehr als daß sie miteinander redeten, geschah nicht. »Sie meinen, so was wie Coney Island oder Grants Mausoleum?« war ihre Reaktion gewesen, als er ihr von seinem Vorhaben erzählt hatte. »Na ja, nicht ganz …« Vielleicht hatte er es schlecht erklärt. Roland beschloß damals impulsiv, mit niemandem mehr darüber zu reden. Dieser Bereich sollte ihm allein gehören, sollte sein kleines Geheimnis 206
bleiben. Parry verliebte sich bald darauf in den Mann, der die Köpfe ihres Videorecorders reinigte, und kündigte, um in seinem Betrieb mitzuarbeiten. Roland sagte sich, daß es so am besten war. Wenn man etwas, das einem ganz besonders am Herzen lag, mit einem anderen teilte, war es danach nie wieder wie früher; es verlor zwangsläufig etwas von seiner magischen Aura. Roland behielt die ganze Fahrt über ein ziemlich zügiges Tempo bei, aber wie er feststellen mußte, belief sich die tatsächliche Strecke eher auf fast fünfhundert Kilometer; es war also schon kurz nach sechs Uhr abends, als er Glen Allen erreichte. Er entdeckte ein Motel, fuhr aber weiter in den Ort hinein, doch als er dort keine andere Unterkunft fand, kehrte er wieder um. Eine Satellitenschüssel an der Hauswand, drei weitere Autos auf dem Parkplatz, ein Raum voller Verkaufsautomaten – das Motel ähnelte leider überhaupt nicht dem rustikalen Gasthof, den er sich vorgestellt hatte, aber mit dieser kleinen Enttäuschung mußte er sich wohl abfinden. Roland ging ins Büro und nahm ein Zimmer. Eine Frau mittleren Alters, vermutlich die Inhaberin, gab ihm einen Schlüssel und einige Prospekte über Möglichkeiten zum Bootfahren und Angeln in der näheren Umgebung. »Wo kann man hier gut essen?« fragte Roland. »Bill’s Friendly Grill, gleich an der Hauptstraße«, erwiderte sie. »Übrigens, heute abend soll’s ein Unwetter geben. Falls das Licht ausgeht, finden Sie im Schrank ein paar Kerzen.« »Danke. Ich habe vor, mir morgen mal das Grundstück der Jorgensons anzusehen. Ist es schwer zu finden?« »Das Grundstück der Jorgensons«, wiederholte sie langsam, als denke sie darüber nach. Sie war eine große Frau mit nichtssagenden Gesichtszügen. »Nein, ist nicht schwer zu finden, nur kommt man wahrscheinlich nicht so einfach dorthin. Es sind bloß ein paar Kilometer das Tal hoch, aber seit ungefähr dreißig Jahren lebt dort schon niemand mehr, deshalb ist die priva207
te Zufahrt bestimmt völlig zugewachsen. Sie müssen sicher ein ganzes Stück zu Fuß gehen.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Soweit ich gehört habe, gibt’s da nicht mehr viel zum Ansehen.« »Ach?« »Sind Sie Makler?« »Nein, nein, ich bin im Auftrag der … Nun, es ist eine britische Gesellschaft, wissen Sie, und wir interessieren uns für architektonische Besonderheiten und verwahrloste Gartenanlagen.« Er ärgerte sich, daß er es nicht fertiggebracht hatte, freiheraus und ohne Zögern zu sagen, worum es ihm ging, aber jeder Versuch, dieser Frau die Sache etwas genauer zu erklären, wäre sowieso sinnlos gewesen. Sie kommentierte seine Antwort denn auch nur mit einem undefinierbaren Laut und schien nicht sonderlich an seinen Absichten interessiert. »Na, ich kann mich irren, aber ich glaube nicht, daß Sie da oben noch irgendwas finden.« »Überhaupt nichts?« fragte Roland ungläubig. Bis jetzt hatte er die Möglichkeit, daß er die ganze Reise hierher völlig umsonst gemacht haben könnte, nicht einmal in Betracht gezogen. »Sie meinen, da ist gar nichts mehr übrig?« Die Frau zuckte gleichgültig die Schultern. Sie schien sich an seiner Betroffenheit zu weiden. »Alles vor Jahren schon abgebrannt.« Damit vertiefte sie sich wieder in das Taschenbuch, in dem sie gelesen hatte – ein Bericht über irgendwelche gräßlichen Morde in Texas. »Ach. Na ja …« Sein Zimmer war ganz leidlich. Der Duschvorhang hatte Stockflecke, die Luft roch feucht und muffig, was manche Stadtmenschen für die typische Landluft halten mochten, aber die Laken schienen sauber, und die Klimaanlage funktionierte. Draußen waren die Hitze und die Luftfeuchtigkeit beinah ebenso drückend wie zu Hause in Rye. 208
Roland beschloß, erst etwas essen zu gehen, bevor tatsächlich ein Unwetter losbrach. Er stellte seine Tasche, ohne sie auszupacken, auf einen Schaukelstuhl aus Ahornholz, ließ seine Kamera im verschlossenen Kofferraum des Autos und machte sich auf den Weg, um Bill’s Friendly Grill zu suchen. Das kleine Glen Allen kam ihm etwas heruntergekommen und verschlafen vor wie eine Ortschaft, die noch in den Vierzigern oder Fünfzigern steckte, was jedoch keineswegs abstoßend wirkte. Die verwitterten Schindeln, die alten Zapfsäulen der Flying Red Horse Tankstelle, die rostigen Autos, die zerbeulten Kleinlaster, der Gemischtwarenladen, vor dem ein paar Kinder herumtrödelten – das alles vermischte sich zu einem seltsamen Eindruck, der irgendwo zwischen pittoresk und ein wenig ärmlich schwankte. Aber nicht das, was es hier gab, machte die besondere Atmosphäre aus, erkannte Roland, sondern vielmehr das, was es nicht gab – keine schicken Boutiquen, keine Videotheken, keine T-Shirt-Läden, keine Fast-food-Restaurants, keine brüllenden Ghettoblaster, nicht mal einen chinesischen Imbiß mit seinen wunderbaren Düften – und irgendwie war das ganz angenehm. Die modernen Zeiten waren noch nicht über Glen Allen hereingebrochen, wenigstens nicht mit der vollen Wucht all ihrer zweifelhaften Errungenschaften. Roland setzte sich an die Bar und bestellte den Cheeseburger de Luxe. Er war gebührend fettig und ziemlich gut, die Fritten waren etwas matschig, aber der würzige Krautsalat schmeckte köstlich. Roland spülte alles mit einem großen Glas kalten Biers hinunter, von denen er sich an diesem Abend noch einige genehmigen würde. Am anderen Ende der Theke saßen ein paar Männer, Stammgäste, wie es schien, die ihre Gläser umfaßt hielten, mit halbem Auge der Fernsehübertragung eines Spiels der Yankees folgten und ungezwungen miteinander redeten. Keiner zeigte irgendein besonderes Interesse an Roland, was ihm nur recht war. Die 209
meisten waren jung und hatten vermutlich die Jorgensons gar nicht mehr gekannt. Aber es gelang ihm schließlich, mit Bill ins Gespräch zu kommen, dem älteren Besitzer des Lokals, der auch an der Bar bediente. »Der alte Jorgenson war ganz groß im Stahlgeschäft, ein fast so bedeutender Industrieller wie Carnegie. Massenhaft Geld. Mein Vater hat an dem Haus gearbeitet, als es damals in den Zwanzigern gebaut wurde. Mann, da war alles nur vom Feinsten. Holz aus Südamerika, Marmor aus Italien, französische Möbel, große Gemälde an den Wänden – sie haben keine Kosten und Mühen gescheut. Ungefähr zwei Monate im Jahr haben sie dort jeden Sommer gelebt, deshalb nannten sie es ihr Sommerhäuschen, wissen Sie, weil es bloß ungefähr zwanzig Zimmer hatte.« Roland nickte lächelnd. Bill hatte die Angewohnheit, jeweils nach ein paar Sätzen leicht mit der Hand auf die Bartheke zu schlagen, als wolle er damit das Ende des Gesprächs signalisieren, weil er auch seine anderen Gäste bedienen mußte; aber früher oder später kam er zurück und redete weiter. Auf diese Weise erfuhr Roland allmählich den Rest der Geschichte. Die Familie Jorgenson kam und ging Jahr für Jahr. Sie schottete sich weitgehend ab, und nichts Nennenswertes geschah bis zum Winter 1959, als das Haus aus ungeklärter Ursache niederbrannte, und zwar so vollständig, daß alles verloren schien. Die einzigen Menschen, die zu dieser Zeit dort wohnten, waren der Verwalter und seine Frau, die beide bei dem Brand umkamen. Manche Leute meinten, es sei ein Unglücksfall gewesen, andere machten irgendwelche Rowdies dafür verantwortlich – die Reichen zogen ja immer Neid und Haß auf sich. Es gab eine längere Untersuchung, die aber zu keinem endgültigen Urteil führte. Das Grundstück blieb, wie es war; und die Jorgensons kehrten nie wieder zurück. Vor ein paar Jahren war dann die Geschichte noch einmal durch die Medien gegangen. Eine neue 210
Generation von Jorgensons hatte es für angebracht gehalten, zweifellos aus steuerlichen Erwägungen, die über einhundert Morgen dem Staat New York zu überschreiben. Der Wald der Adirondacks ringsum hatte sich sowieso bereits längst alles zurückerobert, und nun gehörte das Grundstück auch offiziell wieder dem Staat. »Gab es dort außer dem Haupthaus sonst noch etwas?« fragte Roland eifrig. »Irgendwelche anderen Gebäude?« »Na sicher«, sagte Bill. »Eine große Garage, ein Aussichtstürmchen, ein paar Schuppen, ein Kühlhaus und … ja, Klein-Italien.« »Was?« Roland horchte hoffnungsvoll auf. »Klein-Italien.« »Ja, meine Kinder haben damals in den Sechzigern immer dort gespielt. Verrückte Sache.« Das war es, keine Frage! Offenbar hatte der alte Jorgenson Italien so sehr geliebt, daß er beschlossen hatte, einen Garten mit Miniaturnachbildungen berühmter italienischer Sehenswürdigkeiten anzulegen, so zum Beispiel dem Brunnen von Trevi, dem Vesuv und Pompeji, der Blauen Grotte von Capri und dem Koloseum. Beinah drei Jahrzehnte lang hatte Jorgenson jeden Sommer etwas hinzugefügt, und es hieß, daß sich der italienische Garten über eine Fläche von nahezu vier Morgen erstreckt habe, als das Feuer ausgebrochen war. Roland war gleichzeitig begeistert und deprimiert. Einerseits handelte es sich eindeutig um das, was er suchte, aber andererseits rottete nun schon seit 1959 alles vor sich hin, war heißen Sommern, eisigen Wintern und der Zerstörungswut der hiesigen Kinder ausgesetzt gewesen. Was auch immer noch vorhanden sein mochte, war zweifellos vom Wald überwuchert und verfallen. Eine traurige Geschichte, dachte Roland. Er konnte von Glück sagen, wenn er wenigstens ein halbwegs anständiges Foto schießen konnte. Aber einen Bericht war es sicherlich wert – und diese Veröffentlichung würde sein erster 211
Beitrag auf den Seiten des Fellowship Magazins sein. Es war schon nach zehn, als er schließlich die Bar verließ. Die Hitze hatte spürbar nachgelassen, und eine frische Brise wehte durch den Ort. Das Unwetter zog heran. Roland konnte nur hoffen, daß es bis morgen früh vorbei war, wenn er zum Besitz der Jorgensons aufbrach. Er sah einen Blitzstrahl über den Himmel zucken, aber er schien noch weit weg, und es folgte kein Donner. Die menschenleere Hauptstraße erinnerte ein wenig an einen verlassenen Filmdrehort. Reklameschilder schwankten im Wind, Fensterläden klapperten, Blätter und Staub wirbelten umher, und alles war in den trüben, gelben Schein einiger weit auseinanderstehender Straßenlampen getaucht. Das helle Neonschild an Bills Grill bildete dazu einen willkommenen Kontrast. Roland wollte gerade in sein Auto steigen, als er zum erstenmal das Geräusch hörte. Verwundert hielt er inne, um zu lauschen. Eine Chorprobe? Nein, dafür war es nicht melodisch genug. Eigentlich ergab es gar keine bestimmte Tonfolge; es klang nicht einmal nach menschlichen Stimmen. Langsam wandte er den Kopf und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung diese Laute kamen, aber der Klang war zu diffus und wurde noch dazu vom Rauschen des Winds in den Bäumen übertönt. Als Roland auf dem Parkplatz des Motels hielt, hörte er es erneut. Es klang etwas näher und deutlicher, doch auch jetzt ließ es sich nicht genau definieren. Ein nächtlicher Äolschor, dessen wehklagender Gesang abwechselnd an- und abschwoll. Vermutlich hing es mit dem Wind zusammen, aber es mußte noch etwas anderes sein, irgendeine landschaftliche Besonderheit hier am Ort, wodurch diese Wirkung zustande kam. Eigentlich klang es ganz schön. Es erinnerte ihn an bestimmte zarte Passagen in Musikstücken von Debussy und Vaughan Williams. In seinem Zimmer stellte er die Klimaanlage ab, 212
öffnete ein Fenster und lauschte noch eine ganze Weile dieser ungewöhnlichen Musik. Der Sturm zog ein paar Kilometer weiter nördlich vorbei. Aus der Ferne hallte sein Brausen und Donnern wie kriegerischer Schlachtenlärm herüber, und der Regen, der über das Dorf Glen Allen niederging, glich einem intensiven Kugelhagel. Doch nach einer Viertelstunde war alles vorbei, und in der Stille hörte man nur noch das leise Tropfen aus dem feuchten Blattwerk. Als er am Morgen gerade zum Grundstück der Jorgensons aufbrechen wollte, erblickte Roland die Frau, die das Motel betrieb. Sie trug einen vollen Müllsack aus dem Raum mit den Verkaufsautomaten. Er überquerte den Parkplatz und fragte sie nach den sonderbaren Tönen, die er am vergangenen Abend gehört hatte. »Das ist der Wind, der durch das Tal streicht«, sagte sie. »Wenn er aus einer bestimmten Richtung kommt, hört man das immer.« »Ja, aber was genau ist die Ursache dafür?« »Der Wind im Tal«, wiederholte sie, als sei er etwas schwer von Begriff. »Im Winter merkt man es nicht so sehr.« »Aha.« In Colbert’s Store auf der Hauptstraße, ein paar Häuser oberhalb von Bills Grill, kaufte er neben einem Pappbehälter Saft ein Riesensandwich mit Fleisch, Käse und Salat fürs Mittagessen. Ein paar Minuten später war er bereits am Ziel. Bill hatte ihm erklärt, es sei nicht schwer zu finden: ungefähr drei Kilometer die North Street hoch, die einzige Straße, die in nördlicher Richtung aus dem Ort hinausführte, und dann auf der linken Seite Ausschau halten. Trotzdem hätte er die steinernen Säulen zu beiden Seiten der einspurigen Auffahrt fast übersehen. Roland setzte zurück und betrachtete einen Moment lang das Bild, das sich ihm bot. 213
Die von Flechten überzogenen Steinsäulen schimmerten bläulich und grün, ihre Kapitelle waren schwer beschädigt und zersprungen; das schmiedeeiserne Tor war – bis auf einige rostzerfressene Angeln – längst verschwunden. In beiden Richtungen der Straße entlang hatte Jorgenson anscheinend einen Wall aus Lebensbäumen gepflanzt, wie man mit einiger Mühe erkennen konnte. Sie waren sicher einmal sechs bis acht Meter hoch gewesen, aber heute standen dort nur noch knochendürre Reste, durchsetzt mit hohen Wildgewächsen, jungen Ahornbäumen, Vogelkirschen, wildem Wein und anderen Kletterpflanzen. Die Einfahrt selbst war so dicht bewachsen, daß Roland nicht einmal darin parken konnte; erst fünfzig Meter weiter fand er auf der rechten Seite eine geeignete Stelle. Er hängte sich die Kamera um den Hals, nahm seine Kühltasche, schloß das Auto ab und ging das Stück zurück. Der Weg zum Haus war völlig unter Unkraut und hohen Gräsern verschwunden, aber es war nicht schwer, ihm zu folgen. Zweimal kam Roland davon ab, spürte es jedoch sofort, wenn er den festen Kiesuntergrund verlassen hatte und auf weichen Waldboden geraten war. Die Bäume zu beiden Seiten hatten früher sicher eine reizvolle Allee gebildet; jetzt war alles durch Gebüsch und Strauchwerk so verwildert, daß es nur noch dunkel und bedrückend wirkte. Er kam am Rand einer großen Lichtung heraus und vermutete, daß hier in der Nähe einmal das Haus gestanden hatte. Von »Lichtung« war natürlich keine Rede mehr; nur die bedeutend höheren Kiefern des Waldes ringsum ließen noch erkennen, wie es früher einmal ausgesehen haben mußte. Da der Himmel seit dem gestrigen Regen bedeckt war, hatten Pflanzen und Gräser nicht abtrocknen können, und Rolands Hose war ziemlich durchweicht, aber das kümmerte ihn nicht. Die glühende Hitze der letzten Tage war viel unangenehmer gewesen. Er folgte dem allmählich ansteigenden Weg, bis er auf Freies Gelände kam. Ja, dachte er, das muß es sein. Wo 214
sonst würde man ein Haus bauen? Die drei oder vier Morgen große Fläche bot einen herrlichen Blick nach Süden. Roland schaute über die ehemalige Lichtung, ob irgendwelche Spuren von Menschen zu entdecken waren. Er sah einen kleinen See, den Jorgenson vielleicht eigens angelegt hatte, und die morschen Überreste eines Landungsstegs. Die Wasserfläche war vor lauter Schilf, Algen und Schlick kaum mehr zu erkennen, aber es mußte hier einmal wunderschön gewesen sein. Roland konnte sich leicht vorstellen, wie die Kinder der Jorgensons auf dem See Kanu fuhren oder vom Steg ins Wasser sprangen und schwammen. Im Schatten des großen Zuckerahorns, der immer noch allein für sich dicht am Ufer stand, hatte die Familie ganz bestimmt häufig Picknicks veranstaltet. Es war wie ein Blick in die Vergangenheit und auf die Träume der Menschen, die hier gelebt und sich mit so viel Mühe eine eigene kleine Welt geschaffen hatten. Waren die Jorgensons arrogant und unerträglich oder anständig und ihres Glücks wert gewesen? Doch was zählte das schon. Das alles war untergegangen und verschwunden, genau wie die Menschen. Roland drehte sich um und wollte weiter, als er mit dem Fuß an einem Stein hängenblieb. Er gehörte zur Grundmauer des Hauses. Durch hohes Gras und Wiesenblumen stapfte er daran entlang. Das Feuer hatte nichts weiter übriggelassen als dieses Rechteck aus Steinen, die nach so vielen Jahren kaum noch aus der Erde ragten. Auch von den Nebengebäuden gab es keine Spur mehr. Vielleicht hatten die Einheimischen sie niedergerissen und die Mauersteine beim Bau ihrer Häuser verwandt. Roland machte ein Foto des Platzes, auf dem das Haus gestanden hatte, und ein weiteres von der Lichtung und dem See. Während er schnell sein Sandwich verzehrte, ließ er seine Blicke über die Landschaft streifen, aber nirgends war ein Zeichen, ein Anhaltspunkt zu entdecken. Wenn der italienische Garten im Wald verborgen lag, könnte er womöglich tagelang 215
umsonst danach suchen. Es gab nur noch eine andere Möglichkeit – irgendwo hinter dem Haus. Jenseits einer niedrigen Hügelkette, kaum hundert Meter nördlich, schien das Land eine Senke zu bilden, die an allen Seiten von steilen Abhängen umgeben war. Dort begann oder endete das Tal. Roland stapfte einen Hügel hinauf und hielt verblüfft den Atem an. Da war es – Klein-Italien, Jorgensons Spinnerei. Vor Aufregung wäre er am liebsten sofort losgelaufen, aber dann besann er sich und schoß zunächst mehrere Aufnahmen der ganzen Anlage. Es gab alle möglichen Gebäude in Miniaturausführung – ländliche Villen, Bauernhöfe, gedrungene städtische Wohnhäuser –, vereinzelt und in Gruppen, außerdem Statuen in rauhen Mengen, Springbrunnen, Gewölbegänge, Piazzen, Türme, Kirchen, Ställe, Scheunen und noch vieles mehr. Das ganze Tal, soweit man sehen konnte, war voll davon. Die unebene Bodenbeschaffenheit und eine Vielzahl kleiner Hügelchen verstärkten die perspektivische Wirkung; dazu bildeten die Wände des Tals mit ihren Felsvorsprüngen und Zerklüftungen natürliche Nischen, Schluchten und Höhlungen unterschiedlicher Größe und Tiefe. Auf verrückte Weise funktionierte es irgendwie und ergab insgesamt auf den ersten Blick eine ganz bemerkenswerte Illusion. Doch als Roland den Abhang hinunterging und sich einen Weg über die engen Pfade bahnte, sah er deutlich die Zeichen des Verfalls. Die meisten Bauwerke schienen aus Hohlziegeln errichtet oder aus Gips auf Maschendraht geformt und anschließend mit Farbe oder Tünche überzogen worden zu sein; Zinndächer waren rotbraun bemalt, um auf diese Weise Ziegel vorzutäuschen. Lauter billiges Zeug hatte dieser steinreiche Kerl verwandt, und überall zeigten sich die Spuren des Alters, der Vernachlässigung und von gelegentlichem Vandalismus. Ganze Wände hatte man niedergerissen, oder sie waren verrottet, die meisten Zinndächer zerfressen, die rissige Farbe blätter216
te ab – falls überhaupt noch welche vorhanden war –, vielen Statuen fehlten Hände oder Köpfe, manchmal auch beides. Alles war stark beschädigt, bröckelig und morsch. Brombeersträucher und wilder Wein versperrten Roland oft den Weg, aber zumindest war nicht das ganze Gelände überwuchert. Der felsige Grund trug offenbar nur eine dünne Erdschicht, weshalb hier kaum etwas anderes wachsen konnte. Langsam ging er näher und machte weitere Fotos. Er wußte nur wenig über Italien, aber die meisten Wahrzeichen, die Jorgenson nachgebildet hatte, erkannte er. Besonders beeindruckend fand er das fünfzehn Meter lange Teilstück eines Aquädukts, der hoch genug war, daß man aufrecht darunter durchgehen konnte. Er war nur an drei Stellen zerbrochen, und wie um die Illusion zu vervollständigen, tropfte tatsächlich noch ein Rest des nächtlichen Regens herab. Roland mußte lächeln, als er bemerkte, daß der Gips-Aquädukt mit einer gußeisernen Regenrinne ausgelegt war. Die überwältigende Wirkung der ganzen Anlage beruhte auf der schwindelerregenden Vielfalt des Maßstabs – oder besser gesagt darauf, daß es überhaupt keinen gab. Ein sechzig Zentimeter großes Haus stand neben der neunzig Zentimeter großen Statue eines Hundes, der Ätna war kleiner als der benachbarte Dom, während die Spanische Treppe größer war als ganz Venedig. Nichts paßte zueinander. Dazu kam die blanke Schrulligkeit, die überall ins Auge fiel. Da Jorgenson sich nur zwei Monate im Jahr dieser Arbeit widmen konnte, hatte er offenbar notgedrungen seine Traumwelt mit einer Reihe von Fertigprodukten ergänzt, den Statuen zum Beispiel. Ganz besonders imponierte Roland das Vogelbad – ein gewöhnliches Vogelbad für den Garten –, das restlos den Petersplatz dominierte. Es gab noch weitere solcher Bäder zu sehen, daneben etliche Vogelhäuser, wie man sie auch heute noch in jedem Gartenfachgeschäft kaufen konnte. Vielleicht hatte sich Jorgenson insgeheim ein ideales Italien ausgemalt, 217
das einzig von Vögeln bevölkert war. Roland grinste, als er etwas später auf eine Statue des heiligen Franz von Assisi traf, umgeben von Vogelhäusern, die auf Bleirohre montiert waren – und das ganze Tableau lag zwischen einer Trattoria und einem bizarren Miniaturlabyrinth, das die Katakomben darstellen sollte. Auf einer kleinen Lichtung stand eine steinerne Bank. Möglicherweise hatte hier der alte Jorgenson gesessen, um über seine bizarre Schöpfung und deren weiteren Ausbau nachzusinnen. Roland ruhte einen Moment aus und wechselte den Film in seiner Kamera. Es war schwierig, die Größe der Anlage einzuschätzen. Viele der Bauwerke maßen höchstens neunzig Zentimeter, aber eine ganze Reihe war mannshoch, und in dem sanften Auf und Ab des Geländes war es unmöglich bis zu dem Punkt zu sehen, wo dieses Miniatur-Italien schließlich endete. Aber verlaufen konnte man sich ebenfalls unmöglich, da die Wände des Tals stets sichtbar blieben. Roland betrachtete kritisch den Himmel. Er mußte weitermachen, denn immer mehr tiefhängende graue Wolken zogen auf. Natürlich hatte er nicht daran gedacht, sich den Wetterbericht anzuhören, und infolgedessen keine Ahnung, ob ein neues Gewitter fällig war. Der Gedanke, in strömendem Regen den ganzen Weg zurück zum Auto wandern zu müssen, war nicht gerade angenehm, aber trotzdem wollte er nicht eher gehen, bis er jede Einzelheit der Anlage gesehen und fotografiert hatte. Die erstaunlichste Schrulle hatte Jorgenson sich für zuletzt aufgehoben. Roland trat durch eine Lücke in einer Mauer und fand sich in einer Art Gerichtssaal wieder. Ein Stück Land von ungefähr dreißig Quadratmetern war mit großen steinernen Platten gepflastert, die sich im Lauf der Zeit jedoch verschoben hatten und gesprungen waren. Auf dem freigelegten Erdboden wucherte eintönig grünes Unkraut, zwischen dem wilder Efeu rankte. 218
Links und rechts reihten sich drei- bis dreieinhalb Meter hohe Säulen aneinander, und obwohl manche inzwischen umgestürzt waren, entstand ein ganz verblüffender Eindruck. Roland mußte unwillkürlich an das Pantheon denken; von dem seine Vorstellung leider nicht klar genug war, um beurteilen zu können, ob es etwa als Vorbild gedient hatte. Weit spektakulärer war jedoch das Bild, das sich ein Stück weiter bot. Hinter der gepflasterten Fläche stieg der Boden leicht an, ehe er erneut eben wurde und damit eine natürliche Terrasse bildete. Sie war genauso breit wie der Säulensaal und voller Statuen. Es mußten Dutzende sein. Roland beeilte sich, sie aus der Nähe zu betrachten. Verwirrt musterte er diese merkwürdige Versammlung. Sämtliche Statuen waren so aufgestellt, daß sie zum Mittelpunkt des Tals blickten. Alle hatten die Arme erhoben und die Gesichter nach oben gewandt, als riefen sie die Götter an oder flehten um Gnade und Hilfe. Keine einzige Statue hatte Hände, und abgesehen von den geöffneten Mündern keinerlei Gesichtszüge, weder eine Nase noch Augen oder Ohren. Auch Füße waren nicht zu sehen, doch möglicherweise waren sie im Erdreich versunken, denn die Beine erhoben sich direkt aus dem Boden und gingen über in einen dicken, stammähnlichen Torso. Die Statuen waren schlicht, fast primitiv, und besaßen dennoch eine Ausstrahlung von beinah schrecklicher Intensität. Sie stellten keine Römer in Togen dar, es waren weder Götter noch mythologische Wesen oder andere für Italien typische Figuren wie etwa venezianische Gondolieri; sie glichen vielmehr versteinerten Golems mit ihrer bräunlichen, rauhen Oberfläche, die aus gehärtetem Sand zu bestehen schien. Vielleicht lag darunter eine Schicht aus Gips oder Zement. Alle waren in erstaunlich gutem Zustand und kaum verwittert. In der ganzen Anlage Jorgensons hatte Roland nichts Vergleichbares gesehen. Was für eine Verrücktheit! 219
Er hatte gerade seinen letzten Film eingelegt und machte Aufnahmen dieser erstaunlichen Figuren, als eine Hand ihn von hinten am Gürtel packte. Noch ehe er reagieren konnte, griffen weitere Hände nach ihm; er wurde zu Boden gezerrt und durch einen Schlag auf den Kopf vorübergehend betäubt. Wieviel Zeit war vergangen? Roland hatte höllische Kopfschmerzen und konnte nur undeutlich seine Umgebung wahrnehmen. Um ihn herum war es dunkel, und die Luft roch irgendwie muffig, als sei er in einer Höhle. Im flackernden Schein eines Feuers sah er einige Gestalten, die geschäftig hin und her eilten. Er lag mit ausgestreckten Armen am Boden, wo man ihn festhielt, so daß er sich nicht bewegen konnte. Sie wirkten wie Kinder – noch nicht ganz ausgewachsen und mit dünnen Stimmen. Er glaubte ungefähr ein halbes Dutzend dieser Wesen zählen zu können, doch hatte er absolut keine Ahnung, was das alles bedeuten mochte. Plötzlich wurde es unheimlich still. Roland versuchte, etwas zu sagen, mit ihnen zu sprechen, aber sie saßen auf seiner Brust und seinen Beinen und machten sich daran, ihm gewaltsam schmutzige Lumpen in den Mund zu stopfen. Dann sah er kurz das matte Aufblitzen einer Axt, ehe sie herabsauste und seine linke Hand abtrennte. Das gleiche geschah ein paar Sekunden später auf der rechten Seite; da war er jedoch längst bewußtlos. Ein wüster Schmerz riß ihn aus seiner Betäubung; vielleicht war es auch sein entschlossener Wille zu kämpfen und sein Leben zu retten. Im Moment war niemand zu sehen, aber er konnte sie hören – ein quietschendes Gemurmel und dazu sonderbare Kratzgeräusche. Wahnsinnige Teenager? Vielleicht irgendeine Sekte oder Anhänger eines bizarren Kults? Es könnte auch eine hinterwäldlerische Sippe sein, die durch fortgesetzte Inzucht aus lauter Schwachsinnigen bestand und Jagd auf jeden machte, der ahnungslos auf ihr Territorium geriet. Wie konnte so etwas 220
möglich sein? Wußte etwa der ganze Ort über dieses Geheimnis Bescheid? Was konnten sie von ihm wollen? Vielleicht hatte er dadurch, daß er Jorgensons italienischen Garten erforscht und fotografiert hatte, irgendwie einen für sie geheiligten Platz entweiht. Aber viel wahrscheinlicher war, daß sie schlicht und einfach verrückt waren. Roland konnte sich immer noch nicht bewegen. Seine verstümmelten Arme waren bandagiert. Sie hatten ihm tatsächlich die Hände abgehackt! Diese Erkenntnis raubte ihm beinah wieder das Bewußtsein, aber er kämpfte mit aller Macht gegen seine Panik an. Er mußte klar denken, sonst war er rettungslos verloren. Sein Körper schien vom Hals abwärts in irgendwelchen Maschendraht eingehüllt; in seinem Mund steckten immer noch die gräßlichen Lumpen, die ihn zwangen, durch die Nase zu atmen. Er versuchte, mit der Zunge den Knebel hinauszudrücken oder auf eine Seite zu schieben, um sprechen zu können, aber in diesem Moment kamen sie zurück. Sie zerrten ihn mit sich, und Roland merkte, daß die irrsinnigen Schmerzen, die in ihm tobten, zum Teil von dorther ausstrahlten, wo seine Füße gewesen waren. Er wurde in einen von Fackeln erleuchteten Kreis geworfen, sie drückten seine Arme zur Seite und begannen, ihn mit irgendeiner dicken, klebrigen Substanz zu beschmieren. Roland zappelte und wehrte sich wie ein Fisch an der Angel, bis man ihm erneut einen Keulenschlag versetzte. Frische Luft, Dämmerlicht. Der gleiche Tag? Das konnte nicht sein. Der Himmel war bedeckt, ein stürmischer Wind peitschte über das Land – und da waren wieder diese choralartigen Töne, die er an seinem ersten Abend gehört hatte. Man trug ihn aus der Höhle, und das wimmernde Wehklagen schien seinen ganzen Schädel zu erfüllen. Er befand sich mitten im Zentrum dieses Geräuschs, und es war unerträglich. Nur sein Kopf war noch frei – der Rest seines Körpers schien 221
bis zum Hals aus Stein. Ein harter Kragen zwang ihn, den Nacken krampfhaft nach hinten zu beugen. Als man ihn an seinen Platz in der dritten Reihe der Statuen stellte, sah Roland diese Wesen genauer. Es waren keine Kinder, sie wirkten nicht einmal menschlich mit ihren hageren kleinen Gesichtern, den Stummelfingern, der manischen Hektik in ihren Bewegungen und diesem surrenden Geschnatter, das an die Lautäußerungen von Insekten erinnerte und fast in dem tosenden Wind unterging. Mit beinah lächerlicher Gewissenhaftigkeit drehten sie ihn erst auf die eine, dann auf die andere Seite, zerrten, schoben und drückten, bis er genau so stand, wie es ihren Wünschen entsprach. Schließlich rissen sie die Lumpen aus seinem Mund. Roland versuchte, ein paar Worte zu krächzen, aber seine Kehle war völlig ausgetrocknet. Und dann enthüllte sich ihm auch das letzte Geheimnis, als diese Wesen, die ihn gefangen hatten, eine merkwürdige Vorrichtung in seinen Mund stießen. Einen kurzen Moment lang hatte er es sehen können – ein Drahtgestell, in dem sich einige Holzkugeln befanden. Sie waren unterschiedlich groß, und Roland glaubte, eingeschnittene Furchen und Löcher bemerkt zu haben. Die Vorrichtung paßte so exakt, daß sie seine Zunge gegen den Mundboden preßte, und wurde durch Schnüre aus Rohleder rund um seinen Kopf gesichert. Nach einem letzten Schubs, um seine Haltung zu korrigieren, traf ihn der Wind aus der richtigen Richtung, die hölzernen Kugeln tanzten und wirbelten, und eine neue Stimme mischte sich in den Chor. Befriedigt machten sie sich daran, ihre Arbeit zu beenden. Sie bedeckten seinen Kopf ganz mit dem klebrigen Zement und legten dann die letzte äußere Schicht auf. Nur sein offener Mund blieb frei. Roland dachte an Insekten, die sich dort einnisten würden; er stellte sich vor, wie in der Morgenkühle aus dieser Höhlung ein warmer Dunst aufstieg, während er innerlich verfaulte. Und er 222
fragte sich, wie lange das Sterben dauern würde. Später mußten sie wohl Reparaturarbeiten durchführen, damit die Drahtgestelle an Ort und Stelle blieben, nachdem das Fleisch verschwunden war. Inmitten aller irrsinnigen Verzweiflung war es ein sonderbar tröstlicher Gedanke. Der Wind fegte in Böen das Tal herunter. Mit erhobenen Armen, das Gesicht, gleichförmig wie die anderen, zum Himmel gewandt, den er nicht mehr zu sehen vermochte, sang er.
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WILLIAM F. NOLAN
Der Besuch »Also …«, meinte er, »Sie wollten mit mir reden. Da bin ich. Reden wir.« »Sie sind bereit, ganz offen zu sein?« fragte ich. »Sicher.« »Sie werden mir freiheraus antworten? Ehrlich und ohne Ausflüchte?« »Na klar.« »Auf jede Frage, die ich Ihnen stelle?« »Das habe ich doch gesagt, oder nicht? Aber kommen Sie etwas näher ans Gitter. Dann kann uns der Wächter nicht hören.« »Ich werde mir Notizen machen. Für das Buch, an dem ich schreibe.« »Scheiße, Sie wollen mich doch nicht etwa namentlich nennen? Ich will auf keinen Fall meinen richtigen Namen in irgendeinem gottverdammten Buch über Verbrechen wiederfinden.« »Nein, keine Sorge. Ich werde Sie Dave nennen und keinen Nachnamen angeben. Sie sind nur eine … eine statistische Größe.« »Prima. Ich hatte einen Cousin namens Dave. Ein echtes Arschloch.« »Sollen wir anfangen?« »Deshalb bin ich hier. Schießen Sie los.« »Wie alt waren Sie, als Sie zum erstenmal töteten?« »Zwölf. Wie Billy the Kid. Er hat einen Kerl niedergestochen, als er zwölf war, damals im Wilden Westen. Ich habe immer ‘ne Schwäche für ihn gehabt. Hätte ihn gern mal kennengelernt.« 224
»War es ein Mann oder eine Frau … Ihr erstes Opfer?« »Weder noch. Ein Kind, genauso alt wie ich. Ein gottverdammter Klugscheißer, der mich vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht hatte. Ich wartete, bis er auf dem Heimweg von der Schule war. Dabei mußte er durch eine Schlucht, und dort habe ich ihn umgebracht, in dieser Schlucht.« »Wie?« »Mit einem Stein. Hab’ ihm den Schädel zertrümmert. Ist aufgeplatzt wie ein Ei.« »Was haben Sie dann gemacht?« »Ihn vergraben. So eine Schlucht ist ein guter Platz, um jemanden zu vergraben.« »Wurde die Leiche je gefunden?« »Nee. Ist einfach verrottet. Hieß Bobby Sowieso. Ein kräftiger rothaariger Bursche irischer Abstammung. Ein echtes Großmaul.« »Wann geschah die nächste Tat?« »Als ich fünfzehn war. In dem Sommer bin ich von zu Hause abgehauen.« »Mann oder Frau?« »Mann. Ein Penner in der Eisenbahn. Ich war unterwegs nach Westen und traf ihn in einem Güterwagen. Wir waren allein. Er hatte was zu essen dabei und wollte nicht teilen, da hab’ ich ihm seinen faltigen Hals zugedrückt. War ein alter Knacker, deshalb hatte ich keine Probleme mit ihm. Aber gequiekt hat er wie so’n Hühnchen, dem man die Gurgel umdreht. Genau wie ein verdammtes Hühnchen.« »Ist die Sache je herausgekommen? Das mit dem Penner, meine ich.« »Wo denken Sie hin! Ich hab’ ihn aus dem Wagen gestoßen, als der Zug einen Fluß überquerte. Eine einfache und saubere Sache. Das Essen hatte mich müde gemacht, und ich hab’ anschließend ein hübsches Nickerchen gehalten.« »Haben Sie nach diesen Morden – an dem Jungen und dem 225
alten Mann – irgendwelche Reue verspürt?« »Ich? Reue? Im Gegenteil. Wenn man jemanden abmurkst, ist das ein Gefühl, als wäre man high. Es verfliegt dann wieder, und du willst es unbedingt noch mal erleben. Genau wie bei Drogen.« »Haben Sie je welche genommen?« »Klar, hab’ einiges ausprobiert, aber so echt high war ich nur, wenn ich killte. Deshalb habe ich mit den Drogen aufgehört. Damit mein Kopf klar blieb und ich es genießen konnte. Wäre doch schade gewesen, wenn ich es nicht richtig hätte auskosten können.« »Sie sind … wie alt jetzt? Dreißig?« »Zweiunddreißig.« »Und wie viele haben Sie seit Ihrer ersten Tat mit zwölf Jahren umgebracht?« »Ich bin nicht wie Sie und mache mir dauernd Notizen. Schreib mir nichts auf. Deshalb kann ich Ihnen keine exakten Zahlen nennen.« »Schätzen Sie mal.« »Na ja … fünfzig oder so. Vielleicht sechzig. Ich habe, wie gesagt, nie Buch geführt. Aber es waren bestimmt weniger als hundert. Das wüßte ich nämlich, wenn ich über hundert erledigt hätte. Wäre ja ein Grund zum Feiern.« »Wie sieht es mit Massenmord aus? Haben Sie je so etwas gemacht … oder immer nur einen auf einmal?« »Mann, ich hab’ alles gemacht, was sich anbot. Klar, auch ein paar auf einmal. In Frisco. In einem großen viktorianischen Haus in der Gegend der Barbary Coast.« »Erzählen Sie mir davon.« »Es war nachts, und diese Familie kam früher heim, als ich’s erwartet hatte. Ich sacke im zweiten Stock gerade ein, was ich finden kann, da schlägt unten die Tür zu, und dieser Kerl und seine Frau kommen mit ihren beiden Töchtern im Teenageralter viel zu früh aus dem Theater zurück.« 226
»Dann sind Sie nicht in das Haus gegangen mit dem Plan, sie zu töten?« »Nein, es war so, wie ich gesagt habe. Ich bin dort rein, um ein bißchen Geld, Schmuck oder sonstwas zu holen. Man muß sich ja irgendwie den Lebensunterhalt verdienen. Ich hatte das Haus beobachtet, hab’ sie belauscht und am Abend von draußen gehört, wie sie darüber redeten, ins Theater zu gehen, deshalb dachte ich, ich hätte jede Menge Zeit. Aber sie sind nach dem ersten Akt gegangen. War wohl ein lausiges Stück.« »Und was passierte, als sie reinkamen?« »Ich hab’ beschlossen, sie alle vier umzulegen, einfach um zu sehen, wie das ist. Vier auf einmal hatte ich bis dahin noch nie kaltgemacht.« »Was hatten Sie dabei? Welche Art Waffe?« »Ein großes Jagdmesser und eine Knarre mit abgesägtem Lauf.« »Eine Flinte?« »Ja. Besonders präpariert. Ich hatte sie so aufgemotzt, daß es ein richtig gemeines Mistding war.« »Eine solche Waffe macht aber Lärm.« »Schon – aber ich war vorsichtig. Ich bin immer ein ganz vorsichtiger Kerl gewesen.« »Wen haben Sie zuerst getötet?« »Die Frau. Sie kam hoch, um sich umzuziehen. Ich hab’ dafür das Messer genommen. Wurde ziemlich aufgeregt und hab’ ihr fast den Kopf abgeschnitten. Es war eines dieser großen Bowiemesser, und ich hatte mich zu sehr ins Zeug gelegt.« »Was haben Sie dann gemacht?« »Gewartet, bis wieder jemand die Treppe hochkam. Eine der Töchter. Sie war ungefähr siebzehn, groß, hatte eine hübsche, gut entwickelte Figur. Ich habe einen der Strümpfe ihrer Mutter genommen und ihr den Hals zugeschnürt. Ging ganz leicht.« »Bei meinen Nachforschungen habe ich entdeckt, daß die meisten Killer fast stets dieselbe Methode verwenden. Sie sind 227
… ungewöhnlich in dieser Hinsicht.« »Tja, ich bin nun mal ein ungewöhnlicher Typ. Beim Umbringen improvisiere ich gern. Öfter mal was Neues, wissen Sie. Messer. Hammer. Seil. Strumpf. Hauptsache Abwechslung. Es ist dann nämlich jedesmal ein anderes Gefühl. Immer die gleiche Routine ist doch langweilig. Aus diesem Grund habe ich verschiedenes ausprobiert. Die Polizei hat sich deshalb auch nie ein klares Bild über mich machen können. Ich war ihnen immer zehn Schritte voraus!« »Haben Sie das Gewehr im Haus benutzt?« »Klar habe ich das. Ich ging nach der Sache mit dem Strumpf runter, wo ich den Kerl mit seiner anderen Tochter am Fernseher fand. Sie schauten sich Cosby an. Kennen Sie die Sendung von Bill Cosby?« »Ich habe sie mal gesehen.« »Komisch, was?« »Machmal schon, sicher. Was haben Sie gemacht, als Sie die beiden unten am Fernseher fanden?« »Ich habe sie an die Couch gefesselt und dann mit einem dicken Sofakissen die Knallerei gedämpft. Einen Schuß für jeden. Es war eigentlich gar nicht so’n großer Lärm. Hab’ etwas Blut und anderes Zeug auf mein Hemd abgekriegt, aber der Lärm war kein Problem.« »Wie haben Sie sich gefühlt … nachdem Sie die ganze Familie ausgelöscht hatten?« »Großartig. Richtig aufgeladen. Ich meine, vier in einer Nacht – das war schon was ganz Besonderes.« »Hat es Sie irgendwie sexuell stimuliert?« »Sexuell?« »Waren Sie erregt? Sie haben eben das Wort aufgeladen benutzt.« »Ich rede nicht gern über Sex. Das ist was Privates.« »Sie haben gesagt, Sie würden alle Fragen, die ich Ihnen stelle, ohne Drumherumgerede beantworten.« 228
»Okay, na gut … klar, ich hatte einen Ständer, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Vor allem wegen der Tochter. Aber ich hab’ mir einen runtergeholt, ehe ich das Haus verließ, und damit war die Sache erledigt.« »Haben Sie je Geschlechtsverkehr mit einem Ihrer Opfer gehabt? Entweder während Sie es töteten oder danach?« »Herrgott, nein! Ich fick’ doch keine Leichen, falls Sie so was meinen.« »Das ist nicht ungewöhnlich.« »Finde ich schon. Mein Ding ist es jedenfalls nicht.« »Sind Sie bisexuell?« »Hören Sie«, sagte er, »lassen wir diese ganze Sex-Scheiße weg, okay? Ich bin ein normaler Kerl, was das Bumsen angeht. Ich bumse Frauen. Punkt. Können wir jetzt von was anderem reden?« »Gut. Haben Sie je Körperteile gesammelt? Zum Beispiel als Andenken?« »Das ist ja krankhaft.« »Sie haben die Frage nicht beantwortet.« »Die Antwort lautet – Scheiße, nein. Ich sammle keine Körperteile. Und ich stopfe auch keine Leute aus. Hat nicht dieser Kerl in den Psycho-Filmen Menschen ausgestopft?« »Ich glaube nicht. Wenn ich mich recht erinnere, waren es Vögel. Aber er bewahrte die Leiche seiner Mutter im Keller auf. In einem Schaukelstuhl. Was ist mit Ihrer Mutter? Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu ihr?« »Lassen wir meine Eltern da raus. Ich beantworte jede Frage über mich selbst, aber ich werde mich nicht über meine Leute auslassen.« »Na gut … erzählen Sie mir von dem bizarrsten Mord, den Sie je begangen haben. Welcher war der ausgefallenste?« »Der Wärter beobachtet uns. Vielleicht sollten wir uns das für den nächsten Besuch aufheben.« »Das machen wir wohl besser.« 229
»Zeit ist um«, sagte der Wärter. »Hören Sie, es geht mich ja nichts an, Mister, aber ich wundere mich doch, warum Sie Ihre Zeit damit verplempern, mit dem ›Metzger‹ zu reden. Selbst seine eigene Familie will nichts von ihm wissen.« »Ich habe meine Gründe.« »Ja, das denke ich mir«, sagte der Wärter. Und führte mich zurück in meine Zelle.
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GEORGE CLAYTON JOHNSON
Der Klang der Wahrheit Sie können sich nicht vorstellen, wie frustrierend es für einen freiberuflichen Schriftsteller ist, wenn ihm einfach nichts einfallen will. Der Schriftsteller in mir möchte zu Hause bleiben und an einer Story arbeiten, aber ich finde, ich muß von Zeit zu Zeit mal vom Schreibtisch wegkommen, damit die andere Hälfte meiner Persönlichkeit alles wieder ins rechte Lot rückt. Ich begebe mich auf die Suche nach Ablenkungen … Als ich eintreffe, haben die Deadheads, wie man die Fans der Gruppe Grateful Dead nennt, den vollgestopften Parkplatz in einen riesigen Flohmarkt für allerlei Drogen verwandelt, und überall riecht es nach Marihuana. Es ist ein irrer Betrieb, und die Stimmung ist klasse. Du kennst das ja von Rockkonzerten. Ein LSD-Schlucker, der hinten auf einem Kleinlaster hockt, hat einen Recorder dabei, aus dessen riesigen Lautsprechern mit schauerlicher Rückkopplung, aber erstaunlich deutlich, Musik dröhnt, die bei einem früheren Konzert der Deads aufgenommen wurde. Ein langhaariger Freak, der in eine ausrangierte Armeedecke Löcher für Kopf und Hände geschnitten hat und sie als Poncho trägt, schlendert vorbei und verkauft Rauschpilze aus einer offenen Schachtel wie ein Zeitungsjunge seine Blätter. Ich stehe ein wenig abseits, als dieser Kerl, den ich nie vorher gesehen habe, zu mir kommt und sagt: »Ich war mal ein Serienmörder.« Er sagt es einfach so und schwankt etwas, als sei er betrunken. In der linken Hand hat er eine halbleere Bierflasche, die er lässig an zwei Fingern herabbaumeln läßt wie eine Keule. 231
Ich stecke bedächtig meine Pfeife weg und schaue ihn mir an, wobei ich etwas von ihm abrücke und auf die Pointe warte. Manchen Leuten macht es ja Spaß, jemanden der auf einem Trip ist, Angst einzujagen. Trotzdem fühle ich mich allmählich etwas unbehaglich. Ganz egal, wohin ich in letzter Zeit gehe, dauernd kommen Wildfremde zu mir und erzählen mir die verrücktesten Sachen. Es ist, als hielten sie mich für eine Art Hohepriester oder so was, dem sie ihre Sünden beichten müßten. Ob das an dem langen Haar und meinem Bart liegt? Manche meinen, ich wolle mir dadurch so einen Jesus-Look zulegen. Möglicherweise spüren die Leute aber einfach, daß ich ein hartes, rücksichtsloses Leben geführt und dabei ein paar Dinge gelernt habe. Vielleicht ist es irgendwas, das sie in meinen Augen sehen. Ich möchte gern glauben, daß sich darin die Unschuld und Ehrlichkeit zeigt, die ich mir im Grunde bewahrt habe. Ich warte also und frage mich, warum dieser Mann mittleren Alters mit einem ansehnlichen Bauch und den muskulösen Unterarmen eines Truckerfahrers bei all den vielen Menschen hier ausgerechnet auf mich verfallen ist, um mir das zu erzählen. Dann sagt er, mit einem traurigen Schulterzucken, als wolle er mich beruhigen: »Ich hab’s aber aufgegeben.« Ich schaue ihn an, vermeide es allerdings, ihm in die Augen zu sehen, weil ich nicht unbedingt seinem Blick begegnen möchte. Während er so in seinen abgetragenen Bluejeans, dem weißen T-Shirt und einer dieser Trucker-Mützen mit irgendeinem Schriftzug vorne drauf, den ich nicht entziffern kann, vor mir steht, versuche ich, mir ein inneres Bild von ihm zu machen. Gleichzeitig bemühe ich mich so zu tun, als schaue ich ihn gar nicht an. Plötzlich wird mir überdeutlich bewußt, daß ich allein bin und keine Waffe habe. 232
Dann sagt dieser Kerl: »Ich bin früher den Grateful Dead hinterhergelaufen.« Er scheint das Gleichgewicht zu verlieren und torkelt näher heran. Ich mache unauffällig einen Schritt zurück und bleibe auf Abstand, beobachte seine Hände und frage mich, wohin dies alles führt. Mein ganzer Körper ist nun völlig verspannt, und ich bin inzwischen total ernüchtert. Bisher habe ich noch kein Wort gesagt. Dieser Kerl weiß nicht mehr über mich als über jeden x-beliebigen. Dabei soll es auch bleiben. Der Schriftsteller in mir möchte ihn fragen: Glaubst du nicht an Gott und die Vergeltung? Der Schriftsteller in mir möchte ihn fragen: Was bringt es dir? Ich sage gar nichts. Ich will nicht sein Interesse wecken, so daß er sich etwa in den Kopf setzt, mir zu folgen. Er sagt: »Jetzt denke ich daran, wieder damit anzufangen.« Und er kommt näher, um mir direkt ins Gesicht zu schauen und nach einer Reaktion zu forschen. Die Wirkung der Pille, die ich vor einiger Zeit eingeworfen habe, ist fast verflogen bis auf dieses Gefühl, daß jeder Augenblick schrecklich wichtig ist und daß hier mehr vor sich geht, als mir bewußt ist. Alles scheint mit unermeßlich großer Bedeutung befrachtet. Die Zeit läuft immer langsamer, bis sie nur noch dahinkriecht. Erschrocken halte ich den Atem an, während er mich anschaut, als warte er darauf, daß ich ihm einen Rat gebe. Will er, daß ich ihm sage, er mache einen Fehler? Daß er vielleicht früher damit durchgekommen sei, aber wenn er wieder anfange, werde man ihn irgendwann doch erwischen und auf diesem Stuhl festschnallen oder ihn lebenslang ins Gefängnis sperren? Will er, daß ich ihn an seine unsterbliche Seele erinnere und an die Strafe Gottes? 233
Oder will er in Wirklichkeit gar nichts von mir? Ich frage mich, ob er allen seinen Opfern so etwas erzählt, bevor er sie niederknüppelt. Während ich an diesen Stuhl denke und wie er mit der Kapuze über dem Kopf darauf wartet, daß die Zyankalikapseln fallen, sage ich: »Na dann, viel Glück.« Daß es so gleichgültig klingt, als wünsche ich ihm beiläufig noch einen schönen Tag, enttäuscht ihn sichtlich, und er verliert jedes Interesse an mir. Ich werde ein Niemand in seinen Augen; er wendet sich angewidert ab. Ein Gefühl grenzenloser Erleichterung durchflutet mich. Die Zeit beschleunigt sich. Ich fange wieder an zu atmen. Sobald er mir den Rücken zudreht, ziehe ich meinen weiten Mantel aus, wende ihn, so daß das dunkle Futter außen ist, und rolle ihn zu einem festen Bündel zusammen, das ich mir unter den Arm klemme. Jetzt bin ich mit einem hellen Sweatshirt bekleidet. Unterdessen habe ich meinen Platz verlassen und mich im rechten Winkel zu seinem Weg einer Gruppe von Leuten genähert. Ich mische mich darunter, und als er sich nicht umdreht und zurückschaut, eile ich weiter zu einer anderen Gruppe, um den Abstand zu vergrößern. Noch immer hat er sich nicht umgedreht. Leicht schwankend geht er in Richtung Ausgang, drängt sich durch die vielen Fans und gestikuliert dabei mit seiner Bierflasche, als singe er oder dirigiere ein Orchester. Eine Frau in einem langen, schwingenden Rock und einem knappen Top, dessen Träger im Nacken verknotet sind, hüpft von der Heckklappe eines Kleinlasters, um ihn zu umarmen, und ich frage mich: Wirst du diejenige sein? Aber er winkt nur mit seiner Bierflasche und torkelt nach einigen Worten weiter. Ich möchte zu dem Mädchen gehen und mich erkundigen, was er gesagt hat, ihr erzählen, was er mir gestanden hat, aber der Impuls geht vorüber. Die Abendluft ist kühl geworden, seit eine leichte Brise ein234
gesetzt hat. Plötzlich gibt es draußen vor dem Stadium, in dem die Deads spielen, irgendein Handgemenge. Ein paar Burschen halten einen Mann auf dem Boden fest, der sich heftig wehrt. Ich gehe hinüber, um zu sehen, was los ist, und kauere mich neben die Gruppe, damit ich notfalls helfen kann. Der um sich schlagende Mann hat offensichtlich eine Überdosis erwischt und Krämpfe. Die anderen versuchen zu verhindern, daß er sich selbst verletzt, während sie auf die Sanitäter warten. Sie scheinen sich alle zu kennen und zu wissen, was sie machen müssen. Ich will gerade aufstehen, als der Bursche plötzlich zu sich kommt. Er liegt ganz ruhig, seine Augen blicken wieder normal und schauen mich an. Offensichtlich ist er sich genau über seinen Zustand im klaren. Ich überlege, was ich ihm sagen kann, ehe die Wirkung der Drogen wieder einsetzt. Welchen Gedanken kann ich ihm einprägen, der ihm helfen könnte? Mir fällt ein, daß ich immer den Atem anhalte, wenn ich Angst habe, und so sage ich: »Vergiß nicht zu atmen.« Er scheint mich zu verstehen, aber dann werden seine Augen wieder glasig, und er beginnt erneut, um sich zu schlagen. Ich merke, daß ich für ihn nichts weiter tun kann, stehe auf und halte Ausschau nach einem bekannten Gesicht. Irgend jemand möchte ich von meiner merkwürdigen Begegnung mit dem Serienmörder erzählen, solange sie noch frisch in meinem Gedächtnis ist. An einem der Imbißstände – ein Kombiwagen mit geöffneter Heckklappe – entdecke ich Captain Ed und seinen Partner, den Hanfkaiser Jack Herer. Zwei Zigeunerinnen verkaufen dampfenden braunen Reis, der in feuchte Blätter aus Seetang eingewickelt ist. Jack gibt mir was von seiner Portion ab, verschlingt den Rest und bestellt eine neue. Es schmeckt wunderbar. Während ich ihnen von dem Serienmörder erzähle, begleite ich sie 235
dorthin, wo sie geparkt haben. Zwischen den Fahrzeugen ist ein freier Platz, auf dem man in einem kleinen Kreis mehrere Klappstühle aufgestellt hat. Eine Laterne gibt fahles Licht. Es herrscht allerhand Betriebsamkeit hier. An einem Tisch werden Unterschriften für die California Marijuana Initiative gesammelt, und Jack verkauft signierte Exemplare seines Aufklärungsbuchs über Haschisch, Der Kaiser trägt keine Kleider. Unaufhörlich kommen und gehen irgendwelche langhaarigen Künstler, um mit Captain Ed zu handeln. Er kauft von ihnen allerlei Kram für seinen Hippieladen in Van Nuys – handgemachten Hippieschmuck, gebatikte T-Shirts, Buttons, Sticker, surreale Gemälde –, wobei er ein Pfeifchen mit Gras füllt, das ihm jemand zum Probieren gegeben hat, und während wir uns andröhnen, reden wir über den Kerl von heute nachmittag, der behauptet hatte: Ich war früher mal ein Serienmörder. »Hast du ihm geglaubt?« fragt Jack. »Ich weiß nicht«, sage ich nüchtern. »Aber es klang wie die Wahrheit.« Captain Ed lacht. »Vielleicht kannst du es dann irgendwann mal in einer Story verbraten.« Der Schriftsteller in mir versetzt sich selbst einen Tritt und denkt an die verpaßte Gelegenheit und die Fragen, die er hätte stellen können. So bleibt mir jetzt nur ein formloses Fragment. Wirklich ein Jammer, daß nichts jemals vollständig ist. Das ganze Leben scheint aus lauter kunterbunten Fragmenten zu bestehen, denen immer nur andere wirre Fragmente folgen, und nichts ist tatsächlich von Bedeutung. Es ist einfach bloß eine sich ständig fortsetzende Kette ohne Ende, und du hast keine Möglichkeit, das zusammenhängende Ganze zu erkennen. Da stehe ich also, mitten in einem Meer von Autos, Lastwagen und Bussen, auf einem Platz, der von lauter Ausgeflippten in einen irrwitzigen Basar verwandelt worden ist, und denke an 236
Fragmente. Na ja, Captain Ed macht sich jedenfalls wieder an seine Geschäfte, ein paar Burschen ziehen ab, und ich übernehme einen der Klappstühle. Ich bin froh, endlich zu sitzen. Ein Kerl, der den Captain seit Jahren kennt, mustert mich, kommt zu mir und haut sich hin. Er ist ein eingefleischter Deadhead, ewig auf einem Dauertrip, und verdient seinen Lebensunterhalt bei solchen Veranstaltungen wie dieser, indem er LSD und ähnliches Zeug kauft und verkauft. Bestimmt hat er harte Zeiten durchgemacht, ist hager, verhärmt, schmutzig und trägt die reinsten Lumpen unter einem fleckigen, abgerissenen Mantel, der ihm viel zu groß ist. Er sieht grauenvoll aus. Sein schmales Gesicht wirkt verschlagen, in seinen Augen liegt Mißtrauen; er ist verbittert über das Pech, das sich ihm an die Fersen geheftet hat. Zuletzt hat er in einem kleinen Park in San Francisco mit LSD-Briefchen gedealt. Nach vielen Anlaufschwierigkeiten verkaufte er hundert Blatt am Tag und mehr, hatte eine exklusive Kundschaft, führte ein gutes Leben und war ständig high … bis irgendein Schreiberling von der High Times meinte, sie würden den Kiffern und Junkies einen Gefallen tun, wenn sie über den Park und die guten Sachen berichteten, die man dort kriegen konnte. Damit vermasselten sie ihm die Tour, und er hatte Glück, daß er es rechtzeitig herausfand und in der Lage war, gerade noch rechtzeitig zu verschwinden. Aus brennenden Augen blickt er mich unverwandt an, während er mir alles haarklein berichtet. Allmählich merke ich, wie windig es geworden ist. Ich bin froh, daß ich daran gedacht habe, meinen großen flauschigen, durchgehend gefütterten Mantel mitzunehmen, und ziehe ihn an. Dabei versuche ich, mich auf die Erzählung des Kerls zu konzentrieren, denke aber an den Mantel, und unwillkürlich kommt mir wieder meine merkwürdige Begegnung in den 237
Sinn. Als ich über die Schultern des Säurekopfs schaue, sehe ich den Mann von heute nachmittag. Der Serienmörder. Er beobachtet mich. Noch immer hat er die Bierflasche in der Hand, und es sieht nicht so aus, als habe er einen Tropfen getrunken. Ein Schauder überläuft mich. Ich fühle Panik in mir aufsteigen. Irgendwo in der Nähe dröhnt aus einem Verstärker der Song ›Death Don’t Have No Mercy‹. Ich frage mich, wie es eigentlich so weit mit mir kommen konnte, daß ich mich unter solche Freaks mische. Der Schriftsteller in mir weiß es. Er ist auf der Suche nach einer Story. Der Schriftsteller in mir mustert mit dem Auge des Jägers den Mann, und ich hole ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und einen Stift mit Faserspitze. Diese Sachen habe ich möglichst immer dabei, egal wo ich hingehe. Ich ziehe die Kappe des Stifts ab, um bereit zu sein. Damit ich sie nicht verliere, stecke ich sie hinten auf den Stift. Der Mann von heute nachmittag sucht etwas. Ich weiß, was es ist. Er will die Absolution. Er sieht mich als ein Verbindungsglied zu Gott. Meine Erregung wird immer größer. Ich stehe auf. »Entschuldige«, sage ich zu dem Säurekopf. »Ich muß mit dem Kerl da drüben reden.« Er scheint zu verstehen und winkt mir nach. Der Mann sieht mich näher kommen. Seine Augen weiten sich. Er weicht zurück in den Schatten. Ich sage: »Du warst einmal ein Serienmörder.« Er verbirgt sich tiefer in der Dunkelheit und umklammert 238
seine Flasche. Ich ignoriere es. Ich sage: »Du hast es aufgegeben.« Er entspannt sich. Ich sage: »Du bist früher mal den Grateful Dead zu ihren Konzerten nachgereist.« Ich schaue mich vielsagend um und mustere ihn mit einem unmißverständlichen Blick. Er wird wachsam. Ich sage: »Du denkst daran, wieder damit anzufangen.« Mißtrauisch zieht er sich weiter zurück. Ich kann ihn kaum noch sehen. Ich flüstere in die Dunkelheit: »Du willst, daß ich dir einen Rat gebe, was du tun sollst?« Leise: »Ja.« »Wirst du mir drei Fragen beantworten?« Ein resigniertes Seufzen. »Na gut.« Ich halte Stift und Papier bereit. »Hast du keine Angst vor dem Elektrischen Stuhl oder der Gaskammer?« Seine Stimme klingt zuversichtlich. »Alle Menschen müssen sterben. Nimm dir, was du willst, und sei bereit, dafür zu zahlen; das ist das einzige Gesetz.« Tief weicht er in die schwarzen Schatten zwischen dem Bus und dem Laster zurück. Ich starre ihn forschend an, suche in seinen Augen nach Verständnis, als ich die nächste Frage stelle, um mir seine Antwort zu notieren. »Glaubst du nicht an die Rache Gottes?« Er schaut mich mitleidig an. »Ich dachte, du hättest verstanden«, erwidert er ruhig. »Ich bin Gott.« Und als er das sagt, begreife ich endlich, mit wem ich rede und weiß jetzt, daß ich eine klare Antwort auf die entscheidende Frage bekomme. Der Schriftsteller in mir fragt: »Was hast du davon?« 239
Ich halte meinen Stift bereit, um seine Antwort aufzuschreiben. Er betrachtet mich einen Moment lang nachdenklich, dann antwortet er: »Ich will es für dich mit einem Wort zusammenfassen. Dankbarkeit.« Seine Stimme ist ruhig und sicher. Er sieht mir an, daß ich nicht begreife. »Die Menschen werden in die Angst hineingeboren. Sie verbringen ihr gesamtes Leben damit, vor dem Tod davonzulaufen, den sie in jedem einzelnen Augenblick fürchten, und unablässig fragen sie sich, in welcher Form er ihnen begegnen wird. Wenn sie schließlich erfassen, daß sie mir in die Hände gefallen sind, daß sie hilflos sind und mir nicht entkommen können, verändert sich alles. In ihren Gesichtern ist zu sehen, daß sie wissen, was nun geschieht. Sie hören auf zu kämpfen. Sie sehen meine Augen und wissen, daß ich ihnen die Entscheidung abgenommen habe. Sie sind dankbar.« Er seufzt und kommt taumelnd näher. »Ich habe dir alles erzählt. Jetzt bist du dran«, sagt er. »Was rätst du mir?« Ich zögere und schaue in seine Augen, die in der Dunkelheit glühen, als leuchte ein Feuer hinter den Pupillen. Ich habe das Gefühl, in diese Augen – die so ziegenähnlich, so entsetzlich sind –, hineingesogen zu werden. Sein Gesicht beginnt sich zu verändern. Es ist, als beobachte man, wie die Zeit das Antlitz der Sphinx zerfrißt. Ist es ein LSD-Traum? Ich spüre seine starke rechte Hand, die plötzlich meinen Mantel packt, mich näher heranzieht, stemme mich gegen seine Brust, fühle mich aber kraftlos und unfähig zu kämpfen. »Warte!« schreie ich. »Ich weiß es!« Er hält inne und lockert ein wenig seinen Griff. 240
Ich lehne mich zu ihm, während er sich vorbeugt, um besser zu hören. Kaum spüre ich, wie er in der Dunkelheit den Arm hebt. Da ich den Hals recke, um ihm ins Ohr zu flüstern, und mich dabei auf die Zehenspitzen gehoben habe, stehe ich jetzt genau richtig. Ich erinnere mich an alles, was ich bei der Shiatsumassage je über Druckpunkte und das Nervensystem gelernt habe und stoße den Faserschreiber in seinen Solarplexus. »Stirb«, sage ich gleichzeitig. Die Zeit bleibt stehen. Stell dir den Stift in meiner rechten Faust vor, dessen Faserspitze einem angespitzten Bambusrohr gleicht, das eine metallene Zwinge mit dem festen Plastikschaft verbindet. Stell dir einen Punkt direkt unter seinem Brustbein vor, wo es überraschenderweise keine Bauchmuskeln gibt, die den aufwärts gerichteten Stoß hemmen. Stell dir vor, wie die Spitze mühelos das T-Shirt durchdringt und mit einem kaum hörbaren Knacken unglaublich leicht tief in seinen Körper gleitet. Er ist verblüfft, schockiert, genauso wie ich. Der Atem entströmt ihm mit einem leisen Zischen. Blut spritzt auf meine Hand und meinen Mantelaufschlag. Er fällt. Obwohl er so verdreht zu meinen Füßen liegt, kann ich im Licht der Campinglaterne, das unter dem Bus hindurchschimmert, seine Augen sehen, die jetzt sehr viel trüber sind. Ich erkenne, daß er im Sterben versteht, was passiert ist. Ich sehe, daß er mich anschaut und erkenne den Ausdruck in seinem Blick. Er hatte recht. Ich lese Dankbarkeit in seinen Augen. Für mich ist es wie eine Segnung. Aber ich sehe noch etwas anderes. Ist es Angst vor der Hölle? Eiseskälte überläuft mich, und mein Herz schlägt schneller. 241
Ich erinnere mich an den Nachmittag und den Burschen auf dem Rasen mit der Überdosis und sage zu mir selbst: »Vergiß nicht zu atmen.« Dann rolle ich ihn unter einen in der Nähe stehenden Laster und versuche, es zu vergessen. Warum also schreibe ich diesen Text hier? Verdammt, für mich ist alles, was ich schreibe, eine Art Geständnis, und ich habe vor langer Zeit gelernt, daß ich die Konsequenzen auf mich nehmen muß. Wenn du Schriftsteller wärst, wüßtest du, wie schwer es ist, eine Idee auszubrüten, die überzeugend genug ist, um auf diesem immer enger werdenden literarischen Markt die Aufmerksamkeit eines Redakteurs zu erregen. Und der Schriftsteller in mir findet, daß diese Story einfach zu gut ist, um sie nicht aufzuschreiben.
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DAVID MORRELL
Niemand wird dir was tun Später sollte das Lied von quälender Bedeutsamkeit für ihn werden. »Ich höre einfach ununterbrochen diesen Song«, erklärte Chad mit brennenden Augen und in beinahe panischer Verzweiflung seinem Psychiater. »Ganz egal, was ich gerade tue – ob ich einen Klienten treffe, mit einem Verleger rede, ein Manuskript lese, durch den Central Park gehe, Herrgott, sogar wenn ich scheiße, höre ich dauernd diesen Song! Ich habe alles probiert, was mir eingefallen ist. Nicht, daß ich ihn in voller Lautstärke höre, aber ich wache sogar Tag für Tag auf und spüre, daß ich ihn die ganze Nacht gesummt habe. Das heißt, falls es mir überhaupt gelingt zu schlafen.« Chad erinnerte sich lebhaft an das erste Mal, als er ihn gehört hatte. Er konnte es ganz exakt datieren: Mittwoch, der 20. April 1979. Sogar die Zeit vermochte er präzise anzugeben: 21 Uhr 46, denn obwohl er das Lied ergreifend und die Darbietung der Sängerin hervorragend gefunden hatte, war in ihm der sonderbare Zwang entstanden, auf seine Uhr zu blicken. Der Tag muß mich doch ziemlich mitgenommen haben, dachte er. Bin schon so müde. Dabei ist es erst neun Uhr sechsundvierzig. Stephen Sondheims Musical Sweeney Todd, The Demon Barber of Fleet Street hatte im März am Broadway Premiere und erhielt glänzende Kritiken; an Karten heranzukommen war völlig unmöglich. Doch einer von Chads Klienten, der Theaterstücke schrieb, kannte den Produzenten, und an diesem Abend brach Chads Frau Linda eine der Regeln ihrer Ehe und gab zu seinem Geburtstag eine Überraschungsparty, bei der dieser Autor so tat, als ziehe er wie ein Zauberkünstler zwei Karten hinter Chads Ohr hervor: »Alles Gute zum Zweiundvierzigsten, alter Knabe.« 243
Chad erinnerte sich jedoch nicht deshalb so genau an das Datum, an dem er das Musical gesehen hatte, weil es irgend etwas mit seinem Geburtstag zu tun hatte (die Karten waren auf Wochen später datiert), sondern aus ganz anderen Gründen. Der Teufelsbarbier der Fleet Street. Kommen Sie rein, lassen Sie sich rasieren, frisieren und die Kehle durchschneiden, eine Rutsche hinunterwerfen, zu Hamburger verwursten und zu Mrs. Lovetts berühmter, allseits beliebter leckerer Fleischpastete verarbeiten. Wie kriegen Sie bloß diesen besonderen Geschmack hin; ist ja köstlich! Bitte, noch eine Portion! Um das Publikum zu erschrecken, schrillte jedesmal ein ohrenbetäubender Pfiff, wenn Sweeney jemandem die Kehle durchschnitt und das Blut nur so spritzte. Einer von Mrs. Lovetts Kellnern war ein ziemlich beschränkter Junge, der nicht den leisesten Schimmer hatte, was da vor sich ging, aber irgendwie ahnte er, daß etwas nicht ganz geheuer war. Er gestand der guten Mrs. Lovett seine Ängste, die ihn als ihren Sohn betrachtete und liebevoll versprach, ihn zu beschützen. Niemand würde ihm etwas Böses tun, beteuerte sie. Angela Lansbury sang es ganz wunderbar – dieses Lied mit dem Titel ›Nicht, solange ich da bin‹, das Chad danach für alle Zeit quälen würde; ein heiteres, zu Herzen gehendes Lied mitten in all diesem blutrünstigen Geschehen. Nach der Vorstellung fanden Chad und Linda nicht gleich ein Taxi und kamen erst kurz vor Mitternacht in ihr Apartment an der Upper East Side zurück. Beiden war die Aufführung so unter die Haut gegangen und die Musik hatte sie gleichzeitig so begeistert, daß sie beschlossen, sich noch einen Brandy zu genehmigen und darüber zu sprechen. Eine Stunde später, als sie gerade ins Bett gehen wollten, läutete plötzlich das Telefon. Mürrisch fragte sich Chad, welcher Idiot wohl zu einer solchen Zeit noch anriefe. Er rechnete damit, daß es einer seiner Klienten war, ein nervöser und vor allem wichtiger Autor, mit dem er die ganze Woche über schon mühselige Gespräche geführt 244
hatte, da ein Verleger auf dessen neues Manuskript nicht so günstig reagiert hatte wie erhofft. Chad versuchte das beharrliche Läuten zu ignorieren, hob schließlich aber doch verärgert ab. Es rauschte und knackte in der Leitung, da es offenbar ein Ferngespräch war, und die rauhe Männerstimme klang angespannt und leise. »Hier spricht Lieutenant Raymond MacKenzie, Polizei von New Haven. Ich weiß, es ist schon spät, und ich entschuldige mich, falls ich Sie aufgeweckt habe, aber … es hat leider ein Unglück gegeben.« Bei seinen nächsten Worten begann Chad zu zittern. »Nein … Sie irren sich. Das muß ein Irrtum sein.« »Ich wünschte, es wäre so.« Die Stimme des Lieutenants wurde noch rauher. »Glauben Sie mir, daß ich mit Ihnen fühle. Bei solchen Anlässen hasse ich meinen Beruf.« Er informierte ihn kurz, was jetzt zu tun sei. Chad murmelte, daß er verstanden habe und legte auf. Linda, die ihn beobachtet hatte, wollte wissen, warum er so bleich sei. Als Chad es ihr sagte, stieß sie hervor: »Nein! Guter Gott! Das kann nicht sein! Nicht Stephanie!« Vor lauter Eile blieb ihnen keine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Sie warfen einige Kleidungsstücke in einen Koffer, eilten aus dem Apartment und drei Blocks weit zu einer Mietgarage, wo sie ihren zwei Jahre alten Ford abgestellt hatten, und rasten dann los. Den Wagen hatten sie damals, genauso wie das Landhaus in Connecticut, nur gekauft, damit sie die Wochenenden in Stephanies Nähe verbringen konnten. Unterwegs sprachen sie kaum ein Wort miteinander, doch wenn sie es taten, redeten sie sich ein: »Nein, das ist unmöglich.« In New Haven suchten sie Lieutenant MacKenzie auf, dessen tiefe, rauhe Stimme gar nicht zu seinem schmächtigen Körper zu passen schien. Beharrlich und eigensinnig weigerten sie sich, es wahrhaben 245
zu wollen. Selbst als er voller Mitgefühl und wiederholt versicherte, daß es kein Irrtum sei, als er ihnen mit bedrückter Miene Stephanies Tasche zeigte, ihr Portemonnaie, ihren Führerschein, als er ihnen die Aussage ihrer Zimmergenossin zu lesen gab, daß sie letzte Nacht nicht ins Studentenwohnheim zurückgekehrt sei – sogar als Chad und Linda sie im Leichenschauhaus identifizierten, oder das, was sie einmal gewesen war, und erkannten, daß dieses verstümmelte Gesicht Stephanies Züge trug – beharrten sie weiter darauf, es müsse irgendein anderes junges Mädchen sein, das aussah wie Stephanie, das Stephanies Tasche gestohlen hatte, das vielleicht … Es mußte einfach ein Irrtum sein! Niemand würde ihn etwas Böses tun, hatte Angela Lansbury in ihrem Lied dem Jungen versprochen, und Chad hatte am Abend zuvor, als er auf die heitere Melodie gelauscht hatte, die fast wie ein Wiegenlied klang, kurz an sein eigenes und einziges Kind denken müssen, wie er dem süßen kleinen Wicht beim Schlafengehen vorgelesen, für sie Wiegenlieder gesungen und mit ihr gebetet hatte. »Müde bin ich, geh zur Ruh’ …«, hatte sie gehorsam wiederholt, »schließe beide Äuglein zu. Vater, laß die Augen dein über meinem Bettchen sein … Daddy, gibt es einen bösen Schwarzen Mann?« »Nein, Liebes. Das ist bloß ein Märchen. Schlaf jetzt. Keine Angst. Daddy ist ja da. Niemand wird dir was Böses tun.« »Nicht, solange ich da bin«, so hieß der Song. Aber vor zwei Jahren war Stephanie nach New Haven gegangen, um in Yale Anglistik zu studieren, und gestern abend hatte es solch einen bösen Mann gegeben, und trotz Chads Versprechen von damals war er nicht da gewesen, als dieser Teufel Stephanie etwas angetan hatte. »Wann ist es …?« Chad rang um Fassung und schaute Lieutenant MacKenzie hilfesuchend an. »Um welche Zeit ist sie …?« 246
»Die Leiche wurde kurz vor elf gestern abend entdeckt. Auf Grund des Wärmeverlusts des Gehirns schätzt der medizinische Sachverständige, daß der Tod zwischen halb zehn und zehn Uhr eingetreten sein muß.« »Einundzwanzig Uhr sechsundvierzig.« Der Lieutenant musterte ihn unsicher. »Mehr oder weniger. Es ist schwierig, das so präzise anzugeben.« »Natürlich.« Chad biß sich auf die Lippen und schmeckte seine Tränen. »Einundzwanzig Uhr sechsundvierzig.« Er erinnerte sich an den sonderbaren Zwang, auf seine Uhr zu blicken, den er letzten Abend bei Angela Lansburys Song empfunden hatte, daß niemand ihrem Jungen etwas tun würde. Währenddessen hatte dieser Satan Stephanie getötet. Chad wußte es. Er war absolut sicher. 21 Uhr 46. Um diese Zeit war Stephanie gestorben. Er hatte ihren Tod genauso gespürt, als habe sie wie ein kleines Mädchen an seinem Jakkenärmel gezupft. »Daddy, gibt es einen bösen Schwarzen Mann?« »Niemand tut dir was. Ich bin ja da.« Chad mußte diesen Satz laut ausgesprochen haben. Denn der Lieutenant fragte stirnrunzelnd: »Bitte? Entschuldigung, Sir, ich habe nicht ganz verstanden, was …« »Nichts.« Hemmungslos schluchzend umarmte er Linda, deren Gesicht von Kummer verzerrt und tränenüberströmt war, und empfand den schrecklichen Drang, den Lieutenant zu bitten, ihn noch einmal hinunter ins Leichenschauhaus zu führen – nur damit er Stephanie noch einmal sehen konnte, auch wenn sie aussah wie … selbst wenn ihr … Stephanie! Nein, das konnte einfach nicht sein! Jesus, nicht Stephanie! Chad versuchte später, sich die Gespräche in den Sinn zu rufen, an die er sich in seiner Betäubung und Verwirrung nur nebelhaft erinnerte. MacKenzie hatte ihm mehrmals alles genau berichtet, aber er hatte nicht lockergelassen und es wie247
der und wieder und immer noch ausführlicher hören wollen. »Ich verstehe nicht! Was zur Hölle ist passiert? Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte? Zeugen? Haben Sie den Dreckskerl gefunden, der das getan hat?« Der Lieutenant wirkte blaß und traurig. Er erklärte, Stephanie sei am gestrigen Nachmittag zur Universitätsbibliothek gegangen. Eine Freundin habe sie um sechs Uhr aus dem Gebäude kommen sehen. Auf dem Weg zum Wohnheim müsse ihr jemand angeboten haben, sie mitzunehmen. Möglicherweise habe er sie auch irgendwie um Hilfe gebeten oder sie einfach gepackt, ohne daß es Aufmerksamkeit erregte. Die übliche Methode sei, an das Mitleid des Opfers zu appellieren, indem man den Behinderten spiele. Wie auch immer es abgelaufen sein mochte, sie sei jedenfalls seit dieser Zeit verschwunden gewesen. Später habe der Mörder außerhalb von New Haven am Wegrand angehalten und Stephanies Leiche in einen Graben geworfen. Das Fehlen von Blutspuren am Fundort weise darauf hin, daß der Mord woanders verübt worden sei. Die Landstraße liege weit von einer Hauptverkehrsstraße entfernt. Der Mörder brauchte so spät am Abend nur so lange dort entlangzufahren, bis er weder vor sich noch hinter sich Scheinwerfer sah, dann anzuhalten, rasch den Kofferraum zu öffnen und die Leiche hinauszuwerfen. Zwanzig Sekunden später war er vermutlich bereits wieder unterwegs. Der Lieutenant seufzte. »Es war lediglich ein Zufall, daß ein Farmer, der in der Nähe wohnt, auf dieser Landstraße gestern nacht einen Platten hatte, und zwar an der Stelle, wo der Mörder Ihre Tochter auslud. Er nahm seine Taschenlampe, und als er ausstieg, um nach dem Reifen zu sehen, traf der Lichtschein auf die Leiche. Purer Zufall, aber dadurch haben wir diesmal einige Anhaltspunkte, nämlich Reifenspuren. Es hat gestern nachmittag geregnet. Sämtliche Spuren im Schlamm mußten also frisch sein. Die Spurensicherung konnte sehr deutliche 248
Abdrücke nehmen.« »Reifenspuren? Aber die verraten doch nicht, wer der Mörder ist.« »Was soll ich sagen, Mr. Doland? Im Moment ist das alles, was wir haben – und glauben Sie mir, damit haben wir mehr als manch andere Mordkommission, die in diesen Mordfällen ermittelt, je in der Hand hatte. Abgesehen natürlich von den übereinstimmenden Wunden an den Opfern.« Wunden – im Plural. Über diesen Punkt brauchte Chad keine näheren Erläuterungen zu verlangen. Ein Blick auf Stephanies Leiche hatte genügt, daß er gewußt hatte, wer der Killer war. Natürlich nicht den tatsächlichen Namen des Saukerls. Aber jeder kannte seinen Spitznamen. Eines dieser billigen Massenblätter hatte ihn so benannt. Der Beißer. Sogar eine angesehene Zeitung hatte sich auf das Niveau der Boulevardpresse herabgelassen und die Bezeichnung verwendet. Denn abgesehen davon, daß er seine Opfer (bislang achtzehn, stets weiße Frauen, attraktiv, blond, kaum zwanzig, Studentinnen) vergewaltigte und erwürgte, hinterließ er Bißabdrücke auf ihren Körpern, wie aus den Polizeiberichten zu entnehmen gewesen war. Diese Umschreibung deutete die Wahrheit jedoch nur unzureichend an. Chad hatte sich tiefe Zahnabdrücke am Hals, am Arm, an der Schulter vorgestellt, und nichts hatte ihn auf den Anblick vorbereitet, der sich ihm tatsächlich bot. Der Killer biß seine Opfer nicht nur, er fraß regelrecht an ihnen. Er riß ganze Stücke aus Armen und Beinen, zerfetzte die Bäuche, biß Brustwarzen ab, Schamlippen. Diese Drecksau war ein gottverfluchter Kannibale. Mehrfacher Mord und … Sweeney Todd. Niemand wird dir was Böses tun. Chad stellte sich Stephanie in ihrer Verlassenheit und besinnungslosen Angst vor und stöhnte, bis er schließlich zu schreien begann. Wie betäubt durchlebten er und Linda diesen Alptraum. 249
Während sie darauf warteten, daß die Polizei die Leiche freigab, mußten sie das Begräbnis vorbereiten und die Sachen ihrer Tochter aus ihrem Zimmer im Studentenwohnheim abholen. Auf dem Schreibtisch fanden sie einen halbfertigen Aufsatz über Shakespeares Sonette; ein Blatt steckte noch in der Schreibmaschine. Mitten im Satz, der jetzt nie fertiggeschrieben werden würde, hatte sie aufgehört. Aus einem Regal neben ihrem Bett räumten sie Lehrbücher, in denen etliche Abschnitte rot unterstrichen waren, die Stephanie sich für das Abschlußexamen einprägen wollte, das sie nun nie machen konnte. Kleidungsstücke, Andenken, ihr Radio, ihren Bär Winnie-ThePoo – alles hatte in einem Koffer und drei Schachteln Platz. So wenig. So leicht wegzuräumen. In einem Moment bist du da, im nächsten beinah spurlos verschwunden, dachte Chad bitter. Oh, Jesus. »Es tut mir so leid, Mr. und Mrs. Dolan«, sagte Stephanies Zimmergenossin. Sie trug eine Brille, hatte das lange rote Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wirkte elend und bedrückt. »Wirklich. Stephanie war so lieb und klug und lustig. Ich hatte sie richtig gern und vermisse sie jetzt schon. Sie war was Besonderes. Es ist so eine Ungerechtigkeit. Ach Gott, ich bin ganz durcheinander. Ich wünschte, ich wüßte, was ich sagen soll. Es ist das erste Mal, daß jemand, der mir nahestand, gestorben ist.« »Ich verstehe schon«, sagte Chad traurig. Sein Vater war mit siebzig einem Herzanfall erlegen, aber das war mit diesem überwältigenden Schock nicht zu vergleichen. Immerhin hatte er jahrelang unter Herzbeschwerden gelitten, und die tödliche Koronarthrombose war absehbar gewesen. Er war verstorben, seinem Leiden erlegen, zum Herrn heimgekehrt oder wie man auch immer die nackten Tatsachen am besten trostreich beschönigte. Doch was mit Stephanie geschehen war, ließ sich nur grausam, kraß, brutal sagen: Sie war ermordet worden. Guter Gott, das konnte doch nicht sein! Man hatte Stephanie 250
umgebracht. Chad und Linda trugen ihre Sachen zum Auto, kehrten zur Polizeistation zurück und bedrängten Lietenant MacKenzie so lange, bis er ihnen schließlich den Weg dorthin beschrieb, wo sie gefunden worden war. »Quälen Sie sich doch nicht selbst«, versuchte er sie zurückzuhalten, aber sie waren bereits zur Tür hinaus. Chad wußte nicht, was er sich davon versprochen hatte, was er zu entdecken oder zu empfinden hoffte, indem er sich die Stelle ansah, wo der Mörder geparkt und Stephanies Leiche wie einen Müllsack abgeladen hatte. Aber es gelang ihnen auch gar nicht, ganz dorthin zu kommen – ein Polizist bewachte den Fundort, ein Stück des Straßenrands und des Grabens war behelfsmäßig mit einigen Stangen und gelbem Plastikband eingezäumt, das die Aufschrift trug: SPURENSICHERUNG – ZUTRITT POLIZEILICH VERBOTEN. Im Graben war auf dem Gras mit weißer Sprühfarbe der Umriß von Stephanies Körper nachgezeichnet worden. Linda weinte krampfhaft. Chad empfand Übelkeit, fühlte sich schwach und benommen, und gleichzeitig stieg ein Zorn in ihm auf, der seine Brust, sein Herz und vor allem seine ganze Seele erfüllte. Dieses Schwein. Dieses verdammte …! Wer auch immer das getan hat, wenn sie ihn finden …! Chad stellte sich vor, wie er ihn schlug, trat, auf ihn einstach, ihn würgte – und plötzlich mußte er daran denken, daß Stephanie erwürgt worden war. Er lehnte sich an sein Auto und konnte nicht aufhören zu schluchzen. Nach scheinbar endlosen bürokratischen Verzögerungen erhielten sie schließlich ihre geliebte Tochter zurück. Stumm folgten sie dem Leichenwagen auf seiner Fahrt nach New York. Obwohl Stephanies Gesicht nicht verunstaltet worden war, lehnten Chad und Linda es ab, die sterblichen Überreste offen aufzubahren. Sicher, trauernde Freunde und Verwandte würden die schauerlichen Verstümmelungen an ihrem Körper 251
unter dem Leichenhemd nicht sehen können, aber Chad und Linda würden sie genauso deutlich vor Augen haben, als sei das Tuch durchsichtig. Mehr noch, es erschien ihnen als unerträgliche Demütigung Stephanies, für alle Ewigkeit von den widerlichen Spuren dieses Monsters besudelt in ihrem Grab liegen zu müssen. Sie mußte verbrannt werden. Um wieder rein und unschuldig zu sein. Asche zu Asche. Gereinigt im Feuer. Jeden Tag fuhren Chad und Linda hinaus zum Friedhof, um sie zu besuchen. Diese Fahrt wurde das zentrale Ereignis, nach dem sie ihren ganzen Tagesverlauf ausrichteten, und eigentlich gab es daneben für sie kaum mehr etwas anderes. Chad konnte sich nicht dazu aufraffen, Manuskripte zu lesen, Autoren zu treffen und mit Verlegern zu verhandeln, obwohl seine Freunde sagten, es sei das einzig Richtige, ganz normal weiterzumachen und sich mit der Arbeit in seiner Literaturagentur abzulenken. Aber das alles war ihm gleichgültig geworden, und er verbrachte mehr und mehr Zeit mit langen Spaziergängen durch den Central Park – wenn er nicht zusammen mit seiner Frau auf dem Friedhof Stephanie besuchte. Er hatte Schwindelanfälle. Er trank zu viel. Linda ihrerseits gab keinen Klavierunterricht mehr und vergrub sich bis auf die tägliche Fahrt zum Friedhof in der Wohnung, betrachtete Fotos von Stephanie, starrte stumm vor sich hin und schlief sehr viel. Sie verkauften das Landhaus in Connecticut und ihren Ford; das Haus hatten sie sowieso nur erworben, um an den Wochenenden mit Stephanie zusammen zu sein, wenn sie auf Besuch kam, und den Wagen nur gebraucht, um dorthin zu kommen. Niemand wird dir was Böses tun. Das bittersüße Lied klang Chad beständig wie ein schwaches Echo in den Ohren. Er glaubte verrückt zu werden, zitterte vor Anspannung und suchte beinahe zwanghaft Orte und Plätze auf, die ihn an Stephanie erinnerten: den Spielplatz ihrer Grundschule, ihre High-School, den Zoo im Central Park, den Joggingpfad rund um den See. In Gedanken sah er sie vor sich – jeweils verschieden alt, ver252
schieden groß, Kleidung und Frisur jeweils anders. Es waren gespenstische Gedankenbilder, unheimliche Doppelbelichtungen, in denen das Damals und das Jetzt gleichzeitig nebeneinander existierten. Ein lachendes kleines Mädchen auf der Schaukel in einem benachbarten Park, der schon vor langer Zeit einem Apartmentgebäude hatte weichen müssen. Ich kann das nicht aushalten, dachte Chad in rasender Wut und stellte sich vor, welch unendliche Erleichterung es wäre, sich einfach vor eine heranrasende U-Bahn zu werfen. Was ihn davor bewahrte, war Stephanie, die es ihm ausredete. Gewiß, er wußte, daß ihre Stimme nur in seinen Gedanken existent war. Aber sie klang so wirklich, daß seine Qualen etwas nachließen. Er hörte sie ganz deutlich. »Dad, denk an Mutter. Wenn du dich umbringst, machst du ihr Leid nur noch schlimmer. Sie braucht dich. Um meinetwillen, hilf ihr.« Chad hatte das Gefühl, seine Beine würden unter ihm nachgeben. Er sank in der Küche, wo er um drei Uhr morgens ruhelos hin und her gelaufen war, auf einen Stuhl. Niemand wird dir was Böses tun. »O Baby, es tut mir so leid«, schluchzte er. »Du hättest mich nicht retten können, Dad. Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nicht für alle Zeit über mich wachen. Es hätte auch ganz anders passieren können – ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt, bei einem Verkehrsunfall … Es gibt keine Garantien.« Chad wischte sich die Tränen ab. »Ach, verdammt, ich vermisse dich so.« »Ich vermisse dich auch, Dad. Ich liebe dich. Und ich bin nicht wirklich weg. Ich rede ja mit dir, oder nicht?« »Ja … wenigstens glaube ich das.« »Ich bin weit weg, aber ich bin auch in dir, und wann immer du möchtest, können wir miteinander sprechen. Du brauchst nur an mich zu denken, und ich bin da.« 253
»Aber es ist nicht dasselbe!« »Es ist das, was uns möglich ist, Dad. Wo ich bin … hier ist alles so hell! Ich fliege! Ich bin ganz begeistert, mir geht es so gut! Ich brauche dir nicht leid zu tun. Du mußt akzeptieren, daß ich nicht mehr da bin. Du mußt akzeptieren, daß dein Leben jetzt anders geworden ist. Du mußt wieder anfangen zu leben. Hör auf zu trinken. Iß wieder regelmäßig. Fang wieder an, Manuskripte zu lesen. Beantworte die Anrufe deiner Klienten. Triff dich mit Verlegern. Arbeite.« »Aber das schert mich alles nicht mehr!« »Du mußt! Wirf nicht dein Leben weg, nur weil ich meines verloren habe! Ich werde dir nie verzeihen, wenn …« »Nein, bitte, Liebling. Bitte, nicht böse werden. Ich will es versuchen. Ich verspreche es. Wirklich. Ich versuche es.« »Um meinetwillen.« Schluchzend nickte Chad, und der Lichtpunkt, den sein Unterbewußtsein vor ihn projiziert hatte, wurde schwächer. Nur Angela Lansburys Stimme hallte weiterhin unaufhörlich in seinem Kopf. Niemand wird dir was Böses tun. Chad kämpfte nach Kräften dagegen an, doch das Lied ging ihm einfach nicht aus dem Sinn. Je öfter er es hörte, desto stärker verwirrte ihn eine unterschwellige Bedeutung, die in diesem Text zu liegen schien, etwas Dunkles und Verstörendes, das er nur ahnen konnte, nur fühlte, aber nicht verstand, ein neues Grauen. Drei Monate später fand ein Wanderer am Ufer eines Bachs in der Nähe von Princeton das nächste Opfer des Beißers. Die Studentin, die den Sommer über in der Universitätsbibliothek gearbeitet hatte, wurde seit zwei Wochen vermißt. Obwohl die Leiche von Tieren angefressen worden war und in sengender Sonne gelegen hatte, konnte der Gerichtsmediziner dennoch eindeutig Erwürgen als Todesursache feststellen und zwischen tierischen und menschlichen Bißspuren unterscheiden. Das 254
waren die einzigen Informationen, die die Polizei bekanntgab, doch Chad wußte nun, wie »Bißspuren« aussahen, und er schauderte vor Entsetzen, wenn er sich daran erinnerte, daß der Killer ganze Stücke aus Stephanies Körper gerissen hatte. Inzwischen fuhren er und Linda nicht mehr jeden Tag zum Friedhof und beschränkten ihre Besuche auf das Wochenende. Linda hatte begonnen, wieder Schüler anzunehmen. Chad bemühte sich, sein Versprechen zu halten, das er Stephanie gegeben hatte, und kümmerte sich wie früher um seine Autoren und deren Verleger. Doch die Nachricht von diesem neuen Mord drohte das mühsam errungene Gleichgewicht wieder zunichte zu machen. Ein innerer Zwang trieb ihn dazu, den Eltern des ermordeten Mädchens einen Beileidsbrief zu schreiben: Wir trauern um Ihre Tochter wie um unsere eigene, bitten Gott in unseren Gebeten, daß sie in Frieden ruhen dürfe und flehen ihn um Gerechtigkeit an. Möge diese Bestie gefaßt und mit allen Qualen der Hölle bestraft werden, ehe ein neues Unglück geschieht. Für Stephanie brauchte Chad eigentlich nicht zu beten, denn er wußte, daß sie Frieden gefunden hatte. Sie versicherte es ihm jedesmal, wenn er um zwei oder drei Uhr morgens schlaflos in die Küche stolperte, wo sie als schwebender Lichtpunkt auf ihn wartete. Trotzdem wuchs Chads Zorn. Jeden Morgen trieb ihn nur die Hoffnung aus dem Bett, daß heute vielleicht der Tag wäre, an dem die Polizei das Monster erwischen würde. Doch im September, kurz nach Beginn des Herbstsemesters, wurde statt dessen das nächste grausam verstümmelte Opfer des Beißers in einem Abwassergraben in der Nähe des Vassar Colleges gefunden. Chad rief sofort Lieutenant MacKenzie an und verlangte zu wissen, ob die Polizei von Vassar irgendwelche Hinweise entdeckt habe. 255
»Ja.« Die Stimme des Lieutenants klang diesmal noch rauher. »Es hatte wieder geregnet. Man fand dieselben Reifenspuren.« MacKenzie seufzte. »Mr. Dolan, ich verstehe Ihre Verzweiflung, Ihre Wut, Ihre Rachegefühle, aber Sie müssen sich davon freimachen. Sie müssen Ihr Leben weiterführen, während wir unsere Arbeit erledigen. Sämtliche Polizeidienststellen, die in diesen Fällen ermitteln, stehen miteinander in Verbindung und vergleichen ständig ihre Informationen. Ich verspreche Ihnen, daß wir tun, was uns möglich ist, um …« Chad knallte den Hörer auf die Gabel. Zitternd und wie unter einem Zwang schrieb er weinend einen Brief an die Eltern des letzten Opfers. Wir nehmen Anteil an Ihrem Verlust und trauern mit Ihnen. Wenn es einen Gott im Himmel gibt – einen Gegenpol zu diesem monströsen Höllenteufel –, wird der Tod unserer geliebten Kinder nicht ungesühnt bleiben. Ihren leuchtend hellen Seelen soll Gerechtigkeit zuteil werden. Die obszöne Schändung ihrer unschuldigen Körper darf nicht ungerächt bleiben. Chad erhielt nie eine Antwort von diesen anderen Elternpaaren, doch das war unwichtig. Es kümmerte ihn nicht. Er hatte sich aufrichtig bemüht, sie in ihrem Schmerz zu trösten, aber wenn ihr Leid sie so sehr überwältigt hatte, daß sie nicht die Kraft aufbrachten, ihn ebenfalls zu trösten – nun, das war schon in Ordnung. Er verstand es ja. Hauptsache, er hatte ihnen versichert, daß er nicht ruhen würde, bis der Beißer bestraft war – und zwar so schrecklich, wie sie es sich in ihrem Haß und ihrem besinnungslosen Leid nur ausmalen konnten. Erneut begann er seine Literaturagentur zu vernachlässigen und rief jeden Tag bei allen Polizeidienststellen der Bezirke an, in denen sich der Beißer seiner Opfer entledigt hatte. Chad sagte Besprechungen mit Verlegern ab, verschob Treffen mit 256
Autoren, ließ Manuskripte ungelesen liegen und konzentrierte sich darauf, den Beamten der Morddezernate Vorhaltungen zu machen. Er verlangte zu wissen, warum sie die Fälle nicht mit mehr Nachdruck bearbeiteten, warum es noch keine Resultate gab, warum sie den Bastard noch nicht aufgespürt hatten, denn seine Opfer könnten erst dann in Frieden ruhen, wenn ihr Peiniger seine gerechte Strafe erhalten habe und es dadurch ausgeschlossen sei, daß noch weitere Unschuldige die gleichen brutalen Qualen erlitten. Chads Bemühungen erwiesen sich als zwecklos. Kurz vor Thanksgiving wurde in einem Müllcontainer hinter einem Restaurant in der Nähe des Wellesley Colleges das nächste verstümmelte Opfer des Beißers gefunden – ebenfalls weiblich, noch keine zwanzig, weiß, blond. Klar, dachte Chad. Ein Müllcontainer. Das Monster hat sie genauso behandelt wie Stephanie und all seine anderen Opfer. Wie Müll. Er schrieb erneut einen Beileidsbrief, obwohl er wußte, daß sein wahnsinniger Zorn, der in jeder Zeile mitschwang, den Eltern vermutlich eher unangenehm sein mußte und sie davon abhalten würde, ihm zu antworten. Sie und die anderen Eltern glauben wohl, ich sei übergeschnappt, dachte er. Oder sie sind so gebrochen, daß sie nicht reagieren können. Wie auch immer, ich habe jedenfalls meine Pflicht getan. Ich habe meinen Schmerz mit ihnen geteilt. Ich habe sie spüren lassen, daß sie nicht allein sind. Verdammt, ich bin ihr Fürsprecher. Ich bin der Rächer all unserer Töchter! Silvester. Ein weiteres Opfer. Brown Universität. Weitere Telefongespräche mit sämtlichen Ermittlern. Ein neuer Brief an die Eltern. Eine erneute Vision um drei Uhr morgens in Chads Küche. Ein Punkt aus strahlendem Licht. Eine sanfte Stimme. »Du hast die Kontrolle über dich verloren, Dad! Ich flehe dich an, bitte. Sorg dafür, daß dein Leben wieder normal wird. Rasier dich! Nimm ein Bad! Wechsle deine Kleidung! Die meisten deiner Autoren haben dich verlassen! Mutter hat dich 257
verlassen! Ich habe Angst um dich, Dad!« Chad schüttelte den Kopf. »Deine Mutter …? Was? Sie hat mich verlassen? Das ist unmöglich. Wann ist das geschehen?« Mit einem Schauder erinnerte er sich plötzlich, daß Linda tatsächlich einige Koffer gepackt hatte und … war das wirklich schon vor mehreren Monaten gewesen? Guter Gott. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Linda hatte geschrien: »Es geht schon viel zu lange so! Die Trauer um Stephanie ist schlimm genug, aber auch noch zuzusehen, wie du dich zugrunde richtest? Das ist zu viel, verdammt! Ich halte das nicht aus! Wenn du dein Leben zerstören willst – bitte, mein Leben zerstörst du nicht!« Ach ja. Natürlich. Sei’s drum, es ist nicht zu ändern, dachte Chad kläglich, während sich der strahlende Lichtpunkt seiner Tochter auflöste. Er sank auf dem Küchenstuhl zusammen und rief sich die vielen Bücher zur Selbsthilfe in den Sinn, die er wie besessen gelesen hatte. In allen diesen Ratgebern zum Thema Trauer war von den Belastungen für eine Ehe die Rede gewesen und daß es oft zur Scheidung kam, wenn die Partner sich in verschiedenen Trauerphasen befanden und unterschiedlich stark unter dem Verlust litten. Meine liebe, süße Frau. Weinend stand Chad auf, öffnete unsicher eine Flasche Bourbon und hob sie an seine Lippen. Es ist wahrscheinlich besser so. Linda braucht einen Trost, den ich ihr nicht geben kann. So Gott will, findet sie ihn bei jemand anderem. Jetzt hatte Chad einen weiteren Grund, den Beißer zu hassen. Rache. Vergeltung. Mit gesteigerter Wut verfolgte er seine Mission. Neue Opfer hatten weitere beschwörende Telefonate, weitere wahnsinnige Briefe zur Folge. Und dann geschah ein Wunder. Wie Chad erst jetzt erfuhr, hatte die Polizei ihm verschwiegen, daß die Reifenspuren damals im April letzten Jahres identifiziert worden waren. Sie 258
stammten eindeutig von Reifen, die bei einem bestimmten Modell eines Lieferwagens handelsüblich waren. Dieselben Abdrücke hatte man bei dem späteren Mord in der Nähe von Vassar gefunden. Da die zahlreichen Opfer des Beißers immer Studentinnen an angesehenen Colleges und Universitäten in New England gewesen waren, hatten die Behörden ihre Suche auf dieses Gebiet konzentriert. Als eine attraktive blonde Studentin der Brown Universität, die auf dem Weg zu ihrem Wohnheim war, sich gerade noch losreißen und einem Mann entkommen konnte, der sie in seinen Lieferwagen zerren wollte, handelte die örtliche Polizei, die auf einen solchen Fall vorbereitet war. Man errichtete in weitem Umkreis Straßensperren und stoppte tatsächlich einen Lieferwagen des gesuchten Typs. Der gutaussehende, überaus freundliche Fahrer wirkte allzu ruhig, seine Antworten waren auffallend höflich, und er stellte überhaupt keine neugierigen Fragen. Aus einem Gefühl heraus bat ein Beamter ihn, die Hecktür zu öffnen. Der Fahrer warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Der Polizist, den es bei dem Ausdruck in diesen Augen fröstelte, griff nach seinem Revolver und wiederholte die Aufforderung. Was der Beamte und sein Team im Laderaum des Lieferwagens entdeckten, nachdem sie dem zögernden Fahrer die Schlüssel abgenommen hatten, waren Stapeln von Schachteln. Und hinter diesen Schachteln lag bewußtlos eine gefesselte und geknebelte Studentin. An diesem Abend gab die Polizei die Verhaftung des mutmaßlichen Beißers bekannt, und Chad, der betrunken und in finstere Gedanken versunken die CBS-Nachrichten gesehen hatte, sprang mit einem Triumphschrei von seinem Sessel hoch. Endlich! Jawohl! Und es paßte alles. Ein Vertreter für Lehrbücher. Ein Verlagsvertreter, zu dessen Bezirk alle Colleges 259
von New England gehörten. Er spionierte auf jedem Campus herum, suchte sich mögliche Opfer aus, entschied sich dann für eines und … Chad stellte sich vor, wie es sich wahrscheinlich abgespielt hatte. »Diese Bücherpakete sind so schwer, und ich habe mir das linke Handgelenk angeknackst. Könnten Sie mir vielleicht helfen? Würde es Ihnen was ausmachen? Da wäre ich Ihnen aber wirklich dankbar … Vielen Dank. Ich möchte Ihnen gern ein paar Bücher schenken. Übrigens, was ist Ihr Hauptfach? Englisch? Im Ernst? Na, so ein Zufall. Ich habe hier … hier hinten … klettern Sie nur rein. Ich will mal rasch diesen Karton aufmachen. Sie werden nicht glauben, was es hier alles gibt.« Vergewaltigung, Folter, Kannibalismus und Mord – das war es, was es dort drinnen gab. Klettre nur rein. Niemand wird dir was Böses tun. Aber jetzt hatte man den Bastard endlich erwischt. Sein Name war Richard Putnam. Der mutmaßliche Beißer, so nannten ihn die Medien vorsichtig, doch Chad hatte keine Zweifel an Putnams Schuld. Finster betrachtete er die Fotos des Monsters im Fernsehen. Ein gutaussehender Mann mit gelassener Miene und gefühllosem Blick. Eigentlich sollte er schwitzen vor Angst, toben vor Wut – statt dessen schaute er bestürzend zuversichtlich direkt in die Kameras. Ein Soziopath. Chad rief wiederholt Polizisten und Staatsanwälte an, um sie zu warnen, sich nicht durch Putnams ruhiges Wesen täuschen zu lassen. Er schrieb eindringliche Briefe an die Eltern jedes Opfers, in denen er sie zu ähnlichen Anrufen aufforderte. Jede Nacht um drei Uhr, wenn er betrunken durch sein chaotisches Apartment wanderte, fand er Stephanies strahlenden Lichtpunkt, der in der Küche schwebte. »Sie haben ihn gefunden, Dad«, drängte ihre vibrierende Stimme. »Jetzt kannst du endlich deinen Rachefeldzug beenden. Wieder schlafen, essen, dich ausruhen, dich ablenken, arbeiten. Es ist vorbei.« 260
»Nein!« Chad sank auf dem Küchenstuhl zusammen. »Es ist erst vorbei, wenn der Hundesohn bestraft worden ist! Ich will, daß er leidet! Er soll das gleiche Entsetzen verspüren, das du erlebt hast!« »Aber Dad, er kann kein Entsetzen spüren. Er hat überhaupt keine Empfindungen – außer wenn er tötet.« Chad richtete sich mühsam auf. »Glaub mir, Liebes, wenn das Gericht diese Bestie schuldig spricht und der Richter das Urteil verkündet, dann wird er plötzlich merken, daß er sehr wohl etwas empfindet!« »Nein! Genau davor habe ich Angst, Dad!« »Ich verstehe nicht. Verlangst du denn keine Rache?« »Ich fliege so rasend schnell, ich strahle so hell. Ich habe keine Zeit zu … Trotzdem habe ich solche Angst.« »Wovor denn, Kind?« Stephanies strahlendes Licht bewegte sich in Zickzacklinien, zuerst aufwärts, dann hinab, und dann erlosch es. Chad stöhnte. »Wovor hast du Angst?« Niemand wird dir was Böses tun. Immer wieder quälte ihn dieses Lied. Als es darauf ankam, war er nicht da gewesen, um seine Tochter zu beschützen, wie er es ihr als Kind versprochen hatte, doch diesmal würde er dabei sein und alles menschenmögliche tun, um sicherzustellen, daß diese Bestie bis zum Äußersten litt. Durch beharrliche Anrufe bei Staatsanwälten erfuhr er, daß die verschiedenen Bundesstaaten, in denen die Morde geschehen waren, miteinander darum wetteiferten, den Beißer vor Gericht zu stellen. Das Ergebnis war ein bürokratisches Wirrwar und endlose Streitereien darüber, welcher Staat als erster die Möglichkeit hatte, Anklage zu erheben, und welcher Bezirksstaatsanwalt über Beweismittel verfügte, die Aussicht auf einen erfolgreichen Prozeß versprachen. Chad konnte die Verhandlung kaum erwarten, und während die Behörden ihre Streitereien austrugen, suchte er entschlossen die Eltern aller Opfer auf. Sie müßten sich unbedingt 261
zusammenschließen, erklärte er, Pressekonferenzen abhalten, gemeinsam die Bezirksstaatsanwälte um Gerechtigkeit anflehen, sie bestürmen, sich in der Sache zu einigen und persönliche Eitelkeiten zugunsten der aussichtsreichsten Beweislage zurückzustellen. Es bereitete Chad tiefe Befriedigung, daß seine Bemühungen scheinbar Wirkung zeigten – und noch größere Befriedigung, daß als Prozeßort New Haven ausgewählt wurde und daß man den Beißer zuerst wegen des Mordes an Stephanie anklagen würde. Mittlerweile war ein Jahr vergangen. Im Zuge seiner Scheidung hatte Chad das gemeinschaftlich erworbene Apartment in Manhattan verkauft und wie vereinbart den Erlös mit Linda geteilt. Er zog in eine billigere Mietwohnung in New Haven und lebte von dem zehnprozentigen Anteil an den Tantiemen, die seine ehemaligen Bestsellerautoren von ihren Verlegern auf Grund von Verträgen erhielten, die Chad für sie ausgehandelt hatte, als er noch ein erfolgreicher Agent gewesen war. Erfolgreich. Klar. Bevor … Niemand wird dir was Böses tun? Falsch! Sie hatte die Hölle erlebt! An jedem Prozeßtag saß Chad in der ersten Reihe, ganz auf der linken Seite, so daß er Richard Putnams unbewegtes Profil direkt im Blick hatte. Das alles ist bloß ein Irrtum, schien dieses zuversichtliche Gesicht auszudrücken. Verdammt, zeig Angst, zeig Reue, zeig irgendwas, dachte Chad. Doch selbst als der Bezirksstaatsanwalt Fotografien vorlegte, die verdeutlichten, welches Martyrium Stephanie erlitten hatte, reagierte das Monster nicht. Chad wäre am liebsten über die Absperrung gesprungen und hätte Putnam die Augen ausgekratzt. Er benötigte seine ganze Willenskraft, um nicht laut die Flüche herauszuschreien, die er innerlich beständig wie eine Litanei wieder262
holte. Die Geschworenen berieten zehn Tage. Warum brauchten sie bloß so lange? Schließlich erklärten sie Richard Putnam für schuldig. Und wiederum zeigte das Monster keine Regung. Ebensowenig reagierte er, als der Richter die in Connecticut zulässige Höchststrafe verkündete: lebenslänglich. Aber Chad reagierte. Er sprang auf und schrie: »Lebenslänglich ins Gefängnis? Ändert dieses Gesetz! So ein Dreckskerl verdient die Hinrichtung!« Chad wurde gewaltsam aus dem Gerichtssaal entfernt. Draußen hörte er bestürzt, wie der Anwalt des Monsters von einem Justizirrtum redete und erklärte, daß er Berufung einlegen und einen neuen Prozeß verlangen würde. Die juristischen Winkelzüge und die Lücken im Rechtssystem waren für Chad ein neuer Horror. Wieder ging ein Jahr vorüber. Das Monster blieb im Gefängnis, sicher, aber wenn nun ein Richter entschied, daß diese Bestie offensichtlich geisteskrank und daher ein neues Verfahren nötig sei, bei dem diesem Umstand Rechnung getragen werden müsse? Ein Jahr im Gefängnis war eine lächerliche Strafe für das, was dieses Schwein Stephanie angetan hatte, und wenn er auf Grund irgendeiner rechtlichen Haarspalterei freigelassen oder in eine psychiatrische Anstalt geschickt wurde, wo er so tun konnte, als reagiere er auf die Behandlung und wo man ihn dann womöglich als »geheilt« entließ … Er würde ganz sicher wieder töten! In seiner schmuddeligen Wohnung in New Haven schob Chad um drei Uhr morgens eine halbgegessene Pizza auf dem Küchentisch zur Seite und lächelte Stephanies schwebendem Lichtpunkt zu. Er war betrunken; sein Gesicht wirkte abgehärmt. »Hallo, Liebes. Ich freie mich so, dich zu sehen. Wo bist du gewesen? Gott, wie ich dich vermißt habe.« 263
Stephanies Stimme, die früher so deutlich gewesen war, schwankte. »Du mußt damit aufhören, Dad!« »Ich zahle es ihm heim – für dich.« »Nein! Du machst mir Angst!« »Du hast Angst um mich. Natürlich. Ich verstehe. Aber sobald ich weiß, daß der Bastard bestraft wird, bringe ich mein Leben wieder in Ordnung. Ich versprech’s dir, es kommt alles wieder ins Lot.« »Das meine ich nicht! Ich habe keine Zeit, es zu erklären! Ich steige so schnell. Ich bin so strahlend hell! Hör auf mit diesem Rachefeldzug!« »Das geht nicht. Wie kannst du in Frieden ruhen, wenn das Monster nicht …?« »Ich habe Angst!« Abrupt verschwand das Licht. »Nein, Liebling, bleib! Niemand wird dir je wieder weh tun! Nicht, wenn ich es verhindern kann!« Chad starrte auf die Stelle, wo das Licht gewesen war, und blinzelte mehrere Male verwirrt. Er versuchte klarer zu sehen, ohne zu spüren, wie dabei sein Kopf auf den Tisch sank. Richard Putnams Revisionsantrag wurde abgelehnt. Aber das war erst ein weiteres Jahr später. In der Zwischenzeit hatte Chads ehemalige Frau Linda einen anderen geheiratet, und Chads Einkünfte durch seine prozentuale Beteiligung an Tantiemen seiner früheren Autoren schrumpften. Er war gezwungen, in eine billigere Unterkunft zu ziehen und begann, die Rücklagen für seine Altersversorgung anzugreifen. Seit einiger Zeit trug er einen Bart. Das machte weniger Mühe. Wozu sollte er sich rasieren? Und wen störte es schon, daß ihm das fettige Haar über die Ohren fiel? Es gab niemanden, den er beeindrukken wollte. Keine Autoren. Keine Verleger. Niemanden. Außer Stephanie. Wo in Gottes Namen war sie? 264
Er hatte ihr sein Leben gewidmet. Warum hatte sie ihn bloß im Stich gelassen? Während der Mord an Stephanie offiziell als aufgeklärt galt, blieben andere Morde, die dem Beißer zugeschrieben wurden, weiterhin ungelöst. Putnam weigerte sich, irgendein Geständnis abzulegen, und die Behörden, die seine Sturheit in Wut brachte, beschlossen, ihn unter Druck zu setzen, damit sie endlich die Akten über diese anderen Verbrechen schließen konnten. Bevor er in New England als Verlagsvertreter zu arbeiten begann, war er in Florida tätig gewesen. An der dortigen Universität war vor einigen Jahren eine attraktive blonde Studentin ermordet worden. Der Täter hatte sein Opfer mit einem Messer verstümmelt – nicht mit den Zähnen –, daher gab es anfänglich keinen Grund, den Beißer mit diesem Fall in Verbindung zu bringen. Aber ein gründliches Durchforsten der Akten dieser Stadt in Florida zeigte, daß ein Richard Putnam einen Strafzettel wegen Falschparkens erhalten hatte, und zwar ganz in der Nähe der Universitätsbibliothek, wo das Opfer zuletzt gesehen worden war. Außerdem entsprachen Putnams genetische Strukturen denen, die man auf Grund der an der Leiche gefundenen Spermaspuren ermittelt hatte, den gleichen wie bei Stephanie. Damals war die Rechtsmedizin technisch noch nicht soweit gewesen, als daß dieses Beweismittel vor Gericht hätte verwandt werden können. Aber jetzt … Ja, Herrgott, jetzt. In New York war ein Massenmörder an Hand von Strafzetteln überführt worden, die er wegen Falschparkens erhalten hatte, während er sich an seine Opfer heranpirschte. Dieser Präzedenzfall ermutigte die Polizei in Florida; der zuständige Bezirksstaatsanwalt unterstützte sie, und diesen wiederum bestärkten die verschiedenen Behörden New Englands. Richard Putnam wurde wegen des Mordes an dieser Studentin erneut angeklagt. Sein Anwalt hatte auf einem weiteren Prozeß bestanden, nun würde die Bestie ihn bekommen. In Florida. Und 265
dort war die Höchststrafe nicht lebenslängliches Gefängnis, sondern der Tod. Chad zog in die Nähe der Florida State University. Seine Pension und sein Einkommen aus Tantiemen schrumpften immer stärker zusammen. Seine Kleidung wurde schäbiger, sein Äußeres ungepflegter, seine Gestalt hagerer. Irgendwann in den Jahren zwischen den beiden Prozessen war seine frühere Frau Linda an Brustkrebs gestorben. Er trauerte sehr um sie, aber nicht so tief, wie er um seine geliebte kleine Stephanie getrauert hatte. Der Prozeß in Florida schien endlos zu dauern. Auch diesmal saß Chad im Gerichtssaal, um das Monster anzustarren, empfand Verbitterung über das komplizierte Rechtssystem und erschauderte, als die Beweise vorgelegt wurden, bei dem Gedanken an das, was seiner Tochter angetan worden war. Doch schließlich wurde Richard Putnam schuldig gesprochen. Chad jubelte so laut, daß er wieder aus dem Saal entfernt wurde, denn diesmal verurteilte der Richter Putnam zum Tod auf dem Elektrischen Stuhl. Organisierte Gegner der Todesstrafe meldeten sich empört zu Wort, legten Petitionen beim Obersten Gerichtshof in Florida ein und forderten den Gouverneur des Staates auf, das Urteil abzumildern. Chad dagegen widmete sich Tag für Tag mit fanatischem Eifer der Aufgabe, die Medien und die Eltern der Opfer telefonisch und brieflich zu bestürmen, damit sie ihren ganzen Einfluß geltend machten und darauf bestanden, daß das Urteil wie verkündet vollstreckt würde. Endlich zeigte auch Richard Putnam eine Reaktion, da er jetzt offenbar merkte, daß sein Leben in Gefahr war und daß er sich nur noch durch einen Handel retten konnte. Er behauptete, etliche weitere Morde begangen zu haben und bot an, gegen eine Umwandlung des Urteils in eine Gefängnisstrafe genauere Einzelheiten auszusagen. Dadurch könnten zahlreiche Mordfälle 266
in anderen Staaten aufgeklärt werden, und die trauernden Eltern wären endlich von der qualvollen Ungewißheit erlöst, was mit ihren vermißten Töchtern geschehen war. Ermittlungsbeamte aus mehreren Bundesstaaten, in denen auf mysteriöse Weise Studentinnen verschwunden waren, kamen und befragten Putnam. Doch nachdem sie ihm angeekelt zugehört hatten, weigerten sie sich, den Richter zu bitten, seinen Urteilsspruch zu revidieren. Viermal setzte man die Vollstrekkung aus, aber schließlich wurde Richard Putnam rasiert, auf den Elektrischen Stuhl geschnallt und mit Stromstößen von zweitausend Volt in sein Gehirn exekutiert. Chad stand zusammen mit anderen Befürwortern der Todesstrafe um Mitternacht im Regen draußen vor dem Gefängnis. Wie die anderen hielt er ein Plakat hoch: BRENNE, PUTNAM, BRENNE! HOFFENTLICH LEIDEST DU GENAUSO WIE STEPHANIE GELITTEN HAT. Die Hinrichtung verlief ohne Zwischenfälle. Die Beleuchtung im Gefängnis blieb gleichmäßig hell, nur Chad glaubte deutlich zu sehen, wie sie schwächer wurde. Nach all diesen Jahren hatte er doch noch triumphiert. Er fühlte sich bestätigt und empfand endlich Frieden. Und als er in seiner verdreckten Einzimmerwohnung um drei Uhr morgens mit Bourbon seinen Sieg begoß, erlebte er einen weiteren Triumph. Denn Stephanies hellstrahlendes Licht erschien ihm. Chads Herz hämmerte. Seit so vielen Jahren hatte er dieses Licht nicht mehr gesehen und nicht mehr mit ihr gesprochen. Obwohl er das alles nur für sie getan hatte, war er der Meinung gewesen, sie habe ihn verlassen. Er hatte nie verstanden, warum. Schließlich hatte sie versichert, daß sie da sein würde, wann immer er mit ihr sprechen wolle. Genausowenig hatte er begreifen können, warum sie von ihm verlangt hatte, mit seinen Bemühungen aufzuhören, das Monster der gerechten Strafe 267
zuzuführen. Aber jetzt wurde es ihm voller Entsetzen klar, während ihr schimmerndes Licht erregt pulsierte. »Ich habe dich gewarnt, Dad! Ich habe versucht, dich aufzuhalten! Warum hast du nicht auf mich gehört? Ich habe solche Angst!« »Warum? Ich habe dich gerächt! Du kannst endlich in Frieden ruhen!« »Nein! Jetzt fängt es wieder an!« »Was denn?« »Er ist frei! Er kommt mir nach! Er ist nicht zufrieden! Erinnerst du dich nicht? Ich habe dir erzählt, daß er keine Empfindungen verspürt, außer wenn er tötet! Und jetzt, nachdem er frei ist, kann er es nicht erwarten, es wieder zu tun! Er verfolgt mich!« »Aber das kann er nicht! Du hast gesagt, du schwebst so wunderbar, so hoch, so schnell! Wie kann er dich einholen?« »Zweitausend Volt! Ein Geschoß! Er grinst! Er streckt die Arme aus! Er …! Hilf mir, Dad! Du hast es versprochen!« »Flieg schneller, Liebling! Versuch zu entkommen! Ich habe es dir vor Jahren geschworen und schwöre es dir wieder! Niemand wird dir etwas tun! Nicht, solange ich es verhindern kann!« Sein Psychiater vertrat später die Meinung, daß Chads letzte Handlung aus seiner krankhaften, irrationalen Sicht der Dinge absolut folgerichtig gewesen sei. Chad blutete stark, nachdem er sich über den Stacheldrahtzaun gekämpft hatte. Seine Hände waren übel zugerichtet. Doch das war unwichtig. Selbst seine Höhenangst zählte nicht mehr, als er den riesigen Mast erkletterte, ohne auf die Wächter zu achten, die ihm zuriefen, er solle umkehren. Für ihn zählte nur noch, daß Stephanie in Gefahr war und auf ihn wartete. Hilf mir! Welche Wahl hatte er also, außer die Hochspannungsleitung zu ergreifen, um von einem Stromschlag von zwanzigtausend Volt getroffen zu werden – 268
zehnmal stärker als der Stromstoß, mit dem der Beißer hinter Chads hellstrahlender, schwebender Tochter herjagte. Sein Körper zerbarst in Flammen. Der Schmerz bedeutete ihm nichts mehr, nur der Antrieb, den seine Seele erhielt, war wichtig. Flieg schneller, Liebling! So schnell du kannst! Aber ich bin noch rascher! Das Monster wird dich nicht fangen! Niemand wird dir etwas Böses antun! Nicht, solange ich es verhindern kann.
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STEVE RASNIC TEM
Unter der Erde Im April hatten die Ausschachtarbeiten direkt vor Toms Apartmenthaus begonnen. Mittlerweile war es September, und da es durch alle möglichen Verzögerungen häufige Arbeitsunterbrechungen gegeben hatte, war dort noch immer das größte Loch, das er je in seinem Leben direkt mitten in der Stadt gesehen hatte. Die wissenschaftliche Bibliothek, für die er arbeitete, hatte ihre Büroräume in einem Gebäude, das gegenüber seiner Wohnung am nördlichen Rand dieses gigantischen Lochs stand, das eigentlich nur aus lauter Schlamm zu bestehen schien. Einen so starken Regen wie in diesem September hatte man niemals zuvor verzeichnet. In der Zeitung hieß es, das Bauunternehmen habe mit mehreren Erdrutschen zu kämpfen gehabt, bei denen zwei Arbeiter getötet worden seien. Daraufhin hatte man Experten herbeigerufen, die sich mit solchen Wetterbedingungen auskannten, um ihren Rat einzuholen. Er überlegte oft, ob Willie noch lange genug leben würde, um den neuen Gebäudekomplex zu sehen, der hier entstehen sollte. Willie war immer begeistert von neuen Bauwerken gewesen; besonders solch komplizierte Projekte hatten es ihm angetan. Wenn Tom aus dem Fenster auf die viereckige Grube starrte, bezweifelte er jedesmal, daß es im ganzen Staat genug Stahl, Stein und Zement gab, um ein derartiges Loch zu füllen. Ein solches Unternehmen schien ihm genauso tückisch wie eine verheerende Krankheit. Die Löcher in Willies Immunsystem jedenfalls würden sich nicht wieder schließen lassen, und während der Gebäudekomplex allmählich aus der aufgerissenen Erde in die Höhe wüchse, würde Willie langsam und unerbittlich in die Tiefe gezogen. Es war beeindruckend, welch hochaufragende Wälle der Erd270
aushub inzwischen bildete. Als die Grabungsarbeiten damals begonnen hatten, war er jeden Tag hingegangen und hatte lange durch die verschiedenen Gucklöcher des Bretterzauns geschaut, die es überall entlang der provisorischen Fußwege rund um den Bauplatz gab. Er war überrascht gewesen, wie fruchtbar die Erde wirkte; sogar noch in einer Tiefe von dreißig Metern oder mehr war sie geschmeidig wie Kuchenteig. Mutterboden gab es in dieser Gegend meist nur bis zu einer Tiefe von einigen Metern, aber hier reichten die verschiedenen dunklen Schichten, die durchsetzt waren mit Würmern, Wurzeln und Gängen von Tieren, noch weit tiefer. Aus allem möglichen, was über Jahrzehnte hinweg vermodert war, hatten sie sich gebildet, um Generationen von neuem Leben zu ernähren. Die Lebenden ernähren sich von den Toten, dachte er. Selbst nach zwei Wochen legten die Maschinen immer noch in der schwarzen, fruchtbaren Erde die Skelette kleiner Nager frei. Tom erschien es wie Grabräuberei, und er hörte auf, dorthin zu gehen. Eilig lief er über die Fußwege daran vorbei, wenn er zur Arbeit mußte oder wieder in seine Wohnung zurückkehrte. Ein Park, den man früher über einem Teilstück des Bauplatzes angelegt hatte, war jetzt in dem Loch verschwunden. Vier oder fünf gußeiserne Statuen – ein General auf einem Pferd, ein stehender Mann mit einem Buch in der Hand und andere – waren aus dem Weg geschafft und vorübergehend auf einem abgesperrten Straßenstück aufgestellt worden, das einmal am Park entlangführte. Es gab auch ein paar alte Steinstatuen auf dem Gelände, stark verwittert und verfärbt. Von seinem Bürofenster aus wirkten sie wie Zuschauer, die an den Rand der Grube getreten waren, um zu sehen, was sich dort drinnen befand. Er hatte keine rechte Ahnung, wie tief man für einen solchen Bau ausschachten mußte und warum ein derart riesiges Loch nötig war. Vergeblich versuchte er sich vorzustellen, wieviele Jahre der Stadtgeschichte man dabei zerstört hatte, wieviele Skelette von Katzen, Hunden und anderen geliebten Haustie271
ren, heimlich in irgendeinem Hinterhof begraben, zutage gefördert worden waren. Die Nachrichten hatten gemeldet, daß man letzte Woche einen menschlichen Schädel gefunden habe, der wahrscheinlich über ein Jahrhundert alt sei. Ein Verbrechen vermutete man nicht hinter diesem Fund, vielmehr wurde angenommen, er könne von dem Friedhof, der eine halbe Meile entfernt lag, mit dem Grundwasser herüber getrieben sein. Tom ließ dieses Bild kaum mehr los – tote Körper, die unterirdisch dahintrieben und im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glaubten, langsam durch die feste Erde glitten, die keineswegs so fest war. Aber eigentlich waren es keine Körper mehr, wenn man es genau nahm, sondern nur noch Knochen. Das Fleisch war längst zu Erde geworden. Es schien, als hätten die vergrabenen Skelette ihre alte fleischliche Hülle abgestreift und sich dann die gesamte Welt als neuen Körper übergezogen. Die Bewegungen der Welt waren nun ihre Bewegungen geworden, ihr Tanz der Tanz der uralten Toten, die Jahreszeiten zu Gefährten ihrer Träume von Geburt, Tod und Erneuerung. Vielleicht war er selbst nur eine Reflektion der vergessenen Sehnsüchte irgendeines toten Mannes. Willie hätte dieser Gedanke gefallen, dachte Tom. Er hätte vielleicht über die phantasievolle Umschreibung gelacht, aber es hätte ihm trotzdem etwas bedeutet. Vielleicht bedeutete ihm heute dieses Bild sogar noch mehr. Tom stellte ihn sich gern quicklebendig vor, wie er etwas tat, was sie immer zusammen getan hatten – Pläne schmieden oder die Veränderungen in der Stadt beobachten, wobei sie meistens fanden, daß alles zum Schlechteren führte. Auch Willie würde bald ein Teil der Welt werden. Das Kellergeschoß von Willies Haus verfiel schon seit Jahrzehnten. Tom hatte ihn davor gewarnt, es zu kaufen, da er überzeugt gewesen war, daß es eines Tages völlig zusammen272
brechen würde, aber Willie hatte nur schulterzuckend erwidert, der kühle, altväterliche Charme des Gebäudes gefalle ihm so sehr, daß ihn alles andere nicht kümmere, und so setzte er kurzerhand eine Praxis fort, die der vorherige Eigentümer schon begonnen hatte: Er füllte die Löcher im Keller mit allem, was er an geeignetem Füllmaterial finden konnte und fügte gelegentlich ein paar große Steine hinzu, damit das Ganze mehr Substanz hatte. Jetzt war es Willies Körper, der kurz vor dem Zusammenbrechen stand, und der Keller war fast voll mit einem Gemenge aus Steinen und Erde. Tom hatte Mühe, die Eingangstür aufzuschließen. Das Schloß hing schief, und die ganze Tür senkte sich deutlich nach rechts hin ab. Der Erdboden steigt herauf, um dich zu holen, Willie, dachte er und musterte mit einer ärgerlichen Grimasse den Schlüssel, der sich zu verbiegen begann, doch dann sprang die Tür plötzlich auf. Er strich kurz über den gekrümmten Schlüssel, drehte sich um und warf ihn hinaus in den Hof. Ab heute würde er ihn nicht mehr brauchen. Der Hof war verwahrlost. Willie hatte sich nicht mehr darum gekümmert, nachdem bei ihm diese Diagnose gestellt worden war, und hatte es abgelehnt, daß Tom oder sonst jemand das Grundstück in Ordnung hielt. Zwischen den dürren welken Grashalmen sah man feuchte rote Erde, durchsetzt von Würmern; der Boden war klumpig, als sei er durchgepflügt worden, und nur die größten Pflanzen ragten noch heraus. Die Blumenbeete trugen ein Meer von brüchigen dunklen Stengeln. Im Eingangsflur lag ein farbloses Stück Teppich, aus dem dichte Staubwolken aufstoben. Über der Tür war früher eine dunkelgrüne Markise gewesen, aber dann war sie irgendwann einmal verschwunden. Bestürzt über den ganzen Dreck blickte er hinab auf den schmutzigen Teppich und trat wieder zurück auf die Stufe, die dazu diente, den Höhenunterschied zwischen Erdboden und Tür zu überbrücken. Er hatte den Eindruck, daß sie sich bei den heftigen Regenfällen des letzten Monats meh273
rere Zentimeter gesenkt hatte und nur noch knapp aus dem Boden ragte. Aber Tom wußte, daß das nicht sein konnte – sonst wäre der Schritt hinein ins Haus größer gewesen. Mißtrauisch betrachtete er die abgenutzte Türschwelle aus Eiche, die zum Teil schon von dunkelbrauner Erde verdeckt war. Ihm schien, als habe sich der gesamte Hof angehoben und krieche allmählich darüber hinweg. Ach, Willie, du hattest keine Chance, dachte er, ging rasch wieder hinein und drückte die Tür fest zu, wobei ihm eine Wolke erdigen Geruchs in die Nase stieg. »Sind Sie das, Mr. Davison?« John, Willies letzter Lover, der ihn jetzt pflegte, stand im hellen Licht oben an der Treppe. Er hatte ihn immer nur Mr. Davison genannt. Irgendwie fand Tom diese Förmlichkeit fast beleidigend. Im Wohnzimmer herrschte tiefe Dunkelheit. Er tastete nach dem Lichtschalter, aber die Glühbirne an der Decke war kaputt. Als er die Treppe hinaufstieg ins Licht, war ihm, als ob die Dunkelheit schwer wie Erde auf ihm laste, an ihm zerre, ihn verlocke, sich hinzulegen, sich zurücksinken zu lassen und die Augen zu schließen. »Mr. Davison, es bleibt nicht mehr viel Zeit.« John ergriff seine Hand, um ihn hochzuziehen. Obwohl es ihm unbehaglich war, ließ er sich die restlichen Stufen hinaufhelfen. Die Tür zu Willies Schlafzimmer stand halb offen. Automatisch wollte Tom erst anklopfen, doch dann stieß er sie ärgerlich so heftig auf, daß sie gegen den Rand des Betts schlug. Noch nie war er auf die Idee gekommen zu klopfen; jetzt, wo es zu Ende ging, würde er nicht damit anfangen. »Heute fühlen wir uns leider nicht so gut«, sagte John, der ihm gefolgt war. Tom drehte sich um und schaute ihm begriffsstutzig ins Gesicht, ob sich dort ebenfalls Spuren der Krankheit zeigten, doch John deutete auf das Bett, in dem Willie unter einem Bündel Laken verschwunden war, und betrachtete vorwurfsvoll die Tür, die gegen die Matratze drückte. Tom fühlte sich in der Defensive, wie immer in Johns Gegenwart, aber er wollte nichts sagen, wenn Willie dabei war. Als suche er nach 274
seinem alten Freund, musterte er das Bett. Die Laken wirkten schmutzig – wie von Exkrementen befleckt. Schon wollte er sich wütend zu John umwenden und ihm die Meinung sagen, da riß in diesem Moment die Wolkendecke draußen vor dem Fenster auf, und er sah, daß diese Flecke in Wirklichkeit nur Schatten waren. »John … Laß uns … jetzt allein.« Die Stimme, die unter den Decken und Laken hervordrang, war so leise, daß er sie kaum erkannte. Es klang, als sei Willie etwas in der Kehle steckengeblieben. Tom dachte an die Dunkelheit unten im Haus und stellte sich vor, wie diese fette Erde die Treppe hochkroch, bis sie schließlich den ganzen Flur im zweiten Stock anfüllte. John warf ihm einen verwirrten Blick zu, ging dann jedoch, ohne zu protestieren, aus dem Zimmer. »Mir geht’s ziemlich schlecht … und er ist … ganz schön fertig. Er hat Angst … weißt du? Aber ich bin froh, daß er da ist. Komm … komm näher.« Es war ein unheimliches Gefühl, nur diese so veränderte Stimme zu hören – als sei Willie bereits tot und begraben, und allein seine Stimme spuke noch in diesem Bett. »Deck … deck mich auf, ja?« Tom beugte sich vor und zog die Laken weg, die fest unter den Körper gestopft waren, wobei ihn das entsetzliche Gefühl überkam, eine Mumie auszuwickeln. Willies verschwitztes Gesicht war eine Maske voll pockenartiger Wunden; seine dunkel umrandeten Augen wirkten, als habe er zu viel Make-up aufgelegt. (»Das ist das Schlimmste, wahrhaftig«, hatte er einmal gesagt, »daß ich allmählich aussehe wie eine alte Tunte.«) Das Fleisch erschien so locker, als könne es sich jeden Moment von seinem Schädel ablösen. Tom stellte sich einen Teller mit solchem Fleisch vor, dann ein damit angefülltes Grab. »Er meint es nicht so, aber … er deckt mich … immer … ein bißchen zu sehr zu. Damit er mich … nicht sehen muß.« Willies Grinsen war unheimlich. »Jesus, Willie, das ist ja grauenhaft. Laß dir das doch nicht 275
gefallen.« Willie grinste immer noch. »Du verstehst … uns nicht. Nicht wirklich.« Tom hätte sich am liebsten abgewandt, aber das Grinsen übte eine merkwürdige Faszination auf ihn aus. Erneut überkam ihn die verrückte Vorstellung, Willie sei bereits tot. Es war, als ob ein Fels ihn plötzlich anlächle oder der nackte Erdboden sich geöffnet habe und ihm zugrinse. Er schämte sich über diesen grausamen Gedanken – schließlich war Willie sein bester Freund; er hatte ihn sehr gern – aber es ließ sich nicht übersehen: Willi war auf dem besten Weg zu verrotten. »Laß nicht zu … daß man mich begräbt.« Tom schaute ihn entsetzt an. Ob er seine Gedanken gelesen hatte? Wieder lächelte Willie. Oder war sein Gesicht so erstarrt, daß er nur noch grinsen konnte und die Worte mühsam durch die gelbliche Zahnreihe quetschen mußte? »Sorg dafür … daß man mich verbrennt.« Tom schüttelte den Kopf. Nein, das lasse ich nicht zu – oder sollte es heißen: Nein, das kann ich nicht machen … Er war selbst nicht sicher, was er mit dieser Geste meinte. Willies Gesicht schien sich vor seinen Augen aufzulösen. Aber sein alter Freund bat ihn um Hilfe, um einen letzten Gefallen, und war er ihm den nicht schuldig, auch wenn er dann bereits tot war? »Warum verbrennen, Willie? Warum willst du das?« Das Grinsen war so plötzlich verschwunden, daß es Tom wie ein Zaubertrick erschien. Er stellte sich Willie mit einem hohen schwarzen Zylinder und einem Zauberstab in der Hand vor. »Ich will diesen Körper nicht … nicht mal unter der Erde. Das bin nicht ich! Er soll … ganz … verbrannt werden. Damit ich … so, wie ich … innerlich bin, wegfliegen kann. Tom. Wegfliegen.« »Okay, Willie. Okay.« »Laß es … nicht zu. Sie werden … mich begraben.« »Ich verspreche es.« 276
Es war fast vorbei, als John zurück ins Zimmer kam. Vielleicht war es bereits vorbei. Vielleicht war es schon seit Monaten vorbei. Tom hatte das Gefühl, das alles nie begriffen und eigentlich seinen besten Freund im Stich gelassen zu haben. Willie war bewußtlos zurückgesunken. John trat ans Bett und nahm seine Hand. Er liebt ihn wirklich, dachte Tom. Es war das erste Mal, daß er je etwas Nettes im Hinblick auf John gedacht hatte; trotzdem konnte er nicht zusehen, das war undenkbar. Rasch verabschiedete er sich. Die ganze Türschwelle sowie ein breiter Streifen des Teppichs dahinter war jetzt von Erde bedeckt, und als er in den Hof hinaustrat, versank er bis zu den Knöcheln in dunkler Erde, die seine Socken beschmutzte. Er hatte das Gefühl, als sei das ganze Haus dabei abzusacken und war sicher, daß er keine Spur mehr davon vorfinden würde, wenn er in ein paar Wochen hierher zurückkäme. An diesem Punkt erkannte Tom, daß er nicht beabsichtigte, das Versprechen zu halten, das er seinem alten Freund gegeben hatte. Was sollte er denn auch tun – etwa in der Nacht kurzerhand die Leiche wegschleppen? John war Willies Lover – und was war er? Ein Feigling von einem Freund, der vor lauter Verlegenheit anderer Freunden gegenüber verheimlicht hatte, daß Willie schwul war. Er drehte sich um und wäre am liebsten noch einmal zu Willie hinaufgegangen, um ihm zu sagen, daß er sein Versprechen nicht halten könne, daß er sich schäme, daß er zu viel Angst habe – doch da sah er wieder die Erde auf dem Teppich, die sich zu bewegen begann und immer weiter auszubreiten schien. Wie eine Flüssigkeit würde sie auf der Suche nach Willie beständig höher steigen, bis sie die Treppen überwunden hatte, ohne daß die geringste Möglichkeit bestand, sich gegen dieses gierige Element zur Wehr zu setzen. Tom verließ rasch den Hof und nahm sich vor, nie wieder zurückzukommen. 277
Auf Willies Beerdigung sah Tom zu, wie man den Sarg ins Grab senkte. Es war ein ungewöhnlich heißer Tag für diese Jahreszeit. Eine Temperaturinversion drückte auf die Luftschichten über der Stadt, wo sich der Verkehr in unverminderter Stärke über die staubigen Straßen wälzte und die schweren Baumaschinen noch immer den fruchtbaren Körper der Erde wegfraßen. Bis zum späten Nachmittag, als das Begräbnis stattfand, wirbelte der Staub wie ein dichter Schleier über den Dächern der Häuser und trieb langsam hinunter in die Straßen, in offene Fenster, in Autos und wundgescheuerte, brennende Kehlen. Flüchtig trafen sich Johns und Toms Blicke, als John die erste Handvoll dunkler, krümeliger Erde auf den Sarg warf. Laß nicht zu, daß sie mich begraben. Aber die Toten haben in solchen Angelegenheiten nichts zu sagen, Willie, dachte Tom. Nachdem die Erde sie wieder aufgenommen hat, treffen allein die Lebenden die Entscheidungen. Nie zuvor hatte er solche Scham empfunden – darüber, daß er sich geschämt hatte und daß er einer der Lebenden war, die Entscheidungen für die Toten trafen, und sei es auch nur durch Schweigen. Einen Monat nach Willies Beerdigung ging die Arbeit an dem gigantischen Loch mitten in Toms Welt immer noch weiter. Er konnte nicht begreifen, warum es so lange dauerte. In den Zeitungen war von Verzögerungen die Rede, aber es gab bislang nicht die geringsten Anzeichen, daß man überhaupt jemals fertig sein würde. Was ihn am meisten verstörte, war die Tatsache, daß das Loch immer ungleichmäßiger zu werden schien, immer unfertiger, je weiter die Arbeit voranschritt. Die quadratische Form löste sich mehr und mehr auf, und es wirkte nun, als habe man irgend etwas Vermodertes daraus entfernt, ohne dadurch den Fäulnisprozeß dieser riesigen Erdwunde aufhalten 278
zu können. Die Grabung ging inzwischen über das ursprünglich vorgesehene und mit hölzernen Fußwegen und Absperrungen umgrenzte Gebiet hinaus. Mittlerweile schienen sogar einige der anliegenden Gebäude in Gefahr, unterhöhlt zu werden. Bretterzäune waren bereits in das Loch gefallen, wo sie allmählich verrotteten und kaum mehr vom Boden zu unterscheiden waren. Wenn er bei der Arbeit etwas Zeit hatte, recherchierte Tom die Zersetzungsgeschwindigkeit von Blumen, von einem Mahagonisarg und einem menschlichen Körper, der infolge langer Krankheit abgezehrt war und nur wenig Fett und Muskelmasse aufwies. Die Temperaturinversion trat noch mehrere Male im Verlauf dieses Monats auf. An manchen Nachmittagen war die Luft spürbar rauh und schmeckte nach Lehm, an anderen Tagen bliesen ungewöhnlich kräftige Winde Erdstaub aus der Baugrube bis über die benachbarten Gebäude hinauf. Von innen wirkte sein Bürofenster wie verschmiert mit Fäkalien, und eines Nachmittags wurden alle evakuiert, da die starke Luftverschmutzung einen Umweltalarm ausgelöst hatte. Tom lehnte es ab zu gehen und umgab sich statt dessen mit dicken Stapeln von zerfallenden antiken Büchern – was er in ihnen nachschlagen wollte, wußte er nicht mehr –, während er in ein schmutziges Taschentuch hustete. Er hatte nie wieder zurückkehren wollen. Aber dann teilte John ihm telefonisch mit, daß Willie in seinem Testament ihnen gemeinsam die Aufgabe anvertraut habe, seine Sachen zu sortieren, und sie einigten sich auf einen Tag, an dem sie sich dafür Zeit nehmen wollten. Gelbe Warnschilder klebten an den Außenwänden von Willies Haus. Das Gebäude war für unbewohnbar erklärt worden, was Tom kaum überraschte. Der Rahmen der Eingangstür hatte sich noch stärker verzogen, und sie ließ sich nicht mehr voll279
ständig schließen. Quer vor der Tür hatte irgend jemand eine Eisenstange befestigt, die man mit einem schweren Vorhängeschloß sichern konnte. Jetzt hing die Stange allerdings lose neben der weit offenstehenden Tür, und zu beiden Seiten stapelten sich Schachteln mit allerlei Gerümpel. Das erste Zimmer war mit einer zentimeterdicken Erdschicht bedeckt, die ein wirres Muster aus Fußabdrücken durchzog, aber zur Treppe hin war ein schmaler Weg saubergefegt worden. Er probierte den Lichtschalter, doch der funktionierte immer noch nicht. Von oben ertönte Vivaldis Vier Jahreszeiten. Tom stieg vorsichtig die Stufen hinauf. Bei jedem Schritt stoben dunkle, muffige Wolken hoch. »Sie kommen spät. Ich bin bereits mit der Hälfte durch.« John stand am Bett und faltete einige von Willies Pullovern zusammen. »Ich hoffe, das ist okay.« »Sicher, ich … Tut mir leid«, sagte Tom befangen. John schaute ihn aufmerksam an. Was für eine Antwort will er von mir hören? »Sie wissen ja sowieso am besten, wohin alles soll.« John nickte, als habe er genau diesen Satz erwartet. »Ich bin froh, daß Sie das sagen. Wem Willie gern ein paar Sachen zukommen lassen wollte, und was an karitative Einrichtungen gehen soll, kann ich ganz gut abschätzen. Ich habe Willie geliebt, wissen Sie das? Ich habe ihn wirklich geliebt.« »Ich weiß. Ich habe ihn auch geliebt.« John seufzte und legte weitere Pullover zusammen. »Aber es ist nicht dasselbe, oder?« Tom antwortete nicht. John bat ihn, ein paar Schachteln zu holen, die sie anschließend gemeinsam packten, und sagte ihm, welche Namen er jeweils draufschreiben sollte. Zusammen montierten sie die Regale ab und sortierten die Bücher aus. John meinte, Tom solle sich aussuchen, welche er selbst behalten wolle, und ihm war es recht. Hin und wieder registrierte er, daß draußen immer mehr Staub durch die Luft wirbelte – ganze 280
Wolken trieben an den vergilbten Fensterscheiben vorbei. John bemerkte es offenbar nicht, doch plötzlich hielt er inne und sagte: »Wir müssen uns beeilen. In ein paar Tagen wird man niemanden mehr hier rein lassen. Und die Bodendielen knarren viel stärker als früher. Das ist wahrscheinlich kein gutes Zeichen.« »Er hätte schon vor langer Zeit umziehen sollen.« Tom warf ein Bündel alter Kleider zur Seite. Sie sahen aus als seien sie blutig oder mit Fäkalien befleckt. Aber das konnte nicht sein – solche Sachen hätte man entweder gewaschen oder verbrannt. Vielleicht war es einfach ganz normaler Dreck. Es schien beinahe, als habe man sie dazu benutzt, eine Flut einzudämmen. »Ich habe ihn dauernd gedrängt, er solle zu mir ziehen. Aber er wollte unabhängig bleiben. So ist es ja manchmal. Jemand, der dir nahesteht, macht etwas oder führt ein bestimmtes Leben, und du weißt genau, daß es nicht gut für ihn ist, aber was kannst du schon tun? Auch wenn du hundertmal recht hast – letztlich muß jeder seine eigenen Entscheidungen treffen, nicht wahr?« Tom ließ die Kleider fallen und wischte sich die Hände an den Jeans ab. »Es sei denn, er ist tot.« John schaute ihn verwirrt an. »Wie bitte?« »Ich sagte, es sei denn, er ist tot. Tote können keine Entscheidungen mehr treffen, und selbst wenn sie sie bereits getroffen haben, können wir, die Lebenden, uns einfach darüber hinwegsetzen und machen, was wir wollen.« »Wovon reden Sie?« John kratzte sich am Kopf. Tom hatte diese Geste schon früher bei ihm gesehen, wenn Willie sich besonders eigensinnig verhalten hatte. »Er wollte verbrannt werden, John. Und Sie haben ihn beerdigt. Sie und Ihre Freunde. Weil Sie es so haben wollten.« »Wie kommen Sie auf so eine Idee? Willie hat nie ein Wort …« 281
»Er hätte es Ihnen gesagt – Sie waren ja sein Geliebter und für alles verantwortlich. Wahrscheinlich hat er es mir erzählt, weil er nicht sicher war, ob Sie es tun würden. Bloß, ich war feige, ich gebe es zu, und konnte damit nicht fertig werden – ich wußte nicht, wie ich mit Ihnen und Willies anderen Freunden umgehen sollte. Aber Sie hätten es tun müssen, John. Herrgott, es war sein letzter … ›Laß nicht zu, daß man mich beerdigt‹, hat er gesagt.« »Sie blöder Idiot.« John starrte auf das Bett und die Kleiderstapel. Tom sah rote Staubwolken aus den leeren Ärmeln und Hosenbeinen aufsteigen. »Im Testament stand keine Silbe davon! Er hat es Ihnen gesagt, weil er es mir ersparen wollte. Er war der einzige Mensch, der mich je geliebt hat, und ich mußte nicht nur zusehen, wie er vor meinen Augen zerfiel, ich sah auch gleichzeitig, was mich selbst und all unsere schwulen Freunde erwartet. Daß wir verrecken, wie alle Welt es uns immer gewünscht hat. Er hat es Ihnen gesagt, damit Sie es mir sagen können. Er hat darauf vertraut, daß Sie die Botschaft weitergeben.« Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, bis alles sortiert und verpackt war. Tom fand es beunruhigend, wie enorm groß der Stapel mit den ausrangierten Sachen war. Aber er wußte, daß er sich auf Johns Urteil verlassen konnte. »Es geht so furchtbar schnell«, sagte John schließlich. »Ein ganzes Leben – und übrig bleiben ein paar Schachteln voller Kram, die man alle in ein paar Stunden wegschleppen kann. Ich habe Angst davor, auch so spurlos zu verschwinden. Wie Willie.« »Ich auch«, sagte Tom. Im Verlauf der nächsten Wochen vergrub Tom sich in alle möglichen, scheinbar ziellosen Recherchen. Als die Sekretärin fragte, welchem Klienten sie seine Stunden berechnen solle, gab er Willies Namen an. 282
Mit zitternden Händen blätterte er ein dickes Buch über industrielle Fleischverarbeitung durch und notierte die einzelnen Schritte von der Schlachtung eines Rinds bis zur Herstellung der verschiedenen Endprodukte. Anschließend verglich er diese Schritte mit der üblichen Prozedur, die Pathologen bei einer Autopsie vornahmen und Leichenbestatter bei einer Einbalsamierung. Er versenkte sich in die Betrachtung der Abbildungen eines Buchs mit dem Titel Untersuchungstechniken in der Gerichtsmedizin, bei deren Anblick er das Gefühl hatte, sein Kopf stehe vor dem Platzen (eine Kugel? eine Axt?), aber er machte beharrlich weiter und fragte sich, ob diese Techniken und Vorgehensweisen irgendeine Art theologischer Bedeutung haben mochten. (Die Geschwindigkeit des Zersetzungsprozesses ist umgekehrt proportional zu unserer Ungeduld, im Himmel anzukommen, wobei all unsere Sünden auf unsere nackten Leiber tätowiert sind.) Dann grub er die geologischen Untersuchungen für sein Stadtviertel aus und prüfte sie sorgfältig hinsichtlich der Zusammensetzung des Erdbodens, als wolle er dort nach einer Spur von Willie Ausschau halten – und letztlich auch nach einer Spur von sich selbst. Am nächsten Tag lag er im Bett und war unfähig, aufzustehen. In der Dunkelheit hatte er den Eindruck, ringsum von Sand umgeben zu sein, aus dem er sich nicht befreien konnte. Laß nicht zu, daß man mich beerdigt. Poe hätte eine solche Bitte verstanden. Damals, dachte Tom, sind möglicherweise viele Leute lebendig begraben worden. Oder man hat sie lebend einbalsamiert – vermutlich kam das immer noch zuerst. Den Körper mit inaktiven Chemikalien zu füllen war die logische Vorbereitung für die ewige Inaktivität. Wie konnten sie ohne moderne medizinische Diagnoseverfahren sicher gewesen sein? Vielleicht, dachte er, werden wir in hundert Jahren entdecken, wie viele auch wir heutzutage noch 283
lebendig unter die Erde bringen. Wir, die Lebenden, die wir stets Entscheidungen für die Toten treffen. Aber gibt es wirklich solch eine klare Unterscheidung zwischen uns und ihnen? Ein Lufthauch, ein Tropfen Feuchtigkeit, ein vages Vorhandensein von Wärme – viel mehr ist es doch nicht. Wandelnder Staub und tanzender Lehm. Unter seinen Füßen, unter dem Haus, in dem er wohnte, glitten die Toten über weite Strecken dahin und suchten endlos Ruhe. Er war inzwischen aus dem Bett aufgestanden, aber nicht mehr zur Arbeit zurückgekehrt. Er brachte es nicht über sich, nach draußen zu gehen. Vor seinem Apartment wuchs Tag für Tag das gigantische Loch, ein Grab, das immer größere Stücke seiner Welt verschluckte. Es kommt, um mich ebenfalls zu holen, Willie. In benachbarten Straßen klafften Risse, manche Teilstücke waren brüchig geworden und eingestürzt. Die Stadt hatte den Parkplatz seines Apartmentgebäudes gesperrt und die heimatlosen Statuen aus dem Park vorsichtshalber wegschaffen lassen, was allerdings sehr hastig geschehen war, da niemand gern allzu dicht an dem Loch arbeiten wollte. Die Folge waren beträchtliche Beschädigungen. Mehrere der Statuen zeigten tiefe Sprünge; Arme und Beine waren abgebrochen, und eine war fast völlig zerstört. Jetzt lagen sie auf dem Bürgersteig unter seinem Apartmentfenster, ein Gewirr ausgegrabener Körperteile, an deren Oberfläche noch immer dunkler, fruchtbarer Mutterboden klebte. In den vergangenen Tagen hatte sehr heißes und windiges Wetter geherrscht, wodurch die rötliche Erde austrocknete und locker wurde. Sie schien nun allgegenwärtig in den Straßen und Gassen, kroch aus dem riesigen Loch, drang in die Ritzen und den Mörtel, der die Wände zusammenhielt, und überzog Stein, Metall und Glas mit dunkelroter Farbe. Tom mußte an seine Kindheit denken und den Sandkasten, 284
den sein Vater in ihrem Hinterhof gebaut hatte: Vier Bretter aus rauhem Holz umschlossen dreißig Zentimeter glitzernden Sand, der stets so sauber wirkte, als sei er völlig unberührt. Dabei spielten er und sein Bruder stundenlang in diesem Sandkasten, selbst an Tagen, da die Sonne so intensiv schien, daß die Quarzkörnchen wie Glassplitter funkelten und man sich daran verbrannte. Schmerzhaft scheuerte der Sand an den kleinen Brandwunden, die sich oberhalb des Hosenbunds und auf ihren Beinen gebildet hatten. Tom erinnerte sich daran, daß sich dieser Sand mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit überall festsetzte; er fand ihn in seiner Kleidung, in seinem Bett und noch tagelang in der Spielzeugkiste. Manchmal spürte er ihn in seinem Schlafanzug und den Bettlaken und träumte dann nachts von endlosen Tagen am Strand, wo er halb eingegraben lag und die Krabben über sein schmales Gesicht krochen. Er hatte nie ganz verstanden, warum ihn diese Träume mit Grauen erfüllten, da er sich immer sehr gern im Sand eingebuddelt hatte. Rick eben falls. Manchmal spielten sie, sie seien ›Baum-Menschen‹, die im Sand wurzelten. Tom und Rick waren dabei gewesen, wie ihr Dad Wurzeln im Hinterhof ausgegraben hatte, die ganz weich und bröckelig waren, als seien sie schon fast zu Erde geworden. Rick behauptete, das passiere auch mit ihnen, wenn sie zu lange eingegraben blieben, und genauso ginge es mit den Toten; sie zerfielen immer mehr, bis sie wirklich zu Erde geworden seien. Rick starb in Vietnam. Später erfuhr Tom von seinem Dad, daß man nur Teile der Leiche zurückgeschickt hatte. Der Rest zerfiel in Vietnam, dieser riesigen Sandkiste. Schließlich meinte Tom, es keinen einzigen Tag mehr aushalten zu können, aus seinen Apartmentfenster nur noch auf das immer größer werdende Loch zu starren, das allmählich solche Dimensionen angenommen hatte, daß er zu glauben begann, es umgebe das ganze Gebäude. Er hatte das Gefühl, er 285
müsse unbedingt nach draußen, um sich ein genaueres Bild über seine derzeitigen Lebensumstände zu machen. Doch dann lösten erneute Ausschachtungsarbeiten zusammen mit heftigen Winden das Problem: Rotbrauner Schmutz verkrustete seine Fenster so stark, daß er nicht mehr hindurchsehen konnte. Die Hausbesitzer ließen die Scheiben inzwischen nicht mehr reinigen – es wäre sinnlos, solange die Bauarbeiten noch im Gange waren. Tom vermutete, daß es außerdem schwierig war, jemanden zu finden, der bereit war, Fenster zu putzen, unter denen eine solche Leere gähnte. Es wäre, als arbeitete man direkt über dem Grand Canyon. Draußen hörte er das schwere Rumpeln der Baumaschinen, die sich immer tiefer in die Erde gruben. Ob man die Pläne geändert hatte und mehr unterirdische Stockwerke anlegen wollte? Als Schutzmaßnahme gegen Tornados oder Hurrikane? Vielleicht empfanden die Arbeiter auch nur die gleiche Frustration, wie sie ihn die ganze Zeit schon heimsuchte: Das Projekt kam einfach nicht voran. Jetzt versuchten sie mit verzweifelter Energie in einem Tag und Nacht andauernden Marathon, endlich fertig zu werden, ehe das Loch ins Gigantische wuchs und sie samt ihren Bulldozern und Baggern verschluckte. Laß nicht zu, daß man mich beerdigt. Eines Morgens erwachte Tom und stellte fest, daß es weder Gas noch Elektrizität gab; auch das Telefon funktionierte nicht. Aus dem Wasserhahn kam nur ein spärliches Tröpfeln. Notdürftig wischte er sich den Staub aus den Augen und von seinem heißen Gesicht. Er machte sich nicht die Mühe, beim Hausmeister nachzufragen. Höchstwahrscheinlich hatten die Arbeiter in ihrer Eile unbeabsichtigt die ins Gebäude führenden Leitungen durchtrennt. Zum erstenmal seit Tagen war er in Versuchung, hinunter auf den Parkplatz zu gehen, um zu sehen, wie die Dinge sich nebenan entwickelten (und den Zustand der Statuen zu überprüfen, von denen er in letzter Zeit sehr oft 286
träumte). Aber er nahm sich vor abzuwarten, bis alle Schäden an den Leitungen wieder repariert werden waren. In dieser Nacht träumte Tom, er befinde sich in einem Fahrstuhl und sause tief hinab bis ins Innere der Erde. Abrupt wachte er auf. Seine Augen brannten, und zwischen den Zähnen glaubte er Sand zu spüren. Die Fenster waren mittlerweile so schmutzverkrustet, daß fast kein Licht mehr hindurchdrang. Ständig hatte er den unerträglichen Geschmack nach Erde und trockenem Fleisch im Mund. Er verbrachte Stunden damit, auf diese verdreckten Scheiben zu starren und sich vorzustellen, er schaue in eine Art Aquarium, in dem langsam die Toten dahinglitten. Doch weil die Toten sich dort schon seit Ewigkeiten befanden und es so viele gab, waren sie der Substanz, in der sie schwammen, so ähnlich geworden, daß er sie nicht mehr davon unterscheiden konnte. Laß nicht zu, daß man mich beerdigt. Schließlich hatte er keine andere Wahl mehr, als tatsächlich diese Fahrt mit dem Aufzug zu machen, von der er geträumt hatte. Seit Tagen hatte er kaum etwas gegessen, und er spürte, wie geschwächt er war. Als er über den Flur torkelte, bildete er sich ein, er stürze in seinen eigenen Schatten, der von einem Selbst geworfen wurde, das sich beständig hinter ihm befand, obwohl er es nicht sehen konnte, selbst wenn er sich rasch umdrehte. Er tauchte in die kühle, erdige Dunkelheit des Fahrstuhls ein, drückte den Knopf für die Eingangshalle und ließ sich hinunterziehen. Während der Fahrt mußte er eingeschlafen sein, denn er konnte deutlich den Lift vor sich sehen, der durch Jahrmillionen von Schichten abwärts sauste. Als er aufwachte, lastete ein solcher Druck auf ihm, daß er kaum atmen konnte. Seine Lungen schienen am Rand eines Kollapses. Der Fahrstuhl hielt und spuckte ihn aus. 287
Hier unten waren die Wände aus schlammigem Morast. Und aus Fleisch. Morast, der zu Fleisch wurde, und Fleisch, das zu Morast wurde. Willie und alle anderen, die Tom je geliebt hatte, waren verformt zu einem Rascheln, das sich irgendwo in den Bewegungen des Erdbodens verlor. Er konnte Körper riechen und Knochen, die zunehmenden Ausdünstungen von Menschen, die arbeiteten, sich trafen, sich liebten – eine unendliche Vielzahl solcher Gerüche, tief vergraben unter der Erde. Plötzlich merkte er, daß er nackt war – er hatte sein Apartment verlassen, ohne sich erst anzuziehen. Aber der Morast hüllte ihn so dicht ein, daß er es nicht peinlich fand. Er wollte ihnen sagen, daß er sie liebte. Er wollte all das sagen, wozu er vorher nie fähig gewesen war. Er wollte mit dem Morast sprechen und wünschte sich, daß der Morast ihm antwortete. Wenn er mit seinem Bruder im Sandkasten gespielt hatte, war der Sand, der seinen ganzen Körper sanft umhüllte, so warm und zärtlich wie die Liebe gewesen. Doch als er anfing, von seiner Reue zu sprechen, als der Morast zu schmelzen begann und die dunkle Erde sich in seine Kehle drängte, um seine Worte aufzufangen, erkannte er, daß es hier keine Liebe gab, nicht eine Spur von Liebe; hier herrschte ein ganz anderes, viel ursprünglicheres Element. Tom versuchte verzweifelt, sich gegen die Auflösung seines Körpers zu wehren, das weiche Fleisch festzuhalten – aber sein Körper war bereits verschwunden.
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ROBERT DEVEREAUX
Bucky geht zur Kirche Eigentlich hieß er Vernon Stevens, aber alle nannten ihn Bucky Biberzahn, kurz Bucky, wegen seiner vorstehenden Zähne und seines biberartigen Watschelns – und, na ja, einfach weil’s so ein süßer Name und er ein so süßer, fetter kleiner Junge war; knuddelig im Säuglingsalter, ein rundes, lausbübisches Pummelchen in der Kindheit, aber in der Jugendzeit dann nur noch ein schwabbeliger Sandsack. Die Kinder begriffen schnell und verpaßten ihm allerlei weitere Spitznamen; sie machten sich über ihn lustig und behandelten ihn wie den letzten Dreck. Bucky lächelte stets nur breit und dumm, als seien diese Beschimpfungen für ihn das höchste Vergnügen. Den schlimmsten Quälgeistern trottete er schnaufend und keuchend hinterher, mit wildrudernden Armen wie ein unbeholfenes Hühnchen, um mit ihnen Schritt zu halten, wobei die fetten kleinen Beine unter seinem dicken Hinterteil wackelten und wabbelten. »Wartet doch«, jammerte er, »das ist gemein, he, wartet auf mich!« Sie johlten nur höhnisch, nannten ihn Fettsack, Babywal und Sülzmops, und Bucky schien ihre Bosheiten aufzuschlecken, als sei es himmlisches Manna. Aber, Leute, ihr glaubt es nicht, irgendwo in seinem Kopf sammelte Bucky all diese Erinnerungen: an die Schläge zu Hause mit dem Rindledergürtel seines Alten und die wüsten Beschimpfungen, die ihn schlimmer trafen als die Prügel auf den nackten Arsch; an die bösen Blicke und die Grobheiten seiner Mama, der verbitterten Schlampe mit ihrem verhärmten, ramponierten Gesicht und ihrer ewigen Sauferei; an das Bellen der giftigen Nachbarn, die hinter ihm herkeiften, um ihn von ihrem kostbaren Rasen zu verscheuchen; an Lehrer, die ihm mit erzwungenem Lächeln zeigen wollten, daß ihnen seine 289
Einfältigkeit nichts ausmache – Bucky würde es ganz bestimmt schaffen, wenn er sich nur ordentlich bemühe, aber ihm etwa helfen, das fiel ihnen nicht im Traum ein; und an die Kinder, von denen nicht eines wagte, sein Freund zu sein (Arnie Rexroth wurde in der ersten Klasse nach Phoenix abgeschoben, so daß er nicht zählte). Alle waren sich rasch einig, daß der Fettsack ein prima Ziel für ihre Grausamkeiten war; das gab garantiertes Gelächter und war eine tolle Methode, sich vor den anderen aufzuspielen und seine Probleme zu vergessen, indem man sie auf Bucky Stevens runden, verschwitzten, kurzgeschorenen Kopf ablud. Nun, eines Tages, ungefähr zu der Zeit, als Bucky fünfzehn geworden war, wachte er auf und hörte eine durchdringend scharfe Stimme in seinem Kopf. »Töte, Bucky, töte!« sagte sie, und er konnte machen, was er wollte, die Stimme wurde immer lauter und beschwörender, bis ihm nur noch übrigblieb, ihrem Drängen nachzugeben. Also kramte Bucky all diese Demütigungen hervor, die er aufgestaut hatte, und strampelte eines Sonntagmorgens auf seinem Rad mit Dreigangschaltung los zur Kirche. Über die Schultern trug er den großen Matchsack seines Dads, der ganz schön was wog. Das schwere Schießeisen darinnen schlug dauernd gegen seine Wirbelsäule, aber es machte ihm nichts, denn er dachte an die Kugeln, die in den Körpern seiner Eltern steckten und daran, daß sie jetzt einmal ausnahmsweise friedlich und in den Armen des anderen neben dem Heißwasserboiler im Keller lagen. Er konnte sich nicht erinnern, je solche Zufriedenheit auf ihren Gesichtern gesehen zu haben, und noch nie hatte im Haus solch eine Stille geherrscht. Jetzt schrie niemand mehr ›Bastard!‹ oder ›Schlampe‹! Bucky strampelte munter drauflos, o ja, mit Feuereifer strampelte er, ohne sich um das Gewicht des Gewehrs zu kümmern, in Richtung Kirche, in der sich alle Quälgeister versammelt hatten. Ihm war schwindlig vor Aufregung, weil es so spannend gewesen war, seine Eltern zu töten. Sein Vater, 290
der dumme Neandertaler, hatte mal wieder den Ex-Marine herausgekehrt und versucht, Bucky durch Drohungen einzuschüchtern, doch dann wirbelten seine Arme durch die Luft, als seine Stirn zerplatzte wie ein plötzlich aufblühender Weihnachtsstern, sein kräftiger Körper knallte mit Wucht gegen den Trockner, wobei sich etwas, das aussah wie erbrochener Borschtsch, über die weiße Emailleoberfläche ergoß; seine Mom lag ganz ungewohnt wimmernd auf den Knien, erst als sie erkannte, daß es aus mit ihr war, beschimpfte sie ihn mit ihrem üblichen Scheiß, bis er sagte, sie solle ihr blödes Maul halten und ihr den Lauf an die linke Brust setzte und mit einem kräftigen Fingerdruck bewirkte, daß sie hochgerissen wurde und gleich wieder zusammenklappte wie eine zwergenwüchsige Schauspielerin, die sich verbeugte und ihr Herzblut verströmte für ihr Publikum, das nur aus einer Person bestand. Bucky strampelte die halbe Meile bergauf und sah in der Ferne den Kirchturm in den unglaublich blauen Himmel ragen wie die weiße Erektion eines unschuldigen Jungen aus NewEngland. Er überquerte die Kreuzung mit der Washingtonstreet, passierte die Abzweigungen zur Madison- und Jeffersonstreet und verlangsamte sein Tempo. Prachtvoll sah die First Methodist Church aus, die vor ihm auftauchte – eine hübsche weiße Schachtel auf einem kurzgeschorenen Rasen, ein schlichtes Bauwerk mit einem wundervollen Turm, das in seinem Innern Gläubige voll Haß und Bosheit beherbergte. Bucky bog auf den Parkplatz ein, lehnte sein Fahrrad gegen einen jungen Baum und riß den Matchsack herunter, der klappernd zu Boden fiel. Ein Auto fuhr vorbei, ein Polizeiwagen. Er winkte den Bullen zu. Weil es sich in dieser Stadt, wo man ja freundlich zueinander war, so gehörte, erwiderte der Fahrer scheinheilig sein Winken; der arme Trottel, der dafür bezahlt wurde, jeden zu verdächtigen, sogar einen molligen kleinen Spitzbuben, der sein Fahrrad auf dem Parkplatz der Kirche abstellte und an den Riemen eines unförmig großen Match291
sacks zerrte. Der grimmige, flachgesichtige Polyp mit seinen schwarzen Haaren, in deren fettigen Strähnen sich die Zähne des Kamms abzeichneten, würde sich noch wünschen, er wäre ein paar Sekunden später dort vorbeigefahren und hätte die Knarre gesehen, die Bucky aus dem Sack zog, ja wahrhaftig, das würde er sich wünschen. Da Bucky nicht gleich seine Karten auf den Tisch legen wollte, zog er sein T-Shirt mit den Ninjas vorne drauf aus den Jeans, drückte die kühle Waffe gegen seinen verschwitzten Bauch und streifte das lange Hemd wieder darüber. Als er die breiten weißen Treppenstufen hinaufstieg, hörte er gedämpfte Orgelmusik. Die hohen vergilbten Eingangstüren schmiegten sich aneinander wie blinde Riesen. Und, guter Gott, was hinter ihnen gesungen wurde, das war doch wahrhaftig ›Voran, Streiter Christi‹, jammervoll gejapst von einer blutleeren Schar beschissener alter Kacker, denen der Alltagstrott ihres Lebens viel zu arg zugesetzt hatte, als daß sie noch was richtiges für den Herrn auf die Beine stellen konnten. Bucky probierte den Türdrücker. Zuerst rührte sich die Tür nicht, dann merkte er, daß sie nach außen aufging. Der Vorraum war leer. Er lauschte auf das falsche Gewinsel von Sarah Janeways holprigem Orgelspiel. Auf einem polierten Tisch, der vor den Türen zum Innenraum stand, lagen jede Menge kirchlicher Nachrichtenblätter; Programme nannten die kleinen Kinder sie. Durch das Fenster in der rechten Tür sah er den kahlen Hinterkopf eines Diakons, der dort wie ein Mond mit einem Haarkranz hing. Es war Coach Hezel, den Bucky letztes Jahr in der neunten Klasse als Sportlehrer gehabt hatte, jener Typ, der ihm grundlos all diese Extrarunden aufgebrummt hatte, der ihn Liegestütze ohne Ende machen ließ und ihn beständig demütigte – der ihm sagte, daß Bucky kein Sportsuspensorium nötig habe, ein Gummiband und eine Erdnußschale würden auch reichen; daß sich Jim Simpson richtig gesehen, mit zwei anderen den Schrank im Umkleideraum 292
teile, denn der feiste Bucky zähle glatt doppelt; daß die Schule Mister Fettarsch Vernon Sondergebühren für Seife berechnen müsse angesichts der Fläche, die er beim Duschen zu waschen habe. Bucky holte das Schnellfeuergewehr unter dem Hemd hervor, ging zur Tür, preßte den Lauf an das Fenster und zielte direkt auf Hezels Hinterkopf. Es klirrte leise, als er das Glas berührte. Hezel wandte sich bei dem Geräusch um, und Bucky drückte ab. Er sah die breite Stirn des stämmigen Sünders, seine Blumenkohlnase, ein rundes schwarzes Auge; und dann zerbarst das Glas, und Hezels böses schwarzes Auge wurde rot, die Farbe verlief wie auf einem verbrannten Film, und Miß Sarah Janeways Gedudel verhallte zitternd über den Worten Beim Kreuze Je-hee-suu. Bucky trat die Tür auf und sprang über Hezels zuckenden Körper hinweg. »Keine Bewegung, ihr Christenpack!« rief er und war bereit, sie mit einem wilden Kugelhagel niederzumähen, aber es klang doch nicht ganz so entschlossen wie bei Eastwood oder Stallone, denn er sah in der schockierten Menge die Kinder – Jungen von kaum fünf Jahren, in deren Augen bereits die Bosheit lauerte, und kleine Mädchen, die unschuldig und zimperlich in ihren gestärkten Trägerröckchen wirkten. Natürlich, er mußte gut auswühlen. Da hörte er plötzlich wieder die Stimme, die ihn lauter und schroffer bestürmte: TÖTE DIE SCHEISSER, BUCKY, TÖTE DIE MISTBANDE! Bucky verdrängte rasch den Anflug von Mitleid und dachte an seine toten Eltern, aus deren Körpern munter das Blut sprudelte, und mit diesem Bild im Kopf knallte er die Atwoods ab, einen nach dem anderen, vier Generationen raffgieriger Kaufleute mit einem Laden auf der Mainstreet: den alten Großpapa Andrew, der ein Hohnlächeln auf den welken Lippen hatte und »Arschloch!« zischte, als Bucky eine blutige Schärpe aus Einschußlöchern schräg über seine Brust steppte; Theodore und Gracia Atwood, die ihre Brut schützen 293
wollten, aber vom ratternden Schnellfeuer niedergemäht wurden, das ihnen die Gesichter zerfetzte; ihren ältesten Sohn Alan, diesen herrischen Großkotz, der Bucky im letzten Juli beim Kauf von Angelhaken übers Ohr gehauen hatte und dessen Kopf und Herz explodierten, während er nach seiner hübschen Frau Anne griff, die jetzt für alle tanzte, wobei auf ihrem hellgrünen Rock lauter rote Punkte erschienen; und die vierjährige Missy, die entsetzt davonlaufen wollte und schreiend auf Bucky zurannte; die winzigen Fäuste erhoben stolperte sie in einen Kugelhagel, der ihren Körper gegen eine zersplitterte Kirchenbank schleuderte. Die Stimme einer Frau übertönte das panische Geschrei. »Haltet ihn auf, tut doch was!« kreischte sie. Bucky zielte auf diese Stimme und mähte eine ganze Reihe von Gottesdienstbesuchern nieder. Die meisten hatten sich zu Boden geworfen oder kauerten zwischen den Bänken; die Selbstmörderischen versuchten zu flüchten. Manche rannten auf die Türen hinter Bucky zu, andere nach vorne, wo es ins Arbeitszimmers des Pastors ging oder in den Raum für die Chorprobe. Wie Hasen knallte Bucky sie ab, und heidnischen Opfertieren gleich sanken die Körper in den dunklen Anzügen blutend zusammen und beschmutzten sterbend das schwer zu reinigende Kircheneigentum. Er ließ den Abzug los, und das wilde Geknatter verstummte. »Bleibt weg von den Türen!« brüllte er. In seinen Ohren hallte noch die Knallerei nach, und er war fast taub. Es kam ihm vor, als rede er in eine Nebelwand hinein. »Bleibt, wo ihr seid, und niemandem passiert was«, log er und bahnte sich über die Toten hinweg einen Weg nach vorne. Jetzt konnte er wieder hören; dünn und wie aus weiter Ferne klang das Weinen, und er sah Körper, die sich aneinanderschmiegten, Verwundete und noch Unverletzte oder, richtiger gesagt, Todeskandidaten, denn nichts anderes waren sie. »Schande über dich, Vernon Stevens«, tönte eine zittrige 294
Stimme. Bucky schaute auf. Dort auf der Kanzel stand mit käsigem Gesicht Simon P. Stone, der scheinheilige Pastor, der vor lauter Frömmigkeit blind für Grausamkeiten war und nichts getan hatte, als Bucky vor zwei Jahren der Prügelknabe seiner Konfirmationsklasse gewesen war. Schreckensstarr hatte er unbewußt eine Hand so fest in die vergoldeten Bibelseiten gekrallt, daß die dürren Knöchel weiß hervortraten. Sein grauschimmerndes Chorhemd hing wie ein geschmackvolles Leichentuch von seinen hageren, verkrampften Schultern; eine hellgrüne Schärpe baumelte schief auf seiner Brust. »Komm runter, Satan«, sagte Bucky. Obwohl das Blut ihm in den Ohren rauschte, hörte er draußen in einiger Entfernung Sirenengeheul. »Komm runter an den Altar und ruf deine Dämonenschar zu dir.« »Nein, Vernon, das werde ich nicht tun.« In Pastor Stones Augen stand blanke Angst. Nach Jahrzehnten im Dienst des Herrn war dieser Kleingläubige noch immer nicht bereit, vor seinen Schöpfer zu treten, o nein. Bucky schaute sich um. Er sah schluchzende Frauen, halb wahnsinnig vor Angst, die sich rasch von ihm abwandten, sah die runden Rücken der Männer in ihren Sonntagsanzügen, die sich wie eingeklemmte Wale aus blauem Serge zwischen den Kirchenbänken duckten, er sah – jawohl, Mrs. Irma Wilkins! Sie trug Handschuhe, betupfte sich die Augen mit einem zerknüllten Taschentuch, und auf ihrem Kopf thronte ihr roter Samthut, ein muschelförmiges Ding, gekrönt von schwarzer Spitze. »Mrs. Wilkins«, befahl Bucky, »kommen Sie her!« Wie ein erschrockenes Fohlen scheute sie zurück, ihre Lider blinzelten kurz, aber dann stand sie auf und glitt aus ihrer Bank. Und als diese zaundürre Bohnenstange näher kam, sah sich Bucky wieder im Sommerlager der Kirchengemeinde vor fünf Jahren draußen im Wald, wo er mit einem anderen Jungen zusammen einen Stock übers Feuer hielt, an dem ein eiserner Kessel hing, denn die beiden Stützen aus dürren und schlecht 295
verankerten Y-förmigen Ästen waren dafür zu schwach, und der Wind drehte sich und blies ihm den Rauch ins Gesicht, der ihm die Augen auszukratzen schien, obwohl er heftig blinzelte, aber es half nichts, und er wandte sich ab und ließ den Zweig los und rief: »Meine Augen!« Verschwommen sah er Irma Wilkins heraneilen, die nach dem Ast griff und ihn im Ton abgrundtiefer Verachtung anzischte: »Deine Augen? UNSER EINTOPF!«, als sei das verdammte Essen wichtiger als Buckys Sehvermögen, und für sie war es das auch. Sogar jetzt noch konnte er ihre Stimme hören, die ihn in ihrer grenzenlosen Überheblichkeit zu einem nichtswürdigen Wurm gemacht hatte, aber nun sah die Sache anders aus. Er betrachtete ihren verkniffenen Mund mit den schmalen Lippen, und, bei Gott, darauf würde er jetzt zielen, damit er nie mehr im Leben das gehässige Keifen dieser widerlichen Frau hören müsse, die ihn demütigen wollte. Mit einem Kugelregen überzog er ihr Gesicht, bis ihr Mund aufklappte wie die Spenderöffnung eines Automaten. Ein purpurner Strom schoß heraus und ergoß sich über die Vorderseite ihres schwarzen Kleids wie Kirschlikör über dunkle Schokolade, und dann fiel diese widerliche Irma Wilkins, dieser elende Sack Scheiße, in sich zusammen, und Bucky war verdammt stolz auf sich, jawohl, stolz war er, ihr fröhlichen Sommerlagerleute! Nun wandte er sich wieder zu Pastor Stone um. »Los, hol alle nach vorne in die Kirche, und ich tu keinem was«, sagte er. »Aber wenn du dich weigerst, knall ich sie nacheinander ab, wie ich’s gerade mit Mrs. Wilkins gemacht habe.« Das kapierten alle sehr gut. Niemand brauchte sie groß zu überreden, statt dessen überredeten sie ihre wimmernden Kinder, aus den Verstecken zu kommen. Sie eilten in den Gang und über den roten Läufer zum Altar, wo Pastor Stone, der zitterte wie das nackte Elend, mit geradezu segnender Gebärde die Arme hob, als posiere er für ein Foto: Pastor Simon P. Stone und seine blökenden Schafe. 296
Das gedämpfte Kreischen aus einem Lautsprecher ließ Bucky aufblicken. Er schaute nach links zu einem großen Fenster aus einfachem Glas. Ein untersetzter Mann in Blau stand am Rand des Parkplatzes, die stämmigen Beine gespreizt, die Ellbogen angewinkelt, Gesicht und Hände hinter einem schwarzen Kreis verschwunden. »Veron Stevens«, tönte seine Stimme, »leg die Waffe hin und komm mit erhobenen Händen raus. Wir tun dir nichts, wenn du machst, was ich sage. Die Kirche ist umstellt. Ich wiederhole. Die Kirche – ist – umstellt.« Der Lautsprecher wurde mit einem Klicken abgeschaltet, und der schwarze Kreis verschwand, so daß Bucky das Gesicht des Mannes sehen konnte, auf dem deutlich zu lesen stand: Bin ich nicht ein großer Junge!, obwohl er nur den Mutigen mimte und sich in Wahrheit in die Hosen machte. Als er sich kurz umdrehte, sah Bucky durch die beiden kleinen Fenster in den Türen zum Vorraum die auf – und niederschnellenden blauen Mützen zweier verängstigter Nachwuchspolizisten. Die langen Läufe ihrer Repetiergewehre stießen aneinander wie Weizenhalme im Sommerwind. Zweifel stiegen in ihm auf. Und Angst. Er nahm unsicher den Finger vom Abzug und ließ die Arme sinken. MACH ZU ENDE, WAS DU ANGEFANGEN HAST! erscholl so plötzlich die Stimme in seinem Kopf, daß ihm fast der Schädel zersprang. SCHAU SIE DIR AN, BUCKY! SIEH HIN UND DENK DRAN, WAS SIE DIR ANGETAN HABEN! Und Bucky gehorchte und betrachtete sie: Da war Bad Sam in seinem besten Sonntagsstaat, der froschgesichtige junge Rowdy mit den aufgedunsenen sommersprossigen Backen, dem eine hellbraune Haarsträhne in die Stirn fiel; Bad Sam, der Bucky von seinem Fahrrad gestoßen hatte, als er neun gewesen war, ihn auf den harten Bürgersteig vor Mr. Murphys Haus geschleudert und wieder und wieder geohrfeigt hatte, bis sein Gesicht verfärbt war und blutete. Und durch seine Tränen hatte er Mr. Murphy am Fenster sehen können, der sich hastig zu297
rückzog, um nicht bemerkt zu werden; Mr. Murphy, der immer so freundlich getan hatte und ewig in seinen Tulpenbeeten arbeitete, wenn Bucky vorbeiradelte. Jetzt stand er hier in der Kirche zusammen mit seiner winzigen Frau und ihrer Tochter Patricia, die ein weißes Kleid trug und einen runden Hut mit Krempe, die ihr Gesicht umrahmte. Und neben ihr sah er Alex Menche von der Exxon-Tankstelle an der Kreuzung der FirstStreet mit der Mainstreet, dessen Blick eisig und schneidend wurde, wann immer Bucky vorbeikam, der ihm nie zuzwinkerte, nie mit ihm redete, sondern ihn einfach nur anstarrte, einen öligen Lappen in der Hand und immer einen Kaugummi zwischen den Zähnen. Und hinter Alex erblickte er Mr. Green, den Hausmeister, der die Schar der Zweitklässler in den Pausen angebrüllt hatte: ›Klappe!‹, auch wenn sie kein Wort redeten und nur eifrig an ihren Erdnußbutterbroten kauten. Und die merkwürdige Elvira Freeborn, von der ganz New Falls wußte, daß sie nicht richtig tickte; bei gutem Wetter reklamierte sie eine Ecke des Stadtparks gegenüber dem Rathaus für sich und führte mit jedermann Gespräche, der zufällig vorbeikam und stehenblieb. Selbst diese irre Elvira mit ihrem dünnen grauen Haar, das sich aus dem Knoten löste, hatte eines Tages, als er verzweifelt genug war, um selbst ihre Gesellschaft zu suchen, überaus freundlich lächelnd zu ihm gesagt: ›O je, o je, Vernon, du bist aber wirklich ein fetter, häßlicher Gnom, wahrhaftig; wenn du meiner wärst, würde ich dir das Maul zunähen, das ist mal sicher! Bei Gott, ich würde dich fasten lassen, bis du dieses Fett runtergehungert hättest, und ich würde dafür sorgen, daß dir die Nase operiert wird, so einen ekligen Zinken wie du ihn im Gesicht hast …‹ Unaufhörlich hatte sie in dieser Art dahergeredet, und jetzt musterte sie ihn hier in der Kirche mit ihren verschlagen funkelnden Katzenaugen wie eine bekehrte Hexe, die es sich doch wieder anders überlegt hat. Und neben ihr stand Sarah Janeway, die Organistin, die hastig versucht hatte ihr Lachen zu verbergen, als der achtjährige Bucky da298
mals für den Kinderchor vorgesungen hatte, eine talentlose Schlampe mit schütterem kurzgeschorenem Haar, deren leere Augen hinter der rotumrandeten Brille mit den dicken Gläsern riesig wirkten. Käseweiß stand sie da in ihrem absurd geblümten Kleid, das unter dem glänzend grünen Chorrock hervorschaute, und winselte leise. Da fing der Scheißlautsprecher wieder an zu brüllen, und Bucky hob seinen einzig wahren Freund an seine Brust, denn ein gerechter Zorn hatte ihn gepackt. Er ließ sie tanzen, alle miteinander und nach seiner Melodie. Sie trippelten und schwankten im Rhythmus seines Lieds; die Einschußlöcher zeichneten ein Muster aus ganzen Noten auf ihre Körper, in schwungvollen Akkorden schossen Blutfontänen empor wie inbrünstige Stoßgebete. Er spürte, daß hinter ihm jede Menge Bullen hereinstürmten, die bereit waren, es ihm nachzumachen und ihn nach ihrer Musik tanzen und springen zu lassen. Bucky, der ganz berauscht davon war, alles nach Kräften zurückzuzahlen, was New Falls ihm im Lauf der Jahre zugefügt hatte, drehte sich um und wollte die Jungs in Blau mit einem tödlichen Kugelhagel begrüßen. Aber es waren zu viele, und die meisten hatten bereits auf ihn zu feuern begonnen. Ein Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie und hüpfte in scharfen Sprüngen sein Bein hinauf, als fielen unsichtbare Wespen in heller Wut über ihn her. Feurige Nadeln schienen sich in seinen Bauch zu bohren; zwei Zickzacklinien aus Bleikugeln zogen sich über seine Rippen und bis hinauf zu Buckys Kopf. Etwas Schweres, das unmöglich zu schlucken war, durchschlug seine Zähne; sein Mund war plötzlich voll Fleisch und Blut. Und dann leuchtete in seinem Gehirn eine Sonne auf, und der ganze Schmerz war weg. Das schreckliche Getöse der Knallerei verstummte; statt dessen erklang Orgelmusik, die so süß war, daß Bucky sich vor Wonne am liebsten in die Hosen 299
gemacht hätte, und das wäre ihm absolut scheißegal gewesen. Er spürte, daß er sich ganz fremd wurde wie ein Träumer, der sich in jemand anderen verwandelt. Die Bullen erstarrten mitten im Schießen. Um ihn herum wogten und wallten die Kirchenwände, als wollten sie sich in Rauch auflösen. Aber es war kein Rauch. Es war Dunst, Nebel, Gewölk. Ganze Schwaden senkten sich in die Kirche und rollten, wogten und wirbelten um die Leichen. Bucky blickte zurück zum Altar, wo er die Körper seiner Opfer im Tod erstarrt sah; auch Pastor Simon P. Stone, der die Arme einem Gekreuzigten gleich ausgestreckt hatte und in der Taille zusammengeknickt war, als habe er gerade den Medizinball des Teufels mit seinem Bauch aufgefangen. Aber direkt hinter Bucky, so nahe, daß er davor erschrak, lag sein eigener Körper, aus dem ganze Fleischstücke herausgerissen waren, aus dem das Blut sproß wie rote Pflanzen, die sich eifrig ans Sonnenlicht drängten. Erstaunt umkreiste er diesen Körper und spürte die watteweichen Kumuluswolken unter seinen Füßen, während er verwundert seinen Kopf betrachtete. Er war rundherum aufgeplatzt, und ein Teil davon schwebte in einem Nebel aus Blut und Hirnmasse dreißig Zentimeter über dem Rest. Er streckte die Hand aus, berührte das abgespaltene Schädelstück und versuchte, es wieder an seinen Platz zu drükken, aber es schien felsenfest in die Luft zementiert. Und der eklige Schwall, der wie blutige Gedanken aus seinem Schädel strömte, glich stocksteif erstarrter Lava. Die Musik schwoll an; er schaute sich um, woher sie wohl käme, und sah aus den vielen winzigen Wolken weißgekleidete Wesen mit seligstrahlenden Gesichtern strömen, die selbst ganz aus Weiß und Gold waren, und jedes hielt ein bogenförmiges Etwas in den zierlichen Händen. Ihre Engelsmünder bildeten ein rundes O, und die winzigen Finger glitten so rasch über die schillernden Harfen, daß man funkelndes Schneegestöber zu sehen meinte. Diese Musik klang jedoch nicht gezupft, nicht 300
gesungen, sondern war eine berückend schöne Folge von Tönen, ein Wohllaut, den keine Orgel der Welt hervorbringen konnte. Sie heiligten mit ihrem Psalm die blutige Szenerie und machten sie wunderschön. Und nun wandten sie sich um und blickten über die am Altar hingestreckten Leichen, vorbei an dem riesigen goldenen Kreuz, hinauf zur weißen Gipsdecke, über der sich die Turmspitze himmelwärts erhob. Mit einem gewaltigen Stöhnen, als ob die Blicke der Engel es in Bewegung gesetzt hätten, öffnete sich dort das Kirchendach, glitt auf unsichtbaren Schienen nach außen, wo es in der freien Luft hängenblieb, und hinab in die Kirche senkte sich ein großes klitziges, mit Edelsteinen geschmücktes Ding, ein rechteckiges UFO, so dachte Bucky zuerst. Aber dann sah er die Sandalen, die Füße, das Gewand, die Hände, die fest die Lehnen des Throns umfaßten, den langen weißen Bart, der auf die Brust wallte, und er erriet, wer es war, der auf ihn zukam. Doch als das Gesicht dann ganz sichtbar wurde, mußte Bukky lachen. Wie ein hilflos verhedderter Komiker grimassierte eine wütende schwarze Frau hinter dem weißen Bart Gottes heraus. Ihre aufgeblasenen Wangen glänzten wie nasses Obsidian, ihre dunklen Augen funkelten, und unter der prachtvollen weißen Mähne sah man einen dichten schwarzen Kranz kleiner Locken, der ihr Gesicht umrahmten. Der weiße Hals der Gottheit war steif und starr, als sei er in eine Klammer eingezwängt. »Bucky Stevens«, donnerte sie und blickte zuerst ihn an und dann in die Luft zu ihren Füßen. »Auf der Stelle kommst du hierher, kapiert?« »Ja, Madam.« An seinem zerfetzten Körper vorbei und über die blutigen Leichen am Altar hinweg schwebte er zu ihr hinauf. Er konnte noch immer spüren, wie fett er war, aber er fühlte sich ganz leicht und schwerelos. »Schicken Sie mich in die Hölle?« 301
»Mir scheint, den Weg dorthin hast du bereits selbst gefunden«, lachte sie und betrachtete das Gemetzel. »Zunächst mal, junger Mann, will ich dir sagen, daß ich zu schätzen weiß, was du für mich getan hast. Ich mag Sünder, die auf meine Vorschläge hören und den Mumm haben, sie auszuführen.« »Sie waren das?« »Lügt Gott etwa?« »Nein, Madam.« »Verdammt richtig, und ich bin Gott, also laß gefälligst diese Zweifel und hör zu.« »Also, ‘schuldigung, Madam«, sagte Bucky und trat in der Luft von einem Fuß auf den anderen, »aber wie kommt’s, daß Gott eine schwarze Frau ist? Ich meine, in der Sonntagsschule …« »Gott ist keine schwarze Frau, Mister Bucky, wenigstens nicht mehr lange. Für eine Weile, na, drei Wochen lang oder so, ist er das gewesen.« Sie lächelte plötzlich. »Aber jetzt wird’s ein fetter weißer Junge namens Bucky Stevens.« Eine wahnsinnige Freude durchzuckte ihn bei ihren Worten. Er bezweifelte keine Sekunde, was sie sagte; er konnte gar nicht anders. »Sie meinen, ich … hab’ jetzt das Sagen?« strahlte Bucky. »Und daß ich all diese Leute getötet habe, wird nicht bestraft?« Gott kicherte hinterhältig. »Das habe ich nun auch wieder nicht gesagt.« Sie schüttelte mit steifem Hals den Kopf. Bucky war verwirrt. »Kapiere ich nicht.« Gott beugte sich vor, als sei ein Brett auf ihren Rücken geschnallt. »Ich will’s kurz machen, damit du deinen fetten Hintern rascher hier hinauf bewegst und ich runterkommen und sterben kann. Vor drei Wochen hab’ ich ein ganzes Büro voll herzloser Scheißer ausgelöscht und bin dann von einem Sicherheitsbeamten weggepustet worden. Und ehe ich mich’s versah, ist mir genau das gleiche Wunder passiert, wie’s dir jetzt passiert. Nur war Gott damals noch dieser blödsinnige 302
Irre, den ich in der Woche vorher in den Nachrichten gesehen hatte, irgendein Spinner, der zum O’Hare ging und das Bodenpersonal und alle Passagiere abknallte, die nicht das Glück hatten, durch einen der Ausgänge flüchten zu können. Er ist dann ebenfalls weggeputzt worden und wurde Gott und überredete mich dazu, meine Kollegen auszulöschen, als man mich feuerte. Das hab’ ich auch getan und anschließend dich überredet, wie er es bei mir gemacht hatte. So sieht die Sache aus.« Die Musik erzeugte in Bucky ein wunderbares Hochgefühl. »Sie meinen, ich habe dann alles in der Hand?« fragte er ganz aufgeregt. »Ich kann alles verändern, was ich nur will; ich kann all das Elend abschaffen, wenn ich das will?« Gott brummte zustimmend. »Aber warum verzichtet dann jemand … Warum wollen Sie denn auf so was Tolles verzichten?« Es schien, als wolle sie zur gleichen Zeit lachen und weinen und brüllen, doch dann meinte sie nur: »Wie meine Momma immer zu sagen pflegte, junger Mann: Erfahrung ist der beste Lehrer, den es gibt.« Ihre Augen begannen zu funkeln, und Bucky spürte plötzlich einen gewaltigen Sog, der ihn zu ihr hinaufzog. Er wedelte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, flatterte aber wie ein Blatt im Herbst auf das große schwarze Gesicht, auf diese verrückten braunen Augen zu. Schon fürchtete er, an der Stirn zu zerschellen, doch da teilte er sich, als ob ein Betrunkener ihn doppelt sähe, und fiel in die schwarzen Teiche von Gottes Pupillen. Ein Blinzeln, und er löste sich auf. Genauso ein Gefühl hatte er damals im Kopf gehabt, als er zehn Jahre alt gewesen war und man ihn mit einem Stich in den Arm betäubte, weil er an einem eingewachsenen Zehennagel operiert werden mußte; nur erfüllte es diesmal seinen ganzen Körper, und er verlor nicht das Bewußtsein. Gerade noch rechtzeitig öffnete er die Augen, um zu sehen, wie die stämmige schwarze Frau ihm zuzwinkerte, ehe sie betend die Hände faltete und sang: »Bis bald, blöder Trottel!« Dann tauchte sie 303
mit einem Sprung in seinen zerschmetterten Körper ein, der dort unten lag. Bucky blickte sich zu den Engeln um, die auf ihren Wolken saßen, und entdeckte Drähte, die aus ihren O-förmigen Mündern kamen; damit sicherten sie ihn, als sei er ein Luftballon am Macy’s Day und sie hätten dafür zu sorgen, daß er sich während der Parade nicht losriß und davonflog. Langsam erhob sich der Thron und mit ihm die Engel; Bucky nahm seinen ersten Atemzug als Gott und fühlte sich göttlich. Wie Captain Kirk hatte er jetzt das Kommando; er saß am Ruder und würde dafür sorgen, daß von nun an alles besser lief, jawohl! Aber als er sich über die Kirche erhob und das Dach wieder zurückglitt und einrastete, erstarrte die Zeit und damit der Schmerz all derer, die im Inneren des Gebäudes waren. Es traf ihn so heftig wie eine gepanzerte Faust, die wieder und wieder in seine Magengrube donnerte: Simon Stone, innerlich klein und abscheulich gemein, der in den letzten Zügen keuchte; Sarah Janeway, schwanger im zweiten Monat, die vergebens versuchte, das Gewirr ihrer herausquellenden Gedärme zurückzuhalten; die gutherzige Elvira Freeborn, in mancher Hinsicht der normalste und verständigste Mensch von allen, die sich in ihren Tod gleiten ließ, als schlüpfe sie in ein neues Sonntagsgewand, ein rasiermesserscharfes Flammenkleid; und sogar was die Toten – Coach Hezel, die Atwoods, Irma Wilkins und die anderen – erlitten hatten, fühlte Bucky und erlebte, jenseits aller Zeit, tausendmal immer wieder ihr Sterben. Und dann erhob sich Bucky Vernon über New Falls und spürte, wie die Empfindungen aller Menschen, die dort weinten, auf ihn einstürmten. Nun kannte er endlich das Leid seiner Eltern; nun wußte er, welch innerliche Reichtümer mit ihnen verlorengegangen waren, und es brach ihm fast das Herz. Bucky sank in jede leidende Seele der Stadt und empfand selbst alles, was sie durchlitten, in grauenvoller Deutlichkeit. Unaufhörlich wuchs das Elend in ihm weiter an, und immer 304
noch stieg er höher auf und hüllte dabei wie zähflüssige Farbe den gesamten Globus ein, bis er ihn ganz durchtränkte. Bucky konnte nicht anders, er mußte schreien. Und er schrie. Und sein Schrei war die Ursache des menschlichen Leids, das in diesem Laut zugleich seinen Ausdruck suchte. Er versuchte, die Hände ans Gesicht zu heben, um mit den Fingern seine Trommelfelle zu durchbohren, seine Augen auszudrücken, aber die Hände klebten störrisch an den harten Lehnen des Throns und ließen sich nicht von der Stelle bewegen; und seine Lider wollten sich nicht schließen; und seine Ohrmuscheln saugten wie ein Mahlstrom allen Jammer ein. Ganze Landstriche taten sich vor ihm auf, wo alles verhungerte; er spürte die starren Augen, die leeren, zusammengeschrumpelten Mägen, das Winseln und Wimmern der Sterbenden, und jeder tote Äthiopier brachte ihm sein Leid. In immer tiefere Schichten des Schmerzes, die kein Ende zu nehmen schienen, tauchte Bucky ein; die wilden Qualen breiteten sich spiralförmig in alle Richtungen aus, und nach einer Weile, ohne daß er abstumpfte oder sich daran gewöhnte, drängte er dem Leiden entgegen, um sich ihm zu unterwerfen wie ein Matrose im Sturm, der den Kampf aufgibt und sich der Gewalt der Elemente überläßt. Er war ein Nadelkissen, in das sich Milliarden glühender Nadeln bohrten, und wußte, daß er selbst die Ursache dieses rasenden Schmerzes war, dem er nicht entrinnen konnte. Es war so pervers, daß er beinahe gelächelt hätte, aber eine erneute Flut von Qualen, die kein Ende zu nehmen schienen, überwältigte ihn, und jedesmal, wenn er dachte, er habe die äußerste Grenze erreicht, tat sich ein weiterer Abgrund auf. Schon begann er sich zu fragen, ob die schwarze Frau ihn belogen hatte und ob er vielleicht bis in alle Ewigkeit in diesem Alptraum gefangen wäre. Ohne die Augen schließen zu können, mußte er zuschauen, wie junge Mädchen bei Geburten ums Leben kamen, wie Leid und Tod immer mehr Trauernde 305
quälten, wie neue Formen des Elends heranwuchsen und freigesetzt wurden. Bucky war an seinem Firmament fixiert, und auf der Welt herrschte die Hölle. Verzweifelt ließ er seine Blicke weit umherschweifen auf der Suche nach aufbrechenden Herden des Grolls – und er fand sie, diese brodelnden, gärenden Seelen; sie waren die Quelle seiner Erlösung. Die schwarze Frau – Miriam Jefferson Jones – hatte, ebenso wie ihr Vorgänger, eifrig Nachfolger gesucht; auf sie begann Bucky nun einzuwirken und setzte die Einflüsterungen fort, die vorübergehend verstummt gewesen waren, seit er die Stelle der Gottheit eingenommen hatte. Na klar, Sean Flynn, versicherte er dem jungen Mann, der dort mit seinen Kumpeln an der Steinmauer lehnte, es ist nur recht und billig, wenn du ihren beschissenen Truppentransporter nachts von der Straße fegst; mach das kleine Bömbchen dort fest, kriech schleunigst raus und rasch in Deckung, und dann schau zu, wie die dreckigen englischen Bastarde den Nachthimmel über Belfast mit ihren Knochen verzieren. Und du, Alicia Condon aus Lost Nation in Iowa, jawohl, es ist okay, daß du deine fixe Idee von der Reinheit der Neugeborenen bis zum Äußersten verfolgst. Wahrhaftig, es wäre richtig, glaub mir nur, wenn du eine ganze Säuglingsstation mit gerade erst geborenen Kindern auslöschen könntest, ehe sie den fatalen zweiten Tag ihres Lebens erreichen, an dem sie alle schon verdorben sind; dann könnte tatsächlich die Wiederkunft meines geliebten Sohnes erfolgen, um die sündige Menschheit zu retten. Und du, Gopal Krishnan, oder du, Vachid Dastjerdi, und du, Moshe Naveh, o ja, selbstverständlich, ihr habt absolut recht, jeder von euch, klar; ihr seid es eurer Sache schuldig, ganze Busladungen zu massakrieren, ganze Flughäfen, ganze Städte voll mit feindlichem Fleisch zu vernichten. Es gab Unmengen solcher Menschen auf der Welt, und um all diese tickenden Zeitbomben kümmerte er sich und überredete sie mit sanften Einflüsterungen beharrlich zu Massenmor306
den. Auch neue vielversprechende Knospen der Verbitterung begann Bucky zu kultivieren. Manche würden ganz bestimmt bald aufzublühen beginnen – o Gott, wie Bucky zu sich selbst betete, daß es bald geschehen möge! Zumindest ein tapferer Stürmer auf diesem Spielfeld des Leids würde doch bestimmt den Ball aus dem Himmel annehmen und rennen, was das Zeug hielt, daß die Stollen sich in den Rasen gruben. Alle würde er abwehren, die zu versuchen wagten, ihn aufzuhalten, und nicht eher würde er stehenbleiben, bis er den Elfmeterpunkt erreicht und das blutige Leder triumphierend reingedonnert hätte. Das war die Hoffnung, die Bucky die unsagbaren Qualen aushalten ließ. Das war die Hoffnung, die Leben in die Bude brachte.
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TEIL VIER Wahrscheinlich der Teufel
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BARRY N. MALZBERG
Dumbarton Oaks »Mittleres Management, das ist die Kategorie, in der ich tätig bin. Ich mache Botendienste, zeige stets die allerbeste Miene, biete den Massen Farbe und Stimmung, Tarnungen für die hohen Tiere. Hörner, ein Umhang, ein Wölkchen Schwefel, ein paar gemurmelte Flüche, plötzlich ausgestoßene Verwünschungen, Purzelbäume über dem Abgrund. Manchmal eine Narrenkappe mit Schellen, eine Teufelsgabel für die Uneingeweihten, vielleicht eine rasche Bewegung des Schwanzes im erlöschenden Licht. Dem Ganzen mangelt es an Würde, aber, wie ich stets zu hören kriege, brauche ich dafür auch nicht die schweren, die wirklich großen Entscheidungen zu treffen und muß nicht ständig auch noch die Balance zwischen Welt und Hölle im Auge behalten. Das mittlere Management erleidet seine typischen Demütigungen, ist überlastet, gestreßt, täuscht einen Einfluß vor, den es gar nicht hat, aber das mittlere Management neigt auch zu einer vereinfachten Sicht der Dinge und tendiert eher zu einer Karriere mit langfristigen Perspektiven. Das geheime obere Management hat die tatsächliche Verantwortung, daran erinnert man mich ja oft genug, und für diese Leute ist es ein tiefer Sturz bis ganz nach unten, ein abscheulicher Sprung durch die vernichtende Dunkelheit. Natürlich glaube ich das alles nicht wirklich. Es sind wohlklingende Scheinbegründungen, die das obere Management vorbringt, um die Narren in Schach zu halten. Im Grunde weißt du genausogut wie ich, daß echten Schmerz nur diejenigen von uns spüren, die wirklich exponiert sind, und daß diejenigen, die im verborgenen wirken, überhaupt keine Verantwortung tragen.« »Bist du jetzt fertig mit dem Gezeter?« fragt er. »Ist das alles?« 309
»Ich zetere nicht«, sage ich, »ich lege einfach nur die Situation dar. Das ist mein gutes Recht.« Er lächelt, aber nicht liebevoll. »Mein bester Engel«, sagt er. »Wie immer den Kopf voller Ideen. Große Ideen, gute Ideen. Ich will dir auch gewiß nicht den Mund verbieten.« Sein spöttischer Ton ist beleidigend und läßt in mir den Wunsch aufkommen, ihn anzugreifen, aber natürlich ist so etwas in diesem steinigen, wüsten Ödland voll Rauch unmöglich; er würde einen vagabundierenden Blitzstrahl schleudern, eine Falltür unter dem Mesquitenstrauch öffnen, und hinunter ginge es durch die vernichtende Dunkelheit, womit die Diskussion beendet wäre. »Tarschisch«, sagt er, »Philadelphia. Es ist Zeit, daß du dich wieder in Bewegung setzt. Sofern du nicht anderweitig beschäftigt bist, denn ich möchte dir wahrhaftig keine Unannehmlichkeiten bereiten, Luzifer.« »Es ist schon recht«, sage ich. Ja, was sollte ich sonst auch sagen? Gefangen in diesem Abgrund und ohne einen Ausweg zu sehen, kann ich nur seine Beschimpfungen runterschlucken, solange es an anderen Ideen fehlt, wie es bisher stets der Fall gewesen ist, und so geht das schon seit langer Zeit. »Nun«, sagt er, »dann mach dich auf den Weg. Es sei denn, du möchtest gern weiterreden. Ich weiß, daß du voller Ideen steckst.« »Ich bin schon unterwegs«, sage ich. Ich war nie der, den er am meisten geliebt hat. Das ist eine freie Erfindung, aber verständlich – rein aus Propagandagründen, um die Angelegenheit in das günstigste Licht zu rücken. In Wahrheit hatte er es von Anfang an auf mich abgesehen. »Der am wenigsten gutartige seiner Racker«, so nannte er mich, »der einzige, der sich den Anspruch auf irgendeine Art Seelenleben anmaßt. Bitte«, sagte er, »die Sache ist rasch erledigt. Wir werden dir ein Seelenleben geben, jawohl. Wir werden dir einen Hauch von Bewußtsein geben und Gefühle, an denen du dein Grauen festmachen kannst. Sodom, Gomorrha, diese Geschichte mit Bathseba. Hin und her, vor und zurück, es ist alles eine Frage der kosmischen 310
Balance«, so hat er mich belehrt, aber am Ende ist es doch immer dasselbe. Nichts hat sich verändert; der Wettbewerb zwischen den Korrupten und den Betrogenen geht ewig weiter. Natürlich ist möglicherweise genau das der springende Punkt. »Du wirst nach Tarschisch gehen«, sagt er, »und dich dort offenbaren. Dann wirst du vielleicht am Hof Nebukadnezars erscheinen wollen. Laß ihn einfach mal kurz den Schwefel wittern, bevor du verschwindest.« »Dort war ich schon«, sage ich, was zufälligerweise der Wahrheit entspricht. Ich war auch bei Bathseba und ebenfalls in Tarschisch und Philadelphia, bei Torquemada und in den Baracken von Auschwitz. Ich war eigentlich überall. Aber andererseits, wie ja bekannt ist, findet das alles grundsätzlich nie ein Ende; man braucht die Wiederholungen – einfach, um das Gleichgewicht zu wahren. Auch dies hat man mir unzählige Male erklärt, obwohl solche Erklärungen die Sache auch nicht besser machen und auch nicht das Brennen, die Sehnsucht lindern. »Weg mit dir«, sagt er mit einer abschätzigen Geste, »mach dich auf den Weg, versetz die Massen ein wenig in Erregung, rüttle sie ein bißchen auf, daß sie vor Entsetzen erschauern, denn dafür bist du da. Und ich ebenfalls«, fügt er hinzu. »Aber meine Probleme interessieren dich ja nicht und sind auch allein meine Angelegenheit. Gehst du jetzt? Ich habe wirklich genug von dir. Genug von dieser ganzen Sache, Geliebter, mach dich auf den Weg.« Also schnüre ich meine Sandalen, nehme die erforderlichen Geräte, um Pentagramme unwirksam zu machen, die Stabilisatoren und die Schriftrollen und gehe. Wenn er in einer solchen Stimmung ist, bleibt einem gar nichts anderes übrig. Man könnte standhalten und diskutieren, aber dann würde sich die Falltür öffnen, und der Pesthauch und die Flammen der Hölle wären das Ende; er ist absolut gnadenlos in seinem Herrschaftsanspruch, wenn es um die Einhaltung von Abmachungen geht, und ich wäre nicht der erste, der Qual und Folter übergeben wird. Schließlich habe ich 311
andere Leben geführt, ehe ich hierher kam, und habe nicht den Wunsch, zurückzukehren. So verlasse ich also, noch den Gestank seines Parfüms in der Nase, diesen seltsamen Garten und packe Leid, Verlust und die nötigen Gerätschaften in meinen Ranzen, um mich den altbekannten Flüchen und Verwünschungen zu stellen, erhoffe mir mehr, weiß aber, daß es – wie immer – einfach die üblichen farblosen Antworten sein werden. In Philadelphia suche ich Zephania auf. Er ist natürlich einer der kleinen Propheten, und wie Arnos oder Jephta, Jakob oder den Verfasser des zweiten Petrusbriefs kann man ihn vielleicht gerade noch als jemanden sehen, der das Elend einigermaßen vorausahnt, es in etwa ankündigt, ohne aber die Fähigkeit zu besitzen, irgend etwas wirklich zu verändern; er durchlebt, wenn überhaupt, all die üblen Vorzeichen und Verlockungen von überzeugenderen Propheten; nur Susanna, die Keusche, kann man, was Eifer oder Überflüssigkeit betrifft, mit Zephania vergleichen. Nichtsdestotrotz gelingt es ihm mit seinen Verwünschungen, seinen Beteuerungen, die Erde werde vollständig vernichtet und zerstört, manche aus der gedemütigten breiten Masse aufzurütteln. In dieser Hinsicht ist er recht interessant, und gerade ich kann dies natürlich gut begreifen und empfinde Sympathie dafür. »Ich komme, um deine Rechtschaffenheit zu verfluchen«, sage ich. Zephania liegt in einem unruhigen Schlaf, und falls er sich überhaupt an mein Erscheinen erinnert, wird er es für einen qualvollen Traum halten, aber etwas wird hängenbleiben und schließlich in seinen irren Reden auftauchen. »Deine Rechtschaffenheit taugt gar nichts. Bist du bereit für das Feuer und die Insekten, die alles vernichtenden Plagen, die weißgebleichten Knochen und die Schreie von Kindern, den Mord an hilflosen Ungeborenen in den Schößen ihrer Mütter? Hast du wirklich ganz verstanden, wie nutzlos jedes Bollwerk ist …?« Und so weiter und so fort. Sie leben hier in engen Unterkünften, eine primitive Kultur, Bauern in 312
schlichten Zelten, die in dichten Reihen in der Wüste aufgestellt und wieder abgebaut werden; die Gruben quellen über von ihrem Abfall, werden notdürftig mit einer Schaufel Sand bedeckt, und den Tieren bleibt es überlassen, den Unrat im Zaum zu halten. Aus solchem Schmutz, aus solch primitivem Milieu sind die großen Namen und Schriften erwachsen, aber vulgäre Nebensächlichkeiten zu etwas Großem aufzublähen, gehört nun einmal ebenfalls zu dem besonderen Fluch des mittleren Managements. »Steh auf und stell dich dem Beginn, sage ich, dies ist das Gericht des Bösen. Oh, das Böse ist über dem Land.« »Laß mich«, sagt Zephania. Er ist für seine Zeit ein alter Mann, Mitte Vierzig und schwer gezeichnet von Krankheit und der Ungeheuerlichkeit seiner schrecklichen Visionen. »Ich habe nichts getan. Ich habe ein tugendhaftes Leben geführt.« »Tugend hat nichts damit zu tun«, sage ich. »In einer Zeit des Unheils ist Böses der Lohn der Tugend. Sende ihnen Botschaften. Laß sie die ganze Tragweite des Urteils wissen. Es gibt keine Gnade.« »Keine Gnade, keine Gnade«, stöhnt Zephania. Er fährt aus dem Schlaf hoch, krümmt sich zusammen, stemmt sich hoch. »Du mußt uns Gnade gewähren. Wir haben nichts getan, womit wir verdient hätten …« »Du hast zu viel getan«, sage ich. Eine der kleinen und schrecklichen Freuden dieser Aufgabe ist es, nicht in meiner wahren Gestalt und meiner wahren Funktion zu erscheinen, sondern in der Maske eines Abgesandten der Rechtschaffenheit. Er und ich haben oft schon über diese Maskerade gekichert und darüber, wie wir uns gegenseitig in die Hände arbeiten. Das ist natürlich die Theorie des mittleren Managements; es geht so oder so. »Ich fürchte, mehr habe ich dir nicht zu sagen«, erkläre ich Zephania. »Es ist zu spät, sich auf den rechtschaffenen Weg zu besinnen. Das Urteil ist gefällt.« So lautet mehr oder weniger die Botschaft, die ich – mehr voll 313
Mitleid und Kummer als voll Zorn, o ja – durch Jonah, Daniel, Torquemada, Göring weitergegeben habe; der Täter als Opfer, der Folterer als der Gefolterte; und es hat noch jedesmal funktioniert; jedesmal wurde es akzeptiert als das, was man wahrhaft wünschte. »So und nicht anders ist es«, sage ich und zeige ihm flüchtig die Hörner unter dem Gewand, nur ganz kurz, damit er es unterschwellig wahrnimmt, um die Botschaft etwas zu komplizieren und doch auch zu erklären. Habe ich das wirklich gesehen, wird Zephania sich später fragen. Nein, natürlich nicht. Das ist unmöglich. Ich habe einen Engel gesehen, einen Engel des Herrn. »Ich werde alles vom Angesicht der Erde tilgen«, schließe ich. Würdevoll schreite ich davon und lasse Zephania im Zelt liegen. Auf Hände und Knie gestützt schaut er mir nach in dem schwindenden Licht; ich kann mir seinen starren Blick gut vorstellen. Am Rand des erbärmlichen Dorfs halte ich an, hole tief Atem, reakklimatisiere mich und eile dann mit enormer Geschwindigkeit nach Krakau, wo ich für eine Weile das Pogrom beobachte, anschließend nach Warschau, wo ich dem aufmerksamen Eichmann ins Ohr flüstere. Er nickt und nickt. Dann kehre ich, befriedigt über die Art und Weise der Mission – das Wort hinauftragen, es hinabtragen –, wieder zum üblichen Platz zurück, wo ich entdecke, daß er für eine Weile das Quartier verlassen hat, zweifellos mit privaten Angelegenheiten beschäftigt, deren Bedeutung die meinigen weit übersteigt. Ich schaue mich sorgsam um, ob ich allein und unbeobachtet bin, dann besteige ich den Thron, wie ich es gelegentlich mache, probiere aus, wie es sich darauf sitzt, kontrolliere meine Haltung, nehme die vorteilhafteste Stellung ein, damit ich würdevoll wirke. Wahrhaftig, der Sitz ist wie für mich gemacht, und wer weiß – es läßt sich nicht sagen, in welche Richtung sich im Schutz der Zeit noch alles entwickelt. Ich denke mir Mitteilungen aus, warte auf seine Rückkehr und 314
klettere natürlich wieder vom Thron, um unterwürfig an seiner Seite zu hocken. Es ist besser, selbst in der Hoffart den Anschein von Demut zu wahren. Wir werden lachen. Wir werden wieder und wieder lachen, so laut, daß unser brüllendes Gelächter wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm gegen das Gewölbe des Himmels prallt. 1991: New Jersey
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CHELSEA QUINN YARBRO
Novene Novene: Eine Gebetsverrichtung an neun aufeinanderfolgenden Tagen zu Ehren eines bestimmten Heiligen oder aus Anlaß eines kirchlichen Feiertags; ein anerkannter, aber freiwilliger Brauch in der römischkatholischen Kirche.
Am dritten Tag der Schlacht vertrieb die Bombardierung Schwester Maggie vom Dach, wo sie in einem verlassenen Taubenschlag Zuflucht gesucht hatte; sie kehrte in das zerstörte Gasthaus zurück und sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seit dem Aufruhr, den die selbsternannten Revolutionäre in dieser Gegend angezettelt hatten, war das Ganze eskaliert. In sämtlichen Stockwerken waren die Räume geplündert worden, in der ehemaligen Lobby hatte man verletzte Kinder untergebracht und sich selbst überlassen, während ihre Eltern zu Verteidigungsmaßnahmen herangezogen worden waren oder sich verschiedenen fragwürdigen Widerstandsgruppen angeschlossen hatten, die dem Feind mit erbeuteten Gewehren, improvisierten Waffen, mit Messern und Steinen bestenfalls kleine Nadelstiche beibringen konnten. Es roch beißend scharf wie in einem Schlachthaus im Sommer, und aus jedem Winkel erklang das Stöhnen, Schreien und Gewimmer der Verwundeten. Die Möbel waren zum größten Teil zerschlagen; mit dem Holz hatte man die großen klaffenden Löcher vernagelt, die einst Fenster gewesen waren. Zwei Sofas hatte man als Untersuchungstische zweckentfremdet. Die Hebamme des Dorfs, die für gewöhnlich gemieden wurde, versorgte die Verletzten und praktizierte dabei auf ihre Weise eine Art Selektion. 316
Schwester Maggie ging zu ihr. »Lassen Sie mich helfen«, bat sie, »ich bin Krankenschwester.« Sie war ziemlich sicher, daß sie der einzige Mensch weit und breit war, der über eine medizinische Ausbildung verfügte, und es tat ihr in der Seele weh, daß nicht einer im Dorf ihre Hilfe annehmen wollte. Sie war hier, um ihnen beizustehen, und blieb doch ausgeschlossen und geächtet. Die alte Hebamme tat so, als verstünde sie nicht, obwohl Schwester Maggie die Landessprache perfekt beherrschte. Wortlos goß sie Wodka, der aus den Hotelvorräten stammte, über eine zackige, aufgequollene Schrapnellwunde. »Sie müssen zuerst die Splitter entfernen«, sagte Schwester Maggie verzweifelt und wünschte, die Klinik existiere noch. Dort stünde alles Nötige zur Verfügung, und es gäbe Antibiotika. »Wenn Sie die Wunde nicht säubern, wird es eitern, und er verliert das Bein. Oder sein Leben.« Sie bekreuzigte sich und bemerkte, daß zwei Kinder, die auf Hilfe warteten, hastig ein Zeichen zur Abwehr des bösen Blicks machten. Endlich schaute die Hebamme sie an. Die Augen in diesem von tiefen Falten zerfurchten Gesicht wirkten unergründlich. »Das ist nicht ihre Sache. Lassen Sie uns in Ruhe.« »Aber ich kann helfen!« »Sie haben genug geholfen«, sagte eines der verwundeten Kinder, ein Mädchen von vierzehn Jahren, das ein Auge verloren hatte und dessen Leibesumfang unverkennbar auf die erste Schwangerschaft deutete. Ihr Blick war so haßerfüllt, daß Schwester Maggie davor zurückwich wie vor einem Feuer oder einem unerträglichen Gestank. Sie stolperte über ein dreijähriges Kind mit einer grauenvollen Kopfverletzung. Es war jämmerlich dünn, und sein hastiges Atmen klang wie ein hohles Keuchen. Schwester Maggie erkannte, daß es bereits halb im Koma lag. Die Atemzüge kamen immer unregelmäßiger. Falls keine sachgerechte Behandlung gegen den Schock erfolgte, hatte der kleine Junge 317
kaum noch eine Stunde zu leben. Wenn Gott barmherzig war, würde er ihn rasch erlösen. Ohne auf die zornigen Gesichter der anderen zu achten, bekreuzigte sie sich und zeichnete auf die Stirn des Jungen ebenfalls das Kreuz. Stumm sprach sie ihre Gebete für ihn, damit niemand verlangte, sie solle damit aufhören. »Laß ihn in Ruhe!« schrie einer der alten Männer, die das Hotel bewachten. In seinen arthritischen Händen hielt er ein altes Gewehr. »Aber ich kann helfen«, protestierte sie. »Dem kann niemand mehr helfen«, erklärte er mit der Autorität des Alters. Schwester Maggie verließ ohne Widerspruch das sterbende Kind. Sie hoffte, Gott würde es verstehen und ihr vergeben, nicht nur ihr, sondern allen diesen Menschen. Es gab so vieles, wofür sie ihn im Lauf der vergangenen fünf Jahre um Verständnis gebeten hatte, und stets mit der Überzeugung, daß sie irgendwann doch noch einmal die Möglichkeit erhalten würde, es wiedergutzumachen. Sie entdeckte einen anderen Jungen, der vielleicht neun oder zehn Jahre alt war, aber viel jünger aussah. Jedermann nannte ihn die Ratte, weil er der geschickteste Dieb im Hotel war, möglicherweise im gesamten Dorf. Immer schaffte er es, noch irgendwo etwas Eßbares aufzutreiben – vor allem durch Raubzüge ins Lager der Gegenpartei. Obwohl man seine Geschicklichkeit zu schätzen wußte, mißtraute man ihm deswegen auch und ging ihm aus dem Weg. Er lag allein in einer Ecke, abseits von den anderen und unbeachtet. Sein rechter Hemdsärmel war steif von getrocknetem Blut. Mit einem so zynischen Blick, daß man davor erschrak, betrachtete dieses Kind aus großen dunkelbraunen Augen seine Umgebung; selbst bei einem erwachsenen Mann wäre ein solcher Ausdruck unerträglich gewesen. Er schaute der Nonne in dem geflickten Overall, die auf ihn zukam, entgegen, ohne eine Regung zu zeigen. Nicht 318
einmal mit einem Wimpernzucken verriet er, welche Schmerzen er hatte. »Hallo, Ratte«, grüßte ihn Schwester Maggie. »Hallo«, antwortete er gleichgültig. Sie hatte schon befürchtet, er würde überhaupt nicht mit ihr sprechen. Trotzdem würde die Sache schwierig werden. Am besten verhielt sie sich so, als sei das Elend ringsum gar nichts Besonderes. »Hat irgend jemand schon mal Zeit gehabt, nach dir zu sehen? Deinen Arm sollte man …« Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Wozu? Da kann sowieso niemand was machen.« Er versuchte ihn zu bewegen, um zu beweisen, daß es gar nicht weiter schlimm war. Seine übel zugerichtete Hand baumelte kraftlos herab; in seinen Augen schimmerten Tränen, die er tapfer unterdrückte. »Schließlich wollen sie, daß du bei den Revolutionären weiter Munition stiehlst, und dafür brauchst du beide Hände«, sagte Schwester Maggie so sachlich wie möglich. »Hast du was dagegen, wenn ich es mir mal anschaue?« Sie bereitete sich auf eine schroffe Ablehnung vor und schickte stumm ein kurzes Stoßgebet zur Heiligen Jungfrau, um auch diese Demütigung klaglos und ohne Groll zu ertragen. »Denen ist egal, wer die Munition klaut, solange es überhaupt jemand tut«, sagte die Ratte, doch er wehrte sich nicht und ließ zu, daß sie den unteren Teil des Hemdsärmels mit der Schere ihres Schweizer Armeemessers abschnitt. Nur sein krampfhaftes Bemühen, nicht dorthin zu schauen, verriet seine Angst. »Andere hat’s schlimmer erwischt«, meinte er lässig. Und denen konnte auch bestimmt keiner mehr helfen, dachte Schwester Maggie. Ein Sprengkörper hatte die halbe Hand und ein Stück der Elle zerschmettert; über dem gesplitterten Knochen waren zarte Sehnen sichtbar. Mit viel Glück würde man den Daumen und die ersten beiden Finger retten können, doch dazu war eine ordentliche medizinische Behandlung nötig. Sonst sah es schlimm aus für den Jungen. Sie mochte gar nicht 319
daran denken, was für ein Leben ihn nach solch einem Verlust erwartete. »Du müßtest in ein Krankenhaus. Du brauchst Hilfe. Andernfalls …« Die Ratte lachte. »Ich meine es ernst, Ratte. Du brauchst Medikamente, einen Arzt, der die nötigen Instrumente hat, um dir zu helfen. Diese Hand muß …« Sie zwang sich, den Blick von der schrecklichen Wunde abzuwenden. Es mußte einen Weg geben, ihn zu retten. Irgend etwas mußte sie unternehmen. Sie wünschte, es wäre außer ihr noch jemand vom Klinikpersonal da – oder es gäbe das Krankenhaus noch. »Ein Chirurg könnte alles wieder in Ordnung bringen oder wenigstens dafür sorgen, daß du die Hand nachher noch gebrauchen kannst. Im Armeestützpunkt gibt’s ein Hospital, nicht wahr? Es sind nur zwei Tage bis dorthin.« »Zwei Tage, falls es keine Kämpfe gibt und die Straßen frei sind. Aber Hilfe krieg’ ich dort nicht. Die verhaften mich bloß und stecken mich in eine Zelle mit anderen Jungen oder geben mich einem Offizier, damit er seinen Spaß mit mir haben kann. So ist das bei der Armee. Die Soldaten können sich aussuchen, ob sie Männer oder Frauen zur Belohnung haben wollen. Um Sie, mit Ihrem hellen Haar, wird man sich reißen.« Sein Lächeln zeigte, wie genau er seine Lage – und ihre – verstand, und wie weltfremd er ihren Vorschlag fand. »Dahin gehe ich nicht.« »Wo sonst könnte man einen Arzt finden?« fragte Schwester Maggie hilflos. »Es muß doch einen geben, der nicht zur Armee gehört oder vor ihr kuscht. Es können doch nicht alle Arzte Angst vor den Soldaten haben, oder?« Seit Pater Kenster vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie niemanden mehr finden können, der bereit gewesen wäre, seinen Platz einzunehmen – das Dorf lag zu abgeschieden in einem Bezirk, den ständig die verschiedenen miteinander verfeindeten Rebellenbanden durchstreiften, die davonschleppten, was sie tragen 320
konnten, und den Rest in einem Akt revolutionären Zorns verbrannten. »Wie ist es in … in dieser Stadt, wo der Schafmarkt ist?« Sie konnte sich nicht an den Namen erinnern, falls sie ihn überhaupt je gewußt hatte. »Der Schafmarkt?« Die Ratte machte eine verächtliche Bewegung mit seiner gesunden Hand und lächelte grimmig. »Jeder glaubt, da gibt’s Ärzte. Gibt’s auch. Für die Schafe. Keiner von denen würde jemanden wie mich anrühren.« »Wohin dann?« fragte Schwester Maggie. »Nirgendwohin.« Seine Stimme wurde leise, und er sah müde aus. »Sie sind eine dumme Frau. Für uns gibt’s keine Ärzte. Hier bestimmt nicht. Das ist bloß eine Lüge, die man den Kranken erzählt, damit man sie wegbringen kann, wenn sie im Sterben liegen, und niemand deswegen Schwierigkeiten macht. Wir gehen zum Doktor, heißt es dann, und alle sind zufrieden.« Endlich schaute die Ratte auf seine verletzte Hand. Abgesehen davon, daß er etwas bleich wurde, blieb sein Gesicht vollkommen regungslos. »Du brauchst medizinische Behandlung«, wiederholte sie mit größerem Nachdruck und wünschte, daß sie wenigstens noch ein paar simple Hilfsmittel hätte. Sie müßte seinen Blutdruck kontrollieren, die Körpertemperatur, den Puls prüfen; wie sollte sie sonst seine Situation richtig einschätzen? Aber alles war verlorengegangen bei dem Überfall auf das Krankenhaus, der Pater Kenster das Leben gekostet hatte. »Ihre Medizin taugt nichts. Sie würde mich umbringen. Ich will sie nicht.« Schwester Maggie kauerte sich neben den Jungen. »Du kannst nicht von mir verlangen, daß ich einfach die Augen verschließe und vergesse, was mit dir …« Sie blickte auf seinen Arm. Er wandte sich ab. »Ich werde es vergessen. Ich hab’s schon vergessen. Sie werden vergessen und die anderen auch.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kinder, die in dem 321
zerstörten Gastraum lagen. »Es hat nichts zu bedeuten.« »Ich kann das nicht«, beharrte sie. »Ich bin Nonne. Ich habe Gelübde abgelegt, Gott und der Kirche gegenüber. Da warst du noch nicht einmal geboren, Ratte. Ich habe versprochen, Menschen zu helfen.« Sechzehn Jahre war es her, erinnerte sie sich vage, und ihr schien, als sei es vor einer Ewigkeit und in einer ganz anderen Welt gewesen. Die idealistische junge Krankenschwester in Habit und Schleier hatte es sich so wundervoll vorgestellt, in der Mission zu arbeiten, wo sie tatsächlich etwas bewirken und nicht nur den Körpern, sondern auch den Seelen Heilung bringen könnte. Vor sechzehn Jahren in Boston hatte sie daran noch geglaubt. »Gott hat bestimmt nichts dagegen, wenn Sie nach so langer Zeit aufhören, Nonne zu sein«, sagte die Ratte gutmütig. »Vergessen Sie Ihre Gelübde. Sie können sie hier sowieso nicht einhalten, und Ihre Kirche hat Sie längst abgeschrieben.« »Das verstehst du nicht.« Schwester Maggie war ihm dankbar für seinen Versuch, sie in ihrer Not zu trösten. Es erschien ihr beinahe verlockend, sich der Verzweiflung, dem quälenden Ohnmachtsgefühl einfach hinzugeben. »Ich wäre ja eine … eine Heuchlerin.« Eigentlich hatte sie ein anderes Wort im Sinn gehabt, doch sie bezweifelte, daß die Ratte wußte, wer Judas war oder daß ihn das gekümmert hätte. Nördlich des Dorfs nahm die Bombardierung ständig zu. Am nächsten Abend erschien die Ratte bei Einbruch der Dunkelheit auf dem Dach und musterte den zerfallenen Taubenschlag, in dem Schwester Maggie Zuflucht gesucht hatte. Er sah kränklich aus, seine verletzte Hand war verfärbt und geschwollen und fühlte sich heiß an; Wundbrand hatte eingesetzt. »Sogar die Tauben haben sich davongemacht. Warum bleiben Sie hier?« »Um des Friedens willen.« Sie bemühte sich, nicht auf die Leuchtspurgeschosse am nördlichen Himmel zu achten. »Und 322
solange ich diesen Unterschlupf habe, brauche ich nicht auf der Straße zu schlafen.« »Bis die Bomben alles vollends zerstören. Und das dauert nicht mehr lange. Zuerst waren es nur Pistolen, dann Gewehre, aber jetzt wird es ernst. Sie gehen dabei vielleicht drauf.« Seine Augen glänzten fiebrig wie dunkle Glasscherben. »Ich bin bloß aus Dummheit verwundet worden, weil ich eine Handgranate aufgehoben habe und sie nicht schnell genug wegwerfen konnte.« Er lachte zornig und schwankte vor Benommenheit. »Komm aus der Sonne.« Schwester Maggie versuchte den Jungen in den Taubenschlag zu ziehen, der wenigstens noch ein bißchen Schutz bot. »Nein.« Er riß sich los. »Fassen Sie mich nicht an.« »Mach das nicht, Ratte.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Bitte, sei nicht so.« »Warum?« Seine Stimme klang brüchig. »Weil es Sie traurig macht? Weil Sie keine Möglichkeit haben, was zu tun?« Seine Großspurigkeit war nur gespielt, darüber täuschte auch seine arrogante Miene nicht hinweg. »Sie sind doch ganz freiwillig hergekommen! Wir haben Sie nicht darum gebeten! Niemand von uns hat Sie gewollt. Wir wollten Hilfe, um unsere Feinde töten zu können. Wir wollten kein Krankenhaus, wir wollten Waffen.« Es traf sie tief, daß ausgerechnet dieser schwerverletzte Junge so etwas sagte. »Wenn du deine Feinde überlebst und ein besseres Leben führen kannst, als sie es tun, dann triumphierst du über sie«, sagte sie geduldig. Er spuckte aus. »Sie werden kommen und alles vernichten.« Mit seiner gesunden Hand deutete er in die Runde. »Noch ehe das Jahr vorbei ist, wird es das Dorf nicht mehr geben. Seit sie uns entdeckt haben, können wir nichts mehr machen, um es zu retten.« »Sie haben Pater Kenster und die anderen Schwestern getötet.« Schwester Maggie bekreuzigte sich, gleichermaßen aus 323
Gewohnheit wie aus Überzeugung. »Möge Gott euren Feinden ihre Sünden vergeben.« »Möge Gott ihnen die Pest an den Hals schicken, die sie und ihre ganze Brut noch in zehn Generationen tötet und tötet und tötet und sie alle verrotten läßt!« Er taumelte und wäre gestürzt, wenn Schwester Maggie ihn nicht aufgefangen hätte. Sie lehnte ihn sanft gegen den Verschlag aus Blech und Brettern. »Gehen Sie weg«, murmelte er. »Ich will Ihre Hilfe nicht.« »Du wirst sie trotzdem ertragen müssen.« Sie war fast dankbar, daß der Junge zusammengebrochen war. Wenigstens gab ihr das eine Chance – eine winzige, aber immerhin –, etwas für ihn zu tun als kleine Buße für die vielen Male, bei denen sie nicht fähig gewesen war zu helfen. Sie wollte nicht, daß dieser Junge sie genauso ablehnte wie die anderen. Vielleicht hatte sie nicht die nötigen Instrumente, die sie gern gehabt hätte, aber sie war nicht nur Nonne, sondern auch eine gute Krankenschwester, und weder an der einen noch an der anderen Berufung hatte sich etwas geändert, nur weil sich die Umstände geändert hatten. Solange sie ihr Können besaß, ihre Erfahrung und ihren Glauben, gab es Hoffnung. Alles was sie vor langer Zeit gelernt hatte, beherrschte sie nach wie vor. Sobald sie sich an die Arbeit machte, wurde sie automatisch ganz ruhig. Zuerst fühlte sie nach dem Puls am Hals. Sein Herzschlag war schnell und nicht ganz regelmäßig, Stirn und Handflächen wirkten heiß und trocken; der Körper strömte einen starken Geruch aus. Sie würde eine ihrer Decken holen und ihn zudecken, das war ein Anfang. Wenn es Nacht wurde, sollte er auch noch ihre eigene Decke haben, damit er nicht auskühlte. Um seinem Herz die Arbeit zu erleichtern, mußte sie die Füße hochlagern, aber sie hatte nichts, womit sie das bewerkstelligen konnte. Es mußte auch so gehen. »Ich will Ihre Hilfe nicht«, wiederholte die Ratte etwas später. Er war nur halb bei Bewußtsein. Wenn er seinen gesunden Arm bewegte, wirkte es kraftlos und unsicher. 324
Schwester Maggie benutzte eine leere Granathülse als Stethoskop und tat, was sie konnte, um sich ein Bild über den Zustand des Jungen zu machen. Was sie herausfand, war weniger hilfreich als vielmehr beunruhigend. Sie kauerte neben ihm, bekreuzigte sich und begann für die Ratte und für sich selbst zu beten. Im Moment war es das einzige, was sie tun konnte. Man müßte unbedingt das Fieber senken, das stand jedenfalls fest, aber es gab nirgends Eis hier im Dorf, kein Aspirin, keinen kühlen Keller oder einen unterirdischen Bunker, wo sie ihn hätte hinbringen können. Nicht einmal waschen konnte sie ihn irgendwo, denn das Wasser war rationiert und wurde bewacht; niemand würde zulassen, daß sie etwas davon für einen kranken Jungen vergeudete. Gewehrfeuer knatterte unten auf der Straße, und gelegentlich donnerte schwerer Geschützlärm als Antwort durch die Luft. Einmal zerrissen Leuchtspurgeschosse die Dunkelheit; aus der Ferne hämmerte eine Luftabwehrkanone. Irgendwann nach Mitternacht fuhr ein Fahrzeug über eine Mine und explodierte in einem Feuerball. Hin und wieder hörte man im Verlauf der endlosen Stunden die Schüsse von Heckenschützen. Gegen Morgen war der Arm der Ratte steinhart und mehr als zweimal so dick. Das helle Fleisch quoll förmlich aus der Wunde, von der rote, sternförmige Linien in Richtung der Schulter ausstrahlten. Der faulige Geruch war stärker geworden. Sein Mund war trocken, die aufgesprungenen Lippen bluteten. Jetzt konnte er seine verletzte Hand gar nicht mehr bewegen. Obwohl Schwester Maggie wußte, daß es sinnlos war, machte sie sich daran, ihr letztes Paar Laken zu zerschneiden; dieses eine Paar Laken und drei Kopfkissenbezüge – das war alles, was sie aus dem ausgebombten Krankenhaus gerettet hatte. Sie begann Druckverbände zu rollen und band sie methodisch über die unheilvollen roten Streifen. Wenn sie sonst schon nichts tun konnte, gelang es ihr vielleicht wenigstens, der Infektion noch 325
eine kleine Weile Einhalt zu gebieten. »Das hätte ich schon gestern machen sollen«, murmelte sie, während sie den Verband mit langen Streifen Bettzeug befestigte. »Ich hätte es gleich machen sollen, als ich ihn fand. Ich hätte darauf bestehen sollen.« Sie betete flüsternd um Barmherzigkeit und verknotete die Streifen über der Brust des Jungen, damit nichts verrutschen konnte, auch wenn er sich unruhig herumwarf. Gegen Mittag hörte das planlose Schießen auf. Stille senkte sich in der drückenden Hitze über die Straßen. Auf dem Dach gab es nirgends einen Platz, wo Schwester Maggie Schutz finden konnte. Die Ratte hatte angefangen, bei jedem Atemzug leise zu wimmern; mit den Fingern seiner gesunden Hand zupfte er an der Decke. Er hatte kaum noch Kraft. Verzweifelt nahm Schwester Maggie die zweite Decke, in die sie ihn während der Nacht gewickelt hatte, und breitete sie über das zerstörte Brettergerüst des Taubenschlags. Das so entstandene Zelt war ein primitiver Notbehelf, aber es schützte das Kind vor der Sonne, und dafür dankte sie Gott in ihren Gebeten, die sie für den Jungen, für das Dorf und sich selbst sprach. Bis zum Abend waren drei Einschußlöcher in der Decke. Eine junge Frau mit mürrischem Gesicht, die nicht älter als sechzehn sein konnte, aber bereits erschreckend verhärmt wirkte, kletterte in der Dämmerung auf das Dach. Sie trug ein Sturmgewehr in der Hand und hatte die traditionelle Kleidung der Frauen dieser Region mit der Uniform eines Soldaten vertauscht; absichtlich gab sie sich betont unweiblich. »Nimm diese Decke da runter«, sagte sie ohne ein Wort des Grußes. »Das ist die reinste Zielscheibe. Sie wissen, daß jemand hier oben ist. Hast es ja selbst gemerkt.« Mit dem Gewehrlauf deutete sie auf das trockene Unterholz am Ende der von Bombenkratern übersäten Straße. »Sie kommen.« »Welche Gruppe ist es diesmal?« fragte Schwester Maggie 326
und hatte Gewissensbisse, daß sie ihr gegenüber solche Feindseligkeit empfand. »Wahrscheinlich die DRUY.« Eine angeekelte Geste unterstrich ihre Worte. »Ein elender Dreckshaufen. Wir wollen mit ihnen nichts zu tun haben. Aber sie sind hinter uns her. Die letzten sechs Tage haben sie die ganze Gegend durchkämmt und uns gesucht.« »Die DRUY«, wiederholte Schwester Maggie, um diesem halbwüchsigen Mädchen zu zeigen, daß sie Anteil nahm, obwohl sie die verschiedenen Splittergruppen kaum richtig einordnen konnte. »Auf wessen Seite stehen sie?« »Auf ihrer eigenen. Sie werden von einem General angeführt, den man vor fünf Jahren aus der Armee gefeuert hat. Er fand, man sei ihm für all seine Verdienste etwas schuldig, deshalb nahm er seine besten Leute mit sich, als er ging. Samt der nötigen Ausrüstung für alle. Sie sind bessere Kämpfer als die meisten anderen, und ihre Ausrüstung ist natürlich auch besser.« Sie klopfte auf ihr Sturmgewehr. »Es heißt, daß sie Geld und Waffen aus dem Ausland kriegen.« »Woher?« fragte Schwester Maggie und fürchtete sich vor der Antwort. »Wer weiß? Aus den USA, aus China, Frankreich, dem Libanon, aus Venezuela, Indien oder von der Krim, aus Irland oder Rhodesien, wer kann das schon sagen? Saudiarabien, Argentinien, Korea, Brasilien – was für einen Unterschied macht das schon? Sie haben deutsche und japanische Waffen, aber das heißt noch nichts. Wer hat sie bezahlt und hergebracht? Niemand weiß es.« Sie ging zum Rand des Dachs. »Es gibt nur noch drei weitere Gebäude hier im Dorf, die sicher sind. Nur drei, mehr nicht. Wenn dieser Kampf noch länger dauert, gibt es gar keine mehr.« Schwester Maggie hatte alle Mühe, die Ratte festzuhalten. Gequält von Schmerzen schlug der Junge im Delirium um sich, und während dieser Ausbrüche hatte das schwache Kind die 327
Kraft eines ausgewachsenen Mannes. Ein blauer Fleck auf ihrer Wange bezeugte, wie rücksichtslos er sich wehrte. Sie bemerkte kaum, daß die junge Frau näher kam und ihn betrachtete. »Der stirbt«, verkündete sie nüchtern. »Du kannst ihn genausogut loslassen. Retten kannst du ihn nicht. Mach’s ihm nicht unnötig schwer.« »Ich muß es versuchen.« »Warum?« Sie musterte die Ratte mit gleichgültigen Blicken. »Es bedeutet nur, daß er länger leidet. Bring ihn zum anderen Ende des Orts.« »Nein!« erklärte Schwester Maggie. »Ich werde kein menschliches Wesen – schon gar kein Kind – hilflos seinem Schicksal überlassen. Weder diesen Jungen noch sonst jemanden. Ich habe ihm gesagt, ich würde alles tun, was ich kann, um ihn zu retten.« Sie legte der Ratte eine Hand auf die Stirn und merkte, daß seine Temperatur noch weiter gestiegen war. »Du kannst nicht verlangen, daß ihn jemand begräbt, nicht jetzt, wo die DRUY im Anmarsch sind. Das wäre Wahnsinn. Jeder, der irgendwie kann, wird noch vor Mitternacht verschwunden sein.« Sie kauerte sich neben Schwester Maggie. »Ich helfe dir, ihn vom Dach zu schaffen. Vielleicht finde ich einen Platz, wo du ihn hinbringen kannst, irgendeinen Unterschlupf, wo du nicht erschossen wirst und die Schweine ihn nicht anfressen können. Aber hör auf, dich an ihn zu klammern. Er ist längst verloren und hat bloß noch Schmerzen.« Sie zog eine braune Zigarette aus der Tasche und entzündete sie mit einem Streichholz. »Komm, beeilen wir uns.« »Ich kann ihn nicht einfach dem Tod überlassen.« Schwester Maggie griff nach neuen Lakenfetzen, um seine Verbände zu wechseln. »Ich muß alles tun, um ihm zu helfen, solange Leben in ihm ist. Und in mir.« Die junge Frau lachte auf, kurz und trocken wie ein Pistolenschuß. »Es ist kein Leben mehr in ihm. Nur das Gift der Wun328
de, mehr nicht.« Sie musterte die eingefallenen Gesichtszüge der Ratte. »Er ist tot, blöde Kuh. Das ist bloß noch ein atmender Fleischklumpen.« Schwester Maggie konnte sich nur mühsam beherrschen. Am liebsten hätte sie losgeschrien. »Er ist noch nicht tot. Bis dahin habe ich die Pflicht und Schuldigkeit, alles zu tun, um ihn am Leben zu halten. Ich habe einen Eid geleistet, an dessen Einhaltung mich die meisten von euch ständig hindern. Ich habe gelobt, um Christi willen die Kranken zu heilen. Deshalb bin ich Krankenschwester.« Es war ihr schrecklich, daß ihre Worte eher geschwollen als aufrichtig und demütig klangen, aber anders hätte sie ihren Zorn nicht mehr unter Kontrolle halten können. »Bitte, wenn du ihn unbedingt quälen mußt …« Die junge Partisanin schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich helfe dir, ihn vom Dach zu schaffen. Unten wird er wenigstens nicht gebraten.« Ihr Angebot klang diesmal eher wie eine Drohung. »In Ordnung, aber ich brauche einen geschützten Platz. Ich will nicht, daß Sie oder irgendeiner Ihrer Leute ihm zu nahe kommen.« »Wenn sie angreifen, mußt du dich noch um andere kümmern als nur um die Ratte. Dann spielt es keine Rolle, wo du dich versteckst. Die Leute von der DRUY wollen das Dorf. Warum, wissen wir nicht. Seitdem es das Krankenhaus nicht mehr gibt, hat dieser Ort keine Bedeutung mehr.« Damit schlenderte sie einige Schritte davon, um zu zeigen, wie gleichgültig ihr die Gefahr war. In der Haltung eines Wachpostens stand sie am Rand des Dachs und rauchte ihre Zigarette, während Schwester Maggie die Decke, die als Zeltplane gedient hatte, herunternahm und aufrollte, um daraus eine Trage zu machen. Als sie den stöhnenden Jungen eingewickelt hatte, winkte sie dem Mädchen. »Wir sind soweit. Jetzt können wir ihn nach unten tragen.« 329
»Gut.« Nach einem letzten Blick in die Runde kam sie zu Schwester Maggie zurück. »Du bist eine Närrin«, sagte sie gleichgültig und wollte nach der Decke greifen. Das Geschoß zerfetzte ihre Schulter und den Hals, Blut spritzte durch die Luft. Sie schlug um sich, taumelte einige Schritte, dann brach sie blutüberströmt zusammen. Ihr Sturmgewehr landete klappernd unten auf der Straße vor dem Gasthaus. Schwester Maggie zwang sich, zu ihr zu gehen, obwohl sie wußte, daß ihr nicht mehr zu helfen war, nicht in dieser Welt. Sie kniete sich neben sie und bemühte sich, nicht die heftigen Zuckungen des Körpers zu beachten, während sie das Kreuzzeichen auf die blutbefleckte Stirn machte und um Erlösung und Rettung betete; mehr konnte sie nicht tun. Obwohl sie wußte, daß die Ratte tot war, verbot sie sich, daran zu denken. Erst wollte sie ihn in Sicherheit bringen, damit er in Frieden ruhen konnte. Der schlaffe Körper in der improvisierten Trage, die sie sich um die Schultern und über die Brust gebunden hatte, schlug bei jedem Schritt gegen ihren Rücken, als sie im ersten Licht des Tages durch die Straßen wankte. Sehr lange würde es nicht mehr dauern, bis er so starr wie aus Holz war. Sein zerschmetterter Arm war aufgedunsen durch die Infektion, die ihn getötet hatte; der Gestank der einsetzenden Verwesung wurde immer stärker. Sie kam an einem ausgebrannten, umgekippten Bus vorbei und entschied sich für einen Umweg – das schwarze Wrack lag lange genug dort, daß jemand von der einen oder anderen Seite darin womöglich Deckung gefunden hatte. Ihr konnte es keinen Unterschlupf bieten. Ein Helikopter ratterte über sie hinweg; sein Suchscheinwerfer tastete die langen Schatten ab, während er über dem Dorf kreiste. Von Zeit zu Zeit mischte sich prasselndes Maschinengewehrfeuer unter das Geschnatter der Rotorblätter. Im Mor330
genlicht, das seitlich auf den Hubschrauber traf, war zu sehen, daß er keine Identifizierungszeichen trug, deshalb ließ sich nicht sagen, wem er gehörte oder wen er ankündigte. Einmal wurde aus der alten Gerberei ein Schuß auf ihn abgegeben, aber die Kugel ging fehl, und das Gegenfeuer aus dem Helikopter zerstörte die Südseite des alten Gebäudes und setzte den Rest in Brand. Schwester Maggie zwang sich, beim Gehen den Rosenkranz zu beten, auch wenn sie seit mehr als drei Jahren keinen mehr in den Händen gehalten hatte. Die Leute hier betrachteten diese Gebetsschnüre als Mittel zur Schwarzen Magie, daher war sie nicht überrascht gewesen, als ihr Rosenkranz – ein Geschenk ihrer Großmutter – eines Tages spurlos verschwand. Mitten im neunten Gegrüßet seist du, Maria hörte sie Stimmen, die ihr entgegenkamen. So schnell sie mit ihrer Last konnte, stolperte Schwester Maggie in einen Hauseingang und drückte sich in eine dunkle Ecke, um zu warten, bis die Gefahr vorüber war. Unablässig bewegten sich ihre Lippen lautlos weiter im Gebet. Sie vernahm immer mehr Stimmen, Männerstimmen und die Tritte vieler Stiefel. Das waren nicht nur ein paar Widerstandskämpfer, die von einem Überraschungsangriff zurückkehrten. Schwester Maggie wünschte, sie hätte besser auf das geachtet, was die junge Frau ihr gestern abend über die DRUY gesagt hatte, falls diese Männer tatsächlich dazu gehörten. Das Gewicht der steifer werdenden Leiche zerrte an ihren Schultern, aber sie wollte die Ratte nicht ablegen, nicht hier. Nach vielleicht einer Stunde knatterte Gewehrfeuer aus dem Innern eines der Gebäude – dem Gasthaus? der Schule? –, und irgendwelche schweren Fahrzeuge – keine Panzer, eher Jeeps – rumpelten mit aufheulenden Motoren unter beifälligem Gejohle über die zerstörte Straße. Plötzlich gab es eine gewaltige Explosion, und eines der Fahrzeuge wurde gegen das Gebäude geschleudert, in dem Schwester Maggie sich versteckte. Meh331
rere Minuten anhaltendes intensives Feuer folgte, daß ihr die Ohren dröhnten. Dann rollten die restlichen Truppentransporter die Straße hinunter, begleitet vom Siegesgebrüll der lachenden Männer. Am Eingang zum ehemaligen Gasthaus, in dem die Verletzten lagen, ließen zwei Offiziere Wachposten aufstellen, die Witze rissen über das behelfsmäßige Lazarett und die leidenden Kinder. Schwester Maggie bemühte sich, nicht auf die rohen Worte und das wilde Gelächter zu hören. Heftiger Durst quälte sie; die Hitze wurde immer unbarmherziger, je höher die Sonne am Himmel stieg. Die Leiche auf ihrem Rücken machte das Atmen beinah unerträglich, aber sie erkannte, daß sie ihr gleichzeitig einen makabren Schutz bot, denn der Gestank hielt vermutlich jeden Eindringling von diesem Gebäude fern. »Später«, versprach sie flüsternd der Ratte, »später sorgen wir dafür daß du ein anständiges Grab bekommst und ein Kreuz mit deinem Namen drauf. Es dauert nur noch eine Weile. Es tut mir leid. Tut mir leid.« Sie kannte nicht den richtigen Namen des Jungen und hoffte, er würde verstehen, wenn sie ihn unter seinem Spitznamen begrub. Vielleicht gelang es ihr am Nachmittag, wenn alle anderen dösten, aus dem Dorf zu schleichen und einen Platz zu finden, wo die Ratte zur Ruhe gebettet werden konnte. Sie versuchte sich eine Entschuldigung zu überlegen, mit der sie dem Jungen alles erklären könnte. »Es muß sein, um deiner Seele willen – und um meiner. Gott ist gnädig, Ratte. Er versteht«, sagte sie leise. »Gott wird dich bei sich aufnehmen, weil du so mutig warst und noch so jung.« Wildes Beifallsgebrüll von draußen ließ sie zusammenzukken. Langsam tastete sie sich zur Tür, wo sie so tief geduckt, wie es der Körper auf ihrem Rücken zuließ, verharrte. Die Haltung war unbequem, und wenn die Leiche sich verschob, könnte sie hinfallen. Aber sie mußte unbedingt wissen, was dort vor sich ging. Es war zu gefährlich, einen Blick zu riskieren, daher begnügte sie sich mit Lauschen. Bald wünschte sie, 332
sie hätte sich besser die Ohren zugehalten. »Was ist mit diesem Kaff?« rief ein Soldat. »Lohnt sich’s, die Stellung zu halten?« »Nein«, antwortete ein zweiter, der weiter entfernt stand. »Wir verminen nachher alles. Es darf nichts übrigbleiben, was den Terroristen nutzen könnte. Wahrscheinlich haben die Leute ihnen hier sowieso Zuflucht gewährt – was soll man bei diesen Dörflern auch anderes erwarten?« »Heute abend?« »Wozu die Eile bei so einem Dreckloch. Morgen ist früh genug.« Er sprach mit einer solchen Gleichgültigkeit, daß Schwester Maggie übel wurde. Vier Dorfbewohner hatten die Soldaten aufgestöbert, die man nun aus ihren Verstecken trieb, um sich etwas Unterhaltung zu verschaffen. Es waren ein älterer Mann, dessen brüchige Stimme vor Angst und Zorn wie ein Piepsen klang; eine Frau, die unablässig weinend um ihr Leben bettelte; ein blinder Junge, der sich früher mit Musizieren ein paar Münzen zum Lebensunterhalt verdient hatte, aber längst nur noch als Bettler sein Leben fristen konnte; und schließlich die geistig zurückgebliebene Tochter des ehemaligen Dorfbürgermeisters, ein liebes Kind, das nicht mehr Verstand als ein kleines Hündchen hatte und sich der Gefahr überhaupt nicht bewußt war. »Bringen wir sie zum Rennen«, schlug einer der Soldaten vor, der in der Nähe von Schwester Maggies Versteck stand. »Witzlos«, höhnte ein zweiter. »Schau sie dir doch an. Bei diesem Abschaum macht das keinen Spaß.« Er klatschte mehrmals in die Hände, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Habt ihr hier im Dorf nichts Besseres anzubieten? Was sollen wir mit solchem Viehzeug wie euch machen?« Der alte Mann begann sie wild zu beschimpfen. Auf das kurze Rattern eines automatischen Gewehrs folgte der dumpfe Laut eines fallenden Körpers. Dann herrschte Stille. 333
Das Mädchen begann zu wimmern. »Denk dir was aus, womit du uns ein bißchen Spaß machen kannst«, sagte der zweite Mann in einem gelangweilten Tonfall, der seine Worte wie eine tödliche Bedrohung klingen ließ. Schwester Maggie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, um nicht schreiend aus ihrem Versteck zu rennen und wie von Sinnen auf diese gefühllosen Barbaren einzuschlagen. Es war einfach nicht mehr zu ertragen. Zitternd faltete sie die Hände und preßte sie an ihre Stirn, als könne der Glaube ungeschehen machen, was dort, nur vier Schritte entfernt, geschah. Sie zwang sich, regungslos in ihrem Versteck hocken zu bleiben und an das zu denken, was sie noch für die Ratte zu tun hatte. Wenn man sie entdeckte, würde sie keinem einzigen der Dorfbewohner helfen können; sie würde nur ebenfalls diesen Schindern zum Opfer fallen, und die Ratte würde man auf den Müllhaufen werfen. Sie hatte Gelübde zu achten und an Versprechen zu denken, ein Ziel, das wichtiger war als die flüchtige und sinnlose Befriedigung, diesen DRUY-Soldaten ins Gesicht zu schleudern, daß sie nur mörderische Banditen seien. Bis zum späten Nachmittag waren die drei Dorfbewohner nahezu am Ende; die Soldaten hatten ihre Opfer den ganzen Tag lang in der glühenden Hitze malträtiert und gefoltert, und langsam gingen ihnen die Ideen aus. Die Frau hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu weinen und schrie nur lediglich noch leise auf, wenn ein Soldat sich auf sie warf. Der blinde Junge wehrte sich längst nicht mehr, sondern kniete abgestumpft am Boden, verloren in einer Finsternis, die nicht nur auf seinen Augen lag. »Blöd, daß das Mädchen tot ist«, hörte Schwester Maggie einen der Soldaten sagen; er stand so nahe, daß sie mit ausgestrecktem Arm seinen Knöchel hätte packen können. »Aber ich schätze, so ist das nun mal im Krieg.« Die Antwort ging unter im Geschützfeuer, das plötzlich an der Ostseite des Dorfs losbrach. 334
Der blinde Junge, dessen Gesicht von Blut und Sperma verschmiert war, hob bei dem Lärm müde den Kopf. Dann schlug eine Panzerabwehrgranate neben ihm ein, und er verschwand in einem rötlichen Feuerball. Die DRUY-Soldaten suchten hastig Deckung oder bemühten sich, eilig einen Unterschlupf zu finden, von dem aus sie schießen konnten. Der Fahrer eines Transporters verlor die Kontrolle und raste in den Eingang des ramponierten Gebäudes, in dem Schwester Maggie mit der starren Leiche der Ratte auf dem Rücken kauerte. Im ersten Moment befürchtete sie, das Fahrzeug würde explodieren, aber dann erkannte sie eine andere Gefahr, die viel schlimmer war: Sie saß in diesem Haus fest. Der Durst, den sie bisher ignoriert hatte, flammte erneut auf, und den Hunger, den sie schon seit langem unterdrückte, empfand sie plötzlich so quälend wie eine Verletzung. Drei Helikopter kreisten jetzt über dem Dorf, und die Schießerei ging unablässig weiter, als wüte draußen ein tosender Hurrikan. Steinbrocken, Metallstücke und Holztrümmer flogen auf die Straßen, die letzten Reste der Fensterscheiben zersplitterten, und bald sah der Boden aus wie von scharfkantigen Diamanten bedeckt. Die Ruine der Klinik wurde endgültig zerstört, als Mörserfeuer den noch verbliebenen Teil des Dachs traf. Das alte Gasthaus mit dem Taubenschlag erhielt vier volle Treffer und fiel in sich zusammen. Schwester Maggie weinte, aber sie merkte es nicht. Sie wollte für die Kinder beten, die in dem Gasthaus begraben waren, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Wenn ich nicht so durstig wäre, könnte ich beten, dachte sie … Wenn die Waffen schweigen würden, wenn ich nicht allein wäre. Die Luft war durch die Schießerei so voller Qualm und Staub, daß sie husten mußte. Erneut versuchte sie, die richtigen Worte für die Seelen der Opfer dieses gnadenlosen Gefechts zu finden, 335
aber sie brachte sie nicht über die Lippen. Ihre Augen brannten, ihre Haut juckte, all ihre Muskeln waren völlig verkrampft. »Es ist zu laut!« rief sie und konnte in dem Schlachtenlärm nicht einmal ihre eigene Stimme hören. Noch zweimal kreisten die Helikopter über dem Dorf und vollendeten das Zerstörungswerk. Ihre Ziele waren die beiden einzigen noch unbeschädigten Gebäude. Das eine brach bis auf die Stützpfeiler zusammen, das andere ging in Flammen auf, und der giftige Rauch schwärzte die Mauern wie einen Leichnam in der Sonne. Die DRUY-Soldaten wurden getötet, ihre Transportfahrzeuge durch Granatbeschuß zerstört. Ganz bewußt wiederholte Schwester Maggie die Sterbegebete, mit denen sie Pater Kenster begleitet hatte, wenn er die Letzte Ölung erteilte, und ärgerte sich über ein paar Tränen, die sie vergoß, denn sie war so durstig, daß selbst Tränen viel zu kostbar waren, um sie zu vergeuden. Ihre Hände zitterten, als sie sich bekreuzigte. Und dann herrschte wieder Stille. Die Hubschrauber schwenkten nach Osten ab und folgten der zerbombten Straße, die ins nächste Dorf führte. »Geist Christi, schenke mir Leben, Leib Christi, sei meine Rettung. Blut Christi, stille meinen Durst …« Schwester Maggie würgte und mußte sich zwingen fortzufahren. »Wasser … Wasser aus der Seite Christi, stärke mich im Leiden. Barmherziger Jesus, höre mich. Laß mich dir ewig nahe sein. Vor dem Bösen bewahre mich. In der Todesstunde rufe mich zu dir. Nimm mich auf in deine Gegenwart, daß ich dich für alle Zeit gemeinsam mit deinen Heiligen loben darf. Amen. Geist Christi, schenke mir Leben. Leib Christi, sei meine Rettung …« Sie wußte nicht, wie oft sie das Gebet wiederholt hatte, als sie schließlich merkte, daß es fast dunkel war. Die einzige Helligkeit im Dorf kam von den allmählich erlöschenden Feuern in den zerbombten Ruinen. 336
Insekten hatten die Leiche der Ratte entdeckt; in langen Reihen bahnten sie sich über die gesprungenen Bodenplatten einen Weg zu der Gestalt, die jetzt wieder schlaff geworden war und auf ganz merkwürdige Weise gleichzeitig aufgedunsen und eingefallen wirkte. Ein endloses Heer dieser winzigen Tiere kroch geschäftig über die Wunden und drang unbarmherzig in die Nasenlöcher, die Augen des Toten ein. Schwester Maggie knotete mit bebenden Fingern die Decke los und sprang entsetzt auf. Rasch streifte sie ihre zerschlissene Jacke ab und schüttelte sich vor Ekel beim Anblick der Ameisen und Käfer und was es sonst noch sein mochte, das dort über ihre Brust krabbelte, als gäbe es keinen Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten. Heftig schlug sie nach dem wimmelnden Ungeziefer und spürte überall auf ihrer Haut die zahllosen Bisse und Stiche der blutrünstigen Insekten. Am schlimmsten war jedoch der Durst. Die Gier nach Flüssigkeit erfüllte sie so vollkommen wie ein inbrünstiges Gebet. Aus Angst vor ihrer eigenen Reaktion wagte sie nicht, noch einmal einen Blick auf die Ratte zu werfen. Die ganze Luft war von Gestank erfüllt, und wenn sie sah, was aus ihm geworden war, würde sie vielleicht weder jetzt noch überhaupt jemals wieder für ihn beten können. Wasser. Ohne Wasser war sie ebenfalls praktisch schon tot; es war lediglich eine Frage der Zeit. Sie erschauderte, ob vor Schmerz oder unwillkürlichem Gelächter konnte sie selbst nicht sagen. Ihr fehlte die Kraft, sich an irgendwelche Gebete zu erinnern oder an Gelübde, die sie einhalten mußte; nur der Gedanke an Wasser beherrschte sie. Alles andere war unwirklich. Der Truppentransporter blockierte fast den gesamten Eingang, bis auf eine kleine Lücke, die viel zu schmal für sie war. Zitternd vor Anstrengung drückte und schob sie an dem Fahrzeug, doch ohne Erfolg, und schließlich verließen sie die Kräfte. Hilflos klammerte sie sich an das Kühlergitter, um nicht 337
umzufallen, während alles vor ihren Augen verschwamm. Sie mußte einen Weg nach draußen finden, denn lange würde sie nicht mehr durchhalten, und es wurde bereits Nacht. Sie entdeckte eine Treppe, doch zu ihrer Verzweiflung mußte sie feststellen, daß nur noch fünf Stufen vorhanden waren. Schwester Maggie tastete sich durch den finsteren Flur des Erdgeschosses. Irgendwelche Tiere huschten in der Dunkelheit an ihr vorbei; sie hörte das Rascheln, aber es kümmerte sie nicht. Der grausame Durst vertrieb jede Angst. Nur das brennende Verlangen nach Wasser zählte, daneben verblaßte alle Gefahr. Sie glaubte, das quälende Geräusch von fließendem Wasser zu hören – ein Wasserhahn? Regen? Ein Fluß? –, und es spornte sie an wie noch nie etwas zuvor. Wasser. Herrlich tiefe Teiche schimmerten vor ihren Augen, aus randvollen Tassen schwappte das kostbare Naß und verschwand, gerade wenn sie danach greifen wollte. Obwohl sie nicht mehr klar denken konnte und kaum wußte, was sie tat, machte sie mit ihrer Suche weiter. Das zerbrochene Glas zerschnitt ihre Hand, aber sie zwängte sich durch die Reste der Schiebetür am anderen Ende des Gebäudes, ohne weiter darauf zu achten. In der Decke des darüberliegenden Stockwerks klafften Löcher, und gelegentlich sah sie im Dunkeln das helle Reflektieren irgendwelcher Augen. Ein Sturm trieb schwere Wolken vor sich her; Blitze zerrissen den Himmel, Donner grollte. Schwester Maggie stolperte hinaus ins Freie und befürchtete schon, es sei wieder nur eine Halluzination. Nach den ersten schwerfälligen Schritten stürzte sie zu Boden und spürte auf ihrem Haar und im Nacken den sintflutartigen Regen. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft rollte sie sich auf den Rücken und öffnete die rissigen Lippen. Gegen Morgen war der Regen nur noch ein stetiges Nieseln, das wahrscheinlich bald ganz aufhören würde, wenn die Sonne aufging. 338
Die Feuer im Dorf waren erloschen. Nirgends rührte sich noch etwas. Keine Stimmen riefen Grüße oder Warnungen, niemand schimpfte, kein Schreien, kein Stöhnen oder Weinen durchdrang diese Totenstille. Schwester Maggie saß auf der eingestürzten Mauer eines Hauses, das einmal das Gefängnis gewesen war, als sie hier ihre Arbeit in der neuen Klinik begonnen hatte, dem Symbol der Hoffnung für die ganze Region. Damals war das Dorf nicht mehr als das Anhängsel eines alten Gasthauses gewesen, in das sich einige wenige Touristen verirrten. Ihre Haut schmerzte, ihre Augen brannten, sie fühlte sich wund und zerschlagen. Der Gedanke, weiterlaufen zu müssen, war gräßlich. Sie zwang sich aufzustehen und überlegte ratlos, wohin sie sollte. In welcher Richtung fand sie einen sicheren Unterschlupf? Wo würde sie außer Gefahr sein? Ihr bitteres Auflachen klang eher wie ein erstickter Schrei. Plötzlich krachte irgendwo ein Schuß. Sie ließ sich in den Schlamm fallen und blieb regungslos liegen im Vertrauen darauf, daß man sie für tot halten würde. Der Jeep, der ins Dorf rumpelte, war ein rostzerfressenes, klappriges Vehikel. Die drei Männer drinnen wirkten abgerissen, und ihre Waffen schienen uralt. »Es hieß doch, hier sei ein Krankenhaus!« murrte der eine, während der Jeep die Hauptstraße hinunterschlingerte. »Ach ja? Wo denn?« fragte ein anderer zynisch. »Scheiße. Was nützt uns das Kaff ohne Krankenhaus?« »Sieht nicht so aus, als wäre es noch ein Kaff«, sagte die dritte Stimme. »Wir brauchen eine Klinik!« »Hier gibt’s jedenfalls keine. Lassen wir’s gut sein; was sollen wir in diesem Dorf.« »Gott, sieh dir das an«, sagte der zweite. »So was kommt im Krieg vor«, meinte der dritte. Dann waren sie zu weit entfernt, und ihr Motor knatterte zu 339
laut, als daß Schwester Maggie noch etwas verstehen konnte. Nach fünf Minuten hörte sie den Jeep aus dem Dorf rollen, und als einziges Geräusch blieb nur noch das leise Nieseln des Regens. Unsicher stand sie auf. Hatten sie recht? Waren die Ärzte und Schwestern schuld an der Katastrophe? Durch das Krankenhaus hatte das Dorf einen solchen Wert bekommen, daß es sich für die eine oder andere Seite lohnte, es zu erobern. Aber das Hospital war doch für alle gedacht gewesen; allen hatten die Ärzte, die Schwestern helfen wollen. Ohne den Bau des Krankenhauses wäre das Dorf allmählich verfallen und vergessen worden. Niemand hätte sich darum geschert. Zwar wären die Bewohner vom Krieg verschont geblieben, gewiß, dafür aber das Opfer von Krankheiten geworden. Trotzdem hatten viele die Klinik und Pater Kenster abgelehnt. Und auch sie mochte man nicht. Als Pater Kenster und die anderen Schwestern getötet worden waren, hatten die Dorfbewohner nicht getrauert. Hatten sie vielleicht die ganze Zeit recht gehabt? Und sie selbst – war es für sie nur ein Akt der Buße gewesen, hierherzukommen? Oder gar der unbewußte Wunsch, Selbstmord zu begehen? Sie fand eine Feldflasche und füllte sie mit Wasser. Das war ein Anfang. Bald würde sie etwas essen müssen, sonst gab es wahrhaftig eine weitere Leiche im Dorf, eine letzte. Rasch verdrängte sie den Gedanken. Später, sagte sie sich. Später. Für den Fall, daß irgend jemand zuhörte – und sei es nur die Ratte –, flüsterte sie im Weitergehen: »Gott sei uns gnädig. Gott sei uns gnädig. Gott sei uns gnädig. Christus, sei barmherzig.«
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PETER STRAUB
Das Geisterdorf 1 In Vietnam kannte ich einen Mann, der in aller Stille und zielstrebig verrückt wurde, weil ihm seine Frau schrieb, daß sein Sohn sexuell mißbraucht – ›angefaßt‹ – worden wäre, und zwar vom Leiter ihres Kirchenchors. Dieser Mann war ein schwarzer, ein Meter achtzig großer Infanterist namens Leonard Hamnet aus einer kleinen Stadt in Tennessee, Archibald. Bevor sie ihm schrieb, hatte seine Frau gewartet, bis sie die ganze Prozedur hinter sich gebracht hatte: das Aufsuchen der Polizei, die Unterredungen mit anderen Eltern, die Rückkehr zur Polizei mit einer weiteren Anzeige; und schließlich war es ihr gelungen, daß man den Mann anklagte. In zwei Monaten sollte der Prozeß sein. Leonard Hamnet war darüber ebensowenig glücklich wie über das, was seinem Sohn widerfahren war. »Ich muß den Kerl umbringen, wißt ihr, aber ich denke ernsthaft daran, auch sie umzubringen«, sagte er. Er hielt noch immer den Brief in Händen und sprach gerade mit Spanky Burrage, Michael Poole, Conor Linklater, SP4 Cotton, Calvin Hill, Tina Pumo, dem großartigen M. O. Dengler und mir. »Da passiert so was – mein Junge braucht Hilfe, dieser Mr. Brewster muß auseinandergenommen werden, muß eingedost und verstaut werden, und sie sagt mir nichts! Am liebsten würde ich sie kaltmachen, Mann. Ihren gottverdammten Kopf abhauen und ihn auf dem Hof auf einen Pfahl stecken, Mann. Mit einem Schild dran: Das ist eine blöde Frau.« Wir befanden uns in jenem inoffiziellen Teil von Camp Crandall, der Niemandsland genannt wurde, zwischen dem äußeren Drahtzaun und einem ebenfalls inoffiziellen Schuppen, 341
wo ein gerissenes kleines Wiesel namens Wilson Manly geschmuggeltes Bier und Schnaps verkaufte. Niemandsland – so genannt, weil der Kommandierende Offizier so tat, als existiere es nicht – umfaßte einen Berg von alten Autoreifen, ein Pissoir und jede Menge staubigen roten Boden. Leonard Hamnet warf dem Brief in seiner Hand einen entmutigten Blick zu, steckte ihn zusammengefaltet in die Tasche seiner Drillichhose, schlenderte zwischen den Reifenstapeln herum und verpaßte denen, die am weitesten hervorragten, Tritte. »Eine blöde Frau«, wiederholte er. Staub sprühte aus einem zerplatzten, abgefahrenen Pneu. Ich wollte sicherstellen, daß Hamnet sich darüber im klaren war, daß er auf Mr. Brewster wütend sein mußte, nicht auf seine Frau, und so sagte ich: »Sie hat es versucht …« Hamnets großer, glänzender Stierkopf wandte sich mir zu. »Schau dir doch an, was die Frau getan hat. Sie hat diesen Drecksack festgenagelt. Sie hat andere Leute dazu gebracht, zuzugeben, daß er auch mit ihren Kindern rumgemacht hat. So was ist doch fast unmöglich. Und sie hat den Typen verhaften lassen. Den werden sie für lange Zeit wegstecken.« »Diese blöde Kuh werde ich auch wegstecken«, sagte Hamnet und trat so kräftig gegen einen alten grauen Reifen, daß er fast dreißig Zentimeter in den Stapel zurückrutschte. Alle anderen Reifen bebten und bewegten sich. Eine Sekunde lang sah es so aus, als würde der ganze Berg einstürzen. »Ich rede hier von meinem Jungen«, sagte Hamnet. »Diese Scheiße ist jetzt weit genug gegangen.« »Wichtig ist vor allem«, sagte Dengler, »daß du dich um deinen Jungen kümmerst. Du mußt dafür sorgen, daß er Hilfe bekommt.« »Wie soll ich das von hier aus denn wohl machen?« schrie Hamnet. »Schreib ihm einen Brief«, meinte Dengler, »sag ihm, daß du ihn liebst. Sag ihm, daß es richtig von ihm war, zu seiner Mut342
ter zu gehen. Sag ihm, daß du die ganze Zeit an ihn denkst.« Hamnet holte den Brief aus seiner Tasche und starrte ihn an. Er war schon jetzt fleckig und zerknittert. Ich glaubte nicht, daß er noch viele von Hamnets Lesungen überleben würde. Sein Gesicht schien immer schwermütiger zu werden, was bei einem Gesicht wie dem von Hamnet nicht leicht zu bewerkstelligen ist. »Ich muß nach Hause«, sagte er. »Ich muß nach Hause, um mich um diese Leute zu kümmern.« Hamnet begann Urlaub aus dringenden familiären Gründen zu beantragen – ein Antrag pro Tag. Wenn wir draußen auf Patrouille waren, sah ich ihn manchmal das zerfetzte Blatt Notizpapier aus seiner Hemdtasche nehmen und es zwei- oder dreimal mit intensiver Konzentration lesen. Als der Brief an den Falten einriß, klebte Hamnet ihn zusammen. In dieser Zeit gingen wir auf vier- und fünftätige Patrouillen und hatten viele Verluste. Hamnet bewährte sich gut im Feld, aber er hatte sich so sehr in sich selbst zurückgezogen, daß er nur noch in Einzelsilben sprach. Sein Blick war stumpf und glasig, und er bewegte sich wie ein Mann, der gerade ein schweres Abendessen hinter sich hatte. Ich dachte, daß er aussähe, als habe er aufgegeben, und wenn Leute aufgaben, hielten sie nicht mehr lange durch – dann standen sie dem Tod bereits sehr nahe, und die anderen mieden sie. Wir lagerten unter einer Baumgruppe am Rande eines Reisfelds. An diesem Tag hatten wir zwei Männer verloren, die so neu waren, daß ich ihre Namen bereits wieder vergessen hatte. Wir mußten kalte C-Rationen essen. Sie aufzuwärmen war unmöglich, dann hätten wir gleich Plakate aufhängen und das Flutlicht einschalten können. Wir durften nicht rauchen, und wir sollten auch nicht sprechen. Hamnets C-Ration bestand aus einer alten Büchse Frühstücksfleisch, die wohl aus einem früheren Krieg stammte, und einer Dose Pfirsiche. Er sah, wie Spanky die Pfirsiche anstarrte, und warf ihm die Dose zu. Dann ließ er das Frühstücksfleisch zwischen seine Beine fallen. Der 343
Geruch des Todes umgab ihn beinahe sichtbar. Er fischte die Nachricht aus seiner Tasche und versuchte, sie im feuchten grauen Zwielicht zu lesen. In diesem Augenblick begann jemand auf uns zu schießen, und der Lieutenant schrie ›Scheiße!‹ Wir ließen unser Essen fallen und erwiderten das Feuer auf die unsichtbaren Kerle, die versuchten, uns umzubringen. Als sie weiter zurückschossen, mußten wir durch das Reisfeld. Das warme Wasser reichte uns bis zur Brust. An den Dämmen krochen wir hoch und ließen uns auf der anderen Seite in den Schlamm fallen. Ein Junge namens Thomas Blevins aus Santa Cruz, Kalifornien, wurde in den Nacken getroffen und stürzte kurz vor dem ersten Damm tot ins Wasser, und ein weiterer Junge namens Tyrell Budd hustete und fiel direkt neben ihn. Wir lehnten uns gerade mit dem Rücken gegen den letzten der beiden Dämme, als die großen Granaten einschlugen. Der Boden bebte, das Wasser schlug Wellen, und die Ränder des Waldes gingen nach und nach in Flammen auf. Wir konnten die Affen schreien hören. Einer nach dem anderen krochen wir über den letzten Damm auf den feuchten, aber festen Boden am anderen Ende des Reisfelds. Hier war der Baumbewuchs viel spärlicher, und man sah eine kleine Gruppe strohbedeckter Hütten dahinter. Dann geschahen zwei Dinge, die ich nicht verstand, und zwar eins nach dem anderen. Irgend jemand im Wald feuerte eine Mörsergranate auf uns ab – nur eine. Ein Mörser, eine Granate. Das war das erste. Ich ließ mich fallen und preßte mein Gesicht in den Schlamm, und alle um mich herum taten das gleiche. Ich dachte, daß dies meine letzte Sekunde auf Erden sein könnte und sog gierig alles, was mir an Leben noch bleiben mochte, in mich hinein. Wer immer den Mörser abgefeuert hatte, mußte sehr genau wissen, wo wir uns befanden, und ich erlebte jenen endlosen Augenblick der schieren, grauenerregenden Hilflosigkeit – einen Augenblick, in dem sich die Seele gleichzeitig 344
an den Körper klammert und darauf vorbereitet ist, sich von ihm zu lösen –, bis die Granate oben auf dem letzten Damm landete und ihn in Stücke blies. Erdreich, Schlamm und Wasser schwappten um uns herab, und Granatsplitter sausten durch die Luft. Einer der Splitter segelte über uns hinweg, riß ein hamburgergroßes Stück Rinde und Holz aus einen Baum und schepperte mit einem Geräusch wie ein Ziegelstein auf einer Mülltonne gegen Spanky Burrages Helm. Der Splitter fiel zu Boden, und eine kleine Rauchfahne stieg von ihm auf. Wir standen wieder auf. Spanky sah tot aus, atmete aber noch. Hamnet schlang sich seinen Rucksack um, hob Spanky auf und warf ihn über die Schulter. Er bemerkte, wie ich ihm zusah. »Ich muß mich um diese Leute kümmern«, sagte er. Das andere, was ich nicht verstand – abgesehen davon, weshalb nur eine Mörsergranate abgefeuert worden war –, ereignete sich, als wir das Dorf betraten. Lieutenant Harry Beevers mußte erst noch zu uns stoßen, und wir waren noch fast ein Jahr von den Ereignissen in La Thuc entfernt, wo alles, die Welt und wir selbst innerhalb der Welt wahnsinnig wurde. Ich muß erklären, was dort dann geschah. Lieutenant Harry Beevers tötete dreißig Kinder in einer Höhle bei La Thuc, und ihre Leichen verschwanden, aber Michael Poole und ich betraten diese Höhle und wußten, daß darin etwas Obszönes vorgefallen war. Wir rochen das Böse, wir berührten seine Schwingen mit den Händen. Ein bedauernswerter Typ namens Victor Spitalny rannte in die Höhle, als er Gewehrfeuer hörte, und kam sofort wieder herausgetorkelt, schreiend, bedeckt von Schwielen oder Nesselausschlag, der fast sofort wieder verschwand, als er ins Freie kam. Auch der arme Spitalny hatte etwas gespürt. Weil ich zwanzig war und in meinem Kopf bereits Bücher schrieb, überlegte ich mir, daß diese Höhle der Ort sein könne, wo der andere Tom Sawyer endete, wo Indianer Joe die arme Becky Thatcher vergewaltigt 345
und Tom die Gurgel durchgeschnitten hatte. Als wir auf der anderen Seite des Reisfelds in das kleine Walddorf kamen, erlebte ich eine Art Vorgeschmack auf La Thuc. Wenn ich das mal so sagen darf, ohne sofort sämtliche Schauerromanglocken zum Läuten zu bringen, so schien dieser Ort von seinem Wesen her inhärent verkehrt zu sein … Er war zu ruhig, zu still, völlig ohne Geräusch oder Bewegung. Es gab keine Hühner, Hunde oder Schweine; keine alten Frauen kamen heraus, um uns zu mustern, keine alten Männer entboten uns ein beschwichtigendes Lächeln. Die kleinen, immer noch bewohnbaren Hütten waren leer – etwas, was ich in Vietnam noch nie zuvor gesehen hatte und auch nie wieder sehen sollte. Es war ein Geisterdorf in einem Land, wo die Leute daran glaubten, daß der Boden durch die Leiber ihrer Vorfahren geheiligt wurde. Pooles Karte besagte, daß der Ort Bong To hieß. Hamnet ließ Spanky in das hohe Gras gleiten, sobald wir die Mitte des leeren Dorfs erreicht hatten. Ich rief ein paar Worte in meinem armseligen Vietnamesisch. Spanky stöhnte. Vorsichtig betastete er die Seiten seines Helms. »Ich habe eine Kopfverletzung«, meinte er. »Du hättest überhaupt keinen Kopf mehr, wenn du nur deine Mütze getragen hättest«, sagte Hamnet. Spanky biß sich auf die Lippen und schob sich den Helm vom Kopf. Er stöhnte. Eine Blutspur rann neben seinem Ohr herab. Schließlich streifte der Helm über eine apfelgroße Beule, die unter seinem Haar wuchs. Grimassenschneidend betastete Spanky diesen gewaltigen Knoten. »Ich sehe doppelt«, sagte er. »Diesen Helm kann ich nie wieder aufsetzen.« Der Sanitäter sagte: »Immer mit der Ruhe, wir werden dich hier schon rausbringen.« »Hier raus?« Spankys Miene hellte sich auf. »Zurück nach Crandall«, sagte der Sanitäter. Spitalny kam dazu, und Spanky sah ihn finster an. »Es ist 346
niemand hier«, sagte Spitalny. »Was, zum Teufel, ist hier los?« Er betrachtete das Verlassensein des Dorfs als persönlichen Affront. Leonard Hamnet kehrte ihm den Rücken zu und spuckte aus. »Spitalny, Tiano«, sagte der Lieutenant. »Gehen Sie zurück ins Reisfeld und holen Sie Tyrell und Blevins. Sofort.« Tattoo Tiano, der sechseinhalb Monate später sterben sollte und Spitalnys einziger Freund war, erklärte: »Das können Sie diesmal selber tun, Lieutenant.« Hamnet drehte sich um und ging auf Tiano und Spitalny zu. Er sah aus, als sei er plötzlich doppelt so groß wie vorher, als könnte er mit bloßen Händen ganze Felsblöcke heben. Ich hatte vergessen, wie groß er war. Er hatte den Kopf gesenkt, und über der Iris zeigte sich ein Rand aus klarem Weiß. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn er aus den Nüstern Rauch gestoßen hätte. »He, bin ja schon weg, bin ja schon da«, sagte Tiano. Zusammen mit Spitalny huschte er schnell zwischen den wenigen Bäumen hindurch. Wer immer den Mörser abgefeuert hatte, hatte inzwischen eingepackt und war gegangen. Mittlerweile war es fast dunkel, und die Moskitos hatten uns entdeckt. »Nun?« sagte Poole. Hamnet fuhr so heftig hoch, daß ich das Beben in meinen Stiefeln spüren konnte. Er sagte: »Ich muß nach Hause, Lieutenant. Will nicht respektlos sein, aber ich ertrage diese Scheiße nicht viel länger.« Der Lieutenant erklärte, daß er daran arbeite. Poole, Hamnet und ich ließen die Blicke durch das Dorf schweifen. Spanky Burrage meinte: »Netter, ruhiger Ort, wo Harn seine Lektüre nachholen kann.« »Vielleicht sollte ich mal nachsehen«, meinte der Lieutenant. Er betätigte das Feuerzeug ein paarmal, dann ging er auf die nächste Hütte zu. Der Rest von uns stand albern herum und 347
lauschte den Moskitos und den Geräuschen, die Tiano und Spitalny machten, als sie die Toten über die Dämme zerrten. Ab und zu stöhnte Spanky und schüttelte den Kopf. Es verging zu viel Zeit. Der Lieutenant sagte in der Hütte etwas beinahe Hörbares. Eilig kam er heraus, selbst in der Dunkelheit sah er noch beunruhigt und verwundert aus. »Underhill, Poole«, sagte er, »ich möchte, daß Sie sich das ansehen.« Poole und ich tauschten einen Blick. Ich fragte mich, ob ich genauso schlimm aussah wie er. Poole schien nur noch wenige geistige Zentimeter davon entfernt zu sein, sich entweder auf den Lietenant zu stürzen oder ganz und gar zu explodieren. Die Augen in seinem schlammigen Gesicht hatten die Größe von Hühnereiern. Er war aufgedreht wie ein billiger Wecker. Ich dachte, daß ich wahrscheinlich ziemlich ähnlich aussah. »Was ist, Lieutenant?« fragte er. Der Lieutenant winkte uns zur Hütte, dann machte er kehrt und ging wieder hinein. Es gab keinen Grund für uns, ihm nicht zu folgen. Der Lieutenant war ein Penner, aber Harry Beevers, unser nächster Lieutenant, war ein Baron, ein Graf unter den Pennern, und wir haben trotzdem fast immer all die blöden Sachen getan, die er uns auftrug. Poole war so genervt und fertig, daß er aussah, als wolle er dem Lieutenant am liebsten in den Rücken schießen. Mir selbst war danach zumute, dem Lieutenant in den Rücken zu schießen, erkannte ich eine Sekunde später. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was in Poole vorging, grummelte etwas vor mich hin und setzte mich in Richtung Hütte in Bewegung. Poole folgte. Der Lieutenant stand in der Tür, blickte über die Schulter und fummelte an seinem Bajonett herum. Er blickte uns böse an, um uns wissen zu lassen, daß wir ihm zu langsam gehorcht hatten, dann knipste er das Feuerzeug an. Die plötzlichen Höhlungen und Schatten in seinem Gesicht ließen ihn aussehen wie 348
eine der Leichen, deren Gräber ich geöffnet hatte, als ich in Camp White Star bei der Gräberregistrierung gewesen war. »Sie wollen wissen, was los ist, Poole? Okay, sagen Sie mir, was das ist.« Er hielt das Feuerzeug vor sich wie eine Fackel und marschierte in die Hütte. Ich stellte mir vor, wie das ganze schwachbrüstige Gebäude plötzlich in Flammen aufging. Diesem Lieutenant war es nicht bestimmt, heil und gesund nach Hause zurückzukehren, und ich bemitleidete und haßte ihn in ungefähr gleichem Maß, aber ich wollte nicht in ein Stück Toast verwandelt werden, nur weil er einen amerikanischen Leichnam in einer Hütte entdeckt hatte und nicht wußte, was deswegen zu tun war. Ich hatte von Kameraden gehört, die die verstümmelten Leichen amerikanischer Gefangener entdeckt hatten, und ich hoffte, daß wir jetzt nicht damit an der Reihe waren. Und dann, in dem kurzen Augenblick, bevor ich Blut roch und sah, wie sich der Lieutenant vorbeugte, um eine Klappe im Fußboden hochzuheben, dachte ich, daß es nicht der Leichnam eines amerikanischen Kriegsgefangenen war, was ihm einen Schreck eingejagt hatte, sondern der eines Kindes, das man ermordet und an diesem leeren Ort zurückgelassen hatte. Der Lieutenant hatte wahrscheinlich noch keine toten Kinder zu sehen bekommen. Ein Teil des Lieutenants war immer noch damit beschäftigt, was ein Mädchen namens Becky Roddenburger zu Hause in Idaho gerade anstellen mochte, und ein totes Kind würde entschieden zuviel der Realität für ihn sein. Er zog die Bodenklappe hoch, und ich roch Blut. Das Zippo erlosch, und die Dunkelheit umschloß uns. Der Lieutenant riß die Klappe an ihren Scharnieren zurück. Der Blutgeruch stieg aus dem Boden auf, was immer darunter sein mochte. Der Lieutenant schnippte das Zippo an, und sein Gesicht sprang plötzlich aus der Finsternis. »So. Sagen Sie mir, was das ist.« »Da verstecken sie die Kinder, wenn Leute wie wir aufkreu349
zen«, sagte ich. »Riecht so, als wäre etwas schiefgelaufen. Haben Sie mal nachgesehen?« An seinen angespannten Wangen und dem fast lippenlosen Mund erkannte ich, daß er es nicht getan hatte. Er war nicht bereit, hinunterzusteigen und sich von dem Minotaurus umbringen zu lassen, während sein Zug draußen herumstand. »Nachzusehen ist Ihre Aufgabe, Underhill«, sagte er. Eine Sekunde lang blickten wir beide auf die aus geschälten, mit Lumpen zusammengebundenen Ästen bestehende Leiter, die in die Grube hinunterführte. »Geben Sie mir das Feuerzeug«, sagte Poole und entriß es dem Lieutenant. Er setzte sich auf den Rand des Lochs, beugte sich vor und führte die Flamme unter Bodenhöhe. Als er etwas entdeckte, grunzte er und überraschte den Lieutenant und mich, indem er sich vom Rand in die Öffnung hinunterschob. Das Licht erlosch. Der Lieutenant und ich blickten in das dunkle, offenstehende Rechteck im Boden. Das Feuerzeug flammte wieder auf. Ich konnte Pooles ausgestreckten Arm erkennen, das zuckende kleine Feuer, einen Boden aus festgestampftem Erdreich. Die Decke des verborgenen Raums befand sich keine zwei Zentimeter über Pooles Kopf. Er entfernte sich von der Öffnung. »Was ist los? Sind dort irgendwelche …« Die Stimme des Lieutenants knarzte seltsam. »Irgendwelche Leichen?« »Komm runter, Tim!« rief Poole nach oben. Ich setzte mich auf den Boden und schwang die Beine in die Grube. Dann sprang ich hinab. Unter dem Fußboden war der Blutgeruch so stark, daß einem davon fast übel wurde. »Was sehen Sie?« schrie der Lieutenant. Er versuchte, wie ein Anführer zu klingen, und seine Stimme quiekte beim letzten Wort. Ich sah einen großen Raum in der Form eines riesigen Grabs. Die Wände waren von irgendeinem dicken Papier bedeckt, das 350
von hölzernen Leisten festgehalten wurde, die man im Erdreich befestigt hatte. Sowohl das dicke braune Papier als auch zwei der Leisten wiesen alte Blutflecken auf. »Heiß«, sagte Poole und löschte das Feuerzeug. »Kommen Sie, verdammt«, ertönte die Stimme des Lieutenants. »Kommen Sie da raus.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Poole. Er entzündete das Feuerzeug wieder. Viele Schichten dicken Papiers bildeten ein Saugkissen zwischen dem Erdreich und dem Raum, und die oberste, dünnste Schicht war mit senkrechten Zeilen in vietnamesischer Schrift bedeckt. Die Schrift sah aus wie Lyrik, wie die linken Seiten von Kenneth Rexroths Übersetzungen von Tu Fu und Li Po. »Na ja«, meinte Poole, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie er auf etwas zeigte, das zuerst aussah wie raffiniert verwobene Seilstränge, die an den blutbefleckten hölzernen Pfeilern befestigt waren. Poole trat vor, und das Gewebe bekam ein schärferes Relief. Etwa einen Meter über dem Boden hatte man Eisenketten an die Pfosten geschraubt. Der dicke Bodenbelag zwischen den beiden Ketten war blutgetränkt. Der Meter Bodenfläche zwischen den Pfosten sah rostig aus. Poole führte das Feuerzeug dichter an eine der Ketten heran, und wir sahen getrocknetes Blut auf den Metallgliedern. »Ich will, daß Sie da rauskommen, und zwar sofort«, winselte der Lieutenant. Poole löschte das Feuerzeug. »Ich habe es mir gerade anders überlegt«, sagte ich leise. »Ich gebe zwanzig Dollar in den Elijahfonds. Heute in zwei Wochen. Das wäre dann wann, am zwanzigsten Juni?« »Sag es Spanky«, meinte er. Spanky Burrage hatte eine Gemeinschaftskasse erfunden, die wir den Elijahfonds nannten, und er verwaltete das Geld. Michael Poole hatte kein Geld in die Kasse eingezahlt. Er dachte, daß ein neuer Lieutenant vielleicht noch schlimmer werden könnte als der, den wir 351
hatten. Natürlich behielt er recht. Harry Beevers war unser nächster Lieutenant. Elijah Joys, Lieutenant Elijah Joys aus New Utrecht, Idaho, ein Graduierter der Universität von Idaho mit seiner Grundausbildung in Fort Benning, Georgia, war ein unfähiger, schwacher Lieutenant, aber kein katastrophaler. Wenn Spanky im voraus gewußt hätte, was noch auf uns zukommen sollte, hätte er das Geld zurückgegeben und für die Sicherheit von Lieutenant Joys gebetet. Poole und ich kehrten wieder zur Öffnung zurück. Ich hatte ein Gefühl, als hätte ich das Heiligtum einer obszönen Gottheit geschaut. Der Lieutenant beugte sich vor und streckte die Hand aus – nutzloserweise, weil er sich nicht weit genug vorbeugte, als daß wir ihn hätten erreichen können. Wir stemmten uns mit starren Armen aus dem Loch, als würden wir aus einem Schwimmbecken steigen. Der Lieutenant trat zurück. Er hatte ein dünnes Gesicht und eine dicke, fleischige Nase; sein Adamsapfel tanzte in seiner Kehle umher wie eine Springbohne. Er mochte vielleicht nicht Harry Beevers sein, aber ein Volltreffer in der Lotterie war er auch nicht gerade. »Und, wie viele?« »Wie viele was?« fragte ich. »Wie viele sind da drin?« Er wollte mit einer guten Leichenstatistik nach Camp Crandall zurückkehren. »Eigentlich waren da keine Leichen, Lieutenant«, sagte Poole in dem Versuch, ihn behutsam zu beschwichtigen. Er beschrieb, was wir gesehen hatten. »Wozu soll das denn gut sein?« Er meinte: Wie soll mir das was nützen? »Verhöre, wahrscheinlich«, meinte Poole. »Wenn man da unten jemanden verhören sollte, würde niemand außerhalb der Hütte etwas davon bemerken. In der Nacht könnte man die Leiche einfach in den Wald schleppen.« Lieutenant Joys nickte. »Feldverhörposten«, sagte er und versuchte es mit dem Ausdruck zu umschreiben. »Folter, Ge352
brauch von Gewalt, deutliche Hinweise darauf.« Er nickte wieder. »Richtig?« »Deutliche«, sagte Poole. »Zeigt uns, mit was für einem Feind wir es in diesem Konflikt zu tun haben.« Plötzlich ertrug ich es nicht mehr, mit Elijah Joys denselben Quadratmeter Raum teilen zu müssen, und ich machte einen Schritt auf die Hüttentür zu. Ich wußte zwar nicht, was Poole und ich genau gesehen hatten, aber ich wußte, daß es kein Feldverhörposten war, Folter, Gebrauch von Gewalt, deutliche Hinweise darauf … es sei denn, die Vietnamesen hatten damit angefangen, Affen zu verhören. Mir fiel ein, daß die Schrift an der Wand möglicherweise Namen aufführte und keine Gedichte – ich dachte, daß wir in ein Mysterium hineingestolpert waren, das nichts mit dem Krieg zu tun hatte, ein vietnamesisches Mysterium. Eine Sekunde lang erklang in meinem Kopf Musik aus meinem alten Leben, Musik, zu schön, um noch erträglich zu sein. Schließlich erkannte ich sie: ›Der Gang in den Paradiesgarten‹ aus Romeo und Julia auf dem Lande von Frederick Delius. Damals in Berkeley hatte ich es mir Hunderte von Malen angehört. Ich glaube, wäre nichts anderes geschehen, hätte ich wohl das ganze Stück in meinem Kopf wiederholt. Tränen traten mir in die Augen, und ich ging auf die Hüttentür zu. Da erstarrte ich. Ein zerlumpter vietnamesischer Junge von sieben oder acht Jahren blickte mich aus der gegenüberliegenden Ecke der Hütte mit großem Ernst an. Ich wußte, daß er nicht da war – ich wußte, daß er ein Geist war. Ich glaubte nicht an Geister, aber das war einer. Irgendein Teil meines Verstands, so distanziert wie ein Kriminalreporter, erinnerte mich daran, daß ›Der Gang in den Paradiesgarten‹ von zwei Kindern handelte, die im Begriff standen zu sterben, und daß die Musik in einem gewissen Sinne ihren Tod beschrieb. Ich wischte mir die Augen mit 353
der Hand, und als ich den Arm senkte, war der Junge immer noch da. Er war schön, schön auf die übliche Weise, wie mir vietnamesische Kinder fast immer schön erschienen. Dann verschwand er ganz plötzlich, wie das flackernde Licht des Zippo. Ich hätte beinahe laut aufgestöhnt. Das Kind war in der Hütte ermordet worden: Der Junge war nicht nur gestorben, er war ermordet worden. Ich sagte irgend etwas zu den beiden anderen Männern und ging durch die Tür in die wachsende Dunkelheit hinaus. Ganz undeutlich nahm ich wahr, wie Poole von dem Lieutenant aufgefordert wurde, seine Beschreibung der Pfähle und der blutigen Kette zu wiederholen. Hamnet und Burrage und Calvin Hill saßen an einen Baum gelehnt. Victor Spitalny wischte sich die Hände an seinem schmutzigen Hemd ab. Weißer Rauch kringelte sich von Hills Zigarette, und Tina Pumo atmete einen langen weißen Dampfstrom aus. Mit absoluter Überzeugung kam mir der verrückte Gedanke, daß dies der Paradiesgarten war. Die Männer, die in der Dunkelheit herumlungerten; das Muster des Zigarettenrauchs, und die Muster, die sie sitzend oder stehend bildeten; die heranziehende Dunkelheit, so körperlich wie eine Decke; der Rahmen der Bäume und der flache, graugrüne Hintergrund des Reisfelds. Meine Seele war wieder zum Leben erwacht. Dann bemerkte ich, daß etwas mit den Männern, die da vor mir angeordnet waren, nicht stimmte, und es dauerte wieder einen Augenblick, bis meine Intelligenz meine Intuition eingeholt hatte. Jedes Mitglied einer Kampfeinheit zählt unbewußt mit, wenn Mitglieder der Einheit im Feld fallen; manchmal hängt das Überleben davon ab, daß man weiß, mit wie vielen Leuten man zusammen ist, und so zählt man mit, ohne es selbst richtig zu merken. Ich hatte registriert, daß zwei Männer zuviel vor mir waren. Anstelle von sieben waren es neun, und die beiden Männer, mit denen zusammen wir eigentlich neun gewesen wären, hielten sich immer noch hinter mir in der 354
Hütte auf. M. O. Dengler sah mich mit wachsender Neugier an, und ich glaube, er wußte genau, was ich dachte. Ein eisiger Schauer durchfuhr mich. Ich sah Tom Blevins und Tyrell Budd außen rechts am Rand des Zugs stehen, etwas schlammiger als die anderen, aber ansonsten nur in einer Hinsicht anders als der Rest – sie sahen mich nämlich, wie Dengler, direkt an. Hill warf seine Zigarette in einem hohen leuchtenden Bogen fort. Poole und Lieutenant Joys traten hinter mir aus der Hütte. Leonard Hamnet klopfte gegen seine Tasche, um sich zu vergewissern, daß er immer noch seinen Brief hatte. Ich sah wieder zum rechten Rand der Gruppe, und die beiden toten Männer waren verschwunden. »Dann wollen wir mal aufsatteln«, sagte der Lieutenant. »Hier sind wir nicht mehr von Nutzen.« »Tim?« fragte Dengler. Er hatte den Blick nicht von mir abgewandt, seit ich aus der Hütte gekommen war. Ich schüttelte den Kopf. »Na, was war es?« fragte Tina Pumo. »War es saftig?« Spanky und Calvin Hill lachten und klatschten in die Hände. »Werden wir diesen Ort denn gar nicht abfackeln?« fragte Spitalny. Der Lieutenant ignorierte ihn. »Saftig genug, Pumo. Verhörposten. Feldverhörposten.« »Scheiße«, sagte Pumo. »Diese Leute foltern, Pumo. Das ist nur ein weiterer Hinweis darauf.« »Kapiert.« Pumo sah mich an, und seine Augen wurden neugierig. Dengler kam näher. »Ich habe mich gerade an etwas erinnert«, sagte ich. »An etwas aus einer anderen Welt.« »Die Welt sollten Sie mal lieber vergessen, solange Sie hier sind, Underhill«, sagte der Lieutenant zu mir. »Ich versuche dafür zu sorgen, daß Sie am Leben bleiben, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte, aber dazu müssen Sie auch mitar355
beiten.« Sein Adamsapfel hüpfte wie ein bettelnder Welpe. Sobald er vorausging, um uns aus dem Dorf zu führen, reichte ich Spanky zwanzig Dollar und sagte: »Heute in zwei Wochen.« »Ist gebongt«, meinte Spanky. Der Rest der Patrouille verlief ereignislos. Am nächsten Abend konnten wir duschen, hatten richtiges Essen, Alkohol, Pritschen zum Schlafen, Bettwäsche und Kopfkissen. Zwei neue Typen ersetzten Tyrell Budd und Thomas Blevins, deren Namen nie wieder erwähnt wurden, jedenfalls nicht von mir, bis lange nach dem Krieg, als Poole, Linklater, Pumo und ich ihre Namen zusammen mit dem Rest unserer Toten an der Wand in Washington nachlasen. Ich wollte die Patrouille vergessen, vor allem das, was ich in der Hütte gesehen und erlebt hatte. Ich wollte das Vergessen pulverisieren. Ich erinnere mich, daß es regnete. Ich erinnere mich, wie der Dampf sich vom Boden hob und das Kondenswasser in den Zelten die Metallstangen herablief. Feuchtigkeit schimmerte auf den mich umgebenden Gesichtern. Ich saß im Zelt der Brüder und lauschte der Musik, die Spanky Burrage auf dem großen Tonbandgerät abspielte, das er auf Erholungsurlaub in Taipei gekauft hatte. Spanky Burrage spielte zwar niemals Delius, aber was er spielte, war paradiesisch: großartiger Jazz von Armstrong bis Coltrane, auf Bändern, die ihm von Freunden in Little Rock bespielt wurden und die er so gut kannte, daß er einzelne Stücke und Darbietungen finden konnte, ohne sich die Mühe zu machen, auf den Zähler zu blicken. Spanky liebte es, bei diesen langen Sitzungen den Discjockey zu spielen, Spulen zu wechseln und Tausende von Metern Band vorzuspulen, um dieselben Stücke von unterschiedlichen Musikern anbieten zu können, manchmal sogar denselben Song, der sich hinter verschiedenen Namen versteckte: ›Cherokee‹ und ›Ko356
Ko‹, ›Indiana‹ und ›Donna Lee‹ – oder lange Serien von Songs, die das gleiche Thema hatten: ›I Thought About You‹ (Art Tatum), ›You and the Night and the Music‹ (Sonny Rollins), ›I Love You‹ (Bill Evans), ›If I Could Be with You‹ (Ike Quebec), ›You Leave Me Breathless‹ (Milt Jackson), ja sogar um des Spaßes willen ›Thou Swell‹ von Glenroy Breakstone. An diesem Tag war Spanky in Nur-ein-Künstler-Laune und ging das Werk eines großen Trompeters namens Clifford Brown durch. An diesem schwülen, regnerischen Tag hörte sich Clifford Browns Musik königlich und unirdisch an. Clifford Brown war auf dem Weg in den Paradiesgarten. Ihm zu lauschen war so, als würde man einem lächelnden Mann dabei zusehen, wie er mit der Schulter eine riesige Tür aufstemmte, um große, blendende Lichtstrahlen hereinzulassen. Wir waren nicht mehr im Krieg. Die Welt, in der wir uns befanden, war jenseits des Schmerzes und des Verlusts, und die Vorstellungskraft hatte die Furcht verbannt. Selbst SP4 Cotton und Calvin Hill, die James Brown einem Clifford Brown vorzogen, lagen auf ihren Kojen und lauschten, während Spanky sich von seinen Instinkten von einem Stück zum nächsten leiten ließ. Nachdem er etwa zwei Stunden lang den Discjockey gespielt hatte, spulte Spanky das lange Band wieder auf und sagte. »Genug.« Das Bandende klatschte gegen die Spule. Ich sah Dengler an, der benommen wirkte, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. Die Erinnerung an die Musik war immer noch um uns: Noch immer strömte Licht durch den Spalt in der großen Tür. »Ich brauche was zu Rauchen und was zu Trinken«, verkündete Cotton und stemmte sich von seiner Pritsche hoch. Er ging zum Zelteingang und schob die Klappe beiseite, um das grüne, feuchte Nieseln freizulegen. Das blendende Licht, das Licht aus einer anderen Welt, begann zu verblassen. Cotton seufzte, setzte einen breitkrempigen Hut auf und schlüpfte hinaus. 357
Bevor die steife Klappe zufiel, sah ich ihn auf dem Weg zu Wilson Manlys Bude über die Pfützen hüpfen. Ich fühlte mich, als sei ich von einer langen Reise zurückgekehrt. Spanky hatte die Spule mit Clifford Brown wieder in ihrer Pappschachtel verstaut. Irgend jemand im hinteren Teil des Zelts schaltete Armed Forces Radio an. Spanky sah mich an und hob die Schultern. Leonard Hamnet holte seinen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las ihn sehr gründlich durch. »Leonard«, sagte ich, und er schwang seinen großen Büffelschädel in meine Richtung. »Beantragst du immer noch Urlaub aus dringenden familiären Gründen?« Er nickte. »Du weißt, was ich tun muß.« »Ja«, sagte Dengler mit seiner langsamen, ruhigen Stimme. »Die werden mir erlauben, mich um meine Leute zu kümmern. Sie werden mich zurückschicken.« Er sprach völlig ohne Betonung, wie ein Mann, der gelernt hatte, das zu bekommen, was er wollte, indem er papageienhaft Worte wiederholte, ohne zu wissen, was sie bedeuteten. Dengler sah mich an und lächelte. Eine Sekunde lang wirkte er ebenso fremd wie Hamnet. »Was, glaubst du, wird passieren? Mit uns, meine ich. Glaubst du, es geht einfach Tag für Tag so weiter, bis einige von uns umkommen und der Rest nach Hause zurückkehrt, oder glaubst du, es wird immer seltsamer und seltsamer?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Ich denke, es wird zwar immer ziemlich gleich aussehen, aber das wird es nicht sein – ich denke, die Ränder fangen an zu schmelzen. Ich denke, das passiert eben, wenn du lange genug da draußen bist. Dann schmelzen die Ränder.« »Deine Ränder sind schon vor langer Zeit geschmolzen, Dengler«, sagte Spanky und beglückwünschte sich zu seinem eigenen Witz. Dengler starrte mich immer noch an. Er glich meist einem ernsten, dunkelhaarigen Kind und sah nie so aus, als gehöre er in eine Uniform. »Ich meine Folgendes, so ungefähr«, sagte er. 358
»Als wir diesem Trompeter zugehört haben …« »Brownie, Clifford Brown«, flüsterte Spanky. »… da konnte ich die Noten in der Luft sehen. Als wären sie auf eine Schriftrolle geschrieben. Und nachdem er sie gespielt hatte, blieben sie noch eine Weile in der Luft schweben.« »Süßerchen«, sagte Spanky leise. »Bist ganz schön hip für einen kleinen Querkopf.« »Letzte Woche, als wir in dem Dorf waren«, sagte Dengler. »Erzähl mir davon.« Ich sagte, daß er doch selbst dabeigewesen sei. »Aber irgendwas ist mit dir passiert. Irgendwas Besonderes.« »Ich habe zwanzig Dollar in den Elijahfonds eingezahlt«, sagte ich. »Nur zwanzig?« fragte Cotton. »Was war in dieser Hütte?« fragte Dengler. Ich schüttelte den Kopf. »Also gut«, meinte Dengler. »Aber es passierte, nicht wahr? Die Dinge verändern sich.« Ich konnte nicht sprechen. Ich konnte Dengler nicht vor Cotton und Spanky Burrage erzählen, daß ich mir eingebildet hatte, die Geister von Blevins, Budd und einem ermordeten Kind gesehen zu haben. Also lächelte ich und schüttelte den Kopf. »Prima«, meinte Dengler. »Was, zum Teufel, soll daran prima sein?« wollte Cotton wissen. »Hab ja nichts dagegen, mir diese Musik anzuhören, aber diesen Quatsch mache ich nicht mit.« Er warf sich auf seine Koje und zeigte mit dem Finger auf mich. »Welches Datum hast du Spanky angesagt?« »Den fünfzehnten.« »Der wird länger halten.« Cotton legte den Kopf schräg, als der Song im Radio endete. Armed Forces Radio begann, einen Song von Moby Grape zu spielen. Angewidert wandte er sich 359
mir wieder zu. »Paß auf. Ende August. Dann wird er so müde sein, daß er schlafwandelt. Dann hat er die Hälfte seiner Zeit um. Der Idiot wird in Stücke zerfallen, und dann bekommt er einen ab.« Cotton hatte dreißig Dollar auf den 31. August gesetzt, die genaue Halbzeit von Lieutenant Joys Dienstzeit. Er hatte viel Zeit, sich mit dem Verlust des Gelds abzufinden, weil er selbst noch so lange am Leben blieb, bis ihn Anfang Februar ein Scharfschütze erschoß. Danach wurde er zu einem Mitglied des Gespensterzugs, der uns folgte, wo immer wir hingingen. Ich glaube, dieser Gespensterzug, voll von Männern, die ich geliebt und verabscheut hatte, an deren Namen ich mich erinnern oder nicht erinnern konnte, löste sich erst auf, als ich in Washington D. C. an die Mauer ging, und bis dahin hatte ich schon selbst das Gefühl, dazuzugehören.
2 Ich verließ das Zelt mit der vagen Vorstellung, draußen die bescheidene Kühle zu genießen, die auf den Regen folgte. Das Päckchen mit Si Van Vos weißem Pulver lag unten in meiner rechten Vordertasche, die so tief war, daß meine Finger seinen oberen Teil nur streiften. Ich gelangte zu dem Schluß, daß ich ein Bier brauchte. Wilson Manlys Schuppen lag am anderen Ende des Lagers. Ich ging nicht gern in den Club für Unteroffiziere und Mannschaften, wo gerüchteweise billiges vietnamesisches Bier in amerikanischen Flaschen serviert wurde. Auf jeden Fall stimmte, daß die Raschen oft keine Etiketten mehr trugen und die Kronkorken dem mißtrauischen Auge eingebeult schienen; außerdem schmeckte das Bier dort nie ganz so wie das Zeug, das Manly verkaufte. Es blieb noch ein anderer Ort, weiter entfernt als der Club, 360
aber näher als Manlys Schuppen und vom offiziellen Status her irgendwo dazwischenliegend. Ungefähr zwanzig Minuten Fußmarsch von der Stelle, an der ich gerade stand, direkt an der Kurve des steil zum Flugplatz und zum Wagenpark führenden Wegs stand ein isolierter Holzbau, der den Namen Billy’s trug. Billy selbst, angeblich ein Hauptmann der Green Berets, der eine Handvoll Barmädchen in einem alten französischen Kommandoposten einquartiert hatte, war schon vor langer Zeit nach Hause zurückgekehrt, aber sein Club hatte überdauert. Es gab keine Mädchen mehr, falls es überhaupt jemals welche gegeben hatte, und die Markenspirituosen waren ungefähr so zuverlässig wie das Bier im Unteroffiziers- und Mannschaftsclub. Wenn der Club geöffnet hatte, servierte eine Prozession schlanker Montagnard-Jungen, die in den fast leeren Zimmern im ersten Stock schliefen, die Drinks. Ich habe diese Zimmer zwei- oder dreimal aufgesucht, konnte aber nie in Erfahrung bringen, wo die Jungen hingingen, wenn Billy’s geschlossen hatte. Sie sprachen fast kein Englisch. Billy’s sah überhaupt nicht aus wie ein französischer Kommandoposten, nicht mal wie einer, den man in ein Bordell verwandelt hatte: Es sah aus wie ein Rasthaus. Vor langer Zeit war das Gebäude einmal braun gestrichen gewesen. Das Holz war jetzt weich von Fäule. Irgend jemand hatte die beiden Vorderfenster im Erdgeschoß zugenagelt, und jemand anders hatte an jedem Fenster wieder einen schmalen Bretterstreifen abgerissen, so daß das Licht in zwei flachen weißen Bändern eindrang, die im Laufe des Tages über den Boden wanderten. Gegen achtzehn Uhr dreißig prallte das Licht von dem fleckigen Spiegel hinter der Flaschenreihe ab. Nach fünf Minuten blendenden Lichts verschwand die Sonne hinter den Kiefernbrettern, und ein schattiges rosa Glühen erfüllte zehn oder fünfzehn Minuten lang die Bar. Es gab keine Elektrizität und kein Eis. Die Gläser waren bedeckt von Fingerabdrücken. Wenn man auf die Toilette mußte, begab man 361
sich in einen Verschlag mit metallenen Fußstützen zu beiden Seiten eines Lochs im Boden. Das Gebäude stand in einem kleinen Wäldchen nahe der Kurve des abschüssigen Wegs, und als ich im diffusen rötlichen Licht des Sonnenuntergangs darauf zuging, erschien plötzlich ein schlammbespritzter, tarnfarbengestrichener Jeep gemächlich rechts davon, trat aus der Unsichtbarkeit hervor wie eine optische Täuschung. Es schien, als sei der Jeep aus den dahinterstehenden Bäumen hervorgeschwebt, als sei er ein Teil von ihnen. Ich vernahm gedämpfte Männerstimmen, die sofort abbrachen, als ich auf die weichen Planken der vorderen Veranda trat. Ich musterte den Jeep, suchte nach Abzeichen oder Identifikationsnummern, aber der Schlamm bedeckte die Türen. Auf dem Rücksitz leuchtete stumm etwas Weißes. Als ich genauer hinsah, erblickte ich in einer Seilrolle ein Knochenoval, und es dauerte einen Augenblick, bis ich darin die Platte eines sorgfältig gereinigten und gebleichten menschlichen Schädels erkannte. Bevor ich Hand an die Klinke legen konnte, öffnete sich die Tür. Ein Junge namens Mike stand vor mir, in weiten Khakishorts und einem schmutzigen weißen Hemd, das viel zu groß für ihn war. Dann erkannte er mich. »Oh«, sagte er. »ja. Tim. Okay. Du kannst reinkommen.« Sein wirklicher Name war zwar nicht Mike, aber es hörte sich nach Mike an. Er hatte eine merkwürdige defensive Wachsamkeit an sich und warf mir ein angespanntes, unbehagliches Lächeln zu. »Letzter Tisch rechts.« »Alles okay?« fragte ich, weil mir alles an ihm sagte, daß dem nicht so war. »Jaaaa.« Er trat zurück, um mich einzulassen. Ich roch Sprengstoff, bevor ich die anderen Männer erblickte. Die Bar wirkte leer, und das durch die Öffnung über den Fenstern eindringende Lichtband hatte bereits den langen Spiegel 362
erreicht und ein helles Gleißen erzeugt, ein weißes Feuer. Ich trat ein paar Schritte vor, und Mike bewegte sich um mich herum, um an seinen Posten zurückzukehren. »Ach, Scheiße«, sagte jemand zu meiner Linken. »Müssen wir uns so etwas etwa gefallen lassen?« Ich wandte den Kopf, um in das Dämmerlicht auf dieser Seite der Bar zu sehen, und bemerkte drei Männer, die an einem runden Tisch an der Wand saßen. Noch war keine der Petroleumlampen entzündet worden, und das grelle Strahlen des Spiegels machte die entfernteren Teile der Bar sogar noch unschärfer. »Ist okay, ist okay«, sagte Mike. »Alter Kunde. Alter Freund.« »Das will ich hoffen«, sagte die Stimme. »Laß bloß keine Frauen hier rein.« »Keine Frauen«, erwiderte Mike. »Kein Problem.« Ich schritt zwischen den Tischen hindurch zu dem letzten auf der rechten Seite. »Du willst Whisky, Tim?« fragte Mike. »Tim?« sagte der Mann. »Tim?« »Bier«, sagte ich und nahm Platz. Eine beinahe leere Flasche Johnnie Walker Black, drei Gläser und ungefähr ein Dutzend Bierdosen bedeckten den Tisch vor ihnen. Der Soldat mit dem Rücken an der Wand schob ein paar der Bierdosen beiseite, damit ich die 45er neben der Johnnie Walker-Flasche erkennen konnte. Mit der vorsichtigen Koordination des Betrunkenen beugte er sich vor. Die Ärmel seines Hemds waren abgerissen, und Schmutz hatte seine Haut dunkel gefärbt, als hätte er seit Jahren nicht mehr gebadet. Sein Haar war mit einem Messer geschnitten worden und früher vielleicht einmal blond gewesen. »Ich will in der Sache nur sichergehen«, sagte er. »Du bist keine Frau, stimmt’s? Schwörst du das?« »Was immer du willst«, sagte ich. 363
»Hier kommt keine Frau rein.« Er legte die Hand auf die Kanone. »Keine Krankenschwester. Keine Ehefrau. Keine nichts. Verstanden?« »Verstanden«, erwiderte ich. Mike eilte mit meinem Bier um die Theke. »Tim. Komischer Name. Also Tom – das ist ein Name. Tim klingt wie ein kleiner Typ – wie der da.« Er zeigte mit der Linken auf Mike, mit der ganzen Hand und nicht nur mit dem Zeigefinger, während seine Rechte noch immer auf der 45er ruhte. »Der kleine Ficker sollte ein Kleid tragen. Scheiße, der trägt ja schon praktisch ein Kleid.« »Magst du keine Frauen?« fragte ich. Mike stellte eine Dose Budweiser auf meinem Tisch ab und schüttelte zweimal schnell den Kopf. Er hatte mich im Club haben wollen, weil er fürchtete, der betrunkene Soldat könnte ihn erschießen, und jetzt machte ich alles nur noch schlimmer. Ich musterte die beiden Männer neben dem betrunkenen Offizier. Sie waren schmutzig und erschöpft – was immer dem Betrunkenen widerfahren war, war auch ihnen widerfahren. Der Unterschied war nur, daß sie noch nicht betrunken waren. »Das ist eine komplizierte Frage«, meinte der Betrunkene. »Da gibt es Fragen der Verantwortlichkeit. Du kannst für dich selbst verantwortlich sein. Du kannst für deine Kinder und deinen Stamm verantwortlich sein. Du bist für jeden verantwortlich, den du beschützen willst. Aber kannst du auch für Frauen verantwortlich sein? Und wenn, wie verantwortlich?« Mike bewegte sich leise hinter die Theke und setzte sich auf einen Hocker, die Arme außer Sicht. Ich wußte, daß er unten ein Schrotgewehr aufbewahrte. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon ich spreche, was, Tim, du Etappenscheißer?« »Du hast Angst, du könntest jede Frau erschießen, die hier reinkommt, deshalb hast du dem Barkeeper gesagt, er soll sie draußenhalten.« 364
»Dieser Klugscheißer von einem Sergeant mischt sich persönlich in meinen Geisteszustand ein«, sagte der Betrunkene zu dem stämmigen Mann zu seiner Rechten. »Sag ihm, daß er hier verschwinden soll, sonst könnte das einen gewissen Grad an Unannehmlichkeiten nach sich ziehen.« »Laß ihn in Ruhe«, sagte der andere Mann. Streifen aus getrocknetem Matsch zogen sich über sein dürres, hageres Gesicht. Der betrunkene Beret-Offizier erschreckte mich, indem er sich zu dem anderen Mann hinüberbeugte und in einem klaren, wohltönenden Vietnamesisch auf ihn einredete. Es war ein altmodisches, fast literarisches Vietnamesisch, und er mußte wohl darin denken und träumen, um es so gut sprechen zu können. Er nahm an, daß weder ich noch der MontagnardJunge ihn verstehen würden. »Das ist ernst«, sagte er, »und mir ist es ernst. Wenn du zu sehen wünschst, wie ernst, dann bleib einfach auf deinem Stuhl sitzen und unternimm nichts. Weißt du nicht, wozu ich inzwischen imstande bin? Hast du nichts dazugelernt? Du weißt, was ich weiß. Ich weiß, was du weißt. Eine große Schwere ist zwischen uns. Von allen Menschen auf der Welt in diesem Augenblick sind die einzigen, die ich nicht verachte, bereits tot oder sollten es sein. In diesem Augenblick ist Mord gewichtslos.« Es gab noch mehr, und ich kann nicht beschwören, daß er es ganz genau so sagte, aber es kommt der Sache ziemlich nahe. Möglicherweise hatte er auch gesagt, daß Mord leer sei. Dann sagte er, in demselben fließenden Vietnamesisch, das sich selbst für meine Ohren so gestelzt anhörte wie die Sprache eines drittklassigen viktorianischen Romans: »Erinnere dich daran, was in unserem Fahrzeug (Kutsche) ist; du solltest dich daran erinnern, was wir mit uns gebracht haben, denn ich werde es nie vergessen. Ist es so leicht für dich, zu vergessen?« Man braucht sehr viel Zeit und Geduld, um Knochen zu säu365
bern und zu bleichen. Ein Schädel würde mehr Arbeit machen als der größte Teil eines Skeletts. »Dein Führer verlangt nach mehr von diesem Nektar«, sagte er und wälzte sich auf seinem Stuhl zurück; dabei musterte er mich, mit der Hand auf seiner Pistole. »Whisky«, sagte der stämmige Soldat. Mike riß bereits die Flasche vom Regal. Er begriff, daß der Offizier versuchte, sich bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken, bevor es ihm nötig schien, irgend jemanden zu erschießen. Einen Augenblick lang dachte ich, daß der stämmige Soldat zu seiner Rechten mir vertraut schien. Sein Kopf war so kurzgeschoren, daß er schon kahl wirkte, und seine Augen über den Schmutzstreifen waren riesig. An einem Schlitz in seinem Kragen hing eine Uhr aus rostfreiem Stahl. Er streckte einen muskulösen Arm nach der Flasche aus, die Mike ihm reichte, während er sich so weit vom Tisch entfernt hielt, wie er nur konnte. Der Soldat schraubte den Verschluß ab und füllte alle drei Gläser. Der Mann in der Mitte trank sofort den ganzen Whisky in seinem Glas und knallte es auf den Tisch, um es wieder füllen zu lassen. Der hagere Soldat, der bisher Schweigen bewahrt hatte, sagte: »Irgend etwas wird hier passieren.« Er blickte mich direkt an. »Kumpel?« »Dieser Mann ist niemandes Kumpel«, meinte der Betrunkene. Bevor irgend jemand ihn daran hindern konnte, packte er die Kanone, zielte damit und schoß. Es gab einen Feuerstoß, eine gewaltige Explosion und den Geruch von Kordit. Das Geschoß fuhr direkt durch die weiche Holzwand, ungefähr zweieinhalb Meter links von mir. Ein verirrter Lichtstrahl drang durch das Loch herein, das es gerissen hatte. Einen Augenblick lang war ich taub. Ich trank den Rest meines Biers aus und stand auf. Mein Kopf klingelte. »Ist es klargeworden, daß ich die Notwendigkeit einer solchen Scheiße verabscheue?« fragte der Betrunkene. »Ist das 366
begriffen worden?« Der Soldat, der mich Kumpel genannt hatte, lachte, und der stämmige Soldat schenkte weiteren Whisky in das Glas des Betrunkenen. Dann stand er auf und kam auf mich zu. Hinter der Erschöpfung und den Schlammstreifen war sein Gesicht angespannt vor Sorge. Er stellte sich zwischen mich und den Mann mit der Kanone. »Ich bin kein Etappenscheißer«, sagte ich. »Ich will keinen Ärger, aber der Krieg ist kein Eigentum von Leuten wie ihm.« »Würden Sie mir vielleicht gestatten, Ihren Arsch zu retten, Sergeant?« flüsterte er. »Major Bachelor war jetzt drei Jahre lang nicht einmal entfernt in Gesellschaft von Weißen, und er hat ein wenig Eingewöhnungsschwierigkeiten. Verglichen mit ihm sind wir alle nur Etappenscheißer.« Ich musterte sein zerfetztes Hemd. »Sind Sie sein Babysitter, Captain?« Er sah mich empört an, dann blickte er über die Schulter zu dem Major hinüber. »Major, nehmen Sie Ihre verdammte Waffe runter. Der Sergeant ist ein Frontsoldat. Er ist auf dem Weg zurück ins Lager.« »Ist mir gleich, was er ist«, sagte der Major auf vietnamesisch. Der Captain fing an, mich zur Tür zu zerren, wobei er seinen Körper zwischen mir und dem anderen Tisch hielt. Ich winkte Mike, mir zu folgen. »Keine Sorge, der Major wird ihn nicht erschießen, Major Bachelor liebt die Yards«, sagte der Captain. Er warf mir einen ungeduldigen Blick zu, weil ich mich geweigert hatte, mich seinem Tempo anzupassen. Dann sah ich, wie er meine Pupillen bemerkte. »Gottverdammt«, sagte er, dann blieb er gänzlich stehen und sagte noch einmal »Gottverdammt«, doch diesmal in einem anderen Ton. Ich fing an zu lachen. »Ach, das ist …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich …« 367
»Wo bist du denn gewesen?« fragte ich ihn. John Ransom wandte sich dem Tisch zu. »He, ich kenne diesen Burschen. Das ist ein alter Footballfreund von mir.« Major Bachelor zuckte die Schultern und legte die 45er wieder auf den Tisch. Seine Augenlider waren fast geschlossen. »Mache mir nichts aus Football«, sagte er, ließ aber doch die Hand von der Waffe. »Gib dem Sergeant einen Drink aus«, sagte der hagere Offizier. »Gib dem verdammten Sergeant einen Drink«, stimmte der Major ein. John Ransom bewegte sich schnell zur Theke und griff nach einem Glas, das ihm der verwirrte Mike in die Hand drückte. Ransom ging zwischen den Tischen durch, füllte sein Glas und meins und brachte beide zu mir zurück. Wir sahen zu, wie der Kopf des Majors in kleinen Stufen zur Brust sackte. Als sein Kinn schließlich den aufgeknöpften oberen Teil seines ruinierten Hemds erreichte, sagte Ransom: »Gut, Bob«, und der andere Mann zog die 45er unter der Hand des Majors hervor. Er schob sie neben sein Koppel. »Der Mann ist hinüber«, sagte Bob. Ransom drehte sich wieder zu mir um. »Er war drei volle Tage mit uns auf den Beinen und Gott weiß wie lange vorher schon.« Ransom brauchte nicht erst zu erläutern, wen er mit er meinte. »Bob und ich konnten ein bißchen schlafen, indem wir uns abgewechselt haben, aber er hat unentwegt nur geredet.« Er ließ sich auf einen der Stühle an meinem Tisch fallen und kippte sein Glas an den Mund. Ich setzte mich neben ihn. Einen Augenblick lang sagte niemand in der Bar ein Wort. Die Lichtlinie von dem Spalt im Fenster hatte bereits den Spiegel verlassen und näherte sich nun jener Stelle an der Wand, die anzeigt, daß sie bald verschwinden würde. Mike hob den Schirm von einer der Lampen und begann damit, den Docht zu schneiden. 368
»Wie kommt das, daß du immer hinüber bist, wenn ich dir begegne?« »Mußt du das wissen?« Er lächelte. Er sah ganz anders aus als damals, als ich ihn dabei gesehen hatte, wie er sich im Camp White Star darauf vorbereitete, Senator Burrman einen schmutzigen Witz zu erzählen. Sein Körper war kompakter und härter geworden, und seine Augen hatten sich tief in den Kopf zurückgezogen. Er schien mir ein weites Stück dem Ziel näher gekommen zu sein, das ich immer vor ihm gesehen hatte, seit er mir damals eifernd davon erzählt hatte, daß man die Ausbreitung des Kommunismus stoppen müsse. Dieser Mann hatte viel vom Krieg in sich aufgenommen, und sehr viel Krieg war nun in ihm. »Ich habe dich aus der Gräberregistrierung in White Star geholt, nicht wahr?« Ich bestätigte, daß er das getan hatte. »Wie habt ihr das genannt? Die Kadavertruppe? Es war nicht mal eine richtige Registrierungseinheit, nicht?« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich auch um euren Captain McCue gekümmert – der hatte da eine Art Müllkippe draus gemacht. Ich weiß nicht, wie er so lange damit durchkommen konnte. Der einzige, der so etwas wie eine Ausbildung hatte, war dieser Sergeant – wie hieß er noch gleich? Italiener.« »DeMaestro.« Ransom nickte. »Die ganze Operation lief aus dem Ruder.« Mike entzündete ein großes Küchenstreichholz und führte es an den Docht der Petroleumlampe. »Ich habe da ein paar Sachen gehört …« Er sackte gegen die Wand, trank Whisky, und ich fragte mich, ob er von Captain Havens gehört hatte. Er schloß die Augen. »Da hinten ist eine Menge verrücktes Zeug gelaufen.« Ich fragte, ob er immer noch im Hochlandgebiet an der laotischen Grenze stationiert wäre. Er seufzte beinahe, als er den 369
Kopf schüttelte. »Du bist nicht mehr bei den Stammesleuten? Was waren das, Khatu?« Er öffnete die Augen. »Du hast ein gutes Gedächtnis. Nein, ich bin nicht mehr dort.« Er überlegte sich, ob er noch mehr sagen sollte, entschied sich aber dagegen. Offensichtlich war er seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden. »Ich liege gewissermaßen auf Eis, bis sie mich nach oben in die Gegend von Khe Sahn schicken. Da oben wird es besser werden – die Bru sind enorm. Aber im Augenblick will ich nur baden und ins Bett. In irgendein Bett. Eigentlich würde mir schon ein trockener, ebener Platz auf dem Boden reichen.« »Wo kommst du denn gerade her?« »Landeinwärts.« Sein Gesicht legte sich in Falten, und er zeigte seine Zähne. Die Wirkung war so enervierend, daß ich nicht sofort merkte, daß er lächelte. »Ein ganzes Stück landeinwärts. Wir mußten den Major rausholen.« »Sieht mehr so aus, als hättet ihr ihn rausziehen müssen, wie einen Zahn.« Meine Ignoranz veranlaßte, daß er in die Höhe schoß. »Du meinst, du hast nie von ihm gehört? Von Franklin Bachelor?« Da fiel mir ein, daß ich es doch schon hatte, daß irgend jemand vor langer Zeit mir gegenüber mal seinen Namen erwähnt hatte. »Seit Jahren im Busch. Bachelor hat Sachen gemacht, von denen gewöhnliche Leute nicht einmal träumen – er ist eine Legende.« Eine Legende, dachte ich. Wie die Green Berets, die Ransom, ein ganzes Leben war es schon her, in White Star erwähnt hatte. »Hat praktisch eine Privatarmee geführt, hat eine Menge gute Arbeit in der Provinz Darlac geleistet. Er war allein dort draußen. Der Mann ist ein Held. Soviel ist sicher. Bachelor ist an Orte gelangt, die wir nicht mal von weitem gesehen haben. Er 370
ist in ein Lager der nordvietnamesischen Armee eingedrungen, hast du gehört, in das Lager, und hat lautlos fast eine ganze Division umgelegt.« Von allen Menschen, die in diesem Augenblick auf der Welt waren, so erinnerte ich mich, waren die einzigen, die er nicht verachtete, bereits tot. Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Er war voll in das Rhade-Leben integriert«, sagte Ransom. Ich konnte die Ehrfurcht aus seiner Stimme heraushören. »Der Mann hat sogar geheiratet. Rhade-Zeremonie. Seine Frau hat ihn auf Missionen begleitet. Wie ich hörte, war sie schön.« Da wußte ich, wo ich schon einmal von Franklin Bachelor gehört hatte. Er war Captain gewesen, als Ratman und sein Zug auf ihn gestoßen waren, nachdem ein Gefreiter namens Bobby Sweet auf einem Pfad in der Provinz Darlac in Stücke zerrissen worden war. Ratman hatte seine Frau als schwarzhaarigen Engel bezeichnet. Und dann wußte ich auch, wessen Schädel da in Tauwerk verstaut auf dem Rücksitz des Jeeps lag. »Ich habe tatsächlich von ihm gehört«, sagte ich. »Ich kannte jemanden, der ihm begegnet ist. Auch der Rhade-Frau.« »Seine Ehefrau«, sagte Ransom. Ich fragte ihn, wohin sie Bachelor brächten. »Wir bleiben über Nacht in Crandall, um uns etwas auszuruhen. Dann hopsen wir nach Tan Son Nhut und bringen ihn zurück in die Staaten – Langley. Ich dachte erst, wir müßten ihn vielleicht festschnallen, aber ich schätze, wir werden ihn einfach nur mit Whisky abfüllen.« »Er wird seine Kanone zurückhaben wollen.« »Vielleicht gebe ich sie ihm auch.« Sein Blick teilte mir mit, was Major Bachelor seiner Vermutung nach mit seiner 45er tun würde, wenn man ihn nur lange genug damit alleine ließe. »In Langley hat er eine harte Zeit vor sich. Da wird es etwas Ärger geben.« »Weshalb Langley?« 371
»Frag nicht. Aber sei auch nicht naiv. Meinst du nicht, daß die …« Diesen Satz wollte er nicht beenden. »Weshalb, glaubst du, mußten wir ihn überhaupt rausholen?« »Weil irgend etwas schiefgelaufen ist.« »Oh, alles ist schiefgelaufen. Bachelor hat völlig die Kontrolle verloren. Er führte seinen eigenen Krieg. Machte eine Menge Nebengeschichten, von denen einige eigentlich, sagen wir mal, genauer beaufsichtigt hätten werden sollen.« Ich konnte ihm nicht folgen. »Vorstöße nach Laos. Geschäftsreisen nach Kambodscha. Manchmal hat er die Flugplätze kontrolliert, die von Air America benutzt wurden, und das bedeutete, daß er die Kontrolle über die Fracht hatte.« Als ich den Kopf schüttelte, fragte er: »Hast du nicht ein kleines Etwas in deiner Tasche? Ein kleines Päckchen?« Eine geheime Welt – innerhalb dieser Welt eine weitere geheime Welt. »Du verstehst schon, es ist mir ebenso egal, was er gemacht hat, wie es mir egal ist, was du tust. Ich finde, Langley soll sich ruhig ins Knie ficken. Bachelor hat das Spiel doch erfunden. Trotz seiner Nebengeschichten. Trotz des Ärgers, in den er sich verstrickte, was immer es war. Der Mann war effizient. Er hat eine Grenze überschritten, vielleicht einen Haufen Grenzen – aber sag mir doch mal, ob man das, was man von uns zu tun verlangt, erreichen kann, ohne Grenzen zu überschreiten.« Ich überlegte, weshalb er sich selbst zu verteidigen schien, und fragte ihn, ob er in Langley würde aussagen müssen. »Das ist kein Prozeß.« »Ein Abschlußbericht?« »Klar, ein Abschlußbericht. Die können mich fragen, was sie wollen. Ich kann ihnen immer nur sagen, was ich gesehen habe. Das ist mein Beweismaterial, richtig? Was ich gesehen habe! Sie haben keinerlei Beweise bis auf diese, äh, diese menschlichen Überreste, die der Major unbedingt mitnehmen 372
mußte.« Für eine Sekunde wünschte ich mir, ich könnte die nüchternen, schattenhaften Gentlemen von Langley, Virginia, sehen, die Gentlemen mit den straff zurückgekämmten, geleckten Haaren und den Nadelstreifenanzügen, wie sie Major Bachelor befragten. Die dachten doch, sie seien ernsthafte Männer. »Auf eine komische Weise war das wie Bong To.« Ransom erwartete, daß ich nachfragen würde. Als ich das nicht tat, sagte er: »Eine Geisterstadt, meine ich. Ich nehme an, du hast noch nie von Bong To gehört.« »Meine Einheit war gerade da.« Sein Kopf ruckte hoch. »Eine Mörsergranate hat uns in das Dorf getrieben.« »Du hast den Ort gesehen?« Ich nickte. »Komische Geschichte.« Jetzt tat es ihm leid, daß er sie jemals erwähnt hatte. »Na ja, stell dir Bachelor jetzt mal vor. Ich glaube, er muß in Kambodscha oder irgendwo gewesen sein, um dort zu tun, was er eben so tut, als sein Dorf überrannt wurde. Er kommt zurück und findet sie alle tot vor, einschließlich seiner Frau. Ich meine, ich glaube nicht, daß Bachelor diese Leute getötet hat – die waren nicht nur einfach tot, die hatte man darum betteln lassen. Bachelor war also nicht da, und sein Adjutant, ein gewisser Captain Bennington, muß davongelaufen sein … wir haben ihn nie gefunden. Offiziell gilt Bennington als vermißt. Es ist einfach. Man findet den Haupttypen nicht, also stellt man sicher, daß er sieht, wie wütend man ist, wenn er wieder zurückkommt. Man tut seinen Leuten ein paar schlimme körperliche Dinge an. Sie waren nicht nett zu seiner Frau, Tim, zu ihr waren sie ganz besonders wenig nett. Was tut er? Er begräbt alle Leichen auf dem Dorffriedhof, denn das ist eine heilige Verantwortung. Frag mich nicht, was er sonst noch tut, denn das brauchst du nicht zu wissen, okay? Aber die Leichen werden bestattet. Allgemein gesprochen. Captain Bennington kreuzt nie mehr auf. Wir 373
treffen ein und holen Bachelor ab. Aber früher oder später werden ein paar von den Leuten, die entkommen sind, in dieses Dorf zurückkehren. Die werden weiter dort leben. An diesem Ort ist ihnen das Schlimmste widerfahren, was es geben kann, aber sie gehen nicht weg. Schließlich gesellen sich auch andere Leute aus ihren Familien zu ihnen, wenn sie noch am Leben sind, und die schreckliche Sache wird Teil ihres Lebens werden. Denn es ist undenkbar, daß man seine Toten verläßt.« »Aber in Bong To haben sie das getan«, sagte ich. »In Bong To haben sie das getan.« Ich bemerkte wieder den Ausdruck des Bedauerns in seiner Miene und sagte, daß ich ihn nicht dazu auffordern würde, mir irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen. »Das ist kein Geheimnis. Es ist nicht einmal etwas Militärisches.« »Es ist nur eine Geisterstadt.« Ransom war immer noch unbehaglich zumute. Er drehte sein Glas immer und immer wieder in den Händen, bevor er trank. »Ich muß den Major ins Lager bringen.« »Es ist eine echte Geisterstadt«, sagte ich. »Gespenster inbegriffen.« »Das würde mich, ehrlich gesagt, nicht überraschen.« Er leerte sein Glas und stand auf. Offensichtlich hatte er beschlossen, nicht mehr darüber zu sprechen. »Kümmern wir uns um Major Bachelor, Bob«, sagte er. »In Ordnung.« Ransom brachte unsere Flasche zur Theke und bezahlte Mike. Ich trat auf ihn zu, um dasselbe zu tun, und Ransom sagte: »Schon drum gekümmert.« Da war wieder diese Floskel – und es schien, als hätte ich sie schon den ganzen Tag lang gehört und als wollte ihre Bedeutung einfach nicht nachlassen. Ransom und Bob hoben den Major gemeinsam hoch. Sie waren kräftig genug, um ihn mühelos aufzurichten. Bachelors 374
Kopf rollte vor. Bob steckte die 45er in seine Tasche, und Ransom tat das gleiche mit der Flasche. Gemeinsam trugen sie den Major zur Tür. Ich folgte ihnen hinaus. Weit entfernt hämmerte Artillerie auf Hügel ein. Inzwischen war es dunkel geworden, und das Licht der Laternen ergoß sich durch die Ritzen in den Fenstern nach draußen. Zusammen stiegen wir die verfaulenden Stufen hinunter, der Major wackelnd zwischen den beiden anderen. Ransom öffnete den Jeep, und sie brauchten eine Weile, um den Major auf den Rücksitz zu bugsieren. Bob quetschte sich neben ihn und richtete ihn auf. John Ransom setzte sich ans Steuer und seufzte. Der nächste Teil seines Jobs schmeckte ihm nicht. »Ich nehm’ dich bis zum Lager mit«, sagte er. »Wär nicht gut, wenn ein MP dich mal genauer anschaute.« Ich setzte mich neben ihn. Ransom startete den Motor und schaltete die Scheinwerfer ein. Er riß die Gangschaltung in den Rückwärtsgang und rollte zurück. »Du weißt, weshalb diese Mörsergranate abgefeuert wurde, nicht?« fragte er mich. Er grinste mich an, und wir holperten auf dem Weg zurück, der in den Hauptteil des Lagers führte. »Er hat versucht, euch von Bong To zu verscheuchen, und euer Narr von einem Lieutenant ist statt dessen direkt hineingelaufen.« Er grinste immer noch. »Es muß ihn ziemlich aufgeregt haben, mitanzusehen, wie ein Haufen Glotzaugen da reingehen.« »Weitergefeuert hat er nicht.« »Nein. Er wollte den Ort nicht zerstören. Der soll so bleiben, wie er ist. Ich glaube zwar nicht, daß sie dieses Wort benutzen, aber dieses Dorf soll eine Art Denkmal bleiben.« Er sah mich wieder an. »Der Schande.« Aus irgendeinem Grund konnte ich nur an den betrunkenen Major auf dem Sitz hinter mir denken, der gesagt hatte, daß man für die Leute verantwortlich sei, die man beschützen 375
wolle. Ransom sagte: »Seid ihr in eine von den Hütten gegangen? Habt ihr dort irgend etwas Ungewöhnliches gesehen?« »Ich bin in eine Hütte gegangen. Ich habe etwas Ungewöhnliches gesehen.« »Eine Liste mit Namen?« »Ich dachte, daß es das wäre.« »Okay«, meinte Ransom. »Kannst du ein bißchen Vietnamesisch?« »Ein bißchen.« »Ist dir irgend etwas an den Namen aufgefallen?« Daran konnte ich mich nicht erinnern. Mein Vietnamesisch hatte ich in Bars und auf Marktplätzen aufgeschnappt, und das war fast ausschließlich Umgangssprache. »Vier von ihnen waren aus einer Familie namens Trang. Trang war der Dorfhäuptling, wie schon sein Vater vor ihm und sein Großvater. Trang hatte vier Töchter. Wenn eine davon sechs oder sieben geworden war, brachte er sie in den unterirdischen Raum, fesselte sie an die Pfosten und vergewaltigte sie. Viele dieser Hütten haben geheime Lagerräume, aber Trang muß seinen abgewandelt haben, nachdem seine erste Tochter geboren wurde. Das Komische ist – ich denke, daß jeder im Dorf genau wußte, was er da tat. Ich sage nicht, daß sie es richtig fanden, aber sie ließen es geschehen. Sie konnten so tun, als wüßten sie nichts davon: Die Mädchen beschwerten sich nie, und es hat auch nie jemand irgendwelche Schreie gehört. Ich schätze, Trang war ein ganz ordentlicher Häuptling. Wenn die Töchter sechzehn wurden, gingen sie in die Städte. Schickten auch Geld nach Hause. Vielleicht fanden sie es ja ganz in Ordnung so, aber das glaube ich eigentlich nicht – und du?« »Woher soll ich das wissen? Aber in meinem Zug ist ein Mann, ein Typ aus …« »Ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Schande. Zwischen dem, was zugegeben und dem, 376
was nicht zugegeben wird. Damit wird sich Bachelor herumplagen müssen, wenn er nach Langley kommt. Manche Dinge sind akzeptabel, solange man nicht darüber redet.« Er sah mich von der Seite an, als wir gerade auf den Nordrand des eigentlichen Lagers zufuhren. Er strich sich über das Gesicht, und Streifen aus getrocknetem Schlamm pellten sich von seiner Wange. Die freigelegte Haut sah rot aus, genau wie seine Augen. »Denn so, wie ich das sehe, ist das ein ganz allgemeines Problem. Das Problem lautet: Was ist ausdrückbar? Das geht weit über die Neigung der Leute hinaus, Gedanken, Handlungen oder Verhaltensweisen zu tolerieren, die sie sonst unakzeptabel fänden.« Ich hatte noch nie einen Soldaten auf solch eine Weise reden hören. Es war ein bißchen so, als sei ich wieder in Berkeley. »Ich spreche über den Unterschied zwischen dem, was ausgedrückt wird, und dem, was beschrieben wird«, fuhr Ransom fort. »Ein großer Teil des Erfahrungsspektrums wird nicht anerkannt. Die Religion erlaubt uns, etwas von dem nicht anerkannten Zeug auf akzeptable Weise zu handhaben. Aber angenommen – nur einmal angenommen – du wärst gezwungen, einer extremen Erfahrung direkt gegenüberzutreten, ohne Zwischenträger?« »Das habe ich getan«, sagte ich. »Und du hast es auch.« »Extremer als Nahkampf, extremer als Schrecken. Etwas in der Art ist dem Major widerfahren: Er ist Gott begegnet. Es wurden Anforderungen an ihn gestellt. Er mußte das Gewöhnliche zurücklassen, selbst das, was er als solches definierte.« Ransom war dabei, mir zu erzählen, wie es gekommen war, daß Major Bachelor mit dem Schädel seiner Frau nach Camp Crandall verbracht wurde, aber nichts davon war mir klar. »Ich habe Dinge gehört«, teilte Ransom mir mit. Er flüsterte fast. »Denk doch mal, was wohl alle Leute eines Dorfs dazu bewegen könnte, wegzugehen, obwohl eine heilige Pflicht sie doch an dieses Dorf fesselt.« 377
»Darauf weiß ich keine Antwort«, sagte ich. »Eine noch heiligere Pflicht, entstanden durch ein wirklich spektakuläres Schamgefühl. Wenn ein Verbrechen zu groß ist, um mit ihm zu leben, wird seine Erinnerung geheiligt. Wird zum Heiligtum selbst …« Ich erinnerte mich, wie ich daran gedacht hatte, daß die Anordnung im Keller der Hütte das Heiligtum einer obszönen Gottheit gewesen sei. »Da haben wir ein Dorf und seinen Häuptling. Das Dorf weiß, und weiß doch nicht, was der Häuptling getan hat. Sie sind es gewöhnt, sich bei ihm Rat zu holen und ihm zu gehorchen. Dann – eines Tages, verschwindet ein kleiner Junge.« Mein Herz machte einen Satz. »Ein kleiner Junge. Sagen wir – von drei Jahren. Alt genug, um zu reden und in Schwierigkeiten zu kommen, aber zu jung, um auf sich aufzupassen. Er ist einfach weg – paff. Na ja, es ist ja Vietnam, richtig? Da drehst du dich mal um, dein Kind wandert davon, irgendein Tier erwischt es. Er könnte sich im Dschungel verlaufen und in ein Messer rennen. Jemand wie du könnte den Jungen sogar erschießen. Er könnte auf eine Mine treten und nie wieder auftauchen. So etwas könnte passieren. Ein paar Monate später passiert es wieder. Die Mami dreht sich kurz um und: wo, zum Teufel, ist Junior hin? Diesmal suchen sie wirklich, nicht nur Mami und Oma, alle ihre Freunde. Sie durchkämmen das Dorf. Die Dörfler durchkämmen das Dorf, jeden Quadratmeter davon, und dann tun sie dasselbe mit dem Reisfeld, und dann suchen sie den Wald ab. Und rate mal, was als nächstes passiert. Das ist der interessante Teil. Eine alte Frau geht eines Morgens los, um Wasser aus dem Brunnen zu holen, und sieht ein Gespenst. Diese alte Dame gehört zur weiteren Familie des ersten verschollenen Kindes, aber das Gespenst, das sie sieht, ist nicht das des Kindes – es ist das Gespenst eines in schlechtem Ruf stehenden alten Mannes aus einem anderen Dorf, eines Trunkenbolds, um 378
genau zu sein. Ein lokaler Tunichtgut, um genau zu sein. Er steht einfach nur neben dem Brunnen, die Hände gefaltet, und er hat Hunger – das ist es, was diese Leute von Gespenstern wissen. Der hagere alte Knilch will mehr. Er will gefüttert werden. Die alte Dame stößt einen Krächzer aus und fällt in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kommt, ist das Gespenst verschwunden. Na ja, die alte Dame erzählt nun jedermann, was sie gesehen hat, und das ganze Dorf gerät in Panik. Böse Mächte sind losgelassen worden. Als nächstes arbeiten zwei dreizehnjährige Mädchen im Reisfeld, blicken auf und sehen eine alte Frau, die starb, als sie zehn waren – sie ist ungefähr drei Meter von ihnen entfernt. Ihr Haar ist strähnig und grau, und ihre Fingernägel sind ungefähr dreißig Zentimeter lang. Sie war mal eine freundliche alte Dame, aber inzwischen sieht sie nicht mehr allzu freundlich aus. Sie ist auch hungrig, wie alle Gespenster. Die Mädchen fangen an zu kreischen und zu weinen, aber niemand sonst kann sie sehen, und sie kommt immer näher, und die beiden versuchen zu fliehen, aber eine von ihnen fällt zu Boden, und schon stürzt sich die alte Frau auf sie wie eine Katze. Und weißt du, was sie tut? Sie reibt ihre schmutzigen Hände über das Gesicht des schreienden Mädchens und leckt ihm die Tränen ab und schlabbert seine Finger voll. In der nächsten Nacht verschwindet schon wieder ein kleiner Junge. Zwei Männer gehen, um in der Dorflatrine hinter den Häusern nachzusehen, und dort unten in der Grube erblicken sie zwei Gespenster, die sich gerade Exkremente in den Mund schieben. Sie eilen zurück ins Dorf, da sehen sie beide ein halbes Dutzend Gespenster um die Hütte des Häuptlings. Darunter ist auch die Schwester eines Mannes, die während des Kriegs gegen die Franzosen gestorben ist, und seine zwanzigjährige erste Frau, die am Denguefieber starb. Die Gespenster wollen essen. Einer der Männer kreischt los, denn er hat nicht nur seine tote Frau gesehen, die so aussieht wie etwas, was wir 379
einen Vampir nennen würden, er hat auch noch mitangesehen, wie sie ohne die Tür zu nutzen in die Häuptlingshütte eingedrungen ist. Diese Leute glauben an Geister, Underhill, sie wissen, daß Gespenster existieren, aber es geschieht äußerst selten, daß sie welche sehen. Und diese Leute sind wie Psychoanalytiker, denn sie glauben nicht an Zufälle. Jedes Ereignis hat einen Sinn. Die tote zwanzigjährige Frau kommt wieder durch die Mauer der Häuptlingshütte heraus. Ihre Hände sind leer, aber sie triefen von Blut, und sie leckt sie ab wie eine verhungernde Katze. Der frühere Ehemann steht da und deutet und plappert, und die Mütter und Großmütter der vermißten Jungen treten aus ihren Hütten. Sie fürchten sich ebensosehr vor dem, was sie gerade denken, wie vor den ganzen Gespenstern um sie herum. Die Gespenster sind Teil von etwas, von dem sie wissen, daß sie es kennen, auch wenn die meisten von ihnen bisher noch nie ein Gespenst gesehen haben. Was ihnen durch den Kopf geht, ist etwas Neues: neu, weil es verborgen war. Die Mütter und Großmütter gehen zur Tür des Häuptlings und fangen an zu heulen wie die Hunde. Als der Häuptling herauskommt, drängen sie sich an ihm vorbei und nehmen die Hütte auseinander. Und du weißt, was sie finden. Sie haben das Ende von Bong To gefunden.« Ransom hatte den Jeep fünf Minuten zuvor vor dem Hauptquartier meines Bataillons geparkt, und jetzt lächelte er, als hätte er alles erklärt. »Aber was ist passiert?« fragte ich. »Wie hast du davon erfahren?« Er zuckte die Schultern. »Das haben wir alles beim Verhör herausbekommen. Als die Frauen den unterirdischen Raum entdeckten, wußten sie, daß der Häuptling die Jungen zu Sex gezwungen und sie danach getötet hatte. Sie wußten nicht, was 380
er mit den Leichen gemacht hatte, aber sie wußten, daß er die Jungen getötet hatte. Als die Vietcong das nächste Mal einen ihrer Höflichkeitsbesuche abstatteten, haben sie dem Kaderführer erzählt, was sie wußten. Die VC haben den Rest erledigt. Sie waren angewidert – Trang hatte auch sie verraten –, hatte alles verraten, wofür er doch eigentlich hätte stehen sollen. Einer der Vietcong, die wir gefangennahmen, hat den Häuptling hinunter in seinen unterirdischen Raum gebracht und den Mann an den Pfosten festgekettet, hat die Namen der toten Jungen und die von Trangs Töchtern auf die Papierdämmung geschrieben, die die Wände bedeckte, und dann … dann taten sie mit ihm, was sie eben mit ihm taten. Wahrscheinlich haben sie die Stücke hinausgetragen und sie in die Fäkaliengrube geworfen. Und im Laufe der Monate, einer nach dem andern, nicht etwa alle auf einmal, sondern langsam, zogen sie aus dem Dorf aus. Inzwischen sahen sie die ganze Zeit Gespenster. Sie hatten eine Art Grenze überschritten.« »Meinst du, die haben wirklich Gespenster gesehen?« fragte ich ihn. »Ich meine, glaubst du, das waren wirkliche Gespenster?« »Wenn du dazu ein Expertenurteil hören willst, mußt du Major Bachelor fragen. Der hat eine Menge über Gespenster zu erzählen.« Er zögerte einen Augenblick, dann beugte er sich vor, um meine Tür zu öffnen. »Aber wenn du mich fragst, natürlich haben sie das getan.« Ich stieg aus dem Jeep und schloß die Tür. Ransom blickte mich durch das Jeepfenster an. »Paß besser auf dich auf.« »Viel Glück bei deinen Bru.« »Die Bru sind fantastisch.« Er rammte den Gang des Jeeps hinein und schoß davon, riß das Lenkrad herum, um den Jeep in einem riesigen Kreis vor dem Bataillonshauptquartier zu wenden, bevor er den zweiten Gang hineinrammte und seinem Ziel entgegenfuhr. 381
Zwei Wochen später gelang es Leonard Hamnet, den lutheranischen Kaplan in Crandall dazu zu bringen, einen Brief für ihn an den Lamettagötzen zu schreiben, und zwei Tage später steckte er schon in einer sauberen Uniform und packte seine Ausrüstung für einen Nachtflug zu einer Basis der Air Force in Kalifornien. Von dort hatte er einen Verbindungsflug nach Memphis, wo ihm die Army einen Platz in einem SechssitzerAufklärungsflugzeug nach Lookout Mountain gebucht hatte. Als ich in Hamnets Zelt kam, war er gerade dabei, in einer Ruhezone, die ihm die anderen Männer eingeräumt hatten, den Reißverschluß seines Seesacks zu schließen. Er wollte nicht darüber reden, wo er hinging oder weshalb, und anstatt meine Fragen über seine Reise zu beantworten, öffnete er den Reißverschluß einer Seitentasche seines Sacks und reichte mir eine dicke Mappe voller Flugtickets. Ich sah sie durch und reichte sie ihm zurück. »Schweres Rumgereise«, meinte ich. »Von jetzt an ist alles leicht«, widersprach Hamnet. Er wirkte steif und beherrscht, als er die kostbaren Tickets wieder in der Tasche verstaute. Der Brief seiner Frau war inzwischen nur noch ein von Klebeband zusammengehaltener Fetzen. Ich konnte mir vorstellen, wie er ihn, zum tausendsten oder zweitausendsten Mal, auf dem langen Flug über den Pazifik las. »Sie brauchen deine Hilfe«, sagte ich. »Ich bin froh, daß sie sie kriegen werden.« »Das ist richtig.« Hamnet wartete darauf, daß ich ihn wieder in Ruhe ließe. Weil sein Beutel schwer zu sein schien, fragte ich ihn, wieviel Urlaub er hatte. Er wollte die Flugtickets schon wieder hervorholen, anstatt mir direkt zu antworten, zwang sich aber zum Reden. »Sie haben mir sieben Tage gegeben. Plus Reisezeit.« »Gut«, sagte ich sinnlos, und dann gab es nichts mehr zu sagen, und das wußten wir auch beide. Hamnet hob seinen See382
sack von der Koje und wandte sich ohne die üblichen Verabschiedungen und Umarmungen der Tür zu. Einige der Männer riefen ihm etwas zu, doch er schien nichts anderes zu hören als seine eigenen Gedanken. Ich folgte ihm hinaus und stand neben ihm in der Hitze. Hamnet trug eine Krawatte, und seine Stiefel waren blankpoliert. Er schwitzte bereits sein steifes Khakihemd durch und wollte mir nicht in die Augen sehen. Eine Minute später fuhr ein Jeep vor. Der lutheranische Kaplan hatte sich selbst übertroffen. »Auf Wiedersehen, Leonard«, sagte ich, und Hamnet warf seinen Sack hinten rein und stieg in den Jeep. Er saß steif da wie eine Statue. Der Gefreite am Steuer des Jeeps sagte etwas zu ihm, als sie losfuhren, aber Hamnet antwortete nicht. Ich wette, er hat auch kein Wort mit den Stewardessen gewechselt oder mit den Taxifahrern oder Gepäckträgern oder sonst jemandem, der Zeuge seiner langen Reise nach Hause wurde.
3 Am Tag, nachdem Leonard Hamnet planmäßig hätte zurückkehren sollen, rief Lieutenant Joys Michael Poole und mich in seine Unterkunft, um uns mitzuteilen, was in Tennessee passiert war. Er hielt einen Stapel Papiere in der Hand und schien zugleich wütend und verlegen zu sein. Hamnet würde nicht in den Zug zurückkehren. Es war ein wenig komisch. Na ja, natürlich war es in Wirklichkeit überhaupt nicht komisch. Die ganze Sache war schrecklich. Das war sie. Und irgend jemand war auch schuld. Verantwortungslose Entscheidungen waren getroffen worden, und wir würden alle von Glück sagen können, wenn es zu keiner Untersuchung käme. Wir hätten dem Mann am nächsten gestanden, ob wir denn nicht gesehen hätten, was sich da abzeichnete? Und wenn nicht, was, zum Teufel, hatten wir dann für eine Entschuldigung? 383
Ob wir denn keine Ahnung gehabt hätten, was der Mann vorhatte? Na ja, ganz am Anfang, sagten Poole und ich. Aber er schien sich wieder gefangen zu haben. Dummheit und Inkompetenz, die ganze lange Reihe hinunter, meinte Lieutenant Elijah Joys. Da schafft es ein Mann, eine halbautomatische Waffe an drei verschiedenen Flughäfen durch die Sicherheitskontrollen zu schleusen, bringt sie in einen Gerichtssaal und macht Drohungen wahr, die er schon Monate zuvor ausgestoßen hat, ohne daß ihn jemand bremste. Ich erinnerte mich an den Seesack, den Hamnet hinten auf den Jeep geworfen hatte; ich erinnerte mich an das Zögern, mit dem er seinen Reißverschluß geöffnet hatte, um mir die Tickets zu zeigen. Hamnet hatte seine Waffe nicht durch die Sicherheitskontrollen der Flughäfen geschmuggelt. Er hatte sie ganz einfach in seinem Seesack transportiert und war in seiner sauberen Uniform und den glänzenden Stiefeln ohne weiteres durch den Zoll spaziert. Sobald der Sprecher der Jury den ›Schuldig‹-Spruch verkündet hatte, war Leonard Hamnet aufgestanden, hatte die Pistole aus seiner Jacke gezogen und Mr. Brewster am Verteidigertisch hingerichtet. Während die Leute schrien und kreischten und in Deckung gingen, während der Gerichtsdiener versuchte, ihm die Waffe zu entreißen, hatte Hamnet seine Frau und seinen Sohn getötet. Als er die Pistole an den eigenen Kopf setzte, schoß ihm der Wachmann bereits zweimal in die Brust. Er starb auf dem Operationstisch im Lutheran Hospital von Lookout Mountain, und seine Mutter hatte darum gebeten, daß seine Überreste auf dem Nationalfriedhof von Arlington beigesetzt würden. »Seine Mutter. Arlington. Ich bitte Sie.« Das hatte der Lieutenant gesagt. Seine Mutter. Arlington. Ich bitte Sie. Ein Gefreiter aus Indianapolis namens E. W. Burroughs gewann die sechshundertzwanzig Dollar im Elijahfonds, als 384
Lieutenant Joys zweiunddreißig Tage vor dem Ende seiner Dienstzeit von einer Splitterbombe getötet wurde. Danach gab man uns, die wir nichts Böses ahnten, in die Obhut von Harry Beevers, dem Verlorenen Boß, dem schlimmsten Lieutenant der Welt. Der Gefreite Burroughs starb eine Woche später unten im Drachental, zusammen mit Tiano und Calvin Hill und Scharen anderer, als Lieutenant Beevers uns in ein Minenfeld führte, wo wir achtundvierzig Stunden unter Beschuß zwischen zwei Kompanien der nordvietnamesischen Armee lagen. Ich nehme an, daß Burroughs’ Mutter in Indianapolis die sechshundertzwanzig Dollar bekommen hat.
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Zu den Autoren BARRY N. MALZBERG hat neben vielen Kurzgeschichten das Sachbuch The Engines of the Night geschrieben, außerdem die Romane The Destruction of the Temple; The Cross of Fire; Guernica Night; Herovit’s World; The Falling Astronauts; Revelations; Beyond Apollo; The Remaking of Sigmund Freud. Vor kurzem beendete er sein dreiundachtzigstes Buch. JACK DANN hat neben den Romanen Junction, Starhiker und The Man Who Melted den Sammelband Timetipping veröffentlicht und ist der Herausgeber von Wandering Stars und More Wandering Stars. In Zusammenarbeit mit Gardner Dozois hat er ebenfalls eine Reihe von Anthologien herausgegeben und gemeinsam mit seiner Frau, Jeanne Van Buren Dann, das Buch In the Field of Fire. Sein neuster Roman trägt den Titel The Path of Remembrance. SCOTT EDELMAN hat in The Twilight Zone, Fantasy Book, Amazing Stories und Isaac Asimov’s Science Fiction Magazine Kurzgeschichten und Gedichte veröffentlicht und Beiträge für Horrorcomics (House of Mystery, House of Secrets etc.) und für die Fernsehserie Tales From the Darkside geschrieben. 1990 erschien sein Roman The Gift; weitere Kurzgeschichten und Romane aus seiner Feder sind in Kürze zu erwarten. LAWRENCE WATT-EVANS, der für seine Arbeiten mit einem Hugo Award ausgezeichnet worden ist, hat neben zahlreichen Science-fiction-Romanen wie Shining Steel; Denner’s Wreck; Nightside City; The Cyborg and the Sorcerers die beiden Fantasy-Serien ›Ethshar‹ und ›Lords of Dus‹ (Die Herren von Dus) verfaßt, ferner Kurzgeschichten in Analog; Amazing Stories; The Magazine of Fantasy & Science Fiction und Isaac Asi386
mov’s Science Fiction Magazine veröffentlicht. Sein neustes Buch ist der Horrorroman The Nightmare People. RICHARD CHRISTIAN MATHESON ist nicht nur ein versierter Autor von Science Fiction-, Fantasy- und Horrorkurzgeschichten, sondern hat auch zahlreiche Fernsehdrehbücher und mehrere Drehbücher für Spielfilme geschrieben. Der Sammelband Sears and Other Distinguishing Marks erschien 1987. Sein neuer Roman, Created By, ist ein Thriller, der im Showbusiness spielt. JOYCE CAROL OATES hat neben zahlreichen Romanen wie Wonderland; Them; Where Are You Going, Where Have You Been?; American Appetites; Night Side; The Crosswicks Horror; Because It Is Bitter, and Because It Is My Heart Dutzende von Theaterstücken, Kurzgeschichten, Gedichten, Literaturkritiken und Essays geschrieben. Sie lehrt als Literaturprofessorin an der Princeton Universität, ist Herausgeberin der Ontario Review und Gewinnerin des National Book Award. Zu ihren neusten Büchern gehört Heat and Other Stories. KIM ANTIEAU hat in Isaac Asimov’s Science Fiction Magazine; The Twilight Zone; The Magazine of Fantasy & Science Fiction und in Crosscurrents Kurzgeschichten veröffentlicht und ist darüber hinaus auch in Anthologien wie Shadows; The Year’s Best Fantasy Stories; The Year’s Best Horror Stories; Best New Horror; Borderlands II und Final Shadows mit ihren Arbeiten vertreten. Demnächst erscheint von ihr ein Roman mit dem Titel Ruins. LISA TUTTLE hat Science Fiction-, Fantasy- und Horrorkurzgeschichten für die Sammelbände A Spaceship Built of Stone und A Nest of Nightmares geschrieben, dazu unter anderem die Romane Windhaven (gemeinsam mit George R. R. Martin), 387
Gabriel und Familiar Spirit. Sie ist Gewinnerin des John W. Cambell Award und Herausgeberin des Sachbuchs Encyclopedia of Feminism. DONALD R. BURLESONS Kurzgeschichten sind in Twilight Zone, The Magazine of Fantasy & Science Fiction und in den Anthologien Best New Horror, The Year’s Best Fantasy Stories und Post Mortem erschienen. Er ist außerdem der Verfasser von H. P. Lovecraft: A Critical Study und von Lovecraft: Disturbing the Universe. RAMSEY CAMPBELL hat zahlreiche Sammelbände und Romane veröffentlicht, dazu gehören The Inhabitant of the Lake and Other Less Welcome Tenants; Demons by Daylight; The Height of the Scream; Cold Print; Scared Stiff; The Doll Who Ate His Mother; The Face That Must Die; The Nameless; The Parasite; The Influence; Incarnate; Obsession; The Hungry Moon; Ancient Images und Midnight Sun. KARL EDWARD WAGNER ist Herausgeber von The Year’s Best Horror Stories und Autor der Romane Darkness Weaves; Death Angel’s Shadow; Bloodstone; Dark Crusade; Night Winds; In A Lonely Place und Why Not You and I? Seine neuesten Veröffentlichungen sind die Bücher The Fourth Seal; At First Just Ghostly und Tell Me, Dark; ein Roman, zu dem der Zeichner Kent Williams die Illustrationen geschaffen hat. M. JOHN HARRISON betreute zwischen 1968 und 1975 als Literaturredakteur die Reihe New Worlds. Zu seinen Büchern gehören The Committed Men; The Centauri Device; In Viriconium; Viriconium Nights; The Ice Monkey und The Machine in Shaft Ten. Für Climbers (1989) erhielt er den Boardman Tasker Award. Seine jüngsten Werke sind der metaphysische Thriller The Course of the Heart, das Sachbuch The Drop und ein 388
Fantasyroman in Zusammenarbeit mit dem Zeichner Ian Miller. WHITLEY STRIEBER ist der Autor von The Wolfen; The Hunger; Black Magic; The Night Church; Wolf of Shadows; Catmagic; Majestic; Billy und The Wild; daneben hat er die Tatsachenberichte Communion und Transformation verfaßt und gemeinsam mit James Kunetka die beiden Bücher Warday und Nature’s End. Sein neuster Roman trägt den Titel Unholy Fire. THOMAS TESSIER ist der ehemalige Geschäftsführer des Verlags Millington Books in London und der Autor von Finishing Touches; Phantom; The Fates; Shockwaves; Rapture und The Night Walker, einem modernen Werwolfroman in klassischer Manier. WILLIAM F. NOLAN hat neun Romane, hundertzwanzig Kurzgeschichten und rund sechshundert Beiträge für Magazine und Zeitschriften verfaßt, fünfundfünfzig Bücher veröffentlicht, ist in zweihundert Anthologien vertreten und hat zahllose Drehbücher für Film und Fernsehen geschrieben. Zu seinen letzten Arbeiten gehören der Roman Helltracks, die Anthologie The Bradbury Chronicles und der Sammelband Nightshapes. GEORGE CLAYTON JOHNSON ist der Co-Autor von Logan’s Run und Ocean’s Eleven und hat mehrere Episoden der bekannten Fernsehserie Twilight Zone geschrieben, darunter »Nothing in the Dark«, »A Penny for Your Thoughts«, »The Poolplayer«, »The Prime Mover« und »Kick the Can«. Auch die erste Folge von Star Trek stammt aus seiner Feder. Seine Kurzgeschichten sind in den Sammelbänden 100 Great Fantasy Short Stories; Author’s Choice; Cutting Edge und Masters of Darkness erschienen.
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DAVID MORRELL ist der Autor von First Blood; The Brotherhood of the Rose; The Fraternity of the Stone; The League of Night and Fog; The Fifth Profession; The Covenant of the Flame; Testament; Last Reveille und The Totem. Für eine seiner Kurzgeschichten, »Orange Is for Anguish, Blue for Insanity«, hat er 1989 den Horror Writers of America Bram Stoker Award erhalten. STEVE RASNIC TEM hat seit 1979 mehr als einhundert Kurzgeschichten veröffentlicht, die Romane Excavations und New Blood geschrieben und daneben The Umbral Anthology of Science Fiction Poetry herausgegeben. Zu seinen letzten Arbeiten zählen die Bücher Absences: Charlie Goode’s Ghosts und Celestial Inventory, außerdem der Sammelband Dark Shapes in the Road. ROBERT DEVEREAUX, ein Absolvent des Clarion West Workshops von 1990, hat Kurzgeschichten in Pulphouse und Iniquities veröffentlicht; in Kürze erscheinen seine beiden Romane Deadweight und Santa Steps Out. CHELSEA QUINN YARBRO ist die Autorin von mehr als vierzig Büchern, darunter einer Serie über den legendären Comte de Saint-Germaine: Hotel Transylvania; The Palace; Blood Games; Path of the Eclipse; Tempting Fate; The Saint-Germaine Chronicles und Darker Jewels. Sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit Science Fiction und dem Okkultismus, außerdem schreibt sie Krimis, Western, Horror- und Fantasyromane. PETER STRAUB ist der Verfasser der Romane Marriages; Under Venus; Julia (der unter dem Titel The Haunting of Julia verfilmt wurde); If You Could See Me Now; Ghost Story; Shadowland; Floating Dragon; The Talisman (gemeinsam mit Stephen King); Koko und Mystery. Daneben hat er die Sammlungen 390
Wild Animals und Houses Without Doors veröffentlicht sowie zwei Gedichtbände, Open Air und Leeson Park and Belsize Square. Sein neuer Roman trägt den Titel The Throat.
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Quellenverzeichnis BARRY N. MALZBERG / JACK DANN: Melancholie und die abstrakte Wahrheit / Blues And The Abstract Truth. Copyright © 1988 by authors. Aus dem Amerikanischen von Ronald M. Hahn. SCOTT EDELMAN: Sind Sie oder waren Sie? / Are You Now? Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. LAWRENCE WATT-EVANS: Ein Stich / Stab. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. RICHARD CHRISTIAN MATHESON: Verstümmler / Mutilator. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. JOYCE CAROL OATES: Martyrium / Martyrdom aus: Joyce Carol Oates: »Verfolgt« (Erzählungen). Copyright © 1992 by author. Copyright © der deutschen Übersetzung 1996 by Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart. Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann. KIM ANTTEAU: Heckenrose / Briar Rose. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. LISA TUTTLE: Ersatz / Replacements. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. DONALD R. BURLESON: Ziggles / Ziggles. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld.
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RAMSEY CAMPBELL: Am anderen Ende / End Of The Line. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. KARL EDWARD WAGNER: Tote sind das einzig Wahre / Did They Get You To Trade? Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. M. JOHN HARRISON: Gifco / Gifco. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. WHITLEY STRIEBER: Eins mit dem Tier / The Properties Of The Beast. Copyright © 1992 by Wilson & Neff, Inc. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. THOMAS TESSIER: Zum Lob der Narretei / In Praise Of Folly. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. WILLIAM F. NOLAN: Der Besuch / The Visit. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. GEORGE CLAYTON JOHNSON: Der Klang der Wahrheit / The Ring Of Truth. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. DAVID MORRELL: Niemand wird dir was tun / Nothing Will Hurt You. Copyright © 1992 by David Morrell. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. STEVE RASNIC TEM: Unter der Erde / Underground. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld.
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ROBERT DEVEREAUX: Bucky geht zur Kirche / Bucky Goes To Church. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. BARRY N. MALZBERG: Dumbarton Oaks / Dumbarton Oaks. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. CHELSEA QUINN YARBRO: Novene / Novena. Copyright © 1992 by author. Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld. PETER STRAUB: Das Geisterdorf / The Ghost Village. Copyright © 1992 by Peter Straub. Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier.
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