OTTO ZIEREK
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBANDEN
Am Tor der neuen W...
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OTTO ZIEREK
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBANDEN
Am Tor der neuen Welt Unter diesem Titel erscheint der Doppelband 25/26 der neuartigen Weltgeschichte. Der Doppelband behandelt das 15. Jahrhundert n. Ch Die Menschen beginnen die Welt mit neuen Augen zu sehen. Das geographische und wissenschaftliche Bild dei Erde dehnt sich über die engen Grenzen des alten Universums : Columbus entdeckt Amerika, Vasco da Gama rindet den Seeweg nach Indien. Der Geist bricht über die Schranken frommer Bindung in große, unabsehbare Räume. Die Buchdruckerkunst gibt jedem neuen, revolutionären Gedanken, jeder Entdeckung weltweites Echo. Donnernd springt das Tor zu einer größeren Welt auf, die Neuzeit hebt an.
Auch dieser Doppelband ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthalt wiederausgezeichneteKunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM 6.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. (Einzelbände 1—18 je DM 3,60.) Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
Hanns
HEFTE
Maria Lux
Der
Wandsbecker Bote
VERLAG SEBASTIAN LUX . MURNAU / MÜNCHEN
„Befiehl du deine Wege!" nweit der Stelle, wo der verwitterte Meilenstein mit einiger Mühe zu lesen gab, daß eine Viertelstunde straßauf der Flecken Reinfeld beginne und straßab es noch rund zwei Stunden Fußweg bis zur Hansestadt Lübeck seien, rannten zwei Knaben einer gemächlich rollenden Kutsche entgegen; sie schwangen die Mützen und schrien schon von weitem, daß sie ein neues Brüderchen hätten, und gestern sei es angekommen! Jetzt aber blieben sie wie angewurzelt stehen und starrten erschrocken auf die über alle Maßen vornehme Dame, die — von einer Jungfrau begleitet — im Wagen saß. Du lieber Gott: sie hatten seit heute morgen mit seligem Eifer es allen Leuten, den großen und kleinen, im Dorf verkündet und es auch den Tieren, den Bäumen und Blumen und es sogar vom Kirchhügel her dem Sommerwinde angesagt, was gestern zu später Stund' geschehen sei; so hatten sie denn eben noch gewünscht, die frohe Botschaft auch den unbekannten Reisenden zuzurufen, deren Kutsche soeben die Lübische Straße befuhr. Aber es war kein gewöhnlicher Irgendwer, der da gefahren kam: es war eine Dame, und sie kannten sie genau: die durchlauchtigste Frau Herzogin, die Witwe des holsteinischen Fürsten von Plön, die unweit des Dorfes im Schlößchen lebte. Nun standen sie da, die strohblonden Haare vom leichten Wind durchspielt, die Lippen noch vom lachenden Schrei geöffnet, die groß gerundeten Kinderaugen jedoch vom heißen Erschrecken, von der nie geahnten Überraschung starr und gebannt. 2
Die Herzogin lächelte, viel Güte und Mütterlichkeit war in ihrem Blick: so so, ein Kindlein sei angekommen, und sie vermute, im Reinfelder Pfarrhaus; ja, sie wisse auch bereits, auf welchen Namen der Bruder getauft werde: „Matthias", genau wie der Herr Vater heiße — das habe er ihr schon vor einigen Wochen nach dem Gottesdienst im Schlosse anvertraut —, und sie lasse die brave Pastorin grüßen; und — nun nestelte die Jungfrau auf einen Wink der Herzogin etwas aus dem perlenbestickten Beutel — hier sei ein silberner Tauftaler, und den dürften sie dem Brüderchen in die Wiege legen. So sagte sie, ließ die noch immer Verdutzten das Geldstück auffangen, nahm den plötzlich aufbrechenden Jubel freundlich entgegen, dazu die ungelenken, ein wenig bäuerlichen Kratzfüße der kleinen Untertanen, und dann rollte die Kutsche davon. Quer über die Felder sprangen sie heimwärts, das unerwartete Präsent der Frau Herzogin den Eltern und den Geschwistern anzuzeigen. Sie rannten am Flecken vorbei, an den ärmlichen Häusern mit den roten Schindeldächern, auf die das Kirchlein vom sanften Hügel fromm-wächterlich hinabschaute, und kamen an den kleinen See, den Herrenteich. Atemlos erreichten sie den Garten und das Haus, In seiner Amtsstube saß Herr Matthias Claudius, Pastor zu Reinfeld, das an dem Weg liegt, der mit gemachen Windungen vom fernen Hamburg nach dem näheren Lübeck spaziert. Er ließ sich gerne stören, als der glückselige Jubel der Kinder in die Stille der Kammer einbrach, und dämpfte die Lautheit erst, als er die beiden mit dem reichen Geschenk hinüber in die Geburtsstube schickte. Dort lag die Kindmutter, Frau Maria, und hütete mit seligem Blick den Knaben, der gleich neben dem Bett in der Wiege schlummerte. Ein altertümliches Ding, diese hölzerne Wohnung des ersten Lebens, darinnen der noch Ungetaufte ruhte, und doch wäre sie ihr nimmer für eine Prinzenwiege feil gewesen: durch Generationen hatte sich diese Wiege von Mutter zu Mutter vererbt, und Frau Maria, die Tochter des Flensburger Ratsherrn Jens Lorentzen Lorck, hatte sie nach Reinfeld gebracht, die Kinder ihres Eheliebsten Matthias darein zu legen. Während die zwei Buben sich mühten, das Forte der Stimmen zu dämpfen, und mit brüchigem Piano der Mutter erzählten, welch großen Schatz sie dem Neugeborenen mitgebracht hätten, saß Vater Claudius wieder über die Bibel gebeugt und wartete geduldig auf den Augenblick, der ihm Gelegenheit gäbe, zum Federkiel zu greifen, um das Ereignis der Geburt des Kindes ins alte Gottesbuch einzutragen. Ja, er wartete darauf, und hätte es doch unverzüglich 3
tun können. Doch noch immer, wenn einer geboren, ein anderer gestorben war oder was auch immer aus des Herrgotts weiser Vorsehung den Lebenskreis seiner Familie angerührt hatte, stets hatte er zuvor die Vorväter herbeigerufen und fromme Zwiesprach mit ihnen gehalten, damit ihr Wort ein frohes Ereignis segne oder ein schmerzliches lindere. So saß Herr Matthias da und las bedachtsam, was jene, die vor ihm gewesen zu Nutz und Frommen der Späteren den Seiten des pergamentenen Buches anvertraut hatten. Viele Stufen führten vom Ersten, der die Familienchronik angelegt hatte, abwärts bis zu ihm, dem Reinfelder Pfarrherrn. Es war ein weiter Weg, den seine Blicke und Gedanken gehen mußten; denn bis in Luthers Tage war die Stufenleiter deutlich sichtbar. Alle Vorväter waren Geistliche wie er gewesen und hatten im deutschen Norden oder dänischen Süden getreu ihr Gottesamt verrichtet. Einer von ihnen, der im 16. Jahrhundert gelebt, war dem Brauch der gelehrten Leute seiner Zeit gefolgt und hatte seinen braven Namen „Claus" in das lateinische „Claudius" umgewandelt. Es mochte sein, daß dieser Herr gescheiter als alle übrigen vor und nach ihm war, die samt und sonders mehr aus der Einfalt des Herzens als aus der Klugheit des Geistes im bäuerlichen Holstein amtiert hatten. Und weiter glitt der oft verweilende Blick des Pfarrers von Geschlechterstufe zu Geschlechterstufe. Auf der vorletzten Seite stand die Geburt seines Vaters Nikolaus verzeichnet. Herr Matthias lächelte; von seinem Vater sprachen die Leute noch heutzutage: sein schnurriges Wesen hatte es ihnen angetan; auch war er einer, dem es nichts ausmachte, ehrliche Frömmigkeit mit ein wenig Sternenglauben zu mischen. Wie hätte es sonst geschehen können, daß er die Geburt seines Sohnes Matthias, des jetzigen Pfarrers, mit diesen Worten eintrug: Matthias geboren, am 3. September 1703 zu SüderLügum bei Tondern. „des Morgens um 3 Uhr, als die Sonne im Zeichen der Jungfrau stand".— Der Leser schob die Bibel auf das Pult, stützte den Kopf in die Hand und schaute in die Zukunft. Einmal würde einer seiner Söhne auch hinter des Vaters Namen ein Sterbekreuzehen setzen. Mochte es dann geschehen, daß der Chronist auch noch ein gutes Wort beifügen werde, daß er, Herr Matthias, sich nach besten Kräften bemüht habe, redlich der Familie und der Gemeinde vorzustehen, einer, der stets danach gestrebt, in Gottesfurcht und kindlichem Glauben zu wandeln. Nicht zu seinem Lob sollte dieses angemerkt werden, nein, um des Exempels willen, das bislang alle Väter den Söhnen und Enkeln gegeben hatten . . . 4
Pfarrer Matthias Claudius senkte demütig, die Stirn und faltete die Hände, und nimmer konnte er in dieser Stunde ahnen, da er mit den Dahingegangenen sprach, daß einmal der Knabe, dem er übermorgen in der Taufe seinen Namen geben würde, ihm vor aller Welt danken werde: „Träufte mir von Segen dieser Mann, wie ein Stern aus besseren Welten, und ich kann ihm nicht vergelten, was er mir getan!" — Drüben im Geburtszimmer singen die beiden Knaben. Auch die Mutter bewegt zu den Worten der Kinder die Lippen: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt! Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann." Da greift er zum Federkiel und schreibt mit fester Schrift: „Anno 1740 ist mein Sohn Matthias, dem 15. August des abends um Vi Eilf, geboren. Vater, regiere denselben mit dem Heiligen Geiste, daß er Dir sein Lebelang dienen möge in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit, damit er sich der Vorteile Deiner Gnade zu erfreuen haben möge, Amen."
Fünfundzwanzig
Jahre
später
ie Haustür ist verschlossen. Der junge Mann hebt das Felleisen vom Rücken und schiebt es unter eine Hortensie, die freundlich den Eingang begrenzt. Dann schleicht er um die Wohnung. In der Wand, die dem Herrenteich zugekehrt liegt, steht ein Fenster spaltbreit * geöffnet. Er verhält den Schritt und blickt scheu um sich. Es ist Hochsommer (und wir schreiben das Jahr 1765). Der Abend verströmt Frieden ins Dorf. Warmes Spätsonnenlicht fließt über Garten und Haus. Aber den Mann friert's. Er möchte sich in den 5
freundlichen Abendschein setzen, der die Birkenbank überschimmert, möchte hier draußen warten, bis irgendwer kommt, ihn einzulassen. Aber er läßt sich nicht nieder: es ist die immer wieder aufsteigende Scham des „verlorenen Sohnes", die ihn davon abhält. Er weiß, er wird Red' und Antwort stehen müssen — und wird es geschehen, so soll es drinnen sein, wo kein Fremder die ernste Zwiesprache stören kann. Denn in Reinfeld wissen sie es mittlerweile, daß er heimgekehrt ist. Die Frau Amtsschreiber Hintzpeter hat ihn gesehen, als er, die Dorfstraße vermeidend, über die Felder stolperte, den Kopf eingezogen, das Gesicht tief gesenkt. Sie ist seine Gevatterin gewesen, als er droben im Kirchlein getauft wunde. Die Hintzpeterin ist gewiß eine brave, aber auch recht gesprächige Frau; allzeit hat sie gewünscht, daß er Pastor werde, ein guter, frommer Gottesdiener wie sein Vater und seine Vorväter waren. Nun schwätzt sich die aufregende Nachricht, daß er nach mancherlei Studienjahren, nach vielen Irr- und Wirrwegen, heimgekehrt ist, von Tür zu Tür, und wer weiß, ob nicht dieser oder der heut' abend noch am Pfarrhaus anklopft, um ein Grußwort anzubringen und dabei zu hören, wie weit Matthias es denn eigentlich gebracht habe. Man hat hin und wieder dies und das aus den Studien- und Nachstudienjahren des jungen Herrn erfahren; schließlich ist Reinfeld nicht ganz aus der Welt, und weil es an der Hauptstraße zwischen Hamburg und Lübeck liegt, bleibt's nicht aus, daß manche Neuigkeit aus der weiten Welt ins Dorf wandert. — Ob es wirklich wahr ist, daß der Herr Matthias das Studium der Gottesgelahrsarnkeit aufgegeben hat? Wo nur die Eltern und Geschwister weilen? Es ist Sonntag; sie werden — wie es Brauch ist — durch die Flur gegangen sein; und der Vater wird dann und wann das sommerfrohe Gerede der Kinder unterbrechen: er wird fromme Worte sagen und dabei den Blick zum Abendhimmel schicken, aus dessen stiller Tiefe der erste Stern aufblüht. — Wie gut, daß Mutter vergessen hat, das Fenster zu schließen! Ob sie am End' gar ahnte, daß ihr Matthias heimkomme, daß es ihn zurückgetrieben habe, weil ihn fröstelte in der Welt, die jenseits der Geborgenheit des häuslichen Herdes liegt? Ach, Mutter: allzeit still, immer für ihre Lieben geschäftig und doch voll bedächtiger Gelassenheit, selbstlos im Verströmen ihrer herzgrundtiefen Güte! Nun ist ihr liebes Kind heimgekommen, Matthias, der auszog, bei den Berühmten im Land, bei den Professoren der Hochschule, Gott zu begegnen und dabei in die Irre ging .. . 6
Matthias schwingt sich über die Fensterhank und steht in der Amtsstube des Vaters. Wie sich das Auge mit dem Gedämmer vertraut gemacht hat, blickt er um sich: nichts hat sich geändert, seit er Reinfeld verlassen hat; wie die Dinge hier, .Schreibpult, Cembalo und Lutherbild, so blieb auch die Zeit unverrückt stehen: In die auf den Väterglauben gegründete Sicherheit dieses Hauses ist die Unrast der aufklärerischen Geisteswelt, die am Wort der Offenbarung deutelt und rüttelt, nicht gedrungen. Eine feste Burg ist unser G o t t . . .! Aus dem Cembalo scheint's herzuklingen, und nun geht das siegessichere Lied in ein anderes über; es ist tröstlich und ist wie ein Schutzmantel, der sich um das verwirrte Herz des Heimgekehrten legt: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt..." Matthias läßt sich im Sessel vorm Schreibpult nieder, und die Augen werden naß. Er ist wieder daheim, er friert nicht mehr. Erinnerungen steigen empor und lassen ihn die Wege wieder gehen, die von dieser Stätte aus ins Leben führten.
Erinnerungen . . . anchmal schaut die Mutter den Knaben mit leisem Erstaunen an: Matthias gleicht nicht den Söhnen aus sächsisch-friesischem Stamm, den Kampf und Natur gehärtet haben; dieses Kind ist zart gebaut, die Züge sind sanft, sie fließen weich wie das gewellte braune Haar. Auffällig schön sind die Lippen: die Linie schwingt voll dahin und birgt eine ungewohnt vornehme Anmut. Könnte es je geschehen, daß dieser weichgeformte Mund ein freches Wort entließe? Die Augen sind bläulich, Träume schimmern manchmal darin; dann schauen sie ins Ferne, oder die Blicke sind merkwürdig nach 7
Innen gebannt. Dann ist eine Stille um den Knaben, die nur der laute Zuruf brechen kann. Aber diese Stille ist nicht Leere! Der erste Lehrer ist der Viater: er vermittelt den Kindern, unter denen sich Matthias dem älteren Bruder Josias unzertrennlich verbunden fühlt, die Anfangskenntnisse. Schon früh führt er sie in die alten iSprachen ein. Das Fundament aller geistigen und seelischen Unterweisungen aber ist die Religion. Das Wort der Bibel prägt die Kinder für immer, — mag auch eine Zeit kommen, in der die Lehrsätze der neunmalklugen Anbeter der kalten Vernunft das fromm-gefügte Fundament vorübergehend verschütten, aber nicht zerstören können. Josias und Matthias sollen Geistliche werden. Der besinnliche Matthias scheint wohl am meisten zum Gottesamt berufen zu sein, und so ermuntert der Vater gerade ihn, dann und wann den Pultsessel zur Kanzel zu machen: Der Knabe predigt, Vater, Mutter und Geschwister lauschen, und das fromme Spiel verliert immer sichtbarer an kindlichem Ausdruck und gewinnt an Ernst, der erstaunen läßt. — Der Ernst, der dieses Kind so oft begleitet, wirkt erschütternd, als der Elfjährige zum erstenmal in das Erlebnis des Todes gerissen wird, als die unheimliche Wiederkehr des Sterbens sein Wesen fürs ganze Leben prägt. Im Sommer 1751 stirbt sein Schwesterchen Lucia Magdalena, einen Tag idarauf reißt der Sensenmann (im Kirchlein ist sein Bild gezeichnet) den fünfjährgien Lorzen aus dem kaum erblühten Leben, zwei Monate später, holt er sich auch den achtjährigen Bruder Karl Friedrich. Seit dieser dreimaligen Stunde des Sterbens (und diese Stunden werden sich noch mehrmals unbarmherzig wiederholen) wird d e r Tod dem Menschen und Dichter Claudius wie keinem zweiten deutschen Dichter mehr vertraut: er lernt die Furcht überwinden und wird einmal in den helldunklen Strophen vom „Tod und dem Mädchen" den „wilden Knochenmann" den Freund des Menschen nennen. Matthias sieht, wie der gequälte Vater sich in seiner menschlichen Not windet, und sieht zugleich, wie der tiefe Glaube die Not der Seele überwindet. So jung Matthias auch ist und so alt er auch wird: die Haltung des „alten lieben frommen Mannes", wie er einmal den Vater nennt, bestimmt auch die eigene. Und neben dem Vater steht die in den Abgrund des Leides gestoßene Mutter; schmerzbeladen « richtet sie sich am Stab des Glaubens auf und macht das Wort wahr, das sie dem Knaben kurz darauf in seine Bibel schreibt: „ . . . Vor allem danke Gott in allem deinem Schicksal! Solches verleihe der Herr in Gnaden!" 8
Ein Dunkel bleibt zurück ie Jahre der Kindheit sind vorbei: der feierliche Tag der Konfirmation beendet sie. Josias und Matthias besuchen 1755 die „öffentliche Evangelisch-Luthersche Lateinische, auch Schreib- und Rechenschule" zu Plön am See. Sie ist eine bekannte Pflegestätte gründlichen Wissens, aber die Herzensbildung kommt zu kurz. Plön ist der geistige Exerzierplatz der holsteinischen Adels-, Bürger- und Bauernsöhne. Herr Rektor Alberti steht der Schule vor. Man betreibt Latein, man lernt natürlich auch die antiken Dichter kennen; aber Regeln und Formeln zerstören wie Hagelschauer die Blüten der Poesie, und was übrig bleibt, sind kahle Zweige, an denen die geplagten Buben grammatikalische Klimmzüge machen. Dem Werk der deutschen Dichter geht's nicht besser; denn noch trefflicher lassen sich daran die Gesetze der Vers- und Reimkunst erlernen. Was wird ansonsten gelehrt? Griechisch, ein wenig Hebräisch, auch soll „der Rektor die Schüler in der nötigsten geographia oder landcarten informieren, ihnen eine summarische Wissenschaft von den vornehmsten Kayserlichen, Königlichen, Chur- und Fürstlichen Regenten und ihren Familien beibringen". Natürlich fehlt auch die religiöse Unterweisung nicht. Aber die jungen Herzen frieren bei diesen Lektionen: das Göttliche wird zerredet, zergliedert, wird durch das Sieb des Verstandes gepreßt, und richtig behaltenswert ist nur, was durch die ratio, durch die Erkenntnis der Vernunft, begründet werden kann.
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Der Rektor Alberti, zu dessen Füßen der Schüler Claudius sitzt, hockt in Schlafrock, Zipfelmütze und Pantoffeln auf dem Katheder und doziert. Der Blick des Magisters streift den Jungen: schüchtern, fast hilflos schaut er drein; gewiß, er ist fleißig, die Schule ist mit seinen Leistungen zufrieden. Wenn nur diese häufige Abwesenheit des Geistes nicht wäre! Der Rektor hat keine Zeit, seinen Vortrag zu unterbrechen, zu wertvoll ist der Stoff und ist ihm wertvoller als ein unaufmerksamer Schüler. Herr Alberti ist gerade dabei, das Korn des herzvollen Glaubens im Räderwerk des nüchternen Verstandes zu mahlen. Ein blühender Baum schickt seine Zweige zum Klassenfenster hin. Die Kirchenglocke läutet. Matthias träumt. Er wandelt mit dem Vater über die Reinfelder Flur, und des Knaben Zwitscherstimmlein vereint sich mit dem kräftigen Baß des Pfarrers: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud' in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben; schau an der schönen Gärten Zier und siehe, wie sie mir und dir sich aufgeschmücket haben!" Die Stimme des Rektors Alberti steigert sich, und sein klügelnder Vortrag fällt wie kalter Schatten über die einfältigen Klänge und wischt sie aus. Ein Dunkel bleibt zurück, der Zweifel wird gesät, in dem sich der Glaube der Kindheit langsam verstrickt; die „Harmonie des Fühlens, Glaubens und Denkens, die Einheit des Wesens" geht in Trümmer. Nur das Fundament bleibt unzerstörbar: die frommen Eltern, die glaubensstarken Vorväter haben es gegründet. Doch das Fundament ist verschüttet. ..
* Matthias Claudius wischt die trüben Erinnerungen aus dem Herzen und tritt ans Fenster. Noch immer sind die Eltern nicht vom Spaziergang heimgekehrt. Mehr und mehr weicht das Licht des Tages. Die Tiefe des Gartens verschattet sich, Dunkelheit sammelt sich unter den Bäumen. Der Mond wächst empor. Mit einemmal gespenstert es über die Steinplatten vor der Haustür. Wie ein lang aufgeschossener Mensch, der die Arme hilfesuchend ausstreckt, sieht das Schattengebilde aus. Matthias erschrickt, als habe ihn jemand angerührt. „Josias!" stöhnt er auf. Aber nun verliert sich die jähe Angst: ist es doch nur der Schatten eines Bäumchens, der auf dem Stein geisterte. Doch das Bild des Bruders steht nun ganz lebendig vor ihm. 10
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Schwankende
Seele
ie Hochschule zu Jena gilt allerorts als die universitas pauperum, als die Universität der ,kleinen Leute'. Der arme Reinfelder Pastor schickt seine Söhne Josias und Matthias nach Jena. Aber er entläßt sie nicht ohne väterliches Mahnwort, und so voller Sorge ist sein Herz, vor allem um Matthias, daß er ein ganzes Heft mit lieb-ernsten Worten füllt und es Matthias ins Reisebündel legt: ,Heilige den Tag und die Arbeit durch dein Morgengebet, halte dich an die Gebote des Herrn, hüte dich vor dem wüsten Leben leichtsinniger Studenten, sei sparsam, urteile nicht über andere, weil solches gar leicht Händel bringt!' (Ein knappes halb Jahrhundert später wird sich Matthias der Abschieidsstunde des Jahres 1779 erinnern, in der sein Vater ihn in die gefahrumlauerte Studentenzeit entließ: Dann wird der Dichter Matthias Claudius ein Gleiches tun, er wird das Testament „An meinen Sohn Johannes", der nach Hamburg in die Lehre geht, schreiben und es dem Jüngling anvertrauen, und diese schmale Schrift, diese Summe echt claudiusscher Lebensweisheit, wird das ergreifendste Vermächtnis sein, das je ein Vater seinem iSohn in die Unsicherheit des Lebens mitgegeben hat). In Jena stehen sich die Fronten der Gottesgelehrten feindlich gegenüber: hier spricht der strenggläubige Theologe und verteidigt hartnäckig und zürnend das Christentum, wie es als unangetastetes Erbe bis zur Stunde weitergereicht worden ist; dort ereifert sich wütend und spöttisch der Anhänger d e r neuen Richtung, der philosophisch aufgeklärten Religion. Hier jene vertrauensvolle Hingabe, die jeglichen Zweifel am geoffenbarten Wort verwirft, dort kühler Zweifel, der oft bis zur Gottesverleugnung führt. Matthias steht hin- und hergezerrt zwischen den Gegnern. Was der Magister Alberti in Plön gesät hat, das Recht auf den Zweifel, die Forderung nach der eigenen Auslegung religiöser Lehren, in Jena geht die Saat auf: Der hilflose Matthias kehrt beiden Richtungen den Rücken. Ihn beunruhigen die theologischen Haarspaltereien, die ausgetüftelten Verstandessätize verletzen sein Gemüt, und da er dem fruchtlosen Streit nicht nur in den Hörsälen der Gottesgelahrten, sondern fast in allen Fakultäten begegnet, nennt er die Professoren eine „zänkische und stänkische Clique". Er hat den sicheren Boden verloren. Die unverrückbar gefestigte Ordnung einer Weltanschauung, schon unter Magister Alberti ins Wanken gekommen —. in Jena stürzt sie zusammen. Er wendet sich vom Studium der Theologie 11
ab und wird Student der „Rechts- und Kasmeralwissenschaften". Aber auch hier findet er nur Ungewißheit und zwiefältige Welt- und Lebensanschauung. Er vollendet auch dieses Studium nicht. Das erschütterndste Bild dieser seelischen Zerrissenheit spiegelt sich in einem denkwürdigen Ereignis der letzten Novembertage 1760. Josias, der geliebte Bruder, erkrankt und stirbt. Gott- und menschverlassen steht Matthias dem Tod eines jungen Menschen gegenüber. Barbarisch und sinnlos erscheint ihm solch frühes Sterben. Als ihm in den Tagen der Reinfelder Kindheit die Geschwister entrissen wurden, erlebte er am Beispiel des leidenden Vaters, wie der Glaube die menschliche Passion krönte. In Jena aber ist er ohne den starken Halt des Vaters, er treibt dahin wie ein Schiff ohne Steuermann; der Zweifel hat den Glauben der Reinfelder Knabenjahre fragwürdig gemacht. Die akademische Sitte verlangt, daß er aim offenen Grabe die Leichenrede hält. Die ihm zuhören, ist Seine Magnifizenz, der Rektor der Universität, sind die Professoren und Studenten. Und Claudius, der einmal allen, die an der Gruft eines lieben Menschen stehen, „leisen, süßen Trost von Gott gegeben" zusprechen wird, der gleiche Claudius, der Student Matthias, schwatzt auf dein Friedhof zu Jena eine Gedenkrede auf den Toten, die einen glauben-verlorenen Menschen in seinem tiefsten Elend offenbart. Er stückelt eine Vorlesung aus angelernten Halbwahrheiten zusammen, er redet blutlere, rührselige Worte; er doziert, daß nimmer es Gottes Wille sei, ein noch unvollendetes Leben zu zerbrechen: „Kommen Sie mit zu dem Totenbette eines Jünglings, ach, sehen Sie meinen Bruder sterben uad Sie werden überzeugt zurückkehren . .. Nein, Gott, nein, du bestimmtest den Tod nicht! Ich bin unglücklich, aber du bist — an diesem frühen Sterben — unschuldig: es war dein Wille nicht!" Nicht genug damit: er läßt die Rede sogleich drucken, und sie erscheint unter dem schwülstigen Titel: „Ob und wie weit GOTT den Tod des Menschen bestimme — Bey der Gruft seines geliebtesten Bruders HERRN Josias Claudius, der Gottesgelahrsamkeit rühmlichst Beflissenen, welcher zu Jena seelig verschieden — von M. Claudius." —
* Nun ist die Sonne schon ein Weilchen untergegangen, das bleiche Silber des Mondes hat sich in warmes Gold verwandelt. Vom See klingt Singen her: viele Stimmen sind es, die sich im Lied vereinen. 12
Er tritt unter die Haustür und schickt den Blick hinaus. Doch Baum und Busch verdecken den Weg, den die Sänger ziehen. Jetzt kehren die Eltern heim! Und aus lieben Erinnerungen weiß ex: dem Heimweg des Vaters hat sich 'dieser und jener Bauer mit Frau und Kindern angeschlqssen. In der Mitte schreitet der HeTr Pfarrer, die Kinder haben sich um ihn geschart. Nun weist er in die sanfte Stille des späten Tages, nun stimmt er das Abendlied des geliebten Paul Gerhardt an, das Lied mit den vielen Strophen, deren vorletzte den einsamen Lauscher am tiefsten erschüttert: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein! Will Satan mich verschlingen, so laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein!"
Heimkehr zu sich selbst rei Jahre mußten vergehen, ehe Matthias Claudius wieder zum verschütteten Grund seines Wesens zurückgefunden hatte. Die schonende Liebe der Eltern umgab ihn; die Heimat, in der sich nichts verändert hatte, verlieh ihm wieder die ursprüngliche Sicherheit: Er hatte die Leere des Rationalismus, der alles mit dem Ver13
stand zerpflückte, überwunden: das Leben vor Gott, die dem Menschen gestellte Aufgabe war nicht mehr fragwürdig. Wie weit schienen die Tage von Jena zurückzuliegen! Hatte er außer der geschwätzigen Grabrede wirklich einmal — 1763 — ein Büchlein herausgebracht, das — dem Stürmer und Dränger Gerstenberg nachempfunden — leichtfertig und oberflächlich den Lebensgenuß pries, und dem er den törichten Titel „Tändeleien und Erzählungen" gegeben hatte? Diese Zeit eines Fassadenlebems deuchte ihm nun so fern und war ihm heute so fremd, daß ihn die unbarmherzig harte Ablehnung seines Machwerks durch namhafte Kritiker nicht mehr kränken konnte: „Wann werden doch unsere schlechten Köpfe aufhören zu schreiben?" so hatte Herr Nikolai, der gefürchtete Berliner Rezensent über seine „Tändeleien" geurteilt; „zwar schreiben in andern Ländern schlechte Köpfe auch, aber sie werden doch sogleich verachtet und vergessen". — „Ein schlechter Kopf, verachtet und vergessen . . ." Matthias lächelte zustimmend. Er hatte als Schüler des Herrn Alberti schüchterne Versuche gewagt, Verse zu schreiben, in Jena hatte er mit geborgten Worten antike Liebesgötter und tändelndes Liebesvolk besungen, dann aber, nach seinem Weggang von Jena — 1764 — in Kopenhagen, wo er eine kleine Schreiberstelle bekleidete, die dichterische Größe Klopstocks erlebt und an diesem strahlenden Genie sein eigenes Unvermögen erkannt: hie>r nun, in der Reinfelder Stille, die ihn zu unbarmherzig bohrender Selbstbesinnung zwang, wurde ihm bewußt: er würde so wenig ein echter Dichter werden, wie er Pfarrer und Jurist geworden war! Vielleicht, daß er zum Musikus taugte? Seit den Jahren seiner Kindheit hatte er die Musik geliebt, vor allem das Orgelspiel. Und wie früher saß er auch jetzt wieder stundenlang im Kirchlein auf dem Reinfelder Hügel und öffnete weit die Tür seines Herzens den mächtigen Fugen Johann Sebastian Bachs oder den schlichten Weisen d e r Kirchenlied- und Volkslieddichter. —• Die fleißigen Reinfelder hatten sich allmählich an den Herrn .Matthias ohne Brot' gewöhnt, der mittlerweile an die Dreißig war und es trotz vieler akademischer Semester zu nichts gebracht hatte. Christus hatte einmal von den Vögeln des Himmels gesprochen, die weder säen noch ernten und doch ihre tägliche Atzung kriegen. Wahrscheinlich war der Herr Matthias auch ein solcher Kostgänger — oder war er am Ende nur ein gewöhnlicher Pechvogel, dem alle Pläne mißglückten? Die Frau Amtsschreiberin, die sich noch immer um ,ihren' Täufling sorgte, wußte zu berichten, daß Matthias sich um eine Organistenstelle in Lübeck bemüht habe. Aber auch dieser 14
Versuch, sich auf eigene Füße zu stellen, ging schief: Herr Matthias wurde zur Prüfung seiner musikalischen Fähigkeiten nach Lübeck bestellt, ging zur befohlenen Stunde in die Kirche, hörte sich das Spiel seines Mitbewerbers an und ging, ohne anch nur eine einzige Taste berührt zu haben, wieder nach Hause. Der Konkurrent spielte besser als er: da bedurfte es keinerlei Examens mehr; dem anderen gebührte die Stelle. Die Reinfelder schüttelten die Köpfe: fürwahr, eine solche Einfalt gab's zum zweitenmal im ganzen Land nicht mehr!
Die große Stunde ie Jahreszeiten kamen und gingen, und hatte Matthias sie in seiner Kindheit nur als Bringer immer neuer Knabenfreuden erlebt: jetzt schaute er mit wachen Augen und nachdenklichen Blicken ihrem Kommen und Gehen zu. Er stand am Rain des noch frierenden Vorfrühlingsfeldes, er sah, wie der Pflug die Erde furchte und aus des Bauern Hand die Körner fielen. Es dauerte nicht lange, da stand die Sommersonine wie ein Gottesauge über den reifen Feldern, und die Kinder sangen frohe, fromme Lieder. Der farbensatte Herbst kam, der Winter folgte mit Frostwind und Schnee und erstickte das Leben. Aber dieses Dahingehen war kein Sterben, es war nur ein Ruhen und heimlicbes Wachen und wunderbares Sieh-Verwandelu. Matthias stand vor dem schneeverhüllten Feld, das einem Leichenlaken glich; er fror, aber inwendig vernahm er schon den schüchternen Sang der Frühlingsamsel und roch den ersten Blütenduft des Huflattichs und der Weidenkätzchen. Keinem der Jenaer Professoren hätte er jemals sagen dürfen, was er in diesen Stunden empfand. Ihre auf die kalte Vernunft gegründete Philosophie war ohne Glauben an das Geheimnis und war deshalb gedankeneitles Menschenwerk. Sie wußten nicht mehr, daß „die Denkkraft nur die Hälfte des Menschen ist, und dazu noch die unrechte Hälfte". Sie dünkten sich groß; aber Matthias wußte nun: „Wir sind nicht groß, und unser Glück ist, daß wir an etwas Größeres und Besseres glauben können." Als er an diesem kalten Wintertag ins Elternhaus zurückkehrte, war es dem Vater, als stünde in den Augen des Sohnes „ein Licht, das von einer unsichtbaren Sonne kam, die nie mehr untergeht". —• Im späten Mai des Jahres 1766 kam die schreckliche Nachricht ins Reinfelder Pfarrhaus, daß des Herrn Claudius Tochter, Dorothea Christina, die Frau des Pastors Müller zu Gleschendorf bei Eutin, IS
die Mutter von vier Kindern, gestorben sei, des Matthias einzige und sehr geliebte Schwester. Wiederum hatte der Tod ein noch nicht erfülltes Leben gefällt. Schmerz und Klage gingen durchs Haus. Vater Claudius umklammerte die Bibel. Matthias rannte verstört über die Felder, und mit ihm liefen vielfältige Erinnerungen: Er fühlte wieder das Händchen der Schwester in seiner Knabenhand, er hörte ihr unbekümmertes Lachen . . . Er sah die Achtzehnjährige als glückliche Braut, er las wieder die Verse, die er ihr zum Hochzeitstag geschrieben hatte. Nun schämte er sich der gemütsarmen Strophen, die geschwätzig waren wie alles, was er bisher gedichtet hatte. Er schüttelte beschämt die Worte aus seiner Erinnerung und lief — wie von einem fremden Willen befohlen — zum Feld, an dem er wintersüber gestanden hatte. Längst war der Schnee gewichen. Die grüne Saat bedeckte den Acker, der Apfelbaum, der mitten im Feld stand, leuchtete in Blüten. Da kam die Stunde, in der der neue Claudius geboren wurde: das erste seiner Gedichte entstand, unverfälschter Ausdruck seiner nie zerstörten Lebenshaltung, die Verse vom „Säemann", in denen jedes Wort „nach alltäglicher Abnützung wie unbewußt zu seinem Ursprung zurückkehrte": „Der Sämann säet den Samen, die Erd empfängt ihn, und über ein kleines keimet die Blume herauf. Du liebtest sie. Was auch dies Leben sonst für Gewinn hat, war klein dir geachtet, und sie entschlummerte dir! Was weinest du neben dem Grabe und hebst die Hände zur Wolke des Todes und der Verwesung empor? Wie Gras auf dem Felde sind Menschen dahin, wie Blätter! Nur wenige Tage gehn wir verkleidet einher. Der Adler besuchet die Erde, doch säumt nicht, schüttelt vom Flügel den Staub und kehret zur Sonne zurück." 16
Der
Adreßkomptoirnachrichtenschreiber
n Hamburg wohnen die Pfeffersäcke, sie gelten als die reichsten Leute im Land: ,Die unbeschreibliche Leichtigkeit, Geld umzusetzen, macht die Kaufleute hier zu kühn, und ein Hamburger macht mit 50 000 Gulden mehr Geschäfte als ein,Holländer mit 200 000.' Von solchem Reichtum, von Handel, Schiffahrt und Börse kann man in den zwei Hamburger Zeitungen lesen: In der ,Kayserlich privilegierten Neuen Zeitung' und in den ,Adreß-KomptoirNachrichten'. Am letztgenannten Journal ist ein untergeordneter Redakteur beschäftigt: Er ist im Juni 1768 aus dem Bauerndorf Reinfeld in die große Stadt gekommen, um sein Brot zu verdienen; es ist ein gewisser Matthias Claudius, 28 Jahre alt, bisher ohne Beruf; nun darf er sich ,Adreßkomptoirnachrichtenschreiber' nennen. So groß der Titel sich auch aufplustert, so klein ist das Geld, das der Redakteur verdient, und manchmal ist's so wenig, daß er den Briefen an Freunde ein Postskriptum anfügen muß, etwa dieses: „Ich frankiere den Brief nicht; nicht weil ich ihn nicht frankieren will, sondern weil ich ihn nicht frankieren kann." Doch setzt er gleich dazu: „Demohngeachtet bin ich vergnügt." Der Chefredakteur beherrscht fast das ganze Feld der Zeitung; dem Claudius ist ein Eckchen freigegeben, und das darf er mit Meldungen aus Kunst und Dichtung bestellen. Was er da nun 'schreibt, steht merkwürdig fremd neben den Nachrichten über Schiffsbewegungen, Börsenkurse und Lotteriegewinne. Der Mann 17
spricht eine Sprache, welche die Kaufleute befremden muß: sip ist ungewöhnlich zart und innig, und sie klingt in dieser lauten Welt des Handels wie ein verirrter Vogelsang im Lärm des Hafens. Fürwahr, ein merkwürdiger Zeitungsschreiber, dieser Claudius! Was sollen nüchterne Kaufleute, Schiffsbesitzer und Börsenmakler zum Beispiel mit einem „Wiegenlied" anfangen, das man auch noch „bei Mondschein singen" soll: „So schlafe nun, du Kleine! Was weinest du? Sanft ist im Mondenscheine und süß die Ruh!" Allzu naiv klingt das; Mütter aus dem Volke mögen so sprechen, aber nicht die ,echten Dichter' der Zeit, die in ihren Schlafliedern Morpheus, den Gott des Traumes, besingen und Hesperus, den Abendstern. Und wo bleiben in den Versen die niedlichen Amoretten, die das schlafende Kind umspielen! Dafür muß man vom Mond solch einfältigen Worte hören: „Alt ist er wie ein Rabe, sieht manches Land; mein Vater hat als Knabe ihn schon gekannt." —Aber da ist noch ein anderes, das Unbehagen auslöst: Der treuherzige Adreßkomptoirnachrichtenschreiber läßt in das Zeitungseckchen gelegentlich Briefe drucken, die nicht im geringsten den gebildeten Briefen' der Zeit entsprechen: sind sie doch ohne die rührselige Empfindsamkeit, der man sich gerne hingibt; er schwelgt nicht in zerbrechlichen Gefühlen, und es fließen keine Tränen aus dem Federkiel des Schreibers. Die Briefchen, die Herr Claudius in seine Zeitung druckt, schmecken kräftig, man möchte meinen, nach länidlicher Kost; sie sind herzlich, schlicht und so anschaulich geplaudert, daß jedermann sie verstehen kann. Da sagt der Redakteur etwa: „Das Herz ist ein klein Glied, richtet iaber viel Gutes und groß Übel an; aus ihm kommen hervor gute und schlechte Verse, Grabschriften und Komödien . . . Es ist der Amboß, auf dem die Bosheit ihre Pfeile schmiedet und die Großmut ihr wohltuendes Wundermittel anrührt, ist der heilige Altar, an dem der Traurige und Betrübte sein frommes Geschrei und der Fröhliche seinen jauchzenden Lobgesang opfert, ist das Laboratorium der tätigen Freundschaft und die einsiedlerische Werkstätte, wo die Liebe ihre stillen Wünsche und den süßen Gram ausbrütet . . ." US
Es sind aber auch Leute in Hamburg, die solch lauteren Verse wie das „Wiegenlied, bei Mondschein zu singen und solch unverstellten Briefe aufmerksam lesen und manchmal meinen, so unstellten Briete aufmerksam lesen uuu » > verdorben, eigenwillig und ursprünglich habe außer den nameulosen Volkslied- und einigen Kirchenlieddichtern bislang kein deutscher Poet geschrieben. Zu diesen Überlegsamen Leuten gehört zum Beispiel Herr Gotthold Ephraim Lessing der just um diese Zeit in Hamburg wohnt. Und so geschieht es denn daß der große Lessing einem kleinen Zeitungsschreiber seine wohlwollende Zuneigung schenkt. Aber da ist noch einer und der prüft recht aufmerksam, was dieser Redakteur so unbekümmert neben die gehtnüchternen Meldungen aus der Welt der Bankiers und Handelsherren stellt: ein gewisser Herr Bode, Drucker und Verleger zugleich, ein Kerl, der den Kaufleuten imponiert; bat er doch in seiner erbärmlich verlebten Jugend die Schafe gehütet, heute jedoch hütet er Geldsäcke und sitzt im Kreis der vornehmen Hanseaten. Dieser Bode will zu Neujahr 1771 in Wandsbeck einem kleinen Nest von vielleicht anderthalbhundert Hausern. das vor den Toren Hamburgs liegt — eine Zeitung herausgeben und der Adreßkomptoirnachrichtenschreiber wäre schon der rechte Mann dafür, sie zu leiten. Matthias sagt zu und schreibt sogleich an alle Leute, die er schätzt und bittet sie um Mitarbeit. Die Zeitung soll — so wendet er sich zum Beispiel an Herrn Herder, der auf seiner Durchreise in Hamburg den Reinfelder Pfarrerssohn kennengelernt hat — „einen Politischen und Gelehrten Artikel haben. Ich habe hin un her gedacht, wie man den letzteren neu und etwas eigenes habend einrichten k ö n n t e . . . Schicken Sie bald etwas ä M. Claudius hinter Petrikirche bei Herrn Fahlius ä Hambourg und schicken bie es bald, denn Neujahr ist nicht mehr weit!" — Eine Zeitung, denkt Herder, die ein ,neues und eigenes' Gesicht trägt! Dieser zupackende Claudius gefällt ihm.
Der Wandsbecker Bote •r saß in seinem Redaktionsstübchen und schrieb. Er trug einen alten Flauschroek, dazu eine schwarze Weste; das Haar war glatt nach hinten gekämmt, an den Seiten hing es lang herunter. Vor dem Schreiber lag die Zeitung, ein bescheiden dreinschauendes Blättchen von vier mittelgroßen Quartseiten, auf einer Art Löschpapier gedruckt. Viermal in der Woche kam die Zeitung heraus 19
und brachte auf drei Seiten da« Neueste aus aller Welt (wenn auch das „Neueste" oft reichlich verblichen war, weil der kleine Zeitungsmann es halt aus den großen Journalen nachdrucken mußte); auf der letzten Seite, dem „poetischen Winkel", waren Notizen aus Dichtung und Kunst zu lesen und die letztem Ergebnisse der Hamburger Lotterie. „Wandsbecker Bothe" nannte sich das Blättchen, und — wie gesagt —• Herr Matthias Claudius bearbeitete es und warb unverdrossen um neue Abonnenten: „Ich habe die Ehre, mein hochgeehrteir Herr, Ihnen ein paar Exemplare von den ersten Blättern meiner neuen Zeitung zuzuschicken, die ich ergebenst bitte, Ihren Freunden bekanntzumachen und, wenn es Ihr kritisches Gewissen erlaubt, zu empfehlen." Schon hatte er ein paar berühmte Mitarbeiter gewonnen: Lessing, Herder, Klopstock stellten sich als erste ein. Aber was sie ihm zusandten, reichte nur selten aus, den ganzen Raum zu füllen, und so verschrieb er denn selber die meiste Tinte. Er plauderte behaglich in Vers und Prosa, er kündigte neue Werke an und beurteilte sie, er philosophierte und theologisierte und tat dies und alles auf weise, simple Art und fürchtete sich nicht, (wenn's nötig war) vor aller Welt den festen Standpunkt seines Glaubens zu betonen. Er verkaufte nun einmal seine Gesinnung nicht. Dem anonymen Einsender eines lieblosen Artikels antwortete er: „Wir bitten Sie zu glauben, daß wir um den Absatz von 400 Stück Zeitungen nie unser eigenes Urteil, noch weniger den guten Namen irgendeines Menschen aufs Spiel setzen", und von Lessing, dem geistreichen Gegner seines bibelfesten Väterglaubens, nahm er eines Tages mit diesen aufrechten und doch liebevollen Worten Abschied: „Ich will nicht sagen, daß er mein Freund gewesen sei, aber ich war der seine, und ob ich gleich sein Credo nicht annehmen kann, so halte ich doch seinen Kopf hoch." — So, nun waren die Texte für die nächste Ausgabe zusammengestellt; in spätestens eineir Stunde konnte er einen Boten mit den Manuskripten zum Drucker schicken. Noch einmal prüfte er die Artikel der letzten Seite, den „Brief an den Mond", den er „stille, glänzende Freundin", „sanftes symphatisches Mädchen" und „Madame" titulierte, die Plauderei über die Musik („Musik ist eine herrliche Sach'; auch die Engel sind Freunde davon, ich habe sie mehr als einmal auf Schildeireien blasen sehen . . . " ) , und nun blieb sein Blick auf den Worten haften, die er nach der Lektüre eines kürzlich erschienenen religiösen Werkes geschrieben hatte: „Ich habe von Jugend auf gern in der Bibel gelesen, für mein Leben gern .. . Das Herz wird einem danach so recht frisch und mutig. 20
Am liebsten aber les' ich in Sankt Johannes. In ihm ist so etwa« ganz Wunderbares: Dämmerung und Nacht und durch sie hin der schnelle zuckende Blitz . . . s' ist mir immer beim Lesen in Johannes, als ob ich ihn beim letzten Abendmahle an der Brust seines Meisters liegen sehe." Und zum guten Beschluß gedachte er noch der verelendeten Sklaven drüben in der Neuen Welt, die unter der Tyrannei ihrer Herren litten, der „weißen Männer, klug und schön". Kindlich-rührend klang in der letzten Strophe der Notruf des rechtlosen Mitbruders auf: „Und ich hab' den Männern ohn' Erbarmen nichts getan. Du im Himmel, hilf mir armen schwarzen Mann!"
\Wahrheit_des Geistes — Liebe des Herzens ie Gebildeten sprachen allerorten von Matthias Claudius, diesem Einzelgänger unter den deutschen Dichtern und Journalisten, der eine Zeitung schrieb, die ihresgleichen nicht mehr hatte. Was er vor einigen Jahren Herrn Herder in Hamburg versprochen hatte, er wolle seinem Blatt eine „neue und eigene" Note geben: er hatte sein Wort eingelöst. Und das Neue und Eigene war tatsächlich so ausdrucksvoll geprägt, daß die Leute den Namen der Zeitung schon bald auf den Dichter übertrugen: Wer „Wandsbecker Bote" sagte, meinte den Herrn Matthias, und dieser Ehrentitel blieb ihm auch, als längst das Blättchen verstorben war, und verblieb ihm bis auf den heutigen Tag. — 21
Anfangs schien es, als sei noch einer da, der an der Zeitung mitschrieb; es mußte ein recht nahestehender Kollege des Redakteurs sein, ein gewisser „Andres", auch „Vetter" geheißen, der akkurat wie dieser Claudius redete. Es dauerte eine Weile, bis man dahinter kam, daß der „liebe, hochgelahrte Vetter Andres" kein anderer als Matthias selber war: sein zweites Ich gewissermaßen und der allzeit getreue Empfänger aller jener Seelenregungen, die Herrn Claudius schmerzten oder beglückten. Mit diesem Spiegelbild plauderte er ernst oder fröhlich über Gott und die Welt, über Mond und Sterne, über das „Vernanftgeschrei" der Neunmalgescheiten und die geistige Einfalt d e r Kinder. Er belehrte den „Vetter Andres" väterlich: „ . • . übermorgen abend, mein lieber Andres, ist recht was Schön's am Himmel zu sehen, der Abendstern, eine Stund nach Sonnenuntergang, und dicht unter ihm zur Linken der Jupiter und zur Rechten der Mond. Der Herr Vetter soll vor Seine Türe heraustreten und nach meinem lieben Mond und den beiden freundlichen Sternen h i n s e h e n . . . Leb Er wohl, Andres, und vergeß Er nicht, die Tür zu riegeln, wenn Er wieder h'reingeht!" —• So spricht der Wandsbecker Bote, der Claudius heißt, und der im gereimten Programm der ersten Nummer seiner Zeitung gesagt hatte: „Ich bin ein Bote und nichts mehr!" Seine Sprache wair herzhaft wie die eines Mannes aus dem Volk, eines besorgten Vaters, eines guten Freundes. Manchmal redete er gelehrt (denn die erregte Zeit zwang ihn oft, sich deutlich mit ihren geistigen und politischen Bewegungen auseinandersetzen); nun, dann gab sich seine Gelehrsamkeit unnachahmlich schlicht und anschaulich. Er hatte — wie weiland Dr. Martin Luther — dem Volk ,aufs Maul geschaut', und deshalb verstand ihn auch der einfache Mann in Dorf und Stadt. Seine Gegner, mißgünstig oder verständnislos, warfen ihm vor, er „mache seine Sprache". Aber die vielen anderen, die Freunde, glaubten seinem Wort (an Herder): „Meine Schriftstellerei ist Realität bei mir" und sie wußten, daß kein Lügenfädlein zwischen tiefster Empfindung und klarer Aussage stand und daß so eine vollendete Realität die Worte des Wandsbeckers füllte. „Claudius: Autor und Mensch, sind E i n e Person", erklärte einmal einer seiner Gäste, „sie widersprechen sich nicht, sie harmonieren in ihm aufs schönste." Der Dichter Hölty, der um 1775 bei Matthias einkehrte, sagte: „Man glaubt, wenn er spricht, die Wahrheit und Liebe selbst zu hören." In der Wahrheit des Geistes und in der Liebe des Herzens zu 22
leben, hatte ihn der Vater erzogen. Das eitle Gerede am Grabe des Bruder« in Jena war Unwahrheit und übertüncht« Liebe gewesen; in den Reinfelder Jahren der Selbstbesinnung hatte er die beiden Tugenden wiedergefunden, die in der Ode auf den Tod der Schwester, „Der Säemann", wurzelechtes Wort geworden waren; als aber im Winter 1773 der Vater starb, „dem ich so viel zu danken habe und nichts habe vergelten können", da fanden Wahrheit und Liebe «eines menschlichen und dichterischen Wesens in den Versen „Bei dem Grabe meines Vaters" ihre ergreifende Vollendung: „Friede sei um diesen Grabstein her, sanfter Friede Gottes! Ach, sie haben einen guten Mann begraben, und mir war er mehr .. ."
Von Liebe und Glück ie Zeitung hatte also Ruf und Namen; aber sie war halt kein Blatt, das jede oberflächliche Neugier und noch weniger die Klatschsucht befriedigen konnte. Kein Wunder, daß die Auflage immer mehr und mehr zurückging. Was sollten die handfesten Leutchen von Wandsbeck und im hamburgischen Land mit leisen Versen und nachdenklichen Betrachtungen anfangen oder mit Nachrichten, die abseits von allen erregenden Geschehnissen der Zeit lagen —• etwa mit einer solchen Notiz: „Wandsbeck, den 25. April. Gestern hat hier die Nachtigall zum erstenmal wieder geschlagen." — „Mit dem Boten scheint es nicht mehr weit vom Amen zu sein", notierte Matthias ahnungsvoll; er zählte die wenigen Spargroschen, überschlug geschwind, was das Leben wohl zu Zweien (und bald auch zu Dreien) kosten werde und heiratete im März 1772 seine Rebecca, die schöne Tochter des Zimmermeisters und Gastwirts Behn zu Wandsbeck. „Claudius hat geheiratet!" schrieb Herr Herder an seine Verlobte und seufzte dabei: J ) e r nackte arme dürftige Claudius!' Viele verwunderten sich: Gewiß, Rebecca war ein liebliche« Ding; aber wie würde eine Frau, die gerade noch zu lesen, schreiben und rechnen verstand, auf die Dauer einem gebildeten Mann genügen können! Aher die Zweifler wurden enttäuscht: Frau Rebecca machte ihren Matthias glücklich, und sie hütete nach seinem Tode die Erinnerungen ihrer Liebe bis ins hohe Alter. Diese nur gering gebildete Frau wurde die verehrte Freundin der großen Gelehrten und Dichter. ,Eine Freundschaft, die sofort ankettete', begeisterte sich ein Freund Klopstocks; ,ich hätte sie meine Freuu23
din nennen können. Sie hat den schönsten Umriß von Gesicht, ist gebaut wie eine Grazie; rote blühende Wangen, blondes Haar und — Augen! Das läßt sich nicht sagen . . .' Niemand jedoch hat tiefer sein grenzenloses Glück bekannt als Claudius selber, der diese innigen Zeilen „An Frau Rebecca — bei der silbernen Hochzeit, 1797" schrieb: „Ich danke dir mein Wohl, mein Glück in diesem Leben, ich war wohl klug, daß ich dich fand; doch ICH fand nicht: GOTT hat dich mir gegeben; so segnet keine andere Hand!" In diesem Bekenntnis einer erfüllten Liebe stehen aber auch die Worte: „Doch manchmal auch hat uns das Herz geblutet." Der die Herzen der Liebenden schlug — wir können es ahnen — war der Tod, war seine grausame Wiederkehr: Mehrere Kinder starben. Es ist keine spielerische Laune des Dichters gewesen, daß er den Sammelbänden seiner Dichtungen und Betrachtungen ein kunstlos gezeichnetes Totengerippe als Titelzeichnung mitgab. Dem „Freund Hain" (Claudius ist der Schöpfer dieses Wortes) widmete er sein dichterisches und frommdenkerisches Werk: „Ihm dezier' ich mein Buch, und Er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustür meines Buches stehen." Und doch graut noch immer die naturgegebene Menschenschwäche vor dem Unerbittlichen: „Bin nicht starker Geist; s' läuft mir, die Wahrheit zu sagen, jedesmal kalt übern Bücken". Aber wieder klingt es am Schluß dieser einzigartigen Widmung vertraulich auf: „Die Hand, lieber Hain! und wenn Ihr mal kommt, fallt mir und meinen Freunden nicht hart!" — Zehn Kinder blieben am Leben, und der Vater kann gar nicht anders, als allzeit Gott zu danken und über die Fülle solchen Glücks zu frohlocken. Er dichtete Wiegenlieder, er versenkte sich ergriffen in das zarte Leben eines Kindes, er machte heitere Verse auf sein „fröhliches Schlafgesindel". Die Briefe an seine Kinder bezeugen den allzeit frohen, guten und besorgten Vater. Aus dem böhmischen Karlsbad schrieb er einmal: „Wir befehlen euch alle zusammen und jeden besonders in Gottes Hand; den liebet und fürchtet ohne Unterlaß!"
„Die Gestalt des inwendigen Menschen" ber noch schreiben wir nicht das Datum jenes Briefes aus Karlsbad, den der Postbote den Knaben und Mädchen ins Wandsbecker Haus bringt: Bis dahin werden noch einige Jahrzehnte vergehen. 24
Häuslidies Idyll • Kupferstich Chodowieckis zu Claudius' Werken
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^ Vorerst erleben wir mit dem armen Redakteur, wie die Zahl 'der Leser seines Blättchens täglich zusammenschrumpft und die Stunde näherrückt, in der (merkwürdigerweise nicht Herr Bode, sondern) „Madame Bode per Estafette melden läßt, daß er die letzte Zeitung gemacht hätte". Man wird also jetzt schon daran denken müssen, ein zusätzliches Geld zu verdienen. Herr Matthias -macht sich deshalb daran, ein Büchlein herauszugeben; alte und neue Gedichte, ernste und launige Betrachtungen soll es enthalten. Da er keinen Verleger findet, der einen Vorschuß gibt, setzt er 1774 in sein absterbendes Journal eine Anzeige und bittet darin um freundliche Vorbestellung: „Ich will meine Werke sammeln und 'rausgeben. Es hat mich zwar kein Mensch darum gebeten, und ich weiß besser als irgendein geneigter Leser, wie wenig daran verloren wäre, wenn sie unbekannt blieben." Er teilt den Lesern auch schon den Titel mit: „Asmus, omnia sua secum portans'*) oder ,Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen'.. . Der Preis ist 2 Mark und für die Herren Kritiker und Journalisten 3 Mark. Gottdank, das nötige Geld kommt 'zusammen, und an Ostern 1775 erscheint das erste Exemplar. Es ist auch höchste Zeit: Die Geldbörse ist nahezu leer, und dabei ist das Leben recht kostspielig: „Mit Frau und Kind und Magd und Ziege und Hahn und drei Hunden lebe ich für 300 Rheinische Taler das Jahr." Bis zum Ende seines Lebens werden insgesamt acht Bände dieses „Asmus" erscheinen, und so neu auch immer die Beiträge sein werden, sie gleichen allesamt einander und sind eigentlich nur e i n Werk, wie ja auch Claudius seit den letzten Wandsbecker Tagen unverändert der gleiche fröhlich-fromme Mensch und nach der Heimkehr aus Jena der allzeit gleichbegnadete Dichter geblieben ist. Und was er bescheiden in der Vorrede zum letzten Asmus-Band (der kurz vor 1800 erscheint) von sich als Poeten und von seiner Weltanschauung bekennt, das gilt für die Gesamtheit seines dichterischen und menschlichen Lebens: „Ich bin kein Gelehrter und habe mich nie für etwas ausgegeben. Ich habe als einfältiger Bote nichts Großes bringen wollen, sondern nur etwas Kleines, das den Gelehrten zu. wenig und zu geringe ist; das aber habe ich nach meinem besten Gewissen gemacht. .. Der Weg, den der Mensch in dem, was Künste und Wissenschaft heißt, einschlägt, ist lobenswert und edel; aber sie sind höchstens, wofür sie auch in alten Zeiten gegolten haben, ein W e g und nicht das Z i e l ; und wer sie für das Ziel nimmt und darin hängen bleibt, *) (,Asmus, der all das Seinige bei sich trägt') IC
Matthias Claudius führte als einer der ersten den Weihnaditsbaum in Norddeutschland ein. Auf dem Bilde rechts unter dem Weihnachtsbaum Rebecca und Matthias Claudius, sitzend Klopstock, dahinter die Brüder Stolberg.
der verkauft seine Erstgeburt um ein Linsengericht. . . Was unsichtbar und geistig ist, da« nur ist fest und ewig." Den Blick des Menschen auf das Ewige zu richten, sah er als seine einzige Aufgabe an. Und doch stand er mit beiden Füßen fest in der Welt, die ihn umgab. Er lebte in einer Zeit, die als der eigentliche Beginn der Neuzeit angesehen werden muß. Es waren die Jahrzehnte revolutionärer Gärung und Empörung. Er schirmte sich keineswegs gegen die sozialen, politischen und geistigen Bewegungen ab, er nahm unerschrocken, jedoch ohne zänkische Lautheit, Stellung und folgte dabei allein der Stimme seines Gewissens. Immer zielte — nach seinem eigenen Bekenntnis — sein Bemühen mit brüderlicher Liebe auf „die Gestalt des i n w e n d i g e n Menschen"; denn „die i n n e r l i c h e Größe allein gloriiert über das Hohe und Göttliche seines Verstandes und seiner Vernunft". In seinem „Asmus" richtete er tapfer sein mahnendes Wort an die Mächtigen der Erde. Wie eine Warnung, daß einmal die Erbitterung der entrechteten und ausgebeuteten Untertanen die Flamme der Empörung entzünden und die Fürsten von ihren Thronen stürzen werde, rief er 1773 aus: „Der König sei der bess're Mann, sonst sei der Bess're König!" und kurz darauf sagte er in einem erfundenen Gespräch mit dem japanischen Kaiser (und meinte damit die deutschen und europäischen Fürsten): „Ja, du lieber Kaiser, alle Menschen sind Brüder"; aus ihnen wählte Gott die „besten, die edelsten" aus, damit sie Väter seien, „demütig, weise, gerecht, reinen Herzens, gütig, sanftmütig und barmherzig". Nur ein solcher Fürst „vergißt sich ganz und gar und lebt für sein Volk". Wer aber Eroberungskriege führt, den schmücke man nicht mit Lorbeerkränzen, sondern „schleppe ihn zum Hochgericht"; denn „Menschenblut schreiet zu Gott!" Aus solcher Gesinnung erwuchs diesem Mann das ergreifendste Gedicht, das je gegen den Eroberung«- und Vernichtungskrieg geschrieben worden ist. In einer furchtbaren Vision sieht er die Geister der Erschlagenen, er hört die Stimmen der gefallenen Freunde und Feinde dem Sieger „zu Ehren krähen" und die Wehklage der „tausend, tausend Väter, Mütter, Bräute, nun alle elend, alle arme Leute", und von diesem grauenvollen Gesichten bedrängt, klagt er in der ersten Strophe seines „Kriegsliedes": 28
„8' ist Krieg! s' ist Krieg! O Gottes Engel, wehre und rede du darein! s' ist leider Krieg — und ich begehre, nicht schuld daran zu sein." Und als Kaiserin Maria Theresia stirbt, huldigt er der großen Herrscherin, die nach ihren Niederlagen den Kampf nicht um die „Ehre" bis zum völligen Untergang des ihren mütterlichen Händen anvertrauten Volkes weiterführte, mit den Worten: „Ich weiß, ihr Grabstein drückt sie nicht, sie machte Frieden! — das ist mein Gedicht."
„Le fameux Wandsbecker Bothe" m Jahre 1784 folgt Matthias der Einladung eines Freundes und reist nach dem fernen Schlesien. Der Rückweg führt ihn über Weimar. Goethe schreibt an Charlotte von Stein ein Briefchei.: „Claudius, le fameux Wandsbecker Bothe, wird heute ankommen, und wir werden diese originelle Persönlichkeit sehen", Matthias steht im Kreis der Großen aus der Welt des Weimarer Geistes, der Goethe, Herder, Wieland und anderer Ruhmgeschmückten, steht vor dem gezirkelten Hofadel und fühlt sich einsam „wie ein Vertriebener". Auf dem Parkett der geistgeladenen Gespräche kann sich die scheue, ja keusche Einfalt nicht bewegen. Matthias bleibt stumm und ist doch — wie Frau Herder bezeugt — „der alte Claudius voll unbe«tochener Wahrheit und steht fest wie eine eingewurzelte Eiche". Der Olympier Goethe jedoch findet nicht zum kindlichen Herzen des Wandsbecker Boten. Matthias kehrt aufatmend in den vertrauten Kreis seiner Familie zurück und singt das Lied seines Glücke«, nichts als ein Mensch zu sein, dessen Schicksal in Gottes Vaterhänden geborgen liegt: „Ich danke Gott und freue mich wie's Kind zur Weihnachtsgabe, daß ich bin, bin! Und daß ich dich, schön-menschlich Antlitz habe! Gott gebe mir nur jeden Tag, soviel ich darf, zum Leben; er gibt's dem Sperling auf dem Dach: wie sollt' er mir's nicht geben!" 29
Evakuierung und Tod iese Zuversicht verließ auch den altgewordenen Claudius nicht, als die schwerste Stunde seines Lebens hereinbrach. Der napoleonische Krieg verjagte ihn im Sommer 1813 aus der Wandsbecker Geborgenheit. Er ging in die Evakuierung, und es erging ihm nicht anders als unzähligen Flüchtlingen der Gegenwart. 73 Jahre war er alt, als er vor den Schrecken des Kriege« floh. Er stand mittellos da und war auf die Barmherzigkeit der Mitmenschen angewiesen. Er irrte von Wandsbeck nach Lütjeburg, von dort nach Kiel und zur Winterszeit nach Lübeck: „Wir haben ein kleines Stübchen, so wenig Raum, daß sich ein Mensch kaum umwenden kann. Wir kochen Grütze und Kartoffeln, die Feuerung ist überteuer". Und später: „Es ist sehr kalt, und unsere Kräfte reichen nicht zu, das Zimmer warm zu machen". Im Mai 1814 kehrten Matthias und Rebecca in ihr kriegszerstörtes Haus nach Wandsbeck zurück. Es sah aus „wie vor der Schöpfung, wüst und leer". Doch mit leiser Freude fügte er dem bitteren Wort an: „Ich habe alle meine Bäume wiedergefunden". Aber die Unrast hatte seine Gesundheit erschüttert, Krankheit warf ihn nieder. Seine Tochter schrieb: ,Er ist ruhig und freundlich, ja, man möchte sagen, vergnüglich'. Und doch täuschte ihn keine trügerische Hoffnung; er wußte, daß näher und näher jene Gestalt auf ihn zukam, die von Jugend an seinen Weg gekreuzt hatte: Freund Hein. Warum sollte er ihn jetzt fürchten? Er hatte schon seit dem Abschied von Jena „rein Haus" gemacht, es ^bedurfte keiner weiteren Vorbereitung mehr; denn „rein Haus machen, das ist die Weisheit Gottes, welche die Edlen gelüstet zu schauen, welche die Weisen wissen und die Toren verachten". Den Kindern hatte er die Sorge für Frau Rebecca auferlegt; die Worte im Testament „An meinen Sohn Johannes" galten auch für die anderen Söhne und Töchter: „Stehe deiner Mutter hei und ehre sie, solange sie lebt, und begrabe sie neben mir!" All sein Lebtag war er ein geduldiger Mensch gewesen; so wartete er denn gelassen sieben lange Wochen auf den Augenblick, in dem der Tod die Freundeshand auf sein müde gewordenes Herz legen würde. — Am 21. Januar 1815 tritt Freund Hein an sein Lager, „und die Stunde schlägt". Mit einem letzten Blick der Liebe umfängt er Frau und Kinder, über die Lippen gehen die Worte: „Führe mich nicht in Versuchung und erlöse mich von dem Übel!" Dann flüstert er in die jäh ihn überstürzende Dunkelheit des Todes: „Gute Nacht". 30
„Der
Mond
ist
aufgegangen"
n diesem Tage verstummte die Freude im kleinen Dorf. Die 3 Leute sprachen von ihm, der den Namen Wandsbeck unvergeßlich
gemacht hatte. Die einfachen Menschen priesen mit ungelenken Worten die Herzenseinf alt und das Gottvertrauen des guten Mannes; die Gescheiten, die vom Wesen der Dichtung verstanden, rühmten den Poeten, der — zugleich mit Goethe — ,in einer Zeit, als sich die dichterische Lyrik in konventionelle Liedchen verloren hatte, zuerst den unmittelbaren Ausdruck der Empfindung wiederfand' und der — nach Eichendorffs W o r t — ,wie Abendglockenklang in einer stillen Sommerlandschaft, wenn die Ährenfelder sich leise vor dem Unsichtbaren neigen, überall ein wunderbares Heimweh weckt, der zwischen Diesseits und Jenseits unermüdlich auf und ab geht und von allem mit schlichten und treuen Worten fröhliche Botschaft bringt'. Nur die einfältigen Kinder wußten nichts Gescheites zu sagen, sie standen verstört umher, bis eines von ihnen leise die Stimme erhob, um jenes Lied zu singen, das Johann Abraham Peter Schulz bereits anno 1790 vertont hatte, das schöne Lied, in dem für alle Zeiten das Herz des Matthias Claudius schlägt: „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Wie ist die Welt so stille und in der Dämmerung Hülle so traulich und so hold als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt!" Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Die Holzschnitte auf den Seiten 2, 7, 9, 13, 17, 21 sind Illustrationen aus dem „Wandsbecker Bothen"
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