Auf dem Raumhafen Carfaunge wird ein Mann aufgegriffen, der seine Erinnerung verloren hat. Ist er ein armer Irrer? Ist ...
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Auf dem Raumhafen Carfaunge wird ein Mann aufgegriffen, der seine Erinnerung verloren hat. Ist er ein armer Irrer? Ist er ein Verbrecher, der seine Untat verdrängt hat? Oder ein Terrorist, der mit einer mentalen Blockierung versehen wurde, die sich erst löst, wenn er – selbst arglos – bis zu seinem Opfer vorgedrungen ist? Man gibt dem Mann den Namen Pardero und steckt ihn in ein Arbeitslager, wo er sich die Passage nach Numenes verdienen kann, zur Residenz des Connat, der über die 3000 besiedelten Planeten im Sternhaufen Alastor und ihre fünf Billionen Bewohner gebietet. Dort allein besteht die Möglichkeit, Parderos Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Das Verwaltungszentrum ist mit modernsten Datenanlagen ausgestattet, die in der Lage sind, anhand physischer und psychischer Charakteristika und typischer Verhaltensmuster zu erschließen, von welcher Welt Alastors Pardero stammt. Als seine Heimat wird das Rhunenreich östlich von Port Mar auf dem Nordkontinent des Planeten Marune identifiziert, der auf den Sternkarten des Connat die Bezeichnung Alastor 933 trägt; eine seltsame Welt, die von verschiedenfarbigen Sonnen in ein ständig wechselndes Licht getaucht wird. Und Pardero macht sich auf die Suche; nach seiner Vergangenheit, seiner Identität.
Vom gleichen Autor erschienen außerdem als Heyne-Taschenbücher Start ins Unendliche · Band 3111 Jäger im Weltall · Band 3139 Die Mordmaschine · Band 3141 Der Dämonenprinz · Band 3143 Emphyrio · Band 3261 Der Mann ohne Gesicht · Band 3448 Der Kampf um Durdane · Band 3463 Die Asutra · Band 3480 Trullion: Alastor 2262 · Band 3563
JACK VANCE
MARUNE: ALASTOR 933 Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 3580 im Wilhelm Hevne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe MARUNE: ALASTOR 933 Deutsche Übersetzung von Yoma Cap
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1975 by Jack Vance Copyright © 1978 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1978 Umschlagbild: Enrich Torres Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3-453-30475-6
Der Sternhaufen Alastor, eine Ansammlung von dreißigtausend lebendigen Sternen, ungezählten toten Schlackebrocken und einer gewaltigen Menge an interstellarer Abfallmaterie, schwebt am inneren Rand eines Spiralarms der Galaxis in der Leere, auf der einen Seite grenzend an das Unselige Nichts, auf der anderen an die Nonestic-Kluft, während das Gaea-Reich sich als funkelnder Sternenschleier weiter draußen über die Schwärze zieht. Alastor bietet einen bemerkenswerten Anblick, aus welcher Richtung man auch kommt: weiß, blau und rötlich glimmende Gestirne, leuchtende Gaswolken, da und dort durchzogen von dunklen Staubwirbeln; ein Feuerwerk von Sternen und Glutschleiern. Sollte man den Sternhaufen Alastor als zugehörig zum Gaea-Reich ansehen? Die Bewohner des Sternhaufens, einige vier oder fünf Billionen auf mehr als dreitausend Welten, zerbrachen sich darüber kaum den Kopf und sahen sich tatsächlich weder als GaeaBürger noch als Alastorianer an. Es war vielmehr für diese Menschen typisch, daß sie, nach ihrer Herkunft befragt, ihre Heimatwelt oder noch eher ihr Geburtsland nannten, als wäre diese Lokalität etwas so Besonderes und Berühmtes, daß jeder in der Galaxis davon wissen mußte. Jeglicher Lokalpatriotismus verlor jedoch seine Bedeutung vor dem Ruhm und Glanz des Connat, der Alastor von seinem Palast auf der Welt Numenes aus regierte. Der derzeitige Connat, Oman Ursht, der sechzehnte Herrscher aus der Dynastie der Iditen, grübelte oft über die Fügung des Schicksals nach, die ihn in diese Position gebracht hatte, nur um dann über die Sinnlosigkeit solcher Überlegungen zu lä-
cheln: wer auch immer diese Stellung einnahm, würde sich früher oder später diese Frage stellen. Die bewohnten Planeten des Sternhaufens hatten wenig gemeinsam außer dem weitgehenden Fehlen von Gemeinsamkeiten. Sie waren groß oder klein, feucht oder trocken, freundlich oder gefahrvoll, dichtbevölkert oder leer: nicht zwei glichen einander. Manche wiesen hohe Berge, blaue Meere, einen heiteren Himmel auf, während andere Welten nur nebelverhangene Moore kannten und nur die Abfolge von Tag und Nacht Abwechslung brachte. Eine solche Welt war zum Beispiel Bruse-Tansel, Alastor 1102, mit einer Bevölkerung von zweihunderttausend Menschen, die im wesentlichen die Umgebung des Vain-Sees bewohnten, wo sie vor allem in der Stoffärberei beschäftigt waren. Vier Raumhäfen versorgten Bruse-Tansel, der wichtigste lag bei Carfaunge.
KAPITEL 1 Der Ehrenwerte Mergan hatte seinen Posten, den des Chefverwalters des Carfaunge-Raumhafens, vor allem deshalb erhalten, weil diese Stellung nur jemand ausfüllen konnte, der sich mit unabänderlicher Routine abfand. Mergan fand sich nicht nur mit Routine ab, er lebte für sie. Er hätte sich sogar entschieden gegen das Aufhören solcher Unannehmlichkeiten gewehrt, wie sie der allmorgendliche Regen, das Quietschen und Gluckern der Glaseidechsen oder die Schleichschimmel darstellten, die täglich in das Gelände eindrangen, denn dann hätte er seinen gewohnten Tagesablauf verändern müssen. Am Morgen jenes Tages, den er später als den zehnten Mariel-Gaea* identifizieren würde, betrat er zur üblichen Zeit sein Büro. Er hatte sich jedoch kaum hinter dem Schreibtisch niedergelassen, als der Nachtaufseher in Begleitung eines leer dreinblickenden jungen Mannes in unscheinbarem grauen Anzug erschien. Mergan stieß ein unartikuliertes Knurren aus – Probleme waren ihm zu jeder Tageszeit ein Greuel, insbesondere aber, wenn er sich noch nicht so recht auf den neuen Arbeitstag eingerichtet hatte. Der Vorfall sah zum mindesten nach einer unangeneh*
Sowohl im Alastor-Sternhaufen als auch im Gaea-Reich schaffen die verschiedensten Systeme der Zeitmessung etliche Verwirrung, wenn auch immer wieder Reformversuche unternommen werden. An irgendeinem beliebigen Ort wird man zumindest auf drei allgemein verwendete Systeme der Zeitrechnung stoßen: die wissenschaftliche, die auf der Umlaufzeit des K-Elektrons von Wasserstoff basiert; die astronomische oder Gaea-Standardzeit, die die einzige einheitliche Zeitrechnung im menschlichen Universum darstellt und die Ortszeit.
men Störung der Routine aus. Schließlich raffte er sich zu der ungnädigen Frage auf: »Also, Dinster, wen haben Sie mir denn da mitgebracht?« Dinster, der über eine schrille, allzu laute Stimme verfügte, rief: »Tut mir leid, Sie zu stören, Sir, aber was sollen wir mit diesem Herrn hier machen? Er scheint krank zu sein.« »Bringen Sie ihn zu einem Arzt«, knurrte Mergan. »Was soll ich mit ihm? Ich kann ihm nicht helfen.« »Es ist nicht die Sorte Krankheit, Sir. Mehr geistig, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte Mergan ungnädig. »Vielleicht wären Sie so nett, mir zu erklären, was los ist?« Dinster wies höflich auf seinen Schützling. »Als ich meinen Dienst antrat, saß er im Wartesaal. Er ist die ganze Zeit dort geblieben, redete kaum, weiß seinen Namen nicht und auch sonst nichts über sich.« Mergan musterte den jungen Mann mit einer schwachen Spur von erwachendem Interesse. »Hallo, Sie«, knurrte er. »Was ist mit Ihnen los?« Der junge Mann richtete seinen Blick vom Fenster auf Mergan, gab aber keine Antwort. Mergan gestattete sich das ungewohnte Gefühl von Neugier. Warum war das dunkelblonde Haar des Mannes so unordentlich kurz gestutzt, als hätte eine ganz und gar ungeübte Hand die Schere geführt? Und seine Kleidung: eindeutig eine Nummer zu groß für seine hagere Figur! »Sagen Sie doch was!« befahl Mergan. »Hören Sie nicht? Wie ist Ihr Name?« Die Miene des jungen Mannes wurde nachdenklich, aber er schwieg weiter.
»Irgendein Vagabund«, stellte Mergan fest. »Er hat sich vermutlich aus einem Färbereibetrieb davongemacht. Schicken Sie ihn wieder fort.« Dinster schüttelte den Kopf. »Der Bursche ist kein Vagabund. Sehen Sie sich doch seine Hände an.« Mergan folgte zögernd Dinsters Rat. Die Hände des Fremden waren kräftig und gepflegt und wiesen keine Spuren harter Arbeit oder einer Berührung mit Färbemitteln auf. Die Züge des Mannes waren ebenmäßig und ausdrucksvoll, seine Haltung ließ eine gehobenere Stellung vermuten. Mergan, der es vorzog, die näheren Umstände seiner Herkunft zu vergessen, verspürte eine unangenehme Regung von Unterlegenheit und dementsprechenden Ärger. Wieder bellte er den jungen Mann an: »Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« »Ich weiß es nicht.« Er sprach stockend und mühsam, mit einem Akzent, den Mergan nicht erkannte. »Wo sind Sie zu Hause?« »Ich weiß es nicht.« Mergan wurde unnötig sarkastisch. »Wissen Sie überhaupt was?« Dinster hatte sich inzwischen eine Meinung gebildet. »Ich glaube, Sir, daß er mit einem der Schiffe gestern gekommen ist.« Mergan fragte den jungen Mann: »In welchem Schiff sind Sie gekommen? Haben Sie Bekannte hier?« Die dunkelgrauen Augen des Mannes starrten ihn düster-nachdenklich an, und Mergan begann sich unbehaglich zu fühlen. Er wandte sich an Dinster. »Hat er irgendwelche Dokumente bei sich? Oder Geld?« Dinster murmelte eine Entschuldigung zu dem
Fremden und begann zögernd, die Taschen des verdrückten, grauen Anzugs zu durchsuchen. »Ich finde nichts, Sir.« »Auch keine Billetabrisse, Kreditkarten oder sonstige Papiere?« »Gar nichts, Sir.« »Ist wohl ein Fall von Amnesie oder wie man das nennt«, sagte Mergan. Er nahm ein Heft vom Schreibtisch und konsultierte eine Liste. »Sechs Schiffe sind gestern reingekommen. Auf jedem davon kann er gewesen sein.« Meran drückte auf einen Knopf. Eine Stimme meldete sich: »Prosidine, Ankunftsschalter.« Mergan beschrieb den Fremden. »Wissen Sie irgend etwas über den Burschen? Er muß irgendwann gestern angekommen sein.« »Gestern war ein verdammt lebhafter Tag; ich hatte gar keine Zeit, irgend etwas zu bemerken.« »Fragen Sie Ihre Leute und verständigen Sie mich, wenn etwas herauskommt.« Mergan überlegte einen Augenblick lang und rief dann das Spital von Carfaunge an. Er wurde mit dem Leiter der Aufnahme verbunden, der ihn zwar geduldig anhörte, aber auch keinen brauchbaren Rat wußte. »Wir haben hier nicht die Einrichtungen für solche Fälle. Er hat kein Geld, sagten Sie? Dann können wir gar nichts für ihn tun.« »Was soll ich mit ihm anfangen? Er kann ja nicht hier bleiben!« »Fragen Sie die Polizei; die werden wissen, was mit ihm zu tun ist.« Mergan rief die Polizei an, und nach einer Weile traf ein Beamter in einem Polizeiwagen ein, der den
Fremden mitnahm. Im Untersuchungsbüro versuchte Detektiv Squil vergeblich, den Mann auszufragen. Der Polizeiarzt probierte es mit Hypnose und hob schließlich hilflos die Hände. »Ein äußerst hartnäckiger Fall; ich habe schon dreimal einen ähnlichen Zustand gesehen, aber keiner war so schlimm.« »Wie kann es dazu kommen?« »Starke emotionale Anspannung löst autosuggestives Vergessen aus – so ist es jedenfalls meistens. Aber hier...« – er deutete auf den verständnislos dasitzenden Fremden – »können meine Instrumente keinerlei psychischen Streß aufspüren, so daß ich einfach keinen Ansatzpunkt habe. Der Mann hat keine Emotionen mehr.« Detektiv Squil, der ein vernünftiger Mann war, fragte den Arzt: »Was kann er tun, um in diesem Zustand Hilfe zu finden? Er ist bestimmt kein Landstreicher.« »Er sollte sich in das Spital des Connat auf Numenes begeben.« Detektiv Squil lachte. »Schön und gut. Wer zahlt die Fahrt?« »Der Chefverwalter des Raumhafens müßte ihm einen Platz auf einem Schiff verschaffen können, denke ich.« Squil grunzte zweifelnd, wandte sich aber seinem Telefon zu. Wie erwartet, wollte der ehrenwerte Mergan, nachdem er den Fall auf die Polizei abgeschoben hatte, auch nichts mehr damit zu tun haben. »Die Bestimmungen sind eindeutig«, erklärte Mergan. »Was Sie vorschlagen, ist mir gänzlich unmöglich.«
»Wir können ihn nicht hier auf dem Revier behalten.« »Er scheint gesund und ganz kräftig zu sein; soll er sich doch den Flug verdienen. So teuer ist die Reise ja schließlich nicht.« »Leichter gesagt als getan, bei seinem Zustand.« »Was geschieht mit mittellosen Einheimischen?« »Das wissen Sie so gut wie ich – sie werden nach Gaswin geschickt. Dieser Mann ist aber kein mittelloser Landstreicher, er ist psychisch krank.« »Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe nur vorgeschlagen, was man tun könnte.« »Was kostet der Flug nach Numenes?« »Dritter Klasse mit der Prydania-Linie kostet zweihundertundzwölf Ozols.« Squil legte auf und schwang mit seinem Sessel zu dem Fremden herum. »Verstehen Sie, was ich sage?« Die Antwort klang deutlich und klar. »Ja.« »Sie sind krank. Sie haben Ihr Gedächtnis verloren. Ist Ihnen das klar?« Etwa zehn Sekunden lang kam keine Antwort. Squil fragte sich, ob er überhaupt eine bekommen würde. Schließlich sagte der Mann stockend. »Wenn Sie es sagen.« »Wir werden Sie an einen Ort schicken, wo Sie arbeiten und Geld verdienen können. Wissen Sie, was arbeiten ist?« »Nein.« »Nun, jedenfalls brauchen Sie Geld: zweihundertzwölf Ozols. Im Gaswin-Moor werden Sie dreieinhalb Ozols pro Tag verdienen. In zwei oder drei Monaten haben Sie genug Geld beisammen, um nach Numenes zu kommen, in das Spital des Connat, wo man Ihren
Zustand heilen wird. Haben Sie das alles verstanden?« Der Fremde überlegte einen Augenblick lang, gab aber keine Antwort. Squil erhob sich. »Gaswin wird das Richtige für Sie sein, und vielleicht kehrt auch Ihr Gedächtnis zurück.« Nachdenklich betrachtete er das dunkelblonde Haar des Mannes, das aus unerfindlichen Gründen grob gestutzt worden war. »Haben Sie einen Feind?« fragte er zögernd. »Wissen Sie jemanden, der Sie nicht mag?« »Ich weiß es nicht. Ich kann mich an eine solche Person nicht erinnern.« »Wie ist Ihr Name?« brüllte Squil plötzlich, in der Hoffnung, den gestörten Teil des Gehirns zu überrumpeln. Die grauen Augen des Mannes verengten sich ein wenig. »Ich weiß es nicht.« »Nun, wir müssen irgendeinen Namen für Sie finden. Spielen Sie Hussade?« »Nein.« »Das soll einer verstehen! Ein kräftiger, wendiger Bursche wie Sie! Aber wir werden Sie trotzdem Pardero nennen, nach dem berühmten Stürmer der Donnerkeile von Schaide. Also, wenn jemand ›Pardero‹ ruft, dann müssen Sie sich melden. Haben Sie das verstanden?« »Ja.« »Sehr gut. Dann werden wir Sie jetzt nach Gaswin bringen. Je eher Sie mit Ihrer Arbeit beginnen, um so schneller kommen Sie nach Numenes. Ich werde mit dem Direktor reden; er ist ein anständiger Kerl und wird sich um Sie kümmern.«
Der Mann, der nun den Namen Pardero trug, saß ratlos da. Squil bekam Mitleid mit ihm. »Es wird schon nicht so schlimm werden. Es stimmt schon, es gibt harte Burschen im Arbeitslager, aber wissen Sie, wie Sie mit denen fertig werden können? Indem Sie ein bißchen härter als die Ausgekochtesten sind. Trotzdem sollten Sie zusehen, daß Sie nicht dem Disziplinaroffizier auffallen. Sie scheinen ein ordentlicher Mann zu sein – ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen und ein Auge auf Sie haben. Ein guter Rat – nein, zwei: Erstens, versuchen Sie nie, mit Ihrem Arbeitspensum zu schwindeln. Die Beamten kennen alle Tricks; sie finden die Faulpelze so schnell heraus, wie ein Kribbat Aas wittert. Und zweitens – spielen Sie nicht! Wissen Sie, was ›spielen‹ heißt?« »Nein.« »Es bedeutet, Geld in irgendeiner Wette einzusetzen. Lassen Sie sich bloß nicht dazu verführen! Lassen Sie Ihr Geld am besten in der Lagerkasse. Ich würde Ihnen raten, keine Freundschaften zu schließen. Abgesehen von Ihnen gibt es nur Gesindel im Lager. Ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Gute. Wenn Sie Schwierigkeiten bekommen, schicken Sie nach Detektiv Squil. Können Sie sich diesen Namen merken?« »Detektiv Squil.« »Gut.« Squil brachte den Mann ohne Gedächtnis hinaus zum Landeplatz und setzte ihn in das tägliche Transportboot nach Gaswin. »Noch ein letzter Rat! Vertrauen Sie sich niemandem an! Sie heißen jetzt Pardero, und abgesehen davon brauchen Sie niemandem etwas von Ihren Problemen erzählen. Verstehen Sie das?«
»Ja.« »Dann alles Gute!« Das Transportboot flog tief unter der dichten Wolkendecke über die schwarz und purpurn gescheckten Moore hinweg und landete schließlich neben einer Ansammlung von Betonbauten. Dies war das Arbeitslager Gaswin. Im Personalbüro wurde Pardero den üblichen Aufnahmeformalitäten unterzogen, aber die Prozedur wurde durch Squils Verständigung des Lagerdirektors erheblich vereinfacht. Man wies ihm eine Koje in einer Schlafbaracke zu, stattete ihn mit Arbeitsstiefeln und Handschuhen aus und gab ihm ein Exemplar der Lagerbestimmungen, die er verständnislos studierte. Am nächsten Morgen wurde er zu einem Arbeitstrupp eingeteilt und ausgeschickt, um Samenkapseln der Colucoidranke zu sammeln, aus denen ein besonders kräftiger roter Farbstoff hergestellt wurde. Pardero erfüllte sein Pensum ohne Schwierigkeiten. Den anderen, wortkargen Gesellen allesamt, fiel nicht auf, daß ihm etwas fehlte. Stumm verzehrte er sein Abendessen und kümmerte sich nicht um die anderen, die schließlich zu spüren begannen, daß mit Pardero irgend etwas nicht stimmte. Hinter den Wolken sank die Sonne tiefer; bedrükkend fahles Dämmerlicht legte sich über die Moore. Pardero suchte sich einen Platz im Aufenthaltsraums abseits von den anderen, und schaute sich ein melodramatisches Lustspiel im Holo an. Er verfolgte den Dialog mit gespannter Aufmerksamkeit; es war so,
als ob jedes Wort augenblicklich in seinem Gedächtnis einen vorbestimmten Platz fände und den richtigen semantischen Begriff auslöste. Sein Wortschatz wuchs, der Rahmen seiner Denkprozesse weitete sich. Als das Programm zu Ende war, saß er grübelnd da, und nun wurde ihm nach und nach seine Lage klar. Er ging hinüber zum Waschbecken, um sich im Spiegel darüber anzusehen. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, war gleichzeitig fremd und vertraut: ein ernstes Gesicht mit einer breiten Stirn, vorstehenden Backenknochen, etwas eingefallenen Wangen, dunkelgrauen Augen und einem zottigen gestutzten Schopf dunkelblonder Haare. Ein vierschrötiger Bursche namens Woane belustigte sich über sein Verhalten. »Nun schaut euch mal Pardero an! Er steht da und bewundert sich wie 'n Kunstwerk!« Pardero blickte forschend in den Spiegel. Wer war der Mann, dessen Augen ihn so gespannt musterten? Woanes heisere Stimme witzelte: »Jetzt bewundert er seinen Haarschnitt.« Woanes Freunde lachten pflichtschuldig. Pardero drehte seinen Kopf hin und her und fragte sich verwundert nach dem Grund für diese barbarische Frisur. Anscheinend hatte er irgendwo Feinde. Langsam wandte er sich vom Spiegel weg und kehrte zu seinem Platz zurück. Draußen versickerte der letzte Lichtschimmer. Es war Nacht geworden im Lager Gaswin. Eine seltsame Regung zuckte in der Tiefe von Parderos Bewußtsein auf, ein Zwang, der ihm gänzlich unverständlich war. Er sprang auf. Woane sah sich trotzig-besorgt nach ihm um, aber Parderos Blick
ging über ihn hinweg. Woane fühlte jedoch, daß irgend etwas Unheimliches in dem Mann vorging. Verdutzt murmelte er seinen Freunden eine Warnung zu. Alle sahen ihm nach, als Pardero zur Tür ging und hinaus in die Nacht trat. Pardero blieb vor dem Eingang stehen. Einige Scheinwerfer beleuchteten das Areal mit ihrem blassen Licht. Das Lager wirkte wie ausgestorben, nur der Wind, der vom Moor hereinstrich, brachte ein Flüstern von Leben in die Landschaft. Pardero trat von der Schwelle in die Schatten. Ohne bestimmtes Ziel wanderte er über die Lagergrenze ins Moor hinaus. Bald war das Lager nur mehr eine kleine Lichtinsel hinter ihm. Nichts störte mehr die Dunkelheit unter der dichten Wolkendecke. Pardero fühlte, wie sich seine Seele weitete, wie ihn eine seltsame Machttrunkenheit ergriff, als sei er ein aus der Dunkelheit geborener Naturgeist, für den es keine Furcht gab... Er blieb abrupt stehen. Kraft strömte durch seine Beine, seine Arme und Hände. Das Lager Gaswin war eine halbe Meile weit entfernt und das einzige, was in dieser lichtlosen Nacht noch zu sehen war. Pardero holte tief und keuchend Atem und durchforschte wiederum sein Bewußtsein, halb hoffnungsvoll, halb ängstlich, was er in sich finden würde. Nichts. Seine Erinnerung reichte nur bis zum Raumhafen Carfaunge zurück. Die Ereignisse davor glichen Stimmen aus einem Traum. Warum war er hier in Gaswin? Um Geld zu verdienen. Wie lange mußte er bleiben? Er hatte es vergessen, hatte vielleicht die Worte einfach nicht verstanden. Pardero spürte, wie ihn eine bedrückende Unruhe zu erfassen
begann, eine Art geistige Platzangst. Er warf sich auf den Moorboden, hämmerte mit den Fäusten gegen die Stirn, schrie seine Hilflosigkeit hinaus. Längere Zeit verging. Pardero richtete sich auf die Knie auf, kam auf die Füße und kehrte schließlich langsam ins Lager zurück. Eine Woche später hörte Pardero vom Lagerarzt und was seine Aufgaben waren. Am nächsten Morgen ging er zur Ordinationsstunde in die Krankenstation. Ein Dutzend Männer warteten auf den Bänken, während der Doktor, ein noch junger Mann, der erst vor kurzem seine Ausbildung abgeschlossen hatte, sie sich einen nach dem anderen vornahm. Die Beschwerde, ob echt, eingebildet oder erfunden, hingen im allgemeinen mit der Arbeit zusammen: Rückenschmerzen, Allergien, Lungenkongestion, ein entzündeter Lychfliegenstich. Der Arzt, dem es, obwohl jung an Jahren, nicht an Gewitztheit fehlte, trennte die echten Leidenden von den Simulanten und verschrieb den ersteren Heilmittel, während letztere jukkende Salben oder scheußlich schmeckende Säftchen bekamen. Schließlich wurde Pardero zum Tisch gewinkt, und der Arzt musterte ihn von oben bis unten. »Was fehlt Ihnen?« »Ich kann mich an nichts erinnern.« »Soso.« Der Arzt lehnte sich zurück. »Wie heißen Sie?« »Ich weiß es nicht. Hier im Lager nennen sie mich Pardero. Können Sie mir helfen?« »Wahrscheinlich nicht. Setzen Sie sich wieder hin, bis ich mit den anderen fertig bin. Es wird nur ein
paar Minuten dauern.« Der Arzt behandelte die wenigen restlichen Patienten und wandte sich dann wieder Pardero zu. »Sagen Sie mir, wie weit Sie sich zurückerinnern können.« »Ich traf in Carfaunge ein. Ich erinnere mich an ein Raumschiff. Auch an den Raumhafen – aber an nichts davor.« »An gar nichts?« »Nichts.« »Fallen Ihnen vielleicht irgendwelche Sachen ein, die Sie mögen oder die Sie nicht mögen? Haben Sie vor etwas Angst?« »Nein.« »Amnesie ist im typischen Fall eine Folge des unterbewußten Dranges, unangenehme Erinnerungen zu unterdrücken.« Pardero schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich.« Der Arzt, den der Fall sowohl interessierte als auch einigermaßen verwirrte, lachte etwas irritiert auf. »Nun, nachdem Sie sich an nichts erinnern können, sind Sie wohl auch kaum dazu imstande, darüber zu urteilen.« »Das stimmt vermutlich... Könnte irgend etwas mit meinem Gehirn nicht stimmen?« »Sie meinen, ein physischer Schaden? Haben Sie Kopfschmerzen, Sinnesstörungen? Ein Gefühl von Druck oder Benommenheit?« »Nein.« »Naja, ein Tumor würde ohnehin kaum eine generelle Amnesie verursachen... Lassen Sie mich mal nachlesen...« Er blätterte einige Augenblicke lang in
einem medizinischen Werk. »Ich könnte es mit Hypnotherapie oder Schockbehandlung versuchen. Offen gesagt, ich glaube nicht, daß ich viel ausrichten würde. Eine Amnesie vergeht im allgemeinen von selber, wenn man sie in Ruhe läßt.« »Ich glaube nicht, daß sich mein Zustand von selbst bessert. Etwas liegt über meinem Geist wie eine Dekke. Es erstickt mich. Ich kann es einfach nicht abschütteln. Können Sie mir nicht helfen?« Parderos Haltung hatte etwas seltsam Einfaches, das den Arzt rührte. Er fühlte jedoch auch das dunkle Geheimnis, das Drama hinter dem Zustand des Mannes. »Ich würde Ihnen helfen, wenn ich dazu imstande wäre. Von ganzem Herzen würde ich Ihnen helfen. Aber ich würde dabei nicht wissen, was ich anrichte. Ich habe nicht das Recht, an Ihnen herumzuexperimentieren.« »Der Polizeibeamte riet mir, in das Spital des Connat auf Numenes zu gehen.« »Ja, natürlich – das ist gewiß die beste Lösung. Ich wollte es schon selbst vorschlagen.« »Wo ist Numenes? Wie komme ich dorthin?« »Sie fliegen mit einem Sternenschiff hin. Die Passage kostet etwas mehr als zweihundert Ozols, wie man mir gesagt hat. Sie verdienen dreieinhalb Ozols am Tag – mehr, wenn Sie Ihr Soll überschreiten. Wenn Sie zweihundertfünfzig Ozols beisammen haben, sollten Sie nach Numenes fliegen. Etwas Besseres kann ich Ihnen nicht raten.«
KAPITEL 2 Pardero stürzte sich mit zielstrebiger Entschlossenheit in die Arbeit. Regelmäßig sammelte er um die Hälfte mehr Kapseln ein, als seinem Pensum entsprach, und manchmal brachte er es sogar zum doppelten Soll, was die anderen Arbeiter erst zu spöttischen, dann zu hämischen Bemerkungen veranlaßte und schließlich zu kalter, wenn auch nicht offener Feindseligkeit führte. Dazu kam noch, daß Pardero sich weigerte, an den Freizeitaktivitäten des Lagers teilzunehmen – er saß höchstens in einer Ecke und starrte in den Holo-Schirm, und das hatte ihm bald den Ruf von Überheblichkeit eingebracht. In gewisser Weise fühlte er sich tatsächlich zu dem Gefühl berechtigt. Er gab in der Kantine nichts aus, und trotz wiederholten Drängens nahm er an keinen Glücksspielen teil, obwohl er manchmal mit grimmigem Lächeln zuschaute, was einige Spieler ziemlich beunruhigte. Zweimal wurde sein Spind von jemandem durchwühlt, der Parderos Ersparnisse zu finden hoffte, aber Pardero hatte von seinem Lohnguthaben nichts abgehoben. Woane unternahm einen oder zwei halbherzige Versuche, ihn einzuschüchtern, und beschloß endlich, dem hochnäsigen Pardero eine saftige Lehre zu erteilen, stieß aber auf so wilde Gegenwehr, daß er froh war, mit einigermaßen heiler Haut in die sichere Messe zurückzukommen. Danach ließ man Pardero endlich ganz in Ruhe. Nicht ein einziges Mal konnte Pardero einen Riß in der Barriere zwischen Gedächtnis und Bewußtsein entdecken. Bei der Arbeit fragte er sich immer wie-
der: ›Was bin ich für ein Mensch? Wo ist meine Heimat? Was weiß ich alles? Wer sind meine Freunde? Wer hat mir dieses Unrecht angetan?‹ Er ließ seine Frustration an den Colucoidranken aus und gelangte dadurch in den Ruf eines Mannes, der von einem inneren Drang besessen war und dem man nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Pardero selbst verbannte alles, was mit Gaswin zusammenhing, in den hintersten Winkel seines Bewußtseins: er würde von diesem Ort so wenig Erinnerungen wie möglich mitnehmen. Die Arbeit war durchaus erträglich, aber der Name Pardero störte ihn. Den Namen eines Fremden zu tragen, das war, als trüge man die Kleider eines anderen, und der Gedanke war ihm zuwider. Gewiß, der Name war so gut wie jeder andere, und die Sache war nur eine der geringfügigeren Unannehmlichkeiten. Was ihn viel mehr störte, war der völlige Mangel an Privatsphäre. Die ständige intime Nähe von dreihundert anderen Männern war ihm abscheulich, ganz besonders zu den Essenszeiten, wo er nur verbissen auf seinen Teller starren konnte, um die offenen Münder, die aufgehäuften Portionen, die widerlichen Kaubewegungen nicht sehen zu müssen. Nicht zu vermeiden waren jedoch Grunzen, sattes Rülpsen und Seufzen. In seinem früheren Leben hatte es derartiges gewiß nicht gegeben! Aber wie hatte sein Leben ausgesehen? So oft er sich diese Frage auch stellte, er stieß nur auf ein Nichts, auf informationslose Leere. Irgendwo lebte ein Mensch, der ihn hilflos, mit grob gestutztem Haar quer durch den Sternhaufen geschickt hatte, jeglichen Identitätsbewußtseins beraubt. Manchmal,
wenn er sich diesen Feind vorzustellen versuchte, glaubte er den Hauch wahrscheinlich eingebildeter Töne zu hören – das ferne Echo eines Lachens vielleicht –, aber wenn er den Kopf hob, um zu lauschen, hörte er nichts mehr. Der Einbruch der Dunkelheit beunruhigte ihn immer noch. Oft verspürte er den Drang, hinaus ins Dunkel zu wandern, doch er unterdrückte einen Impuls, teils aus Müdigkeit, teils weil er fürchtete, damit irgendeiner abnormen Veranlagung nachzugeben. Er erzählte dem Lagerarzt von seiner nächtlichen Unruhe, und der war auch der Meinung, daß dieses rätselhafte Streben am besten unterdrückt wurde, zumindest bis man die Ursache dafür kannte. Der Arzt lobte Pardero für seinen Arbeitseifer und empfahl ihm, zumindest zweihundertfünfundsiebzig Ozols zusammenzusparen, bevor er aufbrach, damit er für unvorhergesehene Ausgaben eine Rücklage hatte. Als Parderos Guthaben den Betrag von zweihundertfünfundsiebzig Ozols erreichte, hob er das Geld ab und konnte nun, nicht mehr länger mittellos, seine eigenen Wege gehen. Ein wenig traurig nahm er Abschied von dem Arzt, der ihm mit der Zeit fast ein Freund geworden war, und bestieg das Transportboot nach Carfaunge. Er bedauerte es nun sogar irgendwie, daß er Gaswin für immer verließ. Es hatte wenig Annehmlichkeiten für ihn hier gegeben, aber es war doch ein Zufluchtsort gewesen. An Carfaunge erinnerte er sich kaum mehr, und der Raumhafen wirkte auf ihn wie ein in einem verblaßten Traum erlebter Ort. Von Chefverwalter Mergan bekam er nichts zu sehen, aber Dinster, der Nachtaufseher, der gerade sei-
nen Dienst antrat, erkannte ihn sofort wieder. Die Ecobant von der Prydania-Linie brachte Pardero nach Baruilla auf Deulle, Alastor 2121, wo er auf die Lusimar von der Gaea-Postlinie umstieg und so zum Raumverkehrszentrum Calypso auf Imber kam, von wo er mit der Wispen Argent nach Numenes weiterflog. Pardero genoß die Reise: die vielfältigen Eindrükke, Vorgänge und Ansichten verblüfften ihn. Er hatte sich diese Vielfalt nicht vorstellen können: das stete Kommen und Gehen auf den Welten des Sternhaufens, der Strom von Gesichtern, die Kleider, Gewänder, Hüte, Schmuck und Aufmachung, Farben und Lichter und Fetzen fremdartiger Musik; das Gewirr von Stimmen; der bedrängende Anblick schöner Frauen; Dramatik, Aufregung, Pathos; Gegenstände, Gesichter, Töne, Unerwartetes. Hatte er das alles gekannt und vergessen? Bisher hatte sich Pardero kein Selbstmitleid erlaubt, und sein geheimnisvoller Feind war für ihn nicht viel mehr als eine Abstraktion gewesen. Jetzt wurde ihm nach und nach bewußt, wie gemein das Verbrechen war, das man an ihm verübt hatte. Man hatte ihm alles genommen, Zuhause, Freunde, Sicherheit, Zuneigung; er war zu einem Nichts gemacht worden, seine Persönlichkeit war getötet worden. Mord! Das Wort tauchte plötzlich auf und durchzuckte ihn wie ein eisiger Schauer. Und von irgendwo, aus weiter Ferne, kam der gespenstische Hauch eines höhnischen Lachens. Auf ihrem Weg nach Numenes machte die Wispen Argent zuerst in einer Umlaufbahn um Blazon, den
benachbarten Planeten, halt, wo sie vom Whelm für die Landefreigabe überprüft wurde – eine Vorsichtsmaßnahme, um einem Angriff auf den Palast des Connat aus dem Weltraum vorzubeugen. Als die Genehmigung erteilt war, nahm die Wispen Argent wieder ihren Kurs auf; Numenes wurde langsam größer. In einer Entfernung von etwa dreitausend Meilen erlebten die Passagiere jenes seltsame Umkippen des Orientierungsbezugs: Numenes wurde von einem in der Schwerelosigkeit schwebenden Ziel unvermittelt zu einer unter ihnen liegenden Welt, auf die ihr Schiff hinuntersank – ein schimmerndes Panorama von weißen Wolken, funkelnden Meeren, dem blauen Schleier der Atmosphäre. Das Raumverkehrszentrum Commarice umfaßte ein Areal von gut fünf Kilometern im Durchmesser. Ein Gürtel der hohen Jacinth-Palmen begrenzte es; ebenso typisch für Numenes war die flache, luftige Bauweise der üblichen Raumhafengebäude wie Büros und Lager. Pardero verließ die Wispen Argent und wurde von einem Rollweg vom Landefeld zu den Hafengebäuden gebracht, wo er sich nach dem Spital des Connat erkundigte. Er wurde zuerst an den Auskunftsschalter verwiesen und von dort dann in ein Büro etwas abseits vom Hauptgebäude geschickt, wo ihn eine große, hagere Frau unbestimmbaren Alters in Empfang nahm. Sie begrüßte ihn kurz. »Ich bin Oberschwester Gundal. Wie ich höre, wollen Sie in das Spital des Connat aufgenommen werden?« »Ja.« Oberschwester Gundal drückte auf einige Tasten, die offenbar irgendeine Datenspeicherung aktivier-
ten. »Ihr Name?« »Ich werde Pardero genannt. Meinen richtigen Namen weiß ich nicht.« Oberschwester Gundal nahm das kommentarlos zur Kenntnis. »Ihre Heimatwelt?« »Das weiß ich nicht.« »Ihr Leiden?« »Amnesie.« Oberschwester Gundal musterte ihn mit ausdrucksloser Miene, was vielleicht ein Zeichen von Interesse darstellte. »Wie steht es mit Ihrer körperlichen Gesundheit?« »Gut, glaube ich.« »Eine Assistentin wird Sie ins Spital bringen.« Oberschwester Gundal hob die Stimme. »Ariel!« Eine blonde junge Frau kam in den Raum; ihre Uniform paßte nicht so recht zu ihrer heiteren Schönheit. Oberschwester Gundal wies sie an: »Bitte bringen Sie diesen Herrn in das Spital des Connat.« An Pardero gewandt, fragte sie: »Haben Sie Gepäck?« »Nein.« »Ich wünsche Ihnen eine baldige Besserung.« Die Assistentin lächelte Pardero höflich zu. »Hier entlang, bitte.« Ein Lufttaxi flog sie nach Norden, über die blaugrüne Landschaft von Flor Solana hinweg, während Ariel leichte Konversation machte. »Waren Sie schon einmal auf Numenes?« »Ich weiß es nicht; ich kann mich an nichts erinnern, was länger als zwei oder drei Monate zurückliegt.« »Oh, das tut mir aber leid!« meinte Ariel etwas verwirrt. »Nun, falls Sie es nicht schon wissen – auf
Numenes gibt es keine richtigen Kontinente, nur Inseln. Alle, die hier leben, haben ein eigenes Boot.« »Das klingt angenehm.« Mit einem prüfenden Seitenblick sondierte Ariel vorsichtig Parderos Einstellung zu seinem Leiden. »Es muß schon sonderbar sein, sich selbst nicht zu kennen! Wie fühlt man sich dabei?« Pardero überlegte ein wenig. »Also – weh tut's jedenfalls nicht.« »Das freut mich zu hören. Denken Sie nur – Sie könnten wirklich irgendwer sein, jemand Reicher und Bedeutender!« »Viel wahrscheinlicher bin ich etwas ganz Gewöhnliches: ein Straßenarbeiter oder ein wandernder Hundefriseur.« »Das glaube ich nicht!« erklärte Ariel lächelnd. »Ich halte Sie für einen – nun...« – sie zögerte und fuhr dann etwas verlegen fort – »einen sehr tüchtigen und intelligenten Mann.« »Ich hoffe, Sie haben recht.« Pardero blickte sie an und seufzte; er bedauerte, daß dieses muntere blonde Wesen nur eine so kurze Rolle in seinem Leben spielen würde. »Was wird man mit mir machen?« »Nichts Beängstigendes. Ihr Zustand wird von den besten Fachleuten mit den modernsten Geräten untersucht werden. Man wird Sie mit Sicherheit heilen können.« Pardero empfand auf einmal etwas wie Besorgnis. »Auch das ist ein Risiko. Es könnte sich durchaus herausstellen, daß ich jemand bin, der ich gar nicht sein möchte.« Ariel konnte ein verschmitztes Lächeln nicht unterdrücken. »Soviel ich weiß, ist das genau der
Grund, warum sich jemand eine Amnesie zulegt.« Pardero brummte etwas bedrückt. »Ängstigt es Sie nicht, mit jemandem allein zu sein, der vielleicht ein Verbrecher ist?« »Ich werde dafür bezahlt, nicht ängstlich zu sein. Ich habe schon viel unheimlichere Leute als Sie begleitet.« Pardero schaute hinunter über die Insel Flor Solana. Weiter vorne sah er ein Bauwerk aus schimmernden Streben und durchscheinenden Wänden, dessen genauere Struktur durch Gruppen von Jacinthpalmen und Cinniborinen verborgen wurde. Als das Lufttaxi näher herankam, wurden sechs Kuppeln erkennbar, von denen jeweils ein Gebäudeflügel ausging. Pardero fragte: »Ist das das Spital?« »Alles, was Sie sehen. Die Hexade enthält das Rechenzentrum. Die kleineren Gebäude sind Laboratorien und Operationsräume. Die Patienten sind in den Flügeln untergebracht. Dort werden auch Sie leben, bis Sie ganz wiederhergestellt sind.« »Und was ist mit Ihnen? Werde ich Sie wiedersehen?« fragte Pardero schüchtern. Ariels Grübchen vertieften sich. »Möchten Sie das denn?« Pardero sondierte nüchtern seine Wünsche. »Ja.« Ariel meinte neckend: »Sie werden so sehr mit sich selbst beschäftigt sein, daß Sie mich vergessen werden.« »Ich will nie wieder etwas vergessen.« Ariel kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Sie können sich an gar nichts aus Ihrem früheren Leben erinnern?« »An nichts.«
»Vielleicht haben Sie Familie – jemanden, der Sie liebt, und Kinder.« »Das ist wohl möglich... aber irgendwie glaube ich das nicht recht.« »Die meisten Männer denken so... Nun, ich werd's mir jedenfalls überlegen.« Das Lufttaxi setzte auf; die beiden stiegen aus und wanderten durch eine schattige Allee zur Hexade hinüber. Ariel musterte ihn aus den Augenwinkeln, und seine beklommene Miene erregte schließlich ihr Mitgefühl. In heiter unpersönlichem Ton sagte sie: »Ich bin ziemlich oft hier heraußen. Sobald Ihre Behandlung begonnen hat, werde ich Sie besuchen, ja?« Pardero lächelte schwach. »Ich freue mich schon darauf.« Sie brachte ihn zur Aufnahmestelle und sprach kurz mit einem Verwaltungsbeamten; dann verabschiedete sie sich von Pardero. »Nicht vergessen!« rief sie über die Schulter zurück. Ob gewollt oder nicht, ihre Stimme klang nun gar nicht mehr unpersönlich. »Wir sehen uns bald!« »Ich bin U. A. Kolodin«, sagte der große, etwas verschlafen wirkende Mann mit ziemlich großer Nase und zerzaustem dunklen Haar. »Das U. A. bedeutet Universalassistent. Nennen Sie mich einfach Kolodin. Ich hab' Sie auf meiner Betreuungsliste; wir werden uns also des öfteren sehen. Kommen Sie mit, wir wollen die Vorbereitungen hinter uns bringen.« Pardero badete, wurde einer eingehenden Untersuchung unterzogen und erhielt einen hellblauen, leichten Overall. Kolodin zeigte ihm sein Zimmer in einem der Patientenflügel, dann aßen sie etwas auf
der dahinterliegenden Terrasse. Kolodin, der nicht viel älter war als Pardero, aber sehr viel welterfahrener, interessierte sich lebhaft für Parderos Zustand. »Mir ist bis jetzt noch nie ein solcher Fall untergekommen. Faszinierend! Es ist fast schade, Sie zu heilen!« Pardero lächelte etwas mühsam. »Ich bin auch nicht so sehr darauf aus. Man hat mir gesagt, daß ich das Gedächtnis verloren habe, weil ich mich an irgend etwas nicht erinnern will. Vielleicht wäre es besser, ich wurde nicht geheilt.« »Das ist schon ein Dilemma«, stimmte Kolodin zu. »Nun, es wird schon nicht so schlimm werden.« Er warf einen Blick auf seinen Daumennagel, auf dem einige Zahlen aufleuchteten. »In fünfzehn Minuten sind wir bei M. A. Rady angemeldet, der über Ihre Behandlung entscheiden wird.« Die beiden Männer kehrten in die Hexade zurück. Kolodin führte Pardero in das therapeutische Labor des Medizinischen Assistenten Rady, und einige Augenblicke später erschien Rady selbst: ein dünner, scharfäugiger Mann mittleren Alters, der offensichtlich schon mit allen Daten von Parderos Fall vertraut war. Er fragte: »Das Raumschiff, das Sie nach BruseTansel brachte: wie hieß es?« »Ich erinnere mich nur sehr undeutlich daran.« Rady nickte und drückte einen Würfel aus grobem Schaumstoff erst auf die eine, dann auf die andere Schulter Parderos. »Das enthält eine Droge, die geistige Entspannung erleichtert... Lehnen Sie sich bequem zurück. Versuchen Sie, an irgend etwas Angenehmes zu denken.« Der Raum verdunkelte sich. Pardero dachte an
Ariel. »Sie werden an der Wand ein Muster sehen«, sagte Rady. »Ich möchte, daß Sie es fixieren; Sie können auch die Augen schließen, wenn Ihnen das lieber ist... Ruhen Sie sich aus, entspannen Sie sich völlig und hören Sie nur auf meine Stimme. Wenn ich Ihnen sage, daß Sie schlafen sollen, dann dürfen Sie einschlafen.« Das Muster an der Wand pulsierte, verschwamm; ein weicher Ton, der anschwoll und verebbte, schien alle anderen Klänge des Universums aufzusaugen. Die Figuren an der Wand wuchsen, bis sie ihn umgaben, bis die einzige Realität nur mehr er selbst war, allein mit seinem Geist. »Ich weiß es nicht.« Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, obwohl es seine eigene war. Seltsam. Er hörte ein Gemurmel, dessen Sinn ihm nur halb bewußt wurde: »Wie hieß Ihr Vater?« »Ich weiß es nicht.« »Wie hieß Ihre Mutter?« »Ich weiß es nicht.« Viele Fragen, manchmal beiläufig, manchmal drängend und immer dieselbe Antwort, und endlich Stille. Pardero erwachte; er war allein. Fast unmittelbar darauf kehrte Rady zurück und blickte mit leichtem Lächeln auf Pardero hinunter. »Was haben Sie in Erfahrung gebracht?« erkundigte sich Pardero. »Nichts von Bedeutung. Wie fühlen Sie sich?« »Müde.« »Das ist ganz normal. Für den Rest des Tages sollten Sie sich ausruhen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über Ihren Zustand; wir werden der Sache
schon irgendwie auf den Grund kommen.« »Und wenn einfach nichts da ist? Wenn ich keine Erinnerungen habe?« Rady war nicht der Mann, der so etwas ernst nahm. »Jede Zelle Ihres Körpers hat Erinnerungen. Ihr Geist speichert Fakten in vielen Ebenen. Sie haben zum Beispiel das Sprechen nicht vergessen.« »Als ich in Carfaunge ankam, wußte ich sehr wenig«, meinte Pardero zweifelnd. »Ich konnte nicht sprechen. Erst wenn ich ein Wort hörte, erinnerte ich mich an seine Bedeutung und konnte es anwenden.« Rady nickte kurz. »Das wäre die Grundlage einer Therapie, mit der wir es versuchen könnten.« Pardero blickte unschlüssig auf. »Es könnte sein, daß ich meine Erinnerung wiedererlange und feststelle, daß ich ein Verbrecher bin.« Radys Augen funkelten. »Dieses Risiko müssen Sie eingehen. Vielleicht muß Sie der Connat zum Tode verurteilen, nachdem Ihr Gedächtnis in seinem Spital wiederhergestellt worden ist.« Pardero verzog das Gesicht. »Besucht der Connat jemals das Spital?« »Zweifellos. Er geht überall hin.« »Wie sieht er aus?« Rady zuckte die Achseln. »Auf den offiziellen Fotos wirkt er allein durch Uniform und Aufmachung wie ein bedeutender und einflußreicher Edelmann. Wenn er aber inkognito unterwegs ist, ist seine Erscheinung so unauffällig, daß er nie erkannt wird. So will er es haben. Im Sternhaufen Alastor leben vier Billionen Menschen, und es heißt, daß der Connat von jedem weiß, was er zum Frühstück ißt.« »Wenn das so ist«, meinte Pardero, »sollte ich viel-
leicht einfach den Connat nach meinem früheren Leben fragen.« »Vielleicht kommt es dazu.« Die Tage vergingen, eine Woche, dann zwei Wochen. Rady versuchte mit einem Dutzend Methoden, die Blockierungen in Parderos Geist zu durchbrechen. Er zeichnete die Reaktionen auf eine Vielfalt von Reizen auf: Farben, Töne, Geschmäcke, Konsistenzen; Höhen und Tiefen; Helligkeit und verschiedene Stufen von Dunkelheit. In einem komplizierteren Verfahren wurden Parderos äußerliche, physiologische und zerebrale Reaktionen auf die verschiedensten Auslöseparameter vermessen – auf Absurditäten, Feierlichkeiten, erotische Situationen, Grausamkeiten und Schreckensbilder, auf die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern. Ein Computer stellte die Ergebnisse der Tests zusammen, verglich sie mit bekannten Richtwerten und schuf ein Modell von Parderos Psyche. Als Rady schließlich die Endergebnisse beurteilte, fand er wenig Aufschlußreiches. »Ihre Grundreflexe sind normal genug; was nicht normal ist, das ist Ihre Reaktion auf Dunkelheit, die Sie eigenartig zu stimulieren scheint. Ihre soziale Kontaktbereitschaft ist unterentwickelt, aber daran kann auch die Amnesie schuld sein. Sie wirken eher selbstbewußt als in sich gekehrt; Musik und Farbensymbolik bedeuten Ihnen wenig. – möglicherweise auch erst in Folge Ihrer Amnesie. Gerüche stimulieren Sie weit mehr, als ich erwartet hätte – aber nicht in signifikantem Maße.« Rady lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Diese Tests haben vielleicht irgendeine bewußte Reaktion ausgelöst. Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen?«
»Nein.« Rady nickte. »Nun gut. Versuchen wir es in einer anderen Richtung. Die theoretische Grundlage ist folgende: wenn Ihre Amnesie durch eine Situation ausgelöst wurde, die Sie vergessen wollten, dann kann die Amnesie aufgehoben werden, wenn Ihnen die betreffenden Ereignisse bewußt gemacht werden. Dazu müssen wir Näheres über diese traumatische Situation erfahren. Kurz gesagt heißt das, daß wir Ihre Identität herausfinden und feststellen müssen, woher Sie kommen.« Pardero runzelte die Stirn und schaute zum Fenster hinaus. Rady musterte ihn aufmerksam. »Ihnen liegt nichts daran, Ihre Identität zu erfahren?« Pardero lachte trocken. »Das habe ich nicht gesagt.« Rady zuckte die Achseln. »Es liegt bei Ihnen. Sie können jederzeit hier fortgehen. Das Sozialamt wird Ihnen Arbeit besorgen, und Sie können ein neues Leben beginnen.« Pardero schüttelte den Kopf. »Ich hätte kein ruhiges Gewissen mehr. Es gibt vielleicht irgendwo Menschen, die mich brauchen, die jetzt um mich trauern.« Rady sagte nur: »Morgen beginnen wir mit der Detektivarbeit.« Eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung traf sich Pardero mit Ariel in einem Café und berichtete ihr über die Ereignisse des Tages. »Rady hat zugeben müssen, daß ihm mein Fall ein Rätsel ist«, sagte Pardero mit einer Art düsterer Genugtuung. »Natürlich nicht wortwörtlich. Jedenfalls meinte er, die einzige Methode, etwas über mein bisheriges Leben zu erfah-
ren, sei, meine Heimat festzustellen. Er will mich also heimschicken. Aber zuerst müssen wir herausfinden, wo ich daheim bin. Die Detektivarbeit beginnt morgen.« Ariel nickte versonnen. An diesem Abend war sie nicht so heiter wie sonst; Pardero fand, daß sie irgendwie bedrückt und in sich gekehrt wirkte. Er streckte die Hand aus, um ihr weiches, blondes Haar zu berühren, aber sie wich ihm aus. »Und dann?« fragte sie. »Das wird sich finden. Er sagte mir, wenn ich nicht weitermachen wollte, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Entscheidung.« »Und was haben Sie geantwortet?« »Ich sagte ihm, daß ich nicht mehr zurück könnte, weil vielleicht irgendwo Menschen mich vermissen und nach mir suchen.« Ariels blaue Augen verdunkelten sich etwas bekümmert. »Wir können uns nicht mehr wiedersehen, Pardero.« »Oh? Weshalb nicht?« »Genau aus dem Grund, den Sie eben nannten. Es ist meistens so, daß jemand, der das Gedächtnis verloren hat, seine Heimat verläßt und... nun, neue Bindungen sucht. Dann erlangt er sein Gedächtnis wieder, und alles, was dabei herauskommt, ist Unglück für alle Beteiligten.« Ariel stand auf. »Ich will lieber gleich Lebewohl sagen, bevor ich mich anders besinne.« Sie drückte seine Hand, drehte sich um und ging. Pardero sah ihr die Allee hinunter nach. Er gab durch nichts zu erkennen, daß er sie gerne zurückgehalten hätte.
Nicht ein Tag, sondern drei vergingen, bevor U. A. Kolodin Pardero abholen kam. »Heute besuchen wir den Palast des Connat und sehen uns den Ring der Welten an.« »Ich freue mich auf den Ausflug. Aber wozu soll er gut sein?« »Ich habe Ihre Vergangenheit erforscht, so weit es ging, aber es hat sich herausgestellt, daß nur ein hoffnungsloses Durcheinander dabei herauskommt – genauer gesagt, es gibt einfach zu viele Möglichkeiten.« »Das hätte ich Ihnen vorher sagen können.« »Zweifellos, aber bei einem solchen Job darf man nie etwas als gegeben ansehen. Die nachprüfbaren Fakten sind folgende: Irgendwann am zehnten Mariel-Gaea trafen Sie im Raumhafen Carfaunge ein. An diesem Tag war ungewöhnlich viel los – Sie hätten mit jedem von sechs Schiffen vier verschiedener Raumfahrtlinien eingetroffen sein können. Die Routen dieser Schiffe berührten achtundzwanzig Welten, also könnten Sie von jeder dieser Welten stammen. Neun davon sind allerdings bedeutende Verkehrsknotenpunkte, und es wäre möglich, daß Ihre Reise aus zwei oder gar drei Etappen bestanden hat. Amnesie wäre dabei kein unüberwindliches Hindernis. Stewards und Hafenpersonal würden in der Annahme, daß Sie schwachsinnig seien, Ihren Flugschein konsultieren und Sie von einem Schiff aufs nächste bringen. Auf jeden Fall ist die Zahl möglicher Welten, Häfen, Schiffe und Umsteigrouten so groß, daß wir damit nicht weiterkommen. Es wäre höchstens ein allerletzter Ausweg. Zuerst aber besuchen wir den Connat! Ich bezweifle allerdings, daß er uns persönlich empfangen wird.«
»Schade. Ich hätte ihm gerne meine Reverenz erwiesen.« Mit einem Lufttaxi flogen Sie quer über Flor Solana nach Moniscq, einer Küstenstadt, von wo sie durch den Unterseetunnel durch den Ozean der Äquatorialstürme zur Insel Tremone weiterreisten. Ein Luftbus brachte sie weiter nach Süden, und schließlich wurde der sogenannte ›Palast‹ des Connat sichtbar, zuerst als glasig schimmerndes, scheinbar schwebendes Gebilde, das sich zu einem Turm von ungeheuren Ausmaßen verdichtete, eine mächtige Säule, die auf fünf Stützpfeilern ruhte, die wiederum auf fünf Inseln verankert waren. Dreihundertfünfzig Meter über dem Meer trafen sich diese Stützen, in Bögen zusammenschwingend, und bildeten eine fünfteilige Kuppel, die Unterseite des ersten Niveaus. Darüber ragte der Turm auf, durch die dunstigen unteren Luftschichten, durch die glasklaren Oberschichten, durch einen dünnen Zirrenschleier bis in die sonnendurchfluteten Regionen der hohen Atmosphäre. Kolodin fragte beiläufig: »Gibt es auf Ihrer Heimatwelt* auch solche Türme?« Pardero warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Sie versuchen doch nicht, mich zu überrumpeln? Wenn ich das wüßte, wäre ich wohl kaum hier.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Turm zu. »Und wo wohnt der Connat?« »Seine Räume befinden sich im obersten Stockwerk. Vielleicht steht er gerade dort oben an einem seiner Fenster. Vielleicht auch nicht – wissen kann *
Farblose Übersetzung des Wortes geisling, das eine viel wärmere, engere Beziehung ausdrückt.
man das nie genau; schließlich gibt es in Alastor jede Menge Unzufriedene, Verrückte und Terroristen, deshalb sind einige Sicherheitsvorkehrungen unumgänglich. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Attentäter würde unter dem Vorwand des Gedächtnisverlustes nach Numenes geschickt – oder auch jemand, dessen blockiertes Gedächtnis latente Anweisungen für einen Anschlag enthält.« »Ich habe keine Waffen«, sagte Pardero. »Ich bin kein Attentäter. Allein der Gedanke macht mich schaudern.« »Das ist vielleicht nicht unwichtig. Ich glaube, daß auch in Ihrem psychometrischen Profil eine Aversion gegen Mord aufschien. Nun, wenn Sie ein Attentäter wären, würde Ihr Vorhaben fehlschlagen, weil wir den Connat heute nicht sehen werden.« »Wen wollen wir dann aufsuchen?« »Einen bekannten Demosophen namens Ollave, der Zugang zu den Datenspeichern und Rechenanlagen hat. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß wir von ihm den Namen Ihrer Heimatwelt erfahren.« Pardero überdachte diese Aussicht mit der ihm eigenen Gründlichkeit. »Und was wird dann aus mir?« »Nun«, meinte Kolodin zögernd, »es stehen Ihnen dann mindestens drei Möglichkeiten offen. Sie könnten weiter im Spital in Behandlung bleiben, obwohl ich fürchte, daß Rady nicht mehr viel Hoffnung hat. Sie können sich mit Ihrem Zustand abfinden und versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Und Sie können auf Ihre Heimatwelt zurückkehren.« Pardero sagte nichts, und Kolodin nahm taktvoll von weiteren Fragen Abstand. Ein Rollweg brachte sie zum Fuß des nächstliegen-
den Stützpfeilers; aus dieser Perspektive verzerrten sich die Proportionen des Turms, so daß nur mehr der Eindruck überwältigender Mächtigkeit zurückblieb, die sich allen Gesetzen der Schwerkraft zu entziehen schien. Die beiden Männer fuhren mit einer der durchsichtigen Liftkapseln hinauf; Meer, Küste und die Insel Tremone sanken unter ihnen weg. »Die ersten drei Niveaus und die sechs unteren Rundgänge sind der Erholung und Zerstreuung der Touristen gewidmet«, erklärte Kolodin. »Tagelang können sie hier umherstreifen, den ausgefallensten Vergnügungen nachgehen oder sich auch nur ausruhen. Einfache Zimmer stehen ihnen ohne Übernachtungsgebühr zur Verfügung, und luxuriöse Räume können zu einem nominellen Preis gemietet werden. Sie können ihren Hunger mit heimatlichen Gerichten stillen oder sich durch die Kochkünste von Alastor und anderen Regionen hindurchkosten, wiederum zu einem ganz geringen Preis. Millionen von Besuchern kommen hierher und genießen ihren Aufenthalt – so will es der Connat. Wir passieren jetzt die Verwaltungsniveaus, in denen die verschiedenen Regierungsabteilungen und die Amtsräume der Vierundzwanzig Verwaltungsräte untergebracht sind... Jetzt sind wir am Ring der Welten vorbei und kommen zum Institut der Anthropologischen Wissenschaften, das unser Ziel ist. Ollave ist ein sehr gescheiter Mann, und wenn überhaupt irgend etwas herauszubringen ist, dann wird es ihm gelingen.« Sie traten in eine Vorhalle, die mit blauen und weißen Fliesen ausgelegt war. Kolodin sprach Ollaves Namen in ein schwarzes Kreisgitter, und nach eini-
gen Augenblicken erschien Ollave. Er war ein unscheinbar wirkender Mann mit blassem Teint und gedankenverlorener Miene. Er hatte eine lange, schmale Nase, und sein schwarzes Haar lichtete sich ziemlich stark. Als er Kolodin und Pardero begrüßte, stellte sich heraus, daß er eine unerwartet kräftige, tiefe Stimme besaß. Er bat die beiden in ein spartanisch ausgestattetes Büro. Pardero und Kolodin nahmen Platz, und Ollave zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück. Zu Pardero gewandt, sagte er: »Soweit ich verstanden habe, können Sie sich an nichts aus Ihrem bisherigen Leben erinnern.« »Das ist richtig.« »Ich kann Ihnen nicht Ihre Erinnerungen zurückgeben«, sagte Ollave, »aber wenn Sie innerhalb des Sternhaufens Alastor geboren wurden, müßte ich imstande sein, Ihre Herkunft zu bestimmen, vielleicht sogar Ihren engeren Heimatbezirk herauszufinden.« »Wie wollen Sie das anfangen?« Ollave wies auf seinen Schreibtisch. »Ich habe alle Ihre anthropometrischen Daten und physiologischen Indizes hier, Angaben über Ihre somatochemischen Reaktionen, Ihr psychisches Profil – kurzum, alle Daten, die die Assistenten Rady und Kolodin zusammenstellen konnten. Es wird Ihnen vielleicht bekannt sein, daß der Aufenthalt auf einer bestimmten Welt innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsordnung, deren Lebensweise man sich anpaßt, sowohl geistige wie körperliche Spuren hinterläßt. Diese Spuren sind unglücklicherweise nicht immer ganz charakteristisch, und einige sind zu schwach ausgeprägt, als daß man sie verläßlich feststellen könnte. Wenn Sie zum Beispiel die Blutgruppe RC3 haben, dann ist
es unwahrscheinlich, daß Ihre Heimatwelt Azulias ist. Ihre Darmbakterien liefern Hinweise, ebenso die Muskulatur Ihrer Beine, die chemische Zusammensetzung Ihres Haars, das Vorhandensein und die Art irgendwelcher Pilzerkrankungen oder innerer Parasiten, die Pigmentierung Ihrer Haut. Wenn Sie Gesten verwenden, so können die ebenfalls charakteristisch sein. Andere gesellschaftliche Reflexe, wie etwa Lokalisierung und Ausmaß des körperlichen Schamgefühls, liefern ebenfalls brauchbare Hinweise, aber dazu bedarf es langwieriger und geduldiger Beobachtung, und außerdem können solche Reaktionen durch die Amnesie beeinträchtigt sein. Gebißbeschaffenheit und Zahnreparaturen sind auch manchmal von Nutzen, genauso die Haartracht. Also – verstehen Sie nun, wie die Sache funktioniert? Jene Parameter, denen ein numerisches Gesicht zugeordnet werden kann, werden von einem Computer verarbeitet, der uns dann eine Liste von Örtlichkeiten abnehmender Wahrscheinlichkeit liefert. Wir werden noch zwei weitere solche Listen zusammenstellen. Allen Welten mit günstigen Verbindungen zum Raumhafen Carfaunge werden wir Wahrscheinlichkeitsfaktoren zuordnen, und darüber hinaus werden wir versuchen, Ihre kulturellen Reflexe zu kodifizieren – ein nicht ganz einfaches Unterfangen, denn Ihre Amnesie hat zweifellos einen Großteil dieser Reflexe gedämpft, und Sie haben sich inzwischen neue Gewohnheiten zugelegt. Trotzdem wollen wir es versuchen, wenn Sie bitte mit ins Labor kommen wollen.« Im Labor ließ Ollave Pardero in einem massiven, gepolsterten Stuhl Platz nehmen, befestigte Rezepto-
ren an verschiedenen Teilen seines Körpers und setzte eine ganze Batterie von Schädelkontakten an. Über Parderos Augen legte er halbkugelförmige Projektorschalen und setzte ihm schließlich noch Kopfhörer auf. »Zuerst werden wir Ihre Reaktionen auf archetypische Vorstellungen testen. Es könnte sein, daß die Amnesie diese Reaktionen abschwächt oder verzerrt – M. A. Rady sagte mir schon, daß Ihr Fall ungewöhnlich ist. Trotzdem werden, wenn nur das Großhirn blockiert ist, andere Teile des Nervensystems genug Daten liefern. Soweit wir signifikante Reaktionen beobachten, werden wir annehmen, daß ihre relative Stärke konstant geblieben ist. Überlagerungen aus neuerer Zeit werden wir auszufiltern versuchen. Sie brauchen gar nichts zu tun, einfach nur stillsitzen; bemühen Sie sich nicht, etwas zu empfinden oder nichts zu empfinden; Ihre unbewußten Reaktionen werden uns die Antworten liefern, die wir suchen.« Er klappte die Halbkugeln über Parderos Augen. »Zunächst eine Gruppe elementarer Konzepte.« Parderos Augen und Ohren nahmen Szenerien und Geräusche wahr: einen sonnenbeschienenen Wald, über einen Strand schäumende Brandung, eine blumenübersäte Wiese, ein Gebirgstal, in dem ein Schneesturm tobte, einen Sonnenuntergang, einen sternklaren Nachthimmel, einen ruhigen Ozean, eine Straße in einer Stadt, eine sich über sanfte Hügel windende Landstraße, ein Raumschiff. »Jetzt eine andere Gruppe«, verkündete Ollaves Stimme. Pardero sah ein Lagerfeuer, umgeben von schattenhaften Gestalten, ein schönes, nacktes Mädchen, einen Leichnam, der an einem Galgen baumel-
te, einen Krieger in schwarzer Stahlrüstung auf einem galoppierenden Roß, eine Parade von Harlekins und Clowns, ein über die Wogen reitendes Segelboot, drei alte Damen auf einer Bank. »Als nächstes – Musik.« Die verschiedensten Töne und Klangfolgen drangen an Parderos Ohr: Saiteninstrumente, Orchesterstücke, eine Fanfare, Harfenmusik, verschiedene Tänze. »Jetzt Gesichter.« Ein ernster, grauhaariger Mann starrte Pardero an, dann ein Kind, eine ältere Frau, ein Mädchen, ein höhnisch verzerrtes Gesicht, ein lachender Junge, ein schmerzgequälter Mann, eine weinende Frau. »Fortbewegungsmittel.« Pardero sah Boote, Wagen, verschiedenste Bodenfahrzeuge, Flugzeuge, Raumschiffe. »Der Körper.« Pardero sah eine Hand, ein Gesicht, eine Zunge, eine Nase, einen Bauch, männliche und weibliche Genitalien, ein Auge, einen offenen Mund, ein Gesäß, einen Fuß. »Örtlichkeiten.« Ein Blockhaus an einem See, ein Palast mit einem Dutzend Kuppeln und Türmchen in einem Park, eine Holzhütte, ein städtischer Wohnblock, ein Hausboot, ein Tempel, ein Laborgebäude, der Eingang einer Höhle. »Gegenstände.« Ein Schwert, ein Baum, ein zusammengerolltes Seil, eine Felszacke, ein Energiegewehr, ein Pflug, ein Spaten und eine Hacke, ein amtliches Dokument mit einem roten Siegel, Blumen in einer Vase, Bücher auf
einem Wandbord, ein offenes Buch auf einem Stehpult, Zimmermannswerkzeug, eine Reihe von Musikinstrumenten, Rechenhilfsmittel, eine Retorte, eine Peitsche, eine Maschine, ein besticktes Kissen, eine Auswahl von Landkarten und Plänen, technische Zeichengeräte und leeres Papier. »Abstrakte Symbole.« Verschiedene Muster und Zeichen leuchteten vor Parderos Augen auf: Linienkombinationen, geometrische Figuren, Zahlen, linguistische Symbole, eine geballte Faust, ein ausgestreckter Zeigefinger, ein Fuß, dem an den Knöcheln kleine Flügel wuchsen. »Und abschließend...« Pardero sah sich selbst – erst aus der Ferne, dann nahe. Er blickte in sein eigenes Gesicht. Ollave befreite ihn von den Apparaturen. »Die Signale waren sehr schwach, aber meßbar. Wir haben Ihre gesamte Psychometrie aufgenommen und können nun Ihren sogenannten kulturellen Index aufstellen.« »Was haben Sie herausgebracht?« Ollave musterte Pardero mit einem etwas sonderbaren Blick. »Ihre Reaktionen sind inkonsistent, milde ausgedrückt. Sie müssen aus einer wirklich eigenartigen Gesellschaft stammen. Sie fürchten die Dunkelheit, aber trotzdem regt sie Sie an und fordert Sie heraus. Sie fürchten sich vor Frauen; der weibliche Körper beunruhigt Sie – und trotzdem zieht Sie das Weibliche stark an. Sie reagieren positiv auf kriegerische Vorstellungen, auf heldenhafte Kämpfe, Waffen und Uniformen, andererseits scheuen Sie Gewalttätigkeit und Schmerz. Ihre übrigen Reaktionen sind gleichermaßen widersprüchlich. Es stellt sich nun die
Frage, ob diese sonderbaren Ergebnisse Teil eines charakteristischen Musters sind oder vielmehr auf eine geistige Störung hinweisen. Aber ich will Sie nicht mit Vermutungen beunruhigen. Die Ergebnisse wurden mit den anderen erwähnten Daten in einen Rechner eingespeist. Bestimmt liegt bereits eine Lösung vor.« »Ich habe fast Angst davor, sie mir anzusehen«, murmelte Pardero. »Ich müßte ja wirklich ein seltsames Exemplar sein.« Ollave äußerte sich nicht dazu; die beiden Männer kehrten in das Büro zurück, wo U. A. Kolodin geduldig gewartet hatte. Ollave zog ein Blatt Papier aus dem Ausgabespalt. »Hier haben wir unser Ergebnis.« Mit vielleicht unbewußt dramatischem Gebaren studierte er den Ausdruck. »Es hat sich tatsächlich ein Schema herauskristallisiert.« Er las das Blatt nochmals durch. »Ah ja... Achtzehn Regionen auf fünf Welten werden als möglich angeführt. Die Wahrscheinlichkeiten für vier dieser Welten und siebzehn Regionen ergeben zusammen nur drei Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für die eine Region auf der fünften Welt wird mit neunundachtzig Prozent bewertet, was unter den gegebenen Umständen nahezu Sicherheit bedeutet. Meiner Ansicht nach, Meister Pardero oder wie immer Sie wirklich heißen, sind Sie ein Rhune aus dem Rhunenreich östlich von Port Mar auf dem Nordkontinent von Marune, Alastor 933.«
KAPITEL 3 In der blau-weiß verfliesten Vorhalle meinte Kolodin zu Pardero: »Nun – Sie sind also ein Rhune. Was jetzt? Erkennen Sie das Wort?« »Überhaupt nicht.« »Das habe ich mir gedacht.« Ollave trat zu ihnen. »Kommen Sie, wir wollen uns einmal Ihre Welt ansehen. Der Ring liegt gleich unter uns. Saal 933 muß im Niveau Fünf sein. Zum Abwärtslift!« Während sie in der Kapsel hinunterfuhren, sprach Kolodin über den Ring der Welten. »... eine der wenigen Abteilungen, für die man eine Einlaßerlaubnis braucht. Früher war das nicht so. Jeder beliebige Besucher durfte in den Saal seiner Welt und dort an Unfug anrichten, was ihm gerade einfiel – seinen Namen an die Wand kritzeln, zum Beispiel, oder seinen Heimatort auf der Weltkugel durch eine Stecknadel markieren, oder den Stammbaum der örtlichen Adeligen durcheinanderbringen, oder verrückte Daten ins Archiv eingeben. Aber das nahm immer mehr überhand. Deshalb muß sich jetzt jeder ausweisen und den Grund seines Besuches angeben.« »Meine Ausweise werden uns problemlos Zutritt verschaffen«, bemerkte Ollave trocken. Als die Formalitäten erledigt waren, brachte sie ein Wärter zu dem Portal mit der Nummer 933 und ließ sie ein. In der Mitte des Saales schwebte knapp über dem Boden eine Weltkugel von über drei Metern im Durchmesser, die sich durch eine leichte Berührung
drehen ließ. »Hier sehen Sie Marune«, sagte Kolodin. »Kommt es Ihnen bekannt vor? – Hätte ich mir denken können.« Ollave berührte den Globus. »Ein kleiner Planet von relativ hoher Dichte, mit einer ziemlich dünnen Besiedlung. Die Farbabstufungen geben die Geländeformationen wieder; Marune ist eine Welt mit auffallend unruhiger Topographie. Sehen Sie nur diese Gebirge und Schluchten! Die olivgrünen Zonen sind polare Tundra, die glatten blauen Metallflächen stellen Gewässer darein ziemlich geringer Anteil an offenem Wasser relativ zum Festland. Aber schauen Sie sich nur diese ausgedehnten äquatorialen Sümpfe an! Es gibt offensichtlich nicht sehr viel bewohnbares Land.« Er drückte auf einen Knopf; eine Anzahl kleiner, rosa Lichtpunkte leuchtete an dem Globus auf. »Hier sehen Sie die Bevölkerungsverteilung. Port Mar scheint die größte Stadt zu sein. Aber schauen Sie sich doch selbst im Saal um; vielleicht entdecken Sie etwas, das Ihr Gedächtnis anregt.« Pardero wanderte herum und studierte die Ausstellungsstücke, Karten und Darstellungen, fand aber nichts, das sein besonderes Interesse erregt hätte. Schließlich fragte er ziemlich bedrückt: »Wie weit ist dieser Planet von hier entfernt?« Kolodin führte ihn zu einer dreidimensionalen Darstellung des Alastor-Sternhaufens. »Wir befinden uns hier auf Numenes im System dieses gelben Sterns.« Er drückte auf eine Taste, worauf ziemlich am Rande der Darstellung ein rotes Markierungslicht aufblinkte. »Da draußen liegt Marune, in der Nähe des Kalten Nichts, an der Außenseite des FontinellaArmes. Bruse-Tansel müßte hier irgendwo sein, wo
sich diese Koordinatenlinien treffen.« Er trat zu einem anderen Astro-Hologramm. »Hier ist die nähere Umgebung dargestellt: ein System von vier Sternen. Marune ist...« – er drückte auf einen Knopf – »hier, am Ende dieses roten Vektorpfeils. Der Planet umkreist den gelbroten Zwergstern Furad ziemlich eng. Der grüne Stern heißt Cirse, der blaue Zwerg ist Osmo, der rote Maddar. Eine außergewöhnliche Position für eine Welt, inmitten eines solchen bunten Sternenquartetts! Maddar und Cirse umkreisen einander ziemlich nahe; Furad, mit Marune in seinem Monatsorbit, umkreist Osmo; die vier Sterne tanzen förmlich eine Sarabande durch den Fontinella-Arm.« Kolodin las von einer Informationstafel an der Wand vor: »Auf Marune gibt es keinen Wechsel von Tag und Nacht wie auf den meisten anderen Planeten. Statt dessen wechseln sich verschiedene Helligkeitsphasen ab, je nachdem, welche Sonne oder welche Sonnen gerade am Himmel stehen. Für diese Phasen gibt es eine eigene Nomenklatur: Aud, Isp, Rotrowan, Grünrowan und Umber sind die wichtigsten Perioden. Echte Nacht tritt im Durchschnitt nur einmal in dreißig Tagen auf, und zwar nach einem recht komplizierten Schema. Ein Großteil von Marune ist für menschliche Besiedlung wenig geeignet; die Bevölkerung ist entsprechend gering und setzt sich ungefähr zu gleichen Anteilen aus den Agrarsiedlern der Tieflandhänge und Bewohnern der Städte zusammen, von denen Port Mar zweifellos die wichtigste ist. Im Osten von Port Mar liegen die Bergreiche, das Land jener exzentrischen und unnahbaren Gelehrtenkrieger, die als Rhunen bekannt sind. Über ihre Zahl weiß man nichts Genaueres. Wichtigste Vertreter der einheimischen Fauna sind quasiintelligente Zweibeiner von friedfertiger
Gemütsart, die Fwai-Chi. Diese Wesen leben in den Bergwäldern und sind sowohl durch das Gesetz als auch durch die örtliche Tradition vor jeder Belästigung geschützt. Nähere Einzelheiten sind dem Katalog zu entnehmen.« Pardero ging zum Globus und suchte Port Mar. Östlich der Stadt begann ein Gebiet gewaltiger Bergketten, deren höchste Gipfel weit über die Baumgrenze und noch über die Gletscherregion aufragten bis in Höhen, wo es keinen Regen und Schneefall mehr gab. Eine Vielzahl kleiner Flüsse entwässerte das Gebiet – gewundene Bergbäche in den hohen Tälern, sich ausweitend zu Seen, als Wasserfälle über die Talstufen hinabstürzend, neue Seen bildend und endlich in einigen größeren Strömen zusammenfließend. Einige der Haupttäler waren namentlich benannt: Haun, Gorgetto, Zangloreis, Eccord, Wintaree, Disbague, Morluke, Tuillin, Scharrode, Ronduce und ein Dutzend anderer Namen, die alle nach einem seltenen oder archaischen Dialekt klangen. Einige Namen kamen Pardero seltsam vertraut vor, als kenne er ihre richtige Aussprache genau, und als Kolodin, über seine Schulter blickend, sie laut vorlas, fielen ihm Aussprachefehler sofort auf; er sagte Kolodin jedoch nichts davon. Ollave rief ihn zu einer hohen Vitrine hinüber. »Was halten Sie davon?« »Was sind das für Leute?« »Ein Eiodarken-Trismet.« »Diese Wörter sagen mir nichts.« »Es sind natürlich Rhunenausdrücke; ich dachte mir, daß sie Ihnen vielleicht bekannt vorkommen würden. Ein Eiodark ist ein ranghoher Adeliger, etwas mehr als ein Baron; Trisme ist die Bezeichnung
für eine Institution ähnlich der Ehe, und Trismet bezeichnet die beteiligten Personen.« Pardero musterte die beiden Gestalten. Beide waren hochgewachsen, schlank, dunkelhaarig und hellhäutig dargestellt. Der Mann trug ein ausgeklügeltes Kostüm aus dunkelrotem Tuch, eine Weste mit schwarzen Metallstreifen und einen Zeremonienhelm aus schwarzem Metall und schwarzem Gewebe. Die Kleidung der Frau war etwas einfacher: ein langes, ziemlich formloses Gewand aus grauem Schleierstoff, weiße Schuhe und eine schwarze, lose Haube, die das blasse, etwas zu scharf geschnittene Gesicht umrahmte. »Typische Rhunen«, sagte Ollave. »Sie kümmern sich überhaupt nicht um kosmopolitische Sitten und Mode. Schauen Sie nur, wie sie dastehen, kühl, unnahbar und gleichgültig. Wie Sie sehen, weist die Kleidung der beiden auch keinerlei gemeinsame Elemente auf, was klar darauf hinweist, daß in der Gesellschaftsordnung der Rhunen die Rollen von Mann und Frau grundverschieden sind. Die Geschlechter sind einander fremd, beinahe wie Angehörige einer anderen Rasse.« Er warf Pardero einen prüfenden Blick zu. »Wekken die beiden Figuren irgendwelche Erinnerungen?« »Sie kommen mir nicht fremd vor, genausowenig wie die Sprache damals in Carfaunge.« »Das dachte ich mir.« Ollave ging auf die andere Seite des Saals zu einem großen Bildschirm und drückte auf einige Knöpfe. Ein Lautsprecherkommentar begleitete die gezeigten Ansichten. »Sie sehen jetzt die Stadt Port Mar, wie man sie aus einer von Süden anfliegenden Landefäh-
re erblicken würde. Die Tageszeit ist Aud, das heißt, die hellste Periode, während der Furad, Maddar, Osmo und Cirse am Himmel stehen.« Der Bildschirm zeigte ein Panorama kleiner, halb von Bäumen verborgener Wohnhäuser aus dunklem Holz und ziegelfarbenem Stuck. Die Dächer waren meist steil, verwinkelt und mit bizarren Giebeln geschmückt – ein altmodisch-verschrobener Baustil. In vielen Fällen waren die Häuser vergrößert worden, und die Zubauten wuchsen an und auf den alten Gebäudeteilen in die Höhe, wie neue Kristalle an alten wachsen. Andere Häuser wiederum waren verfallen und standen offensichtlich schon lange leer. »Diese Häuser wurden von den Majaren gebaut, den ersten Bewohnern von Marune. Heute gibt es nur noch sehr wenige reinblütige Majaren; die Rasse ist nahezu ausgestorben, und das Majarviertel verfällt. Die Majaren zusammen mit den Rhunen haben dem Planeten seinen Namen gegeben, der ursprünglich Majarhune lautete. Die Rhunen, die sich später auf Marune ansiedelten, dezimierten die Majaren, wurden jedoch vom Whelm in die östlichen Berge zurückgetrieben, wo sie heute wie in einem Reservat leben. Der Besitz jeglicher Energiewaffen ist ihnen untersagt.« Der Bildausschnitt erfaßte jetzt einen eindrucksvollen Hotelbau. Der Sprecher erklärte: »Hier sehen Sie das Rhune-Royal, in dem fast ausschließlich Rhunen, die Port Mar aufsuchen müssen, zu Gast sind. Die Direktion sucht den speziellen und ausgefallenen Bedürfnissen der Rhunen entgegenzukommen.« Der Blick schwenkte über einen Fluß hinweg zu einem etwas moderneren Viertel. »Sie sehen jetzt die Neustadt«, sagte der Sprecher. »Die Universität für
Kunst und Technik, die in diesem Stadtteil liegt, genießt einen ausgezeichneten Ruf und wird von nahezu zehntausend Studenten besucht, die sowohl aus Port Mar selbst als auch aus den landwirtschaftlichen Gebieten im Süden und Westen stammen. Rhunen besuchen diese Universität nicht.« Pardero fragte Ollave: »Weshalb nicht?« »Die Rhunen ziehen ihre eigenen Ausbildungsund Erziehungsmethoden vor.« »Sie scheinen ein seltsames Volk zu sein.« »In vieler Hinsicht sind sie das.« »Und ich gehöre zu diesen seltsamen Leuten.« »Es sieht ganz so aus. Aber machen wir einmal einen Ausflug in die Bergreiche.« Ollave konsultierte ein Register. »Zunächst zeige ich Ihnen einen Eingeborenen, einen Fwai-Chi, wie sie genannt werden.« Er drückte auf eine Taste, worauf der Bildschirm eine steile Bergflanke mit vereinzelten Schneeflecken und einigen verkrüppelten schwarzen Bäumen zeigte. Der Bildausschnitt erfaßte einen dieser Bäume, brachte ihn dem Betrachter näher und konzentrierte sich auf den runzligen, braunschwarzen Stamm, der sich auf einmal zu regen begann. Ein Wesen trottete davon, ein untersetzter, braunschwarzer Zweibeiner mit einem zotteligen, in Fetzen und Strähnen herunterhängenden Pelz. Der Kommentator erklärte: »Hier sehen Sie einen Fwai-Chi. Diese Wesen sind intelligent, wenn auch auf ihre eigene Weise, und stehen deshalb unter dem Schutz des Connat. Die Hautfetzen ihres Pelzes dienen nicht einfach der Tarnung vor den Schneebären, sie sind vielmehr Organe zur Hormonproduktion und Fortpflanzung. Man sieht manchmal Fwai-Chi, die aneinander knabbern. Dabei wird ein
Sekret aufgenommen, das eine Keimkapsel an ihrer Magenwand anregt. Die Kapsel entwickelt sich zu einem Jungen, das nach einer bestimmten Zeit herausgewürgt wird. An den losen Rändern anderer Fellfetzen werden weitere, vermutlich lebenswichtige Stoffe abgesondert. Die Fwai-Chi sind friedlich veranlagt, aber Aggressionen gegenüber nicht hilflos; ja es heißt sogar, daß sie bemerkenswerte parapsychische Kräfte und Kenntnisse besitzen, so daß niemand es wagt, sie zu belästigen.« Nun schwenkte der Blick vom Berghang hinunter ins Tal. Auf einer Wiese neben dem Fluß lag ein Dörfchen von ungefähr fünfzig Steinhäusern; eine Burg oder ein Schloß beherrschte von einem felsigen Hügel aus das Tal. In Kolodins Augen wirkte die große Burg geradezu archaisch überladen mit Details und schlecht proportioniert – die schweren Mauern hatten etwas Drückendes, Düsteres an sich, die wenigen Fenster waren zu hoch und zu schmal. Neugierig wandte er sich an Pardero: »Was halten Sie davon?« »Es weckt noch keine Erinnerungen.« Pardero legte die Hände an die Schläfen und massierte sie. »Aber ich spüre einen sonderbaren Druck im Kopf; ich möchte noch mehr sehen.« »Auf keinen Fall«, erklärte Ollave mit heiterer Entschiedenheit. »Wir gehen lieber gleich.« Mit einem etwas besorgten Blick fügte er hinzu: »Kommen Sie doch noch mal mit hinauf in mein Büro; wir werden Ihnen ein Gläschen Beruhigungsmittel verpassen, dann fühlen Sie sich nicht mehr so durcheinander.« Auf dem Rückweg ins Spital des Connat schwieg
Pardero die meiste Zeit. Schließlich fragte er Kolodin: »Wann kann ich nach Marune aufbrechen?« »Wann immer Sie wollen«, sagte Kolodin und meinte dann etwas zögernd, als versuche er, ein eigenwilliges Kind zu etwas zu überreden: »Aber wozu die Eile? Ist es im Spital so ungemütlich? Lassen Sie sich doch noch ein paar Wochen Zeit zum Lernen und Pläneschmieden.« »Ich möchte vor allem eines – zwei Namen erfahren, meinen eigenen und den meines Feindes.« Kolodin zog die Brauen hoch. Er hatte die Intensität von Parderos Gefühlen unterschätzt. »Vielleicht gibt es gar keinen Feind«, gab er nicht sehr überzeugend zu bedenken. »Ihr Zustand ist nicht unbedingt das Werk eines Feindes.« Pardero rang sich ein säuerliches Lächeln ab. »Als ich im Raumhafen Carfaunge ankam, waren meine Haare kurz gestutzt. Mir war das rätselhaft, bis ich den rhunischen Eiodark beziehungsweise seine Darstellung sah. Haben Sie seine Haartracht gesehen?« »Er trug das Haar gerade zurückgekämmt, bis tief in den Nacken.« »Und das ist eine ungewöhnliche Frisur?« »Nun – allgemein üblich ist sie nicht, wenn auch nicht gerade ausgefallen oder einzigartig. Aber sie ist selten genug, um eine Identifizierung zu erleichtern.« Pardero nickte düster. »Ja – und mein Feind wollte nicht, daß mich jemand als Rhunen identifizierte. Er schnitt mir das Haar kurz, steckte mich in so einen Landstreicheroverall, brachte mich in ein Raumschiff, das mich durch den halben Sternhaufen davontrug, und hoffte, ich würde niemals zurückkehren.« »So ist es wohl gewesen. Aber warum hat er Sie
nicht einfach umgebracht und in den nächsten Graben geworfen? Das wäre eine viel endgültigere Lösung gewesen!« »Die Rhunen scheuen das Töten, außer im Kampf: das habe ich von Ollave erfahren.« Kolodin musterte Pardero unauffällig, der vor sich hinbrütend in die Landschaft starrte. Wirklich eine bemerkenswerte Veränderung! In ein paar Stunden hatte Pardero sich von einem ahnungslosen, verwirrten und ziellosen Mann in einen selbstsicheren und zielbewußten verwandelt; einen Mann – das glaubte Kolodin zu erkennen –, der zu heftigen Gefühlen fähig war, sie aber streng zügelte. Und war das nicht charakteristisch für einen Rhunen? »Also gut, nehmen wir an, dieser Feind existiert«, sagte Kolodin widerwillig. »Er kennt Sie; Sie kennen ihn nicht. Sie sind zumindest im Nachteil, wenn Sie nach Port Mar gehen, vermutlich sogar in Gefahr.« Pardero blickte leicht belustigt auf. »Soll ich also Port Mar auf ewig meiden? Ich rechne mit dieser Gefahr und ich habe die Absicht, mich so gut wie möglich dagegen zu wappnen.« »Und wie wollen Sie das anfangen?« »Indem ich zunächst soviel wie möglich über die Rhunen lerne.« »Das ist einfach genug«, sagte Kolodin. »Saal 933 enthält alle Informationen. Und was dann?« »Darüber bin ich mir noch nicht im klaren.« Kolodin, dem das nach einer Ausflucht klang, verzog sarkastisch die Lippen. »Das Gesetz des Connat ist eindeutig: ein Rhune darf weder eine Energiewaffe noch ein Luftfahrzeug besitzen.« Pardero grinste. »Ich bin kein Rhune, bis ich meine
Identität erfahre.« »Nun«, sagte Kolodin vorsichtig, »technisch betrachtet ist das tatsächlich richtig.« Etwas über einen Monat später begleitete Kolodin Pardero zum Raumfahrtzentrum in Commarice und brachte ihn hinaus auf das Flugfeld zur Dylas Extranuator. An der Einstiegsrampe verabschiedeten sich die beiden Männer. »Ich werde Sie wahrscheinlich nie wieder sehen«, sagte Kolodin, »und obwohl ich gerne erfahren würde, wie Ihre Suche endet, ist das wohl kaum möglich.« Pardero antwortete mit leiser Stimme: »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und Ihren persönlichen Einsatz.« Für einen Rhunen, dachte Kolodin, selbst einen Rhunen mit Gedächtnisverlust, war das beinahe herzlich. Er senkte die Stimme, als er sich erkundigte: »Vor einem Monat haben Sie angedeutet, daß Sie gerne eine Waffe hätten. Haben Sie sich eine verschaffen können?« »Nein«, sagte Pardero. »Ich wollte damit warten, bis ich der – sozusagen – unmittelbaren Aufmerksamkeit des Connat entronnen bin.« Nach einem vorsichtigen Blick in die Runde steckte Kolodin Pardero eine kleine Schachtel in die Tasche. »Das ist ein Dys-Brenner, Modell G. Gebrauchsanleitung liegt bei. Lassen Sie das Ding bloß nicht sehen; die Gesetze sind ziemlich streng. Leben Sie wohl – und alles Gute. Schicken Sie mir Nachricht, wenn Sie können, ja?« »Nochmals vielen Dank.« Pardero legte die Hände kurz auf Kolodins Schultern, dann wandte er sich ab und ging an Bord.
Kolodin kehrte zum Raumhafengebäude zurück und begab sich auf die Beobachtungsterrasse. Eine halbe Stunde später sah er zu, wie das schwarz, rot und golden verzierte Schiff abhob und durch den Himmel von Numenes dem Weltraum zustrebte.
KAPITEL 4 In dem Monat vor seinem Aufbruch verbrachte Pardero viele Stunden im Saal 933 des Rings der Welten. Kolodin begleitete ihn manchmal, und Oswen Ollave kam des öfteren aus seinem Institut herunter, um mit ihm über die erstaunlichen Bräuche der Rhunen zu plaudern. Ollave stellte eine Tabelle zusammen und bestand darauf, daß Pardero sie auswendig lernte. Phase
FURAD
OSMO
MADDAR CIRSE
AUD
X
X
X
X
einzeln oder beide ISP
X
KALTISP
X
UMBER
X
X
mit X oder ohne
X
X
einzeln oder beide UNUMBER
X
ROWAN
X
ROTROWAN
X
GRÜNROWAN
X X
MIRK
»Aus dieser Aufstellung ersehen Sie die wichtigsten Helligkeitsphasen* auf Marune, die natürlich durch *
Diese Phasenbezeichnungen werden von den Einwohnern von Port Mar verwendet. Sowohl die Majaren als auch die Rhunen benutzen eine viel genauer unterscheidende Nomenklatur.
Die Abfolge der Phasen ist äußerst kompliziert, da sie nicht nur von der Tagesrotation Marunes abhängt, sondern auch vom Umlauf Marunes am Furad, der Bewegung von Furad und Osmo umeinander und den Orbitalbewegungen von Maddar und Cirse sowohl umeinander als auch gemeinsam um das System Furad-Osmo. Die Bahnebenen sämtlicher Systeme sind verschieden. Die Fwai-Chi, die keinerlei astronomische Kenntnisse besitzen, sind dennoch imstande, die Phasen beliebig weit in die Zukunft exakt vorauszusagen. In den niedrigeren Gebirgen südlich von Port Mar lebt eine ›vergessene‹ Gemeinschaft von rund zehntausend Majaren, durch Dekadenz, Inzucht und ständigen Geburtenrückgang gekennzeichnet. Diese Menschen unterliegen völlig dem Einfluß der Lichtphasen. Die Phase bestimmt ihren Gemütszustand, ihre Ernährung, Kleidung und Handlungen. Bei Mirk schließen sich die Majaren in ihren Hütten ein und heulen im Licht von Öllampen Verwünschungen gegen Galula, den Dunkeldämon, der jeden zerfleischt, der sich im Finsteren hinausgewagt hat. Tatsächlich scheint es ein Wesen zu geben, das für den Galula-Mythos verantwortlich ist, doch konnte es bisher nicht eindeutig identifiziert werden. Die Rhunen, die in gleichem Maße selbstbewußt und tatkräftig sind wie die Majaren demoralisiert, werden ebenfalls stark durch den Wechsel der Phasen beeinflußt. Ein Verhalten, das während einer Phase als korrekt gilt, kann während einer anderen als absurd, geschmacklos oder unschicklich angesehen werden.Während Aud, Isp und Umber pflegt man seine Bildung zu vervollständigen oder seine speziellen Begabungen zu üben. Formelle Zeremonien finden bei Isp statt ebenso während der bemerkenswerten Zeremonie der Gerüche. Zu erwähnen ist, daß die Rhunen Musik als zu gefühlsbetont ablehnen: sie verleite zu vulgärem Verhalten, wird behauptet. In den Rhunenreichen hört man deshalb niemals Musik. Aud ist die angemessene Zeit, in den Kampf zu ziehen, einen Prozeß zu führen, ein Duell auszufechten, Zins einzutreiben. Grünrowan ist die Zeit für Poesie und sentimentale Gedanken, während Rotrowan eine Lockerung der strikten Etikette gestattet. Ein Mann mag sich bereitfinden, in Gesellschaft anderer Männer ein Glas Wein zu sich zu nehmen, wobei natürlich alle Etikette-Schirme verwenden; Frauen werden unter den gleichen Einschränkungen vielleicht Likör oder Weinbrand trinken. Kaltisp erfüllt die Rhunen mit einer intensiven, asketischen Begeisterung, die geringere Gefühle wie Liebe, Haß, Eifersucht, Gier vollkommen verdrängt; man spricht mit gesenkter Stimme in einem feierlichen, archaischen Dialekt; Heldentaten werden geplant, kühne Entschlüsse gefaßt, ruhmreiche Pläne vorgeschlagen und angenommen: viele dieser Vorhaben werden in die Tat umgesetzt und gehen in das Buch der Leistungen ein.
ihr charakteristisches Licht die Landschaft völlig verändern. Verständlich, daß die Bevölkerung davon beeinflußt wird – am meisten von allen die Rhunen.« Ollaves Stimme hatte einen dozierenden, pedantischen Tonfall angenommen. »Port Mar ist gewiß keine besonders mondäne Stadt. Die Rhunen sehen es jedoch als Zentrum aller Laster an, gekennzeichnet durch schamlose Eßsitten, Trägheit, Dekadenz und eine Art tierischer Lüsternheit, für die sie den Ausdruck ›Sebalismus‹ gebrauchen. In der Altstadt von Port Mar lebt eine Handvoll Ausgestoßener – junge Rhunen, die gegen die Gesellschaft rebelliert haben oder wegen ungebührlichen Benehmens von ihren Familien verstoßen wurden. Sie sind ein demoralisierter, verbitterter Haufen; alle klagen sie ihre Eltern an, ihnen nicht genügend mit Rat und Belehrung zur Seite gestanden zu haben. In gewisser Weise stimmt das auch. Die Rhunen bilden sich ein, ihre Sitten und Verhaltensregeln müßten auch einem Kind selbstverständlich sein – was sie natürlich nicht sind; nirgendwo im Sternhaufen gibt es so willkürliche und bizarre Bräuche. So wird zum Beispiel der Vorgang der Nahrungsaufnahme für ebenso niedrig und peinlich angesehen wie das Endresultat der Verdauung; man ißt so unbeobachtet und abgesondert wie möglich. Von den Kindern wird erwartet, daß sie diese wie auch andere rhunische Verhaltensregeln von sich aus begreifen und sich daran halten. Sie müssen sich in abstrusen und sinnlosen Fähigkeiten perfektionieren, und sie müssen ihren Sebalismus unterdrücken.« Pardero hob ungeduldig den Kopf. »Sie haben dieses Wort auch schon vorhin gebraucht; ich verstehe es nicht.«
»Dieser Ausdruck bezeichnet bei den Rhunen alles, was mit Sexualität zusammenhängt, ein peinliches Thema bei diesem Volk. Man fragt sich, wie sie sich eigentlich fortpflanzen, unter diesen Umständen. Sie haben das Problem jedoch recht elegant gelöst. Bei Mirk, wenn keine der Sonnen am Himmel steht, verändert sich ihre Persönlichkeit in ganz erstaunlicher Weise. Möchten Sie Genaueres darüber hören? Wenn ja, dann müssen Sie mir erlauben, etwas weiter auszuholen, denn es handelt sich um ein wirklich seltsames Phänomen! Etwa einmal im Monat überzieht Dunkelheit das Land, und die Rhunen werden unruhig. Manche schließen sich in ihren Wohnstätten ein, andere wiederum staffieren sich mit grotesken Kostümen aus und streifen in der Nacht umher, wo sie die verrücktesten Dinge tun. Ein Edelmann von normalerweise unbezweifelbarer Rechtschaffenheit beraubt und verprügelt einen seiner Pächter. Eine ehrwürdige Matrone vergißt sich in schändlicher Lüsternheit. Niemand ist sicher, außer er zieht sich hinter verschlossene Türen zurück. Ein unverständlicher Brauch! Wie läßt sich solches Verhalten mit der steifen Korrektheit bei Tag vereinen? Die Rhunen versuchen das erst gar nicht; Nachttaten werden als eine Art Schicksalsschläge hingenommen, für die niemand verantwortlich zu machen ist – Alpträume, Halluzinationen gewissermaßen. Mirk ist die Zeit der Unwirklichkeit. Was bei Mirk geschieht, ist deshalb auch nicht Grundlage für Schuldgefühle. Während Mirk wird dem Sebalismus freier Lauf gelassen. Tatsächlich ist jede geschlechtliche Aktivität nur als Nachttat vorstellbar, nur in Form einer Ver-
gewaltigung. Die Ehe, ›Trisme‹ genannt, wird niemals als sexuelle Partnerschaft angesehen, sondern eher als ein Bündnis – eine Zusammenführung wirtschaftlicher oder politischer Macht. Der Geschlechtsakt ist jedenfalls eine Nachttat, eine vorgebliche Vergewaltigung. Der männliche Partner trägt ein schwarzes Trikot, das seinen Oberkörper verhüllt, und Stiefel aus schwarzem Tuch. Eine Männermaske bedeckt Gesicht und Kopf. Sein Rumpf ist nackt. Es ist ein absichtlich bizarres Kostüm, eine Abstraktion männlicher Sexualität. Die Maske macht den Mann unkenntlich, unpersönlich und trägt zur Irrealität der Situation bei. Der Mann dringt in den Raum ein, wo die Frau schläft oder zu schlafen vorgibt, und die Kopulation findet bei völligem Schweigen statt. Jungfräulichkeit hat bei der Angelegenheit keinerlei Bedeutung, ja die Sprache der Rhunen kennt nicht einmal ein Wort dafür. Was nun die Institution der Trisme betrifft, so kann zwischen den Trismeten wohl Freundschaft bestehen, aber das gegenseitige Verhalten ist auf jeden Fall förmlich und distanziert. Intimbeziehungen sind in jeder Hinsicht selten. Die Räume sind groß, um persönliche Nähe zu vermeiden; niemand wird einen anderen absichtlich berühren – es ist sogar so, daß die Berufe, die körperlichen Kontakt erfordern, wie etwa bei Friseuren, Ärzten, Schneidern, als unehrenhaft angesehen werden. Wenn sie derartige Dienstleistungen benötigen, dann begeben sich die Rhunen im allgemeinen nach Port Mar. Eltern werden ein Kind weder schlagen noch liebkosen; der Krieger versucht, seinen Gegner aus der Entfernung zu töten; und Nahkampfwaffen wie Schwert oder Dolch haben nur
zeremonielle Bedeutung. Nun muß ich Ihnen noch die seltsamen Eßsitten der Rhunen beschreiben. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo ein Rhune sich gezwungen sieht, in Gesellschaft anderer zu speisen, tut er das im Schutz einer Serviette oder hinter einem seltsamen Gerät, das man nur auf Marune kennt, einer Abschirmung auf einem Metallständer, die vor den Essenden hingestellt wird. Bei einem formellen Bankett werden beileibe keine Speisen gereicht – nur die verschiedensten und kompliziertesten Duftkompositionen, deren Zusammenstellung und ausgeklügelte Darbietung zu den schöpferischen Begabungen zählt. Die Rhunen haben wenig Humor. Sie sind äußerst leicht beleidigt; kein Rhune wird Spott dulden. Selbst lebenslange Freunde müssen auf die Empfindlichkeit des anderen Rücksicht nehmen, und bei gesellschaftlichen Anlässen müssen höchst komplizierte Etiketteregeln befolgt werden, damit ja niemand Anstoß nimmt. Kurzum, es sieht so aus, als würden sich die Rhunen absichtlich das Leben schwermachen und auf alle normalen Annehmlichkeiten verzichten. Was haben sie statt dessen? Nun, zunächst sind die Rhunen sehr empfänglich für die Schönheit ihrer Umgebung, der Berge, Wiesen, Wälder und des Himmels im ständig wechselnden Licht. Sie bewerten ihr Land nach dem ästhetischen Reiz, und manch einer bemüht sich sein Leben lang, ein paar besonders schöne Morgen zu erwerben. Der Rhune hat viel übrig für Pomp und Protokoll und heraldische Finessen; seine Höflichkeitsbezeugungen und Umgangsformen sind minutiös festgelegt wie die Figuren eines Balletts. Er ist stolz auf seine Sammlung
von Sherliken-Schuppen oder auf die Smaragde, die er mit eigenen Händen aus dem Fels gebrochen, geschnitten oder geschliffen hat, oder auf seine arahnischen Zauberräder, die er sich vom anderen Ende des Gaea-Reiches hat kommen lassen. Er wird sich vielleicht in einem mathematischen Spezialgebiet ausbilden oder in einer alten Sprache oder in der Fanfarenkunde – oder auf allen drei Gebieten oder auf drei anderen, nicht weniger abstrusen. Es ist selbstverständlich, daß er sich in der Kalligraphie und in der bildnerischen Darstellung auszeichnet; sein Lebenswerk ist das Buch der Leistungen, das er mit Hingabe und Genauigkeit führt, selbst illustriert und ausschmückt. Einige dieser Bücher sind in den Handel gekommen; im Gaea-Reich bringen sie als Kuriositäten phantastische Preise. Die Rhunen besitzen keinen sonderlich liebenswürdigen Charakter. Sie sind empfindlich, leicht angerührt und aufbrausend; sie verachten alle anderen Rassen, sind arrogant, ichbezogen und gefühllos in der Beurteilung anderer Menschen. Ich spreche natürlich von dem typischen Rhunen – es wird gewiß individuelle Abweichungen geben. Jedenfalls gilt das, was ich gesagt habe, genauso für die Frauen wie für die Männer. Nun, auch die Tugenden der Rhunen sind ähnlich maßlos: Würde, Mut, Ehrbewußtsein und ein oft unbegreiflich komplexer Intellekt – aber das ist natürlich genauso eine sehr allgemeine Charakterisierung, ein pauschales Bild, das nur im Durchschnitt stimmt. Jeder, der Land besitzt, hält sich für einen Aristokraten. Die einzelnen Rangstufen sind von oben nach unten: Kaiark, Kang, Eiodark, Baron, Ritter und Frei-
herr. Die Fwai-Chi haben sich übrigens aus den Rhunenreichen zurückgezogen, unternehmen aber immer noch hin und wieder eine Art Wallfahrt durch die Bergwälder und über die Almen. Zwischen den beiden Rassen bestehen aber kaum Kontakte. Ich brauche wohl nicht eigens zu erwähnen, daß es in einem so aufbrausenden und stolzen und so eifersüchtig auf die Erweiterung seines Landbesitzes trachtenden Volk übergenug Anlaß zu Konflikten gibt. Durch das Zweite Edikt des Connat, mehr aber noch durch eine wirksame Einfuhrsperre für Energiewaffen ist konventioneller Krieg unmöglich geworden. Raubzüge und Überfälle sind jedoch häufig, und eine Fehde kann Generationen dauern. Zwei Grundregeln bestimmen die Kriegführung: erstens, kein Mann darf eine Person von höherem Rang angreifen; zweitens, der Gegner wird im allgemeinen mittels Druckbolzen aus der Ferne getötet, denn Blutvergießen aus der Nähe gilt als Mirk-Tat. Die Edelleute tragen allerdings Schwerter, um ihre Tapferkeit zu demonstrieren. Kein gewöhnlicher Krieger kann einem Gegner ins Gesicht blicken und ihn töten – eine solche Tat verfolgt einen Mann sein Leben lang, außer, er hat sie bei Mirk begangen, dann ist sie nicht mehr als ein Alptraum. Das gilt natürlich nur für ungeplanten Totschlag – ein vorbedachter Mord während Mirk ist nichts als gemeiner Mord.« »Nun weiß ich, warum mein Feind mich nach Bruse-Tansel geschickt hat, statt mich umzubringen«, sagte Pardero. »Es gibt noch einen weiteren Hinderungsgrund für Mord: er kann nicht geheimgehalten werden. Die Fwai-Chi entdecken jedes Verbrechen, und kein
Mörder entgeht ihnen. Es heißt, daß sie nur das Blut eines Erschlagenen zu kosten brauchen, um alle Umstände seines Todes zu kennen.« An diesem Abend entschlossen sich Pardero und Kolodin, in den Touristenquartieren der unteren Turmniveaus zu übernachten. Kolodin erledigte einen Vidifonanruf und kehrte mit einem Zettel zurück, den er Pardero gab. »Das Ergebnis meiner Nachforschungen. Ich habe mich dafür interessiert, welches von Port Mar kommende Schiff Sie am zehnten Mariel-Gaea zum Raumhafen Carfaunge gebracht haben könnte. Der Computer der Raumverkehrszentrale hat einen Namen und ein Datum ausgespuckt. Am zweiten Ferario-Gaea verließ die Berenicia der Rot-Schwarz-Linie Port Mar. Sehr wahrscheinlich waren Sie an Bord dieses Schiffes.« Pardero steckte den Zettel ein. »Danke. Da ist noch etwas, das mir Sorgen macht: wie bezahle ich die Passage nach Marune? Ich habe kein Geld.« Kolodin machte eine wegwerfende Geste. »Das ist kein Problem. Im Rahmen Ihrer Wiederherstellung ist ein Sonderbetrag von tausend Ozols für eben diesen Zweck vorgesehen. Sonst noch Sorgen?« Pardero grinste. »Eine ganze Menge.« »Nun, langweilig wird Ihnen in der nächsten Zeit bestimmt nicht werden«, sagte Kolodin. Die Dylas Extranuator zog am Sternbild des Pentagramms vorbei umkreiste das Diadem im Horn des Einhorns und ging schließlich auf Tsambara, Alastor 1317, nieder. Hier fand Pardero Anschluß durch ein Schiff der Rot-Schwarz-Linie, das nach einer Reihe
von Zwischenlandungen auf unwichtigen kleinen Welten einen Kurs entlang des Fontinella-Arms einschlug und sich endlich einem abgelegenen System aus vier Zwergsternen näherte, einer gelbroten, blauen, grünen und roten Sonne. Marune, Alastor 933, die einzige bewohnte Welt des Systems, wurde zusehends größer, und zwischen den leuchtenden Wolkenstreifen wurde die ziemlich dunkle und stark strukturierte Oberfläche des Planeten erkennbar. Das Schiff glitt tiefer und setzte im Raumhafen von Port Mar auf. Pardero und ein Dutzend anderer Passagiere stiegen aus, gaben ihren letzten Ticket-Abschnitt ab, passierten die Ankunftshalle und betraten den Boden von Marune. Die Tageszeit war Isp. Osmo stand als grellblauer Fleck im Süden, Maddar im Zenit. Cirse stieg eben über dem nordöstlichen Horizont herauf. Das Licht wirkte etwas kalt, die wärmeren Nuancen von Maddar und Cirse vermochten sich nur in den dreifachen, bunten Schatten durchzusetzen, die alle Gegenstände zeigten. Pardero blieb vor der Ankunftshalle stehen, musterte die Landschaft, den Himmel, holte tief Atem. Die Luft hatte einen frischen, kühlen, fast herben Geschmack, ganz anders als die sumpfige Schwüle aus Bruse-Tansel oder die blütenduftende, linde Luft von Numenes. Die Sonnen, die sich in verschiedenen Richtungen über den Himmel schoben, die eigenartige, vielfältige Beleuchtung, der Geruch der Luft, das alles besänftigte einen nagenden Schmerz in seinem Innern, der ihm bisher gar nicht bewußt geworden war. Eine Meile weiter westlich ragte klar und prägnant die Silhouette von Port Mar empor; jenseits der
Stadt fiel das Gelände zur Tiefebene hin ab. Der Anblick hatte nichts Fremdartiges für Pardero. Woher stammte diese Vertrautheit? Von seinen Studien im Saal 933? Oder aus eigenem Erleben? Im Osten stieg das Land an und erhob sich zu immer höheren Bergen. Weiß schimmerte der Schnee um die eindrucksvollen Gipfel, silbergrau der Granitschotter. Dunkler Wald säumte die hohen Hänge. Buntes Licht brandete gegen den Fels und schuf bizarre verschiedenfarbige Schatten. Die Luft war von einer fast greifbaren Klarheit. Der wartende Bus rief mit ungeduldigem Gong, und Pardero stieg beinahe widerwillig ein. Der Bus setzte sich in Bewegung und fuhr die Straße der Fremden entlang nach Port Mar hinein. Der mitfahrende Raumhafenbedienstete verkündete: »Erster Halt beim Touristengasthof. Zweiter beim Außenweltenhotel. Dann kommt das Rhune Royal. Weiter geht es über die Brücke in die Neustadt zum Cassander-Hotel und dem Universitätsgasthof.« Pardero entschied sich für das Außenweltenhotel, das ihm ausreichend groß und unpersönlich genug erschien. Er spürte deutlich, daß die nächsten Stunden Entscheidendes bringen mußten – so deutlich, daß sein Feind es einfach auch fühlen mußte. Pardero sah sich zunächst vorsichtig in der Halle des Außenweltenhotels um, entdeckte aber nur lauter Fremde, die sich nicht um ihn kümmerten. Auch das Hotelpersonal achtete nicht auf ihn. Soweit war alles in Ordnung. Er nahm im Speisesaal einen Mittagsimbiß aus Suppe, kaltem Fleisch und Brot ein, nicht nur, um seinen Appetit zu stillen, sondern auch, um Gelegenheit zur Besinnung zu haben. Er ließ sich mit dem
Essen Zeit und überdachte seine Pläne. Um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, würde er sich sehr vorsichtig voranarbeiten müssen. Er verließ das Hotel und wanderte die Straße der Fremden zurück zur grüngläsernen Kuppel des Raumhafengebäudes. Er war noch unterwegs, als Osmo hinter dem westlichen Rand von Port Mar versank. Isp wurde zu Rowan, da Cirse und Maddar noch am Himmel standen. Ihr warmes, weiches Licht hing in der Luft wie ein glimmender Nebel. Am Raumhafen angekommen, suchte Pardero als erstes den Buchungsschalter auf. Der Angestellte kam ans Schaltpult – ein kleiner, stämmiger Mann mit dem zimtfarbenen Teint und den goldenen Augen der Oberklassen-Majaren, jener Bevölkerungsgruppe, die die malerischen Häuser aus Fachwerk und Stuck an den Hängen der Altstadt bewohnten. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« Es war deutlich, daß Pardero keinerlei Erinnerung in ihm weckte. »Vielleicht könnten Sie mir mit einer Information helfen«, sagte Pardero. »Am oder um den 2. Ferario bin ich mit der Berenicia der Rot-Schwarz-Linie hier abgeflogen. Einer der anderen Passagiere bat mich um einen kleinen Gefallen, den ich ihm aber leider nicht zu tun vermochte. Nun müßte ich ihn deshalb verständigen, aber ich habe seinen Namen vergessen. Ich würde daher gerne einen Blick auf die Passagierliste von damals werfen.« »Das ist kein Problem, Sir; die Daten sind alle gespeichert.« Ein Bildschirm leuchtete auf; der Angestellte drehte an einem Einstellknopf; Zahlen und Listen huschten über den Schirm. »Da haben wir den 2.
Ferario. Stimmt genau, Sir. Die Berenicia ist hier gelandet, hat acht Passagiere an Bord genommen und ist am gleichen Tag wieder gestartet.« Pardero studierte die Passagierliste. »Warum stehen die Namen in verschiedenen Spalten?« »Auf Anweisung des Demographischen Institutes, damit der Verkehr zwischen den einzelnen Welten abgeschätzt werden kann. Das hier sind Durchreisende, die Marune gleich wieder verlassen haben. Lediglich zwei Personen – diese Namen hier – sind von Marune aus zu anderen Welten gereist.« »Der Mann, den ich suche, muß einer von den beiden sein. Welcher hat nach Bruse-Tansel gebucht?« Der Angestellte schüttelte zweifelnd den Kopf und sah noch einmal die Liste durch. »Keiner von beiden. Baron Shimrods Ziel war Xampias. Der Edle Serle Glaize ist mit einem sogenannten offenen Ticket geflogen.« »Was bedeutet das?« »Touristen, die kein bestimmtes Ziel im Auge haben, buchen oft auf diese Weise. Das Ticket gilt für eine bestimmte Anzahl von Flugabschnitten; wenn diese aufgebraucht sind, kann der Betreffende nach Belieben weitere Abschnitte kaufen.« »Dieses ›offene‹ Ticket, mit dem Serle Glaize flog – wie weit wäre er damit gekommen? Nach BruseTansel zum Beispiel?« »Die Berenicia läuft Bruse-Tansel nicht an, aber lassen Sie mich mal nachsehen. Einhundertachtundvierzig Ozols bis zum Umsteighafen Dadarnisse; nach Bruse-Tansel dann noch einhundertzwei Ozols... Ja, tatsächlich. Wie Sie sehen, hat der Edle Serle Glaize ein offenes Ticket im Wert von zweihundertfünfzig
Ozols erworben: genau bis Bruse-Tansel.« »Also Serle Glaize. Das muß der Mann sein.« Pardero ließ sich den Namen durch den Kopf gehen. Er weckte keinerlei Erinnerungen, kein Gefühl von Vertrautheit. Pardero schob dem Angestellten zwei Ozols zu, die dieser würdevoll annahm. »Wer hat Serle Glaize das Ticket verkauft?« fragte Pardero. »Nun, hier ist die Initiale ›Y‹ vermerkt; es müßte also Yanek gewesen sein, meine Ablösung.« »Vielleicht könnten Sie Yanek anrufen und sich erkundigen, ob er sich noch an die näheren Umstände erinnert. Ich biete fünf Ozols für brauchbare Informationen.« Der Angestellte musterte Pardero von der Seite. »Welche Art von Information sehen Sie als brauchbar an?« »Mich interessiert, wer das Ticket gekauft hat. Ich bezweifle, daß Serle Glaize es selbst getan hat. Er muß einen Begleiter gehabt haben, dessen Identität ich feststellen möchte.« Der Angestellte ging zu einem Telefon und sprach eine Weile mit gesenkter Stimme, wobei er sich von Zeit zu Zeit über die Schulter nach Pardero umschaute. Schließlich kam er etwas enttäuscht zurück. »Yanek erinnert sich kaum an den Vorfall. Er glaubt, daß das Ticket von einem Mann in schwarzem Rhunencape gekauft wurde, der außerdem einen grauen Helm mit Visier und Wangenschutz trug, so daß Yanek sein Gesicht auf keinen Fall hätte erkennen können. Überdies war am Schalter gerade viel los; Yanek hatte alle Hände voll zu tun und konnte sich keine Einzelheiten merken.«
»Damit kann ich nichts anfangen«, brummte Pardero. »Gibt es vielleicht irgend jemanden, der mir mehr sagen könnte?« »Mir fällt niemand ein, Sir.« »Nun gut.« Pardero legte noch zwei Ozols aufs Schalterpult. »Für Ihre Hilfsbereitschaft.« »Danke, Sir. Gestatten Sie mir einen Rat. Die Rhunen, die Port Mar besuchen, steigen ausnahmslos im Rhune Royal ab. Vielleicht erreichen Sie dort etwas – leicht wird es nicht sein.« »Danke für den Rat.« »Sind Sie nicht selbst Rhune, Sir?« »In gewissem Sinn, ja.« Der Angestellte nickte und lachte leise. »Ein Majare wird einen Rhunen immer erkennen, o ja...« Nachdenklich wanderte Pardero die Straße der Fremden zurück in die Stadt. Die wissenschaftlichen Berechnungen von M. A. Rady und die soziopsychischen Schlußfolgerungen von Oswen Ollave hatten sich als zutreffend erwiesen. Aber wie und woran hatte der Majare ihn erkannt? Seine Gesichtszüge waren keineswegs typisch, seine Haar- und Hautfarbe war kaum ungewöhnlich; seine Kleidung und sein Haarschnitt gaben bestimmt keinerlei Hinweis – kurz, er unterschied sich in nichts von den anderen Gästen des Außenweltenhotels. Zweifellos verriet er sich aber durch unbewußte Gesten und Verhaltensweisen; vielleicht war er doch mehr Rhune, als er selbst wußte. Die Straße der Fremden endete am Fluß. Als Pardero die Brücke erreichte, ging Maddar hinter dem westlichen Tiefland unter und Cirse stieg höher:
Grünrowan. Grüne Lichter tanzten über das Wasser; die weißen Mauern der Neustadt schimmerten in blassem Apfelgrün. An den Flußufern leuchteten Girlanden von Laternen auf, Reklame für die verschiedensten Vergnügungsstätten wie Biergärten, Tanzlokale, Bars und Restaurants. Pardero runzelte die Stirn, abgestoßen von der ordinären Weltlichkeit der Szene, aber gleich darauf seufzte er beschämt. War da eben eine typische Rhunen-Einstellung durch seine Amnesie zutagegetreten? Pardero bog in die schmale Straße der Messingtruhen ein, die sich zwischen altersdunklen Holzbauten einen Hügel hinaufwand. Die auf die Straße hinausgehenden Läden zeigten einheitliche Fronten aus zwei hohen Fenstern, einer messingbeschlagenen Tür und einem möglichst dezenten Geschäftsschild. Auch die Auslagen waren äußerst zurückhaltend gestaltet. Die Straße der Messingtruhen endete auf einem etwas düsteren kleinen Platz, den Kuriositätenläden, Buchhandlungen und sonstige, auf ausgefallene Waren spezialisierte Geschäfte säumten. Hier sah Pardero die ersten Rhunen, die würdevoll die Angebote musterten und den majarischen Ladeninhabern mit gleichgültigem Fingerschnippen ihre Wünsche andeuteten. Keiner von ihnen schenkte Pardero auch nur einen Blick, was diesen mit seltsam gemischten Gefühlen erfüllte. Er überquerte den Platz und bog in die Gasse der Schwarzen Jangkaren ein, die durch einen alten Rundbogen in einer Mauer zum Hotel Rhune Royal führte. Pardero blieb vor dem Eingang stehen. Hatte er erst einmal das Rhune Royal betreten, dann gab es kein Zurück mehr; dann mußte er alle Folgen seiner
Rückkehr nach Marune auf sich nehmen. Eben traten zwei Männer und eine Frau durch das hohe Portal auf die Straße. Die Männer trugen Anzüge in Beige und Schwarz mit dunkelroten Schärpen, die in ihrer Ähnlichkeit fast auf irgendeine Art Uniform schließen ließen; die Frau, die beinahe ebenso hochgewachsen war wie die beiden Männer, war in einem enganliegenden, blaugrauen Overall gekleidet, von dessen schwarzen Schulterschnüren ein weites, indigoblaues Cape herabhing: eine Tracht, die für Ausflüge nach Port Mar, wo die förmlichen Schleiergewänder der Reiche unpassend gewesen wären, als korrekt galt. Die drei Rhunen gingen an Pardero vorbei und streiften ihn mit einem kurzen, desinteressierten Blick. Pardero nahm nicht das geringste Anzeichen des Erkennens wahr. Das war nicht weiter erstaunlich, da es weit über hunderttausend Rhunen gab. Pardero stieß die schmalen, hohen Türflügel auf, die für die rhunische Architektur anscheinend typisch waren. Die Halle war ein riesiger, fast saalartiger Raum mit einem nackten Fliesenboden in Ziegelrot und Schwarz. Die Polsterstühle waren lederüberzogen. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte war eine Anzahl Fachzeitschriften ausgelegt, und in einem Regal am jenseitigen Ende der Halle gab es Kataloge für Werkzeuge, Chemikalien, Handwerksbedarf, Papiersorten und verschiedene Tinten, seltene Hölzer und Steine. Ein von grünen gerippten Säulen flankierter schmaler Türbogen führte zur Rezeption. Pardero sah sich kurz in der Halle um und trat dann durch den Türbogen. Ein Portier in vorangeschrittenen Jahren erhob sich
und kam ans Pult; trotz seines Alters, einer Glatze und eines würdigen Doppelkinns gab er sich äußerst höflich und zuvorkommend. In einem einzigen Augenblick hatte er Pardero, seine Kleidung und Haltung taxiert und begrüßte ihn mit einer Verbeugung von genau bemessener Unterwürfigkeit. »Womit können wir Ihnen behilflich sein, Sir?« Er hatte noch nicht geendet, als eine Spur von Unsicherheit in sein Benehmen trat. »Vor mehreren Monaten«, sagte Pardero, »genauer, etwa um den ersten Ferario, war ich Gast dieses Hotels. Ich möchte nun meine Erinnerung an den damaligen Aufenthalt auffrischen. Würden Sie so gut sein und mir die Eintragungen für jenen Tag zeigen?« »Wie Ihr wünscht, Euer Erhabenheit*.« Der Portier streifte Pardero wieder mit einem heimlichen Seitenblick, und sein Benehmen änderte sich noch mehr, wurde unruhig, fast besorgt. Er bückte sich mit förmlich hörbarem Knirschen seines Rückgrats und hob ein ledergebundenes Buch auf die Tischplatte. Mit einer würdevollen Geste schlug er es auf und blätterte eine Seite nach der anderen um. Jedes Blatt zeigte eine schematische Darstellung der Räume des Hotels mit Eintragungen in verschiedenen Farben. »Hier, Erhabenheit, ist das Datum, das Ihr erwähntet. Wenn es Euch beliebt, mir zu sagen, was Ihr wissen wollt, will ich Euch gerne helfen.« Pardero studierte die Seite im Gästebuch, konnte aber die archaischen Schriftzeichen nicht entziffern. In einem Ton, der verständnisvolle Diskretion an*
Die übliche Anrede für Rhunen unbestimmten Ranges, ehrerbietiger als das überall in Alastor gebrauchte einfache ›Sir‹.
deuten sollte, fuhr der Portier etwas zögernd fort: »Während jener Phase waren unsere Räumlichkeiten nur mäßig belegt. Im ›Ehrerbietigkeitsflügel‹ logierten die Trismets** verschiedener Edler, wie Ihr hier eingetragen seht. In den ›Räumen der Angemessenheit‹ beherbergten wir den Eiodark Torde und die Wirwove Ippolita mit ihren Trismets. In der ›Gipfel-Suite‹ haben wir den Kaiark Rianlle von Eccord, die Kraike Dervas und die Lissolet Maerio zu Gast. In der ›Hyperion-Suite‹ schließlich logierten der dahingegangene Kaiark Jochaim von Scharrode – möge sein Geist bald Ruhe finden – und die Kraike Singhalissa mit den Kangs Efraim und Destian und der Lissolet Sthelany.« Der alte Portier hob den Blick mit unsicherem Lächeln zu Pardero. »Habe ich nicht jetzt die Ehre, mit Seiner Mächtigkeit, dem neuen Kaiark von Scharrode, zu sprechen?« Pardero erkundigte sich gravitätisch-abweisend: »Sie erkennen mich also?« »Ja, Eure Mächtigkeit, jetzt, nachdem ich mit Euch gesprochen habe. Ich gestehe, ich war etwas verwirrt; Eure Erscheinung hat sich in einem Maße geändert, daß ich es kaum in Worte zu fassen vermag. Ihr wirkt – wenn ich so sagen darf – reifer, beherrschter, und ** Trismet: Die Gruppe von Personen, die einer ›Trisme‹ angehören, einer den Rhunen eigenen, eheähnlichen Verbindung. Diese Personen können ein Mann und seine weibliche Trisme-Partnerin sein; oder ein Mann, seine Partnerin und eines oder mehrere ihrer Kinder (deren Erzeuger der Mann sein kann oder nicht). ›Familie‹ entspricht annähernd der Bedeutung von ›Trismet‹, weist aber noch andere, vor allem gefühlsmäßige Bedeutungsnuancen auf, die bei den Rhunen nicht oder nur in Ausnahmefällen zutreffen. Bei den Kindern ist die Vaterschaft im allgemeinen formell nicht feststellbar; Rang und Stellung werden daher in mütterlicher Linie vererbt.
Eure ausländische Kleidung betont natürlich diesen Unterschied. Ich bin jedoch sicher, daß ich mich nicht irre.« Der Portier blinzelte plötzlich unsicher. »Es stimmt doch, Euer Mächtigkeit?« Pardero lächelte kühl. »Wie würden Sie das feststellen, wenn ich Ihnen nicht helfe?« Der Portier unterdrückte einen verblüfften Ausruf. Vor sich hinmurmelnd, holte er ein zweites, ledergebundenes Buch aufs Pult, das wohl zweimal so groß wie das Gästeregister war. Er warf Pardero einen etwas unmutigen Blick zu und begann langsam die dicken Seiten aus bräunlichem Pergament umzublättern. »Was ist das für ein Buch?« fragte Pardero. Der Portier blickte auf, und seine grauen, alten Lippen verzogen sich ungläubig. »Ich habe hier den Großen Adelskalender der Rhunen. Das Werk müßt Ihr doch kennen?« Pardero brachte ein kurzes Nicken zuwege. »Zeigen Sie mir die Leute, die die Hyperion-Suite bewohnten.« »Eure Mächtigkeit, ich war im Begriff, dies zu tun.« Der Portier wendete die Seiten um. Links standen jeweils die genealogischen Diagramme, Stammbäume und Abstammungslinien mit Vermerken in den verschiedensten Farben; auf der rechten Seite waren Fotografien zu den Stammbäumen passend angeordnet: Tausende und Abertausende von Namen und ebensoviele Porträts. Der Portier blätterte mit irritierender Bedächtigkeit weiter. Endlich hielt er inne, überlegte einen Augenblick lang und tippte dann mit dem Finger auf eine Seite. »Die Linie derer von Scharrode.« Pardero vermochte sich nicht mehr zurückzuhal-
ten. Er drehte das Buch herum und studierte die Fotografien. Ungefähr von der Mitte des Blattes blickte ihn das Gesicht eines hellhaarigen Mannes in mittleren Jahren an. Die kantigen, beherrschten Züge ließen auf einen vielseitigen, interessanten Charakter schließen. Die Stirn hätte die eines Gelehrten sein können, während der breite Mund zusammengekniffen war, wie in Abwehr gegen eine unerwünschte oder unkorrekte Regung wie etwa Humor. Die Überschrift lautete: Jochaim, Haus Benbuphar, Neunundsiebzigster Kaiark. Eine grüne Linie verband das Bild mit dem ruhigen Gesicht einer Frau, deren Miene undeutbar war. Über diesem Foto stand: Alferica, Haus Jent. Eine dicke, braune Linie führte davon zu dem darunterstehenden Bild eines ernsten jungen Mannes mit Zügen, die Pardero als seine eigenen erkannte. Der Vermerk lautete: Efraim, Haus Benbuphar, Kang des Reiches. Nun weiß ich wenigstens endlich meinen Namen, dachte Pardero. Ich bin Efraim, und ich war Kang, aber jetzt bin ich Kaiark. Ich bin ein Mann von hohem Rang! Er wandte sich wieder dem Portier zu und ertappte ihn bei einem eingehenden, forschenden Blick. »Sie sind gewiß erstaunt und neugierig«, sagte Efraim. »Die Sache ist ganz einfach. Ich habe mich längere Zeit nicht auf diesem Planeten aufgehalten und bin erst jetzt zurückgekehrt. Ich weiß nichts von den Dingen, die sich während meiner Abwesenheit ereignet haben. Der Kaiark Jochaim ist tot?« »Ja, Euer Mächtigkeit. Soviel ich weiß, gab es etliche Unsicherheit und Verwirrung. Man hat sich Sorgen um Euch gemacht, da Ihr jetzt natürlich der Achtzigste Kaiark seid und die gesetzliche Frist für
die Nachfolge fast verstrichen ist.« Efraim nickte langsam. »Also bin ich jetzt Kaiark von Scharrode.« Unter dem neugierigen Blick des Portiers wandte er sich wieder dem Adelskalender zu. Auf der Seite waren noch drei weitere Porträts zu sehen. Von Jochaim führte eine zweite grüne Linie nach unten zu dem Gesicht einer gutaussehenden, dunkelhaarigen Frau mit blasser, hoher Stirn, blitzenden, schwarzen Augen und einer schmalen, ziemlich langen Nase. Die Überschrift wies sie als Kraike Singhalissa aus. Von Singhalissa führten scharlachrote Linien zuerst zu einem dunkelhaarigen jungen Mann mit den adlerhaften Zügen seiner Mutter – Kang Destian – und zu einem Mädchen, ebenfalls dunkelhaarig und blaß, mit versonnenem Gesichtsausdruck und leicht herabgezogenen Mundwinkeln: nach dem Bild eine aparte Schönheit. Der Vermerk lautete Lissolet Sthelany. Efraim bemühte sich um einen beiläufigen Ton, als er fragte: »Was ist Ihnen von unserem Aufenthalt in Port Mar her eigentlich noch in Erinnerung?« Der Portier überlegte. »Die beiden Trismets von Scharrode und Eccord trafen gemeinsam ein und gaben sich auch sonst wie eine zusammengehörige Gesellschaft. Die jungen Leute besuchten die Neustadt, während die älteren Mitglieder der Gruppe ihren Geschäften nachgingen. Es kam in der Folge zu gewissen Spannungen. Ein Streit über den Besuch in der Neustadt, den einige der älteren Personen mißbilligten, war das Ergebnis. Am meisten echauffierten sich die Kraike Singhalissa und der Kaiark Rianlle, die den Ausflug für eine würdelose Unternehmung an-
sahen. Als Ihr jedoch bis Isp 25 des Dritten Zyklus nicht zurückgekehrt wart, begannen sich alle Sorgen zu machen. Ihr habt es offensichtlich verabsäumt, jemanden von Eurer Abreise zu verständigen.« »Offensichtlich«, sagte Efraim. »Trat während unseres Aufenthaltes Mirk ein?« »Nein; es war kein Mirk.« »Sie haben keine Bemerkung gehört oder irgendwelche Umstände beobachtet, die ein Anlaß für meine Abreise gewesen sein könnten?« Der Portier blickte betroffen drein. »Welch sonderbare Frage, Euer Mächtigkeit! Ich erinnere mich an nichts, was von Bedeutung gewesen sein könnte, obwohl ich erstaunt war zu hören, daß Ihr Euch mit diesem fremden Vagabunden abgegeben habt.« Er schnaufte verächtlich. »Zweifellos hat er Eure Leutseligkeit ausgenützt; er ist bekannt als ein sehr gerissener Bursche.« »Von was für einem Vagabunden reden Sie?« »Wie? Solltet Ihr vergessen haben, daß Ihr mit diesem Lumpen Lorcas die Neustadt durchstreift habt?« »Ich habe mir seinen Namen nicht gemerkt. Lorcas, sagten Sie?« »Matho Lorcas. Er ist Spießgeselle des Gesindels aus der Neustadt und Bärenführer für all diese sebalischen jungen Narren von der Universität.« »Wann ist eigentlich Kaiark Jochaim gestorben?« »Kurz nach seiner Rückkehr nach Scharrode, im Kampf gegen Gosso, Kaiark von Gorgetto. Ihr seid jedenfalls zur rechten Zeit zurückgekommen. Wären noch einige Tage verstrichen, dann wärt nicht Ihr Kaiark... Ich habe auch gehört, daß Kaiark Rianlle eine Trisme vorgeschlagen hat, um die Reiche Eccord
und Scharrode zu vereinen. Eure glückliche Rückkehr mag manches ändern.« Der Portier wendete einige Seiten im Adelskalender. »Kaiark Rianlle ist jedoch ein zielstrebiger und entschlossener Mann.« Der Portier tippte auf eine Fotografie. Efraim sah ein gutgeschnittenes, geistvolles Gesicht, das von einer Mähne silbrig glänzender Löckchen umrahmt wurde. Die Kraike Dervas dagegen blickte ausdruckslos vor sich hin; ihre Züge ließen einen nicht sehr ausgeprägten Charakter vermuten. Dasselbe galt für die Lissolet Maerio, deren Miene ebenso nichtssagend war, die aber immerhin ein jugendfrisches, hübsches Gesicht besaß. Der Portier erkundigte sich vorsichtig: »Habt Ihr vor, bei uns zu logieren, Mächtigkeit?« »Ich denke nicht. Und ich wünsche, daß Sie kein Wort von meiner Rückkehr nach Marune verlauten lassen. Ich muß erst gewisse Umstände klären.« »Ich verstehe vollkommen, Mächtigkeit. Ich danke Euch vielmals!« – Das galt den zehn Ozols, die Efraim aufs Pult gelegt hatte. Als Efraim aus dem Hotel kam, herrschte die melancholische Umber-Phase. Langsam wanderte er die Gasse der Schwarzen Jangkaren zurück, und als er wieder den kleinen Platz erreichte, nahm er sich diesmal die Zeit, all die Läden ringsum zu erforschen. Erstaunt und betroffen fragte er sich, ob es wohl sonst noch irgendwo im Sternhaufen Alastor eine reichhaltigere Ansammlung von bizarren, geheimnisvollen und exotischen Dingen gab. Schließlich begann Efraim darüber nachzugrübeln, was wohl sein eigenes, bestimmt auch sehr ausgefallenes Spezialgebiet gewesen sein mochte. In welchen Fertigkeiten er sich
auch geübt hatte, es war ihm nichts davon geblieben; in seinem Geist herrschte noch immer Leere. Ziemlich bedrückt ging er weiter, die Straße der Messingtruhen hinunter zum Fluß. In der Neustadt drüben war es ruhig geworden. Immer noch säumten Lichterketten die Flußufer, aber die Cafés und Bars schienen nicht mehr sehr belebt zu sein. Efraim wandte sich ab und kehrte über die Straße der Fremden zum Außenwelten-Hotel zurück. Er ging auf sein Zimmer und legte sich schlafen. Er träumte viel und lebhaft und erwachte seltsam aufgeregt. Nach einigen Augenblicken faßte er sich und versuchte, die Bruchstücke der Traumbilder wieder heraufzubeschwören, um zu begreifen, was sich in seinem schlafenden Geist abgespielt hatte, aber es gelang ihm nicht mehr. Nach einer Weile beruhigte er sich und schlief wieder ein, bis ihn ein sanfter Gong zum Frühstück weckte.
KAPITEL 5 Als Efraim das Hotel verließ, herrschte jene Phase, die manchmal als Halb-Aud bezeichnet wird. Furad und Osmo standen am Himmel und hüllten alles in ein warmes, goldenes Licht, dem Kenner eine aufmunternde, anregende Wirkung zuschrieben, das aber gleichwohl nicht die volle Tönung des richtigen Aud besaß. Efraim blieb einen Augenblick stehen und sog die kühle Luft in tiefen Zügen ein. Seine bedrückte Stimmung hatte sich aufgehellt; besser, Kaiark Efraim von Scharrode zu sein als Efraim der Metzger oder Efraim der Koch oder Efraim der Müllmann. Er machte sich auf den Weg, die Straße der Fremden entlang. Als er die Brücke erreichte, bog er diesmal nicht in die Straße der Messingtruhen ein, sondern ging über die Brücke in die Neustadt hinüber, die sich, wie er feststellte, in nahezu jeder Beziehung von den alten Teilen der Stadt unterschied. Die Anlage der Neustadt, so entdeckte Efraim, war übersichtlich und einfach. Die vier Hauptverkehrsadern verliefen parallel zum Fluß: die Estrada, die bei der Universität endete; die Straße des Verwaltungsrats; und die Haune-Avenue und die DouauneAvenue, die nach den beiden kleinen, unbelebten Planeten Osmos benannt waren. Efraim wanderte auf der Estrada nach Westen und musterte die Cafés und Gastgärten mit ein wenig sehnsüchtigem Interesse. Im Licht seiner neuen Einstellung kamen sie ihm geradezu lächerlich unschuldig vor. Er trat in den Gastgarten einer Bierschenke und warf einen unauffälligen Blick auf den Mann
und das Mädchen, die eng aneinandergedrückt auf einer Bank saßen. Würde er je imstande sein, sich in aller Öffentlichkeit so freizügig zu benehmen? Vermutlich hatte er sich auch jetzt noch nicht von den Prinzipien seiner Vergangenheit gelöst, die schließlich noch nicht ganz sechs Monate zurücklag. Er wandte sich an einen stämmigen Mann mit weißer Schürze, der offenbar der Wirt war. »Sir, kennen Sie zufällig einen gewissen Matho Lorcas?« »Matho Lorcas? Nein, den Herrn kenne ich nicht.« Efraim setzte seine Nachforschungen entlang der Estrada fort, und endlich, an einem Kiosk, in dem Außenwelten-Magazine verkauft wurden, löste der Name ›Matho Lorcas‹ eine positive Reaktion aus. Die Verkäuferin wies die Straße hinunter. »Fragen Sie mal dort, in der Satyrgrotte. Er ist wahrscheinlich bei der Arbeit. Wenn nicht, dann wissen sie dort, wo er wohnt.« Matho Lorcas war tatsächlich an der Arbeit – er stand am Tresen und füllte emsig Bierkrüge. Er war ein schlaksiger junger Mann mit einem scharfgeschnittenen, lebhaften Gesicht. Sein dunkles Haar war in einem Allerweltsstil gestutzt. Wenn er sprach, verzog sich sein schmaler, beweglicher Mund zu den verschiedensten ausdrucksvollen Grimassen. Efraim beobachtete ihn einige Augenblicke lang, bevor er zu ihm hinging. Matho Lorcas war ein Mensch, dessen Humor, Intelligenz und unbefangene Lebensfreude ihm leicht die Abneigung weniger glücklicher Naturen einbringen konnten. Jemandem wie Matho Lorcas war Bosheit oder Heimtücke nur schwer zuzutrauen. Trotzdem blieb die Tatsache bestehen, daß Efraim, kurz nachdem er Lorcas kennengelernt hatte, seiner
Erinnerung beraubt und quer durch den Sternenhaufen verschickt worden war. Efraim trat an die Theke und nahm auf einem Hokker Platz; Lorcas kam nach einem Augenblick herüber. »Sie sind Matho Lorcas?« fragte Efraim. »Ja, gewiß!« »Erkennen Sie mich wieder?« Lorcas musterte Efraim stirnrunzelnd. Plötzlich erhellte sich seine Miene. »Sie sind doch dieser Rhune! Den Namen weiß ich nicht mehr.« »Efraim von Scharrode.« »Ich erinnere mich gut an Sie und an die beiden Mädchen in Ihrer Gesellschaft. Wie ernst und korrekt die beiden sich doch gaben! Aber Sie haben sich ziemlich verändert – Sie kommen mir wie ein anderer Mensch vor! Wie ist denn das Leben in Ihrem Bergreich?« »Wie immer, vermute ich. Hören Sie, ich hätte dringend mit Ihnen zu reden. Wann haben Sie frei?« »Jederzeit. Gleich, wenn Sie wollen – mir hängt die Arbeit ohnehin schon zum Hals raus. Ramono! Kümmer dich um den Laden!« Er bückte sich und kam hinter der Theke hervor. »Darf ich Ihnen ein Glas Bier anbieten? Oder etwas Del-Wein vielleicht?« »Nein, danke.« Efraim hatte sich für eine vorsichtige und zurückhaltende Taktik entschieden. »Es ist mir noch etwas zu früh.« »Wie Sie wollen. Kommen Sie, setzen wir uns dort hinüber, wo wir den Fluß sehen können. – Wissen Sie, ich habe öfter an Sie gedacht und mich gefragt, wie Sie schließlich, nun, sagen wir, mit Ihrem Dilemma fertiggeworden sind, so reizvoll es auch gewesen sein mag.«
»Was meinen Sie?« »Die beiden hübschen Mädchen, die Sie begleitet haben – aber mir ist natürlich klar, daß diese Dinge in den Bergreichen nicht so einfach sind.« In dem Bewußtsein, daß der andere ihn für einen langweiligen Hinterwäldler halten mußte, fragte Efraim: »Was ist Ihnen von der Gelegenheit noch in Erinnerung?« Lorcas hob protestierend die Hände. »Nach so langer Zeit? Nach so vielen anderen Bekanntschaften? Lassen Sie mich nachdenken...« Er grinste. »Na, ich will Ihnen nichts vormachen. In Wirklichkeit habe ich oft und lange an diese beiden Mädchen gedacht, die so verschieden waren und doch so gleich und viel zu schade für diese gräßlichen, unerreichbaren Bergreiche! Sie bewegen sich und sprechen, als wären sie verzauberte Eisfiguren – obwohl ich den Verdacht hege, daß die eine oder die andere oder beide unter den richtigen Umständen sehr schnell dahinschmelzen würden; mir zumindest wäre es ein Vergnügen, solche Umstände zu arrangieren. Sie halten mich sicher für sebalisch? Ich bin viel schlimmer – schlichtweg chorastisch*!« Er warf Efraim einen schrägen Blick zu. »Sie scheinen gar nicht entsetzt oder schokkiert zu sein. Ich glaube, Sie sind wirklich ein anderer Mensch als dieser puritanische junge Kang, den ich vor sechs Monaten kennenlernte.« »Das ist wohl möglich«, sagte Efraim geduldig. »Um aber wieder auf die damalige Begegnung zu kommen, was geschah da eigentlich?« Lorcas bedachte Efraim nochmals mit einem for*
Chorasmus: zum Exzeß getriebener Sebalismus.
schenden Seitenblick. »Sie erinnern sich nicht?« »Nur undeutlich.« »Sonderbar. Sie kamen mir damals durchaus nicht geistesabwesend vor. Wissen Sie noch, wie wir uns getroffen haben?« »Nicht mehr genau.« Lorcas zuckte etwas ungläubig die Achseln. »Nun ja, ich war gerade aus dem Buchladen ›Zum Äskulapstab‹ gekommen, als Sie mich anhielten und nach dem Weg zum Märchengarten fragten, wo zu der Zeit gerade Galligade mit seinen Marionetten gastierte. Die Phase war, wenn ich mich recht erinnere, spätes Aud, übergehend in Umber, was mich immer mit einer irgendwie festlichen Stimmung erfüllt. Ich stellte fest, daß Sie und der Kang Destian – das war, glaube ich, sein Name – nicht nur ein, sondern zwei hübsche Mädchen bei sich hatten, und ich hatte noch nie Gelegenheit gehabt, mit Rhunen Bekanntschaft zu schließen, also machte ich mich erbötig, Sie selbst hinzuführen. Im Märchengarten mußten wir feststellen, daß Galligade seine Vorstellung schon beendet hatte. Die Enttäuschung der Mädchen stürzte mich in einen Anfall von unverantwortlicher Großzügigkeit – normalerweise durchaus nicht meine Sache, das können Sie mir glauben. Ich bestand jedenfalls darauf, Sie alle einzuladen, und bestellte eine Flasche Wein und Etikette-Schirme für die, die das für nötig hielten. So saßen wir also beisammen: die Lissolet Sthelany, die mich mit vornehmer Gleichgültigkeit betrachtete, das zweite Mädchen – ich weiß jetzt ihren Namen nicht mehr...« »Die Lissolet Maerio.« »Stimmt, ja. Sie benahm sich ein bißchen weniger
abweisend – das soll natürlich keine Kritik sein. Dann war da Kang Destian, der sich ziemlich sardonisch und mißmutig gab, während Sie sich in vornehme Gleichgültigkeit hüllten. Sie waren die ersten Rhunen, die ich näher kennenlernte, und als ich auch noch herausbrachte, daß Sie von königlichem Blut waren, fand ich weder meine Bemühungen noch meine Ozols verschwendet. Wir saßen also beisammen und tranken den Wein und lauschten der Musik. Genauer gesagt, ich trank Wein. Sie und die Lissolet Maerino nippten nur im Schutze der Etikette-Schirme – gewiß eine dreiste Mißachtung der Konventionen! Die beiden anderen hatten jede Erfrischung abgelehnt. Die Mädchen beobachteten die Studenten rund um uns und staunten über die sebalische Weltlichkeit allenthalben. Ich verliebte mich in die Lissolet Sthelany, der eine solche Möglichkeit natürlich nicht im Traum in den Sinn gekommen wäre. Ich setzte meinen gesamten Charme ein, aber sie musterte mich nur mit faszinierter Abscheu. Nach einer Weile begaben sie und Destian sich ins Hotel zurück. Sie und die Lissolet Maerio blieben, bis Destian mit dem Befehl wiederkam, Maerio müsse sofort ins Hotel zurückkehren. So blieben wir beide zurück. Ich mußte wieder an die Arbeit in der Drei-Laternen-Bar, und Sie begleiteten mich noch bis auf den JibbereeHügel. Dann wollten auch Sie ins Hotel zurück. Ja, und das war alles.« Efraim stieß einen enttäuschten Seufzer aus. »Sie haben mich nicht zum Hotel begleitet?« »Nein. Sie trennten sich von mir und gingen allein zurück. Allerdings schienen Sie mir ziemlich erregt
zu sein. Wenn ich mir die kühne Frage erlauben darf – weshalb interessieren Sie sich so für jenen Abend?« Efraim sah jetzt keinen Grund mehr, mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. »An diesem Abend habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich erinnere mich nur, in Carfaunge auf Bruse-Tansel eingetroffen zu sein. Nach einigen Schwierigkeiten schaffte ich es nach Numenes, wo ich im Spital des Connat behandelt wurde. Die Experten dort erklärten, ich sei Rhune. Daraufhin kehrte ich nach Port Mar zurück – ich bin erst gestern angekommen. Im Hotel Rhune Royal erfuhr ich meinen Namen und daß ich jetzt der Kaiark von Scharrode bin. Sonst weiß ich nichts. Ich erkenne nichts und niemanden; meine Vergangenheit ist wie ein leeres Blatt. Wie kann ich unter diesen Umständen die Verantwortung für meine eigenen Angelegenheiten oder gar die des Reiches tragen? Ich muß erst das Geheimnis aufklären. Wo soll ich beginnen? Wie soll ich vorgehen? Warum wurde mir das Gedächtnis genommen? Wer hat mich zum Raumhafen gebracht und in das Raumschiff gesetzt? Wie soll ich meinen Angehörigen das Vorgefallene erklären? So leer meine Vergangenheit ist, so erfüllt scheint meine Zukunft zu sein – von Sorgen und Zweifeln und Verwirrung. Und ich vermute, daß ich daheim nicht mit allzuviel hilfreichem Entgegenkommen rechnen kann.« Lorcas unterdrückte einen verblüfften Ausruf und lehnte sich zurück. Seine Augen glitzerten. »Wissen Sie was, ich beneide Sie. Wie aufregend, das Geheimnis der eigenen Vergangenheit enträtseln zu dürfen!« »Ich kann mich nicht im geringsten dafür begeistern«, sagte Efraim. »Diese unbekannte Vergangen-
heit hängt über mir wie eine Gewitterwolke. Sie erstickt mich. Meine Feinde kennen mich – ich dagegen weiß nichts von ihnen. Ich gehe blind und hilflos nach Scharrode.« »Ihre Lage hat aber auch gewisse Vorteile zu bieten«, murmelte Lorcas. »Die meisten Menschen würden sich freuen, über ein Bergreich zu herrschen, gleichgültig unter welchen Umständen. Und bestimmt nicht wenige würden es für ein Vergnügen halten, mit der Lissolet Sthelany in demselben Schloß zu leben.« »Diese Vorteile sind ja schön und gut, aber sie helfen mir nicht im mindesten, meinen Feind zu finden.« »Angenommen, dieser Feind existiert.« »Er existiert. Er hat mich auf die Berenicia gebracht und meine Passage nach Bruse-Tansel bezahlt.« »Bruse-Tansel ist ziemlich weit weg. Ihr Feind scheint demnach nicht unbemittelt zu sein.« »Wer kann wissen, wieviel Geld ich selbst bei mir hatte?« knurrte Efraim. »Vielleicht habe ich aus dem Inhalt meiner Börse den Flug selbst bezahlt!« »Das wäre wirklich eine unglaubliche Ironie«, meinte Lorcas. »Wenn es stimmt, dann beweist Ihr Feind zumindest Stil.« »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, murmelte Efraim. »Vielleicht sehe ich die Sache verkehrt an.« »Ein interessanter Gedanke. Was haben Sie dabei im Sinn?« »Vielleicht habe ich irgendeine schreckliche Untat begangen, die meinem Gewissen so zu schaffen machte, daß eine Amnesie ausgelöst wurde. Dann könnte mich irgend jemand – eher mein Freund als ein Feind – von Marune fortgebracht haben, um mir
die Strafe für meine Tat zu ersparen.« Lorcas lachte zweifelnd. »In meiner Gegenwart haben Sie sich aber ganz und gar nicht wie ein Verbrecher benommen.« »Wie und weshalb habe ich dann, kurz nachdem ich mich von Ihnen getrennt hatte, mein Gedächtnis verloren?« Lorcas überlegte einen Augenblick lang. »Dieses Rätsel ist vielleicht gar nicht so unlösbar.« »Die Gelehrten auf Numenes wußten keine Erklärung. Und Sie glauben, der Ursache meiner Probleme auf die Spur kommen zu können?« Lorcas grinste. »Ich kenne jemanden, der kein Gelehrter, aber vielleicht besser dazu in der Lage ist.« Er sprang auf. »Kommen Sie, wir wollen den Mann besuchen.« Efraim erhob sich zögernd. »Ist das klug? Sie könnten schließlich der Schuldige sein. Ich möchte nicht ein zweites Mal auf Bruse-Tansel landen.« Lorcas kicherte. »Sie sind wirklich keine Rhune mehr. Die Rhunen haben überhaupt keinen Humor. Ich glaube, ihre Lebensweise ist so seltsam, daß ihnen selbst das Absurde als normal vorkommt. Aber ich bin jedenfalls nicht Ihr heimlicher Feind, das kann ich Ihnen versichern. Zumindest fehlen mir die zweioder dreihundert Ozols, um Sie nach Bruse-Tansel zu schicken.« Efraim folgte Lorcas hinaus auf die Straße. Lorcas erklärte: »Unser Ziel ist ein reichlich bizarrer Laden. Der Inhaber gilt als Sonderling. Unfreundliche Naturen bezeichnen ihn als verrufenen Schurken. Zur Zeit ist er nicht mehr so in Mode, was den Bestrebungen der Benkenisten zuzuschreiben ist, die augenblicklich
in Universitätskreisen großen Einfluß haben. Sie predigen stoischen Gleichmut und innere Ausgeglichenheit, und Skogels zahlreiche Mixturen sind der inneren Ausgeglichenheit nicht eben förderlich. Was mich betrifft, so interessieren mich nur die Verrücktheiten, die ich mir lieber ausdenke. Wissen Sie, was mich zur Zeit besonders beschäftigt?« »Nein.« »Die Bergreiche. Die Bergreiche mit ihrer verschrobenen Genealogie, dem Aufstieg und Niedergang berühmter Häuser, der Dichtkunst und den rhetorischen Wettbewerben, den Geruchszeremonien, der ritterlich-romantischen Etikette, den bizarren Künsten und ausgefallenen Forschungen der Gelehrtenkrieger. Ist Ihnen bekannt, daß die wissenschaftlichen Monographien der Rhunen im gesamten Sternhaufen und auch im Gaea-Reich verbreitet sind? Wissen Sie, daß in den Bergreichen Sport etwas Unbekanntes ist? Es gibt weder Spiele noch sonstige Freizeitvergnügungen, nicht einmal für die Kinder, wußten Sie das?« »Ich glaube, ich habe wohl nie darüber nachgedacht. Wohin gehen wir eigentlich?« »Dort die Gasse des Schlauen Flohs hinauf... Natürlich wissen Sie nicht, wie die Gasse zu ihrem Namen kam.« Im Weitergehen erzählte Lorcas die etwas schlüpfrige Fabel. Efraim hörte nur mit halbem Ohr zu. Nach einer Weile bogen sie in eine Gasse mit verschiedenen kleinen Läden und Lokalen ein. Da gab es eine Bude, in der gebackene Muscheln verkauft wurden, einen Spielsalon, ein Kabarett mit roter und grüner Leuchtreklame, ein Bordell, einen Kuriositätenladen, ein Reisebüro... Ein kleiner Laden hatte im Schaufenster nichts als einen stilisierten Lebensbaum,
dessen goldene Früchte mit fließenden, unentzifferbaren Schriftzeichen versehen waren. Lorcas blieb davor stehen. »Lassen Sie mich reden, außer Skogel stellt Ihnen direkt eine Frage. Er hat ein recht sonderbares Benehmen, das den meisten Menschen gegen den Strich geht, das aber nur gespielt ist, wie ich stark vermute. Lassen Sie sich jedenfalls durch nichts überraschen. Noch etwas – wenn er einen Preis nennt, müssen Sie zustimmen, auch wenn Sie Bedenken haben. Nichts verärgert ihn so wie Feilschen. Kommen Sie, versuchen wir also unser Glück.« Er trat in den Laden, und Efraim folgte ihm zögernd. Ein mittelgroßer, zaundürrer Mann tauchte aus dem dunklen Hintergrund des Ladens auf: Skogel. Er hatte lange Arme und ein rundes, wachsbleiches Gesicht, das von einem staubbraunen Stoppelfeld gekrönt wurde. »Angenehme Phasen«, sagte Lorcas. »Haben Sie eigentlich schon bei unserem Freund Boodles einkassiert?« »Nein. Aber ich habe von ihm nichts erwartet und ihn dementsprechend bedient.« »Wie das?« »Sie wissen, was er braucht. Er bekam jedoch nur gewässerte Cacodyl-Tinktur, die seinen Bedürfnissen vermutlich nicht genügt hat.« »Nun, bei mir hat er sich nicht beklagt – allerdings ist er mir in letzter Zeit ziemlich niedergeschlagen vorgekommen.« »Wenn er es wünscht, kann er jederzeit bei mir Trost finden. Und wer ist dieser Herr? Manches an ihm verrät den Rhunen, anderes wiederum spricht für die Außenwelten.« »Sie haben mit beidem recht. Er ist ein Rhune, der
einige Zeit auf Numenes und auch auf Bruse-Tansel verbracht hat. Sie werden sich natürlich sofort nach dem Grund fragen. Nun, die Antwort ist einfach – er hat vor etlichen Monaten sein Gedächtnis verloren. Ich sagte ihm, wenn irgend jemand ihm helfen könnte, dann wären Sie das.« »Pah – ich habe keine Gedächtnisse auf Lager, säuberlich etikettiert wie Abführmittel. Er wird sich neue Erinnerungen suchen müssen. Das ist doch nicht so schwierig?« Lorcas bedachte Efraim mit einem Blick amüsierten Bedauerns. »Eigensinnig wie er ist, möchte er seine alten Erinnerungen wieder haben.« »Hier wird er sie nicht finden. Wo hat er sie verloren? Dort mag er danach suchen.« »Ein Feind nahm ihm das Gedächtnis und setzte ihn in ein Schiff nach Bruse-Tansel. Mein Freund brennt nun darauf, diesen Schurken zu strafen – Sie sehen ja, wie er kriegerisch das Kinn reckt und mit den Augen funkelt.« Skogel warf den Kopf zurück und lachte lauthals. »Das klingt schon besser! Allzuviele Übeltäter kommen mit heiler Haut und fetter Beute davon! Rache! Das ist das richtige Wort. Ich wünsche viel Erfolg! Glückliche Phasen, Sir.« Darauf drehte Skogel sich um und verschwand im Dunkel des Ladens. Efraim starrte ihm fassungslos nach, aber Lorcas bedeutete ihm, Geduld zu haben. Nach einer Weile kam Skogel steifbeinig zurückgestelzt. »Und was kann ich heute für Sie tun?« »Erinnern Sie sich, was Sie vor einer Woche zu mir sagten?« fragte Lorcas. »In welcher Beziehung?«
»Es ging um Psychomorphose.« »Ein großartiges Wort«, brummte Skogel. »Ich habe es nur ganz nebenbei erwähnt.« »Könnte es im Fall meines Freundes zutreffen?« »Gewiß. Warum nicht?« »Und die Ursache seiner Psychomorphose?« Skogel stützte die Hände auf den Ladentisch und beugte sich vor, um Efraim mit eulenhafter Eindringlichkeit zu mustern. »Sie sind ein Rhune?« »Ja.« »Wie ist Ihr Name?« »Ich scheine Efraim, Kaiark von Scharrode, zu sein.« »Dann müssen Sie reich sein.« »Das kann ich nicht sagen.« »Und Sie sollen Ihr Gedächtnis zurückhaben?« »Natürlich.« »Da sind Sie an den falschen Ort gekommen. Ich handle mit anderen Waren!« Skogel schlug auf den Ladentisch und tat, als wollte er sich wieder abwenden. Lorcas sagte glatt: »Mein Freund besteht darauf, daß Sie zumindest ein Honorar für Ihren Rat annehmen!« »Ein Honorar? Für Worte? Für Vermutungen und Hypothesen? Halten Sie mich für einen Mann ohne Ehrgefühl?« »Natürlich nicht!« erklärte Lorcas hastig. »Er möchte ja nur erfahren, wie er um sein Gedächtnis gekommen sein könnte.« »Nun, dann will ich ihm sagen, was ich vermute, und das kann er umsonst haben: er hat Fwai-ChiHaut gegessen.« Skogel wies mit einer umfassenden
Gebärde auf die zahllosen Regale, Vitrinen und Schränke seines Ladens, die mit Flaschen jeder Form und Größe gefüllt waren, mit kristallisierten Substanzen, zerstoßenen getrockneten Kräutern, Steingutkrügen, seltsamen Metallinstrumenten, Dosen, Phiolen, Gläsern und einem Sammelsurium undefinierbarer, geheimnisvoller Dinge. »Ich will euch die Wahrheit enthüllen«, erklärte Skogel theatralisch. »Ein Großteil meiner Waren ist aus funktioneller Sicht völlig wirkungslos. Psychisch, symbolistisch, unterbewußt sieht die Sache ganz anders aus! Jedes Mittel strömt seine ganz spezifische Wirkung aus, so daß ich mich manchmal fast greifbar von Naturkräften umgeben fühle. Mit einem Trank aus Spinnengras, gemischt mit einer Spur pulverisiertem Teufelsauge, habe ich zum Beispiel schon die erstaunlichsten Ergebnisse erzielt. Die Benkenisten, diese Narren und Besserwisser, behaupten, daß nur die, die daran glauben, eine Wirkung verspüren: das ist falsch! Unser Organismus schwebt gleichsam in einer parakosmischen Flüssigkeit, die sich unserer Erkenntnis entzieht, die unsere Sinne nicht zu erfassen vermögen. Nur durch bestimmte Mittel und Maßnahmen, die die Benkenisten verlachen, können wir dieses geheimnisvolle Medium beeinflussen. Bin ich deshalb ein Scharlatan, weil ich das zugebe?« Skogel grinste triumphierend und hieb wieder auf den Ladentisch. Lorcas erkundigte sich mit sanftem Nachdruck: »Wie war das nun mit dem Fwai-Chi?« »Geduld!« fauchte Skogel. »Erlaubt meiner Eitelkeit wenigstens diese kurze Abschweifung! Schließlich ist das alles auch für diesen Fall von Bedeutung.« »Aber gewiß!« sagte Lorcas hastig. »Ihre Ausfüh-
rungen interessieren uns sehr.« Noch nicht ganz besänftigt nahm Skogel den Faden seiner Erklärungen wieder auf. »Ich habe schon seit langem vermutet, daß die Fwai-Chi leichter in Wechselwirkung mit dem Parakosmos treten können als die Menschen. Sie sind allerdings eine sehr verschwiegene Rasse und sprechen nie über ihre wundervollen Leistungen auf diesem Gebiet – es mag aber auch sein, daß sie diese Dinge als selbstverständlichen Teil ihrer Umwelt ansehen. Jedenfalls sind sie eine seltsame und vielseitige Rasse, was zumindest die Majaren zu schätzen wissen. Ich spreche natürlich von den armseligen Resten ihrer Rasse, die drüben auf der anderen Seite des Hügels leben.« Skogel blickte herausfordernd von Lorcas zu Efraim, aber keiner von beiden wagte dieser Ansicht etwas entgegenzusetzen. »Ein bestimmter Schamane der Majaren glaubt sich in meiner Schuld«, fuhr Skogel fort, »und lud mich vor nicht allzulanger Zeit nach Atabus ein, um einer Hinrichtung beizuwohnen. Mein Freund führte mir eine Neuerung der majarischen Justiz vor: der Verdächtige beziehungsweise der Verurteilte – die Majaren machen da keinen großen Unterschied – muß Fwai-Chi-Haut schlucken, und seine Reaktionen werden beobachtet. Von Starrkrampf über Halluzinationen, Wutanfälle, Krämpfe, unnatürlichen Bewegungsdrang bis zu sofortigem Todeseintritt kann alles vorkommen. Die Majaren sind wahre Pragmatiker; sie interessieren sich lebhaft für den menschlichen Organismus und seine Fähigkeiten, und sie halten sich für großartige Wissenschaftler. In meinem Beisein wurde dem Verurteilten ein goldbraunes, harzi-
ges Sekret von den Rückenzotteln der Fwai-Chi eingeflößt, worauf er sofort glaubte, vier verschiedene Personen gleichzeitig zu sein, die ein lebhaftes Gespräch untereinander und mit den Zuschauern führten. Die Sprechwerkzeuge eines einzigen Mannes vermochten dabei manchmal zwei oder drei verschiedene Stimmen gleichzeitig hervorzubringen. Mein Schamanenfreund beschrieb mir dann einige andere Auswirkungen, die er beobachtet hatte, und erwähnte einen bestimmten Hautlappen, dessen Exsudat das menschliche Gedächtnis auslöscht. Ich bin daher der Meinung, daß ihr Freund mit Fwai-ChiHaut behandelt wurde.« Er lächelte triumphierend, während sein Blick vom einen zum anderen glitt. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Schön und gut«, sagte Lorcas, »aber wie soll mein Freund geheilt werden?« Skogel antwortete mit einer gleichgültigen Geste: »Dafür gibt es kein Heilmittel. Was verloren ist, ist verloren.« Lorcas warf Efraim einen bedauernden Blick zu. »Jetzt wissen Sie es. Jemand hat Sie mit Fwai-ChiHaut vergiftet.« »Ich frage mich, wer das tun konnte«, sagte Efraim. »Ich frage mich, wer.« Lorcas drehte sich zu Skogel um, aber der war schon wieder in der düsteren Kammer hinter dem Drogenladen verschwunden. Lorcas und Efraim kehrten durch die Gasse des Schlauen Flohs wieder auf die Estrada zurück. Efraim war bedrückt und nachdenklich. Lorcas, der seinen Begleiter mehrmals verstohlen von der Seite gemustert hatte, konnte schließlich seine Neugier nicht mehr bezähmen. »Was
werden Sie jetzt tun?« »Was ich tun muß.« Zehn Schritte weiter sagte Lorcas: »Sie fürchten sich offenbar nicht vor dem Tod.« Efraim zuckte die Achseln. »Wie wollen Sie nun vorgehen?« fragte Lorcas. »Ich muß nach Scharrade zurückkehren«, sagte Efraim. »Gibt es denn eine andere Möglichkeit? Mein Feind muß jemand sein, den ich gut kenne: würde ich denn mit einem Fremden trinken? Die folgenden Personen hielten sich damals in Port Mar auf: Kaiark Jochaim, der nun tot ist, die Kraike Singhalissa, der Kang Destian, die Lissolet Sthelany. Und von Eccord der Kaiark Rianlle, die Kraike Dervas und die Lissolet Maerio. Und übrigens, Matho Lorcas: welchen Grund sollten Sie haben, mich zu Skogel zu bringen, wenn Sie selbst der Schuldige wären?« »Genau«, sagte Lorcas. »Ich habe Ihnen damals nichts anderes als guten Wein eingeflößt, der Ihnen bestimmt nicht geschadet hat.« »Und Sie haben nichts Verdächtiges, nichts Unerklärliches bemerkt, während Sie mit uns zusammen waren?« Lorcas überlegte. »Mir ist nichts aufgefallen. Natürlich bemerkte ich unterdrückte Leidenschaften und gewisse Gefühlsströmungen, aber worauf sie hinausliefen, konnte ich natürlich nicht feststellen. Offen gesagt, ich hatte von vorneherein erwartet, bei Rhunen auf eigenartige Persönlichkeiten und Verhaltensweisen zu stoßen, deshalb machte ich keinen Versuch zu begreifen, was ich beobachtete. Ohne Ihr Gedächtnis werden Sie vermutlich auch vieles seltsam und unverständlich finden.«
»Sehr wahrscheinlich. Aber jetzt bin ich Kaiark, also wird man auf mich Rücksicht nehmen müssen. Ich kann mein Gedächtnis in aller Ruhe erneuern. Wie kommt man übrigens am besten nach Scharrode?« »Da gibt's nicht viel Auswahl«, sagte Lorcas. »Sie mieten einen Flugwagen und fliegen hin.« Nachdenklich blickte er zum Himmel auf, wo Cirse eben unterging. »Wenn Sie erlauben, werde ich Sie begleiten.« »Welches Interesse haben Sie denn an der Angelegenheit?« erkundigte sich Efraim, mit einemmal mißtrauisch geworden. Lorcas antwortete heiter: »Ich hab' mir schon lange gewünscht, einmal die Bergreiche zu besuchen. Die Rhunen sind ein faszinierendes Volk, und ich brenne darauf, mehr über sie zu erfahren. Und, um die Wahrheit zu sagen, ich brenne auch darauf, die eine oder andere Bekanntschaft zu erneuern.« »Ihr Besuch könnte Sie teuer zu stehen kommen. Ich bin wohl Kaiark, aber ich habe Feinde, und es könnte sein, daß sie keinen Unterschied zwischen uns machen.« »Ich verlassen mich auf die bekannte Abneigung der Rhunen gegen Gewalttätigkeit, die sie nur während ihrer unaufhörlichen Kämpfe untereinander vergessen. Und – wer weiß? Vielleicht finden Sie einen Begleiter ganz nützlich.« »Vielleicht. Wer ist denn diese Bekanntschaft, an der Ihnen so liegt? Die Lissolet Sthelany?« Lorcas nickte düster. »Sie ist eine aufreizende junge Frau, eine Herausforderung für jemanden wie mich. Ich darf wohl behaupten, daß schöne Damen mich im allgemeinen sympathisch finden, aber die Lissolet
Sthelany geruht kaum meine Existenz zu bemerken.« Efraim grinste sardonisch. »Auf Scharrode werden Ihre Aussichten aber eher schlechter sein.« »Ich erwarte ja gar keine großartigen Triumphe; wenn es mir nur wenigstens gelänge, sie hin und wieder zum Ablegen ihrer eisigen Miene zu veranlassen, würde ich die Reise schon als Erfolg ansehen.« »Ich bezweifle, daß das so leicht geht, wie Sie sich vorstellen. Die Rhunen sehen das Benehmen aller Ausländer als vulgär und ungeschliffen an.« »Sie sind doch Kaiark – Ihren Befehlen muß gehorcht werden, und die Lissolet Sthelany wird mich, wenn Sie es anordnen, zumindest dulden müssen.« »Das könnte ein interessantes Experiment werden«, sagte Efraim. »Also gut, machen Sie sich reisefertig; wir brechen so bald wie möglich auf.«
KAPITEL 6 Es war Anfang Isp, als Efraim im Büro der örtlichen Lufttransportagentur eintraf, wo er feststellte, daß Lorcas bereits einen Flugwagen von nicht gerade sehr vertrauenerweckendem Aussehen gemietet hatte – die Metallteile waren durch langjährige Einwirkung der Elemente fleckig, das Plastiglas der Sichtkuppel trübe geworden, die Leitflossen an der Kapsel waren verbeult und korrodiert. Lorcas meinte entschuldigend: »Es ist das Beste, was wir kriegen konnten, und durchaus zuverlässig: der Motor hat in über hundert Jahren nicht einmal versagt, so hat man zumindest behauptet.« Efraim musterte das Vehikel mit skeptischem Blick. »Wenn wir damit nur bis Scharrode kommen, ist es mir gleichgültig, wie es aussieht.« »Früher oder später wird das Ding mal den Geist aufgeben, höchstwahrscheinlich mitten in der Luft. Trotzdem die einzige Alternative wäre, auf Schusters Rappen die Fwai-Chi-Pfade entlangzuziehen. Dabei sind ganz schöne Höhenunterschiede zu überwinden, außerdem wäre Ihre Ankunft weit weniger würdevoll.« »Da ist schon etwas dran«, räumte Efraim ein. »Sind Sie bereit zum Aufbruch?« »Jederzeit. Aber darf ich noch etwas vorschlagen? Warum schicken Sie nicht eine Nachricht voraus, damit man auf ihre Ankunft vorbereitet ist?« »Damit uns jemand entgegenfliegen und abschießen kann?« Lorcas schüttelte den Kopf. »Flugwagen sind den
Rhunen aus eben diesem Grund verboten. Hier jedoch geht es um Ihre Würde, und, wenn Sie mir den Hinweis erlauben, ein Kaiark kündigt sein Eintreffen an, damit ihm ein formeller Empfang bereitet werden kann. Ich werde als Ihr Begleiter, als Ihr Reisemarschall sozusagen, fungieren, das wird der Angelegenheit etwas Grandezza verleihen.« »Von mir aus – tun Sie, was Sie für richtig halten.« »Die Kraike Singhalissa ist jetzt Oberhaupt des Hauses?« »Das nehme ich an.« An einem Vidifon, das ebenso antiquiert wie das Luftauto war, führte Lorcas den Anruf durch. Ein Lakai in einer Livree mit den Farben Schwarz und Scharlach meldete sich. »Ich spreche für Benbuphar Strang. Bitte nennen Sie Ihr Anliegen.« »Ich möchte mit der Kraike Singhalissa sprechen«, sagte Lorcas. »Ich habe ihr eine wichtige Mitteilung zu machen.« »Sie müssen ein andermal anrufen. Die Kraike ist mit den Vorbereitungen für die Investitur beschäftigt.« »Was für eine Investitur?« »Die des neuen Kaiark.« »Und wer wird das sein?« »Der jetzige Kang Destian, der in der Erbfolge der nächste ist.« »Wann soll diese Investitur stattfinden?« »In einer Woche, wenn der augenblickliche Kaiark offiziell für verschollen erklärt wird.« Lorcas lachte. »Dann informieren Sie die Kraike bitte, daß die Investitur abgesagt werden kann, weil Kaiark Efraim demnächst nach Scharrode zurückkehrt.«
Der Bedienstete starrte erschrocken vom Bildschirm. »Für eine solche Nachricht kann ich nicht die Verantwortung übernehmen.« Efraim trat vor. »Erkennen Sie mich?« »Oh – Mächtigkeit*, gewiß, natürlich!« »Dann geben Sie die Nachricht weiter, wie Sie Ihnen der Edle Matho Lorcas aufgetragen hat.« »Sofort, Mächtigkeit!« Der Lakai verbeugte sich steif und verschwand im Lichtblitz des erlöschenden Bildschirms. Die beiden Männer kehrten zu dem Luftauto zurück und kletterten an Bord. Ohne weiteres Zeremoniell verriegelte der Pilot die Luke, brachte die Maschine auf Touren und ließ das altersschwache Flugboot, das in allen Fugen ächzte und klapperte, nach Osten hin aufsteigen. Während sich der Pilot, der sich als Tiber Flaussig vorstellte, über die Schulter mit seinen Passagieren unterhielt und sowohl Höhenmesser als auch das Terrain unten seelenruhig ignorierte, fegte das Flugboot mit knappen hundert Metern Abstand über die Felsschroffen der Ersten Stufe hinweg. So, als wäre ihm dieser Einfall erst jetzt nachträglich gekommen, zog der Pilot nun doch etwas hoch, obwohl das Land hinter der Stufe wieder gut dreihundert Meter zu einer Hochebene hin abfiel. Hunderte verstreute Seen spiegelten Himmel und Wolken wider; da und dort standen kleine Gehölze aus ScaurBüschen und Hängeweiden, und vereinzelt wuchsen *
Der Ausdruck Tsernifer, der hier mit ›Mächtigkeit‹ wiedergegeben wird, bezieht sich eigentlich auf die Aura psychischer Überlegenheit welche die Person eines Kaiark umgibt. Das Wort wäre genauer mit unwiderstehliche Kraft, elementare Weisheit, Macht der Persönlichkeit zu übersetzen. Die Anrede ›Mächtigkeit‹ ist eine verballhornte Kurzform.
auch die knorrigen Katafalk-Bäume. Dreißig Meilen weiter östlich ragten die nackten Felsen der Zweiten Stufe bis über die Wolken. Flaussig verbreitete sich über bestimmte, in der Hochebene zutage tretende Gesteinsschichten, die, wie er sagte, reiche Fundstellen von Turmalin, Peridot, Topas, Spinell und ähnlichen wertvollen Mineralien seien, aber durch den Aberglauben der Fwai-Chi vor jeder menschlichen Ausbeutung geschützt würden. »Sie behaupten, das sei einer ihrer heiligen Orte, und im Vertrag wird darauf Rücksicht genommen. Die Edelsteine bedeuten ihnen nicht mehr als Kiesel – aber die Fwai-Chi können einen Menschen aus fünfzig Meter Entfernung riechen und ihm den Fluch der tausend Juckreize, der brennenden Blase oder der fleckigen Haut auferlegen. Deshalb wird die Gegend tunlichst gemieden.« Efraim zeigte nach vorne auf die drohende Felswand. »In weniger als einer Minute werden wir alle zerschmettert sein, wenn Sie nicht ganz schnell mindestens siebenhundert Meter höhergehen.« »Ah ja«, sagte Flaussig. »Die nächste Stufe kommt näher; wir wollen ihr die gebührende Achtung erweisen.« Das Flugboot stieg magenerschütternd steil hoch, und aus dem Motorenraum ertönte ein stotterndes Jaulen, das Efraim dazu veranlaßte, sich besorgt umzudrehen. »Fällt dieses Vehikel nun doch auseinander?« Flaussig horchte betroffen. »Ein ungewöhnliches Geräusch, das muß ich zugeben. Aber wenn Sie so alt wie diese Kiste wären, würden Ihre Eingeweide auch seltsame Geräusche produzieren. Man muß Nachsicht mit dem Alter haben.« Als das Luftauto schließlich wieder in mehr oder
weniger horizontalen Flug überging, verstummte das beängstigende Geräusch. Lorcas zeigte auf die Dritte Stufe, die noch fünfzig Meilen voraus lag. »Es wäre besser, jetzt schon langsam mit dem Höhergehen zu beginnen. Die Maschine wird Ihnen für eine rücksichtsvollere Behandlung dankbar sein.« Flaussig gab dem Ersuchen statt und ließ das Flugboot in flachem Winkel höhersteigen, um über die gewaltige Wand der Dritten Stufe hinwegzukommen. Schroffe Kämme, Türme, Felsstürme, Abgründe, dazwischen vereinzelt ein schmales, bewaldetes Tal, zogen unten vorüber. Flaussig wies mit einer umfassenden Handbewegung auf die unwirtliche, wilde Landschaft. »In diesem Felsenlabyrinth, so weit wir sehen können, leben vielleicht zwanzig Flüchtige: Räuber, verurteilte Verbrecher und ähnliches Gesindel. Man darf in Port Mar nichts anstellen, sonst kann es einem passieren, daß man auch hier landet.« Weder Lorcas noch Efraim hatten dazu etwas zu bemerken. Ein schluchtähnlicher Einschnitt wurde sichtbar; das Flugboot sauste zwischen den Felswänden hindurch, und heftige Windböen versuchten es rechts oder links an die nahen Felsen zu schmettern. Endlich hatte das Luftauto die Luft passiert und flog über ein Hochland mit Bergen, Felszacken und weitläufigeren Flußtälern hinaus. Flaussig wedelte wieder mit der Hand. »Die Reiche! Die grandiosen Bergreiche! Unter uns ist jetzt Waierd, behütet von den Schweigenden Kriegern... Und jetzt fliegen wir über das Reich Sherras. Das Schloß im See ist berühmt für seine...« »Wie weit noch nach Scharrode?« »Es liegt dort hinter jenem Bergkamm, abgeschlos-
sen von der Außenwelt wie alle menschlichen Siedlungen hier. Wieso interessieren Sie sich eigentlich für einen so abgelegenen Ort?« »Aus Neugier vielleicht.« »Die werden Sie kaum befriedigen können; die Leute sind verschlossen wie alle Rhunen. Unter uns, hinter jenen riesigen Bäumen, liegt die Stadt Tangwill – zwei- oder dreitausend Menschen leben dort, nicht mehr. Es heißt, daß der Kaiark Tangissel ganz verrückt nach Frauen ist und etliche in dunklen Verliesen gefangenhält, wo sie nicht wissen, ob Mirk ist oder nicht, so daß er sie jederzeit besuchen kann – außer während Mirk natürlich, wenn er seine Streifzüge anderweitig unternimmt.« »Unsinn«, knurrte Efraim, aber der Pilot zeigte sich nicht im geringsten eingeschüchtert. »Dieser mächtige Turm links heißt Ferkus...« »Hoch, Mann, hoch!« schrie Lorcas. »Sie fliegen uns ja gegen die Felsen!« Mit einer gereizten Bewegung zog Flaussig das Flugboot höher, um dem Felszacken auszuweichen, vor dem Lorcas gewarnt hatte, und flog eine Weile in verdrossenem Schweigen. Die Gegend unter ihnen war ein Irrgarten von schroffen Höhen und Gebirgstälern, und Flaussig, leger auf jeglichen Sicherheitsabstand verzichtend, kurvte zwischen Felstürmen durch, fegte knapp über Gletscher und Schotterhalden weg und durch Schluchten hindurch, um seine gleichgültige Verachtung für Terrain und ängstliche Passagiere kundzutun. Lorcas prostestierte des öfteren, aber Flaussig achtete nicht darauf. Schließlich ging er über einem unregelmäßigen Tal tiefer, das zwischen zwei und drei Meilen breit und etwa fünf-
zehn Meilen lang war. Den Abschluß im Osten bildete eine Felsstufe mit einem gut achthundert Meter hohen Wasserfall, der in einen See stürzte, an dem die kleine Stadt Esch lag. Vom See ausgehend wand sich ein ruhiges Flüßchen durch die Wiesen unterhalb der Burg Benbuphar Strang, fädelte etliche kleinere Seen auf und verließ das Tal am westlichen Ende durch eine enge Schlucht. In der Umgebung von Esch war das Tal kultiviert; dichte Brombeerhecken umschlossen die Felder, wie um sie vor jedem Blick zu verbergen. Auf ähnlich eingezäunten Wiesen weidete Vieh, während die Hänge auf beiden Seiten des Tals mit Obstbäumen bepflanzt waren. Abseits des genutzten Landes wechselten sich Wiesen mit Wäldern aus Banicebäumen, weißen Eichen, Schracken oder Interstellareiben ab; in der klaren Luft leuchtete das Blattwerk – dunkelgrün, zinnober, ocker, blaßgrün – wie ein buntes Gemälde auf schwarzem Samt. Efraim lächelte, als der Anblick ein kurzes, heftiges Gefühl in ihm aufwallen ließ, das sich gleich wieder verflüchtigte. Eine Ausstrahlung seines blockierten Gedächtnisses? In letzter Zeit hatten sich solche Regungen immer häufiger bemerkbar gemacht. Er blickte zu Lorcas hinüber, der ebenfalls staunend die Landschaft betrachtete. »Ich habe gehört, daß die Rhunen jeden Stein ihres Landes schätzen«, sagte Lorcas. »Jetzt weiß ich, warum. Die Reiche sind kleine Paradiese.« Flaussig, der mittlerweile das spärliche Gepäck ausgeladen hatte, stand jetzt erwartungsvoll da. Lorcas erklärte langsam und nachdrücklich: »Wir haben den Flugpreis bereits in Port Mar bezahlt. Die Verleihfirma wollte offensichtlich nicht um ihr Geld kommen, egal, was nachher passiert.«
Flaussig lächelte höflich. »Unter den gegebenen Umständen ist eine kleine Bonifikation üblich.« »Eine Bonifikation?« rief Efraim empört. »Sie können froh sein, wenn wir Sie nicht wegen verbrecherischen Leichtsinns belangen!« »Im übrigen«, sagte Lorcas, »werden Sie hierbleiben, bis Seine Mächtigkeit der Kaiark Sie entläßt. Sonst wird er seinen Geheimagenten in Port Mar verständigen und Ihnen jeden Knochen im Leib brechen lassen.« Flaussig verbeugte sich mit gekränkter Würde. »Wie Sie wünschen. Der Ruf unserer Firma gründet sich auf Zufriedenstellung ihrer Kunden. Hätte ich gewußt, daß ich hohe Herrschaften von Scharrode transportiere, hätte ich gewiß mehr Bedacht auf den Rang meiner Passagiere genommen, da Korrektheit in jeder Hinsicht ebenfalls zu den Prinzipien unserer Firma gehört.« Lorcas und Efraim hatten sich schon nach Benbuphar Strang gewandt, einer Burg aus schwarzem Stein, braunen Ziegeln, Holz und Stuck, gebaut in jenem für die Rhunen typischen, die Vertikale betonenden Stil. Die Säle und Hallen des Erdgeschoßes hatten zehn Meter hohe Wände mit schmalen, hohen Fenstern. Der obere Teil des Schlosses bestand aus einem Wirrwarr von Türmen, Türmchen, Balustradegängen, Erkern, Balkonen und Söllern. Dies war mein Heim, dachte Efraim, dies war der Boden, über den er tausende Male gegangen war. Er blickte das Tal entlang nach Westen, über Wiesen und Teiche und Wälder bis zu den purpurgrauen Schatten der fernsten Felswände: zehntausendfach hatte er diesen Anblick vor Augen gehabt... Und doch
erinnerte er sich an nichts. Seine Ankunft war in der Stadt bemerkt worden. Einige Dutzend Männer in schwarzen Jacken und ledernen Kniehosen kamen herangeeilt, gefolgt von etwa halb so vielen Frauen in grauen Schleierroben. Die Männer bezeigten im Näherkommen durch komplizierte Gebärden ihre Ehrfurcht und blieben in einer streng durch das Protokoll vorgeschriebenen Entfernung stehen. »Wie sind während meiner Abwesenheit die Dinge verlaufen?« erkundigte sich Efraim. Der älteste der Männer antwortete: »Tragisch, Mächtigkeit. Unser Kaiark Jochaim wurde von einem Gorgetenbolzen durchbohrt. Sonst ging es nicht schlecht, aber auch nicht gut. Es gab viel Zweifel und Unsicherheit. Eine Kriegerschar von Torre fiel in unser Land ein. Der Kang Destian ließ einen Kampftrupp ausrücken, aber es gab wenig Rangübereinstimmungen*, so daß es zu *
Die Kriegführung der Rhunen unterliegt strengen Konventionen. Es wird zwischen mehreren Arten des kämpferischen Aufeinandertreffens unterschieden. Im förmlichen Zweikampf dürfen nur zwei Personen gleichen Ranges gegeneinander antreten. Wenn ein Ranghöherer einen Rangniederen angreift, so darf der Rangniedere sich verteidigen, zurückziehen oder zur Gegenwehr schreiten. Wenn eine Person niederen Ranges eine ranghöhere angreift, so ist das ein kaum entschuldbarer Verstoß gegen die Etikette. Als Waffen werden Schwerter – nur im Stoß eingesetzt – und Lanzen verwendet. Manchmal kommen die Angreifer auch maskiert; sie werden dann als ›Mirkmänner‹ bezeichnet und wie Banditen behandelt. Gegen Mirkmänner dürfen offiziell alle Waffen eingesetzt werden, auch die sogenannten Bolzenlader, die einen kurzen Pfeil oder Bolzen mittels einer Sprengkapsel abschießen. Hin und wieder kommt es auch zu richtigen Schlachten, wenn die gesamten Streitkräfte eines Reichs gegen ein anderes aufgeboten werden. Krieger, die im Gebrauch der Himmelssegel geübt sind, genießen besondere Achtung. Die Regeln des Luftkampfes sind noch komplizierter als jene, die für den Bodenkampf gelten.
keinem besonderen Gefecht kam. Unser Blut siedet aus Durst nach Rache an Gosso von Gorgetto. Der Kang Destian zögert mit Vergeltungsmaßnahmen; wann wird er unsere Streitkräfte ausschicken? Bedenkt, vom Kamm des Haujefolge beherrschen unsere Segel seine Burg. Wir könnten in sein Land einfallen und, während Gosso sich schwitzend verteidigt, Gorgance Strang aus der Luft nehmen.« »Alles der Reihe nach«, sagte Efraim. »Zuerst will ich nach Benbuphar Strang, um festzustellen, was etwa an Unregelmäßigkeiten vorgefallen sein mag. Ist Ihnen in dieser Hinsicht etwas zu Ohren gekommen, oder haben Sie Vermutungen?« Der ehrwürdige Alte gab seiner Verlegenheit durch eine rituelle Gebärde Ausdruck. »Ich würde nie Vermutungen über etwaige Unregelmäßigkeiten auf Benbuphar anstellen, geschweige denn darüber sprechen.« »Bitte tun Sie das jetzt«, sagte Efraim. »Sie erweisen Ihrem Kaiark damit einen Gefallen.« »Wie Ihr wünscht, Mächtigkeit, aber bedenkt, wir in der Stadt erfahren wenig, was droben vorgeht. Es fallen allerdings hin und wieder unfreundliche Bemerkungen über die beabsichtigte Trisme der Kraike Singhalissa und Kaiark Rianlle von Eccord.« »Wie?« rief Efraim. »Und was soll mit der Kraike Dervas geschehen?« »Sie soll verstoßen werden, heißt es. Das ist Singhalissas Preis für den Dwan Jar, auf dem Rianlle sich einen Pavillion bauen möchte. Das zumindest ist allgemein bekannt. Man erfährt auch von einer beabsichtigten Trisme zwischen Kang Destian und der Lissolet Maerio. Wenn diese Trismes tatsächlich ge-
schlossen werden, was dann? Wird dann nicht Rianlle im Rat von Scharrode allzuviel Einfluß haben? Da Ihr aber jetzt wieder hier seid, und rechtmäßiger Kaiark, ist diese Sorge grundlos.« »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit«, sagte Efraim. »Was hat sich sonst während meiner Abwesenheit abgespielt?« »Nichts von Bedeutung, obwohl sich meiner Meinung nach im Reich eine allzu lasche Einstellung verbreitet hat. Verrückte und Schurken streifen bei Mirk umher, anstatt zu Hause zu bleiben und ihr Heim zu schützen; wenn es dann wieder hell wird, scheuen wir uns davor, die Tür aufzusperren, aus Angst, eine Leiche auf der Schwelle zu finden. Aber auch das wird sich gewiß bessern, da Ihr nun wieder bei uns seid.« Der Alte verbeugte sich ehrfürchtig und zog sich zurück. Efraim und Lorcas entließen erst den beleidigten Flaussig und schickten ihn nach Port Mar zurück, dann gingen sie quer über den Hauptplatz zum Schloß. Als sie sich dem Tor näherten, erschienen zwei Herolde auf den beiden Wachttürmen rechts und links, hoben gewundene Bronzehörner und bliesen eine theatralische Fanfarenfolge. Die Torflügel schwangen auf, eine Ehrengarde von Wächtern nahm Haltung an, und vier weitere Herolde kamen herausmarschiert, wilde, irgendwie kontrapunktische Tonfolgen auf ihren Hörnern schmetternd. Efraim und Lorcas traten durch den gewölbten Torgang in den Burghof. Die Kraike Singhalissa erwartete sie, auf einem hochlehnigen Thronsessel sitzend. Neben ihr stand der Kang Destian mit finster
zusammengezogenen Brauen. Die Kraike erhob sich – sie war fast so groß wie Destian, eine Frau von ausgeprägtem Charakter mit etwas eckigen Zügen und blitzenden Augen. Ein grauer Turban hielt ihr dunkles Haar zusammen. Das graue Schleiergewand paßte in seiner trüben Schlichtheit gar nicht zu ihr, bis man das zarte Spiel des Lichts auf dem kostbaren Stoff gewahrte, den Schatten eines schlanken nur halb verhüllten Körpers. Singhalissa sagte mit sanfter, hoher Stimme: »Ihr seht, wir bereiten Euch einen gebührenden Empfang, obwohl Ihr zu einem sehr ungelegenen Zeitpunkt zurückgekehrt seid – warum sollten wir das leugnen? In weniger als einer Woche wäre die Frist für Eure legitime Nachfolge verstrichen, wie Ihr sicher erfahren habt. Es ist wenig rücksichtsvoll, daß Ihr uns nicht im mindesten von Euren Plänen unterrichtet habt. So mußten wir natürlich Vorkehrungen treffen, um eine ununterbrochene Nachfolge zu gewährleisten.« »Eure Vorwürfe sind berechtigt«, erwiderte Efraim. »Ich kann nur dagegen einwenden, daß sie auf falschen Annahmen basieren. Ich versichere Euch, daß ich mit weit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als Ihr. Trotzdem bedauere ich, daß Ihr Unannehmlichkeiten ausgesetzt wart, und habe vollstes Verständnis für Destians Enttäuschung.« »Zweifellos«, sagte Destian. »Dürfen wir den Grund Eurer langen Abwesenheit erfahren?« »Gewiß; Ihr habt das Recht auf eine Erklärung. Ich wurde in Port Mar mit einer Droge betäubt, in ein Raumschiff gebracht und auf eine ferne Welt verschleppt. Ich hatte viele Schwierigkeiten zu überwinden, so daß es mir erst gestern gelang, nach Port Mar
zurückzukehren. Sobald es mir möglich war, mietete ich einen Luftwagen und ließ mich nach Scharrode bringen.« Destians Mundwinkel zogen sich verdrossen herab. Er zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Sehr sonderbar«, sagte Singhalissa. Ihre hohe, klare Stimme ließ keinerlei Emotion erkennen. »Wer hat diese schändliche Tat verübt?« »Darüber werden wir zu einem späteren Zeitpunkt noch zu sprechen haben.« »Wie Ihr meint.« Sie nickte zu Lorcas hinüber. »Und wer ist dieser Herr?« »Ich möchte Euch meinen Freund, den Edlen Matho Lorcas vorstellen. Er war mir eine unschätzbare Hilfe und wird unser Gast sein. Ich glaube, daß er und der Kang Destian in Port Mar schon flüchtige Bekanntschaft geschlossen haben.« Destian musterte Lorcas drei Sekunden lang von oben bis unten, dann knurrte er etwas in sich hinein und wandte sich ab. Lorcas sagte höflich: »Ich entsinne mich noch genau; es ist mir eine Freude, die Bekanntschaft zu erneuern.« Am Ende des Säulengangs, der den Hof umgab, war im Schatten einer der hohen Torbögen die Gestalt einer jungen Frau aufgetaucht. Efraim sah, daß es die Lissolet Sthelany sein mußte, eine schlanke Gestalt, umgeben von der durchscheinenden Wolke ihres grauen Schleiergewands. Ihre Augen glichen denen der Kraike, dunkel und glänzend, aber ihre Züge waren eher versonnen als energisch, feiner und denen von Singhalissa oder Destian nur entfernt ähnlich. Auch ihre gleichgültige, unbeteiligte Miene unterschied sie von den beiden ande-
ren. Sie begrüßte Efraim und Lorcas so desinteressiert, als wären sie beide Fremde. Lorcas hatte sich in Port Mar für Sthelany begeistert, und seine Faszination hatte sich, wie Efraim feststellte, kaum vermindert – eine augenfällige Tatsache, der jedoch keiner der anderen die geringste Beachtung schenkte. Singhalissa gewahrte Sthelany und sagte über die Schulter: »Wie du siehst, meine Liebe, weilt der Kaiark Efraim wieder unter uns. Es sind ihm empörende Dinge widerfahren; irgendeine unbekannte Person hat ihm übel mitgespielt.« »Tatsächlich!« sagte Sthelany mit sanfter Stimme. »Das tut mir leid – aber man kann andererseits nicht erwarten, daß es ohne üble Folgen bleibt, wenn man in den Gassen und Hinterhöfen von Port Mar umherstreift. Ich erinnere mich, daß er sich in ziemlich fragwürdiger Gesellschaft befand.« »Diese Geschehnisse sind für uns alle bedauerlich«, stellte Singhalissa fest. »Der Kaiark kann natürlich unseres Mitgefühls sicher sein. Er hat übrigens einen Gast mitgebracht, den Edlen Matho Lorcas, wenn ich den Namen richtig verstanden habe: seinen Freund aus Port Mar.« Die Lissolet nahm die Vorstellung mit einem kaum merklichen Nicken zur Kenntnis. Ihre Stimme war ebenso klar und sanft wie die Singhalissas, als sie sich an Efraim wandte: »Wer hat diese elenden Taten verübt?« Singhalissa antwortete an Efraims Stelle. »Der Kaiark zieht es vor, jetzt noch nicht darüber zu sprechen.« »Aber wir müssen es doch wissen! Eine so unwürdige Behandlung beleidigt uns alle!«
»Das ist gewiß richtig.« Efraim war dem Wortwechsel mit einem säuerlichen Lächeln gefolgt. »Ich kann Euch auf jeden Fall nur sehr wenig sagen. Ich bin ebenso ahnungslos wie Ihr – vielleicht noch mehr.« »Noch mehr? Ich weiß nichts über die Angelegenheit.« Die Kraike sagte abrupt: »Der Kaiark und sein Freund haben eine anstrengende Reise hinter sich und werden sich erfrischen wollen.« Sie wandte sich an Efraim. »Ich nehme an, daß Ihr jetzt die Ehrenräume beziehen werdet?« »Das scheint mir das Angemessenste.« Singhalissa wandte sich um und winkte einem grauhaarigen, breitschultrigen Mann, der über der schwarz-purpurnen Livree von Benbuphar einen schwarzen, silberbestickten Umhang und auf dem Kopf einen schwarzsamtenen Dreispitz trug. »Agnois, bringen Sie eine Auswahl der wichtigsten Dinge des Kaiark aus dem Nordturm herunter.« »Sofort, Euer Würdigkeit.« Der Oberkämmerer Agnois entfernte sich eilig. Die Kraike Singhalissa führte Efraim eine dämmrige Vorhalle entlang, an deren Wänden die Porträts aller bisherigen Kaiarks zu sehen waren Gesichter von brennender Intensität, beschwörend erhobene Hände, als wollte jeder dieser längst Dahingegangenen der Nachwelt noch etwas mitteilen. Am anderen Ende der Halle kamen sie an eine hohe, eisenbeschlagene Flügeltür; beide Flügel trugen in der Mitte ein schmiedeeisernes, schwarzes Gorgo-
nenhaupt, eine Zier, die vielleicht der Kogenz* eines früheren Kaiarken zu verdanken war. Singhalissa blieb vor der Tür stehen, und Efraim trat vor, um sie aufzustoßen, aber er konnte nicht feststellen, wie der Riegelmechanismus betätigt wurde. Singhalissa sagte trocken: »Erlaubt«, und drückte auf einen eisernen Buckel. Die Tür schwang auf. Sie kamen in einen langgestreckten Vorraum, eine Art Trophäenkammer. Vitrinen säumten die Wände, in denen die verschiedensten Kuriositäten, Sammlungen und Artefakte ausgestellt waren: Gegenstände aus Stein, Holz, gebranntem Ton, Glas; Insekten, eingegossen in durchsichtige Würfel; Zeichnungen, Gemälde, kalligraphische Broschüren. Ein langer Tisch stand in der Mitte des Raums; zwei Lampen mit grünen Glasschirmen brannten darauf. Oberhalb der Vitrinen und Bücherborde hingen weitere Porträts von Kaiarken und Kraiken, die auf die hindurchgehenden Menschen herabstarrten. Vom Trophäenraum gelangte man in ein weites, hohes Zimmer, das zur Gänze vertäfelt war, mit vor Alter fast schwarzem Holz. Braun, blau und schwarz gemusterte Teppiche bedeckten den Boden; schmale, hohe Fenster gaben den Blick über das Tal frei. Die Kraike wies auf die Schränke und Borde an der Wand. »Das sind Destians Sachen. Er hat natürlich angenommen, daß er diese Räume bewohnen würde; es ist verständlich, daß er über diese Wendung der Dinge nicht erfreut ist.« Sie trat zur Wand und drückte auf einen Knopf; unmittelbar darauf erschien *
Das Wort Kogenz ist ein umfassender Ausdruck für die vielseitige Virtuosität und fanatische Gelehrsamkeit der Rhunen.
der Oberkämmerer Agnois. »Ja, Euer Würdigkeit?« »Entfernen Sie die Besitztümer von Kang Destian.« »Sofort, Würdigkeit.« Er verließ den Raum. »Wie, wenn ich fragen darf, ist der Kaiark zu Tode gekommen?« Die Kraike warf Efraim einen prüfenden Blick zu. »Ihr habt nichts davon gehört?« »Nur, daß er von Gorgeten getötet wurde.« »Wir wissen auch nicht viel mehr. Sie kamen als Mirkmänner, und einer von ihnen schoß Jochaim einen Bolzen in den Rücken. Destian hatte geplant, unmittelbar nach seiner Investitur einen Rachefeldzug zu unternehmen.« »Destian kann einen Feldzug anordnen, wann es ihm beliebt. Ich werde ihm nichts in den Weg stellen.« »Ihr wollt nicht daran teilnehmen?« Die klare Stimme der Kraike hatte einen etwas kühlen Ton angenommen. »Es wäre unvernünftig, solange ich noch gewisse Dinge aufzuklären habe. Wer weiß, ob ich nicht auch durch einen Gorgetenbolzen sterben würde?« »Ihr müßt tun, was Euch Eure Weisheit befiehlt. Ihr findet uns in der Halle, wenn Ihr ausgeruht seid. Mit Eurer Erlaubnis lasse ich Euch jetzt allein.« Efraim nickte höflich. »Ich danke Euch für Eure Fürsorge.« Die Kraike entfernte sich. Efraim war allein in der uralten, getäfelten Bibliothek. Ein Geruch von ledernen Bucheinbänden, gewachstem Holz, alten Stoffen hing in der etwas dumpfen Luft, wie man sie in länger nicht benutzten Räumen antrifft. Efraim ging zu einem der hohen Fenster, die alle durch ein Eisengit-
ter geschützt waren, und blickte hinaus. Die Phase war zur Zeit Grünrowan; bleiches Licht lag wie ein Schleier über der Landschaft. Er wandte sich ab und begann zögernd die Räume des Kaiarken zu erforschen. Der Studierraum war mit schweren, viel benutzten und nicht unbequemen Möbelstücken ausgestattet, die allerdings etwas pompös wirkten. Die drei Meter hohen Regale an der einen Wand der Bibliothek enthielten Bücher über die verschiedensten Fachgebiete. Efraim fragte sich, was wohl Jochaims Lieblingsinteressen gewesen sein mochten. Und seine eigenen... In einem kleinen Schrank fand er verschiedene Flaschen mit alkoholischen Getränken, für den privaten Genuß des Kaiark gedacht. An einem Gestell rechts davon hing ein Dutzend Schwerter, anscheinend berühmte, kostbare Waffen. Ein drei Meter hoher und einen Meter breiter Durchgang führte in einen achteckigen Salon. Licht flutete durch eine Kuppel aus Glassegmenten hoch droben in den Raum. Ein grüner Teppich bedeckte den Boden. Mehrere Felder der Wandtäfelung waren bemalt mit Landschaftsansichten, die immer wieder Scharrode zeigten, gesehen von den verschiedensten hochgelegenen Aussichtspunkten: zweifellos das Werk eines längst dahingegangenen Kaiarken, der sich für Landschaftsmalerei begeistert hatte. Eine Wendeltreppe führte zu einem Balkon hinauf, von dem aus man auf einen offenen Wandelgang gelangte. Auf der anderen Seite des Salons lag ein kleiner Vorraum, an den das Ankleidezimmer des Kaiarken anschloß. Uniformen und Gesellschaftskleidung füllten die Schränke; Kommoden enthielten Hemden und
Unterwäsche; auf Regalen waren Dutzende von Stiefeln, Schuhen, Sandalen und Pantoffeln aufgereiht: alle sauber und auf Hochglanz poliert. Kaiark Jochaim war offensichtlich ein sehr ordnungsliebender Mann gewesen, aber mehr verrieten all die persönlichen Dinge und Kleidungsstücke nicht. Efraim fühlte sich etwas irritiert und verärgert: warum waren diese Sachen nicht schon längst entfernt worden? Eine hohe Tür führte weiter in die Schlafkammer des Kaiarken, ein ziemlich kleines, spärlich ausgestattetes Zimmer. Das Bett war kaum mehr als eine Pritsche mit dünner, harter Matratze. Efraim nahm sich vor, das zu ändern; er fand augenblicklich wenig Geschmack an asketischer Lebensweise. Ein kleiner Vorraum führte anschließend in ein Badezimmer und ein WC sowie in eine Kammer, die nichts als einen Tisch und einen Stuhl enthielt: das Refektorium des Kaiarken. Während sich Efraim noch in dem Raum umsah, kam rumpelnd der Speiseaufzug aus der Küche im Kellergeschoß herauf und brachte eine Terrine mit Suppe, einen Laib Brot, einen Teller Lauch in Öl, etwas schwarzbraunen Käse und einen Krug Bier. Wie Efraim feststellen sollte, wurden die Speisen jede Stunde automatisch durch frische ersetzt, damit der Kaiark niemals in die peinliche Lage kam, nach Essen schicken zu müssen. Efraim merkte, daß er hungrig war, und ließ sich die Mahlzeit gut schmecken. Als er wieder in den Vorraum hinaustrat, bemerkte er, daß von einem dunklen Winkel eine schmale Wendeltreppe nach oben führte. Ein Geräusch aus der Richtung seines Schlafzimmers erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging nachsehen und stieß auf zwei Kammerdiener, die die
Garderobe des toten Kaiark wegräumten und eine wesentlich weniger umfangreiche in den Schränken unterbrachten: vermutlich die Kleider, die er in seinen ehemaligen Räumen zurückgelassen hatte. »Ich werde jetzt ein Bad nehmen«, sagte Efraim zu einem der Kammerdiener. »Legen Sie mir etwas Passendes zum Anziehen heraus.« »Augenblicklich, Mächtigkeit!« »Und schaffen Sie dieses Bett fort. Besorgen Sie mir ein größeres und bequemeres.« »Gewiß, Mächtigkeit!« Eine halbe Stunde später musterte sich Efraim im Spiegel des Ankleidezimmers. Er trug ein graues Jakkett über einem weißen Hemd, schwarze Kniehosen, schwarze Strümpfe und Schuhe aus schwarzem Samt: die angemessene Kleidung für formlose Anlässe innerhalb des Schlosses. Die Kleider hingen ziemlich lose an seinem Körper; er hatte seit der Episode in Port Mar abgenommen. Die Wendeltreppe an einem Ende des Vorraums mußte noch erforscht werden. Er stieg hinauf und erreichte vielleicht sieben Meter höher einen Absatz. Eine schmale Tür führte hinaus in eine Halle. Er trat hindurch und schloß die Tür, die von außen nicht zu erkennen war – scheinbar ein Teil der Täfelung. Als er noch die Tür untersuchte und sich Gedanken über den Zweck eines solchen Geheimausgangs machte, trat die Lissolet Sthelany aus einem Raum am anderen Ende der Halle. Als sie Efraim bemerkte, zögerte sie, kam aber dann langsam, mit abgewendetem Gesicht näher. Das zartgrüne Licht von Cirse, das durch das Fenster am Ende der Halle fiel, machte ihre Gestalt zu einer zauberhaften Sil-
houette. Efraim fragte sich, wie er jemals die Schleierroben für eintönig und langweilig hatte halten können. Er beobachtete sie, wie sie näher kam, und glaubte zu bemerken, daß ihre Wangen sich leicht röteten. Schüchternheit? Ärger? Erregung? Ihre Miene verriet nichts von ihren Gefühlen. Efraim blieb stehen, wo er war, und sah ihr entgegen. Sie wollte anscheinend an ihm vorübergehen, ohne seine Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Er beugte sich vor, um sie anzuhalten, ihr vielleicht sogar einen Arm um die Taille zu legen. Sie blieb jedoch abrupt stehen, als spürte sie seine Absicht, und warf ihm einen entsetzten Blick zu. Kein Zweifel, daß sie schön war, dachte Efraim; sie war bezaubernd, ganz besonders vielleicht für die eigenen Schönheitsbegriffe der Rhunen. Tonlos sagte sie: »Warum taucht Ihr so unvermutet aus dem Mirk-Loch auf? Wolltet Ihr mich erschrekken?« »Mirk-Loch?« Efraim blickte sich automatisch nach dem Geheimgang um. »Ach so. Ich hatte nicht bedacht...« Er brach ab, als er ihren verwunderten Blick bemerkte. »Tut mir leid. Aber kommt doch bitte mit ins Ehrengemach. Ich würde gerne mit Euch sprechen.« Er hielt ihr die Tür auf, aber Sthelany wich entrüstet zurück. »Durch den Mirk-Gang?« Sie blickte von Efraim zu dem Geheimgang und lachte nervös. »So wenig Rücksicht nehmt Ihr auf meine Würde?« »Aber natürlich nicht«, erklärte Efraim hastig. »Ich bin in letzter Zeit schrecklich zerstreut. Gehen wir den normalen Weg.« »Wenn es Euch beliebt, Mächtigkeit.« Sie wartete.
Efraim, der sich nicht im geringsten an die Anordnung der Räume im Schloß erinnerte, überlegte kurz und ging dann in die Richtung los, die ihn am wahrscheinlichsten in die Räume des Kaiarken zurückzuführen schien. Sthelanys kühle Stimme brachte ihn zum Stehen. »Hat Eure Glorreiche Weisheit die Absicht, zuerst die Gobelinsammlung zu inspizieren?« Efraim machte kehrt, ging wortlos an der Lissolet vorbei und stieß am anderen Ende der Halle auf einen kurzen, rechtwinklig dazu verlaufenden Korridor. Von hier führte eine breite Steintreppe, flankiert von einer massiven Balustrade und alten, schmiedeeisernen Wandleuchten hinunter ins Erdgeschoß. Efraim glaubte sich nun auszukennen und stieg hinunter, gefolgt von der schweigenden Lissolet. Nach sekundenlangem Zögern bog er in den Gang ein, der zu den Räumen des Kaiarken führte. Diesmal öffnete er die hohe Flügeltür mit den Gorgonenhäuptern ohne Schwierigkeiten und ließ Sthelany in den Trophäenraum eintreten. Dann schloß er die Tür und zog ihr einen der Stühle vom Tisch heran. Sie bedachte ihn wieder mit einem ihrer sardonisch-erstaunten Blicke und erkundigte sich: »Wozu tut Ihr das?« »Damit Ihr Euch setzen könnt und wir bequem und in Ruhe miteinander sprechen können.« »Aber ich darf mich nicht in Eurer Gegenwart setzen, unter den Augen Eurer Vorfahren!« Ihr Ton war ruhig und sanft. »Wollt Ihr, daß mich ein Geisterfluch trifft?« »Natürlich nicht. Gehen wir in den Salon, wo Euch keine Porträts stören werden.«
»Auch das ist höchst unkonventionell.« Efraim verlor die Geduld. »Wenn Ihr nicht mit mir reden wollt, dann habt Ihr meine Erlaubnis, Euch zu entfernen!« Sthelany lehnte sich graziös gegen den Tisch. »Wenn Ihr mir zu sprechen befehlt, muß ich wohl gehorchen.« »Selbstverständlich werde ich keinen derartigen Befehl erteilen!« »Worüber wollt Ihr mit mir sprechen?« »Nun, ich weiß nicht recht. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin ziemlich durcheinander. Ich habe viele seltsame Dinge erlebt, Tausende neue Gesichter gesehen, den Palast des Connat auf Numenes besucht... Jetzt, da ich wieder daheim bin, kommen mir die Bräuche von Scharrode ganz fremd vor.« Sthelany überlegte. »Ihr scheint tatsächlich ein anderer Mensch zu sein. Der alte Efraim war peinlich korrekt.« »Ich frage mich...«, murmelte Efraim. Er blickte auf und sah, daß Sthelany ihn scharf beobachtete. »Ihr bemerkt also eine Veränderung an mir?« »Natürlich. Wenn Ihr mir nicht so gut bekannt wärt, würde ich gar nicht glauben, daß Ihr derselbe seid – überhaupt angesichts Eurer seltsamen Zerstreutheit.« Nach kurzem Zögern sagte Efraim: »Ich muß zugeben, daß ich ziemlich verwirrt bin. Bedenkt, ich habe erst gestern erfahren, daß ich Kaiark bin. Und hier, in meinem Heim, stoße ich auf eine Atmosphäre der Ablehnung, die wenig erfreulich ist.« Sthelany zeigte sich überrascht über Efraims Beschwerde. »Was habt Ihr erwartet? Singhalissa kann
sich nicht mehr Kraike nennen; sie hat keinerlei rechtliche Stellung mehr hier auf Benbuphar Strang. Ich und Destian ebensowenig – wir müssen uns alle mit dem Gedanken vertraut machen, in das schäbige, alte Disbague zu übersiedeln. Wir leben nur noch mit Eurer Duldung hier. Diese Wendung der Dinge ist für uns wenig erfreulich.« »Aber ich will doch gar nicht, daß Ihr auszieht – es sei denn, Ihr wünscht es selbst.« Sthelany zuckte gleichgültig die Achseln. »Ich ziehe Scharrode natürlich Disbague bei weitem vor.« »Ich verstehe. – Aber sagt mir doch bitte, was wißt Ihr noch von den Ereignissen in Port Mar während der letzten Stunden vor meinem Verschwinden?« Sthelany verzog das Gesicht. »Sie waren weder erbaulich noch unterhaltsam. Wie Ihr Euch erinnern werdet, wohnten wir im Hotel, wo es recht standesgemäß und korrekt zuging. Ihr, Destian, Maerio und ich beschlossen, durch die Stadt zu einem Ort zu gehen, der Märchengarten genannt wurde, wo wir Marionetten sehen wollten. Alle warnten uns vor dem vulgären Treiben, in das wir geraten würden. Wir aber hielten uns für kühn und unanfechtbar und überquerten die Brücke – einige von uns mit wenig Begeisterung. Ihr fragtet einen jungen Mann, der für die Gegend typisch war, verkommen und genußsüchtig, nach dem Weg. Wenn ich mich nicht irre, war es derselbe Mann, der Euch hierher begleitet hat. Er brachte uns zum Märchengarten, aber die Marionetten waren schon fort. Euer Freund, Lorca oder Lortha oder wie immer er hieß, bestand darauf, eine Flasche Wein kommen zu lassen, damit wir in aller Öffentlichkeit schlürfen und gurgeln und unsere Ein-
geweide füllen könnten. Vergebt meine Sprache – ich kann nur berichten, was geschah. Euer Bekannter zeigte nicht das geringste Schamgefühl und machte sich über Dinge lustig, von denen er nichts verstand. Während Ihr Euch ziemlich angeregt, wenn ich mich erinnere, mit der Lissolet Maerio unterhieltet, erlaubte sich dieser Lorca Vertraulichkeiten mir gegenüber und machte mir doch tatsächlich verschiedene unverschämte Anträge. Destian und ich verließen hierauf den Märchengarten. Maerio dagegen blieb bei Euch; sie ist wirklich viel zu tolerant. Wir kehrten ins Hotel zurück, wo der Kaiark Rianlle uns in besorgter Entrüstung erwartete. Er schickte sofort Destian aus, Maerio ins Hotel zurückzubegleiten, was dieser auch tat. Ihr bliebt also mit Eurem Freund allein.« »Und kurze Zeit später«, sagte Efraim, »wurde ich betäubt und in den Weltraum verschleppt!« »Man sollte vielleicht Euren Freund fragen, was er von dieser Angelegenheit weiß.« »Ach was«, meinte Efraim schroff. »Warum sollte er mir einen solchen Streich spielen? Ich habe mir irgend jemanden zum Feind gemacht, aber Lorcas kann ich einfach nicht verdächtigen.« »Ihr habe eine Menge Feinde«, sagte Sthelany sanft. »Da sind zum Beispiel Gosso von Gorgetto und Sansevery von Torro, die Euch beide Blut schulden und mit Eurer Vergeltung rechnen müssen. Die Kraike Singhalissa und der Kang Destian erfahren durch Euer Wiederauftauchen schwere Nachteile. Die Lissolet Maerio hat Euer unbeherrschter Leichtsinn in Port Mar in eine peinliche Lage gebracht; weder sie noch der Kaiark Rianlle werden Euch so leicht vergeben. Was die Lissolet Sthelany betrifft« – sie brach ab und
warf Efraim einen schrägen Blick zu, den er bei jeder anderen Frau als Koketterie ausgelegt hätte – »nun, ich will meine Gedanken lieber für mich behalten. Aber ich frage mich, ob ich noch länger eine Trisme mit Euch in Betracht ziehen kann.« »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, murmelte Efraim. Sthelanys Augen funkelten. »Ihr benehmt Euch so unbeteiligt und geistesabwesend! Natürlich – Ihr habt die Abmachung als unwichtig abgetan oder gar vergessen.« Efraim hob hilflos die Hände. »Ich bin in letzter Zeit so zerstreut...« Ihre Stimme zitterte. »Ihr sucht mich zu verletzen; ich kann mir nicht vorstellen, aus welchen Gründen.« »Nein, nein! Es ist so vieles geschehen; ich bin wirklich durcheinander!« Sthelany musterte ihn mit hochgezogenen Brauen. »Erinnert Ihr Euch überhaupt an etwas?« Efraim erhob sich und wollte in den Studierraum gehen, aber dann fiel ihm ein, wie Sthelany auf das Angebot einer Erfrischung reagieren mußte; zögernd kehrte er zum Tisch zurück. Sthelany verfolgte jede seine Bewegungen. »Warum seid Ihr nach Scharrode zurückgekehrt?« Efraim lachte dumpf. »Wo sonst könnte ich Herrscher eines eigenen Reiches sein und die Ergebenheit einer Schönheit wie Euch besitzen?« Sthelany wich plötzlich zurück, drehte sich um und wollte den Trophäenraum verlassen. Ihr Gesicht war bleich, nur ihre Wangen zeigten verräterische Flekken. »Wartet!« Efraim trat vor, doch die Lissolet fuhr
mit offenem Mund zurück, erschrocken und hilflos. Efraim sagte verblüfft: »Wenn Ihr an Trisme dachtet, müßt Ihr doch eine gute Meinung von mir gehabt haben.« Sthelany gewann ihre Fassung zurück. »Das ist eine Folgerung, die nicht unbedingt zutrifft. – Und jetzt muß ich gehen.« Rasch verließ sie den Raum. Wie ein Geist huschte sie den Gang hinunter, quer durch die Große Halle, durch einen breiten, grünen Lichtbalken der Sonne Cirse, der sie nixenhaft verzauberte. Dann war sie verschwunden. Efraim rief den Oberkämmerer Agnois zu sich. »Bringen Sie mich in die Gemächer des Edlen Matho Lorcas.« Lorcas war im zweiten Stockwerk des Minot-Turmes einquartiert worden, in geradezu grotesk weitläufigen und pompösen Räumen. Die rohen Balken der Decke waren kaum zu erkennen, so ungemütlich hoch und düster war das Hauptgemach. Die mit Reliefplatten verkleideten Mauern – wohl auch Ergebnis der Bauleidenschaft eines früheren Bewohners von Scharrode – waren gut anderthalb Meter dick, wie an den Laibungen der vier schmalen, hohen Fenster zu sehen war, die auf die Berge im Norden hinausgingen. Lorcas stand mit dem Rücken zu einem offenen Kamin, der vier Meter breit und drei Meter hoch war und in dem ein im Verhältnis dazu lächerlich kleines Feuer brannte. Er begrüßte Efraim mit einem nicht eben frohen Grinsen. »Sie sehen, Platz habe ich wirklich genug, und Unterhaltung bieten diese Dokumente dort drüben überreich.« Er wies auf einen
schweren, zehn Meter langen und drei Meter hohen Schrank mit zahllosen vollgestopften Regalen. »Ich habe da Abhandlungen gefunden, Widerlegungen und Überarbeitungen derselben Abhandlung, Überarbeitungen der Widerlegungen und Widerlegungen der Überarbeitungen – alles säuberlich katalogisiert und inventarisiert in den roten und blauen Wälzern da drüben. Ich habe die Absicht, einige der weitschweifigen Überarbeitungen als Heizmaterial zu verwenden, wenn man mir nicht noch ein paar Scheiter Holz für mein Feuer vergönnt.« Die Kraike Singhalissa hoffte augenscheinlich, den frechen Bruder Leichtfuß aus Port Mar zu beeindrukken und in seine Schranken zu verweisen, überlegte Efraim. »Wenn es Ihnen hier ungemütlich ist, kann ich Sie leicht anderswo unterbringen lassen.« »Auf keinen Fall!« erklärte Lorcas. »Ich genieße diesen düsteren Pomp. Hier sammle ich Erinnerungen, von denen ich mein Leben lang zehren werde. Kommen Sie doch an mein armseliges Feuerchen. Ein bißchen wärmer ist es doch. – Was haben Sie in Erfahrung gebracht?« »Nichts von Bedeutung. Nur, daß meine Rückkehr niemandem Freude bereitet.« »Und wie steht's mit Ihren Erinnerungen?« »Ich bin wie ein Fremder hier.« Lorcas überlegte einen Augenblick lang. »Es wäre vielleicht nützlich, wenn Sie Ihre ehemaligen Wohnräume aufsuchen und sich Ihre Besitztümer ansehen.« Efraim schüttelte den Kopf. »Das mag ich nicht.« Er ließ sich in einen der schweren Sessel fallen, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Die Vorstel-
lung allein bedrückt mich.« Er blickte sich um, musterte die Wände. »Zweifellos hören zwei oder drei Paar Ohren unser Gespräch mit. Die Mauern sind voller Mirk-Gänge.« Er sprang auf. »Wir kommen am besten gleich zur Sache.« Sie kehrten in die Gemächer des Kaiarken zurück, aus denen mittlerweile Destians Besitztümer entfernt worden waren. Efraim läutete nach Agnois, der gleich darauf eintrat und sich steif verneigte. Die Verbeugung ließ – allerdings kaum wahrnehmbar – einen leisen Mangel an Achtung erkennen. Efraim lächelte. »Agnois, ich plane viele Veränderungen auf Benbuphar Strang, möglicherweise auch in bezug auf die Dienstboten. Sie können die Leute wissen lassen, daß ich das Verhalten eines jeden daraufhin überprüfe.« »Sehr wohl, Euer Mächtigkeit.« Agnois verbeugte sich wieder, doch diesmal mit beträchtlich mehr Eifer. »Da wir schon bei diesem Thema sind – warum haben Sie nicht dafür gesorgt, daß der Edle Lorcas ein anständiges Feuer bekommt? Das ist eine unglaubliche Verletzung der Gastlichkeit!« Agnois lief rot an; seine knollige Nase zuckte. »Man gab mir zu verstehen, Mächtigkeit – genauer gesagt –, ich muß in der Tat ein Versäumnis eingestehen. Ich werde sofort dafür sorgen, daß...« »Einen Augenblick; ich möchte noch etwas anderes mit Ihnen besprechen. Ich nehme an, daß Sie mit allen Angelegenheiten des Hauses verbaut sind.« »Nur, soweit es die Diskretion gestattet und meine Pflichten erfordern, Euer Mächtigkeit.« »Gut. Wie Sie wissen, wurde mir auf geheimnisvolle Weise ein übler Streich gespielt, und ich möchte der Sache auf den Grund gehen. Kann ich mich dabei
auf Ihre uneingeschränkte Unterstützung verlassen oder nicht?« Agnois zögerte nur einen Augenblick, dann seufzte er scheinbar gekränkt. »Ich stehe Euch zu Diensten wie immer, Mächtigkeit.« »Sehr schön. Ich frage Sie nun – hört im Augenblick jemand unser Gespräch mit an?« »Meines Wissens nicht, Mächtigkeit.« Widerstrebend setzte er hinzu: »Ich muß wohl zugeben, daß eine solche Möglichkeit besteht.« »Kaiark Jochaim besaß einen genauen Plan des Schlosses mit allen Räumlichkeiten und MirkGängen.« Das war eine Behauptung, die Efraim auf gut Glück wagte, weil er annahm, daß in seinem derart umfangreichen, sorgfältig geführten Archiv von Dokumenten auch ein detaillierter Plan der MirkAnlagen des Schlosses vorhanden sein mußte. »Bringen Sie mir diesen Plan hierher; ich möchte ihn mir genauer ansehen.« »Sehr wohl, Mächtigkeit, wenn Ihr mir einen Schlüssel zum Dokumentenschrank ausfolgen würdet.« »Natürlich. Wo ist Kaiark Jochaims Schlüssel?« Agnois blinzelte. »Vermutlich befindet er sich in Händen der Kraike.« »Wo könnte ich die Kraike zur Zeit finden?« »Sie erfrischt sich* in ihren Gemächern.« Efraim gestikulierte ungeduldig. »Dann führen Sie mich sofort hin. Ich habe ein Wörtchen mit ihr zu reden.« *
Der Dialekt der Rhunen strotzt vor taktvollen Umschreibungen. Der Ausdruck ›sich erfrischen‹ kann in verschiedenster Weise ausgelegt werden. In diesem Fall kann angenommen werden, daß die Kraike sich ein Schläfchen gönnt.
»Mächtigkeit, Ihr wünscht, daß ich vorangehe?« »Ja, tun Sie das.« Agnois verneigte sich, machte kehrt und führte Efraim in die Große Halle hinaus, die Treppe hoch und durch einen Gang in den Jaher-Turm, wo er vor einer hohen, mit Granaten besetzten Tür haltmachte. Auf Efraims Wink hin drückte er auf den Stein in der Mitte, worauf die Tür aufschwang. Agnois trat zur Seite, und Efraim marschierte in den Vorraum zu den Privatgemächern der Kraike. Eine Zofe tauchte auf und knickste graziös. »Euer Mächtigkeit befehlen?« »Ich wünsche sofort mit Ihrer Würdigkeit zu sprechen.« Die Zofe zögerte, aber dann jagte ihr Efraims Miene offenbar Angst ein, und sie verschwand in den Raum, aus dem sie gekommen war. Eine Minute, zwei Minuten vergingen. Schließlich stürmte Efraim trotz Agnois' unterdrücktem Protestschrei durch die Tür. Er kam in einen länglichen Salon, der mit roten und grünen Wandteppichen ausgekleidet und mit Stühlen und Tischchen aus vergoldetem Holz möbliert war. Ein Durchgang führte in einen Nebenraum, in dem Efraim eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Hastig trat er durch den Türbogen und ertappte die Kraike Singhalissa in einem kleinen, in die Wand eingebauten Schränkchen, in das sie bei Efraims unvermutetem Auftauchen ein kleines Bündel warf und die Tür zuschlug. Sie fuhr herum und funkelte Efraim erzürnt an. »Eure Mächtigkeit glaubt wohl, auf jegliche Anstandsregeln verzichten zu können.« »Darum geht es jetzt nicht«, sagte Efraim. »Ich wünsche, daß Ihr diesen Wandschrank öffnet.«
Singhalissas Gesicht verzerrte sich zu einer harten Maske. »Dieses Schränkchen enthält nur meine persönlichen Wertgegenstände.« Efraim wandte sich an Agnois. »Bringen Sie eine Axt, sofort.« Agnois verneigte sich. Singhalissa stieß einen unartikulierten Zorneslaut aus. Sie drehte sich um und drückte auf einen verborgenen Knopf. Die Tür des Schränkchens ging auf. Efraim wies Agnois an: »Bringen Sie alles, was Sie darin finden, zum Tisch.« Agnois räumte zögernd den Inhalt des Wandschrankes hervor: mehrere lederne Mappen und schließlich einen reich verzierten Schlüssel aus Eisen und Silber, den Efraim aufhob. »Was ist das?« »Der Schlüssel zum Dokumentenschrank.« »Und diese anderen Sachen?« »Das sind meine Privatpapiere«, erklärte Singhalissa in metallisch-eisigem Ton. »Meine Trisme-Kontrakte, die Geburtsurkunden des Kang und der Lissolet.« Efraim blätterte die Mappen schnell durch. Gleich in der ersten stieß er auf einen komplizierten Bauplan. Er warf Singhalissa einen Blick zu, den sie kalt erwiderte. Efraim winkte Agnois. »Sehen Sie diese Dokumente durch; geben Sie Ihrer Würdigkeit die von ihr erwähnten Papiere zurück. Alles andere legen Sie beiseite.« Singhalissa ließ sich steif in einem Sessel nieder. Agnois begann über den Tisch gebeugt zögernd die Dokumente durchzusehen. Schließlich schob er einen Stoß Papiere auf die Seite. »Dies betrifft die persönlichen Angelegenheiten der Kraike. Alles übrige würde eher in den Dokumentenschrank des Hauses gehören.« »Nehmen Sie es mit.« Nach einem betont kühlen
Nicken zu Singhalissa verließ Efraim die Kammer. Er fand Matho Lorcas dort, wo er ihn verlassen hatte, bequem in einem schweren, lederbezogenen Lehnstuhl ausgestreckt und in ein Werk über die Kriege vertieft, die in vielen Jahrhunderten zwischen Scharrode und einem Reich fünfzig Meilen weiter südlich, dem sogenannten Slaunt, ausgefochten worden waren. Lorcas legte den Band weg und erhob sich. »Was haben Sie herausgebracht?« »Ungefähr das, was ich erwartet hatte. Die Kraike hat nicht die Absicht, sich so schnell geschlagen zu geben.« Efraim ging zum Dokumentenschrank. Einige Augenblicke betrachtete er stumm den Inhalt: dikke Papierbündel, Mappen mit Verträgen und Urkunden, handgeschriebene Chroniken. Efraim wandte sich ab. »Eines Tages muß ich das alles durchsehen. Jetzt aber...« Er blickte hinüber zu Agnois, der steif und stumm wie ein Möbelstück bei der Tür stand. »Agnois.« »Ja, Euer Mächtigkeit.« »Wenn Sie der Ansicht sind, daß Sie mir in vollkommener Loyalität dienen können, dann mögen Sie Ihre Stellung behalten. Wenn nicht, dann bitten Sie mich jetzt gleich um Ihre Entlassung; ich werde Ihnen keine Vorwürfe machen.« »Ich habe Kaiark Jochaim viele Jahre gedient; er fand keinen Anlaß zu Tadel«, antwortete Agnois leise. »Ich werde dem rechtmäßigen Kaiark auch weiterhin dienen.« »Schön. Dann suchen Sie sich alles Nötige zusammen und machen Sie mir eine Skizze von Benbuphar Strang, in der vermerkt ist, wer welche Gemächer bewohnt.«
»Sofort, Mächtigkeit.« Efraim ging zu dem schweren Tisch in der Mitte der Bibliothek, setzte sich und begann, die Dokumente zu untersuchen, die er Singhalissa weggenommen hatte. In einer Mappe fand er eine Art Protokoll, in dem alle Angehörigen des Hauses Benbuphar verzeichnet waren, beginnend mit den Gründern der Dynastie in uralten Zeiten, endend mit seinem eigenen Namen. In verschnörkelter altrhunischer Blockschrift erkannte Kaiark Jochaim Efraim, den Sohn der Kraike Alferica aus dem Wolkenreichschloß*, als seinen Nachfolger an. Eine zweite Mappe enthielt Korrespondenz zwischen Kaiark Jochaim und Kaiark Rianlle von Eccord. Die jüngsten Unterlagen befaßten sich mit Rianlles Vorschlag, daß Jochaim ein als Dwan Jar bekanntes Stück Land, die sogenannte Flüsterkuppe, an Eccord abtreten sollte, wofür Rianlle als Gegenleistung dem Kang Efraim die Lissolet Maerio zur Trisme geben würde. Jochaim lehnte das Angebot höflich ab und wies darauf hin, daß bereits eine Trisme zwischen Efraim und Sthelany erwogen wurde; außerdem könne der Dwan Jar aus Gründen, die dem Kaiark Rianlle recht gut bekannt wären, niemals abgetreten werden. Efraim wandte sich an Agnois. »Weshalb will Rianlle den Dwan Jar haben?« Agnois blickte verwundert auf. »Aus demselben Grund wie immer, Mächtigkeit. Er möchte sich auf der Sasheen-Klippe einen Aussichtspavillon bauen, *
Aufgrund der ungewissen Begleitumstände jeder Zeugung bezieht sich bei den Rhunen die Abstammung nur auf die mütterliche Linie obwohl in vielen Fällen Vater und Sohn über ihr Verwandtschaftsverhältnis Bescheid wissen.
weil diese Stelle von Belrod Strang so bequem zu erreichen ist. Der Kaiark Jochaim weigerte sich, wie Ihr euch erinnern werdet, auf diesen dringenden Wunsch Kaiark Rianlles einzugehen und berief sich auf ein altes Abkommen mit den Fwai-Chi.« »Den Fwai-Chi? Was haben die mit der Angelegenheit zu hin?« »Die Flüsterkuppe** ist eines ihrer Heiligtümer, Mächtigkeit.« Agnois sagte es ausdruckslos, als hätte er sich entschlossen, nie wieder Erstaunen über Efraims Wissenslücken zu verraten. »Ja, natürlich.« Efraim öffnete die dritte Mappe und entdeckte eine Reihe von Plänen, die Benbuphar Strang aus verschiedenster Sicht darstellten. Er bemerkte, daß Agnois in auffälligem Desinteresse den Blick abwandte. Hier, dachte Efraim, waren die Geheimgänge der Burg verzeichnet. Die Pläne waren detailliert und gar nicht so einfach zu verstehen. Die Kraike hatte die Dokumente vermutlich kopiert. Zumindest aber hatte sie die Pläne mit kaltem Eifer studiert – feststand, daß sie die Geheimgänge ebensogut kennen mußte wie die normalen Räumlichkeiten. »Für den Augenblick ist das alles«, sagte Efraim zu Agnois. »Und Sie werden unter keinen Umständen mit irgend jemandem über unsere Angelegenheiten sprechen, ist das klar? Wenn man Sie befragt, können Sie erklären, daß der Kaiark ausdrücklich jegliche Andeutungen, Vermutungen oder Hinweise untersagt hat!« ** Ungenaue Übersetzung. Richtiger eigentlich: Ort der geistigen Erneuerung, Station einer Pilgerfahrt, Abschnitt des Lebensweges.
»Wie Ihr befehlt, Mächtigkeit.« Agnois richtete den Blick seiner blaßblauen Augen zur Decke. »Erlaubt mir, Mächtigkeit, eine persönliche Bemerkung. Seit dem Hinscheiden des Kaiark Jochaim ist auf Benbuphar Strang nicht alles so verlaufen, wie es sollte, obwohl die Kraike Singhalissa natürlich ihr Bestes getan hat.« Er zögerte und fuhr dann fort, als presse ihm irgendein innerer Zwang die Worte aus der Kehle: »Eure Rückkehr macht natürlich die Pläne des Kaiark Rianlle zunichte, deshalb können wir uns auf seine Freundschaft durchaus nicht verlassen.« Efraim bemühte sich, gleichermaßen erstaunt wie überlegen dreinzuschauen. »Ich habe doch nichts getan, seine Feindschaft zu erregen – jedenfalls nicht absichtlich.« »Vielleicht nicht, aber wenn Rianlle einmal seine Wünsche durchkreuzt sieht, ist es ihm gleichgültig, ob es aus Absicht geschah oder nicht. Ihr habt in der Tat die Trisme zwischen dem Kang Destian und der Lissolet Maerio zunichte gemacht, und Rianlle kann auch keinen Vorteil mehr aus einer Trisme zwischen ihm selbst und der Kraike Singhalissa ziehen.« »Soviel wäre ihm der Dwan Jar wert gewesen?« »Es sieht so aus, Mächtigkeit.« Efraim gab sich keine Mühe mehr, seine Unkenntnis der Situation zu verbergen. »Wäre es möglich, daß er uns angreift?« »Auszuschließen ist es nicht.« Efraim entließ ihn mit einem Wink; Agnois verneigte sich und ging. Isp wurde zu Umber. Efraim und Lorcas grübelten und plagten sich, verglichen und skizzierten, um die
Pläne von Benbuphar Strang zu enträtseln. Der Gang, der hinter dem Refektorium nach oben führte, schien nichts als eine einfache Abkürzung zum zweiten Stockwerk des Jaher-Turms zu sein. Die echten MirkGänge begannen in einer kleinen Kammer neben dem Ehrensalon; jede Mauer des Schlosses verbarg irgendeinen Geheimgang – es gab so viele, daß sie in den Plänen mit verschiedenen Farbstreifen gekennzeichnet waren, die sich kreuzten, nach oben führten, nach unten führten, kurz, ein unentwirrbares Labyrinth bildeten, mit zahllosen verborgenen Gucklöchern, Gittern, durchsichtigen Spiegeln und ähnlichem zur geheimen Beobachtung aller wichtigen Gemächer, Korridore und Säle. Von den Räumen die der ehemalige Kang Efraim bewohnt hatte und die jetzt Kang Destian innehatte, ging ein weiteres, nicht so kompliziertes Netz von Gängen aus, die durch Geheimtüren mit den MirkGängen des Kaiarken verbunden waren. Es schauderte Efraim, als er sich vorstellte, wie er selbst mit einer grotesken Männermaske und nacktem Geschlecht durch diese düsteren Geheimgänge streifte, und er fragte sich, in wessen Gemächer er wohl eingedrungen war. Er stellte sich das Gesicht der Lissolet Sthelany vor – blaß und erregt, mit glänzenden Augen, die Lippen halb geöffnet, von der Macht eines Gefühls gepackt, das ihr bei Licht fremd war... Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der roten Mappe zu und studierte vielleicht zum zehnten Mal das Verzeichnis, das dem Plan beigefügt war und in dem all die Geheimschlösser und Federmechanismen genau beschrieben waren, die die Türen und Luken betätigten, außerdem die Alarmanlagen, die ein un-
befugtes Eindringen in die Mirk-Gänge des Kaiarken vereiteln sollten. Der Ausgang der letzten Kammer, dem sogenannten Sacarlatto, war durch eine schwere Eisentür verschlossen, um den Kaiark selbst vor Belästigung zu schützen; ähnliche solche Türen blockierten die Gänge an strategischen Punkten. Als Efraim und Lorcas glaubten, einigermaßen mit dem Ganglabyrinth vertraut zu sein, standen sie auf und musterten unschlüssig die Wand der Bibliothek. Schweigen hing bedrückend im Raum. »Ich möchte wissen«, murmelte Lorcas schließlich, »ich möchte wissen... ob jemand Übles gegen uns im Schilde führt. Ob irgendeine Falle für uns aufgebaut wird... Aber vielleicht macht mir nur diese ungemütliche Atmosphäre zu schaffen. Schließlich ist den Rhunen das Töten verboten – außer bei Mirk.« Efraim zuckte ungeduldig die Achseln; Lorcas hatte genau seine eigenen Empfindungen in Worte gefaßt. Entschlossen trat er zur Wand und berührte eine Reihe von Erhebungen. Eine Täfelungsplatte glitt zur Seite; sie stiegen ein paar Steinstufen hinauf und betraten das Sacarlatto. Ihre Füße versanken in einem dicken, dunkelroten Teppich. Ein zwanzigflammiger Leuchter hing von der Decke. In die mit schwarzem und rotem Glasfluß verzierten Felder der Täfelung war jeweils das marmorne Flachrelief einer Männermaske eingelassen. Jede Maske zeigte eine andere Grimasse und trug eine Aufschrift in rätselhaften Symbolen. An sechs Stellen konnte man über Spiegel und getarnte Gucklöcher in die Bibliothek sehen. Lorcas sagte leise: »Riechen Sie nichts?« Seine Stimme wurde noch zusätzlich durch irgendeine Eigenschaft des Raumes gedämpft.
»Den Teppich. Staub.« »Ich habe eine sehr empfindliche Nase. Ich spüre einen Duft, eine Kräuteressenz.« Die beiden Männer standen reglos und bleich in dem düsteren Gemach wie zwei alte Statuen. Lorcas faßte sich wieder. »Wissen Sie, derselbe Geruch liegt in der Luft, wenn Singhalissa vorbeigegangen ist.« »Sie glauben also, daß sie hier war?« »Vor ganz kurzer Zeit – sie hat uns bei der Arbeit beobachtet und belauscht. Sehen Sie, die Eisentür ist nur angelehnt.« »Wir werden sie jetzt schließen. Ich glaube, ich gehe zunächst ein wenig schlafen. Später können wir die anderen Türen absperren, dann ist Schluß mit dem Herumspionieren.« »Überlassen Sie das ruhig mir! Mich faszinieren solche Dinge, und ich bin auch noch gar nicht schläfrig.« »Wie Sie wollen. Aber denken Sie daran, die Kraike kann ihre eigenen Warnmechanismen aufgebaut haben.« »Ich werde mich vorsehen.«
KAPITEL 7 Efraim erwachte in der Schlafkammer des Kaiarken und blieb noch eine Weile in dem gedämpften Licht liegen. Eine Uhr auf dem Kaminsims zeigte an, daß die Phase Aud war, aber Furad und Maddar kurz vor dem Untergehen waren, so daß bald Kaltisp den Himmel beherrschen würde. Ein zweites Zifferblatt gab die Ortszeit von Port Mar an: Efraim mußte feststellen, daß er über sieben Stunden lang geschlafen hatte, weit länger als vorgehabt. Er blickte hinauf zu der hohen Zimmerdecke und überdachte die Lage, die sich aus der Rückkehr in sein altes Leben ergab. Die Vorteile lagen klar auf der Hand. Er regierte ein herrliches Bergreich und war Herr eines archaisch-prächtigen Schlosses. Er hatte die Absichten seines Feindes oder seiner Feinde zumindest teilweise zunichte gemacht; irgend jemand würde zur Zeit wahrscheinlich über düsteren Gedanken brüten. In Benbuphar Strang selbst hatte er Widersacher – nur, was bezweckten sie? Diese Personen waren in der Nähe gewesen, als ihm sein Gedächtnis genommen wurde... Der Gedanke ließ Efraim zornbebend von seinem Lager aufspringen. Er badete und nahm im Refektorium ein trübsinniges Frühstück ein, das aus Brot, kaltem Fleisch und Obst bestand. Wäre ihm nicht die rhunische Einstellung zu Nahrungsmitteln bekannt gewesen, hätte er eine solche Mahlzeit als gezielten Affront betrachtet... Er überlegte, ob in dieser Hinsicht nicht Neuerungen möglich waren: warum sollten die Rhunen allein so
überaus penibel sein, wenn Milliarden anderer Menschen in aller Öffentlichkeit tafelten und keinen Anstoß an ihren Stoffwechselvorgängen nahmen? Aber wenn er allein sich gegen die Sitten auflehnte, würde das wohl nur Abscheu und Kritik erregen. Man mußte diese Sache noch genauer überdenken. Im Ankleidezimmer fand er in Schränken und Regalen Kleidungsstücke vor, die vermutlich seine Garderobe von vor sechs Monaten darstellten – eine ziemlich spärliche Garderobe, stellte er fest. Er zog eine senffarbene Tunika mit schwarzem Schnürbesatz und dunkelrotem Futter hervor und begutachtete sie: ein flottes Gewand, das zweifellos den jungen Kang Efraim bei irgendeinem formlosen Anlaß recht gut gekleidet hatte. Efraim stieß einen unterdrückten Laut des Ärgers aus und musterte die anderen Kleidungsstücke. Er versuchte, sich Kaiark Jochaims Garderobe in Erinnerung zu rufen, die er sich nur ziemlich flüchtig angeschaut hatte, aber mehr als ein Eindruck zurückhaltender Vornehmheit und edler Schlichtheit war ihm nicht im Gedächtnis geblieben. Nachdenklich geworden, begab er sich in den Großen Salon und läutete nach Agnois, der gleich darauf erschien. Irgend etwas schien den Oberkämmerer zu beunruhigen. Seine blaßblauen Augen wichen jedem Blick aus, und als er sich verbeugte, krampften sich die Finger seiner großen, weißen Hände heftig zusammen. Bevor Efraim zu Wort kam, sagte Agnois: »Euer Mächtigkeit, die Eiodarken von Scharrode ersuchen ehebaldigst um eine Audienz. Sie werden Euch in zwei Stunden aufsuchen, wenn das Eurer Mächtigkeit genehm ist.« »Die Audienz kann warten«, knurrte Efraim.
»Kommen Sie mit.« Er ging Agnois voran ins Ankleidezimmer, wo er sich umwandte und den Kämmerer kalt musterte. »Wie Sie wissen, war ich nicht weniger als sechs Monate von Scharrode abwesend.« »Ja, Mächtigkeit.« »Mir ist viel Seltsames widerfahren, unter anderem ein Unfall, durch den ich teilweise mein Gedächtnis verloren habe. Ich erzähle Ihnen das im Vertrauen auf Ihre absolute Verschwiegenheit, ist das klar?« »Ich werde selbstverständlich Euer Vertrauen respektieren, Euer Mächtigkeit«, stammelte Agnois. »So zum Beispiel erinnere ich mich nicht mehr an einige Details der rhunischen Bräuche und Sitten – ich werde mich dabei auf Ihre Unterstützung verlassen müssen. Etwa in bezug auf meine Kleidung: das hier kann doch nicht meine gesamte frühere Garderobe darstellen?« Agnois fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nein, Mächtigkeit. Die Kraike hat eine Auswahl von verschiedenen Kleidungsstücken getroffen und diese herbringen lassen.« »Dies sind natürlich Gewänder, die ich als Kang trug?« »Ja, Mächtigkeit.« »Sie kommen mir etwas zu flott und extravagant im Schnitt vor. Halten Sie sie für jemanden meines jetzigen Ranges für angemessen?« Agnois zupfte an seiner blassen Knollennase. »Eigentlich nicht, Euer Mächtigkeit.« »Wenn ich mich in etwas Derartigem vor den Eiodarken zeigte, würden sie mich für leichtfertig und unverantwortlich halten – für einen unreifen jungen Narren, nicht wahr?«
»Das ist leider denkbar.« »Wie lauteten Singhalissas Anweisungen?« »Sie befahl mir, diese Kleidungsstücke herbringen zu lassen; sie erwähnte auch, daß jede Einmischung bezüglich geschmacklicher Dinge sowohl von Eurer Mächtigkeit als auch von der Edlen Singhalissa selbst als Respektlosigkeit aufgefaßt werden könnten.« »Sie sagte Ihnen also genaugenommen, Sie sollten mir helfen, mich zum Narren zu machen. Dann rief sie die Eiodarken zu einer Audienz zusammen.« Agnois erwiderte hastig: »Das stimmt, Euer Mächtigkeit, aber...« Efraim unterbrach ihn schroff: »Verschieben Sie die Audienz mit den Eiodarken. Erklären Sie, daß ich mich erst mit den Ereignissen der letzten sechs Monate vertraut machen muß. Dann entfernen Sie diese Kleider. Weisen Sie unsere Schneider an, mich schnellstens mit einer angemessenen Garderobe zu versorgen. Inzwischen bringen Sie her, was von meiner ehemaligen Garderobe einigermaßen brauchbar ist.« »Jawohl, Mächtigkeit.« »Des weiteren werden Sie die Dienerschaft informieren, daß die Edle Singhalissa keine Befehlsgewalt mehr ausübt. Ich habe diese kleinlichen Intrigen satt. Sie ist von nun an nicht mehr die Kraike, sondern hat sich die Wirwove von Disbague zu nennen.« »Ja, Euer Mächtigkeit.« »Im übrigen, Agnois, bin ich sehr erstaunt, daß Sie es versäumten, mich von Singhalissas Absichten zu unterrichten.« Agnois rief fassungslos: »Mächtigkeit, es blieb mir nichts anderes übrig, als die Befehle der Edlen Sing-
halissa aufs Wort zu befolgen! Ich hatte jedoch die Absicht, auf die eine oder andere Weise die Würde Eurer Mächtigkeit zu schützen! Aber Ihr habt den Plan durchschaut, bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte!« Efraim nickte knapp. »Nun gut. Suchen Sie mir ein Gewand heraus, das wenigstens für den Augenblick genügt.« Efraim kleidete sich an und ging in die Bibliothek in der Erwartung, dort vielleicht Matho Lorcas vorzufinden. Der Raum war jedoch leer. Efraim blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen, doch dann trat Agnois ein. Efraim ließ sich in einem Polsterstuhl nieder. »Berichten Sie mir, wie der Kaiark Jochaim ums Leben kam.« »Darüber, Mächtigkeit, ist nichts Genaues bekannt. Die Semaphoren gaben eine Warnung durch, daß Mirkmänner von Gorgetto über den Tassenberg heranritten. Der Kaiark schickte zwei Trupps aus, die den Gegner in der Flanke angreifen sollten, und führte selbst eine dritte Schar an, die die Vorhut zerschlagen sollte. Die Mirkmänner stürmten bis zum Subanforst, dann zogen sie sich durch die Pässe in Richtung Horsuke zurück. Plötzlich wimmelten die Hänge von Gorgetenschützen – die Scharden waren in einen Hinterhalt gelockt worden. Jochaim befahl den Rückzug, und die Schardenkrieger kämpften sich den Weg durch die Schlucht hinunter frei. Dabei wurde Jochaim von einem Bolzen in den Rücken getroffen. Die Verletzung war tödlich.« »In den Rücken? Ist Jochaim denn geflohen? Das ist
schwer vorstellbar!« »Soweit ich weiß, hatte er sich auf einer Hügelkuppe postiert, um seine Streitkräfte besser dirigieren zu können. Anscheinend hat sich ein Mirkmann von hinten durch die Felsen angeschlichen und auf ihn geschossen.« »Wer war es? Welchen Rang hatte er?« »Er wurde weder getötet noch gefaßt, Mächtigkeit. Tatsächlich hat ihn niemand zu Gesicht bekommen. Der Kang Destian übernahm das Kommando über die Truppen und brachte sie heil zurück nach Scharrode. Nun erwarten die Leute sowohl in Scharrode als auch in Gorgetto eine schreckliche Vergeltungsaktion. Es heißt, daß Gorgetto einem befestigten Lager gleicht.« Efraim, dem seine Unwissenheit plötzlich bedrükkend zu Bewußtsein kam, hieb mit den Fäusten auf die Armlehnen des Stuhls. »Ich komme mir vor wie jemand mit verbundenen Augen! Ich muß Genaueres wissen, muß mich über das Reich informieren!« »Das, Mächtigkeit, könnt Ihr unschwer tun: Ihr braucht nur die Archive oder, wenn Ihr das vorzieht, die kaiarkischen Pandekten zu Rat zu ziehen – die grün und rot gebundenen Werke dort drüben.« Der Eifer in Agnois' Stimme ließ erraten, wie erleichtert er war, daß Efraim sich nicht weiter für den Vorfall mit der Garderobe interessierte. Die nächsten drei Stunden beschäftigte sich Efraim eingehend mit der Geschichte von Scharrode. Der Zwist zwischen Gorgetto und Scharrode war jahrhundertealt. Jede Partei hatte der anderen schwere Schläge zugefügt. Eccord war manchmal Verbünde-
ter, manchmal Gegner gewesen, hatte aber in letzter Zeit beträchtlich an Macht gewonnen und war nun stärker als Scharrode. Disbague umfaßte nur ein kleines, düsteres Tal hoch oben in den Gartfang-Schrofen und besaß wenig Einfluß, obwohl den Disben dunkle Kräfte nachgesagt wurden – viele Frauen hatten den Ruf von Hexen. Efraim studierte die edle Ahnenreihe derer von Scharrode und erfuhr eine Menge über die Trismes, die Scharrode mit anderen Reichen verbunden hatten. Er fand auch Aufzeichnungen über sich selbst: von seiner Teilnahme an Truppenparaden, Manövern und Feldzügen; er erfuhr, daß man ihn für kühn, zielstrebig und ziemlich selbstbewußt hielt. Sein Drang nach Neuerungen hatte ihn anscheinend öfter mit Jochaim in Konflikt gebracht, der auf den alten Traditionen zu beharren pflegte. Er las von seiner Mutter, der Kraike Alferica, die während eines Besuchs auf Eccord bei einem Bootsunfall auf dem Zule-See ertrunken war. Eine Liste der Teilnehmer an den Trauerfeierlichkeiten erwähnte auch die damalige Lissolet Singhalissa von Urrue Strang in Disbague. Kurz darauf schloß Jochaim eine neue Trisme, und Singhalissa zog mit ihren Kindern Destian und Sthelany nach Benbuphar Strang. Daß beide Kinder außerhalb einer Trisme geboren worden waren, war weder ungewöhnlich noch von Bedeutung. Vollgestopft mit Wissen legte Efraim die Pandekten schließlich beiseite und erhob sich. Nachdenklich wanderte er in der Bibliothek umher. Ein Geräusch ließ ihn aufblicken – er erwartete, Matho Lorcas zu sehen, doch es war Agnois. Efraim wandte sich wie-
der seinen Überlegungen zu. Er mußte in bezug auf die Edle Singhalissa zu einem Entschluß kommen. Sie hatte nicht nur versucht, eine Reihe wichtiger Dokumente zu unterschlagen, sondern auch, ihn lächerlich zu machen und der Autorität zu berauben. Wenn er über ihre Intrigen einfach verächtlich hinwegging, würde sie gewiß neue aushecken. Trotzdem widerstrebte es ihm, sie hart anzufassen, weil sie ihm zutiefst unsympathisch war – und jegliche Vergeltungsaktionen tendierten dazu, ein eigenes Intimverhältnis zum Widersacher zu schaffen, ähnlich der schrecklichen Bindung, die zwischen einem Folterknecht und seinem Opfer entsteht. Trotzdem mußte er irgend etwas unternehmen, sonst würde sie ihn für schwach und unentschlossen halten. »Agnois, ich bin zu einem Entschluß gekommen. Die Edle Singhalissa hat von ihren augenblicklichen Gemächern in jene umzuziehen, die zur Zeit mein Freund Matho Lorcas bewohnt. Bringen Sie den Edlen Lorcas in gemütlicheren Räumen im Jaher-Turm unter. Kümmern Sie sich sofort darum. Ich wünsche keine Verzögerungen.« »Eure Befehle werden schnellstens ausgeführt werden! Aber dürfte ich eine Bemerkung dazu wagen?« »Gewiß.« »Warum schickt Ihr sie nicht zurück nach Disbague? Auf Urrue Strang wäre sie weit genug fort.« »Der Vorschlag ist an sich vernünftig. Was aber, wenn sie nicht in Disbague bleibt, sondern reihum Schwierigkeiten für mich ausheckt? Hier kann ich sie wenigstens im Auge behalten. Außerdem weiß ich nicht, wer mir vor sechs Monaten so übel mitgespielt
hat. Warum sollte ich Singhalissa verstoßen, solange ich die Wahrheit nicht kenne? Und schließlich...« Efraim zögerte. Wenn Singhalissa gehen mußte, würde Sthelany mit ziemlicher Sicherheit auch ausziehen, das aber war wiederum kein Beweggrund, über den er mit Agnois zu sprechen wünschte. Er wanderte in der Bibliothek umher und fragte sich, wieviel Agnois von den Mirktaten rund um das Schloß wissen mochte oder was er ihm über Sthelany verraten könnte. Wie verhielt sie sich bei Mirk? Verriegelte sie ihre Tür und verbarrikadierte sie die Fenster, wie es ängstliche junge Mädchen zu tun pflegten? Wo war Sthelany jetzt? Übrigens: »Wo ist Matho Lorcas?« »Er begleitet die Lissolet Sthelany auf einem Spaziergang durch den Garten der Bitteren Düfte.« Efraim knurrte etwas und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf. Das hätte er sich denken können. Er winkte Agnois mit einer schroffen Geste. »Sehen Sie zu, daß die Edle Singhalissa sofort in ihre neuen Gemächer gebracht wird. Sie brauchen ihr keine Erklärung zu geben – Ihre Anweisungen sind klar und eindeutig. Nein, warten Sie! Sie können sagen, daß ich Ihnen zürne, weil Sie mir unbrauchbare alte Gewänder gebracht haben.« »Sehr wohl, Mächtigkeit.« Agnois eilte aus dem Raum. Einen Augenblick später verließ auch Efraim die Bibliothek. Er ging durch die große Empfangshalle hinaus auf die Terrasse. Vor ihm breitete sich im beschaulichen Licht der Umber-Phase die ruhige Landschaft seines Reiches aus. Matho Lorcas kam die Stufen vom Park heraufgeeilt. »Hallo!« rief Lorcas mit – wie Efraim schien – un-
natürlicher Fröhlichkeit; oder war es eher Nervosität? »Ich hab' mich schon gefragt, wie lange Sie schlafen würden!« »Ich bin bereits seit einigen Stunden auf. Was haben Sie denn alles getrieben?« »Eine ganze Menge. Ich habe die verschiedenen Gänge, die vom Sacarlatto ausgehen, erforscht. Zu Ihrer Information: die Gänge, die zu den Gemächern der Edlen Singhalissa und der Lissolet Sthelany führen, sind verbarrikadiert – genauer gesagt, zugemauert. Wenn Mirk kommt, werden Sie sich anderswo nach einem Abenteuer umsehen müssen.« »Singhalissa ist anscheinend nicht müßig gewesen.« »Sie überschätzt die Anziehungskraft ihres kostbaren Körpers«, meinte Lorcas. »Bei Sthelany liegt die Sache anders.« »Es scheint, daß Sie sie auf konventionellere Art verführen müssen«, bemerkte Efraim mürrisch. »Haha! Vermutlich hätte ich beim Durchbrechen der Mauer mehr Erfolg. Aber beide Methoden stellen eine Herausforderung dar, und Herausforderungen haben mich immer angespornt. Welch ein Triumph der freisinnigen Lebensauffassung, wenn ich Erfolg habe!« »Das kann man wohl sagen. Wenn Sie wissen wollen, was sie von Ihrer Lebensauffassung hält, warum laden Sie sie nicht zu einem gemeinsamen Mittagessen ein?« »Oh, ich weiß, was sie von meiner Lebensauffassung hält. Das habe ich schon vor sechs Monaten in Port Mar herausgefunden. In gewisser Weise sind wir alte Freunde.«
In diesem Augenblick trat Agnois aus der Empfangshalle. Sein furchiges, blasses Gesicht unter dem Samtdreispitz, dem Zeichen seines Amtes, war schlaff und grau. Er verneigte sich vor Efraim. »Die Edle Singhalissa läßt sagen, daß Eure Anweisungen sie sehr beunruhigen und daß sie sie unverständlich findet.« »Sie haben ihr meine Bemerkung bezüglich der Garderobe hinterbracht?« »Das tat ich, Mächtigkeit, und sie zeigte sich sehr verwundert. Sie ersucht, daß Ihr geruht, sie bei einer Inhalation* zu empfangen, damit die Angelegenheit besprochen werden kann.« »Gut«, sagte Efraim. »Sagen wir, in zwei Stunden, wenn Umber in Grünrowan übergeht, falls diese Phasenuhr dort drüben richtig geht.« »In zwei Stunden, Mächtigkeit? Sie gebrauchte jedoch eine Formulierung, die größte Dringlichkeit ausdrückte; offenbar wünscht sie, Eurer Weisheit sogleich teilhaftig zu werden.« »Ich fürchte, daß ich über die Dringlichkeit einer Sache nicht mehr dieselbe Meinung wie Singhalissa habe«, sagte Efraim. »Die zwei Stunden werden Ihnen Gelegenheit geben, für mich und den Edlen Matho Lorcas die korrekte Kleidung zu besorgen. Außerdem habe ich noch etwas zu erledigen.« Agnois entfernte sich gekränkt und verwirrt. Efraim fragte sich zum zehntenmal, ob es klug war, *
Eine ungenaue Übersetzung des Wortes Sherdas. Die Teilnehmer an einem Sherdas sitzen rund um einen Tisch. Aus entsprechend angeordneten Öffnungen läßt man aromatische Gerüche und Düfte ausströmen. Es gilt als vulgär und genußsüchtig, die Aromen zu lautstark zu loben oder sie zu heftig zu inhalieren.
den Mann weiter in seinen Diensten zu behalten. Durch sein vielseitiges Wissen war Agnois für ihn nahezu unentbehrlich, andererseits aber war der Kämmerer, was seine Loyalität betraf, ein ziemlich wankelmütiger Charakter, wie es schien. Efraim wandte sich an Lorcas: »Ich nehme an, Sie würden gerne an einer Inhalation teilnehmen, ja?« »Natürlich. Es wird ein unvergeßliches Erlebnis für mich sein – eines unter sehr vielen, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf.« »Dann kommen Sie in zwei Stunden in mein Studierzimmer. Im übrigen, Sie sind jetzt im Jaher-Turm untergebracht. Ich habe Singhalissa die Räume zugewiesen, die Sie bisher bewohnten.« Efraim lächelte. »Ich hoffe ihr abzugewöhnen, dem Kaiarken in die Quere zu kommen.« »Ich bezweifle, daß Sie damit Erfolg haben werden«, meinte Lorcas. »Sie hat bestimmt noch Tricks in petto, von denen Sie nicht einmal gehört haben. An Ihrer Stelle würde ich mein Bett nach Schlangen durchsuchen, bevor ich unter die Decke schlüpfe.« »Ja«, sagte Efraim. »Das ist vielleicht ratsam.« Er ging ins Schloß zurück, durchquerte die Große Halle und bog in die Ahnengalerie ein, betrat aber nicht den Trophäenraum, der in seine Gemächer führte, sondern wandte sich in einen Seitengang, der mit braunen und weißen Fließen ausgelegt war. Auf diesem Weg gelangte er in einen Raum, der als eine Art Verwaltungsbüro diente. An der einen Seitenwand war über einer Bank ein veralteter Kommunikator installiert. Efraim schloß die Tür und verriegelte sie. Er nahm sich die Codeliste zur Hand, schlug einen bestimmten
Rufcode nach und drückte dann auf eine Reihe flekkiger alter Tasten. Der Bildschirm leuchtete auf, und als das Rufzeichen am anderen Ende der Verbindung ertönte, zuckten karmesinrote Strahlenkreise in der matthellen Fläche auf. Drei oder vier Minuten vergingen. Efraim wartete geduldig. Es wäre unsinnig gewesen, eine sofortige Antwort zu erwarten. Schließlich leuchtete der Bildschirm grün auf, das Grün zerbröselte zu einer Wolke von Lichtpunkten, die sich gleich darauf zu dem Gesicht eines blassen, älteren Mannes verdichteten, dem glatte, lange Haarsträhnen bis über die Ohren hingen. Er glotzte Efraim halb herausfordernd, halb kurzsichtig an und meldete sich krächzend: »Wer ruft nach Gorgance Strang, und aus welchem Grund?« »Ich bin Efraim, Kaiark von Scharrode. Ich möchte mit Ihrem Herrn, dem Kaiarken, sprechen.« »Ich werde melden, daß Eure Mächtigkeit ihn erwartet.« Wieder vergingen fünf Minuten, dann tauchte auf dem Bildschirm ein feistes, bronzefarbenes Gesicht mit einer großen Schnabelnase und einem dicken Kinnwulst auf. »Kaiark Efraim – Ihr seid also nach Scharrode zurückgekommen. Weshalb ruft Ihr mich an? Seit hundert Jahren hat es kein solches Gespräch gegeben.« »Ich rufe Euch an, Kaiark Gosso, weil ich etwas wissen will. Während ich fort war, drangen Mirkmänner von Gorgetto in Scharrode ein. Im Verlauf dieses Überfalls wurde Kaiark Jochaim von einem Gorgetenbolzen getötet, der ihn in den Rücken traf.« Gossos Augen verengten sich zu eisblauen Schlit-
zen. »Soweit wird wohl alles stimmen. Was weiter? Wir sind auf Euren Gegenschlag gefaßt. Schickt Eure Mirkmänner aus; wir werden sie auf den zähen Schößlingen unserer Berge pfählen. Ruft Eure Edlen zusammen, rückt mit freiem Gesicht zum Kampf an. Wir werden Rang für Rang gegen Euch antreten und die Vornehmsten von Scharrode niedermetzeln.« »Ich habe nicht angerufen, um mich nach Euren Gefühlen zu erkundigen. Ich bin nicht an Prahlereien interessiert.« Gossos Stimme wurde zu einem knurrigen Baß. »Weshalb habt Ihr dann angerufen?« »Mir kommen die Umstände von Kaiark Jochaims Tod seltsam vor. In dem Kampfgetümmel von Mirkmännern und Schardenkriegern hatte er eine exponierte Kommandoposition eingenommen. Es ist wohl unwahrscheinlich, daß er dabei den Kämpfenden den Rücken zuwandte. Welcher Eurer Mirkmänner hat also den Kaiark der Scharden getötet?« »Keiner hat sich dieser Tat gerühmt«, brummte Gosso. »Ich habe genaue Nachforschungen angestellt, ohne Ergebnis.« »Eine recht zwielichtige Sache.« »Aus Eurer Sicht gewiß.« Gossos Miene entspannte sich ein wenig; er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wo seid Ihr eigentlich während des Feldzuges gewesen?« »Ich war sehr weit weg – auf Numenes und im Palast des Connat. Ich habe viel gelernt in dieser Zeit, und eines weiß ich jetzt: Diese gegenseitigen Überfälle und Scharmützel zwischen Gorgetto und Scharrode sind für beide Teile von größtem Übel. Ich schlage einen Waffenstillstand vor.«
Gossos schmale Lippen verzogen sich und entblößten seine Zähne – kein Grinsen, wie Efraim bald klarwurde, sondern eine Grimasse des Nachdenkens. »Was Ihr sagt, hat etwas für sich«, meinte Gosso schließlich. »Weder in Gorgetto noch in Scharrode gibt es viele alte Männer. Aber letzten Endes muß jeder einmal sterben, und wenn die Krieger von Gorgetto nicht mehr in Scharrode einfallen dürfen, womit soll ich sie dann beschäftigen?« »Ich habe selbst Schwierigkeiten. Zweifellos könntet Ihr einen Ausweg finden.« Gosso legte den Kopf schräg. »Meine Krieger werden sich gegen ein so langweiliges Leben auflehnen. Die Überfälle sind ein gutes Ventil für ihre Kräfte, und ich habe dadurch ein leichteres Leben.« »Ihr könnt allen, die Eure Autorität in Frage stellen, mitteilen, daß ich fest entschlossen bin, den Überfällen auf die eine oder andere Art ein Ende zu machen«, sagte Efraim schroff. »Ich kann einen ehrenvollen Frieden anbieten – oder ich kann meine gesamten Streitkräfte versammeln und Gorgetto vernichten. Ich habe in den Pandekten feststellen können, daß dies sehr wohl in meiner Macht liegt, allerdings um den Preis vieler Menschenleben. Die meisten dieser Toten werden Gorgeten sein, da wir mit unseren Segeln die Bergkämme beherrschen. Mir scheint daher, daß der Ausweg, den ich anbiete, noch für alle am vorteilhaftesten ist.« Gosso lachte sardonisch. »So sieht es wohl aus. Aber vergeßt nicht, daß wir uns seit tausend Jahren schon damit vergnügen, Scharden zu erschlagen. In Gorgetto wird ein Junge erst zum Mann, wenn er seinen Scharden getötet hat. Und doch – Ihr scheint Eu-
ren Vorschlag ernst zu meinen. Ich werde mir die Sache überlegen.« Der Salon für Sherdas und private Empfänge nahm das dritte Stockwerk des mächtigen Arjer-SkyrdTurmes ein. Statt des mittelgroßen Raumes, den Efraim erwartet hatte, fand er einen zwanzig Meter langen und fünfzehn Meter breiten Saal vor, dessen Boden mit schwarzen und weißen Marmorplatten bedeckt war. Durch sechs hohe Fenster flutete jenes seltsame Licht herein, das für den Übergang von Umber in Grünrowan charakteristisch war. Marmorne Halbsäulen gliederten die eine Wand zu einer Reihe von Nischen, die in blassem Rotbraun getüncht waren. In jeder stand eine schwere, einen Meter hohe Bodenvase aus schwarzbraunem Porphyr – das Werk einer Kogenz. Die Vasen waren mit weißem Sand gefüllt und enthielten hohe Büschel aus trockenem, geruchlosem Gras. Ein drei mal sieben Meter großer Tisch war mit vier Etikette-Schirmen versehen worden. Bei jedem der Plätze stand ein Stuhl. Agnois kam herbeigeeilt. »Eure Mächtigkeit ist ein wenig verfrüht erschienen; ich fürchte, unsere Vorbereitungen sind noch nicht vollendet.« »Ich bin mit Absicht früher gekommen.« Efraim musterte den Raum, dann den Tisch. In ruhigem Ton erkundigte er sich: »Der Kaiark Jochaim hat diesen Salon benutzt?« »Gewiß, Mächtigkeit, wenn die Gesellschaft nicht zu umfangreich war.« »Welcher Platz war für ihn reserviert?« »Jener dort, Mächtigkeit.« Agnois wies auf den Platz am oberen Tischende.
Efraim, der mittlerweile gelernt hatte, die unbewußten Anzeichen zu durchschauen, die Agnois' Stimmung verrieten, musterte ihn scharf. »Das ist der Stuhl, den Kaiark Jochaim benutzte? Er unterscheidet sich nicht von den anderen; sie sind alle vier völlig gleich.« Agnois zögerte. »Dies sind die Stühle, die die Edle Singhalissa herzubringen befahl.« Efraim beherrschte sich nur mit Mühe. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Singhalissa nichts mehr zu befehlen hat?« »Ich erinnere mich einer ähnlichen Anweisung, Mächtigkeit«, erwiderte Agnois verlegen, »aber ich gehorche ihr aus Gewohnheit, vor allem in so unbedeutenden Dingen wie diesen.« »Sie halten das für unbedeutend?« Agnois kaute an seiner Unterlippe. »Ich – ich habe die Angelegenheit nicht aus dieser Sicht betrachtet.« »Aber der Stuhl ist nicht jener, den der Kaiark gewöhnlich benutzte?« »Nein, Euer Mächtigkeit.« »Es ist wirklich ein Stuhl, der der Würde eines Kaiarken nicht im mindesten angemessen ist – besonders unter den augenblicklichen Umständen.« »Ich fürchte, ich muß Euch zustimmen, Mächtigkeit.« »Sie haben also wiederum Singhalissa geholfen, Agnois, mich als Tölpel hinzustellen und meine Autorität zu untergraben – das sieht mir ganz nach Verschwörung aus.« Agnois stieß einen Laut des Entsetzens aus. »Auf keinen Fall, Mächtigkeit! Ich habe völlig ahnungslos gehandelt!«
»Dann sorgen Sie augenblicklich dafür, daß die Sache in Ordnung gebracht wird!« Agnois warf einen Blick zu Lorcas hinüber. »Fünf Plätze, Euer Mächtigkeit?« »Belassen Sie es bei vier.« Der anstoßerregende Stuhl wurde entfernt; ein schwerer, mit Karneolen und Türkisen besetzter, wurde hereingebracht. »Seht, Mächtigkeit«, sagte Agnois eifrig, »das kleine Gitter hier bei Eurem Ohr – es verbirgt ein Empfangsgerät, über das dem Kaiarken Nachrichten und Ratschläge übermittelt werden können.« »Sehr gut«, sagte Efraim. »Dann werden Sie sich in einem Versteck postieren und mich in bezug auf Etikette und Konvention beraten.« »Mit Freuden, Euer Mächtigkeit!« Efraim setzte sich und wies Lorcas den Platz zu seiner Rechten zu. Lorcas bemerkte nachdenklich: »Solche Tricks sind doch eigentlich kindisch – gar nicht das, was man von Singhalissa erwarten würde.« »Ich weiß nicht, was ich von Singhalissa zu erwarten habe. Ich stelle mir vor, daß sie die Absicht hat, mich als geistesgestörten Narren hinzustellen, damit die Eiodarken mich zugunsten Destians absetzen können.« »Es wäre besser, wenn Sie sie fortschickten.« »Vermutlich. Aber...« Singhalissa, Sthelany und Destian betraten den Saal. Efraim und Lorcas erhoben sich höflich. Singhalissa trat einige Schritte vor, blieb stehen und begutachtete die beiden noch leeren Stühle mit gerümpfter Nase. Dann streifte sie den Prunksessel Efraims mit
einem schnellen Blick. »Ich bin etwas erstaunt«, sagte sie. »Ich stellte mir eigentlich ein formloses Gespräch vor, bei dem sich alle Probleme wohl am leichtesten behandeln lassen.« »Ich ziehe es vor, bei einer solchen Beratung die Formen zu wahren«, antwortete Efraim in gleichmütigem Ton. »Ich bin allerdings überrascht, Baron Destian hier zu sehen; aus den getroffenen Vorbereitungen schloß ich, daß nur Ihr und die Edle Sthelany unserer Beratung beiwohnen wolltet. Agnois, seien Sie so gut und stellen Sie noch einen Sessel dort links neben Ihre Würdigkeit die Wirwove. Sthelany, würdet Ihr so freundlich sein und auf diesem Stuhl zu meiner Linken Platz nehmen.« Sthelany setzte sich auf den angewiesenen Platz. Ein vages Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Singhalissa und Destian traten mit mürrischem Gesicht zur Seite, während Agnois die Sitzgelegenheiten neu anordnete. Efraim musterte heimlich Sthelany und fragte sich wie schon so oft, was wohl in ihrem Kopf vorging. In diesem Augenblick wirkte sie gleichgültig, in sich gekehrt und überlegen. Endlich konnten Singhalissa und Destian Platz nehmen; Efraim und Lorcas setzten sich gravitätisch wieder hin. Singhalissa machte eine Bewegung, als wollte sie das Wort ergreifen, aber Lorcas trommelte so entschieden auf den Tisch, daß Singhalissa und Destian sich ihm erstaunt zuwandten. Sthelany ließ Efraim nicht aus den Augen. »Die augenblickliche Situation«, begann Efraim, »ist zugegebenermaßen angespannt, und manche von euch mußten sich mit einer Verschlechterung ihrer Zukunftsaussichten abfinden. In Anbetracht der Er-
eignisse der letzten sechs Monate möchte ich daran erinnern, daß aber letztlich ich das Hauptopfer war, mit Ausnahme von Kaiark Jochaim natürlich, der sein Leben verlor. Die vielen Schwierigkeiten, denen ich mich ausgesetzt sah, haben dazu geführt, daß ich wenig Verständnis für kleinliche Beschwerden empfinden kann. Ich bitte das bei unserer Besprechung zu berücksichtigen.« Sthelanys Lächeln wurde noch vager; Destians verdrossene Miene verwandelte sich zu einer verächtlichen Grimasse. Singhalissa umklammerte die Armstützen ihres Stuhls so heftig, daß die Knöchel ihrer schlanken Finger hell durch die Haut leuchteten. Sie antwortete: »Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, daß wir uns alle den geänderten Umständen anpassen müssen, das gebietet schon die praktische Vernunft. Ich habe mich lange und ernsthaft mit dem Edlen Destian und der Lissolet Sthelany unterhalten: wir alle sind entsetzt über Euer unseliges Abenteuer. Ihr wart das Opfer einer unkonventionellen Gewalttat, aber wie ich hörte, ist so etwas in Port Mar durchaus nicht selten.« Singhalissas Blick streifte so flüchtig zu Lorcas hinüber, daß er beinahe unbemerkt geblieben wäre. »Zweifellos wurdet Ihr von irgendeinem Außenweltler überfallen – aus Gründen, die sich meiner Vorstellung entziehen.« Efraim schüttelte grimmig den Kopf. »Diese Theorie ist wenig wahrscheinlich, insbesondere angesichts bestimmter Tatsachen, die ich in Erfahrung bringen konnte. Ich habe mein ›Abenteuer‹, wie Ihr es nennt, mit großer Sicherheit einem Rhunen zu verdanken, der jedes Gefühl für ritterliches Verhalten verloren hat.«
Singhalissas klare, sanfte Stimme bekam einen metallischen Unterton. »Da Ihr uns die Tatsachen nicht nennt, auf denen Euer Verdacht beruht, können wir natürlich nicht beurteilen, wie berechtigt er ist. Wir haben jedenfalls keine Ahnung, wer Euer Feind sein könnte – ich meine allerdings immer noch, daß Ihr Euch irrt.« Zum ersten Mal griff Lorcas in das Gespräch ein. »Um das ein für allemal klarzustellen: Ihr gebt also Seiner Mächtigkeit zu verstehen, daß erstens keiner von Euch etwas über den Vorfall in Port Mar weiß, daß zweitens niemand etwas darüber gehört hat, und drittens, daß niemand eine Ahnung hat, wer dafür verantwortlich sein könnte?« Keiner antwortete. Efraim sagte sanft: »Der Edle Matho Lorcas ist mein Freund und Ratgeber; er hat das Recht, diese Fragen zu stellen. Wie steht es mit Euch, Baron Destian?« »Ich weiß von nichts«, antwortete Destian verdrossen. »Lissolet Sthelany?« »Ich weiß nichts.« »Eure Würdigkeit die Wirwove?« »Die ganze Affäre ist mir unverständlich.« Aus dem Gitter in der Lehne von Efraims Stuhl drang Agnois' heiseres Wispern. »Es wäre vielleicht klug, Singhalissa jetzt zu fragen, ob sie sich und die Gesellschaft vielleicht mit einer Duftkomposition erfrischen möchte.« »Diese eindeutigen Erklärungen muß ich natürlich akzeptieren«, sagte Efraim. »Falls aber jemandem doch noch irgendeine bisher vergessene Einzelheit einfällt, die von Wichtigkeit sein könnte, wäre ich
dankbar, davon verständigt zu werden. – Nun aber sollten wir vielleicht Ihre Würdigkeit ersuchen, uns mit Düften zu erfrischen.« Singhalissa beugte sich steif vor und zog eine Art Schalttafel voller Knöpfe, Tasten, Pipetten, Trichtern und anderen Apparaten aus der Tischplatte. Kleine Laden rechts und links davon enthielten Hunderte von Fläschchen. Ihre schlanken Finger gingen geschickt ans Werk, hoben Phiolen, ließen ein paar Tropfen einer Flüssigkeit in eine silberne Trichteröffnung fallen, hierauf Spuren verschiedener Pulver und schließlich einen Schuß von einer brodelnden, grünen Essenz. Nun drückte Singhalissa auf eine Taste, und eine Pumpe trieb die Dämpfe durch Schläuche unter dem Tisch zu Öffnungen hinter den einzelnen Etikettenschirmen. Inzwischen bereitete Singhalissa mit der anderen Hand eine neue Aromazusammenstellung vor, in die sie die erste kunstvoll übergehen ließ. Die Duftnuancen folgten einander wie die Töne einer Melodie und endeten mit einem stilvollen, dissonanzartig bitteren Hauch. Agnois meldete sich wieder flüsternd. »Die Etikette verlangt, daß Ihr um mehr ersucht!« »Eure Würdigkeit hat es verstanden, unsere Erwartungen kunstvoll zu wecken; Ihr dürft jetzt nicht aufhören!« sagte Efraim. »Es freut mich, daß Ihr meine Bemühungen zu würdigen wißt«, entgegnete Singhalissa, wandte sich aber doch nicht mehr ihren Essenzen zu. Nach kurzem Schweigen ergriff Destian das Wort; ein schwaches, sardonisches Lächeln lag auf seinen Lippen. »Es würde mich interessieren, wie Ihr Gosso und seine Spießgesellen zu bestrafen gedenkt.«
»Das werde ich mir noch überlegen.« Wie von einem unwiderstehlichen, schöpferischen Drang getrieben, beugte sich Singhalissa erneut über ihre Geräte und Fläschchen. Wieder mischte sie Essenzen und ließ die Dünste hinter den Etikettenschirmen ausströmen. Efraim vernahm Agnois' heiseres Wispern: »Jetzt mischt sie aufs Geratewohl rohe Essenzen zusammen – eine abstoßende Geruchszusammenstellung. Sie ist sich offensichtlich über Euren Zustand im klaren und hofft, Euch unsinnige Komplimente zu entlocken.« Efraim lehnte sich von seinem Etiketteschirm zurück und warf einen Blick auf Destian, der seine Belustigung kaum zu unterdrücken vermochte. Sthelanys Gesichtsausdruck war undurchschaubar. Efraim sagte langsam: »Ihre Würdigkeit die Wirwove scheint plötzlich ihren sicheren Instinkt verloren zu haben. Einige dieser Aromen sind selbst für eine formlose Zusammenkunft wie diese höchst unpassend. Versucht Ihre Würdigkeit vielleicht, eine neuartige Komposition aus Port Mar bei uns einzuführen?« Wortlos stellte Singhalissa ihre Tätigkeit ein. Efraim richtete sich in seinem Prunksessel auf. »Das Thema, das bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist, betrifft meinen Befehl, Eure Würdigkeit in den Minot-Turm umzusiedeln. Angesichts der Sache mit den Stühlen und diesen... Gerüchen werde ich meinen Entschluß nicht mehr rückgängig machen. Ich habe all diese Einmischungen und Obstruktionsversuche satt. Es hat damit nun hoffentlich ein Ende, da es mir bestimmt nicht angenehm wäre, Eure Würdigkeit noch weitgehenderen Einschränkungen auszusetzen.«
»Eure Mächtigkeit ist sehr rücksichtsvoll«, sagte Singhalissa mit völlig beherrschter Stimme. Das durch die hohen Fenster einfallende Licht hatte sich unmerklich geändert, als nun Umber vollends in Grünrowan überging. Cirse stieg jetzt nur mehr knapp über den Horizont. »Bald naht Mirk – die schreckliche, dunkle MirkPhase, in der Gharks und Hoos ihr Unwesen treiben und der Schatten des Todes über der Welt liegt«, bemerkte Sthelany. Lorcas fragte in belustigtem Ton: »Was ist ein Ghark, und was ist ein Hoo?« »Unholde.« »In Menschengestalt?« »Das weiß ich nicht«, sagte Sthelany. »Ich flüchte mich hinter eine dreifach verriegelte Tür und mit starken, eisernen Läden geschützte Fenster. Ihr müßt Euch anderswo erkundigen.« Matho Lorcas wiegte staunend den Kopf. »Ich bin viel und weit herumgereist«, sagte er, »aber noch immer verblüfft mich die Mannigfaltigkeit, die man überall im Alastor-Sternhaufen antrifft.« Die Lissolet Sthelany gähnte verstohlen und erkundigte sich leichthin: »Zählt der Edle Lorcas die Rhunen zu jenen Völkern, die seine Verblüffung erregen?« Lorcas grinste und beugte sich begeistert vor. Das war die Atmosphäre, die er liebte: ein angeregtes Gespräch, eine weltanschauliche Diskussion. Elegante Formulierungen voll Andeutungen und Nebensinn, kühne Herausforderungen mit klug geplanten Fallen für den Gesprächspartner, Finten und Paraden und geduldige Erklärungen des Selbstverständlichen,
flüchtige Anspielungen auf Undenkbares. Das Vorspiel begann damit, daß man Stimmung, Intelligenz und Wortgewandtheit der anderen abschätzte. Dazu eignete sich eine pedantisch weitschweifige Ausführung oft ganz ideal. »Es ist ein Axiom der Kulturanthropologie, daß die Sitten und Bräuche einer Gemeinschaft sich um so mehr ins Eigenartige differenzieren, je isolierter die Gemeinschaft ist. Das braucht selbstverständlich kein Nachteil zu sein. Das andere Extrem stellt vermutlich ein Mensch wie ich dar: ein wurzelloser Wanderer, ein Kosmopolit. Eine solche Person wird meist flexibel, anpassungsfähig, ja anpassungswillig sein. Das Gepäck an Konventionen, das ein solcher Mensch mit sich führt, wird sehr einfach sein und auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner seiner Erfahrungen beruhen. Er ist sozusagen Vertreter einer universellen Kultur, mit der er überall im Alastor-Sternhaufen und im GaeaReich zurechtkommen wird. Ich betrachte diese Anpassungsfähigkeit nicht unbedingt als Tugend, möchte aber zu bedenken geben, daß man damit bequemer reist als mit einer Last von Konventionen, die einen nur in einen emotionellen Zwiespalt stürzen, wenn sie durch eine andere Umwelt zu großen Beanspruchungen ausgesetzt werden.« Singhalissa mischte sich in das Gespräch; ihre Stimme war tonlos und trocken wie das Rascheln trockener Blätter. »Der Edle Lorcas vertritt eine Überzeugung, die, wie ich fürchte, für uns Rhunen irrelevant ist. Wie er weiß, reisen wir nie, wenn man von gelegentlichen Ausflügen nach Port Mar absieht. Selbst wenn wir dem Reisen an sich etwas abgewinnen könnten, würden wir uns wohl kaum Gewohn-
heiten zulegen, die wir nicht nur als vulgär, sondern als abstoßend ansehen. Da dies eine formlose Zusammenkunft ist, kann ich es wagen, ein peinliches Thema zu berühren. Der durchschnittliche Bürger Alastors beweist bezüglich seiner Verdauungsorgane einen Mangel an Schamgefühl, den ich nur tierisch nennen kann. Er läßt ohne Scheu jedermann seine Nahrungsmittel sehen, ist stolz auf einen regen Speichelfluß und nennt das Appetit, stopft das Essen vor aller Augen in seinen Schlund, zermahlt es mit den Zähnen und befördert es durch seine Innereien. Mit nur wenig mehr Zurückhaltung scheidet er den verdauten Brei aus und macht sogar Scherze darüber, als wäre er auf seine Verdauungstätigkeit stolz. Natürlich unterliegen wir ebenfalls dem Zwang dieser biologischen Prozesse, aber wir nehmen mehr Rücksicht auf unsere Mitmenschen und erledigen diese Dinge in aller Zurückgezogenheit.« Singhalissas Tonfall war während ihrer ganzen Rede aufreizend gleichgültig geblieben. Ein trockenes Auflachen Destians ließ vermuten, daß er die Ansichten seiner Mutter vollauf teilte. Lorcas gab sich jedoch nicht so schnell geschlagen. Er nickte weise. »Ich muß zugeben, daß alles von der Art der jeweiligen Konventionen abhängt. Schön und gut – wir müssen aber überlegen, inwieweit diese Konventionen nützlich sind. Allzu komplizierte und allzu strenge Konventionen machen das Leben eines Menschen entschieden ärmer. Sie schränken seinen Horizont ein und stumpfen seine Sinne ab. Bei der Lieblingseule des Connat – warum sollten wir unser einziges und einmaliges Leben überhaupt durch irgendwelche Beschränkungen einengen lassen?«
»Eschatologische Andeutungen machen Eure Ausführungen nicht eben verständlicher«, bemerkte Singhalissa mit einem kalten Lächeln. »Im übrigen ist dieser Gesichtspunkt ohnehin nicht relevant. Es ziemt sich vielmehr, seine Ansichten durch eine sorgfältig formulierte Theorie zu untermauern, selbst wenn sie konstruiert sein sollte. Der weltgewandte Reisende und Kosmopolit, den Ihr Euch als Vorbild gewählt habt, sollte eher als alle anderen imstande sein, den Unterschied zwischen Abstraktionen und lebenden, wirklichen Menschen, zwischen soziologischen Vorstellungen und echten, funktionierenden Gemeinschaften zu erkennen. Von Euch aber habe ich bislang nichts als didaktische Spitzfindigkeiten zu hören bekommen.« Lorcas preßte die Lippen zusammen. »Vielleicht, weil Ihr von Ansichten hört, die Ihr gefühlsmäßig ablehnt. Aber ich komme vom Thema ab. Die stabilen, funktionierenden Gemeinschaften, die Ihr erwähnt habt, liefern kein stichhaltiges Argument. Menschliche Gesellschaftsordnungen sind bemerkenswert resistent gegen sogenannte zerrüttende Einflüsse, selbst jene, die sich mit Dutzenden veralteten, unnatürlichen und sinnlosen Konventionen belasten.« Singhalissa gestattete sich, ihre Belustigung offen zu zeigen. »Ich fürchte, Euer Standpunkt ist ziemlich extrem. Nur Kinder lehnen sich gegen Konventionen auf. Konventionen sind für eine zivilisierte Gesellschaft unentbehrlich, ebenso unentbehrlich wie Disziplin für eine Armee, ein Fundament für ein Gebäude oder Wegzeichen für den Wanderer. Eine Armee ohne Disziplin ist ein Mob. Ein Gebäude ohne Fun-
dament ist Schutt. Ein Wanderer ohne Wegzeichen geht in die Irre.« Lorcas stellte fest, daß er nicht alle Konventionen ablehne, sondern nur jene, die lästig und sinnlos seien. Singhalissa dachte nicht daran, ihn so leicht davonkommen zu lassen. »Ich nehme an, daß Ihr damit auf die Rhunen anspielt – doch als Fremder seid Ihr schwerlich in der Lage zu beurteilen, wie sinnvoll unsere Konventionen sind. Ich finde meine Lebensweise vernünftig und geordnet, und das sollte Euch eigentlich genügen. Es sei denn, Ihr haltet mich für zu stumpfsinnig, um darüber mein eigenes Urteil fällen zu können?« Lorcas begriff, daß er an eine ebenbürtige Gegnerin geraten war. Er schüttelte heftig den Kopf. »Aber keineswegs! Ganz im Gegenteil. Ich gebe ohne das geringste Zögern zu, daß Euer Standpunkt sich selbstverständlich von meinem unterscheiden muß.« Aber Singhalissa hatte mittlerweile das Interesse an dem Gespräch verloren. Sie wandte sich an Efraim. »Mit Eurer Erlaubnis, Mächtiger, möchte ich mich jetzt zurückziehen.« »Wie Ihr wünscht, Eure Würdigkeit.« Mit flatterndem grauen Schleier schritt sie hinaus, gefolgt von Destian, der steif und verdrossen hinterhermarschierte, und schließlich Sthelany. Efraim und Matho Lorcas verließen in nicht eben heiterer Stimmung ebenfalls den Saal. Sie kamen auf den Säulengang hinaus, der das dritte Stockwerk der Arjer Skyrd mit den oberen Gemächern des Nordturms verband und beim Balkon des Herbariums endete. Als sie die Treppe des Nordturms hinabstiegen,
ließen sie plötzlich Gongschläge und wildes Horngeschmetter innehalten. Singhalissa warf einen Blick über die Schulter zurück auf die beiden Männer; um ihre schmalen Lippen spielte ein sardonisches Lächeln.
KAPITEL 8 Unter wilden Fanfarengeschmetter, das sechs Männer mit gewundenen Bronzehörnern produzierten, schritt Efraim die Treppe hinunter. Sechs Hornbläser? dachte Efraim erstaunt. Er selbst, der heimkehrende Kaiark, war nur mit vieren empfangen worden! Ein Akt der Geringschätzung, der ihm leider nicht aufgefallen war. Das Haupttor war weit geöffnet, und Agnois stand davor, ausstaffiert mit einem langen, weißen Mantel, der in Blau und Silber bestickt war, und einem komplizierten, turbanartigen Kopfputz: ein für die feierlichsten Anlässe bestimmtes Kostüm. Efraim preßte die Lippen zusammen. Was sollte er nur mit diesem elenden Agnois anfangen, der ihm zwar bei dem eben stattgefundenen Treffen beigestanden, ihn aber in keiner Weise darauf vorbereitet hatte, was ihm jetzt bevorstand? Die Fanfarentöne schwollen zu einem aufgeregten Crescendo an, das abrupt abbrach, als ein Mann in einem kostbaren, schwarzen Gewand, das mit rosa und silbernen Streifen verziert war, durch das Tor trat. Hinter ihm schritten vier Eiodarken. Alle trugen einen Kopfputz aus rosa und schwarzem Stoff, der um die Zacken silberner Stirnreifen gewunden war. Efraim blieb einen Augenblick lang auf dem Treppenabsatz stehen und stieg dann langsam weiter hinab. Agnois verkündete laut: »Seine Hervorragende Mächtigkeit, der Kaiark Rianlle von Eccord!« Rianlle hielt an und musterte Efraim aus hellbraunen Augen unter dunkelblonden Brauen. Er hielt sich
sehr aufrecht, wohl wissend, welchen Eindruck er machte: ein imposanter Mann am Höhepunkt seines Lebens, mit energischen Zügen, mit dunkelblondem, gelocktem Haar – ein stolzer, leidenschaftlicher Mann, der wohl nicht viel Humor hatte, aber bestimmt kein Mensch war, den man unterschätzen durfte. Efraim blieb wartend stehen, bis Rianlle ihm noch zwei Schritte entgegengekommen war, dann sagte er: »Willkommen auf Benbuphar Strang. Ich bin erfreut, wenngleich etwas überrascht, Euch hier begrüßen zu dürfen.« »Ich danke Euch.« Rianlle wandte sich plötzlich von Efraim ab und verbeugte sich höflich. Singhalissa, Destian und Sthelany kamen die Freitreppe herab. »Ihr kennt natürlich Ihre Würdigkeit die Wirwove, Baron Destian und die Lissolet Sthelany«, sagte Efraim. »Dies hier ist der Edle Matho Lorcas aus Port Mar.« Rianlle nahm die Vorstellung mit nicht mehr als einem kühlen Blick zur Kenntnis. Matho Lorcas verneigte sich ehrerbietig. »Zu Euren Diensten, Mächtigkeit.« Efraim trat beiseite und winkte Agnois zu sich. »Führen Sie diese edlen Herren in angemessene Räume, damit sie sich erfrischen können, und kommen Sie dann in den Ehrensalon.« Nach einer Weile erschien Agnois im Salon des Kaiarken. »Ja, Euer Mächtigkeit?« »Warum haben Sie mich nicht darüber informiert, daß Rianlle kommen würde?« Agnois erwiderte in gekränktem Ton: »Ich wußte
es selbst nicht, bis mir Ihre Würdigkeit beim Verlassen des Empfangssalons befahl, das Begrüßungsritual zu arrangieren. Es blieb mir kaum Zeit genug, den Auftrag zu erfüllen.« »Ich verstehe. Rianlle trägt seinen Kopfputz innerhalb des Schlosses. Ist das üblich?« »Das Höflichkeitsprotokoll erfordert es, Mächtigkeit. Der Kopfschmuck symbolisiert Autorität und autonome Herrschergewalt. Bei einem formellen Gespräch zwischen Gleichrangigen kleiden sich die beiden Partner üblicherweise ähnlich.« »Dann bringen Sie mir die entsprechenden Gewänder und so einen Kopfputz, falls vorhanden.« Efraim zog sich um. »Führen Sie Rianlle hierher, wann immer es ihm beliebt. Wenn sein Gefolge mitkommen will, erklären Sie, daß ich ein privates Gespräch mit Rianlle zu führen wünsche.« »Wie Ihr befehlt, Mächtigkeit.« Agnois zögerte. »Dürfte ich noch darauf hinweisen, daß Eccord ein mächtiges Reich mit einer siegreichen Tradition ist. Rianlle ist wohl eitel, aber nicht dumm. Er schätzt sich und sein Prestige außerordentlich hoch ein.« »Danke, Agnois. Bringen Sie also Rianlle her; ich werde ihn so taktvoll wie möglich behandeln.« Eine halbe Stunde später führte Agnois Rianlle in den Salon. Efraim erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Wollt Ihr euch setzen? Dieser Sessel ist recht bequem.« »Danke.« Rianlle ließ sich in einem Polsterstuhl nieder. »Euer Besuch ist mir natürlich höchst willkommen«, sagte Efraim. »Ihr müßt mir verzeihen, wenn ich verwirrt erschien; ich hatte noch kaum Zeit, mich
an die neue Situation zu gewöhnen.« »Ihr seid in einem sehr günstigen Zeitpunkt zurückgekehrt«, bemerkte Rianlle mit einem Glitzern in den hellbraunen Augen. »Zumindest in einem für Euch günstigen.« Efraim lehnte sich zurück und musterte Rianlle fünf Sekunden lang. Dann sagte er in kühlem, gleichmütigem Ton: »Ich habe meine Rückkehr gewiß nicht danach geplant; ich hatte keine Ahnung, daß Jochaim ermordet worden war, bis ich in Port Mar eintraf.« »Erlaubt mir, Euch mein persönliches Beileid und das aller von Eccord anläßlich seines unzeitgemäßen Todes auszudrücken. Ihr habt das Wort Mord gebraucht?« »Es gibt Hinweise, die etwas Derartiges vermuten lassen.« Rianlle nickte bedächtig und sagte: »Ich bin nicht nur gekommen, um Euch mein Mitgefühl kundzutun, sondern auch, um die Beziehungen zwischen unseren Reichen zu bestärken.« »Seid versichert, daß auch mir an einer Fortsetzung dieser Freundschaft liegt.« »Ausgezeichnet. Ich nehme an, Ihr werdet einen möglichst kontinuierlichen Übergang zwischen Jochaims Herrschaft und Eurer anstreben?« Efraim begann eine Absicht hinter Rianlles gefälligen Bemerkungen zu spüren. Er sagte vorsichtig: »In vielen Fällen werde ich das gewiß tun. In anderen wird das angesichts geänderter Umstände kaum möglich sein.« »Ein weiser Standpunkt! Aber erlaubt mir, auf etwas hinzuweisen: in der Beziehung zwischen Eccord
und Scharrode kann von geänderten Umständen keine Rede sein! Ich versichere Euch, daß ich beabsichtige, jede Jochaim gegenüber eingegangene Verpflichtung buchstabengetreu zu erfüllen; es wäre mir eine Erleichterung zu hören, daß das auch umgekehrt gilt.« Efraim antwortete mit einer wegwerfendfreundlichen Handbewegung: »Wir wollen im Augenblick lieber nicht von Politik reden. Ich bin mit der gegenwärtigen Situation noch nicht ganz vertraut, deshalb hätte alles, was ich jetzt sagen könnte, nur provisorischen Charakter. Da aber unsere beiden Reiche so eng in Freundschaft verbunden sind, wird, was dem einen nützt, auch für das andere von Vorteil sein, und ich kann Euch versichern, daß ich für Scharrode mein Bestes tun werde.« Rianlle steifte Efraim mit einem scharfen Blick und starrte dann zur Decke. »Einverstanden – die schwerwiegenden Entscheidungen können warten. Man sollte sie keinesfalls überstürzen... Aber es gibt eine ziemlich belanglose Sache, die wir leicht jetzt entscheiden könnten, ohne daß Ihr diesem Prinzip untreu werden müßtet. Ich spreche von dem kleinen Fleckchen Land auf der Flüsterkuppe, wo ich zu unserer beiderseitigen Erbauung einen Pavillon errichten möchte. Jochaim stand im Begriff, mir das Stück zu überschreiben, als ihn der Tod ereilte.« »Ich frage mich, ob da vielleicht ein Zusammenhang bestanden hat«, überlegte Efraim laut. »Natürlich nicht! Wie wäre das möglich?« »Ich habe vielleicht eine allzu rege Phantasie... Was nun die Flüsterkuppe betrifft, so muß ich zugeben, daß es mir widerstrebt, auch nur einen Quadratzen-
timeter des geheiligten Bodens von Scharrode abzugeben – doch ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen.« »Das genügt mir nicht!« Rianlles Stimme hatte einen scharfen, metallisch vibrierenden Unterton bekommen. »Ihr dürft mir die Erfüllung meines Wunsches nicht versagen!« »Wer bekommt schon immer alle seine Wünsche erfüllt? Aber lassen wir das Thema. Vielleicht kann ich die Lissolet dazu bewegen, uns eine Folge anregender Düfte zu komponieren...« Steif und mißmutig saß Rianlle mit den anderen am zwanzigseitigen Tisch des Großen Empfangssaals. Sthelany schuf eine Folge von Gerüchen, die irgendwie an eine Wanderung über die Hügel erinnerten – Erde und sonnenwarme Pflanzen, Wasser und nasse Steine, der Duft von Anthion und Waldveilchen, Moos, modriges Holz, Kampferkraut. Sie hantierte nicht mit der Routine, die Singhalissa besaß, sondern schien sich eher spielerisch mit den Fläschchen und Phiolen zu beschäftigen, so wie ein Kind sich mit bunten Kreiden unterhält. Auf einmal bewegten sich ihre Finger rascher; sie begann Interesse an ihrer Schöpfung zu finden, so wie vielleicht ein Musiker plötzlich einen neuen Sinn in der Musik findet, die er spielen muß. Verschwunden waren die Hügel, der Wald; die Gerüche waren erst heiter, leicht und frisch, dann verloren sie nach und nach ihren Charakter, nur um in herbstlich süße Melancholie überzugehen – Sonnenblumen in einem überwucherten Garten. Diese Geruchssymphonie wurde schließlich von einem bitteren Dunst überlagert, einem salzig
scharfen Aroma, dem zum Abschluß ein hoffnungsloser, traurig-dumpfer Hauch folgte. Sthelany blickte mit einem verzerrten Lächeln auf und schloß die Laden. Rianlle rief begeistert: »Ihr habt uns durch Eure Darbietung erschüttert und Visionen von höchster künstlerischer Vollendung geschaffen!« Efraim sah sich in der Tischrunde um. Destian spielte mit einem silbernen Armreif; Singhalissa saß reglos da und starrte vor sich hin; die Eiodarken von Eccord unterhielten sich murmelnd. Lorcas' Blick hing bewundernd an Sthelany. Efraim dachte: er ist wirklich fasziniert von ihr, aber er sollte seine Gefühle nicht so offen zeigen, sonst wird man ihn für sebalisch halten. Rianlle wandte sich an Efraim. »Als Ihr von Mord spracht, habt Ihr ein häßliches Wort gebraucht, um den Tod des geehrten Jochaim zu beschreiben. Wenn Ihr die Sache so anseht – wie werdet Ihr dann diesen Hund Gosso bestrafen?« Efraim bemühte sich, in seiner Miene nichts von dem Ärger erkennen zu lassen, den Rianlles Worte in ihm aufflammen ließen. Es war vielleicht unklug gewesen, von Mord zu sprechen, aber mußte Rianlle denn mit Einzelheiten aus einem Gespräch herausplatzen, das Efraim als vertraulich angesehen hatte? Er fühlte, wie Singhalissa und Destian plötzlich aufmerksam wurden. »Ich habe noch keine genauen Pläne. Ich beabsichtige jedoch, den Krieg mit Gorgetto auf die eine oder andere Weise zu beenden; er ist sinnlos und erschöpft uns.« »Wenn ich Euch richtig verstehe, so gedenkt Ihr,
nur mehr nützliche Kriege zu führen?« »Wenn es unbedingt Krieg geben muß, dann will ich nur um sinnvoller und notwendiger Ziele willen kämpfen. Ich halte Krieg nicht für einen Zeitvertreib, und ich werde nicht zögern, zu ungewöhnlichen Maßnahmen zu greifen.« Die Verachtung in Rianlles Lächeln war kaum zu übersehen. »Scharrode ist ein kleines Reich. Realistisch gesehen seid Ihr der Gnade Eurer Nachbarn ausgeliefert, wie ungewöhnlich Eure Unternehmungen auch sein mögen.« »Eure Ansichten sind mir natürlich sehr wertvoll«, sagte Efraim. Rianlle fuhr in gemessenem Ton fort: »Ich erinnere mich, daß vor einiger Zeit eine Trisme in Erwägung gezogen wurde, um die Macht von Scharrode und Eccord zu vereinen. Es ist vielleicht verfrüht, dieses Thema jetzt wieder aufzugreifen, angesichts der ungeordneten Situation hier in Scharrode.« Aus dem Augenwinkel nahm Efraim eine kaum merkliche Bewegung in der Tischrunde wahr, als suche eine unerklärliche Spannung ein Ventil. Er begegnete dem dunklen Blick Sthelanys; ihre Miene wirkte in sich gekehrt wie meistens und – war das möglich? – irgendwie sehnsüchtig. Rianlle sprach weiter, und aller Augen wandten sich wieder dem ungewöhnlich eindrucksvollen Gesicht dieses Edelmannes zu. »Nun, zweifellos wird das alles noch in Ordnung kommen. Freundschaftliche Verständigung zwischen unseren beiden Reichen ist unabdingbar. Zur Zeit steht dem noch ein kleines Hindernis im Wege – ich beziehe mich auf das nicht erfüllte Übereinkommen hinsichtlich des Dwan Jar,
der Flüsterkuppe. Wenn eine Trisme über dieses Hindernis hinweghelfen würde, so müßte ich eine solche Lösung natürlich in wohlwollende Erwägung ziehen.« Efraim lachte und schüttelte den Kopf. »Eine Trisme ist eine Verpflichtung, die ich im Augenblick nicht zu übernehmen bereit bin, insbesondere, da Eure Mächtigkeit solche deutlichen Zweifel zum Ausdruck bringt. Ich muß im übrigen Eure Klarsichtigkeit bewundern: Ihr habt die Lage hier richtig beurteilt. Scharrode steckt voll ungelöster Probleme, die erst geklärt werden müssen, bevor wir uns an neue Aufgaben machen können.« Rianlle erhob sich, ebenso sein Gefolge von Eiodarken. »Die zuvorkommende Gastfreundschaft von Scharrode läßt uns bedauern, daß wir unseren Besuch nicht länger ausdehnen können, aber wir müssen uns jetzt wirklich verabschieden. Ich hoffe, daß Eure Mächtigkeit sich in unser aller Interesse zu einer realistischen Beurteilung von Vergangenheit, Gegenwart und voraussichtlicher Zukunft bereitfindet.« Efraim und Lorcas stiegen zu den Zinnen des Deistary-Turms hinauf und sahen zu, wie Rianlle und sein Gefolge den gemieteten Luftwagen* bestiegen, der einen Augenblick später startete und in Richtung Norden flog. Lorcas begab sich in sein Refektorium, um dort eine heimliche Mahlzeit einzunehmen; danach wollte er schlafengehen. Efraim blieb auf dem Turm und *
Die Rhunenreiche dürfen sich wegen ihrer aggressiven Neigungen keine Luftfahrzeuge halten. Wenn ein Rhune einen Ausflug machen will, muß er in Port Mar anrufen und sich für den Anlaß das passende Luftfahrzeug mieten.
blickte über das Tal hinaus, das im Licht von Halbaud einen so eigenartigen Zauber zeigte, daß er meinte, das Herz stehe ihm still. Aus diesem Land war sein Körper gewachsen; es war sein, und seine Aufgabe war es, es zu behüten, zu lieben und zu regieren, solange er lebte. Und doch – wie sinnlos erschien ihm das jetzt alles! Scharrode war für ihn verloren; er hatte die Bande der Tradition zerrissen. Nie wieder konnte er ein Rhune sein, denn das Erlebte ließ sich nicht vergessen. In Scharrode würde ihm immer irgend etwas fehlen, und anderswo würde es genauso sein. Wahre Zufriedenheit würde er wohl nirgends mehr finden. Er studierte die Landschaft mit der Intensität eines Menschen, der zu erblinden fürchtet. Über die AlodeKlippe fiel schräg das Licht ein und streifte Wiesen und Wälder; das Blattwerk schien wie von innen heraus zu leuchten; hartes Limonengrün, metallisches Blaugrau, in das feuerrote Samenkapseln wie vom Pinsel eines Pointillisten hingetupft wirkten, dunkles Braun, Schwarzblau, Schwarzgrün. Rundum erhob sich der Schutzwall der großen Gipfel, jeder nach alten Sagen benannt: der hochmütige Shanajra mit seinem Bart aus Schnee, der sich verärgert über den Spott der Vogelschrofen nach Süden abwandte und in seiner Kränkung versteinerte; die zwei Hexen Kamr und Dimw, die griesgrämig über Danquil wachen, das unter einer Decke von Murrebäumen seinen verzauberten Schlaf schläft; und dort drüben die klippengesäumte Flüsterkuppe, die Rianlle begehrte und über die die Fwai-Chi zu ihren heiligen Plätzen in den Lenglin-Bergen wanderten. Sein Land – und doch nie seines... Was sollte er nur
tun? Im ganzen Reich gab es nur einen Mann, dem er trauen konnte: Matho Lorcas, dem Herumtreiber aus Port Mar. Gosso mochte sein Friedensangebot als ein Eingeständnis der Schwäche auslegen – oder auch nicht. Rianlles schlecht verhehlte Drohungen mochten ernst gemeint sein – oder auch nicht. Singhalissa mochte doch noch eine Intrige einfädeln, die ausgeklügelt genug war, daß er sie nicht durchschaute. Efraim begriff, daß er so bald wie möglich die schardischen Eiodarken zusammenrufen mußte, damit sie ihm bei seinen Entscheidungen halfen. Es wurde düster über der Landschaft, als Osmo hinter der Alode-Klippe unterging. Furad stand noch tief über dem Shanajra am Himmel. Leichte Schritte wurden auf dem Marmorboden hörbar; Efraim drehte sich um und entdeckte Sthelany. Sie zögerte und kam dann zu ihm herüber. Nebeneinander lehnten sie an der Brüstung. Efraim musterte Sthelanys Gesicht aus dem Augenwinkel. Was ging hinter dieser klaren, bleichen Stirn vor? Was hatte das halb spöttische, halb sehnsüchtige Lächeln zu bedeuten, das so charakteristisch für ihren hübschen Mund war? »Mirk naht«, sagte Sthelany. Sie streifte Efraim mit einem Blick. »Eure Mächtigkeit hat zweifellos all die geheimen Gänge des Schlosses genau erforscht?« »Nur, um mich vor der Überwachung durch Eure Mutter zu schützen.« Sthelany schüttelte lächelnd den Kopf. »Interessiert sie sich denn so für Eure Handlungen?« »Irgendein weibliches Wesen des Hauses hat ein solches Interesse bewiesen. Könntet Ihr es gewesen sein?«
»Ich habe nie einen Mirk-Gang betreten.« Efraim glaubte ein Ausweichen aus dieser Antwort herauszuhören. »Da Ihr mich danach gefragt habt – ich habe tatsächlich die Mirk-Gänge erforscht, und ich werde dafür sorgen, daß sie durch schwere Eisentüren abgesperrt werden.« »Es scheint demnach, daß Eure Mächtigkeit nicht die Absicht hat, die Vorrechte Eurer Stellung auszunützen?« Efraim zog die Brauen hoch und erwiderte in, wie er hoffte, würdevollem Ton: »Ich habe gewiß nicht die Absicht, jemandem gegen seinen Willen zu nahe zu treten. Außerdem ist ja, wie Ihr sicherlich wißt, der Gang zu Euren Gemächern zugemauert.« »Tatsächlich! Das ist mir eine zusätzliche Beruhigung! Es war sonst meine Gewohnheit, bei Mirk hinter dreifach verriegelter Tür zu schlafen, aber diese Mitteilung Eurer Mächtigkeit macht eine solche Vorsichtsmaßnahme überflüssig.« Efraim überlegte verwundert: wollte sie ihn herausfordern? Verlocken? Verspotten? Er sagte: »Ich könnte aber meine Meinung noch ändern. Ich habe mir verschiedene ausländische Sitten angewöhnt, die mir erlauben, Euch zu gestehen, daß ich Euch sehr anziehend finde.« »Bitte! Wir wollen nicht über solche Dinge reden.« Sthelany zeigte sich jedoch keinesweg empört. »Und was ist mit den drei Riegeln?« Sthelany lachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Eure Mächtigkeit sich zu einer so würdelosen Eskapade bereitfindet; die Riegel sind gewiß überflüssig.« Während ihres Gesprächs war Furad immer tiefer gesunken und glitt nur halb unter den Horizont, so
daß der Himmel sich zusehends verdunkelte. Sthelany rief mit einem Ausdruck kindlicher Verwunderung: »Kommt jetzt Mirk über uns? Ich habe so ein seltsames Gefühl.« Das Gefühl, das sie übermannte, dachte Efraim, schien wirklich echt zu sein. Ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre Brust hob sich in heftigen Atemzügen, und in ihren Augen leuchtete ein dunkles Glimmen. Furad sank noch tiefer, verschwand fast ganz von dem rauchig, orangefarbenen Himmel. Kam jetzt wirklich Mirk? Sthelany keuchte und taumelte gegen Efraim; er nahm ihren warmen Duft wahr, aber als er ihre Hand fassen wollte, zeigte sie zum Horizont. »Da, Furad steigt wieder auf; Mirk ist noch einmal abgewandt, und alles lebt wieder!« Mehr sagte Sthelany nicht, aber als sie sich entfernte, blieb sie noch einmal stehen, um eine weiße Blüte zu berühren, die in einem Kübel wuchs. Dabei blickte sie flüchtig über die Schulter zurück. Efraim ging schließlich auch wieder hinein und stieg hinunter zum Verwaltungsbüro. Im Gang davor stieß er auf Destian, der anscheinend das gleiche Ziel hatte. Destian nickte jedoch nur kühl und machte kehrt. Efraim schloß die Tür hinter sich und rief die Mietwagenfirma in Port Mar an. Er bestellte einen Flugwagen und bedingte sich aus, einen anderen Piloten als den seiner Ansicht nach gemeingefährlichen Flaussig zugeteilt zu bekommen. Hierauf verließ er das Büro, zögerte, kehrte um, versperrte die Tür und zog den Schlüssel ab.
KAPITEL 9 Efraim und Matho Lorcas bestiegen den Flugwagen, der sich daraufhin in die Luft erhob und über dem Tal des Flusses Esch immer höherschraubte, bis sie schließlich auf der Höhe der umgebenden Gipfel schwebten. Efraim nannte der Reihe nach ihre Namen: »Horsuke, Gleide-Klippe, der Tassenberg; die Alode-Klippe, Haujefolge, Scarlume und der Teufelsdrachen, der Held Bryn; Kamr, Dimw und Danquil; Shanajra, die Vogelschrofen, Gossil der Verräter – Sie sehen ja die vielen Lawinen – Camanche und dort drüben die Flüsterkuppe, Pilot, bringen Sie uns zur Flüsterkuppe.« Langsam verschoben sich die nahen Berggipfel vor der gleichbleibenden Kulisse anderer, fernerer Bergreiche. Unterhalb der wolkendurchbohrenden Schrofen des Camanche wurde bald die Flüsterkuppe zur Gänze sichtbar – eine von Abgründen umgebene Bergwiese, von der man nach Süden über Scharrode und das Tal der Esch hinwegsehen konnte, nach Norden über die verzweigten Täler von Eccord. Der Flugwagen setzte auf; Efraim und Lorcas sprangen hinaus in das überraschend hohe, farndurchsetzte Gras. Die Luft war ruhig zwischen den vereinzelten, niedrigen Baumgruppen; die Flüsterkuppe glich einer Insel vollkommenen Friedens, die irgendwo im Nichts zu schweben schien. Efraim hob die Hand. »Horchen Sie!« Von überall – niemand hätte sagen können, woher eigentlich – ertönte ein wisperndes Summen, das anund abschwoll wie eine Melodie, manchmal seufzend
verklang, dann wieder fast wie ein Singen in der Luft vibrierte. »Der Wind?« Lorcas blickte zu den Bäumen hinüber. »Kein Blatt rührt sich. Die Luft ist ganz ruhig.« »Schon das ist seltsam. In dieser Höhe würde man zumindest etwas Wind erwarten.« Sie wanderten weiter in die Wiese hinein. Efraim entdeckte im Schatten der Bäume eine Gruppe FwaiChi, die sie reglos beobachteten. Lorcas und Efraim blieben stehen. »Das sind sie also«, sagte Lorcas, »die ›Wanderer des Lebensweges‹, fürwahr richtige Pilger in ihrem räudigen Fell.« Die beiden gingen weiter, bis sie über den Abbruch hinaus nach Eccord sehen konnten. Belrod Strang war in dem wogenden Meer waldbedeckter Hügel kaum auszumachen. »Die Aussicht ist phantastisch«, stellte Lorcas fest. »Wollen Sie Rianlle seinen Wunsch erfüllen?« »Nein. Allerdings bin ich mir darüber klar, daß er schon morgen tausend Mann heraufschicken könnte, um das Gelände vorzubereiten, und weitere tausend, die ihm seinen Pavillon bauen, und daß ich dagegen sehr wenig tun könnte.« »Sonderbar«, sagte Lorcas. »Wirklich sonderbar.« »Wieso das?« »Dieser Platz ist herrlich – in der Tat märchenhaft. Ich hätte selbst gern einen Pavillon hier oben. Ich habe mir jedoch die Landkarte angeschaut. Die Bergreiche weisen solche Plätze in Menge auf. In Eccord allein muß es mindestens zwanzig ebenso schöne geben. Ich verstehe nicht, warum Rianlle sich ausgerechnet auf diesen Fleck hier versteift.« »Ich gebe zu, das ist seltsam.«
Sie machten kehrt und gingen über die Wiese zurück, wo sie auf vier Fwai-Chi stießen, die sie offensichtlich erwarteten. Als Efraim und Lorcas herankamen, zogen sie sich ein paar Schritte zurück, knurrend und zischelnd. Die beiden Männer blieben stehen. Efraim sagte: »Ihr scheint verstört zu sein. Belästigen wir euch?« Eines der Wesen antwortete in kehligem Gaeanisch: »Wir gehen den Lebensweg. Das ist ein ernstes Vorhaben. Wir wollen keine Menschen sehen. Warum kommt ihr hierher?« »Aus keinem besonderen Grund – wir wollten uns nur einmal die Gegend ansehen.« »Ich merke, daß ihr nichts Schlechtes vorhabt. Dies ist unser Land, nur für uns bestimmt, durch einen sehr alten Vertrag mit den Kaiarken. Weißt du das nicht? Ich sehe, du weißt es nicht.« Efraim lachte bitter auf. »Ich weiß gar nichts – nichts von dem Vertrag oder von sonstigen Dingen. Eine Fwai-Droge hat mir das Gedächtnis genommen. Gibt es ein Gegenmittel?« »Es gibt keines. Das Gift zerstört die Wege zu den Tafeln des Gedächtnisses. Diese Wege können nicht mehr wiederhergestellt werden. Trotzdem mußt du deinen Kaiarken daran erinnern...« »Ich bin der Kaiark.« »Dann mußt du wissen, daß es den Vertrag gibt.« »Der Vertrag wird nicht mehr viel wert sein, wenn das Land an Eccord abgetreten wird.« »Das darf nicht geschehen. Wir haben einander das Wort ›für immer‹ gesagt.« »Ich müßte diesen Vertrag erst einmal selbst sehen«, sagte Efraim. »Ich werde in meinem Archiv ge-
nau nachsehen.« »Der Vertrag ist nicht in deinem Archiv«, sagte der Fwai-Chi, und daraufhin schlurfte die Gruppe wieder zurück in den Wald. Efraim und Lorcas starrten ihnen nach. »Was hat er nur damit gemeint?« wollte Efraim verblüfft wissen. »Er scheint der Ansicht zu sein, daß Sie den Vertrag nicht finden werden.« »Das wird sich ja bald herausstellen«, meinte Efraim. Sie gingen über die Wiese zurück zum Flugwagen. Beim Einsteigen zögerte Lorcas und blickte zum Camanche hinauf. »Ich glaube, ich weiß, wie das Flüstern entsteht. Der Wind strömt am Camanche hoch, daran vorbei, bricht sich an den Felsen und fegt in tausenden Wirbeln hoch über die Wiese hinweg. Was wir hören, ist die Reibung dieser Luftwirbel untereinander.« »Sie haben vielleicht recht. Mir sind jedoch andere Erklärungen lieber.« »Zum Beispiel?« »Die Schritte einer Million zu Staub gewordener Pilger; Wolkenfeen; Camanche, der die Sekunden zählt.« »Ich muß zugeben, das klingt besser. Wohin wollen wir jetzt?« »Ihre Feststellung, daß es zwanzig gleichwertige Plätze in Eccord geben müßte, interessiert mich. Wir werden sie uns einmal ansehen.« Sie flogen in nördlicher Richtung, zwischen den Gipfeln, Kämmen und Felszacken von Eccord umher, und hatten innerhalb einer Stunde ein Dutzend
Bergwiesen entdeckt, von denen die Aussicht mindestens ebenso herrlich war wie von der Flüsterkuppe. »Rianlle hat wirklich seltsame Launen«, sagte Lorcas. »Ich möchte nur wissen, aus welchem Grund!« »Ich kann mir keinen vorstellen.« »Angenommen, er bekommt die Wiese und verwirklicht seine Pläne. Was wird dann aus den FwaiChi?« »Ich bezweifle«, meinte Efraim nachdenklich, »daß es Rianlle gefallen würde, wenn Fwai-Chi-Pilger durch seinen Pavillon wandern und sich auf seiner Terrasse ausruhen. Aber wie könnte er sie daran hindern? Sie sind durch das Gesetz des Connat geschützt.« Der Flugwagen glitt in einer Spirale über Scharrode hinunter und landete vor Benbuphar Strang. Als die beiden Männer ausstiegen, fragte Efraim: »Wollen Sie nicht lieber nach Port Mar zurückkehren? Ich freue mich über Ihre Gesellschaft, aber Sie haben hier doch keinerlei Unterhaltung oder Zerstreuung. Außerdem rechne ich mit einer Menge Unannehmlichkeiten in nächster Zeit.« »Nun ja, ich bin wirklich stark versucht abzureisen«, gab Lorcas zu. »Das Essen hier ist abscheulich, und ich speise auch nicht gern in einer winzigen Kammer. Singhalissa geht mir mit ihrem eiskalten Intellekt auf die Nerven. Destian ist unausstehlich. Und was Sthelany betrifft – ach, die zauberhafte Sthelany! Ich hoffe, sie zu einem Besuch in Port Mar überreden zu können. Das sieht vielleicht wie eine undurchführbare Aufgabe aus, aber mit irgend etwas muß man ja anfangen.« »Sie wollen also in Benbuphar Strang bleiben?«
»Noch ein oder zwei Wochen, mit Ihrer Erlaubnis.« Efraim schickte den Flugwagen zurück, und die beiden Männer gingen ins Schloß. »Sie haben sie also durch Ihren Charme zu bekehren versucht?« Lorcas nickte. »Sie ist so seltsam undurchschaubar. Es wäre falsch zu behaupten, daß sie erst heiß und dann kalt ist; sie ist erst kalt und dann noch kälter; andererseits könnte sie mir jedoch leicht befehlen, ihr überhaupt nicht mehr unter die Augen zu kommen.« »Hat Sie Ihnen die Schrecken des Mirk ausgemalt?« »Sie hat mir versichert, daß sie ihre Tür mit drei Riegeln versperrt, die Fensterläden zuhakt, Fläschchen mit abstoßenden Gerüchen bereithält und ganz allgemein nicht belästigt zu werden wünscht.« Die beiden blieben stehen und blickten zu dem Balkon hinauf, hinter dem Sthelanys Gemächer lagen. »Schade, daß der Mirk-Gang zugemauert ist«, überlegte Lorcas. »Wenn sonst alle Mittel versagen, bleibt einem nichts übrig, als ein Mädchen im Dunkeln zu überfallen. Sie hat mir allerdings ziemlich deutlich zu verstehen geben, daß ich sie lieber nicht besuchen soll. Als ich sie im Garten der Bitteren Düfte zu küssen versuchte, hat sie mir ganz offen gesagt, ich solle sie in Ruhe lassen.« »Warum versuchen Sie's nicht mit Singhalissa? Oder hat sie Sie auch abgewiesen?« »Welch ein Gedanke! – Ich würde vorschlagen, daß wir uns jetzt eine Flasche Wein genehmigen und die Archive nach dem Fwai-Chi-Vertrag durchsuchen.« Im Index zu den Archiven war kein Vertrag mit den Fwai-Chi erwähnt. Efraim ließ Agnois kommen, der jedoch beteuerte, von einem solchen Dokument nichts zu wissen. »Ein solches Übereinkommen, Euer
Mächtigkeit, würde ohnehin nicht als formeller Vertrag abgefaßt werden.« »Vermutlich nicht. Warum will Rianlle die Flüsterkuppe haben?« Agnois fixierte einen Punkt über Efraims Kopf. »Soviel ich weiß, beabsichtigt er, dort einen Sommerpavillon zu errichten, Mächtigkeit.« »Er hat doch bestimmt mit Kaiark Jochaim deshalb verhandelt?« »Das vermag ich nicht zu sagen, Euer Mächtigkeit.« »Wer führt das Archiv?« »Der Kaiark selbst, mit einem Schreibgehilfen, wenn nötig.« Efraim entließ Agnois mit einem Nicken. »Also kein Vertrag«, brummte Efraim ärgerlich. »Gar nichts, was ich Rianlle zeigen könnte!« »Das haben die Fwai-Chi ja gesagt.« »Woher konnten sie das wissen? Unsere Archive bedeuten ihnen nichts!« »Es handelte sich bei dem Vertrag vermutlich um ein mündliches Abkommen; sie wußten, daß kein Dokument existierte.« Erregt sprang Efraim auf. »Ich muß Rat suchen; die Situation ist unerträglich geworden.« Er läutete nochmals nach Agnois. »Eure Mächtigkeit wünschen?« »Benachrichtigen Sie die Eiodarken; ich möchte, daß sie sich in zwanzig Stunden hier versammeln. Es geht um eine dringende Angelegenheit – ich erwarte, daß alle kommen.« »Diese Stunde, Euer Mächtigkeit, fällt mitten in die Mirk-Phase.« »Oh... also dann in dreißig Stunden. Noch etwas –
Sie werden Singhalissa nichts von dem Treffen sagen, auch nicht Destian oder Sthelany oder sonst jemandem, der die Information weitergeben könnte. Und achten Sie darauf, daß Sie Ihre Anweisungen nicht in Hörweite der genannten Personen geben, und machen Sie sich auch keine schriftlichen Notizen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Vollkommen, Euer Mächtigkeit.« Agnois zog sich mit einer Verbeugung zurück. »Wenn er mich diesmal wieder enttäuscht«, sagte Efraim, »wird er keine Nachsicht mehr finden.« Er trat ans Fenster und konnte nach einer Weile beobachten, wie sechs Unterkämmerer die Burg verließen. »Die Boten sind unterwegs. Nun, sobald sie zurückkehren, wird Singhalissa erfahren, worum es geht, aber sie kann nicht mehr viel tun.« »Sie hat sich vermutlich inzwischen in das Unabänderliche gefügt«, sagte Lorcas. »Aber ist das auf der Terrasse dort drüben nicht Sthelany? Wenn Sie erlauben, will ich ihr Gesellschaft leisten.« »Wie Sie wollen. Aber lassen Sie mich noch etwas sagen, weil ich gerade daran denke: Vorsicht ist angebracht. Mirk rückt näher, und niemand weiß, welche finsteren Dinge sich ereignen können. Schließen Sie sich in Ihren Gemächern ein, gehen Sie schlafen, und kommen Sie erst heraus, bis es wieder hell wird.« »Ein weiser Rat«, meinte Lorcas langsam. »Ich würde gewiß nicht gerne einem Ghark oder auch einem Hoo begegnen.«
KAPITEL 10 Nach sechs Stunden Aud verschwanden Furad und Osmo vom Himmel. Cirse und Maddar gingen rasch und nahezu senkrecht unter, anstatt schräg zum Horizont herabzugleiten. Maddar versank als erste, so daß das Land für einige Augenblicke noch in Grünrowan-Licht getaucht war, dann verschwand Cirse hinter der Flüsterkuppe. Ein blasser, flackernder Schein wich nach wenigen Minuten der Dunkelheit. Mirk war über Scharrode gekommen. In den Bauernhöfen flammten Lichter auf, die jedoch bald wieder gelöscht wurden; in der Stadt rasselten Fensterläden zu, Türen schlugen, Riegel wurden scharrend vorgeschoben. Wer sich aus Furcht oder mangelnder Abenteuerlust abgesichert hatte, ging zu Bett. Andere zogen sich bei Kerzenlicht nackt aus und legten dann schwarze Schultercapes, schwarze Stiefel und schreckliche Mann-Masken an. Manch eine Frau legte die grauen Schleiergewänder ab und warf sich ein weiches, weißes Musselinhemd über; dann schob sie die Riegel an den Fensterläden oder an der Tür zurück, niemals aber beide; schließlich nahm sie im Schein eines kleinen Wachslichts auf ihrer Liege Platz und wartete, halb furchtsam, halb hoffnungsvoll erregt oder auch in einem seltsamen Zustand stummen Entsetzens. Manche, die Tür und Fenster verriegelt hatten, um sich von Angst und schmerzlichem Sehnen erfüllt in ihr Bett zu verkriechen, standen später doch noch auf und zogen irgendwo einen Riegel zurück. Groteske Gestalten streiften durch den Mirk, ohne
einander zu beachten. Wenn einer das Fenster seiner Wahl unverriegelt fand, befestigte er eine weiße Blume an der Haspe, damit nicht ein anderer hier eindrang. Dann kletterte er durch das Fenster hinein zu der schweigend Wartenden – wie eine Verkörperung des Dämons Kro. Auf Benbuphar Strang wurden wie anderswo auch die Lichter gelöscht, die Türen verriegelt und die Fensterläden geschlossen. In den Dienstbotenquartieren trafen einige Vorbereitungen für ihren Streifzug, andere wiederum suchten in unruhigem Schlaf Zuflucht. Auch in den Turmgemächern wurden Vorbereitungen getroffen. Efraim, bewaffnet mit seiner kleinen Pistole, verriegelte und versperrte die Tür, die den Zugang vom Sacarlatto versperrte, und auch den Geheimgang, der zum zweiten Stockwerk des JaherTurms führte. Dann kehrte er in die Bibliothek zurück, wo er sich in einen umfangreichen roten Ledersessel fallen ließ, sich ein Glas Wein einschenkte und düster vor sich hin grübelte. Er ließ die Tage seit seiner Rückkehr nach Marune noch einmal in Gedanken vorüberziehen und versuchte, seine Lage zu beurteilen. Seine Erinnerungen waren und blieben verloren, und seinen Feind hatte er auch noch nicht entlarven können. Die Minuten verrannen. Gesichter tauchten vor seinem inneren Auge auf, und eines kehrte immer wieder und ließ sich nicht vertreiben – ein blasses, zartes Gesicht mit dunkel glänzenden Augen. Sie hatte ziemlich offen angedeutet, daß ihre Tür nicht verriegelt sein würde. Efraim sprang auf und begann hin und her zu wandern. Keine hundert Meter entfernt wartete sie.
Efraim blieb unvermittelt stehen und überlegte. Es konnte nicht schaden, zumindest einen Versuch zu wagen. Er brauchte nur ins zweite Stockwerk des Jaher-Turms hinaufzusteigen und in den Gang hinauszuspähen. Wenn niemand zu sehen war – nun, ihre Tür war keine zwanzig Meter von der Geheimtür entfernt. Waren doch die Riegel vorgeschoben, konnte er auf dem gleichen Weg zurückkehren. War die Tür aber offen, dann erwartete Sthelany ihn. Die Maske? Die Stiefel? Nein, eine solche Kostümierung widerstrebte ihm; er würde Sthelanys Gemach als er selbst betreten. Er stieg die Wendeltreppe der Abkürzungsroute hinauf und erreichte die Tür in der Täfelung. Leise schob er das Guckloch auf und musterte den Korridor. Alles leer. Er öffnete die Geheimtür und lauschte. Stille. Oder war da doch ein leises Geräusch? Er horchte noch angestrengter. Vielleicht war es das Rauschen seines Blutes, das Hämmern seines Pulses gewesen... Langsam und vorsichtig stieß er die Tür etwas weiter auf und huschte in den Gang hinaus. Auf einmal kam er sich irgendwie bedroht und schutzlos vor. Es war jedoch nichts und niemand zu sehen oder zu hören. Mit angehaltenem Atem schlich er zu Sthelanys Tür, lauschte. Kein Ton. Er sah sich die Tür an: sechs schwere, geschnitzte Eichenpaneele, drei schmiedeeiserne Angeln und eine massive eiserne Klinke. Er streckte die Hand nach der Klinke aus... Ein leises Geräusch kam aus dem Zimmer, ein metallisches Klirren. Efraim trat zurück und starrte die Tür an. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß sie zu-
rückstarrte. Verwirrt und unsicher zog sich Efraim von der Tür zurück, schlüpfte in den Geheimgang, schloß und verriegelte die Tür in der Täfelung und kehrte in seine Gemächer zurück. Wieder ließ er sich in dem roten Ledersessel nieder und dachte eine Zeitlang angestrengt nach. Dann stand er auf, schloß die Eingangstür auf und trat in die Vorhalle. In einem Schrank fand er ein Stück Seil, das er in die Bibliothek mitnahm, worauf er die Tür hinter sich neuerlich versperrte. Er holte den Plan der Mirk-Gänge hervor und studierte ihn einige Minuten lang. Dann stieg er zum Sacarlatto hinauf, von wo er durch einen Geheimgang in den unbewohnten Raum genau über Sthelanys Gemach gelangte. Er trat auf den Balkon hinaus, machte das Seil fest und knüpfte eine Reihe Knoten hinein, die ihm als Griffe dienen sollten. Dann ließ er das Seil vorsichtig bis auf Sthelanys Balkon hinunter. So leise wie möglich kletterte er daran hinab und stand schließlich auf dem Balkon. Die Läden waren natürlich zugezogen, aber durch einen Spalt fiel Licht heraus. Efraim legte ein Auge an die Ritze und spähte in den Raum. Sthelany saß in ihrer üblichen Kleidung an einem kleinen Tisch. Im Licht einer Kerze legte sie ein Puzzle. Neben der Tür standen zwei Männer in schwarzen Kniehosen und Mann-Masken. Der eine hielt eine Keule, der andere einen Dolch in der Hand. Über der Lehne eines Sessels hinter der Tür hing ein großer, schwarzer Sack. Der Mann mit der Keule preßte ein Ohr gegen die Tür. An der Haltung, der
Form der Schultern und den langen, kräftigen Armen erkannte Efraim den Oberkämmerer Agnois. Der Mann mit dem Dolch war Destian. Sthelany warf den beiden einen Blick zu, zuckte die Achseln und widmete sich wieder ihrem Zusammensetzspiel. Efraim fühlte, wie ihn ein Schwindelgefühl packte. Er stützte sich auf das Balkongeländer und starrte ins Dunkel. Sein Magen revoltierte, er konnte den Brechreiz nur mit Mühe unterdrücken. Er schaute nicht noch einmal in das Zimmer. Schwerfällig zog er sich zum oberen Balkon hinauf, holte das Seil ein, rollte es zusammen und kehrte in seine Gemächer zurück. Dort sah er noch einmal alle Riegel nach, legte seine Pistole auf den Tisch vor sich hin, füllte sein Glas mit Wein und ließ sich in dem roten Ledersessel nieder.
KAPITEL 11 Osmo ging im Osten auf, gefolgt von Cirse, die im Süden, und Maddar, die im Südwesten heraufstieg: das bunte Licht von Isp verdrängte die Dunkelheit. Matho Lorcas war nicht in seinem Quartier und konnte auch sonst nirgends im Schloß gefunden werden. Die Stimmung in Benbuphar Strang war bedrückt und angespannt. Agnois kam mit der Nachricht zu Efraim, daß Singhalissa ihn zu sprechen wünsche. »Sie muß warten, bis ich mich mit den Eiodarken beraten habe«, sagte Efraim schroff. Er brachte es nicht über sich, Agnois anzusehen. »Ich werde es ihr ausrichten, Euer Mächtigkeit.« Agnois' Stimme war sanft. »Darf ich Euch außerdem noch auf eine Botschaft des Kaiark Rianlle von Eccord aufmerksam machen? Er lädt Euch und alle Angehörigen des Hauses dringend zu einem Fest auf Belrod Strang, morgen während Aud.« »Es wird mir ein Vergnügen sein, nach Belrod Strang zu kommen.« Die Stunden vergingen. Efraim wanderte über die Wiesen hinter dem Schloß und hinunter zum Fluß. Lange Zeit stand er am Ufer und warf Steine ins Wasser, dann drehte er sich um und schaute zu Benbuphar Strang hinüber – einer dunklen, bizarren Silhouette, von der eine seltsame Bedrohung auszugehen schien. Wo war Matho Lorcas? Efraim spazierte schließlich zum Schloß zurück. Er stieg die Stufen zur Terrasse hinauf und zögerte,
denn er empfand auf einmal eine Art Widerwillen, in die bedrückende Düsternis dieser Mauern zurückzukehren. Dann riß er sich zusammen und ging hinein. Sthelany kam eben aus der Bibliothek und verhielt den Schritt, als wollte sie mit ihm reden. Efraim eilte jedoch an ihr vorbei, ohne sie auch nur anzusehen. Er wagte es nicht, ihrem Blick zu begegnen, denn sie hätte in seinen Augen die Heftigkeit seiner Gefühle gelesen. Sthelany sah ihm reglos nach, eine einsame und gedankenverlorene Gestalt. Zur vorbestimmten Zeit verließ Efraim seine Gemächer, um die vierzehn Eiodarken von Scharrode zu begrüßen, die alle das zeremonielle schwarze Gewand mit der weißen Weste darunter trugen. Ihre Mienen zeigten Unsicherheit, ja Feindseligkeit. Efraim bat sie in den Großen Salon, in dem Lakaien und Unterkämmerer einen runden Tisch aufgestellt hatten. Als letzter trat Destian ein, der sich in der gleichen Kleidung wie die anderen der Schar angeschlossen hatte. Efraim sagte scharf: »Ich entsinne mich nicht, Euch zu diesem Treffen eingeladen zu haben, Baron Destian. Eure Anwesenheit ist nicht erforderlich.« Destian blieb stehen und sah sich in der Runde der Eiodarken um. »Was denken diese Edlen darüber?« Efraim winkte einem Lakaien. »Schaffen Sie Baron Destian aus diesem Raum, und zwar sofort und mit welchen Mitteln auch immer.« Destian rang sich ein spöttisches Lächeln ab, drehte sich um und verschwand. Efraim schloß die Tür und wandte sich seinen Gästen zu. »Dies ist eine formlose
Versammlung. Fühlt Euch frei, Eure Meinung offen und ehrlich zu sagen. Ich werde Euch dafür um so mehr achten.« »Sehr gut«, antwortete einer der älteren Eiodarken, ein derb gebauter, kräftiger Mann mit einem Gesicht wie aus verwittertem Holz. Das war Eiodark Holk, wie Efraim bald erfahren sollte. »Ich will Euch beim Wort nehmen. Warum habt Ihr Kang Destian aus einer Versammlung seiner Standesgenossen gewiesen?« »Es gibt mehrere schwerwiegende Gründe für meine Handlungsweise, und Ihr werdet einige, wenn auch nicht alle, in Kürze erfahren. Ich möchte Euch auch daran erinnern, daß nach dem Rangprotokoll sein Titel nur so viel wert ist wie der seiner Mutter. Als ich Kaiark wurde, fiel ihr ihre frühere Stellung einer Wirwove von Urrue wieder zu, und Destian sank auf den Rang eines Freiherrn mit der Anrede Baron herab. Das ist vielleicht nur ein technisches Detail, aber dank solcher technischer Details bin ich Kaiark und Ihr seid Eiodark.« Efraim ging zu seinem Platz am Tisch. »Bitte setzt Euch. Ich bedaure, daß ich dieses Treffen so lange hinauszögern mußte. Vielleicht erklärt diese scheinbare Mißachtung Eure offensichtliche Verstimmung – habe ich recht?« »Nicht ganz«, sagte Eiodark Holk trocken. »Ihr habt noch andere Beschwerden?« »Ihr habt uns ersucht, offen zu sprechen. Im allgemeinen büßen die, die einer solchen Aufforderung nachkommen, für ihre Kühnheit. Doch ich will dieses Risiko auf mich nehmen. Wir haben folgende Beschwerden vorzubringen.
Zunächst finden wir die Gleichgültigkeit, die Ihr der glorreichen Tradition Eurer Stellung entgegenbringt, empörend. Ich meine damit die geradezu frivole Art, in der Ihr nur wenige Tage vor Ablauf der Frist zurückgekehrt seid, um Euren Titel zu beanspruchen.« »Betrachten wir das als Punkt eins«, sagte Efraim. »Fahrt fort.« »Punkt zwei. Seit Eurer Rückkehr habt Ihr es versäumt, die Eiodarken in den dringenden Angelegenheiten zu Rate zu ziehen, mit denen das Reich zur Zeit konfrontiert ist. Statt dessen gebt Ihr Euch mit einem Menschen aus Port Mar ab, dessen Ruf, wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, ihm keineswegs zur Ehre gereicht. Punkt drei: Ihr habt in rücksichtsloser Weise die Kraike Singhalissa, die Lissolet Sthelany und den Kang Destian gekränkt und gedemütigt, indem Ihr ihnen Rang und Vorrechte nahmt. Punkt vier. Ihr habt mutwillig unseren Verbündeten, Kaiark Rianlle von Eccord, gegen uns aufgebracht, jedoch nichts gegen den Banditen Gosso unternommen, der unseren Kaiark Jochaim umgebracht hat. Punkt fünf. Während ich diese Beschwerden vorbringe, zeigt Eure Miene nichts als amüsierte Gleichgültigkeit und Verstocktheit.« Efraim konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich danke Euch für Eure Offenheit. Ich will ebenso offen antworten. Was die Gleichgültigkeit und Verstocktheit von Punkt fünf angeht, so kann ich Euch versichern, daß ich nichts Derartiges empfinde. Bevor ich Euch bestimmte seltsame Umstände enthülle, würde ich jedoch gern wissen, woher Ihr alle diese Informa-
tionen habt.« »Der Kang Destian war so freundlich, uns auf dem laufenden zu halten.« »Aha. Das dachte ich mir. Nun aber rückt näher heran und hört aufmerksam zu, dann werdet Ihr erfahren, was mir in den vergangenen Monaten widerfahren ist...« Efraim sprach etwa eine Stunde lang und brachte nur die Ereignisse während der letzten Mirk-Phase nicht zur Sprache. »Um zusammenzufassen – ich kehrte so rasch es mir möglich war nach Scharrode zurück, habe aber das Treffen mit den Eiodarken hinausgezögert, weil ich meine Behinderung zu verbergen wünschte, bis ich ihr zumindest etwas abgeholfen hätte. Ich schlug Gosso einen Waffenstillstand vor, weil der Zwist mit Gorgetto kraftraubend, abscheulich und sinnlos ist. Weder Gosso noch seine Gorgeten haben Kaiark Jochaim umgebracht; er wurde von einem schardischen Verräter ermordet.« »Ermordet!« Das Wort schien in geisterhaftem Echo von den Wänden widerzuhallen. »Was nun Rianlle und seine Wünsche bezüglich der Flüsterkuppe angeht, so habe ich gehandelt, wie jeder verantwortungsvolle Schardenkaiark handeln muß: ich habe ihn hinzuhalten versucht, bis ich Gelegenheit hatte, die Archive durchzusehen und festzustellen, was für ein Abkommen er mit Kaiark Jochaim getroffen hat – wenn überhaupt eins existierte. Ich fand keinerlei solche Niederschrift. In Begleitung von Matho Lorcas schaute ich mir die Flüsterkuppe an. Gewiß ein wunderbarer Platz für einen Sommerpavillon, aber auch nicht begehrenswerter als ein Dutzend ähnliche Plätze in Eccord selbst. Ich habe Euch
nun hergebeten, um Euch die Situation darzulegen und um Euren Rat zu ersuchen.« Eiodark Faroz stellte fest: »Es stellt sich als erstes die Frage, warum Rianlle die Flüsterkuppe unbedingt haben will.« »Das einzige, was die Flüsterkuppe von anderen Plätzen unterscheidet – einmal abgesehen von dem Flüstern –, ist wohl die Einstellung der Fwai-Chi zu diesem Ort. Die Flüsterkuppe ist ein Heiligtum für sie, eine Station auf ihrem Lebensweg. Die Fwai-Chi behaupten, daß ein Übereinkommen mit den Kaiarken von Scharrode bezüglich der Flüsterkuppe bestünde, aber in den Archiven wird nichts davon erwähnt. Also, meine Herren, welche Antwort soll ich Kaiark Rianlle geben, wenn ich Belrod Strang besuche?« »Ich glaube, darüber brauchen wir gar nicht erst abzustimmen«, sagte Eiodark Haulk. »Wir weigern uns, die Flüsterkuppe abzutreten. Trotzdem solltet Ihr diese Weigerung taktvoll formulieren, damit sein Gesicht gewahrt bleibt. Es ist nicht nötig, ihm die Absage wie einen Fehdehandschuh ins Gesicht zu schleudern.« »Wir könnten erklären, daß die Flüsterkuppe tektonisch instabil ist«, warf Eiodark Alifer ein, »und daß wir nicht zulassen können, daß unser Freund dadurch in Gefahr kommt.« Eiodark Bouwatz schlug vor: »Der Pakt mit den Fwai-Chi wäre ebenfalls eine Erklärung für unser Widerstreben.« »Ich werde alle Eure Ratschläge sorgfältig abwägen«, erklärte Efraim. »Inzwischen aber kann ich niemandem auf Benbuphar Strang trauen. Ich möchte
zunächst alle Dienstboten wechseln, mit Ausnahme von Agnois. Er darf das Haus nicht verlassen. Wer würde sich darum kümmern?« »Das will ich besorgen, Mächtigkeit«, sagte Eiodark Denzil. »Noch etwas. Mein Freund und Vertrauter Matho Lorcas ist während Mirk spurlos verschwunden.« »Viele Leute verschwinden während Mirk, Euer Mächtigkeit.« »Das ist aber kein gewöhnlicher Fall. Wir müssen dem nachgehen. Erthe, würdet Ihr so freundlich sein und eine Suche organisieren?« »Ich werde mich darum kümmern, Mächtigkeit.« Der Flugwagen trug Efraim, Singhalissa, Sthelany und Destian hoch über die Berge hinweg. Das Gespräch beschränkte sich auf förmliche Bemerkungen. Efraim blickte die meiste Zeit schweigend über die Landschaft hinaus. Manchmal spürte er Sthelanys heimlichen Blick auf sich ruhen, und einmal bedachte sie ihn mit einem sanften, vielsagenden Lächeln, das Efraim jedoch mit ausdrucksloser Miene übersah. Alle Anziehungskraft, die Sthelany auf ihn ausgeübt hatte, war verschwunden; er konnte kaum mehr ihre Nähe ertragen. Singhalissa und Destian unterhielten sich über ihre Kogenzen, ein bei den Rhunen immer beliebtes Gesprächsthema. Abgesehen von ihren anderen Fähigkeiten war Singhalissa auch sehr geschickt im Schneiden von Kameen in Karneol, Mondstein, Chalzedon oder Chysopras; Destian sammelte wertvolle Mineralien, so daß sich diese beiden Kogenzen sehr gut ergänzten. Der Flugwagen glitt über die Flüsterkuppe hinweg.
Destian erläuterte die Geologie der Region: »Im wesentlichen ein großer Diabasdom, durchsetzt mit pegmatitischen Eruptivgängen. In den Ausbissen findet man hie und da Granaten und manchmal auch einen nicht besonders wertvollen Turmalin. Die FwaiChi klopfen die Steine heraus und heben sie sich als Andenken auf, habe ich gehört.« »Der Dwan Jar ist also mineralisch nicht ergiebig?« »Für jede praktische Ausbeutung nicht.« Singhalissa wandte sich an Efraim: »Was ist Eure Meinung über diese Bergwiese?« »Gewiß ein wunderbarer Platz für einen Pavillon. Das berühmte Flüstern ist als angenehmes, leises Summen wahrnehmbar.« »Das klingt, als hättet Ihr Euch entschlossen, das Abkommen zwischen den Kaiarken Jochaim und Rianlle doch zu erfüllen.« In Singhalissas Tonfall schwang kühle Skepsis. »Ihr formuliert das viel zu definitiv«, sagte Efraim vorsichtig. »Es ist noch nichts entschieden. Ich muß erst die Bedingungen und überhaupt das Bestehen eines solchen Abkommens überprüfen.« Singhalissa zog die schmalen, schwarzen Brauen hoch. »Ihr werdet doch nicht Rianlles Wort anzweifeln?« »Gewiß nicht«, sagte Efraim. »Trotzdem könnte er die Verbindlichkeit irgendeiner beiläufigen Zusage mißverstanden haben. Bedenkt, daß dieser Ort einer alten Abmachung mit den Fwai-Chi unterliegt, das zu mißachten wenig ehrenhaft wäre.« Singhalissa lächelte kühl. »Wenn eine solche Abmachung tatsächlich besteht, wird Kaiark Rianlle wohl ihre Verbindlichkeit anerkennen.«
»Wir werden ja sehen. Vermutlich kommt das Thema gar nicht zur Sprache; wir wurden zu einem Fest eingeladen und nicht zu einer geschäftlichen Beratung.« »Nun ja, wir werden sehen.« Der Flugwagen glitt in flachem Winkel auf den Hauptort Eccords, Elde, hinunter. Am Rande des Städtchens waren vier Bäche so umgeleitet worden, daß sie eine breite, kreisförmige Wasserstraße bildeten. Auf der Insel in der Mitte stand Belrod Strang: mehr ein Palast als eine Burg, aus hellgrauem Stein und weiß lackiertem Holz errichtet. Wimpel in Rosa, Schwarz und Silber flatterten von den achtzehn schlanken Türmen. Benbuphar Strang wirkte im Vergleich dazu schäbig und düster. Das Luftgefährt setzte vor dem Haupttor auf; die vier Passagiere stiegen aus und wurden von sechs jungen Herolden mit prächtigen Bannern und zwanzig Hornbläsern, die eine Fanfare schmetterten, in Empfang genommen. Nach der Begrüßung wurden die Gäste in Privatgemächer geführt, damit sie sich erfrischen könnten. Die Räume waren die luxuriösten, die Efraim je gesehen hatte. Er badete in einem Becken voll duftendem Wasser und legte wieder seine eigenen Kleider an statt die weite, schwarze, mit flammenfarbener Seide gefütterte Robe, die für ihn bereitgelegt worden war. Eine unauffällige Tür führte zu einem Klosett, eine andere in ein Refektorium, wo ein Imbiß aus grobem Brot, Käse, kaltem Fleisch und säuerlichem Bier bereitstand. Kaiark Rianlle hieß schließlich seine vier Gäste in der Großen Empfangshalle willkommen. Ebenfalls zugegen waren die Kraike Dervas, eine hochgewach-
sene, ernste Frau, die wenig sprach, und die Lissolet Maerio – Dervas' Tochter von Rianlle, wie es hieß. Die Verwandtschaft war durchaus glaubhaft. Maerio besaß Rianlles topasfarbenes Haar und seine klar geschnittenen Züge. Sie war nicht groß, doch schlank und zart gebaut, und ließ eine kaum unterdrückte Lebhaftigkeit erkennen, die an ein munteres, erzwungenermaßen ungewöhnlich sittsames Kind gemahnte. Ihre dunkelgoldenen Locken und die leicht gebräunte, reine Haut verliehen ihrem Wesen etwas Leuchtendes, Heiteres. Efraim bemerkte, daß sie ihn von Zeit zu Zeit irgendwie bedauernd musterte. Belrod Strang übertraf Benbuphar Strang an Pracht und Luxus bei weitem, doch fehlte ihm jene Eigenschaft, die die Rhunen mit einem Ausdruck bezeichneten, der etwa soviel wie ›tragische Größe‹ bedeutete. Kaiark Rianlle gab sich äußerst freundlich und behandelte Singhalissa mit einer übertriebenen Zuvorkommenheit, die Efraim etwas taktlos fand. Die Kraike Dervas blieb höflich formell, und wenn sie das Wort an jemanden richtete, sprach sie tonlos und mechanisch, als wären es nur auswendig gelernte Phrasen. Die Lissolet Maerio dagegen wirkte schüchtern und irgendwie unbeholfen. Heimlich beobachtete sie Efraim – von Zeit zu Zeit trafen sich ihre Blicke, und Efraim fragte sich, wie er sich je zu Sthelany hingezogen gefühlt haben konnte, jener Sthelany, die bei Mirk ungerührt ihr Puzzle gelegt hatte. Sie glich einer jungen, schwarzen Wespe, und Singhalissa war die alte schwarze Wespe. Rianlle führte seine Gäste schließlich in die Scharlachrote Rotunde – einen zwanzigseitigen Raum, der mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt und von
einer Kristallkuppel überdacht war, einer glitzernden, zwanzigfacettigen Riesenschneeflocke. Ein Kronleuchter mit hunderttausend Einzelkristallen hing über einem Tisch aus rosa Marmor, in dessen Mitte ein Modell von Kaiark Rianlles geplantem Pavillon aufgebaut war. Rianlle wies die Gäste mit einem stummen Lächeln darauf hin und zeigte ihnen dann ihre Plätze rund um den Tisch. Nun erschien ein hochgewachsener Mann in der Rotunde; er trug eine graue, mit schwarzen und roten Halbmonden bestickte Robe und schob ein zweirädriges Wägelchen vor sich her, das er neben Rianlle abstellte. Als er den Deckel abhob, wurden Tabletts und Regale mit Hunderten Fläschchen und Dosen sichtbar. Maerio, die neben Efraim saß, erklärte: »Das ist Berhalten, der Magier der Kompositionen; kennt Ihr ihn?« »Nein.« Maerio blickte nach rechts und links und senkte die Stimme, so daß nur Efraim sie verstehen konnte. »Man sagt, Ihr hättet Euer Gedächtnis verloren; stimmt das?« »Leider ja.« »Und das ist der Grund, warum Ihr aus Port Mar so plötzlich verschwunden seid?« »Ich nehme es an. Mir sind die tatsächlichen Ereignisse nur ganz ungefähr bekannt.« Maerio flüsterte kaum vernehmbar: »Es war meine Schuld.« Efraims Interesse war sofort hellwach. »Wie das?« »Erinnert Ihr Euch, daß wir alle zusammen in Port Mar waren?« »Ich weiß, daß es so war, aber ich erinnere mich nicht daran.«
»Wir sprachen mit einem Ausländer namens Lorcas. Ich tat etwas, das er vorschlug. Ihr wart so entsetzt und beschämt, daß Ihr darüber den Verstand verlort.« Efraim stieß einen zweifelnden Laut aus. »Was habt Ihr denn getan?« »Das könnte ich Euch nie sagen. Ich war leichtsinnig und übermütig. Ich habe aus einem plötzlichen Impuls heraus gehandelt.« »Habe ich sofort den Verstand verloren?« »Nicht unmittelbar danach.« »Wahrscheinlich war ich gar nicht so entsetzt, wie Ihr glaubt. Ich bezweifle, ob Ihr überhaupt etwas tun könntet, was mich empört.« Efraim sprach mit mehr Nachdruck und Wärme, als in seiner Absicht lag. Maerio blickte ihn etwas verwirrt an. »So etwas dürft Ihr nicht sagen.« »Findet Ihr mich so unausstehlich?« Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. »Ihr wißt doch, daß ich das nicht tue! Nein – natürlich nicht. Ihr habt ja alles über mich vergessen.« »In dem Augenblick, da ich Euch sah, habe ich begonnen, Euch neu kennenzulernen.« Maerio flüsterte: »Ich fürchte so sehr, daß Ihr wieder verrückt werdet.« »Ich bin nie verrückt geworden.« In diesem Augenblick richtete der Kaiark Rianlle von der anderen Seite des Tisches das Wort an Efraim. »Ich sehe, daß Ihr den Pavillon bewundert, den ich auf der Flüsterkuppe zu errichten hoffe.« »Ich finde den Entwurf sehr ansprechend«, erwiderte Efraim. »Er ist interessant und gut erdacht und könnte leicht auch für einen anderen Aufstellungsort
adaptiert werden.« »Ich nehme doch an, daß dies nicht nötig sein wird!« »Ich habe mich mit meinen Eiodarken beraten. Wie mir selbst widerstrebt es ihnen, schardischen Boden aufzugeben. Außerdem stehen dem noch sachliche Hindernisse entgegen.« »Nun, Ihr mögt von Sachlichkeit sprechen«, sagte Rianlle, immer noch betont leutselig, »aber ich habe mir nun einmal die Flüsterkuppe in den Kopf gesetzt.« »Bedauerlicherweise liegt die Entscheidung tatsächlich gar nicht bei mir«, sagte Efraim. »Wie gern ich Euch auch Euren Wunsch erfüllen würde, ich bin an das Abkommen mit den Fwai-Chi gebunden.« »Ich würde gerne eine Abschrift dieses Abkommens sehen. Vielleicht wurde es nur für eine bestimmte Zeitspanne getroffen.« »Ich glaube nicht, daß eine Niederschrift existiert.« Rianlle lehnte sich ungläubig in seinem Sessel zurück. »Wie könnt Ihr dann von seinem Bestehen so fest überzeugt sein? Woher wißt Ihr, welche Bestimmungen es enthält? Erinnert Ihr Euch selbst daran?« »Die Fwai-Chi haben die Vereinbarung beschrieben; sie waren sich sehr sicher.« »Die Fwai-Chi sind notorische Schwätzer. Würde Euch ein so armseliger Vorwand genügen, das Einverständnis zwischen mir und Kaiark Jochaim mit Füßen zu treten?« »Das würde ich keinesfalls tun wollen. Vielleicht würdet Ihr mir eine Abschrift Eurer Vereinbarung überlassen, damit ich meine Eiodarken überzeugen kann.«
Rianlle musterte ihn kalt. »Ich würde es als Kränkung empfinden, müßte ich die Glaubwürdigkeit meiner Erinnerung durch ein Dokument untermauern.« »Niemand zieht Eure Glaubwürdigkeit in Zweifel«, versicherte Efraim. »Ich frage mich nur, wie Kaiark Jochaim sich dazu überwinden konnte, das Abkommen mit den Fwai-Chi zu mißachten. Ich muß wirklich meine Archive noch einmal gründlich durchsehen.« »Ihr seid also nicht gewillt, die Flüsterkuppe auf der Basis gegenseitigen Vertrauens abzutreten?« »Ich kann jedenfalls eine so schwerwiegende Entscheidung nicht übereilt treffen.« Rianlle preßte die Lippen zusammen und drehte sich in seinem Stuhl um. »Nun gut – ich möchte jetzt die Kunst Berhaltens Eurer Aufmerksamkeit empfehlen. Er hat ein neues Prinzip entwickelt, das er uns vorstellen möchte.« Berhalten, der mittlerweile seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, stieß mit dem Knie einen Stab an, der einen hallenden Gongschlag auslöste. Sieben Pagen in weiß-scharlachfarbener Livree kamen hereingeeilt. Jeder trug auf einen Silbertablett einen kleinen Deckelkrug. Berhalten legte in jeden Krug einen Zylinder aus einem festen Stoff, der sich aus acht verschiedenfarbigen Schichten zusammensetzte. Die Pagen setzten hierauf je ein Tablett mit Krug vor die um den Tisch Sitzenden. Dann neigte Berhalten den Kopf vor Rianlle und blieb wartend neben seinem Karren stehen. Rianlle erklärte: »Berhalten hat eine amüsante Neuerung erfunden. Ihr seht den goldenen Knopf am
Deckel? Wenn Ihr darauf drückt, wird ein Mittel freigesetzt, das den Aromator aktiviert. Ihr werdet entzückt sein...« Später führte Rianlle die Gruppe auf einen Balkon, von dem aus man eine große, kreisförmige Freilichtbühne überblickte. Die Bühne war als malerische rhunische Landschaft gestaltet. Rechts und links sprühten Wasserfälle über Felszacken, wurden zu Bächen und flossen in einem Teich in der Mitte zusammen. Ein Glockenspiel wurde angeschlagen: das war das Signal für ein munteres Horngeschmetter, untermalt von einem metallischen Stakkatoton, der nur drei rhythmische Variationen* aufwies. Aus entgegengesetzten Richtungen stürmten zwei Kriegerscharen auf die Bühne, ausstaffiert mit phantasievollen Rüstungen, grotesken Metallmasken und stachelbesetzten Helmen. Sie rückten mit stilisierten Sprüngen und seltsamen geduckten Schritten näher, griffen an und fochten mit rituellen Bewegungen, begleitet vom dumpfen Rasseln und Klagen der Instrumente. Rianlle und Singhalissa, die auf der einen Seite beisammen saßen, tauschten einige kurze Bemerkungen aus. Efraim saß auf der anderen Seite, Sthelany neben ihm. Destian unterhielt sich mit Maerio, den Kopf so zu ihr hingeneigt, daß sein kühnes Profil vorteilhaft zur Geltung kam. Die Kraike Dervas schaute reglos dem Ballett *
Die Rhunen produzieren keine Musik im eigentlichen Sinn und sind auch nicht imstande, in den üblichen musikalischen Begriffen zu denken. Ihre Fanfaren sind nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten und genauen Richtlinien der Symmetrie komponiert. Die Beschäftigung mit solchen Klangfolgen ist eher intellektuell als emotionell bedingt.
zu, aber ihre Augen schienen den Bewegungen gar nicht zu folgen. Sthelany warf Efraim einen Blick zu, der ihn in jenen ungewissen Tagen vor der MirkPhase in innere Aufruhr gestürzt hätte. Leise fragte sie: »Gefällt Euch dieser Tanz?« »Die Darsteller sind gewiß sehr begabt. Ich vermag so etwas nicht gut zu beurteilen.« »Warum seid Ihr so verschlossen? Ihr habt seit Tagen kaum mehr mit mir gesprochen.« »Vergebt mir, aber es ist keine leichte Aufgabe, Scharrode zu regieren.« »Ihr müßt bei Eurem Aufenthalt auf anderen Welten eine Menge interessanter Dinge erlebt haben.« »Das ist richtig.« »Sind die Menschen auf den anderen Welten so genußversessen und sebalisch, wie wir glauben?« »Ihre Gewohnheiten unterscheiden sich natürlich von den in den Bergreichen vorherrschenden.« »Und was haltet Ihr von diesen Menschen? Wart Ihr entsetzt?« »Ich hatte mit meinen eigenen Schwierigkeiten zu viel zu tun, als daß ich mir über andere Dinge hätte Gedanken machen können.« »Oh – warum müßt Ihr mir immer nur ausweichend antworten?« »Ganz ehrlich gesagt, ich fürchte, daß irgendwelche beiläufigen Bemerkungen meinerseits, wenn sie Eurer Mutter hinterbracht werden, entstellt werden könnten, um mich in Mißkredit zu bringen.« Sthelany lehnte sich zurück. Eine Weile verfolgte sie mit ausdrucksloser Miene das Ballett, das jetzt mit dem Auftritt der beiden legendären Helden Hys und Zan-Immariot einem Höhepunkt zustrebte.
Dann beugte sie sich wieder zu Efraim herüber. »Ihr tut mir unrecht. Ich erzähle Singhalissa keineswegs alles. Begreift Ihr nicht, daß ich mich auf Benbuphar Strang wie eingesperrt fühle? Ich sehne mich nach Erlebnissen, nach neuen Erfahrungen! Vielleicht nehmt Ihr mir meine Offenheit übel, aber ich muß mich manchmal sehr zurückhalten, um meinen Gefühlen nicht freien Lauf zu lassen. Singhalissa klammert sich fanatisch an starre Konventionen – ich dagegen finde, daß die Konventionen vielleicht andere etwas angehen, aber mich nicht! Warum sollten wir zum Beispiel nicht in allen Ehren gemeinsam Wein trinken dürfen, wie es die Menschen in Port Mar tun? Ihr braucht mich nicht so verblüfft anzustarren; ich werde Euch beweisen, daß auch ich mich über die Konventionen hinwegzusetzen vermag!« »Nun, das würde wohl der Eintönigkeit des Alltags abhelfen, aber ich bin sicher, daß Singhalissa ein solches Verhalten sehr mißbilligen würde.« Sthelany lächelte. »Muß Singhalissa denn alles erfahren?« »Ganz entschieden nicht. Aber sie ist sowohl im Planen als auch im Aufdecken von Heimlichkeiten eine wahre Meisterin.« »Wir werden ja sehen«, meinte Sthelany mit einem leisen, erregten Lachen. Sie lehnte sich zurück und verfolgte wieder das Geschehen auf der Bühne. Hys und Zan-Immariot hatte bis zur beiderseitigen Erschöpfung miteinander gekämpft. Die Bühnenbeleuchtung wurde gedämpft, die Instrumente gingen zu tieferen, langsameren Tonfolgen über und verstummten schließlich ganz, bis auf das dumpfe Dröhnen leicht angestrichener Gongs. »Mirk!« flü-
sterte Sthelany. Draußen auf der Bühne stampften drei Gestalten in Kostümen aus schwarzem Horn und schillerndem Stoff umher, die furchterregende Dämonenmasken trugen. Sthelany beugte sich näher zu Efraim. »Die drei Verkörperungen des Kro: Maisse, Gun und Sciaffrod. Seht, wie die Helden sich tapfer wehren! Ah! Sie werden erschlagen: die Dämonen triumphieren!« Sthelanys Schulter berührte die Efraims. »Wie schrecklich muß es auf den Welten mit nur einer Sonne sein, wo Tag und Mirk sich in steter Folge abwechseln!« Efraim blickte nach der Seite. Sthelanys Gesicht war ihm sehr nahe; ihre Augen glänzten. Efraim sagte trocken: »Eure Mutter schaut zu uns herüber. Seltsam! Sie scheint weder überrascht noch entrüstet darüber zu sein, daß wir uns so intim unterhalten.« Sthelany richtete sich steif auf und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Dämonen, die die toten Helden in den Staub trampelten und triumphierend Kopf und Arme hochwarfen und wieder fallen ließen. Später, als man sich verabschiedete, fand Efraim endlich Gelegenheit, Maerio seine Aufwartung zu machen. Sie sagte ein wenig betrübt: »Ich hatte nicht gewußt, daß Ihr Euch mit Sthelany befreundet habt. Sie hat wirklich ein faszinierendes Wesen.« Efraim grinste schmerzlich. »Äußerlichkeiten können trügen. Darf ich Euch wohl etwas anvertrauen?« »Aber natürlich.« »Ich glaube, Singhalissa hat Sthelany angewiesen, Intimität zwischen uns vorzugeben, um mich zu ir-
gendeiner leichtsinnigen Handlung zu verführen, die mich bei den schardischen Eiodarken in Mißkredit bringen würde. Tatsächlich...« Maerio fragte atemlos: »Ja...?« Efraim wußte nicht, wie er sich klar und taktvoll zugleich ausdrücken sollte. »Ich will Euch das ein andermal sagen. Aber Ihr sollt wissen, daß Ihr es seid und nicht Sthelany, die ich faszinierend finde.« Maerios Augen glänzten plötzlich verdächtig. »Lebt wohl, Efraim.« Als Efraim sich abwandte, ertappte er Sthelany bei einem Blick, der ihn zu verschlingen schien. Ihr Gesicht hatte einen gekränkten, wilden, fast verzweifelten Ausdruck. Efraim mußte daran denken, daß dies dasselbe Gesicht war, das so gleichgültig ein Zusammensetzspiel betrachtet hatte, während zwei maskierte Männer mit Keule, Dolch und Sack an der Tür lauerten. Efraim ging sich formell von Kaiark Rianlle verabschieden. »Eure Gastfreundschaft ist von unübertrefflicher Großartigkeit, mit der wir auf Benbuphar Strang natürlich nicht konkurrieren können. Trotzdem hoffe ich, daß Ihr unseren Besuch in Kürze erwidern werdet, gemeinsam mit der Kraike und der Lissolet.« Rianlles Miene war ziemlich kühl. Er sagte: »Ich nehme die Einladung gerne an, für mich wie für die Kraike und die Lissolet. Würdet Ihr es als Vermessenheit ansehen, wenn ich den Termin für heute in drei Tagen festsetze? Bis dahin habt Ihr Gelegenheit gehabt, nach diesem legendären Abkommen zu suchen und auch, Euch mit Euren Eiodarken zu beraten und sie zu überzeugen, daß die Vereinbarung zwi-
schen Kaiark Jochaim und mir unbedingt erfüllt werden muß.« Eine heftige Entgegnung drängte sich auf Efraims Lippen; er konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Ich werde mit den Eiodarken sprechen«, sagte er schließlich. »Wir werden einen Beschluß fassen, der Euch gefallen mag oder auch nicht, der jedoch auf jeden Fall im Einklang mit unserer Pflichtauffassung stehen wird. Ganz abgesehen davon freuen wir uns natürlich, Euch zu dem vorgeschlagenen Termin auf Benbuphar Strang begrüßen zu dürfen.«
KAPITEL 12 Bei ihrer Rückkehr nach Benbuphar Strang wurde ihnen das Tor von Lakaien geöffnet, die Efraim noch nie gesehen hatte. Singhalissa blieb erstaunt stehen. »Was sind das für Leute? Wo sind unsere alten Dienstboten?« »Ich habe sie ausgetauscht«, sagte Efraim. »Alle außer Agnois, der vorläufig noch seinen Posten innehat.« Singhalissa warf ihm einen empörten Blick zu. »Muß denn der ganze Haushalt durcheinandergebracht werden? Warum habt Ihr das getan?« Efraim sagte im förmlichsten Ton, der ihm zu Gebote stand: »Ich wünsche nur Leute in meinem Haus zu haben, auf deren Treue ich mich verlassen kann und die keine früheren Loyalitätsbeziehungen haben. Das war nur durch eine einzige Maßnahme zu erreichen: einen vollständigen Wechsel des Personals.« »Mein Leben wird von Tag zu Tag unruhiger«, rief Singhalissa aufgebracht. »Ich möchte wissen, wann wir von diesem unangenehmen Durcheinander erlöst werden! Habt Ihr vielleicht auch noch vor, uns wegen eines armseligen Almhügels in einen Krieg zu stürzen?« »Ich würde gerne wissen, warum Rianlle ausgerechnet auf diesen ›armseligen Almhügel‹ so versessen ist. Wißt Ihr es vielleicht?« »Der Kaiark Rianlle hat mich diesbezüglich leider nicht ins Vertrauen gezogen.« Ein Diener kam heran. »Euer Mächtigkeit, der Eiodark Erthe wünscht Euch zu sprechen.«
»Bitten Sie ihn her.« Der Eiodark Erthe trat näher. Sein Blick wanderte von Efraim zu Singhalissa und wieder zu Efraim. »Mächtigkeit, ich habe einen Bericht zu erstatten.« »Sprecht bitte.« »In einem Abfallhaufen in der Nähe des HowarWaldes entdeckten wir eine Leiche, die in einen schwarzen Sack gehüllt war. Es handelt sich offenbar um die sterblichen Überreste des Matho Lorcas.« Efraim verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Er schaute Singhalissa an, die jedoch keinerlei Gefühlsregung erkennen ließ. Hätte er nicht das leise metallische Klirren hinter der Tür gehört, so wäre er und nicht Matho Lorcas die Leiche in dem schwarzen Sack. »Laßt den Toten auf die Terrasse bringen.« »Sogleich, Euer Mächtigkeit.« Singhalissa erkundigte sich tonlos: »Warum tut Ihr das?« »Erratet Ihr das nicht?« Singhalissa wandte sich langsam um und ging. Efraim rief Agnois zu sich. »Lassen Sie eine Bank oder einen niedrigen Tisch auf der Terrasse aufstellen.« Agnois ließ einen Ausdruck von Verwirrung über seine sonst so beherrschten Züge huschen. »Sofort, Euer Mächtigkeit.« Vier Männer trugen einen Sarg auf die Terrasse und setzten ihn auf dem Tisch ab. Efraim holte tief Atem und hob den Deckel. Einen Augenblick lang starrte er auf das leblose Gesicht hinunter, doch dann wandte er sich an Agnois. »Bringen Sie die Keule her.«
»Ja, Mächtigkeit.« Agnois eilte los, doch nach wenigen Schritten blieb er stehen und blickte sich fassungslos um. »Welche Keule, Mächtigkeit? An der Wand des Trophäenraums gibt es ein Dutzend.« »Die Keule, mit der der Edle Lorcas ermordet wurde.« Agnois drehte sich um und ging langsam, wie betäubt, ins Schloß. Efraim biß die Zähne zusammen und untersuchte die Leiche. Der Schädel war eingeschlagen, und eine Wunde im Rücken konnte nur von einem Dolchstich stammen. »Schließt den Sarg«, sagte Efraim. »Hier gibt es nichts mehr zu erfahren. Wo ist Agnois? Warum ist dieser saumselige Mann noch nicht zurück?« Er winkte einem Lakaien. »Suchen Sie Agnois, er soll sich gefälligst beeilen!« Der Diener kam nach wenigen Augenblicken im Laufschritt zurück. »Agnois ist tot, Mächtigkeit. Er hat Gift genommen.« Efraim schlug ihm auf die Schulter. »Gehen Sie wieder hinein und informieren Sie sich über die näheren Umstände!« Bedrückt wandte er sich an den Eiodarken Erthe. »So ist mir also einer der Mörder entkommen. Seid so gut und sorgt dafür, daß dieser Leichnam bestattet wird.« Schließlich kam der Lakai zurück und erstattete Bericht. Agnois war offenbar gleich nach seiner Rückkehr ins Schloß auf sein Zimmer gegangen und hatte ein tödliches Gift getrunken. Efraim badete ungewöhnlich sorgfältig und ausgiebig. Dann nahm er in seinem Refektorium eine trüb-
selige Mahlzeit ein und legte sich hin. Sechs Stunden lang wälzte er sich schlaflos hin und her, nickte nur kurz ein, und wurde von üblen Träumen gequält. Dann endlich fiel er in den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Den Flugwagen, der ihn und die anderen nach Belrod Strang gebracht hatte, hatte er noch nicht wieder zurückgeschickt. Nach seinem Erwachen wies er den Piloten an, ihn auf die Flüsterkuppe zu bringen. Das Luftgefährt stieg im Licht der bunten Sonnen auf und flog nach Norden, an der Flanke des Camanche vorbei, und landete schließlich im Gras der Bergwiese. Efraim sprang hinaus und wanderte über die Lichtung. Ruhe und Frieden gemahnten an ein verlorenes Paradies; bis auf die steile Felszacke im Osten waren rundum nur Wolken und lichtdurchfluteter Himmel zu sehen. Hier erinnerte nichts an die Intrigen, Sorgen und Tragödien von Benbuphar Strang. Efraim blieb in der Mitte der Wiese stehen. Das Flüstern war nicht zu hören. Einige Augenblicke vergingen. Dann vernahm er ein Seufzen, nicht lauter als der Atemhauch einer Million Seelen. Das Seufzen wurde zu einem Murmeln, verstummte zitternd, schwoll wieder an und verging in vollkommener Stille – ein Laut von urgewaltiger Melancholie... Efraim stieß selbst einen tiefen Seufzer aus und ging zum Waldrand hinüber, wo er, wie zuvor, auf eine Gruppe Fwai-Chi stieß, die ihn aus dem Schatten heraus beobachteten. Sie schlurften näher, und er ging ihnen entgegen. »Vor dem letzten Mirk war ich hier«, sagte Efraim. »Vielleicht habe ich mit einem von euch gesprochen?«
»Wir alle waren hier.« »Ich stehe vor einem ernsten Problem, das auch euch angeht. Der Kaiark von Eccord will die Flüsterkuppe haben. Er will hier einen Vergnügungspavillon bauen.« »Das ist nicht unser Problem. Es ist deins. Die Männer von Scharrode haben versprochen, unseren heiligen Platz für immer zu achten.« »Das behauptet ihr. Besitzt ihr ein Dokument, das dieses Abkommen bestätigt?« »Wir haben kein Dokument. Das Versprechen wurde in alten Zeiten von den Kaiarken gegeben und auf jeden neuen Kaiarken übertragen.« »Es kann schon sein, daß Kaiark Jochaim mich darüber informiert hat, aber ich habe durch eine eurer Drogen das Gedächtnis verloren, so daß ich nichts mehr von einem solchen Versprechen wissen kann.« »Du mußt trotzdem dafür sorgen, daß das Abkommen eingehalten wird.« Die Fwai-Chi machten kehrt und verschwanden im Wald. Bedrückt kehrte Efraim nach Benbuphar Strang zurück. Er rief die Eiodarken zusammen und wiederholte ihnen Rianlles Forderung. Einige der Eiodarken drängten entrüstet auf Mobilisierung der Krieger; andere saßen stumm und besorgt da. »Rianlle ist unberechenbar«, stellte Efraim fest. »Das ist jedenfalls meine Ansicht. Unsere Kriegsvorbereitungen könnten ihn von seinem Vorhaben abbringen. Andererseits ist es wenig wahrscheinlich, daß er angesichts unserer unterlegenen Streitmacht nachgibt. Vielleicht läßt er von seinen Kriegern einfach den Dwan Jar besetzen und schert sich nicht mehr um unsere Proteste.«
»Wir sollten den Dwan Jar zuerst besetzen und befestigen!« schrie Eiodark Hectre. »Dann brauchen wir uns um Rianlles Proteste nicht zu scheren!« »Diese Vorstellung ist verlockend«, wandte der Eiodark Haulk ein, »aber leider ist das Gelände dazu nicht geeignet. Er kann seine Truppen an der Seite des Camanche über den Duwail-Hang hinaufbringen; wir dagegen müßten über den Pfad, der durch die Lor-Steilwand verläuft, und auf dem könnte uns Rianlle allein aufhalten. Es wäre günstiger, die BazonSchrofen und den Paß am Beginn der Greifenklaue zu besetzen, aber damit würden wir in Eccord-Gebiet eindringen und uns einem berechtigten Vergeltungsschlag aussetzen.« »Wir wollen uns das Relief ansehen«, sagte Efraim. Die Gruppe begab sich in den achteckigen Strategiesaal. Gut eine Stunde lang studierten sie das zehn Meter lange, maßstabsgetreue Modell von Scharrode und den angrenzenden Ländern, konnten aber nur feststellen, was sie ohnedies schon wußten: wenn Rianlle seine Truppen den Dwan Jar besetzen ließ, dann waren sie über ihre Versorgungswege angreifbar und konnten abgeriegelt werden. »Rianlle würde seine Überlegenheit nicht so ausnützen können, wie er hofft«, überlegte Eiodark Erthe. »Wir könnten ihn in ein Patt zwingen.« »Ihr seid zu optimistisch«, erklärte Eiodark Dasheil. »Er verfügt über dreitausend Segel. Wenn er sie hierher bringt...« – er zeigte auf einen Felsvorsprung, der das Tal überragte –, »dann kann er sie auf Scharrode herunterschicken, während unsere Truppen bei den Bazon-Schrofen gebunden sind. Wir können entweder seine Position auf dem Dwan Jar un-
haltbar machen oder unser Tal gegen seine Segel schützen. Ich kann mir keine Möglichkeit denken, beides zu tun.« »Wie viele Segel können wir selbst aufbringen?« fragte Efraim. »Wir haben vierzehnhundert Adler und ebenso viele Habichtgleiter.« »Dann könnten wir unter Umständen zweitausendachthundert Segel gegen Belrod Strang ausschikken.« »Das wäre Selbstmord. Die Gleitstrecke ist zu lang; auch sind die Fallwinde bei den Klagenden Klippen berüchtigt.« Die Gruppe kehrte zu ihren Plätzen um den Tisch aus rotem Syenit zurück. »Soweit ich verstanden habe, ist niemand von Euch der Ansicht, daß wir Eccord einigermaßen erfolgreich Widerstand leisten können, wenn Rianlle sich wirklich zu Krieg entschließt«, sagte Efraim. »Ist das richtig?« Niemand widersprach ihm. »Ein Punkt, über den wir noch nicht gesprochen haben«, fuhr Efraim fort, »ist die Frage, warum Rianlle auf den Dwan Jar so versessen ist. Den PavillonPlan kann ich einfach nicht für bare Münze nehmen. Die Schönheit und Einsamkeit dieses Ortes sind beinahe übernatürlich – ich konnte nur an die Vergänglichkeit des Menschen und die Sinnlosigkeit aller Hoffnungen denken. Rianlle ist stolz und starrsinnig, aber ist er gefühllos? Die Vorstellung, daß jemand sich dort oben einen Pavillon bauen will, kommt mir einfach unsinnig vor.« »Zugegeben, Rianlle ist stolz und starrsinnig«,
sagte Eiodark Szantho, »aber das erklärt auch nicht, warum er ein solches Projekt überhaupt ins Auge gefaßt hat.« »Der Dwan Jar ist aber sonst in keiner Weise außergewöhnlich, abgesehen davon, daß der Platz den Fwai-Chi heilig ist«, stellte Efraim fest. »Und welchen Vorteil könnte er daraus schon ziehen?« Die Eiodarken überlegten. Alifer meinte nach einer Weile zögernd: »Ich habe Gerüchte vernommen, daß Rianlles Luxus über seine finanziellen Verhältnisse geht, daß Eccord für seine Phantastereien nicht mehr aufkommen kann. Ich wußte nichts gegen die Hypothese einzuwenden, daß er vielleicht beabsichtigt, sich eine Einkommensquelle zunutze zu machen, an die bisher noch niemand gedacht hat – die Fwai-Chi. Um ihr Heiligtum zu schützen, müßten sie ihm einen Tribut in Form von Drogen, Edelsteinen und Elixieren zahlen.« »Nun, auf unsere eigenen Probleme hat das keinen Einfluß«, sagte Eiodark Haulk. »Wir müssen eine Entscheidung treffen.« Efraim sah sich in der Tischrunde um. »Wir haben bis jetzt alle Möglichkeiten außer einer besprochen: Rianlles Forderung nachzugeben. Ist der Rat der Meinung, daß dies die einzige vernünftige Handlungsweise ist, so sehr sie uns auch widerstreben mag?« »Nüchtern betrachtet, haben wir gar keine andere Wahl«, knurrte Haulk. Eiodark Hectre schlug mit der Faust auf den Tisch. »Können wir nicht Verteidigungsbereitschaft vorgeben und uns verschanzen? Rianlle wird es dann vielleicht doch nicht wagen, einen Streit vom Zaun zu brechen!«
»Wir wollen die Beratung bis zur nächsten AudPhase vertagen«, sagte Efraim. »Dann müssen wir unseren Beschluß fassen.« Noch einmal traf sich Efraim mit seinen Eiodarken. Es wurde wenig gesprochen; alle saßen mit bedrückten Mienen da. Efraim sagte: »Ich habe das Archiv durchgesehen. Es ist keinerlei Andeutung eines Abkommens mit den Fwai-Chi zu finden. So müssen wir ihnen gegenüber wortbrüchig werden und nachgeben. Wer ist anderer Meinung?« »Ich«, knurrte Eiodark Hectre. »Ich bin bereit zu kämpfen.« »Ich auch«, sagte Eiodark Faroz, »aber ich habe nicht die Absicht, mich und meine Leute sinnlos zu opfern. Wir müssen nachgeben.« »Wir müssen nachgeben«, sagte auch Eiodark Haulk. »Wenn der Kaiark Jochaim tatsächlich Rianlles Forderung zugestimmt hat«, sagte Efraim, »dann muß er unter demselben Druck gestanden haben... Ich hoffe, daß unsere Demütigung wenigstens einen Sinn hat.« Er erhob sich. »Rianlle trifft morgen hier ein. Es wäre mir lieb, wenn Ihr alle kämt, um dem Anlaß Würde zu verleihen.« »Wir werden dasein.«
KAPITEL 13 Eine Stunde vor dem Eintreffen des Kaiarken Rianlle versammelten sich die Eiodarken auf der Terrasse von Benbuphar Strang. Aus Gründen, die vom einen zum anderen vermutlich verschieden waren, hatte ein Gesinnungswandel stattgefunden. Die Standpunkte hatten sich verhärtet, kleinmütige Unentschlossenheit war trotziger Unnachgiebigkeit gewichen. Während sich zuvor alle Eiodarken damit abgefunden hatten, nachgeben zu müssen, schien es jetzt, als wäre keiner mehr dazu bereit. »Rianlle hat Euer Gedächtnis angezweifelt?« rief Eiodark Balthazar. »Wir müssen zugeben, mit Recht. Aber er kann meins nicht anzweifeln. Wenn die FwaiChi behaupten, daß so ein Abkommen besteht, und wenn die Archive seine Existenz zumindest vermuten lassen, dann weiß ich genau, daß der Kaiark Jochaim von einem ebensolchen Abkommen gesprochen hat.« »Ich auch!« erklärte Eiodark Hectre. »Er wird es nicht wagen, unsere Aussage anzuzweifeln.« Efraim lachte bedrückt. »Er wird es wagen; warum auch nicht? Ihr könntet ihm nichts anhaben.« »Wir wollen folgendermaßen vorgehen«, sagte Balthazar. »Wir werden seine Forderung mit Entschiedenheit zurückweisen. Wenn er den Dwan Jar mit seinen Truppen besetzt, werden wir ihnen keinen Moment Ruhe gönnen. Wenn Rianlle seine Segel in unser Tal gleiten läßt, stürzen wir uns von der AlodeKlippe auf sie herunter und zerschlitzen ihnen die Schwingen.« Eiodark Simic schüttelte die Fäuste. »Rianlle wird
kein leichtes Spiel mit uns haben!« »Also gut«, sagte Efraim. »Wenn das Eure Einstellung ist, habt Ihr meine volle Unterstützung. Denkt aber daran, daß wir uns entschlossen und nicht streitlüstern zeigen wollen; wir werden einen Widerstand mit Waffengewalt nur dann erwähnen, wenn er uns droht. Ich bin froh, daß Ihr wie ich selbst ein Nachgeben unerträglich findet. Aber ich glaube, dort drüben beim Shanajra kommt schon Rianlle mit seinen Begleitern.« Der Flugwagen landete; Rianlle stieg aus, gefolgt von der Kraike Dervas, der Lissolet Maerio und vier Eiodarken von Eccord. Die Herolde marschierten unter zeremoniellem Hörnergeschmetter vorwärts. Rianlles Gesellschaft schritt die Stufen zur Terrasse hinauf; Efraim und die schardischen Eiodarken gingen ihren Gästen entgegen. Begrüßungsformalitäten wurden ausgetauscht, und Rianlle erklärte, das eindrucksvolle Haupt theatralisch zurückgeworfen: »Am heutigen Tage treffen sich die Kaiarken von Scharrode und Eccord, um das freundschaftliche Einverständnis zwischen ihren Reichen für alle Zeit zu besiegeln. Es ist mir deshalb eine Freude, zu verkünden, daß ich die Möglichkeit einer Trisme zwischen Euch und der Lissolet Maerio wohlwollend in Erwägung ziehe.« Efraim neigte höflich den Kopf. »Das ist ein sehr freundliches Angebot, Mächtigkeit, und nichts könnte mehr mit meinen eigenen Neigungen übereinstimmen. Aber Ihr seid gewiß von der Reise mitgenommen; ich muß Euch Gelegenheit geben, Euch zu erfrischen. In zwei Stunden wollen wir uns im Großen Salon treffen.«
»Ausgezeichnet. Ich darf annehmen, daß Ihr keine Einwände mehr gegen meinen kleinen Plan habt?« »Ihr könnt sicher sein, Mächtigkeit, daß gute Beziehungen zwischen unseren beiden Reichen auf der Grundlage von Zusammenarbeit und Billigkeit stets das Ziel der schardischen Politik sein werden.« Rianlles Miene verdüsterte sich. »Könnt Ihr mir nicht eine klare Antwort geben? Werdet Ihr den Dwan Jar abtreten oder nicht?« »Euer Mächtigkeit, wir wollen doch nicht eine so wichtige Angelegenheit auf der Türschwelle erörtern. Wenn Ihr ein wenig geruht habt, will ich Euch gern den schardischen Standpunkt erläutern.« Rianlle verbeugte sich stumm. Unterkämmerer führten ihn und seine Begleiter in die für sie vorbereiteten Gemächer. Maerio stand an dem hohen Bogenfenster und blickte über das Tal hinaus. Sie strich mit der Hand über den steinernen Sims; der rauhe, kalte Stein machte sie frösteln. Wie würde es wohl sein, hier auf Benbuphar Strang zu leben, in diesen düsteren Räumen, die erfüllt waren vom Echo der Vergangenheit? Viele seltsame Dinge hatten sich hier ereignet, manche voller Tragik... Man erzählte sich, daß es in den Reichen kein zweites Schloß gab, das ein so weitläufiges Netz von Mirk-Gängen aufwies... Efraim hatte sich geändert – daran gab es keinen Zweifel. Er schien reifer geworden zu sein, und er schien die rhunischen Konventionen ohne innere Überzeugung, mehr aus Höflichkeit zu befolgen. Das war vielleicht nur günstig. Ihre Mutter Dervas war früher genauso heiter und formlos wie sie gewesen, aber Rianlle (der wohl ihr
Vater war) hatte darauf bestanden, daß die Kraike von Eccord den rhunischen Verhaltenscode in vorbildlicher Weise verkörperte, und Dervas hatte zum Wohle des Reiches den Zwang der Konventionen auf sich nehmen müssen. Maerio fragte sich, wie Efraim dazu stand. Er kam ihr nicht wie jemand vor, der auf konventionellem Benehmen bestehen würde. Schließlich wußte sie das aus eigener Erfahrung besser! Ein leises Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren. Ein Paneel der Täfelung war zur Seite geglitten, und in der Öffnung stand Efraim. Er kam durch das Zimmer auf sie zu und blickte lächelnd auf sie herunter. »Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe. Ich wollte Euch allein und im geheimen sehen, und ich wußte mir keine andere Möglichkeit.« Maerio schaute zur Tür hinüber. »Laßt mich den Riegel vorschieben, man darf uns nicht zusammen ertappen.« »Natürlich.« Efraim verriegelte die Tür und kam zu Maerio zurück. »Ich habe oft an Euch gedacht; Ihr geht mir nicht mehr aus dem Sinn, wißt Ihr das?« »Auch ich habe an Euch gedacht, besonders seit ich erfuhr, daß der Kaiark plant, uns in einer Trisme zu vereinen.« »Darüber wollte ich mit Euch sprechen. So sehr ich eine solche Trisme ersehne, es wird nie dazu kommen, weil die Eiodarken lieber kämpfen als den Dwan Jar aufgeben wollen.« Maerio nickte langsam. »Ich wußte, daß es so kommen würde... und ich will keine andere Trisme eingehen. Was soll ich nur tun?«
»Vorläufig nichts. Ich muß mich jetzt um die Kriegsvorbereitungen kümmern.« »Ihr könntet getötet werden!« »Hoffentlich nicht. Laßt mir Zeit zum Überlegen. – Würdet Ihr mit mir fortgehen, die Reiche für immer verlassen?« »Aber wohin würden wir gehen?« fragte Maerio heftig atmend. »Ich weiß es nicht. Wir würden nicht mehr die Vorrechte unserer Stellung genießen wie hier; wir müßten wahrscheinlich schwer arbeiten.« »Ich will mit Euch gehen.« Efraim nahm ihre Hände in die seinen. Sie zitterte und schloß die Augen. »Efraim, bitte! Ihr werdet wieder Euer Gedächtnis verlieren.« »Ich glaube nicht.« Er küßte sie auf die Stirn. Sie keuchte und entzog ihm ihre Hände. »Mir ist so seltsam zumute! Jeder wird mir meinen Gemütszustand ansehen!« »Ich muß jetzt gehen. Wenn Ihr Euch beruhigt habt, kommt bitte in den Großen Salon.« Efraim kehrte durch den Mirk-Gang in seine Gemächer zurück und legte formelle Kleidung an. Ein Klopfen an der Tür. Efraim warf einen Blick auf die Wanduhr. Das konnte doch noch nicht Rianlle sein? Er öffnete und sah Becharab, den neuen Oberkämmerer, vor sich. »Ja, Becharab?« »Eure Mächtigkeit, vor dem Tor sind mehrere Eingeborene. Sie wollen mit Eurer Mächtigkeit reden. Ich sagte Ihnen, daß Ihr gerade ruht, aber sie ließen sich nicht abweisen.« Efraim stürmte an Becharab vorbei durch die Emp-
fangshalle und den Vorraum hinaus, was Singhalissa, die sich in der Halle mit einem der Eiodarken von Eccord unterhielt, mit hochmütigem Erstaunen quittierte. Vor der Terrasse standen vier Fwai-Chi, alte, braunrot bepelzte Männer, die Körper mit Zotteln und Hautfetzen bedeckt. Zwei Lakaien versuchten sie mit angewiderter Miene zu verscheuchen. Die FwaiChi wollten sich schon entmutigt zurückziehen, als Efraim auftauchte. Er rannte die Stufen hinunter, winkte die Lakaien fort. »Ich bin Kaiark Efraim. Ihr wolltet mich sprechen?« »Ja«, sagte einer, in dem Efraim den Alten wiederzuerkennen glaubte, den er oben auf der Flüsterkuppe getroffen hatte. »Du hast gesagt, daß du dich an kein Abkommen bezüglich des Dwan Jar erinnern kannst.« »Das stimmt. Der Kaiark von Eccord, der den Dwan Jar haben will, ist jetzt hier.« »Er darf den Platz nicht bekommen. Er ist ein habgieriger Mann. Würde er über den Dwan Jar bestimmen, so würde er immer mehr verlangen, und wir wären gezwungen, seine Gier zu befriedigen.« Der Fwai-Chi holte ein staubiges Fläschchen hervor, das einige Schlucke einer dunklen Flüssigkeit enthielt. »Dein Gedächtnis ist dir versperrt; und es gibt keinen Schlüssel für das Schloß. Trink diese Flüssigkeit.« Efraim nahm das Fläschchen und musterte es neugierig. »Was für eine Wirkung hat das?« »Deine Körpersubstanz selbst enthält Erinnerungen; man könnte das Instinkt nennen. Ich gebe dir diese Droge. Sie wird alle deine Zellen zwingen, Er-
innerungen freizugeben – auch jene Zellen, die dein Gedächtnis blockieren. Wir können die Tür nicht aufsperren, aber wir können sie einschlagen. Wirst du es wagen, diesen Trank einzunehmen?« »Wird er mich töten?« »Nein.« »Wird er mich verrückt machen?« »Vielleicht nicht.« »Werde ich alles wissen, was ich zuvor wußte?« »Ja. Und wenn du dein Gedächtnis wieder hast, mußt du unseren heiligen Platz schützen.« Efraim stieg nachdenklich die Stufen hinauf. An der Balustrade erwarteten ihn Singhalissa und Destian. Singhalissa fragte scharf: »Was ist in diesem Fläschchen?« »Es enthält mein Gedächtnis. Ich brauche das nur zu trinken.« Singhalissa beugte sich vor, ihre Hände zitterten, als sie sie nach der Phiole ausstreckte. Efraim trat zurück. Sie fragte: »Und werdet Ihr es trinken?« »Natürlich.« Singhalissa biß sich auf die Unterlippe. Unvermittelt sah Efraim sie so, wie er sie bewußt noch nie gesehen hatte. Er bemerkte, wie fahl ihre Haut war, er sah die Fältchen um Augen und Mund, das vogelartig vorgewölbte Brustbein. »Ihr werdet meinen Standpunkt vielleicht sonderbar finden«, sagte Singhalissa, »aber überlegt doch. Alles hat sich für Euch zum Guten gewendet! Ihr seid Kaiark; Ihr werdet Euch durch eine Trisme mit einem mächtigen Reich verbinden. Was wollt Ihr mehr? Der Inhalt dieses Fläschchens könnte sehr wohl alles zunichte machen!«
Efraim sagte entschieden: »Ich an Eurer Stelle würde mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern!« »Vielleicht solltet Ihr mit Kaiark Rianlle sprechen«, sagte Singhalissa, »er ist ein kluger Mann und wird Euch raten können.« »Ich glaube, die Sache geht nur mich selbst etwas an«, stellte Efraim fest. »Auf Rianlles Klugheit kann ich in diesem Fall verzichten.« Er ging hinein in die Empfangshalle, wo er auf Rianlle stieß, der eben die große Treppe herabkam. Efraim blieb stehen. »Ich hoffe, Ihr habt gut geruht.« Rianlle verbeugte sich höflich. »Bestens, danke.« Singhalissa kam heran. »Ich habe eben Efraim gedrängt, in einer sehr ernsten Sache Euren Rat zu suchen. Die Fwai-Chi haben ihm eine Flüssigkeit gegeben, die, wie sie behaupten, sein Gedächtnis wiederherstellen wird.« Rianlle überlegte. »Entschuldigt uns einen Augenblick.« Er zog Singhalissa beiseite; die beiden unterhielten sich murmelnd. Efraim fand ihr Verhalten empörend. Schließlich nickte Rianlle und kam zu Efraim zurück. »Während ich ausruhte«, sagte Rianlle, »habe ich mir die Situation durch den Kopf gehen lassen, die der Anlaß für eine Spannung zwischen unseren Reichen gewesen sein mag. Ich würde vorschlagen, daß wir die Angelegenheit mit dem Dwan Jar fallenlassen. Warum sollten wir zulassen, daß eine so unbedeutende Sache zu einem Hindernis für die vorgeschlagene Trisme wird? Stimmt Ihr mir nicht zu?« »Vollkommen.« »Auf jeden Fall traue ich den Fwai-Chi-Drogen
nicht. Sie bewirken oft Gehirnschädigungen. Angesichts unserer zukünftigen Verwandtschaftsbeziehung muß ich darauf bestehen, daß Ihr Eure geistige Gesundheit nicht durch irgendeinen abscheulichen Fwai-Chi-Trank gefährdet.« Sonderbar, dachte Efraim. Wenn die Blockierung seines Gedächtnisses für bestimmte Personen so vorteilhaft war, dann mußte er selbst dadurch einen entsprechend großen Nachteil erfahren haben. »Wir müssen jetzt wohl zu den anderen gehen, die uns bereits im Salon erwarten.« Efraim nahm seinen Platz an dem roten Tisch ein und ließ den Blick über die Gesichter rundum wandern: vierzehn schardische und vier eccordische Eiodarken; Singhalissa, Destian, Sthelany; Rianlle, die Kraike Dervas, Maerio und er selbst. Vorsichtig stellte er das Fläschchen vor sich auf den Tisch. »Es ist ein unerwarteter Umstand eingetreten«, begann Efraim. »Er betrifft mein Gedächtnis. Es ist in diesem Fläschchen enthalten. In Port Mar hat mir jemand mein Gedächtnis geraubt. Ich möchte unbedingt erfahren, wer diese Person war. Von den Bekannten, die mit mir in Port Mar waren, sind alle hier bis auf zwei, die jetzt tot sind – und beide wurden ermordet. Ich kann nicht glauben, daß das ein Zufall war. Man hat mir geraten, diesen Trank nicht einzunehmen. Man hat mir bedeutet, es sei besser, den schlafenden Löwen nicht zu wecken. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß ich von dieser Einstellung nichts halte. Ich will mein Gedächtnis zurückhaben, was immer es auch kostet.« Er entkorkte das Fläschchen, hob es an die Lippen und schüttete den Inhalt
rasch hinunter. Der Geschmack war dumpf und irgendwie erdig, ein wenig wie das modrige Wasser in einem alten Baumstumpf. Er musterte den Kreis von Gesichtern. »Vergebt, daß ich vor Euren Augen etwas einnehme... Noch fühle ich nichts. Ich habe damit gerechnet, daß es eine Zeitlang dauert, bis das Mittel in mein Blut gelangt ist, im Körper verteilt wird... Jetzt scheinen sich Licht und Schatten zu verschieben – Eure Gesichter beginnen zu flackern. Ich muß die Augen schließen... Lichtflecken zucken auf, bersten... Mein ganzer Körper beginnt zu sehen ... Ich sehe mit den Händen und in den Beinen und auf meinem Rücken.« Efraims Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Geräusche, Laute – überall...« Er konnte nicht mehr sprechen, fiel gegen die Lehne seines Stuhls. Er fühlte, er sah, er hörte – ein Chaos von Eindrücken: wirbelnde Sonnen, tanzende Sterne, salzige Gischt, die Wärme von sumpfigem Schlamm, der dumpfe Geruch von Wasserpflanzen. Der Stoß von Lanzen, sengende Flammen, das Geschrei von Frauen. Zeitlosigkeit erfaßte ihn, Bilder zogen an ihm vorüber, kehrten wieder wie geisterhafte Fischschwärme. Das Bewußtsein drohte ihm zu entgleiten, Schwäche befiel ihn, Arme und Beine wurden gefühllos. Er kämpfte gegen diese Lethargie an, sah fasziniert zu, wie der erste gewaltige Ansturm von Bildern sich legte. Die unablässige Folge von Eindrücken ging weiter, aber nun nicht mehr so ungeordnet, als beginne sich eine zeitliche Reihenfolge durchzusetzen. Er sah Gesichter und hörte Stimmen: fremde Gesichter, fremde Stimmen, aber auch von Menschen, die ihm unaussprechlich teuer waren. Tränen liefen ihm über die Wangen, ohne daß er es
merkte. Er spürte die unermeßliche Weite des Alls; er erlebte den Kummer von Abschieden, den Triumph von Eroberungen; er tötete und wurde getötet; er liebte und gab selbst Liebe; er ernährte tausend Familien, erfuhr tausend Tode, durchlebte tausend Kindheiten. Immer langsamer zogen die Bilder vorüber, als wäre ihre Quelle langsam erschöpft. Er war der erste Mensch, der auf Marune landete; er führte die Stämme von Port Mar nach Osten; er war alle die Kaiarken von Scharrode und von vielen anderen Reichen auch; er war gewöhnliche Leute – und er durchlebte diese unzähligen Leben im Verlauf von fünf Sekunden. Der Zeitablauf begann sich zu verlangsamen. Er schaute zu, wie Benbuphar Strang gebaut wurde; er unternahm bei Mirk die verschiedensten Streifzüge; er erstieg den Tassenberg und tötete einen blonden Krieger, indem er ihn die Wand des Khism hinunterstürzte. Er begann Gesichter zu sehen, für die er schon beinahe Namen wußte; er war ein großes, brünettes Kind, das zu einem großen, schlanken Mann mit knochigem Gesicht und kurzem, dichtem Bart heranwuchs. Mit klopfendem Herzen folgte Efraim diesem Mann, dessen Name Jochaim war, durch die Räume von Benbuphar Strang – bei Aud, Isp, Umber und Rowan. Bei Mirk streifte er durch die MirkGänge, und er fühlte das Berauschende des Augenblicks, da er in Schultercape, Mann-Maske und Stiefeln das Gemach einer mitunter schreckerfüllten Erwählten betrat. Aus dem Wolkenreichschloß kam das Mädchen Alferica nach Benbuphar Strang und wurde mit Jochaim in Trisme vereint, und nach einiger Zeit wurde ein Kind geboren, das den Namen Efraim er-
hielt. Das Bild Jochaims verblaßte. Efraims Jugendzeit verstrich. Seine Mutter Alferica ertrank bei einem Besuch in Eccord; schließlich kam eine neue Kraike nach Benbuphar Strang, Singhalissa mit ihren zwei Kindern. Eines war der finstere, gehässige Destian, das andere, ein blasses, großäugiges Geschöpf, war Sthelany. Hauslehrer kümmerten sich um die Erziehung der drei Kinder. Sie wählten Kogenzen und Fachgebiete. Sthelany befaßte sich mit dem Schreiben von Gedichten in einer abstrus poetischen Sprache, mit dem Weben von Schmetterlingsgobelins und mit Sternennamen, außerdem natürlich mit dem Zusammenstellen von Düften und Aromen, einer Fertigkeit, die jede hochgeborene Dame beherrschen mußte. Sie sammelte auch Glanzel-Vasen, die in einem unbeschreiblich durchsichtigen Violett glasiert waren, und Einhornhörner. Destian sammelte kostbare Kristalle und Kopien der Knaufverzierungen berühmter Schwerter; er befaßte sich mit Heraldik und der höchst komplizierten Fanfarenlehre. Efraim interessierte sich für die Architektur von Schlössern und Burgen, für die Bestimmung von Mineralien und die Theorie von Legierungen, obwohl Singhalissa diese Wahl für einen angehenden Gelehrten für unangemessen hielt. Efraim nahm Singhalissas Urteil höflich zur Kenntnis und kümmerte sich dann nicht mehr darum. Er war der Erste Kang des Reiches, und Singhalissas Ansichten konnten ihm gleichgültig sein. Singhalissa selbst befaßte sich mit einem guten Dutzend von Fachgebieten und Kunstfertigkeiten; sie war sicherlich die gelehrteste Person unter Efraims Bekannten. Ungefähr einmal im Jahr besuchte sie Port
Mar, um Materialien für die verschiedenen Kogenzen der Bewohner von Benbuphar Strang zu besorgen. Als Efraim erfuhr, daß Kaiark Rianlle von Eccord, zusammen mit der Kraike Dervas und der Lissolet Maerio, Jochaim und Singhalissa nach Port Mar begleiten wollte, entschloß sich auch er, die Reise mitzumachen. Nach etlichen Diskussionen schlossen sich auch Destian und Sthelany der Gesellschaft an. Efraim kannte Maerio seit Jahren, allerdings nur im Rahmen all der formellen Beschränkungen, denen alle Kontakte zwischen Kaiarkenhäusern unterlagen. Anfangs hielt er sie für leichtfertig und exzentrisch. Es fehlte ihr jeder gelehrte Schliff, sie war unbeholfen im Umgang mit den Duftphiolen, und sie schien immer irgendwie im Begriff, eine Unklugheit oder Unbesonnenheit zu begehen, was Singhalissa oft dazu bewegte, verächtlich die Brauen zu heben, während Sthelany sich scheinbar gelangweilt abwendete. Das allein war Grund genug für Efraim, Maerios Gesellschaft zu suchen. Mit der Zeit stellte er fest, daß das Beisammensein mit ihr außergewöhnlich anregend war und daß sie außerdem einen reizenden Anblick bot. Verbotene Vorstellungen schlichen sich in seine Gedanken – aus Achtung vor Maerio, die darüber vermutlich entsetzt sein würde, verdrängte er sie energisch. Kaiark Rianlle, Kraike Dervas und Maerio flogen über die Berge nach Benbuphar Strang; am nächsten Morgen würden alle nach Port Mar aufbrechen. Rianlle, Jochaims Efraim und Destian versammelten sich zu formlosem Gespräch im Ehrensalon; im Schutz von Etiketteschirmen nippten sie unauffällig an kleinen Gläschen mit Arrak.
Rianlle zeigte sich von seiner besten Seite. Er war schon immer ein brillanter Gesprächspartner gewesen, aber bei dieser Gelegenheit übertraf er sich selbst. Wie Singhalissa war Rianlle ein höchst gelehrter Mensch; er wußte die Fwai-Chi-Signale zu deuten und kannte alle die Pfade und Stationen ihres ›Lebensweges‹; er war mit der Pentechnischen Metaphysik vertraut; er hatte die Insekten von Eccord gesammelt und studiert und hatte über dieses Thema sogar drei wissenschaftliche Arbeiten verfaßt. Außerdem war Rianlle ein Krieger von Ruf, der etliche bemerkenswerte Unternehmungen angeführt hatte. Efraim hörte ihm fasziniert zu, als Rianlle über den Dwan Jar, die Flüsterkuppe, sprach. »Mir ist aufgefallen«, sagte er zu Jochaim, »daß dieser Ort von ungewöhnlicher Schönheit ist. Einer von uns sollte sich daran erfreuen. Seid großzügig, Jochaim, und laßt mich auf dem Dwan Jar einen Sommerpavillon bauen! Denkt doch, wie wunderbar es sich dort oben ruhen und meditieren ließe, begleitet von diesem eigenartigen, wilden Wispern!« Jochaim lächelte. »Unmöglich! Habt Ihr keinen Sinn für Schicklichkeit? Meine Eiodarken müßten glauben, ich hätte den Verstand verloren, und würden mich vertreiben, wenn ich Eurem Vorschlag zustimmte. Außerdem bin ich durch ein Abkommen mit den Fwai-Chi gebunden. Ihr habt gewiß einen Scherz machen wollen.« »Es ist durchaus kein Scherz – ich wünsche mir wahrhaftig nichts mehr als dieses winzige, unbedeutende und abgelegene Stückchen Land!« Jochaim schüttelte den Kopf. »Wenn ich einmal tot bin, kann ich mich nicht mehr weigern, aber dann
wird Efraim diese Aufgabe übernehmen. Solange ich lebe, muß ich Euch jedoch Euren Wunsch abschlagen.« »Das klingt so, als würdet Ihr durch Euren Tod Eure Weigerung zurückziehen«, sagte Rianlle, »doch deswegen würde ich Euch um alles in der Welt keinen unzeitgemäßen Tod wünschen. Aber sprechen wir lieber von angenehmeren Dingen...« Die Gesellschaft war am nächsten Tag nach Port Mar geflogen und hatte sich wie üblich im Hotel Rhune Royal einlogiert, wo man ihre Bräuche und Wünsche kannte und respektierte... Efraim hob abrupt den Kopf und blickte wild um sich. Überall angespannte Gesichter, Schweigen, Augen, die ihn anstarrten. Er vergrub das Gesicht wieder in den Händen. Die Erinnerungen tauchten jetzt immer langsamer auf, aber mit wunderbarer, leuchtender Klarheit. Er erlebte noch einmal, wie er das Hotel in Gesellschaft von Destian, Sthelany und Maerio verließ, um einen Spaziergang durch Port Mar zu machen und vielleicht den Märchengarten zu besuchen, wo Galligades Marionettenschau Unterhaltung versprach. Sie wanderten die Straße der Messingtruhen entlang und über die Brücke in die Neutstadt. Ein Weilchen spazierten sie die Estrada hinunter und spähten neugierig in die Biergärten, wo die Bürger von Port Mar und die Studenten der Universität vor aller Augen Bier tranken und Nahrungsmittel verschlangen. Efraim fragte schließlich einen jungen Mann, der aus einem Buchladen kam, nach dem Weg. Als er sah, daß sie Rhunen waren, machte sich der Fremde erbötig, die vier selbst zum Märchengarten zu führen. Zur
allgemeinen Enttäuschung war die Vorstellung jedoch schon zu Ende. Ihr Führer stellte sich als Matho Lorcas vor und bestand darauf, sie zu einer Flasche Wein einzuladen, wobei er selbstverständlich auch für Etiketteschirme sorgte. Sthelany hob die Augenbrauen in einer Manier, die stark an Singhalissa erinnerte, und wandte sich ab. Efraim fing Maerios Augenzwinkern auf und ließ es sich daraufhin nicht nehmen, schicklich hinter dem Schirm verborgen den Wein zu kosten. Maerio tat es ihm mutig nach. Matho Lorcas schien ein Mensch von heiterer Gemütsart und ungezwungenem Witz zu sein. Er wollte nicht zulassen, daß Sthelany oder Destian sich verdrossen absonderten. »Und wie gefällt es Ihnen hier?« fragte er. »Sehr gut«, antwortete Maerio. »Aber es gibt doch sicherlich mehr Kurzweil hier? Wir sehen Port Mar immer als einen Ort leichtfertiger Vergnügungen an.« »Das mag stimmen – aber wir befinden uns hier in einem relativ ehrbaren Stadtteil. Oder sind Sie anderer Ansicht?« »Unsere Sitten unterscheiden sich allerdings stark von den hiesigen«, sagte Destian kühl. »Das ist mir bekannt, aber Sie sind jetzt in Port Mar; warum wollen Sie es nicht mit den Sitten von Port Mar versuchen?« »Dieser Vorschlag entbehrt jeder Logik«, murmelte Sthelany. Lorcas lachte. »Aber natürlich! Ich hätte mich gewundert, wenn Sie mir zugestimmt hätten. Doch haben Sie niemals den Wunsch, ein – sagen wir – normales Leben zu führen?« Efraim fragte: »Sie glauben, wir führen kein nor-
males Leben?« »Wie ich es sehe, nicht. Sie lassen sich von Konventionen einzwängen. All diese starren Regeln machen Sie zu wandelnden Neurosenbündeln.« »Komisch«, sagte Maerio, »ich fühle mich aber ganz wohl.« »Ich auch«, versicherte Efraim. »Sie irren sich.« »Soso! Nun, mag sein. Ich würde ja gerne einmal eines der Rhunenreiche besuchen und das Leben dort aus eigener Anschauung kennenlernen. Schmeckt Ihnen der Wein? Vielleicht wäre Ihnen Punsch lieber.« Destian warf einen Blick in die Runde. »Ich glaube, wir gehen jetzt besser wieder ins Hotel zurück. Haben wir nicht schon genug von der Neustadt gesehen?« »Geht nur«, meinte Efraim. »Ich habe es nicht so eilig.« »Ich bleibe noch bei Efraim«, erklärte Maerio. Matho Lorcas wandte sich an Sthelany. »Ich hoffe, daß Sie auch noch bleiben. Möchten Sie nicht?« »Weshalb sollte ich?« »Weil ich Ihnen etwas sagen möchte, was Sie, glaube ich, gerne hören würden.« Sthelany erhob sich lässig und entfernte sich wortlos. Destian warf Efraim und Maerio einen ungnädigen Blick zu und folgte ihr. »Schade«, sagte Lorcas. »Ich fand sie sehr anziehend.« »Sthelany und Destian halten sehr viel auf Konventionen«, erklärte Maerio. Lorcas fragte mit ironischem Lächeln: »Und wie steht es mit Ihnen? Sind Sie nicht konventionell?« »Wenn der Anlaß es erfordert. Im allgemeinen fin-
de ich die rhunischen Sitten ziemlich langweilig. Wenn Efraim nicht hier wäre, würde ich tatsächlich diesen Punsch versuchen. Ich schäme mich meiner Stoffwechselvorgänge nicht.« Efraim lachte. »Nun gut, Maerio. Wenn Ihr es wagen wollt, mache ich mit. Aber warten wir, bis Destian und Sthelany außer Sichtweite sind.« Matho Lorcas bestellte Rumpunsch für alle drei. Efraim und Maerio nippten erst hinter ihren Schirmen daran, dann wagten sie sich verlegen lachend mit ihren Gläsern hervor und tranken. »Bravo!« erklärte Lorcas trocken. »Damit haben Sie einen großen Schritt in Richtung Ihrer endgültigen Befreiung getan.« »So etwas Besonderes ist das wirklich nicht«, sagte Efraim. »Ich werde noch eine Runde bestellen. Lorcas, wie steht's mit Ihnen?« »Mit Vergnügen. Andererseits wäre es wohl ziemlich peinlich, wenn ihr beide angeheitert ins Hotel zurückgewankt kommt, nicht?« Maerio preßte betroffen die Hände an den Kopf. »Mein Vater würde platzen vor Zorn. Er ist so streng auf Anstand bedacht wie kein anderer Mensch.« »Mein Vater würde wahrscheinlich einfach wegschauen«, sagte Efraim. »Er gibt sich sehr konventionell, aber im Grunde genommen ist er ein ganz vernünftiger Bursche.« »Ihr beide seid also nicht verwandt?« »Überhaupt nicht.« »Aber ihr habt euch gern?« Efraim und Maerio warfen sich einen verlegenen Blick zu. Efraim lachte unbehaglich. »Ich kann's nicht leugnen.« Er schaute Maerio an, deren Gesicht sich
verdüstert hatte. »Maerio – habe ich Euch beleidigt?« »Nein.« »Warum schaut Ihr dann so trübsinnig drein?« »Weil wir nach Port Mar kommen müssen, um einander solche Dinge sagen zu können.« »Ja, es ist schon absurd«, sagte Efraim. »Aber in Port Mar kommt einem alles ganz anders vor als in Eccord oder Scharrode. Hier kann ich Euch berühren, und es ist nicht Mirk.« Er nahm ihre Hand. Matho Lorcas seufzte tief. »Ach ja, die Liebe. Ich sollte euch zwei wohl alleinlassen. Entschuldigt mich einen Augenblick, dort drüben sehe ich jemand, mit dem ich ein Wörtchen reden möchte.« Efraim und Maerio setzten sich nebeneinander. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter; er beugte sich hinunter und küßte sie auf die Stirn. »Efraim! Es ist doch nicht Mirk!« »Seid Ihr mir böse?« »Nein.« Lorcas kam wieder zum Tisch. »Euer Freund Destian ist hier.« Efraim und Maerio rückten auseinander. Destian trat an den Tisch und streifte die beiden mit einem seltsamen Blick. »Der Kaiark Rianlle hat mich gebeten«, sagte er zu Maerio gewandt, »Euch unverzüglich ins Hotel zurückzubringen.« Efraim starrte Destian an, dem es, wie er wußte, durchaus ähnlich sah, die Situation falsch geschildert zu haben. Maerio, die Unannehmlichkeiten witterte, sprang auf. »Ja gut. Ich werde ganz froh sein, mich ein wenig ausruhen zu können. Auch ist es hier nicht sehr gemütlich – Umber und diese dichte Wolkendecke und der Schatten dieser riesigen Bäume lassen
einen glauben, es wäre Mirk!« Destian und Maerio gingen. Mit einer resignierenden Geste ließ sich Lorcas wieder neben Efraim nieder. »Ja, so ist das Leben, mein Freund.« »Ich schäme mich«, murmelte Efraim. »Was muß sie nur von mir denken?« »Sehen Sie zu, daß Sie mal allein mit ihr sind, dann können Sie es herausfinden.« »Das ist unmöglich! Die Atmosphäre hier in Port Mar hat uns vielleicht die Haltung verlieren lassen. In den Reichen könnten und würden wir uns nie so ungebührlich benehmen.« Er stützte das Kinn in die Hände und starrte trübsinnig vor sich hin. »Kommen Sie«, sagte Lorcas. »Gehen wir noch ein Stück die Straße hinunter. Bald muß ich in den Drei Laternen an die Arbeit, aber vorher möchte ich Ihnen noch ein bißchen von der Stadt zeigen.« Lorcas führte Efraim in ein Kabarett, das vor allem von Studenten besucht wurde. Sie hörten der Musik zu und tranken ein paar Gläser leichtes Bier. Efraim schilderte Lorcas das Leben in den Bergreichen. »Verglichen mit unserer Lebensweise kommt einem ein Lokal wie dieses wie ein Käfig voller gieriger, schamloser Tiere vor – das wäre zumindest die Ansicht der Kraike Singhalissa.« »Und Sie schließen sich ihrem Urteil an?« »Im Gegenteil; das ist ja der Hauptgrund, warum ich überhaupt hier bin. Ich bemühe mich, die positiven Aspekte eines Verhaltens zu entdecken, das ich zugegebenermaßen immer noch abstoßend finde. Schauen Sie sich nur dieses Paar dort drüben an. Schwitzend, keuchend, wie zwei Hunde in der Hitze. Zum allermindesten muß man ihr Tun als unhygie-
nisch bezeichnen.« »Nun, sie lassen eben ihren Gefühlen freien Lauf. Die anderen Leute dagegen, das müssen Sie zugeben, benehmen sich ganz anständig, und keiner nimmt Anstoß am Verhalten dieser beiden Verworfenen.« »Ich kenne mich nicht mehr aus«, gab Efraim zu. »Billionen Menschen leben im Sternhaufen Alastor – sie können nicht alle verworfen sein. Vielleicht ist alles menschliche Tun im Grunde ganz unschuldig.« »Ja, hier geht es relativ unschuldig zu«, bemerkte Lorcas. »Aber wenn Sie mitkommen wollen, könnte ich Ihnen Orte zeigen, wo das durchaus nicht mehr der Fall ist. Es sei denn, Sie möchten Ihrer Illusionen nicht beraubt werden?« »Nein. Ich komme mit, nur möchte ich nicht allzulange üble Luft atmen müssen.« »Wenn Sie genug haben, dann sagen Sie's einfach.« Lorcas warf einen Blick auf die Uhr. »Ich habe noch gerade eine Stunde frei, dann muß ich in den Drei Laternen an die Arbeit.« Die beiden gingen die Straße der Hinkenden Kinder hinauf und bogen dann in die Haune-Avenue ein. Lorcas wies seinen Begleiter auf die weniger gut beleumundeten Lokalitäten der Stadt hin – ein Luxusbordell, eine von sexuell Abartigen frequentierte Bar, ein ziemlich düsteres Lokal, das als Teestube getarnt war, im oberen Stockwerk jedoch illegale Stimulationsapparate vermietete, und eine Reihe anderer Etablissements, die noch fragwürdigere Vergnügungen feilboten. Efraim ließ die Eindrücke mit steinerner Miene auf sich einstürmen. Er stellte fest, daß er nicht so sehr entsetzt und abgestoßen war, sondern sich eher ir-
gendwie unbeteiligt vorkam, wie der Zuschauer bei einem grotesken Theaterstück. Schließlich erreichten sie die Drei Laternen, ein verwinkeltes, altes Bauwerk, aus dem munteres Gefiedel mit Banjobegleitung drang – ein flotter Tanz im Stil der TinsdaleWegelagerer. Singhalissa hatte recht, dachte Efraim, wenn sie Musik symbolischen Sebalismus nannte – gut, vielleicht war ›Sebalismus‹ nicht ganz das richtige Wort: ›Emotionalismus‹ wäre ein treffenderer Ausdruck gewesen. Am Eingang der Drei Laternen verabschiedete sich Lorcas von Efraim. »Denken Sie daran, ich würde mich sehr freuen über eine Gelegenheit, die Reiche zu besuchen. Eines Tages vielleicht – wer weiß?« Efraim, der an den eisigen Empfang denken mußte, der Lorcas von seiten Singhalissas gewiß war, unterdrückte die Einladung, die er gerne ausgesprochen hätte. »Eines Tages vielleicht. Zur Zeit wäre es wohl nicht ratsam.« »Also dann, leben Sie wohl. Und denken Sie daran, einfach die Haune-Avenue zurück, über eine der Querstraßen auf die Estrada, die bis zur Brücke führt, und dann die Straße der Messingtruhen hinauf zu Ihrem Hotel.« »Ich kenne mich jetzt schon aus; ich werde mich bestimmt nicht verirren.« Etwas bedauernd verschwand Lorcas in den Drei Laternen; am Eingang drehte er sich noch einmal um und winkte. Efraim machte sich auf den Rückweg. Schwer und düster hing die Wolkendecke über der Stadt. Die Phase war noch Umber, doch es war ungewöhnlich dunkel. Furad stand tief hinter dem Jib-
beree-Hügel, und Maddar und Cirse waren von den Wolken verdeckt. Dunkelheit, die fast an Mirk gemahnte, lag über Port Mar; die bunten Lichter der Haune-Avenue wirkten irgendwie grell und störend in ihrer Heiterkeit. Während Efraim dahinwanderte, kehrten seine Gedanken zu Maerio zurück; wie gerne hätte er sie jetzt bei sich gehabt! Aber es war sinnlos, sich dem Willen des Kaiarken Rianlle zu widersetzen, der ein Singhalissa ebenbürtiges Muster an Rechtschaffenheit war. In eben diesem Augenblick kam Efraim an dem Luxusbordell vorbei, und während er noch über den Charakter des Kaiarken Rianlle nachdachte, trat Kaiark Rianlle selbst aus der Tür des Bordells – mit gerötetem Gesicht und in Unordnung geratener Kleidung. Efraim starrte ihn an, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Er begann zu lachen, erst ungläubig, dann in einem Anfall unbezwingbarer Erheiterung. Rianlle stand da, mit offenem Mund zuerst und rot vor Zorn, doch dann machte er den Mund zu und bemühte sich um ein kameradschaftliches Grinsen. Unter den gegebenen Umständen wirkte beides wenig glaubhaft. Für einen Rhunen war es unerträglich, lächerlich gemacht zu werden. Wenn Efraim den Vorfall weitererzählte (und das würde er gewiß tun, denn die Geschichte war einfach zu schön, um verschwiegen zu werden, das sah selbst Rianlle ein), dann wurde der Kaiark Rianlle für immer zu einer Zielscheibe des Spotts, und höhnische Bemerkungen würden ihn sein Leben lang verfolgen. Es mußte Rianlle verzweifelte Anstrengung gekostet haben, aber
es gelang ihm, sich zu fassen. »Was tut Ihr denn hier?« »Nichts! Nur seltsame Sitten studieren!« Und Efraim begann von neuem zu kichern. Rianlle brachte ein verzerrtes Grinsen zustande. »Ah – beurteilt mich nicht zu streng. Es ist bedauerlich und mir gewiß nicht angenehm, aber ich werde förmlich gezwungen, mich als Musterbeispiel rhunischer Galanterie zu präsentieren. Man erwartet das einfach von mir, und manchmal wird die Versuchung zu groß... Kommt, wir wollen zusammen ein heißes Getränk einnehmen, wie das die Leute hier in Port Mar ungeniert tun. Das Getränk heißt Kaffee und ist nicht berauschend.« Rianlle brachte Efraim zu einem Lokal in der Straße des Klugen Flohs, das sich ›Zum Kaffeeparadies von Alastor‹ nannte. Er bestellte das Getränk für beide und entschuldigte sich dann. »Einen Augenblick bitte; ich habe nur noch rasch etwas zu erledigen.« Efraim sah Rianlle über die Straße gehen und einen schäbigen kleinen Laden betreten, dessen Schaufenster mit allen möglichen Dingen vollgestopft war. Der Kaffee wurde gebracht; Efraim kostete das Gebräu und fand es würzig, aromatisch und nach seinem Geschmack. Nach wenigen Augenblicken kam Rianlle zurück, und beide tranken ihren Kaffee in unbehaglichem Schweigen. Rianlle hob den Deckel der silbernen Kanne, in der der Kaffee serviert worden war, und schaute hinein. Seine Hand stockte einen Augenblick über der offenen Kanne, dann fiel der Deckel klirrend zu. Rianlle schenkte Efraim und auch sich selbst eine zweite Tasse voll. Er wurde nun gesprächig und überraschend freundlich. Efraim trank noch etwas Kaffee, während
Rianlle seine zweite Portion kalt werden ließ. Nach einer Weile verdunkelte sich Efraims Geist und verlor sich in einem Wirbel treibender Nebel... Wie in einem Traum sah er sich mit Rianlle die Estrada hinuntergehen, die Brücke überqueren und durch kleine Nebengäßchen dem Park des Rhune Royal zustreben. Rianlle näherte sich dem Hotel mit großer Vorsicht, doch dann kam ihm ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Als sie um eine Ecke bogen, stand plötzlich Singhalissa vor ihnen. Angewidert musterte sie Efraim und sah dann Rianlle an. »So habt Ihr ihn in berauschtem Zustand gefunden! Welche Schande! Jochaim wird außer sich vor Zorn sein!« Rianlle überlegte einen Moment lang, dann schüttelte er traurig den Kopf. »Kommt mit mir, fort von diesem Wege, denn ich muß Euch etwas äußerst Wichtiges sagen.« Rianlle und Singhalissa nahmen auf einer einsamen Bank Platz, während Efraim daneben stand und mit leerem Blick einem Glühwürmchen zusah. Rianlle räusperte sich verlegen. »Es handelt sich leider nicht nur um einen Rausch. Irgend jemand hat ihm eine gefährliche Droge angeboten, die er törichterweise eingenommen hat. Das Gift hat sein Gedächtnis vollkommen zerstört.« »Welch ein Unglück!« rief Singhalissa. »Ich muß sofort Jochaim verständigen; er wird in der Neustadt das unterste zuoberst kehren, bis er die Wahrheit herausgefunden hat!« »Wartet!« flüsterte Rianlle mir rauher Stimme. »Das wäre doch kaum in unserem Interesse.« Singhalissa maß Rianlle mit einem kalten Blick, der
alles zu durchschauen schien. »Unser Interesse?« »Ja. Überlegt doch. Jochaim wird einmal sterben – vielleicht eher, als uns lieb sein mag. Wenn dieses traurige Ereignis eintritt, wird Efraim Kaiark.« »In seinem augenblicklichen Zustand?« »Natürlich nicht. Er wird sich bald erholen, und Jochaim wird ihm helfen, seine Erinnerungen aufzufrischen. Aber – was ist, wenn Efraim auf eine Reise ginge?« »Und nicht mehr zurückkehrt?« »Dann wird, wenn Jochaim tot ist, Destian der neue Kaiark von Scharrode, und ich gebe ihm Maerio zur Trisme. Jochaim wird die Flüsterkuppe niemals abtreten. Wenn sie aber in meinem Besitz wäre, könnte ich von den Fwai-Chi einen hohen Tribut eintreiben. Was bedeuten ihnen denn schon Edelsteine und Elixiere? Wenn Destian Kaiark ist, gibt es keine Schwierigkeiten mehr.« Singhalissa überlegte. »Unterschätzt Destian nicht; er kann manchmal sehr eigensinnig sein! Er würde jedoch mir keinen Wunsch abschlagen, wäre ich Kraike von Eccord. Offen gesagt, Belrod Strang entspricht mehr meinem Geschmack als das düstere alte Gemäuer von Benbuphar Strang.« Rianlle verzog das Gesicht und stieß einen unwillkürlichen Seufzer der Verzweiflung aus. »Was wird aus Dervas?« »Ihr müßt die Trisme auflösen; das ist einfach genug. Wenn die Ereignisse diesen Verlauf nehmen, dann wird es gewiß keine Probleme geben. Wenn nicht – nun, dann ist es besser, wir vergessen diese Unterhaltung, und ich bringe Efraim zu Jochaim. Keine Sorge! Jochaim ist ebenso hartnäckig wie un-
barmherzig. Er ist Efraim sehr zugeneigt und wird nicht ruhen, bis er alle Umstände dieses Vorfalls aufgeklärt hat!« Rianlle seufzte nochmals. »Destian soll der nächste Kaiark von Scharrode sein. Wir werden dann den Abschluß von zwei Trismes feiern: zwischen Destian und Maerio; zwischen Euch und mir.« »In diesem Fall habt Ihr meine Unterstützung.« Obwohl Efraim die ganze Unterhaltung mitanhörte, begriff er in seiner Betäubung kaum ein Wort davon. Singhalissa ging fort und kam mit einem schäbigen grauen Overall und einer Schere zurück. Sie schnitt Efraim das Haar kurz, und dann zogen ihm die beiden den grauen Anzug an. Schließlich verschwand Rianlle im Hotel und kam nach einer Weile in einem schwarzen Umhang und einem Helm zurück, der sein Gesicht verbarg. Nun wurden Efraims Erinnerungen immer verschwommener. Er wußte kaum noch, wie er zum Raumhafen gekommen war, und erinnerte sich nur undeutlich, an Bord der Berenicia gebracht worden zu sein, wo Rianlle dem Steward eine Banknote zusteckte und bestimmte Anweisungen gab. Nach und nach leiteten die Erinnerungen zu dem bewußt Erlebten über. Er öffnete die Augen und sah das Gesicht des Kaiarken Rianlle vor sich. Wieder zeigte es jene Mischung von Wut, Beschämung und verzweifelter Freundlichkeit, die Efraim damals in der Haune-Avenue wahrgenommen hatte. »Mein Gedächtnis ist wiederhergestellt«, sagte Efraim ruhig. »Ich kenne jetzt den Namen meines Feindes und den Grund seiner Handlungen. Es sind
verständliche und zwingende Gründe, würde ich sagen. Aber es handelt sich hier um eine persönliche Angelegenheit, die ich auf persönlicher Basis zu bereinigen gedenke. Im Augenblick haben wir uns mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen. Da ich mein Gedächtnis zurückgewonnen habe, kann ich nun aus eigenem Wissen erklären, daß Kaiark Jochaim sich durch das alte Versprechen an die Fwai-Chi tatsächlich gebunden fühlte und daß er außerdem zu Kaiark Rianlle folgende Bemerkung machte: ›Wenn ich tot bin, kann ich Euren Wunsch nicht mehr verweigern‹, was der Kaiark Rianlle folgendermaßen auslegte: ›Wenn ich tot bin, steht Eurem Wunsch nichts mehr im Wege.‹ Ein durchaus begreifliches Mißverständnis, das Kaiark Rianlle jetzt gewiß einsieht. Ich vermute, daß er jeglichen Anspruch auf den Dwan Jar ausdrücklich und für immer aufzugeben wünscht; ist das so, Euer Mächtigkeit?« »Ganz richtig«, erklärte Rianlle tonlos. »Ich begreife jetzt, daß ich eine scherzhafte Bemerkung des Kaiarken Jochaim offensichtlich falsch ausgelegt habe.« »Nun bleiben nur noch wenige Punkte zu klären«, sagte Efraim und wandte sich förmlich an Rianlle. »Eure Mächtigkeit, ich ersuche Euch um eine Trisme zwischen unseren Häusern und unseren Reichen.« »Es wird mir eine Ehre sein, Eurem Ersuchen stattzugeben, wenn die Lissolet Maerio einverstanden ist.« »Ich bin einverstanden«, sagte Maerio. »Nun muß ich leider auf eine sehr viel weniger erfreuliche Angelegenheit zu sprechen kommen«, sagte Efraim. »Es geht um das Verbrechen des Mordes.« »Mord!« Das entsetzliche Wort wurde flüsternd in
der Tischrunde wiederholt. »Der Kaiark Jochaim«, fuhr Efraim fort, »wurde durch einen Bolzenschuß in den Rücken ermordet. Der Bolzen stammte nicht aus einem gorgetischen Stutzen, also kann der Mörder nur ein Scharde sein. Sagen wir lieber, er begleitete die schardischen Streitkräfte. Während Mirk fand ein zweiter Mord statt. Ich bin in gewisser Weise zu unmittelbar von diesem Verbrechen betroffen, als daß ich unvoreingenommen urteilen könnte. Ich werde also vor Euch, den Eiodarken von Scharrode, meine Aussage machen; Ihr sollt dann das Urteil fällen, und ich werde Euren Spruch akzeptieren. Ich spreche jetzt als Zeuge: Als ich in Begleitung meines Freundes Matho Lorcas auf Benbuphar Strang eintraf, wurde mir ein äußerst kühler Empfang zuteil, ja ich stieß sogar auf offene Ablehnung. Kurz vor Eintritt der Mirk-Phase überraschte mich die Edle Sthelany jedoch durch ihre ungewöhnliche Freundlichkeit und die Versicherung, daß sie zum ersten Mal ihre Tür während Mirk nicht verriegeln würde.« Efraim beschrieb die Ereignisse vor, während und nach der letzten Mirk-Phase. »Es ist klar, daß der Versuch unternommen wurde, mich in Sthelanys Gemach zu locken; an meiner Stelle kam jedoch der unglückliche Lorcas – er wurde erkannt und ermordet, damit er mir nicht von der Falle berichten konnte. Ich weiß wohl, daß bei Mirk die Menschen zu seltsamen Handlungen neigen, aber dieser Mord hat damit nichts zu tun. Er wurde mindestens eine Wo-
che vor Mirk geplant und mit unbarmherziger Zielstrebigkeit ausgeführt. Das war keine Mirk-Tat. Das war kaltblütiger Mord!« »Diese Behauptungen sind ein boshaftes Lügengewebe«, sagte Singhalissa. »Es ist zu fadenscheinig, um einer Entgegnung wert zu sein.« Efraim wandte sich an Destian. »Was habt Ihr dazu zu sagen?« »Ich bin derselben Ansicht wie die Edle Singhalissa.« »Und Sthelany?« Schweigen. Schließlich kam die dumpfe Antwort: »Ich kann nur sagen, daß ich dieses Leben müde bin.« Verlegen und betroffen verließen jetzt die Besucher von Eccord den Großen Salon. Die schardischen Eiodarken zogen sich an das andere Ende des Raumes zurück. Etwa zehn Minuten lang berieten sie sich murmelnd, dann kamen sie zurück. »Dies ist unser Urteil«, verkündete Eiodark Haulk. »Alle drei haben sich gleichermaßen schuldig gemacht. Sie haben nicht eine Mirk-Tat verübt, sondern einen Mord begangen. Sie sollen unverzüglich kahlgeschoren und aus den Rhunenreichen verstoßen werden; sie dürfen nichts mitnehmen als die Kleider, die sie am Leib tragen. So lange sie leben, sind sie Ausgestoßene, und kein Rhunenreich wird sie aufnehmen. – Ihr Mörder, legt nun unverzüglich Schmuck und alle sonstigen Wertsachen ab. Dann geht hinunter in die Küche, wo man euch den Kopf scheren wird. Hierauf wird man euch zum Flugwagen bringen und nach Port Mar fliegen, wo ihr eurer weiteres Leben fristen mögt.«
KAPITEL 14 Maerio und Efraim standen auf den Zinnen von Benbuphar Strang. »Auf einmal«, sagte Efraim leise! »ist unser Leben zur Ruhe gekommen. Alle Probleme haben sich gelöst. Eine Zeit des Friedens liegt vor uns.« »Ich fürchte, daß unsere Probleme erst beginnen.« Efraim blickte sie betroffen an. »Wie kannst du so etwas sagen?« »Ich weiß, daß du das Leben außerhalb der Reiche kennengelernt hast; ich habe nur einen leisen Vorgeschmack davon bekommen. Werden wir beide aber zufrieden sein, hinfort als Rhunen zu leben?« »Wir können leben, wie immer es uns gefällt«, sagte Efraim. »Ich will nur, daß wir beide glücklich werden.« »Vielleicht werden wir ferne Welten besuchen wollen. Was dann? Wie werden die Scharden uns bei unserer Rückkehr empfangen? Sie werden uns für verderbt halten – für Rhunen, die ihr Volk und seine Sitten verraten haben.« Efraim blickte über das Tal hinaus. »Wir beide sind schon längst keine richtigen Rhunen mehr. Geliebte. Das ist nun nicht mehr zu ändern. Was also sollen wir tun?« »Ich weiß es nicht.« »Ich auch nicht.«