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Als die stämmigen Männer Glauven, den Messerwerfer, wieder vor das Zelt des Marcos schleppten, blieben sie lange ge...
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1.
Als die stämmigen Männer Glauven, den Messerwerfer, wieder vor das Zelt des Marcos schleppten, blieben sie lange genug stehen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich umzusehen. Glauven drehte langsam den Kopf. Rechts bemerkte er eine tiefe Grube, aus der es nach Verwesung und geronnenem Blut stank. Er zwinkerte, als er über dem Rand Gesichter sah. Sie wirkten wie abgeschnittene Köpfe. Nur die Augen bewegten sich und die Münder. Die Gefangenen murmelten und verwünschten Marcos und seine Krieger. »Er wartet nicht gern!« knurrte der Bewacher, riß an Glauvens Fesseln und trieb ihn wieder vorwärts. Zwei Bogenschützen, die gespannten Waffen in den Fäusten, standen zu beiden Seiten des an drei der vier Ecken hochgeschlagenen Zeltes. Decken, Felle und verschmutzte Teppiche lagen auf dem Sand. Es war ein mittelgroßes Zelt mit einer gedrechselten Stange in der Mitte. Einige Truhen und tragbare Sessel standen herum; im Hintergrund drückte sich scheu eine Sklavin an die Zeltleinwand. Auf einem Schild lagen goldene und silberne Münzen und Schmuckstücke, achtlos wie weggeworfen. Einer der beiden Soldaten stellte
Glauven ein Bein, der andere stieß ihn hart in den Rücken. Glauven stolperte, fiel zu Boden und brach sich fast die Hände, als er seinen Sturz abfangen wollte. »Es liegt an dir, ob du schnell oder langsam und qualvoll stirbst. Mann!« sagte eine schneidende Stimme. Glauven hob den Kopf und sah die Stiefel und die Knie eines Mannes, der vor ihm in einem der fellüberzogenen Sessel lag. Als er durch das Blut, das aus der Wunde über der Braue rann, wieder klar sehen konnte, begegnete er den grüngrauen Augen des weißblonden Mannes. »Es liegt nicht an mir!« sagte er leise und schaffte es, auf die Knie zu kommen. Sie hatten ihn mehrmals gepeitscht und gefoltert, und heute schien Marcos den Rest des Wissens aus dem Mann von Urgor herauspressen zu wollen. »Es liegt an dir. Rede!« Er schnippte mit den Fingern, und sofort schrie Glauven voller Qualen auf. Der Schweiß brach aus allen seinen Poren. Einer der Soldaten hatte die glühende Spitze eines Speeres gegen seinen Nacken gepreßt. Der Schmerz kam in kurzen, heftigen Stößen. Ein anderer Mann schüttete einen Helm salzigen Wassers über Glauven aus. »Sprich, Gefangener!« wiederholte Marcos. Glauven stöhnte auf und begann zu sprechen. Er wiederholte, um Zeit zu schinden, was er von Urgor,
den Drachen und der Burg der Weisen am Ah‘rath wußte. »Das kennen wir schon! Weiter!« drohte Marcos. Marcos war der Bastard aus einer Verbindung zwischen einem Kampfsklaven von der Schlangeninsel und einer Sklavin aus den rätselhaften nördlichen Eisländern. Ein riesiger, hünenhafter Mann mit wuchtigen Muskeln und langem Haar, das ein eiserner Reifen aus der Stirn hielt. Marcos kannte nichts anderes als Kampf und Krieg, Sold und Beute. Und – er war ein einfacher Mensch, machtbesessen und gierig. Er war seinen Männern ein harter Vorgesetzter, denn er kannte das rauhe Handwerk des Krieges wie kaum ein anderer. Es war schwer, ihn zu besiegen: weder im Kampf, noch im Trinken, noch im Erringen der Gunst von Mädchen und Frauen. Der ehemalige Kampfsklave des Königs der Schlangeninsel stand bis vor kurzer Zeit im Sold von König Zogor. Er führte eine Hundertschaft leichter Berittener an. Jetzt war er ein Deserteur, wie das Lager der rund dreihundert Männer in Meeresnähe bewies. Glauven holte Luft und sprach weiter. Er sprach von den vielen Pferdelasten aus reinem Gold, die angeblich aus dem Zusammenwirken der »Weisen« mit bestimmten wunderbaren Gerätschaften stammten. Glauven erzählte, wie die Drachenreiter das Gold aus der Burg am Hang des Ah‘rath nach Urgor
gebracht hatten. »Du hast es selbst gesehen?« knurrte Marcos. An seiner breiten Hand mit den kräftigen Fingern glänzten eiserne, goldene und mit kostbaren Steinen verzierte Ringe aus der Beute längst geschlagener Gefechte und Schlachten. Er hielt nachlässig einen wuchtigen Kelch, aus dem roter Wein tropfte. »Ich habe es selbst gesehen. Nicht alles, aber einen Teil der Ladung.« Glauven hatte mit den anderen Gefangenen sprechen können, als er gefesselt in einer der Gruben gelegen hatte. Sie sagten ihm alles über Marcos, denn unter ihnen befand sich auch ein Offizier einer anderen berittenen Hundertschaft. Er war seit einigen Stunden tot – verdurstet, an den Folgen der Hiebe und Folterungen gestorben. »Wir werden dir helfen, schneller zu sprechen! Und genauer zu berichten! Kitzle ihn noch einmal mit dem Speerblatt!« befahl der Anführer von rund dreihundert Männern und einem leichten Troß, der hier am Meeresarm lagerte. »Herr!« heulte Glauven auf. »Ich sage alles. Mehr weiß ich nicht! Ich war niemals am Ah‘rath!« »Gleichwie! Los, helft ihm reden!« Wieder zog einer der Folterknechte die dunkelrot glühende Speerspitze aus der Glutschale und näherte das Folterwerkzeug den Schultern des Mannes. Die
Haut zischte auf, der Gefangene aus Urgor schrie und fiel bewußtlos nach vorn. Während die drei desertierten Abteilungen des Heeres von König Zogor sich hier für einen schnellen Ritt in unbekanntes Gebiet rüsteten, kamen die erschöpften Späher zurück und meldeten, daß jetzt, am Ende des Mondes Vampir, der mächtige Dragon aus Urgor mit seinem Heer in westlicher Richtung unterwegs war. Er hatte die beiden Heere des Königs von Myra ausgeschaltet und wurde in der Nähe von Bo-gah aufgehalten, aber die Gefahr war dadurch nicht gebannt. Die Gegenstände, Sklaven und Sklavinnen hier im Lager stammten aus der Beute, die Marcos und seine Reiter in der Stadt Dan gemacht hatten. Sie waren die aktivsten Mörder und Plünderer gewesen. Langsam kam Glauven wieder zu sich. Er fühlte sich am ganzen Körper gelähmt vor rasendem Schmerz. Er taumelte hin und her und hörte die Fragen des Blonden vor ihm wie durch einen dicken Vorhang. »Also gibt es in dieser Burg unermeßliche Schätze aller Art? Sprich! Was weißt du davon?« »Sie sagen es, Herr!« röchelte Glauven. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Inzwischen hatte sich um das Zelt und um den Gefolterten eine dichte Gruppe wild aussehender Krieger gebildet. Sie standen da und hörten zu.
»Wer sagt es?« »Diejenigen, die mit den Weisen der Berge gesprochen haben, Herr! Sie sprachen von einer kleinen, blühenden Stadt voller Kostbarkeiten, die jene Frauen und Männer zurücklassen mußten!« Marcos‘ Stimme war drohend, aber er brauchte nicht zu drohen. Glauven, den sie vor einigen Tagen gefangen hatten, als er Späherdienste leistete, wußte, daß er dieses Lager nur durch ein Wunder lebend verlassen würde. Und er glaubte nicht mehr an Wunder, seit er wußte, daß Marcos die Offiziere der beiden anderen Reiterabteilungen ebenfalls zur Desertation überredet hatte – oder sie vergiften ließ, wenn sie sich weigerten. Die dreihundert Reiter aber waren ihm willig gefolgt. Sie witterten ein Leben ohne Sorge nach einer kurzen, aber harten Anstrengung. »Kennst du den Weg zum Ah‘rath?« Glauven schluckte durstig. Seine verkrusteten Lippen waren aufgerissen, sein Gaumen ausgedorrt. Er ahnte, daß er nur noch so lange zu leben hatte, wie er redete. Er bemühte sich krampfhaft, zu begreifen, was ihn Marcos fragte. »Ich kenne ihn nur zum Teil ... was ich weiß, weiß ich aus Berichten. Händler und die Männer um Dragon.« »Schildere ihn! Schreibe auf, Sklave!« donnerte Marcos und trank den Becher leer. Er drehte sich halb
im Sessel herum und warf das Gefäß der Sklavin zu, die es auffing und dann zu einem Weinschlauch trippelte, der an einer der Zeltschnüre angeschnallt war. Ein Schreibsklave verneigte sich, holte das Brett mit den daraufgehefteten Pergamentblättern und seinen Griffel, aus Schilf, Tierfett und Erdfarbe hergestellt. »Ihr geht zuerst ...«, begann Glauven und schilderte, so gut er es konnte, den Weg zum Ah‘rath. Er schloß mit der Erwähnung der Furt, an der die blinde Frau mit ihrem riesigen Hund lebte, umgeben von Hirten und Köhlern. Marcos hatte das Seeheer König Zogors im günstigsten Augenblick – wie er glaubte – verlassen. Er hatte gemerkt, daß der Gegner siegen würde. Dies war der einzige wichtige Grund. Dazu kam aber noch, daß der Gegner auch über eine Kampftaktik verfügte, die ihn nahezu unverwundbar und unbesiegbar machte. Die Fallen, die Dragons Heer – die Unterwelt mochte wissen, ob dies noch mit rechten Dingen zuging – stellte, waren für den Gegner meist tödlich. Unter diesen Umstanden war der Söldner nicht gewillt, sein wertvolles Leben und seine Beute aufs Spiel zu setzen. Er desertierte also und »überredete« zwei andere Hundertschaften ebenfalls dazu, das Seeheer zu verlassen. Und jetzt waren sie dabei, ihre Zelte abzubrechen.
»Mehr weiß ich nicht!« wimmerte Glauven. Glauven war ein hagerer Mann, dessen Augen mehr als fünfzig Sommer gesehen hatten. Auch sein Leben hatte aus Kampf bestanden. Schließlich war er beschäftigungslos, zu Parthos Truppe gestoßen. Dem jungen Hauptmann war das Talent Glauvens aufgefallen, sich selbst geringste Einzelheiten, wohl nicht bewußt, aber wirkungsvoll und sehr genau über längere Zeiträume hinweg zu merken. So war er zum Späher geworden. Seine Erfahrung und ein Rest seines noch intakten Verstandes sagten ihm deutlich, daß seine letzten Augenblicke begonnen hatten. Langsam hob er den Kopf. »Du scheinst wirklich nicht mehr zu wissen. Wo ist der Wein?« Den zweiten Satz brüllte Marcos. Furchtsam kam die Sklavin näher. Sie trug den Pokal in beiden Händen und reichte ihn devot dem Söldnerführer. Marcos riß ihr den Kelch förmlich aus der Hand, wobei die Hälfte des Weines über ihr dünnes Gewand geschüttet wurde. »Ungeschickte Schlampe!« knurrte er wütend und beugte sich vor. Ein Blick des Mädchens traf den Gefolterten. Die Augen wurden dunkel vor Entsetzen oder deswegen, weil sie plötzlich erkennen mußte, wie nahe Leben und Tod einander waren. Glauven begriff den Blick und es war einer seiner letzten Eindrücke.
Marcos streckte die Hand aus. Am rechten Unterarm trug er eine eiserne Tülle, die vom Handgelenk bis knapp unterhalb des Ellenbogenknochens, reichte. Sie war in einem Scharnier beweglich und aufklappbar, mit massiven bronzenen Verzierungen und kleinen goldplattierten Vierecken ausgestattet. Ein Sonnenstrahl fiel darauf und erzeugte einen kleinen Blitz, einen Funken. Marcos sagte kurz: »Bringt ihn weg!« Hinter Glauven fragte brummend eine Stimme: »Sollen wir ...« Ein Fingerschnappen folgte. »Ja. Er taugt zu nichts mehr.« Eine harte Hand griff in Glauvens halblanges Haar und riß den Kopf zurück. Aufstöhnend kam Glauven auf die Beine. Er sah feurige Räder vor seinen Augen und dahinter, undeutlich aber riesengroß, das Gesicht des jungen Mädchens. Dann riß man ihn herum und führte ihn durchs halbe Lager. Kleine Feuer brannten unter schwankenden Kesseln. Glauven konnte nichts mehr riechen, aber er sah im Sonnenlicht die Pferde, die man pflegte, das Sattelzeug und die Waffen, die geputzt und nachgesehen wurden. Die angebundenen Tiere bildeten lange, vielfarbige Reihen zwischen den runden oder viereckigen Zelten. Grobe Fäuste rissen ihn weiter. Seine Hände waren jetzt auf dem Rücken zusammengebunden. Er stolperte über Unrat, abgebrochene Äste und einzelne Teile aus
dem Schwemmgut. Links von ihm leuchtete in der gnadenlosen Mittagssonne das Meer. Einzelne schmale Streifen Schaum kamen immer näher und lösten sich auf dem Sand und den Felsen auf. Glauvens malträtierte Ohren hörten das Geräusch der sterbenden Brandung nicht mehr. »Werdet ihr ...«, stotterte er, »... schnell töten?« Ein undeutliches Brummen war die Antwort. Sie kamen jetzt an frisch geschnittenem Gras vorbei, das Sklaven in großen Körben von einem nahen Feld gebracht hatten. Immer weniger sah, spürte und hörte Glauven von seiner Umgebung. Er schwankte hin und her, weil wieder eine Ohnmacht nach ihm griff. Schließlich stolperte er, außerhalb des Lagers, auf einer kleinen Sandfläche. Er blieb liegen und wartete, halb bewußtlos. »Hat Marcos gesagt, auf welche Weise wir ihn töten sollen?« fragte einer der Soldaten. »Nein«, sagte der andere. »Macht schnell. Er sieht aus wie ein tapferer Kämpfer. Ich habe etwas dagegen, zu foltern! »Töten Wir ihn schnell!« »Ja, ja!« Ein Soldat zog einen langen Dolch, prüfte die Spitze mit dem Daumen und kauerte sich nieder. Sein Arm holte aus, dann fuhr er schnell herunter und bohrte waagrecht den Dolch bis zum Anschlag in die Brust
des Gefangenen. Ein krampfhaftes Zucken durchlief Glauvens Körper. Er schloß die Augen, und seine Gesichtszüge entspannten sich. »Er ist tot! Lassen wir ihn liegen. Heute abend sind wir von hier fort!« meinte einer der Reiter zum anderen. »Er ist mit Würde gestorben. Er wußte, was ihn erwartet!« »Marcos ist ein verdammt harter Vorgesetzter. Ich glaube nicht, daß es jemanden gibt, der ihn aufhalten kann. Einfach wird das Leben dort am Ah‘rath kaum werden.« Sie sagten, als sie zum Lager zurückgingen: »Wir dürfen auf keinen Fall mit dem Heer des Dragon zusammenstoßen.« Schon von weitem hörten sie die Stimme, das zustimmende Klirren, mit denen man Schwerter und Lanzen gegen die Schilde hämmerte, und das Murmeln vieler Menschen. Ein paar Pferde wurden von der Unruhe ergriffen und wieherten grell. »Marcos sagt uns, was er vorhat.« »So ist es. Gehen wir, um zuzuhören. Als ob wir es nicht schon genau wußten!« Etwa hundertfünfzig Männer hatten sich im Halbrund um das sonnenglänzende Zelt versammelt. Sie trugen nahezu alle Arten von Bewaffnung und Ausrüstung, die man sich vorstellen konnte. Die
meisten von ihnen waren bezahlte Söldner, die ihre eigenen Waffen von Schlacht zu Schlacht, von Dienstherr zu Dienstherr mitnahmen und sie nur ersetzten, wenn sie unbrauchbar geworden waren. Diejenigen, die auf den halb gezähmten Hengsten aus Zogors Armee ritten, hatten meist Beinschienen, Armschienen und Rüstungen an ihren gedrungenen, krummbeinigen Körpern, die aus unregelmäßigen viereckigen Eisenstücken bestanden. Diese Flächen waren mit Kettengliedern aneinander befestigt und mit schmalen, farbigen Lederriemen umflochten, damit sie nicht unerträglich klirrten und klapperten. Die Helme sahen aus wie Urnen und saßen auf dem Hals auf. Nur für die Augen war ein breiter Schlitz hineingeschnitten worden. Und auf den metallenen Helmen ringelten sich Schlangen und andere mythologische Tiere. Selbst die Kieferknochen von Raubtieren waren mit kupfernen oder bronzenen Spangen darauf befestigt, so, daß manche Reiter aussahen wie Gerippe aus Eisen. »Wir brechen auf, um unseren letzten Feldzug zu unternehmen. Wir reiten quer durch das Land, umgehen Urgor und erreichen diesen verwünschten Berg. Dort erwartet uns ein Leben in Ruhe und Frieden ...!« Äxte mit gezahnten Schneiden. Schwerter, die wie die Blätter eines Baumes geformt waren, zweischneidige Wurfbeile und Langschwerter wurden
gegen die kerbigen Schilde geschlagen. Das Geräusch übertönte das Wiehern der Tiere und das Rauschen der Brandung. »Und wenn wir satt geworden sind und Bewegung brauchen, überfallen wir rundherum das Land. Denkt an die Karawanen, die von und nach Urgor kommen. Sie werden unsere Beute sein. Auch unterwegs machen wir Gefangene, denn wir werden neue Dienerinnen ...«, Marcos grinste breit und zog die Sklavin an sich, die es willenlos geschehen ließ, »... und Diener brauchen.« Marcos streichelte schweigend einige Augenblicke lang ihre Hüften, dann wanderte seine Hand. Als er sicher war, daß die Begierde auch auf seine Zuhörer übergesprungen war, stieß er das Mädchen wieder von sich. »Eßt und trinkt! Aber trinkt nicht zu viel! Und rüstet euch, bei der ersten Kühle des Abends reiten wir!« Wieder schrien sie alle Beifall. Waffen wurden geschwungen, und einzelne Männer rannten in alle Richtungen auseinander. Das Lager begann sich mit Unruhe, Getümmel und hektischer Aufregung zu füllen. Über die Köpfe vieler Soldaten hinweg schrie Marcos: »Ist er tot?« »Wir haben sein Leben genommen!« versicherten sie.
Marcos gab einen Wink. Fünf Reiter, wegen ihrer Ausdauer dazu besonders geeignet, nahmen mächtige, gekrümmte Hörner hoch. Sie bestanden aus gehämmerter Bronze, hatten ein Mundstück und gewaltige Trichter, die wie seltsame Blüten aussahen. Auf einen zweiten Wink des Anführers hin stießen sie mit gespannten Wangen in die Hörner. Dreimal hallte ein lauter Ton über das Lager hinweg, erschreckte die Pferde, ließ die Menschen erstarren und die Vögel aus den Ästen kreischend flüchten. Die Hunde begannen schauerlich zu heulen. Dann schrie Marcos mit donnernder Stimme: »Wir reiten! Auf zum Ah‘rath – in ein besseres Leben!« Er schwenkte seinen Weinbecher, trank den letzten Schluck des lau gewordenen roten Weines aus Dan und winkte dann, nachdem man die Leinwände seines Zeltes heruntergeschlagen und befestigt hatte, seiner Sklavin. Dragon hatte – damals! – gewinkt, als er auf dem Weg in Richtung Urgor weitergeritten war. Sie hatte damals geflüstert: »Unsere Wege kreuzen sich noch oft, Dragon!« Das war ihr Plan gewesen, und es stimmte auch. Und in der Zukunft würde geschehen, was sie geplant hatte. Aus diesem Grund hatte sie auf sich genommen,
was sie jetzt aushöhlte und auszehrte und zu einer häßlichen Alten werden ließ. Eine Kette von Bildern in jener »anderen Wirklichkeit« wand sich aus den Tagen der Vergangenheit bis jetzt. Die Visionen hatten einander abgelöst. Und auch jetzt befand sie sich wieder bei »ihm«, an seiner Seite, mitten in seinem Heer. Mitten in den vielen Abenteuern, die Tag und Nacht geschahen. Sie war bei Dragon, und Dragon, der Vater ihres Sohnes, der noch ungeboren war ... Dragon war bei ihr, ohne es zu wissen. »Du weißt so vieles nicht! Aber eines Tages wirst du alles wissen. Und erst dann wird deine Macht groß sein, und ebenso groß deine Zweifel an allem!« Wieder war sie bei ihm ... Dragon hielt sein Pferd an, drehte sich halb im Sattel um und zog einen Fuß aus dem Steigbügel. Er legte den Stiefel auf den Hals des Tieres und sagte: »Partho, mein Freund ... mir ist, als würden mich unsichtbare Augen unausgesetzt beobachten!« Er hatte sein Sonnenamulett angesehen, aber es hatte seinen Glanz nicht verändert. Also war niemand in der Nähe, mit dessen Überfall er rechnen mußte. Niemand aus jener Vergangenheit, die er noch immer nicht klar erkannte. Partho zog den Kopf zwischen die Schultern und
sah sich wachsam um, wie er es immer tat, seit sie auf dem offenbar letzten Teil des Vormarsches waren. »Ich sehe nichts und niemanden. Auch haben die Späher nichts berichtet.« Dragon winkte ab. Beide Reittiere gingen langsam und ästen lustlos. Rechts von ihnen zog schnell die Vorhut vorbei. Dragon und Partho waren allein, aber ein Trupp Amazonen bewachte sie aus sicherer Entfernung. »Ich meine nicht, daß wir von Menschen belauscht werden. Vielleicht ist es wieder Cnossos oder einer seiner Helfer.« Diesmal machte Partho eine lässige Gebärde. »Unsinn, Dragon! Wir werden lange nichts mehr von ihm hören. Er kann nicht ununterbrochen unseren Weg kreuzen.« Dragon zuckte die Schultern und setzte den Fuß wieder in den Steigbügel. Das Geräusch, das die Menschen und Tiere des vorbeiziehenden Heeres machten, erschien in seinen Augen als ein Teil der Landschaft, als ein Teil seines Lebens in diesen Tagen der Kämpfe. »Urgor!« sagte Dragon. »Urgor. Amee trägt meinen Sohn, Partho!« Der Hauptmann lachte trocken auf und meinte sarkastisch: »Im allgemeinen kennt man das Geschlecht der
Kinder erst nach der Geburt. Woher willst du wissen, ob es ein Sohn wird, eine Tochter oder gar Zwillinge?« Dragon lächelte ihn etwas versonnen an und entgegnete: »Ich weiß es nicht, ich ahne es! So wie ich vieles ahne, aber nicht genau weiß. Was sagen die Späher? Was sagen unsere kleinen Helfer mit ihren merkwürdigen Gaben? Und was spricht man in den Kreisen unserer erfahrenen Hauptleute?« »Wir werden siegen.« »Das höre ich gern. Ich sehne mich nach einem Ende der Kämpfe.« »Ich auch!« erwiderte Partho kurz. Er sehnte sich nach einer Anzahl schöner Dinge. An weinselige Nächte unter strahlenden Sternen, nach Agrion und nach Ruhe und nach einem Ende des Reitens und Kämpfens. Er deutete nach hinten und nach links. Sein Grinsen wurde breit und ließ seine weißen Zähne erkennen. »Unsere Wächterinnen werden bereits ungeduldig. Sie fürchten sich vor nichts, aber sie scheinen unseren Aufenthalt als zu lang anzusehen.« »Reiten wir weiter. Dort hinauf. Wir haben mit Sicherheit einen guten Ausblick!« »Einverstanden!« Sie setzten sich in den Sätteln zurecht und galoppierten an. Ihre Tiere waren stark und frisch, weil
sie immer wieder aus den Tieren in der Mitte des langen Heerwurms ersetzt wurden. Dragon, Partho und hinter ihnen eine Gruppe der schnellen Mädchen aus Katmahzar hetzte durch die Landschaft aus Stein und schütterem Gras, aus hartstieligen Gewächsen und kleinen, vom Wind gebeugten und geduckten Bäumen auf den Hügeln zu. Am Scheitelpunkt angekommen, blieben die Pferde stehen, als hätte jemand einen unhörbaren Befehl gegeben. »Dort, in dieser Richtung!« sagte Partho ... Ein gutes Stück Weg vor uns!« Dragon nickte langsam und prägte sich die Einzelheiten der Landschaft ein. Hier konnten sie ziemlich sicher sein. Niemand würde ihnen hier einen gefährlichen Hinterhalt legen können. »Und dennoch fühle ich, wie mich unsichtbare Augen beobachten!« sagte er. »Nenne mich keinen Narren, Partho!« Der junge, kampferfahrene Mann schüttelte den Kopf. Seine dunkle Mähne flog hin und her. »Ich kenne nicht nur die sichtbaren Dinge, sondern auch viele in der Seele des Menschen. Du magst recht haben. Es wird sich erklären lassen ... später!« Später, dachte Dragon in stummer Verzweiflung. Wann?
Nur ganz langsam fand die blinde Seherin wieder in die Wirklichkeit zurück. In eine Wirklichkeit, die für sie im Spüren und Ertasten, im Schmecken von Gerüchen und im Hören feinster und leisester Geräusche bestand. Und in der Stärke ihrer Vorstellungskraft, die aus blinden Augen willige Werkzeuge machte, die eine exakte Wirklichkeit auch exakt sichtbar machten. Maratha öffnete die Augen und tastete um sich. Sie fand, wie immer, den Krug mit frischer Honigmilch, den die Hirtin hierher gestellt hatte. Langsam setzte sich Maratha auf und strich über ihren schweren Leib. »Mein Sohn!« flüsterte sie. »Dragons und mein Sohn! Ein mächtiger Fürst wirst du werden – dereinst!« Denn er würde der Erbe von zwei verschiedenen Welten sein. Er hatte das Erbgut von ihr in sich, das gewissermaßen eine »gute« Strömung des Blutes Cnossos‘ war, und er hatte das Erbe seines Vaters. Vereint würden diese beiden mächtigen Zweige einen riesigen Baum ergeben. Maratha wußte, als sie die Milch trank, wie sie aussah. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte: wie eine alte, von Sorgen und Falten heimgesuchte Frau. Die geistigen Kräfte, mit denen sie Entfernungen und Berge überwand und Bilder des Wirklichen sah, waren jetzt erschöpft. »Ich muß mich erholen. Xando?« Sie hörte vor der kleinen, weißen Hütte ein scharfes
Bellen, dann kam der treue Hund aus der Tür, die in den Garten führte. Er hatte wohl unter dem Sonnensegel geschlafen und darauf gewartet, daß sie ihn rief. »Xando! Bring mich zur Quelle!« sagte sie. Es half nichts. Sie war von allem abgelenkt, aber dieser Zustand würde bis zum Mond Wildeber dauern müssen. Nicht länger, aber nicht weniger lang. Denn dann würde Amee gebären. Bis dahin konnte sie, Maratha, die Geburt ihres Sohnes (sie wußte genau, daß es nur ein Sohn werden konnte) hinauszögern. Xando kam hechelnd heran und drehte sich so, daß sein schwerer Körper mit dem zottigen Fell an ihr Knie anstieß. Ihre Hand griff in das Fell und ertastete mühelos den muskelstarrenden Nacken. Der Hund knurrte unter der Berührung der schlanken Finger wohlig auf. »Zur Quelle, Xando. Zur kühlen Quelle!« flüsterte sie schwach. Sie mußte sich reinigen, erfrischen und schlafen. Erst dann konnte sie wieder versuchen, Dragon auf dem Weg zur Macht und Amee auf dem Weg zur Mutter und Königin zu verfolgen. Von einer unerklärlichen Unruhe getrieben, verließ er das provisorische Lager. Eigentlich hatte er nicht den geringsten Grund zur Beunruhigung, denn bisher waren sie durch gutes Gelände schnell
vorangekommen. Es hatte keine Kämpfe gegeben, denn sie hielten sich weit von den Wegen und Plätzen fern, an denen sie auf Truppenteile des Dragon-Heeres hätten stoßen können. Trotzdem war die Unruhe da. »Die Nacht wird bald aufgehört haben. Bisher hatten wir es leicht!« knurrte Marcos. Er trug noch immer seine leichte Rüstung, denn er mißtraute grundsätzlich jeder annähernd friedlichen Stimmung. Seinen Helm hielt er unter dem linken Arm. An seinen Fingern waren Handschuhe, die aus dünnem Leder und daraufgenieteten Kupferhalbröhrchen bestanden. Über die hochschäftigen Stiefel hatte er die Beinschienen mit den eisernen Stacheln geschnallt. Langsam schob er die Zweige vor seinem Gesicht zur Seite und fand sich einem umgestürzten, halb vermoderten Baum gegenüber, der wie eine Leiter an dem felsigen Hügel lag. »Verdammt! Diese Unruhe? Woher kommt sie?« »Versprengte Krieger? Oder Späher?« fragte er sich unruhig. Seine Reiter mit rund dreihundertfünfzig Pferden waren eine schnelle Truppe, die sich unauffällig durch das unbekannte Land bewegte. Der Troß hielt sich nicht auf, weil die Männer fast alles, was sie brauchten, in Satteltaschen oder in den Traglasten der Zweitpferde mit sich führten. Ihre Tagesritte waren in Wirklichkeit lange Strecken. Und Marcos, der sie anführte, schien
Umwege und Sperren förmlich zu ahnen. Anderthalb Jahrzehnte des Kriegshandwerks und zahllose Begegnungen mit allen Möglichkeiten, die das Leben eines Kriegers ausmachten, hatten seine Sinne und seinen Instinkt geschärft. Genau aus diesen Gründen zog er, als er von den Ästen des verdorrten Baumwipfels sprang, sein mittellanges, leicht gekrümmtes Schwert und sah sich um. Der Mond strahlte das Land an. Sein kaltes Licht machte aus der Landschaft einen Irrgarten aus fahlem Silber und schwarzen Schatten. Marcos drehte sich herum und blickte nach unten. Dort sah er die Kreise von rund einem Dutzend halb erloschener Feuer. Ruhig grasten die Tiere, denen man die langen Zügel um die Fesseln und Vorderbeine geschlungen und verknotet hatte. Die Männer schliefen meist, in Decken gehüllt. In einem Winkel zwischen den Felsen drängten sich die Sklaven und Sklavinnen zusammen. Auch sie waren gefesselt und an eine Kette gelegt worden, denn noch mußte man befürchten, daß sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu fliehen versuchten. Und Marcos wollte keine Zeit darauf verschwenden, Sklaven zu jagen. »Aber wir werden noch viele Diener brauchen für unser Leben am Ah‘rath!« knurrte er. Über ihm standen starr die Sterne am schwarzen Himmel. Ein leichter Wind war aufgekommen und trieb, schwach
aber unverkennbar, Rauchgeruch zu ihnen herüber. Es roch nach erkaltetem Feuer und nach verkohltem Fleisch. Sorgfältig beobachtete Marcos die Gräser und bestimmte die Richtung, aus der jener Geruch herantrieb. Es war Nordosten; irgendwo dort hinten würden sie auf den Ah‘rath stoßen, nachdem sie den breiten Fluß überquert hatten. »Ein Feuer. Das bedeutet Menschen. Vielleicht können wir sie fangen!« sagte Marcos sich. Seine Macht stand und fiel mit seinen Leuten. Würden sie nicht bei guter Laune erhalten, kehrte sich ihr Zorn und ihre Enttäuschung gegen ihn. Also mußte er ihnen Beute zusichern: menschliche Beute und solche, die aus Gold oder Wertgegenständen bestand. »Auch das wird sich ändern, wenn wir einmal dort sind!« Für ihn und seine Leute bedeutete die kleine Stadt am Berghang das Ende einer Sehnsucht, für die keiner von ihnen Worte hatte. Es war eine Sache des Gefühls. Sie erhofften sich Ruhe, die immer wieder von Abenteuern unterbrochen wurde. Von Abenteuern, die sie alle siegreich bestehen würden. Dienerinnen von ausgesuchter Schönheit und Diener, die alle anderen täglichen Verrichtungen besorgen würden. Schatten und genügend Wasser. Aufregende Jagden und viel viel Gold. Und keinerlei Sorgen. Marcos spähte in die silber-schwarzgefleckte
Dunkelheit vor sich und sah endlich das Feuer, von dem der dünne Rauch herrührte. Es war nicht viel mehr als ein Oval düsterer Glut, kaum vom Mondlicht zu unterscheiden. Mehr sah er nicht. Etwa zweihundert, dreihundert Manneslängen entfernt. Der Weg dorthin? Er betrachtete den Hang, das Gestrüpp, den kaum kenntlichen Tierpfad und die kantigen Felsen, die ein unbekannter Gott vor vielen Jahren im Zorn verstreut haben mochte. Dann stand Marcos‘ Entschluß fest. »Es können nicht viele sein. Wir werden sie überfallen!« Er turnte zurück und erreichte das Lager. Die Posten hatten ihn gehen und kommen sehen. Er winkte sie her. Dann sprach er leise und eindringlich mit ihnen. Sie lachten rauh und liefen auseinander. Wenige Augenblicke später führten dreißig Männer, vollständig in Waffen und mit langen, frischen Fackeln und einer Glutpfanne ausgerüstet, ihre Tiere aus dem Lager. Man hatte die Zügel um die Schnauzen der Pferde gewickelt, um zu verhindern, daß sie wieherten, wenn sie andere Tiere witterten. »Schneller! Auseinanderziehen, aber nicht zu weit!« flüsterte Marcos zischend. Sie schritten wie geheimnisvolle Schatten durch die Finsternis, entzündeten in der Nähe des charakteristischen Felsens ihre Fackeln und bliesen in
die glimmende Glut. Dann versteckten sie die leise knisternden Stäbe hinter den Kruppen der ungesattelten Tiere und gingen weiter. Ihre Schritte waren auf dem Sand, dem stacheligen Moos und dem lehmigen Boden kaum hörbar. »Ihr beide! Dort hinüber! Ihr – ihr kommt von hinten. Keine Toten, keine Verletzten. Wir brauchen Gefangene!« »Wir haben verstanden, Marcos!« Sie bildeten einen unregelmäßigen Kreis um den Punkt, an dem sich noch immer nichts rührte. Dreißig Männer zogen die Waffen, schwangen sich auf die Rücken der Pferde und wickelten die Zügel los. Dann durchschnitt Marcos‘ Stimme wie ein Blitzschlag die Stille: »Angreifen!« Die Tiere wieherten grell, als die Zügel ruckten, als sich Sporen in die Seiten bohrten, und als die Soldaten ihre Fackeln in wilden Kreisen schwangen, um die Flammen zu entfachen. Metall schlug gegen Metall. Von allen Seiten ritten die Männer auf das stille Lager zu. Hier entstand plötzliche Bewegung. Einige helle Gestalten sprangen auf und versuchten, sich in Büschen oder im Schatten der Felsen zu verstecken. Als Marcos‘ Tier mit einem gewaltigen Satz über einen Baumstamm sprang, und als im flackernden
Licht seiner Fackel sowohl zwei andere Krieger von gegenüber auftauchten, als auch die Gestalten deutlicher zu sehen waren, zuckte Marcos zusammen. »Frauen! Mädchen!« rief er. Selbst für ihn war es eine Überraschung. Aus der Dunkelheit zischte ein Wurfspeer heran. Marcos riß den Arm mit dem Schild hoch und parierte den Speer. Die Spitze verbog sich auf dem glänzenden Metall, das Geschoß wurde abgelenkt und überschlug sich in der Luft. »Schlagt sie nicht tot! Wir können sie brauchen!« schrie Marcos. Er hob die Fackel und sah sich um. Die Mädchen oder Frauen schienen keine Hirtinnen zu sein und keine Erntearbeiterinnen. Sie sahen schlank aus und kämpften lautlos und erbittert. Plötzlich fuhr es ihm durch den Kopf: Amazonen! Sie hatten eine Gruppe Amazonen überrascht! »Vorsicht! Es sind Katmahzari!« schrie einer seiner Männer von links und endete abrupt, als sich ein Dolch in seinen Hals bohrte. Marcos riß sein Pferd herum und ritt das Mädchen nieder. Blutüberströmt fiel die Leiche des Soldaten aus dem Sattel. Aber immer mehr Männer tauchten auf und schoben sich aus den Büschen, kamen aus dem Schatten. Schließlich umgab ein Ring aus lodernden Fackeln den kleinen Platz an der Quelle. Marcos schrie: »Hört auf! Es ist sinnlos! Ihr seid umzingelt!«
Der Kreis aus hellen Flammenbündeln beleuchtete den zerwühlten Boden des Kampfplatzes. Schwerter und Speere deuteten ins Zentrum des Lagers. Rasch begann Marcos zu zählen. »Zehn!« sagte er und grinste breit. »Zehn junge Mädchen. Noch fast zu jung für die Freuden der Liebe. Ihr seid gefangen!« Zehn Mädchen standen da und blickten gehetzt und trotzig um sich. Sie waren bewaffnet, aber sie mußten einsehen, daß jede Gegenwehr sinnlos war. Jedermann in diesem Land wußte, daß in Zeiten des Krieges kein anderes Gesetz galt als das des Siegers. Sie waren besiegt, also waren sie versklavt. Sie fanden sich damit ab und ließen ihre Waffen fallen. Aber Marcos, der aufmerksam die Gesichter der halben Kinder studierte, wußte eines mit großer Genauigkeit: Sie würden zu fliehen versuchen, wenn immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Und sie würden ihren Versuch gut vorbereiten und sich selbst davor nicht scheuen, einen oder mehrere Männer umzubringen. Sie mußten sehr vorsichtig sein. »Fesselt sie!« ordnete er leidenschaftslos an. Die Nachtruhe war dahin – aber um welchen Preis war das geschehen!
2.
Als sie wieder vor dem Eingang ihrer Hütte stand, dämmerte der Morgen. Maratha fühlte und hörte es; sie fühlte es an der veränderten Temperatur, an dem leichten Morgenwind, der meist aus dieser Richtung kam. Und sie hörte es an den Geräuschen ringsum. Die Grillen und die Vögel wurden lauter. Sie begannen ihren einfachen Tagesablauf. Stimmen und Geräusche von fernher drangen schwach, aber genau unterscheidbar, an ihr Ohr. Das Brüllen von Rindern, das Meckern der Ziegen und das Blöken der Schafherden. Ein Pferd wieherte dumpf. »In den Garten, Xando. Ich finde allein hin!« sagte sie schwach. Zwar fühlte sich Maratha gestärkt und erfrischt, aber sie sah sich noch lange nicht als junge, begehrenswerte Frau. Sie hatte sich noch nicht völlig erholt. Noch mußte sie essen und schlafen. Sie dachte daran, daß in wenigen Augenblicken ein Hirt herangaloppieren und ihr Essen und Getränke bringen würde. Langsam durchquerte sie ihr Haus und blieb schließlich unter dem Sonnensegel im ummauerten Viereck stehen. Hier hatten sie sich geliebt; Dragon und sie. Ich darf Urgor und Amee nicht vergessen! sagte sich Maratha. Es war für ihren Plan von Wichtigkeit, daß sie keinen der Handelnden für längere Zeit aus den Augen
verlor. Nicht einmal Cnossos und seine dunklen Helfer durfte sie außer acht lassen. Sie setzte sich, versank in ihre Gedankenwelt und wartete, bis der Hirte kam, angekündigt durch ein beruhigendes Knurren Xandos. Sie bedankte sich und hörte – wie an jedem Morgen und an unzähligen Abenden-, daß auch für ihren treuen Hund einige leckere Brocken abfielen. Der Hirt entfernte sich, nicht ohne mehrmals gefragt zu haben, ob sie noch etwas brauche. Sie verneinte und bat, in gewissen Abständen nach ihr zu sehen. Die Hirten kannten ihre Schwangerschaft und verstärkten ihre Bemühungen um Maratha, von deren Ratschlägen und Visionen, von den Kenntnissen und den kleinen Ausblicken in die nahe Zukunft sie mehrfachen Gewinn hatten. »Ich werde gegen Mittag meine Tochter schicken. Sie wird sich umsehen und deine Hütte aufräumen!« versicherte der Hirt. Maratha lächelte in seine Richtung und hob winkend die Hand, als sie die Schritte hörte. Das Bild, das alle ihre Sinne schufen, war fast so deutlich, als habe sie es mit eigenen Augen gesehen. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, fühlte sie sich plötzlich so müde wie selten zuvor. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich auf Urgor. Noch niemals war sie in dieser Stadt gewesen, seit die Dunklen Wächter nicht mehr herrschten, aber
sie kannte jedes Gebäude. Selbst den Königspalast ... Die Sonne hing klein und stechend heiß im Mittag. In der Stadt, die in einen plötzlichen Nebel gehüllt war, strahlten einzelne Flächen auf und durchbrachen die wogenden Schleier. Am späten Vormittag war der Nebel vom Fluß aufgestiegen und noch immer nicht gewichen. Feuchtigkeit troff von den steinernen Wanden. Die aufgehängte Wäsche wollte nicht trocknen. Alles lag wie unter einem Leichentuch, aber niemand fürchtete sich. Der Nebel, der mitten in der warmen Jahreszeit Urgor überfiel, gehörte zu den Erinnerungen der Bürger. Sie vermieden schweißtreibende Arbeiten, mieden auch die Schenken, und die Stadt wurde ruhiger. Amee schob langsam den schwer hängenden Vorhang zur Seite und hörte das Rasseln metallener Ringe auf einer Hartholzstange. »Was wird Dragon tun? Wo ist er?« flüsterte sie. Unter ihrem Herzen spürte sie das Kind. Auch sie war sicher, daß es ein Sohn werden würde, ein Prinz von Urgor und einem riesigen Reich. Die verzierten Mauern leuchteten auf. Ihr Strahlen durchdrang den Nebel, der ebenfalls auf merkwürdige Weise leuchtete. Als ob es brennende Luft sei, dachte Amee. Am Hafen hingen die Segel schlaff und regungslos von den Mastbäumen. Eine eigentümliche
Stimmung erfüllte Amee. Sie ließ, als koste sie jeden einzelnen Gedanken aus wie Honigwein, die Ereignisse seit jenem schrecklichen Tag an sich vorüberziehen. Als sie ein Geräusch hörte, drehte sie sich langsam um. Ein junges Mädchen war in das helle Zimmer gekommen und hielt die Armlehnen eines leichten Sessels in den Händen. »Du sollst dich hinsetzen, Königin!« sagte sie. Amee lächelte versonnen. »Danke, Jalda«, sagte sie. »Ich stehe gern. Keine Sorge!« Es gab keine Sklaven mehr in Urgor. Aber viele Sklaven waren bei ihren Herren geblieben und dienten jetzt gegen Entgelt, wo sie früher als Unfreie gearbeitet hatten. Allein das Bewußtsein, daß sie hingehen konnten, wo immer sie wollten, war für sie wichtig. Urgor hatte sich innerhalb erstaunlich kurzer Zeit verwandelt – und um den Eintritt in diese neue Zeit zu ermöglichen, hatte Dragons Aufwachen den Schlüssel und das Schloß gebildet. »Kann ich dir helfen? Brauchst du etwas?« fragte Jalda und schob den Sessel bis vor das Fenster. »Vielleicht etwas zu trinken. Dünner, kühler Wein, ja?« »Ich hole es, Königin!« erwiderte Jalda und huschte davon. Wieder war Amee allein und betrachtete die Stadt unter sich.
»Bin ich glücklich?« fragte sie sich leise. Sie wußte es nicht genau. Sie hatte alles, was sich eine Frau wünschen konnte. Um vollkommen glücklich zu sein, brauchte sie die Anwesenheit Dragons. Aber er ritt mit Partho und seinem Heer, um Frieden im Land zu schaffen. Und da gab es noch immer die Angst vor Cnossos und seinen heimtückischen Anschlägen. Amee setzte sich und legte ihr Gesicht auf die Unterarme, die auf der Fensterbank ruhten. Obwohl niemand im Raum war, fühlte sie sich beobachtet. Es war, als ob unsichtbare Augen auf ihr ruhten. »Ich könnte glücklich sein, aber ...«, flüsterte sie und starrte wieder hinaus in den Nebel. Sie sollte etwas schlafen. Schlaf vertrieb unruhige Gedanken. Ohne auf Jalda zu warten, stand Amee auf und verließ den Raum. Auf der Mitte der Terrasse stand unter dem ausgespannten weißen Sonnensegel ein flaches Lager, mit Fellen und kleinen Kissen bedeckt. An den Ecken des Bettes befanden sich schlanke Krüge, deren Inhalt einen aromatischen Geruch ausströmte, der Ungeziefer und Fliegen vertrieb. Langsam ließ sich Amee auf das Lager sinken, ordnete schweigend die Falten ihres leichten Gewandes und hörte als einzige Geräusche die ruhigen Schritte der Posten zwischen den Türmen in der Palastmauer. Das Mädchen hatte sie im Zimmer gesucht und fand sie auf der Terrasse. Sie hielt Amee den gefüllten
Becher entgegen und wartete. »Dein Gesicht ist unglücklich, Königin!« sagte sie. »Ich bin nicht unglücklich«, erwiderte Amee und trank. »Ich bin unruhig. Der Nebel über der Stadt ... ich denke immer, daß mich jemand beobachtet.« Jalda lächelte voller Verständnis und meinte: »Es ist die Zeit der Kämpfe und des Krieges. Unruhe gehört zu den Tagen wie die Sonne und der Regen.« »Ich sorge mich auch um Dragon. Er kämpft irgendwo dort draußen, und ich habe keine Nachricht von ihm.« »Früher oder später«, versuchte Jalda zu beruhigen, »wird ein Bote kommen und dir berichten, daß alles zum besten steht. Ich bin sicher.« Amee lächelte schmerzlich. »Das ist es. Ich bin eben nicht sicher, ob alles so gut geht, wie es sich Partho und Dragon vorstellen. Cnossos ist eine große Gefahr, und überall lauern Feinde. Niemand kann sicher sein!« Alles trug zu ihrer Stimmung bei. Der Nebel und die schweigende Stadt ebenso wie viele ihrer Gedanken. Aber dann, nachdem sie einen zweiten Becher leergetrunken hatte, schlief sie wieder ein. Als sie gegen Abend aufwachte – die Weisen der Berge, die Söhne von Atlantis, hatten ihren Besuch angekündigt, war der Nebel verschwunden.
Die Bilder und Visionen, die Maratha empfing, stammten aus allen Teilen des Landes. Oder aus fast allen Teilen. Sie beobachtete den Palast, Urgor und Amee ebenso intensiv, wie sie das weitere Vordringen des Heeres mitverfolgte. Dragon eilte von Sieg zu Sieg, aber die Siege wurden ihm nicht im geringsten leichtgemacht. Dank seiner eigenen Tüchtigkeit und dank der Helfer mit ihren geheimnisvollen Talenten konnte er aber alle größeren Gefahren umgehen. Nur für Maratha, die eine Erbin ebenso schwer erklärbarer Kräfte war, waren jene Talente nicht geheimnisvoll. Tage um Tage vergingen. Im Leben der Hirten rund um die Furt über den Raxos änderte sich kaum etwas. Sie weideten ihre Herden und arbeiteten. Sie molken, stellten Käse und Butter her, und sie verwendeten, wie seit Urzeiten, jedes Stück der getöteten Tiere; die Häute ebenso wie das Horn, die Knochen und die Sehnen, die Borsten und die Wolle, der Wohlstand wuchs, weil niemand die Herden oder die Hirten überfiel. Ruhe und Frieden herrschten rund um Urgor. Tage um Tage erlebte Maratha diese andere Wirklichkeit. Ihr Plan nahm immer genauere Umrisse an. Sie prüfte jede Einzelheit ihres Vorhabens und änderte einzelne Punkte ab, bis sie ihr so sicher erschienen, daß sie Teile ihres verwegenen, aber großartigen Planes bleiben konnten.
Gegenwärtig gab es noch keine Möglichkeiten, mit der Durchführung anzufangen. Sie mußte mindestens bis zum Mond Wildeber warten. Wieder schleppte sich Maratha zur Quelle und versuchte zwei Tage lang, sich zu erholen. Nach Ablauf dieser Frist wandte sie sich abermals Dragon zu. Maratha sah ein einmaliges, aufregend schönes Bild. »Genau das Geschehen, das ich mir für meinen Plan wünschte!« flüsterte sie, bereits tief in ihrem lautlosen Erleben versunken ...
Die Tore der Stadt standen weit offen. Davor und dahinter ballte sich jubelnd die Bevölkerung. Etwa zweihundert Reihen von je fünf Reitern kamen auf die Stadt zu. Dragon erschien mit etwa tausend Reitern vor den Toren der Stadt Myra. Die Abordnung aus der Stadt und den Daikanen des myranischen Reiches zog vor Dragon ein. Überall erhob sich Jubel. Dragon war der Thron angeboten worden. An der Spitze seines Heerzuges, dessen Troß eine riesige Staubwolke am Ende des Heeres aufwirbelte, zog Dragon ein. Als er die offenen Tore passierte, wanderten seine Gedanken ab.
Marathas Vorstellungskraft, gemischt mit ihrer Wahrnehmung und mit den Kenntnissen über Dragon selbst, brachte ihr einen Ausschnitt dessen ins Bewußtsein, was Dragon bewegte. Sein Inneres war aufgewühlt. Mehrere Gedanken stritten miteinander um die Herrschaft. Er sehnte sich danach, diesen persönlichen Triumph an der Seite Amees erleben zu können. Er schwor sich, sie bei nächster Gelegenheit mit einer Brieftaube zu benachrichtigen. Noch immer lauerte im Hintergrund der Überlegungen die Gefahr mit dem Namen Cnossos. Jener mächtige Gegenspieler, der aus der Vergangenheit stammen mußte. Noch immer wußte Dragon nichts Genaues. Seine persönlichen Erinnerungen waren verschüttet. Er wußte zwar, daß die Horden der Nacht vernichtend geschlagen worden waren. Aber jetzt, als er im Begriff war, den Thron Myras zu ersteigen, war er endlich seiner Amee ebenbürtig. Dragon flüsterte so leise, daß es niemand hören konnte: »Ich werde Amee bitten, meine Frau zu werden! Denn jetzt bin ich, der nichts besaß außer einem runden Amulett, ein König. Ich bin ihrer würdig, bin ihr ebenbürtig. König des myranischen Reiches! Ich muß nachdenken. Ich muß mit den klugen
Männern sprechen – wann werden Partho und Agrion wieder bei mir sein?« Seine Lippen bewegten sich. Er stellte sich in den Steigbügeln auf und sah um sich. Die Eindrücke rund um ihn überstürzten sich. Die Bevölkerung bereitete ihnen einen begeisterten Empfang. Die Krieger wurden aus den Sätteln gezogen und mit Geschenken überhäuft. Die Menschen schrien, die Pferde scheuten, und hinten im Troß reckten sie alle die Köpfe, um zu sehen, was es hier vorn gab. Die Gassen, durch die das Heer ritt, waren voller Stadtbewohner. Aus jedem Fenster schrien die Mädchen und warfen mit Blumen. Musikanten stießen in ihre Instrumente. Der Geruch der Pferde mischte sich mit dem Duft des parfümierten Wassers, das man über die Ankömmlinge ausgoß. Weinbecher machten die Runde. Schließlich schob Dragon alle seine Befürchtungen und Zweifel zur Seite und begann zu lachen. Er war König von Myra! Er, Dragon, der buchstäblich nackt auf einen Weg gestolpert war, der ihn durch zahllose Abenteuer geführt hatte. Mit jedem Schritt hatte er zu sich zurückgefunden, aber viele, allzu viele Lücken klafften noch. Er wußte, daß er an einem Tag alles über sich erfahren würde. Dies würde ein Tag sein, ein Moment,
der wie ein Blitz wirkte. Dann (und er begann zu ahnen, daß dieser Augenblick nicht sehr fern war!) wußte er alles über sich! Und über Cnossos ... Dragon hob den Arm und lachte breit. Er freute sich über den Lärm rings um ihn und seine tapferen Krieger. Der lange Marsch hatte ein vorläufiges Ende gefunden. Zum vollen Glück brauchte er nur noch Amee. Sie würde kommen, wenn er sie bat. Trotzdem hatte er noch immer das Gefühl, als ob sich unsichtbare Augen in seinen Rücken bohrten. Schlagartig hörte er auf zu frösteln, als er hinter dem Gebüsch des Uferwalles das Rauschen des Wassers hörte. Er hob den rechten Arm und brauchte sich nicht umzudrehen. Hinter ihm hielten dreihundert Reiter ihre Tiere an und auch die Packtiere, auf denen die Sklavinnen und Sklaven gefesselt saßen. »Das muß der Raxos sein!« murmelte Marcos, der hünenhafte Anführer, der auf einem mächtigen, scheckigen Pferd ritt. Ein paar Peitschenhiebe hatten einen der jungen Hirten davon überzeugt, daß es ratsam war, ihnen den genauen Weg zum Ah‘rath zu zeigen. »Her zu mir!« Er winkte einigen seiner Reiter. Sie schlossen auf und sprengten heran. Neben ihm
ritten sie durch die Büsche und das Unterholz schräg den Hang hinauf. Nach einigen weiteren Sprüngen der Pferde lag der Fluß vor ihnen und schräg unterhalb ihres Standorts. »Dort drüben ist die Hütte der Frau!« knurrte ein Unterführer. »Richtig, Nemrace. Wir werden prüfen, ob sie Wunder wirken kann!« versicherte Marcos leise. Wieder sprach er in jenem gefährlichen Tonfall, den seine Leute so fürchteten. Dann heckte er meistens etwas aus. »Und dort, neben dem angeschwemmten Baumstamm, ist die Furt. Deutlich zu erkennen!« sagte Marcos und deutete auf den breiten Pfad. Er verlief an einer Stelle, die sie nicht erreicht hatten, weil sie aus einer anderen Richtung kamen. Deutlich waren die kleinen Wasserpfützen in den tief eingetretenen Fußstapfen zu sehen. »Nur noch einige Tage bis zum Ah‘rath!« sagte Marcos schleppend. »Dann ist fürs erste alles überstanden. Wir werden uns pflegen können!« Marcos dachte daran, daß ihre Spur bis hierher nicht gerade sehr breit war, dafür aber recht auffallend. Gruppen von Hirten konnten davon berichten, denen man die Söhne und Töchter geraubt hatte. Die dreihundert Reiter hatten einen Hunger, der die Herden der Überfallenen schnell schrumpfen ließ.
Einige verbrannte kleine Siedlungen, eine Karawane, die man ausgeplündert hatte, einsame Bauerngehöfte ebenso wie eine Ruinenstadt, die gerade aufgebaut wurde – sengend und mordend war man in Eilmärschen durch das Land gezogen. »Was hast du vor, Marcos?« fragte der Unterführer, der die Umgebung einer genauen Musterung unterzog. »Wir teilen uns. Ich mißtraue diesen Hirten. Vielleicht überfallen sie uns mit Knüppeln oder Steinen. Hier teilen wir uns – die Hälfte geht über die Furt und reitet bis zu den Felsen dort drüben!« »Verstanden!« Marcos zeigte über den abfallenden Hang, über den breiten, aber höchstens kniehohen Fluß, dann hinüber auf die Kiesfläche des Hochwasserbetts und zwischen die hohen Felsen. »Und der Rest?« Marcos warf einen langen Blick hinüber zu den einzeln stehenden Bäumen und auf die Treppe, deren Teile zwischen dem Gesträuch zu sehen waren. »Der Rest, hundertfünfzig Männer, geht mit mir. Ihr nehmt die Gefangenen und den Troß mit. Macht schnell!« »Einverstanden, Marcos!« Der Reiter riß sein Pferd herum und lenkte es den Hang wieder hinunter. Ein paar halblaute Befehle wurden gegeben, dann kümmerten sich die Männer
mit der gewohnten Schnelligkeit und Sicherheit guter Soldaten um den Troß, die Packpferde und die Gefangenen. Binnen kurzer Zeit galoppierte ein Pferd nach dem anderen an Marcos und seinen Begleitern vorbei. Für einen Augenblick wurden die Tiere auf dem Kamm des Uferhügels sichtbar, dann verschwanden sie aus dem Blickfeld. Wiederum kurze Zeit später hörte man die Geräusche, mit denen die Tiere den an dieser Stelle seichten Fluß durchquerten. Marcos erklärte, was er vorhatte, während er wartete, daß sich die Hälfte des Zuges auf die andere Seite des Raxos begab. »Dort drüben rennt ein Hirt!« sagte aufgeregt ein Reiter. Marcos winkte nachlässig ab. »Soll er rennen. Wir sind schneller. Wer könnte uns hier gefährlich werden? Ich meine: wirklich gefährlich?« »Wohl niemand. Aber ... ist diese Frau wirklich eine Zauberin?« Marcos Mundwinkel zogen sich geringschätzig herunter. »Sie soll eine Seherin sein, aber keine Zauberin. Ihr braucht keine Angst zu haben!« Er stützte sich schwer auf den Sattelknopf und musterte die eigenen Männer und die ausgeruhten, gut genährten Packtiere, die schwere Lasten schleppten.
Dann kamen die Sklaven an ihm vorbei, einer nach dem anderen, an den Hals der Packtiere gefesselt, die Beine unter dem Bauch der Pferde zusammengebunden. Ein junges Mädchen, dessen Blick stumpf vor Verzweiflung war. Beim leisen Lachen Marcos‘ zuckte das Mädchen zusammen ... und ritt vorbei. Ein Junge, nicht älter als achtzehn Sommer. Wieder ein Mädchen, sehr hübsch, weniger abwehrend, weniger verschreckt. Ein freches Gesicht, umrahmt von flatterndem schwarzen Haar. Marcos schüttelte den Kopf. Dafür war später Zeit. »Schneller!« Seine Stimme schallte befehlend und hart. Einige Soldaten hoben die Peitschen. Die Tiere wurden schneller. Die andere Gruppe hatte sich seitlich gesammelt und blickte zu ihm hinauf. Er hob den Arm und winkte. »Los! Hinüber zu der Hütte!« Sie gehorchten wortlos und schnell. Etwa hundertfünfzig Reiter preschten los. Sie ritten schräg den Uferhang hinauf, auf der anderen Seite wieder hinunter und mit weiten Sprüngen hinein ins Wasser, das mit kleinen Wellen über die Kiesel lief. Die Pferde, mit Zügeln, Peitschen und Sporen angetrieben, griffen kräftig aus. Sie zerteilten mit ihrer Brust und den Vorderbeinen das Wasser. Ein Keil von Berittenen drängte sich hinter Marcos über die Furt, dicht hinter den letzten der anderen Abteilung. Einzelne Waffen wurden gezogen.
»Hinter mir her, ihr dort!« befahl der Hüne. Er löste sich von der Spitze, bog ab und galoppierte scharf aus dem Wasser hinaus und über die Kiesfläche. Die Steine spritzten nach allen Seiten, als die Gruppe von einem Dutzend hinter ihm her auf die Hütte der angeblich blinden Seherin zustob. Jetzt wurden die Geräusche so laut, daß sie jedem im weitem Umkreis auffallen mußten. Zahllose Hufe traten auf Stein, Tiere keuchten, Männer fluchten oder schrien sich Worte zu. Waffen schlugen gegen die Schilde. Dann erreichte Marcos den Fuß der Treppe und gab dem Pferd die Sporen. »Hinauf!« schrie er donnernd. Der gescheckte Hengst schnaubte unwillig und versuchte auszubrechen, aber Marcos hielt ihn eisern im Griff. Er sprengte den Hügel neben der Treppe aufwärts, obwohl die Hufe des Schecken durchrutschten und das Tier mehrmals auszugleiten drohte. Marcos beugte sich im Sattel vorwärts und zog mit der Linken einen Speer aus dem röhrenförmigen Behälter hinter sich. Er warf die Waffe in die Luft und fing sie wieder auf, nachdem sie sich in die richtige Position gedreht hatte. Er war sicher, daß sie die Seherin überrascht hatten. Ebenso sicher war er, daß keiner der Hirten den schnellen Ritt des letzten Tages bemerkt hatte. Also waren auch keine reitenden Boten nach Urgor unterwegs. Das bedeutete, daß ihnen kein Stadtheer folgen würde. Und dann, wenn sie diesen Platz
verlassen hatten, war es ohnehin zu spät – sie konnten nicht eingeholt werden, weil sie verstanden, ohne viele Spuren schnell zu reiten und zwischen sich und mögliche Verfolger weite Distanzen in kurzer Zeit zu legen. Als Marcos das Tier anhielt, sah er vor sich zwei Gestalten. Sie kamen aus der Tür der einfachen, weißen Hütte. Eine Frau und ein riesiger Hund, fast ein Riesenwolf. Marcos holte aus und erstarrte in der Bewegung. Die Spitze des kurzen Wurfspeeres hing drohend neben seinem Ohr in der Luft. Der Hund schien sich auf ihn stürzen zu wollen, aber eine unsichtbare Kraft hielt ihn fest. »Wer seid ihr?« rief die Frau mit durchdringender Stimme. Zu seinem Unbehagen mußte Marcos sehen, daß sie nicht mehr jung und überdies schwanger war. »Was geht‘s dich an, Frau?« fragte er spöttisch. Hinter ihm kamen seine Männer den Pfad hinauf, wurden langsamer und bildeten mit ihm zusammen auf dem freien Gelände rund um die Hütte einen Halbkreis. Pfeile wurden auf die Bogensehnen gesetzt, Schwerter fuhren schleifend aus den Scheiden. Weit hinter dem Haus, auf der Kuppe des bewachsenen Hügels, tauchte eine Gruppe von Hirten auf, mit Stangen, Knüppeln und anderen Gerätschaften bewaffnet.
»Ich sehe es euch an, daß ihr uns überfallen wollt. Nein, Xando. Nicht!« sagte die Frau. »Ich warne euch. Vergreift euch nicht! Ich bin Maratha, die blinde Seherin. Wer mich anrührt, wird es büßen müssen!« Marcos lachte auf. Er hielt sein Pferd zurück, und außerdem reizte ihn die Frau nicht. »Ich entscheide, was hier geschieht. Dragna! Reite hinauf zu den Hirten und sage ihnen, daß wir zwanzig fette Ochsen brauchen!« »Schon begriffen. Marcos!« rief Dragna, der Unterführer und schob sich zwischen den anderen hindurch, wollte am Haus vorbei, durch einen kleinen Garten voller Küchenkräuter, den Hang hinauf reiten. »Halt!« rief die Frau und hob einen langen, weißen Stab. »Reite nicht weiter Mann, den sie Dragna nennen!« Mit steifen Beinen und weit aufgerissenem Wolfsrachen bewegte sich der Hund von der Frau weg und auf den Reiter zu. Es sah aus, als grinse er bösartig. Aus seiner Kehle kam ein tiefes, röchelndes Grollen. Maratha, in deren Körper das Erbe des Cnossos war, wünschte sich jetzt dämonische Kräfte, um diese Bedrohung abwehren zu können. Aber sie besaß kaum eine Waffe, die sie Marcos entgegenschleudern konnte. Sie konzentrierte sich auf die andere Wirklichkeit und erkannte binnen kurzer Zeit, welchen Leuten sie in die Hände gefallen war. Nur Marcos war ihr als Person
fremd, nicht aber als Erscheinung. Solche Soldaten gab es zu allen Zeiten, und immer stand die Gewalt auf ihren Fahnen. »Ich befehle hier, Dragna! Los, sage es ihnen!« schrie der blonde Hüne in plötzlicher Wut. Wieder ritt Dragna an. Der Hund schoß wie ein Blitz auf ihn zu. »Vorsicht, Dragna!« schrie ein Mann neben Marcos und feuerte einen Pfeil ab. Das Geschoß bohrte sich eine Handbreit neben der Schulter in den Rücken des zottigen Hundes, der den Treffer nicht einmal zu spüren schien. Er wurde schneller, seine Sprünge wurden weiter. Er raste auf Dragna zu, grollte und knurrte. Das Pferd des Unterführers stieg vorn in die Höhe und kämpfte mit dem Reiter, bis auf die Trense. »Ruf den Hund zurück, Weib!« brüllte Marcos und warf den Speer Die Waffe zischte durch die Luft und grub sich vier Hände breit in den Boden, genau zwischen den wirbelnden Beinen des großen Hundes. Die Bestie hatte aufgehört zu grollen und zu knurren. Sie sprang wie ein Panther fast senkrecht nach oben und schnappte nach der Kehle des Mannes. Wieder schlug eine Bogensehne gegen den Armschutz, und ein Pfeil heulte durch die Luft. Er blieb nach einem dumpfen Einschlaggeräusch im Bauch des Hundes stecken. Dann wieherte ein Pferd. Der Unterführer preschte los senkte seinen langen
Reiterspeer und ritt zwischen dem Bogenschützen und Dragna vorbei. Marcos kam nicht mehr dazu, einen zweiten Wurfspeer zu schleudern. »Halt! Hört auf! Tötet meinen Hund nicht!« schrie die Frau. Jetzt hatte der Reiter das scheuende Pferd und den Hund erreicht, der immer wieder hochsprang. Eine furchtbare Wunde im Oberarm des Reiters blutete, eine zweite hatten die Fangzähne des schweren, kräftigen Tieres im Oberschenkel gerissen. Die Lanzenspitze erreichte Xando mitten in einem weiteren Sprung und bohrte sich knapp über den Vorderbeinen in, die Brust. Der Hund heulte auf. Das Geräusch war so durchdringend, daß fast sämtliche Pferde zu scheuen begannen. Senoj, der Reiter, rammte den Speer noch tiefer in den Körper hinein und ließ ihn dann los. Im gleichen Augenblick ließ die Furcht des Pferdes nach, und Dragna wurde fast aus dem Sattel über den Pferdehals nach vorn geschleudert, als das Reittier wieder zurückfiel. Dragna reagierte schnell. Er riß seine Streitaxt aus der Scheide am Sattel, schwang sie mit einer schnellen, ausholenden Bewegung nach unten und spaltete Xando fast den Schädel. Der Hund schlug mit den Läufen und biß in die rechte vordere Fessel des Pferdes, das daraufhin
schmerzvoll schrie und nach hinten auskeilte. Dann war Marcos heran und nagelte mit einem weiteren Speer den sterbenden Hund an den Erdboden. Marcos ließ den Speer stecken und hörte, als er das Pferd herumriß und auf die gelbhaarige Frau zugaloppierte, den heulenden, fast unirdischen Todesschrei des schwarzen Hundes. »Ihr habt ihn getötet, ihr ... ihr Verbrecher!« schrie Maratha schluchzend auf. »Bei Amyron! Ihr werdet dafür büßen!« »Schweig!« schrie Marcos und zügelte dicht vor ihr das Pferd. Sie wich nicht um eine Handbreit zurück. »Du hast deinen dreckigen Köter auf meinen Mann gehetzt!« »Der Soldat hat meine Heilkräuter zuschanden geritten!« gab sie zurück. »Wer hat euch das Recht gegeben, unschuldige Hirten und mich zu überfallen?« Marcos erwiderte kalt: »Es gibt hier kein Recht außer dem, das wir uns nehmen. Dein Name?« »Maratha. Auch du, Marcos, wirst eines Tages der Verlierer sein!« Von hinten schrien einige Soldaten: »Schlage sie nieder, Marcos! Sie ist alt und blind! Sie kann uns nichts mehr nützen!« Marcos zog langsam das Schwert hervor und überlegte. Er versuchte sich vorzustellen, ob sie nicht
doch noch zu gebrauchen war. Langsam hob sich sein Arm. Die Finger im gepanzerten Handschuh schlossen sich fest um den Griff des gekrümmten Schwertes. Plötzlich sagte die Frau vor ihm in einem Tonfall, der ihn schauern ließ: »Spring ihm an die Kehle, Xando!« Marcos fuhr herum. Dann stöhnte er angstvoll auf, als er erkannte, was hier vor sich ging. Mit zwei Speeren und zwei Pfeilen im Leib, mit furchtbar blutenden Wunden und mit einem halb gespalteten Schädel kam Xando in einer Folge schneller Sprünge heran. Gerade, als Marcos wieder zu sich kam und reagierte, setzte der angeblich tote Hund zu einem wahnsinnigen Sprung an. Er schnellte sich mit geheimnisvollen Kräften vom Boden weg und direkt auf Marcos zu. Die Kiefer, blutend und mit gesplitterten, dolchartigen Fangzähne, zielten direkt auf Marcos‘ Kehle. Der weiß-bärtige Riese hob den rechten Arm und riß ihn schützend quer vor seinen Oberkörper. »Xando! Nein!« rief die Frau schrill und stützte sich schwer auf ihren Stock. Der Zusammenprall erfolgte fast eine Mannsgröße über dem Boden. Das Pferd stieg angstvoll wiehernd hoch. Marcos warf sich im Sattel zurück und duckte sich. Die Kiefer des Hundes schlossen sich mit einem scharfen,
krachenden Geräusch über dem Metall des Unterarmschutzes. Marcos fühlte den Druck der abbrechenden Zähne und sah, daß sternförmig seine Leute auf ihn zugaloppierten. Die Frau floh zum Haus, um sich vor den rasenden Hufen und den Waffen der Soldaten in Sicherheit zu bringen. »Verflucht!« tobte Marcos. Der Hund biß erbarmungslos zu. War er nun getötet worden oder nicht? Oder hatte diese Hexe ihm neues Leben verliehen, ein zweites Leben nach dem Tod? Marcos riß und schüttelte mit seinem Arm herum, um die schwere Last, die ihn aus dem Sattel ziehen wollte, loszuwerden. Senoj war jetzt heran. Sein Schwert pfiff waagrecht durch die Luft und trennte mit einem einzigen Schlag den Schädel des Hundes von dem zuckenden, mit den Läufen schlagenden Rumpf. Dann lockerten sich auch die Zähne, der Kopf fiel zu Boden. Marcos blickte kurz hin, beruhigte sein Pferd, dann erfaßte er, was er gesehen hatte und dirigierte das Tier rückwärts von dem Hundekopf weg. Das Blut strömte in zwei dicken Rinnsalen aus dem kopflosen Körper. Aus dem Rachen des Tieres, der sich krampfhaft schloß und öffnete, drang ein pechschwarzer Faden hervor. Er sah aus wie dünner Rauch, der von einer erlöschenden Fackel aufstieg. Dicker und dicker wurde der Rauch, stieg weiter in die Luft und ballte sich zu einer runden
Wolke zusammen. Diese Wolke war schwarz. Schwärzer als die dunkelste Nacht ohne Mond, Sterne und anderes Licht. »Was ist ... das?« keuchte Marcos auf. Jetzt fürchtete er sich wirklich. Wie gebannt starrten auch die anderen Soldaten, die inzwischen diesen Ort erreicht hatten, auf die dunkle Wolke. Selbst die Hirten waren schreckerfüllt mitten im Rennen stehengeblieben und wußten nicht mehr, was sie tun sollten. Die Wolke wurde noch immer von dem schwarzen Rauch aus dem Maul des abgeschlagenen Hundekopfes gespeist und vergrößerte sich von Augenblick zu Augenblick. Die schwarze Wolke, die noch immer wuchs und jetzt die Größe von vier Pferden erreicht hatte, zog das Licht an. Rund um das Haus wurde es zwar nicht dunkel, aber das helle Sonnenlicht des späten Morgens bekam eine seltsame, gebrochene Färbung. Die Schatten wurden grau, der Boden verfärbte sich, und selbst das Grün der Bäume, Büsche und des Grases wurde stumpf und fahl. Die Wolke wuchs weiter, bis sie so groß war wie das Haus, dessen weiße Mauern jetzt ebenfalls grau wirkten. »Bei Amyron! Ich beschwöre euch!« kreischte überlaut die Stimme der Seherin in die furchterfüllte Stille, die nur von dem Keuchen der Pferde unterbrochen wurde und – auf gespenstische Weise – vom Scharren der Läufe des enthaupteten Hundes.
»Wer sich an mir vergreift, wird des Todes sein!« Amyron war der myranische Totengott, der sechs Arme hatte, in denen er, eine Blüte, einen Dolch, ein Schwert, einen Stein, einen Pfeil und eine Natter hielt. Ihn anzurufen, und dazu auch noch in einer solchen Lautstärke, bedeutete Furchtbares für den, auf den sich der Fluch oder die Beschwörung konzentrierten. »Noch bevor der Mond wechselt, wird ihn Xando zerreißen. Denn Xando ist nicht wirklich tot! Er ist nur in einer anderen Welt, von der er jede Stunde zurückkehren kann!« rief die Seherin. Sie breitete die Arme aus, und der weiße Stab fiel aus ihren Fingern. »Seht!« rief sie abermals. Sie deutete, obwohl sie nichts sehen konnte, genau mitten in die Wolke. Die schwarze Wolke, die alle Menschen und Tiere lähmte, wogte und bewegte sich, als arbeite es in ihrem Innern. Dann begann sie sich zu verändern. Ein furchtbarer, dämonisch grinsender Schädel erschien. Es war der Kopf des Hundes. Er grinste genau in die Richtung Marcos! Langsam bildeten sich Körper und Gliedmaßen. Der Hirt nickte und schwieg. »Dragna! Ein Pferd! Sie reitet mit uns!« befahl Marcos. »Ich bringe es!« Maratha fühlte, daß auch der hartgesottene Anführer dieser Rotte von Soldaten sich fürchtete. Er
hatte Angst, weil er nicht wußte, wie gefährlich sie wirklich war, ob sie nicht doch wirklich mit Geistern oder Göttern in Verbindung stand. Andererseits erhoffte er sich davon, daß sie mit ihnen ritt, entscheidende Vorteile. Sie glaubte noch immer, die Soldaten von der Plünderung abzuhalten, aber hier gab es kaum eine Möglichkeit, helfend einzugreifen. »Hier ist das Pferd!« erscholl eine Stimme. »Sieh nach, ob etwas von Wert in der Hütte ist!« ordnete Marcos an. »Alles Wertvolle trage ich bei mir!« sagte Maratha und fühlte, wie ihre Hände zusammengebunden wurden. »Schnell! Wir müssen weiter! Die Vorratslager der Hirten warten auf unseren Besuch!« Rauhes Gelächter erscholl. Der Hirt wurde mit Tritten und Schlägen davongejagt. Maratha wurde von zwei Männern auf ein Pferd gehoben. Die Soldaten sahen, daß ihr Haus nichts enthielt, das mitzunehmen sich lohnte. Kommandos wurden gebrüllt, und die Truppe setzte sich wieder in Bewegung. Die Tiere galoppierten den Hang hinunter und zurück auf das flache Feld neben dem Raxos. Dann wurde das Tempo gesteigert. Etwa eineinhalb Hundertschaften ritten dem anderen Teil des kleinen Heeres nach. Maratha schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden
zu haben. Marcos, der rechts neben den ersten Reitern der langgezogenen Kolonne dahinritt, war nicht unzufrieden. Der tote Hund kümmerte ihn nicht, aber er mußte sich eingestehen, daß ihn die alte Hexe beeindruckt hatte. Er ahnte mit Sicherheit, daß er für ihre Zauberkünste Verwendung haben würde. Nur mußte er vorsichtig sein. Denn allzu leicht konnte sich ein Zauber, der unter Zwang, Drohung oder Folter zustande kam, gegen ihn selbst kehren. Er nahm sich vor, Maratha als bevorzugte Gefangene zu behandeln. Während einzelne Gruppen sich absonderten, um die Vorräte der Hirten zu plündern, ritt die Masse des Heeres weiter. »Die Gefangenen ... sie sind eine Quelle der guten Erklärungen!« sagte er sich. Immer wieder waren sie auf einzelne Frauen oder Männer gestoßen und hatten sie auf ihre Weise befragt. Inzwischen wußten Marcos und seine Unterführer, daß die Burg der Weisen leer war – die Frauen und Männer waren, obwohl sie wenig mit sich genommen hatten, nach Urgor gezogen. Dort waren sie entweder zu Dragons Armee gestoßen oder hatten sich verpflichtet, Prinzessin oder Königin Amee zu dienen. Das war eine Entwicklung, die Marcos nicht im mindesten störte. »Noch ein paar Tage! Dann haben wir Ruhe und alle
Annehmlichkeiten!« sagte er und hob den Arm, als er vor sich den Troß des ersten Heerhaufens sah. Die Tage vergingen ohne Überraschungen und ohne Gefahren. Das Land zwischen Marathas Furt und dem Berg Ah‘rath war weitestgehend leer. Nur einzelne Gehöfte, einige wenige Herden mit ihren Hirten, die ein halbes Jahr lang von ihren Angehörigen getrennt waren und die Herden von Weide zu Weide trieben. Die Landschaft bot einem ziehenden kleinen Heer alles, was es brauchte: Nachtlager ebenso wie Feuerholz, Wasser und Weiden für die Tiere, genügend Wild, das man mit Pfeilschüssen erlegen oder mit gefällten Lanzen aus dem Dickicht treiben konnte. Immer deutlicher erhob sich am Horizont der Berg, der ihr Ziel war. Einige Dinge gaben Marcos jedoch zu denken ... Da war die Zahl der Sklavinnen und Sklaven, die sie unterwegs gefangengenommen hatten. Inzwischen waren es ein halbes Hundert, soweit sich Marcos erinnerte. Etwa dreißig Mädchen, meist nicht älter als zwanzig Sommer. Und rund zweimal zehn Knaben, die dazu ausersehen waren, die Dienerschaft abzugeben. Diese fünfzig Leute beanspruchten Pferde, und sie aßen und tranken. Man mußte sich nicht nur um die Soldaten kümmern, sondern auch um die Sklaven. Also
wurden sie, je länger der Ritt dauerte, immer mehr zu Ballast und zu einem Problem. »Aber auch das ist vorbei, wenn wir die Burg erreichen!« murmelte Marcos. Sein Tier war von allen das stärkste und am besten Ausgeruhte. Dieser Gedanke brachte ihn auf eine weitere Überlegung, die schon seit Tagen in seinem Kopf herumspukte. Sie waren alle erschöpft. Tage um Tage waren sie geritten. Eine gewaltige Entfernung war von ihnen zurückgelegt worden. Ein ganzer Tag schnellen Rittes durch dieses Gebiet ohne Straßen und breite Wege erschöpfte die Tragtiere ebenso wie die Reittiere und die Reiter in den Sätteln. Nicht nur die Sklaven waren müde, sondern sie alle. Jeder einzelne Mann des kleinen Heeres. Ruhe war nötig, viel Schlaf, viel Pflege. Die Packlasten und die Beute waren in einem verheerenden Zustand. Alles mußte geordnet und überprüft werden. Das konnte aber nur dann geschehen, wenn es ein Lager gab, in dem sie einen Mond lang blieben oder länger. »Es hilft nichts!« überlegte Marcos laut, »Wir müssen die nächsten Tage so schnell wie möglich weiter. Nur drei Tage noch ...« Und dann, einen Tag später ... Es war am frühen Abend. Das gesamte Heer lagerte hier im leeren Bett eines Baches, der bei der Schneeschmelze und bei den
Herbst- oder Frühlingsregen anschwoll und einen reißenden Strom bildete. Feiner Kies und Sand, einige langgestreckte Inseln aus Humus, die mit Schilf bewachsen waren, dazwischen riesige Felsen, moosbedeckt und mit kleinen Pflanzen bewachsen. Ein hervorragender Platz, zumal sich der jenseitige Hang sehr gut als Weide verwenden ließ. Marcos saß auf einer Decke, hatte die Knie angezogen und blickte auf das Lager. Er sah die runden Kreise, die aus Sätteln bestanden und aus Packlasten. Er sah die langen Reihen der Tiere, die entweder weideten oder zur Tränke geführt worden waren. Vor wenigen Augenblicken hatte Marcos einen Krug mit Wein verlangt. Er sah, wie die Sklavin, die augenblicklich mit ihm zusammen war, durch das Lager ging. Seine Leute ließen sie in Ruhe, weil die Sklavin des Anführers tabu war. Das Mädchen, das in der letzten Zeit Spuren von Ungehorsam gezeigt hatte, trug den Krug auf der Schulter und kam langsam auf den Felsen zu. Marcos‘ Augen gingen ununterbrochen umher und suchten die Umgebung ab. Dort drüben, auf dem höchsten Felsen, saß Senoj. Er hatte eine der ersten Wachen übernommen. Marcos legte die gewölbten Hände an den Mund und brüllte: »Senoj!« Senoj stand auf, drehte sich um und hob
grüßend die Hand. »Alles ruhig bei dir?« rief Marcos. »Ich sehe nichts und niemanden!« »Gut! Weiter so! Dort drüben – das Abendrot fällt auf den Berg!« »Ich habe das Leuchten gesehen! Noch zwei Tage, Marcos!« Aus dem Lager erschollen zustimmende und erleichterte Rufe. Noch immer herrschte eine vorbildliche Ordnung. Inzwischen hatte man die Sklaven von ihren Fesseln befreit und trieb sie zur Arbeit an. Um Streit zu vermeiden, hatte Marcos den Männern verboten, sich den Mädchen zu nähern. Das hatte Zeit, aber sein Verbot rief fast einen kleinen Aufruhr hervor. Erst am Ah‘rath würde er die Mädchen verteilen. »Nicht länger!« gab Marcos zurück, ließ sich wieder nach hinten fallen und wartete auf die Sklavin. Als er sie unten am Felsen wußte, gellte ein Schrei über das Lager. Nichts Menschliches war in diesem Schrei der Panik. Kerzengerade fuhr Marcos in die Höhe und drehte den Kopf. Er fühlte, wie sich das Haar auf den Armen und im Nacken aufstellte. Senoj! Der Felsen, auf dem Senoj jetzt stand und sein Schwert schwenkte, war auf der Oberfläche nicht größer als eine Decke. Vier Schritte im Quadrat. Dort
kämpfte Senoj schreiend gegen einen unsichtbaren Gegner. Er hob die Waffe und führte Schläge gegen einen Gegner, den nur er sah, und Marcos erkannte, daß in der Vorstellung des Senoj tatsächlich ein Gegner existierte. Marcos erschrak und sprang auf die Füße. »Senoj!« brüllte er aus Leibeskräften. Sämtliche Köpfe des Lagers richteten sich auf ihn. »Senoj! Hör auf! Du Narr – da ist niemand!« Senoj hob abermals das Schwert und führte einen weit ausholenden Schlag gegen den Unsichtbaren. Der Soldat strauchelte, stolperte und fiel nach vorn. Zwei Handbreit neben dem Absturz des Felsens fing er sich wieder, indem er auf beide Arme fiel, den Griff des Schwertes aber nicht losließ. »Warte, du Wahnsinniger! Ich komme!« donnerte Marcos. Er rannte die wenigen Schritte bis an den Rand des Felsens und begann hinunterzuklettern. Aber er ließ den einsamen, vom Wahnsinn umstellten Mann auf dem anderen Felsenstuck nicht aus den Augen, Seine Fingernägel splitterten, er riß sich die Haut auf und schrammte die Knie und die Ellenbogen blutig, als er in größter Geschwindigkeit versuchte, den Felsen zu verlassen. »Halt ein!« Senoj war im Wahnsinn gefangen ... Er wich langsam, Fingerbreit um Fingerbreit,
zurück. Gleichzeitig versuchte er, mit dem Dolch in der Linken und dem Schwert in der rechten Hand den Gegner abzuwehren. Er stolperte und taumelte hin und her. Seine Augen schienen nur das Unsichtbare wahrzunehmen, aber sein Gefühl hielt ihn davon ab, über den Rand des Felsens zu stürzen. Es ging an drei Seiten mehr als zehnmal eine Mannesgröße abwärts, und unter dem einzelnen Riesenstein breiteten sich Felsbrocken und kantige Kiesel aus. Der Fluß hatte die Steine noch nicht genug abgeschliffen und gerundet. Ein lautloser, aber heftiger Kampf tobte dort oben. »Nein! Das ist Wahnsinn!« keuchte Marcos auf. Er kletterte und rutschte den Felsen abwärts. Senoj war einer seiner besten Unterführer. Ein verwegener Reiter und ein Schwertkämpfer, gegen den kaum jemand eine Chance hatte. Aber jetzt schien er dem Wahnsinn nahe. Als Marcos mit blutenden Gliedern und brennender Haut in den Kies sprang und auf den anderen Felsen zurannte, starrte ihm nicht nur die Sklavin mit dem Weinkrug nach, sondern mindestens die Hälfte seiner Leute. Die andere Hälfte konzentrierte ihre Blicke auf den Kämpfenden. Es breitete sich Totenstille aus. Nur ein Hirtenhund, ein zottiges, verwahrlostes Ding, das ihnen zugelaufen war, heulte steinerweichend auf. Jemand schlug dem Tier mit dem Speerschaft über den Schädel, und das entnervende Heulen hörte schlagartig auf.
»Nein! Nein!« Der Schrei hallte über das Lager und fing sich innerhalb der flachen Ufer. Das Blut schien in den Adern zu erstarren, so schrill und verzweifelt klang der Ruf des Kämpfenden. Er stand nicht mehr sicher auf den Fußen, sondern schwankte am Rand des Felsens hin und her. Und noch immer, jetzt noch verzweifelter als vor Augenblicken, focht er gegen den Unsichtbaren. »Diese verdammte Hexe!« fluchte Marcos und rannte über die großen, runden Steine des Flußbettes. Immer wieder blieb er kurz stehen und warf einen Blick auf den Felsen. Der Unsichtbare hatte Senoj quer über die winzige Plattform getrieben. Jetzt verlor Senoj sein Schwert; es flog im hohen Bogen aus seiner Hand durch die Luft. Es sah so aus, als habe ein wuchtiger Hieb ihm die Waffe aus den Fingern geschlagen. Klirrend fiel das Schwert auf einen Stein und zerbrach in zwei Teile. Marcos hetzte weiter. Als er den Felsen erreichte, fielen die ersten Steine und Steinsplitter herunter. Wieder stieß Senoj einen gellenden Schrei aus, als er rückwärts kippte und sich zum erstenmal überschlug. Marcos stemmte die Fersen in den Boden und warf sich zur Seite, als der Steinregen auf ihn herunterprasselte. Senoj warf die Arme auseinander, überschlug sich ein zweitesmal und prallte dicht neben Marcos auf die
Steine. Es gab einen dumpfen Laut, ein letztes Stöhnen kam aus dem Mund des Kriegers. Marcos ging mit steifen Schritten an den Toten heran und kauerte sich auf die Hacken nieder. »Senoj!« sagte er leise und nahm nur undeutlich wahr, daß von allen Seiten die Krieger angerannt kamen. »Vielleicht war es die Hexe. Vielleicht war es tatsächlich Amyron, der Gott des Todes!« »Begrabt ihn an der Biegung des Flusses!« sagte er leise. »Mit allen seinen Waffen!« Langsam ging Marcos quer durch das Lager, bis er den Haufen der Sklaven erreichte. Er brauchte Maratha nicht zu suchen; sie saß auf einem Fell, das über einem Stein ausgebreitet war. Die Frau nagte an einem Knochen und hielt ein halbes Fladenbrot in der Hand. »Maratha!« sagte Marcos düster. »Du hast die Schreie gehört?« »Ja«, sagte sie undeutlich. »Senoj hat geschrien, denke ich.« »So ist es«, erwiderte Marcos und suchte in ihrem Gesicht vergeblich nach verräterischen Spuren. »Er schreit nicht mehr. Er wird niemals wieder schreien.« Sie nickte, als habe sie es längst gewußt. »Er ist tot, nicht?« »Ja. Ich muß mit dir sprechen!« brummte Marcos. »Senoj hat deinem verfluchten Hund den Kopf abgeschlagen.«
»Er war es also?« »Ja. Und ich ahne, daß du an dem Kampf schuld bist, den er gegen einen unsichtbaren Gegner ausgefochten hat.« Marathas Augen wirkten weit offen und klar. War diese Frau tatsächlich blind, wie man sagte? »Ich kenne die Pläne und die Rache Amyros nicht!« gab Maratha zurück. »Ich weiß nur, daß er sich rächt!« »Er hat sich gerächt! Amyron hat Senoj vom Felsen gestoßen. Das ganze Lager ist in Angst.« Maratha ließ den abgenagten Knochen fallen und richtete sich auf. Ihre Züge waren scharf, der Ausdruck des Gesichts flößte Marcos Angst ein. Maratha war für ihn ebenso unbegreiflich wie die Ereignisse, die sich in ihrer Nähe abspielten. »Mache mich für nichts verantwortlich!« begann sie so laut, daß es mühelos alle Umstehenden hören konnten. »Ich habe dich nicht gebeten, uns zu überfallen und den Hund zu töten! Sprich mit deinen Männern und erkläre ihnen, daß Amyron sich an jedem rächt, der ihn beleidigt. Denn nur Amyron hat das Recht, Leben zu nehmen.« Sie drehte sich halb herum und biß in den Brotfladen. Marcos zog den Kopf zwischen die Schultern und schlich davon. Als er in der Nähe des geschützten Platzes war, sah er seine Männer, die ein flaches Grab
aushoben. Er fand in dieser Nacht kaum Schlaf und erwachte am Morgen mit schmerzenden Gliedern und dröhnendem Schädel. Vor ihnen ragte der Ah‘rath in den Morgenhimmel. Fast einen ganzen Tag lang war Kelan entlang des Waldrands gewandert; er und seine sechs Zugochsen. Das Knarren der riesigen Holzräder, das Ächzen der Seile und Joche, das Knallen der Peitsche und das gemütliche Trappen, mit dem die Ochsen langsam, aber ausdauernd dem Weg folgten, hatten die Stunden begleitet. Sieben lange Stämme wertvollen Holzes lagen auf dem Wagen. Kelan war ein Mann, der zwar bei den Hirten lebte, aber nicht einmal ein Huhn sein eigen nannte. Er und seine Familie waren Tischler, Schnitzer, Zimmerleute. Aus dem alten, abgelagerten Holz, das er transportierte, würden Becher und viele andere Tischgefäße und Teller entstehen. Als er, an den leeren Weiden, vorbei, auf den breiteren Weg einbog und sich dann auf einen Baumstamm schwang, um nicht mehr gehen zu müssen, spürte er zum erstenmal den Brandgeruch. Lange Jahre hier draußen in der Natur hatten seine Sinne geschärft – dies war nicht der Geruch eines Feuers, an dem die Hirten brieten oder kochten, sondern etwas anderes. Gleich werde ich es sehen! dachte Kelan. Er wußte,
daß nach der nächsten Biegung die drei Hirtenhütten, der Stall und die Gebäude seiner eigenen Familie auftauchen würden. Die Abendsonne sank gerade hinter langgestreckte, rote Wolken, als Kelan den dünnen, grauen Rauchfaden sah. »Er steigt gerade dort auf, wo mein Haus ist!« sagte er sich. Seine Unruhe nahm zu. Niemand durfte in der Nähe der Werkstätte ein Feuer anzünden, weil die Gefahr zu groß war. Langsam zogen die sechs Ochsen den Wagen mit den Stämmen weiter. Der Schnitzer reckte den Hals, als das erste Hirtenhaus sich aus der Kulisse des Gebüschs schob. »Nein!« stöhnte Kelan auf. In seinen vierzig Sommern hatte er manches erlebt und viel durchgestanden. Er wußte wohl, daß die Gefahr früher oder später einen jeden Menschen erreichte. Als bedächtiger, kluger Mann hatte er versucht, sich möglichst vielen Gefahren zu entziehen. Also hatte er seine Familie hierher gebracht, zu den Hirten. Er lebte von ihnen und einigen durchziehenden Karawanen, an die er seine wertvollsten Stücke verkaufte, und die Hirten versorgten ihn ebenso mit Essen und allem Notwendigen, wie er sie mit Holzwaren und Arbeitsleistung bezahlte. Und jetzt schien die Gefahr diese winzige, sorgfältig versteckte Siedlung erreicht zu haben. Das Hirtenhaus war nur noch eine schwarze,
schwelende Ruine. Das kleine Haus mit dem Strohdach war verbrannt. »War es ein Unfall? Ein Versehen?« rätselte er. Noch konnte er seine Sorge und die Neugierde bezähmen. Er war nahe daran, vom Wagen zu springen und dorthin zu rennen. Weit und breit war niemand zu sehen. »Heda! Wo steckt ihr. Freunde?« schrie er, von plötzlicher Panik ergriffen. Er hob die Peitsche und schwenkte sie. Eine schnelle Folge scharfer, peitschender Knalle hallte und widerhallte zwischen den Bäumen und Felsen. Nichts. Keine Antwort. War es die Ruhe des Todes? Der Wagen schob sich mit mahlenden Felgen aus der nächsten Biegung. Das zweite Hirtenhaus war ebenfalls abgebrannt. Und, dahinter ... »Meine Werkstatt! Mein Haus ...«, schrie er auf. Jetzt sprang er auf den Boden, ließ die Zügel schleifen und begann zu rennen. Er keuchte und rannte mit klopfendem Herzen weiter und blieb stehen, als er die Umzäunung aus Trockenmauerwerk erreichte. Alles war verbrannt. Es mußte vor Tagen passiert sein, während er im Wald die Stämme aussuchte und auf den Wagen gezerrt hatte. Der Boden war an vielen Stellen zerwühlt und aufgerissen. Kelan sah deutlich die Hufspuren von Pferden. Er taumelte weiter und blieb wieder stehen, als sein
Fuß in der Sandale an einen noch glimmenden Balken stieß. Kelan spürte den Schmerz kaum. Er war wie erstarrt. Langsam drehte er den Kopf und betrachtete die Verwüstung. Die Holzstapel ganz links, die dicken und dünnen Bretter unter dem leichten Dach waren unversehrt. Keine Brandspuren. Auch die Hebel und Stangen des Zugbrunnens waren unzerstört. Der lederne Eimer lag am Ende des Seiles neben der Brunnenumrandung. Der Zaun um den kleinen Garten war niedergetrampelt und zerbrochen. Dann sah er den Wall aus Asche, der einst das hohe, schräge Dach des Wohnhauses gewesen war. Nur noch die dicken, lehmverschmierten Tragebalken ragten, zersplittert und schwarzen Stümpfen gleichend, senkrecht in die Höhe. Geschirr und Werkzeug lag verstreut jenseits der Asche, dicht vor seinen Füßen. »Es war ein Überfall!« murmelte er düster. Kelan konnte es nicht fassen und nicht glauben. Er war vollkommen gelähmt. Er vermochte nicht klar zu denken, und was er tat, geschah wie im Traum. Wo war seine Frau? Wohin war seine Tochter geflüchtet? Lebte sie noch? Was war mit seinen beiden Gehilfen geschehen? Warum meldeten sie sich nicht auf seine Rufe und das Peitschenknallen? Und was war mit den Hirten geschehen?
»Ich glaube, ich werde zu Maratha laufen und sie fragen!« sagte er. Hinter ihm tauchte jetzt das Ochsengespann auf. Die Tiere waren gewohnheitsmäßig den Weg gegangen, den sie seit Jahren kannten. »Was jetzt? Was soll ich tun?« stotterte Kelan. Er war von den Ereignissen überwältigt. Die Ochsen trotteten langsam heran, senkten die Köpfe und blieben stehen. Sie begannen an dem rußbedeckten Gras zu fressen. Kelan sah sich um wie ein Gehetzter. Er verstand die Welt nicht mehr. Er ging einen Schritt geradeaus, dann sah er zwischen einem aschebestaubten Mäuerchen einen Körper. »Ramsara!« flüsterte er, dann rannte er los, warf sich neben dem bewegungslosen Körper in die Asche und drehte den Körper um. Er starrte entsetzt in das Gesicht seiner Frau. Es war von verkrustetem Blut bedeckt und rußverschmiert. Als Kelan zurückzuckte, sah er die Wunden. Die Frau war mit einem Dolch getötet worden. Kraftlos stand der Holzschnitzer auf. »Ein Überfall«, murmelte er gebrochen. »Sie haben die Hirten überfallen ...« Sein Besitz war vernichtet, seine Frau war erstochen worden. Wer immer die Hirten überfallen hatte, er hatte auch gestohlen, was stehlenswert gewesen war. Die wenigen Besitztümer der armen Hirten oder der
Handwerker – alles war fort, zerstört, vernichtet. Eine ohnmächtige Wut ergriff den Mann. Er rannte nach rechts und rief immer wieder die Namen seiner Knechte und seiner Tochter. Er erhielt keine Antwort. Er verließ den Aschekreis und suchte nach Spuren, die ins Gebüsch oder in den nahen Wald führten, aber er sah nichts anderes als die Spuren von vielen Pferdehufen. Also hatte eine Abteilung berittener Banditen oder eine Horde versprengter Soldaten den Überfall verübt. »Sie haben Bandara mitgenommen! Meine Tochter ist eine Sklavin!« Bei der Vorstellung, was ihr drohte, versagten ihm die Knie. Er fiel schwer auf einen Balken und blicklos vor sich hin. So blieb er sitzen, bis ihn die Kälte des Morgens aus seiner Erstarrung weckte. »Maratha!« murmelte er. »Sie wird wissen, was ich tun kann! Sie wird mir einen Rat geben können!« Er schirrte die durstigen Ochsen aus und trieb sie auf eine der leeren Weiden. Dann machte er sich auf den Weg nach Marathas Furt. Auch dort mußte er feststellen, daß er wieder allein war. Als er den Kadaver des Hundes sah und wieder aus dem leeren Haus der Seherin herauskam, sah er zwei Hirten, die die Felsentreppe hinaufkamen. Von ihnen erfuhr Kelan, was vorgefallen war.
Die Gruppe, die sich um Marcos und Dragna versammelt hatte, zog an den Zügeln, als sie das Bild sah. Im Licht des späten Morgens lag die Siedlung vor ihnen. Sie atmete, obwohl sie verlassen war, Ruhe und Frieden aus, aber keine Trostlosigkeit. Die ineinander verschachtelten weißen Häuser, die bepflanzten Dächer und die Vierecke, die man als Gärten und Parks erkannte, waren eine Vision von Glück und Frieden. »Das ist es! Das ist der Ort, an dem wir ausruhen werden!« sagte Marcos und hob den rechten Arm. »Bist du sicher, daß die Siedlung leer ist?« »Ja. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Irgendwo hier sind die Goldschätze versteckt. Vielleicht haben sich auch andere auf die Suche gemacht. Warten wir also auf die anderen.« Marcos deutete über die Schulter nach hinten. Der Zug seiner Krieger arbeitete sich langsam und müde die Schlucht herauf. Noch war keiner von ihnen an Schwäche zusammengebrochen, aber sie alle waren am Ende. »Warten wir. Sie sind gleich bei uns.« Marcos setzte sich im Sattel zurecht, stützte sich schwer auf den Rücken des gescheckten Hengstes und betrachtete die Szene, die vor ihnen sich ausbreitete wie ein farbenprächtiges Mosaik. An den Hang geschmiegt, durch Treppen und Brücken miteinander
verbunden und von schmalen Wasserläufen durchzogen, boten die leeren Fenster und Türen der Siedlung einen Anblick, der ihn aus mehreren Gründen erfreute. Hier würden sie Platz für die Tiere finden, genügend Futter und alles, was sie brauchten. Denn die Tiere waren wichtig. Mit ihnen konnte man angreifen und fliehen und in kurzer Zeit weite Strecken zurücklegen. Zu Fuß war jeder Weg durch dieses leere Land eine tödliche Strapaze. Dreihundert Krieger würden hier auf das Angenehmste leben können. Sicher gab es Vorräte und Schätze und alle die kleinen Dinge, die man für ein gutes Leben brauchte. Und Wein! Und die Sklavinnen und Sklaven. Sie würden arbeiten und sie bedienen. Einen Mond oder länger würden sie sich erholen, dann brachen sie auf, um Schritt für Schritt Eroberungen zu unternehmen. Die sagenhaften Länder im Osten! Er, Marcos, der ehemalige Söldner, würde in wenigen Jahren der König eines riesigen Reiches sein und von jedem, der darin lebte. Steuern eintreiben ... Pferdeschnauben und Wortfetzen rissen ihn aus seiner Träumerei. »He! Marcos! Bleiben wir hier stehen?« Die gefolterten Gefangenen hatten diese Siedlung »Burg« genannt, aber der Ort war unbefestigt. Unbefestigt, aber nicht ungepflegt. Obwohl seit dem
Verschwinden der Männer und Frauen das Gras gewuchert war, obwohl die ersten Spuren der Verwahrlosung wenigstens in den Weiden, Gebüschen und kleinen Baumgruppen rund um die Häuser nicht zu übersehen waren, trennte keine Mauer und kein Tor die Siedlung vom umliegenden Land. »Nein! Diejenigen, die sich am wenigsten müde fühlen – her zu mir!« brüllte Marcos und drehte sich im Sattel herum. »Der Rest folgt uns langsam. Wir durchkämmen die Siedlung!« Aus der gewundenen Schlange der Krieger lösten sich vereinzelt Männer. Die Gruppe um den Anführer zog die Waffen. Der Weg in die Siedlung lag klar vor ihnen: in einigen Serpentinen ging es abwärts, über eine überwucherte Brücke, die einen klaren und reißenden Bach überspannte, dann in zwei Schleifen wieder aufwärts und zwischen den ersten, terrassenförmig angelegten Häuserzeilen hindurch bis auf den kleinen Platz. Er war in einer Mulde in der Bergflanke herausgearbeitet worden und daher gerade und eben. Sonst bestand die Siedlung aus einer Unzahl von Stufen und ineinandergehenden Absätzen. »Wieviel sind wir?« fragte Marcos etwas leiser. Er schätzte die Zahl der Männer, die sich mit gezogenen Waffen in seiner Nähe versammelt hatten. »Etwa sechzig Männer!« »Das wird reichen. Los also! Wir reiten mehrmals durch die Siedlung und schwärmen
dann aus. Die Leute, die wir vielleicht finden, sollen gefangen, nicht getötet werden! Klar?« Zustimmendes Murmeln erscholl. Marcos spornte seinen Hengst und ritt an der Spitze des kleinen Heeres die schmale, unbefestigte Straße abwärts. Die Hufe der Tiere donnerten, als sie über die Brücke aus Steinen und mächtigen Bohlen ritten. Wieder ging es aufwärts. Wilde Schreie ertönten. Aus der Siedlung aber kamen keine Antworten. Ob sie das viele Gold finden würden? Und ob dieses geheimnisvolle Ding, der Kasten-der-alles-kann, noch hier war? Vielleicht brauchte man zum Auffinden der Schätze sogar die Hilfe Marathas. Marcos war jetzt zufrieden damit, daß man die alte Hexe nicht erschlagen hatte. Sie würde doch noch nützlich sein können! Marcos riß das Schwert aus der Scheide und griff in die Halteschlaufen des runden Reiterschildes, als die steil aufwärtsführende Straße den Blick auf die beiden Häuserfronten freigab. Kleine, hohe Fenster, in denen Glas blinkte, starrten ihn blind an. »Weiter! Wir teilen uns nach diesem Haus hier!« Die Pferde schnaubten. Schaum wehte von ihren Mäulern. Aber die müden Tiere griffen in einer letzten Anstrengung doppelt aus, als ob sie ahnten, daß der lange Ritt jetzt vorüber sei. Zwanzig Männer galoppierten hinter Marcos durch die Engstelle. Marcos
riß sein Tier herum und jagte eine schmale Gasse nach links hinunter. Zwischen einzelnen Pflastersteinen wuchs Gras in Vierecken und schmalen Streifen. »Friedlich. Ausgestorben. Aber schön und reich!« knurrte Marcos. Während er die Gasse abwärts jagte und den Hengst über eine gewundene Treppe mit vielen flachen Stufen lenkte, überkam ihn ein eigentümliches Gefühl von Neid und Haß. Diese Leute, die hier gelebt hatten, schienen den Frieden und den Wohlstand auf ihre Feldzeichen geschrieben zu haben. Sie waren glücklich gewesen. Das zeigte jedes Fenster, jedes Haus, jede Tür und jede der kleinen grünen Inseln zwischen den Gebäuden. Eine Kette flüchtiger Eindrücke rollte an Marcos vorbei. Er fühlte die Schatten eines Gefühls, das er nicht kannte. Ein Gefühl, das er erst dann kennen würde, wenn er der König über ein riesiges Reich im Osten sein würde. Sie hetzten weiter. Ein kleiner Park flog vorbei. Ein überdachter Gang, aus Säulen und Bogen bestehend, mündete in den Park. Wasser floß in kleinen Wellen über Steine, die man treppenartig in das Bett des schmalen Baches eingelegt hatte. Ein dunkler, grüner Teich kam ins Blickfeld, von duftenden Wasserpflanzen bewachsen. Feuerrote und purpurne Blüten unterbrachen die Wasserfläche.
»Wir werden die fetten Fische am Spieß braten!« knurrte Marcos. Die Gasse endete auf einem kleinen Platz, der treppenartig in vier Ebenen dalag. Auch hier konnten selbst die wilden, bewaffneten Reiter nicht den Frieden zerstören. Bis jetzt hatte sich niemand gezeigt. »Niemand ist hier!« rief jemand vom anderen Ende des Platzes. Er ritt gerade zwischen einem Gebäude, das wie ein Lagerhaus oder ein Speicher aussah, und einem niedrigen Wohnhaus hervor. »Auch wir haben niemanden gesehen!« schrie Marcos zurück. »Dort hinauf!« Eine schmale Treppe führte von dem Platz in den oberen Bezirk der Siedlung. Wieder galoppierten die Reiter los und zwangen ihre Pferde die Treppe hinauf. Wieder ritten sie entlang weißer Mauern und Hauswände, die von wucherndem Grün strotzten. Niemand zeigte sich hinter den Fenstern. Niemand außer dem leichten Wind bewegte die Leinenvorhänge. Die Stadt war ausgestorben und menschenleer. Als die Reiter auf dem höchsten Punkt der Siedlung angelangt waren, flog ein Schwarm Tauben auf und begann über den Dächern zu kreisen. Marcos ließ seinen Hengst hochsteigen und schrie: »Die Stadt gehört uns! Niemand macht sie uns streitig!« Und wenn es jemand versuchen wurde, dann gäbe
es für ihn keine Rettung! dachte Marcos. Seine Krieger antworteten mit einem wilden Gebrüll, das durch die Siedlung hallte. Die Masse der Reiter, die gerade zwischen den ersten Häusern hindurchritt, antwortete mit gleicher Lautstärke. Alle Müdigkeit war plötzlich verschwunden – das Ziel war erreicht. »Marcos, mein Freund!« sagte Dragna neben dem Anführer. »Ich höre?« »Wie lange werden wir hier bleiben? Ich glaube, es wird uns allen guttun!« Marcos gab eine kluge Antwort. Er sagte zögernd: »Wir bleiben solange hier, bis uns die Langeweile packt. Zuerst die Ruhe, der Wein, die Weiber!« Dragna stimmte laut in Marcos‘ Gelachter ein.
3.
Jeder weitere Schritt enthüllte Dinge, die Marcos kaum erkannte. Einiges wußte er aus Erzählungen, denen er keinen Glauben geschenkt hatte – jetzt sah er, daß es richtig war, was die Gefangenen gestanden hatten. Er sah das Innere der Häuser, das einfach, aber in ruhigen Farben und mit guten handwerklichen Arbeiten eingerichtet war. Er erkannte die Treppen, die Türen und die
Vorhänge. Er sah Dinge wie Bäder und Küchen, Bibliotheken mit leeren Schränken und Stellflächen. Er ging verwundert von einem Raum in den anderen. Das größte und prächtigste Gebäude der »Burg« diente als sein Haus, als das Hauptquartier der Truppe. Die Bewohner der Siedlung hatten nur das mitgenommen, was sich auf Pferderücken und auf kleinen Wagen fortschaffen ließ. Alles andere befand sich, meist in bestem Zustand, hier in den Häusern und den Vorratsgebäuden. Marcos schlug einen Vorhang zur Seite und hob vorsichtig das Schwert. Er rechnete noch immer mit einem heimtückischen Überfall. Als Krieger mußte er so und nicht anders denken. Ein kleiner Raum öffnete sich vor ihm. Die abendlichen Sonnenstrahlen fluteten durch vier schmale, aber hohe Glasfenster ins Innere und trafen auf die gegenüberliegende Wand. Dort befand sich ein Bild, das mit starken Farben auf einen glatten, weißen Untergrund gemalt war. Verständnislos betrachtete Marcos die Darstellung von Männern und Jünglingen, die sich miteinander über Pergamente und Schreibzeug beugten. Unentschlossen zupfte Marcos an seinem blonden Bart. »Wo sind nun die Schätze?« murmelte er. Er riß eine Tür auf, die in den Park hinausführte. Das Haus war viereckig um eine grüne Zone gebaut. Alte Bäume krallten sich mit riesigen Flachwurzeln in
den Boden. Wucherndes Gras wechselte mit Steinplatten ab. Marcos wart einen unschlüssigen Blick hinaus in das leichtdurchflutete Grün, dann hob er die Schultern und ging bis in die Mitte des Raumes. Während von draußen die Geräusche der Soldaten hereindrangen, die ihre Tiere versorgten und die Sklaven antrieben, suchten die Augen des Anführers jede Handbreit des Bodens und der Wände ab. »Nichts! Verdammt!« Marcos war nicht wirklich unruhig. Er erwartete nicht, daß jeder Raum in dieser Siedlung am Berghang vor Gold und wertvollen Gegenständen aller Art überflutet war. Aber er war im Begriff, dieses Gebäude zu durchsuchen. Dragna kümmerte sich um alles. Er versorgte die Pferde und suchte die Sklavinnen und Sklaven aus, die in diesem Bauwerk Marcos und einige wenige Männer bedienen würden. Maratha war auch bei dieser Gruppe. Marcos ging mit unhörbaren Schritten durch die Zimmer und die kleinen Säle. Bei jedem Schritt veränderte sich der Ausdruck der Räume. Ein Bad, mit einer Vertiefung, die in den Boden eingelassen war. Kupferne Hähne ragten wie die Köpfe von mythologischen Schlangen aus den Wanden. Ein blinder Silberschild an der Wand zeigte Marcos sein Gesicht, undeutlich und verwischt. »Weiter! Ich muß wissen, welche Räume es gibt!« Eine leere Bibliothek. Nur Tische und Stühle,
Schreibpulte und Sessel. Ein Raum, dessen Kennzeichen eine dunkle Ruhe war, die Marcos eigentümlich berührte. Er drang hier bei jedem Schritt in eine Welt ein, die nachweislich nicht seine Welt war. Im nächsten Raum roch es nach kaltem Rauch und leicht ranzig nach Fett. »Dies ist die Küche!« knurrte er. Sein Beruf war wild und erbarmungslos. Er kannte das Leben im freien Feld und auf dem Schlachtfeld, im Kampf und im Hinterhalt. Aber noch niemals in seinem langen Leben hatte er Wissenschaft und Bildung kennengelernt. Ein Fremder war er in diesen Räumen. In der Küche gab es zweifellos keine versteckten Schätze. Aber er fand in den kleinen Kammern und den Behältern, die fest eingemauert waren, eine große Menge der verschiedensten Nahrungsmittel. Sie abzutransportieren hatten wohl die Tiere nicht gereicht. Er kam an einer Reihe kleiner Schlafgemächer vorbei. Auch hier schienen die Betten nur darauf zu warten, daß man sie benutzte. Leinen und Decken und flache Kissen waren vorhanden. Er glaubte nicht an die Geschichte mit den riesigen Drachen, die Goldladungen nach Urgor gebracht hatten. Aber er war sicher, daß er hier in der Siedlung genügend wertvolle Dinge finden würde. Zwei Viertel des Gebäudes hatte er bereits
durchschritten und nichts gefunden, das auf ein Versteck hinwies. Er ging weiter, bis er an eine offene Tür kam. Dahinter war wieder der Park, diesmal ein anderer Teil. Plötzlich blinzelte Marcos. Er blieb wie gebannt neben dem Türrahmen stehen und starrte hinaus. »Fremde ...« Im Park gingen fremde Menschen hin und her und trugen Lasten, kleine und große Korbe, Säcke, die unnatürlich schwer in ihren Händen hingen. Das dunkle Klirren bewies, daß es sich um edle Metalle handelte. Marcos blieb stehen. Das Haar in seinem Nacken stellte sich auf. Es war ihm, als würde ihn ein kühler Wind einhüllen, der zwischen den Bäumen dort hervorkam. Männer kamen aus den schmalen Türen an der östlichen Seite des überdeckten Ganges. Sie waren einfach gekleidet und strahlten eine ruhige Würde aus. Sie waren nicht in Eile, denn sie bewegten sich gemessen. Es gab junge Männer und einige Frauen, die ihnen zusahen. Sie umstanden ein Viereck im Boden des Parkes, von kurz geschnittenem Gras umgeben und von Bäumen beschattet. Die Männer mit den schweren Lasten gingen über die hellen Steinplatten der Wege. Ihre Sandalen erzeugten klatschende und schleifende Geräusche. Die ersten der langen Reihe
traten auf Stufen, die Marcos noch nicht sehen konnten. Sie verschwanden immer mehr in der Öffnung und waren schließlich nicht mehr zu sehen. Andere folgten, und schließlich schoben sich an den Neuankömmlingen diejenigen vorbei, die ihre Lasten abgesetzt hatten. Sie wichen auf das Gras aus und gingen zurück ins Gebäude. Marcos fühlte, wie sich seine Stirn mit feinen Schweißtropfchen bedeckte. Er wartete darauf, daß zufällig Dragna vorbeikam oder einer der anderen Männer. Schließlich hatten sie Befehl erhalten, die Lasten hier abzusetzen und sich in einem anderen Teil des Gebäudes rund um den Innenhof einzuquartieren. »Wo bleiben sie den ...?« murmelte er. Immer mehr Männer kamen und gingen. Sie bewegten sich leise vor Marcos‘ Augen hin und her. Einige von ihnen trugen jetzt goldene oder vergoldete Waffen und Ausrüstungen. Goldene Leuchter, an denen noch die Wachstropfen hingen, wurden vorbeigetragen. Ein riesiger und kostbarer Schatz verschwand dort unter den Bodenplatten, die in die steinerne Umrandung des Fischteiches übergingen. Marcos zögerte, seinen Platz zu verlassen und die Männer zu veranlassen, ihm das Gold zu geben. Eine unerklärliche Stimmung hieß ihn zu warten und zuzusehen. Woher kamen plötzlich diese vielen Menschen? Wo hatten sie sich versteckt? Als die Reiter
rund um das Haus geritten waren, hatten sie in jede Tür, in jedes Fenster und in jede Mauernische gespäht und nichts und niemanden gesehen! »Ich werde meine Männer holen. Mit dem Schwert werden wir sie zwingen ...«, begann er heiser. Jetzt riß der Zug ab. Die letzten Beutel, in denen Münzen klingelten, wurden in die Gruft versenkt. Dann kamen andere Männer und hoben die schweren Platten wieder auf. Sie legten sie nebeneinander und aneinander und rückten sie hin und her, bis die Steine mit dem charakteristischen dumpfen Geräusch in die Fugen einsanken. Die Umstehenden zeigten erleichterte Gesichter: sie hatten ihre Schätze gut versteckt. »Aber nicht gut genug!« Marcos wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Inmitten von dreihundert Reitern, die ihre Siedlung besetzt hatten, gingen diese weißgekleideten Bewohner in größter Ruhe ihrer Tätigkeit nach und versteckten ihre Besitztümer. Kopfschüttelnd sah Marcos zu, wie sich die Gruppen auflösten. Die Leute dort sprachen miteinander, aber so leise, daß er nichts verstehen konnte. Einige Frauen verließen den Park durch ein Tor in der Mauer. Andere wiederum gingen in den östlichen Flügel zurück und schlossen die Türen hinter sich.
Eine Gruppe schlenderte davon und verlor sich im dämmerigen Schatten zwischen Baumstämmen und Büschen. Im Teich platzten einige Luftblasen; ein Fisch schnappte nach Luft oder fing eine Fliege. Der Park war leer. Marcos schloß betäubt die Augen und sprang dann, das gezogene Schwert in der rechten Hand, hinaus auf den kühlen Rasen. Er stolperte, und im gleichen Augenblick erkannte er, warum ihm seine Füße nicht mehr gehorchten. »Es geht mir wie Senoj!« fluchte er laut. Irgendwo wieherte, wie in einer höhnischen Erwiderung, ein Pferd. Er sah an sich herunter, nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Seine Reiterstiefel hatten sich in dem hohen, dichten Gras verfangen, das seine Höhe binnen eines winzigen, unfaßbar flüchtigen Augenblicks verändert hatte. Eben noch, als die Weißgewandeten ihr Gold versteckt hatten, war das Gras niedrig und geschnitten gewesen, jetzt war es höher als Marcos‘ Knie. »Es erging mir wie Senoj. Schon wieder diese Maratha!« stöhnte er auf, aber er trampelte das Gras nieder und blieb auf den Steinplatten stehen. Langsam senkte er das Schwert und schlug mehrmals auf den Stein. Es gab kein dumpfes Geräusch, das auf einen Hohlraum hingedeutet hätte. Die Schwertspitze berührte eine andere Platte.
Wieder ein hartes Geräusch. Wieder kein Hohlraum. Zögernd schritt Marcos eine Platte nach der anderen ab. Er bückte sich und schob die Schwertspitze in die Vertiefung zwischen zwei Steinplatten. Dann kauerte er sich nieder und benutzte das Schwert als Hebel. Er zog am Griff, zuerst vorsichtig, dann immer stärker, und die Kanten der Steine knirschten auf. »Die Platten sind fest!« sagte er und stand auf. Er konnte es nicht mehr erwarten, aber er wollte morgen erst richtig suchen und suchen lassen. Er merkte, daß er einer Illusion unterlegen war, einem Wahn, der auch Senoj umgebracht hatte. Aber wer wußte von diesen Bewohnern und den Verstecken? »Nicht mehr heute!« sagte er. »Heute habe ich andere Fragen!« Er stocherte noch ein wenig zwischen den Platten herum, dann ging er auf dem Weg auf die Tür zum östlichen Flügel zu. Er riß die Tür auf und sah sich wieder, im letzten Licht des Tages, in einem langgestreckten, hellen Raum. »Ich habe eine Residenz, groß genug für einen König!« sagte er, aber seine Stimme klang unzufrieden. »Und ich habe einen bösen Geist, der mit mir geritten ist.« Von draußen hörte er Lärmen, das ihn ablenkte und ihm bewußt machte, daß er nicht allein war. Eine Gruppe Soldaten und Sklaven wurde, von
Dragna angeführt. Sie schleppten alle schweren Lasten. Zuerst wurden Feuer angefacht. Öllampen wurden aufgefüllt und angezündet. Je mehr die Dunkelheit draußen zunahm, desto heller wurden die Räume, und desto mehr Leben erfüllte die Mauern. Soldaten suchten sich Schlafräume aus, warfen Waffen und Sättel von den Schultern und packten aus, was sie um sich haben wollten. »Dragna!« rief Marcos. Er begann sich nur langsam wohl zu fühlen. Die Stille und die Ruhe hatten an seinen Nerven gezerrt. Jetzt, wo er die Lichtkreise vieler Lampen und Fackeln sah und das Knistern des brennenden Holzes hörte, wich die Kälte aus seinen Gliedern und aus seinem Verstand. »Marcos? Du siehst nachdenklich aus!« Dragna, kaum bewaffnet und wegen der abendlichen Kühle in einen weiten Reitermantel gehüllt, kam aus einem der größeren Zimmer. Er grinste breit und schien sich bereits in der Rolle des Besitzers dieser leeren Stadt zu fühlen. »Ich bin nachdenklich. Ich erlebte eine Szene aus der Vergangenheit!« Marcos starrte Dragna mit großen Augen an. »Aus der Vergangenheit?« »So war es. Ich sah Gestalten, ich hörte sie sprechen – und sie haben einen Schatz vergraben.«
Dragnas Gesicht verzog sich. In seinen Blick kam ein flüchtiger Glanz. »Einen Schatz vergraben? Wo?« »Später. Morgen. Vielleicht ist dieser Schatz auch nur ein Wahn. Wo habt ihr die Frau hingebracht?« »Die Blinde?« Marcos nickte kurz. »Ich will sie sprechen. Außerdem soll sie hier wohnen. Ich traue ihr nicht. Sie soll in meiner Nähe bleiben.« »Ich verstehe dich. Du hast Angst, daß du wie Senoj endest?« »Ich habe vor nichts Angst. Aber ich will sie so nahe haben, daß ich sehe, was sie tut. Vielleicht hilft sie uns, vielleicht will sie uns verderben.« »Beides ist möglich, Anführer!« gab Dragna zu. »Ich werde sie holen!« Marcos deutete in den Park. »Lasse sie holen, Dragna. Setz dich zu mir ans Feuer. Trink mit mir!« »In Ordnung!« murmelte Dragna. Er verstand seinen Anführer nicht mehr. Bisher hatte Marcos stets genau gewußt, was zu tun war. Jetzt machte er einen zögernden Eindruck. Dragna verließ den Raum, ging hinaus und gab zwei Reitern einen Befehl. Sie nickten und gingen ohne sonderliche Eile davon. Überall wurden jetzt Lichter angezündet und Holzstöße in
Flammen gesetzt. Hinter dem Berg tauchte der Mond auf und warf bleiches Licht über die Siedlung. Jetzt saßen sie vor dem Feuer, das in einem freistehenden Kamin mit einer mächtigen Metallhaube loderte. Ein halbes Dutzend schwerer Sessel, ausgelegt mit Decken oder Tierfellen, stand im Kreis um das Mauerwerk. Dazwischen hatten die Sklaven niedrige Tische aus anderen Zimmern gerückt, auf denen Krüge, Becher und Holzteller standen. Von den Vorräten allein dieses Hauses konnten die rund eineinhalb Dutzend Reiter, Sklavinnen und Sklaven etliche Monde leben, wenn sie zur Abwechslung einige Ochsen schlachteten, die man als Lösegeld gefordert hatte oder ein Stück Wild schossen. Marcos stand bereits unter der Wirkung des schweren Weines und hob gerade den Becher, als man Maratha brachte. »Aha! Hier ist die Seherin!« schrie Marcos. Er hatte einen Arm um die Schenkel der Sklavin gelegt und schwenkte den Becher, den das Mädchen gerade wieder füllte. Auf dem Rost lagen Fleischstücke und Früchte, die einen durchdringenden Geruch ausströmten. »Hier bin ich. Was willst du?« fragte Maratha. Wieder blickten ihre seltsamen Augen den Anführer an. Er fragte sich, ob sie durch seinen Schädel blicken und seine Gedanken lesen konnte. »Ich will, daß du in diesem Haus lebst!« brummte er
und stieß schwer auf. »Warum?« fragte sie ruhig und trat näher. Marcos spürte noch immer dieselbe Scheu wie bei dem Gespräch nach dem Tod Senojs. Sie war trotz ihrer Jahre und ihres Zustands eine Gestalt, die Achtung forderte. Im Bereich des Feuers, das erhellte und wärmte, blieb Maratha stehen. Die flackernden Flammen beleuchteten ihr Gesicht und ihre Hände mit den langen Fingern. »Weil ich glaube, daß du meine Männer verhext!« sagte Marcos. Er sah in die Gesichter seiner beiden Soldaten, die rechts und links der Seherin standen. »Ich verhexe niemanden. Ich sehe vielleicht gewisse Dinge, die andere nicht erkennen können, aber ich tue niemandem etwas an. Eine blinde, schwache Frau wie ich ...?« Sie lachte spöttisch auf. Marcos merkte, daß seine Leute die Seherin seit dem Zwischenfall mit dem getöteten Hund ganz anders behandelten als eine der geraubten Sklavinnen. Sie hatten vor Maratha Respekt, weil sie mit Amyron und anderen Göttern in Verbindung stand. Man ahnte, daß sie Fähigkeiten besaß, die Unheil bringen konnten. »Du bist weder schwach noch blind! Das ist es, was ich glaube. Such dir eines der freien Zimmer und bleib hier. Du wirst von der jüngsten Sklavin bedient und kannst dich frei bewegen. Aber wenn du die Stadt
verläßt, wirst du getötet!« versicherte Marcos grimmig. Er war unsicher in ihrer Gegenwart. »Auch dann, wenn die Ochsen herbeigetrieben werden?« Marcos winkte kurz ab. »Ich denke nicht daran, ein Versprechen zu halten, das ich einem dummen Hirten gegeben habe!« Er gab den Soldaten einen Wink, und sie brachten Maratha an ihm und Dragna vorbei in den Teil des Gebäudes, wo die Quartiere der Sklaven lagen. Dort erhielt Maratha ein winziges Zimmer, das den Vorteil hatte, eine Tür zu besitzen. Eine Weile herrschte Schweigen rund um das Feuer. Schließlich kamen die Reiter zurück und setzten sich zu Dragna und Marcos. Es waren Unterführer, denen dieses Recht zustand. »Wir haben getan, Marcos, was getan werden mußte!« sagte einer von ihnen. »Berichte!« Sie hatten die Tiere gut versorgt und dann langsam von den Gebäuden Besitz ergriffen. An den wenigen Punkten, an denen man, vom Tal kommend, die Siedlung betreten konnte, standen Wachen. Vorräte, hauptsächlich Dinge des täglichen Lebens und Nahrungsmittel, sowie Gärten und Fischteiche, waren in genügender Menge gefunden worden, desgleichen Werkzeuge und einige Handwerksbetriebe oder
Werkstätten. Etwas mehr als fünfzig Sklavinnen waren auf die einzelnen Häuser verteilt worden. Überall brannten Feuer, überall lief Wasser aus den Leitungen, und die Stadt war zu neuem Leben erwacht. Man hatte sogar verschlossene Fässer gefunden, in denen hervorragender Wein war. »Genügend Wachen?« fragte Marcos mürrisch und zog die Sklavin auf seinen Schoß. »Ja. Wir werden nicht überrascht!« »Das ist gut!« meinte Dragna. »Morgen suchen wir nach den Schätzen, nicht wahr, Marcos?« »So ist es.« Sie aßen etwas, tranken ihre Becher leer und versuchten, mit ihren Gedanken fertig zu werden. Wie sie jetzt lebten, war ein ungewohnter Zustand. Die meisten Soldaten waren nicht gewohnt, unter festen Dächern zu schlafen. Marcos sagte plötzlich: »Wir haben unser Ziel erreicht. Alles spricht dafür, daß wir es hier gut haben werden. Einige Monde lang bleiben wir hier!« »Männer und Tiere haben die Ruhe bitter nötig!« bestätigte der Unterführer. »Und dann ...«, begann Marcos, und seine Augen leuchteten auf »... dann werden wir alle, drei Hundertschaften und die Sklaven, auf dem Karawanenweg nach Osten ziehen!«
»Auf dem Weg, den uns jener Händler verraten hat, in die Richtung des Landes Lu‘ur?« »Diesen meine ich!« Marcos hatte einen festen Plan und scharf umrissene Vorstellungen. Mit dreihundert Kriegern würden sie losreiten und der Reihe nach kleine Siedlungen und kleine Städte erobern. Je länger sie kämpften, desto mehr würden Söldner zu ihnen stoßen. Und schließlich war es ein riesiges Reich, das von einem riesigen Heer erobert worden war. Marcos war dann der Herrscher. Die sagenhaften Länder des Ostens gehörten ihm. »Wirst du mir helfen, Dragna?« fragte Marcos schläfrig. Er roch nach verschüttetem Wein. »Bis an mein Lebensende!« versicherte der andere Reiter. Vielleicht konnte ihm die Seherin etwas über das Schicksal der wichtigsten Männer und des Heeres sagen. Von diesen und anderen phantastischen Vorstellungen übermannt, sank Marcos in einen tiefen Schlaf.
4.
Arbeit war langweilig ... Hot-chi lag in der Sonne, die seinen Körper förmlich mit ihrer Hitze badete. Er war angenehm müde; vor
ihm ging mit vielem Geschrei und vielen Bewegungen die Arbeit am neuen Lebensplatz weiter. Ich habe keine Lust, tote Vampire wegzuschleppen! dachte Hot-chi und sehnte sich nach den Stunden und den Plätzen, wo er verwöhnt worden war, wo jeder mit ihm spielte und ihm Leckerbissen brachte. So wie die Kinder dieses Hirtenstammes, die er auf seinem Rücken durch die Luft getragen hatte. Hot-chi wußte jetzt genau, wo sie sich befanden. Der Ah‘rath war nicht weit. Dort gab es die netten alten Männer und die liebenswürdigen Frauen, denen sie geholfen hatten, damals, als Dragon in Not war. Hot-chi brachte die Namen und die Zeiten etwas durcheinander, aber das war alles nicht so wichtig für ihn. Einen schnellen Abstecher nach dem Ah‘rath? überlegte er schweigend und hütete sich davor, seine Gedanken allzu stark werden zu lassen. Bisher hatte er sich als einziger vor der schlimmen Arbeit drücken können, aber wenn Hotch oder Hot-cha ihn hier auf dem Felsgrat entdeckten, war es vorbei mit dem schönen Leben. Die Drachen schienen tatsächlich einen Platz gefunden zu haben, der für die nächste Zeit ihre Herberge sein konnte. Es waren, wie Häuptling Zainuh richtig vorausgesagt hatte, die Höhlen der getöteten Vampire.
Mit stolzgeschwellter Brust hatte er das Drachengeschwader, auf Hotchs mächtigem Rücken reitend, zu den Höhlen geführt. Die Höhlen waren großräumig, hatten genügend große Öffnungen und waren in einer Höhe, die den Notwendigkeiten der Drachen entsprach. Aber ... Die Höhlen waren von den Vampiren in einen unglaublichen Zustand gebracht worden. Dazu kamen die Spuren von gewaltigen Feuern und die vielen Gerippe und Skelette der Zü-ip, die in den Winkeln lagen und auf den Galerien. Und dazu kamen gewaltige Mengen von Vampirkot, der inzwischen hart wie Sandstein geworden war. Die Drachen arbeiteten schon seit Wochen, um die Höhlen zu säubern, um trockenes Laub herbeizuschaffen und Moos, das die scharfen Felsen bedecken konnte. Eine Staubwolke wehte ständig aus einem der Eingänge. Schutt, Felsbrocken und Kot bedeckten die Felsbänder und wurden von älteren Drachen hinuntergeschoben. Die Höhlen wurden mit Feuer und Krallen gesäubert. Schon seit vielen Tagen ging es so. Nur Hot-cha arbeitete nicht mit. Sie hatte sich in einen Winkel der Höhle zurückgezogen und betreute, versorgt von den Schneemenschen, das gefundene Ei des ausgestorbenen Drachenstammes. Soll ich oder soll ich nicht« überlegte Hot-chi, der
jüngste Drache des Geschwaders. Hot-cha würde ihn nicht zurückrufen. Und der Vater, der große Hotch ... auch er hatte genügend zu tun und war durch die Arbeiten abgelenkt. Hotch erinnerte sich an die Siedlung am Berghang und fühlte, wie ihn alles dorthin zog. Die Entfernung war gering, er kannte den Weg und er konnte schon am Abend wieder hier sein. Niemand würde etwas merken. Auch Hotch würde ihm nicht vorwerfen können, er habe den Gesetzen der Drachen nicht gehorcht. Ich glaube, ich werde fliegen! sagte sich Hot-chi. Er sah sich um. Nur wenige Drachen flogen hin und her und brachten Material zum Ausstatten der Höhlen. Die meisten Mitglieder der Sippe befanden sich im Innern der zerklüfteten Felsen und konnten ihn nicht sehen. War es gefährlich? Nein! Hot-chi wußte, daß es kaum ein Wesen auf dieser Welt gab, das sich mit ihm messen konnte. Er war stark wie ein großes Raubtier, und er vereinigte die Schnelligkeit eines Vogels mit seiner erschreckenden Wirkung auf Tiere und Menschen. Also konnte er es wagen. Vorsichtig entfaltete er seine Schwingen. Dann drehte sich der kleine Drache ungeschickt um seine eigene Achse und tappte bis zum Felsabsturz. Einmal sah er sich um, ob ihm jemand nachblickte – aber er
blieb unbeobachtet. Auf zu Ah‘rath‘ sagte er sich kurz, spannte die Schwingen und warf sich nach vorn. Zuerst rasten die Felswände und die scharfen Schroffen an ihm vorbei aufwärts, dann fing er sich ab, schlug mit den Schwingen und ging in einen waagrechten Flug über. Wieder drehte er sich um. Niemand sah ihm zu! Auch hörte er keine Gedanken-Botschaft, die ihn zurückrief. Er flog im Zickzack zwischen den Felsgipfeln hindurch. Dann schraubte er sich höher, orientierte sich an Flußläufen und Geländemerkmalen und nahm Kurs auf den fernen Ah‘rath, der wie ein sichtbar gewordener Gedanke aus dem Nebel des Horizonts aufragte. Hot-chi flog langsam, aber in großer Höhe. Er freute sich schon auf die Weisen des Berges, die ihn so gut behandelt hatten. Wahrscheinlich würden sie ihn füttern, bis er nicht mehr richtig fliegen konnte! »Sage es selbst! Habe ich dich nicht behandelt wie eine Schwester?« Maratha hob den Kopf. Ihr Lächeln war kaum zu deuten. Sie blickte Marcos an, und wieder fühlte er sich unsicher unter dem Blick der toten Augen, die so lebendig aussahen. »Es ist wahr!« sagte sie. »Ich weiß nicht, ob du
Schwestern hast. Und da du deine Eltern sicherlich nicht genau kennst, wirst du es auch nicht wissen. Aber ich habe keinen Grund zu klagen.« Seit den zwei ersten der Zwischenfälle – nämlich der schwarzen Wolke aus dem Rachen des toten Hundes und dem Tod Senojs – wagte keiner der Krieger mehr, sie zu belästigen. Sie lebte seit Tagen hier, erhielt zu essen und wurde in Ruhe gelassen. Kaum einmal kam einer der Soldaten zu ihr, aber sie kannte inzwischen jeden einzelnen Sklaven und jedes der unglücklichen Mädchen sehr genau. »Du mußt verstehen ...« begann Marcos. Eine Handbewegung der Seherin schnitt ihm das Wort ab. »Ich verstehe fast alles. Jedenfalls mehr als du glaubst!« erwiderte sie mit grimmigem Lächeln. »Wenn du alles verstehst, wie du es sagst ... wo haben dann die Bewohner dieser schönen Siedlung ihre Schätze vergraben?« fragte Marcos listig. »Nirgends. Denn sie hatten keine Schätze. Du meinst Gold und wertvolle Dinge. Die Schätze, die sie hatten, waren Einsicht und Klugheit. Weisheit und Wissen. Und ein paar Bücher und Pergamente. Sie machen keinerlei Schwierigkeiten beim Transport.« Er lehnte sich schwer gegen eine halbplastische Säule, die eine Art Mauervorsprung bildete. Maratha saß in einem großen Sessel. Sie wirkte ruhig und entspannt. Das kleine Zimmer, das sie bewohnte,
machte einen gemütlichen Eindruck. Auch ein Bild, das Marcos niemals gesehen hatte – bisher. »Kein Gold?« fragte er entsetzt. Die Vorstellung, daß er seinen Männern gegenübertreten mußte, um ihnen diesen Umstand zu gestehen, machte ihn für kurze Zeit schwindeln. Aber er fing sich schnell. »Mit Sicherheit kein Gold, keine wertvollen Dinge. Aber ihr solltet trotzdem suchen!« sagte Maratha. Sie hatte in den vergangenen Nächten mehrere Gesichter gehabt. Für Marcos, den Eroberer und sein kleines Heer hatte sie in der nahen Zukunft keine großen Veränderungen gesehen, und die ferne Zukunft verbarg sich noch im Dunkel und wurde von mehreren wichtigen Ereignissen abhängig sein. Diese Vorkommnisse hatte Maratha in der anderen Wirklichkeit auch nicht gesehen, höchstens geahnt. »Woher kennst du dies alles? Woher kennst du die Zukunft?« erkundigte sich Marcos laut. »Ich kann nichts dafür. Ich träume die Zukunft!« sagte Maratha. Marcos, dachte sie. Ein neuer Begriff, ein mächtiger Mann, angeblich nicht aufzuhalten. Aber sie wußte ja mehr und sah tiefer. Dieser herrische, große Mann mit der blonden Mähne war überall dort, wo es um Krieg und die Macht ging, kaum zu schlagen. Hier war er sicher und handelte mit der kontrollierten Schnelligkeit eines alternden Berglöwen. Aber alles andere, alle jene
Dinge, die geistige Ausbildung und langes, schwieriges Überlegen erforderten, waren nicht Sache dieses Mannes. Da war er überfordert, und in diesen Bezirken wurde der große Eroberer bei dem ersten Gedanken unsicher und geradezu verlegen. Hier würde sie, Maratha, leicht und ohne Schwierigkeiten handeln können. »Du träumst die Zukunft?« fragte er. »So ist es. Feldherr.« »Kennst du mein Schicksal? Was werde ich in den nächsten Monden erleben? Werde ich lange leben, kämpfen und erobern können?« Ihr Lächeln war undeutlich und sehr zurückhaltend. Sie machte einige komplizierte Gesten mit Fingern und Händen und sagte nach einer langen Pause, in der sie nachzudenken oder ihre letzten Träume zu befragen schien: »Solange du lebst und kämpfst, werde ich leben und in deiner Nähe sein, Marcos. Ich bin sicher, daß unsere Schicksale eng nebeneinander laufen.« Marcos nickte. Dies war eine Auskunft, die ihn beruhigte. Er konnte nicht wissen, welche Visionen und Träume Maratha in den letzten Tagen oder besser Nächten gehabt hatte. »Werde ich meine Ziele erreichen?« fragte Marcos. Jetzt war das Lächeln Marathas offen.
»Neben mir wird bald ein Mann sein, der ein künftiger König werden wird. Ein mächtiger Herrscher, ein junger Mann, der alles erreichen wird.« Marcos grinste breit. Das waren Worte, die er verstand. Sie sagten ihm, daß auch die dunklen Mächte, die Maratha vertrat, ihm wohl gesinnt waren. Also konnte er sein Vorhaben weiter betreiben. Er hatte damit gerechnet, denn sein Befehl der letzten Tage war klar gewesen: Alle seine Männer mußten ihre Waffen nachsehen. Pfeile wurden hergestellt, die Schwerter wurden gefegt und entrostet, und die Sättel wurden eingeölt und geputzt. »Ein junger Mann«, brummte er. »Nun, ich weiß, daß wir schnell und erbarmungslos reiten und kämpfen können. Noch etwas: Ich habe erlebt, wie eine Gruppe von Menschen Gold und Münzen vergraben hat. Ich glaube, ich habe ebensolche Dinge gesehen wie Senoj. Senoj mußte sterben, weil er gegen einen Gegner kämpfte, der unsichtbar war.« »Ich weiß von den Sklaven, daß er sich zu Tode gestürzt hat!« sprach die blinde Seherin. »Ich weiß, daß er tot ist. Das weiß ich sehr genau!« knurrte Marcos. »Was hat das zu bedeuten?« Maratha hob die Schultern und wandte den Kopf ab. Sie schien eine rechteckige Nische in der weißen Mauer zu mustern. Worüber sie dachte, war nicht
festzustellen. Marcos‘ Lippen wurden hart. Er deutete hinaus in den Park und fragte: »Wo sollen wir nach dem Gold suchen?« »Überall kann etwas versteckt sein«, erklärte Maratha ungerührt. »Ich weiß es wirklich nicht! Sucht, und vielleicht findet ihr etwas!« »Genau das werden wir tun!« versicherte Marcos. Er drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Er ging durch einen weißen, lichterfüllten Korridor und kam in die Halle, die ihr Aussehen auch verändert hatte. Waffen, Sättel und der Inhalt von Packtaschen stand und lag malerisch verstreut über den gesamten Raum verteilt. »Wir werden das Gold suchen ... und wir werden es finden!« sagte er. Dann schrie er: »Sklaven! Dragna!« Sie kamen aus allen Richtungen zusammen. Bald standen etwa hundert Männer und wenige Mädchen um den Anführer herum. Marcos rief laut: »Hier irgendwo ist etwas versteckt! Ich weiß, daß es in dieser Siedlung verborgene Schätze gibt. Nicht einmal Maratha konnte mir sagen, an welchen Stellen. Hört meinen Befehl! Sucht überall, wo ihr etwas versteckt glaubt! Klopft an jede Mauer und achtet auf den Schall der Schritte. Sucht nach Stellen im Rasen, die jünger sind als die Umgebung. Wenn jemand etwas gefunden hat, ruft er die anderen. Auch ich habe schon
gesucht und nichts gefunden. Sucht den Kasten-der-alles-vermag! Wir werden etwas finden!« Er machte eine Pause und blickte in die Gesichter seiner Leute. Inzwischen waren sie ausgeschlafen und satt. Sie hatten sich erholt und dursteten nach Beschäftigung oder nach neuen Abenteuern. »Bleibt wachsam! Was wir finden, wird gleichmäßig verteilt.« Er nickte und ging zurück ins Haus. In dieser Nacht warf der volle Mond sein Licht über die Landschaft und über die Siedlung. Die Mauern der Häuser bildeten scharf umgrenzte Flächen; schräge Schatten teilten das Weiß. Alles war ruhig. Fast zu ruhig. Nur ab und zu gab es unbedeutende Geräusche. Es war als ob sich alles unter diesem weißen Licht duckte und angsterfüllt schwieg. Keine einzige Wolke trieb über den Nachthimmel. Von fern wieherten Pferde von den Weiden. Das Wasser der Quellen und der schmalen Rinnsale plätscherte ununterbrochen. Nur in dem großen Haus um den Park, dicht neben dem mittleren Platz und dem gewaltigen Vorratshaus, gab es Lärm. Lärm und Lichter. Im Boden des größten Raumes, der einmal eine
Bibliothek gewesen war, hatte Dragna einen Hohlraum entdeckt. Jetzt bemühten sich vier Sklaven und zwei Reiter, mit Lanzen, Schaufeln und anderen Werkzeugen die Platten abzuheben. Die Soldaten fluchten und hielten Fackeln hoch, deren rußende Flammen Kreise und Linien in die weißen Decken brannten. »Schneller! Oder wollt ihr die Peitsche?« »Hebt an! Zurück, du dort hinten!« Ächzend schufteten die Sklaven. Ein Ring aus brennenden Öllampen erhellte zusätzlich den Raum. Die Männer, die sich bückten und an den Hebeln zerrten, warfen riesige Schatten an die Wände. Marcos stand mit verschränkten Armen neben den Arbeitenden. »Los! Lehnt die Platten an die Wand!« sagte er laut. Der Raum hallte wider von den Atemzügen und dem Lärm, den Metall auf Stein machte. Nacheinander wurden drei lange Steinplatten hochgehoben und quer durch die Bibliothek geschleppt. Eine dunkle Öffnung zeigte sich den Blicken der neugierigen Männer. »Dort kann eine Falle sein!« sagte Dragna. »Gib her!« befahl Marcos und riß einem Sklaven die Fackel aus der Hand. Er zog einen Dolch, ging um seine Männer herum und spähte in das Loch hinein. Er sah ein Dutzend Stufen, die schräg abwärts führten. Aus dem schwarzen Schacht wehte ihm ein kalter,
moderiger Hauch entgegen, der die Flammen der Fackeln kleiner werden ließ. »Paß auf. Marcos!« beschwor ihn Dragna. »Keine Angst. Mir geschieht nichts!« sagte Marcos, hielt die Fackel auf Armeslänge von sich weg und tastete sich langsam die Stufen hinunter. Nach zehn Schritten befand er sich in einem schrägen Schacht, der immer enger wurde. Undeutlich erkannte er weitere, weniger gut bearbeitete Stufen. Er ging weiter, während er sich mit der rechten Hand an der Wand abstützte. Jetzt war nur noch Fels über ihm. Als er sich umdrehte, erkannte er die gespannten und erwartungsvollen Gesichter der Sklaven und der Reiter. Ob es hier das verdammte Gold gibt? fragte er sich. Eine Stufe nach der anderen. Unmerklich krümmte sich der abwärts führende Gang. Ebenso unmerklich wurde es heller und heller. Der harzige Geruch der Fackel verwandelte sich in einen noch nie geschmeckten, wohligen Duft. Heller und heller wurde es bei jedem Schritt. Selbst der Schaft der Fackel warf einen Schatten. Die Stufen gingen jetzt in einen ebenen Boden über, der mit einem farbigen Mosaik aus kleinen runden Flächen verziert war. Blaues und rotes Feuer blitzte auf. Einzelne Flecken leuchteten golden. Marcos blieb stehen. Der Herzschlag hämmerte, und er spürte den Schweiß auf der Stirn und zwischen den
Schulterblättern. »Gold!« Langsam ging er weiter. Das Licht und der warme Glanz vor ihm nahmen zu. Nach einigen zögernden Schritten blieb er geblendet stehen. Er war um eine Ecke gebogen und sah sich jetzt einer Kammer gegenüber, die größer war als zwanzigmal zwanzig große Schritte. Sie war an drei Wänden und am Boden bis dicht vor die Spitzen seiner Stiefel voller Gold. Goldene Schilde und Körbe hingen an den Wänden und funkelten, weil sich zwischen ihnen kleine, kostbar gearbeitete Öllampen befanden. Schwere Holzkisten standen in breiten Reihen zwischen ihm und der Stirnwand. Aus ihnen ergossen sich Ketten und Pokale, kleine Waffen und goldene Haushaltsgegenstände und auf den Boden und auf die weißen Felle, die auf den Quadern lagen. Hinter sich hörte Marcos einen Schrei. Er klang hohl und dröhnend durch die Öffnungen im Stein. »Marcos! Wo bist du?« »Hier bin ich. Rufst du, Dragna?« rief er mit rauher Kehle zurück. Er blinzelte verwirrt. All das, was er vor Tagen in seinem Wahn gesehen hatte, hier befand es sich. »Ja, ich bin es. Ich folge dir!« »Dragna! Hier ist alles voller Gold! Wir haben den Schatz gefunden! Wir sind reicher als Könige!« schrie
Marcos und kauerte sich, die Fackel noch immer in der Linken, zwischen den Schalen und Bechern nieder. »Ich komme. Ich bringe die anderen mit!« war die hallende Antwort. »Bringt Körbe und Säcke! Es gibt keine Falle!« Er sah sich abermals um. Hier gab es tatsächlich Pferdelasten voller Gold. Die Platten von schweren Goldmünzen mit den Bildnissen würdiger, bärtiger Männer darauf waren aus einem umgekippten Sack gefallen und bildeten eine Art geschwungener Ebene zwischen seinen Fingern und einem hölzernen Schemel, auf dem weitere Leuchter standen. Zehn oder fünfzehn Lampen waren es nur, aber der Reflex der Flämmchen verwandelte den Raum hier in ein Stück Sonnenlicht. Überall funkelte es, überall sah er kleine, goldene Blitze und Feuer. »Wir kommen hinunter!« »Nur her zu mir! Wir haben es!« Marcos stand auf. Einen Teil konnte er verteilen. Mit den Münzen ließ sich ein Heer ausrüsten, ließen sich treue Männer kaufen und die schönsten Frauen bestechen. Mit dieser Menge Gold brauchte er nicht mehr zu kämpfen. Er konnte sich sein Reich kaufen. Die Freude überwältigte ihn fast, und als er die Schritte von vielen Näherkommenden hörte und sie anrief, stotterte er. Endlich tauchte der Körper des Freundes zwischen den zwei Steinsäulen auf, die, über und über
mit Schmuck und Ketten behängt, den Eingang zu der Goldkammer bildeten. Marcos lachte breit und machte eine umfassende Geste, als er das fassungslose Gesicht des Freundes sah. »Hier!« rief er und schwenkte die Fackel, daß die Funken stoben. »Hier haben wir das Gold. Hier ist der Schatz!« Dragna trug einen geflochtenen Korb achtlos in der einen, eine Öllampe in der anderen Hand. Hinter ihm drängten sich Sklaven und Soldaten zusammen. »Wo ist der Schatz?« fragte er entgeistert und kam ein paar Schritte näher. Marcos sprang vor, rutschte auf einigen Goldmünzen aus und ergriff Dragna am Handgelenk. »Hierher! Hier! Sieh die Münzen! Dort, die Helme und Schilde. Diese kostbaren Schwertscheiden!« Dragnas Lächeln war zugleich verständnislos und verlegen. Auch die anderen warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Niemand sprach, und langsam drehte sich Marcos um. »Was habt ihr?« fragte er halblaut. »Wagt ihr nicht, das Gold anzufassen!« »Hier ist kein Gold!« murmelte Dragna mit Grabesstimme. »Nicht einmal ein Goldstäubchen. Du bist wieder im Wahn, Marcos!« Marcos fühlte, wie eine Schwäche nach ihm griff. Er riß die Augen auf und keuchte schwer.
Der Raum war leer und dunkel. Der Boden bestand aus stumpfem, schlecht bearbeitetem Stein, auf dem eine dicke Staubschicht lag. Im Staub zeichnete sich die Spur einer Ratte ab. In den Ecken der Anlage hingen uralte, staubbedeckte Spinnweben. Es roch moderig und kalt und nach abgestandenem Wasser. Keine Felle und Pokale ... Kein Gold, keine Münzen, keine Waffen ... Nichts. »Nein!« stöhnte Marcos auf. »Nein! Nicht schon wieder!« Dragna ließ den Korb fallen und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Marcos spürte diese Geste kaum. Er stand mit hängenden Schultern da, ein Bild des Jammers und der Niedergeschlagenheit. Zögernd hob er den Kopf. Er mußte Fassung bewahren! Niemand durfte wissen, wie es in ihm aussah. Er war der Anführer dieses Heeres. Mit einem gewaltigen Akt der Beherrschung würgte er seine maßlose Enttäuschung hinunter, stieß einen Fluch aus und schüttelte sich. Seine Stimme war fest, als er erklärte: »In diesem Haus steckt ein besonderer Fluch. Er ist auf mich gerichtet. Das ist schon das zweitemal, daß ich Gold sehe, wo keines ist und niemals eines war.« Er riß die Fackel hoch.
»Zurück. Hinauf! In diesem Haus gibt es alles, nur kein Gold! Die weisen Männer waren weise genug, alles Gold nach Urgor zu schaffen!« Marcos hoffte, daß keiner der Männer ein Wort an ihn richtete. Er würde ihn geschlagen haben, denn in seinem Innern tobte eine kalte Wut. Er würde sich am liebsten auf sein Pferd geschwungen und einen furchtbaren Kampf begonnen haben, aber es gab keinen Gegner. Er war mit sich und seiner mörderischen Stimmung allein. Wieder richtete sich sein Verdacht auf die blinde Seherin. Noch immer waren die Ochsen nicht hier, schoß es ihm durch den Sinn. Er verfluchte den Tag, an dem er dieses Weib mitgenommen hatte. Aber war sie wirklich an diesen Wahnideen schuld? Rief sie Amyron zu Hilfe, um ihn, Marcos, wahnsinnig zu machen? Neben ihm flüsterte Dragna: »Bist du wieder in Ordnung, Marcos?« »Ja!« erwiderte er knapp. Sie stiegen schweigend die vielen Stufen wieder hinauf und erreichten den großen Raum. Marcos lehnte sich gegen einen der drei Pfeiler aus schwerem, fein geschnitztem Holz und sagte: »Männer! Ihr habt nicht etwa einen wahnsinnigen Feldherrn erlebt, sondern einen Mann, gegen den sich der Zauber des Goldes gerichtet hat. Wenn wir etwas finden, dann wird es ein Zufall sein.
Ich hasse mich dafür, daß ich euch allen sagen muß: Wir werden hier nichts Wertvolles mehr finden. Nur Nahrungsmittel und Werkzeuge.« Dragna nickte schwer und heftete seine Augen auf die hochkant gestellten Steinplatten. Er winkte einem Sklaven und deutete darauf. »Zurück, Herr?« fragte der Junge. »Ja. Niemand wird dieses Loch mehr öffnen.« Marcos hatte seine Enttäuschung überwunden, nicht aber seinen Zorn. Er verließ den Raum und war kurze Zeit später vor der Tür zu Marathas Zimmer. Er hämmerte mit dem Knauf des verzierten Dolches gegen die Bretter. »Komm herein, Marcos!« ertönte die Stimme von innen. Er riß die Tür auf und sah Maratha, die ausgestreckt auf ihrem Bett lag, die Decken bis ans Kinn gezogen hatte und zu schlafen schien. Nur das Licht der Fackel, die im Korridor in einem Mauerring brannte, fiel in den Raum – und in die offenen Augen der Frau. »Ich habe Lärmen und Fluchen gehört!« sagte sie halblaut. »Das ist richtig. Ich habe einen Gang gefunden, und als ich glaubte, eine gewaltige Menge Gold in den Händen zu halten, verwandelte es sich in nichts!« erklärte er. »Ich glaube, daß du mich abermals verhext hast.«
»Ich kann deinen Glauben nicht beeinflussen«, entgegnete Maratha mit der Stimme eines Menschen, den die Probleme seines Gegenübers langweilten. »Und ich habe dich nicht verhext. Ich hatte drei Träume!« »Drei Träume? Worüber?« fragte Marcos. Er glaubte aus dem Klang der Stimme herausgehört zu haben, daß dies Träume für ihn waren. »Über die Zukunft. Über die Zukunft eines Feldherrn namens Marcos!« war die Auskunft. Marcos nahm die Öllampe, die gänzlich erkaltet war und entzündete sie an der blakenden Fackel. Dann kam er zurück und blieb neben dem Bett stehen, an die kalte Steinmauer gelehnt. »Der erste Traum! Erzähle ihn!« sagte er schroff. Er hatte nicht gemerkt, daß die Frau ihn abermals überlistet hatte. Statt sich seiner Wut zu stellen, war sie ausgewichen und beschwichtigte ihn jetzt. Aber sie tat dies nicht mit Lügen, sondern mit den Eindrücken, die ihr jene zweite, farbige Wirklichkeit vermittelt hatte. »Es ist ein Traum von einem großen Kampf. Ein Kampf, der an einem hellen Nachmittag stattfindet.« »Ich und meine Männer?« »Ja. Sie werden kämpfen. Und der Sieger aus diesem Kampf wird Herrscher über ein Königreich werden.« Sie machte eine Pause und lächelte in sich hinein. Marcos erinnerte sich an die beiden anderen
Geschichten, die sich mit seiner Zukunft beschäftigte. Also würde er kämpfen und siegen. »Wann wird der Kampf sein?« »In naher Zukunft«, sagte sie zögernd. »Ich habe den Tag und den Mond nicht genau erkennen können. Manchmal kennt die Zukunft keine genauen Meilensteine. Hör weiter! Dieses Königreich wird so groß sein, daß ein hochfliegender Vogel es gerade überfliegen kann. Und ich weiß, daß ein Vogel kommen wird und diese Stadt überfliegt.« Marcos nickte. Dies alles waren Dinge und Geschehnisse, die sich mit seinen eigenen Gedanken deckten. »Und die beiden anderen Träume? Was sagten sie?« Er beugte sich vor und spähte in ihr Gesicht. Aber nicht mehr war zu sehen als das Gesicht einer alternden Frau mit großen, wunderschönen Augen. »Es sind Abschnitte, die euer Leben zeichneten. Alle dreihundert Krieger und ihre Tiere, die Sklaven und die Beute. Alles gehört dazu. Morgen werde ich versuchen, es nicht nur dir zu schildern.« »Was? Du wirst es auch den anderen schildern? Wie willst du das tun?« flüsterte Marcos gespannt. »Und wenn du es kannst, hast du mich also doch verhext!« »Nein. Ich bin am Gold nicht interessiert und auch nicht daran, daß du wahnsinnig wirst!« gab sie zurück
»Wenn du wahnsinnig würdest, wäre ich meines Lebens hier nicht mehr sicher. Meinst du, ich bin eine Selbstmörderin? Ich habe nicht nur mein Leben, sondern auch das meines ungeborenen Sohnes!« Vorsichtig strich ihre Hand über die Wölbung ihres Leibes. »Morgen? Soll ich die Krieger versammeln?« fragte Marcos. »Nein. Sie werden von selbst kommen!« versicherte Maratha. Dann gähnte sie laut und drehte den Kopf zur Seite, in die Richtung des brennenden Dochtes. »Geh jetzt, Feldherr. Ich bin sehr müde.« Er biß die Zähne aufeinander und nickte dann. Er blies die kleine Flamme aus, schloß die Tür und ging zurück in den Raum, in dem die Sklavin auf ihn wartete. Aber Marcos griff nicht wie sonst nach ihr, sondern schwieg und trank, bis der Morgen graute. Dann fiel Marcos rückwärts auf das Lager und begann laut zu schnarchen. Die Ruhe war trügerisch. Über der Siedlung lag jetzt, am frühen Nachmittag, eine Spannung, die jedermann fühlte und niemand erklären konnte. Selbst die Tauben, die einzigen deutlich sichtbaren Bewohner der Siedlung, spürten die Unruhe. Sie flogen immer wieder auf und umkreisten in einem einzigen großen Schwarm die Stadt am Berghang. Die vielen Tiere flatterten
einmal in diese, dann wieder in die andere Richtung und verwirrten die Menschen zusätzlich durch die schnellen Manöver, die alle Tiere gleichzeitig durchführten. Maratha hatte das Haus verlassen und ging, von einer jungen Sklavin gestützt, in die Richtung des mittleren Platzes. Es schien, als habe ein Unsichtbarer ein Signal gegeben. Nacheinander ließen dreihundert Soldaten von ihrer jeweiligen Beschäftigung ab. Nur wenige nahmen ihre Waffen mit. Sie taten es gedankenlos; ebenso ohne Überlegung und ohne Befehl, wie sie auf die Gassen hinaustraten und in die Richtung des Mittelplatzes gingen. Wenn sie auf einen anderen Mann stießen, nickten sie sich verlegen zu. »Du gehst zum Platz?« »Ich gehe dorthin. Alle gehen dorthin.« Maratha, die nicht im geringsten in Eile war, wußte mehr als alle zusammen. In den Nächten, nach den Gesprächen mit Marcos, hatte sie eine Reihe von Gesichten gehabt. Sie war in Urgor und in Myra gewesen, hatte Dragon und Amee beobachtet und auch die Umgebung dieser Siedlung. Sie wußte, wo sich der Zug der Ochsen aufhielt, jenes merkwürdige Lösegeld, das sie nicht befreien konnte. Und sie wußte, daß ein anderer Besucher sich näherte. Er war ein Werkzeug
ihrer Befreiung. Ein richtiges, wertvolles Werkzeug. »Was hast du vor, Freundin?« fragte das Mädchen, das seine Eltern bei dem Überfall der Truppe verloren hatte. Maratha erwiderte leise, aber mit heftiger Betonung: »Ich habe vor, das Ende der dreihundert Reiter einzuleiten!« Ihre Worte klangen so böse, daß das Mädchen zusammenzuckte und Maratha von der Seite furchtsam anstarrte. Maratha spürte das Erschrecken und die Angst und sagte beschwichtigend: »Ihr alle braucht keine Furcht zu haben. Euch wird nichts geschehen! Ich habe mit fast jedem von euch Unglücklichen gesprochen. Ich habe einen Plan, wie euch geholfen werden kann. Aber das kommt später ... Höre ich die Schritte von Marcos, dort drüben?« Sie deutete auf den schmalen Durchgang zwischen zwei über und über bewachsenen Mauern. Dort standen, wie das Sklavenmädchen erkannte, die beiden schrecklichsten Männer des Heerhaufens, Dragna und Marcos. Sie waren, wie immer, schwer bewaffnet. »Ja, Maratha. Marcos und Dragna!« sagte die Sklavin. Langsam gingen sie weiter und trafen mit den zwei Männern zusammen. Marcos betrachtete Maratha und sagte kurz: »Warum bist du hier, Seherin?«
»Um euch allen zu zeigen, wie der Weg zur Macht aussehen wird.« »Was hast du vor?« »Warte und sieh. Amyron wird mir wohl gesinnt sein. Ich spüre es!« erwiderte sie. Als sie weiterging, stolperte sie mehrmals. Man hatte in dem leeren Vorratshaus, das zur Hälfte in den Berg hineingeschlagen war, eine Menge von engmaschigen Netzen gefunden. Sie hatten einstmals dazu gedient, außerhalb des Tales in dem eisigen Wasser des Baches Fische zu fangen. Die Soldaten hatten vor, ihren abwechslungslosen Speisezettel durch Fischgerichte aufzubessern. Wieder zuckte ein Gedanke durch Marathas Kopf. Als sie weiterging, war ihr Lächeln noch starrer, noch böser geworden. Sie hörte auch die Unruhe, die mehr als dreihundert Menschen verursachten, die sich von allen Seiten dem Platz näherten. Leise fragte Maratha die Sklavin: »Sind die Portale des Vorratshauses offen?« »Ja. Weit offen. Die Sonne leuchtet in die Höhle hinein!« »Das ist gut. Sehr gut!« wisperte Maratha. Eine schwere Aufgabe stand ihr bevor. Sie ließ sich zu einer steinernen Bank an der Stirnseite des Platzes führen. Der Sitzplatz lag im lichtgesprenkelten Schatten neben einem Brunnen. Hier spie ein Berglöwenkopf einen dünnen Wasserstrahl in ein steinernes Becken, dessen
Überlauf in einen Garten führte. Maratha konzentrierte sich. Sie wußte genau, was sich die Männer erhofften. Sie holte tief Luft und hoffte, daß die Schwäche sie nicht vor dem Zeitpunkt erreichte, an dem sich die Ereignisse überschlagen würden. Die Siedlung am Hang begann zu flimmern und sich aufzulösen. Alle Menschen im weiten Umkreis, selbst die jungen Sklavinnen und Sklaven, sahen sich in eine andere Welt versetzt. Eine riesige, fast völlig ebene Fläche tauchte auf ... ... sie bestand aus wildem Gras, aus Büschen und aus kleinen Baumgruppen. In der Ferne sah man die Feldzeichen und die Banner des Stadtkönigs von Lacknahr. Er war mit fünfhundert oder mehr Männern angetreten; alles, was einen Speer tragen oder einen Stein werfen konnte, versteckte sich dort hinter den Büschen. Der Stadtkönig selbst, in einem mit drei schnellen Pferden bespannten Sichelwagen, befand sich in der Mitte eines weit auseinandergezogenen Halbkreises. In seiner Nähe blitzten die Instrumente seiner Bläser. Marcos, in voller Rüstung, saß kerzengerade in seinem Sattel und betrachtete das Gelände. »Die Entscheidungsschlacht!« sagte er laut. Seine dreihundert Reiter waren in hervorragender
Verfassung. Die lange Ruhe in der Bergsiedlung hatte ihnen gut getan. Marcos drehte den Kopf und nickte einer Gruppe von Reitern zu, die an langen, dünnen Ketten kleine Kessel trugen. »An die Plätze! Schnell und unbemerkt. Reitet in diese Richtung!« Mit dem gepanzerten Handschuh und dem metallenen Unterarmschutz deutete er nach hinten. Etwa ein Dutzend Reiter grüßte kurz und spornte die Pferde. Binnen kurzer Zeit waren sie verschwunden. Das stellenweise mannshohe Gras verbarg sie und das Ziel ihres schnellen Rittes. Mit klirrenden Rüstungsteilen, den schweren, geschlitzten Helm auf dem Kopf, kam Dragna herangeritten und hielt das Pferd neben Marcos an. »Wenn wir dieses Schlachtfeld verlassen haben ...«, begann er. Seine Stimme klang hohl aus den Atemlöchern des Helmes hervor. Marcos vollendete den Satz. »... dann liegen die Länder des Ostens wehrlos vor uns. Lacknahr ist die Grenzstation. Wir brechen die Schranken auf!« Marcos zog sein Schwert und deutete auf die ferne Silhouette. Mauern mit Befestigungen und Burgtürmen riegelten den Einschnitt in den unbezwingbaren Bergen ab. »Es bleibt bei unserer Absprache?«
Marcos nickte schwer. Sie hatten sich entschlossen, den Stadtkönig zu verwirren. Ihr Angriff würde ganz anders sein. Es stand für sie alle fest, daß es nur eine Möglichkeit gab: Sie würden siegen. Und fast ohne Verluste! »Es bleibt dabei. Lassen wir ihn beginnen, jeder weiß, was zu tun ist?« »Ja. Und ich sorge dafür, daß niemand unseren Plan zerstört.« »Ausgezeichnet. Wir warten!« Sie schwitzten alle. Aber der Gedanke an die prächtige Mauernstadt, die in zwei Reitstunden Entfernung auf sie wartete, reich und verlockend, voller Beute und schöner Frauen, voller Bäder und Schenken, in denen Bier und Wein fließen würden, dieser Gedanke ließ die Männer die Strapazen willig ertragen. Sie waren kampfbereit und dürsteten nach Blut. »Bewegungen! Die Instrumente!« rief Dragna aufgeregt. »Das sagt mir etwas!« knurrte Marcos. Er würde der Mann des Sieges sein. Heute abend ... Die langen, geraden Instrumente blitzten im Sonnenlicht auf. Die zwanzig Bläser preßten die Mundstücke der bronzenen Luren an die Lippen und holten tief Luft. Dann hallte ein langgezogener Schrei über die Ebene. Schlagartig setzten sich die
Kampfwagen und die gegnerische Reiterei in Bewegung. Die Fußtruppen schlossen sich, nachdem die erste Abteilung vorgeprescht war, zusammen und bildeten einen dünnen, aber wirksamen Wall, dessen Lanzenspitzen sich nach vorn richteten wie ein Zaun. »Los!« schrie Marcos und hämmerte mit seinem Schwert gegen seinen polierten Schild. Kriegsgeschrei aus dreihundert Kehlen. Aufgeregtes Wiehern von unzähligen Tieren. Waffenklirren und Hufschläge. Drei Abteilungen zu je hundert Reitern kamen in Bewegung und strebten wie die Zacken einer Harpune auseinander. Sie wurden schneller. Bogenschützen legten die vergifteten Pfeile auf die Sehnen. Lanzen mit furchtbaren und messerscharfen Spitzen senkten sich. Die gebogenen Mordhörner auf den Stirnschilden vieler Pferde zitterten in der Luft. »Auseinander!« Marcos‘ Stimme gellte fast so laut wie der Schall der Luren. Mit dem Donnern Tausender Hufe, das die Ebene und die Luft erschütterte, bewegten sich beide Heere aufeinander. Die drei Kolonnen Marcos‘ rasten auf die breite Kampflinie des Stadtkönigs zu. Kurz vor dem erwarteten Anprall geschahen fast gleichzeitig mehrere bemerkenswerte Dinge. Ohne daß eine der kämpfenden Parteien es merkte, flammten in einem riesigen Kreis mehr als zehn kleine Feuer auf. Man sah im grellen Sonnenlicht die
Flammen nicht, aber dünne, graue Rauchwolken erhoben sich aus dem ausgetrockneten Gras. Die zwölf Reiter, die ihre Feuer gelegt hatten, warfen die Pferde zurück, nachdem die Glutkessel ihren Inhalt verstreut hatten. Die Reiter trafen sich am ausgesuchten Platz weit hinter dem Heer des Stadtkönigs. Dann zogen die Reiter die Bögen und Pfeile aus den Köchern und warteten auf die ersten Angstschreie. Und das zweite Geschehen war, daß die Angreifer eine gänzlich neue Taktik anwendeten. Sie warfen die Speere, schossen die Pfeile ab und bohrten in vollem Galopp die Lanzen in die Körper der Verteidiger. Dann ließen sie die Waffen los, sprengten auseinander und sammelten sich wieder. Marcos hämmerte gegen seinen Schild und dröhnte: »Zurück!« Die Reiter stoben zurück, aber sie formierten sich wieder. Die Kampfwagen schwenkten herum und nahmen die Verfolgung auf. Sobald sich einer der Wagen aus der Menge entfernt hatte, kam im scharfen Winkel eine andere Abteilung heran und machte die Männer im Wagen nieder. Einer der Reiter schwang sich aus dem Sattel wickelte sich die Zügel seines Pferdes um den Arm und steuerte den Wagen aus der Gefahrenzone, indem er die Leichen aus dem Korb kippte und auf die Tiere einschlug. Verwirrung kam in die Linien der Verteidiger.
Die Angreifer galoppierten rasend schnell an der feindlichen Reiterei entlang und schossen Pfeil um Pfeil ab. Sie waren zu schnell, zu wendig und zu gut ausgerüstet, als daß man sie ernsthaft hätte fassen können. Zudem schrien jetzt die gegnerischen Fußtruppen auf. »Feuer! Dort drüben!« »Auch auf dieser Seite!« »Dort hinten kommt eine Feuerwand! Flüchtet!« »Wir sind eingeschlossen!« »Verloren!« Die Reiter des Marcos kümmerten sich nicht mehr um das Fußvolk. Sie gingen kein Risiko ein. Zwei oder drei von ihnen versammelten sich jeweils um einen gegnerischen Reiter und schlugen ihn aus dem Sattel Immer dann, wenn eine Übermacht auf sie zukam, flohen sie scheinbar und auf so geschickte Weise, daß sich die Verfolger binnen kurzem abermals einem anderen Kräfteverhältnis gegenübersahen. Noch während des Kampfes kamen die Skiaren, notdürftig ausgerüstet. Sie brachten die herrenlosen Reitpferde in Sicherheit und sammelten Waffen und Rüstungen ein. Dann ritten sie zurück. Dorthin, wo Marcos Leute eine breite Schneise in das Gras geschnitten und den Rest des Grases angefeuchtet hatten. Gegen Ende des Kampfes überholte die Gruppe um Dragna und Marcos den Sichelwagen des flüchtenden
Stadtkönigs Lacknahr. Ein Reiter griff in die Zügel und stemmte sich im Sattel gegen die Laufrichtung der drei Pferde. Mit einigen Hieben der Streitaxt zertrümmerte er die Stacheln an den Stirnen und Hälsen der Pferde. Ein geschleuderter Speer nagelte den Wagenlenker an den geflochtenen Korb des Gespannes. Marcos hob sein langes Schwert und schlug die Lanze des Königs zur Seite. »Ich habe dir den Tod versprochen!« rief er zwischen den eisernen Spangen seines Helmes hervor. Der König riß eine Streitaxt aus der Halterung und wollte sie auf Marcos schleudern. Mitten in der Bewegung sackte er zusammen Marcos hatte einen waagrechten Hieb geführt und mit aller Kraft zugeschlagen. Knirschend glitt das Schwert zwischen der Rüstung und dem Helmband in den Hals des Königs und trennte den Kopf fast vom Rumpf. Marcos stellte sich in den Steigbügeln auf und riß das lange, weiße Banner des Königs vom Wagen. »Wir haben gesiegt« schrie er, umgeben von Rauchwolken und Kriegern, die sich sammelten. »Zurück!« Was das Heer begonnen hatte, vollendete das Feuer. Wer nicht getötet worden war, erstickte und verbrannte. Die Bogenschützen metzelten das fliehende Fußvolk nieder. Marcos‘ Truppen zogen sich weit hinter ihre Angriffslinie zurück.
Sie mußten warten, bis das Feuer niedergebrannt und die Asche so kalt geworden war, daß man das geschwärzte Gebiet durchqueren konnte. Schon jetzt war die Beute an Tieren, Kampfwagen und Waffen gigantisch. In der Nacht regnete es. Am nächsten Morgen ritt ein langer Zug auf die Grenzfestung Lacknahr zu. An der Spitze ritten Dragna und Marcos neben dem leeren Sichelwagen des Stadtkönigs. Auf die längste Lanze hatte man den Kopf des Königs gesteckt, darunter hing schlaff die Standarte. Die Tore der Festung waren offen; die Stadt unterwarf sich. Je mehr die Truppen vorrückten, desto ähnlicher wurden sich die beiden Städte. Mehr und mehr sahen die Gassen und die Häuser so aus, als sei man zurückgekehrt zu der zum zweitenmal verlassenen Siedlung am Berghang. Schließlich befanden sich die dreihundert Reiter auf dem mittleren Platz. Vor ihnen ragten die weit offenen Flügel eines Vorratshauses ins Sonnenlicht. Netze lagen herum, und plötzlich ... ... plötzlich fiel ein großer Schatten auf den Platz. Sie erwachten aus ihren Träumen, die wahr geworden waren. Sie fanden sich wieder in der Siedlung. Da sich die letzten Bilder bis auf die winzigsten Einzelheiten glichen, war die Verwirrung
nicht klein. Aber der Schatten blieb. Marcos blickte als erster in die Luft und sah ... »Ich habe es nicht glauben können! Dies muß der Drache sein!« schrie er auf. »Das ist ein Drache! Fangt ihn! Fangt ihn mit den Netzen!« schrie Maratha, den allgemeinen Aufruhr übertönend. Der Drache war nicht groß, aber nur Maratha wußte, daß es der jüngste Drache einer Sippe war. Das Tier schien zutraulich zu sein, denn es zog mehrere Kreise und flatterte dann mit gewaltigen Flügelschlägen auf den Mittelpunkt des Platzes zu. Die Soldaten gehorchten dem Befehl und knüpften in rasender Eile die kleinen Netze aneinander. »Es ist ein junger Drache! Keine Waffen!« schrie die Seherin. Als Hot-chi landete und sich umblickte, stürmten einige Gruppen vor. Sie schwangen die Netze und warfen sie durch die Luft. Als sich die Schwingen gerade zusammengefaltet hatten, fielen die Netze herunter und schlossen die Glieder des kleinen Drachen ein. Eine Stimme, deutlich wie die seines Vaters, erreichte ihn. Hot-chi war überrascht, verwirrt und fand sich nicht zurecht. Er riß verzweifelt den Kopf hin und her und sah, wie sich ihm eine Menge Menschen näherte, die lange Speere mit scharfgeschliffenen
Spitzen auf ihn richtete. Er wich zurück und bewegte seine Beine, so gut er es konnte. Verhalte dich ruhig. Sie werden dir nichts tun! Warte, bis ich wieder mit dir spreche! Vertraue mir, sonst mußt du sterben! Hot-chi gehorchte. Er ließ sich von den Männern auf die offenen Tore des Vorratshauses zutreiben. Maratha sah zu und hoffte, daß sich der kleine, junge Drache nicht richtig wehrte, hoffte auch, daß kein Soldat das Wesen verletzen würde. Was tun die Männer? Es sind nicht die Weisen des Berges! sagte Hot-chi drängend in Marathas Verstand. Maratha konzentrierte sich stark auf das fremde Ich, das gezerrt und bedroht wurde. Wehre dich nicht! Sie brauchen dich nur als Faustpfand! Ich werde dich befreien lassen! dachte Maratha scharf und konzentriert. Der Drache beruhigte sich. Er zog sich vor der Kette der Soldaten zurück. Dann wurden die schweren Portale zugeschlagen und verriegelt. Marcos rannte über den Platz, mitten durch die gestikulierenden und aufgeregten Soldaten hindurch. Er warf sich neben Maratha auf die Bank. Eine Handbewegung jagte die Sklavin davon. »Ich habe es niemals glauben können!« stieß Marcos hervor. »Es gibt tatsächlich Drachen! Dies muß ein
Drache sein. Hast du ihn ... gesehen?« Maratha nickte ernst und erwiderte mit langen Pausen zwischen den Worten. Sie war sehr erschöpft. Sie fühlte selbst, wie sie verfiel, daß sie aussah wie eine Greisin. »Ich sah diesen Drachen in meinem letzten Traum. Tut ihm nichts an, denn ihr könnt mit seinem Leben euch Sicherheit erkaufen.« »Sicherheit? Wovor?« erkundigte sich Marcos verwundert. »Vor den anderen Drachen. Wenn sie euch überfallen, weil sie ihr Junges suchen, dann sterbt ihr alle!« Marcos schwieg. Er überlegte. Das Tier war in Sicherheit. Aus dieser Höhle auszubrechen, war dem kleinen Drachen nicht möglich. Nur fremde Hilfe konnte ihn befreien. Also waren die Geschichten tatsächlich wahr! Schlagartig begriff Marcos, daß es tatsächlich Drachen gewesen sein mußten, die sich in die Kämpfe bei Urgor und Koroshkyr eingemischt und dem Sieger geholfen hatten. Die Bauern hatten also nicht gelogen. »Meinst du, Seherin, daß uns die Drachen helfen, wenn wir das Reich im Osten erobern?« Wahrheitsgetreu versicherte Maratha: »Ich weiß nicht, was die Drachen tun werden. Aber es ist wichtig, daß ihr den jungen Drachen füttert. Er
wird rasend, wenn er hungrig ist. Laßt eine junge Sklavin in das Vorratshaus.« »Du bist sicher?« »Ich bin völlig sicher. Und jetzt muß ich schlafen, denn Amyros Hilfe hat mich erschöpft und mehr als müde gemacht.« Marcos winkte die Sklavin wieder herbei und deutete irgendwohin. »Bringe sie zurück. Sie muß schlafen!« »Ja, Herr!« hauchte das Mädchen und griff nach der Hand der Seherin. Während Maratha langsam zu ihrem Zimmer zurückging, versuchte Marcos, seinen Leuten zu erklären, was geschehen war. Er sprach über die Hilfe der Drachen und darüber, daß die Vision richtig war. Am Abend, als das junge Mädchen sich bereitmachte, um den Drachen zu füttern, flammten die Feuer auf, an denen sich die Soldaten an der Vorstellung einer Kette schneller Kämpfe und leichter Siege berauschten.
5.
Mitternacht war vorüber. Eine bedrohliche Atmosphäre hing über der Siedlung wie ein dünner Nebel. Nur wenige Feuer und Lichter waren zu sehen. Die Sklaven hatten sich verkrochen. Hier und da saßen
die Reiter mit den entblößten Waffen unter den Bäumen und an den Mauern. Es herrschte unverkennbar eine Spannung, die auf die einzelnen Menschen übergriff, die wach waren. Unhörbar sprachen Maratha und der Drache miteinander. Ich habe einen Namen gehört. Stimmt es, daß du Hot-chi bist, der jüngste Drache? Ja. Wie kommt es, daß wir uns verstehen? Wir verstehen zwar die Menschen, aber die meisten Menschen verstehen uns nicht. Ich bin etwas anderes als ein Hirt. Hast du Verbindung mit deiner Sippe? Pause. Dann die verlegene Antwort, als gestehe ein Kind einen Spaß ein, der kein lustiges Ende gefunden hatte. Ja. Ich habe meinen Vater gerufen. Er weiß, wo ich bin. Das ganze Geschwader wird morgen hier eintreffen. Sie sind wahnsinnig vor Zorn und Wut. Das Mädchen hat dich gefüttert? Ich habe keinen Hunger mehr. Wer sind diese vielen Männer? Maratha berichtete dem Drachen, was es mit ihrer Gefangennahme, mit den Sklaven und der leeren Siedlung auf sich hatte. Dann fragte Hot-chi wieder: Kann es wahr sein? Ich habe meine Gedanken ausgeschickt. Viele der jungen Sklaven und Sklavinnen
finden schnell Eingang in meine Gedanken. Ich kann ganz leicht erfahren, was sie denken, und aus ihren Gedanken erfahre ich, daß sie ahnen, was ich ihnen ihnen »sage«. Kann das sein? Das ist wahrscheinlich. Es sind, nach meiner Meinung, zehn Mädchen und ebenso viele Knaben. Ich bin sicher, daß Hotch, mein Vater, dir seine Freundschaft anbieten wird, Maratha! Das würde mich freuen. Ich höre eben die Stimme meiner Mutter. Hot-cha ruft mich. Das Geschwader wird morgen bei Einbruch der Abenddämmerung hier sein, Sie werden furchtbare Rache nehmen! Maratha überlegte. Schließlich sagte sie: Schlaf jetzt. Oder versuche es wenigstens. Ich werde dir morgen sagen, was zu tun ist. Ja. Du hast recht. Maratha beendete ihr lautloses Gespräch mit dem jungen Drachen. Morgen würde sie Rache nehmen. Und der Weg des Marcos und seiner dreihundert grausamen Reiter würde hier enden. Sie schlief bis spät in den Tag hinein. Im Leben innerhalb des Lagers änderte sich nichts. Bis zum frühen Abend – inzwischen flüsterten die Sklavinnen und Sklaven einander die Befehle der Seherin zu! – änderte sich im Lager nichts. Dann aber, als Maratha wieder unter dem Baum auf
der steinernen Bank saß, veränderte sich ebenfalls für die Krieger die Umgebung. Diesmal hatte die Seherin ihr Vorhaben nicht angekündigt ... Noch niemals hatte sie ihre geistigen Kräfte in dieser Art angespannt. Sie teilte jedem der dreihundert Männer einen besonderen Platz zu. Langsam glitten die Gedanken der Krieger in das Wunderland, das sie umgab. Sie waren in einem der weißen, prächtigen Paläste, die sie auf dem Weg in die Länder des Ostens erobert hatten. Wieder wurden die Tage der harten Kämpfe und der Schlachten von den Stunden des Wohllebens der Sieger unterbrochen. Die schönsten Frauen waren die Beute der Reiter. Sie bewegten sich in weiten Gewändern durch die sonnendurchfluteten Hallen. Die Krieger lagen auf schwellenden Polstern und ließen sich verwöhnen. Sie tranken den edelsten Wein, aßen saftige Früchte und die köstlichsten Braten. Die Palastsklaven pflegten ihre Waffen, die Rüstungen und die Pferde. Jeder einzelne Mann hatte eine eigene Vision. Seine unausgesprochenen Wünsche wurden in diesem abendlichen Traum wahr. Auf den Gassen der Siedlung kauerten und saßen die Männer mit
verträumtem Gesichtsausdruck. Sie saßen auf den Treppen und den Stufen des Platzes. Auch in jenem Palast schwand langsam das Licht. Kostbare Leuchter wurden angezündet. Die Männer verschwanden in den prunkvoll eingerichteten Zimmern und bemächtigten sich der willigen Sklavinnen und der Frauen ihrer getöteten Gegner. Ein leichter Wind kam auf, der die dünnen Vorhänge vor den Fenstern wehen ließ. Auch in der Siedlung herrschte der Wind. Aber er kam nicht aus den Wolken ... Die Schwingen von über einem halben Hundert Drachen verursachten den Wind. Die Riesen senkten sich herunter und stürzten sich lautlos auf die Krieger. Noch immer im Bann der Illusion, starben viele Männer. Als der geistige Zugriff der Seherin nachließ, erkannten sie, daß sie überfallen wurden. Ein hoffnungsloser Kampf begann. Eine Gruppe von Sklavinnen und Sklaven rannte über den Platz und entfernte die schweren Riegel von den Portalen. Sie schlüpften ins Innere des Vorratshauses und befreiten Hot-chi. Hot-chi sprach unhörbar mit Hotch und Hot-cha. Maratha redete mit dem jungen Drachen und hörte gleichzeitig, was er seinen Eltern zu sagen hatte. Und schließlich verstand die Seherin auch, was Hotch zu sagen hatte. Sie erschrak vor der drängenden,
wütenden Macht dieser Stimme. Sie stammte von einem Wesen, das alt und mächtig war. Und sehr stolz. Wir lassen keinen der Verbrecher am Leben! war der letzte Satz, den Maratha verstand. Sie hatte die Aufmerksamkeit der Krieger abgelenkt, indem sie ihre Illusion schuf. Die Gedanken und Träume vom herrlichen Leben im Osten hatten Marcos und seine Leute gelähmt. Die Krallen der Drachen und ihre furchtbaren Zähne richteten ein Blutbad an. Die Augen der Tiere, gewöhnt, in der Nacht zu sehen, entdeckten jeden, der flüchten wollte. Die Drachen zertrümmerten Türen und Wände, wenn sie einen Flüchtenden verfolgten. Todesschreie hallten zwischen den Mauern wieder. Die Drachen waren unbarmherzig, und sie töteten schnell. Die Pferde auf den Weiden rasten in panischer Furcht nach allen Richtungen davon und zerstreuten sich im Gelände. Als die Nacht hereinbrach, gab es nur noch wenige Überlebende. Marcos und Dragna waren nicht unter ihnen. Ein spärlicher Zug von Lichtern bewegte sich durch die Gassen. Immer wieder mußten rund fünfzig junge Sklavinnen und Sklaven Blutlachen ausweichen oder den Körpern der Toten. Schließlich, nachdem es Maratha gelungen war, die Furcht der jungen Menschen zu unterdrücken,
kauerten ein Dutzend Drachen auf dem mittleren Platz. Um sie herum und zwischen ihnen standen noch ängstlich und von den riesigen Wesen erschreckt, die Sklaven. Langsam ging Maratha auf Hotch zu, der sich unhörbar zu erkennen gegeben hatte. Kaum hatte sie einige Schritte getan, flatterte es über ihr, und der kleine Hot-chi landete zwischen den Pranken seines Vaters. Du also bist Maratha? fragte Hotch. Aus seinen riesigen Augen, die im Licht der Fackeln glühten, musterte er die blinde Seherin, die sich auf ihren Stab und auf die Schulter eines jungen Mädchens stützte. Lautlos erwiderte Maratha: So ist es, mächtiger Hotch. Dein Sohn ist befreit, bitte strafe ihn nicht zu hart. Die Sklaven sind befreit. Zwischen uns Menschen, einer kleinen Gruppe, und euch, den Drachen, soll ein Bündnis geschlossen werden. Willigst du ein? Gern. Wir stehen in deiner Schuld. Was willst du von uns? Langsam erklärte Maratha, was sie sich vorgestellt hatte. Pflichten und Rechte und Annehmlichkeiten waren auf beiden Seiten gleich groß. Ihr bringt alle Gefangenen zunächst zu mir, an die Furt über den Raxos. Einverstanden!
Die Drachen schützen die Hirten, die unter meinem Schutz stehen, vor Überfällen. Dafür bekommen sie ein bestimmtes Tribut an Tieren. Also das nämliche Bündnis, das wir auch mit dem Stamm der Söhne Nuaks geschlossen haben! Abermals richtig, Hotch. Das Vieh wird sonst von Raubtieren geschlagen, und niemand erleidet einen Verlust. Was weiter? Ich meine, du bist noch nicht fertig! Nein, noch nicht. Sprich mit deinem klugen Sohn. Er hat einen Verwendungszweck für einige der Jungen und Mädchen vorzuschlagen. Es sind nun keine Sklaven mehr, denn ihr habt sie befreit. Maratha lehnte sich zurück und berührte mit den Schultern den kühlen Stein. Sie war erschöpft wie selten in ihrem bisherigen Leben. Und dazu kam noch der Sohn, den sie unter dem Herzen trug. Und ihr Plan! Sie hatte ihn in den letzten Tagen vernachlässigen müssen. Ruhe brauchte sie nun, viel Ruhe, und dann jemanden, der ihr half ... Hotch sagte: Es ist wahr. Zehn Jünglinge und zehn Mädchen verstehen uns sehr gut. Wir verstehen sie noch besser. Wenn sich beide Seiten bemühen, werden sie ein gutes Leben haben. Erkläre ihnen, was wir wollen. Maratha lächelte. »Ihr zwanzig, die ihr die Gedanken der Drachen
gespürt habt, seid ausgesucht worden. Die Drachen machen euch einen schönen und ehrenvollen Vorschlag. Bleibt bei ihnen, reitet auf ihren Schultern und lebt in den Höhlen unter ihrem Schutz. Die Drachen suchen Drachenberater, und das könnt ihr sein. Wollt ihr?« Die Aussicht, auf den Rücken dieser mächtigen und stolzen Tiere durch die Lüfte zu reisen, mit ihnen zu reden und zwischen ihnen und den Menschen zu vermitteln, erfüllte die Ausgesuchten mit Freude. Sie schrien und jubelten durcheinander. Jeder suchte sich in Windeseile einen Drachen aus, der ihm – aus nicht feststellbaren Gründen – besonders gefiel. Hotch spürte die Erschöpfung Marathas und schloß. Schlafe jetzt, Seherin. Auch die freigewordenen Kinder sollen schlafen. Morgen brechen wir auf. Ich danke dir! Das war alles, was Maratha noch herausbrachte. Sie wankte zurück in ihr Quartier. Als sie wieder aufwachte, war sie mit Hotch, dem Anführer der Drachensippe, allein in der Siedlung. Nein! Nicht allein. Es gab viele Leichen, und am Himmel drehte ein großer Schwarm Geier seine Kreise. Die Tauben waren verschwunden, als habe es sie nie gegeben.
Alles, was Maratha besaß, trug sie bei sich. Ein kleiner Ledersack hing an einem Stück des Drachenpanzers. Sie konnte die schuppigen Hornplatten mit den Fingern ertasten. Für dich, meinte sie zu Hotch, ist es nur ein kurzer Flug. Aber für mich ist es sehr wichtig. Die anderen sind gut untergebracht? Hotch bejahte. Das Drachenvolk hatte die zwanzig ausgesuchten Jugendlichen mit sich zu den Höhlen mitgenommen, nachdem jeder von ihnen ein großes Bündel voller Notwendigkeiten gesammelt hatte. Der Rest der ehemaligen Sklaven war an Marathas Furt bei den Hirten abgesetzt worden. Marathas Botschaften an die Hirten würden ausgerichtet werden. Sogar den Hirten, der die Ochsen jetzt fluchend wieder zurücktrieb, hatte man gesehen und verständigt. Was willst du in Myra? fragte Hotch. Ich will einen Teil meines Planes durchführen. Dazu muß ich dorthin. Es ist ein Plan, der den Menschen helfen wird. Und er wird auch dir helfen, wie ich dich zu kennen glaube. Sie flogen in mäßiger Höhe und in mäßiger Geschwindigkeit. Weit vor ihnen, unter den treibenden
Wolken, lag Myra. Maratha wußte genau, wie sie ihren Plan verwirklichen wollte, aber sie wußte, was sie tun mußte. Noch war Zeit, klug zu planen. Ich danke dir, daß du Hot-chi gerettet hast. Keine Ursache. Hotch. Bleibt bitte die Freunde der guten Menschen! Und vernichtet solche Kreaturen wie Marco ... Wir können uns nicht um jeden Menschen kümmern, Freundin! Maratha lachte. Sie spürte den Wind in ihrem Gesicht und ihrem Haar. Bald würde wieder die Zeit kommen, in der sie für fremde Augen aussah wie eine junge Frau; schön und begehrenswert. Jetzt aber waren andere Dinge wichtiger. Sie war auf dem Weg nach Myra. Auch Amee würde dorthin kommen. Und Dragon würde in Myra sein ... ENDE Marcos und seine Männer folgten dem Traum von Reichtum und Macht – und ritten ins Verderben. Und damit ist das unglückselige Geschehen, das die Bewohner des Landes zwischen Urgor und dem Ah‘rath betraf, beendet. Wir blenden um nach Myra, Dragons neuer Residenz, wo Yina, genannt die »Maus«, den Königspalast verläßt und Piraten in die Hände fällt ...
Mehr darüber erfahren Sie im nächsten Dragon-Band. Der Roman ist von Clark Darlton geschrieben und erscheint unter dem Titel: DIE WASSERMENSCHEN VON TAA