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M a n h a t t a n
Robert Müller
Girl
Robert Müller Manhattan Girl
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YA B
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M a n h a t t a n
Robert Müller
Girl
Robert Müller Manhattan Girl
© YAB-Bibliothek für diese Ausgabe
Nachts besuchte ihn die Stadt in seinem Zimmer. Es liegt fünfzehn Stock hoch in dem Riesenhotel. Sie ist ein Weib, sie kommt mit gelösten Gliedern, sie fragt um ihren Namen. Sie ist ein Weib und vermag sich nicht zu nennen. In Frühlingsnächten kommen namenlose Gerüche und Geräusche zu mir herauf, die Dinge sind da, aber es fehlen die neuen Worte. Man muß eine neue Sprache schaffen. Die Sätze müssen mit einem Schnellfeuer von Bildern salutieren. Sie müssen den hastigen Atem des Wahnsinns haben. Sie müssen den Rhythmus einer Rapsodie des Blutes tragen. Denn das ist es eben. Es ist eine Qual so dazuliegen und den Dingen nachdenken zu müssen, wie sie heißen. Es ist selbstverständlich, daß sie einen Namen haben, denn es sind absolut bewußte Dinge, die das ganze Gehirn durchlaufen haben. Es ist eine Qual. Ich spüre, wie es mich allmählich um mich selbst dreht, wie es meine speziellen Gliedmaßen angeht. Ein Teil des Gehirns ist eingeschlafen, es marschiert wie Ameisenkribbeln darüber hin. Ich denke kaltblütig, jetzt werde ich einmal den Geruchsnerv, sagen wir Nummer fünfundzwanzig, bewegen, um zum Bewußtsein seines Besitzes zu kommen, ihn aus seinen Namen antworten zu hören. Aber er rührt sich nicht. Ich erfahre nicht, wie es genannt werden soll. Dieses Gefühl der Lähmung
erobert sich immer mehr Platz, ich erstarre, denn ich bin ja die Stadt. Ich erstarre zur Stadt. Ich stehe, ich strebe, ich strecke mich, Eisen, Granit, Beton. Ich lagere als fester Schwamm in riesigen porösen Brocken über der Manhatten-Landzunge, aus Äonen von Poren zwischen erstarrtem Lehm und Kalk atmet ein verfilzter Klumpen Menschen, durch nichts zusammenhängend denn durch eine Seele! In der Äolsharfe aus stählernen Finnen, mit Quarz und Schmergel verklebte Musik geschmiedeten Erdinnerns, klagt ächzend ihre Melancholie. Von menschlichem Bau- und Abschichtungsdrang entfachte Glut zerrte Erzblöcke zu Streben miteinander, in deren leise klingendem wippenden Gefängnis ich nun sitze. O, ich bin mein eigenes Gefängnis im Worte. Wie lang und dünn gezerrt ich nun bin, schmachtend und schmerzensschlank gedehntes Christusschicksal der Materie, seufzendes Stahlherz der Erzrippen. Ich, hier im fünfzehnten Stockwerk eines Hotels – ich fühle durch die Mauern den Vakuumdruck des Elevators –, erhalte allmählich Zuwachs nach außen, ich setze eine zweite Epidermis an, und das ist die Stadt. Ich repräsentiere die Stadt. Die Stadt, das bin ich. Aber zu gleicher Zeit vergesse ich diesen meinen Namen, es fällt mir kein Gleichklang des Bewußtseins ein, soviel ich mich auch schinde, dieses mein großes Gehirn, das die Stadt ist, um einen Finger breit zu bewegen. Soviel Laute und kein Name. Es ist die große Wunde. Ich habe nur die Kräfte anstatt der Bewegungen. Nur die Dinge selbst anstatt mit ihren Worten. Ich bin wie ein Weib. Vielleicht bin ich ein Weib. Ich bin es nie gewiß, wie sich das verhält. Wahrscheinlich bin ich eines von jenen Frauenzimmern, die um vier Uhr nachmittags über die fünfte Avenü wandeln. Inzwischen geht die Stadt vor sich, das heißt mein Körper verblüht, setzt Form aus Seele ab. Er führt einen rapiden Stoffwechselprozeß durch. Soeben habe ich in der Ferne geröhrt, ich war ein Fährboot in den blassen Nebeln des East
River und verständigte mich mit meiner Nachbarschaft, gleich werde ich mir Antwort geben. Da ist es. Eine Menagerie von Stimmen bricht aus, rollt durch die Gassen, segelt über die flachen Dachhöfe der Häuserblöcke weg. Irgendwo bin ich Musik und gestampfte Dielen, ein Orchester von schlaffen Bagnos und dumpfen Trommelfellen. Ich habe allerhand Gerüche an mir. Meine Seele ist ein Zusammenziehen. Gerüche und Laute sind eine körperliche Wunde nämlich, und die Seelische daran ist die Tendenz sich zusammenzuziehen und Name zu werden. Wenn ich wüßte, wie es alles heißt! Das ist eine Qual. Die Stadt ist meine große Wunde. Wenn man bedenkt, im fünfzehnten Stockwerk, und fünfzehn Stockwerke sind noch über mir. Er gurgelt aus der Tiefe. Die Lippen der Wunde klaffen; ein kochender Strom Blutes kommt an die Oberfläche, ein purpurner Geisyr überspeit uns. Wie das Blut röchelt. Es rauscht aus Tiefen, aus steinernen Tälern. Plötzlich merke ich, wie die Wunde sich verengt. Der Blutstrom wird dünner. Er wird mit einem Male verständlich, artikuliert sich, er ist noch immer rot, aber er ist nicht Blut mehr, ist nicht mehr substantiell. Er ist eine Reihenfolge von Tönen, die bloß aus einem roten Spalte kommen. Ich glaube wahrhaftig, die Wunde ist keine Wunde, sondern der sprechende Mund eines Mädchens. Ein roter Mädchenmund. Ich habe das Gefühl, an mein Ziel zu gelangen. Ich bin nahe daran, mit einem Namen auszubersten. Ich glaube nämlich, daß die Stadt mit einem Mädchennamen gerufen werden kann. Ich beginne zu verstehen. Da, das Mädchen spricht, das Mädchen sagt: »Ich bin das Manhattan girl.« Meine Schultern liegen hoch. Sie sind die breiteste Linie meines Körpers. Meine Kleider winden sich um die schmalen, gedehnten Hüften, deren Taille sich unter den Schulterblättern sachte drosselt, sie lassen sich wie Bandagen um meinen ho-
hen Unterleib an, geben den Schenkeln und Knien die Plastik des Stoffes beim Schreiten. Meine Oberarme sind nicht rund, sondern gewölbt und schlank. Meine Beine sind lang von Rasenspielen, ich gehe vorgebeugt und mit parallelen Füßen. Ich trage gern gute Kleider, die zu mir gehören, und Hüte, aus denen das Gesicht im Hinterhalt liegt, ich bin verschwenderisch, ich liebe funkelnagelneue Schuhe mit ungebrauchten Sohlen, blaß wie das Vlies eines neugeborenen Kalbes und flüchtig glänzend wie der Bauch einer Forelle, die kreist. Der Stoff über meinem Rücken liegt flach wie aus einem Tamburin. Meine Haare sind braun und dicht und straff wie die Haare einer Squaw. O, ich habe alle Rassen der Welt in meinem Blute. Mein Teint ist matt und glacé, ich habe die Haut der Kreolin. Alle Rassen sind in meinem Blute. Wie die Stadt röchelt. Sie schlürft das Blut der weißen und der dunklen und der gelben Menschen aus Süden und Norden und Westen und Osten. Ich tanze die Gesänge der Neger, in mir sind die trüben Schlamme des Nils und die harmlose Süßigkeit der Menschen vom Senegal. Ich trete von der Ferse auf die Sohle, wenn ich tanze, ich schlenkere mit den Gelenken, klappere mit den feinen Knöcheln – – – Meine Stimme ist hoch, und meine Kehle hat den Schrei der Mohikaner geerbt, wenn ich ausgelassen bin – – Das alles weiß ich. Ich bin mir meiner bewußt. Denn im Grunde habe ich die Nerven eines Mannes. Die Stadt hat etwas vor mit mir. Ich sehne mich. Die Stadt ist wie ein Mann. Sie ist ein Gehirn, sie verstrickt mich in ein Gehirn, in ein männliches Gehirn. Die Rassen, die hierherkamen und sich durcheinanderwühlten, sind Gedanken, Seelen. Hier liege ich im fünfzehnten Stockwerk eines Hotels. Mein Bett steht mit dem Kopf zum offenen Fenster hin, ich kann den lauen Qualm spüren, der aus den Straßen aufsteigt. Meine Füße stehen zu einer Wand hin, hinter der ein Gang liegt. Dann kommt
wieder ein Zimmer und vielleicht wieder eine Straße? Ich bin überzeugt, daß in jenem Zimmer auch ein Mädchen liegt, wie ich mit den Füßen zur Wand und mit dem Kopfe zur Straße. Sie denkt wie ich, sie ist mein seelischer Doppelgänger. Sie denkt also in diesem Augenblick zu mir herüber. Wir grüßen uns. Übrigens, ich irre mich. Es ist kein Weib, sondern ein Mann, der dort liegt. Er denkt wie ich, aber in männlicher Art. Ob das sehr verschieden ist? Ich glaube manchmal, ich bin eher ein Mann als ein Mädchen. Es ist ungewiß, wie sich das verhält. Aber ich weiß, daß ich es nicht ganz bin. Ich möchte wissen, ob der Mann drüben jetzt nicht auch denkt, daß er vielleicht ein Weib sei. Es muß wohl männlich sein, so zu denken. Es soll ein netter, starker Mann sein. Ob es männlicher ist, mit dem Gehirn oder mit den Muskeln stärker zu sein? Ich wünsche mir den Leib eines Knaben –. Merkwürdig und peinlich ist es. Jetzt muß mich auf die rechte Seite legen, wo das Herz nicht gedrückt wird. Wenn ich schmutzig an ihn denke, denkt der Wann drüben ebenso an mich herüber? Unsere Regel verlangt es. Zugleich muß er erfahren, daß er nicht für sich allein denkt. How dare you? – Ich werde mich wieder links legen. Mich dünkt, er hat gedacht – – – Da fällt mir ein, ich habe ja noch fünfzehn Stockwerke über mir. Über mir befinden sich also mindestens noch fünfzehn Menschen. Ich fühle diese ganze Last auf mir. Hilfe! muß ich denken. Ich glaube, sofort wird der Augenblick da sein, wo es mich erdrückt. Ich liege unter diesen fünfzehn Menschen, vielleicht sind es Männer, ich sehe mindestens fünfzehn Rücken vor mir. Wer weiß, ob sie alle appetitlich geformt sind. Ich werde mich auf den Magen legen müssen. Jetzt sehe ich hinab, fünfzehn Stockwerke tief. Ich höre die pneumatische Pumpe des Elevators. Vor mir, unter mir starrt ein Abgrund. Es ist nicht zu ertragen. Ich fürchte, ich werde mich erbrechen müssen. Doch, das fürchte ich nur. Es sind kaum
irgendwelche Anzeichen dafür vorhanden, daß mir übel würde. Aber der Turm schwankt. Er vibriert, die Erschütterungen durch den Lärm des Verkehrs sind wie ein elektrischer Strom, ich merke es deutlich. Ich kann ausrechnen, daß er nach obenhin abbrechen wird, er ist dreißig Stockwerke hoch und nur vier Fenster breit. Er pendelt hinter meinem Rücken in seiner obersten Spitze, ich fühle den Ausschlag in der Luft. Wie wenn man einen zu schweren Pfünder an der dünnen Angelrute hat! Neben mir höre ich ein metallisches Knistern. Die eisernen Traversen dehnen sich ... die Fasern ächzen ... Welche Stimmen sind es, die zu mir sprechen? Ich liege hier in mich zusammengekauert, ich kann mit den Händen meine Waden und Schenkel spüren, und sie reizen mich. Ich fürchte mich vor irgend etwas, und ich kann doch nicht sagen, was es ist. Es ist nicht das, was aus der Straße vorgeht. Das alles kenne ich. Ich kann so gedankenlos kuragiert sein wie ein Knabe. Unlängst habe ich den Mann mit meiner Hutnadel durchbohrt. Er war dunkel und schön. Als ich es tat, hatte ich kein Gefühl. Aber nachher erinnerte ich mich, daß seine Brust sehr weich gewesen sein muß. Ich möchte einen Mann mit einer muskulösen Brust. Aber er soll keinen breiten Kopf haben. Der Kopf ist das Wesentliche an einem Manne. Er muß ein Gehirn ausdrücken. Er muß sein wie die Stadt. Es muß etwas Gefährliches in ihm sein. Ich möchte wissen, was es ist, daß die Stadt mir Furcht macht. Das Blühen macht mir Angst. Es ist wie das Blühen geiler schreiender Blumen über Gräbern. Die Stadt ist eine Vegetation aller unheimlichen Dinge. Und ich liege hier und höre gleichsam das Gras wachsen. Die Geräusche der Stadt sind geflochten wie die kleinen Wellen des Mississippi. Sie spülen, sie spülen. Manchmal überstürzt es sich. Da, jetzt haben sie geschossen, sie haben geschossen. Noch einmal. Und noch einmal. Dreimal haben Sie geschos-
sen. Man hört Stimmen, ganz dünn und tief unten wie kleine Peitschenknälle. Es ist ja so tief unten, in einem Schacht gleichsam. Dort liegt jetzt wohl einer in seinem Blute, Aber das erregt mich eigentlich nicht. Die Stadt blutet immer und überall. Jeden Augenblick fließt an irgendeiner ihrer Stellen Blut, dieses Blut höre ich dann. Ich kann mir vorstellen, daß gerade jetzt einer zusammenstürzt, sein Blut fließt aufs Pflaster. Die Stadt saugt, sie saugt sich voll mit dem fließenden Blute. Aber das ist es nicht, was mir Angst macht. Die Angst ist vielleicht nur um ihrer selbst willen da, sie hat keinen andern Grund als sich selber. Jedenfalls quält es mich. Ich sehne mich. Meine Angst und meine Sehnsucht sind vielleicht dasselbe. Dieselbe bin ich, die tagsüber zu lachen pflegt. Ich arbeite viel. Das Wort Arbeit hat seinen Klang. Ich bin noch jung und bin Doktor. Ich weiß so viel, ich habe alles Mögliche gelernt. In den Ferien und zu freien Zeiten bin ich die Angestellte eines eaters, ich knipse den Leuten Karten und bringe sie zu ihren Sitzen. Und ich bin dieselbe, die in ihren Mußestunden Monatsschriften und Magazine von der ersten bis zur letzten Seite ausliest. Ich mache selbst Geschichten. Immer wieder schmeichle ich den gleichen Typen, in den Erzählungen und auf den Bildern. Alles spielt in einem Garten. Es ist ein reiches tropisches Landhaus. Die Herren haben weite Hosen mit einer kantigen Bügelfalte und umgeschlagenen Enden. Die Damen sind lang und tragen reiche Haare. Und es geht irgendwo in Asien oder in Ägypten vor sich, es ist eine Staffage von orientalischem Prunk und wilder Romantik da. Irgend jemand wird erschossen, und es werden Attacken mit Vollblutpferden geritten. Es muß alles, auch das wildeste, zu den kultivierten Bewegungen der weißen Helden passen. Die Bestialität muß elegant sein. Es wird eine süße Liebe gemacht, ein distanziertes Werben. Sonntagskannibalen, Ballettbeduinen und Salonbuffalos schla-
gen solenn in die Waffen, und die Melancholie von aller Sonnen Erde scheint auf ein schneelinnenes Brautbett unter kühlenden Palmendächern am Ufer. Die blonden breitschultrigen Herren lüften ihre Khakihelme, ziehen die gebügelten Hosen an und tragen von nun an die Revolvertaschen am Gurte. Das lange kleingesichtige Mädchen mit der hohen Taille schwingt den Dolch im Tennisspielerarm, der den Unhold vorm letzten Schritt zurückhielt. – – – Und das Meer landet ein Sternenbanner. Die Häuptlinge schreien Hurra. Die Poesie der Wildnis verneigt sich vor einem Dampfmotor. Die Welten mischen sich wie Blut. Alles ist ein Triumphzug der rosafarbenen Zivilisation. Ich bin eine Weiße. Aber in meinem Blute sind alle Rassen der Welt, und alle Dichtungen und alle Kulturen sind in mir. Meine Hüften sind schmal, mein Rücken ist gerade, und meine Schultern liegen hoch. Ich gleiche den Bildern der Pyramiden. Wenn ich mein Kreuz wölbe, habe ich keinen Magen. Dann bin ich unter der letzten Rippe eine Sichel von Nerv und Muskel wie die Ägypterin Isis. Nun weiß ich auch, woher meine Nase stammt. Darum bin ich von den Sinnen der Abenteurer bevölkert, und darum liebe ich die Tänze der Fremden und die Musik ihrer Leiden. Ich kann zu Osiris beten – – – Im Zentralpark steht meine Bank. Dort sitze ich und sehe unverwandt nach dem Westen. Leute gehen vorüber, sie sehen mich an, aber ich rühre mein Gesicht nicht von der Stelle. Es ist gut so zu sitzen. Ich bin glücklich. Ich bin mir interessant, wie ich so da sitze, ich habe es absolut nicht notwendig, mich um meinen Eindruck zu bekümmern. Das ist wohltuend. Über die Lohe des Reitweges pflügt ein leichter Pferdetritt, es geht wie ein flacher Trommelwirbel. Ein Eichhörnchen baut sich in geschmeidigen Sprüngen über den rußigen Asphalt der breiten Allee, stellt lautlos in aller Geschwindigkeit einen Viadukt von Sätzen hin. Ich sehe nach Westen. Ich bin vor Zeiten aus dem Osten nach
dem Westen gekommen. Und nun, im Verlaufe der Erde komme ich auf meiner Irrfahrt nach dem Westen wieder nach dem Osten. Die Menschheit ist in mit. Ich bin Amerika. Ich bin die Zivilisation. Ich bin in Ägypten geboren wie Osiris. Ich gehe nach dem Westen, immerzu nach dem Westen, und ich gelange wieder zurück in meine Heimat. Die Zukunft der Welt liegt im Osten. Es kehrt altes wieder zu den alten Stätten und den alten Völkern zurück. Dort braucht man unser Blut. Es gibt noch Menschen, mit denen ich mich nicht gemischt habe. Die Sonne wird eine einzige große Quelle von Licht, sie liegt glatt am Horizonte, sie schäumt über von Licht und Güte, von unverdrossenem Lichte – Osiris! Ein Häuserblock steht im Wege, er ist ein, zwei – dreißig Stock hoch. Die Sonne sinkt so schnell, daß sie nur mehr eine große Haube ist. Ich stürze ihr nach, ich zertrümmere den Block, da ist sie wieder, aber es ist noch eine Anzahl von Burgen und Wolkenkratzern zu bewältigen, bevor wir ins offene Land kommen. Dort gestatte ich ihr unterzugehen. Sie geht nun nach dem Osten. Sie zeigt meiner Rasse den Weg. Mein Herz geht mit ihr, mein Herz geht mit ihr dahin, es fängt alles wieder von vorne an, also darf ich eine Art Herz haben. Mein Heimweh gilt der ganzen Erde. Meine Liebe gilt allen Menschen. Ich fühle sie mit den Nerven, das, was ich Herz nenne, ist eigentlich nur ein zentraler Apparat, der von den freischwebenden Strömen der Allheit in Betrieb gesetzt wird. Ich beginne einzusehen, man geht zu den östlichen Völkern, um besser in der Menschheit unterzutauchen. Das kaukasische Blut ist der Fundus der Menschheit, aber es ist weniger ausgeglichen als das anderer Rassen, weil es bestimmt ist, Fremdes aufzunehmen und nach jeder Seite hin zu grüßen. Es ist das Scheidewasser altes Edlen. Darum stürmt es wie eine Sintflut nach allen Teilen auseinander. Sein Dasein ist ein geologischer Prozeß, eine Umgestaltung der Erdoberfläche. Eine Oxydation der Erdrinde ins Psychische. Wenn die Menschheit
ein einziges gleichartiges Medium, wenn die Erde keine Erde mehr, sondern eine Seele sein wird, ein Gehirn, wenn dieser letzte Aggregatzustand erreicht ist, dann ist die Mission der Sonne beendet. Sie erkaltet. Die Astronomie der Himmel verschiebt sich. Erde ist dann eine Substanz flüchtiger denn Äther, der Kosmos ein Planetensystem von Stimmung, von Nervenfluidum – – – das war der Spruch der Stadt. Die ganze Erde wird eine einzige Stadt werden. Überall liegen Straßen und Schienen. Man wird Felder auf den Dächern bauen, Nutzgärten der Semiramis über Wolkenkratzern. Wir bauen den Turm zu Babel über die Erbe hin, und die Rassen werden verschwinden. Inzwischen wirft die rollende Erde dem fortschreitenden Kaukasier, der mit einer ruhenden Sonne gleichen Schritt halten will, ihren Osten vor die Füße, zwingt ihn, ihre Bestimmung zu erfüllen. Und es wird geschehen. Eines Tages wird die Sonne in seinem Jahre nicht mehr untergehen. Während vierundzwanzig Stunden wird er im Scheitel der Sonne stehen, wird für sie ununterbrochen kulminieren. Das geschieht, indem die gesamte Erdoberfläche, fahrbar gemacht, sich mit gleichförmig entgegengesetzter Geschwindigkeit entgegen der Erdbewegung dreht... Wenn ich im Parke vor dem Sonnenuntergang sitze, darf ich den Gedanken auspacken, den ich tagsüber wie in Seidenpapier mit mir herumtrage. Er ist zu tief, zu bodenlos, ich bin nicht imstande, ihn tagsüber zu denken. Ich habe sein Resultat im Kopfe, aber ich vermag nicht, ihm zu folgen. Er kann nur durchgedacht werden als Antwort aus einen Zweifel. Wenn ich den Zweifel nicht habe, kann ich die Antwort nicht denken. Denn sie ist schon da. Ich müßte sie vorher erst fortnehmen, um sie wieder hinzustellen, das heißt ich müßte zweifeln, ob es sich wirklich so verhält. Wenn aber tagsüber die Gewißheit so groß ist, geht es nicht. Ich trage es dann spürbar an dieselbe
Bank in demselben Parke, setze mich erst sorgfältig nieder, und dann lege ich los. Im Sonnenuntergang kommt mir der Zweifel. Wozu all die Hetze des Tages? Wozu all diese Hast des Strebens? Entwicklung? Fortschritt? Mensch? Es will mir scheinen, als ob ein Sonnenstrahl alles das aufwöge. Man könnte ruhig den ganzen Tag in der Sonne sitzen, nicht streng sein mit sich, nicht weh tun, sondern lieb zu sich sein. Während die Sonne schwindet, singen die Amseln. Ein Eichhörnchen sitzt am Hinterteil und schiebt eine Prise morscher Schale in den Mund. Es dementiert alle Kultur, die Kultur geht daran zugrunde, stirbt an der Verachtung eines Eichhörnchens. Da sitzt der Mensch, es ist Abend, und alles ist umsonst. Die ganze große Stadt mit ihrer Wichtigkeit wird klein vor einem Hut voll Sonne, blamiert sich unsterblich vor dem Appetit eines Nagetierchens. Vor diesen zwei unverhältnismäßigen Hauern hält nichts stand. In seinen zwei Vorderpfoten rotiert es emsig einen Klumpen, der größer ist als sein eigener Kopf; es kaut, und seine Äuglein suchen wieder anderswohin. Ein Stolz nach dem andern verschwindet zwischen diesen gierigen Kinnbacken. Es würgt die Brooklyn-Brücke hinunter – hopla, kutzt ein wenig und niest einen Wolkenkratzer weg, der ihm in die unrechte Kehle gekommen ist. Es hat eine Vitalität wie ein Scheunentor, es beseitigt ganze Ladungen. Hochbahn, Telegraphie, New York »Herald«, alles geht zum Teufel. Es rottet alle Nerven mit Stumpf und Stiel aus, bringt seinen Mangel an Persönlichkeit herrisch zur Geltung, lebt sich im ungestörten Genuß all der Dinge aus, die seinen Horizont begrenzen. Nicht einmal dem poetischen Sonnenuntergang, der doch schließlich ebensogut zum Mobiliar der Tierwelt gehört, erweist es die gebührende Rührung. Jetzt ist es fertig, es blinzelt noch einmal mit impulsivem Ruck nach einem begehrenswerten Dessert, angelt mit den Äuglein nach irgend einem Wohlgeschmack und geht wie ein Ballon von einem Eichhorn,
fegend und pfeifend vor Lust, ins Nest. Dort wird es schnarchen, solange es dunkel ist. Es wird nicht aus lauter Nervosität mit den langen Zähnen knirschen. Und es wird trotzdem leben. Wird alle andere Weisheit zuschanden leben und alle Kultur dazu – – Im Augenblicke, da ich soweit bin, wie ein Eichhorn zu denken, erlaubt sich meine Logik eine Bemerkung. Sie tut weiter nichts, sie macht mich nur daraus aufmerksam, daß das Eichhorn zusamt meiner Denkerstirn an der Kultur beteiligt ist. Nachdem ich meinen Zweifel gehörig absolviert habe, darf ich die Antwort denken. Das benütze ich, ich denke die dargebotene Gelegenheit in ihrem vollen Umfange aus. Der Sonnenuntergang ist eine Einrichtung der Kultur. Ebenso das Eichhörnchen. Dieser Park hier ist gebaut, um Sonnenuntergänge und ein Eichhornleben zu veranstalten, und der Park wäre nie zustande gekommen, wenn er nicht ein Punkt der Entwicklung der Stadt gewesen wäre. Erst wenn man auf Untergrundbahnen gerädert worden ist, ist man reif, sich einen Sonneuntergang anzuzünden. Um über ein Nagetier in Tiefe nachzudenken, muß man den eigenen Hunger mit jener Heiserkeit gestillt haben, die man von der oftmaligen Wiederholung des Wortes: Kultur bezieht. Die scheidende Sonne bejaht alles. Sie gibt den Krankheiten der Stadt erst ihre Berechtigung. Die Natur ist ein Vaudeville der Zivilisation, o die Natur wurde erst aus dem Geiste der Kultur geboren. Es gibt überhaupt nichts, alles ist erst Entwicklung. Mein Gesicht tagsüber bestätigt sich, nun nachdem ich den Zweifel abonniert und zu Ende gelesen habe. Ich befinde mich inmitten eines großen sinnreichen Organismus. Die Wirklichkeitsprosa der Abende ist der Kultureffekt der Entwicklungspoesie des rastlosen Tages und seiner Bewußtseinsleistung. Der Staub in den Ohrmuscheln und aus den Schleimhäuten versüßt den Gesang der Amseln und würzt den Geruch des Frühlingsgrases. Verlesenheit der Augen bestärkt die Dämmerung in ihrer Umwandlung von Heliotrop,
ruft die Launen des Linienspiels namentlich auf. Die Brutalität der Ellbogensporte nährt Gemeinsinn und Humanität – – – Aufgeschreckt. War etwas? Ich glaubte schon, ich schliefe. Die Stadt blutet noch; es muß bald Morgen sein. Ich erinnere mich; ich trage eine große Sehnsucht in mir, die aus der Stadt emporschwillt. Bei den Geräuschen der Stadt läßt sichs gut denken. Sie löst den Rhythmus von Ideen, fächelt das Bewußtsein mit Schleiern an. Aber ich will nicht denken. Schlafen können! Ob der Mann drüben schon schläft? Wenn es ordentlich zuginge, müßte er jetzt herüberdenken. – Ich will mich umwenden, ich kann nicht länger auf dem Magen liegen. Ich denke sonst zu scharf. Ich denke zu gut, weil ich die Nerven eines Mannes habe. Ich bin hysterisch. Hysterisch ist es, wenn ein Weib die Nerven eines Mannes hat. Aber wenn ein Mann die skrupulösen Rasseninstinkte eines Weibes hat, wenn er immer und immer weiter suchen muß, wenn er sein Gegenüber nicht kaltblütig nimmt, sondern wie ein Weib ewig die Antwort auf seinen Wert sucht – – – Ich bin sicherlich total hysterisch. Wenn ich nicht bestimmt wüßte, daß ich ein Weib bin, würde ich bestimmt wissen, daß ich ein Mann bin. Hysterie ist ein Fortschritt. Es sichert den Fortschritt der Rasse. Ich wünsche mir einen hysterischen Mann; es ist der höhere Typus. Der Kopf ist das Wesentliche. Wenn ich recht nachdenke, war es stets derselbe Schädel, der eine Rolle in meinen Wünschen gespielt hat. Es soll kein Rauhreiter sein, der Feierabends mit gebügelten Hosen Anekdoten erzählt. Der Knall eines Revolvers ist prickelnd, aber ich kenne ihn zu gut, er ist seine Liebkosung mehr. Es handelt sich um ein Gehirn. Er hat schmale Schultern und zarte Arme, sein Körper ist ein Knabenkörper, mit geschmeidigen Kräften eines Knaben. Er hat nur einen leichten Flaum. Sein Kopf ist lang, der Mund frech, die Lippen dünn und weich und ihr blasses trockenes Fleisch zurückgeknickt von dem
gleichmäßig gelblichen Teint. Sein Kopf ist ein Haupt mit einem ungewöhnlich gewölbten Schädel, der eine deutlich sichtbare Kante bildet. Das Haar ist rabenschwarz und in der Mitte gescheitelt. Es liegt glatt an, ein wenig an die Schläfen gepreßt. Es ist der Kopf eines Indianers. Einer klugen Bestie. Die Augen sind klein und grünlich; er trägt manchmal einen Zwicker. Wenn er ihn abnimmt, sind seine Augen ferne und ein wenig rot. Er sieht hilflos auf, man möchte zu ihm sagen: »My boy!« Sein Kopf muß gut sein, man muß seine Klugheit spüren und seine Güte, wenn man ihn mit beiden Hunden umrahmt. Hinter dem Zwicker scheint stets etwas vor sich zu gehen. Dort liegt der Ausdruck eines intelligenten Affen: Begabung und Wildheit. Einer der stärksten, aber undeutbarsten Züge ist der der Angst. Angst verleiht einem Gesicht Intelligenz. Denn Angst ist das Ahnen und die Intimität höherer Kräfte. In dem Augenblick, da der Affe Angst ausdrückt, ähnelt er dem Menschen. Gehirn ist die Fassungskraft für Möglichkeiten. Möglichkeiten sind der Umgang der Angst. Das Geheimnis eines klugen Gesichtes ist seine Angst. – Sein Teint ist glatt rasiert. Er hat die blauen Schatten an den Wangen. Er kommt irgendwoher aus den Tiefen der Rassenseele. Wir gehen zusammen in das Land der Kirschenblüte, der Sonne nach, unseren Rassen voran – – Immer noch ist die Stadt wach. Wie ich. Sie schläft nie. Es wird bald Morgen sein. Die Dunkelheit ist nicht mehr rot, allmählich beginnt sie blau zu werden. Aber die Angst, die im Rauschen der Stadt mitklingt, ist noch da. Es will nimmer Morgen werden. Nun hat die Stadt mir doch alles vom Manne gesagt, ich dachte, Sie hätte das Kapitel erschöpft. – Es ist nicht auszuschöpfen. So wenig wie die Stadt. So wenig wie die Angst. So wenig wie die Entwicklung ... Ich habe die Nerven eines Mannes. Mein Becken ist schmal, ich werde kein Kind gebären. Wozu? Kinder sind beschwer-
lich. Unsere Generation gebiert nicht, sie ist selbst kindhaft. Die Genäschigkeit des Kindes ist uns geblieben. Die Zeugung geht durch unser Gehirn. Unsere Nachkommen sind im Osten: das sind die Völker, die noch Kinder gebären. Wir bauen eine Maschine, wir erfinden ein Geschütz, wir lieben uns in der Gemeinsamkeit der Arbeit. Und wir erobern damit den Osten, bringen unsere Sprache, unsere Zivilisation in das fremde Volk und unser Blut. Das Blut unserer Rasse ist Essenz. Ein Tropfen genügt, um ganze Völker zu okulieren. Wir bringen ihnen unser Gehirn, dem sie machtlos unterliegen, wir beuten ihre Fruchtbarkeit für uns aus, wir kolonisieren die Lebenswerte. Es ist unsere Pflicht, uns nicht fortzupflanzen. Unsere Samen sind Gedanken. Wir können keine lebenskräftige Brut mehr schaffen. Unsere Genießlichkeit und unsere Nerven töten mit ihren Strömen die Kräfte der Spermen. Nur das Grundblut unserer Rasse taugt zur Pfropfung. Wir Fertigen, wir Verausgabten unserer Rasse haben eine Fortpflanzung in einer höheren Dimension. Unsere Kinder kommen aus dem Gehirn und gehen zu den Gehirnen – – – – – In dem zellenartigen Salon eines New Yorker Riesenhotels fiel um diese frühe Morgenstunde ein zarter Lichthauch aus die eleganten einfachen Möbel. An dem Messinggestänge des Bettes traten gelbe Kerne hervor. Das kahle übernächtige Gesicht eines jungen Menschen lag auf dem zerwühlten Polster, es öffnete die Augen zum matten Spalt und sah eine Minute in die Dunkelheit. Plötzlich schien es die Veränderung begriffen zu haben. Die Augen fielen zu, in den nächsten Sekunden begann die Brust sich deutlicher zu heben, nervöse Erschütterungen begleiteten diesen Vorgang. Ein kleines quecksilbriges Wesen schlüpfte aus dem Schatten, sagte »Vater« und nahm die Züge eines Äffchens an. Es näherte sich der Brust des Schlafenden, und sie schluchzte auf. Langsam wurde sie ruhig und gab dem Wohlgefühl des
werdenden Morgens nach. Um sechs Uhr morgens lagen straffe Glieder mit langen Muskeln, energisch verschlossene Züge vollständig gestaltet da. Der Tag trotzte auf. Um viertel neun Uhr prasselte die Glocke im Vestibül des fünfzehnten Stockwerks dieses Hotels, und die Nummer einhundertsiebenundfünfzig sprang vor. Als der Steward nachfragte, stand ein junger Mensch im Negligé mitten im Zimmer, schwang zwei kleine Hantel in den Fäusten und verlangte ein Bad. Es dauerte nicht lange, da kam der Hotelgast im Bademantel zurück. Eine schräge Lichtgarbe endete am Boden dicht beim Fenster. Die Luft war lau; in der Ferne begann sie über bronzen-brennenden Dächern leicht zu perlen. Das vollerblühte Pathos der großstädtischen Landschaft verfehlte seine Wirkung auf das menschliche Wesen nicht. Es erregte Streitbarkeit und die Schwermut des Wirklichen. Der Diener brachte die breiten tüchtigen Schuhe, die einen vertrauten, lebensgewissen Schritt mußten erzeugen können, der gut fassonierte Anzug im lichten Graubraun hing nicht ohne Zeichen männlicher Anmut selbst in diesem Zustande über dem Drahtkreuze. Der Diener arbeitete höflich und exakt. Ein Frühstück war nach fünf Minuten beschafft. Nichts Falsches war da, nichts, das nicht auf seine Nutzanwendung wartete. Die elektrische Milchglasbirne hing trocken unter ihrem grünen Emailschirm und konnte auf eine Handbewegung hin überfließen von Licht. Die Dinge waren wirksam und wirklich. Es gab keine Abenteuer mit umständlichen Möbeln zu bestehen, und die Paradoxie blieb dem Gehirne, das mit seiner Schöpfung leichter durch diese geraden Proportionen hindurchkam. Der junge Mann fühlte sich innerhalb dieser an Armut grenzenden Sauberkeit der Formen geistreich werden, es blieb ihm gleichsam die Überraschung der eigenen Bestätigung, so oft er sich auch verneinen mochte. Er dachte, »unsere Kinder kommen aus dem Gehirn« und widmete dem Interieur einen zärtlichen Blick. Das
alles war ein reeller Kindersegen, war die Wirklichkeit. Es erinnerte ihn an eine selbst auferlegte Pflicht, an eine täglich diktierte Weltanschauung, die nicht ohne Schwierigkeiten dauernd einzuhalten war. Die schnelle herzhafte Unterbrechung des milder werdenden Schlafes, die körperliche Hantierung und ein Schauerbad hatten ihn naiv und fleischig gemacht. Es dauerte eine Weile, bis er zur Fertigkeit seines panischen Denkens wieder zurückfand, es kostete ihn einige Sorge, wie den ängstlichen Sänger, der es probiert, ob seine Stimme noch richtig sitze. Dieses Bewußtsein gehörte zu seiner Ausrüstung wie ein Toilettestück, das er Tag um Tag methodisch anlegte, und dessen Entbehrlichkeit er nicht einmal hätte froh werden können. Als er der Biederkeit seines Zustandes gewahr wurde, erschrak er leicht. Er versuchte einige Sophismen nachzudenken, die er sozusagen vorrätig hatte, um jeden Augenblick sich durch eine Übung erziehen zu können. Er war von dem ethischen Werte dieser Fälschung überzeugt. Die Lüge war produktiv, und aus Krankem strömte die makelloseste Lust. War ja das Gehirn nur die raffinierteste Durchbildung des kristallinischen und menschlicher Intellekt das späteste Resultat eines Verwitterungsprozesses der Erdoberfläche, und gewann er doch seine fruchtbarste Direktion aus dem Gesetz einer Zweiheit, der Zahl, dem Symbol der Lüge. Die Liebe, jene Zweiheit, war das Wirklichste und zugleich Verlogenste. Das Schönste und Geschmackvollste des Lebens stellte sich ein. Phantome von eleganten Frauen huschten vorbei. Die Zivilisation hatte bei all ihrer Schleierlosigkeit einen erotischen Untergedanken. Eine Generation riß, schraubte, vergewaltigte sich zur Mannbarkeit fort, denn das Weib war spröder geworden als je und war schwer zu erringen. Die Gedankengänge der Nacht kreuzten seine Einfälle. Was war Wirklichkeit? Eine mythologische Sammlung, ein poetisches Stilmittel. Die Geburt einer Welt aus dem Kopfe eines
zeusischen Knaben. Die Stadt, die Frau waren Kinder eines Gehirns. Wirklichkeit? Was wäre diese komplette Salonzelle ihm, wenn er das Hirn eines Bauern gehabt hätte? Was, wenn er ein Eichhörnchen gewesen wäre, und diese Wirklichkeit, gesetzt, gesetzt, er wäre ein Weib – – – Ungefähr um zehn Uhr vormittags sah man einen jungen unauffälligen Mann mit blasierten fremden Gesichtszügen aus dem Hotel kommen. Die Stadt schnellte ihm entgegen. Er aber straffte sich, sie im Abenteuer bestehen, er hatte ihre Seelen geschaut, ihren männlichen und ihren weiblichen Charakter, ihr hybrides Wesen, ihren Typ des Hermafrodyten, der die Stadt ideologisch aus sich selbst erzeugt. Das Namenlose wird Namen.