KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HERMANN
HEFTE
GERSTNER
LUDWIG UHLAND D...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HERMANN
HEFTE
GERSTNER
LUDWIG UHLAND DICHTER, F O R S C H E R , VOLKSVERTRETER
Signature Not Verified
Manni
Digitally signed by Manni DN: cn=Manni, c=US Date: 2006.05.21 07:47:34 +01'00'
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCK
-BASEL
Frohe Kindheit An der Neckarhalde zu Tübingen ist noch das hochgelegene Haus zu sehen, in dem Ludwig Uhland am 26. April 1787 geboren wurde. Er ist das dritte Kind eines Universitätssekretärs, der bald nach der Geburt des Knaben mit seiner Familie in eine enge Gasse des hafennahen Bezirks zieht. Die Wohnung im ersten Stockwerk ist geräumiger als die an der Neckarhalde, und der Heranwachsende kann sich hier freier entfalten. Denn in diesem Haus gibt es nicht nur einen weiten Speicher mit wunderbarem Gerumpel und allerlei alten Büchern, wo man großartig spielen, Bilder betrachten und träumen kann — hier wohnt im zweiten Stock auch ein Onkel, Doktor Gotthold Uhland, dessen Töchter willkommene Gefährten sind. Mit der ältesten dieser Basen versteht sich der kleine Ludwig besonders gut: Wenn sie wegen einer Unart eingesperrt wird, schleicht er in die mütterliche Küche und erzählt der Base durch den Rauchfang hinauf alle Märchen, die ihm gerade einfallen, um ihr den Strafarrest ein bißchen unterhaltsamer zu machen. Freilich wenn es Zeit wird, in die Schule zu gehen, muß Ludwig als sittsamer Knabe aus besserer Familie seine Haare pudern und den Zopf mit einem Band zusammenflechten. Wenn sich danach der ABC-Schütze im Spiegel betrachtet, ärgert er sich über sein komisches Aussehen. Er versetzt sich selber ein paar Ohrfeigen, damit der Puder wieder vom blonden Haar davonstäubt. Und oft wird aus dem ganzen kunstvollen Geflecht des Zopfes bei dem Geraufe auf den Schulwegen ein einziges unentwirrbares Durcheinander. Im Unterricht selbst aber ist Ludwig Uhland immer einer der Besten. Das hindert indes den alten Rektor Hütten nicht, oft loszupoltern, seine Zöglinge richteten seine Gesundheit zugrunde, sie seien die Nägel zu seinem Sarg. Daheim setzt sich nach den Schulstunden Ludwig an seinen Lerntisch, schreibt die aufgegebenen lateinischen Vokabeln auf eine Liste und verziert die Wörter mit Rötel- und Schwarzstiftzeichnungen, um sich alles besser einprägen zu können. Mit der Zeit erlangt er eine solche Fertigkeit im Lateinischen, daß ihm sogar schwierige Satzgebilde mühelos zufließen. Wenn er gerade Lust hat, schreibt er hundert lateinische Verse mit Leichtigkeit hin. Dabei ist er alles andere als ein Stubenhocker. Gern steckt er sich in ein ritterliches Gewand, bewaffnet sich mit Schwert und Lanze und trifft sich mit seinesgleichen auf den Wällen der Tübinger Burg, um Kampfspiele auszutragen. Es ist ja kein friedliches Zeitalter, in dem Ludwig Uhland groß wird. In den stürmischen Nachwehen der 2
Französischen Revolution kommen zahlreiche Emigranten vom Westen her in die Tübinger Gegend. Man macht auch mit der Soldateska Bekanntschaft, sieht bald Franzosen, bald Österreicher in den Mauern der Stadt. Mehr als einmal gleicht Tübingen einem Heerlager. Mitten in diesen kriegerischen Zeitläuften begegnet Ludwig zum erstenmal der großen Kunst. Der Vater nimmt ihn mit nach Stuttgart, dort spielen sie gerade Lessings „Emilia Galotti" und das Märchendrama „Oberon, König der Elfen". Der Knabe erlebt diese wunderbare Welt des Theaters, als ob sie wirklich wäre. Nicht weniger eindrucksvoll ist ihm die Wirklichkeit der Wälder, Berge und Burgen der Tübinger Umgebung, die er auf Schulwanderungen kennenlernt. Einmal wandern die Buben auf den Steinenberg, wo man das Neckartal und die Alb vom Hohenstaufen bis zum Hohenzollern überschauen kann. Schon bei Sonnenaufgang stehen die Wanderer droben auf der Höhe. Der kleine Ludwig ist vom Anblick des aufsteigenden Gestirns so ergriffen, daß er wie gebannt über die angeleuchteten Kuppen der Alb hinwegschaut und begeistert ruft: „Sonne, du kommst!" So nimmt er schon in jungen Jahren all die schönen Bilder der Heimat in sich auf, die er später mit seinen Versen besingen sollte. Die ersten Gedichtstrophen trägt er bereits als Dreizehnjähriger in seine Hefte ein.
Der junge Student Als Ludwig vierzehn Jahre alt ist, muß er plötzlich — von heute auf morgen — einen schwerwiegenden Entschluß fassen, der über sein ganzes Leben bestimmen soll. Er ist gerade zu Besuch bei Verwandten auf dem Lande. Eben hält er einen Brief der fürsorglichen Mutter in der Hand, in dem sie den Sohn ermahnt, er solle warmes Zeug anziehen, sich vor dem schlechten Wetter hüten und achtgeben, daß er den Wagenrädern nicht zu nahe komme. Da hört er unten auf dem Hofe bekannte Stimmen, die Eltern sind überraschend zu Besuch gekommen. Sie bringen eine Neuigkeit mit: Unvermutet ist ein Stipendium an der Universität Tübingen freigeworden und könnte dem jungen Uhland zugewiesen werden. Freilich müßte er sich jetzt schon für Theologie oder Rechtswissenschaft entscheiden. Auf Anraten des Vaters entschließt sich der Knabe für das juristische Studium. Im Oktober dieses Jahres 1801 schreibt er sich an der Universität seiner Vaterstadt als Jurist ein. Ein paar Verse, die er seinen Eltern zum Neujahrstag 1802 widmet, zeigen, daß der Vierzehnjährige damit seine Kinderjahre schon als vergangen ansieht: 3
„Meines Lebens zarte Blüte H a t die Zeit nun abgestreift, Und, bewahrt durch Gottes Güte, Sind die Früchte bald gereift." Es ist in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich, daß so junge Scholaren die Universität beziehen. Das Fachstudium wird für diese jugendlichen Studenten zurückgestellt. Auch der Studiosus Ludwig Unland muß zuerst in der „Artistenfakultät" seine allgemeine Bildung ergänzen. Er erhält eine gründliche Unterweisung in den Sprachen und lernt dabei die Schicksale des aus dem 10. Jahrhundert stammenden lateinisch geschriebenen „Waltharius" und den Glanz der Homerischen Gesänge kennen. Auch Herders Volkslieder werden ihm vertraut. Erst 1805, im Alter von achtzehn Jahren, kann er die Artistenfakultät verlassen und sich nun tatsächlich der juristischen Laufbahn widmen. Musterhaft genau führt er seine Kolleghefte, wenn er auch mehr aus Pflichtgefühl als aus Neigung das Reich der tausend Paragraphen abschreitet. Im gleichen Jahr 1805 erfährt er den Ausbruch des Krieges zwischen Napoleon und Österreich und ein Jahr später den Anschluß seiner Heimat Württemberg an den Rheinbund, jenes kurzlebige Staatsgebilde, das Napoleon zur Schwächung der beiden Mächte Preußen und Österreich ins Dasein gerufen hat. Unland lebt damals aber schon so sehr in seiner eigenen dichterischen Welt, daß ihn die äußeren Ereignisse der Zeit wenig berühren. Dabei ist es für seine Landsleute eine große Sache, daß Württemberg gleichzeitig zum Königreich erhoben wird. Mit Hangen und Bangen sehen viele Zeitgenossen, wie die Kriegsfackel dieses Napoleonischen Zeitalters immer gefährlicher über Europa aufflammt. Ein so bescheidener Studiosus wie Ludwig Unland, der seine wilden Knabenjahre vergessen hat und zu einem stillen, zurückgezogenen Jüngling geworden ist, kann in die Weltereignisse nicht eingreifen. Er führt seine Studien sorgsam weiter und berichtet 1808 einem Freund, was für gewichtige und schwierige Fachbücher er bis dahin durchgeackert hat: die „Hofackerschen Pandekten", „Hofackers Institutionen", „Meisters Criminale", „Puttmanns Wechselrecht", außerdem Bücher über das kanonische — kirchliche — Recht und das deutsche Privatrecht. „Nun hab' ich noch Lehnrecht und Landrecht vor mir. Auch hab' ich besonders den Konkursprozeß noch zu reiten, lese auch noch ein Pandektenkompendium. Nehme ich dazu die Rekapitulation (Wiederholung) des Ganzen, so gehen schon noch zwei Monate herum, bis ich mich zum ersten Examen melden kann." 4
Weit und einsam zieht sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts da* Ammertal von Tübingen aus in die Ferne. Als er im Mai 1808 diese Prüfung glücklich besteht, stellt er fest: „Im römischen Recht ist es mir am besten, im kanonischen Recht am schlimmsten ergangen. Noch diese oder die andere Woche werde ick wohl meine Bittschrift um das Advokatenexamen einschicken." Am 12. Oktober jubelt er: „Mein Examen ist überstanden und JO, daß ich zufrieden sein kann." Aber die Universität läßt ihn noch nicht los. Uhland entspricht dem Wunsch des Vaters und macht sich an eine Doktor-Arbeit. Er wählt ein Thema aus der Geschichte des Rechts, kommt aber nur schleppend voran: „Nur selten komm' ich aus dem Zimmer, doch will die Arbeit nicht vom Ort. Geöffnet sind die Bücher immer, doch rück' ich keine Seite fort. Bald spielt mein Nachbar auf der Flöte und führt mir die Gedanken hin, bald steht am Fenster die angenehmste Nachbarin." Im April 1810 wird die Abhandlung, mit der sich Uhland so lange geplagt hat, angenommen und „als ein Muster von Feinheit, Schärfe und Reichhaltigkeit" bezeichnet. Nach dem mündlichen, gelehrten 5
Streitgespräch, das damals noch zur Prüfung gehörte, bekommt der Jurist den Doktorhut. Hinterher feiert man bei einem ausgedehnten Schmaus. Dreiundzwanzig Jahre ist Uhland alt, als er seine beruflichen Lern- und Lehrjahre mit dieser Prüfung abschließt.
Auf romantischen Wegen Ludwig Uhland ist in diesen Tübinger Studienjahren keineswegs nur ein trockener Jurist, der sich mit Paragraphen und Rechtsfällen herumschlägt. Zusammen mit gleichgesinnten Freunden eröffnet sich ihm das weite Feld der romantischen Dichtung: Er wird sich seiner lyrischen Kraft bewußt. Zum Freundeskreis Ludwig Uhlands gehören: der feurige und dichterisch beschwingte Friedrich Harprecht, der später auf dem Napoleonischen Rußlandfeldzug nach der schrecklichen Amputation beider Beine sein junges Leben verlieren sollte, dann Karl Mayer, der in seinem 1867 erschienenen Erinnerungen „Ludwig Uhland, seinen Freunden und Zeitgenossen" ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, ferner der gemütvolle Mediziner und Dichter Justinus Kerner und nicht zuletzt der Kriminalist Gmelin. Besonders eng ist die Freundschaft mit Hermann Gmelin, in dessen elterlichem Garten man sich oft zur gemeinsamen Lektüre des Homer trifft: „Du warst etwas früher als ich in die Welt getreten und teiltest dann mit mir, der ich noch in stiller Eingezogenheit lebte, was du Angenehmes oder Unangenehmes erfahren, und erwecktest so in mir ein wunderbares Bild des Lebens, das dir selbst auch wunderbar erschienen war. Auf unseren häufigen Spaziergängen nach Waldhausen, wo wir unter den blühenden Bäumen sitzend die Sonne untergehen sahen und dann im Schimmer des Mondes und der Sterne nach Hause wandelten, eröffneten wir uns unsere Gefühle und Hoffnungen, und wie das weite Tal in der dämmernden Mondbeleuchtung unter uns lag, so lag auch die Welt vor uns in magischem Dufte, harrend des erhellenden Tageslichts. Wahrlich eine herrliche Zeit, wo der Mensch noch eine so weite schöne Zukunft vor sich hat. Es kann noch alles mit ihm werden, er hat noch kein edles Wirken, keinen schönen hohen Genuß versäumt." Diese sehnsüchtig in die Ferne schweifenden Jünglinge v/erden nicht von der platten Wirklichkeit des Alltags beherrscht, sie fliehen vor dem Rationalismus der vergangenen Jahrzehnte, sie begeistern sich für die so lange verkannte oder mißachtete Zeit des Mittelalters, für die Welt der Minnesänger und für die alten Volkslieder, die die Dichter Achim von Arnim und Clemens Brentano in ihrer Samm6
lung „Des Knaben Wunderhorn" wieder allgemein bekannt gemacht haben. Zur romantischen Poesie bekennt sich mit Ludwig Unland auch der Dichter- und Freundeskreis, der sich in Tübingen um ihn geschart hat. Man schwärmt für das „Unendliche", sucht es allerdings nicht mehr in einer ungewissen Ferne — man spürt das Unendliche in der eigenen Seele. Diese jungen Leute sind aber keine traurigen und elegischen Mondanbeter, sie treffen sich froh gestimmt in dem bekannten „Gasthaus zum Ochsen", sie reden sich auf ihren Studentenbuden, auf Fahrten und Ritten in die anmutige Umgebung die Köpfe heiß und glänzen bei den Zusammenkünften mit ihren Fähigkeiten. Karl Mayer wirft ein paar Karikaturen auf Zeichenblätter, Justinus Kerner spielt auf der Maultrommel, Hermann Gmelin singt mit seinem wohllautenden Baß ein Lied, Ludwig Uhland liest neue Verse vor. Gemeinsam geben sie ein handgeschriebenes „Sonntagsblatt für ungebildete Stände" heraus, in dem sie dem ebenfalls in Tübingen erscheinenden „Morgenblatt für gebildete Stände" den Kampf ansagen. Seit Uhland im Jahre 1800 angefangen hat, Reime zu schmieden, ist ihm ein ganzer Kreis von Gedichten erwachsen. Leo von Seckendorff veröffentlicht in seinem Musenalmanach auf die Jahre 1807 und 1808 eine Anzahl dieser Gedichte und macht damit einen weiteren Leserkreis auf das lyrische Schaffen des jungen Dichters aufmerksam. Diese Arbeiten können sich sehen lassen. So entsteht 1804 in der ersten Fassung „Der blinde König" („Was steht der nord'schen Fechter Schar hoch auf des Meeres Bord"), ein Juwel des Jahres 1805 ist „Das Schloß am Meere": „Hast du das Schloß gesehen, Das hohe Schloß am Meer? Golden und rosig wehen Die Wolken drüber her." 1806 ist „Des Knaben Berglied" geschrieben, 1807 träumt der Poet in den „Liedern der Vorzeit" von verlassenen Burgen und hohen Munstern: „Da war es, dais mit stillem Mannen Der Geist der Vorwelt bei mir stand, Da ließ er frühe schon mich ahnen, Was später ich in Büchern fand." Das bekannte Gedicht „Klein Roland" stammt aus dem Jahr 1808, und 1809, in der zu Ende gehenden Studienzeit, glückt Uhland die Weise vom „guten Kameraden" — Verse, die allein schon dem Dichter die Unsterblichkeit sichern. 7
In diesen und vielen anderen Strophen hat Uhland auf seinen romantischen Wegen in und um Tübingen zu seiner eigenen Art und Sprache hingefunden. Mit seinen Frühlings- und Wanderliedern, den Balladen und Romanzen hat er bereits in der Studienzeit einen wesentlichen Teil seines lyrischen Lebenswerkes begründet. Er spürt, wie er „des Liedes Segen" in sich trägt und ist dem Schicksal dankbar, daß er mit glühenden Wangen Verse erlauscht, die in edler Klarheit sagen, was ihn bewegt: „Ja, Schicksal! Ich verstehe dich; Mein Glück ist nicht von dieser Welt, Es blüht im Traum der Dichtung nur. Du sendest mir der Schmerzen viel Und gibst für jedes Leid ein Lied."
Paris — die große Welt In den Jahren bis zu seinem Doktorexamen hat Ludwig Uhland die Tübinger Gelehrsamkeit und die schwäbische Umwelt mit ihren altertümlichen Städten, ihren Dörfern, Munstern und Burgen offenen Auges in sich aufgenommen. Nun, nachdem er die Bürden der Prüfungen hinter sich weiß, lockt ihn die große Welt. Damals, im Jahre 1810, steht das Napoleonische Frankreich auf der Höhe seiner Macht, Paris ist mit dem glanzvollen Kaiserhof, seinen kostbaren Museen und Bibliotheken der Mittelpunkt des Abendlandes. An einem Sonntag im Mai 1810 tritt Uhland seine Reise an. Er wählt den Weg über Koblenz, um unterwegs weitere deutsche Landschaften, die ihm bisher unbekannt geblieben sind, kennenzulernen. Er notiert in sein Tagebuch: „Mein Aufenthalt in Karlsruhe wird mir immer eine teure Erinnerung bleiben. Am Vormittag ging ich öfters mit dem Onkel aufs Museum. In Heidelberg bestiegen wir das Schloß und den fliegenden Garten. In Frankfurt logierte ich im schwarzen Bock, bestieg den Dom und ging um die ganze Stadt. Es war der letzte Tag der Messe, auf dem Platz vor dem Wirtshaus standen Buden mit Geistererscheinungen und Marionetten. Am andern Vormittag fuhr ich mit dem Marktschiff ab. Herrliche Ansicht der Stadt Mainz bei der Einfahrt in den Rhein, besonders durch den in der Mitte stehenden Dom. Am andern Morgen früh fuhren wir mit der Jacht ab, durch den Rheingau. Herrliche Gegend von Bingen bis Boppard. Die unbeschreiblich schönen Ruinen! Gesang und Musik auf dem Schiffe. Ankunft in Koblenz nachts zehn Uhr. Spaziergang um und durch die Stadt. Als ich am Freitag früh das Wirtshaus in Koblenz verlassen, 8
wußte ich den Ort, von wo die Diligence (Postkutsche) abging, nicht gleich zu finden. Ich lief noch eine Weile herum in der Bangigkeit, zu spät zu kommen. Dies war jedoch nicht der Fall. Am Samstag früh kamen wir in Trier an. Ich betrachtete den Dom. Um 7 Uhr reiste ich mit der Diligence weiter." Von der Postkutsche aus sieht der erlebnishungrige junge Mann einen beträchtlichen Teil von Nordfrankreich, bis er Ende Mai in Paris ankommt. Hier nutzt er die Zeit. Vormittags geht er entweder zu seiner juristischen Weiterbildung in das Palais de justice — den Justizpalast —, um hier einen interessanten und lehrreichen Prozeß anzuhören, oder er besucht, seiner Neigung mehr entsprechend, die kaiserliche Bibliothek. Der Romantiker, der sich schon in Tübinger Studentenjahren für die mittelalterliche Dichtung begeistert und, gepackt von der Tragik des Nibelungenliedes, ein Bruchstück aus diesem Epos übersetzt hat, sucht ähnlich wie Jacob Grimm* unter den Handschriften dieser großen Bibliothek nach verschollenen Werken der mittelalterlichen Dichter. Nach dem Besuch des Justizpalastes oder der Bibliothek eilt Unland in die Galerien und Museen, besichtigt Baudenkmäler, spürt bei den Buchhändlern am Seine-Ufer alte Volks- und Ritterromane auf und durchstreift schaulustig alle Viertel dieser großen Stadt. Hat er sich müde gelaufen, dann trifft er sich gewöhnlich nachmittags zwischen vier und fünf Uhr mit Freunden und Bekannten, die er mittlerweile auch im großen Paris gewonnen hat, zu einem Imbiß. Und abends locken gesellige Freuden oder Theaterbesuche. Immer aber sind die Pariser Tage Unlands erfüllt vom Studium der alten literarischen Denkmäler. Er sieht, wie Jahrhunderte, Jahrtausende am Werk gewesen sind, um in dichterischen Bildern einen Spiegel unseres menschlichen Daseins zu geben. Er nimmt all diese alten dichterischen Stoffe in sich auf, und sein Genius wird von den großen literarischen Themen der Weltliteratur berührt, ja ergriffen. Er „saugt sich voll mit poetischem Blütensaft" und hat tausend Ideen, wie er die uralten Motive in seiner Sprache, in einer ihm gemäßen Form neu gestalten wolle. Er spürt, wie es überall in ihm keimt und wie hundert Gedichte und Szenen wachsen wollen. Dabei kann er seine Umgebung vollständig vergessen. So sitzt er zum Beispiel an einem Oktobertag dieses Jahres 1810 mit einigen Freunden im Cafe des „Palais Royal". Lebhaft sprudeln die Gespräche der Freunde. Ludwig Unland aber spielt heute den großen Schweiger. Die Freunde kennen das schon. Sie lassen ihn in Ruhe. * Vgl. Lux-Lesebogen 349, „Die Brüder Grimm 9
Als man spät nachts nach Hause geht, hat Uhland eine neue Ballade im Kopf fertig, das Gedicht „Graf Eberhards Weißdorn". Im Pariser Kaffeehaus hat Uhland von jenem Grafen Eberhard geträumt, der von einer Fahrt aus dem Heiligen Land ein Reis vom Weißdorn heimgebracht hat, um in der Heimat dieses Reis zu einem mächtigen Baum emporwachsen zu lassen. So wie jener Eberhard möchte es auch Uhland tun: Sein Wunsch ist es, aus der bunten, anregenden Stadt Paris einen Zweig der Poesie mit heimzunehmen, damit der Zweig sich in der württembergischen Heimat zu einem Baum emporwölbe. Zunächst freilich reifen in Paris trotz hundert poetischer Pläne nicht viele eigene Arbeiten. Uhland weiß, daß er die Tage in Paris für seine Studien nutzen muß. Und so sitzt er auch im Winter in den ungeheizten eisigen Bibliotheksräumen und schreibt mit erstarrten Fingern die Manuskripte ab, von deren Zauber er wie „verblendet" ist. Immer wieder gesteht er, daß ihn diese alten Gedichte zur Begeisterung „hingerissen" und daß ihn die großen Werke der Vergangenheit „mächtig überströmt" haben. Als er am 14. Februar des Jahres 1811 wieder in Tübingen anlangt, ist aus dem Kleinstädter ein junger Mann von Welt geworden, der nicht nur den äußeren Glanz der großen Stadt Paris geschaut, sondern der auch ihren inneren poetischen Reichtum sich zu eigen gemacht hat.
Während Napoleons Sterne sinken Schon wenige Tage nach seiner Heimkehr drängt sich ihm die Frage auf, welchen beruflichen Weg er einschlagen solle. Am liebsten möchte er die vielen Stoffe, die ihn bewegen, dichterisch gestalten und sich zugleich als Gelehrter mit den großen Werken der Vergangenheit beschäftigen. Aber er spürt, daß er nicht allein seiner Neigung folgen kann, sondern um des Brotes willen den trokkenen Beruf eines Juristen, dem nun einmal seine Liebe nicht gehört, ergreifen muß. Mißgelaunt schreibt er am 23. Februar 1811 aus Tübingen an seinen Freund Karl Mayer: „Seit acht Tagen bin ich wieder hier und fühle mich entsetzlich einsam. Es ist zwar noch nicht ausdrücklich von der Sache gesprochen worden, allein es scheint mir, daß ich hier bleiben und seinerzeit Procurator (Kanzlist) werden werde; es ist mir, wie wenn ich in die Eiswüsten von Sibirien hineinliefe." In diesen quälenden Monaten sucht er, wie der Vater es wünscht, Abwechslung im Umgang mit angesehenen Tübinger Familien. Am 10
Teetisch trifft man sich zur freundlichen Unterhaltung. Mit seinem Lied „Ihr Saiten tönet sanft und weise" huldigt Uhland der geistvollen, poetisch beschwingten Runde am duftenden Teetisch. Daß er aber auch kräftigeren Genüssen nicht abgeneigt ist, beweist sein wenige Monate später entstandenes Trinklied „Wir sind nicht mehr am ersten Glas". Er gewinnt neue Freunde, zu denen jetzt besonders der junge Balladendichter Gustav Schwab gehört, ja er nimmt sogar an Tanzereien im Tübinger Kasino teil, so daß es nicht verwunderlich ist, wenn allerlei Mädchennamen in seinem damaligen Tagebuch auftauchen. Daneben muß sich Ludwig Uhland nun endlich zu juristischen Arbeiten bequemen und Prozeßakten anfertigen. Es ist die Zeit, da mehrere Freunde mit der württembergischen Armee, die in dieser Zeit noch mit Napoleon verbündet ist, nach Rußland marschieren. Uhland selbst wird nicht eingezogen. Erschüttert erfährt er, wie einige Freunde in den russischen Weiten verbluten. Als er erkennt, daß er mit seinen Geschäften als Advokat in Tübingen nicht recht weiterkommt, tritt er im Spätherbst des Jahres 1812 in Stuttgart in die Kanzlei des Justizministers ein. Glücklich wird er hier allerdings unter den „Statuenaugen und dem bewegungslosen Gesicht" seines neuen Vorgesetzten nicht. Zwar erfüllt er gewissenhaft seine Amtspflichten und kann nur die späte Stunde zwischen neun und zehn Uhr abends seiner Dichtung widmen; aber er ist bei alledem nicht servil, nicht unterwürfig genug. Unzufrieden schreibt er am 10. Mai 1814 an seine Eltern: „So darf ich nun auch aussprechen, was ich bisher nie gegen Sie geäußert habe, daß durch ein längeres Beharren in meinen bisherigen Verhältnissen und nun vollends durch ein entschiedenes Anketten an dieselben mein Inneres von Tag zu Tag mehr gelitten haben würde." Am 16. Mai 1814 scheidet Uhland endgültig aus dem Amte. Er wird wieder freier Advokat, diesmal in Stuttgart. Viel Geld verdient er damit nicht, Not und Armut sind jahrelang seine Begleiter.
Ein begnadeter Lyriker Desto reicher freilich entfaltet sich in dieser Zeit sein dichterisches Werk. Im Jahre 1812 beteiligt er sich an Justinus Kerners „poetischem Almanach", 1813 veröffentlicht er Verse im „Deutschen Dichterwald", und 1815 bringt er die erste Sammlung seiner „Gedichte" heraus. Er stellt sich mit diesem Band den Zeitgenossen als großer Meister. vor. Nach verschiedenen vergeblichen Bemühungen, seine vereinigten Gedichte zu veröffentlichen, hat Uhland schließlich den bekannten Cotta-Verlag gewinnen können. Damals glaubt Uhland, 11
die Sammlung sei der Beginn seines dichterischen Lebenswerkes, in Wahrheit ist die Ausgabe von 1815, auch wenn das Buch später wiederholt in vermehrter Neuauflage herauskommt, bereits der Gipfel seines lyrischen Schaffens. In den Jahren, in denen Napoleons Armeen durch Europa stampften, in denen eine Welt in Flammen stand, hat Uhland Verse geschaffen, die auf keinem Schlachtfeld untergehen können. Sein Buch erscheint nun in einer Zeit, in der sich nach dem Zusammenbruch des Napoleonischen Reiches Minister und Gesandte auf dem Parkett des Wiener Kongresses um eine Neuordnung Europas bemühen. Teils in zeitlicher, teils in stofflich geordneter Folge sind die Gedichte aneinandergefügt. Da finden wir den idealistischen „Gesang der Jünglinge" („Heilig ist die Jugendzeit"), die Verklärung der „Kapelle" („Droben stehet die Kapelle, schauet still ins Tal hinab") und des „Schäfers Sonntagslied" mit der frommen Strophe: „Der Himmel, nah und fern, Er ist so klar und feierlich, So ganz, als wollt' er öffnen sich. Das ist der Tag des Herrn!" Und weiter die „Fühlingslieder" mit dem hymnischen Ausruf „Die Welt wird schöner mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag, das Blühen will nicht enden", die „Wanderlieder" mit den allbekannten Zeilen „Bei einem Wirte wundermild, da war ich jüngst zu Gaste", die Balladen „Siegfrieds Schwert" und „Graf Eberstein". Dann lesen wir das deftige „Metzelsuppenlied", die Gedichtreihe vom „Königssohn", die von Frühlingsstimmung erhellte Ballade vom „jungen König" und die melancholischen Zeilen „Im Herbste". Neben dem „Harfnerlied" („Alle soll das Lied erheben") steht die Weise vom „König auf dem Turme": „O selige Rast, wie verlang' ich dein! O herrliche Nacht, wie säumst du so lang, Da ich schaue der Sterne lichteren Schein Und höre volleren Klang!" Was für eine Fülle von Balladen und Romanzen! Wer kennt nicht die von Löwe vertonten Verse „Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein" („Der Wirtin Töchterlein"), wer hat sich nicht an den Strophen von „Des Sängers Fluch" begeistert: „Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und hehr, Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer, 12
Und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz, Drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich, Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich . . . " Diese und viele andere Gedichte sind in unzählige Lesebücher und Gedichtsammlungen eingegangen und bis heute lebendig. Noch Jahrzehnte später schreibt der Geschichtsforscher Heinrich von Treitschke in seinen historischen und politischen Aufsätzen (1865): „Gern verstummt die Kritik vor diesen Gedichten; über ihnen liegt der Zauber einer völlig abgeschlossenen Bildung. Sie sind das getreue Spiegelbild der edelsten Empfindungen einer reichen Zeit. Noch heute kommt kein geistreicher Deutscher zu seinen Jahren, der nicht einmal, -wehmütig wie ein Uhlandscher Bursch, dem scheidenden Freunde das Geleite gegeben und später sich aufgelehnt hätte wider die Unnatur der alternden Welt. Was die klugen Leute die unbestimmte, nebelhafte Weise von Uhlands Lyrik nennen, ist oftmals nichts anderes als das Wesen aller lyrischen Dichtung selber: jene hocherregte Stimmung, die den Leser geheimnisvoll ergreift und ihm einen Ausblick gewährt in das Unendliche. Es war ein Liederfrühling kurz und reich. Ein edles Bild der Jugend war Uhlands Dichtung gewesen." Und der große Kritiker und Dichter Friedrich Theodor Vischer rühmt in seinen „Kritischen Gängen" ebenfalls nach Jahrzehnten: „Unland ist, wenn je ein Dichter es war, der Zauberer, dem die Natur erklingt und geistig Geheimnis verrät und Wunderschätze unsagbarer Ahnung aufdeckt; er hat uns Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Berg und Tal, Wald und Wiese, Fluß und Wolke, Sonne und Mond mit himmlischem Licht Übergossen . .. Uhlands gelungenste Dichtungen stehen im Mittelpunkt des Schönen, sind ewig, werden auf Menschenlippen mit Entzücken treten, solange Menschenherzen schlagen. Ich greife recht mit Absicht eine ganz kleine Perle heraus, nur eine Strophe: O brich nicht, Steg, du zitterst sehr! O stürz nicht, Fels, du dräuest schwer! Welt, geh nicht unter, Himmel fall nicht ein, Eh ich mag bei der Liebsten sein! Solang es auf der Welt noch eine bange Erwartung der Liebe gibt, solang noch ein Liebender mit klopfendem Puls in die Arme der Geliebten eilt, er wird im Innern sprechen: der Uhland hats gemußt, der hats gesagt, der hat mir's vor der Zunge weggenommen." 13
w Mit seinen schönsten Gedichten ist Ludwig Unland unsterblich, sie tönen durch die Jahre echt und rein. Seine Verse haben den seelenvollen Klang, den man auch heute, im Zeitalter der Maschinen, nicht aus dem Ohr verliert.
Zuneigung Etwa zur gleichen Zeit, in der Ludwig Uhland die Ausgabe seiner „Gedichte" vorbereitet, begegnet er auch dem Mädchen, das sechs Jahre später seine Frau und Lebensgefährtin werden sollte. Im Dezember 1814 taucht in Unlands Tagebuch zum erstenmal der Name der am 15. Mai 1799 geborenen Emilie Vischer auf, die von ihren Eltern und auch von Uhland Emma genannt wird. Inmitten einer stattlichen Schar von Geschwistern wächst das junge Mädchen in Stuttgart im Hause des wohlhabenden Stiefvaters auf. Emilie, die nicht von Uhland selbst, sondern nur gerüchtweise erfährt, daß der Poet und Advokat sie verehre, schreibt später darüber: „Das Gerücht interessierte wohl das noch ganz Junge Mädchen, mehr noch interessierten sie die gerade damals herausgekommenen Gedichte Unlands, die sie bei der Schwester zu lesen bekam; aber — an dem ernsten, stillen Herrn Uhland war doch auch gar nichts von einem Liebhaber zu entdecken." Die beiden treffen sich auf Bällen, im Theater oder im Konzert. Sie begegnen sich auch in der Familie von Unlands Universitätsfreund Roser, der mit Emiliens älterer Schwester verheiratet ist. Gern wandert das Ehepaar Roser in abendlichen Stunden auf das Land hinaus, Uhland und Emilie sind auf diesen Spaziergängen öfters dabei. Uhland ist allerdings auf diesen Wegen kein besonders gesprächiger, eher ein schüchterner und zurückhaltender Liebhaber. Erst im Sommer 1816, als Emiliens Mutter stirbt, kommt man sich näher. Wenige Tage nach dem Heimgang der Mutter geht Emilie mit Uhland spazieren. Sie ist von der offenkundigen Teilnahme ihres Verehrers bewegt und erzählt ihrem Begleiter ausführlich, wie sehr sie der Verlust der Mutter ergreift. Trauernd und mit „düsterer Lebensansicht" verbringt Emilie den darauffolgenden Winter. Erst im März des nächsten Jahres finden sich wieder hoffnungsvollere Töne. Anläßlich eines Frühlingsspazierganges auf den Kahlenstein mit Familie Roser und Emilie schreibt Uhland in sein Tagebuch: „Frühlingsgefühl. Fausts Frühlingsspaziergang gelesen." Und zu Weihnachten des gleichen Jahres 1817 verbringt er trauliche Stunden im Kreis der Familie Roser mit Emilie. Aber immer noch schweigt der stetige und doch zugleich so zurückhaltende Verehrer. Warum erklärt er sich nicht? Warum bittet er 14
nicht um die Hand des geliebten Mädchens? Nun, es sind berufliche Gründe: Die Verfassungsfrage, die damals die deutschen Länder bewegt, ist auch in Württemberg keineswegs gelöst. Der freiheitlich gesinnte Uhland hält den württembergischen König für einen Despoten, der den Bürgern Verfassung und Grundrechte verweigert. Uhland lehnt jede Anstellung in einem solchen Staat ab. Schon 1815 hat er seinen Eltern, die ihn gern in Amt und Würden gesehen hätten, geschrieben: „Es wäre meiner Überzeugung durchaus entgegen, bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge dem König einen Eid zu schwören." Lieber bleibt der rechtlich gesinnte Mann bei dem ungeliebten Beruf eines Advokaten. Dabei hätte er, von vielen als Dichter bewundert und als Jurist geachtet, ohne große Schwierigkeiten Professor, Richter oder Verwaltungsbeamter werden können. Aber er bleibt ein unabhängiger Mann, will nicht gegen sein freiheitliches Gewissen entscheiden, obwohl das Wort „Geldnot" in jenen Jahren häufig in seinem Tagebuch erscheint. Gewiß ist es ihm nicht leicht gefallen, freiwillig auf Ämter, geachtete Stellungen und regelmäßige Einkünfte zu verzichten. Hunger wäre zu ertragen, schlimmer ist, daß es ihm die bescheidene Existenz verbietet, ein eigenes Hauswesen zu gründen Da er dem König keinen Eid schwören will, solange die Rechte des Volkes noch nicht durch eine Verfassung begründet sind, bringt er sich um die Möglichkeit, in absehbarer Zeit zu heiraten, und er beraubt sich des Glückes, vor den Eltern und der Welt als ein Mann dazustehen, der es im Leben zu etwas gebracht hat. Erst 1818, nachdem Uhland seine Emilie bald vier Jahre kennt, findet er den Mut, sich wenigstens gegenüber dem verehrten Mädchen zu erklären. Der seltsame Liebhaber nimmt sich endlich ein Herz und überreicht Emilie im März dieses Jahres als Zeichen seiner Verehrung einen Veilchenstrauß. Er wird „kühner" und wagt bei einem Frühlingsspaziergang den ersten zärtlichen Händedruck. Und an seinem Geburtstag, dem 26. April, da die württembergische Welt in Blüte steht und von Sonne übergössen ist, ermuntert Emilie den schweigsamen Anbeter: „Es ist doch schön auf der Welt", sagt sie, indem sie ihren Begleiter lächelnd und mit einem ermutigenden Blick anschaut. Da endlich gesteht Uhland, daß er die Neunzehnjährige schon seit Jahren liebe. Hilflos bricht Emilie in Tränen aus. Was soll sie antworten! Sie weiß, welche Schwierigkeiten zwischen ihnen stehen. Sie schweigt. Uhland verbringt mit Emilie und Familie Roser noch den Abend, er begleitet Emilie ohne weitere Erklärungen nach Hause. „Wie es geh', ihre Achtung bleibt mir", notiert er in sein Tagebuch. 15
Im gleichen Jahre 1818 wird er durch ein Gerücht gequält, andere junge Leute bemühten sich um Emilie. Seine Schwester warnt ihn: Hofrat Pistorius, der Stiefvater Emiliens, werde das Mädchen bestimmt nicht einem Manne anvertrauen, der nicht in Amt und Würden sei. Wohlmeinende Freunde drängen Uhland, er solle doch endlich ein Kompromiß mit seiner Überzeugung schließen und in den Staatsdienst treten. Uhland aber beharrt auf seiner politischen Meinung. Inzwischen hat Emilie ihren treuen Verehrer liebgewonnen. Sie läßt trotz der Schwierigkeiten nicht von ihm und schreibt später über ihre eigene damalige Haltung: „Sie lernte begreifen, daß einem überzeugungstreuen Manne kein Opfer zu groß sein dürfe, daß Uhland schweigen und zuwarten müsse, bis günstigere Umstände für seine Wünsche eintreten würden." Uhland spürt, daß Emilie zu ihm hält, und offenbart sich nun endlich im Dezember 1818 seinen Eltern. Wenige Tage später nach Stuttgart zurückgekehrt, trifft er alsbald mit Emilie zusammen. Das Tagebuch verzeichnet am 15. Dezember die wenigen Worte: „Herzensergießung, die Locke, Heimbegleitung." Leicht läßt sich diese Notiz, die im Stil der damaligen romantischen Art geschrieben ist, deuten: Die beiden haben sich endlich nach bald fünf Jahren zueinander bekannt. Emilie hat dem Verehrer als Zeichen ihres Einverständnisses eine Locke geschenkt, glückselig wandern die beiden heimwärts. Noch ehe die äußeren Schwierigkeiten, die ihrem Liebesbund entgegenzustehen scheinen, behoben sind, haben sich die jungen Leute zum gemeinsamen Leben entschieden
Dramatische Bemühungen Wir dürfen uns Uhland in diesen Jahren aber nicht nur als ewigen Liebhaber vorstellen. Besonders 1816 wachsen ihm neue Gedichte zu, und auch in den folgenden Jahren schweigt seine lyrische Stimme nicht ganz. Hauptsächlich aber sind es dramatische Arbeiten, die neben den juristischen Geschäften Uhland damals in Anspruch nehmen. Bis ins Jahr 1803 gehen seine dramatischen Versuche zurück. 1805 faßt er den Plan zu einem Trauerspiel „Achilles", 1809 versucht er sich an einer Rittertragödie „Benno", einem Trauerspiel „Franceska da Rimino" gelten weitere dramatische Pläne, auch das Volksbuch „König Eginhard" gibt die Grundlage für szenische Entwürfe. Diese und manche andere Versuche sind Bruchstücke geblieben. Vollendet wurden aber seine beiden dramatischen Hauptwerke „Ernst, Herzog von Schwaben" und „Ludwig der Bayer". 16
Unlands Gattin Emilie, geb. Vischer Die erste Anregung zum „Herzog Ernst" empfängt Unland 1815 von dem gleichnamigen mittelhochdeutschen Gedicht. Nach gründlichen geschichtlichen Studien kann er im Jahr 1817 das historische Trauerspiel abschließen. Das zweite Stück „Ludwig der Bayer" ist von einem Preisausschreiben des Münchner Hof- und Nationaltheaters angeregt. Während Unland für sein Werk „Ludwig der Bayer" keine Bühne gewinnt, erlebt sein „Herzog Ernst" im Mai 1818 in Hamburg die Uraufführung. Als sich die Verfassungskämpfe allmählich beruhigen, nimmt auch das Stuttgarter Theater das Werk an. 17
Am 7. Mai 1819 ist in Stuttgart die Erstaufführung dieses Stückes, das die Empörung des Herzogs Ernst gegen seinen Stiefvater Kaiser Konrad II. behandelt und vor allem die Freundestreue zwischen Ernst und Werner von Kiburg rühmt. Uhlands Eltern sind zu diesem Ereignis von Tübingen nach Stuttgart gekommen, froh erleben sie den erfolgreichen Theaterabend. Dankbar kann tags darauf Unland an den Hofschauspieler Eßlair, der bei der Stuttgarter Erstaufführung den Werner gespielt hat, schreiben: „Der allgemeine Beifall hat sich über die Trefflichkeit Ihrer Darstellung lebhaft genug ausgesprochen. Mir war sie vorzüglich durch den individuellen Ausdruck, den Sie der Rolle gegeben, überraschend und ergreifend. Auch in der Anordnung des Ganzen, in der trefflichen Gruppierung, in der äußeren Ausschmückung erkannte ich überall die Spuren liebevoller Sorgfalt." Wenn auch dem Werk keine bleibende Heimstätte auf der deutschen Bühne beschieden sein sollte und wenn das Stück — ebenso wie „Ludwig der Bayer" — heute nur noch als Lesedrama lebendig ist, so möge doch für die seinerzeitige Aufnahme ein Wort zeugen, das ein so kritischer Geist wie Heinrich Heine in seiner „Romantischen Schule" gesprochen hat: Das Drama „enthält große Schönheiten und erfreut durch Adel der Gefühle und Würde der Gesinnung. Es weht darin ein süßer Hauch der Poesie, wie er in den Stücken, die jetzt auf unserem Theater so viel Beifall ernten, nimmermehr angetroffen wird. Deutsche Treue ist das Thema dieses Dramas. Deutsche Liebe blüht, kaum bemerkbar, in der Ferne, doch ihr Veilchenduft dringt uns um so rührender ins Herz. Dieses Drama, oder vielmehr dieses Lied, enthält Stellen, welche zu den schönsten Perlen unserer Literatur gehören."
Glückliche Ehe- und Schaffensjahre Durch die Stuttgarter Theatererfolge ist Uhlands Dichtername in seiner Heimat noch klangvoller geworden. Dazu kommt, daß er als Sänger der Freiheit vom Oberamt Tübingen 1819 zum Abgeordneten für die württembergischen Landstände gewählt wird, die dem Volk die heißersehnte Verfassung und das Recht auf Mitgestaltung im Staate geben sollen. Wenn auch Uhland damals noch kein öffentliches Amt bekleidet, so ist er doch nicht nur als Dichter sondern auch als Abgeordneter ein angesehener Mann geworden, dem man eine große Zukunft zutraut. Er braucht nun keine Hemmungen mehr zu haben und hält im August 1819 bei dem Pflegevater Emiliens um die Hand des geliebten Mädchens an. Hofrat Pistorius nimmt Uhland mit 18
offenen Armen auf, im Januar 1820 gibt man den Freunden die Verlobung bekannt. Froh schreibt Uhlands Mutter an ihren Sohn: „Da ich nur in dem Glück meiner Kinder vergnügt fortleben kann, so ist es auch für mich das Höchste, wann Gott mein Gebet erhört und Euch glücklich macht. Wird mir in diesem Jahr mein Wunsch erfüllt, Dich angestellt zu wissen und Dich in angenehmer häuslicher Lage zu sehen, so werde ich es dankbar erkennen. Da Emma viel zu unserer Zufriedenheit beitragen kann, so verbinde ich auch noch den Wunsch, sie bald kennenzulernen und des Vertrauens mich zu versichern, sie werde sich an uns als Kind, so wie wir als Eltern anschließen. Du würdest sie nicht wählen, wann uns die Freude durch diese Verbindung nicht zuteil werden könnte." Am 29. Mai 1820 wird Ludwig Uhland mit Emilie, um die er sechs Jahre lang geworben hat, vermählt. Mit der Hochzeitsreise muß das Junge Paar noch etwas warten, da Uhland als Abgeordneter des Landtages gerade jetzt Stuttgart nicht verlassen kann. Erst als die Landstände vertagt werden, fährt das Ehepaar in die Schweiz, um auf Wanderungen dieses schöne Land genauer kennenzulernen. Auf der Heimreise besucht man die Eltern Uhlands in Tübingen. Dann kehrt man heim in die Stuttgarter Kronenstraße, in der damals nur wenige Häuser stehen. Das Arbeitszimmer des Dichters geht ins Freie hinaus, untertags kann Uhland von hier aus weite Wiesen überblicken, nachts sieht er über sich den hohen Sternenhimmel. Hier waltet nun Emilie. „Frau Uhland", so wird sie von einem zeitgenössischen Besucher begeistert geschildert, „trug einen kurzen weißen Rock und einen violetten, seidenen Spenzer (ein kurzes Jäckchen), ihr prächtiges schwarzes Haar hatte sie in einer doppelten Krone ums Haupt gelegt, ihr weißer Hals dazu — so schien sie ein Ausbund von Schönheit." Die lebhafte Frau, eine Schwäbin von natürlicher offener Art, hat in die Ehe ein stattliches Vermögen eingebracht, so daß Uhland fortan keine äußeren Sorgen mehr kennt. Zwar übt er seine Advokatengeschäfte noch einige Jahre lang aus, zwar gehört er dem Landtag in seiner ersten ordentlichen Sitzungsperiode von 1820 bis 1826 an — aber er ist nun so unabhängig geworden, daß er nicht mehr um des Geldes willen ein Amt erstreben muß. Auch sein dichterisches und politisches Ansehen ist so gewachsen, daß er jetzt auf einen äußeren Rang verzichten kann. Seiner verständnisvollen Frau ist es eine Freude, ihrem Mann ein schönes Heim geschaffen zu haben, in dem er frei und unabhängig der Entfaltung seiner hohen Geistesgaben leben kann. 19
Nur wenige Gedichte entstehen in diesen Jahren. Mehr und mehr wendet sich Uhland der Erforschung der mittelalterlichen Poesie zu, deren Werke ihn ja bereits in früheren Jahren beglückt haben. 1822 erscheint als Frucht dieser Arbeiten sein Werk über „Walther von der Vogelweide", 1824 schließt er seine Abhandlung über den „Minnesang" ab, 1826 veranstaltet er auf den Wunsch der Mutter des seit langem erkrankten Hölderlin zusammen mit seinem Freund Schwab die Ausgabe Hölderlinscher Gedichte. Neue Reisen erweitern in diesem Jahrzehnt die Weltschau des Dichters. Wieder geht es in die Schweiz, wo Uhland in den Bibliotheken alte Handschriften für seine Forschungen aufspürt, dann lernt er das Salzkammergut und Tirol kennen. Gleichzeitig nimmt er Fühlung auf mit den Germanisten Laßberg, Lachmann, Schindler, vergißt dabei aber auch seine alten Freunde Gustav Schwab und Justinus Kerner nicht. So lebt Uhland auch in diesem Jahrzehnt im Reich der Poesie, selbst da, wo er ihren Glanz nicht mehr" in eigenen Liedern, sondern in den Schöpfungen einer großen Vergangenheit sucht. Ob er in den Bibliotheken die Verse einer vergilbten Pergamenthandschrift entziffert und abschreibt, so etwa die Weingartner Liederhandschrift, ob er auf der Heimfahrt von Nürnberg eigens den Umweg über das Dorf Eschenbach wählt, um das Grab Wolframs von Eschenbach aufzusuchen — immer ist er auf den Spuren der großartigen dichterischen Welt des Mittelalters. Was für ein Glück, daß Uhland in diesen Jahren sich in der Liebe seiner Frau geborgen weiß! Wenn er anläßlich einer Reise von ihr getrennt ist, schreibt er liebevolle Briefe, aus denen wir noch jetzt die innige Verbundenheit der beiden ablesen können. So berichtet Uhland einmal von einer Schwarz waldreise: „Wir bestiegen die Teufelsmühle, einen der höchsten Punkte des Schwarzwaldgebirges. Im Vordergrunde das reizende Murgtal, im Hintergrunde unser geliebter Rhein fast von Straßburg bis unterhalb Speyer und die weite Vogesenkette. Dort, Liebe, hättest du bei mir stehen sollen, es war der großartigste und ergreifendste Anblick auf dieser Reise." Und von einer Bibliotheksfahrt nach St. Gallen erzählt er in einem Brief an seine Frau: „Wir brachten mehrere Stunden bei den Altertümern der Bibliothek zu. Heute habe ich den ganzen Vormittag auf der Bibliothek zugebracht und werde jetzt den Nachmittag wieder dort zubringen. Ich schließe, um mich wieder in die alten Handschriften zu vertiefen. Ob ich gleich alle Ursache habe, mit meiner Reise zufrieden zu sein, so ist sie mir doch nicht so herzerfreuend, wie die vor drei Jahren. Ich weiß aber auch, wer mir fehlt." 20
Der Professor In diesen Jahren ist aus dem Poeten Uhland ein maßgeblicher Forscher der neuen Wissenschaft der Germanistik geworden. Er hat sich mittlerweile von seinen politischen Verpflichtungen -als Abgeordneter gelöst und würde nun gern eine akademische Tätigkeit übernehmen. In seiner Heimatstadt Tübingen ist die Professur für deutsche Sprache und Literatur frei geworden. Ende 1829 wird er dorthin als Professor berufen. „Vielleicht nur, weil von einer Berufung nach Bayern die Rede war", meint skeptisch seine Frau. Die Freude an dieser neuen Lebensaufgabe schenkt Uhland wieder eine Reihe von Gedichten, darunter „Teils Tod" und „Bertran de Born" mit den bekannten Anfangszeilen: „Droben auf dem schroffen Steine Raucht in Trümmern Autafort, Und der Burgherr steht gefesselt Vor des Königs Zelte dort." Froh kann Uhland sehen, wie sich sein lyrisches Werk immer mehr durchsetzt. Von seinen „Gedichten" ist bereits die 4. Auflage erschienen. Seine Arbeiten zur Heldensage und zum Minnelied aber macht er noch nicht zum Druck fertig, er will diese Studien für seine Vorlesungen benutzen. Im April siedelt Uhland nach Tübingen über. Vertraute Freunde, darunter Gustav Schwab, läßt er in Stuttgart zurück. Als der Reisewagen an die Stuttgarter Grenze kommt, stehen dort viele Bekannte, um dem Scheidenden Glück zu wünschen. Sie übergeben dem Gefeierten einen Lorbeerkranz. Herzlich ist der Abschied, ehe der Postwagen weiterrollt. Der bescheidene Uhland will aber nicht lorbeergeschmückt in seiner Geburtsstadt einziehen. Als man durch einen Wald fährt, läßt der Dichter den Wagen halten und hängt den Kranz lächelnd an einer Eiche auf. „Ich kann doch.nicht mit einem Lorbeerkranz in Tübingen ankommen", sagt er, „wie wird der nächste Wanderer sich wundern, daß diese Eiche Lorbeerblätter trägt!" In Tübingen haben die Eltern über die Berufung ihres Sohnes die größte Freude. Der Großvater ist an der heimatlichen Universität bis zu seinem 80. Lebensjahr Professor gewesen, der Vater hat hier als Universitätsbeamter gewirkt, nun sieht er glücklich den Sohn in den gleichen Räumen walten. Am 3. Mai 1830 hält Uhland seine Antrittsvorlesung. Ein paar hundert Studenten begrüßen ihn begeistert im größten Hörsaal der Universität. Andächtig lauscht 21
Unlands späteres Haus mit Garten und Weinberg an der Neckarbrücke in Tübingen (im Hintergrund links, am Fuß des Osterberges, nach einem Holzschnitt von Cloß und Ruff, 1869) man seiner Vorlesung. Als der neue Professor schließt, bildet man für ihn ein ehrenvolles Spalier. Abends bringt man ihm auf dem Schloßhof ein Ständchen dar, nach Suchers Kompositionen singen die Studenten Uhlandsche Lieder. In den Tübinger Semestern liest Uhland nach genau ausgearbeiteten Manuskripten mit seiner kräftigen, markigen Stimme hauptsächlich über die Geschichte der deutschen Poesie vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, über romanische und germanische Sagengeschichte und das Nibelungenlied. In den Übungen seines „Stilistikums", die den schriftlichen und mündlichen Vortrag der Studenten fördern sollen, sammelt Uhland einen besonders großen Kreis von Hörern um seinen Lehrstuhl. In diese fruchtbare Zeit fällt der Tod der greisen Eltern. Manche Nacht wacht Uhland im Frühjahr 1831 am Krankenbett der Mutter. Am 1. Juni stirbt sie. Nach ihrem Heimgang klagt der Dichter: 22
„Verwehn, verhallen ließen sie Den frommen Grabgesang. In meiner Brust verstummet nie Von Dir ein sanfter Klang." Und als der geliebte Vater wenige Wochen später am 29. August von dieser Erde geht, klagt Ludwig Uhland in einem Lied: „Zu meinen Füßen sinkt ein Blatt, Der Sonne müd, des Regens satt; Als dieses Blatt war grün und neu, H a t t ' ich noch Eltern, lieb und treu. O wie vergänglich ist ein Laub, Des Frühlings Kind, des Herbstes Raub! Doch hat dies Laub, das niederbebt, Mir so viel Liebes überlebt." Nur wenige Jahre ist Uhland als Professor in Tübingen tätig. Als man ihn wiederum in den Landtag wählt, folgt er dem Ruf. Er glaubt, auf diesem Posten der Freiheit und der Einheit seines Volkes am besten dienen zu können. Da das Ministerium ihn für die Tätigkeit als Abgeordneter nicht beurlaubt, muß er um seine Entpflichtung als Dozent bitten. Sehr gerne lassen die Behörden den freigesinnten und darum mißliebigen Professor ziehen. Nur die Studenten bezeugen dem Scheidenden ihre Zuneigung: Sie schenken als Zeichen ihrer Dankbarkeit Uhland einen silbernen Ehrenpokal. In der württembergischen Ständeversammlung ist Uhland (nach einem Wort von Heine) „ein eifriger Vertreter der Volksrechte, ein kühner Sprecher für Bürgergleichheit und Geistesfreiheit. Hatte er einst den Dichterlorbeer errungen, so erwarb er jetzt den Eichenkranz der Bürgertugend." In seinem Gedicht „Wanderung" schreibt sich Uhland seine Enttäuschung über seine Professorenjahre und den unfreien, knechtischen Sinn vieler Zeitgenossen vom Herzen. Wenn er auch die Erfüllung der Hoffnungen auf ein einiges Reich für seine Generation bezweifelt, so wünscht er doch, daß in der Zukunft sich ein helleres Schicksal abzeichnet: „Wohl werd ichs nicht erleben, Doch an der Sehnsucht Hand Als Schatten noch durchschweben Mein freies Vaterland." 23
Trunken von Versen Die politischen Pflichten rufen den Abgeordneten Unland in der Folge oft monatelang nach Stuttgart. Trotzdem gibt er seinen ständigen Wohnsitz in Tübingen nicht mehr auf. Wenn er daheim ist, führt er als Privatgelehrter die Erforschung der altdeutschen Sprache, Sage und Dichtung weiter. Grübelnd versenkt er sich in die Mythen, die Göttersagen von Thor und Odin. Im Jahre 1834 erblüht dem Dichter, der die Poesie nicht sucht, sondern geduldig auf die Stunden der Begnadung wartet, noch einmal eine Folge von Gedichten, darunter die Ballade über das zersprungene „Glück von Edenhall". Die düsteren, prophetischen Schlußzeilen lassen ahnen, daß auch ein so idealistisch gesinnter Dichter wie Uhland von abgründigen Gesichten überwältigt werden konnte: „Glas ist der Erde Stolz und Glück, In Splitter fällt der Erdenball Einst gleich dem Glück von Edenhall." Wahrhaft volkstümlich ist damals der Lyriker Ludwig Uhland. Schon wird die achte, vermehrte Auflage der „Gedichte" gedruckt, ja diese Sammlung gewinnt so viele Liebhaber, daß jährlich von nun an fast immer eine, öfters sogar zwei Auflagen veranstaltet werden können. Da die Lieder zugleich sehr sangbar sind, werden viele von ihnen von so bedeutenden Komponisten wie Kreutzer, Sucher und Mendelssohn vertont. Die Größten der Zeit verneigen sich vor dem Lyriker Ludwig Uhland. So schreibt Friedrich Hebbel in sein Tagebuch: „Ich bin Uhland dankbarer als den Leuten, die mir hin und wieder zu essen geben. Er führte mich zu einem Gipfel, dessen Höhe ich im ersten Augenblick nur dadurch erkannte, daß mir die Luft zum freien Atmen fehlte." Und 1857 widmet Hebbel die Gesamtausgabe seiner Gedichte „dem ersten Dichter der Gegenwart Ludwig Uhland in unwandelbarer Verehrung." Verehrung erfährt Ludwig Uhland auch auf den häufigen Reisen, die er in diesen Jahren meist in Begleitung seiner Frau den Rhein hinab, oder nach Wien, nach Norddeutschland, Dänemark und Belgien unternimmt. Als er in Kiel in einem Gasthof absteigt, bekränzt man seine Zimmertüre und den Flur; als er aus der Stube heraustritt, drückt man einen Lorbeerkranz auf sein Haupt, eine Deputation von Männern und Frauen heißt den Dichter der Freiheit herzlich willkommen und lädt ihn nachmittags zu einem Festessen und zur Besichtigung des Kieler Hafens ein. Uhland, der bei seinem 24
Der Dichter und Literaturforscher in seinen späteren Tübinger Jahren
.Die Seele, jüngst so hoch getragen, Sie senket ihren stolzen Flug, Sie lernt ein friedliches Entsagen, Erinnerung ist ihr genug."
zurückhaltenden Charakter fast eingeschüchtert ist von diesem lauten Empfang, verliert dann aber doch alle Hemmungen, als er in der Küstenlandschaft steht. Der Beifall der Menge übertönt das Rauschen des Meeres. Die festlich geschmückten Frauen versichern, daß ihre Kinder die schönsten Gedichte des Meisters auswendig hersagen können. Herzlich erwiderte Uhland, er fühle sich von all diesen Ehrungen beschämt; wenn er auch viel erstrebt habe, so bleibe die Leistung weit hinter seinen Zielen zurück. Nun beglücke es ihn aber doch, wenn man anerkenne, daß er all sein Leben und Trachten seiner deutschen Heimat gewidmet habe. In den weiteren Jahren schreibt Uhland nur noch selten ein Gedicht. Trotzdem bleibt er „trunken von Versen". Er hat sich nämlich inzwischen der Erforschung des Volksliedes zugewandt. Nach seiner Meinung haben Arnim und Brentano in ihrem „Wunderhorn" die Volkslieder in allzu freier Weise, bald gekürzt, bald auch verlängert oder modernisiert wiedergegeben. Uhland dagegen erstrebt in seinen Sammlungen ein möglichst getreues Abbild des altdeut25
sehen Volksgesanges. In dem eigenen Haus an der Tübinger Nekkarbrücke, das die Uhlands seit 1836 besitzen und in dem der Dichter bis an sein Lebensende wohnt, trägt er die verschiedenen Fassungen der alten Volkslieder zusammen. Tausende von Texten häufen sich, die Zettel und Niederschriften wachsen turmartig. Er ordnet alles, was er von seinen Bibliotheksreisen heimgebracht hat. Viele Unterlagen bekommt er auch von seinen Freunden, mit denen er den Volksliedern zuliebe einen ausführlichen Briefwechsel führt. Für ihn sind diese Verse nicht ein toter Forschungsgegenstand; er ist beim Auffinden von Liedern in abweichender Lesart genau so glücklich wie ehedem die Brüder Grimm beim Aufspüren eines neuen Märchens. Eine „gewaltige Spannung" verspürt Uhland, als ihm unbekannte Sammelbände mit Volksliedern auf den Tisch gelegt werden, er bekommt „vor Freude fast das Tanzen in die Beine", als er einmal die Tannhäuserballade in neuer Form vor sich sieht. Man kann sich vorstellen, wie Uhland trunken vor Glück diese Verse vor sich hinsagt, wenn er seinen terrassenförmig angelegten Garten hinauf seh reitet und von oben das liebliche Neckartal weithin überblickt, die Waldhöhen und die Rebenhänge. Im Jahre 1844 schickt er die zwei Bände seiner „alten hoch- und niederdeutschen Volkslieder" in die Welt hinaus. „Das Ganze", schreibt er in seinem Vorwort, „ist weder eine moralische noch eine ästhetische Mustersammlung, sondern ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volkslebens." Wenn auch Uhland in dieser Zeit keinen Lehrstuhl hat, so finden seine altdeutschen Forschungen doch weithin Anerkennung. Die Berliner Akademie der Wissenschaften wählt ihn zum „Korrespondenten" — zum auswärtigen Mitglied — ihrer philosophischen und historischen Klasse, der Tübinger Senat überreicht ihm das Doktordiplom der Philosophie, auch die Wiener Akademie der Wissenschaften ernennt ihn zum korrespondierenden Mitglied. Und auf der ersten Germanisten Versammlung 1846 in Frankfurt, wo die neue wissenschaftliche Disziplin der Germanistik, der Deutschkunde, nun vor aller Welt fest gegründet dasteht, lernt er nicht nur die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm persönlich kennen, er ist dort selber einer der erlauchtesten Teilnehmer.
Im Jahre 1848 Ludwig Uhland, der von 1820 bis 1826 und dann wieder von 1832 bis 1838 Abgeordneter gewesen ist, steht auch im „tollen Jahr 1848" im Vordergrund. In Württemberg wird er zum Sprecher der 26
Wünsche des Volkes. Und dann nimmt er in der Frankfurter Nationalversammlung, nachdem er von den Wahlbezirken Tübingen-Rottenburg mit überwältigender Mehrheit gewählt ist, seinen Sitz ein. Seine Frau begleitet ihn nach Frankfurt. Hier tritt er freilich keiner der verschiedenen Parteirichtungen bei, er will sich keinem Parteigebot unterwerfen, sondern als unabhängiger Mann nur seinem eigenen politischen Gewissen folgen. Freiheit und Einheit des deutschen Volkes einschließlich Österreichs sind nach wie vor die Hauptgrundsätze, von denen er sich leiten läßt. Nur wenige Male ergreift er in der Frankfurter Paulskirche, dem Tagungsort der Nationalversammlung, vor den anderen Abgeordneten das Wort. Dabei finden sich in seiner Rede über die Wahl des Reichsoberhauptes folgende Anschauungen: „Ich spreche nicht gegen den Fortbestand der konstitutionell-monarchischen Verfassungen, aber davon bin ich nicht überzeugt, daß diese Staatsform mit ihren herkömmlichen Regeln für eine gänzlich neue, umfassende Schöpfung des deutschen Gesamtvaterlandes triebfähig und maßgebend sein könne. Ich gestehe, einmal geträumt zu haben, daß der großartige Aufschwung der deutschen Nation auch bedeutende politische Charaktere hervorrufen werde, und daß hinfort nur die Hervorragendsten an der Spitze des deutschen Gesamtstaates stehen werden. Dies ist nur möglich durch Wahl, nicht durch Erbgang. Retten Sie das Wahlrecht, dieses kostbare Volksrecht. Glauben Sie, meine Herren, es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist." Darum will der Demokrat Uhland auch von einem preußischen Erbkaisertum nichts wissen, das viele in Frankfurt anstreben. Freilich Ludwig Uhland ist kein Redner, der die anderen Abgeordneten mitreißen könnte. „Das ganz lichte Auge unter lichter Braue sieht über die Menge hinweg ins Leere, es haftet an keines Menschen Blick, es erwidert keinen, und wie ein Einsiedler spricht der Mann mit herber, schwäbisch akzentuierter Stimme da oben, als ob ihn niemand hörte. Langsam, in kleinen Pausen, aber sicher klimmt ein Satz nach dem anderen hervor." Deutschland — das ist für ihn das ganze deutsche Volk und nicht irgendein Fürst, dessen Macht sich ohne Mitwirkung des Volkes vom Vater auf den Sohn vererbt. In der damaligen Zeit hat sein Eintreten für eine gewählte Obrigkeit revolutionären und republikanischen Schwung. „Die Revolution und ein Erbkaiser", ruft er in einem kühnen Bild pathetisch aus, „das ist ein Jüngling mit grauen Haaren!" Immer weniger hoffnungsvoll gestalten sich die Verhandlungen in Frankfurt. Zwar schreibt er am 26. Mai 1849 als Sprecher des 27
Parlamentes noch einmal mit verbissener Energie: „Wir setzen der Ungunst der Verhältnisse diejenige Zähigkeit entgegen, die schon manchmal zum endlichen Siege geführt hat." Vergeblich ist dieses Wort: Das Frankfurter Parlament scheitert an seiner Aufgabe. Preußen spricht sich scharf gegen die Beschlüsse des Parlamentes aus, mehrere andere Regierungen schließen sich diesem Vorgehen an, das Parlament fällt auseinander. Das verbleibende „Rumpfparlament" siedelt von Frankfurt, wo man sich nicht mehr sicher fühlt, nach Stuttgart über. Am 18. Juni 1849 wird die Auflösung der Versammlung mit der Gewalt der Warfen erzwungen. Der hartnäckige, nun 62jährige Uhland stellt sich mit dem Präsidenten Löwe und einem alten Freund an die Spitze der Abgeordneten und versucht in das Versammlungslokal zu kommen. Kavallerie treibt die Volksvertreter mit dem Dichter Ludwig Uhland an der Spitze auseinander. Verwundet wird dabei allerdings niemand. „Die einzige Verletzung, die ich davongetragen", erklärt Uhland später, „ist das bittere Gefühl der unziemlichen Behandlung, welche dem letzten Reste der Nationalversammlung in meinem Heimatlande widerfahren ist."
Weisheit des Alters Wäre Uhland nur Politiker gewesen, er hätte sich nach den Ereignissen von 1848/49 in dem Gefühl, daß sein Lebensziel gescheitert sei, verbittert zurückziehen müssen. Aber er bleibt gefaßt und kehrt in sein Tübinger Haus zurück, um die verbleibenden Jahre mit gelehrten Arbeiten zu verbringen. Hier lebt er im innigen Einverständnis mit seiner Frau. Das Ehepaar hat selbst keine Kinder gehabt, aber öfters bevölkern die Kinder von Bekannten und nahen Verwandten Haus und Garten. Sie stören den Dichter nicht. Das große, helle Tübinger Haus hat Räume genug, wo Uhland unbehindert seinen Gedanken und Plänen nachgehen kann. Die ersten Stunden des Vormittags gehören seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Es ist besonders die „Schwäbische Sagenkunde", die den alternden Uhland beschäftigt. Er sinnt darüber nach, ob die sagenhaften Vorstellungen, wie sie vor zweitausend Jahren im schwäbischen Land lebendig gewesen sind, sich unverändert durch die Zeiten und Generationen erhalten haben. Der Literarhistoriker, der Volkskundler hält sich bei diesen Sagenforschungen, die ihn ebenso in die vergangenen Jahrhunderte wie in die lebendige Gegenwart führen, Tag für Tag gewissenhaft an sein Arbeitsprogramm. Auch den schon früher geliebten Volksliedern widmet er wieder viel 28
Zeit. Meist verläßt er gegen elf Uhr sein Haus, um bei jedem Wind und Wetter ohne Überrock spazierenzugehen. Der Wind streift die weißen Locken des rüstig Dahinschreitenden. Um zwölf Uhr ist Unland pünktlich zum Mittagessen zu Hause, öfters leisten ihm sein Pflegesohn Wilhelm Steudel, der Medizin studiert, und Ludwig Meyer, der jüngste Sohn von Unlands Schwester, ein Rechtsstudent, an der Tafel Gesellschaft. Die beiden begleiten Uhland gelegentlich auch auf seinen Wanderungen durch die Umgebung, die ihm täglich neue Schönheiten offenbart: „Nie erschöpf ich diese Wege, Nie ergründ' ich dieses Tal, Und die altbetretnen Stege Rühren neu mich jedesmal." Nach dem Essen zieht sich der Hausherr gewöhnlich zu einem kurzen Mittagsschlaf zurück, um dann wieder an seinem Schreibtisch zu arbeiten oder Briefe an junge Dichter und andere Verehrer zu erledigen. Er sitzt in einem schönen sonnigen Raum, wo Bücher und Notizzettel aufs genaueste geordnet und jederzeit griffbereit sind. In den Arbeitspausen beobachtet Uhland von seinem Fenster aus so gern den Neckar, der da unten still dahinfließt. Wie sich die Glanzlichter der Sonne auf dem Wasser spiegeln! Auch dem Treiben auf der Straße schaut er interessiert zu. Wenn der Straßenlärm aber zu groß wird, tritt er in den Garten, der hinter dem Haus terrassenförmig zur Höhe ansteigt. Hier beobachtet er, wie die Weinreben gedeihen, hier hegt er auch als verständnisvoller Gärtner seine Obstbäume. In Gedanken versunken steigt er die Stufen zum Gartenhäuschen hinan. Dort oben an der Kuppe des steilen Hanges, wo hohe Bäume einen aussichtsreichen Platz umschatten, setzt sich Uhland zu seiner Frau und genießt die blaue Stunde des Abends. Wenn es Nacht wird, hört man bis hierher aus den Kneipen die Lieder der Studenten. Es sind nicht selten Uhlandsche Lieder, die von der akademischen Jugend gesungen werden. Uhland selbst schreibt in jenen Jahren freilich kaum mehr ein Gedicht. Sein eigenes dichterisches Schaffen tritt hinter den Forschungen zurück. Im Jahre 1854 bekennt er: „Das Lied, es mag am Lebensabend schweigen, Sieht nur der Geist dann heil'ge Sterne steigen." Seitdem sind nur noch wenige Verse entstanden. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind ihm wichtiger. Aber noch immer vergrö29
ßern die „Gedichte", die nach wie vor in neuen Auflagen erscheinen, seinen Dichterruhm. Dabei bleibt Uhland so bescheiden wie immer. Man will ihm den höchsten preußischen Orden für Wissenschaft und Kunst, den Pour le merite, verleihen, auch ein hoher bayerischer Orden ist ihm zugedacht. Uhland aber will sich nicht von Fürsten ehren lassen, die seine freiheitlichen Ideale nicht teilen. Er lehnt die Auszeichnungen ab. Er ist zufrieden, wenn er auf seinen Reisen, die auch den Alternden in die deutschen Lande und wieder in die Schweiz führen, erfährt, daß sein dichterisches Werk noch immer lebendig ist. Im Schillerjahr 1859 erscheint der Zweiundsiebzigjährige zum letztenmal in der großen Öffentlichkeit. Anläßlich der Stuttgarter Schillerfeier wird der Schweigsame noch einmal vom Festjubel angesteckt und mischt seinen Trinkspruch in die Reden. Er scheint selber einer der großen Klassiker geworden zu sein.
Tod und Weiterleben Nun wird es einsamer um den Dichter. Von seinen besten Freunden ist Gustav Schwab bereits 1850 gestorben, im Schiller jähr stirbt sein Zeitgenosse und Gedankenfreund Wilhelm Grimm, andere Freunde folgen. Im Jahre 1861 verläßt ihn einer der Vertrautesten, sein Schwager Staatsrat Roser aus Stuttgart. Obwohl unser Dichter noch eine unverwüstliche Gesundheit zu besitzen scheint, äußert er vorausahnend: „Jetzt kommt die Reihe bald an mich." Im Februar 1862 erfährt Uhland, daß auch Justinus Kerner, einer der ältesten Freunde aus der Studienzeit, selbst ein bekannter Dichter, in dem schwäbischen Weinsberg verschieden sei. Trotz der Unbilden des Wetters scheut Uhland die damals recht beschwerliche Reise mitten im Winter nicht. Er will dem Freund das letzte Geleit geben. Auf dieser Reise zieht er sich eine schwere Erkältung zu, von der er sich nicht mehr erholt. Der jüngere Dichter Victor von Scheffel, der den Erkrankten im März 1863 besucht, bekennt, das Antlitz des Leidenden sei schon damals „einem Runenstein" vergleichbar und vom Tode gezeichnet gewesen. Uhlands Frau schreibt über die letzte Zeit ihres geliebten Lebensgefährten: „Die unruhigen Nächte und der immer wiederkehrende schnelle, ungleiche Puls dauerten fort. An guten Tagen konnte er ausfahren und seinen Garten besuchen, aber die Lebensgeister waren auch oft sehr gedämpft, und die Sorge der Seinigen wuchs von Tag zu Tag. Er konnte auch mit einem Freunde heiter, ja scherzhaft sein. Aber oft war auch der Geist durch die körperliche Schwäche gedrückt. In freieren Stunden ließ er sich gern aus der 30
Bibel vorlesen oder ein Lied von Paul Gerhardt. Auch sein Interesse für die deutschen Studien blieb lebendig. Bald aber konnten die Seinigen sich nicht mehr verbergen, daß sein Lebenstag sich neige. Er schlummerte viel bei Tage und war beim Erwachen sich nicht immer gleich klar bewußt. Bei Tag war er noch außer Bett, aber die Nächte waren häufig fast ohne Schlaf. Wenn seine Frau ihn tröstete, es könne mit Gottes Hilfe auch wieder besser kommen, so sagte er freundlich: jUnd wenn Gott es anders fügt, so schicke ich mich auch darein, wenn ich auch gerne noch bei dir geblieben, gerne noch gearbeitet hätte.' Er klagte wenig, war immer dankbar für jede Hilfeleistung und bedauerte nur, daß er Mühe machefi müsse. ,Nur Ruhe, nur Stille und du zur Pflege', war sein Verlangen. Der Zustand wurde schlimmer. Am vorletzten Tage rief er mit ganz glückseliger Stimme dreimal: Mutter! Mutter! und Vater! Es kamen nun noch schwere Stunden für den Leidenden. Dann kam die Erlösungsstunde. Am 13. November 1862 abends neun Uhr verließ der unsterbliche Geist die müde Hülle." „Woher? Wohin?" hat Uhland in einem seiner letzten Verse geschrieben und darauf geantwortet: „Wir wissen nur: aus Gottes Hand in Gottes Hand." Bei der Kunde von seinem Tod notiert Friedrich Hebbel in seinem Tagebuch: „Ludwig Uhland ist gestorben. Die Zeitungen bringen soeben die Nachricht. Der einzige Dichter, von dem ich ganz gewiß weiß, daß er auf die Nachwelt kommt." Viele Nachrufe zeugen von seinem Weiterleben. Der Freund Karl Mayer veröffentlicht 1867 zweibändige Erinnerungen an „Ludwig Uhland, seine Freunde und Zeitgenossen", die Witwe stellt „Ludwig Uhlands Leben" in einem bewegenden Buch 1874 dar. Sie trägt die Manuskripte zusammen, läßt von 1865 bis 1873 „Uhlands Schriften zui Geschichte der Dichtung und Sage" herausgeben und stellt mit diesen acht Bänden der ganzen Welt vor Augen, wie Uhland in nimmermüdem Fleiß an seinen großen Planungen zur altund mittelhochdeutschen Literaturgeschichte, zur Sagenforschung und zu den Volksliedern Jahrzehnte hindurch gearbeitet hat. Jedermann sieht nun, daß neben dem Dichter hier ein schürfender wissenschaftlicher Geist mit einer bewundernswerten Weite des Blicks und einer großen Einsicht am Werk gewesen ist. Bis zum Jahr 1881 sucht Uhlands Witwe dem Werk ihres Mannes zu dienen. Dann wird auch sie abberufen. Ein Doppelgrab auf dem Tübinger Friedhof, über das sich eine Trauerweide neigt, vereinigt wieder das liebende Paar. 31
Uhland ist auch in der Folge nicht vergessen: Sein „Briefwechsel" erscheint in vier Bänden 1911 bis 1916, seine Werke gehen in die Klassikerausgaben des Bibliographischen Instituts und der Verlage Bong, Cotta, Hesse und Becker ein, eine stattliche Literatur beschäftigt sich mit seinem Leben und Schaffen. Unvergessen vor allem sind seine Gedichte. Diese Lieder, Balladen und Romanzen klingen so echt wie ehedem, in ihrer meisterlichen Sprache verkünden sie heute wie damals, daß in Ludwig Uhland, diesem freiheitlichen, unbeugsamen Menschen, ein Herz schlug, das sich für alles Edle begeisterte. Das Jahrhundert, das seit seinem Tod verging, vermochte den Glanz seines Namens nicht zu trüben. Was der Romantiker in seiner Ballade „Des Sängers Fluch" von den Gedichten der „Sänger im hohen Säulensaal" sagt, gilt von seinen eigenen Gedichten: „Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger goldener Zeit, Von Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit; Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt, Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt." L i t e r a t u r (außer den im Text genannten Werken): Hermann Fischer, Ludwig Uhland. Stuttgart 1887. — Adolf Rümelin, Ludwig Uhland. Stuttgart 1887. — Uhlands Tagebuch 1810—1820. Stuttgart 1898. — Ludwig Uhland, Gedichte, kritische Ausgabe. Stuttgart 1898. — Max Mendheim, Ludwig Uhland. Leipzig 1900. — Carl Neeff, Zur Erinnerung an Ludwig Uhland und das Uhlandhaus in Tübingen. Stuttgart 1903. — Hans Haag, Ludwig Uhland, die Entwicklung des Lyrikers. Stuttgart 1907. — Walther Reinöhl, Uhland als Politiker. Tübingen 1911. — Arthur Hartmann, Ludwig Uhland, ein Volksbuch. Stuttgart 1912. — Hermann Schneider. Uhland, Leben, Dichtung, Forschung. Berlin 1920. — Adolf Thoma. Uhlands Volksliedsammlung. Stuttgart 1929. — Hugo Moser, Uhlands Schwäbische Sagenkunde und die germanistisch-volkskundliche Forschung der Romantik. Tübingen 1950. — Hermann Niethammer, Des jungen Uhland Umwelt und seine Jugendliebe. Ulm 1953.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 367 ( D i c h t u n g ) H e f t p r e i s 30 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.
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