KLEINE JUGENDREIHE
von L. Pantelejew
Die Geheimmeldung
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1955
6. Jahrgang, 1. S...
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KLEINE JUGENDREIHE
von L. Pantelejew
Die Geheimmeldung
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1955
6. Jahrgang, 1. Septemberheft Russischer Originaltitel: IIAKET Deutsch von Wera Rathfelder
Copyright 1955 by Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin Printed in Germany • Lizenz-Nr. 3 – 285/83/55 Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: H. Betcke Satz und Druck: (III/9/1) Sächsische Zeitung, Verlag und Druckerei, Dresden N 23, Riesaer Straße 32 6957
Nein, liebe Freunde, eine Heldentat habe ich noch nicht vollbracht. Mein Leben verlief ziemlich alltäglich und uninteressant. Als Kind hütete ich beim Gutsbesitzer Landyschew Schafe. Dann war ich Zimmermann in der Stadt Nikolajew. Später holte man mich zur Marine, auf das Schiff „Die heiligen zwölf Apostel“. Dann kam die Revolution Da kämpfte ich natürlich. Dann lehrte man mich lesen und schreiben Jetzt leite ich die Viehzuchtsowchose „Budjonny“ Wie ich dazu gekommen bin, erkläre ich euch ein andermal. Heute will ich erzählen, was mir einmal an der Front passiert ist – ein ganz kleines Abenteuer nur, kaum der Rede wert. Es war im Bürgerkrieg. Ich kämpfte in Budjonnys Reiterarmee, (Budjonny – in der Zeit des Bürgerkrieges (1918 – 1922) in der diese Erzählung spielt, Befehlshaber der I. Roten Reiterarmee! heute Marschall der Sowjetunion)
in der Sonderabteilung des Genossen Sawaruchin. Lächerlich jung war ich damals: knappe vierundzwanzig Jahre. Unsere Division lag in dem Dörfchen Tyri. Wir
waren recht übel dran: links setzte Schkuro uns zu, rechts Mamontow, und von vorne rückte General Ulagai an. Wir gingen zurück. Ich erinnere mich, daß ich schon zwei Tage nicht geschlafen hatte.
Ich konnte kaum laufen, wegen der Blasen am linken Fuß – damals hatte ich nämlich noch beide Beine. Ich sehe mich, wie ich mich vor einer Haustür auf die Bank setzte, um meinen linken Stiefel auszuziehen. Ich zerrte an dem Ding und dachte dabei: Verdammt, wie soll ich nun laufen! Mit diesen Riesenblasen? Daß mir das noch passieren mußte! Ich hatte kaum den Stiefel ausgezogen, da kam ein Melder vom Stab gelaufen. „Trofimow!“ brüllte er. „Los! Zum Stab! Genosse Sawaruchin schickt nach dir!“ „Zu Befehl!“ sagte ich. „Verdammt!“ Schnell wickelte ich mir den Fußlappen um, fuhr wieder in den Stiefel und hopste auf einem Bein zum Stab. So ein Blödsinn! dachte ich. Kaum kriechen kann man und wird herumgehetzt wie ein dummer Junge! „So“, sagte ich! „da bin ich, Kommissar! Was gibt’s?“
Sawaruchin saß auf dem Fensterbrett und zählte die Knöpfe an seiner Bluse. Er zählte immer seine Knöpfe. Aus Nervosität. Er war früher Bergmann, Donezkumpel. „Setz dich auf den Stuhl da, Trofimow“, sagte er. „Zu Befehl!“ Natürlich setzte ich mich. So saß ich nun da und wippte mit dem Fuß. Sawaruchin sprang vom Fensterbrett. Er fingerte an einem Knopf herum und sagte zu mir: „Trofimow“, sagte er, „ich habe eine große Sache für dich. Versprich mir, daß du notfalls dein Leben für die Revolution hingibst.“ Ich stand auf und kniff die Augen zusammen. „Zu Befehl! Ich verspreche es!“ „Bist du wirklich bereit?“ Ich zog mir die Stiefelschäfte hoch und schlug die Hakken zusammen. „Jawohl! Ich bin bereit. Zu Befehl!“ „Hier“, sagte er und nahm einen riesigen Briefumschlag mit zwei Siegeln aus der Schublade, „hier, nimm und reite nach Lugansk zum Stab der Reiterarmee. Dort übergibst du diesen Brief Budjonny persönlich!“ „Zu Befehl! Budjonny persönlich übergeben!“ „Du mußt aber wissen, Trofimow“, sagte Genosse Sawaruchin, „daß wir schlimm dran sind, sehr schlimm… Dein Auftrag ist gefährlich. Ich schicke dich in den sicheren Tod.“ „Na und?“ sagte ich. „Befehl ist Befehl.“ „Womöglich erwischt dich eine weißgardistische Kugel, oder sie nehmen dich gefangen. Paß ja auf, dieser Brief enthält außerordentlich wichtige Meldungen.“ „Zu Befehl!“ antwortete ich. „Den Brief gebe ich nicht her. Eher lasse ich mich mit ihm zusammen verbrennen.“
„Im schlimmsten Falle vernichtest du ihn“, sagte Sawaruchin. „Solltest du aber Lugansk erreichen, so ist dies kurz der Inhalt der Meldung: Von links bedrängt uns Schkuro, von rechts Mamontow, und von vorn greift Ulagai an. Letzterem muß man in den Rücken fallen und um jeden Preis die Mitte halten, damit die einzelnen Kosakeneinheiten sich nicht vereinigen können. Unsere Division hat soundsoviel Mann. Der Feind ist doppelt so stark. Ohne sofortige Hilfe sind wir verloren.“ „Alles klar!“ sagte ich. „Ohne sofortige Hilfe verloren! Gib her, Genosse.“ Ich nahm den Brief, tastete ihn ab, knöpfte mein Hemd auf und steckte den Umschlag hinein, unter das Koppel. „Auf Wiedersehen, Kommissar!“ „Auf Wiedersehen, Trofimow. Komm heil wieder zurück!“ Ich raus. Draußen auf der Treppe kniff ich die Augen zusammen, und wie meine Absätze so klapperten, dachte ich: Verdammt! Wenn mir die gemeinen Blasen nur keinen Streich spielen! Ich lief zur Koppel, wo unsere Pferde weideten. Die Köpfe am Boden, kauten sie emsig Klee. Ich suchte mir das beste Pferd aus, den „Neger“. Ein wunderbares Tier, österreichischer Kriegsgefangener. Ich schnallte den Sattel fest, schwang mich hinauf, duckte mich, gab dem Gaul die Sporen und flog davon. Mein „Neger“ jagte dahin wie der leibhaftige Teufel. Wir fegten eine Chaussee entlang. Links und rechts huschten Linden vorbei, wild sauste es mir in den Ohren. Jede Minute brachte uns eine Werst voran; mein „Neger“ aber schnaubte nur und schüttelte die Mähne… Großartig! Dann polterten wir über eine Holzbrücke, bogen in ein abgebranntes Dorf ein… Und weiter ging es durch
einen Wald. Da war es dunkel und feucht. Ich hob alle Augenblicke den Kopf, um nach der Sonne zu sehen: nach der Sonne findet man den Weg leichter. Kaum blickte ich aber hoch, schlugen mir die Zweige ins Gesicht. So duckte ich mich immer wieder schnell und steckte meine Nase tief in „Negers“ Mähne. Plötzlich, wißt ihr, hörte der Wald auf, und ich sah: da war ein Fluß. Welcher konnte das sein? Was war das überhaupt für ein Gewässer? Das kam zu überraschend. Ich galoppierte rechts das Ufer entlang, suchte eine Brücke. Keine da! Ich kehrte um und galoppierte nach links. Auch nichts! Der Fluß war breit und dunkel; später habe ich erfahren, daß es der Donez war. „Verdammt, so ein Pech!“ sagte ich. „Wird nichts übrigbleiben, ,Neger’, wir müssen ins Wasser!“ Wir ließen uns also vorsichtig den Abhang hinab. Ich lenkte das Pferd zum Wasser. Es ging auch dicht heran. „Hopp!“ sagte ich, gab ihm leicht die Sporen und zog die Zügel an. „Neger“ rührte sich nicht. „Los, du Dummkopf!“ sagte ich. „Hast wohl Angst vor dem Wasser?“ Er stand mit zitternden Flanken, sogar die Ohren zitterten mit. „Na, nun mach aber!“ sagte ich. Jetzt wurde ich böse… Ich stieß ihn in die Flanken und pfiff ihn an: „Los, spring!“ „Neger“ machte einen Satz und stürzte sich ins Wasser, mitten hinein ins Tiefe. Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, die Steigbügel abzustreifen; aber als ich wieder an die Oberfläche kam, sah ich, daß ich allein auf dem Fluß schwamm, während neben mir, in etwa fünf Meter Entfernung, Kreise auf dem Wasser zitterten und weiße Blasen glucksten. Wie tat mir das Pferd leid!
An die fünfzehn Minuten schwamm ich um die Stelle herum. Ich hatte immer noch die Hoffnung, „Neger“ würde auftauchen; aber er tauchte nicht wieder auf. Er war ertrunken. Schluchzend wie ein kleines Kind, schwamm ich ans andere Ufer. Dort kletterte ich hinaus. Ich triefte wie eine Wasserleiche. Meine Mütze hatte ich verloren. Die Stiefel waren aufgequollen. In so weichen Stiefeln lief es sich leicht. Ich ging einen kleinen Pfad entlang. Die Sonne wärmte mir die linke Backe; demnach lag Lugansk weiter rechts, dort, wo meine Nase war. Ich ging also meiner Nase nach, übrigens wurde ich allmählich wieder trocken. Die Stiefel aber auch. Sie schrumpften immer mehr ein und fingen an zu drücken. Plötzlich stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein Mann vor mir. Kein Soldat. Ein Zivilist. In Bauernkleidung. Unheimlich sah er aus. „Guten Tag, Herr Soldat!“ sagte er und lachte. Ich fragte: „Weshalb lachst du?“ Offen gesagt, ich war ein wenig erschrocken. Immerhin machte ich keinen Faschingsbummel, sondern war an der Front. Er aber meinte: „Ich lache, Herr Soldat, weil ihr sehr freundlich seid.“ „Was soll das heißen, freundlich. Wer bist du?“ „Ich war ein Mensch“, sagte er, „und jetzt bin ich ein herrenloser Hund. Sie glauben es nicht, weil ich keinen Schwanz habe; ich bin aber trotzdem ein Hund…“ „Was soll das“, sagte ich. „Drück dich deutlicher aus!“ Der Kerl lachte. „Ihr habt meine Frau umgebracht“, sagte er, „dafür habe ich jetzt euern Posten mit einem Stein erschlagen.“ „Was, den Posten?“ fragte ich.
Ich griff sofort nach meinem Browning. Er aber faßte sich an die Kehle, zerriß sich das Hemd und fing laut an zu schreien: „Schieß nur, schieß, du MamontowKnecht…“ Nun begriff ich. Meine Mütze war weg, der Stern nicht zu sehen, und so dachte dieser Mensch, ich wäre ein weißer Bandit, ein Mamontow-Kosak. „Wer hat deine Frau umgebracht?“ fragte ich. „Antworte!“ „Ihr“, gab er zur Antwort, „ihr guten Herren. Und mein Häuschen habt ihr verbrannt. Und meine Frau, meine Alte, habt ihr mit dem Bajonett erstochen. Vielen, vielen Dank auch…“ Er sank plötzlich in die Knie und begann zu weinen. Verdammt! Da bin ich an einen Wahnsinnigen geraten, dachte ich. Was soll ich mit ihm anfangen? „Steh auf, armer Mensch“, sagte ich. „Geh! Du irrst dich: ich bin kein Weißer, sondern ein Roter, ein regelrechter Roter.“ Er stand auf und sah mich an, mit Augen, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Große, traurige Augen waren das, tatsächlich wie bei einem Hund. „Geh bitte weiter!“ sagte ich. Aber er stand und guckte. Ich bekam es mit der Angst. Zwar hatte ich den Browning und sechs Patronen im Ladestreifen; trotzdem war mir nicht ganz geheuer. Der Mann schwieg. Da verließ ich den kleinen Pfad und machte vorsichtig einen Bogen um ihn herum. Als ich weiter weg war, ging ich dann scharf zu. Aber nun, wißt ihr, meldeten sich mit einemmal wieder die Blasen. Während ich bei dem Verrückten gestanden hatte, waren meine Stiefel vollends getrocknet. Es war nicht auszuhalten, wie unverschämt die Blasen
brannten. Ich konnte kaum laufen. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um – es war der Verrückte. Er rannte hinter mir her und schrie. Mein Gott, war das ein Schreck! Ich wollte davonlaufen, konnte aber nicht. Ich hob den Browning und drückte ab. Aber kein Schuß ging los. Der Verschluß klemmte. Jedenfalls blieb der Verrückte stehen. Und dann schrie er wieder: „Herr Genosse! Gehen Sie nicht zu dem Grabhügel dort. Hinter dem Grabhügel erwartet Sie der Tod.“ Ich kapierte nicht. Hinter welchem Grabhügel? Ach, Unsinn! Und ging weiter. Ich wußte damals nicht, daß man in dieser Gegend zu jeder Anhöhe Grabhügel sagt. Und auf eine Anhöhe stieg ich gerade hinauf. Als ich noch im Steigen war, sah ich plötzlich, daß mir von oben ein berittener Spähtrupp entgegenkam. Ich wußte sofort, woran ich war. Achselstükke blitzten in der Sonne, Lammfellmützen tauchten auf, Kosakensäbel, Piken… Da wetzte ich trotz meiner ekelhaften Blasen nun doch los. Ich schlug mich ins Gebüsch, warf den Browning weg und griff in mein Hemd, unter das Koppel, wo das Geheimschreiben für den Genossen Budjonny steckte. Aber, heiliger Bimbam, wo war der Brief? Ich tastete über meinen nackten Bauch – der war dort, wo er zu sein hatte, aber der Brief, der Brief war weg. Spurlos verschwunden… Schon jagten die Pferde die Anhöhe herab, schon hörte ich die Kosaken rufen: „He! Halt!“ Selbst das Schnauben der Tiere war schon zu hören und sogar das Pfeifen ihrer Nüstern. Aber ich konnte nicht weiterlaufen. Völlig ausgeschlossen. Es ging einfach nicht, versteht ihr, wegen der Blasen. Schluß, aus, Feierabend!
Auf so blöde Weise denen in die Hände zu fallen! So ausgemacht blöde! Sie umzingelten mich, sprangen aus den Sätteln und stürzten sich auf mich. Nun, ich hatte damals glücklicherweise noch meine beiden Hände und zeigte ihnen, was eine Harke ist. Dem einen gab ich eins ins Gebiß, dem andern eins aufs Ohr, und der dritte… der dritte knallte mir eins über den Schädel. Ich fiel hin und verlor die Besinnung-, aber ich blieb am Leben. Als ich zu mir kam, war ich völlig naß. Wasser floß in Strömen auf mich nieder, ohne daß ich begriff, woher. In die Nase, in die Ohren, in die Augen, in den Kragen. Brrr… Ich schrie: „Halt, es reicht! Hört auf mit dem Unsinn!“ Und plötzlich sah ich, daß ich auf der bloßen Erde neben einem Brunnen lag. Um mich drängten sich Offiziere, Kosaken. Einer hielt einen eisernen Eimer in der Hand, ein anderer ein Fläschchen mit Salmiakgeist oder etwas Ähnlichem. Alle beugten sich zu mir herunter, freuten sich… stießen mich mit ihren Stiefeln. „Aha, er kommt zu sich“, sagten sie. – „Er hat sich bewegt!“ – „Er fängt an zu atmen, die Bolschewistenschnauze!“ – „Steh auf!“ befahlen sie. Ich stand auf. Mir war es einerlei, was ich tat, ob ich lag oder stand oder auf einem Stuhl saß. Nun stand ich also. Pitschnaß und triefend von oben bis unten. „Und jetzt?“ fragten sie. „Wohin mit ihm?“ – „Was sollen wir uns lange mit ihm herumplagen!“ sagte einer. „Schafft den Hund gleich zum Stab!“ Man brachte mich in, den Stab. Wie ich so ging und immer noch triefte, kamen mir allerlei Gedanken, keine sehr frohen, könnt ihr euch denken. Ja, ja, Petja Trofi-
mow, sagte ich mir, dein Leben geht zu Ende. Du tust die letzten Schritte, übrigens, diese letzten Schritte waren fürchterlich. Meine Blasen, Freunde, waren ganz und gar übergeschnappt. Sie bissen geradezu, sie zwackten wie mit Zangen. Ach, fiel mir das Gehen schwer! Ja, Petja, sagte ich mir. Du bist nun lange genug herumspaziert. Schluß! Deine Blasen tun nicht mehr lange weh. In einer halben Stunde wirst du erschossen, BudjonnyReiter Petja Trofimow! – – Hm, schöner BudjonnyReiter! Ein altes Weib! Eine Trantute! Den Brief hast du verloren! Das muß man sich mal vorstellen: ein Budjonny-Reiter verliert einen Brief!… Sollte ich ihn wirklich verloren, regelrecht verbummelt haben? Das war doch nicht möglich! Das konnte, das durfte einfach nicht sein! Ich tastete mich also unauffällig ab. Während ich so ging, das heißt humpelte, wißt ihr, kramte ich heimlich vorne in meinem Hemd herum, suchte in den Hosen und beklopfte meine Seiten. Kein Brief zu finden! Na, was denn? Das war doch ein Glück! Der Brief hätte alles nur noch schlimmer gemacht. So ließ es sich leichter sterben. Jedenfalls war unser Brief nicht Mamontow in die Hände gefallen. Mein Gewissen war immerhin nicht ganz so schuldbeladen… „Halt!“ sagten die Begleitsoldaten. „Halt, Bolschewik! Wir sind da!“ Wir stiegen zum Stab hinauf, betraten einen Flur, ein halbdunkles Zimmer. Da sagten sie zu mir: „Warte, wir machen dem Offizier vom Dienst Meldung.“ „Gut“, sagte ich, „macht nur eure Meldung!“ Zwei von ihnen zogen ab, die andern beiden blieben bei mir. Wie ich so ein Weilchen gestanden hatte, sagte ich: „Kameraden! Wir sind doch immerhin Brüder, Landsleute, Söhne eines Landes, nicht wahr? So hört doch mal zu, Lands-
leute, ich bitte euch, versetzt euch in meine Lage. Bitte, Kameraden! Erlaubt mir, vor dem Tode noch einmal die Stiefel auszuziehen. Meine Blasen drücken ganz unausstehlich.“ Der eine erwiderte: „Wir sind nicht deine Kameraden, du Aas! Erst Rußland verhökern und dann: ,meine Blasen drücken’. Nichts da, ins Jenseits kommst du auch mit Blasen. Gedulde dich nur noch ein Weilchenl“ Der andere jedoch meinte: „Was ist denn schon dabei? Laß ihn doch die Stiefel ausziehen! Mach nur, Landsmann, zieh die Knobelbecher aus!“ Ich setzte mich also eins, zwei auf eine kleine Bank in der Ecke und riß mir fast mit den Zähnen die Stiefel von den Füßen. Ich zog den einen aus, dann den anderen… Teufel auch, das tat wohl, die nackten Zehen zu bewegen! Tja, wißt ihr, man kratzt und reibt sie sich, bis man schließlich vor Vergnügen die Augen zusammenkneift und gar keine Lust mehr hat, die Stiefel je wieder anzuziehen. Wie ich da nun auf dem Bänkchen im Dunkeln saß und mir die Hacken kratzte, kamen mir auch gleich ganz andere Gedanken, recht zuversichtliche. Na und? dachte ich. So schlecht steht doch deine Sache gar nicht. Was will man dir eigentlich anhaben? Was hast du denn ausgefressen? Ein Roter sollst du sein? Schließlich trägst du doch kein Schild um den Hals, daß du ein Roter bist – Sterne hast du nicht, Papiere auch nicht. Ist also noch gar nicht raus, wofür man dich erschießen kann. Es wird noch ganz schönen Stunk geben, meine Herren Kameraden! Aber in diesem Augenblick – ich hätte meine Hacken noch stundenlang kratzen können – ging die Tür auf, und man rief: „Den Gefangenen!“
„He, Gefangener, schnell, zieh die Stiefel an!“ sagten die Burschen zu mir. Ich zog mir also schön bedächtig die Stiefel wieder an. Zuerst umwickelte ich natürlich ganz ordentlich den rechten Fuß und zog dann den rechten Stiefel drüber. Nun sollte der linke drankommen. Zunächst nahm ich erst mal den Fußlappen. Nanu, was war denn das? Ich nahm also den Fußlappen, befühlte ihn und spürte, da war noch etwas, das da nicht hingehörte. Etwas aus Papier. Der Brief! Ach, du meine Güte! Er war natürlich völlig aufgeweicht, zerknautscht wie ein alter Lappen. Begreift ihr? Er war durch die Hosen in den Stiefel hinuntergerutscht und dort steckengeblieben. Was tut man in solch einem Fall? Sagt mal selbst: hätte ich ihn wegwerfen sollen? Unter das Bänkchen? Ja? Dann hätten sie ihn gefunden. Nur einmal ausfegen, und sie hätten ihn, unweigerlich! Um Himmels willen! Ich knüllte also den Brief fest zusammen und steckte ihn im Dunkeln unauffällig in die Tasche. Dann zog ich mir schnell den zweiten Stiefel an, stand auf und sagte: „So, ich bin fertig.“ „Also los!“ sagten sie. Wir traten in das Zimmer des Stabes. Am Tisch saß ein Offizier. Dem Äußeren nach nicht übel. Er hatte eine ziemlich sympathische Fratze. So ein junger, semmelblonder. Guckte ohne jede Gehässigkeit. Und vor ihm auf dem Tisch lag ein Stein. Versteht ihr? Ein riesiger Pflasterstein lag da auf dem Tisch. Und der Offizier lächelte und streichelte diesen Pflasterstein leicht mit der Hand. Unwillkürlich sah ich ebenfalls auf diesen Pflasterstein. „Nun, erkennst du das?“ fragte der Offizier. „Was?“ erkundigte ich mich.
„Nun, das hier“, sagte er, „dieses Steinchen.“ „Nein, diesen Stein kenne ich nicht.“ „Na, wirklich nicht?“ „Ich habe in meinem Leben noch nichts mit Steinen zu tun gehabt“, sagte ich. „Ich bin Zimmermann, und überhaupt verstehe ich nicht, was ich Ihnen getan haben soll. Ich bin Zimmermann, nichts weiter, ich gehe so den Weg entlang… verstehen Sie, und plötzlich…“ „Aha“, sagte er, „und plötzlich steht auf dem Weg ein Posten, nicht wahr? Der Zimmermann nimmt einen Stein – eben diesen – und schmettert ihn dem Posten an den Kopf!“ Er sprang plötzlich auf, knirschte mit den Zähnen und fing an zu brüllen: „Schurke! Denkst wohl, mich für dumm verkaufen zu können! Ich hänge dich an der Nase auf! Ich verbrenne dich bei lebendigem Leibe! Ich reiße dich in Stücke…“ Ach, du Satan! dachte ich. Du willst mich in Stücke reißen? „Kaum“, sagte ich. „Eher werde ich dir wohl die Beine brechen, du Muttersöhnchen. Solche Bürschchen wie dich jage ich seit anderthalb Jahren, verstehst du? Du Pudding!“ Der Teufel ritt mich, so etwas zu sagen. Was hieß hier außerdem „Pudding“? Das hatte hier überhaupt nichts zu suchen. Er begann zu fauchen, kam auf Touren und blökte mir ins Gesicht: „Ach! Ein Bolschewik? Ein Genosse? Ein Moskauer Spion? So, so, so. Das ist ja ausgezeichnet!… Jungs!“ schrie er seinen Kosaken zu. „Los, ran, durchsucht ihn, den Lumpen, von Kopf bis Fuß!“ Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Ich wendete mich ab und kniff die Augen zusammen. Ich ballte so die Hände, daß die Nägel sich in die Handflächen bohrten. Aber in diesem Augenblick, wißt ihr, flog zu meinem Glück
die Tür auf, hereingebraust kam ein blutjunger Offizier und schrie: „Meine Herren! Meine Herren! Entschuldigung… der General kommt!“ Alle spritzten hoch, kreidebleich. Mein Semmelblonder sprang ebenfalls auf und wurde ebenfalls leichenblaß. „Das fehlte gerade noch!“ sagte er. „Grundgütiger Himmel!… Achtung!“ brüllte er dann. „Sofort eine Wache aufstellen! Alle anderen sofort auf die Straße zum Empfang des Atamans! Los, los, ein bißchen plötzlich!“ Alles flitzte zur Tür. Nur ich blieb allein zurück mit einem jungen Kosaken in englischen Schnürstiefeln, demselben, der Mitleid mit mir gehabt und mir erlaubt hatte, die Stiefel auszuziehen, erinnert ihr euch? Er stand an der Tür, spielte mit dem Gewehr und sah mir ins Gesicht. Aber sein Gesichtsausdruck, wißt ihr, war undurchsichtig. Lächelte er? Oder war er möglicherweise erschrocken? Vielleicht hatte er Angst - Angst, ich könnte fliehen. Ich wußte es nicht. Ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich steckte die Hand in die Tasche, befühlte den Brief und dachte: Nun noch das letzte Rätsel: Wohin mit dem Brief? Vernichtet werden mußte er auf jeden Fall. Aber wie? Auf welche schlaue Weise? Einfach wegwerfen konnte ich ihn nicht, das war klar. Zerreißen war unmöglich. Wie denkt ihr euch das? Ich zerreiße ihn, und dann kleben die Teufel die einzelnen Stückchen fein säuberlich wieder zusammen. Nein! Aber irgend etwas mußte mir doch einfallen. Ich stand also da, wißt ihr, befühlte den Brief und linste zu meinem Aufpasser rüber. Und der, was machte der? Bei Gott – er lächelte! Ich guckte genau hin, er lächelte tatsächlich. So
ein verdächtiges Lächeln! Entweder hatte er Mitleid mit mir, oder er machte sich lustig über mich. Das möchte einer verstehen! Und vor allem: er spielte ständig mit dem Gewehr. Ich dachte: Und wenn ich ihm in Allahs Namen den Brief gebe? Vielleicht so: „Hier, mein Freund, nimm und versteck ihn bitte!“… Nein, nein, um nichts in der Welt! Er ist doch auf jeden Fall eine verdächtige Person. Sehr verdächtig sogar! Aber wo um alles in der Welt sollte ich mit dem Brief hin, Freunde?! Endlich dämmerte es in mir: Uff! Was gab es da noch zu überlegen? Aufessen, nichts als aufessen!… Versteht ihr? Ich esse den Brief auf, und damit hat sich’s. Sofort nahm ich den Brief heraus. Von Brief konnte natürlich keine Rede mehr sein, es war einfach ein schwerer Klumpen Papier – – sah fast wie eine Semmel aus, so eine Art kleine Papierpastete. Ach, du mein Gott, dachte ich. Wie soll ich das nun bloß runterkriegen? Wo, von welchem Ende soll ich überhaupt anfangen? Ich zögerte. Es war immerhin eine ungewöhnliche Sache. Schließlich, ist es ein Unterschied, ob man Papier essen soll oder Weißbrot. Da sah ich noch einmal zu meinem Aufpasser rüber. Er lächelte! Könnt ihr das verstehen? Er lächelte, der weiße Bandit! Ach so, dachte ich. Du lächelst also? Daraufhin biß ich frech, zum Trotz, das erste Stückchen von dem Briefe ab und begann es langsam zu zerkauen. Ich fing also an zu essen. Ich futterte, was das Zeug hielt, und schmatzte sogar ein wenig. Was soll ich sagen? Weil es so ungewohnt war, schmeckte es natürlich nicht sehr gut. Es hatte einen ge-
wissen Beigeschmack und war widerwärtig, herunterzuschlucken. Aber das schlimmste: es war ohne Salz, ohne alles, und ich mußte es so, ganz trocken, kauen. Mein Aufpasser hatte aufgehört zu lächeln und mit dem Gewehr zu spielen. Er beobachtete mich nun völlig ernst. Plötzlich sagte er ganz leise zu mir: „He! Wohl bekomm’s!“ Ich war baff. Wie kam der dazu? Ich vergaß sogar zu kauen. Doch in diesem Augenblick ging vor dem Fenster, auf der Straße, ein gewaltiges Geschrei los: „Hurraaa! Hurra! Hurra!“ Ein Wagen mußte vorgefahren sein. Glöckchen läuteten, und ich hatte noch gar nicht genügend Zeit gehabt, mich gehörig zu wundern, als im Flur Stimmen losblafften, Kolben aufstießen und mein Posten, zur Vogelscheuche erstarrt, an der Tür stand. Ich erschrak bis in die Knochen. Ich preßte mein niedliches weißes Pastetchen zusammen und steckte es mit einem Male in den Mund. Stopfte es so fest hinein, daß ich die Lippen kaum zusammenbekam. So stand ich und kriegte kaum Luft. Ich konnte nicht einmal meinen Speichel herunterschlucken. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und die Bande stürzte herein. Voran der General, ein großer, schieläugiger Bär mit einer Kosakenpelzmütze und rasselndem Säbel. Hinter ihm die Herren Offiziere, die Schreiber und die Ordonnanzen. Sie liefen geschäftig hin und her, schleppten Stühle für den Herrn General herbei und rannten sich bald gegenseitig um. Ganz besonders eifrig war der Stabsoffizier vom Dienst. Wie ein Kammerkätzchen scharwenzelte er um seinen General herum. „Pardon, Euer Exzellenz“, sagte er. „Wir haben Sie überhaupt nicht erwartet. Wir wähnten Sie, sozusagen,
gerade bei Jelenowka in der Schlacht.“ „Ja, das ist vollkommen richtig“, sagte der General. „Die Schlacht bei Jelenowka ist bereits geschlagen. Die Roten sind auf dem Rückzug. Mit Gottes Hilfe haben unsere Einheiten Slawjanoserbsk genommen und rücken nun über Olchowaja nach Lugansk vor.“ Er trat zur Wand, an der eine Militärkarte hing, und erläuterte mit erhobenem Zeigefinger Richtung und Zweck der Marschbewegungen ihrer Einheiten. Dann bemerkte er mich. „Und das, was ist das für einer?“ fragte er. „Das ist ein Gefangener, Euer Exzellenz“, sagten sie. „Er hat vor einer halben Stunde unseren Posten mit einem Stein erschlagen. Er wurde von unserem berittenen Spähtrupp in der Umgebung gefaßt.“ „So, so“, sagte der General und kam auf mich zu, wobei er mit den Zähnen knirschte. „So, so, mein Engel. Haben sie dich erwischt. Reingefallen, was? – Ist er schon verhört worden?“ „Nein, dazu war noch keine Zeit.“ „Durchsucht?“ Ich erstarrte. Ich preßte die Zähne fester aufeinander und dachte: Du hast recht. Reingefallen, mein Engel. Alle schwiegen. Einer sah den andern an und zuckte mit den Schultern, was soviel heißen sollte wie: keine Ahnung, wir wissen es nicht. Da plötzlich, stellt euch vor, sagte mein Landsmann, der Kosak mit den englischen Schnürstiefeln: „Zu Befehl, Euer Exzellenz Er ist durchsucht worden.“ „Wann?“ „Vorhin, als er bewußtlos am Boden lag.“ „Und?“ fragte der General. „Nichts gefunden?“
„Doch. Wir haben etwas gefunden.“ „Nämlich?“ „Eigentlich nichts“, antwortete mein Kosak. „Nur so ein schmales Band.“ „Was für ein schmales Band?“ „Hier“, sagte er und nahm ein Bändchen aus seiner Tasche, das ich, bei Gott, noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Ein gewöhnliches Leinenbändchen, wie man es zum Umwickeln von Bastschuhen nimmt. Es war aber nicht von mir. Ganz bestimmt nicht. „Ja, das ist ein äußerst verdächtiges Bändchen“, sagte der General. Dann fragte er mich: „Ist das deins?“ Ich drehte und schüttelte zwar meinen Kopf, wißt ihr, aber sagen: nein, es ist nicht meines, konnte ich nicht. Ich hatte den Mund voll. Nun fing der Kosak wieder an zu reden: „Euer Exzellenz, das Bändchen ist ungefährlich. Es ist ein ganz gewöhnliches Zimmermannsband. Die hiesigen Zimmerleute messen damit statt mit einem Zollstock.“ „Zimmerleute?“ sagte der General. „Bist du ein Zimmermann?“ Ich nickte mit dem Kopf, aber, versteht ihr, sagen: nun ja, natürlich bin ich Zimmermann, das konnte ich nicht. Mein Mund war immer noch voll. „Was heißt das?“ fragte der General. „Ist er stumm, oder was ist los?“ „Aber nein“, sagte der Offizier. „Ich muß Ihnen sagen, Euer Exzellenz, daß dieser Stumme hier vor fünf Minuten noch solche Reden gehalten hat, daß es zuwenig wäre, wollte man ihn dafür aufhängen. Um so mehr, als er mich persönlich beleidigt hat…“ „So, das ist ja allerhand“, sagte der General. „Nun,
bringen Sie mir einen Stuhl, ich werde ihn verhören.“ Er setzte sich auf den Stuhl, stützte sich mit dem Ellbogen auf seinen Säbel und sagte: „Das verspreche ich dir: wenn du mir nicht sofort antwortest, wer und woher du bist, kommst du an die Wand. Ohne Verhandlung und ohne Untersuchung. Verstanden?“ Natürlich hatte ich verstanden. Was war daran denn unverständlich? Alles klar. An die Wand. Ohne Verhandlung und Untersuchung. Ich schwieg. Der General schwieg ebenfalls und sagte dann: „Wenn du ein bolschewistischer Spion bist, nenne mir die Bezeichnung deiner Einheit, ihre Stärke und den Standort des Stabes. Bist du ein hiesiger Zimmermann, so sag mir, aus welchem Dorf.“ Habt ihr das gehört? Das Dorf sollte ich ihm nennen… Ich dachte: Mein Dorf: Sarg. Ich hätte es auch gesagt, wenn ich gekonnt hätte. Aber mein Mund war verstopft. Ich dachte nur an eines: Wie stelle ich es nur an, daß ich den Mund nicht aufsperre, wenn ich tot bin! Mache ich den Mund auf, fällt der Brief heraus. Das wäre was für die hier! „Nein, das ist offensichtlich einer von den Kommissaren, die den Stummen markieren“, sagte der General. „Die beißen sich lieber die Zunge ab. Im übrigen… Also, ich ordne folgendes an: Laßt ihn Gewehrstöcke schmecken. Verstanden? Wenn er Lust bekommt zu reden, bringt ihn in mein Quartier. Ich gehe inzwischen Tee trinken… Ja, was ich noch sagen wollte, seht zu, daß ihr ihn nicht totschlagt. Erschießen können wir ihn immer noch, zuerst müssen wir ihn verhören. Verstanden?“ „Zu Befehl, Euer Exzellenz“, sagten sie. „Wir werden ihn nicht zu Tode prügeln. Ganz, wie es sich gehört.“ Der
General ging also Tee trinken. Mich brachten sie in das nächste Zimmer und befahlen mir, die Hosen auszuziehen. „Zimmermann, zieh deine Kluft aus“, sagten sie. Ich machte mich also daran, meine Kluft auszuziehen. Meine geliebten Budjonny-Reithosen. Zur Eile hatte ich natürlich keinen Grund, denn es wäre ja lächerlich, sich zu beeilen, wo man verdroschen werden soll, nicht wahr? Ich knöpfte in aller Ruhe die einzelnen Knöpfe auf und dachte: Deine Lage ist nicht schön. Wenn sie dich schlagen, wirst du möglicherweise schreien. Fängst du aber an zu schreien, fällt ganz bestimmt der Brief aus dem Mund. Du darfst also auf keinen Fall schreien. Du mußt den Mund halten. Inzwischen stellten die Kerle eine Bank mitten ins Zimmer, legten einen Militärmantel drauf und sagten: „Hinlegen!“ Sie selbst schraubten die Stöcke aus ihren Gewehren und rieben sie mit einer Flüssigkeit ein. Mit Essig wohl oder Salzwasser, ich weiß es nicht. Ich legte mich auf die Bank, den Bauch nach unten und den Rücken nach oben. Mein Rücken war bloß, und ich erinnere mich, daß sich sofort eine Fliege daraufsetzte. Ich jagte sie aber nicht fort. Es juckte, wenn sie auf dem Rücken herumlief. Schließlich flog sie wieder davon. Dann zogen sie mir eins mit dem Stock über den Rücken. Ich sagte nichts dazu, preßte nur die Zähne fester aufeinander und dachte: Nur nicht schreien! Das übrige wird sich schon finden! Der Brief war inzwischen ganz weich geworden, und ich schluckte ihn nach und nach herunter. Wenn sie mich schlugen, gab ich mir jedesmal einen Ruck und schluckte, statt zu schreien oder zu stöhnen, wieder ein Stückchen herunter – und schwieg. Natürlich tat es weh. Natürlich schlugen sie tüchtig zu, ohne Erbarmen… auf den Rücken und tiefer, und auch auf die
Rippen und auf die Beine und wohin es sonst noch traf. Es tat weh, aber ich schwieg. Die Offiziere wunderten sich. „Das ist ein Typ“, sagten sie. „Ein feines Exemplar! Immer feste!… Schlagt zu, Jungs!… Schlagt ihn, von uns aus, bis er halbtot ist, Er wird schon sprechen! Wird schon singen, die Kanaille!“ Und wieder peitschten sie mich, wieder pfiffen die Gewehrstöcke. Einmal! Und noch einmal! Und noch einmal! Ich ließ den Kopf von der Bank herunterhängen, preßte die Zähne zusammen und schwieg. „Nein, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu“, sagte ein Offizier. „Er muß sich was getan haben. Vielleicht hat er sich tatsächlich demonstrativ die Zunge abgebissen?… He, aufhören!“ Sie hörten auf. Sie schnauften, waren müde geworden, die Armen. „Du! Zimmermann!“ sagte der Offizier. „Wirst du mir antworten oder nicht? Rede!“ Und ich Dummkopf nahm die Zähne auseinander, öffnete die Lippen und antwortete ihm auch. „Nein!“ sagte ich. Dabei fiel mir etwas aus dem Mund und klatschte auf den Boden. Ich bekam vielleicht einen Schreck, kann ich euch sagen. „He, was ist ihm da aus dem Mund gefallen?“ fragte der Offizier. „Koroljow, sieh nach!“ Koroljow kam näher und sah nach. Er schaute noch einmal hin und sagte dann: „Die Zunge, Euer Wohlgeboren…“ „Wie? Was hast du gesagt?“ fragte der Offizier. „Die Zunge?!“ „Zu Befehl, Euer Wohlgeboren“, sagte er. „Da liegt die Zunge auf dem Boden.“ Ich zuckte zusammen und dachte: Verdammt! Sollte ich
tatsächlich mit dem Brief auch meine Zunge zerkaut haben? Ich bewegte die Zunge und begriff selbst nicht: Was war nun eigentlich los? War das meine Zunge oder nicht? Im Mund hatte ich einen ekelhaften Brei, alles durcheinander: Tinte, Siegellack, Blut… Und die Zähne waren stumpf, als hätte ich Rhabarber gegessen. Ich guckte auf den Boden und sah: Dort lag tatsächlich eine Zunge. So eine ganz gewöhnliche, rosige und feuchte kleine Zunge. Und eine Fliege saß darauf. Könnt ihr das verstehen? Könnt ihr verstehen, wie mir zumute war? Eine Zunge, Freunde! Nicht die von irgendwem! Nein, meine, meine eigene Zunge! Und da saß noch eine Fliege drauf! Könnt ihr euch das vorstellen? Eine Fliege saß auf meiner Zunge, und ich konnte das Biest noch nicht einmal wegjagen! O je! Ich wurde so traurig, daß ich anfing zu weinen. Weiß Gott, ich habe geheult wie ein kleines Kind… Lag auf dem Soldatenmantel und heulte. Die Kerle standen herum, staunten und wußten nicht, was sie tun sollten. Da sagte der Offizier: „Koroljow, wegschaffen!“ „Zu Befehl! Wen soll ich wegschaffen?“ fragte Koroljow. „Die Zunge, du Trottel! Ist das so schwer zu kapieren?“ sagte der Offizier. Ich dachte: Ach nein! Das könnte euch so gefallen! Das gibt’s ja gar nicht, daß ihr mit meiner Zunge noch Spaße macht. Ich schluckte schleunigst meine Tränen herunter und gleichzeitig alles, was ich im Mund hatte, streckte die Hand aus, ergriff die Zunge und – steckte sie in den Mund. Fast hätte ich mir die Zähne daran ausgebissen. Weiß der Teufel, noch nie hatte ich eine solche Zunge gesehen. Steif und hart. Das war ein Stein, aber keine Zunge… Plötzlich begriff ich. Hehe, das ist ja gar keine
Zunge, dachte ich. Das ist Siegellack. Versteht ihr? Das war das Siegel des Genossen Sawaruchin, unseres Kommissars, das ich da im Mund hatte. Menschenskinder, mußte ich da lachen! Ich zermahlte diese Siegellackzunge mit den Zähnen und schluckte sie schnell und unauffällig herunter. Ich lag da und konnte kaum noch, so lächerlich erschien mir auf einmal alles. Mein Rücken brannte, die Knochen schmerzten, dabei hätte ich fast losgeprustet vor Lachen. Was, meint ihr wohl, reizte mich so zum Lachen? Na, daß den Kerlen meine Zunge derart in die Glieder gefahren war. Hatten die einen Schreck gekriegt! Wie sollten sie auch nicht! Was hatte der General ihnen gesagt? Sie sollten mich lebendig und gesund in sein Quartier bringen. Und was hatten sie gemacht? Der Offizier war völlig aufgelöst. Er faßte sich an den Kopf. „Oh!“ und „Ah!“ jammerte er. „Es ist nicht auszudenken!… Was hat er getan? Er hat seine Zunge aufgegessen! Begreift ihr? Seine Zunge hat er vernichtet! Mein Gott! Was für eine Gemeinheit!“ Dann versuchte er es auf die freundliche Tour. „Bruderherz“, sagte er, „was fehlt dir? Hm? Weshalb weinst du?“ Ich weinte aber gar nicht, ich lachte. „Hm? Liegst du vielleicht zu hart? Sag es ruhig. Du kannst ein Kissen haben. Möchtest du ein Kissen? Antworte.“ Ich antwortete ihm: „Mm-nn-bb-bb…“ „Was?“ fragte er. Ich sagte: „Bb-bb…“ und schüttelte den Kopf. Versteht ihr? So, als wäre ich wirklich stumm. „Ja, es ist wirklich wahr“, sagte der Offizier. „Er hat seine Zunge aufgefressen. Los, Jungs! Wir müssen ihn, ich bitte euch, schnellstens zum Arzt in die Ambulanz schaffen. Vielleicht läßt sich noch etwas mit ihm ma-
chen. Vielleicht hat er nicht die ganze Zunge abgebissen. Vielleicht kann man sie annähen. – Zieh dich an!“ sagte er zu mir. Sie wollten mir beim Anziehen helfen, mir die Bluse überstreifen und die Knöpfe zumachen, als wäre ich ein kleines Kind; aber ich stieß sie weg und zog mich allein an. Knöpfte mir selbst die Bluse zu und stand auf. Als erstes befühlte ich natürlich meinen Rücken. Ich mußte doch wissen, was dort los war. Und was soll ich euch sagen? Er juckte. Klebrig und ekelhaft fühlte er sich an. Und die Beine erst! Die wollten kaum stehen. Verdammt noch mal, waren meine Beine schwach! „Los!“ sagten sie. „Gehen wir!“ Wir gingen also los und traten auf den Platz hinaus. Wir gingen zu dritt: der Offizier, ich und – stellt euch vor – der Kosak mit den englischen Schnürstiefeln. Sykow hieß er. „Hör zu, Sykow!“ sagte der Offizier. „Bring ihn schnell zur Ambulanz. Ich komme gleich nach; ich muß nur noch flink bei Seiner Exzellenz vorbei, verstehst du?“ Er faßte seinen Reitersäbel und zog ab. Wir gingen über den Platz. Ich voran, Sykow, schweigend, mit gefälltem Bajonett, anderthalb Schritte hinter mir her. Ich sagte: „Du, Landsmann, hör mal…“ Er antwortete: „Maul halten!“ Ich: „Laß doch, Bruderherz!“ Er aber: „Hier wird nicht gesprochen! Ruhe!“ War das ein komischer Kauz! So ein richtiger Weißer! Ich gab es also auf, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und ging schweigend weiter. Ich ging, das heißt, ich humpelte und hatte dabei so meine Gedanken. Ich mußte immerzu daran denken, daß meine Sache endgültig verfahren war. Wie ich mich auch drehte – es war vorbei.
Sagt doch selbst, was konnte ich tun? Fliehen? Aber da ging ja einer mit dem Gewehr hinter mir her. Ob ich nun weglief oder nicht – es gab sowieso keine Rettung. Um meine Sache stand es wirklich schlecht! Sehr schlecht! Erfreulich war nur, daß ich den Brief aufgegessen hatte. Das war allerdings schon was wert! Das war nicht ganz ohne! So hatte ich immerhin vor dem Tod ein reines Gewissen… Wir waren bei der Ambulanz angekommen. So heißt es bei uns, das heißt beim Militär. Im zivilen Leben nennt man so was wohl Poliklinik oder Krankenhaus. Ich weiß es nicht. So ein niedriges Bauernhaus war das. Es hatte eine kleine Vortreppe. Ein Fenster stand offen. Neben der Treppe und unter dem Fenster saßen auf dem um das Haus führenden Erdwall Kranke, die warten mußten, bis sie dran waren. Einer von ihnen schwenkte seinen kranken Arm in einem weißen Verband hin und her. Ein anderer hatte ein verbundenes Bein-, Der dritte faßte sich dauernd an die Backe, er hatte Zahnschmerzen. Der vierte kratzte sich eine wunde Stelle am Hals. Was dem fünften fehlte, konnte ich nicht feststellen. Er saß nur da und rauchte Machorka. Alle palaverten, wie das nicht anders geht, durcheinander, erzählten sich einen Schlag, lachten, schimpften… Mein Kosak sagte: „Tag, Männer!“ Sie antworteten ihm: „Tag! Wohin? Vordrängeln gibt’s nicht! Setz dich ruhig hin – du bist der vierzehnte.“ „Wir kommen außer der Reihe dran“, sagte mein Kosak. „Wir haben etwas sehr Wichtiges.“ „Vom Stab?“ „Na ja, ihr seht doch, der Kommissar ist krank geworden“, sagte er. „Oho, was hat er denn für eine Krankheit?“ riefen sie. Er erwiderte: „Einen kranken Zahn hat er. Er soll vor
dem Tod noch eine Extra-Goldplombe verpaßt bekommen.“ „Hoho!“ brüllten sie. Die Schufte lachten. Sie machten sich lustig über mich. Und er – dieser Sykow – lachte mit und riß auch noch seine Witze. „Los, Kommissar, setz dich“, sagte er. „Ruh dich aus, bis Seine Wohlgeboren von Seiner Exzellenz zurück ist. Du brauchst dich nicht zu genieren.“ Ich genierte mich auch nicht. Ich setzte mich zwar nicht hin, lehnte mich aber doch ein bißchen an den kleinen Pfosten, der die Treppe stützte. Ich stand also einigermaßen bequem und schenkte den Kerlen keinerlei Beachtung. Sollen sie sich ruhig amüsieren, dachte ich. Das stört mich gar nicht. Sind ja immerhin Kranke, und sie langweilen sich. Ich hörte nicht einmal hin, was sie für Witze über mich rissen. Ich genoß die Landschaft. Eine so schöne Landschaft hatte ich bei Gott noch nicht gesehen! Nicht einmal in unserem Dorf gab es solche Gärten und Pappeln mit so dichtem Laub. Und die Luft erst, war die herrlich! Es duftete nach Äpfeln. Und der Himmel war so blau, blauer als das Asowsche Meer! Das ganze Leben lang hätte ich mich daran erfreuen können! Allerdings, was blieb mir noch vom Leben? Wenig. Deshalb genoß ich es auch so, weil es danach zu spät gewesen wäre. Ich genoß in vollen Zügen und hob sogar den Kopf zum Himmel. Da kam auch schon Seine Wohlgeboren, der Herr Offizier, mit seinem Säbel angerannt. Rot im Gesicht und vollkommen zerzaust und zerdrückt, als hätte man ihn verprügelt. Er fuhr mich an: „Zunge abbeißen, was? Du beißt dir die Zunge ab, und ich kann es nachher ausbaden, was? Ja? Du Dreckkerl, du!“
Er holte aus, und patsch! hatte ich eine im Gesicht. Ich antwortete nichts darauf, biß nur die Zähne zusammen und gab ihm eins auf den Schädel. Von oben runter. Er fing an zu brüllen und zu heulen: „Erschießen!…“ Darauf gab ich ihm noch eins und noch eins mit voller Wucht. Da setzte er sich wie ein braves Kind direkt auf die Treppe. Natürlich hatten mich die Kranken eins, zwei, drei ergriffen, mir die Arme verrenkt, einen Revolver an die Schläfe gesetzt und ließen mich nicht mehr los. Ich muckte nicht. Wozu auch? Ich stand vollkommen ruhig. Da erhob sich der Offizier, rückte seine Feldmütze zurecht und sagte: „Wartet noch mit dem Erschießen.“ Dann, plötzlich, taumelte er, schloß die Augen und sagte: „Ach… ist mir schlecht…“ Sie setzten ihn schnell auf die Treppenstufe zurück und begannen ihm Luft zuzufächeln. Jeder nahm, was ihm gerade in die Finger kam, der eine einen Lappen, der andere einen kleinen Zweig und der dritte einfach seine verbundene Pfote. „Wie geht es Euer Wohlgeboren?“ fragten sie. „Sind Sie wieder bei sich?“ „Nein, noch nicht ganz“, gab er zur Antwort. Sie fächelten ihm wieder. „Und nun?“ „Ja, jetzt geht es wieder“, sagte er. „Danke… Das war brav, Jungs!“ Da antworteten diese Dummköpfe: „Keine Ursache, Euer Wohlgeboren, es war nur unsere Pflicht.“ Und dann: „Wie ist es? Können wir ihn nun erschießen?“ „Aber nein“, sagte der Offizier und stand auf. „Nein. Mit dem Erschießen müssen wir leider noch etwas warten. Wir müssen ihn erst noch dem Arzt vorführen. Aber der Kugel entgeht er nicht. In einer halben Stunde mache ich aus diesem roten Misthaufen ein Sieb. Ich eigenhän-
dig. Aber vorher müssen wir ihn noch kurieren… Hör zu, Sykow, bring ihn schnell zum Arzt, ich komme nach.“ Versteht ihr das? Er hatte Angst. Er traute sich nicht, neben mir zu gehen. Sogar mit Sykow zusammen hatte er Angst. „Los, noch einer…“, sagte er. „Hier, du, Filatow, du hast ein Gewehr bei dir, komm mit!“ Sykow stieß mich mit dem Kolben und schrie: „Los, los, ein bißchen dalli!“ Ich setzte mich also in Bewegung, stieg die Treppe hinauf und trat in den, na ja, sagen wir, Umkleideraum. Die Luft dort war geradezu ekelhaft. Es stank nach Karbolsäure, und überall lagen Gläser, Fläschchen und Blechbüchsen herum. Staubig und dreckig war es, die Wände schwarz. Längs der Wand stand eine Holzbank, darüber hingen an einem Kleiderhaken Soldatenmäntel, eine Mütze und ein Kittel mit Achselklappen. Ich konnte mir das alles so genau merken, weil wir eine volle Minute in dem Umkleideraum standen, bis Seine Wohlgeboren sich die Treppe heraufbemüht hatten. Ihm war wieder schlecht geworden, und sie hatten ihn erneut mit Birkenzweigen befächelt. Dann kam er und sagte: „Los, ihr! Was bleibt ihr auf halbem Wege stehen! Marsch, zum Doktor!“ Sykow stieß mich wieder mit dem Kolben, Filatow riß die Tür auf, und ich ging zum Doktor hinein. Ein Doktor war das, ein Doktor! Zum Totlachen! Ein ganz altes Männchen, weißhaarig und klein. So klein, daß ihm sein weißer Kittel um die Füße schlenkerte. Vor ihm aber stand mit vorgewölbter Brust ein gewaltiger halbnackter Bursche, den er mit dem Rohr abhörte. Wenn der beim Einatmen die Brust hob, sah er aus wie der Ringkämpfer Wassili Petuchow. Wir traten also ein. Da sagte der Doktor: „Hier wird an-
geklopft.“ Aber als er dann den Offizier vom, Stab erblickte, verfiel er sofort in einen ganz anderen Ton: „Verzeihung, Herr Leutnant. Ich dachte, es käme jemand außer der Reihe herein.“ „Nein, da haben Sie sich geirrt“, sagte der Offizier. „Wir haben etwas besonders Eiliges. Seien Sie so gut und entlassen Sie den Kranken, wir brauchen Ihre Hilfe.“ „Aber natürlich, mit dem größten Vergnügen“, sagte das Doktorchen. Er klopfte nun seinen Ringkämpfer schneller ab, rieb ihn irgendwo mit Jod ein und entließ ihn. Dann ging er zum Waschbecken und fing an, sich die Hände einzuseifen. „So“, sagte er, „und womit kann ich dienen?“ Darauf der Offizier: „Sehen Sie hier diesen Mann? Er hat sich vor einigen Minuten demonstrativ die Zunge abgebissen.“ „So“, sagte der Doktor, und dann: „Erlauben Sie die Frage: Hat er sie ganz abgebissen… oder nur teilweise?“ „Das weiß ich nicht“, sagte der Offizier. „Vielleicht auch nur teilweise. Aber darauf kommt es nicht an. Das wichtigste ist, daß er nun nicht sprechen kann. Verstehen Sie? Wir müssen ihn aber noch verhören. Deshalb: Können Sie nicht etwas tun? Mit Hilfe der Wissenschaft? Damit er vor dem Tod wenigstens noch ein bißchen spricht.“ „Wir werden sehen“, sagte der Doktor. Er war inzwischen so weit, daß er sich die Hände abspülte. „Wir werden sehen. Das ist nicht schwer. Obwohl ich Sie davon in Kenntnis setzen muß, daß unsere Wissenschaft es nicht so ohne weiteres zuläßt, daß ein Mensch ohne Zunge spricht. Natürlich, nachsehen kann man. Das macht keine
Mühe. Aber trotzdem kann ich, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, mir nicht erlauben, Ihnen irgendwelche Versprechungen zu machen. Immerhin werde ich nachsehen, aber…“ „Gut, sehen Sie nach“, sagte der Offizier. „Aber wäre es nicht vielleicht möglich, die Sache ein wenig zu beschleunigen, Herr Doktor? Ginge es nicht vielleicht ein bißchen rascher?“ „Gewiß, weshalb nicht?“ sagte der Arzt. „Es geht auch rascher…“ Und nun ging er daran, sich die Finger mit dem Handtuch abzutrocknen. Erst rieb er den einen ab, betrachtete ihn mit sichtlicher Freude und nahm dann den nächsten vor. Darauf den dritten, den vierten und so weiter. Der Offizier fuhr fast aus der Haut, vor Ungeduld stampfte er hin und her, daß die Sporen klirrten. Doch der Arzt kümmerte sich gar nicht darum. Er trocknete sich ruhig seine Fingerchen ab und summte dabei vor sich hin. Schließlich kam er auf mich zu und sagte: „Also, junger Mann… machen Sie den Mund auf.“ Ich wollte ihn erst nicht aufmachen, dachte dann aber: Na, meinetwegen… Was tut’s schon? Und ohne viel zu überlegen, öffnete ich den Mund. „Noch mehr“, sagte er. „Noch weiter!“ Ich sperrte den Mund also noch weiter auf. „Noch weiter!“ befahl das Doktorchen. Da riß ich meinen Rachen wirklich bis zu den Ohren auf. „Ja, so. Das reicht. Danke schön“, sagte er. Er sah mir in den Mund, stocherte ein Weilchen mit seinen sauberen Fingerchen darin herum und sagte schließlich: „Nein. Die Zunge ist an Ort und Stelle.“ „Wie? Das kann nicht sein!“ entgegnete der Offizier.
„Ich versichere Ihnen, daß die Zunge völlig unversehrt ist, nur blau ist sie“, sagte der Arzt. „Aber nein! Sie irren sich“, widersprach der Offizier. „Ich habe ganz deutlich mit eigenen Augen gesehen, daß er sie abgebissen hat.“ „Dann schauen Sie doch selbst!“ sagte der Arzt. Er zeigte ihm meinen Mund, in dem mopsfidel meine Zunge zappelte, als wäre nichts geschehen. Ach, du großer Gott! Hat der Offizier Augen gemacht! Sie wären ihm fast aus den Höhlen getreten! „Was soll das nun wieder?“ fragte er. „Wie ist denn so was möglich? Hat er vielleicht zwei Zungen, oder wie soll ich das verstehen?“ „Aber nein“, sagte der Arzt. „Zwei wird er kaum haben… Dem Menschen stehen nicht zwei Zungen zu. Das gestattet die Wissenschaft nicht. Und obwohl ich vom wissenschaftlichen Standpunkt aus mir nicht erlaube, diesen Tatbestand zu erklären, muß ich doch sagen, daß die Zunge im großen und ganzen dort ist, wo sie hingehört.“ „Unerhört so was! Das heißt also, daß er mich belogen hat?!“ sagte der Offizier. „Das heißt, daß er sprechen kann? Du Schurke kannst also reden?“ „Ja, allerdings“, gab ich zur Antwort und knallte ihm, mit Verlaub, gleich noch ein Wort hin, daß es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn’s ihn vom Stuhl geschmissen hätte.
Glaubt ihr aber, er wäre wütend geworden, hätte angefangen zu brüllen oder mir eins versetzt? Nichts dergleichen. Er lachte laut los, freute sich, wer weiß wie. So, als hätte ihm einer fünfzehn Rubel geschenkt. „Ist das auch wirklich wahr?“ fragte er. „Habe ich mich nicht verhört? Du, sag das noch mal!“ Ich sagte es also noch einmal. Und fügte noch etwas hinzu. Ungefähr so: „Sie, Euer Hochwohlgeboren, sind der letzte Dreck, und noch schlimmer. Sie sind…“, sagte ich. Versteht ihr das? Er schimpfte nicht! Wurde auch nicht tätlich. Vor Lachen wieherte er nur wie ein Pferd. „Mehr! Noch mehr!“ rief er.
Mir wurde das Schimpfen nachgerade langweilig. Wie kam ich dazu? Ich war doch schließlich kein Grammophon. Ich knurrte noch etwas und schwieg dann. Da hörte er auf zu lachen, rückte seinen SäbeJ zurecht und kommandierte: „Sie, Herr Doktor, beschäftigen sich, bitte, noch ein wenig mit diesem Subjekt. Beruhigen Sie ihn ein bißchen, bringen Sie ihn in Ordnung, und dann schicken Sie ihn zu uns in den Stab. – Ihr, Jungs, bewacht den Gefangenen. Filatow bleibt hier. Sykow paßt draußen auf. Anschließend bringst du ihn dann zum Stab, Sykow.“ Er rückte noch einmal seinen Säbel zurecht und zog ab. Sykow folgte. Er öffnete dem Herrn Leutnant die Tür und trat hinter ihm in den Umkleideraum hinaus. Gleich darauf schrie jemand nebenan. „Was? Was ist los?“ fuhr der Doktor auf. „Nichts! Gar nichts!“ rief Sykow. „Kein Grund zur Aufregung. Seine Wohlgeboren sind gestolpert. Haben sich am Türbalken gestoßen.“ „Ei“, sagte der Doktor, „wie kann man nur so stürmisch sein?“ Wir waren also nun zu dritt: Filatow, der Doktor und ich. Nein dieser Doktor! Hol’s der Kuckuck, man konnte einfach nicht ernst bleiben, wenn man ihn ansah. Einen solchen Doktor außer Gefecht zu setzen mußte ein Kinderspiel sein. Der brauchte nur einen Schlag mit dem Holzlöffel. Aber ich sah, daß hier nichts zu machten war. Erstens war da Filatow mit seinem Gewehr – das reinste Standbild – , und dann das Fenster. Es war zwar offen, aber davor saßen die Kranken auf dem Erdwall – ich hörte sogar deutlich ihre Stimmen. Und auf dem Fensterbrett trieb sich allerlei Krempel herum: Büchsen, Fläschchen, Mixturen, Klistierspritzen… Ja, hier war nichts zu machen, und so stand ich da, in mein Geschick ergeben. Der Doktor begann mich zu kurieren.
„Also, junger Mann“, sagte er, „machen Sie bitte den Mund auf.“ „Wozu?“ sagte ich. „Was gibt’s denn da Besonderes zu sehen?“ „Ich möchte mich überzeugen“, sagte er. „Na schön“, erwiderte ich, „überzeugen Sie sich.“ Ich riß den Mund auf und steckte die Zunge hinaus. „Ja“, sagte der Doktor, „Ihre Zunge ist völlig in Ordnung. Sie können sich freuen. Nur – sehr blau ist sie. Als hätten Sie sie in Tinte gebadet. Hm? Pflegen Sie Tinte zu trinken, junger Mann? Helle!“ „Nein“, antwortete ich. „So, so“, meinte er. „Ihr Zahnfleisch ist auch angeschwollen. Da, nehmen Sie bitte Pyramidon.“ Ich schluckte das Zeug. Es war gar nicht so schlimm. Ich hatte so großen Hunger, wißt ihr, daß ich sogar den Doktor verspeist hätte. „Was sind Sie überhaupt?“ fragte er. „Kriegsgefangener?“ „Freilich“, sagte ich. „Oder glaubten Sie, ich wäre zu Besuch da?“ „Also sind Sie Bolschewik?“ „Jawohl, war ich.“ „Ach“, sagte er, „setzen Sie sich doch. Warum stehen Sie denn? Hier ist ein Schemel – bitte setzen Sie sich.“ „Nein, danke“, sagte ich. „Die Stelle, auf der man sitzt, hat bei mir für alle Zeiten ihren Stempel weg. Da kann ich mich nicht drauf setzen. Aber“, sagte ich, „würde ich mit dem Leben davonkommen – vergessen täte ich nicht, wie es war. Ich würde schon daran denken.“ Und dann, Freunde, ließ ich, mit Verlaub, die Hosen runter und zeigte dem Doktor mein Sitzfleisch. „Oh“,
sagte der Doktor, „oh, wie grausam!“ Filatow aber fing an zu wiehern: „Ho – ho – ho!“ „Was soll das?“ schnauzte der Doktor. „Entschuldigen Sie, Euer Wohlgeboren“, sagte er, „ich habe mich verschluckt.“ Der Doktor legte sein Gesicht in Falten und meinte: „Na, junger Mann, wenn man Sie nicht erschießt, kommen Sie wieder her, ich gebe Ihnen dann nochmals Pyramidon.“ „Gut“, sagte ich, „ich komme.“ Natürlich machte ich nur Spaß. Warum sollte ich noch nach dem Tode alte Opas schrecken gehen? Ich hatte mich nämlich schon ganz und gar aufs Sterben eingestellt und gar keine Hoffnung, noch einmal hinzukommen. „Na also. Sie können gehen“, sagte der Doktor. Und beeilte sich, ans Waschbecken zu kommen, um seine Fingerchen einzuseifen. Filatow kommandierte: „Im Schritt, marsch!“ und packte sein Gewehr. Wir gingen durch den Flur nach draußen. Sykow saß bei den Kranken und erzählte ihnen etwas Lustiges. Die Kranken lachten mit weit aufgerissenen Mäulern. „Ah“, sagte Sykow, „der Kommissar. Meine Ehrerbietung! Na, hat man Ihnen eine Goldplombe verpaßt?“ „Ha – ha – ha!“ brüllte die ganze Meute. Sie freuten sich, die Idioten. Filatow lachte auch mit. „Dir sollte man das Maul plombieren“, schrie ich Sykow an, „du Tambower Großschnauze!“ Die anderen johlten wieder: „Ha – ha – ha!… Gut gegeben! Bravo!“ „Schön, ich bin aus Tambow, und du?“ fragte Sykow. „Weißt du“, sagte ich, „mit dir spreche ich überhaupt
nicht mehr. Du käufliches Subjekt! Du weißer Bandit!“ Mein Sykow bekam einen roten Kopf, Er stand auf, hob sein Gewehr, kommandierte: „Los, beweg dich! Im Schritt, marsch!“ und legte den Sicherungsflügel herum – klick! Halt ja den Mund, sollte das wohl heißen, sonst kriegst du eine Bleiplombe in den Leib. Ich setzte mich in Trab. Wir gingen fast nebeneinander, ich links, Sykow rechts. Plötzlich, verstellt ihr, merkte ich, dass wir in verkehrter Richtung gingen – nicht zum Stab, sondern gerade entgegengesetzt, zum Ausgang des Dorfes, dorthin, wo die letzten Häuser standen. Zum Teufel, was soll das nun wieder, dachte ich, wohin geht’s denn bloß? Sykow fragen – das wollte ich natürlich nicht. Das erlaubte mir mein Stolz nicht. So schwieg ich. Da sagte Sykow: „Los, leg einen Schritt zu.“ „Fällt mir nicht ein“, knurrte ich, „auch noch laufen!“ „So mach doch schon, Esel!“ sagte er. Na, ich ging etwas schneller, wenn auch nicht viel. Ich bin ja neugierig, dachte ich, wohin wir es so eilig haben. Doch nicht zu einer Hochzeit? Kaum hatte ich das von der Hochzeit gedacht, da sah ich einen grauköpfigen General auf uns zukommen. So einen Spatzenschreck, wißt ihr, in blauen Unterhosen, einen mickrigen alten Knacker. Beim Gehen schlenkerte er mit einem Bein. „Wohin?“ schnarrte er. Mein Sykow stand stramm, wie es sich gehört, und meldete: „Also, Euer Exzellenz, das ist ein Kriegsgefangener, ich bringe ihn weg.“
„Um die Ecke?“ „Zu Befehl, Euer Exzellenz, um die Ecke.“ „Ist gut“, sagte der General. „Abtreten!… Und ziel nicht daneben.“ Dabei sah er mich so strahlend an, als wäre ich ein Huhn oder eine Gans, die er zum Mittagessen vorgesetzt bekommen sollte. „Geh mit Gott“, sagte er noch, „… und möge deine Hand nicht zittern. Denn du tötest keinen Menschen, sondern einen Teufel. Hast du verstanden? Einen Teufel.“ „Zu Befehl“, antwortete Sykow. „Ich habe verstanden. Einen Teufel.“ „Also dann – Gott mit dir.“ Er ging weiter und ließ wieder das Bein schlenkern. Wir gingen auch weiter. Offen gesagt – ich hatte gar keine Lust zu gehen. Glaubt mir, meine Beine wollten einfach nicht vom Fleck. Dazu kam noch, daß herrliches Wetter war. In allen Gärten blühten die Obstbäume. Sie rauschten, und die Vögel sangen. Und ich? Ich mußte diesen reizenden Spaziergang machen. Danke schön! Ach Gottchen!… Nie werde ich vergessen, Freunde, wie wir damals gegangen sind und was ich dabei dachte… Also ich ging, wißt ihr, vorneweg und Sykow hinterher. Sein Gewehrriemen schlug fortwährend gegen den Schaft, seine englischen Schnürstiefel knarrten. Und er schwieg die ganze Zeit, dieser Schweinehund von Sykow… Wenn er zur Abwechslung wenigstens ein Wort gesagt, wenn er mich wenigstens mal angeschrien hätte! Wir gingen zunächst durch das Dorf. Dann kamen wir auf eine Viehweide. Dann gingen wir einen schmalen Fußweg entlang, an Gärten und Schuppen vorbei. Und
Sykow, dieser Schuft, schwieg sich aus… Schwang nur ab und zu seinen Schießprügel. Und seine Schuhe knarrten die ganze Zeit ganz ekelhaft. Mir war miserabel zumute, das könnt ihr mir glauben! Ich sagte mir: He, Budjonny-Reiter Petja Trofimow, Kopf hoch! Immerzu kamen mir Gedanken, die einer Leichenrede verdammt ähnlich waren. Ja, es ist schwer, Petja Trofimow, dachte ich, in einem fremden Gouvernement zu sterben, weit weg von zu Hause. Zwar, das Gouvernement kann mir eigentlich gestohlen bleiben. Was heißt denn „mein“ Gouvernement? Was hat ein Zimmermann, ein Maurer oder ein Hirt schon für ein Zuhause? Der ist überall dort daheim, wo er gerade sein Brot verdient. Mein Vater liegt an einem Ort begraben, meine Mutter an einem anderen. Ich. habe nur noch meine Kameraden. Eins möchte ich nur wissen: werden sie aus der Falle herauskommen? Ach, der Genosse Sawaruchin wird was auszustehen haben in seinem Dorf Tyri. Links setzt Schkuro ihm zu, rechts Mamontow und von vorne Ulagai… Und an allem bin vielleicht ich schuld! Vielleicht habe ich die ganze Sache verpatzt?! Aber – Teufel noch mal! – wohin gingen wir denn? Wohin denn immer noch? Das Dorf war nicht mehr zu sehen, die Hunde bellten nicht mehr, wir aber gingen und gingen. Unbegreiflich, wißt ihr. Ist denn hier, hinter diesem Strauch, nicht ein sehr bequemer Platz? dachte ich. Oder dort hinter den Bruchweiden… Hinter diesem Busch hier oder dort in der Schlucht kann man doch sehr gut einen Menschen ins Jenseits befördern. Das ist dumm von Sykow, dachte ich, daß er mich nicht dorthin führt. Aber gerade das tat Sykow nun. Er führte mich in die besagte Schlucht. „So“,
sagte er, „halt!“ Ich blieb stehen. Ich war ganz ruhig. Na ja, dachte ich, jetzt geht’s ans Abschiednehmen, Budjonny-Reiter… Aber von wem sollte ich Abschied nehmen? Ringsum war nichts als Gras. Ich drehte mich um und sah, wie Sykow sein Gewehr unter den Arm klemmte und aus der Brusttasche etwas hervorholte, das ich nicht erkennen konnte. „Da!“ sagte er. „Mach dir das an!“ Was bedeutete das? Ich erkannte die Dinger jetzt – es waren Achselklappen. Versteht ihr? Goldene Achselklappen mit glänzendem Blechzeug drauf. Dazu vier Sicherheitsnadeln. „Na los“, sagte Sykow, „mach schon!“ „Was denn?“ Ich kapierte nicht. „Geh zum Teufel“, sagte ich, „laß die Witze.“ „Hab dich nicht so dämlich!“ schimpfte er. „Mach schnell die Achselklappen an, bevor man uns erwischt. Hörst du?“ Ich konnte nicht. Bei Gott, ich stand da wie blöd. „Gib her“, sagte er, „ich mach’s selber. Bück dich. Fix!“ Ich bückte mich. Mit zwei Sicherheitsnadeln brachte er mir geschickt die linke Achselklappe an und mit noch zwei Nadeln die rechte. „Und jetzt nichts wie ab!“ „Wohin?“ fragte ich. „Wohin? Ist doch klar – zu Budjonny!“ Ich kann euch sagen, Freunde – ich hätte beinahe losgeheult. Mich schlug’s um, weiß Gott. Ich setzte mich auf die Erde und konnte nicht wieder aufstehen. „Mensch!“ rief ich. „Bruderherz! Sykow, du hältst es wirklich mit uns?“ „Ja“, sagte er, „Ehrenwort. Steh auf, wir wollen zu Budjonny.“
„Nein, warte… Ich kann nicht“, sagte ich. „Was ist denn? Warum kannst du nicht?“ „Mein Bauch“, sagte ich, „da geht mir irgend so ein Mühlrad herum.“ Versteht ihr? In meinem Bauch begann sich etwas Schreckliches abzuspielen. Ich glaube, der Siegellack fing an zu schmelzen. Hals, Brust und besonders der Bauch selbst brannten wie Feuer. Versteht ihr, mein ganzes Eingeweide schien zu tanzen, und mir war, als müßte jeder Darm in Stücke springen. Und weh tat das. Gar nicht zu beschreiben. Ich brachte es nicht fertig, aufzustehen. Pfui Teufel, dachte ich, der Kugel bist du entgangen, und jetzt sollst du an so einem Mist zugrunde gehen? Nein, dachte ich, ich will nicht. Ich versuchte aufzustehen. Mit Müh und Not kam ich auf die Knie und fiel wieder um. Nein, sagte ich mir, das gibt’s nicht! Du mußt aufstehen. Wieder kam ich nur bis auf die Knie und fiel um. So eine Schande! Bedenkt doch: ein Budjonny-Reiter kann nicht aufstehen. So, dachte ich, jetzt ist es aus. „Dann wollen wir also Abschied nehmen, Genosse Sykow“, sagte ich. „Schon gut“, meinte er, „dazu haben wir noch immer Zeit. Aber sag mal, ginge es gegen deine Ehre, wenn ich dich tragen würde?“ Ich wollte ihm klarmachen, daß sich das nicht lohnte. „Mich zu tragen hat gar keinen Sinn“, sagte ich. „Mit mir ist’s sowieso aus.“ „Blödsinn“, sagte er. „Dir rumort doch bloß das Telegramm im Bauch herum.“ „Was für ein Telegramm?“
„Na, das von vorhin, das du aufgegessen hast.“ „Ach, du ulkige Nudel“, sagte ich, „das war doch kein Telegramm. Das war ein Brief, ein Geheimbrief an den Genossen Budjonny. Ich sollte ihn hinbringen, verstehst du, und nun ist er futsch. Ein Dreckkerl bin ich. Hab die wichtigsten Operationsberichte meiner Division aufgefressen. Erschießen müßte man mich, und das wäre noch zu milde.“ Ich erzählte ihm alles. „Und nun“, sagte ich, „laß mich um Gottes willen liegen und lauf, solange du noch am Leben bist.“ Und was denkt ihr, was er macht?! Er sagt kein Wort, nimmt mich einfach in die Arme, wirft mich wie einen Sack über die Schulter und läuft los. Ins Gebüsch zuerst, dann raus aus der Schlucht und dann in einem Höllentempo über Stock und Stein… Das Grausen konnte einen packen! So rennen nicht einmal Pferde. „Ist doch schwer, Sykow, was?“ fragte ich. „Wenn’s weiter nichts ist“, krächzte er, „ich hab noch ganz anderes geschleppt.“ „Ruh dich etwas aus“, bat ich ihn. Es war mir doch irgendwie peinlich, wißt ihr, so auf einem Menschen zu reiten. „Ruh dich aus“, sagte ich, „dann können wir weiterreiten.“ „Quatsch nicht“, bekam ich zur Antwort. „Bis zu dem Wäldchen dort müssen wir kommen. Das andere findet sich dann,“ Dieses Wäldchen war aber noch ziemlich weit weg. So an die zwei Werst, versteht ihr. Trotzdem hatten wir es in ungefähr zehn Minuten erreicht. So tüchtig waren wir galoppiert. „Halt!“ rief ich. „Wir sind da.“ Sykow setzte mich ab, und ich – stellt euch das vor – , ich stand auf! Mühelos. Ein richtiges Wunder war das! Während ich auf Sykow ritt, mußte es sich in meinem
Bauch etwas beruhigt haben. Mir war jetzt leichter, und es tat auch nicht mehr so weh. Ich wollte gleich weiter, aber Sykow hielt mich zurück: „Warte noch… ich kann nicht.“ „Wieso, warum nicht?“ „Ich bin doch immerhin kein Pferd“, sagte er. „Ohne auszuruhen, kann ich nicht.“ Tatsächlich – ich sah jetzt, daß der Bursche ganz verschwitzt war. Wir setzten uns also unter einen hohen Baum. Ich streckte mich im Grase aus, Sykow kramte seinen Tabaksbeutel vor und stopfte sich ein Pfeifchen. „Hör mal, Sykow“, fing ich an, „ich begreife immer noch nicht. Was bist du eigentlich für einer?“ „Ich? Ich bin ein käufliches Subjekt“, sagte er. „Ich habe mich für einen englischen Mantel an Mamontow verkauft.“ „Ach, du lügst ja, Sykow!“ „Vielleicht lüge ich auch“, sagte er. „Freilich, man hat mich eingezogen, ich diene nicht aus eigenem Willen schon den vierten Monat bei den Weißen.“ Und nun, versteht ihr, erzählte er mir alles. Wie er von der deutschen Front heimkehrte. Wie er seinen Hof verlor. Wie seine Frau an Typhus starb. Wie er – stellt euch das vor – beim Popen arbeitete. Und so weiter… Und wie man ihn schließlich mit Gewalt zu den Kosaken geholt, ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt und ihm befohlen hatte, auf die Roten, die Bolschewiki, zu schießen. „Schieß“, hatte man ihm gesagt, „und spare nicht am Pulver! Denn die Bolschewisten sind keine Menschen. Sie sind Feinde der Menschheit.“ „Und du – hast geschossen?“ fragte ich. „Nein“, ant-
wortete er, „ich habe mit dem Kolben gearbeitet.“ „Was heißt, mit dem Kolben?“ fragte ich wieder. „Du hast dann also Menschen totgeschlagen?“ „Ehrenwort, nur einen einzigen“, sagte er. „Und dieser einzige war ein Offizier von uns. Leutnant Gibel.“ „Was für ein Gibel?“ „Der, der dich ins Gesicht geschlagen hat.“ „Was?“ rief ich. „Daß dich die Pest! Wann hast du denn das geschafft?“ „Beim Doktor habe ich ihn… im Flur… mit dem Kolben. Als du drinnen Pyramidon geschluckt hast.“ Denkt nur, was für ein Bursche das war! Er hatte diesen Leutnant mit einem einzigen Kolbenhieb erledigt. Wißt ihr noch? Der Doktor fragte, wer da draußen so geschrien hätte. Das war also Gibel gewesen. „Übrigens“, sagte Sykow, „in diesem Flur habe ich auch die Achselklappen für dich beschafft… Nein, keine Angst, nicht von Gibel. Da hing noch ein Doktorkittel. Und von dem hab ich sie runtergeholt. Weißt du, was du jetzt bist?“ sagte er. „Ein Doktor bist du jetzt!“ Oho! „Du, Sykow“, fragte ich, „warum hast du dich denn da vorhin so angestellt? Warum hast du denn auf mich geschimpft?“ „Geschimpft hab ich? Ja, meinst du denn“, sagte er, „ich hätte dich küssen sollen? Oder dich .lieber Genosse’ nennen? Aber dann hätte man uns doch beide gleich am erstbesten Bäumchen baumeln lassen, lieber Genosse.“ „Stimmt“, sagte ich, „stimmt, Sykow. Ein toller Bursche bist du.“ Aber der hatte andere Sorgen. „Ja“, sagte er, „ich möchte dich jetzt mal eins fragen: Sag, werden deine Leute mich erschießen, wenn ich rü-
berkomme, oder nicht?“ „Ach, Unsinn“, sagte ich, „warum sollen wir denn auf dich schießen. Wir schießen auf die Feinde, und wer bist du? Du bist doch kein Kapitalist? Bist doch nicht aus der Bourgeoisieklasse?“ „Ich verstehe solche Worte nicht“, sagte er. „Aber ich habe die Gemeindeschule beendet. Zwei Klassen. Dann hat mich mein Vater als Hütejunge weggegeben.“ „Siehst du“, sagte ich, „da sind wir also vom selben Stand. Ich wurde nämlich auch auf der Viehweide erzogen. Aber was heißt hier überhaupt ich? Unsere ganze Armee besteht ja aus Hirten und Malern und Maurern. Man wird dich bei uns mit Hurra empfangen. Du bist doch einer von uns. Ein Bauer! Wo solltest du sonst hingehören, wenn nicht zu Budjonny?“ „Du hast recht“, sagte er. „Bei den Kosaken bin ich nicht am richtigen Platz. Ich schwärme schon lange für Budjonny. Weißt du, ich möchte ihn schrecklich gern mal kennenlernen. Wie sieht er denn aus, der Budjonny? Hast du ihn schon mal gesehen?“ „Ja“, sagte ich, „aber nur an der Wand. In unserem Stab hing ein Bild von ihm. Er saß auf einem weißen Pferd.“ „Wie ist denn das“, fragte Sykow, „war er früher Offizier?“ Offizier war gut. „Du spinnst wohl“, sagte ich. „Der kommandiert doch eine ganze Armee!“ „Also General?!“ „Ach wo“, sagte ich. „Bauernknecht war er. Stell dir vor, in unserem Gouvernement. Aber du wirst ja selbst sehen. Wenn wir bis Lugansk durchkommen und wenn ich Budjonny gefunden habe, mache ich dich unbedingt mit ihm bekannt…“ „Weißt du was“, sagte da Sykow, „gehen wir gleich
weiter. Suchen wir den Weg.“ „Gehen wir“, sagte ich. Dabei konnte ich nicht einmal aufstehen. Es hatte mich wieder gepackt. Sykow half mir auf, und ich ging mehr schlecht als recht. Wir marschierten durch den Wald. Am Waldsaum, einem freundlichen, hellen Ort, fragte Sykow plötzlich: „Hör mal, warum, zum Teufel, hast du eigentlich unseren Posten umgelegt?“ „Wieso umgelegt? Ich habe ihm nichts getan. So ein Verrückter war es wohl, der ihn heimgeschickt hat.“ Und kaum hatte ich das gesagt – was glaubt ihr, wer da aus dem Gebüsch auftaucht? Der verrückte Bauerl Derselbe, der mich so erschreckt hatte – ihr wißt ja – und auf den ich aus meinem Browning schießen wollte. Er kam auf uns zu – ganz zerzaust und zerlumpt – und lächelte wieder, stellt euch das vor. Und nuschelte und zischelte wieder irgendwas vor sich hin. Ich erschrak. Ich blieb stehen, ließ mir aber nichts anmerken. „A – -h! Ein bekanntes Gesicht“, sagte ich. „Wer ist das?“ fragte Sykow. „Das ist der, der euren Posten mit einem Stein erschlagen hat.“ Dann nahm ich mir den Verrückten vor. „Hör mal, mein Lieber“, sagte ich, „was fällt dir eigentlich ein, auf fremde Kosten Leute totzuschlagen? He? Mich hätten sie deinetwegen beinahe an der Nase aufgehängt. Kapierst du? Wie kommst du überhaupt dazu, Leute umzubringen?“ „Jawohl“, antwortete er, „ich habe welche umgebracht, und ich werde nicht aufhören damit. Ich werde euch alle ausrotten, Mamontow-Brut!“
Ich sah, daß er auf meine linke Schulter guckte. Auf der linken Schulter aber hatte ich, versteht ihr, die Achselklappe sitzen, dieses funkelnde Ding. „Ihr kommt mir auch nicht davon“, sagte der Kerl, „euch schicke ich auch zum lieben Gott ins Paradies, ihr Hundesöhne!“ Er bückte sich. Ich sah – er nahm einen Stein. „Halt!“ brüllte ich. „Halt, Satansbraten!“ Plötzlich – sss! – flog ein Stein einen Finger breit über meinen Kopf weg. Mich packte die Wut. „Hei“ rief ich, „du Verrückter! Halt!“ Aber er lief zum Graben, stellt euch vor, bückte sich und .sammelte beide Hände voll Steine. Und fing an, mit diesen Steinen nach uns zu schmeißen. Ich bekam zwei Treffer ans Ohr, Sykow traf’s, glaube ich, an die Brust oder auf die Nase. „Faß ihn, Sykow!“ sagte ich. „Los, ran!“ Wir fielen zu zweit über den Verrückten her. Sykow packte ihn an den Beinen, ich umschlang ihn und warf ihn zu Boden. Aber der Kerl war stark. Verrückte, wißt ihr, sind immer stark. Er wand sich, fauchte, biß – war einfach nicht unterzukriegen. Und schrie die ganze Zeit. „Aasbande!“ schrie er. „Hunde! Herrenknechte!…“ Na, ich nahm dann mein Koppel ab – ich hatte ein ganz besonderes Koppel, schön haltbar, aus weißgegerbtem Leder – , und wir fesselten den Verrückten, so gut es ging. Damit er nicht schreien konnte, stopften wir ihm Gras in den Mund. Dann stießen wir ihn in den Graben – so, nun ruh dich aus. Wir wollten gerade weitergehen, da hörten wir plötzlich Hufgetrappel. Ein Kosakenspähtrupp. Versteht ihr? Sie sprengten direkt auf uns zu. „Halt! Wer da? Woher des Wegs?“
Na, dachte ich, Petja Trofimow. Jetzt sitzt du in der Tinte. Ich hockte am Boden und kam nicht hoch. Aber Sykow, wißt ihr, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „So und so“, antwortete er ganz unverfroren. „Wir sind persönliche Kuriere von General Mamontow.“ „Und wohin wollt ihr?“ „In das Dorf Kurbatowo. Mit einer Meldung für Oberst Schtepsel.“ „Ach so“, meinten die, „na, dann mal umgekehrt, zum Stab!“ „Warum?“ „Darum. Dort wird sich alles klären.“ Ich sah, daß sie auf meine Achselklappen schauten. Und hämisch grinsten. So in der Art: Wir wissen alles. Wir haben einen geübten Blick. Uns macht ihr nichts vor. Nur – Sykow war auch nicht von gestern. Er sah auch auf meine Achselklappen und wußte gleich, was los war. „Wißt ihr überhaupt,“ sagte er auf einmal, „wer da vor euch sitzt? Das ist der oberste Arzt der Denikinarmee. Er ist soeben aus sowjetischer Gefangenschaft geflohen und hat es nun eilig, zu Denikin zu kommen. Und ich bin sein persönlicher Begleiter. Habt ihr begriffen?“ „Du schwindelst doch?!“ „Wagt es nur, uns aufzuhalten“, sagte Sykow. „Mamontow wird euch so anpusten, daß ihr nicht mehr wißt, ob ihr Männlein oder Weiblein seid. Habe ich recht, Herr Doktor?“ fragte er mich empört. Ich war richtig verlegen, versteht ihr, und wußte gar nicht, was ich von mir geben sollte. „Ja, Kinder“, sagte ich, „an der ersten besten Birke wird man euch aufhängen. Blödes, unvernünftiges Vieh seid ihr“, sagte ich. „Wie könnt ihr mit einem hochwohlgeborenen Menschen
so umspringen? Das – das erlaubt die Wissenschaft nicht.“ Na, die Kerle nahmen wie auf Kommando ihre Mützen ab und kratzten sich im Nacken. Zum Glück kam jetzt noch ein neuer Kosak hinzugeritten. Der kannte Sykow. „Ach! Sykow!“ rief er. „Tag, Petrow!“ sagte Sykow. „Denk dir, die hier wollen mir nicht glauben, daß ich bei Mamontow bin!“ „Was macht ihr denn, Jungs!“ sagte der Kosak. „Das ist doch Sykow. Von der ersten Schwadron. Ein Landsmann von unserem Kammerbullen.“ Na, jetzt waren die Kerle restlos davon überzeugt, daß ich ein Doktor und Sykow mein Adjutant war. „Bitte“, sagten sie, „Sie können weitergehen. Und entschuldigen Sie, Euer Wohlgeboren. Es war keine böse Absicht.“ „Na ja, schon gut“, sagte ich. „Das erlaubt die Wissenschaft.“ Ich ging. Sykow trottete hinter mir her wie ein richtiger Adjutant. Da schrien die Kerle uns nach: „Hören Sie! He… Hören Sie doch!“ „Was denn noch?“ fragte ich. Ich blieb stehen. Sykow flüsterte mir zu: „Los, ab, Mensch…“ „Herr Doktor“, sagten die Kerle, „gehen Sie nicht nach rechts.“ „Warum nicht?“ „Da hinter dem Bach haben sich die Budjonny-Leute festgesetzt.“ „Die Budjonny-Leute?“ fragte ich. „Ach, wie entsetzlich! Gut. Wir werden uns in acht nehmen. Merci. Abtreten.“ Sie stiegen auf ihre Gäule und ritten davon. Wir stürzten uns sofort in den Graben, wo wir den Verrückten
liegen hatten, ihr wißt doch noch. Wir dachten, er wäre schon erstickt. Aber kein Verrückter war mehr da. Wir suchten hin und her – der Verrückte war verschwunden! Nur das Koppel lag noch im Graben. Und auch das war in der Mitte durchgerissen. Ach, war ich doch dumm damals – es tat mir so um das Koppel leid! Sykow bewunderte die Kraft des Verrückten. „So ein Stier“, sagte er, und mir saßen die Tränen im Hals. Mir ging es besonders nahe, weil ich dieses Koppel gegen vier Stück Würfelzucker bei unserem Zugführer eingetauscht hatte und weil es so schön haltbar war. Weißgegerbtes Schweinsleder! Zwanzig Mann hätten es nicht entzweigekriegt. Und hier hatte es ein einziger geschafft, ohne die Hände zu gebrauchen… Oder er hatte es mit den Zähnen zerbissen – ich weiß nicht. Ich stand seufzend auf. Da sah ich, daß auch Sykow eine finstere Miene aufgesetzt hatte und angestrengt nachdachte. Als hätte er etwas verloren oder zu Hause vergessen. „Was ist denn? Was hast du?“ fragte ich ihn. „Warte“, sagte er, „stör mich nicht.“ Er beguckte sich, befühlte sich, rieb sich die Stirn. Endlich sagte er: „Du, ich hab’s vergessen… Welche Hand ist das?“ „Die linke“, sagte ich. „Und das?“ „Die rechte.“ „Na, Gott sei Dank!“ sagte er. „Also hier lang. Dieser Hand nach.“ „Ach“, sagte ich, „ich verstehe. Rechts lang, zum Bach. Zu Budjonny. Wird gemacht. Los geht’s, Wasja!“ Ich warf die traurigen Überreste des Koppels weg und marschierte so flott drauflos, daß ich über mich selbst staunte. Aber die Freude währte nicht lange.
Ich war nur ein Weilchen gegangen, da fingen doch wieder diese Blasen am Fuß an zu zwicken, im Bauch ging der Tanz auch wieder los, und dazu begann es noch im Kreuz zu ziehen. Breitbeinig stelzte ich weiter. Ach, du Held, dachte ich. Du Jammergestalt! Solche wie du sollten Frösche fangen und nicht für die Sowjetmacht kämpfen. Sykow blieb plötzlich stehen. „Halt!“ sagte er. „Hörst du nichts?“ „Nein“, sagte ich, blieb auch stehen und lauschte Tatsächlich kam von ganz weit her ein Geräusch, wie wenn man Erbsen drischt. „Da rattert was“, sagte ich. „Geschossen wird da“, meinte Sykow, „aus Maschinengewehren und Pistolen. Merkst du, wie deine Leute meinen Leuten einheizen?“ „Merke ich“, sagte ich. Wir legten wieder einen Schritt zu, stießen auf eine staubige Straße und liefen stracks auf die Sonne zu. Die Sonne war schon im Sinken, es dunkelte bereits. Je weiter wir kamen, desto lauter wurde es links und rechts. Bum! Krach! Bald auf der einen, bald auf der anderen Seite. „So“, sagte Sykow, „jetzt reicht’s. Jetzt wird dieser Dreck abgemacht.“ „Was wird abgemacht?“ „Die Achselklappen. Zum Teufel damit. Mir langt’s. Vier Monate hab ich das Zeug spazierengetragen. Glaub mir, ich hab schon Schwielen auf den Schultern.“ „Jetzt ist’s wohl Zeit?“ fragte ich. „Jawohl, die höchste“, sagte er. „Geben Sie her, Herr Doktor, ich mach sie Ihnen zuerst ab.“ Er fing an, mir die Denikin-Achselklappen herunterzureißen. Ich drehte ihm den Kopf zu und sah, daß er ein
bitterböses Gesicht machte, als hätte er nicht Achselklappen abzunehmen, sondern wer weiß was für eine Schmutzarbeit zu tun. Dazu kam noch, daß die Sicherheitsnadeln verrostet waren und nicht aufgingen. Er zerrte und zerrte, aber sie wollten nicht. „Mist verfluchter“ schimpfte er. Ein Ruck – und nun hatte er die Klappe. Und ein Stück von meiner Bluse dazu. „So, das wäre eins“, sagte er, „hopp, dreh dich um!“ Kaum hatte er mir die zweite abgemacht und sie in den Graben gefeuert – wieder Hufgetrappel. Wieder ein Spähtrupp. Und wir wieder überrumpelt. Die Reiter hielten direkt auf uns zu. „Hau ab!“ sagte Sykow. „Hau ab, Mann, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Und er rannte selbst los, als hätte man ihm eins mit der Peitsche übergezogen. Ich rannte auch. Wie ich das gemacht habe, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich gut rannte und hinter Sykow nicht zurückblieb. Die Reiter waren natürlich schneller. Im Wald ist es leicht, vor Reitern zu fliehen, auf ebenen Wegen schon schwerer. Immerhin haben sie mehr Beine. Plerdebeine. Ich hörte sie näherkommen. Plötzlich – peng – peng – peng! Eine Kugel schwirrte dicht über meinen Schädel hinweg. Und wieder – krach! Bum! Und nun Schuß auf Schuß. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. „Lieber! Bruder!“ keuchte Sykow. „Was denn?“ „Lieber… Kamerad! Bleib nicht zurück!“ Ich sah zu ihm hin: Er war ganz blaß, hatte die Augen
weit aufgerissen, hatte weißen Schaum auf den Lippen, wie ein Pferd. „Lauf, lauf, ich bitte dich. Bleib nicht zurück, Lieber!“ Ja, er- wollte wohl wirklich nicht gerne zu Mamontow zurück, der Bursche. Wollte vor dem Tode wohl wirklich noch unsern Budjonny sehen. Ich hatte auch keine Lust zum Sterben und fegte dahin wie ein Orlow-Traber. Wir liefen, versteht ihr, in einer Riesenstaubwolke. Sie war dick wie Rauch bei einem Brand. Kein Weg zu erkennen, auch Sykow nicht. Und hinten dauernd: Bum! Siss! Krach! Plötzlich hörte ich Sykow. Er sagte etwas – nein, er schrie: „Ach!“ oder: „Oh!“ Ich erinnere mich nicht mehr. Ich wandte mich ihm zu und sah – mein Sykow lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße, über seine Wange floß Blut. Und hinter uns – krach! krach! Ich wollte weiterlaufen. Aber ich konnte nicht. Konnte beim besten Willen nicht. Ich kehrte um. „Sykowl“ schrie ich, „Sykow! Steh auf!“ Er blieb liegen, die Nase im Dreck. Rührte sich nicht. Ich packte ihn an der Schulter. Schüttelte ihn, was ich konnte. „Sykow! Mach keinen Unsinn! Steh auf!…“ Da rief es genau über meinem Kopf: „Halt! Hände hoch!“ Ich erhob diesen meinen dämlichen Kopf und sah ich Kreuzhimmeldonnerwetter! Auf zerdrückten Mützen sah ich rote Rotarmistensterne. Ich weiß noch, ich setzte mich in den dicksten Staub, dorthin, wo Sykow lag, und sagte: „Genossen! Was soll denn das? Warum das? Ihr habt doch euren eigenen
Mann umgebracht!“ „Hör auf“, sagten sie, „erzähl uns keine Märchen. Unsere Leute tragen keine Achselklappen.“ „Aber die Achselklappen haben doch nichts zu sagen!“ rief ich. „Der Mann gehört trotzdem zu uns!“ „Stimmt“, sagten sie, „er gehört zu euch, da hast du recht.“ Ihr Zugführer, so ein beschopfter Bursche, sagte lachend: „Seht euch den an, hat sich die Achselklappen mitsamt der Haut abgerissen. Bist gekniffen, weißer Bandit, was?“ „Du bist selbst ein Bandit“, sagte ich. „Ich werde dir… für die Beleidigung…“ Ich verschluckte mich sogar. Zum Teufel, dachte ich, was soll das heißen? Ein solcher Empfang bei den eigenen Leuten? „Die Zähne werde ich dir ausbrechen“, sagte ich. „Schon gut“, meinte der Beschopfte, „nachher. – Genossen“, kommandierte er dann, „den Toten durchsuchen, und diesen Zahnarzt hier nach Bandurowo zum Kommissar.“ Jetzt erst verstand ich. „Was denn“, sagte ich, „ihr haltet mich für einen Weißen?“ „Nein“, sagte der Zugführer, „für kornblumenblau mit rosa Punkten.“ Sykow lag immer noch im Staub. Sie drehten ihn auf den Rücken, dann auf die Seite und kramten ihm alle Taschen durch. „Er atmet noch“, sagten sie. „Schön“, sagte der Zugführer. „Laßt ihn ruhig Luft schnappen. Das Wetter ist heute wunderbar.“ Dann nahmen sie Sykows Papiere aus seiner Tasche und
lasen: „Wassili Semjonowitsch Sykow, erste Schwadron der Kosaken-Freiwilligen-Division des Generals Mamontow.“ „Tja“, meinte der Zugführer, „der gehört zu uns. Das sieht man an allem. Und nun, Jungs, aufgesessen!“ „Los, Soldat“, sagte er zu mir, „vorwärts, marsch – für Gott, Kaiser und Vaterland!“ „Nein“, sagte ich, „ich lasse meinen Kameraden nicht hier. Nehmt ihn mit. Hört ihr!“ „Wir bitten um Entschuldigung“, antworteten sie, „aber wir haben keinen Leichenwagen bei uns.“ „Ohne ihn gehe ich nicht.“ „Du gehst nicht? Wirklich nicht? Machst du auch keine Witze? Na, wenn das so ist“, sagten sie, „dann nimm ihn selbst mit. Huckepack. Einverstanden?“ Was sollte ich tun? Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, klaubte Sykow auf und lud ihn mir auf die Schulter. Schwer war’s natürlich, aber ich kippte trotzdem nicht um und ließ Sykow auch nicht fallen. Ich stand fest auf beiden Beinen. Wir zogen los. Vorne ritten zwei, links und rechts je einer, hinten der Zugführer auf seinem Schimmel und in der Mitte Sykow auf mir. Natürlich hatte ich keine Hufe an den Füßen, und allzu schnell laufen konnte ich nicht. Dazu kamen noch die Blasen, und der Rücken… na, ihr wißt ja. Ich ging also nicht sehr schnell. Und mir war auch nicht sehr froh zumute. Ich ging wie betrunken. Die Augen fielen mir zu, die Beine zitterten… Dauernd rempelte ich die Pferde an. Dauernd wurde ich angeschrien: „He! Weiter! Mach die Pferde nicht scheu… Popanz!“
„Entschuldigt“, sagte ich, „das war aus Versehen.“ Und ging weiter. Wißt ihr, es war mir ganz egal, was sie da schrien. Sollten sie. Was damals in meinem Kopf vorging, daran mag ich gar nicht denken. Ich dachte nur eins: So ein Blödsinn. So ein entsetzlicher Blödsinn. Entsetzlich, dieser Blödsinn! Man stelle sich vor: ein Budjonny-Reiter Gefangener bei Budjonny! Trotzdem fühlte ich mich etwas ruhiger. Es waren doch, zum Henker noch mal, die eigenen Leute! Und sie trugen Sterne. Und ich hatte doch schon jede Hoffnung aufgegeben, diese Leute und diese Sterne noch einmal zu sehen. Und nun sah ich sie… Die Hufe klapperten. In meinem Kopf klapperte es auch. Auf meinen Schultern zuckte Sykow alle Augenblicke zusammen! Ach, du armer Kerl, dachte ich, da hast du nun umsonst dein Leben gelassen. Und hast nicht einmal den Genossen Budjonny gesehen. Ich konnte nicht mehr. Ich wäre fast gefallen, fast unter die Hufe gekommen. Neben mir lachten sie. „Du, Soldat! Hast wohl schlecht gefrühstückt, was? Die weiße Grütze ist wohl nicht allzu fett, was?“ Ich konnte nichts antworten. Nicht einmal ordentlich fluchen konnte ich. Ich ging und stolperte. „Komm, Soldat“, sagte jemand neben mir, „leg deinen Freund hier vorne auf mein Pferd.“ Ich tat es auch. Ich erinnere mich – ich sagte „danke“ und legte meinen armen Sykow auf den warmen Pferdehals. Da hing er nun und ließ die Arme baumeln. Und ich
ging weiter. Es wurde dunkel. Oben blinkten schon die Sterne, als wir in dem Dorf Bandurowo, Kreis Marjew, Bezirk Lugansk, ankamen. Ich erinnere mich, daß wir auf einem Hof lange warteten. Posten standen da, Sykow lag am Brunnen auf der Erde, und ich kauerte neben ihm und weinte. Kann sein, daß ich mit den Nerven fertig war, vielleicht war es auch die Müdigkeit, jedenfalls fiel es mir schwer, meinen Freund sterben zu sehen. Er atmete noch. Aber so hoffnungslos, wißt ihr, und unregelmäßig. Er holte Luft, ächzte, bewegte den Kopf – und war wieder still. Seine Schlafe blutete auch nicht mehr. Das war ein schlimmes Zeichen, „Sykow!“ Er schwieg. Machte nicht einmal die Augen auf. Rührte und muckte sich nicht. „Sykow!“ sagte ich. „Hör, sei gut. Es kommt schon alles wieder in Ordnung. Das ist doch bloß ein Mißverständnis. Es sind doch unsere Budjonny-Reiter… mit Sternchen an den Mützen, weißt du. Und morgen machen wir uns selbst solche Sterndien an und gehen zu Budjonny. Und ich sage dann zu ihm: .Genosse Budjonny, gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Freund Wassili Semjonowitsch Sykow vorstelle. Er ist der größte Held auf unserem Erdball…’ Hörst du, Sykow? Und Budjonny sagt dann zu dir: ,Ja, du bist ein feiner Bursche, siehst auch ganz wie ein guter Kämpfer aus, nur gehörst du nicht zu dem weißen Gesindel, nicht zu Denikin, sondern in die Sonderabteilung des Genossen Sawaruchin.’ Und er schickt dich zu uns in die Abteilung. Willst du zu uns in die Abteilung, Sykow?“ Ich redete, natürlich Unsinn, denn Sykow hörte mich ja nicht, er lag still und stumm am Brunnen, wie ein Stück
Holz. Da ging die Haustür auf, und jemand rief: „Die Gefangenen!“ Einer der Gefangenen war ich!… Bedenkt doch nur: ein Budjonny-Reiter Gefangener bei Budjonny! Na ja, man führte mich ins Haus. In der Stube roch es natürlich nach Brot, nach Kohlsuppe und nach Petroleum; unter den Heiligenbildern stand ein Tisch, und auf dem Tisch lag neben einer Milchkanne eine englische Mauserpistole. Ein junger Bursche im Kaukasierhemd saß am Tisch. Neben ihm saß noch einer – mit Schirmmütze. Ein dritter, mit Bart, saß am Fenster. Es waren noch ein paar da, aber ich erinnere mich nicht mehr an sie. „So, Freundchen“, sagten sie, „nun komm mal näher.“ Sykow wurde auf die Wandbank gelegt, und ich trat an den Tisch. Alle sahen mich an, als sei ich kein Mensch, sondern ein Wundertier. Dann fingen sie an, eine Akte anzulegen. „Name?“ „Trofimow, Pjotr Wassiljewitsch.“ „Wie?“ „Ich kann euch nicht laut antworten“, sagte ich, „mein Hals ist mit Tinte zugekleistert.“ „Verrückt!“ sagten sie. „Wie?“ sagte ich. „Gemeiner?“ fragten sie wieder. „Jawohl, Sonderabteilung des Genossen Sawaruchin.“ „Was?“ rief der Bursche im Kaukasierhemd. „Sawaruchin, sagst du?“ „Na klar.“ „Was für ein Unfug! Genossen, wo habt ihr denn den aufgegabelt?“ „Von A bis Z erlogen, Genosse Kommissar“, sagten die anderen. „Es ist ein waschechter Mamontow-
Kundschafter.“ Und sie legten ihm Sykows Papiere auf den Tisch. „Na und?“ sagte ich. „Die gehören Sykow. Er war bei Mamontow, das stimmt. Ist ihm aber davongelaufen. Und ich komme von Sawaruchin. Ich sollte Budjonny einen Geheimbrief bringen.“ „Was denn, zu Fuß?“ fragten sie. „Nein, auf dem ,Neger\“ „Auf was für einem Neger?“ fragten sie. „Hör mal, Freundchen, du bist hier nicht in Afrika. Du bist hier in der Russischen Republik, Freundchen.“ „Ja, das weiß ich“, sagte ich. „Aber der .Neger’ ist ein Pferd.“ „Ach. Und wo hast du es denn, dein Pferd?“ „Es ist ertrunken“, sagte ich. „Das Pferd?“ „Ja“, sagte ich, „stellt euch das vor… Ich habe die Kandare zu fest angezogen, da ist ihm im Wasser die Puste weggeblieben.“ „Sieh an“, sagten sie, „was es doch für Wunder gibt. Na, und wo ist dein Brief?“ „Wo er ist?“ fragte ich wütend. „Wo er ist, fragt ihr? Aufgegessen hab ich ihn!“ Sie wollten sich ausschütten vor Lachen: „Ho – ho – ho!“ Sie glaubten mir nicht, versteht ihr… glaubten mir kein Wort. Dachten, ich faselte. Ich sagte: „Seht her, mein ganzer Rücken ist voll Striemen. Seht ihr? Ich hab mich wohl selbst mit Gewehrstöcken geprügelt, was?“ Ich riß mein Hemd herunter und zeigte allen die Bescherung – dem im Kaukasierhemd, dem mit der Schirmmütze und dem mit Bart. Der mit Bart sagte: „Hm. So kann man sich selbst nicht zurichten. Das ist wahr. Tüchtig haben sie dich versohlt,
die Bestien. Wer war es denn?“ „Mamontows Kosaken“, sagte ich. „Tja“, sagten sie, „was sollen wir bloß mit ihm machen? Vielleicht ist er wirklich einer von uns. Wer weiß… Hast du Papiere?“ „Nein“, sagte ich, „alles aufgegessen. Am besten, ihr schickt dem Genossen Sawaruchin ein Telegramm. Er wird euch antworten.“ „Schön wär’s“, sagten sie, „aber von Sawaruchin haben wir drei Tage keine Nachricht. Wo er steckt und wie’s um ihn steht, das wissen die Götter.“ „Aber ich weiß, wo er steckt und wie’s um ihn steht“, sagte ich. „Ich bringe Budjonny Nachrichten von ihm. Laßt mich bitte los“, sagte ich, „damit ich weiter kann.“ „Nun?“ fragten die einen. „Na ja!“ sagten die anderen. Und zuckten mit den Schultern und machten solche Armbewegungen, wißt ihr. Sie lassen mich los, dachte ich, bestimmt. Und da – versteht ihr – kam wieder ein Zwischenfall. Draußen vor dem Fenster entstand plötzlich ein Geräusch. Eine Stimme war zu hören. Eine Art Gesang sogar. Und aus irgendeinem Grunde sank mir sofort der Mut. Mich überkam so etwas wie eine schlimme Ahnung, und mir war übel. Der Kommissar – das war der im Kaukasierhemd – fragte: „Was ist denn da draußen los?“ Der mit dem Bart antwortete: „Dieser unglückliche Alte krakeelt wieder.“ „Was für ein unglücklicher Alter?“ „Na, dieser Bienenzüchter, dem man die Frau erstochen hat.“ „Ach so“, sagte der Kommissar. „Warum treibt er sich draußen herum? Warum läßt man ihn nicht herein. Viel-
leicht hat er Hunger. Dann sollen die Jungs ihm zu essen geben.“ In dem Moment flog die Tür auf, und herein stürzte der unglückliche Alte. Ich erkannte ihn sofort. Wie sollte ich auch nicht, wo er mir doch an einem einzigen Tag so viel Schrecken eingejagt hatte! Das war mein verrückter Bauer. Er sah jetzt noch schlimmer aus. Seine Kleider waren völlig zerfetzt. Arme und Beine bluteten, als hätte er drei Stunden lang im Dornengestrüpp gelegen. Und seine Augen – die Augen blickten jetzt ganz irre. Mit solchen Augen konnte man ein ganzes Kavallerieregiment in die Flucht schlagen. Ich setzte mich beinahe hin vor Angst. Da erblickte er mich – und nun ging ein Geschrei los… „A – ah!“ brüllte er und fuchtelte mit den Armen herum, „da Ist er! … Genossen … Bolschewiki… Haut ihn! Haut Ihn, den Höllenhund! Schießt ihn sofort nieder! Mit eurer längsten Flinte…“ „Was denn“, sagte der Kommissar, „kennst du ihn etwa?“ „Und wie ich ihn kenne!“ sagte der Kerl. „Die waren es doch, die mir mein Häuschen abgebrannt haben und die meine Frau, meine Alte, mit dem Bajonett totgestochen haben. Und dann haben sie mich mit einem Pferdezaum gebunden, die Hunde…“ „Was?“ sagte der Kommissar. „Was soll das heißen?“ „Wieso mit einem Zaum?“ fragte ich. „Das war kein Zaum, das war ein Koppel.“ „Kuriere vom General Mamontow sind das“, fing der Alte wieder an. „Sie gingen nach Kurbatowo mit einer Meldung. Ich habe alles mit eigenen Ohren gehört, obwohl sie mich mit einem Pferdezaum gebunden hatten,
die Spitzbuben, und mich in den Graben geschmissen hatten.“ „Lüg nicht!“ sagte ich. „Was schwafelst du da? Das war gar kein Zaum, womit wir dich gebunden hatten.“ Jetzt funkte der Kommissar dazwischen. „Halt!“ sagte er. „Schwatz nicht! Sag lieber, warum du nach Kurbatowo gepilgert bist.“ Ich sagte: „Na ja… Stimmt schon, wir sind wirklich nach Kurbatowo gegangen. Aber wir gingen nur so, absichtlich… Wir gingen…“ Ich stockte. Ich verhaspelte mich, versteht ihr, und bekam wahrscheinlich einen roten Kopf. „Wir gingen“, sagte ich, „nicht dorthin, sondern hierher. Wir gingen…“ „Halt!“ schrie der Kommissar. „Das reicht!“ Dann sagte er zu dem Alten: „Ist gut, Opa. Ich danke dir. Du kannst gehen. Sag den Soldaten, sie sollen dir was zu essen geben. Leb wohl.“ Er drückte dem Verrückten die Hand, und der Verrückte ging fort… Die Burschen aber setzten sich alle in die Ecke unter die Heiligenbilder und hielten Rat… Na, ihr wißt ja selbst, was damals für Zeiten waren. Sehr stürmische. Keiner hatte Muße, lange hin und her zu überlegen. Die in der Ecke tuschelten ein Weilchen, dachten ein bißchen nach, schrieben was auf und lasen es dann gleich vor: „Trofimow, Pjotr, feindlicher Kundschafter und Spion, wird erschossen. Das Urteil wird sofort vollstreckt.“ Und ich? Ich sagte nichts. Ich weiß, ich sagte nur: „Hm… Ein Budjonny-Reiter Gefangener bei Budjonny…“ Dann standen alle auf. Einer ging hinaus. Ein anderer fing an, über Kriegsangelegenheiten zu reden. Drei
oder vier nahmen mich beim Schlafittchen und führten mich auf den Hof. Dort befahlen sie mir, mich an die Wand zu stellen. Ich erinnere mich, daß ich zu ihnen sagte: „Nicht doch im Hof. Warum den Hof versauen, Genossen? Der Bauer wird sich nachher ekeln. Macht’s irgendwo abseits, das ist schöner…“ „Schon gut“, sagten sie, „stell dich nur hin. Wir haben jetzt keine Zeit für Schönheitspflege.“ „Meinetwegen“, sagte ich, „dann werd ich mich also ausziehen.“ „Nicht nötig.“ „Was denn“, sagte ich, „sollen die Kleider draufgehen? Nein, das ist nichts… Da gebe ich meine Sachen lieber euch, Jungs. Ich habe feine Stiefel“, sagte ich. „Prima Dinger. Na?“ „Laß“, sagten sie, „wir brauchen keine englischen Stiefel. Soll die Entente darin herumlaufen.“ „Blöd seid ihr!“ sagte ich. „Von wegen Entente! Ihr seid selbst eine Entente! Das sind doch gar keine englischen Stiefel. Die sind doch aus Moskau. Marke .Recke’.“ Ich setzte mich hin und zog mir die Moskauer Reckenstiefel von den Füßen. „Da, Jungs“, sagte ich, „nehmt sie zum ewigen Andenken.“ Ich warf ihnen die Stiefel zu und fing an, die Fußlappen aufzuwickeln. Und – was glaubt ihr wohl? Nein, das vergesse ich nie! In meinen zerfetzten, verschwitzten Fußlappen entdeckte ich ein Klümpchen – irgendein Papierknäuel mit was Geschriebenem drauf. Ich strich das Ding glatt und sah, daß es Buchstaben waren. Aber was für Buchstaben, das wußte ich damals nicht.
Ich sagte: „Da, Jungs, ich kann nicht lesen, seht ihr mal nach, was da geschrieben steht.“ Sie sagten: „Was gibt’s da nachzusehen. Wir wollen nichts sehen. An die Wand mit dir!“ „Euch geht doch nichts ab dabei“, sagte ich. „Ich kann mich immer noch an die Wand stellen. Lest doch mal, was da drauf steht. Vielleicht ist es etwas Wichtiges.“ Na, es fand sich doch noch einer, der ein Streichholz anbrannte und zu lesen begann. Er bewegte die Lippen und buchstabierte. Dann sagte er: „Also, da steht ,chailo’ geschrieben.“ „Wieso?“ fragte ich. „Was für ein .chailo’?“ „Eben ,chailo’.“ Der zweite trat hinzu. Dann der dritte. Sie lasen nun alle zusammen. „Ja“, sagten sie, „also…. jo… chailo… ar…“ „Irgendwie verdächtig“, meinten sie. „Ein Siegel war da auch dran… Kommt, Jungs, holen wir Belopolski.“ Sie gingen ms Haus. In einer Sekunde waren sie wieder zurück. Mit dem Kommissar. Der schimpfte. „Was denn noch für ein ,chailo’?“ fragte er. „Na, zeigt her.“ Ich sehe ihn noch vor mir. Er nahm meinen zerfledderten, zerknautschten Wisch und las: „…Jon Michailowitsch Budjonny,… ehlshaber der Ersten Reiterarmee, Stab der sechssten Division der Roten…“ Na, was nun los war, könnt ihr euch ja ungefähr denken. Kommissar Belopolski griff sich an den Kopf. „Was ist das? Was ist das nur?“ „Das ist alles, was von dem Brief noch geblieben ist“, sagte ich. „Von dem, den ich nach Lugansk zu Budjonny bringen sollte. Das übrige habe ich aufgegessen.“
Ach, gab das eine Aufregung! Kommissar Belopolski brüllte: „Loslassen! Das Urteil ist aufgehoben!“ Kam dann auf mich zu, bückte sich und legte mir den Arm um die Schulter. „Genosse“, sagte er, „entschuldige. Fast hätten wir dich zum Vater im Himmel geschickt.“ „Macht nichts“, sagte ich. „Bitte sehr. Gebt mir ein Pferd, und ich reite zu Budjonny. Ich habe sehr wichtige Meldungen für ihn.“ Und dabei konnte ich mich nicht einmal vom Boden erheben. Ich saß da, ohne Stiefel, und wischte mir mit den Fußlappen den Schweiß vom Gesicht. Der rann nur so, versteht ihr… Kunststück! Fünf Minuten später stand ein Maschinengewehrwagen am Tor. Mit zwei wunderbaren, feurigen Pferden davor. Sie legten mich in den Wagen und packten mich ganz in Heu ein. Schön warm und weich… Ich erinnere mich, ich lag mit halbgeschlossenen Augen. Ich hörte den Genossen Belopolski kommandieren: „Nach Lugansk, zu Budjonnys Stab.“ Da hob ich den Kopf. „Hört mal“, sagte ich, „bringt auch Sykow her.“ Sie brachten auch Sykow und legten ihn neben mich. Ich stupste ihn mit dem Kopf in die Seite. Er meldete sich nicht. Sagte nicht Muh und nicht Mäh. Lag da wie ein Klotz. Unser Kutscher knallte mit der Peitsche, der Wagen ruckte an, und ich verlor das Bewußtsein. Mit anderen Worten – ich schlief ein. Schlief ein und träumte: Wir stehen in der Stadt Jelisa-
wetgrad. Ich habe neue Stiefel an und will mir bei Wanka Lytschkow, unserem Feldwebel, Fußlappen kaufen. Er verlangt ein Päckchen Machorka dafür und drei oder vier Stück Zucker. Ich biete ihm aber nur die anderthalbfache Brotration und sonst nichts. Machorka besitze ich keinen, ich bin Nichtraucher. Aber die Fußlappen haben es mir angetan. Sie sind nämlich ganz besonders fein und weich. Aus herrschaftlichem Linnen. „Du kannst anderthalb Pfand haben“, sage ich. „Das Brot ist sehr gut. Fast frisch.“ „Nein“, sagt Lytschkow, „scher dich!“ Nun, ich weiß nicht mehr, wie wir uns einig wurden… Jedenfalls bekam ich die Fußlappen und fing an, sie mir umzuwickeln. Ich wickle also stillvergnügt, da kommt plötzlich Genosse Sawaruchin gegangen. Er zählt die Knöpfe an seiner Bluse. Und spricht: „Trofimow, es ist uns zu Ohren gekommen, daß du Blasen an den Füßen hast. Stimmt das?“ „Jawohl“, sage ich, „ein paar kleine.“ „Na also“, sagt er. „Unsere Sonderabteilung hat beschlossen, dich aus diesem Grunde zu erschießen.“ Ich sage: „Wie Sie wollen, Genosse Sawaruchin. Das ist Ihre Sache, Genosse Sawaruchin. Sie können mich ruhig erschießen.“ Ich fange an, die Fußlappen in aller Ruhe wieder aufzuwickeln und denke so für mich: Ja, ja, es gibt schon Ärger im Leben… Da erwachte ich. Ich lag im Wagen. Der Wagen stand, ich weiß nicht warum. Es war dunkel. Wir hielten auf einer Brücke oder vor einer Einfahrt. Unser Kutscher saß auf seinem Bock und rauchte. Sykow neben mir pfiff auf dem letzten
Loch. Sein ganzes Gesicht war voll Blut. Aus der Schläfe blubberte es in einem fort. Ich wollte mich aufrichten und dem Kutscher sagen, er sollte etwas mit Sykow machen. Aber ich graulte mich auf einmal dermaßen, daß ich erneut das Bewußtsein verlor – also erneut einschlief. Als ich das zweitemal erwachte, war ich schon an einem andern Ort. Ich lag in einem weichen Bett, über meinem Kopf brannte friedlich ein Lämpchen. Auf meinem Bauch lag etwas Warmes, eine Art Blase, und neben mir auf einem Stuhl saß so ein rothaariger Onkel mit weißer Schürze. „Wer bist du, Rotkopf?“ fragte ich. „Der Doktor.“ „Und ich?“ „Du bist im Lazarett“, sagte er. „Du bist krank. Lieg still und rühr dich nicht. In deinem Bauch hat man soeben Siegellack, Tinte und noch verschiedenes andere gefunden.“ „So“, sagte ich. „War auch Papier drin?“ „Ja, sehr viel.“ „Und haben Sie alles verstanden?“ „Was denn?“ „Hat man alles entziffert“, fragte ich, „was dort geschrieben stand? Oder hat sich einiges verwischt?“ „Aber nicht doch“, antwortete er, „dieses Papier hat sich in eine kompakte Masse verwandelt.“ „Schade“, entgegnete ich. „Du mußt dich jetzt auskurieren“, sagte er nun. „Du mußt lange und gründlich deinen Bauch kurieren. Da“, sagte er, „nimm bitte für alle Fälle Pyramidon.“ Ich schluckte das Zeug. Der Doktor blieb noch ein Weilchen sitzen, rückte die Blase zurecht und ging. Ich
blickte umher, um festzustellen, was eigentlich los war. überall lagen Kranke. Sie schliefen. Manche stöhnten. Manche brabbelten im Schlaf. Zwei Betten weiter von mir, gleich am Ofen, entdeckte ich ein bekanntes Wesen. Stellt euch vor – es war Sykow! Aber – was trieb der denn da? Sein ganzer Schädel war verbunden. Nur die Nase guckte heraus. Und er, dieser Sykow, hing über dem Bettrand und machte sich am Fußboden zu schatten. Er stopfte da was in eine Ritze. „Sykow!“ rief ich. Er hob sein Wrack von Kopf und sagte: „Ha?“ „Was machst du da?“ fragte ich. „Ich?“ „Freilich, du!“ „Ich schaffe das Pyramidon beiseite“, sagte er. „Weißt du, mir hängt dieses Gift schon zum Halse raus. Damit wird man wohl in allen Armeen kuriert. Ich glaube, die Doktoren haben schon vor Christi Geburt die Soldaten mit Pyramidon gefüttert.“ „Komischer Kerl!“ sagte ich. Dann fragte ich: „Du lebst?“ „Scheint so“, sagte er. „Freust du dich?“ „Scheint so“, antwortete er, „du Spatzenschreck!“ Na, ich wollte ihn ordentlich ausschimpfen, wollte sogar mit dem Kissen nach ihm werfen, aber plötzlich wurde ich, versteht ihr, schwach und schwächer, fing an zu zittern, sank mit der Nase in das bewußte Kissen und schlief ein. Als ich erwachte, war schon heller Morgen. Die strahlende Sonne blendete mich. Ich drehte den Kopf zur Seite und – erblickte plötzlich ein bekanntes Gesicht. So ein nicht sehr großer, breitschultriger Mann mit Schnurrbart stand in der Tür und sah zu mir herüber. Mensch, dachte
ich, Budjonny!… Er kam an mein Bett, nahm seinen Budjonnyhelrn ab und sagte: „Guten Morgen!“ Ich stützte mich im Bett auf und schoß los: „Genosse Budjonny… (hier verschluckte ich mich), Genosse Budjonny! Die Sonderabteilung des Genossen Sawaruchin ist vom Feind umzingelt. Links bedrängt uns Schkuro. Rechts bedrängt uns Mamontow. Nein – links Mamontow… Links Ulagai… Verzeihung – rechts Ulagai…“ Weg war’s. In meinem Kopf ging alles durcheinander. Ich schwieg still und streckte mich wieder aus. Genosse Budjonny legte mir, ich weiß noch, die Hand auf die Stirn und sagte: „Das Fieber fängt an. Er muß eine Kompresse bekommen.“ Da fiel mir plötzlich etwas ein. Mit großer Anstrengung richtete ich mich noch einmal auf und sagte: „Genosse Budjonny! Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Freund vorstelle – Wassili Semjonowitsch Sykow, den größten Helden auf dem Erdball.“ Budjonny lachte. „Wo ist er denn der Held?“ fragte er. „Der da, der den halben Kopf verbunden hat“, sagte ich. „Sehen Sie, er lächelt Ihnen zu.“ „Aha“, sagte Budjonny und ging auf das Bett zu, in dem Sykow lag. Nun, wie die beiden sich kennengelernt haben, weiß ich nicht mehr. Das heißt, ich habe es gar nicht gesehen. Weil ich nämlich schlief. Nach zwei Wochen wurde ich dann aus dem Lazarett entlassen und kehrte zur Division zurück. Dann kam der Winter. Und um Neujahr herum schickte Moskau mir ein Geschenk: den Rotbannerorden. Wofür? frage ich euch… Wofür?
6. Jahrgang, 1. Septemberheft Russischer Originaltitel: IIAKET Deutsch von Wera Rathfelder Copyright 1955 by Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin Prmted in Germany • Lizenz-Nr. 3 – 285/83/55 ■ Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: H. Betcke Satz und Druck: (III/9/1) Sachsische Zeitung, Verlag und Druckerei,
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