Wolfgang Hohlbein
Lovecrafts Reise ins Grauen
In diesen Tagen jährt sich zum 100sten Male der Geburtstag von Howard P...
26 downloads
573 Views
766KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Wolfgang Hohlbein
Lovecrafts Reise ins Grauen
In diesen Tagen jährt sich zum 100sten Male der Geburtstag von Howard Phillips Lovecraft. Ein Datum, das Aufmerksamkeit verdient. Denn H. P. Lovecraft war einer der Urväter der Phantastischen Literatur, einer der Männer, denen wir das Grusel-Genre zu verdanken haben. Um ihn zu ehren, haben wir uns für dieses DÄMONEN-LAND etwas ganz Besonderes ausgedacht: einen Roman, in dem er selbst die Hauptrolle spielt! Und der – wenn auch natürlich fiktiv – einige Geheimnisse um sein Leben und Sterben enthüllt. Geschrieben wurde dieser Band von Wolfgang Hohlbein, der sich als Autor intensiv mit Lovecrafts Werk beschäftigt hat und schon mit seiner HEXER-Serie in die dunklen Gefilde des Cthulhu-Mythos und des Necronomicon eintauchte. Und wer nach der Lektüre des Romans mehr wissen will über H. P. Lovecraft, der findet am Ende des Heftes ein Essay über den Altmeister. Happy Birthday, H. P.! Ihr DÄMONEN-LAND-Redakteur
Dieser Roman ist eine Erstausgabe!
Spätestens seit der vergangenen Nacht wußte er, daß alles wahr war. Lange vor Morgengrauen war er erwacht, mit klopfendem Herzen, in Schweiß gebadet, mit schmerzender Kehle und dem Echo seiner eigenen Schreie in den Ohren, das Bettlaken so zerwühlt und naß wie es jetzt jeden Morgen war, das Zimmer erfüllt vom gelben Licht der Petroleumlampe, die er jetzt die ganze Nacht über brennen ließ, und seine Seele erfüllt von den Schatten, die er aus dem Reich der Träume und des Irrsinns mitgebracht hatte. Er wußte nicht mehr, wie lange er diese Träume schon hatte – es mußten Monate sein ... Sein Empfinden für die Zeit war durcheinandergeraten, seit es begonnen hatte. Und nicht nur das. Manchmal hatte er Mühe, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten, als schienen die Alpträume zu gräßlicher Wirklichkeit zu werden. Vielleicht verlor er den Verstand. Vielleicht hatte er ihn bereits verloren. Unten im Haus waren Geräusche: das gedämpfte Zuschlagen einer Tür, die leisen Schritte seiner Tante, die unruhig am Fuß der Treppe auf- und abging und darauf wartete, daß die Schreie und die unheimlichen Laute aus seinem Zimmer wieder begannen, um vielleicht hinaufzukommen. Aber in letzter Zeit tat sie das seltener. Sie sprach auch immer weniger über dieses Thema in seiner Gegenwart; ja, sie versuchte sogar, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Aber die besorgten traurigen Blicke, mit denen sie ihn machmal musterte – meist, wenn sie glaubte, er merkte es nicht –, und ihre fahrigen Bewegungen und die Angst in ihrer Stimme straften ihr Benehmen Lüge. Sie wußte, daß er krank war. Krank! Wäre es nur das gewesen! dachte er schaudernd. Wäre es ein Fieber, eine Krankheit, ja selbst eine Geistesverwirrung – er hätte alles darum gegeben, sich einreden zu können, daß es allein das war. Aber das war es nicht.
Langsam trat er ans Fenster und blickte in die Nacht hinein. Die Luft im Zimmer war warm und schlecht, aber er wagte es nicht, das Fenster zu öffnen, solange draußen noch Dunkelheit herrschte. Die Dunkelheit war ihr Verbündeter. Das Versteck all der namenlosen Schrecken, die ihn in seinen Träumen plagten. So blieb er reglos stehen, starrte in die Nacht hinaus und betrachtete das bleiche Spiegelbild seines eigenen Gesichtes auf dem Glas. Es war ein Bild, das ihn erschreckte. Er war niemals ein kräftiger Mann gewesen, aber jetzt war sein Gesicht ausgezehrt und fahl, die Haut bleich, ein Gespenst, nicht nur in der farbenfressenden Reflexion der Fensterscheibe. Unter den Augen lagen dunkle Ringe, und auch seine Bewegungen waren fahrig und schwach geworden. Die Träume zehrten an seinen Kräften, brannten ihn allmählich aus wie ein tödliches Fieber. Träume ... Es waren keine Träume. Nicht nur. Noch bis zum vergangenen Abend hatte er das geglaubt und wie hätte er auch irgend etwas anderes als eben dies annehmen können angesichts der Bilder kriechenden Wahnsinns, mit denen der Schlaf ihn heimsuchte? Angesichts der unbeschreibbaren Scheußlichkeit, die er sah, wenn er die Augen schloß? Und auch in dieser Nacht hatte er wieder einen jenen entsetzlichen Nachtmare gehabt, aus denen er schreiend und schweißgebadet hochgefahren war, am ganzen Körper zitternd und mit rasendem Herzen, als wäre er wirklich geflohen, Stunde um Stunde gerannt, um dem Entsetzlichen zu entkommen, daß sich immer ein winziges Stückchen schneller bewegte als er, ganz gleich, wie schnell er lief. Aber etwas war anders gewesen als in den Nächten zuvor. Etwas, das ihm bewies, daß es mehr sein mußte als ein Traum. Langsam, mit klopfendem Herzen und Bewegungen, die all seine Überwindung und auch seine Körperkraft kosteten,
wandte er sich um und blickte auf sein Bett herab. Sein Bett und das, was darauf lag. Ja, dachte er noch einmal, diesmal war das Erwachen anders gewesen als sonst. Diesmal konnte er sich nicht einreden, daß es nur ein Traum gewesen war. Denn diesmal hatte er etwas mitgebracht.
Dabei hatte es ganz anders als die meisten dieser Geschichten (übrigens auch als die meisten der, die er selbst schrieb) nicht schleichend und harmlos angefangen, sondern mit einer aufs Höchste beunruhigenden Episode. Genauer gesagt: mit zwei Vorfällen, die in unmittelbarem Bezug zueinander standen, und wie sich später herausstellen sollte, auch gleichzeitig geschahen, ohne daß er diesen Bezug oder gar die Zeitgleichheit indes damals schon hatte erkennen können. Geschweige denn, welch perfider Plan hinter den Vorkommnissen dieses und der darauffolgenden Tage und Wochen stand. Dabei hätte er heute nicht einmal sagen können, wie viele Tage oder Wochen seither vergangen waren. Er interessierte sich wenig für das System, nach dem der Rest der Menschheit die Zeit maß, sondern lebte gewissermaßen in seiner eigenen Zeit, so wie er sich auch eine eigene Welt im Haus seiner Tante geschaffen hatte. Was ihn nicht daran hinderte, täglich aufmerksam die Zeitungen zu studieren (er hatte gleich mehrere davon abonniert), immer auf der Suche nach Neuigkeiten, nach Wissenswertem; nicht nach den großen Ereignissen der Weltgeschichte. Die interessierten ihn wenig oder gar nicht. Er war schon vor langer Zeit zu dem Schluß gekommen, daß die Menschheit so oder so dem Unter-
gang geweiht war, und daß all ihr Tun und Handeln nur dazu beitragen würde, diesen Untergang noch schneller herbeizuführen. Was ihn hingegen brennend interessierte und wonach er jede der zahlreichen Zeitungen, die er las, Zeile für Zeile aufmerksam durchforschte, das waren die kleinen Dinge des Lebens eine Glosse, in der in spöttischem Tonfall über Aufstieg oder Untergang von Menschen berichtet wurden, eine private Anzeige, in der manchmal in zwei Sätzen ein ganzes Leben entschieden werden mochte, ein Bericht über ein lokales Ereignis in einer unbekannten Stadt, für das, was sich hochmütig als die große Welt dünkte, völlig uninteressant, für ihn jedoch ein Quell unerschöpflichen Wissens. Und auch der winzige, nur drei Spalten messende Bericht in der MORNING POST – einer seiner Lieblingsgazetten, berichtete sie doch mehr von provinziellen Ereignissen und den Dingen des täglichen Lebens würde wohl von den allermeisten Lesern mit einem Lächeln oder allenfalls mit einer spöttischen Bemerkung abgetan werden. Von ihm nicht. Er las ihn einmal, zweimal, schließlich ein drittes Mal, ehe er die Zeitung mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln pedantisch zweimal zusammenfaltete und dann neben seine Kaffeetasse auf den Frühstückstisch zurücklegte, auf den Stapel anderer, zum Teil noch ungelesener Zeitungen, die er später mit in sein Arbeitszimmer hinauf nehmen und in aller Ruhe durchforsten würde. Der nachdenkliche Ausdruck blieb auf seinen Zügen, und als er nach seiner Kaffeetasse griff und an dem mittlerweile nur noch lauwarmen Getränk nippte, blickte seine Tante an der anderen Seite des Tisches auf und fragte: »Was hast du?« Er stellte die Tasse zurück, tupfte sich mit den Fingerspitzen wie mit einer Serviette über die Lippen und erwiderte Tante Sallys fragenden Blick. »Du bist ganz blaß geworden«, sagte sie. »Deine Hände zittern. Hast du irgend etwas in der Zeitung gelesen, das dich so
erschreckt hat?« Einen Moment lang sah er fast verwundert auf seine Hände herab und stellte fest, daß sie tatsächlich zitterten; er hatte es bisher gar nicht bemerkt. Tante Sallys Frage erstaunte ihn ein wenig. Tatsächlich fühlte er sich müde und erschöpft, denn er hatte in der vergangenen Nacht wieder lange gearbeitet und war erst zu Bett gegangen, als sich draußen bereits wieder das erste Grau der Dämmerung zeigte, aber das kam so oft vor, daß es schon fast normal war. Und in den Jahren seit seiner Rückkehr aus New York, die er zusammen mit Sally und ihrer Schwester in diesem Haus gelebt hatte, hatten sie sich an die sonderbar zeitlose Existenz ihres Neffen gewöhnt; ebenso wie an alle anderen seiner zahlreichen Marotten und Unarten (er wußte sehr wohl, daß sie es so nannten, untereinander und wenn sie glaubten, er hörte es nicht). Er wollte den Kopf schütteln und ihre Frage mit einer scherzhaften Bemerkung abtun, hörte sich dann aber beinahe zu seiner eigenen Überraschung antworten: »Da war ein ... sonderbarer Bericht.« Er streckte die Hand nach der Zeitung aus und sah seine Tante fragend an. »Wenn du willst, lese ich ihn dir vor.« Tante Sally lehnte mit einer Kopfbewegung ab und sagte: »Erzähl’ mir davon. Das reicht.« Sie lächelte. »Du erzählst ohnehin spannender als diese Analphabeten schreiben können.« Diesmal lächelte er, flüchtig und ein wenig geschmeichelt, auch wenn er das niemals zugegeben hätte, nicht seiner Tante und schon gar nicht sich selbst gegenüber, ehe er antwortete: »Es ist ein Bericht über einen Mann, der getötet wurde.« Tante Sally lächelte weiter, aber er spürte, wie schwer es ihr jetzt fiel, dieses Lächeln weiter überzeugend aussehen zu lassen. Auch wenn sie es niemals aussprach und sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, so wußte er doch, mit welchem Unbehagen sie die morbiden Geschichten über Tod und Verheerung und uralte finstere Mächte erfüllten, mit denen er sich während des größten Teiles seiner Zeit beschäftigte. Trotzdem
fragte sie nach einer Weile: »Wo?« Er blickte einen Moment auf die zusammengefaltete Zeitung herab, als bedürfe es ihres Anblickes, um sich des Namens der Ortschaft wieder zu erinnern. »In Brigdewater Junction.« Tante Sally runzelte die Stirn. »Das liegt ...« »Ungefähr vierzig Meilen östlich von hier«, sagte er. »Ich war einmal dort, vor langer Zeit. Ein gottverlassenes Kaff.« »War es ein Unfall?« fragte Tante Sally und senkte den Blick auf ihre Kaffeetasse, um ihn nicht zu deutlich spüren zu lassen, daß ihr Interesse nur noch geheuchelt war. »Nein. Das ist ja das sonderbare.« Er schüttelte den Kopf. »Der Autor dieses Berichtes ist ein Tropf, dem es anscheinend Freude bereitet, sich über alles lächerlich zu machen, was er nicht versteht. Man behauptet, der Mann wäre am hellen Tag und auf offener Straße zerrissen worden.« Tante Sally sah nun doch auf. »Zerrissen?« wiederholte sie erschrocken. »Von einem Raubtier?« »Nein. Von etwas Unsichtbarem. Wie gesagt – der Trottel, der diesen Bericht verfaßt hat, macht sich darüber lustig, und auch die örtliche Polizei scheint der Meinung zu sein, daß es sich eher um einen rätselhaften Unfall oder um einen besonders geschickt eingefädelten Mord handelt. Aber mehrere Augenzeugen behaupten, der unglückselige Mann wäre – « er hob die Stimme ein wenig, um anzudeuten, daß er nun wörtlich aus der Zeitung zitierte – »ganz normal über die Straße gegangen und dann binnen weniger Augenblicke in Stücke gerissen worden, als wäre ein Dutzend unsichtbarer Bären über ihn hergefallen.« »Das ist ... schrecklich«, sagte Tante Sally. »Die MORNING POST findet es eher lächerlich«, antwortete er, nippte abermals an seinem kaltgewordenen Kaffee und stand auf. Seine Tante schauderte ein wenig, und ihr Blick blieb an der Zeitung hängen, die er zusammen mit den anderen aufnahm und sich unter den Arm klemmte, als fürchte sie, etwas von dem zitierten Bericht könne sich daraus lösen und sie
anspringen wie eben jenes unsichtbare Ungeheuer, von dem ihr Neffe gerade erzählt hatte. Dann gab sie sich einen sichtbaren Ruck, mit dem sie den Gedanken abschüttelte, und erhob sich ebenfalls. Während Howard das Zimmer verließ und die Treppe in sein Arbeitszimmer hinaufging, begann sie, das Geschirr zusammenzuräumen und in die Küche zu tragen. Einen Moment lang überlegte er, ob er umkehren und ihr helfen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Tante Sally führte den Haushalt im Moment allein, denn ihre Schwester war zu einer Reise nach Boston aufgebrochen, von der sie nicht vor Ablauf von sechs oder auch acht Wochen zurückkehren würde, und er wußte, wie schwer ihr in ihrem fortgeschrittenen Alter die Hausarbeit fiel. Aber er wußte auch, wie stolz sie war. So sehr sie seine Hilfe begrüßen würde, würde sie sie auch gleichzeitig verletzen, und das wollte er nicht. Gedanken wie diese gehörten zu den wenigen Augenblicken, in denen er mit seinem Schicksal und dem Leben, das er führte, zu hadern begann. Oh, er war nicht unglücklich. Er war auch nicht unzufrieden – ganz und gar nicht. Er hätte sich kein anderes Leben vorstellen und auch kein anderes führen können als eben dieses. Daß er über wenig und nur zu oft gar kein Geld verfügte und daß er von seinem, Beruf als Autor, Lektor, Ghostwriter und Mitarbeiter verschiedener kleiner Zeitschriften (von denen ihn einige nicht nur nicht bezahlten, sondern sich im Gegenteil von ihm mitfinanzieren ließen) mehr schlecht als recht leben konnte, auch das nahm er in Kauf. Nur ganz selten wünschte er sich, über größere finanzielle Mittel zu verfügen, und sei es nur, um seine beiden Tanten dafür zu entschädigen, daß sie ihm in der ersten Hälfte seines Lebens die Eltern und in der zweiten Hälfte, nach der Trennung von Sonia und seiner Rückkehr aus New York, auch die Familie ersetzten. Aber als er das abgedunkelte Arbeitszimmer im ersten Stockwerk des Hauses betrat, da hatte er diesen Gedanken be-
reits wieder vergessen. Mit gemessenen Schritten trat er an den Schreibtisch, lud die Zeitungen auf den immensen Stapel zum Teil gelesener, zum Teil noch ungeöffneter – aber samt und sonders noch zu beantwortender Post ab, trat zum Fenster und machte Anstalten, die Gardinen zurückzuziehen. Aber dann führte er die Bewegung nicht zu Ende. Das tat er fast nie. Nicht, solange draußen heller Tag war. Tageslicht war ihm zuwider, denn es war für ihn unlösbar mit der Vorstellung von zu vielen, zu lauten, zu aufdringlichen und zu hektischen Menschen verbunden. Er hatte Menschen niemals gemocht, nicht, wenn sie in größeren Gruppen als zu zweit oder zu dritt auftraten, aber seit der Zeit, die er in New York verbracht hatte, hatte er regelrecht angefangen, sich vor ihnen zu fürchten. Dabei war er alles andere als scheu. Er liebte es, endlose Diskussionen zu führen. Er liebte es, Meinungen auszutauschen, zu reden und zuzuhören. Aber die Menschen machten ihm zugleich auch Angst. Und das graue Zwielicht jenseits der Vorhänge und der warme Schein der Petroleumlampe auf seinem Schreibtisch machten es viel leichter, in jene Welten der Fantasie und Imagination zu entfliehen, in denen er mehr Zeit verbrachte als in der wirklichen Welt. Was seiner Meinung nach ohnehin nur eine bisher nicht definitiv bewiesene Behauptung war. Er war stets der Auffassung gewesen, daß die Welt immer das war, als was die Menschen sie sahen; daß nicht die Wirklichkeit die Menschen, sondern die Menschen die Wirklichkeit erschufen. Er trat also ohne die Fenster geöffnet zu haben wieder zurück an den Schreibtisch, ließ sich in den abgewetzten ledernen Stuhl dahinter fallen und überlegte einen Moment, welcher Aufgabe er sich zuerst zuwenden wollte – er hatte eine Menge Briefe zu schreiben, er mußte letzte Hand an eine Geschichte legen, die er als Ghostwriter für einen erbärmlichen Hungerlohn verfaßte, die ihm aber trotzdem große Freude bereitete, und er mußte Wright eine geharnischte Antwort auf seine Ab-
lehnung seiner letzten Geschichte zukommen lassen. Mountains of Madness war das beste, was er bisher verfaßt hatte. Er wußte es. Nicht mit dem angeborenen Dünkel aller Schriftsteller, die von jeder Szene, die ihnen aus der Feder floß, behaupteten, sie wäre einmalig und unübertrefflich, sondern mit dem sicheren Gespür des Lektors, der er auch war und in dessen Eigenschaft er Hunderte, wenn nicht Tausende von Geschichten und Büchern und Essays gelesen und bearbeitet hatte. Er schob den Stapel unbeantworteter Post zur Seite, spannte ein frisches Blatt Papier in die Schreibmaschine und tippte Whrigts Adresse und Anrede, als sein Blick auf zwei engbekritzelte Blättern auf seinem Schreibtisch haften blieb. Verwirrt runzelte er die Stirn. Auf jeden, der dieses Zimmer betrat (was praktisch nie geschah), hätte sein Schreibtisch den Eindruck eines unentwirrbaren Chaos gemacht, aber das stimmte nicht. Was wie durcheinander aussah, das folgte in Wahrheit einer pedantischen, wenn auch für fremde Augen nicht gleich durchschaubaren Ordnung, und er wußte sehr genau, daß er diese Blätter nicht dort hingelegt hatte. Er war auch sehr sicher, sie nicht beschrieben zu haben, obwohl er die Schrift darauf eindeutig als seine eigene identifizierte, als er das oberste Blatt zur Hand nahm und im bleichen gelben Schein der Petroleumlampe studierte. Dann runzelte er noch einmal und tiefer die Stirn, und im gleichen Moment spürte er einen ganz sachten, unerklärlichen Schrecken. Die Handschrift war zweifellos seine eigene. Niemand hätte diese dünnen, spinnwebgleich dahingekritzelten Hieroglyphen nachmachen können und warum auch? Und das Blatt war auch auf seine ganz persönliche Art beschrieben – in der allerobersten linken Ecke beginnend, winzig klein und so eng, daß die einzelnen Zeilen manchmal ineinanderzulaufen schienen und kaum noch zu unterscheiden waren. Aber er konnte nicht lesen, was dort stand. Es war seine Handschrift. Es war seine Art zu schreiben – aber es war keine
Schrift, die er entziffern konnte. Es war überhaupt keine Schrift, die er kannte oder jemals zuvor im Leben gesehen hatte! Verblüfft ließ er das Blatt sinken, griff nach dem zweiten und entdeckte auch darauf die unentzifferbaren Hieroglyphen und Krakel, die vielleicht nicht einmal eine wirkliche Schrift waren. Und es war seltsam: Obwohl er nicht einmal eine Ahnung hatte, was dort stand, erfüllte ihn der Anblick der Blätter mit etwas, das er im ersten Moment für Furcht hielt, dann aber begriff, daß es etwas anderes, viel Tiefergehendes war als bloße Angst. Ein Gefühl, wie er es niemals im Leben zuvor verspürt hatte; und das etwas tief, tief im Grunde seiner Seele berührte und zu Eis erstarren zu lassen schien. Für einen entsetzlichen, zeitlosen Moment kam er sich selbst vor wie eine Gestalt aus einer seiner Geschichten, düsteren Erzählungen von namenlos schrecklichen Wesen, von schlafenden Göttern in schwarzen Höhlen tief im Leib der Erde und von Flüchen, die älter als diese Welt waren. Aber der prickelnde Schauer, der ihn sonst bei solchen Gedanken überlief, kam diesmal nicht. Statt dessen fühlte er Angst. Eisige, lähmende Angst, die ihm die Kehle zuschnürte wie eine unsichtbare Hand und ihm eiskalten Schweiß auf die Stirn trieb. Plötzlich zitterten seine Hände so heftig, daß er das Papier nicht mehr halten konnte. Mit einer flatternden Bewegung wie die totenbleiche Schwinge eines Nachtfalters fiel es auf den Schreibtisch zurück. Und im gleichen Moment erlosch die Furcht. Verblüfft richtete er sich in seinem Stuhl auf, blickte die beiden Blätter an und suchte vergeblich in sich nach einem Echo des unheimlichen Gefühls, das ihn gerade zum Zittern gebracht hatte. Dann streckte er die Hand aus, um das Papier aus rein wissenschaftlicher Neugier noch einmal zu berühren und herauszufinden, ob es etwa zurückkäme, wagte es aber nicht, die Bewegung zu Ende zu führen. Statt dessen wandte er sich wie-
der seiner Schreibmaschine zu und versuchte, den Brief an Wright zu Ende zu schreiben. Es blieb bei dem Versuch. Er spannte hintereinander acht weiße Blätter in die Maschine ein, ohne jemals über die Anrede und den ersten Satz hinauszukommen, dann sah er ein, daß er weder diesen Brief noch irgend etwas anderes jetzt schreiben konnte, und stand nach einem letzten nervösen Blick über die beiden eng bekritzelten weißen Blätter auf seinem Schreibtisch auf. Seine Tante war sehr erstaunt, als er ins Erdgeschoß zurückkam, denn es war das erste Mal überhaupt, solange sie sich zurückerinnern konnte, daß er ihr bei der Hausarbeit half.
Ja, so hatte es begonnen. Hätte er doch geahnt, was es bedeutet! Hätte er doch das böse Totenkopfgrinsen des Schicksal hinter der Maske des Harmlosen, Banalen erkannt! Er hätte dieses verfluchte Manuskript zerrissen und verbrannt, hätte diesen unheiligen Ort verlassen, sich selbst die Hände abgehackt oder seinem Leben ein Ende bereitet, um nie wieder eine Zeile schreiben zu müssen. Aber natürlich hatte er es nicht erkannt. Oh, sie waren schlau. Er zweifelte nicht mehr daran, daß sie schon damals jeden seiner Schritte beobachtet, jede seiner Taten, vielleicht jeden seiner Gedanken mißtrauisch verfolgt hatten und stets bereit gewesen waren, einzugreifen, hätte er sich anders denn als ihr williges, wenn auch unwissendes Werkzeug verhalten. Nun war es zu spät. Schaudernd blickte er in die Nacht hinaus, die einmal sein Freund gewesen war. Die Nacht, die er
voller Dunkelheit und Schatten und vertrauter Einsamkeit gewähnt hatte, und die doch in Wirklichkeit hundertmal schlimmer war als der Tag, war sie doch Zuflucht all jener gesichtslosen Schrecken, die er mit seinen Worten heraufbeschworen hatte und die nun zu schrecklichem Leben erwachten. Von Dingen, die sich schwer mit Worten beschreiben ließen und noch weniger ...
» ... glaubhaft anhören«, sagte der kleinwüchsige Mann mit dem verkrüppelten rechten Arm. Er lächelte unsicher bei diesen Worten; vielleicht war er der Meinung, daß sie dadurch überzeugender klangen. Aber viel mehr als das, was er sagte, mehr als eine entgleisende Mimik und die linkischen Gesten, die er mit seinem gesunden Arm vollführte, bewies das Flackern in seinen Augen, daß er die Wahrheit sprach. Nichts an dieser Gestalt wäre irgendwie dazu angetan gewesen, sie vertrauenswürdig erscheinen zu lassen. Der Mann war klein und verkrüppelt, hatte strähniges graues Haar, das bis auf die Schultern herabfiel und seit Jahresfrist keinen Kamm, geschweige denn Wasser und Seife gesehen haben mußte, und von einem so verlottertem Äußeren, daß sein Alter unmöglich zu schätzen war. Er konnte dreißig sein, ebensogut aber auch fünfzig oder sechzig. Er hatte schlechte Zähne, und sein Atem roch trotz der frühen Stunde bereits nach Schnaps. Und es bestand kein Zweifel daran, daß er den Dollar, den er als Entlohnung für seinen Bericht bekommen hatte, unverzüglich in Bier oder billigen Fusel umsetzen würde. Trotzdem zweifelte Howard keine Sekunde daran, daß er die
Wahrheit sprach. Es waren seine Augen, die das bewiesen. Kleine trüben Augen, die von einem Netzwerk geplatzter, roter Äderchen durchzogen wurden und in beständiger Bewegung waren wie die einer Ratte, die sich aus ihrem Versteck hervorgewagt hatte und nun hinter jedem Schatten einen Feind wähnte. Aber als er von dem gesprochen hatte, was vor drei Tagen hier geschehen war, da waren es keine Säuferaugen mehr gewesen, sondern die Augen eines Menschen, der Angst hatte. Eine Angst solcher Intensität, daß sie töten konnte. Ein Grauen wie dieses konnte man nicht vortäuschen. Der Mann hatte etwas gesehen, das ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. »Aber ich tu’ jeden heiligen Eid schwörn«, fuhr er in einem breiten Slang fort, »daß das die Wahrheit is, Mister. Ich habs mit meinen eigenen Augen gesehen, so wahr ich hier stehen tu’. Und andere auch. Hopkins drüben vom Laden is draußen auf’e Straße gestanden, als es passiert is. Und er hat noch ‘ne halbe Stunde später gezittert.« Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Säufers. »War so erschrocken, daß er ‘ne halbe Flasche Whisky gekippt hatte. Und mir hat er auch was gegeben, und das macht er sonst nie.« Ein gieriges Funkeln trat in die Augen des alten Säufers, und Howard verstand, daß er mit dieser Bemerkung auf eine weitere Entlohnung auf seinen Bericht anspielte. Er hätte ihm gern einen weiteren Dollar gegeben, konnte es sich aber nicht leisten. Das Fahrgeld hierher hatte den allergrößten Teil seiner Barschaft aufgezehrt, und den schmalen, verbliebenen Rest würde er vielleicht noch brauchen, um andere Zungen zu lockern, deren Besitzer plötzlich ihr Gedächtnis verloren zu haben schienen. So bedankte er sich nur mit einem freundlichen Kopfnicken bei dem Trunkenbold, drehte sich auf der Stelle herum und überquerte mit gemessenen Schritten die staubige, völlig verlassene Straße. Es war die Hauptstraße von Bridgewater Junction, was aber
nichts weiter bedeutete, denn es war zugleich auch die einzige Straße dieses Nestes. Der Ort war ein Kaff von allerhöchstens tausend Seelen, das selbst um die Mittagsstunde herum ausgestorben schien. Und die wenigen Menschen, die er getroffen hatte, schienen allesamt an einem sonderbaren Gedächtnisverlust zu leiden, denn dieser alte Saufbruder war der erste gewesen, der überhaupt bereit war, ihm von Hannersons Schicksal zu erzählen. Hannerson war der Mann, der vor drei Tagen hier ums Leben gekommen war und über den die MORNING POST berichtet hatte; soviel hatte er immerhin herausgefunden. Aber sehr viel mehr auch nicht. Er hatte versucht, mit einigen Leuten über den Zwischenfall zu reden, war aber nur auf Ablehnung oder Spott gestoßen, und zwei hatten sich einfach wortlos herumgedreht und waren gegangen, mit einem Ausdruck mühsam unterdrückten Schreckens auf den Gesichtern, was ihm nur um so mehr bewies, daß es sich bei dieser sonderbaren Geschichte nicht um eine Zeitungsente handelte. Aber vielleicht würde ja dieser Hopkins, von dem der Säufer gesprochen hatte, etwas mitteilsamer sein. Howard hatte nicht den weiten Weg – noch dazu am hellen Tag! – hierher zurückgelegt, um mit leeren Händen zurückzukommen. Während er die Straße überquerte und den kleinen Kolonialwarenladen mit den vielfach unterteilten, blinden Schaufensterscheiben ansteuerte, überlegte er, ob er wirklich nur aus reiner Neugierde hier war. Sicher war eine Geschichte wie die Hannersons eine, die einen Mann seiner Interessen und seines Berufes brennend interessieren mußte, ob wahr oder nicht. Aber da war noch mehr. Seit jenem Morgen vor zwei Tagen, an dem er den Artikel in der Zeitung gelesen und kurz darauf diese beiden sonderbaren Blätter auf seinem Schreibtisch gefunden hatte, ließ ihm die Geschichte keine Ruhe mehr. Er mußte herausfinden, was dahintersteckte. Vielleicht lag es an diesem unheimlichen Manuskript. Aus
den zwei Blättern waren sieben geworden. Am nächsten Morgen hatte er zwei weitere, noch enger bekritzelte Seiten auf seinem Schreibtisch gefunden, und an diesem Morgen gleich drei. Er verstand noch immer nicht, was da in seiner eigenen Handschrift geschrieben stand – wenn es eine Handschrift war! –, aber es machte ihm mehr Angst denn je, und es gelang ihm auch jetzt noch nicht, die Blätter zu berühren, ohne die entsetzliche, kalte Furcht zu verspüren. Er erreichte den Laden und trat mit dem Bimmeln einer winzigen Glocke über der Tür ein. Er war der einzige Kunde. Der Mann in der schmierigen Schürze hinter der Theke sah genauso aus, wie man sich jemanden vorstellte, der Hopkins hieß: Schmerbauch, nackte Oberarme, auf denen Fettwülste Muskeln vortäuschten, ein feistes, ölig glänzendes Gesicht und kleine Schweinsäuglein. Er blickte ihm mit einer Mischung aus geschäftsmäßiger, aufgesetzter Freundlichkeit und der Überraschung eines Mannes an, der nur sehr selten Fremde in diesem gottverlassenen Nest zu Gesicht bekam. Das einzige, was nicht fett und wabbelig an ihm war, war seine Stimme. Sie paßte nicht zu ihm, sondern klang voll und wohltönend, als er Howard einen Schritt entgegentrat und nach seinen Wünschen fragte. Howard blieb stehen, sah sich einen Moment lang mit geschauspielertem Interesse in dem kleinen, staubigen Kolonialwarenladen um und entschied dann, daß es besser war, gleich aufs Ziel loszumarschieren und es mit der Wahrheit zu versuchen statt mit einer erdachten Geschichte. Er konnte nicht gut lügen, was ihm manchmal selbst absurd vorkam, lebte er doch davon, erdachte Geschichten zu verfassen. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie so überfalle, Sir«, begann er steif. »Ich bin nicht gekommen, um etwas zu kaufen, sondern um eine Information von Ihnen zu erbitten.« Ein großer Teil der aufgesetzten Freundlichkeit in Hopkins’ Augen erlosch. Dafür trat Neugier an ihren Platz; und auch ei-
ne Spur von Mißtrauen. »Ja?« »Mein Name ist Phillips«, begann er. Zumindest in diesem Punkt hatte er sich entschlossen, von der Wahrheit abzuweichen. Er wußte nicht warum, aber er hatte das sichere Gefühl, daß es einfach besser war, wenn er hier nicht unter seinem wirklichen Namen auftrat. »Ich bin Herausgeber der Zeitschrift THE CONSERVATIVE«, fuhr er fort, und damit sprach er wieder die Wahrheit, wenngleich er auch einziger Mitarbeiter, Reporter, Chef-Lektor, Drucker und überhaupt Mädchen für alles bei diesem Blatt war, das nur in seiner Auflage von wenigen Dutzend erschien und nur von seinen engsten Freunden gelesen wurde. »Reporter?« schloß Hopkins messerscharf. »Ja, so könnte man es nennen«, antwortete Howard lächelnd. »Und in dieser Eigenschaft interessiere ich mich für einen Zwischenfall, der sich vor drei Tagen in Ihrer Stadt ereignet hat.« »Sie meinen Hannerson.« Er war ein wenig überrascht, daß Hopkins so offen über dieses Thema sprach, nach der Mauer aus Schweigen, gegen die er eine Stunde lang in dieser Ortschaft angerannt war. Wortlos nickte er. »Die Leute hier sprechen nicht gern darüber«, fuhr Hopkins fort. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Fenster. »Ich habe gesehen, daß Sie sich mit Sandy unterhalten haben. Was hat Ihnen der Trunkenbold alles erzählt?« »Eine Menge«, antwortete Howard. Mit einem genau bemessenen Lächeln fügte er hinzu: »Aber ich gestehe, es fällt mir schwer, es zu glauben.« »Dann sollten Sie es auch nicht tun«, antwortete Hopkins. »Ich war dabei, wissen Sie? Ich habe es selbst gesehen. Und trotzdem glaube ich es nicht.« »Das klingt ... etwas sonderbar.« Hopkins gab ein Geräusch von sich, das er im ersten Moment für ein Lächeln hielt, das aber keines war. »Es war sonderbar,
Mister Phillips«, sagte er. »Es war sogar sehr sonderbar. Schreiben Sie das ruhig in Ihrer Zeitung.« »Was haben Sie gesehen?« fragte Howard geradeheraus. Hopkins antwortete nicht gleich, sondern sah ihn einen Moment lang mit dem Blick eines Mannes an, dem seine eigenen Worte schon wieder leid tun. Aber trotzdem fuhr er nach einer Weile fort: »Es war unheimlich. Ich stand draußen auf der Straße. Es war noch früh, und ich hatte den Laden eigentlich nur aufgemacht, weil ich nicht schlafen konnte.« »Passiert Ihnen das öfter? Das Sie nicht schlafen können?« »Nein«, antwortete Hopkins. »Komisch, daß Sie danach fragen – aber normalerweise schlafe ich wie ein Stein. In dieser Nacht nicht. Es war eine seltsame Nacht.« »Wieso?« »Seltsam eben«, antwortete Hopkins mit einem Achselzucken. »Ich war irgendwie unruhig. Und Betsy – Betsy ist mein Hund, müssen Sie wissen, ein deutscher Schäferhund –, Betsy hat die halbe Nacht geheult und gejault und an ihrer Kette gezerrt, obwohl gar kein Vollmond war. Ich war also schon draußen, und da habe ich Hannerson gesehen, wie er auf der anderen Straßenseite entlang ging. Und auch das war komisch, denn Hannerson steht sonst nie vor zehn oder elf auf. Er arbeitet bei der Bahn, müssen Sie wissen, und er kommt selten vor Mitternacht nach Haus. Und da waren auch noch mehr Leute auf der Straße. Irgendwie schien in dieser Nacht niemand so richtig geschlafen zu haben.« »Hatte das einen Grund? Ich meine - haben Sie später mit den anderen darüber gesprochen und herausgefunden, warum das so war?« Hopkins schüttelte heftig den Kopf. »Wo denken Sie hin! Es gab ja nur noch ein Thema danach.« »Hannerson«, vermutete Howard. »Hannerson«, bestätigte Hopkins. »Er ging also über die Straße, und mit einem Mal blieb er stehen und blickte auf, und
ich will verdammt sein, wenn er nicht erschrocken war, als hätte er den Geist seines toten Vaters vor sich gesehen. Ich glaube, er wollte noch irgend etwas sagen, aber dann ist es auch schon passiert.« »Was ist passiert?« fragte Howard, als Hopkins nicht weitersprach. Hopkins’ Stimme wurde leiser und begann zu zittern, und auch in seinen Augen erschien der gleiche Ausdruck namenlosen Grauens, den Howard schon in denen des Säufers gesehen hatte. »Es ist eben passiert«, sagte er. »Etwas hat ihn getroffen und in Stücke gerissen.« »Einfach so?« Hopkins zog die Unterlippe zwischen die Zähne und begann darauf herumzukauen. »Einfach so«, sagte er ausweichend. »Es ist sehr schnell gegangen. Ich konnte gar nicht richtig erkennen, was passierte. Aber plötzlich begann Hannerson zu schreien und um sich zu schlagen, und dann war alles voller Blut und zerfetzter Kleider, und plötzlich ist er hingefallen, und es sah aus, als wäre er unter die Räder eines Zuges geraten. Wir sind natürlich alle sofort hingelaufen, aber da war es schon zu spät. Er muß gleich tot gewesen sein.« »Und Sie haben nicht gesehen, was ihn angegriffen hat?« »Keiner hat es gesehen, Mister«, antwortete Hopkins in einem Ton, als müsse er sich verteidigen. »Ein Dutzend Leute stand drum herum, und ich will verdammt sein, wenn sie es nicht alle genauso beobachtet haben wie ich, aber keiner hat gesehen, was ihn umgebracht hat. Und da war noch etwas.« »Ja?« fragte Howard, als Hopkins nicht von selbst weitersprach, sondern fortfuhr, auf seiner Unterlippe herumzukauen und ins Leere zu starren. »Seine Augen«, sagte Hopkins zögernd. »Ich meine, er war tot, und seine Augen waren die eines Toten, aber ... ich habe niemals so etwas in den Augen eines Menschen gesehen.«
»Was meinen Sie damit?« Hopkins wurde immer unsicherer. »Ich war im Krieg. Ich habe eine Menge Leute sterben sehen, und einige davon nicht leicht, das können Sie mir glauben. Aber keiner hatte einen Ausdruck solcher Angst in den Augen. Er sah aus, als hätte er den Teufel gesehen. Und ich will verdammt sein, wenn er nicht schon tot war, ehe es ihn packte und zerriß.« »Wie darf ich das verstehen?« erkundigte Howard sich. »Seine Angst hat ihn umgebracht«, antwortete Hopkins. »Ich bin ganz sicher, er hat etwas gesehen, das ihn getötet hat. Nur durch seinen Anblick. Sie haben seinen Schrei nicht gehört. Als es ihn zerriß, da war er schon tot.« Howard wollte eine weitere Frage stellen, aber plötzlich geschah etwas Sonderbares: Es wurde kälter. Es war nicht so, daß er eine plötzliche Zugluft verspürte. Die Temperatur im Raum sank, schlagartig und um mehrere Grade. Und gleichzeitig glaubte er, einen ganz schwachen, aber widerlichen Geruch zu verspüren, der vor einer Sekunde noch nicht dagewesen war. Auch Hopkins wandte verwirrt den Blick und sah sich um. Dann schüttelte er den Kopf, als hätte er sich selbst eine Frage gestellt und auch gleich beantwortet, schlang fröstelnd die Hände um die Oberarme und massierte gedankenverloren seine speckige Haut, und fuhr dann in verändertem, nun wieder reserviert klingendem Tonfall fort. »Ja, so war das. Aber jetzt will sich keiner mehr daran erinnern.« »Das ist mir aufgefallen«, antwortete Howard. »Ich versteh nur nicht, warum.« Hopkins lachte humorlos. Es wurde noch kälter, und der unangenehme Geruch nahm an Intensität zu. »Es waren ein paar Zeitungsleute hier, und sie haben auch darüber geschrieben. Aber das, was sie geschrieben haben, war nicht das, was wir ihnen erzählt haben. Ich schätze, Bridgewater Junction ist nicht gut in den Berichten weggekommen.«
»Ich gebe zu, daß das der Wahrheit entspricht«, antwortete Howard. »Aber Sie haben mein Wort, daß ich nicht zu dieser Art von Journalisten gehöre. Ich werde genau das schreiben, was ich gehört habe.« Einem plötzlichen Impuls folgend fügte er hinzu: »Selbstverständlich lasse ich Ihnen ein Freiexemplar der Zeitschrift zukommen, wenn Sie das möchten.« »Gern.« Hopkins nickte, und auch die letzte Spur von Freundlichkeit verschwand aus seinem Blick. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mr. Phillips?« Howard wollte den Kopf schütteln, entschied sich dann aber aus purer Höflichkeit, eine Kleinigkeit zu kaufen, und erwarb eine Havanna-Zigarre für zehn Cent. Hopkins gab sie ihm, knipste das Ende ab und reichte ihm Feuer, und obwohl es gar nicht seine Art war, tagsüber zu rauchen und schon gar nicht außerhalb des Hauses –, nahm Howard das Angebot an und blies eine grau-braune Rauchwolke in die Luft. Der unangenehme Geruch im Laden war mittlerweile so durchdringend geworden, daß er fast das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Selbst der bittere Rauch schien besser zu schmecken als die Luft hier drinnen. »Es ist ... kühl hier drinnen«, sagte er zögernd. Hopkins fuhr ein ganz kleines bißchen zusammen; kaum sichtbar, aber trotzdem zu deutlich, um seinen Schrecken ganz zu verbergen. »Ja«, sagte er nervös. »Das muß an diesem Haus liegen. Es kommt manchmal vor, daß es hier drinnen kälter ist als draußen. Ich verstehe es auch nicht. Aber in letzter Zeit passiert das öfter.« Howard nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarre, verabschiedete sich von Hopkins und verließ den Laden. Draußen blieb er einen Moment im hellen Sonnenschein stehen und genoß die Wärme. Es war hier draußen tatsächlich merklich wärmer als drinnen, und noch sonderbarer als das war die Schnelligkeit, mit der die Temperaturen in dem kleinen Laden
gesunken waren; und dieser widerwärtige, süßliche Geruch. Hopkins war kein sauberer Mann. In einer Stadt wie Providence hätten die Behörden seinen Laden wahrscheinlich längst geschlossen. Aber trotzdem gehörte er eindeutig nicht zu jener Kategorie vom Geschäftsleuten, die faulende Lebensmittel oder totes Ungeziefer in ihrem Geschäft geduldet hätten. Außerdem waren es keine faulen Lebensmittel, die Howard gerochen hatte. Es war ... eigentlich mit nichts zu vergleichen, was er jemals kennengelernt hätte. Er nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarre, warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß er noch eine gute Vietelstunde Zeit hatte, um den Zug zu erreichen. Es gab eine weitere Verbindung, vier Stunden später, und eigentlich hatte er vorgehabt, diese zu nehmen, um nach Hause zurückzukehren. Aber ihm war auch klar, daß er nicht mehr erfahren würde als er ohnehin in Erfahrung gebracht hatte. Die Wahrscheinlichkeit, auf einen weiteren Einwohner von Bridgewater Junction zu treffen, der ebenso redselig war wie Hopkins oder der Säufer, war sehr gering. So schlenderte er gemächlich über die staubige Hauptstraße dem winzigen Bahnhofsgebäude zu, das im Grunde nur aus einem Bretterverschlag für den Kartenverkäufer und einer wurmstichigen Bank bestand, auf der die Fahrgäste auf den Zug warten konnten – der überdies nur anhielt, wenn jemand am Bahnsteig stand und wartete. Erneut fiel ihm die Stille auf, die sich über der Stadt ausgebreitet hatte. Es gab nur einige Dutzend Häuser, und die meisten davon waren dazu klein und uralt. Darüber hinaus war es später Vormittag, und die meisten Einwohner mußten bei der Arbeit sein, wenngleich er sich auch fragte, was man in einem Kaff wie diesem arbeiten mochte. Aber der Ort lag wie ausgestorben vor ihm. Es war nicht nur der Umstand, daß er keinen Menschen sah. Er fühlte eine sonderbare Leere, die sich bedrückend auf seine Seele legte. Und es war ein Gefühl, das ihm auf sonderbare Weise bekannt vorkam.
Nach einigen weiteren Augenblicken begriff er, warum das so war. Es war ein Friedhofsgefühl. Er ging oft und lange spazieren, meistens nachts, und manchmal führten ihn diese Spaziergänge auch über einen der drei großen Friedhöfe von Providence. Schon tagsüber ein Ort der Stille und Einsamkeit, war ein Friedhof nachts menschenleer. Er genoß diese Leere, das Wissen, nicht nur allein und ungestört, sondern völlig frei von der Nähe von Menschen zu sein. Und dasselbe Gefühl hatte er nun. Aber was er nachts als angenehm empfand, das erschien ihm nun furchteinflößend. Es war eine unheimliche, ungute Stille, die er empfand. Instinktiv beschleunigte er seine Schritte und ging rascher auf den Bahnhof zu. Als er die halbe Strecke zurückgelegt hatte, hörte er Schritte. Überrascht – aber auch sehr erleichtert, nicht mehr allein zu sein – blieb er stehen und drehte sich herum. Die Straße hinter ihm war leer. Er runzelte die Stirn, sah einen Moment lang aufmerksam auf die Häuser rechts und links, ob er nicht eine sich schließende Tür, einen rasch weghuschenden Schatten gewahrte, zuckte schließlich mit den Schultern und wandte sich um, um weiterzugehen. Die Schritte hoben wieder an. Wieder blieb er stehen, widerstand aber jetzt der Versuchung, sich herumzudrehen, sondern zögerte nur einige Augenblicke und ging dann weiter. Und wieder klangen die Schritte auf, im gleichen Moment, in dem er sich bewegte. Diesmal legte er eine Entfernung von fünfzehn oder zwanzig Yards zurück, ehe er mit einem plötzlichen Ruck stehenblieb und sich so schnell herumdrehte, daß niemand rasch genug in Deckung hätte springen können, um seinen Blicken zu entgehen. Aber hinter ihm war niemand. Ein eisiges Frösteln überlief ihn. Er hatte die Schritte ganz
genau gehört. Er wußte, daß er sie sich nicht eingebildet hatte. Aber da war niemand. Die Straße lag leer und verlassen im Licht der Mittagssonne vor ihm. Obwohl das Gefühl nagender Furcht immer stärker in ihm wurde, ging er ein paar Schritte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und sah sich dabei aufmerksam nach beiden Seiten um. Nichts. Hinter keinem Fenster bewegte sich etwas. Nirgends auch nur das geringste Zeichen von Leben. Aber als er sich herumdrehte und weiterging, da erklangen die Schritte erneut hinter ihm, und für einen Moment war es ihm, als träfe ihn ein eisiger Windhauch. Ein Windhauch, der etwas von dem furchtbaren Gestank aus Hopkins Laden mit sich brachte, und auch noch etwas anderes. Und je gebannter er auf das Geräusch der Schritte lauschte, das stets im gleichen Takt erklang wie seine eigenen, desto sicherer war er, daß es nicht die Schritte eines Menschen waren. Sie waren irgendwie ... falsch. Stapfend. Krachend. Die Schritte von etwas ungeheuer Großem, Massigem, das ihm folgte und ganz langsam näherkam, obwohl es nicht schneller ging als er. Er beschleunigte seine Schritte abermals und wollte sich im Gehen herumdrehen, um einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, aber er konnte es nicht. Plötzlich war er, der sich zahllose Geschichten voller schrecklicher Dinge und namenloser Scheußlichkeiten ausgedacht hatte, er, der ein Meister der Furcht und des Terrors war, nicht mehr als ein kleines Kind, das sich ängstlich unter seiner Decke verkroch und vor den Ungeheuern zitterte, mit denen seine eigene Fantasie die Dunkelheit rings um sein Bett erfüllten. Er wußte, daß es lächerlich war, doch er spürte genau, das das Ding hinter ihm ihm nichts zuleide tun konnte, solange er es nicht sah. Aber lächerlich oder nicht, es funktionierte. Die Schritte waren noch immer hinter ihm, stampfend, dröhnend, böse, aber sie kamen jetzt nicht mehr näher. Und einen Augenblick später trat er mit einem letzten Schritt auf die knarrenden Holzdielen
des Bahnsteiges hinauf und gewahrte einen anderen Fahrgast, der auf der morschen Bank saß und auf den Zug wartete. Zum ersten Mal seit Monaten war er froh, einen anderen Menschen in seiner Nähe zu wissen.
Vielleicht, dachte erschaudernd, hätte er auch diesem unbekannten, unschuldigen Fremden den Tod gebracht, hätte es nicht ein gütiges Schicksal gefügt, daß der Zug an diesem Tag das erste Mal seit Monaten nicht zu spät, sondern gute zehn Minuten zu früh kam. Kaum hatte Howard neben dem grauhaarigen, in einen schlecht sitzenden Anzug gekleideten Fremden auf der Bank Platz genommen, als sie auch schon das Rattern der Dampflokomotive hörten und sich wieder erhoben. Vielleicht waren sie unsicher gewesen, damals. Vielleicht war er zu neugierig, zu mißtrauisch gewesen, und vielleicht hatten sie beschlossen, sich ein unbedarfteres Opfer zu suchen, das ihre Pläne erfüllen sollte. Aber noch während er diesen Gedanken dachte, wußte er auch, daß es nicht so war. Sie kannten keinen Zufall. Sie kannten keine Unsicherheit. Sie knüpften ihre Netze mit der Geduld von Wesen, die das Verstreichen der Zeit an den Umdrehungen der Galaxis maßen, nicht an den Drehungen einer winzigen Welt um eine winzige, unbedeutende Sonne. Sie wußten auch jetzt, wo er war und was er tat, wußten vermutlich auch, was er dachte, und wenn sie dazu in der Lage waren, dann amüsierten sie sich vermutlich über seinen Schmerz und seine Versuche, sich gegen sie aufzulehnen.
Endlich riß er sich vom Fenster los und zwang sich, seinen Blick auf das zerwühlte, schlammbesudelte Bett zu lenken. Und das, was darauf lag ...
Am nächsten Morgen fand er fünf weitere, eng beschriebene Blätter auf seinem Schreibtisch. Und obwohl ihn der bloße Anblick schon mit bodenlosem Schrecken erfüllte, zwang er sich doch, sie genau in Augenschein zu nehmen, denn etwas an ihnen war anders als an den vorhergehenden. Auch sie enthielten Worte in einer völlig fremden, fast absurd aussehenden Schrift, doch nicht nur das. Dazwischen gewahrte er kleine, auf den ersten Blick vollkommen sinnlos erscheinende Zeichnungen; nicht mehr als das Gekrakel eines kleines Kindes, wie es schien. Aber als er genauer hinsah, da entdeckte er, daß sie sehr fein und mit großer Sorgfalt ausgeführt waren. Was wie ein völlig unwillkürliches Hin und Her der Feder auf dem Papier aussah, das entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als ein wahres Meisterwerk der Zeichenkunst – wozu er eigentlich gar nicht imstande war. Er besaß eine Menge Talente, aber das Zeichnen gehörte entschieden nicht dazu. Und noch etwas war seltsam an diesem Manuskript. Er konnte die Schrift so wenig entziffern wie wenige Tage zuvor, und trotzdem schien sie ... ihm etwas mitzuteilen. Es war, als verstünde er nicht den Sinn dieser fremdartigen Buchstaben und Zeichen, wohl aber ihre Bedeutung. Er begriff es nicht wirklich, nicht mit seinem Verstand. Er wußte nicht, was diese
Schrift ihm sagen wollte, aber er begann zu ahnen, daß sie etwas Düsteres und Böses erzählte, Worte, die besser ungesagt geblieben wären, Geheimnisse, die auf immer ungelöst bleiben sollten. Gegen seinen Willen zog ihn das Manuskript in seinen Bann. Hatte er sich bisher mit großer Überwindung dazu zwingen müssen, die Blätter auch nur zu berühren, so fiel es ihm an diesem Morgen schwer, sich von ihrer morbiden Faszination loszureißen und sie schließlich wieder aus der Hand zu legen. Seine Finger zitterten, als er das Manuskript zusammenschob und in einen Aktendeckel legte; nicht aus einem übersteigenden Ordnungsbedürfnis heraus, sondern nur, um es seinen Blicken zu entziehen. Sehr hastig stand er auf und verließ das Zimmer, wie in den vorangegangenen vier Tagen zu ungewöhnlich früher Stunde für ihn, was seine Tante zu einer spöttischen Bemerkung, aber auch einem besorgten Blick in sein müdes Gesicht veranlaßte. Er war sehr schweigsam an diesem Morgen. Auf die Fragen seiner Tante antwortete er nur äußerst knapp oder gar nicht, und es kostete ihn sogar Überwindung, die Zeitung aufzuschlagen. Es gelang ihm nicht, sich auf ihren Inhalt zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisten um den gestrigen Tag, um das Gespräch mit dem alten Trinker und Hopkins und das, was er danach erlebt hatte – oder zu erleben geglaubt hatte? Er war nicht sicher. Er hätte gern geglaubt, daß es nur Einbildung war. Dann fiel sein Blick auf die Überschrift eines dreispaltigen Artikels auf der vorletzten Seite der MORNING POST, und er fuhr so erschrocken zusammen, daß seine Kaffeetasse klirrend umfiel und der heiße Kaffee über den Tisch floß. Seine Tante schlug erschrocken die Hand vor den Mund und starrte ihn an, aber auch das bemerkte er nicht. Sein Blick hing wie gebannt an den vier Worten der reißerischen Überschrift: UNSICHTBARER SCHLÄGT WIEDER ZU! »Was hast du?« fragte Tante Sally erschrocken.
Er schüttelte nur den Kopf und antwortete nicht. Mit angehaltenem Atem überflog er den Artikel und las ihn noch ein zweites Mal, ehe er schreckensbleich die Zeitung sinken ließ; ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, ohne sie sorgsam zusammenzufalten und sie auf den Stapel zurückzulegen. Die Unterschrift unter dem Artikel war die gleiche wie unter dem vor drei Tagen, und auch ihre Inhalte ähnelten sich: Der Artikel erzählte von einem zweiten, unerklärlichen Todesfall, diesmal in Attleborough, einem Ort in der gleichen Himmelsrichtung wie Bridgewater Junction, aber kaum fünfundzwanzig Meilen von Providence entfernt. Auch dort, so berichtete der Reporter in diesmal nicht nur spöttischem, sondern eindeutig hämischen Tonfall, sei am hellen Tag ein Bürger von einer unsichtbaren Macht angefallen und auf offener Straße in Stücke gerissen worden. »Was ist mit dir?« fragte seine Tante noch einmal und jetzt in so alamiertem Tonfall, daß er sich einen Ruck gab und sie über den Tisch hinweg ansah. »Nichts«, antwortete er halblaut. »Ich ... fühle mich nicht besonders, das ist alles.« »Das glaube ich gern«, antwortete Tante Sally. »Du schläfst ja kaum noch. Du richtest deine Gesundheit zugrunde, ist dir das klar?« Er sah sie fragend an. Tante Sallys dünne, weiß gewordenen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Jetzt spiel nicht den Unwissenden, mein Junge. Ich weiß, du bist alt genug, um selbst zu entscheiden, was gut oder schlecht für dich ist, und normalerweise mische ich mich nicht in dein Leben ein. Aber du bringst dich um.« »Was für ein Unsinn«, sagte er. »Ich habe in den letzten Nächten ...« » ... so gut wie nicht geschlafen«, fiel ihm Tante Sally ins Wort. Sie lächelte verzeihend. »Glaubst du, ich wäre taub?« »Wie meinst du das?« fragte er verwundert. »Ich habe sehr
gut geschlafen.« Was eindeutig nicht wahr war. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er zu Bett gegangen war, aber er fühlte sich müde und zerschlagen, und seine Augen brannten, als hätte er gar nicht geschlafen. »Ich höre doch deine Schritte«, sagte Tante Sally kopfschüttelnd. »Gestern nacht wäre ich beinahe hinaufgegangen, um nach dem rechten zu sehen. Aber ich weiß ja, wie sehr du es haßt, wenn man dein Arbeitszimmer betritt. Trotzdem«, fügte sie nach einer winzigen Pause und mit etwas erhobener Stimme hinzu, »werde ich es tun, wenn du nicht selbst vernünftig wirst. Schau’ dich nur an! Du siehst aus wie ein Toter. Auch ein Mann, der davon lebt, Worte auf Papier zu bringen, braucht seinen Schlaf.« Er widersprach nicht mehr. Seine Tante liebte es manchmal, kleine Scherze mit ihm zu treiben, die er meistens durchschaute, es sich aber nicht anmerken ließ, um ihr den Spaß nicht zu verderben. Aber der Ausdruck in ihrem Gesicht und vor allem der Klang ihrer Stimme machten ihm klar, wie ernst sie ihre Worte meinte. Aber er konnte sich nicht erinnern, wach gewesen zu sein. Und er konnte sich erst recht nicht erinnern, die halbe Nacht herumgelaufen zu sein. Plötzlich lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Da war noch etwas, woran er sich nicht erinnern konnte. Die mittlerweile zwölf Seiten eines Manuskriptes, das eindeutig in seiner Handschrift abgefaßt war. »Du ... hast recht, Tante Sally«, sagte er zögernd. Er raffte sich zu einem Lächeln auf, von dem er selbst spürte, daß es verunglückte, fuhr aber trotzdem fort: »Ich denke, ich werde einen langen Spaziergang machen und mich danach ein wenig hinlegen.« »Einen Spaziergang? Am hellen Tag?« wunderte sich Tante Sally. »Vielleicht hilft er mir, ein wenig zur Ruhe zu kommen«, antwortete Howard. »Schlechtenfalls macht er mich nur mü-
de.« »Du solltest einen Spaziergang zum Arzt machen«, riet ihm Tante Sally ernst. Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: »Aber wie ich dich kenne, wirst du auf den Friedhof gehen oder an irgendeinen anderen schrecklichen Ort.« »Bestimmt nicht«, versprach er. Er stand auf, blickte plötzlich betroffen auf den Tisch zurück und machte eine verlegene Geste, als er den gewaltigen Kaffeefleck auf dem weißen Leinentuch gewahrte. Aber Tante Sally schüttelte nur den Kopf und forderte ihn mit einer Geste auf, nur zu gehen. Er verließ das Haus, aber er wandte sich weder nach links, dem Stadtrand und somit dem Friedhof zu, wie seine Tante geargwöhnt hatte, noch in die entgegengesetzte Richtung, in der nur zwei Blocks entfernt die Praxis des alten Arztes lag, der traditionsgemäß seit fünfundzwanzig Jahren über das körperliche Wohl der Familie wachte, sondern überquerte die Straße und machte sich auf den Weg zur Stadtmitte. Trotz der frühen Stunden war es bereits warm, aber er zitterte am ganzen Leib, und das Licht der Morgensonne tat in seinen Augen weh. Die Menschen, die die Straße bevölkerten, machten ihm Angst, und ihm war, als müsse jeder sein Geheimnis erkennen, als starre ihn jeder verstohlen an, kaum daß er an ihm vorbeigegangen war. In dem Raunen ihrer Stimmen glaubte er spöttisches Lachen zu hören, und einmal fuhr er durch ein schreckliches Geräusch alarmiert herum, als er begriff, daß es nur ein Automobil war, das sich rasselnd die kopfsteingepflasterte Straße hinaufquälte, und sich in Gedanken selbst einen Narren schalt. Er zwang sich, etwas langsamer zu gehen, und erschrak, als er sein eigenes Spiegelbild im Schaufenster eines. Geschäftes sah: Sein Gesicht war so blaß und krank, wie Tante Sally behauptet hatte, und er machte einen durch und durch ungepflegten Eindruck. Sein Haar war verklebt und hing in Strähnen in seine Stirn, und sein Anzug war zerknittert, als hätte er darin geschlafen. Vielleicht hatte er es. Erst jetzt, als er wirklich dar-
über nachdachte, begriff er, daß er nicht nur daran keine Erinnerung hatte, in den vergangenen Nächten unruhig in seinem Zimmer auf- und abgelaufen zu sein, nicht nur daran, dieses unheimliche Manuskript verfaßt zu haben. Er konnte sich an überhaupt nichts erinnern. Da war der vergangene Abend, an dem er wie gewohnt in sein Arbeitszimmer hinaufgegangen war, um Briefe zu schreiben, zu lesen oder an seinen Manuskripten zu arbeiten, und dann der Morgen, an dem er an seinem Schreibtisch saß und mit klopfendem Herzen auf die neu hinzugekommenen Seiten starrte. Dazwischen ... nichts. Sein Kopf war wie leergefegt. Wo die Erinnerung an die vergangene Nacht oder zumindest den Abend und das Aufwachen sein sollten, gähnte ein gewaltiger schwarzer Abgrund. Obwohl ihm die Nähe so vieler Menschen fast körperliches Unbehagen bereitete, betrat er ein Cafe, bestellte ein Glas Portwein und eine Zigarre und suchte den Waschraum auf, um sich zu säubern und seine desolate Kleidung so gut in Ordnung zu bringen wie es ihm möglich war. Das Ergebnis überzeugte ihn nicht. Gerade er, der normalerweise besonderen Wert auf einwandfreie Kleidung und ein untadeliges Äußeres legte, sah an diesem Morgen aus wie eine etwas bessere Ausgabe des alten Säufers, den er in Bridgewater Junction getroffen hatte. Während er vor dem großen Kristallspiegel im Waschraum des Cafes stand, überlegte er einen Moment lang ernsthaft, auf der Stelle kehrtzumachen und in das Haus seiner Tanten zurückzukehren, um sich zu waschen und seinen Anzug zu wechseln. Als er sich vom Spiegel abwenden wollte, blitzte es in seinen Augen auf. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Fassungslos starrte er sein eigenes Spiegelbild an, blickte in seine eigenen Augen, suchte mit klopfendem Herzen nach dem, was er gerade zu sehen geglaubt hatte, und fand nichts. Aber er hatte sich nicht getäuscht! Es war wie ein Auflodern gewesen.
Kein Licht, aber das Leuchten von etwas ... Fremdartigen, das plötzlich in seinem eigenen Blick gewesen war. Was er für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, das waren nicht seine Augen gewesen, sondern die eines Raubtieres, eines Wesens, das nur aus Zorn und Haß und Wildheit bestand. Er schloß die Augen, trat einen Schritt zurück und hob die Lider wieder. Nichts. Sein Spiegelbild war nichts anderes als das, was es immer gewesen war. Aber er wagte es trotzdem nicht, sich auf die gleiche Weise wie vorhin vom Spiegel wegzudrehen, sondern preßte die Lider fest aufeinander, suchte mit der rechten Hand Halt am Rand des emaillierten Waschbeckens darunter und vollführte eine halbe Drehung, ehe er es wagte, die Augen wieder zu öffnen. Als er es tat, war er nicht mehr allein. Ein anderer Gast war hereingekommen und starrte ihn verblüfft an, senkte aber hastig den Blick und verschwand hinter der Toilettentür, und Howard blieb einen Moment verwirrt und äußerst verunsichert stehen, ehe er beinahe fluchtartig das Bad verließ und zu dem Tisch ging, an dem sein bestellter Wein und die Zigarre mittlerweile aufgetragen worden waren. Seine Hände zitterten. Der Wein kam ihm schal vor, und die Zigarre schmeckte so widerwärtig, daß er sie nach zwei Zügen ausdrückte. Sein Herz raste. Etwas ... geschah. Nicht nur um ihn herum, sondern mit ihm. Und er spürte, daß es erst der Anfang war. Sehr hastig bezahlte er die Rechnung und stürmte aus dem Cafehaus und auf die Straße hinaus. Er war so verwirrt, daß er für einen Moment Schwierigkeiten hatte, sich zu orientieren, und in die falsche Richtung ging. Nach einem Dutzend Schritte blieb er stehen, sah sich wie ein Mann um, der unversehens aus einem tiefen Schlaf erwachte und gar nicht wußte, wo er war, und machte dann kehrt, um weiter in Richtung Stadtmitte zu gehen. Ein paarmal rempelte er versehentlich andere Passanten an, murmelte eine Entschuldigung und stürmte weiter, und
einmal wäre er fast von einem Automobil erfaßt worden, als er ohne nach rechts oder links zu blicken einfach auf die Straße hinaustrat. Wie er den Weg zum Redaktionsgebäude der MORNING POST fand, wußte er hinterher selbst nicht mehr zu sagen. Ein weißhaariger Alter mit einem zerknitterten Gesicht und einem Mund, der fast zahnlos war, saß hinter einer Theke rechts neben dem Eingang und fragte ihn nach seinen Wünschen. Der Blick, mit dem er ihn dabei maß, machte deutlich, daß sich sein Aussehen nicht wesentlich gebessert hatte, seit er das Cafe betreten hatte. »Mr. Jenkins«, sagte Howard. »Ich hätte gern Mr. Peter Jenkins gesprochen. Er arbeitet doch bei Ihnen?« »Er ist einer unserer Redakteure, Sir«, antwortete der Alte. »Wenn Sie mir sagen, worum es geht, dann werde ich ihn rufen.« Er griff mit der linken Hand nach dem Hörer eines Telefonapparates, der vor ihm auf dem Tisch stand. »Das ist nicht nötig«, antwortete Howard hastig. Verstohlen sah er sich in der großen Eingangshalle des Redaktionsgebäudes um. Das Haus schien schon einmal bessere Zeiten gesehen zu haben, denn alles war groß und vom fast überladenen Prunk des vergangenen Jahrhunderts, aber eindeutig heruntergekommen, als hätte sich seit einem Jahrzehnt niemand mehr darum geschert, wie es hier aussah. Und der Raum war völlig leer bis auf den alten Mann hinter dem Tresen. Es kam ihm selbst verrückt vor, aber diese Leere erschreckte ihn mit einem Mal. Er mußte unter Menschen, er, ausgerechnet er, der Menschen verabscheute, sehnte sich plötzlich nach nichts so sehr wie nach menschlicher Gesellschaft. Der Gesellschaft sehr vieler Menschen. Er begriff plötzlich, daß sich seine Gefühle deutlich auf seinem Gesicht widerspiegeln mußten, und fügte mit einem verlegenen Lächeln hinzu: »Es geht um einen Artikel, den Mr. Jenkins geschrieben hat. Ich möchte ihm einige Fragen dazu stel-
len, und es kann sein, daß er in seinen Unterlagen etwas nachschlagen muß. Es wäre also besser, wenn ich zu ihm gehe, statt das er sich den Weg hier herunter macht.« Der Alte sah ihn noch einen Moment lang mißtrauisch an, zuckte dann aber mit den Schultern und deutete auf die breite Treppe am anderen Ende des Raumes. »Im zweiten Stock«, sagte er. »Gehen Sie bis zum Ende des Korridors. Sein Name steht an der Tür.« Howard bedankte sich, wandte sich um und durchquerte mit weit ausgreifenden Schritten den Raum. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend lief er die Treppe zum zweiten Stock hinauf und wandte sich nach links. Es gab eine Unzahl zur Hälfte verglaster Türen. Die meisten davon standen offen, und er konnte durcheinanderredende Stimmen und das emsige Klappern von Schreibmaschinen hören, dann und wann das Klingeln eines Telefonapparates. Ein paar Angestellte der Zeitung begegneten ihm, aber niemand sprach ihn an oder fragte ihn nach seinen Wünschen. Wie der Alte am Empfang gesagt hatte, stand der Jenkins’ Name in abblätternden schwarzen Lettern auf der Milchglasscheibe geschrieben. Howard klopfte an, wartete aber die Antwort gar nicht erst ab, sondern drückte die Klinke herunter und trat durch die Tür. Jenkins saß mit dem Rücken zur Tür an einem Schreibtisch, der aussah, als wären Dämonenhorden darüber hinweggezogen (und zwar gleich mehrmals), und hackte mit zwei Fingern auf die Tastatur einer modernen Remington-Schreibmaschine ein. Er mußte das Geräusch der Tür gehört haben, trotzdem machte er sich nicht einmal die Mühe, sich herumzudrehen, sondern knurrte nur ein halblautes »Ja?« und fuhr fort, das Blatt in der Maschine mit Buchstaben zu füllen. Mit einem Räuspern schloß Howard die Tür wieder hinter sich, trat dicht an den Schreibtisch heran und wartete, daß der Reporter in irgendeiner Form von ihm Notiz nahm. Als er nach
nicht ganz einer Minute begriff, daß dies nicht geschehen würde, räusperte er sich erneut; diesmal so laut und gekünstelt, daß Jenkins schließlich doch die Finger von den Tasten und den Blick von dem Blatt hob und sich ihm zuwandte. Einen Moment lang musterte er ihn aus ausdruckslosen Augen. »Ich kenne Sie doch«, sagte er dann. Freundliche Umgangsformen, wie etwa eine Begrüßung oder die Frage nach dem Wunsch seines Gastes, schienen ihm völlig fremd zu sein. »Das mag sein. Providence ist ...« »Sie sind Mitarbeiter der TRIBUNE«, unterbrach ihn Jenkins, und nun verdüsterte sich sein Gesicht. Vielleicht gehörte er ja zu jener Art von Reportern, für die Mitarbeiter eines Konkurrenzblattes automatisch Feinde waren. »Nicht direkt«, antwortete Howard deshalb hastig. »Eher ein freier Mitarbeiter. Und das auch nur äußerst sporadisch. Manchmal gestalte ich einen Teil der astronomischen Beilage. Sie interessieren sich für Astronomie?« Jenkins’ Gesichtsausdruck machte klar, daß er mit Mühe und Not wußte, wie man dieses Wort buchstabierte. »Nein«, sagte er. »Wenn Sie deshalb gekommen sind, Mister ...?« Diesmal stellte Howard sich unter seinem richtigen Namen vor, denn zum einen gab es hier keinen Grund, inkognito aufzutreten, und zum anderen war Providence keine besonders große Stadt. Man kannte ihn hier, obwohl oder vielleicht gerade weil er ein so zurückgezogenes Leben führte. »Ich bin nicht in meiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Journalist hier«, begann er umständlich. »Mein Interesse ist gewissermaßen rein privater Natur. Es gibt da einige Dinge, bei deren Klärung Sie mir vielleicht behilflich sein könnten.« »Behilflich, so?« Jenkins schwang sich mit dem Stuhl herum, legte die Füße auf die Schreibtischplatte und blinzelte ihn schräg an seinen Schuhspitzen vorbei an. »Worum geht es?« »Um einen Artikel, den Sie verfaßt haben. Genauer gesagt – zwei.«
Der Ausdruck auf Jenkins Gesicht wurde noch eine Spur gelangweilter. Er griff in die Tasche seiner abgewetzten Cordjacke, zog einen Tabaksbeutel und Papier hervor und begann sich eine Zigarette zu drehen. Mit einer fragenden Geste hielt er den Tabaksbeutel über den Tisch, erntete aber nur ein Kopfschütteln. »Danke. Ich bin Zigarrenraucher.« »O ja – eine gute Zigarre dann und wann weiß auch ich zu schätzen«, sagte Jenkins, ließ den Tabaksbeutel samt der fertiggedrehten Zigarette wieder in der Jackentasche verschwinden und grinste. Howard verstand. Mit einer bedächtigen Bewegung klappte er sein Zigarrenetui auf, hielt es Jenkins hin und sah zu, wie sich der Reporter zwei der dünnen Zigarillos herausnahm, von denen er eine in den Mundwinkel und die zweite in die Brusttasche steckte. »Also, mein geschätzter Beinahe-Kollege«, begann Jenkins in schon wesentlich besserer Laune erneut. »Was kann ich für Sie tun? Um welchen Artikel handelt es sich?« »Zwei«, erinnerte Howard. »Es geht um diese beiden sonderbaren Unglücksfälle, denen einen in Bridgewater Junction, den anderen in ...« Er sprach nicht weiter, als er sah, wie abrupt sich Jenkins’ Gesichtsausdruck änderte. Aus aufgesetztem Interesse und mühsam unterdrückter Langeweile wurde Schrecken und Mißtrauen, und für einen kurzen Moment eine Furcht, die an Panik grenzte. Er hatte sich rasch wieder in der Gewalt, aber doch nicht rasch genug, um den Fauxpas zu überspielen. »Brigdewater Junction?« wiederholte er unsicher. »Sie ... Sie meinen die Geschichte mit diesem Henderson, oder wie er hieß?« Er sprach den Namen so betont falsch aus, daß es kein Zufall mehr sein konnte. »Hannerson, um genau zu sein«, antwortete Howard. »Ich habe mir die Freiheit genommen, vor ein paar Tagen nach
Bridgewater Junction zu fahren und selbst mit einigen Leuten zu reden. Allerdings war man dort nicht besonders mitteilsam.« »Das wundert mich nicht weiter«, antwortete Jenkins. »Ich schätze, einige Leute dort haben eine Menge Ärger bekommen, nach meinem Artikel.« Nach einer winzigen Pause und mit gerunzelter Stirn und leise fügte er hinzu: »Ich übrigens auch.« »Ich fand ihn höchst interessant. Ich ...« »Nicht nur Sie«, unterbrach ihn Jenkins und entzündete seine Zigarre. »Eine Menge Leute haben sich dafür interessiert, mein lieber Kollege. Unter anderem der Marshal, der Bezirksstaatsanwalt o ja, und meinen Chefredakteur nicht zu vergessen.« Er blies eine blaue Qualmwolke in die Luft und verzog das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. »Ich habe eins zwischen die Hörner bekommen, daß mir noch heute der Schädel raucht.« »Das verstehe ich nicht. Ihr Artikel klang doch interessant.« »Es war interessanter Blödsinn«, sagte Jenkins unumwunden. »Blödsinn? Sie meinen, Sie haben sich ... das alles ausgedacht?« Jenkins lachte humorlos und schüttelte den Kopf. »O nein, mein Lieber. Ich habe nur genau das geschrieben, was mir die Leute dort erzählt haben. Es ist wohl vielmehr so, daß sie es sich ausgedacht haben.« »Nun, dieser Hopkins klang sehr überzeugend.« »Hopkins!« Wieder verzog Jenkins das Gesicht. »Hopkins ist ein Spinner! Wenn Sie ihm versprechen, seinen Namen in die Zeitung zu setzen, dann erzählt er Ihnen alles, was Sie hören wollen. Wenn Sie mich fragen: es gab kein unsichtbares Ungeheuer und auch keinen alten Indianerfluch oder was immer es gewesen sein soll. Wahrscheinlich war es wirklich ein Unfall. Oder jemand hat Hannerson einer kleinen Schönheitsoperation mit einem Klappmesser unterzogen, und sie haben sich diese verrückte Geschichte ausgedacht, um die Wahrheit zu vertuschen.«
»Aber da gab es doch noch einen zweiten Bericht, in der heutigen Zeitung.« Jenkins Gesichtsausdruck wurde noch einmal um mehrere Grade düsterer. »Ja«, gestand er. »Es war leider zu spät, ihn zurückzuziehen.« »Auch ein Unfall? Und auch eine haarsträubende Erklärung?« »Woher soll ich das wissen?« murrte Jenkins. »Vielleicht haben sie in dem Kaff meinen Artikel gelesen und kamen sich besonders schlau dabei vor, die Geschichte dranzuhängen.« »Sie waren nicht dort?« Jenkins lachte. »Sehe ich etwa so aus? Ich bin vielleicht ein bißchen blöd, aber nicht so blöd, zweimal auf den gleichen Mist hereinzufallen. Jemand hat angerufen und es mir erzählt, und ich muß wohl besoffen gewesen sein, gleich eine Meldung daraus zu machen.« Nichts von dem, was er sagte, klang in irgendeiner Weise überzeugend. Die Lüge war so deutlich, als stünde sie mit flammenden Lettern auf seine Stirn geschrieben. Trotzdem zwang sich Howard zu einem enttäuschten Seufzen. »Das ist schade«, sagte er. »Wissen Sie, ich interessiere mich für Außergewöhnliches.« »So?« erkundigte sich Jenkins in einem Ton, der klarmachte, daß ihn dies nun überhaupt nicht interessierte. »Nicht nur außergewöhnliche Todesfälle, wenn Sie verstehen. Alles, was irgendwie seltsam erscheint. Manches, was im ersten Moment sinnlos aussehen mag, ergibt doch ein Bild, wenn man es nur lange genug anschaut.« »Das mag sein.« Jenkins nahm die Füße vom Schreibtisch und drehte sich demonstrativ wieder seiner Remington zu. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte, lieber Kollege«, sagte er, während er blaue Rauchwolken paffte und sich schon wieder über das halb geschriebene Manuskript in der Maschine beugte. »Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Es ist bald Redaktionsschluß, und Sie wissen ja sicher
selbst, wie das ist.« Howard hatte niemals von einer Morgenzeitung gehört, deren Redaktionsschluß am frühen Vormittag lag. Aber er begriff den kaum noch verhohlenen Rauswurf sehr wohl und stand auf. »Sie könnten mir nicht den Namen des Mannes nennen, der Sie angerufen hat?« Jenkins zuckte mit den Schultern, ohne ihn anzusehen. »Hab’ ich vergessen«, behauptete er. »Sie können ja Ihre Karte dalassen. Ich melde mich bei Ihnen, wenn er mir wieder einfällt.« Was er aber natürlich nicht tun würde. Wahrscheinlich würde er die Karte unverzüglich in den Papierkorb werfen oder ihre Rückseite als Notizzettel verwenden. Trotzdem klappte Howard die Brieftasche auf, entnahm ihr eine Visitenkarte und legte sie auf das Tohuwabohu auf Jenkins’ Schreibtisch. Dann verließ er mit einer gemurmelten Verabschiedung das Zimmer, ging ein paar Schritte den Flur entlang und blieb wieder stehen. Er fühlte sich sehr enttäuscht. Er hatte sich mehr von dem Gespräch mit dem Reporter versprochen. Irgend etwas an Jenkins stimmte nicht. Sein Benehmen war nicht das eines Mannes gewesen, der einen beruflichen Fehler gemacht und dafür zur Rechenschaft gezogen worden war. Ganz im Gegenteil war es das eines Mannes, der vielleicht ein wenig zuviel erfahren und jetzt Angst hatte. Aber Jenkins hatte auch sehr deutlich gemacht, daß er nicht mehr erzählen würde; ja wahrscheinlich schon bedauerte, selbst dieses wenige gesagt zu haben. Vor Howard öffnete sich eine Tür, und eine junge, adrett gekleidete Frau mit einem hübschen Gesicht kam aus dem Zimmer. Einen Augenblick lang blickte sie ihn fragend an, als wolle sie ihn ansprechen, ging dann aber mit einem Lächeln an ihm vorbei. Obwohl sie es gar nicht mehr sehen konnte, erwiderte er dieses Lächeln und ging weiter. Und blieb nach zwei Schritten abermals stehen. Ein eiskalter Windzug hatte ihn getroffen. Und mit dieser Kälte kam ein Hauch so bestialischen Gestanks heran, als hät-
ten sich die Pforten der Hölle für einen Moment geöffnet, um ihren stinkenden Odem auszustoßen. Erschrocken fuhr er herum und sah sich mit aufgerissenen Augen um. Halb erwartete er schon, tatsächlich eine der grotesken, furchteinflößenden Gestalten zu sehen, von denen er selbst so oft geschrieben hatte, aber hinter ihm war nichts. Nur der Korridor und die Glastür, durch die das leise, unrhythmische Klappern von Jenkins’ Schreibmaschine drang. Aber die Kälte war noch immer da, und obwohl der Gestank nun wieder an Heftigkeit abnahm, spürte Howard ihn noch ganz deutlich, als hätte sich etwas davon in seinen Kleidern und seinem Haar eingenistet, so daß er es nicht mehr loswurde. Und dann hörte er die Schritte. Es war wie in Bridgewater Junction vor zwei Tagen, aber intensiver diesmal, unheimlicher. Ein dumpfes, widerhallendes Krachen, das das ganze Gebäude bis in seine Grundfesten zu erschüttern schien und das Glas in den Türen ringsum zum Klirren brachte. Er hörte, wie die ausgetretenen Holzdielen ächzten und knirschten, als drücke sie eine ungeheuerliche Last nieder, und dann glaubte er für einen kurzen, entsetzlichen Moment sogar eine Berührung zu spüren; ein unangenehmer, klebriger Hauch, wie warme Spinnweben, die über sein Gesicht strichen. Mit einem krächzenden Schrei prallte er zurück und stieß so heftig gegen eine Tür, daß das Glas klirrte. Mit jagendem Herzen sah er sich um. Das Geräusch der Schritte war noch immer da, und er konnte fühlen, daß sich ihm irgend etwas näherte, etwas Großes, Böses, Gefährliches. Aber er sah nichts. Und urplötzlich fielen ihm wieder die Formulierungen in Jenkins’ Bericht ein, und das, was Hopkins gesagt hatte: daß das bedauernswerte Opfer von einem unsichtbaren Etwas gepackt und in Stücke gerissen worden sei, und daß Jenkins sicher gewesen war, das Hannerson zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Umgebracht durch den bloßen Anblick von etwas, das nur er zu sehen vermochte.
Die Tür, gegen die er geprallt war, wurde mit einem so plötzlichen Rupk aufgerissen, daß er um ein Haar rücklings in den dahinterliegenden Raum gestürzt wäre. »Was ist denn los?« fragte eine aufgeregte Stimme. Erschrocken drehte Howard sich um, blickte aber nur in das Gesicht eines vielleicht fünfzigjährigen, grauhaarigen Mannes, nicht in die Visage eines höllengeborenen Monstrums. »Was haben Sie?« fragte der Mann, halb erschrocken, halb aber auch besorgt. »Ist Ihnen nicht gut?« Die Kälte wurde immer schlimmer, und die Schritte waren jetzt so nahe, daß er den Boden unter seinen Füßen zittern spüren konnte. Aber der andere schien weder die Kälte zu spüren noch die stampfenden Schritte zu hören, denn er blickte ihn nur verwirrt an und wartete auf eine Antwort. »Brauchen Sie Hilfe?« fragte er schließlich. »Nein«, antwortete Ho ward zögernd. »Es ... es geht schon wieder. Ein leichtes Unwohlsein. Vielen Dank.« Er drehte sich herum. Sein Blick irrte durch den Korridor, sah nichts außer verblaßten Mosaikfliesen und Türen mit Milchglas und abblätternder Farbe, aber die Schritte waren immer noch da, und die Kälte auch. Er spürte die Nähe des unsichtbaren Ungeheuers, und plötzlich wußte er mit absoluter Sicherheit, daß es dasselbe Etwas war, das Hannerson und jenen anderen Mann in Attleborough umgebracht hatte. Und plötzlich war es ihm auch völlig egal, ob der Mann hinter ihm ihn für exzentrisch oder einfach für verrückt hielt mit einem nicht mehr unterdrückten Schrei fuhr er herum, stürmte durch den Korridor und wandte sich der Treppe zu, um sie immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend hinunterzurennen, so schnell er nur konnte. Er verfiel erst wieder in eine langsamere Gangart, als er draußen auf der Straße und unter Menschen war, und selbst dann ging er noch sehr schnell und mußte ständig gegen den Impuls ankämpfen, sich herumzudrehen und hinter sich zu blicken.
Das wagte er erst, als er zwei Blocks vom Gebäude der MORNING POST entfernt war. Die Straße hinter ihm war leer, bis auf einige wenige Passanten, die gemächlich daherschlenderten, und von denen ihm nicht wenige verwunderte Blicke zuwarfen. Er fühlte das Licht und die Wärme der Sonne auf der Haut, und obwohl die Luft hier in der Stadt schlecht war und nach so vielen Menschen und zu allem Überfluß auch noch nach den Automobilen roch, die in letzter Zeit in immer größerer Zahl über die Straßen rumpelten, hatte er plötzlich das Gefühl, niemals etwas Köstlicheres und Frischeres geschmeckt zu haben. Er war entkommen. Irgend etwas war dagewesen und hatte ihn holen wollen. Dasselbe Etwas, das in den vergangenen Tagen schon zweimal zugeschlagen und ein schreckliches Opfer gefordert hatte, aber er war ihm entkommen. Und trotzdem verspürte er kaum Erleichterung. Es mochte sein, daß es Dinge gab, die schlimmer waren als der Tod.
Und es gab Dinge, die schlimmer waren als der Tod. Es gab Dinge, die länger währten als der Tod und entsetzlicher waren als das schrecklichste Inferno, das ein Mensch sich erdenken konnte. Er hatte sie kennengelernt. Er hatte sie gesehen und gespürt, und er hatte gefühlt, was es hieß, verdammt zu sein. Vielleicht war er es noch immer. So wie es Dinge gab, die schlimmer waren als der Tod, so mochte es Dinge geben, denen man nicht entkommen konnte, egal, wie weit und wie lange man lief. Sein Blick wandte sich wieder dem Fenster zu. Er war nicht
sicher – aber für einen Moment glaubte er, bereits einen ersten grauen Schimmer im Schwarz der Nacht zu erkennen. Wenn der Morgen anbrach, würden sie kommen. Er wußte es. Aber er wußte auch, daß es noch nicht soweit war. Sie beobachteten ihn, weideten sich vielleicht an seinem Entsetzen und seinem hilflosen Zappeln, wie eine Spinne ihr Opfer einen Moment lang betrachten mochte, das sich in ihrem Netz verfangen hatte, nicht aus Grausamkeit, sondern mit dem fast schon maschinenhaften Interesse einer Kreatur, die zu keinerlei Gefühlen außer Gier und Haß fähig war. Oh, sie würden warten, bis er sich ganz erinnert hatte. Es war kein Zufall, daß er so früh erwacht war. Sie wollten es. Mit jeder Stunde, die verging, klärten sich seine Erinnerungen, erinnerte er sich nicht nur an die hinter ihm liegenden Tage, sondern blickte auch mehr und mehr durch die Spalten und Ritzen des schwarzen Vorhanges, der bisher über den Nächten gelegen hatte. Sie wollten, daß er sich erinnerte, denn seine Qual stärkte ihre Kräfte und schwächte die seinen, wenn sie kamen, um ihn zum letzten Kampf herauszufordern. Beinahe hätte er gelacht. Die Vorstellung, gegen diese finsteren, uralten Götter kämpfen zu wollen, war absurd. Sein Blick kehrte wieder zum Bett zurück und tastete einen Moment lang über die schwarze, klebrige Masse, die es besudelte. Man hätte sie für Schlamm oder Teer oder schwarze Pechblende halten können, doch sie war nichts von alldem. Allein die Vorstellung, sie zu berühren, bereitete ihm Übelkeit. Und trotzdem beugte er sich über das Bett, streckte die Hände aus und griff mit zitternden Fingern nach dem schimmernden Etwas, das inmitten der klebrigen, übelriechenden Masse lag.
Einen Tag später waren es sechs, dann nur zwei, und am dritten Morgen gleich neun Seiten, die das unheimliche Manuskript auf seinem Schreibtisch an Umfang gewann. Er erschrak jetzt nicht mehr, wenn er nach dem Frühstück an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte und dort weitere Seiten eines Buches vorfand, das er offensichtlich schrieb, ohne es zu wissen, ja ohne es selbst auch nur lesen zu können. Aber der Anblick des langsam aber wie eine schwärende Krankheit unaufhaltsam wachsenden Pergament-Stapels erfüllte ihn mit einem immer tieferen, kalten Entsetzen. Er spürte jetzt immer deutlicher, daß dieses Buch etwas Böses war. Doch trotz aller Furcht, die ihm der bloße Anblick des Manuskriptes bereitete, wuchs seine Entschlossenheit, sein Geheimnis zu ergründen. Er hatte einige Zeilen dieser sonderbaren Nicht-Schrift sorgsam auf Seidenpapier durchgepaust (Sie zu kopieren war er nicht in der Lage). Obwohl kein Zweifel mehr daran bestand, daß er selbst während der Nächte dieses Manuskript verfaßte, gelang es ihm nicht, auch nur eines der komplizierten, ineinandergeschlungenen und verschachtelten Zeichen mit hinreichender Ähnlichkeit zu kopieren, wenn er wach war) und einem guten Bekannten gezeigt, der sich mit alten Sprachen und vergessenen Kulturen und deren Schriften befaßte, aber nur ein Kopfschütteln auf seine Frage geerntet, ob dieser wisse, was die Zeichen bedeuteten. Nein, er wußte es nicht. Aber der Ausdruck auf dem Gesicht seines Freundes war sonderbar gewesen. Howard zweifelte nicht daran, daß er die Wahrheit sagte und etwas wie diese Schriftzeichen niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte; aber ebenso wenig zweifelte er daran, daß ihm der bloße Anblick der Zeichen Unbehagen bereitete. An diesem Morgen nun hatte er Vorbereitungen getroffen, das Geheimnis dieses Manuskriptes weiter zu enträtseln. Er wagte es nicht, das Manuskript aus dem Haus zu schaffen. Gott allein – oder vielleicht ein anderes, schreckliches Wesen moch-
te wissen, was geschah, wenn diese Blätter in falsche Hände gerieten. So hatte er sich einen Fotoapparat ausgeliehen und dessen Bedienung aufs genaueste erklären lassen, um eine oder auch mehrere Seiten auf eine Fotoplatte zu bannen, so daß er beliebig viele Abzüge davon herstellen konnte. Er hatte drei ausgewählte Seiten auf seinem leergeräumten Schreibtisch ausgebreitet und das schwere Dreibein aufgestellt, auf dem der Fotoapparat ruhte. Jetzt war er damit beschäftigt, die empfindliche Fotoplatte in den Apparat einzulegen (was ihm einigermaßen schwerfiel, denn er mußte dazu das Gerät unter einem völlig lichtdichten Tuch verbergen, damit auch nicht der winzigste Schimmer darauffiel), und die Karbidladung für das Blitzlicht zusammenzumengen. Er war kein geübter Fotograf, aber in solchen Dingen hinreichend belesen, um sich diese Aufgabe zuzutrauen. Allerdings hatte es ihn große Anstrengungen gekostet, den Besitzer des Fotoateliers dazu zu überreden, ihm diese Ausrüstung leihweise zur Verfügung zu stellen. Der Mann hatte beiläufig erklärt, was ein solches Gerät koste und wie schwierig es sei, qualitativ entsprechenden Ersatz zu bekommen, so daß er entsprechend vorsichtig zu Werke ging und sich für jeden Handgriff doppelt soviel Zeit nahm als nötig. Aber schließlich war er mit der getroffenen Anordnung zufrieden, schob die drei Blätter auf dem Schreibtisch noch ein wenig enger zusammen, zog das schwarze Tuch von der Kamera und drückte den Auslöser des Blitzlichtes. Das dumpfe Geräusch einer Verpuffung erklang, und für den Bruchteil einer Sekunde erfüllte grelles, schattenloses weißes Licht das Arbeitszimmer, in dem sonst niemals mehr als matte Dämmerung herrschte. Er hatte vorsichtshalber die Augen fest geschlossen, aber trotzdem war das Licht so grell, daß es durch seine Lider drang und ihn blendete und das Zimmer in harten, wie mit einem Messer in Stahl gekratzten Umrissen erkennen ließ.
Und für den Bruchteil einer Sekunde konnte er lesen, was auf den Blättern stand! Ein lähmender Schrecken durchfuhr ihn. Das Blitzlicht erlosch, und für einen Moment tanzten bunte Sterne und Punkte vor seinen Augen, und als sie verschwanden, da waren die Manuskriptblätter wieder das, was sie vorher gewesen waren – zerknittertes gelbes Pergament voller unentzifferbarer Hieroglyphen und Krakel. Aber er hatte es sich nicht eingebildet! Er hatte einige wenige Worte des Textes gesehen und verstanden! Nur Fetzen, Satz- und Wortteile ohne Bedeutung, aber deutlich erkennbar! Sekundenlang blieb er einfach da stehen, wo er war, und dann begannen seine Hände so heftig zu zittern, daß die Kamera klirrte. Hastig trat er einen Schritt zurück, zögerte – und ging dann zum Fenster, um zum ersten Mal seit Wochen die Vorhänge weit aufzuziehen. Goldgelbes Sonnenlicht strömte in das Zimmer wie in eine Gruft, deren Eingang nach einem Jahrhundert wieder geöffnet wurde, und im gleichen Moment fiel ihm auf, wie stickig und schlecht die Luft hier drin war, wie durchdringend der Geruch nach alten Büchern und Staub, und wie winzig dieses Zimmer trotz seiner Größe wirkte, denn es war zum Bersten vollgestopft mit Schränken und Regalen voller Bücher, Manuskripte und Folianten. Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten öffnete er nun auch noch das Fenster und sog die kühle Morgenluft in tiefen, fast gierigen Zügen in die Lungen. Unsicher wandte er sich wieder um und ging zum Schreibtisch zurück. Sein Blick glitt über die Manuskriptseiten, und einen Moment lang fragte er sich, ob er das alles wirklich gesehen oder sich nicht doch nur eingebildet hatte. Es war nicht so, als hätte er die fremdartigen Buchstaben und Zeichen gelesen. Das konnte er nicht. Aber er hatte plötzlich gewußt, was sie bedeuteten. Da waren Namen gewesen, Namen, deren bloßer Klang ihn schaudern ließ, denn es waren die Namen seiner
Geschöpfe: Cthulhu, der oktopoide Herr des Schatten, Nyaralathothep, der Blinde Gott, der seit Äonen zum Klang der höllischen Musik tanzte, die seine Diener spielten ... War es das? dachte er schaudernd. War es vielleicht so, daß er schlichtweg begann, den Verstand zu verlieren, sich in den Traumwelten und Visionen zu verirren, die er in endlosen Tagen und Nächten am Schreibtisch selbst geschaffen hatte? Daß er nicht mehr in der Lage war, Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden, und allmählich selbst glaubte, was er schrieb? Gleichzeitig wußte er, daß die Erklärung nicht so einfach war. Es hatte mit seinen Geschöpfen zu tun, die er in düsteren Worten und bedrohlichen Geschichten heraufbeschworen hatte, mit den Großen Alten, die von den Sternen gekommen waren, als es noch keine Menschen auf dieser Welt gab, und all den tentakelschwingenden Scheußlichkeiten, die sie begleiteten in jener entsetzlichen Zeit vor zweihundert Millionen Jahren. Aber er war mit einem Male gar nicht mehr sicher, daß es wirklich seine Geschöpfe waren. Was, wenn es genau umgekehrt wäre und er in Wahrheit ihr Geschöpf war, ihr treuer Chronist und Diener, der das Wissen um sie und ihre fürchterliche Macht wieder zum Leben erweckte, ohne es selbst zu ahnen? Was, wenn es so war, wie er selbst geschrieben hatte wenn man sie rief, indem man ihren Namen aussprach? Er wagte es nicht, darüber zu urteilen, ob er diese Erklärung für glaubhafter hielt als die, daß er einfach verrückt war, aber schon die bloße Vorstellung erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen. Auch war dies allein nicht alles. Bei dem wenigen, was er im Bruchteil einer Sekunde erblickt hatte, waren noch andere Worte gewesen, Begriffe, die ihm sonderbar bekannt vorkamen, ohne daß er sie einordnen konnte. Er starrte auf die drei Blätter hinab, versuchte, die Stellen wiederzufinden, die ihm plötzlich etwas gesagt hatten, als könne er die verschüttete Erinnerung durch den Anblick der fremdartigen Zeichenschrift wieder ans Tageslicht zwingen.
Das Licht. Vielleicht war es das Licht gewesen, dachte er plötzlich aufgeregt. Hastig trug er die Kamera einige Schritte weit fort, füllte eine neue Ladung Karbidpulver in die Metallschiene des Blitzgerätes und hielt sie viel tiefer über den Schreibtisch, als er es das erste Mal getan hatte. Diesmal schloß er die Augen nicht, als er den Auslöser betätigte. Der Blitz war so grell, daß er wie ein unsichtbares glühendes Messer in seine Augen stach und er vor Schmerz aufstöhnte. Aber für einen unendlich kurzen Moment formten sich die verwirrenden Zeichen zu etwas anderem, schienen Linien und Striche aufeinander zuzukriechen wie kleine, lebende Würmer auf dem gelben Papier, bildeten Worte, die ... Aus den Würmern wurden Fäden. Ein Wald dünner, peitschender Ärmchen voller nadelspitzengroßer schnappender Münder, die zu Hunderten und Tausenden und so schnell wie das Licht des Blitzes aus dem Papier herausschossen, seinen Hals, seine Schultern, seine Schläfen, die Stirn und schließlich den ganzen Kopf umwickelten und ihn mit erbarmungsloser Kraft auf die Schreibtischplatte herabzerrten. Gleichzeitig bissen die Millionen winziger Mäuler in seine Haut, krochen in seine Nasenlöcher und seinen Mund, stachen wie Nadeln in seine Augen und zerrten an seinem Haar, und ... Die Wucht, mit der seine Stirn auf die Schreibtischplatte krachte, war so groß, daß er auf der Stelle das Bewußtsein verlor. Er konnte nicht lange ohnmächtig gewesen sein, denn in der Luft lag noch der stechende Geruch des Karbid, als er die Augen wieder aufschlug. Mit einem keuchenden Schrei richtete er sich auf, so heftig, daß sein Stuhl wankte und um ein Haar umgestürzt wäre. Im letzten Moment fand er an der Schreibtischkante wieder Halt. Sein Herz raste, als wolle es zerspringen. In seinem Mund war ein saurer Geschmack wie nach Erbrochenem, und sein Kopf schmerzte entsetzlich. Er hatte sich die Stirn aufgeschla-
gen, so daß Blut über sein Gesicht lief und auch ein wenig auf den Schreibtisch und die Blätter getropft war. Erschrocken beugte er sich vor, um es fortzuwischen, ehe es die Schrift auflösen und unleserlich machen konnte und erstarrte mitten in der Bewegung. Es war nur ein winziger Riß, aber wie oft bei Kopfwunden blutete er stark, und auf dem Holz, dort, wo sein Kopf gelegen hatte, war eine handgroße, dunkelrote Lache entstanden. Das Papier war unberührt. Seine Ränder ragten ein Stück weit in die Blutlache hinein, aber es war nicht verschmiert. Es schien nicht einmal feucht zu sein. Obwohl er vor Furcht innerlich fast starb, beugte er sich weiter vor und beobachtete mit fassungslos aufgerissenen Augen, wie die Blutlache ganz langsam zu verschwinden begann. Es war, als sauge das Blatt das Blut auf. Zitternd hob er die Hand, berührte die Wunde an seiner Stirn und fing mit der Spitze des Mittelfingers einen einzelnen Blutstropfen auf, den er auf das mittlere der drei Pergamentblätter tropfen ließ. Der Tropfen berührte das Papier, wölbte sich für einen Moment wie ein winziger roter Hügel darauf – und versickerte! Nicht die geringste Spur blieb zurück. Es war, als trinke dieses Manuskript sein Blut! Seine Selbstbeherrschung zerbrach endgültig. Mit einem Schrei sprang er auf, so heftig, daß sein Stuhl jetzt wirklich umstürzte und ein Teil der Lehne abbrach, stürmte aus dem Zimmer und wollte nach unten laufen, machte aber einen Schritt vor der Treppe wieder kehrt und rannte ins Bad. Aus den Augenwinkeln sah er die Gestalt seiner Tante, die vor der untersten Stufe stand und verwirrt und erschrocken zu ihm heraufblickte, und betete, daß sie nicht hinaufkam, um ihn zu fragen, was geschehen war, oder etwa das Zimmer betrat. Aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft, ihr eine Warnung zuzurufen, sondern warf die Badezimmertür hinter sich zu, leg-
te – obwohl er ganz genau wußte, wie wenig es nutzte – den Riegel vor und blieb Augenblicke lang schweratmend und am ganzen Leib zitternd gegen die Tür gelehnt stehen. Dann ging er langsam zum Waschbecken, schöpfte sich Wasser ins Gesicht und genoß für einen Moment die Kälte, war sie doch ein wirkliches Gefühl, zwar unangenehm, aber doch von dieser nicht von jener anderen, alptraumhaften Schreckenswelt, die sich mehr und mehr in die Wirklichkeit zu mischen begann. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, als er den Kopf hob und sich selbst im Spiegel betrachtete. Die Wunde an seiner Stirn hatte aufgehört zu bluten, und er sah jetzt, daß es wirklich nur ein kaum fingernagelgroßer Riß war. Trotzdem hatte er mit einem Male das Gefühl, ein Stigma zu tragen. Das Pergament hatte sein Blut getrunken! Es stahl ihm nicht nur die Seele, es zwang ihn nicht nur, Dinge zu schreiben, die er nicht einmal verstand, es schlich sich wie ein bizarrer Vampir mehr und mehr in sein Leben, und vielleicht würde er eines Morgens nicht mehr aufwachen, um die Fortschritte seiner unheimlichen nächtlichen Arbeit zu begutachten, sondern tot über der letzten Seite dieses furchtbaren höllischen Buches liegen, mit geöffneten, aber leeren Adern, deren Inhalt dieses Ding getrunken hatte, wie es zuvor seine Seele ausgesaugt hatte. Für einen Moment wurde die Vorstellung so übermächtig, daß er am ganzen Leib zu zittern begann. Saurer Speichel sammelte sich unter seine Zunge, und er spürte, wie ein immer heftiger werdendes Gefühl von Übelkeit aus seinem Magen emporstieg. Fast in der gleichen Sekunde begriff er, daß es keine körperliche Schwäche war, die er fühlte, sondern daß ihm zum ersten Mal im Leben buchstäblich schlecht vor Angst wurde. Es klopfte an die Tür. Im ersten Moment hörte er es nicht einmal, denn sein eigenes Herz hämmerte so heftig, daß es in seinen Ohren dröhnte wie Paukenschläge. Aber dann wiederholte sich das Klopfen, und es war lauter und energischer, und
eine Sekunde später drang die Stimme seiner Tante durch das Holz: »Ist alles in Ordnung mit dir?« Mit aller Macht zwang er sich, den Blick zu heben und sein Spiegelbild anzusehen, klammerte sich an jede Linie, jedes winzige, bekannte Detail des Konterfeis auf dem silberbeschichteten Glas, starrte es an, bis ihm die Augen schmerzten, als bedürfe es der Normalität dieses Anblicks, um seinen Verstand davor zu bewahren, endgültig über die Klippe zu gleiten, hinter der der Sturz in den schwarzen Abgrund des Wahnsinns lauerte. Wieder klopfte seine Tante an die Tür, und diesmal konnte er den Unterton von Panik in ihrer Stimme nicht länger ignorieren. »So antworte doch! Fühlst du dich nicht wohl? Soll ich den Arzt kommen lassen?« Er raffte jedes bißchen Kraft zusammen, das er noch in sich fand, und brachte irgendwie das Kunststück fertig, seine Stimme sogar in seinen eigenen Ohren halbwegs normal klingen zu lassen. »Es ist schon gut«, sagte er. »Mir fehlt nichts.« »Bestimmt?« Tante Sally klang alles andere als überzeugt. »Bestimmt«, versicherte er. »Geh nur schon nach unten und bereite den Tee vor. Ich komme sofort nach.« Noch einmal verging ein Moment, bis sich die Schritte seiner Tante wieder von der Tür entfernten. Aber er wartete noch einige Augenblicke, ehe er es wagte, sich mit einem erleichterten Aufatmen herumzudrehen und den Riegel zurückzuschieben. Der Schritt hinaus in den Flur war wie das Erwachen aus einem bösen Traum. Aus den Schatten wurden wieder Schatten, nicht mehr und nicht weniger, aus dem dumpfen Dröhnen in seinen Ohren wieder seine eigenen Herzschläge, und die unheimliche Kälte wurde wieder zur angenehmen Kühle des Morgens, die sich in das Haus geschlichen hatte. Auf der obersten Stufe blieb er noch einmal stehen und sah sich um, und mit einem Male kam ihm sein eigenes Betragen geradzu lächerlich vor. Wer war er eigentlich, sich von einem
kleinen Unglücksfall, der bei genauerer Betrachtung wohl einzig und allein seiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben war, an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treiben zu lassen? Lächerlich! Er benahm sich wie ein verschrecktes Kind, nicht wie ein erwachsener, aufgeklärter Mann! Vielleicht hatte seine Tante wirklich recht, und er war schlicht und einfach überarbeitet. Er schüttelte nochmal den Kopf, wie um sich selbst zu beruhigen, und zwang sich dazu, die Treppe mit gemessenen, nun schon wieder fast übermütig langsamen Schritten hinunterzugehen. Ganz flüchtig schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es vielleicht besser wäre, noch einmal kehrt zu machen und die Tür zu seinem Arbeitszimmer zu schließen, aber ihm fielen im gleichen Augenblick ein Dutzend Gründe ein, warum das nicht nötig war; ebenso wie ihm ein Dutzend Begründungen dafür einfielen, daß er diese Gründe nicht vorschob, weil er etwa Angst davor hätte, umzukehren und noch einmal in dieses Zimmer zurückzugehen. Tante Sally saß tatsächlich bereits am Tisch und hatte das Frühstück für sich und ihn vorbereitet, als er das Zimmer betrat. Und sie versuchte sogar, möglichst unbefangen und heiter auszusehen, als er den Tisch umkreiste und sich auf dem Stuhl ihr gegenüber niederließ. Sie sagte kein Wort, aber ihr Blick sprach Bände. »Es war wirklich nichts, Tante Sally«, sagte er, eine Frage beantwortend, die sie noch gar nicht gestellt hatte, die er aber überdeutlich in ihren Augen las. »Ich ... ich habe mir eine kleine Verletzung zugezogen, das ist alles.« Er deutete auf die Rißwunde an seiner Stirn. »Wie ist das passiert?« fragte Tante Sally erschrocken. »Ich war ungeschickt.« Er zuckte mit den Achseln, hob mit einem dankbaren Nicken seine Tasse über den Tisch, um sich Tee eingießen zu lassen, und versuchte, die Spannung mit einem Scherz zu brechen. »Ich sollte besser nicht versuchen,
mich als Fotograf durchs Leben zu schlagen. Ich sage ja immer – der technische Fortschritt ist der Schlüssel zum Tor der Dekadenz.« »Wie kann man sich an einem Fotoapparat verletzen?« fragte Tante Sally ernst. »Oh, das geht schon«, antwortete er mit einem neuerlichen Lächeln – das ebenso verunglückte wie das erste. »Man muß sich nur hinreichend Mühe geben.« Seine Tante seufzte, griff nach ihrer Tasse und stellte sie nach einer Sekunde wieder auf den Tisch zurück, ohne getrunken zu haben. »Ich muß mit dir reden«, sagte sie. »Tust du das nicht schon die ganze Zeit?« »Ich meine es ernst«, fuhr Tante Sally fort. »Das geht so nicht weiter.« Sie hob rasch und in einer überraschend energischen Geste die Hand, als er sie unterbrechen wollte, und fuhr in ebenso energischem, völlig ungewohntem Tonfall fort: »Ich weiß, du bist alt genug, um selbst zu wissen, was für dich gut ist und was nicht. Und ich bin nicht deine Mutter oder deine Frau, sondern nur eine alte Tante, die vielleicht schon ein wenig senil zu werden beginnt und manchmal Dinge vergißt oder durcheinanderwirft. Aber ich habe Augen im Kopf, und Ohren, um zu hören.« Er antwortete nicht, denn er ahnte, worauf seine Tante hinauswollte. Er war alarmiert. Diese Art zu reden paßte so wenig zu seiner Tante und gleichzeitig machte sie ihm klar, wie bitter ernst sie das meinte, was sie ihm zu sagen hatte, denn die komplizierte Wahl ihrer Worte war keinesfalls Zufall, nahm sie ihm damit doch von vornherein alles, womit er das Nachfolgende vielleicht einfach hätte beiseitefegen können, wie es manchmal seine Art war. »Ich dachte immer, daß ich und meine Schwester sicher vor dir sterben würden«, fuhr sie nach einer angemessenen Pause fort. Sie trank nun doch von ihrem Tee, ließ Howard dabei aber keinen Sekundenbruchteil aus den Augen. »Aber jetzt bin ich
nicht mehr sicher, daß das wirklich so ist.« »Hast du einen Jungbrunnen entdeckt?« fragte er scherzhaft. »Nein. Aber du einen Weg, in drei Tagen um die gleiche Anzahl von Dekaden zu altern«, antwortete sie ernst. »Du warst gerade im Badezimmer. Ich nehme an, du hast dabei in den Spiegel gesehen.« »Sicher«, antwortete er. »Ich gebe dir recht. Ich fühle mich tatsächlich seit einigen Tagen nicht sehr wohl. So etwas kommt vor.« »Nicht so«, beharrte Tante Sally. Plötzlich lächelte sie. »Willst du mir nicht einfach sagen, was mit dir los ist? Dich bedrückt doch etwas.« Sie zögerte einen Moment, dann bewegte sich ihre Hand über den Tisch und griff mit einer vertrauten Geste nach seinen Fingern. »Ist es wegen Sonia?« fragte sie. »Ich weiß, es ist schon zwei Jahre her, aber manchmal heilt die Zeit keine Wunden, sondern macht sie nur tiefer.« Einen Moment lang war die Verlockung groß, einfach ja zu sagen und damit alle anderen unangenehmen Fragen zu umgehen. Aber er tat es nicht. Zum einen wäre es nicht die Wahrheit gewesen, und er mochte Sally nicht belügen; nicht einmal jetzt. Und zum anderen wußte er, daß sie es gespürt hätte. Für ein paar Sekunden hielt er die Hand still, dann drückte er rasch ihre Finger und zog den Arm zurück. »Es ist nicht wegen Sonia«, sagte er. »Ich ... habe gewisse Schwierigkeiten mit der Arbeit, mit der ich zur Zeit beschäftigt bin.« »Hast du Ärger?« »Keineswegs«, antwortete er überzeugend. »Aber es ... läuft nicht so, wie ich es gerne hätte. Ich habe das Gefühl, die Geschichte fertig in mir zu haben, weißt du? Sie will hinaus, aber sie kann nicht. Und das raubt mir den Schlaf.« Überzeugt war Tante Sally keineswegs, wie ihr Gesichtsausdruck bewies. Aber sie schien sich zumindest für den Moment mit dieser Erklärung zufrieden zu geben, denn sie sagte nichts
mehr, sondern seufzte nur, und er selbst trank einen Schluck von seinem Tee und zog anschließend die erste Zeitung aus dem Stapel um das übliche Zeremoniell des Frühstücks zu beginnen. Er schlug die Zeitung auf – erst später erzählte ihm seine Tante, daß er so zielsicher nach dieser Zeitschrift gegriffen und diese Seite aufgeschlagen hatte, als hätte er gewußt, wonach er suchen mußte –, überflog den Artikel mit einem einzigen raschen Blick ... und erstarrte. Es war die MORNING POST, und es war ein Artikel, der in Inhalt und Wortlaut fast identisch mit den beiden vorhergegangen war, nur daß Jenkins ihn diesmal noch hämischer abgefaßt hatte; in einem Tonfall, der selbst für diese Gazette erstaunlich war, obwohl man die MORNING POST nun weiß Gott nicht wegen der überragenden Bildung ihrer Durchschnittsleser erwähnt hätte. Aber das war es nicht, was ihn so erschreckte. Es war auch nicht die Tatsache, daß Jenkins diesen Artikel verfaßt hatte, unbeschadet des kleinen Schmierentheaterstückes, das er eigens für ihn inszeniert hatte. Der Artikel berichtete von einem dritten Mann, der am hellen Tage und vor Dutzenden von Zeugen von einem unsichtbaren Ungeheuer getötet und buchstäblich in Stücke gerissen worden wäre. Aber auch das war es nicht, was ihn so heftig zusammenfahren ließ, daß seine Tante erschrocken aufsah. Es waren zwei Worte in dem Bericht. Perrins und Lloyd. Perrins war die kleine Stadt, in der sich das Entsetzliche zugetragen haben sollte, und sie lag nicht einmal eine Stunde von Providence entfernt, so daß ihm ihr Namen durchaus geläufig war, während Lloyd der Name des unglückseligen dritten Opfers des Unsichtbaren war. Aber auch diesen Namen kannte er. Er hatte ihn und den Namen der Stadt in diesem furchtbaren Manuskript gelesen, in den wenigen Augenblicken, in dem er es
wirklich hatte sehen können! »Was hast du?« fragte Tante Sally alarmiert. Er hörte es nicht einmal. Sein Herz klopfte so heftig, daß jeder einzelne Schlag weh tat, und seine Hände hatten die Zeitung mit solcher Kraft gepackt, daß seine Fingernägel das Papier zerrissen. »Was ist los mit dir, um Gottes willen?« Tante Sally stand auf, kam halb um den Tisch herum und blieb wieder stehen, als er den Blick von der Zeitung hob und sie ansah. Er spürte selbst, wie entsetzt seine Augen aufgerissen waren, wie er die Kontrolle über seine Mimik verlor, und plötzlich wich auch aus ihrem Gesicht alle Farbe. »Nichts«, murmelte er. »Es ist ... nichts.« Er schluckte, um den sauren Speichel herunterzuwürgen, der plötzlich seinen Mund füllte, und für einen winzigen Moment glaubte er abermals, die körperlose Kälte und den fürchterlichen Gestank wahrzunehmen, bildete sich ein, das Geräusch schwerer, stampfender Schritte zu vernehmen, unter denen das ganze Haus erbebte, die das Glas in den Scheiben klirren und das Geschirr auf dem Tisch auf und ab hüpfen ließen. Aber als er erschrocken den Blick wandte, da zitterte nicht einmal die Oberfläche der Flüssigkeit in seiner Tasse. Diesmal war es nur seine eigene, überreizte Phantasie, die ihm einen bösen Streich spielte und ihm Dinge vorgaukelte, die es nicht gab. Aber vielleicht war diese Formulierung falsch. Vielleicht mußte es heißen: Dinge, die es noch nicht gab, dachte er voller kaltem Grauen. Vielleicht war das, was er für Visionen hielt, nichts anderes als die Vorboten dessen, was kommen würde. »Ich rufe Dr. Perkins«, sagte seine Tante entschlossen und machte auf der Stelle kehrt, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. »Nein!« Mit einem Satz sprang er auf, warf die Zeitung auf den Tisch und eilte hinter ihr her, blieb aber dann mitten in der Bewegung stehen, als auch sie innehielt und sich zu ihm her-
umdrehte und ihn mit einem Blick ansah, in dem plötzlich nicht nur Furcht um ihn, sondern auch vor ihm mitzuschwingen schien. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich ...« Er wankte. Plötzlich fühlte er sich so schwach, daß er sich an der Tischkante festhalten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, dann sank er mit einem stöhnenden Laut auf einen Stuhl nieder. Alles drehte sich um ihn. Mit einem erschrockenen Laut war seine Tante bei ihm, ergriff seinen Arm, als er zu stürzen drohte, und ließ ihn erst los, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß er sicher auf dem Stuhl und gegen die Rückenlehne gestützt dasaß. »Rühr dich nicht«, sagte sie. »Ich hole den Doktor.« Er wollte sie daran hindern, aber selbst dazu fehlte ihm die Kraft. Er registrierte wie seine Tante das Zimmer verließ und Augenblicke später die Haustür draußen ins Schloß fiel. Es war alles wahr! Alles, was er geschrieben hatte, alles, was er noch schreiben würde, all diese furchtbaren Geschichten von den Großen Alten und anderen, namenlosen Schrecken, die von den Sternen gekommen waren, um die Erde zu verheeren und sich ihre Bewohner Untertan zu machen, all die düsteren Geheimnisse, die er nur ersonnen zu haben glaubte, all die äonenalten Flüche, sie alle waren wahr! Nach einer Weile klärte sich der Nebel in seinem Kopf. Er fühlte sich noch immer schwach, und sein Herz schlug noch immer so hart, daß er es bis in die Fingerspitzen fühlen konnte. Er war am ganzen Leib in kalten Schweiß gebadet. Allein die Anstrengung, sich an der Tischkante festzuhalten und in die Höhe zu stemmen, überstieg fast seine Kräfte, und trotzdem quälte er sich weiter, verließ das Zimmer und zwang sich, Stufe für Stufe die Treppe hinaufzuwanken, wobei er sich mit beiden Händen am Geländer festhalten mußte, um nicht zu stürzen. Er spürte eine Angst wie niemals zuvor in seinem Leben, als er sich der offenstehenden Tür seines Arbeitszimmers näherte.
Aber er mußte es tun. Er mußte dort hinein und dieses fürchterliche Manuskript vernichten, selbst wenn es das letzte war, was er in seinem Leben tat. Und er mußte es tun, bevor Tante Sally mit dem Arzt zurückkam. Wieder schien sich das ganze Haus um ihn herum zu drehen, und die Tür zu seinem Arbeitszimmer verschwamm für einen Moment vor seinen Blicken. Er hatte eine grauenhafte Vision: Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Tür keine Tür, sondern das aufgerissene Maul eines Ungeheuers zu sein, der Raum dahinter kein Zimmer mehr, sondern ein rötlich glühender, zuckender, sich windender lebender Schlauch, von dessen Wänden pulsierende Tentakel und blutige Fleischlappen hingen, die schmatzende Geräusche von sich gaben. Ein bestialischer Gestank schlug ihm entgegen, und in der Tiefe dieses höllischen Schlundes schien sich etwas zu bewegen, etwas Großes, Dunkles, Formloses, widerwärtig Pumpendes. Und für den gleichen winzigen Moment wußte er mit unerschütterlicher Sicherheit, daß er sterben würde, wenn er diesen Höllenschlund betrat. Daß es kein Zurück mehr gab für den, der freiwillig in den aufgerissenen Rachen dieser Bestie hineinging. Trotzdem wankte er weiter. Er mußte dieses Ding vernichten, jede Spur dieses höllischen Manuskriptes tilgen, ehe seine Tante zurückkam und es fand; ehe irgend jemand es fand. Aber seine Kräfte reichten nicht mehr. Die fürchterliche Vision verging, die Tür vor ihm war wieder eine Tür und das Zimmer dahinter wieder der gleiche Raum, wie er ihn seit Jahren kannte, aber als er den Fuß über die Schwelle setzte, da fühlte er, wie jedes bißchen Energie aus seinem Körper wich, als sauge ihn etwas aus wie eine Spinne den Körper ihres Opfers. Ein heftiges, fast schon schmerzhaftes Schwindelgefühl breitete sich in seinem Kopf aus. Haltsuchend griff er um sich, verfehlte mit wirbelnden Händen den Türrahmen und machte einen ungeschickten, stolpernden Schritt ins Zimmer hinein, ehe
er vollends die Kontrolle über seinen Körper verlor und der Länge nach hinstürzte, wobei er den Fotoapparat auf seinem Dreibein umriß. Das Klirren, mit dem das empfindliche Instrument auf dem Boden zerbrach, hörte er schon kaum noch. Trotzdem verlor er nicht das Bewußtsein. Er lag da, zu schwach, um die Augen zu öffnen oder auch nur ein Stöhnen von sich zu geben, aber er war wach, und nach einer Weile hörte er, wie unten im Haus die Tür wieder geöffnet wurde und die Schritte seiner Tante und einer zweiten Person durch den Flur hallten und dann die Treppe heraufkamen. Für einen winzigen Moment wurde seine Angst so groß, daß sie ihm noch einmal die Kraft gab, die Augen zu öffnen. Von seiner Position am Boden aus konnte er die Schreibtischplatte nicht sehen, wohl aber das unheimlich kalte grüne Licht, das etwas darauf ausstrahlte. Das Manuskript! Sie durften es nicht finden! Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung wälzte er sich herum, krallte die Hände in den Teppich und versuchte, sich in die Höhe zu stemmen. Es gelang ihm, den Oberkörper um einige Zentimeter zu heben, aber dann versagten seine Kräfte, und er fiel schwer aufs Gesicht. Der Schmerz trieb ihn abermals an den Rand der Bewußtlosigkeit. Er wurde auch jetzt nicht ohnmächtig, aber er glitt doch eine ganze Weile durch eine Welt aus grauem Nebel und Schwäche, und seine Sinne waren so getrübt, daß er nichts mehr von dem registrierte, was um ihn herum oder mit ihm geschah, denn das Nächste, was er bewußt wahrnahm, war die Kälte des Stethoskopes, das Dr. Perkins auf seine nackte Brust drückte. Er lag auf dem Rücken auf der schmale Chaiselongue in seinem Arbeitszimmer, und Perkins saß auf dem Rand neben ihm und hatte sich über ihn gebeugt. Die Enden des Stethoskopes hatte er in die Ohren gesteckt und lauschte aufmerksam auf seinen Herzschlag.
Als Perkins merkte, daß er die Augen geöffnet hatte, richtete er sich auf, lächelte ebenso beruhigend wie berufsmäßig und nahm das Stethoskop aus den Ohren. »Sie sind wieder bei Sinnen«, sagte er. »Das ist gut.« »Was ist ...« Howard wollte sich aufrichten, aber Dr. Perkins legte ihm rasch die Hand auf die Brust und drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Er hatte ohnehin nicht die Kraft gehabt, aufzustehen. »Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, bester Freund«, sagte Perkins. »So weit ich das im Moment feststellen kann, fehlt Ihnen nichts Ernstes.« Das Manuskript! Howard war noch immer zu schwach, sich aufzurichten, aber er wandte erschrocken den Kopf und blickte zu seinem Schreibtisch. Die drei Pergamentblätter lagen dort, wie er sie zurückgelassen hatte. Aber das unheimliche Leuchten war erloschen. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Dr. Perkins. »Schlecht«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ich fühle mich ... sehr schwach.« Dr. Perkins nickte. »Das wundert mich nicht im Geringsten, nach dem, was Ihre Tante mir erzählt hat, mein Lieber«, sagte er, nunmehr im Tonfall eines Arztes, der einem uneinsichtigen Patienten ins Gewissen zu reden versuchte. »Sie richten sich zugrunde, ist Ihnen das klar?« Gegen seinen Willen mußte Howard lächeln. »Das hat mit heute schon einmal jemand gesagt«, antwortete er. Perkins nickte. »Und mit Recht. Natürlich muß ich Sie erst genauer untersuchen, um eine präzise Diagnose stellen zu können, aber soviel kann ich bereits, jetzt sagen: Sie sind völlig entkräftet. Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen? Vor einer Woche? Oder zwei?« »In der vergangenen Nacht«, antwortete er. »Es fällt mir schwer, das zu glauben«, sagte Perkins. »Sie machen auf mich eher den Eindruck eines Mannes, der sich seit
Tagen gewaltsam wachhält. Und Ihre Tante berichtet mir, daß Sie die halbe Nacht am Schreibtisch sitzen und die andere Hälfte damit verbringen, in Ihrem Zimmer auf und ab zu gehen.« »Das tue ich seit Jahren«, widersprach er. »Und schlafen dafür am Tage, ich weiß«, sagte Perkins. »Aber Sie gewöhnen sich allmählich den Schlaf ab, lieber Freund. Man kann nicht die Nacht zum Tage machen, ohne den Tag dafür zur Nacht zu machen. Außerdem scheint es mir, als beschäftigten Sie sich etwas zu intensiv mit all diesen unheimlichen Dingen, über die Sie so gerne schreiben.« Howard blickte fragend, und Perkins fuhr mit einem Lächeln fort: »Ist einer dieser kleinen blutsaugenden Vampire aus Ihren Geschichten lebendig geworden?« Er mußte bei diesen Worten wohl kreidebleich geworden sein, denn er sah, wie Perkins’ Lächeln wie weggewischt erlosch, und sich an seiner Stelle ein betroffener Ausdruck auf seinem Gesicht breit machte. »Entschuldigung«, sagte Perkins. »Das war unhöflich. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber im Ernst, mein Freund – Sie sind vollkommen anämisch.« Seine Tante blickte fragend, und Perkins fügte mit erklärender Geste und an sie gewandt hinzu: »Blutarm.« Dann drehte er sich wieder zu seinem Patienten herum. »Ich sehe da eine kleine Wunde an Ihrer Stirn, die recht frisch zu sein scheint. Haben Sie sich verletzt?« Howard hob die Hand und legte die Finger auf den winzigen Kratzer an seinem Kopf, als wolle er ihn instiktiv verbergen. »Das ist nichts.« »Das zu beurteilen überlassen Sie besser mir«, sagte Perkins mit gespielter Strenge. »Ich bin der Arzt hier.« Er schob seine Hand beiseite und musterte einen Moment lang aus eng zusammengekniffenen, kurzsichtigen Augen die Wunde. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber in diesem Fall scheinen Sie recht
zu haben. Es ist wirklich nur ein Kratzer. Aber wenn ich es nicht besser wüßte, dann würde ich behaupten, daß Sie vor nicht allzu langer Zeit sehr viel Blut verloren haben. Haben Sie sich eine schwerere Verletzung zugezogen, heute oder gestern?« »Ich habe das Haus seit gestern mittag nicht verlassen«, antwortete Howard wahrheitsgemäß. Perkins betrachtete ihn nun besorgt. »Dann wird es wirklich Zeit, daß ich Sie etwas genauer untersuche«, sagte er. »Fürs erste verordne ich Ihnen zwei Tage strenge Bettruhe, und kräftiges, blutbildendes Essen und Trinken.« Er klappte seine schwarze Arzttasche auf, ließ das Stethoskop darin verschwinden und nahm einen Block und einen Bleistiftstummel heraus. »Ich schreibe Ihnen hier ein Medikament auf, das Ihnen Ihre Tante aus der Apotheke besorgen wird. Nehmen Sie dreimal am Tag zwei Teelöffel, in heißem Tee oder Wasser aufgelöst. Wenn Sie sich schwächer fühlen, rufen Sie mich sofort. Wenn nicht, erwarte ich Sie in zwei Tagen in meiner Praxis, um Sie genau zu untersuchen.« »Aber es war doch nur ein kleiner Schwächeanfall«, begann Howard, wurde aber sofort wieder von Perkins in strengem Tonfall unterbrochen. »Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte mir, mein Freund. Die Gräber aller Leute aneinandergereiht, die glaubten, schlauer zu sein als ihre Ärzte, ergäben eine Kette von hier bis zum Mond und wieder zurück. Ich erwarte Sie also übermorgen – ausgeschlafen und ausgeruht. Verstanden?« Widerstrebend nickte Howard. Der logische Teil seines Verstandes sagte ihm, daß Perkins völlig recht hatte. Und er fühlte sich tatsächlich immer schlechter, in den letzten Tagen. Schon vor diesem Morgen hatte er gespürt, wie seine Kräfte nachzulassen begannen, allmählich, aber stetig schwanden. Aber gleichzeitig wußte er auch, daß er nicht in Perkins’ Praxis erscheinen würde, um sich untersuchen zu lassen. Ganz ein-
fach, weil ihm nicht mehr so viel Zeit blieb. Irgend etwas würde geschehen. Etwa Furchtbares. Und es würde bald geschehen. Sehr bald.
Vorsichtig hatte er das Manuskript vom Bett genommen und zum Tisch getragen. Der übelriechende schwarze Teerschlamm besudelte seine Finger und seine Jacke und hatte eine Spur aus dunklen stinkenden Tropfen auf dem Boden hinterlassen. Aber auf den Blättern des Manuskripts war nichts davon zu erkennen. Genaugenommen waren es keine Blätter, so wenig, wie die Schrift darauf eine Schrift war. Obgleich er es so lange in der Hand gehalten, jede einzelne Seite mit einem Teil seiner Seele gefüllt hatte, wußte er nicht einmal, woraus es bestand. Manchmal glaubte er, es wäre Kristall, so fein und dünn geschliffen, daß man ein Dutzend davon übereinander legen konnte, ohne die halbe Stärke eines Haares zu erreichen, dabei aber so hart wie bester Solinger Stahl und mit messerscharfen Kanten, die schon bei der flüchtigsten Berührung in seine Haut schnitten, so daß dieses fürchterliche Buch stets genug Nahrung bekam. Dann wieder hatte er das Gefühl, es lebe irgendwie, etwas, das auf unheimliche Weise wogte und zitterte, wenn die Spitze seiner Feder es berührte, und auch die Schrift darauf schien sich manchmal zu verändern, sich neu zu ordnen, als wären die Worte selbst zu düsterem Leben erwacht und wuchsen allmählich zu etwas Neuem, Gräßlichem heran, das in seiner Gesamtheit größer als die Summe seiner Teile und un-
gleich verheerender war. Obwohl er sehr vorsichtig war, schnitt er sich auch diesmal an der Kante des obersten Blattes, als er das Manuskript auf den Tisch legte. Ein einzelner Blutstropfen quoll aus seinem Daumen, berührte das in kaltem grünen Licht schimmernde Kristallblatt und versickerte darin wie Wasser in einem ausgetrockneten Schwamm. Schaudernd trat Howard zurück, preßte den zerschnittenen Daumen gegen seine Lippen und wartete, bis der Druck die Blutung zum Stillstand gebracht hatte – wandte sich dann wieder zum Bett um. In der schwarzen, teerigen Masse waren noch andere Dinge, Dinge, die sich bewegten und wanden, die zitterten und waberten und ihn aus gräßlichen pupillenlosen Augen anstarrten. Lebende Dinge. Dinge aus ihrer Welt, die sich an ihn geklammert und sein Erwachen als Tür in die Wirklichkeit genutzt hatten. Ihr bloßer Anblick bereitete ihm Übelkeit. Und nicht wenige davon waren so bizarr, daß er sie mit Blicken gar nicht zu erfassen vermochte. Aber er wußte, daß sie nicht lange überleben würden. Sie konnten in dieser Welt so wenig existieren wie er in der ihren, ohne etwas, das sie schützte. Doch daß sie überhaupt noch lebten, erschreckte ihn zutiefst, zeigte es ihm doch, wie nahe sie schon waren. Er blickte zum Fenster, und wieder glaubte er einen schrecklichen Moment lang, einen grauen Schimmer im Osten zu sehen, und wieder begriff er, daß ihn nur seine eigene Furcht narrte. Noch nicht. Sie waren noch nicht bereit, weil er noch nicht bereit war. Er mußte es noch einmal erleben, sich an jeden Moment noch einmal erinnern, um allen Schrecken und alles Entsetzliche noch einmal durchleben und – leiden, bis sein Schmerz groß genug war, um ihnen Nahrung zu geben.
Eigentlich ohne daß er es wollte, gehorchte er Dr. Perkins Anweisungen zumindest für den Rest des Tages. Er fühlte sich einfach zu schwach, um sich von seinem Krankenlager zu erheben. Und seine Tante erwies sich als sehr aufmerksame – und unerbittliche! – Krankenschwester, die ihn nur allein ließ, wenn es gar nicht anders ging, und nur einmal länger als fünf Minuten von seiner Seite wich, um das Medikament aus der Apotheke zu holen, das Perkins ihr aufgeschrieben hatte. Howard nutzte diese eine, winzige Frist, um sich zu seinem Schreibtisch zu schleppen und die drei Manuskriptblätter fortzuräumen, ehe seine Tante sie genauer betrachten konnte. Er glaubte zwar nicht, daß das, was darauf geschrieben stand, für sie irgendeinen Sinn ergäbe. Aber er wollte nicht, daß sie es auch nur sah. Er spürte, daß dieses Buch, das da unter seinen Händen entstand nein, das war falsch: das sich von ihm erschaffen ließ –, böse war, die Essenz alles Schlechten und Verdorbenen, das die finsteren Kräfte des Universums je geboren hatten, und daß schon ein flüchtiger Blick darauf reichte, den Betrachter zu infizieren, wie mit dem Keim einer schleichenden, unheilbaren Krankheit. Da er wußte, daß seine Tante ein sehr aufmerksamer Beobachter war, ersetzte er die drei Blätter durch drei andere, mit harmlosen Notizen beschriebenen Seiten aus seinem Schreibtisch, ehe er mit letzter Kraft wieder zur Couch zurückwankte und sich darauf fallen ließ, um auf der Stelle einzuschlafen. Als er erwachte, saß seine Tante neben ihm, zählte drei Löffel aus einer braunen Glasflasche ab, die sie in der Hand hielt, und gab sie in eine Tasse mit dampfendem Tee. Er wollte die Medizin nicht trinken, wußte er doch, daß die Krankheit, die ihn aufzehrte, keine Krankheit war, und wenn doch, so eine von einer Art, gegen die alle menschliche Medizin machtlos war. Aber seine Tante bestand darauf, daß er sie nahm, und er war viel zu schwach, um sich mit ihr zu streiten. So schluckte er den durch die Beimengung bitter schmeckenden Tee tapfer
herunter, und nur, um Tante Sally einen Gefallen zu tun, löffelte er später eine Tasse der heißen Hühnerbrühe, die sie ihm brachte. Aber sein Magen revoltierte, und um ein Haar hätte er alles wieder von sich gegeben, so daß Tante Sally nicht darauf bestand, daß er noch mehr aß. So verging der Tag. Als der Abend dämmerte, begannen lange, graue Schatten wie dürre Spinnenbeine ins Zimmer zu kriechen. Er begann, sich unwohler zu fühlen, obwohl seine Kräfte allmählich zurückkehrten. Als es schließlich vollends dunkel geworden war, fühlte er sich von einer kribbelnden, unangenehmen Energie erfüllt, als kröchen Millionen kleiner fressender Termiten durch seinen Körper, die es ihm unmöglich machten, weiter still zu liegen. Seine Tante protestierte energisch, aber er ignorierte sie und bestand im Gegenteil darauf, daß sie das Zimmer verließ. Er wollte nicht, daß sie hier war, wenn die Sonne nicht schien. Er wollte nicht, daß sie nachts hier war, denn die Nächte gehörten dem furchtbaren Buch, und er wagte sich nicht vorzustellen, was geschähe, setzte er sich in dieser Nacht nicht hinter seinen Schreibtisch, um daran weiter zu arbeiten. Doch an diesem Abend zeigte sich seine Tante das erste Mal stärker als er. Obwohl er mit großem Nachdruck verlangte, daß sie ging, und schließlich unhöflich und grob wurde, erntete er, stets nur ein Kopfschütteln, und am Ende gab er auf. Vielleicht würde er in dieser Nacht ja nicht schreiben. Vielleicht hatte ihm Perkins völlig unbeabsichtigt den Schlüssel gegeben, um diesen Alptraum zu beenden. Wie es schien, arbeitete er nur an dem Manuskript, während er schlief. Und vielleicht würde eine Nacht ja reichen, die furchtbare Kette zu zerbrechen. Vielleicht würde es reichen, einen einzigen Abend nicht-weiter an jenem entsetzlichen Buch zu schreiben und wach zu bleiben. So gab er nach, ließ sich wieder zurücksinken und bat seine Tante, ihm ein bestimmtes Buch vom Regal zu holen. Sie wandte ein, daß er besser schlafen sollte, aber er meinte, daß er
noch nicht wirklich müde sei, und vielleicht würde es helfen, noch ein wenig zu lesen. Der Gesichtsausdruck seiner Tante bezweifelte diese Annahme, aber sie stand schließlich doch gehorsam auf und brachte ihm den verlangten Band, ehe sie sich wieder auf den Stuhl setzte, den sie neben sein Krankenlager geschoben hatte. Es war ein Buch, das er schon kannte und nicht einmal für besonders gut, geschweige denn interessant hielt. Trotzdem zwang er sich, jeden Satz sehr aufmerksam zu lesen und über jeden Abschnitt noch einmal in Ruhe nachzudenken, machte dann und wann eine Bemerkung zu seiner Tante oder las ihr das eine oder andere vor, um sie in kleine Diskussionen über den Stil und Inhalt des Buches zu verwickeln. Tante Sally interessierte sich nicht sonderlich für Literatur, schon gar nicht für die Art von Literatur, die er bevorzugte, aber sie ging zum Schein auf seine Fragen ein, und so vergingen die Stunden, und obwohl es ihm immer schwerer fiel, die Augen offenzuhalten, schöpfte er doch bald Hoffnung, bis zum nächsten Morgen durchzuhalten. Er las weiter dann und wann aus dem Buch vor, stellte eine Frage oder gab selbst Antwort – und fand sich urplötzlich in einer halb sitzenden Stellung, das aufgeschlagene Buch auf den Knien liegend und mit schmerzendem Nacken in einem von hellem Sonnenlicht erfüllten Zimmer wieder! Erschrocken fuhr er herum und sah sich um. Der Stuhl, auf dem seine Tante gesessen hatte, war leer. Der Intensität des Sonnenlichts nach zu schließen mußte es später Vormittag sein. Er konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein! Konzentriert durchforstete er seine Erinnerung, aber da war nichts von dem allmählichen Versickern der Gedanken, als welches man sich an das Einschlafen manchmal erinnerte, nichts von dem Gefühl vergangener Zeit, das man manchmal nach dem Erwachen hatte. Statt dessen fühlte er eine rein körperliche Müdigkeit und Schwäche, als wäre er die ganze Nacht aus Leibeskräf-
ten gerannt. Unsicher schwang er die Beine von der Couch, stand auf – und stöhnte halblaut, als sein Blick auf den Schreibtisch fiel. Auf der polierten Mahagoniplatte lagen elf vergilbte, engbeschriebene Seite. Hatte er wirklich geglaubt, es sei so leicht? Hatte er wirklich gedacht, daß dieses Ding es zuließ, daß er es überlistete? Einen Moment lang kam es ihm absurd vor, daß er in der Tat so naiv gewesen sein sollte. Natürlich hatte er in dieser Nacht wie in den vorhergehenden weiter an diesem höllischen Buch gearbeitet, hatte eines oder gar mehrere Kapitel hinzugefügt und seine Macht dadurch verstärkt. Unsicher ging er weiter, umkreiste den Schreibtisch und blickte auf das herab, was er geschrieben hatte. Er konnte es jetzt so wenig entziffern wie an den Tagen zuvor, aber die unheimliche, angstmachende Ausstrahlung dieser fürchterlichen Nicht-Worte war dichter geworden, so intensiv, daß er meinte, sie fast berühren zu können. Er wollte nach den Blättern greifen, aber seine Finger zitterten, und er wagte es nicht, sie zu berühren. Nach einer Weile wandte er sich mit einem Ruck um, verließ das Zimmer und atmete erleichtert auf, als er seine Tante unten um Erdgeschoß rumoren hörte. Zumindest war ihr nichts geschehen. Als er weitergehen wollte, fühlte er, wie sich die Haut über seinen Augen spannte. Verblüfft griff er nach oben und ertastete etwas Hartes, Körniges, das sich nicht wie Haut anfühlte. Es war ... Blut? Er zog die Hand zurück und entdeckte tatsächlich winzige Krumen von braun eingetrocknetem Blut unter seinen Fingernägeln. Voller plötzlichem Schrecken ging er an der Treppe vorbei und betrat das Badezimmer, um in den Spiegel zu sehen. Die Wunde an seiner Stirn war wieder aufgebrochen, und sie
mußte sehr heftig geblutet haben, denn die ganze linke Seite seines Gesichtes bis hinab an den Hals war mit einer bräunlich eingetrockneten Kruste bedeckt. Seine Haut hingegen war bleich wie die eines Toten. Auf seinen Wangen lagen bläuliche Schatten, und seine Lippen waren kaum noch zu sehen. Er sah auf seine Hände herab und erkannte, daß auch sie alle Farbe verloren hatten, die Haut nun wirklich weiß war. Perkins’ Worte fielen ihm ein: anämisch. Fast hätte er gelacht. Seltsamerweise empfand er kaum Schrecken, nur eine dumpfe Betroffenheit. Perkins hatte recht, mehr recht, als er wahrscheinlich selbst ahnte. Und er wäre sehr erstaunt gewesen, hätte er gewußt, wie nahe er mit seinem Scherz der Wahrheit gekommen war. Nur, daß es kein Vampir war, keine blutsaugende Fledermaus, die ihn allmählich aushöhlte, sondern etwas viel, viel Schlimmeres. Mit zitternden Fingern drehte er den Wasserhahn auf und wusch sich so gründlich, bis seine Haut blau vor Kälte und nicht mehr die geringste Spur des eingetrockneten Blutes darauf zu sehen war. Dann brachte er das Gesicht ganz nahe an den Spiegel heran und tastete mit den Fingerspitzen über den kleinen Riß in seiner Stirn. Die Wunde war nicht länger geworden, wohl aber tiefer. Ihre Ränder waren so sauber wie die eines Schnittes, der mit einem präzisen chirurgischen Instrument ausgeführt worden war. Als er sie mit Zeige- und Mittelfinger ein wenig auseinanderzog, da klaffte sie auf wie ein winziger, lippenloser Mund. Seltsamerweise empfand er immer noch keine Furcht. Obwohl er sich so schwach fühlte, daß er sich am Waschbecken festhalten mußte, um sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten, wußte er, daß ihm von dieser Wunde keine Gefahr drohte. Nicht, solange das Manuskript nicht fertig war. Es würde weiter sein Blut trinken und sich daran stärken, aber niemals so sehr, daß er wirklich in Gefahr geriet, denn es brauchte ihn. Aber ... wie lange noch?
Er verließ das Badezimmer und ging ins Erdgeschoß hinunter. Seine Tante hatte das Frühstück vorbereitet und erhob keine Einwände, als er darauf bestand, es wie gewohnt hier unten einzunehmen. Aber etwas war anders als sonst: Die Hälfte seiner gewohnten Lektüre fehlte. Neben seiner Teetasse lag die säuberlich sortierte Post des Morgens. Die Zeitungen waren nicht da. Er verlor kein Wort darüber, aber seine Tante schien sein Schweigen als Zustimmung aufzufassen und lächelte. Ihr war natürlich nicht entgangen, daß sein Schrecken in direktem Zusammenhang mit der morgendlichen Lektüre der letzten Tage zusammenhing, und sie hatte auf ihre Art etwas dagegen unternommen. Daß er nicht dagegen protestierte, mußte sie wohl als gutes Zeichen werten. »Ich sehe, du fühlst dich besser«, sagte sie. »Der Schlaf hat dir gut getan.« »Schlaf? Ich kann mich gar nicht erinnern, eingeschlafen zu sein.« »Das bist du aber – praktisch mitten in einem Satz aus diesem furchtbar langweiligen Buch, das du mir vorgelesen hast. Du hast sogar geschlafen wie ein Stein. Ich wollte dich wecken, weil du in einer so unbequemen Haltung dagelegen hast. Aber es ist mir nicht gelungen.« Ihm fiel auf, wie müde auch seine Tante aussah, und er stellte eine entsprechende Frage nach der Anzahl der Stunden, die sie denn in dieser Nacht geschlafen hätte. »Keine einzige«, gestand sie, und fügte hinzu: »Aber das macht nichts. In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf.« »Keine einzige?« wiederholte er zweifelnd. »Ich habe die ganze Nacht neben dir gesessen, für den Fall, daß du doch noch wach wirst«, sagte seine Tante. »Ich bin gerade erst heruntergekommen. Vielleicht vor zwanzig Minuten, aber eher vor zehn.« Verwirrt blickte er seine Tante an. Er glaubte ihr – schließ-
lich, warum sollte sie ihn belügen? Aber wenn sie die Wahrheit sprach – wann hatte er dann diese elf Manuskriptseiten geschrieben? Einen Moment lang blickte er sie noch forschend an, dann trank er einen Schluck Tee und wandte sich anschließend seiner Post zu, die aus der üblichen Sammlung von Briefen von Brieffreunden bestand, wissenschaftlichen Zeitschriften, die er abonniert hatte, der monatlichen Lieferung eines Auftragdienstes, den er dafür bezahlte, ihm Zeitungsausschnitte aus aller Welt über Themen zuzusenden, die in irgendeinem Zusammenhang mit seinen zahlreichen Interessengebieten standen und einem schmalen weißen Briefumschlag, auf dem seine Adresse stand, falsch geschrieben und in einer Handschrift, die fast unleserlich war. Aber es war ohnehin eher der auf dem Umschlag aufgedruckte Absender, der sein Interesse weckte. Miskatonic University of Arkham, Massachusetts Neugierig und ungeduldig benutzte er den Stiel, seines Löffels, um den Umschlag aufzuschlitzen, und nahm das einzelne, gefaltete Blatt heraus, das er enthielt. Der Absender hatte sich weder mit einer Anrede noch sonstigen Förmlichkeiten aufgehalten und nur drei Sätze in sichtlicher Hast darauf gekritzelt: Mr. Beverly übergab mir die Abschrift eines Manuskriptes, das sich in Ihrem Besitz befindet. Ich möchte Sie dringend bitten, mich im Zusammenhang damit schnellstmöglich aufzusuchen oder anderweitig Kontakt mit mir aufzunehmen. Bitte, behandeln Sie die Angelegenheit absolut vertraulich. Ihr ergebener Prof. James Langley Miscatonic University Arkham.
Miskatonic University? Bei Beverly handelte es sich um einen Freund, dem er die Kopie einer Manuskriptseite gegeben hatte, in der Hoffnung, von ihm näheres über Ursprung und Bedeutung der Schrift zu erhalten. Von Professor Langley hatte er nie gehört, wohl aber von der Miskatonic Universität – und wie auch nicht, war sie doch von allem Universitäten im Lande die einzige, an der Spiritismus und die Kunde um das okkulte Wissen der Völker zu den Fächern gehörten, die die Studenten wählen konnten. Howard war zwar noch niemals selbst dort gewesen, was aber eher ein Zufall war. Für einen Moment erfüllte es ihn mit Ärger, daß Beverly sein Vertrauen mißbraucht und die Abschrift gegen seinen Wunsch weitergegeben hatte. Aber gleichzeitig las er aus Langleys Nachricht heraus, wie besorgt der Professor war. »Schon wieder schlechte Nachrichten?« fragte Tante Sally. Er schüttelte den Kopf, faltete das Blatt mit einer betont langsamen Bewegung wieder zusammen und schob es in den Umschlag zurück. »Nein«, sagte er. »Die Antwort auf eine Anfrage, die ich bezüglich eines bestimmten Buches an die Universität gerichtet habe.« Er versuchte enttäuscht zu klingen. »Sie können es nicht beschaffen.« Seine Tante seufzte. »Ich finde, du hast schon genug Bücher.« »Bücher hat man niemals genug«, antwortete er scherzhaft. Und in fast harmlosem Ton fügte er hinzu: »Weißt du zufällig, ob heute noch ein Zug nach Boston fährt?«
Etwas sagte ihm, daß er nicht mehr allein war. Sie waren da; nicht sie selbst, wohl aber ihre Schergen, die
gräßlichen Kreaturen, die ihnen vorauseilten wie zu schmieriger Körperlichkeit geronnene Schatten, Geschöpfe der Dunkelheit und des Irrsinns, wie sie schlimmer kein Alptraum hätte gebären können. Zitternd stand er von seinem Stuhl auf, trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus, die in der Nacht wie eine schwarze Schlucht vor ihm lag, so tief, daß er ihren Grund nicht mehr erkennen konnte. Er war nicht sicher, aber er glaubte, Bewegung dort unten zu gewahren, ein seltsam verkrüppeltes Schleichen und Hasten, als flohen selbst die Schatten vor dem, was in ihnen Schutz gesucht hatte. Schaudernd zog er sich wieder in die trügerische Sicherheit seines Zimmers zurück. Er hatte die Bewegung nicht wirklich gesehen, denn niemand vermochte diese Kreaturen zu sehen, von dem sie sich nicht sehen lassen wollten. Aber er wußte, daß sie da waren, und das allein war vielleicht schlimmer, als hätte er sie wirklich erblickt, denn kein Anblick kann so gräßlich sein wie das, was sich der menschliche Geist in seiner Furcht vorzustellen imstande war. Bald, dachte er. Er hatte Angst.
Trotz der geharnischten Proteste seiner Tante hatte er noch am gleichen Tag den Zug nach Boston bestiegen, und er hatte ein zweites Mal Glück – am dortigen Bahnhof fand er eine abfahrbereite Kutsche, die ihn direkt bis nach Arkham brachte.
Und da er der einzige Passagier und der Kutscher ein überaus freundlicher Mann war, der es genoß, auf der halbstündigen Fahrt ein überraschend gebildetes Gespräch mit seinem Gast zu führen, machte dieser einen Umweg und brachte ihn direkt vor die Tore der Miskatonic-University. Der Campus entpuppte sich als überraschend groß und hell – und sehr sauber. Howard war ein wenig überrascht, auch wenn er diese Überraschung selbst nicht so ganz verstand. Was hatte er erwartet? Ein uraltes, verfallenes Gemäuer, in dem es Spinnweben und unheimliche Laute gab und wo Staub die Schritte seiner wenigen, verkrüppelten Bewohner dämpften, die den unangekündigten Besucher aus trüben, blutunterlaufenen Augen musterten? Er lächelte über seine eigene Vorstellung: gleichzeitig war er sehr froh, daß das Universiätsgebäude einen so normalen Eindruck vermittelte. Er war nicht sicher, ob er den Mut aufgebracht hätte, den Campus zu betreten, hätte er seiner instinktiven Erwartung auch nur entfernt geähnelt. Da im Moment Semesterferien waren, bot sich ihm das weitläufige Gelände größtenteils leer und von anheimelnder Stille erfüllt dar. Er schlenderte zwischen den alten Gebäuden im viktorianischen Stil hindurch und traf nur dann und wann einen Menschen, denn natürlich stand die Universität nicht zur Gänze leer. Er hatte mehr als einmal mit dem Gedanken kokettiert, daß ein Gebäudekomplex von dieser Größe schon fast etwas von einem Lebewesen an sich hatte. Er mochte in fast völliges Schweigen versinken, aber er schlief nur. Verließ ihn das letzte Leben, dann starb er. Ein alter Mann, der mit einem Reisigbesen die blitzsaubere Treppe vor dem Hauptgebäude noch sauberer fegte, wies ihm den Weg zu Professor Langleys Raum, der im zweiten Geschoß des Hauses lag, und weniger als eine Stunde nach seiner Ankunft in Boston klopfte Howard an Langleys Tür und trat ein, als dieser antwortete.
Der Raum war groß und hell. Er war so vollgestopft mit Bücherregalen und Borden voller Folianten und wissenschaftlichen Exponaten, wie Howard erwartet hatte, aber er hatte zwei großzügige Fenster, durch die die warme Sommerluft und das Licht der Nachmittagssonne hereinfielen, und die Luft roch nicht nach Staub, sondern nur nach dem würzigen Aroma der kunstvoll geschnitzten Meerschaumpfeife, an der Langley schmauchte. Der Professor selbst erwies sich als Überraschung. Er war viel jünger, als Howard vermutet hatte – allenfalls, daß sie im gleichen Alter sein mochten – und bis zu den Hüften hinab ein breitschultriger Riese, dessen mächtige Muskeln das Hemd über seinen Schultern fast sprengten. Von der Leibesmitte abwärts verschwand sein Körper unter einer Decke, die seine Beine bis zu den Füßen herab verbarg. Er saß in einem Rollstuhl mit großen Vollgummireifen und hochgezogener Rückenlehne. »Professor Langley?« fragte Howard stockend, wobei er vergeblich versuchte, seine Überraschung zu verbergen; ebenso wie die Befangenheit, die ihn wie die allermeisten Menschen beim Anblick eines Krüppels ergriff. »In voller Größe«, antwortete Langley zweideutig. Dann nahm er die Pfeife aus dem Mund, schwang den Rollstuhl mit einer erstaunlich leicht anmutenden Bewegung herum und rollte ein Stück weit auf Howard zu. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Mit Macht riß Howard seinen Blick von den verkrüppelten Beinen des Professors los, nannte seinen Namen und zog gleichzeitig den Umschlag aus der Brusttasche, der Langleys Brief enthielt. »Sie haben mir eine Nachricht zukommen lassen, daß ...« »Ich weiß«, unterbrach ihn Langley. Jede Spur von Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen. »Sie sind sehr schnell gekommen. Das ist gut.«
»Der Tonfall Ihres Briefes klang ... ein wenig besorgt«, antwortete Howard stockend. »Hatten Sie den Eindruck?« Langley seufzte und sog wieder an seiner Pfeife. »Sie haben sich nicht getäuscht, lieber Freund. Haben Sie das Manuskript bei sich?« »Bei mir?« Howard erschrak bei der bloßen Vorstellung. »Wo denken Sie hin? Ich wage es nicht, diese Blätter aus dem Haus zu schaffen. Nicht einmal aus meinem Zimmer. Die Gefahr, daß sie in falsche Hände geraten, ist zu groß.« Langley blickte ihn einen Moment lang durch einen Vorhang aus blaugrauem Tabaksqualm hindurch prüfend an, als wäre er nicht sicher, ob diese Antwort ernst gemeint oder nur eine Ausflucht war. Aber dann nickte er. »Ich vermute, Sie haben richtig gehandelt«, sagte er. »Obgleich es schade ist. Ich hätte mir das Original gerne angesehen. Die Kopie war nicht besonders gut.« »Was wissen Sie über diese Schrift?« Langley lachte humorlos, drehte seinen Stuhl herum und rollte an den Schreibtisch zurück. »Die Frage ist eher, was wissen Sie über diese Schrift«! antwortete er. »Ich habe sie niedergeschrieben«, erinnerte Howard. Langley lächelte verzeihend. »Das weiß ich. Unser gemeinsamer Freund Beverley hat mich informiert, so weit ihm dies möglich war.« Er registrierte den Unmut, der bei diesen Worten über das Gesicht seines Gegenübers huschte. »Ich hoffe, er hat damit keinen Vertrauensbruch begangen.« »In gewissem Sinne schon.« »Dann bitte ich Sie herzlichst, ihm dies nachzusehen. Aber es ist so, daß ich Beverley dringend gebeten habe, mich über alles zu informieren, was mit gewissen ... Dingen zusammenhängt. Ebenso wie eine große Anzahl anderer Freunde und Bekannter überall auf der Welt. Sie werden gleich verstehen, warum ich das getan habe.« Er zögerte einen Moment. »Inwieweit kennen Sie sich mit Okkultismus und vergessenen Religionen und Ri-
ten aus?« Anstelle einer direkten Antwort zog Howard ein zusammengefaltetes Exemplar der WEIRD TALES hervor, das eine seiner Kurzgeschichten enthielt. Er reichte es Langley, aber der Professor machte sich nicht einmal die Mühe, das Magazin aufzuschlagen, sondern blickte ihn nur mit völliger Verblüffung an. Dann schlug er sich selbst mit der flachen Hand gegen die Stirn, daß es klatschte. »Natürlich!« sagte er. »Was war ich nur für ein Narr! Ich wußte, daß ich Ihren Namen schon gehört hatte, konnte mich aber nicht an den Zusammenhang erinnern.« Er lächelte. »Nun, das macht vieles einfacher. Für mich, aber auch für Sie, wie ich hoffe.« Er wollte ihm das Magazin zurückreichen, tat es aber dann doch nicht, sondern fragte: »Wären Sie so freundlich, mir eine Widmung unter Ihre Geschichte zu schreiben? Ich fand sie nämlich ausgezeichnet. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, irgendwann in brieflichen Kontakt mit Ihnen zu treten, aber Sie wissen ja, wie das mit Dingen ist, die man sich zu lange vornimmt. Entweder man tut es gleich, oder gar nicht.« Howard fühlte sich ein wenig geschmeichelt, und er machte sich auch gar nicht die Mühe, sich dies nicht anmerken zu lassen. Während er das Magazin aufschlug und seinen Namen und eine kleine Widmung unter den letzten Satz der Story darin kritzelte, rollte Langley emsig im Zimmer hin und her und trug Bücher und mit dünnen Bindfäden zusammengehaltene Loseblattsammlungen zum Tisch, Howard bot sich an, ihm zu helfen, aber Langley lehnte ab. Und es war auch nicht nötig. Obgleich das Zimmer auf den ersten Blick einen völlig chaotischen Eindruck machte, erwies sich seine Einrichtung doch als bis ins kleinste durchdacht und paktisch; es gab so gut wie nichts, was Langley nicht von seinem fahrenen Stuhl aus zu erreichen imstande war. »Also, lieber Freund«, begann Langley das Gespräch nach einer Weile neu. »Das beste wird sein, Sie berichten mir einfach,
wie Sie an dieses Manuskript gekommen sind.« »Ich habe es geschrieben«, sagte Howard in leicht verwundertem Tonfall. Langley blickte ihn auf eine sonderbare Art an. »Ich meine nicht diese Kopie, mein Bester«, sagte er. »Ich meine die Seiten, von denen Sie es abgeschrieben haben.« »Ich auch«, antwortete Howard ernst. Langley nahm die Pfeife aus dem Mund. Sein Blick wurde durchdringend; fast stechend. »Sie wollen sagen – Sie selbst haben es verfaßt?« »Verfaßt ist vielleicht nicht der korrekte Ausdruck«, antwortete Howard unsicher. »Ich habe es niedergeschrieben. Ich schreibe es noch nieder, um ganz genau zu sein. Es ist noch nicht fertig. Aber ich fürchte, das wird es bald.« Eine ganze Weile sagte Langley gar nichts. Aber sein Blick wurde immer besorgter. Schließlich nahm er die Pfeife aus dem Mund und sagte knapp: »Erzählen Sie.« Und Howard tat es. Zuerst kamen die Worte nur stockend, mit großen Pausen dazwischen, in denen er immer wieder lächelte, um seine Verlegenheit zu überspielen, Langley ihn jedoch nur schweigend und mit zunehmender Besorgnis anblickte. Aber nachdem er seine Hemmungen einmal überwunden hatte, gingen ihm die Worte immer rascher von den Lippen, und schließlich war es, als könne er sie gar nicht mehr zurückhalten. Er fühlte sich erschöpft und müde, als er endlich fertig war; aber auch auf sonderbare Weise erleichtert. Fast, als nähme es den Dingen etwas von ihrem Schrecken, daß er mit jemandem darüber gesprochen hatte. » ... und dann bekam ich Ihren Brief, werter Professor«, schloß er. »Ich kam so schnell, wie ich nur konnte.« »Das war gut«, sagte Langley. Er wirkte sehr, sehr besorgt. Und sehr erschrocken. »Ich vermute beinahe, Sie ... wissen, worum es sich bei die-
sem ... Manuskript handelt?« Langley nahm sich Zeit, in aller Ruhe seine Meerschaumpfeife wieder zu stopfen, die während der Erzählung ausgegangen war. Aber während Howard ihm dabei zusah, hatte er das sichere Gefühl, daß es ihm nicht darum ging, zu rauchen. Sondern vielmehr, noch ein wenig Zeit zu gewinnen, vielleicht daß er sie brauchte, um zu überlegen, wieviel er mit seiner Antwort verraten konnte. »Ich fürchte es«, gestand Langley schließlich. Er steckte seine Pfeife in Brand – wobei er noch immer Howards Blicken auswich – und fragte paffend: »Ich weiß, bei jemandem wie Ihnen hört sich die Frage eigentlich überflüssig an. Trotzdem: Wissen Sie, was das Necronomicon ist?« Howard antwortete gar nicht auf diese Frage. Aber er spürte selbst, wie sehr er erschrak; und wie viel von diesem Schrecken sich auf seinem Gesicht widerspiegeln mußte. Langley nickte betrübt, als hätte er keine andere Reaktion erwartet, sie sich aber insgeheim doch erhofft. »Ich sehe, Sie wissen es«, sagte er. Entsetzt starrte Howard ihn an. »Sie wollen mir nicht im Ernst weismachen, daß es sich bei der Seite, die ich Beverly gab, um einen Auszug aus dem Necronomicon handelt!« keuchte er. Langley blickte ihn sehr ernst und sehr lange an, dann klappte er wortlos einen der Aktendeckel auf, die er vor sich auf dem Tisch aufgestapelt hatte, und schob Howard die Vergrößerung einer fotografischen Aufnahme zu. Im allerersten Moment glaubte Howard, es wäre eine Aufnahme des Blattes, das er Beverly gegeben hatte. Aber auf diesem Blatt hatten nur wenige Zeilen gestanden, während das auf der Fotografie abgebildete vollgeschrieben war – mit einem Text, den er zwar nicht zu entziffern imstande war, aber nur zu gut kannte. Mit zitternden Fingern reichte er das glänzende Blatt Fotopa-
pier zurück und fragte: »Woher haben Sie das?« Langley antwortete nicht. »Sie ... Sie besitzen einen Auszug aus ... aus dem Buch?« Langley schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Nein. Ich besitze das ganze Buch.« Ein Schlag ins Gesicht hätte Howard nicht mehr überrascht. »Das Necronomicon?« ächzte er. »Sie sind im Besitz des Originales?« »Einer Abschrift«, verbesserte ihn Langley. »Es gibt drei oder vier Abschriften des echten Necronomicon, das Abdul Alhafzred verfaßt hat.« Er stockte. »Nach dem, was ich gerade von Ihnen erfahren habe, lieber Freund, sollte man vielleicht besser sagen daß sich von Abdul Alhafzred hat verfassen lassen.« »Wo ist dieses Buch?« fragte Howard aufgeregt. »Lassen Sie mich einen Blick hineinwerfen!« »Den Teufel werde ich tun«, antwortete Langley ruhig, aber in sehr entschlossenem Tonfall. »Und ich könnte es nicht einmal, selbst wenn ich es wollte. Es befindet sich nicht hier, sondern an einem Ort, den nicht einmal ich selbst kenne.« Howard glaubte ihm. Er war enttäuscht, aber er glaubte Langley. Hätte er selbst dieses fürchterliche Buch besessen, so hätte er vermutlich nicht anders gehandelt. »Sie befinden sich in großer Gefahr, mein Freund«, fuhr Langley fort. »Ist Ihnen das klar? Die dürfen dieses Buch auf gar keinen Fall zu Ende schreiben. Und Sie müssen die Seiten, die Sie bereits fertiggestellt haben, unter allen Umständen vernichten.« »Ich weiß«, murmelte Howard. »Aber ich fürchte, das kann ich nicht. Es ... es wird es nicht zulassen.« »Es ist nur ein Stück Papier«, begann Langley, wurde aber sofort wieder unterbrochen: »Das ist es nicht, und Sie wissen das ebensogut wie ich. Es würde spüren, wenn ich ihm schaden würde, und mich töten.« »Es wird Sie auch töten, wenn Sie es weiterschreiben«, sagte
Langley ernst. »Wissen Sie, was mit Alhafzred geschah?« »Ja. Er wurde angeblich ...« Howard stockte. Es fiel ihm schwer, weiter zu sprechen. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Er wurde angeblich auf offener Straße von einem unsichtbaren Ungeheuer in Stücke gerissen.« »Richtig«, sagte Langley. »Nur, daß es nicht angeblich war, und das wissen Sie so gut wie ich. Er verlor den Verstand, lange, bevor er starb. Und er ist nicht der einzige.« Überrascht sah Howard auf. »Sie wissen das nicht?« fragte Langley. »Auch von Juntz kam auf höchst mysteriöse Weise ums Leben. Und man sagt, der unbekannte Autor der pnakotischen Manuskripte sei eines Tages inmitten des Kreises seiner Anhänger von einem Unsichtbaren angefallen und ...« »... in Stücke gerissen worden«, führte Howard den Satz zu Ende. »Er und viele andere«, sagte Langley ernst. »Glauben Sie mir, mein Freund – dieses Buch bringt den Tod. Jedem, der sich damit beschäftigt, und vielleicht jedem, der auch nur in seine Nähe kommt. Sie müssen es vernichten.« »Aber Sie leben doch auch noch!« protestierte Howard. Er fühlte ein eisiges, lähmendes Entsetzen. »Das ist richtig«, antwortete Langley ruhig. Mit der linken Hand deutete er auf seine gelähmten Beine herab. »Doch um welchen Preis. Woher glauben Sie, habe ich das? Es war kein Sportunfall, das kann ich Ihnen versichern! Und ich habe mich nicht halb so intensiv mit diesem verfluchten Buch beschäftigt wie Sie! Trotzdem konnte ich von Glück sagen, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein. Und sicher fühle ich mich bis heute nicht. Hören Sie auf mich, und vernichten Sie dieses Manuskript, so lange noch Zeit dazu ist. Verbrennen Sie es. Brennen Sie das Haus nieder, wenn es sein muß, aber zerstören Sie es um Gottes willen, ehe es Sie zwingt, die letzte Sei-
te zu schreiben!« Langley seufzte tief. »Und danach kommen Sie zu mir zurück, und wir werden ein langes und sicherlich sehr interessantes Gespräch miteinander führen, mein Freund.« »Ja«, murmelte Howard leise. »Wenn ich es noch kann.« Er hätte gerne noch mehr gesagt. Da waren tausend Fragen, die er stellen wollte, tausend Antworten, die Langley ihm hätte geben können. Aber er fühlte, daß jetzt nicht der Moment zum Reden war. Er hatte schon viel zuviel Zeit verloren. So verabschiedete er sich von Langley und lehnte auch dessen Angebot ab, ihn noch bis zur Treppe zu begleiten. Er war allein schneller, und er hatte vorhin auf dem Bahnhof von Boston eine Minute dafür geopfert, sich den Fahrplan anzusehen. Der nächste Zug zurück nach Providence ging in einer knappen Stunde; wenn er sich ein wenig beeilte und dazu noch eine Fahrgelegenheit nach Boston hinein fand, konnte er noch vor Einbruch zu Hause sein; und das erschien ihm mit einem Male ungemein wichtig. »Geben Sie auf sich acht, mein Lieber«, sagte Langley zum Abschied. Howard versprach, es zu tun, zog die Tür hinter sich zu und wandte sich um, um mit schnellen Schritten zur Treppe zu gehen, blieb aber dann noch einmal stehen. Das Gespräch mit dem Professor hatte ihn so in seinen Bann geschlagen, daß er ganz aus Versehen dessen Stift eingesteckt hatte, nachdem er die Geschichte im WEIRD TALES signiert hatte. Er lächelte flüchtig, nahm den Tintenfederhalter aus der Brusttasche seines Jacketts und machte kehrt, um noch einmal zu Langley zurückzukehren und diesem sein Eigentum wieder auszuhändigen. Aber er machte nur einen einzigen Schritt, ehe er wie vom Schlag getroffen stehenblieb. Er konnte nicht zu Langley zurückkehren. Er konnte nicht einmal in das Zimmer zurückkehren, in dem er mit ihm gesprochen hatte, denn sowohl deren Tür als auch der Rest des Korridores, von dem sie zusammen mit einem
Dutzend anderer gleichförmiger Türen abzweigte – waren verschwunden! An ihrer Stelle gewahrte er etwas, das er schon einmal gesehen hatte, auch wenn er es damals fälschlicherweise für den Teil einer gräßlichen Fieberphantasie hielt. Der Korridor war zu einem gewundenen, zuckenden Schlund geworden, ein roter peitschender Schlauch mit nassen Wänden, aus denen fleischige Dinge hervorwuchsen, schnappende Münder mit messerscharfen Zähnen und schmatzenden Lippen gähnten, eine Wand aus pulsierendem, zuckendem Plasma, von einem Netzwerk dünner ineinanderlaufender roter Venen durchzogen, in denen es floß und kroch. Ein bestialischer Gestank schlug Howard entgegen und nahm ihm schier den Atem, und er konnte spüren, wie der Boden unter seinen Füßen zu zittern begann. Als er den Blick senkte, keuchte er vor Entsetzen. Unter seinen Füßen war der sorgsam gebohnerte Mosaikfußboden des Flures. Aber nicht nur. Wenige Schritte vor ihm begann der auf so entsetzliche Weise veränderte Teil des Ganges, und das, worauf er stand, war zu einer Art gräßlicher Zwitterexistenz mutiert. Es war Stein, die versetzten schwarzen und weißen Schachbrettfliesen des Ganges aber zugleich auch etwas ... Lebendiges, auf gräßliche Weise Pulsierendes, das sich schmatzend unter seinen Füßen wand und zitterte, eine alptraumhafte Fläche aus hellen und dunklen Platten, von dünnen, pumpenden Adern und Venen durchzogen, in denen kleine absurde Wesen zu kriechen schienen. Dann sah er den Schatten. Es war genau wie in seinem Haus in Providence für einen winzigen Moment glaubte Howard ein schwarzes Herz am Ende des gewundenen Tunnels zu erkennen, ohne es wirklich zu sehen, denn das, was da in lautloser Raserei auf ihn zutobte, war zu gräßlich, zu fremd, um vom Geist eines Menschen wirklich erfaßt werden zu können. Hätte er es gesehen, dann hätte ihn dieser Anblick zweifellos auf der Stelle getötet. Doch
das, was er ahnte, dessen Umrisse er wie einen Schemen hinter dem Vorhang des Wahnsinns erblickte, war schon genug, ihn für einen Moment an die Grenze des Erträglichen zu treiben. Es war groß. Schwarz. Ein pumpendes, pulsierendes Ding mit einem mißgestalteten Balg voller nässender Geschwüre und schwärender Wunden, ein Ding mit Dutzenden von Armen und furchtbaren, glotzenden Augen und schnappenden Mündern. Mit einem Schrei fuhr Howard herum und stolperte davon. Der Boden unter seinen Füßen war mit einem Male glitschig. Seine Füße erzeugten schmatzende Geräusche, als liefe er durch einen klebrigen Sumpf. Kleine, lippenlose Mäuler ohne Zähne, dafür aber mit langen, tastenden Zungen, schnappten nach seinen Beinen, und etwas widerlich Warmes, Nasses klatschte gegen seinen Rücken und ließ ihn stolpern. Die Treppe schien mit einem Male unendlich weit vor ihm zu liegen, und es war, als fiele er mit jedem Schritt, den er tat, fast um die gleiche Distanz wieder zurück, als liefe er über ein höllisches Förderband, das ihn fast schneller nach hinten zerrte, als er nach vorne zu rennen imstande war. Gehetzt warf er einen Blick über die Schulter zurück. Die tentakelschwingende Spottgeburt war noch immer da, und näher denn je, und mit ihr verfolgte ihn der gesamte Korridor, wuchs diese gräßliche Nabelschnur des Irrsinns mit phantastischer Geschwindigkeit in die Welt des Normalen hinein. Das gesamte Haus schien jetzt rings um ihn herum zu stöhnen wie ein riesiges, lebendes Wesen, das unerträgliche Schmerzen litt. Er rannte noch schneller, prallte gegen die Wand und stürzte mehr als er ging die Treppe hinab. Die Stufen unter seinen Füßen zitterten, fühlten sich plötzlich weich und auf ekelerregende Weise lebendig an, und als er nach dem steinernen Treppengeländer griff, um sich daran festzuhalten, da registrierte er voller Entsetzen, wie seine Finger in der weichen Masse eintauchten wie in weichen, warmen Lehm, unter dessen Oberfläche etwas zu brodeln und zu kriechen schien. Er schrie vor Ent-
setzen und Ekel auf, taumelte zurück und verlor endgültig das Gleichgewicht. Er stürzte, griff vergebens mit beiden Händen um sich und fiel, sich drei-, viermal hintereinander überschlagend, die Treppe hinunter. Einzig die Tatsache ihrer furchtbaren Veränderung bewahrte ihn vor schwereren Verletzungen, doch auch so prellte er sich übel den rechten Arm und die Schulter und spürte, wie warmes Blut unter seiner Hose an den aufgeschrammten Schienbeinen hinunterlief. Als er sich wieder in die Höhe stemmte, erschien das Ding am oberen Ende der Treppe, eine gewaltige, doppelköpfige Kreatur, die aus blutunterlaufenen gierigen Spinnenaugen auf ihn herabstarrte. Obgleich sie einen Anblick lähmenden Entsetzens bot, riß es Howard doch gleichzeitig wieder zurück in die Wirklichkeit, begriff er doch, wie nahe ihm das unaussprechliche Grauen schon war, das mit einem Schicksal hundertmal schrecklicher und schlimmer als der Tod auf ihn wertete. Mit einem gellenden Schrei sprang er auf, fuhr herum und hetzte die Treppe hinunter, wandte sich nach links, dem nächsten Treppenabsatz und der Freiheit zu. Eine Tür öffnete sich wie ein schmatzendes Maul und erbrach eine Million winziger, hundertbeiniger Käfer ohne Köpfe, die sich scharrend vor ihm teilte und ihm den Weg zu verwehren versuchte. Mit einem Sprung, zu dem er normalerweise gar nicht fähig gewesen wäre, setzte Howard darüber hinweg, wobei er nicht wenige der kleinen Scheußlichkeiten zertrat, erreichte die nächste Treppe und raste auch sie hinunter. Die Halle lag vor ihm, dann die große Tür nach draußen, und ... Die Welt vor der Tür war verschwunden. Wo sie sein sollte, erstreckte sich ein waberndes, farbloses Universum voller unbeschreiblicher Schrecken. Eine schwarze Sonne loderte an einem Himmel, der kein Himmel war. Da waren Berge, deren Spitzen sich wie Dolche in den Bauch des
Himmels bohrten, und glänzende Seen aus Teer, an deren Ufern sich schwarze Scheußlichkeiten suhlten. Ein eiskalter, übelriechender Wind schlug ihm ins Gesicht, und der Boden zuckte und bebte und wand sich, als wäre er lebendig, der Körper eines ungeheuerlichen schwarzen Dinges, das nur darauf wartete, sich zu erheben und alles zu verschlingen, was seinen Leib betrat. Und er kannte diese Welt! Sie hatte keinen Namen, denn einer Welt wie dieser einen Namen geben hieße, ihr zu wirklicher Existenz zu verhelfen, sie ein bißchen realer zu machen, vielleicht gerade um die Winzigkeit, die sie brauchte, um wirklich zu werden. Aber sie war ihm nicht fremd. Oh, er war hiergewesen, hundert Mal und öfter. In seinen Träumen. In den Geschichten, die er erzählte und aufschrieb. In den düsteren Riten und Auszügen aus verbotenen Büchern, die er sich selbst ausgedacht zu haben glaubte; noch bis zu diesem Moment. Es war die Welt Cthulhus, die Welt Azatoths und Nyaralathoteps, die Welt Shudde-Mells und des Wendigo und all der anderen, ungezählten Bestien, die von den Sternen gekommen waren, um ihre schreckliche Herrschaft auszuweiten. Die Welt der Großen Alten. Als er das Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich ohne Hast herum, darauf gefaßt, das Ungeheuer zu erblicken, das gekommen war, ihn zu. töten, wie es zuvor Hannerson und die beiden anderen Männer vernichtet hatte, und davor Alhafzred und von Juntz und vermutlich Tausende von anderen, deren Namen längst in Vergessenheit geraten waren. Er wußte jetzt, welches Schicksal all diese Menschen ereilt hatte. Und vermutlich würden sie auch ihn finden, tot, zerrissen wie von einer Meute unsichtbarer Wölfe, und mit einem Ausdruck in den Augen, als hätte er etwas erblickt, das ihn schon vorher tötete, seinen Geist verbrannte, ehe die grauenhaften Krallen seinen
Körper packen und zerfetzen konnten. Aber es war nicht das Ungeheuer. Statt seiner rollte Langley in seinem fahrbaren Stuhl auf ihn zu, hoch aufgerichtet und mit gestrafften Schultern und einen Ausdruck im Gesicht, der Howard erschauern ließ. »Sie hätten niemals hierherkommen sollen, mein Freund«, sagte er. »Nennen Sie mich nicht so«, antwortete Howard mit einem absurden, lächerlichen Stolz. »Töten Sie mich, wenn Sie das wollen. Aber verspotten Sie mich nicht noch.« »Töten?« Langley blickte ihn verwirrt an. Plötzlich lächelte er, aber es war ein Lächeln, das Howards Furcht noch vertiefte, denn es war kein Lächeln, wie er es jemals im Gesicht eines Menschen erblickt hätte. »Oh, Sie irren sich, mein Freund«, sagte er. »Es ist nicht Ihr Tod, den ich will. Wäre es das, wäre es längst geschehen, glauben Sie mir.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind zu wertvoll, um getötet zu werden.« »Was immer Sie von mir erwarten ich werde es nicht tun«, antwortete Howard. Langley machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Er rollte mit seinem Stuhl näher, und Howard sah jetzt, daß sich das bizarre Möbel ohne Langleys Zutun bewegte, und daß die fürchterliche Veränderung der Wirklichkeit auch daran nicht spurlos vorübergegangen war: seine Räder wirkten irgendwie ... fleischig, die Achsen drehten sich nicht mehr länger in Kugellagern aus sorgsam geöltem Metall, sondern waren zu knochigen Gelenken geworden, die schmatzende, saugende Laute von sich gaben. Langley kicherte irre, als er das Entsetzen in Howards Blick gewahrte. »Was ... was wollen Sie von mir?« stöhnte Howard. »Aber das wissen Sie doch, mein Freund«, kicherte Langley. »Das wissen Sie doch schon lange. Sie werden Unsterblichkeit erlangen. Sie werden das Buch schreiben. Das Buch der Bücher. Das Dokument ihrer Macht, den Schlüssel, durch den ih-
re Herrschaft auf Erden neu beginnt. Sie werden vollenden, was andere begannen. Alhafzred war wahnsinnig und konnte die Arbeit nicht zu Ende führen. Sie können es.« »Niemals!« stöhnte Howard. »Niemals!!« Langley lachte nur und kam noch näher, und mit einem Male sah Howard, daß das, was er für Muskelstränge unter dem karierten Hemd des Wissenschaftlers gehalten hatte, etwas anderes war. Etwas Weiches, Zuckendes, das unter dem groben Stoff hin- und herkroch und manchmal kleine dürre Fühler wie schwarze Nervenfäden aus seinem Kragen oder den Hemdsärmeln hevorwachsen ließ, sich aber stets rasch wieder zurückzog, als fürchte es das Tageslicht. »Sie werden es«, sagte Langley noch einmal. Er hob die Hand, um ihn zu berühren, aber Howard wehrte die Bewegung ab und stieß Langley gleichzeitig so heftig von sich, wie er nur konnte. Seine Kraft reichte nicht aus, den schweren fahrbaren Stuhl weiter als ein paar Schritte zu bewegen. Aber der Stoß ließ die Decke verrutschen, die, über Langleys Beinen lag, so daß er zum ersten Mal sehen konnte, was sie wirklich waren. Keine Beine. Nicht die dünnen und kraftlos gewordenen Glieder eines Krüppels. Es waren überhaupt keine menschlichen Glieder mehr. Aus den abgeschnittenen Beinen von Langleys Hose wuchsen zwei Stränge glitzender, ineinandergewundener dürrer Fäden, jeder einzelne von eigenem Leben erfüllt. Mit einem gellenden Schrei taumelte Howard zurück und gegen die Wand. Ein schwarzer Tentakel zuckte aus dem, in was sie sich verwandelt hatte, und hielt ihn fest. »Sie werden es tun, mein Freund«, kicherte Langley noch einmal. »Und Sie wollen es auch. Oh, ich könnte Sie zwingen, aber ich denke, das ist gar nicht nötig. Sie wollen es.« »Nein«, wimmerte er. »Nein. Nein. Nein.«
»Wehren Sie sich ruhig«, sagte Langley lächelnd. »Ihr Schmerz stärkt nur ihre Kraft. Und warum wollen Sie sich selbst belügen? Sie wissen, daß Sie es können. Sie sind vielleicht der erste Mensch, der jemals auf dieser Welt gelebt hat, der in der Lage ist, dieses Buch zu verfassen. Sie werden der Versuchung nicht widerstehen, so wenig, wie Alhafzred und die anderen es konnten. Die anderen waren Narren, die an der Aufgabe gescheitert sind. Sie wären in der Lage, es zu vollenden. Möchten Sie es nicht wissen? Wollen Sie nicht sehen, wie es wirklich war? Wie es ist und wieder sein wird? Sehen Sie!« Howard wollte es nicht, aber als Langley eine Hand hob, die keine Hand mehr war, und auf die Welt draußen vor der Tür deutete, die nicht mehr die Welt war, die er kannte, da drehte er sich herum. Und dann sah er es. Die Oberfläche des schwarzen Teersees begann zu brodeln. Wellen entstanden und klatschten gegen seine Ufer, vergingen und entstanden neu, in einem verwirrenden Rhythmus, der in sich selbst wieder ein furchtbares, hypnotisches Muster ergab. Und aus der Tiefe dieses schwarzen Pfuhles tauchte die Stadt auf. R’Lyeh. Die Verbotene Stadt unter dem Meer, in deren Palast Cthulhu lag, der ertrunkene Gott, der seinem Erwachen entgegenträumte. Sie war gigantisch. Sie war bizarr und häßlich, und gleichzeitig faszinierend und unbeschreiblich verlockend. Es war unmöglich, sie wirklich zu erkennen, denn ihre Bauten gehorchten einer Geometrie, die dem menschlichen Auge fremd und unangenehm war, sie verwirrte die Sinne und brachte etwas in Howards Seele zum Erstarren. »Nun?« fragte Langley. »Wollen Sie wirklich nicht dorthin? Sie gehört Ihnen, mein Freund. Alle Rätsel werden gelöst, alle Fragen beantwortet. Sie werden wissen. Unglaublich viel wissen. Ist ein Leben nicht ein geringer Preis für das Wissen um das Werden und Vergehen des Universums und die Antworten
auf alle Fragen, die je gestellt wurden? Gehen Sie, mein Freund. Wir haben lange auf Sie gewartet.« »Auf mich?« »Auch die Ewigkeit braucht einen Chronisten«, antwortete Langley. »Und Sie sind der Auserwählte.« Howard zögerte noch einen Moment. Aber dann drehte er sich herum und ging langsam auf die Stadt des Schwarzen Gottes zu.
Die Nacht neigte sich dem Ende zu, und er fühlte, daß sie kamen. Sie hatten ihm diese letzte Nacht gelassen, um ihn zu quälen, seinen Schmerz zu vertiefen und sich daran zu laben. Er fragte sich, ob er verdammt war. Er hatte der Verlockung nicht widerstanden. Langley hatte recht gehabt – der Preis, der ihm winkte, war zu groß, als daß er ihm widerstehen konnte. Er hatte das Buch geschrieben und Alhafzreds Arbeit beendet. Noch am gleichen Abend war er zurückgekehrt ins Haus seiner Tanten, als wäre nichts geschehen, aber die Nächte hatten weiter dem Buch gehört, und das Manuskript war gewachsen, Seite für Seite, Geheimnis um Geheimnis, Kapitel für Kapitel. Nacht für Nacht war er zurückgekehrt nach R’Lyeh, war durch seine endlosen Flure und Korridore aus schwarzem Kristall gewandelt, hatte Cthulhu selbst gesehen, wie er auf seinem Thron im Herzen der verfluchten Stadt lag und schlief, hatte alle Schrecken der Schöpfung erfahren und all ihre Geheimnisse, das Wissen um ihren Beginn und ihr Ende.
Und jetzt war es fertig, bis auf die letzte Seite, ein Blatt aus molekülfein geschliffenem Kristall, das darauf wartete, beschrieben zu werden. Wenn er es tat, würde Ihr ewiger Schlaf enden. Er würde es tun. Er konnte nicht mehr zurück. Etwas drängte sich in die Wirklichkeit des Zimmers, und nun wußte er, daß Sie gekommen waren. Sie waren unsichtbar, aber er spürte ihre Nähe. Und er spürte die Forderung, die in ihrer Präsenz lag. Bring es zu Ende. Langsam wandte er sich um, ging zum Tisch und griff nach der Feder, um die letzten Worte auf den grünen Kristall zu bannen, und er wußte, daß im gleichen Moment auch das Manuskript auf seinem Schreibtisch fertiggestellt sein würde, und daß im gleichen Moment die Zeit der Menschen vorüber war und die Herrschaft der Monster neu begann. Gott, dachte er, hilf mir! Er setzte sich. Seine Hand griff nach der Feder, aber dann zögerte er noch einmal. Die letzte Seite. Die letzten Zeilen, nicht nur dieses fürchterlichen Buches, sondern vielleicht auch der Chronik der Menschheit. Er tauchte die Feder nicht in das Tintenfaß, sondern streifte den Ärmel über seinem linken Handgelenk zurück und ritzte mit der Spitze die Haut über der Schlagader. Ein dünner, hellroter Blutstrom quoll hervor, lief an seinem Arm herab und bildete eine Lache auf dem Tisch, und es war dieses Blut, in das er die Spitze der Feder tauchte, sein eigenes Blut, mit dem er das letzte Kapitel des Necronomicon schrieb. Er war zu Dr. Perkins gegangen, am nächsten Abend, und hatte sich von ihm untersuchen lassen, obgleich er wußte, wie wenig ihm die Kunst eines Arztes zu helfen imstande war. Eine weitere Woche danach hatte ihn Perkins aufgesucht und um eine Unterredung unter vier Augen gebeten. Er hätte die verschiedenen Proben und Abstriche, die er genommen hatte, in
ein Institut nach Boston geschickt, um sie dort einer eingehenden Untersuchung unterziehen zu lassen. Natürlich müsse man abwarten, weitere Untersuchungen anstellen und die Ergebnisse mehrfach verifizieren, um ganz sicher zu gehen. Andererseits waren sie sehr eindeutig, und sie kannten sich lange genug, um ehrlich zueinander zu sein, und so bewegte die Feder langsam und bedächtig, verfolgte das Entstehen jedes einzelnen Buchstaben mit großer Aufmerksamkeit, und er sah, wie dieses verfluchte Buch weiter sein Blut trank, schneller und gieriger und mehr als je zuvor. ›Es tut mir leid‹, hatte Perkins gesagt. ›Aber ich halte nichts davon, meine Patienten zu belügen. Und ich kenne Sie so lange, mein Junge, daß ich glaube, daß Sie die Wahrheit wissen wollen.‹ Es hatte weh getan. Auch diese Situation hatte er sich vorgestellt, denn es gab nichts, was ein Mann, der davon – und dafür! – lebte, Geschichten zu erzählen, sich nicht bereits vorgestellt und in allen Einzelheiten ausgemalt hätte. Er hatte gedacht, damit fertig zu werden, aber er wurde es nicht. Es tat weh. Entsetzlich weh. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er ließ nicht zu, daß die Wunde an seinem Handgelenk sich schloß, sondern öffnete sie im Gegnteil noch weiter, um mehr der roten Tinte zu haben, nach der das Buch schrie. Noch wenige Sätze, und er hatte sich endlich wieder soweit in der Gewalt, daß er diese eine Frage stellen konnte, vor der er solche Angst hatte: ›Wie lange noch?‹ Perkins hatte den Blick gesenkt. ›Das kann niemand sagen‹, sagte er schließlich. ›Wir wissen noch sehr wenig darüber. Es kann schnell gehen. Monate. Wochen. Aber es kann auch lange dauern. Jahre, vielleicht Jahrzehnte.‹ Das Kristallblatt begann zu zittern. Die Feder hatte die letzte Zeile begonnen, aber plötzlich war es, als versuche das Blatt sich zu wehren, als zuckte es vor der Berühung zurück. Und
gleichzeitig spürte er Ihre Unruhe. Vielleicht begangen Sie zu ahnen, daß Sie trotz allem etwas übersehen hatten, daß es ihm trotz allem gelungen sein mochte, Sie am Ende doch noch zu überlisten. ›Wird es ... weh tun?‹ hatte er stockend gefragt. ›Ja‹, hatte Perkins geantwortet. ›Ich will Ihnen nichts vormachen. Die letzten Wochen werden die Hölle werden, mein Junge.‹ Er hatte gezögert, dann: ›Ich weiß, ich dürfte es nicht, aber ... wenn es zu schlimm wird, dann kommen Sie zu mir. Ich kann Ihnen ... etwas geben, um es zu beenden.‹ Zum allerletzten Mal tauchte er die Feder in sein Blut und senkte sie auf das Blatt. Und als er den letzten Buchstaben geschrieben hatte, verließen ihn seine Kräfte, und er sank matt auf dem Stuhl zusammen. Aber er verlor nicht das Bewußtsein. Müde, wie durch einen Vorhang von Nebel und Schwäche hindurch sah er, wie das schimmernde Blatt aus Kristall braun und häßlich zu werden begann. Seine Oberfläche wurde runzelig wie alte Haut, und plötzlich waren die Worte keine Worte mehr, sondern verschlungene Narben, die sich wie mit Säure geätzte Linien immer tiefer und tiefer in das Manuskript hineinfraßen. Risse und Spalten entstanden in dem unheimlichen Material, und die Zerstörung lief immer schneller und schneller ab. Und sie machte nicht mit diesem einen, letzten Blatt halt. Der Vorfall griff auf ein zweites Blatt über, ein drittes und viertes ... Howards Sinne schwanden nun doch, aber eine Sekunde, bevor er das Bewußtsein verlor, wußte er, daß nichts von diesem gotteslästernden Buch bleiben würde als schwarzer Morast, der Verfall, aus dem es entstanden war, denn mit seinem Blut hatte es zugleich den Keim des Todes in sich aufgenommen. Eine Saat des Verderbens, die erst dann aufgegangen war, als das Manuskript zum Leben erwachte. Erwachte, um zu sterben.
Er hörte einen Schrei, lautlos und von einer Wut, die unbeschreiblich und unstillbar war, doch auch Ihr Zorn vermochte ihm nichts mehr anzuhaben, denn mit der Zerstörung dieses Buches schwand auch Ihre Kraft. Und in dem Bruchteil eines Augenblickes, der noch verging, ehe er vollends ohnmächtig wurde, wußte er, daß er gesiegt hatte. Er dachte noch einmal an Perkins Worte: vielleicht hatte er ja noch Zeit. Jahre, ein Jahrzehnt, mit etwas Glück. Und er würde nicht zu ihm gehen und sich etwas geben lassen, um es zu beschleunigen und die Schmerzen abzukürzen, sondern die Zeit nutzen, die ihm noch blieb, um zu tun, was seine wahre Aufgabe war: zu warnen. Und er wußte, daß er jeden Schmerz, jede Sekunde, und sei sie noch so qualvoll, bis zum Ende auskosten würde, denn sie gehörte zum Kostbarsten und Unantastbarsten, das es im Universum gab. Leben. ENDE
Howard Phillips Lovecraft starb am 15. 3. 1937 an Krebs.
Der Vater der GROSSEN ALTEN Howard Phillips Lovecraft, geboren am 20. August des Jahres 1890 in Providence, Rhode Island/USA, gehört zweifelsohne zu den etabliertesten Schriftstellern der phantastischen Literatur, der den Vergleich mit Edgar Allan Poe, Arthur Machen, Algernon Blackwood oder Clark Ashton Smith nicht zu scheuen braucht. Als er acht Jahre alt war, starb sein Vater (Winfield Scott Lovecraft) an fortgeschrittener Paralyse, 1921 dann seine Mutter Sarah Susan, eine stark neurotische Psychopathin, in geistiger Umnachtung an den Folgen einer Operation im Irrenhaus von Providence. Verhätschelt bei seinen Tanten aufwachsend war Lovecraft, da er stets zu Krankheiten neigte, ein regelmäßiger Schulbesuch verwehrt – die Bildung erfolgte autodidaktisch. Bereits mit zwei Jahren beherrschte er das Alphabet, las im Alter von vier Jahren die Märchen der Gebrüder Grimm und die orientalischen Abenteuer aus 1001 Nacht. Mit sechs Jahren schrieb er seine ersten Geschichten und veröffentlichte als Achtjähriger ein Fanzine mit dem Titel ›The Scientific Gazetten 1903 begann er, sich mittlerweile auch für Astronomie interessierend, das ›Rhode Island Journal of Astronomy‹ zu veröffentlichen. Bereits mit 16 Jahren astronomischer Mitarbeiter der in Providence erscheinenden Zeitung ›Tribune‹, wurde er 1914 Mitglied und späterer Präsident der ›United Press Association‹, einer Gruppierung junger Amateurschriftsteller. Lovecraft gab innerhalb dieses Zirkels das Blatt ›The Conservative‹ heraus, worin er Gedichte und seine ersten Erzählungen abdruckte. Seine ersten Stories erschienen 1924 in dem Fachmagazin ›Weird Tales‹. Hier fand Lovecraft eine geeignete Bühne für
seine Veröffentlichungen, obwohl der Herausgeber, Farnsworth Wright, häufig die angebotenen Geschichten ob ihrer Länge ablehnte, sie in der Regel aber später dennoch veröffentlichte. Einen Versuch, aus seinem kleinbürgerlichen Milieu und seiner Heimatstadt auszubrechen, unternahm Lovecraft im April 1924, als er die jüdische Modistin Sonia Greene heiratete und nach New York zog. Obwohl er sich dort im Kreis seiner Freunde recht wohl fühlte, nächtelang diskutierte und durch die pulsierende Metropole bummelte, wurde ihm das Leben in der hektischen Großstadt unerträglich, nicht zuletzt durch seine Abneigung gegenüber dem dortigen Völkergemisch. Nach der Trennung von seiner Frau (1926) war er daher überglücklich, wieder in sein geliebtes Providence und zu seiner Büchersammlung zurückzukehren, wo er den Rest seines Lebens mit seinen Tanten verbrachte. Lovecraft übte nie einen Beruf aus, sondern arbeitete zu Hause als Schriftsteller, Lektor, Kritiker, Korrektor und Ghostwriter, so z. B. für Hazel Heald, für die er die wahrlich atemberaubenden Stories ›Das Grauen im Museum‹ und ›Aus Äonen‹ schrieb. Diese Tätigkeit brachten ihm nur ein geringes Entgelt ein, da er jedoch keine großen Ansprüche stellte, gelang es ihm, sich oft eine ganze Woche mit einem Dollar zu begnügen – dennoch trat er in der Pose eines selbstbewußten Gentlemans auf, der Geld scheinbar nicht nötig hat. Lovecraft ist der Typ des manisch zu nennenden Büchernarren, den Astrologie und abseitige Studien über okkulte Literatur (z. B.: das kabbalistische Buch ›Zohar‹ oder das im Jahr 1681 erschienende ›Saduccismus Triumphatus‹ des Joseph Glamvill) in die Isolation treiben. Mit zunehmendem Alter verstärkt sich diese Tendenz. Lovecraft verbringt Tage hinter geschlossenen Vorhängen und unter künstlichem Licht, nachts hingegen verläßt er seinen Schlupfwinkel, um im alten Providence nach Inspiration für seine Geschichten zu suchen.
Den Kontakt zur Außenwelt hielt er aufrecht durch eine gigantische Korrespondenz. Rund 200 ›Freunden‹ schrieb er über 100.000 Briefe, wovon er täglich acht bis zehn verfaßte. Es waren Briefe, die zuweilen 40 bis 70 Schreibmaschinenseiten zählten, wobei noch die Ränder in spinnenfeiner Schrift beschrieben waren. Diese Zurückgezogenheit ist nicht ohne pathologische Züge. Lovecraft war im höchsten Maße zivilisationsfeindlich. Vielleicht war es der nicht aufzuhaltende Verfall der eigenen Familie, der ihn um so beharrlicher an der Vergangenheit festhalten ließ. Er fühlte sich dem 18. Jahrhundert zugehörig, mit dessen Literatur er außergewöhnlich gut vertraut war. Die Identifikation ging so weit, daß er Briefe mit fiktiven Daten, Anreden und Schlußformeln versah. Lovecraft führte das Leben eines Privatgelehrten, eines Antiquars, der die konservativen Formen des 18. Jahrhunderts verehrte und den technischen Forschritt als Niedergang der alten Werte und Tugenden empfand. Seine ausgedehnten Reisen, u. a. nach Kanada und Florida, ermöglichten ihm eine umfangreiche Kenntnis der verschiedenen Kulturen und Mythen, wobei ihm seine ungeheure Belesenheit ebenso dienlich war wie sein phänomenales Gedächtnis: er erinnerte sich praktisch an jedes Buch, welches er gelesen hatte. Exzentrisch Lovecrafts Manien: Aversionen gegenüber niedrigen Temperaturen, sein Widerwille gegen Fischgerichte, seine Gier nach Eiscreme, seine britischunterkühlten Umgangsformen – und seine misanthropischen Ansichten über Rassen und Völker. So zeigte er eine unverhohlene Sympathie für die Theorien der Überlegenheit der nordischen Rasse und dem Faschismus Mussolinis. Hinzu kam eine fast pathologische Ablehnung anderer Volksgruppen, die in seiner New Yorker Zeit zu einer Art Fremdenhaß wurde. Um ihm aber gerecht zu werden, muß bemerkt werden, daß Lovecraft sich in seinen letzten Lebensjahren von seinen befremdlichen Ansichten distanzierte
und von einem ›Rechtsradikalen‹ zu einem Liberalen wurde, der Franklin D. Roosevelt wählte. In Wirklichkeit war er nicht der Menschenverächter, als der er sich in seinen Briefen ausgab. Seine heftigen Ausbrüche zeigten nur seine Angst vor der Vernichtung der alten Wertvorstellungen auf und erstreckten sich auf reine Rhetorik. Howard P. Lovecraft starb am 15. 3. 1937 im Alter von 46 Jahren an Darmkrebs. Die Inschrift auf seinem, von ›Lovecraftianern‹ gespendeten Grabstein lautet: ›I am Providence‹. Lovecraft hinterließ der Nachwelt ein zwar geringes Gesamtwerk, jedoch eine Thematik, die teilweise üble literarische Folgen nach sich zog: den Cthulhu-Kult. Dieser Cthulhu-Kult geht von der Grundvoraussetzung aus, daß zu Zeiten, als die Erde noch jung war, fremde, unendlich böse Götter das Universum (und damit auch die Erde) beherrschten, jedoch bei der Ausübung Schwarzer Magie scheiterten und nun benannt als die ›Großen Alten‹ – in den Tiefen der Erde und der Unendlichkeit des Alls darauf lauern, wieder vom blauen Planeten Besitz zu nehmen und ihre Herrschaft erneut zu errichten. Die Geschichten, die auf diesem Mysterium aufbauen, sind spannend geschrieben, reich an originellen Ideen und voll zwingender, unheimlicher Atmosphäre, so daß sie in dieser Hinsicht kaum zu überbieten sind. Wer hat das ›namenlose, uralte Grauen‹ in unterirdischen Gängen und Grotten, in den Ruinen titanischer Städte eindringlicher zu schildern gewußt, als er? Lovecraft hielt sich nicht mit traditionellen Gespenstern, Vampiren und Werwölfen auf, vielmehr formte er neue Gestalten des Unheimlichen: Nachtwesen wie Ghoule, die an den Eingängen zu unterirdischen Labyrinthen auf Vorbeiziehende lauern, oder aber die degenerierten Einwohner von Innsmouth. Schließlich erfand er die ureigenen Götter seiner kosmischen Dämonologie: Monstren wie Yog-Sothoth oder Nyarlathothep, den blinden Gott des ›wimmelnden Chaos‹, der verzückt zu
den Tönen seiner irren Helfershelfer tanzt, und schließlich Cthulhu selbst, ein tintenfischartiges Monstrum titanischen Ausmaßes, das in Felsgewölben verborgen, auf seine Rückkehr wartet. Mittels geheimnisvoller Bücher scheinbar existenter Autoren gelingt es Lovecraft immer wieder, seinen Gesichten eine Scheinauthenzität zu verleihen. Berühmtestes und unheilvollstes Buch ist das ›Necronomicon‹, angeblich vom verrückten Araber‹ Abdul Alhazred im Jahre 700 v. Chr. im Südjemen geschrieben, welches in verschiedenen Kapiteln den Untergang der Menschheit beschreibt. Bemerkt werden muß an dieser Stelle, daß Lovecraft sich die Idee des ›Necronomicon‹ von Robert Chambers 1895 erschienenem Buch ›The King in Yellow‹ lieh, ein ebenfalls unheilvolles Buch, welches seinem Besitzer nur Tod und Wahnsinn einbrachte. Interessant auch, daß findige, aber unlautere Autoren das ›Necronomicon‹ mit dem Untertitel ›Durch die Tore des Silberschlüssels‹ zwischenzeitig auf den Markt gebracht haben, wobei es sich jedoch um übelste Scharlatanie handelt der ›Lovecraftianer‹ sei gewarnt! Aber noch weitere, nicht minder düstere Bücher werden von Lovecraft zitiert: so daß ›Buch von Eibon‹, die Unaussprechlichen Kulte des von Junzt, ebenso das Werk ›Daemonolatreia‹ von Nikolaus Remigius, und die uralten ›Pnakotischen Schriften‹, jene Rollen, die ›schon alt waren, als die Menschheit noch jung war‹. Mehrere Geschichten von recht unterschiedlicher Qualität behandeln den Cthulhu-Kult, wobei ›Die Ratten im Gemäuer‹ (1924) das Geschick des Amerikaners Delapore erzählt, der seinen verlassenen Landsitz Exham Priory wieder bewohnen möchte. Schon nach einigen Wochen wird er von seltsamen Geräuschen in den Wänden des Hauses gestört und begibt sich mit seiner Dienerschaft tief in die unteren Gewölbe des Anwesens, wo ihn eine ›mit Knochen bedeckte‹ Treppe direkt zu Nyarlathothep führt, jenem irrsinnigen Gott, der blind zu dem Flötenspiel seiner Diener tanzt. Nicht minder makaber
und von größerer Faszination ist ›Das Grauen von Dunwich‹, worin ein riesiger Lemur langsam heranwächst und nur durch das unerschrockene Auftreten einiger mit verbotenem Wissen behafteter Männer vernichtet werden kann. Schließlich taucht in ›Cthulhus Ruf‹ namentlicher Gott mit seiner Insel auf, und die Besatzung eines Seglers sieht sich mit urweltlichen und zyklopischen Bauwerken konfroniert. Grandios entführt den gebannten Leser ›Berge des Wahnsinns‹ in das Reich der Antarktis, in der in einer monströsen Ruinenstadt die ›Alten Wesen‹ erneut nach ihrer Herrschaft trachten. Nur mit Mühe gelingt den Expeditionsteilnehmern mit Hilfe eines klapprigen Flugzeugs die Flucht. Auch außerhalb des Cthulhu-Kultes gibt es einige Geschichten, die nicht unerwähnt bleiben dürfen, so das schon fast autobiographische ›Der Außenseiter‹ in der ein Ghoul aus seinem Schattenreich klettert, eine Schar bunter gekleideter Personen entdeckt und sich schließlich einen widerwärtigem Scheusal gegenübersieht doch als er es berühren will, berührt der Ghoul nur einen Spiegel. Lovecraft, von der ängstlich in der Wohnung umherschleichenden Mutter stets als ›häßliches Kind‹ bezeichnet, verstand sich selbst als Außenseiter durch eigenes Verschulden, dem die Anwesenheit Gleichgesinnter zwar gelegen war, der sich jedoch selbst eine Isolation auferlegte, die annähernd jede menschliche Regung in ihm, abtötete. Beklemmend und von erhabener Größe sind die ›Träume im Hexenhaus‹, die die Geschichte von Walter Gilman schildert, einem Mann, der sich in einem Hexenhaus einquartiert, um sich dort seinen Studien zu widmen. Nach dem Tod Gilmans wird das Haus abgerissen, und die Untaten der letzten Jahrhunderte treten zutage. Ebenso unverzichtbar stellt sich ›Der Fall Charles Dexter Ward‹ dar, in dem Charles Ward den Besitz seines Vorfahren übernimmt und allmählich die unheilvolle Identität von Joseph Curwen annimmt, bevor er in einer Krypta gestellt und vernichtet werden kann.
Randolph Carter, Lovecrafts ›Alter Ego‹, führt den Leser in ›Die Traumsuche nach dem unbekannten Kaddath‹ in eine Traumwelt jenseits unseres Vorstellungsvermögens, stets auf der Suche nach Kaddath, jenem Ort, wo die Götter der Erde ihre letzte Zufluchtsstätte gefunden haben. Carters Weg wird durch Nyarlathoteps Wirken erschwert, bevor er sich dem letzten Gegner, Azathot, gegenübersieht. Auch die Geschichte um ›Herbert West – Der Wiedererwecker‹ darf nicht unerwähnt bleiben, in der West ein Serum entwickelt hat, welches Leichen zu neuem Leben erweckt. Er findet ein grauenvolles Ende durch die reanimierten Leichen des nahen Friedhofes. Ein Werk, welches zielstrebig an den Nerven des Lesers zerrt, präsentiert sich mit ›Aus Äonen‹, einem Werk aus Lovecrafts Ghostwritertätigkeit, welches er mit Hazel Heald schrieb. Die Mumie des Hohepriesters Tyog wird von einer aufgetauchten Insel geborgen und in einem Museum ausgestellt. Auf der Netzhaut der Mumie hat sich das Antlitz des Gottes Ghatanothoa eingebrannt, welcher T’yog in seinen bedauernswerten Zustand versetzte. Hingewiesen sei noch auf das Essay ›Die Literatur des Grauens‹, jener bislang unübertroffenen Einführung in die Geschichte der Schauerliteratur, die Lovecraft 1927 für die Zeitschrift ›The Recluse‹ schrieb. Trotz einiger Mängel stellt die Ausarbeitung den unterhaltsamsten und interessantesten Wegweiser durch das Labyrinth der phantastischen Literatur dar, den das geschriebene Wort zu bieten hat. Lovecraft ist ohne Zweifel ein Phänomen und wert, sich nicht nur zu seinem 100sten Geburtstag, der sich in diesen jährt, mit ihm und seinem Werk zu befassen. Er ist einer der Urväter der Phantastischen Literatur. Ein Mann, der uns das Gruseln lehrte. Und als solcher unsterblich geworden zwar anders als seine ›Kinder‹, die ›Großen Alten‹, doch nicht weniger eindrucksvoll.
Die Wilde Jagd. Grausame Reiter auf skelettierten Pferden, die mit dem Sturm kommen und aus den Wolken brechen. Die mit Lanzen und Blitzen geisterhafte Beutetiere jagen: Eber, so groß wie ein Haus, unbeschreibliche Kreaturen aus Knochen und gestaltgewordener Furcht. Deren Hunde gnadenlos und wild ihre Opfer reißen, Bestien mit gewaltigen Fangzähnen und lodernden Augen. Die Wilde Jagd. Wenn sie kommt, sind die Menschen verloren. So sagt die Legende. Doch niemand in Wales glaubt heute noch daran, in dieser modernen und aufgeklärten Zeit. Bis ein Magier die Geisterreiter zu neuem Leben erweckt und sie inmitten vernichtender Orkanstürme auf die Bevölkerung hetzt. Da erst erkennen die Menschen, daß sie die Riten und Zauberformeln ihrer Vorfahren, mit denen sie die Geister bannen könnten, längst vergessen haben. Schutzlos stehen sie dem Wüten gegenüber. Niemand hält die Jagd auf ... Die Magier sind unter uns! Das ist das Thema des nächsten DÄMONENLANDS. Unsinn? Hirngespinste? Frederic Collins belehrt uns eines Besseren. In einem wahrhaft unheimlichen, geisterhaften Grusel-Thriller: DIE GEISTERREITER Ein Roman von Frederick Collins