Saint-Jean ist eines jener abgelegenen Dörfer im Herzen Frankreichs, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint...
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Saint-Jean ist eines jener abgelegenen Dörfer im Herzen Frankreichs, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Einst war es ein blühendes Dorf, doch seit die Jungen ihr Glück in der Ferne suchen, ist es still geworden in den Gassen von Saint-Jean. Zu still, findet der alte Edmond Ganglion, dessen florierendes Bestattungsunternehmen ihm vierzig Jahre lang den Ruf eines erfolgreichen Geschäftsmannes eingetragen hat. Aber nun steckt Ganglion mitten in einer bedrohlichen Krise – zu lange schon hat niemand mehr seine Dienste in Anspruch genommen. Selbst Madame Tirmarche, die Dorfälteste und Ganglions größte Hoffnungsträgerin, erfreut sich trotz der Bruthitze dieses Sommers bester Gesundheit. Doch als Ganglions Not am höchsten ist, gibt es plötzlich einen unerwarteten Todesfall zu beklagen! Mit Feuereifer machen sich Ganglion und seine Männer an die Arbeit – nicht ahnend, welch haarsträubende Abenteuer und Verwicklungen ihnen mit ihrem klapprigen Leichenwagen erst noch bevorstehen … Joël Egloff, geboren 1970, war lange Zeit Drehbuchautor für eine Filmproduktionsgesellschaft. Sein Debütroman »Leichenschmaus«, der in Frankreich als eine große Entdeckung gefeiert wurde, begeisterte Kritiker wie Leser. Eine Verfilmung von »Leichenschmaus« ist in Vorbereitung.
Joël Egloff
Leichenschmaus Roman Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn
G
Die französische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Edmond Ganglion & fils« bei Éditions du Rocher
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2003 Copyright © der Originalausgabe 1999 by Éditions du Rocher Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 54192 CN · Herstellung: Katharina Storz/Str Made in Germany ISBN 3-442-54192-1 www.goldmann-verlag.de
Für Nathalie, für meine Mutter, für meinen Vater, für Daniel, für Michel
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Für unseren Schwager, für meinen Schwager, für meine Schwäger, für unsere Schwäger, für meine Schwägerin, für unsere Schwägerin, für unsere Schwägerinnen, für meinen Freund, für unsere Freunde, für unseren Freund, für meine Freundin, für unsere Freundin, für unsere Freundinnen, für meinen Kameraden, für meine Kameraden, für unsere Kameraden, für unseren Kameraden, für meine Kameradin, für unseren Sohn, für unsere Tochter, für meine Tochter, für meinen Sohn, für meine Töchter, für meine Söhne, für unsere Kinder, für meine Mutter, für unsere Mutter, für unseren Vater, für meinen Vater, für unsere Eltern, für unseren Bruder, für meinen Bruder, für unsere Brüder, für unsere Schwester, für meine Schwester, für unsere Schwestern, für meinen Gatten, für unseren Gatten, für unsere Gatten, für meine Gatten, für unsere Gattin, für meine Gattin, für unsere Gattinnen, für meine Gattinnen, für meinen Cousin, für meine Cousins, für unseren Cousin, für unsere Cousins, für unsere Cousine, für meine Cousine, 7
für unsere Cousinen, für meine Cousinen, für unseren Großvater, für unsere Großmutter, für meinen Großvater, für meine Großmutter, für unsere Großeltern, für meine Großeltern, für unsere Urgroßeltern, für meine Urgroßeltern, für meinen Urgroßvater, für meine Urgroßmutter, für meine Urgroßmütter, für meine Urgroßväter, für unseren Enkel, für unsere Enkelin, für meinen Enkel, für meine Enkelin, für meine Enkelkinder, für unsere Enkelkinder, für meinen Kollegen, für meine Kollegin, für unseren Kollegen, für unsere Kollegen, für meine Kollegen, für meine Geliebte, für meine Geliebten, für unsere Geliebte, für unsere Geliebten, für meinen Geliebten, für meine Geliebten, für unseren Geliebten, für unsere Geliebten, für unseren Onkel, für meinen Onkel, für meine Onkel, für unsere Onkel, für unsere Tante, für unsere Tanten, für meine Tante, für meinen Neffen, für unseren Neffen, für unsere Neffen, für meine Nichte, für unsere Nichte, für unsere Nichten, für meine Patentante, für meinen Patenonkel, für unseren Patenonkel, für unsere Patentante, für unsere Patenonkel, für unsere Patentanten, für unsere Patentochter, für meine Patentochter, für unsere Patentöchter, für meinen Patensohn, für unseren Patensohn, für unsere Patentöchter, für meinen Schwiegersohn, für unseren Schwiegersohn, für meine Schwiegersöhne, für unsere Schwiegersöhne, für meine Schwiegertochter, für unsere Schwiegertochter, für unsere Schwiegertöchter, für meine Schwiegertöchter, für meinen Schwiegervater, für meine 8
Schwiegerväter, für unsere Schwiegerväter, für unseren Schwiegervater, für meine Schwiegermutter, für unsere Schwiegermutter, für meine Schwiegermütter, für unsere Schwiegermütter. Achtzehn Uhr. »Jeder Tag hat seine Plage«, dachte Molo. Er sammelte seine Lappen und seinen Federwisch zusammen und verließ rückwärts das Schaufenster, wobei er darauf achtete, keine der Marmorplatten umzustoßen, die ihn umgaben. Ganglion hatte sich der Vorderfront des Geschäfts genähert. Die Hände im Rücken gekreuzt, beurteilte er die Arbeit seines Angestellten. »Das muss glänzen, Molo! Der Marmor muss glänzen, da gibt es nichts Geheimnisvolles!« »Staub, Staub … so viel Staub, Chef …«
II
Saint-Jean war eines dieser Dörfer, in denen die Hunde Rex hießen und die Katzen Minou, in denen die Kirche am »Kirchplatz« stand und das Rathaus am »Rathausplatz«. Es gab nicht mehr viel hier, und nicht mehr viele. In der Hauptstraße, der Rue Principale – vormals Rue Centrale –, warteten Bänke vor den Häusern darauf, dass es kühler würde, dass es wärmer würde, dass sie neu gestrichen oder dass sie verbrannt würden, aber dass das Warten endlich ein Ende hätte. Die beiden letzten Geschäfte starben langsam vor sich hin: das »Café du Soleil« und seine drei verschlafenen Kartenspieler und, direkt gegenüber, ein kleiner Laden mit düsterem Schaufenster, »Edmond Ganglion & Sohn – Bestattungsinstitut«. Als Saint-Jean noch ein blühendes Dorf gewesen war, inmitten einer von den Totengräbern vergessenen Gegend, lief das Geschäft gut. Wenn jemand zu beerdigen war, kam man in der ganzen Region an »Ganglion & Sohn« und den »schmerzlosen Bestattungen«, die er ga11
rantierte, nicht vorbei. In Arbeit ertrinkend, hatte er manchmal sogar den Himmel angefleht, Gott möge ihm die eine oder andere ersparen. In jenen gesegneten Zeiten aß auch der letzte Laufbursche bei »Ganglion & Sohn« jeden Tag in der Woche und sogar noch zwischen den Mahlzeiten Tournedos. Das war zu Zeiten des Wohlstands. Dann ging es Jahr für Jahr immer weiter bergab. Nicht die Konkurrenz machte den Markt kaputt, die Toten selbst ruinierten ihn. Die Toten waren tot und fehlten Ganglion schmerzlich. Saint-Jean und die umliegenden Weiler verloren Bewohner, die leeren Häuser beherbergten nur noch die körperlosen Seelen seiner ehemaligen Kunden, und hier starb man nicht vor der Zeit, aus göttlicher Gnade, sozusagen als Entschädigung wegen eines Mikroklimas oder einfach wegen der frischen Luft. Der letzte Kunde, der seinerzeitige Dorfälteste, war am Neujahrstag auf dem Seniorenball gestorben, und schon seit Monaten hatte niemand mit Tränen in den Augen den Laden betreten. Ganglion spürte jeden Tag mit stärkerer Gewissheit das Ende seines Geschäfts herannahen. Die in vierzig Berufsjahren angenommene Gewohnheit, erst »nachträglich« zur Tat zu schreiten, hatte ihn erst recht untauglich gemacht, diesem langsamen Niedergang entgegenzuarbeiten. Als Mann des Epilogs hatten ihn aussichtslose Situationen niemals geschreckt; mehr als alles andere fürchtete er diejenigen, die nur ernst waren. 12
Trotz dieser Flaute bewahrte er sich eine sehr hohe Meinung von seinem Beruf. »Es gibt zwei Personen, die unentbehrlich sind auf Erden«, pflegte er zu sagen. »Die Hebamme und der Totengräber. Zwischen diesen beiden schlagen sich die Menschen irgendwie durch.« In den letzten Jahren war er gezwungen gewesen, Ballast abzuwerfen. Er gab den Steinmetzbetrieb für Grabsteine auf, verkaufte zwei Fahrzeuge und entließ einen Großteil des Personals. Nur zwei Angestellte konnte er behalten: Georges, den Ältesten, ein vertrauenswürdiger und erfahrener Mann, und Molo, den er zuletzt eingestellt hatte, ein junger, stets hilfsbereiter Bursche, den eine eher ehrenamtliche Tätigkeit in diesen schwierigen Zeiten nicht schreckte. Drei Personen alles in allem, gerade genug, um das Gewicht einer schmächtigen Person in einem billigen Sarg zu tragen. Einer vorne und zwei hinten, ein prekäres Gleichgewicht. In diesen Augenblicken litt Ganglion am meisten darunter, dass er keinen Sohn bekommen hatte. Als er bei der Eröffnung seines Geschäfts »Edmond Ganglion & Sohn« in weißen Buchstaben auf das Schaufenster schrieb, geschah dies aus Ungeduld, um besser auf ihn warten zu können. Er malte sich alles wunderschön aus für sie beide, Beerdigungen mit der Schaufel, nationale Beisetzungen, Leichenzüge bis ans Ende der Welt. Er hatte bis ans Ende der Tage auf ihn gewartet, er wartete und wartete auf ihn, aber das nebulöse Kind, erschreckt von 13
einer Zukunft, die bereits vorgezeichnet war auf einer tristen Schaufensterscheibe, wurde nie geboren. Der Bauch seiner Frau wollte nicht so recht, sie bekamen nicht einmal eine Tochter. Doch eines Tages fügte sich alles zum Besten für sie. Der Arzt in der Stadt, den sie häufig aufsuchte, hatte sie so gut behandelt, dass er ihr mitteilte, sie sei schwanger von ihm. Eines schönen Morgens verließ sie das Dorf und ihren in Tränen aufgelösten Mann und zog zu dem Arzt, der ihr das Leben geschenkt hatte. Ganglion war niemals wirklich darüber hinweggekommen. Wenn man Molo fragte, was er im Leben mache, pflegte er zu antworten: »Ich arbeite in der Paramedizin«, und damit musste man sich zufrieden geben. Georges hatte seine Identitätsprobleme seit langem gelöst, und wenn man ihm diese Frage stellte, antwortete er ohne Umschweife: »Ich verdiene nicht am Leben, ich verdiene am Tod.« Doch wie auch immer, die beiden kamen nur selten in die Verlegenheit, auf eine solche Frage antworten zu müssen. Im Dorf gab es keine Neuigkeiten, besser gesagt keine Neugierigen mehr, jeder wusste, wer wer war und wer was machte. Um die Zeit im Laden totzuschlagen, stand Molo früh auf. Kurz vor acht kam er jeden Morgen am Steuer des Leichenwagens an, den Ganglion ihm freundlicherweise als Dienstwagen zur Verfügung gestellt hatte. An diesem 14
Morgen war er zu früh und stand vor verschlossener Tür. Seine Schlüssel hatte er schon vor langer Zeit auf dem Friedhof verloren, als er ein Loch für den Dorftrottel grub, den eine Rechenaufgabe mit Dezimalstellen niedergestreckt hatte. Niemand hatte je auf das Familiengrab der Dorftrottel geweint, und der tränenlose Lehm war trockener und fester als ein Grabstein. Unter Molos wütenden Stößen mit der Spitzhacke war die Erde Zentimeter für Zentimeter zerbröckelt, und, aufgehalten von ein paar Regenwürmern auf der Durchreise, war er erst bei Einbruch der Dunkelheit fertig geworden, mit blutigen Händen und ohne seine Schlüssel, die er in seinem Kampf verloren und nie wiedergefunden hatte. Ganglion hatte ihm keinen Schlüsselbund mehr anvertraut. Molo drückte seine Nase an der Glastür platt. Ganglion war noch nicht heruntergekommen. Er lebte oben in einer Wohnung, die unmittelbar mit dem Laden verbunden war. Wie an den vorangegangenen Tagen hatte er bis spät in die Nacht über der Buchhaltung gesessen. Molo ging ein paar Schritte zurück und sah zu den Fenstern hinauf, die Läden waren noch geschlossen. Er blickte auf seine Uhr, und da er sich erinnerte, dass auch Georges heute erst später am Vormittag kommen würde, überquerte er die Straße, um im »Soleil« zu warten. »Was darf’s sein, Molo? Eine kleine Zwetschge?« Er tat so, als zögerte er, als überlegte er, dass ein Zwetschgenwasser um diese Zeit unvernünftig sei, dass er 15
lieber eine Schokolade oder einen Milchkaffee, einen Orangensaft oder irgendetwas anderes nähme, nur kein Zwetschgenwasser. Er schien noch immer nachzudenken, aber er hatte keine Wahl. Im »Soleil«, das wusste jeder, gab es nur noch dies: vom Besitzer selbst gebranntes Zwetschgenwasser, vom Besten, gut und schön, und zum Preis eines Kaffees, aber sonst nichts, seit die Kaffeemaschine ihren Geist aufgegeben und Jules die letzten kleinen Flaschen voll farbloser Flüssigkeiten ausgeschenkt hatte, die über der Bar aufgestellt waren. Aber man musste das Spiel mitspielen, ein wenig zögern, wie früher, damit Jules nicht sein Gesicht verlor. Die Zeit war um. »Ja, also dann … eine Zwetschge«, sagte Molo. Jules lächelte und stellte ein kleines Glas vor ihn hin, das er bis zum Rand füllte. Molo führte das Glas zum Mund und presste die Lippen zusammen. Jules sah ihn mit großen aufmerksamen Augen an. »Ja, er ist wirklich gut, man schmeckt deutlich die Frucht.« Das war reine Höflichkeit, denn sein Schnaps hatte ebenso viel Geschmack wie Farbe. Aber mehr verlangte Jules nicht. Zufrieden schlug er mit dem Lappen einmal kräftig auf die Theke. Es kamen nur wenig Gäste, die dafür regelmäßig. Die Stammgäste kannten ihre Rolle und zeigten Verständ16
nis. Durchreisende träumten bisweilen von einem diabolo menthe, von Erdbeermilch oder von kühlem Bier, aber Jules bot ihnen freundlich seinen Hausschnaps an. Und auf die eine oder andere Weise gelang es ihm stets, sie zu überreden. Nur ein einziges Mal war er an Dickköpfe geraten. Ein Paar in Shorts mit dicken Waden und zwei Kindern, das aus einem riesigen Campingwagen stieg, war im Café gelandet wie Kolumbus in Amerika. Wie üblich war Jules ihnen zuvorgekommen: »Vier Zwetschgenwasser?« Sie hatten sein Angebot mit einem komischen Akzent abgelehnt und Orangensaft bestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er stets alle überzeugen können. Gewöhnlich insistierte er ein erstes Mal: »Er ist selbst gebrannt, ich mache es selber.« Wenn seine Gäste nicht verstanden, insistierte er weiter: »Es ist wirklich nicht stark, ich brenne es selber, die reine Frucht.« Und er ließ nicht locker, sein Gesichtsausdruck wurde immer ärgerlicher, sodass die Leute schließlich nachgaben. Aber diese hier waren besonders starrsinnig. »Vier Orangensaft.« Jules verlor die Beherrschung und erfrischte sie auf seine Weise. Die Durstigen landeten mit ihrem Campingwagen im kühlen Wasser des nahe gelegenen Weihers. An dem Nachmittag waren keine Gäste da, also auch keine Zeugen. Von seinem Laden aus hatte Ganglion die Szene zwar beobachtet, aber sein Beruf hielt ihn davon ab einzuschreiten, und er verlor nie ein Wort darüber. Es gab keinen Strudel, keine Wellen, nur ein paar Kreise im Wasser. 17
Heute denkt Ganglion oft an diese armen Leute zurück und bereut es bitter. Er ist traurig über die Unbeständigkeit ihrer flüssigen Grabstätte und ihre einfachen Kränze aus Seerosen. Er ist traurig über das Schilf und den Schlamm, die Karpfen und die Libellen, er, der ihnen in diesen schwierigen Zeiten ein anderes, erdverbundeneres Schicksal gewünscht hätte, ein Schicksal aus Marmor und Eiche. »Und sonst, Molo?« »Nichts Neues …« Als Molo einen Blick durchs Fenster warf, sah er, dass Ganglion auf der anderen Straßenseite gerade den Laden aufgeschlossen hatte. Um sich jeden Kommentar zu ersparen, bezahlte er hastig und ging hinaus. Auf der Türschwelle blieb er stehen und betrachtete sorgenvoll den blauen Himmel. Wie gestern und die Tage zuvor war er auch heute blau. Molo fürchtete ihn schon weniger. Georges hatte ihn letzte Woche gewarnt: »Sie sagen, dass die Hochs Krebs erregend sind, mein Alter.« Die Affenhitze dauerte jetzt schon zehn Tage in diesem strahlend schönen Mai, und allmählich begann er daran zu zweifeln. Vorsichtshalber lief er dennoch schnell über die Straße. Kleine, kaum noch rote Zahlen erschienen schief auf der Rolle der Rechenmaschine. Ganglion hatte Hitzewallungen. Die Tinte war fast aufgebraucht, aber wenn er die Augen zusammenkniff, gelang es ihm, die Endsumme zu 18
entziffern. Zum dritten Mal begann er seine Rechnungen von vorn. Molo starrte die große Neonleuchte an, die nur noch flackerte, und wartete, dass ihm gesagt wurde, was er tun solle. Er hatte seinen Chef heute Vormittag noch nicht gesehen; Ganglion hatte sich schon vor seiner Ankunft im Büro eingeschlossen und war immer noch nicht herausgekommen. Seit es mit dem Geschäft bergab ging, war der Arbeitsrhythmus mehr nach Molos Geschmack, denn die Langeweile war ihm tausend Mal lieber als die Unterhaltung der Toten. Er war kurz vor der Talfahrt in das Unternehmen eingetreten, aber er hatte trotzdem noch die Zeit kennen gelernt, in der die Geschäfte gut gingen, und er erinnerte sich, dass sie recht anstrengend gewesen waren. Sein Gefühlsüberschwang, den er nur mühsam zu bändigen vermochte, hatte ihm die Arbeit oft erschwert. Mehr als einmal sprach er auf dem Friedhof der ganzen Familie sein Beileid aus und ließ sich von unbekannten Witwen umarmen, deren Augen unter ihren Schleiern weniger gerötet waren als seine. Es war sogar vorgekommen, dass er, erschöpft von den Überstunden, ohnmächtig geworden und vor der aufs Höchste bestürzten Trauergemeinde am Grab zusammengebrochen war. Für alles Gold der Welt würde er die fetten Jahre von damals nicht noch einmal erleben wollen. Aus Unbekümmertheit oder aus Optimismus machte er sich nie wirklich Sorgen: Sollte das Unternehmen Konkurs anmelden, 19
würde er schon etwas anderes finden. An jedem Tag, der verging, ohne dass etwas geschah, kehrte er heiterer als am Tag zuvor nach Hause zurück und schlief glücklich ein, überzeugt, dass er jetzt den schönsten Beruf der Welt hatte, nämlich den lieben langen Tag darauf zu warten, dass die Leute nicht starben. Es war fast Mittag, als Georges kam. Auf Ganglions Rat hin war er zum Arzt gegangen, um eine Aphthe behandeln zu lassen und sich bei der Gelegenheit nach der Gesundheit der Dorfbewohner zu erkundigen. Molo empfing ihn lächelnd: »Wie geht’s, Georges?« »Es muss gehen. Kundschaft?« »Nein, niemand.« Sie wurden von einem lauten dumpfen Krach unterbrochen, der von hinten aus dem Büro kam. Ganglion erschien. Die Tür klemmte, und er hatte sich gegen sie geworfen, um sie zu öffnen. Er kam nach vorn zu seinen Angestellten, und ohne sie zu grüßen, wandte er sich an Georges: »Und?« »Nichts Schlimmes, ich muss Mundspülungen machen, das ist alles.« »Das meine ich nicht. Wie geht es Chervolin?« »Unverändert.« »Dachte ich mir. Wir werden es nicht schaffen, das ist sicher, wir werden den Sommer nicht überleben …« Und er ging aus dem Laden, um ein wenig Luft zu schnappen. 20
»Er hatte auch gesagt, dass wir den Winter nicht überleben«, sagte Molo unbekümmert. Georges zuckte mit den Achseln. So kurz vor der Rente musste er sich wirklich keine Sorgen mehr machen, aber sollte er die Konkursanmeldung noch miterleben, würde er doch bedauern, dass sein Berufsleben nach so vielen Jahren auf diese Weise endete. Ganglion kam in den Laden zurück und ging sofort wieder in sein Büro. Er wollte sich gerade wieder einschließen, als er die Neonleuchte bemerkte, die verzweifelt versuchte anzugehen. »Schalte sie aus, Molo, wenn du nicht willst, dass ich die Stromrechnung von deinem Lohn abziehe!« Dann schlug er die Tür zu, wobei er sich mit seinem ganzen Gewicht an die Klinke klammerte. Georges und Molo sahen sich an. Die Tür ging sofort wieder mit dem gleichen Getöse auf, und Ganglion erschien erneut. »Und das Schaufenster, soll ich das etwa putzen?« Er schloss die Tür. Die veraltete Rechenmaschine klapperte schon wieder. Er hatte sich erneut in seine dicken Ordner vertieft, die ihm all seine unbezahlten Rechnungen ins Gesicht spuckten. Staub gewischt hatte Molo gestern, vorgestern und an den Tagen davor. Seit einiger Zeit machte er es jeden Tag. Etwas anderes gab es nicht mehr zu tun. Er stand kopfschüttelnd auf und holte, was er zum Putzen brauchte.
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Die Glocken der Kirche läuteten nicht mehr. Sie hatten eines Karfreitags geschwiegen, wie es Brauch ist, waren aber auch an Ostern stumm geblieben und hatten seitdem nie mehr geläutet. Der Pfarrer wartete mit täglich wachsender Ungeduld vergeblich auf den Fachmann aus Rom, den man ihm angekündigt hatte. In der Sonntagsmesse langweilten sich die Gläubigen trotz seiner phantastischen Redebegabung und all seiner Bemühungen, den Gottesdienst fesselnd zu gestalten, das war nicht zu übersehen. Das apokalyptische Spiel des alten tauben Organisten weckte sie am Schluss auf, und sie gingen nach Hause, dieser stets so wenig spektakulären Konsekrationen überdrüssig. Der Pfarrer verlor darüber die Liebe zu seinem Priesteramt. Auf dem Kirchenvorplatz kaute ein Hund auf seinen Zitzen herum. Es musste eine Hündin sein. Ein scharfkantiges Stück Dachziegel flog ihr ins Kreuz. Kläffend lief sie davon.
III
Im von der Mittagssonne durchfluteten Schaufenster sickerte ein trüber Saft aus den künstlichen Rosen und fiel Tropfen für Tropfen auf Bekundungen tiefer Trauer. Molo hatte seine transparenten Plastiksandalen ausgezogen und die Fußsohlen gegen das Metall der Schreibtischschubladen gepresst, um sich abzukühlen. »Wenn ich Zeit habe, muss ich mir die Zehennägel schneiden.« Er griff nach der Wasserflasche, die vor ihm stand, und besprengte das graue Linoleum, das sich vor der Glastür wellte, dann sank er erneut in den großen Rollstuhl. Ein köstlicher Duft erfüllte den ganzen Raum: Ravioli, die er heute Morgen mit Georges bei diesem fahrenden Lebensmittelhändler gekauft hatte, der wer weiß woher gekommen war, und die im Hinterzimmer vor sich hin köchelten. Die riesigen reglosen Flügelblätter des Ventilators an der Decke wurden zur fixen Idee. Seit Beginn der Bruthitze trug Molo jeden Tag unter seiner zu engen schwarzen Tergalhose eine Badehose. Eine Sekunde lang dachte 23
er daran, es sich bequem zu machen, aber Georges hatte einen Kunden, und sie konnten jeden Moment herauskommen. Es war übrigens nicht wirklich ein Kunde, denn trotz der Bruthitze ging es den Dorfbewohnern unverändert gut und dem Unternehmen immer schlechter. Es war nur die Dorfälteste, die gekommen war, um sich untersuchen zu lassen. Alles hatte im letzten Monat begonnen, an dem Tag, an dem sie, da ihr Arzt nicht da war, auf Zehenspitzen angeschlichen kam, in der Hoffnung, hier jemanden zu finden, der sie überzeugte, dass sie noch am Leben war. Bestrebt, die ausgezeichneten Beziehungen zu ihr nicht zu gefährden, konnte Ganglion sie unmöglich abweisen und bat Georges, sich ihrer anzunehmen. Hocherfreut und vollkommen beruhigt war sie gegangen und hatte geschworen, nie wieder einen Fuß in die Praxis ihres Arztes zu setzen, denn der habe ja keine Ahnung. Seitdem kam sie zu Ganglions Leidwesen regelmäßig in den Laden, um den Rat eines Spezialisten einzuholen, der sich mit den komplexen Symptomen eines zu Ende gehenden Lebens besser auskannte. »Nun, Monsieur Georges?« »Nichts Ernstes, wegen so wenig werden wir Sie doch nicht hier behalten. Sie werden uns alle überleben, Madame Tirmarche.« »Das ist nett von Ihnen, aber was ist es denn nun?« »Ich weiß eigentlich nicht so recht, aber was macht das 24
schon, da es Ihnen doch gut geht. Wissen Sie, wir sehen die Dinge etwas anders als unsere Kollegen Ärzte, für uns ist alles einfacher; alles ist entweder weiß oder schwarz.« »Ach …« »Also dann, Madame Tirmarche, bis zum nächsten Mal.« Er öffnete die Tür und forderte die alte Frau mit einer Bewegung des Arms auf, das Büro zu verlassen. Während sie langsam zur Tür ging, steckte sie die Hand in die Tasche ihres Kittels und versuchte mühsam, etwas herauszuholen. Sie blieb vor Georges stehen, und indem sie mit aller Kraft zog, gelang es ihr endlich, den Faden des Futters zu zerreißen, der sich in ihrem Portemonnaie verfangen hatte. Sie öffnete es, ließ die Münzen, die darin schliefen, herausspringen, und indem sie sie im Licht aufglänzen ließ, erkannte sie diejenige, von der sie sich trennen wollte. Verschämt ließ sie sie in Georges’ Hand gleiten. Mit gespielter Verlegenheit steckte er sein Trinkgeld ein, den Ermahnungen seines Chefs zum Trotz, der sich diesbezüglich ganz klar ausgedrückt und seinen Angestellten streng verboten hatte, auch nur einen Centime von der Dorfältesten anzunehmen. Wenn er schon Konkurs machen würde, dann »erhobenen Hauptes und ohne Almosen«. »Vielen Dank, Madame, nach Ihnen …« »Es riecht gut bei Ihnen.« »Oh, so schnell lassen wir uns nicht kleinkriegen, wissen Sie.« 25
Und wie Ganglion es verlangt hatte, begleitete er sie zum Hinterausgang, durch den sie gekommen war, damit die Besuche möglichst unbemerkt blieben. Als er am Kocher vorbeikam, warf er einen Blick in die Kasserolle und stellte das Gas ab. Es hatte alles angesetzt. Er machte ihr die Tür auf, und sie ging hinaus, wobei sie ihm nochmals dankte. »Vorsicht, Stufe.« Sie befand sich in einem kleinen Hof, dessen überall von Rissen durchzogener Boden einem Puzzle ähnelte, aus dem allerlei merkwürdiges Unkraut spross. Noch nie hatte sie so schlimmes und launenhaftes Unkraut gesehen. In ihrem Gemüsegarten zu Hause, den zu bestellen sie nicht mehr die Kraft hatte, wachte sie jeden Morgen schon in aller Frühe darüber, dass nichts wuchs. Es fiel ihr schwer, den unwiderstehlichen Drang zu bezähmen, das Unkraut einzeln auszureißen, und sie konnte einfach nicht anders, als sich auf ihrem Weg zu bücken, um die anmaßendsten Pflanzen mit der Wurzel herauszureißen. Sie nahm die schmale Allee, die zwischen zwei gewellten Einfassungen, bedeckt mit Moos und bläulicher Flechte, durch den Garten führte. Sie traute sich kaum, zur Seite zu blicken. In dem wilden Gras, das alles überwucherte, schlief altes vergessenes Gemüse. Unmittelbar neben dem vertrockneten Kadaver einer Amsel, auf dem es von Ameisen wimmelte, wurden kleine warme Erdbeeren in der Sonne weich. Unter einem Rhabarberblatt wartete 26
ein ausgebleichtes Osterei noch immer auf ein Kinderlachen oder das Ausschlüpfen. Die reinste Anarchie. Der Dschungel. Erschreckt von dieser pflanzlichen Unordnung, beschleunigte sie den Schritt und ging durch die quietschende Eisentür am Ende des Gartens hinaus. »Komm, schenk noch mal nach, Jules.« Ganglion kippte den warmen Schnaps in einem Zug hinunter. Er schloss die Augen, um das Brennen des Alkohols in der Kehle besser auszukosten, vergaß die Alte und trank auf sein Wohl. Wie immer, wenn sie kam und er gezwungen war, sein Büro für die Untersuchung zur Verfügung zu stellen, hatte er den Laden verlassen und war ins Café gegangen, um seinen Stolz im Alkohol zu ertränken. Es fiel ihm schwer, diese berufliche Veränderung zu akzeptieren, die er ein bisschen als Provokation empfand, aber er hatte sich damit abgefunden, indem er die ganze Sache als Dienst am Kunden betrachtete. Im Hinterzimmer schwitzten die Kartenspieler. »Diese verdammte Hitze!« »Noch heißer als gestern.« »Belote …« »Hoffen wir, dass es anhält«, dachte Ganglion, »hoffen wir, dass es anhält.« Der Sommer, der glühend heiß zu werden versprach, war seine letzte Hoffnung.
27
In den zu heißen Nächten schlief Jules schlecht. Er dachte nach. Und der Gedanke, dass die Kinder im Weiher durch seine Schuld die Schule versäumten, stürzte ihn in tiefe Verzweiflung, ihn, der nie Lesen und Schreiben gelernt hatte. Am 14. Juli explodierte in der Abenddämmerung ein rotes Licht, glitt mit unendlicher Vorsicht wieder hinunter und erlosch. Eine abschließende Garbe wie ein Notsignal.
IV
Es gab kein hübscheres Mädchen als Delphine, die Tochter des Küsters. Molo hatte schon sehr hübsche in den Magazinen gesehen, aber keine war wie Delphine. Und keine roch so gut wie sie. Man sprach von ihr, man stellte sie sich vor, man stellte Vermutungen über sie an, aber nur wenige hatten sich ihr genähert. Ihr Vater, der Wächter ihrer illusorischen Jungfräulichkeit, sperrte sie ein, um nicht »Perlen vor die Säue zu werfen«. Samstagabends betrachtete sie im Vanille-KokosSchaum ihres kochend heißen Bades ihre schrumpelnden Finger und ihre ruhigen Brüste, die wie geduldige Inseln aus dem Wasser ragten. Wenn alle schliefen, verließ sie auf Zehenspitzen das Haus und wartete an der Straßenecke. Der Leichenwagen kam geräuschlos im Leerlauf und ohne Licht angerollt. Delphine stieg ein, Molo ließ den Motor an, und sie fuhren los. Direkt am Dorfausgang nahmen sie einen kleinen Feldweg und drangen noch etwas weiter in die Dunkelheit ein. Und dort verdrehte sie Molo 29
den Kopf mit Zimt, Patschuli, Jasmin und Schweiß und schmückte die Nacht mit ihren schönsten Seufzern. Bevor sie wieder losfuhren, sprach Molo zu ihr. Sie piekte ihre Lippen mit einer Haarnadel, aber sie hörte ihm nicht zu und antwortete nie. Sie war nicht böse, nur taubstumm. Und da sie sich immer nur im Halbdunkel trafen, las sie nichts anderes von seinen Lippen als seine ungeschickten Küsse. Oft amüsierten sie sich auch im gelben Licht der Deckenlampe damit, die Farbe ihrer Augen zu erraten. In einer Gewitternacht wagten sie sich auf demselben Feldweg vielleicht noch etwas weiter vor. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, der völlig aufgeweichte Weg war kaum befahrbar, und Delphine trug ihren kompliziertesten Büstenhalter. Auf dem Rückweg fuhr Molo in eine Spurrille und blieb im Schlamm stecken. Unter den neugierigen Blicken einer Kuh, die nicht schlafen konnte, fuhr er sich nur noch mehr im Schlamm fest, und sie mussten den Leichenwagen auf der Weide stehen lassen. In strömendem Regen gingen sie zu Fuß ins Dorf zurück. Delphine roch nach nasser Katze. Wie man sie gebeten hatte, erzählte die Dorfälteste niemandem von der Sonderbehandlung, die sie erhielt. Niemandem. Aber in Saint-Jean kam alles heraus. Und es kam heraus. Andere alte Leute standen im Laden, redeten um den heißen Brei herum, und Ganglion konnte 30
ihnen unmöglich abschlagen, was er einer von ihnen bereits gewährt hatte. Aus Angst, sie alle zu verlieren, willigte er ein, dass Georges auch sie empfing. Seine Untersuchungen führten immer zu der gleichen Diagnose, und sie freuten sich. Während er auf den August, den Monat der Ferienreisewelle, wartete, ertränkte Ganglion sein Magengeschwür in Schnaps. Seine Angst verwandelte sich in katzenhafte Geduld. Seit kurzem reagierte er auf die Situation mit erstaunlicher Gelassenheit. Er hatte sogar begonnen, telefonische Kundenwerbung zu betreiben. »Bei Ganglion & Sohn kommen die Leute nicht unter die Erde, sondern in den Himmel. Und was die Kronen betrifft, da sind wir erheblich billiger als die Zahnärzte, glauben Sie mir.« Aber die Sache war heikel, und trotz des Takts, mit dem er vorging, endete das Gespräch angesichts des Empfangs, der ihm bereitet wurde, häufig damit, dass er seinen Gesprächspartner wüst beschimpfte, bevor er auflegte. Manchmal rutschte sein zögernder Finger auf den Kolonnen des Telefonbuchs aus, und es passierte ihm, dass er dieselbe Person noch einmal anrief. Sich biegend vor Lachen beschimpfte er sie dann ein weiteres Mal. Georges und Molo fingen an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Auf dem Kirchenvorplatz leckte sich ein haarloser Hund gelangweilt den Hintern. Plötzlich spürte er einen furcht31
baren Stoß. Er wurde durch die Luft geschleudert und kotzte sein Futter vom Mittag aus. Seine Ungezwungenheit hatte ihm einen tüchtigen Fußtritt in die Seite eingebracht. Als sei nichts geschehen, setzte der Pfarrer seinen Weg zum Pfarrhaus fort.
V
An jenem Tag war das Zwetschgenwasser etwas stärker oder die Sonne etwas heißer. Beduselt von Jules’ immer gleicher Leier, hatte Ganglion sich auf die Terrasse gesetzt und ließ sich vom aufdringlichen Summen unsichtbarer Insekten wiegen. Gemächlich sammelte er eine Handvoll Kieselsteine auf und versuchte sie einen nach dem anderen durch das Loch in der Mitte des Tisches zu werfen. Übrigens trug der Ort wohl nicht von ungefähr den Namen »Café du Soleil«: es gab nämlich keine Sonnenschirme. Schlaff auf seinem Stuhl sitzend, durchkämmte er den Boden mit einer Hand, um weitere kleine Kiesel zu sammeln, warf einen Blick in Richtung Laden und setzte sein Spiel fort. Seit fast zwei Stunden war sie nun schon da, seit fast zwei Stunden kümmerte sich sein Angestellter um sie. Die Alten nutzten seine Gutwilligkeit und seine Momente der Trunkenheit nach Kräften aus. Die Situation lief aus dem Ruder. »Sie nutzen meine Gutwilligkeit wirklich aus.« 33
»Wie alt sind Sie jetzt, Madame Tirmarche?«, fragte Molo. Sie schien betreten und musste nachdenken: »… Siebenundneunzig oder … neunundsiebzig … Ich weiß es nicht mehr so genau.« »Man sieht es Ihnen jedenfalls nicht an.« »Schön kurz hinten, hm?«, beunruhigte sich die Dorfälteste und drehte plötzlich den Kopf zu Molo. »Ja, schön kurz, aber bewegen Sie sich nicht, wie soll ich Sie frisieren, wenn Sie sich dauernd bewegen.« Die alte Frau war so mager und hatte einen so dünnen Hals, dass Molo Angst hatte, ihr in einer ungeschickten Bewegung mit der Schere den Kopf abzuschneiden. »Aber ich muss doch atmen.« »Dann atmen Sie, aber nur einmal.« Sie unterhielten sich über Gott und die Welt, den letzten Sommer, der mild gewesen war, diesen, der unerträglich war, und den nächsten, der vielleicht nicht sein würde. Sie schilderte Molo das Martyrium ihres Lebens als Dorfälteste, dass man ihr bei jedem Atemzug gratulierte und jedes Ausatmen belauerte. Manche – sie wusste wer – neideten ihr sogar ihre Tage, denn sie warteten nur darauf, ihren Platz einzunehmen, um in den Genuss der Ehren zu kommen, die ihr Rang mit sich brachte. Molo ließ sich rühren, und während er ihr die Haare im Nacken kürzte, richtete er sie wieder auf. 34
Als Ganglion den Arm hob, ohne sich umzudrehen, und mit seinem leeren Glas gegen die Scheibe schlug, kam Jules mit der Flasche in der Hand heraus, betrachtete seufzend den wolkenlosen Himmel und ließ den Korken quietschen. Ganglion wunderte sich, dass mit fortschreitender Übung seine Bewegungen immer unpräziser wurden. Vom Alkohol und von der Hitze aufgedunsen, schwitzte seine puterrote Haut einen säuerlichen Schweiß aus, der auf seinem Gesicht und in seinen Augen brannte. Als es ihm nicht mehr gelang, auch nur einen Kiesel durch das Loch in der Mitte des Tisches zu werfen, forderte er sich selbst heraus. »Wenn ich treffe, geh ich hinüber und werf sie hinaus. Wenn ich nicht treffe, trink ich noch ein Glas.« Er strengte sich an, aber der Kiesel prallte an dem runden Tischchen aus Metall ab und fiel zu Boden. Sein Blick wurde starr. Er hatte es bereits vergessen. »Was hab ich gesagt? … Wenn ich nicht treffe, trinke ich noch ein Glas, oder wenn ich nicht treffe, werf ich sie hinaus? … Ich hab gesagt … wenn ich treffe, gehe ich hinüber. Nein. Wenn ich treffe, trinke ich noch ein Glas.« Eine vertraute Stimme ertönte in seinem Kopf: »Im Zweifelsfall verzichte.« »Worauf verzichten?«, dachte er, »darauf, noch ein Glas zu trinken, oder darauf, sie hinauszuwerfen?« Sein ganzes Leben hatte er sich von dieser inneren Stimme leiten lassen, die ihm in schwierigen Momenten blödsinnige Sprichwörter rezitierte, die er immer aufs 35
Wort befolgt hatte. Zum ersten Mal verachtete er diese gebieterische Stimme, die er stets als ein kostbares Geschenk betrachtet hatte, überzeugt, dass es die Stimme des Heiligen Geistes oder eines wohlmeinenden Engels war. Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche, säuberte seine staubigen Hände und trocknete sich die Stirn. Er hatte sich noch nicht damit abgefunden, dass die Alten sein Geschäft gegen seinen Willen in eine Arztpraxis verwandelt hatten; er schwor sich, dass sie, so lange er lebte, keinen Friseursalon daraus machen würden. Er leerte sein Glas, genoss den letzten Tropfen, stand vorsichtig auf und überquerte die Straße, die ihm Schwindel verursachte. Molo blies so stark, dass ihm schwindlig wurde, in die Ohren und über die Nase der Dorfältesten, um die Härchen zu entfernen. Mit einer eleganten Bewegung befreite er sie von seiner Jacke, die er ihr an den Ärmeln als Kittel um den Hals gebunden hatte. Er war recht stolz auf seine Arbeit, die der alten Frau in gewisser Weise das Aussehen eines jungen Vogels zurückgegeben hatte, aber sie konnte sich nicht sofort davon überzeugen, denn es gab hier keinen Spiegel; die einzigen spiegelnden Oberflächen waren die kleinen Marmorplatten, aber es war etwas heikel, ihr ein so düsteres Spiegelbild anzubieten. Nachdem sie Molo wie gewöhnlich ausgiebig gedankt hatte, hielt sie ihm eine kleine Münze hin. Wie immer wies er sie entschieden zurück. 36
»Kommt nicht in Frage!« »Doch, nehmen Sie!« »Nein, wirklich, das kann ich nicht annehmen.« »Muss ich erst böse werden!« »Sie übertreiben!« »Aber nein.« »Doch.« »Danke.« Ganglion stürmte in den Laden. Er tobte, und die Dorfälteste purzelte die drei Stufen des Eingangs hinunter. Auf dem Kirchenvorplatz kopulierten zwei Hunde, ein wenig angespannt, nicht wirklich ruhig. Coitus interruptus. Sie wurden mit heftigen Knüppelschlägen getrennt. Die Hündin, noch benommen, konnte nicht rechtzeitig zubeißen und landete in einem Sack. Das Männchen wollte um jeden Preis zu Ende kommen und umklammerte das Bein des Küsters, aber dann ließ es, schrecklich frustriert, ab und musste fliehen, um seine Haut zu retten. Der Küster warf sich den Jutesack über die Schulter und ging zum Pfarrhaus. »Einer von zweien, das ist gar nicht so schlecht. Der Herr Pfarrer wird zufrieden sein.« »Wissen Sie, dass es in China keine Hunde gibt, Wintz?«, sagte der Pfarrer, während er den zappelnden Sack entgegennahm, den der Küster ihm hinhielt. »Ach ja? Nein, das wusste ich nicht.« 37
»Es gibt dort keine mehr, weil sie sie essen.« »Mein Gott!« »Lassen Sie Gott aus dem Spiel, okay?« Der Pfarrer stellte den Sack im Nebenzimmer ab. »Und die Pekinesen?«, fing der Küster wieder an. »Kommen Sie mir nicht mit Ihrer Besserwisserei, das mag ich nicht.« Wintz senkte den Blick. »Ich wollte Sie nicht verstimmen.« Der Pfarrer legte ihm die Hand auf den Rücken. »Ich will Sie nicht aufhalten, ich habe zu arbeiten.« »Ich habe es Ihnen nicht gesagt, aber ich habe nur das Weibchen erwischt.« »Ich habe sehr wohl bemerkt, dass da nur einer drin ist.« »Glauben Sie, dass Sie etwas aus ihr herausbekommen?« »Sie wird gestehen, Wintz, das garantiere ich Ihnen, und wenn die ganze Nacht draufgeht.« »Das will ich wohl glauben.« Der Pfarrer begleitete den Küster zur Tür. »Habe ich Ihnen jemals erzählt, dass ich Missionar in China werden wollte?« »Nein, ich glaube nicht«, sagte der Küster, überrascht von diesem Geständnis. »Der Bischof war stets der Ansicht, dass ich in SaintJean nützlicher sei, was soll man machen?« 38
»Es ist ja auch sehr weit weg …« »Es ist ein faszinierendes Land, eine überlegene Zivilisation, da kann man sagen, was man will. Die Chinesen sind durchtriebene Folterer. Eines Tages werde ich dorthin gehen, das ist sicher. Wenn der Bischof tot ist.« »Sie werden uns fehlen, Herr Pfarrer.« »Nur keine Sorge, noch ist es nicht so weit.« Am selben Abend ging Ganglion, nachdem er zugesperrt hatte, von Gewissensbissen geplagt in die Kirche, um dafür zu beten, dass die Dorfälteste noch einmal mit einem blauen Auge davonkommen möge. Er gelobte, nicht mehr zu trinken, und für alle Fälle bat er darum, dass die Geschäfte wieder besser gehen mögen. Als er eine Kerze anzünden wollte, um seinen Gebeten mehr Nachdruck zu verleihen, war er sprachlos, als er den Preis entdeckte. »Hundert Francs pro Kerze.« Durch solche Tarife versicherte sich der Pfarrer, dass die allzu unmotivierten Gemeindemitglieder nichts vom Himmel erhielten, dass diejenigen, die um alles und um den letzten Mist baten, nicht mehr darum baten und dass diejenigen, die dankten, noch etwas mehr Dankbarkeit bewiesen. Empört kramte Ganglion in seinen Taschen, holte aber nicht mehr als sehr wenig Kleingeld hervor. »Was soll’s«, dachte er, »Gott kommt es nicht auf hundert Francs an, und wenn doch, ist eh alles verloren.« Er ließ ein paar gelbe Münzen im Opferstock klingeln, und da keine Kerze brannte, zündete 39
er eine mit seinem Feuerzeug an. Er profitierte ein paar Sekunden von seiner geraubten Flamme, dann bekreuzigte er sich und ging. Vom Chor aus hatte der Küster, damit beschäftigt, den Altar mit Blumen zu schmücken, die Szene unbemerkt beobachtet. Sobald Ganglion verschwunden war, ging er eilends nachsehen, ob sein Verdacht richtig war. Als er den Opferstock öffnete, sah er, dass die Summe nicht im Entferntesten stimmte. Er blies die Kerze aus und stellte sie an ihren Platz zurück. Während das Öl unter dem Leichenwagen auslief, setzte sich Molo in den Schatten und lehnte sich gegen den Reifen. Er hatte sich auf den Weg einer Ameise gesetzt. Einer schwarzen Ameise, die einen verschrumpelten Kadaver auf ihrem Rücken schleppte. Eine Kollegin. Er fühlte sich ihr nahe, er verspürte den irritierenden Wunsch, der Freund einer Ameise zu werden. Um ihre Bekanntschaft zu machen und ihr einen anstrengenden Umweg zu ersparen, ließ er zu, dass sie über seinen Körper lief, und ohne sich zu bewegen, ihr mit den Augen folgend, begleitete er sie bis zur anderen Seite seiner selbst; dann trennten sie sich. Er spürte ein leichtes Brennen auf seiner Hand. »Verflixte Ameise!«
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Einen Monat später trippelte die Dorfälteste bereits wieder entgegen aller Hoffnung durch das Dorf, von Haus zu Haus, von Keks zu Keks. Seit dem Zwischenfall hatten weder sie noch irgendein anderer von den Alten jemals wieder den Laden betreten. Ganglion wusste, dass sie ihm nicht verzeihen würden. Er trat vor die Tür. Gegenüber brachte Jules die Tische und Stühle seiner Terrasse hinein. Er winkte ihm zu. Bis Allerheiligen, wo er ein paar Platten und Blumen verkaufen würde, hatte er nichts mehr zu erwarten. Der Sommer hatte ihn verraten.
VI
Es war ein großes Haus, fern von allem, auf halbem Weg zwischen Saint-Jean und anderswo. Es war im Morgengrauen, zu der Stunde, in der die Nebel zwischen Himmel und Erde schwankten. Und hinter den bereits erleuchteten Fenstern wirkten die Schatten noch schwärzer. Der Arzt kam, um den Tod festzustellen. Er war vor der Zeit gestorben, vor dem Alter, in dem man stirbt. »Was schulde ich Ihnen, Doktor?« »Für die Feststellung des Todes nichts. Eine Frage der Ethik. Eine zu einfache Diagnose …« Molo kniete im Heck des Leichenwagens und saugte. Verschreckte Schafe flüchteten sich in die Ecken hinter alte eingerollte Blütenblätter. Eine Haarnadel verschwand mit einem metallischen Klirren. Vorbei das schöne Leben. Ein weißer Kombi mit gespachtelten Kotflügeln bremste vor dem Laden und hielt etwas weiter entfernt auf der anderen Straßenseite. Molo schaltete den Staubsauger 43
aus und guckte, wer da ankam. Es war ein nicht mehr ganz junges Paar, vermutlich die, die vorhin angerufen hatten. Sie zögerten, erst nach einer Weile setzte sie einen Fuß hinaus, direkt in eine kleine Pfütze. Sie schreckte zurück und schloss die Wagentür wieder. Er startete erneut den Motor und fuhr etwas zurück, damit sie nicht durchs Wasser gehen musste. Langsam und mit übertriebener Gestik stiegen sie schließlich aus, ständig klammerten sie sich fest und warfen leere Blicke auf unbedeutende Details. Er ging um den Wagen herum und überprüfte, ob er die Türen auch fest verschlossen hatte. Sie wartete auf ihn. Hinter den getönten Scheiben des Leichenwagens ließ Molo sie nicht aus den Augen. Arm in Arm gingen sie über die Straße und blieben vor dem Schaufenster stehen. Sie wollten schon hineingehen, als ihm, in einem letzten Ausweichmanöver, Zweifel kamen und er wieder über die Straße ging, um sich nochmals zu versichern, dass ihr Wagen wirklich verschlossen war. Diesmal wartete sie nicht auf ihn, öffnete die Tür, und das kristalline Klingeln der Glocke ließ sie für eine Sekunde glauben, dass sie eintrat, um eine gut durchgebackene Baguette zu verlangen. Es würde eine kleine Beerdigung in Saint-Jean geben. Nach dem Friedhof würde man kalten Braten im »Soleil« essen, und die »Réserve du Patron« würde uns den Kampfergeruch und den Weihrauchduft abspülen. Vanille-Pistazie zum Nachtisch, und jeder würde nach 44
Hause gehen und seinen Kummer in zwei Augentropfen ertränken. Ganglion war erhört worden, aber er hatte einen kühlen Kopf behalten. Wenn dieser vom Himmel gefallene Verstorbene ihm auch erlauben würde, seine aufdringlichsten Gläubiger zu beruhigen, wusste er doch sehr gut, dass er mehr als einen brauchte, damit das Geschäft wieder in Gang kam. Er setzte auf das Gesetz der Serie. An der Straßenecke hatten sich einige Personen versammelt und blickten zu den Dächern gegenüber. Eine verzweifelte Katze hatte sich an einer Antenne erhängt. Molo beobachtete eine ganze Weile regungslos das Gesicht des Mannes, in der Hoffnung auf ein Zeichen, und sei es noch so klein. Während er auf ein unwahrscheinliches Blinzeln, ein geblähtes Nasenloch oder irgendwelche Zuckungen lauerte, verlor er wertvolle Zeit und war gezwungen, einen verbissenen Kampf mit dem Kunden auszufechten, der vom Warten ganz steif geworden war. Das Ergebnis war jämmerlich. »Eine säuische Arbeit«, war Georges’ Kommentar. Mehr schlecht als recht rettete er, was zu retten war. Die Toten hatten ihm nichts mehr zu sagen, nichts mehr vor ihm zu verbergen; er träumte nicht, er handelte. Der Mann trug seinen Sonntagsstaat an einem Wochentag. 45
Seine Lederkrawatte mit Klaviertastenmuster war eigentlich ein Missklang, aber das war nicht mehr zu ändern. »Der schlechte Geschmack hat ihn umgebracht«, sagte Georges grinsend. »Ich find’s eher lustig.« »Das wundert mich nicht.« Die Aufbahrung fand im ehemaligen Umkleideraum des Fußballklubs statt. Deswegen standen dort all diese Garderobenständer herum und deswegen gab es dort so viel Platz zum Hinsetzen. Hinter einem großen schwarzen Vorhang hatte man den Duschraum verborgen. In den zwei Tagen, die er dort zubrachte, bekam er viel Besuch. Alle kamen, um zu sehen, ob sein Kopf ihnen etwas sagte, und enttäuscht gingen sie wieder. Als Molo am zweiten Abend den Raum schließen wollte und die Kerzen um den Sarg ausblies, kam ein kleiner Dicker splitterfasernackt und pfeifend hinter dem Vorhang hervor, ein Handtuch über der Schulter und ein Stück Seife in der Hand. Molo stieß einen Schrei aus. Seine Stimme hallte noch zwischen den Mauern, als die Person schon wieder verschwunden war. Die Aufregungen der letzten Tage hatten ihn mehr erschöpft, als er gedacht hatte. Am Morgen der Beisetzung schreckte Molo aus dem Schlaf. Seine Uhr hatte nicht geklingelt. Er suchte sie auf 46
dem Nachttisch, auf der Erde, überall, ohne sie zu finden. Er war mit Sicherheit zu spät dran. Der Tag fing gut an. Nach dem Willen des Paares sollte der Verstorbene nach der Messe in Saint-Jean auf dem Friedhof von Bréhau bestattet werden, wo die Familie ruhte. Da der Weg dorthin lang war – was Ganglion gefiel, weil er es entsprechend in Rechnung stellen konnte – und es um diese Jahreszeit schnell dunkel wurde, war die Zeremonie auf den Vormittag gelegt worden. Die Messe war kurz, ohne Orgel und ohne Chor. Eine kleine kalte und feuchte Messe, schlecht für den Rheumatismus und schlecht für die Hämorrhoiden. Einige Dorfbewohner kamen, weil sie sich langweilten, andere aus Neugier, wieder andere, damit man ihnen ihre Höflichkeit erwiderte, wenn es sie träfe. Die Dorfälteste machte durch trockenen Husten nachdrücklich auf ihre Anwesenheit aufmerksam. Die Tante drehte sich um und sah, dass zwischen ihr und den Leuten, die hinten saßen, die Bänke leer waren, niemand war gekommen. Sie ließ sich nichts anmerken. Die Beruhigungsmittel, mit denen sie sich in den letzten Tagen voll gepumpt hatte, gaben ihr das Gefühl, sich in einem Kokon aus dumpfem, aber erträglichem Schmerz zu bewegen, aus dem sie nur eine wattige Wirklichkeit wahrnahm. Hypnotisiert vom Hin-undHerschwenken des Räucherfasses und unter der Wirkung der gleichen Beruhigungsmittel war ihr Mann eingenickt. Auf der anderen Seite war »Ganglion & Sohn« vollzäh47
lig in der ersten Reihe angetreten, die Schirmmütze in den Händen und mit fast schuldbewusstem Gesichtsausdruck. Der Pfarrer kannte den Verstorbenen nicht, er hatte nichts über ihn zu sagen, nicht einmal einen netten Satz für unterwegs. Ein Chorknabe verfing sich mit den Füßen im Teppich und verschüttete die Hälfte des Weihwasserbeckens über die Füße des Pfarrers. Als die Glöckchen erklangen, verneigten sich alle, und Molo zog einen Schlussstrich. Da fiel Georges auf, dass sein Kollege immer noch seine Plastiksandalen trug, aber immerhin hatte er Socken angezogen. Er stieß ihn unauffällig mit dem Ellbogen an und wies mit dem Kinn auf seine Füße. »Ich kann meine schwarzen Schuhe nicht finden«, flüsterte Molo ihm ins Ohr. In der fast leeren Kirche verhallte ihr Requiem zwischen den Steinen. Auf dem Kirchenvorplatz wartete der Hund darauf, dass der Leichenzug aus der Kirche kam, denn es würde Reis geworfen werden, und das fand er hübsch. Als die Türen endlich aufgingen und er sie herauskommen sah, erhob er sich glücklich und wedelte mit dem Schwanz. Hinter dem Pfarrer und den Chorknaben gingen Ganglion und Molo vorn unter dem Sarg, und Georges ging allein hinten, ohne Sauerstoffgerät. Ganglion stellte fest, dass die Türen des Leichenwagens geschlossen waren, und stürzte nach vorn, um sie zu öffnen. Vom Sarg zu Boden gedrückt, gin48
gen Georges und Molo weiter. Alle Muskeln ihres Körpers wurden starr. Sie blieben stehen, um das Gewicht zu verlagern, und Molo legte die letzten Meter rückwärts gehend zurück, die Fingernägel ins lackierte Holz gegraben, das ganz langsam seinen feuchten Händen entglitt. Sie trugen den Sarg nur noch wie eine einfache Kiste mit gestreckten Armen in Taillenhöhe. Sie blieben vor ihrem Chef stehen, der wütend aussah, und wunderten sich, dass er die Türen noch nicht geöffnet hatte. Ganglion bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren: »Sie sind abgeschlossen.« Zuerst reagierte Molo nicht, dann wurde ihm bewusst, dass er daran nicht unschuldig war: »Ich glaube, die Schlüssel sind in meiner Tasche«, sagte er beschämt und kaum hörbar. »Absetzen!«, sagte Georges, am Ende seiner Kräfte. Und sie stellten den Sarg auf den Boden, zu Füßen des Leichenwagens. Man hörte Tuscheln, der Küster murmelte dem Pfarrer etwas ins Ohr, eine Welle der Empörung ging durch den Leichenzug. Molo durchwühlte hastig seine Taschen, ohne Erfolg, dann stülpte er sie nervös eine nach der andern um. Ein Regen von Krümeln und Konfetti ergoss sich über den Sarg, wie eine fröhliche Melodie über das dunkle Holz. »Ich hab sie doch in meine Tasche gesteckt, da bin ich sicher …« Die Sekunden des Schweigens, die verstrichen, laste49
ten auf Ganglions Schultern wie aller Marmor aus seinem Marmorbruch. Sein Blick begegnete dem der Tante, er ging zu ihr und begann eine Unterhaltung mit dem ersten Gedanken, der ihm durch den Kopf ging. »Geht es Ihnen gut, Madame?« Sie bejahte mit einem leichten Kopfnicken. »Haben Sie Tiere, Madame?« Sie atmete tief ein. »Ich hatte eine Katze, aber sie ist tot.« »Entschuldigen Sie, das wusste ich nicht …« »Diese Katze sein, die Lächerlichkeit und Scham nicht mehr kennt«, dachte Ganglion, »jetzt dieses schon verweste Tier sein, und nicht mehr wegen irgendetwas aus Mitleid rot werden müssen.« Hinter seinem Rücken war Molo erneut dabei, seine Taschen eine nach der andern zu durchwühlen. »Das ist das Gesetz der Serie«, sagte Georges, um seinem Chef zur Hilfe zu kommen. »Das Gesetz der Serie«, wiederholte Ganglion. »Ja, so ist es, leider …« Dann drehte er sich zu Molo um und befahl ihm, in den Laden zu laufen und dort einen Zweitschlüssel zu holen. Molo gehorchte und lief zum Geschäft. Nach ein paar Minuten machte er kehrt und kam zurückgerannt. »Ich hab sie! Hier sind sie! Ich habe ein Loch in meiner Jackentasche, sie waren ins Futter gefallen.« Ganglion riss ihm die Schlüssel aus der Hand und 50
öffnete ohne ein weiteres Wort hastig die Tür. Sie schoben den Sarg hinein, dann versammelten sich alle hinter dem Leichenwagen, um den Leichenzug zu bilden. Ganglion würde nicht mitfahren, er konnte sich nicht erlauben, das Geschäft den ganzen Nachmittag zuzusperren. Für den Fall, dass heute jemand anrief oder vorbeikam, was aufgrund des Gesetzes der Serie sehr wahrscheinlich war, musste er unbedingt anwesend sein, um nicht zu riskieren, auch nur einen Kunden zu verlieren. Zum Glück hatte der Küster, der den Pfarrer begleitete, sich bereit erklärt, auf dem Friedhof zur Hand zu gehen. Molo starrte ihn lange an. Er dachte an Delphine. »Die Natur ist schon komisch«, dachte er. »So hässlich der Vater, so schön die Tochter.« »Etwas nicht in Ordnung, junger Mann?« Molo wandte den Blick ab. Ganglion entschuldigte sich nochmals für »diese kleinen technischen Pannen«, und um seinen guten Willen zu beweisen, gab er seinen Kunden zu verstehen, dass er ihnen eine Gutschrift geben oder einen Nachlass gewähren würde. Vertraulich fügte er hinzu: »Ich werde mich sofort darum kümmern.« Dann verabschiedete er sich und ging zu Fuß zum Laden. Molo setzte sich ans Steuer, wie immer, denn wegen seines Glasauges zog Georges es vor, nicht zu fahren. Der Leichenwagen setzte sich in Bewegung, fuhr langsam über 51
den Kirchplatz und bog dann in die Rue Principale ab, den alten weißen Ford im Schlepptau, in dem Wintz und der Pfarrer auf dem Rücksitz Platz genommen hatten. Der Hund schloss den Zug und trabte hinter ihnen her, gerührt von der Rücksichtnahme der Menschen, die die Geschwindigkeit des Leichenzugs seinen Kräften als alte Promenadenmischung mit zu kurzen Beinen angepasst hatten. Als er das Klappern der Krallen auf dem Asphalt hörte, drehte der Pfarrer sich um. Und während er hinterher lief, fragte sich der Hund, wann denn nun endlich der Reis geworfen würde. Kaum hundert Meter weiter verlangsamte der Leichenzug seine Geschwindigkeit und blieb am Straßenrand stehen, direkt vor dem »Soleil«. Da es besser war, sich vor der Beerdigung zu stärken, und weil Jules früh zumachte, war beschlossen worden, dass der kleine Imbiss jetzt eingenommen werden sollte. Der Onkel holte einen cubitainer mit Rotwein aus dem Kofferraum und brachte ihn ins Café, direkt in die Küche; dann kam er sofort wieder heraus, um den Kartoffelsalat und die Kuchen zu holen, die seine Frau den ganzen gestrigen Abend gebacken hatte. Bevor er beladen wieder hineinging, klopfte er mit dem Ellbogen an die Scheibe des Leichenwagens. »Sollen wir Ihnen etwas hinausbringen?« Molo zögerte zuerst aus Höflichkeit, doch bevor er annehmen konnte, antwortete Georges an seiner Stelle: »Nein danke, das ist sehr nett.« 52
»Schön … Also dann bis nachher«, sagte der Onkel. »Ich denke nicht, dass es sehr lange dauern wird.« Dann ging er zu seiner Frau, die auf ihn wartete. »Ich hab Hunger«, bemerkte Molo. »Ich auch«, sagte Georges, »aber das ist kein Grund anzunehmen.« Als sie hereinkamen, war der Tisch gedeckt. Der vertrocknete Schweinebraten lag in dünnen Scheiben auf drei Platten und wartete nur noch auf ein paar Tränen, die ihm Geschmack geben würden. Für diejenigen, die keinen Schweinebraten mochten, gab es Roastbeef. Diejenigen, die es wünschten, konnten natürlich auch Schweinebraten »und« Roastbeef haben. Es gab auch Wurstwaren. Drei Sorten Schinken: Scheiben von gekochtem Schinken, um Gürkchen gewickelt, von geräuchertem Schinken und von rohem Schinken. Gürkchen seien noch da, man müsse nur fragen und sich nicht genieren. Auf zwei weiteren Platten lagen Knoblauchwurst, Salami, Mortadella und Pastete im Teigmantel. »Ach ja, Brot, das Brot bring ich gleich, bitte, setzen Sie sich.« Anschließend entfernte Jules die Aluminiumfolie, die noch die Salatschüsseln bedeckte. Es gab Selleriesalat mit Remoulade, Karottensalat, Tomatensalat, grünen Salat natürlich und nicht zu vergessen Kartoffelsalat. Für diejenigen, die rote Bete mochten, gab es auch das. Zwei Mayonnaiseneier waren pro Person vorgesehen. Er brachte eine Platte mit etwa zehn Käsesorten. Um den Nachtisch würde er sich später kümmern. 53
»Setzen Sie sich, ich bringe den Wein.« Jules atmete kurz durch und überlegte, was er vergessen haben konnte. Die Tante stand mit starrem Blick am Kopfende des Tisches, die Hände auf die Papiertischdecke gestützt. »Ein Problem? Fehlt etwas?« Er wollte ihr zuvorkommen: »Die Wasserkaraffen bringe ich Ihnen sofort …« Aber daran dachte sie nicht. Angesichts der für fast dreißig Personen gedeckten Tafel kam ihr zum Bewusstsein, dass sie definitiv nur zu viert sein würden. Sie drehte sich zu ihrem Mann um. »Niemand ist gekommen, André, stell dir vor, niemand …« Tränen traten ihr in die Augen und ergossen sich in die langen Falten, die ihr Gesicht durchzogen. Ihr Mann nickte mit dem Kopf und legte seine Hand auf ihre Schulter. Während er sie tröstete, stellte er sich eine quälende Frage: Hatte er die Familie benachrichtigt, wie sie ihn gebeten hatte? Er konnte sich nicht erinnern, und ihm kamen ernsthafte Zweifel. Der Pfarrer und der Küster kamen herein. Sie waren von dem Hund aufgehalten worden, den sie mit Steinen beworfen hatten. Jules begrüßte sie mit den Worten: »Bleiben Sie nicht vor der Tür stehen, Herr Pfarrer, lassen Sie die anderen hinein.« In der Euphorie über seine dreißig Gedecke hatte er noch nichts mitbekommen. Also nahm der Onkel ihn beiseite, um ihm zu erklären, dass niemand mehr kommen würde. Und Jules bot ihm außerordentlich entgegenkommend einen kleinen Preisnachlass an. 54
Nach einem kurzen Gebet setzten sie sich ans Ende der langen Tafel und begannen schweigend zu essen. »Ein Engel geht durch den Raum«, sagte der Pfarrer nach ein paar Sekunden. Bevor aber jemand ein Wort sagte, blieb genügend Zeit für eine ganze Legion von Engeln, mehrmals durch den Raum zu gehen. Die Tante verzog das Gesicht. Das Eiweiß der harten Eier verursachte ihr Übelkeit. Sie trennte es vom Eigelb und legte es wortlos auf den Teller ihres Mannes. Er vertrug wegen seiner Leber keine Mayonnaise. Sorgfältig kratzte er sie mit dem Messer von seinen Eiern und ließ die Sauce auf den Teller seiner Frau tropfen. Während des ganzen Essens waren sie andächtig damit beschäftigt, Gürkchen gegen Schinkenfett, Oliven gegen Wurstpelle, Gelee gegen Käserinde auszutauschen. Der Pfarrer dachte an den Hund, den er wegen des Küsters erneut verfehlt hatte; der Küster aß und dachte an nichts. Sie überlebten das bedrückende Schweigen und kamen etwas besser gelaunt zum Nachtisch, der Rotwein hatte ihnen wieder Farbe verliehen und sie in eine gedämpft heitere Stimmung versetzt. Draußen dösten die Totengräber in ihrem Leichenwagen vor sich hin. »Wie spät ist es?«, fragte Georges gähnend. Molo entblößte sein Handgelenk mit einer mechanischen Bewegung. Er hatte vollkommen vergessen, dass er seine Uhr nicht trug. 55
»Kann ich dir nicht sagen. Ich glaube, ich habe meine Uhr verloren.« »Geh nachsehen, was sie machen. Wenn wir nicht endlich fahren, werden wir niemals rechtzeitig zurück sein.« Molo klammerte sich ans Lenkrad, streckte sich ausgiebig und hupte dann zwei Mal kurz. »Das wird sie herausholen.« »Ich hab dich gebeten nachzusehen!« Er stieg seufzend aus dem Wagen und ging ins Café. »Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, glauben Sie, dass wir bald fahren können?« »Stimmt, wir müssten langsam daran denken«, gab der Pfarrer zu bedenken. »Wir fahren«, antwortete der Onkel, »wir fahren …« »Setzen Sie sich einen Augenblick«, sagte die Tante, »essen Sie den Nachtisch mit uns, und dann fahren wir.« »Ich danke Ihnen, aber …« Sie ließ sich nicht beirren: »Setzen Sie sich, hier, neben den Herrn Pfarrer.« Bestrebt, sie nicht zu verstimmen, setzte Molo sich, und Jules brachte ihm zwei Kugeln Eis, mit einer kleinen Waffel dazwischen. »Und Ihr Kollege?«, fing die Tante wieder an. »Lassen Sie ihn nicht allein, holen Sie ihn herein. Er hat sicher nichts gegen einen kleinen Nachtisch.« »Sie schnappt über«, dachte Molo. Er wählte sorgfältig seine Worte, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen: 56
»Er ist nicht allein, Madame, es ist besser, dass er wartet …« Sie schien nachzudenken. »Ein Gläschen Rotwein?«, fragte der Onkel und griff nach der Karaffe. Molo zögerte. »Na, kommen Sie«, drängte er ihn. »Also gut, ein Gläschen, für unterwegs.« »Für unterwegs«, wiederholte die Tante. Abrupt stand sie auf, für alle überraschend. »Los, wir fahren. Es wird schnell dunkel.« Der Onkel stellte die Karaffe wieder hin, ohne Molo eingeschenkt zu haben, stand auf und zog seinen Regenmantel an. Und ohne Kaffee, sogar ohne ein Zwetschgenwasser, ohne die Reste mitzunehmen, ohne auf die Lunchpakete zu warten, die Jules ihnen für unterwegs herrichtete, schlichen sie sich davon wie Diebe. Molo konnte gerade noch seine Waffel mitnehmen. »Ich komme Montag, um zu bezahlen«, sagte die Tante, als sie hinausging. »Es eilt nicht, Madame, es eilt nicht.« Die Tür schloss sich. Jules blieb einen Augenblick reglos stehen. Er ging um die Theke herum und setzte sich an die lange verlassene Tafel. In aller Ruhe machte er sich einen kleinen Teller zurecht und schenkte sich ein Glas Wein ein. Auch er kannte den Verstorbenen nicht, aber er trank auf sein Wohl. 57
Der Leichenwagen setzte sich in Bewegung. Im Rückspiegel sah Molo, wie der Kombi sich in einer Wolke dichten weißen Rauchs auflöste. »Das ist die Zylinderkopfdichtung, da bin ich sicher. Montag müssen wir uns das mal ansehen, damit ist nicht zu spaßen.« Solange sie noch im Dorf waren, fuhren sie im Schritttempo, danach beschleunigte Molo. Der Hund gab mit hängender Zunge am Schild »Saint-Jean« auf und sah ihnen nach. Jetzt war es sicher, sie würden keinen Reis mehr werfen. Er hob das Bein und pisste gegen den Fuß des Schildes. Hier endete sein Revier. »Die alten Bräuche geraten in Vergessenheit«, dachte er.
VII
Sie waren kaum zwanzig Minuten gefahren, und schon kam die Landschaft ihnen verändert vor. Bis hierher waren sie nie vorgedrungen, aus dem einfachen Grund, weil sie hier niemals zu tun gehabt hatten. Sie hätten zufällig hier entlangkommen können, bei Gelegenheit, auf dem Weg nach woanders hin, aber das war nicht die richtige Richtung dorthin. Und was sollten sie auch woanders? In dieser Richtung gab es nur Bréhau und ab und zu eine Kreuzung, von der, wenn man den Schildern glaubte, kleine Straßen zu Orten mit wenig glaubhaften Namen führten, sonst nichts. Seit ihrer Abfahrt hatte Molo wiederholt versucht, ein Gespräch zu beginnen, bisher aber ohne großen Erfolg. Georges sprach wenig; so wenig wie möglich. Ein bisschen aus Überdruss, vor allem aber aus Sparsamkeit. Er fürchtete, dass die Wörter nicht wieder nachwuchsen, so wie die Zähne, überzeugt, dass die Kinder nur deswegen wild drauflos reden, weil sie noch ihre Milchwörter hat59
ten. Er, der so oft mit dem Schweigen der Toten konfrontiert gewesen war, mit ihrem Mangel an Unterhaltung, hatte schließlich die perverse Verbindung von Ursache und Wirkung begriffen, die zwischen Schwatzhaftigkeit und Tod besteht. Um den Augenblick, in dem seine letzten Worte seine Lippen austrocknen würden, so lange wie möglich hinauszuzögern, hatte er sich eingeredet, dass er, wenn er wenig spräche, wenn er kurz angebunden wäre, immer etwas zu sagen hätte, und solange er etwas zu sagen hätte, würde er leben. Wegen der Tabletten, die er vor der Abfahrt genommen hatte, weil ihm beim Fahren immer schlecht wurde, nickte er schließlich ein. Als er aufwachte, weil sein Kopf an der Wagenscheibe vibrierte, hatte er das Gefühl, die Augen nur für eine Minute geschlossen zu haben. »Wie spät ist es denn?« Molo zuckte die Achseln. »Du weißt doch, dass …« »Ach ja, stimmt. Habe ich lange geschlafen?« »Ich weiß nicht, ich hatte nicht bemerkt, dass du geschlafen hast.« Wenn sie aus den Kurven kamen oder den höchsten Punkt einer Steigung erreicht hatten, schien ihnen die Sonne voll ins Gesicht. »Es wird bald dunkel sein«, sagte Georges. »Gib Gas, sonst werden wir nie ankommen.« 60
Lächelnd wie ein Kind, brachte Molo den Motor wieder auf Touren. »Ich wäre gern Sanitäter geworden. Erste Hilfe, Notfälle, das hätte mir gefallen. Unsereins, wir können machen, was wir wollen, wir kommen doch immer zu spät. Deswegen schleppen wir uns wahrscheinlich so dahin, aus Widerspruch, um zu zeigen, dass wir es nicht eilig haben. Mit Blaulicht wäre das ganz anders …« »Nicht das Blaulicht macht den Krankenwagen aus, Molo, sondern die Farbe …« »Komisch, dass wir immer noch kein Schild gesehen haben. Wir müssten doch eigentlich bald da sein.« Überrascht von der plötzlichen Beschleunigung des Leichenwagens war der Onkel zurückgefallen. Den Fuß bis zum Anschlag auf dem Gaspedal, hatte er Mühe, den Leichenwagen wieder einzuholen. »Es ist wahr, wir dürfen nicht trödeln«, sagte er, »die Sonne steht schon tief.« Der Küster beugte sich zu ihm vor. »Ist es noch weit?« »Nein, nicht mehr sehr.« »Das heißt?« »Genau weiß ich es nicht, wir sind schon lange nicht mehr dort gewesen, das ist schwierig zu sagen.« »Ja, es ist wirklich lang her«, sagte die Tante, »ich erkenne nicht einmal den Weg wieder.« Mit besorgter Miene drückte Wintz sich wieder in seinen Sitz. 61
Die immer kurvigere Straße löste in ihm seltsame Gefühle aus. Lange Schatten gruben sich in die Landschaft um sie herum. »Wussten Sie, dass es so weit ist, Herr Pfarrer?« Der antwortete nicht. Er dachte an seine Chorknaben. Seit einiger Zeit hatten sie eine fettige Haut, und ihre Stimmen detonierten. Unter ihren Nasen spross ein dunkler und dichter Flaum, der ihn anzuwidern begann. Wenn sie zur Messe kamen, hörte er von der Sakristei aus das Quietschen ihrer Basketballschuhe und ihr törichtes Gelächter, das im Kirchenschiff widerhallte. Sie brachten ihn zur Verzweiflung. So sehr er sie auch ins Gebet nahm, es nützte alles nichts. Die Kinder des lieben Gottes mit ihren großen naiven Augen verwandelten sich auf heimtückische Weise in rotgesichtige Jugendliche mit weißen Pickeln, und zwar von der schlimmsten Sorte: jene, die wie besessen onanierten. Er musste sie unverzüglich entlassen. »Hatten Sie mit mir gesprochen, Wintz?« Hinter den orangefarbenen Gläsern seiner Sonnenbrille aus Plastik fuhr Molo durch eine seltsame, von einem fahlroten Licht entflammte Landschaft mit riesigen Wolken, die am Horizont hingen, als löste sich die ganze in Flammen stehende Landschaft in Rauch auf. »Ich hab sie zur Kommunion bekommen.« »Verdammt, wir müssten längst da sein«, sagte Georges beunruhigt, »das ist doch nicht normal.« 62
»Sie müssen den Weg kennen, sie sind ja dort geboren. Wenn wir uns verfahren hätten, hätten sie uns ein Zeichen gegeben.« Georges zog es vor, wieder die Augen zu schließen, da die Sonne ihn blendete und Molos Fahrstil ihm Angst machte; er trieb den Leichenwagen so sehr an, dass er laut loswieherte. In dem vom Leichenwagen eingeräucherten Wagen hatte der Pfarrer begonnen, einen Psalm zu summen. Der Onkel drehte sich um. »Verzeihung, Herr Pfarrer, sagten Sie was?« »Nein, nichts, ich hab nur vor mich hin gesungen.« Molo hatte erneut einen Zahn zugelegt. »Sie scheinen den Weg zu kennen«, bemerkte der Onkel. »Um so besser, ich hatte schon Zweifel.« Durch die weißen Streifen, die er mit leerem Blick verschlang und die auf sein Gesicht abfärbten, wurde dem Küster immer schlechter. »Müssen wir so an ihnen kleben? Könnten wir nicht etwas mehr Abstand halten bei all diesen Kurven und ihrem Rauch? Ich fühle mich nicht sehr gut. Sie nicht auch, Herr Pfarrer?« »Mich stört es nicht.« »Sie nehmen mir den Wind«, antwortete der Onkel, »deswegen bleibe ich lieber dicht an ihnen dran, sonst kann ich ihnen auf den Steigungen nicht mehr folgen. Öffnen Sie das Fenster ein wenig, wenn Ihnen schlecht ist.« 63
Der Küster seufzte und legte eine schlaffe Hand auf die Kurbel für das Wagenfenster. Der Priester unterbrach seine Bewegung: »Mir ist es lieber, wenn Sie es zu lassen, Wintz. Der Luftzug. Denken Sie an etwas anderes, dann wird es schon vergehen.« Gehorsam legte der Küster seine Hand wieder auf sein Bein. »Ich habe bei Tisch nichts gesagt, weil es nicht der richtige Augenblick war«, sagte die Tante, »aber die Mayonnaise war nicht selbst gemacht.« »Wirklich?«, sagte der Onkel. »Ich bin ganz sicher. Haben Sie nicht bemerkt, Herr Pfarrer, wie sehr sie nach Tube geschmeckt hat?« »Nein, ist mir nicht aufgefallen. Ich fand alles sehr gut, mit Ausnahme, wenn ich mir erlauben darf, des Kartoffelsalats. Ein Schwein hätte ihn nicht angerührt. An Ihrer Stelle würde ich das zur Sprache bringen.« Die Tante sah ihren Mann aus den Augenwinkeln an, aber der tat, als hätte er nichts gehört, und betätigte den Schalthebel rechts von seinem Lenkrad. Mit einem elektrischen Summen bespritzten zwei kleine Fontänen die Windschutzscheibe, und die Scheibenwischer bewegten sich ein paar Sekunden quietschend hin und her. Wintz bewegte keinen Muskel und sagte kein Wort mehr; selbst das Schlucken schien ihm unmöglich geworden. Den Mund voll Spucke, wünschte er sich nur eins: Stillstand. 64
»Fernfahrer, das hätte mir auch gefallen. Allein auf der Straße, sein eigener Herr, und all die nackten Mädchen in meinem Laster … Fernfahrer, ja, das hätte mir gefallen.« Georges war wieder eingeschlafen. Die Tante legte die Hand auf ihren Bauch. »Diese Bodenwellen, davon wird mir immer ganz anders …« Und der Küster kapitulierte. Von einem heftigen Krampf gepackt, warf er sich nach vorn und gab, die Hand gegen seine Lippen gepresst, ein langes Glucksen von sich. Der Onkel bremste abrupt ab. Wohl zu abrupt. Diesmal spritzten kleine säuerliche Fontänen zwischen seinen zusammengepressten Fingern hervor, und dann erbrach er sich ausgiebig unter den Beschimpfungen des Pfarrers. Der Wagen hielt an. Er saß unbeweglich da, den Mund halb offen, mit brennender Kehle, eine Selleriefaser im Nasenloch. »Entschuldigen Sie … Jetzt geht es mir besser …« »Das war vorauszusehen«, sagte die Tante, »Sie hätten nicht drei Mal von dem Sellerie nehmen sollen, nichts liegt schwerer im Magen als Selleriesalat mit Mayonnaise.« »Tut mir sehr Leid.« Er stieg aus, lief ein paar Schritte hinter den Wagen und machte seiner Bitterkeit Luft. Der Pfarrer kurbelte das Wagenfenster hinunter, beugte 65
sich hinaus und rief ihm zu: »Sie sind entlassen, Wintz. Sie sind widerlich. Sie ekeln mich an …« Weit vor ihnen war der Leichenwagen trotz der verzweifelten Lichtsignale des Onkels in einer Kurve verschwunden. Molo hatte nichts bemerkt. Die Nase gegen die Windschutzscheibe gedrückt, das Gesicht verkrampft, kämpfte er, um seine Geschwindigkeit in einer Dämmerung zu halten, die so dicht war, dass sie den Leichenwagen verlangsamte. Die Linien, die Formen, die Kontraste verschwammen, verschmolzen und machten die Straße ungewiss, beängstigend, wie in den Träumen, in denen die Luft heftig wogt und den Blick behindert. Er hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, aber ihr kaum wahrnehmbares Licht löste sich im Zwielicht auf. Mit dem Handrücken wischte er sich die Stirn ab und stellte dabei fest, dass er noch seine Sonnenbrille auf der Nase hatte. Erleichtert nahm er sie ab, und als er sich vorbeugte, um sie ins Handschuhfach zu legen, fand er auch seine Handschuhe wieder. Entspannter drückte er sich tief in seinen Sitz und nutzte eine lange Talfahrt, um wieder an Geschwindigkeit zu gewinnen. Dabei warf er einen Blick in den Rückspiegel und nahm abrupt den Fuß vom Gaspedal: Die anderen waren nicht mehr hinter ihm. Eine Weile fuhr er langsam, überzeugt, dass der alte Ford jeden Augenblick oben auf der Steigung hinter ihnen auftauchen würde. Aber dem war nicht so, und schließlich hielt er an. 66
Georges öffnete die Augen und begegnete Molos stumpfem Blick. Er nahm die Füße von der Ablage vor ihm, richtete sich auf, blickte um sich und sah, dass sie noch immer nicht angekommen waren. »Wo sind wir?« »Sie sind nicht mehr hinter uns, Georges.« »Was? Wo sind sie denn?« Molo zuckte verwirrt die Achseln. »Ich weiß nicht … Ich hab geguckt, sie waren da, und dann habe ich nicht mehr geguckt, und als ich wieder geguckt hab, waren sie nicht mehr da.« Georges spürte, dass er die Beherrschung verlieren würde. Er atmete tief durch, und um jedes unnütze Wort zu vermeiden, stieg er aus und lief zur Beruhigung ein paar Schritte um den Wagen. Er setzte sich auf die hintere Stoßstange und beobachtete die Straße. Molo zögerte zuerst, dann ging er kleinlaut zu ihm. »Sie müssen krepiert sein«, murmelte Georges. »Nein, ich bin sicher, dass sie am Leben sind, wir müssen umkehren und sie suchen.« »Ein Leichenzug kehrt nicht um, niemals …« »Wir sind kein Leichenzug mehr, wir sind ganz allein.« »Keine Diskussion, das ist eine Frage des Prinzips. Wir bleiben hier und warten auf sie.« Sie suchten lange den Horizont ab, geduldig und schweigend, in der Hoffnung, dass die Lichthöfe der Scheinwerfer hinter dem Hügel hervorkommen und den 67
bereits dunklen Himmel annagen und dass sie endlich auftauchen würden. Als sie keine zehn Meter weit mehr sehen konnten, eingehüllt in das rote Licht der Scheinwerfer des Leichenwagens, erlaubte sich Molo eine Bemerkung: »Es ist Nacht.« Georges stand langsam auf und strich seine Hose glatt. »Vierzig Berufsjahre, und jetzt das. Auf, wir suchen sie.« Mit etwas Mühe wendeten sie auf der zu engen Straße und fuhren mit quietschenden Reifen, wofür Molo sich sofort entschuldigte, zurück. »Weit können sie nicht sein«, sagte er, »ich erinnere mich, dass sie unmittelbar vor der Brücke noch hinter uns waren.« Bei jeder undeutlichen Form, die er in der Ferne wahrnahm, bei jedem Reflex auf den Katzenaugen der Kilometersteine rief er: »Sind sie das nicht?« Georges zuckte zusammen, seine Nerven lagen bloß, und Molo verbesserte sich sofort: »Ach nein, ich hatte geglaubt …« Von einer enttäuschten Hoffnung zur anderen kamen sie zur Brücke und blieben auf ihr stehen. Molo stellte den Motor ab. »Ich versteh das nicht. Unmittelbar vor der Brücke waren sie doch hinter uns, das ist sicher, ich erinnere mich ganz genau.« Er stieg jammernd aus dem Leichenwagen, und um ganz sicherzugehen, beugte er sich über das Geländer auf beiden Seiten; dann setzte er sich wieder hinters Steuer. 68
»Wir müssen noch etwas weiterfahren.« »Das reicht, Molo, wir fahren nicht weiter. Wir fahren zum Friedhof und Schluss.« »Aber wir können nicht ohne Leichenzug hinfahren, wir müssen sie wiederfinden.« »Wir brauchen sie nicht, wir werden dafür bezahlt, den Verstorbenen zu beerdigen, und nicht dafür, der Familie hinterherzurennen. Ihr Pech, wenn sie uns nicht folgen wollen.« »Aber Georges, sie sind uns doch gefolgt …« »Sie haben ihre Meinung geändert und kehrtgemacht, das ist alles. Eine andere Erklärung gibt es nicht.« »Ein Leichenzug macht nicht einfach kehrt, du hast es selbst gesagt.« »Jeder macht mal einen Fehler, sie sind keine Profis. Wir werden sie doch nicht einfangen, um sie zur Beerdigung zu schleppen. Sie sind frei. Sie haben uns ein kleines Stück begleitet, das ist doch schon was.« »Meinst du?« Um die Diskussion zu beenden und sich selbst zu überzeugen, fügte Georges noch hinzu: »Das wundert mich nicht wirklich, weißt du. Das kommt nur deshalb nicht öfter vor, weil der Weg zwischen Kirche und Friedhof meist so kurz ist, dass die Leute keine Zeit haben nachzudenken und den Mut zu finden, feige zu sein.« Molo machte ein zweifelndes Gesicht. Das Rauschen des Bachs erfüllte immer mehr die Dunkelheit, crescendo, 69
und schon bald war es, als flösse er durch seinen Kopf, von einem Ohr zum anderen, und wüsche ihm den Schädel mit fließendem Wasser. »Ich bekomme Lust zu pissen«, sagte Georges. »Wende du inzwischen den Wagen.« Er stieg aus und ließ Molo nachdenklich zurück: »Wenn sie wirklich umgekehrt sind, müssen sie einen guten Grund dafür gehabt haben. Wahrscheinlich haben sie etwas in Saint-Jean vergessen, und in diesem Fall werden sie schon bald wieder hier sein. Vielleicht haben sie auch einen anderen Weg genommen, eine Abkürzung, und wenn der Leichenwagen den Friedhof erreicht hat, sind sie schon da und erwarten uns. Oder sie haben den Leichenwagen überholt, und ich hab es bloß nicht bemerkt. Sie können also ebenso gut auch weit vor uns sein.« Er zog noch weitere Hypothesen in Betracht, alle ebenso unwahrscheinlich, und ließ etwas beruhigter den Motor wieder an. Er wendete und sammelte Georges am Ende der Brücke ein, und dann machten sie sich erneut auf den Weg zum Friedhof, mit aufgeblendeten Scheinwerfern. »Das Problem ist«, sagte Molo, »dass ich den Weg nicht kenne.« »Hatten sie nicht gesagt ›Immer geradeaus, geradeaus‹?« »Sie hatten gesagt: ›Immer geradeaus, geradeaus, bis wir abbiegen‹.«
VIII
Eine Mondsichel hing in den endlosen Hecken, die die Straße säumten. Sie waren zwei oder drei Kilometer gefahren, mehr nicht, als direkt vor ihnen ein Tier im Licht ihrer Scheinwerfer auftauchte und auf sie zustürzte, wie ein naives Insekt, das von den künstlichen Lichtern angezogen wird. Im Quietschen der Reifen, die über den Asphalt schrammten, war kaum hörbar das Geräusch des Aufpralls und ein kurzes Bellen zu vernehmen; der Leichenwagen hielt an. Sie sahen sich an und saßen ein paar Sekunden schweigend da im Gedenken an das Tier. »Das hat jetzt gerade noch gefehlt …« »Was war das?«, fragte Molo, noch unter Schock. »Ich weiß nicht, ein Fuchs, ein Marder oder irgend sowas.« Die Hälfte der Straße lag im Schatten. Sie stiegen aus. Die Stoßstange hatte nur eine kleine Beule abgekommen, aber der rechte Scheinwerfer war zersplittert. »Man hat so schon nicht viel gesehen …« 71
Ein paar Meter von ihnen entfernt lag eine Gestalt im Halbdunkel am Straßenrand. »Geh du«, sagte Molo, »mir ist lieber, dass du zuerst nachsiehst. Sag mir, ob es schlimm ist.« Georges näherte sich dem Tier bis zum Rand der kleinen scharlachroten Pfütze, in der es lag. »Na so was!« »Was? Was ist los?«, fragte Molo und trat von einem Fuß auf den andern. »Es ist ein Hund.« »Ein Hund? Was ist mit ihm?« »Er ist tot.« Georges bewegte den Kadaver mit der Fußspitze und das Messer in der Wunde. »Tja, mein Alter, du hast ihn nicht verfehlt …« Er packte das Tier an seiner am wenigsten klebrigen Pfote und zog ihn bis zum Rollsplitt am Rand der Fahrbahn, dann wischte er sich die Hände im Gras ab. »Wir können weiterfahren.« »Warte«, sagte Molo. »Bist du sicher, dass es nicht ein alter Hund ist?« Georges sah ihn an. »Was? … Ich weiß nicht, ob es ein alter Hund ist. Wozu willst du das wissen? Was ändert das?« »Nein, du verstehst nicht, ich meine: Bist du sicher, dass es unser Hund ist?« »Unser Hund? Welcher Hund? Was redest du da?« 72
»Dieser Hund ist vielleicht ein Hund, der da schon tot herumlag, ein alter Hund eben, von heute Morgen, von gestern oder von letzter Woche … Der, der auf uns zu gestürzt ist, hat sich vielleicht nichts getan und ist weggelaufen. Übrigens ist es sicher kein Hund gewesen, du hast ja gesagt, es war wahrscheinlich ein Marder.« »Sei still, du gehst mir auf die Nerven. Sieh selber nach, ob er aussieht, als wäre er an Altersschwäche gestorben.« »Ich hab nicht gesagt, dass er nicht überfahren worden ist, ich hab gesagt, es ist nicht sicher, dass wir ihn überfahren haben. Wir sind nicht die Einzigen, die hier langkommen.« »Wenn es dir Freude macht … Komm jetzt.« »Warte, ich will nachsehen.« Er näherte sich ein paar Schritte, wobei er die Augen zusammenkniff, und blieb dann in einer gewissen Entfernung vom Kadaver stehen. Von dort aus nahm er zuerst nur eine unförmige Masse wahr. Er ging noch näher heran und erkannte die beiden verdrehten Augen des Tieres, die das Licht wie zwei kleine Spiegel anzogen. Er verzog das Gesicht. »Bist du sicher, dass er tot ist? Er sieht nicht tot aus, man könnte meinen, er sieht uns an.« »Natürlich ist er tot«, sagte Georges, während er zum Leichenwagen zurückging. »Wir werden ihm doch nicht die Augen schließen. Beeil dich!« Aber Molo folgte ihm nicht. Er starrte weiter den 73
Hund an. Er ging noch etwas näher und stellte fest, dass eine seiner Pfoten mit leicht zuckenden Bewegungen den Boden kratzte. Er schreckte zusammen und rief: »Er bewegt sich, sieh nur! Er ist nicht tot, er bewegt sich!« Georges wartete auf ihn, an den Leichenwagen gelehnt; langsam verlor er die Geduld. Müde sagte er: »Das sind die Nerven, das hat nichts zu sagen.« »Und deine Nerven, haben die auch nichts zu sagen?«, rief Molo. »Ich sag dir, er lebt!« »Verdammt, wie sprichst du denn mit mir? Treib es nicht auf die Spitze!« Molo wurde sofort ganz klein und entschuldigte sich: »Verzeih mir, Georges, das sind die Nerven.« »Schon gut.« »Eine Sekunde noch, bitte …« Er kniete sich vorsichtig neben den Hund und fragte ihn voll Mitgefühl: »Wie geht’s?« Aber das zitternde Tier blieb stumm. »Nicht besonders, hm?«, fuhr er fort. Georges schlug mit der flachen Hand heftig auf die Motorhaube, um Molo aus seiner Verwirrtheit zu reißen. Als er sah, dass er nicht reagierte, ging er zu ihm, entschlossen, seinen Rührseligkeiten ein Ende zu machen. Molo sah zu ihm auf. »Bei allem Respekt, den ich dir schulde, er lebt noch, Georges. Schau, man könnte meinen, er versucht uns was zu sagen.« 74
Mit der Kante seines tadellos polierten Schuhs klopfte Georges gleichgültig auf seine Schnauze, zog seine Lefzen hoch, reizte seine Nase, und dann beobachtete er ihn noch einen Augenblick und musste zugeben, dass er zu voreilig gewesen war. »Stimmt, er atmet noch. Mein Schuh ist beschlagen.« »Ich hab’s dir ja gesagt.« »Wenn man ihn so aus der Nähe sieht, ist es eindeutig.« »Was machen wir?« »Gib dem armen Tier den Gnadenstoß, damit wir Ruhe haben.« Molo geriet in Panik. »Na los«, fing Georges wieder an, »such einen großen Stein oder überfahr ihn, wie du willst.« »Das kannst du nicht von mir verlangen, das kann ich nicht.« »Lässt du ihn lieber leiden?« »Nein, aber …« »Dann beeil dich, wir können nicht die ganze Nacht hier verbringen.« »Wir könnten ihn mitnehmen, um ihn zu pflegen.« »Da ist nichts mehr zu pflegen, mein Alter, das war mal ein Hund.« »Ich kümmer mich um ihn, du wirst sehen …« Auf die Palme getrieben von so viel Gefühlsduselei, nahm Georges die Sache in die Hand. 75
»Ich werd mich drum kümmern, du wirst sehen.« Molo warf dem Tier einen verzweifelten Blick zu, als erwartete er von ihm eine Lösung, und als er sah, dass er fast gar nicht mehr zitterte, hielt er Georges, der sich die Ärmel hochkrempelte, zurück. »Nein, warte! Es ist nicht mehr nötig, schau, er hat sich beruhigt. Er bewegt sich nicht mehr. Du hattest Recht, es waren die Nerven. Bitte.« »Natürlich hatte ich Recht.« Schimpfend kehrte er zum Leichenwagen zurück. »So eine Zeitverschwendung …« Molo stand auf und ging ebenfalls zum Leichenwagen, wobei er sich mehrmals zu dem Tier umdrehte. »Ich hab diesen Hund schon irgendwo gesehen«, sagte er, als er sich hinters Lenkrad setzte. »Solche Hunde gibt es überall.« »Meinst du?« »Fahr los.« Und der einäugige Leichenwagen entfernte sich. Am Straßenrand lag ein alter verrenkter Hund in der Dunkelheit im Sterben. »Es ist trotzdem traurig …«
IX
»Wir haben uns verfahren, stimmt’s?«, fragte Georges. »Nicht vollständig.« »Haben wir uns verfahren, ja oder nein?« »Halb halb.« »Was soll das heißen, halb halb?« »Wir sind sicher nicht auf der Straße zum Friedhof, aber ich glaube, ich weiß, wie wir nach Saint-Jean zurückkommen. Wir haben uns nur in einer Richtung verfahren.« Sie hatten an einer Kreuzung Halt gemacht. Georges wollte nicht schon wieder aufs Geratewohl eine Straße nehmen. Und da erinnerte sich Molo, etwas spät vielleicht, dass ganz hinten im Handschuhfach eine Straßenkarte liegen musste. Als er mit dem Zeigefinger die Straßen entlangfuhr, die sie seiner Meinung nach bisher genommen hatten, fand er sich schnell am Rand der Karte wieder; Bréhau war nicht drauf. Mit einer unbestimmten Bewegung bezeichnete er daraufhin etwa fünf77
zig Zentimeter von der Karte entfernt, über Georges’ Knien, den Ort, wo sie sich befinden mussten: »Wir müssen ungefähr hier sein, und der Friedhof muss da sein.« »Da sind wir ja ganz schön vorangekommen.« Molo bemühte sich, die Karte korrekt zusammenzufalten, bevor er sich äußerte: »Ich denke, wir müssen nach rechts fahren.« »Warum nach rechts?«, fragte Georges. »Vorhin sind wir nach links gefahren.« Molo wollte wieder losfahren, aber Georges entschied anders. »So aufs Geratewohl können wir nicht weitermachen. Wir werden hier bleiben und warten, dass jemand vorbeikommt, den wir nach dem Weg fragen können.« »Wie du willst.« Er fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Obwohl er dachte, dass es blöd war, am Rand dieser Straße zu warten, wo niemand vorbeikam, versuchte er nicht zu diskutieren. »Der Klügere gibt nach«, hatte man ihm oft gesagt. »Ich hab Kopfschmerzen«, seufzte Molo, »das ist der Hunger.« »Darum kümmern wir uns später.« Mindestens drei Igel hatten die Straße bereits überquert, der langsamste von ihnen direkt vor dem Leichenwagen, in aller Gemächlichkeit. 78
»Das ist immer derselbe«, sagte Georges, »er macht es absichtlich, um uns zu verspotten, weil wir stehen.« »Da ist noch einer!«, rief Molo. »Sie scheinen sich hier wohl zu fühlen, weil die Straße nicht sehr befahren ist.« »Aber ich sag dir doch, es gibt nur einen.« »Aber nein, sieh nur, schon wieder einer …« Durch das Warten und das Zählen »des Igels«, der die Straße überquerte, schliefen sie schließlich ein. Das Geräusch eines Wagens störte ihre Träume. Georges erwachte jäh. Auf der Straße, die ihre kreuzte, sah er zu seiner Rechten die Scheinwerfer eines Wagens, der sich entfernte. Er schüttelte Molo: »Fahr los! Nach rechts, schnell!« »Was ist los?«, fragte Molo verschlafen. »Das waren sie, ich bin fast sicher. Sie haben uns nicht gesehen, die Trottel.« »Wer, sie?« »Die Familie!« »Ich wusste doch, dass in meinem Traum so etwas wie ein Motorengeräusch war …« »Beeil dich, verdammt, fahr nach rechts!« »Nach rechts, das hab ich doch gesagt …« Der Wagen war mit hoher Geschwindigkeit von links gekommen, war am Stoppschild kaum langsamer geworden und dann geradeaus weitergefahren. Als sie sich an seine Verfolgung machten, bestand er schon nur noch aus zwei roten Punkten in der Ferne, denen sie sich nie auf 79
weniger als hundert Meter zu nähern vermochten. Selbst am Ende der langen geraden Strecken sahen sie das Rot sehr rasch nicht mehr. Sie verfolgten es bis zur nächsten Kreuzung, wo sie feststellten, dass sie endgültig abgehängt worden waren, und da sie nicht wussten, welche Richtung der Wagen eingeschlagen hatte, gaben sie auf. Etwas zurückgesetzt lag ein Restaurant, eine unerwartete Überraschung. Molo versäumte es nicht, Georges darauf aufmerksam zu machen. »Ich hab’s gesehen.« Er erlaubte sich sogar einen Vorschlag: »Wie wär’s, wenn wir hier etwas essen würden? Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es jetzt nicht mehr an, und wir könnten nach dem Weg fragen. In allerhöchstens zwei Stunden ist die Arbeit getan, in drei Stunden sind wir im Bett.« Georges ließ sich von Molos Illusionen einlullen und akzeptierte seinen Vorschlag, er war es leid zu bestimmen, zu entscheiden, kurzen Prozess zu machen, um dann doch nichts zu erreichen; und außerdem hatte er ebenfalls Hunger. Der nachtwandelnde Leichenwagen parkte etwas abseits, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Das sieht zu aus«, bemerkte Georges. »Du siehst doch, dass noch Licht ist. Sie werden doch keine Gäste wegschicken, viele kommen hier sicher nicht vorbei.« »Geh nachsehen, ich warte hier.« 80
Molo ging über den großen Parkplatz, der voller Schlaglöcher war, und richtete dabei seine Krawatte. Er ging die wenigen Stufen hinauf und nahm sich sogar die Zeit, vor der Karte stehen zu bleiben, die neben der Tür hing. Der Laden war nicht unerschwinglich. Voll Vertrauen ging er hinein. Er erschrak, als er sich plötzlich einem großen Hund aus Steingut gegenübersah, der im Eingang saß, und musste über seine Schreckhaftigkeit lächeln. Eine kleine Frau kam ihm entgegen, sie wirkte gestresst, ihr Blick hinter einer riesigen getönten Brille, die sie wie eine Fliege aussehen ließ, war misstrauisch. Ihre Rokoko-Dauerwelle brachte ihn etwas aus der Fassung, und er vergaß beinahe, warum er hergekommen war. »… Guten Abend, Madame, können wir etwas zu essen bekommen?« »Wissen Sie, wie spät es ist?« »Nein, ich hab leider meine Uhr verloren.« »Um diese Zeit servieren wir nicht mehr.« Molos Gesicht erstarrte. »Wirklich nicht?« »Heute Abend gibt es nichts mehr.« Er ließ dennoch nicht locker und erklärte ihr, dass sie seit heute Morgen nichts mehr gegessen hätten, dass sie den ganzen Tag unterwegs gewesen seien, dass sie erschöpft seien und dass sie noch weiterfahren müssten. »Wir essen, was Sie uns geben, wir trödeln auch nicht, das verspreche ich Ihnen.« 81
Sie blickte ihn scharf an, einen kurzen Augenblick herrschte Stille, und dann schien sie es sich zu überlegen: »Wie viele sind Sie?« »Zwei. Wir sind nur zu zweit.« Sie seufzte. »Einen Augenblick. Ich werde den Chef fragen.« »Danke, Madame, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« Sie ging durch den großen leeren Speisesaal und verschwand in der Küche. Molo ging auf die Eingangstreppe hinaus, beugte sich vor in Richtung Leichenwagen und machte Georges ein Zeichen mit dem Daumen, äußerst stolz darauf, eine solche Überzeugungskraft bewiesen zu haben; dann ging er sofort wieder hinein. Während er wartete, betrachtete er all das Holz, das die hintere Wand bedeckte. Ein Wagenrad, ein Ochsenjoch, ein Paar Holzschuhe: der Ort gefiel ihm. Er suchte sogar den Platz aus, an den er sich setzen würde, neben dem Kamin, dort, direkt unter dem Dreschflegel würde er gut sitzen. In der leeren Küche, in ihrem Reich aus rostfreiem Edelstahl, putzte die Chefin ihre Brille mit dem Zipfel ihrer Schürze. Ihr Koch schlief seit langem, sie wusste es genau, aber angesichts Molos Hartnäckigkeit hatte sie den Eindruck erwecken wollen, dass sie ihr Möglichstes versuchte. Das war immer noch der beste Weg, diese Art von Gästen loszuwerden. Schließlich tauchte sie wieder auf, mit dem gleichen eiligen Schritt. Molo schenkte ihr ein breites Lä82
cheln voller Dankbarkeit. Sie faltete ihre Hände und legte den Kopf zur Seite: »Tut mir Leid, es ist zu spät.« Molo wäre beinahe ohnmächtig geworden. »Tut mir Leid«, wiederholte sie, etwas schroffer. »Das macht nichts, danke.« Und sie schloss die Tür hinter ihm ab. Er blieb ein paar Sekunden auf der Eingangstreppe stehen und blickte zum Himmel hinauf. So viele Sterne … Er atmete tief ein, dann ging er die wenigen Stufen hinunter und kehrte mit gesenktem Kopf zum Leichenwagen zurück. »Sie servieren nicht mehr, es ist zu spät.« »Das hab ich mir schon gedacht«, sagte Georges, »wie spät ist es?« »Wie soll ich das wissen?« »Hast du sie nicht gefragt?« »Ich hab nicht dran gedacht. Ist es wichtig?« »Natürlich ist es wichtig.« Er überquerte erneut den Parkplatz. Die Restaurantbesitzerin brauchte diesmal ziemlich lange, bis sie kam, und öffnete die Tür nur einen Spalt. Molo entschuldigte sich höflich, sie noch einmal zu stören, er wolle nur wissen, wie spät es sei. Sie hielt ihm ihr Handgelenk hin. Sie hatte eine kleine Uhr, ganz aus Gold, das Zifferblatt musste aus Perlmutt sein mit … Sie schloss die Tür wieder. Er hatte so schnell nichts sehen können, nicht einmal die Zeiger hatte er gesehen. Er wollte nicht als Trottel dastehen und verzichtete darauf, erneut zu klopfen. 83
»Was soll ich dazu sagen?«, sagte Georges. »Nichts.« »Na ja, was soll’s, wenigstens wissen wir, wie wir fahren müssen.« Molo wandte langsam den Blick ab und legte seine Hand auf den Mund. Ohne abzuwarten, dass Georges mit ihm schimpfte, stieg er aus dem Wagen und machte sich ein weiteres Mal auf den Weg zum Restaurant. Er war erst ein paar Schritte gegangen, als nacheinander alle Lichter ausgingen, auch die des Parkplatzes. Er beeilte sich, ging die Stufen hinauf und klopfte an die Tür, zuerst schüchtern, dann immer heftiger. Er wartete. Niemand öffnete. Hinter der Tür war alles ruhig. Er zog es vor zu gehen, bevor der Hund aus Steingut anfangen würde zu bellen. »Also, wie müssen wir fahren?«, fragte Georges mit vollem Mund. »Was isst du?« »Madeleines.« »Madeleines?« »Ich hab sie gerade in der Türtasche gefunden, hier, nimm eine … sie sind alt, aber es hilft gegen den Hunger.« Er hielt ihm das Paket hin, es waren nur noch zwei drin. »Nun?«, fragte er erneut. »Sie hat nicht aufgemacht.« Bevor sie wieder losfuhren, tranken sie ein paar Schluck von diesem nicht ganz koscheren Wasser aus der Flasche ohne Etikett. 84
»Wenn es für den Kühler gut ist …«, spöttelte Georges. Dann fuhren sie auf der Straße bis zum Stoppschild. Georges holte eine Münze aus seiner Tasche. »Kopf, nach rechts, Zahl, nach links.« Er warf sie in die Luft, fing sie auf und drückte sie gegen seinen Handrücken. »Zahl. Nach links.« Der Leichenwagen schien nur widerwillig weiterfahren zu wollen. »Weißt du«, sagte Georges, »ich frag mich, ob all das, was uns passiert, nicht deine Schuld ist. Aber beruhige dich, als der Ältere nehme ich’s auf meine Kappe. Ich steh dafür gerade.« »Ich hab gesehen, dass sie Lammkeule hatten, die hätte ich genommen. Ich liebe Lammkeule. Bei meiner Kommunion gab es das. Natürlich gab es nicht nur das. Um sechs Uhr saßen wir noch beim Essen.« Er zählte an seinen Fingern auf: Lachs mit Beilagen Schinken in Madeira Lammkeule
Grüne Bohnen, weiße Bohnen, Kroketten
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Kopfsalatherzen Käseplatte Vacherin glacé Kaffee Kuchen Champagner Molo nahm abrupt das Gas weg, endlich hatten sie ein Telefonhäuschen entdeckt. Georges hatte lange gezögert. Anstatt weiterzufahren und sich möglicherweise immer mehr zu verfahren, hatte er sich gefragt, ob es nicht besser sei, nach Saint-Jean zurückzufahren und am nächsten Tag mit größerer Gewissheit erneut zu starten. Ratlos hatte er schließlich beschlossen, Ganglion anzurufen, um ihm die Situation zu schildern und ihn um präzise Anweisungen zu bitten. Molo hatte diese mutige Initiative überrascht. Er kannte die Wutanfälle ihres Chefs, man musste schon über eine gehörige Portion Willenskraft verfügen, um ihn um diese Zeit zu wecken und ihm zu gestehen, dass sie mitten in der Nacht den Verstorbenen spazieren fuhren, ohne zu wissen, wo sie waren, ohne zu wissen, wo die Familie war, ohne zu wissen, wo der Fried86
hof war. Vor allem hatte ihm gefallen, dass Georges nicht gekniffen und ihm zu keinem Zeitpunkt vorgeschlagen hatte, an seiner Stelle anzurufen. Er musste zugeben, dass er das Zeug zu einer Führernatur hatte. »Ich glaube, das ist die einzige Münze, die ich habe«, sagte Georges. »Ich hab auch kein Kleingeld mehr, ich hab alles bei der Kollekte gegeben.« »Dann müssen wir uns kurz fassen.« Georges zeigte Molo die Münze, er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Kopf, du rufst an, Zahl, ich ruf an.« Mit der Führernatur war es doch nicht so weit her. Molo begrub seine Illusionen. »Du könntest mir wenigstens die Wahl lassen.« »Das macht keinen Unterschied«, erwiderte Georges. Und er warf die Münze. Molo hörte bereits Ganglions verschlafene Stimme und seine heiseren Beschimpfungen. Aber Georges war ungeschickt. Die Münze entglitt ihm, prallte gegen den Hebel der Gangschaltung und fiel unter seinen Sitz oder unter den von Molo; es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Tastend suchten sie herum, aber nicht allzu gründlich, dann gaben sie auf, insgeheim erleichtert, dass sie sie nicht wiedergefunden hatten. »Das muss ein Zeichen sein«, sagte Georges, »es war sicher besser, ihn nicht anzurufen.« »Wahrscheinlich, ja …« 87
Georges gab es einen heftigen Stich ins Herz. Bis jetzt hatte er seine Arbeit immer untadelig erledigt, deswegen betrachtete Ganglion ihn auch als seine rechte Hand. Diese Nacht würde ausreichen, ein ganzes Leben vorbildlicher Professionalität auszulöschen.
X
Seit einer Weile stellte sich Molo eine Frage, die ihm keine Ruhe ließ und die er sich wiederholte, ohne eine Antwort zu finden, was ihm half, wach zu bleiben. Er stellte sie Georges: »Glaubst du, dass wir mehr Zeit damit verbringen, nicht geboren zu sein oder tot zu sein?« Georges antwortete, ohne zu überlegen: »Das ist Jacke wie Hose.« Mit dieser Leichtigkeit, mit der er auf alles eine Antwort fand, hatte Georges Molo schon immer beeindruckt. Diesmal jedoch nicht. »Das ist eine etwas oberflächliche Antwort.« »Deine Frage ist idiotisch.« Molo war ein wenig verärgert und legte noch nach: »Wusstest du eigentlich, dass unter all den Sternen, die du da siehst, welche sind, die schon seit langem nicht mehr existieren, und trotzdem strahlen sie noch immer für uns?« Georges bog sich vor Lachen. Ein rotes Kontrolllicht blinkte am Armaturenbrett auf. 89
»Das ist das Benzin. Wir fahren auf Reserve.« »Gut. Dann ist jetzt Schluss mit dem Bummeln. Jetzt dürfen wir uns keinen Fehler mehr leisten.« »Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich bummle«, erwiderte Molo. Die Straße, die sie genommen hatten – weil der Name auf dem Straßenschild ihnen Vertrauen einflößte –, wurde immer schmaler und war schließlich nur noch ein sandiger Weg, der in einen Pflanzentunnel hineinführte. »Da kommen wir nirgendwo hin, kehren wir um«, sagte Georges. »Oft führen die kleinen Wege zum Friedhof. Fahren wir weiter, dann sehen wir’s ja.« Molo fuhr mit zusammengebissenen Zähnen im Schritttempo. Ab und zu war das Rascheln von Zweigen zu hören, die über das Wagendach streiften. »Wir verlieren nur Zeit«, sagte Georges ungeduldig. »Viel haben wir eh nicht mehr.« Die Straße wurde sehr steil, und der Leichenwagen tat sich schwer auf dem weichen Weg. »Oben kehren wir um«, sagte Molo, um Georges zu beruhigen. Aber oben war es unmöglich zu wenden. »Dann kehren wir eben unten um.« Während sie hinunterfuhren, brachte Molo die Bremsen fast den ganzen Abstieg zum Quietschen, dann ließ er 90
den Leichenwagen auf den letzten Metern hinabgleiten, und endlich kamen sie aus diesem Gewirr von Sträuchern und niedrigen Bäumen heraus. Der Leichenwagen versank ein wenig im Boden. Sie waren auf einem Strand. Molo sah Georges verblüfft an. »Sind wir am Meer?«, fragte er. »Sieht ganz so aus.« »Ich hätte nie gedacht, dass wir so nah am Meer leben, warum hast du mir das nie gesagt?« »Warum hätte ich es dir sagen sollen? Was hätte das geändert?« Molo war entgeistert. »Was das geändert hätte? Was hast du gesagt? …« »Ja. Was für eine Bedeutung hätte das gehabt?« »Was für eine Bedeutung? Ich hab das Meer nie gesehen. Niemand hat mir gesagt, dass das Meer in unserer Nähe ist. Wenn wir diesen Weg nicht genommen hätten, hätte ich es vielleicht nie erfahren, und da soll ich mich nicht aufregen? Manchmal hab ich wirklich das Gefühl, dass man mich für einen Trottel hält.« Außer sich stieg er aus dem Wagen, schlug die Tür zu und ging geradeaus im Lichtkegel des Scheinwerfers, der weit vorn in die Wellen tauchte. Es herrschte Ebbe, vielleicht war es sogar der Ozean. Er ging darauf zu, und er kam ihm entgegen, dehnte sich bis zu seinen Füßen. Er tauchte seine Hand in die Gischt und leckte seine Finger. Er zog seine Sandalen und seine Socken aus, zog seine Hose mit 91
den Händen in den Taschen hoch und machte ein paar Schritte im Wasser. Lange stand er da, die Wellen vor sich, die ein paar Meter von ihm entfernt aus der Dunkelheit tauchten; er hatte dieses merkwürdige Gefühl, ans Ende von irgendetwas gelangt zu sein, das Land im Rücken, einen ganzen Kontinent und seine Gräber hinter sich. Er hatte sich immer umgeben gefühlt, umgeben von anderen Dörfern, anderen Landschaften, eingekreist von den Gewissheiten, den Ungewissheiten. Hier hatte sich sein Blick trotz der Nacht ganz natürlich direkt vor ihm auf dieses Meer von Dunkelheit gerichtet. Die Dinge kamen ihm einfacher vor. Er hatte etwas vor sich, etwas hinter sich, etwas vorher, etwas hinterher. Er fand das recht beruhigend. Er ging aus dem Wasser und setzte sich auf den Strand; er versuchte sich das Meer bis zum Horizont vorzustellen. Am Tag musste es sehr schön sein. »Warum weiterfahren? Das ist ein idealer Friedhof hier«, dachte er. »Die Ruhe, die Weite und jenseits der Polsterung, des Holzes und des Sandes diese Sicht, die einem niemand nehmen kann.« Ein bisschen war das auch das Paradies der Totengräber, der letzte Ort, um jemanden zu beerdigen, wo man am leichtesten graben konnte. Georges hatte den Blasierten gespielt, aber er war ebenso überrascht wie Molo gewesen. Er erinnerte sich jetzt, dass sie in der Nähe des Meeres wohnten, oder nicht sehr weit davon. Er hatte es gewusst, aber er hatte es vergessen. Er ging zu Molo und setzte sich neben ihn. Er zog 92
seine Schuhe aus, die voller Sand waren, und schlug sie gegeneinander, um sie besser zu leeren. »Wenn du mich eines Tages gefragt hättest: ›Ist das Meer weit?‹, hätte ich dir geantwortet, weißt du. Warum hätte ich es dir verheimlichen sollen? Aber da du mich nie gefragt hast, kannst du nur auf dich selbst böse sein.« Molo antwortete nicht. »Mach kein Drama daraus«, fuhr Georges fort. »Ich bin zum Beispiel niemals geflogen, und das hat mich nicht am Leben gehindert, im Gegenteil … die Flugzeuge stürzen häufig ins Meer.« Molo zuckte die Achseln. »Ich bin auch nie geflogen, ich habe auch nie Froschschenkel gegessen.« »Ich auch nicht«, sagte Georges, während er aufstand. »Du siehst also, es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen. Na komm …« Und Molo fing an zu weinen, mit den Nerven völlig am Ende. »Beruhige dich, mein Alter.« »Ich kann nicht mehr, ich sterbe vor Hunger, und den Friedhof werden wir nie finden. Begraben wir ihn hier, das ist doch wunderbar, und fahren wir nach Hause. Niemand wird je etwas erfahren.« »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, kommt gar nicht in Frage. Wir werden ein bisschen schlafen, wenn du willst, und im Morgengrauen weiterfahren. Es ist noch eine Madeleine da, glaube ich, komm.« 93
Molo stand schniefend auf, aber anstatt Georges zu folgen, begann er sich auszuziehen: »Ich geh schwimmen.« »Bist du verrückt? Das Wasser ist eiskalt, und außerdem ist es gefährlich.« »Ich will nicht als Idiot sterben.« »Lieber ertrinkst du.« Molo ließ sich nicht entmutigen; wenn er jetzt zögerte und nachzudenken begann, würde er nicht gehen. Er zog sich nackt aus und lief zum Wasser. Er hatte keine Zeit zu frieren. Die erste Welle prallte gegen ihn, überschwemmte ihn und schickte ihn dorthin zurück, woher er gekommen war, schob ihn über den groben Sand, der mit rauen Kieselsteinen, sehr kleinen spitzen Muschelschalen und winzigen Bruchstücken von Seeigelschalen vermischt war. Er fand sich am Strand wieder, groggy, mit verstopften Ohren, die Augen voller Wasser. Im Scheinwerfer des Leichenwagens sah er die in Licht gehüllte Gestalt von Georges, der zum Wagen zurückkehrte, und er wurde von der Welle angesaugt, die sich zurückzog. Er krallte seine zehn Finger in den Sand, wie zwei lächerliche Greifer, aber er verschwand unter einer anderen Welle, die heranbrandete. Diesmal schluckte er gehörig Wasser, dann gelang es ihm endlich, sich aus den Wellen zu befreien. Schwankend stand er auf, taumelnd, ganz blau, und bevor er das Meer ganz verließ, drehte er sich um und pisste ins Wasser, schlotternd vor Kälte, aber voller Respekt, sehr stolz, dem Ozean ein paar Tropfen hinzuzufügen. 94
Er trocknete sich mit seiner Jacke ab, rieb sich kräftig ab, dann setzte er sich darauf und zog sich so schnell wie möglich an. Er steckte seine Krawatte in die Tasche und lief zähneklappernd zum Leichenwagen, das Hemd klebte ihm an der Haut. »Das Meer macht hungrig«, sagte er, als er in den Wagen kletterte. Die einzige Antwort war ein leises Grunzen. Georges schlief bereits. Er hatte sich quer über die drei hinteren Plätze gelegt und sich mit seiner Jacke zugedeckt. Molo ließ den Motor laufen und drehte die Heizung voll auf. Es musste eins, vielleicht zwei sein, vielleicht auch später. Jedenfalls war nicht mehr gestern; und heute, es war ihm gerade eingefallen, war sein Geburtstag. Georges schlief, der andere war tot, er hatte schon fröhlichere Geburtstage erlebt. Er aß die letzte Madeleine, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Molo, dann stellte er den Motor ab und schlief ein. Bei Tagesanbruch würde er endlich die Landschaft entdecken. Vielleicht würde ja sogar eine aufgeweichte Sonne zu seinem Geburtstag Fluten am Horizont aufsteigen lassen. Georges öffnete ein Auge, es war immer noch dunkel. Das Rauschen des Meeres kam ihm näher vor. Die Windschutzscheibe und die Wagenfenster waren ganz beschlagen, er öffnete die Tür. Eine kleine Welle leckte die Autoreifen. Das Meer war bis zu ihnen gestiegen. Brüllend weckte er Molo. 95
Sie verließen den Strand, Georges wollte den Tagesanbruch nicht abwarten. Für Molo würde das Meer sein Geheimnis behalten. Er würde sich nur an seinen Geschmack erinnern, an diese flüssigen Berge, die über seinem Rücken zusammengebrochen waren, an seine Gischtlawinen. Es würde für ihn das schwarze Meer bleiben, und wenn er davon erzählte, würde man ihm wie einem großen Reisenden zuhören. Sie nahmen eine Straße, die einen seriöseren Eindruck machte, die irgendwohin zu führen schien; eine etwas breitere Straße, wie sie sie seit langem nicht mehr gesehen hatten, mit weißen Streifen in der Mitte und sogar an den Rändern. Sie stießen auf ein Schild »Alle Richtungen« und freuten sich, dass sie jetzt endlich auf dem richtigen Weg waren. Gähnend nahm Molo den ersten Schimmer des anbrechenden Tages wahr. Er bremste, um das Auffliegen eines Raubvogels nicht zu behindern. Zu dieser Stunde, wenn die Vögel wieder zu singen beginnen, streckte er sich gewöhnlich in seinem Nest, drehte sich um und schlief dann mit unendlichem Behagen wieder ein. Heute Nacht hatte er nur zwei Stunden geschlafen. Er rieb sich die Augen mit der Faust, während er weiter auf die Straße starrte. Georges hatte zu schnarchen begonnen.
XI
»Geht’s wieder?« Etwas durchgeschüttelt, massierte Georges sich die Schläfe mit den Fingerspitzen. Er gab keine Antwort. »Ich muss eingeschlafen sein«, seufzte Molo entgeistert. Der einzige Kranz, der auf dem Sarg gelegen hatte, lag in einiger Entfernung hinter dem Leichenwagen. Ein leichter Wind wirbelte das abgerissene Band in die Höhe, Blütenblätter glitten über den Asphalt und flogen ins Gras. Mitten auf der Straße wie Strandgut: der zerbrochene Sarg, nur noch ein Haufen Holz und weißer Stoff. Und dort hinten, im Graben, lag der Leichnam im Schlamm. Der Leichenwagen war auf den Seitenstreifen geraten. Molo hatte in extremis reagiert. Zwei Mal hätten sie sich beinahe überschlagen, aber wie durch ein Wunder hatten sie den Unfall vermeiden können und sich benommen 97
quer auf der Straße wiedergefunden. Durch die verzweifelt heftigen Bewegungen des Lenkrads, die Stöße und die Schlenker des Fahrzeugs hatte der Sarg wie ein Widder die Türen durchstoßen und war auf der Straße zerschellt. Schließlich waren sie ausgestiegen und standen da, vollkommen niedergeschmettert; angesichts der Katastrophe schämten sich beide gleichermaßen, dass sie unverletzt davongekommen waren. Molo schüttelte bereits seit fast einer Minute den Kopf. »Das ist nicht sehr professionell.« »Ich glaube, jetzt haben wir den absoluten Tiefpunkt erreicht«, stellte Georges fest. »Wenn wir uns wenigstens ein paar Mal überschlagen hätten, wenn wir ein wenig aus dem Ohr geblutet hätten, dann würden wir seriöser wirken …« »Das nächste Mal wirst du es besser machen, da hab ich volles Vertrauen.« Ohne recht zu wissen, womit sie anfangen sollten, sammelten sie zuerst die Trümmer auf, die um sie herum lagen, und warfen sie kreuz und quer durcheinander ins Heck des Leichenwagens. »Tanne ist wirklich Scheiße«, sagte Georges, »sieh dir das an …« »Ist das nicht Eiche? Ich dachte, sie hätten Eiche gewählt.« »Sie haben Eiche bezahlt, aber sie haben Tanne gekriegt. Die Absicht zählt, oder nicht?« 98
»Stimmt, für Eiche fand ich es nicht schwer genug«, bemerkte Molo. »Was für einen Unterschied macht das schon, wenn man das Harz nicht mehr riecht?« »Die Knoten vielleicht …« »Komm jetzt, wir müssen uns beeilen. Wie sehen wir denn aus, wenn jemand vorbeikommt. Und außerdem möchte ich mittags zurück sein, ich hab die Nase voll, ich hab die Nase gestrichen voll!« Georges sah sich um, um sicherzugehen, dass er nichts vergessen hatte, hob den Kranz auf und warf ihn in hohem Bogen in den Wagen; dann trafen sie Vorkehrungen, um den Leichnam wieder einzuladen. Um sich die Arbeit zu erleichtern, fuhr Molo den Leichenwagen rückwärts an den Graben heran. Bevor er sich zu Georges gesellte, war er so umsichtig, Nase und Mund mit einem Taschentuch zu bedecken, um zu verhindern, dass eine ungesunde Ausdünstung überraschend in ihn eindrang. Wenn er verweste Moleküle einatmete, könnten sie sich in seinem ganzen Körper ausbreiten, sich in jeden Hohlraum, jeden Spalt, jede Blase einnisten, sich an jede raue Stelle anklammern, und in ihrer feuchten und dunklen Wärme würden sie sich in aller Stille wie wild vermehren, davon war er überzeugt. Er zog zusätzlich noch Handschuhe an, dann stieg er aus dem Wagen und ging zu Georges. »Wie machen wir es?«, fragte er. 99
Georges starrte ihn an. »Der Tod ist nicht ansteckend, weißt du, er ist erblich. Das ist ein großer Unterschied: man entkommt ihm nicht. Du kannst dir dein Taschentuch fürs Weinen aufheben.« Sie gingen zum Graben. Ein Stück des Sargs war auf den Toten gefallen und bedeckte den Kopf und die Hälfte des Körpers. »Ich hatte fast vergessen, dass da jemand drin war«, sagte Molo. Georges kauerte sich hin. »Von hier aus kann ich ihn an den Knöcheln packen. Geh du hinunter und nimm ihn unter den Achseln, und dann holen wir ihn rauf.« »Und wenn wir ihn an den Füßen ziehen, wäre das nicht einfacher?« »Das sind Mördermethoden. Wir sind doch keine Mörder.« Also stieg Molo vorsichtig in den Graben. Der Boden kam ihm recht feucht vor, unter Verrenkungen suchte er eine Position, die es ihm erlaubte, ihn nicht mit den Füßen zu berühren. Als er merkte, dass er auf diese Weise unmöglich den Leichnam erreichen konnte, änderte er die Technik. Er richtete sich wieder auf und bildete eine Brücke auf halber Höhe, indem er seine Beine zu beiden Seiten des Grabens verkeilte. Sehr schnell stellte er fest, dass er auch in dieser Stellung nichts erreichen würde. Von 100
Georges’ finsterem Blick zur Eile angetrieben, beschloss er schließlich, erst einen Fuß auf den Boden zu setzen und dann den anderen. Und wie er befürchtet hatte, sank er langsam ein paar Zentimeter im Schlamm ein. Sachte hob er das Stück des Sargs hoch, das den Verstorbenen bedeckte, doch als er sein Gesicht, vor dessen Aussehen er sich fürchtete, entdeckte, entglitt das Holz seinen Fingern und schlug mit einem leisen Krachen schwer auf das Gesicht des Toten. »Scheiße«, rief Molo, »ich glaube, ich hab ihm die Nase gebrochen.« »Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an, und ihm schon gar nicht. Beeil dich.« Molo fasste sich wieder. Ohne zu zögern, hob er das Holz erneut an und schob es zur Seite. Der Mann war weder gelb noch grünlich, und sein Gesicht war auch nicht zu einer Fratze verzerrt. Sein Gesicht war makellos weiß und strahlte eine erstaunliche Heiterkeit aus. Aus einem seiner Nasenlöcher rann ein dünner Blutfaden. Molo wandte sich zu Georges um: »Ist … ist das normal? …« Er bekam keine Antwort, nicht einmal einen Blick, um sich daran festzuklammern und die Kraft zu finden, aus dem Graben zu steigen. Georges starrte dieses helle Blut an, das jetzt bis in den Nacken des Mannes lief und den Kragen seines Hemdes befleckte. Molo stand einen Augenblick wie angewurzelt im Schlamm, und als er sich 101
endlich bewegen konnte, kletterte er aus dem Graben, wobei er sich an den Grasbüscheln festhielt. Sie wechselten kein einziges Wort, und ohne sich umzudrehen stiegen sie in den Leichenwagen und fuhren sofort los, das Warnblinklicht noch eingeschaltet und mit weit offen stehenden Türen. Schon in der ersten Kurve verloren sie den Kranz ein zweites Mal.
XII
Das Erste, woran ich mich erinnere, ist dieses plötzliche Gefühl von Fall, das mich zusammenzucken ließ, wie wenn man einschläft. Trotz der Dunkelheit fühle ich mich irgendwo. Ich glaube zuerst an eine dieser Illusionen, wie ich sie schon früher kennen gelernt habe. Wie die Amputierten, die Schmerzen in dem Glied spüren, das sie nicht mehr haben, haben die Toten, den Kopf noch voller Bilder und Empfindungen, merkwürdige Träume – ich weiß es jetzt –, die ihnen den Eindruck von Leben vermitteln; und ihre Haare wachsen und die Nägel auch. Ich glaube also an einen dieser Träume. Ich werde warten, bis er sich auflöst; aus meinem Kopf werden schließlich all diese Gefühle von Existenz verschwinden, das ist nur eine Frage der Zeit, und ich habe Zeit. Molo fragt: »Das Wetter hat sich geändert, oder?« Georges betrachtet erstaunt den immer noch klaren Himmel und begreift nicht, warum er das gesagt hat. 103
»Wir sind immer noch am Strand und schlafen, und ich träume, das ist alles. Oder du träumst, das ist egal. Dass das Meer so schnell bis zu uns gestiegen ist, kam mir schon verdächtig vor, ganz zu schweigen von allem Übrigen …« Molo ist absolut nicht überzeugt. Er betrachtet seine Füße, die vom Schlamm des Grabens verkrustet sind. Er kramt in seiner Tasche, holt ein paar perlmuttfarbene Muschelschalen heraus, die er in der Nacht gesammelt hat, und zeigt sie Georges in der hohlen Hand als unwiderlegbaren Beweis: »Du siehst, es ist kein Traum.« »Was beweist das schon? Du bist wie diese Dummköpfe, die wollen, dass man sie zwickt, damit sie sicher sind, dass sie nicht träumen, ohne sich auch nur eine Sekunde zu überlegen, dass sie träumen könnten, dass sie gezwickt werden.« »Ich habe noch eine andere Hypothese. Wir schlafen immer noch, und ich träume, oder du träumst, das ist egal …« »Du machst dich über mich lustig, das erkläre ich dir doch gerade.« »Warte, lass mich aussprechen.« Er fährt fort: »… oder du träumst, das ist egal. Wir sind in Saint-Jean, und niemand ist gestorben. Was hältst du davon?« »Das ist lächerlich.« »Das glaube ich eben auch. Er hat aus der Nase geblutet, Georges.« 104
Bis jetzt habe ich nur verworrene, ferne Dinge wahrgenommen. Ein paar undefinierbare Töne, Licht durch meine Lider, und vielleicht fror ich auch ein wenig. Aber das hier ist anders. Die Empfindung ist genau, ganz klar und hat nichts von einer Illusion post mortem. Jemand kratzt hartnäckig meine Wange. Ich spüre, wie meine Haut von dem Hin und Her dessen, was mir Nägel zu sein scheinen, gereizt wird. Erst hinterher spüre ich einen Juckreiz, der wohl erklärt, warum man mich kratzt. Und schließlich wird mir bewusst, dass diese Hand meine ist. Aus Angst, erneut ohnmächtig zu werden, vielleicht für immer, um mich weiterhin zu spüren, kratze ich mich weiter. Nach und nach spüre ich wieder meine Gliedmaßen, spüre, wie mein ganzer Körper erwacht. Ich könnte sogar die Augen öffnen, aber ich habe nicht den Mut dazu, noch nicht. Und gibt es überhaupt etwas auf der anderen Seite meiner Lider? Ganz nah an meinem Ohr höre ich das schrille Summen eines jener Insekten, deren Namen ich vergessen habe; ich verstehe, warum meine Wange juckt. Als ich meine Haut unter meinen klammen Fingern betaste, fühle ich eine riesige Beule. Ich glaube, ich lächle; und ich weine. Aber ohne ein Geräusch zu machen, um das Tier nicht zu erschrecken. Ich nehme meine Hand vom Gesicht, mein Arm fällt neben den Körper, ich liege reglos da und warte, bis das Summen aufhört und es sich erneut 105
niederlässt. Ich spüre den Stich und dann das Jucken, und ich kratze mich, kratze mich bis aufs Blut. Es kommt mehrere Male zurück, ich lasse es gewähren, damit es sich von mir ernährt, bis es nicht mehr kann, nur allzu froh, dass es ein Insekt ist und nicht die Würmer. Dann kommt es nicht mehr zurück, wahrscheinlich ist es satt, und lässt mich allein mit meinem brennenden Gesicht und dem unklaren Gefühl, kein Leichnam mehr zu sein. Später habe ich erfahren, dass es sich in Wirklichkeit von einer Amsel zum Frühstück hat verspeisen lassen, und das hat mich gerührt. In meiner persönlichen Insektenkunde werde ich von nun an nur noch zwei große Tierfamilien unterscheiden: diejenigen, die uns lebend mögen, und die anderen, sehr viel weniger sympathischen, Aasfresser aller Art, die uns nur kalt konsumieren und denen ich gerade zu entkommen im Begriff war. Sie halten am Straßenrand, um zu entscheiden, was davon zu halten und was zu tun sei. Georges räumt schließlich ein, dass seine Geschichte mit dem Traum nicht sehr überzeugend ist. »Das sagt sich jetzt leicht, aber ich versichere dir, dass ich an dem Tag, an dem wir ihn abgeholt haben, geahnt habe, dass wir mit ihm Probleme bekommen werden.« Ich öffne zu abrupt die Augen einen Spalt. Das Licht spaltet mir den Schädel. Ich schreie vor Schmerz, und der 106
Klang meiner eigenen Stimme erschreckt mich. Ich fühle mich wie diese verlassenen Häuser mit weiß verhüllten Möbeln und voller Staub, deren Fensterläden nach endloser Dunkelheit jäh aufgestoßen werden. Vorsichtig versuche ich mich wieder daran zu gewöhnen. Ich lege die Hand auf meine Augen und lasse zunächst ein paar Strahlen durch die Finger sickern, und ganz langsam dringt die Sonne in meinen Totenkopf. Nach einer Weile kann ich sie offen halten, ohne zu sehr unter der Helligkeit zu leiden, aber ich sehe nur verschwommene Formen, schillernde Flecken. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder befinde ich mich an einem unklaren Ort oder meine Augen sind noch zu schwach. Ich ziehe die zweite Hypothese vor, sie ist beruhigender. Mit großer Mühe richte ich mich auf und hebe meinen Hintern aus dem Schlamm, indem ich mich direkt daneben setze, wo es trockener ist. Während ich darauf warte, dass meine Sehkraft wiederkehrt, räuspere ich mich und stoße leise Schreie aus, nur um mich zu hören. Ich spüre, wie Tausende von Wörtern in meinem Kopf herumschwirren, wie ein Wasserfall an den Rand meiner Lippen stürzen und sich zu einer unaussprechlichen Paste zusammenballen. Ich versuche, meinen Namen zu sagen, aber ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Da wird mir bewusst, dass ich mich nicht mehr an mich erinnere, und auch sonst an nichts. Ich habe nur eine Gewissheit, die, tot gewesen zu sein – das vergisst man nicht – und es jetzt nicht mehr zu sein. Es 107
gibt ein Wort dafür, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Die Flecken lösen sich auf, die Formen nehmen Gestalt an. Ich bin in einem Graben, am Rand einer Straße. Ich frage mich, was ich hier mache. Die Sonne steht tief, die Luft ist kühl. Das Gras ist voller Tau, ich schließe daraus, dass es Morgen ist. Aber ich beginne zu zweifeln. Es kann auch ein feiner Regen sein, der vorher gefallen ist, und es ist vielleicht Abend. Wie soll man das wissen, wenn man mitten in der Geschichte ankommt? Ich versuche aufzustehen. Ein schwarzer Schleier fällt vor meinen Augen nieder. Dieses eifrige Insekt muss mir mein ganzes Blut ausgesaugt haben. Ich warte ein wenig und stehe dann vorsichtig auf. Es gelingt mir, mich trotz des Schwindels und der silbrigen Fliegen, die vor meinen Augen tanzen, aufrecht zu halten. Zu meinen Füßen liegt ein Stück von meinem Sarg. Ich frage mich, wer ich bin, um Holz von so schlechter Qualität verdient zu haben. Ich nehme diese lächerliche Krawatte ab, die mich am Atmen hindert, und werfe sie weg. Meine Nase ist ganz blutverkrustet, mein Hemd voller Flecken, meine Hose ganz verknittert. Ich spitze die Ohren. Ich höre eine leise elektronische Musik, deren Töne der Wind zur Hälfte verweht. Ein schottischer Marsch. Ich versuche herauszufinden, wo der Klang herkommt, und sehe etwas im Gras glänzen. Es ist eine Uhr, es muss meine sein. Ich hebe sie 108
auf. Die Musik fängt immer wieder von vorn an, ich drücke auf alle Knöpfe, um sie zum Verstummen zu bringen, aber vergeblich. Ich binde sie um mein Handgelenk und beschließe, der Straße zu folgen, bis ich auf jemanden stoße oder ohnmächtig werde. Nach ein paar Metern muss ich mich ausruhen, dann gehe ich weiter. Ich gehe weitere fünfzig Meter, ich ruhe mich erneut aus, und ich gehe weiter. Ein Kranz liegt mitten auf der Straße. Er besteht aus diesen Blumen, die so einen komplizierten Namen haben. Auf dem Band steht in goldenen Buchstaben: »In tiefer Trauer«. Aber was nützt mir eure Trauer. Was ich brauche, ist mein Name. Den sollte man auf die Kränze oder die Sträuße schreiben. Selbst die Kinder, die ins Ferienlager geschickt werden, fahren mit ihrem Namen um den Hals. Ich kehre von sehr viel weiter zurück, und niemand hat diese Vorsichtsmaßnahme getroffen. Wie ein Diskuswerfer schleudere ich den Kranz über den Graben, und er landet dekorativ in einem Busch. Ich spüre einen schrecklichen Schmerz in der Schulter, ich habe das Gefühl, mein Arm wird mir vom Körper gerissen. Ich gehe im Angesicht einer orangefarbenen kugelrunden Sonne, die in den Dunstschwaden hängt. Meine Gelenke sind immer noch steif. Ich sage mir alle Vornamen auf, die mir durch den Kopf gehen, in der Hoffnung, meinen zu finden. Schauer durchlaufen meinen ganzen Körper. Meine Nase tut weh. Die Dudelsäcke an meinem Handgelenk wiederholen noch immer dieselbe Melodie. 109
Georges kommt sich lächerlich vor und schämt sich, dass er geflohen ist. Er beschließt umzukehren. »Ich werde mich doch nicht von ein paar Tropfen Blut beeindrucken lassen, da hab ich schon ganz andere Sachen gesehen. Dafür muss es eine Erklärung geben. Und außerdem ändert es nichts, begraben müssen wir ihn.« Molo gehorcht, wie immer, aber diesmal beeilt er sich nicht zu wenden, in aller Ruhe bringt er den Motor auf Touren. In nicht einmal zehn Minuten werden sie wieder an Ort und Stelle sein. Nichts zieht ihn dorthin. Ich gehe auf der Straße, links, in der Mitte, rechts, ich versuche, dem Streifen zu folgen, aber es ist schwierig, gerade zu gehen. Meine zu enge Jacke, die mich wie eine Zwangsjacke daran hinderte, die Arme zu bewegen, habe ich von mir geschleudert. Meine Zunge ist trocken, meine Kehle ebenfalls, ich fühle mich bis in die Zellen meines Knochenmarks trocken. Ich habe Angst, in der Sonne Feuer zu fangen. Der Leichenwagen kommt auf eine lange gerade Strecke. Molo reißt die Augen auf. Dort, wo sich die Straße in der Ferne verliert, etwa hundert Meter vor ihnen, geht ein Mann. »Guck mal, da geht einer. Er muss die Leiche gesehen haben, wenn er von dort hinten kommt.« 110
Georges kneift die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. »Das ist ihm sicher nicht aufgefallen, er scheint ganz schön einen in der Krone zu haben …« »Er kommt direkt auf uns zu.« »Werde nicht langsamer, beachte ihn nicht.« Mein Kopf ist schwer wie der eines Säuglings, aber von Zeit zu Zeit hebe ich ihn und betrachte den Horizont. Und ich tue gut daran. Da kommt ein Wagen. Ein schwarzer Kastenwagen. Ein Leichenwagen. Welche Ironie … Ich bleibe mitten auf der Straße stehen und winke heftig mit den Armen. Georges regt sich auf: »Er bleibt einfach da stehen, der Idiot.« Molo sagt nichts mehr. Er wird kreidebleich und nimmt den Fuß vom Gaspedal. »Was will er denn?« »Georges, das ist er«, stammelt Molo. Der Leichenwagen hält. Der Mann kommt näher. »Entschuldigen Sie …« »… könnten Sie mich bitte bis zum nächsten Dorf mitnehmen?« Im Wagen sitzen zwei Männer, der eine ist ziemlich jung, der andere muss um die Sechzig sein. Sie machen 111
einen ganz verblödeten Eindruck. Ihnen werde ich meine Geschichte nicht erzählen. Ich wende mich an den, der am Steuer, sitzt, er starrt mich an und kurbelt nicht einmal das Wagenfenster herunter. Ich scheine keinen vertrauenerweckenden Eindruck auf ihn zu machen, ich muss schrecklich aussehen … Georges hat das weiße blutbefleckte Hemd des Mannes wiedererkannt. Er hat den Blick abgewendet und angefangen, wie Espenlaub zu zittern, ohne aufhören zu können. Der Mann kommt noch näher und klopft an die Scheibe. Er betrachtet sich im Rückspiegel und betastet seine blau verschwollene Nase. Molo schließt die Augen, nimmt all seinen Mut zusammen und öffnet die Wagentür. Er hat einen Kloß im Hals. »… Ja?« »Könnten Sie mich bitte im nächsten Dorf absetzen?« Molo wird übel. »Mein Gott, was für ein Atem …« Er stottert herum, ohne recht zu wissen, was er antworten soll. Georges kommt ihm zu Hilfe: »Das ist nicht unser Weg, bedaure.« »Ach. Haben Sie jemanden hinten drin?« »Ja … nein«, antwortet Georges, »wir holen jemanden ab.« »Im nächsten Dorf vielleicht?« 112
Georges kommt sich wie ein Idiot vor. Was soll er jetzt antworten? »Nein, dort hinten, im Graben.« Gewiss nicht. »Ja, im Dorf.« »Also, wenn sie mich mitnehmen könnten, das wäre wirklich nett.« »Steigen Sie ein«, sagt Molo. Ich gehe um den Leichenwagen herum. Der Alte macht ein komisches Gesicht. Er rückt zur Seite, ich steige ein und setze mich neben ihn. Wir fahren los. Sie sind nicht sehr gesprächig. Ich auch nicht. Sie stellen mir keine Frage, das ist mir ganz recht. Ich bemerke, dass in der Türtasche neben mir eine Flasche steckt. Ich frage: »Hätten Sie nicht zufällig etwas zu trinken?« Der Junge weist mit dem Finger auf die Flasche. »Dort.« »Danke.« Das Wasser ist lauwarm, aber es tut mir überaus wohl, als würde es direkt in meine Adern fließen. Ich spüle mir diskret den Mund aus. Der Alte sieht mich schief an. Ich halte ihm die Flasche hin. Er hebt die Hand. »Nur keine Umstände.« Im Licht, das in der Durchsichtigkeit des Wassers hängt, sehe ich zahllose unbedeutende Partikel, ganz winzige Schuppen. 113
Wir fahren seit fünf Minuten. Ich lächle, versuche mich zusammenzunehmen, aber ich pruste los vor Lachen. »Was ist los? Warum lachen Sie?«, fragt mich der Junge. »Das können Sie nicht verstehen … Ich sitze auf dem Platz des Toten.« Der Junge sieht den anderen an und flüstert ihm heimlich etwas zu. Er glaubt, ich bemerke es nicht. Meine Uhr, die schließlich von allein stumm geworden ist, fängt wieder zu spielen an. Der junge Mann dreht unvermittelt den Kopf zu mir. Er macht einen Schlenker und hätte uns beinahe in den Graben gefahren. Er blickt auf mein Handgelenk. »Meine Uhr!« »Entschuldigung?« Der Alte drückt sich in seinen Sitz. »Das ist meine Uhr, die Sie da anhaben«, fährt der andere fort. »Ich hab sie zur Kommunion bekommen.« Ich verstehe nicht, was er da erzählt. Er schaltet jetzt zurück. Dabei sehe ich überhaupt keine Häuser. Wir halten an. Er sieht seinen Kollegen mit ernstem und entschlossenem Gesichtsausdruck an. »Wir müssen es ihm sagen, Georges.« Der Junge hat mir alles erzählt. Der andere hat den Mund nicht aufgemacht, er hat auf seine Hände geblickt, ohne 114
sie wirklich anzusehen. Ich habe ihm seine Uhr zurückgegeben, und er hat die Melodie sofort zum Verstummen gebracht. Er hat mir erklärt, dass er sie abgenommen habe, um mich herzurichten, dass sie dabei irgendwann in den Sarg gefallen sein müsse und dass sie ihn geschlossen hätten, ohne es zu bemerken. Er hat noch einmal gesagt, dass es sich um eine Quarzuhr handele und dass er sie zur Kommunion bekommen habe. Ich steige aus und laufe ein paar Schritte um den Leichenwagen in dem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich bekomme sehr schnell Kopfschmerzen. Bestimmte Dinge sind so schwer zu begreifen, dass unser Geist mit Schmerz darauf reagiert. Ich erinnere mich, etwas Ähnliches schon einmal empfunden zu haben, als ich einen Sternenhimmel betrachtete und versuchte, seine Unendlichkeit zu akzeptieren. Ich steige wieder in den Leichenwagen. Der Junge sagt zu mir: »Warum zerbrechen Sie sich den Kopf? Zum Leben braucht es wenig, zum Sterben vermutlich auch.« Ich antworte: »Der Styx ist vielleicht nur ein Bach, letzten Endes …« Dann reicht er mir die Hand über seinen Kollegen hinweg: »Nennen Sie mich Molo. Das ist Georges, mein unmittelbarer Vorgesetzter.« Ich drücke ihnen die Hand, möchte sie aber eigentlich 115
gern umarmen. Man hat so selten Gelegenheit, seine Totengräber nach seiner Beerdigung zu umarmen. »Wenn Sie mir sagen könnten, wie ich heiße, dann könnte ich mich vorstellen.« Sie scheinen nicht zu verstehen. »Ich erinnere mich an nichts, was mich betrifft, an fast nichts.« »Das ist ja schrecklich«, sagt Molo. »Ich will mich nicht beklagen.« Er wirkt verlegen. »Es tut mir sehr Leid, das mag idiotisch erscheinen, aber ich glaube, ich habe Ihren Namen nie gewusst. Für uns waren Sie ›der Leichnam‹ und dann ›der Sarg‹, und Ihre Familie war ›die Familie‹. Es ist zu blöd …« Er wendet sich an seinen Kollegen: »Kennst du seinen Namen?« Er schüttelt den Kopf, aber ich spüre, dass er sich gar nicht bemüht, sich zu erinnern. Molo entschuldigt sich noch einmal: »Sie müssen wissen, um den Papierkram kümmern wir uns nicht. Dafür ist unser Chef zuständig. Übrigens, der wird vielleicht ein Gesicht machen, wenn er Sie sieht …« Molo holt eine Karte aus dem Handschuhfach und faltet sie auseinander. »Sie haben ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dass ich den Friedhof nicht mehr suchen muss«, sagt er zu mir. Um mich über die Karte zu beugen, bin ich gezwungen, 116
mich an Georges zu drücken. Er rückt so weit wie möglich zur Seite, um den Kontakt mit mir zu vermeiden. Ich glaube, ich mache ihm Angst. »Wir müssen ungefähr hier sein«, sagt Molo und beschreibt mit seinem Finger einen kleinen Kreis in der Luft. Dann legt er seinen Zeigefinger auf die Mitte der Karte. »… Und Saint-Jean ist hier. Das ist nicht kompliziert, wir müssen nur umkehren. Was meinst du, Georges?« »Glaubst du, dass wir Weihnachten zurück sein werden?« Molo lacht gezwungen. Der Leichenwagen braust los. Wir halten an der Stelle, wo der Unfall stattgefunden hat. Molo steigt aus, ohne den Motor abzustellen, holt das letzte Stück vom Sarg aus dem Graben, legt es ins Heck des Leichenwagens, und wir fahren sofort weiter. Von Zeit zu Zeit werden wir von Nebelschwaden, die es nicht eilig haben, verschluckt. Ein paar Sekunden lang sieht man nichts, aber Molo fährt kaum langsamer. Manchmal beschleunigt er auf gerader Strecke sogar, um schneller wieder herauszukommen. Er sagt zu mir: »Sie werden das Gesprächsthema in der Gegend sein, das ist sicher, und nicht nur hier.« Ich antworte ihm: »Sie aber auch.« »Danach müssten wir eigentlich eine Gehaltserhöhung kriegen, nicht wahr, Georges?« 117
»Mit Sicherheit.« Ich schmeichle ihnen: »Einen Orden, wollen Sie sagen.« Molo lächelt, aber ich spüre, dass er träumt. Beim Schminken waren sie ein wenig übereifrig. Mein ganzes Gesicht brennt jetzt. Als ich mit den Fingern über meine Haut reibe, lösen sich kleine teigige Röllchen von meinen Wangen. Molo fragt mich: »Woran sind Sie eigentlich gestorben, wenn das nicht zu indiskret ist?« »Das wollte ich Sie gerade fragen. Ich habe keine Ahnung.« »Ach ja? Weißt du es, Georges?« »Ich erinnere mich nicht mehr.« »Wie auch immer«, fährt Molo fort, »jetzt ist es sowieso egal. Sie müssen nicht mehr daran denken. Sie müssen in die Zukunft blicken.« »Ich versuche es, aber diese unverhoffte Zukunft ist verwirrend.« »Das kann ich verstehen.« Diese Leere tief in meiner Kehle ist auch eher undeutlich, aber ich glaube, das ist der Hunger, der mich plagt. Wenn ich es recht bedenke, bin ich sogar sicher: Ich habe Hunger. Und jetzt, da ich weiß, dass ich Hunger habe, habe ich noch mehr Hunger. Ich frage: »Werden wir bald da sein?« »Ein bisschen Geduld«, antwortet Molo. 118
»Ich frage, weil ich plötzlich großen Hunger habe.« »Ich dagegen überhaupt nicht mehr«, sagt Georges. Ich weiß nicht so recht, wie ich das verstehen soll. Molo fährt fort: »Sobald wir im Dorf sind, machen wir bei Jules halt, um die Reste von gestern aufzuessen. Es ist reichlich übrig. Sie werden sehen. Und dann bringen wir Sie nach Hause, ohne jemandem was zu sagen. Wir werden sie überraschen.« »Wer weiß, vielleicht kehrt durch den Schock des Wiedersehens ja meine Erinnerung zurück.« »Bis es soweit ist, würde ich gerne auf eine Tankstelle stoßen«, sagt Molo beunruhigt. »Es drängt allmählich. Ich seh die Nadel gar nicht mehr, so tief ist sie gesunken.«
XIII
Ein Insekt klatscht gegen die Windschutzscheibe. Molo fragt: »Habt ihr lesen können, was auf dem Kilometerstein stand?« »Ich habe keinen Kilometerstein gesehen«, sagt Georges. Ich sage: »Ich hab’s gesehen, da stand: ›Bréhau – 1 km‹.« »Dachte ich’s mir doch«, fährt Molo fort. »Ein kleiner Navigationsfehler, glaube ich …« Er nimmt den Fuß vom Gas. Wir halten am Straßenrand. Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Ich frage: »Heißt das, dass wir ganz in der Nähe des Friedhofs sind?« »Genau das«, gibt Georges mir enttäuscht zur Antwort. »Man findet schließlich immer, was man nicht mehr sucht.« »Ich möchte Ihnen nicht auf die Nerven gehen, aber wenn wir wirklich so nah sind und wenn es Ihnen nichts 121
ausmacht, dann würde ich mich gern an meinem Grab ein wenig sammeln.« Molo ist etwas überrascht. Er befragt seinen Kollegen, indem er die Augenbrauen hochzieht. »Nach all den Anstrengungen, die wir unternommen haben, um diesen Friedhof zu finden«, antwortet Georges, »wäre es schade, das nicht auszunutzen.« »Danke.« Wir sind schon da. Ein Weg zweigt von der Straße ab und führt zum Friedhof hinauf, der wie ein quadratischer Weinberg am Hang des Hügels liegt. Ich steige aus, nehme mir die Zeit, mein Hemd in die Hose zu stecken, und gehe los. Georges und Molo folgen mir. Ich gehe durch das Portal und bleibe stehen. Inmitten dieser Landschaft aus glatten Steinen, geraden Linien und Ecken zieht eine fast unmerkliche Unordnung meinen Blick auf sich. Ein Erdhaufen und ein paar Bretter dort oben. Da ist es. Ich entdecke meinen Namen, gemeißelt in Granit. Keinerlei Erinnerung. Er sagt mir nichts. Ich höre das Geräusch der Schritte der Totengräber, die hinter mir die Allee hinaufkommen. Als sie bei mir sind, bekreuzigen sie sich. Schweigend stehen wir ein oder zwei Minuten vor meinem offenen Grab. Dann gestehe ich: »Ich bereue es ein bisschen, dass ich hergekommen bin.« 122
»Warum?«, fragt Molo. »Ich habe das Gefühl, dass es keinen Ort gibt, an dem die Toten weniger gegenwärtig sind als auf dem Friedhof. Sie sind in der Luft, im Wein, in den Steinen, überall; in uns vor allem. Aber nicht hier, hier ist niemand. Der Beweis, ich bin auch nicht hier.« »Sie wissen jetzt wenigstens, wie Sie heißen.« »Mehr weiß ich dadurch auch nicht.« »Aber immerhin schon mal das«, sagt Georges. Ich trete einen Schritt zurück, und wir gehen. Ich habe es jetzt eilig, nach Hause zu kommen.
XIV
Die Pappeln scheinen in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen. Ich kämpfe gegen den Schlaf, aus Angst, nicht wieder aufzuwachen. An jeder Kreuzung holt Molo erneut die Karte hervor und stellt fest, dass wir noch immer nicht drauf sind. »Wie spät ist es?«, seufzt Georges. »Fast Mittag.« Das Lenkrad beginnt zu vibrieren. Molo kann den Leichenwagen nicht mehr halten. Schnell bremst er. Wir stoppen. »Ich fürchte, wir haben einen geplatzten Reifen.« Molo lockert die Schraubenmuttern mit kräftigen Fußtritten auf die Kurbel. Er setzt den Wagenheber an, und der Leichenwagen hebt sich langsam in die Höhe. Er nimmt das Rad ab, wechselt es und schickt sich an, es festzuschrauben. Georges nimmt ihm die Kurbel aus der Hand. 125
»Lass mich das machen, bei dir weiß man nie so genau.« Molo macht ihm erschöpft Platz und wirft den Reifen auf das Holz im Heck des Wagens, dann setzt er sich wieder ans Steuer. Ich bleibe neben Georges stehen. Er zieht die letzte Mutter richtig fest an und richtet sich wieder auf. »Das nenne ich fest angezogen«, sage ich zu ihm. Er antwortet: »Es ist nicht meine Gewohnheit, die Dinge nur halb zu tun.« Ich füge noch hinzu: »Das ist gut.« Und ich drehe ihm den Rücken zu. Ich mache einen Schritt, lege meine Hand auf den Griff der Wagentür und breche zusammen. Ich hebe den Kopf. Georges hat mich mit der Kurbel geschlagen. Er zögert. Er wird es wieder tun. Es gelingt mir aufzustehen, und diesmal verfehlt er mich. Er brüllt. Im Schwung hat er sein Schienbein getroffen. Schwankend gehe ich um den Leichenwagen, stütze mich auf die Motorhaube und begegne Molos entsetztem Blick durch mein Spiegelbild auf der Windschutzscheibe. Ich flüchte mich hinter den Leichenwagen. Georges stürzt sich auf mich. Molo hat nicht gewagt, sich zu bewegen. Im Außenspiegel erscheint Georges hinter dem Leichenwagen; er zieht den Mann an den Füßen. 126
»Komm und hilf mir!«, ruft er. Molo öffnet die Tür und steigt langsam aus. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung«, sagt Georges, »so ist es besser, glaub mir. Ich will keine Scherereien.« »Georges …« »Bleiben wir nicht hier, wir müssen zum Friedhof zurück. Ich möchte nicht, dass man sagt, ich hätte meine Arbeit nicht ordentlich gemacht.« »Aber …« »Sieh mich nicht so an. Er hat nicht gelitten. Es tut nicht weh zu sterben, wenn man nicht einmal weiß, wer man ist.« »Du hast ihn getötet …« »Einen Toten tötet man nicht.«
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