Leben aus Andromeda von KLAUS FISCHER 1. Die riesige Armada begann mit der Verzögerungsphase. Auf dem Flaggschiff SAGIT...
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Leben aus Andromeda von KLAUS FISCHER 1. Die riesige Armada begann mit der Verzögerungsphase. Auf dem Flaggschiff SAGITTARIUS wurden die Meldungen in die Admiralskabine geleitet, und während die Befehle des Kommandeurs lichtschnell zu den Antennen der eintausendundzwölf Schiffe rasten, die dem Führerschiff folgten wie der Kometenschweif seinem Kern, blickte der hochgewachsene, grauäugige Mann, der die 3. Galaktischen Raumstreitkräfte befehligte, auf den jungen Offizier, der, ausgestreckt auf einer Konturliege, sich mit einem Buch beschäftigte. »… wir sollten jenes anthropozentrische Weltbild über Bord werfen, das Vernunft und Denken als einzigen Zugang zum Mysterium des Seins anerkannte. Vernunft und Denken sind nichts weiter als Signale erkennende und Signale verarbeitende Medien. Und sie sind nicht die einzigen. Der heutige Mensch sollte die Gleichberechtigung aller kosmischen Medien erkennen und sich zu einem konsequenten Universalismus bekennen, innerhalb dessen die Ratio keinen unwichtigen, aber auch keinen allbeherrschenden Platz einnimmt. Denken um genau zu sein ist nichts weiter als eine elektrochemische Funktion der Großhirnrinde. Zugegeben, es ist jene Funktion, die den Menschen zur dominierenden Rasse seines Planeten gemacht hat. Nichtsdestoweniger ist Denken untrennbar mit jener Protein-Kohlenstoffverbindung verknüpft, die Homo sapiens genannt wird, was uns wiederum zu dem Schluß führt: Wesen eines fremden Systems, die nicht dem Kohlenstoff-Typus angehören, mögen sehr wohl uns absolut fremdartig erscheinende Funktionen entwickelt haben, die sie unter Umständen einen höheren Rang auf der evolutionären Leiter erklimmen ließen, als ihn der Mensch bisher erreichte…« Der Lesende sah auf, begegnete dem Blick des Älteren. »Ziemlich altes Buch, nicht wahr?«
Der Admiral lächelte. »Alt, aber interessant – und wahr…« Der junge Offizier blätterte durch die Seiten. An einer Stelle war etwas dazwischengeklemmt, eine Folie. Er nahm sie heraus und betrachtete sie. Es war eine Sternenkarte, ein Ausschnitt aus der Nordpol-Kalotte. Ein Sektor war rot umrandet: Die Galaxis M 31, der Andromedanebel. Der junge Mann blickte den Admiral an. »Hat es eine besondere Bewandtnis, daß gerade diese Karte in dem Buch steckt?« Gran Tauer antwortete nicht gleich. Sollte er schon jetzt…? Gab es andererseits einen Grund, noch länger zu warten? »Tore Vigart«, sagte er seltsam feierlich, während sein Blick väterlich-wohlwollend auf dem anderen ruhte, »es ist ein offenes Geheimnis, daß Sie einmal mein Nachfolger werden sollen. Was jedoch nur wenige wissen, ist, daß Sie mit dem Oberkommando der 3. Galaktischen zugleich eine ungemein heikle und verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen werden. Um diese Aufgabe zu lösen, werden Sie mit einer speziell ausgerüsteten Flotte zum Andromedanebel fliegen.« Tore Vigart starrte den Admiral an. »Zum Andromedanebel? Ich werde der erste Mensch sein…« Admiral Tauer schüttelte den Kopf. »Nein, Tore! Sie und Ihre Leute werden nicht die ersten sein. Drei Menschen waren bereits in jener Welt.« Er gab den beiden letzten Worten eine eigenartige Betonung. »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die nur wenigen Menschen bekannt ist…« * Dreißig Jahre vorher. Der große Andromedanebel. Zweihundert Milliarden Sonnen umkreisten das Rotationszentrum der Spirale, deren Durchmesser nahezu hunderttausend Lichtjahre betrug. Ein gigantisches kosmisches Gebilde. Und doch nur eines unter Milliarden anderer… Das Raumschiff, das an der Peripherie der Spirale nahezu mit Lichtgeschwindigkeit zwischen den weit auseinanderstehenden Mitgliedern einer Sternenkonstellation dahinschoß, hatte eine Entfernung von mehr als zwei Millionen Lichtjahren zurückgelegt. Seine drei Passagiere waren die ersten Lebewesen aus der heimatlichen Milchstraße, die den ungeheuren Abgrund zwischen
den beiden Galaxien überwunden hatten. Trotz des XÜLTriebwerks, des modernsten Überlichtantriebs, den ihr Raumschiff besaß, waren sie mehr als vier Jahre unterwegs gewesen, vier Jahre in der schwarzen Einsamkeit des Sternenlosen Weltalls. Jetzt raste die KOMET 16 – so hieß das Raumschiff – zwischen den siebzehn Sternen der Konstellation dahin. »Kalypso« hatten die drei Männer diese Sternenfamilie getauft, nach einer Gestalt aus der Odyssee; denn eine Odyssee lag hinter ihnen. Ihnen zunächst stand der zweithellste Stern der Gruppe: Beta Kalypso. »Ein blauer Riese«, sagte Ardo Cuiper, der Exobiologe, »also ein noch junger Stern. Auf seinen Planeten ist noch kein Leben zu erwarten.« »Vielleicht befindet sich wenigstens eine Sauerstoffwelt darunter. Dann könnten wir uns wieder einmal die Beine vertreten und unsere Oxygenvorräte ergänzen«, bemerkte Lin Bien-T’ang, der Kosmopsychologe. Gran Tauer, Pilot und Kommandant des Schiffes, nickte. »Wir wollen es versuchen.« Er drückte in rascher Folge ein paar Tasten. Der Computer bestimmte Richtung und Entfernung des Fixsterns, errechnete die Werte für das XÜL-Triebwerk und justierte die Automatik. Als alle Kontrolleuchten Grünwerte zeigten, drückte der Kommandant eine Schaltplatte. Minuten später stand die Scheibe der blauweißen Riesensonne vor der Sichtkanzel des Schiffes. Jedenfalls sah es so aus. In Wirklichkeit befand sich der Stern noch mehr als neunzig Millionen Kilometer entfernt. Die Meßgeräte gaben seinen Durchmesser mit 215 Millionen Kilometer an – das war der Radius der Marsbahn! Während sich das Raumschiff mit 95% Licht von der Sonne entfernte, liefen die Ortungsgeräte an. Zweiundzwanzig Planeten wurden ausgemacht, die ökologische Zone bestimmt; sie schloß Nr. 5 und Nr. 6 ein. Neunzig Minuten später tauchte die KOMET 16 in die Atmosphäre des sechsten Planeten ein und begann, ihn entlang der Rotationsachse zu umkreisen. Als sich aus den pausenlos einlaufenden Daten der Instrumente das Bild des Planeten abzuzeichnen begann, malte sich Verblüffung auf den Gesichtern der Besatzung: Ungeachtet der
Tatsache, daß die Muttersonne nicht viel älter als hundert Millionen Jahre alt sein konnte, schien diese Welt hier eine zweite Erde zu sein! Schwerkraft: 1,03 g Dichte: 1,10 ter Äquatorradius: 6387,1 km Rotationsgeschwindigkeit (Äquator): 465,12 m/sec -1 Das entsprach den irdischen Werten bis auf eine Stelle hinter dem Komma! Die Männer blickten durch die Sichtkuppel. Aus dem planetenumspannenden Blau des Ozeans ragten die bizarren Konturen von Inseln und Kontinenten, die, allmählich größer werdend, dem Schiff entgegendrifteten. Mehr und mehr näherte sich die KOMET der Planetenoberfläche, löste diese auf in ein Meer von grünen Savannen, mit blauen Seen und sich dahinwindenden Flüssen, und über die endlosen Steppen flüchteten Herden von Huftieren. Säugetiere! Eine zweite Erde zwei Millionen Lichtjahre von der ersten entfernt! Die KOMET 16 landete. Die drei Männer stiegen aus. Zum ersten Mal seit vier Jahren standen sie wieder auf dem festen Boden eines Planeten. Sie klappten die Helme zurück und sogen die reine Luft in die Lungen… * »Hundert Millionen Jahre jung«, Ardo Cuiper schüttelte den Kopf, »und schon eine Welt voller Leben – Berge, Flüsse, Wälder, Pflanzen, Tiere Säugetiere! Ich sage euch: Da stimmt was nicht!« Und allzubald sollten sie erfahren, daß noch anderes nicht stimmte auf dieser mysteriösen Welt. Es war am nächsten Tag. Ardo, der Exobiologe, war dabei, einige Pflanzen des Planeten zur Analyse auszuwählen. Lin Bien-T’ang schlief, und Tauer testete die Bordelektronik. Plötzlich hörte Gran den erschreckten Ausruf des Biologen. Der Kommandant zögerte keine Sekunde. Er riß den Strahler aus dem Halfter und stürzte aus dem Schiff. Er kam keinen Augenblick zu
spät, um das pantherähnliche Raubtier, das sich gerade auf Ardo stürzen wollte, abzuschießen. Als der Biologe sich von seinem Schrecken erholt hatte, trat er zu dem Raubtier, häutete es ab und begann es zu sezieren. Gran schickte sich gerade an, wieder in das Schiffsinnere zurückzugehen, als ihn ein erneuter Ausruf Ardos zurückhielt. Als er sich umwandte, sah er, wie der Biologe mit weit geöffneten Augen den Tierkadaver anstarrte. »Das… das kann nicht wahr sein«, hörte Gran ihn flüstern, als er hinzutrat. »Da, sieh dir das an! Kein Nervenstrang, keine Ader, kein Blut, kein Organ, nichts, nichts, nur Fleisch!« Ardo hatte recht. Außer Knochen, Muskeln und Fleisch, das schnell in Verwesung überging, war nichts in dem Körper des toten Tieres zu sehen. »Vielleicht hast du nicht richtig seziert«, bemerkte Gran. Doch der Biologe, mit dem Skalpell in dem Kadaver herumstochernd, rief: »Hier! Sieh selbst! Und wenn du den ganzen Kadaver durch den Wolf drehst, nichts wirst du finden – es ist unfaßbar!« Das war es. Sie weckten Lin und erzählten ihm die Geschichte. »Das Tier hat Augen«, sagte der Psychologe, als sie zu dritt vor dem erlegten Raubtier standen. »Aber keine Sehnerven«, erklärte Ardo. »Dann konnte es dich auch nicht sehen«, folgerte Lin BienT’ang. »Ich sagte doch: Gran kam gerade zurecht, um mir das Leben zu retten. Da mich die Bestie ansprang, muß sie mich auch gesehen haben!« »Vielleicht hat sie dich gerochen. Manche…« Ardo wurde böse. »Mann, begreife es: Das ganze Tier besteht nur aus Fleisch, Knochen, Muskeln, Haut…« dabei fuhr er erneut mit dem Skalpell in dem Körper herum. »Kein Nerv, kein Blut, kein Herz, kein Magen…« »Und die Kauwerkzeuge? Besitzt das Tier Zähne?« fragte der Psychologe hartnäckig weiter. Der Biologe öffnete vorsichtig das Maul der Raubkatze. »Kauwerkzeuge sind vorhanden«, sagte er, »aber keine Vorrichtung, um die Speise zu befördern.« Die Männer schwiegen einen Augenblick. Jeder hing seinen
Gedanken nach. Dann begann Lin von neuem: »Vielleicht ist es ein Robot?« Gran schüttelte den Kopf. »Keinerlei technische Voraussetzungen. Weder elektronische noch mechanische.« »Bleibt noch die Mikroanalyse«, murmelte Ardo, und seiner Stimme war anzuhören, daß er auch in diese keine übertriebene Hoffnungen setzte. Die Mikroanalyse vergrößerte das Rätsel noch. Unter dem Elektronenmikroskop erwies sich das tierische Gewebe als eine Zusammenballung strukturloser Materie, deren Moleküle eine sinnlose Aneinanderreihung von Kohlenstoffatomen darstellten, die keinerlei Muster zu folgen schienen. Auch die Untersuchung der Pflanzenwelt des mysteriösen Planeten brachte nichts Neues. Es war überall das gleiche Bild: Äußerlich zeigten alle Objekte eine geradezu frappante Ähnlichkeit mit entsprechenden irdischen Formen, innerlich aber fehlte all das, was Leben überhaupt erst ermöglicht. Die drei Männer standen vor einem Rätsel. Es war ein unheimliches Rätsel. Aber das Unheimlichste sollte ihnen erst noch bevorstehen. Es war am dritten Tag nach ihrer Ankunft auf Audongha wie man den Planeten nach einem altsirianischen Wort getauft hatte. Es bedeutete soviel wie: »das Unlösbare, das Rätselhafte« Hatten sie anfangs das Schiff nur im Raumanzug verlassen, so hielt Gran dies angesichts der irdischen Verhältnisse nicht weiter für erforderlich. Ardo war zusammen mit Lin landeinwärts gegangen, um weitere Untersuchungen anzustellen. Man wollte unter anderem Tiere bei der Nahrungsaufnahme beobachten. Gran war im Schiff geblieben, um einige Ausbesserungsarbeiten an der Hülle des Raumflugkörpers zu beaufsichtigen. Als er die Programme des kleinen Reparaturrobots überprüfte, um ihn eine Schweißarbeit ausführen zu lassen, hörte er Ardos Stimme aus dem Schiffssprecher: »Gran…! Hörst du mich?« Etwas in seiner Stimme ließ Gran aufhorchen. Er blickte durch die Sichtkanzel. Die beiden Freunde hockten in etwa zweihundert Meter Entfernung auf einer Lichtung am Boden. »Was gibt’s?« fragte der Kommandant. »Nichts Besonderes, Gran.« Ardos Stimme klang gleichmütig.
»Aber, komm bitte mal her… Wir brauchen dich«, fügte er hinzu. »Du weißt, daß ich gerade beschäftigt bin«, gab Gran zurück. »Muß es unbedingt sein?« »Es muß sein!« Gran zögerte. Dann ging er zum Wandschrank und entnahm ihm den Raumanzug. »Nein!« ertönte Ardos Stimme, »den brauchst du nicht.« Richtig, dachte Gran. Er legte den Anzug zurück, trat an die offene Luftschleuse und blickte hinaus. Vor ihm dehnte sich die weite Steppe des Planeten. Tief am Horizont stand die gleißende Scheibe von Audonghas blauweißer Sonne, deren Strahlen durch die Scharen der Zirruswölkchen drangen und das ganze Panorama in ein silbriges Licht tauchte. Ein Bild des Friedens? War es möglich, daß sich dahinter ungeahnte Gefahren verbargen? Ärgerlich versuchte Gran diese Gedanken von sich abzuschütteln. Doch als er so auf der Rampe stand und zu den Silhouetten der beiden Freunde hinüberblickte, die in der Ferne zu erkennen waren, begann etwas in ihm zu keimen. War es Angst? Waren es seine angespannten Nerven, die ihm einen Streich spielten? Etwas Unbeschreibliches kroch in ihm hoch. Eine seltsame Unruhe, die ihn zu warnen schien. Warnen, wovor? Wieder sah er zu den beiden hinüber. Unbeweglich hockten sie am Boden. Was taten sie? Da hörte er wieder die Stimme Ardos, jetzt voller Ungeduld: »Gran! Warum kommst du nicht? Komme sofort! Hörst du? Komme sofort!« Gran starrte hinüber. Er nahm alles in sich auf. Die beiden schweigenden Figuren auf der Schneise, die weiten Fluren, bedeckt mit Pflanzen, die keine Organe und keine Seele zu haben schienen, die ganze weite, mysteriöse Welt des fremden Planeten… Mit einem Ruck schloß er die Luftschleuse. Riegelte sie ab. Da tönte es aus dem Lautsprecher, herrisch und doch seltsam monoton: »Gran! du wirst sofort zu uns kommen! Sofort!« »Ich komme«, erwiderte Gran ruhig, »aber zuerst müßt ihr mir genau erklären, warum!« Nach kurzem Zögern kam Ardos Antwort: »Das können wir nicht erklären. Man wird es dir erklären.« »Wer ist man, Ardo?«
Grans Gedanken überstürzten sich. Was war mit den Freunden geschehen? Standen sie unter irgendeinem Einfluß? Und unter wessen? Sollte er zu ihnen gehen? Dann begab er sich in die gleiche Gefahr! Der Kommandant sagte laut und scharf: »Ardo und Lin! Kehrt sofort zum Schiff zurück! Dies ist ein Befehl!« Durch die Sichtkuppel beobachtete er, wie die beiden sich erhoben. Dann hörte er die Stimme des Psychologen: »Wir können nicht zurück – jetzt nicht mehr…« Die Verbindung brach ab, und Gran sah, wie die Freunde sich umdrehten und langsam hinwegschritten. Kurz darauf waren sie seinen Blicken entschwunden. Gran wartete zwei Tage. Als die Männer nicht zurückkehrten, machte der Kommandant das Beiboot klar und ging auf die Suche. Doch obwohl er den Flugkörper tief auf den Planeten hinunterdrückte und die offene Savanne, in deren vereinzelten, kaum meterhohen Büschen sich niemand verbergen konnte, systematisch absuchte, blieben Ardo und Lin Bien-T’ang verschollen. Es war, als ob sie sich in Luft aufgelöst hatten. Schweren Herzens entschloß sich Gran Tauer, den unheimlichen Planeten zu verlassen und den Rückflug anzutreten. * Die KOMET 16 näherte sich dem Rande der Galaxis. Auf dem Heckschirm schimmerten zwei helle Flecken: die Doppelsonne Delta-Kalypso. Daneben eine winzige Sichel: ein Riesenplanet, hundertmal größer als Jupiter. Voraus erblickte Gran bereits Rho Kalypso, den letzten der Konstellation. Dahinter kam das sternenlose Nichts, durch das er hindurch mußte, vier Jahre lang… Seine Gedanken bewegten sich im Kreis. Wer oder was hatte Ardo und Lin in seiner Gewalt? Wo waren sie überhaupt, und was hatte man mit ihnen vor? Hatten die organlosen Wesen etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Waren diese »Tiere« die dominierende Rasse des Planeten? Oder waren sie nur das Werkzeug einer Macht, die noch gar nicht in Erscheinung getreten war? Fragen ohne Ende. Und keine konnte er beantworten.
Er konnte nur eins tun. Er mußte zurück in die Milchstraße, zurück zur Erde. Dann mußte eine Expedition gestartet werden, eine Expedition von Schiffen, die besser ausgerüstet waren als die KOMET 16, mit einer Armee von Spezialisten, die systematisch den Geheimnissen des unheimlichen Planeten zu Leibe rücken würden. Freilich, ob die Freunde dann noch lebten…? In wenigen Minuten würde er die Andromedagalaxis verlassen. Gran begann die entsprechenden Schaltungen vorzunehmen, als er plötzlich ungläubig auf die blinkende Lampe der Empfangskontrolle starrte. Fast gleichzeitig hörte er eine wohlbekannte Stimme: »KOMET 16, KOMET 16! Gran Tauer! Hörst du uns…?« Mit fliegenden Händen schaltete Gran den Sender ein. »Dies ist Gran Tauer auf der KOMET 16«, rief er mit belegter Stimme. »Ich gehe auf Empfang.« »Gran!« Die Stimme Ardos klang, als ob sie aus dem Nebenraum kam, anstatt aus einer Entfernung von fast vierzig Lichtjahren. »Wir sind es, Lin und ich. Wo befindest du dich?« Gran warf einen Blick auf die Kontrollen. Dann gab er hastig Position und Entfernung durch: »39,4 Lichtjahre nordöstlich Audongha, bezogen auf…« »Gut, gut!« kam Ardos Stimme. »Wie lange brauchst du für diese Strecke?« »Etwa sechs Stunden.« »Wie lange dauert die Bremsphase?« Gran rief die gespeicherten Werte des Hinflugs ab. »Dreiundneunzig Minuten«, antwortete er. »Aber…« Doch der andere ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Dann kannst du also in zirka acht Stunden hier sein, um uns an Bord zu nehmen. Keine Fragen jetzt! Alle weiteren Erklärungen im Schiff…« Die Verbindung brach ab, ehe Gran noch etwas entgegnen konnte. Was sollte er tun? Im Grunde genommen war er genauso schlau wie vorher. War es eine Falle? Wollte man ihn nach Audongha locken, um ihn nach seiner Landung unter die Kontrolle dessen zu bringen, der diese dort ausübte? Allerdings, Ardos Stimme war eine andere gewesen als jene, mit der er hartnäckig und monoton versucht hatte, ihn, Gran, aus dem Schiff zu locken. Es war die Stimme des alten Ardo, wie er
sie vor jenem Zwischenfall gekannt hatte: temperamentvoll und ein wenig hastig. Zudem, mußte er nicht jede Chance ergreifen, die zur Rettung der Kameraden führen mochte? Das gab den Ausschlag. Gran Tauer begann, den Rückflug nach Audongha zu programmieren. Die KOMET 16 landete an der gleichen Stelle, von der aus sie den Planeten verlassen hatte. Gran starrte durch die Kuppel. Da waren sie! Ein merkwürdiges Gefühl durchrieselte ihn, als er die vertrauten Gestalten gewahrte. Sie machten einen anderen Eindruck als vor drei Tagen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie erschienen unbekümmert, natürlich, so, als wäre nichts geschehen. Und doch… Er, Gran, mußte auf der Hut bleiben, durfte sich nicht überrumpeln lassen. Da erscholl Ardos Stimme aus dem Schiffssprecher: »Hallo, Gran! Wie gut, dich wiederzusehen! Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben. Unsere Nahrungspillen sind verbraucht, und das hier…«, er machte eine Geste, die wohl die Pflanzen- und Tierwelt des Planeten umfassen sollte, »nun, du weißt ja… Mach die Luke auf!« Gran zögerte. Da sah er das belustigte Gesicht Lins und hörte ihn sagen: »Ach so, du denkst, irgend so ein Audongha-Monstrum hat uns in seiner Gewalt – hypnotisch oder so – und wartet nun auf den günstigen Augenblick, dich zu verspeisen…« »Kannst du mir das Gegenteil beweisen?« unterbrach ihn Gran scharf. »Hm«, der Kosmopsychologe überlegte. »Dann wirf uns wenigstens etwas zum Kauen raus!« »Legt eure Strahlenwaffen zu Boden«, verlangte der Kommandant. »Dann könnt ihr ins Schiff kommen.« Ardo grinste, als er und Lin durch die Schleuse kamen und Gran erblickten, der, einen Strahler in der Rechten, sie erwartete. Der Exobiologe schlug sich an die Brust und sprach mit tiefer Stimme: »Mein Name ist Tutu-Tutu. Ich bin gekommen, um den Tribut für die milchweiße Göttin Audonghas, für die Herrin der Flammen, zu fordern. Heute Nacht noch werden die heiligen Priester sich in eure Häute hüllen, und…« »Laß den verdammten Unsinn!« fuhr ihn Gran an und steckte wütend seine Waffe weg. »Und berichte mir sofort, was passiert
ist! Da drüben sind die Pillen.« Lin Bien-T’ang schaltete sich ein. »Hast du schon einmal etwas vom ›Werner-Effekt‹ gehört?« fragte er, nachdem er sich ein Konzentrat in den Mund gesteckt hatte. Gran verneinte. »Der Raumpsychologe Dr. Jobst Werner schrieb ein seinerzeit vielbeachtetes Buch, das er schlicht ›Studien über extraterrestrische Lebensformen‹ nannte. Er wies darauf hin, daß die verschiedenen Lebewesen nicht nur phänotypisch, also der Erscheinungsform nach, differierten, sondern, daß es eine noch viel bedeutsamere innere Verschiedenheit gäbe. Die Ammoniak- und Methangasatmophäre auf Antares XIX hat zum Beispiel Lebensformen geschaffen, die mit den irdischen auch nicht den allergeringsten Vergleich zulassen. Diese, für unsere Begriffe höchst giftige Atmosphäre hat die Bildung primärer Geistesfunktionen verhindert. Der ›kosmologische Zwang zur Geistesbildung‹ – wie Werner es genial ausdrückte – suchte sich jedoch einen Ausweg. Früher hatte man geglaubt, dieser Ausweg wäre die Entwicklung einer Art ›Zentralseele‹, die die Bildung geistiger Individuen verhinderte und die gesamte organische Welt des Planeten übergeordnet leitete. Jobst Werner folgerte jedoch: Da sich, bedingt durch die physikalischen Verhältnisse, keine geistig-seelischen Individuen bilden können, kann sich auch keine Zentralseele entwickeln. Wohl werden auf Antares XIX alle organischen Formen ›übergeordnet‹ geleitet, jedoch nicht von einem Zentralorgan, sondern – und hier führte Dr. Werner einen neuen kosmologischen Begriff ein von der ›solaren Kausalität‹, einer Kausalität also, die im Bereich des jeweiligen Fixsternes (solar) – von den jeweiligen kosmischen Verhältnissen bestimmt wird. Während nun auf der Erde die solare Kausalität sich des Bewußtseins des Menschen als Medium bedient, hat die Entwicklung auf Antares XIX den dortigen Lebewesen die Möglichkeit gegeben, auf ihre Kausalität direkt zu reagieren. Die solare Kausalität, oder, wie sie später genannt wurde, der ›Werner-Effekt‹, kann natürlich ganz verschiedene Wirkungen haben. So beruhen z.B. die Entwicklung einer echten Gruppenseele, wie diejenige auf Altair IX, genauso wie die seltsame Erscheinung der körperlosen Organismen auf Wega VIII,
wie auch das Mysterium der Zwittermaterie auf Deneb X, allesamt auf dem Werner-Effekt. Im Hinblick auf fremde Organismen wirkt dieser Effekt als eine Art Immunschranke; das heißt, er setzt Lebewesen aus fremden Planetensystemen Widerstand entgegen. Wir alle wissen, welche Schwierigkeiten die Terraner bei der Kolonisierung der verschiedenen galaktischen Planeten zu überwinden hatten.« Lin machte eine Pause. »Du meinst also«, führte Gran den Gedanken fort, »daß wir auch hier, im Andromedanebel, die Wirkung dieser Schranke, dieses Effektes, zu spüren bekommen. Was aber hat das alles mit der mysteriösen Tier- und Pflanzenwelt zu tun?« »Es klingt unglaublich, Gran«, sagte Bien-T’ang, »aber es ist so: Jene Tiere, die wir erlegt und seziert, jene Pflanzen, die wir analysiert haben, sie existieren gar nicht! Es gibt überhaupt keine Tiere und Pflanzen auf Audongha. Wahrscheinlich im ganzen Andromedanebel nicht…« »Aber…«, begann Gran, »wir haben doch…« »Bedenke, Gran, daß du in einer anderen Welt bist. Die Entfernung von deiner Heimatwelt ist so ungeheuer groß, daß du dich praktisch in einem anderen Kontinuum befindest. Unser gesamtes Hirn- und Nervensystem, seiner Struktur und Arbeitsweise nach absolut terrestrisch, oder besser solar, und nur unter ganz bestimmten Bedingungen in andere Sternensysteme unserer Heimatgalaxis verpflanzbar, gerät in dieser mehr als zwei Millionen Lichtjahre entfernten Welt unter übermenschliche Einflüsse, deren Gewalt kaum vorstellbar ist. Dr. Werner sprach von der ›Möglichkeit eines galaktischen Effektes‹. Und in der Tat: Wir sind dem galaktischen Effekt der Andromeda erlegen. Diese Kraft muß so enorm sein, daß sie sogar unsere Gehirne beeinflußt. Unsere Gedankenwellen, die sich auf der Erde in ganz bestimmten Bahnen bewegen, die jedoch im Zentrum der Milchstraße schon merkbare Abweichungen zeigen, werden hier bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Empfangssignale unserer Sinne gelangen vielleicht noch in unser Gehirn. Dort werden sie jedoch nicht mehr verarbeitet. Statt dessen erzeugt das Gehirn dann Kompensationsbilder.« »Daher also die blut- und seelenlosen Ungeheuer.« »Das, was wir wirklich sehen, das heißt, was unsere Augen
aufnehmen, ist vom Verstand her nicht aufnehmbar. Das, was dieser dann erzeugt, schöpft er aus unserer eigenen Vorstellungswelt. Daher diese Flora und Fauna, die rein äußerlich vollkommen der irdischen Pflanzen- und Tierwelt entsprechen.« »Werden wir uns jemals den fremden Bedingungen anpassen können?« fragte Gran Tauer. Diesmal antwortete Ardo. »Wir nicht«, sagte der Biologe. »Sollten spätere Expeditionen Menschen bringen, die sich hier niederlassen, denen Kinder geboren werden – wenn das überhaupt möglich ist –, deren Kinder wiederum hier zur Welt kommen und aufwachsen, sollten also Menschen es fertigbringen, in Andromeda seßhaft zu werden, dann mögen sich vielleicht im Laufe von Jahrtausenden auch in den Nachkommen dieser Menschen Funktionen bilden, die ihnen die Welt der Andromeda nahebringen. Und doch, wenn jemals es geschehen sollte, daß Andromeda einen Menschen adoptiert, müßte man es als ein Wunder ansprechen. Dieses Menschen Sinnesorgane werden verschwinden, sein Körper wird sich verformen. Der Mensch, der zum Andromedawesen wird, wird nichts mehr sehen und nichts mehr denken. Denken, Sehen, Planen, Aktivität, all das wird dieses Wesen einbüßen. Es wird eine Welt betreten, die wir nicht kennen und nicht verstehen: die Welt der Andromeda.« »Ja, aber« wandte Gran ein, »die Milliarden von Sternen, die der Andromeda angehören, sie existieren doch, wir sehen sie?« Ardo schluckte ein weiteres Konzentrat, und Bien-T’ang antwortete: »Sie existieren, gewiß. Aber in welcher Gestalt? Wir sehen sie in der Gestalt, in der wir sie nur sehen und begreifen können, als Sterne nämlich. Und wenn wir ihre Planeten betreten, dann sind es für uns Planeten. Was Sterne und Planeten wirklich sind, von der Welt der Andromeda aus begriffen, wissen wir nicht. Die Andromeda ist der sichtbare Beweis dafür, wie recht Jobst Werner mit seiner Forderung zur Abkehr vom anthropozentrischen Weltbild hat, der Beweis, daß es noch andere Welten gibt als die, die uns unsere Sinne vermitteln.« Eine Weile schwiegen die drei Männer. Dann sagte Gran: »Du hast mir noch immer nicht erklärt, was geschah, als ihr plötzlich spurlos verschwandet.« Ardo ergriff das Wort: »Wir waren in seiner Gewalt, Gran«, sagte er langsam.
Gran blickte hinüber zu Lin, der ihn, wie es schien, gespannt ansah. »In wessen Gewalt?« wollte er wissen. Ardo, der an der Sichtkuppel stand, winkte Gran, der zögernd herantrat. Der Exobiologe umfaßte mit einer Handbewegung das ganze vor ihnen liegende Panorama. »In seiner Gewalt«, sagte er, »wenn du genau hinsiehst, wirst du es bemerken.« Gran Tauer starrte. Aber sosehr er sich bemühte, er gewahrte nichts als blaugrüne Steppen, die Silhouetten einiger Tiere und im Osten die blauweiße Sonne Audonghas… Am anderen Tag starteten sie zurück. * Admiral Tauer schwieg. Sein Zuhörer klappte das Buch zu und las die Aufschrift auf der Einbandfolie: Jobst Werner: Studien über extraterrestrische Lebensformen. »Und«, erkundigte er sich, »was ist aus den beiden anderen Männern geworden?« »Lin Bien-T’ang starb auf dem Rückflug. Es war ein tragischer Unfall. Aus unbekanntem Grund fiel sein Andruckkompensator aus, gerade, als das Normaltriebwerk einsetzte.« »Die KOMET hatte keine Schiffsabsorber?« fragte Tore Vigart erstaunt. »Die Schiffe der KOMET-Reihe besaßen noch keine. Wir hatten nur Individualabsorber«, erklärte Gran Tauer. »Ardo Cuiper«, fuhr er dann fort, »arbeitete noch einige Jahre im Institut für extraterrestrische Forschungen in Marsport. Er war der Älteste von uns. Er ist seit fünf Jahren pensioniert.« »Und Sie haben niemals erfahren, was damals wirklich mit Cuiper und Bien-T’ang geschehen war?« fragte der junge Offizier verwundert. Der Admiral öffnete eine Lade. Er entnahm ihr eine antike Bruyere-Pfeife und begann sie sorgfältig zu stopfen. »Auf dem langen Rückweg«, sagte er schließlich, »habe ich versucht, Klarheit über diese Angelegenheit zu gewinnen. Lin vertrat bis zu seinem tragischen Ende die Ansicht, daß alle Ereignisse in Andromeda mit jenem Effekt zusammenhingen, dem wir in der
fremden Galaxis unterworfen waren; alle, also auch seine und Ardos unbegreifliche Reaktion, das plötzliche Verschwinden der beiden und ihre ebenso plötzliche Rückkehr. Er meinte, wir wären alle Opfer von Verwirrungen unserer Gedanken- und Sinneswelt geworden. Freilich…«, er zündete die Pfeife an und machte ein paar tiefe Züge, »… unsere Physiologen auf Terra waren da anderer Ansicht.« Tore Vigart sah ihn fragend an. »Nun ja, die GA hatte Angst, wir wären vielleicht Träger von irgendeinem unbekannten Ding, das wir unsren Kindern vererben könnten, und das dann einmal der Menschheit in irgendeiner Weise gefährlich werden könnte. So wurden wir sterilisiert.« Der junge Offizier dachte nach. »Und warum wurde keine zweite Expedition nach Andromeda gestartet?« »Eine solche Aktion bedarf spezieller Vorbereitungen, besonders unter den gegebenen Umständen. Was wir damals gemacht hatten, mit dieser Nußschale über den Abgrund von zwei Millionen Lichtjahren in eine andere Galaxis vorzustoßen, war ein unverantwortlicher Leichtsinn. Sie, Tore, werden vorbereitet fliegen…« 2. Leandra Leonides, Chefin der Galaktischen Abwehr, saß in ihrem 360°-Arbeits- und Schaltpult. Sie drehte ihren Schwenksessel herum und blickte aufmerksam auf den Bildkubus, in dem sich das Hologramm einer dreidimensionalen Sternenkarte aufbaute. Es war ein Sektor der Milchstraße, bekannt unter dem Namen Orion-Arm, in dem sich auch das Solsystem befand. Plötzlich erschien eine rote Linie. Sie kam aus dem intergalaktischen Leerraum, drang in das Milchstraßensystem ein und wand sich durch den Raum: der Weg der KOMET 16 beim Rückflug aus dem Andromedanebel. Die KOMET war in einem steilen Winkel von 76°, bezogen auf die galaktische Rotationsebene, in die Heimatgalaxis eingeflogen. In einer weiten Parabel war sie zwischen Assoziationen PI und PH des Herkules-Sektors hindurch in Richtung Terra weitergeflogen. Warum, sinnierte Leandra, hatte die Besatzung des Schiffes nicht
die günstigere Route über Cephei III genommen? Das Visiphon summte. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht Professor Jurij Wlastinows, des Chefs des Physiologischen Instituts der GA. »Wir haben eine Entdeckung gemacht«, sagte er und machte eine geheimnisvolle Pause. Leandra sah ihn schweigend an. »Die Hirnströme sind normal«, fuhr der Arzt fort. »Aber das ›Andromedaleben‹ – wir nennen es so…« »Jurij Sergejewitsch«, sagte Leandra sanft, »Ihren Bericht, bitte!« Wlastinow räusperte sich. Er nahm eine Folie zur Hand und begann abzulesen: »Also die Hirnaktionsströme der Versuchspersonen sind normal. Die stereotaktischen Untersuchungen ergaben keinerlei zerebrale Veränderungen, weder in physiologischer noch in elektro-chemischer Hinsicht. Im Blutkreislauf der VP dagegen wurde eine nicht lokalisierbare fremde Existenzform entdeckt, die wir als ›Andromedaleben‹, Kurzform AND-Virus, bezeichnet haben. Obwohl…«, der Arzt blickte sein Gegenüber unsicher an, »… es sich eigentlich um kein Virus handelt.« »Die Nomenklatur ist Ihre Sache«, versetzte Leandra kühl. »Eine andere Frage: Was heißt nicht lokalisierbar?« Wlastinow wand sich verlegen auf seinem Sessel. »Nun – das ist schwer zu veranschaulichen. Kennen Sie Heisenbergs Unschärferelation?« Fragend sah er die Agentin an. »Wenigstens dem Prinzip nach«, erwiderte Leandra zögernd. Der Arzt nickte. »Gut – die Schwierigkeiten bei der Analyse des AND-Virus erinnern an die Vorgänge im Atomkern. So wenig es uns möglich ist, den Standort eines Elektrons und seine Geschwindigkeit zu bestimmen, so wenig können wir Zustand und Ort des Virus definieren. Es teilt überdies noch eine weitere Eigenschaft des Atoms: es erscheint einmal in materieller, ein anderes Mal in energetischer Form. Sie können sich gewiß vorstellen, daß eine solche Reaktion unsere Analysen auf das äußerste erschwert.« »Diese… Zustandsveränderungen«, erkundigte sich die Agentin, »erfolgen sie nach einem System? Ich meine, geschehen sie in regelmäßigen Intervallen?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sie erfolgen spontan. Sie sind
auch statistisch vorläufig nicht zu erfassen.« »Können Sie überhaupt keine Aussagen machen?« Wlastinow zögerte. »Höchstens diese: Der Wirtskörper der ersten Generation wird auf keinen Fall verändert. Wie es allerdings mit dem Erbgut aussieht…«, er hob die Schultern, »… das läßt sich im Augenblick noch nicht sagen.« Leandra dachte nach. Der Fall Andromeda – kurz AND genannt – war plötzlich und etwas unerwartet in den Brennpunkt ihrer Arbeit gerückt. Die routinemäßigen Untersuchungen, denen die sogenannten Andromedaheimkehrer seit Jahrzehnten in regelmäßigen Abständen unterzogen worden waren, hatten bislang keinerlei Ergebnisse gezeitigt. Nun hatte man im Körper Ardo Cuipers, des pensionierten Exobiologen, einen Fremdkörper entdeckt. Die Physiologen schienen keinen Zweifel an der Ursprungswelt dieser Seinsform zu hegen: Andromeda! Gran Tauer und Ardo Cuiper hatten also doch etwas mitgebracht aus der fremden Galaxis, wobei Leandra voraussetzte, daß man über kurz oder lang das »Virus«, das man in dem Biologen entdeckt hatte, auch in dem Körper des Admirals finden würde. Was aber war dieses Etwas. Und vor allem: Was wollte es? Wlastinow behauptete, daß es im ersten Wirtskörper harmlos sei. Und im zweiten…? »Besteht in absehbarer Zeit Aussicht, in diesem Punkt zu Ergebnissen zu kommen?« »In welchem Punkt?« Der Arzt schien verwirrt. »Hinsichtlich des Erbgutes.« »Die VPs sind sterilisiert«, erinnerte der Mediziner. »Ja…?« Leandra zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich meine…« Ein Summer erklang. Leandra blickte nach links. Auf dem schmalen Sichtfenster über der Tür erschien eine Zahlenkombination. Die Chefin der Abwehr drückte einen Knopf. Die Tür glitt auf, und ein mittelgroßer, breitschultriger Mann trat ein. Während er zielstrebig auf einen freien Sessel zuschritt und sich darin niederließ, blickte er auf den Bildschirm. Leandra streifte den Mann mit einem schnellen Blick. Dann wandte sie sich wieder dem Physiologen zu. »Sekunde, Professor«, sagte sie und lächelte plötzlich verbindlich. »Wir wollen Tayler über die Lage aufklären.«
Mit wenigen Worten schilderte sie dem soeben Eingetretenen, worum es ging. »Sie waren im Begriff, etwas zu sagen«, erinnerte sie dann den Arzt. »Nun ja, ich meine, ob eine Veränderung des Erbgutes stattgefunden hat, kann erst nach der Befruchtung festgestellt werden.« »Also Resterilisation.« »In diesem Fall ist eine Genehmigung erforderlich«, wandte der Arzt ein. »Bei der Diedendorfschen Resterilisation kann es zu Nebenwirkungen kommen, und der Fötus…« »Hier geht es nicht um ein Individuum, sondern um Sein oder Nichtsein der Menschheit!« schaltete sich Jokko Tayler ein. Wlastinow starrte ihn feindselig an. »Die Gesetze sind streng in diesem Punkt«, warnte er. »Gesetze sind dazu da, die Gemeinschaft zu schützen. Wenn sie es nicht tun, muß man sie ändern!« sagte Jokko schroff. »Gesetze sind auch zum Schutze des Individuums da.« Wlastinow ließ sich nicht einschüchtern, und Leandra bemerkte verwundert, daß der Arzt plötzlich alle Unsicherheit verloren hatte. »Wo das Individuum diesen Schutz verliert, scheitert die Gemeinschaft.« Jokko winkte ab. »Soziologische Phrasen«, sagte er ärgerlich. »Was meinst du, Leandra?« Die Frau sah ihren Assistenten nachdenklich an. »Ich denke, wir werden die Genehmigung erhalten«, sagte sie dann ruhig. »Eines Tages kommt es zur Begegnung, zur erneuten Begegnung mit Andromeda. Dann müssen wir wissen, womit wir es zu tun haben.« »Dann darf ich mich jetzt zurückziehen.« Die Stimme des Professors klang leicht pikiert. »Ich habe noch einiges zu tun.« Als der Kommunikationsschirm dunkel wurde, schaltete Leandra die Sternenprojektion wieder ein. »Die Rückflugroute der KOMET 16«, stellte Jokko fest. »Sieh sie dir genau an!« forderte Leandra ihn auf. »Was fällt dir daran auf?« Nach einer Weile fragte der Agent: »Warum nahm der Pilot nicht die wesentlich günstigere Route durch die Assoziation III Cephei?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, bekannte Leandra. »Es muß ein Grund dafür vorgelegen haben. Diesen gilt es herauszufinden.« »Und warum, zum Teufel, wird diese Frage erst jetzt gestellt, nachdem die KOMET 16 bereits verschrottet ist?« Leandra erhob sich. Automatisch schwenkte das Schaltpult an zwei Stellen nach außen. Die Frau schritt durch die entstandene Öffnung hindurch. Sie trat an das Einwegfenster und sah hinaus. Proxima Centauri stand am südlichen Himmel und schüttete ihre roten Strahlen über die seltsame Stadt, die zum Symbol des Koexistenzwillens zweier galaktischer Rassen geworden war. Zweihundertachzig Meter hoch ragten die Terranischen Dome zwischen den flachen, bläulich glänzenden Konkavbauten der Plluti empor, die von oben wie blankgeputzte künstliche Seen aussahen. Tief östlich am Horizont stand die Zwillingssonne Alpha Centauri, deren schwache gelbe Strahlen sich mit dem Rot des nahen Zwergsternes mischten. Die Plluti waren eine anspruchslose Rasse, deren Friedensliebe auf den aggressiven Expansionstrieb der Terraner ausgleichend wirkte. Vor dreihundert Jahren waren die ersten terranischen Raumfahrer gelandet und hatten mit Erlaubnis der planetaren Regierung sogleich mit dem Aufbau einer Kolonie begonnen. Proxima Centauri II – Pllos, wie ihn seine Bewohner nannten – war eine paradiesische Welt. Sein überaus mildes Klima (24° Celsius Jahresmittel, Schwankungen: 5°!), die ozonreiche Atmosphäre, seine Bodengestalt mit den sanften Tälern, den bewaldeten Mittelgebirgen und den ruhigen Seen schienen auf die mentale Evolution der planetaren Intelligenz einen äußerst günstigen Einfluß gehabt zu haben. Die Plluti kannten keine Kriege. Sie waren freiheitsliebende, sinnesfreudige Wesen mit einem Hang zur Sentimentalität. Machtund Prestigestreben, historische Merkmale der menschlichen Gesellschaft, waren ihnen fremd. Freilich, ihre Geschichte zeitigte wenig Höhepunkte. Von keinerlei aggressiven Trieben zu kulturellen Höchstleistungen getrieben, war ihre Technologie nur sehr schleppend vorangeschritten. Obwohl sicher eine halbe Million an Jahren älter als die Terraner, waren die Plluti, als die ersten Menschen ihren Fuß auf den Planeten setzten, gerade mit den ersten galvanischen Experimenten beschäftigt.
Für den Kontakt zweier Sternenvölker waren dies alles günstige Voraussetzungen, und im Laufe der Zeit hatte sich zwischen Terranern und Pllutis eine Freundschaft gebildet, die sich, ungeachtet der äußerlichen Verschiedenheit der beiden Rassen (die Pllutis waren aus geflügelten Wirbeltieren hervorgegangen; sie hatten ihr Federkleid verloren, und ihre Flügel hatten sich zu Greifwerkzeugen umgeformt), als beständig und fruchtbar erwiesen hatte. Diese Voraussetzungen hatten das terranische Verteidigungskommando seinerzeit dazu bewogen, sein Hauptquartier von Luna nach Pllos zu verlegen. Der Transfer, der im Zuge einer allgemeinen militärischen Dezentralisierung stattgefunden hatte, war eine Sicherheitsmaßnahme. Ob seiner recht zweifelhaften moralischen Konsequenz – im Ernstfall würden die Plluti die Leidtragenden sein – war diese Entscheidung im terranischen Parlament heftig angegriffen worden. Letzten Endes aber hatten sich die Militärs durchgesetzt. Leandras Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. Jokkos Frage drang in ihr Bewußtsein. »Sheila McLean, seinerzeit Chefin der GA, mußte wegen der umstrittenen Sterilisationen der Andromedaheimkehrer gehen«, sagte sie langsam. »Ihr Nachfolger, Julius Merkel, war mein Vorgänger. Er starb mit achtundvierzig Jahren. Seine Todesursache konnte niemals geklärt werden. Vielleicht wußte er etwas…« »Vielleicht auch stellte er dieselbe Frage, wie wir heute, und mußte deshalb sterben.« »Wer sich der GA verpflichtet, muß sich darüber im klaren sein, daß er mit dem höchsten Einsatz spielt«, versetzte Leandra, »sonst soll er lieber die Finger davon lassen.« Jokko zuckte mit den Schultern. »Was willst du tun?« Leandra schaltete den Informator ein und sprach in das Mikrophon: »Ich brauche die Eintragungen in den Logbändern vom 5.11.2349 aller Frachter, die an diesem Tage die Bahn der KOMET 16 kreuzten oder innerhalb einer Entfernung von zwei Lichtjahren passierten.« Etwas später begann der Computer die Berichte auszudrucken. Die sechste Meldung lautete: »EOS Frachter der SOUTHERN GALACTIC CARGO LINE (SGCL):
5.11.2349, 0848 Standard sol. Der Bordcomputer stellte einen orangefarbenen Stoßimpuls auf dem Orterschirm fest. Dauer: 0,003 Picosekunden.« Die achte und die dreizehnte Meldung lauteten ähnlich. Jokko hatte inzwischen die elektronischen Fachleute der GA dazugeschaltet. Ihr Kommentar: »Angegebene Reflexe sind Phänomene, die XÜL-Triebwerke auslösen, wenn sie sich von ›oben‹ der Lichtmauer nähern…« Die KOMET 16 besaß ein solches Triebwerk. Der Rest war einfach. Jokko tippte Richtung und Intensität des Impulses sowie den Standort der betreffenden Schiffe zum gegebenen Zeitpunkt in den Rechner und forderte eine Bahnbestimmung an. Sekunden später war die Bahn berechnet. Sie führte zu Hakulainens Stern. »Hakulainens Stern…«, murmelte Leandra. »Was wollte Tauer dort?« »Der Initiator dieser Zwischenlandung kann auch Ardo Cuiper gewesen sein«, wandte Jokko ein. »Jedenfalls wird sich jemand um diesen Stern kümmern müssen«, fügte er hinzu, als die Frau nicht antwortete. »Vain Clerisse…« Jokko Tayler starrte die Frau an. Dann schlug er mit den Fingern einen schnellen Wirbel auf die Schaltpultplatte. Während Leandra um Kommunikator griff, um ihren Topagenten ausfindig zu machen, dachte Jokko nach. Von allen Personen, die für diesen Auftrag in Frage kamen, war Clerisse derjenige, der am wenigsten in seine Pläne paßte. Im Gegenteil: Jetzt hieß es, doppelt vorsichtig zu sein! Einmal war Clerisse durchaus der Mann, dem es gelingen mochte, ihm, Jokko selbst, auf die Spur zu kommen. Zum andern war er wie kein anderer dazu befähigt, diesen Auftrag zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Und das durfte auf keinen Fall geschehen. Als Leandra die Logbandaufzeichnungen der Frachtraumer angefordert hatte, hatte Jokko gewußt, was kommen würde: die Koordinatenbestimmung des Planeten, auf dem die KOMET gelandet war. Daß dieser ausgerechnet zu Hakulainens System gehörte, war fatal. Denn das hatten seine Auftraggeber ausdrücklich erklärt: Hakulainens Stern war tabu für die GA! Jokko überlegte: Was, beim Saturn, hatte AND mit den Plänen
seiner Auftraggeber zu tun? Gab es eine Verbindung zwischen dem geheimnisvollen Phänomen, das sie ›Andromedanebel‹ genannt hatten, und den imperialistischen Umsturzplänen einer Gruppe renitenter Flottenoffiziere? Unmöglich! Es konnte sich nur um einen – allerdings sehr seltsamen – Zufall handeln. Das ANDVirus war – das hatte die Analyse der Physiologen ergeben – eine symbiotische Existenzform, die auf den Wirtskörper beschränkt blieb und auf diesen keinerlei Einfluß auszuüben vermochte. Sein Auftraggeber dagegen war eine Gruppe handfester Revolutionäre, die einen Sturz der terranischen Zentralregierung planten und sich selbst die Macht über eine halbe Galaxis teilen wollten. So etwas war nicht neu. Die menschliche Geschichte war gespickt mit Putschen, Usurpationen und Revolutionen. Einen solchen Vorgang mit dem Wirken einer geheimnisvollen extragalaktischen Macht in Verbindung zu bringen, schien töricht und an den Haaren herbeigezogen. Und doch blieb in Jokko ein seltsames Gefühl der Unruhe zurück. Vielleicht – und das schien Leandra zu befürchten – existierte doch ein Nachkomme eines der beiden Andromedaüberlebenden? Zum ersten Mal kam Jokko die Frage ins Bewußtsein, ob er sich nicht in Dinge eingelassen hatte, die ihm eines Tages über den Kopf wachsen könnten. Jokko Tayler war das, was man gemeinhin als Emporkömmling bezeichnete. Seine Kindheit hatte er an Bord eines Raumkreuzers verbracht. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und der Vater hatte den Sohn, der ob seines krankhaften Geltungsstrebens und seiner ausgeklügelten Intrigen der Schrecken der terranischen Internate geworden war, unter Umgehung der Dienstvorschriften bereits mit vier Jahren zu sich an Bord genommen. Bei einem Gefecht mit Fremdrassigen war der Raumkreuzer vernichtet worden. Unter den Toten war auch Jokkos Vater gewesen. Jokko selbst hatte sich mit einigen Frauen und Männern der Besatzung retten können. Mit achtzehn Jahren war er Vollwaise. Er trat in die Flotte ein. Sein an Tollkühnheit grenzender Mut, seine überdurchschnittliche Intelligenz und sein maßloser Ehrgeiz ließen
ihn schnell Karriere machen. Mit sechsundzwanzig war er Major und wurde in den Planungsstab der 1. Raumflotte berufen. Doch schon zwei Jahre später geschah es: Seine undurchsichtige Rolle bei einer Korruptionsaffäre stoppte seine Laufbahn. Zwar war ihm keine Verfehlung nachzuweisen, doch der Zweifel allein genügte, um ihm alle einflußreichen Positionen für immer zu verschließen. Jokko quittierte seinen Dienst und begann eine zweite Laufbahn als Agent der Galaktischen Abwehr. Seine Beziehungen zur Flotte trugen entscheidend dazu bei, daß seine zweite Laufbahn noch steiler verlief als seine erste. Er war bereits Erster Koordinator und damit hinter Leandra der wichtigste Mann der GA, als jene Macht Verbindung zu ihm aufnahm, die sich selbst als Periphere Gruppe bezeichnete. Der unbekannte Mittelsmann hatte von Jokko den Aufbau einer Geheimorganisation im St-Quentin-System verlangt. Diese Welt befand sich 5100 Lichtjahre von der Erde entfernt am Nordrand des terranischen Einflußgebietes. Hatte der Agent geglaubt, dieses Ansinnen zurückweisen zu können, so wurde er schnell eines Besseren belehrt. Der Fremde verfügte über eine Waffe, gegen die Jokko wehrlos war: Er war im Besitz von Unterlagen, die einwandfrei bewiesen, daß der Agent und ehemalige Flottenoffizier seinerzeit der Hauptschuldige in jener Bestechungsaffäre gewesen war. So blieb ihm keine Wahl. Allerdings fiel ihm die Entscheidung, den Auftrag anzunehmen, um so leichter, als ihm die Unbekannten als Gegenleistung eine Schlüsselposition in der nach dem Umsturz zu errichtenden Mächtekonstellation offerierten. Denn das war das Ziel der Peripheren Gruppe: der Sturz der terranischen Regierung, die Beseitigung des föderalistischen Staatensystems und die Entwicklung eines galaktischen Imperiums, dessen Komponenten an mehreren, weit auseinanderliegenden Stellen Schwerpunkte bilden, militärisch und politisch jedoch von der terranischen Zentralmacht abhängig bleiben sollten. Jokko Tayler wollte Macht. Macht schien ihm das einzige erstrebenswerte Lebensziel zu sein. Es gab nichts auf der Welt, das er diesem Ziele nicht zu opfern bereit war. So ging er auf die Bedingungen, die ihm gestellt wurden, ein; jedoch mit dem Hintergedanken, eines Tages jene Position
einzunehmen, die seine unbekannten Partner sich selbst zugedacht hatten. Er hatte seine Aufgabe mit Umsicht und Gründlichkeit erledigt. Mit dem ihm eigenen Organisationsvermögen rief er die Untergrundorganisation auf dem Planeten St-Quentin II ins Leben, baute sie auf und rüstete sie aus, ohne selbst dabei in Erscheinung zu treten. In diesem Punkt war allerdings auch äußerste Vorsicht geboten. Sein Chef hieß Leandra Leonides, und diese Frau war nicht irgendwer. Ihre erste Tat als Nachfolgerin von Julius Merkel war die Aushebung der Ekklesina, des größten Spionagerings in der terrano-galaktischen Geschichte. An dieser Aufgabe waren drei Generationen der GA gescheitert. Ja, Leandra war schon eine ungewöhnliche Frau. Jokko blickte sie an. Ungewöhnlich fähig und ungewöhnlich schön. Schade… Einen Augenblick lang blitzten andere Empfindungen in ihm auf, als er ihr zusah. Die Finger ihrer feinnervigen Hände huschten über die Tastatur. Sie hielt den Kopf leicht schräg geneigt. Das zurückgekämmte silbergraue Haar ließ die hohe Stirn frei, unter der die ausdrucksvollen Augen in ein Leben blickten, das ganz besonders für die Herrin eines galaxisweiten Geheimdienstes nicht immer ganz leicht war. Und es war der Blick dieser kühlen, durchdringenden Augen, den Jokko fürchtete, und schon manches Mal hatte er sich gefragt, ob diese Frau seine wahre Natur bereits durchschaut hatte. Im Augenblick allerdings war dieser Blick gesenkt und auf die Armatur des Kommunikators konzentriert. So konnte sich Jokko mit Muße der Betrachtung ihres Körpers hingeben. Und dieser war aufregend genug. Man sollte… Ärgerlich schüttelte Jokko seine Gedanken ab. Es war stets eine seiner Stärken gewesen, daß er sich auf keine gefährlichen Bindungen zu Frauen eingelassen hatte. Und diese Bindung war gefährlich. Leandra war – das glaubte Jokko beurteilen zu können – nicht der Mensch, der ohne Investition tieferer Gefühle eine Verbindung zu einem Manne eingehen würde. Dies würde jedoch Konflikte mit sich bringen, die er, Jokko, sich nicht leisten konnte. Leandra war unbestechlich, und ihre unerschütterliche Loyalität gegenüber der bestehenden Regierung würde zwangsläufig zu
Konflikten führen. Nein, er mußte sich zurückhalten! Seine Stunde würde kommen. Im Moment hieß es warten! Noch wußte er nicht, auf welche Weise die Machtübernahme vor sich gehen sollte. Die andere Seite manövrierte höchst undurchsichtig. Aber Jokko wußte: Ohne die Ausschaltung der GA kamen die Anführer nicht zum Ziel. Jokko konnte der Entwicklung mit Ruhe entgegensehen. In dem kommenden Spiel besaß er eine Schlüsselposition, die von keiner Seite ignoriert werden konnte, eine Position, die ihm Macht und Erfolg versprach… »… Captain Beatty«, hörte er Leandra sagen, »wenn Sie Kontakt mit Al bekommen, sagen Sie ihm, er soll das nächste Schiff nehmen und hierherkommen!« Der Kopf auf dem Bildschirm nickte. »Werd’s ausrichten, Chef.« Als die Frau die Verbindung unterbrach, erhellte sich ein anderer Schirm. »Tore!« rief Leandra, »wo seid ihr…?« Jokko sah sie scharf an. Ihm war die plötzliche Veränderung ihrer Stimme nicht entgangen. Bahnte sich hier etwas an? Im Geiste machte er sich eine Notiz. Vielleicht würde er einmal Gebrauch von dieser Schlange machen. Der junge Offizier lachte. »Die 3. Flotte befindet sich auf Heimatkurs, schöne Agentin. In sechs Stunden landen wir auf Sirius-Kaatha. Dann werde ich einen Abstecher nach Plox machen.« Jokko lächelte verächtlich. Die Assoziaten Pllos Proxima hatte im Flottenjargon »Plox« ergeben. Die Flotte…! Sein Versagen als Offizier kam ihm erneut schmerzhaft zum Bewußtsein. Dann sah er das Aufleuchten in Leandras Augen. Haßerfüllt blickte er auf das selbstbewußte Gesicht des jungen Offiziers auf dem Bildschirm. »Ich freue mich«, sagte Leandra. Dann unterbrach sie die Verbindung. * Ein geflügeltes Wort unter den Agenten der GA lautete: »Clerisse hört Elektronen kreisen…« Und in der Tat hatte Vain Clerisse bereits zahlreiche Proben
seiner ungewöhnlichen Gabe geliefert, die die einen Intuition, die anderen Ahnung, sechsten Sinn oder auch Präkognition nannten. Der Wahrheit am nächsten kam wahrscheinlich die Annahme, eine ungewöhnliche Mischung von Eingebung und Vernunft befähigte den ersten Agenten der GA, seine langjährige Erfahrung optimal zu nutzen. Diesmal schien der Zufall allerdings seine Hand im Spiele zu haben. Vain hielt sich gerade auf Paschthan-Yll auf, einer unbedeutenden Sauerstoffwelt im Lalandesystem – also nur acht Lichtjahre von Terra entfernt –, als er erfuhr, daß sich die Dritte Galaktische Flotte auf Heimatkurs befand. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß sich im Spannungsfeld interstellarer Großunternehmungen oftmals Situationen anbahnten, die ein Eingreifen der GA in irgendeiner Form erforderlich machten. Flottenaufmärsche oder -manöver, an denen einige hunderttausend Menschen teilnahmen und bei denen eine große Anzahl befreundeter, verbündeter, aber auch fremder und unbekannter Planeten in die Aktion einbezogen wurden, waren der natürliche Tummelplatz interstellarer Spionageorganisationen, die versuchten, ihren Auftraggebern möglichst viele und wertvolle Informationen zu liefern. So war es nicht weiter verwunderlich, daß sich der Agent keine zwei Stunden nach Erhalt besagter Meldung bereits auf dem Wege zur Zentrale der GA befand. Vain hatte es nicht für nötig befunden, seinen Verbindungsleuten Mitteilung über seinen Entschluß zu machen. Das tat er selten. (Vielleicht war dies mit ein Grund, daß er bis jetzt überlebt hatte). Captain Beatty war daher nicht in der Lage gewesen, Leandras Anfrage nach dem Standort des Agenten zu beantworten. Gute drei Stunden nach Leandras Anfrage stand Vain Clerisse vor der Tür der Zentrale der GA und drückte seine Kodenummer. Die Chefin der Galaktischen Abwehr, an Überraschungen ihres Topagenten gewöhnt, erklärte ihm kurz und bündig, worum es ging, und hundertzwanzig Minuten später startete Vain bereits zur Doppelsonne Sirius. Er landete auf dem Planeten Sirius-Kaatha, um die MELUSINE IV, eine Spezialkonstruktion der GA, zu übernehmen. Als er das Raumschiff einer genauen Inspektion unterzog,
entdeckte er einen tödlichen Gast: jemand hatte eine IO-Bombe installiert. Diese Sprengkörper hatten Ionendetektoren, die beim Feuern des Starttriebwerks den Zündmechanismus der Bomben in Tätigkeit setzten. War es der Racheakt eines ehemaligen Gegners, oder hatte jemand ein Interesse daran, daß er, Clerisse, seinen Auftrag nicht durchführte? fragte sich der Agent, als er Kurs auf Hakulainens Stern nahm. 3. Wer sich auf der Sternenkarte Galaxis Westseite den PerseusOrion-Bereich ansieht, erkennt zwischen den beiden Spiralarmen einen sich in der galaktischen Rotationsrichtung konisch verengenden, äußerst sternenarmen Raum. Diese Region ist unter Raumfahrern unter dem Namen Baloghs Gasse bekannt. Einer der weitverstreuten Feldsterne dieses Gebietes ist Hakulainens Stern, eine orangegelbe Sonne vom Spektraltyp K1. Auf dem zweiten der insgesamt acht Planeten hatte sich inzwischen intelligentes Leben entwickelt. Humanoides Leben, um nicht zu sagen humanes; denn die Bruuden – wie sich die Urbewohner des Planeten selbst nannten – unterschieden sich von den Menschen nicht mehr, als ein Anglo-Terraner von einem Afro-Terraner. Im 22. Jahrhundert, dem Jahrhundert der großen Kolonisationen, waren terranische Siedler auch nach Hakulainen gekommen. Sie waren auf die herrschende Intelligenzform gestoßen, und da sich diese etwa auf dem Stand des terranischen Mittelalters befunden hatte, hatten die Menschen mit ihrer überlegenen Technik, Medizin und Hygiene in die planetare Entwicklung eingegriffen. Zwar waren diese Eingriffe behutsam geschehen. Die Terraner hatten langfristig geplant. Doch die Entwicklung war nicht ohne Komplikationen abgegangen. Die Minderwertigkeitsgefühle der Planetarier gegenüber den Einwanderern hatten Konfliktsituationen geschaffen. Auf der anderen Seite waren Mentalität und Lebensstil der Eingeborenen nicht ohne Einfluß auf die Terraner geblieben. Und so hatte diese Wechselwirkung im Laufe der nächsten zweihundert Jahre eine Mischkultur geformt,
die in materieller wie auch in geistiger Hinsicht ein galaktisches Unikum darstellte. Ganz besonders äußerte sich diese mehr oder weniger gewaltsame Synthese zweier so extrem verschiedener Zivilisationen in einem unberechenbaren Hin-und-her-Pendeln zwischen infantilem Militärexhibitionismus und Patriarchentum einerseits und einem ungestümen Freiheitsund Oppositionsdrang andererseits. Der Neuankommende bekam die Auswirkungen dieser barocken Entwicklung meist schon bei seinem Einflug zu spüren. Vain war noch 56.000 Kilometer von Hakulainen II entfernt. Sein Schiff näherte sich der Systemekliptik von »oben«. Da knackte es im Schiffssprecher. Auf einem Bildschirm erschien ein Gesicht. Das Gesicht – so fand Vain – strahlte eine faszinierende Mischung von Intelligenz, Pioniergeist, Draufgängertum und Härte aus. Der sichtbare Teil des immens breiten Oberkörpers steckte in einer abenteuerlichen blauroten Uniform, die den Hals bis zum Kinn umschloß und an der eine Reihe bunter, glänzender Orden prangte. »Hier spricht Fregattenkapitän Unna Wilsohn, HakulainenRaumkontrolle. Einfliegendes Schiff, Flugparabel 84,4 Grad Nord bezogen auf Äquatorebene Haku II identifizieren Sie sich, und dann definieren Sie Ihren Auftrag!« klang es in einem abgeschliffenen Kolonialterranisch. Vain schaltete den Sender ein. »Vain Clerisse«, der Agent akzentuierte scharf, »Schiff: MELUSINE IV. Mein Auftrag ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt, Captain!« Das grünliche Gesicht des Hakulainers wurde noch grüner. Er zählt bis zehn, dachte Vain und wartete. »Ich habe den Eindruck, Sie sind mit den hiesigen Gepflogenheiten wenig vertraut, um nicht zu sagen gar nicht, Fremder!« kam es schleppend und nur mühsam beherrscht aus dem Sprecher. »Schalten Sie Ihren Antrieb ab. Ich schicke Ihnen einen Traktorstrahl.« »Ihr Eindruck trügt nicht im mindesten, Captain«, erwiderte Vain und grinste. Er machte keinerlei Anstalten, das Triebwerk auszuschalten. Sekunden später blitzte es irgendwo vor ihm im Raum auf. Auf dem Radarschirm erschien ein kleines Echo, das sich auf das
Zentrum zubewegte. Zwanzig Kilometer in Flugrichtung, leicht steuerbordversetzt, stand plötzlich eine kleine Atomsonne, die sich rasch ausdehnte. Vain lachte hart. Die MELUSINE besaß einen Spezialschutzschirm, der mit ganz anderen Dingen fertig wurde als mit den Plutoniumgranaten der Raumstation. Aber es lag nicht im Sinne seiner Aufgabe, es zu einem Kampf mit den planetaren Streitkräfte kommen zu lassen. So schaltete er den Antrieb ab und trieb im freien Fall dem Planeten entgegen. Aus dem Lautsprecher – der Bildschirm hatte sich bereits vorher verdunkelt – klang ein befriedigtes: »Warum nicht gleich so? Traktorfeld wird aufgebaut. Ende!« Kurz darauf bemerkte Vain die ziehenden Kräfte des Traktorstrahls, der die Kontrolle über das Schiff übernahm. Und nur eine halbe Stunde später setzte die MELUSINE weich auf dem Landefeld des Planeten auf. Als er die Schleuse verließ, erwartete man ihn bereits. Vor dem Gleiter stand eine Roboteskorte. Ein Robotoffizier trat heran, grüßte knapp und forderte ihn auf, ihm unverzüglich zu folgen. Vain lächelte kalt. Es war an der Zeit, den hiesigen Behörden klarzumachen, daß man einen Agenten der GA nicht so ohne weiteres herumkommandieren konnte. Er nahm den Desaktivator zur Hand und drückte einen Knopf. Es schnarrte leise, und die Waffenarme der Maschinen sanken herunter. Vain schritt an ihnen vorbei, stieg in den Gleiter und setzte sich an die Kontrollen. Seine Spezialausbildung half ihm, binnen kurzem das Steuersystem zu erkennen. Er drückte ein paar Tasten, und das Schwebefahrzeug setzte sich in Bewegung. Sein geübter Blick fand die Polizeipiste. Unbehelligt verließ er das Landefeld und schwebte in Richtung Lohn-Village davon. Die Metropole des Planeten war eine Sechsmillionenstadt. Ungeachtet dessen war der Name Lohn-Village geblieben, Ausdruck der sentimental-abenteuerlichen Mentalität der Hakulainer. Vain zog einen Stadtplan aus seiner Tasche und orientierte sich. Er hatte eine Stunde Zeit, dann würden sich die Roboter reaktivieren und vermutlich eine Meldung abstrahlen. Er wollte dieser Meldung zuvorkommen. Während seines Fluges nach Hakulainen II hatte Vain genügend
Zeit gehabt, sich mit den dortigen Verhältnissen vertraut zu machen. Er wußte, daß der Chef der Raumfahrt-Kontrolle gleichzeitig »Minister für außerplanetare Angelegenheiten« war. Dort wollte er hin. Das entsprechende Regierungsgebäude und die Zufahrtswege waren rot markiert. Vain erhöhte die Geschwindigkeit des Gleiters. Zwanzig Minuten später stoppte er ihn auf der Parkrampe eines pompösen Hochhauskomplexes. Vain trat zu einer Gruppe von Offizieren, die ihre farbenprächtigen Uniformen spazierenführten. Sein erfahrener Blick sondierte sogleich den ranghöchsten Offizier aus. Er wandte sich an einen hochgewachsenen Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen. »Ich bin Vain Clerisse, Agent der Galaktischen Abwehr. Ich möchte zum Kommandanten der Raumkontrolle«, gleichzeitig zeigte er eine ovale Identifikationsmarke. Der Offizier musterte ihn. »Major Comasohn. Terraner sind Sie, eh? Sind Sie angemeldet?« »Ich bin soeben mit meinem Schiff gelandet«, erwiderte Vain ruhig. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich anzumelden.« Der Major blickte ihm scharf ins Gesicht. »Sie sind soeben gelandet?« fragte er. »Wie kommen Sie denn überhaupt hierher? Meines Wissens…« »Mit ihrem Gleiter«, unterbrach ihn Vain und deutete mit dem Daumen über seine Schulter in die Richtung, in der er den Polizeigleiter abgestellt hatte. »Ihr Chef war so freundlich, mir einen zum Landefeld zu schicken. Sagen Sie ihm gleich, er könne seine Eskorte dort einsammeln.« Das schlug wie eine Bombe ein. Die übrigen Offiziere starrten Vain an wie ein Gespenst. Die Augen des Majors wurden weit. Doch dann handelte er. Ohne den Blick von Vain zu nehmen, sagte er scharf: »Leutnant Wollna, informieren Sie den Chef. Ich begleite Mr. Clerisse.« Vain grinste. Das klang schon anders, dachte er, während er neben dem Hakulainer herschritt. Sie betraten das Hochhaus, fuhren mit dem Lift einige Stockwerke nach oben, betraten ein Mobilband, das sie durch lange Korridore brachte, und standen schließlich vor einer Tür, an
der eine goldene »1« prangte. Vain Clerisse hatte in seinem Leben bereits öfter die Erfahrung gemacht, daß, wenn man aufgrund einer Kette von Einzelereignissen das Endglied schon zu kennen meint, sich diese Meinung nicht selten als falsch erweist. Als er dem Minister und Kommandanten Fürka gegenüberstand, wußte er, daß er wieder einmal diesem seltsamen, menschlich jedoch leicht zu verstehenden Irrtum zum Opfer gefallen war. Bathold Fürka war einer jener Männer, die die Geschichte selbst zu produzieren schien, um sie an den historischen Brennpunkten einzusetzen und die Seitensprünge der Gesellschaft auszubügeln. Bereits äußerlich unterschied sich der für einen Hakulainer recht feingliedrige Mann in der schlichten sandfarbenen Uniform von seinem operettenhaft anmutenden Offizierscorps. Außer einem silbernen Kometen auf der rechten Brustseite, der vermutlich seinen Rang auswies, war auf seinem Anzug nichts zu entdecken, weder Orden noch irgendwelche Ehrenzeichen. Auch fehlten die epaulettenartigen Schulterstücke seiner Untergebenen, und nur der Blick aus den olivgrünen Augen verriet die Autorität. Eine Autorität freilich, die nicht auf den zweifelhaften Sprossen einer militärischen Rangordnung gewachsen, sondern das Ergebnis einer innerlichen Reifung der Persönlichkeit war. »Entschuldigen Sie den für Sie sicher recht ungewöhnlichen Empfang, Mr. Clerisse.« Der Minister lächelte leicht. »Auf Haku II ist man nicht sehr zart besaitet, und auch ich passe mich zuweilen den Gepflogenheiten an. Allerdings haben Sie sich, wie man sieht, ja nicht verjagen lassen.« Er machte eine Pause. »Um aber zu Ihrem Auftrag zu kommen…«, fuhr er dann fort. »Da ich nicht annehme, daß die GA jeden ihrer Agenten mit einem solchen Spielzeug ausrüstet, schließe ich daraus, daß Sie ein besonders wichtiger Agent sind und daher auch mit einem besonders wichtigen Auftrag hierhergekommen sind.« Vain, der wußte, daß der Hakulainer den Robotdesaktivator mit »Spielzeug« bezeichnet hatte, nickte. »So ist es, Sir«, sagte er höflich. »Frau Oberst Leonides, meine Chefin, schickt mich mit einem Auftrag zu Ihnen, bei dem ich auf Ihre Unterstützung angewiesen bin.« Und er gab dem Minister einen exakten Bericht seiner Mission. Als er geendet hatte, schwieg Fürka eine Weile. »Diese Angelegenheit scheint mir von universeller Tragweite zu
sein«, sagte er dann. »Sie sollen unsere volle Unterstützung haben, Mr. Clerisse. Ob sie Ihnen nutzt, ist eine andere Frage. Haku II ist, wie Sie wissen, eine ziemlich isolierte und in Ihren Augen eine etwas rückständige Welt. – Doch, doch« – er hob die Hand, als Vain protestieren wollte – »ich sagte ›in Ihren Augen‹. Sehen Sie – ›rückständig‹ ist ein relativer Begriff. Wirklich rückständig ist nur, wer innerhalb der vom Zeitgeist geprägten Verhältnisse rückständig ist. Wenn Wesen mit der Mentalität und dem Sitten- und Ehrenkodex des terranischen Mittelalters mit Wesen aus dem elektronischen Zeitalter kollidieren bzw. gezwungen werden, mit diesen eine Mesalliance einzugehen, so erwächst daraus ein Gebilde, das einer sogenannten evolutionären Gesellschaft in mancher Hinsicht unverständlich, rückständig oder auch anstößig erscheinen muß. Der Zusammenstoß zweier so verschiedener Sozietäten läßt auf der anderen Seite eine Fülle von Kräften und Impulsen freiwerden, die zur Entwicklung einer neuen Gemeinschaft führen kann, deren Selbstverwirklichung in der Zukunft liegt.« Vain schwieg. »Nun ja«, sagte der Minister lächelnd, »wenn Sie psychologisch gebildet sind – und ich unterstelle, daß die GA allen ihren Agenten eine psychologische Schulung angedeihen läßt –, dann werden Sie meine Rechtfertigungsrede als Ausdruck von Minderwertigkeitsgefühlen werten, womit Sie, im Grunde genommen, ja auch gar nicht unrecht hätten.« Vain erwiderte: »Es hat immer und überall nur wenige Menschen gegeben, die aufgrund ihrer Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge und Hintergründe des historischen und individuellen Geschehens die Weichen der gesellschaftlichen Entwicklung stellten oder sie zumindest beeinflußten. Jede Rasse, die über eine solche Persönlichkeit verfügt, ist zu beglückwünschen. Ich beglückwünsche Ihre Rasse.« Fürka blickte den terranischen Agenten an. »Danke!« sagte er und lächelte fein. »Aber zurück zu Ihrem Auftrag. Zunächst wollen wir einmal feststellen, ob Admiral Tauer tatsächlich hier zwischenlandete…« Er drückte eine Taste und sprach in ein Mikrophon: »Ich brauche die Lande- und Startregister aller Schiffe zwischen dem 5. und 7.11.2349 auf Standardfolie.«
Wenig später fielen die Unterlagen in den Auffangkorb. Gespannt beugten sich die beiden Männer über die Folien. »Hier!« Fürka deutete auf eine bestimmte Stelle, und Vain las: »5.11.2349, komet 16, in haku II alpha 22:07 oz, off haku II alpha 7.11.2349, 07:11 oz. RNHA: 002HTX2377.« »Er war also hier! Was bedeutet die Kodenummer?« »Die Registraturnummer, unter der die Akte im Hauptarchiv zu finden ist«, antwortete der Minister. »Haku II verfügt über ein ausgezeichnetes elektronisches Archiv, das Sie hoffentlich weiterbringen wird.« »Manchmal erfährt man in den Hafenspelunken Dinge, die in keinem Computer gespeichert sind«, bemerkte Vain. Fürka nickte. »Kein Zweifel! Aber seien Sie vorsichtig! Ich habe Ihnen meine Unterstützung zugesagt. Eine Lebensversicherung ist dies nicht.« »Das ist mir klar, Sir«, entgegnete Vain. Er holte seinen Stadtplan hervor und reichte ihn dem Hakulainer. »Wo befindet sich die Datenbank?« Fürka warf einen Blick auf die Karte. »Der Plan ist drei Jahre alt. Inzwischen hat sich einiges auch bei uns verändert.« Er drehte sich um und deutete auf die Wand, an der der dreidimensionale Plan der Metropole flimmerte. »Hier sind wir«, sagte er und deutete auf eine Leuchtmarke. »Und dort…«, er drückte eine Taste an der Schalttafel, und an der Peripherie der Stadt flammte eine rote Marke auf, »… ist die Datenbank. – Warten Sie, ich lasse Sie hinfahren.« Er sprach in ein Mikrophon: »RO 18, fahren Sie vor, übernehmen Sie einen Passagier – Mr. Clerisse –, und bringen Sie ihn zum Hauptarchiv!« Aus dem Lautsprecher schnarrte die Bestätigung des Automaten. Eine knappe halbe Stunde später schon hielt Vain die Folienakte in der Hand. Die verzeichneten Fakten waren kärglich. Sie besagten im großen und ganzen lediglich, daß sich Gran Tauer und Ardo Cuiper drei Tage auf Haku II aufgehalten hatten, daß sie im Hotel »Empire o’Space« gewohnt und den Planeten mit unbekanntem Ziel wieder verlassen hatten. Der Zweck ihres Besuches auf Haku II war mit »privat« deklariert worden. Vain ging zum Kommunikator und ließ sich mit dem Hotel
»Empire o’Space« verbinden. Er verlangte die Übernachtungslisten vom 5./6. und 6./7.11.2349. »In welchem Auftrag?« schnarrte der Empfangsrobot. »Haku II, Raumkontrolle, fragen Sie dort nach!« Minuten später erschien die Liste auf dem Monitor. Nichts! Außer Tauer und Cuiper hatte kein einziger Gast an beiden Tagen dort übernachtet. Das »Empire o’Space« mußte ein Mini-Hotel sein. Nun ja, Tauer hatte jedes Aufsehen vermeiden wollen. Aber aus welchem Grund? Vain dachte nach. Dann setzte er sich in den Robot-Gleiter und ließ sich zum Hotel fahren. Der Hotelchef und der Küchensupervisor waren organisch, alles andere elektronisch. Vains Hoffnung sank auf den Nullpunkt, als er dem Chef gegenüberstand. Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, noch nicht geboren, als Tauer hier übernachtete. Als der Agent sich ausgewiesen und die blaue Marke gezeigt hatte, die ihm Fürka mitgegeben hatte, wurde der Mann zugänglich. Er führte Vain in die Küchenanlage und wies auf einen Mann, der am Schaltpult saß: »Das ist Mite Hashegawa. Er sah drei Generationen dieses Hauses. Vielleicht kann er Ihnen behilflich sein.« Vain trug dem Alten sein Anliegen vor. Der Koch lächelte höflich. »Ich bedaure sehr. Aber erwarten Sie von mir, daß ich mich an Gäste erinnere, die vor drei Jahrzehnten hier zwei Nächte verbrachten?« Der Mann hatte recht, dachte Vain. »Es war nicht irgendwer, Mr. Hashegawa. Gran Tauer und Ardo Cuiper waren die ersten Menschen, die zum Andromedanebel geflogen sind. Auf dem Rückflug machten sie auf Haku II halt und blieben zwei Nächte in diesem Hotel.« Plötzlich leuchtete es in den schwarzen Augen des Kochs auf. »Oh – die Männer von Andromeda! Der eine ein großer, schweigsamer Mann – von dem hätte ich es nie erfahren. Aber sein Gefährte… Wie hieß er?« »Ardo Cuiper«, half Vain nach. Der andere nickte heftig. »Cuiper, ja – ein Chemiker oder Biologe, oder sowas. Ein großartiger Erzähler. Das meiste Raumfahrergarn…« Hashegawa lächelte. »Kein Mensch glaubte ihm. Aber interessant war es…«
»Denken Sie nach, Mr. Hashegawa!« drängte Vain. »Erinnern Sie sich! Was machte Tauer? Hatte er Gesellschaft?« Mite Hashegawa überlegte. »Der andere? Tauer hieß er? Ich habe ihn kaum gesehen. Ging früh weg, kam abends spät wieder. Einmal…« »Einmal…?« »Einmal brachte er eine Frau mit. Ja, ich erinnere mich. Eine Terranerin. Sah gut aus. Sie fiel mir auf, weil ihr Haar gelb war, ockergelb. Wissen Sie, diese Haarfarbe kennt man hier nicht. Außerdem war sie Ärztin…« »Ärztin?« »Ja, einer vom Personal hatte einen Unfall mit einem Küchenroboter, Finger im Schnitzelwerk. Die Frau verband ihn und gab ihm etwas Schmerzstillendes. Dann rief sie das Hospital an. Sie nannte ihren Namen: Dr. … Dr. …« Clerisses graue Augen bohrten sich in die schwarzen seines Gegenübers. »Mann! Erinnern Sie sich! Wie hieß die Frau?« Aber so sehr er sich auch bemühte, Hashegawa konnte sich nicht mehr erinnern. Terranerin – Ärztin – ockergelbes Haar; das waren die einzigen Anhaltspunkte. Doch sie genügten. Wenig später las Vain vom Schirm ab: »Bajace Fugger. ID Nr. …« Vain tippte Namen und Nummer in den Computer und verlangte alle verfügbaren Unterlagen. Erregung befiel ihn, als die Maschine die Informationen ausdruckte. Bajace Fugger stammte aus dem terranischen Bundesland Europa. Sie hatte an der Medizinischen Universität Brüssel promoviert und später an der Raumakademie in Cape Armstrong praktiziert. Vier Jahre danach wurde sie Schiffsärztin eines terranischen Flottenkommandos (bei welcher Gelegenheit sie wahrscheinlich Gran Tauer kennenlernte) und, aus irgendeinem nicht näher definierten Grund, eines Tages nach Hakulainen II verschlagen, wo sie zurückgezogen lebte und eine kleine Praxis unterhielt. Im Dezember 2353 verließ sie Haku II mit dem Frachter SPENZICCARA, um zu ihrem Geburtsplaneten zurückzukehren. Doch das Schiff erreichte niemals sein Ziel. Es verschwand spurlos.
Nachdenklich fuhr Vain ins Ministerium zurück. Fürka studierte aufmerksam die Unterlagen, die Vain ihm vorlegte. Auf seiner Stirn entstanden zwei scharfe Falten. Er stand auf und begann mit großen Schritten im Raum umherzuwandern. Vain beobachtete ihn gespannt. Schließlich schien der Hakulainer zu einem Entschluß gekommen zu sein. Er setzte sich und sah den Agenten ernst an. »Es ist mir nicht recht, daß die Dinge diese Wendung genommen haben, Clerisse. Andererseits ist die Angelegenheit von so weittragender Bedeutung, daß kein Tabu ihr im Wege stehen darf.« Vains Spannung wuchs. »Etwa vier Lichtjahre von hier entfernt befindet sich das DidoSystem, eine rote Zwergsonne mit fünf Planeten. Obwohl gewissermaßen vor unserer Haustür gelegen, wurde dieses System von der hakulainischen Raumfahrt viele Jahrzehnte lang vernachlässigt. Dies änderte sich erst, als im Jahre 2338 eine Expedition auf dem zweiten Planeten, einer im übrigen recht unwirtlichen Welt, eine besondere Pflanzenart entdeckte. Das Zellgewebe dieser Pflanzen besaß Eigenschaften, die die Kunststoff-Chemiker vor Neid erblassen ließen. Die Folgen einer solchen Entdeckung kennen Sie: Eine Handelsgesellschaft bekommt Wind von der Angelegenheit. Sie gründet eine Kolonie auf dem betreffenden Planeten und beginnt mit der kommerziellen Ausbeutung. So war es auch hier. Die HAKULAINEN TRADE CORPORATION sandte eine Flotte Agrar-Roboter und ein paar Dutzend Spezialisten nach Dido II. Ein halbes Jahr später folgten 120 Kolonisten. Die Aka-Aka-Pflanzung – Aka-Aka war der hakulainische Name der Pflanzen – wuchs, blühte und gedieh. Dann kam der Rückschlag. Die Pflanzer erkrankten, einer nach dem andern, an einer geheimnisvollen Krankheit, mit der unsere besten Ärzte nicht fertig wurden. Und dann starben sie alle. Fünf Monate später traf der Forschungskreuzer MACCOMBBA mit einer Untersuchungskommission auf Dido II ein. Sie stand unter dem Kommando Al-Shanos, des Chefs der hakulainischen Raumstreitkräfte. Er hatte die Sache persönlich in die Hand genommen. Die MACCOMBBA, Al-Shano und die sechsundneunzig Mann
seiner Besatzung verschwanden spurlos. Die Regierung wollte nicht noch weitere Menschenleben aufs Spiel setzen. Sie verhängte ein Landeverbot über den Planeten und schickte einen detaillierten Bericht nach Terra.« »Und«, fragte Vain gespannt, »was tat die GA?« »Nichts«, erwiderte der Minister, »außer daß sie versprach, sich der Angelegenheit anzunehmen.« Das war seltsam, dachte Vain, höchst seltsam. »… mein Vorgänger, Admiral Stubben, erklärte das gesamte Dido-System zum Sperrgebiet und legte die Akte Turanna – so hatten die hakulainischen Pflanzer den Planeten genannt – auf Eis. Da tauchte etwa zehn Monate danach ein Mann auf Haku II auf, der behauptete, ein Mitglied der verschollenen MACCOMBBA zu sein. Die Kommission, die mit der Untersuchung des Falles betraut wurde, gelangte zu keinem Resultat. Der angebliche Schiffbrüchige war körperlich und geistig ein Krüppel. Die Geschichte, die er erzählte, war unzusammenhängend und so phantastisch, daß sich die maßgebenden Leute auf Haku weigerten, sie zu glauben. Danach waren Al-Shano und seine Männer und Frauen die Opfer massenhypnotischer Kräfte geworden. Sie hatten sich gegenseitig umgebracht. Er selbst hatte angeblich diesen Massenmord oder Selbstmord als einziger überlebt. Dieses Überleben hatte er allerdings mit dem Verlust seines Verstandes bezahlt. In halbwegs lichten Momenten hatte der Mann geheimnisvolle Eingeborene erwähnt, die bei den Geschehnissen irgendeine Rolle gespielt hätten. Und in seinen Delirien hatten sich im Zusammenhang damit drei Begriffe ständig wiederholt: Sechs – Teufel – Aka-Tod.« »Der Vergleich der Identigramme muß doch erwiesen haben, ob es sich um einen Mann der MACCOMBBA handelte oder nicht«, bemerkte Vain. »Das war eben das Seltsame: die IGs stimmten nicht…« »Dann war der Mann ein Schwindler oder ein Kranker.« Fürka schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Clerisse. Er berichtete Details über die MACCOMBBA und ihre Besatzung, die kein anderer wissen konnte. Es war verwirrend.« »Sie meinen…« »Möglicherweise wurde die Persönlichkeit dieses Mannes auf
Turanna verändert.« Vain dachte nach. »Hm«, sagte er schließlich, »allerdings verstehe ich nicht…« »Was diese Sache mit Ihrem Problem zu tun haben soll?« Vain nickte. »Der Mann von der MACCOMBBA – ich bin geneigt, seine Geschichte zu glauben – erwähnte noch etwas anderes in seinen Fieberdelirien. Er sprach von einer Frau unter den Eingeborenen. Einer Frau mit weißer Haut und ockergelbem Haar, die die Eingeborenen bewogen haben soll, ihn mit einem Beiboot zurückzuschicken.« Vain starrte den Minister an. »Das kann nur…«, stieß er hervor. Fürka nickte. »Bajace Fugger – fragt sich nur, ob sie noch am Leben ist.« »Aber das Beiboot«, wollte Vain wissen, »wo blieb das Beiboot?« »Das ist die schwache Stelle in dieser Geschichte. Auf Haku II wurde niemals ein Beiboot der MACCOMBBA gefunden. Und der Mann, der angeblich damit zurückgekehrt war, wußte über diesen Punkt nichts zu sagen.« »Und auf Haku II hat man niemals versucht, in die ganze Angelegenheit Licht zu bringen?« fragte Vain verwundert. »Admiral Stubben war ein Mann mit Grundsätzen«, erklärte Fürka. »Dido II blieb tabu bis heute. Auch ich möchte nicht unnötig Leben aufs Spiel setzen«, fügte er hinzu. Es entstand eine Pause. Dann erhob sich Vain. »Ich danke Ihnen, Sir. Ich werde mich jetzt noch ein wenig am Hafen umsehen. Morgen früh starte ich nach Dido.« Sie schüttelten sich die Hände. 4. Minister Fürka hatte recht. Dido II war eine unwirtliche Welt. Schon während Vain den Planeten in einer äquatorialen Spiralbahn umflog, um so nach und nach die gesamte Oberfläche zu erfassen, bekam er einen Vorgeschmack, von dem, was ihn erwartete. Dampfende, graugrüne Dschungel, verbrannte Steppen, himmelhohe, schroffe Gebirge, schlammgelbe Flüsse und Regen…
Vain schaltete die Infrarotanlage ein und starrte durch das Panzerglas der Bugkanzel auf die monotone Wüstenlandschaft, die im Augenblick unter ihm hinwegzog. Er befand sich 6900 km nördlich des Äquators und näherte sich allmählich der Nordpolarzone. Das Quecksilber des Außenthermometers, das in den letzten Stunden konstant 54° Celsius gezeigt hatte, hatte zu fallen begonnen. Es zeigte noch 38° und fiel weiter. Vain atmete auf. Gewiß, die Klimaanlage seines Raumanzuges wurde mit Temperaturen bis zu 265° plus fertig. Doch der Anzug konnte unter gewissen Umständen zu einer Belastung werden. Da die Zusammensetzung der Atmosphäre nahezu dieselbe war wie die irdische, konnte er möglicherweise auch ohne ihn auskommen. Noch 2000 Kilometer bis zum Pol, und noch immer hatte er keine Siedlungen der Sechs zu Gesicht bekommen. Der Mann der MACCOMBBA hatte von flachen Gebäuden mit kegelförmigen Dächern gesprochen. Vain wiederholte im Geiste die spärlichen Fakten, die über den mysteriösen Planeten bekannt waren. Dido II, von den Hakulainern Turanna genannt, war eine Welt, die in der Fachsprache als Terra-II-Typ bezeichnet wurde: Schwerkraft 0,87 g; Atmosphäre: 74,11% Stickstoff, 24,08% Sauerstoff, 1,40% Argon, Rest andere Edelgase; Leben: Dschungelflora, Dschungelfauna; Dominante: halbintelligente, telepathische Insektoiden. Entdeckt 2338. Lage: innerhalb des hakulainischen Hoheitsbereiches. Koordinaten:… 2339 Eröffnung einer hakulainischen Kolonie zum Aufbau und Ausbau einer Aka-Aka-Pflanzung. Das mysteriöse Verschwinden der Pflanzer zwang 2340 zur Aufgabe der Kolonie. Suchexpedition unter Kommodore Al-Shano im selben Jahre verschollen. Seitdem ist Dido II Sperrgebiet… Das war wenig, verdammt wenig! Seltsam war, daß die tatendurstigen Hakulainer nicht mit aller Macht versucht hatten, Licht in die mysteriöse Angelegenheit zu bringen. Äußerst verwunderlich war aber auch, daß Terra selbst nicht eingegriffen hatte. Der Tod von über zweihundert Wesen terranischer Abkunft hätte die Galaktische Abwehr automatisch auf den Plan rufen müssen.
Wie kam es, daß die GA den Fall ignoriert hatte? Jemand mußte ein Interesse daran haben, daß auf Turanna keine Nachforschungen angestellt wurden. Aber wer? Der Zwischenfall auf Sirius-Kaatha wies allerdings in eine ganz bestimmte Richtung: Es gab nur einen Menschen, der von seinem, Vains, Auftrag wußte: Jokko Tayler. Es war mithin anzunehmen, daß der Anschlag das Werk von Leandras Assistenten war. Das schlanke Raumboot befand sich auf einer Bahn 1560 Kilometer vom planetaren Nordpol entfernt, als Vains Überlegungen unterbrochen wurden: Er entdeckte die Siedlungen. Sie lagen auf annähernd kreisförmigen Schneisen, deren Durchmesser zwischen zwei und acht Kilometern betrug, inmitten des undurchdringlichen Dschungels, der sich, nur hin und wieder von öden Wüstensteppen unterbrochen, Tausende von Kilometern entlang der Flugbahn erstreckte. Jetzt erhob sich die Frage: Wo sollte er landen? Auf einer der Wohnschneisen herunterzugehen, verbot sich von selbst. Einmal würde er die Siedlungen und ihre Bewohner gefährden. Zum andern war das rätselhafte Schicksal der Pflanzer eine unübersehbare Warnung. Solange die Frage, ob die Eingeborenen ihre Hand im Spiele gehabt hatten, nicht geklärt war, war äußerste Vorsicht geboten. In diesem Punkte bestand für die Hakulainer allerdings nicht der geringste Zweifel: Für sie waren die Eingeborenen des Dschungelplaneten, die geheimnisvollen Sechs, für das Verschwinden der Menschen allein verantwortlich. Da Vain sein Ziel, nämlich das Schicksal der Bajace Fugger zu klären, nur über die Eingeborenen erreichen zu können glaubte, stand er vor einer schwierigen Aufgabe. Diese Aufgabe – so wußte Vain aus Erfahrung – war nur und allein zu lösen, wenn er das Vertrauen der Eingeborenen erlangte. Dies wiederum schloß eine Annäherung aus der Luft aus. Kreaturen des Primitivstadiums lebten in einer strikt zweidimensionalen Welt. Eine Annäherung aus der dritten Dimension würde sie erschrecken und mißtrauisch, wenn nicht gar feindselig werden lassen. Diejenige Steppenregion, die den Wohnsiedlungen am nächsten gelegen war, befand sich etwa 250 Kilometer von dieser entfernt. Vain flog in einem weiten Bogen dorthin, damit er von den Sechs
nicht gesichtet wurde. Er landete, öffnete die Kabine und klappte erst einmal den Helm zurück. Prüfend sog er die Luft ein. Sie war feucht, warm und roch moderig. Vain ging zum Bordcomputer und entnahm ihm die Landkarte, die jener nach der Auswertung der Polaroidaufnahmen angefertigt hatte. Er befand sich 242 Kilometer nördlich der nächsten Ansiedlung. Hundert Meter weiter begann der Dschungel. Zum Glück war auf den Aufnahmen ein Flußlauf zu erkennen, der sich einige Kilometer nordwärts in weiten Schleifen durch die unwirtliche Landschaft wand. Dieser näherte sich bis auf dreißig Kilometer der nächsten Ansiedlung der Sechs. Vain fuhr aus den Heckschleuse des Raumbootes den Allzweckgleiter heraus. Er überprüfte die Kontrollen. Dann setzte er sich an den Steuercomputer des Gleiters, schloß die Einmannkabine und setzte das Fahrzeug in Bewegung. Als er vier Kilometer zurückgelegt hatte, tauchte vor ihm der Fluß auf. Auf seinen Prallfeldern glitt das Fahrzeug auf das lehmgelbe Wasser und nahm sofort Fahrt auf. Vier Stunden später hatte Vain mehr als dreihundertundzwanzig Kilometer zurückgelegt. Er hatte die Stelle erreicht, die nur zweiunddreißig Kilometer von der nächsten Sechs-Siedlung entfernt war. Es war 4 Uhr 5 westgalaktischer Zeit. Die Regenwolken hatten sich verzogen. Die Sonne Dido hatte den Zenit überschritten. Ihre rötlichen Strahlen wurden vom dichten Blätterdach des Urwaldes zu einem fahlen Braun gefiltert, als Vain in das Zwielicht des dampfenden Dschungels eintauchte. Er hatte den Antrieb umgeschaltet, und die schweren Gleisketten trieben das Fahrzeug vorwärts. Anfangs kam der Terraner gut voran. Doch allmählich wurde der Dschungel unwegsamer, und schließlich mußte Vain die elektronischen Räumungsmaschinen einschalten. Der Terraner konnte sich eines unguten Gefühls nicht erwehren, wenn er daran dachte, daß er das letzte Ende seines Weges zu Fuß durch den Urwald bewältigen mußte. Näher als zehn Kilometer durfte er sich nicht an die Ansiedlungen heranwagen. Sieben Stunden später hatte er 21,5 Kilometer zurückgelegt.
Dido war längst untergegangen. Die starken Scheinwerfer des Fahrzeugs erhellten den Urwald und schufen eine gespenstische Szenerie. Die letzte Etappe lag vor ihm. Vain hielt, fuhr die Räumungsgeräte ein, verriegelte die Kabine hermetisch und legte sich auf die Konturliege. Er nahm die Karte vor, trug seinen Standort ein, führte einige Berechnungen durch und legte seine Route für den nächsten Tag fest. Dann schloß er die Augen und schlief sofort ein. Als er aufwachte, regnete es. Vain wählte seine Ausstattung sorgfältig aus: ein Lasergewehr, ein Übersetzungsgerät, ein Vibrationsmesser, einen elektronischen Navigator, die Plankarte, Lebensmittelkonzentrate. Nachdem er den Antrieb seines Gleiters blockiert hatte, stieg er aus dem Fahrzeug. Er hatte sich während der Fahrt seines schweren Raumanzuges entledigt und trug nun einen wasserdichten Schutzanzug. Der Regen prasselte auf ihn ein, und der Dschungel umfing ihn… Während sich Vain langsam durch das Dickicht vorankämpfte und die in seine Kappe eingelassenen Membranen die vielfältigen Geräusche des Urwalds übertrugen, wurde ihm bewußt, daß er während der insgesamt zwölf Stunden, in denen er mit dem Fahrzeug unterwegs gewesen war, außer allerlei Kleingetier, das in heller Panik vor dem rasselnden, zischenden und kreischenden Monstrum davongestoben war, nichts Lebendes zu Gesicht bekommen hatte. Er war etwa zweieinhalb Stunden marschiert, als er eine Ruhepause einlegte. Er hatte sieben Kilometer zurückgelegt. Er befand sich also seiner Rechnung nach noch etwa drei Kilometer von der nächsten Siedlung der Sechs entfernt. Er konnte nicht wissen, daß er sich diesbezüglich in einem großen Irrtum befand… Vain legte seinen kleinen Ausrüstungstornister ab, setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an einen der massigen palmenartigen Urwaldriesen. Den Strahler hielt er griffbereit in der Rechten. Als er aufwachte, sah er über sich gebeugt ein riesiges raubkatzenartiges Tier, das mit seinen krallenbewehrten Pfoten an seinem Anzug herumgekratzt und ihn dadurch geweckt hatte. Während sich Vain in einer blitzschnellen Bewegung
herumrollte, zog er bereits den Laser durch. Das urweltliche Gebrüll der tödlich getroffenen Bestie ließ für einen Moment den Dschungel verstummen. Die Urwaldwelt hielt den Atem an, als einer ihrer Könige im Todeskampf verendend die Tatzen ausstreckte. Vain setzte sich auf. Warum, fragte er sich, als der Schock verebbte und kühler Überlegung Platz machte, war er überhaupt eingeschlafen? Dann sah er auf die Uhr, und der Schock kehrte zurück: Er hatte zehn Stunden geschlafen! Und doch sollte ihm noch eine größere Überraschung bevorstehen. Als er sich eine weitere halbe Stunde vorwärtsgekämpft hatte, wurde der Dschungel lichter. Dann teilten sich plötzlich die Büsche, und vor ihm floß träge das schlammige Wasser eines Flusses. Und als Vain an seinem Ufer stand, traf ihn die Wahrheit wie ein Hammerschlag: Es war derselbe Fluß, von dem aus er an diesem Morgen seinen langen Marsch angetreten hatte. Er war fast an seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt! Vain setzte sich auf einen Baumstumpf und zwang seine aufgescheuchten Gedanken zur Ruhe. Was war geschehen? Er blickte auf sein Chronometer. Es war 20.11 Uhr Ortszeit. Das bedeutete: Die Sonne Dido war vor einer Stunde untergegangen. Er war seit 6 Uhr morgens unterwegs und keinen Meter seinem Ziel nähergekommen. Er kontrollierte den Navigator. Er war in Ordnung. Vain nahm die Karte zur Hand. Sorgfältig programmierte er die morgige Route. Dann machte er sich auf, um den Weg zu suchen, der ihn zu seinem Fahrzeug bringen würde. Wenige Minuten später hatte er den Gleiter erreicht. Am Morgen fühlte er sich ausgeschlafen und erholt. Nachdem er nochmals seine Ausrüstung überprüft hatte, machte er sich mit neuem Mut auf den Weg nach Süden. Aber er hatte kaum mehr als einen Kilometer zurückgelegt, als er gegen seine erneut aufkommende Mutlosigkeit ankämpfen mußte. Im Dschungel war es noch dunkler als tags zuvor. Der Regen rauschte wolkenbruchartig durch das von aufkommenden böenartigen Winden gepeitschte Blattwerk und verwandelte den Urwaldboden in einen zähen Morast, durch den sich Vain nur
langsam seinen Weg bahnen konnte. Von Zeit zu Zeit hörte er ein anhaltendes Grollen, das er anfangs für Raubtiergebrüll hielt. Dann sah er weiter entfernt Lichtentladungen. Ein Gewitter! Plötzlich wurde es ohne Übergang stockdunkel. Der Regen setzte abrupt aus, und dann zuckten grelle Blitze nur einige hundert Meter von ihm entfernt in die uralten Dschungelstämme. Vain warf einen Blick auf den Navigator. Das Instrument zeigte ihm an, daß er nach Norden marschierte. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte der Mann seinen Weg fort. Als wenig später ein krachender Blitz nur etwa zwanzig Meter von ihm entfernt in einen gut fünf Meter durchmessenden Baum fuhr und diesen entwurzelte, stolperte er halb geblendet über ein Lianengestrüpp und ließ sich erschöpft fallen. Bleierne Müdigkeit schien ihn übermannen zu wollen. Vain griff in eine Tasche seines Anzugs und holte ein Superstimulans hervor. Schon wollte er die Tablette in den Mund schieben. Doch dann überlegte er es sich anders und warf sie fort. Sekunden später war er eingeschlafen. Als er aufwachte, hatte sich das Gewitter verzogen. Dafür regnete es wieder. Vain blickte auf das Armbandchronometer. Es zeigte 7 Uhr 25. Das war 16.15 Uhr Ortszeit. Diesmal hatte er acht Stunden geschlafen. Die pausenlose Auseinandersetzung mit dem Dschungel mußte seinen Organismus doch stärker belasten, als er es vorausgesehen hatte. Er erhob sich und nahm den Kampf gegen den Urwald wieder auf. Er kam jetzt schneller voran. Als er weitere zwei Stunden marschiert war, wurde es dunkler. Die Sonne Dido ging unter. Er stellte fest, daß er fast acht Kilometer zurückgelegt hatte und sich nur noch zwei Kilometer vor der Siedlung der Sechs befinden mußte. Eine Viertelstunde später sah er durch das Dämmerlicht das Wasser des gelben Flusses schimmern. Der Schock der Erkenntnis seines erneuten Scheiterns drohte Vain zu übermannen. Mit zitternden Gliedern ließ er sich auf dem morastigen Boden nieder und schloß die Augen. Nur allmählich und mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, Ordnung in seine
Gedanken zu bringen. Irgend etwas stimmte nicht! Inzwischen war es stockdunkel geworden. Vain richtete den Lichtstrahl seines Handscheinwerfers auf die Anzeige des Navigators. Der Zeiger wies zum Fluß, also in seine Marschrichtung. Dort war Norden! Er war jedoch am Morgen in der geplanten Richtung, d. h. nach Süden losmarschiert. Aus irgendeinem Grund mußte er also später die Richtung geändert haben, und zwar gleich um hundertundachtzig Grad! Jetzt fiel ihm auch ein, daß er mehrere Male während seines Marsches den Navigator zu Rate gezogen hatte. Und daß ihm dieser auch vorschriftsmäßig gemeldet hatte, daß er nach Norden marschierte, also in einer seinem Ziele entgegengesetzten Richtung. Nur er, Vain, hatte diese Meldung ignoriert, er hatte von ihr keine Notiz nehmen wollen! Dann: seine unprogrammäßig langen Schlafeinlagen! Gewiß, der Marsch durch den höllischen Dschungel im peitschenden Gewitterregen hatte seinen Körper auf das äußerste strapaziert. Auf der anderen Seite: Vain besaß einen voll durchtrainierten, athletischen Körper, der es gewohnt war, daß man ihm Höchstleistungen abverlangte. Diese plötzliche, bleierne Müdigkeit war auch nicht normal. Überdies er war für solche Fälle ausgerüstet; warum eigentlich hatte er kein CTS genommen? Vain griff in die Tasche und holte die Packung mit den Superstimulanzien heraus. Sie war geöffnet. Eine Tablette fehlte! Vain überlegte. Genommen hatte er keine Tablette. Sie hätte augenblicklich gewirkt. Folglich hatte er sie weggeworfen. Warum? Was hatte ihn dazu veranlaßt; denn wie immer man die Angelegenheit betrachtete, welche Überlegungen man auch anstellte, sie führten alle zu dem einen Schluß: Jemand wollte verhindern, daß er die Siedlung erreichte. Und dieser Jemand verfügte über außergewöhnlich starke hypnotische Kräfte. Seltsam war nur, daß er, Vain, jetzt am Abend, diesem Einfluß nicht mehr unterlag. Am Abend – das war es! Am Abend ließ der hypnotische Einfluß nach. Vain aß ausgedehnt und in aller Ruhe. Anschließend nahm er eine Energietablette. Dann öffnete er den Ausrüstungstornister, nahm einige elektronische Teile und baute ein Kontrollgerät zusammen, das er an den Navigator anschloß. Jede Abweichung von der Marschrichtung nach Süden würde
jetzt akustisch angezeigt und auf ein Bandgerät aufgezeichnet werden. Dies war nur eine Sicherheitsmaßnahme. Im übrigen war sich Vain seiner Sache ziemlich sicher: Der hypnotische Einfluß des oder der Fremden blieb auf den Tag beschränkt. Dies war natürlich; organische Wesen – ausgenommen Nachttiere – schliefen nachtsüber. Es war 22.14 Uhr Ortszeit, als Vain den dritten Versuch unternahm, die Siedlung der Sechs zu erreichen. Mit der Linken umklammerte er das Vibratormesser, um sich gegen plötzliche, unerwartete Angriffe verteidigen zu können. In der Rechten hielt er den Strahler, den er jedoch nur im äußersten Notfall einzusetzen gedachte, um sich nicht im letzten Moment noch zu verraten. Von seiner Stirn leuchtete der weitgefächerte Lichtstrahl des starken Scheinwerfers, der die nächste Umgebung des Urwaldes in ein fahles, gespenstisches Licht tauchte. Von Zeit zu Zeit warf Vain einen Blick auf den Navigator und das Kontrollgerät. Doch jener wies aus, daß er sich stetig in südlicher Richtung bewegte, und das Kontrollgerät blieb stumm und zeigte damit, daß er die vorgeplante Route einhielt. Die Gewißheit, diesmal endlich auf dem richtigen Wege zu sein und damit seinem Ziele näher zu kommen, gab ihm neuen Auftrieb, und er torkelte weiter, ein einsames Wesen im Kampf gegen den nächtlichen Dschungel. Als er vier Stunden und zwanzig Minuten unterwegs gewesen war, begann sich der Dschungel zu lichten. Vain verglich die Zeit- und Distanzwerte mit seiner Karte. Kein Zweifel: Vor ihm mußte sich die Siedlung der Sechs befinden. Vain schaltete die Lampe auf schwächste Leistung. Die Gewißheit, dicht am Ziel zu sein, riß ihn noch einmal vorwärts. Nach hundert Metern hörte der Urwald auf. Zwischen den schwarzen Stämmen hindurch blickte Vain auf eine Lichtung. Und als er eine Weile durch das regenschwere Dunkel der Nacht gestarrt hatte, gewahrte er schemenhafte kegelförmige Gebilde: die Wohnhütten der Sechs. Vain holte aus einer Tasche ein Weckgerät hervor, stellte eine bestimmte Uhrzeit ein und stöpselte sich die Kopfhörer in die Ohren. Dann streckte er sich aus und fiel unmittelbar darauf in einen totenähnlichen Schlaf…
* Die Sonne Dido schickte ihren ersten Strahlenfächer über die Baumwipfel jenseits der Lichtung hinweg, als Vain, von Schmerzen gepeinigt, erwachte. Es dauerte eine Weile, bis er die Ursache der Schmerzen begriff: Das Weckgerät hatte, als die akustischen Signale keine Wirkung zeigten, auf mechanische Reize umgeschaltet, und diese hatten sich allmählich verstärkt. Vain riß das Gerät vom Kopf. Er dehnte und reckte sich ein paarmal. Dann legte er sich auf den Rücken und entspannte alle Muskeln gleichzeitig. Schließlich drehte er sich wieder auf den Bauch, holte ein Teleskop aus dem Tornister und blickte hindurch. Vor ihm – etwa dreihundert Meter von ihm entfernt – schälten sich die Konturen von etwa drei Dutzend Kegelhütten aus dem rötlichgrauen Licht der Morgendämmerung. Vain dachte an die Geschichten, die man ihm in den Raumfahrerspelunken auf Haku II erzählt hatte und die alle mehr oder weniger im Zusammenhang mit dem standen, was jener angeblich Überlebende der MACCOMBBA in seinen Fieberdelirien von sich gegeben hatte. Man hatte von Telepathen gesprochen, die über Tausende von Kilometern hinweg die Gedanken anderer Wesen »lesen« könnten, von Kreaturen, die sechs Geschlechter hätten und stets zu sechst in Erscheinung träten, von Meistern der Telekinese und Teleportation… Bald würde Vain erfahren, was es mit diesen Geschichten für eine Bewandtnis hatte. Und sie kamen… Urplötzlich sah er sie im Zwielicht des Planetenmorgens. Vain zählte halblaut vor sich hin: »eins – zwei – drei – vier – fünf…« Wo war Nummer sechs? dachte er und wurde sich im gleichen Augenblick bewußt, wie sehr er bereits von den Legenden auf Haku II beeinflußt war. Er entsicherte den Laser und verstellte die Streuung. Die fünf knapp einen Meter großen Kreaturen glitten langsam über den nassen Boden der Schneise. Und im nächsten Augenblick spürte Vain die telepathischen Schwingungen, die in seinem Hirn Form anzunehmen begannen. Nicht töten…! dachte es in ihm. Wir fragen… Vain nahm die Hand vom Abzug und wartete. Du denken, wo sechs…? fuhr die Stimme in seinem Innern fort.
Sechs nicht hier… sechs krank. Brauchen Doktor – sonst sterben… Vain lag bewegungslos. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Das also waren sie, die Sechs! Die legendäre Herrenrasse des Planeten… Sie waren also Telepathen! Und sie waren Telesuggestoren, wie er selbst am eigenen Leibe erfahren hatte. Waren sie auch Telekineten? Auf Haku II war man seit der Rückkehr jenes angeblichen Schiffbrüchigen der MACCOMBBA überzeugt, daß die Sechs verantwortlich waren sowohl für den Tod der Pflanzer als auch für das Verschwinden der MACCOMBBA und ihrer Besatzung. Dies war jedenfalls die Meinung des Volkes. Die offiziellen Stellen schwiegen. Offiziell hieß es nur, die MACCOMBBA wäre von einem interstellaren Erkundungsauftrag nicht zurückgekehrt. Und doch wußte jedes Kind auf Haku II, von wo Al-Shano und seine Männer und Frauen nicht zurückgekehrt waren. Dies alles ging Vain durch den Kopf, während er unentschlossen, den Laser schußbereit, auf die fünf Insektenleiber starrte, die sich in zwanzig Metern Entfernung vor ihm ins Steppengras gehockt hatten und mit ihren Hinterleibern rhythmische Bewegungen vollführten. Vielleicht kommunizierten sie auf diese Art miteinander. Du kein Angst…, war da wieder die Stimme in ihm, Commodore Al-Shano schlecht – seine Leute schlecht – sie Untergang der Sechs… aller Sechs… Eiskalt kroch es in Vain hoch. Diese Wesen konnten sich nicht nur telepathisch mit ihm verständigen, sie lasen auch in seinem eigenen Hirn wie in einem offenen Buch! Wie aber, fragte er sich dann, hatte Al-Shano und seine Leute den Sechs gefährlich werden können? Das war doch… Commander Al-Shano nahm Aka-Aka…, wurde sein Denkstrom unterbrochen. Aka-Aka unsere Kinder…! »Was…?« Vain fuhr hoch. Ungläubig starrte er zu den zuckenden Leibern hinüber. »Das ist unmöglich!« sagte er laut. »Aka-Aka sind Pflanzen…« Im Kosmos nichts unmöglich…, wurde er belehrt. Metamorphose… Dann: Du mit uns kommen… du helfen… du Doktor… Gleichzeitig spürte Vain drängende, schwach hypnotische Impulse.
Woher wußten die Sechs von seinen medizinischen Fähigkeiten? Vain war sich sicher, daß er sich mit keinerlei derartigen Gedanken beschäftigt hatte. Waren diese Wesen in der Lage, seinen gesamten Bewußtseinsinhalt abzutasten? Er erschauerte. Dann sah er wieder zu den fünf Wesen hinüber. Sie hockten jetzt wie erstarrt am Boden. Sie »hörten«, und er, Vain, hatte keine Möglichkeit, seinen Geist vor ihnen zu verschließen. Die Sechs warteten… Dann plötzlich drehten sie sich um und bewegten sich langsam in Richtung der Kegelhütten. Und während Vain sich erhob, um ihnen zu folgen, war es ihm, als ob diese Wesen genau gewußt hatten, daß er folgen würde. Während er, den Laser umklammernd, langsam und wie automatisch hinter den Eingeborenen herschritt, versuchte Vain, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Was wollten die Sechs von ihm? Wie sollte er einem der ihren überhaupt helfen? Welche Krankheit hatte ihn befallen? Wie konnten diese Wesen überhaupt annehmen, er, ein Terraner, mochte über Kenntnisse verfügen, die ihn in die Lage versetzten, mit den medizinischen Problemen eines abgelegenen, unbekannten Planeten fertig zu werden? Dann fiel ihm wieder ein, was die Sechs über die Aka-Aka gesagt hatten. Wenn es die Wahrheit war – und Vain hatte keine Veranlassung daran zu zweifeln –, hatten die geheimnisvollen Geschehnisse des Jahres 2339 ihre Erklärung gefunden. Die ahnungslosen Kolonisten von Haku II hatten eine Aka-AkaPflanzung angelegt, ohne zu wissen, daß die von ihnen gezüchteten, geernteten und dann verkauften Pflanzen eine transformierte Form der herrschenden planetaren Intelligenz waren. Die Eingeborenen, die das Vorgehen der Hakulainer von ihrer Warte aus als eine Art Massenmord angesehen haben mußten, hatten reagiert, auf eine primitive doch recht wirkungsvolle Art: Sie hatten die Kolonisten vernichtet. Auf welche Weise, würde noch festzustellen sein. Als ein halbes Jahr später die MACCOMBBA auf dem Planeten eintraf, ereilte die Mannschaft das gleiche Geschick. Die Aka-Aka-Pflanzen…! Vain schüttelte erregt den Kopf. In welcher Weise mochte die Metamorphose vor sich gehen, daß die Menschen nichts davon bemerkt hatten? Und wie wurden sie
angebaut? Wurden sie gesät, gepflanzt? Jetzt fiel ihm auch wieder ein, was er über die Bedeutung des Namens gelesen hatte. AkaAka war ein alt-hakulainisches Wort und bedeutete soviel wie: »was sich verwandelt«. Wer den Pflanzen diesen Namen gegeben hatte, hatte dies nicht ohne Grund getan. Vain kam ein Gedanke: Vielleicht waren es die Herren des Planeten selbst, die bei der Namengebung ihre Hand im Spiel gehabt hatten. Sie hatten in der kurzen Zeit seines Hierseins wahrlich genügend Proben ihrer erstaunlichen Fähigkeiten gegeben. Vielleicht hatten sie hypno-telepathisch… So ist es… Vain fuhr zusammen. So sehr war er in seine Überlegungen vertieft gewesen, daß er vergessen hatte, daß seine unheimlichen Partner ständige Zeugen seiner Gedanken waren. Ob er nun wollte oder nicht, er mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß diese Wesen für die Dauer seines Aufenthalts bei ihnen in einer Weise an seinem Geistesleben teilnahmen, die einer Ausschaltung seiner geistigen Individualität gleichkam. Sie waren an den ersten Wohnhütten angekommen. Und jetzt sah Vain auch zum ersten Male die geheimnisvollen Aka-Aka, von denen er auf Haku II nur recht undeutliche Fotos gesehen hatte. Die blaugrünen Pflanzen – einige von ihnen waren bis zu einem halben Meter hoch – wuchsen auf sechseckigen Feldern, die die Eingeborenen zwischen ihren Wohnhütten angelegt hatten. Immer sechs von ihnen standen auf wabenförmigen Parzellen zusammen, und Vain sah, wie einige der Insektoiden sich an ihnen zu schaffen machten. Sie tauchten ihren in einen Rüssel auslaufenden Kopf in die weiten trichterförmigen Blüten und förderten eine farblose, breiige Substanz zutage, die sie in taschenartigen Ausbuchtungen an ihrem Körper verstauten. »Halbintelligent« hatte es geheißen, und die Tatsache allein, daß die Sechs keine Art von Kleidung kannten, schien diese Einstufung zu bestätigen. Und doch – fragte sich Vain –, war Kleidung ein Ausdruck von Intelligenz? Der Mensch schien große Mühe zu haben, sein anthropozentrisches Weltbild zu überwinden, obwohl er durch sein Zusammentreffen mit einer Vielzahl physisch und psychisch von ihm unendlich verschiedener galaktischer Rassen längst hätte begreifen müssen, daß die Evolution des Geistes viele Wege eingeschlagen hatte. Vain wurde sich der Tatsache bewußt, daß er keine genaue
Kontrolle mehr darüber besaß, inwieweit seine Überlegungen noch ureigenes Gedankengut oder bereits von der Vorstellungswelt der Sechs beeinflußt war. Resignierend beschloß er, sich über solcherlei Probleme keine Gedanken mehr zu machen und sich von nun an ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Du sehen werden Frau… Bajace… Wieder hatten die Sechs vorausgedacht. Aber mehr noch als diese Tatsache verwirrte ihn die inhaltsschwere Bemerkung selbst. Bajace war also noch am Leben? Und sie lebte hier auf diesem abgelegenen Planeten inmitten einer non-terrestrischen Gesellschaft? Er bückte sich und folgte den Eingeborenen durch den niedrigen Eingang in das Innere der Behausung. Es herrschte ein mystisches Halbdunkel. Die fahle, rötliche Beleuchtung kam aus unsichtbaren Quellen. Mehr und mehr verstärkte sich in Vain der Eindruck, daß das Gemeinschaftsleben der Sechs zahlreiche Parallelen zu den Sozialgebilden irdischer Insektenarten aufwies. Man führte ihn an verschieden großen, offenen Kammern vorbei, die ihn an Brut- und Pflegekammern terranischer Ameisen erinnerten. Andere Räume wiederum waren mit einer lehmigen Substanz fast gänzlich zugemauert. Durch das kleine Loch, das von den Insektoiden als Einstieg benutzt wurde, gewahrte er flüchtige kokonartige Gebilde, durch deren transparente Hülle sich seltsame halb pflanzenhafte, halb tierische Formen abzeichneten. Die Metamorphose! Aus Aka-Aka werden Sechs, wurden seine Gedanken vollendet. Aber wie…? Aus Sechs werden Aka-Aka! Während er noch die Bedeutung dieser Information zu verarbeiten suchte, hielten seine Führer plötzlich an. Vor ihnen waren sechs andere Insektoiden damit beschäftigt, eine Öffnung zu erweitern. Vain wußte plötzlich, was sich hinter der Öffnung verbarg: der kranke Sechs! Minuten später stand er mit seinen Führern in einem stockdunklen Raum. Vain war ein hartgesottener Mann. Sein Leben war eine
ununterbrochene Kette von Abenteuern gewesen. Nicht nur einmal hatte er dabei dem Tod ins Angesicht geblickt. Es war die absolute Fremdartigkeit nicht nur des Geschehens an sich, sondern vielmehr noch des materiellen und des emotionalen Raumes, in dem sich dieses Geschehen abspielte, was jetzt Angst in ihm aufkommen ließ. Was wollten die Sechs von ihm? Wie sah das aus, was da im Dunkel vor ihm lag? Was konnte er überhaupt tun? Wenn er aber nichts zu tun vermochte, was würden sie mit ihm machen? Dann spürte Vain, wie die Wellenfronten vielfältiger Gefühle auf ihn eindrangen. Ein emotionales Chaos überschwemmte ihn: Trauer, Furcht, Verzweiflung – dann wieder Hoffnung und Zuversicht. Allmählich wurde Vain ruhiger. Vernünftige Überlegung kehrte zurück. Ganz langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, und er erkannte vor sich die Umrisse einer Art Liegemulde. Und in dieser Mulde lag der Sechs. Vain trat an ihn heran. Durch das Loch, durch das er gekommen war, fiel etwas von dem schwach-rötlichen Licht, das in den Gängen herrschte, herein. Der Terraner betrachtete das vor ihm liegende Wesen, das ihm augenscheinlich den Rücken zudrehte. Oberflächlich betrachtet konnte man die Sechs als ein Mittelding zwischen einer terranischen Ameise und einer terranischen Biene bezeichnen. Ihr Körper besaß die typische Dreiteilung: Kopf-RumpfUnterleib, durch starke Abschnürungen voneinander abgesetzt. Der Kopf hatte die Form eines auf der Spitze stehenden Kegels, der in einen biegsamen schwarzen Rüssel auslief. Er war von einem chitinartigen Panzer bedeckt, der an den Seiten zwei Vertiefungen frei ließ, in denen die hochentwickelten und sehr beweglichen Kopfaugen saßen. Von den ursprünglichen drei Beinpaaren waren die beiden, die aus dem Oberteil herauswuchsen, zu Handlungsarmen umgeformt, an deren Ende Greifglieder saßen. Das mittlere Beinpaar war länger als das untere und verlieh dem Sechs dadurch eine größere Laufsicherheit und Standfestigkeit, Eigenschaften, die für das Leben im Dschungel sicher von Vorteil waren. Kopf und Rumpf waren haarlos, während die Extremitäten und der Unterleib von einem dichten und langhaarigen Pelz bedeckt
waren. Im ersten Moment hatte Vain an dem vor ihm Liegenden nichts entdecken können, das ein Hinweis auf irgendeine Krankheit gewesen wäre. Doch dann gewahrte er die zahlreichen seltsamen Verformungen am Rückenoberteil, dort, wo transparente Flügelrudimente an die geflügelte Vergangenheit erinnerten, Wucherungen. Metastasen eines Tumors? Wie konnte man von ihm, der von der physiologischen Organisation des planetaren Lebens, von der Bakteriologie, Immunologie und von der Genetik dieser Welt nicht den Hauch eines Wissens besaß, hier Hilfe erwarten? Sein Blick fiel auf das Oberteil der Konturmulde, in dem der Kopf des Sechs ruhte. Seine Augen wurden weit. In einer kleinen Ausbuchtung, eine Handbreit neben dem zur Seite gedrehten Rüssel, lag eine Schachtel Canceromycin. Vain vermochte nicht zu sagen, was ihn mehr aufwühlte, der Anblick des terranischen Medikamentes, das sich ihm mit schmerzhafter Intensität zu einem Symbol all dessen verdichtete, was sich für ihn hinter den Begriffen Mutter und Erde verbarg und diese miteinander verband, oder die erschütternde Erkenntnis, daß hier, auf diesem unendlich fremden, gottverlassenen Planeten, ein Mensch gelebt hatte, gelebt und in einer Weise gewirkt, die Vain als ein Zeichen dafür wertete, daß es ein universelles Ethos gab, für das es sich zu leben und gegebenenfalls auch zu sterben lohnte. Die Sechs begannen zu »sprechen«… Vain erfuhr die Geschichte der Bajace Fugger. Es war eine kurze Geschichte. Sie handelte von einer Frau auf Hakulainens Stern, die eine große Reise angetreten hatte, eine Reise, die sie in ihre Heimat Terra und zu dem Manne führen sollte, den sie liebte und der Tausende von Lichtjahren entfernt auf sie wartete. Doch ihr Schiff – ein Frachter einer westgalaktischen Handelslinie – havarierte, nur sechzehn Lichtjahre von Hakulainens Stern entfernt. Was genau geschehen war, war Bajaces Gedächtnis nicht zu entnehmen gewesen. Es mußte jedenfalls zu einer Explosion gekommen sein. Bajace, vier weitere Frauen und sieben Männer retteten sich mit dem Beiboot. Als sie auf Turanna landeten, wurden alle, bis auf Bajace, von den Sechs getötet. Die Eingeborenen hatten mit Hilfe ihrer
besonderen Fähigkeiten die medizinische Ausbildung der Terranerin erkannt. Zu jener Zeit wütete auf Dido II eine bis dahin den Eingeborenen unbekannte Seuche, der sie reihenweise erlagen, ohne ein Gegenmittel zu finden. Sie ließen daher Bajace am Leben, da sie hofften, daß die Ärztin ihnen im Kampf gegen den »Stillen Tod«, wie sie die tödliche Krankheit nannten, helfen könnte. Diese Hoffnung war berechtigt, wie sich bald herausstellte. Bajace fand heraus, daß es sich bei der Seuche um nichts anderes als um den sogenannten »Beulenkrebs« handelte, eine Virus-Krebsart, die auf Terra seit hundert Jahren ausgerottet war. Das Virus war vermutlich von den hakulainischen Kolonisten eingeschleppt worden und hatte unter den Eingeborenen entsetzlich gewütet. Zu Bajaces Ausrüstung die sie zum größten Teil hatte retten können gehörte ein umfangreiches Arzneimitteldepot, das unter anderem auch größere Mengen Canceromycin enthalten hatte. Binnen kurzem gelang es der Frau, der Seuche Herr zu werden. Der Beulenkrebs verschwand. Bajace, der »Retterin der Sechs«, wurden göttliche Ehren zuteil. Vain versuchte sich vorzustellen, wie die Frau hier gelebt hatte, vierzig Jahre lang zwischen Wesen, die gewiß alles in ihren Kräften Stehende getan hatten, um ihr Dasein lebenswert zu machen. Doch sie hatte einsam bleiben müssen. Vielleicht hatte sie noch nicht einmal von dem Befehl gewußt, der diesen Planeten für immer isolierte. Vielleicht hatte sie gewartet, Monat für Monat, Jahr für Jahr, hatte gehofft, verzweifelt gehofft – und schließlich resigniert. Dann war sie gestorben, und die Eingeborenen hatten sie, die Göttin, nicht sterben lassen wollen; sie hatten ihren Körper einer speziellen Behandlung unterzogen und ihn konserviert. Du werden sehen Bajace! Vain nickte geistesabwesend. Der Beulenkrebs war also doch nicht ganz verschwunden, wie der kranke Sechs vor ihm bewies. Jetzt verstand er auch, was die Sechs mit der Bemerkung gemeint hatten: »Wenn Sechs stirbt, wir alle sterben…« Sie fürchteten den erneuten Ausbruch der Krankheit. Er spürte Verneinung. Sechs immer müssen sein sechs… einer tot, sechs tot… keine Aka-Aka… keine Sechs…
So war das also! Vain begann zu verstehen: In einer seltsamen und höchst komplizierten Weise schien Leben und Fortpflanzung der Eingeborenen von der Zahl »sechs« abzuhängen. Es gab also sechs Geschlechter. Und ihr Zusammenwirken bedingte den Lauf der Metamorphose, bei der aus Sechs Aka-Aka wurden und aus den Pflanzen wieder Sechs. Nach einem uralten biologischen Schema immobilisierte sich hier die Natur und wurde wieder mobil. Und noch eins: Nach einem geheimnisvollen Gesetz, dessen kosmobiologischer Ursprung unergründlich blieb, waren jeweils sechs dieser Wesen in einer untrennbaren Gemeinschaft miteinander verbunden, in einer Gemeinschaft, die man sowohl als Individuum wie auch als Gruppe ansehen konnte. Die Natur hatte wieder einmal ihre unerschöpfliche Variabilität bewiesen. Unendliche Vielfalt galaktischer Schöpfungskraft – was aber mochte in anderen Galaxien geschehen? * Dieser Gedanke ob gesteuert oder nicht brachte Vain auf den Boden des realen Geschehens zurück und erinnerte ihn zugleich daran, warum er überhaupt hier war. Du heilen Nr. 6 dann bekommen Teil von Bajace… Was meinten die Sechs mit »Teil von Bajace«? Und dann formte sich in seinen Gedanken der Begriff »Hinterlassenschaft«… Es war also ein simples Tauschgeschäft. Er sollte den Sechs heilen und erhielt dafür, was Bajace hinterlassen hatte. Da er nun wußte, daß Bajace tot war, hegte Vain nur noch wenig Hoffnung, seine Aufgabe auf diesem Planeten lösen zu können. Es bestand nur geringe Aussicht, daß sich unter dem, was von der Ärztin übriggeblieben war, Unterlagen befanden, aus denen hervorging, was damals geschehen war, als Gran Tauer auf Haku II landete, um seine Jugendliebe aufzusuchen. Vain trat an das Kopfende der Krankenmulde und nahm die Medikamentenschachtel in die Hand. Sie war leer. Canceromycin – so wußte Vain – gehörte nicht zu seiner Ausrüstung. Er besaß zwar ASTO, und ASTO war eines der neuentwickelten Pharmaka, die zellmolekular wirkten und mit jeder Krebsart fertig wurden. Doch Beulenkrebs entwickelte Metastasen. Bei der Anwendung von ASTO war daher eine
Nachbehandlung mit einem Radioisotopmittel notwendig, um die Ausbreitung von Tochtergesellschaften zu verhindern. Was sollte er tun? Von Zeit zu Zeit krümmte sich der Sechs vor ihm zusammen. Er hatte Schmerzen. Vain öffnete seinen Ausrüstungstornister und entnahm ihm den Bio-Analysator. Dieses bewährte Gerät arbeitete mit superkurzen Gammaimpulsen. Ein eingebauter Computer errechnete aus den einkommenden Signalen unmittelbar die Dosis des entsprechenden Medikaments. Vorsichtig schloß Vain die Elektroden an den zuckenden Körper des Eingeborenen. Sekunden später las er die Werte für Morphium IIIc ab. Er öffnete eine Packung des Medikaments und entnahm ihr die notwendige Menge in Tablettenform. Behutsam schob er sie in den Rüssel der kranken Kreatur. Bald darauf hörten die konvulsivischen Bewegungen auf. Der Sechs lag ruhig. Vermutlich war er eingeschlafen. Als er sich aufrichtete, sah Vain, wie die Leiber der fünf Anderen vibrierten. Die Insektoiden »diskutierten«. Dann schienen sie zu einem Ergebnis gekommen zu sein: Du fliegen… holen Medizin… bringen zu kranken Sechs. Dann Hinterlassenschaft… Natürlich! Die Sechs hatten längst sein Bewußtsein und auch sein Unterbewußtsein sondiert, hatten den Plan, der kaum begonnen hatte, Gestalt anzunehmen, geprüft und für gut befunden. Und schon drängten sie ihn zur Ausführung! Aber Vain zögerte. So sehr er den Wunsch und auch den Willen hatte, diesen Wesen zu helfen, er hatte auch eine Aufgabe! Zeigt mir Bajace! dachte er in einem plötzlichen Entschluß. Gebt mir, was sie besaß! Anschließend fliege ich nach Haku II und hole die Medikamente! Die Hinterleiber der Eingeborenen begannen von neuem zu vibrieren. Die vier Standbeine trommelten ein unregelmäßiges Stakkato auf den lehmigen Grund der Kammer. Gleichzeitig spürte Vain Impulse der Erregung, des Widerspruchs, der Hoffnung und des Zweifels… Dann wieder hatte er das Gefühl, die tiefsten Tiefen seiner Persönlichkeit wurden von den fremden Bewußtseinen ausgelotet. Schließlich ebbte der emotionale Ansturm ab.
Und dann kam klar und erlösend die Botschaft: Vertrauen… Die fünf Wesen wandten sich um und verließen die Kammer. Die feuchte, heiße Luft des Planeten erschien dem Terraner wie eine Erlösung, als er schließlich aus dem bedrückenden Halbdunkel der fensterlosen Hütte ins Freie gelangte. Doch durfte er sich dieses Genusses nicht lange erfreuen. Die Sechs führten ihn zu einem im Verhältnis zu den Wohnhütten recht kleinen Bauwerk, das innerhalb der Siedlung eine zentrale Position einnahm. »Das Grabmal der Bajace Fugger«, dachte Vain, als er den Eingeborenen in das Innere des Gebäudes folgte, das über dem Grundriß eines gleichseitigen Dreiecks errichtet war. Im Innern war es merklich heller als in den Wohnhütten der Sechs. Durch zahllose Löcher und Kanäle fiel das rötliche Licht der Sonne Dido. Die Eingeborenen führten Vain durch ein System von Gängen, das spiralig angelegt schien, und allmählich wurde es wieder dunkler. Und dann waren sie am Ziel. Sie befanden sich in einem kreisrunden, nicht mehr als drei Meter durchmessenden Raum, der in weiches orangerotes Licht getaucht war, dessen Herkunft unerklärlich schien, bis Vain die zahllosen Löcher und Ritzen im oberen Teil der Wände entdeckte. Dieser mittlere Teil ragte über das restliche Bauwerk hinaus, und die Eingeborenen schienen mit Hilfe von Spiegelsystemen das spärliche Sonnenlicht einzufangen, das die Wände, deren erdiges Material mit spiegelnden Schichten überzogen war, in den Raum streuten. In der Mitte des Raumes war eine Erhöhung. Auf dieser lag eine Frau. Sie lag da, als ob sie schliefe, und während Vain hinzutrat, um sie näher zu betrachten, fragte er sich, auf welche Weise es die Sechs fertigbrachten, einen Toten so vollkommen zu erhalten, ohne den Aufbahrungsraum hermetisch gegen den zerstörenden Sauerstoff abzuschließen. Bajace Fugger schien schon viele Jahre tot zu sein; sie sah noch jung aus. Sie hatte ockerfarbenes Haar, das sie hochgebunden getragen hatte und das von einem ledernen Stirnband zusammengehalten
wurde, in das fremdartige Symbole eingeflochten waren. Das Gesicht war regelmäßig geschnitten. Von den Mundwinkeln liefen zwei scharfe Linien zum Kinn herab: Male des Wartens und der Resignation. Vains Blick fiel auf eine Wandnische oberhalb des Kopfes der Toten. Dort lag etwas. Er trat hinüber, und dann hielt er einen Plastikbehälter in der Hand, der die handschriftliche Aufschrift trug: »Bajace Fugger – dem, der mich findet!« Vain löste den Verschluß. Der Behälter enthielt nicht viel. Ein Dutzend Bandkassetten, Papiere und schriftliche Aufzeichnungen, Arzneimittel und geräte, Lesespulen und einige kleine Artefakte, die die Ärztin in den langen Jahren der Einsamkeit vermutlich selbst hergestellt hatte. Vain schob alles wieder in den Behälter zurück. Gedankenvoll wog er ihn in der Hand. Ob der Inhalt ihn weiterbrachte? Er würde Fürka alles erklären. Dann würde sich vieles ändern. Der Kommandant war durchaus der Mann, der den Mut aufbrachte, Urteile zu revidieren, Irrtümer einzusehen. Fürka würde die Medikamente schicken. Der tragische Irrtum des Jahres 2339 würde sich nicht wiederholen. Die fünf Eingeborenen drehten sich plötzlich um und verließen einer nach dem anderen den Raum. Vain verstand: Sie wußten, daß er sein möglichstes tun würde, daß die Angelegenheit, die über Sein und Nichtsein dieser Rasse entschied, bei ihm in den besten Händen war. * Während sich die MELUSINE IV aus dem Schwerkraftfeld des Planeten Turanna löste und Kurs auf Hakulainens Stern nahm, durchforschte Vain Stück für Stück von dem, was Bajace Fugger hinterlassen hatte, die Frau, die jetzt, fernab von ihren Artgenossen, den letzten Schlaf schlief. Die ersten vier Bänder waren eine Dokumentation über die intelligenten Bewohner des Planeten Dido II. Lebensweise, Physiologie, Psychologie und Soziologie, Kultur und Fortpflanzung der Sechs waren mit minuziöser Genauigkeit, mit einer rührenden Akribie beschrieben, mit zahllosen Hinweisen auf
veranschaulichende Skizzen und graphischen Darstellungen versehen. Band V enthielt meteorologische Beobachtungen und Hinweise. Band VI war der planetaren Fauna gewidmet, Band VII der Flora. Band VIII begann mit den Worten: »Ich, Bajace Fugger, geboren 17. April 2321, Soutonville, Region Europa, Planet Terra, Sonne Sol, erzähle meine Geschichte…« Da ahnte Vain, daß seine Reise nicht ganz vergebens gewesen war. Erregt verfolgte er den Bericht, und seine Spannung wuchs, als er zu der Stelle gelangte, an der Bajace das Wiedersehen mit Gran Tauer schilderte, dem Manne, der sie nicht vergessen hatte und der, als er von Andromeda zurückkehrte, den Umweg über Hakulainens Stern wählte, um seine Jugendliebe wiederzusehen. Und dann hörte Vain die entscheidenden Worte, die Worte, um derentwegen er dieses Abenteuer mit all seinen Strapazen und Gefahren auf sich genommen hatte: »… Gran startete am 9. Februar, morgens um 6.22 Uhr Ortszeit. Und als er mich verließ, wußte weder er noch ich, daß wir einen Sohn haben würden…« Vain schaltete das Gerät aus. Schwer atmend lehnte er sich zurück. Er existierte also, oder er hatte zumindest existiert, der Erbe des »Andromedalebens«! Aber: Wer war es, wo lebte er, beziehungsweise wo hatte er gelebt? Mit zitternden Händen schaltete Vain wieder ein. Und dann hörte er den Namen… Eine Stunde war vergangen, und noch immer saß Vain Clerisse in der Pilotencouch und dachte nach. 5. Jurij Wlastinow ging gemächlich über den gepflegten Rasen seines Anwesens. Zwar waren die Gedanken, die ihn bewegten, von schwerwiegender Natur – von ihnen hing möglicherweise der Fortbestand der menschlichen Rasse ab. Aber Wlastinow hatte die
Erfahrung gemacht, daß die Lösung schwieriger Probleme oftmals schneller und besser gelang, wenn man sie gelassen anging. Außerdem hatte er Zeit. Die Mitteilung, die er seiner obersten Chefin machen mußte, konnte er nur mündlich überliefern. Dies war auch der Grund, warum er sie gebeten hatte, ihn persönlich aufzusuchen. Doch bis Leandra Leonides hier eintraf, würde noch einige Zeit vergehen. Der Chef des Physiologischen Instituts der GA ging in Gedanken die Fakten durch, die die Computerauswertung der letzten Analysen ergeben hatte. Diese Fakten lauteten: 1. Die Annahme, daß das sogenannte »Andromedaleben« – kurz AND genannt – in seiner Primärform harmlos ist, wird bestätigt. 2. Das AND lagert sich in einer nicht näher bestimmbaren submolekularen Form im Erbgut des Wirtskörpers ab. Auf diese Weise gelangt es nach der Zellteilung in den Körper des Nachkommen des Wirts. 3. Das AND macht eine Metamorphose durch und nimmt Körper und Persönlichkeit des zweiten Wirtes allmählich (im Laufe eines unbekannten Zeitraumes) in Besitz, ohne daß der Betroffene dessen gewahr wird. Das AND unterwirft den zweiten Wirt völlig seinem Ziel. 4. Dieses Ziel ist zunächst die körperliche Vereinigung des Wirts mit einem zweiten Menschen. In diesem Augenblick erfährt das AND eine zweite Metamorphose. Es verläßt den bzw. die Symbiosepartner und breitet sich in Kürze, nunmehr in der Form eines echten Virus, über die gesamte Galaxis aus. 5. Über die Folgen dieser Ausbreitung sind noch keine hundertprozentig sicheren Aussagen zu machen. Ziemlich sicher (E = 91,4%) ist mit einer totalen, unaufhaltbaren Rückführung allen organischen Lebens auf eine einzellige Lebensform zu rechnen, die formal etwa den Biomolekülen zur Zeit der Lebensentstehung auf Terra entsprechen mag. Die entscheidende Frage, überlegte Wlastinow, während er sich langsam der Umfriedung seines Grundstücks näherte, war: Existierte ein Nachkomme eines der beiden Andromedaheimkehrer? Die Logikauswertung besagte nein! Admiral Tauer wie auch Ardo Cuiper, der ehemalige Exobiologe, der irgendwo auf einem terranischen Kolonialplaneten ein Pensionärsdasein führte und
nur zu den Routineuntersuchungen auf Proxima Centauri erschien, waren nach ihrer Rückkehr sterilisiert worden. Vorher, in der kurzen Zeitspanne zwischen ihrem Eintreffen in der Milchstraße und ihrer Vasektomie, waren sie, wie es in dem Bericht hieß, »intersexuell nicht aktiv gewesen«. Hieß es im Bericht… Leandra jedoch schien Zweifel in die Authentizität der Recherchen zu setzen. * Der Arzt hatte sich bis auf fünf Meter der Mauer genähert. Ein plötzlich aufkommendes Gefühl der Unruhe ließ ihn stehenbleiben. Waren es die Sorgen, die sich nicht mehr verdrängen ließen, die die jähe Spannung ausgelöst hatten? Oder hatten seine sensiblen Sinne eine tatsächliche Gefahr gespürt, die sich, nicht greifbar, irgendwo über ihm zusammenzog? Im nächsten Augenblick schloß er geblendet die Augen. Vor ihm, jenseits der Mauer, erstrahlte für Sekundenbruchteile die ultrahelle Lichtbahn eines Lasergewehrs. Direkt vor ihm ertönte ein Schrei aus einem Gebüsch. Dann stürmte von links der Schütze heran, drang in den Strauch ein. Als Wlastinow, sich aus seiner Erstarrung lösend, an die Mauer trat und hinüberblickte, sah er, wie Peter Zanghellini, einer der Männer, die Leandra zu seinem, Wlastinows, persönlichen Schutz beordert hatte, wieder aus dem Gebüsch herauskam, einen unbekannten Mann hinter sich herzerrend. Von rechts trat ein zweiter Mann hinzu: Marc Woodruff, sein zweiter Bewacher. Zanghellini entriß dem Unbekannten einen Gegenstand und streckte ihn dem Arzt entgegen. »Ein Mikrolaser«, sagte er und entblößte grinsend sein kräftiges Raubtiergebiß, »zwei Sekunden später wären Sie tot gewesen, Prof!« Wlastinow starrte ihn schreckensbleich an. »Aber wer kann ein Interesse daran haben?« »Keine Ahnung«, meinte Zanghellini gleichmütig. »Moment…« Auf seinem Armbandgerät leuchtete eine rote Lampe. Der Agent drückte eine Taste, hielt das Gerät an sein Ohr und lauschte konzentriert. »Da haben wir’s«, sagte er zu dem Arzt. »Konzertierte Aktion,
würde ich sagen: Vor zwei Minuten hat eine Frau versucht, in den Hauptsafe Ihres Labors einzubrechen!« Wlastinows Gesicht verlor erneut die Farbe. »Hat man die Frau gefaßt?« »Man hat«, gab der Agent lakonisch zurück. »Kommen Sie, Prof, wir wollen uns das Liedchen anhören, was unsere beiden Vögel singen werden!« Aber bevor die Vögel »singen« konnten, starben sie. Sie trugen, wie die Obduktion ergab, sogenannte Mikrozersetzer unter der Haut. Als der oder die unbekannten Auftraggeber keine Vollzugsmeldungen erhalten hatten, hatten sie kaltblütig den Fernimpuls gezündet, der die beiden Agenten tötete. Noch als einige Stunden später Leandra und Wlastinow im »Pleistozän« saßen und sich von den mit echten Fellen bekleideten Kellnern »altterranische Spezialitäten« servieren ließen, war der Physiologe nicht fähig, zusammenhängend zu berichten. Doch Leandra war längst informiert. »Warum, glauben Sie, Professor, wollte man Sie töten?« fragte sie, während sie die Patates alla natura zerteilte und mit echter Kuhbutter bestrich. Wlastinow zuckte hilflos die Schultern. »Ich habe keine Feinde«, antwortete er. Leandra schüttelte den Kopf über so viel Naivität. »Jurij Sergejewitsch«, mahnte sie, »überlegen Sie doch einmal: Sie waren im Begriff, uns etwas mitzuteilen, etwas von ungeheurer Bedeutung, etwas, das unter Umständen über den Fortbestand unserer Rasse entscheidet. Ein Mann versucht, Sie zu töten. Die Unterlagen über das, was Sie mir mitteilen wollten, befinden sich in Ihrem Safe. Eine Frau versucht, den Safe aufzubrechen, der Unterlagen habhaft zu werden.« »Sie meinen…«, stammelte der Physiologe. Leandra nickte. »Jemand hat großes Interesse daran, daß Ihre Entdeckung nicht in unsere Hände gerät. Nur – wer ist eigentlich über die Details informiert, außer Ihnen, Mackensen und Földek?« Wlastinow blickte auf. »Niemand«, sagt er. »Übrigens, woher wissen Sie…?« Die Frau tupfte sich mit einer Serviette den Mund. Dann winkte sie dem Ober, der in der Nähe stand, und bestellte eine Flasche Thori-Wasser.
Als der Mann gegangen ist, hob sie ihren Armbandsender an die Lippen und sprach halblaut in das winzige Mikrophon: »Ed, nehmen Sie sich den Ober Nr. 9 vor. Vielleicht hilft er uns weiter.« Wlastinow, der verständnislos zugehört hatte, fragte: »Nr. 9, ist das unserer? Aber…« »Die Servierer dieses Hauses bekommen dreitausend im Monat. Es sind Spitzenkräfte in ihrer Branche. Dieser hier wußte nicht, daß das Haus kein Thori-Wasser führt und noch nie geführt hat. Außerdem kam mir sein Fell an einer Seite etwas deformiert vor. Wir werden sehen.« Aber Nr. 9 kam nicht zurück. Als man ihn darüber belehrt hatte, daß man hier kein Thori-Wasser führte, war er mißtrauisch geworden und hatte es vorgezogen, zu verschwinden. Die Geschäftsführerin erschien und entschuldigte sich. Mr. Turek, der Etatmäßige, wäre krank, und da hätten sie kurzfristig… Leandra winkte ab. »Ich weiß«, sagte sie müde. »Bringen Sie uns zwei Kaffee, und schauen Sie nach, ob der ›Kranke‹ noch lebt!« »Nun wissen Sie, wie ernst es ist«, wandte sich die Chefin der GA, nachdem sich die Direktorin bestürzt zurückgezogen hatte, wieder an ihren Gast, der mit geweiteten Augen die Geschehnisse der letzten Minuten verfolgt hatte. »Wir müssen herausfinden, wer ein so übergroßes Interesse hat und warum er es hat. Und das«, fügte sie nach einer Weile hinzu, »dürfte recht schwierig sein. Um aber Ihre Frage von vorhin zu beantworten: Ich erhielt die Nachricht von dem, was geschehen war, als ich mich auf dem Rückflug von Sirius befand, und erteilte sofort meine Instruktionen. Der Rest war Routine. Allerdings sind Ihre beiden Assistenten weiß!« »Und wer ist schwarz?« fragte Wlastinow. »Oh –«, machte Leandra, »Sie holen auf, Professor! Schwarz ist niemand bei Ihnen. In Ihrem Labor ist vermutlich eine Abhöranlage.« »Und«, erregte sich der Arzt, »warum entfernen Sie sie nicht?« »Wir wollen die Gegenseite nicht zu früh vergraulen«, erklärte Leandra geduldig. Wlastinow bedachte die Frau mit einem Blick voller Bewunderung, mit jener Bewunderung freilich, mit der man die Eleganz und die latente Energie eines gefährlichen Raubtieres
betrachtet. Er bewunderte die Ruhe, mit der sich die Agentin angesichts der tödlichen Gefahr, die auf die Menschheit zukam, sich ihrer Mahlzeit widmete. Er konnte nicht wissen, daß er sich in einem Irrtum befand. Leandra hatte innerhalb weniger Tage zwei Informationen erhalten, von denen jede für sich bereits dazu angetan war, ihr schlaflose Nächte zu bereiten. Zusammengenommen potenzierten sie sich zu einer ungeheuren Gefahr. Vain Clerisse hatte sich endlich gemeldet. Der ÜL-Spruch, den er gesandt hatte, bestand aus zwei Ziffern, die nach einem Schlüssel, der nur Leandra und Jokko Tayler bekannt war, im Klartext bedeuteten, daß ein Nachkomme eines der Andromedaheimkehrer existiert hatte und möglicherweise noch existierte. Mehr konnte Vain aus Sicherheitsgründen nicht mitteilen. Niemand durfte erfahren, wer derjenige war, der das tödliche Virus aus fremder Galaxis in sich trug, und daß man ihm auf der Spur war, am allerwenigsten der Betreffende selbst. Auf der anderen Seite war es unbedingt notwendig gewesen, daß Vain einen Kodespruch gesandt hatte. Von Hakulainens Stern bis Proxima Centauri war ein weiter Weg. Wenn Vain unterwegs etwas zustieß, war alles umsonst gewesen. Die zweite Information war von Wlastinow und hatte die erste in geradezu makabrer Weise ergänzt. Wlastinow hatte herausgefunden, was es mit dem sogenannten Andromedaleben auf sich hatte. Das AND würde in dem Augenblick frei werden, in dem sein zweiter Wirt eine körperliche Vereinigung mit einem anderen Menschen einging. Und dies würde gleichbedeutend sein mit dem Ende allen Lebens innerhalb der Milchstraße. Der Physiologe hatte glaubhaft versichert, daß absolut nichts das Mordvirus auf seinem Wege zur Vernichtung allen individuellen Lebens aufhalten könnte. Und der zweite Wirt existierte möglicherweise! Wer mochte es sein? War es ein Bekannter oder ein Unbekannter, eine hochgestellte und einflußreiche Persönlichkeit, oder war es ein bedeutungsloses Individuum, dessen Leben nur einen statistischen Wert besaß? Leandra hatte einen bestimmten Verdacht. Zunächst mußte jedoch die Rückkehr Vains abgewartet werden. Dann aber hieß es handeln, und zwar schnell und mit Präzision.
Eine andere Frage war, ob noch jemand die Finger in diesem Spiel hatte, in dem es um den höchsten Einsatz ging? Wer z. B. stand hinter der Peripheren Gruppe? Waren die Drahtzieher dieser Organisation politische Opportunisten, die die prekäre Situation der GA zum Umsturz ausnutzen wollten? Oder waren die Hintermänner selbst nur Marionetten, Marionetten in der Hand einer extragalaktischen Lebensform, die den Untergang der Milchstraße beschlossen hatte? Diese waren Leandras Gedanken, und nur die harte Schule, durch die sie gegangen war, machte es möglich, daß sie, obwohl sie sich innerlich mit einem Wirrwarr von Spekulationen und Gedankengängen auseinandersetzte, nach außen hin kühl und unbeteiligt wirkte. Eine von Leandras Tugenden war die Fähigkeit, Gedankengänge zu beenden, wenn sie fruchtlos wurden. Dieser Augenblick war gekommen. Während die oberste Chefin der GA ihren Kaffee trank, sich das Konfekt munden ließ und die Fragen des verstörten Physiologen beantwortete, wanderten ihre Gedanken in ein anderes Assoziationsfeld: Tore Vigart… Leandra hatte viele Männer gekannt das brachte ihr Beruf mit sich. Doch niemals hatte sie einem von ihnen mehr als nur berufliches Interesse entgegengebracht. Mit einer Ausnahme vielleicht: Vain Clerisse. Aber Leandra war sich über ihre Gefühle gegenüber ihrem Staragenten nicht im Klaren. Vieles an Vain zog sie an: seine Gelassenheit, die Geradheit und Klarheit seiner ethischen Kategorien, von denen ihn fünfzehn Jahre Dienst in der Galaktischen Abwehr nicht hatten abbringen können. Aber Vain war Agent. Und Leandra hatte sich geschworen, niemals einen Agenten zu heiraten. Es genügte ihrer Meinung nach, wenn ein Familienmitglied einer Tätigkeit nachging, bei der man nie genau wußte, ob es den nächsten Tag noch erleben würde. Auf der anderen Seite erfüllte Tore Vigart alle Voraussetzungen, die Leandras Ansicht nach ein Mann erfüllen konnte: Er war intelligent, erfolgreich, strebsam und selbstsicher und er besaß jene Ausstrahlung – ein Gemisch von jungenhafter Natürlichkeit und Vitalität, von Ritterlichkeit und aggressiver Erotik –, der eine
Frau auch im 24. Jahrhundert nur schwer widerstehen konnte. War Tore der Mann, an dessen Seite sie sich ein ruhigeres, »bürgerliches« Leben vorstellen konnte? Sie hatten sich in letzter Zeit öfter gesehen. Kein Zweifel: Sie waren sich nähergekommen. Wie lange, fragte sie sich, würde sie dem drängenden Werben des jungen Flottenoffiziers noch widerstehen können? Und doch war da etwas, was sie zögern ließ, sich ihm ganz zu öffnen. Etwas, das sich rationell nicht erfassen ließ, etwas, das mit dem Worte »Sprunghaftigkeit« oder »Unberechenbarkeit« vielleicht noch am ehesten umschrieben werden konnte. Dennoch – Leandra sah auf die Uhr: Sie freute sich auf den heutigen Abend. Sie wollten zusammen die Hängenden Gärten der Semiramis besuchen. Die Hängenden Gärten waren allerdings ein Vergnügungspark, der in Pllos’ Metropole fast ausschließlich von Raumfahrern besucht wurde, von Raumfahrern, die sich Abwechslung erhofften von monate- oder jahrelangem Dienst in der Flotte. Ob dieser Ort der geeignete Hintergrund war für eine Vertiefung ihrer Beziehung? Und doch konnte sie sich eines prickelnden Gefühls nicht erwehren, wenn sie an Tore dachte und an das, was dieser Abend vielleicht bringen würde. In diesem Augenblick leuchtete an ihrem Armbandgerät die Kontrollampe auf. Tore! Leandra drückte den Knopf und hob den Miniempfänger an ihr Ohr. »Fernrelais Alpha Centauri B 4«, klang eine mechanische Stimme auf. »Spruch von Al Doppelpunkt Eintreffe Terra Spaceport C 760041 M.« Erregt rechnete Leandra die verschlüsselte Zeitangabe im Kopf um. 12.07., 23.15 Uhr Ortszeit das war morgen abend! In knapp vierundzwanzig Stunden würde sie wissen, WER der AND-Träger war… * Leandra hatte Wlastinow nach Hause gebracht. Dann war sie mit ihrem halbautomatischen Gleiter ins Hauptquartier der GA gefahren. Jokko erwartete sie.
»Was Neues?« fragte Leandra kurz, während sie die optische Speicherung überflog. »Das Übliche, wie du siehst«, antwortete Jokko gleichmütig. »Und das hier?« Die GA-Chefin deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle. Dort stand: »A 128, St-Quentin-System, meldet: Die seit Monaten beobachteten Liberalisierungsversuche der Original-St-Quentiner werden von einer Gruppe St-Quentin-Terraner gesteuert. Hinweise häufen sich, daß diese Organisation mit der Peripheren Gruppe in Verbindung steht. In der Hauptstadt Wednesday-Port herrscht seit gestern Ausnahmezustand. Es kam zu erbitterten Gefechten zwischen den gegnerischen Parteien mit meist tödlichem Ausgang.« Nachdenklich blickte Leandra auf den Monitor. »Die Periphere Gruppe«, murmelte sie. »Wir müssen uns der Sache annehmen, Jokko.« Der Abwehrkoordinator nickte. »Soll ich…?« »Noch nicht!« wehrte die Frau ab. »Wir wollen zunächst Vain hören. Er trifft morgen abend auf Terra ein.« In Jokkos Augen blitzte es. Er war bereits unterrichtet, daß Leandra tags zuvor einen Funkspruch erhalten hatte und welchen Wortlaut er gehabt hatte. Auch der Spruch, der Vains Ankunft auf Terra ankündigte, war abgefangen worden. Jokko hatte ihn dechiffriert. Warum informierte Leandra ihn nicht? Hatte sie Verdacht geschöpft? Jokko wurde es heiß. Es wurde Zeit, daß die Dinge zu einem Abschluß kamen. Vor seinem geistigen Auge ließ er die verschiedenen Aktionen, in denen er für die Periphere Gruppe tätig gewesen war, abrollen, um etwaige neuralgische Punkte festzustellen. Da war vor allem die Geschichte mit dem Anti-Hypnotin. Um ein Haar wäre er damals als derjenige entlarvt worden, der die Geheimformel verraten hatte. Nur durch einen blitzschnell inszenierten Anschlag auf sich selbst, bei dem er sein eigenes Leben riskiert hatte, war es ihm gelungen, den Verdacht von sich abzulenken. Dennoch hatte er eine Zeitlang gefürchtet, daß Leandra sein Manöver durchschaut hätte. Jokko versuchte sich vorzustellen, was sie in diesem Falle getan hätte. Sie hätte darauf gewartet, daß er einen Fehler machen
würde. Außerdem hätte sie alle wichtigen Informationen von ihm ferngehalten, einerlei, ob sie das Vorgehen der Peripheren Gruppe oder die Entwicklung des AND-Problems betrafen. Es sah so aus, als ob Leandra bereits nach dieser Devise handelte. »Al kommt nach Terra?« fragte er gedehnt. Leandra deutete auf eine Sternenkarte. »Damit will er uns die Möglichkeit geben, ihm entgegenzukommen. Anscheinend hält er es für notwendig. Er hat erfahren, daß ein Nachkomme Tauers oder Cuipers zumindest existiert hat. Vermutlich will er uns den Namen so schnell wie möglich mitteilen.« Jokko atmete auf. Wenn Leandra Verdacht geschöpft hätte, hätte sie ihm diese Information wohl kaum weitergegeben. Er fragte: »Und was hat Wlastinow inzwischen herausgefunden?« Leandra sagte es ihm. Jokko pfiff durch die Zähne. »So ist das also. Verdammt! Und Clerisse kennt den Mann? Hast du einen Verdacht, wer es sein könnte?« Leandra sah ihn eigentümlich an. »Jeder von uns, Jokko«, sagte sie langsam. »Jeder von uns kann der AND-Träger sein. Du, Jokko, Wlastinow – und ich selbst…!« Der Mann schüttelte den Kopf. »Bei mir ist das nicht gut möglich.« Er lachte etwas gezwungen. »Ich weiß, wer meine Eltern waren, sie sind archiviert.« Die GA-Chefin lächelte mitleidig. »Wie lange bist du eigentlich bei der GA? Man meint, du hast noch nie etwas von Fälschungen gehört.« Der Agent blickte unruhig umher. »Wlastinow hat es deutlich genug ausgedrückt«, fuhr Leandra fort, »der Betroffene weiß nicht, daß er beherrscht wird. Nun«, sie sah auf das Chronometer, »es wird Zeit. Morgen Abend wissen wir mehr…« * Dreiundzwanzig Stunden später landeten sie mit Jokkos privater Raumjacht auf Cape Armstrong, dem kleinsten der drei Raumhäfen Terras. Während sie durch die Schleuse des Raumbootes den Schacht
betraten und auf dem unterirdischen Mobilband zum Empfangsraum fuhren, wurde Jokko erneut von Zweifeln befallen. Warum nahm sie ihn überhaupt mit? Weil sie ihm vertraute? Es konnte aber auch bedeuten, daß sie ihn als lebendes Schutzschild dabeihaben wollte; er würde kaum eine Bombe in dem Fahrzeug installieren, in dem er selbst saß! Doch dann warf er die Gedanken von sich. Er sah bereits Gespenster! Er mußte sich zusammennehmen, durfte durch seine Nervosität nicht die Aktion gefährden. Zehn Minuten später traten sie durch die offene Flügeltür in den Empfangs- und Warteraum. Vain saß bereits an der Bar. »Hallo!« sagte er und hob die Rechte zu einem nachlässigen Gruß. Leandra betrachtete ihn eindringlich. Er hatte einen angestrengten Zug um den Mund, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Er mußte einiges erlebt haben, dachte sie. Auf dem sich über Tage erstreckenden Rückflug, bei dem er keinen Finger hatte krumm zu machen brauchen, hätte er genügend Zeit gehabt, sich zu regenerieren. Leandra stellte verwundert fest, daß sie sich Sorgen um Vain gemacht hatte. »Wir wollen uns nicht mit langen Vorreden aufhalten«, sagte sie kühler als beabsichtigt, »können wir deinen Bericht hören?« Vain sah sie an. Warum, in drei Teufels Namen, hatte sie den Koordinator mitgebracht? War sie sich so sicher, daß Tauers Sohn nicht Jokko Tayler war? Was bezweckte sie mit diesem Manöver? Er begann mit seinem Bericht… Leandra und Jokko hörten schweigend zu. Dann, als der Bericht sich seinem Ende näherte, begann die Frau Zwischenfragen zu stellen. Vains scharfen Augen entging nicht, daß sie hin und wieder auf ihr Chronometer blickte, und allmählich merkte er, wie Leandra systematisch das Gespräch verzögerte. Sie schob die entscheidende Frage hinaus. Gerade, als er über den Sinn dieser Taktik nachzudenken begann, knackte es plötzlich in dem Lautsprecher in der Decke, und eine weibliche Stimme sagte: »Achtung, der Besitzer der Raumjacht YK-0174-07 wird gebeten, die Raumhafendirektion aufzusuchen, Zimmer Nr. 6. in der Vorhalle wartet ein Dienstrobot, der Sie hinführen wird. Ich wiederhole…« Jokko runzelte die Stirn. »Was wollen die…?« Leandra zuckte gleichmütig die Schultern.
»Vielleicht stehst du im Parkverbot?« meinte Vain grinsend. Jokko bedachte ihn mit einem giftigen Blick, dann erhob er sich und entfernte sich mit großen Schritten aus der Halle. Leandra beugte sich vor. »Wer ist es, Vain?« Vain begriff, er öffnete den Mund. Da summte Leandras Armbandgerät. »Augenblick!« sagte sie, hob das Gerät an das Ohr und drückte eine Taste. Vain beobachtete, wie sich ihr Gesicht in der nächsten Sekunde entspannte. »Oh, Tore!« sagte sie, und ein Lächeln glitt über ihre Züge. Sie lauschte konzentriert. »Es tut mir so leid«, sagte sie nach einer Weile. »Aber es ist etwas dazwischengekommen. Ja – Vain Clerisse ist zurückgekehrt. Du mußt verstehen…« Der Gesprächspartner am anderen Ende der Verbindung schien sie unterbrochen zu haben. Vain sah, wie sie erneut schweigend zuhörte. Auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte. »Tore, du weißt, wie schrecklich leid es mir tut. Ich habe mich riesig auf den heutigen Abend gefreut! In diesem Falle jedoch…« Langsam breitete sich auf ihrem schönen Gesicht Resignation, ja Enttäuschung aus. »Könnten wir nicht morgen…?« Plötzlich hellten sich ihre Züge wieder auf. »Gut, in Ordnung, ja, ich freue mich.« Vain blickte zur Tür. Jokko Tayler kam zurück. »… also«, sagte Leandra, »bis morgen!« »Stellt euch vor«, sagte Jokko, und seine dunklen Augen funkelten wütend. »Jemand hat unsere Jacht gerammt! Voll drauf! Sie haben ihn, das heißt, er hat sich selbst bei der Direktion gemeldet. Es gibt doch noch anständige Menschen.« Dabei lächelte er eigentümlich. Leandra sah Vain seltsam an. »Also, wie heißt der Mann oder die Frau?« »Der Mann«, sagte Vain und blies den Rauch seiner Zigarette aus, die er sich soeben angezündet hatte, »heißt oder hieß: Igor Fugger.« Die beiden starrten ihn an. »Hieß?« echote Jokko. »Es ist also nicht sicher, daß er lebt?« »Wie ich schon sagte«, erwiderte Vain, »Bajace wußte nicht, ob außer ihr und denen, die sich mit ihr zusammen im Beiboot befunden hatten, noch jemand gerettet worden war. Sie rechnete
damit, daß ihr Sohn zusammen mit den anderen den Tod gefunden hatte.« »Gibt es unter diesen Umständen überhaupt eine Möglichkeit, daß noch weitere Personen gerettet werden konnten?« fragte der Koordinator. Vain zögerte einen Augenblick. »Es gibt eine. Das Frachtschiff besaß – wie ich nach meiner Rückkehr auf Haku II erfuhr – zwei Beiboote. Allerdings«, fügte er hinzu, »hat man niemals von einer Rettungsaktion zur fraglichen Zeit in diesem System gehört. Und von den Sechs habe ich auch keinerlei diesbezügliche Mitteilungen erhalten. Es ist überhaupt seltsam, daß die Eingeborenen mir nichts davon mitteilten, daß Bajace einen Sohn gehabt hatte. Sie müssen es ja in ihrem Gedächtnis gelesen haben.« »Ich denke«, sagte Leandra plötzlich, »wir fahren ins Hotel und regenerieren uns ein wenig. Wir können heute nacht doch nichts mehr erreichen. Morgen früh leiten wir die Fahndung nach Igor Fugger ein.« Während sie im Autogleiter durch die Stadt fuhren, erfuhr Vain, was Wlastinow herausgefunden hatte. Er sprach kein Wort. Erst als sie sich verabschiedeten, sagte er: »Während ihr euch um die Fahndung kümmert, werde ich Admiral Tauer einen Besuch abstatten…« 6. Er war nur noch äußerlich ein Mensch. Innerlich war er etwas unendlich Fremdes, etwas, das mit menschlichen Begriffen weder zu erfassen noch zu beschreiben war. Nicht nur mit menschlichen Begriffen. Innerhalb der gesamten unbeschreiblich vielfältigen Welt der Milchstraße mit ihren unzähligen bewohnten Sternensystemen gab es keine einzige denkende oder fühlende Art, dessen Eindrucksmechanismen dieses Fremde zu verarbeiten vermochten. Es war etwas, das von außerhalb der Galaxis stammte, etwas, das die unvorstellbare Entfernung von zwei Millionen Lichtjahren überbrückt hatte – im Körper eines Menschen. Dieses Etwas war das Andromedaleben.
Es befand sich in der Hülle eines Menschen und wartete auf seine Chance. Es hatte Zeit – Zeit und Raum waren für diese kosmische Form unbekannte Kategorien. Und doch »spürte« oder »wußte« es auf eine unbegreifliche Art, daß der Augenblick nicht mehr fern war, da es sein Ziel erreichen würde: die Verwandlung einer Galaxis… Denn dies schien die einzige Kategorie des Andromedalebens zu sein: Verwandlung – Transformation. Einmal aus seiner Hülle befreit, würde es diese Transformation einleiten und sie unbeirrbar und unaufhaltsam vollenden; die Transformation jeglichen Lebens in Andromedaleben. Natürlich würde dann jedes individuelle und jedes Gruppenbewußtsein aufhören zu existieren. Bewußtsein kannte das Andromedaleben nicht. Folgerichtig bedeutete das auch das Ende der Intelligenz. Ob überhaupt irgendeine Form geistiger Aktivität bestand, konnte nicht erkannt werden. Nicht einmal die Kriterien des Lebens selbst hatte das Andromedaleben mit dem Leben in der Milchstraße gemein: Reproduktion und Stoffwechsel. An seine Stelle trat die Transformation. Aber auch die Begriffe wie Metamorphose und andere, die die terranischen Physiologen gebrauchten, waren nichts als Hilfskonstruktionen des Unbeschreiblichen, so wie die Atommodelle des 20. Jahrhunderts Hilfskonstruktionen des wirklichen Atoms waren. Was dann geschehen würde, wenn einmal das organische Leben seine körperliche und geistige Existenz verloren hatte, war unbekannt – auch dem Andromedaleben selbst. Es lebte und handelte ja nicht aus den Kategorien des Sinnes und des Zwecks oder der Kausalität heraus, es wirkte nur aus der Kategorie der Transformation. Aber noch war es nicht soweit. Noch existierte es in menschlicher Form. Allerdings hatte es diese Hülle von den Nervenfasern über die Muskeln bis hin zu den Quadrillionen von Atomen in den elektrischen Potentialen seiner Geistesfunktion in Besitz genommen. Das Etwas, das wie ein Mensch aussah und doch keiner mehr war, drückte eine Taste des vor ihm stehenden Schaltpultes. Ein Bildschirm erhellte sich, und der Kopf eines Mannes erschien. »Es ist soweit«, sagte der menschliche Mund des Etwas. »Sie kennen Ihre Aufgabe?«
»Ja, ich kenne meine Aufgabe«, antwortete der Mann. Er schien zu zögern. »Sonst noch was?« »Wer sind Sie?« fragte der andere. »Ich möchte einmal Ihr Gesicht sehen!« Der menschliche Mund verzog sich zu einem humorlosen Grinsen. »Sie werden mich noch sehen!« sagte er mit eigenartiger Betonung. Die Hand trennte die Verbindung. * Jokko Tayler hielt die Meldung in der Hand, die vor einer Stunde gekommen war. Sie war von A128 und lautete im Klartext: »Die Situation auf STQ ist in ein entscheidendes Stadium getreten. Die ST-Quentiner haben mit Waffengewalt die terranische Regierung gestürzt und eine einheimische Militärregierung gebildet. Es ist uns gelungen, einen der terranischen Hintermänner des Putsches, einen Mann der Peripheren Gruppe, umzudrehen! Im Verhör fiel von seiner Seite der Begriff AND im Zusammenhang mit der Peripheren Gruppe. Bitte um weitere Anweisungen.« Der Mann trat an das breite Panoramafenster. Sol ging unter, sandte einen Fächer orangerotgestufter Strahlen über den westlichen Himmel. Im Osten war es dunkel. Dort lag der Raumhafen. Hinter den vorgelagerten Hochbauten der Stadtadministration schoß plötzlich ein Leuchtpunkt in die Höhe, zog einen Feuerschweif hinter sich her und verschwand im tintenblauen Firmament. Leandras Raumschiff. Sie war sofort geflogen, als sie die Meldung gelesen hatte. Jokko lächelte sardonisch. Auf St-Quentin IV würde man sie gebührend empfangen! Er war allein, hatte den Rücken frei. Er konnte handeln. Das Geschehen trat in seine entscheidende Phase. Bald würde er in der Position sitzen, die ihm gebührte: Herrscher über ein Sternenreich! Was würden sie ihm anbieten? Die Perseus-Assoziation? – »Guardinis Gasse«? Oder gar den Sirius-Sektor? – Nein, diese Schaltstelle des riesigen terranischen Einflußgebietes würden sie nicht aus der Hand geben. Später einmal… Nun, das hatte Zeit!
Jokko war kein Träumer, kein Phantast. Er war ein Mensch, der immer zuerst das Nächstliegende tat. Er griff in die Taschen seines Anzuges, holte ein paar Kassetten heraus und drückte sie in den Projektor. Dann rief er die Agenten der terranischen Filiale der GA und befahl ihnen, Vain Clerisse festzusetzen, bei Widerstand zu erschießen. Die Agenten verlangten Leandras Bestätigung, worauf Jokko darauf hinwies, daß – da sich die Chefin der Abwehr im Einsatz auf St-Quentin befand - -er selbst die volle Befehlsgewalt innehätte. Doch die Festsetzung eines Topagenten wie Vain Clerisse war eine so schwerwiegende Aktion, daß sich mehrere Agenten weigerten, den Befehl auszuführen. Darauf war Jokko vorbereitet. Er forderte die Agenten auf, auf Sichtfrequenz zu gehen. Dann schaltete er das Bildgerät ein und ließ die Kassetten ablaufen. Es waren meisterhaft gefälschte Dokumente und Filme, aus denen hervorging, daß Vain ein Hochverräter war, der der Peripheren Gruppe geheime politische und strategische Unterlagen in die Hand gespielt und mit Vertretern der gegnerischen Organisation geheime Verhandlungen geführt hatte, und daß er im Begriff stand, wichtige Konstruktionsdaten über das YÜL-Triebwerk zu verraten, das wesentlich dazu beigetragen hatte, den Kampf um die Raumüberlegenheit innerhalb der Galaxis zugunsten der Terraner zu entscheiden. Die letzte Anschuldigung war die schwerste. Sie allein war ausreichend, um bei Widersetzung oder Fluchtgefahr von Desintegrationswaffen Gebrauch zu machen. Nunmehr war es wahrscheinlich, daß Clerisse im Kampf oder »in Notwehr« getötet wurde. Wenn nicht, schadete es auch nichts. Hauptsache, er saß erst einmal fest. Er, Jokko, würde dann schon Mittel und Wege finden, den Verhaßten aus dem Wege zu räumen. Die Agenten waren beeindruckt. Sie hatten keine Einwände mehr. Jokko schaltete ab und lehnte sich aufatmend zurück. Die Jagd hatte begonnen. Der Abwehrkoordinator überprüfte seinen Mikrolaser. Dann sah er auf das Chronometer. Es war 09.28 Uhr Ortszeit. Nun war es nur noch eine Frage von Stunden. Wenn das Signal kam, würden die Kommandos der Peripheren Gruppe auf mehr als 200 Planeten zugleich losschlagen. Dies würde die terranische Flotte – die ohnehin seit
dem Gassama-Frieden, dem Abschluß des letzten großen interstellaren Krieges, stark reduziert worden war – aufsplittern und an die Unruheherde binden. Die Revolutionsflotte würde den Geheimplaneten verlassen (niemand wußte, wo dieser sich befand) und die ahnungslosen, in planetare Auseinandersetzungen verwickelten Regierungsschiffe ausschalten. Ein Geschwader würde in den Siriussektor einbrechen, die sogenannte Moderatorregierung entmachten und diese Schaltstelle der riesigen terrano-galaktischen Sternenföderation übernehmen. Der Plan war unfehlbar. Er basierte auf dem politischen System der Föderation. Jedes planetare Reich war eine souveräne Welt, ein selbständiges Imperium, in dessen innere Angelegenheiten sich niemand einmischen durfte, solange nicht die menschlichen Grundrechte bedroht waren. War dies der Fall, trat allerdings die terranische Flotte in Aktion, die an Ort und Stelle dafür sorgte, daß die Dinge wieder ins Lot kamen. Folgerichtig im Sinne dieser demokratischen Ordnung setzte sich die Flotte aus Schiffen zusammen, die mit ihren Besatzungen von den verschiedensten Planeten des terranischen Einflußgebietes stammten. Und hierauf fußte der Plan der Revolutionäre. Es war eine selbstverständliche und natürliche Tatsache, daß die zahllosen bewohnten Welten innerhalb des terranischen Einflußgebietes hinsichtlich ihres Lebensstandards immense Gradunterschiede aufwiesen. Die Bewohner der »Entwicklungsplaneten«, ob es sich nun um Dschungelwelten oder um arktische Welten handelte, nahmen diese Tatsachen hin und versuchten aus eigener Kraft, mit mehr oder minder großem Erfolg, allmählich eine Änderung herbeizuführen. Diese gewissermaßen zwangsläufige Zufriedenheit sowohl der Terraner als auch der übrigen galaktischen Intelligenzformen würde sofort ins Wanken geraten, wenn jemand den Betroffenen entscheidende Verbesserungen ihrer Situation versprach und diese Versprechungen begründete. Und genau das würde die Periphere Gruppe tun. Das entsprechende Propagandamaterial war vorbereitet. Man würde den Betreffenden mit Wort und Bild überzeugend demonstrieren, wie sehr eine falsche Organisation und Wirtschaftspolitik der terranischen Moderatorregierung schuld an
der rückständigen Lage ihrer Planeten wäre. Man würde ihnen »beweisen«, daß Terra gerade durch sein System des souveränen Föderalismus bewußt jede Welt ihrem eigenen Schicksal überlassen hätte, um die »Monopolstellung ihrer Feudalplaneten nicht zu gefährden«. Und man würde natürlich zeigen, wie man es selbst besser machen würde: durch Schwerpunktbildung in den Sektoren, Überwachung und Förderung aller Welten, durch »Kontrolle und Verteilung der galaktischen Güter«. Freilich würde man die Tatsache verschweigen, daß ein solcherart getarnter galaktischer Kommunismus niemals zum Erfolg führen konnte, weil sich einmal die wohlhabenden Planeten zur Wehr setzen würden, zum anderen, weil die organisatorischen und politischen Schwierigkeiten gar nicht zu bewältigen waren. Eine gewaltsame wirtschaftliche Gleichschaltung würde fehlschlagen; das hatte die Vergangenheit nicht nur einmal bewiesen. Doch diejenigen, die an der Spitze der Peripheren Gruppe standen, zweifelten keinen Augenblick daran, daß die Aussicht auf eine drastische Aufbesserung ihrer Lebensbedingungen jene »unterentwickelten« Gesellschaften den gefährlichen Konsequenzen des neuen politischen Systems gegenüber blind machen würde. Sie würden sich mit Haut und Haaren der neuen Ideologie verschreiben. Dies aber würde eine totale Aufsplitterung der galaktischen Flotte, eine immense Herabsetzung ihrer Schlagkraft nach sich ziehen. Es würde zu keinen zusammenhängenden Unternehmungen mehr kommen. Der Rest war einfach: Entmachtung des Flottenoberkommandos, Übernahme der Befehlsstellen durch Mitglieder der Peripheren Gruppe, ideologische Infiltration der Flottenangehörigen. Um das riesige Reich unter Kontrolle halten zu können, würden dann Sektorregierungen gebildet werden, die der Zentrale auf Sirius direkt unterstanden. Die Leitung einer dieser Sektorregierungen würde ihm, Jokko Tayler, übertragen werden. Jokko ging zur Schrankwand. Aus einem Fach nahm er seinen Hygienekoffer. Er öffnete ihn und entnahm ihm eine Zahnbürste. Mit geübtem Griff klinkte er die Elektrik ab und schüttete aus dem hohlen Schaftende eine winzige Kapsel heraus. Behutsam öffnete
er sie und hielt dann ein mikroskopisch kleines Gebilde auf der Hand. Jokko warf die Kapsel achtlos in den Abfallschlucker. Sinnend betrachtete er den Mikro-Speicher-Sender. Hinter ihm öffnete sich die Tür, und jemand glitt lautlos ins Zimmer. Eine wohlbekannte Stimme sagte ruhig: »Laß dich nicht stören, Jokko…!« Der eiskalte Schreck, der Jokko Tayler durchfuhr, verringerte seine Reaktionsgeschwindigkeit nur mäßig. Noch während er herumfuhr, griff seine Hand zum Mikrolaser. Aber als er das Energiefeld in der Mündung des Desintegrators sah, den Leandra auf ihn gerichtet hielt, sank seine Hand herunter. Quälend und zeitlupenhaft drang die Erkenntnis in sein Bewußtsein: Sie hatte ihn überlistet, und der Ausdruck ihres Gesichts verriet ihm, daß sie genug wußte. »Dein Raumschiff…«, sagte er tonlos. »Ich sah es…« »Haben deine unfehlbaren Augen nicht erkannt«, Leandras Stimme war voll beißender Ironie, »daß A39 an meiner Stelle im Cockpit saß?« In Jokkos weißes Gesicht schoß flammende Röte, die Röte ohnmächtiger Wut. »Was willst du…?« Die Chefin der GA schlug mit dem Fuß die Tür hinter sich zu »Erstens: die P-Gruppe vor einer Dummheit bewahren, zweitens: das Leben einer Galaxis erhalten, und drittens: dich, Jokko, von einem Parasiten befreien.« Jokkos Gesicht wechselte erneut die Farbe. »Was soll das heißen?« Leandra betrachtete ihn, wie man eine Bestie betrachtet, deren Tötungsabsicht man kennt und unterbinden muß, die man jedoch als artgebundenen Trieb konzediert. »Erinnerst du dich? Wlastinow sagte: Der Betroffene weiß es nicht!« Eine eiskalte Hand griff nach dem Herzen des Mannes. Sekunden brauchte er, um die Bedeutung von Leandras Worten voll zu erfassen. Dann schrie er: »Nein! Das ist nicht wahr! Ich habe damit nichts zu tun!« Schweiß stand auf seiner Stirn. »Woher willst du überhaupt wissen…?« In Leandras Blick mischte sich Mitleid. Mitleid und Abscheu. Dann sagte sie müde: »Ich habe es seit langem gewußt. Ich meine, daß du gegen uns
arbeitest. Du glaubtest, so vorsichtig zu sein. Du warst es sogar. Es war dein Pech, daß du ausgerechnet A128 ersetzen mußtest, um auf St-Quentin IV deine U-Organisation aufzubauen. Pithon Markos war ein Jugendfreund von mir. Wir kannten uns so gut wie Geschwister. Das konntest du nicht wissen. Damals fiel mir an den Routinemeldungen von A128 etwas auf. Ich wußte noch nicht genau, was. Irgend etwas in der Art, wie er den Kode verwandte, ein Unterschied in der ›Funkstilistik‹, um es einmal so auszudrücken. Pithon pflegte mir in einer besonders verschlüsselten Art jedes Jahr zum Geburtstag zu gratulieren. Als dieser Spruch zum ersten Mal ausblieb, ahnte ich, daß etwas nicht stimmte. Ich stellte Nachforschungen an. Noch hatte ich keine Ahnung, daß du in die Sache verwickelt warst. Fast hätte ich dich mit der Untersuchung betraut. Irgend etwas – nenne es Ahnung, Schicksal – hielt mich davon ab. Mein Vertrauter – ich nahm ihn später als A39 in die GA offiziell auf – stellte fest, daß Pithon schon seit fast einem Jahr tot war. Nun galt es herauszufinden, welche Rolle sein Nachfolger spielte und welche Kräfte hinter ihm standen. A39 baute in meinem Auftrag eine Gegengruppe auf STQ auf und begann mit den Recherchen. Es war keine leichte Aufgabe. Der Gegner war hart und erbarmungslos. Zwei unserer Leute starben. Es fehlte nicht viel, so hätte man A39 selbst erwischt. Allerdings hätte auch er seinen Auftraggeber nicht verraten können. Dafür hatten wir vorgesorgt: Anti-Hypnotin CC. Leider konnten wir nicht verhindern, daß auch der Gegner die Anti-Wahrheitsdroge in die Hand bekam. Die Umstände, unter denen damals die Formel des AH-CC verraten wurde, lenkte zum ersten Mal meinen Verdacht auf dich. Dieser Verdacht war allerdings noch mehr gefühlsmäßig und rational nicht zu begründen. Daher kam ich wieder davon ab. Doch der Rest eines Mißtrauens blieb. A39 und seine Leute stellten fest, daß der Nachfolger von 128 im STQ-System eine weitgespannte Untergrundorganisation aufgebaut hatte. Doch dann informierte der neue A128 selbst die GA über das Bestehen dieser Organisation. Dann fand A39 heraus, daß die U-Organisation Beziehungen zur Peripheren Gruppe unterhielt! Die Ziele dieser Gruppe waren bekannt: Sturz der terranischen
Moderatorregierung, Übernahme der Flotte, Auflösung der terranisch-galaktischen Föderation und Gründung einer Sternendiktatur. Daß die PG uns, die Galaktische Abwehr, als das größte Hindernis auf dem Wege zur Macht ansah, war klar. Weshalb also informierte die Gruppe uns selbst über die Entwicklung auf STQ IV? Der Gedanke lag nahe, daß die GA von einer größeren Sache abgelenkt werden sollte. Zu jener Zeit traten die Ermittlungen im Fall AND in ein neues Stadium. Wlastinow entdeckte das Andromedaleben. Dieses Problem begann mich mehr und mehr in einer Weise zu beschäftigen, die mich alles, was in der Galaxis geschah, unter einem neuen Gesichtswinkel sehen ließ. Unwillkürlich suchte ich Zusammenhänge zwischen AND und der Peripheren Gruppe. Als Wlastinow die Gefahr, die vom AND ausging, in seiner ganzen Tragweite erkannte und als fast zur gleichen Zeit Vain mit der Nachricht zurückkehrte, daß tatsächlich ein zweiter Wirt des Andromedalebens existiert hatte und vielleicht noch existierte, gab es für mich keinen Zweifel mehr an diesem Zusammenhang. Wer knüpfte die Fäden in diesem Spiel von kosmischer Tragweite? Das Andromedaleben natürlich. Wer aber war dessen menschlicher Träger? Alle Spuren führten zu dir, Jokko.« In steigender Angst hatte der Abwehrkoordinator zugehört. Nur allzu schnell war ihm klargeworden, wie sehr er Leandra unterschätzt hatte. Diese Frau hatte mit souveräner Gelassenheit seinem Doppelspiel zugesehen, hatte kaltblütig die Gegenmaßnahmen ergriffen und schließlich zum Konterschlag ausgeholt. Er, Jokko, hatte das Spiel verloren, das große Spiel um die Macht. Aber im gleichen Augenblick, da er dies erkannte, begann ihm zu dämmern, daß es für ihn nun um ganz andere Dinge ging, daß er einer Bedrohung gegenüberstand, deren Konsequenz und Ausmaß er sich nicht auszumalen wagte. War es möglich: Er, Jokko Tayler, sollte nicht mehr er selbst sein? Nicht mehr die Persönlichkeit, der Mensch Jokko Tayler? Er sollte vielmehr der Sklave eines anderen Seins, eines unendlich fremden, unheimlichen Wesens sein, dessen einziges Ziel es war, die Welt zu unterjochen, sie einer schrecklichen und unvorstellbaren Verwandlung zu unterziehen, einer Verwandlung, die endgültig und unwiderruflich das Ende des galaktischen
Lebens bedeutete? Während Leandra in ihrem sachlichen Bericht fortfuhr und er mit halbem Ohr hinhörte, flogen seine Gedanken hierhin und dorthin, um einen Ausweg aus dem tödlichen Netz der Argumente zu finden. Dann glaubte er, einen gefunden zu haben. »Aber Clerisse hat den AND-Träger selbst aufgespürt. Er hat uns den Namen genannt: Igor Fugger…« »Der Name eines Strohmannes«, erwiderte Leandra unbarmherzig. »Ich lockte dich durch den Trick mit dem Auffahrunfall zur Direktion, um Vain Gelegenheit zu geben, mir den wahren Namen zu verraten. In diesem Augenblick rief Tore an. Als das Gespräch beendet war, kamst du zurück. Inzwischen hatte Vain begriffen, daß er mit deiner Demaskierung noch warten sollte. Ich wollte einen günstigeren Zeitpunkt ins Auge fassen. So nannte er den Namen eines Strohmannes.« »Und wenn es diesen Igor Fugger wirklich gibt…?« Leandra schüttelte den Kopf. »Heute Nacht noch ließ ich die Fahndungselektroniken spielen. In der gesamten Galaxis ist nur ein einziger Igor Fugger bekannt und der ist im vorigen Monat 81 geworden.« »Tore rief an«, in Jokkos Stimme war neue Hoffnung. »Vielleicht ist er…« »Diese Idee hatte ich selbst bereits. Darum ließ ich seine Papiere noch einmal überprüfen. Die sind einwandfrei!« »Du selbst sagtest, Unterlagen können gefälscht sein.« Leandra schüttelte den Kopf. »Alle Spuren führen zu dir, Jokko«, wiederholte sie. »Als Vain von Sirius-Kaatha starten wollte, entging er mit knapper Not einem Attentat. Wer außer dir und mir wußte von seinem Auftrag? Als Vain gestern in deiner Gegenwart den Namen des AND-Trägers nicht nannte, bestätigte das meinen Verdacht. Endgültige Gewißheit erhielt ich heute Morgen.« Jokko blickte sie verständnislos an. Leandra deutete auf seine Rechte, die noch immer den Speichersender umschlossen hielt. »Schon seit längerer Zeit zerbrach ich mir den Kopf, auf welche Weise Informationen zwischen der P-Gruppe und ihrem Mittelsmann in der GA ausgetauscht wurden. Da ich nicht hundertprozentig sicher sein konnte, wer der Verräter in der GA war, holte ich A39 aus dem
STQ-System zurück und nahm ihn offiziell in die GA auf. Er erhielt den geheimen Auftrag, den Verräter zu entlarven. A39 hatte auf STQ IV herausgefunden, daß die PG sich neuartiger Mikro-Schwebe-Sendegeräte bediente. Diese speichern Funksprüche mit Schwachstrom und werden dann einfach mit dem Trinkwasser oder anderen Medien weggeschwemmt. Stunden später werden die eingebauten Fernsender aktiviert und strahlen den Spruch ab. Eine Lokalisierung der Sendequellen ist unmöglich. A39 fand heraus, daß auch auf Terra solche Geräte im Einsatz waren. Zur Herstellung der Mikro-Schwebe-Sender wird bekanntlich das künstliche Element 106 benötigt. Dieses Element ist ein schwacher Alphastrahler, dessen Emissionen man mit einem Spezialorter anmessen kann. Seit einiger Zeit trage ich einen solchen Orter bei mir. Heute morgen zeigte er zum ersten Mal eine Reaktion. Sie wurde stärker, als ich mich deinem Zimmer näherte.« Sie zog mit der Linken ein länglich-flaches Gebilde aus einer Tasche ihrer Raumkombination und hielt es hoch. Ein schwaches Ticken war zu vernehmen, ähnlich wie bei einem Geigerzähler, nur wesentlich schwächer. »Öffne deine Hand!« befahl Leandra und unterstrich diesen Befehl mit ihrer Waffe. In den letzten Minuten hatte sich in Jokko eine Wandlung vollzogen. Die kreatürliche Angst, die den Agenten in eine unkontrollierte Panik getrieben hatte, war verebbt. Nüchterne Überlegung war zurückgekehrt. War tatsächlich das Spiel verloren? Gewiß, Leandra hatte ihn durchschaut.. Sie wußte, daß er im Auftrag der PG sein doppeltes Spiel trieb. Sie wußte auch, daß jene Organisation die Macht in der Galaktischen Föderation ergreifen wollte. Wußte sie aber auch, wieweit diese Pläne bereits gediehen waren? Daß es vielleicht nur noch Stunden dauern würde, bis die Gruppe losschlug? Bis jetzt hatte sie keinerlei Äußerung darüber getan, die Aufschluß über den Stand ihres Wissens geben konnte. Im Augenblick kam es erst einmal darauf an, daß er, Jokko, sich aus der lebensbedrohenden Lage befreite. Dann würde man weitersehen. An Leandras Behauptung, er selbst sei der AND-
Träger, glaubte er sowieso nicht – wollte es nicht glauben. Der Agent überlegte fieberhaft, wie er sich aus seiner Lage befreien und seinerseits die Gewalt über die Frau erlangen konnte. An seine Waffe konnte er nicht heran. Obwohl Leandra ihn lebend wollte, würde sie nicht zögern, zu schießen, wenn sie sich selbst in Lebensgefahr glaubte. Langsam öffnete er die Hand. Leandra kam zwei Schritte näher. Das Ortergerät tickte stärker. Jokko streckte ihr die Hand entgegen. Dann spreizte er in einer unmerklichen Bewegung die Finger, und die kaum wahrnehmbare Kugel verschwand. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Frau konsterniert, unschlüssig… Jokkos Linke schoß vor, in der Absicht, die Waffe nach oben wegzuschlagen. Sei es, daß Leandra sich in diesem Augenblick nach vorn neigte, sei es, daß Jokko den Schlag falsch berechnet hatte, statt des Laufes traf er die Hand der Frau am Abzug. Ein scharfgebündelter Strahl fuhr dem Mann durch die Brust. So starb Jokko Tayler. Die Frau starrte auf die zu Boden gesunkene Gestalt. Dann ging sie zum Kommunikator. 7. Über die breite Ausfallpiste, die den Raumhafen mit der Parkstadt verband, fegten zwei Gleiter. Sie waren mit insgesamt fünf Männern und zwei Frauen besetzt, die wenig sprachen. Sie befanden sich auf der Jagd. Ihre Gesichter wirkten hart und entschlossen, und obwohl sie einer Aufgabe nachgingen, die sich im wesentlichen nicht von zahlreichen ähnlichen Aufgaben unterschied, die sie im Laufe ihrer Dienstzeit gelöst hatten, zeichnete sich Spannung in ihren Gesichtern ab. »Es wird nicht einfach sein«, sagte einer der Männer. »Wir sind zu siebt«, erinnerte ein anderer. »Trotzdem…« Der Mann, den sie jagten, saß in einem Raum, der etwa sechsmal sieben Meter groß war und die Form einer
Raumschiffskanzel besaß. Die große Panoramascheibe war aus einem Stück. Sie gab den Blick frei auf die rauhen Klippen von Cape Armstrong, die von den grauen Brechern des Pazifiks pausenlos überrollt wurden. Schaltaggregate in der Mitte des Raumes vervollständigten den Eindruck, sich in einer Raumschiffszentrale zu befinden. An den Wänden hingen die radarähnlichen Mobilplastiken Abd’er Ramans, und dicht unter der schwarzblauen Kuppeldecke glitzerten Hunderte von goldenen Kugeln aller Größen. Admiral Gran Tauer war 67. In der skurrilen Gestaltung dieses Raumes spiegelte sich sein Wunsch wider, einen Abglanz seines langen Lebens in der Flotte in sein nahes Pensionärsdasein mit hinüberzunehmen. Im Moment hatte der alte Offizier allerdings andere Sorgen. Er saß kerzengerade, gleichsam erstarrt, in seinem Kontursessel, und seine grauen Augen blickten ins Leere. Nach einer langen Weile kehrten sie wieder in die Wirklichkeit zurück, hefteten sich auf seinen Besucher. Seine bleichen Lippen bewegten sich und formten Worte: »Ein Irrtum ist ausgeschlossen?« Vain gab den Blick zurück. Dann nickte er. »Ja, Admiral – Sie haben meinen Bericht gehört, Bajace Fugger hat noch vor ihrem Tod ihre Lebensgeschichte geschildert. Dabei nannte sie den Namen Ihres Sohnes…« Gran Tauer hob eine Hand. »Ich verstehe«, sagte er, Erschütterung in der Stimme. »Mein Gott…« Er schüttelte den Kopf, »wenn ich doch nur geahnt hätte…« Vain Clerisse sah zu Boden. Ja, dachte er, wenn er, Tauer, gewußt hätte, daß er einen Sohn hatte, hätte er wahrscheinlich Bajace heimgeholt. Und dann wäre dieser Sohn unter Beobachtung gewesen. Vieles wäre anders gelaufen. Doch es war müßig, darüber nachzugrübeln, was gewesen wäre, wenn… »Was soll ich tun, Admiral?« In diesem Moment glühte auf dem Schaltpult eine rote Leuchte rhythmisch auf. »Er ist da!« sagte Gran Tauer. Vain schüttelte den Kopf. »Das sind nur seine Häscher. Lassen Sie sie rein, mit denen werde ich schon fertig.« Tauer drückte einen Knopf. Die Tür öffnete sich, und herein
stürmten zwei Männer und eine Frau, Laserwaffen in den Händen. Ein dritter Mann mit einem Desintegrator blieb an der Tür stehen. Der Mann an der Tür, Shott Daringer, Chef der Filiale Terra der GA, sagte: »Tut mir leid, Admiral. Befehl von der Zentrale: Dieser Mann«, er deutete auf Vain, »ist festzusetzen.« »Sie haben kein Recht, in meinem Hause eine Verhaftung durchzuführen, Major«, sagte Admiral Tauer ruhig. »Ich habe eine Rot-rot-Order«, erwiderte Daringer ungerührt. Er zog eine Folie aus der Tasche und hielt sie dem Flottenchef hin. »Wer hat die Order gezeichnet?« erkundigte sich Vain. Shott zögerte einen kurzen Augenblick. »Der Erste Koordinator, Oberstleutnant Tayler«, sagte er dann. Vain lächelte. Er schlug die Beine übereinander. »Das ist unangenehm. Unangenehm für dich, Shott«, sagte er. Der Major zog die Augenbrauen hoch. »Was soll das heißen?« Vain blickte auf sein Chronometer. Jeden Moment konnte er hereinkommen. Dann mußte er den Rücken frei haben. Es wurde Zeit, daß die Komödie beendet wurde. »Du weißt ebensogut wie ich, daß der Befehl, einen Agenten der Kategorie festzusetzen, vom Chef der GA selbst gezeichnet sein muß.« Diesmal lächelte Daringer. »Paragraph 71, Absatz III der DVdGA«, zitierte er, »enthält die Klausel: Wenn der Chef der GA nicht erreichbar ist, ist der Erste Koordinator als sein Stellvertreter befugt, Klasse-Eins-Befehle zu zeichnen und exekutieren zu lassen, sofern die vollziehenden Organe die vorhandenen Unterlagen für einen solchen Schritt als ausreichende Begründung ansehen.« Ein eisiger Schreck durchfuhr Vain. Sie hatten Leandra weggelockt! Dann allerdings stand seine Angelegenheit nicht rosig! »Wo befindet sich H1?« fragte er, während er nach einem Ausweg suchte. Er musterte die beiden Männer und die Frau, die sich im Raum verteilt hatten. Er kannte nur einen von ihnen: Maze Vittorski, mit dem er einmal einen gemeinsamen Einsatz durchgeführt hatte. Wenn die übrigen ebenso schnell und sicher mit dem Laser umgehen konnten wie er, hatte er wenig Chancen. Nicht gerechnet Shott,
der die Tür blockierte, und jene, die vermutlich im Garten postiert waren und Fenster und Ausgänge bewachten. »Leandra ist unterwegs zum STQ-System«, gab Daringer bereitwillig Auskunft. Clever ausgedacht, gestand Vain sich ein. Das STQ-System war weit genug von hier entfernt, um inzwischen alles Notwendige auf Terra zu erledigen, abgesehen davon, daß sie Leandra vermutlich heiß empfangen würden. Vielleicht lebte sie in diesem Augenblick schon nicht mehr. Vain fröstelte. Nun rächte sich, daß er Leandra nicht vor seinem Weggang noch reinen Wein eingeschenkt hatte. Jokko Tayler hatte seine Pläne durchkreuzt. Mit welchen Fälschungen mochte er die terranischen Agenten überredet haben, ihn, Vain, auszuschalten? Er hatte eine gute Chance, diese Fälschungen zu entlarven. Doch dies würde eine zeitraubende Angelegenheit werden, und wenn er hinzukam, bevor die Agenten überzeugt waren, war er verloren – und mit ihm eine ganze Galaxis. Nein, er durfte nicht länger warten. Er spannte die Muskeln, um die Verzweiflungstat zu riskieren, da hörte er den Summer an Shotts Armbandgerät. Was kam jetzt? Sollte er an Ort und Stelle liquidiert werden? Vain konzentrierte sich erneut. Shotts Aufmerksamkeit und auch diejenigen der übrigen würde wenigstens für Sekunden etwas nachlassen. Doch dann, aus irgendeinem unerklärlichen Gefühl heraus, zögerte er, und als er den perplexen Ausdruck auf Shotts Gesicht sah, der sein Gerät ans Ohr gepreßt hielt, wußte er plötzlich, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. »Ich dachte… Jawohl, Chef!« stotterte der Major, jedoch mit unverkennbarer Erleichterung auf seinen Zügen. »Ja. Ende!« Langsam breitete sich ein Grinsen über sein Gesicht. »Der Befehl ist widerrufen. Scheint ne tolle Schweinerei im Gang zu sein. H1 ist zurückgekommen. Die Unterlagen waren gefälscht. Wir müssen zurück. Clerisse«, wandte er sich an Vain, »du sollst dich umgehend bei Leandra melden!« Er hob salutierend die Hand. »Bitte um Entschuldigung, Admiral!« »Was soll ich tun?« wiederholte Vain seine Frage, als die Agenten gegangen waren. Admiral Tauer blickte geistesabwesend durch das Panoramafenster. Er sah müde aus. Müde und verzweifelt. Das
also war dabei herausgekommen! Das »größte Unternehmen in der Geschichte der terranischen Raumfahrt« hatte sich als ein Bumerang erwiesen, der die Menschheit zu erschlagen drohte. Ein Mensch kämpfte gegen ein Ungeheuer, ein Ungeheuer, das eine Galaxis zu verschlingen drohte. Noch befand sich dieses Monstrum im Körper eines Menschen. Doch dieser Mensch war sein Sohn! »Er muß getötet werden«, sagte der Admiral leise. »Ich will ihn lebendig. Wlastinow und seine Physiologen brauchen ihn. Sie wollen herausfinden, was das Andromedaleben wirklich ist. Bei einer erneuten Begegnung müssen wir gerüstet sein.« Er unterbrach sich. Die beiden Männer blickten auf die rote Kontrolleuchte, die erneut blinkte. Der Admiral sah Vain an, und als dieser nickte, drückte er auf die Taste. Einen Augenblick später trat Tore Vigart ein. Respektvoll grüßte er Admiral Tauer, winkte lässig zu Vain herüber. Der Flottenkommandeur bot ihm mit einer knappen Geste einen Sessel an. »Ich nehme an, Sie sind bereits unterrichtet«, sagte Tore Vigart, während er sich setzte. »Jokko Tayler, der erste Koordinator der GA, ist tot«, fuhr der Offizier fort. »Er war das Andromedaleben.« Vain und Tauer wechselten einen Blick. »Woher wissen Sie das?« erkundigte sich Clerisse vorsichtig. »Ich komme gerade von Leandra«, antwortete der Offizier. »Sie hat ihn erschossen. Das heißt, er hat sich selbst erschossen, als er sie angriff.« Vain, totenbleich, war aufgesprungen. Tore war also schon bei Leandra gewesen! War es bereits zu spät? Er mußte sofort zu ihr… »Nein, bleiben Sie!« Tore Vigarts Stimme klang jäh verändert. Sein jungenhafter Plauderton hatte sich verloren. Seine Aufforderung war ein Befehl. In seiner rechten Hand erschien ein seltsames kugelförmiges Gebilde: eine Mikro-Strahl-Lenkwaffe! Vain sah, wie die Hand des Admirals, die zur Waffe greifen wollte, heruntersank. Gegen eine MSL-double hatten sie keine Chance! Der lichtschnell arbeitende Individualorter hatte längst sein doppeltes
Ziel abgetastet und die Werte auf den Zielcomputer übertragen, der die Automatik justierte. Die MSL wurde, ohne zu zielen, abgefeuert. Die Automatik brachte die molekularzersetzenden Strahlen augenblicklich in beide Ziele. Waren mehrere Personen anwesend, markierte der Schütze die gewünschten Ziele durch kurzes Anvisieren der betreffenden Objekte. Waren diese einmal erfaßt, folgte ihnen die Ortung, wohin auch immer sie sich bewegten. Von dieser Waffe – wußte Vain – existierten bisher nur einige Prototypen, aber es war müßig darüber nachzugrübeln, wie Vigart an eine davon herangekommen war. Tore Vigart lächelte. »Wie ich sehe, wissen Sie was für eine Waffe ich hier in der Hand halte«, sagte er, als sich Vain widerwillig setzte. »Ihre Reaktion, Clerisse, als ich erwähnte, daß ich bei Leandra war, zeigt mir, daß Sie wissen, wer ich bin…« »Das Andromedaleben«, ergänzte Vain ruhig. Tore nickte. »Ja, das Andromedaleben. Professor Wlastinow behauptet zwar, daß der Wirt nicht weiß, daß er der AND-Träger ist, das gilt jedoch nur so lange, bis die vollkommene Übernahme des menschlichen Körpers und Geistes abgeschlossen ist. Ist der subatomare Austausch zwischen Wirtbewußtsein und AND einmal vollendet, ist die Sicherheitssperre überflüssig geworden und fällt weg. Im übrigen, keine Angst: Ich war zwar bei Leandra, aber die von mir so sehnlichst angestrebte Vereinigung konnte noch nicht stattfinden. Es wurde gerade eine Konferenz abgehalten über die Ausschaltung der P-Gruppe. Ich muß sagen: Leandra hat ganze Arbeit geleistet. Wenn die P-Gruppe losschlägt, wird es ein Schlag ins Leere sein. Zu der erhofften und erwarteten Bindung der terranischen Raumflotte wird es nirgendwo kommen. Die Kommandos der GA stehen allerorts bereit, die gegnerischen Aktionen abzufangen. Die innerhalb der Flotte arbeitenden Agenten der PG sind zum größten Teil längst entlarvt. Aus taktischen Gründen ließ man sie unbelästigt. Die geheimen Streitkräfte der Untergrundorganisation werden, wo immer sie erscheinen, auf eine intakte galakto-terranische Flotte treffen, die ihr an Schlagkraft hundertfach überlegen ist. Nun ja, das ist alles nicht mehr wesentlich. Die PG hat ihre Schuldigkeit getan. Wie gesagt, Leandra hat Hervorragendes geleistet. Sie ist die würdige Persönlichkeit, die dem wahren Leben des Universums – dem Andromedaleben wie Sie es nennen –, zur
uneingeschränkten Herrschaft über diese Galaxis verhelfen wird. Nichts kann uns mehr aufhalten. Sie beide hier sind die einzigen, die den AND-Träger kennen. Und deshalb müssen Sie sterben. Vorher jedoch«, und dabei sah er Vain an, »hätte ich gerne gewußt, wie Sie, Clerisse, hinter meine wirkliche Identität gekommen sind.« Der Agent ließ sich mit der Antwort Zeit. Je mehr Zeit er gewann, um so mehr stiegen seine Chancen, aus der tödlichen Falle herauszukommen. Dann berichtete er, was er auf dem Planeten Turanna erlebt hatte. Als er zum ersten Male den Namen von Tores Mutter erwähnte, bemerkte er, wie sich sekundenlang die Augen des andern verdunkelten. Sie schienen zu flackern im Widerschein einer inneren Erregung. Doch im nächsten Moment blickten sie so gefühllos wie zuvor. Es schien also, als ob in den tiefsten Tiefen von Tores Unterbewußtem noch Bereiche bestanden, die der totalen Übernahme durch das AND bisher entschlüpft waren. Vielleicht konnte man noch weitere solche Persönlichkeitsinseln aufdecken, und die emotionale Verwirrung des Zwitterwesens ausnutzen. »Bajace… nannte also meinen Namen«, unterbrach der Offizier. »Tore ist jedoch ein in der ganzen Galaxis verbreiteter Name. Woher wußten Sie, daß ich dieser Tore war?« »Zunächst ahnte ich es nur«, gab Vain zu. »Später allerdings wurde diese Ahnung zur Gewißheit. Als ich nach Haku II zurückkehrte, stellte ich erneut Nachforschungen an. Sie konzentrierten sich auf die Schiffsunglücke im Dido-Sektor zur fraglichen Zeit. Die Auskünfte waren negativ. Daraufhin studierte ich die Konstellationsgrafiken der betreffenden Zeit und ließ mir ein Verzeichnis des Frachtlinienverkehrs kommen. Es konnte ja sein, daß ein Schiff eines fremden Systems, dessen Route in der Nähe Didos vorbeiführte, eine Rettungsaktion durchgeführt und diese nur auf seinem Heimatplaneten gemeldet hatte. Dido – stellte ich fest – war nicht allzu weit von der Verbindungslinie zweier Fixsterne der Hakulainen-Gruppe entfernt: Klaiku und Zepälla. Zur fraglichen Zeit war, wie ich aus den Unterlagen erfuhr, ein Raumfrachter von Klaiku nach Zepälla unterwegs gewesen. Ich flog also nach Klaiku, einem der vorgeschobensten terranischen Kolonialplaneten. Und hier hatte ich endlich Glück: Am 6. September 2353 hatte der klaiku-terranische Frachter
TIERRA NOBA, drei-Komma-zwei Lichtstunden von Dido entfernt, Schiffbrüchige aufgenommen. Es handelte sich um einen Mann namens Frank Vigart, Funkoffizier eines havarierten hakulainischen Frachters, und seinen Sohn Tore. Ich hatte eine Liste aller Besatzungsmitglieder und Passagiere der SPENZICCARA, des Schiffes, mit dem Bajace gestartet war, bei mir. Ein Frank Vigart war nicht unter ihnen. Aber ein gewisser Frank Curly, er war Funkoffizier! Damit war der Fall klar. Warum dieser Curly seinen Namen in Vigart umwandelte, und warum er Sie, Tore, als seinen Sohn ausgab, wird wohl niemals geklärt werden. Vielleicht hängt beides irgendwie miteinander zusammen. Vielleicht auch hatte der Mann andere Gründe, seine wahre Identität zu verschweigen. Die Gelegenheit war günstig: Beim Untergang der SPENZICCARA waren sämtliche Unterlagen vernichtet worden. Von Klaiku verschwand Curly eines Tages mit Ihnen. Von diesem Zeitpunkt an hat man niemals mehr etwas von dem Funkoffizier gehört. Sie selbst tauchten eines Tages an einem ganz anderen Ort der Galaxis wieder auf und traten mit achtzehn in die Flotte ein. Den Rest wissen Sie – Tore Fugger!« Wieder das sekundenlange unstete Flackern der Augen. Dann verzerrten sich die Züge zu einem humorlosen Grinsen: »Erstaunlich! Wirklich erstaunlich. Und warum haben Sie Leandra nicht über meine Identität informiert?« »Es war ein Fehler«, bekannte Vain. »Aber als ich am Raumhafen Zeuge des Gespräches zwischen ihr und Ihnen wurde, merkte ich, wie es um Leandra stand. Ich fürchtete, daß sie mir entweder keinen Glauben schenken oder aber irgendeine Dummheit machen würde. Obwohl – ich gestehe es – ich ihr Unrecht getan habe. Ich hielt es auch für möglich, daß sie in ihrer abgrundtiefen Enttäuschung, Sie, Vigart, umgehend aufsuchen und töten könnte.« »Und…« Tore Vigart zeigte Erstaunen, »was hatten Sie dagegen einzuwenden?« Vain zögerte einen Moment. »Das können Sie wahrlich nicht verstehen – Sie, der Sie aus einer anderen Welt stammen. Aber es verstößt gegen die menschlichen Gesetze, Leben zu vernichten. Leandra hätte Schwierigkeiten bekommen.« Sekunden verstrichen. Dann sagte das Andromedaleben:
»In der Tat, eine seltsame Logik. Wenn Leandra mich getötet hätte, hätte die Milchstraße – wie Sie diese Galaxis nennen – ihr Eigenleben behalten. So aber«, sein Gesichtsausdruck veränderte sich, »nun ja… Leandra spürte bereits den nahen Sieg des wahren Lebens.« »Wie stellen Sie sich den Sieg des wahren Lebens vor?« fragte Vain. Er wollte Zeit gewinnen. Tore Vigart blickte ihn scharf an. »Das wissen Sie doch! Die Vereinigung dieses Körpers mit Leandra Leonides ist nur noch eine Frage der Zeit. Im Moment dieser Vereinigung erlebt das wahre Leben seine letzte Metamorphose und wird frei…« Der Blick des Mannes bekam etwas Abwesendes, Visionäres, seine Stimme wurde leise. »… Das wahre Leben durchdringt die Galaxis. Niemand kann es aufhalten… die Galaxis wird zum wahren Leben…« Vain hatte bemerkt, wie sich in den letzten fünf Minuten die Hand des Admirals Millimeter um Millimeter einer Schublade vor ihm näherte. Vermutlich befand sich darinnen eine Waffe. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Noch ehe der alte Mann die Lade geöffnet hätte, würde ihn bereits der tödliche Schuß erreichen und damit auch ihn selbst, Vain. Verzweifelt grübelte der Agent darüber nach, wie er den Gegner ablenken oder Tauer ein Zeichen geben könnte. Er mußte das Zwitterwesen provozieren. Allerdings war dies ein gefährliches Spiel. Da kam ihm ein Gedanke. Er schüttelte plötzlich den Kopf und lächelte wie in Gedanken vor sich hin. »Sie scheinen Ihrem baldigen Ende eine fröhliche Seite abgewonnen zu haben, wenn ich Ihr Lächeln richtig deute«, sagte Tore Vigart und sah Clerisse mißtrauisch an. Vain schüttelte den Kopf. »Ich dachte über etwas anderes nach. Anfangs hatte ich geglaubt, daß Sie, Vigart, sich völlig in der Gewalt dessen befinden, was in Ihnen ist. Ihr Verhalten zeigt, daß dies ganz und gar nicht der Fall ist.« »Wie meinen Sie das?« Der andere starrte ihn an, alarmiert. »Wenn das AND Sie vollständig übernommen hätte, wüßte es ganz genau, daß Sie gar nicht imstande sind zu töten.« Tore Vigart lachte auf. Doch dann verzerrten sich seine Züge zu einer wütenden Grimasse und, mit der Waffe herumfuchtelnd, fuhr er auf:
»Drücken Sie sich gefälligst verständlich aus, sonst…« Vain ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie, das Andromedaleben«, begann er, »kommen aus einer anderen Welt, aus einer Welt, die mehr als zwei Millionen Lichtjahre von unserer entfernt ist. In Ihrer Welt gelten andere Gesetze als in unserer. Unsere Gesetze kennen Sie nicht, sonst wüßten Sie, daß der Körper, den Sie bewohnen, kein anderes menschliches Lebewesen auszulöschen vermag.« Diesmal dauerte es eine Weile, ehe die Antwort kam. Vain hatte einen ersten Teilerfolg verbucht. Was immer das Andromedaleben darstellte, ob es in seiner eigenen Welt Verständigungsmöglichkeiten besaß, ob es über Äußerungsmöglichkeiten verfügte, die der Mensch als »Denken«, »Überlegen«, »Folgern« bezeichnete, ob diese Seinsform überhaupt etwas beinhaltete, was man in der hiesigen Welt als »Geist« bezeichnete, dies alles konnte niemand wissen. Eines aber stand für Vain fest: Hier und jetzt war das AND auf die Mittel und Möglichkeiten dessen angewiesen, den es beherrschte: auf die Mittel und Möglichkeiten Tore Vigarts. Mochte die Verständigung innerhalb des Andromedanebels – wenn es eine solche gab – mit Lichtgeschwindigkeit oder gar ohne zeitliche Verzögerung vor sich gehen, innerhalb des terranischen Wirtskörpers herrschten andere Bedingungen; Eindruck, Verarbeitung, Spekulation und Urteil, Reiz und Impuls, dies alles vollzog sich in der Art, mit der Geschwindigkeit und unter den physiologischen beziehungsweise psychologischen Voraussetzungen wie zu der Zeit, als Tore Vigart noch ein selbständiges menschliches Wesen war. Hinzu kam eine gewisse Verzögerung, die immer dann eintrat, wenn sich das AND auf geistiges Neuland begab, in Bereiche beispielsweise, die auch dem wirklichen Tore fremd oder wenig bekannt geblieben waren. Vain beschloß, das Handikap, in dem sich das fremde Etwas befand, auszunutzen. »Sie bluffen, Clerisse«, kam endlich die Antwort. »Aus dem Gedächtnisspeicher unseres Wirtes geht eindeutig hervor, daß Menschen sehr wohl imstande sind, sich gegenseitig zu eliminieren und es auch genügend oft getan haben.« Vain nickte. »Das ist richtig«, sagte er gelassen. »Nur – und das habe ich damit sagen wollen – Ihr Wirt ist nicht in der Lage dazu.
Konsultieren Sie seine Persönlichkeit, und Sie werden meine Feststellung bestätigt finden.« Das war hoch gespielt. Vain bemerkte, wie Admiral Tauer bleich wurde. Er konnte in der Tat nur hoffen, daß seine aufs Geratewohl geäußerte Vermutung den Tatsachen entsprach. Ein gewichtiger Grund sprach allerdings dafür: Der letzte interstellare Krieg lag nahezu hundert Jahre zurück. Vain beobachtete seinen Widersacher. Eine wahrhaft erschreckende Veränderung war mit diesem vor sich gegangen. Seine Gesichtszüge – eben noch jung, selbstbewußt und siegessicher – waren von einer Sekunde zur anderen verfallen. Einmal blickten die Augen stumpf ins Leere. Dann wieder funkelten sie haßerfüllt. Die Lippen bewegten sich zuckend, um sich im nächsten Augenblick zu einem unmenschlichen Grinsen zu verzerren. Es war ein grausiger Anblick, wie sich der Kampf, der sich im Bewußtsein und auch im Unterbewußtsein des Unglücklichen abspielte, in Tores Gesicht widerspiegelte. Das Andromedaleben schien Vains Behauptung bestätigt gefunden zu haben. Vielleicht versuchte es nun, Tore zu zwingen, den tödlichen Schuß abzugeben und war dabei in Schwierigkeiten geraten. Vain wußte nicht, wie lange die Barriere, die Vigarts Persönlichkeit selbst der schrecklichen Aufforderung entgegenstellte, halten würde. Andererseits war er sich darüber im klaren, daß, wenn er selbst den Laser zog, diese Barriere auf jeden Fall zusammenbrechen würde, da dann der Selbsterhaltungstrieb die Oberhand gewinnen würde. Dennoch: Das geistige Duell zwischen dem, was von dem Menschen Tore Vigart noch übriggeblieben war, und seinen Beherrschern, war mit Sicherheit die letzte Chance, das Blatt noch zu wenden. Vain stand langsam auf und machte einen Schritt auf den anderen zu. Sofort hob dieser die Waffe. »Nicht weiter, Clerisse!« rief er. Es bestand eigentlich kein Grund mehr für das Andromedaleben, mit seiner, Vains, Liquidierung noch länger zu warten. Da es ihn also noch nicht getötet hatte, würde es aller Wahrscheinlichkeit dies auch in Zukunft nicht tun, überlegte der Agent. Dennoch breitete sich eine fast unerträgliche Spannung aus, als er langsam weiter auf den anderen zuschritt. Hinter sich,
vom Fenster her, hörte er den keuchenden Atem des Admirals. Hoffentlich hielt der durch! Vor sich blickte er in das Gesicht seines Widersachers, das von der in seinem Innern tobenden Auseinandersetzung unmenschlich verzerrt war. Tore Vigart – oder vielmehr das, was einmal Tore Vigart gewesen war – starrte ihm aus blutunterlaufenen Augen entgegen. Vain befand sich noch zwei Meter von dem Zwitterwesen entfernt. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. »Tore Vigart«, sagte Vain ruhig. »Geben Sie mir Ihre Waffe! Sie ist nutzlos, Sie können damit nichts anfangen.« Dabei machte er einen weiteren halben Schritt vorwärts. Ein ächzender Laut brach zwischen den Lippen des Unglücklichen hervor. Die Augen wurden starr. Vain, der im selben Augenblick erkannte, daß das Andromedaleben endgültig die Oberhand gewonnen hatte und damit auch die letzte emotionale Barriere seines Wirts zerbrochen war, warf sich vorwärts. Jede MSL hatte wie Vain wußte – eine schwache Stelle: die Zielautomatik. Als elektronisches Gebilde vermochte sie nicht zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Die Gefahr war nie ganz auszuschließen, daß das hochempfindliche Gerät den Schützen selbst als Objekt einstufte. Aus diesem Grunde, aber auch wegen der enormen Energieentwicklung, die im Nahbereich den Schützen selbst gefährdete, hatten die Konstrukteure der Lenkwaffe eine Sicherheitszone geschaffen. Innerhalb derer sprach zwar der Orter noch an, jedoch wurde automatisch der Doppelauslöser blockiert. Diese Sicherheitszone – auch das war Vain bekannt – hatte einen Radius von 1,66 Meter. Als Tore Vigart den Finger am Abzug krümmte, befand sich Vain noch 1,40 m von ihm entfernt. Und das genügte. Der Zielcomputer und der Auslöser blockierten. Die tödliche Abstrahlung fand nicht statt. Im nächsten Augenblick traf Vains Handkante das Handgelenk seines Gegners, der mit einem Schmerzenslaut die Waffe fallen ließ, noch ehe er durch Tastendruck eine neue Zielerfassung auslösen und damit wenigstens den Admiral töten konnte. Clerisse führte mit der Linken einen zweiten Schlag gegen die Halsschlagader des anderen. Jedoch: Tore ließ sich hintenüber
fallen und zog blitzschnell die Knie hoch. Ein furchtbarer Tritt traf Vain in den Unterleib und ließ ihn taumeln. Er rollte sich zur Seite und entging damit dem ungestümen Gegenangriff seines Widersachers. Das unheimliche Etwas, das Tores Körper beherrschte, »wußte«, daß dieser Kampf über seine Existenz und damit über die Verwirklichung seiner Ziele entschied. Dieses Wissen trieb es dazu, die letzten Reserven seines Wirtskörpers zu mobilisieren und ihn zu übermenschlichen Leistungen aufzuputschen. So wogte der Kampf hin und her, und anfangs sah es so aus, als ob die anomale Berserkerwut der schrecklichen Symbioseform gegenüber der rationalen Kampfesweise des Menschen die Oberhand gewinnen würde. Doch Vain Clerisse war nicht von ungefähr der Meisteragent der Galaktischen Abwehr. Ein Mann, der nicht nur mit sämtlichen terranischen und einem guten Dutzend extraterrestrischer Kampftechniken vertraut war, ein Mann vor allem, der durch das härtende Feuer ungezählter Kämpfe gegangen, Abenteuer und Gefahren bestanden hatte, von denen der Durchschnittsbürger nicht einmal träumte. Seine ungemein harte Spezialausbildung, seine robuste Konstitution und seine angeborene Geschmeidigkeit hatten ihn bisher aus allen Situationen erfolgreich hervorgehen lassen. So begann sich nach einer gewissen Zeit die Überlegenheit des Agenten abzuzeichnen, und sein endgültiger Sieg schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, als ein Ereignis eintrat, das die Lage auf den Kopf zu stellen drohte. Admiral Tauer hatte in höchster Erregung den mörderischen Zweikampf verfolgt. Ein Zweikampf, der sich in abgeschwächter Form in seinem eigenen Innern widerspiegelte. Als er von Vain erfahren hatte, wer der AND-Träger war, hatte die Tatsache, daß Tore sein Sohn war, sein eigenes Fleisch und Blut, zunächst alles andere demgegenüber als unwichtig erscheinen lassen. Dann allmählich begann ihm die schreckliche Erkenntnis zu dämmern, daß er diesen eben gewonnenen Sohn schon wieder verloren hatte. Entweder mußte jener sterben, oder aber eine ganze Galaxis war zum Untergang verdammt. Vain hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß nach Professor Wlastinows Urteil keine Aussicht bestand, Tore von
seinen Parasiten zu befreien. Sollte dieses dennoch gelingen, würde Tore für immer ein geistiger Krüppel bleiben. Die terranische Regierung würde sich allerdings wohl kaum auf das damit verbundene Risiko einlassen; nach der Analyse würde man das AND vernichten, ohne den Versuch zu unternehmen, Wirt und Symbionten zu trennen. Nein, je länger er darüber nachgedacht hatte, um so deutlicher hatte er begriffen, daß es keinen Ausweg gab: Tore, sein und Bajaces leiblicher Sohn, mußte sterben, damit die Menschheit, damit das Leben in der Galaxis gerettet würde. Als Tore dann im Raum stand und ihn anblickte, als der Admiral den jungen Flottenoffizier zum erstenmal mit den Augen des Vaters ansah, als er sich der väterlichen Gefühle bewußt wurde, die er seit eh und je dem jungen Mann entgegengebracht hatte, geriet der alte Flottenkommandeur in einen seelischen Zwiespalt, aus dem kein Weg hinauszuführen schien. Ganz allmählich nur gelang es ihm, seine persönlichen Gefühle zurückzudrängen, Vernunft und Wille gewannen langsam die Oberhand. Gran Tauer erhob sich, um diesen Kampf, dem Kampf zwischen einem Menschen und, wie er letztlich erkannte, einem Monstrum zu beenden. Der Admiral zog den Strahler aus der Schublade neben sich und entsicherte ihn. War es das Klicken der Sicherung oder war es die blitzartige Erkenntnis der Notlage des alten Kommandeurs, die Vain Clerisse für den Bruchteil einer Sekunde ablenkte – das winzige Nachlassen seiner Konzentration genügte. Tore Vigart rollte sich nach links und bekam die MSL zu fassen. Vains Reaktion, der augenblicklich die Gefahr erkannt hatte, kam zu spät. Gran Tauer selbst kam nicht zum Schuß, da sich der Agent zwischen ihm und seinem Sohn befand. Tore Vigart aber hatte bereits den Zielerfasser aktiviert. Mit Lichtgeschwindigkeit wurde das Opfer angemessen, die Werte auf die Automatik übertragen, und dann verließen die tödlichen Strahlen den unteren Lauf der Waffe. Vain hatte sich zu Boden fallen lassen. So streiften die Strahlen Schlüsselbein und rechte Schulter. Er selbst war kein direktes Zielobjekt, da er sich noch immer innerhalb der 1,66-Meter-Zone befand.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht blieb er auf dem Boden liegen. Er hörte den erstickten Todeslaut des Admirals. Dann sah er, wie Tore zurückwich, um aus der Sicherheitszone herauszugelangen und auf ihn ebenfalls den tödlichen Schuß abzugeben. Schmerzgepeinigt und halb ohnmächtig sah er wie durch einen Schleier hindurch die vom Triumph verzerrten Gesichtszüge des Monstrums und wartete auf sein Ende. Am Fenster, hinter dem Rücken des Ungeheuers, erschien schemenhaft ein Kopf. Vain sah einen Lichtblitz. Dann versank er im Nichts… Als er wieder zu sich kam, sah er über sich gebeugt eine Frau. Leandra Leonides lächelte. Behutsam tastete sie über die Schulter, die sie bereits mit einer Gewebeaktiv-Binde versorgt hatte. Als Vain reden wollte, legte sie den Finger auf den Mund. »Nicht sprechen«, sagte sie, »die Gefahr ist vorüber.« Sie stützte seinen Kopf ein wenig, damit er den Toten sehen konnte, der ausgestreckt am Boden neben der Wand lag. Tore Vigart – das Andromedaleben. Leandra Leonides aktivierte den Kommunikator am Schaltpult des toten Admirals. Als der Bildschirm sich erhellte und der Kopf Professor Wlastinows erschien, sagte sie: »Kommen Sie sofort, Professor – das AND ist tot. Ich habe es getötet.« Dann ging sie zu Vain zurück. »Du kamst im allerletzten Augenblick…«, flüsterte Vain. Leandra nickte ernst. »Aber nicht zu spät«, sagte sie und lächelte. ENDE Lesen Sie nächste Woche: Invasoren auf dem Mond von Kris Neville Gefahr von Luna – der Satellit der Erde wird zum Tummelplatz unheimlicher Kräfte. TERRA ASTRA Nr. 21 im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Preis DM 1,-.