Ana Maria Shua
Lauritas Liebschaften
Bei Schwärmen von Männern Ruhe bewahren. Es empfiehlt sich nicht, mehr Männer ein...
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Ana Maria Shua
Lauritas Liebschaften
Bei Schwärmen von Männern Ruhe bewahren. Es empfiehlt sich nicht, mehr Männer einzufangen, als man in einem Winter aufzehren kann. Im Frühjahr werden sie dann mager und launisch und nehmen einen säuerlichen Geschmack an … Und Laura weiß, was sie von Machos will. Sexy und selbstbewußt genießt sie ihr Leben in vollen Zügen und schlägt dabei der argentinischen Männergesellschaft ein Schnippchen nach dem anderen. Der erotische und witzige Roman einer neuen Frauengeneration Südamerikas! ISBN: 3-423-11987-X Original: Los amores de Laurita Deutsch von Gunhild Niggestich Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag Erscheinungsjahr: 1995 Umschlaggestaltung: Wolf Erlbruch
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch »Rituelle Menschenfresserei: das Herz seines stärksten Gegners essen. Laura beugte sich über Gerardo und fuhr mit ihrer hungrigen Zunge über die Schweißperlen, die an seinem Hals glänzten …« Jörge, Sergio, Gerardo, Michele, Pablo – Laurita versüßt sich die letzten Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes mit erotischen Träumereien. Aber es handelt sich hier keineswegs nur um Phantasien. Sie ruft sich Liebesabenteuer in Erinnerung, die sie tatsächlich gehabt hat, und erlebt sie auf diese Weise neu. Sexy und wild entschlossen, ihre Jugend zu genießen, hat sie nicht gerade das Leben geführt, das man in Argentinien von einer höheren Tochter erwartet. Sinnlich, schwungvoll und witzig berichtet sie von ihren Affären. Ihre mit entwaffnender Leichtigkeit erzählte Geschichte ist typisch für eine neue Frauengeneration in Südamerika.
Autor Ana Maria Shua wurde 1951 in Buenos Aires geboren. Sie studierte Literaturwissenschaften und arbeitete vor allem in der Werbung. Vor ›Lauritas Liebschaften‹, ihrem bisher größten Erfolg, veröffentlichte sie 1967 den Gedichtband ›El sol y yo‹, mehrere Erzählungen und 1980 den Roman ›Soy paciente‹. Ihre beiden Romane wurden erfolgreich verfilmt, ihre Geschichten in mehrere Sprachen übersetzt.
So wie jeder Frau wirft man auch mir vor, eine Spinne zu sein, und es wird von mir diese ständige Absonderung von klebrigen Fäden erwartet, und daß ich lerne, mit ihnen ein Netz zu spinnen, um die Feigheit der Männer zu rechtfertigen, die von meiner Gier nach ihren Lebenssäften überzeugt sind, deren widerlich bitteren Geschmack sie nicht einmal ahnen, und an deren beschämend geringfügige Menge sie nicht einmal einen Gedanken verschwenden (so versteht sich, daß ich manchmal drei oder vier für eine einzige Mahlzeit brauche). Um sie anzulocken, gibt es nichts Besseres, als ihnen aus dem Hinterhalt aufzulauern. Ein bißchen Majoran hier und dort und Zwiebelringe in den Ohrläppchen, damit man die Angelhaken nicht so sieht. Bei Schwärmen von Männern Ruhe bewahren. Es empfiehlt sich nicht, mehr Männer einzufangen, als man in einem Winter aufzehren kann. Im Frühling werden sie dann mager und launisch, und sie nehmen einen säuerlichen Geschmack an; ihre Konservierung wird dann heikel. Vor zwei Wochen hat er beschlossen, nicht mehr zu rauchen, solange seine Patienten im Sprechzimmer sind. Vielleicht verabschiedet er sich deshalb so freudig von dem jungen Paar, und bevor er die nächste Patientin hereinbittet, zündet er sich eine Zigarette an, die letzte natürlich. Die letzte Zigarette meines Lebens, denkt er, zufrieden mit seiner Willenskraft und dem Nikotin, das sich wieder angenehm in seinem Stoffwechsel ausbreitet. Ich erwarte Sie nächste Woche wieder, Laura, oder auch schon eher; Sie wissen ja, wenn irgend etwas sein sollte, rufen Sie an. Trotz ihres umfangreichen Bauchs und trotz ihrer leicht geschwollenen Beine bewegt sich Laura behende. Ihr Mann bezahlt die Untersuchung und verlangt eine Quittung, ohne die er das Geld von seiner Krankenkasse nicht erstattet bekommt. Sie verlassen nur ungern diese kleine Oase der Kühle, die die Klimaanlage im Bauch der glühendheißen Stadt ermöglicht, und 5
sie treten wohl oder übel wieder hinaus in den sengenden Sommer von Buenos Aires. Auf der Straße lehnt sie es kokett lächelnd ab, ins Auto zu steigen. Meine Belohnung steht noch aus, erinnert sie ihn. Und obwohl er es eilig hat, läßt er sich von der betörenden Anmut ihres Gesichts, der vermeintlichen Weichheit, die von den jetzt voller gewordenen Lippen, den glatten Rundungen, dem Leuchten der Haut und Augen herrührt, verführen. Trotzdem unternimmt er einen letzten Versuch, ihre Bitte abzuschlagen, indem er darauf hinweist, daß es noch sehr früh ist, und daß die Gymnastikstunde für werdende Mütter bald beginnt, an der sie ja teilnehmen muß. Aber Laura hat beschlossen, wegen der Hitze und wegen ihrer Gelenkschmerzen die Gymnastikstunde zu schwänzen, und sie läßt sich nicht umstimmen. Sie hat weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen, um sich das Wohlwollen der Waage im Sprechzimmer zu erkaufen, und meint, daß zwei Uhr nachmittags gerade die richtige Zeit ist, um in einer Konditorei im nächsten Block Tee und Törtchen zu sich zu nehmen. Die kühle Luft, die ihnen beim Betreten der Konditorei entgegenschlägt, bestärkt den Ehemann in seinem Wunsch, im nächsten Sommer ein neues Automodell zu kaufen, diesmal mit Klimaanlage. Sie setzen sich an einen Tisch in der Nähe des Fensters, und während sie auf die Bedienung warten, nimmt ihr Gespräch seinen üblichen Verlauf: wie ein Fluß, der nach der Trockenheit unweigerlich wieder in sein altes Bett zurückfließt. Laura erzählt, daß sich ihre Mutter sehr darüber wundert, wie häufig sie zum Frauenarzt geht, während sie selbst erst gegen Ende ihrer Schwangerschaft, und dann auch nur selten und unregelmäßig zur Untersuchung gegangen sei. Wenn sich deine Mutter schon wundert, was wird dann erst deine Großmutter sagen? fragt er. 6
Ach du meine Güte, meine liebe Großmutter. Sie zählt zusammen, was wir für jeden Arztbesuch bezahlen, dann rechnet sie die Zinsen dazu und rastet aus. Kannst du dir das vorstellen, sie hat so viele Kinder gekriegt, aber die Hebamme hat sie nie vor den Wehen gesehen. Obwohl er die Antwort kennt, fragt er jetzt, wie alt denn die Großmutter bei der Geburt ihres ersten Kindes, des Vaters von Laura, gewesen ist. Sie weiß, daß die Großmutter bei der Geburt ihres Vaters gerade erst sechzehn Jahre alt war, was die gängige Vorstellung widerlegt, die Kinder würden heutzutage, angeregt durch die Massenmedien, eher zur Reife kommen.
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I. SECHZEHN Worin erzählt wird, wie Laurita unwiderruflich sechzehn Jahre alt wird Sie sah etwas Riesengroßes, Verschwommenes, das sie nicht zu identifizieren versuchte. Dann erkannte sie einen Finger, einen sehr großen Finger, um ihn herum dicke, schwarze Kabel. Ihr eigener rechter Daumen. Ihre eigenen Haare so nah bei ihren Augen, daß sie sich anstrengen mußte, ihren Blick darauf einzustellen, um die Umrisse genau zu sehen, sie aus dem Wust von optischen Eindrücken herauszulösen. Sie bewegte langsam den Arm, führte überraschend bewußt den Befehl ihres Gehirns aus, wobei sie fast den Impuls durch die Neuronen, Axon – Transmitter – Axon, bis zu den Muskeln verfolgte, die sich spannten, um die Bewegung auszuführen. Sie hatte den geheimnisvollen Bereich des Wachwerdens hinter sich gelassen, jenes Niemandsland, das sich zwischen Schlaf und Wachsein erstreckt. Sie hörte eine Stimme, die sie bei ihrem Namen rief, nahm den warmen Geruch ihres Körpers zwischen den Laken wahr, und es drangen die Geräusche des jetzt auch erwachenden Hauses zu ihr, das sich anschickte, einen neuen Tag zu beginnen, wie der gestrige Tag, wie der folgende Tag, das Rauschen des in die Küchenspüle einlaufenden Wassers, die kurze Explosion der betätigten Wasserspülung, das Scheppern des Geschirrs, Türen, die geöffnet und geschlossen wurden. Laura wußte nun, daß sie unweigerlich wach war, und daß dies ihr Geburtstag war. Sie roch den Duft von Milchkaffee und von frischem Toast und befürchtete, daß ihr Leben immer so sein würde, ohne Wechsel und ohne Ende. Es war ein schöner sonniger Tag, und weit weg von Buenos Aires, auf einer unentdeckten Südseeinsel, würden die 8
Eingeborenenfrauen in enganliegenden Schürzen aus ihren palmengedeckten Hütten heraustreten und sich wie Eidechsen auf dem weißen Sand am Strand lagern, um über die Geheimnisse des Lebens und der Liebe nachzusinnen. Später dann würden sie spüren, wie auf ihren nackten Brüsten die warme und aromatische Luft um ihre erregten Brustwarzen spielt, und sie würden sich im Frauenhaus treffen, um die Bräune ihrer Arme zu vergleichen, während die alten Frauen Bananen pflücken würden, um sie zum Frühstück zu braten. Die Männer würden mit kleinen Harpunen aus Knochen Fische fangen. Die Männer waren stark und schön, poetisch und verständnisvoll. Es war ein Samstagmorgen, und Laura hatte Unterricht in der Alliance Francaise. Ihre Mutter kam mit dem Geburtstagsgeschenk ins Zimmer. Sie war eine große, stattliche Frau, die sich bis jetzt dagegen gesträubt hatte, ihr langes blondes Haar schneiden zu lassen, obwohl die Spielregeln der Gesellschaft eigentlich vorschrieben, daß eine Frau ihres Alters und ihrer sozialen Zugehörigkeit das Haar kurz und frisiert zu tragen hätte. Laura war mit einem Anflug von Einverständnis immer stolz auf diese dichte Fülle blonder Haare gewesen, die alle zwei Monate gefärbt werden mußten, um die grauen Ansätze zu verbergen. Aber an diesem Morgen erschien ihr die Mutter älter und gebeugter als sonst zu sein, und es störte dieser Jungmädchenlook, der nicht zu einem Gesicht passen wollte, das sich schon auf dem Weg durch den traurigen und kurzen Herbst befand. Sie trug einen sehr alten, warmen, roten Morgenmantel aus Cordsamt; Laura erinnerte sich, ihn schon seit ihrer Kindheit an ihr gesehen zu haben. Und jene Zeiten, die Zeiten, als Laura noch ein Kind war und sich dem Ehebett nur mit Vorsicht näherte, um sich nicht am Öfchen zu verbrennen, auf dem der Kessel für den Matetee stand, erschienen ihr jetzt so weit weg wie die Insel der braunhäutigen Frauen. Das Geschenk war eine kleine Handtasche aus schwarzem 9
Leder mit Samtverzierungen, wie sie im Augenblick modern waren. Laura fühlte sich enttäuscht. Ihre Mutter spürte ihre Enttäuschung und ging zum Angriff über. Wenn dir die Farbe nicht gefällt, kannst du die Tasche umtauschen, ich hab den Kassenzettel aufgehoben; es gab sie noch in blau und braun, aber in schwarz fand ich sie am edelsten. Vielen Dank, Mama, aber du weißt ja, daß ich keine Handtasche trage. Ich stecke alles in meine Hosentaschen, oder ich nehme eine Mappe mit. Das solltest du nicht, erwiderte ihre Mutter scharf. Eine Frau muß eine Handtasche tragen. Eine hübsche Handtasche, die zu den Schuhen paßt. Das mindeste, was man von einer Frau verlangen kann, ist doch wohl, daß sie elegant ist. Das mindeste, die unterste Stufe: das war damals die Schwelle, die ferne Plattform, auf die man steigen (oder herabsteigen) mußte, um eine Frau zu sein, eine echte Frau, die den Erwartungen der eigenen Mutter Genüge zu tun hat. Eine elegante Frau. Das war der Weg, der sich vor ihr auftat, der Weg, den sie gezwungenermaßen beschreiten sollte. Und obwohl sich Laura unbewußt so anzog wie alle Mädchen ihres Alters und ihrer Herkunft, die alle keine Handtasche benutzten, sondern sich alles in die Taschen steckten oder eine Mappe trugen, glaubte sie, keine elegante Frau sein zu wollen, und stellte sich vor, sie selber habe es so beschlossen. Ihr schien es verächtlich, daß eine intelligente Frau wie ihre Mutter das Zusammenpassen von Schuhen und Tasche für wichtig hielt – verächtlich. Beklemmung schnürte ihr die Kehle zu beim Gedanken an eine Zukunft, in der sie sich in die verhaßte Herde aller Frauen gepfercht fände, wo sie aufhören würde, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, um sich um die Farbe einer Handtasche zu sorgen. Und sie konnte auch damals schon voraussehen, daß sie – wenn sie beschlossen hätte, sich zu ergeben, sich einfangen zu lassen von den Spinnweben der Zeit, 10
hinunterzugleiten über die Rutschbahn der Mittelmäßigkeit, ja selbst, wenn sie es sich fest vorgenommen hätte, daß sie, Laurita, es nie zu einer eleganten Frau bringen würde, die auf so natürliche Weise elegant wäre wie ihre Mutter. Diese Gewißheit hob ihre stolze Gleichgültigkeit auf, und Laura wußte, daß sie nicht nur imstande war, ihre Mutter zu verachten, sondern auch, sie zu beneiden. Ein ruhiges blaues Meer umgibt die Insel. Es gibt keine Brandung. Das Korallenriff bildet eine Barriere, die ruhiges Gewässer einschließt, wie das einer Lagune. Die Insel ist nicht flach, sondern sie steigt zu ihrer Mitte hin an. Da sind Geräusche: das Rauschen des Meeres, die Stimmen der Vögel, der Klang der üppig wuchernden Pflanzenwelt, die unaufhörlich ihre Wurzeln tiefer senkt und ihr Blattwerk ausbreitet. Die kräftig leuchtenden Farben der Blüten können sich kaum neben dem allgegenwärtigen Grün behaupten. Nur an den Stranden stehen Palmen, Kokospalmen. Überall wachsen Bäume mit ausladenden Kronen, deren fleischige Blüten mit ihrem süßen Duft die Luft der Insel parfümieren. Während sie das Buch über die französische Sprache und Kultur suchte, rief Jörge an, um ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren, auch das war vorauszusehen, gehörte dazu. Sie müsse den ganzen Tag lernen, sie würden sich am Abend sehen. Sehr ungelegen tauchten nun die Erinnerungen auf: wie sie sich kennengelernt hatten, wie er ihr seine Liebe gestanden hatte, wie sie ihm mit Begeisterung zugehört und versucht hatte, sich jedes seiner Worte einzuprägen, um sie dann ihren Freundinnen wiederzuerzählen. Jörge ist auf mich abgefahren, prahlte sie vor ihnen in einem Jargon, der nach zwei Jahren in Vergessenheit geriet und von einem anderen verdrängt wurde, der ihnen aber zu jener Zeit einmalig und ewig erschien. Sie waren zusammen mit dem Bus gefahren, und er hatte ihr die beiden Fahrscheine gezeigt. 11
Ich wünsche mir, daß wir zwei immer wie diese Fahrscheine sein könnten. Laura hatte versucht, die Fahrscheine in die Hand zu nehmen, um sie genauer anzusehen und ihr Geheimnis zu entdecken, aber er hatte schnell seine Hand weggezogen. Sie hatte weiterhin fragend und verständnislos auf die Fahrscheine geschaut, bis er ihr schließlich fast unwillig sagte: Wie diese Fahrscheine: zusammen! Und er hatte beide Papierstreifen in seine Brieftasche gesteckt. Zwei Jahre waren seit diesem unvergeßlichen, unverzeihlichen Vergleich vergangen. Zwei Jahre ungestümer Umarmungen im Aufzug zwischen zwei Stockwerken, endloser Zärtlichkeiten auf dem Sofa im Wohnzimmer, vorsichtiger Vergnügungen im Schilf des Tigre, wohin sie sonntagsmorgens zum Rudern hinausfuhren, und woher sie am Spätnachmittag, schlimm zerstochen von den Bremsen, zurückkamen. Von der gelassenen Warte ihrer damaligen sechzehn Jahre herab betrachtete Laura liebevoll das Bild des kleinen Mädchens von vierzehn, das sich beeilt hatte, die vermeintlich einzige und letzte Gelegenheit in seinem Leben wahrzunehmen. Denn Laurita, die Vierzehnjährige, die sich ohne jede Illusion im grausamen Spiegel ansah, glaubte, daß nur eine außergewöhnlich schöne Frau das Verlangen und die Liebe der Männer verdienen könne, und Laura, die Sechzehnjährige, war gerade dabei zu entdecken, daß alle Männer alle Frauen begehren oder aber dazu gebracht werden können. Alle Männer: Jörge war weder stark noch schön, und schon gar kein Dichter, auch jagte er keine Fische mit kleinen Harpunen aus Knochen; Jörge studierte, würde sie heiraten, seine und ihre Eltern würden sich nach langen Diskussionen auf die Zahl der Personen, die jede Familie zum Fest einladen könnte, einigen und auch darauf, sich die Kosten für den Kauf einer Dreizimmer-Wohnung mit Dienstmädchenzimmer zu 12
teilen, in der sie leben würden. Eine Tante von ihm würde ihnen einen Satz Weingläser schenken und ein Onkel von ihr ein komplettes Eßgeschirr; Laura würde Teller aus Steingut für jeden Tag und Teller aus Porzellan für ihre Gäste haben, Plastikbüchsen für Reis und Nudeln und einen Satz Kochtöpfe aus rostfreiem Stahl und ein Dienstmädchen, das damit kochen würde, und die Zeit verginge, schnell waren die letzten zwei Jahre vergangen, und schnell würden auch die folgenden vergehen. Sechzehn Jahre: zu spät für alles. Die Würfel waren gefallen, das Spiel war für Laura schon gelaufen, die Zeit für Entscheidungen war vorüber, alles war schon entschieden, vorhersehbar, zwei Jahre war sie älter geworden, und diese Jahre lasteten auf ihrem Körper, der schon dem Zerfall ausgesetzt war. Und trotzdem, als sie auf dem Boden ihres Zimmers lag, um mit dem ganzen Körper die Schallwellen aufzunehmen, als sie mit voller Lautstärke ihren Lieblingssong hörte, schien ein nebulöses, wunderbares Schicksal sie zu rufen und sie zu irgendeinem Zeitpunkt oder an irgendeinem Ort zu erwarten. Der Song hieß ›Sealed with a kiss‹, gesungen von Brian Hyland, und der Text erzählte von einem Paar, das sich trennen muß, weil die Ferien angefangen haben oder vielleicht, weil sie zu Ende gegangen sind – Laura konnte nicht genug Englisch, um sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden; wie auch immer, er verspricht, ihr jeden Tag einen mit einem Kuß versiegelten Brief zu schicken. Der Text war ihr nicht so wichtig. Etwas in der Musik und in der Art und Weise, wie sich die Stimme des Sängers schmachtend durch die langsame, melancholische Musik zog, versprach Laura (weiß der Teufel warum!) eine skandalumwitterte, wilde Zukunft, mit der Aussicht, in unberechenbaren Wirbelstürmen über die Meere zu jagen und ungeahntes Neuland zu entdecken, Menschenmassen zu Begeisterungsstürmen hinzureißen, die Welt durch ihre Werke 13
in Erstaunen zu versetzen und eine oder viele entfesselte Leidenschaften auszuleben. Dieses turbulente und wirre Leben (in dem für Jörge kein Platz war) schloß keineswegs die Ehe aus und, nach einem anfänglichen Zerwürfnis, auch nicht die allmähliche Zustimmung ihrer Eltern. Als sie eines Tages mit Jörge über ihre Zukunft, über ihre eigene Zukunft sprach, hatte er kategorisch geantwortet: - Der Löwe jagt, die Löwin bleibt in der Höhle und kümmert sich um die Jungen. In der Höhle: Laura hätte über die totale Angepaßtheit, in die er mit diesen Worten ihr Leben pressen wollte, lachen können (schließlich war ihre eigene Mutter ja außerordentlich erfolgreich darin), wenn die peinliche Unwissenheit Jörges sie nicht erschüttert hätte: denn selbst aus den Filmen von Walt Disney hätte man mit ein wenig Aufmerksamkeit lernen können, daß die Löwinnen jagen, daß sie ausgezeichnete Jägerinnen sind, gefährlicher, blutrünstiger als ihre trägen Gatten. Eine der jungen Inselbewohnerinnen hebt sich von den anderen durch die wunderbare Schönheit ihres Körpers und durch die seidige Beschaffenheit ihres Haares ab. Frangipani heißt sie. Frangipani ist der Name der fleischigen Blüten, deren süßer Duft die Luft der Insel durchzieht. Am Strand, während die Riesenschildkröten ihre Eier im Sand ablegen, zeichnet Frangípani wundersame, uralte magische Zeichen, die von den Frauen ihres Stammes von Generation zu Generation weitergegeben werden. - Komm nicht so spät zurück, rief ihr die Mutter nach, denk daran, daß heute dein Geburtstagsessen ist. Sechzehn Jahre: unwiderruflich sechzehn Jahre alt. Das Gefühl der vergehenden Zeit, ihres Laufs durch jede einzelne ihrer Zellen, durch die Luft, die sie atmete, durch die Gegenstände, wurde in Laura immer stechender, immer drängender. Die Zeit wollte nicht stehenbleiben, sie schritt mitleidslos weiter auf ihr 14
eigenes Ende zu. In der Alliance wuchs sich dieses Gefühl zum Schmerz aus und wurde unerträglich. Der größte Teil der Kursteilnehmerinnen waren Frauen hart an der Schwelle des Alters, Frauen, die ihr Leben hatten dahinlaufen lassen und es dabei verloren hatten, die es unverantwortlicherweise zugelassen hatten, daß die Zeit durch sie hindurchging, Frauen, die sich langweilten und Französisch lernten, da es für alles andere zu spät war. Laura stellte sich die Sehnsucht nach irgend etwas Anderem, Unbestimmtem vor, das ihre zähen, ausgetrockneten Scheiden zur Alliance Française getrieben hatte, wo ihre Nasenflügel vor Vergnügen bebten, als ob die untadelige Aussprache der Lehrer sie in ein Flair von Paris tauchte, in das Paris Jean Gabins, Paul Munis, verkleidet als Toulouse Lautrec und das der so skandalös französischen Nutten mit ihrem ewigen Cancan, den sie ohne Unterhöschen tanzten. Sie konnte das nicht ertragen und beschloß, nicht hinzugehen. Statt dessen ging sie in eine Konditorei in der Calle Córdoba, bestellte einen Toast mit Schinken und Käse und betrachtete fassungslos nach jedem Bissen das unaufhaltsame Kleinerwerden des Toasts. Eine Stimme, viele Stimmen wiederholen ihren Namen: Frangipani erhebt sich und läuft zu den anderen. Die Großen Tänze beginnen, und Frangipani ist die anmutigste, die beschwingteste der Tänzerinnen. Ihre nackten Füße können sich in Vögel und in Fische verwandeln, und die Kraft, mit der ihre Fußsohlen den Boden berühren, vermag die Erde selbst aus den Angeln zu heben. Ihre festen Brüste schwingen sanft im Rhythmus ihres Körpers, jenem Rhythmus, den die Trommeln im Innern ihres Bauchs anschlagen und der sich von dort aus in schwindelerregenden Wellen ausbreitet, die sie bis in die Fingerspitzen durchpulsen. 15
Sie kam so frühzeitig zurück, wie sie es versprochen hatte. Laura wäre es lieber gewesen, wenn ihr Geburtstag still und unbeachtet vorübergegangen wäre, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, wenigstens ein Familienessen auszurichten. Ein Damasttischtuch war aufgelegt worden, das zweitbeste, das der nicht-ganz-so-wichtigen Anlässe, und Laura, überzeugt von der traurigen Absurdität dieser kleinen Feier, konnte sich nicht erklären, warum sie dann aber das Fehlen des prächtigen Tischtuchs für besondere Anlässe schmerzlich berührte. Die Kristallgläser funkelten und die Goldränder der Teller. Ihre Großmutter saß schon am Tisch und aß Brot. Eine Freundin ihrer Mutter, die vor kurzem ihre Anwaltsprüfung abgelegt hatte, war auch eingeladen worden. Man setzte sich zum Essen, ohne auf Lauras Vater zu warten, der immer zu spät kam. - Ich hab dir dein Lieblingsessen gekocht, sagte Lauras Mutter, als das Dienstmädchen eine Schüssel mit Huhn à l’orange und Reis auftrug. Als der süßlich-saure Geruch des Gerichts das Zimmer erfüllte, fühlte Laura, daß ihr die Tränen in die Augen schossen: Huhn à l’orange war nicht ihr Lieblingsessen, und der Irrtum ihrer Mutter hatte in ihr eine dumme Traurigkeit ausgelöst. Sie stand vom Tisch auf, und im Badezimmer drückte sie ihr Gesicht ins Handtuch und weinte grundlos. Sie aß lustlos, voll Scham und Stolz, bereit, ihre Verstimmtheit hinunterzuschlucken, bereit, sie sich anmerken zu lassen. Ihr Vater kam mitten im Essen, nahm die Vorwürfe so unbeteiligt entgegen wie ein Fels in der Brandung und zog mit ein paar hastig hinuntergeschluckten Bissen gleich. Die Gläser hatten ihren Glanz verloren, waren jetzt voll Mineralwasser oder Seven up, und allmählich zeigte das Tischtuch Spuren, die die Tischrunde in Form von Brotresten und Soßenflecken hinterließ. Beim Nachtisch kreiste die Unterhaltung um die mögliche Anwesenheit außerirdischer Wesen zu Beginn der Menschheit. Ihr Vater hatte vor kurzem ein Buch gelesen, das diese These 16
vorbrachte und energisch vertrat. Er war ein Mann von dezidierten Meinungen, von beneidenswert deutlichen und handfesten Ideen, was ihn paradoxerweise dazu verleitete, die unwahrscheinlichsten Erklärungen zu akzeptieren, die er dem Geheimnisvollen vorzog. Einmal war er vor Laura gefragt worden, welche Eigenschaften oder Charakterzüge in einer guten Ehe die wichtigsten wären. Wie immer hatte er ohne großes Nachdenken geantwortet: Respekt und Toleranz. Laura wußte, daß es für ihren Vater mehr darauf ankam, eine schnelle und kategorische Antwort zu geben, als zu versuchen, seiner eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen; doch trotzdem konnte sie seitdem nicht anders von der zwanzigjährigen guten Ehe ihrer Eltern denken, als daß sie auf Respekt und Toleranz, Toleranz und Respekt gegründet sei. Es gibt viel Unerklärliches im Altertum, sagte nun ihr Vater, während er das Weiche vom Brot zu Kügelchen rollte, und die Hypothese von den Außerirdischen kann alles erklären. Das Huhn, das wir gerade gegessen haben, war nicht frisch, sagte die Großmutter. Das war ein Tiefkühlhuhn. Ach, ich glaube nur an das, was ich sehen und anfassen kann. Wir Anwälte werden täglich mit Extremsituationen konfrontiert, und das macht uns sehr skeptisch, sagte die Freundin ihrer Mutter, die gerade vor vierzehn Tagen ihr letztes Examen in der juristischen Fakultät abgelegt hatte. - Das war ein Huhn aus der Tiefkühltruhe. Man kann leicht erkennen, wenn es ein Huhn aus der Tiefkühltruhe ist, beharrte die Großmutter. Die Knöchelchen sind dunkel, und das Huhn schmeckt nach nichts. Vorsicht, ich gehöre nicht zu denen, die an Hexen glauben, sagte der Vater, darauf bedacht, daß ihm ja keiner seine Überlegenheit auf dem Gebiet des Skeptizismus, auf dem er sich unschlagbar wähnte, streitig machte. Aber dieses Buch liefert 17
viele gute Beweise, es erklärt alles. Es erklärt zum Beispiel, wie die Pyramiden gebaut wurden. Weiß übrigens jemand, wie die Pyramiden gebaut wurden? setzte er herausfordernd nach. Nun gut, von Sklaven, oder? wagte die Anwältin zu bemerken. Und vor den Augen aller am Tisch tauchte das unvermeidliche Bild einer langen Reihe von Hollywood-Statisten auf, die riesige Blöcke aus Papiermache schleppen, während die Beleuchter und der Produktionsleiter mit langen, biegsamen Peitschen aus Lederimitat auf sie einschlagen. Ach was, Menschenkraft. Das erklärt überhaupt nichts, sagte der Vater. Es gibt vieles, was man nicht erklären kann, sagte die Großmutter. Warum muß jemand ein tiefgefrorenes Huhn kaufen und so viel dafür bezahlen wie für ein frisches? Gut, aber du hast es schließlich gegessen, oder? Du hast es gegessen, als schmeckte es dir. Dann halt jetzt den Mund, sagte Lauras Mutter. Und dann fuhr sie ohne Übergang, aber in einem anderen Ton fort: nicht nur die ägyptischen Pyramiden, sondern auch die aztekischen. Ich war in Mexiko und habe sie gesehen. Ich erinnere mich, daß man in Mexiko das Brot anders nennt als bei uns. Und schon vertiefte sie sich zu Ehren des Gastes in eine langatmige und ausführliche Schilderung ihrer Reise nach Mexiko, eine Geschichte, die sie schon hundertmal wiederholt hatte und die die anderen nicht zu unterbrechen wagten; sie beschränkten sich vielmehr darauf, in den vorhergesehenen Pausen Kommentare abzugeben. Und die Zeit verging. So sind sie, sagte sich Laurita entsetzt. So würde sie sein, wenn sie mit der Zeit schließlich abgestumpft wäre: sich wiederholend, farblos, tolerant. Erwachsen. Frangipani führt den Tanz an, ihr Körper bewegt sich zunächst wie ein Reiher, dann wie eine wind- und regengepeitschte Kokospalme, und ihre Arme sind Wedel und 18
Flügel und die Fangarme eines Kraken, der während seiner Wanderung durch das Korallenriff seine Farbe verändert. Während sie sich immer mehr in Ekstase hineintanzt unter den Augen der Männer, die sich wie gierige Insekten auf ihre zarte Haut setzen, gewahrt Frangipani urplötzlich einen seltsamen Blick, der sich von den anderen unterscheidet, einen Blick, der, statt auf ihr zu ruhen, sie festnagelt, sie durchdringt. An diesem Abend erzählt Jörge, der mit einigen Freunden von der Fakultät am letzten Wochenende nach Uruguay gereist war, Laura von seinen Erlebnissen in einem Bordell in Colonia. Sie hatten sich hinter der Tür mächtig amüsiert, sagte Jörge, als sie einen seiner Freunde heimlich beobachteten, der gerade mit einem Mädchen zugange war. Sie sahen, wie sich der Rücken des Blonden hob und senkte, und dieser Anblick hatte sie, wie es schien, belustigt und höchst erfreut. Jörge war mit einem sehr jungen Mädchen ins Bett gegangen. - Ich bin keine Nutte, hatte sie nachher zu ihm gesagt. Ich mach’s nur, weil ich das Geld für meine Geschwister brauche: die, die’s gerne tun, das sind Nutten! Und während Laura so tat, als hörte sie ihm zu, begann sie sich auszumalen, daß es vielleicht noch nicht zu spät sei, vielleicht gelänge es ihr noch, vom Weg abzuweichen, einen anderen kennenzulernen oder, noch besser, querfeldein davonzulaufen, zwischen Distelbüschen hindurch, unter freiem Himmel zu kacken, sich nicht mehr jeden Morgen die Zähne putzen zu müssen. Unterdessen verging die Zeit und verging, die Sekunden häuften sich mit irrer Geschwindigkeit, rissen die Minuten mit sich fort und die Minuten die Stunden, wahre Zeitlawinen, die auf sie einstürzten. Zur Feier ihres Geburtstags hatte Jörge sie zu einem Film eingeladen, den er allein in Uruguay gesehen hatte. Die ganze Woche über hatte er nur von diesem Film gesprochen, von jenen Bildern, die ihn so sehr bewegt und ergriffen hatten, daß er das 19
Erlebnis mit ihr teilen, sich noch einmal rühren und sich zu zweit ergreifen lassen wollte. Es war ein Liebesfilm, der die Liebe mit unscharfen Bildern beschrieb, mit viel Herumlaufen und Sich-Umarmen in Zeitlupe und einer Stilisierung des Geschlechtsaktes, die ihn angeblich poetisch, angeblich schön darstellen sollte, gemäß einer Vorstellung von Schönheit, die hartnäckig die Wahrheit verleugnet. Der Film war schön wie der Porzellannippes in den Schaufenstern, er war schön wie die großäugigen Kindergesichter, die gescheiterte Künstler malen, um sie zu Dutzenden an Touristen zu verkaufen, er war schön wie ein Kanarienvogel im Käfig oder eine Aprikose im eigenen Saft. Nutten sind die, die’s aus Spaß an der Sache machen, sagte sich Laura, als sie Hand in Hand durch die Menschenmenge auf der Lavalle gingen. Wenn Jörge dieser Film so gut gefiel, wenn er ihn so bewegte, wie erbärmlich mußte ihm das vorkommen, was sich zwischen ihnen beiden abspielte, diese verklemmte, verzweifelte, tolpatschige Zärtlichkeit, die bis zur Grenze des Erlaubten ging, dort innehielt und die Haut ihres Bauchs mit seinem Samen beschmierte. - Du hast dir den ganzen Film über die Beine gekratzt. Entsetzlich. Ich kann es nicht leiden, wenn du dich kratzt, sagte Jörge, als sie sich in einer Pizzeria an den Tisch setzten. Gerötete, triefende Augen hefteten sich an die tanzende Frangipani. Eine der Uralten aus dem Stamm hat es gewagt, ihren Blick zu ihr abschweifen zu lassen, statt ihn, wie es ihre Aufgabe wäre, auf den Kessel zu richten, wo die Bananen im Kokosöl braten. Frangipani erwidert den Blick und betrachtet die Alte, als sähe sie sie zum erstenmal, und sie sieht ihre schlaffen, faltigen Brüste wie Taschen aus Haifischhaut, und sie sieht ihr altes, zahnloses Haifischgesicht, und blitzhaft sieht sie mit Schrecken sich selbst, wenn ihre Beine keine Kraft mehr haben, um zu tanzen, und ein wirres Netz blauer, hervorquellender Adern sie für immer schmücken werden, und 20
sie sieht sich selbst Bananen pflücken, die sie als Speise für die jungen Tänzerinnen des Stammes in Kokosöl zu braten hat. Sie bestellten eine einfache, kleine Pizza mit Mozzarella, eine Karaffe mit Wasser und fingen schweigend an zu essen; ihr Schweigen lastete, und es wurde durch die Geräusche in der Pizzeria kaum gemildert. Laura hatte nicht den Mut, über den Film zu sprechen, und Jörge, der ihre Verhaltenheit spürte, wagte nicht, Fragen zu stellen. Während Laura sich an das letzte Stück Pizza machte, schaute sie Jörge an und sah ihn vor der Kirche am Arm seiner Mutter warten, sie sah ihn in einem etwas lächerlichen Anzug, den er wohl originell und elegant gefunden hätte, in einem weißen Smoking zum Beispiel mit einem gepunkteten Hemd, und sich selber sah sie in einem weißen Brautkleid mit einem Strauß Orangenblüten in der Hand langsam am Arm ihres Vaters über den roten Teppich schreiten, die Füße in den zierlichen, weißen Schuhen vorsichtig den Teppich berühren, so vorsichtig, als schritte sie über eine dicke Schicht fauler Eier, so als genüge ein etwas festeres Aufsetzen des Fußes, des Absatzes der zierlichen Schuhe, daß eins der Eier zerbricht und sich der widerliche, schweflige Gestank unter den Gästen verbreitet, die verstohlen ihre Taschentücher hervorzögen und lachend so täten, als wäre nichts. Und als sie etwas genauer hinsah, konnte sie auch die Schneiderin entdecken, die glückliche Schöpferin ihres Brautkleides, die ihr, während sie dahinschritt, die Falten ihrer Schleppe drapierte, den Fall ihres Schleiers überprüfte und nur auf ein Zeichen des Fotografen von ihr ablassen würde, um sich ihr nach dem Blitzlichtgewitter sofort wieder mit stolzer, künstlerischer Bescheidenheit und in dem Bewußtsein zu widmen, daß nicht ihr Gesicht, sondern ihr Werk der Nachwelt erhalten bleiben sollte. Ja, dann wäre sie eine verheiratete Frau, und niemals mehr würde sie sich die Beine kratzen können, ohne die Verärgerung ihres rechtmäßigen Gatten auf sich zu ziehen. Laurita schluckte den letzten Bissen Pizza hinunter und 21
fing wieder an, sich so wild zu kratzen, daß sie Laufmaschen riskierte. Kratz dich nicht, sagte Jörge zu ihr. Was ist denn los? Ich hab nachgedacht, sagte Laura. Ich weiß auch nicht. Vielleicht sollten wir uns nicht mehr sehen. Nur ein paar Tage, eine Woche lang oder so. Das hast du also gedacht? Was sagst du da? Jörge wurde blaß, rief den Kellner. Sie teilten sich die Rechnung, gingen auf die Straße; es waren nicht mehr so viele Leute unterwegs, es war spät, es war kalt, neblig, sie gingen Hand in Hand, Jorges Hand schwitzte stark, und Lauritas Hand zitterte, sie war kalt. Und die Zeit verging und verging. Jörge fing an zu weinen, er bat sie, ihn nicht zu verlassen, er erniedrigte sich, haßte sie, drohte zwischen Schluchzen und Weinen, sich vor einen Zug zu werfen, und Laurita haßte ihn, wußte, daß das gelogen war, sie stellte sich ihn unschlüssig und feige auf dem Bahnhof vor, sie verachtete ihn, liebte ihn, streichelte seinen Kopf, hatte keinen Mut mehr weiterzumachen, sie trat unmerklich den Rückzug an, sagte, daß sie alles nur so aus dem Augenblick heraus gesagt habe, daß er es nicht so ernst nehmen solle, daß sie es in Wahrheit nicht so gemeint habe, daß ja noch Zeit sei, daß sich alles in Ordnung bringen lasse, und sie gingen weiter und weiter und küßten sich, Jörge beruhigte sich, faßte Mut und sagte ihr, daß es so vielleicht besser sei, eine Woche lang, warum nicht, daraufhin Laura mit Nachdruck, daß sie ihn liebe, verrückt nach ihm sei, es unter keinen Umständen eine Woche lang aushalten könne, ohne ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen, ihm zuzuhören, und er, jetzt gestärkt – der Sieger, der seinen Stiefel auf den Hals des unterlegenen Feindes setzt, und, als ob es nicht genug wäre, ihn besiegt zu haben, mußte er ihn auch noch um Verzeihung bitten lassen –, bestand darauf, daß, trotz allem, in Wirklichkeit auch er, schließlich und endlich, warum eigentlich nicht, und Laura, verschreckt, sich 22
verteidigend, ihn hassend, beteuernd, kein Zweifel ihrerseits, sie liebe ihn und nur ihn und immer und ewig und immer und ewig, ja immer, sagte sich Laurita besiegt, kleinmütig. Sie gingen weiter und weiter und kamen schließlich zum Parque Rivadavia, es war neblig, sie setzten sich auf eine Bank, sie umarmten und küßten sich und fingen an, sich mit der genüßlichen Langsamkeit des Verlangens zu liebkosen, das sich selbst genug sein muß, eines Verlangens, das sich selbst in den Schwanz beißt, und Jörge streichelte über ihren Mantel, streichelte sie unter dem Rock, und Laurita dachte, daß ihr – wenn sie Jörge schon nicht mochte – doch sein Geruch und seine Hände und seine Zähne gefielen, seine Zunge gefiel ihr, und da hörte sie ganz nah eine laute, bedrohliche Stimme nach ihren Ausweisen fragen. Und in einem blitzartigen, erkenntnishaften Aufleuchten des Schreckens entdeckt Frangipani, daß sie es leid ist, die anmutigste, die beschwingteste der Tänzerinnen ihres Stammes zu sein, daß sie es satt hat, ihre nackten Füße immer wieder die monotone Abfolge der vielhundertjährigen Ritualtänze wiederholen zu lassen, die die Mythen und Sagen ihres Volkes in die duftende Luft zeichnen. Und selbst ihr Name, Frangipani, der Name der fleischigen Blüten, deren Duft die Insel durchzieht, erscheint ihr lächerlich, erstickend. Frangipani hat das Verlangen, und ihr Verlangen wird maßlos, drängt in Bereiche des Verbotenen, Frangipani hat das Verlangen, dem Lauf der Sturzbäche zu folgen, mit dem Kanu die Küsten der Insel abzufahren, scheue, gefährliche Fische mit kleinen Harpunen aus Knochen zu jagen, wie ein Mann, die kleine Frangipani. Obwohl alle Laternen brannten, lag der Park doch in einem trüben Halbdunkel, von dem sich die nahe, aber unerreichbare Helligkeit der Calle Rivadavia abhob. Es war eigentlich unvorstellbar, daß die Geräusche und Lichter der Autos so deutlich zu ihr herdrangen: Die Straße war weit, unendlich weit 23
weg, getrennt durch die soliden, unsichtbaren Gitterstäbe der provisorischen Freiluftzelle, in der sich Laura vor Angst wand. - Minderjährig, ihr beiden, was?! sagte der Polizist zu ihnen, nachdem er die Personalausweise geprüft hatte. Minderjährig und Fummler, was?! Das Fräulein ist wohl deine Braut? fragte er Jörge, der verschüchtert nickte. Wißt ihr nicht, daß das hier ein öffentlicher Park ist? Ihr werdet jetzt wohl mitkommen müssen! Aber der Mann schien es nicht eilig zu haben, sich irgendwohin begleiten zu lassen. Er blieb vor ihnen stehen, riesengroß, dickbäuchig, unheilvoll, schrie auf sie ein, machte sie nach allen Regeln der Kunst fertig, drohte ihnen mit einem Prozeß wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er wandte sich dabei nur an Jörge. Laurita, die ein paar Schritte hinter ihm stand und sich blöde, erbärmlich und verwerflich fühlte, wurde ein ums andere Mal von unterdrücktem, nervösem Lachen geschüttelt. In ihrer unsäglichen Furcht sah sie sich schon auf der abgeblätterten Bank einer Polizeiwache, ihre Eltern würden voll Scham und Wut hereinkommen und ohne Zweifel beim Verlassen der Wache auf Jörges Eltern treffen; sie würden sich höflich grüßen, sich entschuldigen, und jedes der beiden Elternpaare würde vorgeben, daß die ganze Schuld dem eigenen Sprößling anzulasten sei, während sie in Wirklichkeit davon überzeugt wären, daß der Sprößling der anderen sie der Schande ausgeliefert habe. Hingerissen von seiner eigenen Tirade, redete der Polizist immer weiter. Er rollte vor ihnen all die Macht auf, die jemand von Amts wegen haben kann, ließ sie die ganze Last ihrer Nichtswürdigkeit und ihres Vergehens spüren, beschrieb ihnen mit innerem Vergnügen in allen Einzelheiten das, was ein Paar zu Hause oder in einem Hotel machen kann – was er »Schweinkram« nannte –, und daß dasselbe Paar in keiner Weise dazu berechtigt sei, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Lauras Träume von heldenhaftem Ruhm waren jetzt sehr weit 24
weg, und sie fühlte sich nun dankbar, eine zu rettende Prinzessin zu sein, einen übel hergenommenen Ritter zu haben, auf den die Verantwortung für den ungleichen Kampf fallen würde. Jörge versuchte, sich stammelnd zu verteidigen, versuchte, sich selbst und sie irgendwie vor diesem Sturzbach von Beleidigungen und Drohungen zu schützen, der immerhin allmählich an Heftigkeit abnahm und in Ton und Art unmerklich anders wurde, der Drache mäßigte seine Stimmgewalt, milderte die Schwere des Vergehens, schien mit einem Mal Mitleid zu haben. Ist schon gut, sagte der Mann schließlich. Für diesmal lasse ich euch laufen. Jetzt gehst du, mein Freundchen, mit dem Fräuleinchen schnurstracks hier vorbei und läßt was fallen. Was? fragte Jörge erleichtert aber verwirrt. Na etwas, du weißt schon. Etwas aus der Geldbörse. Laura und Jörge sahen sich verzweifelt an: keiner von beiden hatte mehr einen Centavo. Der Polizist, verärgert darüber, daß aus diesem Paar von verschreckten Kindern nichts für ihn herausspringen würde, verjagte sie mit einer Geste, als wolle er ein gutartiges, aber lästiges Tier verscheuchen. Laßt euch hier bloß nicht wieder blicken, ihr dreckigen, ekelhaften Scheißfummler! fühlte er sich berechtigt, ihnen zum Abschied zu sagen, nachdem er ihnen nichts anderes als ihre Ehre hatte entreißen können. Laurita kam erst nach Mitternacht nach Hause. Das war also ihr Geburtstag gewesen. Frangipani hält im Tanz inne, ihre nackten, beschwingten Füße ruhen auf der Erde wie verwundete Vögel, und die übrigen Tänzerinnen bleiben plötzlich erschreckt, unbeweglich wie vergoldete Statuen in den Stellungen stehen, die sie beim abrupten Ende des Tanzes gerade eingenommen hatten. Die Trommeln schweigen. Frangipani singt, ihre Stimme ist dunkel und herzzerreißend; das Lied besingt eine ferne Stadt, eine jenseits des Meeres hochaufgetürmte Stadt, wo die Männer und 25
Frauen zusammen in buntgestrichenen, schnellen Metallkisten dahinfahren, eine Stadt, wo die Tänze zum Verrücktwerden frei sind und die Frauen sich in klaren Spiegeln betrachten und immer neue, wunderschöne Kleider tragen, und wo es keine eintönigen, weißen Sandstrände gibt, wo die Schildkröten ihre Eier ablegen, eine herrliche Stadt, hart wie aus Stein, wo niemand Frangipani heißt und die Luft nicht so unausstehlich süß und schwer nach jenen fleischigen Blüten stinkt. Das Lied ist voll Wehmut und bringt alle, die es hören, zum Weinen, weil alle wissen, daß es diese Stadt nicht gibt, oder, wenn es sie gäbe, daß sie zu weit weg ist. Schon im Nachthemd ging Laura ins Bad und wiederholte eine Reihe von Verrichtungen, die sie aus Routine, unwillkürlich, ja fast automatisch machte, sie zog ihren Schlüpfer aus, seifte die Stelle ein, die mit ihrer Genitalzone in Berührung gewesen war, und fing an, sie unter dem lauwarmen Wasserstrahl auszuwaschen. Einen Moment lang wurde ihr die Tätigkeit ihrer Hände bewußt, und sie fragte sich, warum sie nicht einfach den Schlüpfer in die Waschmaschine stecken konnte, was besonders Ansteckendes wohl dieses weibliche Wäschestück habe, welche obskuren Gründe es für dieses Ritual gebe, das sie von ihrer Mutter und ihre Mutter von der Mutter ihrer Mutter übernommen hatte. Während sie den Schutz oder das Wohlwollen gewisser Götter suchte und auf der Hut vor anderen Göttern war, verfolgte sie wieder aufmerksam die Bewegungen ihrer Hände, die den Schlüpfer auswrangen und ihn über einen Hahn der Dusche hängten, und sie sagte sich, daß sie Abend für Abend, an jedem Abend ihres Lebens unweigerlich diese Handgriffe tun würde. Daß sie hingegen aber niemals mehr sechzehn Jahre alt werde. Nicht zufällig hat Laura gerade diese Konditorei gewählt, um dort ihre Belohnung dafür zu bekommen, daß sie in den letzten vierzehn Tagen nicht zugenommen hat. Bei vorausgegangenen 26
Arztbesuchen hat sie vor dem Schaufenster mit verhohlener Gier die Fülle und Qualität der Törtchen bestaunt, die auf kleinen, mit Tortenspitze belegten Tabletts aus nichtrostendem Stahl angeboten werden. Der Kellner lächelt bei der Bestellung, die zu dieser Tageszeit etwas ungewöhnlich ist, und als er die Törtchen bringt, tauscht er einen Blick amüsierten männlichen Verständnisses mit Lauras Mann aus, der die Achseln zuckt und die Augenbrauen hochzieht, als wolle er sich unfähig erklären, dies Gelüst seiner Frau zu verstehen, das er dennoch zu erfüllen verpflichtet ist. Laura stellt ihre Teetasse zur Seite, wählt eines der Törtchen und setzt es auf ihren Teller. Die Gabel läßt sie liegen und beginnt, mit dem Teelöffel das Törtchen auszulöffeln; sie ißt nur die Creme, die es verziert und zum Teil füllt. Der Mann beobachtet sie mißbilligend, unterdrückt aber einen Tadel. Trinkst du deinen Tee nicht? Ich glaube nicht; willst du ihn? Ja, gib ihn mir rüber. Der Mann ist nun mit dem Tee beschäftigt, will sich ablenken, um seiner Frau nicht zusehen zu müssen. Sie hat die Cremefüllung aufgegessen, und die Überbleibsel des ausgehöhlten Törtchens liegen vorwurfsvoll auf dem Teller. Sie nimmt jetzt die Gabel und peilt entschlossen ein Blätterteigstückchen an, das mit einer Fondant-Masse überzogen ist. Unterwegs aber zieht etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich: eine leuchtende Kirsche, die ein Obsttörtchen krönt. Sie spießt sie mit der Gabel auf und ißt sie, ohne sich die Mühe zu machen, das geschändete Törtchen von dem Tablett zu nehmen. Dann legt sie das Fondant-Törtchen auf ihren Teller und hebt mit der Gabel die dünne Schicht gezuckerten Blätterteig ab, mit der es bedeckt ist. Jetzt kann er seine Entrüstung nicht mehr zurückhalten. Willst du nur das essen, was obendrauf ist? 27
Natürlich, das ist doch am leckersten. Wenn unser Kind am Tisch ißt, werden wir dich in die Küche schicken. Einverstanden, die guten Manieren wirst du ihm beibringen, und damit basta. Der Gedanke an das Kind, das bald zur Welt kommen wird, beruhigt den aufgebrachten werdenden Vater und gibt ihm die geduldige Sanftmut zurück, die er selbstverständlich während der gesamten Schwangerschaft und eines Teils des Wochenbetts aufbringen muß. Er kann jedoch der Versuchung nicht widerstehen, sie auf den Arm zu nehmen: Das hat sie verdient, weil sie ihn geärgert hat. Wenn es ein Junge wird, sagt er ernst, dann geben wir eine Party. Und wenn es ein Mädchen wird, fragt sie beleidigt und unangenehm berührt. Wenn es ein Mädchen wird, geben wir eine Superfete, antwortet er und lacht, um das Geplänkel zu beenden.
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II. DIE SUPERFETE Worin erzählt wird, wie Laurita zum ersten Mal bei einer richtigen Orgie mitmacht Laura war siebzehn Jahre alt, und das Wort Superfete hatte für sie etwas exquisit Perverses. Superfete, sagte sie vor sich hin, ich gehe zu einer Superfete. Sie hatte ihn am Abend zuvor kennengelernt, und sie hatten viel miteinander geredet, während sie in der »Pergola« uralte, zähe Ölkringel aßen und verbrannten, aufgewärmten Kaffee tranken. Kaffee trank Laura am liebsten mit etwas ungekochter Milch und nicht mit gekochter, wie man sie hier bekam mit diesem widerlichen Schmand, der bei jedem Umrühren an die Oberfläche trieb, wenn sie mit dem Löffelchen vergeblich versuchte, das Stück Zucker aufzulösen; es war einfach nicht möglich, es über einen gewissen Punkt aufzulösen (den Punkt nämlich, wo der richtige Zucker aufhört und das beigemengte Knochenmehl anfängt). - Älteres Pleistozän, hatte Sergio mit Blick auf die Ölkringel gemeint, und Laura war fasziniert von diesem Beweis von Bildung, die auch in Anspielungen auf Hemingway und Henry Miller durchschien. Auf lateinisch hatte sie seine Einladung angenommen, wobei sie das »v« wie »u« aussprach, denn auch das hatten sie gemeinsam: die Aussprache des klassischen Latein aus dem ersten Jahrhundert v. Chr., so wie es auf dem angesehenen Gymnasium gelehrt wurde, das sie beide besucht hatten (welch freudige Entdeckung!). Das ist schon eine Garantie, sagte sich Laura; denn in jener Zeit hielt sie es nicht für möglich, ja sie fand es ganz und gar ausgeschlossen, sich in einen Mann zu verlieben, der in Bedingungssätzen den Irrealis mit dem Konjunktiv verwechseln würde. 29
Er hatte ihr viel von »Saint Nicholas House« erzählt, wobei er durch Aussprache des »ch« ganz offen zu erkennen gab, daß er kein Englisch konnte, was Laura aber, wenigstens dieses Mal und in Anbetracht seines blonden Bartes und seiner anthropologischen Kenntnisse, als einen Hauch sympathischer Extravaganz wertete. Überdies paßte »Saint Nicholas«, so ausgesprochen wie Sergio das tat, ganz ausgezeichnet zu »festichola«, der Superfete, dachte Laura, als sie ihr violettes Kleid anzog, das sie aus England mitgebracht hatte (sie nahm sich vor, beiläufig ihre Reise zu erwähnen, die natürlich nicht mit der Feldforschung im Mapuche-Reservat von Ruca Choroi konkurrieren konnte, die Sergio unternommen hatte, aber schließlich war Europa auch nicht zu verachten). Sie goß sich einen Schuß Chanel Nr. 5 auf den Kopf, das sie aus der Kommode genommen hatte, in der ihre Mutter ihre Kosmetika aufbewahrte. Chanel, sagte Laura und sprach das »ch« wie »tsch« aus: Chanel, Nicholas, festichola. Sie waren sich auch einig in der Verachtung gewesen, die ihrer Meinung nach Erich Fromm mit seiner lächerlichen ›Kunst des Liebens‹ verdiente, die ja so sehr kleinbürgerlichen Vorurteilen verhaftet sei, und sie teilten die Forderung nach orgiastischen Riten, die Sergio selbstverständlich praktizierte, und mit denen vertraut zu sein Laura stillschweigend vorgab; und so viele Gemeinsamkeiten hatten schließlich dazu geführt, daß schon für den nächsten Abend, also für heute, eine Orgie organisiert wurde, eine Superfete, zu der auch die Bruderschaft der Wölfe kommen würde, hatte Sergio erklärt, und auch der Lupus Maior käme (Abel, einer von Sergios Freunden, der gerade aus dem Mapuche-Reservat Ruca Choroi zurückgekehrt sei), es fehle nur der Lupus Minor, nämlich Mario, auch ein Studienkamerad, der im Moment noch im Mapuche-Reservat von Ruca Choroi sei, und Laura fing an, sich zu fragen, ob es nicht letztendlich zu viele Anthropologiestudenten für so wenige Indios in diesem unseligen Land gebe. Es würden auch Liliana, die Verlobte 30
Marios (des abwesenden Lupus), und Norberto sowie noch zwei Mädchen kommen, und für Laura klang das Wort Verlobte doch etwas seltsam zwischen all den Célines, Cortázars und George Batailles. Eingehüllt in eine dichte Wolke Chanel, nahm Laura das kleine, grau eingebundene Büchlein, in das sie besondere Stellen aus dem ›Dialog zwischen einem Priester und einem Sterbenden‹ (Insurrexit-Verlag) und aus dem ›Zwerg‹ von Lagerkvist abgeschrieben hatte, und steckte es in ihre Handtasche mit dem Vorsatz, daraus den Anwesenden in der ersten Pause der Orgie vorzulesen, ganz egal, ob es passen würde. Sie zögerte einen Moment mit dem Diaphragma in der Hand, entschied sich dann aber doch, es einzusetzen, nicht ohne sich selbst noch einmal daran zu erinnern, daß sie es eigentlich nur in absoluten Ausnahmefällen gebrauchen wollte. Mit dem Diaphragma auszugehen, statt es in die Handtasche zu stecken, kam ihr wie der Gipfel der Verruchtheit vor, aber sie setzte sich darüber hinweg, indem sie an Sergios Bart und seine kleinen blauen Augen dachte; Sergio war schließlich kein Unbekannter, sondern ein Schulkamerad, den sie, obwohl er nur zwei Jahre älter war als sie, aus unerfindlichen Gründen vorher noch nie gesehen hatte, mit dem man aber nicht nur über die erotischen Stellungen der alten Inkas, die auf den archäologischen Gefäßen gemalt waren, sprechen konnte, sondern auch zum Beispiel über die Sockenhalter, mit denen ein gewisser Mathematiklehrer seine Socken festmachte. Während Laura intensiver an die alten Gefäße dachte als an den Mathematiklehrer, nahm sie sich vor, Sergio um die Erklärung des »Mythischen Horizonts« zu bitten, ein Ausdruck, den sie von ihm mindestens dreimal im Verlauf einer Stunde gehört hatte. Saint Nicholas lag in der Calle San Nicolas genau auf der Höhe der Rivadavia bei der Hausnummer 7.800, auf der Seite von Villa del Parque, und während der nicht enden wollenden Busfahrt mußte Laura unwillkürlich die Gesichter der Mitfahrenden mustern, um herauszufinden, ob diese wohl an 31
ihrem eigenen Verhalten merken konnten, daß sie ihr Diaphragma trug, das sie etwas zwickte, weil es sicher nicht richtig eingesetzt war (aber wie konnte man überhaupt ganz sicher sein!). Die Hitze hatte auf den Zügen der Männer und Frauen ihre Spuren hinterlassen, alle im Bus litten darunter wie unter einer Dampfwalze auf heißem Asphalt, und obwohl es Samstagabend war, war von allen nur Laura festlich angezogen (für die Superfete, wie sie sich wiederholt sagte), und sie schwitzte mehr als alle anderen in ihrem violetten SeidenjerseyKleid mit den langen Ärmeln. Mit Ausnahme der Rivadavia waren alle Straßen, die zum Saint Nicholas House führten, dunkel und menschenleer, und sie hatte ein wenig Angst, als sie die Gleise überquerte, obwohl die Schranke geöffnet war und man sehen konnte, daß aus keiner Richtung ein Zug kam. Saint Nicholas House enttäuschte sie nicht: ein altes baufälliges Haus, verkommen und heruntergewirtschaftet, ein Haus, das niemals prächtig gewesen war, das aber eine geheime Würde in den Mosaiken an der Frontseite bewahrte, mit einem verwilderten Vorgärtchen und einem großen Grundstück, auf dem selbst die Orangenbäume wie Gestrüpp aussahen. Das Haus gehörte Sergios Vater, der das Grundstück sowie die hinteren Zimmer als Lager benutzte und es Sergio zur Verfügung stellte, wenn er sich zum Studieren mit seinen Kommilitonen treffen wollte. Das vordere Törchen stand offen, ebenso die Haustür, an der Laura stehenblieb und vergeblich klopfte, so viel Stille und Verlassenheit erschreckten sie, und sie spürte im Mund den schalen Geschmack der Enttäuschung, als sie nun dachte, daß sich die anderen Teilnehmer, Sergio eingeschlossen, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich eines anderen besonnen hatten, ohne ihr Bescheid zu geben, und sie beklommen entdeckte, daß es in der Welt nichts Traurigeres, nichts erbärmlich Traurigeres gibt als eine einsame Orgienteilnehmerin. 32
Aber ein Licht war zu sehen, und Laura ging mutig, wie sie es sich nicht zugetraut hätte, darauf zu, ohne die Möglichkeit auszuschließen, sich in der Adresse geirrt zu haben und auf eine Gruppe von Stadtstreichern zu stoßen, die sich, in Lumpen gehüllt, an einem Feuer wärmten (obschon es schrecklich heiß war), eine Gruppe hungriger Männer, die sie ohne Zweifel vergewaltigen würden, und da war es schließlich nicht schlecht, daß sie schon mit dem eingesetzten Diaphragma gekommen war. Das Licht kam indessen aus dem größten Zimmer von einer elektrischen Lampe, einem Leuchter ohne Schirm auf einem kleinen wackligen Schreibtisch, hinter dem Sergio auf einem Bänkchen saß, mit Bart und Backenbart und – nackt? In einem Anflug von Panik fragte sich Laura, was wohl das passende Verhalten eines anständigen jungen Mädchens wäre, das zu einer Orgie eingeladen ist und sich bei der Ankunft einem nackten Mann gegenübersieht, wie sie ein lässiges DarüberHinwegsehen vortäuschen könnte, das keinerlei Empörung erkennen ließe, wie und wohin sie fliehen könnte – Überlegungen, die gerade die Sekunde dauerten, die Sergio brauchte, um sich zu erheben und sie zu begrüßen. Er trug eine züchtige Badehose, die vorher vom Schreibtisch verdeckt und aufgrund der Hitze ganz und gar gerechtfertigt war. - Willkommen im Tempel der Wahren Weisheit, sagte Sergio, wobei er mit einer weitausladenden theatralischen Geste das große leere Zimmer umschrieb mit seinem Parkettboden, der in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr gewachst worden war, seinem schmutzigen, kaputten, grünbezogenen Sofa, und, neben dem Schreibtisch und dem Bänkchen, seinen beiden Stühlen mit zerrissenem Flechtwerk. Die Wände zierten viele hochgelehrte Sprüche und Papierkärtchen, die mit Klebestreifen angebracht waren, in einer Ecke gab es auch ein Skelett, das heißt einen Haufen Knochen eines menschlichen Skeletts. Anschließend zeigte ihr Sergio den Tempel der Wissenschaft, das war die 33
Küche, und den Tempel der Künste, das heißt das Bad, zwei Zimmer, die ebenso groß waren wie das erste, ganz so, wie es für ein Haus dieses Alters üblich war. Der Tempel der Wissenschaft war nicht in Betrieb, weil das Gas abgedreht worden war, aber es gab eine Kochplatte, auf der ein kleiner Wasserkessel kochte. Im Saint Nicholas House, das hatte Sergio sie schon am Abend vorher wissen lassen, wurde Matetee und Wacholder getrunken, aber zum Glück gab es auch noch eine Flasche Wodka, das einzige alkoholische Getränk, das Laura vertrug, vielleicht wegen seiner entfernten Ähnlichkeit mit Wasser. Im Tempel der Künste hatte man die alte Badewanne auf ihren vier ausladenden Pranken mit einer Holzplatte abgedeckt und sie mit einer Matratze darauf in ein Bett verwandelt. Im Tempel der Wahren Weisheit bot ihr Sergio, während sie auf die anderen Gäste warteten, einen Matetee an, den Laura aber ablehnte, nicht ohne vorher erklärt zu haben, daß ihr auch Tee oder Kaffee nicht schmeckten – Kaffee nur mit einem kleinen Schuß roher Milch –, und nicht ohne vorher ihre generelle Abneigung gegen alle warmen Getränke bekundet zu haben, was aber nicht mit einer Ablehnung des volkstümlich Echten verwechselt werden dürfe. Wer ist der Schenk, der den Toten zu trinken gibt, und was für ein Getränk kredenzt er? fragte ein Kärtchen, das an der Seite des Schreibtischs angeklebt war. Der Schenk ist der Geliebte, der die Vernichtung kredenzt, antwortete dasselbe Kärtchen. Viele dieser Sätze an den Wänden stammten aus der ›Stadt in der Wüste‹ von Saint-Exupéry, und es gab eine beachtliche Anzahl von Zaubersprüchen aus dem ›Goldenen Zweig‹. Auf einer der Wände war ein großes, auf dem Kopf stehendes Kreuz gemalt, und die Worte »Gott ist tot« waren mit Blut geschrieben. Einmal mehr fühlte Laura die Notwendigkeit, allein in einer kleinen, aber eigenen Wohnung zu leben, wo sie die Wände nach Belieben bemalen könnte, statt Kärtchen und Klebestreifen 34
benutzen zu müssen, wie in ihrem Zimmer in der Wohnung ihrer Eltern, die selbst darüber noch nörgelten, weil sie meinten, daß die Klebestreifen die Farbe beschädigten. Sie wünschte sich, daß Sergio diese Wände sehen könnte, auf denen sie Gedichte oder Teile von Gedichten vom Heiligen Johannes vom Kreuz oder von Prévert, Sätze von Machiavelli und von Camus angebracht hatte, sowie kleine, von Lewis Carroll fotografierte Mädchen, die sie aus der Zeitschrift ›Planeta‹ herausgetrennt hatte, und ein Poster von Chaney als Wolfsmensch. Es war ihr ganz recht, die erste zu sein und also eine günstige Gelegenheit zu haben, zu verführen oder von Sergio verführt zu werden, bevor die anderen kämen, und einen Moment schwankte sie frivol, ob sie nach dem Skelett und dem Blut fragen oder sich darauf beschränken sollte, schweigend liebevoll den Schädel zu streicheln und darauf zu warten, daß die Geschichten von selbst aus Sergio hervorsprudeln würden. Als sie ihn dann anschaute, war ihr klar, daß er auf jeden Fall erzählen würde, und sie zog die Geste der Sympathie den Fragen vor. Sergio beschrieb dann auch eine dramatische, durchzechte Nacht, in der, nach einer zu zweit (von Mario und ihm) ausgetrunkenen Flasche Gin, diese auf dem Boden zersplittert war und er, Sergio, sich an einer der Scherben so tief den Fuß aufgeschnitten hatte, daß eine Arterie verletzt wurde. Stolz zeigte er mit der Hand die Höhe, bis zu der das Blut gespritzt sei, und er erzählte, wie er den Finger in die helle rote Flüssigkeit getaucht und das Kreuz und die Worte an die Wand gemalt hatte, wozu sie auf lateinisch zotige Lieder gesungen hatten, bevor sie auf die Straße gingen, um Hilfe zu holen und ins Krankenhaus zu kommen, wo ihm die Wunde genäht wurde. Laura betrachtete aufmerksam die Narbe an Sergios rechtem Fuß, bereit, sich beeindrucken zu lassen, aber das gelang ihr nicht, da die Narbe sehr klein war, ein oder zwei Stiche höchstens, und man mußte schon die tiefsinnige Gottlosigkeit 35
der Geschichte kennen, um ihren Wert wirklich schätzen zu können. Die Ironie schützte sie aber nicht vor ihrer begeisterten Bewunderung, und sie hörte weiter mit Erstaunen zu, wie Sergio, Student der Anthropologie, eines Morgens beschlossen hatte, das Studium zu wechseln und sich der Medizin zu widmen, nachdem er von einer blauen Schlange geträumt hatte, und wie es ihm, obwohl die Einschreibefrist schon zwei Wochen abgelaufen war, gelang, mit seiner Verzweiflung die Verwaltung, die für die Studenten zuständig war, so zu rühren, daß er sich nach Ablauf der Frist noch einschreiben konnte, und das, mein Gott, war für Laura, die sattsam die Versteinerung der nicht zum Lehrkörper gehörenden Angestellten kannte, eine wundersame und unglaubliche Geschichte, die darüber hinaus zwar das Skelett seines Geheimnisses beraubte, aber erklärte, daß es auf dem Friedhof gekauft worden war, wie es auch jeder andere Medizinstudent aus den Reihen derer hätte tun können, die nie von blauen Schlangen träumen. Ich hätte es toller gefunden, wenn es das deines Großvaters wäre, sagte Laura ernst, und in diesem Augenblick kamen zusammen Abel, der Lupus Maior, und Liliana, die Verlobte Marios, herein, ein beneidenswert schlankes Mädchen mit großen Augen. Norberto kam ein wenig später; bald war klar, daß niemand mehr kommen würde, und Laura fühlte sich ein wenig unwohl, als sie merkte, daß sie immer gedacht hatte – vielleicht ganz naiv –, daß es bei einer Orgie eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen geben müsse. Wie auch immer, die Superfete beschränkte sich für den Augenblick auf eine Unterhaltung, die vor allem Sergio und der Lupus Maior bestritten und an der Liliana müheloser teilnahm als Laura, weil sie die Leute, von denen gesprochen wurde, und diejenigen, die sprachen, kannte. Der Lupus Maior machte seinem Rang alle Ehre, er war einige Jahre älter als die anderen, hatte einen stattlichen, von einem 36
tiefsitzenden Gürtel zusammengehaltenen Bauch, der von den dünnen, schlaksigen, fast noch pubertierenden Körpern der beiden anderen Jungen abstach, und er beherrschte noch vollkommener den geschwollenen Stil Sergios, seine Art, mit den Wörtern zu spielen, sie abzurunden, um sie wie aufgeblasene, farbige Luftballons ins Publikum zu schicken. Liliana schien nicht im geringsten von diesem sprachlichen Feuerwerk beeindruckt zu sein, das Laura an das Rad eines Pfaus erinnerte und sie doch gleichzeitig in Bann zog, und zwar so stark, daß sie wünschte, der Lupus Maior möchte auf sie aufmerksam werden, sie akzeptieren, aber er schien sich für niemanden der Anwesenden im besonderen, sondern für alle gleichermaßen zu interessieren, obschon er manchmal, um seinen Worten gestisch Nachdruck zu verleihen, eine Hand von Liliana nahm oder ihr auf den Schenkel klopfte. Der Lupus Maior (auch Sergio bewunderte ihn, Norberto hingegen nicht, der schien an der Unterhaltung kein Interesse zu haben und lag mißvergnügt lang ausgestreckt auf dem Boden, als warte er darauf, daß man mit dem Reden aufhörte und zur Tat schritt), der Lupus Maior war Anthropologe (mit Abschluß), sprach von seinen Erfahrungen als Medizinmann in einem Reservat der Toba; seit ein paar Tagen arbeitete er in einer Werbeagentur. Das Unbeteiligtsein Lilianas und das Norbertos schien aus so entgegengesetzten Gründen herzurühren, daß Laura es nicht auf einen Nenner bringen konnte; in Lilianas Unbeteiligtsein schwang jener abschätzige, leicht überhebliche Ausdruck mit von jemandem, der schon viele Male den Witz gehört hat und oft besser als jetzt, der aber aus Höflichkeit, aus reiner Höflichkeit bereit ist, ihn noch einmal zu Ende anzuhören und sogar ein bißchen zu lachen, wenn es denn unbedingt sein muß. Das Unbeteiligtsein Norbertos ging vielleicht weit darüber hinaus, hatte mit all den Wundern des Saint Nicholas House und seinen Stammgästen zu tun. Wenige Worte genügten Laura, um zu verstehen, daß Norberto es sicher fertigbrächte, in 37
Bedingungssätzen den Konjunktiv mit dem Irrealis zu verwechseln, und sie fragte sich, wie und wo er wohl Sergio kennengelernt hatte, und was so einer wie er überhaupt hier zu suchen hatte, dem zuzutrauen war, wenn es dazu Anlaß gegeben hätte, sogar mitten im Tempel der Wahren Weisheit über ein den Ort entweihendes Fußballspiel zu reden. Während der letzten Minuten hatte der Lupus Maior Lilianas Hand nicht mehr losgelassen, und während er ununterbrochen weitersprach, streichelte er sie, schon ohne Bezug zu seiner Rede, die über ihren Körper hinwegging, und es war schwierig festzustellen, ob sie auf sein Streicheln einging oder nicht, es war schwierig zu entscheiden, ob das Gesicht Lilianas überhaupt etwas anderes als Gleichgültigkeit oder Langeweile ausdrücken konnte, jedenfalls wies sie ihn nicht zurück, jedenfalls rückten sie immer näher auf dem schmutzigen grünen Sofa zusammen, ohne daß man hätte sagen können, wer von den beiden den Abstand verringert hatte, und als Sergio das Potlatch vorschlug, lag der Arm vom Lupus Maior schon um Lilianas Taille. Ein Potlatch ist bei bestimmten Eingeborenengruppen von Nordamerika ein Tauschritual. Im Saint Nicholas House bestand ein Potlatch darin, daß sich alle Teilnehmer in eine Runde setzten, der erste mit dem Ruf »Potlatch« einen Schluck Wodka trank, die Flasche seinem rechten Nachbarn weiterreichte, der »Potlatch« rufen und zwei Schluck trinken mußte, der nächste trank drei und so weiter, bis entweder die Flasche oder die Teilnehmer am Ende waren. Laura hatte sich vorgenommen, so viele Schlucke zu trinken, wie die Spielregel es verlangte, ohne so zu tun als ob, wie Liliana und der Lupus Maior, die, kaum daß sie die Lippen angefeuchtet hatten, schon aufstanden und grußlos, Arm in Arm, im Tempel der Künste verschwanden und die Tür hinter sich abschlossen. Es gab da drin ein Bett, aber auch eine Toilette, die einzige, wie sich Laura erinnerte, die plötzlich den kaum zu 38
unterdrückenden Zwang verspürte, Pipi zu machen. Jetzt waren nur noch drei übrig, Sergio, Norberto und sie, und die Flasche kam immer häufiger, zu häufig zu ihr; Norbertos Stimme hörte sie aus sehr weiter Ferne über das Nicht-mehrMitmachen von Lupus Maior und Liliana schimpfen mit dem ethischen Argument, daß es sich nicht gehöre, aber ganz und gar nicht gehöre, sich auf einer Superfete abzusondern. Mir reicht’s, mußte Laura sagen, als sie spürte, daß noch ein einziger Schluck, vielleicht nicht einmal mehr ein Schluck, sondern nur noch der Geruch von Wodka, der unangenehm ihr Gesicht einhüllte, wenn sich die Flasche wieder näherte, genügt hätte, um die plötzliche Rückkehr des Getränks auszulösen, das ihr Magen nur mit Mühe und gegen seinen Willen zurückhielt (gegen den Willen des Magens und den des Wodkas, in dem Laura jetzt einen unvermuteten Drang zur Freiheit entdeckte), Schluß jetzt, sagte Laura, und die beiden anderen stimmten erleichtert zu. Nun schlug Norberto ein Spiel vor, ein sehr einfaches Spiel, das nur die vom Alkohol verursachte Benommenheit schwierig oder interessant machen konnte, ein Spiel, bei dem jedenfalls das Interessanteste die Kleidungsstücke waren, denn der, der sich irren würde (so schrieb es die Spielregel vor, und Sergio, den Laura fragend anblickte, bestätigte es), mußte etwas ausziehen. Das also ist eine Orgie, dachte Laura, dies komplizierte Getue, das armselige und peinliche Entschuldigungen und Rituale verlangt, wie das, was sie gerade spielten, und bei dem sich Laura immer schlechter fühlte, aber entschlossen, sich nicht zu übergeben, solange sie sitzenbleiben konnte und vor allem, solange Liliana und der Lupus Maior das Bad besetzt hielten. Mich wird es am härtesten treffen, sagte Sergio, weil ich ja nur eine Badehose anhabe, aber er machte keinen einzigen Fehler, während sich Norberto schon das T-Shirt ausgezogen hatte und Laura beide Schuhe. Nun machte Laura, die sich verzweifelt, 39
aber erfolglos auf das Spiel zu konzentrieren versuchte, wieder einen Fehler und wollte ihren Ring abziehen, aber Norberto sagte nein, der Ring gelte nicht, entweder das Kleid oder nichts, und Laura dachte an ihre weiße, völlig unattraktive Unterwäsche, die so gar nicht für eine Superfete geeignet war, und sagte nein. Nichts würde sie dazu bringen, das Kleid auszuziehen, schon gar nicht vor Norberto, den sie absolut nicht mochte, und der jetzt noch schärfer protestierte als beim Verschwinden der beiden anderen und ewig moralische Gründe ins Feld führte, indem er sagte, daß dies ungerecht sei, daß das mies sei, und warum man ihn dann überhaupt zu einer Superfete eingeladen habe, und seine Stimme wurde quengelig, fast weinerlich. Doch für Laura war die Superfete gelaufen, und sie dachte nicht daran, sich herumkriegen zu lassen, so sehr ihr auch Norbertos Interesse an ihrem Körper, dessen Attraktivität sie immer mißtraut hatte, schmeichelte und es ihr gefiel, diesen Körper jetzt ohne Hilfe anderer, geistigerer Eigenschaften in etwas an sich Begehrenswertes verwandelt zu sehen. Weinerlich vom Alkohol bestand Norberto darauf, daß Laura ihr Kleid ausziehen müsse, dabei sah er sie nicht an, berührte sie nicht, sprach nicht zu ihr, sondern versuchte, Sergio zu überreden, sich seiner Bitte anzuschließen. Sergio, der viel weniger getrunken hatte, als es den Anschein machte, tröstete ihn mit dem Versprechen, demnächst eine wunderbare Orgie zu organisieren, und sah gleichzeitig Laura beruhigend an, die sich mit über der Brust gekreuzten Armen an ihr Kleid klammerte. Es hatte keinen Sinn mehr weiterzuspielen, und das Verhalten änderte sich schlagartig, als hätte er mit einem Mal verstanden, daß Laura nicht so war, wie er sie sich vorgestellt hatte; mit würdevoller Umständlichkeit zog er sein T-Shirt an, entschuldigte sich, bat um einen Kaffee, den es nicht gab, und nahm vorlieb mit einem Matetee. Zum ersten Mal fühlte sich Laura beleidigt, obwohl in Norbertos Verhalten keine Ironie lag, 40
oder gerade deshalb, weil er nicht ironisch war, weil Norberto sie mit absurdem, ungerechtfertigtem Respekt behandelte, und da hätte sie am liebsten doch noch ihr Kleid ausgezogen, was denn, befand sie sich nicht unter freien Menschen, die Fromm verachteten, glaubte sie etwa nicht, unter echten Orgienteilnehmern auf hohem intellektuellem Niveau (Norberto natürlich ausgenommen) zu sein!? Norberto ging zum Glück schon und verabschiedete sich von Sergio mit einer feuchten Umarmung und einem sehr feuchten Händedruck und einem sehr trockenen Kuß auf die Wange von Laura. Sergio stellte das Radio an, ein altes, mit abgewetztem Leder überzogenes Modell, es war eine Musik zu hören, die Laura nicht identifizieren konnte, vielleicht Rock-Musik, vielleicht eine Barocksymphonie, endlich allein, forderte er sie zum Tanzen auf. Es war der schreckliche Augenblick gekommen aufzustehen, und während um sie herum Saint Nicholas House wie verrückt tanzte, versuchte Laura, sich aufrecht zu halten auf diesem bockigen Boden, den riesige Wellen erfaßten, die die Wände einmal hierhin, einmal dorthin hoben, sie hätte sich am liebsten auf den Boden geworfen, sich an den Brettern festgehalten, die Augen geschlossen, aber nein, bei geschlossenen Augen wurde der Sturm schlimmer, gingen die Wellen höher. Sergio hielt sie fest, küßte ihr Gesicht und ihren Hals, während sie sich im Rhythmus Gott weiß welcher Musik bewegten, bis Laura merkte, daß sie sich unweigerlich übergeben mußte, zum Glück gerade in dem Augenblick, als Liliana und der Lupus Maior Hand in Hand aus dem Bad kamen. Im Bad hielt ihr Sergio die Stirn, streichelte ihr Haar, versicherte ihren schamvollen Augen, daß das immer vorkommt, daß im Saint Nicholas House sich immer jemand übergibt, manchmal sogar er selber; dann machte er sich unter dem dünnen Wasserstrahl die Finger naß (es lief nicht mehr Wasser als das, was kam, aber es war auch unmöglich, weniger 41
einzustellen, das Strählchen lief und lief und höhlte das Waschbecken), fuhr ihr damit über die Stirn, die Wangen und dann, eher zärtlich als verlangend, über die Oberschenkel. Laura merkte, daß sie der Alkohol etwas unempfindlicher gemacht hatte, sie spürte nur die Kälte des Wassers und den Druck der Finger sowie eine undeutliche Lust, wie von weit her, unabhängig von ihrem Körper, und zum ersten Mal ärgerte sie sich, daß sie so viel getrunken hatte, nicht genug, um sie dazu zu bringen, bei einer Orgie mitzumachen, und viel, viel mehr als nötig, um mit Sergio zu schlafen. Ein Glas Wasser hätte schon gereicht, um sie jetzt ein herrliches Prickeln ihrer Haut, ihrer gesamten, zu einer einzigen erogenen Zone gewordenen Haut spüren zu lassen, statt dieses entsetzlichen, säuerlichen Geschmacks nach Erbrochenem in ihrem Mund. Doch ganz allmählich ging es ihr besser, obschon sie sich noch angewidert fühlte, kalter Schweiß sie bedeckte und sie weiche Knie hatte, als sie in den Tempel der Wahren Weisheit zurückkehrten, wo Liliana und der Lupus Maior sich anschickten zu gehen, sich von ihr gleichgültig und von Sergio herausfordernd und schuldbewußt verabschiedeten. Laura hätte sich am liebsten mit viel Zahnpasta die Zähne geputzt und die Zunge und den Gaumen, aber da das nicht ging, versuchte sie, die Hand vor den Mund zu halten, wenn sie sprach, um Sergio den Kontakt mit ihrer furchtbaren, säuerlichen Alkoholfahne zu ersparen, aber er sah jetzt gar nicht zu ihr hin, er schien sehr wütend und traurig zu sein, dieses Luder, sagte er, diese Ausgeburt der Hölle, diese Hündin, Tochter einer Hündin und eines Schweins ohne Rüssel, fluchte er auf islamisch, diese Hysterikerin, fluchte er auf psychoanalytisch, warte nur, daß ich es Mario sage, daß ich ihm sage, daß sie hier, im Saint Nicholas House, mit Abel geschlafen hat, während er im Reservat ist, ach was, ich sage ihm nichts, das sollen sie unter sich ausmachen, und Laura erinnerte sich, ja natürlich, daß Liliana als die Verlobte von Mario vorgestellt 42
worden war, und auch ihr erschien das nicht richtig. Nun gut, sagte sie zu Sergio, und Abel? Ist er nicht Marios Freund, sein großer Freund, sein bester Freund? Das verstehst du nicht, Kleines, den Mann trifft in solchen Fällen keine Schuld; keine Frau würde jedenfalls, das versicherte er ihr, die Bruderschaft der Wölfe zerstören können, und auf der Stelle hatte Laura diese Frau sein mögen. Jetzt merkte Sergio, daß Laura das Gesicht abgewandt hatte, er nahm es in beide Hände und küßte sie ausgiebig auf den Mund, und Laura vergaß darüber ihren schlechten Atem, er roch ja auch nach Wodka, und fühlte voll Freude, daß die betäubende Wirkung des Alkohols aus ihrem Körper schwand, der nun auf Sergios Zärtlichkeiten mit grünen und grellgelben Schauern reagierte, sie gingen zum Sofa, und Laura wollte sich jetzt selbstverständlich das Kleid ausziehen, und sie liebten sich wie die Inkas auf den archäologischen Gefäßen und wie die Japaner auf gewissen alten Holzschnitten und wie die Araber aus Tausendundeiner Nacht und wie ein Ritter und eine Hexe aus dem Mittelalter und vor allem – obschon sie es nicht gern zugegeben hätten – wie ein Junge und ein Mädchen aus Argentinien, Studenten aus der Mittelschicht in einem alten Haus in der Calle San Nicolas. Später lagen sie sich erschöpft und zufrieden in den Armen, sahen sich an, beschnupperten sich und entdeckten ihre Körper, und Laura sah, daß Sergio eine sehr weiße Haut hatte und überall Muttermale verschiedenster Größe, sogar ein großes schwarzes unter den blonden Schamhaaren, da fiel ihr ein, ihn nach der Bedeutung des »mythischen Horizonts« zu fragen, aber sie schlief ein, während er es ihr erklärte, und in dem Tempel der Wahren Weisheit dämmerte grau und fahl der Morgen, der nach Nebel roch. Um sechs Uhr früh verließen sie das Haus, und Sergio begleitete sie nach Hause; Laura war der Gedanke, dem Hausmeister beim Gehsteigfegen über den Weg zu laufen, peinlich, und sie war froh, daß ihre Eltern nicht in Buenos Aires 43
waren, vor allem ihr Vater, der immer so früh aufstand. Da stand ein Baum in voller Blüte, und Sergio sprang hoch, bis er eine abpflücken konnte, um sie ihr zu schenken. Wirst du mich lieben? fragte er fast beiläufig. Ich weiß nicht, ich glaube nicht, das ist auch nicht so wichtig, erwiderte Laura. Mit dir – und in diesem »mit dir« schwangen viele hypothetische andere mit –, mit dir möchte ich gern eine offene Beziehung haben, ohne Verpflichtungen, nur mit einem kleinen Schuß Konvention, du könntest zum Beispiel mein Liebhaber sein, sagte Laura, die die Situation voll im Griff hatte und dabei dachte, wie sehr gelegen ihr doch Sergios Studienwechsel von der Anthropologie zur Medizin kommt, und damit zu einem Beruf, der sich viel besser zum Unterhalt einer Familie eignet. Es gehört zu der Tradition oder zu dem Ritual, das sich zwischen ihnen in den letzten Monaten eingespielt hat und das beide einhalten, daß Laura wieder einmal ein kurzes, immer ähnlich verlaufendes Gespräch mit ihrem Mann über den Namen des Kindes angefangen hat. Gehäutet, geöffnet und ausgeweidet, so liegt der größte Teil der Törtchen auf ihrem Teller. Der Mann bezahlt, verärgert über den unbeteiligten Ausdruck des Kellners beim Abräumen der Reste, ein stiller Vorwurf dem Benehmen seiner Frau gegenüber, mit der er sich solidarisch fühlt. Langsam gehen sie durch eine massive Hitzeschicht zum Auto. Mit der Zeit ist der schüttere Schatten eines Baumes, der das parkende Auto geschützt hatte, gewandert, und die Sonne knallt mit aller Macht auf das Wagendach. Sein Besitzer öffnet die Vordertüren und wirft ein Tuch über den Fahrersitz, der besonders den Strahlen ausgesetzt war. Es riecht stark nach heißem Plastik. - Wohin soll ich dich fahren? Nach Hause? Nein, ich gehe zur Gymnastik, setz mich am Institut ab. Du hattest doch keine Lust? 44
Ich hab’s mir anders überlegt. Dieser plötzliche Wandel ist nur zum Teil wahr. Laura hat sich noch nie in ihrem Leben für gymnastische Übungen interessiert, wie sie von den Lehrerinnen des Instituts Crisálida vorgeturnt werden. Sie interessiert sich auch nicht für das kurze Training des tiefen Atmens und des flachen Atmens sowie des Atemholens während des Pressens und des Ausatmens im Anschluß daran. Wohl aber möchte sie ihre Turnfreundinnen wiedersehen, Frauen in verschiedenen Stadien ihrer Schwangerschaft, mit denen sie sich über das einzige Thema austauschen kann, das sie schon seit einiger Zeit begeistert. Sie ist vor allem daran interessiert, die Adresse eines Geschäfts zu bekommen, wo Babysachen billig verkauft werden, und eine Frau wollte sie ihr heute mitbringen. Bevor der Mann startet, blickt er besorgt auf seine Uhr. Er wird zu spät zu einer Unterredung kommen, die ihm ein potentieller Kunde seiner Firma für heute morgen zugesagt hat. Diese Gewißheit trägt zu seiner schlechten Laune bei, die sich schon gegen Ende des Arztbesuchs angekündigt hat und die so schnell zunimmt wie seine Kopfschmerzen. Um sich zu beruhigen, tritt er wütend und lustvoll das Gaspedal durch, er fährt sehr schnell, trickst andere Wagen aus und läßt vor der Ampel den Motor aufheulen. Die Wichtigkeit des Gesprächs, zu dem zu spät zu kommen er befürchtet, dient ihm als Rechtfertigung, seine eigene Geschicklichkeit als Fahrer zu genießen. Trotz der hohen Geschwindigkeit, mit der das Auto dahinrast, gelingt es ihm, mit Rücksicht auf seine Frau, abruptes Bremsen zu vermeiden. Laura ist ein wenig nervös: Seit Beginn ihrer Schwangerschaft, als ihr Mann ihr verbot, das Auto zu benutzen, ist er nicht mehr so schnell gefahren, wenn sie neben ihm sitzt. - Ras’ doch nicht so verrückt, willst du uns ins Grab bringen? will sie gerade sagen, aber sie besinnt sich, vermeidet es, das magische Wort auszusprechen, weil es das, was es benennt, 45
wahr machen könnte. Ras’ nicht so, oder willst du uns hinter Gitter bringen?! Aber er versichert ihr lachend (seine schlechte Laune und seine Kopfschmerzen sind nicht mehr so ausgeprägt, und der Fahrtwind erfrischt sein schweißnasses Gesicht), daß kein Polizist es wagen würde, sie festzunehmen. Ein Mann am Steuer, der neben sich eine hochschwangere Frau sitzen habe, befinde sich außerhalb der Verkehrsordnung, er bekomme nicht einmal eine Verwarnung. Um so unwahrscheinlicher sei es also, daß sie ins Gefängnis kämen.
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III. DIE CLIQUE VON DEVOTO In der Laurita nur eine kleine Rolle spielt Zur Clique von Devoto gehörten der Dünne Sivi, Eric der Rote, das Würstchen, Pferdegesicht und Juanjo, und sie nannten sich nicht selbst die Clique von Devoto. Das war der Geheimname, den Laura, die Freundin des Dünnen Sivi, ihnen gegeben hatte. Die Mutter von Juanjo, die sich für eine Malerin hielt und die tatsächlich einen wunderbaren Sinn für die Karikatur mit Worten hatte, war die Urheberin von Würstchen und Pferdegesicht. Eric der Rote sprach von sich selbst als Eric der Rote, obschon ihn die anderen manchmal bei seinem richtigen Namen nannten oder ihn einfach Roter riefen. Der Dünne Sivi war so ausgesprochen dünn, daß niemand sich um sein Pseudonym Octavio Campus scherte, mit dem er seine Bilder signierte und das er wohlklingend und hochtönend fand. Juanjo, so vermutete man, war schon älter als zwanzig, aber niemand kannte sein genaues Alter. Im Gefängnis von Villa Devoto, ja wirklich da, hatte sie Laura an einem verhangenen Nachmittag kennengelernt, als sie die Eltern vom Dünnen Sivi begleitete, um ihm Schokolade und Zigaretten zu bringen und um ihn zu sehen. Es war zur Zeit von Ongania1 lange vor dem großen Massaker, und aus vagen politischen Gründen im Gefängnis zu sitzen, hatte den Reiz eines fröhlichen Abenteuers. Wie im Falle von Sartre oder Cortázar war es noch möglich, ein Linksintellektueller zu sein und sogar einen kurzen, das Ansehen fördernden 1
1966 kam General J. C. Ongania durch Militärputsch an die Macht; mit dem Massaker sind die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen von 1969 gemeint.
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Gefängnisaufenthalt in Kauf zu nehmen, um Ideale zu verteidigen, die damals nicht verschwommen zu sein schienen und es vielleicht damals auch nicht waren. Der Dünne Sivi aber gehörte keiner politischen Gruppierung an; er war bei einem Protestmarsch gegen die Regierung verhaftet worden, dem er sich eigentlich ganz zufällig, aus eigenem Antrieb und aus Begeisterung angeschlossen hatte. Er war zu dreißig Tagen Gefängnis verurteilt worden, und Laura schwankte zwischen Verzweiflung (dreißig Tage kamen ihr unvorstellbar, unabsehbar lang vor) und einem gediegenen Gefühl von Stolz. Ihr eigener Vater war mit anderen Studenten während der ersten Regierungszeit von Perón im Gefängnis gewesen, und seine Verlobte, Lauras Mutter, hatte ihm Pantoffeln und ein gebratenes Hähnchen ins Gefängnis gebracht. In Villa Devoto hatte Laura vergeblich versucht, sich als die Cousine vom Dünnen Sivi auszugeben, bis man sie wissen ließ, daß keine Cousinen, sondern nur Verlobte Besuchserlaubnis bekämen, und Laura ging nun mit seinen Eltern in jenen großen, leeren Saal mit seinen langen Holzbänken, wo die jungen Männer schon warteten. Es war überhaupt nicht so wie in den Filmen (natürlich nicht, denn die Filme kommen ja immer aus den Vereinigten Staaten), wo die Besucher einen gewissen Abstand zu den Gefangenen halten müssen und die Pakete gründlich untersucht werden. Der Saal füllte sich mit Stimmen und Durcheinander. Der Dünne machte einen zufriedenen Eindruck, man sprach von einer Amnestie für den 25. Mai2 und in dem Sondertrakt, in dem sie untergebracht waren, herrschte eine Atmosphäre festlichen Heroismus’ und alles, was er brauchte, war Geld für Zigaretten, aber er freute sich auch über das gebratene 2
Am 25. Mai 1810 Loslösung von Spanien durch die erste unabhängige provisorische Regierung am La Plata. 48
Hähnchen und die Pantoffeln, die Laura ihm mitgebracht hatte, um die Familientradition aufrecht zu erhalten. Bevor sie sich verabschiedeten, erzählte ihnen der Dünne von seinen neuen Freunden, und er zeigte auf einige von denen, die Laura seither die Clique von Devoto nennen sollte. Die Gefangenen hielten gemäß ihrer politischen Zugehörigkeit Kontakt untereinander, und so war es nur natürlich, daß sich der Dünne mit anderen zusammengetan hatte, die wie er freischwebend zum Protestmarsch gestoßen waren. Zehn Tage nach der Festnahme wurde die ersehnte Amnestie erlassen, und die Clique von Devoto befand sich auf freiem Fuß, sie hatten kurzgeschorene Haare, ihre Freundinnen erwarteten sie am Ausgang, und sie fühlten sich voll Energie und aufgelegt zu außergewöhnlichen Taten, die das Gesicht der Welt verändern würden. Was sie verband, war Abscheu und Verachtung, ein Ekel à la Sartre und die Vorstellung, daß nur die Kunst, eine zerstörerische, ungezähmte Kunst der Gesellschaft, den Eltern, dem Universum etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen hätte. Politische Aktionen ließen sie nur aus ästhetischen Gründen zu. Sie tranken Wein und Gin, rauchten viel, nur selten konnten sie an Marihuana kommen. Der Dünne Sivi wurde sofort ein enger Freund von Juanjo, dessen Mutter eine dieser todtraurigen, orientierungslosen Schülerinnen von Battle Planas war; ihre Ehe sowie einige Studienversuche an der Universität waren gescheitert, und sie gefiel sich jetzt als verkrachte Malerin, betrank sich mit Kirschlikör, was sie auch noch enorm dick machte. Laura lungerte gern bei Juanjo herum, während der Dünne Sivi so tat, als hörte er, wenn Frau Luisa technische und lebenspraktische Ratschläge zur Ölmalerei von sich gab, respektvoll zu, damit sie ihm hinterher dankbar Farben und Pinsel schenkte, die sich der Dünne, der nie einen Peso hatte, nicht kaufen konnte. Da Laura es leid war, für Zigaretten und Hotelzimmer aufzukommen, verlor sie nicht die Hoffnung, 49
der Dünne entschlosse sich eines Tages, eine Arbeit zu suchen, aber er versteifte sich auf das Beispiel Van Goghs und suchte überall einen Bruder Theo, der an seine Kunst glaubte. Die Clique von Devoto traf sich gewöhnlich bei Juanjo. Er lebte in einer alten, großen und düsteren Wohnung voller Hunde, die nie ausgeführt wurden. Der Boden war übersät mit schmutzigen Zeitungen, und der Gestank von Hundekacke und Hundepisse setzte sich erbarmungslos in den Nasen der Besucher fest. Wenn sie gut gelaunt war, empfing Frau Luisa sie fröhlich, sie kaufte dann Kaffee und Anislikör und erlaubte ihnen, den ganzen Abend dazubleiben und zu diskutieren. Die Jungen brachten ihre Freundinnen nach Hause und kamen wieder zurück, um weiter zu trinken, zu rauchen und zu reden, bis sie auf dem Boden neben den Hunden einschliefen. Aber manchmal machte der Kirschlikör Juanjos Mutter traurig, dann beschimpfte sie sie, weinte, versuchte, sie rauszuwerfen. Juanjo sah sie lächelnd an, als ob er sie nicht hörte, und schloß sich mit den anderen in seinem winzigen Zimmer ein, in dem alle aufeinanderhockten und nur darauf warteten, so schnell wie möglich zu gehen, ohne ihn zu kränken. Wie Minnie, die Freundin von Mickymaus, oder Daisy, die Freundin von Donald Duck, so nahmen die Freundinnen der Clique von Devoto kaum an den Beratungen und Plänen der Jungen teil: Sie sahen nur zu, klatschten Beifall, lachten und konnten, abgesehen von Spillerchen, weder eine Nacht von zu Hause fernbleiben, noch mit ihnen verreisen. Sie sahen zu, klatschten Beifall, lachten und hatten nicht einmal wie Minnie oder Daisy Gelegenheit, sich in Gefahr zu begeben und gerettet zu werden. Kein Kater Carlo wollte sie entführen, und obwohl sie manchmal Lust hatten, aktiver mitzumachen, waren sie doch nicht in der Lage, sich gemeinsam etwas auszudenken. Sie sahen zu, klatschten Beifall, lachten. Die Freundin von Juanjo hieß Spillerchen, sie studierte seit endlosen Zeiten Literatur, war sogar älter als Juanjo, sie hatte 50
das seltene Wissen, zwei so unterschiedliche Sprachen wie das Serbokroatische und das Rumänische ins Spanische übersetzen zu können, und sie ging damit bei den Verlagen ohne Erfolg hausieren; manchmal übernachtete sie bei Juanjo. Pferdegesicht hatte keine Freundin, er war ein verschämter Dichter, und zwar so, daß keiner jemals auch nur eins seiner Gedichte gelesen hatte, was aber niemanden daran hinderte, ihn für einen Dichter, für einen großen Dichter zu halten. Das Würstchen, der jüngste, hatte eine winzigkleine Freundin, sie war Brillenträgerin, und er hatte noch nie mit ihr geschlafen. Palena verweigerte sich und schämte sich deswegen, sie wußte, daß alle es wußten, und versuchte ständig, sich als selbstlos und ausgleichend zu erweisen, sie schenkte Kaffee ein, wusch die Tassen ab, zündete Zigaretten an. Eric der Rote hatte eine schlanke, elegante Freundin, die sich rar machte, und der Rote seufzte und klagte jedesmal vor aller Ohren, wenn man sich ohne sie versammelte. In dem Maße, wie die Anekdoten und die Erinnerungen an den kurzen Aufenthalt in Devoto blasser und schwächer wurden, je öfter man sie wiederholte und kommentierte, bis sie sich schließlich in Luft auflösten, in Wörter, in den Atem selbst, mit dem die Wörter herauskamen, brauchte man etwas Neues, Verbindendes, das der Clique von Devoto bei ihren regelmäßigen Treffen Zusammenhalt und Sinn geben konnte. Und so bildete sich allmählich das Projekt einer Reise, der Großen Reise durch Südamerika, heraus und verdichtete sich in der stickigen Luft bei Juanjo. Die Jungen gingen in die Cafés der Corrientes, als führten sie eine Feldstudie in einem abgeschiedenen Eingeborenendorf des Amazonas durch, tranken Kaffee mit beherzter, aufmerksamer Miene, mit der sie auch einen vom Stammesschamanen zubereiteten Yagué-Trank entgegengenommen hätten, wichen beim Überqueren der Straße des 9. Juli Piranhas und Alligatoren aus und verbrachten Stunden um Stunden vor bestimmten Schaufenstern, hingerissen 51
von der Schönheit der Motorräder. Ihre Freundinnen taten unter dem Druck ihres schlechten Gewissens so, als machten sie ihnen Mut, gaben praktische Ratschläge, was sich dann in den Träumen zu schwer überbietbarem Realismus zusammenbraute, jede zerrte an ihrem Partner, kämpfte darum, ihn aus dem kollektiven Projekt loszueisen, um ihn für die eigenen privaten Projekte zu gewinnen. Die Jungen redeten und redeten, verglichen die Vorzüge verschiedener Marken von Zelten oder Halbstiefeln, träumten von der Möglichkeit, einen Jeep zu besorgen, und schließlich verloren sie sich in einem phantastischen Kontinent, den ihre eigenen Worte schufen, zerstörten und wieder erstehen ließen, bergauf und bergab. Der Dünne Sivi schlug den Zufall als Reiseroute vor, da er sich der Magie ausgeliefert hatte; das Würstchen schleppte Bücher und nochmals Bücher an über Geschichte, Wirtschaft und Politik der Länder, die sie sich vorgenommen hatten zu bereisen, Bücher, die die anderen mit lautstarker Begeisterung in Empfang nahmen, sie mit glühendem Interesse durchblätterten, das aber nie lange genug anhielt, um sie zu lesen; alle waren sich einig, daß Machu Pichu unbedingt dazugehörte. Die Treffen fanden jetzt nicht mehr nur bei Juanjo statt; Laura hatte die komfortable Maisonette ihrer Familie zur Verfügung gestellt, wo sie in der Wärme eines echten Kamins redeten, auf dem Teppich aus Wollhasenfell lagen und den importierten Whisky von Lauras Eltern tranken, dort reifte das Projekt und entwickelte sich mit der Üppigkeit eines tropischen Waldes in einem erstklassigen Treibhaus, eingeengt allerdings von stabilen Glaswänden, die das Ganze schützten und einschlossen. Laura wollte diese Reise, wollte sie für sich, sie wollte in einem fairen Kampf eine Anaconda besiegen und einen Mann 52
heiraten, der mit den Kindern in den Park ginge, um Briefmarken zu tauschen, während sie für alle Schnitzel zubereiten würde. Laura wünschte sich den Dünnen Sivi als diesen Ehemann, und sie wünschte sich auch, daß er in der Lage wäre, die Reise für sie zu machen, sie wollte aber auch nicht zurückgelassen werden, und ebensowenig traute sie sich, mit ihm zu gehen. Der Dünne bemerkte ihr Schwanken und nahm manchmal Zuflucht zu einer rebellischen Askese, die die Gruppe wieder einmal zu Juanjo brachte, wo die schlechte Heizung und die Gerüche, das fehlende Essen und der Anislikör sie zur Enthaltsamkeit zwangen und einen Vorgeschmack von den Entbehrungen gaben, die die Große Reise ihnen abverlangen würde. Nur Palena unterstützte die Reise bedingungslos, sie erwartete, daß endlich der kritische Moment des Abschieds käme, in dem ihre Empfindung, zu einem Sturm, zu einer unwiderstehlichen Kraft zusammengeballt, sie dazu hinreißen würde, sich zu überwinden, ein für allemal mit dem Würstchen zu schlafen – oder auch nicht, aber dann hätte sie sich wenigstens von dem Problem befreit, könnte sie die zärtlichsten Briefe schreiben, voller Versprechungen, und sich in eine keusche Melancholie flüchten oder aber wachsen, andere Männer kennenlernen. Inzwischen waren die Diskussionen der Clique um die notwendigen Ausrüstungsgegenstände für die Reise heftig und erbittert geworden und drohten, sie auseinanderzubringen, und als der Rote sich hinter seinen Forderungen verschanzte und auf der Notwendigkeit eigener Transportmittel bestand, drohte ihnen wieder die Auflösung. Eines Abends, bei Laura, erinnerte Pferdegesicht ein ums andere Mal an das Beispiel Rimbauds und meinte, es genüge, den zweiten, geheimnisumwitterten Abschnitt seines Lebens nachzuahmen, um auf magische Weise in den Besitz eines poetischen Werkes zu kommen, wie Rimbaud es im ersten 53
Abschnitt seines Lebens geschaffen hatte, und er drohte, nicht mehr mitzumachen, wenn die Diskussionen bis in alle Ewigkeit dauern würden. Da beschlossen die Jungs, fürs erste ihre Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Ausrüstung beiseite zu lassen und sich auf die Beschaffung des erforderlichen Geldes zu konzentrieren, um die Ausrüstungsgegenstände zu kaufen oder aber, um das Geld mitzunehmen, falls man beschließen sollte (das war ein Vorschlag des Dünnen), nur das auf die Reise mitzunehmen, was sie geliehen oder geschenkt bekämen. Insgesamt reichte die Summe dessen, was sie alle in diesem Augenblick zusammen aufbringen konnten, nur für zwei Pizzas mit Mozzarella und Zwiebeln, und genau die kauften sie auch und setzten ihre Überlegungen fort. Als die Stunde der Wahrheit kam, erfuhr man, daß aus dem Widerstand von Erics Eltern gegen die Reise ihres Sohnes eine herablassende Erlaubnis geworden war, die allerdings jede finanzielle Unterstützung ausschloß. Eric verschwand für ein paar Tage, er schämte sich. Man fand ihn aber leicht wieder: die Beschneidung seines Lebensunterhalts hatte ihn auf die Restaurants Lorraine und Pipo eingeschränkt, wo seine elegante Freundin schlecht gelaunt Tagliatelle mit Basilikumsoße hinunterschlang und sich bemühte, ihren Mantel nicht zu bekleckern. Angeregt von Pferdegesicht, nahm ein neues Projekt Gestalt an: nämlich einen Film zu drehen, um durch seine Vorführung die für die Große Reise nötigen Mittel einzunehmen. Der Film hatte den Vorteil, ein Gemeinschaftsprojekt zu sein, das sie in der Teamarbeit zusammenschweißen würde, es wäre das perfekte Vorspiel zur Reise. Alle wären Regisseure, alle wären Schauspieler und Drehbuchautoren, es würde keine Hierarchie unter ihnen geben, sie würden einen bilderstürmerischen, poetischen und genialen Film schaffen, der die Grundfeste des kommerziellen Verleihs angreifen sollte, an den sich Bergman oder Fellini so schnöde verkauft hätten. 54
Alle waren sich einig in der Verachtung des Problemfilms, man müsse auf die äußersten Mittel der filmischen Sprache zurückgreifen, die Produktionsmittel bloßlegen, der Schnitt sei das Wichtigste, man müsse eine Verknüpfung von Bildern erzielen, deren schwarze Schönheit das Entsetzen und Erschrecken der bürgerlichen Zuschauer auslöse; niemand hatte jemals eine Super-Acht-Kamera in der Hand gehabt, niemand hatte jemals – außer in den Auslagen der Fotogeschäfte – einen Schneidetisch gesehen. Die technischen Schwierigkeiten schreckten sie nicht, sie beschränkten sich darauf, sie zurückzustellen. Das Würstchen, der eine Rollei besaß, würde sie schon in die Geheimnisse der Fotografie einweihen. Der Dünne Sivi bot sich an, Vorhänge und Kulissen zu malen, man müsse unbedingt in einigen Einstellungen jede Art von Realismus vermeiden, damit die anderen, die Dokumentaraufnahmen, um so besser herauskämen. Man müsse die gewohnten Schubladen umgehen, die Gattungen sprengen, die Grenzen auflösen und verwischen. Jetzt war Laura Feuer und Flamme, dankte dem Leben für die Gelegenheit, dabeizusein bei der Bildung dieser Gruppe von jungen Leuten, der es gelingen würde, die Filmindustrie in ihren Grundfesten zu erschüttern. Ohne daß sie jemand darum gebeten hatte, wollte Spillerchen Nacktszenen übernehmen, und sogar Frau Luisa bot ihre Mitarbeit an, sie hatte Dramaturgie und Deklamation studiert, man könne ganz selbstverständlich mit ihrem professionellen Beistand bei der Arbeit mit den Schauspielern rechnen. Juanjo war der Enthusiasmus der Frau Luisa so peinlich wie Eric die Herablassung seiner Eltern, die weiterhin versuchten, ihn durch Aushungern kleinzukriegen, um ihn von dieser Gruppe zu trennen, die ihnen nicht geheuer vorkam. Lauras Eltern hingegen wandten die umgekehrte Taktik an, sie versuchten, die jungen Leute anzulocken, um sie in ihrer Nähe unter Kontrolle zu haben; immer war Aufschnitt im 55
Kühlschrank, und sie stellten stangenweise importierte Zigaretten zur Verfügung; sie praktizierten die Technik des Einigeins und vertrauten auf den moralischen Rückhalt ihrer Tochter. So entstand zu Hause bei Laura der Anfang des Drehbuchs; Laura selbst steuerte einen großen Block mit karierten Seiten bei, auf den die ersten Einstellungen notiert werden sollten, gegen den Willen des Dünnen, dem alles Festgeschriebene, jedes Abgegrenzte verhaßt war, weil er nur an die wilde Improvisation glaubte. Die Verachtung, mit der sie die materiellen Schwierigkeiten außer acht ließen, gab ihnen absolute Freiheit; es ging darum, Vorurteile zu zerstören, Mythen zu stürzen, Freiheit, Ekel und Freude auszudrücken. Das Würstchen schlug das Bild einer großen, zu Skeletten abgemagerten Menschenmenge in Lumpen vor, die die Zähne in ein Auto neuesten Modells schlägt und es verschlingt. Sie würden eine nackte Frau mit gespreizten Beinen filmen: aus ihrer von Spinnweben bedeckten Vagina käme eine Riesenspinne hervorgeschossen, die auf die Kameralinse zulaufen sollte. Laura war es leid, Kaffee aufzubrühen und Pizza aufzuschneiden, und sie mischte sich ein. Auf diesem Gebiet war sie in ihrem Element: ein Mann, schlug sie vor, scheißt auf den Rasen; dann läuft der Film zurück, und die Scheiße sucht wieder ihren Weg zurück in den After des Darstellers. Ihr Vorschlag riß alle zu Begeisterungsstürmen hin; genau so müßte man sich der Korruption, der Heuchelei und der falschen Moral, die sie umgab und vergiftete, entgegenstellen. Und eines Tages war der Block mit den karierten Blättern zu Ende. Da bedauerten sie, daß sie voreilig so viele Seiten herausgerissen hatten, anklagende Blicke trafen Pferdegesicht, der sie gewöhnlich benutzte, um insgeheim Gedichte darauf zu kritzeln, die er sofort wieder zerriß, aber nun war es zu spät, das Drehbuch war fertig, und kein Hindernis stand mehr zwischen der Clique und der Realisierung des Films. Nichts – außer dieser 56
so verachteten Unbedarftheit in praktischen Dingen, die jetzt zu wachsen schien, sich aufblähte und allen verfügbaren Raum in Anspruch nahm, ohne der Phantasie einen Schlupfwinkel zu lassen. Die verhaßte, bedrückende Wirklichkeit forderte wieder ihr Recht. Es gab unzählige Gründe dafür, daß die Realisierung schon jetzt gescheitert war, lange bevor sie überhaupt in Angriff genommen wurde, so viele Gründe, daß man sich für einen entscheiden mußte, und sie entschieden sich für den Grund, bei dem sie noch am besten wegkamen: den ewigen Geldmangel, und sie machten dafür die erstickende Umklammerung der Gesellschaft verantwortlich, die sie wieder einmal in ihrem Spinnennetz eingefangen hatte und sich anschickte, sie zu vertilgen. Sie aber würden sich aus ihren klebrigen Fäden befreien, eine Darstellung, ein Schauspiel, nur eine einzige Aufführung erarbeiten, zu der Journalisten, Kritiker, Autoren, Schauspieler und Regisseure, aber auch alle ihre Freunde und Bekannten kämen, sie würden Eintritt verlangen und auf diese Weise Geld für den Film einnehmen, der sie in die Lage versetzen würde, Geld für die Große Reise in die Kasse zu bekommen. Schade nur, daß schon niemand mehr daran glaubte. Die Clique schätzte ihre Vorräte an Enthusiasmus ab und kam zu dem Ergebnis, daß man schneller handeln, die Dinge beschleunigen sollte. Eric bot für die Aufführung die Terrasse seines Elternhauses an, die als Zuschauerraum und Bühne dienen konnte; sie mußten sich vorbereiten, das Stück schreiben, proben, das würde ungefähr zehn Tage in Anspruch nehmen. Damit sie es sich nicht noch anders überlegen konnten, machten sie sich daran, die Zuschauer sofort einzuladen, dieses Mal fingen sie von hinten an, verwendeten die ersten drei Tage zum Saubermachen der Terrasse, die Erics Eltern als Abstellplatz für Trödel benutzten, und besorgten Klappstühle und Getränke. Inzwischen hatte sich Palena mit dem Würstchen zerstritten und die Clique verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Laura 57
ihre Enttäuschung unterdrückt, sie wollte nicht als erste rufen, daß der Kaiser nackt gehe, daß seine unsichtbaren Kleider nicht existierten, aber nach Palenas Fahnenflucht wurde sie unerträglich vernünftig und ausgleichend, sie kaufte noch einen Block mit unlinierten Blättern und wollte Teilziele definieren, verschiedene Nahziele festhalten – sie wurde von den Versammlungen ausgeschlossen. Von Spillerchen und Juanjos Mutter allerdings konnten sie sich nicht befreien, die Mutter machte jetzt viel aktiver mit als ihr Sohn und bot sich an, ihnen die Kostüme zu nähen. Jeder brachte ein Bettuch mit, und die fünf Tücher wurden der Frau Luisa ausgehändigt. Als sie nähere Anweisungen zum Aussehen, das sie ihnen geben sollte, erbat, rieten ihr die Schauspieler, doch zu versuchen, aus ihrem Kopf alles Formelle, Konventionelle zu streichen und sich offen und aufnahmefähig zu halten und ihrer innersten schöpferischen Kraft freien Lauf zu lassen, ohne sie in das Korsett ihres Willens zu pressen. Nun sahen sich Laura und der Dünne seltener, er war immer mit den Proben beschäftigt und antwortete ausweichend, wenn Laura ihn nach dem Stand der Dinge fragte. Er zog es vor, globale Antworten zu geben, sich an den Gesamtrahmen der Aufführung zu halten, an ihre theoretische Begründung, sie fuße entschieden mehr auf Artaud als auf Stanislawski, die westliche Kultur habe viel von den balinesischen Marionetten zu lernen und von den rätselhaften Figuren des chinesischen Theaters. Vor allem würde man nicht den gleichen Fehler begehen wie im Falle des Films, sie würden jetzt nichts aufschreiben, sie beschränkten sich aufs Sagen und Tun, sie wären dabei, ein für allemal das Konzept des traditionellen Theaters über den Haufen zu werfen. Der Frühling war gekommen, und sie trafen sich im Freien, auf der Dachterrasse zu Hause beim Roten, dessen Eltern ihm alles erlaubt hatten, als Gegenleistung mußten sie die Terrasse von Schutt und Gerümpel befreien, die Fugen abdichten und so 58
wenig wie möglich das Haus betreten. Der Dünne kam von diesen Treffen mit einer starken Alkoholfahne, die Mitwirkung der Zuschauer sei unverzichtbar, es werde ein Kommunikationsfluß hergestellt werden, in dem diese Mitwirkung natürlich und notwendig sich ereigne, sie würden schon mitwirken, auch wenn man sie dazu prügeln müßte. Das Wichtigste hatten sie schon besorgt: den Sarg, der das ganze Bühnenbild ausmachen sollte. Der Dünne in der Gestalt des »Leichnams der Gewohnheit« sollte aus diesem Requisitensarg heraussteigen, der anscheinend das Herzstück bedeutete, um das herum die Handlung entstehen würde. Sonst war über diese geheimnisvolle Handlung nichts in Erfahrung zu bringen, die Jungen spielten mit gesuchten Metaphern auf sie an, weigerten sich aber, sie öffentlich näher zu beschreiben. Pferdegesicht, der manchmal mit dem Dünnen zu Hause bei Laura aß, bestand auf der Wichtigkeit der poetischen Sprache, verwies auf das religiöse Theater des Mittelalters, zitierte Miguel Hernández und Gonzalo Berceo. Laura fing an, ihr Mißtrauen zu bereuen, niemandem schien ihre Abwesenheit leid zu tun, sie wünschte einen Reinfall, der ihren Ausschluß gerechtfertigt hätte, sie wünschte einen riesigen Erfolg, der ihre maßlose Bewunderung für den Dünnen untermauern und es ihr erlauben würde, ihn weiter zu mögen. Das festgesetzte Datum für die Vorstellung wurde nicht verschoben, und im Laufe der Woche wurde der Eintrittspreis festgesetzt. Laura, Spillerchen und die Freundin von Eric kamen zwei Stunden vor Beginn der Aufführung, um beim Saubermachen der Terrasse zu helfen, um die Tabletts mit den Gläsern für Wein und Coca Cola vorzubereiten und selbstverständlich, um bei der Generalprobe dabeizusein. Aber als sie ankamen, mußten sie feststellen, daß es keine Generalprobe geben würde, daß man nicht einmal ausschnittsweise vorher geprobt hatte, und Laura wußte nun, daß die vorausgegangenen Treffen wie immer aus Diskussionen 59
und Streitereien bestanden hatten, und daß sich schließlich notgedrungen der Vorschlag des Dünnen durchgesetzt hatte: Sie hatten nichts vorbereitet, alles sollte aus einer wilden Improvisation hervorgehen, wobei jeder das darstellen sollte, was im Moment, angeregt von der Reaktion des Publikums und von den Darbietungen der übrigen Schauspieler sowie von einem ordentlichen Quantum Wein oder Gin aus den Tiefen seines Unbewußten aufsteigen würde. Sie bauten verzweifelt auf die Mitwirkung der Zuschauer. Sie erklärten Laura theoretisch ganz einleuchtend und mit unendlich vielen Zitaten, daß Breton Artaud verdrängt oder, noch besser, ihn sich einverleibt habe, und, wenn das automatische Schreiben möglich war, warum dann nicht auch das automatische Darstellen. Sie hatten sich aber doch auf eine Art zentrales Thema geeinigt, das zwar jeder anders interpretierte, ihnen aber als Ausgangspunkt dienen sollte, Juanjo sollte die Zuschauer zum Trinken auffordern und zum wiederholten Geschlechtsakt, der Dünne hatte für sich das wirkungsvolle Auftauchen aus dem Sarg vorgesehen. Aber das brillant vorgeführte intellektuelle Feuerwerk vermochte nicht ihre Angst zu kaschieren. Die Schauspieler waren starr vor Lampenfieber, und um dagegen anzugehen, hatten sie sich systematisch betrunken, der Dünne Sivi hatte sich darüber hinaus mit ein paar schlaflosen Nächten und einer ordentlichen Dosis Amphetamine vorbereitet, er sprang mit seinem Bettuch von einer Seite der Terrasse auf die andere und führte so das aus, was er selbst den Großen Sprung Supermans nannte. Das Würstchen, dem der Wein nicht bekommen war, weinte in sich gesunken in einer Ecke, und Eric, viel nüchterner als die anderen, schien sich um die Unversehrtheit seines Elternhauses, der Gläser und der Flaschen schreckliche Sorgen zu machen. Frau Luisa, gänzlich vertieft in ihr neues Werk, eine Wandmalerei, die sie in ihrer Küche ausführte, hatte darüber die 60
Kostüme vergessen, und im letzten Moment hatte sie, von Juanjo bedrängt, in die Mitte der Bettücher einen Schlitz geschnitten, durch den man den Kopf stecken konnte, und sie auf diese Weise in so etwas wie Ponchos verwandelt, die im Abendwind flatterten. Mitten auf der Terrasse stand ein Requisitensarg, in den sich, kaum daß die ersten Zuschauer kamen, Pferdegesicht legte und darin fest einschlief. Spillerchen nahm die Eintrittsgelder in Empfang und plazierte das Publikum; bald war klar, daß die Kritiker, die Journalisten, die Schauspieler und Regisseure nicht kommen würden, aber es kamen hingegen, sehr zuverlässig, alle Freunde und sogar einige Verwandte, etwa vierzig Personen, die sich auf einer Seite der Terrasse drängten, die zum Glück groß genug war, und nachdem es keine Klappstühle mehr gab, hatten die Zuletztgekommenen nichts dagegen, sich auf den Boden zu setzen. Alle kannten den guten Zweck der Vorstellung und bezahlten ihren Eintritt, fühlten sich großzügig und empfanden Neid. Da fing ganz unvermittelt die Vorstellung an. Juanjo stieg auf einen Stuhl und wandte sich von da oben ans Publikum: – Vögelt, die Welt geht unter! Der Dünne Sivi stürzte sich auf den Sarg, in dem Pferdegesicht schlief, und fing an, wie wild dagegenzutreten. - Komm raus, du Hurensohn! schrie er ihn an. Hier sollte ich doch drin sein! Pferdegesicht wurde wach, erstaunt und verärgert wollte er dem Dünnen eine runterhauen und verfehlte ihn nur knapp. Da es unmöglich war, so volltrunken Ohrfeigen sicher an den Mann zu bringen, fielen sich die Streitenden in die Arme, gerieten sich in die Haare, fielen auf den Boden, wo sie sich herumwälzten, bis sie gegen eine enorm große grüne Ballonflasche prallten, in die die Mutter des Roten einige Binsen gesteckt hatte, um das Wohnzimmer damit zu schmücken. Die Ballonflasche ging zu Bruch und gab Anlaß zum ersten Eingreifen der Zuschauer: Laura trat mit einem Besen auf und kehrte die Glassplitter 61
zusammen, während Juanjo versuchte, die Streitenden auseinanderzubringen, und Eric eine Kehrschaufel holte, um die Reste zu beseitigen. Unerwartet trennten sich die Streitenden, um sich, gestützt auf den nichtsahnenden Streitschlichter, mit dem Publikum anzulegen. Na los, ihr schwulen Löcher, worauf wartet ihr?! schrie Pferdegesicht, ihr sprecht immer davon, daß das Publikum mitmachen soll, und jetzt, was ist also, ihr Arschgeigen, macht mit, das hier ist die letzte Gelegenheit, die ihr habt in eurem beschissenen Leben, ihr ekelhaften Würmer! Laß sie, schrie Juanjo. Laß sie sich doch weiterhin durch die Scheiße schleppen, das gefällt ihnen doch, aber wir werden sie euch bis zum Hals steigen lassen, streckt die Köpfe raus, ihr kleinen Arschlöcher, damit euch die Scheiße nicht die Nasen zuklebt. Vögelt! Die Welt geht unter! Der Dünne sagte nichts, er beschränkte sich darauf, schreckliche Schreie auszustoßen, die die Sprünge Supermans begleiteten, Schreie, in die bald ein kleiner Teil des Publikums einstimmte, das sich entschlossen hatte, die freundliche Einladung, bei der Aufführung mitzuwirken, anzunehmen. Die meisten, eher mitleidig als verärgert, entschieden sich aber fürs Weggehen, während die engsten Freunde blieben, um den Nüchternen der Gruppe, Eric und den Mädchen, ihre Hilfe anzubieten. Doch die, die weggehen wollten, standen vor der abgeschlossenen Terrassentür, die Juanjo, die Augen traten ihm fast aus dem Kopf, mit seinem Körper blockierte. Hier kommt niemand raus, hier wollen wir ein für allemal mit der bürgerlichen Heuchelei Schluß machen, ich werde das Haus in Brand stecken, wir werden alle verbrennen, ihr zuerst, weil die Scheiße oben schwimmt, sagte er zusammenhanglos. Ich als letzter und mit einem Lied. Vögelt, die Welt geht unter! Dann warf er den Schlüssel über die Terrassenbrüstung auf die Straße und fing an, eine Variante von ›Au clair de la lune‹ zu singen, während Eric verzweifelt 62
versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, indem er ihm zu bedenken gab, wie gefährlich es sei, die Nachbarn, die Faschisten, zu wecken. Sollen die Nachbarn doch verrecken, brüllte Pferdegesicht, erstmals öffentlich poetisch, sollen doch Riesenblüten sich öffnen wie schwarze Krusten über dem grünen Eiter ihrer verfaulten Seelen! Sollen die Nachbarn doch verrecken, ja verrecken, sang nun der Dünne im Pachanga-Rhythmus, während das mitwirkende Publikum den Wein direkt aus der Flasche trank und einen improvisierten Refrain anstimmte: Nachbarn, alte Schweine, euch werden wir’s zeigen! schrie der Chor, aus dem Häuschen geraten. Ich bin ein denkender Arbeiter, verdammt noch mal! Ich bin ein denkender Aaaaarbeiter, schrie aus Leibeskräften zur Straße hin ein dunkelhaariger Junge, den niemand kannte. Eric hing über der Brüstung der Terrasse und versuchte verzweifelt, einem Paar, das auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig vorüberging, mit Zeichen klarzumachen, ihm doch den Schlüssel hochzuwerfen. Die aber schauten nur mit offenem Mund zu ihm hinauf und verstanden nichts. Die schweigende Mehrheit des Publikums stand immer noch vor der Tür, und der Rote bat sie, sich doch wieder zu setzen, um die Klappstühle zu schützen, um die er bangte. Juanjo hatte sich einen gegriffen und hielt ihn wie ein Dompteur umfaßt, während Pferdegesicht einen angriffswütigen und betrunkenen Löwen mimte. Die nicht mitwirkenden Zuschauer schimpften leise, sie waren tief beleidigt über die Anpöbelungen durch die Schauspieler. Schließlich und endlich waren sie auch Systemgegner wie die Jungen auf der Bühne, und nur die zufällige Tatsache, nicht in Devoto im Gefängnis gewesen zu sein, hatte sie daran gehindert, bei der Vorbereitung der Aufführung mitzumachen. Das Schlimmste, dachte Laurita, die immer auch den 63
moralischen Aspekt der Dinge im Auge behielt, das Schlimmste von allem war, daß man Eintritt verlangt hatte. Aber Spillerchen hatte Juanjo und dem Dünnen schon das Geld ausgehändigt, und die dachten nicht im Traum daran, es zurückzugeben. Plötzlich gellte ein Schrei, der nicht so war wie die anderen, der alle im Ton und in der Intensität übertraf, ein angst- und qualvoller Schrei, der alle zwang, die kleinen Probleme zu vergessen, um sich etwas Wichtigerem zuzuwenden. Man hatte das Würstchen vergessen, der es nun leid war, in seiner Ecke zu schluchzen, ohne daß sich jemand fand, der ihn tröstete; er war auf die Brüstung der Dachterrasse gestiegen und drohte nun hinunterzuspringen. Das Haus war nicht besonders hoch, aber die Tiefe bis auf die Straße war mehr als ausreichend, sich den Hals zu brechen. Das Würstchen stand aufrecht mit ausgebreiteten Armen auf der Steinbrüstung, eine tragische Figur in prekärem Gleichgewicht, Schauspieler und Zuschauer liefen zu ihm. Komm runter, komm runter, Brüderchen, du bist ja verrückt, komm um Gottes willen runter, sonst kommen die Bullen, bat ihn Eric, den Tränen nahe und viel besorgter über die Folgen des Selbstmords für seine Familie als um die Rettung des Würstchens. Laura beriet sich nervös mit der Freundin des Roten und einigen Gästen. Palena müsse gerufen werden, entschieden sie, und diese Entscheidung, ja daß man überhaupt fähig gewesen war, etwas zu tun, beruhigte sie irgendwie. Jammerschade, daß man im Augenblick nicht von der Terrasse hinunterkam, um zu telefonieren. Spring, Dickerchen, das Leben ist sowieso Scheiße! schrie der Dünne. Spring schon, es lohnt sich ja doch nicht. Haltet ihn an den Knöcheln fest, schlug der denkende Arbeiter vor, aber niemand traute sich. Der Tod ist weiß, der Tod ist rein, rezitierte Pferdegesicht, 64
spazierte vor dem potentiellen Selbstmörder auf und ab und ließ sein Bettuch flattern. Bring dich für mich um, mein Bruder, bring dich für alle um, sei unser Christus, damit unsere Sünden auf dem Bürgersteig zerschmettern! Das Würstchen war sehr bleich und schwitzte, und momentweise schwankte er. Er schaute nicht auf die Straße, aber ebensowenig schien er sehen oder hören zu wollen, was auf der Terrasse vor sich ging: Er war ängstlich darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten. Tränen mit Schweißperlen gemischt liefen ihm übers Gesicht. Vögelt, die Welt geht unter! drängte Juanjo, aber schon ziemlich kraftlos. Laura vertraute auf wissenschaftliche Lösungen; sie hatte irgendwo in einem Text, von dem sie nur noch wußte, daß es ein psychoanalytischer Fachtext war, gelesen, das beste, um jemandem aus einer depressiven Krise herauszuhelfen, sei, seinen Zorn zu erregen. Mit dem Risiko, das Würstchen auf einen Flug ohne Wiederkehr zu schicken, und ohne genau zu wissen, zu welcher Seite der Brüstung sie ihn lieber stürzen sähe, aber überzeugt, daß sie ihre Untätigkeit nicht länger würde ertragen können, begann sie, ihn nach allen Regeln der Kunst zu beschimpfen. Sie schrie ihm alle Vorteile zu, die sein Verschwinden der Welt, seinen Eltern, seiner Ex-Freundin und vor allem den Anwesenden brächte, sie versuchte erfolglos, das Würstchen wütend zu machen, der antwortete ihr aber nicht, sah sie nur aus weitaufgerissenen Augen an, weinte weiter lautlos in sich hinein, während die anderen entsetzt so taten, als wollten sie sie zum Schweigen bringen. In diesem Augenblick waren Schläge gegen die Terrassentür zu hören. Es waren Erics Eltern, die aus dem Kino kamen und wissen wollten, was los sei. Man bat sie, den Schlüssel zu holen, und nach einigen Minuten öffnete sich die Tür. Laura stürzte die 65
Treppe hinunter und beriet sich mit Erics Mutter, die unbedingt die Feuerwehr rufen wollte und vielleicht recht damit hatte, aber Laura fühlte sich nun als Vertreterin der Moral und der guten Sitten, der Ordnung und des Eigentums, ekelte sich vor sich selbst und wollte am liebsten, daß das Würstchen nun endlich sprang. Der Vater des Roten schloß sich im Schlafzimmer ein und bat, man möge ihm Bescheid sagen, wenn alles vorüber sei. Zum Glück war Palena zu Hause: sie würde sofort kommen. Aber als Laura zusammen mit Erics Mutter, die eine Menge neuer Ideen hatte, wie das Würstchen herunterzuholen sei, auf die Terrasse zurückkam, war auch der Dünne auf die Brüstung gestiegen und verabschiedete sich vom Publikum. - Wenn du gehst, dann gehe ich auch, Dickerchen. Auf Wiedersehn Freunde, Gefährten meines Lebens! sagte der Dünne, wie es in dem Tango mit dem herzzerreißenden Abschied heißt, warf den Zuschauern Kußhändchen zu und versuchte einen Tangoschritt zu machen, der ihn fast hätte stürzen lassen. Ein entsetztes Raunen ging durch die Umstehenden, die den Atem anhielten, als ob der leichte Luftdruck beim Ausatmen gereicht hätte, das prekäre Gleichgewicht der beiden Helden zu gefährden. Das Schweigen wurde düster, drückend, das nervöse Räuspern der Mutter des Roten klang wie ein Knall. Unter Fratzenschneiden und Verbeugungen, eine imaginäre Balancierstange in den Händen, bewegte sich der Dünne auf das Würstchen zu wie ein seiltanzender Clown. Da bemerkten diejenigen Beobachter, die das Würstchen nicht aus den Augen gelassen hatten, daß sich der Selbstmordkandidat aus seiner Erstarrung gelöst hatte und sich mit unmerklich kleinen Schritten vom Dünnen Sivi entfernte, der nun seine Finger zu Klauen krümmte und bedrohlich brüllte. - Was machst du denn, du Idiot, siehst du denn nicht, daß du abrutschen kannst, schrie plötzlich das Würstchen, als sei er aus 66
einer Trance erwacht. Wenn ich abrutsche, halte ich mich an dir fest. Wir fallen zusammen, kleines Würstchen! Und der Dünne kam immer näher heran. Helft mir, dieser Verrückte wirft mich noch runter! rief jetzt das Würstchen. Und er setzte sich auf die Brüstung und duldete es, daß die anderen ihn bei den Beinen faßten, um ihm herunterzuhelfen. Der Dünne sprang ihm mit einem seiner Supermansprünge nach. Die Vorführung war zu Ende, und da das Publikum annahm, es käme nichts mehr nach, zog es sich zurück. Knapp eine Viertelstunde später kam Palena, und obwohl sie gelaufen kam, völlig aufgelöst und triumphierend, ihre Würde als Freundin und Retterin wie eine Krone vor sich hertragend, war es zu spät. Das Würstchen war schon von der Terrasse heruntergekommen und nahm jetzt in der Küche ein Aspirin. Er umarmte sie trotzdem, kotzte das Aspirin und einen Teil des Weins auf ihr Kleid und ließ sich willig von ihr mitnehmen. Am nächsten Tag brachen der Dünne, Juanjo, Eric und Pferdegesicht mit dem Erlös auf in Richtung Machu Pichu. Sie kamen bis Córdoba, und nach vier Tagen waren sie wieder zurück. Die Große Reise war zu Ende. Und so war der Beweis dafür erbracht, daß der Dünne – auf seine Weise zwar unbestechlich und perfekt – nicht fähig war, wenigstens im Moment nicht, in einem fairen Kampf eine Anaconda zu besiegen, geschweige denn, überhaupt an eine heranzukommen. Und da er auch niemals (aber dazu brauchte es keines Beweises) der Ehemann geworden wäre, der ihr Talent, Schnitzel zu braten, gewürdigt hätte, und da vor allem sie sich den Schnitzeln näher fühlte als den Anacondas, war Laura klar, daß ihre Suche weitergehen würde. Vor dem Eingang des Gebäudes verabschiedet sich Laura von 67
ihrem Mann, der sie zärtlich auf die Wange küßt und auf den Mund und dann unbekümmert seine gefährliche Fahrt fortsetzt. Das Institut Crisálida ist in einer ehemaligen Wohnung mit großen Zimmern untergebracht, in der das Badezimmer umgestaltet und vergrößert wurde, damit drei von rosa Plastikvorhängen abgetrennte Duschnischen eingebaut werden konnten. Die vorangehende Gymnastikstunde ist noch nicht zu Ende. Durch einen Spalt in der zweiflügeligen Tür kann man das große Zimmer betrachten, der Boden ist versiegelt, und eine Stange läuft an den Wänden entlang wie eine lange Schlange. Der Übungsraum ist in Halbdunkel getaucht, einige schwangere Frauen liegen mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Sie tragen Gymnastikanzüge und sind augenscheinlich eingeschlafen. Alle Stunden enden mit einer Phase totaler Entspannung. Es sind schon zwei weitere Turnfreundinnen von Laura gekommen. Eine von ihnen ist im vierten Monat ihrer Schwangerschaft, und vor knapp einer Woche hat sie mit dem Gymnastikunterricht angefangen. Die andere ist schon im achten Monat. Die drei ziehen sich langsam aus, sie leiden unter der Hitze. Während sie sich ausziehen, beobachten sie sich verstohlen und vergleichen den Umfang ihrer Bäuche. Dein Bauchnabel steht ja schon raus, bemerkt die Neue und verletzt damit die stillschweigende Übereinkunft, nichts zu sagen, wenn man sich mustert. Laura fühlt sich durch diese Unbefangenheit erleichtert, denn sie gestattet es ihr, sich ohne Entschuldigungen zur Schau zu stellen. Mit beiden Händen streichelt sie ihren Bauch und lächelt stolz. Sie stellt sich im Profil hin, damit die beiden anderen besser ihre vergrößerten Formen bewundern können. Klar! bei einem solchen Riesenbauch, hat der Arzt gemeint, fehlen nur noch ein paar Tage. 68
O je, ich muß es noch den ganzen Sommer über aushalten, sagt die im achten Monat. Zwei weitere Frauen kommen keuchend zu früh: Der Aufzug funktioniere nicht, teilen sie den anderen mit, und so sei ihnen nichts anderes übriggeblieben, als die zwei Etagen zu Fuß zu gehen. Die vorangegangene Stunde ist schon zu Ende, und die Schülerinnen haben es eilig, nach Hause zu kommen. Nur eine duscht sich noch. Die anderen ziehen sich schnell an, streifen die Kleider über ihre kaum noch feuchten Körper: Nach zehn Minuten Entspannung ist der größte Teil des Schweißes eingetrocknet. Die Unterhaltung wird jetzt allgemeiner. Es sind immer die gleichen Themen, und immer sind sie fesselnd: Es wird von Schmerzen, Unpäßlichkeiten und Empfindungen gesprochen, die besonderen Symptome und die Untersuchungsergebnisse einer jeden einzelnen werden kommentiert, Adressen von Geschäften, wo man Babysachen oder Kleidung für Schwangere kaufen kann, werden ausgetauscht. Laura ist begeistert bei der Sache. Durch die Nähe ihrer Niederkunft hat sie den anderen etwas voraus: Sie muß jetzt öfter zum Gynäkologen, und ihre Symptome sind stärker geworden. Eine der Lehrerinnen schaut aus der Tür und ruft ihre Schülerinnen zusammen. Kommen Sie, meine Damen! Meine Güte, wie wenig heute da sind! Die Hitze ist schuld, sagt die im achten Monat. Ich wäre fast nicht gekommen. Ich auch nicht, pflichtet Laura bei. Ist es deine erste Schwangerschaft? fragt die Neue sie, als sie den Übungsraum betreten. Laura verneint, aber schon ist es Zeit, mit den Übungen zu beginnen, und es bleibt keine Zeit, die Unterhaltung fortzusetzen.
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IV. KLEINER CHIRURGISCHER EINGRIFF Worin erzählt wird, wie Laura den Preis der Sünde bezahlt - Erzähl mir ein Geheimnis, hatte Gerardo gesagt, als sie unbequem im Bett lagen und rauchten. Es war sehr heiß, Gerardos Bett war schmal, und ihre Körper schienen nach der Befriedigung nichts mehr voneinander wissen zu wollen, jeder steckte wieder ganz in seinen ureigenen Empfindungen. An den Stellen, wo sich zwangsläufig ihre Arme, ihre Bäuche und ihre Hüften berührten, schien der Schweiß ein Eigenleben zu führen, perlte Tropfen für Tropfen über die Haut. Aber der muffige Geruch in Gerardos Wohnung legte sich noch stärker über alle anderen Gerüche, er dominierte sie, zwang sie, als einfache Geruchskomponenten in seiner schwülstig-modrigen Hauptkomponente aufzugehen. Was für ein Geheimnis? Ein absolutes Geheimnis, ein Geheimnis, das du noch nie jemandem anvertraut hast, ein Geheimnis, in dem es ums Ganze geht. Gestern nacht habe ich ins Bett gemacht, sagte Laura. Da richtete sich Gerardo todernst auf, als hätte er ihr nicht zugehört, und starrte sie mit seinen grauen Augen an, die in seinem hageren Gesicht übergroß erschienen, ja fast hervorsprangen. In Augenblicken wie diesem kam Laura unweigerlich eine gewisse Seite aus dem Biologiebuch von Vilée ins Gedächtnis, die auf dickem, seidigem Papier das Foto eines an Augenkropf Leidenden zeigte. Es war nur allzu deutlich, daß er gar nicht an Lauritas bescheidenen Geheimnissen interessiert war, sondern sein eigenes preisgeben wollte. Er nahm seine Frage wieder auf 70
und sagte, indem er jedes Wort mit theatralischem Nachdruck aussprach: Ich habe einen Menschen getötet. Laura versuchte erneut, von Gerardos Körper abzurücken, um seine Geschichte zu hören, einen langen Monolog, der sorgfältig ausgefeilt zu sein schien und der nicht vorsah, daß sie dazu mehr als Ausrufe des Staunens, der Zustimmung oder des Entsetzens beisteuerte. Jetzt weißt du es, schloß Gerardo. Du hast mich nun in der Hand; du könntest mich anzeigen. Ich bin ein Mörder. Manchmal taucht das Gesicht des Mannes in meinen Träumen wieder auf. Aber Laura mochte sich Gerardo nicht als Mörder vorstellen. Aus seiner Erzählung – und sogar trotz seiner Erzählung – konnte man schließen, daß alles nur ein unglücklicher Unfall gewesen war, an dem darüber hinaus noch verschiedene andere Personen beteiligt waren, und daß Gerardo es nur seiner Eitelkeit zuzuschreiben hatte, daß er sich so etwas wie Schuld zuwies, obschon sie doch die Wahrscheinlichkeit einräumte, mit der das von Schmerz verzerrte Gesicht des Toten ein ums andere Mal in Gerardos Träumen erschien und ihm wie ein Stück schlecht verdauten Fleisches sauer aufstieß. Wie auch immer, Laura glaubte nicht, daß jemanden umbringen etwas Magisches oder Bewundernswertes sei, und sie war vor allem sicher, daß es sich nicht um ein Geheimnis handelte. Sie konnte sich Gerardo vorstellen, wie er wieder und wieder seine Geschichte erzählt, seine Gesichtsmuskeln vor Haß anspannt, um sie dann wieder in einem tragischen Ausdruck des nagenden schlechten Gewissens zu entspannen, wie ein Schauspieler, der schon längst die passenden Gesten gefunden hat, die es ihm ermöglichen, Abend für Abend seine Rolle zu verkörpern. Immerhin war in Gerardos Erzählung eine echte Intensität zu spüren, wie immer war Gerardo nicht imstande, von sich 71
abzusehen, einen Teil seiner selbst an einen ironischen Betrachter seiner eigenen Handlungen abzugeben. Laura beneidete ihn um diese unbändige Intensität, die so fern jeden Humors war, und sie liebte ihn trotzdem um so mehr. Mit der Liebe kam, in ihrem Gefolge, das Verlangen zurück, aber nicht aus Liebe, sondern angetrieben vom Neid, als ob der sexuelle Akt die einzige Möglichkeit wäre, sich das Beste des anderen, das Beneidete, einzuverleiben. Rituelle Menschenfresserei: das Herz seines stärksten Gegners essen. Laura beugte sich über Gerardo und fuhr mit ihrer hungrigen Zunge über die Schweißperlen, die an seinem Hals glänzten. Aber töten, vorsätzlich töten – das war eine andere Sache. Gerardo war zart und streng wie ein unglückseliger Dichter; er verweigerte sich, er lehnte es ab, sich zufrieden auf dem Weg, den alle einschlugen, durchzumogeln. Ich werde mir eine Kugel durch die Eier jagen, sagte er manchmal, und er meinte es ernst; ein Anflug von Haß blendete ihn, wenn seine ausgeprägte Menschlichkeit wieder einmal gegen die täglichen Mauern der Konvention prallte. Aber als Laura ihm erzählte, sie sei schwanger, sagte Gerardo nicht – und dieses Mal hatte es Laura mit heimlichem Groll erwartet –, ich werde mir eine Kugel durch die Eier jagen. Er sagte, das darf nicht sein! Und er streichelte ihr auch noch mit unerträglicher Zärtlichkeit über den Kopf (sie fuhren im Bus, saßen zu zweit ganz eng auf einem Sitz). Er hatte große Hände und breite Finger wie Spatel, die Laura nicht zu küssen wagte, laß das, hatte Gerardo eines Tages gesagt, nur dem Meister küßt man die Hände, und vergeblich hatte sie von ihm eine Erklärung dieses Satzes verlangt, an den sie sich hartnäckig hielt; es war ihr nicht einmal klar, wie das Wort Meister eigentlich gemeint war. Nur einem Meister, dem Meister, wiederholte Laura an jenem Abend rhythmisch im Takt des Busses, und sie suchte dabei die treffenden, verschlüsselten 72
Formulierungen, mit denen sie Gerardo zu erklären versuchte, daß sie kein Kind haben wollte. Sie mußte ganz praktische Gründe, die er nie akzeptiert hätte, in vage, bedeutungsschwere Sätze fassen, sie dichterisch überhöhen, auf das Schicksal des Menschen im allgemeinen anspielen. Laura war verwirrt: Sie hatte nicht erwartet, daß er bereit sein könnte, das in ihrem Bauch heranwachsen zu lassen, was sie nicht »ihr Kind« nennen mochte. Aber Gerardo wußte keine Antwort, ließ sich allzu leicht überzeugen, stimmte schweigend zu, schlug keine Alternative vor, und während Laura redete, fing sie an, ihn zu hassen. Also war alles nur eine Pose gewesen, eine Täuschung, ihm ging es darum, den Ball abzugeben, ihr die Verantwortung der Entscheidung zu überlassen. Und mit einem Mal begriff Laura, daß auch ihr nicht die Vernunft und die praktischen Gründe zu Hilfe kamen; daß sie kein Geld hatte, zu jung war und noch bei ihren Eltern lebte. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, sagte sich Laura, weil sie sich nicht eingestehen wollte, daß er nicht der beste Vater wäre. Es ist ein Haus wie alle anderen in der Straße, ein gutgebautes Haus aus den dreißiger Jahren. Es hat zwei Eingänge und zwei in Stein gehauene Masken über jedem Eingang, aber man muß schon sehr auf alle Einzelheiten achten, auf das Gesims, auf den Schimmer der Holztür, man muß sich schon das Fenster, das auf den Hof geht, mit seiner Glasmalerei vorstellen, um nicht die anderen Frauen anzusehen, die im Nieselregen auf der Straße stehen. Es sind viele, einige wenige Männer sind darunter; es ist schwer, sie genau zu zählen, während man verstohlen wegblickt, besser die Gesichter ansehen als die Bäuche, aber es ist unmöglich, nicht die Bäuche der anderen Frauen anzusehen, die jetzt ins Haus gehen, aufgefordert von einer Krankenschwester, die sich kaum gezeigt hat, und die ihnen energisch zu verstehen gibt, los, los, daß sie nicht auf der Straße stehenbleiben können. Und obwohl Gerardo mit ihr hineingeht, wird sie von diesem Augenblick an allein bleiben. Drinnen sind noch mehr Frauen, 73
und alles drängt sich in einem kleinen Raum zusammen, in dem drei graue alte Sessel mit Metallgestell und ein verstaubtes Regal stehen, dessen Nippes unterschwellig auf das Handwerk seines Besitzers anzuspielen scheint: eine groteske Elefantenfamilie aus Porzellan, ein Satz russischer Puppen, ein Bronzerelief mit der Darstellung des leidenden Jesus (dieser langhaarige Mann mit offener Brust, dessen Herz von feinen Stäbchen umgeben ist, die Strahlen bedeuten sollen) und, hinter einem Glasrahmen, das Foto von drei gleich aussehenden Babys, Drillingen, an einem Strand, mit zugeknöpften PiqueHäubchen und zerknitterten Hemdchen; man sieht, daß sie nicht gerne da sitzen, in der prallen Sonne, sie kneifen die Augen zu, um sich vor dem grellen Licht zu schützen, sie werden jeden Augenblick anfangen zu weinen, der Fotograf muß sich mit seinem Klick beeilen, damit alles schnell vorüber ist. Laura und Gerardo betreten das Sprechzimmer, ohne es zu wagen, sich bei der Hand zu nehmen. Der Arzt ist ein großer, fülliger Mann, er trägt einen weißen, sehr sauberen Kittel. Er sieht wie der erfolgreiche Besitzer eines Grills aus, man kann sich ihn gut vorstellen, wie er seine Angestellten überprüft, wie er die Scheiben gekochten Schinken eine nach der anderen auf das Pergamentpapier gleiten läßt, wie er den Grill öffnet, wo sich die Hähnchen langsam drehen, um sie nochmals mit geschickten Handgriffen einzupinseln. Laura kann ihren Blick nicht abwenden von den Händen des Doktors, diesen kleinen, fetten Händen, die sich in ihrem Körper zu schaffen machen werden. Der Mann verschwindet hinter dem Bild seiner Hände im Vordergrund, die sich geschäftig bewegen, das Geld entgegennehmen und Laura eine Nummer in die Hand drücken, die er von einem grünen Nummernspender abgerissen hat. Es ist die Nummer 11, aber keine Angst, ich rufe Sie vorher auf, beruhigt sie der Arzt verständnisvoll. Und in der Tat, nach kaum einer halben Stunde Warten wird Laura bei ihrem Namen gerufen; trotz des Papierschnipsels, auf 74
dem 11 steht, wird sie als fünfte aufgerufen; der Arzt hat sein Versprechen gehalten, sie käme als eine der ersten dran. Und dennoch: Nachdem Odysseus den roten, gewürzten Wein aus seiner Schale getrunken hat, gewährt ihm der Zyklop im Zeichen der Gastfreundschaft die Gunst, ihn erst als letzten nach all seinen Gefährten zu verspeisen. Aber Laura weist den Vergleich von sich, sie hat nicht vor, einen spitzen, glühenden Pflock in das Auge des Arztes zu stoßen, sie empfindet sogar ein wenig Dankbarkeit, und darüber hinaus ist der Arzt kein Zyklop, da ihm ja immer noch das andere Auge bliebe. Begleitet von der Krankenschwester, geht sie in ein anderes Zimmer, mit Sicherheit sah der ursprüngliche Plan der Wohnung hier eines der Schlafzimmer vor, ein kleiner Gang trennt es vom Sprechzimmer, das auf die Straße geht. Auf einer Seite steht ein Wandschirm, dahinter soll sie sich ausziehen und, da sie keinen Unterrock mitgebracht hat, einen sauberen, geflickten, steif gestärkten blauen Kittel überwerfen. Zwei gleich aussehende Betten stehen im Zimmer. Auf dem einen sitzt eine Frau mit langen schwarzen Haaren und ausdruckslosem Gesicht. Sie ist barfuß und trägt einen Unterrock, aber sie hat sich schon ihren Rock angezogen. In dem Bett auf der anderen Seite liegt noch im Halbschlaf eine andere Frau, sie stöhnt und windet sich, ihre Beine sind in Bewegung. Sie hat einen kurzen Schurz an, der, weil sie sich bewegt hat, ihre blutverschmierten Oberschenkel und die Vorlage, die sich beim Offnen der Schenkel verschoben hat, freigibt; die Krankenschwester steckt sie wieder an ihren Platz und weckt die Frau endgültig mit freundlichen, aber energischen kurzen Schlägen mit dem Handrücken auf die Wangen auf. Sie öffnet die Augen, schließt die Beine, hört auf zu stöhnen. Nun kommt ein sehr junges Mädchen dran (sie scheint sogar noch jünger als Laura zu sein), das schon seinen blauen Kittel anhat. Der Arzt kommt aus dem Sprechzimmer herein, geht zu dem Mädchen, nimmt es bei der Hand und führt es in die von 75
der Tür entfernteste Ecke. Auf die Plätze, fertig, sagt er zu ihr, eins, zwei, drei und los, und so verschwinden sie hopp, hopp Hand in Hand ins Sprechzimmer. Der Assistent folgt ihnen und schließt die Tür. Laura gelingt es nicht, den Sinn dieser kleinen zusätzlichen Erniedrigung zu verstehen. - Das macht er vielleicht mit den Hysterischen, meint die langhaarige Frau, die sich jetzt den Pullover und die Schuhe anzieht und ihre Handtasche sucht, mit denen, die es sich im letzten Moment anders überlegen und anfangen zu schreien. Aber keine der Frauen hier scheint einem hysterischen Anfall nahe zu sein, geschweige denn zu bereuen. Die, die jetzt nicht mehr stöhnt, hat sich im Bett aufgerichtet und ist dabei, sich den Schlüpfer und die Strümpfe anzuziehen, die ihr die Krankenschwester reicht. Alle Abläufe sind zeitlich geregelt, es ist ihnen gelungen, ein gut eingespieltes Fließbandsystem zu organisieren, das es ihnen erlaubt, fünfzehn Fälle pro Vormittag zu erledigen. Laura versucht auszurechnen, wieviel der Arzt verdienen würde, wenn er nicht mehr als dreimal pro Woche die Kürette in die Hand nähme, aber sie verrechnet sich, sie kommt mit den Zahlen durcheinander. In zehn bis fünfzehn Minuten wird die Langhaarige weggehen, eine andere Frau wird sich hinter dem Wandschirm ausziehen, die, die jetzt nicht mehr stöhnt, wird sich aufs Bett setzen, der Assistent wird das kleine Mädchen hereintragen, und Laura wird an die Reihe kommen, die sich vornimmt, die Wartezeit zu benutzen, um sich einen würdigen, gut formulierten Satz auszudenken, einen Satz, den sie ruhig und mit leicht ironischem Tonfall sprechen müßte, damit der Arzt sie ohne das eins, zwei, drei hopp, hopp ins Sprechzimmer gehen läßt – das einzige, was sich hier noch vermeiden ließe. Aber als der Arzt kommt, um sie bei der Hand zu nehmen, ist Lauras Mund trocken, und die geistreichen Worte wollen nicht 76
heraus. Alles geschieht zu schnell, es bleibt keine Zeit, Widerstand zu leisten, eins zwei, eins zwei, hopp, hopp, und schon würde Laura auf dem hohen Stuhl liegen, die Beine hoch auf zwei Metallschienen gelagert, wenn sie sich nicht mit einem Ruck, der von innen kommt, von der Hand des Arztes befreien würde, der sie verdutzt ansieht. Laura hatte ihre Entscheidung stolz und selbstbewußt getroffen (sie hatte sogar ihren richtigen Namen angegeben, statt einen mit »Frau« davor zu erfinden), aber jetzt schämt sie sich bis ins Mark. Die Worte der langhaarigen Frau klingen ihr wie eine Prophezeiung, sie selbst ist eine von den Hysterischen, die im letzten Moment bereuen, obschon sie natürlich nicht anfängt zu schreien. Leise und ungeschickt versucht sie, dem Arzt alles zu erklären, der aber unterbricht sie barsch, weiß, was zu tun ist. Offenbar passiert so etwas nicht zum erstenmal, und auch für diesen Zwischenfall ist Vorsorge getroffen. Der Assistent holt die Krankenschwester, die mit den Kleidern kommt. Laura zieht sich im Sprechzimmer hastig an, ihr wird das Geld zurückgegeben, der Arzt wirkt ein wenig ungeduldig, aber korrekt und wünscht ihr sogar liebenswürdig viel Glück. Sie wird zu einem anderen Ausgang geleitet, wo sie von einem bleichen und erschreckten Gerardo erwartet wird. Laura weiß, daß sie auf ihre Eltern bauen kann, daß sie ihr freudig helfen werden. Gerardo scheint manchmal verzweifelt und manchmal glücklich zu sein. Wenn er verzweifelt ist, bleibt er tagelang weg. Ist er glücklich, dann legt er seinen Kopf an ihren Bauch und läßt sich von Laura streicheln, die nicht weiß, ob sie ihn liebt. Laura erlaubt, daß Gerardo mit ihren Eltern (man haßt sich mit Anstand, und manchmal verbündet man sich) den Hochzeitstermin festlegt (es wird kein großes Fest geben, sondern nur eine kleine Feier mit den nächsten Verwandten und Freunden) sowie die Anmietung einer Wohnung und viele Einzelheiten mehr. Sie überläßt sich schläfrig den Empfindungen ihres Körpers. In den ersten Monaten wird ihr 77
nicht übel, aber sie schläft viel. Laura befürchtet einen spontanen Abgang, die gerechte Strafe dafür, daß sie loswerden wollte, worauf sie sich jetzt so freut. Sie geht nicht schnell, sie setzt sich vorsichtig hin, vermeidet das Treppensteigen. Während der ersten drei Monate geht sie nach hinten zurückgebeugt wie alle Frauen, die zum erstenmal schwanger sind. Vom vierten Monat an braucht sie nicht mehr zu simulieren: In die Umstandskleider wächst sie allmählich hinein. Sie kann nun schon die Bewegungen des Babys spüren, die sie an einen kleinen, hüpfenden Frosch denken lassen oder an einen Fisch, der in einem zu kleinen Aquarium gehalten wird und beim Hin- und Herschwimmen sanft an die Wände seines Gefängnisses stößt. Sie nötigt Gerardo, minutenlang seine Hand auf ihrem Bauch liegenzulassen, und obwohl er sagt, er könne die kleinen Stöße spüren, ist sie sicher, daß er lügt. Sie hat Vertrauen zu ihrem Gynäkologen, einem jungen, schon weißhaarigen Arzt, der über einen ausgefallenen Vorrat an Witzen verfügt, mit denen er die Schwangeren zum Lachen bringt. Sie spürt keine Ungeduld in sich, sie genießt ihren Körper, schläft nachmittags lange, nachts liegt sie wach. Gegen Ende der Schwangerschaft tun ihr allmählich die Beingelenke weh, besonders die Knie. Laura hat mehr zugenommen, als sie sollte, und der Arzt ermahnt sie sanft, rät ihr, salzlos zu essen. Jetzt scheinen die Bewegungen des Babys mächtige Wellen auszulösen, das Fluten und Abebben kann man mit bloßem Auge sehen, aber das ist Laura nicht genug, sie legt gerne die Hände auf den Bauch, um es auch von außen zu spüren. Die Ungeduld kommt erst gegen Ende. Die letzte Woche ist fast unerträglich, die Minuten schleichen dahin. An einem Samstag, als sie mit Gerardo gerade bei ihren Eltern zum Essen sind, verspürt sie den ersten stechenden Schmerz, ein kleines Erdbeben, das sie schüttelt, aber rasch vorübergeht. 78
Sie fürchtet und erwartet (erhofft) das nächste. Die Wehen kommen während des ganzen Wochenendes in sehr unregelmäßigen Abständen wieder; am Sonntag kommen sie alle sechs Minuten. Der Arzt verordnet ein krampflösendes Mittel und sagt, man solle ihn anrufen, wenn es nicht wirken sollte. Um ein Uhr nachts fährt sie mit Gerardo in die Klinik, ein uraltes Gebäude, das zu dieser Nachtzeit verlassen und düster wirkt. Sie bekommt eine Spritze, die die unnützen Wehen ausschalten soll. Doch der Vorgang läßt sich nicht aufhalten. Die Schmerzen sind schrecklich, mit Kurzatmen lassen sie sich nicht beeinflussen, Schreien verschafft ihr Erleichterung. Zwischen zwei Wehen versucht Laura vergeblich, sich zu entspannen, sie krümmt und windet sich im Bett, übergibt sich. Der Schmerz legt sich wie eine Wolke über ihre Wahrnehmung, löscht sie aus, alles ist Schmerz, sie weiß nicht mehr, weshalb und warum sie hier ist. Um sieben in der Frühe holt sie der Arzt ab, er beruhigt sie und verabschiedet sich von ihr, er wird sie ja gleich im Kreißsaal wiedersehen. Ein Pfleger hilft ihr auf die Bahre, die Schmerzen werden immer stärker, hören jetzt gar nicht mehr auf, zwischen den Wehen scheint es keine Pausen mehr zu geben. Im Kreißsaal erwartet sie ein Arzt, dessen Gesicht ihr bekannt vorkommt, aber es ist nicht ihr Gynäkologe. Die Schmerzen überlagern ihr Erstaunen, und schon liegt Laura auf dem hohen Stuhl, die Beine hoch auf zwei Metallschienen. Sie hat Schwierigkeiten zu begreifen, warum man sie festschnallt, ihre Beine und Arme rechts und links an den Stuhl fesselt, als wolle man ihr jede Möglichkeit nehmen, sich bemerkbar zu machen, geschweige denn, sich zu wehren – in dieser Position kann man sich sowieso nicht wehren, eine große Meeresschildkröte, die man auf den Rücken gewälzt hat, um ihre zartesten, schmackhaftesten Teile bloßzulegen. Eine Kakerlake auf dem Rücken. 79
Die Gummimanschetten drücken sich kaum in die Haut ihrer Handgelenke ein, Laura überläßt sich der Betäubung. Nur als ihr die Maske mit dem Gas auf Mund und Nase gedrückt wird und sie anfängt, diesen gelben Geruch einzuatmen, der direkt durch die Nase ins Gehirn zu dringen scheint, merkt sie, daß sie nicht einschlafen wird, daß sie das Gas nur betäubt, ihre Bewegungen durch eine zusätzliche Fessel verhindert werden, der ihren Körper, wo der Schmerz tobt, von ihrem Bewußtsein trennt. Ihr Selbst verkriecht sich in einen Winkel des Kopfes, wohin noch ganz deutlich alle Empfindungen gelangen, auf die sie aber nicht mehr reagieren kann. Wie Hammerschläge auf einen Meißel tief in ihrem Fleisch, der sie von innen formt und bearbeitet, dringt der Schmerz durch den gelblich-grünen Nebel, der sie umhüllt, in sie ein, während sie darauf bedacht ist, tief, noch tiefer einzuatmen, um sich im Gas aufzulösen, das durch den Mund und die Nase strömt, aber das gelingt ihr nicht, denn sie hört trotzdem noch entfernt Stimmen, bis es ihrer rechten Hand gelingt, sich von den Fesseln, die sie gefangengehalten hatten, zu lösen und sich zu einer stummen Bitte zu erheben, ohne jedoch zu versuchen, die Strafe aufzuhalten, sie abzubrechen. Kaum kann sie die Hammerschläge, die den Meißel immer tiefer in sie hineintreiben, mit jenem anderen Schmerz in Verbindung bringen, von dem sie sich vorgestellt hatte, daß ihn jenes Instrument hervorrufen würde, das sie noch nie gesehen hatte und nie sehen würde, das aber dort ganz innen arbeitet und weiterhämmert mit Schlägen, die, vom Blut dort hingepulst, in ihren Ohren dröhnen. Jemand trägt sie und legt sie sanft auf eines der Betten in dem Zimmer nebenan, wo die Krankenschwester sie endgültig mit liebevollem, aber energischem Klatschen mit dem Handrücken auf die Wangen wachmacht. Erst da merkt sie, daß sie laut gestöhnt hat, denn einige Frauen mustern sie neugierig, während andere wegsehen. Nun befolgt Laura gehorsam die vorgesehenen einzelnen 80
Schritte: liegen, sich im Bett aufrichten, sich auf einen Stuhl setzen, schließlich hinausgehen, während die Krankenschwester einem noch einen hektografierten Zettel in die Hand drückt, auf dem steht, daß man noch ein paar Stunden ruhen, ein Antibiotikum einnehmen und eine bestimmte Diät befolgen soll. Gerardo erwartet sie schon, um sie zu einer Freundin zu bringen, wo sie den restlichen Tag bleiben wird; im Taxi streichelt er ihr gedankenlos die Hand, und ihnen dämmert, daß sie sich nicht lieben. Die schlanke, zierliche Gestalt der Gymnastiklehrerin hebt sich fast absichtsvoll von denen ihrer Schülerinnen ab. Mit Leichtigkeit macht sie die Übungen vor, fordert sie auf, wie Schmetterlinge mit den Flügeln zu schlagen, wie die Katzen auf allen Vieren einen Buckel zu machen, die Knie zu beugen, bis sie sitzen wie die Frösche, sich zu strecken wie ungewöhnlich schnell wachsende Bäume. Die vier Frauen machen ihr alles tolpatschig nach, sie flattern wie schwangere Schmetterlinge, sie buckeln wie schwangere Katzen, sie gehen in die Knie wie schwangere Frösche, sie strecken sich wie Flaschenbäume. Laura spürt, wie die Törtchen ihr im Magen liegen, ihre Atmung geht schwer. Jetzt bereut sie es, diese kleinen Köstlichkeiten aus Zucker, Creme und Milchkaramel nicht verschlungen, sondern im letzten Augenblick beschlossen zu haben, an dieser verdammten Gymnastikstunde teilzunehmen. Sie bricht die Übung ab und legt sich lang auf den Rücken. Ist was? fragt die Lehrerin. Ich habe einen Krampf. Im Unterleib. Hoffentlich keine Wehen, oder? fragt die Lehrerin und legt ihr eine Hand auf den Bauch, um ihren Verdacht abzuklären. – Nein, es sind keine. Gut. Bleib einen Moment so liegen und mach später wieder mit, wir fangen sowieso gleich mit den Atemübungen an. 81
Aber Laura hat keine Lust zu Atemübungen. Sie vermutet, daß ihr diese Übungen nichts bringen werden. Ihr Gynäkologe ist überdies auch nicht von der Nützlichkeit des schnellen, flachen Atmens überzeugt. Während eines der Gespräche, zu denen sie gehorsam mit ihrem Mann geht und die der Arzt genauso abrechnet wie eine Untersuchung, hat er ihnen erklärt, daß das flache, schnelle Atmen die genau entgegengesetzte Wirkung haben kann, das heißt eine geringere Sauerstoffaufnahme im Blut mit den sich daraus ergebenden negativen Folgen für den Fetus. Ich möchte nach Hause gehen, sagt sie und macht sich schon auf den kurzen Kampf ihrer widerstrebenden Gefühle gefaßt, der unweigerlich auf ihre Ankündigung folgt. Sie weiß, daß die Lehrerin gegen ihr Weggehen ist, da sich das schlecht auf die Disziplin der Gruppe auswirkt. Obwohl die Gymnastiklehrerin noch sehr jung ist, unterrichtet sie schon seit vielen Jahren, und sie weiß sehr wohl, daß ihre Schülerinnen aus den unterschiedlichsten Gründen hier sind, daß sie die Gymnastik verabscheuen und daß ihnen jede Entschuldigung recht ist, um der Klasse fernzubleiben. Aber heute ist die drückende Hitze selbst ihr zu viel. Gut, dusch dich, das wird dir guttun, sagt sie zu ihr. Aber bevor du gehst, schau doch bitte im Sekretariat vorbei, denn Mirta möchte mit dir sprechen. Laura duscht sich nicht. Sie zieht sich schnell an und geht am Sekretariat vorbei, einem Schreibtisch neben der Treppe, wo Mirta, die Sekretärin des Instituts Crisálida, versucht, sie dazu zu überreden, sich für einen Kompakt-Kurs »Angstfreie Geburt« anzumelden. Der Kurs schließt neben Gymnastikstunden eine Reihe von Gruppentreffen der Schwangeren mit ihren Männern ein, bei denen Dokumentarfilme gezeigt, Gespräche mit einem Gynäkologen, einem Kinderarzt sowie einer Psychologin und sogar eine Entbindung an einer Demonstrationspuppe angeboten werden. Laura ist nicht daran interessiert, bei diesem kleinen 82
Geschäft, das sich um ihren Bauch herum entwickelt hat, mitzuspielen, aber um die Unterhaltung mit Mirta nicht fortzusetzen, verspricht sie ihr, es sich zu überlegen und nimmt ein Faltblatt entgegen, auf dem alle Aktivitäten des Instituts Crisálida genauestens aufgeführt, sowie alle Spezialisten, die mit der Institution zusammenarbeiten, aufgelistet sind. Als sie das Faltblatt durchblättert, fällt ihr ein Name auf. Dr. Kalnicky ist Kinderarzt? fragt sie. Ist der denn nicht Kardiologe? Der nicht, antwortet die Sekretärin. Sie meinen Kalnicky Kamiansky, den kenne ich auch, das ist ein Neffe von unserem Kalnicky.
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V. EIN ANSTÄNDIGER JUNGE AUS GUTEM HAUSE Worin erzählt wird, wie Laura einen gutsituierten, frisch examinierten jungen Arzt kennenlernt Laura hat Kopfschmerzen, schon im Weggehen begriffen, die Hand auf der Türklinke, bleibt sie noch einen Augenblick, versucht, sich die Kraft dieses wundersamen Windstoßes zu erklären, der sie so hoch geweht hat, bis in den siebzehnten Stock des Santos-Dumont-Hochhauses in der Avenida Gorlero in Punta del Este, in diese leere Wohnung an die Seite Kalnicky Kamianskys, der in der Unterhose auf dem Boden sitzt und kummervoll in Erinnerung an seinen Großvater León schluchzt, während im Radio die Beatles ›Hey Jude‹ singen. Lauras Schuld liegt so eindeutig auf der Hand, daß es unsinnig wäre, darüber zu diskutieren, sie sucht auch keinen Freispruch, sondern höchstens ein milderes Urteil; und erst recht nicht möchte sie – wenigstens jetzt nicht – das Geschehene rekonstruieren, sich Rechenschaft darüber ablegen, ab wann sie schuldig wurde: als sie die Einladung, mit hinaufzukommen, annahm und dann diese Wohnung betrat, oder viel früher, als ihre eigene Großmutter vorschlug, ihr einen anständigen Jungen aus gutem Hause vorzustellen, und sie ja gesagt hatte, selbstverständlich, begeistert, allzu bereit zu beweisen, daß sie nichts gegen gute jüdische Familien habe, die in der Lage sind, ihre begehrten männlichen Sprößlinge auf dem freien Markt anzubieten. Fest steht jedenfalls, daß sich Laura langweilte in dem unerträglich heißen Sommer in Punta del Este, wo man sich doch in einem so angenehmen Milieu befindet; ihre Mutter hatte 84
sie noch einmal vor ihrer Abreise daran erinnert, als sie dabei waren, das Auto voll Konserven und Käselaibe zu packen, denn in Uruguay ist ja alles so teuer. Einige Tage zuvor hatte ihre Mutter kommentarlos die alten, schlichten, bequemen Kleider, die Laura normalerweise trug, für unmöglich erklärt und sie in die teuersten Boutiquen in der Callao und in der Quintana sowie in der Avenida Alvear geschleppt, wo sie ihr drei Hosenanzüge mit weitem Schlag und kurzen Ärmeln kaufte, einen leichten Sommermantel, verschiedene Blusen und Hemden und sogar ein langes Kleid aus Goldstoff, von dem sie meinte, es sei unerläßlich, zum Beispiel bei einem Besuch des Casinos von San Rafael. Laura hatte sich gedemütigt gefühlt und hatte protestiert, sie hatte sich mit ihrer Mutter und den unschuldigen Verkäuferinnen angelegt, aber jetzt war sie ganz zufrieden mit ihren neuen Sachen, die ihre Mutter unbedingt selber in den Koffer packen wollte, um sie sorgfältig zusammenzulegen, damit sie nicht knitterten – wie ein erfahrener Jäger, der mit Hingabe die Waffen überprüft, einfettet und bereitlegt, die sein Sohn auf der nächsten Jagd zu gebrauchen lernen soll: Punta del Este, bevorzugtes Revier. Das Ambiente war zweifelsohne ausgezeichnet, und Laura hatte keineswegs etwas dagegen gehabt, mit einem dieser jungen Männer auszugehen, deren eingeölte, sonnengebräunte Körper sie am Strand betrachtete (aber ohne sie von vorn zu sehen), diese jungen Männer, die abends in Begleitung von schlanken, blonden Mädchen mit den Autos ihrer Eltern über die Strandpromenade unbekannten Zielen entgegenflitzten. Aber Laura hatte in Punta del Este keine Freunde. Weil sie nie zuvor dort gewesen war, kannte sie die Annäherungsrituale der Gegend nicht, ergebnislos flanierte sie jeden Spätnachmittag die Avenida Gorlero auf und ab, angetan mit ihren besten Klamotten, und obwohl sie knapp eine Woche nach ihrer Ankunft schon bereit war, über fehlende Kenntnisse der HinduReligionen, über die mangelnden Antennen für die politische 85
und wirtschaftliche Lage Lateinamerikas, über die totale Unkenntnis der Werke Borges’ und sogar über die Verwechslung des Irrealis mit dem Konjunktiv in Bedingungssätzen großzügig hinwegzusehen, hatte sie noch kein einziger Ritter eingeladen, mit seinen Pferdestärken über die wilde Strandpromenade zu preschen. Woher kommst du? hatte ihr aus einem Auto heraus ein junger Typ mit gutem Haarschnitt zugerufen, als sie schon zehn träge Abende romméspielend mit ihrer Großmutter verbracht hatte, die hier auch keine Freunde besaß, sich daher fast ebensosehr langweilte wie Laura und das Bristol mit seiner buntgemischten Gesellschaft vermißte, wo alle oder fast alle jiddisch sprachen und Matetee tranken, für den sie sich Quittungen ausstellen ließen. - Aus Japan, hatte Laurita schlecht gelaunt zurückgerufen; aber die Frage, wie sich später herausstellen sollte, hatte schon Sinn gehabt, denn Miguel war Uruguayer, offiziell verlobt und würde in drei Monaten definitiv heiraten. Für ihn hatte daher die Nationalität seiner Zufallsbekanntschaften schon Bedeutung, denn er mied tunlichst Uruguayerinnen, besonders, wenn sie aus Montevideo kamen, und er war darauf bedacht, sich mit Laura nicht an den Orten sehen zu lassen, von denen er wußte, daß sie von seinen Landsleuten frequentiert wurden. Obwohl ihr seine Art, das Spiel zu eröffnen und seine Karten offenzulegen, gefallen hatte, konnte sie nicht umhin, sich ein wenig zu rächen, indem sie sich nämlich am folgenden Nachmittag, als er sie zu Tee und Kuchen in ein Lokal an der Straße nach San Rafael abholen kam, weigerte, ihre Lockenwickler abzunehmen. Zwei riesige Lockenwickler mit den dazugehörigen Nadeln krönten Lauras Haupt, das noch mit sieben weiteren Nadeln geschmückt war, die mit ihren neugierigen Köpfchen unter dem grünen Tuch, das das Meisterwerk bedeckte, hervorlugten; ein penetranter Geruch nach Pantheen vervollständigte die Aufmachung, die sich eine Verlobte, eine echte Verlobte, drei 86
Monate vor ihrer Hochzeit nie und nimmer erlaubt hätte. Auf dem Weg zu dem Lokal hatte Miguel sein Auto, einen kleinen italienischen Fiat, angehalten und das schwierige Unterfangen begonnen, sie zu küssen, während er sie mit einer Hand streichelte und mit der anderen Hand versuchte, den Mechanismus in Bewegung zu setzen, der Lauras Sitz zurücklegen sollte zu einer Art Liege. Das gute Zusammenspiel seiner Handgriffe verriet eindeutig, daß Miguel schon viele Male den komplizierten Vorgang geübt hatte, und Laura fragte sich, ob er mit oder ohne Frau auf dem Sitz geübt habe, denn Miguel schien sich weit mehr dafür zu interessieren, die Sache mit der linken Hand allein zu bewerkstelligen, wie er es vorgehabt hatte, als die rechte zu Hilfe zu nehmen. Aber der Hebel für den Liegesitz klemmte, und Miguel setzte sich wieder auf seinen Sitz, um die Sache zu bedenken, er hielt sich mit beiden Händen am Steuer fest und war so verzweifelt und wütend und so weit weg von Laura, daß es schien, als habe er sie gänzlich vergessen. Der verdammte Hebel, wiederholte Miguel und fügte noch ein paar deftige Ausdrücke hinzu, mit denen er die Autos im allgemeinen, die Fiat-Fabrikate aus Turin im besonderen und alle Bewohner der italienischen Halbinsel und ihr Land belegte, ohne ein einziges Mal innezuhalten, um die Möglichkeit zu erwägen, ob Laura überhaupt, trotz der mechanischen Ausfälle, bereit war weiterzumachen. Kurz danach hatte er sie aussteigen lassen und war voll damit beschäftigt, den verklemmten Mechanismus in Gang zu bringen, wobei er sich die Hände mit Öl beschmierte und herumschimpfte und geiferte, während sich Laura am Straßenrand langweilte. Nach einer Stunde kamen sie sehr schlecht gelaunt in dem Lokal an, Laura bestellte eine Waffel mit Honig und Miguel Zitronenkuchen, sie aßen und musterten sich, der Zucker belebte sie ein wenig, Miguel war Chemiker, sein Vater besaß ein großes Labor, seine Freunde nannten ihn Zehnfinger, du wirst 87
schon noch erfahren, warum, sagte er vielversprechend und selbstzufrieden und rieb seine Beine unter dem Tisch an Lauras. Aber Laura erfuhr es nie, denn noch am selben Abend kam Miguel zurück, um ihr mitzuteilen, daß unvorhergesehen seine Verlobte aus Montevideo angekommen sei; er wolle aber versuchen, sie auf jeden Fall zu sehen, und sie sollten sich in der Tat den restlichen Monat über öfter kurz sehen, niemals abends und niemals lange genug, daß Miguel seine Eroberungsstrategie hätte entwickeln können, jene gestaffelten Versuche, sich immer näher zu kommen, die er nun, nachdem der erste Versuch so jämmerlich gescheitert war, für unabdingbar hielt, um sie zu verführen. Wie hatte sie sich da nicht angesichts des unverhofften Auftritts von Kalnicky Kamiansky auf der öden Szene freuen sollen, dieses deus ex machina, den ihre Großmutter herbeigezaubert hatte, um sie von den langen Nachmittagen zu erlösen, an denen sie sich Lautréamont und gefüllte Ölkringel zu Gemüte führte, beide gleichzeitig konsumierte, was für immer in ihrer Vorstellung Maldoror, schrecklich wie ein Adler, mit dem Zuckergeschmack der knusprigen braunen, kaum öligen Kruste der Kringel verband. Laura hatte immer das Lesen genossen, aber besonders im Winter, wenn die Kälte sie den Sessel, die Einsamkeit und die Wollsocken suchen ließ; am Strand war das fast unmöglich, die Hitze lockte sie sanft, hartnäckig, zwang sie, aufzublicken und sich in die Farbe des Sands und in seine Zusammensetzung zu vertiefen. Ich bin Arzt, hatte Kalnicky Kamiansky gesagt, als sie am Strand entlanggingen und den Quallen auswichen, die zwischen Algen und Erdölflecken traurig verdunsteten, unangenehme Nebensächlichkeiten, die man besser nicht zur Kenntnis nahm, wenn man die hohen Preise für Speiseeis und Mieten rechtfertigen wollte. Dann, nach einer Pause, um das Folgende noch gewichtiger erscheinen zu lassen, hatte Kalnicky die Angabe vervollständigt: nicht nur Arzt, sondern fast schon 88
Kardiologe, er befand sich in der Ausbildung zum Facharzt, arbeitete in der Praxis seines Onkels, er hatte sehr dicht beieinanderliegende Augen, und Kalnicky Kamiansky, der Stolz seiner Eltern, hatte breite Hüften und bedauerte nur, daß sein Großvater León nicht mehr hatte erleben können, daß er seinen Doktor gemacht hatte. - Weißt du, fragte er Laurita, weißt du eigentlich, wer in der Gemeinschaft León Kamiansky war? Aber Laura hatte leider keine Ahnung, wer León Kamiansky war, und noch weniger wußte sie, was er der Gemeinschaft bedeutet hatte, einer Gemeinschaft, die ihr ziemlich vage und immer bedrohlich und fordernd erschienen war, zu der sie nie Verbindung hatte, eine Gemeinde, der man sich so unabänderlich zugehörig fühlte, daß man es nicht für nötig hielt, an ihr und ihren Einrichtungen und Gruppierungen teilzunehmen. Ich bin ein Kamiansky, ein Kalnicky Kamiansky, hatte er mit beneidenswertem Stolz versichert: Weißt du, wer im zaristischen Rußland die Kamianskys waren? Laura strengte sich an, kratzte alle ihre versprengten Kenntnisse über das zaristische Rußland zusammen, aber ihre Lektüre von Tolstoi oder Puschkin sagten nichts über das Wirken einer Familie Kamiansky am Hof des Herrschers über das Russische Reich. Laura gefiel die unverbrüchliche Anhänglichkeit Kalnicky Kamianskys an seinen Großvater León, und eigentlich war das das Einzige, was ihr an ihm gefiel, und während er sich nicht davon abbringen ließ, Wunderdinge von der Wohnung zu erzählen, die ihm seine Eltern im siebzehnten Stock des Gebäudes Santos Dumont geschenkt hatten, zwei Zimmer mit Blick aufs Meer, wollte sie lieber wieder auf das Thema León Kamiansky zurückkommen, toter Held, Wohltäter, Mitgründer einer Synagoge, Geschäftsmann. Ihre Eltern sahen zufrieden, daß sie endlich mit einem Jungen 89
aus gutem Haus ausging, die Investition fing an, sich zu rentieren, und Laura wollte ihren guten Willen bis zum Ende beweisen, obwohl es ihr insgeheim sehr ungerecht vorkam, denn auch sie hätten die lustvolle Aufzählung seiner Besitztümer, in der sich Kalnicky Kamiansky gefiel, sich geradezu suhlte, nicht geduldig über sich ergehen lassen: seinen klingenden Namen, seinen akademischen Titel, seinen Peugeot 404, seine Wohnung an dieser entsetzlichen Mole von Santos Dumont. Kalnicky Kamiansky übertrieb grotesk die Tugenden, die ihre Eltern von einem guten Jungen aus gutem Hause erwarteten. Und dann hatte sie Kalnicky Kamiansky auch noch zum Abendessen eingeladen. In ein Restaurant! Zum Meeresfrüchteessen! Niemals zuvor hatte ein Mann Laurita zum Meeresfrüchteessen in ein Restaurant eingeladen, manchmal wurde sie zu einem Kaffee eingeladen, was vollkommen ausreichte, Jungs Archetypen und ein Milchkaffee, Das Unbehagen in der Kultur und Tagliatelle mit Pesto bei Pippo, sogar zu einem denkwürdigen Grillabend im Pichin war Laurita mit der Hegeischen Dialektik gekommen, Mythischer Horizont und Hörnchen, Engels und Gramsci vor einem Pfannkuchen in La Martona, und das war alles ganz in Ordnung, auch wenn Laurita manchmal selbst die Rechnung begleichen mußte. Aber niemals, niemals bisher war ein Mann bereit gewesen, etwas Vergleichbares in sie zu investieren, sie in Punta del Este in ein Restaurant zum Meeresfrüchteessen einzuladen! Laurita war gerührt, begeistert und, vor allem, erstaunt, in sich diese unerwartete, hurenhafte Bereitschaft zu entdecken; ein Mann war willens, Geld für das Vergnügen auszugeben, mit ihr zusammenzusein, und das gefiel ihr, das gefiel ihr sogar unheimlich gut. Die Frauen, hatte sie eines Tages gelesen, als sie an irgendeiner Stelle einen der Bände von Freuds Sämtlichen Werken aufschlug, die so kostspielig eingebunden sind und die sich als Wurfgeschosse benutzen lassen, die Frauen sind, verderbt und schillernd wie sie nun einmal sind, besonders 90
begabt für die Prostitution, was für ein Unsinn, aber dies schillernde, verderbte Vergnügen war es gar nicht, das sie von Kalnicky Kamiansky erwartete, sondern bezahlt und bewertet zu werden, das Vergnügen, das sie überhaupt noch nicht kannte, daß nämlich ein Mann Geld, richtiges Geld aus seiner Brieftasche nimmt, um eine hohe Rechnung zu bezahlen allein für das Vergnügen, mit ihr zusammenzusein, mit ihr eine Zeit zugebracht zu haben. Wie schön, Laurita, hatte ihre Mutter gemeint, endlich gehst du mit einem Jungen aus, wie er sein soll, gut angezogen, der dich zum Essen einlädt, ein anständiger Junge aus gutem Haus. Laurita suchte also Speisen der mittleren Preislage aus, und Kalnicky Kamiansky wartete nicht einmal, bis die Hummercocktails mit reichlich Tomatenmayonnaise aus dem Glas und viel zu viel Kopfsalat serviert waren, um darzutun, daß er auch in Buenos Aires eine eigene Wohnung habe, im eleganten Barrio Norte, drei Zimmer, zwei Bäder, obwohl er jetzt noch bei seinen Eltern lebe. Immer haarscharf daneben, ohne Gespür für den steilen Abgrund, in den ihn seine Worte stürzten, fuhr er fort, aufzuzählen und vorzurechnen, meine Familie besitzt ein Ferienhaus in Los Troncos, ein riesiges Chalet im Los Troncos-Viertel von Mar del Plata, es gehörte meinem Großvater, wenn du erst den Garten sähst, was für eine Anlage, sagte Kalnicky Kamiansky und blickte sie zärtlich über die gebratenen Tintenfische hinweg an. Aber Laura hatte keine Lust, sich weiter den Immobilienbesitz anzuhören, sie wollte ihren Nachtisch genießen, und sie, Laurita, hatte entdeckt, daß alle Menschen dieser Erde wenigstens eine Geschichte erlebt haben, eine gute Geschichte, die es wert ist, angehört zu werden, selbst Kalnicky Kamiansky, Arzt auf dem Weg zum Kardiologen, zwei Wohnungen in Punta del Este, eine Junggesellenbude in Buenos Aires, Miteigentümer eines Ferienhauses in Los Troncos, mußte eine haben, und es war nicht schwierig, sie aus ihm herauszulocken, Kalnicky 91
Kamianskys Geschichte war eine Liebesgeschichte, und er erzählte sie, obschon sie ihn schmerzte, gern. Auch Laura schmerzte es, ihm zuzuhören, ihr taten seine plumpen, sinnleeren Worte weh, es war peinvoll, ihn über eine Zuneigung, die sicher echt gewesen war, im alltäglichen, abgedroschenen und banalen Wortschatz der Fernsehserien erzählen zu hören. Sie war keine Jüdin, die von Kalnicky so sehr Geliebte, während er sich mehr denn je als ein Kamiansky fühlte, sie kam aus dem Volk, besuchte Schreibmaschinenkurse, er liebte sie, sie liebte ihn, aber sie war keine Jüdin, und er litt, wenn er an den Namen Kamiansky dachte – an diesen Namen, dem das Großväterchen León zu einem so guten Klang in der Gemeinschaft verholfen hatte – und sich vorstellte, wie er zusammen mit einem entsetzlichen Sánchez, irgendeinem Sánchez in den Schmutz gezogen würde. Er hatte sehr gelitten und mit sich gekämpft, der gute Kalnicky Kamiansky, und als sein Großväterchen León erkrankte, wurde ihm klar, daß er sie aufgeben mußte. Sie selbst hat mich darum gebeten, stell dir vor, wie sie mich geliebt hat, sie selbst bat mich um die Trennung, um mich nicht so leiden zu sehen, glaub nicht, daß mein Großväterchen León mir Vorwürfe gemacht hätte, nein, so einer war er nicht, niemals hätte er mir in etwas dreingeredet, aber er wußte alles und beobachtete mich, das war alles, er sah mich mit seinen unsagbar traurigen Augen an, und da habe ich verstanden, es war noch schlimmer, als er starb, ich fühlte mich wie der letzte Dreck, solange ich noch mit ihr zusammen war, es kam mir immer so vor, als stünde mein Großvater neben mir und sähe mich mit seinen traurigen Augen an. Wenn ich einen Sohn haben werde – nun kam nach einer Weile Kalnicky Kamiansky wieder zu sich, erinnerte sich an seinen Nachtisch, goß die warme Schokoladensoße über das fast schon geschmolzene Eis, tauchte aus seinen Gedanken auf, nahm sich wieder zusammen, blickte Laurita vielsagend an –, 92
dann gebe ich ihm den Namen meines Großväterchens, nur ein bißchen moderner, León ist ziemlich altmodisch, findest du nicht auch? Wenn ich einen Sohn bekomme, werde ich ihn Lionel nennen. Später, auf dem Nachhauseweg, küßten sie sich im bequemen Peugeot von Kalnicky Kamiansky, und Laura hatte wieder einmal Gelegenheit, sich über sich selber zu wundern, über ihren Körper, der immer Lust hatte, sogar auf einen auf eine Laurita so abstoßend wirkenden Mann wie Kalnicky Kamiansky, der sich – angehender Kardiologe – auf ihre Brust legte. Nur ihre Enthaltsamkeit, sagte sich Laura, rechtfertige ihre Lust, ihre generelle animalische Lust, die der Zufall in diesem Augenblick auf diesen widerlichen Mann konzentrierte, der sie technisch unzureichend, aber mit Begeisterung küßte. Wenn du mich glücklich machst, sagte beim Abschied der unselige Kalnicky Kamiansky zu ihr, werde ich dich wie eine Königin verwöhnen. Schwer, sehr schwer läßt sich daher begründen, warum Laurita zugestimmt hatte, sich noch einmal mit ihm am nächsten Nachmittag zu treffen, ein letztes Mal, wie sie beschlossen hatte. Schwer zu verstehen, warum sie sich so leidenschaftlich an jenem kleinen einsamen Strand umarmen ließ; es war kalt, Möwen kreischten widerwärtig, die Wirklichkeit unterdrückte alle anderen Vorstellungen. Du hast mich glücklich gemacht, hatte unvermittelt Kalnicky Kamiansky zu ihr gesagt, und nicht einmal bei dieser Gelegenheit hatte Laura begriffen, daß er mit dieser sublimen, außergewöhnlichen Formulierung auf seine Orgasmen anspielte, so erbärmlich waren sie ausgefallen, daß Laura, selbst als der arme Kalnicky Kamiansky sich an sie preßte, nichts, aber auch gar nichts davon gemerkt hatte. Doch viele Jahre später würde sie sich daran erinnern, als ein bulliger Taxifahrer, nachdem er sie lange im Rückspiegel gemustert hatte, nicht mehr an sich halten konnte und zu ihr sagte, ich gebe dir alles, hörst du, wenn du mich glücklich machst, ich geb dir alles, selbst den Ford hier 93
schenk ich dir, hörst du, ich geb dir alles. Du mußt dir unbedingt meine Wohnung mit Blick aufs Meer ansehen, sagte Kalnicky Kamiansky am Strand, du mußt sie sehen, sie ist ein Gedicht, etwas Außergewöhnliches, ein Geschenk meiner Eltern zur bestandenen Doktorprüfung, du mußt mal sehen, wie das Meer von der siebzehnten Etage des Santos Dumont aussieht, ein Schauspiel, das darfst du dir nicht entgehen lassen, du mußt es dir ansehen. Ich hab keine Lust, mit dir zu schlafen, sagte Laura. Du bist blöd mit deinen Hintergedanken, siehst du jetzt, daß du immer nur daran denkst, ich will dir nur das Meer zeigen, den Blick aufs Meer, du wirst sehen, was das für eine Wohnung ist, außerdem ist sie gar nicht eingerichtet, es gibt kein Bett, alles gehört mir, ist ein Geschenk meiner Eltern. Ich schlaf nicht mit dir, wiederholte Laura im Aufzug, während er sich wohlweislich zurückhielt und sie nicht berührte, um ihr die Lauterkeit seiner Absichten zu zeigen, es ging einzig darum, seinen Besitz zur Schau zu stellen, seinen immobilen Reichtum. Ich werde nicht mit ihm schlafen, sagte sich Laura, aber warum bist du dann hier, dumme Ziege, Naivling, wenn du doch genau weißt, was kommt. Es stimmte, die Sicht aufs Meer von der Zweizimmerwohnung von Kalnicky Kamiansky aus, der darauf bestanden hatte, die Tür offenzulassen, damit du siehst, wie schlecht du denkst, gab es unübersehbar; die Wohnung war leer, ich werde sie im nächsten Jahr möblieren, das heißt, wenn der Umtauschkurs besser wird, total leer, es stand nur ein Kofferradio auf dem Fußboden, was für eine Hitze, ist dir nicht warm, schwitzt du nicht? Warum ziehst du nicht deinen Pullover aus? Warum tanzen wir eigentlich nicht? Ich sage tanzen, sonst nichts, denk nicht schon wieder an was anderes, sagte mit unglaublichem Feingefühl Kalnicky Kamiansky, der Herzensbrecher, ich halte die Hitze nicht aus, was für ein drückendes Wetter, und schon zog er sich die Hose aus, ein anständiger Junge aus gutem Hause in Unterhose, der sich im 94
Takt zu ›Hey Jude‹ bewegte, das die Beatles laut aus dem Radio heraussangen – oder einer der Beatles, den das sehr schlechte musikalische Gedächtnis Lauras nicht heraushören konnte. Laura hat Kopfschmerzen, während sie noch einen Moment bleibt, noch zögernd, aber schon im Gehen, eine Hand auf der Klinke der angelehnten Tür, sie zögert, weil Kalnicky Kamiansky schluchzt; er sitzt auf dem Boden und weint nach seinem Großväterchen León. Warum, sagt Kalnicky Kamiansky zwischen Schluchzen und Weinen, warum passiert mir so etwas, Großväterchen, warum bist du gestorben, Großväterchen, warum mußte ich nur dieses gute Mädchen, das mich so liebte, aufgeben, und jetzt muß ich mich mit einer dieser therapierten Jüdinnen abgeben, die sich für sehr intelligent hält, weil sie den letzten Bestseller von Mahatma Gandhi gelesen hat, wo es doch eine Frau an meiner Seite wie eine Königin haben könnte, Großväterchen. Mirta, die Sekretärin des Instituts Crisálida, ist eine ausgezeichnete Verkäuferin, die für jede Schülerin, die sie überreden kann, eine kleine Provision bekommt. Darüber hinaus ist sie davon überzeugt, daß sie mit ihrer Arbeit eine kleine, aber nicht zu verachtende soziale Aufgabe erfüllt. Sie glaubt ganz im Ernst, daß die Leistungen, die sie anbietet, auf die schwangeren Frauen eine intensive seelische Wirkung ausüben. Deshalb läßt sie nicht locker und fühlt sich in ihrer Eigenliebe verletzt, als Laura sich nicht sofort anmelden möchte. Ihre Erfahrung lehrt sie, daß die Dame sich schon entschieden hat, obwohl sie verspricht, es sich noch zu überlegen. Laura steigt ohne Anstrengung, aber mit Umsicht die Treppe hinab. Sie wohnt acht Blöcke vom Institut Crisálida entfernt und beschließt, zu Fuß zu gehen. Unterwegs wird sie sich in den Schaufenstern die Mode ansehen, die sie dieses Jahr nicht mehr tragen kann, und sie wird sich, das ist schon ein Ritual, in jeder der drei Apotheken, die am Weg liegen, auf die Waage stellen. 95
Die erste Apotheke ist gleich an der Ecke beim Institut, und der Apotheker, der sie inzwischen kennt, lächelt ihr freundlich zu. Seit man sieht, daß sie in Umständen ist, stellt Laura fest, behandeln sie die Leute mit einer Art mitleidiger Höflichkeit, als ob sie eine leichte Behinderung hätte. Sie erwidert das Lächeln des Apothekers und merkt sich ihr Gewicht: 70,5 kg. Als sie aus der Apotheke herauskommt, folgt ihr ein Mann, der sehr leise etwas murmelt. Statt schneller zu gehen, wie sie es sonst getan hätte, wird sie langsamer und bleibt vor einem Schaufenster stehen, um ihm den Anblick ihrer ganzen Figur zu bieten, der ihn ohne Zweifel aus dem Konzept bringen wird. Aber der Mann kommt noch näher heran, und jetzt kann Laura Wörter hören, deren grobe Unverschämtheit zeigt, daß er kein Interesse daran hat, mit ihr irgendeine Beziehung anzuknüpfen, es handelt sich nur um einen rein verbalen Erguß, der ihn wahrscheinlich als solcher schon befriedigt. Als Laura so tut, als wolle sie die Straße überqueren, versucht der Mann nicht, ihr zu folgen, er geht schnell vorbei und verschwindet um die Ecke. In der zweiten Apotheke wiegt sie nur 69 kg. Aber Laura freut sich lieber nicht, denn erst der dritten Waage, ganz in der Nähe ihrer Wohnung, traut sie wirklich; auf ihr hat sie sich schon am Morgen vor dem Arztbesuch gewogen, so daß jetzt keine Überraschung auf sie wartet. Laura geht gerne in der Stadt bummeln. Bevor sie ihren Mann kennenlernte, machte sie regelmäßig lange Abendspaziergänge, die sie manchmal unterbrach, um irgendwo einen Kaffee zu trinken. Seit langem ist sie schon nicht mehr allein in ein Café gegangen, hat sich allein an einen Tisch gesetzt, hat selbst das Verzehrte bezahlt. Die Idee verlockt sie nicht, aber sie wüßte trotzdem gern, wieviel inzwischen eine kleine Tasse Kaffee kostet, die sie so lange schon nicht mehr bezahlt hat.
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VI. WAS EIN KAFFEE KOSTET Worin erzählt wird, wie Laura fröhlich die Rechnung bezahlt An einem Frühlingsnachmittag ging Laura spazieren, sie nahm die besondere Beschaffenheit der Luft wahr, ihren Duft, die sonnigen Stellen, die vom Schatten der Häuser begrenzt wurden. Vor allem nahm sie ihren eigenen Körper wahr, Laurita ging genüßlich, achtete auf die Bewegung ihrer Beine, die jeweils kurz die enorm weiten Schläge ihrer roten Hose aufflammen ließen, sie atmete bewußt, ihre Brust hob und senkte sich, wobei sie merkte, wie eng die weiße Bluse aus Spitzenimitat saß. Laura fühlte sich wohl in ihrer Haut, so rundum glücklich, wie die aktiven Frauen, die für Deodorants werben. Die Männer musterten sie aufmerksam, und sie nahm die Blicke wie einen zusätzlichen Schmuck entgegen, ohne sie jedoch zu erwidern. Viele Männer waren aber nicht unterwegs, denn außerhalb der Innenstadt gehören die sonnigen Nachmittage in Buenos Aires den Frauen und ihren Kindern. Ein großer junger Mann kam ihr entgegen, ließ sie nicht aus den Augen und ging auf sie zu. Laura hielt seinem Blick stand; ihr gefielen seine hellen Augen als Kontrast zu seiner gebräunten Haut, zu seinem dichten schwarzen Schnurrbart. Sie ließ ihn näher kommen, während sie langsamer weiterschritt und sich fragte, was er ihr wohl sagen würde, wie dieses Mal das Ritual des Kennenlernens wohl anfinge. - Entschuldigung, sagte er und hielt genau auf sie zu, so daß sie fast stehenbleiben mußte. Guter Anfang: viel besser als ihr folgen oder an ihrer Seite gehen, nicht so einfach übrigens, auf »Entschuldigung« oder »Entschuldigen Sie bitte« als erste Annäherung nicht zu 97
reagieren. Wenn sie einfach geradeaus weitergeht, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, könnte vielleicht auf »Entschuldigung« ein »Kannst du mir sagen, wie spät es ist« folgen oder »dir ist der Zettel hier aus der Tasche gefallen« oder, noch schlimmer, »der Reißverschluß an deiner Hose ist offen«, und alle Würde löste sich dann in Peinlichkeit auf. Entschuldigung, aber ich kenne dich von irgendwoher. Nur »ausreichend« für diesen doch nun wirklich zu abgedroschenen Anfang, das, was ihn rettete, war die Überzeugung, mit der er sprach, und seine angenehme Gestik, diese Sicherheit im Tonfall und in der Mimik bewahrten ihn vor einer Abfuhr, denn Lauritas herausfordernder Blick hatte ihn keinen vieldeutigeren, geistreicheren Spruch finden lassen. Ja, das stimmt, sagte Laura, ich kenne dich auch. Na siehst du, ich hab’s gleich gewußt. Was meinst du, sollen wir nicht zusammen einen Kaffee trinken und versuchen, uns zu erinnern, woher wir uns kennen? Ein wenig erstaunt über sein Glück beobachtete er sie jetzt, wie sie ihren Milchkaffee trank. Ein Tropfen lief ihr übers Kinn, denn Laura hatte es nie gelernt, Kaffee in großen Schlucken zu trinken wie alle anderen, sie hielt an ihrer Trinkgewohnheit fest, die eher ans Nuckeln erinnerte und ihre Zähne immer wieder gegen die Tasse stoßen ließ. Sie trocknete sich mit der Papierserviette das Kinn ab, wohl wissend, daß diese Geste bei diesem ersten Treffen in ihm Zärtlichkeit, Lust, sie zu beschützen, und vielleicht sogar Verlangen wachrufen würde, aber auch, daß es ihn auf die Dauer wild machen würde, wenn es zu weiteren Treffen kommen sollte. Laura stellte sich zufrieden auf das Weiterspielen des Spiels ein, dessen traditionelle Regeln beide gut kannten. Jetzt war er dran, einen Ort zu erfinden, wo sie sich wohl früher hätten kennenlernen können, schon im voraus wissend, daß es diesen Ort nicht gab, daß aber die Aufzählung der Orte die 98
Unterhaltung in Fluß bringen würde, wodurch sie sich allmählich in diesem Spiel der Verführung kennenlernen und entdecken würden. Bist du nicht aus Villa del Parque? Nein, ich bin in Caballito aufgewachsen, direkt am Parque Rivadavia. Ah, jetzt weiß ich wieder: Ich kenne dich von Ferro, du bist doch sicher ins Schwimmbad von Ferro gegangen, ich war kein Clubmitglied, aber ein Freund hat mich immer mitgenommen. Nein, ich bin nie Mitglied im Ferro gewesen, ich bin immer ins Schwimmbad der jüdischen Gemeinde gegangen. Dieses Geständnis reduzierte die Auswahl, schloß einige Möglichkeiten aus und eröffnete andere, ganz bestimmte. Jetzt war er am Zug und zwar an einem entscheidenden. Ich habe einen Freund, der Jude ist, oder auch, ich habe viele jüdische Freunde, hätte ihn die Partie verlieren lassen, offenbar wußte er das, denn er wählte hinterlistig seinen nächsten Zug: Schach der Dame. Ich bin mit einem Mädchen aus Bet-El gegangen, aber ihre Eltern hatten etwas gegen Gois. Gois, bemerkte Laura, ist das Wort, das Nichtjuden benutzen, wenn sie gojim meinen. Soviel stand fest, die Dunkelhaarigen mit hellen Augen lagen ihr, und der Junge war ihr überdies noch sympathisch. Und trotzdem – der sonnige Nachmittag war so schön, daß Laura, von der Frühlingsluft dazu angestiftet, die unwiderstehliche Versuchung verspürte, dem Schachbrett einen Tritt zu versetzen. Du bist aus Entrerios. Allerdings. Hast du das an meinem Akzent gemerkt? Und du bist Architekt. Alle Architekten tragen Wildlederstiefeletten. Wirklich? Meine Schwarzhaarige hat sich als gute 99
Beobachterin entpuppt, lächelte er und machte sie sich schon durch das »meine« zu eigen, während er sich nach vorne beugte über den kleinen Tisch mit seiner roten Decke über einer blauen und seine Hand langsam Lauras Hand näherte, die aus den Resten der Papierserviette Kügelchen drehte. Ja. Architekt. Und vor drei Jahren hast du dein Examen gemacht. Du bist geschieden, keine Kinder, arbeitest in einer Fabrik für Kaminschirme und Schlösser und heißt Carlos. Unmöglich, sich nicht zu laben an seiner wachsenden Überraschung, seiner Verunsicherung, dem sichtbaren Zurückweichen seines Körpers gegen die Rücklehne seines Stuhls, seiner Hand zur Kaffeetasse, dem leichten Erröten bei der Enthüllung seines Namens, der Fassungslosigkeit, die er nicht in Worte kleiden konnte. Aber ja doch, du hast mich letztes Jahr schon einmal angemacht, sagte Laura mit breitem Lächeln übers ganze Gesicht, mein Herr hat sich als sehr vergeßlich entpuppt. Es war auf der Corrientes, wir haben einen Kaffee im Politeama getrunken, und du hattest auch kein Geld, um meinen Kaffee zu bezahlen. Laura setzte, wieder alleine, ihren Spaziergang an diesem Frühlingsnachmittag fort und dachte, daß die Geschichte wohl den Preis eines Kaffees wert war. Sie fühlte sich so wohl in ihrer Haut, so rundum glücklich, daß sie sogar auf die interessierten Blicke der Männer verzichten konnte. Unmöglich erschien es ihr hingegen, auf berühmte Vergleiche zu verzichten; wie Horacio Oliveira und La Maga, sagte sich Laura, würden sie sich irgendwann einmal, ohne sich gesucht zu haben, an irgendeiner Ecke in Buenos Aires treffen, und dann vielleicht ja, das dritte Mal würde den Ausschlag geben. Im vielgestaltigen, zusammengewürfelten Chaos der Stadt ist es schön, auf Leute mit einer bestimmten Lebensart zu stoßen.
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Laura geht mühelos, wiegt sich ein wenig auf ihren leicht gespreizten Beinen. Sie trägt Sandalen mit niedrigen Absätzen, die ihren Füßen Halt geben. Es ist die heißeste Stunde des Tages, und alle, die es vermeiden können, gehen lieber nicht auf die Straße, sie bleiben in ihren Wohnungen oder in ihren Büros. Die Eisdielen haben nur ein paar Kunden, sie werden sich erst nach Sonnenuntergang füllen. Die Klimaanlagen, die aus den Gebäuden herausragen, lassen dicke Tropfen regnen, auf dem Bürgersteig bilden sie kleine Pfützen, die ständig verdunsten. An den Tischen der Pizzerias oder der Straßencafes sieht man Männer zusammensitzen, die ihre Krawatten gelockert und ihre Sakkos über die Stuhlrücken gelegt haben. Die Jugendlichen und die sehr jungen Männer tragen T-Shirts. An ihre eigenen Kinderjahre zurückdenkend, betrachtet Laura mit Neid die leichten, weit ausgeschnittenen Sachen der kleinen Mädchen, die vorübergehen, diese nur für die ganz Jungen gemachte Mode, die sich erst in den letzten Jahren durchgesetzt hat und die sehr viel gebräunte glatte Haut freiläßt. Als sie so alt war, hatte man noch nicht die Jugendlichen als potentiellen Markt entdeckt: Sie und ihre Freundinnen waren stolz und zufrieden, wenn sie einige ziemlich gewagte Sachen tragen durften, die ihre Mütter selbst aus ihren Kleiderschränken holten und ihnen feierlich zur Verfügung stellten. Auf der dritten, auf ihrer Waage stellt Laura fest, daß die Törtchen, die sie sich einverleibt hat, ihr Gewicht um ein Viertelkilo erhöht haben. Sie gestattet sich daher noch ein Eis: ein Hörnchen mit Milchkaramel und Schokoladensplittern. Sie ißt es auf der Straße, im Gehen, sie schleckt es so langsam und genüßlich, daß es den Männern, die ihr entgegenkommen, Anlaß zu einigen frechen Kommentaren geben könnte, wenn ihre sichtbare Schwangerschaft sie nicht davor schützte. Es macht ihr Vergnügen, mit schnellen Schritten über den heißen Bürgersteig zu gehen, wobei sie versucht, nicht den leichten Modergeruch wahrzunehmen, den in unterschiedlicher 101
Konzentration die Gemüsegeschäfte, die Pfützen, die Straßencafes, die kleinen Müllhaufen ausdünsten, die sich in jeder Stadt ansammeln, ganz gleich, wie effizient ihre Straßenreinigung ist – es sei denn, man befände sich in einer Schweizer Stadt. Dieses Vergnügen beim Gehen steht im Gegensatz zu der Langeweile, den Anstrengungen und den Unannehmlichkeiten der Gymnastikstunde. Es ist die erste Woche im Monat, und Laura hat noch nicht den fälligen Beitrag im Institut Crisálida bezahlt. Sie beschließt daher, mit den Gymnastikstunden einstweilen aufzuhören; auf diese Weise kann sie den Betrag für einen ganzen Monat einsparen, von dem sie wahrscheinlich nicht mehr als drei Wochen ausnützen kann, da ja nur noch wenig fehlt bis zur Niederkunft. Aber ihr Gewissen gestattet es ihr nicht wegzubleiben, ohne Bescheid zu geben, und übrigens will sie nach der Geburt wieder ins Institut gehen, um ihr Baby zu zeigen und sich als Mutter zu präsentieren. Vielleicht wird sie sich auch in einem oder in zwei Monaten dazu entschließen, an den Gymnastikkursen für Entbundene teilzunehmen, die ihr helfen könnten, ihre Figur wiederzuerlangen, abzunehmen und die Festigkeit und die Elastizität der Unterleibsmuskulatur wiederherzustellen. Um später ohne lästige Erklärungen oder sogar Ausreden im Institut Crisálida weitermachen zu können, muß sie nächsten Donnerstag hingehen, um sich zu verabschieden, fröhlich die guten Wünsche und die neidischen Blicke entgegennehmen. Wie angenehm es doch ist, wenn man sich korrekt verhält, überlegt Laura in Gedanken an die Rituale des Abschiednehmens.
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VII. DER ABSCHIED Worin erzählt wird, wie Laura selbst das Ende bestimmte Mit drei Vokalen, einem R und einem S ist es unmöglich, kein »Scrabble« zu legen, da mußte sie einfach ein Wort mit sieben Buchstaben finden, sie brauchte nur ein wenig nachzudenken, ein paar Minuten und noch einige Schlucke Milchkaffee, die Buchstaben auf dem Brettchen neu anzuordnen und fertig, hingekriegt, PAPRIKAS, alle ihre sieben Buchstaben angelegt, »Scrabble«, 50 Punkte Prämie, 64 Punkte insgesamt. Fängst du schon wieder mit »Scrabble« an? fragte Pablo. Um so besser für mich. Siehst du nicht, daß du mir einen »dreifachen Wortwert« eröffnet hast, kleines Dummerchen? Das glaubst du wohl. Was willst du denn da anlegen? Paprikast vom Verb ›paprikasen‹ oder ›paprikase‹, den bekannten chemischen Prozeß? Und während er überlegte und dabei seinen Schnurrbart zwirbelte, blickte sie starr auf das Spiel, um ihn nicht anzusehen; doch über dem Spielbrett sah sie doch wieder sein Gesicht, und sie spürte, wie sehr sie darunter leiden würde, ihn nicht mehr zu sehen, wie sehr sie das Gewicht seines Körpers vermissen würde. Drei verlorene Jahre, würde ihre Großmutter sagen, dieser schlechte Mensch hat dich um drei Jahre betrogen. Mir fällt nichts ein, sagte Pablo nach einer geraumen Zeit. Nein doch, ich lege DEN, 3 Punkte. Du hast doch noch ein N. Dann mach doch besser DENN oder hier HENNE, da hast du noch den doppelten Wortwert drin, das macht 4, 8, 16 Punkte. Du hast mir wieder in die Buchstaben geschaut. 103
Ja schon, aber nur, um dir zu helfen, oder? Wenn das nicht erlaubt ist, langweile ich mich, sagte Laura. Und obwohl sie wußte, daß sie damit das Spiel beenden würde, sagte sie in einer plötzlichen Eingebung: Du hast eine andere. Ja, sagte Pablo überrumpelt, aber erleichtert, woher weißt du das? SCHNEIDEN, schon wieder »Scrabble«. Laura war stolz, daß sie wieder alle ihre Buchstaben untergebracht hatte, und das, obwohl sie außer dem I keine anderen Vokale hatte. Stolz. Ausgetrickst. Sie dachte sich eine Zugfolge aus: Zuerst »Scrabble« machen mit GETRICKST, mit den 5 Punkten vom K auf einem Feld mit doppeltem Buchstabenwert, und dann das Glück haben, vor dem Mitspieler die nötigen Buchstaben für die Vorsilbe AUS zu ziehen, und AUSGE-TRICKST legen mit einem Feld am Anfang, das den Wortwert verdreifacht, was ausreichen würde, selbst gegen einen viel besseren Spieler als Pablo zu gewinnen. Sie notierte noch die Punkte von SCHNEIDEN, obwohl es keinen Sinn mehr hatte weiterzuspielen. Was soll ich dir sagen? Ich weiß es eben. Ich sehe es dir an. Gestern abend hast du sie getroffen, sagte sie ins Blaue hinein, aber geschlafen hast du noch nicht mit ihr. Du bist eine richtige Hexe. Du weißt alles, sagte Pablo bewundernd. Laura wußte nicht alles, aber sie kam allmählich dahinter. Sie spürte, wie alle Muskeln ihres Körpers urplötzlich nachgaben, und sie fragte sich, ob sie wohl noch aufstehen könnte. Sie steckte sich eine Zigarette an. Ihre Bewegungen kamen ihr sehr langsam vor, so als befände sie sich unter Wasser, ganz tief unten auf dem Grund, das gesamte Gewicht des Ozeans auf ihr. Auch fror sie. Um ihrem Schmerz zu entkommen, versetzte sie sich in Gedanken in die Zukunft, ein Jahr später; aus dieser Entfernung, zusammen mit einem anderen Mann, würde sie an 104
diese Szene mit Gleichgültigkeit zurückdenken. Sie verglich die Liebe mit einem Nilpferd, das unter seinem schwerfälligen, zertrampelnden Trott ganze Landstriche verwüstet hinter sich läßt, und das allem gegenüber gleichgültig ist, was nicht mit der Nahrungssuche, mit dem Suhlen im Wasser zu tun hat, saudumme, schwerfällige Liebe. Dann willst du mich also nicht mehr sehen. Dann ist also alles aus. Ja, alles. Und obwohl Pablo sie eigentlich nicht ansehen wollte, war er doch zufrieden, denn Lauras Spürsinn hatte ihm viele schwierige Erklärungen erspart, und er sah sie nun voll Zärtlichkeit an und streichelte ihr Gesicht. Ich liebe dich sehr. Das weißt du doch, oder? Das allerdings war die Höhe, das überstieg das Maß des Erträglichen, Pablos Zuneigung, seine Hochschätzung, seine Achtung vor ihr. Laura dachte, wieviel doch das »sehr« vom »ich liebe dich« wegnimmt, und sie begriff, daß sie nicht mit dieser Katzentisch-Liebe, die keine war, würde leben können, und daß sie nicht mit dieser hauchdünnen Zärtlichkeit in seiner Erinnerung bleiben wollte. Da ja eh schon alles zu Ende ist, können wir uns jetzt die Wahrheit sagen, nicht? Jetzt kannst du mir ja mal verraten, mit wem du an dem Wochenende zusammen warst, als du nach Mendoza gefahren bist. Das interessiert mich schon lange. Nichts. Da war nichts. Ich war in Mendoza zum Kongreß, wie ich dir gesagt habe. Warum windest du dich noch, wo das doch gar keine Rolle mehr spielt. Ich weiß doch genau, daß du mit jemandem zusammen warst, da mach dir mal nichts vor! Nun gut, ich bin in Córdoba gewesen, nicht in Mendoza. Bei einer meiner Kusinen in Córdoba, erinnerst du dich? Und ich, ich war bei Pancho. An jenem Wochenende habe ich 105
mit Pancho geschlafen. Warum hast du das getan? fragte Pablo, der noch nicht glauben konnte, was er hörte, aber schon verletzt und beleidigt war und so blaß wurde wie jemand, dem man gerade einen Schlag auf den Kopf versetzt hat. Während Laura, die ihn liebte, sich nie etwas aus Pablos Seitensprüngen gemacht hatte, sondern nur wollte, daß er bei ihr blieb, machten Pablo, der sie nicht liebte, Lauras Seitensprünge hingegen verrückt vor Schmerz und Eifersucht. Also, ich bleib doch nicht allein zu Hause und lutsch am Daumen, wenn du herumziehst und kleine Kusinen entjungferst. Diese Anspielung machte sie jetzt nicht aufs Geratewohl, sondern sie zielte damit haargenau auf eine von Pablos Schwächen, der, weil er sich seiner Verführungskünste nicht sicher fühlte, immer gerne Hindernisse überwand und schwierige Aufgaben vorzog, die ihn herausforderten, eben Jungfrauen. Einmal hatte ihm eine seiner Schülerinnen aus Dankbarkeit ein ledergebundenes Exemplar von Martin Fierro geschenkt, das er Laura ein wenig verschämt gezeigt hatte. Aber ich habe dich nach nichts gefragt, sagte nun Pablo. Ich wollte gar nichts wissen. Warum mußtest du mir das auf die Nase binden? Laura wußte auch nicht so genau, warum, sie suchte nach etwas, was ihn verletzen konnte, er sollte auch einen Teil ihres Schmerzes empfinden, am liebsten hätte sie ihm einen langen, spitzen Gegenstand in die Brust gestoßen, eine Stricknadel zum Beispiel, mit gekrümmter Spitze wie ein Angelhaken, sie wieder herausgezogen und die Wunde mit Senf eingestrichen. - Wir haben uns gut unterhalten, Panchito und ich. Seit langem schon hatte ich Lust auf ihn. In den letzten drei Jahren hatte Laurita Zeit gehabt, Pablo gut kennenzulernen, und sie wußte, daß sie ihn zwar nicht mehr mit der Waffe der nun in die Brüche gegangenen Liebe, wohl aber 106
immer noch mit der des Hasses in der Hand hatte. Und was habt ihr so gemacht? fragte Pablo fast beiläufig. Was werden wir schon gemacht haben. Wir haben gevögelt. - Wie oft? Was interessiert dich das! Ich hab dich gefragt, wie oft, zischte Pablo nun, aber noch beherrscht, unpersönlich, kühl. Dreimal. Und danach? Hast du noch mal mit ihm geschlafen, danach? Nein, danach bist du ja von Mendoza wiedergekommen, oder besser gesagt, von Córdoba. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Und wie vögelt Panchito? Besser als ich? Das kann ich nicht sagen. Eben anders. Ich werde dir doch nicht die Einzelheiten erzählen, oder? Da ließ Pablo allen Anschein von Ruhe, von kaltem, wissenschaftlichem Interesse fallen und kam ganz dicht an sie heran, er keuchte, seine Augen waren gerötet, er zitterte vor Haß und Eifersucht. Laura wich zurück, hielt sich an der Rücklehne des Sessels fest. Pablo schnappte sich ihren Arm und hielt sie mit Gewalt am Handgelenk fest. Aber ja doch, kleine Nutte, du ausgekochtes Biest, du wirst mir alle Einzelheiten haarklein erzählen. Hast du seinen im Mund gehabt? Ich will alles genau wissen. Antworte mir! Sag mir jetzt sofort, ob du seinen im Mund gehabt hast. Ja natürlich. Laß mich los! Laurita versuchte, ihren Arm freizubekommen, sie wand sich vor Schmerzen. Und Pablo fragte sie auch, wie sie’s gemacht hatte, ob sie ihn ganz in den Mund gesteckt hatte, ob sie Panchito mit der Zunge gestreichelt hatte, ob sie seinen Samen geschluckt hatte, und da Laura immer noch nicht antwortete, verlieh Pablo jeder seiner 107
Fragen Nachdruck mit einer kurzen, harten Ohrfeige, bis sie im Mund Blut schmeckte, bis Laura in einem Anfall von Wut, Schmerz und Verlangen, ausgehend von einer undeutlichen Erinnerung an eine kurze Affäre, die vor fast einem Jahr gelaufen war, eine Geschichte erzählte, deren einziger Sinn genau in der Möglichkeit bestanden hatte, sie aufzubewahren, sie in Erinnerung und Erzählung zu verwandeln, denn obwohl sie zugegebenermaßen Lust auf ihn hatte, war es doch wegen Pablo, daß Laura mit Panchito geschlafen hatte, und Laura erzählte ihm mit Vergnügen, wie sie ihn mit der Zunge gestreichelt hatte, langsam, zuerst die Eier, dann weiter nach oben vom Ansatz bis zur Kuppe, langsam mit der Zunge, bevor sie ihn ganz in den Mund genommen hatte und in rhythmische Bewegung übergegangen war, ohne allerdings mit der Zunge aufzuhören, bis sie ihn, Panchito, kommengelassen hatte, bis sie im Mund den etwas stechenden, aber angenehmen Geschmack seines Samens wahrgenommen, bis sie ihn hinuntergeschluckt hatte, was aber natürlich nicht stimmte, denn der Samen schmeckte Laurita nicht, es wurde ihr schlecht davon, und Pablo hätte das eigentlich wissen, sich daran erinnern sollen, wenn er nur in der Verfassung gewesen wäre, etwas zu wissen oder sich an etwas zu erinnern. Und wie ist der Prügel von Panchito? Hat er einen großen? Einen größeren, als ich einen hab? Panchito hat keinen Prügel, er hat einen Säbel. Denn seiner ist länger und dünner als deiner und nach unten zu etwas gekrümmt, und deshalb nennt Pancho seinen auch nicht Prügel, wie du deinen nennst, sondern er nennt ihn seinen Säbel, den Krummsäbel San Martins! Und schon genoß Laurita ganz unverhohlen die Situation, schon hatte sie die Ohrfeigen nicht mehr nötig, da sie nun selber mit Worten austeilte, und sie verlor sich in eine ausführliche Beschreibung und Klassifizierung der Männer, die sie gekannt oder sich auch nur ausgedacht hatte, sie erzählte, wie diese 108
Männer dazu gekommen waren, ihrem Glied einen besonderen Namen zu geben, einen erfundenen oder einen von den vielen gebräuchlichen, und wie diese Namen normalerweise etwas mit gewissen körperlichen Merkmalen zu tun gehabt hatten, die jeder von ihnen allerdings universell glaubte, aber in Wirklichkeit waren sie individuell und einmalig gewesen, und so habe sie, Laurita, die Saubohne und den Großkopferten, den Zauberstab und den Kleinen Herrn von und zu Nudelholz sowie den Polizeiknüppel kennengelernt, und dann schilderte Laurita mit Hingabe die verschiedenen, nun aber schon glatt erfundenen Lustgefühle, die jedes Instrument gemäß seiner Form und Größe bei einer Frau auszulösen verstanden hatte. Bis Pablo sie zum Schweigen brachte, indem er ihr mit der Hand ins Haar fuhr und es herunterzog, ihr gleichzeitig den Arm umdrehte, bis er sie auf die Knie gezwungen hatte, Kopf im Nacken, dann öffnete er seine Hose und ließ sie seinen, Pablos, in den Mund nehmen wie sie, Laurita, in ihrer Geschichte den von Panchito in den Mund genommen hatte. Danach stieß Pablo Laurita zurück und befahl ihr, das Hemd auszuziehen und sich die Brüste zu streicheln, er betrachtete sie, biß sich auf seinen Schnurrbart, während sie sich streichelte, und dann half er ihr, die Hose auszuziehen und befahl ihr, halbnackt wie sie war, auf allen vieren durch die Wohnung zu kriechen, und Laura gehorchte seinen Befehlen, lief wie ein Hund auf seinen Ruf zu ihm, und er, Pablo, küßte sie, Laurita, auf den Hals und amüsierte sich damit, wieder und wieder nach ihren Brustwarzen zu schnappen, berührte sie mit den Lippen, dem Schnurrbart und drückte den Mund auf eine und berührte sie leicht und geschickt mit den Zähnen, während er einen Arm um ihre Taille legte, ihre Schenkel, ihre Hüften streichelte und mit der anderen Hand langsam vom Knie aufwärts die Innenseite ihres Schenkels entlang bis ganz nach oben glitt, wo er seine Finger in ihrer Scheide anfeuchtete, um seine Liebkosung noch geschmeidiger und herrlich sanft zu machen. 109
Und Laurita spürte die Wellen der Lust, die sich von ihrem Zentrum in rhythmischen Zuckungen ausbreiteten, und die Lust war auch Vergnügen, Vergnügen und Lust in eins geballt, sie spürte, wie Schauer über ihren ganzen Körper liefen, bereit war sie, bis in die Fingerspitzen spürte sie Stiche, als kämen sie von einer unglaublich dünnen Nadel, und dann konnte Laurita sich nicht mehr zurückhalten, aus ihrem halbgeöffneten Mund befreite sich Stöhnen, die Stimme der Lust, und diese aus ihrem eigenen Atem laut gewordene Stimme ließ die Wellen des Verlangens noch höher schlagen. Nun drang Pablo in sie ein, und seine Zunge drang in Lauras Mund ein, fuhr an ihren Zähnen entlang, am Zahnfleisch, während sie die Zähne zusammenbiß, aber er zwang sie, sie zu öffnen und vergewaltigte so auch ihren Mund, während er sich in ihr bewegte. Er nannte sie meine Stute, meine Nutte, mein Weibchen, als sie gemeinsam den letzten, unendlichen Moment erlebten. Aber nachher war alles wieder wie vorher, er streichelte zärtlich und traurig ihr Haar, und als sie sich anzogen, erinnerten sie sich daran, daß sie ja voneinander Abschied nahmen, und Laura fing an zu weinen, und Pablo weinte auch ein wenig, und sie umarmten sich sehr fest, und Pablo bat Laurita um Verzeihung, daß er sie nicht mehr liebte, und Laura fragte sich im stillen, warum zum Teufel er sie nicht mehr liebte, Geheimnis dieses Nilpferds, dieser schwerfälligen Liebe. Pablo ging, und dieses Mal endgültig. Während sie draußen auf dem Etagenflur auf den Aufzug warteten, sah er Laura liebevoll an, du bist ein liebes Mädchen, sagte er, ich werde dich sehr vermissen. Da stellte sich Laurita auf die Zehenspitzen und zog ihn ein wenig zu sich herunter, denn sie wollte ihm noch etwas sagen, ins Ohr sagen, denn sie standen ja draußen im Flur. Laurita umarmte Pablo und sagte ihm ganz leise, fast geflüstert: 110
- Du hast noch was vergessen zu fragen: Panchito hat mich auch noch von hinten genommen. Dann ging sie in ihre Wohnung zurück und schloß die Tür. Wie ein müder, besiegter Boxer, der in die Umkleidekabine zurückkommt und noch die Schreie des Publikums hört, das den Sieger feiert, schleppte sich Laurita ins Badezimmer. Sie hatte das müde Gesicht eines geschlagenen Boxers, ja es sah noch schlimmer aus mit seinen Flecken von Blut, Samen, Schweiß und Schleim und seinen Tränen, schwarz von Wimperntusche. Und wie Laurita sich unter der laufenden Dusche einseifte und ihre Haare naß werden ließ, dachte sie, daß Pablo sie wohl schlagen und demütigen, ihr Lust und Vergnügen, ihr Schmerz und Traurigkeit bereiten, sie sogar verlassen konnte, daß er sie, Laurita, aber niemals, nie und nimmer, auch wenn er, Pablo, tausend Jahre alt würde, beim Scrabble besiegen könnte. Erdbeeren werden angeboten. Kleine, wahrscheinlich süße Erdbeeren aus Coronda. Das ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: der Obst- und Gemüseladen, der nur einen Häuserblock von Lauras Wohnung entfernt liegt, ist normalerweise um diese Nachmittagszeit geschlossen, und nie sieht man mitten im Hochsommer noch Erdbeeren. Angelockt vom prächtigen Rot der Erdbeeren in ihren grünen Plastikkörbchen (unmöglich zu wissen, in welchem Zustand sich die darunterliegenden befinden), bleibt Laura unentschlossen stehen. Der Gemüsehändler, der im Ladeninneren gelauert hat, kommt eilfertig heraus und stellt sie. Lautstark und mit ausladenden Armbewegungen preist er seine Erdbeeren an. Eine gewitztere oder nicht so schüchterne Kundin wie Laura hätte an der Art und Weise, wie der Händler zum Kauf drängt, gemerkt, daß die Erdbeeren schon überreif sind. Aber Laura denkt nur daran, wie sie sich von ihrer plötzlichen Kauflust wieder befreien kann, sie will die Erdbeeren schon nicht mehr, hat sie vielleicht überhaupt nicht gewollt und versucht, von hier wegzukommen. 111
Aber es gibt kein Entkommen: Die einzige Möglichkeit, den Händler loszuwerden, ist, ihm wenigstens ein Erdbeerkörbchen abzukaufen, Laura ist sogar stolz auf ihren schnellen Rückzug, der sie davor bewahrt, nicht noch zwei oder drei mitzunehmen. Sie bezahlt für ihre Erdbeeren einen horrenden Preis und geht fast im Laufschritt mit dem Körbchen in der Hand davon. Die Haupteingangstür ist abgeschlossen, der Hausmeister hält seinen Mittagsschlaf. Wie sie hineingeht, sieht sie einen Mann vor dem Aufzug stehen. Er ist schlecht gekleidet, hat blutunterlaufene Augen, und seine Hände zittern leicht. Sie umklammert die Schlüssel wie eine Waffe und bereitet sich darauf vor, ihm das Körbchen mit den Erdbeeren ins Gesicht zu werfen. Sie fragt sich beschämt, warum sie alle Männer in diesem Maße als Bedrohung empfindet. Ihr schlechtes Gewissen (Freud läßt grüßen) zwingt sie, sich zu fragen, welche geheimen Wünsche hinter dieser absurden Furcht stecken. Sie kann sie dennoch nicht unterdrücken, und ohne an eine Rechtfertigung zu denken, entschließt sie sich, den Dienstbotenaufzug zu benutzen, der sich zum Glück gerade im Erdgeschoß befindet. Der Mann, ein Nachbar vom vierten Stock, sieht sie ohne Verwunderung weggehen und bedauert nur, ihr nicht rechtzeitig gefolgt zu sein, denn schnell hat sie die Tür des Dienstbotenaufzugs geschlossen, und jetzt ist es zu spät, mit einzusteigen. Er fühlt sich sehr schlecht. Die Hitze und ein Bier, das er soeben getrunken hat, haben, so nimmt er an, seinen Blutdruck erhöht, er sieht alles verschwommen, und ihm dröhnt es in den Ohren. Er beschließt, wieder hinauszugehen, um sich in der Apotheke den Blutdruck messen zu lassen, statt hier zu warten, bis im siebten Stock die Aufzugtür geschlossen wird. Endlich zu Hause, stellt Laura die Erdbeeren in den Kühlschrank. Später wird sie sich überlegen, was sie mit ihnen macht.
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VIII. AUF ANRATEN DES ARZTES Worin erzählt wird, wie Laurita mit Hingabe die Anordnung ihres Frauenarztes befolgt Der Arzt hat es so angeordnet. Mit Alkohol, sagt Mama, damit sie hart werden, und dann mit Vaseline, damit sie nicht austrocknen, nicht aufspringen, aber mein Arzt sagt nein, das machte man früher, jetzt lieber vom zweiten Monat an mit Seife, mit den Fingern, mit einem sanften Schwamm, vom fünften Monat an bis gegen Ende mit einer Bürste, einer Babybürste, die nicht weh tut, fünf bis zehn Minuten jede Seite, keinen Alkohol. Alkohol trocknet aus, früher trocknete er nicht aus, mit Vaseline hinterher trocknete er nicht aus, zu Mamas Zeiten konnten die Babys bei der Geburt noch nicht sehen, heute machen sie die Augen auf, man weiß, daß sie sehen, früher wußte man, daß sie nicht sehen. Werden die Kinder meiner Kinder bei der Geburt sehen? Noch am Tag der Geburt? Trocknet der Alkohol aus, trotz all der Vaseline hinterher? Begünstigt der Alkohol das Auftreten von Rissen? Ein Kilo allein für die Gebärmutter, fast noch eins für die Brüste, drei und noch was rechnet man für das kleine Wesen da drinnen, plus die Flüssigkeitseinlagerung, plus das Fruchtwasser, das schließlich doch nicht so viel ist, neun Kilo allein bei meiner Größe, bei mir sind es allerdings schon zwölf, wenn die Waage von dem Typ nicht richtig geht, sind es zwei Kilo weniger, aber das läuft schließlich aufs selbe raus, ich hab’ in jedem Fall zwölf Kilo zugenommen, ich sage Typ, wieso eigentlich Typ, man sagt doch nicht Typ, sondern man sagt Doktor, ein Typ steckt mir doch nicht jeden Monat die Finger in die Muschi, ich mach’ doch nicht für einen Typ die Beine breit, damit der nachsieht, herummacht mit seinem Spiegelchen, da 113
unten drin, mit seinen Gummihandschuhen voll Vaseline herumfingert, ein Typ, ich nehme die gynäkologische Stellung ein, er tastet mich ab, der Arzt fährt mit seinen Arztfingern in meine Scheide, tastet den Muttermund ab, das einzige, was diesen Weißkittel interessiert, manchmal tut er mir weh, aber was kümmert ihn das. Sie Arme, sagen die Leute zu mir, bei dieser Hitze mit diesem Bauch, aber die Hitze läßt mich kalt, die ist mir total egal, es lebe der Bauch, der Bauchnabel steht ab, mit den Fingern und mit Seife und Schwamm, mit einem weichen Bürstchen, so hat der Arzt gesagt, und schön, daß ich mich kontrolliere, ob ich Wasser gelassen habe, ob ich Stuhl hatte, was geht Sie das denn an, wie steht’s mit der Massage der Brustwarzen, au-ßer-or-dent-lich wichtig diese Massage, damit sie Form annehmen, hart werden, für mein Kind tue ich das, muß ich das tun, damit die Brustwarzen ihre richtige Form kriegen und hart werden, damit es gut damit zurechtkommt, das kleine Wesen, das muntere Vögelchen, wie verrückt es da drin Purzelbäume schlägt, er oder sie, das soll nun einer wissen, und wenn es zwei sind? Nein, wenn es zwei wären, hätte man das schon gemerkt, der Brustwarzenhof hätte sich vergrößert, wäre dunkler geworden, die Gebärmutter drückt gegen Ende auf die anderen Organe, wenn ich zuviel auf einmal esse, fühle ich mich wie abgeschnürt, die Scheidenmuskeln machen auch schon, was sie wollen, sie ziehen sich zusammen, sie entspannen sich wieder, ich esse den ganzen Tag über immer nur ganz wenig, ich werde immer dicker, Scheidenmuskeln, kleine Wampe, ich muß noch einen Nachtisch für Fede machen, nicht für mich, ich esse keinen, muß noch die Baisers kaufen, Erdbeeren habe ich ja schon im Kühlschrank, Sahne schlagen, wer vögelt schon mit einem Bauch von acht Monaten, ich bin schon im neunten, achtunddreißig Wochen, schon bald Schluß, ich bin Mutter, Mütter vögeln nicht, mir kommt schon die Vormilch aus den Brüsten, niemand darf sie anfassen, richtige Mutterbrüste, reserviert, warum habe ich, verdammt noch mal, so eine Lust, 114
eine Schande, ich, eine Mutter, vielleicht wegen der Schwellung, steht in dem Büchlein, Schwellung der Sexualorgane, alles ist da unten geschwollen, wie einfach ist es doch für einen Mann, seine Pfeife zu betrachten, deshalb sehen sie sie wohl so oft an, nehmen sie genau in Augenschein, drehen und wenden sie, früher hab’ ich auch, als meine Haare anfingen zu wachsen, aber einfach war das nie, werde ich wohl für die Geburt rasiert werden? Eine gerupfte Muschi, wie ein kleines Mädchen? Also, einfach war das nicht, mit dem Rücken zum Spiegel, Kopf nach unten, zwischen die gespreizten Beine hindurch in den Spiegel sehen, was für eine Enttäuschung jedesmal, wie häßlich und behaart war meine Muschi, wie grün war mein Tal, wie seltsam mein Gesicht verkehrtherum mit dem nach unten hängenden Haar, jetzt wäre das unmöglich, sich mit einer solchen Wampe vornüber zu beugen, Sahne schlagen, nachsehen, ob noch genug Puderzucker da ist, die Erdbeeren müssen saubergemacht werden, gut waschen, man kann mit Erdbeeren jemanden vergiften wegen der Insektizide, der Pestizide, mit denen sie eingedeckt werden. Ich trau’ mich nicht, Fede sagt, du darfst nicht, wenn du jeden Augenblick niederkommen kannst; wenn ich aufstehe, schlottern mir die Knie, sie tun mir weh, ganz sicher ekelt er sich vor mir, das sage ich ihm natürlich nicht, das denke ich nur, ihm sag’ ich überhaupt nichts, auch nicht, daß ich Lust hab’, wie ich mich schäme, in den Büchern steht es ganz anders, da heißt es: in den letzten Monaten Zurückhaltung, die Schwangere nimmt die inneren Empfindungen ihres Körpers wahr, zieht sich ganz in sich zurück, Unsinn, Quatsch mit Soße, Pustekuchen, sich ganz zurückziehen, ganz in mich selbst versinken, ich halte mich nicht zurück, ein Typ ist auf der Straße hinter mir hergegangen und hat mir so ein paar Sachen gesagt, ein Perverser, hab’ ich gedacht, nur ein abgeschmackter, zynischer Perverser, wollte mir irgendwas Schlimmes antun, nur Beleidigungen, Fede, das war kein Perverser, logisch, nicht? So wie ich jetzt aussehe, ist 115
es doch, als vögelte man gleichzeitig mit zwei Frauen, schlimmer noch, wenn man sich vorstellt, daß das kleine Wesen da drin ein kleiner Mann sein könnte. Zunächst mit den Fingern und mit Seife, dann mit einem Schwamm, dann mit einem Babybürstchen, Anordnungen des Arztes, ich soll auch Mittagsschlaf halten, wenn ich kann, hat er gesagt, das tut mir gut, Mama sagt, daß sie’s nicht konnte, weil sie nicht die richtige Lage fand, schließlich hatte sie im Sitzen in einem Sessel geschlafen, also mit mir ist das im Augenblick so, einfach jetzt aus dem Stand einschlafen, fällt mir doch etwas schwer, denn wenn ich mich ruhig verhalte, fängt das kleine Monster an zu strampeln, aber dann schlafe ich durch, schlafe ich fest durch bis zum ersten Wasserlassen in der Nacht, jeden Augenblick pinkeln, tagsüber pinkeln, nachtsüber pinkeln, mitten im Film pinkeln, aber heute nachmittag würde ich sagen, besser keine Massage, widerstehen! – widerstehen? sich einer ärztlichen Anordnung widersetzen? Er selbst hat es mir doch gesagt, nicht? Er selbst hat es sich doch ausgedacht, oder? Am lästigsten sind die Urinproben, diese blödsinnigen Analysen, vierundzwanzig Stunden lang Urin sammeln, wie oft pinkeln in vierundzwanzig Stunden? Unzählige, unzählbare Male, und am Ende ist es nur ein Literchen in der großen Flasche, ich hätte gedacht, daß Meere, Ozeane, tosende Pinkelozeane herausgekommen wären, aber nein, ein bescheidenes Literchen, eineinhalb Literchen, so gut wie nichts, ich muß mehr trinken, Wasser, Kaffee, Orangensaft, pinkelt, die Welt geht unter! das sagte doch der verrückte Juanjo damals, was für eine Bande von Ausgeflippten, pinkelt hat er nicht gesagt, vögelt war’s, der Dünne mit den Supermansprüngen, die Große Reise, die großen Reisen, ja, die hat er später gemacht, LSD-Trips; in den Absteigen am Bahnhof Pacífico brauchte er noch kein LSD, was haben wir da alles getrieben, er schwebte, flog von ganz alleine, wenn er mich jetzt, nur Bauch wie ich bin, sehen könnte, würde er weich, im Wohnzimmersessel, als wir kein Geld hatten, er hatte nie 116
welches, du wirst im Handumdrehen das Lager wechseln, mein liebes Kind, du wirst ganz Mutter sein, dich kümmern, sorgen, verbieten, Ordnung und gute Sitten hochhalten, über die Moral der Kinder wachen, raucht nicht Marihuana, liebe Kinder, vögelt nicht, daß die Welt untergeht, vierundzwanzig Stunden pinkeln, zum Verrücktwerden, mit der Urinflasche in der Handtasche losgehen, daran denken, das Diaphragma mitzunehmen, die Creme, aber das war früher, jetzt die Urinsammelflasche, die Toilettendeckel markieren, um nicht doch, besser den ganzen Tag im Haus, jedes noch so kleine Bächlein auffangen, sonst ist alles umsonst. Wird es weh tun, frage ich, aber ich habe keine Angst, nein, Fede hat Angst und hat den Arzt gefragt, wie hirnrissig, als ob der das wüßte, hat der vielleicht schon mal ein Kind gekriegt? nicht die Bohne, nicht im Traum, wie sind die Wehenschmerzen, hat ihn Fede gefragt, ich dachte, was wird der wohl sagen, der Typ, der Doktor, aber die sind schon auf alles vorbereitet, als ob er’s wüßte, hatte er geantwortet, wie Durchfall bei zugenähtem Arsch, das hat der doch tatsächlich gesagt, dieser Feinfühlige, äußerst Taktvolle, einer Mutter, zuvor hatte er um Entschuldigung gebeten, Verzeihung wegen des Ausdrucks, ich wiederhole Ihnen nur, was mir eine Patientin, eine ziemlich vulgäre Frau, einmal gesagt hat, und was sagt mir das? wie auch immer, ich faste, wie Durchfall bei zugenähtem Arsch, wer sich bloß so was ausdenkt. Die Arme, sagen die blöden Leute, hoffentlich wird es ein Junge, die Arme, bei dieser Hitze, ich hab’ Hitze gern, richtig gern, sie hat was für sich, mit den Fingern Schwamm Bürstchen, nicht schlecht, das macht die Schwellung, ganz bestimmt, mit einem kleinen Taschenspiegel kann ich mich sehen, alles violett da unten, ganz schön geschwollen, häßlicher und behaarter als sonst, es soll Tussis geben, die sich zwischen den Beinen epilieren, im Sommer, alle, ich unter keinen Umständen, heißes Wachs da drauf und dann alles abreißen, schlimmer als Durchfall bei zugenähtem Arsch, da muß man schon Maso sein, muß man 117
auch Maso sein, um zu gebären? Betäubung? Muß man schreien, heulen, sich an die Bettpfosten klammern, um eine Betäubung betteln? Oder wirst du unter Schmerzen gebären, sonst gilt es nicht? Spüren, wie das kleine Bündelchen herauskommt, sagen sie, ist Lust, was für Lust, so, als ob man bei Durchfall den Arsch wieder aufgetrennt kriegt? Solch eine Lust etwa? Fingerchen, Schwämmchen, Bürstchen, das ist Lust. Du bist schön, sagen die Männer zu mir, die Freunde, schön, ein schönes Schwangerengesicht, schöne Sexrentnerin, wenn sie keine Lust haben zu vögeln, werden sie zärtlich, machen Komplimente, aber ich will, ich habe Lust, sie nicht, ich, ganz Bauch, wasch’ mir die Haare, kämme mich, schmink’ mir die Augen, Make-up vom Hals an aufwärts, etwas anderes kann ich nicht, die geschwollenen Beine passen in keine Schuhe mehr, Brüste, und wie, zwei Nummern größeres Körbchen, aber nicht für dich, mein Junge, Brüste für mein Kindchen, es wird saugen und trinken, prächtig volle Brüste, na Süße, laß’ mich mal an deine Brust, sagen sie auf der Straße zu dir, aber zu einer Mutter nicht, zu einem Bauch nicht, aber das ist sowieso alles Unsinn, denn schlußendlich wollen sie immer, daß du an ihrem saugst, ich küß’ dich überall hin, sagen sie dir, komm’ her, ich werd’ dich, wenn es drauf ankommt, mit feuchten Küssen eindecken, sie küssen die Muschi nicht gern, Pablo hat es gern getan, andere auch, aber nicht die einer Mutter, die Mutter ist heilig, man hat nur eine, Mütter vögeln nicht, vielleicht nur einmal, ein einziges Mal, um mich zu bekommen, später dann nicht mehr, vorher auch nicht, ich auch nicht, im Grunde will ich auch nicht, daß man ihn mir reinsteckt, ich hab’ Angst, schäme mich, das kleine Spätzchen bewegt sich doch seltsam, was würde das da drin sagen, was fühlen, der Muttermund hat sich verändert, sagt der Arzt, Erweiterung? schließt er noch gut? weitet er sich schon? Samen würde auf sein Köpfchen regnen, auf das kahle, krause Kribbelköpfchen. Die Wohnung geht nach Westen, und nachmittags knallt die 118
Sonne gegen die großen Balkonfenster. Deshalb sind die Jalousien heruntergelassen, und zwischen den Holzlamellen scheint die Sonne in fest umrissenen, deutlichen Strahlen hindurch. Wenn man sie von nahem betrachtet, kann man die Staubkörnchen sehen, wie sie in langsamer, gleichförmiger Bewegung tanzen, bis Laurita sich einem von ihnen nähert und kräftig hineinbläst, um sich an dem kleinen Chaos, der Revolution eines Teils der Staubkörnchentänzer, die sie hervorruft, zu freuen. Ein langer Nachmittag liegt vor Laura, jetzt sind alle Nachmittage lang und auch die Nächte und die Vormittage. Wenn die Zeit, sagte Augustinus, eine gewisse Ausdehnung der Seele ist, dann zwingt das süße Warten die Seele Lauras, sich so auszudehnen, daß sie zerreißen könnte, wenn ihre außerordentliche Elastizität sie nicht vor dieser Gefahr behüten würde. Vor sich einen langen Nachmittag und zwei Dinge, die sie erledigen muß: den Erdbeernachtisch vorbereiten mit Schlagsahne und Baisers und – eine Empfehlung des Arztes – ihre Brustwarzen langsam massieren. Sie beschließt, mit dem Nachtisch anzufangen, später würde sie die Baisers kaufen, im Augenblick reicht es, wenn sie schon mal die Erdbeeren wäscht. Sie nimmt das grüne Plastikkörbchen, das angeblich ein halbes Pfund enthalten soll, aus dem Kühlschrank und leert es in die Spüle aus, und während sie heißes Wasser über die Erdbeeren laufen läßt, überlegt sie kurz, wie sie am besten die grünen Blättchen entfernt. Sie weiß, daß es am schnellsten geht, wenn sie ein Messer nimmt, aber dann geht unvermeidlich ein kleines Stückchen von jeder Erdbeere dicht unter den Kelchblättchen verloren. Und da die Erdbeeren jetzt im Hochsommer sowieso schon sehr teuer sind, zieht sie es vor, sie mit der Hand zu putzen. Sie fängt mit den kleinsten an, davon gibt es immer am meisten, und wie sie sie putzt, merkt sie, daß fast die Hälfte angefault oder schon schlecht ist. Sie arbeitet langsam, 119
ungeschickt. In den drei Jahren, die Laura nun schon verheiratet ist, hat sie es immer noch nicht gelernt, Obst und Gemüse zu kaufen, und obwohl sie öfter den Händler wechselt, füllen ihren Kühlschrank normalerweise beeindruckende Mengen von angeschlagenen Äpfeln, angefressenen Pfirsichen, verwelktem Kopfsalat und überreifen Tomaten. Sie kann auch keine Hemden bügeln und kann mit der Waschmaschine nicht umgehen. Ihre Unbegabtheit für häusliche Arbeiten ärgert sie immer, und manchmal bringt sie sie zur Verzweiflung, doch manches Mal empfindet sie eine geheime Genugtuung darüber, so als ob diese schwache Auflehnung die Kompensation dafür wäre, daß sie ihre Sehnsucht nach Wildheit und Ekstase aufgegeben, daß sie sich ein für alle Mal für die panierten Schnitzel entschieden und die Anacondas in sich abgetötet hat. Heute abend Schnitzel, damit komme ich bei Fede immer gut an, er ißt sie gern, wahnsinnig gern, ich mische geriebenen Käse unters Paniermehl, das ist mein kleiner Kniff, deswegen gelingen sie mir auch so locker, nicht so gut wie die, die die Mutter des Dünnen machte, die schlug die Eier mit Bier, mit Milch, zweimal zog sie sie durch das Paniermehl mit Käse, ihre Schnitzel, traumhaft, ein Gedicht, das Richtige für Appetitlose, nicht für Leute wie mich, ich stecke ja alles rein, was kommt, dicke Arme, Doppelkinn, Flüssigkeitsstau, haha, daß ich nicht lache, Ravioli-Stau, Butterbrot-Stau, Hörnchen-Stau, Nahrung für schwächliche Orang-Utans, aber alles rächt sich auf Erden, das wird ein Heulen und Zähneklappern sein, wenn ich all das wieder abnehmen muß, was ich jetzt zuviel draufhabe, wie eklig, die matschigen, die faulsten auszusortieren, das Weißliche, wie Baumwolle, ob das Pilze sind? Alles rächt sich, du wirst von einem zum anderen hinunterschlittern, wirst absteigen, sagte mein Papa, den Ausdruck benutzte er, absteigen, dieser Dreckskerl hat dich also in eine Absteige mitgenommen? Ich heulte Rotz und Wasser, ich weiß nicht, was eine Absteige ist, Papi, wir waren nur in einem Hotel, die 120
Mädchen, die viel vögeln, heiraten nicht in Weiß, sie heiraten nicht nur nicht in Weiß, sie heiraten überhaupt nicht, weil sie niemand mehr will, alles rächt sich, sie bleiben sitzen, werden alt und grau, eine kurze Zeit lang sind sie begehrt, aber heiraten will sie keiner, diese abgelutschten Frauen, befleckt, verbraucht, schmutzig, sie stehen spät auf, nach neun erst, ziehen sich nicht an, den ganzen Tag im Morgenrock, diese Huren, ich hab’ gevögelt und hab’ geheiratet, und Sie haben den Schwarzen Peter. Abgelutscht, verbraucht? Alles nutzt sich ab, verbraucht sich, alles rächt sich, deshalb gibt es auch das Perpetuum mobile nicht, die Teile nutzen sich ab, verbrauchen sich, trotz all der Schmiermittel, des Öls, ja pflegen Sie nur Ihren Motor, am Ende bleibt er doch stehen. Er bleibt stehen? Nutzt sich von innen heraus ab? Und die Vagina von all dem Hin und Her und den Bewegungen? Zunächst lag die Muttermundöffnung bei 75, später bei 80, sie hat sich abgenutzt, verbraucht, das kommt von der Gewichtszunahme, hat mir die Frauenärztin gesagt, sie wollte mir nicht sagen, von der Abnutzung, vom Gebrauch, alles rächt sich, durch ein abgenutztes, schmutziges, verbrauchtes Loch muß das arme Kleine heraus, um so besser für es, je größer, desto weniger Anstrengung, aber hinterher, wie werde ich da aussehen? Wie ein Kochtopf? Mehrfachgebärende, weite Scheide, schlaffe Brüste, enormes Becken, Mädchen, die vögeln, heiraten nicht, die, die sich selbst befriedigen, doch, die heiraten ganz schnell, alle wollen Onanistinnen heiraten, die sich nicht ganz hingeben, aber alles rächt sich, später rächt es sich an den Nachkommen, Kinder von Alkoholikerinnen, von Syphilitikerinnen, Folgekrankheiten, Schreckgespenster, jetzt nicht mehr, früher ja, als der Alkohol noch nicht austrocknete, zu Ibsens Zeit, zu Mamas Zeit, die Neugeborenen konnten noch nicht sehen, ich hab nie Syphilis gehabt, ist auch egal, Gonorrhöe auch nicht, Pilze ja, kleine Pilze wie die verfaulten, weißlichen Erdbeeren, Candida albicans, verschiedene Erreger, 121
Soormykose, aber die Filzläuse, ich immer nur mit anständigen Leuten, mit ordentlichen, sauberen Leuten, die sich baden, nicht wie Silvina, die hatte einmal Filzläuse, lassen wir das, jetzt ist sie verheiratet, zwei Kinder, Mutter mit Filzläusen. Mit den Fingern, Schwamm, Bürstchen, was für eine Lust, unbändige Lust, Lust eines jungfräulichen kleinen Mädchens, Jörge, verbotene Muschi, Sahne hinterher schlagen, Vanilleessenz, vorher den Anordnungen des Arztes nachkommen, gewissenhafte Mutter, verantwortungsvolle Selbstbefriedigerin, unverantwortliche Mutter, Abtreiberin, man sagt, daß verhärtete Stellen in der Gebärmutter zurückbleiben können, zurückgebliebene, ausgeschabte Gebärmütter entwickelt euch, entwickelt euch, deshalb habe ich gedacht, daß ich nicht schwanger sei, aber dann war ich’s doch, da war nichts zu machen, diese Stellen bleiben, wenn es schlecht gemacht wird, ein Arzt aber, ein richtiger Arzt macht es gut, schabt gut aus, nimmt alles weg, ein gewissenhafter, verantwortungsvoller Abtreibungsarzt mit Doktortitel, an Erfahrung hat es dem damals nicht gemangelt, fünfzehn pro Tag, nein, pro Vormittag, ich weiß gar nicht mehr, wie der hieß, das will man auch vergessen, schließlich bin ich trotzdem schwanger geworden, was hast du, was kannst du, steril hat mich das nicht gemacht, also hat sich das auch nicht gerächt, ich muß sogar dankbar sein, hier bist du, kleiner Zappelphilipp, sag der Mami guten Tag, Tritt in die Blase deiner Pinkel-Mami, das war kein Tritt, das war ein Faustschlag vielleicht oder ein Kopfstoß, jetzt stehst du ja schon auf dem Kopf, mein Herzchen, mein Lämmchen, Bocksprung gegen die Blase deiner Pinkel-Mami, wieder auf die Toilette. So habe ich mir das nie, aber wirklich nie vorgestellt, als ich den Stuhl sah, die Metallschienen, die Kürette, als ich dachte, ich könnte noch weglaufen, Tschüschen, freue mich, Sie kennengelernt zu haben, ja das habe ich gedacht, mein Bauch wurde dicker, aber solche Lust zu haben, das hatte ich nie vermutet, sie verfolgt aufmerksam alle Regungen ihres Körpers, 122
sie nimmt sich ganz zurück, das hatte ich auch von mir geglaubt, keine Lust, nicht ein Fünkchen, wer hätte das gedacht, nie wieder soll doch eine, die schon Bekanntschaft mit der rispel raspel Kürette gemacht hat, Lust empfinden, doch vierzehn Tage später wieder was hast du, was kannst du, aber im Augenblick nicht, wieso nie mehr, alles rächt sich, ich habe einen Mann umgebracht, hatte Gerardo, dieser blödsinnige Spinner gesagt, hab’ ich ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen umgebracht? Keinen Fetus, nicht einmal das, nein, nur einen Embryo, ein Embryo-Kind, das ich nicht haben wollte, das ich nicht mochte, mein Kindchen, dieses hier aber mag ich doch, das andere habe ich umgebracht, es hat nichts davon gemerkt, wer bezahlt dafür? Für das zerschlagene Geschirr, für den kleinen abgekratzten Fetus? Bezahlt dieser hier? Gesund soll er sein. Und heil mit allem Drum und Dran! Mutter Abtreiberin, Kind gesunder, kräftiger Säugling, ist so was erlaubt? Wenn die Mutter so schlecht ist? Also rächt es sich an mir, ich bin diejenige, die bezahlt, schwierige Geburt, Kaiserschnitt, mir wird mit einem scharfen Messer der Bauch aufgeschlitzt, die Gebärmutter, die Leibesfrucht wird herausgezogen, seht mal her, sagt der Kinderarzt, der düstere Messerstecher, der Typ, der Doktor, kommt mal alle her, seht euch das mal an, alle starren auf die Nußschale, alle kommen angelaufen, ich auf dem Rücken, aufgeschlitzt, blutverschmiert, alles innen verfault, man sieht ganz deutlich, daß diese Frau abgetrieben hat, und daß sie es arg trieb, alle glotzen, Krankenschwestern, Helfer, auch andere, aus der ganzen Klinik kommen sie gelaufen, Abtreibung, Abort, ab orto, Ab immer mit dem Ablativ, Ablatio, Ablösung, Erlösung, erlöst mich, eine noch nie dagewesene Schwangerschaft, meine Damen und Herren, die Spermien haben sich mit ihren Geißelschwänzchen gegen den Strom durch die Därme hindurchgearbeitet, im Magen hat sich eine Blástula claustrophobica meiosis eingenistet, also deswegen kann ich nicht viel essen, Völlegefühl, der Magen schon gefüllt mit einem 123
Baby, wenn es viele Haare hat, kommt es bei der Mutter zu Sodbrennen, Magensäften, hinterher scheißen sie im Kreißsaal, aber mein Arzt sagt nein, er hat versprochen, mir kein Klistier zu verabreichen, andere tun es, meiner nicht, man bewahrt mich vor dem Klistier, mir wird der zugenähte Arsch aufgetrennt, ich drücke, drücke drücke, in der Gymnastikstunde übe ich das Flachatmen, ich presse, Luftholen, Beine hoch, pressen, Kinder scheißen, wir halten den Atem an als ob, aber in Wirklichkeit drücke ich überhaupt nicht, wenn ich mich anstrenge, kommt es von allein raus, besser also Glycerin-Zäpfchen, Babys in der Kloschüssel, mein Kindchen, Erdbeerchen, feine kleine Leckereien zum Nachtisch werde ich dir machen, nichts Gekauftes, ich mach alles selbst für dich, Kindchen. Laura hat ein luftiges Sonnenkleid an, das sie vor der Schwangerschaft immer mit einem Gürtel trug; da es nicht gerade für ihre derzeitigen Umstände angefertigt wurde, hängt es schief an ihr, ist hinten viel länger als vorne, wo ihr Bauch den Saum lächerlich hochhebt. Die Erdbeeren, das winzige Häufchen Erdbeeren, das die Selektion überlebt hat, sind gewaschen und sauber, Laura schüttet sie in eine große gelbe Schüssel, wo sie fast verschwinden. Daher legt sie sie nun auf eine Untertasse; denn, obwohl sie niemand sehen wird, bevor sie unter den Baisers begraben im Nachtisch verschwinden, möchte sie vor sich selbst das Ausmaß ihres Mißerfolgs vertuschen. Dann zieht sie das Kleid aus, die Hitze rechtfertigt das, die Jalousien sind heruntergelassen, niemand kann sie sehen. Im Badezimmer zieht sie vor dem Spiegel ihren Büstenhalter aus. Der Spiegel ist klein: Sie sieht gerade noch einen Teil des Bauchs, die Brüste, die gut entwickelten Brustwarzen, die großen dunklen Höfe, alles in Übereinstimmung mit den Angaben in der Literatur für werdende Mütter, diesen Handbüchern, in denen Laura immer wieder ohne Überdruß die Informationen und die aufgelisteten Ratschläge nachliest, die aus ihr »Die vorbildliche Schwangere« machen. In der letzten 124
Zeit gibt sich Laura der Lektüre dieser Bücher mit der gleichen leidenschaftlichen, erwartungsvollen Aufmerksamkeit hin, mit der sie damals, als sie noch ihr Hymen hütete, die ›Modernen sexuellen Techniken‹ von Robert Street verschlang: die Beschreibung des Unbekannten, das auf sie zukommen wird, die sichere Vorhersage ihrer eigenen Zukunft, das weckt ihr Interesse. Sie ist barfuß, und die Kühle des gefliesten Bodens unter ihren Fußsohlen löst in ihr ein Vorgefühl der Lust aus. So wie in der Bhagavadgita der himmlische Wagenlenker Arjuna rät, er solle vor der Schlacht, in der er gegen seine eigenen Verwandten kämpfen muß, in Ohnmacht fallen, so versucht Laura, das Ritual als etwas Selbstverständliches, Uneigennütziges, Unumgängliches anzusehen, bei dem ihr Verlangen oder ihre Empfindung keine Rolle spielen sollen. Trotzdem stellen sich ihre Brustwarzen auf, werfen wie zwei verschämte Äuglein einen verstohlenen Blick auf die himmelblaue Seife in der Seifenschale. Laura nimmt die Seife und berührt mit der weichen Seite, mit der, die in der Seifenschale auf dem feuchten Grund gelegen hat, zart ihre Brustwarzen, um sie anschließend mit etwas mehr Nachdruck einzuseifen. Schlechter Anfang. Myriaden von kleinen vielfüßigen Tierchen haben schon ihre Wanderung begonnen: Sie krabbeln von ihren Brüsten nach unten, beeilen sich, zu ihren Genitalien zu kommen. Um sich von diesem intensiven Gefühl zu befreien, fängt sie an, ein Wort, immer dasselbe Wort zu flüstern, als sollte es ihren Kopf von allen Gedanken leer machen, om, sagt Laura, om, om, om, om, om, om, om, om, ihn loslösen vom Körper, om, om, om, om, om, om, om, om, om, om, om, om, sie fängt links an mit der rechten Hand. Mit den Fingern, dem Schwamm, dem Bürstchen. Zuerst mit den Fingern: Laura nimmt die Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger, drückt sie leicht, dreht sie, als wollte sie sie abschrauben, mit allen Fingern dann, ohne Unterbrechung, in kreisförmigen 125
Bewegungen mit der flachen Hand. Om, om, om, om, om, om, om, om, om. Fünf bis zehn Minuten jede Seite. Sie wiederholt das gleiche rechts, blickt auf die Uhr, kaum ist eine Minute vergangen, om, om, om, om, om, om, om, om, om, om, om, om. Mit beiden Händen jetzt beide Brüste, fast wütend kratzt sie sich mit den Fingernägeln, reibt sie mit den Knöcheln. Om, om, om, om, om, om, om, om, om, und es kommen noch der Schwamm und das Bürstchen dran. Wieder seift sie sich ein mit der kühlen, feuchten Seife; nun, da ihre Brustwarzen erwacht sind, können sie alle Nuancen, die Farbe, ja sogar den Duft der Kühle und Feuchte wahrnehmen. Om, om, om, om, om, om, om, om, omomomom. Der Schwamm ist etwas rauher als die Finger, löst in ihr eine Reihe neuer erwarteter-unerwarteter Empfindungen aus, aufwärts und abwärts, seitlich, dann wieder in kreisenden Bewegungen, und als die Babybürste an die Reihe kommt, hat Laura schon entschieden, daß die Mantras etwas für Hindus, Fakire und Yogis sind, sich aber nicht für ihre westliche Mentalität eignen, sie zieht ihren Schlüpfer aus, stellt sich ein wenig auf die Zehenspitzen, das genügt, um sich mit ihrem feuchten, warmen Geschlecht halb auf die Ecke des gefliesten kleinen Waschbeckens zu setzen, ihr dicker Bauch stört sie dabei nicht, während sie, in der einen Hand den Schwamm, in der anderen das Bürstchen, ununterbrochen ihre Brustwarzen bearbeitet. Das Bürstchen benimmt sich eine Zeitlang ordentlich, aber allmählich geht es nach unten, unbeirrt folgt es dem Ruf von unten, streichelt mit seinen weichen, spitzigen, zweckentfremdeten Härchen die geschwollenen Zonen, die von Mal zu Mal noch geschwollener, noch röter, noch besser durchblutet sind, während der Schwamm so ausgeklügelt über die rechte Brustwarze fährt, daß dabei der Unterarm die linke mit berührt; es fehlt nur noch eine dritte Hand, um dem Vorgang die Krone aufzusetzen. Eine Zusammenziehung unterbricht sie, eine dieser kaum 126
spürbaren, schmerzlosen Zusammenziehungen, die sie seit dem vierten Monat wahrnimmt: fünfzehn bis zwanzig pro Tag sind in dieser Phase der Schwangerschaft normal. Laura legt die Hände auf den Bauch, um noch deutlicher die plötzliche Spannung, die zunehmende Verhärtung der Gebärmutter zu spüren. Du Ärmstes, meine Schuld, nein, nicht meine, sondern die des Arztes, alles wegen der Massage, dieser Mini-Massage, Muskel, werd’ wieder weich, Gebärmütterchen, bestimmt habe ich die jetzt selber ausgelöst, alles da drin steht mit allem in Verbindung, Vernetzungen, Anschlüsse, Leitungen, Hormone, beim natürlichen Stillen löst das Saugen an den Brustwarzen Zusammenziehungen aus, die den Gebärmuttermuskeln helfen, ihre normale Größe wiederzuerlangen, warum lese ich das immer wieder, obwohl ich es schon auswendig kann, vorher also auch schon, wenn ich meine Nippel anfasse, zack, zieht sich die Gebärmutter zusammen. Frauen, die’s allein genießen, sollte man sofort erschießen! Was fühlt da drin das Kleine, es ist so gewachsen, daß es kaum noch Platz hat, der Brunnen und das Pendel, die Wand zieht sich langsam um es zusammen, allmählich rückt sie dem armen Kleinen immer näher, bedrängt es, schnürt es ein, quält es, es wird in den tiefen, engen Brunnen geworfen, was weiß es schon von dem, was es in der Tiefe auf der anderen Seite erwartet, ihre normale Größe werden die Gebärmuttermuskeln wiedererlangen, weich, glatt, feigenförmig, jetzt wassermelonenförmig, Wassermelonengewicht, was für ein Verlangen, Verlangen, Verlangen, begieriges Begehren, Lust, nicht Lust zu vögeln, Lust, mich selbst zu berühren, Schwamm, Bürstchen, später brennt es, aber jetzt ist mir das egal, jetzt bloß nicht aufhören, schöne, verrückte Lust, sie in die Länge ziehen, was für eine Wonne, was für ein Rausch, danach nicht mehr, omne animal post masturbationem triste, Ovid, mein Herzchen, wie schön, Latein zu können, eine junge, gebildete, begabte Hochschulabsolventin zu sein, die in der Lage ist, in kritischen 127
Situationen aufs Latein zurückgreifen zu können, ich habe den Muttermund vergessen, Herzchen, wie wäre es, wenn wir’s per angostam viam machten, Hitze, ich gehe aus dem Badezimmer, Fieberhitze, ich laufe nackt durch die Wohnung, sich in die samtbezogenen Sessel setzen, Vorsicht, Samt besser nicht, nimmt Schmutz an, wird fleckig, nachher kann man ihn nicht mehr sauberkriegen, Samt aus Kunstfasern ja, aber glänzend gefällt er mir nicht, gefallen, mir gefällt’s, gefällt’s, selbst die Luft streichelt mich, die Luft auf den Schultern, dem Bauch, ein Fußtritt, tritt nur, kleines verrücktes Ding, es gefällt mir, amüsier’ dich, ausgelassenes Schätzchen, vergnüg’ dich, Hitze wie damals, so ein richtiges Fiebern mit vierzehn, fünfzehn, sechzehn, bevor es so weit ist, verrücktes Fiebern eines keuschen kleinen Mädchens, das nicht vögelt, das mit Jörge geht, das Kino, der Parque Rivadavia, Hände unter und über dem Büstenhalter, man kriegt ihn nicht auf, man läßt sich nicht so ohne weiteres den Schlüpfer ausziehen, das ausgeleierte Gummiband jedes Mal erneuern, sie werden feucht, sie werden heiß, später, wenn man vögeln kann, ist es schon nicht mehr dasselbe, Jorgito, es ist nicht mehr dasselbe Fieber, auf dem Rücken am Boden, Beine breit, Hintern auf dem Teppich, der Bauchnabel steht ab, zielt auf die Zimmerdecke, schieß’ los, schieß’ ab, es wird am Faden gezogen, der zugenähte Bauchnabel wird aufgetrennt, heraus kommt durch den engen Nabel das Baby, ganz heiß bin ich, das Gesicht glüht, ich sehe im Spiegel, wie rot es ist, knallrote Wangen habe ich, als Mama mich so sah, verstehend, verzeihend, Mutter eines kleinen keuschen Mädchens, es ist alles in Ordnung, solange sie nicht vögelt, sie lächelte, dein Gesicht an Jörges, er hat dich mit dem Bart gekratzt, das hat dein Vater mit mir auch gemacht, erzählte sie mir, komplizenhaft, der kleine Jörge hatte noch keinen Bart, nur Flaumhärchen, es war nicht der Bart, es war das Fieber, das reine Fiebern, das mir die Röte ins Gesicht trieb, glühende Röte, später nie wieder, jetzt doch, die Nippel gegen die rauhe, 128
gipsverputzte Wand reiben, sich vorbeugen, äußerst schwierig, Bauch stößt zuerst an mit seiner vollen Ausdehnung, überall anstoßende Bäuche, ich berühre mich mit der Hand, die ganze Hand nur Finger, welche Hand kennt sich so aus wie meine Hand, keine andere, man sagt, daß die Ertrinkenden kurz vorher, von den Erhängten sagt man etwas anderes, sie haben einen Erguß, aus ihrem Samen sprießt die Alraune, ich sage die Ertrinkenden, die haben keinen Erguß, sie erinnern sich an alles, die Bilder ziehen an ihren Augen vorbei, ihr ganzes Leben, ich erinnere mich, meine Typen, meine Herren, vor dem Erhängen, dem Ertrinken, dem Erschauern an Zehnfinger, an den Zauberstab, an den Großkopferten, an die, die mir’s besorgten, und an die, die’s nicht konnten, Punta del Este, Villa Gesell, man muß Vorräte anlegen, habe ich zu Silvina gesagt, im Sommer muß man Vorräte anschaffen wie die kleinen Ameisen, der Winter ist bitterkalt, da verkriechen sich die Männer in ihre Höhlen, im Sommer muß man ernten, seine Scheuer füllen, an allen Wochenenden was aufreißen, mit einem feuchten Tuch berühre ich mich, immer hin und her wie Staubputzen, schön langsam, ich leg mir ein Kissen unter, reite darauf, ich will noch nicht, noch nicht, ich will, daß es noch dauert, Kalnicky Kamiansky so ein Blöder, Oder, Oder, der konnte es nicht, dieser Blödian, der nicht, wer weiß, vielleicht vögeln die doofen Männer gut, da erlebt man seine Überraschungen, die Intelligenz ist nicht alles im Leben, der Intelligenzquotient enthemmt, entgrenzt, entbrennt, wie beschämend, sich an einem Dummkopf, einem Esel aufzugeilen, wie beschämend für eine werdende Mutter im neunten Monat, sich aufzugeilen, Mütter vögeln nicht, noch viel weniger onanieren sie, mit Alkohol, sagte meine Mutter, damit sie hart werden, dann mit Glycerin, damit sie nicht austrocknen, hat sich Mama mit Alkohol, mit Glycerin aufgegeilt? mit mir drin als Fetus, kleiner, geiler, weiblicher Fetus? So nicht, das tut weh, keinen Schmerz, Maso nicht, als mich Pablo schlug, gefiel mir das? es hat nicht weh 129
getan, er hat ja nicht wirklich fest zugeschlagen, aber die Hand auf mein Gesicht zuschießen zu sehen, das ja, Ohrfeigen ja, Schmerz nicht, auf den Knien ja, Maso ja, Nilpferd, Jörge mochte mich, liebte mich, betete mich an, am Ende habe ich onaniert, ich hab’ ihn in die Wüste geschickt, mit Schlägen und Prügeln, in die Wüste, das Nilpferd, die Liebe, war über ihn gekommen, in zwei Prüfungen fiel er durch, konnte er hinterher aber nachholen, alles rächt sich, schlägt sich, verträgt sich, tritt sich fest, ah, der mich damals auf der Straße, ein Superschlauer, von sich eingenommen, levantinisch, blaue Augen, dunkler Teint, zweimal habe ich für ihn den Kaffee mitbezahlt, auch so einer, voller Absichten, der leer ausgegangen ist, ein Abstauber, ein Schnorrer, ein ganz unwiderstehlicher, der beste Liebhaber von ganz Amerika, ja dafür halten sie sich alle, alle, jeder einzelne, wie mir das gefällt, wie sie mir gefallen, sie halten sich für etwas Besonderes, Ungewöhnliches, alle sind etwas Besonderes, alle gleich unterschiedlich, nur du nicht, hörst du, ich spreche mit dir, wirst du ein kleiner Mann? eine kleine Frau? Weibchen, Muschilein? Muschilein wie Mamilein? Wirst du wissen, wie ich bin? Wirst du mich gern haben, Strampelchen, Strampelinchen, meine Süße? Wirst du an meinen Nippelchen saugen? Für dich tue ich das, nur für dich reibe und reibe ich die Nippelchen stark, Eisennippel, Kruppstahl-Nippel, Qualitätsnippel, schön hart und kräftig, der Arzt kontrolliert, massieren Sie auch fleißig Ihre Brustwarzen, Laura? Wirklich? Tun Sie’s auch jeden Tag? Ja, Herr Doktor, ja, mein Herr, jeden Tag tue ich’s, besorg ich’s mir, schon wieder so eine verdammte Zusammenziehung, ist das normal? Sind Zusammenziehungen normal, Herr Doktor? Alles normal, Laura, leichte, schmerzlose Gebärmutterzusammenziehungen, alles normal. Die Bücher stehen ordentlich aufgereiht, nach Ausgaben und Größe geordnet; die Böden des Bücherregals, die in sehr unterschiedlichen Abständen fest montiert sind, lassen keine andere Anordnung zu. Laura möchte diesen Zustand des 130
wunderbaren Gleichgewichts, bevor sie sich in die sanfte Tiefe des Orgasmus gleiten läßt, noch etwas verlängern, daher sucht sie nach einem Buch, das zu ihrer Gestimmtheit paßt und ihre Fantasie beflügelt. Am liebsten wäre ihr ein einfacher, unschuldig pornographischer, fast kindlicher Text, so wie sie sich die berühmten Memoiren der Russischen Prinzessin vorstellt, die sie nie gelesen hat. Ihr gehen ein paar Bilder eines pornographischen Hefts durch den Kopf, die ihr vor einiger Zeit jemand gezeigt hat und auf denen sich alle abgebildeten Frauen im Zustand fortgeschrittener Schwangerschaft befanden; seinerzeit riefen sie ihren Zorn und ihren Abscheu hervor. Sie erinnert sich auch ganz deutlich an ein Foto, das sie nie gesehen hat, das ihr aber eines Abends ein Mann beschrieben hatte, der es sehr aufreizend fand. Die Beschreibung hatte sie kaltgelassen, um so überraschter ist sie jetzt, daß sie das Foto so deutlich vor sich sieht: Ein nacktes Mädchen sitzt vor einer Wand und löffelt Suppe aus einem Stieltopf, dessen Griff tief in ihrer Scheide steckt. Sie hält zögernd einen Moment einen der ›Wendekreise‹ in der Hand, aber sie weiß, daß Miller ihr nichts bringt, auch nicht Mailers ›Gefangen im Sexus‹, die gute Literatur macht sie immer an, aber auf andere Weise, die Texte müssen nicht erotisch sein, es genügt, daß sie gut geschrieben sind, damit sie Lust hat, mit ihren Autoren zu schlafen. Hier wäre die ›Philosophie im Boudoir‹, aber mit Sade kann sie nichts anfangen, er macht ihr angst, er ist brutal zum Erbrechen, sie erinnert sich an eine anständige Dame, eine Mutter, der, nachdem sie von einem Syphilitiker vergewaltigt worden war, die Scheide zugenäht wurde, um zu verhindern, daß die Erreger entschlüpfen; durch einen Wust merkwürdiger Assoziationen bringt sie diese Szene zu ihrer augenblicklichen Gestimmtheit zurück; Sade nicht, unmöglich. Sie greift irgendein Buch heraus mit breitem Rücken, das ihr geeignet erscheint, um zwischen ihre Beine genommen zu 131
werden, während sie, auf dem Bett liegend, weiter fest ihre Brustwarzen massiert. Da entdeckt sie im Regal mit den englischen Büchern (alles Taschenbücher von mehr oder weniger gleichem Format, die hier zusammenstehen) ein Exemplar von ›Candy‹. Obwohl ihr bei der ersten Lektüre die Blödheit der Heldin (und die Tatsache, daß genau diese Eigenschaft das unbändige Verlangen der Männer entfacht) alle Lust genommen hatte, weiß sie doch, daß ihr einige Passagen zustatten kommen könnten. Nur schade, daß es auf englisch ist. Sie liegt auf dem Ehebett mit angewinkelten, gespreizten Beinen, fast in der gynäkologischen Stellung, und während ihre freie Hand abwechselnd oben und unten zugange ist, versucht Laurita, einen willkürlich ausgewählten Abschnitt zu lesen, zu übersetzen. ›Der Unverschämte fuhr mit den Händen unter den Po, drückte die elastischen Bälle ihrer Pobacken und leckte und nibbelte ihre kleine Clit mit zunehmender Heftigkeit. Candy schloß die Augen, und allmählich hob sie die Beine an, sanft nach oben straining, ließ ihre Arme zurückfallen neben ihren Kopf, einen auf jeder Seite, tat so, als wären sie dort pinioned, langsam writhing …‹ Das ist für die Katz, auf englisch kann ich mich nicht aufgeilen, ich übersetze zwar gut, aber da sind zu viele Wörter, die ich nicht kenne, jetzt nicht der geeignete Moment, um im Wörterbuch nachzuschlagen, der Unverschämte läßt mich kalt, Alain Delon früher dagegen nicht, als Halbwüchsige dreimal ›Die schwarze Tulpe‹, was für eine verworrene Verwirrung, ich Virna Lisi auf seinen Knien, er so schön, wenn er den Bösen spielte, die Narbe, die ihm übers Gesicht ging, jetzt reifer Dummkopf, Gesichter, die mit den Jahren reifen, andere werden schlecht alt, seinem ist das Altern schlecht bekommen, es ist schwammig, aufgedunsen, entgleist, das Buch zwischen den Beinen, Speichel auf den Brustwarzen, gib mal deine Hand her, sagte der bewußte Typ zu mir, und es klang, als hätte er etwas im Mund, ich gab ihm die Hand, er nahm sie in 132
seine, führte sie zum Mund, spuckte ordentlich in die hohle Hand hinein, schäumender, glitschiger, gleitfähiger Speichel, das Richtige, um sein freches, beschnittenes Küppchen zu reiben, schön mit der Hand kommengelassen, ihm gefiel die kleine Süße wie auch Sergio, Superfete, die Inkas, mythischer Horizont, wie die Inkas konnten wir es schließlich nicht, was für ein Besäufnis, Vasenmalerei, er sitzt, sie liegt auf seinen Beinen, ihre Beine auf seinen Schultern, er wirft sich zurück, hebt die Beine hoch, hebt damit auch sie hoch, jetzt sitzt sie auf ihm, jetzt wieder zurück, Hängemattenschaukel, das ist kein Vögeln, das ist Turnen, sagte ich zu ihm, er meinte, weil du zu dick bist, sie muß sehr schlank, sehr leicht sein, wenigstens dreißig Kilo weniger wiegen als er, Superfete, wen soll ich bloß einladen zu der Superfete, alle aus der Gymnastikstunde, vier- bis neunmonatige Bäuche, ihre Ehemänner, Kurse für Schwangerensex, eins und zwei und rein, eins und zwei und raus, reiben, anfassen, Bäuche gegen Bäuche, Fetentanz, Partnerwechsel, wieder von neuem erotisieren, rotieren, Hähnchen unter Rotlicht, Brutkasten, Hitze, kleines Hähnchen, kleines Mäuschen, du wirst mit mir zufrieden sein, ich werde dich niemals verlassen, ich begleite dich überall hin, zur Arbeit, zum Einkaufen, aufs Land, zum Strand, beim Zeichnen im Sand, zum Mond, in den Zirkus, zum Zirkusdirektor, Dompteurin, Zirkus, Farbenspiel, nackte Dompteurin, Peitsche, betritt den Löwenkäfig, Döschen wie für Talkum in der Hand, kein Talkum, Zucker, Dompteurin legt sich aufs Podest, Beine hängen gespreizt herunter, sie bepudert sich ausgiebig mit Zucker, läßt die Peitsche knallen, der Löwe öffnet Riesenmaul, Schlund, roter Schlund, rote, feucht-glänzende, rauhe Zunge, zu ihr, federnd, samtpfotig, schleicht der Löwe zum Zucker, zuerst leckt er großflächig, die Beine breiter, die rote Zunge, viel Zucker, dann immer weniger, er muß gesucht werden, der prächtige Löwe geht mit der rauhen Zunge tiefer, dreht und wendet sie, Zwischenräume Zucker Kanäle Zucker Hügelchen, 133
zu seinem Vergnügen sucht und sucht er, das letzte Krümelchen Zucker, weil es ihm Spaß macht, nicht wie diese Großmachos, diese Neomachos, großer Löwe, früher je öfter desto männlicher, heute moderne, angepaßte Supermänner, wie oft, mein Liebling? Siebenundzwanzigmal, mein Liebster, noch niemals so oft, schwitzende, abstoßende, verkrampfte Athleten des fremden Orgasmus, der große Löwe nicht, tut’s für sich, leckerer Zucker, wollüstige Dompteurin, jeder für sich, so ist das bei den beiden, Trapezkünstlerin, dreifacher Salto mortale, er erwartet sie am anderen Trapez, dort soll sie sich an seinen Fußgelenken festhalten und schwingen, es mißlingt, es gelingt ihr gerade noch, sich mit den Zähnen festzuhalten, indem sie sich an seiner Pfeife festbeißt, alle klatschen Beifall, erstaunliche Stärke ihrer Kiefer, glücklicherweise reißt das Organ nicht ab, sondern es dehnt sich, wird länger und länger und setzt sie sanft in der Arena ab, tosender Beifallssturm, sie öffnet den Mund, um für die Ovation zu danken, läßt dabei das Gummiband los, das sirrend wie ein Peitschenhieb hinaufzischt, der Jongleur wirft Bälle in die Luft, läßt sie tanzen, Eier, Kugeln, Bälle, kleine, behaarte, weiche Hoden tanzen in der Luft, die schwangere Schlangenfrau auf allen vieren kopfüber, Kopf zwischen die Beine, Bauch nach oben, es schmeckt nichts besser, als was man selbst ißt, selbst ist der Mann, ist die Frau, reibt sich, das schwarze Haar, schwarze Wolle, Putzwolle, Topfkratzer, Aufmarsch der Elefanten, eines jeden Rüssel im Loch des vorangehenden, doch das für den Anführer: ein schönes indisches Mädchen, Smaragd im Nasenflügel, roter Punkt auf der Stirn, es sitzt, gepfählt, auf seinem Rüssel, Auftakt-Rüssel, die dicke Clownsfrau, riesig übergroßer Hintern, rotgefärbt, der winzige Zwerg, Kugelmännchen, spitzer Helm schützt seinen kleinen Kürbis, steigt ins Kanonenrohr, die dicke Frau geht in die Hocke, reißt die Arschbacken auseinander, man sieht den Eingang der riesigen feuchten Höhle, die Kanone wird in Position gebracht, zielt, feuert ab, 134
Volltreffer! die dicke Frau dreht sich dem Publikum zu, unfaßbar großer Bauch, läuft spitz zu, spitzer Helm, wenn der Bauch spitz ist, wird es ein Junge, sagen mir alle, buoni auguri e fili maschi, wenn man den Zwergen feste feste den Kopf reibt, wachsen und wachsen sie, werden zu Riesen, der Seiltänzer auf dem Seil, ohne Hände, ohne Füße, nur auf seiner Pfeife, hart und steif, balanciert er, Beifall, Beifall, schwangere Clowns versuchen neunundsechzig, aber die Bäuche geraten aneinander, sie bringen es nicht, alle schütten sich aus vor Lachen, sie stecken sich Gemüse rein, Gurken, Mohren, Tomaten, Kürbisse, ich steck’ nichts rein, ich hab furchtbar Angst, daß sich nachher etwas entzündet, ich nehm’ mich in acht, Fingerchen schön sauber, die Zunge des Löwen, die Dompteurin hilft mit dem Peitschenstiel innen nach, außen die rauhe, rotglänzende Zunge, ich komme fast auch schon, obwohl ich noch nicht will, die Zuschauer glotzen, kleine Mädchen mit ausgestreckten, strammen Beinchen onanieren, laß’ die Hände weg vom vorderen Po, davon kannst du krank werden, ich tu’s nicht mehr, Mami, ich komme, ohne mich zwischen den Beinen berührt zu haben, ich presse ganz fest die Muschi zusammen, alles onaniert, applaudiert, in der ersten Reihe sitzen sehr ernst Papa, Mama und Großmütterchen, meine fünf Kinder, sie lachen nicht, sie klatschen nicht, ich komme nicht, ich stehe auf und betrachte mich im Spiegel. Laura betrachtet sich im Standspiegel in ihrem Schlafzimmer. Sie betrachtet sich von vorn und im Profil und verfolgt aufmerksam, wie der Bauch jedesmal seine Form verändert, wenn das Baby sich bewegt. Mit Erleichterung stellt sie fest, daß die Gesundheit ihres Kindes nicht von ihren Fantasien beeinträchtigt wird, am liebsten würde sie es jetzt schon sehen, gesund und heil, sich vergewissern, daß weder ihre Träumereien noch ihre Orgasmen ihm schaden oder es verunstalten können. Da sie halbwegs beruhigt ist, nimmt sie jetzt wahr, daß ihre ganze Haut brennt, geradezu vor Verlangen brennt. Sie geht 135
daher wieder ins Bad, wo das Badetuch ungerührt immer noch zu den beiden Handtüchern paßt, als wolle es eine äußere Ordnung demonstrieren, die in eine urplötzliche Unordnung umschlagen kann. Wieder seift sie sich die Brustwarzen ein und setzt sich aufs Bidet. Während sie an einem ihrer Schenkel die Temperatur und den Wasserdruck reguliert, bevor sie diesen aufsteigenden Regen an ihre empfindliche Genitalzone läßt, erinnert sie sich zu ihrer eigenen Rechtfertigung an die Bedeutung, die alle Handbücher der Hygiene beimessen, einer gewissenhaften täglichen Hygiene der äußeren Genitalien der Schwangeren. Nachdem sie den angenehmsten Grad des lauwarmen Wassers und die Höhe des Strahls eingestellt hat, setzt sie sich rittlings auf das Bidet, und mit beiden Händen reibt sie ihre Brustwarzen, während der Wasserstrahl den Scheideneingang, die Schamlippen und die Klitoris streichelt, je nachdem, wie sie ihre Stellung verändert. Zunächst versucht sie, sich eine Szene auszudenken, in der sie selbst und andere Männer und Frauen mitspielen, aber wie sie schnell ihre Erinnerungen und vertrauten Fantasien vorüberziehen läßt, merkt sie bald, daß kein realer oder erdachter Mann ihr jemals eine so intensive Lust beschert hat wie dieser sanfte Regen, der sie immer auf andere Art berührt (das Feuer und das Wasser sind sich selbst niemals gleich) und ihr die Liebkosung jedes einzelnen seiner vielen dünnen, aufsteigenden Strählchen zuteil werden läßt. Völlig entspannt, die geöffneten Augen sehen schon nichts mehr, stöhnend, schon an nichts mehr denkend, taucht sie in einen heftigen, langen, fast schmerzhaften Orgasmus ein. Anschließend benutzt sie denselben Wasserstrahl, der ihr nun allerdings anders vorkommt, um mit Seife ihre Genitalzone zu waschen. Sie dreht den Hahn zu, wäscht die Seife von ihren Brustwarzen, zieht sich an. Sie reinigt gründlich mit warmem Wasser und mit Seife den Schwamm und das Babybürstchen, mit dem sie nie, das steht längst fest, das Haar ihres Kindes 136
bürsten wird. Sie muß noch die Sahne schlagen und die Baisers für den Nachtisch kaufen, aber zuvor muß sie noch einer anderen ärztlichen Anordnung oder Empfehlung nachkommen: Mittagsschlaf halten. Die krampfartigen Zuckungen ihrer Scheide haben als Reaktion eine Reihe von ziemlich heftigen Zusammenziehungen der Gebärmuttermuskeln ausgelöst, die allmählich schwächer werden und abklingen. Auch dieses Mal haben die Wehen noch nicht eingesetzt. Erschöpft und befriedigt legt sie sich angezogen aufs Bett. Laurita schläft tief und fest. Doch in ihrem enorm angewachsenen Bauch ist jemand wachgeworden: ein gut ausgebildeter weiblicher Fetus mit einem Büschel von schwarzen Haaren auf dem Köpfchen, der Fetus wiegt schon mehr als drei Kilo und lutscht mit gierigem Vergnügen fest an seinem Däumchen.
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