HEYNE<
maureen c:allahan ist eine renommierte New Yorker Musikjournalistin. Sie schreibt u. a. für die New York Post ...
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HEYNE
verrücktesMoment mal, die ·wird ja richtig berühmt>vVer will den Dreck denn noch essen? \Vürden Sie sich das hier in den Mund stecken? Da ldebt überall Dreck dran. Aber klar. Sie sind so abgefuckt. Sie würden den Salat trotzdem essen«, schnauzt Stefani die Kellnerin an. Stefani verliert; während die anderen beiden Gäste je hundert Dollar gewinnen, weil sie cool geblieben waren. Im Highschool-Jahrbuch behauptet Gaga, bei der TV-Serie The Sopranos mitgewirkt zu haben. In ihrer 33
Teeniezeit sang sie bei Talentscouts vor und versuchte ihr Glück bei Rent, als das Musical am Broadway lief. Sie sagt, in der Schulzeit habe sie ihre Mutter immer zu bremsen versucht. »Aber stattdessen«, meint Gaga, »wurde ich immer hungriger und hungriger.« Sie besuchte das Covent of the Sacred Heart in der East 91 st Street, eine exklusive, katholische Mädchenschule, die in zwei umgebauten, noblen Stadthäusern untergebracht ist. Auch Paris und Nicky Hilton, Gloria Vanderbilt und Caroline Kennedy waren dort Schülerinnen. Bereits im Kindergarten lernen die Mädchen Französisch und Spanisch; in der achten Klasse können sie Mandarin-Kurse belegen. Das Schulgeld für das Schuljahr 2009/ 10 betrug 33 985 Dollar. Das oberste Ziel der Schule lautet, so verkündet es die \Vebseite, die Schülerinnen »zu einem persönlichen und aktiven Glauben an Gott zu erziehen«. Über ihre Schulzeit am Sacred Heart sagt Gaga, sie sei sich wie »ein Freak« vorgekommen, der dort überhaupt nicht hineinpasse. Doch Fotos aus dieser Zeit zeigen ein junges Mädchen, das immerzu lächelt und von zahlreichen anderen lächelnden Mädchen umgeben ist. Die Mädchen wirken, als gehörten sie alle zu derselben gutsituierten Uptown-Familie: langes gepflegtes Haar, altersgemäßes Make-up, tagsüber Jeans, T-Shirts und Pullover, schulterfreie Kleider, Perlenhalsketten auf Schulbällen am Abend. »Stefani spielte liebend gern in Theateraufführungen und Musicals der Schule mit«, sagt eine frühere 34
Schulkameradin vom Sacred Heart. »Sie hatte ein paar enge Freunde, mit denen sie sich auch heute noch trifft. Sie war eine gute Schülerin, trug ihre Schuluniform nach den vorgegeben Regeln. Sie mochte Jungengesellschaft sehr, aber Gesang und Kunst waren ihr noch wichtiger. Stefanis Stimme stach in einer Messe oder bei einer Preisverleihung immer heraus. Sie wollte unbedingt Schauspielerin oder Sängerin werden. Viele von uns ahnten, dass sie ein Star ·werden würde.« Einige wenige Videos auf YouTube zeigen Gaga in ihren Anfangstagen. In einem von ihnen ist sie bei einer Talentshow der NYU zu sehen. Barfuß sitzt sie da am Klavier, trägt ein schulterfreies grünes Kleid und singt zwei ernste, an Norah Jones erinnernde Balladen. Es gibt noch einen weiteren, viel älteren Clip von ihr aus dem Bitter End, einem Club, dessen Einrichtung an einen spießigen Gemeinschaftsraum ähnelt. Ein Teenager noch, trägt Gaga ein knappes Sweatshirt, der einen schmalen Streifen ihres Bauches und somit ein wenig Babyspeck freigibt. Grinsend, zappelnd und mit verschmiertem Eyeliner probiert sie sich an einer Version des Madonna-Songs »Hollywood«. Jede Person auf der Bühne stellt sie als die »Stefani Germanotta Band« vor. >>Hört mal«, knurrt die sechzehnjährige Stefani mit einer Stimme voller Kraft und Elan, »ich bin tierisch ehrgeizig.« In einem anderen Video, kurz nach Unterzeichnung ihres ersten Plattenvertrags, korrigiert sie etwas her35
ablassend eine Moderatorin: »Ich habe nicht bei Sony unterzeichnet, sondern bei Island Def Jam« - dabei sitzt sie in einem pinkfarbenen Minikleid und GogoStiefeln vor der Klaviertastatur. Auch hier sieht sie mit ihrem langem schwarzen Haar und dem dichten Pony totallangweilig aus, bezeichnet sich allerdings schon als Lady Gaga. Sie singt eine Ballade mit dem Titel »vVonderfuk Ihre Stimme erinnert an Christina Aguilera und der Song an ihre Klavierballade »Beautiful« von 2002 - Lady Gaga arbeitete damals m it Aguileras Gesangslehrer zusammen. (»Wonderful« ·wird später von Adam Lambert, einem Kandidaten der Talentshow American Idol gesungen, einem zur Theatralik und starkem Mal\.e-up neigenden Perfor mer. ) All diese Videos dokumentieren unzweifelhaft Gagas Talent; ihr musikalisches Können , gesanglichen Ausdruck sowie eine eindrucksvolle Bühnenpräsenz. Vielleicht lässt sie diese Clips im Netz, weil sie keine gesetzliche Handhabe hat, um sie verschwinden zu lassen . Vielleicht aber möchte sie auch zeigen, dass sie schon immer ihre eigene Herrin war: kein von Auto-Tune jener Software, die falsch gesungene Töne geradebiegt- erschaffenes \Vesen und auch keine lippensynchronisier te Glitzerqueen , sondern eine echte Künstlerin mit Stimme und einer Vision. In einem der Clips behauptet sie, eine Gum mipuppe zu besitzen. »\Vir lieben uns jede Nacht«, sagt sie . Da schimmert die große Provokateurin, die sie später werden wird, bereits durch. 36
Ihre Fans sehen keinen großen Bruch zwischen der et\:vas spießig aussehenden Stefani Germanotta und Lady Gaga, der Dancequeen und Domina der Popszene. Und diejenigen, die einen Unterschied sehen wollen, bekommen aufgrund ihrer Naivität schnell den Spott der anderen zu spüren. Gagas jüngere Fans wurden mit Reality TV-Shows und dem Internet groß - die den Stars wenig Raum für Geheimnisse ließen. Doch Lady Gaga hat - zumindest bisher - eindrucksvoll bewiesen, dass sie sowohl die Medien für sich nutzen als sich auch durch sie schützen kann. Es fällt einem kaum ein anderer Star ein, der quasi aus dem Nichts auftauchte, die Massen in seinen Bann zog, über den aber so gut wie nichts bekannt ist. Mit voller Absicht wurde Gagas Vorgeschichte nur bruchstückhaft an die Öffentlichkeit weitergegeben; niemand kannte Details aus ihrer Kindheit, wusste, ob sie irgendwelche schlimmen Erfahrungen machten musste, ob sie überhaupt - und wenn ja mit wem - ausging, \Ver ihre Freunde waren. Es gibt kein Foto von Gaga, das sie in angeschlagenem Zustand zeigt, wie sie etwa einen der angesagten Nachtclubs verlässt. Sie versicherte, für ihre Fans glaubwürdig, dass sie nicht zur \Velt der Upperclass gehört, auf Promifreunde keinen vVert legt, sich lediglich für ihre Kunst und nichts anderes interessiere. Sie inszenierte sich als die perfekte Projektionsfläche für die Sehnsüchte und vVünsche anderer Leute. Ähnlich wie zuvor schon Stars wie Prince oder David Bowie - doch damals gab es noch kein Internet. Bowie 37
und Prince hatten, im Gegensatz zu Gaga, für ihre Fans etwas Unnahbares. Eine unüberbrückbare Distanz, fast so als gehörten sie einer anderen Spezies an. Das Geheimnis für Gagas Popularität könnte ihr Außenseiterturn sein, das sie immer wieder betont. Und darin erscheint sie sehr m enschlich. Es überrascht nicht weiter, dass einige Titel des 2009 veröffentlichten Demo-Album Red and Blue eine recht heftige Diskussion unter den YouTube-Nutzern auslösten. Da hieß es zum Beispiel: »Meine Güte, dieser Song, der ist so ... ganz und gar nicht pervers!!!! vVAS IST LOS LADY GAGA?????!! ... vVahrscheinlich hat sie den falschen Weg genommen.« »vVieso sollte der Weg >falsch<sein? Hätte sie diesen vVeg nicht eingeschlagen, wäre sie nie berühmt geworden. >>Meinst du, sie hätte so viele Platten verkauft, ·wenn sie die gleichen Songs als Stefani eingespielt hätte? Nee.« »Diese alten Songs sind ':virklich gut, aber was sie jetzt macht, wird mehr gehört= mehr Verkäufe für die Plattenfirma. « »Gaga selbst hat doch erzählt, wie langweilig sie es fand, ein zorniges weißes Mädchen zu sein, das Schmusesongs singt. Am liebsten wäre sie vor ihren Auftritten weggelaufen. Als sie diese Album-Lieder aufnahm, verriet sie sich selbst. \Veil sie diese Lieder gar nicht mochte. Keine Ahnung, ob sie mit dem, ·was sie jetzt 38
tut, hundertprozentig glücklich is t. Aber sicher macht es sie glücklich, anders zu sein.« Gagas eigene Erklärung über die klaffende Lücke zwischen ihrer Person von damals und der von heute passt genau zu der zuletzt erwähnten Behauptung einer Internet-Nutzerin. »Die Leute denken, mein Auftreten sei exhibitionistisch und theatralisch«, sagte Gaga in einem bislang unveröffentlichten lntervie\v. »Doch da ist etwas in mir, \:vogegen ich nicht ankomme. Nämlich das Mädchen, das sich über all die früheren Jahre lustig machen muss. Als ich das College besuchte, wurde ich dieses Mädchen los und begann etwas anderes zu werden. Als ich mit meinem Produzenten darüber sprach, meinte er: >Warum lässt du das Mädchen nicht raus?< Er fand gerade das gut, was ich mir auszutreiben versuchte.« \Vomit der Mythos beginnt, sich aufzulösen.
Ihre Kommilitonen von der Tisch Scheel of the
Arts der NYU, die Gaga nur ein Jahr lang besuchte, können sich vor allem an Gagas unglaubliche Zielstrebigkeit erinnern, an ihre Auftritte, an ihre unbeschreibliche Umtriebigkeit, nicht aber an ihren Freundeskreis oder die Kurse, die sie belegte, oder an die Jungen, mit denen sie ausging, die Partys, an denen sie teilnahm. Sheldrick etwa weiß noch ganz genau, wie sich Gaga und er das erste Mal trafen, es war im Herbst 2005 nach seinem eigenen Auftritt in der Alphabet Lounge. 39
Sie sprach ihn an mit den \Vorten: »Hi, ich bin die Stefani. Ich gründe eine Band. Ich brauche noch einen Gitarristen.« Sheldrick war mit Calvin Pia und Eli Silverman befreundet, die Stefani bereits engagiert hatte. Ein paar Tage später sollte die Band erstmals proben. Auf dem vVeg zum Proberaum in der Ludlow Street musste Sheldrick ein paar Absperrgitter überwinden, eine Metalltreppe hinunter, ein überlangen, schmutzigen Gang entlang, an dessen \Vänden und Decken lauter Rohre verliefen. Heute noch erinnert er sich vor allem an zwei Dinge: Erstens, dass der Proberaum im Keller ihm ganz zuwider war, und zweitens, dass er und Stefani musikalisch auf der gleichen vVellenlänge lagen. »Sie sah aus wie 'ne richtige Jam-Band-Braut«, sagt Sheldrick über Stefani. »Sie hatte etwas vVildes, Schmutziges an sich. Ich erinnere mich, dass wir Phishs Song >Down and Disease< nachspielten. \V'ir improvisierten und irgendwann, nach zwanzig Minuten, fragte sie : >Können wir jetzt ein paar Songs von mir spielen?«< Sheldrick willigte ein - und gewann schnell eine Erkenntnis. »Bei ihren Songs spürte ich nichts. Die Musik hörte sich an wie so 'ne Art weiblicher Billy-Joel-Klavierrock.« Er mochte nicht mehr mitmachen, ging aber zu den Gigs der Band. Am Anfang traten sie unter dem Namen Stefani Germanotta Band auf, später dann als Stefani Live. Sie waren seine Freunde, und Sheldrick \vollte sie unterstützen. LID
Die Auftritte waren nichts Besonders. »Alles ganz normal, ganz singer- und songwritermäßig«, meint Kallen, ein Freund aus Gagas 1\TYU-Tagen, der gelegentlich bei der Band mitspielte, sich dennoch aber an wenig erinnern kann. »\Vir waren halt die Stefani Germanotta Band. Sie stand am Klavier und die Band, na ja, die war nicht gerade toll. Doch ich ahnte, dass Stefani Talent hat. Sie \Vusste es sicher auch. « Zur gleichen Zeit etwa fragte Gagas Vater Joe Vulpis, ob der Produzent und Toningenieur wohl das erste Demoband für seine Tochter aufnehmen könne, denn dies gehörte zu Gagas Aufgaben für die Aufnahmeprüfung bei der Tisch School of the Arts - und ihr Kindheitstraum war es sowieso. Die beiden Männer ·waren miteinander befreundet, hatten sich über eine italo-amerikanische Organisation in .Manhattan kennengelernt. »vVir waren Mitglied in einer Art privatem Club, einem Country Club ähnlich«, sagt Vulpis. »Rudolph Giuliani, New Yorks Ex-Bürgermeister, ist da auch eingetragen. Allererste Liga war das. « Die Eltern waren demnach aktiv am Karrierestart ihrer Tochter beteiligt und gehören somit zur ersten Generation der sogenannten »helicopter parents«. Der Begriff tauchte zum ersten Mal 1990 auf und bezeichnet Eltern, die sich übertrieben fürsorglich um ihre Kinder kümmern. Joe Germanotta nutzte seine geschäftlichen Verbindungen, um seiner Teenager-Tochter Termine bei wichtigen Leuten in der Musikbranche
zu verschaffen , wo sie brav vorsang. Cynthia, Stefanis Mutter, begleitete sie öfter in die Nachtclubs und bat die Betreiber dor t inständig, ihre minderjährige Tochter auftreten zu lassen. Beide Eltern halfen beim Transport des Equipments und r iefen die nahe und fe rne Verwand tschaft an, damit sie sich Gagas Gigs ansah. Sie wussten wohl, dass ihre Tochter talentiert war, und setzten alles daran , ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Dass allerdings ihre Stefani bereits mit vier Jahren gern Klavier spielte, das ist eine Erfindung nur - das bestätigte Stefani sogar in einem ihrer ers ten InterVIews. »Als ich vier J ahre alt war, wollte meine Mutter, dass ich Klavier spiele. Eine Klavierlehrerin kam zu uns nach Hause, aber ich mochte das Klavierspielen überhaupt nicht«, sagte Gaga. »Ich weigerte mich, Noten zu lernen oder zu üben.« Sie erinnert sich an den Ehrgeiz ihrer Mutter: »Sie hatte vor, eine gebildete junge Frau aus mir machen, und zwang mich, zwei Stunden am Klavier zu verbringen . Ich konnte also entweder nur dasitzen oder aber spielen.« Von da an spielte sie meist nach Gehör. Es gefiel ihr bereits damals, zu improvisieren und sich in Szene zu setzen . »Wenn wir in einem Restaurant zu Abend aßen , nahm ich mir eine Salzstange als Taktstock, dirigierte und tanzte am Tisch«, sagt Gaga. »\Venn sich Babysitter bei uns vors tellten, zog ich mich aus und sprang nackt in der Gegend herum. Da war ich neun. An sich zu alt, um derlei Dinge zu veranstalten.« Ll2
Intensiv dachte sie darüber nach, Schauspielerin zu ·werden. Und als sie älter ·wurde, erlaubten ihre Eltern, dass sie an \Vochenenden Schauspielkurse belegte. Doch bald schon wurde deutlich, dass nur noch Musik wichtig war. »Ich schrieb meinen ersten Song mit dreizehn«, sagt Gaga. »Er hieß >To Love AgainStolen Love«Ich spiele ihn immer und immer wieder. Er bedeutet mir so viel. < Was nichts anderes heißen sollte als: >Ich liebe deine Musik. <Sie ist clever. Sie kann Leute gut einschätzen. Sie weiß, wie man sie zu nehmen hat. Und sie weiß sich durchzusetzen.« Starland sitzt in einer Nische des schicken und dennoch legeren Coffeeshops am Union Square, wo sie in den vergangenen fünf Stunden unterschiedliche Produzenten getroffen hat: Eine gepflegte junge Frau mit heller Haut, ungeschminkt, langes gewelltes Haar, durchschnittlich hübsch. Sie trägt einen cremefarbenen Pul45
Iover mit V-Ausschnitt sowie eine pinkfarbene Hose. Man würde in ihr eine Bankangestellte oder eine Immobilienmaklerin vermuten, auf keinen Fall jemanden, der in der Musikbranche arbeitet. Starland verlässt in den fünf Stunden ihre Nische ganze drei Mal - um die Toilette aufzusuchen. Und um sich zu beruhigen. Noch immer fällt es ihr nämlich schwer, über Gaga emotionsfrei zu sprechen. »Ich bin so nervös«, sagt sie. »Doch ich erzähle die vVahrheit.« Als sie Stefani bei Famous Music traf, arbeitete Starland auch als Scout für Rob Fusari, der eine Reihe von Nummer-eins-Hits für 'Vill Smith, Destiny's Child, vVhitney Houston und Jessica Simpson produziert hatte. Mit den Hits hatte er genug Geld gemacht und war nun in einer guten Position: Sollte er, so seine Überlegungen, jemanden entdecken, etwas aufbauen und dann an ein Label verkaufen, so könnte er damit eine Menge Gewinn machen. Jedenfalls beauftragte Fusari Starland, nach einem Mädchen zu fahnden, nicht älter als fünfundzwanzig, das, so seine Worte, »die Leadsängerirr der Strokes sein könnte« - also einem weiblichen Pendant zum zerzausten Strokes-Frontmann Julian Casablancas. Stefani entsprach dem ganz und gar nicht. Doch als Starland im Juni 2006 zusammen mit ihr in Manhattans Cutting Room auftrat, wusste sie auf Anhieb, dass Stefani über ausreichend eigenwilliges Potenzial verfügte - und gerade darauf legte Fusari viel vVert.
Starland berichtet: »Er sagte: >Man muss beim Anblick des Mädchens, das ich suche, nicht gleich vor Begeisterung in Ohnmacht fallen. Auch ihr Talent muss einen nicht vom Hocker reißen. Aber es muss einen in ihren Bann ziehen können. «< Starland erinnert sich ans Cutting Room: »vVegen des Soundchecks tauchte ich früh am Auftrittsort auf. Da kam Stefani auf mich zu und sagte: >Weißt du noch, \ver ich bin? Ich war Praktikantin bei Irwin Robinson. \Vir treten heute Abend hier auf, komm doch vorbei.«< Starland weiß noch, was sie dachte, als sie Stefani am Klavier sah: Den Songs fehlt der letzte Schliff. Die Band muss weg. Sie hört sich zu sehr nach Fiona Apple an. \Vas hat dieses Mädchen bloß an? Sie sieht aus, als würde sie einen Tanz-\Vorkout veranstalten. Der Auftritt ist wunderbar. Das Mädchen hat Mut. »Nach der Show«, sagt Starland, »packte ich sie am Arm und sagte zu ihr: >Ich werde dein Leben verändern. <Es war ganz wie im Film.«
Die Mädchen gingen hinaus und riefen Fusari an:
Stefanis Bandkollege und damaliger Freund stand in der Nähe, sah aber, so Starland, dermaßen nichtssagend aus, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnern könne. »Stefani hatte stets die Hosen an«, sagt Starland. »Ich meinte zu ihrem Freund: >Deine Freundin ist Ll7
eigenwillig. Und den Mut eines Kerls hat sie noch dazu. < Er stimmte mir uneingeschränkt zu.« Sogleich legte Starland Stefani nahe, sich von der Band zu trennen, also auch von ihrem Freund. »Sie zögerte keine Sekunde«, sagt Starland. »Eine \Voche später war der Freund vergessen.« Gaga erinnert sich ähnlich an den Abend: »Wendy Starland kam auf mich zu und rief aus: >Verdammte Scheiße. Für ein Mädchen hast du Testosteron satt!< Sie zog mich zur Seite, schaute mir in die Augen und sagte: >Ich werde dein Leben verändern. < Dann rief sie Rob Fusari an und meinte zu ihm: >Ich hab sie gefunden. «< »Das ·war 2006, in jenem Jahr, in dem die Plattenverkäufe zusammenbrachen«, sagt Brendan Sullivan, DJ aus New York City, der ein paar Monate später ein Freund von Gaga werden sollte. »In jenem Jahr, in dem niemand etwas >Ruhiges»\\Tieso weckst du mich?Ich habe das Mädchen gefunden. vVir werden ihren Stil ändern. Für sie neue Songs schreiben lassen, ihr eine neue Band besorgen , sie vollkommen anders produzieren !vVir bewegen uns nicht in die richtige RichtungMit dem, was du machst, können die Kids heutzutage nichts anfangen.< Sie entgegnete: >Ich mag das, was ich tue. Ich ändere gar nichts an mir.Das hier ist ein schlimmer Ort.< Aber sie aß den Kram trotzdem. Ihr Vater meldete sie beim >Reebok Sports Club< an. Sie trainierte nun regelmäßig und nahm fünfzehn Pfund ab.« Starland sagt: »>Wir könnten das Drumherum ausbauen, um so von ihrem Aussehen abzulenkenMir ist schon klar, dass ich keine klassische Schönheit bin, also müssen wir mich anders vermarkten.<Sie war echt pragmatisch, fühlte sich nicht verletzt. Sie war bereit, alles zu tun, um berühmt zu werden.«
Man ·wollte, so der Konsens letztendlich, DancefloorMusik produzieren. Allerdings ausgeklügelter als das, ·was auf dem Markt war, eher in Richtung Disco-Sound aus Europa. Ein gekonnter Mix aus hot und cool, man orientierte sich an Kylie Minogues »Can't Get You Out of My Head« oder Goldfrapps »Number 1«. Man setzte also auf das Gegenteil von rauchigen, losgelösten Stimmen über sexuell aufgeladenen, synkopierten Beats. »>Ich sitze am Drumcomputer, du am Klavier, das ist esUm vier morgens habe ich da ein Mädchen gesehen. Sie stolperte die Treppe hoch, hatte so gut wie nichts an und war betrunken.< Ich dachte nur: >In welch schäbigem Haus lebe ich da nur. >Die Zelle eines Mönchs - lediglich fürs Arbeiten und fürs Lernen gedacht.« Sie turnte in Gymnastikanzügen und Go-go-Stiefeln rum, torkelte regelmäßig um vier Uhr nach Hause, doch arbeitete auch hart und im Alleingang. Die Beschrei68
bungen ihrer Person von damals ähneln jenen aus ihrer Gaga-Zeit. Sie wurde als ein Mädchen mit einer irrsinnigen Ausstrahlung wahrgenommen, das - oberflächlich besehen - beliebt und selbstbeherrscht wirkte, im Grunde aber schwer greifbar war. Somit mag Gagas Bild von sich selbst, nämlich das eines eigenartigen Teenagers, eines »Frealis«, der nirgendwo hineinpasste, durchaus der Wahrheit nahe kommen. Denn es ist in der Tat möglich, beides zu sein, beliebt und eigenartig schauen wir uns doch nur Filme wie Rebel Without a Cause, Heathers oder Gossip Girl an. Andere Bewohner hingegen machten tatsächlich Ärger. Einer ihrer Nachbarn erinnert sich, wie ein paar Kids, die auch in dem Gebäude ·wohnten, bei ihr einbrachen, als sie gerade unter der Dusche stand. Ein anderer Nachbar, zufällig Polizist, kam ihr zu Hilfe und nahm die Einbrecher fest. Vor kurzem schrieb dieser Polizist dem Nachbarn: »Können Sie sich noch an das Mädchen erinnern, in dessen \Vohnung einmal eingebrochen wurde? An Stefani? Sie war Musikerin. Jetzt heißt sie Lady Gaga.« Es dauerte eine \Veile, bis der Nachbar das glauben konnte. Heute ist ihm klar, dass sie nicht wegen des Einbruchs aus der vVohnung in der Stanton Street nach L. A. umgezogen war, sondern wohl wegen des bevorstehenden Plattenvertrags. Häufig suchte Stafani G. die Bars des Viertels auf, et\va das \Velcome to the Johnsons oder das St. Jerome's. Beide Lokale gehörten einem hochgewachsenen Sän69
ger namens Lüc Carl, der auch als Barkeeper arbeitete. Als sie Lady Gaga geworden war, sagte Stefani, dass Carl sie - zusammen mit den wahren Paparazzi sowie ihrem eigenem Drang nachRuhm-zu dem Song »Paparazzi« inspiriert habe. Stefani hatte ein Auge auf Carl - den Barkeeper und Rockstar - geworfen, aber ebenso auf eine Burlesquetänzerin, die Lady Starlight hieß und freitags bei St. Jerome's arbeitete. Starlight war in der Szene berühmt. Ein nettes Mädchen im Heavy-Metal-Look, das hart arbeitete, in den angesagten Bars auftrat, die richtigen Leute kannte und auf alle wichtigen Partys eingeladen war. Gaga suchte ihre Freundschaft. »Sie war und ist unglaublich zielstrebig, will unbedingt weiterkommen«, sagt Starlight, die 2007 mit ihrem langen, schwarzen Haar, dem dichten Pony und eigenartigem Kleidergeschmack wie eine Zwillingsschwester von Stefani aussah. (Auf Fotos der beiden kann man sie tatsächlich kaum voneinander unterscheiden.) Sie kann sich noch gut an ihre erste Begegnung erinnern. »Sie steckte mir ein Trinkgeld zu«, so Starlight. »Und zwar in meinen Slip.« Starlights Telefonnummer hatte sich Stefani von Lüc besorgt. Nun begann sie Starlight auf ähnliche \Veise ZU umgarnen, wie sie es - mit Erfolg - bei vVendy Starland getan hatte. »Man musste sie ·wahrnehmen«, sagt Starlight - was aber nicht unbedingt klug war, das fügt sie hinzu. Innerhalb der Hipster-Gemeinde des Viertels \Virkte Stefani, die gern Gymnastikanzüge aus Elastan 70
trug, »schroff und deplatziert«- sagt Starlight, die vorgibt, 1980 geboren zu sein, aber mindestens zehn Jahre älter sein dürfte. Auch Fusari kann sich daran erinnern, dass Stefani zu diesem Zeitpunkt massiv an ihrem Look arbeitete. Er war schockiert über ihren konstant schlechten Geschmack und ihre gleichgültige Haltung gegenüber der Meinung anderer. »\\Tenn sie bei Meetings auftauchte, betete ich darum, dass sie sich nicht allzu schlimm hergerichtet hatte«, sagt Fusari. »Man wusste nie, wie sie gekleidet sein würde. Es konnte buchstäblich alles sein. Als sie einmal enge Hosen in Leopardenmuster mit roten Pumps kombinierte, fragte ich sie: >Stammt das aus der Rocky Horror Picture Show?Stef, lauf bitte ein paar Schritte vor mir. Sonst denken die Leute noch, ich sei mit einer Prostituierten unterwegs. < Sie tat es. Es machte ihr nichts aus.« »Die Leute starrten sie an«, erinnert sich ebenfalls eine von Stefanis Freundinnen. »Ihre Aufmachung war nicht so irre wie jetzt, aber sie war alles andere als gewöhnlich gekleidet. Sie trug Gymnastikanzüge von American Apparel. Es sah beinahe aus, als hätte sie ihre Unterwäsche über ihre Kleider gestülpt.« »Netzstrümpfe waren bei ihr angesagt und ein rückenfreier Gymnastikanzug mit Kettengürtel«, sagt Sullivan, der auf Stefani zum ersten Mal im Dezember 2006 bei 71
St. Jerome's traf. »Das trug sie jedenfalls bei unserer ersten Begegnung. Dazu hochhackige Schuhe und eine Lederjacke.« Er erinnert sich, dass sie sich ihm als Sängerin vorstellte. Sullivan drückte sich oft bei St. Jerome's rum. Stefani ging mit Lüc aus. Laut Sullivan konnte Lüc extrem besitzergreifend sein. An diesem Abend schenkte Sullivan Stefani mehr Beachtung als seiner eigenen weiblichen Verabredung, die allerdings, so Sullivan, Lüc zu gefallen schien. Sie redeten über Musik und ihre Auftritte, wollten ihre Telefonnummern austauschen. »Doch das reichte Lüc, um mächtig sauer zu werden«, sagt Sullivan. Er solle nicht »Stefani«, sondern »Gaga« eingeben, sagte Stefani als Sullivan ihren Namen in sein Handy einspeichern wollte. Lüc war ohnehin ziemlich aufgebracht, dann klingelte auch noch ihr Telefon. Sullivan: »Lüc meinte zu ihr: >\Ver ruft dich nachts um elf an?< Sie antwortete schlicht: >Mein Produzent.«< Aus Frust schrie Lüc ihn dann an: »Hör sofort auf, dich mit meiner Freundin zu unterhalten. « Lüc und er verfielen oft in die für die Lower East Side typische wie peinliche Endlosdebatten, wer wen kannte, wer sich \:vann cooler gab und die schärferen »Babes« an Land zog. Sullivan gab immerhin nicht damit an, dass seine Verabredung - auf die ja Lüc stand mal mit Moby liiert war, und dass Moby Sullivan gar nicht mochte. Dabei war es doch unendlich cool, von einem berühmten Musiker nicht nur gekannt, sondern ebenfalls nicht gemocht zu ·werden. 72
Sullivan fand , dass Lüc - im Gegensatz zu ihm selbst, der ja die Verbindung zu Moby nicht erwähnte - die in dem Viertel geltende Gleichgültigkeitsattitüde nicht kapiert hatte. Sullivan sagte Lüc, dass er Stefani toll finde. »Unter Vertrag bei Island«, sagte dieser- laut Sullivandaraufhin. An Lüc denkt Sullivan nicht gern zurück, doch an den Abend schon. »Eine schicksalhafte Begegnung. Sie sollte mein, aber auch Stefanis Leben für immer verändern«, sagt er. Denn an diesem Abend lernte er das Mädchen kennen, aus dem Lady Gaga ·wurde. Noch heute kann Sullivan nicht glauben, dass er solch eine Berühmtheit kennt.
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QUEEN DF THE SCENE
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Sullivan und Ciaga sich ständig sahen, be-
schlossen sie, zusammen zu arbeiten. »Ich legte Platten auf in der Bar, in der ihr Freund Lüc Barkeeper war und wo ein paar fürchterliche Bands auftraten , bei denen ich nie versucht hätte, sie in einer anderen Show unterzukriegen ... und sie gehörte einfach dazu«, sagt er. »So hingen wir z·wangsweise ständig zusammen.« Ihre Clique verband sowohl Zuneigung als auch Notwendigkeit. Starland unterstützte sie bei Fusari und dem damals noch in der Zukunft liegenden Plattenvertrag. Starlight gab ihr einen Crashkurs in PerformanceKunst und Hipster-ismus. Sullivan war ein erfahrener und bekannter DJ, der ihr zu Gigs verhelfen konnte. Kurz danach hatten sie ihren ersten gemeinsamen Auftritt, er legte die Musik auf, und sie tanzte dazu. Schon kurz darauf wurde Gaga unter Starlights Anleitung Go-go-Tänzerin, während Sullivan in Läden wie dem St. Jerome's, Don Hill's und Luke & Leroy's gleich drei der in der Stadt angesagtesten Bars - als DJ auflegte. Manchmal sang Gaga auch. Zum Beispiel auf
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einer Geburtstagsfeier in der Beauty Bar (14th Street), einem Szenetreff der coolen Kids, eingerichtet im Stil der Fünfziger, mit konisch geformten Haartrocknern sowie einer Reihe von Maniküretischen. Sie hüpfte aus einer Torte und sang a la Marilyn Monroe »Happy Birthday, Mr President«. Sogar bei solch banalen Auftritten spürten viele ihrer Freunde, dass sie es bis nach oben schaffen würde. »Ich stolzierte die Straße entlang, als wäre ich ein verdammter Star«, sagte sie einmal. »Die Menschen sollten ruhig mit der Überzeugung ihrer Großartigkeit unterwegs sein. Jeden Tag hart dafür kämpfen, dass diese Lüge wahr wird.« »Sie ist sehr klein«, sagt Sullivan, »und ihre Stimme hat kein Volumen. Sie zählt auch nicht zu den allerhübschesten Mädchen, zumindest nicht als sie jünger war. Doch wenn sie die Bühne betritt, ein Mikrofon in der Hand hält, kommuniziert sie mit den Leuten auf eine ganz besondere Weise. Nicht um sie besser hören zu können recken sich die Leute bei Konzerten die Hälse aus. Nein. Sie wollen sie besser sehen.«
Starlight brachte Stefani den Burlesquetanz bei,
führte sie in die Szene der Downtown-Bars ein und lehrte sie, mit Haarspray ein Feuer zu entfachen. Sie nahm Stefani mit zu Frock 'n' Roll, ihrer Lieblingsundergroundparty - dreißig Minuten von der Lower East Side entfernt, in Long Island City. In den vergangeneu Jahren 78
hat sich Long Island City zu einem zweiten \Villiamsburg ge·wandelt, das eine Zeit lang als die neue Lmver East Side galt. Long Island City ist das Zuhause einer Generation von hungrigen Künstlern, beheimatet aber auch den experimentelleren Ableger des Museum of Modern Art, das P. S.l. Auch das Studio des Medienkünstlers Matthew Barney befindet sich hier. In der Szene kam Stefani nicht besonders gut an. Sie wirkte nicht glaubwürdig, verstand oft Andeutungen und Querverweise nicht. »Sie wissen doch, ·wie die kunstbeflissenen Kreise sein können«, erzählte Starlight der New York Post. »Die Leute sind ein bisschen hochnäsig.« Stefani aber ließ sich nicht unterkriegen. Sie tanzte ihre burlesquen Tänze im Slipper Room, einer bordellartigen Bar mit Bühne, die sich an der Ecke Orchard Street und Stanton Street befindet. »Ein weiters verrücktes Mädchen aus Jersey, dachte ich damals«, sagt James Habacker, Besitzer des Slipper Room, der Stefani, nachdem sie 2007 vortanzte, vom Fleck weg engagierte. (Wie etliche Downtown-Bewohner, die nachts arbeiten, erinnert sich Habacker kaum an Daten.) Habacker sieht in seinem perfekt geschnittenen olivgrünen Mantel wie ein Dandy aus. Er sitzt im Kellerraum seines Clubs, in dem zwei einander zuge·w andte Sofas sowie eine Bar und ein Couchtisch stehen - darauf ein Silberteller voll Zigarettenasche. Er sagt: »Tagsüber sah Stefani manchmal etwas schlampig aus.« Er hat sie als sehr nett, sehr professionell und 79
sehr schlau in Erinnerung. Kein bisschen neben der Spur jedenfalls. »Sie zog sich aus, bis nur noch ein Stringtanga übrig blieb. Sie brachte einige eigenartige Elemente in ihrer Show unter. Erinnern kann ich mich etwa an Plüschtiere«, sagt Habacker. (Es gibt Leute, die tatsächlich auf Plüschtiere stehen.) »Ich verstand mich nie als eine Stripperin«, hat Gaga mal gesagt. »vVas ich da tanzte, war eine Rock-'n'-RollBurlesque.« Sowohl Fusari als auch Stefanis Vater fanden , dass der ganze Burlesquekram unter ihrem Niveau war reine Zeitverschwendung sowieso. »Sie trat in einer Strip-Show auf«, so Fusari. »Man ging dort nicht wegen der Musik hin. Ihr Vater wurde allmählich sauer. Inzwischen weiß er, dass es eine ins Extrem gezogene »Alice im vVunderland-Nummer« war. Stefani sah ihren Tanz als eine Performance; als eine Möglichkeit, sich selbst zu verlieren, die eigenen Grenzen kennenzulernen , auszuloten, was beim Publikum ankam und was nicht. Strippen war das nicht - was sie tat, ·war - in ihren Augen - reine Kunst. >>Schlau und professionell, das war sie ganz zweifellos«, sagt Habacker. »Ich fand sie auch großartig.« Die anderen Mädchen, die an der Shm:v beteiligt waren, dachten da anders. »Sie beschwerten sich über sie«, sagt Habacker. »Die einen meinten: >Mir gefällt ihr Gehabe nichtSie ist unhöflich< oder: >Die benimmt sich wie eine Diva.< Dabei glaube ich nicht, 80
dass sie unhöflich oder gar gemein war. Sie benahm sich halt distanziert, ein bisschen eigenartig auch. Es wird einem immer schwierig gemacht, wenn man nicht in Schubladen hineinpasst. « Für monatlich achtzig Shows engagierte Habacker lediglich vierzig Mädchen. Habacker entließ Stefani trotzdem nach einem Jahr, obwohl ihre Show ja einfallsreich war - immerhin kamen dort nicht nur Plüschtiere, sondern auch Feuerwerkseinlagen vor. Doch der Unmut, den Stefani bei den übrigen Mädchen schürte, störte den Betrieb auf Dauer zu sehr. Ein letztes Mal beeindruckte Stefani Habacker, als sie von ihrer Entlassung erfuhr. »Sie brach keinen Streit vom Zaun«, sagt er. »Sie sagte nur: >Ich wünsche Ihnen alles Gute.< Zuletzt habe ich noch gemeint: >Solltest du ein großer Star werden, vergiss mich nicht.< Klar, ein großer Star. Jede der Tänzerinnen im Slipper Room wollte ein Star werden.«
Mittlerweile fuhr Stefani jeden Tag raus nar:::h New
Jersey, um mit Fusari zu arbeiten, und kehrte abends an die Lower East Side zurück, wo sie nach wie vor versuchte, in der Szene Fuß zu fassen. Es war eine anstrengende Zeit. Nach einem Monat der Zusammenarbeit mit Fusari begann sie, sich mit einem von Fusaris Studiomusikern - mit Kafafian - zu treffen. Ein früherer Freund sagt, Kafafian sei: »Ein netter Kerl, ein sehr guter Songschreiber und Musiker.« Einst hatte Fusari eine Kafa81
fian-Platte produziert, nun durfte der bei einigen von Stefanis Stücken mitspielen. Kafafian selbst sagt, sie seien vier bis sechs Monate zusammen gewesen. »Es war wirklich nett, obwohl wir nicht ineinander verliebt waren. \Vir hingen eher stundenlang, tagelang gemeinsam im Studio rum. Anschließend fuhr ich sie in die Stadt zurück. « Nahezu ihre gesamte Freizeit verbrachte Stefani im Studio, nahm dort Lieder auf. Sie wirkte entschlossen. Und suchte nach einem Künstlernamen - denn alle waren sich einig, dass Stefani Germanotta nicht gut klang. Lady Gaga: Es gibt etliche Geschichten über die Entstehung dieses Nam ens. Fusari etwa behauptet, er sei das Ergebnis eines falsch buchstabierten Textes, Gaga selbst, Fusari habe sie so bezeichnet, nachdem sie ihm eine Queen-Single vorgespielt habe (Doch »Du bist so gaga!« hört sich nicht wirklich nach jemandem ·wie Fusari an.) Starland wiederum behauptet, der Name sei auf eine für die Musikbranche so typische wie langweilige \\Teise entstanden: bei einem Marketing-Meeting nämlich. »An der Entstehung des Namens waren wir alle beteiligt«, so Starland, wobei sie mit »wir« sich selbst, Fusari, Stefani, Kafafian sowie ein paar andere Personen meint. >>Einer von uns sagte eben: >Lasst uns mal über einen vermarktungsfähigen Namen nachdenken. < vVas wir dann taten. « Auf jeden Fall war die britische Rockband Queen eine Inspirationsquelle, so Starland, obwohl keiner wirk82
lieh wusste, ob Stefani je ein riesiger Fan der Band ge·wesen war. »\Vir sprachen über Queen und ihren Song >Radio Ga GaLady>Als sie zu mir kam, \var sie vollkommen aufgelöst«, so ein Freund. »Sie sagte, sie sei unglaublich verletzt und verstünde die \\Telt nicht mehr.« (Über das Ende seiner Beziehung zu Stefani möchte Kafafian nicht sprechen.) Bald jedoch verstand sie, was vor sich ging. Denn Fusari, mit sechsunddreißig Jahren sechzehn Jahre älter als Stefani, gestand ihr schon bald seine Gefühle. Dass er zu jener Zeit noch mit seiner Verlobten zusammen·wohnte, die Stefani oft von der Bushaltestelle in Jersey abholte, schien ihn dabei nicht weiter zu belasten. Stefani war jedenfalls überwältigt - selbst wenn sie nichts für Fusari empfand. Bislang hatte sie nie darüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn sie mit ihm anbändelte - schon eher darüber, was passieren könnte, wenn sie es nicht täte. »Sie wollte eine Platte aufnehmen, das war ihr Ziel«, sagt ein Freund. »Genauso wie bei der Dancefloor-Musik, die sie anfangs nicht mochte, die nicht vom Herzen kam, sagte sie sich auch bei der Beziehung zu Fusari: >Okay, ich versuch's.< Sie wollte unbedingt berühmt werden, darauf arbeitete sie mit aller Macht hin. « 83
Ihre Schulfreunde verurteilten sie für die Bezie-
hung zu Fusari. Und ihr Urteil schmerzte sie. Sie hing immer noch an Kafafian, der behauptet, keine Ahnung gehabt zu haben, was vor sich ging. Doch als er nach drei Monaten von einer Tour zurückkam und versuchte, Stefani oder Fusani zu erreichen, stellt man ihn nie durch. Nie dachte Kafafian daran, nachträglich Geld von Lady Gaga einzufordern, obwohl sich- laut ihm- seine Gitarrenstücke und Texte auf ihrem Album The Fame wiederfinden. Fusari hingegen reichte gegen Gaga eine Klage in Höhe von 30,5 Millionen Dollar ein. »Bei Stücken wie >Beautiful, Dirty, Rich< und >Brown Eyes< habe ich mir die Finger wundgespielt«, sagt Kafafian heute. »Vielleicht war ich zu naiv«, meint er. »Aber wie heißt es doch so schön: Aus Fehlern lernt man. Jetzt ·weiß ich, was ich will. Nicht ich, die anderen sollten sich schämen.« Inzwischen versuchte Stefani, ihre Auftritte selbst zu promoten, wo und wann immer es ging. Sie tanzte oder machte Musik. Sie rief im Bitter End an, wo sie ja als Studentin der NYU mit der Stefani Germanotta Band aufgetreten war - tat, als sei sie ihre eigene Presseagentin, und pries sich an. Sie verschaffte sich einen Gig in Arlene's Grocery, einem kleinen Club in der Stanton Street. vVie die meisten Lokale an der Lower East Side verpflichtete auch das Arlene's hauptsächlich Rockbands. »vVir engagierten Stefani, weil sie uns fünfzig Leute versprach, die 84
kommen würden, um sie singen zu sehen«, sagt Julia Dee, die damals beschäftigt war. »Die Leute kamen tatsächlich.« »Bei ihrem Auftritt meinten unsere Angestellten nur: >Geiler Körper, null Stimme«Überraschenderweise«, fügt Starland hinzu. Gaga begann ihn zu mögen, obwohl Fusari immer noch verlobt war. Starland fragte ihn, warum er die Beziehung zu seiner Verlobten aufs Spiel setzen würde. Die Aussicht auf Geld und Ruhm seien berauschend, antwortete er. Beide, meint Starland, seien sie Melodramatiker. 86
Fusari schaffte es sogar, Gaga zu einigen Songtexten zu inspirieren - unter anderem zu »Brmvn Eyes«. Sobald sie dieses Lied bei Konzerten anstimmt, wird sie wütend. Sie ruft dann: »motherfucker« (\V'ichser) oder macht sich über »bullshit brown eyes« (beschissene braunen Augen) lustig. »Ich schrieb dieses Lied um drei Uhr morgens, heulend und jammernd am Klavier«, berichtete Gaga. »Da ·war ich mit einem zusammen, mit dem ich nicht zusammen sein konnte.« Das Stück »Blueberry Kisses« handelte ebenfalls von Fusari, so Starland. »Morgens aßen sie regelmäßig Blaubeerpfannkuchen«, erzählt sie. Charakterlich ähnelten sie einander sogar. Beide waren sprunghaft, konnten dramatisch werden und streitsüchtig. »Ja, die Hochs waren bei ihnen besonders hoch und die Tiefs dramatisch tief«, sagt Starland. Als es einmal in Gagas Beziehung zu Fusari einen Tiefpunkt gab, bat Gaga ihre Mutter, raus nach Jersey zu kommen, um sie moralisch zu unterstützen. Die Mutter kam sofort. In dieser Zeit zweifelte Gaga daran, ob sie ein Demoband überhaupt herzustellen vermochte. Starland aber nahm sie nach eigener Aussage hart ran; sie sagte: »Du bist doch ein Profi. \V'ir haben doch eine Vision. Nein, ich habe meine Zeit und meine Energie nicht darauf verwendet, damit du zweifelst.«
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Nach wie ver mühte sich [jaga ab, in die Lcwer
East Side-Szene vorzustoßen. Sie hatte zusammen mit Starlight im St. Jerome's getanzt und sich einen Gig im Slipper Room verschafft, doch das war nicht genug. Sie, die ewige Streberin, wollte von den Promotern Michael T. und Justine D. - zwei der größten DowntownSzenestars, die viele der coolsten Events und Partys konzipierten - für ihre als »Motherfucker Events« bekannte Partyreihe verpflichtet werden. Das Nachtleben der Jahre 2003 bis 2008 war von einer unendlichen Abfolge zügelloser Partys bestimmt. »Motherfucker Events« - die den wöchentlichen, »MisShapes« genannten Partys des DJ-Kollektivs ähnelten fanden immer am Vorabend nationaler Feiertage an unterschiedlichen Orten statt. Jene Events zogen Tausende von Partygäugern an, darunter auch die »Bridgeand-Tunnelers« - das heißt diejenigen, die vom spießigen Long Island oder New Jersey nach Manhattan rüberkamen. (»Bridge-and-Tunnelers«: an ihrem biederen Outfit und dem Hang zu übermäßigem Hairstyling erkennbar, 'verden von den selbst ernannten Coolen der Stadt, als unerwünscht betrachtet.) Die »Motherfucker-Events« endeten - in Erinnerung an das legendäre Studio 54 - traditionell mit dem Dancefloor-Hit »Love Hangover« von Diana Ross (1976). Einlass zu den Partys gewährte der berüchtigte SzeneTürsteher Thomas Onorato. Im vVinter 2006 schrieb Glenn Belverio, Autor des Buches Confessions from the Velvet Ropes, in einem Blog: »Denken Sie daran: 88
Bei einer Motherfucker-Party herrscht an der Tür Diktatur, auf der Tanzfläche aber Demokratie. Achten Sie also auf Ihr Aussehen. Oder New Yorks Türsteher Nr. 1 wird Sie in den Neujahrs-Gulag zurückschicken.« Doch ein »Motherfucker-Event« war nicht wirklich eine Diktatur - man musste lediglich gutes Geld hinlegen, um hineinzugelangen. Lady Starlight kannte Michael T., der wiederum ihren richtigen Namen, nämlich: Colleen Martin, kannte. Colleen arbeitete damals tagsüber als Visagistin und tanzte zusätzlich zu ihren Gigs auch noch häufig auf »Motherfucker«- oder aber anderen Partys von Michael T., die er Rated X nannte. Ab 2007 begann Colleen, Gaga zu den Partys mitzunehmen. »Sie sah aus, als käme sie geradewegs aus dem Jahr 1987. vVie eine billige Stripperin«, sagt Michael T. Er bemerkte, dass Martins Begleitung den Starlight-Look zum Teil nachahmte. »Colleen machte auf trashigen Heavy Metal« meint er. »Allein diese Fransenfrisur - oben dunkel, die Spitzen blond, ausgeblichen. Es war Absicht. Sah witzig aus.« Doch Gagas Look schien ernst gemeint zu sein. Sie dachte tatsächlich, sie sähe in ihrer Kluft gut aus. Noch hatte sie nicht den Dreh raus, Ironie und vVitz mit sorgfältig gepflegten schlechten Geschmacks zu mischen. Laut Michael T. verfügte Gaga über keinen eigenen , durchgängigen Stil. »Sie wird es wie wir alle gemacht haben. ·w ird erst geschaut haben, was ihre Freunde tra89
gen und dann vieles von ihnen übernommen haben«, sagt er. »Doch vergleicht man Colleens Bowie-artige Aufmachung mit der von Lady Gaga, so war das wie Tag und Nacht. Colleen sah aus wie ein Freak anno 1973. Gaga hingegen, als hätte jemand ihr empfohlen: >Komm doch, wir malen dir mal einen Blitz a la Bowie auf. Echt? Mit einem live DJ, z·wei Tänzerinnen und der Gaga, die ausschaut wie eine Heavy-Metal-Queen?Beautiful, Dirty, Rich< an und ein paar andere Songs. Man wusste auf Anhieb, dass sie besonders war. Kein Zweifel. Andererseits war es aber so, und dabei bin ich mit meiner Meinung nicht allein: Ich kann mich an keinen ihrer Songs erinnern. \Veil ich wie gebannt auf ihren Hintern starrte. Sie trug einen engen Minirock. Oder war es ein Schlauch von Kleid? Sie schwankte jedenfalls mit ihrem Körper ständig vor und zurück, als säße sie auf einer Schaukel. Ihre Pobacken wackelten dabei hin und her. Alle, die sich im Büro versammelt hatten, starrten breit grinsend auf ihren Hintern.« Nach ihrem Kurzauftritt drehte sich Gaga zu Reid um - und dieser Teil der Geschichte deckt sich mit dem Mythos. L. A. sagte nur: »Geh bitte runter in unsere Rechtsabteilung. \Vir werden dir einen Vertag anbieten. Verlass das Gebäude erst, wenn du unterzeichnet hast.« Gaga traf sich mit dem Anwalt von Island Def Jam, kontaktierte aber zugleich ihren eigenen Am;~,ralt. Dieser fragte sofort, wer denn für den Deal von der Plattenfirma aus zuständig sei. Als sie ihm den Namen des Island-Def-Jam-Anwalts nannte, hieß es von seiner Seite: Der Deal sei bedeutend, denn das Label hätte einen seiner besten Anwälte mit dessen Ab,:vicklung beauftragt. 100
Im Überschwang sagte Gaga: »Von meinem Anwalt ·werde ich mich für den Rest meines Lebens nicht trennen«, berichtet Starland. »Doch ihr Anwalt arbeitet heute nicht mehr für sie. Solch eine Vorgehensweise sollte sich wie ein roter Faden durch ihr zukünftiges Leben ziehen.«
Sie hätte mit lsland Def Jam einen Riesendeal ab-
geschlossen, sagte Gaga hernach. Ihren Freunden erzählte sie, dass es sich um 850 000 Dollar handele. Jim Guerinot, der u. a. die Nine Inch Nails, No Doubt und The Offspring managt, glaubt nicht daran. Er sagt: »Lächerlich. Für eine gänzlich Unbekannte so viel Geld? Erfolgreiche Künstler schließen dann und ·wann solche Deals ab, aber bei neuen Künstlern ist das noch nie vorgekommen.« Doch jemand, der bei der Vertragsunterzeichnung anwesend war, spricht ebenfalls von dieser Summe, von 850 000 Dollar. Zu verdanken sei sie Fusaris großen Erfolgen mit Destiny's Child und Jessica Simpson. Ein anderer langjähriger Kenner der Branche \Viederum findet diesen Deal ebenfalls äußerst unwahrscheinlich. »Es ist in den letzten zehn Jahren äußerst selten vorgekommen, dass ein Künstler einen Scheck über mehr als eine halbe Million Dollar ausgehändigt bekam. Dass eine Künstlerin 850 000 für ein Album erhalten haben soll, ist kaum zu glauben. Doch die Vertragsbedingungen kenne ich gar nicht, und da spielen doch 101
sehr viele Faktoren eine Rolle. Vielleicht ging es ja auch um fünf Alben.« Er bestätigt immerhin, dass Fusaris Engagement für den Deal vorteilhaft gewesen sein konnte, allerdings hätte selbst sein Ruf nicht zur Auszahlung dieser enormen Summe führen können. Er fügt zuletzt hinzu: »ln New York gibt es aber einige Anwälte, ganz gerissene Hunde, die für Künstler mehr Geld als erwartet rausschlagen können. « Gaga musste das Geld teilen - ganz gleich um welche Summe es sich gehandelt haben mag. Letztendlich wurde ja ihr Vertrag von der Produktionsfirma unterzeichnet, die sie gemeinsam mit ihrem Vater sowie Fusari gegründet hatte . Abgesehen von dem Achtzig-zwanzig-Deal mit Fusari, bekam Besencon - ihr neuer Manager - zwanzig Prozent ab. Starland hingegen, die Gaga entdeckt hatte, mit ihr Lieder schrieb, verfügte lediglich über eine mündliche Vereinbarung. Eine Beteiligung auf zukünftige Verträge wurde ihr da versprochen. So fand sie es ganz und gar nicht gut, als ihr Gaga jetzt nur bestimmte Rechte zu übertragen anbot. Von diesen Rechten konnte Starland nur dann profitieren, wenn von ihr getextete Songs auf einer Platte landen würden. Gaga habe ihr auch eine einmalige Zahlung von zehntausend Dollar angeboten - sagt Starland. Man solle bedenken, dass Besoncon erst seit kurzem dabei sei, versuchte Starland Gaga klarzumachen. Sie habe auch die ganze Entwicklungsarbeit geleistet. Sie fände es nur gerecht, wenigstens die Hälfte der Mana102
gereinnahmen zu erhalten. Also zehn Prozent, plus die Rechte auf zwei der Lieder. Auf diese Einwände entgegnete Gaga laut Starland: »Das scheint mir nur angetnessen.«
Nun unter Vertrag, begann uaga an ihrem Bühnenauftritt sowie ihrem Image zu feilen. Sie hatte kein Auge dafür, was cool aussah, so dass sie sich auf den Schick von American Apparel verließ. Damit machte sie aber zu offensichdich, in zu billiger \Veise auf sexy, wirkte weder ausgefallen noch extravagant. Sie gewöhnte sich an, im BH oder einem Bikinioberteil aufzutreten. Sie war immer noch sehr jung, gerade mal einundzwanzig Jahre alt »Die Sho-ws zu dieser Zeit waren Schock-Kunst« behauptet sie. »Ich war der Damien Hirst der Popmusik. Ich tat Anstößiges. \Vie sollte ich all die Junkies und Metal-Fans dazu kriegen, meine Konzerte zu besuchen und sich Popmusik anzuhören? Es war einfach . Ich zog meine Klamotten aus, benutzte dosenweise Haarspray und schrieb Songs über Oralverkehr.« (An dieser Stelle die Anmerkung: Im Jahr 2007 dürfte dieses Verhalten niemanden hinterm Ofen hervorgelockt haben. Es konnte lediglich als ein drolliger Versuch gelten, mit aller Macht Aufmerksamkeit zu erregen.) Zu dieser Zeit freundete sich Gaga mit einem Mädchen an, das namentlich nicht genannt werden möchte. »Eines Abends«, so die Freundin von einst, »sollte sie 103
im Bitter End auftreten. Sie brauchte dazu dringend ein Oberteil. In Queens gab es eines, das ihr gefiel, deshalb fuhr sie mit der U-Bahn dort hin. Sie trug dabei eines dieser Muskelshirts, allerdings als Kleid. Es war nicht American Apparel, was sie trug, sondern eher Hennes & Mauritz. In Queens fand sie auch noch Schmuck, dem sie nicht widerstehen konnte. Beinahe verpasste sie ihren Auftritt. Sie war irre, ganz und gar ein Original.
Meine Outfits haben häufig dreieckige Formen. Mir sagt eben die phallische Darstellungsweise zu.«< Über die Zeichensprache ihrer Kleider zu reden, macht Gaga großen Spaß. Bei der Kleiderauswahl, in der Präsentation als Pop- wie Sexsymbol war sie stets sehr eifrig. Sie wollte nie anschmiegsam wirken, wohlschmeckend die Kehle 117
hinabgleiten. Kantig und eckig wollte sie sein. Im Hals stecken bleiben. Von Nomi kam auch die Idee des Künstlers als Fake. In der Dokumentation The Nomi Song (2005) erläutert ein Bewunderer, dass Nomis Anziehungskraft »mit dem Kult purer List sowie Entfremdung in einer Kultur« zusammenhänge, »die von Authentizität besessen« se1. Mit Authentizität spielt Madonna bereits seit langem. Von ihr stahl Gaga fast alle für ihr Image notwendigen Zutaten: all die variierenden sexuellen und kulturellen Provokationen, die Madonnas gewöhnliche Popmusik interessanter erscheinen ließen; die ständige Beschwörungsformel von »meiner Kunst«; das Bemühen um ein schwules Publikum und gleichzeitig die Bereitwilligkeit, als Sprachrohr für dessen Anliegen zu dienen; ihr Streben, sich als Künstlerin immer wieder neu zu erfinden, beständig Neues zu verkörpern. Am Schluss von .1\1adonna: Truth or Dare (1991) steht Madonna auf der Bühne und singt eine von ihren eher langweiligeren Nummern - »Keep it Together«, ein fades Stück über Familieverhältnisse -, doch sie spickt es voll mit anachronistischen, gegenkultureilen Bezügen und Plattitüden zur Selbsthilfe, was Fades auf einmal interessant macht. Sowohl Madonna als auch Gaga bedienen sich der Dialoge aber auch Kostüme aus A Clockwork Orange Stanley Kubricks äußerst stilisiertem Film über eine extrem gewalttätige Jugendgang, die London unsicher 118
macht. \Vie der Hauptdarsteller im Film trägt Madonna bei »Keep it Together« eine Melone und zitiert zudem dessen Euphemismus über Sex: »A little of the ol' inout, in-out« (Ein bisschen von dem ollen Rein-Raus-, Rein-Raus-Spiel). Zwei Jahre lang spielte Gaga vor jeder ihrer Shows die Clockwork Orange-Filmmusik, behauptete aber, die Filmverweise von Bowie und nicht von Madonna gestohlen zu haben. Wenn es um Fragen der Motivation geht, verteilen sowohl Madonna als auch Gaga gerne Ratschläge. »Nie an sich selbst zu zweifeln, das ist besonders wichtig«, sagt Madonna von der Bühne in die .Menge hinein. »Um erfolgreich zu sein, muss man sich selbst lieben«, warf Gaga ins japanische Publikum - und zwar im April 2010. Und setzte hinzu: »An diesen Ratschlag habe ich mich gehalten.« »Madonna wies ihr die Richtung«, sagt Gateley, »doch sie ist in vielem noch besser. Madonna änderte ihr Image alle ein, zwei Jahre. Lady Gaga ändert es jede vVoche.«
Einer der beliebten Kritikpunkte an [jaga lautet,
sie sei zu gerissen, zu berechnend, sei nie und nimmer dermaßen irre, wie sie sich gern darstelle. Gaga sei nicht eigenartig, schrieb Sasha Frere-Jones im New Yorker. Und lobte ihr Talent und ihre Intelligenz. Sah auch voraus, dass The Fame das Album des Jahres 2009 \Verden würde, verwarf allerdings Gagas Beschwörung 119
von Einflüssen seitens der Kommunisten oder seitens von Rainer Maria Rilke als absurd. Frere-Jones schrieb: »Von Marx oder Rilke findet man in ihrer Musik keine Spur.« Kommunismus - das mag sich im ersten Augenblick cool, aufrührerisch, provokativ anhören, stellt aber kein Motiv im Schaffen der Lady Gaga dar. Und Rilke? Gaga hat ihre Verbundenheit Rilke gegenüber oft betont, sagte, dass sie dessen »Philosophie der Einsamkeit« teile. Im August 2009 ließ sie sich während ihrer Tour in Japan ein Zitat aus Rilkes Briefe an einen jungen Dichter auf ihren linken Oberarm tätowieren. Das lautet auf Englisch: »In the deepest hour of the night, confess to yourself that you ·would die if you were forbidden to write. And Iook deep into your heart where it spreads its roots, the answer, and ask yourself, must I write?« (zu Deutsch: Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine vVurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?) Gagas zur Schau gestellten Seltsamkeiten führten zu einem amüsanten Beitrag auf der vVebseite des Magazins der NewYork Times, der »vVarum fällt es uns so schwer, Lady Gaga zu mögen?« hieß. Der Artil\.el rief unterschiedliche Reaktionen hervor. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass 120
sie eine auf den Podest gehievte Möchtegernkünstlerin ist«, hieß es in einem Kommentar. Eine andere Stimme: »Bloß eine Nachahmung jeder x-beliebigen blonden Popsängerinder letzten Jahre, auch von Donatella Versace. An Gaga ist nichts wirklich Rätselhaftes dran. Sie sollte endlich aufhören, jeden ihrer Schritte kalt berechnend zu planen. vVerden die Kleider eines Bussein Chalayans und übertriebene Schulterpolster und Perücken ihr je zur Glaubhaftigkeit verhelfen?« »Ich finde an ihr keinen Gefallen. Sie ist für mich keine echte Exzentrikerin«, kommentierte jemand. »Zu verbissen versucht sie, eine andere zu sein, trägt Kleider, die alle schon mal vorkamen (mein Gott, selbst jemand wie Beyonce, die nun eindeutig zum Mainstream gehört, trägt vermeintlich verrückte Kleider mit integrierten Metallstücken). Beständig versucht sie nur, auf sich aufmerksam zu machen. In einem Interview vergangene vVoche behauptete sie allen Ernstes, dass das Entflammen von Haarspray in ihrer Eigenschaft als >Performance-KünstlerinDisco Heaven< und >Beautiful, Dirty, Rich< - und fuhr mit seiner Handkante horizon122
tal seine Kehle entlang, was das Aus bedeutete«, sagt Sullivan. Diese Entscheidung bleibt jemandem, der in die Prozesse bei Island Def Jam integriert war, noch heute schleierhaft. Dieser jemand sagt: »vVenn Gaga ins Island Def Jam-Büro schritt, zeigten sich alle immer ganz und gar von ihr angetan.« Josh Sarubin war ihr größter Förderer innerhalb der Plattenfirma, pushte sie in den internen Meetings. Laut Starland wurde er in die Entscheidung, Gaga fallen zu lassen, nicht eingeweiht. »Josh saß in einem Meeting der A&R-Abteilung. Sie strichen die Künstler von der Liste, die sie in der \Voche hatten gehen lassen. Da fiel auch Gagas Name«, so Starland. »Josh erfuhr es also nachträglich. Von L. A. Reid wurde Sarubin jedenfalls nicht direkt in Kenntnis gesetzt.« L. A. Reid habe nie verstanden, \ver denn eigentlich Gagas Zielpublikum sein sollte, berichtet ein Informant aus dem Island Def Jam-Zirkel. »Wenn man ein Plattenlabel leitet, muss man genau wissen, wem man da Musik verkauft. Man muss auch komplett hinter dem Künstler stehen«, sagt dieser Informant. »Es wäre ein Bärendienst gewesen, wenn diese Plattenfirma Gaga behalten hätte, ohne zu wissen, wie sie zu vermarkten sei. \Väre sie dort geblieben, wo ihre Vision nicht verstanden wurde, hätte sie vermutlich nicht dermaßen viel Erfolg verbuchen können. « Sullivan stößt ins gleiche Horn und meint, bei Island Def Jam wäre aus Gaga eine Nischenkünstlerin geworden. Und verweist auf La Roux, eine Band, deren Front123
frau eine androgyne, dünnstimmige Britin ist, Gaga recht verwandt. »Sie wäre wie La Roux, würde lediglich in drittgrößten Clubs der Stadt auftreten. Jene Reife, die ihre Songs reizvoll macht, würde ihr dann vollständig fehlen. « Nicht nur ihr Plattenvertrag ·wurde aufgelöst, auch im Privaten lief es inzwischen katastrophal. »Ihre Beziehung zu Fusari stand auf der Kippe«, erinnert sich Starland. »Sie handelte mit Lüc an. Sie wurde immer wahnsinnig nervös, ·wenn sie ihn sah. Sie sagte dann: >Ü mein Gott, er arbeitet ja als Barkeeper. Eine richtig große Nummer. Er kommt aus der Szene.Ich kann das nicht. Ich kann nicht über uns schreiben. Das wäre, als versiegele ich einen Umschlag. Es macht das Ende meiner Beziehung zu Lüc real. «< Als sie aber mit dem Texten begonnen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Das Lied »Poker Face«, meint Sullivan, handele keineswegs von irgendwelchen Fantasien. Es sei prosaischer: Nach ihrer Trennung von Lüc bat Gaga Sullivan, mit ihrem Ex zu reden. Sullivan berichtet: »Ich gab ihr den Ratschlag, cool zu bleiben. Sich in der Szene rumzutreiben, um zu zeigen, dass es auch ohne ihn bei ihr bestens liefe. Ich sagte: >Für Typen wie Lüc musst du ein Pokerface aufsetzen. Girls, Girls, Girls< aus weiblicher Sicht schreiben«, erzählte sie. »Ferner wollte ich, dass sich das Lied wie AC/ DCs >T.N.T.< anhört - mit einem >Üi! Oi! Oi!'Venn du kokst, gehe ich nicht mit dir aus. < Also ließ sie ihre Clique aus Studienahbrechern von der Upper vVest Side sein, hörte mit dem Koksen auf und begann, mit Lüc auszugehen.« Gaga ·wusste sehr wohl, dass sie da jemanden liebte, der ihre Popambitionen nicht unterstützen wollte. Mit »Paparazzi« hat sie ein Lied über ihre Angst geschrieben. Darüber, entweder geliebt zu \Verden oder aber eine erfolgreiche Karriere zu starten, doch niemals beides haben zu können. Gaga trennte sich von Lüc - und kam mehrfach mit ihm wieder zusammen. Und jedes Mal, wenn die Beziehung endete, versackte sie mit Sullivan in irgendeinem Lower-East-Side-Lokal. »Gern zählte sie die Dinge auf, die Lüc nicht begriff, knallte anschließend ihr Bier auf den Tisch und rief dabei >dieser Scheißkerl!Niemand tut meiner Tochter so etv,ras an. < Und sogleich setzte er hinzu: >Ich schau mal, was sich machen lässt.«< Im Endeffekt musste Island Def Jam Gaga auszahlen, selbst wenn keine Platte von ihr veröffentlicht worden war. »Das also bedeutet der Deal aus >Courtney Love Does the Math>Rob sagte nur: >Ich habe da eine Künstlerin, du musst etwas für sie tun«\Venn ich dir einen Gefallen tue, tust du mir auch einen.< Auf diese vVeise, dank Robs Kontakt, erhielt Gaga ihren zweiten Plattendeal. « Sie sang beim Produzenten Martin Kierszenbaum vor, einem der Bosse von Interscope, der auch unter dem Namen Cherry Cherry Boom Boom bekannt ist. Er beauftragte Gaga, ein Stück mitsamt Text und einer Hookline zu schreiben. Gaga schuf gleich mehrere Versionen - sie wusste \vohl, dass dies der Test schlechthin war. So bat sie Fa133
milie und Freunde um Feedback, revidierte Fassungen, besserte das Stück unermüdlich aus. Im Songtext hieß es: »Family, doing it for the family«, was auf das Plattenlabel anspielte für das sich Gaga bewarb. Das Plattenlabel erhielt am Ende einen neuen Namen: Streamline. Und aus dem Song, an dem Gaga da unermüdlich tüftelte, wurde schlussendlich »The Farne«. (Gaga sollte am Schluss bei drei zu Interscope gehörenden Labels unter Vertrag stehen - Streamline, Cherrytree und Kon Live, so dass drei Label-Bosse am Profit aus ihren Aufnahmen beteiligt waren.) Dem Management von Interscope war relativ schnell klar, dass sie mit Gaga eine Besonderheit an Land gezogen hatten - schließlich konnte sie sowohl singen als auch spielen und schreiben. vVenngleich ihr Erscheinungsbild immer noch ein Problem darstellte. Man suchte nach einer Lösung. Doch während man suchte, beschloss man, Gaga als Songschreiberin - also im Hintergrund - werkeln zu lassen. Sullivan erzählt: »Der \Veg bei Interscope war lang und mühsam. Etliche der Leute, mit denen sie dort zu tun hatte, dachten, dass sie das Zeug zur Größe hätte, aber nicht hübsch genug für einen Popstar wäre.« Gaga musste von jetzt an Songs für andere Künstler schreiben, vor allem für die Pussycat Dolls. Diese Mädchenband benötigte vokale Vorgaben - was nichts anderes hieß , als dass Gaga den Mädchen ihren Songvorschlag vorsingen musste. »Wobei Gaga die Pussycat Dolls nicht für voll nahm«, berichtet Sullivan. 13Ll
Sie wurde launenhaft, stritt mit Lüc, mit dem sie wieder liiert war und der seinerseits sauer war, dass ihre neue Arbeit die gemeinsame Freizeit beschnitt. Laut Sullivan hatte Lüc Geld gespart, um mit ihr in den Urlaub zu fahren, einen Urlaub, den sie sich sehr gewünscht hatte. Ihren gemeinsamen Urlaub verkürzte Gaga allerdings sofort, nachdem ihr Label während des Urlaubs mit einem Auftrag an sie trat - sobald das Label anrief, stand sie ruckzuck Ge\:vehr bei Fuß. Lüc hielt sie für eine verwöhnte reiche Göre, die keinerlei Respekt vor ihm und seinem anstrengenden Job hatte. Für Gaga galt Lüc mittlerweile als jemand, der weit hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben war - weder ihren Tatendrang nachvollziehen noch ihre ehrgeizigen Pläne zu unterstützen imstande war. An dieser Stelle fiel dann der inzwischen vielzitierte Satz von ihr: »Eines Tages, wenn wir längst nicht mehr zusammen sind, da wirst du dir in keinem noch so verschissenen Laden einen Kaffee bestellen können, ohne mich zu hören, ohne meinem Bild entkommen zu können. « Zu diesem Zeitpunkt war Gagas Look immer noch ein Manko. Liebend gern tauchte sie zu jeder Tageszeit im Bikini oder sogar im Tanga auf. Einer der Plattenbosse ist davon überzeugt, dass das Label viel Geld in Gagas Vermarktung hineinsteckte, weil es den Deal mit Herbert gab. »Vincent verfügt nicht nur über ein feines Gehör«, sagt dieser Plattenboss, »sondern auch über ebenso feines Gespür. Er wusste, wie man ihr einen \Veg ebnen kann, ohne sie in ihren \Vün135
sehen einzuschränken und ohne dabei Millionenbeträge in Videoclips zu stecken.So hieß doch ein ElvisSong.«< Sie wusste nicht, wovon er sprach, meinte nur: »Egal.« Dann, so Sullivan, hörte Akon »Money Honey«. (Akon ist ein senegalesischer Sänger, Songschreiber und Produzent, der mit seiner Debütsingle »Locked Up« (2004) den Durchbruch hatte und bei Interscope zu den Künstlern mit den meisten Plattenverkäufen zählt.) Sullivan: »Akon begriff sofort, dass es keinen Grund gab, diesen Song von den Pussycat Dolls singen zu lassen, wenn doch Gaga selbst damit prima auftreten könnte. Er begann seinerseits Gaga zu pushen. «
Und sehen, wir schreiben das Jahr 2007, verschafft ihr Besencon - Gagas Manager bei Interscope - einen Auftritt auf dem Lollapalooza-Festival. Ab da - das jedenfalls ist der in Fusaris Klage genannte Zeitpunkt fingen Besencon und Gaga an, ihn auszubooten. »Diese Vorgehensweise ist für die Musikbranche kennzeichnend«, sagt Josh Grier, ein Medienamvalt, der \Vilco und Ryan 136
Adams vertritt. »vVas sich bei Fusaris Klage wahr anhört«, so Grier, sei die Anschuldigung, dass Fusaris Manager - also Besencon - erkannt haben muss, wo das echte Talent stecke. »So dass er seinen eigenen Künstler verarscht. Im übertragenen Sinn steigt er mit Gaga ins Bett, schließt also einen separaten Deal mit ihr ab und haut Fusari damit in die Pfanne. Diesen Teil von Fusaris Story glaube ich voll und ganz.« Der Auftritt beim Lollapalooza versetzt Gaga keinesfalls in Aufregung. Sie würde zu jenen Acts gehören, die wie eine Granate einschlügen, dessen war sie sich sicher. Das Lollapalooza war einst das größte und einflussreichste Rockfestival in den USA und wurde von Perry Farrell, dem Frontmann von Jane's Addiction 1991 ins Leben gerufen - zu einem Zeitpunkt also, als die Popularität der sogenannten Alternative-Musie ihren Gipfelpunkt erreichte. Farrells vorrangige Idee bestand darin, ganz unterschiedliche Musikgattungen an einem Ort zusammenzubringen. Im Programm standen demnach Acts aus der Hip-Hop-, Electronica-, lndustrialund Post-Punk-Szene. \Vährend der auftrittfreien Zeit konnte man sich zudem auf dem Gelände tätowieren oder piercen lassen. 1997 hatte das Lollapalooza allerdings seine Bedeutung en:vas eingebüßt. Kurt Cobain ·war schon gut drei Jahre tot, und die Alternative-Kultur ging in den Mainstream ein. Boygroups ('N Sync, Backstreet Boys) sowie die von Disney hochgezüchteten Teenage-Acts (Christina Aguilera, Britney Spears, Mandy Moore) dominierten die Charts. 137
1998 löste sich das Lollapalooza auf, als es den Organisatoren nicht gelang, fürs Festival einen Headliner zu verpflichten. Es wurde von dem 1999 gegründeten, dreitägigen Coachella Musikfestival, das einen ganzheitlieberen Ansatz verfolgt und in Kalifornien beheimatet ist, in Hinblick auf Bedeutung und Einnahmen ersetzt. Coachella verstand und versteht sich immer noch als ein Alternativfest, die Liste der dort auftretenden Künstler beweist Gespür für Balance. 2010 traten dort auf: Jay-Z, Radiohead's Thom Yorke, MGMT, Sly and the Family Stone, LCD Soundsystem, The Specials sowie Pavement. 2003 konnte Farrell, der eine Partnerschaft mit »Capital Sports & Entertainment« einging - dem heutigen »C3 Presents« - , das Lollapalooza nach dem Muster von Coachella \:vieder aufleben lassen. Es wurde ein mehrtätiges Musilüestival an einem festen Ort: Chicago. Genauer betrachtet, \:var Gagas Auftritt im Sommer 2007 ein eher kleiner Gig - sie trat noch nicht einmal auf einer der Nebenbühnen auf. Sie war für eine der kleineren Bühnen verpflichtet worden, die nach dem Namen ihres Sponsors - »Broadcast Music, Inc.« - BMI hieß. »In erster Linie sind wir an Musikern interessiert, die am Beginn ihrer Laufbahn stehen«, sagt Huston Po·well, Promoter bei »C3 Productions«, der Gaga für das Lollapalooza verpflichtete. »Denn die sind nicht besonders kompliziert. «
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Als Headliner standen auf dem Programm jenen
Jahres Pearl Jam, Daft Punk und Muse. Obwohl es ihr bis dahin größter Gig war, ließ sich Gaga lediglich von wenigen Leuten begleiten: von Fusari, einem Schulfreund sowie von Lady Starlight, die beim Festival als Gagas DJ fungierte. Gaga war am zweiten Tag dran, dem 4. August 2007. Als sie die Bühne betrat, war die Sonne noch nicht untergegangen. Von Beginn an lief es für sie nicht gut. Mehrfach hielt man sie für Amy \Vinehouse, was allerdings einen Vorteil hatte - die Paparazzi schenkten ihr viel Aufmerksamkeit. Starland bleibt dabei: Hinter Gagas Ähnlichkeit mit \Vinehouse lag keine Absicht. vVinehouse war mit ihrem Album Back to Black zu einem der größten Stars des Jahres geworden. Diese Platte, die- ganz wie Gagas Debüt- beinahe Verkaufsrekorde brach, handelte von einer Trennung, von Drogen betäubt, mit zerrissenem Herzen und voll Trauer durchlebt. »Massen an Reportern liefen Gaga hinterher, nannten sie Amy und fragten sie, was sie denn hierzu meine und dazu «, erinnert sich Starland. Gaga sagte ihr gegenüber immer wieder nur: »Ü mein Gott, wie furchtbar.« Sie wusste genau, was ihre erfolgreicheren Kolleginnen taten, schätzte es, aber mit ihnen verwechselt ·werden, das wollte sie nicht. Sie wusste von Lily Allen, die wie \Vinehouse eine dunkelhaarige, trinkfeste britische Sängerirr mit vulgärem Mundwerk ·war. Allen landete mit ihrer Single »Smile«, einem mit Dub-Elemen139
ten versehenen Lied, einen riesigen Crossover-Erfolg. »Als Lily ganz oben bei Charts und Verkäufen angelangt war«, meint Starland, »sagte Gaga: >Ich muss sie im Auge behalten. Da oben gibt's nur Platz für mich. Künstler-Kumpel< zu sein«- die Sorte Produzent demnach, der Talenten Zeit für ihre Entwicklung lässt, sie bedingungslos fördert und unterstützt. »So ist es aber nicht«, fährt der Kenner fort. »Sein Ruf verleitet zu dem Gedanken, er würde jeden, von Grizzly Bear bis Beck, verstehen, doch es geht ihm dann 1LI2
doch nur um die nächste Erfolgssingle.« Angesprochen auf die Zusammenarbeit zwischen Iovine und Akon, gibt jener Kenner zu, dieser Idee skeptisch gegenüber gewesen zu sein, dennoch Akon dazu ermuntert zu haben. Die Zusammenarbeit wurde ein Erfolg. »vVir erkannten das Potenzial nicht«, gibt der Kenner zu. »\Vir erkannten Akons Stärke als Künstler nicht, Jimmy Iovine aber schon.« Iovine sei der Strippenzieher, der bei jedem Act der Universal, der Muttergesellschaft von Interscope, die Fäden in der Hand halte, sagt Starland. Zwar hoffe ein jeder Künstler bei einem abgeschlossenen Deal auf uneingeschränkte Förderung seitens der Plattenfirma, doch das Label selbst habe lediglich Geld, um eine geringe Anzahl von ihren Künstlern zu pushen. Eine Version der Ereignisse besagt, Iovine habe Akon in seinem Büro ein paar Musikstücke vorgespielt und ihn um seine Meinung gefragt. Als er »Boys, Boys, Boys« von Gaga auflegte, mochte Akon das Lied sofort. »Also rief Jimmy Iovine an einem Sonntagnachmittag Gaga an«, erzählt der Kenner, »sagte ihr: >Stefani, Gaga, wie auch immer du heißt: vVir mögen deinen Song und werden dich unterstützen. Just Dance< zu drehen. « Das Budget für den Clip war extrem gering. »vVir mieteten ein verwahrlostes Haus«, sagt Sullivan, der den Dreh als chaotisch und vollkommen unglamourös in Erinnerung hat. »\~ir schütteten Champagner auf den zotteligen Teppich, sprangen auf den Möbeln rum, tanzten auf dem Couchtisch«, sagt er. »Dann ertönte der Ruf >Cut!< und wir setzten uns hin, holten tief Luft, und schon kroch der Hausinhaber hervor und meinte: >Du da, setz dich nicht auf die Sofaarmlehne, das tut der gar nicht gut.«< Gaga aber, die in einem Interview über die Cliparbeiten berichtete, übertrieb mächtig, wenn sie von einem »Martin Scorsese-Dreh « sprach. Gaga wohnte jetzt in L. A. Dort versuchte sie, das Album fertigzustellen. In etwa zur gleichen Zeit als der Videoclip zu »Just Dance« entstand, traf sie auf \Var\Vick Saint, einen Fotografen aus New York, der sie für 157
das Album ablichten sollte - Troy Carter, Gagas neuer Manager, den sie bei der Vertragsunterzeichnung mit Interscope eingestellt hatte, stattete Saint mit dem Auftrag aus. ( Carter, ein afroamerikanisches Kraftpaket, mit knapp 1, 70 Meter allerdings recht klein, hielt sich eher im Hintergrund auf; zu Carters Kunden zählen unter anderem die Bands Freeway und Eve.) Gaga traf sich mit Saint auf ein Bier im »House of Blues«. »Sie wirkte ziemlich sexy«, sagt Saint, »was aber keineswegs an ihrer Kleidung lag.« Gaga hatte eine Jeans an, ein locker sitzendes T-Shirt und eine Lesebrille auf. Saint fand sie sehr reif für ihr Alter. »Sie zeigte sich sehr gescheit, sehr kreativ«, meint er, »Sprach viel von ihrer Familie, speziell von ihrem Vater.« Kurz darauf hatte das Label einen Dreh in einer L.-A.-Bar angesetzt, die Bordello hieß - und z·war von sechs Uhr morgens an bis nachmittags um sechzehn Uhr. Saint erinnert sich, dass er von Gagas Stylistin ·wenig begeistert war. Sie übertrieb. Er empfahl Gaga eine Freundin, Martina Nilsson. Gaga lobte Nilsson sofort, indem sie Saint gegenüber sagte: »Sie 'veiß auf Anhieb, was ich will.« Nilsson war engagiert. Der Dreh begann, Gagas Musik kam aus den Lautsprechern, und Gaga selbst übernahm sofort das Kommando. Laut Saint ist das ungewöhnlich. »Es gibt Künstler, die stellt man vor eine Kamera auf. vVas dann folgt, das wirkt, als versuche man aus einem Stein Blut zu saugen«, sagt er. »Doch Gaga schaltete sofort auf Performerin. Für einen Fotografen ist dies ein Traum. 158
Sie nahm lauter beeindruckende Körperhaltungen ein. Ganz offensichtlich liebte sie es, vor einer Kamera zu posieren. Sie mochte es, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. « Nach dem Dreh schaute sich Saint mit Gaga die Bilder an. Trotz ihrer draufgängerischen Art am Set, sagt Saint, hätte sie Komplexe gehabt. »Vor allem wegen ihrer Nase. Sie dachte darüber nach, sie korrigieren zu lassen. Ich riet ihr ab.« Lady Gaga sollte vor den Interscope-Bossen auftreten und Aliya Naumoff sollte diesen Auftritt filmen (dies diente dazu, alle im Konzern wissen zu lassen , wen man da auf den Markt brachte). Naumoff erinnert sich, bei Gaga keine Unsicherheit bemerkt zu haben. Gaga trat auf einem Dach in Manhattans Midtown auf, begleitet von zwei Backup-Tänzerinnen, die sie nicht besonders gut kannte. »Es haute mich um, wie zuversichtlich sie war«, sagt Naumoff. »Dabei war sie doch das Mädchen , das die nächste Madonna, die nächste Britney werden sollte. Beide vielleicht sogar in einer Person .« Ein paar Abende später sah Naumoff Gaga im Mansion, einem Downtown-Club. »Der Laden war zu einem Zehntel gefüllt«, meint Naumoff. »Keiner hörte ihr zu.« Nach dem Auftritt ging Naumoff, die ihre Arbeit mit Gaga bei Interscope als angenehm empfunden hatte, zu Gaga hin, um sie zu beglückwünschen. »Sie schickte mich weg. Wünsche waren ihr egal«, sagt Naumoff lachend. »Ich war nicht beleidigt. Ich wusste: Sie schafft es. Niemand ·wird sie aufhalten.« 159
»Just Dance« wurde veröffentlicht, die Single lief schleppend an. Erst im Januar 2009, fast fünf Monate nach der Veröffentlichung, erreichte das Lied schließlich Platz eins von Billboards Hot 100. Saint sandte Gaga ab und an eine S.MS, in denen er ihr gratulierte, sobald er ihren Videoclip im Fernsehen sah. Und Gaga ihrerseits schrieb Saint etwa hoch erfreut: »Der kanadische Rundfunk spielt meine Lieder.« \Venn Gaga mit ihren anderen Freunden oder Bekannten sprach oder Nachrichten austauschte, dann ging es meistens um sie und ihre Karriere. Saint: »Je berühmter sie wurde, umso seltener antwortete sie einem.« Im April erhielt Starland, die ebenfalls gerade nach L. A. umgezogen ·war, einen Anruf von Gaga, die sagte: »Ich bin mit jemanden zusammen. Mit meinem Stylisten. « Dabei handelte es sich um Matt \Villiams, der so alt wie Gaga war und vor kurzem aus New York an die \\Testküste zog. »Er ist Unternehmer. Die Leute sind neidisch auf ihn, weil er erfolgreich ist« - dies erzählte Gaga Starland ebenfalls. Ferner berichtete sie von einem Interview, das sie gerade dem Rolling Stone gegeben habe und wo sie ihre Entdeckung Starland zuschriebe. Also sprachen sie wiederholt darüber, ob Starland eine Entlohnung dafür verdiene, Gaga mit Fusari zusammengebracht zu haben. Gaga, so Starland, hielt es für zu übertrieben, Geld dafür verlangen, wenn man zwei Künstler miteinander bekanntmacht. Gaga sagte, so Straland: »Irgendjemand hat dich doch auch Moby vorgestellt«- und wies damit 160
auf die Zusammenarbeit zwischen Starland und Moby bei dem Album Last Night (2008) hin und auf Starland als Leadsängerin auf der Moby-Single »I'm in Love«. Starland aber erwiderte, Moby habe sie auf MySpace aufgetan, jedoch es Gaga ohne ihre Hilfe vielleicht nie geschafft hätte ... Seither sprachen die Frauen nie wieder miteinander. Die Auseinandersetzung mit Starland scheint für Gaga untypisch, denn an sich liegt es ihr nicht, Menschen aus ihrem Leben zu verbannen oder gar zu entlassen. \Veit lieber verschwindet sie allmählich aus dem Leben der anderen. Bei Entlassungen schickt sie jemanden aus ihrem Mitarbeiterstab vor, behauptet - wenn zur Rede gestellt - von einer Entlassung nichts zu wissen. David Ciemny, der eineinhalb Jahre lang als Gagas Tourmanager fungierte, ·weiß genau, wie sie vorgeht. Als er nämlich Gaga zu einer Tour zu animieren versuchte, sagte sie: »Du siehst anders aus. Für eine Tour scheinst du mir noch nicht bereit.« Er sei verwirrt gewesen, meinte: »Doch, das bin ich.« \Vorauf Gaga: »Nein, das glaube ich nicht.« Einige Monate vergingen, dann schrieb Ciemny Gaga eine E-Mail, in der es hieß: »Keine Ahnung, ob es an dir oder deinem Manager liegt, doch mein Gehaltsscheck ist ausgeblieben.« Er fragte sie, woran er denn dran sei. Ob er nun entlassen wäre oder ob es doch noch eine Chance für ihn gäbe. Sie antwortete ihmperE-Mail zurück, schrieb: »Du bist immer noch bei mir angestellt. Von einem fehlen161
den Gehalt weiß ich nichts. Ich kümmere mich darum. Umarmungen und Küsse, Gagaloo.« Das war es. Von Lady Gaga hörte Ciemny nie mehr. Starland war nicht das einzige Problem aus Gagas Vergangenheit. Fast achtzehn Monate waren vorbei, als Fusari am 17. März 2010 eine Klage in Höhe von dreißigeinhalb Millionen Dollar einreichte. Das Schriftstück, verletzend und sehr emotional verfasst, dokumentierte die Art ihrer Liebesbeziehung. Die erste Seite der Klage beinhaltete eine äußerst unübliche »Einführung«, die als solche auch gekennzeichnet ist. Sie beginnt mit einem Spruch von \Villiam Congreve.
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Der Himmel kennt keinen Zorn wie Liebe, die zu Hass wird, nach kennt die Hiille eine Wut wie die einer verachteten Frau.
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Hiernach folgt eine Erläuterung von Fusari. »Jedes Geschäft ist personengebunden«, schreibt er. »vVenn persönliche Beziehungen zu romantischen Verstrickungen führen und Geschäftliches damit einhergeht, steht alles in Flammen, sobald die Beziehung zusammenbricht. Das geschah hier.« Er hätte als Tantiemen lediglich zwei Schecks von Lady Gaga erhalten, schreibt Fusari wei162
ter, einen über 203 000 Dollar sowie einen weiteren über 394 965. Wobei auf ihnen »der Unterzeichnende begleicht damit alle geschuldeten Summen« stehe. \Vas ja bedeutete, dass - sollte Fusari die Schecks unterzeichnen - er jegliche Ansprüche auf zukünftige Zahlungen verliere. Am 19. März reichte Gaga eine Gegenklage ein. Gaga argumentierte, dass Fusari sowohl als ihr Agent als auch ihr Manager fungierte, was laut einer befragten profilierten Medienanwältin gegen die Beschäftigungsgesetze verstoße. Doch was jene Anwältin, die ungenannt bleiben möchte, weit interessanter findet: Fusari, ein Branchenkenner, behaupte im Grunde genommen, er sei von einem jungen, branchenfernen Mädchen ausgebeutet worden. »Normalenveise ist es doch der Künstler, der gegen seinen Manager vorgeht. vVeil dieser ihn ausgenutzt, ihm seltsame Verträge aufgezwungen hat«, meint die Anwältin. Fusari sage in etwa: »Ich hätte einen der üblichen Deals abgeschlossen, doch sie und ihr Vater schlugen einen anderen vVeg vor. Den bin ich mit ihnen gegangen. Jetzt aber sagen sie: >Du kannst uns mal. «< Die Absicht beider Parteien sei es gewesen, sagt jene Anwältin, so viel Medienaufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken: Fusari versuchte es mit seiner rührseligen Einleitung, in der er eine Liebesbeziehung offenbarte, und Gaga mit ihrer prompten Gegenklage. Der renommierte Medienanwalt Josh Grier glaubt, dass Fusaris Klage gerechtfertigt sei, jedoch Gaga, da 163
sie finanziell gut gestellt sei, die Klage aussitzen dürfte. Gagas Gegenklage hält Grier für außergewöhnlich dünn. »Alles nur abzustreiten, das reicht nicht«, meint er. Gaga kann aber Fusari auf lange Zeit in einen Rechtsstreit verwickeln, was von ihm mehr Geld abverlangen wird, als er sich leisten kann, so dass er schließlich gezwungen sein wird klein beizugeben. »Keiner zieht vors Gericht, so lauten die Spielregeln bei einem Rechtsstreit innerhalb der Musikbranche«, sagt Grier, und schätzt Fusaris Kosten für das Einreichen der Klage auf 25 000 Dollar. Ob Fusari über genug Geld verfügt, um die Klage durchzuziehen, stellt Grier infrage. »Die Prozessanwälte gelten als wahre Geldhaie. Vermutlich kommt es bald zu einem Vergleich. vVie die Details des Vergleichs aussehen, das werden wir aber nie erfahren.« Ganz so, als läse man ein Buch, dem das letzte Kapitel fehle.
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>>MEIN LEBEN DAS SEID IHR
Im Teenageralter stellten sich viele meiner Freunde als schwul heraus«, erzählte sie MTV. »Ich war auf etlichen Schwulenpartys zu Gast.« »Bei ihrem Image als eine Art schwuler Botschafterin, als Schwulenikone fast, da wird sie sich nicht auf ihre sexuellen Präferenzen festlegen wollen«, meint Ciemny. »Doch es steht fest, dass sie ein Mädchen ist, das Jungs mag. Punkt. Keine ihrer engen Schulfreundinnen ist lesbisch. Aber Künstler mit gewissen Geheimnissen sind nun mal interessanter. « Als Gaga in den USA ihren Durchbruch hatte und mit dem Popstar Katy Perry verglichen wurde, die ge167
rade mit »I Kissed a Girl« emen Hit gelandet hatte, stellte Gaga sich geschickt als authentisch dar, Perry aber als eine Angeberin. Gaga sagte: »Ich benutze meine schwulen Fans nicht, um mir eine Fangemeinde aufzubauen. Ich mag sie aufrichtig. Niemand soll sich von mir benutzt fühlen. « Einer der ersten Künstler, den Gaga für ihre Zwecke engagierte, war der Rapper und Songschreiber Cazwell. Sie ergänzten sich prächtig, denn Cazwell konnte sensibel sein und eine Nachtclub-Größe war er auch. Er hatte sich in der Szene mit Singles wie »All Over Your Face« und »I Seen Beyonce At Burger King« einen Namen gemacht. Schon sein aktuelles Pressefoto, auf dem Blut aus seiner Nase fließt, lässt Parallelen zu Gaga ziehen. Caz·well war erfahren, trat häufig mit Amanda Lepore auf, dem Superstar der Subkultur - dennoch wurde er von einem Mitarbeiter von »FlyLife« darauf hingewiesen, sein Engagement ja nicht zu vermasseln. Er berichtet, was man ihm von »FlyLife«-Seite aus antrug: »Lady Gaga arbeitet äußerst professionell, sei also pünktlich.« Seine Aufgabe bestand darin, bei einem Remix von »Just Dance« zu rappenund mit Gaga gemeinsam bei Gigs in New York aufzutreten. Cazwell berichte von einem Clubkonzert: »Überall im Club klebten Sticker, auf denen >Lady Gaga erobert die \Velt, eine Paillette nach der anderen< stand. « Gaga blieb in seinem Gedächtnis als ein nettes, höfliches, todernstes Mädchen hängen. »Unsere Bühne war in 168
etwa so groß Wie eme gewöhnliche vVohnungstür«, meint er. »\Vir führten trotzdem einen Soundcheck durch. In Sachen Choreografie ging Gaga sehr genau vor. Sie sagte: >Am Ende deines Raps möchte ich dich gerne in die Knie zwingen und dann auf dich steigen.< Und so kam es dann. Sie ritt auf mir. « Von Gagas Professionalität und Entschlossenheit blieb Cazwell tief beeindruckt. Das Publikum bestand laut Cazwell vorwiegend »aus Brooklyn-Hipstern und Downtown-Schwulen«, die von ihrem Auftritt gar nicht beeindruckt waren. Cazwell: »Sie standen allesamt mit verschränkten Armen da und schwiegen sich aus.« In der Musikszene konnte Gaga nicht richtig Fuß fassen, noch nicht einmal am Rande des Mainstream. Alternative Zeitschriften wie Nylon, Paper und V ·waren an ihrer Person überhaupt nicht interessiert. Interscope dachte daran, sie als Vorgruppe für die New Kids on the Block zu engagieren. vVährend viele der Musiker, die sich als »Künstler« bezeichnen, eine Zusammenarbeit mit einer Boygroup abgelehnt hätten, war Gaga bereit, jede sich bietende Möglichkeit zu ergreifen. Im Umgang mit dem vVeb agierte sie geradezu genial - ihr war bewusst, dass sie ihre Botschaften dort kontrollieren konnte. Sie twitterte ständig. Und suchte die Freundschaft des umstrittenen , bissigen Bloggers Perez Hilton, der inzwischen selbst eine Berühmtheit ist und für die Menschen, die er mag, unermüdlich 169
wirbt. Diejenigen, die er nicht mag, haut er hingegen skrupellos in die Pfanne. Gaga v,rar nicht nur immer wieder Thema in Hiltons Blog, sondern schaffte es sogar, dass Hilton sie sogar m ehrfach »meine Frau« nannte. »Sie sah in ihm nicht nur ein Sprachrohr der Schwulengemeinde, sondern auch einen Verbündeten, der ihre Karriere ankurbeln konnte«, sagt Ciemny. »Hinter dieser Freundschaft steckte vom ersten Tag an Berechnung. « Gaga lud Hilton zum Essen ein, telefonierte mit ihm oft. Als sie berühmter wurde, nahm sie ihn mit auf ihre Tour und zu ihren Maniküre- und Pediküreterminen, wo er sie fotografieren durfte. Die Bilder zeigte er dann auf seiner \Vebsite. Und an Halloween 2009 verkleidete sich Perez Hilton als Lady Gaga. »Sie schickte ihm Videoclips und Songs. Und z·war sofort, nachdem sie fertiggestellt waren. Sie sagte: >Die sind für Perez. Kein anderer soll sie kriegen«Just Dance< is t die Leadsingle von ihrem neuen Album, und sie hat das Zeug, unsere Sommerhymne zu werden!!! Klickt hier drauf, um euch den 170
Hammerclip dazu anzusehen. Man hat das Gefühl, als ·würden LastNightsParty und The Cobrasnake wieder zum Leben erweckt. Dieses Lied ist ein verdammter Ohrwurm!« »Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wie sie das Internet zur Vermarktung ihres Albums zu nutzen hatte, noch bevor dies im Radio lief, ins öffentliche Bewusstsein gelangte oder als Clip zu sehen war«, meint James Diener von A&M/ Octone Records. »Noch 2008 war man sich über sie nicht klar. Es umwehrte sie ein Hauch von Geheimnis. Man wusste nicht, wie sie genau aussieht, wohin sie will. Doch übers Internet hat sie eine Fangemeinde aufbauen können. Es gab viel Mundpropaganda in den Blogsphären. Die maßgeblichen Leute im vVeb sahen in ihr eine Popgröße heranwachsen. Als man ihre Singe dann im Radio aufzulegen begann, schlug sie wie eine Bombe ein.« Ende Juni drehte Gaga \Voche für Woche lauter Filme, die ihr Leben unterwegs dokumentierten. Sie nannte das Projekt Transmission Gagavision und stellte die Filme auf ihre vVebsite. Auf MySpace und Facebook war sie nach ·wie vor anwesend. Sie hatte eine Antwort auf die Fragen, die da lauteten: vVie schaffe ich es, das vVirrwarr des vVebs zu durchdringen und eine Präsenz im Internet aufzubauen, die nicht nur Aufsehen erregt, sondern auch noch länger währt? vVie schaffe ich es, eine Präsenz herzustellen, die beständig Leute in ihren Bann zieht, die sich von der 171
virtuellen auf die reale Welt überträgt und dort auch verbreitet? »Das Internet bietet jedem die Möglichkeit, sich nach Belieben weltweit darzustellen«, sagt DiSanto von MTV. »Doch ob man im Gedächtnis haften bleibt, berühmt wird, da kommt es letztlich doch auf den Inhalt an.« Hierbei verweist DiSanto auf den bisher außergewöhnlichsten Erfolg seines Senders, die TV-Realityshow Jersey Shore. »Es ist eine der Erfolgsgeschichten von MTV. vVir erzielen Wahnsinnsquoten«, sagt er. »V\Tenn die berühmte Comedysendung Saturday Night Life auf unsere Show verweist, dann ist das natürlich schön, denn auf diese \Veise werden Leute auf die Show aufmerksam. Aber letztendlich schalten sie nur wegen des Inhalts und der Machart ein. Just Dance\\Tas glaubt diese Frau, wer sie ist?< Es war aber kein Vorwurf. Solch einen Auftritt erwartete man nur nicht von 173
einem Mädchen in ihrem Alter. Sie erinnerte mich stark an Grace Jones. « Mace sagt: »Interscope hat ihr eindeutig mehr Geld zur Verfügung gestellt als den meisten anderen aufstrebenden Künstlern. Sie bezahlten ihr Tänzer, die sie haben wollte, damit sie den Raum bei ihrer Vorstellung füllten. « Der Auftritt fand in den Studios von MTV statt. Der Raum sollte wie ein Nachtclub aussehen, sah aber ganz und gar nicht danach aus. Für die Showproduktion war nicht viel Geld da, das Studio war klein - so klein, dass der größte Teil der Zuschauer nach Hause gehen musste, damit genügend Platz für Gaga übrig blieb. Letztendlich standen nur an die fünfzehn Leute um Gaga rum. Gegen Ende der Sendung kam Gaga zum Zug: Die Kamera blieb nahe an ihr dran, erfasste ihre geometrische Frisur, die mächtige Sonnenbrille, die schwarze Kapuze - sie verfolgte sie sogar auf ihrem \Veg zur Bühne, die sie zielstrebig enterte . Gaga folgten zwei unauffällige Backup-Tänzerinnen. In ihrer engen schwarzen Lederhose, mit dem Kettengürtel und den Schulterpolstern sah Gaga aus, als führte sie eine Miniarmee an, die Sagenhaftes durchzusetzen vorhatte. Christian Siriano, Modemacher und Teilnehmer einer Casting-Show für angehende Designer, traf Gaga bei der Aufzeichnung der Logo-Sendung. »Ich dachte, sie wäre eine weitere komische kleine Transe«, sagt er. Auch sonst 17LI
wenig schmeichelhafte Sätze seien ihm durch den Kopf gegangen, ·wie zum Beispiel: »\Ver ist das denn? Die ist doch ein Niemand. Sie sollte besser nicht so dick auftragen. « Siriano änderte seine Meinung, nachdem er Gagas Auftritt gesehen hatte. »Sie war besonders«, meint er. Als sich die beiden auf der After-Show-Party trafen, fanden sie sich auf Anhieb sympathisch. Gaga machte Siriano Komplimente, der kurz vor dem Finale der Designer-Casting-Show Project Runway stand. »Sie sagte, sie freue sich sehr, mich kennenzulernen. Und dass sie ein Fan von mir sei«, erinnert er sich. »Es war nett. « »Das Lied bei Logo klang großartig. Allerdings gelang die Probe noch besser als der eigentliche Auftritt. Gaga schien ein bisschen enttäuscht«, sagt Mace. Der leuchtende Stab, von ihr »Discostab« genannt, der zu einer ihrer Lieblingsrequisiten geworden war - die Bezeichnung stammt aus einem ihrer Liedtexte; »I wanna take a ride on your disco stick« heißt es dort - leuchtete nicht wie gewollt auf. Wenn man sich die LogoShow anschaut, merkt man unter Umständen, dass sie sich mit dem Stab ein wenig abmüht. >>Sie ist eine Perfektionistin«, sagt Mace. »Sie wollte ihren Auftritt wiederholen, aber das war leider aus Zeitgründen nicht mehr möglich. « Insgesamt war Mace von Gaga angetan. Als ihr Song endete, verharrte Gaga mit angewinkelten Ellenbogen die behandschuhten Hände mit gespreizten Fingern hoch, 175
rechts und links oberhalb ihres Kopfes, das Gesicht ausdruckslos. Sie verharrte in dieser Pose nicht nur ein paar Sekunden lang, sondern mindestens eine Minute, während sich die Moderatoren beim Publikum fürs Zuschauen bedankten und für einen ehemaligen Duettpartner von Gaga warben: »Unsere Show ist jetzt vorbei, aber der Spaß geht mit Cazwell im \Veb weiter. Dort stellt er seinen neuen Song »I Seen Beyonce At Burger King« vor.« Die blonde Comoderatorin streckte vor GagasNase einen Arm aus- Gaga aber stand da, zur Salzsäule erstarrt. Mace berichtet, wie er mit seinen Mitarbeitern fragende Blicke ausgetauscht habe, wie sich alle Anwesenden fragten: »vVas macht die denn da?« Ihnen war aber dann doch rasch klar, dass hier jemand, eine Künstlerin, in eine Rolle geschlüpft 'Nar und sie nicht so schnell verlassen konnte. Im September 2008 konnte Gaga einen kurzen Auftritt in einer Folge der MTV-Reality-Soap The Hills verbuchen, wo sie auf einer Feier sang. Kelly Cutrone, Modepublizistin sowie Reality-Star, erzählte den MTV News, wie es zu Gagas Gig kam: »\Vir waren in L. A. Es war heiß, um die vierzig Grad. Gaga erschien a la Alice Cooper. Ich sagte: >Das gefällt mir nicht, man muss da sofort an Marilyn Manson denken.«< Es ging hin und her, doch man überstimmte Cutrone schließlich. Penibel prüfte Gaga, wie oft ihre Lieder im Radio gespielt wurden. Da es nicht sehr häufig geschah, ging sie des Öfteren nachts in ein kleines Aufnahmestudio, um 176
stundenlang das Intro von »Just Dance« für die verschiedenen Radiosender aufzunehmen - dabei sang sie die Erkennungsbuchstaben des jeweiligen Senders vorweg. So dass zuletzt jede einzeh1e Radiostation in den Vereinigten Staaten über ihre eigene, auf sich zugeschnittene Single verfügte. »Sie kennt einige der Programmdirektoren beim Radio sehr gut«, sagt ihr Ex-Tourmanager David Ciemny, »und ·wenn sie ihr Lied nicht ins Repertoire aufnahmen, fragte sie sofort nach. Sie kannte auch buchstäblich alle Menschen bei ihrem Label. vVenn irgendwo etwas nicht voranging, intervenierte sie sofort: >Lass mich mal dort anrufen. Oder soll ich etwas anderes tun? Ich kann beim Sender vorbeigehen. Ich singe ein Geburtstagslied oder was auch immer. Ich tu alles, was von mir verlangt wird.«< Tatsache war nämlich: In den USA lief es für Gaga anfänglich nicht besonders gut. In et\:va den gleichen Elan zeigte sie auch in anderen Ländern. Ciemny: »\t\Tenn ihr einer sagte : >Wahnsinn, deine Single ist in zehn Ländern die Nummer einsSchön. Aber nicht in Japan. Dort kennt mich niemand. Auf nach Japan also. Sie haben dich aufs Cover des Rolling Stone gehievt, du bist jetzt berühmtStimmt. Aber auf dem Cover der Cosmopolitan ·war ich noch nicht. «< (Dieses Ziel erreichte sie im April 2010. Und am Ende desselben Monats zierte sie, gemeinsam mit Bill Clinton, das Titelblatt des Magazins 177
Time , das sie in jener Ausgabe zur einflussreichsten Künstlerin kürte.) Im Juli 2008 bemühte sich »FlyLife« darum, Gaga einen Gig auf einem für Schwule bestimmten Event namens Underwear Party zu verschaffen, das im August auf Fire Island angesetzt war. Es handelt sich dabei um eine Party, auf der Schwule lediglich in ihrer Unterwäsche erscheinen. Daniel Nardicio, der die Veranstaltung 2003 ins Leben gerufen hatte, erinnert sich: »Gagas Management kam auf mich zu und preiste sie als einen Knaller an, als richtig heiß und in jeder Hinsicht großartig. Ich aber fragte, ob sie nicht Stefani Germanotta sei, denn die kannte ich von früher. Die war echt klasse, doch eher der Typ Natalie Merchant.« Nardicio kannte Gaga von Michael1'.s »Motherfucker«Partys so-wie »aus der Szene«, hatte sie aber damals nicht weiter beachtet. Sie sei zwar niedlich gewesen, doch nicht weiter auffällig. »Sie hatte diese ·weinerliche Long-Island-mäßige Oberschichtattitüde«, sagt er. »So gar nichts an ihr war spektakulär.« Und dennoch: Nardicio ahnte, dass irgendwas Großes mit Gaga im Gange war. »FlyLife« hatte ihm eine Kopie von Gagas Single geschickt, und er hatte sie in seiner Sendung im East Viilage Radio aufgelegt. >»Just Dance< war eine tolle Platte«, meint Nardicio. »Dieses Lied ging richtiggehend ab. Ständig fragten Hörer danach. « Nardicio rief »FlyLife« an und sagte: »Sie soll auf Fire Island auftreten. Ich werde ihr ein riesiges Publikum verschaffen, sie promoten.« 178
Von »FlyLife« erhielt Nardicio nachfolgend eintausend Kopien der Single, die er in ziemlich allen I-laushalten auf Fire Island unterbrachte. Eine Wöche vor der Underwear Party trat Gaga bei So You Think you can Dance auf (in Deutschland: Let's dance). »Just Dance« war endlich im Radio unter den Top 40 gelandet, auch bei ZlOO, dem großen New Yorker Mainstream-Sender. Gaga war inzwischen auch kreuz und quer durch Europa gereist, hatte dort kleine Clubs bespielt. Sie erschien auch auf Perez Hiltons \Vebseite, mit durchschnittlich einem Beitrag täglich. Plötzlich schien sie mit einer irren Geschwindigkeit durch die äußere Schicht des Mainstream-Bewusstseins zu dringen. Und Nardicio geriet in Panik. Er rief bei Gagas Management an und sagte: »Sie ·wird sicher Fire Island absagen. Sie kommt ja gerade ganz groß raus. Und ich kann ihr nur fünfhundert Dollar zahlen. vVenn Sie also absagen wollen, dann bitte sofort, damit ich am Tag ihres Auftritts nicht wie ein Depp dastehe .« Von Gagas Seite aus hieß es aber: »Sie wird kommen. « Gaga stand nicht nur zu ihrem \Vort, sondern nahm ihren Trip nach Fire Island auch noch mit Humor. Dass sie am Tag ihrer Rückkehr aus Europa auf einer Unter\väsche-Party auftrat, bev.reist aber ebenfalls ihre professionelle Einstellung zur Arbeit sowie ihren unbändigen Ehrgeiz. Es erschienen genauso viele Zuschauer, wie Nardicio Platten verteilt hatte - nämlich eintausend. Nardicio: 179
»Ein Meer aus schwulen Kerlen in Unterwäsche brandete vor ihr auf. Sie rief den Kerlen zu: >\Visst ihr was? Mein Leben, verfluchte Scheiße, das seid ihr gerade.< Für mich war das ganz schön aufregend. Man erlebt selten Momente, wo man mit der richtigen Person am richtigen Ort einen Riesentreffer landet. Mir als PartyOrganisator gelang das mit den Scissor Sisters, mit Gaga und mit Levi Johnston.« Gaga sang auf Fire Island ganze drei Lieder: »Just Dance«, »LoveGame« und »Poker Face«. Im Hintergrund verrenkten sich zwei Tänzerinnen, aber zwischen den einzelnen Stücken sagte Gaga kaum en:vas. »Ihre Performance erinnerte mich an die frühen Bühnenauftritte von Madonna«, meint Nardicio, »als diese im TV bei American Bandstand auftrat. Aber bei Gaga lief es hochprofessionelL Da sie schon seit einer \Veile bei Interscope unter Vertrag stand, gab es um sie auf der Bühne Logos mit ihrem Konterfei.« Nardicio schätzte es sehr, dass Gaga tatsächlich live sang. Nach dem Gig aß Nardicio mit Gaga sowie deren Entourage in einem Fischrestaurant, das Jumping Jack's hieß. Sie trug eine Perücke, eine Sonnenbrille, Strumpfhosen und Schulterpolster. vVeder er noch sie ließen durchblicken, den anderen aus den Stefani Germanotta-Zeiten zu kennen. Nardicio fiel auf, dass Gaga beim Essen nichts trank. Er überlegte auch, sie zu fragen, ob nicht ein Platz in ihrem Mitarbeiterstab frei wäre, ob er nicht bei ihr anheuern 180
solle, verwarf aber die Idee gleich wieder. Er mochte Gaga zwar, spürte aber, dass irgendwas mit ihr nicht stimmte. »Erst dachte ich, sie wäre ein bisschen anspruchsvoll, täte auf privilegiertes reiches Mädchen«, sagt er. »Doch dann bemerkte ich, dass sie jene Sorte Mädchen wirklich war. Oder zumindest ein bisschen. Sie, mit ihrem Andy-vVarhol-Gehabe. Da ·wurde ich ein bisseben skeptisch. Ich fand, dass sie übertrieb, zu hoch griff. Ihre Single war schließlich lediglich ein Popsong, der darüber handelte, sich in einem Club zu betrinken und kräftig zu tanzen.« \Vas Nardicio nicht mitbekam - vielleicht war es damals auch noch nicht so offensichtlich -, war Gagas Sinn für Humor. Ihr Selbstbewusstsein schien riesig. Sie war Z\veiundzwanzig und clever genug, nur über Themen zu schreiben, bei denen sie sich auskannte: über nette Jungs und Partys. Und das gab sie 2008 auch zu: »Meine Texte mögen sich vielleicht dumm anhören, wenn man sie mit jenen von Bono vergleicht, der über den I-Iunger in der vVelt schreibt. Aber ich weiß von diesen Dingen noch nichts. Also schreibe ich über das, wovon ich etwas weiß.« »Mittlerweile hat sie Geld, kann ihre Show richtig groß aufziehen. Damals aber sah es noch ganz anders aus«, sagt Nardicio. »Ihre Perücke saß ganz und gar nicht perfekt. Sie musste mit einem bestimmten Budget auskommen und dementsprechend schäbiger als heute sah sie auch aus. « 181
Ihrer Makel war sich Gaga durchaus bewusst. Und überredete deshalb - noch bevor das Abendessen vorüber war - Nardicio, ihre Feier anlässlich der CD-Veröffentlichung zu organisieren , die für Oktober vorgesehen war. Nardicio reagierte begeistert. Er sagte zu und versicherte: »Ich nehme kein Geld dafür. Ich will nur dabei sein. Es ist der helle \Vahnsinn.«
Im Juli trat Lady Gaga bei der San-Franciscc-Gay-
Parade auf ( ein enges Ganzkörperkostüm in Schwarz\Veiß, schwarzer Smoking im New-\Vave-Stil, Sonnenbrille) . Im Laufe der Veranstaltung griff eine der Backup-Tänzerinnen in Gagas Schritt, \ :VO der Discostab herausragte. Sie begann mit »LoveGame«, sang dann »Beautiful, Dirty, Rich« und anschließend »Just Dance«. Die Bühne war schmucklos, lauter Kabel, ein paar Gaga-Poster. Gaga tat, als sänge sie vor einem ausverkauften Haus. Sie rief der Menge zu: »Hier zu sein, macht mich stolz!« Und die Menge jubelte dermaßen euphorisch, wie sie es noch nie erlebt hatte. Für den Rest ihres Konzerts nahm sie die Sonnenbrille ab. Wenn sie Intimität herstellen wollte, tat sie es ab da Immer. Genauso gut konnte aber das passieren, was bei einem Auftritt für MTV auf Malta geschah. Dort wurde Gaga von den Organisatoren gebeten , zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Song zu beenden. Sie flippte aus. Verlangte von ihrem Tom·manager, von Ciemny, 182
dagegenzuhalten; sie sagte: »Frag nicht weiter, tu 's einfach.« Ciemny war überrascht - obwohl Gagas kategorisches Benehmen jener Haltung entsprach, die sie ein paar Monate zuvor bei seinem Vorstellungsgespräch gezeigt hatte. Er wurde empfohlen, saß ihr gegenüber. »Sie war ganz in Schwarz geldeidet. Sie trug ein eng anliegendes Catwoman-Kostüm, ganz wie Halle Berry in dem Kinofilm, eine Ray-Ban-Sonnenbrille, Stiefel mit wahnsinnig hohen Pfennigabsätzen«, sagt Ciemny. »Und natürlich eine Kapuzenjacke. Ihr Haar verlängert hatte sie auch. Sofort stellte sie klar: >Ich nehme meine Arbeit sehr ernst. Erldär mir, warum das passiert ist. Versprich mir, dass es nie ·w ieder passiert.Und er stellte mich ihr vor. \Vährend ich rede, zieht sie ihr Kostüm aus, deshalb frage ich: >\Varum ziehst du nicht 190
etwas an, in dem es nicht so heiß ist?< Wöraufhin sie antwortet: >Das ist nun mal mein Look. «< Im Oktober 2008 trat Gaga als Vorgruppe bei der Tour der New Kids on the Block auf. »Mit Gagas Erfolg habe ich nichts zu tun«, sagt Jared Paul, Manager der New Kids. Zwar habe er sie zu der Tour eingeladen, doch hätte mit seiner Einladung gezögert, wäre es trotzdem zu dieser Tour gekommen - die Interscope-Manager hätten ihm sicher klargemacht, dass Gaga so oder so mit touren würde, egal was er davon hielte. Paul erinnert sich, wie er bei einem Meeting sagte: »Uns interessiert dieses Mädchen zwar überhaupt nicht, doch wird sie mal ein großer Star werden.« Paul: »Das Label baute sie ganz offensichtlich massiv auf.« vVie so viele andere erinnert sich Paul noch genau, was Gaga bei ihrer ersten Begegnung trug: »Es war mitten im August, immens heiß, und sie hatte Kopfschmuck aufgesetzt. Ihre Handschuhe reichten bis zu den Ellenbogen.« Mit der Tour schien Gaga glücklich. Eine ganz genaue Vorstellung davon, wie ihre Show aussehen sollte, hatte sie auch schon. Jene Show sollte LED-Bildschirme enthalten, auf denen jedoch keine konventionellen Filme, sondern, wie sie sie nannte, »The Crevette Films« beziehungsweise »The Candy Vvarhol Films« liefen. Es handelte sich dabei um unbearbeitete, etwas unheimlich wirkende Kurzfilme, in denen Productplacement betrieben wurde - etwas, was sie in ihrem Videoclip zu »Telephone« zu einer Kunstform zu erheben versuchte. 191
Sie waren ungewöhnlich für eine Künstlerin, die kaum jemand kannte, die aber vor einem Mainstream-Publikum auftrat. Doch genau die merkwürdige Machart der Filme - ein sich kämmendes Mädchen wurde da etwa gezeigt, das unverständliches Zeug von sich gibt - weckte die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Diese spontanen Filmehen drehte Gaga an ihren freien Tagen in einem Lagerhaus in L. A. Die Idee für die Kurzfilme stammte von Ray Woodbury, den Gaga mit kreativen Aufgaben während der Tour mit den New Kids ausgestattet hatte. \V'oodbury traf Gaga das erste Mal in einem Tanzstudio in North Hollywood. »Sie hatte weder ein Kostüm an noch war sie sonst irgendwie gestylt«, sagt er. »Für den Dreh brauchten wir lediglich wenige Minuten. Ich hatte mir ein Konzept ausgedacht, bei dem während des Konzerts Bilder auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden, ein Prozess, der im Bühnenhintergrund abläuft. Für eine Vorgruppe war das eine völlig neue Idee. vVir stellten sie Gaga vor, die sie sofort verstand, die sie mochte. Gaga ·war oft verfügbar, nahm sich Auszeiten, um Dinge in dem Lagerhaus zu filmen, die dann auf die Leinwand projiziert wurden.« Bei Gagas New-Kids-Show kam auch ihr Discostab vor. Und eine besondere Sonnenbrille - riesig und schwarz. Auf ihrer Oberfläche wurden Videoclips ausgestrahlt. (Sonnenbrillen wurden zu Gagas Fetisch. Ein Koffer mit hundertfünfzig Brillen war auf allen Reisen dabei.) Diese Sonnenbrillen hatte sich das »Haus of Gaga« aus192
gedacht, das Gaga mit Andy \Varhols Factory vergleicht und über das sie nicht viel verrät. Man weiß nur so viel: Alle Mitarbeiter von Gaga sind auch Mitglieder des Hauses. Seine Aufgabe besteht darin, Gagas künstlerische Visionen zu verwirklichen. Ihren ganzen Vorschuss steckte Gaga in die Vorgruppen-Show. Zudem sang sie nach den Gigs in Clubs um zusätzlich Geld einzunehmen, das sie wiederum für ·weitere technische Spielereien ausgab. Und das, obwohl Interscope ihr schon einen weit größeren finanziellen Spielraum als den meisten anderen aufstrebenden Künstlern ihres Labels eingeräumt hatte. »Ihr Etat«, so \Voodbury, »ging über das einer Vorgruppe weit hinaus.« Doch bei Interscope schien man sich zu sagen: »Mit ihre landen wir todsicher einen Hit, also sollten ·wir nicht kleinlich sein.« Gaga unterzeichnete einen sogenannten »360 Deal«. Aufgrund der Krise, die die Plattenbranche durch die Verfügbarkeit der Musik im Internet erlitten hatte, waren die Labels dazu übergegangen, diese Art Verträge abzuschließen. Man investiert mehr in einen Künstler als bei einem herkömmlichen Plattenvertrag üblich - und meint damit seine Durchbruchchance zu steigern. Im Gegenzug hat das Label aber Anspruch auf einen Teil sämtlicher Gewinne, die der Künstler zum Beispiel mit Lizenzen, Downloads, bei Übertragung der Rechte oder bei T-Shirt-Verkäufen erzielt. So erhält das Label seinen Anteil auch bei den Deals, die Gaga mit Polaroid, M·A·C oder einer anderen Firma abgeschlossen hat. 193
»Als sich lnterscope entschied, auf Gaga zu setzen, ·waren sie bereit, sehr viel Geld auszugeben«, sagt jemand aus dem Plattenlabel-Umfeld, der nicht genannt werden möchte. Er sei dabei gewesen, als man von lnterscopes Seite bei Universal, der Muttergesellschaft, anfragte: »vVie habt ihr Gaga rumbekommen?« Der Universal-Mensch antwortete: »\Vir haben sie vollgestopft.« Mit Geld natürlich. »Sie haben unendlich viel für ihre Publicity getan«, erzählt derjenige weiter. »Sie hängten ihren Clip an andere Videoclips auf YouTube, so dass er dann auf dem Bildschirm erschien, wenn er nicht direkt aufgerufen wurde. Die Öffentlichkeit meint, Gaga sei über Nacht berühmt geworden. Doch so ist es ganz und gar nicht. Hinter ihrem Erfolg steckt viel Arbeit.« »Gaga hat Summen ausgegeben ·wie eine MehrfachPlatingewinnerin«, sagt jemand aus der Musikbranche. »Frauen wie Gwen Stefani oder Fergie, das sind Superstars. Dieses Mädchen kommt aus dem Nichts, ihre Kostüme sind teuer. \Vir reden hier über hunderttausend Dollar pro Auftritt. Und da ist die Band noch nicht mit eingerechnet.« Jener Musikbranchen-Kenner schätzt, dass sich die Kosten von Gagas weltweiter Konzerttour 2010 auf ungefähr 800 000 Dollar wöchentlich beliefen. >>All ihre Einnahmequellen müssen dafür herhalten«, sagt derjenige. »Und ihr Label schlägt die Kosten auf die Gesamtverkäufe von Gagaprodukten um, seien es \Verbeartikel oder irgendwelche Veröffentlichungen. Garantiert.« 194
Doch man sagt voraus, dass es Gaga eines Tages gelingen dürfte, genügend Druck auszuüben, um für sich einen vorteilhafteren Vertrag auszuhandeln. So erstaunte es niemanden, als Gaga gemeinsam mit ihrem Manager Troy Carter verkündete, noch vor der Veröffentlichung ihres Z\veiten Albums mit Interscope zu verhandeln. »Unterwegs gibt sie viel Geld aus«, sagt ein weiterer Kenner der Branche. »Sie hat den Designer Roy Bennett engagiert. Der hat schon für Madonna und Nine Inch Nails gearbeitet. Sie will ihre Konzerte zu atemberaubenden Erlebnissen machen. Sie will, dass die Leute aus der Halle gehen und ausrufen: >Gaga ist unvergleichlich.< Dafür hat sie unseren Beifall verdient, obwohl dies aus finanzieller Sicht kaum verantwortlich ist.« Gaga hingegen meinte von Anfang an, es sei riskanter, das Geld nicht auszugeben. 2008 sagte sie: »Das System der Major Labels ruft bei vielen Stirnrunzeln hervor. Ich aber nutze es zu meinem Vorteil. Ich möchte Außergewöhnliches schaffen. Ich möchte die Musikbranche wiederbeleben, ihr den wahren Superstar, den wahren Künstler wieder anbieten. Auch möchte ich den Superfan wieder erschaffen. Ich möchte so eine vVebseite betreiben, wie Perez Hilton es tut. Ich möchte den Menschen das Gefühl vermitteln, Teil meines Lebensstils zu sein.« Ihre Bereitschaft, viel Geld für Bühnendesign, Kurzfilme, Kostüme, Stylisten, Visagisten, Tänzer sowie First195
Class-Tickets auszugeben, soll zu Auseinandersetzungen mit ihrem Vater geführt haben - der ja bei Mermaid Music ihr Geschäftspartner ist. Ohnehin scheint die Geschäftsbeziehung der beiden für viele äußerst ungewöhnlich zu sein. »Mir ist eine solche Konstellation noch nie begegnet«, sagt Adam Ritholz, der als Medienanwalt 'N Sync beim Rechtsstreit mit deren früheren Manager vertrat. »Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Elternteil fünfzig Prozent der Einnal1men seines Kindes für sich einbehält.« Ritholz sagt, dass es für ein managendes Elternteil in der Unterhaltungsbranche üblich sei, lediglich fünfzehn bis zwanzig Prozent von den durch sein Kind erwirtschafteten Einnahmen zu kassieren. Reitholz: »Einmal habe ich bereits erlebt, wie ein Vater den Karriereaufbau seines Kindes finanzierte. Er investierte beträchtliche Geldsummen, stellte Profis ein, beauftragte ein Marketing- und Promotionteam. Doch gleich die Hälfte der Einnahmen zu verlangen, das ist nicht gerechtfertigt. Da muss zwischen Gaga und ihrem Vater etwas vorgehen, was der Öffentlichkeit verborgen bleibt. «
Für ihr Label hatte [jaga inzwischen oberste Priorität - und das nicht zuletzt wegen ihrer überzeugenden Arbeitseinstellung. »Das Engagement, das sie bei ihren Auftritten demonstrierte, war für unsere Kampagnen ausschlaggebend«, sagt Woodburg. »\Vir alle brach196
ten uns finanziell dermaßen ein, weil \Vir in Gaga eine Künstlerin erkannten, die zu allem bereit war. Die nie davor zurückschreckte, sich ihre Hände schmutzig zu machen. \Venn jemand sein Ziel mit einer solchen Zuversicht wie sie verfolgt, unter dem klaren Motto >Ich will die Nummer eins seinIhr seid nur die Vorgruppe. Dafür tragt ihr ein bisschen dick aufTut uns leid, aber dies ist nicht eure, sondern unsere Show.«< 197
Solcherlei Kritik mochte Gaga nicht. Sie sagte, laut David Ciemny, zu ihm, er solle es wieder einrenken. »Ich versuchte es, doch aus dem New Kids-Lager hieß es nur: >Ihr habt zweieinhalb Meter Bühne zur Verfügung.< Oder: >Ihr könnt eure Bildschirme heute nicht aufbauen. < Oder etwas anderes in der Art. Und damit konnte Gaga nun wirklich nicht umgehen. « »Sie ·war um eine größere Bühnenpräsenz bemüht, als es die Produktion hergab«, sagt \Voodbury. »Sie übertrieb es zuweilen ein wenig. Konnte es nicht ausstehen, wenn man Nein sagte, zeigte keine Einsicht. Außer \Vahlberg freundete sich keiner der New Kids mit Gaga an. Abend für Abend fragte sie an, ob sie gemeinsam mit der Band einen Song singen könne, den sie für sie geschrieben habe. Jedes Mallautete die Antwort: »Klar. vVarte dort, am Bühnenrand, man ruft dich. « Nur ein einziges Mal sang man gemeinsam den Song. Es passierten noch andere unangenehme Dinge. Ciemny: »Gaga war bereits an alle Monitore und Mikrofone angeschlossen, stand bereit, wollte raus auf die Bühne. Auf einmal sagte man uns: >Heute gibt es keinen Auftritt.< Darauf sagte ich dem New Kids-Manager: >vVas soll das? \Vir könnten schon im Bett sein, anstatt hier vergeblich zwei Stunden zu warten. Ich habe da keinen Einfluss. Die Band entscheidet. «< Heute reiht sich Jared Paul, der Manager der New Kids, in die Schlange jener ein, denen von Anfang an 198
klar war, dass Gaga ein Star werden würde. Er hätte gespürt, sagt Paul heute, dass Gaga »viel eigenes Geld, viel Zeit, überhaupt etliche Ressourcen in ihre Karriere gesteckt hatte . Dieses Mädchen wollte es schaffen. Sie hatte alles im Griff. Und Troy, ihr Manager, stand ihr zur Seite, glaubte an ihre Vision.« The Fame brauchte Monate, um in die amerikanischen Charts zu gelangen. Die Platte landete am 15. November 2008 auf Platz siebzehn der Billboard Charts. Bis Januar des folgenden Jahres war Gaga auf Tour mit den New Kids. Der enge Zeitplan begann sie physisch \Vie psychisch auszulaugen. »Es war schon hart für sie«, sagt Ciemny. »Alle paar Monate war sie so fertig, dass wir unseren Aufwand auf null runterfahren mussten.« Manchmal blieb Gaga nichts anderes übrig, als eine Show abzusagen, was ihr ganz und gar nicht gefiel.
»Poker Face«, die zweite Single-Auskopplung des
Albums kam am 23. September 2008 heraus. Gaga fasste immer mehr Fuß in Europa und Australien, doch in den USA lief ihre Karriere zäh. Sie drehte einen Videoclip zu »Poker Face«, wofür mehr Geld bereitlag als für »Just Dance«. Im Clip trug sie eine goldfarbene Gesichtsmaske, auf ihrer rechten \Vange war ein metallfarbener Schmiss aufgemalt, auf ihren Fingernägeln waren Spielkarten abgebildet, und ihr Haar war zu einer Schleife gebunden. (Die Schleife aus Haaren war ursprünglich von der New-\Vave-Band The B-52's einge199
führt worden. Karl Lagerfeld klaute die Idee für seine Chanel-Show aus dem Jahr 2010.) Gaga trug erneut keine Hose, dafür ein neonblaues, enges Kostüm und aufgeklebte falsche vVimpern. In dem Clip steigt sie, flankiert von zwei hochgewachsenen Herren, aus einem Schwimmbecken, spielt mit ihnen Strip-Poker, dessen Partie in einer Orgie endet. Die Single wurde im April 2009 Nummer eins der Billboard-Hot-100-Singlecharts, in Großbritannien war Gaga da schon ein Riesenstar. Sie fühlte sich einsam. Den größten Teil des Jahres war sie unterwegs, hatte so gut wie nie frei. Die wenige Zeit, die ihr übrig blieb, verbrachte sie im Sonnenstudio, schaute sich Monsterfilme an oder ihre TV-Lieblingsserie Family Guy. Sie wollte keine Minute alleine sein, noch nicht einmal, wenn sie sich duschte oder ein Nickerchen machte. Ihre Abneigung gegen Einsamkeit, die Wendy Starland bereits achtzehn Monate zuvor aufgefallen war, verstärkte sich noch. Gaga hatte Angela, Ciemnys Frau, als persönliche Assistentin eingestellt und ihr versichert, für sie zu arbeiten, wäre »echt nett«. Als Angela bei dem Einstellungsgespräch zögerte, weil sie an sich schwanger \>verden wollte, überzeugte sie Gaga, indem sie sagte: »vVenn du mit mir auf Tour gehst, kannst du bei David schlafen. « Doch ihr Versprechen hielt Gaga nicht ein; Angela Ciemny: »An ziemlich jedem Abend hieß es: >Ange, von zehn bis Mitternacht kannst du es dir mit Dave hinten im Bus gemütlich machen.Um fünf Uhr werde ich dich nicht anrufen können, weil ich mich da gerade übergebe. Also sehen wir uns stattdessen um acht Uhr. Aber deine Taschen habe ich dir dann schon gepackt.«< Das war zunächst kein Problem -bis Gaga anfing, sich für ihre Show deutlich später vorzubereiten. Angela Ciemny: »Sie kam am Konzertort an, begann, sich eilig fertig zu machen, und meinte nur: >Ange hat gepackt, doch ich kann nichts finden. Wo sind meine vVimpern? In fünfzehn Minuten muss ich auf die Bühne! «< Kurz danach vergaß Angela Ciemny, ihr eine Strumpfhose einzupacken -wobei ihr sofort ldar war, dass ihr damit ein zu gravierender Fehler unterlief. So traf sie dann auch auf Troy, der sagte: »Soll das ein Scherz sein? Sie braucht Strümpfe ohne Löcher.« Angela Ciemny versicherte zwar, ein Fehler wie dieser werde nie wieder vorkommen, aber nach einer Zeit verließen sie ohnehin die Kräfte, so dass sie ihren Job bei Gaga niederlegte.
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Kaum hatte [jaga die Tour mit den News Kids be-
endet, da wurde sie wieder als Vorgruppe, diesmal für die Europatournee der Pussycat Dolls verpflichtet. Die Reaktion der Dolls und deren Leute ähnelte der Haltung der New Kids sowie deren Manager: Man war verwirrt, zeigte an ihr kein sonderliches Interesse. »Es war wohl Jimmy Iovines Idee«, sagt Nicole Scherzinger, Leadsängerin der Dolls. Es ist noch früh am Morgen und Nicole will zur Probe bei Dancing with the Stars, wo sie gegen Kate Gosselin, den TV-Reality-Star, sowie den Astronauten Buzz Aldrin antreten wird. »Gaga hatte vielleicht eine Single draußen«, sagt Scherzinger. »\Vir hatten nicht viel von ihr gehört. Man teilte uns mit, dass sie mit uns touren soll, und wir fragten uns, \Ver sie denn eigentlich sei.« Doch immerhin hatte Scherzinger Gaga ein Mal vorher getroffen Mitte 2008, auf einer Party von Interscope im Foxtail Club. »Es war schon ein Ereignis«, sagt sie und meint damit Gagas Auftritt, nicht die Party. »Alleine ihre Erscheinung. Ihr Haar muss an die vierzig Pfund gewogen haben. Ihre Wimpern wogen auch schwer, denn sie hingen herunter. Doch ihre Tanznummer riss Gaga ab, als veranstalte sie Jazzgymnastik. Sie ist ein Energiebündel ohnegleichen. Sie denkt schnell und spricht schnell. Sie ist pures Dynamit.« Im März begann Lady Gagas eigene Tour durch die Staaten, wo sie in kleineren Lokalen wie dem House of Blues in Chicago und dem 9:30 Club in \Vashington auftrat. Sie nannte die Tour »I'he Fame Ball«. vVährend 204
sie mit den Pussycat Dolls unterwegs war, hatte das »Haus of Gaga« drei unterschiedliche, auf die jeweilige Größe des Veranstaltungsorts zugeschnittene Showversionen ausgearbeitet. Jedes der Tourmitglieder nahm Gaga persönlich in Augenschein. Sie lobte, laut David Ciemny, ein spezielles Rockkonzert, das ihr als Maßstab ihrer eigenen Show diente - an den Namen der Band kann sich David Ciemny leider nicht mehr erinnern, er weiß nur: »Es war eine von diesen typischen englischen Bands, bei denen alle gleich aussehen und Gitarre spielen.« Vor allem die Beleuchtung bei dem besagten Konzert konnte Gaga nicht vergessen, so dass sie David Ciemny befahl: »Finde den Beleuchter von damals.« Ciemny fand den Beleuchter tatsächlich- er hieß Martin Philipps und war eine erfahrene Fachkraft. Er hatte schon für Nine Inch Nails und Daft Punkt gearbeitet. David Ciemny flog nach London und stellte Philipps für die Gaga-Tour ein. Als die Tour im Gange war, liefen »Just Dance« und »Poker Face« rund um die Uhr im Radio. vVenn Gaga zwei Tage hintereinander frei hatte, drehte sie im Lagerhaus neue Kurzfilme, gab Interviews oder setzte sich mit Matt \Villiams zusammen, um Ideen für Kostüme, fürs Make-up und Bühnendesign zu sammeln. Ihr Look ·wurde raffinierter. Ihr Budget schränkte sie ein. Als ein ewiges Problem erwies sich die Verlängerung ihres Haares. Die Leute um Gaga waren ständig darum bemüht, Haare mit dem richtigen Blondton - meistens aus Indien - aufzutreiben und ihr Termine bei den \Ve205
nigen Friseuren zu verschaffen, die Haare gekonnt zu verlängern vermochten. Da man das verlängerte Haar nicht waschen kann, juckte Gagas Kopfhaut oft. Die Haarverlängerungen mussten alle drei \Vochen ersetzt werden, was jeweils vierhundert bis siebenhundert Dollar kostete. Die Prozedur dauerte ungefähr sechs Stunden. Manchmal ging es erst um zwei Uhr nachts los. »Es war dermaßen schmerzhaft, dass sie weinte«, sagt jemand, der die Prozedur miterlebte. »\Vas seltsam klingen mag, weil sie doch so hart im Nehmen scheint. Doch sie ist nun mal eine Sklavin ihres Images. Für dieses Image lebt sie. Deshalb ertrug sie die Prozedur nur. « Erst im Dezember 2008 befreite sich Gaga von den schmerzhaften Haarverlängerungsmaßnahmen. Und das kam so: Sie sollte beim Jingle Ball im Madison Square Garden auftreten, der jedes Jahr von ZlOO ausgerichtet wird, dem landesweit größten Radiosender. Sie war auch als Headliner des Silvesterballs in der vVebster Hall im East Viilage eingeplant. Das Haar musste also sitzen. Bereits um sechs Uhr morgens saß sie in einem Friseursalon, um die alten Haarverlängerungen zu entfernen, ihr Haar blond zu färben und Verlängerungen anbringen zu lassen. Angela Ciemny ·war nach New York geflogen, um Gagas Auftritt beizuwohnen. Sie holte Gaga zusammen mit Gagas Mutter Cynthia und ihrer Schwester Natali mittags vom Friseur ab. Gaga überraschte sie, denn sie hatte auf die Verlängerung verzichtet. Angela Ciemny berichtet, dass die 206
Erleichterung, die alle auf der Fahrt zurück verspürt hätten, überwältigend gewesen sei. »\\Tir fingen alle an zu 'Vver sind Sie denn?Poker FaceLiving Dress>Als ich bei ihr anfragte, war sie noch kein Star«, sagt Mariah Hanson, die Besitzerin eines Clubs namens Skirts, dem Veranstaltungsort jenes \Veekends. Als Gaga aber dort auftrat, kletterte »Poker Face« in den amerikanischen Charts gerade nach oben. Als Hanson sah, wie sehr sich Gaga bei ihrem Palm-Springs-Konzert hineinkniete, war sie tief beeindruckt: »Sie ließ das Publikum spüren, ·wie sehr sie es schätzte. Sie hatte das Seifenblasenkleid mit und machte vVitze über ihre Bisexualität sowie über die Hintergründe ihrer Songs. Die Zuschauerblicke klebten an ihren Lippen, ihr Enthusiasmus wuchs stetig an.« 215
Hanson engagiert viele Acts, deren Karrieren gerade beginnen - und ·wurde oft von ihnen enttäuscht. »In diesem Jahr war Ke$ha bei uns«, sagt sie. »Ihre Show ist okay, aber nicht großartig. Doch Lady Gaga ist für die Show geradezu geboren. Sie weiß, wie wichtig es ist, Kunst und Marketing miteinander ZU verbinden. vVenn wir an Lady Gaga denken, sollten wir uns an Cher und an Madonna erinnern. « Am 28. Mai sickerte Gagas gewaltige, von dem eigenwilligen Regisseur J onas Ak.erlund (Madonna, U2, Smashing Pumpltins) in Szene gesetzter Videoclip zu »Paparazzi« durch. Gaga beschwerte sich auf 1\:vitter, was - zusammen mit dem nachfolgenden Streit Z\Vischen ihren Gegnern und Anhängern - dem Clip Aufmerksamkeit bescherte. In dem mehr als siebenminütigen Clip spielt Gaga einen Star, der von ihrem Freund - gespielt von Alexander Skarsgärd, dem Darsteller aus True Blood, der durch seine angebliche Äußerung, Gaga nur mit vViderwillen geküsst zu haben, zum Streit beitrug - vom Balkon gestoßen wird. Nun sitzt Gaga im Rollstuhl, hat eine Halskrause an, geht auf Krücken, tanzt, so gut es geht, macht mit HeavyMetal-Typen auf einer Couch rum. Am Ende tötet sie ihren Freund. \Vie stets unterstützte Perez Hilton Gaga nach Kräften; stellte etwa den Clip mit folgender Kritik auf seine Blog-Seite: »Die neue Prinzessin des Pop hat ein Meisterwerk geschaffen! Es ist ihre bisher überzeugendste Arbeit. Der Clip ist ein Minifilm. Ist Kunst. Ist visuelle 0
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Pornografie. Satire. Eine Stellungnahme. Der Clip ist brilliant! \Vir übertreiben nicht. « Es war Gagas bis dahin anspruchsvollstes vVerk. Es war eine Rückkehr zu den langen, sich um eine Handlung drehenden Minifilmen, die Acts ·wie Michael J ackson, Madonna und Guns N' Roses in den Achtzigern und Neunzigern gedreht haben. Der Clip bezieht sich unter anderem auf Alfred Hitchcocks Vertigo , die HairMetal-Band vVarrant und auf Minnie Mouse, deren Outfit Gaga in der Mordszene nachahmt. Gagas ausgeklügeltes Styling darf man auf Äkerlunds Frau, B. , zurückführen. Sie schuf unter anderem den aufgemotzten Rollstuhl. Gaga stellte B. ein. Sie verstanden sich gut miteinander, wenngleich B. nicht lange bei ihr blieb. Gaga verließ sich hauptsächlich auf vVilliams. So-wohl David als auch Angela Ciemny sind der Meinung, Gaga und \Villiams ähneln sich im Z\vischenmenschlichen wie kreativen Bereich »wie ein Ei dem anderen«. (Ein ähnlich wichtiges Teammitglied, Matt Williams vergleichbar, ist die Choreografin Laurie Ann Gibson.) »Matt ist kein sehr sozial orientierter Mensch, aber dafür ungemein kreativ«, sagt Angela Ciemny. »Er interessiert sich leidenschaftlich für altes Design, für Technik, für Kleidung, im Prinzip für alles.« Laut Angela Ciemny recherchieren Gaga und vVilliams gemeinsam, stöbern seltene Designbücher auf und alte Biografien, entwerfen daraufhin modernere Versionen des Alten, optimieren Elemente, erarbeiten Abläufe. »Obwohl mir 217
Gaga viel über die Menschen in ihrem Umfeld erzählte«, gesteht Angela Ciemny, »und Matt ganz gewiss jemand ist, der ihr wirklich en:vas bedeutet, weiß ich über ihn nichts.« Leute, die \Villiams noch aus seiner New Yorker Zeit kennen und mit ihm in L. A. zusammengearbeitet haben, wissen so gut wie nichts über ihn zu berichten. \Vas man weiß: Er wollte wohl unbedingt in der Modebranche arbeiten. Ob er Praktikant bei dem Mode-Label Proenza Schouler gewesen ist, scheint nicht sicher. \Villiams redet nicht viel. Er tauchte eines Tages in L. A. auf, wo er eine Beziehung mit Erin Hirsh begann. Den Rest kennen wir bereits: Hirsh selbst wollte für Gaga nicht arbeiten, empfahl ihr aber \Villiams, der Hirsh verließ und mit Gaga anbandelte ... An was sich nahezu alle erinnern können: \Villiams scheint ein Opportunist zu sein, und dies nicht gerade subtil. »Er sah unglaublich gut aus«, sagt jemand, der 2007 noch in New York auf Williams traf. \Villiams sei entschlossen gewesen, in einen gesellschaftlichen Kreis zu gelangen, der sich aus Schauspielern und Designern zusammensetzte und dessen Kopf Jack McCollough vom Mode-Label Proenza Schouler war. Laut einer Informationsquelle wollte McCollough nichts mit \Villiams zu tun haben. Williams verbrachte daraufhin viel Zeit mit Ben Cho, dem jungen, talentierten und bekannten .Modedesigner, der im Mittelpunkt der Szene an der Lower East Side stand. Cho ·war mit einflussrei218
chen Leuten der Subkultur befreundet. Er brachte Skater mit Filmsternchen zusammen, Filmsternchen mit Fotografen und Fotografen mit Künstlern, Designern und Musikern. Zu seinem Bekanntenkreis zählten unter anderem die Schauspielerinnen Chloe Sevigny, Christina Ricci und Natasha Lyonne, der Fotograf Ryan McGinley, der inzwischen verstorbene Künstler Dash Snow und die Songwriterin Chan Marshall, als Cat Power bekannt. Cho ·war ferner Gastgeber einer sonntäglichen Tribute-Party zu Ehren der britischen Band The Smiths in einem Club namens Sway. \\Tollte man in die Erste Liga der Downtown-Kunstszene eintreten, galt Ben Cho als der Schlüssel dorthin. »vVir haben Matt von Anfang an nicht vertraut«, sagt ein Freund von Cho. »Ben mochte Matt, und Matt war die ganze Zeit über mit ihm zusammen. Doch \Vir, Bens Freunde, fanden Matt zwielichtig, nicht vertrauens\vürdig. Er versuchte bloß über Ben die gesellschaftliche Leiter hochzuklettern.« »Matt war stets berechnend«, sagt ein anderer Informant. »Ich erinnere mich an ein Abendessen mit ihm und Ben im \Vest Village. Ben war verrückt nach Matt, doch der war ja ein Hetero. Trotzdem saß er mit süßlicher Miene da, redete ganz eifrig mit. « »Auch ich habe Matt als jung und eifrig in Erinnerung«, sagt ein anderer Bekannter aus dieser Zeit. »Er stand total auf Mode und hing ewig mit Ben zusammen, aber auch mit dem Fotografen David Sherry. Es stimmt. Er wollte ganz offensichtlich die richtigen Leute ken219
nenlernen. Dennoch hat er bei mir keinen schlechten Eindruck hinterlassen.« Laut Erendan Sullivan bestand \Villiams Umfeld hauptsächlich aus schwulen Männern, die in der Modebranche tätig waren. »vVenn Männer an ihm Interesse zeigten«, sagt ein anonym bleibender Berichterstatter, »übernachtete er zwar bei ihnen, doch überschritt er nie eine bestimmte Grenze.« Eine Freundin von Cho kann sich erinnern, dass dieser vVilliams als seinen Freund vorstellte. Eine andere Freundin von Cho vermutet, die beiden seien ein Paar gewesen. Sie meint ebenfalls, vVilliams sei es egal gewesen, wen er verletzte, wen er benutzte und wen er - hatte derjenige seinen Dienst getan verließ. Als vVilliams plötzlich seine Sachen packte und nach Kalifornien ausflog, sei Cho am Boden gewesen - das berichten viele, die beide Männer in jenen Tagen kannten. Doch weder ·wusste einer von ihnen, ·warum Matt vVilliams New York verließ, noch, was er plante.
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ATTACKE AUF DIE ANATOMIE
urück zum Mai 2009 und zurück nach L. A.,
wo Gaga in der Ellen de Generes Show mit ihrem inz·w ischen berühmt gewordenen rotierenden, kreisrunden Kopfschmuck auftrat. »Das ist meine Schranke«, erzählte siede Generes. »Das ist meine Gaga-Schranke.« Dann sang sie »Poker Face«. Das Lied begann als Kabarettnummer und ging in eine Tanznummer über. Noch am gleichen Tag wurde Gaga von 17:30 Uhr bis Mitternacht von einem Fotografen für das Cover des jährlich erscheinenden »Hot Issue« der Zeitschrift Rolling Stone abgelichtet. Am nächsten Tag, dem 12. Mai, trat sie live bei Dancing with the Stars auf. Am Abend darauf flog sie nach Australien, um sich der Tour der Pussycat Dolls anzuschließen. >>\\Tir saßen beim Catering, studierten örtliche Zeitungen. Deren Aufmacher berichteten nur von GagaSpeedy war ein Freund des Fotografen David LaChapelle«, so eine Quelle. »Gaga verehrt LaChapelle sehr. vVenn man Speedy nach seinem Broterwerb fragte, meinte er ungefähr das: >Äh. < Der Kerl war das Gesprächsthema schlechthin. Er war wohl in der Lendengegend gut ausgestattet. Davon sprach Gaga zumindest oft.« Amanda Lepore, die transsexuelle Größe des New Yorker Nachtlebens, lernte Speedy und Gaga durch LaChapelle kennen, der Lepore »Muse« nennt. Auch mit dem Rapper Cazwell ist Lepore befreundet - er hat ihre erste Platte mitproduziert (einer der Titel darauf heißt »My Hair Looks Fierce«). Lepore sagt, Speedy seit seinem fünfzehnten Lebensjahr zu kennen, er sei Promoter einer Schwulennacht gewesen, die sich Beige nannte und in der Bmvery Bar veranstaltet \vurde. LaChapelle bestellte Lepore und Cazwell zu seinem Treffen mit Gaga in sein New Yorker Büro, wo das Konzept für die Rolling Stone- Fotostrecke besprochen werden sollte. Anschließend lud sie Gaga zum Abendessen nach Queens ein, in Speedys Elternhaus. »Sie zeigte sich bodenständig«, sagt Lepore. Gaga war zwar geschminkt, trug aber Leggings und flache Schuhe. »Sie sprach von Lady Gaga in der dritten Person: >Gaga würde das so oder so tun. < Jedenfalls nicht so, als meinte sie damit sich selbst. Ich glaube, sie hatte da bereits eine gewisse Grenze überschritten.«
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Gaga hatte ebenfalls einige ihrer alten Freunde eingeladen. »Die trugen alle eine Sonnenstudiobräune zur Schau, sahen aus, als spielten sie bei Jersey Shore (einer Reality-TV-Show auf MTV) mit«, sagt sie. »Einer ihrer Freunde hatte seine Augenbrauen gezupft, überhaupt all seine Körperhaare abrasiert.« Gaga hatte für alle Spaghetti gekocht, womit sie die gesamte Gesellschaft überraschte. Doch entsprach dies nicht letztendlich nur dem Bild eines gut katholischen Mädchens aus einer moderaten italienischen Familie, das schon immer behauptete, ein Teil von ihr möchte lediglich einen Mann heiraten, mit ihm glücklich werden? Als Angela und David Ciemny Gaga im Oktober 2009 in ihrem neuen L. A.-Zuhause besuchten, führte sie Gaga in die Küche, wo sie gerade - auf Stöckelschuhen, in enger Hose und schwarzem BI-I - das Abendessen für Matt \Villiams kochte, mit dem sie seit fast einem Jahr ·wieder zusammen war.
Gagas Stern in Australien stieg. Ihr Lied »Love-
Game«, das dort als Single veröffentlicht wurde, landete im April auf Platz 19 der Charts. Ihr Videoclip wurde verboten, unter anderem auch, weil sie keine Hose trug. (\Vas zum Zeitpunkt des Drehs als überspannt galt, hatte sich im Sommer 2009 zu einem Trend in der Stadt verwandelt. In New York City begannen die Mädchen, Oxford-Hemden mit einem Gürtel zu tragen. Dazu Schuhe und sonst nichts - so gingen sie zur Arbeit.) 227
Mitte Mai trat Gaga bei der Talk Show Rove auf und trug ein einfaches weißes Kleid mit V-Ausschnitt und auf ihrem Kopf eine 45 cm hohen Pyramide aus geflochtenem Haar. Sie sah aus wie ein Mitglied der Coneheads aus Saturday Night Life. Gagas Stimme hatte die raue, für New York typische Note verloren. Jetzt klang sie weit mädchenhafter. Ihr heimischer Akzent war weg, nun hörte sie sich an wie eine Nachrichtensprecherin. Sie benahm sich auch auffallend bescheiden. Doch sich selbst zu gratulieren , hatte sie nicht ganz aufgegeben »Seitdem du das letzte Mal hier warst«, sagte der Moderator Rove McManus, »bist du ununterbrochen auf Tour. Inzwischen fast zwölf Monate schon.« »Es sind ganz genau zwölf Monate«, korrigierte ihn Gaga. McManus: »Vlie lief es denn für dich bisher?« Gaga: »Erstaunlich gut. Ich bin so dankbar, kann es nicht glauben. Gestern bin ich in Neuseeland aufgetreten« - sie holte Luft- »zwölftausend Menschen haben meine Lieder mitgesungen.« Sie trat auch bei Sunrise auf, dem australischen Pendant zu The Today Show, wobei sie in der australischen Presse unter Beschuss geriet, weil sie Playback gesungen hatte . »In Australien muss man live singen. Man duldet dort kein Playback«, sagt David Ciemny. Er sagt außerdem , Gaga habe am Abend vor Sunrise einen Gig absolviert und nur drei Stunden Schlaf abbekommen. Als sie aufwachte, versagte ihre Stimme. 228
Sie litt unter Schlafmangel, unter dem Jetlag, lebte streng nach einer von ihr selbst auferlegten Diät. »Ich darf das nicht essen. Nein, ich darf das einfach nicht essen«, soll sie mantragleich sich eingetrichtert haben , so David Ciemny. »Sie wollte immer nur Salat, Fleisch und Käse vom Feinkostladen. Und Rummus und Hühnchen. Hummus mit gegrilltem Hühnchen, das mochte sie am meis ten. \\Tenn sie aber Gebratenes gegessen hatte, sagte sie anschließend: >Ich hab es richtig krachen lassen. «< \\Tie jede andere berühmte junge Frau musste Gaga ihr ohnehin lächerlich geringes Gewicht mindestens halten. »Ein Beispiel: Zwischen unserem ersten Treffen, wo wir ihre Maße genommen hatten, und der endgültigen Kostümanprobe hatte sie zwanzig Pfund abgenommen«, sagt eine Person von der Ausstattung, die noch letztes Jahr für Gaga gearbeitet hat. »Sie hätte \Vochenlang nicht gegessen, nur um in die Kleider zu passen , das sagte sie mir.« Gagas Zeitplan wurde immer enger, obwohl dies kaum möglich schien. David Ciemny erzählt, Gaga persönlich mindestens sechs Mal in verschiedenen Ländern ins Krankenhaus gebracht zu haben. Ein Krankenhaus aufzusuchen, das rieten ihr manchmal Freunde, manchmal rief sie aus ihrem Zimmer an und bat Ciemny selbst darum. »Ihr Werbezeitplan war ein vVitz«, meint David Ciemny. »Sie war krank, sowohl physisch als auch psychisch. Der wenige Schlaf und die vielen Shows hatten sie voll229
kommen ausgelaugt. Das ging so weit, dass sie aus purer Erschöpfung zu weinen begann. Sie solle in den nächsten drei Tagen lediglich schlafen, riet ihr ein Arzt. Daraufhin sagten wir all ihre Termine ab. Allerdings nur für die nächsten zwölf Stunden.« »Sie war völlig ausgebrannt«, sagt Angela Ciemny ihrerseits. »\Vir, David und ich, versuchten zu Gagas Manager durchzudringen, sagten ihm, dass sie nicht auftreten könne, dass sie länger als bis fünf Uhr morgens schlafen solle. Doch seitens des Managements hieß es immer: >Du Ange, mach, dass sie auftritt. Mach, dass sie isst. Mach, dass sie sofort schläft.vVie kannst du nur unserer Tochter einen solch engen Terminplan aufbürden? Bist du irre? vVas denkst du dir bloß dabei?< Daraufhin bestellte mich der Manager zu sich, fragte seinerseits: >\Varum scheuchst du ihre Eltern auf, versetzt sie in Schrecken?\\Tenn du dich mit Kanye zusammentun willst, dann ohne mich>LoveGame« warf Gaga ihren Discostab hoch und begann zu hüpfen. Die Zuschauer taten es ihr nach. Dies wurde bei ihrer Konzerttour 2010 zu einem Ritual - inmitten der Show hüpfte man. Anschließend schrieb \Villiam Dean im Guardian: »Eine verrückt-brillante Popshow einer Künstlerin, die sich vor eine Riesenmenge zu Hause fühlt. « 233
Und bei Nadia Mendoza von der Sun hieß es: »Die irre Popdiva Lady Gaga begeistert die Menge mit einer Show, die man eher in einer glitzernden Halle als auf einem dreckigen Festival erwartet hätte.« Die Daily Mail bemerkte hingegen, wie sehr Lily Allen - jene britische Popsängerin, von der Gaga einst sagte, sie müsse sie »im Auge behalten« - bei ihrem Glastonbury-Auftritt Gaga in Dingen wie Kleidung und Make-up nachahmte. Hinter der Bühne trug Allen eine schulterlange platinblonde Perücke, auf der Bühne hingegen eine lilafarbene. Sie klebte sich zudem zwei rosafarben glitzernde Halbmonde unter ihre Augen, zog einen lilafarbenen einteiligen Hosenanzug an und zu Ehren von Michael Jackson , der einen Tag zuvor, am 25. Juni, gestorben war, einen weißen Handschuh. David Ciemny erinnert sich: »Am letzten Tag unserer Proben, also einen Tag vor Glastonbury, erfuhr ich von Jacksons Tod. Im Proberaum noch berichtete ich Gaga davon. Sie erwiderte nur: >Hör doch auf. Ich will nichts davon hören. Keine Witze. Halt den Mund! <Erst eine Stunde später begriff Gaga. Und zeigte sich erschüttert. Sie mochte Jackson sehr und wusste, dass auch er sie schätzte.« Noch immer machten - vor allem im Internet - Gerüchte die Runde, sie sei ein Zwitter oder gar ein Mann. Ein ins Netz gestelltes, immens unscharfes Video blickt unter ihren hochgerutschten Rock, wo ein Etwas hin und her baumelt. Dazu kommt ein angebliches Zitat von 23Ll
Gaga: »Ich schäme mich nicht. Doch es gibt da etwas, ·was ich nicht in die vVelt hinausposaunen möchte.« Mehrere vVochen lang diskutierte man über das Thema und Gaga tat nichts, um die Gerüchte zu entschärfen. Bis sie endlich Stellung bezog und sagte: »Ich bin nicht beleidigt, aber meine Vagina ist es.« (Daraufhin spekulierte man in Blogs darüber, ob Gaga die Debatte nicht bewusst gesteuert hatte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.) Gaga selbst bemerkte, das \Vichtigste für sie wäre, innerhalb von sechs Monaten vier Millionen Platten verkauft zu haben. Und sie stellte eine scharfsinnige Theorie auf, warum das Gerücht so viel Aufmerksamkeit erlangt hätte: »Wir verbinden Stärke nun einmal mit Männern, und ein Penis ist das Symbol männlicher Stärke schlechthin, wissen Sie - er ist, was er ist.«
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NEUER LOOK
~~!lb-"m~ Juli 2009 tourte Gaga durch Eurcpa. ln die-
ser Zeit lernte sie Nicola Formichetti kennen, der sie für Fotoaufnahmen des V Magazine - eines semiextravaganten amerikanischen Modeheftes, das sich in einer Nische eingerichtet hat - stylte. Der dreiunddreißigjährige Formichetti - halb Italiener und halb Japaner ·wird allgemein für den talentiertesten Stylisten seiner Generation erachtet. Er steht in den Impressen von Vogue Hommes Japan, V, V Man, AnOther und AnOther .N!an. Zusätzlich ist er als Kreativdirektor bei der britischen Zeitschrift Dazed and Confused tätig und hat mit so unterschiedlichen Marken wie Prada, Levi's, Missoni, H & M, Max Mara und Alexander McQueen zusammengearbeitet. Egal wie talentiert vVilliams war, wie brillant er es verstand, Gagas Look zu formen, Formichetti galt schlicht als Genie. Keiner der namhaften Designer wollte etwas mit Gaga zu tun haben, an sie Kleidungsstücke verleihen - bis Nicola Formichetti in Gagas Leben trat. Er brachte sie weg vom kostümhaften, effekthascherischen Look und hin zur Exzentrizi239
tät der Raute Couture. Jedenfalls kämpfen heute große Designer darum, Gaga einkleiden zu dürfen. »Nicola allein zeichnet für ihren kantigen GlamourLook verantwortlich«, sagt ein Branchenkenner. »Er verfügt über jene Finesse, an der es Gaga manchmal zu mangeln scheint. Allzu häufig hatte sie zu viele Sachen gleichzeitig an, so dass letztendlich nichts zueinanderpasste. An ihrem Outfit legten zu viele Leute die Hand an. Ihr katastrophaler Look erscheint nun weniger katastrophal. Da wird Formichettis Einfluss spürbar.« Ein Ausstatter, der Gaga bei einer ihrer Touren beraten hat, ist der gleichen Meinung: Vor Formichetti hatte es anscheinend in Sachen Erscheinungsbild keine durchdachten, schlüssigen Entscheidungen gegeben. »Es schien, als wäre ihr Ruhm so schnell gewachsen, dass keiner damit umgehen konnte«, sagt eine Gaga nahe stehende Person. »Es passierte dermaßen viel, dass der Eindruck entstand, ihr Team hätte nicht unbedingt alles unter Kontrolle. Es schien lediglich und immer zu heißen: >Machen wir es, so gut es geht, Hauptsache wir tun etwas.«< Bei den Fotoaufnahmen fürs V Magazine entströmte ihre Musik den Lautsprechern - genauso wie früher bei vVarwick Saint in L. A. Der Dreh begann um neun Uhr morgens, in den Splashlight Studios/ New York City. Soeben flog Gaga aus Kanada ein, trug noch das Makeup vom Vorabend. Gaga bat um Sushi, erzählt eine Assistentin, die bei der Fotosession dabei war. »Sie hatte nicht geschlafen, trug noch il1r Auftrittskostüm«, sagt 2LID
die Assistentin. »Dennoch strahlte sie positive Energie aus. Sie schien für alles offen.« Gaga zeigte sich durch ihren Donatella-Versace-Look topmodisch - und sowieso ihrer Zeit voraus: Sie besaß ihn lange Zeit bevor sich Jersey Shore, das Reality-TV, den Look zu kultivieren anschickte. Angela Ciemny behauptet, Gaga würde alleine aus Spaß zwischen weißem Teint und gebräunter Haut hin- und herschwanken. Den einen Tag sprühte sie einen Selbstbräuner auf ihre Haut, am nächsten Tag wusch sie ihn weg. Dabei verschwendete sie keinen Gedanken daran, was sie da ihrer Haut antat. Sie ging unter die Sonnenbank, wenn eine dunklere Hautfarbe zu ihrem Look zu passen schien. »Es kam immer nur auf den Look an, den sie anstrebte«, sagt Angela Ciemny. »Für diese Aufnahmen hatte sie sehr viel Selbstbräun er aufgetragen«, sagt die Assistentin. »Sie ist klein, ihre I-laut ist eher orangefarben. Sie sah wie eine Angehörige vom Zwergenvolk der Oompa Loompas aus.« Gagas Entourage blieb im hinteren Raum, \Villiams wurde am Set nicht gesichtet. Im Gegensatz zu ihrem Drang, alles unter Kontrolle haben zu wollen, zeigte sich Gaga in den Gesprächen mit Formichetti sehr gelassen. \Vie ein Informant berichtet, soll Gaga von ihrer falschen Bräune, ihrer fürchterlichen Frisur, der billigen Aufmachung überhaupt ziemlich begeistert gewesen sein. »Sie war damals ungefähr drei Kleidergrößen dicker. Hinter geschlossenen Türen wirkte sie total normal.« 2Lll
Jener eben zitierte Informant - der auch Matt vVilliams sowie Erin Hirsh kennt - behauptet, die Wandlung der Lady Gaga zur Stilikone sei allein Formichettis Verdienst. Als er Designer um Kleider für die V-Aufnahmen bat, erwähnte Formichetti mit keinem \Vort, wen er da zu fotografieren beabsichtigte. Er wusste: vVenn er Gaga erwähnte, ·würde man ihm keine Kleider zur Verfügung stellen. Sie ·war auf dem V-Cover vom Herbst 2009 - kastanienbrauner Teint, ihr Haar leuchtete weiß. Die Überschrift lautete: »lt's Lady Gaga's vVorld ... vVe're Just Living in I t! « Nach dem Ende der Fotosession fürs V Magazine stellte Gaga Formichetti an - oder wie sie sich auszudrücken pflegt: Sie lud ihn ein, ihrem I-laus beizutreten. »Sie ließ Formichetti stets viel Spielraum«, sagt David Ciemny. »So ist sie eben. vVenn sie einen guten Draht zu einer kreativen Person hat, räumt sie ihr viel Spielraum/ Macht ein.« Bald schon schloss die I-laute Gouture Gaga in ihre Arme. Formichettis vVeigerung, Kleider von Designern zu beziehen, die sich ehedem Gaga gegenüber ablehnend verhalten hatten, machte auf Gaga Eindruck. Ein Bekannter Formichettis schildert: »Nicola ist zwar ein geselliger Mensch, der sich gern in der Szene bewegt, er ist aber ebenso still und verschlossen. Er öffnet sich Leuten gegenüber nicht häufig.« Gaga ist da ähnlich. Beide fanden ihre Seelenverwandtschaft schnell heraus. 2LI2
Die beiden tauschten - zumeist telefonisch und per E-Mail - Ideen miteinander aus, während Formichetti bei TV-Auftritten und wichtigen Events vor Ort war. »Die meisten Stylisten haben einen fertigen Look«, sagt David Ciemny. »Doch Nicola lieferte Gaga lediglich einzelne Elemente. \Vie beim Puzzle setzte sie die Teile zusammen, fügte ihre eigenen Accessoires hinzu. « »Soweit ich weiß«, sagt ein Designer, der mit Gaga zusammengearbeitet hat, »besteht ihr Team aus Nicola und Matt. Obwohl sie es immer so darstellt, als würden alle Eingebungen von ihr stammen. « Gaga war wieder mit \Villiams zusammen, der inzwischen einen Sohn hatte . »Matt lief Gaga richtiggehend hinterher«, sagt jemand, der \Villiams als Opportunisten einstuft. »Er bemühte sich tierisch um sie. \Var in ihrer Nähe, selbst wenn sie mit anderen Typen rummachte. Doch warum sollte er es nicht tun? Sie ist derzeit der größte Popstar der \Velt. Es wäre ganz schön dämlich, es nicht zu versuchen. «
Es ist recht schwierig, den genauen Zeitpunkt zu
bestimmen, wann sich das Blatt für Gaga wendete. \Vann aus der unbekannten Künstlerin eine fixe Größe, dann eine Berühmtheit und schließlich ein Superstar wurde. Höchstwahrscheinlich brachte der Auftritt bei den MTV Video MusicAwardsam 13. September die Trendwende. Sie erschien dort mit Kermit, dem Muppet-Show-Frosch, ließ ihn allerdings in der Limousine zurück, nahm wäh2-43
rend der Feier neben ihrem Vater Platz. Der Abend begann mit ihrem Part. In einem weißen Kostüm lag sie da auf der Bühne - es sollte eine Hommage an Madonnas Auftritt von 1984 sein - bei gleichem Anlass sang sie »Like a Virgin«: Es wurde Madonnas Durchbruch. In der Liedmitte von »Paparazzi« setzte sich Gaga ans Klavier, legte sogar einen Fuß auf die Klaviatur. Sie wechselte zum hinteren Bühnenteil, Blut kam an ihr auf, sie verschmierte es sich im Gesicht, dann brach sie zusammen. Umringt von Tänzern, die den Blick auf sie verdeckten, wurde sie an einem Seil hochgezogen. »Bei den Awards präsentierte sich Lady Gaga einem Branchenpublikum, das sie unter Umständen noch gar nicht kannte, auf einem riesigen Präsentierteller« sagt Liz Gateley. »Ihr Auftritt an jenem Abend war unvergesslich.« Sie gewann den Preis als beste neue Künstlerin. Beinahe hätte sie es geschafft, die Schlagzeilen des nächsten Tages zu bestimmen - wenn dies nicht Kanye vVest vereitelt hätte, indem er Taylor Swift angriff. Dennoch wurde Gaga danach auch in den USA zum Mainstream-Star. Im Oktober verlieh ihr die Zeitschrift Billboard den ersten Preis in der Kategorie »Rising Star of 2009«. Am 4. Oktober trat Gaga bei Saturday Night Life auf, wo sie in einem Sketch mitspielte, der auch einen lautstarken Disput zwischen ihr und Madonna beinhaltete. Ihre musikalischen Einlagen schnitten viel besser ab als die von Madonna. »Gaga sah gelöst und nicht so einstudiert aus und stimmte ein besonderes Medley an«, schrieb Todd Martins auf dem
Musikblog der L. A. Times. »Es war schön, einen Popstar zu sehen, der sich nicht nur, um nackte I-laut zu zeigen, reckte und streckte.« »Am meisten ers taunte mich ihre Intelligenz«, sagt die Tänzerin Christina Grady, die mit Gaga bei einigen Fernsehauftritten zusammengearbeitet hatte. In ihren Augen ist Gaga eine sehr kontrollierte, sehr bestimmt auftretende Person. Grady war dabei, als Gaga eine z·weite Version von »Bad Romance« komponierte, die balladenartig beginnt und in ein Medley übergeht, sich aber hauptsächlich als eine Ode an New York City versteht. »Sie komponierte diese Version in meinem Beisein. Ihre Band war auch dabei«, sagt Grady. »Sie hatte alles bereits geordnet in ihrem Kopf, teilte jedem der Bandmitglieder mit, welche Note er zu spielen hatte. Bereits nach zwanzig Minuten hatte sie die Version komplett. « Gagas Ansehen, auch als Künstlerin, wuchs stetig weiter. Sie war die Hauptrednerin auf dem National Equality March in \Vashington D. C. sowie eingeladen beim Human Rights Campaign National Equality Dinner, wo Präsident Obama ·witzelte: »Es ist mir eine Ehre, die Vorgruppe von Lady Gaga zu sein.« Noch im gleichen Monat sang sie ebenfalls bei der Feier zum dreißigjährigen Jubiläum des Museums für zeitgenössische Kunst in Los Angeles. Der Künstler Francesco Vezzoli schuf ein Porträt von Gaga in Petit-Point-Stickerei. Sowohl Ihr Kleid als auch die Kostüme ihrer Tänzer stamm245
ten von Miuccia Prada, während Damien Hirst ihr Klavier entwarf, Frank Gehry aber ihren Hut. Am 23. November veröffentlichte Gaga The Fame 1\fonster, eine Platte, die im Grunde genommen einer Neuveröffentlichung von The Fame glich, aber dann doch acht neue Titel aufwies. Das Cover stammte vom französischen Designer Hedi Slimane, der auch schon Plattenhüllen für Daft Punk und Phoenix entworfen hatte - richtig berühmt hatten ihn jedoch seine Entwürfe für Dior gemacht, wo er von 2000 bis 2007 arbeitete. The Fame Mon..Bad Romance< hört sich an wie der beste Madonna-Song seit Ewigkeiten.« Die Zeitschrift Rolling Stone hingegen zeigte sich ein bisschen verhaltener und bezeichnete das Album als »größtenteils gelungen«. Selbst die selbstgerechte, anspruchsvolle Netz-Musikseite Pitchjork - die sich auf Indierock spezialisiert hat - sah sich gezwungen, Gagas Album zu rezensieren. Sie lobte die Platte sogar in den höchsten Tönen, bezeichnete die Single »Bad Romance« als »die wohl beste Popsingle und das beste Popvideo 2009«, als »fern von Schablonen«. Pitchfork verglich Gaga mit Madonna und Prince zu deren Bestzeiten und nannte sie »den einzigen echten Popstar, den es zurzeit gibt«. 2-46
Das Musikvideo als Epos wiederzuentdecken, das ·war zweifellos Gagas Verdienst. Der von Akerlund inszenierte Clip ·war nicht nur wegen seiner unerschrockenen Extravaganz und dem makabren Humor bemerkenswert, sondern auch wegen seines Schlusses: Man platzierte Gaga neben einem Skelett, wobei sie sich auch noch an einer verkohlten Matratze abstützte - aus ihrem schwarzen BH sprühten Funken. (Der BH ist inzwischen zu einem Markenzeichen ihrer Live-Shows geworden.) Plötzlich geschah Unerwartetes. Gaga, der lange von Kritikern wie von Musikerkollegen vorgeworfen worden war, hochkulturorientierten Ideenklau zu betreiben, wurde selbst nachgeahmt. Fast auf einen Schlag bedienten sich viele Popstars bei Gaga, vor allem ihren Look kopierend, Popstars wie Fergie, Beyonce, Ke$habesonders aber Christina Aguilera, die einst an Gagas Geschlecht Z\veifelte, indem sie sagte: »Es scheint mir unsicher, ob sie ein Mann oder eine Frau ist.« Sowohl Aguileras neuer Look als auch der Sound ihrer Musik sowie ihre Videoclips zeugten von Gagas starkem Einfluss. Gaga, die Leute bis dahin für zu billig, unattraktiv, zu klein, zu einfallslos, für eine Kreation von Stylisten gehalten hatten, war zu seiner Modeikone aufgestiegen, um die sich die vVelt drehte. Von Gagas Aura zehrten sämtliche Modeshows im Herbst 2009, egal ob in New York, Paris, London oder Mailand. Riccardo Tisei von Givenchy hatte bereits im Januar jenes Jahres auf Gaga 0
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hingewiesen, als in seiner Kollektion eng anliegende Kostüme auftauchten. Und Derek Lam, ein amerikanischer Designer, der für zurückhaltende Eleganz steht, schickte Models ohne Hosen über den Laufsteg. Die Modeshow von Michael Kors begleitete Gagamusik vom Band. Im Herbst 2009, bei Mark Jacobs After-Show-Party- dem Höhepunkt der New Yorker Fashion \Veek- trat Gaga als Ehrengast auf. Jean-Paul Gaultier griff den hosenlosen Look auf und schickte ein Model mit einem metallfarbenen, körperbetonten Kostüm den Laufsteg herunter. Die Models der Chanel-Show zeigten sich mit Schleifen aus Haar ( Lagerfeld hatte im Jahr zuvor auf Gagas Konkurrentin, Amy \Vinehouse, Bezug genommen, während Lily Allen, ebenfalls eine Gaga-Konkurrenz, für Chanel wirbt). McQueens Show war ein gagaeskes Fest cartoonartiger Schönheit - mit Models, die auf paillettenbesetzten, sogenannten »Armadillo-Schuhen« über den Laufsteg stöckelten. (Sie gehörten zum McQueen-Outfit, das Gaga im Clip zu »Bad Romance« anhatte.) In der amerilmnischen Vogue vom Dezember 2009 war Gaga dann in einer Fotoserie zu sehen, die sich thematisch mit den Märchen der Gehrüder Grimm befasste. Und im Januar 2010 erschien sie auf dem Titelblatt der amerikanischen Ausgabe von Elle. Die Modezeitschrift Women's Wear Daily berichtete, die Verkäufe für teure Dessous, besonders für Korsetts, schnellten nach oben - ein Trend, den die Branche Lady Gaga zuschrieb. Dem People Magazin sagte Gaga, eines ihrer 2-48
Ziele sei, Gegenstand einer Ausstellung des Metropolitan Museum of Art's Costume Institute zu sein. Im Dezember spielte Lady Gaga für die englische Königin auf, bediente - ungefähr sieben Meter über der Bühne aufgehängt - ein hochgehievtes Klavier, das in seiner Pracht dort oben schauerlich wirkte. Sie trug ein rotes Latexkleid, ihre Augen umrandete roter Glitzer. Barbara vValters ernannte sie ZU einer der »10 Most Fascinating People of 2009«. Anlässlich der WaltersSendung kleidete sich Gaga ähnlich wie ihre achtzigjährige Gesprächspartnerin ein, der dieser Scherz allerdings entging. Im Januar war sie Gast von Oprah Winfrey, sang in einer Kulisse, die an eine verdreckte Straße im East Village erinnern sollte. Sie sorgte bei dem aus schwulen Männern und gutbürgerlichen Hausfrauen bestehenden Publikum für ausgelassene Stimmung. Die gemeinsten Kommentare zu ihrer Person musste sich Gaga von den Branchenkollegen anhören. Neben der bereits erwähnten bissigen Bemerkung von Christina Aguilera - nach der sich Gaga öffentlich bei ihr bedankte, sie mit ihren vVorten ins Gespräch gebracht zu haben - sowie der Äußerung von Grace J ones hat sich kürzlich auch die Rapperin M. I. A. der kritischen Sichtweise einiger Popstars auf Lady Gaga angeschlossen. »Sie ist eine gute Nachahmerin, progressiv ist sie jedenfalls nicht«, meinte M. I. A. »Sie klingt mehr nach mir, als ich es selbst tue! Sie ist die letzte '~affe, die die 249
Musikindustrie auffährt, um sich wichtigzumachen. Dabei hämmert sie uns ein: >Du brauchst unser Geld, unsere Unterstützung, die Stadien.Gottogott! Bitte nicht! vVie gruselig!< Bei uns auf der Schule bezogen manche Kids Prügel, weil sie ihr Haar falsch frisiert hatten und deswegen >FreakSchwuchtel< gerufen wurden. \Väre ich Gagas Manager, würde ich 255
ihr jedenfalls sagen: >Keine Interviews. Du bist größer als das Leben selbst. Du hast enorme Fantasien in den Köpfen der Menschen freigesetzt, lass sie also damit arbeiten, zerstöre sie nicht. «< »Sie ist eine audiovisuelle Künstlerin. Eine solche haben wir seit Madonna und Michael Jackson, seit den Anfangstagen von MTV, nicht mehr gesehen«, sagt jemand aus der Branche. »Viele haben es versucht, doch niemand schaffte es, seine Videoclippremieren in die Sphäre von Events zu heben.« Als Ausschnitte aus Gagas Clip zu »Alejandro« im Internet durchsickerten - gedreht von Steven Klein, der früher mit Madonna zusammenarbeitet hat - und man bei Gaga ein fehlendes Bein registrierte, wuchsen sich die Blob-Diskussionen zur Hysterie aus. Hat sich Gaga da tatsächlich ein Bein amputieren lassen? Das fragte man sich im Ernst. Gaga spricht alle Schichten, Menschen unterschiedlichen Alters an. »Ich mag sie. Und ich bin fast sechzig«, schrieb Toto Kubwa der Daily Mail - als Antwort auf einen Artikel zum »Telephone«-Clip. Gaga war Gegenstand eines Cartoons im New Yorker und Thema eines Gorniebuchs von Bluewater Productions. Es kamen Gerüchte auf, wonach Johnny Weir, Fan von Gaga und Eiskunstläufer, bei den olympischen Winterspielen zu ihrer Musik eistanzen würde. Zwar kam es dazu letztendlich nicht, aber ein Bild von Gaga hing in vVeirs Olympiadorf-Zimmer. \Veir sagte zudem vor Ort über Gaga: »Sie muss über uns \Vachen, uns beschützen.« Ein Clip auf YouTube, der Weir bei einer Show in Japan 256
Anfang 2010 zeigt, wo er zur Musik von »Poker Face« Schlittschuh läuft, wurde im Netz eine Million Mal aufgerufen. Die New York Times berichtete im April 2010, dass Teenager in China inZ\vischen anstau »Üh mein Gott« nun »Üh meine Lady Gaga« sagten. Im Vorspann zur Fernsehshow How to .Nfake It in America auf I-IBO ist unter anderem ein Mädchen zwischen zwanzig und dreißig zu sehen, das mit ihrer Hand die Geste eines »kleinen Monsters«, so werden die Gaga-Anhänger genannt, vollführt. Sie formt einen Halbmond, der allgemein für »Ich bin ein Lady Gaga Fan« steht. Manny Pacquiao, philippinischer Boxchampion, engagierte für seine Geburtstagsfeier - auf den Philippinen quasi ein landesweiter Feiertag- eine Lady-Gaga-Imitatorin. Als Tarnara Barney von der Realityserie Real Housewives of Orange County des Fernsehsenders Bravo TV im Frühjahr dieses Jahres ihre Scheidung verkündete, rief sie nach Gagas Art aus: »I'm a free bitch!« (Ich bin eine unabhängige Schlampe!). Im April erheiterte das Maskottchen der Baseballmannschaft von Philadelphia - im roten Spitzenoutfit a la »Bad Romance«Gaga - die Zuschauermenge, die schrie und lachte. Lady Gaga war nach Madonna die zweite Künstlerin, der die Sendung Glee, ein Serienhit auf dem Sender Fox, eine Folge widmete. In Modemagazinen oder Massenblättern ist Gaga ohnehin ständiges Gesprächsthema. Irgendwo auf dieser \Velt ist sie täglich der Aufmacher. 257
Im Musikbusiness ist man überzeugt, dass ihr eine jahrzehntelange Karriere bevorsteht. »Wäre sie nicht ein solches Naturtalent, könnte ihre Masche nicht funktionieren«, sagt ein Branchenkenner und fügt hinzu, dass sich Gaga - genauso wie ihre Idole Madonna und Bowie - immer wieder neu erfinden müsse. »Es gibt da bestimmte Künstler, von denen man nicht mehr viel erwarten kann. Von Gaga schon. Genau aus diesem Grund unterstützen sie eine Madonna, ein Elton John oder eine Cyndie Lauper, aus diesem Grund besuchen sie Gagas Konzerte. Gaga vereint die Meister der alten Schule und etablierte Superstars wie Beyonce. Und das hat Zukunft.«
ln der letzten Januarwoche 2010 drehte [jaga zu-
sammen mit Beyonce den Videoclip zu »Telephone«. vVie schon bei »Bad Romance« führte Jonas Akerlund Regie. Es wurde ein Mix aus verschiedenen amerikanischen Filmgattungen, angefangen bei Women-in-Prison-Sexploitation-Filmen über Grindhause-Streifen bis hin zu geklauten, skurrilen, gemeingefährlichen Szenen aus Quentin Tarantinos Pulp Fiction und Kill Bill. Vol. 1 (Tarantino lieh Gaga sogar den »Pussy vVagon«, der in jenem Film eine wichtige Rolle spielte); das Filmende verweist auf Ridley Scotts Thelma und Louise. Die Handlung: Gaga wird ins Gefängnis geworfen, Beyonce ruft sie an, holt sie raus; beide machen sich aus dem Staub. Es gibt da etliche Doppeldeutigkeiten, mit 0
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denen man spielt. Die beiden Damen fahren bei einem Lokal vor, in dem Gaga so tut, als sei sie Kellnerin, doch zuletzt alle außer Beyonce vergiftet. Eine Tanznummer kommt selbstverständlich ebenfalls vor. Zuletzt liefern sich Gaga und Beyonce mit der Polizei eine Verfolgungsjagd. Und stürzen mit ihrem \Vagen- wahrscheinlich - von einer Klippe ab. Dank Gaga sowie jenem Videoclip verschaffte sich Beyonce ein noch cooleres Image als durch ihre Heirat mit Jay-Z: Einer der mustergültigsten und saubersten Stars, die es in der R&B-Szene gibt, mimte doch tatsächlich nicht nur die Geliebte einer Knastinsassin, sondern offenbarte sich selbst als eine gemeingefährliche Irre. (Genauso wichtig wie Beyonce scheint allerdings Gagas Sonnenbrille zu sein, die in jenem Clip aus lauter qualmenden Zigaretten besteht. Diese Brille hat in~:vischen ihre eigene Seite auf Facebook.) In jenem Clip macht sich Gaga zudem über die Zwitter-Gerüchte lustig. Ein Gefängniswärter, der Gaga ausgezogen und in eine Gefängniszelle geworfen hat, sagt da nämlich zu einem anderen Wärter: »Ich hab dir doch gesagt, dass sie keinen Schwanz hat.« »Der Clip ist ganz nach Gagas Vorstellungen entstanden«, sagt eine »Telephone«-Komparsin namens Alektra Blue, die als Pornostar arbeitet. Porno? Mit Hilfe von vVicked Pictures, eines Unternehmens, das in der Unterhaltungsbranche für Erwachsene tätig ist, rief Äkerlund zu einem Casting für »Telephone« auf. Alektra Blue: »Im Grunde genommen führte Gaga selbst Regie. 259
Sie macht ihre eigenen Regeln, kann dabei sehr leidenschaftlich sein. Sie sagte etwa: >Ich will das so haben. Und diese Aufnahme so. Und könnten wir das da wiederholen? \Vir haben es nicht ganz hingekriegt. < \Vas die Aufnahmen anbelangte, war sie schon sehr hartnäckig.« »Das Konzept stammte zwar zum Großteil von ihr, doch Jonas brachte Struktur hinein«, sagt der Pornostar Jessica Drake, die ebenfalls als Komparsin bei den Gefängnisszenen mitspielte. Genauso wie Blue war auch Drake begeistert von Gagas Detailliebe. Gaga hätte jede Aufnahme noch am Set via Bildschirm verfolgt, hätte jedes Mal etwas zu sagen gehabt, so Drake. Seit jeher hat sich bei Gaga ziemlich alles um Kontrolle gedreht. Als sie 2008 von einem Journalisten, der ungenannt bleiben möchte, interviewt wurde, verteilte sie ebenfalls Anweisungen: »Ich möchte nicht zu sonderbar oder zu klug rüberkommen«, meinte Gaga zum Beispiel zu ihm. Oder sagte : »Ich habe viel erlebt, aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als wäre ich ein \Vunderkind gewesen. « »Beim Dreh kontrollierte sie alles. Wobei sie keinen Befehlston an den Tag legte«, sagt Drake. »Sie war nur auf beeindruckende Weise präsent. War nie fordernd oder divenhaft, aber brachte sich komplett in den Clip ein und v,riederholte ein Mal ums andere. Sie gibt alles, geht bis zur Schmerzgrenze.« Alektra Blue erinnert sich, wie Gaga um die \Viederholung einer Nahaufnahme bat, weil sie vergessen hatte, einen klobigen Ring anzuziehen. Er war ein wichtiges 260
Requisit, denn aus ihm sollte sie später das Giftpulver entnehmen. (Damit wird ein Bezug zum >>Bad Romance«Clip herstellt, in dem Gaga ebenfalls mit Gift ihren Freund tötet.) »Sie nimmt ihre Kunst sehr ernst«, meint Alektra Blue. Sie sei am Boden zerstört gewesen, als Gaga aufgrund von Zeitproblemen bei der Duschszene nicht habe mitmachen können. Mit »Telephone« schuf Lady Gaga etwas auf den ersten Blick Albernes und dann doch nachhaltig Tiefsinniges. Der Clip selbst löste eine Debatte aus. Man debattierte darüber, ob es für das Musikvideo eine Zukunft gäbe. \\Taren die Clips von Gaga nur eine Ausnahme? vVar ihr »Telephone«-Clip, mit seiner Mischung aus Sex, Mord und dreistem Productplacement, nun witzig oder lediglich anzüglich? Die Blogger drehten förmlich durch. Man fahndete nach sämtlichen im Clip vorkommenden Produkten und fand vor: Miracel vVhip, Wonder Bread, ein Handy von Virgin Mobile, eine Polaroidkamera ( Gaga fungiert bei Polaroid als Kreativ-Direktorin für eine besondere Produktlinie) , eine Sonnenbrille von Chanel, ein Laptop von HP, das auch in »Bad Romance« auftaucht, die Kopfhörer Heartbeats by Lady Gaga, die Dating-vVebseite PlentyOfFish.com, das Hefegebäck von Honey bun, das Gaga und Beyonce sich teilen - und natürlich die Colalight-Dosen, die unauslöschlich als Gagas Lockenwickler in Erinnerung haften bleiben. (Den LockenwicklerLook griff Gaga noch einmal auf, als sie mit ihnen zwei 261
Monate später durch den Flughafen von Sydney spazierte.) Adam Kluger, Direktor der Kluger Agency, die die PlentyOfFish.com-Seite in den »Telephone«-Clip einfügte, meint: »Productplacement, besonders in Liedtexten, gibt es schon seit langem.« Productplacement gehe auf eine kleine Pause im siebten Inning eines Baseballspiels, den sogenannten »Seventh-Inning-Stretch« zurück, wo es im Jahr 1980 hieß: »Kauf dir ein paar Erdnüsse und Cracker Jacks. « (Seine Agentur gründete Klinger 2006; nachdem er festgestellt hatte, dass die Erwähnung der Bekleidungsfirma Abercrombie & Fitch im Liedtext zu »Summer Girls« der Band LFO sowie das Auftauchen der Firmenprodukte im dazugehörigen Clip die Firmenaktie nach oben schnellen ließ.) Lediglich Virgin Mobile, PlentyOfFish und Miracel vVhip hätten für das Plazieren ihrer vVaren bezahlt, sagt Kluger. Gaga erwies Polaroid »einen Gefallen«, ·weil sie ja mit der Firma zusammenarbeitet. Und die als Lockenwickler verwendeten Coladosen seien, so Kluger, »Gagas Hommage an jemanden von früher. « (Gagas Mutter wickelte in den Siebzigern ihre Haare in dieser vVeise auf.) Mit dem Platzieren der Produkte von Hewlett-Packard so-wie von Kopfhörern wurden, so ein Bericht von Ad Age, »Gagas Marketingpartnerschaften mit jenen Firmen ausgedehnt«. »Gerade das Virgin-Handy ist besonders übel in Szene gesetzt«, meint Jeff Greenfield, ein Experte für Branded 262
Entertainment bei dem Marketingunternehmen 1sr Approach. »Niemand dürfte daran glauben, dass Lady Gaga oder jemand aus ihrer Fangemeinde ein Telefon benutzt, das so aussieht.« Greenfield glaubt zudem, dass die Telefon-Nahaufnahme den Zuschauer aus dem ClipFluss reiße, ihn zu sehr mit der Nase auf das Produkt stoße. Greenfield: »Das ist dämlich. Weil das Lied ja >TelephoneTelephone< stellte in schwulen Bars und Coffeeshops ein wichtiges Ereignis dar. Man sah bei der Versöhnung zweier seit langem zerstrittener moderner Stämme zu: der Fans von Lady Gaga und der Fans von Beyonce. « Selbst die erfahrenen Pornodarsteller, die als Komparsen im Clip dienten, zeigten sich begeistert. »Mir fiel die Kinnlade runter, als sie aus dem vVohnwagen stieg«, sagt Drake. »Auf Film sieht Gagas Outfit zahmer aus, als es tatsächlich war.« Der »Telephone«-Clip rief man in den ersten vier Tagen siebzehn Millionen mal im Netz auf. Unterdessen wurden in den britischen wie amerikanischen Boulevardblättern Schlagzeilen und Kolumnen voll Empörung verfasst, die mit der folgenden Frage zusammengefasst werden können: vVas löst so ein Clip bei den Kindern aus? Sogar CNN berichtete darüber, dass MTV den Clip nicht für sendefähig halte, ·weil er zu explizit sei. Gawker. com sah MTV's Vorgehens·weise in dieser Angelegenheit äußerst kritisch: »Seit Jahren kultiviert MTV das Reality TV, überschwemmt sein eigenes Programm damit, sendet kaum noch Musil\.videos. Und dann fühlt sich genau dieser Sender dazu veranlasst, die Ausstrah26Ll
lung eines Clips zu untersagen, weil er den für zu provokant hält. Ironischerweise stellt der Sender damit die einzige Künstlerin ins Abseits, die überhaupt noch daran interessiert ist, ein gutes Musikvideo zu drehen. « (MTV News berichtete später, dass der Sender den Clip nicht verboten, sondern es vielmehr etwas verspätet gezeigt habe.) Gagas Management und ihr Label zeigten den Clip zum ersten Mal auf E!Network. Dort räumte man Gaga zwanzig Minuten Sendezeit ein. Troy Carter erzählte Ad Age, das Video würde ungeschnitten gesendet werden, »ganz so, wie es sich gehört.« Der »Telephone«-Clip sei ein Meisterwerk, schrieb Stransky von EvV.com. »Es stimmt, es hinterlässt einen etwas verwirrt. Es wird zunehmend offensichtlicher, dass niemand im vergangenen Jahrzehnt mehr für das Genre des Musikvideos getan hat als diese Lady.« »Der Clip ist ein Meisterwerk des Pop, gemacht von einer Künstlerin, die sich in ihrem Fach auskennt«, schrieb vVilliam Goodman auf Spin.com. »Lady Gaga ist für YouTube das, was Madonna und Michael Jackson für MTV waren: ein Killerheilmittel«, schrieb das Magazin New York. »Ihr ist es zu verdanken, dass das Musikvideo wieder an Bedeutung gewinnt. Sie liefert den Beweis, dass Plattenverkäufe und Konzerteinnahmen mit Hilfe eines gelungenen Clips wieder hochklettern können.« An sich hatte sich Alcerlund aus dem Videoclipgeschäft zurückgezogen - doch für »Paparazzi« und »Telephone« kehrte er zurück. »Im 265
Augenblick sucht mich die Erinnerung an die große Zeit von MTV auf. Als das, was man da drehte, noch richtig Eindruck hinterließ«, sagt er. »Die Leute kommen wieder auf mich zu, zweigen sich begeistert, weil sie meinen Clip gesehen haben. Das kam jahrelang nicht vor.«
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BIE:i IN JAPAN
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=----m japanischen
Osaka - wc sie bis ver zwei
Jahren noch niemand kannte - gibt Lady Gaga in der ausverkauften Kobe \Vorld Kinen Hall ein Konzert. Es ist ein Gebäude, das mit seinem roten Ziegelstein für eine Grundschule gehalten ·werden könnte. Das Gebäude befindet sich auf einer ungewöhnlich sauberen und ruhigen Straße, wird umgeben von Büros. In Japan beginnen Rockkonzerte sehr früh - manchmal um achtzehn Uhr, spätestens aber um zwanzig Uhr. Es wird kein Alkohol ausgeschenkt, die Konzerte enden spätestes punkt zweiundzwanzig Uhr. Die Zuschauer haben während der Vorstellung in den ihnen zugewiesenen Hallenbereichen zu verbleiben. Das Popkonzertpublikum setzt sich aus genauso unterschiedlichen Gruppen zusammen wie in Europa, wie in Manchester etwa. Es reicht von Männern und Frauen mittleren Alters, über Teenager beiderlei Geschlechts bis hin zu kleinen Kindern. In Japan sprechen nur wenige Englisch, doch als das Licht ausgeht, der erste Kurzfilm auf der ·weißen Stoffkulisse und den seitlich 269
platzierten Bildschirmen anläuft, Gaga in Zeitlupe rotiert, in Schwarz-\Veiß, das Gesicht verdeckt, das roboterartige Mantra »I'm a free bitch« in den Raum hineinhallt, versteht die Menge dies sehr wohl - und beginnt zu toben. Die Show wirkt kompakter als bei der Premiere in Manchester. Als sich Gaga in der Mitte ihrer Show ans Klavier setzt, um Balladen zu singen, und ein amerikanischer Fan »Stefani!>Ihre Musik, ihre Kunst, ihre Energie, das überträgt sich auf uns unmittelbar«, sagt Junko Monster.
Zwei Abende später ist Lady Ciaga in Vokohama
zu Gast und verlangt Anerkennung und Liebe. Sie beginnt mit ihrer Tinker Bell Nummer: Sie liegt auf der 276
Bühne und sagt, dass Tinl{er Bell sterben wird, wenn man ihr nicht sofort applaudiere. >>Schreit nach mir! Telephone< and lts Hidden Meaning.« Eonline.com, 11. März 2010. Sale, Jennifer. »Johnny vVeir Worships at the Altar of Lady Gaga. « Examiner.com, 15. Februar 2010. Corsello, Andrew. »The Biggest Little Man in the vVorld.« GQ, April 2010. Hampp, Andrew, und Emily Bryson York. »How Miracle Whip, Plenty of Fish Tapped Lady Gaga's >Telephone