Beiträge zur Geschichte der Psychologie herausgegeben von Helmut E. Lück Band 5
Wolfgang Schönpflug (Hrsg.) Kurt Lewin ...
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Beiträge zur Geschichte der Psychologie herausgegeben von Helmut E. Lück Band 5
Wolfgang Schönpflug (Hrsg.) Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen aus Anlaß seines hundertsten Geburtstags
J.
Peter Lang Frankfurt am Main . Bern . New York · Paris
Kurt Lewin gehört zu den international bedeutendsten Vertretern der deutschen Psychologie. Wegen seiner Herkunft 1933 zur Emigration gezwungen, hat er seine wissenschaftliche Arbeit in den Vereinigten Staaten fortgesetzt. Lagen die Schwerpunkte seiner Forschungen in Deutschland im Bereich der Wissenschaftstheorie und Motivationspsychologie, hat er sich in den Vereinigten Staaten der Handlungsforschung und der Gruppendynamik zugewandt. Der Band bietet Erkenntnisse aus neuen Quellen und bemüht sich um kritische Wertungen aus gegenwärtiger Sicht.
Wolfgang Schönpflug wurde 1936 geboren. Er besitzt einen Magistergrad der University of Kansas (USA), hat an der Universität Frankfurt a.M. promoviert und habilitierte an der Ruhr-Universität Bochum. Er Ist Professor für Psychologie (Schwerpunkt Allgemeine Psychologie) an der Freien Universität Berlin.
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Beim Symposium "Zum hundertsten Geburtstag von Kurt Lewin"
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Am 26. September 1990 beim 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel (von links nach rechts):
Lothar Sprung, Mitehe II G. Ash, Wolfgang Schönpflug, Alexandre Metraux, Kurt Back, Horst-Peter Brauns, He/ga Sprung, Eberhard Ulich, Helmut E. Lück sowie Carl-Friedrich Graumann (Foto: Dieter Schneider)
VotWOit Wissenschaftler haben mit den Mimen gemeinsam, da~ ihnen die Nachwelt meist keine Krinze bindet. Selbst gro~r Ruhm zu Lebzeiten schützt nicht vor schnellem Vergessenwerden nach dem Tode. Ein wachsendes Heer von Historikern sucht den Proze~ des allgemeinen Vergessens aufzuhalten. Der Erfolg solcher Bemühungen ist wechselhaft: Mitunter stellt sich eine Renaissance des Vergangenen ein, und der Fachmann, der sie herbeigefiihrt hat, kommt zu hohen Ehren. Doch häufiger verbla~t die Erinnerung. und das Publikum straft den Fachmann, der sie erhalten will, mit Mi~achtung. Aber auch dieses geschieht: Eine Persönlichkeit - und sie braucht nicht zu den bei Lebzeiten Gefeierten gehört haben - geht der Nachwelt nicht aus dem Sinn. Ihr Name wird von Generation zu Generation überliefen, ihre Lehren sowie die von ihr eingeführten Gebräuche leben weiter; die professionellen Vergangenheitspfleger brauchen da nicht viel dazu zu tun. Es kann sogar vorkommen, da~ die Erinnerung ins Kraut schie~t: Legenden bilden sich, die oder der Erinnerte wird zur Kultfigur, deren sich die aktuelle Phantasie bemächtigt, um der Vergangenheit zu unterschieben, was die Gegenwart an Wünschbarem vermissen lä~t. Dann fällt dem Historiker die Aufgabe zu, die Erinnerung auf die geschichtliche Wirklichkeit zurückzuführen. Begibt man sich auf das Feld der Psychologie, so begegnet man in Kurt Lewin wohl einenjener Vertreter, der im Gedächtnis der Fachwelt auch ohne besondere Anstrengungen der Psychologiehistoriker lebendig geblieben ist. Seine Ideen tauchen immer wieder auf- in der Allgemeinen Psychologie, der Persönlichkeitspsychologie, der Entwicklungssowie der Sozialpsychologie. Er wird für die wissenschaftstheoretische Begründung der Psychologie in Anspruch genommen wie für ihre gesellschaftspolitische Praxis. Ihn eine Kultfigur zu nennen, wäre sicher übertrieben. Eine Symbolfigu!_ist er allemal. Ein Symbol wofür? Letztlich für eine in vielfältigen Bereichen zutage tretende Kreativität, für eine3· unbekümmerten lntegrationswillen, für transdisziplinäres Forschen und methodisch Frägen sowie für ein engagiertes Anpacken von sozialen Problemen. Die anhaltende Faszi 1 nation von Lewins Werk und seiner Person rührt wohl von seinem Willen zur Zusammen-1 führung des Auseinanderlaufenden. Die Berufung auf Lewin hält den Wunsch nach einer Psychologie wach, die vieles bewegt, und - multum in U1IO - doch ein einheitliches Unternehmen bleibt. Der Verweis auf Lewin rechtfertigt das Verlangen nach einer Psychologie, die unter den akademischen Fächern Selbständigkeit genie~t und gleichzeitig harmonisch in das System der Wissenschaften eingebunden ist. Das Beispiel Lewins bestärkt den Glauben an die Vereinbarkeil von methodischer Reflexion, theoretischer Analyse und empirischer Erhebung und mahnt zur Überwindung der Trennung von in sich gekehrtem Gelehrtenturn und nach au~n gewandter Weltverbesserung. So steht Lewins Namen wie kaum ein anderer für das ld~~l ~hte~ ei~h!'litliche.n_. i.llt~~jgipli~r_y~rltrt~.Pf!~'.!!.-theC?~~tiJclu!.nd. melhodisch ! I reflektierten llndgleic!rzeiligJll"ktiscb witksamen.f.sr~hol_op~·' 9
Vorwort
Von diesem Ideal ist die moderne Psychologie sicher weit entfernt. Sie teilt sich in zahlreiche unverbundene Forschungsprogramme, isoliert sich im Verbund der Wissenschaften. Theorie, Methodik, Empirie und Praxis klaffen auseinander, und alle vier leiden unter dem Vorwurf, nichts Rechtes zustande zu bringen, solange sie nicht von ihrem Alleingang lassen. Aber war die Psychologie je der beschriebenen Idealvorstellung nahe? Ist diese Idealvorstellung der Psychologie Oberhaupt angemessen? Und wird Lewin zu Recht mit ihr in Verbindung gebracht? Hat er zur Entstehung und Verbreitung der Idealvorstellung beigetragen? Hat er zu ihrer Realisierung beizutragen vermocht? Zur Klärung solcher Fragen benötigt man den Geschichtsforscher. Er mutJ anband der noch verfügbaren Quellen zu klären versuchen, was die Vergangenheit an Realitäten, an zukunftsträchtigen Vision und an Illusionen aufzuweisen hat, und welchen Anteilindividuen daran haben. Jahrestage stimulieren die Rückbesinnung. So hat auch die hundertste Wiederkehr des Geburtstags von Kurt Lewin an mehreren Stellen die Beschäftigung mit seiner Person und seinem Werk verstärkt. Nur wenige Tage nach Lewins hundertstem Geburtstag fand am 26. September 1990 während des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel ein ganztägiges Symposium zu seinem Gedenken statt; dem Symposium schloiJ sich ein Überblicksreferat von cari-Friedrich Graumann zur gegenwärtigen Rezeption des Lewinsehen Wertes an. Das Ziel des Symposiums war die Rekonstruktion von Lewins Persönlichkeit, seines Werkes und seiner Zeit. Das daran anschlieiJende Überblicksreferat versuchte, die bis zu unserer Gegenwart anhaltenden Wirkungen der Lewinsehen Lehre zu ermitteln. Insofern handelte es sich um wissenschaftshistorische Unternehmungen, welche wie in der Wissenschaft Brauch -der Vermehrung und Sicherung von Erkenntnis dienten. Allerdings: Auf die nüchterne Funktion der Erkenntnisgewinnung lietJen sich die genannten Veranstaltungen nicht beschränken. Der Tatsache, daiJ sie im Rahmen eines Kongresses der Deutschen Gesellschaft fiir Psychologie stattfanden, kommt auch eine symbolische Bedeutung zu. War doch l..ewin selbst Mitglied dieser Gesellschaft gewesen und hatte diese unter dem Druck des Nationalsozialismus verlassen müssen; nach 1932 enthält kein Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft mehr seinen Namen. Kein Organ der Gesellschaft hat bisher die erzwungene Beendigung der Mitgliedschaft - wie immer sie zustande gekommen sein mag - in angemessener Form eingestanden, bedauert oder gar widerrufen; kein förmliches Bekenntnis versäumter Unterstiitzung für einen wegen seiner Herkunft verfolgten Kollegen war bisher zu vernehmen. So kann man wenigstens die KongretJveranstaltungen aus AnlaiJ seines hundertsten Geburtstags als späten Ausdruck der Identifikation der Deutschen Gesellschaft für Psychologie mit Kurt Lewin werten. Es war eine Ehrung für einen Fachvertreter, der ein Stück glanzvoller Wissenschaftstradition im deutschsprachigen Raum verkörpert.
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Die oben eiWihnten zehn Kongre~referate sind inzwischen teilweise überarbeitet und e!Weiten worden. Zugleich sind drei neue, thematisch einschlägige Arbeiten entstanden. So sind insgesamt dreizehn Beiträge zusammengekommen, welche die gegenwinige Auseinandersetzung mit Lewin bezeugen. Dieser Band soll sie gedruckt an die Öffentlichkeit bringen. Zu danken ist Helmut E. Lück ist für seine Bereitschaft, den Band in die von ihm herausgegebene Reihe "Beiträge zur Geschichte der Psychologie" aufzunehmen, sowie dem Verlag Lang, venreten durch Frau Dr. Claudia Frank, für die gute Kooperation. Anerken· nung verdient auch Sigrid Greiff für ihre Umsicht und Geduld beim Edieren der Druckvor· Iage.
Berlin, Oktober 1991
Wolfgang SchiJnpflug
Kurt Lewin - eine biographische Skizze Wolfgang SchiJnpflug Im Jahre 1856 wurde Sigmund Freud im mährischen Städtchen Freiberg geboren. Seine Eltern betrieben dort ein Textilgeschäft, das sie, als Freud drei Jahre alt war, auflösten, um nach Wien zu ziehen. ln Wien geno~ Freud eine humanistische Bildung am Leopoldstädter Kommunalgymnasium und absolvierte danach ein Studium der Medizin und Zoologie. Mit umfassenden Interessen ausgestattet, die bis in die Ethnologie und Religionsgeschichte hineinreichten, ging Freud daran, eine grundsätzlich neue Lehre des Psychischen, die Psychoanalyse, zu entwickeln. Obwohl in der Öffentlichkeit weithin beachtet, blieb ihm in der akademischen Gesellschaft nur eine Au~nseiterposition; immerhin erhielt er an der angesehenen Wiener Universität in seinem 29. Lebensjahr die Lehrbefugnis als Privatdozent für Neuropathologie und mit 46 Jahren den Titel eines au~rordentlichen Professors. Freud war jüdischer Herkunft. Das war ein Hemmnis für eine weitergehende akademische Karriere und zwang ihn 1938 zur Emigration, als das nationalsozialistische Regime auf ÖSterreich übergriff(Jones, 1960; vom Scheidt, 1976). Soviel zu Freud. Doch wie kommen wir auf Freud, den Begründer der Psychoanalyse? Ist dies nicht ein Buch über Kurt Lewin, den Gestalt· und Feldtheoretiker der Psychologie, den Begründer der Gruppendynamik? ln der Tat: Dies ist ein Buch über Lewin. Aber niemand möge sagen, die Biographie Freuds habe nichts mit der von Lewin gemeinsam. Zwar kann dieser jenen der Generation seines Vaters zurechnen; Freud ist 24 Jahre alt, als Lewin am 9. September 1890 geboren wird. Aber wie sich sonst die Lebensläufe decken! Man ersetze in der Freudschen Biographie das mähcisehe Freiberg durch den Ort Mogilno im damals Preu~ischen Posen, die Habsburgermetropole Wien durch die Hohenzollernhauptstadt Berlin, das Leopoldstädter Gymnasium in Wien durch das Berliner KaiserinAugusts-Gymnasium. Lewins Eltern hatten keinen Textilladen, vielmehr einen Gemischtwarenladen und etwas Landwirtschaft; gleich Freuds Eltern der jüdischen Mittelschicht zugehörig. beteiligte sich Lewins Familie an der Westwanderung in die gro~n Städte, deren Modernität und Liberalität Bildung, Aufstieg und Wohlstand versprach- sowie soziale Emanzipation insbesondere für diejenigen Familien, welche wie die Freuds und Lewins zur Assimilation an die christlich erzogene Bevölkerung bereit waren (zu dieser und den folgenden Charak:terisierungen s. Volkov, 1991; speziell zur Haltung Lewins und seiner Eltern zur jüdischen Tradition s. Lück, dieser Band). Die beiden Fälle Freud und Lewin stehen wohl für viele in Mitteleuropa um die Jahrhundertwetide. Der Lebensweg Lewins ist von Anfang an unverkennbar geprägt von den gesellschaftlichen Bedingungen der Region und der Epoche, in die er geboren wurde.
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Sein Leben soll -wie der weitere Vergleich von Freud und Lewin beispielhaft belegen - epochal- und regionaltypisch bleiben. Es sind neben der Wirtschaft und der Kultur die Wissenschaften, die in jener Zeit Bildungs- und Aufstiegschancen sowie Zuginge zu nützlichen und geachteten Berufen eröffneten und zugleich intellektuelle Herausforderungen boten. Kein Wunder, dafl die Neubürger in den Metropolen die Universitäten aufsuchten, auch wenn die Reste der Diskrimination ihnen noch zumeist die Übernahme von höheren Lehrämtern verwehrten. Lewin näherte sich der akademischen Welt zunächst wie Freud über die Medizin; anders als bei Freud blieb die Medizin nicht sein Metier. Dafl Lewin und Freud das Psychische zu ihrem zentralen Gegenstand machten, mag eine Koinzidenz sein, die sich aus dem Lebensschicksal nicht ableiten liflt. Aber aus ihrer Lebensgeschichte dürften drei Grundzüge ihres Werkes hervorgehen: Qer Hang zur Grundsitzlichkeit, der Drang zur Erneuerung und die Neigung zur komprehensiv~·n,lirelchs- und disziplinübergreifenden Betrachtung. Diese drei Züge finden sich wohl nicht zutällig im Werk zweier Autoren, die aus mitteistindischem und traditionellem Denken herkommend einen Platz in der sich neu formierenden, aufklärerisch gesonnenen und naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaft anstreben. Anzunehmen, ihre Herkunft habe ihnen in der neuen Welt Minderwertigkeitsgefühle bereitet, die ihnen Befriedigung nur bei höchsten Ansprüchen gestattet habe, hiejk, sich ohne Belege einem verbreiteten Erklärungsschema anzuvertrauen. Aber das Bewufltsein, aus Provinz, Traditionalismus und Diskrimination zur intellektuellen Avantgarde gestopen zu sein, gepaart mit der Erfahrung von immer noch hemmenden Vorurteilen, mag ungewöhnliche Ambitionen und Energien freigesetzt haben. Nichts geringeres verlangen sie von sich selbst, nichts geringeres soll ihnen Anerkennung sichern als die Entdeckung neuer, universell gültiger Prinzipien. So entwickelt Lewin, was Totman (1948) in seinem Nachruf als "inlellectlllll keenness and origitullity, courage and ust" charakterisiert - Eigenschaften, die man sicher auch Freud zuschreiben kann. Schliej31ich wird die bittere Erfahrung der Emigration zur epochen- und regionaltypischen Gemeinsamkeit. Freud wandert nach England aus, Lewin in die Vereinigten Staaten. Aber hier macht sich der Generationenunterschied bemerkbar. Freud hat bereits sein achtzigstes Jahr überschritten, als er 1938 ÖSterreich verläj3t. Er ist bereits unheilbar krank und steht am Ende seiner wissenschaftlichen Lautbahn. Lewin befindet sich, als er 1933 aus Deutschland auswandert, noch in den besten Mannesjahren, setzt in den Vereinigten Staaten seine Karriere fort, im neuem Wirkungskreis mit neuen Ideen. Bis zum Schluj3 also ein Leben, in dem sich die Zeitläufe - die förderlichen wie die widrigen - nachhaltig widerspiegeln.
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Lebensstadien und Arbeitsperioden Die Eckdaten aus Lewins Biographie sind bekannt und gesichen. Einen knappen Überblick über Leben und Werk geben Metzger (1979) und Graumann (1981). Lewins Leben und Werk ist allerdingc; bisher nur eine einzige umfangreiche Monographie gewidmet worden; sie stammt von seinem Schüler Alfred J. Marrow und ist im Jahre 1969 erstmals erschienen. Freilich ist gerade die grofJe Biographie aus der Perspektive des Schülerkreises vom Massachusetts Institute of Technology verf~t; dies ist sicher eine wichtige, aber nicht die einzige anzulegende Perspektive. Au~rdem ist die Forschung über Lewin fongeschritten; es gibt neue Berichte (u.a. Bierbrauer, 1983; Heider, 1983; Patnoe, 1988) und neue Dokumente. Vor allem sichern Forschungen zur Psychologiegeschichte Kenntnisse über das politische und soziale Umfeld Lewins, die bereits verloren waren oder verloren zu gehen drohten. Mit dem Zuwachs an Wissen ergeben sich neue lnterpretationsansätze. Der Anteil der Theorie an der Biographie wächst. Der vorliegende Band gibt einen lebendigen Eindruck von den gegenwänigen Bemühungen, die Kenntnisse über Lewin zu vermehren und den theoretischen Zugang zu seiner Persönlichkeit sowie seiner Arbeit zu veniefen und zu verbreitern. Gut dokumentien ist auch Lewins Arbeit. Er und seine Schüler haben flei~ig publizien. Die deutsche Ausgabe von Lewins (1963) Feldtheorie in den Sozialwissenschaften enthält ein Schriftenverzeichnis. Die Publikationen und einige unveröffentlichte Schriften von Lewin und seinen amerikanischen Mitarbeitern sind bei Marrow (1969) zusammengestellt. Im übrigen ist der Nachlap bei der Familie Lewin erhalten. Seit 1981 erscheintbetreut von Cari-Friedrich Graumann als Hauptherausgeber - in deutscher Sprache eine auf Vollständigkeit bedachte Kun-Lewin-Werkausgabe (im folgenden abgekürzt als KLW), die auch bisher unveröffentlichte Manuskripte enthält. Fajlt man die Kindheit in Posen bis 1903 und die Schul- und Jugendzeit in Charlottenburg bis zur Reifeprüfung 1909 zum ersten Stadium von gut 18 Lebensjahren zusammen, so bildet die Zeit vom 19. bis zum beginnenden 30. Jahr, in dem er sein erstes Habilitationsgesuch einreichte, das zweite Lebensstadium. Aber wie kontrastreich gestaltete sich dieses zweite Stadium, das den Übergang von der Schule zum Beruf als Wissenschaftler vermittelte! Lewin war in diesem zweiten Stadium Student, wurde junger Wissenschaftler. Aber noch bevor die Promotion abgeschlossen war, meldete sich Lew in als Kriegsfreiwilliger, kam als Feldanillerist an die Front nach Frankreich und Rujlland, wurde im April 1918 zum Leutnant der Reserve beförden und im August 1918 - wenige Wochen vor Kriegsende - schwer verwundet. Das Studium begann mit drei Semestern Medizin, dem neun Semester Philosophie folgten. Lewin schrieb sich zunächst für je ein Semester an den Universitäten von Freiburg i.Br. und München ein; dann kehne er wieder nach Berlin zurück. Als seine akademischen Lehrer nannte er u.a. Abderhalden, Cassirer, E~ma.n.!l.....ßl~~e.!!? Riehl und Stumpf. (Diese und andere biographische .Ängä~lür "c:iie- ~il bis 1919 stamme~-;~~ <Jeißiiändgeschriebe15
nen Lebenslauf Lewins aus dem Archiv der Humboldt-Universitit Berlin. den er seinem ersten Habilitationsgesuch beilegte; für die Überlassung einer Kopie habe ich Dr. HorstPetee Brauns zu danken.) Am Psychologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität arbeitete er zwei Jahre lang bis Ostern an seiner Dissertation über Die psychische Tiltigkeit bei der Hemmung von Wil/ensvorgi.lngen und das Grundgesetz der Assoziation (gedruckt Lewin, 1917b).legte noch kuiZ nach Kriegsbeginn im September 1914 seine Doktorprüfung ab; förmlich promoviert wurde er jedoch erst im Dezember 1916. Sein Frontdienst wechselte mit wissenschaftlicher Arbeit ab; er arbeitete an Schallme~apparaturen und an einem Eignungstest für Funker. Bekannt geworden ist aus dieser Zeit jedoch mehr sein 1917(c) gedruckter Aufsatz Kriegslondschoft. der als eine der ersten ökopsychologischen Analysen gilt. Erst Ende April 1919 konnte er aus dem Lazarett entlassen werden. Dort schon hatte er seine als Habilitationsschrift gedachte Studie mit dem Titel Der Typus tkr genetischen Reihen in Physik, organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte begonnen; er brachte sie zum Ende 1919 zu einem Abschlup, am 9. Januar 1920 unterzeichnete der Dekan die Habilitationsanmeldung. Der erste Habilitationsversuch scheiterte am Desinteresse der Gutachter an der Habilitationsschrift; die Einzelheiten des gescheiterten Verfahrens hat Metraux (1983) rekonstruiert. ln der Tat handelt es sich um eine wissenschaftstheoretische Abhandlung. die fächerübergreifend angelegt das Interesse einzelner Fachvertreter leicht verfehlen kann; die Psychologie ist darin übrigens gar nicht berücksichtigt. Andererseits handelt es sich um ein zentrales Werk in Lewins frühen Bemühungen um eine allgemeine Wissenschaftslehre. ln diesem Band legt Alfred Lang ein leidenschaftliches Bekenntnis zu der Geneseschrift ab; gerade weil Psychologie darin fehle, fordere sie den Psychologen zur Bestimmung des Gegenstands seines Faches heraus. Der Mi~erfolg des ersten Habilitationsvorhabens war schnell überwunden. Die Schrift selbst erschien 1922 in aufwendigem Druck bei dem renommierten Verlag Springer; die Berliner Philosophische Fakultät erteilte die venia /egendi aufgrund einer experimentalpsychologischen Arbeit und eines gedichtDispsychologischen Vortrags Ende 1920. Bezüglich des zweiten hier definierten Lebensstadiums sind vier Punkte hervoiZuheben: (1) Lewin gelang es bis zum Ende seines drei~igsten Lebensjahres. sich als Wissenschaftler mit aussichtsreicher Berufsperspektive zu qualifizieren. (2) Seine wissenschaftliche Orientierung ist transdisziplinär. was Alexandre Metraux in diesem Band noch ausführlicher analysieren wird. (3) Im Mittelpunkt Lewinsehen Denkens stehen früh methodologische Probleme - ein Punkt. dem sich in diesem Band Lothar Sprung und Uwe Linke noch eingehender widmen werden. (4) Sein Fortkommen in der akademischen Gesellschaft verdankt Lewin vorwiegend seinen psychologischen Beiträgen. Bin drittes gro~ Stadium in Lewins Leben erstreckt sich von 1921 bis 1933. Br übernahm eine Assistentenstelle in der von Hans Rupp geleiteten ARgewandten Abteilung am Berliner Psychologischen Institut. von der aus er eine eigene Arbeitsgruppe zur Willens-
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psychologie aulbaute. 192? -~~~-~_!!~~olule beamtet Z\1 we*n, zum_aujlerordeotlichen Professor der PhiiOS()p~ie_ und Psyc~logie ~r~~_am~t _Die Möglichkeiten für eine auswärtige Berufung waren wegen Lewins jüdischer Herkunft stark eingeschränkt, seine Zugehörigkeit zur akademischen Gesellschaft jedoch gesichert. In diesem dritten Stadium entfaltete sich eine !ebhafte Aktivität, in der die folgenden Leistungen hervorzuheben sind: (1) Forschungen zur Arbeitspsychologie, wie sie fiir ein Mitglied einerAngewandten Abteilung angemessen sind - Eberhard Ulich wird sie in diesem Band noch würdigen. (2) Ein eigenes Experimentalprogramm zur Willens-, Affekt- und Mandlunppsychologie - HorstPeter Brauns wird in diesem Band seine Entwicklung rekonstruieren. (3) Im Rahmen von _, (2) Ansitze zu einer eigenständigen Persönlichkeits- und Entwicldungspsychologie. (4) Die Fortsetzung der methodologischen Arbeiten, die sich nunmehr zunehmend auf die Psychologie konzentrieren. (5) In Zusammenhang mit (2), (3) und (4) ein eigener Darstellungs- und Analyseansatz, die Topologische Psychologie. Lewins Berliner Vorlesungen und Seminare sind dokumentiert (vgl. Metraux, dieser Band), über seinen Erfolg als Dozent hört man wenig. Gern berichtet wird jedoch über seinen lebhaften und inspirierenden Umgang mit Doktoranden (Marrow, 1969). Wie seine (möglicherweise aus der Erfahrung eigener Diskriminierung genihrte) Aufgeschlossenheit den Studierenden zugute kam, davon gibt in diesem Band Helga Sprungs Kapitel über seine Schülerinnen einen Eindruck. Aufgeschlossen ist Lew in überhaupt für die Modeme - in der Politik, der Kunst, der Wissenschaft; freilich wäre es auch falsch, ihn unbesehen als Verfechter aktueller Fortschrittslehren darzustellen. So zeichnet Mel van Elleren in dem hier folgenden Beitrag über Lewins sozialpolitische Orientierung diesen als Uberalen mit durchaus konservativen Zügen. Lewin lieji fiir seine Familie in Berlin-Nikolassee ein Wohnhaus im Bauhausstil errichten und einrichten, er drehte Filme und interessierte sich fiir Filmästhetik. So erschloji er sich ein künstlerisches Umfeld. Seine Beziehung zu dem russischen Filmregisseur Eisenstein und dessen Bindung an die Psychologie, wie sie in diesem Band Oksana Bulgalwwo beschreibt, ist nicht nur ein anschauliches Beispiel für die Vertlechtung von Wissenschaft und Kunst im Berlin der Zwanzigerjahre; die Episode verweist auch auf das lebhaft schweifende Interesse Lewins für neue Erfahrungsbereiche und anregende Persönlichkeiten. Schon in seinem zweiten Stadium _!!Jtte sich Lew in im intellektuellen Kraftfeld der Berliner Philosophischen Fakultät bewegt. IlD seinem dritten Berliner Stadium setzte er sich mit.-~~r._neu propagierten Gestalttheorie auSern3Jt~~r•. fa~J~~ir~_in. W~lfg!i~i!(~~!~.r einen stimüiieieiiden; freilieb ·auch.recliiicrm&chen (s. ~ack, in diesem Band) Gesprächspanne!. Di~--Frage wird ltnmer driöglicnir'gesieilt; ~i~- weit Lewin in seiner Suche nach Erkenntnissen über die in der Philosophischen Fakultät gesetzten Grenzen hinausgegangen ist. Insbesondere stellt sich die Frage nach Lewins Offenheit zur Psychoanalyse, von der berichtet wird, sie sei am Berliner Psychologischen Institut ein Tabuthema gewesen (s. Bulgakowa, dieser Band), obgleich auch in Berlin seit 1920 aujierhalb der Universität eine 17
Psychoanalytische Poliklinik die Lehre Freuds pflegte (Jones, 1962, S.3S). Tatsache scheint zu sein, da~ Lewin Freud nie begegnet ist; es fehlen auch Berichte über einen Besuch von psychoanalytischen Veranstaltungen. Doch mit Schriften Freuds dürfte Lewin durchaus vertraut gewesen sein (s. Brauns, dieser Band; Lück & Rechtien, 1989). Als die internationale Anerkennung beginnt, nähert sich die Berliner Zeit ihrem Ende. 1929 erhielt Lewin eine Einladung zum Internationalen Kongre~ für Psychologie nach Yale und nahm 1932 eine sechsmonatige Gastprofessur an der Stanford University wahr. Über Japan und Ru~land ging die Reise zurück nach Deutschland. Das war im Januar 1933, und Deutschland befand sich auf dem Weg in den Faschismus. Das Berufsverbot tnr Bürger jüdischer Herkunft war abzusehen, weitere Boykottma~nahmen kündigten sich an. Der in Lewins Nachla~ gefundene Brief an Köhler vom 20. Mai 1933 (Lewin, 1981) beweist seine überaus starke Bindung an Deutschland; "•••~sich trotz allen Vernunftgründen alles in mir dagegen aufbäumt, Deutschland zu verlassen", bekennt er darin. Er macht noch Eingaben an das Ministerium, um als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges seine Stellung an der Berliner Universität behalten zu können - ohne Erfolg. So entschlo~ er sich zur Emigration. Robert Ogden, ehemals Student bei Oswald Külpe in Würzburg (Watson, 1963, S.270) und damals Dekan an der Comell University, lud ihn an seine Universität ein, wo er ab Herbst 1933 lehrte. Die vierte Periode Lewins hatte damit angefangen, die Periode der Etablierung in den Vereinigten Staaten. Die Periode der Etablierung in den Vereinigten Staaten sei hier auf rund ein Jahrzehnt von 1933 bis 1944 festgesetzt. Sie umfa~t die Tätigkeit an der Cornell University in Ithaka im Staate New York bis 1935 sowie die Arbeit an der Iowa State University von 1935-1944. Es sei hier die Auffassung gewagt, da~ in dieser vierten Periode Lewin zu einer neuen persönlichen und wissenschaftlichen Identität fand: In persönlicher Hinsicht als Amerikaner und Jude, als Gruppendynamiker und Aktionsforscher in wissenschaftlicher Hinsicht. Mit dieser doppelten Identität - so sei weiter angenommen - eröffnete sich ihm 1944 ein fünftes Lebensstadium, als er am angesehenen MassachusetiS Institute ofTechnology (MIT) in Cambridge, Massachusetts, das Forschungszentrum für Gruppendynamik leitete. Dieses fünfte Stadium wies eine erhebliche Eigenständigkeil auf und versprach noch beachtliche neue Entdeckungen und Enlwicldungen. Aber schon nach knapp dreijähriger Dauer brach es jäh ab, als Lewin am 12. Februar 1947 einem Herzschlag zum Opfer fiel. Zu Beginn des vierten Stadiums war Lewin durchaus noch nicht zum endgültigen Verbleib in den Vereinigten Staaten entschlossen. Offenbar bemühte er sich ernsthaft um eine Fortsetzung seiner Tätigkeit im damaligen Palästina, an der Universität von Jerusalem. Hierzu, und warum es wohl zu einer Berufung nach Jerusalem nicht gekommen ist, wei~ Helmut E. LUck in diesem Band anband von Dokumenten aufschlu~reich zu berichten. Obwohl die Pläne einer Übersiedlung nach Palästina nicht verwirklicht wurden, zeigen sie doch, da~ sein Emigrantenschicksal in Lewin das Bewu~tsein seiner jüdischen Herkunft stärkt. Dieser Proze~ hat sich später zweifellos fortgesetzt, als die Vernichtung jüdischen 18
Lebens zum erklärten Ziel der deutschen Regierung wurde und Lewins eigene Mutter in einem Konzentrationslager den Tod erlitt. So wurde jüdische Identität für ihn nicht nur ein neues Thema (s. Lewin, 1940/1948), sondern auch eine neue Erfahrung. Für das Erleben einer solchen Identität bedurfte es gar nicht der Auswanderung in einen eigenen Judenstaat; die Vereinigten Staaten als multikulturelles Gebilde mit mächtigen jüdischen Organisationen gestatteten, sich zugleich als Amerikaner und als Jude zu fühlen • mit weniger Kontlik· ten als selbst noch das liberale Deutschland, das auf Assimilation im Namen des Fortschritts drängte. Lewin hörte also auf, ein Deutscher unter Assimilationsdruck zu sein. Er wurde im Januar 1940 amerikanischer Staatsbürger in der Gewi~heit, sich frei zur jüdischen Gemeinschaft bekennen zu können. Gleichzeitig entfernte er sich immer stärker von der akademisch organisierten Psychologie, ja überhaupt von den akademischen Gemeinden der Philosophen und Psychologen, denen er bisher angehört hatte. Weder an der Cornell University in lthaka, noch an der lowa State University, noch am MIT fand er jene geballte philosophische Gelehrsamkeit vor, die ihn seit seinen Studienjahren umgeben hatte. Mitglied eines Psychologischen lnsti· tuts ist er nie wieder geworden. In lthaka lehrte und forschte er an der School of Home Economics sowie an der Nursery School, in Iowa an der Child Welfare Research Station; in Cambridge wurde ein eigens auf ihn zugeschnittenes Research Center for Group Dynamics gegründet. An den beiden erstgenannten Stellen gab es Psychologische Institute, die Lewin jedoch nicht kooptierten; in Cambridge war die Psychologie als eigene Fachrichtung gar nicht vertreten. Hierzu mehr von Mitchell G. Ash und Kurt Back in diesem Band. Seiner Einordnung folgend vertiefte sich ~~i~ ~~c;IJst. in die Kinderpsychologie. Gleichzeitig wandte er sich stärker praktisch bedeutsa;..en Frage~·m: Das zeiSt sich gl~ich in It.~~ wo er E~gewohnheiten bei Kindern und deren Änderung untersucht (Lewin, 1943). Von der ~~~~.Y.C.I_lologie ist es dann nur ein kurzer Schritt zur Psychologie der _9nlppe...wenn d~~laJ~n_f~-~~n. unter de~ll.l9:~r~uf\v.a~!ls~:':l_,Jn den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Eine Schlüsselstellung bei diesem Übergang kam wohl Lewins Studie ····-····-·-··~ mit Ronald Upp1tt über die Mierenden Psychologie soll nicht diskutiert werden. leb stimme mit den meisten Kennern überein, da~ die ~~!~tb~orie, wie Lewin sie zunehmend nennt, zwar eine fruchtbare Heuristik darstellt, da~ es ibm aber nicht gelungen ist, eine durchführbare Formalisierung vorzuschlagen (vgl. z.B. Graumann, in diesem Band). Hingegen scheint mir eine Ambivalenz diskutierenswert, die immer wieder, gerade auch nach der sog. kognitiven Wende in der Psychologie der 70er Jahre, zu Mi~verstiodnis sen Aola~ gibt. Es ist die Frage, ob der Lebensraum, das psychologische Feld, ein innerpsychisches oder ein öko-psychologisches Konstrukt darstellt. Lewins Formulierungen in dieser Hinsicht sind immer wieder zweideutig und entsprechend sind die Deutungen in der Sekundärliteratur, welche Lewin fälschlieberweise in Lager verweisen, die vom Phänomenalismus bis zum PhysikaUsmus reichen. In moderner Terminologie kann man ernstlieb fragen, ob Lewin ein Vorläufer des Kognitivismus der 70er und 80er Jahre war oder ob er als ein Begründer einer real-ökologiseben Auffassung von Psychologie gesehen werden soll (vgl. Lang, 1981). Auf dem Hintergrund der oben geschilderten Rezeption bin ich bisher der Meinung gewesen, der Lebensraum sei als wirkende Realität innerhalb des Individuums zu denken, Lewin sei also ein nicbt-pbäoomeoologiscber Kognitivist. Das ergab sieb aus der Annahme der biologiseben Fundiertbeil der psycbologen Genesereiben. Durch das Einverständnis Lewins mit Brunswiks Einwand, der Lebensraum sei post-perzeptuell und prä-bebavioral hatte Lewin gewissermallen ein Gütesiegel auf diese Auffassung gedrückt. Er reagierte ja auf die Kritik, indem er seine Konzeption ausweitete und die Begründung einer psychologischen Ökologie einleitete (Lewin, 1943-1947). Nach Gewinn meiner neuen Genesereiben-Heuristik und erneuter Lektüre vieler Texte Lewins bin ich jedoch jetzt zur Überzeugung gekommen, diese Auffassung sei besser durch die Annahme zu ersetzen, Lew in habe von früh weg ein "überpsycbisches", eben ein psychologisches Konstrukt im Sinne gehabt, welches wir beute am bestem mit dem Ausdruck ökopsychologisch bezeichnen. Es bleibt in dieser Auffassung zu verstehen, warum sieb Lewin nicht früher eindeutiger für seine Sache engagiert und warum er nicht spätestens bei jener Gelegenheit in Chicago 1941 Brunswik bzw. den Funktionalisten und Bebavioristen den Einkapselungsvorwurfzurückgespiegelt hat: sie kapselten den Menschen aus, seien mit der statistischen Behandlung von Reiz und Reaktion prä-perzeptuell und post-bebavioral; Psychologie müsse Konstrukte, umfassend den Menschen und seine Umwelt, entwikkeln. Für eine solche Argumentation hätte Lew in auf seine früheren Texte zurückgreifen können. Ein Beispiel: Im allgemeinen verstehe man die zeiträumliebe Ausweitung der psychischen Umwelt des Kindes so,
• ••. d~ das Kind allmählich lernt, eine immer breitere Umwelt zu beherrschen, und dank der auch zeitlich grö~Jeren Überschau fähig ist, weiter ausholende Aktionen durchzuführen. Dieser Vorgang hat zugleich aber eine zweite Seite, die nicht minder entscheidend ist. Damit, dafi die Umwelt psychische Existeoz gewinnt, wird sie ein Teil der Seele des Kindes. Von dem psychischen Ganzen, das dieses Kind ausmacht, bildet das 'Ich' des Kindes dann nur einen Teil neben den Freunden des Kindes, seinen Spielsachen u.a.m. Der eigene Körper wird damit psychologisch zu einem Teil eines viel umfassenderen Umweltbereiches. Ieik VeriJnderung in tkr psychisch existenten Umwelt tks Kintks ist daher ein unmittelborer Eingriff in die seelische Substonz tks Kintks und damit in die spezifische Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtslage, in der das psychische Ganze, das das Kind psychologisch darstellt, sich momentan befindet. Nicht nur soziologisch, sondern auch individualpsychologisch ist also das körperliche Kind nur als ein unselbständiger Teil eines umfassenderen Bereiches anzusehen, von dessen Gesamtkonstellation und Verinderungen das momentane psychische Geschehen und damit auch das Ausdrucksgeschehen abhängt" (Lewin, 1927b, KLW Band 6, S. 82f, Hervorhebungen im Original). Ich mufi mir versagen, weitere Belege beizubringen. Lewin war also vielleicht schon in den 20er Jahren ein ökologischer Entwicldungspsychologe. Er hat seinen Standpunkt nur nicht mit harter Konsequenz vertreten. Das ist nicht verwunderlich; denn was hätte die Fachwelt mit einem Psychologen anfangen sollen, der behauptet, die Seele sei zum Teil auch aufierhalb des Kindes?
Ober die entwiclclungs- und sozialpsychologische zur iJiwpsycho/ogischen Betrachtungsweise (Lewin, 1939, 1943-1947, 1947) Es dringt sich demnach auf, die verschiedenen Fragestellungen, die Lewin in seinen amerikanischen Jahren in Angriff genommen hat, auf ihren Ort im vorgeschlagenen Deutungsentwurf zu untersuchen. Um "die Psychologie dem Status einer logisch begründeten Wissenschaft" (Lewin, 1936/1969, S. 10) anzunähern, sei es nötig, der Logik "nicht nur des Zeitbegriffs, sondern auch des Raumbegriffs" (ebenda, S. 9) nachzugehen. Die Frage nach der Zeit in der Psychologie steht am Ursprung des Genesereihenpostulats. Damit ist die Zeit aber erst methodologisch, noch nicht inhaltlich in die Psychologie eingeführt. Mikropsychologisch kann sie in den aktuellen Austauschprozessen zwischen Individuum und Umwelt, mabopsychologisch in den längerfristigen Entwicldungen beider angegangen werden. Lewin ist aus methodologischer Logik zu dem Entwicldungspsychologen geworden, der er in den Berliner Jahren schon war, und nicht erst durch die Berufung an die /owa Child Welfare Stotion.
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Lewin betonte wiederholt die zeitlose Gegenwart des Lebensraumkonstrukts; freilich vor allem, um umso schärfer Reihen von Lebensraum-Zuständen in ihrer Abfolge denken zu können. Verhalten und Entwicklung müsse aus einer Gesamtheit der zugleich gegebenen Tatsachen abgeleitet werden (l..ewin, 1943, KLW Bd. 4, S.13Sft). Doch formalisierte er die Entwicklungsreihen nicht so gründlich wie die Lebensraum-K.onstellationen und ihre aktuellen Veränderungsschritte. Tatsichlieh sind die Reihen von Lebensraum-ZustAnden (methodologisch die Abfolgen von "Geschehensdifferentlalen") reflexive Konstrukte des ForscheiS. Sie müssen aber als konstitutiv für die Entwicklung des Individuums vorausgesetzt werden, obwohl die hinzukommenden und die hinauswirkenden Einfluflströme nur rudimentär fa~bar sind. Dem Individuum selbst hingegen sind sie auch nur partiell und erneut bio~ reflexiv, auf der lrrealitits-Ebene, also in einem Sekundir-Feld, gegeben. Das Individuum kann seine bisherige Entwicklung, auch mögliche klinftige Entwicklungen oder gar solche "vergangene•, die auch bitten möglich sein können, aber nicht wirklich geworden sind, erlebnismi~ig, im Traum usf. reflektieren; aber es ist bis heute weit offen, ob und wie solche Reflexionen in die Genesereihen zurlickwirken. Der FoiScher anderseits kann ohne weiteres ein Individuum eine Zeitlang bei den Begegnungen mit seiner Umwelt begleiten; jede Begegnung zwischen Individuum und seiner Umwelt mü~ da einem Zeitschnitt entsprechen und als aktueller Lebensraum dargestellt werden. Die Feinheit der zeitlichen Auflösung des Geschehens ist primär Sache des Forsc;:heiS; doch bietet der Begegnungsverlauf"natürliche" Segmentierungen gewisserma~n an. Es wird bei dieser Betrachtung sofort einsichtig, da~ ein daraus abgeleitetes Konstrukt nicht nur einen zeitlichen, sondern, insofern verschiedenartige Begegnungen der Individualgenesereihe mit Umgebungsreihen stattfinden können, auch einen räumlichen oder, besser noch, einen ökologischen Charakter bekommt. Auch diese Idee war bereits 1912 vorgezeichnet, wenn Lewin feststellt, da~ Entwicklung von einfacher Veränderung dadurch unterschieden werden kann, da~ die biologische Reihe im Unterschied zu "der physischen Veränderung charakterisiert [1St] durch einen Zweck-, Ziel- oder Aufgabenbegriff, in bemg auf welchen ldentitit der Wandlung besteht, während in der (physischen) Veränderung lediglich die bio~ zeitliche Aufeinanderfolge der Identitit grundlegend ist" (KLW Bd. 1, S. lOSt). Unabhängig davon, ob man "die biologischen Abhängigkeiten letztlich auf physische Abhängigkeiten zurückführen" wolle oder nicht, seien "die Objekte der Biologie nicht au~erhalb des physischen Erhaltungsgesetzes• zu stellen, "während physische Objekte sehr wohl au~rhalb des biologischen Entwicklungsgesetzes stehen können" (ebenda S. 106). Das Räumliche gewinnt in Lewins Psychologie mithin ebenfalls früh eine entscheidende Bedeutung, und dies nicht nur repräsentativ in der räumlichen D81Stellungsweise des Lebensraums und der ihn bestimmenden Dynamik in der topologischen und Vektorpsychologie, sondern auch empirisch, weil räumliches Verhalten (z.B. das Umwegproblem, vgl. 62
Psychologische Gertuereihen
dazu auch KLW Bd. 4, 8.99-131) in der Feldtheorie am leichtesten handhabbar ist (vgl. Lewin, 1917). Eine markante konzeptuelle Erweiterung gewinnt Lewins räumliches Denken Ende der 30er Jahre mit der Aufnahme von sozialpsychologischen Themen. Im Anschlu~ an die berühmt gewordenen Untersuchungen zum Führungsstil in Jugendlichen-Gruppen entwickelt Lewin ein feldtheoretisches Verstiindnis der Adoleszenz (1939, KLW Bd. 4, 193ft). Er konzeptualisiert Adoleszenz als eine soziale Lokomotion, einen Wechsel der Zugehörigkeit von der Gruppe der Kinder in die Gruppe der Erwachsenen. Ein solcher Lagewechsel, der "beispielsweise in der Politik als fait accompli sehr gefürchtet" werde, ändere aber "nicht nur die augenblickliche Umgebung einer Person, sondern mehr oder weniger die gesamten Verhiiltnisse" (ebenda). Lewin stellt diesen Obergang und Verhältniswechsel in verschiedenen Facetten ausfiihrlich dar. Das Wechselspiel zwischen den durch die Zugehörigkeit zur Kindergruppe wirkenden Kräften im Lebensraum und denjenigen, die durch die Angebote und Aufforderungen der Erwachsenengruppe entstehen, ruft nach einer übergeordneteneo Betrachtungsweise, für die Lewin später den Begriff des sozialen Feldes einfühn. Bereits in The Background ofConflict in Marriage (1940) entdeckt Lewin, da~ die Sozialpsychologie mit einem innerpsychischen Begründungskonstrukt allein nicht auskommt. Auf einer ersten Ebene seien die individuellen Lebensräume der Gruppenmitglieder zu analysieren; auf einer zweiten die Repräsentationen der Lebensräume der je andem im je eigenen Lebensraum; auf einer dritten sei ein Übergang nötig zur Formulierung eines überindividuellen Feld-Konstrukts aus der Sicht des Forschers. Aus der Analyse der je eigenen und der je vom andem induzierten Lebensräume von Ehemann und Ehefrau lassen sich die jeweils nächsten Schritte der Interaktion verstehen. Um dem Schicksal der Ehe folgen zu können, bedarf es jedoch einer Betrachtung eines Ganzen, von dem die beiden Lebensräume und das weitere Umfeld seinerseits Teile darstellen. Denn in diesem Ganzen werden Kräfte zur Wirkung kommen, die in den Teilen selbst nicht existieren (vgl. auch KLW Bd. 4, S. 245ft). Und es wird auch sofort deutlich, da~ dieser konzeptuell-räumlichen Ausweitung des psychologischen Gegenstandes eine erweiterte psychologische Zeitlichkeit folgt: auch der soziale Wandel mu~ zum Bestandteil psychologischer Betrachtung werden (Lewin, 1947, vgl. KLW Bd. 4, S. 249ft). Obwohl erst im Todesjahr 1947 im Zusammenhang publiziert, bestimmt die damit gewonnene Begriffiichkeit zweifellos das Denken der "Gruppendynamiker" seit den frühen 40er Jahren (Lewin, 1947). Da~ Lew in hier die wissenschaftstheoretischen Einsichten seiner frühen Jahre verkürzt und .wie nebenbei einfJie~n lä~t, kann leicht übersehen werden: "Entwicklungsstand der Wissenschaften", "Das Problem der Existenz", "Die Wirklichkeit sozialer Phänomene" und andere Überschriften machen die Kontinuität seines Denkens zumindest dem Kenner sehr deutlich. Lewin vermeidet sorgfältig, die beiden Ebenen der Analyse, das individuelle und das soziale Feld, gegeneinander auszuspielen. Methodisch schlägt er einen "Dreischritt" vor: von der Rekonstruktion der individuellen Lebensräume
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aller Gruppenmitglieder müsse zum gemeinsamen sozialen Feld fortgeschritten werden und von dort wieder zurück zu den Auswirkungen in den Lebensräumen der Individuen, weil es darauf ankomme, wie die soziale Situation von den Beteiligten •gesehen• wird. Analoges gilt für die Untersuchung von Interaktionen zwischen Gruppen (KLW Bd. 4, S. 247t). Was für Mittel hat der Psychologe, diese physischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zu analysieren, die im sozialen Feld eine der psychologischen Umwelt im individuellen Lebensraum analoge Rolle einnehmen? Lewin stellt fest, da~ solche Analysemittel fehlen und entwirft eine Disziplin, die psychologische Ökologie, um diese riesige Aufgabe in Angriff zu nehmen (1943-47). Er stellt fest, da~ Veränderungen von wichtigen Verhaltensweisen im Gruppenleben, die durch Ma~nahmen wie Information, Anreize, Verbote und andere Führungsinstrumente erzielt werden - das Spektrum seiner Untersuchungsbeispiele reicht von der Produktion eines Unternehmens über Kauf und Verkauf von Kriegsanleihen oder den Weif'-/Schwarzbrotkonsum-Quotienten bis in den pädagogischen oder psychotherapeutischen Bereich -, nicht selten nur kurzlebig sind. Nach kurzem "Strohfeuer" kehre das Niveau solcher Flief'gleichgewichts-Variablen wieder auf den vorherigen Stand zurück. Es ist allgemein bekannt, da~ Lewin zur Steuerung und Sicherung der Gewohnheitslinderungen das Verfahren der Gruppenentscheidung entwickelt und perfektioniert hat, das bis heute in der angewandten Sozialpsychologie einen prominenten Rang einnimmt. Dabei handelt es sich zunächst um Veränderungsprozesse in individuellen Lebensriumen, die aber durch Krll.fte aus dem sozialen Feld induziert werden. Weniger bekannt ist der Vorschlag, auf dem Weg über koordiniertes Individualverhalten auch überdauernde Verin· derungen im sozialen Feld selbst, einschlief'lich der nichtpsychologischen Tatsachen, zu erreichen. Seine Theorie der "Kanalisierung sozialer Prozesse" verweist auf Umstrukturierungen der kulturellen Gegebenheiten (1943-47, KLW Bd. 4, S. 293ft) und verweist damit über die psychologische Ökologie hinaus auf eine ökologische Psychologie. Will man zum Beispiel verstehen, warum die Leute essen, was sie essen, so mu~ man zeigen, wie die psychologischen und die nicht-psychologischen Tatsachen einen Zusammenhang bilden, der in Form von "Kanälen" und ihrer "Pförtner" dargestellt werden kann, über welche beide das Essen auf den Tisch kommt. Das ist offensichtlich weder bio~ psychologisch noch bio~ nicht-psychologisch (ökonomisch, soziologisch, technisch usf.) zu verstehen. Der Konsequenz seiner Leitidee folgend, die Bedingungen irgendeiner Erschei· nung in ihrer Genese zu suchen, hat Lewin mithin die Grenzen der Psychologie gesprengt und ist über eine sozialpsychologische Stufe zur Idee einer Wissenschaft des ökologischen Systems vorgestossen.
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Lewins grosse Herausforderllllg der Psychologie Es bleibt, daran zu erinnern, dali Lewins Psychologie hier nur punktuell unter der Heuristik der psychologischen Genesereihen untersucht worden ist. Ich glaube beanspruchen zu dürfen, dati diese Betrachtungsweise die Rezeption mancher Einzelheit vertieft und den Zusammenhang in Lewins Gesamtgestalt erhöht. Marrow (1969, S. 235) zitiert einen persönlichen Bericht von Donald Adams, der Lewin in seinem letzten Lebensjahr gefragt hat, wann er die vergleichende Wissenschaftslehre wieder aufzunehmen gedenke. Lewin habe sehr ernst geantwortet: "Ich muii das tun. Was wir jetzt hier erforschen, wird man in fünf oder zehn Jahren sowieso herausfinden; diese andere Sache aber vielleicht erst in 50 Jahren." Lewins Einfluti aufviele Bereiche der Psychologie ist unbestritten. Ist seine Anregung und Herausforderung, auch jüngere Wissenschaften, insbesondere aber die Psychologie, auf der Basis von explizierten Genesereihen zu betreiben, nicht mindestens so bedeutsam? Wann und wie werden wir sie erfüllen können?
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Kurt Lewin als Methodologe und Methodiker- Marginalien über Bleibendes und Ver~gliches aus einem grossen Lebenswerk Lothar Sprung und Uwe LinU Lewin als Methodologe und Methodilrer- Was soll's? "Sonntagsreden" und •Alltagspraxis" sind nicht selten zweierlei. Filr die Wissenschaft gilt es dabei zu bedenken: "Filr den Typus der Begriffsbildung in einer bestimmten Wisssenschaft ist es nicht entscheidend, was der Forscher sozusagen privatim, als Philosoph, filr Meinungen verficht, sondern welche Thesen in den tatsächlich zur Anwendung kommenden Methoden der Forschungsarbeit implizit enthalten sind" (Lewin, 1981, S. 281). Blickt man mit den Augen eines heutigen Methodologen und Methodikers, auf Lewins wissenschaftliches OEuvre (Sprung & Sprung, 1984; Kriz, Lück & Heidebrink, 1990), dann stellt man eine erstaunliche Kongruenz zwischen "Wissenschaftstheorie" und seiner "Wissenschaftspraxis" fest. Dies dilrfte bei einem Manne wie Lewin auch nicht verwundern, hatte er doch faiih konstatiert: "Auch die Wissenschaftslehre wird, sofern sie als 'empirisch', nichtspekulative Wissenschaft auftreten will, gut daran tun, sich mehr an den in der tatsichliehen Forschungspraxis der Einzelwissenschaften implizit enthaltenen philosophischen Thesen zu orientieren, als an ihrer philosophischen 'Ideologie'" (Lewin, 1981a, S. 234). Dies kongruente Verstindnis gilt auch filr das Verhältnis von "Theorie" und "Praxis". Bekannt ist seine Maxime, wonach es nichts Praktischeres gibt, als eine gute Theorie. In einer seiner zahlreichen Formulierungen liest es sich so: "Es ist hier kein aus konkreten Gegebenheiten Abstrahiertes gemeint, sondern eine Theorie, die die Realitit der einzelnen Fälle direkt berilhrt" (Lewin, 1987, S. 442). Deutlich wird dies bereits in seiner Berliner Periode. Bereits in dieser Zeit hatte er festgestellt: "In der sowohl beim Theoretisieren wie Experimentieren gleichermajkn allgegenwärtigen dynamischen Spannung zwischen dem Streben nach umfassenden theoretischen Ansitzen und dem Ergreifenwollen der konkreten Ereignisse mit all ihren Wichtigkelten und Nichtigkeiten sehe ich das Grundphinomen des wisse~haftlichen Lebens, zumindest des experimentellen Forschers" (Lewin, 1926, S.8). Sicher hat es im Laufe seines Lebens Wandlungen gegeben. Sie im einzelnen zu verfolgen, würde aber ein eigenes Thema bilden. Wir wollen heute zwei Fragen nachgehen: 1. Welche methodentheoretischen Invarianten bestimmten Lewins Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis? 2. Was ist - mit Blick auf die heutige "Methodenlehre" - aus ihnen geworden?
Lothllr Sprung & Uwe LinM
zu diesem Zweck haben wir seine wissenschaftstheoretischen Arbeiten auf der einen und seine empirischen Arbeiten, sowie die seiner Schüler, auf der anderen Seite durchgemustert und sie mittelbar einzuordnen versucht in die Geschichte der psychologi' sehen Methodenlehre (Sprung & Sprung, 1983, 1990, 1991; Unke, 1988). In diesem Sinne sind unsere Bemerkungen auch als Marginalien zu "Bleibendem und Vergänglichem" in einem gro~n Lebenswerk zu verstehen. Blickt man vom Ende des Lewinsehen Lebenswerkes her auf sein Gesamtwerk, so llij3t sich feststellen, daj3 viele Vorstellungen seines Wissenschaftsverstlindnisses früh ange. legt worden sind. So sind beispielsweise nach Graumann (1982, S. 16) wesentliche Teile seiner Feldtheorie bereits 1920 entwickelt. Für die Wissenschaftstheorie ist besonders der frühe und nachhaltige Einfluj3 seines Lehrers Ernst Cassirer wesentlich gewesen. Nicht umsonst weist Lewin noch am Ende seines Lebens auf dessen prägenden Einfluj3 hin (Lewin.1981b). Dabei scheint Cassirers Werk "Substanzbegriffund Funktionsbegriff' aus dem Jahre 1910 von besonderem Einfluj3 auf den jungen Lewin gewesen zu sein. Eine Schlüsselarbeit für Lewins wissenschaftstheoretisches Denken auf der einen Seite und sein empirisch - psychologisches Wissenschaftsverständnis auf der anderen Seite, stellt eine frühe kleine Schrift dar, die er als Kriegsfreiwilliger des I. Weltkrieges schrieb. Sie erschien 1917 mit dem Titel "Kriegslandschaft" unter der Rubrik "Mitteilungen" in der "Zeitschrift für angewandte Psychologie" und umfaj3te acht Seiten. In dieser phänomenologischen Studie tauchen in impliziter oder expliziter Form Vorstellungen auf, die sein Lebenswerk bestimmen sollten. Sie sind später unter Begriffen wie "Feldtheorie", "Topologische Psychologie", "Handlungs- und Affektpsychologie", "Wille", "Vornahme", "Dynamische Psychologie", usw. in die Geschichte eingegangen.ln der "Kriegslandschaft" sind- gleichsam in stotu fUIScendi befindlich - sowohl methodologisch-methodische Reflexionen auf der einen als auch lebensnahe psychologische Forschungen auf der anderen Seite, thematisch vereint. Später sollte sich Lew in häufiger getrennt und systematisch zu beiden Arbeitsgebieten
I
liu~m.
Verlassen wir nun die wenigen Bemerkungen zur Genese seiner methodentheoretischen Vorstellungen und fragen wir direkt nach den Invarianten seiner Methodologie und Methodik. Unter diesem Blickwinkel betrachtet llij3t sich wiederum eine allgemeine Feststellung treffen: Lewins Methodenbegriff ist weit und kommt dem heutigen Methodenbegriff in seiner vierfachen Verwendung nahe. Keinesfalls sehrlinkt er ihn jedoch auf einen Methodenbegriff ein, so z.B. auf den des Forschungsexperiments. Allerdings neigt er dazu - wie viele seiner Zeitgenossen - alle Methoden, zumindest alle Untersuchungsmethoden, als "Experimente" zu bezeichnen (vgl. z.B. Lewin, 1982, 1983). Wenn auch die begrifflichen Unterscheidungen in der Methodentheorie seiner Zeit, noch nicht so weit fortgebildet waren, so wird doch deutlich, daj3 Lewin den Methodenbegriff bereits in der vierfachen Bedeutung verwandte, wie er heute in der methodischen Uteratur gebräuchlich ist. Es ist dies die Unterscheidung der Methoden in: 70
Kurt Lewin als Methodolop und Medtotliklr
1. Methoden als Forschungsmethoden, d.h. als Verfahren zur Generierung neuen Wissens. 2. Methoden als Diagnosemethoden, d.h. als Suchmethoden von bekanntem Wissen in unbekannten Suchräumen. 3. Methoden als lnterventionsmethoden, d.h. als Verfahren der gezielten Veränderungen bestehender Zustände und nach Möglichkeit auch deren Bedingungen. 4. Methoden als EvalUIJtionsmethoden, d.h. als Verfahren des normativen Vergleichs und der Bewertung.
Lewins methodologische und methodische Prinzipien . Wie sah nun Lewins methodologisch-methodische Konzeption im einzelnen aus? Was war für Lewins wissenschaftstheoretisches Verständnis und die daraus resultierende Praxis charakteristisch? Um den Umfang dieses Beitrags knapp zu halten, wollen wir unsere Ergebnisse in thesenharter Form in nenn Prinzipien zusammenfassen und anschlief'end jeweils kurz danach fragen, was aus ihnen innerhalb der heutigen Methodenlehre geworden ist.
Das Prinzip des biotischen Versuchs. Es besagt, dafl ein Versuch "lebensnah" gestaltet werden mufl (Lewin, 1981a, S. 252). Das bedeutet, dafl sich ein psychologischer Versuch nicht primär am Modell der isolierenden Einzelbedingungsvariation des klassischen naturwissenschaftlichen Laborexperiments orientieren soll. Vorbild ist vielmehr eine komplexe, dem Feldversuch verwandte Bedingungsvariation. Sie wird vor allem durch die Variation der Untersuchungssituation realisiert. Nach Lewin sind Laborversuche oftmals unnatürlich und damit lebensfern gestaltet (Lewin, 1928). Das bedeutet aber nicht, dafl im Experiment die natürliche Welt noch einmal neu geschaffen werden mufl. Die experimentelle Situation mufl jedoch dem Geschehenstyp der Realsituation entsprechend gewählt werden (Lewin, 1929, s. 301). Biotische Experimente müssen eine phänomenerzeugende Bedingungsvariation der unabhängigen Variablen realisieren. Sie müssen die Phänomene als abhängige Variablen aus ihren verursachenden Bedingungen heraus erzeugen und damit erklären. Mit den Worten Lewins gesagt liest es sich dann beispielsweise so: "Bedingungskonstellationen sind im allgemeinen nur dann mit einer für Gesetzesfeststellungen hinreichenden Sicherheit zu durchschauen, wenn sie vom Experimentator willkürlich gesetzt sind" (Lewin 1929, S. 28). Als Beispiele sei auf die Arbeiten seiner Doktorandinnen Tamara Dembo (1931) über den "Ärger als dynamisches Problem" oder von Gita Birenbaum (1930) über das "Vergessen einer Vorannahme" verwiesen.
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Offenbar ist auch Lewins frühe Vorliebe für Filmaufnahmen und ihr Einsatz in der Psychologie in diesen methodologischen Kontext mit einzuordnen, weil sie den Bedingungen eines biotischen Versuches sehr nahe kommen können (Lewin, 1926a; vgl. auch Lück, 1985, 1987, 1989a, 1990). AufVorstellungen vom "biotischen Versuch" bzw."biotischen Experiment", sollten später Konzeptionen aufbauen, die z.B. unter Begriffen wie "Quasiexperiment" oder "PräExperiment" bekannt geworden sind. Als Beispiel sei auf die Arbeiten von Campbell & Stanley (1966) sowie Campbell (1968, 1971) verwiesen. Sprung & Sprung {1984, 1989) haben später diesen Ansatz zu generalisieren versucht und ihn zu einer humanwissenschaftliehen Methodentaxonomie, der "Methodenhierarchie", hin entwickelt. Das Prinzip des Geschehenstyps. Es besagt, da~ eine Untersuchungssituation prototypisch für eine Klasse natürlicher Lebenssituationen sein mu~. "Für die Charalaerisierung eines konditional-genetischen Geschehenstypus bestehen im wesentlichen zwei Möglichkeiten: Man kann 1. den Typus entweder durch Angabe einer Reihe aufeinander folgender Phasen und der Art der Abhängigkeit dieser Phasen voneinander schildern oder 2. durch Angabe darüber, wie die verschiedenen wesentlichen Eigenschaften des Geschehens miteinander zusammenhängen" (Lewin, 1981, S. 304-305). Und an anderer Stelle führt er dazu aus: "Hält man sich gegenwärtig, da~ die Gleichheit des Geschehenstypus die Voraussetzung für die Gleichheit der Ergebnisse einer Reihe von Experimenten ist, so wird auch der scheinbar paradoxe Umstand verständlich, warum man, wie sich in der Psychologie immer wieder herausstellt, nicht bei möglichst 'einfachen' äu~ren Bedingungen, sondern gerade im Falle komplizierterer äu~rer Bedingungen konstante Ergebnisse erwarten darf" (Lewin, 1981, S. 114). In diesem Sinne mu~ eine Untersuchungssituation, soll sie dem gleichen "Geschehenstypus" der entsprechenden Realsituationen entsprechen, struktur- und proze~gleich zu dieser Klasse natürlicher Situationen sein. In diesem Fall mu~ die Auswahl oder die Gestaltung einer Untersuchungssituation ganzheitlichen Modellcharakter für die damit abgedeckten Alltagssituationen besitzen. In der Sprache Lewins liest es sich dann beispielsweise so: "... bei allen Problemen des höheren Seelenlebens lä~t sich nicht ein einziger experimenteller Schritt vorwärts tun, ohne da~ man diese Abhängigkeit des Einzelgeschehens aus dem speziellen Gesamtgeschehen, in das es ~ingeht, von Grund auf berücksichtigt" (Lewin, 1981, S. 286). Das Untersuchungsgeschehen :entspricht dann einem Geschehenstyp, wenn es das zu untersuchende Phänomen in seinem natürlichen Zusammenhang auftreten lä~t und es damit lebensnah untersuchbar macht.
"Nicht der Umstand, ob zeitlich ein gewisser anderer Akt vorausgegangen ist oder nicht, sondern der Charakter des Handlungsgeschehens selbst wird man bei der Zuordnung des Geschehens zu einem bestimmten Typus in den Vordergrund zu stellen haben", heiflt es -
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Kurt Lewin als Mellwdologe und Mfthodiker
von ihm selbst hervorgehoben- in einer seiner bedeutenden frühen Schriften (Lewin, 1926,
s. 83). Als Beispiel sei auf die Untersuchungen seines Doktoranden Georg Schwarz (1927, 1933) über die "Rückfälligkeit bei Umgewöhnung" verwiesen. Auch hier kam ihm wiederum das Mittel des Films sehr entgegen: "Die Möglichkeiten des Filmstreifens, einen Geschehensablauf festzuhalten, macht ihn zu einem verlokkenden Hilfsmittel für die wissenschaftliche Erforschung und Demonstration auf allen Gebieten, wo charakteristische Eigentümlichkeiten nicht im einzelnen, momentanen Zustand, sondern erst im ganzen Geschehensablaufs zutage treten" (Lewin, 1926a, S. 414). Auf Vorstellungen vom "Gesch~henstyps" sollten später Konzeptionen aufbauen, die z.B. unter Begriffen wie "externe Validierung", "repräsentative Versuchsplanung" oder "ökologische Validierung" bekannt geworden sind. Als Beispiel sei wiederum auf Campbell & Stanley (1966) aber auch auf Brunswik (1947, 1952, 1956) verwiesen. Wir haben später versucht, einige dieser Vorstellungen im Rahmen unserer "Methodentheorie" humanwissenschaftlicher Forschungs- und Diagnosemethoden", dem sogenannten" Kommunikationstheoretischen Grundansatz" zu integrieren und weiter zu entwickeln (Sprung & Sprung, 1984, 1990; Sprung, Sprung & Müller, 1991). Das Prinzip der Mathematisierung. Es besagt, dafl zur Experimentalpsychologie als Kom-
plementierung eine Theoretische Psychologie gehören mufl, die sich der Mathematik bedient. Das bedeutet, daf' die Beschreibung, Analyse und Modeliierung psychischen Geschehens mit mathematischen Mitteln vorgenommen werden sollte, wo immer das vom Entwicklungsstand her möglich ist (Lewin, 1934, 1969). Die Mathematisierung ist notwendig, weil die mathematische Beschreibung, Analyse und Modellierung, eine tiefere Erkenntnis in Form von Gesetzesformulierungen, Prognosen und Erklärungen gestattet. "Eine derwichtigsten wissenschaftlichen Methoden, die die allgemeinen Theorien von konkreten Einzelfällen direkt faflt, ist die richtig angewandte Mathematik" (Lewin, 1987, S. 442). · Zur Statistik hatte Lewin offenbar ein ambivalentes Verhältnis, indem er sie einerseits aus seiner wissenschaftstheoretischen Sicht heraus kritisch behandelte (Lew in, 1981c), sie andererseits aber- zumindest in elementarer Form - in seinen empirischen Arbeiten berücksichtigte, so beispielsweise wenn er Häufigkeitsauswenungen vornahm und diese Ergebnisse untereinander quantitativ verglich. Offenbar stand er dem probabilistischen Denken fern und hielt es hier wie sein grof'er Zeitgenosse Alben Einstein, der sich auch schwer vorstellen konnte, dafl "der liebe Gott würfelt". In bezugauf seine allgemeinen Vorstellungen einer "Mathematisierung" der Psychologie, hat Lew in Recht behalten. Es fand seit seiner Zeit und es findet heute beschleunigt ein allgemeiner Trend der Mathematisierung von Teilen der Psychologie statt. Am deutliebsten sichtbar innerhalb der Methodik der quantitativen Datenanalyse (Gutjahr, 1971; Uenen, 1973; Rudinger, Chaselon, Zimmermann & Hennig, 1979; Sydow & Petzold, 1981; Borg, 1981, um nur einige willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen). Gegenständ-
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lieh betrachtet erinnern wir beispielhaft an die immer umfangreicher und leistungsfähiger werdenden Gebiete der Deskriptionsstatistik, der lnferenzstatistik, der Testtheorie, der Falttorenanalyse, der Clusteranalyse, an die Methoden der Computermodeliierung und Computersimulation usw. In seinen speziellen Erwartungen in bezug auf eine mathematische Psychologie •topologischer" Art haben sich Lewins Hoffnungen jedoch bisher nicht in dem Mafle erflillt, wie er es erhofft hatte. Das Prinzip tkr DytuJmik. Es besagt, daf3 der eigentliche Zugang zur Aufklärung und Erklä-
rung psychischen Geschehens von der Seite seiner dynamischen Grundlagen her erfolgen • ••• damit also ein Proze~ stattfindet, mu~ arbeitsfähige Energie freigesetzt werden. Man wird also bei jedem seelischen Geschehen zu fragen haben, wo die verursachenden Energien herstammen" (Lewin 1929, S. 312}. Danach stellt die primäre Aufklärung der dynamischen Grundlagen psychischer Erscheinungen den basisbildenden Zugang zur Erklärung aller psychischen Erscheinungen dar. Mit anderen Worten: die Untersuchungsparadigmen müssen so entwickelt oder ausgewählt werden, da~ sie in der Lage sind, die jeweils vorliegenden Emotionen, Affekte, Bedürfnisse, Quasibedürfnisse, Motivationen, usw ., d.h. die antriebsmii~igen Grundlagen eil}es psychischen Geschehens zu erfassen. Negativ ausgedrückt, sie diirfen sich nicht auf die Erfassung und Analyse der strukturellen Seiten des Untersuchungsgegenstandes beschränken oder gar nur erkenntnismä~ige psychische Werkzeugfunktionen zum Gegenstand machen. Immer wieder beschäftigte sich Lewin mit der methodologisch-methodischen Umsetzung seiner diesbezOgliehen Vorstellungen. Zwei Beispiele möge das Gemeinte illustrieren. Auf dem Marburger Psychologenkongre~ im April 1921 denkt er paradigmatisch laut: mu~.
"Die Durchführung beruht auf folgendem Gedanken: Li~t man ein an und für sich wenig intensives Gefiihl nicht zur Entwicklung kommen, z.B. durch eine intensive Beschäftigung der Vp mit einer aufgegebenen Tätigkeit, so bringen weitere, an und für sich ebenfalls nicht besonders starke Gefühlsreize ihnlieber Art unter Umständen eine beträchtliche Steigerung des Gefühls mit sich und können zu lebhaften Affekten führen• (Lewin, 1922, 8.146). Einige Jahre später, 1926, lesen wir: Die "Aufgaben werden bei der Untersuchung der Triebhaftigkeit also allenfalls den Zweck haben, die Vp in jene aufgabenfreie Situation hineinführen, auf deren Beobachtung es ankommt. • Und weiter tührt er aus:
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Kurt Lewin als Methodologe IUid MethodiJr;er
"Beim affektiven Geschehen gilt es hier ... nicht, eine bestimmte Form des Ausdrucks zu studieren, sondern es kommt darauf an, das von der Norm abweichende in der Art des Auf- und Ausbaus der affektiven Spannungen selbst zu zeigen. Experimentelltechnisch lä~t sich diese Aufgabe in der Regel nicht durch eine einzelne Aktion bewältigen, sondern nur durch eine geeignete Aufeinanderfolge einer Reihe von Situationen derart, da~ der eigentlichen entscheidenden Situation eine genügend experimentell geformte Vorgeschichte vorausgeschickt wird, auf der sich die Spannungen der Hauptsituation aufbauen können" (Lewin 1926a, S. 421). Gerade auf diesem Gebiet der "dynamischen Grundlagen" offenbart sich sein in Teilen "quasi-physikalistisches" wissenschaftstheoretisches Konzept besonders deutlich. In diesem Zusammenhange drückt er es auch besonders deutlich aus, wo die Experimentalpsychologie besonders lernen kann. In seiner Sprache liest sich das dann so: "In der modernen Physik ... beruht das Auftreten der physikalischen Vektoren allemal auf einem Zueinander mehrerer physikalischer Fakten, insbesondere auf einer Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung" (Lewin, 1981a, S. 259). Dem Vorwurf des "Physikalismus" in den Begriffswahlen wie beispielsweise bei denen der "Energie", "Kraft", "Spannung" oder "System" weist er mit dem Hinweis zurück: "Jedenfalls sind diese Begriffe m.E allgemein-logische Grundbegriffe der Dynamik". Und er fügt hinzu: "Sie sind keinesfalls ein Spezifikum der Physik, sondern zeigen sich, wenn auch bisher weniger präzis entwickelt, z.B. in der Ökonomik, ohne da~ man deshalb etwa annehmen mü~te, da~ sich die Ökonomik irgendwie auf die Physik zurückführen Jie~" (Lewin, 1926, S. 23-24). Das "Dynamische Prinzip" ist ein besonders charakteristisches Prinzip seiner Psychologie, das sich praktisch durch alle seine Arbeiten zieht und immer wieder Gegenstand wissenschaftstheoretischer Erörterungen bildet (Lewin, 1926, 1929, 1981a). Insbesondere dies Prinzip rückt ihn in die Nähe psychoanalytischen Denkens, worauf bereits mehrfach verwiesen wurde (Marrow, 1977; Lück & Rechtien, 1989). Wenn auch die Erforschung der motivationalen und der affektiv-emotionalen Prozesse, im Gegensatz zu den kognitiven Prozessen, in der Folgezeit innerhalb der Experimentalpsychologie nicht in dem Umfange 'genommen hat, wie sich Lewin das wahrscheinlich gewünscht hat, so ist doch die Prämisse vom prozessualen und dynamischen Cbarakter psychischer Erscheinungen, ein allgemeines Kennzeichen der Experimentalpsychologie geworden. Allerdings hat die oft geforderte "emotionale Wende" - nach der vor einigen Jahrzehnten erfolgten "kognitiven Wende" innerhalb der experimentellen Allgemeinen Psychologie noch nicht in dem Ma~ stattgefunden, d~ sie einem Mann wie Lewin auch nur annähernd befriedigen könnte (Scherer, 1981, s. 304).
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Das Prinzip der PhiJnomenologie. Es besagt, da~ die Phänomene und nicht die physikalischen Reizbedingungen ihrer Entstehung oder die gesellschaftlich-objektiven Faktoren den methodischen Ausgangspunkt einer psychologischen Untersuchungsplanung und Untersuchungsrealisierung bilden müssen. Das bedeutet, da~ die methodische Variablenanalyse letzlieh eine methodische Phänomenanalyse des Individuums als Träger des phänomenalen Ereignisses sein mup. "Denn die 'objektiven' sozialen Faktoren haben genausowenig eine eindeutige psychologische Beziehung zum Individuum, wie objektive physische Faktoren" (Lewin, 1982, S. 176). Darauf aufbauend, mu~ eine experimentelle Untersuchung die Phänomene aus ihren Bedingungen heraus erklären. "Es ist ohne jeden wissenschaftlichen Wert, aufWesenheilen zurückzugehen, die nicht Teile dieses Feldes sind, was immer diese Wesenheilen sein mögen und gleich, ob man ihnen philosophische oder physiologische Namen gibt" (Lewin, 1982a, S. 102). Demgegenüber sind die physikalischen Reizbedingungen ihrer Entstehung bestenfalls ein sekundärer oder tertiärer Analysegegenstand. Diese Prämisse verband Lewin mit der Gestaltpsychologie, und innerhalb dieser vor allem mit Max Wertheimer, der dieses Prinzip in seiner paradigmatischen Analyse des sogenannten "Phi • Phänomens" vorgeführt hatte. Im Gegensatz zur Gestaltpsychologie verband Lewin die Phänomenologie aber nicht mit dem lsomorphieprinzip, wie es vor allem von Wolfgang Köhler vertreten wurde. Diesem Isomorphieprinzip gemä~ hätte Lewin bei seinen psychologischen Untersuchungen auch nach den korrespondierenden organismischen Grundlagen des psychischen Geschehens fragen müssen. "Den Begriff der Isomorphie ... auf die Beziehung zwischen den 'psychologh;chen' und den 'physiologischen' Systemen anzuwenden, wäre abwegig, da es sich auf '*r Ebene des Dynamischen ja gar nicht um eine prinzipielle Zweiheit, sondern um identische Systeme handelt" (Lewin, 1969a, S. 97). Das er dies nicht tat, hat ihm zuweilen den Vorwurf des "Phänomenologismus" eingetragen. Das Prinzip der Makroanalyse. Es besagt, da~ das gesamte relevante Geschehensganze den Gegenstand der bedingungsanalytischen empirischen Untersuchung bilden mup. Das bedeutet, da~ die Bedingungsanalyse und die psychologische Erklärung sich auf das gesamte Feld der UntersucAungssituation, auf die Handlung beziehen mu~ und nicht nur auf mikroanaly· tisch bestimmte Teile oder Bedingungen desselben. "Was eine Handlung ihrer psychologischen Existenz nach ist, hängt davon ab, in was für einer Geschehensganzheit die einzelne Handlung steht" (Lewin, 1982b, 103). Oder anders gesagt, nicht mikroanalytische Untersuchung von Teilleistungen sondern makroanalytische Analyse des Geschehensganzen ist die notwendige Untersuchungsstrategie. Um dies zu erreichen, müssen bevorzugt Paradigmen eingesetzt werden, die den entsprechenden psychologischen Alltagssituationen verwandt sind. "Hält man sich gegenwärtig, dap die Gleichheit des Geschehenstypus die Voraussetzung für die Gleichheit der Ergebnisse einer Reihe von Experimenten ist, so wird auch der hier scheinbar paradoxe Umstand verständlich, warum man, wie sich in der Psychologie immer mehr herausstellt, nicht bei möglichen 'einfachen' äu~ren Bedingungen, sondern 76
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gerade im Falle komplizierterer iuperer Bedingungen konstante Ergebnisse erwarten darf" (Lewin 1981, S. 314). In dieser Hinsicht folgt er mapgeblich seinem Lehrer Ernst Cassirer: "Was uns im Gebiet des Bewuf'tseins empirisch wahrhaft bekannt gegeben ist, sind niemals die Einzelbestandteile, die sich sodann zu veiSChieden beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern lif't" (Cassirer, 1910, S. 459). Lewins Paradigmen betrafen dementsprechend markante psychologische Alltagsphänomene und waren ihnen strukturell nachgebildet. Als Beispiele sei an die "Psychische Sättigung" (Karsten, 1928), das "Vergessen einer Vornahme" (Birenbaum, 1930) oder an den "Ärger als dynamisches Problem" (Dembo, 1931) erinnert. In gegenwärtigen psychologischen Konzeptionen, wie sie beispielsweise in Vorstellungen zur "Handlungsregulation" oder in "Ökologischen Psychologien" vorliegen, finden wir Fortsetzungen Lewinseher makroanalytischer Forschungsstrategien. Dabei sei beispielsweise auf Arbeiten von Schönpflug (1979, 1984, 1985) und Hacker (1973) sowie von Bronfenbrenner (1977, 1979), Kaminski (1976, 1986) und Schmidt (1970, 1982) verwiesen.
Das Prinzip der Introspektion. Es besagt, dap die zusätzliche lnformationsquelle, die in der erlebnismipigen Reprisentation einer experimentellen Untersuchungssituation in einer Versuchsperson besteht, filr die Analyse des Phänomens, nicht vernachlässigt werden sollte. Das bedeutet, dap- wo immer es möglich ist- die Introspektion der Versuchsperson als Zusatzmethode eingesetzt werden soll. "Es ist eine besondere Eigentümlichkeit der Psychologie, daf' die zu Prüfungen oder Versuchszwecken benutzten 'Objekte', die Versuchspersonen (Vpn) in der Regel zugleich einen nicht unwesentlichen Teil der wissenschaftlichen Arbeit zu leisten haben. Sofern nämlich überhaupt eine Beschreibung der psychischen Vorginge beabsichtigt ist, sind es die Vpn selbst, die als Beobachter zugleich auch die eigentlichen Objekte der Untersuchung sind. Denn nur ihnen allein stehen die psychischen Objekte zur direkten Beobachtung zur Verfügung" (Lewin, 1981d, S. 153). Gegebenenfalls ist eine "Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtung" vorzunehmen, wie sie Lewin beschrieben hat. Aus der Tatsache, daji nur den Versuchspersonen "die psychischen Objekte zur direkten Beobachtung zur Verfügung stehen" zieht er die Konsequenz:
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"Daraus folgt nun notwendig. da~} auch die Versuchspersonen eine gewisse Schulung durchmachen müssen, wie sie für jede wissenschaftliche Leistung nötig ist, eine Schulung, die umso intensiver sein mu~, je höher die Anforderungen an die Exaktheit und Ausführlichkeit der Selbstbeobachtung gestellt werden" (Lewin, 1981d, S. 153). Lewin fordert somit, da~ beide Zugriffsformen zum psychischen Geschehen, die "exterospektive" und die "introspektive", eingesetzt werden müssen, wo immer das möglich ist, um möglichst viele Informationen über das tatsichliebe Geschehen zu erhalten. Kurt K.offka hat dies einmal in die Worte gekleidet: "Jedes Verfahren, das zu einem psychologischen Satz oder Begriff führt, enthält an irgend einer Stelle Erlebnisse. Gleichviel, in welchem Gebiet der Psychologie ich Versuche anstelle, und mögen meine Methoden noch so objektiv sein, solange ich Psychologie treibe, kann ich der Erlebnisse nicht entraten" (K.offka, 1912, S. 1). In der Experimentalpsychologie sollte demgegenüber in der Zeit nach Lewins Tode eher die Auffassung von einer sogenannten Entbehrlichkeit der Introspektion als eigenständiger Methodik vorherrschend werden, wie es Werner Traxel (1985) gekennzeichnet hat. Leider hat diese Einstellung in der rezenten experimentellen Allgemeinen Psychologie dazu ge· führt, die Erlebnisanteile am psychischen Geschehen in vielen Experimenten überhaupt nicht mehr zu bedenken, zu erfassen und in der Interpretation der Befunde zu berücksichti· gen.
/ Das Prinzip der sozialen Untersuchungssillllltion. Es besagt, da~ das gesamte soziale Ver· hiltnis innerhalb einer Untersuchungssituation den Ausgangspunkt, das Mittel und das Ziel einer Untersuchungsplanung und Untersuchungsrealisierung bilden müssen. Das bedeutet, ~die Untersuchungssituation als Ganzes und nicht nurTeile derselben, wie beispielsweise die Eigenschaften der Versuchsperson, die Validität, Reliabilität und Konkordanz der Methodik zur Datengewinnung oder die computergestützten Techniken der Datenanalyse, die Untersuchungsergebnisse bestimmt. Mit anderen Worten, der Untersuchungsgegenstand konstituiert sich nicht nur aus den "objektiven", d.h. situationsinvarianten psychischen Phinorneneo der Versuchsperson. Den eigentlichen Untersuchungsgegenstand jeder psychologischen Untersuchung bilden daher die Wechselwirkungsresultate, die sich aus den Bedingungen der Untersuchungssituation als Ganzem ergeben.
"Dabei ist es wichtig, welche zentraleren Willensziele die Vp veranlassen, die lnstruk· tion des Versuchsleiters anzunehmen. Bittet etwa der Versuchsleiter die Vp um eine bestimmte Arbeit, weil er sie für andere Versuche brauche, so übernimmt die Vp eine solche Arbeit ja nicht als 'Vp' sondern als jemand, der dem Versuchsleiter gefällig 78
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sein will, also sozusagen als Studienkollege oder Gesellschaftsmensch. Die betreffende Handlung ist dann eine 'ernsthafte' Handlung.ln solchen Fällen ist die Tendenz zur Wiederaufnahme wesentlich stärker, als wenn es sich um eine blope 'Versuchshandlung' handelt" (Lewin, 1926, S. 47). Diese Auffassung von der sozialen Situation als Gegenstand der Untersuchung, die durch die vier methodischen Hauptkomponenten (1) des VeJSuchsleiters, (2) der Untersuchungsmethodik zur Datengewinnung und Datenanalyse, (3) der Versuchsperson und (4) den Randbedingungen gebildet wird, sollte heuristisch besonders bedeutsam werden. Auf ihrer Basis sollten später Vorstellungen von der sogenannten "Sozialpsychologie des Experiments" entstehen, wie sie beispielsweise in den sogenannten Rosenthai - Effekten (Rosenthai, 1976) oder in der Methodentheorie des" Kommunikationstheoretischen Grundansatzes" (Sprung & Sprung 1984, 1990) ihren Niederschlag gefunden haben (vgl. auch Lück, 1989; van Elteren, 1989).
Das Prinzip "n = 1 ". Es besagt, daf} sich Wahrheit empirisch nicht vermehren läf}t. Das bedeutet, daf} die gesamte Information bereits vollständig in einem repräsentativen Einzelfall enthalten ist. "Ein einzelner individueller Fall reicht im Prinzip für die Widerlegung oder den Beweis eines Satzes aus, sofern nur die Bedingungsstruktur des betreffenden Falles hinreichend gesichert ist" (Lewin 1929, S. 300, vgl. auch 1981). Zwar ist aus methodischen Gründen eine Replikation jedes Versuches notwendig, um seine Zuverlässigkeit zu prüfen. Sie ist aber wissenschaftslogisch nicht notwendig. Hier folgt Lewin seinem Lehrer Ernst Cassirer, der wiederum Christian von Ehrenfels als Zeugen anruft: "Niemals wiederholen sich psychische Combinationen mit vollkommener Genauigkeit. Jeder Zeitpunkt einer jeden unzähligen Bewuf}tseinseinheiten besitzt daher seine eigenthümliche Qualität, seine Individualität, welche unnachahmlich und unwiderbringlich in den Schof} der Vergangenheit untertaucht, wenn zugleich die neuen Schöpfungen der Gegenwart an ihre Stelle treten• (von Ehrenfels, 1890, S. 292). ln dieser Hinsicht sollte später die "Differentielle Psychologie" und insbesondere die Ausbreitung des stochastischen Denkens innerhalb der Methodologie und Methodik der Psychologie eine Modifikation dieser Auffassung mit sich bringen. Sie betrafvor allem das differentielle Problem der "natürlichen Variabilität" und das wissenschaftsphilosophische Axiom des "stochastischen Determinismus". Der "differentielle Gedanke" ergänzte die" Allgemeine Psychologie" und der "stochastische Determinismus" den "strengen Determinismus". Lewins Grundmaxime aber blieb als Idee erhalten. Die Suche nach allgemeinen "Invarianten• oder nach "Universalien" ist nach wie vor eine Zielvorstellung vieler gegenwärtiger psychologischer Forschungsstrategien.
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ResDnree
"Sonntagsreden" und "Alltagspraxis" sind - wie eingangs erwähnt • in der Wissenschaft oft zweierlei. So war es reizvoll, einmal danach zu fragen, was ein Wissenschaftler in seinen theoretischen Schriften metbodologisch-methodiscb forderte und was er in seinen empiri· schen Arbeiten wirklieb tat. Dieser kritische Vergleich ist umso eher möglich, je mehr ein Wissenschaftler ein reichhaltiges OEuvre auf beiden, d.b. auf dem der theoretischen und auf dem der empirischen Ebene hinterliejt In solchen Fällen lassen sich besonders gut die "sonntäglichen Reflexionen" und die "alltäglichen Realisierungen" einander gegenüberstellen und zu einem "K.omplementierungs-" und/oder "Kontrastprogramm" vereinigen. Für einen solchen Vergleich ist das reichhaltige, produktive und aspektreiche Lebenswerk Kurt Lewins ein besonders geeignetes Gegenstandsfeld. Stellt man diesen metbodologiscb-metbodiscben "Soll- Ist· Vergleich" zusätzlich noch in den historischen Entwicklungsverlauf einer humanwissenschaftliehen Methodologie und Methodik und betrachtet ihn am Ende schliejllich von einigen kanonbildenden Prämissen der rezenten Methodologie und Methodik der Psychologie aus, dann läjlt sich aujlerdem der historische Stellenwert eines Wissenschaftlers im Sinne eines "Bleibenden und Vergänglichen" beson· ders gut markieren. Unser erstes Ergebnis einer derartigen Analyse besteht darin, dajl Kurt Lewin als Empiriker dem Kurt Lewin als Theoretiker in allen wesentlichen methodologiscb-wissenschaftstheoretiscben Vorstellungen gerecht wurde. Lewin beherzigte, was er forderte. Dies betrifft seine Konzeptionen (1) vom Charakter eines biotischen Versuchs bei der Gestaltung der Untersucbungsumstände; (2) vom Wesen des Geschehenstyps bei der Paradigmenwabl; (3) von der Rolle der Mathematisierung der Psychologie auf dem Wege zu einer Vertiefung der Psychologie in Richtung auf eine Theoretische Psychologie hin; (4) von der Dynamik psychischen Geschehens als der primären Zugangsweise zum Psychischen; (5) von der Phänomenologie des Seelischen als dem eigentlich seelisch Gegenständlichem; (6) von der Makroanalyse als der Grundform einer Untersuchungplangestaltung und Auswertungstrategie der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung; (7) von der Introspektion als einer unverzichtbaren zusätzlichen Datenquelle;_ (8) von der sozialen Untersuchungssituation als dem Gegenstand jeder Planung, Realisierung und Dokumentation einer empirischen Untersuchung und (9) von der zentralen Rolle des repräsentativen Einzelfalles als empirischem Wahrheitskriterium, weil sich Wahrheit nicht vermehren Iäpt. Unser zweites Ergebnis besteht darin, dajl Kurt Lewin in der rezenten Literatur zur Methodologie und Methodik (Methodenlehre) kaum Erwähnung findet, wenn man beispielsweise Daten aus Zitations-oder Referierungsanalysen heranzieht. Mit den Augen eines Historikers betrachtet, begegnen wir Lewin dagegen allenthalben. Allerdings sind viele seiner methodologisch-metbodischen Vorstellungen heute aufgehoben in den verschiedensten Begriffen und Vorstellungen der modernen humanwissenschaftliehen Methodenlehre 80
Kurt Lewin 1111 Methotlolop uNI Metllodilrier
zu Forschungs-, Diagnose-, Interventions- und Evaluationszwecken. Als Beispiel wurde von uns u.a. auf gegenwänige Vorstellungen vom "Experiment" bzw. "Quasiexperiment", der "Externen Validität" bzw. "Internen Validität", der "Ökologischen Validität", der "Methodentheorie" (z.B. Kommunikationstheoretischer Grundansatz) oder auf die sogenannten "Rosenthai - Effekte" verwiesen. Zur Herausbildung deraniger Vorstellungen hat nach unserem Verständnis l...ewin mittelbar oder unmittelbar mafigebliche Beiträge geleistet. Unser allgemeines Resümee besteht schliefilich darin: Kun Lewins methodologisch-methodisches Lebenswerk ist heute in vielem zum selbstverständlichen Allgemeingut der Psychologie geworden. Es wurde angenommen, indem es in den Kanon der Psychologie aufgenommen wurde. Das Denken Lewins als Methodologe und Methodiker ist uns also erhalten geblieben. Geblieben ist auch das Beispiel eines Lebens, das in vielem noch heute als Vorbild dienen kann. Zwei Hinweise mögen das Gemeinte illustrieren: 1. Kun I...ewin war ein Mann, der Zeit seines Lebens aufbeiden Gebieten, dem der Wissenschaftstheorie und dem der empirischen Forschungspraxis produktiv engagien war und zu beidem wesentliche Beiträge geleistet hat. Diese "Doppelstrategie" machte es ihm leicht, einen ansonsten in der psychologischen Forschung nicht selten anzutreffenden Fehler zu vermeiden, den Mario Bunge einmal als den des "Modellplatonismus" auf der einen und den des "Dataismus" auf der anderen Seite bezeichnet hat. 2. Kun Lew in war ein Mann, der Zeit seines Lebens versuchte, aus der empirischen Forschungspraxis für die Wissenschaftstheorie zu lernen und aus der Wissenschaftstheorie für die empirische Forschungspraxis Nutzen zu ziehen. Dieser wechselseitige I...ernprozefi machte es ihm leicht einen weiteren, ebenfalls nicht selten anzutreffenden, Fehler zu vermeiden, den Wolfgang Metzger einmal als die "Schizophrenie" vieler Experimentalpsychologen bezeichnet hat. Sie besteht nach ihm darin, dafi sie in ihren wissenschaftstheoretischen "Sonntagsreden" die "heile Welt der strengen Wissenschaft" verkünden, von der in ihrer methodologisch-methodischen "Alltagspraxis" kaum etwas zu beobachten ist. Fragt man also, was von Kun l...ewin geblieben ist, wenn wir den Blick auf die heutige Methodologie und Methodik der Psychologie werfen, so gestattet uns unsere Erkenntnis zwei Antwonen: 1. "Kaum etwas", wenn wir die Landschaft mit den Augen eines rezenten Methodologen und Methodikers betrachten. 2. "Sehr viel", wenn wir die Land.oochaft mit den Augen eines Historikers betrachten. Offenbar erging es dem Methodologen und Methodiker Kun l...ewin ebenso wie es dem Feldtheoretiker I...ewin, dem Sozialpsychologen Lewin, dem Entwicklungspsychologen l...ewin und dem Pädagogischen Psychologen Lewin ergangen ist. Sein Lebenswerk ist heute in vielem zum selbstverständlichen Allgemeingut unserer Wissenschaft geworden. l...ewin
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wurde angenommen, indem er in den Kanon unserer Wissenschaft aufgenommen wurde. Und das ist am Ende vielleicht das grö~Jte Lob, das man einem Menschen an seinem 100. Geburtstag aussprechen kann.
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Kurt Lewill als M~ Ulld MetltDtliMr
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Lewins Berliner Experimentalprogramm Horst-Peter Brauns Im Forscherleben Lewins umfa~t das Berliner Experimentalprogramm der Publikationschronologie nach die Jahre 1926 bis 1938 (s. Tab. 1, S. 91). Der Zeitraum, in dem Versuche durchgeführt werden, beginnt 1924. 1934 sind die experimentellen Erhebungen abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Lewin schon an der Comell University (Freeman, 1977), um " ... einen Ort zu finden, an dem man aufrecht leben kann" (Brief an Köhler v. 20.5.1933). Insgesamt dürfte es eine intensive und produktive Forschungsphase gewesen sein: zwar wurden die Untersuchungen nicht von Lewin selbst durchgeführt, aber es spricht einiges dafür, da~ sämtliche Endfassungen - die bis auf eine in der "Psychologischen Forschung" erscheinen • aus seiner Feder stammen.
Das Berliner Experimentalprogramm im Zusammenhang Lewinseher Sclulffensperictkn und Forschungsinteressen Aus der Perspektive ineinandergreifender Lewinseher Schaffensperioden Iie~ sich das Berliner Experimentalprogramm als eine der mittleren auffassen. Ihr voraus geht eine Phase, die sich vor allem durch eine experimentelle Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie auszeichnet. Auf der anderen Seite leitet die Berliner Schaffensperiode über zum topalogischen Ansatz, welcher eine Phase charakterisiert, in der Lewin schwerpunktmä~ig mit formalen Mitteln an "the unification ofthe different fields ofpsychology" arbeitet (Lewin, 1936b, S. 5). Das Berliner Experimentalprogamm ist in ein aktuelles theoretisches und soziales Umfeld eingebettet. Zunächst sind die "Gestaltists" am Berliner Institut, K.öh· ler, Wertheimer und Koffka zu nennen, auf die Lewin als "a collectivity of friends, working together for many years" zurückblickt (Lewin, 1936b, S. VIII). Explizite theoretische Bezüge in historischer Kontinuität stellt Lewin überdies zu tiefenpsychologischen Ansätzen her. Dieser Umstand ist vielfach noch zu wenig beachtet worden und angesichtsder bemerkenswerten wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation, da~ Lewins Lehrer Stumpf sowie Freud enge Beziehungen zu Brentano hatten, verwunderlich (Brauns & Schöpf, 1989). Shakow (1974) verlegt aufgrundeiner Mitteilung Gertrud Lewins das Interesse an psychoanalytischen Konzepten in die frühen Studentenjahre, in denen Lewin nach Lektüre der "Traumdeutung" mit Sammeln und Interpretieren von Träumen begonnen habe. 1911 deuten in einer unveröffentlichten Frühschrift einige Wendungen auf Kenntnis der Psychoanalyse hin. Wenig später wird im Zusammenhang mit einer Diskussion des psychologischen Bewu~tseinsbegriffs die "Traumdeutung" angeführt (Lewin, 1914). ln einer Rezension aus dem Jahre 1916 erwähnt Lewin (S. 434) "die Postulierung eines besonderen Verdrängungs-
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oder Abspenungsmechanismus, wie ihn Freud annimmt•. Da auch Stumpf(1918, S. 98) auf den Freudschen Allsalz hinweist, könnte die Annahme eines entsprechenden friihen Diskussionszusammenhangs am Berliner Institut naheliegen. Lewin selbst jedenfalls bezieht sich in theoretischen Zusammenhingen wiederholt auf zentrale psychoanalytische Begriffe (z.B. 1926 und 1941). Gleiches gilt für eine Reihe von Untersuchungen aus dem Berliner Experimentalprogramm. Es hat sogar den Anschein, als neigte Lewin zu der Auffassung, im Rahmen dieser Versuchsreihe u.a. "problems of Freudian psychology• in Angriff genommen zu haben (Lewin,1936b, S. 5). Gleichzeitig spricht er vom "brilliant worlt of Freud" (1936b, S. 3) und fa~t unter methodischen Einschränkungen zusammen, "da~ die psychoanalytische Theorie für den Bereich der Bedürfnisse, der Träume und der Persönlichkeit ein Ideensystem von unvergleichlicher Reichhaltigkeit und Ausführlichkeit entwickelt hat• (Lewin, 1936a). Ein weiteres zentraleres, kontinuierliches Forschungsinteresse Lewins, das im Berliner Experimentalprogramm seinen Niederschlag findet, aber in seiner individualhistorischen Erstreckung allzuleicht verkannt wird, ist die Beschäftigung mit Rolle und Verwendung der Kategorie des Raumes in der Psychologie. In einem Schreiben an Köhler vom Mai 1936, das als Vorwort seiner Principles ofTopologiCQfp;,~floiO"gy erscbelnt:·hiit ~in fest: ftMuch interested in the theory of science, I had already in 1912 as a student defended the thesis (against a then fully accepted philosophical dictum) that psychology, dealing with manifolds of coexisting facts, would be finally forced to use not only the concept of time but that of space too" (Lewin, 1936b, S. VII). Möglicherweise mitgeformt von der Abhandlung Riehls "Der Raum als Gesichtsvorstellung" (1877) dürfte sich Lewins Auseinandersetzung mit der psychologischen Tragweite der Raumkategorie in Forschungsfacetten wie z.B. zur Räumlichkeit psychischer Objekte (1911), z11m Erleben des natürlichen Raumes einer Landschaft im Kriege (1917a), zu räumlichen Darstellungen von inneren Situationen der Vpn (Zeigamik. 1927, S.36f; S.69f), Theoriebegriffen (Birenbaum, 1930, S. 234), experimenteller Versuchsfelder (Dembo, 1931, S. 20ft), der experimentellen Situation (Siiosberg, 1934, S. 129) fortsetzen. Zieht man zudem in Betracht, da~ Lewin als Feldartillerist im 1. Weltkrieg u.a. die Termini "Richtung", "Ziel", "Zone", "Region", "Grenze" in vitalem Zusammenhang erfährt, ist die Hypothese einer persönlichen Neigung zur räumlichen Vorstellungsform vielleicht nicht mehr völlig von der Hand zu weisen. Das Erlebnis des Krieges wiederum dürfte Lewin veranla~t haben, sich mit diesem als einem wissenschaftlich angehbaren Phänomen auseinanderzusetzen. Zeugnis dafür geben die fünf - offenbar im Felde verfa~ten- Rezensionen zum Thema Krieg und Soldatenturn (Lewin, 1917, b,c,d,e,f) ebenso ab wie die Zitation von Clausewitz in der Arbeit von Dembo (1931, S. 79), um den Kampfzwischen der Vp und dem VI, ihrem Feind, als einen "Akt des menschlichen Verkehrs" zu definieren.
Parallel dazu liegt Lewins Forschungsinteresse an wahrnehmungspsychologischen Fragen sowie seine Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie. Die Kontinuitit des wahrnehmungspsychologischen Forschungsinteresses manifestiert sich sowohl in Einzeluntersuchungenwährend und nach dem 1. Weltkrieg· sowie in der von Voigt (1932)- als auch in der Berücksichtigung des Wahrnehmungsgeschehens in den theoretischen Vorarbeiten zum Berliner Experimentalprogramm (s. S. 92). Seinen wohlletzten Ausdruck wird es schlie~lich im Programmbereich "soziale Wahrnehmung" am MIT finden (s. Graumann, 1981, S. 10). Durch frühere Schwerpunktbildung zeichnet sich Lewins ~':J!e.i~_!!!.etzung mit dem Assoziationsgesetz und Befassung mit willenspsychologischen Problemen aus einer Tbeniatik.des späteren Stumpf (Stumpf, 1924, S. 61). Möglicherweise ängeregt von Stumpfs "Theoretischen Übungen (Über Willenshandlungent vom SS 1910 und Rupps "Colloquium über Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Experimentalpsychologie• vom WS 1910/11 "arbeitete" Lewin •von Ostern 1912 bis Ostern 1914 an einer experimentalpsychologischen Arbeit über Willens- und Gedächtnisprobleme" (Lewin, oJ. handschriftlicher Lebenslauf). Seinen diesbezüglichen eigenen Entwicklungsgang einschlie~nd - uns an sein Berliner Experimentalprogramm heranführend und dieses z. T. in seiner individuellen Forschungskontinuitit kennzeichnend - resümiert Lewin 1928 auf dem 3. Allgemeinen ärztlichen Kongre~ für Psychotherapie: "Die ~x~~~~-~~~lle Wmenspsychologie ist von phänomenalen und elementen-psychologischen Fragestellungen au5gehend sehr bald zu dynamischen Problemen fortgeschrittenr Sie ist dabei zunächst von assoziationspsychologischer Grundlage ausgegangen, hat den Rahmen der assoziationspsychologischen Theorien sehr bald gesprengt ~;j- hat schlie~lich zum expe-rimentellen Nach~eis der Unrichtigkeit des
Assozia_tionsgese~ und ~~~~ng zu ~~~~:~:~;~~~~~~~lffen·geführt. ·-·--:>' r-r .. ...... ..., ':.)
~~n
. . . .. .
Damit war der bere;tet für eine neue experimentelle Inangriffnahme der Frage nach den d)IJWDischen .. Kräften ~~~~-~n~~gi~ll.R~t.~lischen Vorgänge über_h_~!JPL-Dies dürfte das Hauptcharakteristikum der gegen~Ärti"g~n exPerimeiitelnll Willenspsychologie sein" (Lewin, 1929, S. 169). Wie diese "neue experimentelle Inangriffnahme" sich im einzelnen strukturiert und systematisch in der Zeit entwickelt, soll im einzelnen nun zur Sprache kommen.
Hont-Peter BrtiUIIS
Dk Forschungslconzeption von 1926 und die wtheoretische SphlJrew "Er (der Forscher} muf' einerseits ganz von der Theorie geleitet werden, ohne die alles experimentelle Tun blind und sinnlos ist und von deren Weite und Kraft die Bedeutung seiner Experimente abhingt. Das Vorwirtsschreiten in dieser theoretischen Sphäre zu immer tiefer und zentraler liegenden Punkten, von denen aus prinzipielle, die Totalität des Psychischen umfassende Ansitze möglich werden, bildet die entscheidende Bewegung seines Forschens; diese Sphäre ist die eigentliche Welt, die es zu gestalten gilt ... Andererseits will der experimentelle Forscher die Richtigkeit seiner Theorie am Experiment erweisen, d.h. an einem vollkommen konkreten, in einem bestimmten Menschen und einer bestimmten Umgebung sieb vollziehenden psychischen Ereignis. Er muf' die Brücke schlagen von der Theorie zu der vollen Wirklichkeit des Einzelfalles ...• konstatiert Lewin (1926a, S. 296) in den "Vorbemerkungen überdie psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele". Dieser ersten Abhandlung der "Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie" werden nach der darauffolgenden theoretischen Schrift "Vorsatz, Wille und Bedürfnis" (1926b} bis zum Jahre 1938 noch achtzehn von Lewin herausgegebene experimentelle Arbeiten folgen (s. Tab. 1 auf der folgenden Seite). Wenn man obige Konzeption Lewins für psychologische Forschung auf diese von ihm selbst herausgegebene Untersuchungsreihe anwendet, erhebt sich die Frage: Hat Lewin "die entscheidende Bewegung" des Forschers hin zu einem "die Totalität des Psychischen" umspannenden Ansatz in seinen beiden ersten Abhandlungen zur Handlungs- und Affektpsychologie vollzogen ? Falls dem so ist, mü~Jten die folgenden experimentellen Arbeiten auf die Bewährung dieser theoretischen Aussagen zielen und sich insoweit zu einem tbeo'S· .. . ] 1:.., riegeleiteten Forschungsprogramm verbinden. In den "Vorbemerkungen" (1926a) wird als umfassendste psychische Einheit die menschliche Seele im Sinne einer Totalität "der gespannten und ungespannten seelischen •: '; .: i ·'' · .Systeme" eingeführt. Einer noch vielfach verwendeten gestalttheoretischen Maxime gemäf' . ·' '· '· itrukturiert sie sich in systemische Unterganze. Diese eher statische Struktur erhält ihre Dynamik durch die Energie der Systeme. Dazu tragen ferner bei die Festigkeit der Systemgrenzen und die mehr oder weniger starke Abgeschlossenheil der Systeme gegeneinander, welche deren - übrigens kausalrelevante - Kommunikation und wechselseitiges Aufeinanderwirken mitbedingen. In Zusammenhang mit dieser dynamischen Ebene steht die der psychischen Prozesse und Gebilde, wie z.J!, JfandiUAgen, Affekte, wooschc..J~edürfnisse, willentliche Vornahmen oder Vorsätze. Auch für diese gilt die gestaltpsychologische Maxime von der Untergliederung einer Ganzheit in unselbständige Unterganze bzw. die These von der-ursächlichen Bedeutung der Einbettung von Teilen in ein umfassenderes Gesamt. Seelischen Prozessen, wie z.B. ein willentlich oder bedürfnismäf'ig gesetztes Ziel, 90
Lewins BerliMr ~lprogramm
Tab. 1 : Publikationschronologie zur Handlungs- und Affektpsychologie (Berliner Experimentalprogramm) von 1926 bis 1938 herausgegeben von Kurt Lewin
Autor, Titel
Eingangs- Publ.- Versuchsdatum durchfilhr. Jahr
Lewin. K. Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele (1. Teil) 18.3.26 Lewin. K. Vorsatz, Wille und Bedürfnis (2.Teil) 18.3.26 Zeigamik, B. Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen 25.3.27 Schwarz, G. Über Rückfilligkeit bei Umgewöhnung (1. Teil) 31.1.27 KarstenA. Psychische Sättigung 28.7.27 Ovsianlcina, M. Die Wiederaufanhme unter09.8.28 brochener Handlungen Freund, A. Psychische Sättigung im 25.3.30 Menstruum und Intermenstruum Birenbaum, G. Das Vergessen einer Vomahme 27.3.30 Hoppe, F. Erfols und Miperfolg 8.12.29 Dembo, T. Der Arger als dynamisches Problem 13.7.30 Voigt, G. Über die Richtungsprizision einer 14.9.31 Fernhandlung Fajans, S. Die Bedeutung der Entfernung für die Stärke eines Aufforderungscharakters beim Säugling und Kleinkind 29.3.32 Fajans, S. Erfolg, Ausdauer und Aktivität 29.3.32 beim Säugling und Kleinkind Brown, J.F. Über die dynamischen Eigenscharten der Realitäts- und lrrealitätsschichten 27.7.32 Mahler, W. Ersatzhandlungen verschiedenen Realitätsgrades 19.9.32 Schwarz, G. Über Riickfilligkeit bei 15.10.32 Umgewöhnung (2. Teil) Forer, S. Eine Untersuchung zur Lese-Lern-Methode Decroly o.Ang. Lissner, K. Die Entspannung von BedürfDissen durch Ersatzhandlungen 8.8.33 Sliosberg, S. Zur Dynamik des Ersatzes in Spiel- und Ernstsituationen 17.5.34 Jucknat, M. Leistung, Anspruchsniveau und Selbstbewu~tsein 6.10.36 91
1926 1926 1927
1924-1926
1927 1928
Dez.23/Aug.24 1924-1926
1928
1924-1926
1930 1930 1931 1931
ohne Angabe 1924/25;28/29 ohne Angabe 1925-1928
1932
ohne Angabe
1933
1928-1929
1933
1928-1929
1933
ss 1930
1933
1930-1931
1933
Dez.23/Aug.24
1933
ohne Angabe
1933
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1934
1930-1931
1938
1931-1934
Hor11t-Perer Brtu~M
entspricht eine Störung des Systemgleichgewichts, dessen Wiederherstellung angestrebt wird. Dabei liegt Spannung frei, die dem Willens- oder Bedürfnisdruck korrespondierenden System solange anhaftet - im Sinne eines stationir gespannten Systems, bis das gesetzte Ziel erreicht ist, Befriedigung nach einem Bedürfnis bzw. Erledigung nach einer Willensvornahme und damit Spannun~- bzw. Energieausgleich eintritt. ln seiner "Theorie der Vomahmehandlung" (1926b) behandelt Lewin eingehender, was geschieht, wenn jemand etwas zu tun beabsichtigt: eine deranige Vomahme wird als eine Kraft betrachtet, ein gerichteter Druck, "ein innerer Spannun~zustand, der auf die Ausführung der Vomahme hindrängt" (S. 348). Erlebnismäflig kann sich ein entsprechender Druck bemerkbar machen. Da willentliche Vomahmen weitgehend dieselben dynamischen und psychologisch - erlebnismifligen Merkmale aufweisen wie echte Bedürfnisse, fühn Lewin für erstere den Terminus ~llsJ.~ü!.f!!i~t ein. Der Anstofl zu einer Handlung erfolgt keineswe~ nur endogen. Bedeutungshaltige Wahrnehmungen von Dingen und Ereignissen ihrerseits können einen Vorsatz erzeugen, ein Bedürfnis wecken oder einen bereits bestehenden Spannun~zustand deran ansprechen, dafl eine ihm entsprechende gerichtete Handlung aktualisien wird. ln diesem Falle erhält das involviene Ding oder Ereignis einen entsprechenden Aufforderungscharakter zuerkannt. Ebenso wie bei endogenen Vomahmen werden durch wahrgenommene Dinge und Ereignisse interne energetische Umschichtungen in Gang gesetzt, wodurch gespannte seelische Systeme entstehen oder modifizien werden und nach Spannun~ausgleich verlangen. Der weitere Verlauf des auf die Erreichung des Handlun~zieles gerichteten Verhaltens unterliegt der Gesamtheit der vorhandenen Kräfte im inneren und iufleren Umfeld. Deren Veneilung indensich aufgrunddes geiuflenen Verhaltens, wobei diese Veränderungen ihrerseits wieder wahrgenommen werden und insofern steuernd in das weitere Verhalten hineinwirken. Ist das Ziel erreicht, hört auch die Wirksamkeit dieser Kräfte auf, sie sind erschöpft. Mit diesem, nach Lewins Auffassung mit Grundbegriffen einer allgemeinen Dynamik arbeitenden Ansatz, ist Verhaltenserklärung nicht länger auf mechanisch starre Bindungen- wie etwa vordem die sog. Assoziationspsychologie- angewiesen. Verhaltenserklärung erfolgt vielmehr unter Aufweis der Wirksamkeit systemischer Energien, d.h. gespannten seelischen Systemen und damit zusammenhingenden Prozessen. Versuchen wir nun, die auf Selbstanwendung fuflende Frage zu beantwonen, ob Lewin in seinen ersten beiden Abhandlungen der "Untersuchungen zur Handlun~- und Affektpsychologie" die "entscheidende Bewegung" vollzogen hat. Die Antwon kann nur positiv ausfallen, da er explizit in der "theoretischen Sphäre" einen die "Totalität des Psychischen" umfassenden Ansatz vorlegt. Zudem schlägt Lewin die Brücke zur experimentellen Bewährung, indem er ein generalisienes Aussagengefüge über individuelle psychische Ereignisse unter besonderer Berücksichtigung der wahmehmungsmäflig unmittelbar gegebenen Umgebung, d.h. eine prüfbare individualisiene Theorie formulien.
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.. Zum Verhllltnis von Theorie und Experiment bei Lewin Wie steht es nun um die eJOpiriscbe Bewährung, d.h. das Erweisen der "Richtigkeit" der "Theorie am Experiment" ? Zunächst ist festzustellen, dafl Lewin in beiden im März 1926 bei der "Psychologischen Forschung" eingegangenen theoretischen Abhandlungen auf bereits durchgeführte Experim,:nte Bezug nimmt, und zwar im Zusammenbang mit . -der VeJSOrgung einer Handlung aus einerneuen Energiequelle nach ihrer Sättigung ~uf die Untersuchung von Karsten, die- eingegangen im Juli 1927- 1928 erscheint. Die Versuche wurden allerdings schon in den Jahren 1924 bis 1926 durchgeführt; --·- ~em Vorhandensein einer Kraft, dem Drängen nach innerem Spannungsausgleich,"Jaachdem eine Handlung vor ihrer Beendigung unterbrochen wird. Die diesbezügliche Arbeit von Ovsiankina ist ebenfalls 1928 publiziert, angenommen im August 1928, nach experimentelle~ Untersuchungen von 1924 bis 1926; -der ~achwirkung einer willentlichen Vornahme im Sinne einer Kraft, einer Spannung, welche z.B. durch Ersatzerledigung geschwächt wird und somit zu ihrer Nichtausführung, d.h. ihrem Vergessen führen kannl Die vollständige Untersuchung von Birenbaum ist 1930 erschienen. Dieser Arbeit lagen zwei experimentelle Untersuchungsphasen von 1924as sowie 1928/29 zugrunde; - dem Ausführen von Handlungen, die auf eine aus einem Bedürfnis stammende Spannung zurückgehen, aber nicht auf das eigentliche Bedürfnisziel gerichtet sind, die sog. Surrogaterledigung. Dieses Phänomen spielt in der Untersuchung von Dembo eine Rolle, die 1931 veröffentlicht wird nach Eingang im Juli 1930 und Versuchen von 1925 bis 1928; -dem realen Spannungszustand, der eine Vornahmenhandlung begleitet und sich nach deren Unterbrechung auch indirekt bei Gedächtnisleistungen bemerkbar macht. Die Untersuchungen wurden 1924 bis 1926 von Zeigarnik durchgeführt, die fertige Arbeit gebt im März 1927 bei der "Psychologischen Forschung" ein. Lewin bat also zum Zeitpunkt der Formulierung seiner Theorie im Jahre 1926 bereits experimentelle Befunde zur Gestaltung der theoretischen Sphäre zur Hand. Sie stammen aus noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen, die in endgültiger, ausführlicherer Form erst Jahre später publiziert werden. Was ist hieraus hinsichtlich eines theoriegeleiteten Forschungsprogramms zu scblieflen ? Kann es sich bei den fraglichen Untersuchungen noch um Komponenten eines theoriegeleiteten experimentellen Forschungsprogramms handeln, wenn diese Untersuchungen ihrerseits schon in die Formulierung der Theorie einbezogen worden sind ? Eine Antwort ist u.a. vom wissenschaftstheoretischen Vorverständnis des Verhältnisses zwischen Theorie und Experiment abhängig. Wird etwa davon ausgegangen, dafl jedem Experiment
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HMII·Peter BrauttS
theoretische Vorannahmen über allgemeine Ereignisrelationen vorausgehen, wäre anzunehmen, da~ die fraglieben Untersuchungen theoriegeleitete experimentelle Prüfungen darstellen. Fa~t man indessen theoretischen Annahmen als induktiv aus Einzelexperimenten gewonnene Generalisierungen auf, wären die fraglichen Untersuchungen zum Entdeckungszusammenhang des theoretischen Aussagengefüges zu zählen, dessen Bewährung noch aussteht. Lä~t man hingegen die dichotomisierende Unterscheidung zwischen Begründungsund Entdeckungszusammenbang beiseite und stellt den realen Forscbungsproze~ in den Vordergrund, tragen die mitgeteilten experimentellen Befunde sowohl zur Bewährung von Allgemeinaussagen als auch zu deren Gewinnung bei. Zum Zeitpunkt der Publikation der beiden Abbandlungen über die "theoretische Sphäre" sind noch keine der erwähnten expe· rimentellen Arbeiten abgeschlossen und ihre endgültigen Resultate gehen über die zuvor im Theorieteil erfolgten Bezugnahmen hinaus. In Fortfilhrung des bisherigen Vorgehens, im Zuge der Darstellung des Berliner Experimentalprogramms auftretende Fragen nach Möglichkeit durch Lewin beantworten zu lassen, wäre an dieser Stelle auf sein wissenschaftstheoretisches Vorverständnis über das Verhältnis zwischen Theorie und Experiment zurückzugreifen. Demzufolge "(kommt es im Experiment) nicht auf die Realisation einer möglichst gro~n Anzahl gleicher Fälle an, sondern auf eine systematische Variierung, also auf eine Analyse der Bedingungen durch Verwirklichung eines Inbegriffs verschiedener Fälle. Die Allgemeingültigkeit stützt sich nicht auf eine breite historische Erfahrung über Gleichheiten, sondern wird im tatsächlichen wissenschaftliche Beweisverfahren ... vorausgesetzt" (Lewin, 1927, S. 385). Seiner Auffassung nach sind Allgemeinausagen keineswegs auf möglichst viele Einzelfälle gegründet: "Das Wesentliche ... ist nicht die Aussage über eine bestimmte Menge von Einzelgebilden ... Sondern ... eine Aussage über einen bestimmten Typus, der durch sein Sosein charakterisiert ist" (Lewin, 1927, S. 388). Hinzukommt, da~ Lewin "die alte ... Theorie der Induktion", die er filr irrig hält, nicht im Zuge der Genese seiner eigenen Theorie angewendet habe dürfte (Lewin, 1927, S. 384). Sonach wären die den ersten Untersuchungen des Berliner Experimentalprogramms :tugrundeliegenden theoretischen Annahmen weder induktiv gewonnene Generalisierungen noch vorgängig durch den tatsächlichen Forschungsproze~ erzeugt. Vielmehr müssen wir im folgenden vor allem die erste Variante im Auge behalten, wonach jedem Experiment allgemeine theoretische Voraussetzungen unterliegen, und durch eine Reihe von Experimenten ein Inbegriff verschiedener Fälle realisiert wird. Dazu sind gleichsam als variierbare Prämissen - geeignete theoretische Basisaussagen aus dem energetisch dynamiseben Systemmodell sowie ggf. mitherangezogene Nebenbedingungen herauszuheben. Für die sich an die theoretischen Vorarbeiten von 1926 anscblie~nden Einzeluntersuchungen kommt als Basissaussage mit hohem Integrationswert in Betracht:
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( a) Einer handlungsmäfligen Vornahme korrespondiert ein Spannungssystem, welches durch Erreichung des Handlungszieles entladen wird. Als geeignete Nebenbedingungen bieten sich an: (b) Innerpsychische Teilsysteme, die energetisch aufgeladen sind, treten miteinander in kausalrelevante Interaktion, sofern es ihre gegenseitige Offenheit der Grenzen zuläf't und (c) Mehrere energetisch aufgeladene innerpsychische Teilsysteme bilden ein ganzes, in sich zusammenhängendes Spannungssystem. Wie leicht zu sehen ist und weiter unten gezeigt werden wird, lassen sich "Variierungen" der Basisaussage bei Bewahrung ihres wesentlichen Bedeutungsinhalts vornehmen, welche ihrerseits experimentellen Untersuchungen als theoretische Sätze zugrundeliegen. Die Nebenbedingungen ermöglichen ebenfalls, da auch sie die entsprechenden Grundbegriffe enthalten und in hohem AllgemeinheilSgrad formuliert sind, experimentelle Realisationen abzuleiten bzw. ihnen konkrete psychische Funktionen zu koordinieren. Bekanntlich folgt der tatsächliche Forschungsprozef' kaum - und eine sich über Jahre erstreckende experimentelle Untersuchungseihe umso weniger - den Gesetzen der Logik. Neben der Rekonstruktion der spezifischen Lewinsehen Theoriegeleitetheil von Einzeluntersuchungen wird also darauf zu achten sein, ob und inwieweit auch andere Faktoren. wie z.B. Befunde vorgängiger Arbeiten, konzeptuelle Erweiterungen, Neuerungen u.a.m.- für sie bestimmend waren. Unter diesen Vorausetzungen wird versucht, die" Geneseordnung" der 18 Untersuchungen darzustellen (s. Abb. 1 auf der folgenden Seite). Damit übernehmen wir einen von Lewin im Rahmen theoretischer physikalischer Überlegungen (1923) geschaffenen Begriff in den humanwissenschaftliehen Bereich.
Theoriegeleitete Programmuntersuchungen von Zeigarnik, Karsten, Ovsionkina, Birenbaum Wird eine Handlung vor ihrer zielgemäflen Beendigung unterbrochen, verbleibt eine restliche systemische Spannungsgröf'e, die nach ihrem Abbau drängt. Verfügt diese über Kommunikation zu einem innerpsychischen Teilsystem, geht die verbliebene Spannung in letzteres über und führt zu Entspannung. Diese "Variierung" der Basisaussage (a) nebst Nebenbedingung (b), welche die Einführung des Teilsystems Behalten abdeckt, liegen den zentralen Operationalisierungen der Arbeit von Zeigarnik (1927) zugrunde: die Vpn erhaltenein breites Spektrum von zwanzig teils lebensnahen Aufgaben, welche unterbrochen bzw. zu Ende geführt werden. Die Behaltensprüfung ergibt, da(' unerledigte Aufgaben erheblich besser behalten werden als erledigte. Eine Gruppenuntersuchung bestätigt dieses Ergebnis. Mögliche Alternativerklärungen -etwa mittels gesteigerter Aufmerksamkeit oder stärkerer
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Fajans/1 Erfolg und Mißerfolg bei Kindem
Sliosberg Ersatzvon Gegenständen bei Kindem
I
Jucknot Übertragung von J\nspruchsniveau Quantifizierung
r--
Lissner Selbständige Ersatzhandlungen
Ersatztheorie (Kongreß, 1931)
Hoppe Erfolg-Mißerfolg Anspruchsniveau
-
I
I Mahler Ersatzwert und Realitätsgrad
1-
I Dembo Brown Ärger, J\nspruchsniveau r--Dynamische Realitätßrrealität Mediendifferenz Ersatzhandlungen
1--
Fajansl Aufforderungscharakter Kleinkind
I Karsten jSättigung
l
I
Zeigarnilc Bebalten 1
Freund Sättigung Menstruum/ Intermenstruum
Birenbaum Vergessen
I
Typen von Ersatzhandlungen Dynamik Theorie der Vomahmehandlung Lewin, 1926, a,b
-
I
OIISÜJnkina Wiederaufnahme
Miszellen: Schwarz I und II: Umgewöhnung; Voigt: Femhandlung; Forer: Methode Decroly Abb. 1: Geneseordnung der Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie (Berliner Experimentalprogramm). 96
Betonung der unerledigten Aufgaben -la~.!IJJ~!!ttion für Kin- · derW"oiiifiilirt (Iowa Child Welfare Research Station, im folgenden ICWRS) ~~·Uni~eiSität · ~Dort blieb er bis 1944, also neun Jahre lang, bis er zum Direktor des von ihm gegründeten ~~~~~~m für Gruppendynamik (Research Center for Group Dynamics) am Massachusetts Institute 'ol'Techßotogy wurde. Tn der einschlägigen Uteratur (z.B. Mandler u. Mandler, 1969; Coser, 1984) werden diese Stellen etwas herablassend, zuweilen sogar als Diskriminierung gegen Lewin bewertet, da sich keine von ihnen an einem "richtigen" Psychology Department befand. Dabei wird aber übersehen, dajl gerade diese beiden Institutionen durch ihre Zugehörigkeit zum oben genannten Forschungsprogramm der Laura Speilman Roclcefeller Fonds (LSRM) zu den bestdotierten psychologischen Forschungseinrichtungen der USA gehörten. An beiden Orten, aber vor allem in Iowa, hatte Lewin Anschlujl an gesellschaftlich wichtige Forschungsprobleme und Zugang zu universitären Einrichtungen, wie z.B. Laborschulen, sowie aujleruniversitiren Institutionen, in denen er Daten sammeln und Versuchspersonen gewinnen konnte. Aujlerdem waren Doktoranden und Mitarbeiter vorhanden, die sich für seine Projekte engagierten und sich auch ausschlieflIich damit befassen konnten, ohne nebenher noch den Vorlesungs- und Verwaltungsbetrieb mit aufrecht erhalten zu müssen. Während Lawrence K. Frank nur indirekt an der Berufung Lewins nach Cornell beteiligt war, so nahm er die Fäden bei seiner Versetzung nach lowa selbst in der Hand. Im Januar 1935 veranstaltete Frank eine kleine Tagung zum Thema "Persönlichkeitsentwicklung unter dem Zeichen der Gestaltpsychologie" in Princeton; unter den Anwesenden waren Lewin, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Max Wertheimer sowie amerikaDisehe Psychologen wie Gordon Allport, Gardner und Lois Murphy, Barbara Burks, Norman Maier- und
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MilcMII G. Ash
auch George Stoddard, Leiter der ICWRS. Aus den Tagebuchnotizen Franies geht hervor, dafl eine sehr interessante Auseinandersetzung u.a. zwischen l..ewin und den Begründern der Gestalttheorie vonstatten ging, worauf hier nicht eingegangen wird. Offenbar machte l..ewin auf Stoddard einen hervorragenden Eindruck, denn am 4.2.1935, also nur einen Monat später, schrieb Frank an Ogden in Comell, dafl Stoddard l..ewin für ein Jahr nach lowa einladen wolle. Dazu kommentierte er: "I think it would be a very desirable arrangement, since the lowa station could provide l..ewin with exceptional facilities, equipment and personnet and a body of graduale students. I personally hope that he can stay in this country Ionger because ofthe value of bis work for child research" (Frank, 1935). Bemerkenswert ist, dafll..ewin weiterhin als Kinderpsychologe, nicht als Persönlichkeitsoder Sozialpsychologe identifiziert wurde. Die letzte Bemerkung Franies war eine Anspielung auf das etwa gleichzeitig eintreffende formelle Angebot der Hebräischen Universitit in Jerusalem an l..ewin, welches schon ein Jahr zuvor lanciert worden war (vgl. hierzu Lück & Rechtien, 1989, sowie Lück, in diesem Band). Als überzeugter Zionist neigte l..ewin. dazu, das Angebot anzunehmen, er zögerte jedoch wegen der kaum bzw. gar nicht vorhandenen Forschungsmöglichkeiten in Palästina. 'Die Möglichkeit, da~ l..ewin sich zur Annahme dieses Angebots doch entschliejkn würde, und der Wunsch, ihn in den USA zu behalten, zieht sich wie ein konstanter Grundton durch die Unterlagen der RockefeUer-Stiftungen hindurch. Schon im März 1935 beantragte Stoddard als eine Antwort auf das Jerusalemer Angebot Gelder von den für emigrierte Wissenschaftler aufgestellten Fonds der Stiftung, um ein zweites Jahr in lowa zu ermöglichen. Gleichzeitig gelang es ihm mit der Hilfe von Frank, aus anderen RockefellerFonds ein Stipendium für Tamara Dembo, die schon in Comell und in Berlin mit l..ewin zusammengearbeitet hatte, sowie für eine weitere Assistentenstelle zu erhalten. Erster Inhaber dieser zweiten Stelle war Roger Barker (Barker, 1979).
Die Rahmenbedingungen in /owa Die ICWRS wurde durch ein Gesetz des Parlaments im Bundestaat lowa im Jahre 1917 gegründet. Ihr Mandat belief sich auf die Untersuchung und Erhaltung der Entwicklung normaler Kinder, sowie auf die Verbreitung der Untersuchungsergebnisse und die Ausbildung von Fachkräften auf diesem Gebiet (Stoddard, 1938, p. 1}. Die Begrenzung der Aufgabe auf sogenannte "normale" Kinder deutet auf einen Versuch hin, Konflikte mit der Medizin, vor allem der Psychiatrie und den Leitern von staatlichen und privaten Anstalten für geistig behh\derte Kinder zu vermeiden. Ansonsten fällt neben dieser Einschränkung des Arbeitsgebietes auf, da~ die Station von vomherein das Recht auf die eigenstindige
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Veröffentlichung ihrer Ergebnisse sowie auf eioe eigenstindige, vom Psychology Department der Universität prinzipiell unabhängige Ausbildung ihrer Doktoranden und Mitarbeiter erhielt. Daraus entstand u.a. eine Veröffentlichungsreihe, die_!!!l.l!!_r,:!~ of{~-~~s;,. C}Jj/d_Jlfdfare, in der später die ~!!~f~~!'J~~~~~!I.fass~ns~~ ..der bedeutendsten Studien der Y;win-GmPPJ:...i!tl9.~t!. erschienen sind. In den 20er und 30er Jahren wurde die Station zunächst bekannt durch die Studien ihres ersten Direktors Bird T. Baldwin und seiner Mitarbeiter über kindliche Entwicklungsprozesse mittels anthropometrischer Messungen. Von weitaus gröfJerer Bedeutung waren aber die Untersuchungen von Stoddard, der die Leitung im Jahre 1928 übernahm, und seinen Mitarbeitern Harold Skeels und Beth Weilman (z.B. Wellman, 1933-1934; Skeels u.a., 1938). Diese wiesen die Auswirkung veränderter Umweltbedingungen auf die IQ-TestErgebnisse von vermeintlich geistig behinderten Kindem nach und sorgten damit nicht nur in der Fachwelt für gropen Aufruhr. Diese Möglichkeit, Kinder in ihrer Entwicklung durch eine konstruktive Veränderung ihrer Lebensbedingungen positiv beeinflussen zu können, strich Stoddard bei jeder Gelegenheit heraus. In seinem Bericht über das zweite Jahnehnt der Stationstiitigkeit im Jahre 1938 schrieb er beispielsweise, da~ sich das Institut zwar in erster Unie der Grundlagenforschung widme, die unabhängig von den Bedürfnissen staatlicher Einrichtungen konzipiert sei, da~ damit aber anwendungsorientierte Forschungen nicht prinzipiell ausgeschlossen seien: "For the purpose of implementing various procedures believed to be helpful in child development, we undertake projects that are engineering in type" (Stoddard,1938, pp. 17 f.). Mit diesen Worten drückt Stoddard die Doktrin einer Bewegung aus, die in der USamerikanischen Geschichtsschreibung mit der im iieÜtigen Europa vieileicht etwas befremdend wirkenden Bezeichnung "Progressive Movement" gekennzeichnet wird. Dieser Terminus beschreibt nicht d~.Pr!>g@~~- e}_ner bestimmten politischen Partei, sondern das in vielen Teilen dergebildeten Mittelschichten damals hoch2!~-~~.).c:Jt:~l ~iner Ratiopalisieru~~-~~~!~ch._~t'ts,~!.d..I!H!ll_durch den gezielten Einsatz von Expertenwissen. Die von GiilödlägenfÖrschung von den unmittelbaren Stoddard betonte bewu~te Trennung Bedürfnissen der staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen diente der Legitimierung dieses Einsatzes über den Umweg der vermeintlichen "Objektivität" der Wissenschaft. Als Verkörperung gerade dieses progressivistischen Ideals erfreute sich die ICWRS seit 1928 einer reichlichen Unterstützung durch die Fonds der LSRM, und zwar in einer Höhe von durchschnittlich über 90 000 Dollar im Jahr - zwei- bis dreimal so viel, wie sie vom Bundesstaat lowa erhielt, und unvergleichbar mehr, als man sich damals in Europa jemals bitte erträumen können. (Diese und die folgenden Zahlenangaben stammen aus Unterlagen der ICWRS im Universitätsarchiv der Universität lowa.) Die Zuwendungen der LSRM-Fonds (bzw. nach 1930 des General Education Boards der Rockefeller-Stiftung) waren allerdings von vomherein auf eine Laufzeit von zehn Jahren begrenzt, und deren Gesamtsumme wurde gerade im Jahre 1935, dem Jahr, in dem Lewin nach lowa kam, von
der
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Milcheil G. Ash
15 000 auf 39 000 Dollar gekürzt. Die Einladung Lewins nach Iowa mit Geldern aus anderen Fonds der Rockefeller-Stiftung stellte vom Gesichtspunkt Stoddards aus gesehen u.a. einen unter vielen Versuchen dar, die RockefeUer-Unterstützungtrotz der schon eingeplanten Kürzungen weiterhin zu erhalten. Doch im Laufe des Lewinsehen Aufenthalts entstand zwischen ihm und seinem Vorgesetzten offensichtlich ein Verhältnis gegenseitigen Respekts, das über eine blojk Zweckdienlichkeil hinausging. Denn als die für Lewin und seine Mitarbeiter gedachten Rockefeller-Stipendien im Jahre 1939 endgültig ausliefen und die Harvard-Universität Lewin mit einer Gastprofessur zu g~n schien, antwortete Stoddard, der inzwischen als Nachfolger des Psychologen Carl Seashore zum Dekan des Graduate Colleges gewählt worden war, mit der Übernahme Lewins als "full prof~r· in den permanenten Stab der ICWRS und mit Fellowships für Tamara Dembo sowie für einen weiteren Mitarbeiter. Das Professorengehalt sollte von nun an aus dem Universitäts-Budget bestritten werden, "for we want you here" (Stoddard, 1939). Die Bedeutung dieser Aussage kann man vielleicht daran messen, da~ der Präsident der Universität sich zur selben Zeit gegen einen in einer Kleinstadtzeitungveröffentlichten Angriff auf die vermeintliche Überzahl von "Jews from the East at the university" wehren mu~te (Gilmore,1939). In Iowa war der Antisemitismus wie andernorts in den USA durchaus vorhanden; dennoch wollte man Lewin an der Universität behalten.
-
D~ Lewin-Gruppe
in /owa -Fortpflanzung einer Mikrolcultur?
Als Lewin seine Berufung nach Iowa annahm, wollte er wissen, ob es sich lohnen würde, die Filme und Filmapparate, die er zum Teil aus Berlin hatte retten können und die er in Comell in seinen Untersuchungen über die E~gewohnheiten von Kindem schon eingesetzt hatte, auch nach Iowa mitzubringen. Stoddard versicherte ihm, dafJ die Station für Filmuntersuchungen in jeder Hinsicht bestens ausgestattet sei. Und in der Tat konnte Lewin vor allem in Untersuchungen über "autoritäre" und "4emokratische" Führungsstile, von denen noch wei;~~~;~-dieRede ~~~ ~i;:d, di~ Medi~~ \Vi~ku~Ssstark einsetzen. Aber noch wichtiger für die Frage der Kontinuität einer wissenschaftlichen Mikrokultur ist die Arbeitsweise, die für die Forschergruppe um Lewin in Berlin charakteristisch war. Konnte diese auch in lowa rekonstruiert bzw. von neuem wieder aufgebaut werden? Das Stichwort hierfür hiefJ "die Quasselstrippe" - das war die Bezeichnung für die Gruppe, die sich regelmä~ig aber mit ständig wechselnder Besetzung im "Schwedensehen Cafe" am Berliner Schlo~platz gegenüber dem Psychologischen Institut zum intensiven Plaudern über alle möglichen Alltagsfragen und wissenschaftliche Probleme traf. Wie eine der ersten Studentinnen aus dieser Gruppe, Anitra Karsten, in einem Interview berichtete, war die Zusammenarbeit mit Lewin in Berlin "eine einzige lange Diskussion" gewesen (Karsten, 1978; vgl. Karsten, 1979). Allein die Tatsache, da~ sich das Wort "Quasselstrippe" in den
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Beschreibungen der amerikanischen Studenten Lewins immer wieder findet, besagt schon für sich genommen, da~ zumindest ~re~!l.Y..