Komm zurück, Katherine Cheryl Reavis
Bianca 1339 24 – 2/02
Gescannt von Almut K.
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1. KAPITEL
"Strahlende Sonn...
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Komm zurück, Katherine Cheryl Reavis
Bianca 1339 24 – 2/02
Gescannt von Almut K.
2
1. KAPITEL
"Strahlende Sonne - glückliche Braut." Calvin Doyle, kurz "Bugs" genannt, von der Fall schirm-Sondereinheit 4, starrte aus dem Fenster im zwei ten Stock. Die Sonne hatte sich heute noch nicht gezeigt. Es regnete und regnete. Allmählich war er das unaufhör liche Trommeln auf das Dach leid. Mit einem Mal, völlig ohne Vorwarnung, fühlte er sich niedergeschlagen. Zwar hatte er sich bereits seit Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten irgendwie entmutigt ge fühlt. Das war jedoch nichts im Vergleich zu der Trau rigkeit, die ihn jetzt überkam. Ihm war nach Weinen zu Mute. Und wenn es ihm mög lich wäre, von hier wegzukommen, säße er in dieser Mi nute in irgendeiner verrufenen Kneipe, wo er ungestört einen kippen und in dem klagenden Text eines guten alten Songs schwelgen könnte. Und wenn er genug ange säuselt wäre, dann würde er ganz sicher mitmachen, würde sich heiser singen, um seinem betrübten Herz Er leichterung zu verschaffen. Dass die Hochzeit stattfinden würde hatte er ja erwar tet. Eigentlich war sie regelrecht überfällig gewesen. Die andauernden Bedenken der Braut und der ständige Auf enthalt des Bräutigams in irgendwelchen Rehakliniken hatten die Trauung hinausgezögert. Doyle war in die Hochzeitspläne nicht eingeweiht worden. Das machte ihm jedoch nicht so sehr zu schaffen wie seine eigene Unklarheit, ob er für Rita Warren noch immer etwas empfand oder nicht. Wahrscheinlich empfand er doch immer noch etwas für sie. Sonst hätte er sich nicht so sehr darum bemüht, bei 3
der Zeremonie in der Kirche dabei zu sein. Er musste für sie noch immer etwas empfinden, sonst hätte er keinen so großen Wert darauf gelegt, nichts Dummes anzustellen. Und vor allem hätte er ihr nicht so aufrichtig gewünscht, dass sie glücklich werden sollte. Denn das wünschte er ihr ganz ehrlich. Er hatte Rita in allen Lebenslagen erlebt - und zumeist in keinen sehr erfreulichen. Wenn jemand ein wenig Sonnenschein verdient hatte, dann war sie es. Doyle lächelte verhalten. Rita, Rita, dachte er, und schüttelte den Kopf. Keine ist wie du, Mädchen. Zumindest hatte er es geschafft, ihr zum Abschied ei nen sittsamen Kuss auf die Wange zu drücken ... unter dem wachsamen Blick des ihm vorgesetzten Offiziers, der - wie es sich nun mal so traf - ihr frisch angetrauter Ehemann war. Lieutenant McGraw war ein ausgemachter Lump, der nur Glückstreffer zog. Er hatte einen Absturz mit dem Black Hawk überlebt, und er hatte Doyles Mädchen be kommen. Calvin "Bugs" Doyle, der einzige andere Über lebende desselben Helikopterabsturzes, musste sich da gegen damit abfinden, schlicht und einfach der "Freund" der Braut zu bleiben. Er atmete tief durch. Reiß dich zusammen, Doyle! Es gab absolut keinen Grund, sich deswegen so nieder geschlagen zu fühlen. Rita hatte ihn niemals hintergangen. Sie war ihm ge genüber immer offen gewesen, auch dann, als sie verlas sen und ohne einen Cent vorübergehend zu ihm gezogen war. Sie hatte mit ihm zusammengelebt - zu ihren Bedin gungen. Und sie war ihm für seine Hilfe dankbar gewesen. Sie hatte ihn jedoch nicht geliebt. Nicht so, wie er es sich 4
gewünscht hatte. Doyle schloss die Augen und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie schön Rita heute ausgesehen hatte. Er wollte auch nicht an ihre Flitterwochen denken. Er war so müde, und seine Beine fingen wieder an zu schmer zen. Wenn er nicht bald aufstand und herumging, würde er es bereuen. Er hatte geglaubt, dass die Schmerzen nachlassen würden, sobald man ihm den Gipsverband abgenommen hatte. Falsch. Ohne Gipsverband mussten die Muskeln härter arbeiten. Und das bedeutete: noch größere Schmerzen. Der Wind drehte sich, der Regen klatschte gegen die Scheiben. "Strahlende Sonne - glückliche Braut", murmelte er. Die Braut war auch ohne Sonne glücklich gewesen. Die Eltern des Bräutigams hatten dem Brautpaar zwar nicht gerade ihren Segen gegeben. Die Familie hatte es vorge zogen, der Trauung fernzubleiben. Ritas kleine Tochter, Olivia, war dabei gewesen. Olivia hatte es großen Spaß gemacht, herausgeputzt zu werden, Küsschen zu werfen und Rosenblüten zu streuen. Rita hatte sonst niemanden, dem sie nahe stand - bis auf den treuen und braven "Bugs" Doyle. Auch er hätte wegbleiben können. Doch er hatte dabei sein wollen. Allein ihretwegen. Ein höllischer Schmerz durchzuckte sein Bein, und Doyle zog es ruckartig an. Der Gehstock rutschte vom Stuhl und fiel zu Boden. Doyle stieß eine Verwünschung aus und versuchte ver geblich, ihn aufzuheben. Dann starrte er wieder aus dem Fenster, atmete tief ein und aus, damit der Schmerz ihn nicht übermannte. Doch der Schmerz wich nicht. Doyle musste aufstehen 5
und umhergehen - und das sofort. Immerhin, er konnte seine Beine wieder bewegen! Das durfte er nicht verges sen. Denn bei dem Grad seiner Verletzungen und dem Auf und Ab seiner sich dahinziehenden Genesung waren die Chancen, wieder laufen zu können, nicht allzu groß gewesen. Er machte Fortschritte, wenn auch langsam. Sein einziger Trost war, dass Lieutenant McGraw es ge schafft hatte. Und auch er "Bugs" Doyle - würde es schaffen. Er konnte den Stock nicht sehen, und schon gar nicht vom Stuhl aus an ihn herankommen. Er müsste aufste hen, sich auf den Boden runterlassen und sich dann schließlich wieder aufrichten. Das Tagespensum mit den Kniebeugen hatte er bereits hinter sich. Er könnte von Glück sagen, wenn er dieses kleine Vorhaben bei Son nenuntergang erfolgreich beendet hatte. Allein sich vom Stuhl zu erheben würde ihn reichlich Anstrengung kosten. Den Gedanken, seine Vermieterin um Hilfe zu rufen, gab er schnell wieder auf. Natürlich würde die kleine alte Mrs. Bee ihm sofort zur Hilfe eilen. Nur war sie wahrscheinlich mit dem Hin knien nicht viel besser dran als er. Liebe alte Mrs. Bee ... Kate Meehan, eine der Kranken schwestern im Krankenhaus, hatte es für ihn geregelt, dass er in das oben gelegene Apartment in Mrs. Bees Haus ziehen konnte, nachdem die Arzte ihn zum ambu lanten Patienten erklärt hatten. Er hätte sonst nicht ge wusst, wo er abbleiben sollte. Er hatte den Wohnwagen aufgegeben, in dem er eine kurze Zeit mit Rita gehaust hatte. Das war gewesen, noch bevor er und der Lieutenant mit dem Black Hawk Bruch gemacht hatten. Und der Sinn stand ihm wirklich nicht danach, sich mit einem Haufen anderer Soldaten eine 6
Unterkunft zu teilen. Er würde den Jungs nur Leid tun, ob sie es nun zugaben oder nicht. Vom Apartment war es nicht weit zum Krankenhaus, und die Miete war für einen einfachen Soldaten mit ge ringem Sold erschwinglich. Kate Meehan hatte ihn ganz direkt gewarnt, dass Mrs. Bees Haus rauch- und alkohol frei sei und dass sie für ihn nur bürgen würde, wenn er ihr versprach, sich zu benehmen. Als ob er in der Lage wäre, etwas zu tun, was dem ent gegenstand. Die Zeiten, wo er nackt mit einer Rose zwi schen den Zähnen tanzte, waren vorbei. Seine Hände konnte er wieder gebrauchen, doch ihm waren immer noch Grenzen gesetzt. Was sein alter Drill-Sergeant immer gesagt hatte, stimmte nicht ganz: Wo ein Wille ist, da ist nicht immer ein Weg. Manchmal war er versucht, einen Höllenauf stand zu machen, aber dann beruhigte er sich wieder und entspannte sich mit Essen, Schlafen und dem Zupfen seiner Gitarre - was ihn große Mühe kostete. Sich benehmen? Kein Problem. Und so hatte er in dem großen viktorianischen Haus von Mrs. Bee im zweiten Stock eine Kombination aus Wohnraum, Essraum, Kochnische und einem auf der Rückseite gelegenen Schlafzimmer bezogen. Keine Ziga retten. Kein Whiskey. Keine willigen Frauen. Keine wil den Partys. Ach ja, es wäre wirklich schön, wenn er das Fluchen aufgäbe. Er hatte seinen eigenen Eingang über die Hintertreppe, er durfte aber jederzeit durch die Vordertür kommen. Ein einziges Mal hatte er den Fehler gemacht, den Vorder eingang zu nehmen, als Mrs. Bee und die Damen von der Kirchengemeinde ihr wöchentliches Treffen bei ihr hat ten. Noch nie in seinem ganzen Leben war er, so vielen 7
Glucken ausgeliefert gewesen. Sie stürzten sich regel recht auf ihn. Nichts ahnend, ganz in Gedanken versun ken ging er die Treppe rauf, und im nächsten Moment fand er sich von den Frauen umringt in Mrs. Bees Wohn zimmer wieder, saß in einem Ohrensessel mit hoch ge legten Füßen und aß Schokoladenkuchen, salzige Erd nüsse, Gewürzgürkchen und trank irgendein Gemisch aus Kirsche, Cola und Ananas dazu. Es war urkomisch gewe sen. Es waren ganz liebe alte Damen - bis auf eine, die glaubte, dass jeder, der beim Militär war, zu irgendeinem Ausschuss gehörte. Und sobald Mrs. Bee das Zimmer verließ, hielt sie damit auch nicht hinterm Berg. Doch gleichgültig, ob er den vorderen oder hinteren Eingang nahm, er musste sich jeden Tag aufs Neue die Treppen hinauf- und hinunterquälen, was ihm allerdings die Anerkennung seiner verschiedenen Chirurgen ein brachte. Alle hatten sie ihm genau das verschrieben. Die harte Anforderung, die Mrs. Bees Haus an seine Beine stellte, fand Doyle in Ordnung. Er fand es auch okay, dass er sich gut benehmen musste, da er es ja verspro chen hatte. Er musste vernünftig sein, wenn er wie - der ganz gesund werden wollte. Zuerst musste er aber den verdammten Stock aufheben. Doyle schaffte es, gleich beim ersten Versuch auf die Beine zu kommen. "Nicht schlecht", lobte er sich selbst. Er musste sich dabei nur auf das Ziel konzentrieren und die Anstrengung und Schmerzen, die von ihm bis dahin abverlangt werden würden, unbeachtet lassen. Und jetzt, wo er aufrecht stand, konnte er in den Garten vom Haus nebenan sehen. Kate Meehans Haus. Manchmal konnte er auch Kate Meehan sehen, meis 8
tens wenn sie sich morgens auf den Weg zur Arbeit machte. Manchmal frühstückte sie auf der Terrasse - seit kurzem mit irgend so einem Kerl. War wohl ein neuer Freund, einer von der Chefetage. Er kam immer mit Kaf fee und einer weißen Tüte an, aus der er kleine runde Milchbrötchen herausholte. Dann redete er eine Weile auf Kate Meehan ein, brachte sie zum Lachen und ver schwand wieder. Manchmal, an ihren freien Tagen, machte sie sich drau ßen zu schaffen, pflanzte Blumen in Tontöpfe und auf Seitenbeete, hing Weidekörbchen mit Hängeblumen auf, wässerte und düngte sie. Offensichtlich liebte sie Ge wächse. Und Glockenspiele. Nachts konnte Doyle das Geklingel hören, wenn er die Klimaanlage ausschaltete und die Fenster öffnete. Gelegentlich saß Meehan in einem Liegestuhl und las. Sie hatte hübsche Beine, das musste Doyle ihr lassen. Und das war für Ihn Grund genug, ihr Kommen und Ge hen zu verfolgen. Sie winkte ihm immer zu, wenn sie ihn am Fenster entdeckte. Sonst hielt sie sich zurück. Soweit er es mitbekam, kontrollierte sie auch nicht, ob er mit seinem Benehmen womöglich die alte Mrs. Bee aufregte. Offensichtlich verließ sie sich darauf, dass er zu seinem Wort stand. Seit einigen Tagen hatte er Meehan nicht allzu oft ge sehen. Es überraschte Doyle ein wenig, dass sie nicht zu Ritas Hochzeit gekommen war. Er wusste, dass sie einge laden worden war, und er wusste auch, dass sie Rita und Lieutenant McGraw mochte. Meehan gehörte sogar zu den wenigen Leuten, die ganz offen die WarrenMcGraw-Liebesromanze bejaht hatte. Ganz im Gegen satz zu ihm. Schließlich hatte jedoch auch er sich damit 9
abgefunden. Auch wenn es noch immer ganz schön schmerzte. Doyle verlagerte sein Gewicht, um einen besseren Blick aus dem Fenster zu haben. Meehan und ihr Freund waren gerade aus dem Haus getreten. Sie ging mit ge kreuzten Armen bis zur Einfahrt. Dort stand sie, während der Freund rastlos auf und ab lief - und redete. Hin und wieder machte er mit beiden Händen eine verständnislose Geste. Offensichtlich wollte Meehan nichts von ihm, weil es nicht so aussah, als ob sie ihm antwortete. Sie schaute ihn nicht mal an. Sie stand nur da, während der Regen auf sie herabströmte. Der Freund hörte nicht auf zu reden und fuchtelte nach Doyles Geschmack ein wenig zu viel mit den Armen. Drohte er etwa? Nein. Meehan schien jedenfalls nicht von ihm einge schüchtert zu sein. Sie schien aber auch nicht die Meehan zu sein, die Doyle kannte. Doyle hatte viele Monate lang als Patient auf ihrer Sta tion gelegen. Meehan war nicht auf den Mund gefallen. Sie konnte knallhart sein. Hart genug, um sich nichts gefallen zu lassen und es dem anderen zurückzugeben, wenn die Situation es verlangte. Doch im Augenblick sah es ganz danach aus, als ob sie dem Kerl zumindest eine schlagfertige Antwort schuldig blieb. Der Freund sagte noch etwas, dann drehte er sich um und marschierte zu seinem Wagen. Meehan starrte ihm nach, versuchte jedoch nicht, ihn zurückzuhalten. Er knallte die Tür zu und fuhr davon, beschleunigte für die Wetterverhältnisse zu doll das Tempo, so dass Matsch und Kies auf dem ganzen Weg bis zur Straße nach allen Seiten spritzte. 10
Meehan blieb noch eine Weile stehen. Doyle dachte, sie würde ins Haus gehen. Falsch gedacht. Trotz des Regens setzte sie sich auf die Steinbank gleich bei, der Einfahrt. Weinte sie? Nein, sie weinte nicht. Nun, zum Teufel, vielleicht war sie ... Doyle humpelte vom Fenster weg. Wie auch immer, es war vorbei. Der Freund war abgeschwirrt, und Meehans augenblickliche Seelenlage sollte ihm gleichgültig sein. Er hatte genug eigene Probleme. Doyle hielt sich an den Möbeln fest, während er dahin steuerte, wo der Gehstock liegen musste. Der Stock war doch nicht ganz auf den Boden gefallen, wie Doyle, an genommen hatte, sondern hatte sich im Querstab des Stuhls verfangen. Es gelang ihm, ihn ohne große Mühe herauszuholen. Trotzdem war er völlig außer Atem. Er stützte sich schwer auf den Stock und freute sich, dass das ganze Manöver ohne zu starke Schmerzen abgelaufen war. Ihm kam wieder das Drama im Garten von nebenan in den Sinn, und er humpelte zum Fenster zurück. Meehan saß noch genau da, wo er sie zuletzt gesehen hatte. "Verdammt, Meehan", murmelte er, "wie lange willst du da noch sitzen?" Am liebsten hätte er gegen die Fensterscheibe geklopft, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und ihr dann zugerufen, sie solle sich endlich vor dem Regen schüt zen. Doch Doyle klopfte nicht, und er rief ihr auch nichts zu. Er humpelte zum Sessel, um sich zu setzen. Er hatte ge nug von der traurigen Frau da unten, und er hatte auch Rita satt. Und er fühlte sich zu angeknackst, um sich als 11
edler Ritter zu betätigen. Dieser Tag war bereits schwer genug gewesen, und es war noch nicht mal dunkel. Doyle seufzte und schaute auf die Uhr. Es war die ge wohnte Zeit für Mrs. Bees Sonntagsritual. Was auch im mer geschehen mochte, am Sonntagnachmittag gab es Eistee und Kuchen. Außerdem hatte er die Übung nötig. Er würde sich nach unten begeben, und bis er es bis zur Diele geschafft hatte, würde Meehan längst wieder im Haus sein. Dann brauchte er sich nicht mehr zu beunruhigen und konnte stattdessen mit Mrs. Bee in der Küche gemütlich bei Tee und Kuchen sitzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er unten war. Vor An strengung fingen seine Beine an zu zittern. Er musste stehen bleiben und tief Atem holen. Er konnte Mrs. Bee allerdings nirgendwo entdecken. Die Vordertür stand sperrangelweit auf, nur die Fliegentür war zugehakt. Also war Mrs. Bee nicht draußen auf der Veranda. Er konnte den Regen hören, wie er auf die Steinstufen prasselte. Mrs. Bee stellte in ihrem Teil des Hauses nie mals die Klimaanlage an, und es war heiß in der Diele. Nur ein altertümlicher Ventilator aus Messing und Holz eierte an der Decke. Es war zu stickig, um viel zu nützen. Doyle blieb in der Küchentür stehen, dann humpelte er zum Fenster. Er zog seinen linken Fuß nach. Kein gutes Zeichen. Er war viel angestrengter, als er angenommen hatte. Endlich stand er vor dem Fenster und schob die Gardine zur Seite, um hinaussehen zu können. "Ist Katie immer noch draußen?" fragte Mrs. Bee plötz lich hinter ihm. "Ja", antwortete Doyle und war froh, dass er nicht zu sammengezuckt war, als die kleine alte Dame sich so von hinten an ihn heranschlich. 12
"Es geht Sie eigentlich nichts an, wenn Katie draußen im Regen sitzen will", tadelte Mrs. Bee und guckte an seinem Ellbogen vorbei in Richtung Steinbank. "Sie haben Recht", stimmte Doyle ihr ohne Zögern zu. Genau das war auch seine Meinung. "Aber..." Doyle konnte es regelrecht spüren, dass Mrs. Bee ihn ansah, doch er zog es vor zu schweigen. "Calvin?" sagte Mrs. Bee nach einem kurzen Schwei gen. "Auf keinen Fall, Mrs. Bee", wehrte Doyle ab, um ihr zuvorzukommen. "Jemand müsste sich wirklich um sie kümmern." "Sie meinen nicht irgendjemand, Mrs. Bee, Sie meinen mich." "Ja, Calvin, ich meine Sie. Ich kann es nicht tun. Es würde aussehen, als ob ich mich einmischen wollte. Wenn Sie es tun, dann sieht es aus, als ob Sie es nicht besser wüssten." Doyle warf ihr einen skeptischen Blick zu. "Das wird es wirklich", beharrte sie. "Männern sind diese Dinge fremd - vor allem Soldaten. Meehan kennt Sie, Calvin. Sie mag Sie. Sie wird nicht beleidigt sein, wenn Sie zu ihr gehen." Da war Doyle sich gar nicht so sicher. Er hatte es nicht nur ein Mal erlebt, wo Meehan beleidigt war, und er legte keinen Wert darauf, das wieder zu erleben. "Mrs. Bee..." "Es ist so ... beunruhigend", unterbrach sie ihn. "Katie sitzt da draußen im strömenden Regen. Gerade letzten Winter hatte sie eine Lungenentzündung." "Wir haben Juli, Mrs.' Bee. Meehan bekommt keine Lungenentzündung." 13
"Vielleicht", meinte Mrs. Bee. "Vielleicht aber auch nicht. Könnten Sie nicht zu ihr gehen und sie ins Haus scheuchen? Es ist sogar möglich, dass sie sowieso gleich aufsteht und reingeht, wenn sie Sie kommen sieht. Dann könnten Sie ja gleich wieder umkehren. Den Versuch wäre es doch wert, meinen Sie nicht auch?" Nein, Doyle meinte das nicht auch. Seine Beine schmerzten. Er war müde. Und er war hungrig auf ein Stück Torte. Er warf einen weiteren Blick aus dem Fenster. Es reg nete immer noch in Strömen, und Meehan saß immer noch auf der Steinbank. Er holte Luft und sah Mrs. Bee an. Sie wirkte so zerbrechlich, und ihr Blick drückte nur einen Wunsch aus: Bitte! "Okay", murmelte er. "Ich gehe und scheuche sie ins Haus. Sie wird es allerdings nicht schätzen. Ich werde dafür bitter bezahlen müssen. Aber ich gehe." "Ich hole Ihnen den Regenschirm", bot Mrs. Bee an und huschte davon. Doyle warf wieder einen Blick hinaus. Er hoffte, dass Meehan inzwischen weg wäre. War sie aber nicht. Mrs. Bee kam mit einem bunten Regenschirm zurück. Doyle nahm ihn und humpelte zur Hintertür. "Sie sind ein guter Junge, Calvin", rief sie ihm hinter her, als er in den Regen hinaustrat. Doyle öffnete den Regenschirm. Er konnte es förmlich spüren, wie Mrs. Bee ihm nachblickte, als er den Garten durchquerte. Auf dem nassen, glitschigen Gartenweg stolperte er mehr, als dass er ging, aber er hatte keine Wahl, wenn er das Ganze schnell hinter sich bringen wollte. Wenn er erst Mrs. Bees Einfahrt bis zum Bürgersteig hinunterge humpelt wäre, dann den Heckenzaun umrundet hätte, um 14
zu Meehans Einfahrt zu kommen, wo sie immer noch auf der Steinbank saß, hätte es viel länger gedauert. Was zum Teufel war mit Meehan los, dass sie so dasaß, obwohl sie völlig durchnässt war. Nun gut, er würde es schnell genug erfahren. Er konnte sie durch die Hecken sehen. Sie schien völlig in Gedan ken versunken zu sein. Natürlich hätte er sie rufen kön nen, aber das wollte er nicht. Er mühte sich einfach wei ter, zog bei jedem Schritt den Stock aus dem Schlamm. Meehan bemerkte ihn erst, als er neben ihr stand und den Regenschirm über sie hielt. Ist 'ne gute Sache, dieser Regenschirm, dachte er. Das gab diesem Rettungsunter nehmen - so unklug es auch sein mochte - einen weniger dramatischen Anstrich. Meehan schaute hoch. Sie sagte nichts. Er auch nicht. Sie heulte nicht. Immerhin eine Erleichterung. Doyle blieb stehen, auch wenn es ihn Mühe kostete, und hielt den Regenschirm über sie beide - in Meehans Fall vollkommen überflüssig. Sie war bis auf die Haut durchnässt. "Also", begann er freundlich, "was ist los?" Meehan seufzte schwer. "Bugs, was tun Sie hier?" "Ich halte den Regenschirm", antwortete er gelassen. "Was wollen Sie?" "Was ich will? Okay, lassen Sie mich kurz nachdenken. Ein kaltes Bier, das als Erstes. Und ich möchte, dass mich jemand zu irgendeinem lauten, verräucherten, mög lichst anrüchigen Lokal fährt, wo ich das Bier bekommen kann. Vielleicht mit- einem großen dicken Steak dazu und einem Haufen frisch gerösteter Zwiebeln als Beiga be. Da dies ein frommer Wunsch ist, bleibe ich hier so lange stehen, bis ich Sie ins Haus zurückscheuchen 15
kann." "Ich möchte nicht gescheucht werden", versicherte Meehan ihm. "Und kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!" "Oh, das tu ich auch. Ich habe ja versucht, mich raus zuhalten, glauben Sie mir. Ich kam aber damit nicht durch. Hören Sie, Ihr feines Benehmen stört mich ganz entschieden, und das hat sei nen Grund. Mir klingt nämlich Ihre Mahnung immer noch im Ohr, mich ja zu benehmen, um Mrs. Bee nicht aufzuregen. Sollte das nur eine einseitige Sache sein?" "Wovon reden Sie da?" "Von Mrs. Bee. Sie macht sich große Sorgen um Sie, weil Sie hier im strömenden Regen sitzen." "Sie braucht sich keine Sorgen zu machen." "Tja, mag sein, aber Sie kennen sie doch. Ich gebe es nur ungern zu, doch ich fühlte mich selbst ein wenig be unruhigt. Das sieht Ihnen so gar nicht ähnlich." "Was haben Sie beide getan? Etwa am Fenster gestan den und spioniert?" "So ungefähr", gab Doyle zu. Sein Standpunkt war schon immer gewesen, dass es in den meisten Fällen leichter sei, einfach die Wahrheit zu sagen ... nur nicht gerade, wenn es einen der übereifrigen Offiziere betraf. Eine Lüge durchzuziehen kostete Energie, und eine Lüge konnte nur allzu leicht widerlegt werden. Doyle musterte Meehan. Sie wirkte geknickt, und er war froh, dass sie nicht heulte. Er wusste nie, wie er sich verhalten sollte, wenn Frauen weinten - vor allem starke Frauen. Frauen wie Rita. Oder Santos von der Fall schirmSondereinheit 4. Santos war eine verdammt gute Soldatin, nur heulte sie immer, wenn sie vom Helikopter springen sollte. Doyle 16
wusste nicht, warum sie heulte, und er war sich nicht sicher, ob sie es selbst wusste. Sie weinte so, als ob sie nicht weinte. Und keinem war klar, was das sollte. Ganz sicher wa ren die Ausbilder nicht gerade begeistert davon. Aber Santos stellte sich wie jedermann brav in die Reihe, und wenn sie dran war zu springen, dann sprang sie aus der offenen Helikoptertür. Genau so, wie sie es sollte. Ihr Heulen verunsicherte leider nur so sehr. Doyle sah Meehan prüfend an, ob sie nicht vielleicht doch Tränen in den Augen hatte. Sie ertappte ihn dabei und wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Sie blickte von ihm weg, zur Einfahrt hin, dann hinauf zur Straße, in die Richtung also, in die ihr Kerl verschwunden war. Doyle wartete. Und wartete. Der Regen prasselte auf den Schirm. Ein Wagen fuhr vorbei, das Dröhnen der Bässe hämmerte aus dem Auto radio. Irgendjemand warf irgendwo irgendwas Schweres aus Metall in einen Abfalleimer. "Also, wie ist's? Hat man Ihnen den Abschied gege ben?" fragte Doyle schließlich und weckte damit Mee hans volle Aufmerksamkeit. Sie starrte ihn lange an, ehe sie "Ja" antwortete. "Na ja. Der Tag heute ist für so was wie geschaffen." Er lehnte den Gehstock gegen die Steinbank, um die Hand an seinen Oberschenkel zu pressen. Beide Beine fingen inzwischen ziemlich an zu schmerzen. Er nahm den Stock und versuchte, sein Gewicht zu verlagern. Es half kein bisschen. Als er Meehan wieder ansah, blickte sie nicht mehr böse drein. Ihm fiel auf, dass sie viel hüb scher wirkte, wenn sie die Brauen nicht so zusammen zog. 17
"Waren Sie bei der Trauung dabei?" fragte sie. "Ja, ich war dabei", antwortete Doyle knapp. "Ich nehme an, die Gäste haben sich alle fein gemacht." "0 ja." "Sie auch?" "Vor allem ich. So toll wie ich aussah, war es ein Wun der, dass die Trauung überhaupt vorgenommen wurde." Meehan lächelte dünn. "Wie war es?" fragte sie so zartfühlend, dass es um sei ne gespielte Tapferkeit fast geschehen wäre. "Es war..." Er atmete tief durch. "Es war entsetzlich." "Armer Bugs", murmelte sie. Er grinste. "Zumindest sitze ich deswegen nicht im Re gen." Zu seiner Überraschung lachte Meehan. Sie hatte ein nettes Lachen. Sie sollte öfter lachen. "Ein Mal im Jahr erlaube ich mir eine Dummheit", sag te sie nach einem kurzen Schweigen. "Und das war die diesjährige?" "Ja, das war sie." Sie lächelte wieder, aber nur ein we nig, und wollte aufstehen. Doyle versuchte, sich zur Seite zu bewegen. Der Schmerz in seinen Beinen wurde so unerträglich, dass er sich unwillkürlich krümmte. "Was ist los?" fragte Meehan und wich dein Regen schirm aus, der plötzlich zu dicht über ihrem Kopf hing. "Es schmerzt", war alles, was Doyle hervorbringen konnte. "Kein Wunder. Sie hätten nicht bei dem Regen rausge hen dürfen." "Na klar, und wer hat ... die Schuld daran?" "Ist schon gut, ist schon gut. Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie. Meehan hatte mit arg mitgenommenen Solda 18
ten genug zu tun gehabt, um zu wissen, dass Hilfe nicht immer willkommen war. "Nein." "Wie lange ist es her, dass Sie etwas gegen Schmerzen genommen haben?" "Etwa drei ... Wochen", stieß Doyle zwischen zusam mengebissenen Zähnen hervor. "Sie nehmen die Mittel nicht, die Ihnen die Ärzte ver ordnet haben?" "Mit denen werde ich ... so schläfrig. Und Sie kennen ... mich. Ich denke dann, ich ... könnte etwas verpassen." "Wie lange ist es her, dass Sie etwas gegessen haben?" "Ich habe Schmerzen ... keinen Hunger", entgegnete er heftig, was nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte ja vorgehabt, etwas zu essen. Er war ganz dicht an Mrs. Bees Torte mit der Ananas-Kokosnuss-Creme und dem Zuckerguss herangekommen. Dann hatte die alte Dame ihn drangekriegt, sich auf den Weg hierher zu machen. Und zu den Schmerzen in den Beinen kam nun auch noch der Ärger über Meehan hinzu. "Sie sind erschöpft. Sie haben heute zu viel getan. Wahrschein lieh haben Sie vor lauter Selbstmitleid nichts gegessen." "Stimmt nicht! Ich habe gegessen!" protestierte er. Doyle wollte so schnell wie möglich von hier weg. Lei der gelang ihm das nicht so recht. "Okay", sagte Meehan. "Lassen wir's genug sein. Sie zittern ja. Bleiben Sie einen Moment stehen. Dann ma chen wir uns auf den Weg zu mir." "Nein ... danke", brachte Doyle hervor. "Sie hätten eine Schmerztablette nehmen sollen - vor allem heute." "Ich nehme sie nicht, Meehan, es sei denn, ich muss. 19
Nur bei besonderen Anlässen ... und wenn es ... wirklich schlimm schmerzt." "Und wie bezeichnen Sie dies hier?" "Ein unbedeutender Rückfall ... hervorgerufen von ei ner Person ... die sich nicht zu ... benehmen weiß." "Sehr komisch. Gehen wir." "Ich werde gleich ... wieder okay sein. In einer Minu te." "Sie kommen zu mir. Es ist näher, als wenn Sie den Weg zurückzulegen versuchen. Sie fallen nur auf die Nase. Ihre Muskeln sind verkrampft. Sie hätten nicht so lange stehen dürfen." "Ja, ich hätte es nicht ... zulassen dürfen. Oh, ver dammt!" "Hören Sie auf zu fluchen. Sie ruhen sich eine Weile aus, und dann können Sie wieder zu sich rübergehen und Mrs. Bee alles berichten." Meehan würde nicht nachgeben, so viel stand fest. Also fügte Doyle sich. Er humpelte in die Richtung, in die sie ihn sanft schob, auch wenn er es nur sehr ungern tat. Meehan nahm ihm den Regenschirm ab und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm über ihn. Den Regenschirm war Doyle los, viel besser laufen konnte er trotzdem nicht. "Legen Sie die Hand auf meine Schulter", befahl Mee han. "Dadurch wird... es nicht besser." "Tun Sie's!" Doyle gehorchte und stützte sich beim nächsten Schritt schwer auf ihre Schulter. "Das ist allein Ihre..." "Schuld", beendete Meehan für ihn. "Wie kommt es, dass er Sie ... fallen ließ?" fragte Doyle unvermittelt. Die Frage war völlig unangebracht und auch ungehörig Der Schmerz machte Doyle irgendwie 20
rücksichtslos. Außerdem wollte er es tatsächlich wissen. "Das geht Sie verdammt wenig an", entgegnete Meehan wie beim ersten Mal. "Sie haben Recht. Aber da ich nun mal all die Mühe auf ... mich genommen habe, sollten Sie zumindest Mrs. Bee ... mit Einzelheiten versorgen. Und je dramatischer die ... sind, desto besser." "Sie und Mrs. Bee sollten öfter ausgehen." "Wie wahr!" erwiderte Doyle und bemerkte, dass er Meehan wieder zum Lächeln gebracht hatte. Vielleicht war der Krach mit dem Freund doch nicht so ernst, wie es beim Blick aus dem Fenster gewirkt hatte. "Vielleicht löst ... sich das Problem", sagte er. "Welches Problem?" "Das mit Ihrem Freund." "Das glaub ich nicht", entgegnete Meehan und legte schnell den Arm um seine Taille, als er etwas Schlagseite bekam. Endlich erreichten sie den hinteren Eingang. Meehan öffnete die Tür und hielt sie mit einem Fuß auf, während sie den Schirm schloss. Doyle humpelte gehorsam hinein. Das Haus hatte offenbar eine zentrale Klimaanlage, denn es war bereits in der Diele angenehm kühl. Im Wohnzimmer gab es einen Fernseher, einen Sessel, eine ganze Reihe von Topfpflanzen vor dem großen Fenster und auf der Couch eine weiße Katze, die erschrocken aufsah. Doyle mochte Katzen nicht. Er hatte nie Katzen um sich gehabt, außer den herumstreunenden, die es auf der Farm seines Großvaters gab, als er noch ein kleiner Junge war. Seine Beziehung zu Katzen war sehr einseitig gewe sen. Jeden Tag hatte er ihnen die Reste von den Mahlzeiten, 21
die seine Großmutter ihm gab, hingeworfen, und jeden Tag fauchten sie ihn an, machten einen Buckel und flitz ten davon, als ob der Leibhaftige hinter ihnen her wäre. Die Katze sprang von der Couch und verschwand. "Setzen Sie sich", befahl Meehan unnötigerweise, denn Doyle hätte es nicht weiter geschafft, und wenn er es noch so gewollt hätte. Er ließ sich schwer auf die Couch nieder, genau auf den Platz, wo die Katze zuvor gelegen hatte. Oh, das tat gut, die Beine zu entlasten. Der Schmerz war nicht mehr ganz so bohrend. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war Meehan weg, und die Katze hockte auf der Armlehne der Couch. "Verschwinde", sagte Doyle zu der Katze. Doch sie blieb, saß da und starrte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit aus gelben Katzenaugen an. Irgendwie fand Doyle das unheimlich. Es war ihm noch nie passiert, dass ein Tier ihn so anstarrte: als ob es nichts Gutes im Sinn hätte. Meehan kam zurück, ein Handtuch um den Nacken ge schlungen und mit einer elektrischen Wolldecke in der Hand. Doyle wurde verlegen, weil er nicht sicher war, was sie mit ihm vorhatte. "Ich wusste nicht, dass Sie eine Katze haben", bemerkte er. Es war ein dümmlicher Versuch, Konversation zu machen. Meehan bückte sich und steckte den Stecker der Decke in die Steckdose. Sie trug Shorts, und es war ein hübscher Anblick, den sie bot. Doyle wusste ihn durch aus zu würdigen. Die Katze miaute irgendwie fragend und schaute Mee han erwartungsvoll an. "Nein, das tut er nicht", sagte Meehan zur Katze. 22
Das sollte nun einer verstehen. Er verstand es jedenfalls nicht "Was tue ich nicht?" hakte Doyle nach. Meehan breitete die Decke über seine Beine aus. "Katzen auffressen", antwortete sie. "Sie ist von einem ganzen Wurf mitsamt Mutterkatze die einzige Überle bende nach einem Kojotenüberfall. Und sie ist sehr be sorgt, dass jemand Appetit auf sie haben könnte." "Leuchtet mir ein. Wo war das mit dem Kojoten?" "In den Bergen. Freunde von mir haben dort ein Haus. Während ich bei ihnen zu Besuch war, hatte sie es sich als winziges Kätzchen in meiner Hemdentasche bequem gemacht. Also habe ich sie mit zu mir nach Hause ge nommen. Sie läuft nicht raus. Sie scheut die Freiheit. Ich würde sie nicht mal mit einem Besen rausscheuchen können. Vielleicht würde ich es aber bei Ihnen und Mrs. Bee schaffen, was meinen Sie?" "Nun, ich bleibe nicht freiwillig im Haus", antwortete Doyle, obwohl das so nicht ganz stimmte. Er wäre gern mit anderen zusammen. Nur waren die zwei Burschen, die seine Freunde gewesen waren, bei demselben Heli kopterabsturz getötet worden. Er vermisste die beiden mehr, als er zugeben wollte. Und bis jetzt hatte er sich noch nicht nach einem Ersatz umgeschaut. Meehan rubbelte mit dem Handtuch ihr Haar trocken. "Warum nennt man Sie Bugs?" fragte sie nach einer Wei le. "Irgendjemand nannte mich so während des Überle benstrainings, und dabei ist es dann geblieben." Er streckte die Beine aus. Nie hätte er gedacht, dass mitten in, Juli die aufgewärmte Decke helfen würde, den Schmerz zu lindem. "Ich sollte mir so eine besorgen", bemerkte er. "Sie können sie behalten", bot Meehan ihm an. 23
"So hab ich das nicht gemeint." "Das weiß ich. Ich habe noch eine. Eigentlich habe ich sogar zwei davon. Meine Schwestern scheinen anzunehmen, dass ich sonst keine Möglichkeit hätte, warm gehalten zu werden. Nehmen Sie die Decke ruhig." Doyle blickte Meehan prüfend an. Sie meinte es tat sächlich so. "Nun gut. Danke." "Gern geschehen." Meehan verschwand wieder, und als sie zurückkam, hatte sie einen Apfel in der Hand. "Essen sie ihn", sagte sie und warf ihm den Apfel zu. "Und ruhen Sie sich aus." Schon war sie wieder weg und ließ ihn mit der Katze allein. Er lehnte sich bequem zurück und fing an, den Apfel zu essen. Dabei schaute er sich im Zimmer um. Nett. Ordentlich. Sauber. Auf dem Tisch standen mehrere eingerahmte Fotos - die meisten von Kindern. Vielleicht waren es immer dieselben zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen - nur in den verschiedenen Altersstufen. Meehans Kinder? Wohl nicht. Zumindest hatte nie jemand etwas davon erwähnt, nicht in seinem Beisein. Die Katze fing endlich an, sich zu bewegen, setzte vor sichtig erst eine Pfote, dann die andere auf die Decke über seinen Beinen, bleib einen Moment ruhig stehen, bevor sie sich gemütlich niederließ. Doyle saß steif da und versuchte herauszufinden, ob er es dabei belassen sollte. Die Katze tat ja nichts Böses. Nicht mal die Beine unter der Decke taten von ihrem Gewicht weh. Nach einer Weile streckte er die Hand aus und strich über ihr Fell. Sie fing sofort an zu schnurren. 24
"Nur so lange, wie mich keiner sieht", sagte er zu dem kleinen Biest, das sich offensichtlich recht behaglich auf seinen Beinen fühlte. Und die zusätzliche Wärme tat ihm gut. Doyle schloss die Augen. Er hörte das Telefon im Haus klingeln und Meehans Stimme. Die Unterhaltung war kurz und, soweit er es aus dem Tonfall heraushören konnte, nicht feindselig. Kann eigentlich nicht der Freund gewesen sein, dachte er. Er hörte den Regen und einen starken Windstoß, der am Haus rüttelte. Und dann hörte er nichts mehr.
2. KAPITEL
Etwas stimmt nicht mit meiner Hand. Das wurde Doyle im Halbschlaf klar. Seine Hand krib belte. Nein sie kribbelte nicht. Sie vibrierte. Doyle öffnete die Augen. Die Katze. Sie schnurrte. Sie lag nicht mehr ausgestreckt auf sei nen Beinen, sondern eingekringelt neben ihm. Seine Hand ruhte auf ihrem Fellrücken. "Wie spät ist es?" fragte Doyle laut, obwohl er Meehan weder sehen noch hören konnte. Die Katze streckte träge die Vorderpfoten und legte sie dann vor ihre Augen. Sie wollte nicht gestört werden. Doyle blickte zum Fenster hin. Es war noch immer taghell. Stimmt nicht, korrigierte Doyle sich. Nichts davon 25
"noch immer". Die Sonne schien, und das Zimmer lag zur Ostseite. Er versuchte, seine Beine zu bewegen, und bedauerte das sofort. Nur selten schlief er die Nacht durch, aber offensichtlich hatte er genau das getan. Und nun bezahlte er teuer für seine Untätigkeit. Sein Stock lehnte gegen die Couch. Eine Notiz war mit Klebestreifen am Griff befestigt. Darauf stand kurz und bündig: Toilette - Tür geradeaus. Küche - Tür links. Kaf fee - um halb sechs. Doyle konnte den Kaffee riechen, doch erst mal eins nach dem anderen. Er schaffte es, wenn auch mit erhebli cher Mühe, auf die Beine zu kommen und zur Toilette zu gehen. Bei dem ganzen Vorgang wurde er bewacht von der miauenden Katze. Sie lief ihm dann voraus in die Küche und setzte sich betont vor den unteren Teil der Küchenschranktür. "Was willst du?" fragte Doyle auf ihr erwartungsvolles Miauen hin, obwohl er sich vorgenommen hatte, nicht mit ihr zu reden. Die Katze stand sofort auf, vollzog eine Art Pirouette auf vier Pfoten, setzte sich wieder und starr te ihn dann an. "Ich kann dir wirklich nicht helfen", sagte Doyle. "Ich kenne mich hier nicht aus." Eigentlich war er nur der Katze wegen hier in der Kü che, weil hierher gelockt hatte. Dennoch, die Kaffeema schine gurgelte. Er blickte hin. Daran geheftet war noch eine Notiz. Er nahm sie ab und las sie: Tassen sind im oberen Schrank direkt vor Ihnen. Schalten sie die Ma schine aus, bevor Sie gehen. Der Kaffee duftete wirklich gut, und Doyle hatte noch nie eine Einladung abgelehnt. Er öffnete die Schranktür und holte sich einen Becher heraus. Während er sich den Kaffee eingoss, vollführte die 26
Katze zu seinen Füßen noch eine geschmeidige Ballett einlage. Doyle sah auf sie herunter und versuchte herauszufin den, was sie damit bezweckte. Die Katze rannte wieder zur unteren Küchenschranktür und miaute laut. "Okay, okay, ich hab's begriffen. Das ist die WhiskasTür, und darin sind die Leckerbissen, stimmt's?" Er humpelte hinüber und öffnete die Tür. Ein Behälter gefüllt mit Dosen von Katzenfutter stand auf dem unteren Regal. Mit einiger Mühe holte er eine Dose heraus. "Siehst du?" sagte er zu der Katze. "Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe." Doyle war wirklich ein wenig stolz auf sich, dass er die Katzensprache so schnell begriffen hatte. Aber hatte er nicht in seinem Leben auch genug Praxis gehabt, sich durchzuwursteln? Die Erinnerung an alte Zeiten kam in ihm auf. Zeiten, als er gesund war und sich nützlich machen konnte. Er schüttelte die traurigen Gedanken ab und sah sich nach einem Gefäß für das Katzenfutter um. Er konnte nichts Passendes finden, und so öffnete er die Dose und stellte sie einfach auf den Boden. Die Katze hatte absolut nichts dagegen. Er humpelte zu seinem Kaffeebecher zurück und nahm einen Schluck. Der Kaffee schmeckte wirklich gut, und Doyle stellte den Becher auf den Küchentisch, wo er sich langsam und schwerfällig auf einen Stuhl setzte. Er streckte die Arme nach oben, gähnte laut und grübelte, wo seine Gastgeberin wohl abgeblieben war. Vielleicht hatte ihr Freund sich die ganze Sache noch mal überlegt. Vielleicht war er vergangene Nacht reumü tig zurückgekommen, und Meehan - überwältigt von sei ner Großmut - war mit ihm gleich losgezogen. Natürlich 27
war sie damit jeder Erklärung ausgewichen, was der schnarchende Krüppel auf ihrer Couch zu suchen hatte. Doyle nahm den Kaffeebecher auf und setzte ihn sofort wieder ab. Was er sich da gerade vorgestellt hatte, moch te er absolut nicht. Es passte nicht zu Kate Meehan. Es war nicht ihre Art, sich von einem Mann herumstoßen zu lassen, vor allem nicht von einem Mann, der sie zum Weinen gebracht hatte. Sie gehörte zu den Frauen, die ... Er atmete scharf aus und brachte seine schmerzenden Beine in eine bessere Position. Was zum Teufel wusste er von Meehan und ihrer Situation? Nichts. Immerhin überraschte es ihn, dass sie einfach fortge gangen war und ihn allein in ihrem Haus zurückgelassen hatte. Halt! Hatte sie ihm nicht genug vertraut, um ihn Mrs. Bee aufzubürden? Warum sollte sie ihm dann nicht genug vertrauen, um ihn mit dem Familiensilber allein zu lassen? Die Türklingel ging. Nach Doyles Meinung viel zu früh für Besucher. Er spielte mit dem Gedanken, es einfach zu ignorieren. Dann entschied er, dass es Meehan sein könn te, die Arme voller Lebensmitteltüten. Das Mindeste wä re, sie in ihr eigenes Haus reinzulassen. Doyle mühte sich hoch und dann zur Tür - zur falschen Tür. Die Klingel ging wieder, und er stolperte in die ent gegengesetzte Richtung, dieses Mal in Katzenbegleitung. Der Freund stand auf der Veranda mit einer kleinen weißen, Tüte und einem Kaffeebecherhalterkarton, in dem zwei Becher waren. Das konnte Doyle durch die Verandascheibe sehen. "Nun wird's interessant", bemerkte Doyle zu der Katze. Er öffnete die Tür weit, stand wartend da und freute sich an dem verblüfften Gesicht des Mannes viel mehr, als es 28
ihm eigentlich zustand. Doyle ging sehr wenig aus, wie er Meehan bereits erzählt hatte. Also musste er sich Un terhaltung verschaffen, wenn es möglich war. "Ich wollte Katherine besuchen", begann der Freund argwöhnisch. "Katie ist nicht hier", antwortete Doyle und gebrauchte Mrs. Bees Variante von Meehans Vornamen. Und er tat es nur, um den Mann zu ärgern, weil er abgehauen war und Meehan im Regen stehen gelassen hatte. Wenn er es richtig einschätzte, dann blickte der Mann böse drein. "Wo ist sie?" fragte der Freund scharf. Er war über haupt nicht glücklich über diese Situation. Meehan sollte offensichtlich genau da sein, wo er sie zurückgelassen hatte. Und ganz sicher sollte sie nicht einen anderen Mann zu sich eingeladen haben. "Weiß ich nicht", erwiderte Doyle. "Wann wird sie zurück sein?" "Weiß ich nicht", beantwortete Doyle wenig hilfreich die Fragen. "Was tun Sie in ihrem Haus?" kam die nächste Frage, und sein recht hochnäsiges Gehabe bröckelte allmählich. "Nicht viel. Schlafen. Kaffee trinken. Katze füttern. Möchten Sie das loswerden?" fragte Doyle zuvorkom mend und wies mit dem Kinn auf die kleine weiße Tüte und die Plastikbecher in dem Kartonbehälter. "Nein, möchte ich nicht", fauchte der Mann ihn an. Er marschierte davon und warf im Vorbeigehen die weiße Tüte und den Halterkarton mit den zwei Kaffeebechern in den Abfalleimer. "Soll ich ihr sagen, dass Sie hier gewesen sind?" rief Doyle ihm hinterher. Der Freund antwortete nicht. Er setzte sich in sein wirk 29
lich sehr schickes silberfarbenes Auto und zischte mit viel Gedröhne rückwärts aus der Einfahrt. Die Katze miaute zu Doyles Füßen. "Warum hast du mich nicht zurückgehalten?" fragte er sie. "Jetzt ist er ganz schön aufgebracht." Die Katze gab einen etwas anderen Laut von sich und vollführte wieder eine dieser Tanz-Einlagen auf vier Pfo ten. "Er weiß sich auszustaffieren, das muss man ihm las sen. Der Dreiteiler sah nicht schlecht aus", murmelte Doyle. Er schloss die Tür und humpelte zurück in die Küche. Er trank den Kaffee aus und stellte die Tasse auf das obere Gestell in der Geschirrspüle. Es war schwerer, die Überbleibsel des Katzenfutters vom Boden zu wischen, als die geöffnete Dose aus dem Regal zu holen. Es dauer te lange, doch Doyle schaffte schließlich auch das. Mehr gab es nicht zu tun, abgesehen von dem langen Weg zu rück zu Mrs. Bees Haus. Er hatte die Hintertür bereits erreicht, als ihm einfiel, dass er die Kaffeemaschine aus stellen sollte. Allmählich wurde es ihm zur Gewohnheit, dass die Katze ihn überallhin begleitete. Als er jedoch die Tür öffnete, schnupperte sie nur die frische Luft, machte aber keinen Versuch, nach draußen zu gehen. "Bleib auf der Hut", riet Doyle ihr und humpelte hin aus. "Kojoten sind hinterlistige Halunken." Er schloss die Tür hinter sich und blieb noch kurz auf der Veranda stehen. Der Morgen war kühl, wie rein ge waschen vom Regen des Vortags. Meehans stattliche Reihe von Glockenspielen klingelte in der Brise. Überall waren Blumen, in Töpfen und in Hängekörb chen. Doyle kannte nur wenige beim Namen. Die roten 30
und purpurnen Petunien waren ihm vertraut, doch dieses grüne Ding, das nach Zitrone duftete, hatte er noch nie zuvor gesehen. Seine Kenntnis beschränkte sich auf Feld früchte und Getreide und all das, was beim Überlebens training in der Armee als essbar galt. Eine ganze Ansammlung von Vögeln flog hin und zu rück zu dem blauen Vogelfutterteller aus Keramik und wetteiferte um einen Platz auf dem Tellerrand. Doyle blieb stehen und beobachtete das aufgeregte Geflatter nach den Sonnenblumenkernen. Die kleinen Vögel über listeten die großen mit ihrer Behändigkeit und Unverfro renheit. An beiden war etwas dran, fand Doyle. Er sehnte sich danach, zumindest eine dieser Eigenschaften wieder zurückzubekommen. Beobachte und lerne davon, dachte er. Sein Großvater kam ihm in den Sinn. Der alte Mann hatte immer gesagt: "Schau und lerne." "Hör und lerne." "Lebe und lerne." Pop Doyle hatte geglaubt, dass das Leben Lektionen er teilte, die man lernen konnte, wenn man genug Verstand hatte zu verweilen, um zu beobachten und alles aufmerk sam festzuhalten. Darüber hatte sein Enkel immer nur lächeln können, wie bloß ein unreifer Schlauberger bes serwisserisch lächeln konnte. Jetzt wusste Doyle um die Wahrheit. Jetzt, wo Pop Doyle schon lange tot war und er es ihm nicht mehr sa gen konnte. Doyle stand bereits zu lange auf einem Platz, also nahm er vorsichtig und langsam Stufe für Stufe der steinernen Verandatreppe hinunter. Dabei hätte er Meehans Schulter als Stütze gut gebrauchen können. 31
Trotz der Schmerzen wählte er den längeren Weg um den Heckenzaun herum und humpelte über Meehans Ein fahrt zur Straße hinunter. Es war eine richtige Schinderei, und er mochte gar nicht an die Tage denken, wo er sich pünktlich um halb sieben Uhr morgens zum Jogging fer tig gemacht hatte. Er vermisste das, oh, verdammt! Einstmals war er stolz darauf gewesen, beim Leistungssport zu den Besten zu gehören. Es war schwer, das alles aufzugeben. Doyle atmete tief ein und kämpfte das Selbstmitleid herunter. Einen Fuß vor den anderen setzen, das ist alles, was er jetzt tun musste. Pop Doyle und sein Ausbilder beim Militär hatten es ihm eingedrillt. Bis Doyle Mrs. Bees Hintertür erreicht hatte, war er in Schweiß gebadet. Er hatte erwartet, dass sie verschlossen wäre. Aber Mrs. Bee war bereits auf und bügelte Bettbe züge in der immer noch kühlen großen Eingangsdiele. Er hatte auch erwartet, dass sie meckern würde. Doch sie lächelte. "Sie sind ein guter Junge, Calvin", lobte sie ihn, als er halb die Treppe hoch war. "Ja, Ma'am", erwiderte er pflichtbewusst. "Das bin ich." Mrs. Bee erkundigte sich immer noch nicht nach dem Verlauf seiner nicht ganz leichten Aufgabe, Meehan zu helfen. Nicht, dass er viel zu berichten hätte. Meehan wurde sitzen gelassen, was Mrs. Bee ganz si cher bereits mitbekommen hatte. Immerhin war sie ja Zeugin der nachbarlichen Szene gewesen. Sie hatte Doy le gebeten, Meehan endlich aus dem Regen zu holen. Diesen Auftrag hatte er gehorsam erfüllt. Welche schmutzigen Details er dabei aufgedeckt haben mochte oder warum er sich erst jetzt zurückmeldete, musste sie nicht unbedingt erfahren. 32
Er schaffte es schließlich zu seinem Apartment. Anders als unten in der Diele war es heiß und stickig. Er stellte die Klimaanlage an, stellte sich vor das kalte Luftgebläse und starrte vor sich hin. Der Morgen streckte sich endlos vor ihm aus, genauso wie der Nachmittag, die Woche, der Rest seines Lebens. Er machte sich Rühreier mit Schinken, aß sie aber nicht. Unter Schmerzen ließ er sich auf den Boden nie der, um einige Streckübungen zu verrichten, nur allein um die Krankengymnastin günstig zu stimmen. Dann duschte er und zog die Uniform des Tages an: mausgraue Shorts, mausgraues T-Shirt und Laufschuhe, die ver dammt schwer zu schnüren waren. Zur Belohnung holte er seine Gitarre und schaffte es, darauf so etwas wie eine Melodie zu zupfen. Dann sang er dazu. Und wehrte jeden Gedanken an Rita Warren zurück. Sein Spiel auf der Gitarre wurde immer besser. Er hatte noch nie eine großartige Singstimme gehabt. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab zu singen, wann immer ihm nach Singen zu Mute war. Den Rest Heiserkeit vom Feu er und von den unzähligen Beatmungsschläuchen in den Krankenhäusern beachtete er kaum. Die Freude, die er beim Spielen und Singen sonst emp fand, blieb dieses Mal aus. Alles kam ihm irgendwie trist vor, und er stolperte zum zweiten Mal zum Fenster, um zu sehen, ob sich drüben bei Meehan irgendetwas rührte. Nichts, kein Anzeichen von ihr. Sie war noch nicht zu rück, und auch der Freund war nicht wieder aufgetaucht. Doyle musste sich sehr an die Kandare nehmen, um nicht auch noch zum dritten Mal einen Ausflug ans Fens ter zu machen. "Ich muss hier raus", sagte er zu sich selbst. Das wach 33
sende Interesse an seiner Nachbarin fing an, ihn mächtig zu stören. Wenn er nicht ganz entschieden etwas dagegen tat, würde er das Gleiche erleben wie davor mit Rita. Er musste irgendwohin gehen, irgendwas tun, um sich abzu lenken. Doyle blickte auf die laute, batteriebetriebene Wand uhr. Halb zehn. Er könnte Sergeant Beltran anrufen. Beltran würde innerhalb weniger Minuten für ihn ein Auto samt Fahrer zur Verfügung stellen. Doyle könnte in den Su permarkt fahren, nur wusste er nicht, was er da kaufen sollte. Oder zum Friseur, allerdings brauchte er auch keinen neuen Haarschnitt. Und sein Stolz ließ es nicht zu, ande ren zu zeigen, dass er sich nach Gesellschaft sehnte. Er aß dann doch die Rühreier mit gebratenem Schinken und las die Zeitung vom Vortag. Seine Ausgehuniform hing auf einem Kleiderbügel an der halb geöffneten Schranktür, und er humpelte rüber, um sie wegzuhängen. Er lächelte, als er sich erinnerte, dass er Meehan erzählt hatte, wie gut er bei Ritas Hochzeit ausgesehen habe. Zumindest hatte er wieder an Gewicht zugenommen; so dass die Uniform perfekt saß. Dass er nicht mehr richtig gehen konnte, war jedoch eine Tatsache, an der er es nichts zu rütteln gab. Er war ein magerer, sich elend füh lender Mann ohne Kampfgeist. "Hör auf damit! " ermahnte er sich laut. Solange er auf war und sich bewegen konnte, gab es keinen Grund zum Selbstmitleid. Er würde wieder zu seiner Waghalsigkeit zurückfinden, und zwar jetzt gleich. Doyle holte sich aus dem Kühlschrank eine Coladose und suchte nach einem leeren Plastikbeutel, in den er die Dose steckte. Dann trat er in die oben gelegene Diele. 34
Die Sommerhitze schlug ihm entgegen, und er zögerte einen Moment, ehe er die Treppe in Angriff nahm. Immerhin erreichte Doyle in einem Stück die schattige Vorderveranda, wo er sich in die Kissen der Hollywood schaukel fallen ließ. Trotz des Schattens war es heiß. Bei der Aussicht auf ein wenig Unterhaltung würde er die Hitze in Kauf nehmen. Etwas würde sich abspielen - die Briefzustellung, das Leeren der Mülleimer, ein Kampf zwischen Hunden. Irgendwas. "Da sind Sie ja", sagte kurz darauf jemand hinter ihm und schreckte ihn aus dem Grübeln auf. Er drehte sich auf der Schaukel halb um und sah Meehan mit der De cke, die sie ihm hatte schenken wollen. Sie war in ihrer Krankenschwesteruniform, und sie sah unausgeschlafen und sehr müde aus. "Für einen Mann, der keine großen Märsche machen kann, sind Sie nicht leicht aufzuspüren", bemerkte sie. "Sie haben dies hier vergessen." Sie legte die Decke über die Rückenlehne der Schaukel. "Nein! Ich will sie Ihnen nur nicht wegnehmen." Ich sagte Ihnen ja, dass ich drei habe. Ich kann eine ent behren. Sie können sie bei Muskelkrampf in Ihren Beinen gut gebrauchen. Wenn Sie schon Ihre Schmerztabletten nicht nehmen, dann hilft Ihnen diese Decke mehr als al les andere." "Sie müssen wirklich nicht ..." "Das weiß ich, Doyle. Also nehmen Sie die Decke nun? Ich habe keine sehr leichte Nacht hinter mit Ich möchte Sie nicht kränken." Er musste lächeln, weil es nett von ihr war, sich um ihn zu sorgen, und weil sie ausgesprochen reizend aussah, trotz des offensichtlich schweren Nachtdienstes. 35
Sie hatte das Haar aufgesteckt und es mit einer Spange festgehalten. Aber einige Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr um das Gesicht. Meehan wirkte so weich und zerzaust, als ob sie gerade aus dem Bett gestiegen wäre. Doyle versuchte, sie nicht anzustarren. Ohne Zweifel fühlte er sich durch die so reizend anzusehende Meehan mehr gestört als durch die Meehan mit den Glockenspie len und den nach Zitrone duftenden Blumen. Warum war ihm das bis jetzt verborgen geblieben? Nein, ganz sicher musste er das bemerkt haben. So etwas hatte er noch nie übersehen - halb tot oder nicht. "Okay, okay", sagte er. "Aber nur unter einer Bedin gung." "Und die wäre?" "Als Dank lade ich Sie zu einem Steak ein. Zu einem richtig saftigen Steak mit frisch gerösteten Zwiebeln und einem kalten Bier. Heute. Wo immer Sie wollen." Meehan musterte ihn, und er gab sich Mühe, nicht so bedürftig zu wirken, wie er sich fühlte. "Heute", wiederholte sie nach einer ganzen Weile. "Richtig." "Als Dank für die Decke." "Richtig." "Ist Ihnen so verzweifelt danach zu Mute, hier heraus zukommen?" "Ja", antwortete Doyle wahrheitsgemäß, und Meehan lachte. "Ich möchte es wirklich schrecklich gern. Und ich möchte Ihnen danken. Sie haben mir gestern geholfen." "Vielleicht war die Hilfe gegenseitig." "Mag sein. Nur habe ich Mrs. Bee im Rücken gehabt, Sie nicht. Vielleicht können wir ja zwei Fliegen mit einer 36
Klappe schlagen und auf diese Weise quitt sein." Meehan musterte ihn wieder, und Doyle zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. Bemerkenswerte Augen. Haselnussbraun. Hübsch. "Wäre es Ihnen nicht lieber ... ?" Sie brach ab. Es war für Doyle nicht schwer zu folgern, was sie ihn hatte fragen wollen. Sie wollte wissen, warum er sie be mühte, statt mit seinen Kumpeln auszugehen. Nur hatte er keine Kumpel, mehr. "Also?" Er war jetzt so weit, alles anzunehmen, was er bekommen konnte sogar einen Ausflug aus Mitleid. "Vielen Dank, aber ich kann nicht. Ich komme gerade von der Arbeit, und ich muss eine Menge erledigen. Ir gendwann muss ich auch schlafen. Außerdem ist es wirk lich nicht nötig, dass Sie …" "Okay", fiel Doyle ihr ins Wort, "es war nur so eine I dee." Meehan wandte sich zum Gehen, doch noch bevor sie die Treppenstufen erreicht hatte, blieb sie stehen und blickte über die Schulter zurück. Er konnte fast spüren, dass sie zu einem Entschluss kommen wollte. Er wartete. "Es würde spät werden", sagte sie schließlich. "Für mich kein Problem. Sie müssten allerdings fah ren." "Das ist mir klar." "Gegen sieben dann. Oder auch später." Meehan sah ihn immer noch an, war sich offensichtlich noch nicht ganz schlüssig. "Okay. Ich komme Sie abho len, sobald ich ausgeschlafen habe. Wo wir essen bleibt mir überlassen, einverstanden?" "Einverstanden", antwortete Doyle. Sie lächelte wieder - dieses rätselhafte Lächeln, das ihn 37
herausforderte und ihn auch ein wenig argwöhnisch machte. Was erwartete sie von ihm? Er hatte ihren Freund aus der Nähe gesehen. Er stank nach Geld. Nach viel Geld. Er selbst hingegen ... "Dann sehen wir uns irgendwann gegen Abend." Damit nahm sie mit leichten Schritten die Treppe hinunter. Doyle blickte ihr nach und war unendlich zufrieden mit sich selbst. Er freute sich auf ihre Gesellschaft. Meehan war gewöhnt an Männer, die humpelten, und sie wusste über Rita Bescheid. Er musste sich nicht als Macho auf führen, wenn ihm nicht danach zu Mute war. Er konnte, wenn er wollte, herumnörgeln und miesepetrig sein. Er atmete tief ein. Er hatte eine ganze Weile schon so gut wie gar nicht an Rita denken müssen. Und dann noch etwas. Er hatte gerade - aus welchem Grund auch immer - eine günstige Gelegenheit vorübergehen lassen, Meehan zu berichten, dass ihr Freund am Morgen zu einem Wie dergutmachungsversuch aufgekreuzt war.
3. KAPITEL
Sie wird absagen. Man brauchte nicht viel, um das herauszufinden. Mee han war spät dran, auch wenn sie keine feste Uhrzeit ab gemacht hatten. Und sie sah nicht aus, als ob sie etwas so Alltägliches wie ein Steak und ein Bier mit einem ver letzten Soldaten vorhabe. Das Schlimmste war, dass sie ihn wartend erwischt hatte. Doyle saß auf der Veranda schaukel wie ein Welpe im Tierheim, der auf einen Ab nehmer wartete. 38
Der Freund ist zurück, ging es Doyle durch den Kopf, als Meehan die Verandatreppe heraufkam. Bugs Doyle war nun überflüssig geworden. Er saß da und sah ihr stumm entgegen. Mann, hatte sie sich fein gemacht! In all den Jahren in der Armee hatte es Doyle immer wieder erstaunt, wie es Frauen gelang, sich innerhalb kürzester Zeit zu verwan deln. Im Einsatz ließen die Soldatinnen die Männer ver gessen, dass sie Frauen waren, um dann mit ein wenig Nachhilfe so weiblich zu wirken wie Meehan in diesem Augenblick. Meehan hatte ein Kleid an. Noch nie zuvor hatte Doyle sie im Kleid gesehen. Es war bunt - blumig bunt. Es erinnerte ihn an Wasser farben, und es war auch irgendwie anschmiegsam, und der Stoff war dünn. Dünn aber nicht durchsichtig. Trotzdem bekam Doyle Stielaugen. Nicht, dass das Kleid aufgeputzt wirkte. Nein, es machte nur aufmerksam. Eigentlich war es schulterfrei, bis auf die Spaghettiträger, die das Kleid vom Herunterrutschen abhalten sollten. Meehans Haut schien weich und makellos. Doyle konnte sich gut vor stellen, wie es sich anfühlen würde, wenn er mit den Händen über ihre bloßen Schultern strich. Und wie gut sie duftete! Nun ist aber Schluss! ermahnte er sich. Doch es hielt ihn nicht davon ab, Meehan bewundernd anzusehen. Einer der Spaghettiträger rutschte ihr wirklich von der Schulter. Sehr verführerisch. Hör auf damit, Doyle, warnte er sich im Stillen. Dies hier war Meehan, und er benahm sich, als ob sie eine 39
begehrenswerte Frau wäre. "Bugs, hören Sie mir überhaupt zu?" fragte sie. "Na klar. Es ist zu spät, um auszugehen." "Meinen Sie?" Doyle runzelte die Stirn. "Ich dachte, Sie hätten das ge sagt." "Es war eine Frage, Doyle. Ist es zu spät, um auszuge hen?" "Mit mir, meinen Sie?" Meehan blickte ihn prüfend an. "Sie haben eine Schmerztablette genommen, nicht wahr?" "Nein", antwortete Doyle. "Vielleicht sollten wir noch mal von vorne beginnen. Sie haben mich gefragt, ob es zu spät sei, stimmt's?" "Stimmt. Ist es zu spät?" "Überhaupt nicht. Ich komme fast um vor Hunger." "Könnten Sie noch eine halbe Stunde warten?" Eigentlich könnte er keine fünf Minuten länger warten. Meehan sah aber so reizend aus, dass sich der Aufschub allein aus diesem Grunde lohnte. "Ich hatte nicht vor, so spät zu kommen. Ich bin erst vor einer halben Stunde aufgewacht. Und ich müsste we gen einer Familiensache noch einen oder zwei Anrufe machen." "Eine Familiensache", wiederholte Doyle, Nun, wenn es um die Familie ging ... Er hatte erwartet, dass sie ihm sagen würde, es täte ihr Leid, aber sie könnte nicht mitkommen, weil sie zu ihrem Freund müsse. "Richtig. Ich habe drei Schwestern. Leider denken sie sich dauernd etwas Ungereimtes aus, wo sie dann meine Hilfe brauchen." "Ich verstehe", sagte Doyle. "Wobei sollen Sie denn 40
aushelfen?" "Bei meinem Onkel Patrick." "Und ihr Job wäre?" "Er ist Witwer. Er achtet nicht auf sich selbst. Ich soll ihn zurechtstutzen." "Armer Onkel Patrick", murmelte Doyle und verbiss sich ein Grinsen. "Was soll das denn bedeuten?" "Es bedeutet, dass ich weiß, wie es ist." "Ich habe Sie nie zurechtgestutzt." "Natürlich haben Sie das." Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. "Warum habe ich Sie zurechtgestutzt?" "Einen Grund hat es nicht gegeben. Ich bin völlig un schuldig gewesen. Dafür verbürge ich mich." "Das möchte ich erleben. Also, wie steht's? Sehen wir uns nachher, oder nicht?" "Wir sehen uns", antwortete Doyle. "Auf alle Fälle." Die Dinge entwickelten sich immer besser. "Dann warten Sie auf mich", bat sie. Doyle nahm an, dass Meehan in ihr Haus zurückgehen würde, und war überrascht, dass sie Mrs. Bees Haus betrat. Sie blieb nicht lange. Wenn sie Mrs. Bees Telefon benutzt hatte, um Onkel Patrick zurecht zustauchen, dann hatte sie sich kurz gefasst und es nett gesagt. Er hatte keinen lauten Ton gehört. "Das ging aber schnell", bemerkte er, als Meehan wie der auf die Veranda trat. "Ich habe die Aufgabe an Mrs. Bee übertragen. Nun ja, eigentlich hatte sie sich angeboten. Sie kennt Onkel Pat rick, und sie tut es taktvoller als ich. Gehen wir also. Mrs. Bee möchte, dass wir Thelma und Louise nehmen", setz te Meehan hinzu, als Doyle sich aus der Schaukel hoch stemmte. 41
"Je mehr, desto lustiger", sagte er munter. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass Meehan mit ihm ausge hen wollte. Und es war ihm egal, wer mitkam. "Freuen Sie sich nicht darauf?" "Worauf soll ich mich freuen?" fragte Doyle verdutzt zurück. "Auf Thelma und Louise. Wollen Sie mir vielleicht endlich mal zuhören?" "Es macht mich geradezu glücklich. Ich kenne die bei den zwar nicht, aber es werden wohl zwei der Damen von der Kirchengemeinde sein, hab ich Recht?" "Nein." Meehan lachte. "Thelma und Louise ist ein Au to." Sie hielt ein Schlüsselbund hoch und ließ es bau meln. "Okay", sagte Doyle, auch wenn er es immer noch nicht begriffen hatte. "Ein 1966er Thunderbird Kabriolett." "Im Ernst?" "Im Ernst. Ein rotes Kabrio mit Ledersitzen. Tadellos erhalten." "Das kann nicht Ihr Ernst sein." "Ist es aber. Der verstorbene Mr. Bee hat es seiner Frau geschenkt, funkelnagelneu, zu ihrem fünfzigsten Ge burtstag. Sie hat es Thelma und Louise' genannt, weil genau der gleiche Wagen in einem Film so hieß. Ihr Mann wollte nicht, dass sie in Depression verfiel, weil sie die Hälfte eines Jahrhunderts überschrit ten hatte." "Hat es genutzt?" "Nun, diesen Wagen zu fahren, macht mir jedenfalls Freude. Mrs. Bee will immer, dass ich ihn so richtig mit Karacho sausen lasse." "Und ganz sicher wissen Sie auch, wie man so was tut", 42
vermutete Doyle und lachte. "Warten Sie's ab, Sie werden sehen, Soldat." Meehan ging ihm voraus die Treppe hinunter und machte keine Anstalten, ihm zu hellen. Das mochte Doy le an ihr. Sie verhielt sich nicht so, als ob sie es wahr nahm, wie behindert er war. Alles verlief reibungslos. Doyle hatte zwar Schmerzen, aber sie waren zu ertragen. Er wünschte sich nur, er hätte sich ein wenig mehr in Schale geworfen. Er hatte seine alltägliche Kleidung gegen dunkelblaue Shorts und ein hellblaues Golfhemd getauscht. Aber na türlich kam er damit nicht an ihr Kleid heran. Das Kabrio stand sorgfältig weggeschlossen in einem Holzbau im Hinterhof. Doyle hatte den Bau natürlich gesehen, sich aber keine Gedanken darüber gemacht. Er folgte Meehan, blieb jedoch plötzlich stehen. "Ist was?" fragte sie und drehte sich zu ihm um. "Bevor wir weitermachen, sollte ich Ihnen lieber geste hen, dass Ihr Freund heute Morgen vorbeikam. Ich mei ne, sollten Sie sich gleich jetzt darum kümmern wollen." "Oh, das weiß ich bereits." "Sie wissen es? Was hat er Ihnen gesagt? Dass jemand in Ihr Haus eingebrochen ist?" "Ja, so ungefähr hat er sich ausgedrückt." "Und was haben Sie darauf geantwortet?" "Nichts." "Nichts?" "Ich schulde niemandem eine Erklärung, warum Sie in meinem Haus waren bis auf meinen Schwestern. Dieses Trio würde unbedingt eine Erklärung nötig machen." Als sie die Einfahrt erreicht hatten, stellte Doyle sich an den Rand, um von hier aus ins Kabrio einsteigen zu kön 43
nen. Meehan öffnete das Vorhängeschloss an der Tür des Holzbaus und fuhr den Thunderbird rückwärts raus. Wie hatte er den roten Oldtimer nur übersehen können? Er war einfach sensationell. Allein das Auto zu waschen wäre ein Privileg. Mrs. Bee steckte voller Überraschun gen. "Und? Mögen Sie ihn?" fragte Meehan durch das ge öffnete Seitenfenster. "Toll", stieß er nur bewundernd hervor. "Genau", erwiderte Meehan. "Bekommen wir das Verdeck runter?" "Geht ganz leicht." "Wow! " Doyle war einfach hingerissen. Er humpelte zur anderen Seite, und Meehan hatte das Verdeck runtergerollt, bevor er die Beifahrertür erreicht hatte. Mit einiger Mühe sank er auf den Sitz, saß einen Augenblick und bewunderte alles: die Sitze, das Armatu renbrett und ... Meehans Beine. Das Radio funktionierte, war aber nicht das ursprüngliche. Mrs. Bee legte offensichtlich Wert auf einen guten Klang. Dieses Radio war ein modernes Modell. Doyle fühlte sich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. "Und? Wohin fahren wir?" fragte er, nachdem er alles gebührend bewundert hatte. "Das überlasse ich Ihnen." "Nein, Sie wählen." Meehan sah ihn einen Moment lang prüfend an, als ob sie nicht sicher wäre, ob er es auch wirklich so gemeint hatte. Er hatte es so gemeint. Ihm war es gleichgültig, wohin sie zum Essen fuhren. Nur durfte es seine bescheidenen Verhältnisse nicht übersteigen. 44
Meehan wählte ein Lokal in der Nähe des Einkaufs zentrums, was Doyle überraschte. Er hätte genau dieses Lokal auch gewählt. "Bei den anderen Lokalen findet man schlecht einen Parkplatz." "Dies hier ist okay. Sie machen gutes Essen." "Und gutes Bier." "Und gutes Bier", stimmte Doyle ihr zu. "Gehen wir also rein?" "Bin absolut dafür." "Schaffen Sie’s bis dahin? Ich könnte bis vor die Tür fahren und Sie herauslassen." "Ich schaffe es." Doyle wollte nicht direkt vor dem Ein gang herausgelassen werden. Er wollte in voller Sicht quer über den Parkplatz humpeln ... mit Meehan an sei ner Seite, damit die Leute sie zusammen sehen konnten und vor Mitleid zerflossen. Doch es war hart. Er musste zwei Mal stehen bleiben, um zu verschnaufen, ehe er den ganzen Weg bis zur Tür des Lokals zurückgelegt hatte. Es gab eine Schlange im Wartebereich, und auf der Wartebank war jeder Platz von Soldaten einer Fall schirmeinheit besetzt. Doyle wurde aber sofort Platz ge macht, damit er sich setzen konnte. Seine Beine taten so weh, dass er auf das ganze Machogetue verzichtete und sich niederließ. Die Burschen machten sogar Platz für Meehan, obwohl sie sehen konnten, dass sie kein Härte fall war. An diesem Abend ging es im Lokal laut zu. Eine Grup pe ganz hinten in der Ecke fing an, zu einem Song aus der Jukebox in die Hände zu klatschen und zu schunkeln. Doyle nahm an, dass sie es taten, weil der Refrain den anfeuernden Tönen bei der militärischen Grundausbil 45
dung ähnelte. Und auch er konnte sich nicht zurückhal ten. Er summte mit. Und er konnte die gegrillten Steaks und die Pommes frites und die gerösteten Zwiebeln rie chen. Es war einfach himmlisch. Er warf Meehan einen Blick zu. Sie lächelte. "Was ist?" fragte er. "Ich freue mich, dass es Ihnen Spaß macht", antwortete sie. Doyle ging nicht darauf ein. Meehan würde es wissen wie sonst kaum jemand. Sie hatte ihn oft genug erlebt, als er keinen Spaß gehabt hatte ... Wenn er hohes Fieber hatte und es ihm so schlecht ging, dass er kaum wusste, wo er überhaupt war. Hier machte es ihm Spaß. Er fühlte sich so wohl wie schon seit vielen Monaten nicht mehr. Die Bedienung rief einen Namen auf. "Hey, Kumpel, nimm den Tisch! " rief ihm ein Soldat von ganz vorne auf der Wartebank zu. "Nein, das wäre nicht fair", rief Doyle zurück. "Nur zu. Dann bleibst du mir eben was schuldig." Doyle nickte und mühte sich auf die Beine. "Vielen Dank", sagte er zu dem jungen Mann. "Sehr nett." "Ihr Soldaten geht kameradschaftlich miteinander um", bemerkte Meehan. "Das wird uns bei der Ausbildung eingetrichtert. Das ist Ehrensache", erklärte Doyle. Es war ein kleiner Tisch für zwei, und die Jukebox stand weit genug weg, so dass sie sich problemlos unter halten konnten. Doyle beschloss, damit gleich zu beginnen. "Also, wie geht es Ihnen?" fragte er. "Mir?" fragte Meehan verdutzt zurück. "Mir geht es gut. Warum?" 46
"Nun ja, Sie hatten gestern einen anstrengenden Tag." "Heute fühle ich mich gut." "Ist die Sache mit dem Freund also ausgestanden?" Er hatte kein Recht, Meehan danach zu fragen. Wie er dar auf gekommen war, wusste Doyle selbst nicht. Aber er wollte es wirklich wissen. "Es ist vorbei." "Vielleicht nicht. Heute Morgen stand er vor Ihrer Tür." "Er möchte nur, dass ich ihn vor einem schlechten Ge wissen bewahre." "Und? Haben Sie das?" "Ich hoffe, nein." Die Kellnerin kam mit zwei Bier in großen Bierkrügen, die sie nicht bestellt hatten. "Mit den besten Wünschen der Fallschirmjäger vom Tisch Nummer sieben", erklärte die junge Kellnerin und setzte die eiskalten Krüge ab. Doyle blickte in die Rich tung, in die sie mit dem Ellbogen wies. Er hob den Bier krug zum Wohl für die Männer und Frauen in Uniform, die einige Tische entfernt saßen. Das eine oder andere Gesicht kam Doyle bekannt vor, nur kannte er keinen von ihnen mit Namen. "Lassen Sie mich raten. Die Spender kennen Sie nicht persönlich." "Nein." Eine andere Kellnerin kam und nahm ihre Bestellung auf. Nachdem sie gegangen war, schlenderte eine junge Frau an ihrem Tisch vorbei, die Rita sehr ähnlich sah. Sogar wie sie mit einer Kopfbewegung ihr langes blon des Haar auf den Rücken warf, erinnerte Doyle mächtig an seine alte Liebe. Er sah der jungen Frau nach, bis sie im Wartebereich verschwand. "Armer Bugs", flüsterte Meehan, als er sich ihr wieder 47
zuwandte. "Für Sie muss es schlimmer sein als für mich", entgegnete er. "Wie kommen Sie darauf?" "Ich habe es auf mich zukommen sehen, Sie nicht." "Sie haben es erfasst." "Machen Sie sich keine Sorgen", sagte Doyle und hob seinen Bierkrug. "Wir werden es überwinden." Meehan prostete ihm ebenfalls zu, doch sie nahm nur einen kleinen Schluck aus ihrem Bierkrug. "Vielleicht", schränkte sie ein und lächelte. "Doch der Gedanke ist beruhigend. Erzählen Sie mir von der Hochzeit. Wer ist da gewesen?" Doyle zählte die Gästeliste auf, beschrieb, wie niedlich die kleine Olivia ausgesehen und was es beim Empfang alles zu essen gegeben hatte. "Wie heißt der Bursche?" fragte er am Schluss, als er mit seinem knappen Bericht zu Ende kam. "Welchen Burschen meinen Sie?" "Den mit der weißen Brötchentüte", antwortete Doyle. "Bugs, das geht …" "Mich nichts an", beendete er ihren Satz. "Ich weiß, a ber ich kann mir nicht helfen. Es ist eine Art Hobby von mir, dass ich alles ergründen muss." "Vielleicht sollten Sie sich ein neues Hobby zulegen." "Dies ist bereits mein neues Hobby. Früher bin ich aus Flugzeugen gesprungen. Also, womit verdient der Brötchenmann sein Geld?" "Immobilien." "Immobilien. Das bedeutet viel Geld, wie?" "Das weiß ich wirklich nicht. Übrigens, wie kommen Sie und Mrs. Bee zurecht?" erkundigte Meehan sich, um das Thema zu wechseln. "Bis jetzt ganz gut. Sie ist eine nette alte Dame. Ich ha 48
be Ihnen niemals gesagt, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mir die Wohnung vermittelt haben." "Mrs. Bee mag Sie sehr." "Wirklich?" "Ja. Sie sagt, dass Sie wie Michael Mont wären." "Wer ist Michael Mont?" "Er ist einer der Figuren in einem Buch ‚Die Forsythe Saga' von John Galsworthy glaube ich." "Da kenne ich mich nicht aus", entgegnete Doyle. Dass Mrs. Bee sich mit Büchern auskannte, bezweifelt er kein bisschen. Immerhin war sie früher Englischlehrerin ge wesen. "Und was für ein Typ ist dieser Michael Mont?" "Da bin ich überfragt. Wahrscheinlich nett. Optimis tisch." Doyle hätte gern gewusst, wie Meehan ihn einschätzte. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Wirklich nicht. Sie und Mrs. Bee irrten sich. Er war weder das eine noch das andere. "Und wie heißt der Brötchenmann nun?" fragte er nach einer ganzen Weile. "Warum wollen Sie das wissen?" Meehan war deutlich aufgebracht. "Weil ich glaube, dass er dort hinten in der Warte schlange steht." Meehan drehte sich nicht um. Doyle wunderte sich ein wenig darüber. Hatte sie gewusst, dass er hierher kom men würde, und hatte sie aus diesem Grund gerade dieses Lokal gewählt? Nein, so war es nicht. Meehan verhielt sich plötzlich völlig anders. Ihr verschlossenes Gesicht verriet ihm, dass ihr Freund unerwartet hier aufgetaucht war. Doyle wollte bereits fragen, ob sie sich verdrücken soll ten, aber in diesem Moment kamen die Steaks, und das 49
Gespräch wurde darauf gelenkt. Und als sie von der Spe zialität des Hauses - Fritten und Zwiebeln - kosteten, lob ten sie den Koch dieses Lokals, der wirklich wusste, wie man sich in seinen Kochkünsten hervortat. Meehan konzentrierte sich aufs Essen und schaute sich kein einziges Mal um, um herauszufinden, wo der Freund abgeblieben war. Kurz bevor sie mit dem Hauptmahl fertig waren, be stellte Doyle zwei Stück Apfelkuchen zum Mitnehmen. Nachdem die Kellnerin gegangen war, ertappte er Mee han, wie sie ihn wieder prüfend ansah. "Was ist?" "Nichts. Ich habe mich nur gefragt, was Sie mit dem Kuchen vorhaben?" "Er ist für Mrs. Bee", antwortete er. "Immerhin hat sie uns mit einem tollen Fahrzeug versorgt. Sie sollte ein bisschen was dafür bekommen." "Auf Mrs. Bee", prostete Meehan und hob ihren Bier krug. "Und auf alle, die ihr gleichen! " Auch er hob seinen Bierkrug. "Von denen es verdammt wenige gibt! " fügten sie bei de wie aus einem Mund hinzu und lachten. Doyle unterhielt sich prächtig. Alles war großartig. Das Essen, das Bier, die Musik. Meehan. Jemand hatte einen richtigen Oldie auf der Jukebox ausgewählt. An einem Tisch fing man an, aus voller Keh le mitzusingen. Ein Haufen alter Hasen, wie Doyle feststellte, als er sich zu ihnen umblickte. Es mussten Exfallschirmjäger sein, vielleicht Vietnamveteranen. Mann, legten die sich ins Zeug. 50
Einer von ihnen schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und kam auf sie zu. "Hey, Sweet Darling", sang er mit dem Song aus der Jukebox und strahlte Meehan dabei an. "Hey, Jake", rief Meehan überrascht. "Wie geht's?" "Ich bin wieder wie neu. Kommen Sie schon, ich zeig's Ihnen. Wie wär's, wenn wir das Tanzbein schwingen? Kann ich mir deine Lady leihen?" fragte er Doyle, ohne Meehan die Gelegenheit zur Antwort zu geben. "Ich glaube nicht, dass das erlaubt ist, Jake", wandte Meehan ein und lachte. "Keine Sorge. Der Song wird zu Ende sein, bevor die Militärpolizei hier aufkreuzt. Okay?" Er sah Doyle dabei fragend an. "Vergessen Sie nur nicht, Sie wieder zurückzubringen, Sir", mahnte Doyle. Als der Veteran und Meehan zu tanzen anfingen, gab es Applaus. Was diesem Jake an Fähigkeit mangelte, ersetz te er durch Begeisterung - was den Beifall seiner Kumpel am Tisch, wenn nicht sogar aller Gäste im Lokal noch steigerte. Doyle ließ Meehan nicht aus den Augen. Sie kannte sich in dieser Art Tanz aus, und er konnte ihr ansehen, wie viel Spaß sie hatte. Den Brötchenfreund hatte sie jedenfalls im Moment vergessen. Hoffentlich beobachte te er sie dabei und musste nun einsehen, wie dumm es gewesen war, eine so reizvolle Frau aufzugeben. Als der Song zu Ende war, brachte Jake Meehan an den Tisch zurück, hielt ihr den Stuhl, bis sie sich gesetzt hat te, und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Bei Doyle bedankte er sich mit einem etwas übertriebe nen Salutieren und entfernte sich. "Sie haben ein ganz schönes Tempo aufs Parkett ge 51
legt", bemerkte Doyle. Meehan lachte. "Einen derart wilden Abend habe ich seit meiner Ausbildungszeit nicht mehr gehabt." "Wild sein tut manchmal gut", erwiderte er. "Sollen wir aufbrechen?" fragte sie, nachdem die Kellnerin die Schachtel mit dem Apfelkuchen gebracht "Ich bin bereit", antwortete Doyle und zahlte bei der hatte. Kellnerin für das Essen. Er ließ Meehan den Kuchen tragen, denn er kam nicht so leicht vom Stuhl hoch, wie er gehofft hatte. Die Schmerzen in seinen Beinen waren wieder mal fast uner träglich, und er musste sich sehr anstrengen, um es nicht zu zeigen. "Hier, meine Schulter", bot Meehan ihm an. Doyle zögerte nicht. Er legte die Hand auf ihre Schul ter, wie er es schon öfter getan hatte, fühlte ihre weiche, warme Haut unter seinen Fingern und drückte mit jedem Schritt härter zu. "Soll ich den Wagen vorfahren?" fragte Meehan drau ßen. "Nein, ich gehe", antwortete Doyle, nicht weil er dach te, dass er es bis zum Wagen schaffte, sondern weil er ihre Schulter nicht loslassen wollte. "Zurück zu Mrs. Bee oder mit 90 Meilen über die In terstate?" fragte sie provozierend, als sie schließlich den Thunderbird erreicht hatten. "Interstate", antwortete Doyle. "Und drehen Sie die Musik auf." Er lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen, gab sich den Schmerzen hin und den Klängen aus dem Radio. Oldies. So etwas hörte er sonst nie. Aber sie passten zum Wa 52
gen und vielleicht auch zu seiner plötzlich nicht mehr ganz so lustigen Stimmung. Er lauschte den Worten des Songs, während die Lichter von Fayetteville und kurz darauf der Verkehr auf der Interstate an ihnen vorbeiglitten. "Entzünd in mir das Feuer..." Teufel, ja. Wie nötig er es hatte, Feuer zu fangen. Sehr, sehr nötig. "Liebe schmerzt, wenn sie erkaltet." Wenn das eine Neuigkeit sein sollte! Doyle atmete tief ein und versuchte, gegen den Schmerz in seinen Beinen anzukämpfen mehr als gegen den Schmerz in seinem Herzen. Er wusste nicht, wohin sie fuhren, es war ihm auch egal. Alles zog an ihm wie verschwommen vorbei. Meehan tat das, worum die klei ne alte Mrs. Bee sie gebeten hatte: dem Thunderbird rich tig Dampf machen. Sie flogen dahin. "Ein gefährliches Spiel..." Sie flogen dahin. Er konnte den Wind im Gesicht füh len. "Maggie Mae..." Die großen Töne für liebeskranke Teenager, die es schlimm erwischt hatte. "Maggie Mae …"
4. KAPITEL
Die Damen von der Kirchengemeinde hatten wieder ihr
Treffen. Jedenfalls einige von ihnen, sie waren nicht so
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zahlreich wie sonst. Trotzdem wollte Doyle ihnen aus dem Wege gehen. Dieses Mal hatte er keine Lust, "zufäl lig" auf sie zu stoßen, um freigebig mit Erfrischungen versorgt zu werden. Er wollte nur oben in seinem Apartment sitzen und nach Meehan Ausschau halten. Das gab er sich selbst gegenüber offen und ehrlich zu. Seit ihrem gemeinsamen Abendessen hatte er sie weder gesehen, noch hatte er mit ihr gesprochen, und der Wunsch, einfach mit ihr zu plau dern, wurde mit jedem Tag größer. Er wolle nur von ihr persönlich hören, dass es ihr gut ginge, sagte er sich. Nach außen hin hatte sie so getan, als ob es ihr nichts ausmachte, einfach so abgehängt worden zu sein. Doch er konnte sich nicht vorstellen, dass es wirklich so war. Abgesehen von all dem wollte er Meehan einfach wie der sehen. Er wollte mit ihr reden, wollte sie zum Lachen bringen. Er wollte über ihre Schwestern und ihren Onkel Patrick mehr erfahren und auch, wer die Kinder auf den eingerahmten Bildern waren, die sie in ihrem Wohnzim mer stehen hatte. So eifrig er auch nach ihr ausschaute, ihr Kommen und Gehen war ihm entgangen. Drei Tage lang stand er je weils zur falschen Zeit am Fenster. Er hatte bereits vor gehabt, Mrs. Bee zu fragen, ob sie Meehan begegnet sei, aber dann ließ er es doch lieber bleiben. Rita Warren, die Frau, für die er wirklich ernsthaft etwas empfand, hatte einen anderen Mann geheiratet. Er sollte eine Lektion daraus gezogen haben. Aber wenn es um Frauen ging, war er ein ausgewachsener Idiot. Gestern ... 0 Mann, gestern! Mit seinem idiotischen Be nehmen hatte er sich selbst übertroffen. Er hatte einen Arzttermin im Krankenhaus gehabt. Er war zu früh da 54
gewesen und war länger als nötig geblieben und das al lein, um Meehan aufzuspüren. Er hatte nur "Hallo" sagen wollen, nur sehen wollen, ob es sie interessierte, was sein Doktor ihm berichtet hatte. Allerdings hatte er nicht da mit gerechnet, dass Meehan nicht bei der Arbeit sein könnte. Natürlich hatte er viel zu viele erstaunte Blicke auf sich gezogen. Alle vom Krankenhauspersonal kannten sie beide, und man fragte sich, was zum Teufel Bugs Doyle von der Krankenschwester Meehan wollte. Eigentlich wusste er selbst nicht, was er wollte. Er glaubte nicht, dass sie auch nur entfernt auf den Gedan ken käme, er könnte in ihr eine attraktive Frau sehen. Und nie und nimmer würde sie in ihm so etwas wie ein Objekt für ihre Fantasien sehen. Für Meehan war er si cherlich nur eine jämmerliche Gestalt, für die sie Mitleid empfand, der sie bestenfalls im Vorübergehen hin und wieder über den Kopf strich und die Hand tätschelte. Verflixt, sie hätte niemals dieses Kleid anhaben dürfen. Alles wäre bestens gewesen, wenn sie so ausgesehen hätte, wie sie im Krankenhaus immer aussah. Dienstlich. Konsequent. Streng und ein bisschen ge mein. Nicht weich. Keine nackten Schultern und dünne Träger, die ständig runterrutschten. Und keine Kleider, die undurchsichtig waren und ihn trotzdem so durchein ander brachten, dass er nicht mehr wusste, wer er war und wer sie war und warum er das nicht denken durfte, was er dachte. Meehan war eine sehr hübsche Frau. Eine lange Zeit war er körperlich und seelisch zerschlagen gewesen, aber er war noch nicht tot - wie ihm die jüngsten Ereignisse ohne jeglichen Zweifel bewiesen. "Was soll verkehrt daran sein, wenn ich mit ihr reden 55
will, verdammt noch mal?" sagte er laut zu sich selbst. Hatten sie nicht beide Spaß gehabt an dem Steak-undBier-Abend? Jeder hatte sich in der Gesellschaft des an deren wohl gefühlt, oder etwa nicht? Es hatte nichts mit Erotik zu tun gehabt. Es war nur ein vertrauter Umgang, mehr nicht. Er humpelte bis zum Fenster, wo er hinausschauen konnte. Wieder mal. "Was nun?" sagte er, weil ein Wagen in Meehans Ein fahrt stand, den er sofort erkannte. Der Brötchenmann war zurück. Doyle beobachtete, wie der Kerl um das Haus herum zur Hintertür ging, beobachtete wie er auf die Klingel drückte, beobachtete, wie er hereingelassen wurde. Nun, das war's dann wohl. Meehan musste den Freund erwartet haben. Sie hatte es sich vermutlich überlegt, nachdem er Reue gezeigt hatte. Doyle seufzte schwer. Es hatte keinen Sinn, am Fenster zu stehen und auf Meehans Haus zu starren wie ein lie bestoller Teenager. Er hielt sich an den Rat des Psychia ters beim Militär und versuchte, sich seiner Gefühle klar zu werden. Sorgen. Er machte sich um Meehan Sorgen, auch wenn er kei nen Zweifel daran hatte, dass Meehan sehr wohl auf sich selbst aufpassen konnte. Er wollte nur nicht, dass dieser Kerl Meehan wieder herumbekam, um sie dann noch ein zweites Mal von sich zu stoßen. Aber das war noch nicht alles, was ihn bewegte. Ja, er fühlte sich gereizt. Ja, er war besorgt. Und er war, so un glaublich es sein mochte, vor allem eifersüchtig. Er war tatsächlich eifersüchtig. Schuld daran war dieser lange und unwillige Geländemarsch im strömenden Re 56
gen zu Meehan hinüber, um nach ihr zu sehen. Daraus hatte sich so etwas wie Verantwortung für sie entwickelt. Der Helfer in der Not mit dem Gehstock. Er war gekommen, um sie zu retten. Jetzt fühlte er sich verantwortlich für sie. So einfach war das. Er verließ sein Apartment und stieg mühsam die Treppe hinunter. Es war schon erstaunlich, wie der Schmerz von einer Sekunde zur anderen einsetzen konnte. Er brauchte alle Kraft, um einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Wenn der Schmerz so stark wurde, rief er sich die Ausbildungszeit mit seinem Drillsergeant in Erinne rung. "Du wirst durchhalten ... Soldat", stieß er dessen Worte hervor. "Die Tausende ... und Abertausende, die ... vor dir hinübergegangen sind ... fordern es! Du wirst es nicht versuchen! Du wirst es tun! Es gibt kein Versagen!" Doyle schaffte es bis zur Hollywoodschaukel, aber er zitterte am ganzen Körper. Ihm war heiß, und er war ver schwitzt, aber er hatte es geschafft. Er wischte sich ein paar Mal mit der Unterseite seines T-Shirts übers Ge sicht. Die Damen von der Kirchengemeinde befanden sich al le im Wohnzimmer. Mrs. Bee hatte unten alle Fenster geöffnet, und Doyle konnte die Ladys schnattern hören. Sie mussten ihn aller dings ebenfalls gehört haben, denn die Stimmen klangen plötzlich gedämpft. Bloß weg hier! dachte er. Er humpelte in den Garten hinter dem Haus und setzte sich an einen steinernen Pick nicktisch in der Nähe des Weinstocks - völlig aus der Sicht der Damen. Er verfolgte eine ganze Weile das Hin- und Hersurren 57
der Wespen im Weinstock. Es war friedlich hier. Zu Meehans Haus blickte er nicht hinüber, auch wenn es sich bot. Ohne Vorwarnung überkam ihn eine Sehn sucht ... Wonach, as wusste er nicht genau. Nach seinem alten Ich, dem vor dem Absturz? Nach Rita? Vielleicht nach der Farm seines Großvaters in Georgia, die wahrscheinlich mittlerweile ein Parkplatz war. Er war dort glücklich gewesen, in den Jahren, als er he ranwuchs. Bis Pop starb, war das der Ort gewesen, wohin er immer zurückkommen wollte. Gewöhnlich kam er nach jedem Pflichteinsatz in Übersee unangemeldet an, vollbeladen mit Souvenirs und den ausgeschmückten Geschichten seiner Abenteuer beim Militär im Ausland. Auf der Farm hatte er gelernt, dass man mit 'harter Arbeit viel besser dran war als mit Selbstmitleid. Er hatte auch gelernt, dass es einige Menschen gab, die einen liebten, und andere, die abweisend blieben, egal ob sie blutsver wandt waren oder nicht. Seine Mutter und seine einzige Schwester Nina kamen ihm in den Sinn. Sie lebten in Florida, und es war Monate her, dass er mit ihnen gesprochen hatte. Nina hatte ihn kurz nach dem Absturz überraschend im Krankenhaus besucht. Das hatte ihm nur als Hinweis gedient, wie schlimm er dran war. Sie wäre niemals gekommen, wenn nicht je mand ihr gesagt hätte, dass er im Sterben liege. Seine Mutter hatte nur wenige Male angerufen, wäh rend er auf Meehans Station lag. Und das war wohl nur darauf zurückzuführen, dass jemand sich erkundigt hatte, wie es ihrem armen Sohn von der Fallschirmtruppe gehe, der mit diversen Brüchen im Krankenhaus liege. Nur des Ansehens wegen hatte sie angerufen, aus keinem anderen 58
Grund. Er war ein ungewolltes Kind gewesen. Seine Mutter war bereits Mitte vierzig gewesen, als er geboren wurde, und sie hatte ihn ihrer Tochter überlassen. Beide Frauen hatten andere Pläne für ihr Leben gehabt, als ein Kind aufzuziehen. Doch er hatte es durchgestanden. Und für die Lösung ihres Problems war er heute noch dankbar und würde es bis zum Ende seines Lebens sein. Mutter und Tochter hatten ihn einfach an seine Großeltern in Georgia abge geben. Bei den beiden hatte er endlich die Geborgenheit gefunden, die ihm vorher nicht vergönnt gewesen war. Doyle schloss die Augen und spürte die drückende Sommerhitze. Hin und wieder kam eine frische Brise auf, gerade stark genug, dass die hohen Kieferbäume knarrten und seufz ten. Donner grollte in der Ferne. Vielleicht wird es reg nen, dachte Doyle. Bei Regen konnte er immer gut schla fen. Er sehnte sich nach einem Schlaf ohne Träume, ohne Schmerzen. Wäre das nicht was? Seit er in Meehans Haus auf der Couch förmlich weggetreten war, hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Er hörte ein Rascheln und öffnete die Augen. Meehan kam durch die Hecke auf ihn zu. Ihr Freund stand in der Einfahrt neben seinem Wagen und wartete - recht unge duldig, wie Doyle bemerkte. Meehan hatte sich dieses Mal nicht fein gemacht. Sie sah aus wie immer mit dem aufgesteckten Haar und dem übergroßen Hemd. Nun, er hatte ein ausgezeichnetes Ge dächtnis und wusste, welche Formen sich unter dem rie sigen Hemd verbargen. "Bugs", rief sie alarmiert. "Geht es Ihnen gut?" "Ja, mir geht's gut." Er blickte hinüber, wo ihr Freund 59
wartend stand. "Etwas Neues bei Ihnen?" "Wie haben Sie geschlafen?" fragte sie zurück, statt zu antworten. Sie sah ihm prüfend ins Gesicht. Von einer Minute zur anderen verwandelte sie sich in die Kranken schwester vom Dienst. "Wie gewöhnlich", wich Doyle aus. "Und das bedeutet?" Er schwieg und sah ihr direkt in die Augen. Sie ließ es zu. Verdammt, Meehan, tu das nicht! Er sah nicht weg. Sie wirkte irgendwie traurig und auch versonnen, vielleicht sogar sehnsüchtig. Und das brachte Doyle völlig durcheinander. "Katherine! " rief ihr Freund. "Ich muss gehen", sagte Meehan zu Doyle. "Grüßen Sie Mrs. Bee von mir, und sagen Sie ihr, dass ich bald rüber komme, um sie zu besuchen." Damit drehte sie sich um. "Das bestelle ich ihr, sobald sich das Kaffeekränzchen verzogen hat", rief er ihr nach." Sie nickte und drückte die Hecke zur Seite, um durch zuschlüpfen. Etwas stimmt nicht mit Meehan, überlegte Doyle, wäh rend er ihr nachsah. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Viel leicht war sie bloß müde. Sie hätte sich mit dem Freund nicht wieder versöhnt, wenn sie es nicht gewollt hätte. Doyle konnte sehen, wie der Brötchenboy in seine Richtung starrte. Wahrscheinlich wunderte er sich über das Zwischen spiel mit Meehan und ihm und war deswegen aufge bracht. Nun, das wäre eine Reaktion, die Doyle verstehen könnte. Auch er war aufgebracht gewesen, als er den silberfarbenen Wagen in Meehans Einfahrt hatte stehen 60
sehen. "Das war es dann wohl", sagte er laut, als Meehan ins Auto ~:'stieg und mit dem Freund davonfuhr. Doyle blieb noch lange am Picknicktisch sitzen, bis er sich ausgeruht genug fühlte, um den Rückweg anzutre ten. Er wollte nicht nach oben in sein Apartment zurück. Und er wollte sich auch nicht mit den liebenswerten, wenn auch schwatzhaften Damen von der Kirchenge meinde unterhalten. Die Brise wurde kräftiger. Die Kieferbäume fingen an sich zu biegen. Doyle konnte den Regen bereits riechen. Und wenn er sich jetzt gleich aufmachte, könnte er im Haus sein, bevor der Sturm aufkam. Als er die Veranda erreicht hatte und die Treppe müh sam hinaufstieg, hörte er die alten Damen im Wohnzim mer schnattern. Es gelang Doyle ohne allzu große Schmerzen nach o ben zu kommen. Er aß ein Brot mit Erdnussbutter und trank dazu kalten Tee, den er in einem Glaskrug im Kühl schrank hatte. Dann stellte er den Fernseher an, schaute sich die Nachrichten und den Wetterbericht an. Er fühlte sich plötzlich erschöpft, aber er ging nicht ins Bett. Er blieb im Sessel vor dem Fernseher sitzen und nickte ein. Als er aufwachte, fand er sich auf dem Boden wieder. "Was ... ?" "Bleiben Sie liegen! " befahl jemand. Meehan? "Meehan ... was ... ist los?" Doyle versuchte, sich zu rechtzufinden und sich aufzusetzen. "Warten Sie! " rief sie. "Ich muss sehen, ob Sie verletzt sind." 61
Er hörte auf, sich abzumühen, und schloss die Augen. Er fühlte ihre Hände, wie sie ihn prüfend abtastete. Als er die Augen wieder öffnete, lag er noch immer auf dem Boden und Meehan kniete neben ihm. Ihr Haar war nass. "Regnet es?" fragte er. "Nein. Mrs. Bee hat mich aus der Dusche geholt." "Mrs. Bee?" "Ja. Sie hat Sie gehört und war besorgt. Tut etwas weh? Ich meine mehr als üblich." "Ich ... ich verstehe nicht", murmelte Doyle und wollte sich aufsetzen. Dieses Mal ließ Meehan es zu. "Was ist geschehen?" "Sie haben geschrieen." "Geschrieen? Was hab ich geschrieen?" "Sie glaubten, dass Sie im Black Hawk wären", antwortete Meehan leise. Doyle holte tief Luft. Black Hawk. Der verdammte He likopter. Er konnte ihn plötzlich hören, ihn riechen, die Hitze spüren. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass seine Hände zitterten, und er schloss sie zu Fäusten, damit Meehan es nicht mitbekam. "Dann hörte Mrs. Bee, wie Sie stürzten, aber sie bekam Ihre Tür nicht auf. Deshalb rannte sie zu mir rüber." "Und wie sind Sie reingekommen?" fragte er, weil ihm jetzt klar wurde, dass er direkt vor der Tür lag. Meehan lächelte. "Ich bin am Ende des Korridors aus dem Fenster gestiegen, von da rauf zum Dach. Dann bin ich auf dem Dach quer rüber bis zu Ihrem Fenster gekra xelt und habe mich reingelassen. Sie hätten mich sehen sollen. Ich war großartig." Doyle musste lächeln. "Na klar!" Dabei war ihm nicht 62
nach Lächeln zu Mute. "Meinen Sie, dass Sie jetzt aufstehen können?" "Was? Jaa ... ja, das kann ich." Doch er rührte sich nicht. "Mrs. Bee hat Sie geholt?" "Ja. Wer kann ihr schon etwas abschlagen?" "Wem erzählen Sie das?" Doyle holte tief Atem. "Angeblich sollen sie mit der Zeit wegbleiben. Ich meine die Albträume." "Das werden sie", versicherte Meehan ihm. "Aber erst, wenn Sie sich selbst vergeben." "Mir selbst vergeben? Wofür? Ich hab das verdammte Ding nicht geflogen." "Dass Sie überlebt haben", erklärte Meehan ruhig. Sie klang so sicher. Wie konnte sie so sicher sein? "Und natürlich wissen Sie darüber Bescheid", bemerkte er bitter. Meehan ging nicht darauf ein. "Sagen Sie mir nur nicht", fuhr er verärgert fort, "dass alles Geschehen immer einen Grund hat." "Vielleicht hat es das wirklich", gab sie ihm zur Ant wort. Doyle lachte spöttisch auf, und plötzlich stand er vor einem völlig anderen, sehr viel dringlicheren Problem. Ihm war zum Heulen zu Mute. Wie ein kleines Kind wollte er weinen. Nur, dass er als Kind nicht viel geweint hatte. Er war schon in ganz jungen Jahren immer dage gen angegangen. Er wagte es nicht, Meehan anzusehen. Er drehte sich um und versuchte, auf die Füße zu kommen. Sie streckte ihm gerade zur rechten Zeit die Hand hin, um ihm auf ihre tüchtige und unaufdringliche Art dabei zu helfen. Sie reichte ihm den Stock und er kam langsam hoch. "Ich bin jetzt wieder okay", stieß er hervor und mühte 63
sich zum Bett. Meehan blieb an seiner Seite, machte aber keinen Versuch, ihn zu stützen. Er setzte sich schwer auf den Bettrand und starrte vor sich hin. Dabei konnte er es fast spüren, wie Meehan ihn prüfend ansah. Sie musste mit seinem Zustand halbwegs zufrieden sein, denn kurz darauf sagte sie: "Dann verlasse ich Sie jetzt." "Hey! " rief Doyle ihr nach, als sie die Tür fast erreicht hatte. Sie drehte sich zu ihm um. "Es tut mir Leid, dass Sie meinetwegen nicht zum Du schen gekommen sind." "Ist schon gut." "Hey!" rief er wieder, als sie die Tür öffnete. "Viel leicht könnten wir uns irgendwann wieder zu einem Steak und einem Bier treffen." Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf. "Nein." Eine Antwort ohne Umstände - kurz und unmissverständlich. Nein.
5. KAPITEL
Wahrscheinlich nimmt Meehan an, dass ich nicht klar im Kopf war, als ich sie gefragt habe, dachte Doyle. Dass Meehan diesen Eindruck gehabt haben musste, konnte er sich vorstellen. Er hatte geschlafen. Dann sollte er geschrieen haben. Und er war gefallen. Die blauen Flecke bewiesen es. Was könnte sie sonst annehmen, außer dass sein Kopf vorü 64
bergehend verwirrt war? Soweit er es beurteilen konnte, würde es nur eine Lö sung geben: Er musste sie ein zweites Mal fragen. Um die Zeit, zu der Meehan gewöhnlich von der Arbeit nach Hause kam und ihre Post aus dem Briefkasten beim Weinstock herausholte, ging er in den Hinterhof und war tete. Er wartete. Und wartete. Das Warten wurde zu einer Geduldsprobe - nicht nur wegen der Mücken. Als Meehan endlich mit ihrem Wa gen in die Einfahrt fuhr, stand er von der Gartenbank auf und humpelte so ungezwungen wie möglich auf sie zu. Es sollte aussehen, als ob das alles ganz zufällig geschah. Nur wirkte sein ungezwungenes Humpeln eher so, als ob er jeden Augenblick auf die Nase fallen könnte. Er war dankbar, als Meehan ihn sah und ihm entgegenkam. "Hey", rief er, noch ehe sie ihn erreicht hatte, "ich habe eine Frage." "Schießen Sie los", rief sie zurück, und ihm kam der Gedanke, dass sie wohl eine medizinische Frage erwarte te. "Sind Sie und der Brötchenboy noch zusammen, oder ist es vorbei?" Meehan überlegte offensichtlich, wie sie auf diese Fra ge reagieren sollte, und entschied sich für eine kurze, klare Antwort. "Es ist vorbei." Doyle kam der Sache also näher. "Gut." Er beschloss, aufs Ganze zu gehen. "Wie denken Sie dann darüber, dass wir irgendwann zum Essen ausge hen?" "Nein." "Warum nicht?" 65
"Warum nicht? Was ist los mit Ihnen? Sie sollten mit Ihren sie suchte nach dem richtigen Wort, "mit Ihren Kumpeln von der Armee ausgehen. Regen Sie sich! Schließen Sie Freundschaften! Oder besser noch, finden Sie eine nette Frau, mit der Sie ausgehen können." "Das könnte ich", versicherte er ihr. "Aber ich habe nicht die Energie." "Sie haben nicht die Energie?" Meehan nahm ihm das nicht ab. Jedenfalls hörte sich ihre Stimme so an. "Richtig. Wissen Sie, wenn ich mit jemandem von der Truppe ausgehe, muss ich die ganze Zeit über den Un verwüstlichen herauskehren. Bugs Doyle - einer mehr von der Armee mit stählernem Willen, der sich nicht kleinkriegen lässt. Wenn ich mit einer Frau ausgehe, muss ich nicht nur unverwüstlich sein, ich muss auch ständig den Macho hervorkehren. Sie wissen, wie viel Energie es erfordert, unverwüstlich und draufgängerisch zu sein." "Davon habe ich keine Ahnung", versicherte Meehan ihm. "Ich verstehe. Na ja, ich bin einfach noch nicht gut ge nug drauf, um mich dem allen auszusetzen. Ich brauche keine nette Frau, ich brauche ..." "Einen Babysitter", beendete Meehan für ihn. "Nein", entgegnete Doyle scharf. "Ich brauche einen Freund so etwas wie einen Vertrauten. Sehen Sie, wenn ich mit Ihnen ausgehe, dann brauche ich mich nicht um mein Image zu kümmern. Wenn ich Schmerzen habe, kann ich es zeigen. Wenn ich mich niedergeschlagen fühle wegen Rita, kann ich es sagen, und es würde Ihnen nichts ausmachen. Das Gleiche gilt für Sie. Ich weiß von dem Typ mit den 66
Brötchen. Sie brauchen mir nichts vorzumachen und können sich so geben, wie Sie sich fühlen. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Ich habe den Abend mit Ihnen zusammen sehr genossen. Das habe ich wirklich. Mit Ihnen auszugehen war entspannend. Und es wäre schön, wenn wir das wiederholen könnten. Das ist alles. Verstehen Sie?" "Ja." "Also, darf ich Sie einladen?" "Nein", antwortete Meehan. "Doch es war nett von Ih nen, mich zu fragen", setzte sie hinzu. Damit ging sie fort, und Doyle starrte ihr nach, bis sie im Haus ver schwand. Hm, dachte er, eigentlich lief es ganz gut. Zumindest hatte sie nicht gedroht, ihn bei seinem befehlshabenden Offizier wegen Aufdringlichkeit zu melden. Er humpelte zurück ins Haus. Was nun? fragte er sich. Okay, die Nachrichten im Fernseher kamen bald. Die könnte er sich ansehen. Er blieb einen Moment stehen, dann beschloss er, in Mrs. Bees Wohnzimmer zu humpeln, wo ihre Bücherre gale standen. Sie hatte ihm mehr als ein Mal angeboten, sich eins der Bücher zu holen, um es zu lesen. Mrs. Bee besaß eine ganze Menge Bücher in ihrer pri vaten Bibliothek. Er stand vor einem der Regale, hielt sich daran fest und las die Titel. Schließlich wählte er ein Geschichtsbuch über den Ersten Weltkrieg mit vielen Fotos. Er blätterte darin herum, betrachtete die im Bild festgehaltenen Schützengräben, die zum Ansturm berei ten Soldaten, die vielen Toten einer längst vergessenen Zeit und las die dazugehörigen Unterzeilen. Eine ganz schön mörderische Weise, einen Krieg zu führen, dachte er. 67
Er stellte das Buch zurück und zog ein dünnes rotes Bändchen mit goldener Beschriftung heraus. Zweiter Weltkrieg - die Geschichte der 963igsten Feldartillerie. Dieses Buch hatte ebenfalls eine Reihe von Fotos, zu meist waren Soldaten in kleinen Gruppen darauf abgebil det. Er setzte sich auf einen Stuhl und las eine Weile in dem Buch. Dann schloss er es und dachte darüber nach, ob er so tapfer sein würde, wie diese Männer es gewesen wa ren. Er kam zum Schluss, dass er alles andere als tapfer sein würde. Er war einfach kein tapferer Mensch. Und er hätte gern gewusst, ob Meehan das bereits in ihm erkannt hatte. Er könnte sie ja danach fragen. "Calvin?" Mrs. Bee stand in der Tür. "Kann ich Ihnen bei der Suche helfen?" "Danke nein, Mrs. Bee. Oh, vielleicht doch. Haben Sie ein Buch von John ... der Nachname fängt mit G an. Der Titel hat etwas mit Saga zu tun." "Galsworthy? Die Forsythe Saga?" "Genau das ist es." "Es steht dort im obersten Regal, diese drei Bücher gleich am Ende." Drei Bücher? "Okay, Mrs. Bee. Danke." Doyle musste sich anstrengen, um die Bände herunter zuholen, aber er schaffte es. Er war ziemlich sicher, dass Mrs. Bee absolut keine Ahnung hatte, dass sein Interesse für diesen Roman durch sie geweckt worden war. Mee han hatte ihm ja erzählt, dass er Mrs. Bee an Michael Mont, eine der Figuren in dem Buch erinnerte. Dem wollte er auf den Grund gehen. Er hatte allerdings nicht geahnt, dass er auf hochgestochene Lektüre stoßen wür 68
de. Immerhin hatten diese Bände hier noch die Schutz hüllen um. Wie er aus Erfahrung wusste, waren bei span nenden, lesenswerten Büchern die Hüllen längst weg. Er überflog den Klappentext und blätterte die Seiten durch, um auf den Namen Michael Mont zu stoßen. Schließlich nahm er alle drei Bände, legte sie auf den Stuhl und zog ihn mitsamt den Büchern zum geöffneten Erkerfenster, wo die Spitzengardinen sich nach außen bauschten. Dann setzte er sich in die Zugluft und fing an zu lesen. Ein Brite, dachte er nach einer ganzen Weile. Veteran des Ersten Weltkriegs. Na schön. Er hatte mit den britischen Soldaten Frieden gehalten. Das könnte er gelten lassen. Er las weiter, mühte sich durch das vornehme Geplau der im Salon. Salonfähig war er nun wirklich nicht, hatte also bis jetzt absolut nichts mit Michael Mont gemein sam. Doch er blieb beim Lesen, nahm all die Informatio nen auf, bis er sich ein Urteil bilden konnte, warum Mrs. Bee wohl fand, er sei wie Michael Mont. Bis jetzt konnte er zumindest in Bezug auf eine Tatsa che sicher sein. Michael Mont war einer Frau mit dem Namen Fleur in Liebe zugetan. Und Fleur gehörte zu den zwanglosen, unabhängigen Frauen wie die, die auch ihm lagen. Er bevorzugte selbstständige Frauen. Er blickte hoch, als die vordere Fliegentür zuschlug. Mrs. Bee kam ins Haus und blieb wieder in der Tür ste hen. "Calvin?" Sie betrachtete ihn missbilligend. "Stimmt etwas nicht, Mrs. Bee?" erkundigte er sich. "Sie haben sich vorhin mit Katie unterhalten." "Ja, Ma'am." "Haben Sie die arme Person aufgeregt?" 69
"Nein. Wie kommen Sie denn darauf, Mrs. Bee?" "Oh", seufzte sie und musterte ihn. "Ich bin gerade drü ben bei ihr gewesen, und sie machte auf mich nicht den besten Eindruck." Doyle sah sie verständnislos an. "Ganz bestimmt hat sie Probleme mit ihrem Freund", vermutete er. "Mag sein. Ich möchte nur nicht, dass sie leidet. Sie ist das sanfteste Wesen auf der Welt. Ich möchte es wirklich nicht." "Ich verstehe nicht", sagte Doyle, weil er es wirklich nicht verstand. "Nun ja, das arme Kind war krank", sagte Mrs. Bee, als ob sie damit alles erklärte. Doyle wartete, dass Mrs. Bee ihm darüber mehr berich ten würde. Sie machte keine Anstalten. "Wollen Sie mir nicht..." "Ich hätte nichts davon erwähnen sollen", unterbrach sie ihn unglücklich. "Mrs. Bee, ich mag Meehan. Es wäre vermutlich gut, wenn ich wüsste, was los ist, meinen Sie nicht auch? Sie müssen es mir erzählen, damit ich ihr nicht durch eine dumme Bemerkung womöglich wehtue. Sie wissen, wie wir von der Armee sind." Mrs. Bee seufzte. "Sie hat Krebs gehabt", sagte sie nach einer Weile. "Vor drei Jahren." Krebs. Nur ein Wort, aber es war wie ein Schlag. Damit hatte Doyle absolut nicht gerechnet. "Brustkrebs", setzte Mrs. Bee mit leiser Stimme hinzu. Doyle starrte auf das Buch, das er in der Hand hielt, und kämpfte gegen detaillierte Fragen an. Als er wieder hochblickte, stand Mrs. Bee noch immer in der geöffneten Tür. 70
"Ich dachte, Sie sollten das erfahren, Calvin", sagte sie ruhig, drehte sich um und ging davon. Doyle blieb noch sitzen, dann kämpfte er sich hoch und stellte die Bücher zurück ins Regal. Ihm war die Lust vergangen, sich weiterhin Gedanken über Michael Mont und Fleur zu machen. Als er am Erkerfenster vorbeikam, warf er einen Blick auf Meehans Grundstück. Sie war auf der Terrasse und leerte gerade einen Plastikbeutel mit Erde in einige Töp fe, neben denen Petunien standen und wohl darauf warte ten, eingepflanzt zu werden. Ich mag Meehan, dachte Doyle, und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Ich mag sie sehr. Und das bedeutete? Er holte tief Luft. Er sollte nach oben gehen und das Ganze vergessen. Und genau das würde er tun. Er hum pelte hinaus in die große Diele. Der Ventilator drehte hoch an der Decke seine Runden, und Doyle blieb einen Moment unentschlossen im Luftzug stehen. Er konnte Mrs. Bee in der Küche hören. Er könnte zu ihr gehen. Er könnte auch die Treppe hinaufgehen. Stattdessen hum pelte er zur Vordertür. Und er setzte seinen Weg fort auf die Veranda, die Stufen hinunter und quer über den Ra sen. Meehan musste ihn gehört haben, doch sie blickte nicht hoch. "Lassen Sie mich raten", sagte sie, als Doyle ihre Terrasse erreicht hatte, sah ihn aber noch immer nicht an. "Sie haben noch eine Frage." "Nein. Ja", entschied er abrupt. Ihr schnurloses Telefon lag deutlich sichtbar auf dem Liegestuhl. Griffbereit, falls ihr Freund sich entschloss, sie anzurufen. Verflixt! 71
Sie gab eine Handvoll Plastikschaumwürfel ganz zuun terst in die Blumentöpfe zur Entwässerung. "Ich würde gern wissen, warum Sie nicht mit mir aus gehen wollen", begann er offen heraus. "Ich bin älter als Sie", antwortete Meehan in einem Tonfall, als ob sie die ganze leidige Geschichte überdrüs sig wäre und nun bereit war, schweres Geschütz aufzu fahren, um ihn endlich loszuwerden. "Das stimmt", räumte Doyle ein. "Da gibt es tatsächlich nicht viel, was wir dagegen tun könnten." "Der Altersunterschied ist von Bedeutung", beharrte sie, immer noch mit abgewandtem Blick. "Nicht für mich. Ist es nur auf mich gemünzt, oder ist das Alter eine Voraussetzung für alle Ihre Freunde?" Darauf bekam Doyle keine Antwort. Sie steckte eine rote Petunie in den Topf, dann eine weiße, dann schüttete sie mit einem gebogenen Plastikbecher vorsichtig Gar tenerde um die Pflänzchen herum. "Ich sehe kein Problem darin", fuhr er fort. "Ich mag Sie. Und ich glaube, dass Sie mich auch mögen. So ein fach ist das." "Bugs, ich möchte mich wirklich nicht darüber unter halten." "Warum weisen Sie mich ab?" fragte er hartnäckig. "Bugs..." "Einen Moment! Lassen Sie mich zu Ende kommen. Wenn Sie mit mir nicht ausgehen wollen, weil ich alles missverstanden habe und Sie mich nicht mögen und kei nen Spaß an meiner Gesellschaft haben ... nun gut, dann akzeptiere ich es. Dann werde ich Sie nicht mehr belästi gen." Endlich schaute Meehan ihn an. "Mrs. Bee hat es mir erzählt." 72
"Was? Dass ich den Brustkrebs überlebt habe?" "Ja. Es tut mir Leid." "Dass ich überlebt habe?" fragte Meehan angriffslustig. "Mir tut es Leid, dass Sie das durchmachen mussten." Sie sah ihm in die Augen. Wieder spürte Doyle, dass sie herausfinden wollte, ob er es wirklich so meinte. Ihm wurde immer klarer, dass Meehan sich in ihrem Leben offensichtlich mit einer ganzen Reihe von Lügnern hatte auseinander setzen müssen. Sie senkte den Blick und begann abrupt, die Erde um die Petunien mit mehr Kraft als nötig festzudrücken. Eine Brise kam auf, die die Glockenspiele bewegte - Glas ge gen Glas, Messing gegen Messing und Bambus gegen Bambus. "Vor einigen Tagen", begann er, "als Sie im Regen sa ßen,..." "Da hab ich es ihm gesagt", unterbrach Meehan ihn und griff nach noch einem Topf. "Ich vermute, er hat es nicht allzu gut aufgenommen." "Er hat es überhaupt nicht gut aufgenommen. Ich habe mich in ihm getäuscht." "Nun, er ist zurückgekommen - und nicht nur ein Mal." "Ich sagte es Ihnen bereits. Er wollte sich nicht schul dig fühlen. Außerdem behagte ihm der Gedanke nicht, dass ich mich mit Ihnen einlassen könnte." "Was wäre so falsch daran?" fragte Doyle und grinste. "Ich bin genau so ein Mann wie ..." Er unterbrach sich, weil Meehan lächelte. Und er hatte sie zum Lächeln ge bracht! Er! "Es muss nichts Großartiges sein, Meehan. Ich meine, wenn Sie irgendwohin gehen wollen und Sie möchten es nicht besonders gern allein..." "Bugs, ich brauche niemanden." 73
"... dann bin ich der Mann für Sie", beendete er den Satz, als ob sie ihn nicht unterbrochen hätte. Meehan seufzte und sagte nichts darauf, was immer noch besser war, als einen Blumentopf an den Kopf ge worfen zu bekommen. "Also, wie denken Sie darüber?" fragte Doyle, weil er sich noch nie gescheut hatte, sein Glück auf die Probe zu stellen. "Ich überlege es mir", antwortete Meehan nach einer langen Pause. "In Ordnung." "Und nun gehen Sie bitte." "Okay." "Sie sind ganz schön zudringlich", meinte sie leichthin. "Das habe ich befürchtet", gestand er ihr. "Also, wie geht es Onkel Patrick?" "Onkel Patrick?" "Ja. Erinnern sie sich nicht? Der Onkel, den Sie zu rechtstutzen müssen." "Ich muss immer noch hin, um ihn zurechtzustutzen." "Nicht sehr erfreulich", fand Doyle und schaute sich um, als ein Wagen in die Einfahrt fuhr. Es war nicht das elegante Auto des Brötchenburschen. Eine jüngere Aus gabe von Meehan stieg aus und mit ihr ein sechs, sieben Jahre alter Junge. Meehan ging auf sie zu, und Doyle folgte ihr. Er hatte die Absieht, durch die Hecke wieder dorthin zurückzu kehren, wo er hingehörte. Er hatte zu viele Familiendra men selbst erleben müssen, um sich in Dramen anderer Leute hineinziehen zu lassen. "Können Sie mit Kindern umgehen?" fragte Meehan ihn auf dem Weg. "Könnten Sie sich ein wenig mit Scottie beschäftigen, 74
während ich mit seiner Mutter rede?" "Geht in Ordnung", hörte Doyle sich selbst ohne Zö gern antworten. Meehan ging zu der jungen Frau, die, wie Doyle er kannte, bitterlich weinte. Meehan sagte ein paar Worte zu ihr, nahm dann den Jungen bei der Hand und brachte ihn zu Doyle. Die junge Frau stürmte auf die Terrasse und ließ sich schluchzend in den Liegestuhl fallen. "Das ist Scottie", stellte Meehan vor. "Scottie, das ist Bugs Doyle. Er ist Soldat." "Ein richtiger?" wollte Scottie wissen, der einen klei nen, roten Samtbeutel mit einer dünnen Zugschnur umklammert hielt. "Ein richtiger", versicherte Meehan ihm. "Kann er einen Panzer fahren?" "Er springt aus Flugzeugen." "Warum?" "Warum?" Meehan richtete die Frage an Doyle. "Damit ich auf dem Boden lande, ohne darauf warten zu müssen, dass das Flugzeug mich runter bringt", ant wortete Doyle. "Hey, Scottie, was hast du in diesem Beu tel?" fragte er den Jungen dann. "Steine", erklärte Scottie. "Kann ich mir die angucken?" Der Junge blickte zu Meehan hoch, um zu sehen, ob sie Einwände hätte. Dann ließ er ihre Hand los. "Okay", sag te er. "Aber Sie können es nicht wissen. Ich muss es Ih nen erst erzählen, ja?" "In Ordnung", willigte Doyle ein. "Können wir uns zu erst irgendwohin setzen?" "Ja", antwortete Scottie. "Da drüben?" Doyle wies auf Mrs. Bees Picknicktisch. 75
"Ja." Scottie ging ihm voraus. "Sie können nicht schnell lau fen", bemerkte er. "Nein." "Sie haben kaputte Beine." "Ja." "Ich hab auch mal ein kaputtes Bein gehabt. Tante Ka tie hat es wieder heil gemacht. Ganz sicher kann Sie auch Ihres heil machen. "Das kann sie, da bin ich überzeugt." Scottie hüpfte auf die Bank und ließ die Steine auf den Tisch plumpsen. Der Junge hatte eine hübsche Samm lung von zumeist wie geschliffen aussehenden Kiesel steinen. "Toll", lobte Doyle. "Woher hast du sie?" "Aus dem Dan Nicholas Park", erklärte Scottie. "Onkel Patrick hat mich mitgenommen. Die haben ein Karussell. Und einen Zug. Und Steine." Er rieb sich die Nase mit der flachen Hand. "Und Bienen", fügte er hinzu. "Vor denen muss man sich in Acht nehmen", fand Doy le. "Ja", stimmte Scottie mit einem Kichern zu. "Meine Mommy weint", sagte er dann ohne Übergang. Doyle warf einen Blick über die Hecke zu den beiden Frauen hinüber. "Ja, das tut sie." Scottie griff in den Beutel, als ob er noch nach verbor genen Steinen suchte. "Ich werde bei Tante Katie bleiben", teilte er Doyle dann mit, ohne gefragt worden zu sein. Aber Doyle ging trotzdem darauf ein. "Ja. Vielleicht für eine Weile. Aber alles wird gut wer den. Mach dir keine Gedanken." "Ich werde nicht weinen", versprach der Kleine. 76
Doyle wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Der Junge sah zu ihm auf. "Ich möchte nicht, dass mei ne Mommy traurig ist." "Ich denke, dass deine Tante Katie sie wieder fröhlich macht. Hat sie nicht dein Bein wieder heil gemacht?" "Ja, Tante Katie kann sie wieder fröhlich machen", wie derholte Scottie und seufzte ein wenig. "Erzähl mir mehr von deinen Steinen. Kennst du ihre Namen?" Scottie machte sich gleich daran, für jeden einzelnen Stein ganz schnell einen Namen auszudenken. Und als er beim letzten Stein angelangt war, hatte er sich wieder gefangen. Die zwei Frauen redeten immer noch miteinander. Meehan hörte offenbar zu und mochte nicht besonders, was sie hörte. Doyle kannte sie gut genug, um ihre Kör persprache zu erkennen. Und als er wieder auf den klei nen Jungen schaute, bemerkte er, dass er von ihm beo bachtet wurde. "Wie lange ist es her, dass du diese Steine gewaschen hast?" fragte Doyle und verließ sich auf die Erinnerung an seine Kindheit, wie gern er mit Wasser spielte. "Vierzig Tage und Nächte", antwortete Scottie ernst, und Doyle musste grinsen. "So lange ist es her? Dann sollten wir gleich damit an fangen." Doyle war dankbar, dass es nicht allzu weit war zum nächsten Wasseranschluss. Er war gleich neben Mrs. Bees Einfahrt, handlich für das Wässern der Tomaten pflanzen in dem kleinen Beet. Doyle durfte die Steine auf seiner geöffneten Hand hal ten, während Scottie den Hahn aufdrehte. Und zudrehte. Und wieder aufdrehte. Sie beide wurden nass, aber da konnte man nichts machen. Meehan hatte ihn gebeten, 77
den Jungen zu beschäftigen und nicht, ihn trocken zu halten. Sie trugen die Steine zurück zum Picknicktisch und trockneten sie peinlich genau mit dem unteren Teil ihrer T-Shirts. Scottie erzählte Doyle, um wie viel schöner die Steine jetzt aussahen, und er hob fast jeden einzelnen Stein noch ein weiteres Mal auf, um ihn zu bewundern. Als Doyle wieder mal aufblickte, sah er, dass Meehan in ihre Richtung kam. Die Schwester saß nicht mehr auf der Terrasse. "Komm, Scottie", sagte Meehan und hielt ihm die Hand hin. "Ist Mommy jetzt froh?" "Ich denke ja", antwortete Meehan ausweichend. "Sag Bugs Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen, Bugs", wiederholte Scottie brav. "Können wir bald wieder zusammen spielen?" Meehan warf ihm einen Blick zu, den er leicht deuten konnte. Er hieß: "Sehen Sie, ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie zu jung sind." Er grinste - und hielt ausnahmsweise mal den Mund. Meehan wandte sich ihm noch ein letztes Mal zu, ehe sie mit Scottie davonging. Mit den Lippen formte sie ein "Danke". Doyle blieb noch eine Weile auf der Steinbank sitzen und grübelte, ob er bei Meehan wohl an Boden gewon nen hatte oder nicht. Wahrscheinlich nicht, dachte er. Aber er hatte auch keinen verloren. Er hatte sich gerade erhoben, um sich auf den mühsa men Weg zurück in sein Apartment zu machen, als Mee han mit ihrer Schwester aus dem Haus kam. "In einer Stunde bin ich zurück, um Scottie abzuholen. Ich verspreche es", sagte die Schwester. Dann fügt sie 78
hinzu: "Schau mich nicht so an! Ich muss ihn sehen! Ich liebe ihn, Kate!" "Du bist dumm", entgegnete Meehan. Doyle konnte nicht hören, was sie noch hinzufügte, a ber es war klar, dass sie sich bei ihrer Familie genauso wenig zurückhielt wie bei den übereifrigen Fallschirmjä gern. Er hatte keine Ahnung, worum es hier ging, aber von dem, was er wusste. konnte er nur zu einem Schluss kommen: Armer kleiner Scottie.
6. KAPITEL
Am Morgen darauf kam Doyle aus dem Badezimmer und fand ein schmal zusammengefaltetes weißes Papier. Offensichtlich war es unter der Türritze durchgeschoben worden, denn die Hälfte steckte noch immer darunter. Er humpelte hin und nahm es auf. Das dauerte eine Weile. Sein Name stand auf dem Außenblatt. Er kannte die Handschrift nicht. Doyle, Sie haben auf mein Klopfen nicht reagiert, und ich konnte nicht länger warten. Wir sind heute Abend um sieben Uhr zum Dinner eingeladen. Ich hole Sie ab. Meehan PS: Eine Absage wird nicht akzeptiert. Eine Absage wird nicht akzeptiert. Was sollte das denn nun heißen? Meehan sollte mitt lerweile wissen, dass er nichts ablehnen würde, was von ihr kam. Er las die Nachricht noch ein zweites Mal. 79
Dinner. Kein Problem damit. Dieser Teil war klar. Aber wer würde sie zwei zusammen einladen? Und wa rum? Das war ihm ein Rätsel. Es spielte aber auch keine Rolle. Auf eine solche Chan ce hatte Doyle nicht mal zu hoffen gewagt. Es war ihm egal, wohin sie gingen. Die Tatsache, dass sie zusammen irgendwohin gehen würden, genügte ihm. Doyle nahm sich Zeit mit dem Rasieren. Er trug sogar ein wenig Rasierwasser auf. Gewöhnlich machte er sich nichts aus diesem Zeugs, es sei denn, er hatte eine viel versprechende Verabredung vor sich. Doch wie lange war es her, seit das geschah? Er stand vor dem Spiegel und besah sich das Resultat. Er hatte in seinem Gesicht Verbrennungen ersten und zweiten Grades gehabt, aber sie hatten so gut wie keine Narben hinterlassen. Seine Augen hatten sich nicht viel verändert in den Monaten seit dem Absturz. Er und Lieu tenant McGraw - sowie die Männer auf den Bildern in Mrs. Bees Buch über den Ersten Weltkrieg - sie alle hat ten jedoch den gleichen Ausdruck. Es war, als ob der Teil von ihnen, der die Hölle gesehen hatte, sich in ihrem Blick widerspiegelte. Und sie alle konnten nicht darüber sprechen. Er jedenfalls konnte es nicht. Die Uniform des Tages war die Gleiche wie immer: Shorts und ein Golfshirt. Nicht, dass es das Einzige war, was er anzuziehen hatte. Aber Anzüge oder Uniformen machten ihm zu schaffen. Seine Operationsnarben reagierten empfindlich auf anlie gende Hosen. Er schaute auf die Uhr. Es war noch immer reichlich Zeit. Sein Magen knurrte. Und die Bratendüfte aus der Küche verstärkten seinen 80
Hunger nur noch. Er trank ein Glas Wasser, wusch das Glas und die Kaf feetasse vom Morgen ab und stellte sie auf den Abtropf ständer. Musik. Er lauschte. Mrs. Bees Oldies von Vorvorges tern klangen von unten zu ihm herauf. Doyle war zu nervös, um sich zu setzen. Also ging er zum Fenster und blickte hinaus. Meehans Wagen war in der Einfahrt geparkt. Jemand klopfte an seine Tür. Er machte ein gleichmüti ges Gesicht und versuchte, so gemessen wie möglich zur Tür zu gehen. Er wollte Meehan zwar nicht warten las sen, aber er wollte auch nicht so übereifrig erscheinen, wie er sich fühlte. Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Da stand sie im heißen, stickigen Korridor vor ihm. Es roch nach Braten, gebackenem Brot und Apfeltorte. Und Meehan sah in Khakishorts und dunkelrotem T-Shirt und Sandalen sehr hübsch aus. Sie trug zwar nicht wieder ihr undurchsichtiges Kleid, aber er mochte sie in Shorts. So gar sehr. Er mochte Meehan überhaupt in allem. "Hey", sagte er, "ich habe Ihre Nachricht bekommen." Meehan ging nicht darauf ein. "Stimmt etwas nicht?" fragte er sofort. Wenn diese Ein ladung nichts wurde, dann wollte er es lieber gleich wis sen. Die Musik von unten stoppte ganz plötzlich. Sie blickte über ihre Schulter. "Oh - ich mache mir nur ein wenig Sorgen um Mrs. Bee. Sind Sie bereit?" "Jawohl." Sie trat zur Seite und wartete, dass er herauskam. "Wohin gehen wir?" fragte er, während er an ihrer Seite auf die Treppe zuhumpelte. "Nach unten", antwortete sie. 81
"Und dann?" "Bleiben wir unten", sagte sie. "Und das war's?" "Das war's." "Also gehen wir nicht zum Dinner." "Doch. Mrs. Bee hat uns eingeladen." Doyle war enttäuscht, dass es nicht persönlichere Gründe für diese Einladung gegeben hatte. Nun gut, es war trotzdem nett. Er mochte Mrs. Bee. "Sie hat bereits den ganzen Tag gekocht", sagte Mee han. "Es ist ein Gedenktag für sie." "Was für einer?" "Das weiß ich nicht. Ich habe gehofft, Sie wüssten es." "Sie hat mir nichts erzählt. Übrigens, wie geht es Scot tie?" Meehan blieb stehen. "Er macht sich Sorgen um seine Mutter", antwortete sie nach kurzem Nachdenken. "Das wundert mich gar nicht." "Hat er Ihnen etwas gesagt?" "Gesagt? Nein. Er hat gewusst, dass sie weinte. Er ist ein kleiner tapferer Junge." "Ja, das ist er wirklich. " Meehan ging weiter, und er schloss sich ihr an. "Wissen Sie, dass Sie sich schon viel besser bewegen können?" bemerkte sie, als Doyle die Treppe in Angriff nahm. "Wirklich?" Es schmerzte zwar noch immer, aber er freute sich, dass es besser wurde. Mrs. Bee stand bereits unten an der Treppe, und sie hat te sich. wirklich hübsch gemacht - mit einer neuen Frisur, mit Make-up, Schmuck und vielleicht sogar einem neuen Kleid. "Sie sehen wunderbar aus, Mrs. Bee", sagte Doyle auf 82
dem Weg nach unten, weil es wirklich so war und weil seine Großmutter ihm immer gesagt hatte, dass Frauen ein ehrliches Kompliment gerne hörten. "Danke, Calvin. Ich bin so froh, dass Sie und Katie heute Abend kommen konnten." "Es riecht fantastisch, Mrs. Bee. Gibt es einen Anlass zum Feiern?" "Der Anlass bin ich selbst, Calvin. Nehmen Sie im Ess zimmer Platz. Alles ist bereit. Sonst plaudere ich mit den Gästen noch eine Weile im Besuchszimmer vom, aber ich bin ein wenig müde. Ich hoffe, Sie haben Hunger, Katie. Calvin brauche ich gar nicht erst zu fragen." Er folgte Mrs. Bee und Meehan. Der Tisch war tatsäch lich mit dem besten Porzellan gedeckt. Das Essen stand ebenfalls bereits da: Braten, wie Doyle vermutet hatte, Kartoffelpüree und Soße, Krautsalat, selbstgebackene Milchbrötchen, grüne Bohnen, gebutterte Maiskörner sowie ein großer Krug mit Eistee und Zitronenscheiben, die obenauf schwammen. Zwei Torten - eine mit Zucker guss. Und es gab Rosen in einer Glasvase und weiße Kerzen, die bereits angezündet waren. Der Tisch sah aus wie ein Bild in einer Illustrierten. "Das Menü ist nichts Besonderes", bemerkte Mrs. Bee bescheiden. "Er bat mich, sein Leibgericht zu kochen, wenn er wieder nach Hause zurückkommt. Aber natürlich kam er nicht." Doyle und Meehan wechselten einen Blick. Er wollte schon fragen, wer "er" sei, aber er hielt sich in letzter Minute zurück. Mrs. Bee klopfte auf die Rückenlehne eines Stuhls. "Sie sitzen hier, Calvin. Und Sie, Katie, auf der anderen Seite." "Der Tisch ist wunderschön gedeckt", sagte Meehan, 83
als sie zu ihrem Platz ging. "Ja. Wissen Sie, ich habe es ihm versprochen", erwider te Mrs. Bee. Doyle bemerkte erst jetzt, dass der Tisch für vier Per sonen gedeckt war. Sobald sie saßen, sagte Mrs. Bee ein Tischgebet und fügte eine Bitte hinzu für Meehans und Doyles Wohlergehen. Dann reichte sie Doyle die Schüs sel mit dem Kartoffelbrei und rief: "Oh, ich vergaß die Musik." "Ich mach das schon Mrs. Bee", bot Meehan sich an. Als Meehan vom Tisch aufstand und zur Stereoanlage nach nebenan ins Besuchszimmer ging, sah Doyle ihr nach. Und erneut musste er feststellen, wie schön sie war. Merkwürdig, bis vor kurzem war ihm das verborgen geblieben. Als Meehan sich wieder setzte, blickte er zu Mrs. Bee herüber und erkannte, dass ihr sein Interesse an Meehan aufgefallen war. Sie war eine aufgeweckte alte Dame. Nichts entging ihr. Frank Sinatra begann ein Lied zu singen, und Doyle konnte sehen, wie dieses Lied bei Mrs. Bee Erinnerungen weckte. Einen Moment lang glaubte er, sie würde in Trä nen ausbrechen, und er fing eine Unterhaltung an, um sie abzulenken. Er erzählte ihr von Pop Doyles Farm und den Weisheiten seines Großvaters für ein glückliches Leben. "Pflüge gerade, bestelle den Acker, pflanze, was der Boden verträgt, und ernte zur rechten Zeit. Wenn du das tust, dann komme, was da kommen will. Hast du Pech, dann ist es nicht deine Schuld." Anschließend erzählte Doyle ihr von seiner Großmutter und wie gern sie gekocht hatte. Und wie sie es geliebt hatte, im Garten zu arbeiten, wo sie Stunden verbrachte 84
mit ihren Tomaten, weißen Bohnen und Gurken, die sie im Herbst dann einmachte. "Haben Sie dabei geholfen?" wollte Meehan wissen. "Bitte", warf Mrs. Bee schnell ein, "sagt du zueinander" Doyle wurde doch tatsächlich ein wenig rot und warf Meehan einen fragenden Blick zu. Sie lächelte und nick te. Das war also geklärt. Noch ein Schritt in die richtige Richtung, setzte er in Gedanken hinzu. "Und ob ich geholfen habe", ging er auf Meehans Frage ein. "Ich musste helfen. Grandma sagte immer: ‚Wer es sen will, muss auch arbeiten.' Nun, ich hab es aber auch gerne getan." Mrs. Bee lächelte und reichte ihm die Schüssel mit den grünen Bohnen und dem gebutterten Mais. Sie aßen und unterhielten sich schließlich auch ohne seine Beteiligung zwanglos. Die meiste Zeit hörte Doyle nur mit halbem Ohr hin. Er genoss das Essen. Es schmeckte wirklich gut. Irgendwann sah er auf und bemerkte, wie beide Frauen ihn beobachteten. Er zwinkerte Mrs. Bee zu, brachte sie zum Lächeln, doch weder er noch Meehan erwähnten den leeren Stuhl. Der Wind frischte auf. Ein ferner Donner grummelte, und die Kerzen flackerten im Luftzug der geöffneten Fenster. Als sie so weit waren, dass Mrs. Bee die Apfeltorte anschnitt, begannen die ersten Trop fen zu fallen. Das Telefon klingelte, aber nur ein Mal. "Jemand muss gewählt und gleich wieder aufgelegt ha ben", meinte Mrs. Bee. "Jeder weiß, dass ich heute nicht angerufen werden will." "Warum, Mrs. Bee?" fragte Doyle. "Er war Soldat - bei der Fallschirmtruppe", sagte sie, ohne auf seine Frage direkt einzugehen. "Genau wie Sie, 85
Calvin." "Ich wusste nicht, dass Mr. Bee bei der Fallschirmtrup pe war", bemerkte Meehan. "Nein. Nicht Mr. Bee." Die alte Dame seufzte und blickte auf den leeren Stuhl. "Er war so unwiderstehlich." Sie lächelte versonnen. "Sein Name war William Gaffney, und ich traf ihn im Bus von Savannah nach Fayetteville. Wir waren bald darauf verlobt. Ich war so jung, knapp siebzehn." "Haben Sie ihn geheiratet, Mrs. Bee?" fragt Meehan und schnitt ein zweites Stück von der Apfeltorte, das sie Doyle auf den Teller legte. "Ja. Wir haben geheiratet. Heimlich. Trotz des Kriegs. Sie wissen schon, der in Europa tobte. Wir haben uns auf halbem Weg getroffen, in einer kleinen Bezirkshauptstadt in South Carolina. Wenn Bud es möglich machen konnte, trampte er nach Savannah, um mich zu sehen. Aber er konnte immer nur wenige Stunden bleiben. Dann nahm er mich mit in einen dieser irischen Pubs im Hafenviertel. Ich war kaum alt genug, um dort sein zu dürfen. Aber damals kümmerte man sich nicht so sehr um solche Din ge. Es war ja Krieg, und viele der Jungs mussten nach Übersee, um zu kämpfen." "Wir liebten die Musik in diesen Pubs", fuhr sie fort. "Die Gäste konnten. mitsingen, und es machte viel Spaß. Das letzte Mal ging Bud zum Mikrofon. Ich dachte, es würde etwas Lus tiges sein, weil er immer so lustig war, aber das war es nicht. Er sang dieses traurige Lied vom Soldaten, der sich danach sehnt, jemanden lieben zu dürfen, und der schließlich auch das richtige Mädchen findet. Darin ist eine Strophe, wo er die Engel bittet, ihn immer zu be schützen, damit er sein Mädchen beschützen kann. Es 86
war so wunderschön, und er, sang es für mich. An diesem Abend gab es nicht viele trockene Augen im Pub, glau ben Sie mir." "Kam er ebenfalls nach Übersee?" fragte Meehan sanft. Statt einer Antwort fuhr Mrs. Bee mit ihrer Erzählung fort. "Er sagte, dass die Zeit etwas sei, was wir niemals für uns haben würden. Und auch wenn wir sie hätten, gäbe es keine Garantie. Wir lebten ja in einer Zeit, wo die ganze Welt sich in einem Chaos befand. Und dann wurde er nach Übersee geschickt. Er wurde bei der NormandieInvasion getötet. Es war ein schlimmer Kampfplatz für Fallschirmjäger. Er ist dort auf einem Soldatenfriedhof begraben." Mrs. Bee schluckte schwer. "Die Nachricht erhielt ich, während ein lustiges Radioprogramm lief. Ich war bei meinen Eltern und gerade mit meiner Mutter und meinen Schwestern zusammen, und wir lachten ausgelassen. Es war einer dieser Momente, in denen man sich nicht vor stellen kann, dass man eine schlimme Nachricht bekom men könnte." Sie blickte hoch. " Oh, ich mache Sie noch ganz traurig mit meiner Geschichte. Das möchte ich nicht. Ich habe Bud nur versprochen, dass ich ihm sein Lieblingsessen bereite, wenn er nach Hause kommt. Er kam nicht nach Hause, aber ich bereite immer noch sein Lieblingsessen zu an unserem Hoch zeitstag. Dann denke ich an ihn und erinnere mich an all das, was wir während einer so kurzen Zeit zusammen gehabt haben." Tränen glitzerten in ihren Augen, aber sie weinte nicht. "In diesem Jahr war die Sehnsucht, mich an jene Tage zu erinnern, besonders groß. Er hätte Sie beide sehr ge 87
mocht. Mr. Bee und ich haben eine gute Ehe geführt, aber ich habe Bud nicht vergessen können. Jemand muss sich ja an die Toten erinnern, nicht wahr? Er hatte außer dem nur mich als Familie." Mrs. Bee stand auf. "Ich bin müder, als ich gedacht ha be. Ich habe meinen Nachmittagsschlaf verpasst. Ich wünsche Ihnen beiden eine gute Nacht und gehe jetzt zu Bett. Danke, dass Sie gekommen sind." "Wir haben Ihnen zu danken, Mrs. Bee", sagte Doyle. "Mir hat noch nie ein Essen so gut geschmeckt wie das heute." "Das freut mich, Calvin. Oh, die Reste..." "Wir kümmern uns darum", fiel Meehan ihr ins Wort. "Gut. Dann sehen wir uns morgen." Meehan und Doyle machten sich gleich ans Aufräu men. Irgendwann sagte Meehan, er solle sich setzen, weil er sicher Schmerzen habe. Die hatte er, aber er wollte sich nicht setzen. Er wollte ihr das Geschirr abwaschen helfen und bei allem anderen auch. Irgendwie waren sie befangen, die Unterhaltung stockte. Doch Doyle gehörte nicht zu den Menschen, die bange waren, unangenehme Themen anzusprechen. "Bist du verheiratet gewesen?" eröffnete er das Ge spräch. "Ja", antwortete Meehan. Nun gut, warum sollte Meehan nicht verheiratet gewe sen sein? Sie war hübsch und gescheit. "Was ist passiert?" "Er hat sich von mir scheiden lassen." "War er verrückt?" Doyle meinte das ernst. Als Meehan schwieg, sah er sie an. Sie hatte aufgehört, die Hähne über dem Waschbecken zu putzen. "Einer von uns beiden ist verrückt gewesen", antworte 88
te sie nach einer Weile. Sie stellten schweigend alles an seinen Platz, und Doyle reichte ihr das Geschirrtuch. "Meehan..." "Ich schaue mich noch mal im Esszimmer um", unter brach sie ihn und ging um ihn herum. Er folgte ihr zum schwach beleuchteten Korridor, wo er stehen blieb und auf sie wartete. "Sie war so traurig heute Abend", bemerkte Meehan, als sie aus dem Esszimmer kam. Auch Doyle hatte gerade über Mrs. Bee nachdenken müssen. "Ja, das war sie. Aber morgen hat Sie es überstanden. Es ist nur eine alte Narbe." "Nur eine Narbe. Ich weiß nicht, was du damit sagen willst." "Ich meine, Narben können manchmal sehr wehtun, wenn man sich daran stößt. Aber eine Narbe ist keine Wunde. Die Wunde ist verheilt." "Reden wir hier von deiner Operation oder von Rita?" "Von beidem", antwortete Doyle glatt. "Und vielleicht auch von deinem Exmann. Ich habe Rita gern. Und ich werde sie immer gern haben. Aber sie ist eine Narbe, genauso wie die Narben an meinen Beinen. Narben hal ten mich nicht davon ab, auf jemanden zuzugehen. Wa rum sollte das nicht auch bei dir der Fall sein?" Meehan antwortete ihm nicht darauf. Sie sah zu ihm auf. Sogar im schwachen Licht konnte er ihre schönen Augen sehen. Er könnte sie jetzt küssen, und sie würde es zulassen. Er beugte sich zu ihr herunter und legte die Hand auf ihren Rücken. "Kate?" rief in diesem Augenblick jemand hinter der Fliegentür am Eingang. Und Meehan machte sofort einen Schritt rückwärts. Er 89
sah sich um. Es war ihre Schwester - Scotties Mutter. "Ich muss gehen", sagte Meehan und eilte zur Fliegen tür. Aber sie sah sich noch ein Mal kurz zu ihm um, be vor sie hinaus in den Regen des lauen Sommerabends trat.
7. KAPITEL
Doyle schlief unruhig. Seine Beine schmerzten, und seine Gedanken kreisten um Meehan. Kate. Nicht Katherine. Nicht Katie. Kate. Die Frau, die ihm unter die Haut ging, obwohl es so aussichtslos war. Sie passten überhaupt nicht zusammen, und es könnte damit enden, dass der gute alte Bugs Doyle einen totalen Reinfall erlebte. Doch er war auch Realist. Und etwas lief zwischen ih nen. Er spürte es jedes Mal, wenn er Meehan in die Au gen schaute, jedes Mal, wenn er in ihre Nähe kam. Mrs. Bee war heute wieder so munter wie sonst. Sie war sogar schon mit dem Oldtimer unterwegs gewesen. Und sie blieb sogar zu einem kleinen Schwatz stehen, aber sie erwähnte Meehan nicht. Doyle hatte keine Ah nung, in welcher Schicht Meehan im Augenblick dran war, also musste er wieder mal zum Angriff übergehen. "Mrs. Bee, haben Sie Meehan heute schon gesehen?" fragte er, als sie die kleinen Porzellanfiguren auf dem Kaminsims abstaubte. "0 ja", antwortete Mrs. Bee und ließ sich bei der Arbeit 90
nicht stören. Das war alles, was er zur Antwort bekam. "Sie kennen Sie schon recht lange, nehme ich an." "Schon sehr lange", bestätigte Mrs. Bee und staubte weiter ab. "Es ist ihr Elternhaus, in dem sie wohnt. Mr. Bee und ich waren schon hier, als ihre Familie einzog. Sie waren vier Mädchen. Lassen Sie mich mal nachden ken ... Katie und Arley - Arley ist die jüngste. Gwen und Gra ce. Grace ist die älteste und immer darauf bedacht, Recht zu haben. Gwen ist die schüchternste von den vieren. Arley macht mir am meisten zu schaffen." "Und zu wem gehört Scottie?" "Arley." Das bestätigte nur Doyles Meinung, dass der kleine Scottie wirklich arm dran war. "Was ist mit Meehans Exmann?" Doyle wollte endlich auf den Punkt kommen. "Kannten Sie ihn?" "Du liebe Güte, nein", erwiderte Mrs. Bee. "Ich glaube nicht, dass ich es gewollt hätte. Katie spricht nicht von ihm, mit niemandem, und ich würde sie niemals fragen." Jemand hupte in der Einfahrt. "Das ist Lula Mae", erklärte Mrs. Bee. "Wir haben ein Treffen in der Gemeinde. Wenn Sie das Haus verlassen, vergessen Sie nicht, abzuschließen, Calvin." "Ich vergesse es nicht, Mrs. Bee." "Und ... Calvin?" "Ja, Mrs. Bee?" Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie seufzte nur. "Sie sind ein guter Junge, Calvin", sagte sie noch und eilte davon. Doyle stand eine Weile da und dachte nach. Meehan spricht mit keinem über ihren Exmann - mit einer Aus 91
nahme. Und die war er. Natürlich, er hatte sie ja gefragt, aber sie war zu keiner Antwort verpflichtet gewesen. Und wenn ihre Schwester Arley sie nicht gestört hätte, wäre der nächste logische Schritt ... Nun, er sollte nicht so ganz sicher sein, welcher Schritt es tatsächlich wäre. Er sollte nach draußen gehen und ein paar Gehübungen machen. Dabei konnte er außerdem nach Meehan Aus schau halten. Mrs. Bee hatte den Thunderbird vor der Garage ge parkt. Der Oldtimer war letzte Nacht dem Regen ausge setzt gewesen und sah auch danach aus. Also ging Doyle wieder ins Haus und holte einen Eimer sowie einige sau bere Lappen aus der Vorratskammer. Er könnte den, Wa gen wieder blank putzen und dabei auf Meehan warten. Es kostete ihn - wie alles - große Anstrengung, den Wasserschlauch aus dem Tomatenbeet zum Wagen zu ziehen. Die Sonne brannte vom Himmel. Zum Glück stand der Oldtimer im Schatten, und Doyle machte sich an die Arbeit. Irgendwann zog er sein T-Shirt aus ... und hörte einen Laut, als ob jemand vor Erstaunen keuchte. Er sah sich um. Drei Frauen standen in Meehans Garten hinter dem Haus. Sie standen dicht beieinander und starrten ihn an. Doyle hatte noch nie ein solches Aufgebot von Ge sichtsausdrücken gesehen - verärgert, besorgt und äußerst anerkennend. Die letzte Person wusste offensichtlich seinen nackten Oberkörper zu würdigen. Er sah keinen Wagen in der Einfahrt. Also konnte er nur vermuten, dass dieses weibliche Trio in der Straße geparkt hatte. Trotz der großen Sonnenbrille erkannte er eine von ih nen. Die, die Mrs. Bee nach "zu schaffen machte": Arley. 92
Die Frauen beschäftigten sich sofort damit, beschäftigt zu wirken. Er nickte in ihre Richtung und fuhr fort Mrs. Bees Auto wieder seinen alten Glanz zu verschaffen. Doyle hatte schon früh in seinem Leben mitbekommen, dass Frauen gleichgültig wie alt sie waren - keine Ah nung hatten, wie gut ein Mann hören konnte, wenn er es darauf anlegte. "Ist er das?" fragte eine von den dreien. "Ja." Das war wohl Arley. "Bist du sicher?" "Ja. Ich habe ihn schon vorher gesehen." "Wie alt mag er sein?" "Wie soll ich das wissen? Ich habe ihn nicht gefragt und ganz sicher auch Kate nicht." "Was ist mit ihm los?" "Helikopterabsturz, sagt sie." "Bist du sicher, dass Kate und er..." "Ich bin sicher!" "Hört damit auf", meldete sich eine andere Stimme. "Das geht uns nichts an." "Darf ich Sie stören?" rief eine der Stimmen jetzt laut, und Doyle sah hinüber. "Hallo", sagte sie. "Sie sind Kates Freund, nicht wahr?" Sie wartete seine Antwort nicht ab. "Sie hat heute Abend ein kleines Grillfest hier im Garten. Könnten Sie kommen?" Raffiniert, dachte Doyle. Er hatte den Verdacht, dass Meehan absolut nichts von der Einladung zur Grillparty wusste. "Klar kann ich kommen", antwortete er dennoch. "Um welche Zeit?" "Punkt sechs Uhr", sagte die Schwester, die Grace sein musste - die Rechthaberische. 93
"In Ordnung", antwortete er. "Soll ich etwas mitbrin gen?" "Nur sich selbst." "Geht in Ordnung." Doyle lächelte breit und machte sich wieder an seine Arbeit. "Kate bringt dich um, und du weißt es", hörte er eine der Schwestern sagen. Das musste wohl die schüchterne Gwen sein. "Hör auf, dir Sorgen zu machen, ja? Wenn sie uns nichts davon erzählen will, was hier vor sich geht, dann müssen wir es eben selbst herausfinden." Doyle lachte in sich hinein. Das wird ein Spaß werden! Oder auch nicht. Er polierte mit einem Ledertuch den Oldtimer, und ihm blieb nicht verborgen, dass er von den Fenstern der Rückfront von Meehans Haus aus beobach tet wurde. Er war erschöpft, als er mit der ungewohnten Strapaze fertig war. Er ging ins Haus, duschte sich, und dann ent schied er, unter die Decke zu kriechen und ein Nicker chen zu machen. Doyle wurde wach durch ein Klopfen an seiner Tür. Er hatte so tief geschlafen, dass er einen Moment brauchte, um sich wieder zu orientieren. "Herein", sagte er, als es erneut klopfte. Er setzte sich auf und war froh, dass die Beine nicht schmerzten, als er sie über den Bettrand hängen ließ. Er erwartete, dass Mrs. Bee hereinkäme. Es war jedoch Meehan. "Wie ich hörte, habe ich einen Korb bekommen", sagte sie. "Einen Korb?" "Die Steaks sind auf dem Grill, aber Doyle lässt sich nicht sehen. Da ich es akzeptieren könnte, dass du mir einen Korb gibst, aber mir nicht vorstellen kann, dass du 94
freiwillig auf ein Steak verzichtest, dachte ich mir, dass ich nach dir sehen sollte. Vor allem, da du das Auto ge waschen hast. Wie schlimm sind die Schmerzen?" "Nicht allzu schlimm", antwortete er. "Du bist ein solcher Lügner", bemerkte Meehan seuf zend, und Doyle musste lächeln. "Also gut, es schmerzte eine Weile sehr, im Augenblick aber ist es nicht so schlimm." "Bist du bereit zu einem strengen Verhör?" "Bist du es denn?" "Nein. Ich fühle mich wie ein Idiot. Ich bin zu alt für all dies. Aber ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Wenn du in der Lage bist, herüberzukommen und dich zu zeigen, nur lange genug, um ihnen zu beweisen, dass da absolut nichts zwischen dir und mir läuft. Da wäre ich dir dank bar. Du bekommst dafür ein Steak, und ich bekomme ein wenig Frieden und Ruhe. Okay?" Doyle sah sie an. Er dachte, wie hübsch Meehan aussah mit dem offenen Haar. Verlangen regte sich plötzlich in ihm. "Doyle?" trieb sie ihn an. "Geh du voraus", sagte er. "Und du hältst dich an den Plan!" mahnte sie ihn, wäh rend er aufstand und zum Badezimmer humpelte. "Ganz bestimmt. Da läuft absolut nichts zwischen uns." "Und du überzeugst meine Schwestern davon!" "Wie soll ich das denn tun?" "Verhalte dich normal. Du weißt schon, einfach uninte ressiert." Doyle mochte in letzter Zeit alles Mögliche in Meehans Gegenwart gewesen sein, "uninteressiert" fiel jedoch ganz sicher nicht darunter. Er hielt dennoch den Mund. "Wäre es nicht einfacher, ich bliebe hier und ließe dei 95
ne Schwestern im Glauben, dass ich dir einen Korb ge geben habe?" "Nein", lehnte Meehan ab. "Das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Meine Schwestern denken, dass ich dabei bin, mich auf etwas einzulassen, was mir Probleme und Herzschmerzen bereiten wird. Sie wollen dem auf den Grund gehen, um herauszufinden, wie sie mich davor bewahren können. Und glaub mir, die drei geben nie auf." "Und wie willst du dem entgegenwirken?" "Sie sollen uns beide zusammen sehen und herausfin den, dass ich nichts vor ihnen zu verbergen versuche." "Ein guter Plan", lobte Doyle. "Danke." "Bekomme ich das Steak in jedem Fall?" erkundigte er sich besorgt. Meehan grinste. "Na klar." Sie durchquerten den Garten und gingen auf die Hecke zu. "Muss ich mich entschuldigen?" fragte Meehan. "Wofür?" "Für das, was meine Schwestern zu dir gesagt haben. Sie sind nicht gerade feinfühlig." "Sie haben nichts gesagt, was mich betroffen machen könnte", erwiderte Doyle und musste einen Augenblick stehen bleiben, damit seine Beinmuskeln sich wieder entspannten. Meehan schüttelte den Kopf. "Ich kann kaum glauben, was ich da tue. Du bist einer meiner Patienten, und ich schleppe dich mit zu mir rüber, statt dich im Haus ausru hen zu lassen." "Ich bin kein Patient, ich bin ein Freund. Und ich kann mich überall ausruhen. 96
Haben sie Ehemänner? Ich meine deine Schwestern?" "Ja." "Wo sind die?" "Die verstecken sich, denk ich mir." Er bemerkte den Duft von gegrilltem Steak. "Mann, riecht das gut!" Der Geruch ließ ihn die Strecke weniger lang erscheinen. "Du siehst hübsch aus", sagte er dann und handelte sich einen ungläubigen Blick von Meehan ein. "Sag so etwas nicht im Beisein meiner Schwestern", flüsterte sie ihm zu. "Du weißt, die denken, dass zwi schen uns etwas läuft." "Ich hab schon verstanden", versicherte Doyle ihr. Meehan seufzte. Es war deutlich genug, dass ihr die Situation zu schaffen machte. Alle drei Schwestern standen wartend auf der Terrasse, und ihrem wachsamen Blick entging nichts. "Du bist meinen Schwestern bereits begegnet", begann Meehan, als sie auf die Terrasse traten. "Begegnet ja, bekannt gemacht nein", antwortete Doy le. "Also, das ist Grace." Meehan wies auf die größte der Schwestern, die Doyle bereits als "die Rechthaberische" eingeschätzt hatte. "Das hier sind Gwen und Arley. Scottie kennst du be reits." Er hatte nicht gewusst, dass der Junge ebenfalls da war. "Hey, Scottie, was machst du so? Noch mehr Steine für deine Sammlung gefunden?" Zu seiner Überraschung kam der Junge auf ihn zuge rannt und umarmte seine Knie. "Das ist Bugs", erzählte Scottie seinen Tanten. "Er war tet nicht, bis das Flugzeug landet. Komm, Bugs, ich zeig 97
dir was! " Er nahm Doyle bei der Hand und zog ihn vor sichtig mit sich. Doyle humpelte auf den Gehstock gestützt ins Haus und da zur Couch, auf der er die Nacht verbracht hatte. Er nahm sich sofort vor, kein Wort darüber verlauten zu lassen. Scottie hatte seine Steine dieses Mal nicht bei sich. Die ses Mal hatte er Bücher dabei. Viele Bücher. Und Doyle fand sich schließlich sitzend auf der Couch, die Katze dicht an einer Seite, Scottie dicht an der anderen Seite und einen Stapel Bücher auf seinen Knien. Meehan brachte einen Fußschemel, und Grace brachte ihm ein Glas mit Eistee. Arley musterte ihn mit gerunzelter Stirn, und Gwen schnitt sich in der Küche mit einem Gemüse messer in den Finger. Er las. Und las. Beim dritten Buch merkte er, dass Kat ze und Kind fest schliefen. "Ich nehme dir das ab", sagte Meehan und nahm ihm die Bücher von den Knien. "Und den hier auch." Sie nahm Scottie auf, der seinen Kopf an Doyle gelehnt hat te. "Lass ihn. Er stört mich nicht." "Ich lege ihn ans andere Ende, so dass er sich ausstre cken kann. Wir fangen gleich mit dem Essen an." Doyle beobachtete sie, wie liebevoll sie den Jungen auf die Couch legte. Scottie wachte nicht auf. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass du wieder den Babysitter spielen musst", entschuldigte sie sich. "Das habe ich gern gemacht." "Ich wünschte, sein Vater würde so denken", murmelte sie. "Wo ist sein Vater?" wollte Doyle wissen. Scottie war 98
nicht der erste kleine Junge, der nach männlicher Auf merksamkeit ausgehungert war. "Weg. Mit seiner neuen Freundin." "Wir haben ein Problem Kate! " rief Grace vom Garten her. Meehan ging hinaus, um zu sehen, was Grace von ihr wollte, und Arley nahm fast augenblicklich ihren Platz ein. Sie setzte sich an den Couchtisch und musterte Doy le lange, bevor sie etwas sagte. Als er ihr das erste Mal begegnet war, hatte er sie bereits für eine jüngere Ausga be von Meehan gehalten. Das fand er immer noch. Nur die Augen waren anders. Sie hatten ein völlig anderen Ausdruck. "Nun", begann sie schließlich, "ist es ernst?" "Ist was ernst?" Doyle beschloss, es ihr nicht leicht zu machen. "Zwischen Ihnen und Kate", antwortete Arley. "Es ist nicht ernst", erwiderte er. Noch nicht, sagte er sich im Stillen. "Da hat sie aber was anderes gesagt-" "Was anderes?" "Im Vertrauen, Sie sind absolut nicht ihr Typ", erklärte sie unvermittelt. "Absolut richtig", stimmte Doyle ihr zu, weil es auch tatsächlich so war. Er war bereits überall gewesen, im Nahen und Fernen Osten, auf dem Balkan. Überall hatte er mit dem Gewehr in der Hand für Frieden gesorgt. Aber so etwas zahlte sich nicht gerade aus. Es würde sehr lan ge dauern, bis er mit einer Tüte Milchbrötchen herum rennen und einen teuren, silberfarbenen Wagen fahren könnte. Wenn überhaupt. Die Katze stand auf, legte sich jedoch gleich wieder hin und schmiegte den Kopf unter seine Hand. Doyle kraulte 99
sie leicht zwischen den Ohren und hörte, wie sie schnurr te. "Sind Sie der Grund, warum sie Paul abgeschoben hat?" fragte Arley direkt. "Glaub ich nicht. Ich weiß nicht mal, wer Paul ist." "Er war die Liebe ihres Lebens - bis vor zwei Wochen oder so." "Ach, Sie meinen den Immobilienmann. Nein, ich bin nicht der Grund." "Das nehme ich Ihnen nicht ab", entgegnete Arley. "Tja, da kann ich Ihnen nicht helfen. Und wie ist es bei Ihnen?" "Bei mir?" "Was ist mit dem Burschen, den Sie von ganzem Her zen lieben?" Ihre Augen blitzten böse auf. "Das geht Sie nichts an!" Doyle lächelte. "Ah, ich verstehe. Austeilen können Sie, nur nicht einstecken. Ist es nicht so?" Arley stand abrupt auf und verschwand. Grace nahm sofort den verlassenen Platz ein. Grace sah Meehan nicht ähnlich. Überhaupt nicht. Sie hatte die gleiche tüchtige Ausstrahlung, aber das war auch alles. Diese Frau war geboren, um zu kommandieren. Und Calvin "Bugs" Doy le hatte ihre volle Aufmerksamkeit. "Haben alle Sie verlassen?" fragte sie und setzte sich in den nächsten Sessel. "Es ist schon in Ordnung", wehrte er ab. "Wie geht es Gwens Hand?" "Oh, es gibt Leute, die sollten scharfe Gegenstände nicht anfassen. Sie sind also Kates Freund." "Ja", antwortete Doyle wahrheitsgemäß. "Und?" 100
"Und was ich sonst noch bin, geht Sie nichts an", ant wortete er leichthin. "Um ehrlich zu sein, ich bin ein we nig überrascht, dass Sie sich einmischen." "Sie ist meine Schwester. Und ihr klarer Verstand setzt aus, wenn es um Männer geht." "Ist es nicht so, dass man dem Menschen glaubt, den man liebt? Dass man dabei böse hereinfallen kann ist schlimm, aber es ist nun mal so." "Sie stellen eine sehr komplizierte Situation ein wenig zu einfach dar", entgegnete Grace. "Was wollen Sie damit sagen?" "Ich will damit sagen, dass Kate belastet ist. Jemand wie Sie würde sich damit nicht abgeben wollen." "Jemand wie ich? Ich weiß von Meehans Ehemann, Grace. Und ich weiß von dem Immobilienburschen. Und ich weiß von dem Krebs", teilte er ihr mit. Grace starrte ihn an, deutlich überrascht, dass nicht sie die Oberhand in dem Gespräch behielt. Das war sie nicht gewöhnt und mochte es offensichtlich überhaupt nicht. "Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen", sagte Doyle schließlich. "Sie und Gwen und Arley haben das Pferd von hinten aufgezäumt. Ich bin zur Zeit Katies Freund. Nichts mehr, nichts weniger. Wohin auch immer das führen mag, es wird nicht von Ihnen bestimmt." Scottie bewegte sich auf der Couch und drehte sich auf den Bauch. Gwen kam durch die Tür gestürmt und trug eine Servierplatte mit gegrillten Steaks. "Zu viele Stechmücken draußen! " verkündete sie. "Wir essen in der Küche." Grace erhob sich aus dem Sessel und folgte ihr in die Küche. Doyle blieb sitzen und wartete, dass Meehan sich zeigte. Doch sie kam nicht. Also stand er von der Couch auf, so vorsichtig wie es ihm möglich war, um Scottie 101
nicht zu wecken, und humpelte zur Tür, die auf die Ter rasse führte. Meehan saß vor dem Holztisch. Doyle trat hinaus. Sie blickte sich zu ihm um, als sie ihn hörte, doch sie sagte nichts. "Wie steht's?" fragte er aufmunternd. Sie strich ein paar Mal mit der Hand über den Tisch und schwieg. "So schlimm?" hakte er nach. "Ja", antwortete sie mit einem Seufzer und stand auf. "Arley und ich haben einen Wortwechsel gehabt, gleich nachdem Grace und ich einen Wortwechsel hatten." "Wie steht's mit Gwen? War sie dabei?" "Ja, und sie brach in Tränen aus." Meehan schaute hoch zu dem vom Mond beleuchteten Himmel. Doyle konnte die Grillen und die Laubfrösche hören. Es war ein wunderschöner Sommerabend. "Ich möchte dich etwas fragen", sagte er nach einem langen Schwei gen. "Und mir ist es ernst damit ...Ich glaube nicht, dass mir nach etwas Ernstem zu Mute ist." "Es geht um dich und mich." "Es gibt kein dich und mich, Bugs. Was du fühlst - oder zu fühlen glaubst - hat etwas mit deinen Verletzungen zu tun. Und dass du Patient auf meiner Station gewesen bist. So etwas kommt ständig vor." "Du willst damit sagen, dass ich dich so sehr mag, weil du mir geholfen hast, als ich es wirklich nötig hatte." "Genau." "Gilt das auch für dich?" "Ich weiß nicht, was du damit meinst." "Ich meine, wer hat wen aus dem Regen geholt? Da ha be ich dir geholfen, als du es wirklich nötig hattest. Oder etwa nicht?" Meehan schwieg daraufhin. Doyle näherte sich ihr und 102
blieb vor ihr stehen. "Weich mir nicht aus, Kate." Er lehnte seinen Gehstock gegen den Tisch und nahm ihre linke Hand, die er auf seine Schulter legte. Warnend hob er den Finger, als sie die Hand wieder zurückziehen wollte. "Lass es zu", bat er sie mit leiser Stimme. Dann nahm er ihre andere Hand und legte sie auf seine andere Schulter. "Doyle, was soll das?" "Ich möchte dir noch eine Frage stellen, und ich möch te, dass du sie mir ehrlich beantwortest." Meehan seufzte. "Also frag." Er fragte nicht. Er sah ihr in die Augen, und sie ließ es zu. Kate, dachte er. Kate ... "Darf ich dich küssen?" fragte er leise. Damit hatte Meehan nicht gerechnet. Ihre Finger krampften sich um seine Schultern, aber sie stieß ihn nicht von sich. Doyle konnte hören, wie die Schwestern in der Küche das Geschirr zusammenstellten und Stühle zurechtrückten. "Darf ich?" fragte er wieder und beugte den Kopf. Er wartete. Er musste sich mit aller Macht zurückhal ten. Meehan duftete so gut, und er wusste bereits, wie sie schmeckte. Aber Meehan rührte sich nicht. "Kate", flüsterte er, und sie gab einen kleinen, sehn suchtsvollen Laut von sich, der ihm zu Herzen ging. Wie von selbst legten sich ihre Arme um seine Schul tern, und sie schmiegte kurz den Kopf an seine Schulter. Dann sah sie ihn erwartungsvoll an. Doyle küsste sie un erwartet leidenschaftlich. Er konnte nicht genug bekommen. Er konnte Meehan nicht dicht genug an sich pressen. Er war ausgehungert. 103
Ausgehungert! Plötzlich riss er sich von ihr los. Er stand da mit zit ternden Händen, bereit wegzugehen. Noch nie hatte er so intensiv gefühlt. Und es hatte nichts damit zu tun, dass er so lange keine Frau mehr umarmt hatte. Das hier hatte nichts mit Gier nach Sex zu tun. Davon hatte er genug gehabt, um es zu wissen. "Das ist entweder ein Anfang, oder es ist das Ende", murmelte er. "Und du weißt das, nicht wahr?" Meehans Antwort wartete Doyle nicht ab. Er nahm sei nen Gehstock, und mit der wenigen Willenskraft, die ihm noch verblieben war, humpelte er die Terrassentreppe zum Garten hinunter und auf Mrs. Bees Haus zu.
8. KAPITEL
Kate. Der letzte Gedanke, bevor Doyle endlich einschlief, und der erste Gedanke an diesem Morgen - außer dem Klopfen an seine Tür. Er stieg mühsam aus dem Bett und humpelte zur Tür, hoffte, dass ... Es blieb bei der Hoffnung. "Los, machen wir uns auf den Weg", sagte der Soldat, als Doyle die Tür geöffnet hatte. Doyle starrte den Mann an, nahm seinen niederen Rang wahr und wartete auf einen Anhaltspunkt für das plötzli che Auftauchen dieses jungen Mannes in Uniform vor seiner Tür. "Was zum Teufel ... ?" fragte er schließlich scharf, weil 104
die Erklärung ausblieb und weil er nicht in der Stimmung für Rätselraten war. "Die Leute, die Macht und Autorität haben, verlangen auf der Stelle Ihre Anwesenheit, Soldat Doyle." "Und wer sind die?" Doyle kniff die vom Schlaf noch trüben Augen zusammen, um das Namensschild zu ent ziffern. Guthrie hieß der junge Soldat. "Sergeant Beltran hat mich hergeschickt", erwiderte er. "Aber der Befehl kommt von höherer Stelle." "Wie hoch ist sie?" "Da bin ich überfragt. Ich bin nur ein kleiner Fisch. Aber Eile ist geboten." "Na gut. Ich mache mich fertig." "Kein Problem. Ich warte unten. Die Dame da unten verteilt Schokoladenkekse", erklärte er. Doyle schloss die Tür. Er hörte Guthrie die Treppe run terpoltern. Er blieb einen Augenblick stehen, versuchte die Situation zu verstehen. Er zog seine Einheitsinvalidenkluft an und ging lang sam und vorsichtig die Treppe herunter. Guthrie ließ sich gerade von Mrs. Bee mit Keksen und einem Glas Eistee verwöhnen. "Calvin?" rief sie, als er auf die Veranda hinaustrat. "Im Kühlschrank ist ein Steak für Sie. Katie hat es heute Morgen herübergebracht." Eine bessere Nachricht kann es gar nicht geben, dachte Doyle. "Und Calvin?" rief sie hinter ihm her, als er die Veran datreppe in Angriff nahm. "Vergessen Sie nicht, Katzen streu zu besorgen." "Werde ich nicht, Mrs. Bee", rief er automatisch zu rück. Ein Steak im Kühlschrank, dachte er und folgte Guth 105
rie, der ihn überholt hatte. Dann ist Kate mir also nicht böse wegen des Kusses. "Katzenstreu! " rief er plötzlich alarmiert. "Sieht aus, als ob Sie Fortschritte machen", stellte Sergeant Beltran fest, als Doyle in dessen Büro gehumpelt kam. "Das wurde mir bereits gesagt", erwiderte Doyle tro cken. "Okay, Guthrie bringt Sie dann ins Krankenhaus." "Ins Krankenhaus, Sergeant?" Doyle hatte mehr Kran kenhäuser gesehen, als er zählen konnte. Und langsam hatte er die Nase voll von all den Nachbehandlungen, geschweige denn von der Aussicht, wieder in einem Krankenhaus zu landen. "Irgendein bedeutender Chirurg vom Krankenhaus in Texas, in dem Sie gelegen haben, will Sie sehen." Doyle wollte protestierten, erinnerte sich aber noch rechtzeitig, dass er in keinem Rang war, wo sein Protest gehört werden würde. Ein Arzt, der es wohl nicht ganz glauben konnte, dass er nicht abgekratzt war, wollte ihn sehen. Und damit Schluss. Guthrie fuhr ihn ins Krankenhaus, und Doyle hörte sei nem Gerede nur mit halbem Ohr zu. Er war mehr daran interessiert zu überlegen, ob er Meehan treffen würde, und wenn ja, was er sagen sollte. Alles hing jetzt von ihr ab. Seine Geduld würde auf eine harte Probe gestellt wer den. Und sich gedulden war nicht unbedingt seine Stärke. Er war darauf gefasst, auf unbestimmte Zeit in einen Warteraum geschoben zu werden, und es kam für ihn völlig unerwartet, dass der bedeutende Chirurg noch wei tere Röntgenaufnahmen von ihm haben wollte. Damit verbrachte Doyle den ganzen Morgen. Und dann musste 106
er den ganzen Nachmittag tatsächlich mit Warten verbringen. Er war hungrig und mehr als gereizt, als er den Arzt aus Texas schließlich zu Gesicht bekam. Doyle konnte sich überhaupt nicht an ihn erinnern. "Es sieht überraschend gut aus, Specialist Doyle", teilte der Arzt ihm mit und zeigte auf die belichteten Röntgen aufnahmen im Bildschirm an der Wand. "Sir, jawohl, Sir", sagte Doyle, obwohl er es geradezu spüren konnte, dass dem das große Aber folgen würde. "Aber ... Sie könnten eine Korrektur gebrauchen", fuhr der Arzt fort, und Doyle hielt den Atem an. "Eine Korrektur?" "Die nachträglichen Operationen haben die Schädigung an den Oberschenkelknochen und dem Schienbein be achtlich gebessert, aber sehen Sie, hier ... und hier?" Er wies mit dem Stift auf eine Stelle im Röntgenbild. Doyle sah absolut nichts. "Wir könnten das ohne große Schwierigkeiten hinbe kommen." "Ohne große Schwierigkeiten für wen, Sir?" fragte Doyle, und der Arzt grinste. "Ja, ich weiß, was Sie meinen. Nun, es wird ein opera tiver Eingriff sein, so ähnlich wie der, den Sie bereits gehabt haben. Und er müsste in Texas vorgenommen werden." "Sir, ich möchte keinen weiteren Eingriff. Ich bin jetzt endlich soweit, dass ich halbwegs wieder laufen kann. Ich möchte das Ganze nicht noch mal durchmachen." "Auf lange Sicht gesehen wird es nur von Vorteil für Sie sein. Und Sie werden weniger Schmerzen haben." "Sir, jawohl, Sir. Ich verstehe das. Aber ich..." Doyle atmete tief durch. Noch mehr Operationen. Eine Operati on zu haben, wenn man dem Tode näher als dem Leben 107
war, war etwas anderes, als wenn man seine Sinne schon wieder beisammen hatte. "Sir, meinen Sie eine Operation sofort? Könnte man sie nicht hinausschieben und sehen, welche Fortschritte ich, so machen kann? Vielleicht ist dann eine Operation gar nicht nötig." Der Arzt sah ihn lange an. "Sie wissen es hoffentlich, Doyle, wie glücklich Sie dran sind. Ich habe nicht ge glaubt, dass Sie Ihre Beine jemals wieder gebrauchen könnten." "Sir, jawohl, Sir." "Wenn Sie es zu lange hinausschieben, gehen Sie das Risiko ein, das zu verlieren, was Sie mit so großer Mühe wiedererlangt haben. Ich verstehe, dass Sie sich sträuben. Ich ... denke, wir können ungefähr einen Monat warten. Die Ärzte hier sollen dafür sorgen, dass der gegenwärtige Zustand beibehalten wird." "Jawohl Sir, danke, Sir." Doyle verließ das Zimmer und versuchte dabei, sein Humpeln besser aussehen zu lassen, als es war. Er trat in den Korridor, wich den Patienten in Rollstühlen und dem eilig dahinstrebenden Krankenhauspersonal aus, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Operation. Wieder. Oh, verdammt! Der lange Tag hatte seine Kräfte völlig verbraucht. Er humpelte, so weit er konnte, ehe er stehen blieb und sich dem Schmerz beugte. Er hätte Sergeant Beltran anrufen sollen, um nach Hause gefahren zu werden, aber er unter ließ es. Er hatte seine eigenen Pläne, wie er nach Hause kom men würde. 108
Er betrat den Aufzug und drückte den Knopf für den vierten Stock, wo Meehan arbeitete. So ganz war er nicht überzeugt, dass er sie finden würde, denn er hatte es be reits zuvor vergeblich versucht. Doch er entdeckte sie gleich, als er aus dem Aufzug trat. Meehan hatte ihn nicht gesehen, ging vor ihm in die entgegengesetzte Richtung. Seine Beine brachten ihn fast um. Es war, als ob die Schmerzen schlimmer geworden waren, jetzt wo er wusste, dass die Dinge nicht zum Bes ten standen. Nirgendwo war eine Sitzgelegenheit in Sicht, also blieb er stehen und stützte sich schwer auf seinen Stock. Er hoffte, dass das Zittern aufhören würde und dass Meehan in diese Richtung zurückkäme, so dass er sie nicht weiter suchen brauchte. Er sah wohl ganz okay aus, denn keiner, der an ihm vorbeieilte, achtete auf ihn. "Geht es Ihnen nicht gut?" fragte schließlich ein Pfle ger. "Ich warte auf ... Kate Meehan", stieß Doyle unter Schmerzen hervor. Er versuchte, sein Gewicht zu verla gern, aber es half nichts. Der Pfleger beobachtete ihn. "Und mir geht es nicht ... allzu gut", gestand Doyle ein in der Hoffnung, dass der Bursche Meehan für ihn su chen würde. "Sie muss hier irgendwo sein", meinte der Pfleger und ging sie tatsächlich suchen. Er fing Meehan gerade ab, als sie am Ende des langen Korridors aus einem Kran kenzimmer kam. Doyle sah, dass sie dem Pfleger zuhörte. Dann blickte sie in Doyles Richtung, sagte etwas zu dem Pfleger und ging in das Zimmer zurück. Sein unerwartetes Erschei nen schien sie kein bisschen zu wundem, so viel war 109
Doyle klar. "Sie sagte, Sie sollen warten", teilte der Pfleger ihm im Vorbeigehen mit. "Danke." Doyle war sich nicht ganz sicher, ob er es schaffen würde, hier zu stehen und zu warten. Er blickte auf den Boden und biss die Zähne zusammen. "Nun, das sieht dir wieder mal ähnlich", tadelte Mee han. Doyle hatte nicht so schnell mit ihr gerechnet, und sie hatte ihn mit dem vor Schmerz verzerrten Gesicht erwischt. Er wusste, was sie meinte. Ja, er war zu lange auf den Beinen gewesen. Ja, er war aus dem Haus gegangen, oh ne zu frühstücken. Ja, er hatte es zugelassen, dass seine Muskeln sich verkrampften. Er versuchte nicht mal, das abzustreiten. "Ich suche nach einer Gelegenheit, nach Hause gefah ren zu werden", teilte er ihr mit. "Wenn ich nicht mit dir fahren kann, dann muss ich zu Plan B greifen." "Und der wäre?" "Ich kann Sergeant Beltran anrufen. Er sagte, er würde jemanden auftreiben." "Bist du rein zufällig hier in der Gegend?" "Ich bin hier im Krankenhaus. Seit dem ... frühen Mor gen." "Warum?" "Rücksprache wegen einer Operation. Man könnte es auch anders nennen: Die Koryphäe, die mich in Texas operiert hat, wollte mich wieder sehen." "Und was hat der Chirurg gesagt?" Doyle seufzte, statt zu antworten. "Darf ich mit dir fah ren?" "In knapp einer halben Stunde bin ich hier fertig." "Ich warte", murmelte er. 110
"In Ordnung." Sie blickte sich suchend um. "Hampton, bring den Rollstuhl her!" rief sie dann. "Ich brauche keinen..." Doyle hielt inne, weil er sich den Blick einheimste, den er bereits bestens kannte. Meehan war ganz Kranken schwester, die keine Widerrede duldete. Außerdem war ihm die Puste zu einer Auseinanderset zung sowieso ausgegangen. Hampton, der Pfleger, rollte den Rollstuhl heran, in den Doyle sich widerspruchslos setzte. Er hatte mehr Zeit in einem Rollstuhl verbracht, als er sich erinnern wollte. Lange, schmerzerfüllte Tage und noch längere Nächte. Er klappte die Fußstützen auf und rollte sich aus dem Verkehr bis zum Fenster am Ende des Korridors, wo er hinausschauen konnte. Hampton kam nach einer Weile und brachte ihm ein Glas Saft sowie eine Tüte mit gesalzenen Erdnüssen. "Eine kleine Gefälligkeit von ihr persönlich", erklärte er und wies mit dem Kinn zu Meehan hinüber. Doyles Hände zitterten so sehr, als er die Tüte öffnete, dass einige Erdnüsse ihm auf die Knie und auf den Bo den fielen. Er war so hungrig, dass er sie kaum schmeck te und einfach nur in den Mund stopfte und runter schluckte. Danach fühlte er sich ein wenig besser. Zu mindest nicht mehr so hungrig. Er packte die leere Dose in die Tüte und warf beides in den Abfallkorb. Als er hochblickte, stand Meehan vor ihm. Sie sah umwerfend aus. Wenn sie sich wegen des gestrigen Abends geärgert haben sollte, so war das ganz sicher für sie kein Grund gewesen, nicht zu schlafen. "So", sagte sie. "Willst du es durchstehen und zum Parkplatz laufen, oder möchtest du bis zur Eingangstür gerollt werden?" 111
"Durchstehen", antwortete Doyle knapp und mobilisier te alle seine Kräfte, um aus dem Rollstuhl zu kommen. Genau das mochte er an Meehan, dass sie es ihm über ließ, die bittere Pille zu schlucken oder aus sich einen Idioten zu machen. Sie stand dicht neben ihm, als er sich aus dem Rollstuhl herausquälte. Er nahm die Gelegenheit wahr und legte die Hand auf ihre Schulter. "Danke für die Erfrischungen", sagte er. "Gern geschehen." Sie gingen zur Mitte der Station, wo sich die Aufzüge befanden und wo fast das ganze Personal sie sehen konn te. Doyle wusste nicht, wie es auf die Leute wirkte, so wie er sich mit einer Hand schwer auf ihre Schulter und mit der anderen Hand auf seinen Stock stützte. Aber das war ihm auch egal. Wenn es Meehan störte, so zeigte sie es jedenfalls nicht. "Was hat der Chirurg gesagt?" fragte sie wieder, als sie den Aufzug betraten. "Er ist mit irgendwas nicht zufrieden und will es repa rieren." "Und?" "Und ich glaube, ich will das nicht noch mal durchma chen." "Es könnte helfen." "Es könnte nicht helfen", entgegnete er. "Wie oft bist du operiert worden?" fragte Meehan. "Elf Mal." Er hatte im Aufzug die Hand von Meehans Schulter genommen, aber er umfasste sie auf dem Weg zum Aus gang erneut. "Diese Richtung", wies sie an, als sie vor das Kranken haus traten. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, 112
aber es war noch immer heiß. "Du kannst hier warten. Ich fahre mit dem Wagen vor." "Nein", wehrte Doyle ab. Auf keinen Fall wollte er Meehan als Stütze verlieren. Und sie zu berühren, ließ ihn den Schmerz fast vergessen. Er schaffte es zum Wagen, und sie fuhren schweigend nach Hause. Meehan fuhr konzentriert, den Blick auf die Straße und den Verkehr vor ihr gerichtet, während Doyle an nichts anders denken konnte als an den Kuss. Wie ihre Lippen sich angefühlt hatten, wie sie geschmeckt hatten. Nachdem Meehan den Wagen in der Einfahrt geparkt hatte und er ausgestiegen war, dankte er ihr für die Fahrt und humpelte sogleich zu Mrs. Bees Haus. "Doyle! " rief Meehan hinter ihm her. Er drehte sich um. "Ja?" "Was willst du?" Doyle wusste genau, was sie damit meinte, und er woll te nicht vorgeben, dass er es nicht wusste. "Ich will alles, Kate", antwortete er direkt. "Doch ich nehme, was ich bekommen kann." "Möchtest du irgendwohin gehen?" rief sie wieder hin ter ihm her, als er die Hoffnung so gut wie aufgegeben und sich umgewandt hatte. "Jetzt?" "Später. Nachdem ich mich umgezogen habe. Und wenn du dich wieder besser fühlst." "Ich fühle mich gut", erwiderte er. Ist es das? dachte Doyle. Ist es das grüne Licht? Meehan lächelte. "Willst du nicht wissen, wohin wir gehen?" "Nicht unbedingt", antwortete er. "Zu Onkel Patrick." "Um ihn zurechtzustutzen?" 113
"Nein, dieses Mal nicht." "Da bin ich aber froh." "Onkel Patrick hat ein Lokal. Du wirst es mögen." "Warum?" "Das Essen schmeckt toll, und seine Kellnerinnen tra gen superkurze Röcke", antwortete Meehan. "Das einzige Manko ist, sie sind alle in Mrs. Bees Alter." Doyle grinste. "Ich leg mich nur einen Augenblick hin. Wir sehen uns dann nachher." Er humpelte auf das Haus zu, weniger mühsam, wie er feststellte. Seit Ewigkeiten war ihm nicht so leicht ums Herz gewesen wie in diesem Augenblick. Das Kleid, das Meehan anhatte, als sie ihn abholte, er innerte Doyle an Abende am Wasser, nachdem man den ganzen Tag ausgiebig gesurft und in der Sonne gelegen hatte, an Spaziergänge am Strand, an Küsse und Liebko sungen. Das Kleid war gelb und hatte bunte Volants. Vor allem aber ließ es ihre Schultern frei. Kate Meehan verschlug ihm den Atem. "Sind die Schmerzen besser?" fragte sie als Erstes. "Gibt es so etwas?" fragte Doyle und musste sich an strengen, um ihr nicht verlangende Blicke zuzuwerfen. "Bessere Schmerzen?" "Können wir gehen?" "Ja, wir können. Wie weit müssen wir fahren, um On kel Patrick zu überfallen?" "Wir brauchen etwas mehr als zwei Stunden, um nach Chapel Hill zu kommen." Onkel Patricks Pub hatte eine leuchtend blaue Tür und keinen Parkplatz. Das Lokal lag in einer Seitenstraße, sehr dicht bei einem College und war offenbar der Treff punkt der Studenten. Kate fand mit einiger Mühe endlich einen Parkplatz, 114
und der Weg zum Pub war lang. Sehr lang. Aber Doyle hatte darauf bestanden, nicht direkt vor der Tür abgesetzt zu werden. Also humpelte er brav und klaglos neben Meehan, die sich seinem Tempo anpasste. Das Gedränge im Pub war größer, als Doyle vermutet hatte. Er hatte vergessen gehabt, dass es ja auch Sommer semester gab. Das Lokal sah wirklich wie ein irischer Pub aus: dunkles Holz, mit hohen Rückenlehnen umge bene Sitzecken, einzelne Tische für zwei sowie eine lan ge Bar. Und es roch wie ein Pub. Auf der schwarzen Ta fel waren mit Kreide Menüs angegeben. Lauchsuppe las Doyle auf Anhieb. Seine Großmutter hatte immer Lauch suppe gekocht. In der Ecke gab es ein kleines Podium. Eine Band spielte. Die rauen keltischen Töne passten zu den schmuddelig wirkenden Musikern. Obwohl Doyle wusste, dass Meehan ihn aufgezogen hatte, schaute er sich trotzdem nach den Kellnerinnen mit den superkurzen Röcken um. Er sah überhaupt keine Kellnerinnen, dafür aber Onkel Patrick. "Kate, Darlin'! " brüllte er von hinter dem Tresen. "Komm hierher, komm hierher! Ich brauche dich." "Onkel Patrick, ich möchte dich mit jemand hier be kannt machen", schrie sie über den Lärm hinweg. "Mit Doyle. Seine Freunde nennen ihn..." "Cal", rief Doyle über die Köpfe der Studenten an der Bar hinweg Onkel Patrick zu. "Willkommen bei Paddy, Cal!" schrie Onkel Patrick zurück. "Katie, Darlin', wirst du mir jetzt helfen?" "Womit, Onkel Pat?" Onkel Patrick winkte sie an seine Seite hinter dem Tre sen, band ihr sofort ein Handtuch um die Taille und setz 115
te sie als Barmädchen ein. Doyle war überrascht, wie gut Kate sich sogleich in diese Aufgabe fügte. Sie nahm Be stellungen auf und füllte bereifte Krüge mit Zapfbier. Als Erstes brächte sie jedoch Doyle einen Krug mit Bier. "Goldie ist spät dran", sagte sie, wahrscheinlich als Er klärung für ihren neuen Job. "Da vorne ist ein leerer Platz. Setz dich da hin, okay?" Doyle setzte sich. Und wie er es sich bereits gedacht hatte, erregte sein soldatenkurzer Haarschnitt sofort das Interesse der jungen Leute. Ihre Blicke richteten sie auf seinen Kopf, auf seine Beine, seinen Gehstock. Dieser Haufen hier hatte Verstand genug, um keine dummen Bemerkungen zu machen. Nur einer hörte nicht auf, Doy le anzustarren. "Manchmal landet man heil auf dem Boden", erklärte Doyle ihm. "Und manchmal nicht so heil." Diese Auskunft war völlig verschwendet an den Bur schen. Er drehte sich zu seinen Freunden um. Die Musik machte eine kurze Pause. Dann fing sie wie der an, dieses Mal mit einem Solo der Fiedel. Onkel Pat rick rannte geschäftig hin und her, lachte und bediente Tische. Er war ein Mann in seinem Element. Doyle nahm die Gelegenheit wahr, Kate zu beobachten. Oh, verdammt, dachte er. Sie ist so schön. Und er war nicht der Einzige, der das erkannte, was, Doyle überhaupt nicht gefiel. Aber es sind junge Kerle, sagte er sich und beruhigte sich wieder. "Cal!" Er sah sich um. Onkel Patrick winkte ihm zu, in einer der Sitzecken Platz zu nehmen. Doyle nahm sein Bier und seinen Stock und humpelte hinüber. Onkel Patrick setzte sich ihm gegenüber und musterte ihn völlig ungeniert. Es war klär, dass ihm etwas durch 116
den Kopf ging. "Sie sind es also", stellte er nach einer Weile fest. "Wie bitte?" "Der Mann, der die Meehan-Schwestern in Aufruhr ge bracht hat. Natürlich sind einige mehr in Aufruhr als die anderen", setzte er hinzu. "Sie sind bei der Armee, nicht wahr?" "Ja, das bin ich." "Wissen Sie, ich bin Ihretwegen auch in einem ziemli chen Aufruhr gewesen", gestand Onkel Patrick. "Ich wüsste nicht weswegen", erwiderte Doyle. "Jedenfalls bin ich wegen Kate nicht mehr so beunru higt, jetzt wo ich Ihnen begegnet bin- Natürlich bedeutet das nicht, dass ich Ihnen nicht in den Hintern treten wer de, wenn Sie es verdienen sollten." "Ich verstehe." Doyle hob den Bierkrug und trank On kel Patrick zu. "Nun da das geklärt ist, sollte ich wieder an meine Ar beit gehen." "Sir, darf ich Ihnen einen Rat geben?" "Ja, nur zu!" "Könnten Sie nicht besser auf ihre Diät Acht geben? Und überhaupt besser auf sich aufpassen. Ich glaube, dass die Meehan Mädchen das zu würdigen wüssten." Der alte Mann lachte und verschwand. Doyle blieb sitzen, hörte der Musik zu und beobachtete nach wie vor Kate. Manchmal ging ihm auch der Gedanke an die mögliche Operation durch den Kopf. Texas. Wenn die Operation hier am Ort durchgeführt werden könnte und er wieder die Aussicht hätte, als Patient auf Kates Station zu landen ... Aber Texas! Das war zu weit 117
weg. Er war überrascht, dass Kate sich offensichtlich mit ih rem Onkel Patrick über ihn unterhalten hatte. Natürlich, so wie ihre Familie beschaffen war, blieb Kate wahr scheinlich keine andere Wahl, als über ihn zu reden. Eine Kellnerin kam zur Tür herein. Doyle wusste, dass sie eine Kellnerin war, weil sie einen superkurzen Rock trug. Und weil sie tatsächlich Mrs. Bees Generation nä her stand als Kates. Sie wurde mit einem begeisterten Beifall von den jungen Stammgästen empfangen. Katie wurden die Pflichten hinter der Theke wieder ab genommen. Es dauerte jedoch noch eine ganze Weile, bis sie zu ihm kam. "Bereit, von hier zu verschwinden?" fragte sie. "Jetzt schon?" "Wenn du hier bleibst, musst du mitsingen", erklärte sie. "Dann lass uns lieber abschwirren." Meehan wartete darauf, dass er die Hand wieder auf ih re Schulter legte, doch vor den Augen dieser jungen Bur schen wollte Doyle nicht den Eindruck eines totalen Krüppels machen. "Kate", begann er, als sie das Lokal verlassen hatten und bereits ein ganzes Stück zum Parkplatz gegangen waren. Sie sah ihn an. "Du bist mein..." Er hielt inne, weil eine Gruppe Studenten vorbeikam. Die Jungs drehten die Köpfe nach ihnen um und betrach teten sie interessiert. Als Doyle seinen Satz nicht beendete, fragte Kate: "Was wolltest du sagen? Ich bin dein was?" "Nichts", antwortete er und verlor plötzlich den Mut, 118
das auszusprechen, was er ihr so gern gesagt hätte. Meehan blieb resolut stehen. "Sag mir, was du mir hast sagen wollen", forderte sie ihn auf. "Ich bin dein was?" "Meine Fantasie" antwortete Doyle und war kein biss chen verlegen, weil es so romantisch klang. "Meine wahr gewordene Fantasie", wiederholte er.
9. KAPITEL
Kate ging nicht darauf ein, bis sie die schmale mondbe schienene Landstraße hinunterfuhren. "Wie hast du das gemeint?" Doyle seufzte wie befreit auf. Meehan redete mit ihm und warf ihm sogar einen längeren Blick von der Seite zu. "Ich möchte darüber nicht sprechen", antwortete er ehr lich. "Warum nicht?" "Ich glaube nicht, dass das gut wäre." "Warum nicht?" fragte sie wieder. "Weil ich den Weg nach Fayetteville nicht zu Fuß zu rücklegen möchte." Meehan verlangsamte das Tempo, um in eine andere Landstraße einzubiegen. Der Mond hing jetzt direkt vor ihnen und verwandelte die Schotterstraße in einen silbernen Pfad. "Diese Fantasie ... hat sie etwas mit Fürsorglichkeit zu tun?" "Fürsorglichkeit? Nein", antwortete Doyle und wunder te sich, wie um alles in der Welt Meehan auf diese Idee 119
gekommen war. "Also dann mit Sex." "Das wird es wohl sein." "Aha." Sie schwiegen, und Doyle schob sich auf seinem Bei fahrersitz ein Stück nach rechts, hauptsächlich um nicht ständig daran erinnert zu werden, wie nahe Meehan ihm war. "Wo?" fragte Meehan schließlich. "Wo was?" fragte Doyle verdutzt zurück. "Wo soll die Fantasie ausgelebt werden?" "Das weiß ich nicht", antwortete er, was auch stimmte. "Okay. Wann?" "Weiß ich nicht." Sie warf ihm einen Blick zu. "Das hört sich nicht gera de nach echten Fantasien an." "Männer verschwenden ihre Zeit nicht mit logischen Überlegungen, Meehan. Es gibt hier kein Wo und kein Wann. Und ganz beson ders gibt es auch kein Warum. Wir befassen uns allein mit Wer und Was. Hauptsächlich aber mit dem Was." "Interessant. Keinen Schnickschnack. Einfach verkürzt auf Sex." "Es ist ein wenig sehr krass, was du da sagst, aber un gefähr kommt es hin", stimmte Doyle ihr zu und hoffte, dass er nun aus dem Schneider wäre. "Und dieser ... Sex, wo würde er hinführen?" Doyle seufzte. Meehan machte es ihm absichtlich schwer, und er wurde es langsam Leid. "Wenn du so weitermachst, dann sag ich es dir noch." "Nur zu." "Ich möchte wirklich nicht nach Fayetteville zu Fuß laufen", erklärte er ihr wieder. 120
"Ich verspreche, dass ich dich nicht aus dem Wagen schmeiße." "Das sagst du jetzt." "Komm, sprich es aus!" "Also gut." Doyle nahm die Herausforderung an. "In meinen Fantasien befinden wir uns in einer mehr oder weniger horizontalen Lage." "Und?" "Und du möchtest es." "Ich möchte was?" "Du möchtest es ganz einfach", versicherte Doyle ihr. "Nun, warum auch nicht?" Meehan zuckte die Schul tern. "Es ist ja nur eine Fantasie", fügte sie hinzu. "Richtig. Du möchtest ... und ich möchte nicht." Sie warf ihm einen längeren Seitenblick zu. Sogar im Dunklen konnte Doyle ihren verwunderten Ausdruck erkennen. "Gibt es einen bestimmten Grund für deine ... Bedenken?" "Ich tue nur so, als ob ich nicht leicht zu haben bin", erklärte er. "Mach dir aber keine Sorgen. Du wirst mich noch überreden." "Und wie bringe ich das fertig?" "Mit allem, was du hast." Meehan lachte. Sie war offensichtlich nicht böse, wenn sie lachte. Meehan sagte nichts mehr, lachte nur ab und zu in sich hinein. Doyle seufzte. Nach Heiterkeit stand ihm nun wirklich nicht der Sinn. Als Meehan schließlich in ihre Einfahrt fuhr, war Doyle bereit für Klarheit: Beginn oder Ende ihrer Beziehung. Und er wollte Mee han sofort vor die Wahl stellen. Doch sie glitt aus dem 121
Wagen, noch bevor er sie aufhalten konnte. Doyle brauchte mehr Zeit als sie, aus dem Sitz zu kom men. Meehan stand wartend da und schaute hinauf zum nächtlichen Himmel. "Wollen wir darüber offen sprechen oder nicht?" fragte er, als er endlich neben ihr stand. "Worüber?" "Über die Situation", antwortete er und fasste sich in Geduld. Meehan sah ihn lange an. Er wartete. Das war der Mo ment der Wahrheit, und sie beide wussten es. Er hörte das helle Klingeln der Glockenspiele und roch den Zitro nenduft einer ihm unbekannten Pflanze auf der Terrasse. Er fragte sich, ob Meehan wusste, wie schön sie war, und ob sie eine Ahnung davon hatte, wie sehr er sie begehrte. "Wollen wir's endlich klären?" hakte er nach. Sie blickte wieder hinauf zu dem sternklaren Himmel. "Kate?" Als sie ihn wieder ansah, fragte sie ganz direkt: "Bei dir oder bei mir?" "Bei dir", antwortete er sofort. Plötzlich wurde seine Fantasie greifbarer und bekam immerhin ein Wo. Ihr Bett. Meehan schloss die Tür auf. Doyle zögerte kurz, dann folgte er ihr humpelnd ins Haus. Zuerst wunderte er sich, wo Meehan abgeblieben war. Dann hörte er sie in der Küche und ging ihr nach. Sie leerte gerade eine Dose Katzenfutter in eine kleine Schüssel und trug sie in den Seitenraum, wo sie ihre Waschmaschine und den Trock ner hatte. Als sie in die Küche zurückkam, sagte sie noch immer nichts, machte sich nur zu schaffen und tat, als ob das 122
alles sehr wichtig wäre. Doyle machte nicht mal den Ver such, ihr entgegenzukommen. Er wartete einfach. Für ihn war es klar: Kate Meehan war sich noch immer nicht schlüssig. Nach außen hin gab sie sich als die tat kräftige, zielbewusste Frau, die mitten im rauen Leben stand, aber tief innen war sie weich und sensibel und wusste nicht, wie sie mit ihren Gefühlen und seinen Ge fühlen zu Rande kommen sollte. "Also gut", sagte sie schließlich und wollte wieder an ihm vorbeieilen, dieses Mal in Richtung Wohnzimmer. Doyle griff schnell nach ihrer Hand und hielt sie fest. "Bleib stehen!" bat er. "Warum?" "Ich ... ich möchte dich um etwas bitten." Er lehnte sei nen Gehstock gegen den Tisch und legte die Hände auf ihre Schultern, weil er fürchtete, dass sie wieder vor ihm fliehen würde. Denn dieses nervöse Hin- und Hergelaufe war nichts anderes als Flucht, das war ihm klar. "Sei nicht so", bat er leise und sah ihr in die Augen. "Wie meinst du das?" "Benimm dich nicht, als ob du vor einem Geschäftsab schluss stehen würdest. Wir kennen uns schon eine ganze Weile, Kate. Wenn es mir allein darum ginge, Sex zu haben, wüsste ich, wo ich ihn bekommen könnte. Hast du das verstanden?" Meehan sagte nichts. "Verstanden?" wiederholte er seine Frage. Sie nickte, aber sie schien nicht glücklich zu sein, dass er dieses Thema angeschnitten hatte. "Und versuche nicht, mir das Gefühl zu geben, dass ich das Schlimmste wäre, was dir passieren könnte." "Du bist es." "Nein, bin ich nicht. Es wird gut werden, du wirst se 123
hen. Du und ich, wir beide werden es genießen." Eine Bemerkung von ihr erübrigte sich. Ihr Seufzen drückte alles aus, was er wissen wollte. "Bist du bereit?" fragte er. "Ich werde dich jetzt küssen, also komm nicht in Panik." "Ich komme nie in Panik." "Richtig." Doyle legte die Arme um sie, aber er zog sie nicht an sich. "So ist es nicht gut", murmelte er, weil sie sich versteift hatte. "Du willst flüchten." "Nein, das will ich nicht." "Doch, das willst du." "Na schön, ich will flüchten." "Schließ die Augen", flüsterte er. Meehan tat es nicht. "Schließ die Augen", wiederholte Doyle. Sie schloss die Augen, und er küsste sie leicht auf die Stirn, dann ihre Wange, erst die eine, dann die andere. "Wie war's?" "Gut", antwortete sie leise. "Zu leicht, nicht wahr? Kein Problem." Er zog Meehan enger an sich, und sie lehnte den Kopf an seine Schulter. "Ich begehre dich so sehr", flüsterte er an ihrem Ohr. "So ..." Er küsste sie auf den Mundwinkel. "... sehr." Seine Küsse wurden fordernder, obwohl er sich immer noch zurückhielt. Er wollte langsam vorgehen, aber sein Verlangen wurde zu groß. Er würde nie genug von dieser Frau bekommen kön nen. Niemals. Meehan küsste ihn zurück. Unbeschreibliche Empfin dungen bestürmten Doyle. Sie duftete so gut, und sie schmeckte so gut. Er wollte sie ganz haben, wollte sie völlig haben. Er legte die Hand 124
auf ihren Rücken und presste sie an sich. Und Meehan klammerte sich an ihn. Er spürte, wie seine Knie unter ihm schwach wurden. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. "Wo ist dein Schlafzimmer?" drängte er. "Wo?" Meehan nahm ihn bei der Hand und führte ihn den schmalen Korridor hinunter. Ihr Schlafzimmer lag am Ende des Korridors. Meehan knipste eine kleine Lampe auf dem Nachttisch an. Das Bett war groß. Sie zog die Tagesdecke zurück, mehr ließ Doyle nicht zu. Er setzte sich schwer auf den Bettrand, legte sich zurück und zog Meehan auf sich. Er küsste sie, wieder und wieder - wild und verlangend, bis er das Ge fühl hatte, den Verstand zu verlieren, wenn es nicht bald zu der Erfüllung käme. Er fuhr mit beiden Händen durch ihr Haar, zog die Spangen heraus, so dass ihr das Haar nach vorn fiel. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Wie lange schon hatte Doyle das tun wollen? Er hielt Meehan ein wenig ab von sich, damit er ihr in die Augen sehen konnte. "Sag mir, wie weit ich gehen darf. Ich will dir nicht wehtun", flüsterte er rau, und sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust. "Du wirst mir nicht wehtun", versicherte sie ihm und erwiderte seinen Blick. Mehr Einladung brauchte Doyle nicht. Er küsste sie stürmisch und liebkoste sie. Mit ihrer Hilfe rutschte er dann zur Bettmitte, und Meehan zog ihm das Hemd über den Kopf, das sie hinter sich auf den Boden warf. Dann ergriff sie den Saum ihres Kleides, um es auszuziehen, doch Doyle hielt sie davon ab. "Lass es mich tun", bat er flüsternd. Seine Hände zitter ten, doch er schaffte es, ihr das Kleid auszuziehen und 125
den BH - aus Spitze und eindeutig durchsichtig. Als Meehan nackt war, ließ er die Hände zärtlich über ihren Körper gleiten und betrachtete ihn genussvoll. Meehan hatte schöne Brüste. Bei der einen Brust bemerk te er die Operationsnarbe über der Knospe. Er berührte sie überall, genoss es, wie Meehan darauf reagierte, ihr unterdrücktes Stöhnen, wie sie den Kopf zurückwarf. Sie grub ihre Finger in seine Schultern. Sie war so wunder schön. Er konnte sein unwahrscheinliches Glück kaum fassen. Diese Frau - diese wunder-wunderschöne Frau wollte ihn. "Warte", flüsterte sie und wollte die Zudecke zurück schlagen und die Kissen richten. "Lass es sein", stieß Doyle hervor. "Ich kann nicht mehr warten. Keine Sekunde länger." Er konnte wirklich nicht mehr warten. Er konnte sich gerade noch völlig ausziehen. Kate! Er nahm sie bei den Hüften, vereinigte sich mit ihr und gab sich ungezügelt der sinnlichen Lust hin. Er wollte ihr noch sagen, wie unendlich gut es war, wie schön, ihren Körper so ganz zu spüren, aber dazu war er nicht mehr in der Lage. Er war verloren. Er war verloren, und er wollte niemals wieder gefunden werden. Alles geschah so plötzlich. Es würde alles zu schnell enden. Er war zu weit gegangen, um sich zurückzuhalten. Er schloss die Arme eng um Kate, als er den Höhe punkt mit ihr zusammen erreichte. Unbeherrscht küsste er sie, sein Atem ging schwer, und er fühlte sich total erschöpft. Doch als Kate von ihm abrückte, hielt er sie fest. Er wollte nicht, dass es vorbei war. Noch nicht. 126
Noch nicht. Nach einer Weile ließ Doyle zu, dass Meehan sich ne ben ihm ausstrecken wollte, und strich ihr das Haar aus dem erhitzten Gesicht. Er wollte ihr in die Augen sehen. Irgendwie sah sie traurig aus. "Ich habe dir doch nicht wehgetan, oder?" fragte er zärtlich. "Ich wollte nicht..." Sie legte den Finger auf seine Lippen. "Du hast mir nicht wehgetan." Doyle nahm ihr das nicht ganz ab. Plötzlich lächelte sie. "Ab jetzt musst du nicht mehr so tun, als ob du nicht leicht zu haben wärst." Doyle schlief den Schlaf eines glücklichen, befriedigten Mannes. Doch er wachte auf kalt, hungrig und allein. Zuerst wusste er nicht, wo er war, ein Gefühl, das ihm nur allzu vertraut war. Wie oft in seinem Leben war er eingeschlafen und an einem ihm fremden Ort wach ge worden. Doch dann erinnerte er sich ... Solange er lebte, würde er sich daran erinnern. Er drehte sich um, damit er die Uhr sehen konnte. Oh, erst fünf Uhr zwanzig. Vielleicht ist Kate bereits bei der Arbeit, dachte er und lauschte. Es war still im Haus. Vielleicht hatte sie es bereut und saß jetzt im Wohn zimmer oder in der Küche, nur um von ihm wegzukom men. Doyle setzte sich unter Schmerzen auf, und unter noch größeren Schmerzen zog er seine Shorts zu sich heran. Er hatte keine Ahnung, was er mit seinem Geh stock gemacht hatte. Vielleicht hatte er ihn in der Küche zurückgelassen. Dort war er zuletzt gewesen, wie ihm einfiel. Auf halbem Weg zum Badezimmer musste er sich ge gen die Wand lehnen, weil ihm vor Schmerz übel wurde. 127
Die Katze wartete geduldig vor der Schlafzimmertür, als er herauskam. Sie war sichtlich froh, ihn zu sehen, voll führte wieder ihre Ballettdrehungen, begleitete ihn bis zur Küche und ging schnurstracks zum Küchenschrank, wo das Katzenfutter gehalten wurde. "Das kommt nicht in Frage, kleiner Fresssack", tadelte er. "Ich weiß, wann du gefüttert wurdest." Der Gehstock lehnte gegen den Küchentisch. Doyle nahm ihn, humpelte zur Hintertür und von da auf die Ter rasse. Zu seiner Überraschung folgte ihm die Katze, be dauerte ihren Mut aber sofort wieder, denn sie schoss unter den Tisch und blieb dort kauernd sitzen. Kates Wagen war nicht in der Einfahrt, wo sie ihn ge parkt hatte. Doyle starrte auf den leeren Platz, atmete die kühle Morgenluft ein, so als ob er allein deswegen vor die Tür getreten wäre. Okay, Kate. Was nun? Eigentlich war es ganz klar, dass sie die Situation als einen One-Night-Stand betrachtete und sich dementspre chend benahm. Es war nicht das erste Mal, dass sie ver schwunden war, während er in ihrem Haus schlief. Beim letzten Mal hatte sie zumindest eine Notiz hinterlassen. Also, wo war sie? Die Vögel regten sich noch nicht. Kein Laut weit und breit, bis auf das gelegentliche Geräusch eines vorbeifah renden Autos auf der entfernt liegenden Landstraße. Ihm wurde plötzlich klar, dass das anbrechende Tageslicht für Mrs. Bee hell genug war, um ihn in Unterhose vor Kates Haustür stehen zu sehen. Er zog sich ins Haus zurück und ging in die Küche. Ein plötzlicher Muskelkrampf in seinem rechten Bein ließ ihn die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor 128
Schmerz aufzustöhnen. Er umfasste die Tischplatte und hielt sich daran fest. Die Katze machte vor Schreck einen Buckel und sprang vom Küchentisch zur Hintertür, wo sie stehen blieb, als ob sie auf irgendetwas wartete. Als nichts geschah, trat sie den Rückzug an. "Oh, verdammt!" Doyle krümmte sich. Eindeutig hatte das unvermittelte Wiedererwachen seines Sexlebens nichts für den weniger gesunden Teil seines Körpers ge tan. Und je größer der Schmerz wurde, desto realer wur de die Aussicht auf noch eine Operation nach all den vorhergehenden Operationen. Er sollte sich lieber mit dieser Tatsache abfinden. Doch er hatte es so satt, und er wollte nicht nach Texas, verdammt noch mal! Nach einer ewigen Viertelstunde war er endlich wieder in der Lage, sich zu bewegen. Ein Wagen fuhr in die Einfahrt, und er ging zur Haus tür. Kate stieg aus. Sie trug Khakishorts sowie ein enges T-Shirt und hatte in der Hand eine weiße Tüte. Er war unendlich glücklich, sie zu sehen, und - wenn er es richtig einschätzte war sie ebenso froh, ihn zu sehen. "Versuchst du, die Nachbarn zu ärgern?" rief sie ihm zu und wies auf seine Boxershorts. "Nein, nicht die Nachbarn. Ich hatte gehofft, deine Schwestern würden vorbeikommen." "Oh, bitte, erwähn das nicht mal!" "Musst du heute arbeiten?" "Nein." "Großartig! Kate blieb vor ihm stehen und war plötzlich befangen, so als ob sie sich in einem unbekannten Gelände befände und nicht wüsste, welche Richtung sie einschlagen sollte. "Ich habe etwas zum Frühstück gekauft", sagte sie und versuchte, ihre Befangenheit zu verbergen. 129
"Wir frühstücken irgendwann später", erwiderte Doyle und öffnete die Tür weit, damit sie ins Haus treten konn te. Als Kate fast widerspenstig stehen blieb, nahm er ihr sanft die Tüte ab und warf sie hinter sich. Sie landete... irgendwo im Garten. "Willst du nicht wissen, was ich gekauft habe?" fragte sie lächelnd. "Später", versicherte Doyle ihr und schob sie ins Haus. "Ich habe andere, dringendere Angelegenheiten, die ich erledigen muss." "Welche zum Beispiel?" fragte sie, und ihre Augen blitzten vor Übermut. "Wie ..." Er unterbrach sich. Die Angelegenheiten, die er im Sinn hatte, waren plötzlich nicht mehr so dringend. Ihm ging es um etwas anderes. "Wie die Wahrheit", be endet er den Satz. Kate sah ihn überrascht an. "Nun gut. Die Wahrheit al so. Als ich wach wurde, habe ich vorgehabt, dich zu we cken und wegzuschicken. Dann habe ich gezögert und bin Brötchen kaufen gegangen. Ich wollte es dir sagen, wenn ich zurück war. Ich ... ich habe nicht damit gerech net, dich hier stehen zu sehen und..." "Und?" hakte Doyle nach, als sie nicht weiter sprach. Sie hatte die schlechten Nachrichten ins Rollen gebracht, nun wollte Doyle sie alle hören. Kate hielt den Blick gesenkt und murmelte etwas, was er nicht verstand. "Wie bitte?" Sie blickte hoch. "Ich habe gesagt, dass ich allmählich meine Nerven verliere." "Das brauchst du nicht. Du musst es nicht aussprechen, dass ich von hier verschwinden soll. Ich habe dich ver 130
standen." "Nein, das ist es nicht, was ich dir sagen wollte." "Was ist es dann?" "Bring mich ins Bett", flüsterte sie. Offen und ehrlich, schlicht und einfach. Keine Mätz chen, kein Firlefanz. Doyle starrte sie verblüfft an. "Sehr gut", willigte er ein, nachdem er sich wieder ge fangen hatte. "Ich weiß, wie verrückt sich das alles anhört", sagte sie. "Aber mir ist es ernst damit." "Mir ist es auch ernst damit." "Es ist verrückt", flüsterte sie, kam auf ihn zu und lehn te die Stirn gegen seine Brust. "Das ist es wirklich", stimmte Doyle ihr zu, weil er an fing zu begreifen, dass das Zusammensein mit ihr einer Achterbahnfahrt gleichen würde. Trotzdem legte er die Arme um sie. "Es scheint nicht nur verrückt zu sein. Es ist verrückt." "Verstanden!" Er nickte. "Die Leute werden anfangen zu reden." "Na klar." Er nickte wieder. Kate beugte sich zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. "Und das lässt dich kalt", klagte sie ihn an. "Sehr kalt." Doyle grinste von einem Ohr zum anderen. Er war ein glücklicher Mann, warum sollten solche Lä cherlichkeiten ihn nicht kalt lassen? "Willst du mir noch weiter vorspielen, dass du nicht so leicht zu haben bist? Bis jetzt ist es ja meine Rolle gewesen. Jedenfalls habe ich das angenommen." "Ich bin dreißig", sagte Doyle, auch wenn er nicht erwartete, dass Kate Meehan ihn hören würde. Sie schlief. 131
Doch sie öffnete plötzlich die Augen. "Soll ich dir nun erzählen, wie alt ich bin?" "Mir ist es gleichgültig, wie alt du bist. Ich dachte nur, ich sollte das erwähnen, falls du wieder mal vorhast, dich mit deinem Alter aufzuspielen." "Ich spiele mich nicht auf ", entgegnete Kate und schloss die Augen. "Jedenfalls nicht im Moment", setzte sie hinzu. Sie streckte sich genießerisch. Es war ein sinnlicher Anblick, wie Doyle fand. Sie hat ten sich geliebt, eine Kleinigkeit gegessen, geschlafen, sich geduscht und sich wieder geliebt. Jetzt wollte er vernünftig mit ihr reden. "Bist du verliebt in den Immobilienburschen?" fragte Doyle geradeheraus. "Nein", antwortete Kate mit immer noch geschlossenen Augen. "Du hast eine sehr lange Zeit im Regen gesessen." "Das hatte etwas mit dem Vertrauensbruch zu tun", erwiderte sie. "Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Es brachte alte Gefühle wieder zurück ... Gefühle, die ich hatte, als meine Ehe scheiterte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich auch diese Enttäuschung verschmerzte." "Er hat die Narbe nicht bemerkt?" Kate öffnete die Augen. "Warum fragst du mich das?" "Es hat etwas mit Männerstolz zu tun." "Klär mich auf." "Ich möchte wissen, ob du und der Immobilienkerl ... nun ja, miteinander geschlafen habt. Und ich wollte das eigentlich nicht fragen, weil es nicht höflich ist." Kate sagte nichts darauf. "Also, wie mache ich mich?" "Nicht gut", antwortete sie. 132
"Nun, wart ihr ein Liebespaar?" "Nein", antwortete sie. "Wir waren kein Liebespaar." "Ich hasse ihn trotzdem wie die Pest", erklärte Doyle und zog Kate eng an sich. "Cal! Cal!" "Was ... ?" "Wach auf!" "Was?" "Wach auf!" Doyle öffnete die Augen. Kate war über ihn gebeugt, so wie in an jenem Abend, als Mrs. Bee sie aus der Dusche herausgeholt hatte, um nach ihm zu sehen. "Du hast geträumt." "Ich habe was?" "Bist du jetzt wach?" "Ja, ja", antwortete er und versuchte, seinen keuchen den Atem wieder zu beruhigen. "Schau mich an!" forderte sie und umschloss mit ihren warmen Händen sein Gesicht, um ihm in die Augen zu schauen. "Ich bin okay", versicherte Doyle ihr und lächelte, um sie zu beruhigen. "Hast du Schmerzen." "Es geht." "Sag mir die Wahrheit!" "Ja, ich habe Schmerzen." "Ich bringe dir eine Wolldecke." "Nein." Doyle umgriff ihren Arm, um zu verhindern, dass sie das Bett verließ. "Ich brauche keine Decke. Ich brauche ..." Er knirschte mit den Zähnen, als ein höllischer Schmerz ihn durch zuckte. "Wie kann ich dir helfen?" 133
"Tu alles. Alles. Bring mich auf andere Gedanken. Lenk mich ab, Kate!" "Psst", wisperte sie. "Ist schon gut." Sie küsste ihn zart auf den Mund. Er gab den Kuss sofort zurück, überließ sich den Empfindungen, überließ sich Kates Zärtlichkei ten. "Kate ..."
10. KAPITEL
Alle drei Schwestern standen auf der Türschwelle. "Wo ist meine Schwester?" frage Grace, ohne sich um höfliche Floskeln zu kümmern. Aus ihrem Gesichtsaus druck schloss Doyle, dass es nicht gut wäre, wenn seine Antwort ihr nicht passte. "Sie ist bei der Arbeit", erwiderte er. "Sie wird erst kurz nach siebzehn Uhr wieder zurück sein." "Was tun Sie dann hier?" "Du wirst die Antwort nicht hören wollen, Grace. Ver trau mir", fiel Arley ein, die genau wie Grace ihn böse anblickte. Gwen dagegen strahlte. "Ich wüsste gern, was Sie hier zu suchen haben", for derte Grace ihn unmissverständlich auf. "Ich wollte gerade nach Hause gehen. Treten Sie ein. Im Kühlschrank gibt es eisgekühlten Tee." Er provozierte sie absichtlich mit seinem aufreizenden Getue, dass er wusste, wo sich in Kates Küche die Getränke befanden. Nur zu gern wollte er diese rechthaberische Grace aus dem Konzept bringen. Doyle trat zur Seite, um die Schwestern hereinzulassen, dann humpelte er aus der Tür. Die Katze kam mit ihm, 134
und er konnte es ihr nicht verdenken. Er nahm an, dass es im Haus viel Unruhe geben würde. Die Katze begleitete ihn bis zu Mr. Bees Grundstück, und als er die Haustür öffnete, schoss sie durch den Tür spalt. "Tut mir Leid, Mrs. Bee", entschuldigte er sich für das Verhalten der Katze. "Vielleicht kann ich sie ja bestechen, dass sie wieder in ihre Behausung zurückläuft." "Ist schon gut, Calvin. Machen Sie sich keine Gedan ken. Wir haben ja die Katzenstreu." "Katzenstreu", wiederholte er. "0 je, ich habe ganz ver gessen, die zu besorgen." "Katie brachte sie vorbei." "Oh", murmelte Doyle. "Sie kam, um es mir zu sagen", fügte Mrs. Bee hinzu. "Was zu sagen?" "Wo Sie abgeblieben sind." Doyle wollte es dabei belassen, aber er hatte noch keine zwei Schritte gemacht, als die Neugier übermächtig wur de. "Was hat sie gesagt?" wollte er wissen. "Oh, eigentlich nicht viel. Nur, dass Katie Sie nicht stö ren wollte nach der Nacht in ihrem Bett." "Mrs. Bee! " rief Doyle schockiert über ihre Offenheit. Er spürte, wie seine Ohren glühten. "Ist schon gut", winkte sie ab. "Ich bin in der Welt he rumgekommen, Calvin. Und es ist ziemlich offensichtlich, was Sie und Katie füreinander empfinden. Deshalb habe ich ja für die Katzenstreu vorgesorgt." Mrs. Bee musste mit einer ganz besonderen Gabe ausgestattet sein. "Mrs. Bee?" rief er ihr nach, als sie in die Küche ging. 135
Die alte Dame drehte sich zu ihm um und sah ihn fra gend an. "Danke", sagte er. "Wofür wollen Sie mir danken, Calvin?" "Für Ihr Verständnis." Mrs. Bee lächelte. "Wenn man wirklich und ehrlich liebt, sollte man die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Niemand weiß das besser als ich. Ich bekomme wieder Besuch von den Ladys, Calvin", fügte sie hinzu. "Wenn Sie es vorziehen, Ihren Tag entsprechend zu pla nen." Er kniff die Augen zusammen und musterte sie miss trauisch. "Mrs. Bee, was Sie gerade gesagt haben, bedeu tet das, dass die Damen über Kate und mich Bescheid wissen?" "Ja natürlich, Calvin", antwortete sie fast gütig. Und damit verschwand sie in die Küche. "Na großartig", murmelte er. Er blickte zur Treppe, holte tief Luft und nahm Stufe für Stufe zu seinem Apartment hinauf. Auf halbem Weg schloss sich ihm die Katze an. Sie war wohl argwöhnisch wegen der fremden Umgebung und blieb lieber an seiner Seite. "Du solltest besser Freundschaft schließen mit all den alten Damen", riet Doyle der Katze. "Dann bist du hier auch ein gern gesehener Gast." Eigentlich hatte er Hunger, aber die Müdigkeit siegte. Er legte sich auf die Tagesdecke und schlief sofort ein. Er nahm nur halb wahr, dass draußen ein Gewitter vorbei zog und dass die Katze sich am Fußende eingekringelt hatte, nachdem sie herumgewandert war, um alles zu beschnuppern. Danach schlief er tief und fest, und nur allmählich wurde ihm klar, dass er nicht allein war. 136
Er öffnete die Augen und blickte zur Seite. Kate lag neben ihm und schlief. Sie trug noch immer ihre Kran kenschwesterntracht, hatte sogar noch ihre Schuhe an. Er schlief wieder ein und wachte auf, als Kate sich im Halbschlaf neben ihm bewegte. "Hey", flüsterte Doyle, und sie öffnete die Augen. "Ich verstecke mich", murmelte sie verschlafen. "Vor den Damen da unten oder vor den MeehanSchwestern?" fragte er und strich ihr zärtlich über die Wange. "Vor beidem", antwortete sie. "Das tue ich auch." "Ich ruhe mich noch ein bisschen aus, okay?" "Nimm dir Zeit. Ich gehe nicht weg." Es regnete noch immer. Doyle konnte das Trommeln auf dem Dach hören. Er war glücklich, dass Kate zu ihm gekommen war, aus welchen Gründen auch immer. Ihm war nicht danach, Vermutungen anzustellen. Er stand ihr innerlich so nahe wie noch keinem anderen Menschen in seinem Leben zuvor. Keinem. Und er würde ihr so lange wie möglich verbunden blei ben. Er nahm eine Strähne ihres honigfarbenen Haars und wickelte sie um seinen Finger. Ich liebe dich, Kate. Nachdem Kate sich ausgeschlafen hatte, fuhren sie in den Supermarkt und kümmerten sich nicht die Bohne darum, zu welchem Schluss die Leute kommen würden, wenn man sie so in völliger Eintracht zusammen einkau fen sah. Doyle fiel auf, wie vertraut sie miteinander um gingen. Ihm war, als ob sie bereits seit Jahren zusammen wären. Alle drei Schwestern bestanden darauf, zum Abendes 137
sen zu bleiben. Ihm sollte es recht sein. Kate scheuchte die Schwestern allerdings aus der Küche, und er bereitete das Essen vor, jedenfalls den größten Teil davon. "Ich mag nicht kochen", gestand Kate und reichte ihm eine Zwiebel zum Zerhacken. "Wie kommt das?" "Ich habe in unserem Elternhaus immer kochen müs sen. Grace war uns Schwestern an Alter zu überlegen, um sich darum zu kümmern. Arley war zu klein. Und Gwen hätte das Haus abgebrannt." Nach einer Weile fragte Doyle: "Es tut dir nicht Leid, nicht wahr?" "Was soll mir nicht Leid tun? Dass ich Gwen das Haus nicht abbrennen ließ?" "Nein. Dass sie alle drei unseretwegen ziemlich in Auf ruhr sind." Meehan lehnte sich einen kurzen Moment an ihn an. "Es tut mir nicht Leid." Diese Sache war also geklärt. Und das erwies sich nur als gut, denn die Stimmung während des Essens wäre ganz sicher angespannter gewesen, wenn er das geschlos sene Missfallen ernst genommen hätte. Kates Schwestern stand es frei, eine vorgefasste Meinung zu haben. Nur durften sie ihren Unwillen Kate und ihm gegenüber nicht allzu deutlich erkennen lassen. Das würde er nicht dul den. Doyle unterhielt sich mit allen dreien, stellte höfliche Fragen, hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm darauf ant worteten. Und allmählich wurden sie zutraulicher. Gwen ging sogar so weit, ihm Geschichten über Kate zu erzäh len, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ganz sicher hätte sie es nicht getan, wenn sie in ihm noch immer den falschen Mann für Kate gesehen hätte. 138
Allmählich begriff Doyle, warum vor allem Grace und Arley sich so seltsam verhielten. Grace machte sich Sor gen darum, was die Leute sagen könnten. Und Arley ... Arley war wie ein eifersüchtiges kleines Kind: Er nahm Kates Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch, die sie für sich haben wollte. Und sie schätzte das gar nicht. Sie wollte Kate stets einsatzbereit, damit sie ihre Probleme und Scottie - bei ihr abladen konnte. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, und die ganze Zeit über konnte Doyle den Blick nicht von Kate wenden. Es war ihm egal, was die Schwestern darüber dachten. Nach dem Essen wollte er mit dem Abräumen helfen. Aber Kate fand, dass er lieber in Mrs. Bees Haus rüber gehen und sich ausruhen sollte. "Wo ist diese schreckliche Katze?" hörte er Grace fra gen. "Kate sagte, dass sie jetzt bei Cal ist", antwortete Arley. "Dachte ich mir doch", meinte Grace. Kate wollte sie gerade zurechtweisen, doch Doyle lächelte und schüttelte ganz leicht den Kopf. "Es lohnt sich nicht", flüsterte er ihr zu. "Ich mache mich auf den Weg. Und ... danke für das Essen." "Du hast die meiste Arbeit damit gehabt." Doyle sah ihr in die Augen. "Könntest du ein wenig näher humpeln?" bat sie. "Ich möchte nicht, dass du denkst, ich sei leicht zu haben." Er grinste und humpelte zu ihr. Kate wollte den Kuss wegen der möglichen Zuschauer so zurückhaltend und sittsam wie möglich haben. Doyle wollte den Kuss heiß und heftig haben. Er gewann. "Bis später", sagte er mit weicher Stimme und humpel te auf die Hintertür zu. 139
Kate folgte ihm bis zur Tür, und er wusste, dass sie ihm nachschaute, bis er in Mrs. Bees Haus verschwunden war. Das Leben ist schön, dachte er. Und es blieb schön. Doyle war nicht bewusst gewesen, wie einsam er sich gefühlt hatte. Oder wie sehr ein Mensch ihm in seinem Leben willkommen sein würde. Nein, nicht nur irgendein Mensch. Kate Meehan. Er hatte anfangs vorgehabt, sie nicht zu sehr einzuen gen. Aber sie schien den freien Raum, den er ihr zugeste hen wollte, gar nicht zu brauchen. Er verbrachte die Zeit, während der Kate bei der Arbeit war, in seinem Apart ment. Die übrige Zeit - die Nächte verbrachte er bei Kate. Wenn er darüber nachdachte, wie sehr sie sich anfangs gesträubt hatte, wunderte er sich, wie ungezwungen sie sich jetzt in ihrer Beziehung zu ihm gab. Wenn es ihr immer noch etwas ausmachte, was ihre Familie oder sonst jemand davon hielt, so konnte sie es zumindest gut verbergen. Doyle war sehr gern mit ihr zusammen, und allein das zählte. Es war nicht nur wegen der sexuellen Befriedi gung, die Kate ihm gab. Er sah sie gern an. Er unterhielt sich gern mit ihn Und es kam ganz natürlich, dass er, ohne zu zögern, jedes Thema aufbrachte, über das er gern sprechen wollte. "Erzähl mir davon", bat er eines Nachts im Bett und be rührte zart die Narbe an ihrem Busen. Kate blickte ihn prüfend an, ehe sie ihm antwortete. Warum, das wusste Doyle nicht. Vielleicht wollte sie sicher sein, dass nicht nur pure Neugier dahinter steckte. "Man hat bei einer Routineuntersuchung etwas gefun den", antwortete sie. "Glücklicherweise hatte man es frühzeitig entdeckt. 140
Man konnte den Knoten ganz herausnehmen, und ich bekam Strahlenbehandlung. Es war das erste Mal in mei nem Leben, dass ich mich richtig krank fühlte." "Und du bist noch immer nicht darüber hinweggekom men", bemerkte Doyle, weil er sie mittlerweile gut genug kannte, um sich da sicher zu sein. "Stimmt", antwortete sie und warf ihm einen überrasch ten Blick zu. "Ich bin immer die Stärkste in der Familie gewesen. Ich packte jedes Problem, auch die der anderen an. Nur mit meinem eigenen wusste ich nicht umzuge hen." "Hast du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern gehabt?" "Zu meiner Mutter ja, zu Dad nein", antwortete sie und rückte näher an ihn heran, um den Kopf an seine Schulter zu legen. "Warum nicht zu deinem Vater?" "Ich weiß nicht, warum. Weißt du, warum du mit dei nen Eltern nicht zurechtgekommen bist?" "Klar weiß ich das. Meiner ist abgehauen, als ich sechs Monate alt war." "Deine Mutter war da. Warum bist du nicht mit ihr klargekommen?" Kates Bemerkung verblüffte Doyle. Dann erinnerte er sich, dass er Patient auf ihrer Station gewesen war, Sie müsste wissen, dass ihn niemand besucht hatte, bis auf Rita. "Okay, das ist eine gute Frage, auf die ich nicht so ohne weiteres antworten kann", sagte er nach einem kur zen Schweigen. Und sie unterhielten sich über andere Dinge. Über viele andere Dinge. Seit seinem Eintritt in die Armee war er auf der Suche nach so etwas wie einer hö heren Bildung gewesen. Und so hatte er seine eigene Meinung und konnte bei einer intelligenten Diskussion 141
mithalten. Doyle brauchte das, um sich selbst zu bestätigen. Er konnte manchmal so verunsichert sein ... wie mit Kate. Er liebte Kate. Er liebte sie von ganzem Herzen, aber er glaubte nicht, dass sie es gern hören würde. Auf die se xuellen Bedürfnisse des anderen einzugehen, das war eine Sache für sich. Einander lieben - jedenfalls so wie er sie liebte - war etwas ganz anderes. Dennoch war er am Nachmittag, als Kate mit Scottie in ihrem Wagen von der Arbeit nach Hause kam, nahe dran gewesen, ihr seine Liebe einzugestehen. Der Junge lief auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer Umarmung, und sie verbrachten den Rest des Tages zu dritt auf der Terrasse. Kate widmete sich den Topfpflanzen, während er mit Scottie spielte. Scottie war ein drolliger kleiner Junge, und Doyle hatte Spaß mit ihm. "Magst du Jungs, Tante Kate?" fragte Scottie irgendwann, als sie zusammensaßen und Eistee tranken. Doyle wartete gespannt auf ihre Antwort. "Du meinst die Jungs, die sich immer so wichtig ma chen und ihre Muskeln spielen lassen?" Kate unterdrück te ein Lächeln. "Nein", rief Scottie. "Eher solche Jungs, wie Bugs und ich sind." Das Lächeln erlosch. "Ich mag ganz besonders solche Jungs wie euch beide", antwortete sie ernst. Doyle war in diesem Moment dicht davor, es ihr zu sa gen. Ich liebe dich, Kate. Er liebte sie so sehr, dass es schmerzte. Irgendwann würde er Klarheit schaffen müssen! Eines heißen Nachmittags, als er in Mrs. Bees Zimmer 142
mit den vielen Büchern saß, sah er aus den Augenwin keln eine Bewegung auf der Veranda. Zuerst glaubte er, es wäre Arley Mrs. Bee war nicht im Haus, und er hum pelte zur Tür~ um zu sehen, wer es war. Er erkannte die Person erst, als er die Fliegentür öffnete und auf die Veranda trat. "Hey, du siehst großartig aus", sagte Rita und fiel ihm um den Hals. "Sieh mal einer an! Du kannst wieder rich tig laufen!" "Rita!" Doyle fiel aus allen Wolken. "Ich wusste nicht, dass du zurück bist." "Natürlich hast du es gewusst." Sie lächelte herausfor dernd und setzte sich mit untergezogenen Beinen auf die Hollywoodschaukel. "Du hast nur andere Dinge im Kopf gehabt, nach dem was ich gehört habe." Doyle sagte nichts darauf. Er prüfte noch immer seine Reaktion auf Ritas plötzliches Erscheinen. Er freute sich, sie zu sehen. Und er fand sie immer noch schön. Aber es war nicht mehr das, was es mal gewesen war. Sie war seine Freundin, und er würde sich immer um sie küm mern und ihr helfen, wenn sie Hilfe brauchte. Aber das wäre auch alles. "Wie ist es so, verheiratet zu sein?" fragte er und hum pelte zu ihr herüber, um sich neben sie auf die Schaukel zu setzen. "Toll! Besser als toll!" Rita wartete, bis er Platz genommen hatte, um ihn auszuquetschen. "Fang an! Erzähl mir, ob es stimmt, dass zwischen Meehan und dir was läuft. Jedenfalls habe ich das gehört." "Von wem hast du das gehört?" "Von wem? Von allen. Und hör auf, der Frage auszu 143
weichen! Ist es ernst?" Doyle wusste nicht recht, was er darauf antworten soll te. Ihm war es ernst. Aber Kate? "Es hat dich erwischt, stimmt's?" fragte Rita. "Ja, es hat mich erwischt", murmelte er nachdenklich. "Weiß Meehan davon?" "Nein." "Wirst du es ihr sagen?" "Das weiß ich nicht." "Warum nicht?" "Ich möchte sie nicht verscheuchen", erwiderte er ehr lich. "Wenn du es ihr nicht sagst, könnte sie das auch ver scheuchen. Wenn du sie liebst, solltest du es ihr gestehen, Bugs." Doyle schwieg. "Liebst du sie?" "Sieht so aus", antwortete er, dann grinste er. "Und das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt", fügte er hinzu. "Ich bin glücklich für dich Bugsy. Aber warte nicht län ger, hörst du? Denk daran, wie viel Zeit Mac und ich verschwendet haben und nahe dran waren, alles zu verlie ren. Du weißt es ja. Du hast mit drin gehangen." "Das stimmt." Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. "Ich sollte mich auf den Weg machen, um Mac abzuholen, bevor der Verkehr sich auf dem Boulevard staut. Ich wollte nur kurz vorbei kommen, um zu sehen, wie es dir geht. Liebe bekommt dir, Mister." "Dir auch", sagte er. Rita lachte und rannte leichtfüßig die Treppe hinunter. Kurz vor ihrem Wagen drehte sie sich noch mal um und 144
winkte ihm zu. Doyle sah ihr nach, bis sie davonfuhr, und versuchte herauszuspüren, ob er sich jetzt besser fühlte, nachdem er seine Gefühle für Kate eingestanden hatte. Ja, dachte er, ich fühle mich besser. Er blieb noch eine Weile auf der Veranda sitzen und wartete auf Kate, die zur üblichen Zeit von der Arbeit heimkommen sollte. Doch er wartete umsonst. Also kehrte er in sein Apartment zurück. Das Telefon klingelte, als er gerade die Hälfte der Treppe geschafft hatte. Mit einiger Anstrengung kam er noch rechtzeitig, um zu antworten. "Hallo", hörte er Kates Stimme, und er lächelte breit. "Hallo. Du bist spät dran. Bei euch in der Arbeit ist wieder mal viel los, hab ich Recht?" "Ja, es war einiges zu tun. In wenigen Minuten mache ich mich auf den Weg nach Hause. Das heißt, ich hoffe es jedenfalls. Ich ... ich möchte, dass du mir dann etwa eine Dreiviertelstunde Zeit lässt, bevor du zu mir rüber kommst. "Okay. Warum?" "Das wirst du schon sehen", antwortete sie. "Bis spä ter." Doyle stand mit dem Hörer in der Hand da und lächelte leise. Was immer es sein würde, es hatte sich interessant an gehört. Es wurde bereits dunkel, als Kate endlich in die Ein fahrt bog. Und es war völlig dunkel, nachdem die Drei viertelstunde abgelaufen war. Es würde auch bald regnen. Die Glühwürmchen schwebten dicht über dem Boden einer von Pop Doyles sicheren Voraussagen für ein Ge witter. 145
Die ersten Tropfen fielen, als Doyle die Hälfte des We ges zu Kates Haus zurückgelegt hatte, und er genoss den Geruch von Regen auf heißem, staubigem Boden. Noch bevor er die Hecken erreicht hatte, schüttete es. Er kam an der Steinbank vorbei, und ihm fiel der Tag ein, an dem Kate hier gesessen und Mrs. Bee ihn aus der Tür hinausgeschoben hatte, um die "arme Katie" zu retten. Ob es nun regnete oder nicht, er konnte nicht schneller gehen. Das Haus war dunkel bis auf das schwache Licht, das entweder aus dem Wohnzimmer oder der Diele fiel. Er klopfte an die Hintertür. Als Kate sich jedoch nicht zeigte, öffnete er die Tür und trat ins Haus. Er konnte leise Musik hören. Ein Streichorchester spiel te eine melancholisch klingende Melodie. Betörend schön. Eine Kerze brannte auf dem Kaminsims im Wohnzim mer. Die Flamme flackerte leicht im Luftzug. "Kate?" rief Doyle verhalten. Sie antwortete immer noch nicht. Also ging er weiter. Er kam an der Küche vorbei und humpelte den Korri dor entlang zu ihrem Schlafzimmer. Er sah Kate, als er die geöffnete Tür erreichte. Kate saß auf dem Bettrand. Auf dem Nachttisch und auf der An richte standen noch mehr brennende Kerzen. Kate erhob sich, kam zu ihm und nahm ihn bei der Hand. "Was ist?" wollte Doyle wissen, aber sie legte ihm den Finger auf die Lippen. Sie führte ihn bis zum Bett. Doyle war pitschenass, und Kate fing an, ihn schweigend auszuziehen und ihn mit dem Handtuch abzutrocknen. Auch er sagte nichts, lä chelte nur. Die Einladung hatte sich bereits am Telefon 146
viel versprechend angehört, doch die Realität übertraf jegliche Fantasie. Kate stand mit dem Rücken zum Kerzenlicht, und Doy le konnte durch den zarten Stoff ihrer sariähnlichen Robe die Konturen ihres Körpers sehen, und es verschlug ihm den Atem. Er wollte sie berühren, aber Kate wich ihm aus. Sie sagte immer noch nichts. Als er nackt war, fuhr sie ihm zärtlich über die Wangen und die Lippen. Doyle legte sich aufs Bett, wie Kate es - wenn auch schweigend - wünschte. Er wollte etwas sagen, besann sich aber. Er überließ sich ganz Kate und schloss die Au gen. Die Musik umhüllte sie mit sanften Klängen. Der Re gen klatschte gegen die Fenster. Er konnte spüren, dass Kate sich auf das Bett neben ihn kniete. Er öffnete die Augen, als sie seine Hand nahm und ihre Finger mit seinen verschränkte. "Schließ die Augen", wisperte sie, und als Doyle ihr folgte, lehnte sie sich über ihn und küsste seine Augenli der, erst das eine, dann das andere. Dann küsste sie seine Wangen, seine Stirn und schließlich seine Mundwinkel. Sein Atem ging schwer, und er fing an, vor Verlangen zu zittern. Doyle wollte sie berühren. Er musste sie berühren! "Kate..." "Psst. Lass mich meine Fantasie ausleben", bat sie ihn leise dicht an seinem Ohne Ihre Brüste streiften seinen Oberkörper. Er konnte ihre Knospen durch den dünnen Stoff spüren. Mit den Fingerspitzen fuhr Kate leicht über seine Schultern, seine Arme hinunter und hinauf, über seinen Oberkörper und hinunter zu den Schenkeln. Sie berührte ihn überall. 147
Ihre Hände waren warm und zart. Eine solche Erfah rung hatte Doyle noch nicht gemacht, nicht mal mit ihr. Natürlich hatte Kate ihn schon zuvor liebkost, aber nicht mit solcher ... Liebe war das Einzige, was Doyle einfiel. Liebe. Ihre Berührungen wurden mutiger, und es fiel Doyle verdammt schwer, still liegen zu bleiben. Sie legte sich auf ihn und küsste ihn auf den Mund, zärtlich zuerst und dann... Doyle sah ihr in die Augen. Tränen? Er legte die Arme um sie. Einen Moment lang glaubte er, sie würde anfangen zu weinen. " Kate ..." Doyle wollte mehr sagen, aber sie ließ es nicht zu. Sie küsste ihn leidenschaftlich und zärtlich zugleich. Alles, was er hatte, alles, was sie von ihm haben wollte - seinen Körper, seine Seele, seinen letzten Cent - alles das war ihres. Und auch er küsste sie, leidenschaftlich und for dernd. Als er sie ausgezogen hatte, umarmte er sie heiß und verlangend. Und dann waren sie vereinigt. Ich liebe dich Kate. Die Musik spielte. Der Regen klatschte gegen die Scheiben. Doyle wachte auf und war allein im Bett. Im Haus war es still. Still und dunkel. Er schwang die Beine über den Bettrand und knipste die Lampe an. Seine Kleider lagen sorgfältig zusammen gefaltet am Bettende. Sie fühlten sich an, als ob sie gera de aus dem Trockner herausgekommen wären. Er hörte Kate reden und zog sich rasch an, sollten ihre 148
Schwestern aus irgendeinem Grunde da sein. Dann hum pelte er zur Küche. Kate saß am Küchentisch und telefo nierte. Sie war angezogen, eher zweckmäßig, wie Doyle bemerkte. Und das machte ihn ein wenig nervös. Das Gespräch musste wohl beendet sein, denn sie legte gerade den Hörer auf. "Was ist?" fragte er. Statt auf seine Frage einzugehen, atmete sie tief ein. "Setz dich bitte", sagte sie dann. Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich. "Erinnerst du dich, dass ich dir mal die Frage stellte, ob du die Wahrheit hören wolltest? Du hast sie mir damals mit immer' beantwortet." "Ja, ich erinnere mich." "Ich hoffe, dass du es auch so gemeint hast, weil ich dir jetzt die Wahrheit sagen will." "In Ordnung." Tausend Alarmglocken schlugen in sei nem Kopf an. Er streckte die Hand über den Tisch und umfasste ihre Hand. Kate entzog sie ihm. "Ich..." "Sprich weiter", forderte er sie auf, als sie zögerte. "Ich mache mir sehr viel aus dir", begann Kate schließ lich nach einer Pause. Doyle starrte sie über den Tisch hinweg an. Diesen Satz hatte er bereits zuvor gehört, und er wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Er hatte keine großen Erwartun gen, was Frauen anging. Hatte sie niemals gehabt. Würde sie niemals haben. Er blickte starr auf den Tisch. Er woll te den Ausdruck in ihren Augen nicht sehen. "Niemand hat jemals …" "Können wir nicht einfach auf den Punkt kommen?" unterbrach er sie. "Es ist vorbei", flüsterte Kate, und Doyle fühlte, wie al 149
les in ihm kalt wurde. "Ich dachte, dass wir richtig füreinander wären, doch wir sind es nicht", setzte sie hinzu. Doyle wollte aufstehen, um schnellstens wegzugehen. Dann überlegte er es sich jedoch. Er war sich zudem nicht mal sicher, ob seine Beine ihn tragen würden. Ihm war, als ob jemand ihm einen Faustschlag verpasst hätte. Also blieb er sitzen. Er würde es Kate schwer machen. Und sich auch. Doch er musste sie dazu bringen, deutli cher zu werden. Er musste sie dazu bringen, sich für ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um seine Stimme normal klingen zu lassen. "Okay", sagte er. "Cal ..." "Ich habe okay gesagt. Was immer du willst. Unsere Beziehung bedeutet also diese Art von Abmachung, nicht wahr? Keine Bedingungen. Nichts. Einfach aussteigen, wann immer einem danach zu Mute ist. Und zufällig bist du die Erste, der danach zu Mute ist." Er machte eine Pause, hoffte, dass sie ihm widersprechen würde. Dass sie ihm sagen würde, er hätte sie völlig missverstanden, wie sie es schon mal getan hatte. Doch sie schwieg. "Also. Seit wann weißt du, dass du von mir genug hast?" fragte er. "Letzte Woche? Heute? War es etwas, was ich gesagt oder getan habe?" "Nein." "Nun, das zumindest ist erfreulich. Also, was war 's dann?" stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Cal..." "Hör auf, Kate! Was vorbei ist, ist vorbei!" Er schob 150
den Stuhl zurück und mühte sich auf die Füße. "Ich habe noch eine Frage, wenn es dir keine zu große Mühe macht, sie mir zu beantworten." "Welche Frage?" "Was zum Teufel hat das da drinnen zu bedeuten ge habt?" Er wies mit dem Kopf zum Schlafzimmer hin. "Eine Belohnung zum Abschied?" Er stand auf und verlor das Gleichgewicht. Fast wäre er gestürzt, wenn er sich nicht im letzten Moment am Tisch rand festgehalten hätte. "Ist schon gut", wehrte er ab, als Kate ihm helfen woll te. "Du musst dich nicht um mich sorgen." "Cal ... ", sagte sie, als er die Hintertür erreicht hatte. Doyle wandte sich zu ihr um. "Oh, ja", meinte er, "ich sollte es lieber nicht vergessen, dir zu danken. Vielen Dank, Kate. Und noch eins. Du bist das Beste gewesen, was mir jemals passiert ist."
11. KAPITEL
Du kannst eine Frau nicht dazu bringen, dich zu lieben, wenn sie es nicht will. Diese kleine Wahrheit hatte Doyle Zeit seines Lebens begleitet. Und mit der wenigen Energie, die ihm noch verblieben war, versuchte er, Mrs. Bee aus dem Wege zu gehen und nicht in die Radarfalle der Kaffeedamen zu tappen. Immer wieder grübelte er darüber nach, was Kate ge sagt hatte, was er gesagt hatte, und was er hätte sagen sollen. 151
Warum zum Teufel hatte er dieses Ende nicht kommen sehen? Das war die Frage, die Doyle verfolgte. Bei Rita hatte er es vorausgesehen, dass sie sich von ihm trennen woll te. Warum also nicht bei Kate? Er seufzte schwer. Eins stand fest. Er würde sich eine andere Bleibe suchen müssen. Er glaubte nicht, dass er es ertragen könnte, Kate jeden Tag zu sehen. Jemand klopfte an seine Tür, doch er reagierte nicht. Er saß da und wollte nur, dass die Person verschwand. "Doyle! " rief jemand. Er hörte zwei Leute im Korridor miteinander reden. Also ging er doch zur Tür und öffnete. Arley, Scottie und ein Soldat standen vor ihm. Doyle blickte auf Scottie herunter, der aussah, als ob er auf dem Wege zum Galgen wäre. Seine Unterlippe zitter te. "Hey, Scottie..." "Wo ist meine Schwester?" unterbrach Arley ihn. "Das weiß ich nicht", antwortete Doyle ihr. "Was ist los, kleiner Mann?" fragte er Scottie. "Ich habe etwas angestellt, Bugs", gestand der Junge. "Was hast du denn angestellt?" "Der Lehrer war richtig wütend." "Wo ist meine Schwester?" beharrte Arley. "Das weiß ich nicht, Arley. Ich habe sie nicht gesehen." "Das glaube ich Ihnen nicht." "Nun, dann eben nicht. Scottie, was ist geschehen?" "Ich habe Wesley geschlagen." "Hat er es verdient?" "Was für eine Frage ist das denn?" meinte Arley em pört und wandte ihre Aufmerksamkeit endlich den Prob lemen ihres Sohnes zu. 152
"Hören Sie, wer ist an wessen Tür gekommen? Wenn Sie nicht wollen, dass Scottie mit mir darüber spricht, dann sagen Sie es ihm!" Arley warf genervt beide Arme hoch. "Warum hast du ihn geschlagen, Scottie?" fragte Doyle. "Er ... er wollte mir den Arm verdrehen ... hat er ge sagt!" Dieses Eingeständnis machte Scottie ganz fertig, denn er umfasste Doyles Knie und fing an zu heulen. Doyle musste sich am Türpfosten festhalten, um nicht zu fallen. Er musste sich sehr beherrschen, um nicht laut loszulachen. "Ich nehme an, dass er dir nicht nur ein Mal gedroht hat, stimmt's?" Er klopfte Scottie beruhigend auf den Rücken. "Ja! Er hat es wieder und wieder gesagt. Er hört nicht auf ." "Nun gut, trotzdem, ich sag dir was. Es ist nicht richtig, jemanden zu schlagen, auch wenn er dich dazu heraus fordert. Lehrer und Mütter und Sergeants, sie alle mögen das nicht." "Und Tanten", setzte Scottie hinzu und schluckte die Tränen hinunter. "Die auch. Schau mich an!" Doyle wartete, bis Scottie ihn ansah. Sein kleines unglückliches Gesicht rührte Doyle. "Beim nächsten Mal lass diesen Wesley nicht wissen, dass er dich reizt. Wenn du ihn nicht beachtest, dann steht er ganz schön dumm mit seinen Drohungen da. Bleib einfach cool. Mr. Cool in jeder Situation, o kay?" "0 ... kay", stotterte Scottie und schniefte die letzten Tränen weg. "Also gut." Er warf Arley einen Blick zu, um zu sehen, ob sie seinen Ratschlägen folgen konnte. Sie wiederum sah den Soldaten an, der achtete jedoch sehr darauf, sie 153
nicht anzusehen. Doyle nahm die Gelegenheit wahr, um das Namens schild auf seiner Uniform zu lesen: Baron. "Na also, Scottie! " sagte Arley abrupt und tätschelte den Kopf ihres Sohnes. "Das ist genau, was ich dir bereits gesagt habe. Achte nicht auf Wesley." Scottie ließ Doyles Knie los, und es war offensichtlich, dass er sich besser fühlte. "Doyle, wollen Sie mir nun helfen oder nicht?" fragte Arley. "Arley, ich weiß nicht, wo Kate ist." "Sie ist nicht bei der Arbeit, und sie ist nicht zu Hause, und keiner weiß, wo sie abgeblieben ist." Dabei blickte sie Doyle an, als ob das alles seine Schuld wäre. "Wenn Sie Kate Meehan meinen, so habe ich mit ihr gesprochen", meldete sich der Soldat. "Wann?" fragte Doyle und hörte sich jetzt so aufge bracht wie Arley an. "Vor etwa zwei Stunden. Sie hat mich zu Ihnen ge schickt." "Warum?" "Nun ja, sie sorgt sich, dass Sie Ihren Termin in der Klinik nicht einhalten könnten. Dabei ist es dringend" "Das weiß ich", erwiderte Doyle. Das stimmte, wenn auch nur zum Teil. Er hatte den Termin nicht vergessen. Er hatte nur einfach vorgehabt, ihn nicht einzuhalten. "Wo haben Sie mit ihr gesprochen?" "Im Krankenhaus." "Man sagte mir, dass sie heute nicht bei der Arbeit sei", meldete sich Arley. "Das ist sie auch nicht. Sie kam wegen einer privaten Sache vorbei." 154
"Wegen welcher Sache?" fragten Doyle und Arley wie aus einem Munde. Der mittlerweile argwöhnisch gewordene Soldat blickte von einem zum anderen. "Das hat sie nicht gesagt. Sie wollte nur sicher sein, dass Doyle seinen Termin einhält. Deswegen bin ich hier, um Sie hinzufahren. Von einer Schwester hat sie überhaupt nichts erwähnt. " Der letzte Satz war an Arley gerichtet. "Tut mir Leid." "Eine große Hilfe sind Sie nun wirklich nicht", be schwerte sich Arley. "Komm, Scottie. Mrs. Bee hat be stimmt Kekse für dich." "Wiedersehen, Bugs", rief der Junge und trottete neben seiner Mutter davon. "Wir sehen uns bald wieder, Mr. Cool. Vergiss nicht, immer ruhig bleiben!" rief Doyle ihm hinterher. Er starrte den beiden nach und überlegte, was Kates Besorgnis auf sich habe. Bis Soldat Baron sich räusperte. "Was zum Teufel wollen Sie?" fuhr Doyle ihn an. "Mann, ich soll Sie nur in die Pflicht nehmen, das ist al les." "Ich weiß selbst, was meine Pflicht ist." "Kate Meehan hat mich schon vorbereitet, dass Sie mir Ärger machen könnten und dass ich Ihnen dann das Eine sagen soll." Doyle wartete darauf, was "das Eine" sein sollte. Aber der Gauner wartete, dass er ihn danach fragte. "Okay, was ist es?" fragte er nach einer Weile. "Sie sagte ‚Bitte'." "Und?" "Und nichts. ‚Bitte', das war alles." Doyle starrte ihn an. 155
Bitte. Das eine Wort wühlte ihn auf. "Gehen wir nun oder nicht?" fragte Baron und sah auf seine Uhr. "Sie haben noch fünfzehn Minuten. Wenn ich mit einem Affenzahn losdröhne, dann krieg ich Sie noch pünktlich hin." "Ha, als ob ein Armeearzt jemals pünktlich gewesen wäre!" "Kommen Sie nun?" "Ja, ich komme. Ich komme." "Gut", sagte Baron. "Übrigens, ist sie verheiratet?" "Wer?" fragte Doyle, der aus Kates Verhalten noch immer nicht schlau wurde. Sie ließ ihn fallen, aber sie sorgte sich darum, dass er seinen Termin einhielt. Wenn das nicht verrückt war! "Die Schwester. Arley", antwortete Baron. "Ist sie ver heiratet?" "Sehe ich wie ein Kuppler aus?" fragte Doyle bitter. "Nein, Sie sehen saumäßig aus." "Wie hat man Sie überhaupt zu dieser Hilfeleistung drangekriegt?" fragte Doyle, als er mit Baron zum Wagen humpelte. "Wenn ich das wüsste!" Ausnahmsweise mal war der Armeearzt pünktlich. Doyle war kaum im Warteraum, als auch schon sein Na me aufgerufen wurde. Diesen Arzt kannte er. Sein Name war Julius, und er hatte eine Reihe von Doyles Operationen durchgeführt. "Verdammt", stieß Dr. Julius hervor. "Was ist denn mit Ihnen passiert?" "Sir?" Doyle dachte, dass Baron vielleicht gar nicht so übertrieben hatte, als er ihm sagte, er sähe saumäßig aus. 156
"Als ich Sie zuletzt sah, konnten Sie kaum stehen. Da waren Sie mindestens an einem halben Dutzend Schläu che angeschlossen." "Sir, ich bin viel gelaufen." Unter anderem. "Sie meinen die Übungen, die man Ihnen während der Krankengymnastik beigebracht hat?" "Sir, jawohl, Sir." Ebenfalls unter anderem. "Und wenn Ihnen etwas auf den Boden fällt, können Sie es aufheben?" "Sir, jawohl, Sir. Ohne große Probleme." "Gut. Natürlich wird das einen gewissen Chirurgen aus Texas mächtig irritieren." "Sir?" "Sie können es ruhig wissen, dass seine und meine Meinung über Ihre Rehabilitation auseinander gehen." Doyle äußerte sich nicht. "Er hat Ihnen mitgeteilt, dass er Sie wieder auf dem Operationstisch haben will." "Sir, jawohl, Sir." "Wie denken Sie darüber?" "Ich denke, dass ich lieber tot umfalle, Sir." Dr. Julius lachte, obwohl Doyle es nicht gerade im Scherz gemeint hatte. "Nun gut, bleiben Sie lieber leben dig, okay? Wie groß sind die Schmerzen, die Sie haben?" "Ich nehme keine Mittel dagegen." "Danach habe ich Sie nicht gefragt, aber ich lasse es gelten. Ich will heute noch ein oder zwei Röntgenauf nahmen von Ihnen haben, nur um sicher zu sein. Wenn es gut aussieht, dann sind Sie fürs Erste aus dem Schneider. Drei Monate lasse ich Sie in Frieden. Es sei denn, es tre ten Störungen auf. Sie kennen ja den Drill. Viel laufen. Die Übungen weiter durchführen, die man Ihnen in der Krankengymnastik beigebracht hat. Und 157
weitermachen mit dem, was immer Sie bis jetzt getan haben." "Sir, jawohl, Sir." Weitermachen. "Also gut. Weggetreten!" Kate, Kate. Sie hatte gewollt, dass er hierher kam, um mit dem Chi rurgen zu sprechen, der kein Fanatiker in seinem Beruf war. Die Nachricht war gut - ausgezeichnet sogar. Und Kate hatte keine Mühe gescheut, dass er die Nachricht auch erhielt. Aber Doyle verstand Kate immer noch nicht. Er blieb im Korridor stehen und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Dann machte er sich kurz entschlossen auf den Weg zur Station, auf der Kate arbeitete. Als Erstes wollte er herausfinden, ob einer ihrer Mitar beiter eine Ahnung hätte, wo Kate stecken könnte. Als er aus dem Aufzug trat, sah er zuerst niemand. Dann entdeckte er einen der Pfleger, der im Medika mentenraum stand und Fläschchen in einem weißen Kar ton zählte. Soldat Baron! "Ich möchte Sie etwas fragen", sagte Doyle, als Baron hochsah. "Was?" "Haben Sie eine Ahnung, wo Kate ist?" "Ich? Nein." "Sie hat nichts gesagt, außer das, was Sie mir gesagt haben?" "Nein", antwortete Baron einsilbig und fing wieder an, die Zahl der Medizinfläschchen mit den Angaben auf dem Klemmbrett zu vergleichen. "Sind Sie sicher?" "Ich bin sicher." "Hören Sie, Baron, es ist wichtig. Ich bin ..." Doyle hol 158
te tief Luft. "Mann, ich mache mir Sorgen um sie. Auch ihre Schwester macht sich Sorgen. Sie haben sie ja gese hen. Kate ist mir wichtig. Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie's mir!" Baron hörte mit dem Zählen auf, aber er äußerte sich nicht. "Werden Sie mir nun helfen oder nicht?" fragte Doyle laut. "Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen könnte bis auf …" "Bis auf was?" hakte Doyle nach und versuchte, nicht zu verzweifelt zu klingen. "Ich habe zufällig mitgehört, was eine der Kranken schwestern gesagt hat." "Was?" "Dass Kate am Freitag noch mal geröntgt werden soll." "Und?" "Das war's." "Wurde gesagt, welche Art von Röntgen?" "Das weiß ich nicht. Das war alles, was ich gehört ha be. Es muss nichts zu bedeuten haben." "Okay. Danke", bemerkte Doyle zerstreut. Er fürchtete, dass er genau wusste, Was das zu bedeu ten hatte. "Mrs. Bee!" rief Doyle, sobald er die Fliegentür geöff net hatte. Mrs. Bee kam aus der Küche geeilt mit einer Hand auf ihrer Herzgegend. "Calvin, Sie haben mich vielleicht erschreckt!" "Tut mir Leid, Mrs. Bee. Ich muss Sie etwas fragen. Haben Sie eine Ahnung, wo Kate ist?" "Nein, Calvin. Ich habe sie nicht gesehen." "Wenn Sie sie finden wollten, wo würden Sie suchen?" Mrs. Bee starrte ihn an. "Stimmt etwas nicht, Calvin?" 159
"Ja, etwas stimmt nicht. Und ich muss mit ihr reden." Er wappnete sich gegen ein Verhör, aber glücklicherwei se fragte Mrs. Bee nicht weiter. "Nun ja, ich würde bei den Schwestern anfangen", er widerte Mrs. Bee nach kurzem Nachdenken. "Arley sagte, dass sie nicht wisse, wo Kate ist." "Das könnte stimmen." "Wie soll ich das verstehen?" "Dass es besser wäre, mit dem schwächsten Glied anzu fangen." "Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mrs. Bee." "Ich will sagen, dass ich Gwen anrufen könnte, wenn Sie es wollen. "Ja, Mrs. Bee. Bitte, tun Sie das." "Also gut. Finden wir heraus, was Gwen sagt. Und mi schen Sie sich nicht ein, Calvin. Ich arbeite lieber allein." Doyle musste lächeln. "Okay, Mrs. Bee." Er wartete in der Küche, während sie telefonierte. Es dauerte eine ganze Weile. Das Glied war wohl nicht so schwach, wie Mrs. Bee angenommen hatte. "Haben Sie etwas herausgefunden? Was hat sie ge sagt?" Doyle stürzte sich förmlich auf die alte Dame, sobald er hörte, dass sie den Hörer aufgelegt hatte. "Ich habe nicht erfahren wo Kate ist, aber ich bin si cher, dass Gwen es weiß." "Sie weiß es?" "Ja. Als ich sie gefragt habe, wo Kate sei, hörte sie sich an, als erzählte sie nicht die Wahrheit." Doyle blickte ziemlich verblüfft drein. "Könnten Sie Thelma und Louise fahren, Calvin?" frag te Mrs. Bee abrupt. "Ich denke, Sie sollten meinen Wa 160
gen nehmen und zu Gwen fahren. Katie könnte bei ihr sein. Und wenn sie es doch nicht ist, vielleicht könnten Sie Gwen dazu bringen, Ihnen einen Hinweis zu geben. Was halten Sie davon?" "Ich denke, dass ich den Wagen fahren kann, Mrs. Bee. Sind Sie sich aber sicher, dass Sie ihn mir anvertrauen wollen?" "Da bin ich sicher. Es hilft Ihrem Ansehen." "Meinem Ansehen?" "Kate weiß, was der Wagen mir bedeutet. Wenn sie sieht, dass Sie ihn fahren, dann weiß sie, dass jemand Sie sehr schätzt." "Oder sie denkt, dass ich Sie gefesselt und die Schlüs sel an mich genommen habe", scherzte Doyle, und Mrs. Bee lachte. "Ich hole die Schlüssel. Warten Sie, wo habe ich sie hingetan? 0 ja, ich weiß. Ich bin gleich wieder zurück. Während ich sie hole, denken Sie darüber nach, was sie Katie sagen wollen." Doyle hatte einiges auf dem Herzen, was er ihr sagen wollte, aber es gab nur eins, worauf es wirklich ankam: Ich liebe dich, Kate. Mrs. Bee kam zurück mit den Schlüsseln und dem Stadtplan, auf dem sie bereits die Richtung zu Gwens Haus vermerkt hatte. "Viel Glück, Calvin", wünschte sie, als sie ihm beides überreichte. "Oh, Mrs. Bee, Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin." "Ich glaube, ich weiß es, Calvin." "Drücken Sie mir die Daumen." "Das ist doch selbstverständlich, Calvin." Entschlossen humpelte er auf die Hintertür zu, blieb dann stehen und wandte sich noch mal um. "Mrs. Bee? 161
Ich möchte Sie etwas fragen." "Was ist es, Calvin?" "Ich wollte Sie nach Michael Mont fragen. Sie wissen schon, in diesem Roman von Galsworthy. Warum haben Sie Kate gesagt, dass ich Sie an diesen Burschen erinne re?" Mrs. Bee lächelte. "Weil Sie eine fröhliche Natur sind, Calvin. Ganz gleich was Ihnen geschieht, Sie finden das Leben immer noch lebenswert." Dieses Bild hatte Mrs. Bee also von ihm. Darauf war Doyle nicht gefasst gewesen. Stimmte es wirklich, dass er das Leben lebenswert fand? Vielleicht. Es hatte Momente gegeben, wo er mutlos gewesen war. Bis jetzt hat te das allerdings nie lange angehalten. Nun stand er vielleicht dicht davor, für immer mutlos zu bleiben. Kate! Wenn Sie wieder krank war ... Er musste ein paar Male schlucken, bevor er seiner Stimme trauen konnte. "Danke, Mrs. Bee", sagte er rau. "Gehen Sie, und finden Sie Kate", hielt sie ihn an.
12. KAPITEL
Doyle machte sich auf die Suche mit dem LuxusOldtimer - das Verdeck heruntergelassen, das Radio auf volle Lautstärke. Er ließ sich von der Musik in Stimmung bringen für die Zerreißprobe, die vor ihm lag. Das Haus zu finden war leicht, was er Mrs. Bees Um 162
sicht zu verdanken hatte. Es war noch immer hell, als er ankam, aber die Sonne stand bereits niedrig am Himmel. Er konnte Kates Wagen nirgendwo sehen und überlegte einen kurzen Moment lang, ob er sein Vorhaben aufgeben sollte. Dann fuhr er in die Einfahrt und parkte. Es dauerte eine Weile, bis er aus dem Wagen gestiegen war. Es war für ihn kein allzu großes Problem gewesen, den Thunderbird zu fahren. Aus den niedrigen Sitzen hochzukommen war jedoch weniger einfach. Während er auf dem geschlungenen Pfad zur Eingangs tür humpelte, bemerkte er, dass an einem der Fenster der Vorhang ein wenig zur Seite geschoben wurde. Die Steinstufen zur Veranda waren gefährlich steil, a ber Doyle schaffte es hinauf. Er sah sich um, ehe er auf die Klingel drückte. Es war hübsch hier mit den Pflanzen, der altmodischen Hollywoodschaukel und den großen gelb geblümten Kissen. Zumindest in dieser Hinsicht war Gwen ihrer Schwester Kate ähnlich. Er drückte auf die Klingel und stellte sich vor, welchen Aufruhr sein Besuch auf der anderen Seite der Tür mög licherweise hervorrief. Ob sein Kommen richtig oder falsch war, spielte ab jetzt keine Rolle. Er war nun mal hier. Es dauerte eine Weile, bis die Haustür geöffnet wurde. "Cal! " rief Gwen, als ob sie überrascht wäre. "Was machen Sie denn hier?" "Hey, Gwen, kann ich Kate sprechen?" Es hatte keinen Zweck, die Sache hinauszuzögern. Er setzte einfach voraus, dass Kate im Haus ihrer Schwester war. Und wie Recht er damit hatte, erkannte er an Gwens Zögern, ihm darauf zu antworten. "Ich ... nun ... es ist..." Sie atmete tief ein. "Kate will 163
nicht mit Ihnen sprechen, Cal." "Ich möchte ihr nur ein, zwei Dinge sagen, dann gehe ich wieder. Fragen Sie Kate bitte, ob sie das zulässt." Gwen stand unruhig da. Sie wusste offensichtlich nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte, und sie tat Doyle richtig Leid. "Bitte", flüsterte er, und sie nickte. "Ich frage sie. Nur erhoffen Sie sich nicht allzu viel da von." Gwen schloss die Tür. Seine Beine fingen an zu schmerzen, und er humpelte zur Schaukel und setzte sich. Die Abenddämmerung brach herein, und es war nicht so schwül wie gewöhnlich. Sogar eine leichte Brise weh te. Er konnte Kinder in der Nähe hören. Den Geräuschen nach fuhren sie Skateboard. Er hörte ihr Rufen und ihr Lachen. Die Tür öffnete sich, und Kate kam heraus. Was immer Doyle vorgehabt hatte, ihr zu sagen, war in seinem Kopf wie ausgelöscht. Er konnte Kate nur anstarren. Sie hatte ein langes Baumwollkleid an mit einem Schlitz an der Seite, eine Art Gewand, das man am Strand oder am Pool trug. Ihr Haar war offen und fiel ihr über die Schultern. Er hatte nicht ahnen können, wie sehr es weh tun würde, sie unter diesen Umständen wieder zu sehen. "Den Wagen kenne ich doch", bemerkte sie lächelnd und blickte zu dem Thunderbird rüber. Wahrscheinlich, um ihn nicht anzusehen. "Mrs. Bee hat ihn mir anvertraut, ohne dass ich danach gefragt habe. Dank deiner Hilfe bin ich bei Dr. Julius gewesen. Die Operation ist erst mal aufgeschoben. Ich nehme an, du weißt das bereits." Kate nickte und blickte zur Straße hinüber, wo ein Wa 164
gen mit so laut aufgedrehter Musik vorbeifuhr, dass die Scheiben klirrten. "Gwen sagte, dass du mit mir sprechen wolltest", be merkte sie und setzte damit dem Austausch von höflichen Floskeln ein Ende. "Ist mit dir alles in Ordnung?" fragte Doyle genauso di rekt. Sie überging seine Frage. "Ich möchte es wissen, Kate!" Jetzt sah sie ihn voll an. Und Doyle konnte erkennen, wie viel Mühe es Kate kostete, das zu tun. "Ich weiß es nicht", antwortete sie und zuckte die Schultern. "Ich habe vom Pathologen noch keinen Bescheid über die Biopsie." Oh, verdammt! Verdammt noch mal! Natürlich konnte Kate den wahren Grund für sein Kom men nicht kennen. Sie setzte einfach voraus, dass er von dem Rückfall nur oberflächlich informiert sei. Deshalb kam sie ohne Umwege mit der unverfälschten Wahrheit heraus, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich abzusetzen. Er hatte das sofort begriffen. Es zeigte ihm nur, dass Kate ihn noch immer nicht kannte. Er war nicht wie der Immobilienbursche, verdammt noch mal! "Ich weiß, dass du mich nicht hier haben willst, Kate. Also fasse ich mich kurz. Ich möchte nur, dass du mir zuhörst." Er atmete tief durch. "Mir ist es gleichgültig, was die Leute davon halten, dass du und ich zusammen sind, Ka te. Mir ist der Altersunterschied gleichgültig. Ich weiß übrigens, wie alt du bist. Ich war Patient auf deiner Stati on, als man deinen Geburtstag groß vorbereitete, weil eine runde Zahl zu feiern war. Also sind wir acht Jahre auseinander." 165
Er sah sie eindringlich an. "Mir ist auch gleichgültig, dass wir zu einer Zeit zusammengefunden haben, als wir beide noch unter einer gescheiterten Beziehung litten. Mir ist aber nicht gleichgültig, Kate, dass der Krebs viel leicht wieder ausgebrochen ist. Es macht mir verdammt große Angst ... Weil ich dich liebe, Kate. So ist es. Ich muss es dir sagen, ob du es nun hören willst oder nicht, ob es richtig ist oder nicht. Das spielt keine Rolle. Ich liebe dich." Er musste schlucken. "Es hat verdammt wehgetan, als du mich weggeschickt hast, Kate. So schlimm das auch war, es ist nichts im Vergleich zu dem, was ich im Augenblick fühle. Weil ich erst jetzt erkenne, was du wirklich von mir hältst. Ich dachte, wir wären aufrichtig miteinander. Ich dachte, dass da mehr zwischen uns war als gut im Bett zu sein. Doch ich habe mich darin geirrt." "Cal..." "Ich verstehe nicht, warum du mir nicht sagen konntest, was mit dir los ist. Hast du geglaubt, ich sei zu dumm, um zu begreifen, wie viel Angst du hast? Ich weiß, wie bange dir zu Mute ist, Kate. Mir ist auch bange. Ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht. Ich glaube sogar, dass ich dir helfen könnte, diese Sache durchzustehen. Und weißt du, wa rum? Weil es mir immer geholfen hat, dich um mich her um zu haben in den Zeiten, als es mir nicht so gut ging. Es beruht also auf Gegenseitigkeit. Ist dir das klar?" Doyle sah ihr fest in die Augen. "In der Nacht, als Mrs. Bee dich aus der Dusche geholt hat, damit du dich um mich kümmerst, hast du mir gesagt, ich solle mir selbst vergeben. Ich dachte, dass du mir damit sagen wolltest, dass alles was geschieht einen Grund hat. Und das ärger te mich, weil ich für mich keinen Grund sehen konnte, 166
den Helikopterabsturz überlebt zu haben, während die anderen dabei sterben mussten. Jetzt denke ich, dass es vielleicht doch einen Grund gibt. Vielleicht habe ich ü berlebt, um für dich da zu sein. Oder findest du diesen Gedanken zu überheblich, Kate?" Er brachte sie zum Weinen. Das war das Letzte, was Doyle beabsichtigt hatte. "Ich bin nicht wie dein spießiger Exmann. Ich dachte, du wüsstest das. Es tut sehr weh, Kate, dass du nichts von mir wissen willst, jetzt, wo ich für dich da sein könnte." Er mühte sich aus der Hollywoodschaukel hoch. "Das war alles, was ich dir sagen wollte. Außer, dass ich hoffe, alles wird gut werden. Wenn du mich brauchst, du weißt, wo ich zu finden bin." "Cal, was ich jetzt durchmache, ist allein meine Sache." "Richtig. Oh, übrigens, du solltest Arley anrufen. Ich weiß, dass sie auch zu denen gehört, die von deiner Sa che nicht betroffen werden sollten. Doch sie macht sich ganz schön Sorgen um dich." Damit drehte Doyle sich um, humpelte zum Wagen und fuhr davon. Er blickte nicht zurück. Kein einziges Mal. Er konnte es nicht. Nicht jetzt, wo er vorhatte, sie zu ver lassen. Und er musste Kate verlassen. Sie wollte ihn nicht um sich haben. Was sollte er da noch tun? Mrs. Bee erwartete ihn bereits. Ein Blick in sein Ge sicht genügte, und ihre hoffnungsvolle Miene verdüsterte sich. "Ich habe Ihnen Thelma und Louise heil zurückge bracht", meldete Doyle und wich ihrem Blick aus. Sie schwieg, bis er halbwegs die Treppe hoch war. "Calvin?" Er blieb stehen, aber er drehte sich nicht zu ihr um. "Ich habe mein Bestes getan, Mrs. Bee." 167
"Das weiß ich. Calvin?" "Ja, Mrs. Bee?" "Sie sind ein guter Junge, Calvin." Oh, ja, dachte er, ich und Michael Mont. Er war müde. Zu müde, um noch etwas zu erwidern. Die Katze tauchte von irgendwoher auf. Trotz der Erschöpfung duschte er sich und machte sich ein Tomaten-KäseSandwich. Er brachte es sogar fertig, die Katze zu füttern. Dann setzte er sich vor den Fernseher, stellte ihn aber nicht an, sondern starrte nur auf den leeren Bildschirm. Die Katze sprang auf die Armlehne und versuchte, sich an ihn zu lehnen. "Zieh Leine. Du stinkst nach Tunfisch." Aber Katzen waren nicht auf die Erde gekommen, um Befehlen zu gehorchen. Schließlich erzwang sie sich den Platz an seiner Seite. Er hörte sie schnurren. Und er versuchte, nicht an den Tag zu denken, an dem er in den Regen hinausging, um Kate zurück ins Haus zu bekommen. Ihm war, als ob das hundert Jahre her wäre. Als er ziemlich sicher war, dass er doch schlafen könn te, legte er sich ins Bett. Er schlief sofort ein, schreckte aber bald wieder hoch. Er dachte, dass die Katze auf Mitternachtspatrouille wäre und etwas umgestoßen hätte. Er setzte sich auf und ver suchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Kate stand in der geöffneten Tür. Zuerst war Doyle sich nicht sicher, ob er träumte oder nicht. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Und sie sagte nichts. "Bist du wieder über das Dach gekommen?" fragte er 168
schließlich. "Mrs. Bee hat mich reingelassen", antwortete sie. Ihre Stimme klang angespannt. "Willst du dort stehen bleiben oder zu mir kommen?" Mehr als diese Einladung brauchte Kate nicht. Sie kam zu ihm und legte sich neben ihn. Doyle hielt sie eng an sich gedrückt, streichelte ihr Gesicht und strich ihr über das Haar. Er konnte nicht glauben, dass sie wirklich wie der bei ihm war. "Du musst mich aufklären, Kate", bat er. "Ich möchte keine falschen Schlüsse ziehen." Kate küsste ihn. "Halte mich", flüsterte sie und klammerte sich an ihn"Halte mich einfach." Sie weinte. "Kate ..." "Du hast Recht. Ich habe schreckliche Angst. Ich habe dir wehgetan. Ich wollte es nicht." Doyle ließ sie weinen und hielt sie eng an sich ge drückt. Sie brauchte beides. "Ich wollte ... dich nicht ... da hineinziehen", schluchzte sie. "Vor allem, weil du so bist, wie du bist." "Wie bin ich?" "Loyal." "Und das ist schlimm?" "Ich wollte nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, bei mir zu bleiben, weil ... ich wusste ... dass du unter allen Umständen bleiben würdest. Das Mindeste was ich tun konnte, war dir..." "Was? Einen Fluchtweg geben?" "Ja!" "Kate, ich entscheide für mich selbst, ob ich oder ob ich nicht aussteige. Du hast mir nicht mal diese Chance ge 169
lassen." "Ich weiß. Ich wollte nicht ... " Sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter. "Was wolltest du nicht?" hakte Doyle nach. "Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, weil ... ich mich nicht auch in dir täuschen wollte." Doyle küsste sie auf die Stirn. "Tu das nicht wieder", bat er dann. "Triff keine Entscheidungen für mich. Ja?" "Ja", flüsterte sie. "Ich meine es ernst." "Ich weiß." "Also gut. Was immer auf uns zukommt, wir stehen es zusammen durch. Du und ich. Und deine Schwestern und Mrs. Bee und die Damen von der Kirchengemeinde ... und wer immer noch daran teilhaben möchte. Ich liebe dich, Kate, mehr als ich dir jemals sagen kann." "Ich liebe dich auch." "Wirklich?" "Wirklich." "Sag es mir noch mal." "Ich liebe dich, Cal." Doyle musste lächeln. "Wann ist es passiert? Ich meine, diese Sache mit der Liebe." "Als du im Regen herausgekommen bist, um nach mir zu schauen", antwortete sie. "Ach komm, Kate!" Doyle war total verblüfft. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er küsste sie. Und er hielt sie ganz dicht an sich gedrückt. Frauen! Wie sollte ein Mann die jemals verstehen? Nein. Diese Frau. Wie sollte er diese Frau jemals ver stehen? Niemals hätte er das angenommen. Er schloss die Au gen und genoss die Freude. Und er verdrängte all die 170
Sorgen über das, was auf sie beide zukommen mochte. Kate Meehan liebte ihn. Und das allein war von Bedeu tung.
EPILOG
Onkel Patricks Pub war brechend voll. Viele Gäste mussten stehen, die Tische waren alle besetzt. Freunde und Familie sowie auch Fremde, die von der Straße he reingekommen waren. Doyle blickte über das Meer von Gesichtern. Seine Mutter und seine Schwester Nina wa ren nicht dabei, womit er auch nicht gerechnet hatte. "Wirst du für uns singen, Cal?" brüllte Onkel Patrick von der Bar herüber. "Es wird dir noch Leid tun, dass du gefragt hast", brüll te Doyle zurück und brachte die Gäste damit zum La chen. "Hey, so schlimm kann es nicht werden! Wir sind dankbare Zuhörer." "Nun gut. Du hast mich gefragt, also tue ich es. Vor kurzem hat mir jemand eine Geschichte erzählt. Es war die Geschichte einer Liebe, in der ein Soldat von der Fallschirmtruppe eine Rolle spielte." Doyle musste sich unterbrechen, weil die Jungs vom Militär unter den Gäs ten sich mit schrillem Pfeifen und lautem Rufen bemerk bar machten. "Der Soldat zog in den Krieg und kam nicht wieder zu rück. Bevor er mit seiner Truppe nach Übersee verschifft wurde, hatte er seiner Liebsten ein Lied gesungen in ei ner Umgebung, die dieser hier ähnlich war. Ich brauchte 171
eine ganze Weile, um den Text für dieses Lied aufzustö bern. Die Frau dieses Soldaten ist heute Abend hier, um mit uns zu feiern. Also werde ich es für sie singen." Doyle wartete, bis der Beifall abgeklungen war. "Ich werde es für sie singen", wiederholte er. "Und ich werde es für die Frau singen, die ich liebe. Beide sitzen dort drüben: Mrs. Bee und meine geliebte Kate." Er konnte erkennen, dass Kate glücklich lächelte und dass Mrs. Bee und die Damen von der Kirchengemeinde ganz aufgeregt wurden. "Clive und Jeffry hier werden mir mit der Musik aushelfen", fügte er hinzu. Beide Musiker verneigten sich. "Wann hast du geheiratet?" fragte Clive ihn laut genug, dass die Gäste, die auch weiter hinten saßen, ihn hören konnten. "Nun ja ... vor zwei Stunden", antwortete Doyle. "Aha! Vor zwei Stunden, ja?" vergewisserte sich Clive mit unschuldigem Augenaufschlag. "Richtig." "Also wird die kommende Nacht eine Hochzeitsnacht sein, stimmt's?" "Das stimmt wohl." "Du meine Güte, und du verschwendest deine Zeit mit Gesang?" "Ich werde schnell singen", versprach Doyle über das Gelächter der Gäste hinweg. "Nun, das hoffe ich! " rief Clive und warf ihm einen anzüglichen Blick zu. Doyle stellte sich so, dass er Kates schönes Gesicht se hen konnte. Er fing an zu singen, und alles um ihn schwand dahin. Es gab niemanden außer Kate. Bei ihm war sie sicher, und mit seiner Hilfe würde sie wieder ganz gesund wer 172
den. Er liebte sie über alle Maßen - seine wunderschöne Frau. Doyle wusste, dass er zu tiefen Gefühlen fähig war, die er von seinen irischen Vorfahren geerbt hatte. Und all diese Empfindungen legte er in das Lied hinein: von dem Soldaten, der nach langer Suche die einzige Frau in der Welt gefunden hatte, die er lieben konnte und die seine Frau wurde von der Freude, dass er sie endlich gefunden hatte, und von seiner Liebe und seinen Gebeten zu den Engeln für sie. Er sang aus tiefem Herzen, und als er zu Ende kam, wie vor so langer, langer Zeit Bud Gaff ney zu Ende gekommen war, gab es kein trockenes Auge in Onkel Patricks Pub. Es gab einen Moment der Stille, als die Musik endete, dann explodierte der Raum fast vor Beifall. Doyle schüt telte Clive und Jeffrey die Hand und verließ das Podium. Zuerst ging er zu Mrs. Bee, machte eine Verbeugung vor ihr und küsste ihr die Hand. Dann wandte Doyle sich Kate zu und nahm sie in die Arme. Sie weinte. Er küsste sie. Dann küsste er sie noch ein zweites Mal. "Ich liebe dich, Mrs. Doyle", flüsterte er. "Lass uns nach Hause gehen."
ENDE
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