Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 567 Das Sternenuniversum
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 567 Das Sternenuniversum
Kometenalarm von Kurt Mahr Irrfahrt durch ein fremdes Universum Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den August des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL entscheidende Impulse zu positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, hat längst eine Normalisierung des Lebens an Bord stattgefunden. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe. So kam es zu schweren Kämpfen, als die SOL und die Solaner mit der Landschaft im Nichts und dem Schalter konfrontiert wurden, der im Auftrag von Hidden-X handelte. Dann, nach dem Ende der LiN, erfolgten der Hyperenergiestoß, der die SOL in ein fremdes Universum versetzt, und der KOMETENALARM …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide läuft Amok. Valrik - Eine Projektion des Bösen. Hage Nockemann und Sanny - Der Wissenschaftler und die Molaatin kümmern sich um Atlan. Enzo Weevil, Naino Kellams und Dodart Benz - Führende Besatzungsmitglieder der URANIA. Fidrich - Ein Mitglied des Volkes der Crux. Wöbbeking - Ein alter Bekannter erscheint.
1. Er war häßlich wie die Nacht. Sein Gesicht, von ungesunder Blässe, bestand aus hunderttausend Falten. Die Augen standen zu weit auseinander, wodurch das linke sich veranlaßt fühlte, über den knorpeligen Nasenrücken hinweg in Richtung des rechten zu schielen. Die Nase war nach oben gebogen, so daß man die behaarten Nüstern sah. Die Mundwinkel hingen herab und verliehen der Physiognomie einen mürrischen Ausdruck. Der Haarwuchs war eine wirre Ansammlung verdorrter Grashalme, die nach allen Richtungen davonstrebten. Das war Valrik, sein einziger Freund in dieser von Feinden bevölkerten Welt. Valrik trug einen schmierigen, grauen Umhang, der die Unförmigkeit seines Körpers noch akzentuierte. Er hockte auf einer Leiste, die sich in halber Höhe an der Wand des Raumes entlangzog, und starrte zu Atlan herab, der reglos auf seiner MedoLiege ruhte. »Bald haben wir dich heraus«, sagte er. »Ich weiß fast schon, wie es geht.« Atlan wußte, daß sich noch zwei weitere Wesen in der Nähe befanden – ein Mensch und ein anderes, kleineres Geschöpf, fast so winzig wie Valrik. Er war sich ihrer Gegenwart undeutlich bewußt. Früher bei solchen Gelegenheiten hatte er gefürchtet, die anderen
könnten Valrik hören. Inzwischen jedoch war ihm längst klargeworden, daß der Gnom nicht wirklich sprach, sondern Worte in seinem Bewußtsein materialisieren ließ. Der Mensch und das kleine Geschöpf merkten davon nichts. »Wir haben viel Zeit verloren«, sagte Atlan. »Ich hätte mich an die Arbeit machen sollen, sobald wir dieses Universum erreichten. Was ist an deiner Aufgabe so schwierig, und warum hockst du dort wie einer, der nichts zu tun hat, anstatt deiner Arbeit nachzugehen?« Valrik verzog das häßliche Gesicht zu einer Grimasse. »Das fragst du jedesmal. Ich sagte dir doch, Wöbbeking ist daran schuld.« Atlan hatte den Namen schon mehrmals gehört. Und Valrik hatte recht mit seiner Behauptung: er stellte bei jedem Gespräch dieselben Fragen und machte ihm dieselben Vorwürfe. In seinem Gehirn mußte etwas aus den Fugen geraten sein. Die Ungeduld nagte an ihm. Er begriff nicht, warum es so viele Dinge gab, über die er nicht Bescheid wußte und die auch Valrik ihm nicht erklären konnte. »Wer ist Wöbbeking?« fragte er. »Wöbbeking ist der Feind. Er will unsere Pläne vereiteln. Er hat dich in eine energetische Hülle geschlagen, damit du dich nicht rühren kannst. Aber ich weiß schon, wie wir dich loskriegen. Im übrigen hocke ich hier nicht faul herum, sondern denke angestrengt darüber nach, welches die beste Vorgehensweise ist.« Atlan war müde. Er hatte diese Zustände in letzter Zeit oft. Das Gefangensein erschöpfte ihn. Das Bild des Raumes, an den er sich von irgendwoher zu erinnern glaubte, verschwamm vor seinen Augen. Er versank in einen schlaf ähnlichen Dämmerzustand und erlebte in einer Folge wirrer Träume einen Kosmos, der von Spukgestalten, Monstern, Valriks und Wöbbekings bevölkert war.
*
»Schau her«, sagte Hage Nockemann und führte die Spitze einer Stabsonde so nah an den reglosen Körper des Arkoniden heran, daß sie fast die Haut berührte. Sanny, die Molaatin, blickte auf die Meßinstrumente, die Nockemann ihr zuvor bezeichnet hatte. Ihre Skalen waren in Bewegung geraten. Die Sonde registrierte in unmittelbarer Nähe der Körperoberfläche eine Reihe absonderlicher Phänomene: drastisch erhöhte Ionisierung, eine Verschiebung des chemischen Gleichgewichts in der Zusammensetzung der Luft, ein Ansteigen des optischen Brechungsindexes. »All das sind Sekundäreffekte«, erklärte Nockemann. »Das Ding an sich bleibt unfaßbar; aber es kann nichts anderes sein als ein energetisches Feld, das den Körper hauteng einhüllt.« Sannys Blick wurde starr, als sie in angestrengter Konzentration die Eindrücke zu verarbeiten suchte. Sie hockte auf der Vorderkante des Tisches, auf dem Hage Nockemann einen Teil seiner Versuchsapparatur aufgebaut hatte. Mit ihren knapp fünfzig Zentimetern Körpergröße, der grünen, pelzähnlichen Körperbehaarung und dem kahlen, kugelförmigen Schädel wirkte sie wie ein freundlicher Leprechaun aus der irischen Legende. »Ich erkenne nichts«, sagte sie nach einer Weile. »Es muß sich um eine Form der Energie handeln, die uns unbekannt ist.« Nockemann legte die Sonde zurück auf den Tisch und nickte. Wer ihn zum ersten Mal sah, hatte Mühe zu verstehen, daß der Mann an Bord der SOL als ungemein begabter, fast schon genialer Wissenschaftler galt. Sein Arbeitskittel sah aus, als sei er seit zehn Jahren in ununterbrochenem Gebrauch. Nockemanns Gesicht war von zahllosen Fältchen zerfurcht und ließ ihn älter erscheinen als die 95 Jahre, die er wirklich auf dem Rücken hatte. Er trug sich vornübergebeugt, und das ungepflegte graue Haar hing ihm strähnig in den Nacken herab. »Das mag wohl so sein«, meinte er nachdenklich. »Die Frage erhebt sich, woher sie kommt. Nach der Zerstörung der Landschaft
im Nichts wurde die SOL von einer hyperenergetischen Schockwelle getroffen, aus der Bahn geschleudert und in ein Kontinuum versetzt, das wir bis jetzt noch nicht identifiziert haben. Als die Schockwelle traf, verlor Atlan das Bewußtsein, und bisher ist es niemand gelungen, ihn wieder aufzuwecken. Ich frage dich: hat das fremde Energiefeld etwas damit zu tun?« »Wenn wir mit Sicherheit wüßten, daß das fremde Feld im selben Augenblick entstand, als uns die Schockwelle traf, dann ergäbe sich daraus ein kausaler Zusammenhang«, antwortete Sanny. »Nehmen wir an, es wäre so«, drängte der Wissenschaftler. »Was dann?« »Die Schockwelle ist ein überraschendes, aber kein unerklärliches Ereignis«, sagte die Molaatin. »Wir kennen die Energieform, die zur Anwendung kam. Aus Intensität, Einfallswinkel und Wirkungsdauer der Welle können wir im Nachhinein berechnen, was mit der SOL geschah. Mit dem fremden Feld hat es eine andere Bewandtnis. Es existiert sozusagen ohne Daseinsberechtigung. Der Fall ist längst nicht klar genug, als daß ich ihn auf übliche Weise berechnen könnte. Aber alle Extrapolationen deuten darauf hin, daß die Schockwelle und das Fremdfeld nicht aus derselben Quelle stammen.« »Es waren zwei verschiedene Kräfte am Werk?« fragte Nockemann. »So sieht es aus«, bestätigte Sanny. Nockemann machte ein verdrießliches Gesicht. »Höre, Mädchen«, sagte er. »Ich halte viel von deiner paramathematischen Kunst. Aber hier haben wir es mit zwei überaus seltsamen Ereignissen zu tun. Ich meine, ein normaler Mensch könnte sein ganzes Leben verbringen, ohne auch nur eines davon jemals zu sehen. Und hier treten sie beide gleichzeitig ein. Wie groß schätzt du die Wahrscheinlichkeit für ein solches Doppelereignis?« »Ich sprach von einem kausalen Zusammenhang, erinnerst du dich? Ein Ereignis bedingte das andere. Das Fremdfeld entstand,
weil uns die Schockwelle traf – oder umgekehrt, allerdings erscheint mir die erstere Möglichkeit plausibler.« Nockemann starrte sie bestürzt an. »Das … das ergibt nur dann einen Sinn«, stotterte er, »wenn man annimmt …« »Daß eines der beiden Ereignisse eintrat, um die Wirkung des anderen zu neutralisieren«, vollendete Sanny den begonnenen Satz. »Darauf will ich hinaus. Wir gehen davon aus, daß die Schockwelle von Hidden-X produziert wurde. Es gibt, darauf scheinen unsere Überlegungen hinzuweisen, eine zweite Kraft, die Hidden-X entgegenzuwirken versucht. Von ihr stammt das fremde Feld, das den Arkoniden einhüllt. Wenn diese Überlegung richtig ist, dann bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als das Fremdfeld als ein Mittel zu betrachten, mit dem Atlan vor Hidden-X' Einfluß geschützt werden soll.« Nockemann dachte eine Zeitlang darüber nach, dann schüttelte er den Kopf – nicht ungläubig, sondern wie einer, dem eine Sache über den Kopf gewachsen war. »Recht magst du haben, Mädchen«, brummte er. »Aber wie du zu diesen Schlußfolgerungen kommst, das mag dieser und jener wissen. Ich jedenfalls …« Er unterbrach sich. Der Arkonide hatte ein halblautes Stöhnen von sich gegeben. Im nächsten Augenblick stand Nockemann an der Seite seiner Liege. Atlan hatte die Augen geschlossen; aber die Lippen waren in zuckender Bewegung. Laute bildeten sich, zunächst zaghaft, dann kräftiger: »Hapeldan … Hidden-X … Chybrain …« Namen aus der jüngsten Vergangenheit, aus den turbulenten Tagen, die mit dem Verschwinden der Landschaft im Nichts, mit dem Auftreffen der hyperenergetischen Schockwelle ihr Ende fanden. »Schalter …«, wisperte der Arkonide, und dann: »Wöbbeking …« Erstaunt sah Nockemann auf. Der Name war ihm unbekannt. Er
wandte sich an Sanny und wiederholte: »Wöbbeking?« Die Molaatin zuckte mit den Schultern.
* Breckcrown Hayes starrte auf den großen Bildschirm. Das kantige, von Narben gezeichnete Gesicht wirkte steinern. Der High Sideryt ließ nicht erkennen, was in seinem Innern vor sich ging. Zum hundertstenmal innerhalb der wenigen Tage, die seit dem Zusammenprall mit der Schockwelle verstrichen waren, ließ er den Anblick des fremden Universums auf sich einwirken, die unübersehbare Fülle winziger Lichtpunkte, die ihm aus dem mit ungewisser Helligkeit erfüllten Hintergrund entgegenleuchtete. Oh – sie wußten inzwischen, was es mit diesem All auf sich hatte. Es war die Verkörperung des Prinzips der Homogenität des Universums, der Gleichverteilung der Materie, der konstanten Raumkrümmung. Der fremde Raum war bevölkert von Quadrillionen in fast jeder Hinsicht »normaler« Sterne, deren einzige Eigenart darin bestand, daß sie keine Tendenz besaßen, sich zu Sternballungen zusammenzuschließen. Es gab keine Galaxien in diesem Universum, keine Sternhaufen – nicht einmal Wolken aus unorganisierter kosmischer Materie. Es war ein im höchsten Grad unwahrscheinliches Universum, und dennoch ein wirkliches, wie die Messungen, die im Lauf der vergangenen Stunden und Tage angestellt worden waren, unmißverständlich auswiesen. Die Naturgesetze galten in diesem Kontinuum in derselben Form wie in jenem, aus dem die SOL kam. Die Sterne zeigten Strahlungscharakteristiken, die der von Planck ermittelten Gesetzmäßigkeit gehorchten. Die Raumzeit war infolge der Anwesenheit von Masse gekrümmt, wie es die Allgemeine Relativitätstheorie erforderte. Linearflugmanöver waren möglich. Die SOL hatte davon bereits ein gutes Dutzend hinter sich. Der
durchschnittliche Sternabstand betrug rund 253 Lichtjahre. Es war bis jetzt noch kein Sternenpaar gefunden worden, dessen Komponenten weniger als zweihundert Lichtjahre voneinander entfernt standen. Dafür gab es hier und da Lücken im Gewebe der Himmelskörper, die mehrere tausend Lichtjahre durchmaßen. Ungeachtet dieser Lücken war die Homogenität des fremden Raumes erstaunlich, ja, überwältigend. Das diffuse Hintergrundleuchten rührte daher, daß sich die gleichmäßige Verteilung der Sterne offenbar bis in die fernsten Fernen fortsetzte. Was Breckcrown Hayes bedrückte, war, daß es dem fremden Universum nicht nur an Sternballungen jeder Art, sondern auch an Planeten mangelte. Die SOL hatte mehr als ein Dutzend Sonnen angeflogen – Sterne von Durchschnittscharakter mit den Spektraltypen F, G, K und M, von denen etwa jeder zweite ein Planetensystem hätte besitzen sollen, wenn hier dieselben Regeln galten wie im heimatlichen Kontinuum. Aber dieselbe unerklärliche Kraft, die das Entstehen von Galaxien verhindert hatte, war offenbar auch auf intrastellarer Ebene am Wirken und hatte die Geburt planetarischer Satelliten unterbunden. Unter den Wissenschaftlern an Bord kursierten zahlreiche Theorien, die das Entstehen und die Eigenarten des fremden Universums zu erklären versuchten. Aber Breckcrown Hayes war an Theorien nicht interessiert. Er trug die Verantwortung für das Wohl der Besatzung und des Schiffes. Für den Fall, daß es ihm nicht gelang, dieses Universum zu verlassen, war er gezwungen, eine Welt zu finden, auf der die Solaner sich niederlassen konnten. Mit einer Hypothese, die ihm erklärte, warum es eine solche Welt nicht gab, war ihm wenig gedient. Zorn stieg in ihm auf. Innerhalb eines Standardmonats war dies das zweite Mal, daß die SOL durch die Machenschaften eines unversöhnlichen Gegners, dem Mittel jenseits der menschlichen Vorstellungskraft zur Verfügung standen, in ein fremdes Universum verschlagen worden war. Wie beim ersten Mal erschien
die Lage aussichtslos. Und selbst wenn es ihnen gelang, Hidden-X' Hinterlist ein zweites Mal unwirksam zu machen, wer garantierte ihnen, daß der Gegner nicht abermals zuschlug, und immer wieder – bis ihnen schließlich die Kraft ausging? Aus dem Halbdunkel der weiten Kommandozentrale materialisierte eine schlanke Gestalt und unterbrach den Fluß seiner trüben Gedanken. Er sah Brooklyn entgegen, als sie die drei Stufen zur Konsole des Kommandanten heraufstieg. Ihr Gesicht war ernst. Brooklyn, die ihren wahren Namen, Solania von Terra, während des SOLAG-Regimes hatte geheimhalten müssen, leitete seit zwei Tagen die systematische Untersuchung aller Himmelskörper innerhalb der Reichweite der einschlägigen Meßinstrumente. Ihre düstere Miene ließ Schlimmes ahnen. »Nichts«, sagte sie, und die Art, wie sie das Wort hervorstieß, hatte etwas Endgültiges an sich. Als Hayes nicht reagierte, fuhr sie fort: »Keine Absorptionslinien, die auf die Atmosphäre eines Planeten hinweisen, keine Wärmesenken, die durch einen kalten Satelliten verursacht werden, keine Bahnschwankungen … nichts!« »Wieviel Sonnen wurden untersucht?« fragte er. »Knapp achttausend«, antwortete Brooklyn. »Das läßt uns nicht viel Hoffnung. Kein Planet unter achttausend Sonnen. Wenn diese Relation typisch ist, dann …« »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als eine großmaßstäbliche Erkundungsaktion in Gang zu setzen«, fiel ihm Brooklyn ins Wort. Er sah sie an. Tatkraft strahlte aus den grauen Augen, die unter anderen Umständen so charmant zu lächeln verstanden. Es ging wie ein Ruck durch sein Bewußtsein. Er war bereit gewesen, die Hoffnung aufzugeben. Niedergeschlagenheit und Verzweiflung lenkten seine Gedanken. Brooklyn hatte ihn durchschaut. Sie hatte ihm das Wort abgeschnitten, als sie merkte, daß er bereit war, sich geschlagen zu geben. Sie gab ihm zu verstehen, daß der Augenblick der Hoffnungslosigkeit noch lange nicht gekommen war.
Ein Gefühl der Dankbarkeit stieg in ihm auf. »Du hast recht«, sagte er lächelnd. »Wir dürfen nicht aufhören, uns umzusehen. Wir müssen weiter in die Tiefen dieses fremden Raumes vordringen. Willst du es übernehmen, einen Plan für das Unternehmen zu entwickeln?« »Mein Plan liegt fest«, sagte Brooklyn. »Ich hätte lange genug Zeit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen.«
* Enzo Weevil beäugte die grünlichgelbe Frucht, die aus den hydroponischen Gärten der Solzelle-2 stammte, mit genießerischem Blick, drehte sie mehrmals hin und her, bis er den passenden Angriffswinkel gefunden hatte, und biß zu – so herzhaft, daß ihm der Fruchtsaft aus den Mundwinkeln troff und übers Kinn auf die Tischplatte tropfte. »Du frißt noch immer wie ein Schwein«, bemerkte Naino Kellams mit sachlich-gelassener Stimme von der anderen Seite des Tisches her. »Und du steckst voller Nörgelei«, brummte Enzo, auf beiden Backen kauend. »Was ist das überhaupt für ein Ding?« »Eine Mango«, belehrte ihn die junge Frau. »Wohlschmeckend, bekömmlich und nahrhaft. Viel zu schade für ein Ferkel wie dich. Dir sollten sie aufgebrühte Kartoffeln servieren.« Im Gegensatz zu Enzo Weevil war Naino eine imposante Gestalt. Hochgewachsen und schlank, verriet sie durch den Schnitt ihres Gesichts und die Fülle blauschwarzen Haares ihre asiatischen Vorfahren. Die Augen allerdings bildeten trotz des mandelförmigen Schnitts mit der strahlend blauen Iris einen überraschenden Kontrast. Naino trug die übliche lindgrüne Montur, deren Designer sicherlich nichts weniger im Sinn gehabt hatte, als mit seiner Kreation die Vorzüge des menschlichen Körperbaus zu
unterstreichen. Sein Desinteresse war an Naino zuschanden geworden. Die Uniform kleidete sie vorzüglich. Enzo sah verdutzt und mit triefendem Kinn auf. »Was soll das Gemeckere?« fragte er gereizt. »Du tust so, als wären wir miteinander verheiratet.« »Nein. Aber ich bin gezwungen, mit dir am selben Tisch zu essen«, antwortete Naino ungerührt und fuhr fort, ihre Frucht mit Messer und Gabel zu zerteilen. »Ich muß mir dein Gesabbere Tag für Tag ansehen, und ab sofort habe ich die Nase voll.« Sie legte das Besteck in den Teller. »Ich beantrage einen Transfer.« Enzos Verblüffung wuchs noch um etliche Grade. Dann griff er nach einer Serviette und wischte sich das nasse Kinn ab. Er war nicht, was man eine beeindruckende Gestalt nannte. Breitschultrig, ein wenig stiernackig, blieb er an Körpergröße einen halben Kopf hinter Naino zurück. Seine Haut hatte die olivfarbene Tönung der mittelmeerischen Völker. Er war überall am Körper, selbst auf den Handrücken, dicht behaart, nur auf dem Schädel hatte sich der profuse Wuchs allmählich gelichtet und einer breiten, strahlenden Halbglatze Platz gemacht. Enzo hatte wulstige Lippen und ein Paar dichter Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Die Nase selbst war eher ein Monument als ein Riechorgan. In der Form eines Geierschnabels ragte sie weit aus dem Gesicht hervor. »Du willst den Dienst an Bord des glorreichen Kreuzers URANIA quittieren?« fragte er mißtrauisch. »Es sei denn, der Kreuzer legte sich einen zivilisierteren Kommandanten zu«, entgegnete Naino. »Und von wegen glorreich! Seit ich an Bord der URANIA Dienst tue, hat sie noch keinen einzigen Einsatz erlebt – von Übungsflügen abgesehen.« »Ah, aber das wird sich ändern!« sagte Enzo. »Die URANIA geht in Kürze auf große Fahrt. Ich spüre das im … im …« »Spar's dir«, fiel ihm Naino ins Wort. »Dich und deine Ahnungen kenne ich schon.«
Während sie das Besteck wieder aufnahm und sich dem Verzehr der köstlichen Frucht widmete, öffnete sich das Schott. Ein hochgewachsener Mensch, jung und mit linkischen Bewegungen, trat ein. Er hatte ein großflächiges, ungegliedertes Gesicht, und die hellblauen Augen betrachteten die Welt mit einem Blick, als seien sie auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem. »Da ist die ganze Chefmannschaft der URANIA endlich beisammen«, knurrte Enzo Weevil. »Heh, Dodo -was gibt's Neues?« Der Name des jungen Hünen war in Wirklichkeit Dodart Benz. Er fungierte als Cheffunker des Kreuzers URANIA, dessen Kommando in Enzo Weevils Händen lag, während Naino Kellams das Amt der Kopilotin innehatte. »Oh, nichts«, antwortete Dodo und schob eine Schüssel mit dampfendem Inhalt vor sich hin auf den Tisch. Er angelte sich einen Löffel und schlug kräftig ein. Erst nach etlichen Bissen bequemte er sich fortzufahren: »Es sei denn, du meinst die Sache mit der Suchexpedition.« »Suchexpedition?« fuhr Enzo auf. »Was ist damit?« Dodo wollte seine Mahlzeit gemächlich fortsetzen; aber Enzo fiel ihm in den Arm und hielt die Hand mit dem Löffel fest. »Mach den Mund auf, Mensch«, knurrte er wütend. »Was für eine Expedition ist das?« »Brooklyn hat den Auftrag erhalten, einen kleinen Verband von Schiffen auf die Suche nach Planeten zu schicken«, antwortete Dodart Benz. »Brooklyn, heh?« machte Enzo und bekam leuchtende Augen. Er hatte eine Vorliebe für reifere Frauen, und die Kommandantin der Solzelle-2 war seine Favoritin. »Ob sie wohl an uns gedacht hat?« »Na klar«, grinste Dodo. »Sie macht die URANIA zu ihrem Flaggschiff.«
2.
Er hatte kein wirkliches Empfinden für den Ablauf der Zeit. Er nahm an, daß zwischen je zwei Besuchen seines Freundes Valrik mehrere Stunden verstrichen; aber sicher war er seiner Sache nicht. Seine anfängliche Ungeduld war inzwischen jedoch geschwunden. Er nützte die Zeit der Untätigkeit, um mit sich ins reine zu kommen. Eine schwere Aufgabe wartete auf ihn. Es durfte keine Spur von Unsicherheit mehr geben, wenn der entscheidende Augenblick kam. Zu Anfang hatte ihn gestört, daß es eine Vergangenheit gab, an die er sich nur noch düster erinnerte, und daß er sich in einer Umgebung befand, die ihm merkwürdig vertraut vorkam, ohne daß er hätte sagen können, woher er sie kannte. Namen und Gesichter, Gestalten, Umrisse schwebten durch seine in Unordnung geratene Erinnerung: Hapeldan, Schalter, Chybrain, Gammler – ein eiförmiges Gebilde, das smaragdgrün und rubinrot schimmerte, ein Mensch, der in Wirklichkeit ein Molaate war, ein defekter Roboter. Am Anfang hatte er voller Verzweiflung versucht, den Gesichtern Namen zuzuteilen und die Namen mit Gestalten versehen; aber jetzt wußte er, daß dies alles ohne Belang war. Wichtig war nur der, der ihm diesen Auftrag erteilt hatte. Valrik nannte ihn den Architekten, und auch Atlan hatte sich angewöhnt, ihn mit diesem Namen zu bezeichnen. Wichtig war vor allen Dingen der Auftrag selbst: das Raumschiff seinen unrechtmäßigen Besitzern abzunehmen und es dem wahren Eigentümer zuzustellen. Das Raumschiff. Die SOL. Irgend etwas verband ihn mit diesem Namen; aber er wußte nicht mehr, was es war. Manchmal, während der ersten Stunden, hatte er sich gefragt, ob die Gedanken, die sich in seinem Bewußtsein tummelten, aus seinem eigenen Verstand entsprungen oder ihm von außen her eingegeben worden waren. Es war ihm mitunter so vorgekommen, als hätte er nicht nur seine Erinnerung, sondern auch seinen freien Willen verloren. Aber die Zweifel waren inzwischen geschwunden. Er war eins mit sich selbst und seinen Überlegungen. Die Identitätskrise war überstanden.
Als Valrik ihn wieder besuchte, war er allein in dem großen Raum mit der Liege, dem Tisch und den vielen Instrumenten. Zwar hielt er es für so gut wie sicher, daß die Wesen, die sich des öfteren hier zu schaffen machten und die er Menschen oder Solaner nannte, Geräte installiert hatten, mit denen sie ihn aus der Ferne beobachten konnten. Aber davor brauche Valrik sich nicht zu fürchten. Der Gnom war nur seinen, Atlans, Augen sichtbar. So, wie nur Atlan die Worte hören konnte, die er sprach. »Bald ist es soweit«, sagte Valrik, und sein schielendes Auge glomm im düsteren Glanz der Vorfreude. »Das sagst du schon seit wer weiß wie langem«, beschwerte sich Atlan. »Der Erfolg rückt immer näher«, beharrte der Gnom. »Ich spüre nichts. Ich bin noch genauso gefangen wie zuvor. Wie soll ich meinen Auftrag ausführen, wenn ich mich nicht bewegen kann?« »Geduld, mein Freund«, grinste Valrik. »Es war eine schwierige Sache. Zuerst mußte ich in Erfahrung bringen, was für eine Energie das ist, die dich fesselt, und dann hatte ich eine Methode zu finden, wie man sie neutralisiert.« »Das gelang dir?« »Ich weiß, mit welcher Art von Energie ich es zu tun habe«, antwortete Valrik ausweichend. »Aber wie man sie neutralisiert …« »Das ist eine haarige Sache«, unterbrach ihn Valrik hastig. »Es handelt sich um Jenseits-Energie. Sie gehorcht den Gesetzen unseres Raumes nicht. Ich kann ihren Einfluß zeitweilig schwächen, aber ich kann sie nicht beseitigen.« Atlan durchforschte sein Gedächtnis, um zu ermitteln, warum ihm der Begriff »Jenseits-Energie« vertraut erschien. Aber wie bei ähnlichen Versuchen in der Vergangenheit hatte er auch diesmal keinen Erfolg. »Wirst du erreichen können, daß ich frei werde?« fragte er den
Gnom. »Nur mit deiner Hilfe«, antwortete Valrik. »Mit meiner Hilfe? Wie kann ich dir helfen?« »Ich benutze die Kraft des Geistes, um die energetische Hülle zu schwächen. Im entscheidenden Augenblick, wenn ihr Bann fast gebrochen ist, mußt du mir von innen her zu Hilfe kommen. Dein Geist und der meinige, sie müssen beide zusammen an der Beseitigung der Hülle arbeiten. Und denke daran: die Hülle wird selbst im günstigsten Fall nur für den Bruchteil einer Sekunde durchlässig. In dieser winzigen Zeitspanne mußt du entkommen, oder all unsere Mühe war vergebens.« »Das hört sich kompliziert an«, klagte Atlan. »Wie soll ich wissen …« »Ich will es dir im einzelnen erklären«, fiel Valrik ihm ins Wort. »Im Normalzustand ist die energetische Hülle unsichtbar. Sobald sie eine Schwächung erleidet, beginnt sie zu leuchten. Von innen her wirst du das nicht sehen können; aber die Wesen, die sich des öfteren hier aufhalten, werden es bemerken, und an ihrer Aufregung erkennst du, daß ich mit der Arbeit begonnen habe. Achte scharf auf die Geschöpfe, die sich deine Betreuer nennen: den Menschen mit dem schmutzigen Kittel und den grauen Haaren und das Zwergenwesen mit dem grünen Pelz. An ihrer Reaktion wirst du ablesen können, wann für dich der Zeitpunkt des Handelns kommt …«
* Es gab Dutzende von Monitoren, die den Krankenraum ständig überwachten. Hage Nockemann war von Breckcrown Hayes ein Stab von fünf sachverständigen Mitarbeitern zugewiesen worden. Er hatte sie in der Nähe des Krankenraumes in einem Labor einquartiert, das zur Zentrale umfunktioniert worden war, in der
die Datenströme aller Monitore zusammenflossen. Mindestens zwei Mitglieder des Stabes taten zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Zentrale Dienst. Für Atlans Sicherheit und Wohlergehen war auf diese Weise besser gesorgt, als hätte man eine Kompanie von erfahrenen Medikern um sein Lager postiert. Überlegungen dieser Art waren es also nicht, die Sanny dazu bewogen, mehrmals am Tag den halb verdunkelten Raum aufzusuchen, in dem der Arkonide nun schon seit mehreren Tagen reglos auf seinem Lager ruhte. Sie verbrachte den größten Teil ihrer wachen Stunden hier, ungeduldig auf den Augenblick wartend, da Atlan ein erstes, bewußtes Lebenszeichen von sich gab. Sie hatte das Gefühl, sie müsse etwas versäumen, wenn sie sich nicht ständig in seiner Nähe aufhalte. Auch Nockemann mußte ähnlich empfinden; er war viel öfter hier, als es seine Fürsorgepflicht erforderte. Sanny wußte recht wohl, welche Motive sie bewegten. Es war noch nicht lange her, da hatte sie sich entschlossen, an Bord der SOL zu bleiben, auch wenn ihr die Möglichkeit geboten würde, zu ihrem Volk zurückzukehren. Sie gehörte an die Seite des Arkoniden. Er arbeitete an einem Auftrag von kosmischer Bedeutung, und sie konnte ihm dabei helfen. Die Aussicht, an der Verwirklichung eines Plans mitarbeiten zu können, der von unvorstellbar weisen und mächtigen Überwesen ausgearbeitet worden war und nicht nur einen Stern oder eine Galaxis, sondern das gesamte Universum betraf, erschien ihr atemberaubend, und sie war fest entschlossen, sich diese Möglichkeit nicht entgehen zu lassen. Aber ihr Entschluß war unzertrennbar mit der Person Atlans verknüpft. Kein Atlan, kein kosmischer Auftrag. Deswegen war sie hier. Sie wartete darauf, daß der Arkonide wieder zu sich kam, und während sie neben seiner Liege kauerte, hüllte sie den reglosen Körper in die Aura ihrer sehnsüchtigen Wünsche für eine baldige Genesung. Sie sah auf. Es war ihr, als hätte sie ein Signal empfangen. Verwundert sah sie sich um. Irgend etwas war geschehen. Eine vage
Ahnung sagte ihr, daß sich in Atlans Zustand etwas verändert hatte. Sie musterte den Körper des Bewußtlosen, und schließlich sah sie es: ein mattes, kaum wahrnehmbares Flimmern, das die Gestalt des Arkoniden hauteng wie eine Ölschicht umgab. Eine bunte Leuchterscheinung, so schwach, daß sie sich mehrmals mit der Hand über die Augen fuhr, um sich zu vergewissern, daß sie nicht einem Trick ihrer überreizten Nerven zum Opfer fiel. Sie zog sich bis in den hintersten Winkel des Raumes zurück, wo der Interkom-Anschluß installiert war. Mit jedem Schritt, den sie tat, schien das Leuchten intensiver zu werden. Voller Staunen erkannte sie, daß es sich aus verschiedenfarbigen Flächen zusammensetzte: Abschnitte hellgrüner Lumineszenz grenzten an solche, die in sanftem Rosarot strahlten. Verblüfft und fassungslos nahm sie zur Kenntnis, daß das fremde Energiefeld – die »Indirekt-Aura«, wie Hage Nockemann es nannte -dieselben Farbeffekte aufwies wie der aus substanzloser Jenseits-Materie bestehende Körper jenes Fremdwesens, das der SOL in jüngster Vergangenheit aus Situationen akuter Gefahr geholfen hatte: Chybrain. Ohne den Blick von dem Bewußtlosen zu wenden, griff sie hinter sich und aktivierte den Interkom. Das Gerät war per Standkanal mit der Zentrale verbunden. »Ja, ich sehe es, Sanny«, meldete sich Hage Nockemann. Die Molaatin fuhr herum. Von dem kleinen Bildschirm blickte der grauhaarige Wissenschaftler zu ihr herab. Sein Gesicht hatte sich gestrafft; die Falten schienen verschwunden. Die Augen leuchteten im Widerschein gespannter Erregung. »Laß ihn nicht aus den Augen, Sanny«, sagte Nockemann mit beschwörender Stimme. »Ich bin auf dem Weg.«
* Mit Hilfe eines Stuhls turnte sie auf den Tisch, auf dem eine Batterie
von Monitor-Geräten aufgebaut war. Von hier oben hatte sie besseren Überblick. Sie täuschte sich nicht: das Leuchten der Indirekt-Aura nahm ständig zu, und je intensiver es wurde, desto mehr verschwammen die Linien des Gesichts, die Umrisse der Hände, die Einzelheiten der Kleidung, die der Arkonide trug. Mit einemmal war der große Krankenraum in ein unwirkliches Licht getaucht. Das grün-rote Leuchten der Aura übertraf an Helligkeit die gedämpften Leuchtplatten der Decke. Sanny hockte sich auf die Tischplatte und zog die Knie zu sich heran. Wie gebannt starrte sie auf das schimmernde Energiefeld, das auf so ungewöhnliche Weise zum Leben erwacht war. Einmal ertappte sie sich dabei, wie sie unterbewußt nach dem geheimnisvollen Flüstern lauschte, mit dem Chybrain seine Anwesenheit kundzutun pflegte. Aber es war still im Mentaläther. Die Indirekt-Aura mochte dieselben Farbeffekte besitzen wie Chybrains Körper; aber sie war nicht Chybrain. Stille? Nein, nicht ganz. Sie empfand etwas, etwas Häßliches und Gemeines, das sie schaudern machte. Es war wie eine zu Mentalschwingungen umgesetzte Emotion, die Haß und Schadenfreude, Mordlust und zynische Zerstörungswut in sich vereinte. Sie erschrak. Sie vergaß für einen Augenblick, auf den bewußtlosen Arkoniden zu achten. Sie horchte in sich hinein und versuchte, zu ergründen, aus welcher Richtung die feindlichen Impulse kamen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, im grün-roten Zwielicht die verwachsene Gestalt eines Gnomen zu sehen, der drüben, auf der anderen Seite des Raumes, auf einer Wandleiste hockte und sie aus schielenden Augen hämisch anstarrte. Der Gnom war nur eine Erscheinung, die im selben Augenblick wieder verblaßte. Und dennoch senkte er Angst und Schrecken in Sannys Herz. So intensiv waren die haßerfüllten Schwingungen des Mentaläthers, daß ihre Phantasie den Gnomen hatte erfinden und als Ausgangspunkt der feindlichen Strahlung identifizieren müssen.
Die fahle Helligkeit begann zu flackern. Ihr Blick kehrte zu dem bewußtlosen Arkoniden zurück. Voller Entsetzen erkannte sie, daß die Indirekt-Aura an mehreren Stellen aufgerissen war. Atlan hatte sich zu bewegen begonnen. Durch eine der Lücken in der Aura schob sich ein Arm, fuhr durch die Luft, als suche er einen Halt, und wurde wieder zurückgezogen. Ein Gefühl des Grauens überkam Sanny. Sie hatte Angst. Das Gefühl der Zuversicht, das ihr der Anblick der grün-roten Aura eingeflößt hatte, war längst vergangen. Die Aura mochte das Werk einer freundlichen Macht sein, die den Arkoniden zu schützen versuchte; aber in diesem Augenblick stand sie im Widerstreit mit feindlichen Kräften, denen sie nicht gewachsen war. Atlans konvulsivische Bewegungen ließen sich nicht mißdeuten. Er strebte mit aller Kraft danach, der Aura zu entkommen. Er wollte ihren Einfluß von sich abschütteln. Wenn aber die Aura das Erzeugnis einer freundlich gesinnten Macht war, die den Arkoniden vor den Machenschaften des Hidden-X zu schützen versuchte, was spielte sich dann während dieser Sekunden in Atlans Bewußtsein ab? Er sträubte sich gegen das schützende Hüllfeld, weil Hidden-X' Bann in ihm lebendig geworden war. Er handelte nicht aus eigenem Antrieb. Er war das Werkzeug einer fremden Kraft! Sanny sprang vom Tisch herab und eilte in Richtung des Ausgangs. Hage Nockemann war auf dem Weg hierher. Warum brauchte er so lange? Sie griff nach dem Schalter des Servomechanismus, der eigens für sie in einer Höhe von knapp sechzig Zentimetern über dem Boden angebracht worden war. Weg von hier! hämmerte es in ihrem Bewußtsein. Die feindliche Ausstrahlung des fremden Bewußtseins erfüllte den Raum wie mit einem Gewebe klebriger Stränge, durch das sie sich zu kämpfen hatte. Sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Ein höhnisches Gelächter gellte ihr in den Ohren. Sie wandte sich um. Der Gnom schwebte nur ein paar Schritte hinter ihr. Das häßliche Gesicht war zu einer Grimasse der Schadenfreude verzerrt, und der
verwachsene Leib zuckte unter dem Einfluß eines lautlosen Lachanfalls. Das Schrillen des Warnsignals riß Sanny in die Wirklichkeit zurück. Der Spuk verschwand. Sie wirbelte herum und sah die rote Warnleuchte blinken. Der Riegel des Schotts war blockiert. Von draußen hämmerten Fäuste gegen die hellgraue Fläche aus Polymermetall. Nockemann! Er konnte nicht herein. Sie war gefangen! Hilfesuchend wandte sie sich um. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, als sie sah, wie die Aura, die den Körper des Arkoniden umgab, plötzlich hell aufflammte und einen Sekundenbruchteil später erlosch. Atlan richtete sich auf. Er schwang die Beine über den Rand der Liege und setzte die Füße zu Boden. Er stand auf. Seine Bewegungen waren die eines Automaten; er setzte einen Fuß vor den anderen, als werde er von einem fremden Einfluß gelenkt. Sein Gesicht war ausdruckslos, während er sich auf das Schott zubewegte. Sanny wich vor ihm zurück. Aber der Arkonide bemerkte sie. Er hielt inne, bückte sich und griff sie auf. Er riß sie in die Höhe, bis sie ihm geradewegs in die Augen blicken konnte – Augen, aus denen ihr kalte, unerbittliche Entschlossenheit entgegenstrahlte. »Auch du wirst mich nicht aufhalten«, sagte er. Er öffnete die Hand, mit der er ihre Hüfte umklammert hatte. Sie stürzte anderthalb Meter tief – keine Distanz, die ihr üblicherweise etwas ausgemacht hätte. Aber sie fiel auf die Schiene, in der die beiden Schotthälften sich bewegten. Ein stechender Schmerz zuckte ihr durch den linken Fuß, und als sie sich auf dem rechten Bein in die Höhe zu stemmen versuchte, prallte sie mit voller Wucht gegen den metallenen Rahmen des Schottes. Das geplagte Bewußtsein gab auf. Sanny versank im wohltätigen Dunkel der Ohnmacht.
* Das Rettungskommando, das kaum eine Minute später am Ort des Geschehens erschien, fand eine verwirrende Szene. Draußen auf dem Korridor lag Hage Nockemann, bewußtlos, aus einer Platzwunde auf der Stirn blutend. Das Schott zum Krankenraum stand offen. Der Riegelmechanismus war mißhandelt worden und unbrauchbar. Drinnen fand man Sanny, ebenfalls bewußtlos, jedoch ohne Anzeichen äußerer Gewaltanwendung – abgesehen von einer kräftigen Beule am Hinterkopf, die sie sich jedoch wahrscheinlich selbst beigebracht hatte. Von dem Arkoniden, der sich bis vor kurzem hier aufgehalten hatte, fehlte jede Spur. Man hörte sich um. Der Krankenraum befand sich in einem abgelegenen Sektor der SOL-Mittelzelle. Es gab hier wenig Verkehr. Von den wenigen, die zur fraglichen Zeit auf den benachbarten Gängen unterwegs gewesen waren, hatte keiner etwas Ungewöhnliches bemerkt. Atlan, von dem man vor kurzem nicht gewußt hatte, ob er jemals wieder zu sich kommen werde, war spurlos verschwunden. Nockemann reagierte nur zögernd auf die routinemäßigen Wiederbelebungsversuche. Es stellte sich heraus, daß sein Gehirn infolge des Schlages, den er erhalten hatte, nachhaltig durcheinandergeraten war. Man schaffte ihn zur nächsten Medostation, wo Mittel zur Verfügung standen, die Folgen einer massiven Gehirnerschütterung zu neutralisieren. Sanny dagegen war sofort wieder auf den Beinen. Sie klagte über Kopfschmerz, gegen den ihr niemand helfen konnte, weil Medikamente und Therapien, die auf den molaatischen Metabolismus abgestimmt waren, bisher nur in begrenztem Umfang hatten entwickelt werden können. Einer der Männer, die zu Nockemanns Stab gehörten, bot ihr an, sie in die Zentrale zu bringen; aber sie lehnte ab. »Laßt mich hier«, sagte sie. »Ich muß mich umsehen. Der Riegel muß repariert und das Schott geschlossen werden. In diesem Raum
muß alles so bleiben, wie es ist, bis Hage Nockemann wieder auf den Beinen steht und die Lage inspizieren kann.« Ihre Anweisungen wurden befolgt. Inzwischen übernahm sie selbst es, die Kommandozentrale über die erstaunlichen Ereignisse zu informieren. Breckcrown Hayes war sichtlich beunruhigt. »Du meinst, Atlan ist einfach … davongestürmt, ohne sich …« »Atlan handelt nicht aus freien Stücken«, fiel Sanny ihm ins Wort. »In dem Augenblick, in dem uns die Schockwelle traf, übernahm ein fremdes Bewußtsein die Kontrolle über seinen Verstand. Er ist nicht er selbst, und er ist wahrscheinlich … gefährlich.« Der High Sideryt starrte sie aus schreckgeweiteten Augen an. »Laß nach ihm suchen«, riet sie. »Je eher wir ihn finden, desto besser für ihn und für uns.« Sie unterbrach die Verbindung. Ein kleiner, schwebender Robot hatte inzwischen den Riegelmechanismus des Schottes wieder instand gesetzt. Sanny betätigte den Servo und wartete, bis die beiden Flügel des Schottes sich geschlossen hatten. Dann aktivierte sie den Riegel. Sie sah sich um. Das ungewisse Leuchten der Indirekt-Aura war erloschen. Sie blickte zu der Leiste empor, auf der sie den Gnomen hatte sitzen sehen. Der Spuk war verschwunden. Der Raum wirkte so normal wie zuvor. Der Tisch, auf dem die Instrumente standen, war ein wenig zur Seite gerückt. Der Arkonide war gegen ihn gestoßen, als er vom Lager aufsprang. Nein – nicht völlig normal, verbesserte sie sich. Auf der Liege ruhte die leere Hülle des fremden Energiefelds. Ihr leuchtender Glanz war erloschen und hatte einem matten, ungewissen Schimmer Platz gemacht. Sanny betrachtete das fremdartige Gebilde mit ehrfürchtigem Staunen. Es war wie ein Kokon und hatte die Form des Körpers, der in ihm eingeschlossen war, beibehalten. Von den Lücken, die Sanny aufgefallen waren, hatten sich die meisten wieder geschlossen. An den Rändern der wenigen, die noch übrig waren, befand sich die energetische Substanz des Kokons in Bewegung. Sie
schien zu fließen und sich zu strecken, offenbar bestrebt, die Öffnung zu verschließen. Aber es war nicht genügend Substanz vorhanden. Die Lücken blieben. Was immer geschehen war, als die Aura zusammenbrach und den Arkoniden freigab, es hatte dem Hüllfeld Energie geraubt und es in einem geschwächten Zustand zurückgelassen. Zaghaft näherte Sanny sich der Liege. Sie streckte die Hand aus und spürte ein leises, nicht unangenehmes Kribbeln auf der Haut, als sie das substanzlose Gebilde berührte. Sie hob es mühelos in die Höhe, und als sie die Hand zurückzog, blieb es reglos in der Luft schweben.
* Er kannte dieses Schiff wie die Innenfläche seiner Hand! Als er durch das offene Schott stürmte, hatte sich ein düsterer Vorhang vor seinem inneren Auge geöffnet, und er erkannte, daß er diesen Korridor schon Hunderte von Malen entlanggeschritten war – in einer Vergangenheit, mit der ihn sonst keine Erinnerung mehr verband. Er wußte, daß seine Flucht beobachtet worden war und daß man hinter ihm herkommen würde, um ihn wieder einzufangen. Sie waren von teuflischer Schläue, diese Wesen, die sich des großen Schiffes bemächtigt hatten und nichts davon hören wollten, daß es in Wirklichkeit das Eigentum eines anderen war. Er würde sich anstrengen müssen, wenn er sie täuschen wollte. An der Kreuzung zweier Korridore wartete er, bis weit im Hintergrund das Rettungskommando auftauchte. »Du riefst.« »Ich brauche Waffen, Sprengsätze, Chemikalien – alles Mögliche. Welche Vorbereitungen hast du getroffen?« Valrik grinste.
»Einige, aber noch längst nicht alle«, antwortete er. »Ich wußte nicht, daß du es so eilig haben würdest.« Atlan stemmte sich von der Wand ab und beugte sich nach vorne. Sein Blick war eindringlich auf Valrik gerichtet. »Du unterschätzt die Wesen, die an Bord dieses Schiffes leben«, sagte er. »Sie werden uns nicht viel Zeit lassen. Schon jetzt sind sie auf der Suche nach mir. Wenn sie mich zu fassen bekommen, ist unsere Chance vertan. Je rascher wir handeln, desto mehr Aussicht auf Erfolg haben wir. Wir dürfen sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Ein Schlag muß auf den anderen folgen – so rasch, daß sie nur noch ans eigene Überleben denken können.« Der Gnom nickte anerkennend. »So hat der Architekt sich seinen Helfer vorgestellt, dessen bin ich sicher«, antwortete er. »Entschlossen und tatendurstig. Was du brauchst, läßt sich leicht beschaffen, zumal du mich als Helfer hast. Komm mit – ich zeige dir die Vorräte, die ich für dich angelegt habe.«
3. Das gellende Gekreisch der Warnanlage riß Enzo Weevil aus dösendem Schlummer. Die Beine rutschten von der Kante der Konsole; der Sessel kippte nach vorne und hätte Enzo auf den Boden befördert, wenn nicht die Gurte gewesen wären, die ihn festhielten. »Guten Morgen«, sagte eine sarkastische Stimme hinter ihm. »Ich hoffe, der Kommandant empfindet die Unterbrechung seines Schläfchens als nicht zu unangenehm.« Enzo zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen, während seine Finger über die Tastatur der Konsole eilten. Brooklyn! Wann immer er einnickte, war sie irgendwo in der Nähe und machte anzügliche Bemerkungen über seine Schläfrigkeit. Was erwartete sie von ihm?
Die URANIA stand über zweihunderttausend Lichtjahre von der SOL entfernt inmitten eines Universums, in dem es nur planetenlose Sonnen gab. Seit mehreren Tagen hatten die Sensoren keinen einzigen Blip von sich gegeben. Welchen Unterschied machte es, ob er die bohrende Langeweile offenen oder geschlossenen Auges über sich ergehen ließ? Das Datengerät erwachte zum Leben. Die Sirenen verstummten. Zeichenketten erschienen auf der Sichtfläche. »Heiliger Bonifaz von Exeter!« stöhnte Enzo. »Das gibt es nicht.« »Was gibt es nicht?« fragte die Stimme hinter ihm. »Spektrum 07, Durchmesser dreißig Millionen Kilometer! Ein Gigant, der in ein paar Millionen Jahren seinen Treibstoff verbrennt und sich in ein schwarzes Loch verwandelt. Ein blauer Riese! Wie sollte er einen Planeten hervorgebracht haben?« »Was besagt die Anzeige?« »Wärmesenke. Örtliche Verminderung der Strahlungsdichte – mein Gott, das muß ein Klotz sein!« Er übermittelte die Daten an den Computer und erhielt zwei Sekunden später die Antwort. »Extrapolierter Durchmesser zweihunderttausend Kilometer, gegenwärtiger Sonnenabstand dreißig Astronomische Einheiten, das sind über vier Lichtstunden.« »Distanz zur URANIA?« erkundigte sich die Stimme. »Dreizehn Lichtjahre«, antwortete Enzo. »Sofort anfliegen!« Enzo seufzte und nahm die entsprechenden Schaltungen vor. Die URANIA beschleunigte und verschwand etliche Minuten später im Linearraum. Enzo widerstand der Versuchung, die Lehne des Sessels nach hinten zu kippen und die Füße auf den Rand der Konsole zu legen. Brooklyn saß neben ihm und hatte den Blick starr auf die Instrumente gerichtet. Er bewunderte sie – ihre Haltung, ihr Pflichtbewußtsein, ihre charmante und dennoch unnahbare Vornehmheit, die er um so unwiderstehlicher fand, als ihm selbst
der noble Schliff der höheren Klassen völlig abging. Einen ungehobelten Bauern nannte ihn Naino Kellams bei jeder Gelegenheit, die sich bot – und deren gab es viele – einen windigen Scherenschleifer, eine Bremse im Getriebe menschlicher Gesittung; sie entwickelte eine unglaubliche Phantasie, wenn es darum ging, sich Namen für ihn auszudenken. Nainos Nörgeleien störten ihn nicht. Mit ihr hatte er nicht mehr zu schaffen, als das Bordreglement vorschrieb. Brooklyn dagegen, das war etwas ganz anders. Brooklyn wollte er beeindrucken. Er wünschte sich, daß sie etwas anderes in ihm sähe als nur den Untergebenen, dessen Aufgabe es war, ihre Anweisungen auf möglichst schnelle und effiziente Art auszuführen. Er wollte sie beeindrucken. Er wollte ihr zeigen, daß mehr in ihm steckte als die Substanz eines zwar guten, aber ungeschliffenen Schiffsführers. »Was für einen Planeten erwartest du zu finden?« fragte er. »Doch sicherlich keine Welt, die als Landeplatz für die SOL in Frage käme?« Sie sah auf und musterte ihn mit einem Blick, der ihm zu verstehen gegeben hätte, daß sie lieber in Ruhe gelassen sein wollte – wenn er sich nur ein wenig besser auf das Deuten menschlicher Physiognomien verstanden hätte. »Warum soll ich raten, wenn ich ihn in ein paar Minuten zu sehen bekomme?« antwortete sie. »In den wenigen Fällen, in denen blaue Sternriesen vom O-Typ Planeten hervorbringen, sind diese ebenfalls Giganten – reich an Wasserstoff und Helium, gewaltige Gasbälle mit einem winzigen Kern. Ungeeignet für die Hervorbringung und Erhaltung von Leben.« »Warum also machen wir uns die Mühe?« fragte er verwundert. »Weil das alles nur Theorie ist und wir uns auf Spekulationen nicht verlassen dürfen. Wir müssen wissen, wie die Sache sich wirklich verhält.« Enzo Weevil dachte an die Enttäuschung zurück, die sie vor vierzig Stunden erlebt hatten. Die Spürer hatten in der Gravisphäre
einer gelben Sonne vom Sol-Typ Planeten entdeckt – nicht einen, sondern gleich zwei! Sie bewegten sich auf identischer Umlaufbahn, um 180° phasenverschoben. Hätte es auf einer der beiden Welten Bewohner gegeben, sie hätten die andere nie zu sehen bekommen, weil sie aus ihrer Sicht jeweils hinter der Sonne stand. Aber es gab keine Bewohner – und keine Hoffnung, daß die SOL hier einen Hafen finden könne. Beide Planeten bestanden aus Wasser. Die Begeisterung, die beim ersten Signal der Spürer an Bord der URANIA ausgebrochen war, hatte alsbald tiefer Enttäuschung Platz gemacht. Die gelbe Sonne stand 180.000 Lichtjahre von der SOL entfernt. So umfassend war die Niedergeschlagenheit, als die URANIA abdrehte und Kurs auf ihr nächstes Ziel nahm, daß kaum einer bemerkte, welch wichtige Erkenntnis hier gewonnen worden war. Dieses Universum besaß Planeten. Sie waren dünner gestreut als in jenem Kontinuum, aus dem die SOL kam. Aber sie waren vorhanden, und die Enttäuschung, daß die ersten beiden Funde sich für die Zwecke der SOL nicht verwenden ließen, durfte nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine ausreichend geduldige Suche schließlich eine Welt zutage fördern würde, auf der die SOL getrost vor Anker gehen konnte. Lediglich Enzo – und wahrscheinlich auch Brooklyn – war dies zu Bewußtsein gekommen. Er hatte kein Wort darüber verloren. Im Bann der allgemeinen Depression hätte ohnehin niemand auf ihn gehört. Er schrak auf, als der große Bildschirm sich unversehens klärte. Das milchige Grau des Linearraums verschwand, wurde verdangt vom Geflimmer der winzigen Lichtpunkte Tausender von Sonnen. Und vom überwältigenden Glanz eines blauen Sternenriesen, der sich in geringer Entfernung vor der URANIA durch das fremde All bewegte. Seitwärts schälte sich sichelförmig der Umriß eines Planeten aus dem diffusen Hintergrundleuchten. Parallel angeordnete Wolkenbänder bedeckten die Oberfläche der Sichel. Die Warnanlage meldete sich von neuem. Die Spürer hatten
ermittelt, daß die fremde Welt Herrin über eine stattliche Anzahl von Satelliten war. Zwölf Monde waren binnen zwei Minuten nach dem Auftauchen aus dem Linearraum einwandfrei nachgewiesen. »Da haben wir uns was vorgenommen«, murmelte Enzo Weevil verstört.
* So ungefähr stellte Enzo Weevil sich die Hölle vor. Aus achtzig Kilometern Entfernung sah die zu Bändern geordnete Atmosphäre des fremden Planeten nicht mehr so ordentlich aus wie aus größerer Distanz. Stürme von einer Wucht, die sich menschliches Vorstellungsvermögen nicht mehr ausmalen konnte, wühlten in den aus Eiskristallen und kondensierten Gasen bestehenden Wolkenmassen. Zyklone trieben die milchige Substanz mit atemberaubender Geschwindigkeit vor sich her und erzeugten wirbelnde Trichter, die bis hinunter auf die Oberfläche des Planeten zu reichen schienen. Protuberanzen schossen aus der Wolkendecke hervor, aufgepeitscht und emporgerissen von mörderischen Tornados. Es war ein riesiger Mahlstrom, angetrieben von den Urkräften der Natur. »Da wollen wir hindurch?« Es war keine besonders intelligente Frage; Enzo erkannte es an Brooklyns strafendem Blick und schalt sich selbst einen Narren. Er wußte gut genug, daß die Feldschirme der URANIA wesentlich Schlimmerem standhalten konnten. Auf dem kleinen Interkom-Bildschirm erschien Dodart Benz' einfältiges Gesicht. »Wir empfangen scharf gebündelte elektromagnetische Strahlung«, sagte er. »Extrem langwellig.« »Woher kommt sie?« erkundigte sich Brooklyn, bevor Enzo auf die Meldung seines Cheffunkers reagieren konnte.
»Von unten durch die Wolkendecke«, antwortete Dodart. »Vermutlich von der Oberfläche des Planetenkerns.« »Moduliert?« »Nein.« »Natürlichen Ursprungs?« Dodart hob die Schultern. »Unwahrscheinlich«, sagte er. »Die Strahlung ist streng monochromatisch, es gibt keine Phasenunterschiede, und die Bündelung ist so scharf …« Er unterbrach sich und blickte zur Seite. »Weg!« stieß er verblüfft hervor. »Wir empfangen nichts mehr. Das Bündel ist an uns vorbei.« Minuten später – die Verbindung zum Funklabor war längst getrennt – sagte Brooklyn plötzlich: »Ein Peilsignal! Ein Leuchtfeuer! Ganz klar – es kann nichts anderes sein.« Und als sie Enzos fragenden Blick bemerkte, fuhr sie voller Eifer fort: »Gesetzt den Fall, es gäbe auf dieser Welt intelligentes Leben, und gesetzt den Fall, die fremden Intelligenzen hätten die Raumfahrt entwickelt, dann müßten sie Funkleuchtfeuer einrichten. Wie sonst sollten sich ihre Fahrzeuge zurechtfinden? Durch diese Suppe dringt kein Licht, keine normale Strahlung. Extrem langwellige Strahlung, sagte Dodo. Wellenlänge ein paar tausend Kilometer. Frequenz um die einhundert Hertz. Damit kommt man durch. Es paßt alles zusammen!« Enzo Weevil schüttelte den Kopf. »Das ist alles wilde Spekulation«, sagte er, »und eine schlechte noch obendrein.« Brooklyn blitzte ihn zornig an. »Wieso schlecht?« Enzo wies auf das Bild, das die wirbelnden Wolkenmassen zeigte. »Wenn dort unten etwas lebt, hat es die Sterne nie zu sehen bekommen«, sagte er. »Wer von den Sternen nichts weiß, entwickelt keine Raumfahrt.« Er sah ihr an, daß das Argument sie beeindruckte. Sie schwieg und blickte nachdenklich vor sich hin. In diesem Augenblick meldete Naino Kellams: »Unidentifizierbares Objekt nähert sich aus Richtung der obersten
Wolkenschichten.«
* »Ein Klotz!« staunte Enzo. »Ein Felsbrocken.« Das fremde Objekt hatte sich vom Wolkenhintergrund gelöst und trieb mit geringer Fahrt durch das All. Auf dem Orterschirm war es nur ein funkelnder Reflex, und die Optik zeigte es als matten, kaum wahrnehmbaren Lichtpunkt; aber die Teleskope holten es heran und enthüllten ein Gebilde von unregelmäßiger Form, einen Felsbrocken, wie Enzo Weevil gesagt hatte, dreihundert Meter lang und mit einer Dicke von achtzig Metern, am ehesten einer krumm gewachsenen Erdnuß vergleichbar. »Ein Satellit?« fragte Brooklyn verwundert. »Unmöglich! Satelliten innerhalb der planetarischen Atmosphäre gibt es nicht.« »Wenn es den bisherigen Kurs beibehält«, meldete Naino, »kommt es im Abstand von weniger als zwanzig Kilometern backbords vorbei.« Das Fiepen einer Computeranzeige, die etwas Ungewöhnliches zu berichten hatte, mischte sich in ihre Stimme. Sekunden später fuhr Naino voller Aufregung fort: »Das Objekt bewegt sich nicht auf einer Inert-Bahn! Seine Geschwindigkeit ist zu gering für einen stabilen Orbit. Es müßte von rechts wegen abstürzen.« Brooklyns Finger glitten über die Tastatur des zentralen Ortergeräts. »Keine Spur einer Triebwerkstätigkeit«, hörte Enzo sie murmeln. »Gerechter Gott, du meinst doch nicht, das Ding wäre ein …« »Fahrzeug!« fiel sie ihm ins Wort. »Warum nicht? Was sonst sollte es sein? Wie könnte es sich auf dieser Bahn halten, wenn es nicht …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie hatte die Ruftaste des Interkoms getippt, und Dodart Benz' materialisierte von neuem auf der Videofläche.
»Hast du das Ding im Visier?« wollte Brooklyn wissen. »Das, und eine Batterie von Funkgeräten in Betrieb«, nickte Dodart. »Ich bombardiere den Klotz mit allen Interpretationscodes, die sich menschlicher Erfindergeist je ausgedacht hat, Hyper und Standard.« »Und?« fragte Brooklyn. »Nichts.« Dodart schüttelte den Kopf, daß die Haare flogen. »Wenn da drüben etwas Lebendiges ist, dann hört es uns entweder nicht – oder es will uns nicht hören.« »Abstand achthundert Kilometer«, meldete Naino. »Wir könnten ein Beiboot ausschleusen«, meinte Enzo. Er hatte mehr sagen wollen, aber plötzlich fiel ihm der Rest des Satzes nicht mehr ein. Merkwürdig. Er sah Brooklyn verwundert an. »Was sagtest du?« wollte sie wissen. »Ich? Ich dachte … vielleicht … verdammt, es ist mir entfallen. Ich weiß es nicht mehr.« Brooklyn lehnte sich in den Sessel zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Enzo hatte den Eindruck, es sei mit einemmal unheimlich ruhig in der Zentrale geworden. Er sah sich nach Naino Kellams um. Sie saß leicht vornübergebeugt und starrte mit großen schreckgeweiteten Augen, als sähe sie etwas Entsetzliches, auf die Videoscheibe ihres desaktivierten Datengeräts. Enzo stemmte sich mühsam in die Höhe. Er hatte das merkwürdige Empfinden, er sei von einer unsichtbaren Kraft aufgehoben und ein paar Schritte neben der Wirklichkeit wieder abgesetzt worden. Brooklyn, Naino, die Menschen in der Kommandozentrale – sie alle benahmen sich wie Marionetten, die von einem wahnsinnig gewordenen Puppenspieler dirigiert werden. Er rief sie an, schrie ihre Namen. Aber sie reagierten nicht. Es schob sich wie eine finstere Wand zwischen ihn und die Umgebung. Ein paar Sekunden lang blickte er in eine fremde Welt, deren Finsternis durch sanftes, buntes Leuchten gemildert wurde, das aus dem Innern von Bergen hervorbrach. Hoch über ihm war
eine Decke, die aus flüssigem Metall zu bestehen schien, und auf dem Talgrund zwischen den Bergen bewegten sich kleine, ameisenförmige Gestalten, die als einzige Kleidungsstücke leuchtende Gürtel trugen und sich in einer zwitschernden, singenden Sprache miteinander verständigten. Er verdrängte das unwirkliche Bild mit einem wilden Fluch. Er warf sich nach vorne und suchte auf der Konsole nach dem Schalter, den er betätigen mußte, um einen Kurswechsel einzuleiten. Merkwürdig, wie träge die Gedanken sich bewegten. Die Konsole mit ihren Dutzenden von Kontrollelementen schien wie ein fremdes Ding, das ihm zum ersten Mal vor Augen kam. Er las die mnemonisch abgekürzten Aufschriften unter den Schaltern und Anzeigen, um sich zu orientieren. Sein Blick glitt zur Seite und blieb auf der Bildfläche haften, die die teleskopische Aufnahme des fremden Objekts zeigte. Groß und drohend schob es sich vor dem hellen, blauweißen Hintergrund der Wolken heran. Risse und Klüfte in der Oberfläche des Felsens waren deutlich zu erkennen. Es schien Enzo, als sei das Gebilde in eine dünne, wabernde und flimmernde Aura gehüllt, und plötzlich wußte er, woher der fremde Einfluß kam, der ihm den Verstand zu verwirren suchte. »Feuerleitung!« gellte sein Schrei. Er bekam keine Antwort. Der Feuerleitspezialist unterlag ebenso wie alle anderen Mitglieder der Besatzung dem fremden Bann. Enzo brach der Schweiß aus. War er der einzige an Bord, der noch einigermaßen klar denken konnte? Und wenn ja – wieviel Zeit blieb ihm noch? Wie lange noch, bis auch sein Verstand sich endgültig verwirrte? Mit äußerster Konzentration musterte er aufs neue die Schalteranordnung der Konsole. Der Feuerleitspezialist war nicht der einzige, der die Verteidigungsanlagen der URANIA bedienen konnte. Enzo schirmte sich unter Aufwendung aller Kraft von allen nichtwesentlichen Einflüssen ab – und allmählich kam wieder
Ordnung in das bunte Muster der Schalter, Kontaktflächen und Leuchtanzeigen. Die Erinnerung kehrte zurück. Die Serie blauer Tasten dort oben am Rand der Schaltfläche, das war die Steuerung der Desintegrator-Geschütze, eines für jeden 45-Grad-Sektor des Äquatorgürtels. Er betätigte sie der Reihe nach und wartete mit schwindender Geduld, bis die Daten der Zielerfassung auf der Videoscheibe erschienen. Dumpfer Schmerz wühlte in seinem Bewußtsein. Er fühlte seine Kräfte schwinden. Höchstens eine Minute noch, und er verlor die Fähigkeit koordinierten Handelns. Die unregelmäßige Form des fremden Objekts erfüllte die gesamte Bildfläche. Der Fels schien im Begriff, die URANIA zu rammen. Ein rotes Blinksignal erschien auf dem Videoschirm. Die Zielautomatik hatte das in günstigster Position befindliche Geschütz ermittelt und meldete Feuerbereitschaft. Die entsprechende Feuertaste leuchtete in grellem Orange. Enzo Weevil schlug mit der geballten Faust zu. Seine Kraft reichte nur noch für diese einzige Bewegung. Er sank vornüber und blieb schlaff in den Gurten hängen, als das Bewußtsein ihn verließ.
* Jemand rüttelte ihn an der Schulter. »Enzo! Enzo, wach auf!« Er kam zu sich. Die drohende Gefahr war noch deutlich in seinem Bewußtsein. Der Druck, der seinen Verstand zu zerquetschen drohte, hatte nachgelassen. Instinktiv wanderte sein Blick zum Bildschirm. Das fremde Objekt hatte begonnen sich aufzulösen. Der Desintegrator hatte das Feuer eingestellt. Er war darauf programmiert, nur solange zu feuern, wie er von der Steuertaste aus Impulse in Abständen von nicht mehr als fünf Sekunden erhielt. Der kurze Feuerstoß hatte ausgereicht, die Spitze des Felsklotzes in
Gesteinsdämpfe zu verwandeln. Der Rest der Struktur des fremden Objekts war dabei in Mitleidenschaft gezogen worden – ein Effekt, den Enzo Weevil sich vorläufig nicht zu erklären vermochte. Vielfach gezackte Risse waren in den Flanken des Felsens entstanden. Sie verbreiterten sich zusehends. Das fremdartige Gebilde zerfiel in ein gutes Dutzend unregelmäßig geformter Bruchstücke von immer noch recht beeindruckendem Umfang. »Keine Kollisionsgefahr«, meldete Naino Kellams. Enzo sah sich verwundert um. Die Mannschaft der Kommandozentrale hatte den Dienst wieder aufgenommen. Verschwunden war der Spuk, der die Menschen noch vor wenigen Minuten in Marionetten verwandelt hatte. Der Bann war verflogen wie ein böser Traum, und der Feuerleitspezialist starrte verblüfft auf die Anzeigen seiner Instrumente, die auswiesen, daß vor kurzer Zeit eines seiner Desintegratorgeschütze in Tätigkeit gewesen war. »Was ist geschehen?« fragte Brooklyn ungeduldig. Enzo brachte es nicht übers Herz; den Augenblick des Triumphs unausgekostet verstreichen zu lassen. »Was geschehen ist? Ihr wart alle weg, geistig abgetreten.« Er grinste selbstgefällig. »Mir blieb als einzigem der Verstand nicht stehen. Ich erkannte, daß die Gefahr von dem Klotz dort drüben ausging, und eröffnete das Feuer. Etwas anderes blieb mir nicht mehr übrig. Zur Flucht war keine Zeit mehr. Noch ein paar Sekunden mehr, und ich wäre genauso hilflos gewesen wie ihr.« »Heh, da tut sich was!« rief Naino mit schriller Stimme. Zwischen den Bestandteilen des Felsbrockens waren winzige Objekte zum Vorschein gekommen. Sie trieben zunächst wahllos von den Felsstücken fort; aber dann begannen sie sich zu formieren. Sie waren wie ein Schwarm Vögel. Ihr Interesse konzentrierte sich offenbar darauf, möglichst rasch eine ansehnliche Entfernung zwischen sich und die Überreste des desintegrierten Objekts zu legen. »Mein Gott!« stöhnte Brooklyn. »Die Besatzung geht von Bord.«
Enzo hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Er war derjenige, der die unheimliche Ausstrahlung des Felsens am deutlichsten und bei relativ ungetrübtem Bewußtsein am eigenen Leib gespürt hatte. Aber er war noch immer nicht bereit, Brooklyns an den Haaren herbeigezogene Hypothese zu akzeptieren und den Planeten für bewohnt, den Felsklotz für ein Raumschiff und die Schar winziger Punkte für eine Besatzung zu halten, die ihr in Auflösung befindliches Raumschiff aufgab. Aber dann sah er, wie die Bruchstücke des Felsens den Kurs zu ändern begannen. Sie trudelten in Richtung der Wolkendecke. Sie stürzten ab! Naino Kellams hatte zuvor beobachtet, daß die Geschwindigkeit des Klotzes viel zu gering war, um ihn auf einer stabilen Umlaufbahn zu halten. Es mußte noch eine andere Kraft am Werk gewesen sein, die den Felsen auf Kurs hielt. Diese andere Kraft existierte jetzt nicht mehr. Die Analogie drängte sich förmlich auf. Enzos Desintegrator-Schuß hatte das Triebwerk des fremden Gebildes zerstört. Enzo straffe sich. Seine Erwiderung hatte er vergessen. Es war Zeit, das Unglaubliche zu glauben. »Fertigmachen zur Aufnahme von Schiffbrüchigen!« hallte sein Befehl durch die Zentrale.
4. Sanny war die erste, die es bemerkte. »Riechst du das?« fragte sie Hage Nockemann, der soeben von einem Mediker die Erlaubnis erhalten hatte, sich von seinem Lager zu erheben und ein paar Probeschritte zu machen. Nockemann schnüffelte. »Ich rieche weiter nichts als das häßliche Zeug, das sie mir auf den Schädel geschmiert haben«, brummte er. »Die Luft wird schlecht«, sagte Sanny. Sie hatte ihren Posten im Krankenraum des Arkoniden verlassen,
als ihr bekannt geworden war, daß Nockemanns Wiederherstellung mehrere Stunden in Anspruch nehmen würde. Niemand hatte ihr verwehrt, in einem Vorraum der kleinen Bordklinik zu warten, bis Nockemann soweit war, daß man sich wenigstens mit ihm unterhalten konnte. Das Gespräch war allerdings wenig fruchtbar ausgefallen. Man hatte Hage Nockemann, um seiner massiven Gehirnerschütterung besser beikommen zu können, das Zentrum der Schädelplatte rasiert, ihm »eine Tonsur« geschnitten, wie er es ausdrückte. Er war so erbost über die Verschandelung seines ohnehin schütteren Haarwuchses, daß er an keinem anderen Thema nennenswertes Interesse fand. Ein Summer ertönte. Nockemann sah sich fragend um. Die Tür öffnete sich; einer der Medik-Assistenten erschien. »Sauerstoff-Alarm«, sagte er knapp. »Wahrscheinlich eine Fehlfunktion in der Klimaanlage. Lege dich hin und halte die Maske bereit.« Er entschwand, bevor Hage Nockemann auch nur eine der Fragen stellen konnte, die ihm auf der Zunge lagen. Er wandte sich in Richtung seiner Liege, über der in der Wand eine Sauerstoffmaske angebracht war; aber Sanny hielt ihn fest. »Nicht dorthin«, sagte sie und zerrte beharrlich an seinem Hosenbein. »Die Sache ist viel ernster, als der Mediker annimmt.« Nockemann sah mißtrauisch zu ihr herab. »Wie meinst du das?« fragte er. »Woher willst du das alles wissen?« »Denk an Atlan!« mahnte sie. »Er steht unter fremdem Einfluß. Er ist gefährlich. Ich habe dir erzählt, was im Krankenraum geschehen ist.« »Soll ich alles, was von jetzt an an technischen Versagern auftaucht, auf Atlans Konto schreiben?« erkundigte sich Nockemann mürrisch. »Technische Versager und Beulen am Schädel«, antwortete Sanny sarkastisch. »Komm jetzt!«
Der Wissenschaftler folgte ihr widerwillig. Er wurde ungern an den Zusammenstoß vor dem Krankenraum des Arkoniden erinnert. Er wußte nicht mehr im einzelnen, was dort geschehen war – nur, daß das bisher versperrte Schott sich plötzlich geöffnet hatte, ein Mann wie ein Berserker daraus hervorgestürmt war und ihn niedergeschlagen hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Sannys Versicherung zu glauben, daß es nur Atlan gewesen sein könne, dem er den K.-O.-Schlag und damit die obszöne Verschandelung seines Haupthaars verdankte. »Heh, du mußt noch eine Weile hierbleiben!« protestierte der Medik-Assistent im Vorraum. »Deine Wunde ist noch nicht …« »Die Sauerstoffmaske gibt denselben Mief von sich wie die Klimaanlage«, fiel ihm die Molaatin ins Wort. »Ist das wahr?« fragte der Mediker bestürzt. Eine Sirene schrillte. Über die Rundsprechanlage meldete sich ein Roboter: »An alle im Steuerteil der SOL! Der Sauerstoffgehalt der Atemluft ist aus bisher unbekanntem Grund am Sinken. Dieser Effekt wird im gesamten Bereich des Steuerteils beobachtet. Vakuum-Alarm. Ich wiederhole: Vakuum-Alarm. Schutzanzüge sind sofort anzulegen …« Sanny wartete den Rest der Durchsage nicht ab. Sie zerrte an Nockemanns Hosenbein. Der Wissenschaftler bückte sich und hob sie auf. Der breite Korridor, der an der Bordklinik vorbeiführte, füllte sich mit Menschen, die ohne Panik, aber doch mit sichtlicher Eile zum nächsten Raumanzug-Lager hasteten. Nockemann schwamm gegen den Strom. Sein Ziel war die Laborzentrale, die in entgegengesetzter Richtung lag. Sanny, die auf seiner Schulter hockte, beobachtete ihn mit Sorge. Er war durch die Verletzung geschwächt. Die Luft wurde immer schlechter. Würde er durchhalten? Nockemann taumelte durch das Schott, das sich selbsttätig vor ihm öffnete. In der Zentrale befanden sich drei seiner Assistenten,
die die Schutzmonturen bereits übergestreift hatten. Zwei von ihnen stützten Hage Nockemann, der sich vor Atemnot kaum noch auf den Beinen halten konnte. Der dritte eilte zu einem Wandschrank und riß den Raumanzug des Wissenschaftlers hervor. Sanny war zu Boden gesprungen. Sie hatte ihren eigenen Verschlag, in dem sie ihre Montur aufbewahrte. Sie brauchte nur wenige Sekunden, um sich anzukleiden. Inzwischen war auch Nockemann außer Gefahr. Sanny schaltete den Helmempfänger so, daß er automatisch auf die Sendungen des Rundsprechs reagierte. Sie kam gerade zurecht, um den folgenden Austausch mit anzuhören: »Breckcrown Hayes hier. Ich suche nach Hage Nockemann. Weiß jemand, wo er sich aufhält?« »Ich bin hier in meinem Labor, Breckcrown«, antwortete Nockemanns krächzende Stimme. »Ich brauche deinen Rat, Hage«, sagte der High Sideryt. »Er hat kaum Kraft zum Luftholen«, mischte Sanny sich ein, »geschweige denn zum Nachdenken.« »Sei ruhig, du grünhaarige Zwergin.« Nockemanns Stimme klang, als verberge sich hinter ihren Worten ein freundliches Grinsen. »Was gibt's, Breckcrown?« »Du und Sanny – ihr seid am besten mit Atlan vertraut. Wir sind sicher, daß er hinter diesem Anschlag steckt. Wir müssen ihn finden, damit er nicht noch weiteren Schaden anrichten kann. Ich habe einen Krisenstab zusammengestellt, der sich mit der gegenwärtigen Lage befaßt. Dazu wollte ich dich und Sanny gerne haben.« Eine Zeitlang war nur Nockemanns mühsames Atmen zu hören. Die Molaatin wagte nicht, sich ein zweites Mal zu Wort zu melden. Schließlich hörte sie Hage sagen: »Laß den nächsten Transmitter justieren. Wir kommen.«
*
»Beeindruckend«, sagte Atlan, nachdem er das Arsenal inspiziert hatte. »Es fehlen Blaster.« Valrik hockte auf einem Behälter, der mehrere hunderttausend winziger Sprengkapseln enthielt. »Wozu brauchst du Blaster?« fragte er. »Gegen Menschen ist dir mit Paralysatoren besser geholfen, und Roboter haben die unangenehme Angewohnheit, wenn sie desaktiviert oder sonstwie ausgeschaltet werden, eine letzte Meldung an die zentrale Positronik abzusenden. Stell dir vor: auf dem Sichtgerät des High Sideryt leuchtet für jeden abgeschossenen Robot ein Lichtpunkt auf, der den Ort des Geschehens genau bezeichnet. Wie lange, meinst du, könntest du überleben?« »Mit deiner Hilfe?« antwortete der Arkonide schulterzuckend. »Wer weiß.« »Unsinn«, tadelte Valrik. »Roboter schaltet man nicht aus, man macht sie unbrauchbar.« Er kletterte von dem Behältnis herab – wenigstens sah es Atlan so – und schritt auf ein Gestell zu, auf dem eine Reihe kleiner Geräte lag. Keines war größer als eine Streichholzschachtel. »Man verwirrt sie«, fuhr Valrik selbstgefällig fort. »Man bringt sie durcheinander, so daß sie ihre programmierte Funktion nicht mehr versehen können. Dieses hier sind Impulsgeber, die ich in aller Eile hergerichtet habe. Mehr als achtzig Prozent aller Robottypen können mit ihrer Hilfe unschädlich gemacht werden.« »Und was ist mit den übrigen zwanzig Prozent?« fragte Atlan mit spöttischem Lächeln. »Denen weichst du aus«, sagte Valrik. Er war ernst. »Was soll dieses Wortgefecht? Ich dachte, du hättest es eilig. Sag mir deinen Plan, damit ich weiß, was ich noch beschaffen muß.« »Die erste Phase zielt darauf ab, die Mittelzelle der SOL zu isolieren«, antwortete Atlan. »Es muß soviel Unordnung angerichtet werden, daß der Schiffsleitung nichts anderes übrigbleibt, als die Mittelzelle zu evakuieren.«
»Und dann?« erkundigte sich Valrik neugierig. »Unter den zu Evakuierenden befinden sich natürlich wir beide. Wir verfahren mit den Solzellen eins und zwei, wie wir es mit dem Steuerteil gemacht haben. Ich nehme an, die Verantwortlichen werden sich irgendwann entschließen, die beiden Kugelzellen vom Mittelteil abzukoppeln. Aber das stört uns nicht. Wir sind beweglich, nicht wahr?« »Ein guter Plan«, lobte Valrik. »Der Architekt hat Grund, mit dir zufrieden zu sein. Jetzt müssen wir nur zusehen, daß Wöbbeking uns nicht in die Quere kommt.« Da war er wieder, der geheimnisvolle Name, mit dem der Arkonide nichts anzufangen wußte. Eine unterschwellige Drohung ging von ihm aus. Er unterließ es jedoch, Valrik die übliche Frage zu stellen. Er hätte ohnehin keine brauchbare Antwort bekommen. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit. Atlans erstes Ziel war das Klimasystem der Mittelzelle. Wie alle lebenswichtigen Installationen war es hochgradig dezentralisiert und mit einer Vielzahl redundanter Komponenten ausgestattet. Aber Atlan kannte nicht nur jeden wichtigen Bestandteil des weit verzweigten Systems, er wußte auch die Pfade, die sie einschlagen mußten, um unerwünschte Begegnungen zu vermeiden. Unterwegs probierte er die von Valrik hergerichteten Impulsgeber an ein paar Wartungsrobotern aus und fand ihre Wirkung zufriedenstellend. Es war seine Absicht, das gesamte Klimakontrollsystem durch eine genau berechnete Serie geringfügiger, aber präzise gezielter Sprengungen lahmzulegen. Es ging ihm nicht darum, die Frischluftversorgung mit einem Schlag abzuschalten. Das hätte SENECA auf den Plan gebracht und den Erfolg der Aktion in Frage gestellt. Nein, schön langsam, eines nach dem anderen sollten die Aggregate der Klimaregelung den Dienst aufgeben und die Schiffsführung in Verwirrung stürzen. Während er zusammen mit Valrik die nötigen Vorbereitungen traf, machte er eine Beobachtung, die ihn überraschte. Der Gnom
war ein Muster an Beweglichkeit. Atlan hatte ihn im Verdacht, daß er entweder die Kunst, sich unsichtbar zu machen, oder die Teleportation beherrsche. Aber wenn es darum ging, körperliche Arbeit zu leisten, war er absolut hilflos. Atlan hatte die gesamte Last der Sprengkapseln, Zünder und Werkzeuge allein zu schleppen. Valrik wollte nicht einmal eine winzige Batterie tragen, die beim Aufladen zu Boden fiel und deretwegen der Arkonide den schweren Behälter schließlich wieder absetzen mußte. »Du bist keine große Hilfe«, beschwerte er sich mißmutig. »Sag das nicht so leichtfertig«, tadelte Valrik. »Tragen helfen kann jeder. Erst bei der Planung der Strategie erkennst du meinen Wert.« Ein merkwürdiger Gedanke materialisierte in Atlans Bewußtsein. »Du kannst nichts tragen, nicht wahr?« fragte er verblüfft. »Du besitzt keine physische Kraft!« Valrik bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick. »Wundert dich das?« sagte er. Und dann fügte er etwas hinzu, was Atlan mehr zu denken gab, als er sich in einer Lage wie dieser gewünscht hatte. »Schließlich bin ich nur ein Produkt deines Willens.«
* »Er geht zu Werk, als hätte er dieses Schiff mit eigenen Händen erbaut!« Bitterer Grimm schwang in Breckcrown Hayes' Stimme. »Er kennt jede Maschine, jeden Schlupfwinkel, jeden Belüftungsschacht. Die Roboter niederen Funktionstyps kümmern sich nicht um ihn, und die höherentwickelten kennen ihn und lassen ihn anstandslos passieren.« »Das müßte sich beheben lassen«, sagte Gallatan Herts, ein kleines, dürres Männchen, ehemals dem Kreis der Magniden zugehörig und seit jüngstem Leiter der Hauptzentrale. »Ich meine, sämtliche Roboter sind zentral ansprechbar …«
»Wir sind dabei«, fiel ihm Lyta Kunduran ins Wort. Ihr Spitzname war »Bit«, ein Tribut an ihre nahezu unheimliche Fertigkeit im Umgang mit Computern. »Sämtliche Roboter mit unabhängigen kognitiven Fähigkeiten werden darüber informiert, daß Atlan sich zu einer Gefahr entwickelt hat und auf dem schnellsten Weg gefaßt werden muß.« »Das macht SENECA, nicht wahr?« erkundigte sich Gallatan Herts. »Ja«, antwortete Lyta. »Die zentrale Inpotronik arbeitet Hand in Hand mit uns zusammen.« »Wenigstens das ist beruhigend«, seufzte Herts. »Aber warum wissen dann nicht schon längst …« Er wurde von Breckcrown Hayes unterbrochen. »Laß mich ausreden, Gallatan«, sagte er. »Lyta kommt später an die Reihe. Das Problem, das durch den Zusammenbruch des Klimasystems verursacht wurde, ist inzwischen beseitigt. Die Mittelzelle der SOL wird von den beiden Kugelzellen mit Frischluft versorgt. Wenn sich keine weitere Komplikation ergibt, kann der Vakuum-Alarm in einer halben Stunde abgeblasen werden. Was uns in erster Linie interessiert, ist, wie wir den Arkoniden zu fassen bekommen. Was immer sich in seinem Verstand eingenistet hat, es muß beseitigt werden. Atlan beweist uns in diesen Minuten und Stunden, daß er derjenige ist, der sich besser als irgend jemand sonst mit diesem Schiff auskennt. Wir dürfen ihn nicht verlieren. Wenn uns am Wohl der Solaner liegt, dann müssen wir den Arkoniden zurückgewinnen. Ich halte es für möglich, daß wir seine Verhaltensweise ein wenig besser verstehen lernen, wenn wir uns den Bericht der beiden anhören, die bis zum letzten Augenblick mit ihm zusammen waren: Hage Nockemann und Sanny.« Sanny hockte auf der Armlehne des Sessels, in dem Nockemann Platz genommen hatte. Hinter der Helmscheibe hervor sah sie sich behutsam um. Sie waren insgesamt dreizehn an dem großen runden Tisch, der das Zentrum des Konferenzraumes beherrschte. Seltsam,
dachte sie. Die Solaner hielten dreizehn für eine Unglückszahl. Es war weiter nichts als Aberglaube, überliefert aus den Zeiten ferner Vergangenheit. Trotzdem empfand Sanny Unbehagen. Die Zahl erschien ihr wie ein böses Omen. Im Helmempfänger hörte sie Hage Nockemanns ruhige Stimme. Er berichtete von der Entdeckung der Indirekt-Aura, die den Arkoniden eingehüllt hatte, sprach jedoch nicht über die Hypothese vom unbekannten Beschützer, die von Sanny entwickelt worden war. Er schilderte, was er in den letzen Minuten vor Atlans Ausbruch von der Zentrale aus beobachtet hatte, wie er davongeeilt war, um Sanny zu Hilfe zu kommen, und das Schott versperrt gefunden hatte. »Wenige Sekunden später öffnete es sich plötzlich«, sagte er. »Eine menschliche Gestalt kam wie eine Kanonenkugel daraus hervorgeschossen – viel zu schnell, als daß ich sie hätte erkennen können. Ich bekam einen teuflisch harten Schlag gegen den Schädel, und dann war's aus. Vielleicht kann Sanny euch mehr erzählen.« Sanny war vorsichtig. Sie berichtete der Wahrheit getreu, aber die Sache mit dem Kobold, den sie zweimal gesehen hatte, ließ sie aus. Sie selbst war sich noch nicht im Klaren, was sie davon zu halten hatte. Wäre sie darauf eingegangen, es hätte die Zuhörer nur verwirrt. Sie sprach über ihre Theorie, wonach die Indirekt-Aura das Produkt einer fremden, freundlich gesinnten Macht war und die Aufgabe hatte, Atlan vor Hidden-X' Einfluß zu schützen. Sie schilderte die äußere Erscheinung des hüllenartigen Überbleibsels und gab ihrer Überzeugung Ausdruck, daß die Hülle aus einer ähnlichen Substanz bestehe wie Chybrains Körper-Jenseits-Materie, wie sie genannt wurde. »Aus dem Streit zwischen Hidden-X und unserem unbekannten Verbündeten ist für den Augenblick der erstere als Sieger hervorgegangen«, schloß sie. »Atlan steht ohne Zweifel unter dem Einfluß des Hidden-X und handelt gemäß seinen Instruktionen. Es ist wesentlich, daß er so bald wie möglich gefunden und an der
Ausübung weiterer Anschläge gehindert wird. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage.« Sie wandte sich an Breckcrown Hayes. »Sind die Mutanten nicht in der Lage, den Arkoniden aufzuspüren?« Der High Sideryt schüttelte mißmutig den Kopf. »Bjo Breiskoll hockt seit ein paar Stunden in einem verdunkelten, gegen alles Geräusch abgeschirmten Raum und versucht mit äußerster Konzentration, Atlans Mentalsignale zu finden. Bis jetzt kein Erfolg. Was immer Hidden-X mit dem Arkoniden angestellt haben mag – er hat sein Bewußtsein offenbar so präpariert, daß es auf telepathischem Weg nicht mehr geortet werden kann.« Dann war die Reihe des Berichtens an Lyta Kunduran. »Die Frage, die Gallatan vor ein paar Minuten stellte«, begann Bit, »hat ihre Berechtigung. Warum dauert es so lange, sämtliche unabhängig-kognitiven Robottypen darüber zu informieren, daß Atlan als gefährlich betrachtet werden muß? Normalerweise sollte es sich dabei um einen Datenübertragungsvorgang handeln, der nicht mehr als ein paar Millisekunden beansprucht. Die Antwort liegt zum Teil darin, daß SENECA mit einer beängstigend großen Zahl von Robotern keine Verbindung mehr bekommt. Wir nehmen an …« Der Krisenstab erfuhr vorläufig nicht, was Lyta Kunduran und SENECA annahmen. Warnlichter flackerten. Eine Sirene begann zu plärren. »Giftgaseinbruch Sektor acht«, schnarrte eine mechanische Stimme.
* Sanny klammerte sich an Breckcrown Hayes' Schulter. Sie war nicht sicher, ob der High Sideryt ihre Anwesenheit überhaupt wahrnahm. Im Laufen rief er über Helmfunk Befehle. Jeder Sektor des
Mittelteils, jeder Abschnitt oder Bereich innerhalb der beiden Solzellen unterhielt seine eigene Ordnungstruppe. Sie bestand zum größten Teil aus einschlägig programmierten Robotern, die von einer Handvoll Männer und Frauen geführt und überwacht wurden. Es war inzwischen bekannt, daß der Giftgasalarm von Sensoreinheiten einer Reaktorhalle ausgelöst worden war. Hayes wies die Ordnungstruppe des Sektors 8 an, die Halle abzuriegeln und Maßnahmen zu treffen, die eine Ausbreitung der Giftgasatmosphäre verhinderten. An Gasen waren bisher Chlor und Fluorwasserstoff identifiziert worden. Hayes sprang durch die leuchtende Torbogenöffnung eines Transmitters und materialisierte zusammen mit Sanny in der Reaktor-Kontrollstation, einem verglasten Vorbau, der wie ein Schwalbennest hoch an der Decke der Reaktorhalle hing. Die Station war unbemannt. Sie versah ihren Dienst automatisch und wurde nur alle paar Wochen einmal von einer Wartungsmannschaft besucht. Auf dem Boden der Halle standen die mächtigen Konturen der Schwarzschild-Reaktoren in Reih und Glied, metallisch schimmernde Halb-Eier, die über zwölf Meter hoch aufragten. Ihre Oberfläche war glatt und ungegliedert. Es gab keine Anzeigegeräte, keine Schalttafeln, keine Möglichkeit der manuellen Bedienung. Hier geschah alles selbsttätig, und nur in Notfällen wurden die schweren Schotte an den einander gegenüber liegenden Stirnwänden des ausgedehnten Raumes geöffnet, um Menschen den Zutritt zu ermöglichen. Grünlicher Nebel wallte auf dem Boden der Halle und spülte gegen die Basen der kuppelförmigen Reaktorbauten. Die Leuchtplatten in der Decke schillerten in eigenartigem Glanz. Sanny begriff: Chlor, weitaus schwerer als herkömmliche Atemluft, sammelte sich auf der tiefstmöglichen Ebene. Fluorwasserstoff, leichter als Luft, strebte nach oben und konzentriere sich unter der Decke. Je mehr Giftgase einströmten, desto dicker wurden die beiden Schichten, die vom Boden aus und von der Decke her
einander entgegenwuchsen. Sanny kannte die teuflische Reaktivität der beiden Substanzen. Sie würden angreifen, was ihnen in die Quere kam, und spontan miteinander reagieren, sobald sie aufeinandertrafen. Sie sah die Reihe der Belüftungsschächte auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Grünes Chlorgas troff durch die Schlitze herab. Weißlicher Nebel stieg in die Höhe, wo Fluorwasserstoff sich mit der Luftfeuchtigkeit zu Flußsäure verband, und löste sich in den trockeneren Luftschichten unterhalb der Decke wieder auf. »Jemand hat einen Teil der Klimaanlage wieder in Betrieb gesetzt«, keuchte Breckcrown Hayes. Er führte kein Selbstgespräch. Sämtliche Äußerungen, die über seinen Helmsender gingen, wurden in der Zentrale aufgezeichnet. Soweit er Befehle erteilte, wurden diese von Gallatan Herts weitergeleitet. »Ich brauche sämtliche verfügbaren Reparaturroboter an den achter Sektorgrenzen. Alle Kanäle des Klimasystems, die von acht aus nach draußen führen, müssen versiegelt werden. Die Reaktoren in diesem Sektor sind auf null zu fahren. Vorbereiten zum Evakuieren der Nugastanks!« Er hetzte die gewundene Rampe hinab, die von der Kontrollstation hinab zur Decksebene führte. Vor dem schweren Schott der Reaktorhalle drängten sich die Männer, Frauen und Roboter der Ordnungstruppe. Sie waren nicht alle hier. Etwa die Hälfte des Trupps hatte sich abgesondert und bewachte den Eingang auf der anderen Seite der Halle. »Roboter – richtet euch nach den Befehlen, die ihr aus der Zentrale erhaltet«, gellte Breckcrown Hayes' Stimme. »Männer und Frauen, kehrt in eure Quartiere zurück und wartet auf weitere Bekanntmachungen. An dieser Halle ist nichts mehr zu retten.« Er wartete ihre Reaktion nicht ab, sondern wandte sich um und stürmte die Rampe wieder hinauf. »Was hältst du von der ganzen Angelegenheit, Sanny?« fragte er.
Zum ersten Mal, seit sie von der Zentrale aufgebrochen waren, gab er zu erkennen, daß er von ihrer Anwesenheit wußte. »Kannst du sie berechnen?« »Nur zum Teil«, antwortete sie. »Die Giftgasattacke wurde von Atlan ausgelöst, das ist klar. Alles, was er tut, zielt darauf ab – nicht so sehr, Schaden anzurichten, als vielmehr, uns Schrecken einzuflößen und unsicher zu machen.« »Keinen Schaden anzurichten?« entgegnete Hayes spöttisch. »Was, glaubst du, wird geschehen, wenn Chlor und Fluorwasserstoff auf der Außenhaut der Reaktorhüllen miteinander reagieren, bevor wir das Nugas abgepumpt haben?« »Wenn es soweit käme«, antwortete Sanny, »dann verwandelte sich die Mittelzelle in eine riesige Bombe. Aber ich glaube nicht, daß Atlan es soweit kommen lassen will.« Sie erreichten die Kontrollzentrale. Auf dem Boden der Halle war der Chlorpegel inzwischen um gut einen Meter gestiegen. Breckcrown Hayes trat auf das leuchtende Abstrahlfeld des Transmitters zu. Sanny schloß unwillkürlich die Augen. Sie hatte sich, seit sie mit ihren Artgenossen von den Solanern aufgenommen worden war, an den Umgang mit Transmittern gewöhnt, und dennoch empfand sie jedesmal ein gewisses Unbehagen, wenn sie gezwungen war, eines der Geräte zu benützen. Der Entzerrungsschmerz, so geringfügig er auch sein mochte, war ihr zuwider. Sie empfand eine instinktive Furcht vor dem Augenblick, in dem bei einem solcher Durchgänge das Empfangsgerät ausfiel und sie nicht mehr rematerialisiert wurde. Das sanfte Ziehen blieb aus. Breckcrown Hayes zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Sanny öffnete die Augen. Das Abstrahlfeld war verschwunden. Die Kontrollen des Transmitters hatten aufgehört zu leuchten. »Ausgerechnet jetzt!« knurrte Hayes. »Verdammte Maschine!« Es knallte, als er dem Aggregat einen wütenden Fußtritt versetzte. Sanny wandte, wie unter einem fremden Zwang, den Blick zur
Seite. Draußen, an der gläsernen Wand der Kontrollstation, hing ein seltsames, furchterregendes Geschöpf. Es war kleiner als sie, ein Zwerg von kaum zwei Handspannen Länge; aber es ging eine unheimliche Drohung von ihm aus – so intensiv, daß Sanny sie körperlich zu spüren glaubte. Sie erkannte das verhutzelte Gesicht und die schielenden Augen sofort. Es war das dritte Mal, daß sie den Gnomen zu sehen bekam.
5. »Eimer!« stieß Enzo Weevil fassungslos hervor. »Sie sehen aus wie umgestülpte Eimer.« Die Ausschnittsvergrößerung erfaßte mehr als einhundert der seltsamen Gebilde, kleine Stumpfkegel mit einer Höhe von kaum mehr als zwanzig Zentimetern. In die Wandungen der »Eimer«, wie Enzo sie nannte, waren Sichtscheiben eingelassen, mit deren Hilfe die Insassen der eigenartigen Behältnisse ihre Umwelt beobachten können. Zweifellos sahen sie den gewaltigen Umriß der URANIA, die sich dem Pulk mit mäßiger Geschwindigkeit näherte, die vordere Hauptschleuse weit geöffnet und die Schleusenkammer hell erleuchtet, so daß die Fremden die Einladung nicht mißverstehen konnten. Die Überreste des Felsbrockens waren nur noch als winzige Punkte zu sehen, die mit stetig wachsender Geschwindigkeit auf die dichte Wolkendecke zustürzten und in den nächsten Minuten in den oberen Atmosphäreschichten der fremden Welt verglühen würden. Die ehemalige Besatzung in ihren eimerförmigen Rettungsgefäßen dagegen schien dem Einfluß der Schwerkraft nicht zu unterliegen. Der Pulk bewegte sich parallel zur Oberfläche des Wolkengürtels, und Solania von Terra – von vielen in ihrer Umgebung noch immer Brooklyn genannt – beschäftigte sich ein paar Augenblicke lang mit dem verwirrenden Gedanken, daß die vermeintlichen
Schiffbrüchigen ihrer Hilfe womöglich gar nicht bedürfen. »Warum kommen sie uns nicht entgegen?« brummte Enzo. »Die Eimer sind eindeutig lenkbar. Sieht so aus, als versuchten sie, vor uns davonzulaufen.« »Wundert dich das?« fragte Solania spöttisch. »Immerhin hast du ihr Fahrzeug zertrümmert. Warum sollten sie sich uns anvertrauen wollen?« »Weil sie keine andere Möglichkeit haben«, antwortete Enzo. »Außerdem haben sie zuerst das Feuer eröffnet, mit ihrer … Mentalstrahlung.« »Die wir womöglich falsch interpretiert haben«, gab Solania zu bedenken. »Quatsch«, knurrte Enzo und verfiel gegen seinen Willen wieder in jenen schnoddrigen Tonfall, den er eigentlich hatte ablegen wollen. »Ich schlage vor, wir legen ein wenig Dampf zu und machen dem Spuk ein Ende. An Bord müssen sie so oder so, warum sollen wir die Sache unnötig hinauszögern?« »Ich schlage vor«, meldete sich Naino Kellams zu Wort, »daß wir unsere Friedfertigkeit zu erkennen geben, bevor wir die Fremden an Bord nehmen.« »Wie machen wir das?« erkundigte sich Solania. »Auf Funk reagieren sie nicht. Und andere Möglichkeiten stehen uns kaum zur Verfügung.« »Ich hatte Morrisons Methode im Sinn«, sagte Naino. »Morrison? Hatte der eine Methode?« fragte Enzo spöttisch. Naino überhörte seinen Einwurf. An Solania gewandt, erklärte sie: »Es kommt nicht darauf an, was für Signale es sind und ob sie von den Fremdwesen verstanden werden. Wichtig ist allein, daß die Fremden sie als Signale erkennen. Wer sich einem andern in feindlicher Absicht nähert, gibt sich normalerweise nicht die Mühe, ihm zu signalisieren. Signale an sich sind also, ob sie verstanden werden oder nicht, ein Anzeichen der Friedfertigkeit.« »Ob die Eimer-Wesen schon von Morrison gehört haben?«
wunderte sich Enzo. »Sei still, du phantasieloser Klotz«, fuhr Solania ihn an. »Ich weiß nichts über Morrison, aber die Idee erscheint mir plausibel. Was schlägst du vor, Naino?« Wenige Minuten später begannen die Arbeiten in der vorderen Hauptschleuse. Eine Reihe kräftiger Strahler wurde installiert. Sie waren mit Filtern versehen, die die verschiedenen Farben des Spektrums erzeugten. Angeschlossen waren sie an einen primitiven Uhrmechanismus, der dafür sorgte, daß die Lampen in Punkten und Strichen des alten Morsealphabets die Nachricht WIR KOMMEN ALS FREUNDE abstrahlten – wobei zwei aufeinanderfolgende Signale jeweils in unterschiedlicher Farbe gehalten waren. Vom Standpunkt der Kommunikationstheorie aus ergab das Ganze wenig Sinn. Aber, wie Naino sagte: es kam nur darauf an, daß die Wesen in den eimerförmigen Behältern verstanden, daß man sich mit ihnen zu verständigen versuchte. »Nur ein Bedenken habe ich noch«, sagte Solania wenige Sekunden, nachdem die Anlage zu blinken begonnen hatte. »Sie leben auf dem Grund eines Wasserstoffozeans von unvorstellbarer Dichte. Was, wenn sie gewöhnliches Licht überhaupt nicht wahrnehmen können?« Da traf Enzo Weevil, der die vergangene halbe Stunde schweigsam und offenbar nachdenklich zugebracht hatte, eine Feststellung, die jedermann in höchstem Maß überraschte. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er zu Solania. »Die fremden Geschöpfe sind ameisenähnliche Kreaturen, die bunte, leuchtende Gürtel um den Leib tragen und in einem Land leben, in dem die Berge von innen heraus leuchten. Alles weist darauf hin, daß sie über herkömmliche Sehorgane verfügen.«
*
Das war es! Eine andere Erklärung gab es nicht. Hin und her hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wie sich das seltsame Gesicht erklären ließ, daß er gehabt hatte, als die anderen sich in regloser Starre befanden. Die Besatzung des Felsenschiffs hatte versucht, sich mit der URANIA auf mentaler Ebene zu verständigen. Enzo Weevil wußte, daß es solche Dinge gab. Er hatte von Bjo Breiskoll und Sternfeuer gehört, den beiden Mutanten, die ähnliche Fähigkeiten besaßen. Die Ameisen hatten Bilder ihrer selbst und ihres Planeten übermittelt. Aber irgend etwas war schiefgegangen. Das menschliche Gehirn reagierte allergisch auf die Art der Strahlung, die sie verwendeten. Wie hätten sie das wissen können? Wahrscheinlich waren sie noch nie zuvor einer anderen intelligenten Art begegnet. Plötzlich empfand Enzo Gewissensbisse. Er hatte das Fahrzeug der Fremden aufgrund eines Mißverständnisses zerstört. Sie waren in Frieden gekommen und hatten dafür die vernichtende Kraft eines Desintegratorgeschützes zu spüren bekommen. Muß es immer so sein? fragte er sich grimmig. Warum fällt es uns so schwer, einer dem anderen klarzumachen, daß wir friedliche Absichten verfolgen? Er war sich darüber im Klaren, daß er nicht anders hatte handeln können. Noch ein paar Sekunden, und er hätte die Kontrolle über sich verloren. Er war für die URANIA und ihre Besatzung verantwortlich. Es war ihm keine andere Wahl geblieben, als die Quelle des fremden Einflusses zu verstopfen. Soviel zu seiner Entschuldigung. Unverändert blieb daneben die Tatsache bestehen, daß er auf ein Fahrzeug voll intelligenter Wesen geschossen hatte, die ihm in Frieden und Vertrauen hatten begegnen wollen. »Sie kommen!« sagte Naino plötzlich, und Begeisterung schwang in ihrer Stimme. »Sie reagieren auf unsere Signale!« Enzo sah auf. Die mehr als einhundert winzigen Transportbehälter, die die Ausschnittsvergrößerung zeigte, hatten ihre Geschwindigkeit verringert. Sie gaben es auf, vor der URANIA
zu fliehen. Naino veranlaßte, daß die Funkfrequenz der bunten Strahler verändert wurde. Man mußte den Fremden zeigen, daß man ihr Manöver erkannt und verstanden hatte. Das Schiff behielt seine bisherige Geschwindigkeit bei. Die Distanz zwischen der URANIA und dem Pulk der eiförmigen Behälter verringerte sich um weniger als einhundert Meter pro Sekunde. Später wurde das Tempo noch weiter gedrosselt. Als die Fremdwesen durch die hellerleuchtete Schleusenöffnung schwebten, betrug die Geschwindigkeitsdifferenz nur noch Zentimeter pro Sekunde. »Man muß möglichst rasch ermitteln«, sagte Enzo Weevil, »in welcher Art von Umgebung sich diese Wesen wohl fühlen, damit ihnen eine entsprechende Umwelt zur Verfügung gestellt werden kann.« Solania und Naino wechselten bedeutsame Blicke. »Schau einer an«, sagte Solania halblaut. »Er ist auf einmal feinfühlig geworden.«
* Die Aufgabe, die sich den Technikern der URANIA stellte, war alles andere als einfach: ein Wasserstoff-Ammoniak-KohlenwasserstoffGemisch unter einem Druck von 2300 Atmosphären und bei einer Temperatur von 260 Grad absolut – das schien die Umgebung zu sein, die die Fremdwesen innerhalb ihrer eimer-förmigen Transportbehälter geschaffen hatten. Was die Gravitation anging, schienen sie nicht wählerisch zu sein. Ihre Behältnisse verfügten über keinerlei Vorrichtungen zur Erzeugung künstlicher Schwerkraft, und mit der Normalgravitation von einem Gravo, die an Bord der URANIA herrschte, kamen sie offenbar gut zurecht. Die Umweltverhältnisse im Innern der Behälter entsprachen offenbar denen auf der Oberfläche der fremden Welt, die Solania von Terra inzwischen auf den Namen Jupiter II getauft hatte. In
diesem Fall wirkte auf die Körper der Ameisenwesen ein Auftrieb, der ihnen die schwebende Fortbewegung ermöglichte und sie von der Einwirkung der Gravitation weitgehend unabhängig machte. Daß die Fremden in der Tat entfernt an Ameisen erinnerten, hatte sich inzwischen bestätigt – sehr zum Erstaunen von Naino und Solania, zu denen Enzo bislang noch nicht von seinem »Gesicht« gesprochen hatte. Man sah ihre mehrfach gegliederten Körper durch die Sichtplatten in der Wandung der eimer-förmigen Behälter. Die Atmosphäre im Innern war trotz ihrer ungeheuren Dichte hochgradig transparent, und die bunten, leuchtenden Gürtel – auch in dieser Hinsicht hatte Enzo wie ein Prophet gesprochen! – erzeugten eine gewisse Helligkeit. Die Fremden befanden sich vorläufig noch in der großen Hauptschleuse. Zu Verständigungsversuchen war es bislang noch nicht gekommen. Solania wollte damit warten, bis die Gäste von Jupiter II in einer ihnen angenehmen Umgebung untergebracht werden konnten. Die Eimer waren, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte, mit prothesenartigen Extremitäten ausgestattet, mit deren Hilfe sich die Fremdwesen hätten umherbewegen können. Sie zogen es jedoch vor, stillzusitzen und die fremde Umgebung auf sich einwirken zu lassen. Es waren ihrer insgesamt einhundertundzwölf. Für ihre Unterbringung hatte Enzo Weevil einen Nebenraum der Hauptschleuse ausgewählt, der ebenfalls nach den Spezifikationen einer Schleuse angelegt und ausgestattet worden war: das hieß, er konnte den erforderlichen Drücken und der chemischen Aktivität der fremden Atmosphäre widerstehen. Man gab sich Mühe, die fremden Gäste über den Fortschritt der Vorbereitungen zu informieren. Inmitten der Schleuse wurde ein großes Bildgerät aufgebaut, das die Aktivitäten der Techniker zeigte, die mit der Konditionierung des Nebenraums betreut waren. Niemand wußte, ob die Geschöpfe in den Eimer-Behältern mit den Bildfolgen etwas anzufangen verstanden; aber es wurde festgestellt, daß sie sich im Lauf der Zeit allesamt in Positionen manövrierten,
von denen aus sie den Bildschirm sehen konnten. Die Analyse der Atmosphäre innerhalb der Behälter war mit Hilfe hyperenergetischer Durchleuchtungsmethoden vorgenommen worden -einer Prozedur, die den Fremden nicht schaden konnte, es sei denn, ihre Körpersubstanz gehorchte anderen Naturgesetzen als die der Solaner. Trotz der Sorgfalt, mit der die Untersuchung durchgeführt worden war, konnten ihre Ergebnisse nur bis zu einem gewissen Grad genau sein. Ein kleiner Spielraum der Ungewißheit blieb bestehen. Der Rest war den Fremden überlassen. Ihre Schutzbehälter wirkten glatt und unbelastet von jeglicher Art Gerät. Aber man mußte davon ausgehen, daß sie es verstanden, eine Umgebung darauf zu prüfen, ob sie ihnen zuträglich war oder nicht. Die Einschleusung der fremden Gäste verlief ohne Zwischenfall. Man gewann den Eindruck, daß sie anhand der Darstellung auf dem Bildschirm verstanden hatten, was auf sie zukam. In Gruppen zu zehn oder elf passierten sie eine Zwischenschleuse und gelangten sodann in den zehn mal vierzehn Meter großen Raum, der für sie hergerichtet worden war. Dutzende von Kameras beobachteten den Vorgang. Man sah zum ersten Mal, wie die Extremitäten der eimerförmigen Behälter ausgefahren wurden, und die Fremden sich mit stelzenden Schritten über die Grundfläche der Schleusenkammer bewegten. Einige von ihnen entwickelten genug Courage, um sich vom Boden abzustoßen und schwebend durch die unglaublich dichte Luftmasse zu gleiten. Man sah ihnen an, daß sie sich eingewöhnten. Jeder Trupp, der durch die Schleuse kam, wurde mit einer Art ritueller Zeremonie begrüßt. Das alles spielte sich lautlos ab, wenigstens für solanische Ohren; aber es war ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem mehr oder weniger teilnahmslosen Verhalten, das die Wesen von Jupiter II in der Hauptschleuse an den Tag gelegt hatten. Dann kam der Augenblick, auf den Solania mit Spannung wartete. Die Fremden bildeten einen Kreis. In der Mitte des Kreises stand einer der Ihren, hoch aufgerichtet auf den Beinprothesen seines
Behälters und mit den dünnen Pseudoarmen fuchtelnd. Das Gestikulieren endete abrupt. Die Beinprothesen knickten ein und verschwanden irgendwie im Innern des Behälters, so daß der kleine Eimer nun unmittelbar auf dem Boden saß. Eine Sekunde später teilte sich das Behältnis. Der Eimer klappte auf und gebar ein zwölf Zentimeter großes Wesen, dessen zweifach eingeschnürter Körper mit mehreren bunten Bändern gegürtet war. Es bewegte sich auf gelenkigen Beinen ein paar Schritte auf und ab, duckte sich, sprang in die Höhe, verbrachte eine Minute in schwebendem Zustand und sank schließlich wieder zu Boden. Es war eine Demonstration. Das insektenähnliche Geschöpf führte seinen Artgenossen vor, wie vorzüglich es ohne die Hilfe des Schutzbehältnisses auskam. Das Beispiel machte Schule. Ein Behälter nach dem anderen öffnete sich und entließ seinen Insassen. Über einhundert Fremdwesen tummelten sich alsbald im weiten Schleusenraum. Sie schoben die Schutzbehältnisse an den Wänden entlang zusammen, damit sie mehr Platz hatten. Aus den Empfängern drang aufgeregtes, zwitscherndes Singen – die Sprache der Fremden, mit der sich die Translatoren zu befassen haben würden. Es war noch zu früh im komplizierten Spiel der Verständigung zweier fremder Arten miteinander, als daß die Beobachter an den Geräten aus dem Verhalten ihrer Gäste auf deren Wohl- oder Unwohlbefinden hätten schließen können. Rein intuitiv jedoch gewannen sie den Eindruck, daß die Wesen von Jupiter II mit ihrem Los zumindest für den Augenblick nicht unzufrieden waren. Solania wandte sich an Enzo. »Der erste Schritt ist getan«, sagte sie. »Laß uns hoffen, daß der zweite weniger Zeit in Anspruch nimmt.« Für menschliche Augen waren die Fremden nahezu unmöglich voneinander zu unterscheiden. Ihre Körperformen waren identisch, die Größenunterschiede minimal. Wer einen ausgeprägten Sinn für Farben und Zahlen hatte, der konnte Individuen auseinanderhalten,
indem er ihre Gürtel zählte und sich an die Anordnung der Gürtelfarben zueinander erinnerte. Die Körperoberfläche der Fremden bestand aus einer dunkelbraunen bis schwarzen Panzerschale, die an die ChitinHüllen irdischer Insekten erinnerte, obwohl ihre chemische Zusammensetzung wahrscheinlich gänzlich anderer Natur war. Unmittelbar über der zweiten, oberen Einschnürung des Körpers trugen die fremden Geschöpfe auf dem Rücken eine kleine, kreuzförmige Markierung, die nicht erkennen ließ, ob sie auf natürliche Weise entstanden oder später angebracht worden war, sozusagen als Hoheitszeichen oder Merkmal der Volkszugehörigkeit. Solania nahm das Mal als Anlaß, die Fremden Crux zu nennen. Auf Enzos verwunderte Frage gab sie zu verstehen, das Wort stamme aus einer Sprache, die Lateinisch genannt werde. Die Verständigung mit den Crux erwies sich als problematisch. Die Entschlüsselung einer fremden Sprache durch den Translator erfolgte in mehreren Phasen. In der ersten, auch Primitivphase genannt, diente die Identifizierung greifbarer Gegenstände zum Aufbau eines grundlegenden Vokabulars. Die Schwierigkeit war, daß es kaum Gegenstände gab, die dem Lebensbereich der Menschen ebenso wie dem der Crux angehörten. Es gab keine Gemeinsamkeiten, die sich mit eindeutigen Vokabeln belegen ließen. Blieben als gemeinsamer Grund und Boden, auf dem man sich zu verständigen hoffen konnte, nur die Mathematik und gewisse grundlegende Bereiche der Chemie und Physik. Der Prozeß wurde nachhaltig erschwert durch den Umstand, daß die beiden verständigungswilligen Parteien daran gehindert waren, Kontakt miteinander zu halten. Komplizierte Lebenserhaltungssysteme waren durchaus in der Lage, Drücke und Gasmischungen, wie sie in der Kammer der Crux herrschten, zu ertragen. Aber ein Mensch, der in einer der unförmigen Monturen stak, war mit den Crux nicht mehr in Kontakt als ein anderer, der
hinter einer dicken, bruchsicheren Glasscheibe hervor in den Schleusenraum blickte. Solania und Enzo machten sich eine zuvor gewonnene Erfahrung zunutze. Die Crux verstanden es offenbar, das Bild eines Fernsehempfängers zu deuten. Roboter schleppten ein solches Gerät, das zur Sicherheit im Innern einer druckfesten Glassitkugel installiert worden war, in die Schleuse. Dodart Benz, der sich auf solche Dinge verstand, hatte inzwischen einen Geräuschgenerator gebastelt, der singende Zwitscherlaute von sich gab, die der Sprache der Crux ähnelten. Als auf der großen Bildfläche drei Solaner erschienen, die offenbar ein Gespräch miteinander führten, und dazu die von Dodos Gerät simulierten Zwitschergeräusche ertönten, begriffen die Wesen von Jupiter II rasch, worauf es ihren Gastgebern ankam. Ihre Auffassungsgabe war beeindruckend. Ohne ihre Fähigkeit, sich wenigstens teilweise in eine völlig fremde Vorstellungswelt hineinzudenken, wäre die Verständigung wahrscheinlich nie zustande gekommen. Die Translatoren zeichneten jeden Laut auf, den die Crux von sich gaben, und ordneten ihn einem bestimmten Begriff, einer Idee oder einem Vorgang zu. Allmählich wurde ein primitives Muster der Crux-Sprache erkenntlich. Derjenige unter den Fremden, der sich am intensivsten am Verständigungsprozeß beteiligte, war derselbe, der als erster aus seinem Schutzbehältnis hervorgekommen war. Man erkannte ihn daran, daß er als einziger unter den mehr als einhundert Crux vier leuchtende Gürtel um den Leib trug; die anderen besaßen dagegen nur drei oder zwei. Falls die Anzahl der Gürtel unter den Bewohnern von Jupiter II als Abzeichen des sozialen Standes galt, so konnte man ihn für den Anführer der Gruppe halten, womöglich für den Kapitän des Felsenschiffs, das durch Desintegratorbeschuß vernichtet worden war. Bei verschiedenen Gelegenheiten erkundigte sich Enzo Weevil, sobald das erforderliche Vokabular vorhanden war, nach seinem Namen. Der Crux antwortete mit einer Serie von Pfeiftönen, die nachzuahmen Enzo jedoch schwerfiel. Er nannte ihn kurzerhand
Fidrich. Die ganze Zeit über – es vergingen mehr als drei Tage, bis eine halbwegs zuverlässige Kommunikation zwischen Crux und Solanern zustande kam – befand sich die URANIA im Orbit um Jupiter II. Es wurde kein weiteres Felsenraumschiff gesichtet. Die Crux betrieben offenbar keine intensive Raumfahrt. Solania von Terra hatte bisher darauf verzichtet, die zahlreichen Monde durch Beiboote anfliegen zu lassen. Bevor sie den nächsten Schritt unternahm, wollte sie sich mit den Fremden wenigstens teilweise verständigt haben. Enzo hatte inzwischen Gelegenheit gefunden, von seinem »Gesicht« unmittelbar vor der Eröffnung des Feuers auf das Crux-Schiff zu berichten. Solania und Naino akzeptierten seine Hypothese, daß es den Crux lediglich darum gegangen sei, sich auf mentalem Weg mit der Besatzung der URANIA zu verständigen – dies wurde später von den Crux im Gespräch bestätigt. Solania war fest entschlossen, ein zweites Mißverständnis dieser Art unter allen Umständen zu verhindern. (Es wurde zu gegebener Zeit bekannt, daß es bei der Vernichtung des Felsenschiffs keine Verwundeten, geschweige denn Tote gegeben hatte.) Es zeigte sich, daß die Crux an der Entwicklung des Informationsaustauschs ebenso interessiert waren wie die Solaner. Das Wechselspiel zwischen Fragen und Antworten wurde umso komplexer, je mehr der gemeinsame Wortschatz an Umfang zunahm. »Woher kommt ihr?« »Aus einem anderen Universum.« »Was ist ein Universum?« Viele Gespräche endeten in derlei Sackgassen. Es erwies sich als erstaunlich schwierig, von den Crux zu erfahren, ob sie Hunger oder Durst empfänden – wahrscheinlich war ihre Art der Nahrungsaufnahme grundverschieden von der der Solaner. Solania fiel ein Stein vom Herzen, als endlich feststand, daß es den Gästen an nichts mangelte. Sie hätte ohnehin nicht gewußt, woher der
entsprechende Proviant zu beschaffen gewesen wäre; aber sie war bereit, den gefährlichen Landeanflug auf Jupiter II sofort in die Wege zu leiten, falls die Crux Nahrung bedurften. Eines Nachts – die URANIA hielt sich an denselben künstlichen Tag-Nacht-Rhythmus, der auch an Bord der SOL üblich war – kam es zu dem kurzen, aber denkwürdigen Gespräch zwischen Fidrich auf der einen, Enzo und Solania auf der anderen Seite. Die Bildverbindung projizierte den Crux in Lebensgröße und 3D. Er sprach – und der mit dem Empfänger gekoppelte Translator übersetzte: »Ihr kommt aus einem fremden Universum. Wir haben nachgedacht. Was ihr Universum nennt, ist die Gesamtheit der Materie-Raumzeit?« »Das ist richtig«, bestätigte Solania. »Es gibt mehrere solcher Gesamtheiten?« »Nahezu unzählig viele.« »Wunder, Wunder! Die Denker werden sich mit … (es folgte eine Namensbezeichnung, mit der der Translator nichts anzufangen wußte)… Theorie von neuem befassen müssen, wenn sie das hören. Mir war immer schon so, als hätte er recht. Es folgte eines aus dem anderen.« Diese Worte hatte er eher in der Art eines Selbstgesprächs von sich gegeben. Jetzt jedoch wandte er sich wieder direkt an seine beiden Gesprächspartner. »Warum seid ihr zur Welt gekommen?« »Zur Welt?« wiederholte Solania verständnislos. Enzo spürte intuitiv, was der Crux meinte. Wie würde ein Wesen, das außer dem Planeten, auf dem es aufgewachsen war, keinen anderen solchen kannte, seine Heimat nennen? Die Welt. Was anderes hätte ihm einfallen sollen? Die Menschheit hatte es Jahrtausende hindurch so gehalten, soweit er informiert war. »Die Welt«, fragte er. »Ist das der Planet, der sich unter uns dreht?« »Ja«, antwortete Fidrich. »Wir sind hierhergekommen, weil sie die einzige ihrer Art ist,
soweit wir sehen können«, sagte Enzo. »Wir suchen die Antwort auf eine Frage, und von dieser Antwort hängt unser aller Leben ab. Wie können wir dieses Universum, das nicht das unsere ist, wieder verlassen?« Fidrich antwortete nicht sofort; aber als er sich schließlich äußerte, geschah es mit soviel Bedacht, daß die Worte nur zögernd und mit langen Zwischenräumen aus dem Empfänger drangen. »Das ist eine schwierige Frage – wenn man bedenkt, daß mein Volk nicht einmal weiß, was ein Universum ist. Aber wenn es auf der Welt überhaupt eine Antwort gibt, dann können nur die Denker sie finden. Ich lade euch ein. Kommt mit uns hinunter auf unsere Welt. Wir wollen eure Frage den Denkern vorlegen.« Es verstrich fast eine Minute. Dann sagte Solania mit schwerer Stimme: »Wir danken dir. Deine Einladung ist angenommen.«
6. Chaos herrschte ringsum. Die Mannschaft in der Mittelzelle der SOL war in hellem Aufruhr. Der Rundsprech plärrte eine Anweisung nach der anderen, aber es gab keinen Verlaß darauf, daß sie befolgt würden. Wer immer es auch sein mochte, der ihm diesen Auftrag erteilt hatte: er durfte zufrieden mit ihm sein. Der endgültige Zusammenbruch aller Ordnung stand unmittelbar bevor. Trotz allen Erfolgs hatte sich eine merkwürdige Unruhe des Arkoniden bemächtigt. Er fühlte sich zurückversetzt in jene Stunden der Starre, in denen er seiner Sache nicht sicher gewesen war und herumgerätselt hatte, auf welcher Seite seine Loyalität lag. Er sah die Verwüstung, die er angerichtet hatte, und fragte sich, warum er das tat. In den vergangenen Stunden hatte er wenig Gelegenheit gehabt, über seine Handlungsweise nachzudenken. Wie ein Besessener war er von einem Tatort zum andern geeilt,
Sprengkapseln installierend, Giftgas entweichen lassend, komplexe Roboter in unkoordinierte, zu nichts mehr verwendbare Konglomerate aus Plastik, Metall und Positronik verwandelnd. Jetzt aber war der größte Teil der Arbeit getan. Er fühlte sich müde und zerschlagen. Er brauchte eine Ruhepause. Mit der Ruhe aber kamen die Fragen. Warum das alles? Er erinnerte sich an die Hülle, in der er gefangen gewesen war. Woher war sie gekommen? Sie war Valrik im Weg gewesen, und damit wahrscheinlich auch dem, in dessen Auftrag er handelte. Sie mußte das Produkt eines Unbekannten sein, sie hatte ein Schutz sein sollen. Wogegen? Gegen den Einfluß, der sich in seinem Bewußtsein breitgemacht hatte; gegen den Drang, soviel Verwüstung anzurichten, daß die Schiffsleitung sich entschloß, den Mittelteil der SOL zu evakuieren. Noch vor einer halben Stunde, als er die Sprengladungen im Triebwerkssektor hochgehen ließ, hatte er keinen Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns empfunden. Aber jetzt kamen ihm Bedenken. Wenn alles getan war, was der fremde Auftraggeber ihm aufgegeben hatte, würde er sich dann in einer besseren Lage befinden als jetzt? Und wenn nicht, warum wehrte er sich dann nicht gegen die Beeinflussung? Warum ließ er sich als willenloses Werkzeug mißbrauchen? Es war ihm, als könne die Antwort auf all diese Fragen nur dort gefunden werden, wo er die geheimnisvolle Hülle zurückgelassen hatte. Sie war seine einzige Verbindung mit dem Unbekannten, der ihn davor hatte bewahren wollen, in den Bann des Architekten zu geraten. Aber durfte er sich dorthin zurückwagen? Mußte er nicht damit rechnen, daß gerade in der Nähe des Raumes, aus dem er entkommen war, am eifrigsten nach ihm gesucht wurde? Oder war die allgemeine Panik inzwischen so weit fortgeschritten, daß er nichts mehr zu befürchten brauchte? Valrik materialisierte vor ihm im Halbdunkel des Verstecks, in das er sich zurückgezogen hatte, um sich ein paar Minuten Ruhe zu
gönnen. Das Erscheinen des Gnomen brachte ihn auf andere Gedanken. Mit Valrik hatte er ein Hühnchen zu rupfen. Es war eine seiner Äußerungen gewesen, die den ersten Anstoß für seine Zweifel geliefert hatte. »Nicht wahr«, fragte er den häßlichen Zwerg, »du besitzt von dir aus keinerlei physische Kraft?« »So ist es«, bestätigte Valrik. »Ich bin eine Projektion.« »Aber du hast das Arsenal angelegt, aus dem ich mir hole, was ich für die Verwüstung dieses Schiffes brauche. Du hast Geräte, Chemikalien, Sprengkapseln und weiß der Himmel was sonst noch an einem Ort zusammengetragen und dazu Muskelkraft gebraucht wie ein Schwerarbeiter. Wie erklärt sich das?« Valrik wirkte zuerst erstaunt; dann verzog sich sein faltenreiches Gesicht zu einem überlegenen Grinsen. »Das geschah unter anderen Umständen«, sagte er. »Damals lagst du noch reglos und deiner unbewußt im Innern des Kokons, den Wöbbeking um dich gewebt hatte. Da du sie nicht brauchtest, bediente ich mich deiner Kräfte.« Der Arkonide erstarrte. »Du kannst das?« fragte er mit matter Gedankenstimme. »Dich der Kräfte anderer Wesen bedienen?« »Nur deiner«, antwortete der Gnom. »Erinnere dich: ich bin ein Produkt deines Willens.« Atlan empfand Widerwillen, Ekel. Er fühlte sich mißbraucht. Ein Fremder war in ihn eingedrungen und hatte die Kraft seiner Muskeln gestohlen. Sein Selbstbewußtsein bäumte sich auf. Es durfte nicht wieder geschehen! Stärker noch als zuvor empfand er das Verlangen, mit dem fremden Wesen in Verbindung zu treten, das ihn vor all diesem hatte bewahren wollen. Wöbbeking …
*
Als der Giftgaseinbruch sich trotz der eilig ergriffenen Schutzmaßnahmen ausbreitete, stellte sich heraus, daß zwar die mit Schutzmonturen bekleideten Menschen, nicht aber die Roboter gegen das heimtückische Gemenge aus Chlor und Fluorwasserstoff gefeit waren. Leicht ionisierbares Chlorgas drang in die kleinen Vakuumkammern, in denen die aus energetischen Mikrofeldern bestehenden Kontrollschaltungen der Maschinenwesen untergebracht waren, und verursachte Überschläge und Kurzschlüsse, die die Roboter lahmlegten. Inzwischen hatte Breckcrown Hayes mit Sanny auf der Schulter den Weg zurück in die Zentrale gefunden. Die Alarmmeldungen überstürzten sich. Mehrere Kraftwerke hatten den Betrieb eingestellt. Weite Zonen der Mittelzelle wurden nicht mehr mit Elektrizität versorgt. Des Giftgases wurde man durch den Anschluß an die Klimasysteme der beiden kugelförmigen Solzellen allmählich Herr. Dafür kamen neue Katastrophenmeldungen aus der Peripherie des Computernetzes, aus dem Bereich der automatischen Steuer- und Kontrollanlagen, die für die einwandfreie Abwicklung von Linearflugetappen verantwortlich waren, und schließlich aus dem Triebwerksektor selbst. Die Mittelzelle der SOL wurde systematisch lahmgelegt, und der Gegner ging mit einer Mischung aus Gerissenheit, Sachverstand und Tempo zu Werk, gegen die kein Kraut gewachsen war. SENECA arbeitete in vollstem Umfang mit der Schiffsleitung zusammen; aber auch er konnte das Chaos nur hinauszögern, nicht verhindern. Die Hyperinpotronik agierte durch die mit ihr gekoppelten Computer und Roboter. Gerade auf diese aber hatte es der unheimliche Feind mit besonderer Hartnäckigkeit abgesehen. SENECA – selbst unangreifbar infolge der komplexen Sicherheitsvorkehrungen, die die zentrale Computerinstallation umgaben – waren die Hände gebunden. Es gelang ihm nur selten, direkt in den Ablauf der Dinge einzugreifen. In der Hauptsache
fungierte er als Breckcrown Hayes' Berater. Als Angst und Ungewißheit sich allmählich zur Panik verdichteten, gab der High Sideryt den Evakuierungsbefehl. Gleichzeitig traf er Vorbereitungen, daß die beiden Kugelzellen sich jederzeit vom Mittelteil lösen konnten. Die Buhrlos waren die ersten, die ihre Quartiere räumten und die Sicherheit der Solzellen 1 und 2 aufsuchten. Sonderkommandos evakuierten Bordfahrzeuge aus den Hangars des Mittelteils und brachten sie in den großen Landeschleusen über und unter den Äquatorwülsten der beiden Kugelzellen unter. Inzwischen war die Suche nach Atlan in vollem Gang. Suchtrupps durchkämmten die Decks des Mittelteils. Roboter wurden bei diesem Unternehmen nicht eingesetzt; der Arkonide hatte zur Genüge bewiesen, daß er sich vor ihnen nicht zu fürchten brauchte. Die Suchkolonnen bewegten sich durch giftgasverseuchtes Gelände, durch Bezirke der Finsternis und durch Bereiche, in denen das künstliche Schwerefeld ausgefallen war und Nullgravitation herrschte. Aber ihre Mühen waren ergebnislos. Sie fanden nicht einmal eine Spur des Arkoniden. Von dem Evakuierungsbefehl ausgenommen waren außer den Suchtrupps die Mannschaft der Kommandozentrale und Atlans Stab, der sich in den Quartieren von Sol-City aufhielt. Es war Breckcrown Hayes' Absicht, mit dieser Kernmannschaft den Mittelteil der SOL unter allen Umständen zu halten. Es wäre ihm schwergefallen, zu definieren, was er sich von dieser Hartnäckigkeit versprach. Er klammerte sich an die von keinerlei Logik gestützte Hoffnung, daß der chaotische Alptraum irgendwann ein Ende finden werde, daß alles wieder ins Lot gerate. Sanny, Hage Nockemann und Bjo Breiskoll hatten sich in jenen Raum zurückgezogen, in dem der Arkonide untergebracht gewesen war. Der Mutant gab sich keine Mühe mehr, Atlans Spur auf telepathischem Weg zu finden. Es war klar, daß der Einfluß, unter dem er stand, gleichzeitig einen Schirm bildete, der die mentalen
Emanationen seines Bewußtseins blockierte. Nockemann hatte inzwischen die leere Hülle der Indirekt-Aura einer eingehenden Untersuchung unterziehen wollen, jedoch feststellen müssen, daß seine Instrumente auf das seltsame Gebilde jetzt, da es den Arkoniden nicht mehr enthielt, nicht ansprachen. Für die Meßgeräte war es so, als sei die Hülle nicht vorhanden. In der Tat konnten weder Nockemann noch der Mutant die geheimnisvolle Struktur berühren: ihre Hände griffen hindurch, als bestünde sie aus Luft. Lediglich Sanny spürte einen sanften, kaum wahrnehmbaren Widerstand, wenn sie die Hülle anfaßte. Sie konnte sie bewegen, hin- und herschieben, in die Höhe heben, aufrecht stellen und wieder auf die Liege zurückbefördern. »Dieselbe Substanz also«, sagte der Wissenschaftler, »aus der auch Chybrain besteht. Der Himmel mag wissen, welche besondere Kraft dir gegeben ist; aber du bist die einzige, die sowohl das Kristallei als auch dieses Gebilde anfassen kann.« Sanny wirkte geistesabwesend. »Ich frage mich, ob Atlan sich daran erinnert«, sagte sie, als hätte sie Nockemanns Worte nicht gehört. »Woran erinnert?« erkundigte sich Bjo Breiskoll. »An diese Hülle. Daran, daß ihn eine fremde Kraft vor Hidden-X zu schützen suchte.« »Was für einen Unterschied machte es?« brummte Hage Nockemann. »Einen großen«, antwortete Sanny mit Bestimmtheit. »Du hast gesehen, mit welch verzweifelter Hartnäckigkeit Breckcrown Hayes entschlossen ist, den Mittelteil der SOL zu halten. Worauf hofft er? Daß Atlan irgendwo weit im Hintergrund seines Bewußtseins noch einen Funken freien Willens übrigbehalten hat. Daß er den unheilvollen Bann erkennt, dem er ausgeliefert ist, und dagegen ankämpft. Wenn er nur erkennte, daß da jemand ist, der ihm helfen will …« Sie unterbrach sich abrupt und sah starr vor sich hin. »Natürlich macht es einen Unterschied, Hage Nockemann«, fuhr sie
mit merkwürdig flacher Stimme fort. »Und wenn er sich wirklich erinnerte, welchen Ort würde er zuerst aufsuchen? Diesen hier! Er würde versuchen, die Aura zu finden, die ihn vor Hidden-X beschützen sollte …«
* »Wöbbeking«, sagte Atlan plötzlich. »Es darf keine Spur von ihm zurückbleiben, oder wir sind unserer Sache niemals sicher!« »Wie meinst du das?« erkundigte sich Valrik, sichtlich besorgt. »Die Hülle, aus der ich geschlüpft bin«, antwortete der Arkonide. »Sie ist Wöbbekings Werk. Du selbst hast es gesagt. Sie muß vernichtet werden.« »Wie stellst du dir das vor?« fragte der Gnom entrüstet. »Ich sagte dir doch, sie besteht aus Jenseits-Energie. Wie willst du sie vernichten?« »Es muß ein Weg gefunden werden«, knurrte Atlan. »Sonst wäre all unsere Mühe umsonst!« Valriks Blick war mißtrauisch, und Atlan empfand Verwirrung. Er hatte geglaubt, einen Vorwand vorzubringen. Er wollte dorthin zurück, wo er aus der fremden Hülle entkommen war. Es drängte ihn, mehr über die fremde Kraft zu erfahren, die ihn hatte beschützen wollen. Er empfand ihr gegenüber keine Feindseligkeit. Wenigstens hatte er zu Anfang so gedacht. Aber während er sprach, wuchs in ihm der Grimm gegen den Unbekannten, der ihn an der Durchführung seines Auftrags hatte hindern wollen. Mit jedem Wort, das ihm über die Lippen kam, wurde ihm klarer, daß er zum Ausdruck brachte, was er wirklich empfand. Es war, als würde sein Bewußtsein umgekrempelt. Er glaubte, zu wissen, was geschah. Der Architekt hatte seine Unsicherheit bemerkt und war eingeschritten, um ihn auf den richtigen Pfad zurückzubringen. Er versuchte, sich dagegen zu sträuben. Er wollte seine eigenen Gedanken denken,
seinen eigenen Überlegungen folgen. Aber der Architekt ließ nicht nach. Er bog sein Bewußtsein zurecht, bis es wieder die Form hatte, die jeden Zweifel an der Richtigkeit seines Auftrags verbot. Valrik hatte den lautlosen Prozeß mitverfolgt. Als Atlan zu ihm aufsah, wirkte er erleichtert. »Gut, wenn du nicht anders willst«, sagte der Gnom. »Ich komme mit, um dir beizustehen. Wir werden sehen, was wir ausrichten können.« Sie machten sich auf den Weg. Inzwischen hatte der High Sideryt den Evakuierungsbefehl erteilt, und die Mittelzelle der SOL war derart von Verwirrung erfüllt, daß sie eine Entdeckung kaum noch zu fürchten brauchten. (Atlan hatte sich angewöhnt, von Valrik und sich in der Mehrzahl zu sprechen, obwohl er wußte, daß der Zwerg von menschlichen Sinnesorganen nicht wahrgenommen werden konnte.) Es war ihnen klar, daß Suchkommandos unterwegs waren, die nach ihnen Ausschau hielten. Aber sie kamen mühelos voran, ohne einem der Suchtrupps zu begegnen. Ein Robot stellte sich ihnen in den Weg. Atlan desaktivierte ihn mit Hilfe eines der Impulsgeber, die Valrik hergerichtet hatte. Danach demontierte er einen der Waffenarme des Maschinenwesens und versah sich mit einem mittelschweren Blaster. Valrik sah ihm zu. Falls er die Verwendung von Thermostrahlern noch immer mißbilligte, wie er es zuvor getan hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Während des Weitermarschs war der Gnom manchmal hinter, manchmal vor dem Arkoniden. Mitunter schwebte er an der Decke eines Korridors entlang, dann wieder war er für mehrere Sekunden völlig verschwunden. Atlan sah ihn sich nicht bewegen, so wie er selbst sich bewegte. Valrik huschte. Er verschwand von einem Ort und tauchte an einem anderen wieder auf. Er nannte sich ein »Erzeugnis seines Willens«. Atlan fragte sich, was sich hinter diesen Worten verbergen mochte. Manchmal, wenn der Architekt mit dem Druck auf sein Bewußtsein für den Bruchteil einer Sekunde nachließ, erschien ihm der Gnom wie ein böser Geist, eine
Ausgeburt der Hölle. Sie mochten die Hälfte der Distanz zurückgelegt haben, als Valrik, vor Atlan durch die Luft schwebend, plötzlich anhielt und sich besorgt nach seinem Begleiter umblickte. »Was gibt es?« fragte Atlan ungehalten. »Nar'Bon«, hauchte der Gnom, seine Mentalstimme war nur noch ein schwaches, von Furcht ersticktes Wispern. »Was ist Nar'Bon?« wollte der Arkonide wissen. Aber kaum hatte er die Frage ausgesprochen, da begann es sich im Hintergrund seines Gedächtnisses zu rühren. Irgendwo hatte er den Namen schon gehört. Irgendwann – in der Vergangenheit, in einem Raum, der anders war als dieser – hatte ein Phänomen namens Nar'Bon eine bedeutende Rolle gespielt. Aber die Erinnerung ließ ihn im Stich, so sehr er sie auch zu zwingen versuchte. Es fiel ihm nicht mehr ein, wo und wann das gewesen war. »Rasch!« drängte Valrik, ohne die Frage zu beantworten. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Jede Sekunde ist von Bedeutung! Nar'Bon darf uns nicht zuvorkommen …«
* »Dreimal«, wiederholte Sanny, »habe ich ihn gesehen. Stets in kritischen Situationen. Und ich bin sicher, daß es keine Halluzination war.« »Aber niemand anders hat den Gnomen gesehen?« wollte Hage Nockemann wissen. »Bei den ersten beiden Malen war ich allein. Beim dritten – nun, Hayes war ziemlich aufgeregt. Ich weiß nicht, ob er sich umgeschaut hat …« Sie stand vor Nockemann auf der Platte eines Tisches. Der Wissenschaftler musterte sie mit durchdringendem Blick. Das Thema erregte sein Interesse.
»Hattest du den Eindruck, das Wesen sei wirklich … ich meine aus Fleisch und Blut?« Sanny verneinte. »Er tauchte plötzlich auf, verschwand wieder, tauchte an einem anderen Ort auf.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte ihn für eine Art Projektion.« »Eine Projektion von humanoidem Aussehen.« »Ja, so ist es. Er ist winzig, kleiner als ich, aber durchaus humanoid.« Ein überaus nachdenklicher Ausdruck entstand auf Hage Nockemanns Gesicht. Bjo Breiskoll lächelte. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Oh, natürlich weißt du es!« fuhr Nockemann auf. »Wer hat dir erlaubt …« »Nein, nein«, wehrte der Mutant lachend ab. »Ich habe nicht geschnüffelt. Ich sehe dir am Gesicht an, was du denkst.« »Und was wäre das?« erkundigte sich der Wissenschaftler mißtrauisch. »Schockfront, Atlans Beeinflussung, Überladung. Du zerbrichst dir den Kopf darüber, ob Atlans Bewußtsein in dem Augenblick, in dem Hidden-X zuschlug, mit Mentalenergie überladen wurde, bis es überlief …« »Nicht aus Versehen«, warf Nockemann voller Eifer ein, »sondern mit Absicht. Ein bißchen sollte übrigbleiben. Das bißchen, aus dem der Gnom geformt wurde.« »Welche Funktion hat der Gnom?« fragte Sanny. »Aufpasser, Beschützer, Ersatz.« Hage Nockemann zuckte mit den Schultern, während er starr vor sich hinblickte. »Womöglich Monitor«, fügte Bjo Breiskoll hinzu. »Der Gnom ist darauf eingespielt, Botschaften von Hidden-X zu empfangen, und übermittelt sie an Atlan.« »Das ist alles reine Spekulation«, warnte die Molaatin. »Richtig«, bestätigte Nockemann. »Aber irgendwie muß man sich die Sache …«
Ein schrilles Warnsignal ertönte. Der Rundsprech meldete sich. Es war der High Sideryt selbst, der der Restbesatzung des SOLMittelteils das Unglaubliche verkündete. »Totalevakuierung«, dröhnte es aus dem Empfänger. »Die Mittelzelle ist auf dem schnellsten Weg von allen noch verbleibenden Mitgliedern der Besatzung zu räumen. Die Observatorien der Solzellen eins und zwei haben übereinstimmend einen hauptsächlich gasförmigen, kometenähnlichen Himmelskörper identifiziert, der sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit dem gegenwärtigen Standort der SOL nähert. Da der Mittelteil nicht mehr aus eigener Kraft manövriert werden kann, läßt sich die sofortige Totalevakuierung nicht vermeiden …«
7. Der Übergang war erstaunlich abrupt. Noch vor wenigen Minuten hatte sich die URANIA in einer sturmdurchtosten Hölle befunden, in der Gewitter von unvorstellbarer Wucht tobten und Zyklone mit Windgeschwindigkeiten bis an die 1000 km/Std wie Mahlströme kreisten. Dann – auf einmal – wurde das hektische Summen der Stabilisatoren leiser. Das Schiff gelangte in ruhigere Luftschichten. Die Zone der Turbulenz war überwunden. Die Außentemperatur erreichte ein Plateau und blieb stetig; der atmosphärische Druck hatte einen Wert von 2200 Atmosphären und stieg weiterhin an. Und dann kam der Augenblick, da die URANIA aus den untersten Wolkenschichten hervorbrach und die Augen der Kameras das Märchenland erfaßten, das sich unter ihr ausbreitete. Was Enzo Weevil in seinem »Gesicht« gesehen hatte, blieb weit hinter der Wirklichkeit zurück. Helligkeit und Farbe waren überall, nicht nur die Berge leuchteten, sondern auch der Talgrund zwischen den steilen Hängen. Alle Nuancen des Spektrums waren vertreten. Es war eine Orgie der Farben, wie sie Menschenaugen noch nie in
diesem Ausmaß zu sehen bekommen hatten. Die Luft, komprimiert von den mörderischen Drücken einer mehrere zehntausend Kilometer hohen Atmosphäre, war viskos und dennoch von unglaublicher Transparenz. Der Blick schweifte in die weiteste Ferne, bis hinüber zum Horizont, der unvergleichlich viel weiter entfernt war als auf den Bildern, die die Solaner von der Erde gesehen hatten. Das Licht war nicht aufdringlich – im Gegenteil: selbst die kräftigsten Lichtquellen verstrahlten eine sanfte, dem Auge wohltuende Helligkeit. Es gab ganze Bergflanken, die in düsterem Violett oder freundlichem Orange glommen, Felsgruppen, die in sanftem Smaragdgrün blinkten und flackerten, und breite Terrassen, über die sich Kaskaden glühenden Rots ergossen. Enzo Weevil blickte in die Höhe. Da war sie, die Decke aus flüssigem Metall, die er in seinem »Gesicht« wahrgenommen hatte, die unterste Schicht des undurchsichtigen Wolkenmeers, nicht mehr als fünf Kilometer über der Märchenlandschaft aus pulsierenden Farben. »Das ist unsere Welt«, sagte die Stimme des Translators. Enzo schrak auf. Er hatte Fidrich fast vergessen. Das Außenbild wurde in den Tank der Crux übertragen, so daß sie alle Einzelheiten des Landeanflugs mitverfolgen konnten. »Willkommen, Fremde! Ihr seid angemeldet. Seht ihr die weite Fläche aus hellem Gelb weit im Hintergrund?« »Wir sehen sie«, bestätigte Enzo. »Es ist eine Hochebene, die sich allmählich dem Tal entgegenneigt, in dem mein Volk wohnt. Setzt euer Schiff dort ab.« Enzo erteilte dem Autopiloten die nötigen Anweisungen. Fidrich hatte den Anflug der URANIA mit Geschick gesteuert. Er hatte das Schiff dorthin dirigiert, wo die niederfrequente elektromagnetische Strahlung angemessen worden war. Es handelte sich tatsächlich, wie Solania vermutet hatte, um ein Funkfeuer, das heimkehrende CruxRaumfahrer wissen ließ, wo sich ihr Raumhafen befand. Dem Leitstrahl folgend, war die URANIA durch das turbulente
Wolkenmeer gesunken. Jetzt lag das mörderische Wüten der giftigen Hochdruckatmosphäre hinter ihr. Mit geringer Fahrt trieb sie über die lichterflimmernde Landschaft hinweg auf das breite gelbe Band zu. Die Antigravaggregate hatten keine Mühe, eine Gravitation von 3,2 Gravos zu absorbieren. An Bord der URANIA herrschte normale Erdschwere. Es gab einen sanften, kaum merkbaren Ruck, als das mächtige Schiff auf einer der fremdartigsten Welten aufsetzte, die Menschen je vor Augen gekommen waren. Unmittelbar jenseits des Ortes, an dem die URANIA gelandet war, begann die Ebene sich ins Tal hinab zu senken. Auf der breiten, sanft geneigten Fläche war ein ungeheures Gewimmel winziger, bunter Punkte zu sehen, die sich dem Schiff zu nähern schienen. »Mein Volk kommt, um uns zu begrüßen«, sagte Fidrich. »Die Lichtpunkte, die ihr seht, sind ihre bunten Gürtel. Ihr werdet keinen Einwand dagegen erheben, daß wir euch von der Bürde unserer Anwesenheit befreien. Bezeichnet uns den Ort, an dem wir euer Schiff verlassen dürfen, und nehmt unseren Dank für eure Gastfreundschaft.« Enzo Weevil wandte sich mit fragendem Blick an Solania von Terra. Die hochgewachsene Frau nickte ihm aufmunternd zu. »Wir haben nicht das Recht, euch zu halten«, sagte er in Richtung des Translators. »Aber ihr sollt wissen, daß wir euch nur schweren Herzens ziehen lassen. Zu kurz war die Zeit, da wir Informationen über unsere Welten austauschen und voneinander lernen konnten. Werden wir dich wiedersehen?« »Bestimmt. Ich habe deine Frage nicht vergessen. ,Wie können wir dieses Universum, das nicht das unsere ist, wieder verlassen?' Ich werde sie den Denkern vortragen und euch die Antwort bringen.« »Wann?« fragte Enzo. »Es ist eine schwierige Frage. Die Denker werden sich eingehend mit ihr befassen müssen. Ich rechne mit ihrer Antwort nicht eher als nach Ablauf eines Zeitraums, den ihr ›ein paar Stunden‹ nennen
würdet.« »Wir warten, Fidrich«, versprach Enzo. Er glaubte schon, die Unterhaltung sei zu Ende, und wollte dem Crux Anweisungen erteilen, wie er mit seinen Artgenossen das Schiff verlassen könne, da meldete sich Fidrich noch einmal zu Wort. »Denk daran: diese Welt ist für euch so fremd, wie für uns die eure sein würde, wenn wir auf ihr landeten. Beobachtet, seht euch um, nehmt in euch auf. Wenn ihr Dinge seht, die ihr nicht versteht, seid vorsichtig mit euren Schlußfolgerungen. Vor allen Dingen bedenkt eines: mein Volk wird niemals etwas unternehmen, woraus euch Schaden erwachsen könnte.« »Ich glaube dir«, antwortete Enzo bewegt. »Dasselbe gilt für uns. Wir wollen eure Freunde sein.« Dann gab er seine Anweisungen. Als er geendet hatte, wandte Solania von Terra sich ihm zu und bemerkte mit freundschaftlichspöttischem Lächeln: »Ein geschulter Diplomat hätte seine Sache nicht besser machen können.«
* Sie warteten. Und während sie warteten, starrten sie auf die Bildschirme, die die unwirkliche Umwelt zeigten, und versuchten, zu verstehen, was sie von Fidrich während der langen Stunden des Landeanflugs über das Volk der Crux erfahren hatten. Vieles blieb unverständlich – würde für immer unverstanden bleiben, weil es sich außerhalb des Bereichs befand, zu dem menschliche Vorstellungskraft Zugang hatte. Zum Beispiel das Naturverständnis der Crux. Es beruhte auf der Intuition, und die Intuition wiederum hatte damit zu tun, wieviele Crux zur selben Zeit das gleiche empfanden. Sie kannten keine Naturgesetze, nur »Wahrheiten«, die sie irgendwann intuitiv erkannt hatten und von
denen sie glaubten, daß sie für längere Zeit Gültigkeit besitzen müßten. Solange zumindest, wie den Crux nicht eine andere Wahrheit entgegengesetzten Inhalts bekannt wurde. Ihre technischen Errungenschaften waren schwer abzuschätzen. Offenbar beherrschten sie die Energiegewinnung durch kontrollierte Kernfusion. Aus Fidrichs Schilderungen ging hervor, daß sie die Schwerkraft zu manipulieren verstanden, und man nahm an, daß auf diesem Prinzip die Triebwerke ihrer Raumschiffe beruhten; aber wie sie es im einzelnen anstellten, mit der Schwerkraft so zu verfahren, daß sie ihre Fahrzeuge aus der nicht unbedeutenden Gravisphäre des Planeten entkommen ließ, war unbekannt. Wenn Fidrich sprach, so kehrten zwei Begriffe immer wieder: »geistige Kraft« und »Gruppe«. Es schien, daß es in der Technologie der Crux keine Maschinen gab, sondern nur Geräte, die in einer Art von Symbiose mit ihren Erbauern funktionierten. (Als Resultat dieser Einstellung war es zum Beispiel völlig unmöglich gewesen, den Crux klarzumachen, was ein Roboter sei.) Und es wurde deutlich, daß der einzelne in der Gesellschaft der Crux nur wenig wog; wenn irgend etwas Nennenswertes vollbracht werden mußte, dann wurde es stets von einer Gruppe vollbracht. Eine solche Gruppe waren die Denker. Ihre Aufgabe war es, neues Wissen zu gewinnen und den Horizont der Wissenschaft zu erweitern. Die Denker hatten eine glorreiche Vergangenheit hinter sich. Zu Anfang hatten sie ein Überwesen konzipiert, dem der Planet und die Crux ihr Dasein verdankten. Jahrhundertelange Überlegungen hatten sie sodann zu dem Schluß geführt, daß ein solches Wesen sich nicht damit begnügen werde, nur eine Welt und ein kleines Volk zu schaffen, sondern den Drang empfinden müsse, seine Schaffenskraft sich so lange austoben zu lassen, bis eine Vielzahl von Welten und eine Menge von Völkern entstanden war. Es war dies eines der wenigen Beispiele, in denen religiöse Überlegungen zur Erkenntnis kosmologischer Prinzipien geführt hatten. Obwohl also die Denker die Sterne nicht sehen konnten,
waren sie überzeugt, daß sie existierten. Überlegungen, die die deutlich ausgeprägten Gezeiten der Ammoniakmeere betrafen, führten sie zu der Erkenntnis, daß es massive Himmelskörper geben müsse, die ihre Welt umkreisten: die zwölf Monde, die die URANIA während des Anflugs nachgewiesen hatte. Die Monde waren das ursprüngliche Ziel der Crux-Raumfahrt gewesen. Auf den Monden hatten die Crux die anderen Völker finden wollen, die nach der Ansicht der Denker aus der Schaffenskraft des Überwesens entsprungen waren. Ihre Hoffnung hatte sich nicht erfüllt, aber sie waren der Sonnen gewahr geworden, die in unendlicher Zahl den Raum über den Wolkenschichten ihrer Welt erfüllten. Die Hoffnung war nicht gestorben. Sie hatte sich nach außen verlagert und wartete auf den Zeitpunkt, da die Crux ein Triebwerk entwickelten, mit dem sie die Entfernungen zwischen den Sternen überbrücken konnten. Gruppen spielten auch eine wichtige Rolle in der Kommunikation der Crux mit den Besatzungen ihrer Raumschiffe. Das Mittel, dessen sie sich bedienten, war wiederum die »geistige Kraft«, eine Art Telepathie, meinte Enzo Weevil, während er über diese Dinge nachdachte. Die langwellige elektromagnetische Strahlung diente nur als Richtungsweiser. Zur Übermittlung von Nachrichten fand sich eine Gruppe von Crux zusammen, die intensiv an die zu sendenden Informationen »dachte« und sie auf diese Weise ausstrahlte. An Bord eines jeden Raumschiffs gab es eine ähnliche Gruppe von Crux, deren Aufgabe es war, die Nachrichten von der Heimatwelt zu empfangen und entsprechende Antworten zu senden. Interessant an der Prozedur war, daß der einzelne Crux ebensowenig telepathisch begabt war wie der individuelle Solaner. Nur in der Gruppe entstand die Fähigkeit, Schwingungen im Mentaläther zu erzeugen. Es war eine merkwürdige Welt – beleuchtet von den Feuern einer Hochdruckchemie, die kein menschliches Labor jemals zu simulieren gewagt hatte, bevölkert von Wesen, deren Denkweise von der der Menschen so verschieden war, wie es sich selbst die
ausschweifendste Phantasie kaum auszumalen vermochte. Und vielleicht war gerade das der entscheidende Punkt. Crux und Menschen hatten so wenig Gemeinsames, daß es ihnen leichtfiel, Freunde zu sein. Oder vielmehr, verbesserte sich Enzo Weevil in Gedanken, keine Feindschaft aufkommen zu lassen. Er suchte nach Solania von Terra und fand sie in ihrem Quartier, vor einem Bildempfänger sitzend, der die unwirkliche Farbenpracht der fremden Welt wiedergab. Sie sah auf, begrüßte ihn mit einem flüchtigen Lächeln, das um Entschuldigung zu bitten schien, und schaltete das Gerät aus. »Es macht süchtig«, sagte sie. »Man kann hinsehen, bis einem schummrig wird, und merkt es nicht einmal.« Er blieb stehen, bis sie ihm einen Sitz anbot; soviel gute Manieren hatte er inzwischen gelernt. »Es ist sechs Stunden her, seit Fidrich und seine Leute von Bord gingen«, bemerkte er. »Wie lange wollen wir noch warten?« Sie hob die Schultern. »Sag du's mir, Enzo. Ich habe keine Ahnung.« »Was versprichst du dir von den Denkern? Glaubst du wirklich, sie wissen eine Antwort auf unsere Frage?« Solania schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte sie. »Woher sollten sie das nötige Wissen beziehen? Oh, ich weiß, sie leisten Erstaunliches mit ihrem Talent, neue Erkenntnisse mit Hilfe der Intuition zu gewinnen. Aber die Geometrie übergeordneter Kontinua ist eine harte Nuß, an der sich selbst ein intuitives Genie die Zähne ausbeißen mag. Nein, Enzo – ich glaube, wir werden mit fast leeren Händen zur SOL zurückkehren. Was haben wir gefunden? Eine Sonne namens Aqua, die von zwei Wasserbällen namens Aqua I und Aqua II umkreist wird. Eine weitere Sonne, Spektraltyp O, die soviel Rätselhaftes aufweist, daß wir sie Question nannten, umkreist von einem Planeten namens Jupiter II, auf dem ein seltsames Völkchen lebt, das wir auf den Namen Crux tauften. Was soll Breckcrown Hayes damit
anfangen?« Sie machte eine Geste der Hilflosigkeit. »Aber ich kann nichts daran ändern. Es ist nicht etwa so, daß wir es an Fleiß hätten mangeln lassen.« Der Interkom summte. Auf der Videofläche erschien das Gesicht eines Mannes, der in der Zentrale Dienst tat. »Schleuse Süd meldet zwei Ausgänge«, sagte er. »Du hattest angeordnet, daß niemand das Schiff verläßt, nicht wahr?« Solania war aufgesprungen. »Die Anordnung gilt weiterhin!« stieß sie hervor. »Der Himmel mag wissen, ob unsere Überlebensgeräte den Bedingungen dort draußen gewachsen sind. Hast du versucht, die beiden aufzuhalten? Wer sind sie? Was für einen Grund haben sie …« »Sie waren nicht ansprechbar«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Um genau zu sein: Sie handelten wie im Zustand der Trance. Sie trugen die Überlebensmonturen bereits, als sie in der Schleuse auftauchten. Es ging alles so schnell, daß ich keine Gelegenheit mehr hatte, das Außenschott zu sperren.« »Wer sind sie?« drängte Solania. »Ich bin meiner Sache nicht sicher. Die Helmscheiben spiegelten. Aber ich meine, ich erkannte Dodart Benz und Naino Kellams.«
* Sie sahen sie auf dem Bildschirm: zwei matte Reflexe, die das Licht der Umgebung widerspiegelten. Sie bewegten sich den Hang hinab talwärts. Dodart und Naino – wenn sie es wirklich waren – hatten die Gravitationsprojektoren aktiviert und glitten in zehn Metern Höhe durch die zähe, unglaublich dichte Atmosphäre. Ihre Manöver waren koordiniert und zielbewußt. Man konnte daraus schließen, daß die Überlebenssysteme mit der feindlichen Umwelt zurechtkamen. Es bereitete keine Mühe, sich zu überzeugen, daß die beiden
wirklich diejenigen waren, die der Mann in der Zentrale erkannt zu haben glaubte. Naino Kellams und Dodart Benz waren nirgendwo an Bord der URANIA aufzutreiben. Solania von Terra rief per Radiokom hinter den beiden langsam dahintreibenden Gestalten drein. Aber sie reagierten nicht, obwohl kein Zweifel daran bestand, daß sie, falls ihre Empfänger eingeschaltet waren, die Sendung einwandfrei empfingen. »Wir müssen sie zurückholen!« sagte Solania aufgebracht. »Enzo, laß …« Er unterbrach sie mit einer beschwichtigenden Handbewegung. »Keine Voreiligkeit«, warnte er. »Der Mann, der sie beobachtet hat, beschrieb sie als benommen. Wie im Zustand der Trance, sagte er. Ich nehme an, sie unternehmen diesen Ausflug nicht aus eigenem Antrieb. Sie handeln unter einer Art von hypnotischem Zwang. Von wem kann der Zwang ausgehen? Doch nur von den Crux. Sie haben Naino und Dodart gerufen.« »Wozu?« »Ich weiß es nicht. Aber wir müssen uns auf das verlassen, was Fidrich uns zum Abschied gesagt hat. Die Crux werden nichts unternehmen, woraus uns Schaden entsteht.« Solania musterte ihn mit besorgtem Blick. »Ich wollte, ich hätte deine Zuversicht«, sagte sie. »Du traust diesem … diesem Fremden?« »Ich habe keinen Grund, zu glauben, daß er uns etwas vormachen will«, antwortete Enzo. Dann nickte er und fügte mit Nachdruck hinzu: »Ja, ich traue ihm.« Solania antwortete nicht sofort. »Du bist ein seltsamer Mensch, Enzo«, sagte sie schließlich. »Als ich dir zum ersten Mal begegnete, hielt ich dich für den gröbsten Klotz, der mir je in die Quere gekommen war. Aber in Wirklichkeit hast du nicht nur das Herz, sondern auch das Gehirn am rechten Fleck. Wenn du bereit bist, dich auf Fidrich zu verlassen, dann will ich deinem Urteil vertrauen.«
Enzo wandte sich zur Seite, damit sie sein zufriedenes Lächeln nicht sehen konnte. Er hatte die Prüfung bestanden. Brooklyn – er mochte den Namen, den sie früher benützt hatte, lieber als ihren jetzigen – erkannte ihn an. Das war sein Ziel gewesen; darauf war es ihm angekommen. Jetzt mußte er nur noch zusehen, daß er recht behielt. Die beiden matten Reflexe, die Naino Kellams und Dodart Benz darstellten, waren längst in der bunten Lichterfülle der Umgebung verschwunden. Eine Stunde verging, und noch eine. An Bord der URANIA rührte sich nichts. Allmählich wurde es Enzo Weevil unbehaglich zumute. Gewiß, es war edel, einem fremden Wesen Vertrauen zu schenken und sich auf sein Versprechen zu verlassen – aber war es auch klug? Er begann, die Optionen zu überdenken, die ihm zur Verfügung standen. Sollte er ein Suchkommando losschicken? Sollte er den Crux ein Ultimatum stellen und mit der Vernichtung ihrer Siedlung drohen, falls Dodart und Naino nicht unversehrt zurückkehrten? Es wurde ihm klar, wie sinnlos all diese Überlegungen waren. Auf einer Welt wie dieser konnte er weder suchen, noch hatte es Sinn zu drohen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Fidrich zu vertrauen. Der Interkom summte. Solania fuhr in die Höhe, wie von einer Tarantel gestochen. »Zwei Reflexe nähern sich dem Schiff«, sagte der Mann in der Zentrale. »Ich nehme an, es handelt sich um Naino und Dodart.« »Laß sie in Empfang nehmen und hierher bringen«, trug Solania ihm auf. Zehn Minuten später standen Dodart Benz und Naino Kellams in Solanias Quartier. Man hatte ihnen aus den Überlebensmonturen geholfen. Sie schienen nicht zu wissen, was um sie herum vorging. Sie starrten aus großen, glänzenden Augen vor sich hin. Ein seltsam entrücktes Lächeln spielte auf ihren Gesichtern, als trügen sie eine faszinierende Erinnerung mit sich herum. Plötzlich begannen sie zu sprechen – beide zur gleichen Zeit und
mit denselben Worten. Es war, als hätten sie den Text einstudiert. Sie sprachen wie Maschinen, abgehackt, mit deutlichen Pausen zwischen den einzelnen Worten, ohne innere Bewegung. »Uns sendet Fidrich. Wir sprechen zu euch im Auftrag der Denker. Eure Frage lautete: Wie können wir dieses Universum, das nicht das unsere ist, wieder verlassen? Die Denker verstanden sie nicht. Man rief uns, um sie zu erläutern. Wir folgten dem Ruf der Denker und schilderten die Lage der SOL. Daraufhin berieten die Denker und ermittelten, daß es nur eine Autorität gibt, die eure Frage beantworten kann. Durch Fidrich …« »Halt!« gebot Enzo Weevil voller Ungeduld. »Kommt Fidrich nicht zurück?« »Fidrich wünscht euch gute Reise und Glück auf allen Wegen«, reagierten Naino und Dodart wie aus einem Mund. »Er ist sicher, daß ihr so bald wie möglich aufbrechen wollt – jetzt, da ihr die Antwort der Denker kennt. Durch Fidrich nämlich ist uns mitgeteilt worden, daß Nar'Bon derjenige ist, der die Antwort auf unsere Frage kennt.« »Nar'Bon?« wiederholte Solania ungläubig. Mit Naino Kellams und Dodart Benz ging eine seltsame Veränderung vor. Die Augen verloren den merkwürdig starren Glanz, die Gesichter wirkten mit einemmal hilf- und ratlos. Naino gab ein ächzendes Geräusch von sich und sah sich fragend um. »Was ist?« wollte sie wissen. »Wie kommen wir hierher? Was … ist geschehen?« Dodart brach in einem Sessel zusammen und gab unzusammenhängende Laute von sich. Mediker, die Enzo herbeirief, nahmen sich der beiden an. Die Diagnose lautete auf posthypnotischen Schock. Naino und Dodart waren nicht in Gefahr, aber sie hatten alle Erinnerung an das, was sich abgespielt hatte, während sie der URANIA fern waren, verloren. Solania bedachte Enzo mit einem wehmütig lächelnden Blick. »Siehst du? So hatte ich es mir gedacht«, sagte sie. »Anstatt einer
Antwort bekommen wir einen magischen Hinweis. Nar'Bon weiß alles. Breckcrown Hayes wird sich darüber freuen.« »Nar'Bon, Nar'Bon«, murmelte Enzo. »Da war doch irgendwas …« »Ja. Das fiel mir auf«, bekannte Solania. »Der Komet, der über Chail auftauchte und die grüne Sichel verursachte, hieß in der Legende der Chailiden ebenfalls Nar'Bon.«
8. Die Gewißheit verdichtete sich von Minute zu Minute. Je näher das verderbenbringende Gebilde kam, desto zuverlässiger wurden die Daten: der Komet zielte – mit einer Meßtoleranz von wenigen hundert Kilometern – genau auf den Standort der SOL. Im allgemeinen Tumult wurde kaum bemerkt, welch ein merkwürdiges, um nicht zu sagen unglaubliches Objekt der fremde Himmelskörper war. Die Evakuierung der Mittelzelle galt als abgeschlossen. Es wurde Breckcrown Hayes auf schmerzhafte Weise deutlich, wie notwendig es gewesen wäre, einen Evakuierungsplan zu besitzen, der schon ein paarmal durchexerziert worden war. Er selbst hatte sich mit seinen Stabsspezialisten in die Solzelle-2 zurückgezogen und in der Kommandozentrale eingerichtet. Die Angehörigen des Atlan-Teams waren ihm gefolgt; aber es war ihm völlig unklar, wie sich der Rest der Besatzung des Mittelteils über die beiden Solzellen verteilt hatte. Er war nicht einmal sicher, daß sich niemand mehr im Mittelteil befand. Aber die Schleusendurchgänge, die von dort in die Solzellen-l und -2 führten, wurden nicht mehr benutzt, wie die Monitore auswiesen. Somit lohnte es sich nicht mehr, noch länger zu warten. Hayes gab den Befehl, die beiden Zellen vom Mittelteil zu lösen. Soweit es im allgemeinen Durcheinander möglich war, hatte man unter denen, die die Mittelzelle verließen, nach Atlan geforscht.
Breckcrown Hayes vermutete, daß er das Chaos benützen werde, um sich ebenfalls auf sicheres Gelände zu begeben. Ohne Zweifel hatte er die Warnung vor dem heraneilenden Kometen gehört. Aber vorläufig fehlte von dem Arkoniden jede Spur. Falls er den Mittelteil verlassen hatte, so verhielt er sich jedenfalls ruhig. Es wurden keine weiteren Sabotageakte gemeldet. Die Entscheidung, wie der Kometengefahr begegnet werden solle, war inzwischen gefallen. Es hatte von Anfang an nur zwei Möglichkeiten gegeben: den Mittelteil der SOL mit Hilfe von Traktorstrahlen aus der Gefahrenzone zu bugsieren oder den Kometen zu vernichten. Breckcrown Hayes hatte sich für den letzteren Weg entschieden. Das Traktorstrahlmanöver erforderte zuviel Jonglieren, zuviel Navigieren auf engstem Raum, und wenn der erste Versuch nicht gelang, gab es keine Zeit mehr für einen zweiten. Den Kometen mit Hilfe von Transformgeschossen in seine Bestandteile zu zerlegen, war dagegen ein unkompliziertes, wenn auch unelegantes Unterfangen, bei dem wenig schiefgehen konnte. Der Komet bestand in der Hauptsache aus einem leuchtenden Gasball von 42.000 km Durchmesser, der einen kurzen, schwach ausgeprägten Schweif hinter sich herzog. Eingebettet in den Ball war ein fester, eiförmiger Kern, dessen Maximaldimension eintausend Kilometer betrug. Der Komet bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von 75.000 km/sec relativ zum derzeitigen Standort der SOL und würde diesen in 33 Minuten erreichen. Breckcrown Hayes gab den Startbefehl. Der Mittelteil des Fernraumschiffs, mit SENECA und – wahrscheinlich – Atlan an Bord fiel hinter den beiden kugelförmigen Zellen zurück, als diese mit Höchstwerten in Richtung des heranrasenden Kometen beschleunigten. Der High Sideryt erteilte seine Anweisungen. Sein Gesprächspartner an Bord der Solzelle-1 war Wajsto Kölsch, der dort das Kommando führte. Beide Solzellen würden den Kometen aus »überhöhter« Position angreifen, wobei die Ebene, die sowohl den Standort der SOL-Mittelzelle, als auch die Kometenbahn
enthielt, als Bezugsfläche diente. Der Beschuß hatte zu bewirken, daß der Kern des Kometen sich auflöste und die Bruchstücke auf einen Kurs geschleudert wurden, auf dem sie dem Mittelteil der SOL nicht mehr gefährlich werden konnten. Die dabei entstehende Turbulenz würde dafür sorgen, daß auch die Vorwärtsbewegung der Gasmassen sich verlangsamte und vor allen Dingen an Ordnung verlor. Beide Schiffe waren auf Kurs. In wenigen Minuten würden sie die Grenze überschreiten, von der aus mit berechtigter Hoffnung auf Erfolg auf den Kometen gefeuert werden konnte. Aber während Breckcrown Hayes sich den Luxus gönnte, ein mattes Gefühl der Erleichterung zu empfinden, wurde an anderer Stelle offenbar, daß die Dinge durchaus nicht so waren, wie sie hätten sein sollen. Hage Nockemann war fieberhaft damit beschäftigt, die Geräte, die er mit Hilfe seiner Assistenten aus dem Mittelteil der SOL gerettet hatte, in seiner neuen Behelfsbleibe zu installieren. Mitten in der Geschäftigkeit unterbrach er sich jedoch plötzlich. »Wo ist Sanny?« fragte er. Bjo Breiskoll sah von seiner Beschäftigung auf. »Ich habe mich nicht um sie gekümmert«, antwortete er. »Ich dachte, du hättest sie …« »Sie saß mir auf der Schulter, als wir aufbrachen«, fiel ihm Nockemann hastig ins Wort. »Ich sagte ihr, sie solle sich gut festhalten, und dann rannten wir los. Mein Gott …« Mit ruckartigen Bewegungen des Kopfes sah er hierhin, dorthin, und auf seinem Gesicht entstand ein Ausdruck der Verzweiflung. Inzwischen hatte Bjo Breiskoll den Blick gesenkt, und als der Wissenschaftler von neuem zu sprechen begann, gebot er ihm mit einer Handbewegung Ruhe. »Gefahr«, sagte er, als er ein paar Sekunden später wieder aufsah. »Sanny ist nicht mit uns gekommen. Sie ist noch im Mittelteil!«
* Sanny hatte ihren Entschluß nicht ohne reifliche Überlegung getroffen. Ein Komet in dieser Umgebung, mehr als einhundert Lichtjahre von der nächsten Sonne entfernt? Ja, wenn er als ein wandernder Himmelskörper bezeichnet worden wäre – das hätte einen Sinn ergeben. Aber ein Ding, das einen Schwanz mit sich trug, der nur dann entstand, wenn volatile Oberflächenschichten von der Wärme einer nahen Sonne verdampft wurden – nein, Sanny glaubte nicht daran. Das war eine Sache, die sie nicht »berechnen« konnte. Und der Grund, meinte sie, lag darin, daß sich jemand geirrt hatte. Sie hatte sich von jeher auf die paramathematische Begabung verlassen, die es ihr ermöglichte, eine Situation zu kalkulieren. Sie empfand keine Bedrohung. Breckcrown Hayes' Aktion erschien ihr überstürzt. Aber sie war neugierig geworden. Nachdem sie sich von Hage Nockemann abgesetzt hatte – ein Manöver, das ihr inmitten des allgemeinen Durcheinanders nicht schwerfiel –, kehrte sie zunächst in den Raum zurück, in dem Atlan sich befunden hatte. Sie nahm die leere Hülle der Indirekt-Aura auf und trug sie mit sich zur Kommandozentrale. Das weite Rund lag einsam und verlassen. Desaktivierte Roboter standen wie Statuen einer abstrakten Kunst. Sanny turnte zur Konsole des Kommandanten hinauf. Ein rotes Warnlicht belehrte sie, daß sämtliche Kontrollfunktionen mit Notstrom liefen – die Primäraggregate waren von Atlan unbrauchbar gemacht worden. Sie deponierte die fast gewichtlose Hülle in einem Sessel und hangelte sich nach oben, bis sie die Batterie der Schalter, Tasten und Anzeigeinstrumente erreichte. Die Anlage war nicht für ihre Körpermaße gemacht. Sie mußte durch Beweglichkeit ersetzen, was ihr an Reichweite und Kraft fehlte. Der Bugsektor des großen Panoramaschirms leuchtete auf. Vor dem diffusen Leuchten des fernen Hintergrunds erschien der Lichtpunkt des Kometen – ein helles, grünliches Leuchten, das am hauchdünnen Faden seines
Schwanzes mitten im Firmament aufgehängt zu sein schien. Sie stutzte. Das Bild hatte sie in einer Video-Aufzeichnung schon einmal gesehen. Sie stammte aus der Zeit, als die SOL über Chail stand. Eine uralte Prophezeiung der Chailiden hatte sich in jenen Tagen erfüllt und das Ende der roxharischen Herrschaft signalisiert. Ein grüner Komet war aus den Tiefen des Alls aufgetaucht, hatte Chails Sonne umflogen und war wieder in der Unendlichkeit verschwunden. In den wenigen Stunden seines Aufenthalts im Chail-System hatte der gasförmige Schweif des Kometen die Sonne Guel zum größten Teil verdunkelt und von ihr nur eine grünlich leuchtende Sichel übriggelassen – die Grüne Sichel von Nar'Bon, die in der chailidischen Sage eine so beherrschende Rolle spielte. Der Lichtpunkt wuchs – ein Zeichen dafür, daß sich der Komet mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit näherte. So wie damals im Himmel über Chail, als er Geschwindigkeiten bis zur Hälfte der des Lichts erreichte. Es gab keinen Zweifel mehr. Das war der grüne Irrläufer von Chail! Das war Nar'Bon! Sie aktivierte die Kommunikationsanlage. Noch während das Bild auf dem kleinen Empfänger sich stabilisierte, hörte sie Stimmen. »… sichere Schußentfernung in vierzig Sekunden. Solzelle-eins?« »Wir sind klar.« Das war Wajsto Kölschs Stimme. »Automatik übernimmt bei T minus dreißig – jetzt!« »Nein!« gellte Sannys wilder Schrei. »Nicht schießen! Feuer einstellen! Seht ihr nicht – das ist Nar'Bon!« Auf dem kleinen Bildschirm sah sie Breckcrown Hayes' verblüfftes Gesicht. »Sanny, wo zum Teufel …« »Frag nicht!« fuhr sie ihn an. »Es ist keine Zeit zu verlieren. Ihr dürft nicht auf den Kometen schießen.« »Der Mittelteil ist in Gefahr, Sanny!« Er sprach so hastig, daß sich seine Stimme fast überschlug. »Ich kann nicht …« »Ich empfehle dringend, den Kometen unbehelligt zu lassen!« Eine kräftige, dröhnende Stimme. Wer war das? SENECA!
Breckcrown Hayes' Verwirrung wuchs. Aber er vertraute dem Rat der Inpotronik. »Feuer halt!« kam sein Befehl. »Feuer halt«, echote Wajsto Kölsch. Sanny warf einen Blick auf das Chronometer. Noch vier Sekunden, und Nar'Bon wäre im Hagel der Transformbomben vergangen. »Danke, SENECA«, murmelte sie. Aber der Computer meldete sich nicht mehr. »Ich weiß nicht, was du vorhast«, sagte Breckcrown Hayes ernst. »Nach unserer Berechnung kollidiert der Komet mit dem Mittelteil in weniger als zwei Minuten. Die Transmitter sind außer Betrieb. Wie willst du dich in Sicherheit bringen?« »Es ist Nar'Bon«, wiederholte die Molaatin. »Er bedeutet keine Gefahr. SENECA hat es ebenfalls erkannt. Mach dir um uns keine Sorgen. Sag mir lieber, ob ihr Atlan irgendwo gefunden habt.« Sie sah, wie seine Augen plötzlich unnatürlich weit und groß wurden. Ein Schauder kroch ihr über den Rücken, als sie die Bedeutung seiner Mimik erkannte und instinktiv der Drohung gewahr wurde, die sich irgendwo in ihrem Rücken zusammenbraute. Eine harte Stimme hinter ihr sagte: »Sie haben mich nicht finden können. Ich bin hier!«
* Hilflos sah Breckcrown Hayes auf seinem Bildgerät mit an, wie sich die unglaubliche Szene entwickelte. Sanny reagierte mit der Sicherheit des Instinkts. Sie ließ sich von der Platte der Konsole fallen und landete in dem Sessel, in dem sie die Hülle der IndirektAura deponiert hatte. Der Arkonide trug einen kurzläufigen, gedrungenen Blaster, den er offenbar einem Roboter ausoperiert hatte. Sein erster Schuß atomisierte den Sessel, in dem Sanny soeben
Schutz gesucht hatte; aber die Hülle war ihre Rettung. Sie leuchtete hell auf, als das Strahlenbündel sie traf, und übernahm die Funktion eines energetischen Schirmfelds. Die kleine Molaatin arbeitete sich aus den qualmenden Trümmern des Sessels hervor. Sie zerrte die leere Hülle der Aura hinter sich her, brachte die Konsole des Kommandanten als zusätzliche Deckung zwischen sich und den Angreifer und eilte auf die Aggregate zu, die die Peripherie der Zentrale säumten. Der Arkonide setzte hinterher. Die leere Hülle strahlte in hellem Rot, als sein zweiter Schuß sie traf. Sanny hatte die freie Fläche zwischen der Konsole und den Aggregaten überquert und verschwand in einem schmalen Schlitz zwischen zwei Maschinenkästen. Den Kokon legte sie wie eine Barrikade quer vor ihr Versteck. »Komm zu dir, Atlan!« donnerte Breckcrown Hayes' Stimme aus dem Empfänger. »Wirf deine Waffe fort!« »Der Auftrag muß ausgeführt werden«, schrie der Arkonide mit zorniger Stimme. »Niemand wird mich daran hindern.« »Oh doch …« Der Vorgang kam selbst für Breckcrown Hayes überraschend, obwohl er ihn erwartet hatte. Er hatte die Geschwindigkeit des Kometen weit unterschätzt. Plötzlich stand er im Raum zwischen der Solzelle-2 und dem bewegungslosen Mittelteil – ein riesiges, gasförmiges Gebilde mit kaum erkennbarem festem Kern, ein hellgrün leuchtender Gigant, der den matt leuchtenden Reflex der Mittelzelle erbarmungslos verschlang. Es war wie ein Spuk. Das Bild auf der kleinen Videofläche des Kommunikationsgeräts begann zu flackern. Jemand schrie auf, als er zu erkennen glaubte, wie der Mittelteil der SOL durch den Aufprall des Kometen zertrümmert wurde. Plötzlich änderte das seltsame Gebilde die Farbe: aus Hellgrün wurde ein mattes Rot. Der Komet begann zu blinken, und er schimmerte in den geheimnisvollen Farben der Jenseits-Materie: hellgrün und hellrot, wie Chybrain und wie die Indirekt-Aura, als der Arkonide sich noch in ihr befand!
Das Phänomen dauerte nur Sekunden – aber Breckcrown Hayes erschien es, als rollte die Folge der Bilder in Zeitlupe vor ihm ab. Der Komet bewegte sich mit einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit. Aus dem riesigen Gasball wurde eine leuchtende Scheibe von der Größe der Sonne, dann des Mondes, und lange noch sandte er sein rätselhaftes Signal, den raschen Wechsel der Farben von Rosarot nach Hellgrün, hin und her, wie ein Positionslicht an einem entschwindenden Raumschiff. Das Mittelteil der SOL war unbeschädigt. Es dauerte eine Minute, bis der High Sideryt und die Frauen und Männer seiner Umgebung diese Erkenntnis verkraftet hatten. Nach ihrer Berechnung hatte der eintausend Kilometer dicke feste Kern des Kometen voll mit dem zylindrischen Mittelstück des Fernraumschiffs kollidieren müssen. Aber dort war der kleine Lichtpunkt, hier der charakteristische Orterreflex und – ja, wahrhaftig! – der Bildschirm des Hyperkoms zeigte noch immer die Kommandozentrale des Mittelteils. Atlan hatte die Waffe sinken lassen. Ihr Lauf zeigte zu Boden. Der Arkonide stand wankend, als sei er im Begriff, das Gleichgewicht zu verlieren. Mit der freien Wand fuhr er sich über die Stirn, und im Befehlszentrum der Solzelle-2 wo die absolute Stille des ungläubigen Staunens herrschte, hörte man ihn aufstöhnen: »Mein Gott – was habe ich getan?«
* Durch die verzerrte Perspektive, die ihr die transparente Hülle ermöglichte, hatte Sanny den blassen, grünlichen Schein bemerkt, der der Kommandozentrale folgte. Sie wußte, daß der Komet heran war, und trotz der Sicherheit, mit der sie vor wenigen Augenblicken zu Breckcrown Hayes gesprochen hatte, packte sie die Angst vor dem alles zerstörenden Zusammenprall.
Aber nichts dergleichen geschah. Statt dessen empfand sie plötzlich ein Gefühl der Geborgenheit. Sie sah, fassungslos vor Staunen, wie der Arkonide mitten im Lauf anhielt und die Mündung der Waffe sinken ließ – wankend, unsicher, als habe er mit einemmal vergessen, was er hier wollte. Und sie nahm wahr, wie die leere Hülle der Indirekt-Aura sich auflöste. Sie verschwand von einer Sekunde zur anderen. Das blasse Leuchten erlosch. Der Komet hatte sie mitgenommen. Und noch etwas ereignete sich in dieser Minute. Einen Atemzug lang gewahrte Sanny einen Schatten, den Umriß einer verwachsenen Gestalt, der wie ein Schemen durch die Luft huschte. Sie hörte einen Schrei, so gräßlich und schmerzerfüllt, daß ihr das Blut in den Adern stockte. Sie hörte das bettelnde Flehen eines gequälten Geistes: »Hilf mir! Rette mich! Es ist Wöbbeking …« Aber der Strom der gepeinigten Gedanken riß ab, noch bevor sie sich von ihrem Schock erholt hatte. Der eilende Komet riß das Kreischen der geplagten Mentalstimme mit sich und ließ es erlöschen wie einen Ruf im Wind. Nar'Bon hatte den häßlichen Gnomen zu sich genommen; und niemand würde je erfahren, woher er gekommen war und was er an Atlans Seite zu suchen hatte. »Mein Gott – was habe ich getan?« Die ächzende Stimme des Arkoniden schreckte sie auf. Sie eilte auf ihn zu. »Erkennst du mich?« fragte sie ihn. Er blickte sie an und ließ die Waffe fallen. Er ging in die Knie und streckte ihr die Hände entgegen. Schmerz und Unverständnis spiegelten sich in seiner Miene, eine dünne Schicht Schweiß bedeckte die hohe Stirn. »Sanny – ich weiß nicht … was in mich gefahren ist …« Sie hatte ihn noch nie so verwirrt und hilflos gesehen. »Sprich jetzt nicht«, ermahnte sie ihn. »Du warst nicht Herr deiner selbst. HiddenX hatte dich in den Klauen.«
Er nickte. Seine Lippen zuckten. Er hatte soviel zu sagen. Aber bevor ihm das erste Wort über die Lippen kam, zuckte ein fahler Lichtblitz über den großen Bildschirm. Erstaunt sah Sanny auf und erkannte, daß der Komet, inzwischen zu einem winzigen Punkt geschrumpft, noch einmal hell zu leuchten begonnen hatte, als wolle er ein letztes Signal senden. Gleichzeitig hörte sie in ihrem Bewußtsein die Worte – und gewahrte an Atlans verwundertem Gesichtsausdruck, daß auch er sie vernahm: »Atlan! Wöbbeking grüßt dich. Meine Hilfe gegen die Macht Hidden-X ist der zweite Teil des Dankes, den ich dir abzustatten habe.« Die Rückkehr in den Mittelteil der SOL erfolgte in aller Eile. Die Reparaturarbeiten an den von Atlan heimgesuchten Schadensorten begannen sofort. Dabei stellte sich heraus, daß der Arkonide bei seiner unheilvollen Tätigkeit Wert darauf gelegt hatte, wirksame, aber leicht behebbare Zerstörungen anzurichten – in Übereinstimmung mit dem Auftrag, den er erhalten hatte: die SOL für Hidden-X in Besitz zu nehmen. Atlan selbst befand sich vorläufig in Quarantäne, unter der Obhut eines Teams von Ärzten, denen sich Hage Nockemann und Bjo Breiskoll angeschlossen hatten. Der Mutant ermittelte rasch und ohne Schwierigkeiten, daß Atlans Bewußtseinstätigkeit, soweit er in sie Einsicht nehmen konnte, wieder den gewohnten Gang nahm. Die Mediker überzeugten sich mit Hilfe einer Reihe ausführlicher Tests, daß sich der Atlan, den sie vor sich hatten, in nichts von jenem unterschied, den sie aus der Zeit vor der Kollision mit der hyperenergetischen Schockfront kannten. Was sich in der Zwischenzeit abgespielt hatte, blieb unklar. Niemand zweifelte daran, daß der Arkonide unter dem Einfluß des Hidden-X gestanden hatte – aber wie es der fremden Macht gelungen war, ihn unter ihren Willen zu zwingen, und wie es hatte geschehen können, daß der unheimliche Bann durch einen vorbeiziehenden Kometen beseitigt wurde, das ging über den Wissenshorizont der Ärzte. Einer
unter ihnen brachte seine Frustration mit den folgenden Worten zum Ausdruck: »Ich verdiene mein Brot damit, daß ich heile – nicht mit Spekulieren.« Nachdem Breckcrown Hayes den Bericht des Mediker-Teams erhalten hatte, ließ er die Quarantäne aufheben. Atlan kehrte in sein Quartier in Sol-City zurück, um sich dort mit seinen Freunden zu beraten. Inzwischen waren die drei Bestandteile des Fernraumschiffs miteinander vereint worden. Die Reparaturarbeiten in der Mittelzelle näherten sich dem Abschluß, als die Orterzentrale die Rückkehr der URANIA meldete. Sie war das letzte Suchschiff, das sich noch draußen befand. Sie war außerdem, wie sich bald herausstellte, das einzige Fahrzeug, das mehr gefunden hatte als tote kosmische Gesteinsbrocken, die einsam und verlassen ihren Weg durch sternenarme Räume zogen. Allerdings entpuppten sich die Entdeckungen, die die URANIA unter Leitung von Solania von Terra und Enzo Weevil gemacht hatte, als ebenso enigmatisch wie die Ereignisse, mit denen die Besatzung der SOL konfrontiert gewesen war. Das Aqua-System mit den beiden Wasserplaneten wurde als potentielles Forschungsobjekt von SENECA vermerkt. Die Aufzeichnung über die geheimnisvolle Zivilisation der Crux dagegen riefen überall dort, wo sie zur Kenntnis genommen wurden, Staunen und Verwunderung hervor. Wie war es möglich, daß die Crux den Namen Nar'Bon kannten? Solania hatte zunächst angenommen, es müsse sich bei dem, was sie auf Jupiter II gehört hatten, um eine zufällige Namensgleichheit handeln. Aber an Bord der SOL war aufgrund zahlreicher Messungen, die während des Kometendurchgangs angestellt worden waren, inzwischen bekannt, daß es sich bei dem rätselhaften Himmelskörper um denselben gehandelt hatte, der auch über Chail erschienen war. Die Erwähnung Nar'Bons auf der Heimatwelt der Crux konnte also kein Zufall gewesen sein.
Die mentale Botschaft, die der entschwindende Komet gesandt hatte, bevor er endgültig in den Weiten des fremden Alls verschwand, war von vielen Besatzungsmitgliedern der SOL empfangen worden. Bei seinem ersten Gespräch mit Atlan, nachdem dieser aus der Obhut der Mediker entlassen worden war, versuchte Breckcrown Hayes, von dem Arkoniden zu erfahren, wie die Nachricht zu interpretieren sei. Aber Atlan schüttelte den Kopf. Auf seinem Gesicht erschien ein entsagendes Lächeln, als er sagte: »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an alles, was geschah, während ich unter Hidden-X' Einfluß stand. Ich weiß auch, daß ich den Namen Wöbbeking irgendwoher kannte und ihn im Halbschlaf aussprach. Aber ich habe keine Ahnung, was es mit Wöbbeking auf sich hat – oder mit Nar'Bon. Ich weiß nicht, warum er mir Dank schuldig zu sein glaubt.« Das fremde Universum wahrte seine Geheimnisse. Unter den Solanern machte sich allmählich die Erkenntnis breit, daß es nicht so leicht sein würde, aus diesem Raum in das vertraute Kontinuum zurückzukehren. Sie ertrugen den Schock mit Fassung, und als Breckcrown Hayes ihnen zu verstehen gab, daß sie aufhören müßten, auf ein Wunder zu warten, und sich statt dessen daranmachen sollten, den Rückweg aus eigener Kraft zu finden, da stimmten sie ihm zwar nicht mit Begeisterung, aber doch mit Nachdruck zu. Die SOL bereitete sich auf eine großmaßstäbliche Erforschung des fremden Raumes vor, und nur noch in den Gehirnen einiger ganz unverbesserlicher Optimisten spukte noch die Hoffnung, daß Wöbbeking womöglich doch ein zweites Mal auftauchen – oder wäre es ein drittes Mal? – und die SOL in ihr angestammtes Universum zurückführen könne.
ENDE
Seit dem Auftauchen und Verschwinden des seltsamen Kometen und der Befreiung Atlans von den Auswirkungen des Hyperenergiestoßes sind etwa 14 Tage vergangen. Beiboote der SOL erkunden das »Sternenuniversum«, in das man geraten ist – und dabei stößt man auf DAS RÄTSEL DER WASSERWELT … DAS RÄTSEL DER WASSERWELT – so lautet auch der Titel des von Arndt Ellmer geschriebenen Atlan-Romans der nächsten Woche.