Kind des Grals von Adrian Doyle
Mit dem Lilienkelch wurde einst das Geschlecht der Vampire gegründet und überall auf d...
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Kind des Grals von Adrian Doyle
Mit dem Lilienkelch wurde einst das Geschlecht der Vampire gegründet und überall auf der Erde verbreitet. Und mit dem Lilienkelch sollten die Blutsauger dereinst, in der »Hohen Zeit«, wieder über die menschliche Rasse herrschen. Doch der Gral ist entweiht und nutzlos geworden. Eine Tatsache, mit der sich Anum, Mächtigster der Vampire, nicht abfinden will. Er wagt ein Experiment, eine noch nie dagewesene Taufe. Ganz besonderes Blut soll einem Menschenkind die Unsterblichkeit und den ebenso ewigen Durst einflößen. Blut, wie es auf der ganzen Welt nur in einem einzigen Geschöpf pulsiert. Die Taufe gelingt. Aber folgenschwerer, als es irgend jemand hätte vorhersehen können …
Was bisher geschah … Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten. Durch Liliths Schuld wurden fast alle Schläfer getötet. Nur Anum und Landru existieren noch. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände. In Uruk trifft er auf die Halbvampirin Lilith, die seinem Einfluß verfällt und ihm nach Jerusalem folgt. Dort gelingt es ihr, Landru zu pfählen! So jedenfalls scheint es … … denn es war nicht Landru! Gabriel, die Inkarnation Satans in dieser Epoche, hat den einst von Herak geschaffenen Genvampir aus dem ewigen Eis befreit und ihm Landrus Aussehen und Gedächtnis verliehen! Der echte Landru erfüllt indes den Pakt, den er mit Gabriel schloß: Im Weißen Tempel von Uruk befreit er eine dort eingekerkerte Loge des Satans, die Archonten, und führt sie nach Jerusalem. Nona, Landrus Geliebte, hat seinen scheinbaren Tod dort miterlebt, und da sie nicht von Gabriels List weiß, folgt sie voller Rachegelüste Lilith und Anum und beobachtet, wie die beiden sich im Haus des Gemüsehändlers Chaim einquartieren. Die Bewohner des Hauses kommen dabei ums Leben – bis auf die beiden Kinder David und Rahel, mit denen Anum Großes vor hat. Denn er will eine weitere Kelchtaufe durchführen, um das Geschlecht der Vampire wieder zu vermehren – und das, obwohl der Kelch seine Macht eingebüßt zu haben scheint. Von Stonehenge aus strahlt Gabriel die gebündelte Seelenenergie von 350 Verbrechern, die er aus einer nahen Psychiatrie befreit hat, in den nächtlichen Himmel. Dieser Strahl trifft den Mond und taucht ihn in ein sonderbares Licht. Und überall auf der Welt machen sich seine »Soldaten« auf, ebenfalls gen Jerusalem zu ziehen und sich dort zur schrecklichsten Armee zu sammeln, die es je unter
Sonne und Mond gegeben hat … auch der friedliche Chiyoda und seine Schüler, die dem Bösen abzuschwören hofften! Makootemane und Esben Storm – ein indianischer Vampir und ein australischer Aboriginal –, die wie Chiyoda auf Traumzeitpfaden zu wandeln vermögen, können es nicht verhindern. Dies ist auch der Moment, in dem Nona aus Gabriels Mund das Geheimnis um die Herkunft der Werwölfe erfährt: Zu Zeiten König Minos’ ließ die damalige Inkarnation des Satans den ersten Krieger einer Armee entstehen, die ihn dereinst in seinem letzten, alles entscheidenden Kampf unterstützen soll. Dazu wählte Satan eine Gestalt, die ihm geeignet schien, alle Widernisse der Jahrtausende zu überstehen und sich ungehindert zu mehren – den Wolf. Doch allen Nachkommen war eines gemein: Erst mit der Geschlechtsreife kam die Fluch über sie und machte sie unter dem Licht des Vollmondes zu Werwölfen.
Ich habe den Tod gesehen und ahne nun, was uns erwartet. Ich bin kein Held, das war ich nie. Mir ist schlecht vor Angst. Das Fürchten gehört zu den Dingen, die mir nicht verboten sind, seit ich ein Gefangener bin. Durch meine »Fenster« sehe ich, wie du mich anschaust, nur scheinbar frei, denn auch dich werden sie nicht schonen. Sie wissen nicht, was Gnade heißt. Ich hasse sie, die nicht menschlich sind. O ja, Haß. Auch er ist mir geblieben. Und er schwillt an mit jeder Stunde, die ich in meinem Kerker schmachte. Durch meine Augen blicke ich wie durch dicke Wände aus Glas auf dich, Rahel, geliebte Schwester. Dann hoffe und bete ich, daß dir erspart bleiben möge, was ich erleide, seit ich weggeschlossen wurde. In mir selbst …
»Sag doch etwas!« flehte das Mädchen. »Irgend etwas!« Es lag bäuchlings auf dem Fußboden vor dem Sofa, auf dem der Junge saß, der es anblickte. Scheinbar anblickte. Sicher war sich das Mädchen nicht. Der Junge auf dem Sofa war doppelt so alt wie sie: ihr Bruder David. Das Mädchen hieß Rahel. Und Rahel hatte Angst. Erbärmliche Angst, die sie nicht zeigte. Nicht zu zeigen versuchte. Aber in ihr drin, dicht unter einer hauchdünnen Fassade aus Ernst und Fassung, die sie aufrechterhielt, seit sie ihre toten Eltern im Staub und Schmutz der unterirdischen Kirche hatte liegen sehen, unter dieser Schminke herrschte Chaos. Nacktes Entsetzen und … Trauer. Sie war verzweifelt. Sie war sechs Jahre alt und hatte schon alles verloren, was es zu verlieren gab. Wie hat das passieren können? Und warum?
»Rede! Sag etwas!« flüsterte sie erstickt. Sie wußte nicht, zum wievielten Male. David sah sie nur an. Stocksteif wie eine Puppe hockte er da, seit ihm befohlen worden war, sich hinzusetzen. Seine Augen standen weit offen. Kein Wimpernschlag verriet das Leben, das noch in ihm steckte. Rahel hatte sich auf ihre Ellbogen gestützt. Und ab und zu schloß sie die Augen. Weil sie den Anblick nicht mehr ertrug. Schlaf fand sie nicht. Es war hellichter Tag, aber schwere Vorhänge dämpften die Helligkeit. Es war ihr Zuhause. Hier waren sie geboren worden und aufgewachsen. Nie hatten sie Gewalt am eigenen Leib erfahren. Nie hatten sie unter solchen Ängsten leiden müssen wie jetzt. »Daheim« war zu einem kalten, schrecklichen Ort verkommen, der nie mehr ihr Zuhause sein würde … »Da-vid …« Rahels Lippen waren wie taub. Daß in ihren Eingeweiden der Hunger rumorte, ignorierte sie. Sie wollte nichts essen. Sie wollte nicht einmal an Essen denken. Nur einfach liegenbleiben, wo sie lag – obwohl die Nähe ihres Bruders zunehmend unerträglicher für sie wurde. Sein stummes Starren. Sein unhörbarer Atem. Was haben sie ihm angetan? Er dämmerte in tiefer Hypnose dahin. Der Blick seiner Augen war trüb. Sie werden ihm ausdörren, dachte Rahel. Sie werden ihm elend vertrocknen. Aus Jux hatte sie einmal versucht, so lange wie möglich nicht zu blinzeln. Schon nach kurzer Zeit hatte sie es nicht mehr ertragen, hatte jeden noch so schwachen Luftzug im Raum als schmerzhaften Nadelstich empfunden … Sie schluckte. Sie hatte Mitleid mit ihrem Bruder. Und manchmal
glaubte sie, dieselbe Regung in seinen Augen lesen zu können. Manchmal … Sie fühlte sich wie zerschlagen, saft- und kraftlos. Die Schwerkraft zerrte an ihr. Eine Kraft, die ihr niemals als solche bewußt geworden war, bevor sie Vater und Mutter mit gebrochenen Hälsen zwischen Schutt und Dreck hatte liegen sehen. Aber dieser Anblick, dieses Bild, das sich tief in ihre Seele eingebrannt hatte, war unvergeßlich, und es höhlte sie aus. Ganz allmählich, schleichend, aber unerbittlich. Was haben sie vor? Was wollen sie von uns? Warum verschwinden sie nicht und lassen uns laufen …? Sie: ein Mann und eine Frau. Anders als jeder Mann und jede Frau, denen Rahel in ihrem Leben davor begegnet war! Sie waren da, füllten das Haus mit ihrer Präsenz aus, verpesteten und entweihten es! Rahel empfand die Frau nur unwesentlich erträglicher als den Unheimlichen an ihrer Seite. Sie hatten beide etwas Monströses. Etwas Abscheu und Ekel weckendes … Es kostete sie große Überwindung, aufzustehen und zu der Tür zu laufen, hinter der das seltsame Paar verschwunden war. Rahel blickte zu ihrem Bruder zurück, dessen Augen ihr nicht folgten. Sein Blick war immer noch auf die Stelle des Bodens geheftet, wo sie gerade noch gelegen hatte. Sie widerstand der Versuchung, zu ihm zu treten und ihn zu berühren. Die Hand an seinen Hals oder auf seine Brust zu pressen und sich vom Pochen seines Herzens beruhigen zu lassen, daß er noch lebte. Sie wußte nicht, ob es wirklich Leben war. Sie war sich nicht sicher. Sie fühlte sich allein und verlassen. Und ausgeliefert. Denen, die dort drinnen waren, in einem Raum ohne Fenster, einer … Abstellkammer.
Rahel fragte sich, was sie ausgerechnet dort suchten. Und woher sie die Überzeugung nahmen, daß nicht wenigstens Rahel die Gelegenheit nutzen würde, um davonzulaufen. Sie wußte, warum sie nicht weglief. Aber es frustrierte sie, daß auch die Fremden es wußten. David … Wach auf! Wach auf und lauf mit mir davon … Ohne dich kann ich nicht fort! Sie kennen kein Erbarmen. Es wäre dein Tod! Sie erreichte die Tür. Dahinter war es so still, als befänden sich wirklich nur Dinge in der Kammer. Aber Rahel hatte sie hineingehen sehen. Und es gab nur diesen Weg hinein oder heraus. Sie legte das Ohr an das Türblatt und lauschte angestrengt. In ihren Ohren rauschte leise das Blut, und von fern, von sehr weit her schienen nun doch Stimmen zu wehen, deren Worte sie nicht verstand. Rahel trat einen Schritt zurück. Im Schloß der Tür steckte ein Schlüssel, der anscheinend aus Nachlässigkeit von den Fremden übersehen worden war. Sicher war sich, was das anging, Rahel jedoch nicht. Der Mann und die Frau verfügten über Kräfte, die ihre Unmenschlichkeit unterstrichen. Vielleicht war es bedeutungslos für sie, ob jemand den Schlüssel im Schloß drehte und einen Riegel vorschob oder nicht. Rahel zögerte. Sie hatte Angst, den wirklichen Zorn der Fremden auf sich zu ziehen. Aber der Schlüssel lockte. Er konnte der Schlüssel in die Freiheit sein. Sie mußte nur … »David!« Eindringlicher als je zuvor sprach sie ihren Bruder an. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm. Berührte nun doch seinen Körper. Rüttelte ihn an den Schultern. Sein Haupt schaukelte hin und her, und einen absurden Moment lang fürchtete Rahel, er könnte abknicken. Sein Kopf könnte dieselbe unmögliche Drehung vollführen, die ihren Eltern zum Verhängnis geworden war.
Doch er wackelte nur. Und hinter seinen Augen schien die Qual heller aufzulodern. »David! Steh auf! Wir gehen! Wir müssen nur die Straße erreichen, dann …« Sie verstummte. Er reagierte nicht. Und er wog gut das Doppelte ihres eigenen Gewichts. Egal. Ich muß es versuchen. Wer weiß, was mit uns geschieht, wenn sie erst wieder herauskommen …! Sie legte David seitlich auf das Sofa, faßte ihn an den Handgelenken und ließ ihn dann vorsichtig zu Boden gleiten. Er gab keinen Laut von sich. Sie huschte zur Tür, die aus der Wohnstube ins Treppenhaus führte, und öffnete sie sperrangelweit. Dann erst kehrte sie zur Abstellkammer zurück. Solange der Schlüssel im Schloß steckte, verdeckte er die Sicht ins Innere. Aber Rahel wollte kein unnötiges Geräusch riskieren. Sie ließ ihn, wo er war, klemmte seinen Schaft nur zwischen Daumen und Zeigefinger und übte ganz behutsamen Druck aus. Drehte ihn sacht. Als es leise knackte, wußte sie, daß das Schloß eingeschnappt war. Nun ging alles blitzschnell. Rahel machte auf dem Absatz kehrt und rannte zu ihrem Bruder. Sie schaffte es gerade noch, die Finger um seine Handgelenke zu schließen, als auch schon das Licht durch die Fugen der Tür brach, durch Ritzen und Schlüsselloch. Purpurnes, seltsam totes Licht, das jede Bewegung in der Stube zum Erliegen brachte und Rahel das Blut in den Adern gefrieren ließ. Im nächsten Moment wurde die verschlossene Tür vom Druck dieses Lichts aus den Halterungen gesprengt. Und jene, die drinnen gewesen waren, kamen heraus. Kamen, um die beiden Kinder zu holen …?
*
Minuten zuvor »Nein!« sagte sie. »Nein …?« »Es wäre unverantwortlich und sinnloser Wahnsinn!« »Wie kommst du zu dieser Überzeugung?« »Durch das, was du mir erzählt hast.« »Es stimmt, auch mein Versuch, ihn seiner Bestimmung zuzuführen, ist gescheitert. Der Junge starb vermutlich – oder erlitt Schlimmeres. Er glitt einfach aus unserer Realität.« »Das hast du zugelassen?« »Ich hätte es nicht verhindern können.« »Hättest du es verhindern wollen?« Er schwieg. Er war unglaublich – unglaublich in seiner Anziehungskraft, die Gefühle in Lilith schürten, die ihr ebensoviel Sorge wie Glück bereiteten. Da stand sie also mit der Liebe ihres Lebens. In einer winzigen Kammer, die vollgestopft war mit dem Gerümpel der Familie, die hier einmal gewohnt hatte. In dem Moment, den Lilith sich geduldete und auf Anums Antwort wartete, versuchte sie sich vorzustellen, was dieser Mann in seinem Leben schon alles gesehen hatte. Er war von derselben Art wie Landru gewesen war. Ein Hüter. Einer der allerersten Vampire – nicht aus einem magischen Kelch geboren, sondern vom Schoß einer Frau, die sich mit ihren Taten den Zorn Gottes zugezogen hatte. Und die ebenfalls Lilith geheißen hatte – die Ur-Lilith, Adams erstes Weib. Anum war ihr Liebling gewesen – das liebste und bevorzugte ihrer Kinder. Ich weiß nicht einmal, dachte Lilith Eden, ob ich sie selbst kennenge-
lernt habe. Ob ich den weiten Weg zurück in der Zeit gegangen bin, wie es meine Bestimmung war. Diese Information hatte sie aus der EWIGEN CHRONIK. Sie selbst besaß keine eigene Erinnerung mehr an die Zeit, bevor sie im italienischen Kloster Monte Cargano erwacht war. * In der Obhut eines Mannes namens Salvat, der behauptet hatte, ein Engel zu sein – und vielleicht sogar einer gewesen war. Verrückt. Ihr ganzes Leben war verrückt, nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Sie war auch kein Mensch wie andere Menschen. Sie aß nicht, und der einzige Trunk, der ihr mundete, der sie am Leben erhielt, war … »Blut«, unterbrach Anum ihren Gedankenflug, ohne ihre Frage zu beantworten, »ist nicht gleich Blut. Das Elixier, das wir trinken, unterscheidet sich von Opfer zu Opfer im Bouquet. Aber noch unterschiedlicher ist das Blut, das in meinen und in deinen Adern strömt. Stimmst du darin mit mir überein?« Sie sah keinen Grund, es nicht zu tun. Aber es waren Phrasen, die der letzte Hüter der Vampire drosch, keine neuen und wunderbaren Thesen. Der allerletzte Hüter, seit Landru durch ihre Hand gestorben war! »Es ist dennoch sinnlos – und ich weigere mich, mein Einverständnis zu geben für das, was du verlangst. Ich sagte es schon einmal, und ich stehe dazu: Hände weg von den Kindern!« Anum schürzte die Lippen. Er hatte Augen von wechselnder Tönung. Je nach Lichteinfall schimmerten sie mal aschgrau, mal tintenschwarz. Im Moment und hier, umgeben von einer Dunkelheit, die nicht so vollkommen war, daß sie vampirischen Sinnen nicht genügt hätte, glommen sie sogar rötlich, als hätte Magie ein Licht im Schädel des Mächtigen entzündet. Lilith wußte, daß er sie ebenso leidenschaftlich taxierte wie sie ihn. *siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen«
Sie konnte nicht verbergen, was sie für ihn empfand – und wahrscheinlich würde sie dies einmal geradewegs in den Untergang führen. Sie stand einem Feind gegenüber, einem Erzfeind, aber das war nur die eine Seite der Medaille! Wie es hatte geschehen könne, wußte sie bis heute nicht. Aber es war passiert. Sie konnte – und wollte – sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Und sie sehnte den Tag herbei, da sie die Gefühle, die Anum in ihr wachrief, ins innere Gleichgewicht bringen würde. Daß sie nicht länger hin und her gerissen und zerrieben wurde zwischen besserem Wissen und tiefstem Wollen. Die EWIGE CHRONIK hatte ihr verraten, warum sie als Tochter einer Vampirin und eines Menschen zur Welt gekommen war. Wer diese einmalige Verbindung gefügt hatte. Und sie hatte weiter erfahren, daß es ihre Bestimmung gewesen war, das Ende vampirischer Herrschaft auf Erden einzuläuten. Sämtliche Blutsauger zu hassen und zu vernichten, wo immer sie ihnen begegnete. Die CHRONIK ersetzte nicht die Erinnerung, die sie offenbar auf Satans Wirken hin verloren hatte. Aber sie hatte geholfen, den völligen Identitätsverlust zu lindern, den sie erlitten hatte. Und seit kurzem gab es noch eine zweite Quelle, aus der Lilith schöpfen konnte: Am Eingang zum Korridor der Zeit war ein fremdes Bewußtsein in sie eingefahren. Zum selben Zeitpunkt, als sie Anum begegnet war, hatte sie sich auch mit einer Seele aus ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert gesehen: mit Beth MacKinsey, die zwei Jahre ihres Lebens mit ihr geteilt und dafür mit ihrem Leben gebüßt hatte … Beth ist unwiederbringlich tot, dachte sie beklommen. Sie ist in mir gestorben. Aber sie hat mir einen Schatz hinterlassen, der mir mehr wert ist als alles, was die CHRONIK mir vermitteln konnte! So war es tatsächlich. Im Moment ihres endgültigen Dahinscheidens hatte Beth ihre ganze Erinnerung auf Lilith abgeladen. Auch
die Erinnerung an das lange zweite Leben, das sie von 1618 bis 1705 geführt hatte, nachdem sie durch eines der Tore des Zeitkorridors ins ferne Gestern geschleudert worden war. Als pure Seele. Denn Beth’ wahrhaftigen Körper hatte Lilith auf dem Gewissen. Ich habe meine beste und einzige Freundin umgebracht, dachte sie bedrückt. Und dann bin ich zum Ende des Korridors aufgebrochen – zum Anfang der Zeit. Ob sie ihn je erreicht hatte, konnte sie weder der CHRONIK noch der Erinnerung entnehmen, die Beth ihr aufgeladen hatte. Aber Beth hatte ihr Wichtigeres vermacht: Die Erinnerung an die gemeinsamen zwei Jahre. Das war es, was Lilith sicher machte, kein Monster zu sein. Kein Ungeheuer, das Menschenblut um jeden Preis trank! Und Anum? Kannte er gar keine Grenzen? Was wußte sie über ihn? Nicht viel mehr, als die CHRONIK über ihn verraten hatte. Aber umgekehrt ist es dasselbe, dachte sie. Auch alles, was er über mich weiß, entstammt der Schrift aus Blut und Seelen. Er hat sie ebenfalls gelesen, komplett … »Du verteidigst Geschöpfe, die du gar nicht kennst. Die dir in keiner Weise nahestehen«, sagte Anum. »Bist du wirklich so kalt und gefühllos, daß du bereit wärst, über die Leben von Kindern hinwegzugehen?« »Das tat ich tausend Jahre lang«, erinnerte Anum sie daran, daß er als Hüter des Lilienkelchs von Ort zu Ort, von Sippe zu Sippe gereist war und die Nachkommenschaft der Vampire gesichert hatte. Die Alte Rasse. Ich bin ihm nicht gewachsen, dachte Lilith. Er sieht sich außerhalb jeder Moral. Er akzeptiert keine Regeln, denen auch er sich unterwerfen müßte – um der Menschlichkeit willen! Menschlichkeit? Anum war, anders als die Kelchkinder, nie ein Mensch gewesen. Er war als die personifizierte Macht geboren worden. Von einer Mutter, die zu Gottes ersten Schöpfungen gehört hat-
te – und entartet war. »Aber du hast sie nicht dauerhaft getötet. Sie tranken Blut aus dem Unheiligtum und erstanden zu Vampiren auf.« »Vorher starben sie. Und vergaßen ihre Herkunft. Vergaßen ihre leiblichen Mütter und Väter. – Wenn du ein Ungeheuer in mir sehen willst, dann müßten die Taten meiner Vergangenheit dir reichen, es zu können!« »Ich will dich nicht so sehen …« »Und ich will nicht, daß unsere Beziehung an einer Nichtigkeit zerbricht.« Nichtigkeit? Lilith schauderte. Das, was von Beth MacKinsey in ihr weiterlebte, schürte ihr Entsetzen. Im Korridor der Zeit hatte deren Menschlichkeit das Böse neutralisiert, das seit Yucatán in Lilith wucherte. Seit sie einem indianischen Vampir begegnet war, der sie mit dem Bösen infiziert und auch in ihr vorübergehend jedes Gespür für Skrupel oder Moral erstickt hatte.* Inzwischen unterschied sie wieder zwischen notwendiger Gewalt und sinnloser. Inzwischen wog sie das Für und Wider ihrer Taten so gut es ging ab. Anum scherte sich darum keinen Deut. Er war selbstherrlich und arrogant. Aber darüber hinaus war er faszinierend und besaß ein Charisma, dem sich Lilith nicht zu entziehen vermochte, auch wenn ihr Verstand unentwegt warnte, daß sie sich untreu wurde. Daß sie dabei war, sich selbst aufzugeben und zu verraten, wenn sie bei diesem … Wesen blieb! Anum hob ihr den Kelch entgegen, der zwischen ihnen auf dem Boden der Kammer gestanden hatte und der einmal das Wertvollste gewesen war, was seine Rasse besessen hatte. Bevor er in falsche Hände fiel, entweiht und verunreinigt wurde! »Faß ihn an!« sagte Anum. »Berühre ihn und sag mir, ob du nicht *siehe VAMPIRA T37: »Im Zeichen des Adlers«
auch fühlst, daß noch alle Möglichkeiten in ihm stecken! Daß nur das Richtige getan werden muß, um ihn wieder in einen Born des Lebens zu verwandeln und den Frevel aus ihm zu tilgen!« »Ich will ihn nicht anfassen!« »Du hast Angst?« »Nur Narren haben nie Angst! Er ist unkontrollierbar geworden – das hast du selbst erzählt. Du hast mir von Firan erzählt, dem Jungen, der nach der Taufe, die du versucht hast, aus der Welt herausgefallen ist. Genügt dir das immer noch nicht, um endgültig zu begreifen, daß dieses Artefakt verloren ist?« Anum schmälte die Augen, und für einen quälend langen Moment rechnete Lilith damit, daß seine klassisch schönen Züge entgleisen könnten und er sich der selbstauferlegten Zügel entledigen würde. Um sich auf sie zu stürzen. Weil sie auch sein Feind war – nicht nur umgekehrt! Aber soweit ließ er sich nicht gehen. Er fauchte nur: »Es muß nicht verloren sein!« »Und woher kommt dieser Sinneswandel?« »Ich hatte Zeit, nachzudenken.« »Wir sollten unsere Zeit besser nutzen, um uns über die Zukunft einig zu werden. Über ein gemeinsames Ziel, das in unser beider Sinn liegt!« »Im Kelch liegt die Zukunft.« »Was das angeht, bist du nicht objektiv.« »Und du weißt zu wenig, um das beurteilen zu können.« Lilith schüttelte den Kopf. »Warum mußten wir uns in diese Kammer quetschen? Das ganze Haus steht zu unserer Verfügung.« »Aber das Haus hat Fenster. Dieser Raum nicht. Und wenn ich den Kelch aktiviere, soll sein Glanz nicht bis nach draußen auf die Straße getragen werden.« »Du willst ihn aktivieren? Du willst die Taufe hier vollziehen?« »Vor dem Akt der Taufe wollte ich dich mitnehmen auf eine Rei-
se.« »Eine Reise, die hier startet?« »Sie ginge dorthin, wo ich allein schon einmal war. Und wo ich erst zu der Überzeugung kam, daß der Kelch noch nicht verloren sein muß.« »Wo liegt das?« Anum verzog keine Miene. »Im Kelch. Mit dir will ich noch einmal in ihn tauchen. Als nacktes Bewußtsein. Laß dich darauf ein, und du wirst verstehen, was ich dir die ganze Zeit klarzumachen versuche. Daß diese Kinder unsere Kinder sein könnten. Der Grundstein einer neuen großen Familie, mit der wir diesen Planeten beherrschen!« Lilith forschte in Anums Gesicht nach Anzeichen, daß er sie – aus welchen Gründen auch immer – auf eine Probe stellen wollte. Daß er nur herausfinden wollte, ob sie zu einem solch weitreichenden Schritt und völliger Selbstaufgabe bereit wäre. Aber es schien ihm völlig ernst zu sein mit seinem Angebot. »Du willst …?« Sie schüttelte den Kopf. Der Lilienkelch in Anums Händen begann zart aufzuglühen. Purpur war sein Licht Lockend und verführerisch. »Überleg es dir. Bitte.« »Dir liegt so viel daran?« »Alles!« Die Antwort kam schnell. Und diese Schnelligkeit jenseits aller Zweifel schmeichelte Lilith. »Ich –« Das Geräusch, das sie unterbrach, war kaum hörbar. Dennoch begriffen sie beide seine Bedeutung und Ursache im selben Moment. Grell flammte der Kelch auf. Im ersten Augenblick wußte Lilith nicht sicher, ob sie bereits in ihn hineingesogen wurde – oder ob sich die Energie, die in ihm schlummerte, lediglich nach außen entlud. Der Purpur ertränkte alles.
Und sprengte die Tür, die von draußen, von der Stube aus, verschlossen worden war. Dann –
* David Chaim fieberte mit seiner kleinen Schwester. Weil er ihre Nöte mitbekam. Ihre Verzweiflung. Und ihren Sieg über die Angst, die in ihr fressen mußte! Selbst wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, sich ihr verständlich zu machen, hätte er nicht versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Rahel tat, was getan werden mußte. Sie packte die vielleicht einzige Chance beim Schopf, die ihnen noch blieb! Als die Tür der Abstellkammer aufflog, entlud sich Davids ganze Anspannung in einem Schrei. Ein Schrei, der ihm zunächst gar nicht selbst bewußt wurde, bis er die Gewalt über seine Muskeln wiedererlangte. Bis er Rahel zubrüllte: »Paß auf!« Und sich auf allen Vieren schützend zwischen sie und die beiden Fremden brachte! Er fragte nicht, warum er sich auf einmal wieder bewegen konnte. Er ballte die Fäuste und reckte sie in Richtung der beiden Gestalten, die aus dem blendenden Purpur heraus auf ihn und Rahel zustürmten. »Nein! Wagt es nicht, sie –« Das schreckliche Licht erlosch. Der Mann und die Frau standen wie fremdartige Erscheinungen vor ihnen, und die Frau sagte: »Ihr macht es mir nicht leicht, für euch einzutreten! Ihr müßt bleiben, bis wir gegangen sind, dürft nicht wegrennen. Seid froh, daß er euch geschont hat. Er hätte euch ebensogut …« »Die Schonzeit ist vorbei!« fällte der Mann neben ihr unerbittlich sein Urteil. »Du siehst nun selbst, daß sie keine Schonung verdienen.
Sie haben die Abmachung nicht eingehalten!« »Abmachung?« David würgte das Wort förmlich heraus. »Wir haben keine Abmachung –« Ein Blick ließ ihn verstummen. Der Blick war die schrecklichste Drohung, der er sich jemals ausgesetzt gefühlt hatte. »Nein! Ich bin immer noch dagegen!« rief die Frau, deren Schönheit David ebenso mißtraute wie ihrer angeblichen Fürsprache für ihn und seine Schwester. Seit er seine Eltern tot hatte daliegen sehen, war sein Glaube an alles und jeden abhanden gekommen. Er zitterte. Seine Arme und Beine, auf die er sich stützte und über die er so lange keine Gewalt mehr gehabt hatte, wollten nachgeben. Die Schwäche drohte ihn an den Fußboden zu nageln. Hinter ihm schluchzte seine Schwester. »Hört auf! Geht! Geht doch endlich!« wimmerte sie. Es zerriß ihm das Herz. Das Herz des Mannes, der mit versteinerter, götzenhafter Miene vor ihnen stand, erweichte es nicht. Wenn er überhaupt ein Herz hatte. Anum hob den Arm und richtete ihn wie eine Lanze auf Rahel. »Sie widersteht meinem Willen! Begreifst du nicht, daß ich das nicht dulden kann? Ihr Bruder ist normal, aber sie … Als wir noch über das Reich Sumer regierten, hätten wir solchen Widerstand auch nicht geduldet! Sie widersteht meinem Willen, aber ihm hier …« Er hob die andere Hand, in der er einen Trinkpokal hielt, wie David noch keinen gesehen hatte. »… ihm wird sie nicht widerstehen! Er wird das Geheimnis, das sie verbirgt, aufdecken!« »Du würdest es auch gegen meinen Willen tun?« Sie stritten sich. David begriff erst nach einer Weile, wie aggressiv der Ton der beiden Fremden war. Wie uneins sie sich offenbar über das Schicksal ihrer Gefangenen waren! »Willst du mir dorthin folgen, wo die Antwort liegt?« »Nein.«
»Dein letztes Wort?« »In dieser Sache – ja!« »Dann«, sagte er, »werde ich alleine gehen. Und wenn ich zurückkomme, werde ich dich meine Entscheidung wissen lassen!« Der Blick der Frau wirkte verhangen, als sie fragte: »Du bist nicht davon abzubringen?« »Nein!« Es schien, als akzeptierte sie es. Auch wenn David nicht annähernd verstand, worüber genau sie sprachen, so kam das abrupte Ende des Streits ihm doch wie eine letzte Bestätigung seiner schrecklichsten Befürchtungen vor. Wie das endgültig gefällte Todesurteil über ihn und Rahel …
* Anum hatte sich wieder in die Kammer zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen. Er ließ Lilith mit den beiden Kindern allein, über deren Schicksal er nach seiner »Rückkehr« entscheiden wollte. Rahel Chaims Gesicht war verkniffen, als Lilith näher auf sie zu trat. Sie hatte eine Hand in einer aufgenähten Tasche ihres Kleidchens vergraben und spielte nervös mit etwas, das klimperte. »Was hast du da?« Rahel sah widerstrebend zu ihr auf. Der Blick des Mädchens war voller Angst. »Nichts.« »Du kannst es mir ruhig zeigen. Ich würde mich auch gern mit dir und deinem Bruder unterhalten …« »Worüber?« Es war David, der die Frage in feindseligem Ton stellte. Seine Gefühle waren verständlich. Er machte keinen Unterschied zwischen Lilith und Anum. Sie beide hatten ihn und seine Schwester gezwungen, sie in ihr verlassenes Elternhaus und die Wohnung über dem Gemüseladen zu begleiten. Sie beide mußten der Inbegriff
des Bösen für die Kinder sein, zumal die wahren Mörder ihrer Eltern nicht für sie greifbar waren. Vampire. Angehörige der örtlichen Sippe hatten Rebecca und Gershom Chaim auf dem Gewissen! Gewissen. In Lilith krampfte sich etwas zusammen. Sie erinnerte sich nicht, jemals so scheinbar unmotiviert ins Schwitzen gekommen zu sein wie jetzt – während sie zwei Kindern in die Augen sah, die ahnten, daß ihnen Furchtbares bevorstand, aber nicht annähernd die wahre Dimension des Schreckens kannten, der über sie hereinbrechen würde, wenn Anum seine Ankündigung in die Tat umsetzte. Tyrannisch, ohne Rücksicht auf Liliths Bedenken. »Ihr habt Schlimmes durchgemacht«, sagte sie. »Ich versichere euch, daß es mir leid tut. Aber weder er –«, sie deutete zur Tür der Kammer, in der Anum verschwunden war und wo jetzt wieder ein schwacher purpurner Schein durch die Ritzen drang, »– noch ich sind schuld an dem Leid, das ihr vor der Begegnung mit uns erfahren habt! Die Schuldigen wurden bestraft. Sie existieren nicht mehr.« »Auge um Auge«, sagte David verächtlich. »Ihr seid nicht besser als sie. Laßt uns gehen. Gebt Rahel und mir endlich Gelegenheit, mit unserer Trauer fertig zu werden! Verschwindet aus diesem Haus!« Spätestens in diesem Augenblick begriff Lilith, daß sie es nur mit einem Kind zu tun hatte. Denn David war kein Kind mehr. Mit seinen zwölf Jahren bewies er eine erstaunliche Reife, die Lilith beschämte. Es ist Wahnsinn, wandten sich ihre Gedanken wieder Anums Vorhaben zu, einen neuen Versuch mit dem Kelch zu wagen, obwohl alle bisherigen in neuerer Zeit fehlgeschlagen waren – teilweise mit katastrophalen Ergebnissen. Der pure Wahnsinn! Ich darf es nicht zulassen! Noch während sie dies dachte, wußte sie, daß sie ihn verlieren würde, wenn sie sich in diesem Punkt gegen ihn stellte.
War es das wert? Aber was war eine Beziehung wert, in der ein Partner die Prinzipien des anderen mit Füßen trat? »Das geht nicht«, ging sie mit leiser Stimme auf Davids Gefühlsausbruch ein. »Noch nicht.« Rahel schwieg, sah nur stumm zu ihr auf. Als ihr Bruder verbittert schwieg, zog sie ihre Hand aus der Tasche und zeigte Lilith eine Münze. »Wo hast du das her?« Rahel zuckte die Achseln. »Darf ich sie mir ansehen?« Und während Lilith die Hand ausstreckte, versuchte sie zu ignorieren, daß der Anblick der beiden Menschen vor ihr nicht nur ein Schutzbedürfnis in ihr weckte, sondern auch etwas … Dunkleres. Nein! Sie wußte, welch abnormes anderes Bedürfnis sie mit Anum gemeinsam hatte: den Durst nach Blut. Sie brauchte es ebenso zum Überleben wie er. Und auch aus sehr viel niedrigeren Gründen, zum Erhalt ihrer Schönheit nämlich … Ich stehe den Menschen nicht näher als ihm, dachte sie. Ich darf mir nichts vormachen. Auch die CHRONIK, auch Beth’ Erinnerungen ließen keinen Zweifel daran, daß ich nie in ihrer Welt akzeptiert wurde. Ich war immer ein Fremdkörper, und daran wird sich nie etwas ändern. Warum fällt es mir dann trotzdem immer noch so schwer, Farbe zu bekennen? Schwarz, nicht Weiß ist meine Farbe … Und doch weigerte sie sich, eine Bestie in sich zu sehen. Einen Bastard, ja. Einen Bastard, der sich unter Mensch und Vampir hatte behaupten müssen, in keiner dieser beiden Umgebungen aber eine Heimat gefunden hatte. Doch wenn Anums Vision sich erfüllen sollte, wenn unter seiner Ägide tatsächlich eine Welt entstand, über die er mit ihr gemeinsam herrschen würde, dann –
– dann vielleicht würde auch sie sich endlich ein wenig zu Hause fühlen können. In der Hohen Zeit. Dem enttechnisierten Zeitalter, von dem er ihr erst kürzlich geradezu schwärmerisch erzählt hatte! Rahel verbarg die Münze in ihrer kleinen Faust. Ein störrischer Zug trat in ihr Gesicht, in dem die Augen den Blick wie zwei strahlend erleuchtete Fenster auf sich zogen. Lockiges, blauschwarzes Haar unterstrich ihren dunklen Teint. Sie wird einmal eine rassige Schönheit werden, dachte Lilith. Wenn sie die Chance dazu erhält. »Du willst sie mir nicht zeigen?« »Nein.« Es klang entschieden. »Ich will sie mir nur ansehen. Du bekommst sie sofort zurück. Woher hast du sie? Die Münze scheint uralt …« »Ich habe sie gefunden. Jetzt ist sie meine.« »Ich will sie dir nicht stehlen.« Rahel zögerte. Dann legte sie die Münze in Liliths geöffnete Hand. Es war ein antiker Silberling. »Wo hast du das gefunden?« »Unter dem Schutt. Neben …« Rahels Stimme erstickte. Als Tränen die Wangen des Mädchens herabrollten, wurde Lilith klar, was es hatte sagen wollen. »Bei deinen Eltern?« Rahel nickte stumm. »Wie viele waren dort?« »Ein … ganzer Beutel …« »Dann besitzt du jetzt einen richtigen Schatz.« »Ich habe nur … zwei … genommen.« »Nur zwei? Warum?« Lilith drehte die Münze, die auf der Rückseite ein Gesicht zeigte. Es stellte einen Römer dar. »Weil ich … Angst bekam.« »Angst? Daß sie dir weggenommen werden könnten?« Rahel schüttelte den Kopf. »Wovor dann?«
»Angst vor den … vor den Münzen. Sie sprachen zu mir. Sie drohten mir mit Verdammnis, wenn ich alle nähme. Einer hat es vor langer Zeit getan. Sein Name war Judas …« Ohne etwas dagegen tun zu können, überlief Lilith ein kalter Schauder. Das Gewicht der Münze war ungeachtet der wirren Worte ungewöhnlich hoch. Ganz unangemessen … Und noch während sie zu diesem Befund kam, hatte sie das absurde Gefühl, daß sie von etwas Fremdem ebenso genau abgewogen wurde, wie sie es gerade mit dem Geldstück in ihrer Hand tat. Fröstelnd gab sie die Münze an das Mädchen zurück. Rahels Züge blieben angespannt, als hätte sie gleichermaßen gehofft wie befürchtet, die Frau könnte ihr Versprechen brechen und das Geldstück behalten. »Warum mußten unsere Eltern sterben?« fragte sie übergangslos. Lilith senkte hilflos die Arme. Was sollte sie darauf antworten? »Ich weiß es nicht. Aber ich wünschte, ich hätte es verhindern können.« »Wirklich …?« »Natürlich!« »Bist du nicht böse?« »Manchmal bestimmt. Aber ich hoffe, nicht immer.« Während sie das sagte, war Lilith entschlossener denn je, für dieses Mädchen und ihren Bruder zu kämpfen. Die beiden hatten noch niemandem ein Leid zugefügt – und niemand durfte ihnen etwas antun! »Was … was habt ihr mit mir angetan – bis vorhin?« ergriff wieder David das Wort. »Ich habe es kaum ertragen.« »Du hast alles mitbekommen, was um dich herum vorging?« »Ja!« Lilith krampfte es das Herz zusammen. Sie war kurz davor, in die Kammer zu gehen und irgend etwas zu versuchen, was vielleicht verhindert hätte, daß Anum je wieder aus dem Kerker des Kelchs heraus gelangen konnte.
Zugleich wußte sie aber, daß sie es nicht tun würde. Auch nicht für diese beiden Leben, die allmählich Vertrauen zu ihr zu schöpfen schienen. Anums Hypnose hatte Davids Bewußtsein nicht vollends ausgeschaltet, nur Bereiche manipuliert, die ihm die Kontrolle über seinen Körper raubten! Schreckte er denn vor gar keiner Grausamkeit zurück? Den Willen Rahels, in deren Tasche die Münze soeben wieder verschwand, hatte er nicht bezwingen können … Plötzlich fragte Rahel: »Hast du auch Kinder? Mit ihm?« Lilith lächelte verkrampft. »Nein. Auch mit keinem anderen. Aber wer weiß …« »Tut es nicht.« Rahel schüttelte den Kopf wie eine uralte, weise Frau. »Tut was nicht?« »Kinder kriegen.« Lilith wußte nicht einmal, ob es überhaupt möglich gewesen wäre, mit Anum ein Kind zu zeugen. Vampire waren unfruchtbar – Urvampire auch? Und hätte nicht auch sie dem GESETZ der Alten Rasse Tribut zollen müssen, das eine Vampirin, die dennoch ein Kind gebar, dies mit dem eigenen Leben bezahlen ließ. Liliths Mutter Creanna war jedenfalls an ihr gestorben. Vielleicht ahnte Rahel nicht einmal, was für einen Aufruhr ihre Frage in Lilith anrichtete. »Warum sollten wir deiner Meinung nach keine Kinder zeugen?« »Sie würden euch nicht lieben können, fürchte ich. Ich habe meine Eltern geliebt. Und die Vorstellung, sie wären gewesen wie ihr, ist unerträglich.« Lilith wollte widersprechen. Sie ertrug es nicht, wie dieses Mädchen sie und Anum einschätzte. Aber bevor sie ein Wort über die Lippen brachte, glitten geisterhafte Arme und Hände aus Purpur durch die geschlossene Tür der Kammer auf sie zu.
Das lebende, veränderliche Kleid auf ihrer Haut reagierte, wollte einen undurchdringlichen Panzer um sie herum bilden und seine Trägerin schützen. Doch im Purpurbad schien es zu gerinnen und sich, halb aus seiner vorherigen Form aufgelöst, zu keiner neuen entschließen zu können. Bizarr flatterte es in einem jenseitigen Wind an Liliths hellhäutigem Körper, gewährte Einblicke, die David die Schamröte ins Gesicht trieben. Doch davon und von den zugleich geschockten Blicken der Geschwister bemerkte Lilith nichts mehr. Sie versank in dem wabernden Nebel, der – daran zweifelte sie keine Sekunde – seinen Ursprung im Lilienkelch hatte. Die Magie des Kelchs und das symbiontische Kleid an ihrem Leib waren verwandt. Der Mimikrystoff war aus einem Stück Haut der Ur-Lilith entstanden, und auch die Kelchmagie ging auf die Urmutter der Vampire zurück. Deshalb verweigerte der Symbiont den Schutz. Vermutlich wußte er am wenigsten, wie ihm gerade geschah. Was auch ihn berührte. Und einspann, von der Umwelt isolierte. Dieser Umwelt! Lilith verlor jedes Gefühl für ihre Körperlichkeit. Der purpurne Dunst war allgegenwärtig, und sie nahm ihn längst nicht mehr mit ihren normalen Sinnen war. Sie schwamm als nacktes, aus jeder Hülle geschältes Bewußtsein darin. Und begegnete dem, der sie hierher geholt hatte, ohne ihr eigenes Wollen zu respektieren: Anum. – Spürst du es? tasteten seine Gedanken nach ihr. – Laß mich zurück – sofort! – Gleich. Ich wollte nur, daß du es selbst erkennst. Nur mit Worten kann ich dich nicht überzeugen. Du mußt es aus eigener Erfahrung begreifen. – Wovon redest du? In diesem Augenblick veränderte sich die Sphäre, in der sie trieb. Rings um sie her wich der leuchtende Purpur einem schattenreiche-
ren, bedrohlicheren Zwielicht, das Liliths und Anum wie eine uralte Patina aus geronnenen Seelen zu umkrusten schien. – Was hast du getan? – Dich tiefer gezogen. – Tiefer wohin? – Ins Herz des Kelchs. Noch bevor Lilith etwas erwidern konnte, wich auch das Zwielicht. Wich dem absoluten Alptraum.
* Zur gleichen Zeit in der Mandschurei Chiyoda wußte nicht, wie ihm geschah. Die beiden Männer in seiner Nähe jedenfalls erlangten unter den Schüben, die ihn durchpulsten, einen völlig veränderten Stellenwert. Und er konnte nichts – absolut nichts! – dagegen tun! Der greise Mann, der seinen Wolfsfluch seit Jahrzehnten unter Kontrolle gehalten hatte, fühlte plötzlich, zwischen zwei Atemzügen, wie ihn die Dunkelheit, die er so lange erfolgreich bezähmt hatte, buchstäblich überrollte. Augenblicklich veränderte sich seine Sicht der Dinge. Seine Denkweise. Und sein … Skelett! Freund wurde zu Feind. Zur Beute! Die beiden Arapaho-Vampire erkannten, was mit ihm geschah. Es war nicht zu übersehen. Aus greiser Haut sproß Fell. Die morschen Knochen des gerade noch dürren, harmlos und vergeistigt aussehenden Alten formten sich zur mordlüstern stierenden Wolfsbestie, aus deren Zügen das ehedem Menschliche ausradiert wurde. Chiyoda fiel nach vorn. Auf die Hände, die sich bereits in etwas
verwandelt hatten, das an die Tatzen eines tollwütig amoklaufenden Grizzlys erinnerte … Makootemane rief Hidden Moon eine Warnung zu. Gemeinsam kehrten sie dem zum Werwolf gewordenen Chiyoda den Rücken zu und hetzten zur Tür, um aus dem Raum zu flüchten. Ohne sich auch nur mit einem einzigen Gedanken über die Unmöglichkeit seiner Verwandlung aufzuhalten, katapultierte sich Chiyoda mit einem gewaltigen Satz seiner Hinterläufe auf den Arapaho zu, der ihm am nächsten war. Dessen blauschwarzes Haar flog im Rennen hin und her und entblößte ein weißes, sonderbares Mal. Chiyodas Klaue fuhr auf Hidden Moons Nacken hinab. Die gebogene, messerspitze Kralle, die einmal sein Mittelfinger gewesen war, bohrte sich genau in den schneeweißen Flaum, der als schmaler Streifen zwischen Schulteransatz und Genick verlief. Die anderen schartigen Nägel verfehlten den Gefiederflaum, der Merkmal eines jeden Arapaho-Vampirs war. Aber nicht jeder besaß ein Stigma dieser Farbe und dieser – Wehrhaftigkeit! Chiyoda heulte auf. Er erstarrte inmitten seines Sprungs. Grüngelber Speichel troff aus dem Maul der Kreatur, zu der er verkommen war. Und aus seinem Rachen quoll das hilflos reumütige Wimmern und Gewinsel, das Ausdruck des Schmerzes war, der über seine ausgestreckte Pranke in sein Hirn stach, dort einen Brand entfachte und – »Neeeeeeiiiiiiinnnnnnn!« Der gurgelnde Schrei riß Chiyodas Bewußtsein förmlich mit sich, als wäre es von einem unwiderstehlichen Sog erfaßt worden. Er wehrte sich, stemmte sich gegen dieses unsägliche Gefühl. Der Verstand streikte noch immer. Freund war immer noch Feind.
Aber der Feind wehrte und widersetzte sich – mit Mitteln, die den Werwolf bis ins Mark entsetzten. Mit einer Magie, die er kannte, erkannte, und die ihn vollkommen paralysierte. Die sich über seinen Geist stülpte wie ein schwarzes Tuch. Und jede Regung, jede Wahrnehmung erstickte …
* »Schnell! Komm!« »Aber …« »Kein Aber! Wir müssen weg hier – bevor er wieder zu sich kommt!« Hidden Moon starrte auf das Monster, halb Mann, halb Wolf, zu dem ausgerechnet derjenige mutiert war, der in der Abgeschiedenheit dieses Tales anderen Werwölfen beizubringen versuchte, wie sie ihrem allmonatlichen Drang zu töten widerstehen konnten. Nun war Chiyoda selbst – vor ihren Augen und mitten im Gespräch – zu dem Ungeheuer geworden, das er in sich besiegt zu haben glaubte. Und das Beängstigendste daran war … »Wir haben noch nicht einmal Vollmond!« Hidden Moon ballte die Fäuste. Erstaunlicherweise war der grelle Schmerz, mit dem die Kralle des Werwolfs in seinen Nacken eingedrungen war, einer sehr viel leichter erträglichen Taubheit gewichen. »Verstehst du das?« Sein Ziehvater Makootemane hatte die Tür erreicht und aufgerissen. »Nein!« keuchte er. Sein Blick zuckte nur einen winzigen Moment zu dem verkrümmt am Boden liegenden Wolfsmann, dann wieder zu Hidden Moon. »Aber es hat nicht nur ihn erwischt. Hör nur, draußen. Dieses Heulen. Dieses Knurren …« Hidden Moon verstand, was das ehemalige Oberhaupt der Arapaho-Vampire meinte. Er fing die animalischen Laute ebenfalls auf, die
von draußen hereinwehten. Töne, die nur einen Schluß zuließen … Die Flanken des zwischen Tisch und Bett zusammengebrochenen Werwolfs begannen zu zittern. Die halb aus dem Maul hängende, überlange und behaarte Zunge krümmte sich, die Lider flatterten. »Er erwacht! Wenn du noch lange wartest …« Makootemane tauchte ins Freie. Hidden Moon spürte, wie ihm Blut aus dem Gefiederstreifen heraus über die glatte Haut des Rückens rann, schwarzes Blut, und er vergeudete weitere wertvolle Sekunden, indem er wie gebannt zu der verkrümmt daliegenden Gestalt schaute, die ihn unbeschreiblich faszinierte. Mehr noch, als sie ihn abstieß. Erst als sein Blick die Pranke streifte, die nach ihm geschlagen hatte und an der noch dunkles Vampirblut klebte, gelang es ihm, sich loszureißen und mit geschmeidigen Bewegungen Makootemane ins Freie zu folgen. Wo ihn eine atemberaubende Szenerie empfing. Wohin das Auge blickte, hetzten Gestalten durch den hellen Mittag, die einem Alptraum entsprungen schienen. Bei ihrem Anblick vergaß Hidden Moon, daß auch er mit einem Fluch beladen und aus menschlicher Sicht selbst ein Monstrum war. Was sich hier abspielte – hier innerhalb eines Komplexes von einstöckigen, schlichten Steinbauten, die über gepflasterte Pfade miteinander verbunden waren und in ein blühendes Tal eingebettet lagen – übertraf seine sämtlichen, noch so düsteren Befürchtungen. Nicht nur vereinzelt war der unselige Trieb mit Chiyodas Schülern durchgegangen. Ein jeder, der gegenwärtig hier weilte, weil er nicht länger der ohnmächtige Sklave seines verdammenswerten Fluchs sein wollte, schien seine hehren Vorsätze vergessen zu haben! So weit das Auge blickte, gab es keine Gestalt mehr zu sehen, die sich ihre Menschlichkeit zumindest äußerlich bewahrt hatte! Es gab nur noch … Ungeheuer! Wolfsmänner und -frauen, die zähnefletschend wie in der Gefangenschaft wahnsinnig gewordene Raubtiere zwischen den Gebäu-
den herumstreiften, dann und wann innehielten, die monströsen Schädel weit nach hinten bogen und … etwas anheulten, was sie durch den grellen Glanz der Sonne hindurch unmöglich sehen, dafür aber ganz zweifellos fühlen konnten. Etwas, das sie beherrschte, und gegen das keine einzige der hier gelernten Lektionen zu helfen schien! All deine Anstrengungen, all die Zeit, die du für dich und andere geopfert hast, waren letztlich umsonst, dachte Hidden Moon wie im Schock. Er besaß selbst eine besondere Beziehung zum bleichen Trabanten der Erde. Bei seiner Kelchtaufe hatte sich der Mond am Himmel in den Kernschatten der Erde geschoben und sein fahles Antlitz verhüllt, als wollte er das, was dem Arapaho-Jungen damals angetan worden war, nicht mitanschauen. Die Kraft, die Magie, die dem vollen Mond innewohnte, hatte Hidden Moon zeit seines Lebens gespürt. Aber erst viele Jahre nach der Kelchtaufe und nachdem er als blutsüchtiger Vampir in ein vermeintlich unsterbliches Dasein erhoben worden war, hatte er solche kennengelernt, für die Vollmondnächte das pure, verderbliche Gift waren. Die im silbrigen Schein, wo auch immer sie sich gerade aufhielten oder verbargen, dem Tier in sich erlagen, bis das morbide Verlangen, die Gier nach Blut und Fleisch und wilder Jagd wieder für die Dauer eines Zyklus gestillt war … Herkunft und Ursache des Fluchs, der aus Menschen Bestien mit allen wölfischen Attributen machte, kannten die Arapaho nicht. Es hatte sie auch nie interessiert. »Komm endlich!« Drei Schritte von Hidden Moon entfernt stand Makootemane. Der Mann, den Hidden Moon wie keinen zweiten bewunderte und verehrte. Er schien auf ihn gewartet zu haben, ungeachtet der Tatsache, daß er sich damit selbst gefährdete. Hidden Moon schüttelte sich, als wäre ein Eimer eiskalten Wassers
über ihn ausgeschüttet worden. Er versuchte mit seinen Gedanken in der Gegenwart zu verweilen, obwohl ihn die drohende Konsequenz dessen, was er hier erblickte, schier zermalmte. »Schon gut – ich komme …« Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Makootemane in einen Adler verwandelte und sich flügelpeitschend in die Lüfte schwang. Zwei weitere Ereignisse geschahen im selben Atemzug. Zum einen registrierte Hidden Moon, wie sich ihm jemand von hinten mit grollender Stimme näherte. Und zum anderen erreichte ihn ein Schrei, so häßlich und triumphierend, wie er nur in der Gewißheit eines nicht mehr zu nehmenden Sieges oder einer sicheren Beute von einem Lebewesen ausgestoßen werden konnte … Mechanisch wandte er sich der Quelle des Schreis zu. In einiger Entfernung beugte sich eine Werwölfin über eine schmächtige, dunkelhäutige Gestalt, die nichts Wölfisches hatte und die an einer Wand herabgerutscht war, gegen die man sie mit brutaler Wucht geschleudert hatte. »Esben Storm …« Der Name des Aborigines rann tonlos über Hidden Moons Lippen, noch während ihm klar wurde, daß er gleich Zeuge werden würde, wie die weibliche Bestie Storm unter den Streichen ihrer Pranken zerfetzte. Der über ihm kreisende Adler stieß einen schrillen Warnschrei aus. Als Hidden Moon herumwirbelte, sah er Chiyodas Kiefer auf sich zuschnappen. Instinktiv sprang er zur Seite. Die nächste Bewegung vollführte er bereits als gewaltiger Greifvogel. Noch imposanter als Makootemane erhob er sich in den Himmel und entging Chiyodas Attacke um Haaresbreite. Falsch, übte er sich in schwarzem Humor, wohl eher um Federbreite. Dann stob er – anstatt zu seinem Artgenossen aufzusteigen – wie ein Geschoß wieder zur Erde hinab.
Genau auf den bewußtlosen Aboriginal und dessen heißhungriges Schicksal zu …
* Yamuna studierte ihr Opfer und bedauerte dessen Wehrlosigkeit. Ein einziger Hieb hatte den schwächlichen Alten mit dem breiten, stoppelbärtigen Gesicht gegen die Steinmauer des Hauses geschmettert und ihm das Bewußtsein geraubt. Wesentlich befriedigender wäre es gewesen, wenn er sich ihr hätte widersetzen können. Die aus Kaschmir stammende Wolfsfrau überlegte, ob sie ihr Opfer nicht erst wieder wachrütteln sollte, bevor sie es seinem vorbestimmten Ende zuführte. Doch die Konkurrenz schlief nicht. In der Nähe strichen noch so viele andere gierende Jäger herum. Nein, einen Aufschub konnte sie sich nicht leisten, und das heiß und roh verzehrte Fleisch würde sie für die entgangenen Reize eines Kampfes entschädigen … Yamuna hielt sich erst seit wenigen Tagen in der Obhut Chiyodas auf. Daß sie ihn aufgesucht hatte, um Erlösung von ihrer Abscheu gegen sich selbst und ihr Tun in den hellen Nächten des vollen Mondes zu finden, war aus ihrem Bewußtsein entglitten. Mit einem grimmigen Laut beugte sie sich über den Aboriginal. Sie riß das Maul auf und wollte die Pranken in die Hüften ihres Opfer stoßen, um es zu sich emporzuziehen. Zu ihren gefletschten Zähnen. Im selben Augenblick wurde sie im Rücken getroffen und von ihrer Beute fortgerissen. Ein seltsames Krächzen erreichte ihr Gehör, und sie begriff … Am Schnabel des Adlers glänzte Yamunas Blut, und ein verhöhnender Schrei drang in ihr Bewußtsein. Wie rasend brüllte sie auf, blind in ihrem Haß. Meine Beute, rann es durch ihr Wolfshirn. Vogel schwach. Vogel büßt
– stirbt … Sie begriff nicht, woher er kam und was er war. Die Wunde, die der Schnabel ihr zugefügt hatte, geriet in Vergessenheit. Unweit lag das Wild. Unweit lockte ein schlagendes Herz … Während sie sich aufrappelte, um ihren Anspruch auf die Beute erneut und diesmal unmißverständlich geltend zu machen, wurde sie erneut von einem Luftzug gestreift. Sie sah nach oben – und direkt in die blendende Sonne. Knurrend wollte sie den Blick wieder senken. Da schoß aus dem unerträglichen Licht etwas hernieder. Yamuna erstarrte. Diese eine Sekunde entschied über Niederlage oder Sieg. Als die Werwölfin sich endlich doch über den Besinnungslosen werfen wollte, lag er schon nicht mehr dort am Boden. Vier mächtige Greifklauen waren aus dem Himmel herab auf ihn niedergestoßen, hatten sich in sein nacktes Fleisch gebohrt und darin verfangen und den kompletten Körper nach oben gerissen. Vier, nicht zwei Klauen … denn es waren zwei Vögel, riesige Vögel, die ihr die sicher gewähnte Beute streitig machten! Zuerst erweckte es den Anschein, als stritten auch die beiden um das Menschenwild. Aber es war der Kraftakt selbst, der Federn aus ihren Schwingen löste, die gemeinsame Anstrengung, mit der sie den Ohnmächtigen außer Reichweite Yamunas trugen … Neben der Werwölfin tauchte eine Gestalt auf, die Yamuna unter Hunderten, nein Tausenden erkannt hätte, gleichwohl der Fluch einen jeden Betroffenen bis zur Unkenntlichkeit entstellte. Chiyoda, dachte sie. Mein Meister und Lehrer. Erst in diesem Augenblick sickerte in ihr Bewußtsein, was passiert war. Wovon sie sich hatte überwältigen lassen, obwohl die Mondphase, die ihre Verdammnis sonst weckte, noch lange nicht erreicht war! Sie hatten zunehmenden Halbmond, nicht Vollmond – und Tag, nicht Nacht!
Während Chiyoda neben ihr innehielt und dem Flug der beiden Adler folgte, lauschte die Werwölfin in sich hinein. Ins Zentrum ihrer Erschütterung. Sie erzitterte. Es war, als stünde sie neben sich und könnte nicht fassen, was aus ihr geworden war – aus ihr und allen anderen, die dem immer wiederkehrenden Zwang des Blutvergießens hatten entrinnen wollen. Es gab kein Entrinnen. In dieser Sekunde und in jeder folgenden erhielt und bewahrte sie die Einsicht, daß sie nicht selbst- sondern fremdbestimmt war. Seit dem ersten Schrei, den sie auf dieser Welt, in diesem Leben getan hatte. Und daß sie fremdbestimmt bleiben würde, bis sie dereinst ihr Leben wieder aushauchte. Für wen? Für was? Während Yamuna in sich horchte, in die verborgensten Schichten ihres Selbst, glaubte sie eine ferne, süße Stimme zu hören, die nach ihr … rief. Sie atmete schneller. Die Nüstern ihrer wölfischen Fratze blähten sich, ihr Herz schlug angestrengter, und Chiyodas Blick schien bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen. Yamunas Nägel schabten über die Hauswand, vor der sie stand. Sie schloß die Augen, um Chiyodas Blick zu entrinnen. Sofort wurde der Ruf, der in ihr tönte, lauter. Verständlicher. Hörst du es auch? wollte sie fragen. Aber ihre Zunge – diese Zunge – hätte gar keine Frage formulieren können. Als sie die Augen wieder öffnete, war Chiyoda verschwunden. Sie fand ihn auf dem Platz, wo er seine Schüler um sich zu versammeln pflegte, wenn er sie spezielle Meditationstechniken gelehrt hatte. Yamuna fühlte sich zu den anderen hingezogen, obwohl ihr Anblick sie zutiefst deprimierte. Immer wieder irrte ihr Blick zum Himmel. Die Sonne hatte den
Zenit überschritten. Der Mond war unsichtbar, und doch … Wir sind ihm hörig. Es ist, als hätte er uns hier unter Chiyodas Fittichen eine Weile gewähren lassen, eine Weile den Traum von Freiheit und Selbstbestimmung träumen lassen – nur um uns jetzt um so drastischer klarzumachen, wie unbedeutend und machtlos wir sind. Wir alle. Auch du, Chiyoda. Gerade und ganz besonders du … In diesem Moment wünschte sie sich, die Augen zu schließen und zu sterben. Doch dann spürte sie ihre Verbundenheit mit den anderen Gescheiterten. Mit all denen, die ihren Fluch nicht mehr ertragen und ihn bekämpft hatten. Und ebenso mit denen, denen er nie Schwierigkeiten bereitet hatte. Werwölfe, die ihr Los akzeptiert hatten … … und die in derselben Sekunde entfesselt worden waren wie Chiyoda und seine Schüler. Ganz gleich, an welchem Punkt der Erde sie sich gerade aufhielten. Der Ruf, die sanft flüsternde Stimme, DIE VISION, daran zweifelte Yamuna keine Sekunde, wurde in jedem von ihnen laut. Jetzt, in diesem Moment! Und die Eingebung hatte ihnen mehr zu sagen als nur: Töte! Töte! Töte! Sie kannte eine Aufgabe, ein Ziel. O Shiva, dachte die Werwölfin, ich bin Teil eines gewaltigen Plans! Ich bin WICHTIG! Kein Wort in menschlicher Sprache störte die Versammlung der Bestien. Sie verständigten sich über Gesten und Blicke und animalische Laute. Schließlich verließen sie das Tal, das stets eine Oase des Friedens, eine Zuflucht von der gewalttätigen Welt »draußen« gewesen war. Ein trügerischer Frieden, wie sich nun herausstellte. Der Alpha-Wolf an der Spitze des Rudels, das in die Fremde aufbrach, wirkte etwas schwächlicher und zerzauster als die Jungwölfe in seiner Begleitung. Und obwohl jedes Mitglied des Rudels das fer-
ne Ziel kannte, schien die Sehnsucht nach Autorität, nach einem Führer tief in ihm verwurzelt zu sein. Yamuna bildete keine Ausnahme. Sie verschwendete auch keinen Gedanken mehr an die entronnene Beute. Sie spürte, daß sie erst am Beginn standen, an der Schwelle zu einer neuen Bestimmung, die sie für alles Leid, alle Qual der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reich entschädigen würde. Eines Tages. Irgendwo …
* Eine Weile sah es aus, als würden sich termitengroße Gestalten aus dem Schatten ihres Baus lösen und auf die Anhöhe zustreben, wo sich die beiden Adler mit ihrer Last niedergelassen hatten. »Sie geben ihre Beute nicht verloren«, sagte Hidden Moon, erfüllt von einer Niedergeschlagenheit, die er so noch nie in sich erlebt hatte. »Sie werden alles versuchen, um ihn –«, er deutete mit dem Daumen auf Esben Storm, »– und uns zu erlegen! Es hat sie übermannt … Schau sie dir an, was es aus ihnen gemacht hat – ausgerechnet aus denen, die ihren Untaten abschwören wollten!« Makootemane schüttelte den Kopf. Nicht, um Widerspruch zu bekunden, sondern um dem eigenen Unverständnis Ausdruck zu verleihen. »Wir wissen nicht, was geschehen ist. Aber es ist furchtbar. Es hat den Anschein, als hätte nicht der Mond, sondern etwas anderes Macht über sie gewonnen …« »Du hast einen Verdacht?« »Nein … nein!« Hidden Mond wandte den Blick vom Tal, aus dem sie geflohen waren, und widmete seine Aufmerksamkeit dem Aboriginal, dessen Lider zu flattern begonnen hatten. Die Drehung des Kopfes erinnerte Hidden Moon schmerzhaft an
Chiyodas Angriff. Die Wunde im Nacken, im Flaum, war noch nicht verheilt. Seltsam genug. Denn normalerweise erholte sich sein vampirischer Körper bedeutend rascher von Verletzungen, gleich welcher Art. Normalerweise. Aber jetzt war ohnehin nichts mehr »normal«. Aus der Traumzeitebene heraus hatte Esben Storm erst vor Stunden versucht, sich ein Bild von dem über Nacht schneeweiß ergrauten Gefiederflaum zu machen, der die Verbundenheit der ArapahoVampire mit ihren Totemtieren, den Adlern, dokumentierte. Das Mal, ein schmaler Streifen Gefieder, meist versteckt unter dem langen Haupthaar, hatte sich in Jahrhunderten auf ihrer Haut gebildet und war nicht mehr wegzudenken. Kein Arapaho-Vampir hatte das auch je gewollt. Bis heute, dachte Hidden Moon. Denn er wünschte es weg. Es war nicht mehr, was es lange schien. Nicht mehr … harmlos, wie seine veränderte Farbe es vorgaukelte! Und letztlich schien auch Chiyoda diese Erfahrung gemacht zu haben. In dem Moment nämlich, als sich seine wölfischen Klauen hineinbohrten, hatte ihn eine unsichtbare Titanenfaust getroffen und von Hidden Moon zurückgeschleudert! Seither fragte sich der Arapaho, was der Werwolf empfunden haben mochte. Und empfand selbst Abscheu vor dem »Ding« in seinem Nacken. Es gehörte nicht mehr zu ihm. Wie eine bösartige Wucherung haftete es in seinem Nacken, und wenn Esben Storms Analyse stimmte, dann wuchs es weit in seinen Körper hinein – bis in sein Gehirn! Um Fassung ringend, hörte er Makootemane sagen: »Sie wenden sich ab! Offenbar haben sie es sich anders überlegt. Wir sind ihnen doch nicht wichtig genug …« Zweifellos meinte er die in Bestien verwandelten Schüler Chiyodas – und Chiyoda selbst. Leise stöhnend erlangte Esben Storm sein Bewußtsein zurück. Bei-
nahe schneller als die beiden Vampire streifte er seine Verwirrung ab. »Habt ihr mich hier herauf geschleppt?« Die beiden Arapaho bejahten. Wie Alt und Jung standen sie da, als läge eine Generation zwischen ihnen – dabei trennten sie real nur ein paar Jahre. Die Kämpfe und Entbehrungen, die Makootemane seit seiner Taufe auf sich genommen hatte, waren schuld an dessen Vergreisung, nichts anderes. Besonders der bislang letzte Kampf, den er gegen den Purpurdrachen, das Sinnbild der Seuche ausgefochten hatte, die für das weltweite Sterben der Vampirsippen verantwortlich war! Auch die unsterblichen Arapaho hatte der »Atem Manitous« verschlingen wollen, obwohl sie doch vor langer Zeit schon dem Bösen entsagt hatten. Nur Makootemanes persönlichem Einsatz und Siegeswillen war es zu verdanken, daß die Seuche letztlich ihre verderbliche Kraft doch nicht über seinem Stamm hatte entladen können …* »Warum bist du nicht auf deine Traumpfade geflüchtet?« befragte Hidden Moon den Aboriginal, der nicht ganz so alt wirkte wie Makootemane, aber ähnlich abgeklärt. »Ich wurde überrascht von der Entwicklung. Ein Heulen hat mich aus dem Haus gelockt, und bevor mir klar wurde, was geschehen war, griff mich diese Werwölfin an. Ich verlor das Bewußtsein. Wie es weiterging …« »Sie wollte dich töten.« »Das habe ich mir gedacht.« »Nichts zu danken, wir haben es gern getan.« Die Ironie von Hidden Moons Worten perlte an Esben Storm ab wie Regen an einem Wachstuch. Der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Aboriginal erhob sich und trat an den Rand der Hügelkuppe, auf die sie sich gerettet hatten. Die Augen von der flachen *siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
Hand gegen die bereits tieferstehende Sonne beschirmt, spähte er ins Tal. »Sie verlassen das Kloster.« Hidden Moon und Makootemane folgten seinem Blick. »Der Fluch ist offenbar doch unabänderlich«, sagte der athletische Arapaho, der wie dreißig, nicht wie dreihundert aussah. Er benetzte seine Lippen mit der Zunge und machte ein Gesicht, als kommentierte er nicht nur eine Schlappe, die andere erlitten hatten, sondern auch eine persönliche Niederlage. Makootemane deutete seine Haltung richtig. »Daß sie gescheitert sind, heißt nicht, daß auch wir dem Einfluß des Bösen über kurz oder lang erliegen müssen.« Chiyoda hatte auch ihnen seine Lehre nahe gebracht, um ihnen ein Mittel an die Hand zu geben, den Verlust ihrer Seelentiere auszugleichen. Ihre Adler waren tot, diese lebendigen Totems, mit deren reinen Seelen sie einst verschmolzen und so die eigene Abkehr von der Finsternis geschafft hatten, die der Lilienkelch bei ihrer Taufe in sie gepflanzt hatte. »Trotzdem ist ihr Versagen ein Indiz dafür, wie stark die Mächte der Hölle sind«, erwiderte Hidden Moon. Sein Ziehvater schwieg. Von allen Arapaho-Vampiren hatte Makootemane zweifellos die größte Reife errungen, die größte geistige Entwicklung durchgemacht, und er war immer noch die Autorität für Hidden Moon – wahrscheinlich die einzige, die er überhaupt akzeptierte. »Sie bleiben zusammen wie ein Rudel echter Wölfe. Wie viele sind es – und wohin werden sie sich wenden?« Eine Weile sah es aus, als wollte niemand auf die Fragen Esben Storms eingehen. Und als hätte der Aboriginal ohnehin nur laut Gedanken ausgesprochen, auf die er keine Antworten erwartete. Dann sagte Makootemane mit unheilschwangerer Stimme: »Wir
können nicht tun, als gingen sie uns nichts mehr an. Sind wir Chiyoda nicht jede Hilfe schuldig?« Hidden Moon nickte. Für ihn stand dies außer Frage. Und Esben Storm? Wie versteinert stand der Aboriginal am Rand des Hügelkamms. Die Hand immer noch erhoben, spähte er ins Tal, als wäre er ein Teil des Bodens, ein Teil des Felsens, auf dem er sich befand. Als sich die letzte der Gestalten aus dem Schatten der Gebäude gelöst und zum Rest des Rudels aufgeschlossen hatte, drang seine Stimme unvermittelt wie leiser, beschwörender Sprechgesang an die Ohren der anderen. Es waren nur wenige Sätze. Aber sie drückten alles aus, was in diesem Moment zu sagen war. »Folgen wir ihnen. Gehen wir, wohin sie gehen. Bis sich die Gelegenheit ergibt, zu helfen.« Nicht nur Hidden Moon fand diese Worte aus dem Mund ausgerechnet des Mannes, der gern von sich behauptete, niemandes Freund zu sein, ganz und gar staunenswert …
* Jerusalem Ein Universum im kleinen hatte sich ihrem Geist geöffnet. Ein karmesinfarbener Mikrokosmos, dessen Zusammensetzung Lilith unbegreiflich war und in dem verschieden helle Lichter funkelten, manchmal auch nur glommen. Neben den sichtbaren schien es auch unsichtbare »Gestirne« – Kraftquellen – zu geben. Der stärkste Quell von allen pochte weit vor ihr, eruptierte und pulsierte, als wäre es ein tatsächliches Herz, nur nicht von Blut, sondern … ja, von was durchflossen? Lilith war ergriffen und beinahe paralysiert von den Dimensionen, die sich ihr geöffnet hatten.
Die Vorstellung, solche Weite und Größe könnte sich in einem so begrenzten Gefäß wie dem Lilienkelch erstrecken, kratzte an ihrem Selbstbewußtsein. Weil ihr plötzlich klar wurde, womit sie es nicht erst jetzt, sondern auch schon in der Vergangenheit zu tun gehabt hatte. Die wahre Beschaffenheit des Kelches, den die Ur-Lilith ihren Kindern in die Hand gegeben hatte, warf auch ein bezeichnendes Licht auf deren unerhörte Macht und Stärke … Gott hätte gut daran getan, sie nicht nur einzukerkern, sondern die Keimzelle, in der sich schon damals das Urböse eingenistet hatte, auszumerzen, rumorte es in Liliths wie gläsern gewordenem Hirn. Wie eine Kette nackter Gedanken reiste sie durch dieses Wunder aus Magie, dessen Größe nur Illusion sein konnte. Wirklich? Der lautlos pulsierende Quell ewiger Kraft kam näher – sie kam ihm näher. – Was ist schon ewig? brachte sich Anum mit einer Frage in Erinnerung. Seine Präsenz war plötzlich so intensiv, als befände er sich nicht nur nah bei, sondern in ihr. Wie Beth. Nur noch sehr viel klarer. Und dominanter. – Ein netter Ausflug, um den ich jedoch nicht gebeten hatte, versuchte sie ihre wahren Gefühle und Gedanken zu verheimlichen, schon aus Gründen der Scham. Du magst dich hier wohlfühlen – ich mich nicht. Außerdem weiß ich nicht – – Gleich. Wir sind gleich da. Dann wirst du verstehen. Er schien unbeirrbar in seinem Glauben. Lilith ertappte sich dabei, wie sie ihn darum beneidete. Ganz offenbar hatte er etwas, woran er glaubte. Und das, obwohl auch er vor den Trümmern seiner Zukunft gestanden hatte, als er außerplanmäßig im Dunklen Dom des Ararat erwacht war. Wie niederschmetternd hatte es für ihn sein müssen, eine Welt vorzufinden, die sich völlig von der ihm versprochenen unterschied?
Sie hatten wenig Gelegenheit gehabt, sich über die jeweiligen Enttäuschungen des anderen zu unterhalten. Aber die kurze Zeit des intensiven Zusammenseins hatte beiden klargemacht, wie ähnlich ihre Schicksale bei allen Unterschieden waren. – Gut. Zeig mir, was du mir zeigen wolltest. Und dann weise mir den Weg hier heraus. Vergiß nicht die Kinder. Sie sind sich selbst überlassen, solange wir beide … – Kümmere dich nicht um die Kinder. Was sie betrifft, habe ich Vorsorge getroffen. Schließlich brauchen wir sie noch – wenn auch du bereit bist, die Taufe zu vollziehen. Denn du wirst fühlen, was ich gefühlt habe, als ich schon einmal hier war – eingesperrt, als du mich ungewollt hierher verbannt hattest, erinnerst du dich? – Und nun konzentriere dich auf das, was ich dir zeigen will. Dort … sieh nach vorn! Es dauerte eine Weile, bis Lilith begriff, was genau Anum ihr zeigen – oder demonstrieren – wollte. Voraus pochte das Herz des Kelchs, und es erinnerte an ein »Schwarzes Loch«, einen Sternenmoloch, dessen extreme Schwerkraft nicht einmal mehr das Licht entkommen läßt, das auf ihn fällt. Die Korona, die das Gebilde umgab, schien noch finsterer als das HERZ selbst zu sein. Sie machte dessen pulsierenden Takt auch nicht mit, sondern schien ihn zu dämpfen, zu fesseln. Du vermutest richtig, erreichte Anum Liliths Gedanken, als wäre er tatsächlich so damit verschmolzen, daß er sie lesen konnte wie seine eigenen. Umgekehrt gelang Lilith dies nicht. Was das HERZ wie dorniges Gestrüpp erstickt, fuhr Anum fort, entspringt nicht der Magie, die den Kelch ausmacht. Es ist ein Fremdkörper. Ein Anachronismus. Und ich vermute, er verhindert, daß der Lilienkelch seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt werden kann. Lilith gab sich eine Weile der Faszination dieses unüberwindbar, unzerstörbar scheinenden »Mantels« hin. Wenn es so wäre, wie du vermutest, gab sie schließlich zur Antwort, wäre es noch unverzeihlicher, weitere Leben für Experimente zu opfern, die
von vornherein zum Scheitern verurteilt sind! Wider Erwarten pflichtete Anum ihr bei. Ich weiß nicht, wer die Macht besaß, diese Fessel anzulegen. Aber wenn sie jede Taufe verhindert, jedes Blut in ein Gift verwandelt, so werde ich meine Absicht aufgeben. Dann sollen die Kinder, die dir so wertvoll scheinen, verschont bleiben. – Das hört sich … akzeptabel an. – Wirklich? Und was ist, wenn sich das bestätigt, was ich seit meinem ersten Aufenthalt hier vermute? – Worauf willst du hinaus? – Darauf, daß ich eine Verwandtschaft zwischen dir und dieser Blockade spüre. – Das ist absurd. – Es ist mehr als das – und ein weiteres Geheimnis, was dich angeht. Es dürfte nicht sein, aber wenn sich mein Verdacht bestätigt, dann hast entweder du selbst den Kelch unbrauchbar gemacht, oder … – Oder? – … jemand, der dir nahesteht. – Das eine ist so abstrus wie das andere. – Vielleicht. Wir können es herausfinden – indem du die Sperre mit deinem Geist zu durchdringen versuchst. – Du begleitest mich? – Nein! Ich habe es schon versucht – und wäre dabei fast … absorbiert worden. Lilith verharrte für unbestimmte Zeit in solcher Passivität, daß es fast einer Ohnmacht gleichkam. Schließlich fragte sie, immer noch bestürzt: Und dieser Gefahr soll ich mich nun aussetzen? Das wäre es dir wert, nur um endlich wieder neue Vampire zeugen zu können? – Wir reden nicht von irgendwelchen Vampiren, sondern einer neuen, nur auf dich und mich zurückgehenden Familie. – Worin bestünde dein Anteil und Risiko? – Ich vollziehe das Ritual und gebe von mir, was ich schon als Hüter bei jeder Zeremonie einbrachte: meine Seele!
– In jedem Kelchkind ist ein bißchen Seele des jeweiligen Hüters? fragte Lilith verblüfft. – Unbewußt. Aber der Tag sollte kommen, da es sich in den Vordergrund gedrängt hätte. – In der Hohen Zeit? – In der Hohen Zeit. – Und was hätte dieses »bißchen Seele« bewirkt? – Es hätte uns Macht und Augen verliehen. Den Einblick in jedes unserer Kinder, wo auch immer es sich gerade aufgehalten hätte. – Wie in Mayab? Lilith schwindelte plötzlich. Die Erinnerung an die in einer »Blase« aus Kelchmagie eingekerkerten Vampir-Tyrannen und ihre menschlichen Untertanen war noch frisch. Und schmerzvoll. – Wirst du es versuchen? fragte Anum, ohne darauf einzugehen. Ich würde dir beistehen, falls ich unrecht haben sollte und die Sperre auch auf dich feindselig reagiert. – Versprichst du es? – Ich verspreche es. – Und auch, daß du nie mehr eine Taufe vollziehen wirst, wenn ich scheitere? – Ja. Wenn du im Gegenzug versprichst, dein Blut für künftige Taufen zu geben, wenn es gelingt … Trotz eines unguten Gefühls, trotz der Ahnung, womöglich einen furchtbaren Fehler zu begehen, willigte Lilith in den Handel ein, der dem Teufel selbst zur Ehre gereicht hätte …
* Rahel fühlte Davids Hand an ihrem Arm. Er rannte los und riß sie förmlich mit sich. Ohne eine Erklärung. Aber die war auch nicht nötig. Rahel verstand seine Absicht stumm und gab ihren reflexartigen Widerstand sofort wieder auf. Bevor sie mit ihrem Bruder aus der
Wohnstube im zweiten Stock des Elternhauses hetzte, warf sie noch einen furchtsamen Blick über die Schulter. In Richtung der Frau, die mit ihnen gesprochen hatte. Lilith – ja, Lilith war ihr Name. Rahel war ihr nicht erst in den Katakomben der Stadt, dem unterirdischen Labyrinth der Gänge und Schächte und Räume begegnet, sondern schon vorher – in diesem Haus! Für die Dauer eines Herzschlags fragte sich das Mädchen, ob Lilith es aufrichtig mit ihnen meinte, oder ob sie aus purer Berechnung die Unterhaltung mit den Waisen gesucht hatte. Rahel blieb abrupt stehen. Noch vor dem Passieren der Tür. Waisen … Das Wort traf sie bis in die Wurzeln ihrer Seele. David fluchte. »Was ist? Bleib nicht stehen! Begreifst du immer noch nicht …?« Er zerrte fast brutal an ihrem Arm. Hinter ihnen spielte sich eine ebenso unglaubliche wie gespenstische Szene ab. Ein purpurfarbener Wirbel rotierte um die in ein hautenges Kleid gehüllte Frau. Der Wirbel war über eine »Schnur« mit der Kammer verbunden, deren Tür immer noch verschlossen, die zugleich aber auch durchlässig für das Phänomen war, das Lilith geisterhaft umgarnte. Als Rahel klar wurde, daß sie noch Stunden hier hätte stehen können, ohne die Natur dieses Geschehens zu durchschauen, gab sie ihre Erstarrung auf. In halsbrecherischem Tempo hastete sie mit David die Treppe hinunter in den Gang, von dem aus jeweils eine Tür ins Geschäft, in den Keller, den Hof und hinaus auf die Straße führten! David orientierte sich zur Vorderfront des Gebäudes. Rahel folgte. Doch dann zerrten sie vergeblich an der Haustür. Zuerst glaubten sie, sie sei abgeschlossen. Aber der Schlüssel steckte, und ihn zu dre-
hen änderte nicht das Geringste daran, daß die Tür blockierte! »Egal!« David stürmte zur Hoftür. Doch dort erlebten sie dasselbe Dilemma. Der Laden! Die Zwischentür in den Geschäftsraum, wo sämtliches Gemüse in den Auslagen welkte, war noch problemlos zu öffnen. Die ins Freie führende Ladentür nicht. Obwohl auch da der Schlüssel steckte und sich drehen ließ, so oft sie es wollten. »Verdammt! Wir schlagen die Scheibe ein!« David war nicht mehr zu stoppen. Rahel erhob keine Einwände. Es war vollkommen gleichgültig, ob sie den Laden verwüsteten oder nicht. Es waren nur Sachen, die hier zu Bruch gingen. Glas. Das Holzbord, das David bereits aus den Wandhalterungen riß, um damit wuchtig auf das linksseitige Schaufenster einzuschlagen. Rahels Augen folgten dem Hieb, in den David all seine Kraft legte, als fürchtete er, keine zweite Chance zu erhalten. Seine Schwester meinte bereit das Krachen zu hören, mit dem die Scheibe sich in tausend Scherben auflöste. Doch außer einem dumpfen Ton, der sich anhörte, als hätte David mit der Faust in einen Sandsack geboxt, blieb es still. Das Bord wurde ihm wie von einem übermächtigen Rückschlag aus den Händen gerissen und zersplitterte am Boden zwischen zwei Verkaufsregalen. David schrie gequält auf. Sein Blick suchte Rahel. Doch noch ehe er sie fand, zuckte er in die Richtung, aus der er mit seiner Schwester gekommen war. Zur Verbindungstür, die auf den Gang im Erdgeschoß führte. Und von wo aus eine Stimme sagte: »Sinnlos. Kehrt um. Ihr vergeudet nur Kraft. Anum traf Vorsorge, daß niemand von hier entkommt.« Auch Rahel drehte sich zu der Frau um, die ihnen gefolgt war. Für einen Moment hatte das Mädchen den Eindruck, noch Reste des
purpurfarben flirrenden Gespinstes zu bemerken, das Lilith umgarnt hatte. Doch wahrscheinlich spielte hier die Einbildung Rahel einen Streich. »Du bist so verlogen wie er!« hörte sie ihren Bruder schreien. Seine Enttäuschung suchte ein Ventil. »Wolltest du uns nicht helfen zu entkommen?« Rahel suchte nach Anzeichen, daß der Appell ihres Bruders fruchtete. Vergebens. Statt dessen sagte Lilith deprimierend gefühllos: »Ich habe mich überzeugen lassen. Er hatte recht. Es gibt einen Weg, die Sperre des Lilienkelchs zu überlisten. Ich habe es ebenso wie Anum gefühlt, wie nahe ich dem Kelch stehe. Er – hat mich akzeptiert. Etwas in ihm hat mich erkannt. Ich bin vollkommen sicher …« »Sie ist vollkommen übergeschnappt!« rief David seiner Schwester zu. »Hilf mir!« Er sah sich nach einem anderen Gegenstand um, den er gegen die Scheibe schmettern konnte. Da tat Lilith etwas, womit sie auch noch den letzten Rest Vertrauen und Hoffnung, den die Geschwister in sie gesetzt hatten, verspielte. »Gib auf!« stoppte sie Davids Bemühen mit sanfter, einschmeichelnder Stimme. »Kehr um!« Rahel fiel der glasige Blick ihres Bruders erst auf, als dieser sich bereits mit herabgesunkenen Schultern gehorsam in Bewegung gesetzt hatte …
* Inzwischen … Das Dorf döste in der Mittagshitze. Nur von seinem Rand her, wo die Schmiede lag, tönten metallene Schläge. Weit hallend wie eine
Glocke sang das Eisen, das auf dem Amboß geformt wurde. Dazwischen mischte sich von Zeit zu Zeit das grelle Wiehern eines störrischen Mulis, dessen Hufe der Schmied und sein Geselle neu beschlugen. »Ich gehe noch ein bißchen zu Herrn Hoo«, sagte der Lahme zu seiner Mutter. Er hieß Sung und träumte davon, selbst ein Schmied zu sein. Die stiebenden Funken, wenn der Hammerkopf auf rote Glut traf, hatten es ihm angetan. Manchmal ver jagte Herr Hoo seinen ungebetenen Zuschauer, aber an anderen Tagen hatte Sung ihm schon zur Hand gehen dürfen, dann, wenn der eigentliche Gehilfe wieder einmal krank und zu Hause geblieben war. Han war ein fauler Geselle, der seinen Meister nicht achtete, sonst hätte er seine Arbeit ernster genommen. Der lahme Sung hingegen war ein Tagträumer, der dennoch zupacken konnte und wollte. In Nächten, wenn er wach in seinem Bett lag, weil das linke Bein wieder schmerzte, das er sich bei einem Sturz in der Kindheit mehrfach gebrochen hatte und das danach nicht wieder richtig zusammengewachsen war, stellte er sich vor, Herr Hoo würde eines Tages zu ihm sagen: »Sung, mein Junge, ich bin alt und werde mich zur Ruhe setzen. Wenn du willst, kannst du die Schmiede übernehmen. Du hast geschickte Hände. Darauf allein kommt es bei unserer Kunst an – ob dein Bein lahmt, ist völlig egal!« Sung lächelte. »Hast du die Arbeiten, die dir aufgetragen wurden, gewissenhaft verrichtet?« riß ihn die strenge Stimme seiner Mutter aus der Welt, in die niemand außer ihm selbst Zutritt hatte. Auch das krumme Weib nicht, das ihn und seine anderen Geschwister mit ihrer Hände Arbeit ernährte, seit der Vater von einer Fahrt in die nächste Stadt nicht mehr zurückgekommen war. Die Leute tuschelten, er säße im Gefängnis. Er hätte sich ein schweres Verbrechen zuschulden kommen lassen. Aber Sungs Mutter hatte ihren Kindern erzählt, der Ernährer sei gestorben.
Es mußte wohl stimmen, denn Sungs Mutter fuhr nie mit dem wöchentlichen Bus in die Stadt, und das hätte sie gewiß getan, wenn der Mann, der Sungs Vater gewesen war, noch am Leben gewesen wäre. »Ich hab’ alles erledigt«, antwortete Sung. »Großvater hat mich gelobt.« Sung lebte mit Mutter, Großvater und drei jüngeren Geschwistern – Mädchen! – in einem kleinen strohgedeckten Haus am Rande des Marktplatzes, wo auch der Dorfbrunnen lag. Sein Großvater war alt und kränklich. Er konnte die Familie beim Broterwerb nicht unterstützen. Und die paar Münzen, die Herr Hoo Sung in die Tasche steckte, wenn er – was selten genug vorkam – einigermaßen guter Laune war, rangen der Mutter nur ein bitteres Lächeln ab. Dabei betete Sung jeden Abend, daß sie Anlaß erhalten würde, stolz auf ihn zu sein. Sie sah so verhärmt, so verlebt aus, daß er bald einen Weg finden mußte, die Ernährerrolle zu übernehmen, sonst … »Es stimmt«, erklang die Stimme des Großvaters aus dem offenen Fenster des Hauses. »Er ist ein guter Junge. Er hat sich Mühe gegeben. Sei nicht so streng. Laß ihn gehen!« Sungs Großmutter war im selben Jahr gestorben wie sein Vater. Im Winter davor hatte eine böse Erkältung sie ans Bett gefesselt, von der sie sich nur scheinbar wieder erholt hatte – doch nach einem anstrengenden Tag auf den Feldern hatte ein heftiger Rückschlag sie binnen Stunden dahingerafft. Die Familie hatte den Verlust gleich zweier Angehöriger erstaunlich gefaßt aufgenommen, vor allem Sung und seine Geschwister. Die Bindung zum Vater war nie sonderlich eng gewesen. Man hatte ihn selten zu Gesicht bekommen, und wenn, nie etwas über die Gedanken erfahren, die ihm im Kopf herumgingen. Morgens war er vor allen anderen aufgestanden und aus dem Haus gegangen, und abends meist erst heimgekehrt, wenn fast alle wieder schliefen. Sung dachte nicht oft an seinen Vater. Er hatte ja seinen Großvater.
»Ja, ja, geh ruhig. Herr Hoo wird dir schon zeigen, ob er dich brauchen kann oder dich lieber grün und blau prügelt!« Das passierte ab und an. Doch Sung machte sich nichts daraus. »Aber vor dem Dunkelwerden bist du wieder daheim!« »Versprochen.« Sung trottete hinkend vom Haus weg. Dem Großvater hinter dem Fenster winkte er noch einmal zu. Dann hatte er nur noch Gedanken für das, was er in der Schmiede Neues sehen und erleben würde. Das Feuer in der Esse. Die Funken, die Herrn Hoo bei jedem Schlag wie kleine Sterne umtanzten. Tiere, die beruhigt werden mußten … Kein Mensch im Dorf besaß ein Auto, geschweige denn einen Traktor oder andere nützliche Maschinen. Es gab nicht einmal Strom über ein Leitungsnetz, nur über den uralten Gemeindegenerator, der aber die meiste Zeit des Jahres kaputt war. In Sungs Welten – der äußeren wie der inneren, die für ihn gleichrangig existierten – war die Zeit stehengeblieben. Minuten später erreichte der Krüppel den Rand des Dorfes, wo die Schmiede zwischen schattigen Bäumen lag. Herr Hoos Stimme scholl ihm entgegen, als dieser seinen Gesellen wieder einmal wegen seiner Tölpelhaftigkeit zum Teufel wünschte. Sung kicherte leise. Es bereitete ihm ein Wohlgefühl, wenn Herr Hoo grob mit dem faulen Han umsprang. Sein Blick strich an der Schmiede vorbei in die Weite, die sich dahinter auftat und wo keine Häuser mehr standen. Nur Wiesen und Äcker bis zum Horizont … Es dauerte eine Weile, bis Sung klar wurde, worum es sich bei dem pfeilschnellen Schatten handelte, der sich aus der Ferne näherte. Und als er es wußte, fing er an zu rennen. An der Schmiede vorbei über die frisch gemähte Wiese, auf der sich Heuhaufen türmten. Was für ein wunderschönes Exemplar, dachte er. Der Adler wurde immer größer. Er mußte auch Sung längst entdeckt haben, aber er wich nicht aus. Schnurgerade hielt er auf ihn
zu! Atemlos blieb Sung stehen. In der Nähe graste ein Wasserbüffel, der verschreckt den Kopf hob und dann langsam in Richtung seines Stall trottete. Auch Sung überlegte, kehrtzumachen und zur Schmiede zu rennen, um Herrn Hoo auf den imposanten Greifvogel aufmerksam zu machen. Es war der größte, den Sung je gesehen hatte. Sein schwarzes Gefieder glänzte, als wäre es völlig durchnäßt. Im Nacken prangte ein weißer Fleck. Daß ihm selbst solche Details auffielen, verwunderte Sung nicht. Es geschah nicht bewußt. Bewußt war ihm nur, daß der Adler immer noch auf ihn zuhielt, und er sich jetzt – jetzt! – zu Boden werfen mußte, wollte er nicht Bekanntschaft mit dem sanft gebogenen Schnabel oder den scharfen Krallen des Vogels machen! Zitternd vor Aufregung stand Sung da, und noch während er zögerte, hatte der Adler ihn erreicht, mit seinen Flügeln gestreift, so daß er instinktiv die Augen zusammenkniff und den Schmerz erwartete, der gleich folgen mußte, in welcher Weise auch immer. Aber der Adler strich an ihm vorbei, und als Sung die Augen wieder öffnete, stand ein Mann vor ihm. Ein fremder und fremdartig aussehender Mann! Sung wollte aufschreien, doch der Blick des Mannes versiegelte seine Lippen. »Es ist gleichgültig, wer ich bin, gleichgültig, woher ich komme«, sagte er, und jedes Wort schien von etwas getragen zu werden, was sich in Sungs Verstand festbeißen wollte, dort aber keinen Halt fand. »Wichtig ist nur, daß du schnell handelst und zurück in dein Dorf rennst, um die anderen zu warnen! Hör genau zu und sei überzeugend, wenn du meine Warnung weitergibst!« Nach diesen einleitenden Worten erzählte der Fremde, dessen Aussehen Sung an die Indianer aus den Wildwestfilmen im Fernsehen erinnerte, daß sich eine gefährliche Räuberbande dem Dorf nä-
herte. Brutale, gewissenlose Kerle, die auch vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckten! Mit trommelndem Herzen hörte Sung zu. Noch immer spürte er das »Tragende« der Worte, die auf ihn einhagelten. Aber je länger der Fremde mit ihm plauderte, desto sicherer wurde er, daß er ihm einen Bären aufband. O ja, auch die Leute im Dorf liebten es, ihm Streiche zu spielen, als wäre er einfältig und hätte nicht alle Sinne beisammen. »Wo ist der Adler?« fragte er, als der Fremde ihn fragte, ob er alles verstanden habe und so weitergeben könne. »Ich bin der Adler«, erhielt er zur Antwort. Sung drehte sich um und sah zum Dorf. Mordgesellen, die hierher unterwegs waren und vor denen sie flüchten, gegen die sie keinesfalls die Helden spielen sollten? Das Dorf war voller wehrhafter Männer, und jeder hatte diese oder jene Waffe. Auch Gewehre. Nur komplette Narren hätten sich Chancen ausgerechnet. Oder eine Übermacht, wie Sung sie sich beim besten Willen nicht einmal vorstellen konnte. Entschlossen, von dem Fremden Beweise für seine Behauptung zu verlangen, drehte er sich wieder zu ihm um. Aber der Indianer war verschwunden. Nur in der Ferne glaubte Sung den Adler fliegen zu sehen, der dem Erscheinen des Warners vorausgegangen war. Sung ging zur Schmiede zurück. Ein wenig war ihm, als würde er schweben. Als hätte die Begegnung doch irgendwie Eindruck in ihm hinterlassen. Als Herr Hoo ihn erblickte, rief dieser barsch: »Verschwinde! Ich hab’ heute keine Verwendung für dich! Du stehst du nur im Wege ‘rum!« Han, der bei ihm stand, grinste bösartig. »Gibt es in unserer Gegend Räuber?« fragte Sung. »Räuber?« Stirnrunzelnd sah der Schmied zu ihm herüber. »Na-
türlich. Räuber gibt es überall. – Was soll die Frage? Halt uns hier von der Arbeit ab!« »Da war ein Fremder, draußen auf der Wiese. Er sah aus wie eine Rothaut aus den Filmen, ihr wißt schon, die wir uns bei Herrn Tse vor dem Fernseher anschauen, wenn der Generator funktioniert …« Der Schmied runzelte nicht mehr nur die Stirn, er legte das ganze Gesicht in mißmutige Falten. Han grinste noch breiter. »Der Fremde«, fuhr Sung fort, »hat mir aufgetragen, das Dorf vor einer Bande zu warnen, die gleich hier eintreffen wird. Wir sollen alles stehen und liegen lassen und in die Berge flüchten. Nur so können wir unser Leben retten! Ich werde gleich heimgehen und alles Großvater sagen.« Herr Hoo ließ den schweren Hammer, dessen Stiel er mit beiden Fäusten umschlossen hielt, auf das Eisen herabfahren, dessen kaltes Ende Han mit einer Zange festhielt. Funken stoben. »Halt! Warte!« »Ja …?« Sung sah in das derbe, narbige Gesicht des Schmieds. »Du kannst dich doch nütze machen! Lauf auf die Weide des alten Yang und bring mir seinen Schwarzen her. Der braucht neue Eisen!« »Aber –« »Danach kannst du immer noch das Dorf warnen. – Los, hau schon ab!« Sung überlegte. Der Schmied nahm ihn nicht ernst. Und hatte wohl recht damit. Sung glaubte dem Fremden ja selbst nicht. Der Gaul von Yang … Übertrieben oft nickend, entfernte er sich vom Eingang der Schmiede. »Ja! Klar! Ich bin gleich zurück! Ich mach’, so schnell ich kann …!« Das abfällige Gelächter von Meister und Geselle hörte er nicht, weil er es nicht hören wollte. Sung zog sich in seine zweite Welt zurück, in der er der Liebling von Herrn Hoo war und dessen Wunschnachfolger.
Mit strahlendem Gesicht rannte er durch das Dorf zum anderen Ende und dort hinaus zu Herrn Yangs Weide. Die schemenhaften Gestalten, die sich dem Dorf aus der Richtung näherten, in die der Adler wieder verschwunden war, bemerkte er nicht. Im Gegensatz zu Herrn Hoo …
* Ling Hoo, der Schmied, legte den Hammer beiseite. »Den Rest kannst du allein erledigen«, wies er seinen Gesellen an. »Wenn der Trottel von der Weide zurückkehrt, kann er dir beim Beschlagen helfen. Ich mach’ eine kleine Pause.« Han stellte keine Fragen. Unwahrscheinlich, daß er Mi-Jün bemerkt hatte, als sie kurz den Kopf durch das rückwärtige Fenster in die Schmiede hereinstreckte. Ling Hoo wischte sich die Hände an der Lederschürze ab und trocknete sein schweißglänzendes Gesicht mit einem bereitliegenden Tuch. »Nach Yangs Gaul und nachdem du hier aufgeräumt hast, kannst du dir den Rest des Tages frei nehmen …« Mit diesen Worten ging er nach hinten und schlüpfte durch die knarrende Tür hinaus ins Freie. Han hatte wortlos genickt und so getan, als würde er die grob fertiggestellten Hufeisen inspizieren, die dem Pferd, das Sung holte, noch angepaßt werden mußten. Aber kaum war Hoo verschwunden, setzte er sich grinsend auf einen Schemel und überlegte, ob er nicht selbst schnell zu seiner Liebsten heim rennen und sich mit ihr vergnügen sollte, ehe Sung zurückkehrte. Ling Hoo bekam davon nichts mit. Er war schnurgerade in die kleine Scheune geeilt, die hinter der Schmiede stand. Darin lagerte allerhand altes Heu, das nicht zur Fütterung, nur noch als Streu ver-
wendet wurde. Auf einem der halb zerfallenen Ballen saß Mi-Jün. Mi-Jün hätte Hoos Tochter sein können, zumindest vom Alter her, nicht was äußere Ähnlichkeit anging. So grobschlächtig der Schmied von Statur war, so zierlich präsentierte sich das Mädchen, das ihr Haar mit einem Kranz von Wiesenblumen verschönt hatte. Sie lächelte. Ihre Haut roch nach Pfirsich, und ihre Augen starrten Ling Hoo bewundernd, fast fiebrig entgegen. Der Schmied hatte nie begriffen, was sie an ihm fand. Seit letztem Jahr trafen sie sich regelmäßig. Inzwischen dachte er über die Gründe ihrer Gunst nicht mehr nach. Ihre Mischung aus gespielter Unschuld und tatsächlicher Raffinesse verwandelte ihn, kaum daß er das Scheunentor hinter sich geschlossen hatte, in ein triebgesteuertes Bündel Muskelmasse. Noch während er auf sie zu stapfte, zog er sich das verschwitzte Hemd vom Leib und öffnete den Hosenlatz. Die Schürze fiel achtlos zu Boden. Mi-Jün blieb sitzen und machte ein erschrockenes Gesicht. Sie liebte es, den Schmied in seinem lieblosen Drang zu bestärken. Manchmal stammelte sie schon vor Lust sinnloses Zeug, wenn er nur ihre kleinen knospenden Brüste mit seinen riesigen Händen wie eine Bäuerin ihren Brotteig knetete. Ling Hoo fragte nie, was dabei in ihr vorging. Es interessierte ihn nicht. Ihm genügte, was in ihm vorging, wenn sie sich ihm in dieser Weise darbot. Mit verzerrtem Gesicht kniete er vor ihr nieder und grub sein immer noch naß verschwitztes Gesicht in das schmale Tal zwischen ihren kindlichen Brüsten. Gleichzeitig schon er seine Hände hinter sie, um sie zu stützen, sonst wäre sie unter seinen ungestümen Küssen, mit denen er ihre zarte Haut bedeckte, vermutlich nach hinten gefallen. Mi-Jün wimmerte leise. Ihr gefiel es, sich wie ein Opfer zu verhalten, dabei hätte Ling Hoo nie echte Gewalt gegen eine Frau ge-
braucht. Aber irgendein Funke war vor einem Jahr zwischen ihm und der Tochter des Korbflechters Yat-sen übergesprungen. Beim Erntedankfest hatten sie miteinander getanzt, gelacht, gescherzt, und in der Nacht hatte Mi-Jün ihn irgendwann in ein Gebüsch gezogen, wo sie sich mit flatternden Händen über ihn hergemacht hatte, bis es ihm heiß und mächtig gekommen war. Was sie in seiner Hose gefunden hatte, mußte sie beeindruckt haben, denn gleich darauf waren alle Hemmungen bei ihr gefallen, und sie hatte sich auf ihn gesetzt und ihn mit demselben Temperament, wie sie tanzen konnte, geritten. Bis zur schieren Erschöpfung. Seitdem schienen sie sich gegenseitig verfallen zu sein. Im Dorf wurde bereits getuschelt, und obwohl es noch erträglich war, rechnete Ling Hoo doch jeden Tag damit, von Mi-Jüns Vater zur Rede gestellt und zur Heirat genötigt zu werden. Um ihrer Ehre willen. Die Ehre war ihm in Momenten wie diesen reichlich unwichtig. Momente, in denen sein Geschlecht fast schmerzhaft durchblutet wurde und er nicht mehr erwarten konnte, daß Mi-Jün den ärgsten Druck linderte und den harten Pfahl dorthin lenkte, wo auch sie kaum noch die Hitze ertrug. »Mi-Jün …« »Ling …!« Der Schmied hob das Mädchen spielerisch vom Heuballen. Sie umklammerte seinen Nacken und rieb ihren nackten, mit zartem Flaum behaarten Schoß an seinem Unterleib. Was sie stammelte, verstand er nicht. Seine eigene Begierde lenkte ihn drei Schritte weit, ehe seine Beine nachgaben und er sich mit dem Mädchen ins lose Heu fallen ließ. Sie japste unter seinem Gewicht. Doch statt zu versuchen, sich unter ihm hervorzuwälzen, klammerte sie sich noch fester an ihn und malte mit ihren Fingernägeln rote Linien in seine Haut. Ling Hoos Glied fand den Eingang zu ihrer Pforte, und obwohl es
ihn gelüstete, wuchtig die ganze Länge in sie zu stoßen, nahm er sich zurück und bereitete die später folgenden, ungezügelten Stöße behutsam vor. Mi-Jüns Stimme schwankte zwischen Kichern und Weinen. »O ja …«, feuerte sie ihn an. »Ja, kooommmm!« Ling Hoo zog sich wortlos aus ihrem Schoß zurück und setzte sich neben sie. Mi-Jün war zuerst völlig sprachlos, dann wütend. »Was –?« Der Schmied blickte an ihr vorbei, und da sah auch sie die Gestalt, die in die Scheune getreten war und deren Blick Ling Hoo gefühlt hatte. Ein Blick, der ihn getroffen hatte wie ein Guß eiskaltes Wassers … »Yat-sen?« Heiser und rauh, wie ein langsam splitternder Ast, hörte sich seine Stimme an. Im Halbdunkel der Scheune waren nur Umrisse zu sehen. »Das ist nicht mein Vater …« In Mi-Jüns Stimme schwang noch die Hysterie, die sie unter seinen Stößen geprägt hatte. Nein, dachte Ling Hoo, das ist er nicht. Es ist überhaupt niemand aus dem Dorf. Sofort gewann sein Selbstbewußtsein wieder die Oberhand. Er stand auf und zog die zu den Knöcheln herabgefallenen Hosen hoch. »Was ist? Wer seid Ihr? Ihr habt hier nichts –« »Rrrrrrroooaaarrr!« »Vorsicht«, flüsterte Mi-Jün. »Er hat einen Hund dabei …« Im selben Augenblick ertönte draußen ein schaurig schriller Schrei. Han? Der langgezogene Laut endete. Und die schmächtige Gestalt, die am Tor gestanden hatte, kam lauernd auf den Schmied und Mi-Jün zu, begleitet von abermaligem Knurren, das der Gestalt diesmal zweifelsfrei selbst entsprang!
Der dürre Alte ließ sich auf alle Viere fallen und veränderte sich lautlos. Für Ling Hoo und das halbnackte Mädchen war es, als würde aus einem harmlosen Lamm ein schrecklich anzuschauender Wolf hervorbrechen. Ling Hoo stellte sich als lebender Schild vor Mi-Jün, doch der Eindringling ließ sich von der respekteinflößenden Erscheinung des Schmieds nicht stoppen. Mit kurzem Anlauf sprang er ihn an. Und dann verwandelte sich die Scheune in ein Schlachthaus. Wie die anderen Häuser des Dorfes auch …
* Sie hatten das Dorf, das in Zugrichtung der Werwölfe lag, erst sehr spät bemerkt. Fast zu spät. »Hast ihnen klar machen können, was sie erwartet, wenn sie nicht fliehen?« empfing Makootemane seinen Ziehsohn, als dieser seine Adlergestalt abgelegt hatte. Hidden Moon wirkte in einem Maße erschöpft, ja niedergeschlagen, als zehrte nicht nur die psychische Belastung der dramatisch veränderten Situation an ihm, sondern auch etwas, das er dem anderen nicht verriet. Vielleicht, weil er es selbst nicht hätte benennen können. »Ich überzeugte einen von ihnen, sofort Alarm zu schlagen und meine Warnung zu verbreiten. Die Zeit, selbst von Haus zu Haus zu eilen, hatte ich nicht.« Makootemane nickte. »Wir werden bald wissen, ob es die Katastrophe verhindert hat. Zumindest hier. Denn wir können nicht überall einschreiten. Früher oder später wird die Horde ihre Opfer finden.« »Wo ist Esben Storm?«
»Unterwegs. Als Kundschafter. Er wollte auch in das Dorf – auf seine Weise. Sobald er zurückkommt, werden wir erfahren, ob deine Warnung genützt hat.« »Sollen wir darauf warten? Warum greifen wir nicht selbst ein? Ich meine – wir sind nicht wehrlos. Wir könnten –« »Du überschätzt unsere Möglichkeiten gegen sie. Und bedenke die Übermacht. In dieser Gestalt und Verfassung sind sie uns mehr als ebenbürtig.« Hidden Moon schwieg bekümmert. Plötzlich stand Esben Storm wieder zwischen ihnen. »Wie sieht es aus? Haben sie das Dorf schon erreicht?« bestürmte Hidden Moon ihn. Der Aboriginal bejahte. Dann fragte er den Arapaho: »Du wolltest sie warnen. Warum hast du es nicht getan?« »Ich habe es getan!« »Davon war nichts zu sehen.« »Was heißt das?« »Das heißt, daß Chiyoda und seine Schüler reichlich Beute gefunden haben …«
* Jerusalem Lilith konnte die Angst der Kinder förmlich riechen. David Chaim schielte haßerfüllt zu ihr herüber. Im Beisein Anums hatte Lilith die hypnotische Fessel gelockert. Der Vampir aus grauer Vorzeit hatte sie dazu aufgefordert, und seine Worte: »Jeder Täufling muß ganz und gar er selbst sein, frei von fremdem Willen und Wollen!« verhießen nichts Gutes, auch wenn sie vordergründig so klingen mochten. »Ein großer Moment«, wandte sich Anum an die Frau, die ihm
eine Gefährtin sein wollte … … und nach Vollendung dieses Aktes auch sein würde. Blut würde ihren Pakt besiegeln. Ihr Blut. Und es würde zugleich Klarheit bringen, die letzten Zweifel beseitigen, ob aus der Verbindung einer Halbvampirin und eines Urvampirs Kinder hervorgehen konnten – mit Hilfe des Lilienkelchs. Lilith stand noch ganz unter dem Eindruck des Erlebten. Die surreale Reise durch den Kelch bis hin zu dessen geknebelten HERZ war ihr unvergeßlich – besonders der Moment, als sie die Blockade um den magischen Kern des Unheiligtums zu durchbrechen versucht hatte. Versucht? Es war ihr gelungen! Mühelos. Und der Aufruhr, in dem ihre Gefühle seither tobten, basierte vor allem anderen darauf, daß sie meinte, von der knebelnden Kraft, die sich im Kelch eingenistet hatte, erkannt worden zu sein … Anums Spekulationen dazu gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn. War es tatsächlich möglich, daß sie diese Würgeschlinge um das HERZ des Kelchs gelegt hatte, und daß sie deshalb logischerweise auch die einzige war, die sie wieder aufheben oder umgehen konnte? »Vielleicht«, reagierte Lilith zurückhaltend auf Anums Pathos. Sie horchte in sich. Versuchte sich der moralischen Maßstäbe und Prinzipien zu erinnern, die ihr einmal so viel bedeutet hatten – damals, als Beth an ihrer Seite gegen Vampire gekämpft hatte. Gegen alle Vampire! Sie steckte in der größten Sinnkrise ihres Lebens. Und wenn sie nicht aufpaßte, wenn sie jetzt die falsche Richtung einschlug, würde dies kaum mehr korrigierbar sein! Ihr Blick wich den Kindern aus, suchte Halt an Anum. Sie war an einem Scheideweg angekommen. Wollte sie eine gemeinsame Zukunft mit diesem Mann und dafür vielleicht alles ver-
raten, alles hinter sich lassen, woran sie einmal geglaubt hatte? Noch nie war ihr das Dilemma, in dem sie schwebte, brutaler bewußt geworden. Der Mangel an eigener Erinnerung, der Verlust ihrer Vergangenheit und damit der wichtigsten Orientierungshilfe, um die eigene Persönlichkeit überhaupt ausloten zu können, erwies sich hier und jetzt als die Crux, an der sie zu zerbrechen drohte. »Nicht vielleicht – ganz, ganz sicher!« Anums Augen funkelten in kühler Überzeugung. Für ihn, daran hatte er von Beginn an keine Zweifel gelassen, bedeuteten die Leben zweier Menschen wenig, vielleicht nichts. Mit der bevorstehenden Kelchtaufe hatte er nichts zu verlieren – er konnte nur gewinnen. Denn wenn sie gelang … Lilith erstarrte innerlich. Plötzlich wurde ihr eines ganz klar: Noch mehr als ein Scheitern des absonderlichen »Zeugungsakts« und den Tod der beiden Täuflinge fürchtete sie … das Gelingen! Wollte sie wahrhaftig solche Kinder mit Anum teilen? Kinder, die auf dem Höhepunkt der Bluttaufe ihre Menschlichkeit abstreifen würden wie eine zu eng gewordene Haut? Die ihre »Erhöhung« zum unsterblichen Vampir erst mit dem Leben bezahlen mußten, das ihre leiblichen Eltern ihnen einst geschenkt hatten …? Sie spürte, wie schwer ihr das »Nein« fiel, obwohl ganz tief in ihrem Innersten ein Schrei ertönte. Anums Nähe, die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, die Verlockungen einer gemeinsamen Zukunft, die er ihr ausgemalt hatte … all dies wog am Ende schwerer. Ohne ihn habe ich keine Zukunft! Überhaupt keine! Die Tragik dieser Erkenntnis gab den Ausschlag. Die Angst, wieder ganz allein dazustehen, übertünchte die Skrupel, die sich Gehör zu verschaffen suchten. Sie wollte nie mehr auf den Spuren ihrer einstigen Bestimmung, die sie ohnehin nur aus der CHRONIK kannte und deshalb schwer akzeptieren konnte, umherziehen. Aber auch unter den Menschen fühlte sie sich fremd und un-
verstanden. Die einzigen Freunde, die je ihren Weg begleitet, je ihre Einsamkeit gelindert hatten und die ihr Beth’ Erinnerung wieder ein Stück weit nahegebracht hatte, lebten nicht mehr – waren mehr oder weniger für sie gestorben: Beth selbst und ein Mann namens Duncan Luther … All das war so lange her und so weit weg, daß es ebensogut der erzählten Erinnerung eines Fremden hätte entstammen können. »In Ordnung«, gab Lilith das ungeduldig erwartete Signal an Anum. »Fangen wir an. Was muß ich tun?« Anum hob ihr den Kelch entgegen, der ganz zart von innen heraus zu glühen begann. »Zunächst: ihn füllen. Du wirst den Verlust gar nicht spüren. Aber ihr Leben –«, sein Nicken ging in Richtung der bang zuhörenden Kinder, »– wird es von Grund auf verändern.« Wie wahr, dachte Lilith fröstelnd. »Dein Arm – halte ihn über den Kelch!« forderte Anum sie auf. Sie gehorchte. David und Rahel standen wie erstarrt in einer Ecke des Zimmers. Wohin hätten sie auch fliehen sollen? Der letzte Versuch hatte ihnen wohl endgültig klargemacht, daß etwas für sie Unbegreifliches sämtliche Türen und Fenster ihres Elternhauses verbarrikadierte. Lilith zuckte unmerklich zusammen, als etwas Unsichtbares ihre Haut ritzte, Fleisch und Aderwand durchdrang und ein Rinnsal aus dunklem Blut hervorquellen ließ. War ihr Blut schwarz, wie es ein Merkmal auch der reinblütigen Vampire war, deren Lebenssaft einst bei der Taufe von Kelchmagie geschwärzt worden war? Oder täuschte das Licht, das in der Stube herrschte? Nein, dachte sie, auch in Mayab war mein Blut schwarz. Landru hat es mir gezeigt. Um mich zu überzeugen, daß ich bin wie er. Aber dies widersprach der Erinnerung, die Beth in ihr abgeladen hatte. Früher, so hatte sie daraus erfahren, war ihr Blut dunkelrot
gewesen. Woher rührte die Veränderung? Sie beschloß, Anum danach zu fragen. Später. Wenn es ihr später noch wichtig erschien … Ihr Blut bedeckte den Grund der Kelchschale. Lilith spürte, wie die Selbstheilungskräfte ihres Körpers die Wunde am Handgelenk zu schließen versuchten – und wie ein Brennen den Schnitt noch einmal erneuerte. »Es ist noch nicht genug«, erklärte Anum. Lilith versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Hatte er wirklich so wenig Zweifel am diesmaligen Gelingen der Zeremonie, wie er vorgab? Sie fand es nicht heraus. Seine Miene blieb undurchschaubar. Kann ich ihm trauen? war ihr nächster Gedanke. Wird er mir treu bleiben, wenn es gelungen ist? Oder sieht er in mir etwa nur eine … Geburtshelferin? Die Idee bestürzte sie so sehr, daß ihr Arm zu zittern begann und Blut zu Boden tropfte. »Was ist?« fragte Anum leise. »Was quält dich?« »Nichts. Sag, wenn es genug ist. Und vollende, was du für nötig hältst. Ich will es nicht mitansehen. Ich werde –« »O nein! Du mußt bleiben! Ertrage es, und du wirst sehen, wie befreit du dich hinterher fühlst! Du wirst künftig nur noch dir selbst treu bleiben müssen …« Er lächelte das Lächeln, von dem Lilith nicht genug bekommen konnte. »Und ein wenig natürlich auch mir – so wie ich dir.« Er zog den Kelch unter ihrem Arm weg. Die Wunde blutete ein wenig nach, hatte sich aber schon Sekunden später geschlossen. Anum drehte sich den Chaim-Kindern zu und fragte: »Wen nehmen wir zuerst?« »Ihr glaubt nicht im Ernst, daß wir das trinken?« David ballte die Fäuste. Anums Lächeln, von Lilith zu den Täuflingen mitgenommen, ver-
sprödete. »Da haben wir ja schon unseren ›Freiwilligen‹.« Mit diesen Worten glitt er auf David zu. Lilith schloß die Augen. Doch dann er ertrug sie auch das nicht. Als sie die Lider wieder hob, war Anum gerade bei David angelangt. Das Gesicht des Jungen war zur Grimasse entstellt. Lilith zuckte davor zurück und fing statt dessen Rahels flehenden Blick auf, der darum bettelte, es nicht zuzulassen. Und hatte sie den Kindern nicht hoch und heilig versprochen, sie gegen Anum zu schützen? Heilig? Ich bin keine Heilige! Ich bin auch nur … Was? Was war sie – und was würde sie sein, wenn sie das hier zuließ? Genug! Sie hatte sich entschieden! Sie hatte sich entschieden, Anum gewähren zu lassen. Und damit einen neuen Weg in eine selbstbestimmte Zukunft zu beschreiten …! Du betrügst dich nur selbst. Anum hielt den Kelch in der Linken, die Rechte zeigte auf den wie versteinert dastehenden Jungen. Ob er besondere Kräfte aufwandte, um David zu bannen, oder ob sein Opfer einfach nur gelähmt war von dem, was ihm bevorstand, war nicht ersichtlich. Für David machte es keinen Unterschied. »Trink!« Anum hielt ihm den Kelch vor das Gesicht, näherte den Rand dessen Lippen. In diesem Augenblick warf sich Rahel mit einem kindlich verzweifelten Aufschrei dazwischen und versuchte Anum den Kelch zu entreißen, ihn umzustoßen und den Inhalt auf den Boden zu verschütten. Aber sie prallte von einer unsichtbaren Wand zurück, die ihr zugleich einen Schlag versetzte, der sie quer durch den Raum taumeln und schließlich stürzen ließ. Es ist nicht mehr zu stoppen, dachte Lilith. Nicht einmal ich könnte es
noch aufhalten – selbst wenn ich meine Meinung ändern würde. Anum zeigte sich ungerührt. Und kippte den Kelch nun selbst. So daß das leuchtende, von Magie durchstrahlte Blut in Davids vor Abscheu geöffneten Mund hineinrann … … und augenblicklich sein Gift entfaltete.
* »Jetzt du!« Anums Arm zeigte auf Rahel, die leise wimmernd am Boden kauerte. Auf demselben Boden, auf dem – in einiger Entfernung – nun auch ihr Bruder David lag. Tot. Der magische Trunk hatte sein Herz angehalten. Und was er ihm darüber hinaus noch angetan hatte, war nach dem fürchterlichen Schrei, mit dem er zusammengebrochen war, nur zu erahnen … »Willst du nicht erst abwarten, was aus ihm wird?« Lilith wollte auf Anum zugehen. Wollte ihn beschwichtigen und zur Geduld ermahnen. Doch er stieg einfach über den Körper des Jungen hinweg und trat mit dem Rest von Liliths Blut im Kelch vor dessen Schwester. »Nein«, sagte er, ohne Lilith anzusehen. »Erst wenn sie beide getauft sind, werde ich abwarten. Dann werden wir beide darauf warten, daß sie sich wieder erheben. Und wir beide werden auch bei ihnen bleiben, bis sie die nötige Reife erlangt haben, um auf eigenen Füßen zu stehen. – Es wird nicht lange dauern.« Nein, dachte Lilith. Vampire wachsen schnell aus ihren Kinderschuhen. Sie horchte in sich hinein, um herauszufinden, welche Gefühle der Anblick Davids in ihr weckte. Sie war am Tod des Jungen ebenso schuldig wie Anum, der ihm
den Trunk eingeflößt hatte. Schuldig? Sie mußte aufhören, in diesen menschlichen Mustern zu denken! Anum zerrte Rahel auf die Beine. Sie wirkte apathisch. Lilith dachte etwas, woran das Mädchen in diesem Augenblick sicherlich keinen Gedanken verschwendete: Jetzt ist nur noch sie übrig. Sie ist die letzte ihrer Familie. Die letzte Chaim. Die barbarische Taufe würde auch ihr Leben beenden. Vielleicht für immer. Lilith zweifelte plötzlich wieder stärker, die Zeichen im Kelch richtig verstanden zu haben. Die ursprüngliche Macht und Magie darin war von etwas vergiftet, das ihr nicht wirklich nahestehen konnte. Sie fühlte sich in keiner Weise damit verbunden. Unschlüssig verfolgte Lilith Anums Tun. Er zelebrierte den Akt der Taufe nicht, wie er es in tausend Jahren unzählige Male als Hüter getan hatte – er praktizierte ihn einfach. Ohne Zeit zu verschwenden. Ohne auf das leise Wimmern des Mädchens zu achten oder sich von der geringen Gegenwehr irritieren zu lassen. Liliths Blut strömte auch in Rahels Mund. Sie riß die Augen auf. Ihr Blick schien Lilith verschlingen zu wollen, als sähe sie in ihr die Alleinschuldige an ihrem nun nicht mehr abwendbaren Schicksal. Und dann sackte in sich zusammen. Haltlos und stumm wie ihr Bruder. Der sich im selben Augenblick zu erheben begann!
* Ein so enttäuschter Laut rann aus Anums Mund, daß Lilith nicht anders konnte: Sie mußte hinter ihn treten und ihre Arme um ihn schlingen – im vergeblichen Versuch, ihm Trost zu spenden. Die Überwindung, zu dem Jungen hinzueilen, brachte sie nicht auf,
obwohl David ihren Beistand höchstwahrscheinlich nötiger gehabt hätte. »Allmächtiger …« Anum krümmte sich in Liliths Umarmung. Er hielt immer noch den Stiel des Lilienkelchs umklammert. Ein Rest von Blut schimmerte darin. Als Lilith es sah, überkam sie Ekel vor sich selbst. »Siehst du jetzt ein, daß nichts und niemand den Kelch je wieder zum Funktionieren bringen wird?« Sie erhielt keine Antwort, nahm das Geschehen selbst nur den Wirbel ihrer Gedanken hindurch wahr! Ihr wurde schlecht. Was habe ich getan? Anum hatte ihr beschrieben, was auf seiner Reise nach Uruk, im Abteil eines von ihm vereinnahmten Zuges beim Versuch einer Kelchtaufe mit dem dortigen Täufling geschehen war. Gleiches begann sich auch hier abzuspielen! Etwas, das grauenhaft anzusehen war, zumal David seine Augen wieder geöffnet hatte und all das Entsetzliche, das ihm widerfuhr, bei vollem Bewußtsein durchzumachen schien! »Hilf … mir …«, krächzte er in Richtung seiner Schwester. Als er erkannte, daß sie ihm nicht mehr helfen konnte, weil auch sie bereits der Heimtücke ihrer Peiniger zum Opfer gefallen war, preßte er die Lippen zu einem einzigen dünnen Strich zusammen. Im Gegensatz zu ihm hatte Rahel die Finsternis des Todes noch nicht wieder abgestreift – und nur deshalb auch noch nicht das Stadium ihres Bruders erreicht … Lilith begriff, daß in Wirklichkeit sie Halt an Anum suchte, nicht umgekehrt. Der Mann, an den sie sich klammerte, nahm den sichtbar gewordenen Prozeß nach Überwindung seiner Enttäuschung fast ungerührt hin. »Wir haben immer noch sie«, sagte er leise und ohne mit einem
Wort auf das Verblassen des Jungen einzugehen, der vor ihren Augen zum Geist wurde; zum Gespenst, das jeden Halt in dieser Welt verlor. »Was soll das heißen?« fauchte Lilith ihn an. Noch einmal bemühte sie sich, die nötige Kraft aufzubringen, zu David zu laufen. Selbst wenn sie keine Chance hatte, ihm zu helfen, so mußte sie es doch wenigstens versuchen – um ihretwillen! »Das soll heißen, daß es vielleicht nur bei Frauen funktioniert. Bei dem Geschlecht, dem du angehörst, dem meine Mutter angehörte und auch die deine: Creanna. Es wäre denkbar … Nun, wir werden es wissen. Bald …« In diesem Moment hätte Lilith geschworen, ihn zu hassen. Ihn mehr, viel mehr zu hassen als zu … lieben! Der Junge schrie jetzt verzweifelter um Hilfe. Nicht mehr an irgend jemanden gewandt, sondern einfach in den Raum hinein. Er verschwand, löste sich auf! Immer schwächer wurden seine Hilferufe, erstarben schließlich ganz, während der Schemen weiter den Mund öffnete und schloß, weiter gestikulierte und dabei tiefer in den Fußboden sank. »Erlöse ihn!« flüsterte Lilith. »Erlöse ihn mit der Magie des Kelchs, wenn du ihn schon nicht damit retten kannst!« »Unmöglich«, entgegnete Anum. »Dorthin, wo er jetzt schon ist, reicht die Macht des Kelches nicht. Er ist verloren.« Er befreite sich von Liliths Umklammerung, beugte sich über das Mädchen zu seinen Füßen und fühlte ihren Puls. »Nichts«, sagte er. Lilith stand da und wagte kaum zu atmen. Sie starrte auf Rahel und wartete, daß auch sie sich aufzulösen begann wie ihr Bruder … Auch Minuten später lag Rahel immer noch reglos da und machte keinerlei Anstalten, den Tod auch nur kurzzeitig wieder abzuschütteln. »Glaubst du jetzt, daß wir gescheitert sind?« fragte Lilith.
Anum war zum Fenster gegangen und warf verstohlene Blicke durch einen Vorhangspalt auf die Straße hinunter, die vor dem Geschäft verlief. Draußen herrschte reger Verkehr. Manchmal blieben Menschen vor der Ladentür stehen und lasen das Schild mit dem Hinweis, daß bis auf weiteres geschlossen war. Der Lilienkelch stand auf dem Boden an der Stelle, wo David verschwunden war. Der Junge hatte keine Spuren hinterlassen. Trotz Widerwillen kniete Lilith neben Rahel nieder und untersuchte sie. Das Herz des Mädchens gab keine spürbare Regung von sich. Die Sechsjährige atmete auch nicht mehr. Sie war einfach gestorben. Ich habe sie auf dem Gewissen. Sie und ihren Bruder, dachte Lilith. Nichts und niemand kann mich je von dieser Schuld reinwaschen. »Hast du dir schon Gedanken gemacht, wohin wir uns von Jerusalem aus wenden sollen?« fragte Anum, als wäre das Thema »Taufe« für ihn bereits erledigt. Lilith schüttelte den Kopf. Sie wußte nicht, ob sie überhaupt noch irgendwohin gehen wollte. »Du?« »Vielleicht.« »Und?« Anum wandte sich vom Fenster ab. »Kennst du eine Stadt namens New York?« fragte er. »Warst du schon einmal dort?«
* Unter Wölfen Zwei Adler landeten auf dem First der Scheune und verwandelten sich in ihre menschliche Gestalt zurück. »Du bleibst hier. Du bist mir bei dem, was ich vorhabe, keine Hilfe«, sagte Makootemane. Sein in einem Zopf endendes Haar bewegte sich sacht im Wind. »Du kannst nicht erwarten, daß ich einfach nur zusehe, wie du
dich in Gefahr begibst – und vielleicht darin umkommst!« widersprach Hidden Moon heftig. Das Dach der Scheune bot ihnen auch in dieser Gestalt ausreichenden Halt, und Hidden Moons Augen forschten nach dem Halbwüchsigen, den er ganz in der Nähe getroffen und dem er aufgetragen hatte, die Dörfler zu warnen. Offenbar hatte man ihm keinen Glauben geschenkt. Und bezahlte es nun mit dem Leben. »Ich werde nicht umkommen«, erwiderte Makootemane mit solch fester Stimme, daß nur ehrliche Überzeugung dahinter stecken konnte. »Aber vielleicht kann ich den Wahnsinn stoppen!« »Wie?« »Wie ich es schon einmal tat.« »Aber du hast noch nie –« Hidden Moon verstummte jäh, als ihm dämmerte, worauf seine Ziehvater anspielte. Hidden Moon hatte bereits begonnen, Schindeln aus dem Dach zu brechen. Mit bloßen Händen. Und den berserkerhaften Kräften, die jeder Vampir besaß. Hidden Moon wußte, daß Makootemane sich von seinem Entschluß nicht mehr abbringen lassen würde. So beobachtete er schweigend, wie sein Stammesführer durch das freigelegte Gebälk des Daches tauchte. Und er beschloß, ihm zu folgen. Wenn schon nicht als Gefährte, so doch wenigstens als Chronist der Schlacht, die Makootemane auszufechten gedachte. Gegen den Anführer des schrecklichen Rudels. Gegen Chiyoda …
* Makootemane landete federnd auf losem Heu und durchbohrte das Halbdunkel mit dem sengenden Blick eines Vampirs, der dürstend
die Witterung des Blutes aufgenommen hatte, das hier in Strömen vergossen worden war. Langsam bewegte er sich zum Rand des Heubodens. In der Tiefe schien für einen Moment keine Unterscheidung zwischen einzelnen Objekten möglich … … bis eines sich bewegte. Bis die Bestie den Kopf in den Nacken bog, die Schnauze, die in dampfendem Fleisch gewühlt hatte, reckte und herauf sah. »Chiyoda!« Makootemane klang, als wären seine Stimmbänder heiser entzündet. »Besinne dich, Chiyoda! Erkenne, was du getan hast …!« Fauchend und knurrend wich der Werwolf von seinem zerfleischten Opfer zurück. Makootemane versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie ihn dieser Anblick schockte. Es war absehbar gewesen, daß dieses Dorf und seine Bewohner nicht mehr gerettet werden konnten. Aber vielleicht konnte die Welt vor demselben Schicksal bewahrt werden. Denn die wilde Horde würde sich mit diesem einen Fressen nicht begnügen. Sie würde weiterziehen. Immer weiter … Wohin? Makootemane sah sich dem vielleicht einzigen Werwolf gegenüber, der ihm diese Frage überhaupt beantworten konnte. Wenn er es schaffte, sich noch einmal aus den Klauen dessen, was ihn und seine Schüler übermannt hatte, zu befreien. Die Chancen standen schlecht. Denn dies war keine »normale« Verwandlung in eine dem Vollmond verfallene Chimäre. Sie hatte außerhalb jedes bekannten Zyklus stattgefunden, und vielleicht – Makootemane schauderte tief unter seiner Haut – würde sie erst wieder weichen, wenn Chiyoda irgendwann sein Leben aushauchte. Den Fluch, den er Leben nannte! Wir sind alle verdammt, dachte Makootemane. Mehr oder weniger. Aber vielleicht kann ich dir helfen, wieder zu dir selbst zu finden. Zu den
Werten, für die du eingetreten bist, so lange ich dich kannte. Und wenn nicht … werden unser beider Wege hier enden … Das einzige, was er für diesen Fall bedauerte, war, daß er dann Hidden Moons weiteren Werdegang nicht mehr würde verfolgen können. Aber letztlich war dies kein Preis, der ihn von seinem Entschluß wieder abbrachte. »Erkennst und verstehst du mich?« Der Werwolf torkelte gereizt und wie trunken von der Stelle weg, wo er sich über sein grausiges Mahl hergemacht hatte, bis dorthin, wo der Überstand des Heubodens begann. Zeitlupenhaft langsam, fast wie flehend, streckte er die fellbedeckten, sehnigen Arme nach oben. Es fehlte eine ganze Manneslänge, um Makootemane auf diese Weise zu erreichen. Doch auch das änderte sich mit einem einzigen, unglaublichen Sprung! Als der Werwolf seine Klauen um die Fußgelenke des Arapaho schnappen ließ und ihn mit einem Ruck von den Beinen riß – offenbar wollte er ihn im Zurückfallen mit sich nach unten zerren –, wußte sich der Vampir nicht anders zu helfen, als sich in das geflügelte Abbild seines Totems zu verwandeln. Aber Chiyoda gab auch den Adler nicht frei. Heftig miteinander ringend landeten sie auf dem Heupolster, das den Boden der Scheine bedeckte: Makootemane flügelschlagend und sich mit seinem harten Schnabel zur Wehr setzend, Chiyoda mit der erbarmungslosen Mordlust der Kreatur, von deren animalischen Trieben sein friedliebender Geist überwältigt worden war! Hör auf! Komm zu dir! schrie Makootemane – nicht mit seinen tierischen Stimmbändern, sondern auf mentaler Ebene. Wechsele in die andere Wirklichkeit, Chiyoda! Ich bin sicher, überall anders als hier wirst du wieder du selbst! Dort hat es keine Macht über dich …! Chiyoda hielt einen Moment inne. In diesem Bruchteil einer Sekunde blickte Makootemane in die Augen des Werwolfs.
Aber das, was er darin suchte – den Chiyoda, den er wie selbstverständlich schätzen und respektieren gelernt hatte – fand er nicht. Gab es ihn überhaupt noch? Was war über ihn, über all die Männer und Frauen gekommen, die Hilfe im Sanktuarium gesucht hatten? Wer außer dem Mond hatte die Macht, sie in Sklaven ihres rätselumwobenen Fluchs zu verwandeln? Als der Werwolf Chiyoda zähnefletschend mit seinen Pranken ausholte, um den unterbrochenen Kampf fortzusetzen, dachte Makootemane: Wo bleibst du? Warum läßt du dir soviel Zeit? Wenn du nicht bald eingreifst, werde ich diesen wertvollen Mann töten müssen, um ihn vor sich selbst zu schützen! Die Haut des Adlers platzte unter den ungestümen Prankenhieben des Wolfes auf, und schwarzes Blut färbte das Federkleid. Makootemane fühlte keinen Schmerz. Nur Bedauern. Doch bevor die Zähne seine Haut durchbohren, sein Fleisch verheeren und seine Knochen zermalmen konnten, rief eine Stimme: »Nein!« Sie war nicht sonderlich laut, auch nicht magisch, aber dennoch ungeheuer eindringlich. Endlich! flirrte es durch Makootemanes Hirn. Das Erscheinen dessen, auf den er gewartet hatte, setzte neue Energien in ihm frei. Und bis sich der Leitwolf des Rudels auf das Auftauchen eines zweiten Gegners eingestellt hatte, verlagerte sich das Schlachtfeld bereits. Esben Storm hatte schon früher bewiesen, daß er andere auch gegen deren Willen mit sich nehmen konnte – in die Parallelwelt, die sein Volk die »Traumzeit« nannte. Wo die Gesetze der diesseitigen Welt keine Gültigkeit besaßen. Und das schauerliche Geheul, das wie zäher Schleim aus Chiyodas Maul troff, verriet, daß dies auch ihm bewußt geworden war …
* Die Magd stampft Butter und fährt sich von Zeit zu Zeit über das von Holzspangen gehaltene Haar. Sie ist früh aufgestanden. Sie hat Feuer im Herd gemacht und das Wasser im Kessel erhitzt. Dann ist sie in den Stall gegangen, hat ihn ausgemistet und die Tiere versorgt. Sie ist nicht hübsch. Trotzdem greift Vater ihr manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlt, unter den Rock oder hebt ihn an, um sich zu bücken und mit dem Gesicht darunter zu verschwinden. Mutter ist drall, unsere Magd hat kaum etwas auf den Rippen. Außer dort, wo auch ich meine Blicke gern verweilen lasse. Wenn sie sich bückt, fallen ihre Brüste wie reife Birnen aus dem Ausschnitt ihrer Bluse. Wenn dies geschieht, wendet sie sich verschämt ab und bringt das Malheur wieder in Ordnung. Wenn Mutter es bemerkt, hagelt es Beschimpfungen. Vater schweigt und leckt sich die Lippen. Ich weiß, woran er denkt. Wenn ich durch das Fenster blicke, sehe ich den tiefhängenden Winterhimmel. Grau umgibt unser Haus, den Stall, die Gesindeunterkunft und die Scheune. Unser Gehöft erhebt sich wie ein Eiland aus einem gischtweißen Ozean. Die Gischt ist Schnee. Dieser Monat, so kurz nach Jahresbeginn, ist eisig und der Frühling noch so unvorstellbar fern, daß man meint, kein Mensch in diesem Landstrich würde ihn je wieder erblicken. Ich sitze neben dem Ofen und wärme mich, denn ich fühle mich elend. Mich plagen Husten und Schnupfen und Kopfweh. Aber niemand kümmert es. Mutter stopft Löcher in den Lumpen, die unsere Kleider sind. Vater raucht und starrt ins Leere. Der einzige Knecht, den wir noch haben, ist unterwegs zu unserem Nachbarn, um etwas Trockenfleisch von ihm zu leihen. Das unsere ist ausgegangen. Es war nicht viel. Ich glaube, wir sind arm. Vater und Mutter reden nicht darüber, aber ich habe gehört, wie unser Gesinde sich darüber sorgt, daß es keinen Lohn
mehr erhält und jetzt auch noch Hunger leiden muß. Die Kühe im Stall geben bei dieser Witterung kaum Milch, die Hühner legen nicht. Aber schlachten will sie trotzdem keiner. Womit sollten auch neue bezahlt werden, hat unser Knecht gefragt. Und die Magd hat nur bekümmert auf die Hand gestarrt, die unter ihrem Kleid verschwunden ist. Ich weiß nicht, ob es ihr gefällt. Ich weiß nur, daß es mich um den Ver stand bringt. Allmächtiger. Alles ist so anders geworden. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Seit ein paar Nächten verschaffe ich mir selbst Erleichterung von meinen Phantasien. Früher habe ich nicht einmal bemerkt, was um mich herum an solchen Dingen vorgeht. Ich hatte Vater und Mutter und kannte das Gesinde, aber ich unterschied nie zwischen Mann oder Frau, hübsch oder häßlich … Es ist anders geworden. Ich bin anders geworden. Und es quält mich. Es raubt mir den Schlaf. Vater setzt die Pfeife ab, klopft sie über dem Feuer aus und nickt der Magd zu, die im Buttermachen innehält. »Wenn du fertig bist, komm in den Stall. Eine der Kühe hat sich die Krätze am Vorderlauf eingefangen. Wir müssen sie säubern und einschmieren …« Ohne ihre Antwort abzuwarten, verläßt er das Haus. Eisiger Wind wirbelt Schneeflocken herein und streift uns mit frostigem Atem. Ich zucke zusammen. Mutter reagiert nicht. Und die Magd treibt den Kolben des Butterfäßchens wieder ein und aus, so daß ich mir wünschte, es wäre meiner, der so hart und vernehmlich zwischen meinen Schenkeln pocht. Kurz darauf folgt die Magd meinem Vater, und es dauert lange, bis sie beide zurückkehren. Die Wangen der Magd glühen. Mein Vater flucht und macht Mutter Vorwürfe, weil das Essen – Reis mit zerlaufener Butter – noch nicht auf dem Tisch steht. So geht es weiter den ganzen Tag. Abends klettere ich in meine Koje, durch deren winziges Fenster ich die Sterne funkeln sehe. Wie klar die Nacht nach dem Grau des vergangenen Tages ist!
Unbewußt schiebe ich meine Hand in die Hose und streichele mich, wo es mir wohltut. Es braucht nicht viel, um den Stoff von innen zu nässen. Seufzend sinke ich zurück und falle trotz der Stimmen und Geräusche, die das Haus noch erfüllen, in einen tiefen Schlaf. Ich weiß nicht, ob und was ich geträumt habe. Als ich wach werde, ist es still und finster im Haus. Nur das leise Schnarchen meines Vaters dringt an mein Ohr. Mutter schläft lautlos. Und die Magd ist im Gesindehaus. Im Gesindehaus … Es passiert einfach. Sie mir vorzustellen, wie sie in ihre Decken gehüllt jetzt ganz allein in ihrem Bette liegt, elektrisiert mich. Schweiß bricht mir aus. Mein Herz schlägt wie das eines kleinen Vogels, der aus dem Nest gefallen ist. Für eine Weile bin ich nicht in der Lage, mich zu überhaupt etwas aufzuraffen. Jede Bewegung wäre Mühsal. Doch dann – schwinge ich mich aus meiner Koje. Ich bin barfuß, trage nur ein Nachthemd. Im Haus ist es fast so kalt wie draußen, aber das Fieber in mir verhindert, daß ich friere. Ich muß verrückt sein, denn ich laufe barfuß und ohne Mantel durch den Schnee hinüber zu ihr. Über mir leuchten die Sterne, der Mond. Meine Erkältung scheint wie weggeflogen. Das Fieber hat sie weggebrannt. Die Spannung nimmt zu. Kein Licht in Augenhöhe. Nur die Schneedecke als Abglanz des mitternächtlichen Himmels. Ich schwebe zwischen zweierlei Silber. Vor der Tür halte ich noch einmal ein. Nicht, weil mir Zweifel gekommen sind, sondern weil ich noch einmal die Nacht trinken will, die in meine Lungen sinkt. Der doppelte Riegel gleitet zurück. Drinnen wie draußen. Vater hat dies ersonnen. Ich ahne, warum er unsere Türen von jeder Seite aus zu jeder Zeit öffnen können will … Ob sie mich hört? Ob sie denkt, daß er sie besucht? Und was geht dabei in ihr vor? Freude? Abscheu? Eine Mischung aus beidem? Wer weiß … Langsam gleite ich ins Dunkel. Sie hat die Sterne und den Mond ausge-
schlossen. Wie töricht zu glauben, es wäre so leicht. Etwas raschelt, als ich die Tür hinter mir schließe. Benommen fragte sie: »Ist da jemand?« Sie ist im Halbschlaf. Ihre Frage hilft mir, zu ihr zu finden. »Ja«, antworte ich rauh. »Ich bin es.« »Du …?« Mehr als alles andere fürchte ich ihren Spott. Aber sie wirkt nur überrascht, als sie hinzufügt: »Ist etwas passiert?« Noch nicht, denke ich. »Ich … konnte nicht schlafen.« »Und deshalb kommst du zu mir? Wenn dein Vater uns –« »Er schläft tief und fest.« Sie versteht. Eine Weile trennt uns das Schweigen. Dann tastet im Dunkel eine Hand über mein Gesicht. Nicht abweisend, ganz sanft und liebevoll eigentlich, und in meiner Vorstellung erfüllen sich bereits meine sehnlichsten Wünsche. »Na gut, komm unter die Decke. Komm, damit ich dich wärmen kann. Du bist ja völlig durchfroren. Du holst dir noch den Tod … Aber wehe, wenn er davon erfährt. Wenn irgend jemand davon zu Ohren kommt …!« Ich versichere ihr, daß das nicht geschehen wird, niemals. Und es ist die Wahrheit. Ihre Nähe empfängt mich wie die Berührung eines Engels. Sie preßt einen Arm um mich und schließt die Decke über mir, Gesicht an Gesicht. Hart bohrt sich das, was mich aufgeweckt hat, in ihren Bauch. Unmöglich, daß sie es nicht spürt. Unmöglich, daß sie mich gewähren läßt … Aber sie streichelt weiter mein Gesicht. Fährt mit einem Finger die Linien meiner Lippen nach. »Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?« fragt sie. »Ich dachte, du wärst noch ein Kind …« »Ich bin – dreizehn.« »Zwölf.«
»Aber ich werde nächsten Monat dreizehn!« Sie nickt. Im Bett trägt sie ihr seidig glattes Haar offen. Es streift über meinen Hals, mein Kinn. Dann, ohne daß ich darauf vorbereitet worden wäre, greift sie unter die Decke zwischen meine Beine. Fest umschließt sie mein hartes Glied. »Du bist besser ausgestattet als dein Vater. Besser sogar als euer Knecht …« Ich weiß nicht, was sie damit sagen will. Ich bete, daß sie weiter an mir festhält, nicht losläßt, und das tut sie auch nicht. Sie beginnt ihre Hand auf und ab zu bewegen, und es ist viel schöner, als wenn ich es selbst tue. In ihrer Hand liegt mein Glied eingebettet, als wäre sie ein Futteral, das eigens dafür geschaffen wurde. Ein Futteral aus weichem, warmem Leder … »Gefällt es dir?« »Ja …« Ja! »Ich weiß etwas noch Schöneres.« »Was?« »Ich zeige es dir.« Ich bin nicht enttäuscht, als sich ihre Hand nun doch löst. Denn sie braucht sie, um ihr Nachthemd hochzustreifen, um sich dort unten ebenso freizumachen, wie ich es bereits bin. Sie dreht sich auf den Rücken und zieht mich auf sich. Ich rutsche zwischen ihre weit gespreizten Schenkel. »Langsam«, bremst sie mein Ungestüm und greift korrigierend ein, lenkt die samtweiche Spitze meines Glieds zu der rosig zarten, engen Ritze, die unter meinem Druck nachgibt, die sich verheißungsvoll öffnet und mich noch perfekter aufnimmt als ihre Hand vorhin. Mir schwinden die Sinne. Ich höre ihre Schreie nicht. Ich spüre nicht, wie sich ihre Fingernägel in meinen Rücken graben, ihre Fäuste mich traktieren. Nichts zerstört den Zauber, bis der Rausch verklingt. Und ich, von ihrem Blut überströmt, begreife, was ich getan habe …
* Damals hatte es begonnen. In der ersten Vollmondnacht, nachdem er zum Manne gereift war, hatte der in Chiyoda schlummernde Fluch Besitz von ihm ergriffen. Er war aus dem Gesindehaus zurück zu seinen Eltern geflohen. Und erst ihre entsetzten Augen im Licht einer Kerze hatten ihn darauf hingewiesen, daß ihn viel mehr entstellte als nur das Blut seines Opfers … Verwirrt blickte er sich um. Hob die fellbedeckten Arme. Sah die entmenschten Klauen und Krallen, Pfoten ähnlicher denn Händen … … und fand sich dort wieder, wohin er von seinen Erinnerung gerade verschleppt worden war. Die sengend heiße, nie mehr erloschene Scham! Das träume ich! dachte er. Von irgendwoher drang Blutgeruch in seine Nase. Er zitterte. Er war zu Hause. In dem Zuhause, das er vor sechzig Jahren für immer verloren hatte. Weil seine Gier es zerstörte. Diese unstillbare Gier nach … … rohem Fleisch! Chiyoda sah sich um. Was er hier erlebte, erinnerte ihn an etwas, aber ihm fiel nicht ein, was genau es war. Es war mehr als eine Erinnerung. Als wäre dieser Raum, dieses Haus Realität! Nein, dachte er. Es ist lange her. Seitdem ist so viel passiert. Wirklich? Was war schon »wirklich«? Entschieden nicht rein persönliche Faktoren darüber, wie sich das Gesicht der Wirklichkeit für jeden einzelnen Menschen darstellte? Menschen? Du bist kein Mensch mehr – schon lange nicht mehr! Langsam drehte er sich um die eigene Achse. Nirgends brannte
ein Licht, und trotzdem war es nicht dunkel. Die Fenster … Wo waren die Fenster? Und die Tür … Im ersten Moment glaubte Chiyoda, das Gefühl des Eingesperrtseins nicht ertragen zu können, besonders in diesem Zustand. Aber wenigstens bewies das Fehlen von Wegen aus diesem Haus der Erinnerung, daß es nicht real sein konnte! Sieh dich an! Nimm einen Spiegel und sieh, was aus dir geworden ist! Er zweifelte, daß die drängende Aufforderung aus ihm selbst kam. Aber woher sonst? Schleppend ging er zu der Kommode, an der seine Mutter gesessen und sich frisiert hatte. Bevor er ihr das Haar in Büscheln ausgerissen, bevor er ihre unerträglich schrillen Schreie erstickt hatte. Im ersten Moment sah es aus, als sei das Spiegelglas blind. Doch dann, nach kurzem Zögern, bildete es das Monster ab, das sich vor ihn hingestellt hatte. Das bin ich nicht, dachte Chiyoda. Aber die Lüge hatte keine Überzeugungskraft. Plötzlich tauchte noch eine Gestalt im Spiegel auf. Und noch eine. »Warum?« fragte der Mann, von dem er inzwischen wußte, daß er nicht sein leiblicher Vater gewesen war. »Warum hast du uns das angetan?« fragte auch seine Mutter. Traurig blickten sie auf sein Spiegelbild, aber als er den Kopf wandte, war keiner von ihnen bei ihm. Bei der Bestie, die er geworden war, obwohl – Ich habe alles getan, um mich zu exorzieren! dachte Chiyoda. Ich habe nie verwunden, was aus mir geworden ist. Das Gewicht der Schuld, die ich auf mich geladen habe, hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt. Letztlich half es mir, das Monster in mir zu unterdrücken … Er stockte. Belog er sich nicht schon wieder? Das Spiegelbild zeigte die Bestie, die er überwunden zu haben meinte. Aber letztlich hatte sie nur geschlafen, ihn in Sicherheit gewiegt, und war schließlich wieder aus ihm hervorgebrochen! Und
nicht nur aus ihm – aus allen, die waren wie er! Zitternd hob Chiyoda die Pranken, ballte sie zu Fäusten und preßte sie gegen die Schläfen des Wolfsschädels. Er war sicher, den Verstand verloren zu haben. Kung-futse – dein treuer Schüler fleht dich an: Hilf mir! Doch der Philosoph Konfuzius, der vor zweieinhalbtausend Jahren gelebt und dessen Weisheit sich Chiyoda zu eigen gemacht hatte, um die Kraft zu schöpfen, die seine Geißel ihm abverlangt hatte, blieb, was er immer gewesen war: ein abstraktes Sinnbild. Zu abstrakt, um ihm in dieser Situation Beistand leisten zu können. Chiyodas Fäuste rutschten über die wölfische Physiognomie, öffneten sich, um die Fratze zu bedecken, zu begraben … Da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und fuhr herum. Auf der Lehne eines grobgezimmerten Holzstuhls saß ein mächtiger schwarzer Vogel! Ein Adler, dessen Schnabel sich öffnete und die Worte entließ: »Verzweifle nicht! Ich bin da, um dir zu helfen. Gemeinsam wird es uns gelingen, den Teufelskreis, in dem du gefangen bist, zu durchbrechen. Aber du mußt es selbst wollen!« Chiyoda riß die Hände vom Gesicht weg – so schnell, daß er sich mit den langen Krallen selbst eine blutende Scharte zufügte. »Wer bist du? Ein Adler, der sprechen kann?« Er lachte irre. »Ich bin dein Freund. Und andere Freunde sind bei mir. Sie unterstützen mich. Sie sind entsetzt über das, was Gewalt über dich erlangt hat …« Chiyoda versuchte sich aufrecht hinzustellen. Kerzengerade und beherrscht. Aber das Zittern wollte nicht aufhören; im Gegenteil, es steigerte sich. »Einer wie ich hat keine Freunde! Ich habe Vater und Mutter getötet – und unzählige danach.« »Bis du dich entschieden hast, dem, was dich dazu zwang, Widerstand zu leisten«, erinnerte ihn der Adler mit ruhiger Stimme an et-
was, was er tatsächlich vergessen hatte. »Ich bin … gescheitert. Ich habe wieder getötet! Nach so langer Zeit wieder –« »Denke nicht daran. Auch das warst nicht du. Sieh in den Spiegel. Dort siehst du dich. Dort siehst du, was du wieder sein kannst, wenn du es willst – mit aller Kraft!« »Ich habe es gesehen. Und das will ich nicht sein!« »Ein guter Anfang … Sieh hin!« Obwohl sich alles in ihm sträubte, schaute Chiyoda noch einmal in den Spiegel. Aber diesmal blickte ihm kein Werwolf entgegen, sondern ein weißhaariger Greis, in dessen Augen eine Güte leuchtete, die unfähig war, irgendeinem Geschöpf ein Leid zuzufügen … »DAS BIST DU!« »Nein …« »DOCH!« »Vielleicht war ich es …« Chiyoda wollte den Blick senken, aber das Bild ließ ihn nicht los. Das Bild, das ihn zeigte, wie er sein wollte. Hilflos schluchzend sank er auf die Knie. »Was habe ich getan …?« Er starrte auf seine blutigen Pranken und wünschte, es wären unbefleckte Hände. Der Adler sagte: »Du kennst einen Weg, dem Wolf in dir zu entkommen. Du kennst einen Ort, wo er keine Macht über dich hat!« »Wo?« »Daran mußt du dich selbst erinnern. Denn nur du hast den Schlüssel zu diesen Welten. In eine von ihnen hatte ich mich verirrt, als ich gegen ein ähnliches Scheusal kämpfte …« Chiyoda blinzelte verstört. Der Adler war verschwunden. Wie auch das Haus, in dem er geboren worden und aufgewachsen war. Plötzlich befand er sich in einer Scheune – vor zwei alten Männern, die ihn ernst, aber nicht feindselig betrachteten. Angehörige fremder, ferner Kulturen. Und doch … … Freunde?
Der Werwolf brüllte auf, als hätte ihn eine Lanze durchbohrt. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. In einer stummen Bilderfolge jagten noch einmal die Stationen seines Lebens an ihm vorbei. Erst rasend schnell und zum Ende hin langsamer werdend. Als er sich nach vorn warf, auf die beiden Männer zu, schloß einer von ihnen die Augen, ergab sich in sein Schicksal, während der andere … unscharf zu werden begann! Aber Chiyoda erreichte auch Esben Storm, noch bevor dieser sich auf einen der Pfade seiner Traumzeit zurückziehen konnte. Die Berührung reichte aus, um die beiden zu dem Ort mitzunehmen, von dem der Adler gesprochen hatte. Ein Ort, der ihm den Wolf wie eine dämonische Maske vom Leib wischte …
* Jerusalem, Tage nach der Kelchtaufe »Noch«, hallten Gabriels Worte in Nona nach, »ist Landru nicht tot. Aber er wird sterben. Sobald er Jerusalem an der Seite meiner Kinder erreicht …« Wie versteinert stand sie da. Auch wegen dieser Voraussage. Aber in gleichen Maße, weil sie noch ganz im Bann dessen stand, was Luzifers Inkarnation ihr über den Ursprung der Werwölfe vermittelt hatte! Bis in die Zeit des kretischen Königs Minos, weit vor Christi Geburt, hatte er sie zurückgeführt. * In einer Art Traum, nicht in der Wirklichkeit. Denn der Zeitreise war Gabriel nicht befähigt. Sonst hätte er sich schon vor Jahrhunderten eine für ihn ideale Welt erschaffen. Statt dessen war er gescheitert und besiegt worden. *siehe VAMPIRA T46: »Wolfslegende«
1666 zu London hatten ihm Salvat und seine Illuminaten solchen Schaden zugefügt, seiner damaligen Inkarnation einen solchen Tod bereitet, daß die Macht Luzifers sich erst mühsam davon hatte erholen müssen, ehe es ihr an der Schwelle zum neuen Millenium erstmals wieder gelungen war, sich im Diesseits zu etablieren. In Gestalt des Kindes Gabriel, das anfangs nichts von seiner Natur gewußt hatte. Anfangs. Dieses Handicap war überwunden. Gabriel war sich seiner bewußt geworden. Mit allen Konsequenzen. »Landru …«, echote Nona mit bebender Stimme, »… lebt noch? Aber ich sah ihn sterben! Mit meinen eigenen Augen!« »Augen«, erwiderte der junge Mann, an dem momentan nur die Augen den Teufel dahinter erahnen ließen, »können trügen.« »Worte auch«, versetzte Nona aufgewühlt. »Sogar noch um vieles leichter!« »Was hätte ich davon, wenn ich dich belügen würde?« »Vielleicht willst du mich quälen.« »Meine Heerführerin …? Damit würde ich mir keinen guten Dienst erweisen.« »Du hast mich oft gequält in der Vergangenheit. Und in Paris wäre ich sogar beinahe von Landru getötet worden, nur um deinen Spieltrieb – oder was auch immer – zu befriedigen!« »Ich wollte deine Fähigkeiten testen – ebenso wie die deines Geliebten.« »Fast hätten wir uns gegenseitig umgebracht. Wärst du rechtzeitig eingeschritten?« Gabriel schüttelte in täuschend menschlicher Manier den Kopf. »Nein. Warum?« fragte er unschuldig. »Du bist wirklich der Teufel!« »Das will ich hoffen …« Gelassen trat er auf Nona zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Berührung war unangenehmer als
alles, was die Wolfsfrau je an sich herangelassen hatte. Dennoch war sie nicht imstande, die Distanz wiederherzustellen. Reglos stand sie da. Ihre Brust hob und senkte sich. Sie war fast einen Kopf kleiner als die zwischenzeitlich auch äußerlich fast erwachsen gewordene Ausgeburt des Satans. »Beweise mir, daß Landru noch lebt!« forderte sie. »Das ist nicht nötig. Er wird es dir selbst beweisen. Er wird bald eintreffen, wie ich es bereits sagte: mit meinen Kindern.« »Du hast … Kinder?« Gabriel lächelte. »Besondere Kinder. Du bist ihnen schon einmal begegnet. Aber du würdest sie nicht wiedererkennen. Sie entsprechen auch nicht dem geltenden Schönheitsideal.« »Kinder, deren Vater du bist, könnten noch so schön sein, ihr Wesen würde sie als das entlarven, was sie wirklich sind. – Wo soll ich ihnen schon einmal begegnet sein?« »Das spielt keine Rolle. Du bist eine kluge Frau. Ich habe gut gewählt.« Er wußte, wie er sie treffen konnte. Die Gefühle derer zu manipulieren, mit denen er sich umgab, beherrschte er virtuos. »Gut gewählt? Ich werde alles tun, um deine Pläne zu vereiteln!« »Das kannst du nicht. Und da du klug bist, weißt du das bereits …« Nona kniff die Lippen zusammen. Dann trat sie ans Fenster des Hauses, das einem Juden namens Jeb Holski gehört hatte und schräg gegenüber dem Gemüseladen Gershom Chaims gelegen war. »Wenn du so klug bist, wie du gerne tust, weißt du wohl längst, wer sich dort drüben eingenistet hat?« »Lilith Eden und der ›Hohe Mann‹ Anum.« Bis auf die kleine Spitze gegen Anum war Gabriels Ton fast beiläufig. »Okay, du weißt es also. Dann könnte wahr sein, was du über Landru sagst – obwohl ich sah, wie Lilith ihn pfählte.«
»Sie pfählte nicht Landru, sondern ein Ding, das glaubte, er zu sein.« »Ein … Ding?« Nona fröstelte. »Du kennst es vielleicht als Genvampir. Ich formte ihn nach Landrus Ebenbild und pflanzte ihm eine Kopie dessen Bewußtseins ein. Er mußte daran glauben, er wäre tatsächlich Landru, um überzeugend zu sterben. Du verstehst?« »Nicht das geringste.« »Die Details sind nicht wichtig. Sobald du dem echten Landru gegenüber stehst, wirst du keine Zweifel mehr haben, daß ich die Wahrheit sage.« Nona schüttelte ihre Erstarrung ab. »Du sagtest vorhin, er würde sein Leben verlieren, sobald er Jerusalem erreicht. Trachtest du ihm danach?« Gabriel lächelte wie ein dekadenter Milliardärssohn. »Sein Tod hätte keinen Nutzen für mich – zur Zeit jedenfalls. Aber er wartet tatsächlich hier in Jerusalem auf ihn. Und du wirst Landru zeigen, wo.« »Ich?« Gabriel nickte so überzeugt, wie jemand nur von einer Sache sein konnte. »Erinnere dich: Weshalb bist du ursprünglich in diese Stadt gekommen – als du noch nicht wußtest, daß ich dich ohnehin hierher gerufen hätte?« »Um Landrus Tod zu verhindern«, sagte Nona. »Mein alter Mentor Chiyoda hat mich die Vision einer Welt erleben lassen, in der Anum regiert. Eine schreckliche, düstere Welt ohne Hoffnung –« »War Landru dort noch am Leben?« »Das war er. Aber er war seinem Bruder im Streit um den ›Thron‹ unterlegen.« »Eine glaubhafte Entwicklung«, sagte Gabriel. »Bis auf eine Kleinigkeit.« »Welche?«
»Sollte es zu einem Kampf der Brüder kommen, und davon gehe ich aus, wird der Unterlegene ganz gewiß keine Gnade unter den Augen des Siegers finden.« »Du meinst, Landru würde Anum töten?« Gabriel stutzte kurz, als müßte er erst überlegen, ob Nona tatsächlich so naiv sein konnte. Dann erwiderte er ungehalten: »Blödsinn!« Und Nona begriff.
* Zur gleichen Zeit, mitten in der Negev-Steppe In dem klapprigen alten Bus, der entlang einer kaum sichtbaren Überlandpiste gen Sedom rumpelte, war es brütend heiß. Die hinter dem Steuer sitzende Gestalt hatte die Kapuze ihrer Kutte dennoch über den Kopf gestülpt, so daß ein Schatten über das bleiche Gesicht geworfen wurde, in dem zwei Kohlen düsterrot zu glimmen schienen. Von den anderen elf Kuttenträgern hatte nur einer die Kapuze zurückgeschoben und gestattete dem Sonnenlicht, auf sein Gesicht zu fallen. Es war zugleich der untypischste der Archonten, neben dem Landru Platz genommen hatte. Eine Frau. Ihr Name war Jada, und nach vielen Jahren – Jahrhunderten –, die sie von ihren Stiefbrüdern und -schwestern getrennt gewesen war, hatte sie Anstrengungen unternommen, ihr Äußeres dem normaler Menschen anzugleichen. Seither sproß Haar auf ihrem Haupt und war ihre Haut nicht mehr so totenweiß wie die der anderen Albinos. Für den Uneingeweihten sah sie tatsächlich aus wie eine nicht unhübsche, brünette Frau Anfang Dreißig. Nur die Kontaktlinsen, die das stechende Rot ihrer Augen verhüllt hatten, hatte sie bei der Wiederbegegnung mit den anderen Archonten abgelegt. Aus Scham? Landru bezweifelte, daß Jada ihm auf eine entsprechende Frage
geantwortet hätte. Gespannt erwartete er ihre Ankunft in Jerusalem, wohin er die »Kinder Satans« in Gabriels Auftrag führen sollte, nachdem er sie aus ihrem Verlies im Weißen Tempel von Uruk befreit hatte. Alle bis auf Jada, mit der er schon in der Feste Ophit zusammengetroffen war …* »Was meinst du?« wandte sich Landru der Frau zu, die wie die anderen Insassen des Busses im zarten Kindesalter gestorben, dann aber vom leibhaftigen Satan aus ihrem Grab gestohlen und wiedererweckt worden war. Um ihm zu dienen. Der Teufel machte keine Geschenke. Er gab, um selbst wieder nehmen zu können. Alles bei ihm hatte einen Preis, den auch die Archonten irgendwann, vielleicht schon bald, abgelten würden. Landru wußte dies aus leidvoller eigener Erfahrung. Denn auch er hatte sich zu einem Pakt mit Gabriel hinreißen lassen, um seine in der Hölle verlorene Erinnerung zurückzuerhalten. Und es hatte lange gedauert, bis der Teufel ihn überhaupt hatte wissen lassen, welche Gegenleistung er von dem ehemaligen Hüter der Vampire, den er im Zentrum des wahren Stonehenge zu seinem »Ritter« geschlagen hatte, erwartete. Die Befreiung der Archonten war es gewesen. Damit, dachte Landru, den Blick an Jada vorbei in die kahle Steppe gerichtet, habe ich meine Schuld abgetragen. Aber bin ich auch wieder frei? »Nebel kommt auf.« Im ersten Moment hielt er den Ruf des Fahrers für einen dummen Scherz. Doch fast zeitgleich seufzte Jada verklärt, krallte ihre Finger in die Lehne des Vordersitzes und begann wie Espenlaub zu zittern. Bevor Landru sie zur Rede stellen konnte, bemerkte er, daß sämtliche Archonten ähnliche Symptome zeigten. Und dann verschwand der Bus auch schon in der widernatürlichen Nebelbank, die in glühender Sonne aufgetaucht war, in einer Landschaft, die kaum genug *siehe VAMPIRA T45: »Die Zusammenkunft«
Feuchtigkeit besaß, um die Gräser, die den Boden wie schütteres Haar bedeckten, am Leben zu erhalten! Von Anfang an war klar, daß es sich um ein magisches Phänomen handelte. Und so war Landru wenig überrascht, als aus dem wabernden Weiß heraus, das die Buskabine wie Rauch füllte und an den Körpern der Archonten wie mit Zungen hochleckte, die vertraute Stimme Gabriels wisperte: »Du hast es also geschafft. Aber ich habe auch nie daran gezweifelt.« Ich schon, dachte Landru, als Gabriel ihn indirekt daran erinnerte, daß das entartete Siegel im Weißen Tempel ihn beinahe umgebracht hätte. Und während der Bus weiter das wabernde Weiß durchpflügte, erreichte Landru ein Ruf aus anderem Mund: »Geliebter!« »Nona?« »Liebe muß etwas Wunderbares sein«, raunzte Gabriel. »Zeit, euch wieder zusammenzubringen.« Dann fühlte sich Landru von einer Titanenfaust erfaßt – ZZZUUUWWW! –, und die tagelange Reise durch Hitze und Staub hatte ihr abruptes Ende gefunden. »Wo bin ich?« fragte er ins Halbdunkel eines Zimmers hinein, in dem es nach Fäulnis und Verwesung stank. »In Jerusalem«, sagte Nona, ehe sie ihm völlig aufgelöst in die Arme fiel. »Nah bei deinen Mördern …« Und dann berichtete sie Dinge, die Landrus Erleichterung, der Gesellschaft der Albinos entrückt zu sein, rasch und nachhaltig wieder dämpfte.
* Lilith fand kaum noch Schlaf in dem Haus, in dem sie zwei Kinder für ein sinnloses Experiment geopfert hatte. Rahel erinnerte sie täglich an das Unverzeihliche. Denn selbst im
Tod prägte das Mädchen weiterhin das Leben, das Lilith seit der mißglückten Taufe an Anums Seite führte. Rahel lag nicht mehr an derselben Stelle, an der sie nach dem Bluttrunk hingesunken war. Aber im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie immer noch da. Anum hatte sie auf ein Sofa gebettet, wo sie wie schlafend lag. Aber ihr Herz schlug definitiv nicht mehr! Wie konnte Anum glauben, daß sich daran noch einmal etwas ändern würde – nach einer knappen Woche? Manchmal durchstreifte Lilith stundenlang das Haus der Chaims, nur um nicht den Raum betreten zu müssen, in dem Anum die Totenwache hielt. Das tat er tatsächlich: Er saß neben Rahel auf dem Sofa und war keinem Argument zugänglich, mit dem Lilith ihn von der Sinnlosigkeit seiner Geduldsprobe überzeugen wollte. Sie selbst wäre lieber heute als morgen vom Ort ihres Verbrechens geflohen. Meinetwegen nach New York, ganz egal wohin, nur weg, dachte sie. Seitdem Anum sie überraschend nach der amerikanischen Metropole befragt hatte, war die Sprache nicht mehr darauf zurückgebracht worden. Nicht einmal, was ihn so sehr an dem Stadtmoloch interessierte, hatte Anum preisgegeben. Irgendwann schien er etwas über New York als Schmelztiegel unterschiedlicher Nationalitäten aufgeschnappt zu haben, vielleicht als er losgezogen war, um den damals noch verlorenen Lilienkelch zurückzuerringen – mit Erfolg … »Warum weichst du mir aus?« Seine Stimme faszinierte noch genauso wie beim erstenmal. »Tue ich das?« Sie drehte sich nicht um. Sie stand vor einer Kommode, die mit Aufstellbilderrahmen und kitschigen Figürchen überhäuft war. Die Bilder zeigten die Chaims: Vater, Mutter, Großeltern, Kinder und andere Verwandte. Ich und meinesgleichen haben sie ausgelöscht, war der Hauptgedanke,
der sie beschlich, wenn sie in die Gesichter derer schaute, die zum Zeitpunkt der Aufnahmen nicht in ihren schrecklichsten Träumen hatten ahnen können, was ihnen einmal widerfahren würde. Niemand konnte ihr diese Gedanken nehmen. Auch der nicht, der jetzt sagte: »Ja!« Lilith zögerte kurz, dann nahm sie eines der Bilder – es zeigte David – und ging damit Anum entgegen. Er stand in der Tür des ehemaligen Schlafzimmers von Gershom und Rebecca Chaim. Als Lilith ihm den Rahmen in die Hand drücken wollte, wehrte er ab. »Was soll das?« Lilith nickte. »Ich bin froh, daß es dich nicht völlig kalt läßt …« Während sie diese Feststellung traf, zwang sie sich, nicht an andere mögliche Erklärungen für seine brüske Reaktion zu denken als an die, die sie glauben wollte. »Und so wie dir geht es mir mit allem hier. Jede Kleinigkeit, selbst die Luft, die ich atme, erinnert mich mit ihrem Geruch an das, was wir getan haben! Wie lange sollen wir noch hier ausharren? Ich will nicht mehr – hörst du? Ich will hier weg! Es gibt Millionen Orte auf diesem Planeten, die ich leichter ertragen könnte …« Ruhig sah er sie an. »Du kannst gehen«, sagte er. »Aber dann mußt du ohne mich gehen. Vielleicht ist es sogar das Beste. Vereinbaren wir einen Treffpunkt. Ich werde zum ausgemachten Zeitpunkt dort sein …« Lilith stellte das Bild auf seinen angestammten Platz zurück. Sie hätte es überall hinstellen können. Wahrscheinlich gab es niemanden mehr, der den Unterschied bemerkt hätte. »Du glaubst nicht im Ernst, daß sie sich noch einmal erheben könnte – nach so vielen Tagen?« »Doch.« »Das ist absurd!« »Genau wie der Umstand, daß ihr Körper keinerlei Zerfall zeigt?« Lilith schluckte. Es stimmte: Rahels Körper verweste nicht, jeden-
falls noch nicht. Das war zweifellos untypisch und entsprach nicht der Norm. Aber was ihrem Bruder widerfahren war, entsprach dieser »Norm« noch viel weniger! Darauf konnte sich Anums Wundergläubigkeit wahrhaftig nicht berufen! »Du verrennst dich in ein Hirngespinst, das nicht eintreten wird – weder heute noch in ferner Zukunft! Vielleicht willst du auch nur von deiner Schuld ablenken.« »Ich leide nicht unter Schuldgefühlen. Du hast gesehen und gefühlt, was ich gesehen und gefühlt habe: im Kelch. Hat es dich nicht ebenso überzeugt wie mich? Gib es zu!« Lilith nickte. »Aber ich bereue es.« »Reue!« Arnim schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Wo willst du hin?« »Zu unserem Kind! Oder soll es allein sein, wenn es die Augen aufschlägt?« Lilith griff sich an die Kehle. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen.
* »Vater!« Als der Nebel sich um die Archonten lichtete, war der Bus verschwunden. Sie standen inmitten der Jerusalemer Altstadt, umgeben von strömenden Menschenmassen, die Gabriel um sie »herumleitete« – ohne daß die Passanten davon etwas merkten. »Meine Kinder …« Jovial lächelnd drehte sich der Mann, der höchstens halb so alt wie seine »Kinder« aussah, langsam in dem Kreis, den er mit ihnen um sich her gebildet hatte. Eigentlich hätten sie sich um ihn drehen müssen. Denn Archonten bedeutete »Planeten«. Ihr ganzes Dasein dreht sich um mich, dachte Gabriel. Sie haben keinen anderen Lebenszweck, als die bevorstehende Schlacht zu entscheiden.
Einem jeden der Geschöpfe, die nie begriffen hatten, warum sie dem sicheren Grab noch einmal entrissen worden waren, blickte Gabriel eindringlich in die Augen. »Wir waren lange getrennt«, sagte er, und auch seine Stimme blieb in dem intimen Kreis, den sie markierten. »Ein Abgrund aus Zeit war zwischen uns. Nun sind wir wieder vereint. Nun können wir für das gemeinsame Ziel eintreten!« »Wie lautet das Ziel, Vater?« Aus zwölf Mündern gleichzeitig kam die Frage. Der Chor ließ auch Gabriel nicht unbeeindruckt. »Ihr werdet es rechtzeitig erfahren. Vorher aber müßt ihr lernen, mit der wichtigsten Gabe umzugehen, die in euch schlummert. Und die noch nie zum Tragen kam.« Die Gegenwart Satans, der sie einst tot in ein Haus in Perpignan gebracht und ihnen dort neues Leben eingehaucht hatte, lähmte die Archonten keineswegs. In ihrem Innern schäumten die Gefühle über. Andere Gefühle, als ein Mensch, der nie gestorben war, sie je hätte entwickeln können, aber dennoch mächtig in ihrem Einfluß auf die Hülle, in der sie tobten. Zitternd umstanden sie ihren Erwecker, der dies nicht als Zeichen von Schwäche wertete. Denn er kannte sie besser als sie sich selbst. »Was ist das für eine Gabe, Vater?« »Das werdet ihr erkennen, wenn ich sie in euch erwecke. Jetzt geht …« Aus Gabriels Augen fuhren Blitze. Und als würde der Blick der Archonten diese Blitze anziehen, schlugen sie in deren rote Pupillen ein, schürten die Glut für die Dauer eines ihrer Herzschläge … … und verblaßten dann wieder, als wäre nichts geschehen. Mit einem Unterschied: Die Archonten kannten nun die Plätze, zu denen sie sich begeben mußten, um den Willen ihres »Vaters« zu erfüllen. Um das ihre zu tun, damit die uralte Heiligkeit dieser Stadt hin-
weggefegt und Jerusalem in den verlorensten Ort des ganzen Planeten verwandelt werden konnte. Rund zweitausend Jahre, nachdem dies schon einmal geschehen war …
* Lilith versuchte sich auf den Geschmack des Blutes zu konzentrieren, das durch ihre Kehle rann. Ihre Augzähne hatten die Schlagader der Frau angestochen, die Anum von der Straße weg ins Haus befohlen hatte. Denn was seinen Durst anging, unterschied der Hohe Mann sich wenig von jedem gewöhnlichen Vampir, der die Heimsuchung der magischen Seuche überdauert hatte, welche die Alte Rasse fast ausgerottet hatte. Nur noch wenige Oberhäupter existierten, so hatte Anum es berichtet. Wie es aber zum Sterben der Sippen hatte kommen können, darüber konnte nur spekuliert werden. Niemand schien Genaues zu wissen, auch die Überlebenden nicht. Lilith ahnte, daß es mit ihr zu tun haben konnte. Mit dem, was sie getan hatte, nachdem sie mit der Agrippa in den Korridor der Zeit bei Uruk gegangen war. Hier endete alle Geschichtsschreibung der EWIGEN CHRONIK. Und Beth’ Erinnerung. Lilith löste den Mund von der Wunde am Hals der Frau, die mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag, das einmal David gehört hatte. Sie merkte nicht, was ihr angetan wurde. Ihr Zustand kam einer Vollnarkose gleich. Lilith beneidete sie fast darum. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein magisches Enzym, das über ihren Speichel in den Körper des Opfers gelangt war, verschloß die Wunde am Hals. Auf Dauer würde das nicht genügen. Die Frau muß essen und trinken, um sich vom Verlust zu erholen, dachte Lilith. Ihr Blick fand den Mann, der mit angezogenen Knien am Fußende des Bettes hockte
und abwesend vor sich hinstierte. Er war zusammen mit der Frau ins Haus gekommen, aber sein Blut verschmähten sowohl Anum als auch Lilith. Er war alt, es konnte nicht munden. Sein Name war Jeb Holski. Offenbar war er verwandt mit den Chaims und hatte nach dem Rechten sehen wollen. Warum sie ihn hierbehielten, statt ihn mit gefälschter Erinnerung wieder nach Hause zu schicken, wußte Lilith selbst nicht. Vielleicht würden sie ihn mit der Frau zusammen wieder fortschicken … In diesem Augenblick hörte sie Anum ihren Namen schreien. Er klang nicht einfach nur aufgeregt, sondern völlig außer sich. Und während Lilith mit schnellen Schritten der Wohnstube entgegeneilte, ahnte sie noch nicht, daß die relative Ruhe und Ereignislosigkeit der letzten Tage mit diesem Schrei ihr ebenso jähes wie unwiderrufliches Ende gefunden hatte. Mit unabsehbaren Folgen für sie und Anum …
* »Mach die Augen auf! Sieh mich an! Komm schon, es ist ganz leicht …!« Im nachhinein gestand sich Anum ein, daß er die Zuversicht, die er Lilith gegenüber demonstriert hatte, selbst nicht unbedingt empfunden hatte. Doch was zählte das noch? Schwache Atemzüge hoben und senkten Rahels Brustkorb. Und vor Sekunden hatte er mit eigener Hand den Schlag ihres Herzens erfühlt … Es war geschehen! Von einem Moment auf den anderen war das Räderwerk im Körper des Mädchen wieder in Bewegung geraten. Anum war sofort aufgesprungen und hatte den Lilienkelch geholt. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wollte er verhindern,
daß Rahel sich in ähnlicher Weise »verflüchtigte« wie ihr Bruder. Vielleicht, wenn er ein Feld aus Kelchmagie um sie legte … »Was ist? Warum hast du so geschrien?« Hinter sich hörte er Lilith eintreten. »Warum?« Er lachte laut und ungestüm. Dann wies er mit dem Kelch in seiner Faust auf Rahel und sagte in einem Ton, als wollte er das Mädchen damit gleichzeitig ermuntern, es tatsächlich zu tun: »Sie erwacht!« Lilith glaubte ihm nicht. Natürlich nicht. Aber sie kam näher und sah mit eigenen Augen, wie sich die Lungen der vormals Toten mit Atem füllten und ihn wieder aus sich entließen. Ein, aus. Ein, aus … »Großer Gott!« Anum verzieh Liliths Entgleisung. Rahels Augen waren immer noch geschlossen. Die Lider flatterten nicht einmal. Den Kelch noch nicht in Anspruch nehmend, faßte Anum das Mädchen am Arm und schüttelte es sanft. Keine Reaktion. »Es wird nicht halten«, flüsterte Lilith wie in einer Gegenbeschwörung. Sie will es gar nicht, erkannte Anum, der begriff, was sie mit ihren Worten zum Ausdruck bringen wollte. »Es wird«, sagte er und legte den Lilienkelch sacht auf die Mitte der Kinderbrust. »Ich werde nicht zulassen, daß sie –« Ein Geräusch, das sich anhörte, als würden in unmittelbarer Nähe zwei Autos mit hohem Tempo zusammenstoßen und unter dem Aufprall in ihre Bestandteile aufgelöst, riß ihm das Wort von den Lippen. Von der Wohnstube aus konnte man sowohl zur Straße als auch zum Hinterhof blicken. Zu beiden Seiten gab es Fenster. Fenster, die Anum mit seiner Magie verschlossen hielt, so daß kein Mensch in
der Lage war, sich unbefugt zu entfernen. Und eines dieser speziell gesicherten Fenster, die zum Hof zeigten, zerbarst in diesem Moment. Für die Betrachter im Haus sah es aus, als würde sich das Loch zeitlupenhaft, von einem winzigen Punkt ausgehend, erweitern, bis es das ganze Fenster und noch einen Teil der Wand verschluckt hatte. Als hätte jemand ein Streichholz gegen hauchdünne, straff gespannte Plastikfolie gedrückt, dachte Lilith. Und noch während sie es dachte, noch während sie und Anum auf den immer größer klaffenden Krater in der Wand starrten, huschte ein Toter zu ihnen herein. Einer, der nicht mehr existieren konnte, weil Anum dessen gepfählten Leichnam mit magischem Feuer eingeäschert hatte. Landru …?
* »Kompliment, Bruder. Du lebst also noch. Jetzt mußt du mir nur noch sagen, wie du mich … uns so zum Narren halten konntest!« Anum hatte sich wie schützend vor ein Kind gestellt, das auf einem Sofa in der Mitte des Raumes schlief. Lilith Eden stand etwas abseits. Landru, der keine Sekunde brauchte, um sich zu orientieren, lachte auf. Mit der magischen Explosion, die ihm Zutritt ins Haus der Chaims verschafft hatte, war er selbst buchstäblich ins Innere gesogen worden. Und dicht hinter ihm folgte Nona mit katzenhaftem Geschick. Die Fassade mit ihren Vorsprüngen und Simsen hatte ihr genügend Halt geboten, sie zu erklimmen. »Dich wiederzusehen«, versetzte Landru, »habe ich mir gewünscht, seit mir Mutters Blut die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit zurückgab. Und nun stehe ich dir gegenüber und erblicke
meinen schlimmsten Feind – schlimmer noch als das Kind der Hure Creanna.« Er wies auf Lilith, die sich noch nicht von der Stelle gerührt hatte. Seine Stimme klirrte wie Eiswürfel in einem Glas. »Was meinst du mit ›Mutters Blut‹?« fragte Anum. »Für Erklärungen ist es zu spät, fürchte ich.« »Schade.« »Paß auf!« zischte Nona, die gerade durch das Loch stieg, das aussah, als hätte eine Granate es gerissen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lilith auf ihn zu kam. Da hob Anum die Hand und stoppte sie. »Bleib stehen – diesmal geht es nur ihn und mich an!« Trotz der Bestimmtheit, mit der er sprach, wirkte er nervös. Warum? Landru glaubte nicht, daß sein Bruder ihn fürchtete. Denn Anum war sich wieder der vollen Machtfülle bewußt, die er schon vor Jahrtausenden als einer von zwanzig gottgleichen Herrschern über das Zweistromland besessen hatte. Aber ich habe etwas, das er nie besitzen wird, redete sich Landru Mut zu. Gabriels Macht, die nichts mit der Magie der Hüter zu tun hat … »Diesmal … Das hast du nett ausgedrückt.« Landru trat Anum entgegen. »Es kann dich nicht sehr viel Überwindung gekostet haben, mein Ebenbild zu töten!« »Er war perfekt«, zollte Anum eine bitter schmeckende Art von Hochachtung. »Ich nehme an, du willst uns nicht erklären, wie dir das gelungen ist?« »Ich trug das Wenigste dazu bei.« »Nicht ich habe dich getötet.« Warum sagte er das? Um eine Tat zu entschuldigen, die nicht entschuldbar war? »Gib dir keine Mühe. Du hast gewiß auch nicht versucht, es zu verhindern. Oder war die Kreatur, die du als Wächter im Dunklen Dom hinterlassen hast, etwa nicht auf mich abgerichtet wie ein Bluthund? Hast du ihr nicht gesagt, ich hätte mein Leben verwirkt und
auch das Recht, die Blutbibel vom Grund des Säuresees zu bergen?« Anum wiegte den Kopf. »Du warst also dort …« »Ich war dort, und du kannst dir jede weitere Lüge ersparen!« Landru machte eine kurze Pause, ehe er Nona zunickte und dann an die Adresse seines Bruder sagte: »Selbst wenn wir noch keine unerbittlichen Gegner gewesen wären – seit heute wären wir es!« »Seit heute? Warum?« Landru spürte, daß die Antwort Anum nicht ehrlich interessierte. Der Bruder belauerte ihn, wartete auf das geringste Zeichen einer Unachtsamkeit. »Weil ich heute von deinen Plänen erfahren habe. Von dem Alptraum, den du die ›Hohe Zeit‹ nennst.« »Alptraum? Es sollte die Krönung all unserer Anstrengungen werden! Schon unsere Mutter hat –« »Mutter lag im Sterben, als ich sie zurückließ!« fuhr Landru in seine Rede. »Und willst du wissen, wer die Opferschlange in ihr Herz bohrte?« »In ihr Herz bohrte? Du …?« Anums Stimme war nurmehr ein Hauch. »Es schmeckte schal, ihr Herzblut …« Das genügte. Mit einem Schrei, der Landrus Ohren betäubte, warf sich ihm Anum entgegen. Zwei Mächtige prallten aufeinander – mit einer Inbrunst, als ginge es gar nicht darum, einen Sieger zu bestimmen, sondern gemeinsam in den Untergang zu taumeln …
* Die Ausläufer der Energien, die im Kampf der Giganten freigesetzt wurden, trieben Lilith bis auf den Gang zurück, über den man auch zur Treppe gelangte, die ins Untergeschoß führte. Als entlade sich ein Unwetter auf allerengstem Raum, flammte es in der Stube der
Chaims auf. Die ersten Sekunden verschwendete Lilith keinen Gedanken an Rahel. Nur an Anum. Wie wichtig er ihr war – immer noch war – wurde ihr klar, als sie um seine Existenz fürchten mußte. Wenn Landru ihn besiegte, würde das auch den Todesstoß für sie selbst bedeuten! Wenn Anum starb, gab es nichts mehr, wofür sich zu leben lohnte! Sie schauderte. War das wirklich sie, die das dachte? Im Aufblitzen der Gewalten war kaum etwas vom eigentlichen Kampf zu erkennen, der sich im Zimmer abspielte. Zwei Schemen rangen eng miteinander verschlungen. Von Rahel oder Nona war nicht das Mindeste mehr zu erkennen. Er darf nicht sterben, dachte Lilith. In diesem Moment hätte sie sogar Rahel, deren Herz gerade erst wieder zu pochen begonnen hatte, für Anums Überleben hergegeben! In diesem Moment war nichts schrecklicher und bestimmender in ihrem Denken als die Angst um den Mann, von dem sie wußte, daß er sie auch künftig immer wieder zu Handlungen verführen würde, die jene andere Lilith – die aus der CHRONIK – nie und nimmer über sich gebracht hätte. Aber diese Lilith ist tot. Ich lebe! Ich bin anders! Ich WILL an seiner Seite leben! Lilith wußte nicht, wie lange sie in das Flackern und Aufblitzen gestarrt hatte, als es allmählich schwächer wurde und schließlich erlosch. Voller böser Vorahnungen trat sie in die Stube zurück, in der … … Anum über Landru kniete wie ein Jäger vor seiner Trophäe! Der Hohe Mann hielt den purpurleuchtenden Lilienkelch in seiner Hand, den er bei Landrus Erscheinen zwischen sich und Rahel auf
dem Boden abgestellt hatte. Wenn ihm der Sieg über den Bruder nicht aus eigener Kraft gelungen war, dann hatte dieses magische Kleinod den Ausschlag gegeben … »Anum …!« Er drehte halb das Gesicht zu Lilith und sagte: »Diesmal ist es der Richtige – sei unbesorgt.« Landru lebte noch, blickte aber mit trüben Augen zu ihm empor; Augen, in denen kaum noch ein Bewußtsein zu glimmen schien. Der Kampf, über dessen Härte und Ablauf nur die beiden Kontrahenten hätten Auskunft geben können, mußte ihn völlig ausgehöhlt haben. »Du hast dir einen schnellen Tod verdient«, sagte Anum und holte mit dem Kelch aus, als wollte er Landru damit den Schädel zertrümmern. »Neeeiinnn!« brüllte es aus der Ecke, und Lilith sah, wie Nona sich hinter einem umgestürzten Tisch aufrappelte. Anum ließ sich nicht beirren. Der einzigartige Pokal fuhr herab –
* ZZZUUUWWW! Das Geräusch fraß sich förmlich in Liliths Hirn. Fassungslosigkeit malte eine Grimasse auf ihre Züge. Alles ging so schnell. Zu schnell, um auch nur in Gedanken einzuschreiten … Gabriel tauchte vor den beiden verfeindeten Brüdern auf – und trennte Anums Haupt mit bloßer Hand vom Rumpf! Der Schädel wirbelte durch die Luft, wurde von des Teufels Hand aufgefangen. Noch einmal klang das Geräusch auf, und Gabriel war verschwunden. Der ganze Vorgang hatte kaum den Zeitraum eines Blinzelns gedauert. Lilith stand wie zur Salzsäule erstarrt, während Landru den Torso
von sich stieß, dessen Linke immer noch den Lilienkelch umklammert hielt. Es schepperte, als das Unheiligtum mit dem Enthaupteten zu Boden stürzte. »Landru!« Der Schrei kam aus zwei Kehlen; der eine restlos erleichtert – Nona –, der andere verzweifelt und haßerfüllt! Liliths Blick fiel auf das leere Sofa, wo Rahel gelegen hatte. Das Mädchen war verschwunden. Entweder war sie dem Kampf der Titanen zum Opfer gefallen, oder sie war denselben Weg gegangen wie ihr Bruder … Gabriel kehrte zurück. Ohne den Kopf, den er im Handstreich entführt hatte. »Du – Monster!« fuhr Lilith ihn an. »Wenn es dir gefällt …« Gabriel gab sich unbeeindruckt. Und absolut furchtlos. Landru und Nona gönnte er keinen Blick. In diesem Moment schien nur Lilith für ihn zu existieren. »Ich habe dir etwas genommen, was dir ohnehin nur ein Klotz am Bein gewesen wäre«, sagte er, »und dafür etwas mitgebracht, was du schon lange wiederhaben wolltest, wenn ich mich nicht täusche.« Lilith wollte sich auf ihn stürzen, ihm dasselbe antun, was er ihrer großen Liebe angetan hatte! Da züngelte ein Blitz aus Gabriels Augen – und in Liliths Pupillen. Etwas fuhr in sie, das sie noch vehementer traf als der Moment, in dem ihr Anums unabänderlicher Tod bewußt geworden war! Sie – – ERWACHTE. Aus einem Traum, der vor Monaten begonnen hatte. Und der real gewesen war, bis die neue Realität ihn ausradierte! »Ich …« Mit Abscheu starrte sie auf Anums Torso, nicht begreifend, wie sie diesem Ungeheuer hatte hörig sein können. »Ich sehe, du hast mein Geschenk angenommen …«
Gabriel verschwand, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Er überließ die Situation scheinbar sich selbst. Lilith blieb zurück mit dem geschwächten, aber noch lebenden Landru – und mit Nona. »Warum ist los mit dir?« blaffte die Werwölfin, während sie zu Landru eilte. Ich erinnere mich, dachte Lilith, ehe auch sie sich dem Feind zuwandte, der ihr geblieben war. Ich erinnere mich an alles. Auch meiner selbst! Sie schwankte kurz. Warum Gabriel ihr die hinter dem Höllentor zurückgelassene Persönlichkeit zurückgegeben hatte, so beiläufig, wie man einem Bettler am Straßenrand eine Münze in den Hut wirft, wußte sie nicht. Aber nichts in den vergangenen Monaten hatte sie mehr angespornt als dieses »Geschenk«! Sie wußte wieder, welchen Auftrag sie von Gott am Anfang der Zeit erhalten hatte. Sie wußte, daß sie die letzten Vampire töten sollte. Und Landru war der Vampir, der ihr in diesem Augenblick am nächsten stand – ganz, ganz nahe … und erbärmlich in seiner Schwäche …
* Wie betäubt lag Landru auch noch da, nachdem ihm Nona zu Hilfe geeilt war. Betäubt weniger vom Kampf, in dem er unterlegen und doch durch Satans Eingreifen am Ende als Sieger hervorgegangen war, sondern betäubt von einem kurzen, überaus flüchtigen und doch unvergeßlichen Moment während des Kampfes. Als er im Toben der Kräfte, mit denen Anum und er gewütet hatten, zu dem Mädchen hingesehen hatte, das wie schlafend auf der Couch lag. Und das in diesem Moment die Augen geöffnet hatte.
Diese Augen hatten Landru in einer Weise angesehen, als wollten sie ihm alles vergeben, was er … je an Gutem getan hatte! Ihn grauste. Und er dachte an die fernen Jahre, da er nach einem Kind wie diesem gesucht hatte, einem Kind, das … Nein! Unmöglich! Wie sollte Anum den Messias der Vampire gefunden haben? Ich muß mich irren! Lilith Eden zog Landrus Aufmerksamkeit auf sich. Er hörte auf, über das Mädchen nachzudenken. Wie eine Furie stürmte die Todfeindin auf ihn zu. Nona, die sich schützend vor ihren Geliebten zu drängen versuchte, beachtete sie überhaupt nicht. Mit einem wütenden Schlag ihres Arms fegte Lilith die Wolfsfrau beiseite. Nona taumelte haltlos gegen eine Wand. »Stirb endlich, Bastard!« Eisige Kälte ließ Liliths Stimme klirren. »Stirb durch meine Hand – und bezahle mit deinem Tod für alles, was du mir und dieser Welt angetan hast!« Noch ehe ihr Schrei verklang, sollte auch der letzte der blutdürstigen Götzen vom Antlitz der Erde getilgt sein …! EPILOG Sie fand die Stelle traumhaft sicher wieder. Sacht tauchte ihre Hand in den hohen Staub, der hier in der Dunkelheit wie zerstoßene Knochen schimmerte. Rahel bekam den Beutel zu fassen, öffnete ihn und legte die beiden Silberlinge, die sie vor Tagen daraus entnommen hatte, wieder zu den anderen zurück. Dreißig Silberlinge insgesamt waren es … Mit einem rätselhaften Lächeln, das ihre spitzen Eckzähne entblößte, vergrub sie den Judas-Schatz wieder. Er hatte aufgehört, zu ihr zu sprechen. Als sie ihn gefunden hatte, war das anders gewesen. Doch der Akt, dem Rahel unterzogen worden war, hatte sie für solche Stim-
men taub gemacht. Sie hörte jetzt andere. »Vater … Mutter …« Fast feierlich ging sie zu den beiden Leichen hinüber, die noch niemand fortgetragen hatte, auch nach Tagen nicht. Hier herab fand selten jemand den Weg. Von den Sterblichen nur alle paar Jahrhunderte einer … Rahels Eltern lagen mit ihren verdrehten Hälsen so, daß das Gesicht des Vaters in den knöchernen Staub gedrückt war, das der Mutter aber aus zerfressenen Augen zu ihr emporstarrte. Sie waren nur unwesentlich länger tot, als Rahel »geschlafen« hatte. Dennoch zeigten ihre Körper unübersehbare Spuren der Verwesung. Das Mädchen schreckte der Anblick nicht, obwohl er furchtbar war. Denn das war sie auch. Ganz langsam griff sie in die Kleidung ihres Vater und hob ihn an. Er war federleicht. Als ginge es darum, die Teile einer Gliederpuppe zu richten und zu sortieren, brachte Rahel den Kopf ihres Vaters wieder in die richtige Lage. Genauso verfuhr sie bei ihrer Mutter. Dann gab sie beiden den Kuß, der alles fügte. Und mit Einbruch der Nacht verließen sie gemeinsam den Ort der Schande … ENDE des zweiten Teils
Eine wilde Nacht Leserstory von »JaeMa« Er war ein Kämpfer. Der stärkste seines Clans. Einsam durch die Nacht streifend. Die Narben an seinem Körper zeugten von den gewonnenen Kämpfen. Die Dämmerung war vorübergegangen, und die Nacht setzte ein. Der Mond war eben über dem Horizont aufgestiegen, und der Wolf zollte ihm mit einem lang anhaltenden Heulen Tribut. Er hob witternd die Schnauze und lief leichtfüßig auf die Lichtung. Sein Fell schimmerte in einem fast blauen Licht. Zögernd besah er sich die schlafende Gestalt am Boden. Das Mondlicht umtanzte sie zu den Geräuschen der Nacht. Er konnte ihren moschusartigen Duft riechen, der seine Sinne benebelte und ihn hierhergelockt hatte. Es machte ihn regelrecht kirre. Er trat an die Menschenfrau heran, um ihr Aroma noch stärker aufzunehmen. Rotes Haar verdeckte ihr Gesicht, und er vernahm ein leichtes Stöhnen. Der Wolf wich ein Stück zurück, in der Annahme, sie würde aufschrecken, wenn sie erwachte. Doch nichts dergleichen geschah. Anmutig erhob sie sich auf einen Arm und sah ihn direkt an. Grüne Augen trafen auf seine azurblauen, und keinerlei Erschrecken stand darin. »Hallo, mein Schöner.« Ihre Stimme klang in seinen Ohren wie Sirenengesang, und er lauschte dem Klang nach. Magisch von ihr angezogen, kam er näher und umtänzelte ihre Gestalt. Die bleiche Haut schimmerte im Mondlicht wie Silber, und ihr Haar glühte wie Feuer. Fasziniert beobachtete er, wie sie sich erhob, und bewunderte den Schwung ihres Nackens. Sie schien den Boden nicht zu berühren, als sie auf ihn zukam.
»Wir sind uns so gleich …« Streichelnd fuhr sie ihm über das Fell – aber etwas hatte sich verändert. Vor ihm niederkniend, wechselte sie ihre Gestalt! Allmählich nur war die Veränderung zu bemerken. Ihre Beine zogen sich an und bildeten Pfoten mit scharfen Krallen. Auch die Hände wuchsen zu Läufen aus. Ihre Gestalt krümmte sich, und ihr Gesicht verzog sich zu einer Schnauze. Dichtes Fell mit weißem Schimmer bildete sich über ihrer Haut. Sie wurde zu einer Wölfin! Die ganze Zeit über sah der Wolf die Veränderung mit einem gewissen Maß an Erstaunen. Jetzt umkreiste sie ihn und stupste ihn mit der Schnauze an. Lockte und verführte ihn zu einem Jahrhunderte alten Spiel. Sprang ein paar Schritte vor und wartete darauf, daß er ihr nachkam. Wie an einer Leine geführt, folgte er ihr in den dichten Wald. Sie erprobte ihre Kraft, indem sie vor ihm davon lief. Spürte ihren eigenen Herzschlag und genoß das Spiel ihrer Muskeln. Es war, als würde sie über den Erdboden fliegen. Hörte und roch die Geräusche der Nacht. Er folgte ihr über Stock und Stein. Als sie genug von der wilden Jagd hatten, tollten sie herum, und sie biß ihn immer wieder zärtlich. Der See lag nicht weit entfernt. Er hatte ihn immer gemieden, so wie alle anderen Tiere auch. Etwas Geheimnisvolles ging von der seltsam dunklen Wasseroberfläche aus; etwas, das ihn daran hinderte, davon zu trinken. Lieber lief er zu den weiter entfernten Quellen. Die Wölfin aber steuerte genau darauf zu, und er verhielt seinen Schritt. Mit einem Knurren versuchte er sie daran zu hindern, weiterzulaufen, aber sie blieb nicht stehen. Im Gegenteil, mit einem leisen Wimmern lockte sie ihn weiter in Richtung des Sees. Ihre Versprechen waren so betörend, daß er mit ihr lief. Am Rande des Sees blieb sie stehen und wandte sich um. Blickte ihm in die Augen – und stieg ins Wasser. Dann wartete sie, daß er ihr folgen würde. Unwiderstehlich angezogen, ging auch er in den See.
Da setzte eine Metamorphose ein – bei beiden. Ihre Tiergestalten wandelten sich in menschliche Körper. Er wurde zu einem Mann. Seine Narben hoben sich bleich von seinem gestählten Körper ab. Verblüfft betrachtete er seine Hände und hatte Mühe, auf den noch ungewohnten Füßen zu bleiben. Beide sanken sie auf das Ufer. Sie musterte seinen Leib, streichelte ihn und sah mit einem zufriedenen Seufzer zu ihm auf. Dann zog sie ihn über sich. Noch immer etwas unbeholfen, kam ein klagender Laut über seine Lippen. Fragend blickte er sie an, aber nur ein kleines Lachen zog über ihr Gesicht. Sie legte sich auf den Bauch und reckte ihre Kehrseite zu ihm auf. Da begriff auch er und drang in sie ein. Jeden Stoß in Empfang nehmend, erwiderte sie seinen Rhythmus. Jetzt stahl sich auch aus ihrem Munde ein Stöhnen. Es existierten weder Zeit noch Raum für die beiden. Ohne innezuhalten, drehte sie ihn herum und saß auf ihm. Vor seinen Augen tanzten kleine Feuerräder. Er merkte, wie tief in ihm das Verlangen übermächtig wurde, und ergoß sich in ihr. Sie bedankte sich mit einem Ton, der tief aus ihrer Kehle stieg. Vorsichtig drängte er sie von sich, um sie zu betrachten. Ihre Haut war wie bei einem Welpen, glatt und weich. Seine Hand fuhr über ihren Körper, und seine Zunge kostete von ihr, derweil auch ihre Finger über seine Haut strichen, bereit für das nächste Liebesspiel. Vorsichtig berührte er mit der Zunge ihre Scham, und durch ihre ansprechende Reaktion wurde er kühner. Diesmal war sie es, die ihr Verlangen nicht zügeln konnte. Sich über sie schiebend, drang er wieder in sie ein, bestimmte den Takt und hielt sie fest. Bis zur Dämmerung dauerte ihr Spiel an. Als der Mond am Horizont unterging, erhob sie sich und zog ihn mit sich. Am Waldesrand angelangt, setzte seine Wandlung ein, bis er wieder als Wolf vor ihr stand. Sie gab ihm noch einen Kuß auf die Schnauze und ließ ihn dann verwirrt stehen. Er wandte sich um, lief zurück in den Wald und stieß ein hohen
Heulen aus, um sein Rudel zu rufen …
* Diese Träume bringen dich eines Tages noch mal um! Schweißgebadet wachte Alexander auf. Völlig orientierungslos öffnete er seine Augen. Mein Gott, wo bin ich hier eigentlich? So wild war die Party gestern doch gar nicht. Vorsichtig blickte er sich um. Sein Kopf füllte sich mit einem lauten Brausen, und er schüttelte ihn langsam. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Zitternd hob er seine rechte Hand, um im nächsten Augenblick ein Büschel fast blauer Haare darin zu entdecken. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Bloß raus hier! Denken und handeln war eins. Als er die Tür öffnete, prallte er beinahe mit einer kleinen Blondine zusammen, die ein Tablett mit Frühstück auf dem Arm trug. »Na, schon aufgestanden?« fragte sie munter. »Das Badezimmer ist da hinten.« Sie wies mit dem Daumen hinter sich. »Ach, übrigens: Danke für den tollen Abend! Obwohl du ja reichlich schnell müde warst …« Noch immer verwirrt, entschuldigte er sich wortreich bei ihr. Die Kleine war eigentlich genau sein Typ. Aber wo kamen diese bläulichen Haare her, die sich anfühlten wie das Fell eines Tieres? Den Gedanken gewaltsam beiseite drängend, blickte er über ihre Schulter – und erstarrte mitten in der Bewegung. Lächelnd zog sich seine Traumfrau (die Frau aus seinem Traum!) ins Badezimmer zurück und ließ ihn mit offenem Mund mit der Blondine allein. ENDE
Der Ewige Widersacher von Timothy Stahl Er hat viele Namen: Scheitan, Luzifer, Satan, Teufel … Und er hat viele Gesichter. Seine Inkarnationen wandeln auf der Erde, seit es Menschen gibt. In dieser Zeit heißt er Gabriel – ein gutaussehender junger Mann mit einem gewinnenden Lächeln. Und gewinnen will er in der Tat: die Macht über die Menschen. Den Kampf gegen das Gute. Seit seiner Geburt verfolgt Gabriel den Großen Plan, schart Verbündete um sich, schließt verhängnisvolle Pakte, bereitet sich auf die letzte, alles entscheidende Schlacht vor. Seine wichtigste Verbündete ist Lilith Eden. In ihrer Hand liegt das Schicksal der Menschheit …