Klappentext:
KILIAN LANZINGER Südtiroler Bauernroman von Otto Guem Kilian Lanzinger ist die Hauptperson dieses packend...
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Klappentext:
KILIAN LANZINGER Südtiroler Bauernroman von Otto Guem Kilian Lanzinger ist die Hauptperson dieses packenden Romanes, der durch Schicksalsungunst – nicht durch eigene Schuld – mißgestaltete Südtiroler Bergbauernsohn, der bei seiner Mutter, die in wahrer Affenliebe ihrem anderen, körperlich wohlgearteten Sohn zugetan ist, von Jugend an immer und immer wieder zurücktreten muß. Die Bitterkeiten, vor allem seelischer Art, die der durch einen Höcker entstellte Kilian von Mutter und Bruder erdulden muß, sind unglaublich. Er wächst aber in dieser Qual zu einer Seelengröße heran, die ihresgleichen nicht mehr hat und ihn zu Opfertaten befähigt, deren normale Menschen nicht fähig wären. Der einzige Rückhalt Kilians im Elternhaus ist der gerecht denkende Vater, ein hart sich um die Väterscholle mühender Südtiroler Bauer, der den Wert seines Sohnes Kilian mit sicherem Blick erkannt hat und ihm nach Kräften zur Seite steht. Bei einer Auseinandersetzung des Vaters mit seinem gesunden Sohn, den er in seiner Minderwertigkeit längst erkannt
hat, wird er von diesem, einem verbrecherisch veranlagten Menschen, im Streit erstochen. Kilian wird Zeuge der entsetzlichen Tat, kommt jedoch zu spät, tun sie zu verhindern. Er kann dem Fliehenden nur noch das Messer entwinden. Nun zeigt sich Kilian in seiner wahren Größe. Um seine Sippe vor Schmach und Schande zu bewahren, erklärt er, selbst seinen Vater – allerdings aus Versehen – im Dunkel erstochen zu haben, behauptet das auch vor dem Schwurgericht und nimmt die schwere Zuchthausstrafe, die man über ihn verhängt, gefaßt auf sich. Bittere Jahre verbringt Kilian hinter Kerkermauern, aber er zerbricht nicht daran, sondern wächst nur noch an der selbst gestellten, namenlos harten Aufgabe. Endlich wird ihm Erlösung. Beim Ausbruch des zweiten Weltkriegs wird der draußen flüchtig irrende Bruder an der deutsch-französischen Grenze von Gendarmen niedergeschossen. Bevor er stirbt, bekennt er in einem Brief an die Seinen, daß nicht sein Bruder Kilian, sondern er den Vater erstochen habe. Kilian kann nun als freier Bauer zurückkehren auf seinen Hof, auf dem ein neues, besseres Leben ihm eine glückhafte Zukunft beschert hat.
VERLAG JOSEF BERG MÜNCHEN
OTTO GUEM / KILIAN LANZINGER
OTTO GUEM
KILIAN LANZINGER Südtiroler Bergbauernroman
VERLAG JOSEF BERG MÜNCHEN 5
Umschlagzeichnung: Martin Frühwald Alle Rechte beim Verlag
Verlagsnummer 72 Copyright 1956 by Verlag Josef Berg, München Gesamtherstellung: Richard Pflaum Verlag München Scanner & K-Leser: RedY
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Schwere Gewitterwolken lagen an diesem Hochsommertag über dem Helm, dem Berg, an dessen Fuß Sexten lag. Man hörte von den Drei Zinnen herüber nicht nur das dumpfe Grollen der Geschütze von der italienischen Front, sondern über dem ganzen Tale lag eine drückende, heiße Gewitterluft, und alles deutete darauf hin, daß schon in den nächsten Minuten ein Gewitter losbrechen werde. Helle Blitze zuckten schon durch die schwarzen Wetterwolken und der Donner wurde immer lauter und dröhnender, als wollte er sich mit dem Geschützlärm, der von der Front herübertönte, messen. Und dann war mit einem Male das Gewitter in seiner ganzen Urgewalt da: Die Schleusen des Himmels öffneten sich und ein Wolkenbruch ging über das Tal nieder, wie es schon seit Jahren keinen mehr gegeben hatte. Ganze Sturzbäche liefen von den Höhen nieder und der Hagel warf oft fingerdicke Körner über die spärlichen Felder und drosch das kärgliche Korn zu Boden und vernichtete so in kurzen Viertelstunden die Arbeit eines ganzen Jahres. Mit unendlichem Fleiß und größter Mühe müssen sich die Bergbauern im Schweiße ihres Angesichtes mühen, die Erde oft in Tragkörben auf den gekrümmten Rücken auf die hängenden Äcker tragen, düngen und all die mühsamen Arbeiten verrichten, deren Lohn zum Schlüsse eine karge Ernte ist, die ihnen kaum Brot für sich und ihre Familie gibt. Aber die Natur kümmert sich nicht um Bauernschweiß und Bauernfleiß; innerhalb von Stunden zerstört sie alles, wenn die Blitze grell über Tal und Berge aufzucken und Wolkenbruch und Hagelschlag herniederprasseln und alles vernichten, auf das der Bauer sei-
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ne Hoffnung setzt und wofür er seine ganze Kraft einsetzt. Auch gegen die kleinen, vergitterten Fenster des Latschenhofes, des obersten Hofes von Sexten, schon ganz unter den Almen des Helm, prasselten die Hagelkörner, und um das steinbeschwerte Schindeldach heulte der Sturm und Sturzbäche ergossen sich über den kleinen Hof zwischen Wohnhaus und Stall. Das Vieh brüllte im Stall und riß an den Ketten, als wollte es vor der Gewalt der Natur flüchten. In der niederen Stube aber stand eine Wiege und in dieser Wiege lag still mit offenen Augen der noch nicht ganz ein Jahr alte Kilian Lanzinger ganz allein. Niemand war bei ihm, denn hinter der Wohnstube, in der Schlafkammer, lag die Bäuerin, die Stasi, in ihrem Bett und wand und krümmte sich in Schmerzen, um ihrem zweiten Kinde zum Leben zu verhelfen. Die Magd Urschl stand an ihrem Bett und wußte sich nicht zu helfen. Auf dem Tischchen vor dem Bett brannte eine geweihte Kerze und in einer Ecke saß die alte Lena, die Mutter der Bäuerin, und hatte den Rosenkranz in der Hand und betete den Wettersegen. Aber was half das alles, wenn draußen die Welt aus den Fugen zu gehen drohte! Wohl hatten sie den kleinen Hüterbuben, den Sepp, ins Dorf um die Hebamme geschickt; es war aber mehr als zweifelhaft, ob sie noch zurechtkommen werde. Männer waren keine im Hause, der Bauer, der Vitus Lanzinger, war schon lange mit den Kaiserjägern nach Rußland ins Feld, und vor einigen Monaten, als auch der Krieg mit Italien ausgebrochen war, war auch der Altbauer, der Nikolaus Lanzinger, mit den Standschützen an die Front und stand drüben im Höllensteintale gegen den Feind. Eine drückende Stille lag über dem Latschenhofe. Das Gewitter draußen tobte mit immer stärkerer Gewalt, als wollte es den ganzen Hof zertrümmern. Aus der Schlaf-
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kammer hörte man nur das Röcheln und Stöhnen der Bäuerin und das Beten der alten Mutter. Die Magd Urschl lief wohl ab und zu in die Stube, um nach dem kleinen Kilian zu schauen, und bekreuzigte sich, wenn ein Blitz grell die Stube erhellte, und machte einen Blick durch das kleine Fenster, ob denn die Hebamme immer noch nicht käme. Draußen wurde es immer finsterer. Der kleine Kilian in der Wiege fing mit einem Male zu weinen an, so daß die Magd Urschl ihn aus der Wiege nahm und, ihn auf den Armen haltend, in der Stube auf und ab ging. Drinnen in der Schlafkammer hatte die alte Mutter die Allerheiligenlitanei zu beten angefangen, und die Urschl betete nach: „Bitt für uns.“ Plötzlich aber zuckte ein so greller Blitz durch das Fenster und ein Donnerschlag folgte und bald darauf ein Schrei aus der Schlafstube, daß Urschl ein Kreuz schlug und dabei den kleinen Kilian zu Boden fallen ließ. In ihrer Furcht und Erregung hatte sie ganz vergessen, daß sie das Kind auf den Armen gehalten hatte. In derselben Sekunde hatte die Bäuerin Stasi einen Schrei ausgestoßen und ihrem zweiten Kinde, einem Knaben, das Leben gegeben. Urschl lief zur Bäuerin und wollte ihr helfen, aber die alte Lena wies sie scharf zurück: „Kümmere dich um den Kleinen, hier bin schon ich, um Ordnung zu schaffen.“ Jäh erblaßte das Mädchen: der Kilian! Jetzt erst kam es ihr in den Sinn, daß sie das Kind hatte fallen lassen. Mein Gott, dachte sie, hoffentlich ist nichts passiert! Sie stürzte in die Stube zurück und fand das Kind am Boden liegend. Aus einer Wunde blutete es und war leichenblaß. Was sollte sie nur tun? Urschl stürzte sich verzweifelt über das am Boden liegende Kind und ihre Tränen rannen zu Boden wie draußen
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der Regen, der weiter Fluren und Äcker zerstörte. So fand sie die Hebamme, die jetzt zur Tür hereinkam und ihren triefenden Mantel ablegte. Energisch trat sie zu der auf dem Boden liegenden Magd und schob sie einfach weg. Da fand sie das blutende Kind. Schnell hob sie es auf und befühlte es mit kundigen Händen. „Mein Gott, Urschl, was hast du denn da getan?“ „Ich weiß es nicht, es ist mir aus der Hand gefallen, als vorhin ein Blitz durch die Stube gefahren ist. Ich kann nichts dafür, ich habe mich so gefürchtet, und vor lauter Schreck ist mir das Kind entfallen.“ Die Hebamme legte das Kind zunächst in das Bett zurück und verband es notdürftig, dann ging sie zu der Bäuerin in die Schlafkammer und leistete ihr die notwendigen Dienste, die noch zu machen waren. Die Geburt war gut vorübergegangen, so daß der Hebamme nicht mehr viel zu tun übrigblieb. Vom Unglück in der Stube sagte sie zunächst der Bäuerin nichts. Unnötige Aufregungen schaden jungen Müttern nur. Sie ging wieder in die Stube zurück und untersuchte nun den Buben gründlich. Urschl stand, am ganzen Körper zitternd, neben ihr. In ihrer Hilflosigkeit wußte sie nichts anderes zu tun, als zu beten, aber die Hebamme unterbrach dieses Gebet rauh, als sie die Untersuchung beendet hatte. „Beten hilft dir jetzt gar nichts mehr. Hättest früher beten und auf das Kind aufpassen sollen. Der Kilian ist an der Hüfte verletzt, soviel ich sehe. Da kann ich selbst nichts machen, da muß schon der Doktor her. Ich leg' dem Kilian einen Notverband an und trag' ihn zum Arzt in das Dorf hinunter. Kümmere du dich um die Bäuerin, ist besser als Beten. Die alte Lena kann nicht alles machen.“ Sie rief die alte Mutter zu sich in die Stube. „Die Urschl hat den Kilian fallen lassen und das Kind scheint, soviel ich sehe, verletzt. Ich trag ihn zum Doktor
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in das Dorf hinunter, damit er feststellen kann, was dem Buben eigentlich fehlt. Sag der Stasi vorläufig nichts, damit sie sich nicht unnötig aufregt. Wenn ich weiß, was dem Kilian fehlt, werde ich es ihr schon selbst sagen.“ Die Hebamme packte den Knaben Kilian gut ein und stieg mit ihm durch das Unwetter den Berg hinab. Die Bäuerin Stasi lag indessen blaß in ihrem Bett und hielt das Neugeborene in ihren Armen. Die Geburt hatte sie anscheinend doch sehr hergenommen. Eine Starke war die Stasi nie gewesen und die viele schwere Bauernarbeit, die sie, seit die Männer nicht mehr am Hofe waren, allein machen mußte, hatte noch mehr an ihren ohnehin schwachen Kräften gezehrt, so daß sie fast das Letzte hatte hergeben müssen, um ihrem zweiten Kinde das Leben zu schenken. Die alte Lena schaute böse auf die junge Magd, die sich rührend um die Bäuerin annahm: „Wenn der Kilian ein Krüppel bleibt, hast du die Schuld“, zischte sie ihr zu, so daß der jungen Magd wieder die hellen Tränen über die Wangen rannen: „Ich hab es ja nicht wollen, ich kann ja nichts dafür! Wie es so stark geblitzt hat, hab ich das Kreuz gemacht…“ „… Und hast den Buben fallen lassen, du ungeschicktes Ding du“, fiel ihr die Alte wieder ins Wort. Die Bäuerin hatte das Geflüster der beiden Frauen gehört und öffnete nun die Augen. „Was habt ihr denn mitsammen zu wispern?“ fragte sie plötzlich, aber keine der beiden, weder die alte Lena, noch die junge Urschl, hatte den Mut, ihr zu sagen, was geschehen war. Aber die Bäuerin gab sich mit dem ratlosen Schweigen der beiden nicht zufrieden. „Was geschehen ist, will ich wissen. Hört ihr denn nicht? Ist etwa etwas mit dem Kilian?“ Endlich antwortete die alte Lena:
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„Krank ist er halt, der Kilian. Die Hebamme hat ihn mit zum Doktor nach Sexten hinuntergenommen.“ Die Bäuerin jammerte: „Auch das noch! Nicht genug, daß die Männer fort sind und daß das Unwetter uns um die ganze Ernte bringt. Jetzt, kaum daß das zweite Kind da ist, wird mein anderes Kind auch noch krank. Sind wir denn schon ganz vom Herrgott verlassen, daß er alles Unglück auf einmal über uns kommen lassen muß?“ Ihre Mutter legte ihr das Kind in den Arm. „Sei nur still, Stasi, gibt dem Kinde jetzt zu trinken. Es wird nicht so schlimm sein. Ist schon öfter ein Kind krank geworden. Es wird ja nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und der Kilian wird bestimmt wiederkommen, wenn ihn der Doktor erst untersucht hat.“ Die Bäuerin hielt ihren neugeborenen Sohn an der Brust und schlief dann unter Tränen ein. Unterdessen stapfte die Hebamme mit dem kleinen Kilian auf dem Arm, mühsam gegen das Unwetter ankämpfend, den steilen Weg in das Dorf hinunter. Beim Doktorhaus klopfte sie an das Tor und die Frau des Arztes öffnete ihr. Es war ein Glück, daß der Arzt schon über 60 Jahre alt war, sonst hätte er wahrscheinlich auch einrücken müssen. Aber so hatte man ihn im Ort gelassen, und der alte Herr hatte nun das ganze Tal zu betreuen. Die Militärärzte im Lazarett kamen ohnehin Tag und Nacht kaum aus ihren Kleidern, denn die Schwerverletzten mußten schon hier in Sexten operiert werden. Der alte Medizinalrat Dr. Kirchlechner war nicht zu Hause, er sei nach Moos zu einem Schwerkranken, sagte seine Frau, müsse aber bald kommen. Aber auch die Frau des Arztes hatte als frühere Krankenschwester ärztliche Erfahrungen und untersuchte das Kind. Sie sprach kein Wort, machte aber ein ernstes Gesicht.
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„Mir scheint, das Kind hat etwas gebrochen. Wenn mein Mann kommt, wird er den Knaben noch einmal untersuchen, aber soviel ich davon verstehe, schaut es nicht gut aus, das Kind muß unbedingt in die Klinik nach Innichen, und wahrscheinlich muß es operiert werden.“ Die Hebamme stutzte. „'s ist schon ein bißchen viel, was die Lanzinger auf einmal tragen müssen. Kaum ist das zweite Kind mit Mühe und Not auf die Welt gekommen, muß das mit dem ersten passieren. Dabei kein Mann im Hause, und manchmal scheint es wirklich so, als ob sich alles gegen eine Familie verschworen hätte. Ja, das Leben ist halt kein Kinderspiel, aber man kann dagegen nichts machen. Hoffentlich kommt der Doktor bald, denn ich muß den Leuten ja noch Botschaft sagen, wie es dem Kilian geht.“ „Du hast es auch nicht leicht, Zenzi, und siehst so viel, daß es manchmal auch für dich sehr schwer sein muß“, versuchte die Frau des Arztes zu trösten, aber die Hebamme zuckte nur die Schultern. „Man muß das Leben eben nehmen, wie's der Herrgott einem schickt. Ob leicht oder schwer, da fragt niemand darnach. Jeder muß mit dem Päcklein selbst fertig werden, das er auferlegt bekommt, 's hat keinen Wert, lang sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum der eine es leichter hat im Leben als der andere. Deswegen wird das Leben ja doch nicht anders. Und schließlich gewöhnt man sich an alles im Leben. Wir sind nun einmal da, um den anderen zu helfen.“ Inzwischen war der Medizinalrat nach Hause gekommen. Seine Frau hatte ihm kurz geschildert, was vorgefallen war, und der Arzt machte sich sofort an die Untersuchung des Kindes. Dann rief er seine Frau und die Hebamme in das Zimmer.
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„Laß sofort den Wagen anspannen, das Kind muß unverzüglich in das Spital nach Innichen. Die Wirbelsäule scheint verletzt zu sein und nur eine schnelle Operation kann das Schlimmste verhüten. Ich selbst werde mit dem Kind in das Spital fahren.“ Die Hebamme fragte zitternd: „Bleibt der Bub am Ende ein Krüppel? Herr Doktor, ich bitte, tun Sie alles, was nur möglich ist. Es wäre nicht auszudenken.“ Dr. Kirchlechner konnte nichts Genaues sagen. „Was getan werden kann, wird selbstverständlich getan werden. Aber garantieren kann ich für nichts. Jammern hat keinen Zweck. Jede Minute, die wir gewinnen, ist dem Kind nur von Vorteil. Sobald ich kann, komme ich zurück, und dann kann ich erst Genaueres sagen.“ Auf dem Latschenhofe herrschte an diesem Abend eine gedrückte Stimmung. Die Magd Urschl kniete vor einem Marienbilde und weinte sich die Augen aus und machte ein Gelübde nach dem anderen, wenn nur der Kilian wieder gesund zurückkehrte. Die alte Mutter Lena saß neben dem Bett ihrer Tochter und betete einen Rosenkranz nach dem anderen, wenn sie nicht gerade die Wöchnerin zu versorgen hatte, und Stasi, die Bäuerin, weinte leise in die Kissen und machte dem Herrgott Vorwürfe, daß er gerade ihr so Schweres zu tragen gebe. Sie hätte es doch wirklich nicht verdient. Das Unwetter hatte inzwischen nachgelassen. Das Gewitter hatte sich verzogen, und Sterne standen am Himmel. Nur vom Paternsattel und von den Drei Zinnen zuckte es auf, wenn die Kanonen feuerten, und das Grollen der Geschütze tönte unheimlich durch die Nacht. Da draußen standen die Männer und schössen sich gegenseitig nieder und einige Kilometer nur hinter der Front hatte eine Frau einem Kinde das Leben geschenkt. Gab es einen größeren Widerspruch im Weltgeschehen als diesen? Die
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Frauen gebären die Kinder, die einige Jahrzehnte später vielleicht wieder an irgendeiner Front stehen und auf Menschen schießen, die sie nie in ihrem Leben gesehen haben, nur deshalb, weil sie einer anderen Nation angehören! Aber die einfachen Menschen auf dem Latschenhofe hatten keine Zeit, sich um solche Dinge zu kümmern. Sie warteten alle mit Bangen und Sehnsucht, bis die Hebamme wieder auf den Hof kam, denn sie hatte ihnen ja versprochen, so bald als möglich Nachricht über den kleinen Kilian zu bringen. Nur manchmal stöhnte die Bäuerin leise auf, und das Neugeborene schrie, wenn es Hunger hatte. Die Stunden krochen endlos langsam dahin. Nie ist dem Menschen eine Zeit länger geworden, als wenn er auf eine Nachricht warten muß. Nur die junge Magd, die Urschl, war auf ihrem Stuhl eingeschlafen. Sie hatte sich in den Schlaf geweint. Zwar hatte sie sich geweigert, zu Bett zu gehen, sie wollte auf alle Fälle die Rückkehr der Hebamme abwarten, um zu hören, ob dem Kilian wirklich etwas Ernstes geschehen wäre. Sie könne ohnehin nicht schlafen, sagte sie auf die Aufforderung der Bäuerin hin, sie hätte in ihrem ganzen Leben keine ruhige Minute mehr, wenn Kilian wirklich ernsten Schaden gelitten hätte, aber dann hatte doch die Natur gebieterisch ihr Recht verlangt und sie war trotz ihrem Leid eingeschlafen, und die alte Lena konnte sie gerade noch auffangen, ehe sie vom Stuhle fiel. „Jetzt gehst du aber augenblicklich schlafen. Was geschehen ist, ist geschehen, und du kannst es auch nicht mehr ändern, wenn du da auf dem Stuhle sitzt und im Schlafe herunterfällst und dir zum Schlüsse auch noch weh tust. Morgen ist noch ein neuer Tag und du mußt früh aufstehen, das Vieh füttern und melken; und dann wollen wir sehen, was das Unwetter für Schaden angerichtet hat. Das ist gescheiter als da zu warten. Die Männer sind im Krieg, die Bäuerin liegt im Wochenbett, da müssen schon wir
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zwei nach dem Rechten sehen und die Arbeit machen.“ Schlaftrunken erhob sich Urschl und sagte noch „Gute Nacht“ und ging in ihre Kammer im Oberstock. Kaum, daß sie sich ausgezogen und auf dem Strohsack sich ausgestreckt hatte, war sie auch schon eingeschlafen. Aber es war ein unruhiger Schlaf, der sie umfing. Sie träumte vom armen Kilian, der durch sie zu einem Krüppel geworden war und einmal schrie sie wild in ihren Träumen auf. Sie sah den armen Knaben als Krüppel vor sich, wie er nur mehr auf zwei Krücken gestützt gehen konnte. Aber dann schlief sie wieder ein. Die Natur forderte ihr Recht und sie mußte schon um vier Uhr aufstehen und das Vieh versorgen. Auch die Bäuerin, die Stasi, war eingeschlafen, nachdem sie das Kind noch gefüttert hatte. Nur die alte Lena wachte und ließ die Perlen des Rosenkranzes durch ihre müden Finger gleiten. In ihrem Alter brauchte der Mensch nicht mehr so viel Schlaf. Sie war schon über siebzig Jahre alt und hatte es im Leben auch nicht leicht gehabt. Ein Bergbauernleben ist ein hartes Leben mit viel Arbeit von früh bis spät und wenig Sonne. Sie hatte es gelernt, Unglück zu ertragen, das ihr reichlich zugemessen worden war. Von acht Kindern waren fünf gestorben, der Mann hatte sich redlich abgemüht, seine Familie zu ernähren, aber es schien ein Unstern über der Familie zu liegen. Das kleine Höfl im Innerfeldtal warf nicht genügend ab, die hungrigen Mäuler alle zu stopfen, so daß er sich als Holzknecht verdingen mußte. Da kam er dann ans Schnapstrinken und es ging immer weiter abwärts, bis man ihn ihr einmal tot ins Haus gebracht hatte. Ein Baum hatte ihn erschlagen. Wie eine Himmelsbotschaft war es ihr vorgekommen, als dann der Vitus Lanzinger, der Besitzer vom Latschenbauerngut, gekommen war und um die Hand der Stasi angehalten hatte und zugleich sagte, sie, die Mutter der Stasi, könne mit
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auf den Hof kommen. Das kleine Höfl im Innerfeldtal hatte sie verkauft und mit dem Erlös die anderen Kinder ausbezahlt. Die paar tausend Kronen, die noch übriggeblieben waren, hatte sie der Stasi mit in die Ehe gegeben und war dann mit ihrer Tochter auf den Latschenhof gezogen. Jeder Mensch im Tale hatte den Vitus Lanzinger gekannt und gewußt, daß er ein seltsamer und schweigsamer Mann war, der seine eigenen Wege ging und sich nicht um das Gerede der anderen Leute kümmerte. Er war im ganzen Tal als Sonderling bekannt, der selten einmal ein Wort sprach, nie in ein Gasthaus ging und nie in einer Gesellschaft zu sehen war. Es war auch – nebenbei gesagt – leicht übertrieben, vom ‚Latschenhof’ zu sprechen, denn jedermann im ganzen Tale wußte, daß der Latschenhof nur ein kleines Höfl war, das höchste im ganzen Tal, und daß der Vitus Lanzinger sehr hart mit dem Leben kämpfen mußte. Aber immerhin, es war ein eigenes Heim, ein Hof mit eigenem Grund und Boden, und der Vitus verstand es, seine Sache beisammenzuhalten. Viel Worte zu machen, hatte der Vitus nie gekannt, dazu fehlte ihm die Zeit; auch war er von Haus aus schweigsam, denn selten verirrte sich jemand auf den höchsten Hof im Tale. Es war ihr von vornherein klar, daß der Vitus Lanzinger nicht bei den Bauern im Tale um eine Frau ansuchen durfte, denn die Bauern hätten ihn höchstens ausgelacht, und der Vitus Lanzinger brauchte auch nicht in erster Linie eine Frau, sondern eine Arbeitskraft, die ihn nichts kostete und die außerdem noch Mutter seiner Kinder wurde. Und wenn er sie, die Mutter der Stasi, noch mit auf den Hof nahm, dann bekam er mit einem Schlag zwei unbezahlte Arbeitskräfte, und das konnte für ihn nur ein Gewinn sein. Bei den Bauern war es schon einmal so, daß in erster Linie nicht die Liebe die ausschlaggebende Rolle in der Ehe spielte, sondern die materiellen Erwägungen: entweder
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brachte die Frau einen Batzen Geld in die Ehe mit, was beim Vitus Lanzinger von vorneherein nicht in Frage kam, denn welche reiche Bauerntochter hätte auch auf den Latschenhof geheiratet, den höchsten Hof im Tale, der kaum einen Mann ernähren konnte, oder er bekam eine billige Arbeitskraft, die zugleich Bäuerin war. Daß Stasi übrigens keine Schönheit war, war sich die Mutter vollkommen im klaren. Sie hatte so viel gesunden Bauernverstand, daß sie auch die Werbung des Vitus Lanzinger von vornherein richtig verstand und in kühler Abwägung aller dieser Umstände die Werbung des Vitus Lanzinger richtig einschätzte. Von der ‚Liebe’, wie sie sonst so oft von den Buben und Dirndln im Dorfe verstanden wurde, hatte Stasi bestimmt keine Ahnung. Noch nie war ein Bursch an ihrem Kammerfenster gewesen, geschweige denn war er in das Kammerfenster eingestiegen. Bei diesen Gedanken mußte die alte Mutter Lena selbst für sich leise lachen, denn bei ihr war es ganz anders gewesen. Sie errötete selbst noch jetzt bei dem Gedanken, wie viele an ihrem Kammerfenster angeklopft hatten, wie sie noch ein junges Dirndl gewesen war. Da war sie schon ganz anders als ihre Tochter Stasi gewesen, jung, lebfrisch und ein heißes Blut in den Adern, und daß sie mit der Zeit dem einen oder anderen Burschen das Kammerfenster aufgemacht hatte, das reute sie heute noch nicht. Mein Gott, sie war auch einmal jung und resch gewesen und hatte heißes Blut in den Adern gehabt. Der Herrgott hatte es ihr wahrscheinlich längst schon verziehen, gegen die Natur kann eben kein Mensch, und am allerwenigsten so ein armes junges Bauerndirndl. Aber als es dann wirklich ernst wurde und sich etwas unter dem Herzen regte und sie zur Heirat drängte, damit das Kind einen Vater haben sollte, dann kam plötzlich die Ernüchterung, und kein Bursche zeigte sich mehr am Kammerfenster; und sie war froh, als
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dann einer kam, der noch nie vorher bei ihr angeklopft hatte. Aber sie hatte ihm nichts verschwiegen und ihm getreulich gesagt, daß sie ein Kind erwarte. Er hatte darüber nicht viel Worte gemacht und sie mitsamt der ‚Zuwaage’ genommen. „Daß ich nicht der erste Bursch bin, den du eingelassen hast, weiß ich schon lange. Aber ich bin ehrlich und meine es gut mit dir. Ich heirate dich trotzdem. Wird eine Arbeitskraft mehr und ich werde dem Kinde, auch wenn ich nicht sein rechter Vater bin, ein guter Vater sein.“ So hatte der Valentin seinerzeit gesagt und so hatten sie geheiratet und es war trotz alledem eine verhältnismäßig gute Ehe geworden. Ganz still war es in der Stube. Das Unwetter draußen hatte nachgelassen und nur ein gleichmäßiger Regen rauschte nieder. Ab und zu ging noch ein Wetterleuchten durch die Dunkelheit und ein ferner Donner grollte dazu. Die Wöchnerin war eingeschlafen, das Neugeborene neben sich, und auch die alte Mutter hatte bei ihren Gedanken an das eigene vergangene Leben die Augen zugemacht, als wolle sie im Traume noch einmal alle Erlebnisse an sich vorüberziehen lassen, die guten und die weniger guten Tage, und da war auch der Schlaf gekommen und hatte sie in das Traumland entführt und die ruhigen Atemzüge kündeten bald an, daß auch Mutter Lena den Schlaf des Gerechten schlief. Es war gerade so wie nach einem Gewitter, das in einem Regen ausklingt, daß nach einem aufregenden Tag der ruhigere Abend und die stille Nacht kommt. Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aber pochte es heftig an der Haustüre. Mutter Lena fuhr aus ihrem Schlummer auf und rieb sich die Augen. Jetzt war sie richtig über ihren Gedanken eingeschlafen. Sie erhob sich und machte schnell ein Kreuz
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und ging zur Türe, um zu öffnen, und mit dem ersten Morgengrauen kam auch der nüchterne graue Alltag wieder mit all seinen Sorgen und Nöten. Die Stasi mit dem Neugeborenen schlief noch, aber da war ja auch noch die Urschl, die Magd, die gestern den Kilian fallen gelassen hatte und den die Hebamme gleich mit zum Doktor genommen hatte. Wird wohl die Hebamme sein, die schon in aller Herrgottsfrühe heraufkommt, um nach dem Rechten zu sehen, nach der Wöchnerin und dem Kind. Ob sie wohl auch schon Nachricht vom Kilian bringt? Mein Gott, das Unglück! Ob Kilian nicht am Ende doch für das ganze Leben etwas davonträgt? Die Urschl hatte das Haustor schon geöffnet und die Hebamme trat in die Stube. „Guten Morgen, alle beieinander!“ grüßte sie und zog den regennassen Mantel aus. „Wie geht es dem Kilian?“ fragte die Urschl zitternd. „Der Doktor sagte nur, daß das Kind noch im Spital in Innichen bleiben muß. Es scheint doch nicht ganz so einfach zu sein, wie es zuerst ausgesehen hat, aber am Leben bleibt der Bub bestimmt. Es ist sicher, sagt der Doktor. Jetzt aber laßts mich zur Stasi hinein, damit wenigstens da alles gut geht. Ist schon mit dem Kilian Unglück genug.“ Es vergingen noch Monate, bis der Knabe Kilian wieder vom Spital auf den Latschenhof kam. Aber es war keine frohe Wiederkehr. Er würde einen Buckel behalten, hatten die Ärzte gesagt und er müßte ein Streckmieder tragen. Vielleicht, daß es später einmal sich wieder auswachsen werde, aber sicher sei das jedenfalls auch nicht. Man hat auf einem Bergbauernhof nicht lange Zeit zum Jammern und schließlich war ein buckliges Kind immer noch besser als gar keines. Die Zeit bleibt nicht stehen und die Arbeit drängt. So fand der Vitus Lanzinger, als er das nächste Mal auf
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Urlaub kam, zwei Knaben vor auf seinem Hofe. Kilian, den Krüppel, und Romed, den gesunden Knaben. Vitus, in seiner schweigsamen Art, sagte kein Wort. Die Urschl schaute er mit einem finsteren Blick an und als sie ihn um Verzeihung bat, schickte er sie in den Stall, um das Vieh zu füttern. „Hättest früher aufpassen sollen. Jetzt hilft kein Verzeihen mehr. Zu erbarmen ist nur der Bub, der durch dich zum Krüppel geworden ist. Geh und mach deine Arbeit, ist besser als zu jammern. Daß du es nicht absichtlich getan hast, weiß ich, denn sonst hätte ich dir alle Knochen im Leib zerschlagen. Jetzt heißt es nur, um so mehr arbeiten und schinden. Der Herrgott hat es so gewollt und so muß man eben nehmen, was einem auferlegt ist!“
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Man konnte sich keine größeren Gegensätze denken im ganzen Dorf, ja, im ganzen Tal, als die beiden Buben vom Latschenhof. Schon gleich in den ersten Jahren, als sie noch ganz klein waren, machten sich diese Gegensätze nach außen bemerkbar. Romed, der jüngere der beiden Knaben, war aufgeweckt und recht lebhaft, aber schon als kleiner Knirps suchte er immer alles mögliche zu tun, was Kinder sonst nicht tun. Er quälte mit Vorliebe die Tiere und tat seinem Bruder, was er nur tun konnte, zu dessen Schaden. Er nahm ihm sein Spielzeug weg und zerhackte es, er schlug ihn, wenn es niemand sah und wenn er wieder einmal etwas angestellt hatte, lief er zur Mutter und sagte, der Kilian habe es gemacht. Die Mutter hing mit abgöttischer Liebe an Romed, während sie für ihren älteren Sohn, den buckligen Ki-
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lian, keine Liebe fühlte. Sie nahm auch Romed stets in Schutz, wenn er etwas getan hatte, was Strafe verdiente, und schlug nur den Kilian. Kilian hingegen war ein verschlossenes Kind. Selten einmal, daß ein Lächeln über sein schmales, blasses Gesicht huschte, und wenn die Mutter ihn auszankte oder gar schlug, so ertrug er alles mit einem verbissenen Gesicht, zog sich in einen Winkel zurück und wollte niemanden mehr sehen. Nur am Vater hing er mit einer geradezu abgöttischen Liebe. Der Vater nahm ihn auch oft vor der Mutter in Schutz und verabreichte dem Bruder manchmal eine Tracht Prügel, wenn er dem Romed wieder auf eine Lüge gekommen war. Romed rannte dann heulend zur Mutter, die ihn streichelte und ihm die Tränen trocknete und ihm ein Butterbrot oder ein Stück Speck zusteckte. Am liebsten war Kilian bei der Großmutter, der alten Lena. Die war immer gut zu ihm und wußte auch schöne Geschichten zu erzählen von den Zwergen, die einmal droben auf den blumigen Wiesen des Helm gehaust und den armen Sennen und Sennerinnen geholfen hatten, das Vieh zu hüten und zu suchen, wenn sich einmal eine Ziege oder ein Schaf verstiegen hatte und nicht mehr den Weg zurückfand, und von den braven Kindern, die alle in den Himmel kämen und als Engelein auf silbernen Wolken über das blaue Firmament segelten. „Gelt, Großmutter, ich werde auch einmal ein Engelchen?“ fragte der kleine Kilian. „Ja, du wirst auch so ein Engelchen, wenn du immer schön brav bist“, versprach ihm dann die Großmutter. „Aber der Romed wird kein Engelchen. Wenn der Romed auch so ein Englein wird, mag ich keines werden“, erwiderte der Kleine darauf. Schon aus den Reden des kaum fünfjährigen Kindes konnte man die tiefe Abneigung Kilians gegen seinen Bru-
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der erkennen. Dann erzählte ihm die Großmutter wieder von bösen Geistern, welche das Wetter machen, das den Bauern die Ernte zerstört und das Vieh krank macht. Der kleine bucklige Kilian hörte auch da recht aufmerksam zu und meinte dann mit einem Ernst, der weit über seine Jahre hinausging: „Gelt, Großmutter, der Romed ist auch einmal so ein böser Geist gewesen, bevor er auf die Welt gekommen ist.“ Die Großmutter erschrak nicht wenig über die Phantasie ihres Enkels und versuchte natürlich, ihm diese Gedanken auszureden: „Das darfst du nicht sagen, Kilian, bevor die Kinder auf die Welt kommen, sind sie alle Engel. Gott schickt nur brave Kinder auf die Welt. Auch Romed ist so ein kleiner Engel gewesen, ehe er auf die Welt gekommen ist, genau so wie du und alle anderen Kinder. Du darfst nicht so schlecht über deinen Bruder denken, Kilian.“ Aber der kleine Mann schüttelte nur den Kopf. „Der Romed ist nie ein Engelein gewesen, sonst könnte er nicht so schlimm sein und alles immer zu meinem Schaden tun. Ich glaub es einfach nicht, daß der Romed ein Engel gewesen ist. Engel könnten nie so sein, wie der Romed.“ Dabei blieb er auch und kein noch so gutes Zusprechen der Großmutter half darüber hinweg. Kilian stand immer abseits, auch die anderen Leute ließen ihn stehen oder sahen ihn von der Seite an, weil er einen Buckel hatte. Das fraß sich natürlich dem kleinen Kilian schon von Anfang an in die Seele und machte ihn von frühester Kindheit an einsam und verbittert. Nur der Vater, der ebenso wortkarge wie schwer arbeitende Bauer Vitus, hatte in seiner Art eine stille Liebe zu seinem Erstgeborenen, der ihm leid tat, weil er mißgestal-
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tet war und sich daher von den anderen zurückgesetzt fühlte. Oft nahm er ihn mit auf das Feld oder hinauf auf die Alm, nur, damit Kilian sowenig als möglich mit den anderen in Berührung kam. Kilian war dem Vater dankbar dafür. Er fühlte in seinem Kinderherzen, daß der Vater ihn auf seine Art liebte, und er suchte ihm diese Liebe zu vergelten, auf welche Art er nur konnte. Es war rührend anzusehen, wie der kleine Bub, der noch nicht einmal zur Schule ging, dem Vater bei der Arbeit helfen wollte. Er nahm den Rechen und arbeitete das Heu zusammen, das der Vater gemäht hatte, bis ihm der Schweiß von der kleinen Stirne tropfte. Wenn der Vater das sah, dann gab es ihm einen Stich im Herzen und eine tiefe Rührung überkam ihn, und er schloß den kleinen Kilian noch tiefer in sein Bauernherz. Was konnte der Bub auch dafür, daß die Dirn, die Urschl, ihn hatte fallen lassen und der Bub zeit seines Lebens ein Krüppel bleiben mußte? Er, der Vitus Lanzinger, haßte die Menschen deswegen, weil sie es seinen Buben entgelten ließen, daß er einen Buckel hatte, und er haderte mit dem Herrgott, der dieses Unglück zugelassen hatte. Er nahm seinen Erstgeborenen in Schutz, wo und wie und gegen wen er nur konnte und unbewußt begann er Romed, den Zweitgeborenen, zwar nicht zu hassen, aber strenger zu behandeln und Kilian zu bevorzugen. Zwar war er gegen beide Söhne gerecht, sein strenger Bauernsinn schrieb ihm das vor, aber wenn er Kilian etwas Gutes tun konnte, so tat er es. Noch jemand hing mit rührender Liebe an dem buckligen Kilian. Es war Urschl, die Magd, die das Unglück Kilians verursacht hatte. Sie schaute auf das Kind und schützte es vor so manchem Übergriff seines jüngeren Bruders und nahm es auch vor den Nachbarn in Schutz. Bauern haben keine feinfühlenden Seelen, sondern sind grobbesaitet und nehmen das Leben, das sie selbst hart hernimmt, wie es
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eben ist. Kilian hatte aber einen Buckel und war daher in ihren Augen nur ein halber Mensch und kein Arbeiter, so, wie ihn die Bauern auf dem Felde und im Stall brauchen und deshalb schauten sie ihn nur von der Seite an und hatten nur Spott und derbe Worte für ihn. Das Wort von der christlichen Nächstenliebe gilt im allgemeinen im Bauernleben nicht viel. Aber Urschl, die Magd, schlug manche Schlacht und brach so manche Lanze für Kilian, wenn auch ohne Erfolg. Kilian blieb für die Bauern der ‚bucklige Latschenbub’ und hatte sich damit abzufinden. Daß sie dem armen Buben damit bitter weh taten, war ihnen einerlei, oder es kam ihnen gar nicht zum Bewußtsein. Am meisten weh aber tat es dem kleinen Kilian, daß seine Mutter ihn so lieblos behandelte. Sie haßte den Buben seit dem Augenblick, als ihr zweiter Sohn, der Romed, geboren worden war. Vielleicht hätte sie ihre Liebe auch dann dem Romed geschenkt, wenn Kilian nicht gerade in derselben Nacht, als Romed geboren wurde, durch den unglücklichen Fall zum Krüppel geworden wäre. Sie hatte kein zweites Kind gewollt, weil sie schon das erste unter größten Schmerzen geboren hatte und sich fürchtete, noch ein zweites Kind zu gebären. Ihre Gesundheit war nie stark gewesen und sie hatte den Vitus Lanzinger ja auch nicht wegen der Kinder geheiratet. Liebe war ihr in ihrem ganzen Leben etwas Unbekanntes gewesen. Damals war sie nur des Bauern Weib geworden, weil sie eben durch die Heirat versorgt war und weil ihre Mutter, die Lena, ihr so lange zugeredet hatte, den Vitus zu nehmen, damit sie endlich die drückenden Sorgen und die ständige Not durch diese Heirat loswurden und sie nicht der Gemeinde zur Last fielen. So war sie Latschenbäuerin geworden und hatte ihrem Mann den Sohn geschenkt. Aber Liebe war keine dabeigewesen und sie hatte von Anfang an einen Widerwillen gegen ihr Kind gehabt. Als aber nun der zweite Bub
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auf die Welt kam, da schien sich mit einem Male ein Fenster in ihrem verhärteten Herzen aufzutun und sie überschüttete den zweiten Sohn mit aller Liebe, die auf einmal zu ihr gekommen war, und nahm ihn allein an ihr einsames Herz, und von der Stunde der Geburt Romeds an gehörte ihr ganzes Sinnen und Denken nur mehr dem Romed. Für ihren Mann hatte sie nie Liebe empfunden, er war ihr von jeher gleichgültig gewesen, und sie hatte sich seinen Annäherungen einfach, aber widerwillig gefügt, weil die Kirche das so verlangte. Aber den Erstgeborenen, den Kilian, hatte sie, seit Romed auf die Welt gekommen war, nicht nur einfach auf die Seite geschoben, sondern ihn zu hassen begonnen, weil sie in ihrem Unverstand und in ihrer Dummheit glaubte, daß Kilian nur deshalb zu Boden gefallen war und den Buckel davongetragen hatte, damit ihr das Leben nur noch schwerer gemacht wurde, als es ohnehin auf dem Latschenhofe schon war. Daß sie sich dabei Kilian, ihrem ersten Sohn gegenüber, in ein großes Unrecht setzte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie dachte keinen Augenblick darüber nach, daß es eigentlich ihre Pflicht als Mutter gewesen wäre, beiden Knaben mit gleicher Liebe zu begegnen, beide Kinder gleich zu behandeln und sie in gleicher Sorgfalt zu erziehen. Es war, als ob Kilian für sie einfach nicht mehr da wäre, und wenn er ihr in die Nähe kam, so schob sie ihn entweder auf die Seite oder nahm Romed an ihr Herz, oder sie war grob zu Kilian und schlug ihn womöglich für etwas, was Romed angestellt hatte. Kinder haben eine empfindsame Seele und fühlen viel tiefer als Erwachsene, ob sie jemand liebt und gut mit ihnen ist. Und verkrüppelte Kinder empfinden es doppelt, wenn man ihnen Unrecht tut und sie auf die Seite schiebt. Kilian liebte seine Mutter trotz dieser einseitigen Bevorzugung seines Bruders mit seinem ganzen heißen, kleinen Bubenherzen. Um so mehr schmerzte es ihn, wenn er sah,
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daß seine Mutter so gar nichts für ihn empfand, ja, daß sie ihm oft bitter unrecht tat, wenn sie seinem Bruder alles tat und alles zusteckte, während sie seine kindliche Liebe so schroff zurückwies. Wenn er abends nach dem Rosenkranzbeten oft seine Ärmchen um sie schlingen und sie küssen wollte, dann empfand sie das lästig und wies ihn von sich, und er mußte zuschauen, wie sie seinen Bruder herzte und küßte. Das ging sogar so weit, daß es dem Bauern auffiel und er sie deswegen einmal zur Rede stellte, warum sie Kilian so von sich wies und Romed so schöntat. Aber sie hatte nur eine wegwerfende Antwort: „Laß mich in Ruh mit dem Krüppel. Ich mag ihn einfach nicht. Ist doch zu nichts nutz, als daß ein Esser mehr an der Schüssel sitzt.“ Der Bauer, der gewiß nicht zartbesaitet war, wandte sich schweigend von seinem Weibe ab. Diese Gefühlsroheit ging sogar ihm durch Mark und Bein, der sonst für Gefühle nicht viel übrig hatte. Wie konnte eine Mutter gegen ihr eigenes Kind so herzlos sein! Er nahm den Kilian, seinen buckligen Buben, bei der Hand und ging wortlos mit ihm aus der Stube. „Bist schon noch mein lieber Bub, mein Kilian“, tröstete er seinen Buben, der sich noch mehr an ihn schmiegte. Seit diesem Tage wurde es auf dem Latschenhofe noch ungemütlicher und einsamer. Im stillen hatten sich zwei Gruppen gebildet und es schien, als ob kein Weg vom einen zum anderen mehr gehen sollte: Vitus Lanzinger, der Bauer, ging noch stummer und einsamer seiner schweren Arbeit nach. Nur Kilian begleitete ihn meistens, wenn er im Walde Holz machte oder auf den Almwiesen des Helm das Heu zusammentat. Da saßen sie dann oft nach der Arbeit auf einem Baumstamm und horchten in die Stille des Waldes hinein oder schauten von den Höhen des Helm auf das Land hinunter, das ihre Bergheimat war.
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Vitus Lanzinger zündete sich seine Pfeife an und blies dicke Rauchwolken in die Luft und seine rauhen, verarbeiteten Hände fuhren manchmal mit einer scheuen und unbeholfenen Gebärde über den Kopf und den armen Buc??kel seines Sohnes und es lag eine ganze Welt voll verhaltener Liebe und scheuer Zärtlichkeit in dieser unendlich rührenden Gebärde des Vaters zu seinem Sohne. Kilian fühlte in solchen Augenblicken, wie nahe er seinem Vater war und wie sein Vater ihn liebte. Vielleicht war der Vater der einzige, der ihm wohlwollte auf der ganzen Welt, außer der Großmutter, der alten Lena und der Magd, der kleinen verhärmten Urschl, die ihn ja beschützen wollte und es doch nicht konnte, denn sie war ja nur eine kleine arme Bauerndirn, die keine Kraft und kein Ansehen hatte; und die Großmutter, die Lena, war schon viel zu alt, als daß sie ihm hätte helfen können. Auf der anderen Seite aber war die Mutter, Stasi, die Bäuerin, die ihren Ältesten nie gemocht hatte und sich immer mehr in einen Haß gegen ihn verbiß. Besonders seit sie wußte, daß ihr Mann den Kilian an sich zog und ihn vor den Übergriffen seines jüngeren Bruders schützte, und seitdem sie fühlte, daß durch diese Einstellung des Bauern eine noch größere Entfremdung zwischen ihr und ihrem Gatten eingetreten war und die Kluft, die zwischen ihnen eigentlich schon immer bestanden hatte, sich immer mehr vergrößerte, haßte sie Kilian mit einer Inbrunst, die einer besseren Sache würdiger gewesen wäre. Obwohl der Latschenhof der höchste und einsamste im ganzen Tale war, so konnten die Verhältnisse dort auf die Dauer doch nicht den anderen Leuten verborgen bleiben. Romed, der nun schon fünf Jahre alt war, trieb sich den ganzen Tag draußen herum, und auf den Nachbarhöfen hatte man den aufgeweckten Buben recht gerne. Es war weiter kein Wunder, daß ihm die Kinder auf den anderen
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Höfen gerne folgten. Er wußte allerhand Spiele und war immer lustig. Aber immer und bei allem, was Romed entweder allein oder mit anderen Kindern anstellte, war irgendeine Teufelei dahinter. Besonders hatte er es dabei auf seinen Bruder Kilian abgesehen. So hütete Kilian an einem Sommertage das Vieh hoch droben auf den Almwiesen. Romed und ein paar andere Kinder schlichen sich an die Herde heran und versuchten die Rinder durch Steinwürfe zu zerstreuen, damit Kilian die Herde nicht mehr zusammenbrachte. Romed ließ sich mit den anderen nicht blicken. Aber wenn ein Stück von der Herde ausbrach und Kilian hinterdrein lief, schrie die ganze Bande: „Buckel, fang, Buckel, fang!“ Kilian wußte natürlich, daß sein Bruder der Anstifter war, aber er ging stumm den Rindern nach und kümmerte sich nicht um die verspottenden Zurufe. Erst, als ein Kalb von den Kindern gar zuweit getrieben wurde und Kilian vor lauter Müdigkeit schon gar nicht mehr gehen konnte, setzte er sich auf einen Stein und dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Wieder schrien die anderen Kinder: „Buckel fang, Buckel fang!“ und lachten. Kilian hätte am liebsten sterben mögen, so elend war ihm zumute. Warum mußte ausgerechnet er so arm sein und mit seinem Buckel von den anderen Kindern verspottet werden, anstatt auch mit ihnen spielen zu können wie sein Bruder Romed? Er konnte doch nichts dafür, daß gerade er einen Buckel hatte. Hätte ihn die Urschl, die Magd, damals nicht fallen lassen, hätte er keinen Buckel und hätte auch seine geraden Glieder, wie die anderen Kinder alle. Während Kilian so vor sich hinweinte und nicht mehr weiterkonnte vor lauter Weh und Müdigkeit, traf ihn ein Stein am Kopf, so daß er von dem Stein, auf dem er gesessen war, herabfiel und im Grase liegenblieb. Mit einem Male wurde es ganz still und ruhig um ihn. Er wußte nichts
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mehr. Er wußte auch nicht, daß er blutete, und sah nicht, daß die anderen Kinder sich auf einmal davongeschlichen hatten, als sie ihn hatten fallen sehen. Sie hatten nun auf einmal Furcht bekommen. Sie fühlten, daß es nicht recht gewesen war, was sie Kilian getan hatten, und hatten sich aus dem Staube gemacht, damit sie ja niemand erwischte. Anstatt dem armen Kilian zu helfen, hatten sie sich feig gedrückt. Mochte Kilian sehen, wie er zurechtkam. So fand ihn der Lehrer Nikolaus Watschinger, der gerade von einer Bergwanderung heimwärts ging. Er sah die kleine Bubengestalt im Grase liegen, still und stumm, und glaubte im ersten Augenblick an ein Unglück. Er hob den Buben auf und bemerkte erst jetzt, daß er aus einer Wunde am Kopf blutete. Als er die Wunde notdürftig gereinigt und verbunden hatte, machte Kilian die Augen auf und schaute verängstigt in das Gesicht des Lehrers. Seine ersten Worte waren: „Das Vieh! Wo sind die Kalben? Ich bekomme von der Mutter Schläge, wenn ich nicht rechtzeitig mit dem Vieh heimkomme!“ Der Lehrer beruhigte ihn: „Mach dir keine Sorgen. Ich helf' dir schon, das Vieh heimtreiben. Aber was ist denn mit dir, bist du gefallen, daß du blutest?“ Kilian sagte nichts. Er nickte nur mit dem Kopfe. Nicht um alles in der Welt, hätte er gesagt, daß die anderen Kinder ihn verspottet und ihm das Vieh durch Steinwürfe vertrieben hatten. Aber er staunte nur, daß es auf der Welt noch Menschen gab außer seinem Vater, seiner Großmutter und Urschl, die ihn nicht verspotteten, sondern gut zu ihm waren. So etwas hatte er noch nie erlebt und eine tiefe Dankbarkeit zu dem fremden Mann überkam ihn. Der Lehrer Nikolaus Watschinger hatte schon öfter von den Leuten am Latschenhof gehört und daß ganz eigenartige Verhältnisse auf dem Hofe herrschten. Er hatte auch gehört, daß
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der ältere Sohn Kilian bucklig und der zweite Sohn Romed schon jetzt ein kleiner Taugenichts war. „Du bist wohl der Kilian vom Latschenhof?“ fragte er den Buben, der nun eifrig nickte. Der Lehrer half dem Buben das Vieh zusammentreiben und ging mit ihm abwärts zum Hofe. Vor dem Hause stand schon keifend die Bäuerin und hinter ihr versteckte sich hämisch grinsend Romed. Die Bäuerin wollte Kilian gleich mit einer Flut von Schimpfworten und Schmähungen empfangen, aber der Lehrer kam ihr zuvor: „Laß den Buben in Ruh, Bäuerin. Wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre, läge er wahrscheinlich noch bewußtlos droben im Grase und verblutete womöglich.“ Aber so schnell war die Bäuerin nicht zu überzeugen. „Der Faulpelz wird nur geschlafen haben und ist irgendwo herabgefallen“, wollte sie einwenden. Aber der Lehrer, den die ungute Art der Bäuerin ärgerte, zeigte kurzerhand die Wunde am Hinterkopf des Buben. „Wißt Ihr, Bäuerin, von was diese Wunde kommt? Die kommt von einem Steinwurf und es ist nur ein großes Glück, daß nicht mehr geschehen ist. Ich glaube nicht viel zu fehlen, wenn ich rate, wer den Stein geworfen hat.“ Romed hatte sich bei diesen Worten sofort verzogen. Es wurde ihm doch etwas unheimlich bei diesen Worten des Lehrers. Wenn der Vater das erfährt, dann gibt es Prügel, dachte er, es ist besser, ich bin möglichst weit vom Schuß. Die Bäuerin machte immer noch ein böses Gesicht. Sie konnte es einfach nicht glauben, daß ihr Liebling, der Romed, auf seinen älteren Bruder einen Stein geworfen hatte. „Wird schon nicht so arg gewesen sein. Der Romed hat ihn höchstens aufwecken wollen, den Faulpelz da“, erwiderte sie dem Lehrer mit finsterem Gesicht. Der Lehrer stand vor einem Rätsel. Noch nie war ihm ei-
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ne solche Mutter untergekommen, die auf eine so ungerechte Weise den Übeltäter in Schutz nahm und den anderen Sohn einfach verurteilte, ohne überhaupt zu wissen, wie sich die ganze Sache überhaupt ereignet hatte. Aber ein Blick auf das zankende Weib genügte ihm. Das sagte ihm genug. Er beschloß im stillen bei sich, sich mehr um den armen Krüppel anzunehmen, der zu Hause so ungerecht behandelt wurde. So gab er dem Knaben freundlich die Hand und verabschiedete sich von ihm. „Behüt dich Gott, Kilian, und wenn du einmal Zeit hast und der Vater es dir erlaubt, dann kommst du einmal zu mir in das Schulhaus. Ich werde dir ein schönes Buch zeigen.“ Kilians Augen leuchteten bei diesen Worten auf, als wären plötzlich lauter Sterne am Himmel aufgezogen. Für sein Leben gerne las er Bücher. Lesen konnte er schon. Die Großmutter hatte es ihm notdürftig beigebracht und seither verschlang er jedes Buch, dessen er nur habhaft werden konnte, ganz einerlei, was drin stand. Die biblische Geschichte hatte er ebenso gelesen wie eine alte Heiligenlegende, die ihm die Großmutter einmal aus dem Dorfe mitgebracht hatte. Sogar den Universalkalender, den ein fremder Knecht einmal liegengelassen hatte, hatte er verschlungen, wenn er droben auf den Almwiesen am Helm das Vieh gehütet hatte. Wer doch auch so schöne Geschichten schreiben könnte, wie sie da in dem Kalender standen. Und nun sollte er vom Lehrer Bücher bekommen. Es war gar nicht auszudenken, wie schön das werden würde und sein kleines Bubenherz klopfte ihm schon jetzt vor lauter Begeisterung und Aufregung bis zum Halse hinauf. Aber die rauhe Stimme der Mutter riß ihn aus diesen schönen Träumen in die Wirklichkeit zurück. „Jetzt marsch, in den Stall, Futter aufschütten. Laß es dir ja nicht einfallen, zu dem verrückten Lehrer um Bücher zu
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gehen. Daß du noch närrischer und spinneter wirst und zur Arbeit noch weniger taugst als bisher, da wird nichts daraus. Der Lehrer soll sich seine Bücher nur selbst lesen; das ist höchstens etwas für Studierte und Stadtleut, die sonst nichts zu tun haben. Wir Bauersleut haben Gescheiteres zu tun. Laß es dir gesagt sein: Wenn ich dich einmal mit einem Buch antreffen sollte, das zerreiß ich dir und schlag es dir um die Ohren und der Lehrer mag sich die einzelnen Blätter auf dem Misthaufen zusammensuchen.“ Kilian kämpfte mit den aufsteigenden Tränen. Er hatte sich das schon so schön vorgestellt mit den Büchern und mit dem Lesen und nun sollte das alles nichts sein. Er kannte seine Mutter nur allzu gut und wußte, daß sie das wahr zu machen imstande war. Ja, wenn es der Romed gewesen wäre, dann hätte sie wahrscheinlich nichts gesagt. Der Romed durfte bei der Mutter alles tun. Da war alles schön und recht. Nur er durfte nichts tun und durfte keine Freude haben. Nicht einmal ein Buch gönnte sie ihm. Er konnte es nicht verwinden, doch der Mutter zu entgegnen: „Aber der Lehrer hat doch gesagt…“ Aber da klatschte die Hand der Mutter schon auf seine Wange. „Da gibts kein Aber. Still bist, du Mistbub, du nichtsnutziger, und nun schaust, daß du in den Stall kommst. Bist ja sonst auch zu nichts zu brauchen mit deinem Buckel.“ Kilian schlich sich wie ein geprügeltes Tier in den Stall, aber ein unbändiger Haß gegen seinen Bruder Romed stieg in ihm auf. Was konnte er dafür, daß er einen Buckel hatte und Romed nicht? Warum schimpfte die Mutter immer nur mit ihm und lobte den jüngeren Bruder, der nicht soviel arbeiten mußte und dem die Mutter alles durchgehen ließ? Sein kleines Bubenherz zog sich in heißem Schmerz zusammen und er fühlte sich ausgestoßen von den anderen. Es war, als ob ihn alle Menschen in einen dunklen, stillen Winkel gedrückt hätten, zu dem kein Sonnenstrahl und
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keine Wärme drang. Alle Menschen? Nein, der Lehrer hatte ihn verbunden, hatte ihm geholfen, das Vieh zusammenzutreiben, und war mit ihm heimgegangen und hatte gute Worte zu ihm gesprochen. Nicht alle Leute waren so wie seine Mutter, die nur seinen Buckel sah und mit ihm schimpfte, auch wenn er gar nichts Schlechtes getan hatte. Eine kindliche Dankbarkeit gegen den Lehrer durchzog sein Herz und wenn ihm die Mutter auch verboten hatte, zum Lehrer zu gehen, um Bücher auszuleihen, so war er dem Lehrer doch schon dankbar dafür, daß er so gut mit ihm gewesen war. Als die beiden Buben abends nach dem Rosenkranz auf ihren harten Strohsäcken lagen, zischte der jüngere Romed in verhaltenem Zorn seinem Bruder zu: „Du, das sag ich dir, wenn du etwas dem Vater sagst, dann wirst schon sehen, was dir passiert. Immer ist nicht der Lehrer da, hinter dem du dich verstecken kannst.“ Kilian gab seinem Bruder keine Antwort. Er hatte dem Vater noch nie etwas gesagt, wenn Romed ihm etwas angetan hatte und würde es auch heute nicht tun. Aber er hielt es unter seiner Würde, seinem Bruder auch nur zu antworten. So viel war er schon selber, daß er sich wehren konnte, wahrend Romed bald unbekümmert schlief, lag Kilian noch lange wach und dachte darüber nach, wie ungerecht es auf der Welt doch zugehe. Aber der Vater hatte es doch erfahren, was sich ereignet hatte, zwar nicht von seinem Ältesten, sondern vom Lehrer. Nikolaus Watschinger war über das schroffe Benehmen der Latschenbäuerin entsetzt und noch mehr über die offensichtliche Ungerechtigkeit, mit der sie den armen buckligen Sohn behandelte. Konnte eine Mutter gegen den eigenen Sohn, der doch genauso ihr Kind war wie der andere Sohn, überhaupt so kalt und herzlos sein? Das war ihm vollkommen unverständlich; wenn er daran dachte, wie
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seine eigene Mutter gegen alle ihre Kinder – es waren immerhin ein halbes Dutzend bei ihm daheim gewesen – gleich gütig und voller Liebe war und keines dem anderen jemals vorgezogen hatte, so konnte er nur über die Affenliebe der Bäuerin zu ihrem jüngsten Sohne, der ja auch letzten Endes die Ungerechtigkeit gegen Kilian entsprang, den Kopf schütteln. Er nahm sich aber vor, mit dem Bauern zu sprechen, von dem er wußte, daß er zwar ein schweigsamer, aber gerechter Mann war. Einige Wochen mochten wohl vergangen sein, als der Lehrer den Latschenbauern im Dorfe traf. Vitus Lanzinger kam selten ins Dorf und wenn er schon einmal hinunter kam, dann ging sein Weg zum Krämer und in die Tabaktrafik und nur höchst selten einmal, daß er in der ‚Post’ ein Viertel Wein trank. Er war ebenso sparsam wie schweigsam und liebte die Einsamkeit auf seinem Latschenhof über alles. Aber heute hatte er beim Metzger ein Kalb verkauft und da wollte er noch ein wenig verschnaufen, wie er sagte, und setzte sich in die Bauernstube des Postgasthofes. Ein paar Bauern spielten Karten, das interessierte ihn nicht. Er hatte nie eine Karte in der Hand gehabt. Das Kartenspielen hat der Teufel erfunden, pflegte er zu sagen. So saß er still in seiner Ecke und blies den Rauch aus seiner Pfeife, als draußen der Lehrer vorbeiging und ihn in der Stube sitzen sah. Der Lehrer hatte die Szene von damals nicht vergessen und er wollte dem armen buckligen Kilian helfen. So ging er in die Stube und setzte sich zu Vitus Lanzinger. Der Bauer war ziemlich erstaunt, als der Lehrer sich zu ihm setzte. Aber er konnte nicht gut einfach aufstehen und davongehen. „Ich habe schon lange mit dir einmal reden wollen, Latschenbauer, nur habe ich dich nicht getroffen und ich möchte gleich sagen, daß mich die Sache eigentlich ja nichts angeht, aber ich kann es einfach nicht mit ansehen,
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wie dein armer Bub, der Kilian, behandelt wird.“ Und der Lehrer erzählte dem Bauern die Geschichte, wie er den Kilian blutend im Grase gefunden und ihm geholfen habe, das Vieh zusammenzutreiben, und wie die Bäuerin daheim den armen Buben ausgeschimpft habe, anstatt ihm mit Mitleid zu haben. „Ich habe dir schon gesagt, daß mich die ganze Sache eigentlich nichts angeht und es ist auch nicht meine Sache, mich in anderer Leute Dinge einzumischen. Aber ich kenn dich, Latschenbauer, als einen grundehrlichen Menschen und kann nicht annehmen, daß du das alles gutheißen kannst, was an dem armen buckligen Kilian von deinem Weib, der Stasi, und dem kleinen Romed gesündigt wird. Der Kilian ist schon von Natur aus durch seinen Buckel genug benachteiligt und solche Kinder haben ein feineres Gefühl für Ungerechtigkeiten, die man ihnen antut, als andere. Der Kilian muß ja so verbittert werden, wenn ihm seine eigene Mutter solches Unrecht antut, und da meine ich halt, daß du als Bauer auch noch ein Wort mitzureden hättest.“ Vitus Lanzinger knirschte mit den Zähnen, als der Lehrer ihm diese Geschichte erzählte. So weit war es also schon, daß man im Dorf von der Stasi und dem Romed sich erzählte, wie sie den armen Kilian behandelten. Er sagte lange nichts zum Lehrer, ehe er die Pfeife aus dem Munde tat und aufstand. „Ich dank schön, Herr Lehrer. Ich hab nichts von der ganzen Sache gewußt. Kein Mensch hat mir etwas davon gesagt. Daß mein Weib, die Stasi, den armen Buben, den Kilian, nicht mag, weiß ich schon lange, und daß sie dem Mistbuben, dem Romed, hinten und vorne alles hineinsteckt, weiß, ich auch. Lange hab ich zugeschaut, ich will keinen Streit im Haus und es liegt mir nicht, lange Predigten zu halten. Aber das, was Sie mir da erzählt haben, geht
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zu weit. Sie können sich drauf verlassen, daß ich Ruhe und Ordnung am Latschenhof immer noch selber herstellen kann. Vergelt's Gott, daß Sie mir das gesagt haben.“ Man sah es dem Latschenbauern im Gesicht an, wie es in seinem Inneren arbeitete. Was die Stasi nur gegen den armen Kilian hatte, daß sie ihn so verfolgte? Er hatte sich schon lange nicht mehr um sie als Weib gekümmert. Sie hatten sich nie so recht verstanden, aber er hatte doch immer noch die Herrschaft im Hause geführt. Bauer war er und kein anderer und da hatte ihm kein Mensch etwas dreinzureden, auch nicht sein Weib, die Bäuerin. An diesem Abend hatte Vitus Lanzinger mit seiner Bäuerin, der Stasi, eine lange Unterredung. Die Stasi fürchtete ihren Mann und als er nach dem Rosenkranz zu ihr sagte, sie möge noch in der Stube bleiben, da fürchtete sie sich noch mehr, denn sie hatte schon eine Ahnung davon, was nun kommen werde. Sicher hatte der Lehrer den Bauern getroffen und ihm von der dummen Geschichte mit dem Kilian erzählt. Daß Kilian selbst nichts gesagt hatte, davon war sie überzeugt, denn so viel kannte sie Kilian schon, daß er nichts dem Bauern gesagt hatte. Petzen lag dem buckligen Buben nicht, dazu war er zu stolz. Sie wußte auch, daß sie im Unrecht war, als sie dem Romed geholfen hatte, aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Den Romed liebte sie ebenso, wie sie den Kilian haßte, obwohl beide ihre eigenen Kinder waren. Als die Magd, die kleine Urschl, und der Knecht Pankraz und die alte Mutter gegangen waren, zündete Vitus sich zunächst einmal umständlich seine Pfeife an und blies dikke Wolken in die Stube, daß die Bäuerin zu husten anfing. Sie konnte diesen Rauch und den Gestank nun einmal nicht leiden und außerdem bildete sie sich ein, daß sie es auf der Lunge habe und daher den Rauch nicht vertrage. Eine Zeitlang saßen sich der Bauer und die Bäuerin schweigend ge-
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genüber und erst als die Bäuerin fragte, was der Bauer denn eigentlich von ihr wolle, nahm Vitus die Pfeife aus dem Mund und begann gemächlich zu sprechen: „Das weißt du ganz genau, Stasi, es ist nur eine Schande, daß man von fremden Leuten hören muß, wie es auf dem eigenen Hof zugeht. Mir sagt keiner ein Wort von dem, was da vorgeht.“ „Ich versteh dich nicht, Bauer“, erwiderte die Bäuerin. „Du verstehst mich ganz gut. Was ist denn neulich wieder mit den beiden Buben passiert?“ fragte er scharf dagegen. „Was soll denn schon passiert sein?“ „Wenn du es wirklich nicht weißt, dann muß ich deinem schwachen Gedächtnis nachhelfen. Hab heute den Lehrer, den Nikolaus Watschinger, drunten in der Post getroffen und er hat mir erzählt, wie er neulich den Kilian auf der Almwiese getroffen hat. Im Gras ist er gelegen und geblutet hat er und geweint, weil ihm das Vieh davon ist.“ „Wird wohl wieder einmal geschlafen haben, der Buckel, der nichtsnutzige!“ wollte die Stasi dagegen aufbegehren, aber dem Bauern schwollen die Adern auf der Stirn. „Der Kilian hat nicht geschlafen. Mit Steinen haben die anderen Buben nach ihm geworfen und den armen Buben wegen seines Buckels verhöhnt. Und der Romed ist der Anführer gewesen. Die anderen Buben haben es dem Lehrer erzählt, als er sie fragte. Und du hast dazu noch den Kilian ausgeschimpft und den Romed für seine Schandtat in Schutz genommen. Weib, Weib, hast du denn keinen Funken Mutterliebe für dein eigenes Kind im Herzen?“ Die Bäuerin tat sehr erstaunt, aber ihr Gesicht verzog sich zu einem häßlichen Lachen. „Wird schon nicht so arg gewesen sein. Der Kilian macht nur wieder einmal aus einer Mücke einen Elefanten und du fällst ihm natürlich wieder darauf hinein. Der Romed tut
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keinem Menschen etwas zuleide.“ „Weit gefehlt hast, Stasi: Der Kilian hat mir kein Wort von dem allem erzählt. Wenn nicht zufällig der Lehrer vorbeigekommen wäre, wäre es dem Kilian wahrscheinlich schlecht gegangen.“ „Das ist nicht wahr. Der Buckel will nur alles zu seinen Gunsten auslegen.“ Aber jetzt wurde Vitus wirklich zornig: „Jetzt bist aber still, Stasi. Ich kenn deinen Haß gegen den armen Hascher und wo du kannst, willst du ihm etwas Schlechtes antun. Aber das sag ich dir heute und merke dir's ein für allemal, wenn ich noch das geringste höre, daß der Romed seinen Bruder verfolgt und du dem Romed noch dazu hilfst, dann sollt ihr mich kennenlernen, alle beide, du und der Romed. Noch bin ich der Herr im Hause und bleibe es auch. Wenn du schon nicht so viel Mutterliebe zu deinem Ältesten aufbringst, obwohl du alle Tage in die Kirche rennst, daß du ihn gleich haltest wie den Romed, dann laß ihn in Zukunft wenigstens in Ruhe. Der Bub steht von nun an unter meinem persönlichen Schutz und wehe, wenn ich noch das geringste hören sollte. Nicht genug, daß der arme Bub schon für sein ganzes Leben gezeichnet ist, wo er überhaupt nichts dafür kann, verfolgst du ihn noch, wo du nur kannst. Du solltest dich schämen, so mit dem armen Buben umzugehen, aber du kannst ja nichts anderes als die Dummheiten und Schlechtigkeiten des anderen Buben zu unterstützen. Darfst nicht etwa glauben, daß dir das der Romed dankt. Der wird noch einmal ein ganz besonderes Früchtl, wenn das so weitergeht.“ Die Bäuerin senkte bei den Worten ihres Bauern den Blick. Sie kannte ihren Mann und wußte, daß es keine Widerrede gab. Aber dem Buckel, dem Kilian, wollte sie's schon heimzahlen, daß er alles dem Bauern verraten hatte, denn daß der Bauer etwas vom Lehrer erfahren haben soll-
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te, glaubte sie einfach nicht, das war nur eine faule Ausrede, um den Kilian zu schützen. Hätte der Bauer das Gesicht der Bäuerin in diesem Augenblick sehen können, wäre er vor diesem abgrundtiefen Haßblick erschrocken, aber er hatte schon wieder seine Pfeife in den Mund genommen und paffte dicke Wolken in die Stube. „Hast sonst noch etwas mit mir zu besprechen?“ fragte sie spitz. Der Bauer machte mit der Hand eine ablehnende Bewegung. „Mir langt das eine grad genug. Merk dir's, Stasi, ich verstehe keinen Spaß und was ich einmal gesagt habe, das gilt.“
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Seit jenem Abend hatte Kilian wenigstens daheim seine Ruhe, wenn auch die Behandlung der Mutter weiterhin so kalt und herzlos und man konnte fast sagen, auf Feindschaft aufgebaut war. Sie hatte gegen ihren Ältesten seit dieser denkwürdigen Unterredung mit ihrem Mann womöglich einen noch tieferen Haß gefaßt, wenn sie sich auch nicht mehr getraute, diesem Haß in Schlägen oder in wüsten Schimpfereien gegen ihren Sohn nachdrücklicher Ausdruck zu verleihen. Den Bauern fürchtete sie und wußte, daß er in allem, was gerade den Ältesten anlangte, keinen Spaß verstand. Sie wußte, daß er sogar vor einer körperlichen Züchtigung und Demütigung nicht zurückschrecken würde, wenn er daraufkam, daß sie sich seinen Anordnungen widersetzte, und sie mußte froh sein, daß der Bauer ihrer alten Mutter, der Lena, auf dem Hofe den Altenteil zubilligte, wozu er gar keine Verpflichtung hatte. So
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suchte sie sich eben auf andere Weise zu rächen, indem sie ihren zweiten Sohn Romed noch mehr bevorzugte und ihm noch mehr zusteckte, als früher. Namentlich wenn beide Buben, Kilian und Romed, anwesend waren, ließ sie Kilian absichtlich außer acht und strich um den Romed herum wie eine Henne um ihre Kücken. Sie nahm ihn dem Vater gegenüber noch mehr in Schutz als bisher und versuchte jede Schuld auf Kilian zu schieben, wenn Romed wieder einmal etwas angestellt hatte. Aber damit hatte sie kein Glück. Der Bauer sagte höchstens: „Laß mir den Kilian in Ruh“ und ging seines Weges, um weiteren Keifereien der Bäuerin auszuweichen. Und je mehr sie einsah, daß sie beim Bauern nichts gegen Kilian ausrichtete, desto tiefer wurde ihr Haß gegen Kilian. Romed, der nun fünf Jahre alt war, wußte das alles trotz seiner Kindheit bald auszunützen und freute sich nur, daß seine Mutter ihn immer in Schutz nahm, und um so mehr tat er seinem Bruder an. Aber bald begnügte er sich nicht mehr damit, seinen Bruder mit Bosheiten zu verfolgen und ihm das Leben schwer zu machen, er suchte sich ein anderes Betätigungsfeld, das ihm auch etwas eintrug. Der Bäuerin war es schon seit einiger Zeit aufgefallen, daß ihre Hennen so wenig Eier legten, und sie konnte sich das nicht erklären. Sie glaubte, die Hennen habe eine Krankheit befallen und wollte schon mit dem Bauern darüber sprechen, als sie eines Tages auf des Rätsels sehr einfache Lösung und auf die mutmaßliche Krankheit der Hennen kam. Eines Abends ging sie wieder zu den ihr bekannten Legeplätzen der Hennen und sah gerade, wie ihr Sohn Romed die Eier ausnahm und einsteckte. Zuerst war sie so starr, daß sie gar nichts zu sagen vermochte. Erst nach einer Weile trat sie zu dem Buben. „Aber Romed, was tust du denn da?“ Romed aber, der kleine Knirps, weit entfernt, er-
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schrocken zu sein, drehte sich nicht einmal zu seiner Mutter um. „Siehst es eh! Eier ausnehmen tu ich, was fragst mich denn so dumm?“ „Das darfst du doch nicht. Die Eier gehören mir und mit dem Geld, was ich dafür einnehme, muß ich doch dir und dem Kilian Gewand und Schuhe kaufen. Die Eier mußt du schon mir lassen, weil ich das Eiergeld ja zur Wirtschaft brauche.“ Aber den Buben schien das nicht im geringsten zu rühren. „Wenn du ein Geld brauchst, kannst du ja zum Vater gehen. Der hat doch Geld. Wegen der paar lumpigen Eier kommt es schon auch nicht mehr drauf an.“ Zum ersten Male in ihrem Leben wußte sich die Bäuerin Stasi mit ihrem Romed nicht zu helfen. In ihrem einfachen Denken aber stieg ein drohendes Bild auf. Wenn der fünfjährige Bub heute schon Eier stahl und sie verkaufte, was sollte später einmal aus ihm werden? Aber ihre Affenliebe zu ihrem Sohne ließ diese warnende Stimme sogleich wieder verstummen. Nein, nein, der Romed war kein schlechtes Kind, er konnte einfach kein schlechtes Kind sein. Nur der Größere, der bucklige Kilian, dieser Duckmäuser, der gleich zum Bauern lief und sie und den Romed anzuschwärzen versuchte, der war ein schlechtes Kind. Sicher hatte auch Kilian Eier gestohlen und wenn sie dem Kilian draufkam, dann konnte er sich freuen, dann hatte sie endlich Gelegenheit, dem Bauern zu zeigen, welcher von seinen beiden Buben der schlechtere war. Sie verlegte sich aufs Bitten. „Gelt, Romed, das tust du nicht mehr, daß du mir die Eier ausnimmst. Weißt du, das darfst du nicht, das wäre ja gestohlen.“ Der Bub lachte nur kurz.
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„Was ist denn das: gestohlen?“ fragte er hämisch. „Gestohlen ist, wenn du etwas nimmst, was dir nicht gehört, wie zum Beispiel die Eier da“, antwortete die Stasi. „Aber das sind doch unsere Hennen und keine fremden. Und was unsere Hennen legen, das dürfen wir doch alle haben, du, der Vater, mein Bruder und ich.“ Die Bäuerin seufzte. Wie sollte sie dem Buben denn das beibringen, daß er die Eier nicht nehmen durfte? Eine Zeitlang strengte sie ihr Bauernhirn an, um die richtige Antwort zu finden. Denken war nie ihre starke Seite gewesen. Aber endlich schien ihr doch etwas einzufallen. „Für dieses Mal schenke ich dir die Eier, also sind sie auch nicht gestohlen. Aber wenn ich oder der Bauer beim Kilian oder bei dir Eier finden sollten, dann ist es Diebstahl; und dann muß ich es dem Bauern sagen und du weißt, daß dein Vater in diesen Dingen keinen Spaß versteht.“ Romed aber warf ihr die Eier vor die Füße, daß sie alle zersprangen. „Behalt dir deine Eier, ich brauche sie nicht. Ich bekomme auch anderswo Eier, wenn ich welche haben will.“ Damit ging er vom Heuboden und ließ die entsetzte Mutter allein zurück. Dem Buben aber klangen die Worte der Mutter in den Ohren, wenn ich oder der Bauer bei dir oder dem Kilian Eier finden sollte… Das gab doch die beste Gelegenheit, dem verhaßten Bruder eines auszuwischen, und gleich faßte er auch schon einen teuflischen Plan. Kilian wußte von der ganzen Sache nichts und kümmerte sich auch nicht darum, was daheim vor sich ging. Er empfand es sehr gut, daß die Mutter und sein jüngerer Bruder ihn mehr in Ruhe ließen und nicht mehr so verfolgten wie bisher. Er ahnte wohl, daß sein Vater die Hand schützend über ihn breitete, aber er wagte es nicht, auch zu seinem
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Vater eine Bemerkung zu machen. Einige Male noch hatte er den Lehrer Nikolaus Watschinger getroffen, für den er eine stille Liebe hegte, und dieser hatte ihm sogar einmal Bücher gegeben. Ein Buch mit Sagen über Südtirol. Dietrich von Bern und der Zwergkönig Laurin in seinem Rosengarten kamen darin vor, die Schlernhexen und die saugen Fräulein von der Fannesalpe, die bei Mondenschein aus dem silberglänzenden Limasee aufstiegen und sich die Hirten und Holzfäller zu Männern erkoren und sie dann auf den Grund des Sees zogen. Tausend schöne Geschichten, die Kilian in seiner Einsamkeit las und die seiner lebhaften Phantasie Bilder vorzauberten, die so schön waren, daß der arme, bucklige Bub ganz schwindlig davon wurde. Die Mutter hatte wohl einmal ein Buch bei ihm gesehen, hatte aber nur ein finsteres Gesicht gemacht und sich offenbar nichts zu sagen getraut, weil Kilian seine Arbeit in keiner Weise vernachlässigte, weder beim Hüten des Viehes noch im Stall, sondern womöglich noch fleißiger als früher war. In seiner Einsamkeit, wenn er auf den Almwiesen das Vieh hütete, fragte er sich oft im stillen, warum auf der Welt die Leute doch so verschieden seien. Es gab keine größeren Gegensätze als den Vater und die Mutter oder auch seinen Bruder Romed und ihn. Er fühlte und wußte doch, daß seine Mutter ihn haßte, aber er vermochte keinen Grund für diesen Haß zu finden. Er liebte seine Mutter genauso wie seinen Vater, obwohl er keinen Weg zu ihrem Herzen finden konnte. Er hatte in seinen Kinderjahren schon manche Ungerechtigkeiten anderer Leute wegen seines Buc??kels einstecken müssen. Die Menschen hatte er mit wenigen Ausnahmen als roh und gemein kennengelernt und hauptsächlich die Kinder waren es, die ihm nachliefen und ihn verspotteten. Was konnte er dazu, daß gerade er einen ausgewachsenen Buckel zeit seines Lebens mit sich herumtragen mußte? Was hatte er denn verbrochen, daß der Herr-
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gott ihn so schwer gestraft hatte? Warum wurde er deshalb verlacht und von allen Freuden der Kindheit, von den Spielen der anderen Kinder ausgeschlossen? Und warum haßte ihn die Mutter? Vielleicht auch nur deswegen, weil er einen Buckel hatte, und zog den jüngeren Bruder ihm überall vor? Sein kindliches Gemüt fand aus diesem Dilemma keinen Ausweg. Kinder denken ja noch nicht, sondern sie versuchen mit dem Gefühl in Fragen der Seele einzudringen. Was die Menschen sich mit ihrer ganzen Philosophie und Logik zusammendenken, das versuchen die Kinder mit ihrem unverdorbenen Herzen zu erforschen; und das Gefühlsleben eines Kindes reicht oft in Tiefen, bis zu denen keine Logik und keine Philosophie zu dringen vermögen. Und wenn das Kind noch dazu mit einem körperlichen Fehler behaftet ist, der es von den anderen Kindern absondert und von vielem ausschließt, was anderen Kindern zugänglich ist, dann vertieft sich dieses kindliche Sinnen noch bedeutend. Alles, was diesen Kindern an äußerlichen Dingen verschlossen bleibt, erleben sie mit ihrem Herzen und in ihrer Seele doppelt und dreifach. Wie gerne hätte Kilian sich manchmal mit jemandem ausgesprochen. Aber zur Mutter konnte er mit seinen Gedanken nicht kommen. Schon deswegen nicht, weil er wußte, daß sie ihn haßte, und wahrscheinlich hätte sie ihn auch gar nicht verstanden. Höchstens, daß er Schläge und böse Worte von ihr bekommen hätte; und zum Vater getraute er sich nicht. Wohl war der Vater immer gut zu ihm, aber er war ein einfacher, schweigsamer Bauer, und der Bub fühlte, daß ihn der Vater nicht verstehen würde. Sein ganzes Sinnen und Trachten galt nur der harten Bauernarbeit und dem Vieh. Einmal hatte Kilian mit seiner Großmutter, der alten Lena, darüber sprechen wollen, warum denn seine Mutter den Romed liebe und ihn nicht. Aber die
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Großmutter hatte nur die Hände zusammengeschlagen und ihm gesagt, er solle sich nicht gegen seine Mutter versündigen und sich die dummen Gedanken aus dem Kopf schlagen. So blieb ihm nur der Lehrer Nikolaus Watschinger; und den fragte er auch, als er ihn einmal auf der Alm traf. Er wußte nicht, daß der Lehrer ihn schon seit jenem Tage beobachtete, als er ihn auf der Almwiese gefunden hatte und daß er deswegen oft einen Spaziergang auf den Helm machte, um ihn zu treffen und sich mit ihm zu unterhalten. Nikolaus Watschinger ahnte, daß in diesem armen buckligen Bauernbuben ein heller Geist steckte und daß er das Bedürfnis hatte, sich mit einem Menschen auszusprechen, zu dem er Vertrauen fassen konnte und der für das einsame Kind mehr Verständnis hatte, als die Leute am Latschenhofe aufbrachten. Als Kilian Lanzinger dem Lehrer sein Leid klagte und ihn fragte, warum gerade er einen Buckel hatte und warum die anderen Kinder ihn deshalb verhöhnten, tröstete ihn der Lehrer, so gut er konnte. „Weißt du, Kilian, ein jeder Mensch hat sein Schicksal schon in die Wiege mitbekommen und dagegen kann er sich nicht auflehnen. Aber was dem einen die Natur nach außen versagt hat, das gibt sie ihm wieder mehr nach innen. Schau nur einmal, wie es bei dir und deinem Bruder ist. Der Romed wird zeit seines Lebens keine Freude an Büchern und schönen Geschichten haben, während du mit jedem Buche und mit jeder schönen Geschichte eine Freude hast. Du bist heute noch zu klein, um das so richtig zu verstehen. Erst wenn du einmal größer bist, wirst du sehen, daß du gar nicht so arm und benachteiligt bist, wie du dich jetzt fühlst. Da tut sich dir eine ganz andere Welt auf als den anderen Kindern. Du wirst die Berge ganz anders sehen und die Wiesen. Jedes Gräslein wird dir etwas zu sa-
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gen haben und jede Blume, die auf den Wiesen wächst. Und was die Menschen betrifft, deine Mutter zum Beispiel oder deinen Bruder Romed, so mußt du ihnen das nicht übelnehmen, daß sie so ganz anders sind als du. Es sind alles Menschen, und keiner kann aus seiner Haut heraus. Wie ihn der Herrgott geschaffen, so ist der Mensch nun einmal. Der eine hat eben mehr Gefühl und Herz für seinen Nächsten und der andere weniger. Sie meinen es nicht schlecht, sie sind nur eben anders als die anderen, anders als du und ich zum Beispiel.“ In den Augen Kilians leuchtete es dankbar auf, und am liebsten hätte er den Lehrer wohl abgeküßt. Aber er war zu scheu dazu, denn Küssen war etwas, was man am Latschenhof nicht kannte. Es war zum ersten Male in seinem jungen Leben, daß ein Mensch so zu ihm gesprochen hatte. Freilich verstand er nicht alles, was der Lehrer zu ihm gesagt hatte, aber er fühlte in seiner kleinen Bubenseele, daß der Lehrer ein guter Mensch war, der es auch gut mit ihm meinte. Er mußte daran denken, daß er stundenlang vor einem Ameisenhaufen sitzen und den fleißigen Ameisen zusehen konnte, wie sie geschäftig hin- und hereilten, während sein kleiner Bruder Romed nur Freude empfand, wenn er den Ameisenhaufen zerstören konnte. Oder er schaute eine Blume auf der Wiese an, und er fühlte geradezu einen körperlichen Schmerz, wenn eine Kuh diese Blume abgraste und sie verspeiste. Er begann zu ahnen, daß es viele Dinge gab, die er sich noch nicht erklären konnte, die aber ein Teil von jener Welt sein mußten, von der der Lehrer ihm erzählt hatte. Sein armer, buckliger Körper wurde mit einem Male von einem Schluchzen geschüttelt, und er konnte nicht anders, er warf sich in das Gras und ließ seinen Tränen freien Lauf. Der Lehrer hob den Buben auf und legte einen Arm um ihn, und der Bub brachte unter Tränen die Worte heraus:
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„Aber es ist alles so schwer und kein Mensch mag mich.“ Der Lehrer strich dem Knaben über das Haar. „Ja, mein lieber Kilian, das Leben ist nun einmal nicht leicht. Nur daß es die einen eben leichter nehmen und die anderen schwerer. Wenn ich jetzt ein Pfarrer wäre, würde ich dir eine Predigt halten, daß der Herrgott jedem Menschen nur so viel auferlegt, als er ertragen kann. So bin ich kein Pfarrer und das Predigen liegt mir nicht. Aber es ist schon etwas Wahres daran an diesen Worten. Es kommt nur darauf an, wie jeder sein Kreuz trägt. Der eine kümmert sich nicht viel darum und geht unbekümmert seine Wege, und wenn ihm etwas in den Weg läuft, was ihm nicht paßt, so schüttelt er es einfach ab wie ein Hund das Wasser, in das er gefallen ist. Der andere trägt aber sein Schicksal mit sich herum und müht sich redlich ab, es zu ertragen. Im Grunde aber kommt es bei dem einen wie bei dem anderen darauf an, daß man nicht an sich selbst verzweifelt. Das mußt du dir für dein ganzes Leben merken: Du darfst nie dich selber aufgeben. Wenn der Herrgott einem Menschen ein schweres Kreuz auferlegt hat, so wie dir, dann hat er dir auch die Kraft mitgegeben, dieses Kreuz zu ertragen, und du mußt immer daran denken, daß die größte Kraft in dir selbst liegt, dann wirst du auch nie allein sein. Wenn du dich wieder einmal so allein fühlst, dann komm ruhig zu mir und ich werde dir helfen, und es wird dir wieder leichter werden. Kein Mensch ist auf der Welt allein. Man muß nur wissen, wo die wahren Freunde zu finden sind.“ Nach einem warmen Händedruck ging der Lehrer bergabwärts, während der Bub noch lange droben auf der Almwiese sitzen blieb und dem Lehrer nachschaute. Solche Worte hatte noch nie ein Mensch zu ihm gesprochen, und Kilian war es fast, als ob ein Engel zu ihm gesprochen habe. Wie wenn diese Worte aus einer anderen Welt zu
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ihm gesprochen worden wären, kam es ihm noch immer vor. Auf einmal freute ihn die Welt wieder. Es ist eigentlich eigenartig, wie sich für die Menschen im allgemeinen und die Kinder im besonderen die Welt verändern kann, je nachdem sie mit guten oder bösen Menschen zusammenkommen, und je nachdem sie gute oder böse Worte von ihren Mitmenschen hören. Auf einmal war es dem Buben Kilian, als sei die Welt voll Sonnenschein, und er merkte die schwarzen Wolken, die sich über dem Helm zusammenzogen, erst in dem Augenblick, als schon die ersten Tropfen fielen und der erste Blitz die Almwiese grell beleuchtete. Das Gewitter zog den kleinen Träumer wieder auf die Welt zurück, und nun lief er mehr als er ging mit dem Vieh den Berg hinunter zum Latschenhof. Daheim allerdings erwartete ihn ein zweites Donnerwetter, das er sich nicht erwartet hatte. Kaum hatte er das Vieh in den Stall gebracht und war in die Stube gekommen, als er schon von seiner Mutter rechts und links ein paar Ohrfeigen empfing, daß sein armer Kopf nur so hin- und herwackelte. „Du scheinheiliger Mistbub, du elendiger, hab' ich dich endlich einmal erwischt. Jetzt weiß ich, wer mir die Eier ausnimmt! Ist kein Wunder, daß ich keine Eier mehr bekomm', wenn der Buckl, der scheinheilige, die Eier in seinem Bett versteckt.“ Kilian wußte zunächst gar nicht, was die Mutter von ihm wollte. „Ich hab' keine Eier ausgenommen, nie, Mutter!“ Aber die erzürnte Bäuerin schlug ihn schon wieder. „Was, leugnen willst auch noch, du Krüppel, du nichtsnutziger? Ich hab ja die Eier selbst auf deinem Strohsack gefunden. Fünf Stück sind es heute gewesen, und weiß Gott, wieviel Eier du mir so alle Tage gestohlen hast.“
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In Kilian brannte es heiß auf. „Mutter, ich hab' noch nie gestohlen, und ich werde auch nie stehlen.“ „Still bist, du Rotznase, du elendige. Du sagst, du hast die Eier nicht gestohlen. Wer hat sie denn dann in dein Bett gelegt? Am Ende wohl der Romed, dein Bruder? Sag nur ein Wort davon und ich erschlag dich auf der Stell'.“ „Das hab' ich nicht gesagt, weil ich es nicht weiß. Aber eines weiß ich, daß ich die Eier nicht in mein Bett getan habe.“ „Vielleicht ist's gar der liebe Gott oder der Schutzengel gewesen?“ schrie das wütende Weib und hieb mit einem Stock auf den armen Buben ein und traf ihn so unglücklich am Kopf, daß er blutend zu Boden stürzte. Jetzt sprang aber ihre Mutter dazwischen und riß ihr den Stock aus der Hand. „Du bringst ja dein eigenes Kind noch um. Laß den armen Buben in Ruh', sonst geschieht wirklich noch einmal ein Unglück. Wie du den Buben verfolgst, ist wirklich nicht mehr schön. Das kann auf die Dauer gar nicht gut tun. Der Bub ist ja vor dir seines Lebens nicht mehr sicher. Daß du dich nicht schämst, so ungerecht zu sein. Du weißt genau, wer die Eier dem Kilian ins Bett gelegt hat. Ich hab' es selbst neulich gehört, wie du dem Romed gesagt hast, er darf es nicht tun.“ Wie eine Furie fuhr die Stasi in die Höhe. „Ja, ja, alle gehn nur auf den Romed los und nehmen den Krüppel, den scheinheiligen, in Schutz. Aber heut' hab ich endlich den Beweis. Heut' hab' ich den Kilian selbst ertappt, weil in seinem Bett die Eier waren und nicht im Bett vom Romed. Ich werd' es schon dem Bauern selbst sagen, damit er einmal weiß, was für ein Früchtl der Kilian ist.“ „Ist nicht mehr notwendig, daß du mir das sagst“, kam von der Tür her die Stimme des Bauern, unheimlich und
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drohend. Der Bauer stand in der Türe und vor ihm stand Romed, in jeder Hand ein Ei. „Ich hab' ihn selbst heute erwischt, wie er dem Kilian die Eier ins Bett legen wollte. Nur du, du verblendete Bäuerin und Rabenmutter, bist deinem geliebten Romed auf den Schwindel hereingefallen, der ja schon zum Himmel gestunken hat, und hast glauben können, daß der Kilian etwas Unrechtes tut.“ Er ging zu dem Knaben, der noch immer auf dem Fußboden lag, und hob ihn auf und untersuchte die Wunde, die die alte Lena schon verbunden hatte. Dann wandte er sich zu seinem zweiten Sohn, der verstockt in der Türe stand. „So, und jetzt bittest du deinen Bruder um Verzeihung, sonst, Bursche, hast du am Hofe nichts mehr zu suchen.“ Aber Kilian wehrte ab. „Nicht, Vater, tu's nicht. Ich bin schon so froh, daß du wenigstens nicht geglaubt hast, daß ich gestohlen hab'. Ich will nicht, daß der Romed mich um Verzeihung bittet.“ Aber der Bauer blieb unerbittlich. Er zerrte den Romed von der Tür zur Bank, auf der Kilian saß, und hielt ihn mit seiner schweren Faust im Genick. „Jetzt sagst es vor allen, daß du die Eier dem Kilian in das Bett gelegt hast, und bittest ihn um Verzeihung.“ Aber Romed schwieg. Auch er hatte einen harten Bauernschädel. Erst, als die Faust des Bauern sich mehr und mehr um seinen Hals schloß, bequemte er sich zu sagen: „Ja, ich hab's getan. Ich hab' dem Kilian die Eier in das Bett gelegt. Ich hab' mir dabei nichts gedacht.“ Aber der Bauer war damit noch nicht zufrieden. „Du bittest den Kilian noch um Verzeihung, du hast ja gesehen, was bei deinem Lausbubenstück herausgekommen ist. Die Bäuerin hätt' deinen Bruder bald erschlagen. Und du hast den Verdacht auf den Kilian lenken wollen. Dafür bittest du ihn jetzt um Verzeihung.“
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Aber Kilian, der aus den Blicken seines Bruders den tödlichen Haß sah, der ihm entgegensprühte, bat den Vater: „Laß's gut sein, Vater, ich will es nicht, daß der Romed mich um Verzeihung bittet.“ Aber der Bauer gab nicht nach, und er drückte den Romed zu Boden und hielt ihn in seiner Faust. „Um Verzeihung bittest du deinen Bruder! Eher gehst du mir nicht aus der Stube!“ Die Bäuerin wollte sich einmischen. „Laß den Buben aus. Du bringst ihn noch um!“ Aber der schüttelte sie kurz ab. „Kümmere du dich nicht um meine Sach'! Mit dir red' ich später noch ein Wort. Jetzt will ich einmal mit dem da abrechnen.“ Er drückte Romed noch weiter zu Boden. „Na, wird's bald?“ Endlich stammelte Romed: „Ich bitt' um Verzeihung.“ Erst jetzt ließ der Vater den Sohn los, der nun aufstand. Aber einen Blick solch unbeschreiblichen Hasses warf er auf seinen Bruder und seinen Vater, daß Kilian erschauerte. Er wußte, daß er in seinem jüngeren Bruder einen Todfeind für das ganze Leben durch das Vorgehen des Vaters sich geschaffen hatte. Des Bauern Stimme grollte wie der Donner durch die Stube. „Für dieses Mal will ich es bewenden lassen. Aber wenn ich dir, Romed, und dir, Bäuerin, noch einmal auf eine solche Ungerechtigkeit gegen Kilian draufkomme, geht es anders zu. Das merkt euch alle beide. Und jetzt schaut's, daß ihr in die Betten kommt.“ Kilian wurde krank. Es war zu viel für seine Kräfte gewesen. Ein heftiges Fieber schüttelte ihn und warf ihn auf seinem Bett hin und her, und in seinen Fieberphantasien
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schrie er auf und schien sich vor einer Gefahr zu wehren, die ihm drohte. Der Bauer, der sonst kein Geld für den Arzt hatte, ging selbst in das Dorf hinab und holte den Doktor zum Buben. Der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht. „Ein Nervenfieber hat der Bub. Muß etwas ganz Schweres mitgemacht haben. Am besten wär', man tut den Buben in ein Spital geben, damit er Ruhe und Pflege hat.“ Aber der Bauer wollte nichts davon wissen. „Soll die Urschl Tag und Nacht beim Buben bleiben und ihn pflegen. Hat ihn ja auch fallen lassen damals in der Gewitternacht. Muß auch ohne Spital gehen. Niemand darf zum Buben. Auch die Bäuerin nicht, und am allerwenigsten der Romed.“ Dr. Kirchlechner verschrieb eine Medizin und ging mit dem Versprechen, morgen oder übermorgen wieder nachzuschauen. „Ist nicht notwendig, Herr Doktor. Wenn es nicht besser wird, komme ich schon selber wieder. Hab' kein Geld für Doktorbesuche.“ Es waren schwere Wochen, die diesem Ereignis folgten. Urschl, die kleine arme Magd, bangte am Krankenbette Kilians um sein Leben und getraute sich fast nicht zu schlafen. Der Rosenkranz rollte ununterbrochen durch ihre mageren Finger, wenn sie nicht gerade dem Kranken die Medizin eingab oder ihm den Schweiß von der Stirne trocknete oder den Strohsack aufschüttelte. Aber sie war froh, dem armen Buben, der doch durch ihre Schuld zum Krüppel geworden war, einen Dienst leisten zu können. Zwischen den anderen Personen, die am Hofe lebten, herrschte eine unheimliche Ruhe, unter der aber ein Haß schwelte, wie ein Feuer unter glimmender Asche. Der kleine Romed – übrigens war er auch schon bald sechs Jahre und weit über sein Alter hinaus entwickelt –
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war selten am Hof zu sehen. Er mußte ja auch für den kranken Bruder das Vieh hüten und die Stallarbeiten machen; aber wenn er den Vater nur von weitem sah, wich er ihm in weitem Bogen aus. Er konnte es ihm nie vergessen, wie er ihn vor seinem Bruder auf die Knie gezwungen und ihn um Verzeihung hatte bitten lassen. Bergbauernkinder sind schon von klein auf anders als andere Kinder. Ihr hartes Leben schafft auch harte Herzen, und ihre Einfalt, die durch die Einsamkeit und Primitivität des Lebens bedingt ist, läßt sie viele Dinge anders sehen. Jede Gemütsbewegung geht tiefer und jedes Erlebnis hinterläßt tiefere Eindrücke, die vielleicht ein Leben lang anhalten. Seit jenem Tage, an dem Romed seinen Bruder um Verzeihung bitten mußte, haßte er zwei Menschen bis auf den Tod und kannte kein anderes Ziel, als ihnen etwas Schlechtes anzutun und sich an ihnen zu rächen: seinen Vater Vitus, aber noch mehr seinen älteren Bruder Kilian. Zwar konnte der Knabe Romed im Augenblick nichts gegen seinen Bruder Kilian und noch weniger gegen seinen Vater unternehmen, aber er wußte, daß einmal die Zeit kommen werde, in der sich seine Pläne erfüllen würden. Inzwischen versteckte er sich hinter der Mutter, die nach wie vor alles zudeckte und ihren armen Romed, der vom Vater und vom buckligen Kilian so verfolgt wurde, schützte und ihm half, wo sie nur konnte. Über dem Latschenhof hing es wie ein kommendes Gewitter, das schon in der Luft lag und das unabwendbar über den Hof und seine Leute hereinbrechen mußte, wenn auch noch niemand ahnen konnte, wann das Gewitter sich entladen würde.
* Die Jahre gingen. Die beiden Buben Kilian und Romed gingen nach Sexten hinunter zur Schule. Es war nicht
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leicht für die Bergbauernbuben, die Schule in italienischer Sprache zu besuchen und die Grundbegriffe des Lesens, Schreibens und Rechnens in der fremden Sprache zu lernen, da sie nicht einmal in der Muttersprache vorher etwas gelernt hatten. Da hatten es die Kinder der Geschäftsleute im Orte, der Gastwirte und Gewerbetreibenden, viel leichter, denn diese wurden daheim von der Mutter oder dem Vater oder auch von den älteren Geschwistern auch in der deutschen Sprache unterrichtet. Aber am Latschenhof war das unmöglich, denn sowohl der Bauer Vitus Lanzinger als auch die Mutter waren selbst über die Anfangsgründe der Allgemeinbildung des Lesens und des Schreibens nicht hinausgekommen und hatten beide keine Zeit, sich mit ihren Kindern abzugeben. So waren die beiden Buben sich selbst überlassen und nur manchmal kam der Lehrer Nikolaus Watschinger und gab insgeheim deutschen Unterricht, denn auch deutscher Privatunterricht war von den Italienern verboten worden. Aber wenn Kilian stets eine große Freude hatte, wenn der von ihm geliebte Lehrer kam, und er nichts lieber tat, als dem Lehrer aufmerksam zuzuhören, und die deutschen Stunden, die ihnen der Lehrer gab, ihm die liebsten waren und seine einzige Freude in seinem Bubendasein bildeten, so suchte Romed im Gegenteil dazu immer, diesen Stunden auszuweichen und hatte tausend Ausreden und Ausflüchte, sich ihnen zu entziehen. Für Romed bedeutete jedes Lernen eine Qual und eine überflüssige Plackerei, und er schimpfte darauf und wurde natürlich von seiner Mutter noch in diesem Vorhaben unterstützt. Für Kilian hingegen waren gerade diese Stunden die schönsten, weil er da allein war und nicht von seinen Mitschülern verspottet wurde. Er war seit der damaligen Krankheit ein schwaches Kind geblieben und brauchte auch nicht zu turnen, da sein Körperfehler ihn daran hin-
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derte. Das nützten seine Mitschüler zu allerlei Sticheleien und Spötteleien weidlich aus, und anstatt daß sie Mitleid mit ihm gehabt hätten, verspotteten sie ihn, wo sie nur konnten. Sie nannten ihn nur den ‚buckligen Kilian’ oder noch einfacher ‚den Buckel’ und schrien ihm auf der Straße und in der Pause nach. Kilian ertrug alle diese Spötteleien und Verhöhnungen mit einer äußerlichen Geduld und verschloß sich immer mehr den anderen Menschen gegenüber. Er kannte nicht das, was man sonst in der Welt ‚sonnige Kindheit’ nannte, er war allein mit sich und seinen Gedanken. Sein Körperfehler regte seine Mitschüler nicht zu Mitleid an, wie es sonst in den Romanen oft so schön heißt, im Gegenteil, seine Mitschüler waren grausam und schlössen ihn aus ihrem Kreise aus, ließen ihn nicht an ihren Spielen teilnehmen und stellten ihn außerhalb ihrer Gemeinschaft, um so mehr, als er gerade einer der besten Schüler, wenn nicht der beste in der ganzen Klasse überhaupt war. Er lernte leicht, und der Lehrer bemerkte bald, daß er eine besondere Auffassungsgabe besaß, die ihn alles viel leichter und viel schneller begreifen ließ als die anderen. Wenn eine Aufgäbe besonders schwer war, dann kamen seine jungen Peiniger zu ihm und schrieben von ihm die Aufgabe ab, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Dazu war ihnen Kilian gut genug, sich von ihm helfen zu lassen, um ihn in der nächsten Pause schon wieder zu verspotten und allerlei Schabernack mit ihm zu treiben. Kilian sagte kein Wort dazu. Seine kindliche Seele aber fand keinen Zusammenhang mit seinen Mitschülern und sein kleines Herz verhärtete sich immer mehr nach außen. Der Lehrer Nikolaus Watschinger beobachtete die seelische Entwicklung seines Lieblingsschülers mit großer Besorgnis. Er fürchtete nämlich, daß Kilians Gemüt durch die lieblose Behandlung, die ihm durch seine Mitschüler und
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daheim durch seine Mutter zuteil wurde, sich verdüstern und er bösartig werden würde, daß er Rache an seinen kleinen Peinigern nehmen wolle und Böses mit Bösem vergelten wolle. Aber er war um so mehr erfreut, feststellen zu können, daß diese Besorgnis unbegründet war. Kilian war ein gutes Kind und in seiner Seele reifte so mancher Gedanke, der in den Seelen anderer Menschen wohl ein ganzes Leben nicht Platz griff. Er beschloß daher auch, Kilian mehr an sich zu ziehen und ihn durch seine Freundschaft für all das zu entschädigen, was er durch die Lieblosigkeit der anderen entbehren mußte. Zwar durfte er ihm keine Ausnahmestellung vor den anderen Kindern einräumen, denn das hätte dem Knaben noch mehr geschadet und wäre auch pädagogisch ganz falsch gewesen, aber er wußte es schon so einzurichten, daß er Kilian öfters auf der Alm beim Viehhüten traf, und da setzte er sich dann zu ihm und erzählte ihm die Sagen und Geschichten seiner Tiroler Bergheimat; und Kilian lauschte mit leuchtenden Augen den Erzählungen seines Lehrers. Wenn er dem Buben von den Berggeistern erzählte, die einmal am Paternkofel oder auf dem Elfer oder Zwölfer gehaust hatten und die Menschen auf die steilsten Felsengrate gelockt und sie dann hohnlachend unter Blitz und Donner über die Felsen hinuntergestürzt hatten, da dachte der Bub daran, daß diese Berggeister auch einmal so schlimme Buben gewesen sein mußten wie seine Mitschüler, die auch ihm nur Böses antaten. Einmal sagte er diese Gedanken auch seinem Lehrer. Der erschrak aber über diese Gedanken des Buben und versuchte, ihm das auszureden. „Siehst du, Kilian“, sagte er zu ihm, „du verstehst das vielleicht noch nicht ganz, weil du zu klein und zu jung dafür bist. Aber deine Schulkameraden meinen das alles nicht so schlimm, wie es aussieht. Sie sind nur einfältiger viel-
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leicht als du, aber im Grunde genommen sind sie nicht schlecht. Kinder sind nun einmal so, daß sie gerne auf Kosten anderer sich freuen und lachen. Daß dem, über den sie lachen, das weh tun könnte, daran denken sie wahrscheinlich nicht. Und es ist schon einmal so im Leben, daß es der eine schwerer und der andere leichter hat, aber du hast auch vor den anderen viel voraus. Du lernst leichter und du siehst alles anders als die anderen. Du kannst sicher sein, daß dich deine Mitschüler in vielen Dingen beneiden. Und gerade weil sie dich um vieles beneiden und du ihnen um so vieles voraus bist, wollen sie sich vielleicht manchmal dadurch rächen, daß sie dir etwas antun wollen. Du darfst das nicht so tragisch nehmen und mußt ihnen das verzeihen, weil sie es eben nicht besser verstehen. Jeder Mensch, der über den Durchschnitt hinausragt, zieht sich irgendwie den Neid und die Mißgunst der anderen Menschen zu, die nicht so viel können wie er selbst.“ Kilian wußte zwar vorerst mit diesen Worten des Lehrers nicht allzuviel anzufangen. Aber sein Bubengeist grübelte darüber nach, und allmählich empfand er den Sinn dieser Worte mehr und mehr. Er begriff, daß er in einer anderen Welt lebte als die anderen Buben und daß er etwas besaß, das die anderen nicht oder mindestens nicht in dem Maße hatten wie er: ein reiches Innenleben, eine Phantasie, die ihn in andere Regionen führte als die anderen Buben. Bei denen hörte die Welt meistens an der Stalltür oder auf dem Strohsack, bei der Knödelschüssel oder, wenn es hochging, beim einfachsten Lesestück auf. Ein Gedicht war ihnen schon ein Buch mit sieben Siegeln, und wenn sie es hundertmal auswendig lernten, so wußten sie doch nichts damit anzufangen. Sie wußten genau Bescheid, wenn eine Kuh kalbte, und konnten dabei helfen, sie wußten, wieviel ein Vieh Futter zu bekommen hatte; das war ihre Welt. Aber sie konnten sich nichts dabei vorstellen, wenn ihnen
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der Lehrer eine Geschichte erzählte, und begriffen nicht, warum zwei mal zwei vier ist. Da mußte ihnen der Lehrer schon mit handfesten Beispielen aus ihrer Bauernwelt kommen und es ihnen an Hand von drastischen Beispielen erklären. So lernten sie rechnen und lesen und das Notwendige schreiben. Aber die fremde Sprache ging ihnen einfach nicht in den Bauernschädel, während Kilian schnell erfaßte und die Aufgaben so leidlich machen konnte. Aber Kilian wußte nur durch den Lehrer, daß er dieses Wissen als Ausgleich für sein äußeres Zurückbleiben auffassen mußte, und er war damit zufrieden. Er fand sich allmählich damit ab. Als Kilian zehn Jahre alt war, besprachen sich der Lehrer und der Pfarrer, ob man nicht daran denken solle, den Kilian studieren zu lassen. Freilich war am Latschenhof kein Wohlstand, sondern trotz der fleißigen Arbeit des Bauern Schmalhans Küchenmeister, aber es gab ja Stipendien für arme Studenten, insbesondere wenn diese Priester werden wollten oder die Eltern versprachen, ihren Einfluß auf die Kinder geltend zu machen, daß sich dieselben dem geistlichen Stande widmeten. Wenn auch die Kinder in diesem Alter noch gar nicht wissen konnten, welchen Beruf sie einmal im Leben ergreifen wollten, so war es für viele Kinder doch eine Freude, daß sie aus dem bäuerlichen Einerlei heraus in die Stadt kamen und nicht mehr Kühe hüten und Heu tragen mußten. Das Weitere besorgte dann meistens schon die geistliche Erziehung im Institut selbst. Beide, sowohl der Pfarrer als auch der Lehrer, waren sich darüber vollkommen einig, daß Kilian wirklich zu schade sei, ein Bauer zu werden. Nicht etwa, daß der Bauernstand von ihnen geringer geachtet worden wäre als irgendein anderer Stand, im Gegenteil, das ganze Leben baut sich gerade hier in den Bergen zum größten Teil auf den Bauernstand auf. Der Bauer bildet das Rückgrat des ganzen
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Lebens. Er muß das Korn bauen und das Feld bestellen, er muß das Vieh züchten und das Holz herbeischaffen zum Kochen und Heizen, am Bauern hängt das Wohlergehen des Volkes. Aber es ist ein schweres Leben, das Leben des Bauern, und der Städter hat ja meistens keine Ahnung, wieviel Arbeit und Schweiß an jedem Stück Brot hängt, das er ißt, wieviel Mühe und Arbeit es kostet, das Vieh zu züchten, dessen Fleisch er ißt, und es gehört schon ein großer Fleiß dazu, einen Bergbauernhof in Ordnung zu halten. Da gibt es keinen Traktor, der die Feldarbeiten tut, keine Sä- und keine Mähmaschinen – mit der bloßen Hände Arbeit muß der Bergbauer seine schwere Arbeit leisten, im Sommer und im Winter, bei Schnee und Regen, oft unter Einsatz seines Lebens. So manches Marterl am Wegrand kündet davon, daß da ein Bauer bei seiner schweren Arbeit tödlich verunglückte. Ja, in manchen Gegenden muß der Bauer sogar im Rückkorb die Erde auf die abschüssigen Felder und Äcker tragen, um säen zu können. Und wenn dann manchmal ein Unwetter in wenigen Stunden die harte Arbeit vieler Monate zunichte macht, dann steht der Bergbauer vor dem Nichts, und er muß den Hosenriemen noch enger schnallen, weil nicht einmal mehr so viel im Hause ist, um sich und seine Familie das ganze Jahr erhalten zu können. Es ist kein Wunder und leicht begreiflich, daß der Bauer froh ist, wenn ein Esser weniger am Tisch ist und er sich damit zufrieden gibt, wenn ihm jemand die Sorge um eines der meistens zahlreichen Kinder abnimmt. Kilian war ein nicht gerade starker Bub, obwohl sein körperlicher Zustand im Laufe der letzten Jahre sich erheblich gebessert hatte, aber es war kaum anzunehmen, daß er jemals ein guter Bergbauer werden könnte; denn der Höcker war ihm geblieben und hinderte ihn an so mancher groben Bauernarbeit. Dazu kam noch, daß er geistig schon jetzt über den Rahmen eines Bergbauern weit hinausragte
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und geistige Fähigkeiten entwickelte, die geradezu eine Weiterbildung verlangten. Nicht nur, daß er schon lange in der Schule den anderen Kindern weit voraus war, er entwickelte selbst Gedanken, die den Lehrer und den Pfarrer manchmal staunen ließen. Es war also naheliegend, daß beide daran dachten, aus Kilian einen Studenten zu machen, die Fähigkeit hierzu waren in überreichem Maße vorhanden. So beschlossen sie, zunächst einmal mit dem Bauern, dem Vitus Lanzinger, selbst zu sprechen. Der Lehrer Nikolaus Watschinger hatte diese Aufgabe übernommen, die bestimmt nicht leicht war. An einem Sonntag stieg der Lehrer zum Latschenhofe hinauf und sprach mit dem Bauern. Er schilderte den Kilian in den besten Farben und sagte, daß es schade sei, so ein Talent, wie dem Kilian seines, nicht sich weiterentwic??keln zu lassen. Wegen der Kosten brauche er sich keine Sorgen zu machen, es gebe Stipendien, und der Pfarrer wolle sich schon beim Bischof dafür einsetzen, daß ihm das Studium seines Sohnes nichts koste. Vitus Lanzinger hatte dem Lehrer schweigend zugehört. Erst einige Zeit, nachdem der Lehrer aufgehört hatte zu sprechen, meinte er bedächtig: „Ich bin nur ein einfacher Bergbauer und versteh' nichts vom Studieren und euren gelehrten Sachen. Bei Gott, ich könnt' es brauchen, wenn man mir die Sorgen um Kilian abnehmen täte. Aber nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Lehrer, ich bin trotzdem der Meinung, daß man den Bauern bei seinem Grund und Boden lassen soll. Studieren sollen die Stadtleute und die im Dorf drunten zu viel Kinder haben. Es tut nicht gut, wenn man einen Bergbauern in das Tal versetzt. Da verkommt er, weil ihm alles das fehlt, was er zum Dasein notwendig hat: den schneidenden Jochwind und den kargen, faltigen Boden, das Gewitter und Eis und Schnee, woran die anderen Bäume im Tal drunten viel-
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leicht zugrunde gingen. Und beim Bergbauern ist es genau so: Er ist das rauhe Leben gewohnt, in der Früh mit den Hennen auf und am Abend mit den Hennen ins Bett, den ganzen Tag schwer arbeiten, Erde tragen und Holz ziehen, den kleinen Acker unter tausend Mühen bearbeiten und das Vieh hüten. Ich weiß, es ist ein schweres Los, das Los des Bergbauern auf dem Berg. Aber wie viele sind schon in das Tal hinunter und in die Stadt gezogen und sind dann an Heimweh zugrunde gegangen oder, was noch schlechter ist, sie sind verludert und verkommen, weil man sie aus ihrem Heimatboden herausgezogen und entwurzelt hat. Und noch eines, Herr Lehrer: Was täten denn dann wir Bergbauern, wenn unsere Kinder in die Stadt gingen? Dienstboten sind schwer auf einen kleinen Berghof zu bekommen, und wenn schon einer kommt, dann kostet er zuviel, so daß der Bergbauer ihn mit seinem armseligen Verdienst nicht zahlen kann. Wenn es um den zweiten Buben, den Romed, ging', da täte ich keinen Augenblick zögern, sondern nur sagen: nehmen Sie ihn. Ich bin froh, daß ich ihn losbring', denn der Romed wird nie ein ordentlicher Bauer werden. Das spür' ich und weiß ich nur zu genau. Aber um den Kilian ist mir leid. Der soll einmal mein Nachfolger werden. Wenn ich den Kilian bei mir hab', dann weiß ich, daß ich ruhig einmal meine Augen zumachen kann, denn der wird den Hof genau so gut führen wie ich.“ Der Bauer schwieg und stieß dicke Rauchwolken aus seinem Mund. So viel wie heute hatte er schon lange nicht mehr gesprochen. Der Lehrer hatte ihm aufmerksam zugehört und war erstaunt, wie gescheit der Bauer seine Worte setzte. So viel Einsicht hatte er ihm eigentlich gar nicht zugetraut. Von seinem Standpunkte aus hatte er recht. Was der Bauer da vorbrachte, hatte Hand und Fuß; und er selbst hatte diese Sache noch nie vom Standpunkte des Bauern aus betrachtet, sondern nur immer das Schicksal des Kna-
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ben und dessen Zukunft im Auge gehabt. Aber nun sah er ein, daß es auch noch etwas anderes gab als die Zukunft Kilians: die Zukunft und das Schicksal des Latschenhofes, was auch wichtig war. Aber trotzdem versuchte er den Bauern noch einmal zu überzeugen. Kilian war zu schade für einen Bauern. Wie viele Bauernkinder waren schon zu Größen aufgestiegen und hatten im Leben hohe und höchste Stellungen bekleidet, und der Bauernstand war deswegen auch nicht zugrunde gegangen. War nicht der berühmte Maler Defregger auch von einem kleinen Hüterbuben zu einem der größten Maler den Weg gegangen? Wie viele Ärzte, um von den Priestern ganz zu schweigen, kamen aus dem Bauernstand! Das alles schilderte Nikolaus Watschinger dem Bauern Vitus Lanzinger, der das still anhörte, ehe er antwortete: „Das ist alles ganz schön und recht, Herr Lehrer. Es sind aber doch nur ganz wenige, die einen solchen weg gemacht haben. Und gerade jetzt brauchen wir Bauern unsere Kinder am meisten, weil es gilt, das wenigstens zu halten, was wir besitzen und was man uns am liebsten nehmen möchte. Aber damit Sie sehen, daß ich nicht der Rabenvater bin, für den Sie mich wahrscheinlich halten, wollen wir den Buben selbst fragen. Ich hab den Buben ja viel zu gern, als daß ich mich seinem Glück entgegenstellen wollte. Er ist schon gescheit genug, um selbst zu entscheiden, was er will, und zu wissen, wohin er gehört. Ich werde jetzt den Kilian holen und Sie können ihm das alles selbst sagen, was Sie mir gesagt haben.“ Der Bauer stand auf und holte seinen Ältesten, der draußen Holz hackte. Zwischen seinem Vater und dem Lehrer saß Kilian und horchte staunend den Worten des Lehrers, den er schon seit langem heiß liebte. Eine ganz neue Welt tat sich ihm
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auf, und was er im geheimen immer schon ersehnt und wovon er in seinen einsamen Stunden geträumt hatte, all das sollte nun mit einem Male Wirklichkeit werden: er sollte lernen dürfen, immer bei seinen geliebten Büchern sein können, mitten unter lauter Studenten in großen lichten Räumen in einer schönen großen Stadt, und einmal würde er als Lehrer oder gar als Priester zu den Bauern sprechen können. Eine ganz andere Welt tat sich vor ihm auf, eine schönere und weitere Welt, die er nur aus Büchern kannte. Alle Not und alles Leid sollte nun mit einem Male ein Ende haben. Er brauchte nicht mehr um vier Uhr früh aufzustehen, das Vieh zu füttern und die Kühe zu melken, brauchte nicht mehr Holz zu ziehen und Erde auf seinem verkrüppelten Rücken den steilen Acker hinaufzutragen und brauchte nicht mehr das Vieh zu hüten. Alles das sollte jetzt für ihn beendet sein. Er konnte es noch gar nicht ganz erfassen mit seinem Bubenverstand, und konnte nichts tun, als nur staunen und horchen, wie ihm der Lehrer alles in den schönsten Farben schilderte. Als der Lehrer aufhörte zu sprechen, sagte sein Vater in seiner langsamen Art: „Du hast jetzt alles gehört, mein Bub, und du mußt selbst entscheiden, was du tun willst. Du weißt, wie schwer das Leben bei uns auf dem Latschenhof ist und wie schwer es ein Bergbauer sein Leben lang hat. Nur arbeiten und schinden sein ganzes Leben, aber er weiß auch, warum er es tut: für seinen Hof, der nur ihm gehört. Ich will dir nichts dreinreden, es liegt an dir allein, welchen Weg du gehen willst: in die Welt zu fremden Leuten und zu einem schönen Leben oder dableiben, wo schon dein Urgroßvater und dein Großvater gehaust haben und wo du einmal Bauer sein wirst, wenn du da bei mir bleibst.“ Der Bub Kilian war einen Augenblick ganz verwirrt. Kaum, daß er einen Blick in eine neue Welt getan hatte,
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sollte das alles schon wieder für ihn verloren sein? Sein ganzer Traum von schönen Büchern und einem besseren, feineren Leben war, kaum begonnen, schon wieder zerronnen. Ihm kamen die Tränen in die Augen, so erschüttert war der Bub. Aber einen Blick in seines Vaters gute und in diesem Augenblick traurige Augen tat er nur, und seine kleine, vor Aufregung feuchte Bubenhand stahl sich in die schwielige, abgearbeitete Bauernhand seines Vaters. Tapfer würgte er die Tränen hinunter und schmiegte sich an seinen Vater, und er zögerte nicht mehr eine Sekunde, zu seinem Vater zu sagen: „Vater, laß mich bei dir bleiben. Du bist da auf dem Hof Bauer und ich will auch einmal da Bauer sein.“ Vitus Lanzinger, der rauhe Bergbauer, fuhr seinem Sohn mit scheuer Gebärde über das struppige Haar und Kilian hielt ganz still. Nur den Zauber dieses Augenblickes nicht stören. Kilian meinte, noch nie im Leben so glücklich gewesen zu sein. Zärtlichkeit ist etwas im Leben der Bergbauern, das alle heiligen Zeiten einmal über diese wetterharten Menschen kommt, und dann so schön und verschämt, als ob ein Edelweiß irgendwo ganz droben auf einem einsamen Felsen, wohin kein Mensch je kommt, seinen Stern entfaltet und seine Schönheit ausbreitet. Diese Menschen da in den Bergen haben nicht Zeit zu Zärtlichkeiten. Das Leben und die harte Arbeit haben sie zu herben, verschlossenen Menschen erzogen und jede Gefühlsregung nach außen erstickt. Um so inniger wirkt es dann aber, wenn der Bauer wirklich, von seiner inneren Erregung überwältigt, sich zu einer scheuen, zärtlichen Geste hinreißen läßt, so wie eben Vitus Lanzinger seinem Sohne gegenüber. Die Stimme der Heimat hatte in diesem Augenblick aus dem Entschlüsse seines Buben Kilian gesprochen, so schwer es ihm auch angekommen sein mußte. Der kleine bucklige Kilian hatte sich selbst überwunden, und
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als er seinem Vater in die Augen geschaut, keinen Augenblick mehr gezögert, bei seinem Vater auf dem Latschenhof zu bleiben. Vergessen waren in diesem Augenblicke Bücher und Studium, die Stadt und die ganze andere schöne Welt, die einen Augenblick sein kindliches Gemüt erregt hatten, es gab nur mehr eines von diesem Augenblick an für ihn: seinen Vater und den Latschenhof, auf den er gehörte. Scheu schaute Kilian zu seinem geliebten Lehrer hinüber, was der wohl etwa sagen würde, ob er bös sei. Aber Nikolaus Watschinger konnte nicht anders, er beugte sich zu Kilian hinüber und gab ihm einen Kuß. „Bist ein braver Bub, Kilian. Bleib nur immer so, dann wirst du schon ein tüchtiger Bauer werden, was ebensoviel wert ist wie ein Studierter.“ Er verabschiedete sich rasch, um seine Rührung zu verbergen, und ging bergabwärts. Bei sich aber beschloß er, den Wissensdurst des Knaben zu fördern und ihm weiterzuhelfen, wo er konnte.
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Das Leben auf dem Latschenhof ging seinen gewohnten Weg weiter. Kilian war seinem Berghofe treu geblieben, und wenn ihm auch manchmal noch Bilder aufstiegen von einem Leben, das er in der Stadt hätte führen können, so bereute er seinen Entschluß doch keinen Augenblick, beim Vater geblieben zu sein. Der Vater hatte schon recht gehabt, daß er auf den Hof gehörte, um so mehr, als sein jüngerer Bruder Romed gar keine Anlage zu einem Bauern zeigte. Er trieb sich schon jetzt mit kaum zehn Jahren drunten im Dorfe herum und drückte sich von der Arbeit da-
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heim, wo er nur konnte. Selten, daß er einmal nach der Schule nach Hause kam und seine Aufgaben machte oder Bauernarbeit verrichtete. Dabei wurde er von der Bäuerin immer wieder unterstützt und in Schutz genommen. Einige Tage nach jenem denkwürdigen Sonntag hatte es zwischen dem Bauern und der Bäuerin noch einen erregten Auftritt gegeben. Die Magd, die kleine Urschl, hatte nämlich der Bäuerin erzählt, daß der Lehrer beim Bauern gewesen war und sie dann Kilian in die Stube gerufen hatten, wo sie lange alle drei beisammen gewesen waren. Schließlich sei der Lehrer fortgegangen und er habe einen ganz roten Kopf gehabt. Das ließ der Bäuerin keine Ruhe, und sie hatte den Bauern gefragt, was denn der Lehrer auf dem Hofe gewollt hätte. Der Bauer, wortkarg, wie er immer war, hatte zunächst nichts geantwortet. „Was soll der Lehrer auch gewollt haben?“ fragte er mürrisch. „Er wird doch nicht ohne Grund heraufgekommen sein. Wahrscheinlich hat es sich wieder um eine Schandtat des Buckels gedreht. Ist schon ein rechtes Kreuz mit dem Buben. Zu nichts kann man ihn richtig anstellen“, jammerte sie. „Still bist, Stasi! Der Kilian hat noch nie in seinem Leben eine Schandtat begangen, wie du meinst. Mir scheint, du verwechselst wohl die beiden Buben. Wenn du vom Romed das sagst, dann mag es stimmen. Nicht nur, daß er nie daheim ist – du darfst nicht glauben, daß ich das nicht merke, wenn ich auch nichts sage – sondern ich muß mir schon von anderen Leuten genug sagen lassen. Gerade neulich hat mir der Pfarrer gesagt, daß der Romed der Dümmste und der Faulste in der Klasse ist und nichts im Kopf hat als nur lauter Dummheiten.“ „Mein Gott, er ist halt noch so jung. Man muß ihn nur
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lassen, er wird schon von selber gescheiter werden. Hat am Ende der Lehrer auch über den armen Buben geschimpft?“ „Nein, das hat er nicht, weil es ohnehin nichts nützen würde.“ „Was hat denn der Lehrer dann von dir und dem Buckel wollen?“ „Studieren hätt' der Kilian können, wenn er gewollt hätte, und ganz umsonst auch noch. Ein Stipendium hätt' ihm der Lehrer und der Pfarrer verschafft, wenn du es schon wissen mußt.“ „Ja, warum geht er dann nicht studieren, der Buckel? Ein Bauer wird doch sein Lebtag nicht aus ihm.“ „Weil der Kilian heute schon weiß, wo er hingehört, nämlich zu mir und auf den Hof da heroben. Der Kilian wird einmal da heroben Bauer werden, darauf kannst du dich verlassen.“ Stasi lachte schrill auf. „Der Kilian und Bauer werden, daß ich nicht lach'! Paßt gut zu den verkrüppelten Latschen, der Buckel!“ Weiter aber kam die Bäuerin nicht. Mit eiserner Faust faßte der Bauer sie am Arm und hielt sie fest. „Jetzt ist's aber genug. Du sollst dich schämen, immer so auf den armen Buben loszugehen. Er hat schon genug an seinem Unglück zu tragen, für das er nichts kann. Aber daß du ihn dauernd noch den ‚Buckel’ nennst und ihn beschimpfst, das hat von heute an ein Ende. Der Kilian ist mir auch mit seinem Buckel noch tausendmal lieber als der Romed, der seine geraden Glieder nur zum Nichtstun braucht und sich weder um den Hof noch um die Schule kümmert. Wenn du den Kilian, der genauso dein Sohn ist wie der Romed, noch einmal ‚Buckel’ nennst, dann kannst du etwas von mir erleben. Du kennst mich genug, um zu wissen, daß ich es ernst mein'!“ Der Bauer ließ den Arm der Bäuerin los, die sich den
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Arm schmerzverzerrt rieb. „Du Grobian, hast mir immer nur weh getan. Etwas anderes kannst du ja nicht. Werd ich den Buben von jetzt ab halt ‚Herr Student’ heißen, wenn dir das lieber ist.“ Dieser Name blieb Kilian. Seine Mutter hatte natürlich die ganze Geschichte ihrem Liebling, dem Romed, erzählt und der hatte hellauf dazu gelacht. „Den Studenten werde ich ihm schon versalzen“, sagte Romed und stichelte bei seinen Schulkameraden und im ganzen Dorf noch mehr wie bisher gegen seinen älteren Bruder. Insgeheim hatte er nur einen glühenden Neid gegen Kilian, weil der hätte studieren dürfen und er nicht. Wie konnte Kilian auch so dumm sein und dieses Angebot ausschlagen? Das verstand er einfach nicht. Dunkel kam es dem Buben trotz seiner Jugend vor, als ob Kilian ihn damit hätte schädigen wollen. Wenn der Kilian in die Stadt zum Studieren gegangen wäre, wäre er allein auf dem Hof geblieben. Aber so mußte er immer den Zweiten spielen und das paßte ihm nicht. Er wollte nicht ewig ein Bauernknecht bleiben und für zwei war auf dem Latschenhofe auch auf die Dauer kein Platz, dazu war der Hof zu klein. Aber vielleicht ließ sich das noch ändern. Er selbst kam für das Studium nicht in Frage. Bücher waren ihm vom ersten Augenblick an verhaßt gewesen und die Schule war ihm ein Greuel. Aber wenn er seinen Bruder recht verfolgte und ihm das Leben zur Hölle machte, änderte Kilian seinen Entschluß und ging doch noch studieren und ließ ihm den Hof. Ein Studierter konnte nicht gleichzeitig Bauer sein, das ging auf keinen Fall. Dann mußte Kilian auf den Hof verzichten und er würde einmal selbst Bauer werden. Daß er von seiten seiner Mutter jede Hilfe und Unterstützung bekam, das wußte er und dementsprechend konnte er auch sein Verhalten gegen seinen Bruder einrichten. Aber Romed hatte sich verrechnet. Soviel er auch trach-
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tete, seinem Bruder Prügel vor die Füße zu werfen und ihm alles anzutun, um ihm das Leben auf dem Hofe zu verleiden, Kilian ging über diese Bosheiten hinweg, als wenn nichts geschehen wäre. Als ihm die Schulkinder auf der Straße „buckliger Student“ nachriefen, holte sich der Lehrer den Romed und gab ihm ein paar tüchtige Ohrfeigen. „Damit du weißt, was für ein Lausbub, ein nichtsnutziger du bist, der nichts anderes im Sinn hat, als seinen Bruder zu verspotten. Und wenn ich dich oder ein anderes Kind noch einmal ertappe, wenn dein Bruder verspottet wird, setzt es noch ganz etwas anderes.“ Kilian war nicht nur der beste Schüler seiner Klasse, der auch in der fremden Unterrichtssprache stets die besten Noten heimbrachte, er schloß sich um so enger an seinen väterlichen Freund, den Lehrer Nikolaus Watschinger, an und kam auch dann noch in seiner karg bemessenen freien Zeit zu ihm, als Nikolaus Watschinger nicht mehr in der Schule unterrichten durfte, weil nur mehr italienische Lehrer unterrichten durften. Nikolaus Watschinger hatte ja außer seinem Lehrerberuf auch noch das Amt eines Organisten an der Sextner Pfarrkirche und war Chormeister des Kirchenchores und Kapellmeister der Sextner Musikkapelle, die im ganzen Land bekannt und berühmt war. Außerdem half er den Bauern beim Abfassen von Gesuchen und Eingaben an die Behörden, da ja nur mehr die italienische Sprache als Amtssprache zugelassen war und die Bauern nicht Italienisch konnten, so daß er seinen Lebensunterhalt leicht verdiente. Aber gerade seine Tätigkeit als Kapellmeister der Musikkapelle brachte Nikolaus Watschinger auf einen Gedanken. Er war ständig auf der Suche nach jungen Kräften für die Musik, da ja die älteren Mitglieder wohl ausschieden oder nicht mehr spielen konnten, so daß Ersatz dringend notwendig war. Er wußte, daß sein junger Freund Kilian ein gutes Gehör hatte, und er wollte dieses Gehör ent-
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wic??keln. Sicher würde es dem Knaben Freude bereiten, Mitglied der Musikkapelle zu werden. So hatte der einsame Knabe, der durch seinen Körperfehler von vielen Freuden der Kindheit ausgeschlossen war und den die anderen Kinder nur verspotteten, eine Freude und einen Ersatz für das, was ihm die Natur und die anderen Kinder vorenthielten. Die Frage war nur, welches Instrument Kilian spielen sollte. Eine ganze Reihe von Instrumenten kam von vorneherein nicht in Betracht, weil sie zu schwer für den etwas schwachen Knaben waren. Aber schließlich glaubte der Lehrer, das passende Instrument für Kilian gefunden zu haben, und er hatte sich nicht getäuscht. An einem der nächsten Sonntage stieg Nikolaus Watschinger wieder einmal zum Latschenhof hinauf und fragte den Bauern Vitus Lanzinger, ob er wohl etwas dagegen habe, wenn Kilian ein Instrument lerne und später bei der Musik mitspiele. „Wenn's der Bub kann, von mir aus, mir ist es recht, wenn der arme Bub auch ein bißchen Abwechslung hat.“ So zog Nikolaus Watschinger eine Flöte aus der Tasche und zeigte sie Kilian. Der war begeistert von dem Gedanken, daß er ein Instrument spielen dürfe. Er hatte schon als kleiner Hüterbub sich aus Haselnußstöcken kleine Schalmeien geschnitzt und darauf oft stundenlang gespielt. So war ihm die Flöte eigentlich gar nicht mehr so fremd und er probierte sie auch gleich. Der Lehrer ließ ihn eine Zeitlang lächelnd gewähren, aber dann nahm er ihm die Flöte wieder weg. „Jedes Ding soll gelernt sein, lieber Kilian, und die Flöte ist keine Schalmei, obwohl sie Ähnlichkeit mit ihr hat. Du mußt jetzt alle Wochen einmal oder zweimal zu mir kommen und dann wollen wir mitsammen spielen.“ Das war nun das Schönste für Kilian: das Flötenspielen. Da er über die Anfangsgründe bald hinaus war, konnte er
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schon die schönen, alten Volkslieder spielen und wenn er Zeit hatte, blies er seine Flöte. Dazu suchte er sich ein einsames Plätzchen, um von niemandem gestört zu werden. Der Lehrer weihte ihn auch in die Kunst des Notenlesens ein und gab ihm zuerst leichtere und dann auch schwerere Stücke. Oft, wenn Kilian an freien Nachmittagen zu Nikolaus Watschinger kam, spielten sie mitsammen, wobei der Lehrer die Violine nahm und seinen Schüler begleitete. Am schönsten war es aber für Kilian, als sein Lehrer zum ersten Male ein kleines Flötenkonzert von Mozart mit ihm probte. So schöne Musik hatte Kilian noch nie gehört und er sagte zu seinem Lehrer, so schön könnten nur die Englein im Himmel singen. Das mußte schon ein ganz großer Künstler sein, der solche Musik schreiben konnte. Nikolaus Watschinger fuhr dem Knaben Kilian über die Haare. „Ja, da hast du recht, mein lieber Bub, das hat ein ganz Großer geschrieben, von denen nur alle paar hundert Jahre einer über die Erde geht. Und doch haben gerade ihn die Menschen ganz armselig sterben lassen. In einem Armengrab in Wien ist er begraben worden, weil die Menschen den Ewigkeitswert seiner Werke nicht erkannt haben. Wohl hat er am Kaiserhofe in Wien schon als Kind gespielt und wohl sind seine Opern überall aufgeführt worden. Aber keiner hat sich darum gekümmert, ob er und seine Familie auch genug zu essen hatten. Siehst du, Kilian, so ist die Welt und so sind die Menschen: Nur das Geld hat für sie einen Wert und die unvergänglichen Werke lassen sie liegen und kümmern sich nicht um deren Schöpfer. Das Schönste liegt oft unbeachtet und anderes kommt hoch, weil die Menschen oberflächlich sind, um den wahren Wert eines Kunstwerkes zu verstehen und zu begreifen.“ Kilian schaute seinen Lehrer treuherzig an. „Das versteh' ich einfach nicht, Herr Lehrer, daß die
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Menschen so sein können.“ „Laß gut sein, Kilian. Es gibt sehr viel auf der Welt, was dein Bubenverstand noch nicht erfassen kann. Aber merk dir eines: Nicht an äußeren Umständen und Erlebnissen darf man das Leben messen, sondern man muß zuerst nach innen schauen und erst dann wirst du die Menschen richtig kennenlernen. Du bist auch so ein Mensch, der nicht nach dem äußeren Menschen urteilt, sondern nach dem inneren. Sonst würdest du auch die Musik dieses gottbegnadeten Heroen der Tonkunst nicht verstehen.“ Bald durfte Kilian auch schon in der Kirche bei der Messe mitspielen, wenn eine Messe oder ein Hochamt mit Musikinstrument aufgeführt wurde, und es war dann das Höchste, was es für den Knaben gab. Nicht nur der Stolz und die Freude waren es, die sein junges Herz erfüllten, auch eine innere Glückseligkeit zog durch sein Herz, wenn er am Kirchenchor seine Flöte blies. Es war ihm zumute, als sei er wirklich so eine Art Weihnachtsengel, der den Menschen etwas voraushabe, etwas, was er sich nicht erklären konnte. Gottseligkeit hätte er es am liebsten genannt, wenn man ihn darum gefragt hätte. Aber es fragte ihn niemand darum. In der Schule war er nach wie vor der ‚Buckel’ und selbst der italienische Lehrer, der für die deutschen Kinder nichts übrig hatte und froh war, wenn seine Stunden vorüber waren, nannte ihn einmal ‚gibboso’, den Buckligen, worüber die anderen Schüler in ein helles Gelächter ausbrachen, denn, so wenig Italienisch sie sonst auch konnten, das verstanden sie sofort, und es war weiter kein Wunder, daß sie Kilian nun nochmals das Leben schwer machen wollten. Aber Kilian machte sich nichts daraus, er war es schon gewohnt, daß seine Mitschüler ihn verspotteten, und er hatte nur ein überlegenes Lächeln und eine gewisse Art von Verachtung für sie übrig. Er flüchtete sich zu seiner Musik und zu seinen Büchern und kümmerte
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sich nicht um die anderen Schüler, die geistig alle weit hinter ihm standen. Er hatte sich schon lange von ihnen abgesondert, weil sie ihn in ihrer Mitte nicht aufgenommen hatten, und hatte sich seine Welt gebildet, die von zwei Polen gleichsam begrenzt war: von seinem Vater, den er über alles auf der Welt liebte und um dessentwillen er auch das Studium ausgeschlagen hatte, und von seinem Lehrer Nikolaus Watschinger, dem er alles verdankte, was ihn tausendfach für das entschädigte, was er durch die Spottlust seiner Mitschüler und den Haß seines Bruders entbehren mußte: seine Bücher und seine Musik. Oft, wenn er sonntags einige Stunden frei hatte, ging er entweder mit dem Lehrer oder auch allein hinunter in das Dorf und hinein nach Fischleinboden und stieg den Weg zur Almhütte hinauf, setzte sich auf einen Felsen und bewunderte staunend die Schönheit seiner Heimat. Jeder Stein und jeder Gipfel, jedes Gräslein und jede Blume erzählte ihm von der Schönheit der Heimat, und ein unendliches Dankgefühl gegen seinen Schöpfer durchzog sein Herz. Obwohl er noch so jung war, hatte er, der fast immer allein war und der gerade durch seine Einsamkeit geistig viel reicher entwickelt war als alle seine Mitschüler und alle Kinder seines Alters, schon ein inneres starkes Gefühl für seine Heimat; und jedesmal, wenn er die Höhen hinanstieg, war er stolz, daß dieses wunderschöne Land seine Heimat war, daß er einmal ein Bauer hier in seiner Heimat auf eigenem Grund und Boden sein werde. In ihm wie in allen diesen wetterharten und bodenständigen Menschen, die auf eigener Scholle saßen, und war sie auch noch so hart und noch so karg, war das Heimatgefühl viel, viel mehr ausgeprägt als bei den Städtern und bei jenen, die nicht selbst Grund und Boden besaßen. Es reute ihn keinen Augenblick, daß er damals dem Vater gefolgt und das Studium ausgeschlagen hatte.
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Aber da war noch jemand, der ihn in sein Herz geschlossen hatte: die kleine Urschl, die Magd. Schon seit jener Zeit, an dem sie ihn in einer Gewitternacht hatte fallen lassen und er ein Krüppel geworden war, hatte sie für den Knaben gesorgt, als ob er ihr eigenes Kind gewesen wäre. In all den Jahren seither war sie dem Kinde Kilian zugetan gewesen und hatte immer wieder versucht, ihr ganzes kümmerliches Dienstbotendasein dem Kinde zu weihen, und war bemüht gewesen, dem Kinde zuerst und dann dem Knaben Gutes zu erweisen. Wie oft hatte sie sich in all diesen Jahren in den Schlaf geweint und sich vor sich selber angeklagt, daß sie die Ursache seines Mißgeschickes war. Mehr als zehn Jahre waren seither vergangen, aber nicht einen Tag hatte sie vergessen, daß Kilian durch sie zum Krüppel geworden war, und war bereit gewesen, für ihre Schuld zu sühnen. Tausend Rosenkränze hatte sie gebetet und hundertmal war sie wallfahren gegangen, um für Kilian zu beten. Aus dem kleinen Dirndl von damals war eine schmucke Jungfrau geworden. Die Urschl vom Latschenhof, wie sie im ganzen Tale genannt wurde, hätte schon mehr als einmal heiraten können, aber sie hatte jeden Freier abgewiesen; sie wollte nicht heiraten, sondern am Latschenhof bei Kilian bleiben, weil sie sich schuldig fühlte an seinem Schicksal, und sie wollte ihre Schuld durch treues Dienen abtragen. Sie war in der Zwischenzeit zu einem hübschen Mädchen herangewachsen und es war weiter kein Wunder, daß sich so mancher Bauernknecht, aber auch mancher junge Bauer nach ihr umdrehte und versuchte, ihr näher zu kommen. Auch vor ihrem Kammerfenster war es schon manche Nacht recht lebhaft geworden, aber die Urschl hatte mit ihren kräftigen kleinen Fäusten und ihrer spitzen Zunge den Burschen bald bewiesen, daß sie für Spaße nicht zu haben sei. Auch einige Heiratsanträge hatte sie
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schon kurz abgewiesen und gesagt, daß sie nicht daran denke, vom Latschenhofe wegzugehen. Wenn sie sonntags am Kirchenchore ihre helle Sopranstimme ertönen ließ, wandten sich nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen nach ihr um und nickten mit den Köpfen. Sie hatte nur für einen Menschen auf der ganzen Welt Interesse und diesem Menschen gehörte auch ihr ganzes Herz und ihr ganzes Leben, und das war der Knabe Kilian. Von jenem Augenblicke an, da er ihr aus ihrem Arm gefallen und dadurch zum Krüppel geworden war, hatte sie kein anderes Bestreben, als ihm zu helfen und ihm zu dienen. Freilich wußte der kleine Kilian nichts davon, daß sie die Ursache seiner Krüppelhaftigkeit war. Damals war er ja noch ein Kind gewesen. Aber als er schon in die Schule ging, hatte sein Bruder Romed ihm die Geschichte in seiner gehässigen Weise erzählt, weil er die Magd gegen Romed in Schutz genommen hatte. Als er dann das nächste Mal die Urschl traf, schaute er sie nur still an, aber die Urschl wußte, daß er nun alles wisse, und begann laut zu weinen. Sie wollte ihn um Verzeihung bitten, aber er gab ihr die Hand. „Laß gut sein, Urschl. Du kannst ja nichts dafür. Du hast es ja nicht absichtlich getan und ich habe mich schon damit abgefunden. Reden wir nicht mehr darüber.“ Seit diesem Tage liebte sie den buckligen Knaben abgöttisch und wenn er es verlangt hätte, so hätte sie gerne ihr Leben für ihn hingegeben. Die Jahre gingen und aus der kleinen Magd war eine stattliche Jungfrau geworden, die sich vor Angriffen von seiten Romeds wohl zu wehren wußte. So hatte sie es nicht mehr notwendig, Kilian um Hilfe zu bitten, sondern wußte sich schon selbst zu wehren und mehr als einmal hatten ihre kleinen, festen Hände eine deutliche Sprache auf den Wangen Romeds gesprochen. Romed haßte die Urschl ge-
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nau so wie seinen Bruder und seinen Vater und versuchte, ihr Böses zuzufügen, wo er nur konnte. Aber dabei gefiel sie ihm ausgezeichnet und schon mit 12 Jahren begann er, ihr nachzustellen und wollte sie einfach überfallen. Einmal lauerte er ihr im Stall auf, ein anderes Mal hatte er sich in ihrer Kammer versteckt und wollte sie auf das Bett werfen. Aber die Urschl war schneller. Sie war zwar nicht groß, die ständige harte Arbeit aber hatte sie stark gemacht und es gelang ihr bald, sich von ihrem Angreifer frei zu machen. „Laß mich in Ruh, du Lausbub, du nichtsnutziger. Wenn du dich noch einmal getraust, mir nahe zu kommen, dann sollst du etwas erleben.“ „Ja, ja, hast schon recht, du Stolze. Wenn aber der bucklige Bruder statt meiner da bei dir gewesen wäre, hättest du ihn sicher nicht so abblitzen lassen wie mich“, höhnte Romed. Urschl schlug ihn ins Gesicht, daß ihm das Blut aus der Nase schoß und er heulend zur Bäuerin lief, wo er sich beklagte, daß die Urschl ihn geschlagen habe. Die Bäuerin wollte natürlich die Dirn sofort entlassen, aber die Urschl war nicht auf den Mund gefallen. „Der Romed soll mich in Ruhe lassen, der Mistbub. Ist ja noch nicht einmal trocken hinter den Ohren und soll lieber seine Schulaufgaben machen, als sich in meiner Kammer verstecken. Und wegen der Kündigung red' ich selbst mit dem Bauern.“ Natürlich wurde aus der Kündigung nichts, denn die Bäuerin hatte ihr gesagt, sie solle ihrem Mann nichts erzählen, der Romed habe es ja nicht so gemeint, es sei nur eine Dummheit gewesen. Für solche Dummheiten bedanke sie sich in Zukunft, hatte die Urschl kurz erwidert und war wieder auf dem Hof geblieben. Aber etwas war doch von dieser Sache in ihr zurückgeblieben. Wie hatte Romed gesagt: Wenn der Bruder anstatt meiner bei dir gewesen wä-
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re…! Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte in Kilian bisher nur das Kind gesehen, weder den Knaben und noch viel weniger hatte sie daran gedacht, daß Kilian ja auch ein Mann sei. Sie hatte ihn als ein Wesen gehalten, das durch sie in das Unglück gestürzt worden war und dem sie dienen mußte zeit ihres Lebens. Aber daß Kilian ein Mann sei, das war ihr noch nie in den Sinn gekommen, und noch weniger der Gedanke, daß er, der Kilian, einmal bei ihr in der Kammer sein könne. Sie wurde ganz rot bei diesem Gedanken und nahm sich vor, gleich am Samstag diese Sünde zu beichten. Natürlich würde das nie vorkommen, der Kilian würde sein ganzes Leben nie auf den Gedanken kommen, einmal zu ihr in die Kammer zu kommen. Aber jedes Mal, wenn wieder ein Bauer oder ein Knecht von ihr einen Liebesbeweis wollte und sie den Verehrer mit sanfter oder gröberer Gewalt davon überzeugen mußte, daß er bei ihr nichts zu hoffen und nichts zu suchen habe, legte sie sich mit dem Gedanken nieder, daß sie vielleicht – vielleicht, wenn der Kilian gekommen wäre, nicht so gewesen wäre und ihn nicht abgewiesen hätte, ja, wahrscheinlich nicht… Und mit einem glücklichen Lächeln auf ihrem schönen Gesicht schlief sie ein und träumte davon, wie es wohl wäre, wenn der bucklige Kilian bei ihr wäre… Schließlich war dies auch nicht zu verwundern, denn die Urschl war ein gesundes, frisches Mädchen und daß sich oft oder auch nur hin und wieder in ihrem Herzen etwas regte, was die Menschen Liebe nennen und was so viele andere Männer von ihr wollten, war kein Wunder.
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Aus Knaben werden Männer. Kilian zählte nun schon 21 und sein Bruder Romed 20 Jahre. Von der Schule war Kilian mit einem Vorzugszeugnis abgegangen, während Romed es mit Ach und Krach bis zur dritten Klasse gebracht hatte. So wie in der Schule war er auch im Leben: zu faul zu jeder Arbeit, aber hinter verbotenen Geschäften her und keine Magd und kein Bauerndirndl war vor ihm sicher. Während Kilian stets in der gleichen Art seine Pflicht erfüllte und seine Arbeit tat, ging Romed seine eigenen Wege. Da der Latschenhof nicht weit von der österreichischen Grenze lag, so war nichts naheliegender, als daß auch er wie viele andere zu schmuggeln begann. Die Österreicher konnten ja so viel, um nicht zu sagen, fast alles, brauchen. Vor allem Kaffee, der in Österreich doppelt, ja fast dreimal so viel kostete wie in Italien. Zucker war ein begehrter Artikel, aber auch andere Dinge gingen nachts heimlich über die Grenze und dafür brachten die Schmuggler Zigaretten und Feuerzeuge und auch anderes, was reichlich begehrt war: Rauschgifte, Kokain und Heroin, Opium und Marihuana-Zigaretten. Es war ein gefährliches Spiel, das die Schmuggler spielten, und so mancher hatte den Einsatz schon mit seinem Leben bezahlt. Das war ein anderes Leben denn als einfacher Bauernknecht und dazu noch auf einem Berglerhof, wo man kaum genug zu essen hatte und wenig Aussicht vorhanden war, einmal selbst Bauer zu werden, weil ja dem älteren Bruder das Vorrecht zustand, den Hof zu übernehmen, wenn der Vater gestorben war. Die Verhältnisse auf dem Latschenhof waren in den letzten Jahren nicht besser geworden. Die Mutter der Bäuerin, die alte Lena, hatten sie schon vor ein paar Jahren in den Friedhof hinuntergetragen. Die Bäuerin war noch mürrischer geworden und noch streitsüchtiger. Mit dem Bauern sprach sie oft wochenlang nicht und wenn sie schon zu ihm sprechen mußte, dann keifte sie, so daß
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der Bauer einfach davonging. Auch die Urschl machte ihr nichts recht, obwohl die Urschl die fleißigste und bravste Dirn des ganzen Tales war. Bei jeder Arbeit hatte sie etwas auszusetzen, auch wenn sie noch so gut gemacht war. Auch die Nachbarn wichen ihr aus, wo sie konnten, denn die Stasi war wegen ihrer bösen Zunge gefürchtet und es hatte wegen ihrer Tratschereien schon viel Verdruß gegeben. Nur eines war für sie auf der Welt: ihre blinde und fanatische Liebe zu ihrem zweiten Sohn Romed. Je weniger Romed auf dem Hofe arbeitete und je mehr er sich Nächte hindurch draußen herumtrieb, desto mehr hielt sie zu ihm und um so mehr schloß sie ihn in ihr Herz. Dabei machte es ihr gar nichts aus, daß Romed sich überhaupt nicht um sie kümmerte, ja sie meistens als lästig empfand und sie grob behandelte, wenn sie ihn einmal zu fragen wagte, wo er denn schon wieder die ganze Nacht gewesen sei. Es machte ihr auch nichts aus, daß er sie belog und ganze Märchen erfand, die sie alle glaubte und weitererzählte. So gelang es Romed immer wieder, die Behörden, sowohl die österreichischen Zöllner wie die italienischen Finanzer, zu täuschen und ihnen durchzuwischen. Ein Auge hatten sie schon lange auf den Romed Lanzinger und sie wußten, daß er einer der verwegensten Schmuggler sei, die an der Grenze ihr nächtliches Unwesen trieben, nur hatten sie bis jetzt noch keine Beweise und konnten daher auch nicht zugreifen. Romed verstand es immer wieder, die Sachen so gut zu verstecken und sich ein Alibi zu verschaffen, daß die Zollbeamten schon fast verzweifelten. Aber sie wußten doch, daß auch für Romed die Stunde kommen und er schließlich in die Falle gehen werde. Sie wußten auch, wie übrigens das ganze Dorf, von der heißen und so aussichtslosen Liebe Romeds zu Urschl, der Magd auf dem Latschenhof. Nur die Urschl selbst wußte nichts von dieser Liebe. Liebe war es ja eigentlich
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gar nicht, sondern nur eine rasende Gier, das Mädchen zu erobern und zu besitzen. Der Romed war sonst bei vielen Kammerfenstern zu Gaste und öfter als einmal hatte er das Fenster einfach eingedrückt, aber bei der Urschl getraute er sich nicht. Seit er vor Jahren schon mit ihren Fäusten Bekanntschaft gemacht hatte, hatte er eine Scheu vor ihr und getraute sich nicht, sich ihr wieder zu nähern. Urschl beachtete ihn überhaupt nicht und schien nur Augen für seinen Bruder Kilian, den Krüppel, zu haben. Gerade das aber brachte Romed in eine maßlose Wut und in einen Zorn, der nicht zu beschreiben war. Oft war er ganz außer sich und in solchen Augenblicken hätte er seinen Bruder und die Urschl erwürgen können. Da schwor er sich, daß er den beiden diese Liebe heimzahlen werde. Wenn er sie einmal mitsammen ertappte, diese beiden ‚Heimlichen’, dann säße sein Messer sehr locker. Dabei waren seine Gedanken auf vollkommen falschen Wegen. In seinem blinden Zorn sah er nur die Liebe des Mädchens und nahm an, daß dieselbe auch erwidert würde. Denn die Urschl mußte man einfach gern haben. Sein primitiver Sinn konnte es nicht anders verstehen. Daß Kilian sich aus der Urschl nichts machte, und daß er überhaupt keine Ahnung von der Liebe der Magd hatte, auf das kam Romed überhaupt nicht. Er nahm diese Liebe einfach als gegeben an und verstieg sich immer mehr in die Wahnvorstellung, die ihn in sich steigernde Eifersucht und Raserei brachte. Kilian behandelte das Mädchen immer gleich freundlich und war nett zu ihr. Wenn sie mitsammen arbeiteten, flogen oft fröhliche Worte von ihm zu ihr und umgekehrt und wenn er dann am Schlüsse der Arbeit ihr die Hand gab und ihr einen Blick schenkte, war Urschl selig und sie mußte sich zurückhalten, um ihm in solchen Augenblicken nicht einfach um den Hals zu fallen und ihn zu küssen.
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Was sie sonst bei keinem anderen Menschen getan hätte, dem Kilian hätte sie freudig einen Kuß gegeben und sie hätte ihm ohne Zögern die Kammertüre geöffnet, wenn er nur gewollt hätte. Aber er dachte gar nicht an solche Dinge, die eigentlich doch so nahe lagen. Kilian war ein ganz besonderer Mensch, wie es sicher im ganzen Tale keinen zweiten gab. Oft, wenn sie abends todmüde auf ihrem Strohsack lag, malte sie es sich mit glühenden Wangen aus, wie schön es sein müßte, wenn Kilian neben ihr läge; und ihre jungen, gesunden Glieder dehnten sich dabei und ihre Arme suchten vergeblich den Geliebten – den Geliebten, der von ihrer Liebe keine Ahnung hatte. Manchmal träumte sie davon, daß sie Kilians Frau sei und ein halbes Dutzend Kinder von ihm habe, und sie glaubte sich dabei im siebenten Himmel. Wenn sie dann am nächsten Tage in aller Frühe Kilian begegnete, schaute sie weg von ihm, um sich nicht zu verraten. Es gab aber Dinge auf der Welt, die viel zu schön wären, um Wirklichkeit zu werden. Kilian stand ja turmhoch über ihr. Was war sie denn auch? Ein armes Bauerndirndl ohne Vater und Mutter, das froh sein mußte, hier auf dem Latschenhofe ein Plätzchen zu finden und in der Nähe ihres geliebten Kilian bleiben zu können. Außerdem trug sie ja auch die Schuld an Kilians Unglück und selbst wenn der reichste Bauernsohn gekommen wäre, um sie als Bäuerin auf seinen Hof zu führen, so hätte sie tausendmal „nein“ gesagt, denn sie konnte sich ein Leben ohne Kilian nicht mehr vorstellen. Nur in seiner Nähe wollte sie bleiben, konnte sie sich ein Leben vorstellen. Und heiraten? Mit dieser tiefen Liebe zu Kilian im Herzen hätte sie keinem anderen gehören können. Und sie wollte auch keinem anderen jemals gehören. Das hatte sie schon einigen Bauernsöhnen gesagt und allmählich ließen sie die Bauern und Knechte auch in Ruhe und nannten sie eine ‚fade Urschl’, die als Jungfrau einmal in den Himmel ein-
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gehen wolle. In den Wirtshäusern wurden über die Urschl wohl schlechte Witze gemacht und ein paar dieser unerhörten Liebhaber schlössen sogar Wetten ab, daß es keinem Manne jemals gelingen werde, die Unnahbarkeit Urschls zu brechen, und zu ihr in die Kammer zu kommen. So war es auch an jenem Abend drinnen in Moos beim Löwenwirt. Da saßen einige verwegene junge Burschen beisammen. Sie waren gerade von einem Schmugglergang zurückgekommen und das Geld war reichlich und lose in den Taschen. Diese Schmuggler hatten immer Geld, aber wenn ihnen wieder ein Schmuggel gelungen war, da spielten einige Tausender keine Rolle bei ihnen. Da flössen Wein und Schnaps in Strömen und so mancher Schein wanderte in das Halstuch einer gefälligen Dirn, die nicht so spröde war wie die Urschl vom Latschenhof. Sie hatten schon ziemlich viel getrunken und ihre derben Witze gemacht. Auch einige Mädchen waren dabei und saßen den Burschen auf dem Schoß. Nur der Romed Lanzinger saß schlecht gelaunt in seiner Ecke. Er hatte sogar die Zärtlichkeiten der blonden Rosl heute abgelehnt und hatte das Mädchen unsanft von sich geschoben, als sie ihm um den Hals fallen wollte. Die Rosl war das nicht gewohnt, denn sie war schon öfter mit dem Romed eine Nacht beisammen gewesen, weil sie den verwegenen jungen Burschen gern hatte. Sie konnte nun einmal nicht allein sein, besonders nachts nicht, und sie wußte Kraft und Leidenschaft zu schätzen. Früher war sie gar nicht wählerisch gewesen und hatte sich nicht lange gesträubt, wenn ein Bursch sie um die Mitte genommen und mit sich geführt hatte. Aber seit sie mit Romed ein paarmal beisammen gewesen war, hatte sie für die anderen Burschen nicht mehr viel übrig gehabt und sich ihre Nächte mehr und mehr für ihn frei gehalten. Auch Romed schien das Mädel gern zu haben, denn er war froh, ein Dirndl zu
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finden, das keine Geziertheit kannte und ihm immer und freudig das alles gab, was er haben wollte. Es war vielleicht für Romed eine Art unbewußter Betäubung von seiner Haßliebe zu der Urschl, die er bei der Rosl suchte; aber wenn er dann heim auf den Latschenhof kam, da brannte die alte Gier nach der Urschl um so mehr in ihm auf, wenn er die Urschl in ihrer jungen Schönheit und Unschuld sah. Da war ihm, als ekelte ihm vor der Rosl, von der er jederzeit alles haben konnte, und die Begierde nach der Urschl stieg um so heftiger in ihm auf. Als er aber doch einsah, daß er bei der Urschl nicht weiterkam, da begann er das Mädchen zu hassen und dieser Haß erfüllte ihn nun Tag und Nacht; und er sann auf Rache dafür, daß sie ihn verschmähte. Einmal hatte er es sogar mit Geld versucht, und hatte ihr einen Tausender unter den Kopfpolster getan. Urschl hatte ihm den Geldschein am nächsten Tage vor die Füße geworfen und ihn angeschrien: „Wenn du noch ein einziges Mal dich getraust, dein Schandgeld in mein Bett zu tun, dann werde ich dir Füße machen. Meinst du etwa, ich weiß nicht, mit welchen Geschäften du dein Geld verdienst? Geh nur zu deiner Rosl, die wird das Geld sicher gern nehmen. Aber mich läßt du in Ruhe damit, sonst könnt' es leicht einmal sein, daß die Finanzer nachschauen kommen, was alles da droben in der Almhütten ist.“ Romed war damals weiß wie die Wand geworden und wenn nicht gerade der Vater zur Türe hereingekommen wäre, so hätte er sich auf die Dirn gestürzt. Also das wußte sie auch schon, daß er schmuggelte, und sogar mit den Finanzern drohte sie ihm. Das konnte gefährlich werden! Da war höchste Vorsicht geboten. Am besten, man brachte das Weib möglichst bald auf die Seite. Als er ihr kurz darauf auf dem Acker begegnete, auf dem sie gerade Kartoffeln ausnahm, kam er ganz nahe zu ihr
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und packte sie am Arm. „Was weißt du von der Almhütte?“ Sie wollte sich losreißen, aber Romed hielt sie eisern. „Was du von der Almhütte weißt, will ich wissen!“ forderte er und drückte ihren Arm noch heftiger. „Das geht dich gar nichts an, was ich weiß. Laß mich los, sag ich dir, sonst…“ „Was sonst? Meinst du etwa, du kannst mir mit den Finanzern drohen? Also so eine bist du, daß du uns deutsche Burschen den italienischen Finanzern anzeigen willst? Du scheinheiliges Luder, du! Hat dir wohl mein feiner Herr Bruder, der Buckel, geraten, der Schuft! Aber daß du es weißt: Wenn du auch nur ein Wort sagst oder wenn die Finanzer kommen, dann ist es mit dir vorbei. Da versteh' ich und die anderen keinen Spaß! Dann bist du am längsten das Liebchen vom Buckel gewesen!“ Er riß sie in seine Arme und wollte sie schon zu Boden werfen, als er von rückwärts gepackt und zur Seite gestoßen wurde. Kilian stand hinter ihm, kalkweiß im Gesicht. „Laß deine dreckigen Finger von der Urschl oder ich breche dir alle Knochen! Über das, was du gesagt hast, reden wir später. Jetzt verschwinde augenblicklich! Brauchst nicht meinen, daß dein buckliger Bruder dir nicht gewachsen ist!“ Romed wußte vor Zorn nicht mehr, was er tat. Er zog sein Messer und wollte auf Kilian losgehen. Aber Urschl schlug ihm das Messer aus der Hand. „Brudermörder!“ schrie sie ihn gellend an und schlug ihn mit beiden Fäusten in das Gesicht. Romed mußte einsehen, daß er hier verloren hatte, und ging. Urschl stand vor Kilian mit fliegendem Atem und sie konnte nicht anders, sie mußte sich an ihn lehnen. Die Aufregung war doch etwas zu stark gewesen. Nicht, daß sie sich vor Romed gefürchtet hätte, sie hatte sich noch immer
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ihrer Haut allein gewehrt, aber daß Romed sie mit Kilian verdächtigt hatte und daß Kilian nun erfahren hatte von ihrer Liebe, das hatte sie mehr aufgeregt als alles andere. Kilian fuhr ihr beruhigend über das Haar. „Urschl, reg dich nur nicht auf. Romed hat es vielleicht gar nicht so gemeint“, versuchte er sie zu beruhigen. Aber Urschl brach mit einem Male in haltloses Weinen aus und schüttelte den Kopf. „Nein, Kilian, mir sagst du nichts vor. Das Messer, das Messer, er hat dich umbringen wollen, Kilian – dich umbringen hat er wollen!“ Sie warf die Arme um seinen Hals und wiederholte schaudernd noch einmal die Worte: „Dich umbringen hat er wollen, Kilian!“ „So weit ist es nicht gekommen. Ich hätt mich schon seiner erwehrt. Aber ich danke dir, daß du ihm das Messer aus der Hand geschlagen hast. Bist ein braves Dirndl, Urschl. Aber um eines bitt ich dich: sag keinem Menschen etwas von dem, was jetzt passiert ist.“ „Anzeigen müßt' man den Lumpen und einsperren sollen sie ihn, damit er anständige Leut' nicht mehr bedrohen kann.“ „Nein, Dirndl, nicht so daherreden. Wenn du vielleicht auch recht hast – stell dir vor, wenn die Gendarmen auf den Hof kommen und dem Romed Handschellen anlegen und ihn abführen, was für Schande für den Hof! Die Mutter träfe bestimmt der Schlag und der Vater müßte sich vor Scham in die Erde verkriechen, nein, das darfst du nicht, Urschl, schon wegen dem Vater und der Mutter nicht. Und ich bitt dich auch recht schön. Ich könnt' ja nie mehr bei der Musik die Flöte spielen und in der Kirche könnt' ich auch nicht mehr spielen. Du weißt doch, daß du mir damit die einzige Freude nähmst, die ich habe.“ „Wenn er dir aber wirklich etwas tut? Du kennst deinen
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Bruder zu wenig, der ist zu allem imstande und zu allem fähig. Kilian, ich hab Angst vor deinem Bruder und noch mehr Angst um dich!“ Kilian konnte nicht anders. Er drückte Urschl an sich. „Dirndl, liebes, sei nicht kindisch. Um mich brauchst du keine Angst zu haben, ich weiß mich schon zu wehren. Und so lange ich da auf dem Hof und in deiner Nähe bin, brauchst du auch um dich selbst keine Angst zu haben. Ich werde schon aufpassen, daß dir der Wildling nichts tut.“ Urschl machte eine wegwerfende Gebärde. „Ich furcht' mich vor keinem Manne und am allerwenigsten vor deinem Bruder. Ich bin schon mit anderen fertiggeworden. Aber um dich hab ich Angst. Ich weiß, wie er dich haßt, weil du ihm im Wege bist, weil er den Hof nicht bekommt, solange du lebst und weil…“ Sie schwieg plötzlich und wurde über und über rot. Sie hatte schon zu viel gesagt und die letzten Worte waren ihr unwillkürlich über die Lippen gekommen. Jetzt hatte sie sich verraten und das hätte sie nicht tun dürfen. Mein Gott, was sollte sich der Kilian von ihr denken! Aber auch Kilian war das plötzliche Schweigen Urschls aufgefallen und er fragte: „Weil?“ „Ach nichts, Kilian, ich wollte nichts mehr sagen.“ „Urschl, lüg' nicht, es steht dir gar nicht gut an und übrigens sehe ich es dir an deinem Gesicht an, daß du noch etwas hast sagen wollen. Also, liebe Urschl, warum haßt mich der Romed noch?“ „Weil er glaubt, du seiest mein Schatz und er deshalb bei mir nichts zu suchen hat.“ Jetzt war es heraußen und Urschl lief ihm, so schnell sie ihre Füße tragen konnten, einfach davon. Kilian schaute ihr ganz verdutzt nach. So eine Gemeinheit, murmelte er vor sich hin. Wo er doch nie daran gedacht hatte, mit Urschl
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etwas anzufangen. Er war doch ein Krüppel, er hatte einen Buckel und er würde es nie über sich bringen, so ein junges gesundes Dirndl für das ganze Leben an sich zu binden. Jedes Dirndl mußte sich doch vor ihm ekeln, vor ihm mit dem Buckel, den er sein ganzes Leben lang mit sich herumschleppen mußte. So einen dummen Gedanken kann aber auch nur der Romed haben. Es war rein zum Lachen – er mit seinem Buckel sollt mit der Urschl, die übrigens ja auch viel älter war als er, ein Liebesverhältnis haben! Er mußte mit einem Male lachen, aber es war ein bitteres Lachen. Für ihn, den Buckel, war kein Mädchen da. Die Mädchen waren nur für die gesunden Burschen da, ja, für den Romed und die anderen, da waren die Mädchen da, die konnten sie sich aussuchen, aber nicht er, der Bucklige, den sie ja schon in der Schule wegen seines Buckels alle ausgelacht hatten! Noch nie fühlte er sich so verlassen und so zurückgesetzt wie in diesem Augenblick. Noch nie hatte er mit dem Schicksal so gehadert wie gerade jetzt, als sein eigener Bruder glaubte, er habe ausgerechnet mit der Urschl, dem lieben Dirndl, ein Liebesverhältnis. Ja, wenn er auch seine geraden Glieder gehabt hätte, so wie der Romed und die anderen, dann vielleicht – ja, dann hätte er die Urschl sicher gefragt, ob sie sein Weib werden wollte, denn die Urschl war das einzige Mädchen, das er näher kannte und er liebte sie wie ein Bruder seine Schwester, ja vielleicht hätte sie sogar „ja“ gesagt, wenn er sie gefragt hätte. Sie hätte es wirklich verdient, denn sie war brav und sogar die Launen seiner Mutter ertrug sie geduldig und dem Vater wäre sie auch wahrscheinlich recht gewesen. Aber er mit seinem Buckel war ja ein Ausgestoßener, ein Verfemter, mit einem Wort, ein ‚Buckel’. Mit todtraurigem Gesicht machte sich Kilian an die Arbeit – das war das einzige, was ihm im Leben blieb, die
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Arbeit! Romed dachte in seiner Ecke finsteren Gesichtes an diese Szene von heute vormittag und es war ihm, als fühlte er noch die Fäuste Urschls in seinem Gesichte brennen. Ein maßloser Zorn beherrschte ihn. Das sollte ihm die Dirn noch büßen, diese scheinheilige Urschl. Wie sie sich vor seinem Bruder hingestellt hatte, als wollte sie ihn mit ihrem Leib schützen und der verdammte Buckel hatte sich hinter dem Weiberrock verkrochen, der Feigling, der elende. Schaut ihm ganz gleich, dem Duckmäuser und Angeber! In seine Gedanken hinein hörte er die Stimme der Rosl, die einem anderen Burschen auf dem Schoß saß: „Heut ist mit dem Romed wieder einmal nichts zu machen. Wird ihn die Urschl schon wieder einmal haben abblitzen lassen, den armen unglücklichen Verliebten!“ Ein rohes Gelächter folgte diesen Worten. Romed aber sprang auf warf sein volles Glas der Rosl in das Gesicht. „Das Maul haltst, du Hure, du verfluchte. Bist ja nicht einmal wert, der Urschl das Wasser zu reichen! Aber damit ihr seht, daß ich mich auch vor der Urschl nicht fürchte, mach ich mit jedem von euch eine Wette: Ich bekomm die Urschl und heute in einer Woche hab ich sie in meinem Bett gehabt! Fünf Tausender setz ich! Wer eine Schneid hat, setzt dagegen!“ Langsam stand er auf und legte die fünf Tausender auf den Tisch. „Wer tut mit?“ fragte er herausfordernd. Mit einem Male war es still in der Gaststube. Es waren lauter verwegene Schmuggler, die alle schon viel erlebt hatten und bei denen es mehr als einmal ums Leben gegangen war. Aber so eine Wette, das war doch etwas ganz anderes. Jeder von ihnen kannte die Urschl und alle wuß-
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ten, daß sie für keinen einzigen von ihnen zu haben war, am wenigsten für den Romed. Wenn er nun trotzdem wettete, dann mußte er etwas Arges im Schilde führen. Um Menschen wettet man nicht, das ging sogar diesen abgebrühten Burschen, die sonst vor gar nichts zurückschreckten, durch den Sinn. Einer von ihnen schob das Geld dem Romed wieder zu. „Steck dein Geld wieder ein und sei vernünftig, Romed! Das ist keine Wette. Wenn du die Urschl haben willst, mußt du Gewalt anwenden und das ist gefährlich. Laß das Spiel, es hat keinen Sinn.“ Aber Romed war nicht mehr zu halten. Sein Gesicht war blaurot angelaufen und er trank ein ganzes Glas Schnaps in einem Zug hinunter und schrie: „Feiglinge seid ihr alle mitsammen! Ich leg noch einen Tausender drauf, wenn einer Schneid hat, setzt er dagegen.“ Aber keiner von den Burschen rührte sich. Alle wußten mit einem Male, daß dies kein Scherz mehr war, sondern blutiger Ernst. Und keiner wollte die Verantwortung mit übernehmen, damit er später nicht herangezogen werden konnte, wenn etwas von dieser unsinnigen Wette aufkam. Denn, daß diese Wette nicht gut ausgehen konnte, das fühlte jeder von ihnen. Ihre Freiheit war ihnen doch lieber als sechs Tausender. Als keiner der Burschen sich rührte, schrie Romed ihnen noch etwas zu, was sie noch nachdenklicher machte… „Wenn keiner von euch sich getraut, zu wetten, dann will ich euch noch etwas sagen: Die Urschl weiß, daß wir unsere Ware bei der Almhütte verstecken und hat mir gesagt, daß sie es den Finanzern anzeigen wird.“ Bei diesen Worten wurden alle blaß. Da war Gefahr im Anzuge. Man mußte sich wehren. Die Urschl durfte keine Gelegenheit bekommen, eine Anzeige zu machen. Das war
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etwas anderes, das ging sie alle an. Da fand Urschl eine Verteidigerin, die sie sich selbst wohl nie geträumt hätte: Rosl sprang von dem Schoß des Burschen herab, auf dem sie bis jetzt gesessen hatte, stellte sich vor Romed hin und rief: „Pfui, Romed, das ist ganz gemein von dir. Die Urschl tut so etwas nie und nimmer. Die Urschl zeigt keinen Menschen an. Das hast nur du in deinem Haß und in deinem Zorn dir ausgedacht, weil du sie nicht ebenso bekommst wie eine von uns. Du willst die anderen nur gegen die Urschl aufhetzen und sie zugrunde richten. Aber das eine sage ich dir: Wenn du die Urschl nicht in Ruhe läßt, dann kannst du noch ganz andere Dinge erleben!“ „Von dir etwa, rote Hex'?“ höhnte Romed. „Ja, von mir, das kann ich dir versichern. Und jetzt ist mir die Lust vergangen, heute noch länger hier zu bleiben. Ich geh und so schnell seht ihr mich nicht wieder.“ Damit ging sie aus der Stube und schlug die Tür hinter sich zu, daß es krachte. Ein peinliches Schweigen folgte. Alle fanden, daß Romed zu weit gegangen war. Einer nach dem anderen schlich sich davon und die Mädchen hatten schon vorher die Wirtsstube verlassen. Nur Romed blieb zurück und noch ein Kumpan, der schwarze Much, ein übler Bursch aus dem österreichischen, der meistens die Schmugglerbanden führte, nachdem er vorher die österreichischen und italienischen Zollwachen erkundet hatte. Romed zündete sich eine Zigarette an und rief den Wirt: „Noch einen Liter Wein!“ Dann wandte er sich an den schwarzen Much und lachte höhnisch: „Was sagst du jetzt, Much? Hast jetzt selbst gesehen, was die ganze Bande wert ist. Kaum, daß es einmal ernst wird, rennen sie davon wie die Hasen und haben die Hosen voll.“
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Much saß hinter dem Tisch und trank sein Glas leer. „Ich mein, Romed, du solltest vorsichtiger sein. Es hat keinen Wert, sich in eine Sache einzulassen, die nicht sicher ist. Wir suchen uns eben ein anderes Versteck für unsere geschmuggelten Sachen. Daß die Urschl zu den Finanzern läuft und uns anzeigt, glaube ich ebensowenig wie die anderen. Das bildest du dir in deiner blinden Wut nur ein.“ Aber Romed ließ den Einwand nicht gelten. Er hatte sich schon zu viel in seine Wahnvorstellungen verstrickt und der Alkohol tat noch das seine dazu, um ihn keine Fehler einsehen zu lassen. „Ach so, du bist also auch so einer, der mit den Wölfen heult und sich nichts zu tun traut. Geh doch den anderen nach, wenn du keine Schneid hast, lauf zur heiligen Urschl und leck ihr die Zehen ab und bitte sie, daß sie uns nicht anzeigt. Ich weiß, was ich weiß und was ich mir vorgenommen hab; in einer Woche muß die Urschl mein sein, so oder so.“ Der schwarze Much sah ein, daß heute mit dem Romed nichts zu machen war und ging. Es war am besten, Romed allein zu lassen. Vielleicht verrauchte sein Zorn und seine Wut und ein anderes Mal war sicher wieder mit ihm zu sprechen. Aber Romed saß stumm und allein vor seinem Glas. Die Szene von heute vormittag ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Noch immer sah er die Urschl und den Kilian vor sich, wie sich beide gegen ihn stemmten und auf ihn losgingen. War das nicht das beste Zeichen, daß beide zusammenhielten und etwas miteinander hatten? Auf den Wein bestellte er Schnaps und leerte Glas um Glas. Und seine Phantasie gaukelte ihm immer neue Bilder vor: wie die Urschl sich an den Hals des Buckligen warf und ihn umarmte und küßte und ihn zu sich niederzog.
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Es wurde ihm rot vor den Augen bei diesen Wahnvorstellungen und als er schwer betrunken endlich heimwärts wankte, da der Wirt ihn kurzerhand hinausgeworfen hatte, weil es schon lange nach Mitternacht war, da lallte er noch vor sich hin: „Das wirst du mir büßen und mein wirst du doch!“
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Genau eine Woche später brannte in der Nacht der Latschenhof nieder. Kilian wurde beim Auslassen des Viehes von einem herabfallenden brennenden Balken schwer verletzt, und Urschl zog ihn unter dem Balken heraus, wobei sie sich so schwere Brandwunden zuzog, daß sie im Krankenhaus in Innichen einige Tage darauf starb. Auf ihrem entstellten Gesicht lag noch ein mildes Lächeln, als man ihr sagte, daß sie dem Kilian durch ihre Tat das Leben gerettet habe. Ihre Lippen versuchten noch, seinen Namen zu formen, ehe sie die Augen für immer zumachte. Ganz Sexten war bei dem Begräbnis der Magd Urschl vom Latschenhofe. Noch nie waren bei einer armen, einfachen Bauernmagd so viele Leidtragende gewesen, und kein Auge blieb trocken, als der Pfarrer in einfachen Worten ihre aufopferungsvolle Tat schilderte und von der Treue bis zum Tode sprach. Nur drei Menschen fehlten bei der Beerdigung: Kilian, der schwerverletzt im Krankenhause lag, Romed, den die Gendarmen eingesperrt hatten, weil der Verdacht auf ihn fiel, den Hof angezündet zu haben, und die Bäuerin Stasi, die nichts anderes tat, als um den armen Romed zu jammern, den man unschuldig eingesperrt habe, denn der ‚gute
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Bub’ sei nicht einmal imstande, einer Fliege etwas zuleide zu tun, geschweige denn, den eigenen Hof anzuzünden. Sie versuchte sogar, den Verdacht auf Kilian zu lenken, aber sie fand mit diesen Verdächtigungen bei keinem Menschen, auch nicht bei den italienischen Gendarmen, Glauben. Es kam auch bei der Untersuchung nichts heraus. Romed konnte ein einwandfreies Alibi nachweisen, weil Rosl aussagte, daß Romed die ganze Nacht bei ihr gewesen sei, und daher als Brandstifter überhaupt nicht in Betracht käme. So mußte man ihn nach ein paar Wochen wieder aus dem Gefängnis entlassen. Als er heimkam, wies ihm der Vater die Türe. „Du kannst hundertmal behaupten und die Rosl kann es hundertmal bezeugen, daß du bei ihr gewesen bist – ich und viele andere glauben dir kein Wort. Du hast bei mir nichts mehr zu suchen. Am liebsten war' es mir, wenn ich dich nie mehr sehen tat in meinem ganzen Leben.“ Romed hatte dem Vater stumm zugehört. Die Bäuerin jammerte natürlich wieder, daß man dem Romed bitter unrecht tue, da er doch sein Alibi nachgewiesen habe, aber Romed winkte müde ab. „Laß nur, Mutter. Für mich ist ohnehin keine Arbeit mehr. Der Hof ist abgebrannt und ich will auch nicht mehr dableiben. Es ist besser, wenn ich auf einige Jahre fortgehe. Aber ich komm' schon zur rechten Zeit wieder, auch wenn man mich noch so ungern sieht. So schnell und so einfach bringt man mich nicht los.“ Vitus Lanzinger war mit seiner Bäuerin bei einem Bauern in der Nähe des Friedhofes von Sexten untergekommen. An ein Aufbauen war heuer ohnedies nicht mehr zu denken, und außerdem zogen sich die Verhandlungen mit der Brandschadenversicherung hinaus, die immer noch nicht zahlen wollte, weil, wie sie behauptete, die Brandur-
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sache trotz der Entlastung noch nicht feststehe. Der Bauer verkaufte das Vieh und ging den Winter über in den Wald als Holzarbeiter. Das keifende Weib daheim vergällte ihm den Aufenthalt im fremden Hause noch mehr. Die Leute sprachen viel vom Brande, wie das so üblich ist auf dem Lande. Aber es war ihm schon einige Male aufgefallen, daß sie plötzlich schwiegen und verlegen dreinschauten, wenn er gerade zu solchen Gesprächen hinzukam. Keiner vom ganzen Tale hielt den Bauern für den Brandstifter, aber die Stimmen wollten nicht verstummen, die behaupteten, Romed habe den Brand gelegt, und als auch die Rosl aus dem Tal verschwand, bekamen die Gespräche neue Nahrung. Vitus Lanzinger verdrossen diese Stimmen, weil sie die Ehre seiner Familie angriffen. Einige hundert Jahre saßen die Lanzinger schon auf dem Latschenhofe und waren alles ehrsame, brave Leute gewesen, die, wenn sie auch nicht reich und keine Großbauern gewesen, so doch von allen Leuten im Tale hoch angesehen waren. Ein Lanzinger war sogar einmal Bürgermeister und andere hatten im Gemeinderat gesessen, noch nie war auch nur das kleinste Fleckchen auf die Familienehre der Lanzinger gefallen, und nun mußte er es sich gefallen lassen, daß man ihn von der Seite anschaute und zu sprechen aufhörte, wenn er in die Nähe kam. Das ging ihm vielleicht mehr zu Herzen als der Brand selbst. Immer öfter kam ihm der Gedanke, den Hof nicht mehr aufzubauen und irgenwohin zu ziehen, wo ihn niemand kannte und wo die Leute nicht über ihn und seine Familie sprachen und sie mit scheelen Augen anschauten. Wenn er allein bei seiner Holzarbeit im Walde war und keinen Menschen weit und breit sah, war ihm am wohlsten. Er war immer ein schweigsamer Einzelgänger gewesen, der Latschenbauer, aber jetzt wurde er geradezu menschenscheu.
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Nur an seinen Ältesten, den Kilian, dachte er mehr und mehr, und er vermißte ihn um so mehr, als er die anderen Menschen mied. Er wollte mit Kilian sprechen, ob es nicht auch ihm lieber sei, wenn sie aus dem Tale wegzögen in ein anderes Tal oder noch lieber auf einen Berg, wo kein Mensch sie kannte. Mit der Versicherungssumme, die doch einmal ausbezahlt werden mußte, konnten sie sicher irgendwo einen kleinen Bauernhof kaufen. Alle Wochen besuchte Vitus Lanzinger seinen Sohn im Krankenhaus. Von seinem Vater hatte Kilian auch den tragischen Tod Urschls erfahren, die gestorben war, um ihn zu retten. So hatte sie mit ihrem Tode an ihm gutgemacht, was sie an ihm gefehlt hatte, als sie ihn als Kind hatte fallen lassen. „Arme Urschl“, sagte Kilian und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Wäre besser gewesen, ich wäre gestorben als sie. Sie hatte gerade Glieder und war noch jung und hätte bestimmt einmal einen Mann glücklich gemacht. Ich bin ja nur ein Krüppel – was kann ich schon im Leben nützlich sein.“ Ein weher Zug legte sich um seinen Mund. Vitus war kein guter Tröster, und Tränen hatte er Zeit seines Lebens nicht gekannt. Unbeholfen legte er seine schwielige Bauernhand auf den Kopf seines Sohnes und sagte still: „Bist mein Bub, Kilian, ist das nicht genug?“ Kilian schämte sich seiner Verzagtheit. Er richtete sich im Bett auf, so gut er konnte, und antwortete dem Vater: „Ja, Vater, du hast recht. Ich bin schon froh, daß wenigstens ein Mensch auf der Welt ist, dem ich etwas nützen kann.“ Um Weihnachten herum durfte Kilian heimgehen. Vitus hatte den Postwirt von Sexten gebeten, ihm das Fuhrwerk zu leihen, damit er seinen Sohn vom Krankenhause abholen könne. Still fuhren beide heimwärts, Vater und Sohn.
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Beim Postwirt stiegen sie aus, und als sie am Friedhof vorbeigingen, blieb Kilian lange am Grabe der Urschl stehen. Ein kleines Bäumchen stand auf dem einfachen Hügel. Vitus hatte es hingestellt, ehe er seinen Sohn geholt hatte. Kilian drückte fest seines Vaters Hand. Er wußte, daß nur sein Vater das Grab besuchte. Seine Mutter war noch nie dort gewesen, und sie weigerte sich auch, nur ein einziges Mal beim Grabe stehen zu bleiben; wenn sie sonntags in die Kirche ging, machte sie immer um Urschls Grab einen weiten Bogen. Die Bäuerin haßte Urschl noch über das Grab hinaus, weil nur Urschl die Schuld an ihrem ganzen Unglück war, wie sie behauptete. Wenn die Urschl den Romed erhört hätte, wäre alles anders gekommen, sagte die Bäuerin und begann sofort nach dem armen Romed zu jammern und zu beten. In jenen Tagen war es auch, daß Vitus Lanzinger mit seinem Sohne über den Verkauf der Brandstätte sprach. Kilian wollte zuerst nichts davon wissen, denn hier am Friedhofe lag ja Urschl, die er nicht allein lassen wollte. Solange sie lebte, hatte er sich nie getraut, sie zu lieben, weil er ja nur ein armer Krüppel war und, ausgestoßen von den gesunden Menschen, kein Weib an sich binden wollte. Aber die tote Urschl, die da hinter der Kirche im Friedhof den ewigen Schlaf schlief, die durfte er lieben und die wollte er nicht verlassen. Aber als er dem Vater in die traurigen Augen schaute, da besann er sich auf jene Unterredung, die er mit dem Vater gehabt hatte, damals, als er ihm auch die Entscheidung überließ, ob er von ihm weggehen und studieren wollte. Dieselben bittenden Augen waren es jetzt wieder, die Augen seines Vaters, den er über alles liebte, und der der einzige Mensch war, der ihn auch verstand. Da konnte er nicht mehr bei seiner Weigerung bleiben. Der Vater hatte das größere Anrecht auf ihn als die tote Urschl, auch wenn
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sie für ihn gestorben war. Das Leben ist stärker als der Tod und verlangt vom Menschen noch anderes, als nur in einer traurigen Erinnerung an eine Tote zu leben. Leben ist Arbeit und Aufbau, und es galt doch, eine neue Heimat anstatt des abgebrannten Latschenhofes zu schaffen; das war wichtiger. An seine Urschl konnte er auch in der neuen Heimat denken, und wenn er an sie dachte, war er doch immer bei ihr und sie war immer bei ihm. Für Tote gibt es auf der Welt ja nur noch ein stilles Gedenken tief im Herzen der Lebenden, und das konnte er ihr überall bewahren, nicht nur hier in Sexten an ihrem Grabe. Und er fühlte, wie sein Vater hier unter den Menschen litt. Der aufrechte Mann konnte das Mißtrauen der Bauern nicht verwinden, und Kilian wußte, daß er daran über kurz oder lang zugrunde gehen würde, wenn er hier bliebe. So sagte er dem Vater, daß es ihm recht sei, wenn sie irgendwo anders ein kleines Anwesen kauften. „Am liebsten irgendwo am Berg, weit weg von den andern, damit wir allein sind und niemand in unserer Nähe ist“, sagte Vitus Lanzinger, und Kilian gab ihm recht. Kilian konnte den Winter über nichts arbeiten. Mit seiner Gesundheit war es noch nicht am besten bestellt. Es ging zwar aufwärts, aber langsam, langsam. So war er viel an das Haus gefesselt, und oft griff er zu seiner geliebten Flöte, um sich wieder einzuspielen. Aber kaum, daß er zu spielen angefangen, kam schon die Mutter und verlangte, er solle aufhören, sie könne diese ewige Dudelei nicht hören. Er solle lieber daran denken, daß sein armer Bruder Romed allein irgendwo in der weiten Welt sei und keine Heimat habe. Der arme Bub müsse bestimmt viel leiden und habe niemand, der ihm beistehen könne. Nicht einmal sie, seine Mutter, wisse, wo er sei und was er tue. Es sei vom Bauern die größte Ungerechtigkeit gewesen, den armen Buben von der Türe zu weisen, und Gottes Strafe
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werde ihn schon noch dafür erreichen. Kilian zog es an solchen Tagen vor, dem Greinen der alten Frau auszuweichen, und so ging er meistens hinüber zum Friedhof und blieb lange vor Urschls Grab stehen. Die Schwester im Spital hatte ihm erzählt, daß Urschl bis zuletzt nur von ihm gesprochen und das letzte Wort von ihr sei sein Name gewesen. Da stieg in ihm leise die Gewißheit auf, daß Urschl ihn doch geliebt haben müsse. Es wurde ihm ganz seltsam zumute bei diesem Gedanken. Aber er erinnerte sich, daß sie sich schützend vor ihn hingestellt hatte, Romed das Messer aus der Hand schlug und sich dann an ihn gelehnt und gesagt hatte: „Kilian, ich habe Angst!“ Und er erinnerte sich weiter, wie sie ihn oft so eigen angesehen hatte. Da war ihm gewesen, als seien ihre Augen wie zwei helle Sternlein am Himmel, die so schön leuchteten, als hätten Englein sie angezündet, und er hatte diese stumme Sprache nicht verstanden… Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß es auch nur einen Menschen auf der ganzen Welt geben könne, der ihn – außer seinem Vater und dem Lehrer Nikolaus Watschinger – anders als einen Krüppel angesehen hätte, und am allerwenigsten, daß ein junges Mädchen wie die Urschl ihm eine Zuneigung hätte entgegenbringen können. Er war in der Kindheit zu viel von einer Ecke in die andere gestoßen worden und hatte zu viel Härte, Abneigung und Haß in seinem jungen Leben erfahren, als daß er noch hätte Vertrauen zu einem Menschen fassen können, geschweige denn, daß er daran gedacht hätte, daß ihn jemand lieb haben könnte. Von der Abneigung und vom Spotte der anderen ausgestoßen, hatte er sich in sich selbst zurückgezogen und hatte, menschenscheu, wie er geworden war, alle Menschen gemieden und gewaltsam jede kleinste Regung seines Herzens unterdrückt, um nicht noch mehr Enttäuschungen zu erleben. Wenn ein Mann, so wie er, schon in
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frühester Kindheit von allen nur als Krüppel angesehen und verlacht worden war, so verhärtet sich sein Herz im Laufe der Jahre immer mehr und kein Lichtstrahl dringt in sein einsames Herz, keine wärmende Sonne durchflutet seine kranke einsame Seele, und er hatte nur ein Schicksal vor sich: einsam und allein den Weg zu gehen, bis der Tod ihn von seiner eiskalten Einsamkeit erlöste. Und nun kam er plötzlich darauf, daß da in seiner nächsten Nähe ein junges, blitzsauberes Dirndl gelebt hatte, das ihm sein Herz und seine Liebe geschenkt und er nichts davon gewußt hatte… aus und vorbei… Oft stand Kilian an Urschls Grab und seufzte innerlich: Urschl, warum hast du mir nie etwas davon gesagt, daß du mich gern gehabt hast? Warum hast du trotz deiner Liebe mich Tag und Nacht so allein gelassen? Nur ein einziges Wort von dir und ich wäre der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt gewesen. Aber es wird im Leben schon so sein müssen, daß der eine alles vom Leben verlangen kann und es auch bekommt und der andere nichts vom Leben hat als eine ungestillte Sehnsucht und ein krankes Herz, das irgendwo in einem stillen Winkel sich nach ein bißchen Glück und Liebe sehnt und es vor lauter Einsamkeit gar nicht sieht, daß gleich neben ihm ein Herz schlägt, das genau so sehnsüchtig auf ein bißchen Glück wartet, das nie kommen will, obwohl es ganz nahe ist. Leben, wie kannst du so grausam sein, und Schicksal, welch dornenvolle Wege führst du oft die Menschen: läßt zwei Menschen in Liebe und Sehnsucht jahrelang nebeneinander hergehen und führst sie doch nie zusammen! Seit Kilian wußte, daß er mit Vater und Mutter bald von Sexten fortziehen werde, ging er oft hinauf zur Alm auf dem Helm und oft zur Brandstätte, wo einmal der Latschenhof gestanden hatte. Bei jedem Schritte glaubte er, Urschl ginge neben ihm
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und es war ihm, als hörte er ihr liebes Geplauder und als sehe er ihre lieben Augen. Fast körperlich spürte er ihre Nähe bei diesen einsamen Gängen und hundert Kleinigkeiten fielen ihm jetzt ein, auf die er früher nie geachtet hatte, kleine Gefälligkeiten, die sie ihm erwiesen, Arbeiten, die sie ihm abgenommen, damit er es nicht zu schwer haben sollte, Handreichungen, auf die er nie geachtet hatte, und immer wieder sah er ihre guten, klaren Augen vor sich auftauchen und ihn anlachen, so warm und so lieb, wie er es bei Lebzeiten der Urschl nie gefühlt hatte. Da mußte ein Mädchen zuerst sterben und ihm ihr junges Leben schenken, damit er nach dessen Tode erkennen durfte, wie sehr ihn dieses Mädchen geliebt hatte. „Urschl“, stöhnte er dann oft, wenn er an ihrem Grabe stand. „Kannst du es mir verzeihen, daß ich deine Liebe nie bemerkt habe und ich dich eigentlich um dein junges Leben brachte und um all das Glück, das du hättest finden können?“ Einmal sprach er auch mit Nikolaus Watschinger darüber. Er erzählte ihm davon, wie er als Krüppel es nie gewagt hätte, an das Glück zu glauben, von einem Mädchen geliebt zu werden. Er habe sich schon damit abgefunden gehabt, allein sein Leben zu leben und es allein zu beschließen. Nikolaus Watschinger hörte seinem jungen Freunde zu und unterbrach ihn mit keinem Wort. Er wußte aus eigener Erfahrung nur zu gut, daß man einen Menschen in solchen Augenblicken aussprechen lassen mußte. Gerade für so einen einsamen Menschen, wie Kilian einer war, bedeutete es eine Erleichterung, sich einmal alles das von der Seele zu reden, was er bisher immer selbst in sich getragen hatte. Er hatte die stille Liebe Urschls zu Kilian schon lange bemerkt und sich darüber gefreut. Daß aber Kilian nichts von dieser Liebe gewußt hatte und sich jetzt darüber Vorwürfe
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machte, verstand er zuerst nicht. Aber er konnte es Kilian nachfühlen, daß er um Urschl trauerte und sich Vorwürfe machte, mit Urschl nicht freundlicher gewesen zu sein. Erst lange Zeit, nachdem Kilian gesprochen hatte, antwortete er: „Mein lieber Kilian, vielleicht ist es gar nicht das schlechteste, daß du von der Liebe Urschls nichts gewußt hast. Es ist jedenfalls eine reine Liebe geblieben und das ist wohl das Schönste, was es auf der Welt überhaupt gibt. Das ist noch viel besser als eine Enttäuschung in der Liebe. Da rührt kein Mensch daran und du hast die Urschl in liebster und schönster Erinnerung. Ich möchte dir das Gegenteil von dem erzählen, was du erlebt hast. Ich habe auch nicht geheiratet, und zwar deswegen, weil ein Mädchen mir das Ideal der Liebe aus dem Herzen gerissen hat. Ich habe auch einmal ein Mädel gern gehabt, so gern, daß ich sie hab' heiraten wollen. Sie hat sich meine Liebe und meine Werbung gefallen lassen und auch meine Küsse erwidert und meine Umarmungen ertragen. Wie ich sie dann gefragt habe, ob sie mich heiraten wolle, hat sie ohne weiteres ‚ja’ gesagt. Aber einige Wochen vor der Hochzeit hat mir ein Bekannter gesagt, ich möge doch einmal abends an dem und dem Tag zum Löwenwirt nach Moos gehen, wenn ich meine Braut – Rosl hieß sie übrigens – dort antreffen wolle. Zuerst hätte ich diesem Bekannten am liebsten eine heruntergehaut. Aber dann hat mich doch die Neugierde gepackt und ich bin hingegangen zum Löwenwirt in Moos. Zuerst haben sie mich nicht hineinlassen wollen. Die Kellnerin sagte, es sei eine geschlossene Gesellschaft, die nicht gestört werden wolle. Aber ich habe drinnen im Extrazimmer meine Braut laut lachen gehört. Da habe ich die Kellnerin einfach auf die Seite geschoben und die Tür aufgestoßen und hineingeschaut. Und in diesem Augenblick ist die Liebe in mir gestorben. Meine Braut, die Rosl, ist halbnackt auf dem Schöße deines Bru-
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ders gesessen, der gleich wie die anderen total betrunken war.“ Der Lehrer schwieg, als wollte er sich noch einmal an diesen Augenblick erinnern. „Siehst du, Kilian, das hast du nicht zu erleben brauchen. In dir ist nichts gebrochen, du hast dir das Andenken an deine Urschl rein und sauber erhalten können. Du weißt, daß die Urschl dich geliebt hat und nur dich und du kannst sie in der Erinnerung in Ehren halten und ihr für ihre Liebe danken, auch wenn du sie nicht erkannt hast, solange Urschl lebte. Aber sie leben ewig in dir weiter, beide: die Urschl und ihre Liebe. Wenn ich aber an die Liebe denke, dann spür' ich nichts als einen Ekel und am liebsten sagte ich ‚Pfui Teufel!’ dazu. Es sind nicht alle Frauen so wie die Rosl, aber ich hab' nun einmal mit ihr genug und ich glaube nicht mehr an die Liebe. Du hast es besser, du kannst noch daran glauben.“ Es ist doch immer so ein eigenes Gefühl, wenn es ans Abschiednehmen geht. Man scheidet schon ungern von einem Menschen, den man liebgewonnen hat, und man glaubt, ein Stück eigenes Leben bleibt in diesem Menschen zurück. Wenn man aber von der Heimat Abschied nehmen muß, so ist das noch weit schwerer. Nur der kann es so recht verstehen und ermessen, der selbst einmal von der Heimat Abschied genommen hat, sei es nun aus freien Stücken, sei es, weil er aus der alten Heimat gewaltsam vertrieben wurde. Da ist es, als schauten einem die Wiesen und die Felder, die Berge und die Häuser alle vorwurfsvoll nach, als wollten sie dich fragen, ob du es wirklich über das Herz bringst, sie zu verlassen. Das Haus, in dem du geboren wurdest, die Stube, in der du deine ersten Schritte gemacht hast, der Garten, in welchem du deine ersten Blumen gepflückt hast, die Wiesen, über die du zuerst jauchzend und jubelnd gelaufen und getobt bist, die Berge,
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die deine Tage und deine Nächte bewacht und die dich behütet haben. Und du gehst noch einmal durch die Räume deines Vaterhauses, steigst noch einmal auf die Berge und schaust hinunter auf das Tal, das deine Heimat war, ehe du dich zum letzten Male umschaust, um fort zu gehen. Es ist kein gutes Gefühl, seine Heimat zu verlassen, und wer keine zwingenden Gründe dazu hat, wird es nicht tun, wenn er seine Heimat liebt. Ein oberösterreichischer Dichter hat jenes wunderschöne Lied gedichtet, in welchem er die Heimat den zweiten Mutterleib nennt. Auch Kilian Lanzinger ging es so. Je näher der Abschied von seiner Heimat, von seinem geliebten Sextnertale kam, desto schwerer wurde es ihm ums Herz. Immer und immer wieder trieb es ihn hinauf in die Berge. Auf den Helm und auf die Alm des Latschenhofes, wo er die Kühe gehütet und seine ersten Lieder auf der Schalmei gespielt hatte, hinein zum Fischleinboden und hinauf zum Paternsattel, auf den Elfer und Zwölfer, über das Billelejoch hinüber zu den Drei Zinnen, die ihn so vorwurfsvoll anzuschauen schienen. Alle Erinnerungen seines einsamen Lebens gruben sich nochmals in sein Herz, als wollten sie ihn mit tausend Fasern halten, und er fragte sich schon oft im stillen, ob er wohl recht getan hatte, dem Vater zuzustimmen, daß sie fortziehen wollten.
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Als er wieder einmal hinauf zur Brandstätte des Latschenhofes stieg, sah er den Vater, der auf einem verrußten Balken saß und seine Pfeife rauchte. Er wollte schon wieder gehen, denn er wußte, daß der Vater seine Gefühle vor jedermann, auch vor seinen eigenen Leuten verbarg. Aber
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der Vater hatte ihn schon gesehen und winkte ihn heran und hieß ihn, neben ihm Platz zu nehmen. „Ich weiß schon, Kilian, was du denkst. Aber glaub mir, es fällt mir vielleicht noch schwerer als dir, von hier fortzugehen. Schau dir den Platz da gut an: Fast fünfhundert Jahre ist das Lanzingergeschlecht auf dem Latschenhofe gesessen, und noch nie hat ein Mensch einem Lanzinger etwas Schlechtes nachsagen können. Bis der Lump, dein Bruder Romed, gekommen ist und uns alle schlechtgemacht hat. Die Leute sagen, er hätte den Hof selbst angezündet. Ich weiß es nicht und bin froh, daß ich es nicht weiß. Aber die Leute schauen alle mit scheelen Augen auf uns und auf die makellose Ehre unseres Geschlechtes ist ein Schatten gekommen. Der Schild ist befleckt und mit der Ehre ist es vorbei. Siehst du, Kilian, ich glaub, du allein kannst mich verstehen. Wenn ein Bauer nicht mehr in Ehren vor den anderen bestehen kann, ob er nun selbst daran schuld ist oder sein Sohn, dann ist es besser, er zieht irgendwo anders hin. Die Ehre ist mir das Höchste im Leben, und die wollen wir reinhalten.“ Das alles und noch viel mehr ging Kilian durch den Sinn, je näher der Tag kam, an dem sie fortziehen sollten. Sein Vater hatte die Brandstätte und die Alm verkauft, und gekauft hatte sie der frühere Lehrer Nikolaus Watschinger. „Weißt du, Kilian“, sagte Watschinger zu ihm, „ich habe von meinem Erbteil noch nichts abgehoben, und da kann ich das Geld gut anlegen. Und ich denk mir, du kannst ruhiger sein, wenn du weißt, wer auf deiner alten Heimat, dem Latschenhofe, sitzt. Wenn du einmal wieder zurückkommen willst, bei mir findest du immer eine offene Türe, und bei mir soll dir wieder deine alte Heimat ‚Grüß Gott’ sagen, wenn du irgendwo anders nicht zur Ruhe kommen könntest. Ich werde auch auf Urschls Grab schauen und es pflegen und behüten, als ob es zum Latschenhofe gehörte.
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Das heißt, eigentlich gehört es ja auch zum Latschenhof, so wie sie zeit ihres Lebens zum Latschenhof gehört hat, die drunten schläft. Man hat sich den Latschenhof ohne Urschl nicht vorstellen können, und so soll es auch weiter bleiben. Ich weiß noch nicht, ob ich den Hof wieder genau so aufbauen werde, wie er war. Das kommt darauf an, wieviel der Bau kostet und wieviel Geld ich habe. Aber für dich wird immer eine Stube da sein, die auf dich wartet, das Fenster talwärts, so daß du zum Grab der Urschl sehen kannst.“ Kilian dankte seinem Lehrer. Aber er winkte ab. „Laß nur, Kilian, wir beide verstehen uns besser ohne Worte. Wir sind beide zwei einsame Menschen, die nicht mit den anderen auf der breiten Straße mitwandern. Dich hat ein grausames Schicksal schon von Kindheit an auf ein besonderes Geleis gestellt, und die Menschen haben dich in ihrer Unvernunft und vor lauter triefender ‚christlicher Nächstenliebe’ aus ihrer trägen Mitte ausgeschlossen. Du hast schon früh gelernt, was ‚Alleinsein’ heißt. Und doch hat dich ein Mensch gern gehabt und ist sogar für dich gestorben, damit du am Leben bleiben konntest. Bei mir war es anders. Ich war gesund und stand mitten im Leben. Mein Herz schlug bei jedem Mädel schneller, und so manche ist in meinem Arm gelegen und ich hab's genommen, wie's gekommen ist. Ich habe nicht lange gefragt, ob es recht sei oder Sünde, wenn man jung ist, kann ja auch Sünde manchmal schön sein, wenn viel Liebe dabei ist und – ach, lassen wir das, es steht wohl in den Büchern, aber in Wirklichkeit ist es doch wohl meistens ganz anders. Ans Heiraten hab ich bei diesen kleinen Liebeleien nie gedacht. Waren meistens auch keine unbeschriebenen Blätter mehr, die mir ihre Liebe geschenkt hatten. Aber dann mit einem Male ist die große Liebe über mich gekommen, die nur einmal zu den Menschen kommt – wie die Dichter sagen. Ich weiß nur, daß es dieses Mal von vornherein etwas ganz
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anderes war. Seit ich die Rosl gesehen habe, hab ich kein anderes Dirndl mehr angeschaut und keinen Sinn mehr für etwas anderes gehabt, als die Rosl zu heiraten. Ich hätt' sie aber nicht so um den Hals nehmen können wie die anderen Dirndln, die ich gern gehabt hab, und an etwas Weiteres habe ich mich gar nicht zu denken getraut. Für mich war die Rosl so etwas wie ein Heiligtum, das man nur bestaunen und nicht angreifen darf. Siehst, Kilian, so dumm werden die Männer, wenn die richtige Lieb' zu ihnen kommt. Ich sah nicht den Spott in den Augen der andern, die wahrscheinlich alle schon wußten, was für ein Mensch die Rosl war, ich merkte auch nicht ihre spöttische Art, wie sie mich von oben herab behandelte und wie sie zurückwich, wenn ich einmal etwas zärtlicher werden wollte. Zärtlichkeiten ließ sie sich von ihren Liebhabern gefallen, mich wollte sie ja nur heiraten, denn ich war immerhin ein Lehrer und ein bißl Geld hatte ich auch, wie die Rosl ja wußte, und so wäre ich gerade recht zum Heiraten gewesen, und ich habe mir schon eingebildet, ich sei der glücklichste Mensch auf der Welt, bis – ja, bis ich an jenem Abend die Rosl drinnen in Moos beim Löwenwirt auf dem Schoß deines Bruders antraf. Schön ist es nicht gewesen damals. Mir ist nicht nur eine ganze Welt zusammengefallen, sondern ich habe den Glauben verloren, daß es so etwas wie eine Liebe auf der Welt gäbe.“ „Und ausgerechnet der Romed, mein feiner Herr Bruder, war es, der dir deine Braut verführt hat.“ Nikolaus Watschinger lächelte müde. „Das ist vielleicht nur Zufall gewesen, daß die Rosl damals auf dem Schoß deines Bruders gesessen ist. Mir ist nachher erzählt worden, daß die Rosl und auch die anderen Mädchen, die mit den Schmugglern in Gesellschaft waren, nicht wählerisch in ihren Liebschaften waren. Wer von den Burschen gerade Geld hatte, der wurde mit ihrer Gunst be-
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schenkt. Ob nun die Rosl mit deinem Bruder, dem Romed, oder mit dem schwarzen Much oder mit einem anderen beisammen gewesen wäre, hätte schon nichts mehr ausgemacht. Daß es ausgerechnet der Romed war, ist ein Zufall gewesen, für den die Rosl nichts konnte.“ Nikolaus Watschinger streifte langsam die Asche von seiner Zigarette, ehe er fortfuhr: „Ja, ja, Kilian, so ist es. Dir ist dein Buckel zum Verhängnis geworden, weil du dir eingebildet hast, niemand auf der Welt könne dich liebhaben, aber du hast dir doch den Glauben an etwas unendlich Schönes und Edles bewahrt: den Glauben an einen Menschen, der dich so lieb gehabt hat, daß er für dich gestorben ist. Ich bin auch ein Krüppel geworden, nicht äußerlich, aber innerlich. Die Rosl hat mir alles aus der Seele gerissen, was einmal schön und gut und licht darin war. Seither ist es in meinem Innern finstere Nacht, und mich friert, wenn ich nur ein Dirndl anschau, weil ich dabei stets an die Rosl denken muß. Auch die Rosl konnte gut dreinschauen, wenn sie bei mir war, und hat mir die Seligkeit versprochen, und ist doch eine Schlange und eine Hure gewesen. Ich weiß nicht, Kilian, was schlimmer ist: einen Buckel sein Leben lang herumtragen und im Innern noch einen Glauben an das Lichte und Schöne haben, der wie eine Weihnachtskerze durch die Einsamkeit leuchtet, oder nach außen gesund sein, dafür aber inwendig ewig die Nacht um sich zu haben, weil schlechte Menschen diese Kerze ausgelöscht haben und keine Helle und keine Wärme um einen ist und es einen ewig friert.“ Kilian wollte etwas entgegnen, aber der Lehrer fiel ihm ins Wort: „Ich weiß schon, Kilian, was du sagen willst. Nicht alle Mädchen sind so wie die Rosl. Da geb ich dir vollkommen recht, ja, ich sage sogar, daß die Mehrzahl der Mädchen gut ist. Aber wir Tiroler Bergbauernleute sind
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schon einmal so schwerfällig und glauben, daß diese große Liebe nur einmal zu den Menschen kommt. Und ich könnte kein anderes Dirndl nehmen, weil ich dabei nur an die Rosl denken müßte. Du sollst wissen, daß ich sie trotzdem nicht vergessen konnte und sie so für mich immer noch gern habe, aber nur so ganz im stillen. Es ist wie ein ganz feiner, letzter Schein am Abendhimmel, ehe es dunkel wird. Ich hab' die Rosl auch seither nicht mehr gesehen. Sie ist weggezogen aus dem Tal. Man sagt, sie sei ins Kärntnerische hinunter und sei in Villach in einem ziemlich verrufenen Lokal Kellnerin geworden. Ich habe nicht darnach gefragt.“ Es war selbstverständlich, daß Kilian an diesem Abend noch zum Grabe Urschls auf den Friedhof ging und mit ihr geheime Zwiesprache hielt. Es ist eigentümlich, daß sich die Menschen oft nach dem Tode mehr zu sagen haben als im Leben, und es ist schon so, daß man Tote oft besser versteht als Lebende. Kilian hatte, solange die Urschl neben ihm gelebt und mit ihm gearbeitet hatte, nie mit ihr über Liebe oder Glück gesprochen. Sie war für ihn zu allen Zeiten ein guter und lieber Kamerad gewesen und sie hatten zusammengehalten, wenn Romed oder die Mutter gar zu ausfallend und gar zu gehässig gegen sie geworden war. Er hatte sich vor Urschl und Urschl hatte sich vor ihn gestellt, und beide hatten sich gegenseitig die Arbeit abgenommen im Stall, auf dem Feld und auf der Alm, da hatten sie gemeinsam das Gras gemäht und das Vieh gefüttert; Kilian hatte sich die ersten Schalmeien geschnitten und hatte die ersten Lieder darauf gespielt, und Urschl, die kleine Urschl, war still dabei gesessen und hatte mit andächtigen Augen zugehorcht und hatte ihn bewundert. Manchmal hatte sie dann schüchtern seine Hand genommen und gestreichelt und gesagt: „Du kannst es aber schön, Kilian.“
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Als sie dann im Kirchenchor gesungen und er schon lange Flöte spielen gelernt hatte, da war diese stille Freundschaft noch tiefer geworden. Aber von Liebe war nie zwischen ihnen die Rede gewesen. Später hatte Kilian wohl gemerkt, daß die jungen Burschen sich an Urschl heranmachten und sie mit Anträgen verfolgten und so etwas wie Neid hatte ihn manchmal gepackt, wenn er die Urschl mit anderen Burschen lachen und scherzen sah und gerade in solchen Augenblicken hatte er sein unverschuldetes und unverdientes Schicksal verflucht, und immer wieder war die Frage aufgetaucht, welche zur Frage seines Lebens geworden war: Warum muß gerade ich gezeichnet sein, warum muß gerade ich einen Buckel tragen und von allen Freuden ausgeschlossen sein? Mit den Zähnen hatte er geknirscht und wie ein waidwundes Wild hatte er sich in den dunkelsten Winkel des Heubodens oder des Stalles geflüchtet und dort seinen Tränen freien Lauf gelassen und Gott und die Welt verflucht. Aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, mit Urschl einmal von Liebe zu sprechen oder gar zu ihrem Kammerfenster zu kommen, wie es die anderen jungen Burschen taten. Oft hatte er gehört, wie die Burschen Einlaß begehrten, und eine unbändige Freude hatte ihn jedesmal erfaßt, wenn sie unverrichteter Dinge wieder hatten abziehen müssen. Die Urschl war nicht eine gewesen, die sich mit jedem eingelassen hatte, der bei ihr anklopfte, im Gegenteil, die Urschl hatte alle Burschen abgewiesen, ob sie sie nun heiraten oder nur so eine Liebschaft beginnen wollten. Der Myrthenkranz war ihr heilig und sie wollte sich nicht vor der Ehe verschenken. Aber es waren auch viele darunter, die es ehrlich mit der Urschl gemeint hatten; sogar solche hatte sie abgewiesen und war lieber allein geblieben, als daß sie einem Manne in die Ehe gefolgt wäre.
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Der Grund? Damals war es nicht nur ihm, sondern auch allen anderen unverständlich gewesen, daß Urschl keinen der vielen Anträge angenommen hatte. Heute glaubte Kilian es verstehen zu können, weil er wußte, daß Urschl ihn geliebt und auf ihn gewartet hatte. Es dunkelte schon, als Kilian zum letzten Male Weihwasser über den Hügel sprengte und Abschied nahm. „Ja, ja, Urschl, wir haben es beide nicht besser verstanden, und so sind wir im Leben nicht zusammengekommen. Darum vielleicht verstehen wir uns jetzt um so besser. Ich werde immer bei dir sein, auch wenn ich nicht mehr in Sexten bin. Jetzt trennt uns nichts mehr, und vielleicht werde ich bald denselben Weg gehen wie du…“
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Vitus Lanzinger hatte sich, nachdem er die Brandstätte des Latschenhofes dem Lehrer Nikolaus Watschinger verkauft hatte, um einen anderen Hof umgesehen. In landwirtschaftlichen Zeitungen waren mehrere Höfe zum Kaufe angeboten, und er hatte schon mehrere davon besichtigt. Aber keiner dieser Höfe gefiel ihm so recht. Der eine Hof war ihm zu groß, der andere zu nahe an einem größeren Ort, ein dritter wieder lag zu tief im Tal. Vitus war stets ein schweigsamer Einzelgänger gewesen, und schon am Latschenhof war ihm manchmal zu viel Lärm gewesen. Er liebte die Einsamkeit am Berg über alles, und je höher der Hof lag und je einsamer, desto lieber war es ihm. Seit sein Haus abgebrannt war und ihn die Leute so oft von der Seite anschauten, als verdächtigten sie ihn gar der Brandstiftung, war er womöglich noch menschenscheuer geworden und hatte das Dorf seit jener Zeit
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soviel als möglich gemieden. Ob Romed wirklich den Brand gelegt hatte, wollte er nicht näher untersuchen, weil er sich vor dem Ergebnis dieser Untersuchung fürchtete; innerlich aber glaubte er an eine Schuld Romeds. So war es kein Wunder, daß er von Sexten fortdrängte, namentlich seit die Holzarbeit im Walde beendet und er wieder daheimbleiben mußte und stundenlang das Gejammer und Gezeter seiner Stasi anhörte. Die Bäuerin hatte nur ein Gesprächsthema: der arme Romed. Sie machte ihrem Manne die größten Vorwürfe, daß er dem Buben die Türe gewiesen und ihn in die fremde Welt hinausgestoßen habe. Der Bauer ließ sie sprechen, es hatte keinen Wert, sich dagegenzustemmen und ihr klarmachen zu wollen, daß Romed selbst daran schuld sei und daß er ihm die Türe weisen mußte, um wenigstens die Ehre der Familie rein zu erhalten. Wenn es ihm zu arg wurde, nahm er seinen Hut und ging einfach fort. Stundenlang schweifte er dann durch den Wald oder über die Almwiesen und war froh, keinem Menschen zu begegnen. Einmal traf er bei einem dieser einsamen Spaziergänge auf ein paar Schmuggler in der Nähe seiner Almhütte. Sie wollten sich zuerst verstecken, als sie ihn sahen, aber er winkte ihnen mit der Hand ab. „Ihr braucht euch nicht zu verstecken; der Latschenbauer ist nicht einer, der andere Menschen verrät. Was ihr da treibt, ist mir gleich; ich habe auch nichts gesehen. Also brauche ich nicht einmal zu lügen, wenn man mich etwa fragen sollte.“ Die Burschen lachten verlegen und gaben ihm die Hand. „Ist schön von dir, Latschenbauer, daß du uns nicht verraten willst. Tät' wohl auch schlecht zum Vater des Romed passen, der doch einer der Tüchtigsten und Wagemutigsten von uns gewesen ist.“ Bei diesen Worten verfinsterte sich das Gesicht des Bau-
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ern. „Will von Romed nichts mehr hören. Er ist für mich gestorben, und wenn er wiederkommen sollte, weise ich ihm nochmals die Türe. Nein, wegen dem Romed wäre es mir nicht ums Anzeigen. Aber ich tu's nicht, weil ich meine Nase nicht in Dinge hineinstecke, die mich nichts angehen.“ Der schwarze Much antwortete: „Schade, Latschenbauer, daß du zum Romed so hart bist. Hab' schon geglaubt, ich mach' dir damit eine Freude, wenn ich dir von deinem Buben Grüße ausrichten könnte.“ Vitus Lanzinger schüttelte den Kopf. „Behalte deine Grüße, die zählen nicht für mich – jetzt nicht mehr, seit ich ihn fortgejagt habe.“ Auf beiden Seiten trat ein verlegenes Schweigen ein. Aber nach einer Zeit konnte der Bauer sich nicht enthalten – er mußte doch nach dem Verbleib Romeds fragen, wenigstens konnte er sein Weib beruhigen, wenn sie ihn fragte, wo der Romed eigentlich wäre. „Habts ihr meinen Buben vielleicht angetroffen?“ erkundigte er sich vorsichtig. „Ja, freilich haben wir ihn getroffen, und gar nicht weit von hier. In Kartitsch drüben arbeitet er bei einem Bauern. Er läßt euch grüßen und läßt euch sagen, daß er bald wiederkommen wird, weil ihm das Knechtmachen bei fremden Bauern gar nicht paßt.“ Vitus Lanzinger ging ohne Gruß davon. Das war zuviel für ihn gewesen. Wieder heimkommen wollte der Lump – da gab es nur noch eines für ihn: möglichst schnell und möglichst weit von hier fortzugehen, damit Romed ihn nicht mehr finden könne, wenn er wirklich kommen sollte. Daß Romed die Absicht hatte, wieder zurückzukommen, um sein altes Lotterleben wieder weiterzuführen, daran zweifelte der Bauer keinen Augenblick.
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Zufällig hatte er vor einigen Tagen ein neues Kaufangebot erhalten. Auf der Seiseralm ganz droben, fast unter den Schlernwänden, war der Malbesonerhof zu verkaufen. Vom Dorfe Bufels über eine Stunde entfernt, in einer ganz einsamen Gegend lag der Hof. Nicht zu groß, ein wenig Feld für ein paar Kühe, ein paar Äcker und viel Wald – das schien Vitus das Richtige zu sein. So machte er sich mit Kilian auf den Weg zu der Seiseralm, zum Malbesonerhof. Es ist eines der schönsten Fleckchen in Südtirol, die Seiseralm, die größte Alm von Europa. Über 22 Kilometer zieht sich die Alm unter dem Schlern hin. Nur ein einziges Dorf, Bufels, ist dort noch so etwas wie eine geschlossene Siedlung. Sonst sind einzelne Höfe und Almhütten über das ganze Gebiet verstreut. Die einzelnen Schwaigen, wie man dort die Höfe nennt, sind fast alle auf Fremdenverkehr eingerichtet, denn die Seiseralm ist das Skiparadies Südtirols. Herrliche Abfahrten wechseln mit sanften Hängen und über der ganzen Alm hält der Schlern sein Dach wie eine schützende Hand über eine Kinderschar. Nur der Malbesonerhof lag abseits. Da waren keine Abfahrten, denn er lag schon fast zwischen den Felsen, und es kam selten vor, daß sich ein Fremder da hinauf verirrte. Schon beim Anstieg hatten die beiden Männer das Gefühl, daß sie hier ihre zweite Heimat finden könnten. Der Hof selbst lag versteckt in einer Mulde, so daß man ihn erst sehen konnte, wenn man schon fast an der Haustüre anstieß. Es war ein kleines, sauber gehaltenes Gebäude, unten aus Stein gemauert und im ersten Stock aus Holz, wie die Bergbauernhöfe fast durchweg gebaut sind. Das weit ausladende Schindeldach war mit großen Steinen beschwert und paßte gut in das Landschaftsbild. Am Hause angebaut war der Stall, peinlich sauber, und darüber die Tenne mit einer Auffahrt.
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Vitus gefiel der Hof gleich ausgezeichnet, und erwartungsvoll traten er und Kilian ein. Ein Mädchen öffnete ihnen und begrüßte sie freundlich und lud sie ein, zu ihrem Vater in die Stube zu treten. Kaum hatte Kilian das Mädchen gesehen, als er abwechselnd rot und blaß wurde. Das Mädchen glich der verstorbenen Urschl wie eine Zwillingsschwester der anderen, und wenn er nicht gewußt hätte, daß Urschl im Friedhof von Sexten den letzten Schlaf der Ewigkeit entgegenschlief, so hätte er das Mädchen für die Urschl selbst gehalten. war das nun ein Zufall oder Schicksal? fragte sich Kilian das eine um das andere Mal. War es ein Fingerzeig der toten Magd, hierzubleiben und dieses Mädchen an Stelle der Urschl zu lieben und es zur Frau zu nehmen? Er war so wirr im Kopfe, daß Kathrin, so hieß das Mädchen, ihn ganz verwundert anschaute, als sie ihm die Hand zum Gruß gab. Eine kleine, schöne Mädchenhand, nicht so abgearbeitet wie die Hände Urschls, aber doch sah man auch ihnen die schwere Bauernarbeit an, die sie leisten mußten. Aber die Augen, die Augen! Ganz Urschls Augen, dunkel und leuchtend, vielleicht ein wenig schalkhafter als die schwermütigen Augen Urschls gewesen waren, aber rein und klar und ohne Falschheit, dieselbe wohlklingende Stimme, nur etwas tiefer als Urschls Stimme. Hatte die Urschl einen hellen Sopran gehabt, der am Kirchenchor alle Leute entzückte, so hatte Kathrin einen wohltönenden Alt, aus dem warme Herzlichkeit klang. Und die ganze Gestalt überhaupt! Kathrin war etwas größer, als Urschl gewesen war, so daß ihre Formen noch schöner zur Geltung gelangten. Kilian war vom ersten Augenblick an von der holden Erscheinung Kathrins gefesselt, und er war ihr verfallen, seit er sie zum ersten Male gesehen. Für ihn stand es felsenfest, daß der Vater den Hof kaufen mußte, es konnte für ihn nichts anderes mehr geben.
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Die zwei Männer, der alte Malbesonervater und Vitus, waren unterdessen ins Gespräch gekommen. Der Malbesonervater erzählte von seinem Hof und von seiner Familie. Seine Frau war schon vor vielen Jahren gestorben und sein einziger Sohn war während des Abessinienkrieges gefallen. Die Südtiroler mußten im italienischen Heer Dienst machen, und beim Ausbruch des Abessinienkrieges mußten viele von ihnen in Afrika ihr Leben lassen. Auch des Malbesonervaters einziger Sohn war nicht mehr zurückgekommen. „Weißt du, jetzt sind nur noch wir zwei übriggeblieben: die Kathrin und ich. Ich werde auch schon alt, bin schon siebzig vorüber und tauge nicht mehr viel zur schweren Bauernarbeit da heroben. Die Kathrin allein kann es nicht schaffen, sie ist zu schwach und zu zart dazu, und Dienstboten kommen nicht in diese Felseneinöde, da ist es ihnen zu langweilig, und dann trägt die Wirtschaft auch nicht so viel, daß man viel zahlen könnte. So bin ich eben gezwungen, zu verkaufen. Ich habe mir drunten in Bufels schon ein kleines Häuschen angeschaut, das nicht zu teuer ist, und für uns beide würde es gerade passen.“ Dann ging das Feilschen um den Preis los. Auch Vitus Lanzinger war fest entschlossen, den Malbesonerhof zu kaufen, aber er wollte ihn natürlich möglichst billig erstehen. Wenn zwei Bauern um einen Hof handeln, dann geht es hart auf hart. Beide wollen für sich den größtmöglichen Vorteil ziehen, der Verkäufer verlangt viel, und der Käufer bietet wenig. Es ist etwa so wie ein Tauziehen, beide Teile wollen nicht nachgeben, bis der Verkäufer etwas vom Preise nachläßt und der Käufer sein Angebot etwas erhöht. So war es auch bei diesem Hofhandel. Die beiden Bauern hatten schon von lauter Hin- und Herhandeln rote Köpfe, aber es fehlten immer noch 5000 Lire, um zu einem Einvernehmen zu kommen.
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Kathrin und Kilian hatten sich nicht in den Handel ihrer Väter eingemischt. Kathrin hatte die Hände im Schoß gefaltet, als wollte sie um einen guten Ausgang des Handels beten. Als aber die beiden Bauern schon lange aneinander vorbeiredeten und noch immer zu keinem Abschluß kamen, begann sie schon langsam zu verzagen. Es wäre doch schade, wenn auch dieser Handel wieder nichts würde. Den meisten Käufern war dieser Hof zu einsam gelegen; viele hatten das Anwesen schon besichtigt, aber zum Kaufe hatte sich noch keiner entschlossen; andere hatten wieder einen so geringen Preis geboten, daß der Vater nicht verkaufte. Verschenken konnte er den Hof auch nicht, und so war bis jetzt aus keinem Handel etwas geworden. Aber dieses Mal hatte es den Anschein, als ob es endlich zum Abschluß käme. Innerlich zitterte sie schon, daß es wieder nichts werde, denn keiner wollte nachgeben. Der Handel schien sich schon zu zerschlagen, als Kilian eingriff. Auch er hatte schweigend zugehört und war innerlich auf seines Vaters Seite gestanden. Dann aber sah er Kathrins Augen, die sich schon mit Tränen zu füllen begannen und ganz verzagt und ängstlich nach den beiden Bauern blickten. „Geh, Vater, gib die fünftausend noch drauf“, bat er, „wir bekommen keinen so schönen Hof mehr, ich möchte hierbleiben, mir gefällt es gut hier heroben.“ Ein so dankbarer Blick traf Kilian bei diesen Worten aus Kathrins Augen, daß ihm ganz heiß um das Herz wurde. Noch nie, nicht einmal bei Urschls liebem Anblick, war ihm so zumute gewesen. Ein ganz eigenartiges Gefühl durchzog sein Herz, wie er es noch nie zuvor gekannt hatte. Er war zu verwirrt, um sich darüber Rechenschaft zu geben, ob es Liebe war, was er für Kathrin empfand; in diesem Augenblicke wußte er nur eines: daß er für diesen Blick Kathrins nicht nur gern die fünftausend Lire, sondern
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auch das Doppelte und Dreifache gegeben hätte. Aber konnte man Gefühle und Blicke überhaupt mit Geld bewerten? Fast beschämt senkte er den Blick und wagte nicht mehr, zu Kathrin hinüberzuschauen, als fürchte er, sich zu verraten. Er schreckte erst von seinen Gedanken auf, als der Vater sich an ihn wandte: „Also du willst, daß ich die fünftausend noch dazulege?“ Kilian nickte heftig. „Ja, Vater, du brauchst mir so lange keinen Lohn zu geben, bis ich die fünftausend abgearbeitet habe, wenn dir der Hof zu teuer ist.“ Vitus schaute ganz erstaunt auf seinen Sohn. Was hatte denn der Bub auf einmal? Bis jetzt hatte er nie gewagt, sich in seine Geschäfte einzumischen und etwas dreinzureden, und jetzt kam er plötzlich mit diesem Vorschlag daher! Grade jetzt, wo er mit dem Malbesonervater so schön im Handeln gewesen war. Um die Hälfte hätte er noch dazu gegeben, wenn es nicht anders gegangen wäre, denn auch er hätte den Hof auf alle Fälle gekauft und auf keinen Fall mehr ausgelassen. Aber um einige Tausender war er doch zu teuer und er war sicher, daß er den Hof billiger bekommen hätte. Da platzte dieser dumme Bub mit diesem Vorschlag hinein – nein, das verstand der Vitus Lanzinger von seinem Kilian nicht, der doch sonst immer so vernünftig gewesen war. Aber schließlich hatte Kilian ja auch etwas mitzusprechen, denn einmal würde es ja sein Hof sein. Wenn ihm, dem Kilian, der Hof so viel wert war, so konnte es ihm gleich sein. „Davon ist keine Rede, daß ich dir etwas vom Lohn abziehe. Du bekommst ja sowieso den Hof einmal und wenn dir der Hof schon so viel wert ist – in Gottes Namen, Malbesonervater, machen wir's halt. Morgen gehen wir nach St. Ulrich zum Notar, den Vertrag zu machen und dann
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zahl' ich dich gleich aus.“ Es war schon finster geworden, so daß der Malbesoner die beiden Männer bat, doch bei ihm zu übernachten. Auch Kathrin schloß sich dieser Einladung herzlich an, so daß Vitus Lanzinger und Kilian am Hof des Malbesoner, der schon morgen Eigentum des Vitus sein sollte, übernachteten. Nach dem Nachtmahl saßen sie alle noch ein wenig beisammen und plauderten. Aber bald verabschiedeten sich die zwei Bauern. Sie waren vom Handeln müde geworden und die Jüngsten waren sie auch nicht mehr. Vitus ging, vom Malbesonervater begleitet, zuerst aus der Stube. Kilian wollte ihm folgen, als Kathrin zu ihm trat und ihm warm die Hand drückte. „Daß vergess' ich dir mein Leben nicht, Kilian, daß du so für uns eingetreten bist. Ich dank' dir noch extra tausendmal dafür.“ Mit diesen Worten lief sie aus der Stube in die Küche. Kilian aber spürte immer noch den warmen Druck der Mädchenhand und schaute nach der Türe, durch die Kathrin eben hinausgelaufen war. Er wäre wahrscheinlich noch viel länger, vielleicht die ganze Nacht dort gestanden, wenn der Vater ihn nicht gerufen hätte. So stieg er noch ganz traumverloren die Treppe in das Obergeschoß hinauf und trat in die Schlafkammer, wo sein Vater ihn schon erwartete. Als die beiden in den Betten lagen, meinte Vitus: „Ich versteh' dich einfach nicht mehr, Kilian. Ich bin gerade im schönsten Handeln gewesen und hätte den Hof bestimmt noch um ein paar Tausender billiger bekommen, wenn du nicht so ungeschickt dazwischengeredet hättest.“ Kilian erwiderte gar nichts. Der Vater konnte allerdings nicht sehen, daß um den Mund seines Sohnes ein glückliches Lächeln spielte, und er konnte noch viel weniger ahnen, daß in Kilian die Worte Kathrins nachklangen: „Das
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vergess' ich dir nie.“ Der Vater war wohl auch schon zu alt dazu, das zu verstehen…
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Nun waren sie schon über drei Monate auf dem Malbesonerhof. Vitus und Kilian fühlten sich glücklich hier heroben unter den Schlernwänden, wo Ruhe und Einsamkeit herrschten. Der Malbesonervater und seine Tochter, die Kathrin, hatten sich drunten in Bufels das kleine Häuschen gekauft und waren einige Tage später, nachdem der Kaufvertrag unterschrieben und der Preis ausbezahlt war, in ihr neues Heim gezogen, und Vitus Lanzinger hatte sein Weib, die Stasi, und seine Habseligkeiten von Sexten abgeholt, und sie hatten sich auf dem Malbesonerhof eingerichtet. Die Stasi, die Bäuerin, verfiel zusehends. Sie war zu keiner Arbeit mehr zu gebrauchen, ja, man konnte sie kaum mehr allein lassen. Ihr einziges Sinnen und Trachten war nur noch ihr zweiter Sohn, der Romed, der irgendwo draußen in der weiten Welt unschuldig herumirren mußte, wie sie fest glaubte. Stundenlang konnte sie im alten Lehnstuhl sitzen, und die Perlen des Rosenkranzes glitten durch die mageren, abgearbeiteten Finger. „So lange leb' ich noch, bis der Romed, der unschuldige, arme Bub, wieder zurückkommt. Du wirst sehen, der Herrgott wird mein Gebet schon erhören, der ist barmherziger als du“, sagte sie immer zu ihrem Mann. Dieser ließ sie gewähren, am besten war es, man ließ sie in Ruhe, denn sonst war mit ihr nicht mehr auszukommen. Selten, daß sich jemand auf den einsamen Berghof heraufverirrte, und Vitus war nichts lieber als das. Aber wenn einmal jemand
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kam, so waren die Leute freundlich, und der Bauer atmete geradezu auf, als er nicht mehr die scheelen Blicke der Sextner auf sich ruhen fühlte und kein Mensch von einem Verdacht gegen Romed sprach, als ob dieser den Latschenhof angezündet hätte. Vitus fühlte sich hier als freier Mensch, und in seiner emsigen Arbeit fand er auch keine Zeit, sich noch länger Gedanken über den Brand des Latschenhofes und dessen Ursache zu machen, weil niemand daran rührte. Nur mit Kilian sprach er noch manchmal darüber, daß er den Hof doch noch um einige Tausender billiger hätte haben können. „Bub, Bub, ich versteh' dich nicht. Wenn du nicht deinen Buckel hättest, so möcht' man meinen, du seiest in das Dirndl, die Kathrin, stockverliebt“, sagte er einmal zu Kilian. Er hatte keine Ahnung, daß er mit diesen Worten seinen Sohn mitten ins Herz traf. Da war es schon wieder, dieses verfluchte Schicksal, sein Buckel, für den er nichts konnte. Wie ein Bleigewicht mußte er dieses Schicksal sein Leben lang mit sich herumschleppen. Konnte er deswegen, weil er einen Buckel hatte, nicht auch glücklich sein? Gerade jetzt trafen ihn seines Vaters Worte doppelt schwer. Seit er hier auf dem Malbesonerhofe weilte und seitdem er die Kathrin gesehen hatte, war so viel in seinem Leben anders geworden. Das Gefühl, das er beim ersten Anblick Kathrins empfunden, hatte sich noch vertieft, es war, als ob eine Blume in seinem Herzen aufgeblüht wäre, als ob die ganze Welt mit einem Male anders aussähe. Das war etwas ganz anderes wie damals, als er mit Urschl beisammen gewesen war. Wohl hatte er auch Urschl gern gesehen und hatte mit ihr gearbeitet, und sie waren beide mitsammen am Kirchenchor gewesen. Aber in seinem Herzen hatte sich nichts geregt, wenn Urschl ihm die Hand gegeben oder wenn sie sich in die Augen geschaut hatten. Da
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war alles ganz ruhig geblieben, und er hatte es als selbstverständlich empfunden, daß sie beisammen waren, weil er die Urschl schon von frühester Kindheit an gekannt und sie ihn immer betreut hatte. Er hatte die Urschl so etwa wie eine ältere Schwester angesehen und war ihr dankbar dafür gewesen, daß sie zu ihm gehalten hatte, wenn die Kinder ihm nachliefen und die älteren Leute ihren gutmütigen Spott wegen seines Buckels über ihn ausließen. Wie oft war er damals als Kind todunglücklich gewesen und hatte sich in die dunkelste Ecke des Stalles verkrochen und seinen Tränen freien Lauf gelassen, weil die Menschen so furchtbar grausam waren. Wenn dann die kleine Urschl gekommen war und ihn in ihrer unbeholfenen Art getröstet hatte – sie war ja damals selbst noch ein halbes Kind gewesen –, dann hatte er wohl dankbar die Hände des Dirndls gedrückt, dankbar darüber, daß wenigstens ein Mensch auf der ganzen Welt zu ihm hielt. Aber bei der Kathrin war das ganz anders. Schon gleich beim ersten Anblick Kathrins hatte Kilian nicht das Gefühl gehabt, einer Schwester gegenüberzustehen, mit der er sich gut verstehen könnte, sondern es war ein ganz eigenes Gefühl gewesen, das von innen heraus gekommen war. Zum erstenmal in seinem Leben war ihm beim Anblick Kathrins der Gedanke gekommen, daß er dieses Mädchen lieben müsse. Dann der dankbare Blick aus ihren Augen, als er seinen Vater gebeten hatte, die Differenz des Kaufpreises aufzugeben – seit diesem Augenblick war er Kathrin verfallen, ob er wollte oder nicht. Zum ersten Male in seinem Leben dachte er nicht mehr an seinen verunstalteten Körper, sondern sah nur das schöne, blühende Mädchen vor sich, das er vom ersten Augenblicke an, als er es gesehen, liebte. In diesem Augenblicke dachte er nicht an die Zukunft, er dachte nicht ans Heiraten, ihm war es genug, daß Kathrin da war, daß er sie nun öfter sehen werde und er das
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geliebte Wesen nicht mehr aus seinen Augen verlieren werde. Nur in Kathrins Nähe wollte er bleiben, nur sie manchmal sehen und mit ihr sprechen wollte er, vielleicht manchmal ihre schönen Hände halten und einen Blick mit ihr tauschen; denn in ihren lieben Augen, da sah er eine Welt, die er bisher nie gekannt, eine Welt voll Sonne und Glück, die ihm, dem Einsamen, bis jetzt fremd gewesen war. Einsame Menschen sind bescheiden, und vom Leben zurückgesetzte Krüppel geben sich mit dem kleinsten Wärmestrahl eines Glückes, das ihnen ihr Schicksal gönnt, zufrieden. Erst Wochen später, als er der Musik beigetreten war und so doch alle Wochen in das Dorf hinunter zur Probe ging, kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht einmal Kathrin heiraten könnte. Wenn ihm der Vater den Hof übergab, dann konnte er Kathrin wieder in ihre alte Heimat zurückführen, dann… Jedesmal, wenn er den Weg zur Musikprobe ging, war es sein einziger Gedanke, ob er Kathrin wohl sehen werde. Er mußte sich selbst eingestehen, daß ihm die Musik eigentlich Nebensache war, sondern daß er nur deshalb zu den Proben ging, um Kathrin zu sehen. Wenn er ihr begegnete, so tauschten sie wohl einige freundliche Worte, und Kathrin schaute ihn aus ihren lieben dunklen Augen lächelnd an und gab ihm beim Kommen und Gehen ihre kleine Hand. Dann freute ihn das Leben doppelt, und alles war eitel Sonnenschein, dann entlockte er seiner Flöte die herrlichsten Tone, daß die anderen Musiker ganz erstaunt auf ihn schauten, und er war der glücklichste Mensch unter der Sonne. Die harte Arbeit ging ihm nochmal so schnell von der Hand, und er glaubte, daß die ganze Woche ein Sonntag für ihn sei. Sah er aber Kathrin einmal eine Woche nicht, so legte sich eine leise Trauer über sein ganzes Wesen, und er wurde wieder verzweifelt und zaghaft. Es war
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dann, als ob die Sonne hinter grauen Wolken verschwunden wäre, und der Alltag drückte mit tausend Sorgen und tausend Zweifeln auf ihn. Auch sein Spiel war nicht so gut und warm wie sonst und die schwere Last seines Körperfehlers lastete wieder wie mit tausend Zentnersteinen auf ihm. Es blieb ihm in diesen Fällen nichts anderes übrig, als auf die nächste Musikprobe zu warten und zu hoffen, daß er Kathrin dann wieder sehen werde; aber diese Woche, in der er Kathrin nicht sah, schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. So lebte er zwischen seiner rückhaltlosen Liebe und der seligen Hoffnung von einer Woche zur anderen und langsam, langsam reifte in ihm der Entschluß, doch einmal mit Kathrin zu sprechen und ihr zu sagen, wie lieb er sie habe, und sie zu fragen, ob sie nicht wieder in ihr Vaterhaus als seine Frau kommen wolle. Er wußte, daß er früher oder später eine Entscheidung herbeiführen mußte, denn sonst ging er an dieser stillen, aber um so heftigeren Liebe zugrunde. Andererseits kamen ihm, dem Krüppel, immer wieder Bedenken, ob Kathrin ihn nicht einfach auslachen würde, wenn er, der Buckel, sich erdreistete, sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Er wußte genau, daß sein Lebensglück, das ihm nur mehr in einer Vereinigung mit dem lieben Mädchen vorstellbar war, dann zu Ende war, wenn er von Kathrin eine Absage bekäme. Dann würde er wieder in die einsame, dunkle Nacht von früher zurückfallen, in die sein Schicksal ihn von frühester Kindheit an gestoßen hatte. Dann würde er wieder einsam bleiben, so, wie er es bisher gewesen war. Nur würde diese Einsamkeit noch viel schlimmer sein, nachdem er die hellste Sonne und Wärme der Liebe in seinem Herzen gefühlt und er wußte, daß das Leben so schön sein konnte, wenn es ein liebendes Weib mit ihm teilte. So beschränkte er sich darauf, sich ein Leben an Kathrins
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Seite in den schönsten Farben auszumalen und Luftschlösser zu bauen, wie es sein könnte, wenn Kathrin einmal seine Frau wäre. Wenn sie dann noch Kinder bekämen, wie schön müßte es dann erst auf dem Malbesonerhof sein! Dann gäbe es keine Einsamkeit mehr, dann würde frohes Kinderlachen und helle Freude und junges Leben die Einsamkeit vertreiben und das Geschlecht der Lanzinger würde auf dem Malbesonerhof unter den Schlernwänden neu erstehen und er, der Krüppel Kilian, würde der Vater dieses neuen Geschlechtes sein. Ein Gedanke war schöner als der andere und Kilian fieberte schon der Aussprache mit Kathrin entgegen. – Heumahd auf der Seiseralm! Meilenweit nichts als Blumen- und Blütenpracht – neues Leben in jedem Gras und in jeder Blume! Man geht über die weiten Almböden wie auf einem großen, grünen Teppich – und darüber der blaue Himmel; und die Wände des Schlern selbst hatten in diesen Wochen ein ganz anderes Aussehen, als wollten sie sich dem herrlichsten Paradies auf Erden, das der Herrgott jemals in seiner besten Laune erschaffen hat, anschließen und einen würdigen Rahmen zu diesem einmaligen Naturwunder bilden. In diesen Wochen der Almblüte gab es keine Schlernhexen, von denen eine alte Sage erzählt, daß sie die Menschen in dichte Nebel hüllen und über die steilen Schlernwände stürzen, um sie ganz zu besitzen; in diesen Blütenwochen gab es nur Sonne und Schönheit und jedes Dunkel war gewichen. Wer nur einmal zur Blütezeit über die Seiseralm gewandert ist, der wird diesen Gang nicht mehr vergessen. Aber nur solche Menschen fühlen sich auch mit diesem einzigartigen Wunder so verbunden, die in diesem Boden wurzeln, und nur denen tun sich diese Wunder kund, die in diesen Bergen daheim sind. Es hilft nichts, wenn fremde Menschen über die Alm gehen und Butterbrotpapiere oder Konser-
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vendosen achtlos zwischen die Almblumen hinwerfen und dann begeistert davon schwärmen, wie schön es auf der Seiseralm gewesen ist. Gerade in diesen reinen Höhen, die von Politik und Grenzen unberührt bleiben, solange diese Erde besteht, fühlen die Menschen, die hier in diesem Lande geboren sind, daß diese Welt seit Jahrtausenden dieselbe geblieben ist, mögen es nun die Politiker wahrhaben wollen oder nicht. Heimat ist ein Begriff, der nichts mit Grenzen und Politik zu tun hat, Heimat liegt zutiefst im Herzen der Menschen und wächst und vergeht mit dem Volke, das darin wohnt. Heimat ist die Seele des Volkes, und wenn fremde Menschen des Weges kommen und dieses Land als das ihre betrachten und ansprechen, so ist es, als ob die Schlernwände lachten und die Gipfel des Santner und Eyringer ihre Häupter schüttelten über so viel Unverstand und Kurzsichtigkeit der Menschen. Berge könnt ihr nicht versetzen und die Heimat könnt ihr nicht aus dem Herzen des Volkes stehlen, das seit Jahrtausenden in diesen Bergen wohnt. – Auch Kilian erging es so. Zur Heublüte ging er staunend über den Blumenteppich der Seiseralm, vom Gipfel des Puflatsch bis hinüber zu den Roßzähnen und schaute auf die Blumenpracht zu seinen Füßen. Wohl war es auch in seiner früheren Heimat am Hange des Helm schön gewesen, und er hatte damals geglaubt, daß es kein schöneres Stück Erde geben könne als den Latschenhof mit seinen Feldern und Wiesen und seiner Alm, die bis zum Gipfel des Berges reichte; aber jetzt, da er die Seiseralm in ihrer Blütenpracht sah und erlebte, jetzt wußte er, daß es hier noch viel schöner war als in Sexten. Nicht einmal der Misurinasee und die Drei Zinnen kamen ihm so schön vor wie der Schlern mit dem Santner und Eyringer, dem Rosengarten und den Vajolettürmen und der Seiseralm. Kilian
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war einer von jenen gottbegnadeten Menschen, welche die Sprache der Natur verstehen und in ihr lesen wie in einem offenen Buche. So ging er immer wieder, wenn seine freie Zeit es gestattete, still und staunend über die Höhen und Taler der Alm und stieg auch zu den Schlernhäusern auf und hinunter durch das Bärenloch zum Völser Weiher. Der Hauensteiner Wald rauschte von drüben sein Lied aus alten Zeiten, wo in der Ruine Hauenstein noch Oswald von Wolkenstein, der ritterliche Minnesänger, um Sabine Jäger geworben, und die Häuser des kleinen Dörfchens Ums schauten wie bunte Vogelnester aus dem Grünen herauf. Aber immer richtete er es so ein, daß er den Heimweg über Bufels machte, und wenn er dabei Kathrin traf, so war der Tag noch einmal so schön für ihn gewesen und die Welt spiegelte sich in den klaren, dunkeln Augen des Mädchens noch einmal so schön wider. Unter der Woche hatte er keine Zeit zu solchen Gängen, da hatte er Arbeit, und der Malbesonerhof verlangte ganze Arbeit, da konnte man nicht die Hände in den Schoß legen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, sondern mußte schon selbst mit beiden Händen zupacken, wenn man das tägliche Brot dem kargen Boden abringen wollte. So blieben ihm nur die Sonn- und Feiertage zu diesen einsamen Wanderungen, und gleich nach dem Gottesdienst machte er sich auf den Weg, nicht aber, ohne sich vorher nach Kathrin umgesehen zu haben. Ein Blick von ihr gehörte zu seinem Sonntagsglück, das war schon seit dem ersten Sonntage so, seit er auf dem Malbesonerhof lebte. Wieder war es ein Sonntag, und Kilian hatte sich auf den Weg nach dem Völser Weiher gemacht, als er plötzlich Kathrin auf dem Weg vor sich sah. Wie das Rotkäppchen kam sie ihm vor, wie sie in ihrem schmucken Dirndlgewand vor ihm ging, ein Körbchen am Arm und die braunen
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Haare zu einer Krone um den schönen Kopf geschlungen. Kilian schlug das Herz bis zum Halse. So viel Glück hatte er sich nicht erträumt. Er fühlte, daß er der Entscheidung immer näher kam, dieser Entscheidung, vor der er solche Angst hatte, weil seine ganze Zukunft davon abhing. Aber er sah ein, daß dieser Schwebezustand auf die Dauer unhaltbar blieb. War dieses unverhoffte Zusammentreffen nicht ein Fingerzeig des Schicksals, endlich die entscheidende Frage zu tun? Wer weiß, wann sich wieder einmal eine so schöne Gelegenheit bot, mit Kathrin allein zu sprechen. Er beschleunigte seine Schritte und begrüßte das Mädchen, als er an dessen Seite war. Kathrin erwiderte den Gruß und gab ihm die Hand, die er fast nicht mehr loslassen wollte, so daß Kathrin ihn etwas erstaunt ansah. „Du hast mich aber jetzt erschreckt, Kilian. Wo willst du denn heute hinwandern?“ „Ein wenig mich auslaufen. Wenn man die ganze Woche in der Arbeit steht, dann tut es doppelt gut, am Sonntag sich ein wenig durchzumarschieren. Ins Gasthaus gehen und Karten spielen mag ich nicht und ich habe nicht nur kein Vergnügen dabei, sondern auch kein Geld dazu. Außerdem macht es mir mehr Freude, in dieser wundervollen Gegend mich umzusehen. Du weißt ja gar nicht, wie schön deine Heimat ist, liebe Kathrin.“ Kathrin lächelte in ihrer stillen, anmutigen Art. „Glaubst du?“ fragte sie dagegen. „Meinst du wirklich, daß du mir das erst sagen mußt, der du doch erst einige Monate hier bist, mir, die hier geboren wurde und seit mehr als zwanzig Jahren hier lebt? Ja, ich kann dich schon verstehen. Unseren Männern ist das selbstverständlich und darum fehlt ihnen vielleicht auch der Sinn für diese Naturschönheiten. Aber es gibt auch unter unseren Bauern Menschen, die diese Schönheiten unserer Heimat kennen und
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schätzen. Zum Beispiel mein Vater ist ein solcher Mensch, und auch meine Mutter war eine Frau, die mir schon von klein auf alle Geschichten unserer Heimat erzählt hat. Wir sprachen nur nicht davon, aber wir fühlten es darum nicht minder, wie schön unsere Heimat ist.“ Kilian konnte nicht sofort antworten. Es war zum ersten Male, daß er mit Kathrin allein länger beisammen war, und er konnte nichts anderes, als die Schönheit Kathrins zu bewundern und ihrer lieben Stimme zu lauschen. Er hatte ja schon immer das Gefühl gehabt, daß Kathrin anders war als die anderen Mädchen, die sich unter den Schönheiten der Natur nichts vorstellten. Den anderen Mädchen waren andere Dinge wichtiger: ein schönes Kleid, eine neue Brosche, und vor allem die Burschen. Er hatte durch seine Beobachtungen schon herausbekommen, daß die Mädchen hier nicht anders waren wie in Sexten und wahrscheinlich auch anderswo. Es war ja auch schließlich erklärlich, daß einem jungen Dirndl ein Bursch wichtiger war und mehr gefiel als der Schlern in seiner ganzen Pracht und Schönheit. Die Leute, die hier geboren und aufgewachsen waren, empfanden nichts von dieser Schönheit, weil sie ihnen selbstverständlich war. Um so mehr wuchs seine Achtung vor Kathrin, daß sie diesen Schönheiten ihrer Heimat nicht so interesselos gegenüberstand und sie mehr achtete als alles, was die anderen für wichtiger ansahen. Kathrin wurde dadurch noch mehr das Idol, als sie bisher schon gewesen war. Nachdem sie längere Zeit mitsammen still nebeneinander hergegangen waren, vermochte er sich erst aus seinen Gedanken loszureißen und zu antworten: „Du mußt mir schon verzeihen, daß ich in deinen Augen vielleicht so dumm dahergeredet habe. Aber ich habe so meine Beobachtungen gemacht und ich weiß, daß die wenigsten Dirndln so denken wie du.“
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„Wieso kannst du das sagen?“ „Liebe Kathrin, du weißt das genauso gut wie ich. Die meisten Dirndln in deinem Alter haben mehr Interesse an den Burschen als an den ganzen Naturschönheiten. Vielleicht auch mit Recht.“ „Aber ich bin eben nicht eine von den meisten Dirndln, wie du sagst, mir hat mein Vater die Liebe zur Heimat schon als ganz kleines Kind eingeimpft.“ „Und die Burschen? Entschuldige, es geht mich ja nichts an und ich darf ja gar nicht fragen. Aber der Gedanke liegt doch nahe, daß du als junges fesches Dirndl in deinem Alter auch mehr Interesse an einem Mann hast. Du bist ja schließlich in dem Alter, in dem junge Dirndln ans Heiraten denken.“ Es dauerte eine Weile, bis Kathrin antwortete: „Weißt du, Kilian, wenn ich dich nicht so gut leiden könnte, nicht nur deshalb, weil du meinem Vater die fünftausend Lire zum Kaufpreis dazugegeben hast, obwohl das der Grund war, daß du mir von Anfang an so gefallen hast, so würde ich dir einfach sagen, daß dich das alles ganz und gar nichts angeht. Aber ich will ehrlich sein und dir sagen, daß mich noch kein Mann so gereizt hat, daß mir der Gedanke gekommen wäre, ihn zu heiraten. Ich kann mich in einen unserer Burschen nicht so verlieben, daß ich mir ihn so von Herzen als meinen Mann vorstellen könnte.“ Kilian war es, als ob bei diesen Worten Kathrins alle Glocken der Welt zusammenläuteten und den größten Feiertag nicht nur des Jahres, sondern des ganzen Lebens einläuteten. Kathrins Herz hatte noch nicht gewählt. Sie war also frei, frei vielleicht für ihn. Es war ihm, als ob nun für ihn die Morgenröte des Lebens angebrochen wäre, er konnte, er durfte hoffen, daß sie noch ihm einmal sagen würde, sie habe ihn lieb und sie könnte seine Frau werden. Kathrin unterbrach seinen geheimen Jubel.
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„Du darfst nicht glauben, Kilian, daß ich das vielleicht aus Stolz sage; ich würde gerne jeden Burschen, auch wenn er der ärmste Bauernknecht wäre, heiraten, aber das Herz muß dabei mitsprechen. Ich habe schon zu viel in meinem bestimmt nicht allzu langen Leben gesehen und gehört, als daß ich mich in bezug auf eine Heirat Täuschungen hingeben könnte. Bei unseren Bauern ist es so, daß sie hauptsächlich aus zwei Gründen heiraten: entweder heiratet ein Bauerssohn eine Frau, die einen Haufen Geld mitbringt, und dann ist diese Heirat so wie eine Art Kuhhandel, die Braut wird abgeschätzt, wieviel sie an Geld und sonstigem Vermögen mitbringt; oder der Jungbauer braucht eine billige Arbeitskraft, die ihm nicht nur den Lohn eines Dienstboten erspart, sondern ihm auch noch den nötigen Nachwuchs an Kindern auf angenehme und billige Art bringt. In den seltensten Fällen ist bei solchen Bauernhochzeiten von Liebe die Rede. Liebe ist für unsere Bauern ein Luxus oder eine bequeme Zugabe, aber nicht die Hauptsache bei einer Ehe. Und siehst du, Kilian, dazu bin ich mir zu gut. Ich bin kein Handelsobjekt, das man entweder des Geldes wegen einhandelt, noch vielleicht ein Stück Vieh, das man zur Arbeit einhandelt. Ich bin leider Gottes so unmodern, daß ich noch an die Liebe glaube, und ich könnte mir keine Ehe mit einem Manne vorstellen, den ich nicht mit ganzem Herzen aufrichtig liebhaben kann. Ich käme mir immer vor wie eine jener Frauen, die man in den Städten stundenweise um Geld kaufen kann.“ Kilian hatte ihr aufmerksam zugehört. Am liebsten hätte er das Mädchen gleich um den Hals genommen und abgeküßt, bis ihm der Atem ausgegangen wäre. Ja, das war das einzige Mädchen, zu dem er Vertrauen hatte und das seine Frau werden konnte. Kathrins Herz ging nicht nach Äußerlichkeiten, ihr war wahrscheinlich auch ein Körperfehler gleich, ihr würde es bestimmt nichts ausmachen, einen
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Mann wie ihn zu lieben, wenn nur ihr Herz mitspräche. Noch nie im Leben war ihm ein Mädchen begegnet wie Kathrin. Gewiß, auch die arme Urschl hatte ihn geliebt, aber diese Liebe hatte er nicht verstanden, weil Urschl nie ein Wort davon gesprochen hatte, so lange sie lebte und er selbst hatte für Urschl nichts anderes empfunden als brüderliche Zugetanheit; es wäre ihm im Traume nie eingefallen, daß Urschl jemals seine Frau hätte werden können. Sein Herz hatte sich nie gerührt, wenn er mit Urschl beisammen gewesen war. Sie war ihm wie eine sehr liebe, ältere Schwester vorgekommen, aber mehr hatte er für Urschl nie empfunden. Bei Kathrin war es von allem Anfang an anders gewesen, da hatte er beim ersten Anblick schon so etwas wie einen elektrischen Schlag erhalten und zum ersten Male hatte er, nachdem er in ihre schönen dunklen Augen geschaut, gewußt, daß er nur Kathrin heiraten könnte, Kathrin hatte er vom ersten Augenblick an wirklich geliebt. Vielleicht war er überrascht davon gewesen, daß Kathrin ihn so an die tote Urschl erinnert hatte, aber das allein konnte es auch nicht ausmachen. Da mußte schon das Herz mitgesprochen haben. In diesem Augenblicke, wo er das erkannt hatte, waren aber in ihm schon tausend Zweifel aufgetaucht. Konnte er, der Krüppel, es jemals wagen, zu einem Mädchen von Liebe zu sprechen? Wurde sie ihn, den Buckligen, nicht einfach auslachen und ihn einen Narren nennen, daß er zu ihr von Liebe sprach? Deshalb hatte er sich stets in seinem Minderwertigkeitsgefühl zurückgehalten und hatte sich damit begnügt, mit Kathrin einen Händedruck und ein paar Worte zu tauschen, aber von Liebe hätte er sich nie zu ihr zu sprechen getraut, weil er fürchtete, seine ganze Illusion und auch seine stille Hoffnung auf ein zukünftiges Leben mit seinem geliebten Mädchen zu zerstören; und es schien ihm weitaus besser, in einer Illusion zu leben, als daß dieselbe grausam zerstört
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würde. Nun hatte er heute Kathrins Ansichten über Liebe und Ehe gehört und das gab ihm den Mut, diesem Dämmerzustand zwischen Wirklichkeit und Illusion, zwischen Zweifel und Hoffnung, ein Ende zu bereiten. Ein Mädchen, das so reine und ideale Ansichten von der Liebe hatte, würde auch über körperliche Mängel ihres zukünftigen Mannes hinwegsehen, denn die Liebe ist im Grunde genommen ein innerer Wert, der mit dem Äußeren des Menschen, den man liebt, nichts zu tun hat. Kilian konnte es sich nicht versagen, Kathrin zu fragen: „Wenn du einen Mann kennenlerntest, dem du von Herzen zugetan wärst und den du dir als Ehemann vorstellen könntest, und dieser Mann wäre, sagen wir zum Beispiel, ein Krüppel, hättest du dann vor ihm keinen körperlichen Abscheu? Würde dich das nicht stören, wenn du mit ihm beisammen wärest und wäre für dich das kein Hindernis, daß er der Vater deiner Kinder würde?“ Kathrin machte erstaunte Augen. An eine solche Möglichkeit hatte sie überhaupt noch nie gedacht. Wie kam Kilian nur auf einen so ausgefallenen Gedanken? Sie konnte vorerst nur den Kopf schütteln. Konnten solche Menschen, die Krüppel waren, überhaupt ans Heiraten denken? Sie schaute Kilian fragend an. Wie er so neben ihr herging mit nach vorne gebeugtem Oberkörper – plötzlich sah sie seinen Höcker und mit einem Male wußte sie, wo Kilian mit seinen Fragen hinauswollte. Er war ja selbst so ein Krüppel, so ein armer, körperbehinderter Mensch – wollte er selbst sie fragen, ob sie sein Weib werden wolle? Dieser Gedanke ließ sie erschauern. Ihr gesundes körperliches Empfinden sträubte sich mit aller Macht dagegen, nein, sie konnte sich das nicht vorstellen. Das wäre nur ein Opfer für den armen Menschen, aber Liebe? Dieser Gedanke war ihr so unvorstellbar, daß sie sich augenblicklich nicht
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schlüssig war, was sie Kilian antworten sollte. Gewiß, sie war ihm dankbar, vom ersten Abend an schon, als er seinen Vater gebeten hatte, die fünftausend Lire auf den Kaufpreis draufzugeben, sie hatte ihn später immer lieber gewonnen, aber heiraten? Nein, dieser Gedanke war ihr noch nie gekommen. Wenn dann auch die Kinder Krüppel wurden? Sie hatte natürlich von der Medizin und von der Theorie der erblichen Krankheiten keine Ahnung und so war es weiter kein Wunder, daß dies ihr erster Gedanke war. In ihrer Einfalt dachte sie zunächst an nichts anderes als an die Kinder, und selbst ihre eigenen Empfindungen für sich selber fielen vollkommen aus. Sie selbst hätte das Opfer einem geliebten Manne bringen können, sie hätte sich vielleicht daran gewöhnt, daß ihr Mann ein Krüppel war, vielleicht nur mit einem Fuß oder nur mit einer Hand, ja, vielleicht, daß er stumm oder taub oder blind war, aber der Gedanke an die Kinder ließ sie erschauern. Hatte nicht jede Frau von vornherein eine Verantwortung kommenden Kindern gegenüber? Diese und tausend andere Gedanken stürmten auf sie ein, so daß sie nicht imstande war, Kilian sofort zu antworten. Aber gerade diese Pause in ihrem Gespräch entschied über ihr und Kilians Leben. Kilian hatte, wie übrigens alle Körperbehinderten, ein ausnehmend feines Einfühlungsvermögen und er wußte, daß er mit seiner Frage seinen Traum von der Zukunft zerstört hatte. Also doch ausgestoßen – sogar von einem so reinen und edlen Geschöpf, wie Kathrin es war. Kathrin hätte ihm gar nicht mehr zu antworten brauchen, aber wie geistesabwesend und aus weiter Ferne hörte er ihre Worte: „Du stellst Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind. Es handelt sich bei dieser Frage in erster Linie nicht einmal um die Frau selbst – in diesem Falle um mich –, sondern um die Kinder, die aus einer solchen Ehe ent-
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stammen werden. Du wirst mich vielleicht für kalt und herzlos halten, wenn ich nicht einfach sage, daß mir das Äußere eines Mannes, den ich so liebe, daß ich ihn mir als Vater meiner Kinder vorstellen kann, gleichgültig ist.“ Sie wollte noch weitersprechen, aber Kilian winkte ab. „Laß nur, Kathrin, du brauchst mir nichts weiter zu sagen, ich habe dich schon verstanden. Ich danke dir für deine Aufrichtigkeit. Nun lasse ich dich allein weitergehen, für mich ist es Zeit, umzukehren.“ Er gab ihr die Hand und zum ersten Male mied er ihren Blick. Schnell wandte er sich ab und ging den Weg zurück. Kathrin kam gar nicht dazu, ihm „Lebewohl“ zu sagen, so schnell war Kilian verschwunden. In ihre Gedanken versunken, ging sie den Weg weiter. Da hatte sie offenbar etwas falsch gemacht. Daß Kilian von sich selbst gesprochen hatte, hatte sie erst im letzten Augenblicke so richtig verstanden. Dabei hatte sie den stillen Menschen so recht von Herzen gern und es tat ihr bis in die Seele hinein leid, ihn so plötzlich von ihrer Seite vertrieben zu haben. Daran, daß Kilian sie lieben könnte, hatte sie wirklich nicht gedacht. Sie fühlte sich von diesem Gedanken überfallen, ehe sie ihn noch richtig begriffen hatte. Die todtraurigen Augen und der Blick Kilians hatten ihr mit einem Male seine ganze Liebe enthüllt. Mein Gott, warum mußte Kilian auch so plötzlich mit dieser Frage kommen, auf die sie so gar nicht gefaßt war! Sie hatte es bestimmt nicht so gemeint mit ihrer Antwort, wie er es anscheinend aufgefaßt hatte. Wenn sie früher eine Ahnung davon gehabt hätte, was Kilian für sie empfand, hätte sie ihm bestimmt keine solche Antwort erteilt. Sie war so in Gedanken vertieft, daß sie den Mann gar nicht beachtete, der plötzlich vor ihr stand und sie mit seiner Frage, ob er hier auf dem richtigen Wege nach Bufels und zum Malbesonerhof sei, aus ihren Gedanken auf-
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schreckte. „Ja, Sie gehen schon richtig. Weiter oben kommt ein Hohlweg und da teilen sich die Wege. Geradeaus geht es nach Bufels, wenn Sie aber nach rechts abbiegen und den schmalen Weg in die Höhe ansteigen, kommen Sie geradewegs zum Malbesonerhof.“ Der Fremde dankte und ging weiter. Der Gedanke an Kilian ließ ihr aber keine Ruhe. Da hatte sie wahrscheinlich eine große Dummheit begangen, die sie gerne wieder gutgemacht hätte. Nach vielem Hinundherüberlegen kam sie dann zu dem Entschlüsse, mit Kilian nächstens noch einmal über diese ganze Angelegenheit zu sprechen. Der arme Mensch tat ihr aufrichtig leid. Der ganze Sonntag freute sie mit einem Male nicht mehr und am liebsten wäre sie umgekehrt und Kilian nachgegangen, um mit ihm die Sache gleich in Ordnung zu bringen. Aber die Tante in Konstantin wartete schon so lange auf ihren Besuch, so daß sie nicht mehr umkehren konnte. Der fremde Mann war stehen geblieben und hatte ihr nachgesehen. ‚Ein hübsches Mädchen’, dachte er bei sich, ‚wäre wirklich wert, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Vielleicht ergibt sich bald eine Gelegenheit dazu.’ Müde ging Kilian des Weges zurück. Ihm war, als seien tausend Jahre inzwischen vergangen, seit er voller Freude und froher Hoffnung diesen Weg mit Kathrin gegangen war, voll Liebe im Herzen und voll strahlenden Sonnenscheins. Schon sah er sich am Ziele und glaubte wirklich, einen Menschen gefunden zu haben, der ihn wegen seines Buckels nicht verlachte, und der ihn vielleicht sogar lieben könnte, und zum ersten Male in seinem Leben glaubte er ein Mädchen gefunden zu haben, das ihn zum Manne nehmen würde, das nicht nun den Hof heiraten und ihn als mehr oder minder unangenehme Beigabe mitnehmen würde; ja, er hatte schüchtern versucht, vorzufühlen und das
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Ergebnis war für ihn niederschmetternd gewesen und einem Todesurteil gleichgekommen. Mit der Antwort Kathrins war seine ganze Hoffnung auf eine schönere Zukunft an der Seite des geliebten Mädchens zusammengebrochen. Er konnte es nun verstehen, was er neulich in einem Buche gelesen, daß gerade aus der Reihe der Körperbehinderten verhältnismäßig viele Verbrecher hervorgehen, aber wer hat denn diese armen Teufel zu Verbrechern gemacht? Doch nur die sogenannte ‚Gesellschaft’, die für sie keinen Platz hat, keinen Platz für die Arbeit und keinen Platz für die Wohnung, von menschlicher Wärme, von menschlichem Mitgefühl und Verständnis gar nicht zu sprechen; diese Dinge sind nur gut für die Kanzel; und die braven, gesättigten Bürger und Bauern sind zufrieden, die Worte des Pfarrers von christlicher Nächstenliebe zu hören. Aber daß auch nur einer von allen, die in der Kirche sonntags andächtig die Worte vom Samariter und dem Mitgefühl gegenüber dem Mitmenschen und von der christlichen Barmherzigkeit hören, daran denkt, diese Worte in die Tat umzusetzen, das wäre zu viel verlangt gewesen, und die Schlußworte der Predigt, die da lauten: ‚Was ihr dem Letzten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan’, gehen an ihren Ohren schon vorbei, weil sie schon mehr an den Frühschoppen denken, und im übrigen hätten sie auch gar keinen Platz für Leute, die nur halb arbeitsfähig sind – nein, es ginge beim besten Willen nicht. – – Kilian setzte sich im Walde auf einen Baumstamm, stützte den Kopf in die Hand und starrte dumpf vor sich hin. So ungefähr mußte den ersten Menschen zumute gewesen sein, als sie nach dem Sündenfall aus dem Paradiese vertrieben worden waren. Von der hellsten Helle war er auf einmal in das dunkelste Dunkel gestürzt, von der höchsten Höhe in die tiefste Tiefe. Tor, der er gewesen, sich auch nur einen einzigen Augenblick einzubilden, es könne einen
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Menschen auf der Welt geben, der ihn, den Krüppel, lieben könnte! Wie konnte er auch nur auf einen so verrückten Gedanken kommen! Hatten ihn nicht schon von allem Anfang an alle ‚Buckel’ nachgerufen und sogar mit Steinen nach ihm geworfen, hatten nicht auch die anderen Leute in Sexten mit den Fingern auf ihn gezeigt? Hatte nicht sein Bruder Romed und sogar seine eigene Mutter Stasi nur grobe und höhnende Worte für ihn gehabt? Das alles schien er plötzlich vergessen gehabt zu haben, als er Kathrin gesehen. Da war es ihm erst so richtig zum Bewußtsein gekommen, wie einsam er bisher gewesen und wie er sich nach einem kleinen bißchen Liebe und nach einem Sonnenstrahl in seinem Herzen gesehnt hatte. Was wissen denn die Menschen davon, wie einem zumute ist, wenn man von frühester Kindheit an von allen anderen ausgeschlossen und ausgestoßen ist; was wissen die Kinder, aber auch oft die Lehrer davon, wie es im Herzen eines verkrüppelten Kindes aussieht, das mit brennenden Augen den Spielen der anderen Kinder aus einem Winkel heraus zuschauen muß, weil es die anderen Kinder nicht mitspielen lassen; was wissen die Meister davon, wie es einem Jungen zumute ist, der einen Lehrplatz sucht und mit einem spöttischen Lächeln abgewiesen wird: „Ja, wenn du gesund wärest und gesunde Glieder hättest, dann vielleicht – aber so kann ich dich nicht brauchen“; was wissen auch die Mädchen davon, mit welch sehnsüchtigen Augen gerade diese armen Krüppel ihnen nachschauen, die auch Menschen aus Fleisch und Blut sind und vielleicht mehr Sehnsucht nach Liebe haben als andere, nicht körperlich behinderte Menschen, und wie gerade die armen Krüppel sich nach geraden Gliedern sehnen, nach weißen Mädchenarmen und schönen Frauenkörpern, bei denen sie ihr Elend und ihre Not vergessen könnten. Wenn dann die Mädchen sich lachend abwenden und mit hohnvollen
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Blic??ken am Arme eines anderen, gesunden Mannes davongehen, dann steigt nicht nur der Neid im Herzen dieser Stiefkinder der Natur auf, sondern dann entsteht meistens auch ein unbändiger Haß gegen die ganze andere Welt in der Seele dieser Unglücklichen, ein Haß, der sich gegen Gott und die ganze Welt richtet und vor allem gegen die gesunden Menschen, die gerade Glieder besitzen; und mit diesem Haß tritt nicht selten ein satanischer Vernichtungswille auf, der dann in vielen Fällen zum Verbrechen führt. All dies empfand Kilian Lanzinger in diesen Augenblic??ken, in denen seine ganze schöne Welt, die er sich so phantasievoll aufgebaut hatte, mit einem einzigen, grausamen Worte Kathrins zerstört, wie ein Haufen Scherben, vor ihm am Boden lag. Er verfluchte in diesem Augenblicke Gott und die Welt und mit einem Male brach er in ein Gelächter aus, so grausig und so grell, daß einige Spatzen aufgeschreckt davonflogen. „Ja, ja, fliegt nur davon, ihr Spatzen, flieht den Krüppel und fliegt zu Kathrin und zu den anderen gesunden Menschen! Sogar die Spatzen grausen sich schon vor mir, und ich Esel hab' schon geglaubt, Kathrin könnte mich lieb haben. Ha, ha, nicht einmal einem Spatzen bin ich gut genug, geschweige denn Kathrin. Oh, ich dreimal verfluchter Tor, der ich mir das alles eingebildet habe! Aber es geschieht mir schon recht, dreimal recht geschieht mir! Warum konnte ich auch nur einen Augenblick vergessen, daß ich ein Krüppel bin, der ja kein Recht auf Liebe hat, der ausgestoßen ist von allem, was schön und gut ist! Warum habe ich auch nur einen Augenblick vergessen können, daß ich auch so ein armer Teufel bin und zu jenen gehöre, die das Glück der anderen nur von einem Winkel aus anschauen dürfen?“ Mit einem Wehlaut sank er in sich zusammen und seine ausgetrockneten Lippen vermochten nur immer wieder ih-
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ren Namen zu stammeln: „Kathrin, Kathrin!“ Ja, das wußte er nun endgültig, daß er von Kathrin nichts zu hoffen hatte, daß seine ganze Liebe ein einziger großer Irrtum und eine Selbsttäuschung gewesen war, eine Welt, die sich aus seiner grenzenlosen Einsamkeit heraus in Liebe und Sehnsucht gebildet hatte und die nun beim ersten, kleinsten Windhauch zusammengestürzt und sich in nichts aufgelöst hatte und daß er nun ärmer war als zuvor. Eine Stimme in seinem Innern klang auf, als ob sie vom Teufel selber käme: „Tu ihr etwas an, räche dich an Kathrin, und mit Kathrin an allen anderen, diesen verfluchten gesunden Menschenkindern, die dich und deine armen Schicksalsgenossen so grausam auf die Seite werfen und verhöhnen, weil die anderen gesund und wir Krüppel sind! Raff dich auf, steck nicht alles einfach ein, sondern zeige Kathrin und den anderen, daß auch ihr Menschen seid und daß ihr euch das einfach nehmt, was die anderen euch höhnisch verweigern!“ Kilian schauderte vor diesen Gedanken, aber hatten sie nicht ihre Berechtigung? Warum sollten nicht auch Krüppel ein Recht auf Liebe haben, warum sollten sich diese Krüppel immer nur von den Gesunden wie Würmer zertreten lassen? Es war der Punkt im Geistesleben Kilians, an dem es sich entscheiden mußte, was in ihm größer und stärker war: die Güte und der Edelmut oder das Böse, die Rachsucht der Zurückgesetzten und Ausgeschlossenen. Kilians Lachen war in ein haltloses Weinen übergegangen. „Kathrin, Kathrin, warum mußtest gerade du mir das antun?“ wimmerte er immer wieder. Aber dann wurde er ruhiger und die Überlegung gewann in ihm die Oberhand. Kathrin konnte ja nichts dafür, daß er sie liebte und sie
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vor ihm zurückschreckte. Es war ja nicht Kathrins Schuld, daß er seine Illusion gerade um sie gesponnen hatte, und sie konnte eben seine Liebe nicht erwidern; ob nun die Gegenliebe fehlte oder ob sie sich der Kinder wegen fürchtete, war schließlich gleichgültig. Nein, rächen durfte er sich nicht, weil Kathrin ihm ja nichts Unrechtes angetan hatte. Es war ja ihr freier Wille, ob sie seine Liebe erwiderte oder nicht. Erzwingen ließ sich eine Liebe nicht, weder bei Kathrin noch bei einer anderen. „Verzeih, Kathrin, daß ich mich auch nur einen Augenblick zu solchen Gedanken hinreißen ließ, Rache an dir zu nehmen, Rache für etwas, wofür du keine Schuld hast“, murmelte er vor sich hin. Er mußte eben weiterhin einsam bleiben, es war nicht Kathrins Schuld, es war sein eigenes Schicksal, das er tragen mußte. Jemand hatte ihm einmal gesagt, daß der Herrgott niemandem mehr auferlege, als er tragen könne; ja, richtig, sein Lehrer Nikolaus Watschinger hatte ihm das seinerzeit gesagt. Kilian lächelte müde. Wie weit war dies alles nun schon zurück. Der Latschenhof, die Urschl, Nikolaus Watschinger! Was zählte das alles gegen den Zusammenbruch seines Lebenstraumes? Damals hatte er Kathrin noch nicht gekannt und hatte wohl den Worten seines ehemaligen Lehrers gelauscht, wie er ihm die Geschichte von sich und der Rosl erzählt hatte. Aber so recht hineinfinden hatte er sich nicht können, damals hatte er ja noch nicht gewußt, wie schön die Liebe sein konnte, und wie grausam weh es tat, wenn diese Liebe nicht erwidert wurde. Aber heute verstand er es und heute wußte er beides: Wie schön die Liebe war und wie weh die Ablehnung tut. Aber was half das alles? Die Welt blieb wegen einer unerwiderten Liebe und wegen eines enttäuschten Krüppels nicht stehen. Die Welt hatte schon viel mehr erlebt und war
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weitergegangen und kümmerte sich auch um ihn und seine unselig-selige Liebe zu Kathrin nicht. Kein Mensch hat das Recht, dem Lauf der Welt Einhalt tun zu wollen, und wer das versuchte, war noch immer unter die Räder geraten. Es hat keinen Sinn, sich gegen sein Schicksal aufzulehnen, auch er durfte es nicht, wenn er nicht ungerecht werden wollte. So stand er auf und ging heimwärts. Durch die Äste der Bäume leuchtete schon das Abendrot und die Abendsonne malte goldene Kringel in das grüne Moos des Waldes.
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Als Kilian sich dem Malbesonerhof näherte, sah er einen Mann auf der Bank vor dem Hause sitzen. Im Dämmerlicht konnte er nicht erkennen, wer der Mann war, aber er wurde der Überlegung enthoben, denn eine ihm nur allzugut bekannte Stimme begrüßte ihn: „Ah, da schau her, der Herr Bruder kommt schon heim. Hättest dir wohl nicht gedacht, Buckel, daß dein geliebter Bruder so schnell wieder in den Kreis seiner Familie zurückkehrt?“ Es war tatsächlich sein jüngerer Bruder Romed, der ihn auf diese höhnische Weise begrüßte. Mußte denn auch alles auf einen Tag zusammenkommen? Was würde der Vater dazu sagen, daß Romed auf einmal wieder auftauchte? Wie hatte sein Bruder überhaupt herausgefunden, daß der Vater den Malbesonerhof gekauft hatte. Romed betrachtete seinen Bruder mit spöttischen Blic??ken: „Gerade allzu freundlich ist deine Begrüßung auch nicht. Scheint wohl keine wahre Freude zu sein, daß ich so auf
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einmal wieder da bin?“ Kilian faßte sich aus seinem Erstaunen: „Das geht mich nichts an. Bauer ist der Vater und der hat dir das Haus verboten. Was der Vater sagt, gilt auch mir. Wenn der Vater sagt, daß du dableiben kannst, soll es mir recht sein. Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun“, antwortete er kurz und wollte ins Haus. Aber Romed verstellte ihm den Weg. „Da hat die Mutter und hab' auch ich noch ein Wort mitzureden“, entgegnete Romed scharf. „Aber nicht mit mir, sondern einzig und allein mit dem Vater. Mußt es schon mit ihm ausmachen, mir ist es gleich, mich laß in Frieden!“ „Du wirst mir helfen, daß ich dableiben kann“, zischte der andere. „Könnt mir einfallen, mich in Dinge zu mischen, die mich nichts angehen. Mach's mit dem Vater aus, wenn er da ist, nicht mit mir.“ In diesem Augenblicke öffnete sich die Haustüre und heraus stürzte mit irrem Blick und zerzausten Haaren die Bäuerin Stasi und warf sich ihrem Sohn Romed in die Arme. „Mein armer Bub, mein armer Bub! Bist du nun endlich zu deiner Mutter zurückgekommen? So habe ich es doch noch erbetet, daß du wieder gekommen bist. Jetzt mußt du für immer bei mir bleiben! Ich lass' dich nicht mehr fort, und wenn sie alle gegen dich sind. Und mag sich die ganze Welt auf den Kopf stellen, ich lass' dich nicht mehr fort. Versprich mir, daß du für immer jetzt bei mir bleiben wirst!“ Romed strich über die grauen, schütteren Haare seiner Mutter und klopfte ihr auf den Rücken. Offenbar war ihm die Szene peinlich, aber ein triumphierendes Lächeln verzerrte sein Gesicht.
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„Ist schon recht, Mutter, ich geh' schon nicht mehr fort“, beruhigte er das alte Weiblein, „aber das letzte Wort hat der Vater zu sagen.“ „Der kann sagen, was er will, du mußt bei mir bleiben, oder ich geh' mit dir. Ich will nicht mehr ohne dich sein. Sie sperren mich ja ein, da auf dem verfluchten Hof, damit ich nicht zu dir und du nicht zu mir kommst. Aber ich bin doch schlauer als alle beide gewesen, als der Bauer und der Buckel zusammen“, kicherte sie. „Ich hab' dir doch Botschaft schicken können, wo wir sind. Die alte Bötin, die die Eier für die Stadt zusammenkauft, hat mir einen Brief an den schwarzen Much mitgenommen.“ „So, das hat die alte Bötin getan?“ ließ sich nun die Stimme des Bauern vernehmen, der eben aus dem Stall kam, „dann hat die alte Bötin zum letztenmal ein Ei vom Malbesonerhof bekommen, das merk dir. Und du, mein feiner Herr Sohn“, wandte er sich an Romed, „du wirst dich daran erinnern können, daß ich dir schon in Sexten gesagt habe, daß du bei anständigen Leuten, wie wir sind, nichts zu suchen hast. Ich habe dir schon am Latschenhof die Tür gewiesen und schlag' dir auch hier am Malbesonerhof die Tür vor der Nase zu. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben, jetzt nicht und nie mehr. Das merk dir ein für allemal.“ Stasi warf sich dem Bauern vor die Füße. „Er ist mein Sohn genau so wie der andere, der Buckel. Ich habe ein Recht auf meinen Sohn und ich bring' mich um, wenn du ihn wieder aus dem Hause jagst, noch ehe er es überhaupt betreten hat. Mir gehört der Bub genau so wie dir und ich lasse ihn nicht mehr fort. Ich habe ja sonst auch niemanden auf der Welt.“ Während Romed fast belustigt auf die Eltern schaute und nicht das mindeste Gefühl für seine alte Mutter hatte, war Kilian diese Szene schrecklich peinlich. Er ging zur Bäue-
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rin und hob sie auf, denn er konnte die Mutter nicht vor dem Vater knien sehen. Wenn ihn die Mutter auch nicht leiden konnte und er in all den Jahren auch viel von ihr zu erleiden gehabt hatte, so war sie trotz allem seine Mutter und er liebte sie, wie ein Sohn seine Mutter liebt. So bat er auch seinen Vater: „Vater, sei vernünftig und laß den Romed da. Wir können zwei Hände zur Arbeit gut gebrauchen. Tu der Mutter den Gefallen, ihr den Romed da zu lassen.“ Der Bauer schüttelte nur den Kopf. „Was ich einmal gesagt habe, habe ich gesagt und dabei bleibt es. Ich will den Burschen nicht mehr sehen. Er hat über die ganze Familie Schande gebracht, das Haus ist abgebrannt und wir sind aus unserer alten Heimat fortgezogen, damit uns niemand mehr kennt und wir uns nicht zu schämen brauchen. Und jetzt kommt der Bub wieder, der uns das alles angetan hat. Hast ihn umsonst gerufen, Stasi. Daraus wird nichts. Der Bub hat hier nichts mehr zu suchen.“ Die Bäuerin ging mit erhobenen Fäusten auf den Bauern los und schrie mit ihrer schrillen Stimme: „Du Teufel, du hartherziger! Alles hast du mir genommen, und nun willst du mir auch noch das Letzte, meinen Buben, meinen Romed, nehmen. Aber wenn der Romed nicht dableibt, spring' ich über die Schlernwände hinunter und dich nehme ich mit. Alle Tage fluche ich dir, bis es dich nachzieht zu mir hinunter. Noch in der Ewigkeit sollst du keine Rast und keine Ruhe haben, du Teufel, du! Bist ja kein Mensch, hast kein Herz im Leib wie andere Menschen, sondern einen Stein in der Brust, daß einem schon kalt wird, wenn man dich nur anschaut.“ Kilian war zutiefst erschüttert, das waren seine Eltern. Das waren zwei Menschen, die sich auch einmal geliebt hatten. Jetzt haßten sich die beiden aus tiefster Seele.
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Konnte überhaupt eine Liebe so enden, daß ein Mensch dem andern flucht, anstatt ihn zu lieben? War es so nicht wirklich besser, allein zu sein, und lieber ein ganzes Leben lang einen Höcker mit sich herumzutragen, als einen Menschen, den man einmal geliebt, und der der Vater der Kinder war, zu verfluchen? Kathrin und er wären bestimmt nie so weit gekommen, und wenn sie hundert Jahre mitsammen verheiratet gewesen wären. Ja, die Kathrin! Jedes Wort fiel ihm wieder ein, das er mit ihr gewechselt, und er glaubte, jeden Händedruck von ihr nochmals zu spüren. Das war jetzt endgültig vorbei. Heiraten wollte sie ihn nicht und so war es besser, wenn sie sich nicht mehr sahen. Er war halt doch nur ein Krüppel, auch für Kathrin. Und es war ihm bestimmt, zeit seines Lebens in einer Ecke zu stehen und nur den anderen im Wege zu sein. Es war besser, nicht mehr daran zu denken. Er kam gerade noch dazu, seine Mutter zurückzuholen. Mit fliegenden Haaren war sie weggerannt, die Höhen hinan. Romed rührte sich nicht. Er kümmerte sich um seine Mutter nicht im geringsten. Sie war für ihn nur so lange von Bedeutung, als er sie brauchte, als er von ihr oder durch sie etwas erreichen wollte oder konnte. Konnte sie das nicht, oder hatte er durch seine Mutter erreicht, was er wollte, dann kümmerte er sich nicht mehr um sie. So auch jetzt. Es fiel ihm gar nicht ein, seiner Mutter nachzulaufen und sie zurückzuholen; von ihm aus konnte sie ruhig über die Schlernwände hinunterspringen und tot liegenbleiben. Anscheinend hatte sie ihn mit ihrer Botschaft nur hergelockt und er hatte schon geglaubt, die Mutter hätte den Vater schon dazu bewogen, daß er wieder daheim bleiben könne. Das war offensichtlich ein Irrtum gewesen. Für einen verlorenen Sohn, der reuig in das Väterhaus zurückkehrt, hatte er keine Veranlagung und keine Lust. Wenn es drüben in Kartitsch nicht so brenzlig geworden wäre und
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sich die verdammten Gendarmen nicht so brennend für ihn interessiert hätten, wäre er überhaupt nicht hergekommen. Aber es waren da so allerhand Dinge in der letzten Zeit passiert, welche die Gendarmen und die Zollbehörden lieber nicht wissen durften, sonst wäre es mit der Freiheit wohl einige Jährchen vorbei gewesen, und da hatte er es vorgezogen, rechtzeitig zu verschwinden. Da war ihm die Nachricht der Mutter gerade recht gekommen; daß der Vater, der rückständige Dickschädel, immer noch von ihm nichts wissen wollte, war freilich recht dumm. Romed wußte augenblicklich nicht, wohin er gehen sollte. Er wollte schon wieder umkehren und den Weg zurückgehen, als sein Bruder Kilian zurückkam, mit seiner Mutter auf den Armen. Die Bäuerin war anscheinend gestürzt und war zusammengebrochen und ohnmächtig geworden. Kilian trat zwischen seinen Vater und seinen Bruder. „Vater, schau dir die Mutter an! Hast sie auch einmal gern gehabt und sie hat dir zwei Söhne geboren. Ich bitt' dich, Vater, tu's der Mutter zuliebe und laß den Romed da. Die Mutter geht sonst zugrunde und auch ich hätte keine ruhige Stunde mehr. Vater, ich bitt' dich, tu's auch mir zuliebe.“ Zornig schaute der Bauer seinen Ältesten an. Was hatte denn Kilian, daß er immer das Gegenteil von dem wollte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte? Aber seinem Ältesten konnte er keine Bitte abschlagen. Er war ja einmal sein Erbe und auf ihm lastete einmal die ganze Verantwortung. So erwiderte er kurz: „Wenn du dich darüber hinaussiehst, Kilian, mag er bleiben, aber auf dich fällt dann auch die Verantwortung für alles, was noch kommen kann. Daß diese Geschichte nicht gut ausgeht, kann ich dir schon heute voraussagen. Mach du das Weitere, Kilian, ich will nichts davon wissen. Nur eines lasse dir gesagt sein, Romed, wenn nur das Geringste
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passiert, und die Gendarmen einmal deinetwegen auf den Hof kommen, dann ist es endgültig aus und wenn die Bäuerin zehnmal über die Schlernwände hinunterspringen sollte.“ Damit ging er ins Haus und kümmerte sich nicht mehr um die Seinen.
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Einige Wochen waren seit diesem Abend vergangen. Romed war auf dem Hofe geblieben, aber für die schwere Bauernarbeit hatte er nicht das geringste Interesse. Vor seinem Vater drückte er sich, wo er nur konnte. Es war auch am besten, wenn er ihm so viel als möglich aus dem Wege ging, denn es führte kein Weg mehr vom Vater zum Sohn. Der Vater haßte seinen zweiten Sohn, so wie der Sohn den Vater fürchtete. Wenn der Vater ihm etwas anschaffte, so tat Romed die Arbeit mehr schlecht als recht, denn er wußte, daß der Vater keinen Spaß verstand und ihm sofort und diesmal endgültig die Türe weisen würde, wenn er seinen Befehlen nicht nachkam. Aber wenn die Arbeit getan war, dann ging Romed aus dem Hause in das Dorf hinunter. Geld hatte er anscheinend genug; denn er saß alle Tage im Wirtshaus und zahlte manche Runde Schnaps und manchen Liter Wein, und verstand es auf diese Weise, sich in kürzester Zeit bei den Burschen beliebt zu machen. Aber auch die Mädchen hatten den flotten Burschen bald gerne, und es dauerte nicht lange, daß sich ihm manches Kammerfenster öffnete und Romed erst am frühen Morgen auf den Malbesonerhof zurückkam. Nur ein Mädchen sah er nie. Jenes Mädchen, dem er zum ersten Male begegnet war, als er auf den Hof kam. Wohl
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hatte er in Erfahrung gebracht, daß das Mädchen Kathrin hieß und die Tochter des ehemaligen Besitzers des Malbesonerhofes war, aber sie selbst traf er nie. Kathrin war nicht so wie die anderen Mädchen, daß sie öfters aus dem Hause ging und den Burschen verliebte Augen machte. Aber gerade das reizte Romed am meisten. Außerdem war ihm die verblüffende Ähnlichkeit mit der verstorbenen Urschl gleich aufgefallen, und es dauerte nicht lange, bis die alte Leidenschaft in ihm wieder emporflammte, die er damals für Urschl empfunden, und er schwor sich, diesmal zum Ziele zu kommen, und wenn er Kathrin heiraten müßte. Kathrin wußte von diesem allem nichts. Ihr war die Begegnung mit Romed schon längst entfallen und sie erinnerte sich nicht mehr daran. Kathrin hatte andere Sorgen. Ihr Vater kränkelte seit neuestem. Ein arger Husten plagte ihn und sein Atem ging schwer. Der Arzt hatte ein bedenkliches Gesicht gemacht und ihr aufgetragen, sehr auf den Vater achtzugeben und jede Aufregung von ihm fernzuhalten, denn das Herz des alten Mannes sei sehr angegriffen. Herzasthma hieß die Krankheit, und der Vater durfte keine Arbeit mehr verrichten und mußte zeitweise sogar das Bett hüten. So war es kein Wunder, daß Kathrin keine freie Minute hatte und stets um ihren Vater bemüht war; sie liebte ihn von ganzem Herzen und zitterte im geheimen schon vor der Stunde, in der der Tod ihr den Vater entreißen würde. Daß diese Stunde nicht mehr allzuweit entfernt war, hatte sie den Worten des Arztes nur allzuleicht entnehmen können. Dann hatte sie gar keinen Menschen mehr auf dieser Welt und würde ganz allein dastehen. Aber darum ging es ihr zunächst nicht. Sie wollte ihrem alten Vater den Lebensabend verschönern, soviel und solange sie nur konnte. So saß sie manche Nacht an seinem Bette und be-
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tete, daß der Herrgott ihr den Vater noch recht lange erhalten möge. In diesen einsamen Stunden, in denen sie am Krankenbette ihres Vaters saß, gingen ihre Gedanken mehr und mehr zu Kilian Lanzinger. Hatte sie ihn eigentlich liebgewonnen? Sie hatte früher nie an Liebe gedacht, sie hatte auch keine anderen Menschen geliebt als ihre Eltern und ihren Bruder, der in Abessinien gefallen war. Auch bei Kilian hatte sie nicht an Liebe gedacht, so gerne sie ihn auch sah und so gerne sie sich seine Gesellschaft gefallen ließ. Aber war das Liebe, wenn das Herz nicht mitsprach? Es war vielleicht eine Art Mitleid gewesen, das sie für den armen Krüppel vom ersten Augenblicke an empfunden hatte, als er so für sie eingetreten war. Daraus war dann eine herzliche Zuneigung entstanden, und wenn sie ihn manchmal eine ganze Woche nicht gesehen, so hatte sie schon nach ihm ausgeschaut. Er war ihr abgegangen, so sehr hatte sie sich an sein stilles Wesen und an seine Gesellschaft gewöhnt. Aber Liebe? Unter Liebe stellte sie sich ein himmelstürmendes Glücksgefühl vor, das alle Schranken niederreißt und das sie dem Manne, den sie liebt, stürmisch in die Arme treiben mußte, ein Gefühl, einem Sturme gleich, der durch ihre Seele braust und das Hohelied des Glücks in ihrem Herzen anstimmt. So stellte Kathrin sich die Liebe vor. Sie war aber ein stilles Mädchen und ihre sanfte Natur kannte keine Stürme und kein Gewitter. Sie ging still ihren Weg und freute sich an jeder Blume, die am Wege blühte, und an jedem Menschen, der zu ihr freundlich war. Am meisten freute sie sich, wenn Kilian bei ihr war. Da konnte sie seinen Worten lauschen und sich wundern, wie belesen und gescheit der einfache Bauernbursche war. Ein feines, stilles Leuchten stieg dann in ihren schönen dunklen Augen auf, und es war ihr, als klängen im Herzen silberne
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Glocken. Vielleicht war es doch die Liebe, was sie für Kilian empfand. Auch jetzt noch, oder gerade jetzt, seit er nicht mehr zu ihr kam. Vielleicht war es die Liebe gewesen, die in ihrem Herzen erwacht, nur hatte sie es nicht gewußt und jetzt, wo Kilian ihr ferne blieb, empfand sie es deutlich: ja, das war wirkliche Liebe, was sie für ihn empfand. Wie unüberlegt war sie an jenem Sonntag gewesen, als sie ihm eine Antwort gegeben hatte, die ihn zutiefst getroffen zu haben schien. Warum mußte aber auch der gute Kilian so ungeschickt sein! Hätte er sie einfach an sich gerissen und geküßt und sie nicht mehr ausgelassen, dann wäre sie auch nicht dazu gekommen, ihm eine solche Antwort zu geben, über die sie sich heute noch ärgern konnte. ‚Du dummer, lieber Kilian, du’, sagte sie leise zu sich, damit sie ihres Vaters leisen Schlaf nicht störe, ‚hättest du wenigstens ein einziges Mal ein Wort davon gesagt, daß du mich liebst.’ Mit ihrem feinen Fraueninstinkt fühlte sie, daß sie ihn beleidigt hatte. War die Frage wegen der Körperbehinderten nicht allzu deutlich gewesen? Sie hatte darauf nur eine ausweichende Antwort gefunden, vielleicht nur, um Zeit zu gewinnen, vielleicht aber auch aus ihrer Verwirrung heraus. Daß sie ihn mit ihrer Antwort zutiefst getroffen hatte, war ihr eigentlich erst später zum Bewußtsein gekommen, als Kilian nie mehr zu ihr gekommen und selbst nach den Musikproben ihr ausgewichen war. Sie hatte das alles ja nicht so gemeint, wie er es aufgefaßt, und sie hatte ihm bestimmt mit ihrer Antwort nicht weh tun wollen. Das mußte sich doch aussprechen lassen, und sie beschloß, wenn es dem Vater wieder besser ging, Kilian aufzusuchen, ihm alles zu erklären und ihm zu sagen, daß sie das mit ihrer Antwort nicht so gemeint habe. Und wenn der dumme Bub ihr dann noch nicht glauben wollte, wollte sie ihm einen Kuß geben und ihm sagen, daß sein Höcker sie
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gar nicht hindere und sie ihn samt seinem Buckel von ganzem Herzen lieb habe. ‚Ja, Kilian, du dummer, lieber Kilian, dann komme ich einfach zu dir und lass' dich nicht mehr’, sagte sie zu sich mit einem glücklichen Lächeln. Kilian hatte äußerlich den Schlag überwunden, den die Antwort Kathrins ihm versetzt hatte. Er hatte sich auch nicht viel Zeit zum Nachdenken genommen, denn seit sein Bruder Romed auf dem Malbesonerhofe war, schwebte über dem Hofe eine Gewitterstimmung, die früher oder später sich entladen mußte. Der Vater sprach überhaupt nichts mehr, außer daß er seine Anweisungen zur Arbeit gab. Früher hatte er sich doch noch manchmal mit ihm über das und jenes unterhalten, aber seit Romed auf dem Hofe war, hatten auch diese Unterhaltungen aufgehört. Saß Romed in der Stube, ging der Vater hinaus und ließ sich den ganzen Tag über nicht mehr sehen. Kilian mußte das alles tragen und noch viel mehr. Er mußte vor allem dafür Sorge tragen, daß der Vater nichts von dem lockeren Lebenswandel Romeds erfuhr, sonst wäre die Katastrophe sofort hereingebrochen, und Kilian wußte, daß seine Mutter diese Katastrophe bestimmt nicht überlebte, und das wollte er vermeiden. Stasi war seine Mutter und Kilian wollte der alten Frau die paar Jahre, die sie noch zu leben hatte, vergönnen, er achtete sie und er wollte ihr alles fernhalten, was ihr das Leben abkürzen könnte. Es war rührend anzusehen, wie die Bäuerin an ihrem zweiten Sohne Romed hing. Wie sie oft heimlich seine Hände in die ihren nahm und ihn bat, doch ein Weilchen bei ihr zu bleiben. Romed selbst empfand diese Liebkosungen seiner Mutter als lästig und ließ sie meistens allein. Dann konnte die alte Frau stundenlang vor der Türe auf der Bank sitzen und zu Tal blicken, ob denn ihr geliebter Ro-
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med noch immer nicht komme. Die Tränen rollten dann über ihre runzeligen, eingefallenen Wangen und die schmalen Lippen beteten ein Vaterunser nach dem anderen für ihren Romed, der inzwischen im Wirtshaus saß oder bei einem Mädchen war. Ihn kümmerte die Mutter nicht mehr, seit er auf dem Hofe bleiben konnte. Kilian empfand manchmal so etwas wie Leid, wenn er die Affenliebe der alten Frau zu ihrem Sohne sah. Ihn hatte die Mutter schon von Anfang an nicht mögen. Schon als kleinen Buben hatte sie ihn nur lieblos den ‚Buckel’ genannt, und er konnte sich nicht erinnern, jemals von ihr ein gutes Wort erhalten zu haben. Sie war eigentlich die erste gewesen, die ihn sein furchtbares Schicksal hatte fühlen lassen, die ihm seinen Buckel vorgeworfen, für den er selbst ja nichts konnte. Wenn er sie jetzt ab und zu trösten wollte, wenn der Bruder ab und zu so lange nicht heimkam, dann schaute sie ihn verständnislos an und sagte höchstens zu ihm: „Bring mir meinen Romed, auf den warte ich, nicht auf dich.“ Dann ging er traurig von seiner Mutter fort, weil er wußte, daß er auch jetzt noch nichts für seine Mutter bedeutete, trotzdem er es gewesen war, der durch seine Fürsprache beim Vater erreicht hatte, daß Romed auf dem Hofe bleiben durfte. Trotzdem achtete er die Frau, eben weil sie seine Mutter war. Er mied es, in das Dorf zu gehen, um ja nicht mit Kathrin zusammenzutreffen. Nach außen hin war er ruhig geworden, aber der Gedanke an Kathrin ließ ihn nicht mehr los. Man kann eine Liebe nicht einfach von einem Tag auf den anderen aus dem Herzen reißen wie ein Stück Holz aus dem Feuer. Liebe ist etwas für das ganze Leben, namentlich bei einsamen Menschen, die schwer an ihrem eigenen Schicksal zu tragen haben. Wenn ihnen dann in der Ein-
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samkeit ein Mensch begegnet, der für sie alles auf der Welt bedeutet, dann ist dies wie eine Offenbarung, die sich zutiefst in das Herz senkt, und ein ganzes Leben lang darin bleibt, auch dann, wenn dieser geliebte Mensch keine Gegenliebe aufzubringen vermag. Für Kilian war Kathrin alles gewesen, was jemals sein einsames Herz bewegt hatte: Sonne und Glück, Liebe und Leben. Das würde auch so bleiben und blieb auch jetzt so, da er wieder allein seinen Weg gehen mußte. Sie ging eben mit ihm in seinem Innern, ohne daß sie es wußte. Kilian hatte keine Ahnung davon, daß Kathrin sich die Augen nach ihm ausschaute, um endlich einmal Gelegenheit zu finden, mit ihm zu sprechen und den Irrtum aufzuklären, den sie mit ihrer dummen Beantwortung seiner Frage heraufbeschworen hatte. Wohl hatte sie bemerkt, daß er ihr seit jenem Sonntag stets auswich, so oft sie ihn erreichen wollte, um mit ihm zu sprechen. Es tat ihr weh, denn sie hatte es bestimmt nicht so gemeint, wie Kilian ihre Antwort aufgefaßt, und im übrigen hatte sie gehofft, daß Kilian mit der Zeit auch etwas ruhiger über diese ganze Angelegenheit denken werde. Allerdings konnte sie auch nicht wissen, wie tief sie ihn gerade an seiner verwundbarsten Stelle getroffen hatte. Je mehr Tage und Wochen aber vergingen und Kilian ihr nach wie vor fernblieb, desto trauriger wurde sie. So manche Träne rollte über ihre Wangen und sie mußte glauben, daß Kilian sie entweder ganz vergessen habe oder sie nicht mehr treffen wollte. Aber, wenn zwischen ihnen schon alles aus sein sollte, so wollte sie wenigstens mit ihm noch einmal sprechen und ihm sagen, daß sie es bitter bereute, ihm eine so ausweichende und abweisende Antwort gegeben zu haben. Er sollte nicht denken, daß sie ein so herzloses Geschöpf sei, wie er vielleicht wirklich glaubte, sondern daß sie ihm von
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ganzem Herzen gut sei. Wenn er dann noch weiterhin sich von ihr fernhielt und nichts mehr von ihr wissen wollte, dann war es eben zwischen ihnen aus und ein Kapitel im Buche ihres Lebens war dann abgeschlossen, das so herrlich begonnen hatte; dann war eine Liebe gestorben, noch ehe sie so richtig begonnen hatte. In ihrer Verzweiflung wußte sie nicht mehr, wo aus und wo ein. Sie überlegte sich schon, ob sie Kilian nicht einen Brief schreiben solle und ihn darum um eine Unterredung zu bitten. Aber sie kam von diesem Gedanken wieder ab, weil sie wußte, daß man es am Lande mit dem Briefgeheimnis nicht gar so genau nahm und sie natürlich auf alle Fälle vermeiden wollte, daß ihr Geheimnis im Dorf unter den Leuten bekannt wurde. So sann sie hin und her und fand keinen Ausweg. Romed hatte von seinen Zechkumpanen bald erfahren, wer das schöne Mädchen war, das ihm damals begegnet war, als er zum ersten Male auf den Malbesonerhof kam. Er hatte auch bald zu hören bekommen, daß Kilian, sein buckliger Bruder, früher des öfteren mit Kathrin gesehen worden war und daß man sogar schon davon gemunkelt habe, daß die beiden einmal ein Paar würden. Romed brach in schallendes Gelächter aus, als man ihm das erzählte. „Das ist doch der beste Witz, den ich jemals gehört habe. Ausgerechnet mein Bruder mit dem größten Buckel will das schönste Mädchen von der Seiseralm heiraten? Ha, ha, mein buckliger Bruder auf Freiersfüßen!“ Er lachte so schallend, daß es ihn schüttelte, und einige Burschen, die bei Kathrin früher einmal abgeblitzt waren, in das Gelächter einstimmten. Ein brennender Neid gegen Kilian, den buckligen Duckmäuser, wie er ihn noch immer nannte, stieg in ihm auf. Sein leicht entflammbares Herz hatte schon lange für Kathrin Feuer gefangen. Die Ähn-
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lichkeit Kathrins mit der toten Urschl fachte die Glut in seinem Innern nur noch mehr an. Aber ihm war es nicht um die Liebe oder gar um die Ehe zu tun. Ihm ging es lediglich darum, Kathrin zu besitzen. Wenn sie einmal ihm gehört hatte, konnte sie ruhig Kilian heiraten, denn dann interessierte sie ihn nicht mehr. Daß es sehr schwer sein würde, Kathrin zu erobern, war ihm von vorneherein klar. Aber ebenso klar war ihm, daß er diesmal an das Ziel kommen mußte, nicht so wie bei Urschl, die er nicht bekommen hatte. ‚Und wenn es nicht anders geht, dann muß es eben mit Gewalt gehen’, schwor er sich, nachdem er Wochen schon vergebens auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sich Kathrin zu nähern. Aber auch der Gedanke an eine Heirat mit Kathrin ließ ihn nicht ruhen. Vielleicht, daß er dann den Hof bekam, wenn er Kathrin zwang, seine Frau zu werden. Dieser Gedanke war so teuflisch, daß Romed im ersten Augenblick selbst darüber erschrak. Er war sonst durchaus nicht zart besaitet, und Recht und Gesetz kümmerten ihn herzlich wenig, wenn es galt, für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Er hatte schon öfters sich vor den Augen des Gesetzes verbergen müssen, aber weil er bisher immer Glück gehabt, so hatte er auch von den Hütern des Gesetzes keine allzu hohe Meinung, ob sie nun Finanzer oder Gendarmen, ob sie Österreicher oder Italiener waren. Ihm galt nur sein Ich als oberster Grundsatz und Gesetz. Aber dieser Gedanke, Kathrin mit Gewalt zu nehmen und damit Bauer auf dem Hofe zu werden, war ihm neu und reizte ihn. Bis jetzt hatte er kein Mädchen mit Gewalt zu nehmen brauchen. Alle, die er gewollt hatte, hatten sich ihm gerne und freiwillig an den Hals geworfen und ihm die Türe zu ihrer Schlafkammer geöffnet. Aber bei Kathrin war dies etwas anderes. Die hatte bisher noch kein Mann berührt, und Ka-
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thrin war nicht so wie die anderen Mädchen, die er kannte und zu denen er kommen konnte, wann er wollte. Kathrin würde sich niemals einem Manne schenken, ohne Ring am Finger. So altmodisch war sie noch. Aber warum es nicht auch einmal umgekehrt machen? Zuerst sich das nehmen, was ihn reizte, und dann heiraten, Kathrin einfach zwingen, ihn zu heiraten, und sie mußte ihm dafür zum Schluß noch dankbar sein. Aus dem furchtbaren Gedankenspiel wurde bald teuflische Überlegung und aus der Überlegung wuchs Schritt für Schritt der vorbedachte Plan zu dieser teuflischen Tat. Ja, er fieberte danach, bis diese Tat endlich zur Ausführung käme. Nur wußte er noch nicht, wie er sich Kathrin nähern sollte. Man sah sie fast nie auf dem Wege, und wenn sie einmal schnell irgendwohin mußte, um für den kranken Vater eine Arznei zu holen oder beim Krämer etwas einzukaufen, schaute sie weder nach links noch nach rechts, sondern lief meist mit schnellen Schritten wieder heimzu. Je länger er über die Möglichkeit nachdachte, sich Kathrin zu nähern, desto weniger fiel ihm ein gescheiter Gedanke ein. So saß er wieder einmal abends beim Wirt in Bufels und brütete vor sich hin. Einer seiner Zechkumpane sagte plötzlich: „Ich möchte nur wissen, was es zwischen deinem buckligen Bruder und der Kathrin gegeben hat. Früher hat man sie oft beisammen gesehen, aber seit ein paar Wochen zeigt sich der bucklige Kilian fast nie mehr im Dorf. Die Kathrin hat schon ihre ganze Farbe verloren, vor lauter Verdruß und weint sich nach ihm die Augen aus. Weißt du nichts, Romed?“ Romed tat so, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an. „Was kümmert's mich, was mein buckliger Herr Bruder
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mit seiner Prinzessin hat? Das ist nichts für mich. Wo mit Kranz und Schleier und goldenem Ring geliebäugelt wird, ist für mich nichts zu holen“, brummte er mißmutig. Innerlich aber frohlockte er. Natürlich, das war der einzige Weg, zu Kathrin zu gelangen und sie in seine Gewalt zu bekommen. Er mußte sie mit einer Botschaft seines Bruders an einen Ort bringen, an welchem sie allein waren. Dann konnte sie schreien, soviel sie wollte, dann würde sie ihm nicht mehr entkommen können. Was am nächsten liegt, findet man meistens am schwersten. Auf eine Einladung seines Bruders würde der Vogel sicher ins Netz gehen. Das Weitere wird man dann ja sehen. Vergnügt trank Romed noch ein paar Viertel Kalterer See und goß noch ein paar Schnäpse nach. In seinen Gedanken sah er sich schon am Ziel seiner Wünsche, und das machte ihn ganz toll. Am liebsten wäre er gleich noch in der Nacht zu Kathrin gelaufen und hätte ihr eine Botschaft von Kilian überbracht. Aber das war zu gefährlich, das hätte sie ihm gar nicht geglaubt, das mußte man fein anpacken, wenn der Plan gelingen wollte. So ließ er sich ein paar Tage Zeit, während der er meistens um das kleine Häuschen strich, das der Malbesonervater mit seiner Tochter bewohnte. Am Hofe selbst war er in diesen Tagen fast nie zu sehen. Aber weder sein Vater Vitus noch sein Bruder Kilian vermißte ihn, und beide waren froh, wenn sie ihn am Hofe nicht sahen. Nur Stasi, die Bäuerin, raunzte und greinte vor sich hin, wo nur der arme Bub die ganze Zeit über wieder stecken konnte. Sie jammerte, daß Romed so gar keine Zeit für sie habe, wo sie ihm doch den Aufenthalt am Hofe ermöglicht habe. Aber Romed kümmerte das wenig. Sein ganzes Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, wie er zu Kathrin kommen konnte. Er hatte keinen anderen Gedanken mehr. Aber, als ob sich alles gegen ihn verschworen hätte, er
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fand zunächst keine Gelegenheit, Kathrin zu begegnen. Ihrem alten Vater ging es wieder schlechter, und so konnte sie fast nie vom Hause fortgehen und das Krankenbett verlassen. Was sollte sie auch schließlich fortgehen? Der einzige Mensch, dem sie hätte begegnen wollen, nämlich Kilian, ließ sich bei ihr nicht mehr sehen, sondern wich ihr im Gegenteil aus, wo er konnte, und alle anderen Menschen waren ihr gleichgültig. Der Gedanke an Kilian beschäftigte sie allerdings mehr denn je. Sie hätte sich selbst am liebsten ohrfeigen können, daß sie damals ein so dummes Ding gewesen war und ihm eine so dumme Antwort gegeben hatte, die Kilian so beleidigen und so tief treffen konnte, daß er sie einfach nicht mehr ansah. Nein, das war von ihm auch wieder nicht schön und nicht recht. Mein Gott, es begeht öfter einmal ein Mensch einen Fehler; wegen eines Fehlers ist noch nie die Welt zusammengestürzt, und es ist genau so Tag und Nacht geworden wie früher und wie später. Kilian könnte auch ein bißchen vernünftiger sein, dieser Dickkopf, dieser grausliche! Einmal würde sie ihm ja doch begegnen, und dann würde es auch zwischen ihr und ihm so werden wie früher – oder nein, nicht wie früher, sondern tausendmal schöner. Dann würde sie seine Frau werden und mit ihm in ihrem Vaterhaus leben. Und sie würde ihm Kinder schenken und – ach, es war ja gar nicht auszudenken, wie schön dies alles werden würde, wenn nur dieser liebe, dumme Dickkopf von einem Kilian sich einmal blicken ließe. Wenn sie einmal mit ihm beisammen war, war ihr nicht mehr bange, denn sie wußte, daß sie auf Kilian einen großen Einfluß hatte, auch heute noch, und diesen Einfluß wollte sie auch ganz ausnützen. Ja, wenn sie ihn nur einmal treffen könnte. Heute dachte sie ganz besonders an ihren Kilian. Vater
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war eingeschlafen und sie saß mit dem Flickzeug neben seinem Bett und die Stricknadeln glitten mechanisch durch ihre Finger. Aber ihre Gedanken waren nicht bei der Stric??kerei, die gingen ganz andere Wege, und natürlich konnten sie nirgends anders hingehen als zum Malbesonerhof hinauf und zu Kilian. Was er wohl jetzt machte? Ob er noch so böse auf sie war? Ein schmerzlich-süßes Lächeln glitt über ihre schönen Züge. Der dumme Kilian! Wenn er nur eine kleine Ahnung davon hätte, wie lieb sie ihn hatte, und wie sie sich ihn so herbeisehnte, um ihm das alles sagen zu können und um ihn von ihrer Liebe zu überzeugen! Sie würde ihn einfach um den Hals nehmen und ihn nicht mehr loslassen, bis er sie geheiratet hatte. Daß doch die Männer alle so begriffstutzig und so hölzern in Sachen der Liebe sein können? Da waren die Frauen doch anders. Die Frauen wußten doch sofort, ob ein Mann es mit ihnen ernst meinte oder ob sie nur ein Spielzeug für die Männer abgeben sollten. Aber – ausgerechnet sie, die Kathrin, hatte gar keine Ursache, an so etwas zu denken. Hatte nicht gerade sie selbst in diesem Falle die ganze Schuld auf sich geladen, hatte nicht sie selbst den Kilian vertrieben? Am liebsten hätte sie geheult. Freilich hatte sie selbst Schuld an all diesen Unstimmigkeiten und Zweifeln und Mißverständnissen, sie, sie ganz allein! Sie hielt es im Zimmer nicht mehr aus. Sie mußte wenigstens für einen Augenblick hinaus in die freie Luft. Schnell warf sie noch einen Blick auf den Vater, der friedlich schlief. Dann nahm sie sich ein Tuch um und ging durch die Gartentür hinaus auf die Straße. Plötzlich war ihr so eigen zumute, als ob sich in der nächsten Minute etwas mit ihr ereignete, wovon sie nichts wußte. Sollte am Ende Kilian…? Nein, Kilian war es nicht, wie sie im stillen schon gehofft
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hatte, sondern sein Bruder Romed war es, der sie ansprach. Sie mochte Romed nicht leiden, denn sie hatte schon zuviel Schlechtes von ihm gehört, wenn sie auch noch nie mit ihm selbst gesprochen hatte. Er war als Wirtshausgeher und Raufbold bekannt, und es tat ihr leid, daß dieser Bursche auf dem Malbesonerhof lebte. Dieser schöne Hof war zu schade für diesen Menschen, der das ganze Gegenteil von seinem Bruder war, frech und vorlaut, zu allen Raufhändeln bereit und ein Schürzenjäger, vor dem kein Mädchen sicher war. Sie wunderte sich, daß er sie ansprach, aber als er ihr Grüße von seinem Bruder Kilian überbrachte, vergaß sie alles andere. Kilian erinnerte sich also doch noch ihrer, frohlockte sie in ihrem Innern, und mit einem Male schien ihr die Welt wieder schöner geworden zu sein. „Aber warum kommt er denn nicht selber, der Kilian?“ fragte sie doch noch etwas mißtrauisch. „Er hat keine Zeit, der Kilian, und außerdem möchte er etwas mit dir besprechen, was sonst niemand hören soll.“ „Hat er es sich endlich anders überlegt?“ Romed wußte nicht, was er sagen sollte, aber er hielt es für das Beste, so zu tun, als ob er alles wüßte, und antwortete kurz: „Es scheint so, und er läßt dir sagen, wenn du Interesse daran hast, daß alles wieder gut wird, möchtest du ihn morgen abends beim Hohlweg erwarten. So um sieben Uhr abends wird er dort sein.“ „Sag ihm einen schönen Gruß, dem Kilian, und es freut mich, daß er endlich Vernunft angenommen und meine ungeschickte Antwort von damals vergessen will. Aber sag ihm auch, daß er pünktlich sein soll, weil ich nicht lange von meinem kranken Vater fortbleiben kann.“ Kathrin gab Romed die Hand und eilte in das Haus zurück. Sie sah den stechenden Blick Romeds nicht mehr,
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den er ihr nachsandte… Also soll doch noch alles gut werden, jubelte sie in ihrem Herzen. Kilian, Kilian, wie hab' ich dich lieb, du dummer, lieber Mensch, du, das werde ich dir nie vergessen. Sie konnte lange nicht einschlafen vor lauter Freude und Glück. Romed wandte sich ab und ging in das Wirtshaus. Dort begann er schon in der Vorfreude auf den morgigen Abend wüst zu trinken, und er brachte die Rede immer wieder auf die Kathrin. Ja, die Kathrin wäre halt eine zum Heiraten. Das wäre die Richtige, nicht so eine wie die anderen, die gleich das Kammerfenster aufmachten und jeden einließen, der nur wollte. Vor der müßte man den Hut abnehmen, vor der Kathrin. Eine Weile hörten sich die anderen Burschen diese aufreizenden Reden des Romed an, aber schließlich wurde es ihnen doch zu bunt, als er die Mädchen immer wieder angriff und sie in einer Art und Weise in den Schmutz zog, daß ein anständiger Mensch schon nicht mehr zuhören konnte. Einer der Burschen hieb mit der Faust auf den Tisch und schrie ihn an: „Jetzt haltest aber einmal dein Schandmaul, dein wüstes. Tust gerade so, als ob unsere Dirndln alle Huren wären.“ Romed hatte schon zuviel Wein getrunken, als daß er den warnenden, zornigen Ton des anderen gehört hätte. So brüllte er dagegen: „Ist eh nicht viel anders mit wenigen Ausnahmen…“ Weiter kam er nicht. Die Röcke flogen nur so und im Nu war eine regelrechte Prügelei im Gange. Das ließen sich die Burschen von der Seiseralm doch nicht gefallen, daß Romed, dieser hergelaufene Bursche, ihre Dirndln so beschimpfte. Sie richteten ihn bös her, denn Bauernfäuste sind nicht sanft wie Mädchenhände, und Glacehandschuhe
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tragen die Bauern beim Raufen auch nicht. Schließlich warfen sie ihn noch durch das Fenster auf die Straße. Romed kochte vor Zorn. „Bande, schäbige“, fluchte er, „euch zahle ich es schon noch einmal heim, aber das sollt ihr mir büßen, und jetzt hole ich mir die Kathrin erst recht, damit ihr seht, was eure Dirndln wert sind!“ Zwei Menschen fieberten am nächsten Tage dem Abend entgegen. Kathrin, die sich danach sehnte, endlich mit Kilian zu einer Aussprache zu kommen, in deren Verlauf sich alles klären sollte, was in den letzten Wochen zwischen ihr und Kilian Trennendes gewesen war, und Romed, der schon den ganzen Tag über so fahrig und zerstreut war, daß sogar Kilian sein verstörtes Wesen auffiel. Er sagte zwar nichts zu seinem Bruder, denn er vermied es, mit ihm zu sprechen, außer es war etwas wegen der Arbeit, was unbedingt besprochen werden mußte. Wenn Kilian im stillen gehofft hatte, Romed werde sich bessern, wenn er wieder bei der Familie war, so hatte er sich gründlich getäuscht. Im Gegenteil, Romed war nicht nur der alte Taugenichts und Tunichtgut geblieben, er war noch viel schlechter geworden. Er war zum Säufer geworden und man mußte sich eigentlich so eines Bruders schämen. Mit jedem Tage fühlte Kilian mehr, wie recht der Vater gehabt hatte, als er damals seinem Bruder die Türe gewiesen. Wie ruhig war es auf dem Hofe gewesen, als Romed noch nicht da war. Und jetzt? Der Vater ging finster umher und entfernte sich, wenn Romed nur in der Nähe war. Täglich bekam es Kilian von seinem Väter zu hören, was für ein Mensch Romed war. Es tat ihm leid, daß er seinen Vater gebeten hatte, Romed im Hause zu lassen. Aber dann dachte er wieder an seine Mutter, und fast mit Rührung und nun auch mit etwas Bitterkeit sah er, wie das alte Weiblein an ihrem mißratenen
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Sohn hing, der es ihr gar nicht dankte. Daß Romed diese Anhänglichkeit gar nicht berührte und er sich um seine Mutter gar nicht im mindesten kümmerte, war für die alte Frau um so tragischer, aber sie schien es nicht zu bemerken, daß ihr Sohn sie nur als lästig empfand. Aber Kilian, den seine Mutter doch nie gemocht hatte, nahm sich ihrer an und versuchte sie zu trösten, wenn Romed sich tagelang bei ihr nicht blicken ließ. Nicht nur, daß er von seiner Mutter keinen Dank hatte dafür, sondern sie beachtete ihn einfach nicht oder beschimpfte ihn sogar. Das tat ihm zwar bis ins Herz hinein weh, aber dennoch achtete und liebte er seine Mutter. Es waren bittere Wochen, die sie am Malbesonerhof verlebten, seit Romed da war. Gegen Abend verschwand Romed wie immer. Kilian hatte ihn den ganzen Tag über beobachtet und war zu dem Schlüsse gekommen, daß sein Bruder heute etwas ganz Besonderes vorhaben müsse. Es war besser, ihn heute nicht aus den Augen zu verlieren. Aber plötzlich war Romed verschwunden, ehe Kilian es noch gesehen hatte. Am Abend kam sein Nachbar, der Dialer Lorenz, zu ihm. Es kam sonst nie vor, daß ein Besuch auf den Malbesonerhof kam. Um so erstaunter war Kilian, als sein Nachbar ihn bat, mit ihm vor das Haus zu gehen, er müsse ihm etwas sagen. „Weißt du, es geht mich ja eigentlich nichts an, aber ich weiß, daß die Kathrin sich nach dir die Augen ausweint. Gestern abend im Wirtshaus, noch ehe die Rauferei mit deinem Bruder begonnen hat, da hat dein Bruder über Kathrin so eigene Reden geführt, daß wir uns alle gewundert haben. Du kennst ja deinen Bruder besser und weißt, was er für ein Lump ist. Da hab' ich halt gemeint, du sollst auf ihn ein wenig aufpassen, damit der Kathrin nichts zustößt. Es wäre schade um sie, denn die Kathrin ist das anständigste Dirndl im ganzen Dorf.“
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„Was soll ihr denn zustoßen?“ fragte Kilian verhalten. „Nimm es mir nicht übel, Kilian, aber ich mein's dir gut, ich hab' Angst um Kathrin.“ „Ich dank' dir schön, Lorenz, wenn's nicht mein Bruder war', müßte ich über deine Rede lachen. Aber so – schämen muß man sich, daß man so einen Bruder hat.“ „Vor einer halben Stunde habe ich ihn gegen den Hohlweg hinabgehen gesehen.“ Kilian nahm sich nicht einmal mehr Zeit, seinem Nachbarn etwas zu erwidern, sondern sprang in langen Sätzen den Weg abwärts. „Möcht kein Mensch glauben, daß das zwei Brüder sind“, murmelte Lorenz und ging langsam den Weg zu seinem Haus zurück. Als Kilian zum Walde kam, hörte er verzweifelte Schreie, die immer schwächer und schwächer wurden und in ein Weinen und Wimmern übergingen. Wenn Kilian nicht Kathrins Stimme schon von weitem gekannt hätte, so hätte sein Innerstes ihm gesagt, daß es nur Kathrin sein konnte, der da Leid angetan wurde, und er beschleunigte seinen Lauf. Als er zur Stelle kam, woher der Lärm gekommen war, war ihm, als erstarre sein Blut zu Eis. Er wußte, daß sein Bruder ein Lump und ein Gauner war, aber was er hier sah, ließ ihn im ersten Augenblicke alles vergessen. Kathrin lag am Boden und über ihr lag Romed und hielt ihr mit der Hand den Mund zu und mit der anderen umschloß er ihren Hals. „Jetzt schrei, du Wilde, wenn du kannst“, verhöhnte er sie, die sich unter ihm in wilden Schmerzen wand. Kilian warf sich, ohne sich zu besinnen, auf seinen Bruder, riß ihn von Kathrin weg und drehte ihn um; seine Hände umspannten die Hände seines Bruders, damit dieser sich nicht rühren konnte.
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„Du Schuft, du elender! Eigentlich sollte ich dich erwürgen. Aber du bist es nicht wert, wegen dir ins Zuchthaus zu kommen.“ Vor lauter Zorn schüttelte er den am Boden Liegenden derart, daß der andere ganz blau im Gesichte wurde. „Hör auf, du bringst mich ja noch um“, bettelte er. „Es gebührte dir auch nichts anderes, du Lump du“, schrie ihm Kilian ins Gesicht. Dann aber sah er Kathrin hilflos daliegen und bitterlich weinen. Er ließ von Romed ab. Dieser erhob sich und sagte höhnisch zu Kilian: „Nun kannst du deine Braut heiraten, ich habe nichts mehr dagegen.“ „Wir werden noch darüber sprechen, was dieses gemeine Verbrechen für dich für Folgen haben wird. Jetzt verschwinde auf der Stelle, sonst gibt es noch ein Unglück.“ Romed lachte häßlich. „Mein Herr Bruder droht, da schau her. Ich mache dich nur darauf aufmerksam, daß schon einmal wegen einer Dirn ein Hof abgebrannt ist. Ich möchte dir daher raten, vorsichtiger zu sein. Du weißt, daß ich keinen Spaß verstehe,“ Mit diesen Worten und einem höhnischen, zynischen Auflachen ging Romed und ließ die beiden allein zurück. Kilian bemühte sich um Kathrin, die noch immer haltlos weinte. Er brauchte nicht lange zu fragen, was geschehen war, es war allzu deutlich gewesen. Als er Kathrin aufheben wollte, wehrte sie ab und stieß ihn zurück. „Rühr mich nicht an, Kilian, ich ekle mich vor mir selber. Ich habe nur noch einen Wunsch, da liegen zu bleiben und auf der Stelle zu sterben. Ich will, ich kann nicht mehr weiterleben nach dem Schrecklichen, was dein Bruder mir angetan hat.“ „Nein, Kathrin, du darfst nicht sterben. Es ist ja auch
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meine Schuld. Hätte ich besser auf dich aufgepaßt, wäre es nie so weit kommen. Und dann ist ja auch noch dein Vater da, der braucht dich in erster Linie. Komm, jetzt bringe ich dich nach Hause und dann können wir weiter überlegen, was zu tun ist.“ Kathrin wehrte sich nicht mehr, als Kilian sie mit unendlicher Sorgfalt aufhob und sie heimbegleitete. Er hatte den Arm um sie geschlungen und führte sie den finsteren Weg abwärts. Noch immer schüttelte ein Beben und Zittern ihren Körper, und verhaltenes Schluchzen durchdrang sie. Vor ihrem Hause blieben sie stehen. „Du mußt jetzt ruhiger werden, damit dein Vater nichts merkt. Geh jetzt hinauf und schau, ob er schläft, und dann kommst du in den Garten und wir werden alles miteinander besprechen.“ Kathrin kam nach kurzer Zeit wieder herab und setzte sich neben Kilian im Garten auf die Bank und lehnte sich an ihn. Stockend erzählte sie ihm auf seine Fragen, wie alles gekommen war, wie sie so sehr auf ihn gewartet habe, Tag und Nacht, und mit ihm sprechen wollte, und er nicht gekommen oder ihr immer ausgewichen sei, wenn sie ihn auch nur von weitem gesehen habe. Wie Romed ihr gestern Botschaft von ihm gebracht, daß er, Kilian, sie heute beim Hohlweg erwarte und sie Romed in diese Falle gegangen sei, und Romed sich dann wie ein wildes Tier über sie gestürzt habe. Wieder schüttelte ein Schluchzen ihren zarten Körper. Kilian ließ sie ruhig ausweinen und fuhr beruhigend über ihr braunes Haar. Erst nach einer Zeit, als sie sich etwas beruhigt hatte, sprach er besänftigend auf sie ein: „Schau, Kathrin, du darfst auch daran nicht zerbrechen. Du hast Pflichten gegen deinen Vater, gegen dich und, wenn ein Kind kommen sollte, in erster Linie gegen das-
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selbe. Ich werde dafür sorgen, daß mein Bruder dir deine Ehre wieder zurückgibt. Er muß und er wird dich heiraten. Ich habe ihn in der Hand. Einmal hat er schon unseren Hof angezündet, ein zweites Mal wird er es nicht mehr wagen, etwas gegen uns zu tun, denn dann ist es aus mit ihm, das weiß er selbst ganz genau. Ich würde keinen Augenblick zögern, ihn den Carabinieri zu übergeben, wenn du nicht wärst. Romed muß dir Genugtuung geben. Du kommst zu uns auf den Hof, und ich werde dann über dich wachen, daß er dir nichts mehr antun kann.“ Sie sprachen noch lange in dieser Nacht mitsammen. Eigentlich sprach ja nur Kilian, und Kathrin warf nur hin und wieder ein Wort dazwischen. „Und wenn es mich den Hof kosten solle, Romed muß dich heiraten, dafür werde ich sorgen.“ „Aber es wird die Hölle auf dieser Welt. In einer Ehe mit Romed gehe ich zugrunde. Hab Erbarmen mit mir, Kilian, laß mich nicht allein.“ „Ich werde dich nie allein lassen, Kathrin, aber Ordnung muß sein, und unsere Kirche verlangt in diesen Fällen unbedingt die Ehe. Es gibt Gesetze, die nicht von Menschen gemacht wurden, sondern von Gott. Und diesen ewigen Gesetzen müssen wir uns beugen, Kathrin, du, Romed und auch ich. Ich habe dich überaus lieb, Kathrin, und ich hätte mein ganzes Leben darum gegeben, wenn du mich geheiratet hättest. Aber an jenem Sonntag, an welchem du mir die Antwort auf meine Frage gegeben hast, bin ich zur Einsicht gekommen, daß du recht hast. Ein Krüppel, wie ich einer bin, soll und darf nicht heiraten, wegen der Kinder nicht, die eventuell als Krüppel auf die Welt kommen könnten, aber auch sonst nicht. Ein Krüppel ist für die anderen Menschen nur eine Last. Es ist bitter und es ist ein langer Weg, bis man zur Einsicht kommt, daß die Freuden des Lebens nur für andere Menschen da sind, während man
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selbst in einer dunklen Ecke stehen muß und höchstens zuschauen darf, wie andere Leute glücklich sind.“ Kathrin warf sich schluchzend an seine Brust. „Ach, Kilian, warum müssen gerade wir zwei so ein grausames Schicksal tragen?“ Kilian nahm ihre kleine Hand, die noch immer zitterte. „Ich habe einmal einen Lehrer gehabt, Nikolaus Watschinger hat er geheißen, und der sagte mir: ‚Keinem Menschen wird vom Herrgott mehr auferlegt, als er tragen kann.’ Wir müssen unser Schicksal tragen, Kathrin, und es gehört nur gegenseitiges Vertrauen und ein eisern harter Wille dazu, dann werden wir beide das leichter tragen, was das Schicksal uns auferlegt. Ich werde dich nie verlassen, Kathrin, komme was wolle. Und ich werde dich zu schützen wissen, wenn Romed sich an dir noch einmal vergreifen sollte. Jetzt geh schlafen. Es ist ein bißchen viel auf einmal für dich gewesen, heute abend.“ Am nächsten Tage hatte Kilian zwei Unterredungen, und zwar die eine mit seinem Bruder Romed und die zweite mit seinem Vater Vitus. Die Unterredung mit Romed war kurz. „Du weißt, was gestern vorgefallen ist, und du wirst deine Folgerungen ziehen. Du weißt auch, daß auf Vergewaltigung Zuchthaus steht. Du wirst also Kathrin heiraten oder ich werde gegen dich heute noch die Anzeige machen.“ Romed lachte höhnisch. „Spiel dich nicht so auf, du Krüppel. Du verstehst es freilich nicht, daß ein Weib wie Kathrin einen Mann ganz närrisch macht. Du hast's ja in dieser Beziehung besser. Du bist ja kein Mann.“ „Ob ich ein Mann bin oder nicht, ist hier nicht die Hauptsache, sondern ganz etwas anderes. Du hast Kathrin überfallen, du hast ihr vorgelogen, daß ich sie erwarte, damit
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sie dir folgt, und hast sie in Schande gebracht. Und es ist jetzt deine Pflicht, sie zu heiraten.“ „Die Kathrin würde sich schön bedanken, so einen hergelaufenen Bauernknecht wie mich, der nichts ist und nichts hat, zu heiraten. Die Kathrin will auch höher hinaus, als die Frau eines armen Bauernknechtes zu werden.“ „Du bekommst den Hof, wenn du die Kathrin heiratest, dann wirst du kein Knecht mehr sein. Ich verzichte auf mein Recht zu deinen Gunsten, sobald du Kathrin geheiratet hast. Das bin ich der Kathrin schuldig, die auch wegen mir in deine erbärmliche Falle gegangen ist.“ Romeds Augen bekamen einen eigenen Glanz. Die nackte Gier schaute aus seinen Blicken, und ein innerer Triumph durchzitterte ihn. Also ging die Rechnung doch auf, die er sich ausgedacht, und er hatte doch richtig gehandelt, vor allem seinen Bruder richtig eingeschätzt. Sein Plan erfüllte sich schneller, als er gedacht hatte. Mehr hatte er nicht erreichen wollen, als den Hof zu bekommen, die Kathrin nahm er als angenehme Zugabe dazu. Sie war schon verteufelt hübsch, die Kathrin, und gewehrt hatte sie sich wie der Teufel, als er sie genommen hatte. Wie mußte das erst sein, wenn er sie gezähmt hatte und sie ihm folgen mußte, wann und wo immer er wollte… Darüber, daß es ein Verbrechen gewesen, was er an Kathrin begangen hatte, sowohl moralisch als auch gesetzlich, machte er sich nicht eine Sekunde lang Gedanken. Sein oberster Grundsatz war, der Zweck heiligt die Mittel, und im übrigen waren die Frauen da, um den Männern gefällig zu sein… Langsam drehte sich Romed seinem Bruder zu. „Ja, wenn das so ist, daß ich den Hof bekomme, dann bekommt die ganz Geschichte gleich ein ganz anderes Gesicht. Dann brauche ich ja nicht mit leeren Händen zu Kathrin zu kommen, und sie wird auch lieber einen Bauern
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heiraten als einen Knecht. Aber wird sie mich wollen? Mir scheint, ich habe sie gestern ein bißchen zu fest angepackt. Aber sonst wäre ich ja nie dazu gekommen, Kathrin zu beweisen, wie gern ich sie habe. Jetzt weiß sie es wenigstens und weiß auch, was sie bekommt, wenn sie mich heiratet. Nur der Vater wird nicht recht erfreut sein darüber, und wir handeln eigentlich schon über etwas, was noch gar nicht uns gehört, weder dir noch mir, sondern noch ist immer der Väter der Bauer, und bei seiner ‚großen Lieb’ zu mir zweifle ich, ob er überhaupt damit einverstanden ist, daß er mir den Hof übergibt.“ Wieder kam etwas Lauerndes in Romeds Züge. Kilian dachte sich, sein Bruder schaue in diesem Augenblicke gerade aus wie ein wildes Raubtier, das seine Beute anschleicht. Es widerte ihn an, noch länger mit dem Bruder zu sprechen. Nur die Kathrin tat ihm leid, aber nun war es eben schon so weit, daß keiner von den Dreien mehr zurückkonnte. So antwortete er kurz seinem Bruder: „Mit dem Vater spreche schon ich. Das laß meine Sorge sein. Du mußt und wirst Kathrin heiraten. Aber – wenn du sie nicht gut behandelst, dann bekommst du es mit mir zu tun, und es könnte sein, daß ich dir in diesem Falle beweise, daß auch ich ein Mann bin, der zuschlagen kann, wenn es nottut.“ Damit ging er, weil er die Gegenwart Romeds nicht mehr ertragen konnte. Es war eine ungeheure Zumutung für Kathrin, ihren Verführer zu heiraten. Immer mußte ja dieses furchtbare Bild vor ihren Augen aufstehen und nie würde sie das vergessen können, daß ihr Mann es gewesen war, der sie mit Gewalt zu seiner Frau gemacht hatte. Bedeutend schwieriger gestaltete sich die Aussprache mit dem Vater. Zuerst wies er jedes Ansinnen Kilians einfach rundweg ab. „Es fällt mir nicht im Traum ein, Romed den Hof zu ge-
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ben, eher zünde ich ihn selber an“, war die kurze Antwort des Bauern. „Schau, Vater, du darfst nicht glauben, daß ich dich nicht verstehe. Aber du mußt auch mich verstehen. Es geht ja nicht um mich, sondern es geht in erster Linie um Kathrin. Wenn ihr Vater stirbt, dann ist sie ganz allein auf der Welt. Kathrin möchte in ihre alte Heimat hier heroben, auf den Malbesonerhof zurückkehren und ihr Glück ist auch meines, ihre Sehnsucht ist auch meine Sehnsucht und ihr Leid ist auch mein Leid.“ „Warum heiratest du sie dann nicht selbst? Wenn dir schon so viel daran gelegen ist, daß Kathrin zu uns kommt, dann heirate sie in Gottes Namen, und dir gebe ich sofort den Hof, aber dem Romed nie und unter keinen Umständen. Tät' nicht lang dauern und wir könnten alle betteln gehen. Nein, Kilian, du weißt, daß du der einzige Mensch bist, der mir auf der ganzen Welt nahesteht, und daß ich dir jeden Wunsch erfülle, aber gerade diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen, es wäre ein Selbstmord.“ „Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, daß wir betteln gehen müßten. Ich habe schon darüber mit jemandem gesprochen. Du behältst dir das Fruchtgenußrecht, solange du lebst, das zu deinen Gunsten im Grundbuche eingetragen wird, und außerdem muß sich Romed verpflichten, den Hof weder mit Hypotheken zu belasten noch zu veräußern, sondern der Hof geht nach seinem Tode entweder auf seine Frau oder, wenn Kinder vorhanden sind, auf die Kinder über. So kann Romed nichts zu unserem und nichts zum Schaden seiner Frau oder seiner Kinder machen. Du fragst mich, Vater, warum ich nicht selbst Kathrin heirate. Ich würde es sofort tun, wenn ich ein gesunder Mensch mit geraden Gliedern wäre. Aber so als Krüppel kann ich es nicht, so leid es mir auch tut. Ich wollte sie schon einmal fragen. Aber da haben wir vorher über
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Kinder gesprochen. Die Kathrin hat Angst, daß die Kinder so werden könnten wie ich. Da hab' ich einsehen müssen, daß Menschen wie ich nicht heiraten dürfen. Wenn Kathrin ein Kind bekommt, soll es auch unseren ehrlichen Namen tragen.“ Vitus horchte auf. „Ein Kind? Wieso soll Kathrin ein Kind bekommen und von wem?“ Kilian schilderte seinem Vater kurz in wenigen Worten, was geschehen war, und versuchte dabei so viel wie möglich zu verdecken, denn er schämte sich für seinen Bruder, und alles Leid, das er gestern erlebt und durchlebt hatte, stieg wieder vor seinen Augen auf. Er sah die weinende Kathrin und den höhnisch grinsenden Romed, er sah die Szene, wie er seinen Bruder von Kathrin weggerissen hatte, und er erlebte noch einmal den inneren Kampf, der in seinem Herzen tobte und der schließlich zu seinem endgültigen Verzicht geführt hatte. Vitus Lanzinger hatte schweigend zugehört. Nur manchmal hatte er mit den Zähnen geknirscht und die Hände zu Fäusten geballt, so daß die Knochen ganz weiß hervortraten. Er sagte lange nichts, auch als Kilian seine Schilderung schon lange beendet hatte. Es war, als müsse er erst einen Halt suchen, um aus diesem schmutzigen Sumpf herauszukommen. Endlich aber riß er sich zusammen. Auch Vitus war ein Mann von streng religiösen Anschauungen und alten Ehrbegriffen. Für ihn gab es auch nur die eine Lösung: Romed mußte seine Untat wenigstens nach außen hin gutmachen und Kathrin die Ehre wiedergeben, die er ihr geraubt hatte. „Wenn es so ist, wie du mir erzählt hast, Kilian, und ich weiß, daß jedes Wort wahr ist, das du gesprochen hast, dann will ich dir deinen Willen tun. Aber ich werde den Romed schon so binden, daß er den Hof nicht verludern
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lassen kann. Das Heft behalte ich in der Hand, solange ich lebe, und noch darüber hinaus werde ich für Kathrin und die Kinder sorgen, wenn solche kommen sollten. Zuerst muß aber Romed die Kathrin heiraten, ehe der Vertrag abgeschlossen wird.“ Romed hatte sich zwar das alles ganz anders vorgestellt. Er hatte geglaubt, wenn er den Hof bekam, schalten und walten zu können nach seinem Willen und Gutdünken. Aber schließlich gab er sich auch mit dieser Lösung zufrieden, weil er einsehen mußte, daß er nicht mehr erreichen konnte. Der Vater wird auch nicht ewig leben, dachte er sich, und dann konnte man immer noch weitersehen. Daran, daß er mit der Ehe auch Pflichten gegen seine zukünftige Familie übernehmen müsse, dachte er nicht.
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Einige Jahre waren inzwischen über die Seiseralm gegangen, Sommer und Winter, Herbst und Frühling, Blütenpracht und der weiße Mantel des Winters hatten sich in ewig gleicher Reihenfolge abgelöst. Auf dem Malbesonerhof tummelten sich zwei Buben, Vitus, der ältere, ging nun schon in sein drittes Lebensjahr, und Valentin, der jüngere, versuchte auch schon, über die Wiesen vor dem Haus zu laufen, und wenn er einmal hinfiel, dann lachte er nur, oder wenn er sich weh getan hatte und ein mörderisches Geheul ausstieß, so eilten entweder sein älteres Brüderchen oder sein Onkel, der bucklige Kilian, oder wenn er gerade in der Nähe war, wohl auch der Großvater Vitus herbei, um den kleinen Knirps aufzuheben und ihn zu trösten. Auch seine Großmutter, die alte Stasi, wollte manchmal helfen, denn sie hatte diese beiden Kin-
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der, die ja Romeds Kinder waren, in ihr Herz geschlossen. Aber die zwei Buben liefen davon, wenn sie die Großmutter von weitem sahen, denn sie fürchteten sich vor dem alten Weiblein genau so wie vor ihrem Vater, der aber die meiste Zeit nicht im Hause war. Romed hatte sich trotz seiner Ehe nicht verändert; er war derselbe Trinker und Spieler geblieben und kümmerte sich weder um den Hof noch um seine Frau, die Kathrin, noch um seine zwei Buben. Wenn Kilian und der alte Bauer nicht gewesen wären, wäre der Hof wohl schon lange versteigert worden. Da Romed tagelang in der Stadt weilte und sich um die Bauernarbeit überhaupt nicht kümmerte, mußten eben Kilian und der alte Bauer noch die Arbeit machen. Romed hatte, um mehr Gelegenheit zu haben, in die Stadt zu kommen, einen Viehhandel angefangen, und das gab ihm die beste Gelegenheit, vom Hofe einfach wegzubleiben. Wenn er dann heimkam, war er entweder betrunken und schrie auf dem Hofe herum, daß sich die Kinder in einen Winkel verkrochen und zu weinen anfingen, was Romed dann noch mehr in Wut brachte, oder er war mürrisch und unverträglich. Meistens hatte er dann kein Geld und schimpfte auf die Lotterwirtschaft im Hause, die nichts abwerfe. Kathrin ertrug dies alles mit einer Engelsgeduld. Sie hatte Romed geheiratet, weil er ihr die Ehre wiederhergestellt, und sie hatte ihr Los auf sich genommen, mochte es auch noch so schwer sein. Sie wußte den Menschen in ihrer Nähe, dem ihr Herz gehörte und der sie nie im Stiche lassen würde, was auch kommen mochte. Aber zwischen ihr und Kilian wurde nie ein Wort von Liebe gesprochen. Sie verstanden sich auch ohne viele Worte. Wenn Romed in seinem Rausche sie beschimpfte und ihr vorwarf, daß sie ihn eingefangen habe, nur um wieder auf den Hof zu kommen, so schwieg sie dazu. Was
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sollte sie auch sagen? Daß es gerade umgekehrt gewesen war, hatte Romed schon längst vergessen und mit der Wahrheit hatte er es nie genau genommen. Nur wenn er in seinem Rausche sogar seinen Bruder verdächtigte, daß er mit Kathrin eine unerlaubte Liebschaft habe, dann ging sie aus der Stube. Es war unter ihrer Frauenwürde, auf solche Anschuldigungen etwas zu erwidern. Eines Abends stürmte Romed mit hochrotem Kopf in die Stube und fing gleich in den wüstesten Tönen zu schreien an. Nun habe er endlich die Beweise, daß sie ihn mit Kilian, dem buckligen Duckmäuser, betrüge, man habe sie im Wald mitsammen gesehen. Aber das vertrage er nicht, er lasse sich nicht zum Gespött der ganzen Leute machen und wenn es so weitergehe, werde er sie und Kilian umbringen. Der alte Bauer, der auch in der Stube war, hatte eine Weile zugehört, dann stand er auf und gab seinem Sohne eine Ohrfeige, ehe Kathrin es verhindern konnte. Romed war so überrascht, daß er kein Wort herausbrachte. „Du Schandmaul, du besoffenes, wenn du noch ein Wort sagst, werfe ich dich endgültig hinaus. Solange ich am Hofe etwas zu schaffen habe, werde ich auch für die Ordnung im Hause sorgen. Hier sind anständige Leute und nicht so ein Zigeunervolk, mit dem du sonst meistens verkehrst.“ Romed sprang auf und wollte sich schon auf seinen Vater in seiner Wut stürzen, aber Kilian warf sich dazwischen. „Rühr den Vater nicht an! Wenn du etwas willst, dann mach es mit mir aus!“ Romed lachte häßlich auf. „Was soll ich denn mit dir, du Krüppel? Geh mir aus dem Weg, sonst könnte es leicht sein, daß ich mich noch an dir vergreife. Ich werde auch diesen Abend nicht vergessen, weder dem Vater, noch dir. Einmal wird schon der Zahltag für euch beide kommen.“
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Mit diesen Worten stürzte er aus der Stube und lief in die Nacht hinein. Die Eifersucht hatte sich wie ein giftiger Wurm in seine Brust gefressen. Wenn ihm auch die Kathrin im Grunde genommen gleichgültig war und er sein Vergnügen bei anderen Frauen und Mädchen genoß, so machte es ihn doch rasend, wenn er daran dachte, daß seine Kathrin mit seinem buckligen Bruder ein Verhältnis haben könnte. Diese Eifersucht durchtobte ihn wie ein heißer Wüstensturm und es war zu seiner fixen Idee geworden, daß Kathrin zu Kilian in unerlaubten Liebesbeziehungen stehe. Das machte ihn ganz krank. Kathrin gehörte ihm allein und sonst niemandem, am wenigsten Kilian. Er wußte, daß sich die beiden einander nahestanden und daß sie sich liebten. Aber gerade deshalb durfte Kathrin nie zu Kilian kommen und es bereitete ihm ein geradezu satanisches Vergnügen, seine Frau mit Kilian zu quälen und sie in tausend Ängste zu stürzen. Wenn er des Nachts oft betrunken nach Hause kam und nach Wein und Schnaps roch, stürzte er sich wie ein wildes Tier über sie und erniedrigte sie auf die gemeinste Art und zwang sie, ihm zu Willen zu sein. Wenn er dann von ihr abließ und sie wie tot dalag, lachte er ihr zu und lallte in seinem Rausch wie ein Teufel. „Siehst du, das kann dir dein geliebter Kilian nicht geben, das kann nur ein ganzer Mann, so wie ich einer bin.“ Kathrin drehte sich wortlos um und lag dann die ganze Nacht schlaflos. Sie konnte nicht einmal mehr weinen. In welche Hölle und zu welchem Teufel war sie da geraten? Und das soll die Liebe sein, von der die Dichter behaupten, daß es das schönste und edelste Gefühl sei, das es für die Menschen überhaupt gibt! Das soll die Ehe sein, von der die Kirche lehrt, daß sie ein heiliges Band sei, das sich um zwei Menschen schlingt, bis der Tod sie scheidet! In einer solchen Nacht entstand auch das zweite Kind, das sie dann Valentin tauften. Wie gerne hätte Kathrin den Knaben ‚Ki-
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lian’ genannt, aber es durfte und konnte nicht sein. Romed hätte es nie zugegeben. Gleich hätte er wieder gesagt, das Kind stamme von Kilian und nicht von ihm, und hätte sie weiter gequält. Wie eine Schmerzensmutter kam Kathrin sich vor, deren Herz täglich und stündlich von tausend Schwertern durchbohrt wurde. Dennoch duldete sie diese Ehe still, obwohl sie die Hölle auf dieser Welt war. Sie nahm die Ehe wirklich so, wie die Kirche sie lehrt, ‚bis daß der Tod euch scheidet’. Dies hatte sie vor dem Priester am Altar geschworen und diesen Schwur wollte sie auch halten und wenn ihr ganzes Leben darüber zugrunde gehen sollte. Ihr Trost waren ihre beiden Kinder und Kilian. Wenn es ihr recht schwer wurde, ging sie mit Kilian über die Felder. Nie wurde zwischen diesen beiden Menschen ein Wort von Liebe gesprochen, höchstens, daß sie sich einmal bei der Hand nahmen und daß sie ihre Blicke ineinandersenkten. Sie wußten trotzdem beide, daß sie zusammengehörten, auch wenn sie nie im Leben Mann und Frau werden konnten. Es gibt eben Gesetze im ewigen Wandel der Zeiten, die nicht den Menschen unterworfen sind, sondern ihnen von Geschlecht zu Geschlecht ihre Richtlinien geben für ihr ganzes Leben. Kathrin wußte, daß Kilian stets bei ihr sei, und diese Gewißheit gab ihr die Kraft, alles zu ertragen, was sie von ihrem Mann erdulden mußte. Selbst die körperliche Hingabe an ihren Mann konnte sie nur im Gedanken daran ertragen, daß Kilian in ihrer Nähe war. Hätte sie damals nicht jene unbedachte Antwort gegeben, die sie schon lange bereut hatte, dann wäre es nie zu einer Begegnung mit Romed und zu all diesen schrecklichen Folgen gekommen. Sie maß sich selbst den größten Teil der Schuld an ihrer Ehe zu, und dafür wollte sie büßen. Mit Romed wurde es immer furchtbarer. Zu Hause war er tagelang nicht mehr und wenn der Vater und Kilian nicht
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die Arbeit getan hätten, wäre der Hof schon längst verkommen. Aber weder Kilian noch der Vater sagte ein Wort zu Romed. Sie waren beide froh, daß er nicht am Hofe war, nicht nur für sich selbst und den Hof, sondern vor allem auch für Kathrin und ihre Kinder, die sich vor ihrem Vater fürchteten. Wenn Romed nicht im Hause war, herrschte heilige Ruhe und Kathrin und die beiden Kinder lebten geradezu auf. Da schallte fröhliches Kinderlachen durch Haus und Hof und Kilian konnte sich mit den zwei herzigen Buben gar nicht genug freuen. Wenn ihr Lachen so fröhlich klang, dann war es Kilian, als würde er selber wieder zum Kinde, und er hob die Kleinen auf und ließ sie ‚hoppereiten’ oder er setzte sie auf das Haflinger Rößlein, das im Stall stand, und führte sie behutsam ein Stücklein Weges. Das waren dann für die Buben immer Festtage, wenn sie bei ihrem Onkel bleiben durften. Dann kam wohl auch manchmal Kathrin hinzu und drückte Kilian heimlich die Hand und beide schauten sich einen Augenblick in die Augen. Dann aber wandten sie sich wieder verlegen ab. Das alles hätten auch sie haben können, aber das Schicksal hatte es anders gewollt. Nicht Kilian, sondern Romed war der Vater von Kathrins Buben und Romed war der Gatte Kathrins und nicht er. Sie war ein treues Weib und wollte Romed auch immer die Treue halten, wenn er sie auch noch so schlecht behandelte und noch so oft betrog. Daß er zu anderen Frauen ging, wußte sie schon lange; es gab ja Freunde genug, die aus lauter christlicher Nächstenliebe solche Neuigkeiten brühwarm auf den Malbesonerhof brachten – und dann in einem Atemzuge die arme junge Frau bemitleideten, daß sie so einen schlechten Mann habe. Aber Kathrin machte sich nichts aus den Reden anderer Frauen. Sie wußte, daß ihre Ehe nur eine gezwungene war und daß Romed zwar auf jeden Mann eifersüchtig war, der in ihre Nähe kam, daß er sich selbst aber nicht den gering-
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sten Zwang auferlegte und es mit der ehelichen Treue vom ersten Tage an nicht genau genommen hatte. Es interessierte sie nicht, sie war froh, wenn sie vor ihm Ruhe hatte. Aber die Gerüchte von den Liebschaften des Romed waren auch zu Stasi gedrungen und die alte Bäuerin schimpfte nicht etwa auf ihren Sohn, sondern auf Kathrin, der sie alle Schuld zuschrieb. Nur deshalb, weil Kathrin so böse und so ablehnend gegen Romed sei, werde er gezwungen, bei anderen Frauen sich das zu holen, was ihm seine eigene Frau verweigere. Der arme Bub hätte eben eine andere Frau bekommen sollen, greinte sie, dann wäre es auch für ihn viel besser gewesen. Kathrin ertrug auch diese vollkommen aus der Luft gegriffenen Vorwürfe der alten Frau mit Ruhe, denn niemand wußte besser als sie selbst, wie Romed war und welche Natur er hatte, und daß ihm alles recht war, um an sein Ziel zu kommen, das er sich gesteckt hatte. Lüge und Betrug, List und Gewalt. Romed war seit jenem Abend, an dem er von seinem Vater geschlagen wurde, noch mehr von zu Hause fort. Er war zähneknirschend aus der Stube gegangen, aber noch einmal in der Türe hatte er sich umgedreht und dem Vater und seinem Bruder Rache geschworen. Dann war er im Dunkel der Nacht verschwunden und eine ganze Woche nicht mehr heimgekommen. In Bozen hatte er die Rosl getroffen, seine alte Bekannte aus Sexten, mit der er schon so manche Liebesnacht verbracht hatte, und war gleich bei ihr geblieben, solange das Geld reichte. Als er den letzten Zehnlireschein gewechselt hatte, lachte ihn die Rosl aus: „So, jetzt schau, daß du wieder ein Geld herbringst, wenn du bei mir bleiben willst. Ich bin Männer ohne Geld nicht gewöhnt und solche Männer haben bei mir keinen Wert. Wenn du wieder Geld hast, kannst du kommen, sonst aber kannst du dir den Weg ersparen.“
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Lachend hatte sie ihm die Türe gewiesen und er war auf die Straße getorkelt. Ganz berauscht von dieser Hexe, die ihn wieder eingefangen, und von Schnaps, wußte er nicht, was er anfangen sollte. Handeln konnte er nicht, weil er kein Geld dazu hatte und ohne Geld kein Vieh bekam – so blieb ihm nichts übrig, als wieder heimzukehren auf den Malbesonerhof. Auf dem Heimweg – er mußte den stundenlangen Weg zu Fuß gehen, weil er nicht einmal mehr das Fahrgeld für die Bahn oder den Autobus hatte – kamen ihm allerlei Gedanken. Er hatte ja den Hof, und auf diesen konnte er doch eine Hypothek bekommen. Was scherte ihn der Hof und was kümmerte ihn seine ganze Familie, wenn er nur Geld bekam, um wieder zur Rosl zu gehen. Es brannte ihm jetzt noch wie Feuer in den Adern, wenn er an sie dachte. Das war ein Weib mit dem Teufel im Leib. Nicht so lammfromm und gottergeben wie Kathrin, die am liebsten heulte, wenn er zu ihr kam! Die Rosl war ein richtiges Luder geworden. Die ging ins Blut wie Schnaps und war kein lauer Himbeersaft wie die Kathrin. Die Rosl war mit allen Salben geschmiert und mit allen wassern gewaschen. So etwas brauchte er. Aber sie verlangte immer wieder Geld und noch mehr Geld, und das hatte er nicht. Aber er mußte es bekommen, koste es, was es wolle. Die Kathrin hatte auch Geld, das wollte er sich holen. Sie brauchte es ohnehin nicht. So tief war Romed schon gesunken, daß er sich kein Gewissen daraus machte, von seiner eigenen Frau Geld zu verlangen, um es mit anderen Weibern zu verjubeln. Als er heimkam, war es schon dunkle Nacht und alles schlief. Er mußte Kathrin wecken, weil er keinen Hausschlüssel hatte. „Gib mir etwas zu trinken“, brüllte er sie an, „ich habe einen Durst, als ob ich aus der Hölle käme.“ „Eine Milch kannst du haben, sonst ist nichts im Hause.“
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Romed grölte: „Eine Milch, sagt sie, eine Milch! Ich bin ja kein Säugling, daß ich eine Milch trinke. Einen Schnaps oder zumindest einen Wein will ich“, schrie er. „Wir haben weder Schnaps noch Wein. Wir trinken keinen Alkohol, und Vater hat verboten, so etwas im Hause zu halten.“ „Das ist mir gleich. Bauer bin ich hier auf dem Hof, das wollen wir doch sehen, wer hier anschafft: der Alte oder ich! Gib mir Geld, damit ich mir etwas kaufen kann“, befahl er ihr. „Ich habe kein Geld, das hat der Vater.“ Schon wollte er Kathrin an den Haaren zu sich reißen, und er hob schon die Hand, um sie zu schlagen, als sich eine andere Hand eisern um die seine spannte. Kilian hatte den Lärm gehört und war aufgestanden, um nachzusehen, was los sei. Als er die Stimme seines Bruders hörte, ahnte er Schlimmes und beeilte sich, Kathrin zu Hilfe zu kommen; und er kam noch gerade recht, um den ersten Schlag gegen sie aufzufangen. „Du wirst Kathrin nicht schlagen! Schämst du dich denn gar nicht, mit der Faust auf deine Frau loszugehen?“ „Spar dir deine Predigt. Geld will ich und etwas zum Trinken. Im übrigen bin ich der Herr hier auf dem Hofe und kann tun und lassen, was ich will. Von jetzt ab weht hier ein anderer Wind. Ihr habt mich lange genug in den Winkel gestellt und mich zuschauen lassen, wie ihr Geld verdient habt. Das Geld werde ich von heute ab nehmen. Merke es dir und sage es auch dem Vater, daß ich mich von euch nicht zum Narren halten lasse.“ „Wer hält wen zum Narren hier?“ klang es von der Tür her. Auch Vitus Lanzinger war vom Lärm geweckt worden und in die Stube heruntergekommen. Romed schwieg einen Augenblick, denn vor dem Vater hatte er immer noch Furcht.
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„Ich frage dich noch einmal, wer hält wen zum Narren?“ „Ihr beide haltet mich zum Narren!“ schrie er „Ich bin hier der Bauer und habe kein Geld, weil ihr beide alles einsteckt. Da tue ich nicht mehr mit, ich will hier wirtschaften und ich will das Geld haben.“ Vitus stand kerzengerade vor Romed, und mit unheimlich ruhiger Stimme antwortete er ihm: „Ich will dir etwas sagen, du Mistbub, du drekkiger! Du hast den Hof bekommen. Ich bin damals leider so dumm gewesen und hab dem Kilian nachgegeben. Warum das damals alles so gekommen ist, möchte ich nicht mehr hören. Du hast Schande genug über unsere ganze Familie gebracht. Einmal habe ich dir schon die Türe gewiesen, damals auf dem Latschenhof in Sexten. Und hier möchtest du dein Lotterleben weiterführen und den ganzen Hof versaufen und verspielen und deine Frau und deine Kinder und uns alle betteln gehen lassen. Aber merk dir das eine: Daraus wird nichts. Ich habe den Fruchtgenuß vom Hof, und du bekommst keine einzige Lire, solange du so ein Luderleben führst. Und wenn du so weitermachst, mache ich den ganzen Vertrag rückgängig und du kannst schauen, wie du weiterkommst.“ Romed war schneeweiß im Gesicht geworden. Also das wollte der verfluchte Alte! Ihn vom Hof weisen wie damals in Sexten. Und die anderen beiden, der bucklige Duckmäuser, der Kilian, und seine Frau, die scheinheilige Kathrin, versteckten sich hinter dem Vater, um dann mitsammen leben zu können, wenn er fort war. Wirklich fein ausgedacht hatten sie es alles, wie es nicht schlauer hätte sein können. Aber sie sollten ihn kennenlernen! Diesmal ließ er sich nicht einfach hinauswerfen, eher sollte alles zugrunde gehen. Plötzlich brach er in ein satanisches Gelächter aus. „Und du glaubst wohl, daß ich mich noch einmal von dir
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hinauswerfen lasse, so wie damals in Sexten, und daß ich vielleicht wie ein verprügelter Hund mit eingezogenem Schweif davonrenne! Fein erdacht, aber diesmal bin ich nicht mehr so dumm wie das erste Mal. Da wird nichts draus. Heute bin ich Bauer, und nicht mehr du, und wenn du es etwa nicht glauben solltest, dann kann ich es dir ja beweisen.“ „Gar nichts kannst du beweisen, du Lump, du schäbiger. Solange ich lebe, schaffe ich an da heroben.“ „Meinst du?“ kam die höhnische Antwort. „Es gibt in der Stadt drunten eine Menge Leute, die so einen Hof gar nicht ungern kaufen, auch wenn sie momentan damit nichts anfangen können, weil ein Fruchtgenußrecht drauf ist. Man muß den Hof dann eben dementsprechend billiger hergeben.“ Romed lachte bei diesen Worten wieder höhnisch auf. „Ja, mein Herr Vater, diesmal bin ich gescheiter gewesen, als das erste Mal. Morgen werde ich mir in Bozen einen Käufer für den Hof suchen, und dann kannst du mich meinetwegen ja wieder hinausjagen. Du kannst dir aber die Mühe ruhig ersparen, denn dann ist ja nichts mehr zu holen, da auf dieser Keusche im schlechtesten Winkel der Welt. Dann komme ich so schnell nicht wieder.“ Das war für Vitus Lanzinger zuviel. Also so weit war es schon gekommen, daß sie Romed einfach auf die Straße setzen wollte. Das war der Dank dafür, daß er ihm den Hof gegeben hatte! Er hätte es eigentlich wissen müssen, was für ein Lump der Romed war; daß er aber so schlecht war, hätte er sich doch nicht gedacht. Vitus übermannte der Zorn, und mit beiden Fäusten packte er seinen Sohn an der Gurgel und schüttelte ihn. „Hinaus mit dir, du Lump, oder ich vergreife mich an dir! Verschwinde aus meinen Augen, ehe es zu spät ist.“ Er drängte Romed zur Türe, und beide stürzten auf den
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Gang hinaus. Kathrin weinte und flüchtete in eine Ecke. Kilian eilte den beiden Männern nach und sah die beiden auf dem Boden liegen. Der Vater würgte Romed, der im Gesicht schon ganz blau war. Er wollte sich gerade zu den beiden niederbeugen und sie auseinanderreißen, als der Vater aufschrie und Romed losließ und nach seinem Herzen griff. Ein Messer steckte in seinem Herzen und ein Blutstrom quoll aus der Brust. Romed selbst war mit einem Male nüchtern, als er sein Messer in der Brust des Vaters stecken sah. Irr schaute er auf den sterbenden Vater. Bei Gott, das hatte er nicht gewollte, das nicht! Er hatte sich nur gewehrt, denn der Vater hätte ihn sonst erwürgt, und er hatte sich nicht anders zu helfen gewußt, als sein Messer zu ziehen, und im Finstern hatte er zugestoßen. „Vatermörder!“ Kilian schrie dieses Wort seinem Bruder zu. „Du hast deinen Vater umgebracht, du Mörder!“ Romed hörte dieses Wort wie aus weiter, weiter Ferne. Plötzlich rannte er in die Nacht hinaus, ohne Hut, fort, nur fort von diesem schrecklichen Ort! Ihm war, als ob die brechenden Augen seines Vaters ihn verfolgten. Er hielt sich noch im Dunkeln die Augen zu, damit er diese brechenden Augen des Vaters nicht sehen sollte, diese anklagenden Augen; und er hielt sich die Ohren zu, damit er das Wort seines Bruders nicht höre, dieses furchtbare Wort: „Vätermörder!“ Fort, nur weit, weit weg, damit die Carabinieri ihn nicht fänden, denn dann war alles aus, dann mußte er sein Leben lang hinter Kerkermauern bleiben, das konnte er nicht und das wollte er nicht. Er hatte diese schreckliche Tat nicht gewollt, und darum wollte er auch nicht dafür büßen. Er mußte versuchen, auf kürzestem Wege die Grenze zu erreichen, und drüben in Österreich konnte er dann untertauchen.
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Kilian beugte sich über den Vater und konnte ihm gerade noch die brechenden Augen zumachen. Der Väter war tot! Der eigene Sohn hatte ihn erstochen! Es war das furchtbarste Verbrechen, was ein Sohn seinem eigenen Väter antun konnte. Kilians erster Gedanke war, daß eigentlich er selbst die Schuld an diesem Verbrechen trage. Er hatte seinen Vater dazu überredet, Romed den Hof zu übergeben. Hätte er dies nicht getan, dann wäre diese entsetzliche Tat nie passiert. Wahrscheinlich wäre Romed fortgegangen und hätte Kathrin mit ihrem Elend und mit ihrer Schande sitzenlassen. Kathrin! Die beiden Buben Kathrins hatten nun einen Mörder zum Vater. Ewig würde dieser Makel an den zwei Kindern haften, die doch nichts dafür konnten, daß ihr Vater ein Mörder war. Er kannte die Menschen aus eigener Erfahrung nur zu gut und wußte, daß sie ungerecht waren. Und gerade den Kindern nachtrugen, was die Eltern verbrochen hatten. Wie hatten ihn selbst die Menschen wegen seines Höckers verfolgt und gequält. Und wenn nun die beiden armen Buben noch einen Mörder zum Vater haben sollten, hätten sie keine ruhige Stunde mehr, nicht in ihrem kleinen Bubendasein, und auch nicht später im Leben! Immer würden sich die lieben Mitmenschen nach ihnen umdrehen und mit den Fingern auf sie zeigen und sich zuflüstern: ‚Schaut sie an, die beiden Lanzingerbuben, der Vater ist ein Mörder gewesen, da kann schon nichts Gescheites aus ihnen werden!’ Die beiden Kinder waren in diesem Augenblick seine größte Sorge. Dieses Schicksal mußte er ihnen ersparen, und auch Kathrin selbst durfte nie erfahren, daß Romed seinen Vater ermordet hatte. Sein Entschluß stand fest, als sich leise die Türe öffnete
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und Kathrin mit einer Kerze kam, um zu sehen, was geschehen sei. Kilian erhob sich rasch und trat zwischen den toten Vater und sie und führte sie wieder in die Stube. „Das ist nichts für dich, Kathrin, komm, setz dich, ich muß dir sagen, was geschehen ist.“ Als er sie zur Bank geleitet hatte, setzte er sich neben sie. Sie wollte seine Hand nehmen, aber er ließ es nicht zu. „Nein, Kathrin, rühr mich nicht an! Ich habe den Vater erstochen.“ Mit einem Schrei sank Kathrin bewußtlos zurück. Nun war die Entscheidung gefallen. Er wollte die Tat seines Bruders auf sich nehmen, um Kathrin und ihre beiden Kinder vor der Schande zu bewahren. Um ihn war es nicht schade. Was konnte ihm das Leben auch noch bieten? Er hatte keine Kinder, er hatte keine Frau, und er hatte in seinem Leben schon so viel mitgemacht, daß es ihm gar nicht mehr darauf ankam, von den Leuten für einen Mörder gehalten zu werden. Auf diese weise konnte er Kathrin wenigstens seine Liebe beweisen, indem er sie und ihre Kinder für die Zukunft vor der Meute der Mitmenschen schützte. Weder auf Kathrin noch auf die Buben sollte jemals ein Makel fallen. Kathrin schaute ihn ganz entgeistert an. „Nein, Kilian, das ist nicht wahr. Das hast du nicht getan. Ich ahne, wer es war.“ „Nicht, Kathrin, du warst nicht dabei und hast nichts gesehen, du kannst also auch nicht sagen, daß es nicht wahr ist. Du mußt mir glauben. Es geschah natürlich nicht absichtlich. Ich sah das Messer in der Hand meines Bruders schon gegen den Vater gerichtet, da habe ich es ihm in der Dunkelheit entrissen und habe zugestoßen. Ich wollte nicht den Vater, sondern Romed treffen, aber in der Finsternis habe ich den Falschen getroffen. So war es.“ Kathrin weinte haltlos.
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„Du magst es hundertmal so erzählen, ich fühle doch, daß es nicht wahr ist. Romed war der Mörder, und nicht du. Warum wäre er sonst in Nacht und Nebel plötzlich verschwunden?“ „Er wird wohl gefürchtet haben, daß sie ihn einsperren. Aber das ist jetzt Nebensache. Ich gehe zu den Carabinieri, mich selbst zu stellen. Sorge du dich um die Mutter, und bleib deinen Kindern eine gute Mutter, so wie du es bisher gewesen bist. Du mußt mich vergessen, Kathrin! Einen Mörder muß man vergessen! Leb wohl und hab Dank dafür, daß du immer bei mir gewesen bist. Das Leben wäre für mich ohne dich schon lange wertlos gewesen.“ Er mußte sich zurückhalten, um Kathrin nicht noch in der letzten Minute in seine Arme zu reißen. Noch einmal schaute er auf die geliebte Frau, die ihm alles auf der Welt gewesen und die es noch war, derentwillen er das größte Opfer seines Lebens jetzt auf sich nahm, dann erhob er sich und trat den schwersten Gang seines Lebens an. Kathrin saß noch immer wie betäubt an der Leiche des Vaters. Sie konnte es nicht glauben, daß Kilian die Tat verübt habe. Sie kannte Kilian zu gut und wußte, daß er nicht fähig war, einem Menschen etwas zuleide zu tun. Es konnte nur Romed das getan haben. Schon wollte sie aufspringen und Kilian in die Nacht hinaus nacheilen, um ihn zurückzuholen. Aber sie vermochte nicht, sich zu erheben. Die beiden Buben warteten auf sie, und dann war ja auch noch ihre Schwiegermutter, die alte Stasi, die sie nicht allein lassen durfte, wie Kilian ihr aufgetragen hatte. Das Leben und die Pflichten hielten sie mit tausend Fäden. Sie durfte sich nicht ihren Gefühlen hingeben, sondern mußte sich ihren Pflichten beugen und unterordnen. Früher oder später mußte sich ja die Unschuld Kilians herausstellen, und dann war der Weg zu ihm frei.
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Der Prozeß gegen Kilian Lanzinger war wohl einer der eigenartigsten, der jemals im Schwurgerichtssaal von Bozen geführt wurde. Niemand glaubte an die Tat Kilians. Alle Zeugen traten für ihn ein. Nicht nur die Bewohner von Bufels, welche ihm alle das beste Zeugnis ausstellten und übereinstimmend aussagten, daß nur er mit Unterstützung des ermordeten Vaters die Wirtschaft und den Hof gehalten hatte und daß es zwischen ihm und seinem Vater nie einen Streit gegeben hatte, sondern auch die Leute von Sexten, welche der Verteidiger als Leumundszeugen beantragt hatte, sagten, daß es ganz unmöglich sei, daß Kilian seinen Vater erstochen habe. Der Lehrer Nikolaus Watschinger kam und der Pfarrer von Sexten und der alte Medizinalrat, frühere Dienstboten und Nachbarn; alle traten für ihn ein, so daß selbst der Staatsanwalt an seiner Anklage irre wurde und zu zweifeln begann, ob Kilian wirklich der Täter sei. Nur Kilian selbst blieb bei seiner Aussage und bei seinem Geständnis. „Ich habe die Tat ausgeführt. Zwar habe ich nicht meinen Vater, sondern meinen Bruder treffen wollen. Ich wollte das Unrecht rächen, das er an seinem Vater getan, und habe zugestoßen. Daran, daß ich nicht ihn, sondern den Vater traf, war die Dunkelheit schuld. Aber ich habe die Tat verübt, ich bin der Täter und verlange meine Bestrafung.“ Da drang ein Schrei durch den Gerichtssaal, so schaurig und so unheimlich, daß ein Grausen die Leute durchlief. Stasi, die alte Bäuerin, die zur Verhandlung geladen worden war, schrie, indem sie aufsprang und ihre dürren Arme gegen den Käfig streckte, in welchem Kilian saß, und die Fäuste gegen ihn erhob. „Ich verfluche dich, du Vatermörder! Ich verfluche dich!
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In Ewigkeit sollst du nicht Ruhe finden, und das Blut deines Vaters soll über dich kommen!“ Der Tumult war unbeschreiblich, der diesen Worten folgte. Kathrin und viele andere Frauen fielen in Ohnmacht, die Männer wischten sich die Tränen aus den Augen. Die Bäuerin wollte weiterschreien, sie mußte von den Justizsoldaten gebändigt und aus dem Saale geführt werden. Aber sie schrie und tobte auch draußen weiter, so daß sie auf Anordnung des Arztes in eine Zwangsjacke gesteckt und in das Krankenhaus gebracht werden mußte. Einige Tage später brachte man sie dann in eine Irrenanstalt, da die Ärzte feststellten, daß bei ihr der Wahnsinn ausgebrochen war. Nur Kilian selbst blieb vollkommen ruhig. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen, und ihn konnte nichts mehr erschüttern. Er war sich dessen bewußt, daß er durch sein Geständnis sich freiwillig aus den Reihen der Menschen ausgeschlossen hatte, und sein Leben hatte nur noch einen Zweck, Kathrin und ihre Buben von jedem Makel, der durch seinen Bruder auf sie gefallen wäre, zu retten und jede üble Nachrede von ihnen fernzuhalten. Die Verhandlung mußte unterbrochen werden, bis die Zuhörer sich einigermaßen beruhigt hatten. Nach der Wiederaufnahme ergriff der Staatsanwalt das Wort und schilderte die Tat, wie sie sich aus den Worten des Angeklagten selbst darstellte. Er wies darauf hin, daß Kilian Lanzinger ein ganz anderer Mensch als die anderen sei. „Es ist bekannt“, sagte er, „daß Krüppel ein anderes Geistesleben haben als normale Menschen. Sie leiden durch ihre Körperverunstaltung von Kindheit an an Komplexen, die sie schon von frühester Jugend an auf andere Wege führen. Haß ist meistens ihre Grundeinstellung, Haß gegen die anderen Menschen mit geraden Gliedern, Haß gegen
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alles Gesunde und Lichte im Leben. Daß dieser Menschenhaß sie in Gegensatz zu den anderen Menschen bringt, ist vielleicht verständlich. Sie fühlen sich zurückgesetzt und ausgestoßen, und aus diesen Gefühlen heraus entspringt nicht selten der Wunsch nach Rache, Rache am Schicksal, das sie meistens unverdient den anderen Menschen entfremdet hat; Rache aber auch an den Menschen, die ihnen die Aufnahme in die Gesellschaft ungerechterweise verweigern, Rache an der ganzen Welt, und letzten Endes auch Rache an Gott, der ihnen dieses schwere Schicksal des Alleinseins und des Ausgestoßenseins auferlegt hat. Es ist verständlich, daß ein solcher Haß diese Krüppel oft zu Taten hinreißen läßt, die mit dem Gesetz in Widerspruch stehen. Aber deswegen haben auch diese Menschen noch lange nicht das Recht, zum Messer oder zur Pistole zu greifen und ein anderes Menschenleben zu vernichten, wie es der Angeklagte in unserem Falle getan hat. Er hat ein Leben vernichtet, das Leben seines eigenen Vaters. Zugegeben, er wollte nach seiner eigenen Aussage nicht seinen Vater, sondern seinen Bruder treffen, hat aber in der Dunkelheit doch den Vater getroffen. Damit wird aber die Tat an und für sich nicht aus der Welt geschafft. Die Tatsache ist und bleibt bestehen: daß der Angeklagte seinen Väter erstochen hat. Wir können uns in diesem Falle nur auf die Aussage und das Geständnis des Angeklagten selbst verlassen. Niemand war sonst zugegen als sein eigener Bruder, der sicher über den Hergang der Tat hätte Auskunft geben können. Aber Romed Lanzinger ist seit jener Nacht verschwunden, und es ist dem Gericht trotz den eifrigsten Nachforschungen im In- und Auslande nicht gelungen, den Aufenthalt dieses einzigen Augenzeugen ausfindig zu machen. Wenn aber Leute behaupten, der flüchtige Romed Lanzinger, der zu seinem Väter in einem denkbar schlechten Verhältnis stand, sei der Mörder seines
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Vaters, so sind das lediglich Vermutungen und Behauptungen, die von niemandem bewiesen werden können und denen das klare und eindeutige Geständnis des Angeklagten gegenübersteht. Ich selbst als Ankläger beantrage, dem Angeklagten alle mildernden Umstände zuzubilligen. Die Tat an und für sich aber verlangt Sühne. Kein Mensch hat das Recht, das Leben eines Mitmenschen und am allerwenigsten das Leben des eigenen Vaters auszulöschen.“ Der Verteidiger hatte von vorneherein einen schweren Stand. Angesichts des Geständnisses des Angeklagten und mangels sonstiger gegenteiliger Beweise blieb ihm nichts anders übrig, als das Geständnis selbst anzuzweifeln. „Hoher Gerichtshof, meine Herren Geschworenen! Selten ist mir eine Verteidigung so schwergefallen wie die heutige. Wir sehen eine Tat, die Sühne verlangt, wie der Herr Staatsanwalt sehr richtig bemerkt. Wir haben das immer wiederkehrende Geständnis des Angeklagten gehört, und doch erheben sich nicht nur in mir als dem Verteidiger des Angeklagten, sondern wohl fast in allen Menschen, die in diesem Saale anwesend sind, an diesem Geständnis Zweifel. Wohl hat der Angeklagte selbst zugegeben, daß er nicht seinen Vater, sondern seinen Bruder treffen wollte, aber auch nur, um seinen Vater vor seinem Bruder zu schützen und zu retten. Das ist die Tatsache, die sich aus den Aussagen Kilian Lanzingers ergibt, und das kann auch nur die Grundlage der Verteidigung sein. Ein Geständnis allein kann und muß noch lange kein Schuldbeweis sein. Es gibt in den Annalen der Geschworenengerichte genug Fälle, in denen sich ein solches Geständnis als falsch herausgestellt hat und der wahre Täter später gefunden wurde oder sich selbst dem Gerichte stellte. Der Herr Staatsanwalt hat in seiner Rede von der Haß-Psychologie körperbehinderter Menschen gesprochen und hat damit beweisen wollen, daß die Tat, derentwegen Kilian Lanzinger heute
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hier steht, aus dieser Haß-Psychose heraus begangen worden sei. Das wäre vielleicht ein Grund, ihm die Tat zuzuschreiben und sein Geständnis glaubhaft erscheinen zu lassen. Aber nicht alle Krüppel werden von dieser HaßPsychose erfaßt. Auch unter den Krüppeln gibt es Menschen, die ihr Schicksal mit Heldenmut ertragen und die nicht von blindem Haß gegen Menschen erfüllt sind, die für ihr Schicksal nichts können. Wenn aber Körperbehinderte ein solche Haß-Psychose in sich tragen, so sind sie von derselben schon von frühester Jugend an beseelt und kommen schon frühzeitig auf den Rachegedanken, den der Herr Staatsanwalt dem Kilian Lanzinger als Motiv seiner Tat in die Schuhe schieben will. Meine Herren Geschworenen, sehen Sie sich einmal das bisherige Leben des Angeklagten an, das uns auf Grund der Zeugenaussagen offen vorliegt. Kilian Lanzinger war mit seinem Vater in bestem Einvernehmen. Er hat mit seinen geringen Kräften nicht nur die Wirtschaft auf dem Malbesonerhof geführt, sondern sogar schon als Kind auf dem Latschenhofe in Sexten immer nach besten Kräften mitgearbeitet. Der Latschenhof ist damals aus bis heute noch unbekannten Gründen abgebrannt, und die damalige Magd Ursula ist dabei ums Leben gekommen. Der Vater Vitus Lanzinger, der das Opfer der Tat geworden ist, die heute gesühnt werden soll, hat damals seinem zweiten Sohne Romed die Türe gewiesen. Romed Lanzinger ist trotzdem wiedergekommen, und sein Bruder Kilian hat sogar zu seinen Gunsten auf die Hofübernahme verzichtet, um seinem Bruder die Möglichkeit zur Heirat zu geben. Und was tut dieser Bruder? Schon von Kindheit angefangen, verfolgt er Kilian und geht seine eigenen, gelinde ausgedrückt, nicht immer geraden Wege. Auch nachdem er den Hof übernommen und geheiratet hat, führte er das alte Lotterleben weiter, arbeitet nicht und bleibt tagelang vom Hofe fort, vernachlässigt seine Familie
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und treibt sich in schlechter Gesellschaft herum, in der Gesellschaft von Frauen, deren Gewerbe es ist, den Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es ist möglich, daß Kilian Lanzinger seinen Bruder gehaßt hat, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß er ihn ermorden wollte. Dieser Prozeß könnte erst dann zu Ende geführt werden, wenn Romed Lanzinger gefunden ist und er als der einzige Augenzeuge der Tat ausgesagt hat. Ich verlange Freispruch des Angeklagten trotz seinem Geständnis, zumindest wegen Mangel an Beweisen.“ Als der Vorsitzende nach der Rede des Verteidigers dem Angeklagten das letzte Wort erteilte, sagte Kilian kurz und einfach dieselben Worte, die er schon zu Anfang des Prozesses bei seiner Befragung gesagt hatte: „Ich habe die Tat begangen und bitte um meine Bestrafung.“ Das Gericht verurteilte Kilian zu sieben Jahren Kerker. Ehe Kilian aus dem Saale geführt wurde, warf er noch einen Blick auf Kathrin. Alle Liebe und alle Verehrung legte er in diesen Blick. Kathrin konnte ihm kaum zuwinken, so voll Tränen waren ihre Augen. Der gute, liebe Mensch sollte ein Mörder sein? Es gab wenig Leute im Saale, die an die Schuld Kilians glaubten. Aber dem Gesetz war Genüge getan, und gegen das Geständnis Kilians selbst hatte auch die beste Verteidigungsrede nichts vermocht. Wie geht das Leben doch oft seine eigenen Wege! Wer kennt seine Höhen und seine Tiefen, und wer weiß, was in der Seele der Menschen vorgeht! Was ist wirklich Recht, und was ist Unrecht? – Noch kein Mensch, und auch kein Richterspruch, hat des Lebens Rätsel enthüllt! Und doch ist es immer dasselbe: Alles Leben und alles Sein geht auf das Zusammenleben zweier Seelen hinaus, ob sich diese Seelen nun finden oder ob sie ewig getrennt bleiben. Die Liebe geht eigene Pfade, den
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Menschen oft unbegreiflich, und doch von ihrem inneren Schicksal gelenkt. Jedes Rätsel findet im Zusammenklang zweier Seelen seine Lösung und jedes Leben seine Erfüllung.
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Die Jahre gingen. Die Welt bleibt des Schicksals eines Menschen wegen nicht stehen. Neue Schicksale steigen auf und vergehen wieder, und nur in den Seelen der Beteiligten bleibt das Schicksal mit den Menschen verbunden, über die es hinweggebraust ist. Kathrin und ihre beiden Buben waren mit Nikolaus Watschinger auf den neu erbauten Latschenhof gezogen. Zu viel war auf dem Malbesonerhof über sie gekommen: alles erinnerte sie dort an die ganze Tragik der letzten Jahre, als daß sie das Angebot Watschingers nicht gerne angenommen hätte. Kilian hatte Nikolaus Watschinger gebeten, sich Kathrins und ihrer beiden Buben anzunehmen. Eine Frau allein steht oft dem Leben machtlos gegenüber und ist ohne Hilfe nicht imstande, es zu meistern. So war es auch Kilian letzte Bitte vor seinem Abtransport in das Zuchthaus gewesen, daß sein ehemaliger Lehrer Kathrin mit sich nehmen und auf sie schauen möge. Kathrin hielt auf dem Malbesonerhofe nichts mehr zurück. Auch ihr alter Vater war inzwischen verstorben, und sie hatte das Häuschen verkauft und den Hof verpachtet, der einmal ihren Buben gehören sollte. Ein altes Weiblein hatte die Pflege der beiden Gräber ihres Vaters und ihres Schwiegervaters übernommen, und dann war sie von der Seiseralm auf den Latschenhof nach Sexten gezogen. Von Romed, ihrem Mann, hatte sie nie mehr etwas ge-
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hört. Er blieb verschollen und verschwunden, und wenn die Buben hin und wieder fragten, wo denn der Vater sei, da er so gar nie mehr zu ihnen komme, so sagte sie ihnen, daß er weit fort gegangen sei und schon einmal wiederkommen werde, nur könne sie ihnen nicht sagen, wann dies der Fall sein werde. Kathrin war ruhig geworden. Sie hatte in sich die Gewißheit, daß Kilian unschuldig war, und zählte im stillen die Jahre, bis Kilian frei werde, denn dann wollte sie mit ihm gehen bis an das Ende der Welt. An ihren Mann dachte sie kaum noch. Vielleicht lebte er noch, ihr war es gleichgültig. Sie hatte durch seine niederträchtige Tat ihr Leben verspielt, und sie würde, auch wenn er zurückkommen sollte, nie mehr zu ihm zurückkehren. Lieber wollte sie allein bleiben. Von Kilian kam hin und wieder ein kurzes Schreiben. Aber nie schrieb er davon, was sich in seinem Innern abspielte. Nie war eine Andeutung davon in seinen Briefen, aus der sie hätte entnehmen können, daß er sie liebe oder auch nur an sie dachte. Nach den beiden Buben fragte er aber in jedem Briefe, wie es ihnen auf dem Latschenhofe gefalle, und ob sie brav lernten; und jedesmal sandte er auch an Nikolaus Watschinger Grüße und bat ihn, auf Kathrin und ihre beiden Kinder zu achten und sie nichts entbehren zu lassen. Nikolaus Watschinger saß an manchen Abenden mit Kathrin auf dem Söller des neuen Hauses, und dann kam es wohl vor, daß er ihr von Kilian erzählte. Aus seinen früheren Jahren, und wie es gekommen war, daß Kilian zum Krüppel geworden, in jener Gewitternacht, in der Urschl das Kind vor lauter Schreck und Furcht hatte fallen lassen. Ja, auch von der Urschl erzählte er Kathrin, wie sie seit jener Nacht immer auf dem Latschenhofe gedient habe um wenig Lohn, und auch von ihrer stillen Liebe zu Kilian, der
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aber von dieser Liebe nichts gewußt habe. Einmal gingen sie auch mitsammen zu Urschls Grab, und Kathrin legte einen Strauß Alpenrosen darauf, die ihr die Buben von der Alm gebracht hatten. Oder Nikolaus Watschinger ging mit den beiden Kindern über die Almwiesen des Helm, oder er nahm sie mit hinein nach Fischleinboden und stieg mit ihnen zum Paternsattel hinauf und zeigte ihnen die alten Stellungen des Weltkrieges. Auch Klettern lehrte er sie, und mit Begeisterung taten sie mit. Immer seltener fragten die beiden Buben nach dem Vater, denn der neue Onkel war viel, viel netter mit ihnen. Der schrie und schimpfte nicht, wenn sie einmal eine Aufgabe nicht richtig machten, oder sich nicht auskannten; er half ihnen bei den Hausaufgaben, und auch in der italienischen Sprache war er ihnen ein besonderer Helfer, denn das Schwerste für sie war, Italienisch zu lernen. Die italienische Sprache wollte in die Tiroler Bauernschädel gar nicht hinein. Die Lehrer konnten aber nicht Deutsch und so war es sowohl für die Lehrer als auch für die Kinder schwer, sich zu verständigen. Man kümmerte sich auf dem Latschenhof nicht um das, was draußen in der Welt vorging. Wohl las Nikolaus Watschinger die Zeitungen und wußte, daß finstere Wolken am Horizont aufstiegen, aber er hoffte, daß das drohende Gewitter diesen stillen Erdenwinkel nicht berühren werde. Anfang November war es, der erste Schnee lag schon lange auf den Bergen, als ein Schreiben an Kathrin gelangte mit einem kleinen Päckchen. Es war die Nachricht, daß ihr Gatte, Romed Lanzinger, beim Überschreiten der französischen Grenze von Gendarmen erschossen worden sei. Im Päckchen befand sich ein Brief, den Romed vor seinem Tode in Gegenwart von zwei Zeugen diktiert hatte: „Ich habe meinen Vater erstochen. Er wollte mich er-
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würgen, da gelang es mir, mein Messer zu ziehen und ich stieß zu. Ich schwöre angesichts des Todes, daß ich meinen Vater nicht ermorden wollte. Ich habe nur in Notwehr gehandelt. Kilian ist unschuldig. Ich habe alles gelesen, seinen Prozeß und seine Verurteilung, aber ich hatte nicht den Mut, mich dem Gerichte zu stellen. Kathrin, ich habe eingesehen, daß ich dir Unrecht getan habe und ich bitte dich, mir zu verzeihen. Trag den Brief sofort zu Gericht, damit Kilian endlich frei werde. Warum er die Schuld auf sich genommen hat, weiß ich nicht, aber er ist unschuldig, denn ich habe den Vater in Notwehr erstochen.“ Kathrin weinte, als sie den Brief gelesen hatte. Sie hatte es ja immer gefühlt, daß Kilian am Tode des Vaters unschuldig war und nun hatte sie endlich den Beweis dafür in Händen. Kilian war unschuldig, wie sie das schon immer geahnt hatte. Warum aber hatte er die Schuld auf sich genommen? Diese Frage drängte gleichzeitig zu einer Beantwortung. Sie sprach mit Nikolaus Watschinger, dem sie den Brief zeigte, und ihn bat, bei den Gerichtsbehörden die notwendigen Schritte zu unternehmen, damit der unschuldige Kilian sofort aus dem Zuchthause entlassen werde. Nikolaus Watschinger saß ihr gegenüber und schaute lange in ihr liebes, immer noch schönes, aber leiddurchfurchtes Gesicht. Er hatte Kilian seine Bitte erfüllt, die Frau mit den beiden Kindern zu sich zu nehmen, weil er es geahnt, warum Kilian die Schuld auf sich genommen hatte. Die Frau und die Kinder sollten von allen üblen Nachreden bewahrt bleiben und die Buben sollten keinen Mörder zum Vater haben. Welch ein Maß von Liebe und Selbstverleugnung gehörte dazu, das alles auf sich zu nehmen, um der geliebten Frau alles fernzuhalten, und selbst in den Augen der Menschen als Mörder des eigenen Vaters dazustehen. Das konnte nur
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ein so abgeklärter Mensch wie Kilian tun, der eine so große Liebe zu dieser Frau in sich fühlte, daß ihm sein eigenes Geschick dagegen unwichtig erschien. Kilian hatte nie zu ihm davon gesprochen, daß er Kathrin liebte. Er hatte nie ein Wort davon gesagt, warum er auf den Hof zugunsten seines Bruders verzichtet und warum er zugegeben hatte, daß Kathrin seinen Bruder heiratete. Aber in diesem Augenblick wurde ihm der Zusammenhang klar. Es war auch eine Ehe gewesen, die unter gewöhnlichen Umständen undenkbar gewesen wäre; denn es hatte wohl noch nie im Leben zwei Menschen gegeben, die so wenig zueinander gepaßt hatten wie Kathrin und Romed. Da mußten Umstände mitgewirkt haben, die ihm bis heute ein Rätsel geblieben waren, aber ihm jetzt immer klarer wurden, je länger er darüber nachdachte. Der Verzicht Kilians hatte nicht erst mit dem Tode seines Vaters, sondern schon mit der Heirat Romeds begonnen. Warum Kilian verzichtet hatte, war kein allzu schweres Rätsel mehr, wenn er den Charakter Romeds dagegensetzte. Nikolaus Watschinger wurde dies alles mit einem Male klar und er konnte nur die Seelengröße Kilians bewundern, die ihm die Kraft gegeben, alles das auf sich zu nehmen. Wie groß mußte seine Liebe zu dieser Frau sein, um alles das zu ertragen und auf sich zu nehmen. Das konnte nur ein Mensch tun, der geistig turmhoch über allen anderen Menschen erhaben war, der allein seinen Weg von frühester Kindheit an gegangen und in sich so gefestigt war, daß ihn die Meinung der anderen Menschen nicht berührte, weil eine Liebe in ihm schlummerte, deren Erfüllung nicht auf dieser Welt lag. Die Worte, die der Staatsanwalt in seinem Plädoyer von der Haß-Psychose der Krüppel gesprochen hätte, fielen ihm in diesem Augenblicke ein, und er war versucht, darüber zu lächeln. Wie wenig kannte doch ein Mensch den anderen und wie falsch war es, von der Haß-Psychose der
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Krüppel im allgemeinen zu sprechen. Welcher von den gesunden, normalen Menschen hätte die Seelenstärke eines Kilian Lanzinger aufgebracht, ein Verbrechen freiwillig auf sich zu nehmen, um die geliebte Frau und ihre Kinder vor den üblen Nachreden der Mitmenschen zu schützen? Vielleicht hatte aber Kilian nur deshalb diese Kraft und diese Seelenstärke aufgebracht, weil er ein Krüppel war, der sich vom Leben nichts mehr erhoffte, weil er es in seiner ganzen Grausamkeit kennengelernt hatte wie sonst vielleicht noch kein Mensch auf dieser Welt. Was weiß denn schon die Welt vom Leben eines einzelnen, unglücklichen Menschen? Für die Staatsgewalt sind lediglich die äußeren Umstände einer Straftat maßgebend: Beweise, Zeugenaussagen, und vor allem das eigene Geständnis des Täters. Um die inneren Zusammenhänge hat sich die Justiz nicht zu kümmern. Das Gericht ist da, um eine Straftat zu sühnen, sonst könnte am Ende jede Tat, die vom Strafgesetz verfolgt wird, ihre Entschuldigung finden. Vielleicht aber stände es um die Gerechtigkeit manchmal besser, wenn sie sich nicht nur um die strafbaren Handlungen der Menschen kümmerte, sondern auch um die Beweggründe, die zu diesen Taten führten. Nikolaus Watschinger war ein einfacher Mann und kein Jurist und vor allem kein Staatsanwalt und betrachtete daher mit den Augen eines Laien diese Dinge. Vielleicht kam er gerade deswegen zu solch einfachen Schlüssen. Sie saßen sich lange gegenüber, die Kathrin und der Lehrer Nikolaus Watschinger. In Kathrin war seit dem Augenblick, da sie diesen Brief in Händen hielt, nur noch der Gedanke: Kilian wird frei, Kilian wird bald kommen, zu ihr kommen und dann sollte sie nichts mehr trennen, nichts mehr für Zeit und Ewigkeit. Leise, fast zögernd kam aus ihrem Munde die Frage: „Wird es noch lange dauern, bis Kilian kommt?“
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Rührend, wie zaghafte Vöglein, kamen diese Worte. Die ganze Liebe dieser Frau lag in ihnen, dieses leise Zagen war wie verhaltenes Weinen und doch wieder wie kaum zurückgehaltener Jubel. War es nicht das schönste Gedicht, das jemals über die Liebe gedichtet, war es nicht die schönste Musik, die je zur Liebesmelodie geschrieben worden war? Nikolaus Watschinger beneidete seinen Freund Kilian in diesem Augenblick um die Liebe dieser einfachen Frau. Er antwortete: „Nein, Frau Kathrin, es dauert nicht mehr lange. Ich werde selbst morgen nach Bozen zum Staatsanwalt fahren und die Wiederaufnahme des Prozesses betreiben. Da nun das schriftliche Geständnis des richtigen Täters vorliegt, ist der neue Prozeß nur noch eine Formsache, die schnell erledigt sein wird.“ Kathrin schwieg nachdenklich. „Ich weiß nur nicht, warum Kilian das alles auf sich genommen hat, wenn er doch unschuldig war“, unterbrach sie die Stille. „Ist es so schwer, das zu erraten? Aber es ist nun am besten, wenn Sie Kilian selbst fragen, sobald er hier ist.“ „Glauben Sie, daß er hierher nach Sexten kommt?“ „Natürlich kommt er nach Sexten in seine alte Heimat. Er weiß ja, daß Sie hier sind, und das Leben hat nur dort für ihn einen Sinn und einen Wert, wo Sie sind. Oder haben Sie das vielleicht nicht gewußt?“ Kathrin wurde glühend rot bei dieser Frage. „Woher soll ich denn das wissen, wenn er sich, statt bei mir zu bleiben, jahrelang freiwillig einsperren läßt?“ „Und könnte er das nicht gerade aus Liebe zu Ihnen getan haben, aus Liebe zu Ihnen und zu Ihren beiden Buben?“ Kathrin sprang auf und lief einfach davon, um ihre Trä-
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nen vor Nikolaus Watschinger zu verbergen. Sie wußte, daß der Mann recht hatte, aber sie wollte ihre Liebe nicht verraten. Nur Kilian sollte von dieser Liebe wissen, nur er sollte es hören, daß sie sich das Leben nur mehr an seiner Seite vorstellen konnte. Das Schicksal mußte dieses Mal mit ihr gnädig sein. Ihr ganzes Leben konnte doch kein einziger Fehlschlag sein. Jeder Mensch hat das Recht auf ein bißchen Glück und ein bißchen Sonnenschein. Bei ihr war es lange, lange Nacht gewesen; ihre Ehe mit Romed war ein Martyrium von der ersten Stunde bis zur letzten, und sie hatte dieses Martyrium erduldet, weil sie Kilians Liebe zurückgewiesen. Aber nun sollte alles wieder gut werden. Romed war tot und sie war frei. Einen deutlicheren Fingerzeig Gottes konnte es nicht mehr geben. „Kilian“, flüsterte sie unter Tränen, „wann, Kilian, wann kommst du endlich? Weißt du denn nicht, wie ich auf dich warte? Hast du in den einsamen Nächten nicht den Ruf meiner Sehnsucht gehört?“
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Wenn auch der Fall des Kilian Lanzinger nunmehr klar war und das Geständnis des richtigen Täters vorlag, so ging die Sache dennoch nicht so schnell, wie Kathrin sich das vorgestellt hatte. Es war immerhin notwendig, den ganzen Prozeß noch einmal aufzurollen, eine neue Hauptverhandlung anzusetzen und durchzuführen, kurz, die Sache ging ihren Amtsweg, und was dieser schöne Satz bedeutet, kann nur derjenige ermessen, der dies einmal schon selbst erlebt hat. Aber es stand fest, daß Kilian unschuldig war, und es konnte sich höchstens noch um ein paar Wo-
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chen handeln, bis Kilian aus dem Zuchthaus kam. Kathrin blühte in dieser Zeit auf wie eine Blume zur Maienzeit. Allzuviel war in den letzten Jahren über sie hinweggegangen und hatte ihr Leben verdüstert und ihre Jugend vergrämt, als daß sie noch an ein Glück hätte glauben können. Aber jetzt, seit die Unschuld Kilians feststand und sich einwandfrei erwiesen hatte, jetzt glaubte und hoffte sie, daß auch für sie und ihre Kinder noch einmal das Glück kommen werde, ja, sie wußte es sicher, und in ihrer Freude erzählte sie den beiden Buben schon, daß nun bald der neue Vater zu ihnen kommen werde. Der frühere, ihr richtiger Vater, sei nun im Himmel und habe geschrieben, daß sie einen neuen Vater bekommen sollten. Auf die Frage der beiden Buben, wie der neue Vater denn ausschaue, erzählte sie ihnen von ihrem Onkel. Ob sie sich noch an ihn erinnern könnten, fragte sie sie. Vitus, der ältere der beiden Buben, konnte sich noch gut an ihn erinnern. Das sei doch der Mann, der auf dem Malbesonerhof immer so gut mit ihnen gewesen sei und der sie oft versteckt habe, wenn der Vater einen Rausch gehabt hatte und sie schlagen wollte; das sei doch der Mann, der hinten am Rücken so einen großen Höcker gehabt habe. Kathrin wurde ganz rot und verzweifelt bei diesen Worten ihres Sohnes. Wenn die Buben so etwas zu Kilian sagten, dann war es aus, dann würde Kilian wieder fortgehen und nie mehr zurückkommen. Das durften die Kinder nie sagen. Wie sollte sie den Kindern aber das beibringen? Sie dachte hin und her und kam zu keinem Ergebnis. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an Nikolaus Wätschinger, der war doch Lehrer, und der mußte einen Ausweg wissen. Nikolaus Watschinger erzählte den beiden Buben die Geschichte jener Gewitternacht, in der die Magd Urschl den kleinen Kilian vor Schreck hatte fallen lassen und er sehr krank geworden sei.
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Von dieser Nacht an ist Kilian ein armer Mensch geblieben. Er konnte nichts dafür, für dieses Unglück, und das Schlimmste an der Sache war, daß seine eigene Mutter, die Bäuerin Stasi, und sein eigener Bruder, der Romed, ihn am meisten verfolgten, und daß er von den anderen Leuten für sein Unglück noch ausgelacht wurde. „Wenn Kilian nun zu euch kommt“, wandte er sich an die zwei Kinder, „dürft ihr nie nach seinem Buckel fragen und dürft nie davon sprechen, denn sonst würde euer Onkel nie euer zweiter Vater werden, sondern gleich wieder fortgehen. Das müßt ihr mir und eurer Mutter versprechen“, schloß der Lehrer seinen Vortrag, und beide Buben versprachen es dem Lehrer und ihrer Mutter in die Hand, daß sie zu ihrem neuen Vater nie etwas von seinem Buckel sagen würden. Auch in Nikolaus Watschinger reifte in diesen Tagen ein Entschluß. Diese Frau, die so viel mitgemacht hatte, gehörte einzig und allein zu Kilian, der um sie und ihrer Kinder willen sogar das Verbrechen des Vatermordes freiwillig auf sich genommen hatte und den sie aus ganzer Seele liebte. Nikolaus Watschinger wollte ihr den Vorschlag machen, mit ihm den Hof zu tauschen. Das Geschlecht der Lanzinger sollte in Sexten neu erstehen. Er wußte, wie Kilian seine Heimat liebte, und es war auch für ihn die beste Lösung. Endlich war es soweit. Die Verhandlung in Bozen war ausgeschrieben worden. Kathrin wollte nicht hinfahren, sie wollte Kilian lieber in seiner alten Heimat am Latschenhofe erwarten. Da hatte sie die beiden Buben, und wenn sie es nicht erreichen sollte, daß Kilian und sie nun endlich für ganz vereinigt wurden, so sollten die Kinder darum bitten, und Kathrin wußte genau, daß Kilian den beiden Buben keine Bitte abschlagen konnte. Nikolaus Watschinger war nach Bozen gefahren, um Kilian abzuholen. Er wohnte auch der Verhandlung selbst
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bei, die in einer halben Stunde vorüber war. Der Staatsanwalt beantragte angesichts des schriftlichen Geständnisses Romeds den Freispruch Kilians, der auch einstimmig erfolgte, und zugleich wurde die sofortige Enthaftung ausgesprochen und Kilian sofort in Freiheit gesetzt. Watschinger erwartete Kilian am Ausgang des Gefängnisses und begrüßte ihn herzlich. „Mein lieber Kilian, nun hat es sich doch endlich bewiesen, was wir alle schon von Anfang an gewußt haben, daß du nie im Leben deinen Vater erstochen hast. Ich bin gekommen, um dich heimzuholen auf den Latschenhof. Kathrin mit den beiden Buben erwartet dich dort.“ Kilian drückte seinem alten Freund die Hand. „Ich danke dir, mein alter Freund. Das ist der schönste Tag meines Lebens. Aber auf den Latschenhof, der doch dir gehört, soll ich kommen? Was ist aus dem Malbesonerhof geworden, und warum erwartet mich Kathrin nicht dort?“ Nikolaus Watschinger lächelte. „Mein lieber Kilian, wundert dich das gar so sehr, daß Kathrin von dem Orte weggezogen ist, der ihr so viel Unglück gebracht hat? Wir wollen über diese Dinge uns aussprechen, wenn wir daheim sind, denn wir zwei allein sind dazu zu wenig. Dazu gehört vor allem noch ein dritter Mensch, um dessentwillen du das alles auf dich genommen hast und der dich erwartet. Niemand auf dieser Welt hat dich so gut verstanden als zwei Menschen: Kathrin und ich. Wir wissen, warum du dieses Opfer, das kaum jemals ein anderer Mensch in seinem Leben einem anderen gebracht hat, auf dich genommen hast, und deshalb ist es auch nicht mehr als recht und billig, daß auch Kathrin dabei ist, wenn wir über unser aller Zukunft beraten und uns schlüssig werden, wie der Weg weitergehen soll.“ Kilian wollte widersprechen, aber Nikolaus Wätschinger
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schnitt ihm kurzerhand das Wort ab. „Jetzt bitte ich dich nur um eines: Laß deiner Opfer endlich genug sein und komm mit mir! Zwei Menschen sind schon gestorben, und nun hat auch einmal das Leben Rechte, Rechte an dir und Kathrin.“ Kilian tat einen tiefen Atemzug. „Kathrin – ach, wie weit ist das alles schon entfernt. Wer einmal im Zuchthaus gesessen hat, wem die Vergangenheit auf Schritt und Tritt nachgeht, der hat kein Recht mehr, an die Zukunft zu denken.“ Nikolaus Watschinger wurde beinahe böse. „Jetzt hör mit diesen Dingen auf, Kilian, versündige dich nicht an deinem Schicksal, du bist um deines Bruders willen im Zuchthaus gesessen, vollkommen unschuldig, wie wir alle von Anfang an wußten und wie es nun auch durch den Freispruch erwiesen ist. Bedenke, mein lieber Freund, daß du auf der Welt auch Pflichten hast, nicht nur gegen dich selbst, sondern auch gegen andere, vor allem aber gegen Kathrin und gegen ihre beiden Buben. Komm, laß uns heimfahren, wir werden daheim über alles sprechen.“ Mit einem Seufzer setzte sich Kilian in das Auto, das der Lehrer steuerte. Während der Fahrt durch das Eisacktal durchlebte Kilian noch einmal sein ganzes Leben. Wie ein hell leuchtender Stern stand aber Kathrin über allen Geschehnissen, allen Irrfahrten und allen Schicksalsschlägen, und je weiter sie von Bozen weg und der Heimat näher kamen, desto leuchtender stieg das Bild Kathrins vor seinen Augen auf. Nein, sein Leben war doch nicht umsonst gewesen, er hatte bewiesen, daß auch ein Krüppel einen Lebenszweck erfüllen konnte. Seine Liebe zu Kathrin hatte sich in seinem Opfer erfüllt, der Freispruch war ihm daneben ebenso gleichgültig wie das Geständnis seines verstorbenen Bruders Romed – ihm war nur eines wichtig gewesen, nämlich, daß er alle Schrecken und Härten, die
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eine Verurteilung Romeds mit sich gebracht hätte, von Kathrin und ihren beiden Kindern hatte fernhalten können. Schon um dieses einen Zweckes willen hatte es sich gelohnt, zu leben, und die schönste Erfüllung seiner Liebe sah er darin, daß ihm dies gelungen war. Es war eine recht schweigsame Fahrt, und weder Nikolaus Wätschinger noch Kilian Lanzinger schauten auf die Schönheiten ihrer Heimat. Beide hingen ihren Gedanken nach, und beider Gedanken gingen zu Kathrin, die der Heimkehr Kilians mit Bangen und Herzklopfen entgegensah. Die braven Sextner hatten es sich nicht nehmen lassen, die Heimkehr Kilians zu feiern. Sein Freispruch war sogar im Radio verkündet worden; und als sie endlich in Sexten am Platz vor dem Posthotel hielten, standen eine Menge Leute da und die Musik begrüßte die Angekommenen mit einem flotten Marsch. Kilian war ganz verwirrt. Was wollten die vielen Leute eigentlich von ihm? Ihm war wirklich nicht nach Feierlichkeiten zumute! Aber als der Kapellmeister zu ihm trat, ihm die Hand drückte und ihm eine schöne Flöte übergab mit der Bitte, doch wieder in der Musik mitzuwirken, da er so schön die Flöte gespielt habe, da konnte er es nicht verhindern, daß ein paar Tränen über seine bleichen, eingefallenen Wangen kollerten. Es gab doch noch gute Leute auf der Welt und die Gerechtigkeit hatte letztlich immer den Sieg davongetragen. Kilian dankte gerührt und versprach dem Kapellmeister, wieder die Flöte zu spielen. Seine Augen suchten vergebens nach der Frau, die sein ganzes Leben erfüllte. Nikolaus Watschinger lächelte. Er hatte die beiden Buben, Vitus und Valentin, schon bemerkt, als das Auto angekommen war, und er hatte auch gesehen, wie die beiden wie der Wind verschwunden und
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die Höhe hinangerannt waren, um der Mutter die Botschaft zu bringen, daß ihr Onkel und neuer Vater gekommen sei. Er wandte sich nun zu Kilian: „Ich weiß, wen du suchst. Aber Kathrin möchte dich nicht in Gegenwart so vieler Menschen empfangen. Das müßt ihr beiden schon allein ausmachen. Den Weg zum Latschenhofe weißt du wohl noch. Es ist am besten, du gehst allein hinauf. Ich komme dann später nach.“ Kilian ging langsam den ihm so gut bekannten Weg aufwärts. Vorher aber ging er noch auf den Friedhof und blieb lange vor dem Grabe Urschls stehen, auf dem Blumen lagen. Als er endlich droben beim Latschenhofe stand, trat ihm Kathrin entgegen, an jeder Hand einen Buben. Die beiden Buben rissen sich los, als Kilian ihnen entgegentrat und hängten sich an ihn. „Nun bist du unser neuer Vater und wir lassen dich nie mehr von uns fort. Unsere Mutter hat sich schon die Augen nach dir ausgeweint und wir haben jeden Abend gebetet, damit du bald kommst.“ Kilian stand verlegen und hilflos vor Kathrin und links und rechts von ihnen die beiden Buben. Kathrin gab ihm die Hand. „Kilian, hast du gehört, um was meine beiden Buben dich bitten? Wenn du schon mich nicht willst, kannst du den Kindern die Bitte ihres Lebens verweigern?“ In diesem Augenblicke fielen alle Bedenken und alle Schranken, alles Zögern und alle Zweifel von Kilian ab. Er konnte nicht anders, als seine geliebte Kathrin in seine Arme zu nehmen und ihr den ersten Kuß zu geben, den er in seinem Leben je einer Frau gegeben hatte. „Meine geliebte Kathrin“, war alles, was er sagen konnte. Als einige Wochen später Kilian und Kathrin in der Kirche von Sexten ein Paar wurden, hatte auch Kilian Lanzin-
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ger trotz seines Buckels den Weg in ein neues Leben gefunden.
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