Antje Windgassen
Kasturbai Gandhi Eine Mutter für Indien Biographischer Roman
Eugen Salzer-Verlag Heilbronn
© Eugen...
81 downloads
1350 Views
695KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Antje Windgassen
Kasturbai Gandhi Eine Mutter für Indien Biographischer Roman
Eugen Salzer-Verlag Heilbronn
© Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn 1997 Alle Rechte vorbehalten.
Umschlag: Kasturbai Gandhi vor Mahatma Gandhi Satz: Satz & mehr, R. Günl, Besigheim Druck: FGB, Freiburg ISBN 3 7936 0356 3 Printed in Germany
Mahatma Gandhis Leben und Wirken ist allgemein bekannt. Wer aber war die Frau an seiner Seite, Kasturbai Gandhi (1869 -1944)? Wie lebten die beiden miteinander? Wie stand sie zu Gandhis Idealen? Kasturbai Gandhi hatte viele Gesichter: das der aufopfernden Hindufrau, die den Ansprüchen ihres Ehemannes gerecht wurde, das der "Ba", die mit Verständnis für die Sorgen anderer jahrzehntelang ein entbehrungsreiches Leben im Ashram führte, das der Freiheitskämpferin und Nationalheldin. Von ihr lernte Mahatma Gandhi die Kunst des passiven Widerstandes, die er so erfolgreich gegen die Engländer anwandte. Antje Windgassen spürt einfühlsam dem Leben dieser gehorsamen und doch eigenwilligen Hindufrau nach, die bei der Befreiung Indiens eine wichtige Rolle spielte und für Indiens Frauen ein Vorbild wurde. "Der Autorin ist es gelungen, der Frau an Gandhis Seite ein Gesicht zu geben. Uns in die Welt dieser selbstbewußten Frau einzuführen, die als Abhängige letztlich doch so viel Einfluß auf ihren Mann Mahatma Gandhi hatte."
Für Katharina
1942 – Im Palast des Aga Khan Es ist heiß. Vor Wochen bereits sind die letzten Monsunwolken im ewigen Schnee des Himalaja verschwunden. Erbarmungslos brennt die Sonne vom Himmel, und der Wind, der den Sand aus der Wüste von Gujarat bis hierher nach Yeravda, einem kleinen Ort in der Nähe Poonas, trägt, ist zurückgekehrt. Unter staubigen Palmen, die aussehen, als wären sie aus vergilbtem Papier, ducken sich windschiefe Häuser. Magere Kühe und halbverhungerte Hunde stöbern im Abfall, zwei schwarze Büffel liegen träge in einer seichten Pfütze, dem letzten Überbleibsel des großen Regens, und Schwärme von Moskitos schweben wie feine graue Wolken über den armseligen menschlichen Behausungen. Der Kontrast zu dem nur wenige hundert Schritte entfernt liegenden, ehemaligen Palast des Aga Khan könnte nicht größer sein. Zwar beeinträchtigt der abweisende Stacheldrahtzaun die Schönheit der weißen Villa ein wenig, aber der herrlich grüne Garten mit den leuchtenden Blumen strahlt gediegenen Luxus und friedvolle Ruhe aus. Doch der Schein trügt, denn Ruhe und Frieden sind in diesen Jahren schwerlich zu finden. In weiten Teilen der Welt tobt ein schrecklicher Krieg, und hier, in Indien, haben sich nach langen Monaten des gewaltlosen Widerstands, nun ebenfalls die Schleusen der Gewalt geöffnet. Aufständische Inder, die die Kolonialherrschaft der Briten abschütteln wollen, stecken Polizeistationen und Regierungsgebäude in Brand, reißen Eisenbahnschwellen heraus, unterbrechen Telegraphenleitungen und greifen britische Beamte tätlich an, die mit grausamer Härte zurückschlagen. Blutige Gemetzel sind die Folge, in denen Hunderte von indischen Männern, Frauen und Kindern ums Leben kommen. Und der einzige Mann, der diesen Wahnsinn aufhalten könnte, der genug Einfluß hätte, die Aufständischen zu
beruhigen und gewaltlos in die Freiheit zu fuhren, ist von den Briten zum Schweigen gebracht worden. Das ist auch der Grund, warum die weiße Khan-Villa eiligst mit Stacheldraht umgeben wurde. Die Briten haben sie zu einem gut bewachten und vollkommen isolierten Spezial-Gefängnis umfunktioniert, in dem kein Geringerer gefangengehalten wird als Mohandas Karamchand Gandhi, von seinen Landsleuten ehrfurchtsvoll Mahatma genannt, der »halbnackte Rebell«, der mit seinem gewaltlosen Kampf für Indiens Unabhängigkeit den Kolonialherrschern so viele Schwierigkeiten macht. Gemeinsam mit Gandhi sind einige seiner engsten Gefolgsleute inhaftiert; die berühmte indische Dichterin Sarojini Naidu ebenso wie die blaublütige Lady der englischen Gesellschaft, Miss Madeline Slade, die sich bereits vor vielen Jahren Gandhi und seiner Bewegung angeschlossen hat und von ihm Mirabehn getauft wurde. Auch Gandhis Privatsekretär, Pyarelal Nayyar, dessen jüngste Schwester, die Ärztin Dr. Sushila Nayyar, und die Frau des Mahatma, Kasturbai Gandhi, sind hier. Für sie alle ist es nicht die erste Haftstrafe, die sie verbüßen müssen. Jeder von ihnen hat seiner Überzeugung wegen bereits des öfteren in Gefängnissen gesessen, die jedoch niemals so luxuriös ausgestattet waren. Dieser Palast gibt ihnen fast das Gefühl, in einem gutgeführten Hotel statt in einer Haftanstalt zu leben, zumal sie sich frei und ohne Beschränkungen innerhalb des Anwesens bewegen dürfen. Trotzdem macht den Gefangenen diese Haft mehr als sonst zu schaffen, denn in ihrem goldenen Käfig sind sie vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten, und aktuelle Nachrichten dringen, wenn überhaupt, nur verspätet und ungenau zu ihnen. So wissen sie wenig, was in Indien vor sich geht, haben nur gerüchteweise von den Aufständen und schrecklichen Metzeleien in ihrem Land gehört und sind lediglich darüber informiert worden, daß die meisten Briten Gandhi die Schuld an den Unruhen geben, ausgerechnet ihm, dem Apostel der Gewaltlosigkeit. Ohne Unterlaß senden der Mahatma und seine Getreuen Briefe an den
britischen Vizekönig, in denen sie sich gegen diese Beschuldigungen wehren und ihn bitten, die Isolation aufzuheben. Sie schreiben an den Gouverneur von Bombay, der sie über angebliche Greueltaten der Polizei an der Zivilbevölkerung informieren soll, und sie wenden sich an Freunde und Bekannte, die der Bewegung angehören und sich vermutlich verzweifelt bemühen, die Aufständischen zu beruhigen und weitere Aktionen des zivilen Ungehorsams zu organisieren. Diese Briefe werden gemeinsam entworfen, man diskutiert die Inhalte und ändert die Texte. So sind alle beschäftigt, alle bis auf Kasturbai. Sie, die weder lesen noch schreiben und den anderen daher keine Hilfe sein kann, fühlt sich ein wenig ausgeschlossen. »Warum genießt du nicht einfach die ruhigen Tage, Ba (Mutter)«, wird sie von ihrer jungen Freundin, der Ärztin Sushila Nayyar aufgefordert. »Deine Gesundheit ist sehr angegriffen, und jetzt hast du Zeit und Gelegenheit, dich von den Strapazen zu erholen.« Die 73jährige Kasturbai gehorcht. Sie ruht sich aus, macht Spaziergänge in dem gepflegten Garten und beschäftigt sich ansonsten damit, neben ihrem Mann zu sitzen und ihm die Fliegen und Mücken wegzuwedeln, die im Palast eine wahre Plage sind. Trotzdem schleppen sich für sie, die ihr ganzes Leben aktiv gewesen ist, die Tage eintönig dahin. »Alle können sich sinnvoll beschäftigen«, klagt sie ihrem Mann, »nur ich habe nichts zu tun. Selbst für die Küchenarbeit werden andere eingeteilt.« Gandhi überlegt einen Augenblick. »Ich wollte Sushila schon lange bitten, eine Biographie über dich zu schreiben«, meint er dann. »Setz dich mit ihr zusammen und erzähl ihr aus vergangenen Zeiten.« »Eine Biographie über mich, wer soll die lesen wollen?« Eine Weile beobachtet sie nachdenklich die patroullierenden Wächter, die den Stacheldrahtzaun entlangschreiten, dann nickt sie: »Jetzt weiß ich, was ich tun kann. Ich werde Lesen und Schreiben lernen. Mein Leben geht zu Ende, das spüre ich ganz deutlich.
Wenigstens einmal möchte ich unseren Söhnen Briefe schreiben, ohne dafür fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.« Sprachlos sieht der Mahatma sie an. »Unser ganzes Leben lang habe ich versucht, dich dazu zu bringen, Lesen und Schreiben zu lernen, und du hast dich stets dagegen gewehrt. Jetzt bist du endlich bereit dazu?« Kasturbai schüttelt lächelnd den Kopf. »Ich habe gesagt, daß ich lernen möchte. Ich habe nicht gesagt, daß du mein Lehrer sein sollst. Wenn du ein Buch besorgen kannst, das für meine Zwecke geeignet ist, bin ich dir dankbar, aber deine Zeit will ich nicht beanspruchen.« Das Lernen erweist sich jedoch als schwierig. Es will Kasturbai einfach nicht gelingen, all das zu behalten, was sie sich gerade mühsam angeeignet hat. Gandhi hat ihr eine Fibel der vierten Grundschulklasse in ihrer Muttersprache Gujerati besorgt, aber die krakeligen Druckbuchstaben, die sie mit zittriger Hand aufs Papier bringt, sind kaum zu entziffern. »Es würde besser gehen, wenn ich einen Schreibblock hätte wie alle anderen«, sagt Kasturbai entschuldigend. »Ich werde dir einen Schreibblock geben, wenn du gelernt hast, ordentlich zu schreiben«, antwortet Gandhi streng. »Bis dahin mußt du auf Papierfetzen üben.« Gekränkt sieht sie ihn an, und Mohandas erkennt, daß er einen Fehler gemacht hat. Natürlich wollte er sie nicht beleidigen, sondern nur deutlich machen, daß gute Schreibblöcke Geld kosten und nicht für Kritzelei verschwendet werden dürfen. Rasch entschuldigt er sich, aber Kasturbai läßt sich nicht besänftigen. Schließlich besorgt Gandhis Sekretär Pyarelal einen Schreibblock für Kasturbai. Sie nimmt ihn auch an, legt ihn aber sofort auf einen Stoß Papier in Mohandas Zimmer. Nichts und niemand kann sie zum Gebrauch dieses Blockes bewegen. »Es ist zu spät für mich, Schreiben zu lernen«, erklärt sie Sushila traurig. »Warum also soll ich das kostbare Papier vergeuden?«
Kasturbai gewöhnt sich nun an, Mohandas bei seinen täglichen Spaziergängen am Morgen und am Abend zu begleiten. Sie will neben ihm gehen, seinen Arm um ihre Schultern fühlen, aber der Mahatma geht einfach zu schnell, und Kasturbai muß diese gemeinsamen Spaziergänge wieder aufgeben. Sie fühlt sich schwach und abgespannt, und ihre Kräfte lassen trotz Ruhe und medizinischer Behandlung immer mehr nach. Die Tage gehen dahin, Mohandas beginnt, unruhig zu werden. Kasturbai beobachtet ihn besorgt und weiß bereits, was nun kommen wird. Am Silvesterabend des Jahres 1942 schreibt Gandhi an den Vizekönig. Dies ist ein sehr persönlicher Brief. Das alte Jahr darf nicht zu Ende gehen, ohne daß ich das loswerde, was in meinem Inneren nagt… Noch einmal bittet er darum, die Isolation aufzuheben. Und er klagt die britische Regierung an, ihn unverändert für die Aufstände verantwortlich zu machen. »Was schreibst du da?« Mißtrauisch sieht Kasturbai ihren Mann an. »Einen Brief an den Vizekönig«, gibt er zurück, ohne aufzusehen. »Wenn er auch diesmal nicht reagiert, wirst du wieder fasten, nicht wahr?« argwöhnt Kasturbai. »In der Tat, das werde ich«, entgegnet Mohandas lachend. »Woher weißt du das?« »Nun, ich denke doch, daß ich dich in all den Jahren kennengelernt habe«, erwidert sie niedergeschlagen. Mohandas nickt belustigt. »Warum lachst du?« fragt Kasturbai erzürnt. »Ich glaube nicht, daß es gut für dich ist, diese Strapaze noch einmal auf dich zu nehmen. Vor zwei Jahren hast du das letzte Mal gefastet und bist nach fünf Tagen sehr krank geworden. Nun bist du dreiundsiebzig und gewiß nicht kräftiger.«
»Ich werde darüber nachdenken«, lenkt er ein. »Und ich werde Gottes Rat und Führung suchen und seiner Antwort gehorchen.« »Angesichts deines augenblicklichen Gesundheitszustandes wird selbst Gott dich nicht bitten zu fasten«, gibt Kasturbai scharf zurück. »Aber da du es bist, der seine Befehle interpretiert, weiß ich schon jetzt, wie das Ergebnis lauten wird.« »Du darfst schon deswegen nicht fasten, Bapu«, schaltet sich nun auch Sushila ein, »weil du es Kasturbai nicht zumuten kannst. Das sage ich dir als Ärztin. Bisher hat sie immer mit dir gefastet, und wie ich sie kenne, wird sie es auch diesmal wieder tun. Wie zuvor werden ein Glas Milch und etwas Fruchtsaft ihre einzige Nahrung sein. Aber diesmal ist es zu gefährlich für sie, denn sie fühlt sich jetzt schon gesundheitlich sehr schwach. Die zusätzliche Sorge um dich könnte ihren Zustand verschlimmern.« Mohandas lacht. »Keiner kennt Kasturbai so gut wie ich. Sie hat ungeheure Kraft und wird die Anstrengungen besser ertragen als irgendeiner von euch.« Wie immer setzt Gandhi seinen Willen durch. Als der Vizekönig ihn erneut mit einer nichtssagenden Antwort abspeist, bittet er Kasturbai um eine vertrauliche Unterredung. Nach einer halben Stunde kommt sie aus seinem Zimmer und ist überzeugt, daß Fasten der einzig mögliche Weg ist. »Wie kann Bapu hinnehmen, daß wir so lange isoliert werden?« hält sie den anderen vor. »Wie kann er hinnehmen, daß man all die Lügen und Halbwahrheiten über ihn verbreitet? Er muß mit Fasten beginnen, um gegen den Terrorismus der Regierung zu protestieren.« Sprachlos sehen ihre Mitgefangenen sie an. Wenige Tage später beginnt Gandhi nach dem Frühstück mit seinem 21-Tage-Fasten. In den ersten Tagen behält er seine Morgen- und Abendspaziergänge bei. Am Morgen begleitet ihn Kasturbai, die angekündigt hat, daß auch sie während Mohandas Fasten nur von der bereits bekannten Früchte- und Milchdiät leben wird. Alle protestieren dagegen.
»Du bist zu schwach, und die Diät wird dich noch mehr schwächen, Ba.« »Wie ihr wollt«, gibt Kasturbai zurück. »Dann trinke ich zwischendurch ein paar Gläser heißes Wasser mit Honig, aber mehr werde ich auf gar keinen Fall zu mir nehmen. Ihr könnt euch jedes weitere Wort sparen.« Am sechsten Tag seines Fastens wird Mohandas schwächer. Es bereitet ihm Schwierigkeiten, Wasser zu schlucken, er leidet an Übelkeit und Erbrechen. »Meinst du nicht, daß du ein paar Tropfen Zitronensaft hinzufügen solltest, um das Wasser trinkbarer zu machen?« schlägt Kasturbai vor. »Nein, jetzt noch nicht«, entgegnet Mohandas. »Wenn die Zeit dafür gekommen ist, sage ich dir Bescheid.« Gandhis Zustand verschlechtert sich zusehends. Da er kein Wasser mehr trinken kann, verdickt sich sein Blut, seine Nieren versagen, sein Puls wird schwächer und sein Körper feuchtkalt. Alle sind sehr besorgt. Trotzdem wagt Kasturbai nicht noch einmal, Mohandas auf den Zitronensaft hinzuweisen. Es hat keinen Zweck, mit ihm darüber zu streiten. Sie muß einfach auf Gott vertrauen. Am dreizehnten Tag ist der Höhepunkt erreicht. Mohandas Kräfte lassen mehr und mehr nach. Sushila und der Gefängnisarzt sind mit ihrer Weisheit am Ende. Als der Gesundheitszustand des Mahatma immer alarmierender wird, öffnet die Regierung ’die Tore zum Aga-Khan-Palast. Hunderte von Menschen strömen herein und ziehen an Gandhis Bett vorbei. Mit geschlossenen Augen liegt er da, nur seine kaum wahrnehmbaren Atemzüge verraten, daß er noch am Leben ist. Jeden Tag betet Kasturbai vor der Glück verheißenden Tutsi-Pflanze auf der Veranda um das Leben Mohandas. Nicht nur für sich, sondern mehr noch für Indien. Sie ist so sehr in ihr Gebet vertieft, daß sie die Menschen, die an ihr vorbeigehen, gar nicht wahrnimmt. Sushila beobachtet sie stumm. Sie ist verzweifelt. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird der Mahatma noch vor Einbruch der Nacht sterben. Ist sie nicht Ärztin geworden, um Leben zu retten? Wie kann sie es da
Mohandas erlauben, sich selbst zu töten? Zögernd tritt sie an sein Bett und beugt sich zu ihm hinab. »Es ist nun wirklich an der Zeit, dem Wasser Zitronensaft hinzuzufügen, Bapu«, sagt sie mit eindringlicher Stimme. »Sonst mußt du sterben.« Ein Lächeln huscht über die abgezehrten Züge des Mahatma. Er versucht, die Augen zu öffnen, aber es gelingt ihm nicht mehr. Unmerklich nickt er. Sushila lächelt nun ebenfalls. Dieser Fuchs, denkt sie fast belustigt. Er hat sich ausgerechnet, daß wir es erst wieder wagen, ihn auf den Fruchtsaft anzusprechen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wir hätten es viel früher tun sollen. Schnell läuft sie in die Küche und läßt sich ein Glas Zitronensaft geben, fugt die gleiche Menge Wasser hinzu und gibt dem Mahatma die Mischung schluckweise zu trinken. Auf der Veranda beendet Kasturbai ihr Gebet. Leise geht sie in Mohandas Zimmer. Niemand muß ihr sagen, daß er etwas getrunken hat. Sie weiß es und sie weiß auch, daß die Gefahr vorüber ist. Sushilas Sorge konzentriert sich nun wieder mehr auf Kasturbai. »Du mußt dich ausruhen, Ba«, sagt sie. »Komm, ich bring’ dich in dein Zimmer.« Widerspruchslos folgt Kasturbai der Jüngeren und legt sich auf ihr Bett. Als Sushila die Tür hinter sich schließen will, ruft Kasturbai sie noch einmal zurück. »Bapu hat gewollt, daß du eine Biographie über mich schreibst«, flüstert sie. »Wenn es auch dein Wille ist, können wir damit beginnen. Ich denke, jetzt ist es an der Zeit. Bapu wird sein Fasten bald beenden, und dann kann es nicht mehr lange dauern, bis ihr alle freigelassen werdet.« »Und du, Ba?« Erstaunt sieht Sushila die Ältere an. »Wirst du nicht mit uns kommen?« »Nein.« Kasturbai schüttelt den Kopf. »Ich werde hier sterben.« Ihre Worte lassen keinen Zweifel zu. Es ist offensichtlich, daß sie glaubt, ganz genau zu wissen, wann und wo ihr Ende kommt. Betroffen blickt Sushila auf. »Ach Ba, das darfst du nicht sagen. Sobald es dem Mahatma besser geht, wirst auch du dich wieder wohler fühlen und
zuversichtlicher in die Zukunft blicken.« Doch Kasturbai lächelt nur wissend. »Es fehlt mir nicht an Hoffnung, Sushila, ich weiß, daß Bapu wieder ganz gesund werden wird. Aber ich wollte nicht mit dir über meinen Tod reden, sondern über mein Leben.« Ihre Stimme duldet keinen Widerspruch. Sushila zögert, doch dann nickt sie und macht es sich neben dem Lager ihrer mütterlichen Freundin bequem. »Gut, wenn du bereit bist, können wir anfangen.« Kasturbai streckt die Hand aus und streicht der Ärztin liebevoll über das Haar. »Du bist eine gute Frau, Sushila. Ich mag dich sehr.« Einen Augenblick sitzen sie stumm und voller Verbundenheit nebeneinander, dann zieht Kasturbai ihre Hand zurück und konzentriert sich auf ihren Bericht. »Wo soll ich nur anfangen«, murmelt sie leise vor sich hin. »Es ist alles so lange her.«
Ein Hindu-Mädchen (1869-1881) Die Festungsstadt Porbandar, im Westen der Halbinsel Kathiawar, am Arabischen Meer, hat einen kleinen, unbedeutenden Hafen und ist von starken hohen Mauern umgeben. Hinter diesen Mauern drängen sich die Häuser, allesamt aus Kalksteinen erbaut, dicht zusammen und scheinen sich über den engen Gassen, die die Stadt wie ein Labyrinth durchziehen, aneinanderzulehnen. Wegen der Raumknappheit in der Festung sind die Häuser nicht besonders stattlich; auch das Anwesen des wohlhabenden und einflußreichen Kaufmanns Gokuldas Makanji, mit schön geschnitzten Holzwänden und schattigen Veranden ausgestattet, ist nicht gerade groß. Da es keinen Garten gibt, müssen die Kinder der Makanjis draußen in den Gassen spielen. Manchmal laufen sie hinüber zu den Gandhis, einer befreundeten Familie mit gleichaltrigen Kindern und einem kleinen Hof, in dem man wunderbar herumtollen kann. Auch Kasturbai, eine der Makanji-Töchter, spielt gern hier mit ihren Freundinnen. Sie ist ein sehr lebhaftes Kind, flink wie ein Wiesel, dabei ausgesprochen hübsch, wißbegierig und intelligent. Mit offenen Augen beobachtet sie ihre Umwelt und stellt schon bald fest, daß es einen großen Unterschied macht, ob man als Junge oder als Mädchen geboren wird. »Mädchen haben sowieso keine Stimme«, hat ihr größerer Bruder gesagt, und Kasturbai muß ihm recht geben. Ihr ganzes bisheriges Leben war darauf ausgerichtet, sie zu lehren, diese Tatsache zu akzeptieren. Doch als es für die gleichaltrigen Jungen in der Nachbarschaft Zeit wird, in die Schule zu gehen, kann sie trotzdem nicht einsehen, warum einem Mädchen diese Chance vorenthalten wird. »Vater, ich möchte auch Lesen und Schreiben lernen«, bittet sie. »Wenn ich in die Schule gehen dürfte, könnte ich…«
»Seit wann ist es üblich, daß Mädchen in die Schule gehen?« unterbricht der Vater sie brüsk, und Kasturbai senkt beschämt den Kopf. Es ist zwecklos, sie weiß es. Dabei hätte sie so gern diese geheime Welt aus Buchstaben entschlüsselt, hätte gern verstanden, was sich hinter den großen, dicken Büchern voller Geheimnisse, die sie drüben bei den Gandhi-Brüdern gesehen hat, verbirgt. Aber das sind natürlich Jungen, und die dürfen eine Schule besuchen. Kopfschüttelnd blickt der Vater auf seine Tochter hinab. »Für ein Mädchen ist es vollkommen nutzlos, Lesen und Schreiben zu lernen«, sagt er. »Es wird ja sowieso bald heiraten und ihrem Mann viele Söhne gebären. Dafür braucht man keine Bücher und Buchstaben. Im Gegenteil, geradezu irreführend und gefährlich könnte es werden und auf abwegige Ideen bringen. Nein, dafür hat ein gutes Mädchen keine Verwendung.« Kasturbai schweigt. Ihr bleibt gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Traurig läuft sie aus dem Haus und hat nur noch den einen Wunsch, allein zu sein. Warum nur ist sie nicht als Junge auf die Welt gekommen? Blindlings läuft sie durch die engen Gassen und findet sich schon bald außerhalb der Stadtmauern wieder. Die Hitze flirrt, und das grelle Sonnenlicht blendet schmerzhaft in den Augen. Obwohl sie Sandalen trägt, beginnen ihre Fußsohlen auf der heißen Straße zu brennen. Im Schatten eines riesigen alten Feigenbaumes sucht sie Kühlung. Niedergeschlagen sieht sie sich um. Ein paar Schritte weiter, auf dürren Beinen, bewegungslos, steht eine Schar weißer Reiher am Rand eines Reisfeldes. Die Tiere haben gewiß Appetit auf die jungen Sprossen, aber sie wagen sich nicht an die Setzlinge heran, weil mitten im Feld eine zerlumpte Vogelscheuche Wache hält. Kasturbai lehnt den Rücken an den Stamm und starrt minutenlang in die träge Strömung des Flusses, an dem die Straße entlangführt. Das Wasser ist mit Lotosknospen gesprenkelt. Bald werden sie zu weißer und kupferfarbener Blütenpracht aufbrechen. Kasturbai bemerkt nicht die Schönheit der Blumen, sie ist plötzlich ganz aufgeregt, denn sie hat eine Idee:
»Vielleicht sollte ich Mohandas Gandhi bitten, mir Lesen und Schreiben beizubringen«, überlegt sie laut. »Er ist immer so freundlich zu mir und wird mir den Wunsch gewiß nicht abschlagen.« Natürlich ist diese Idee nicht nur aufregend, sondern auch ein wenig gefährlich. Nicht auszudenken, was ihr Vater sagen würde, wenn er davon erführe. Aber das Risiko ist es wert. Noch heute abend, wenn Mohandas aus der Schule zurück ist, will sie ihn um diesen Gefallen bitten. Als Kasturbai nach Hause zurückkehrt, erfährt sie, daß die Gandhis umziehen wollen und Porbandar verlassen werden. Traurig fügt sie sich in ihr Schicksal. Kasturbai ist acht Jahre alt, als der Vater von Mohandas in einer wichtigen Angelegenheit zu Besuch kommt. Die Gandhis wohnen nun in Rajkot, einer Stadt im Landesinneren, und Karamchand ist dort zu einem angesehenen Mann geworden. Die Freude über das Wiedersehen ist groß, erst recht, als er sein Anliegen vorträgt: »Unsere beiden Familien sind seit vielen Jahren befreundet«, sagt er. »Wir achten und ehren uns. Da ist es naheliegend, daß wir unsere Kinder miteinander verheiraten. Mohandas, mein Jüngster, ist jetzt acht Jahre alt. Er ist ein guter Junge und soll einmal meine Nachfolge als Dewan (hoher Staatsbeamter) antreten. Sag, Gokuldas, willst du ihm deine Kasturbai zur Frau geben?« Makanji lächelt zögernd. »Ein wunderbarer Vorschlag, mein Freund«, erwidert er nachdenklich. »In unseren alten heiligen Schriften steht geschrieben, daß ein Mädchen verheiratet werden sollte, solange es noch nackt herumtollen kann. Kasturbai wäre also gerade im richtigen Alter und trotzdem…« Karamchand nickt mit Nachdruck. »Ich weiß, was du sagen willst, Gokuldas. Ich bin ganz deiner Meinung. Ein Mädchen mit acht Jahren zu verheiraten, ist einfach zu früh. Zumal in den Sutras außerdem geschrieben steht, daß ein Junge erst heiraten sollte, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hat. Mohandas wäre dann etwa vierundzwanzig.
Was aber soll ein ausgewachsener Mann mit einem acht Jahre alten Mädchen anfangen?« Die Männer lachen. Sie verstehen sich. »Schon mein Vater war aufgeschlossen und modern genug, mir dieses Schicksal zu ersparen«, erklärt Gokuldas dann. »Und ebenso möchte ich es mit Kasturbai halten. Es ist mir eine Ehre, meine Tochter in deine Familie zu geben, aber mit der Heirat sollten wir noch einige Jahre warten.« Karamchand ist einverstanden. »Dann ist es also abgemacht, und Mohandas und Kasturbai sind einander versprochen.« Bevor die Männer sich im besten Einvernehmen trennen, legen sie den Termin für die formelle Verlobungsfeier wenige Tage später fest. Da die Gandhis sich gerade in Porbandar aufhalten, wollen beide Familien die Gelegenheit nutzen, denn die 180 Kilometer von Rajkot bedeuten immerhin eine fünftägige Reise mit dem Ochsenkarren. Und so versammeln sich die Familien bald darauf in bester Freundschaft, und ein Priester bringt eine große Messingplatte mit Früchten, Kichererbsen, Blumen und einigen goldenen Schmuckstücken, die von den Gandhis segnend berührt werden müssen. Die Platte wird schließlich auf Kasturbais Kopf gesetzt, wo sie der Priester segnet. Das achtjährige Mädchen weiß nicht genau, was mit ihm geschieht, aber es freut sich über die schönen Geschenke. In den folgenden Tagen wird die Familie Makanji von den Gandhis und danach die Gandhi-Familie von den Makanjis zum Essen eingeladen. Damit gilt die Verlobung als besiegelt. Kasturbai und Mohandas sind nun fürs Leben miteinander verbunden. Keiner hat sie nach ihrer Meinung gefragt, wozu auch, was sie darüber denken, ist uninteressant, schließlich sind es Kinder. Kasturbais unbeschwerte Kindheit ist nun zu Ende. Anstatt wie früher mit ihren Freundinnen herumzualbern und zum Meer hinunterzulaufen, um Hüpfspiele zu spielen, muß sie jetzt immer häufiger zu Hause bleiben. »Du wirst daheim gebraucht«, sagt die Mutter und gibt ihr Reis zu putzen, Gemüse zu schälen, trägt ihr auf, Wasser zu holen,
Wäsche zu spülen und die Männer des Hauses bei Tisch zu bedienen. Seit der Verlobung fällt das Mädchen unter die PurdaRegeln. Purda heißt Vorhang, und die Regeln, die zu beachten sind, beziehen sich auf die Trennung der Geschlechter. Wer sie nicht einhält, bringt seine Familie ins Gerede. »Du bist nun in einem Alter, in dem Frauen keinen Kontakt mit fremden Männern mehr haben dürfen«, erklärt ihr die Mutter. »Unter keinen Umständen darfst du in der Öffentlichkeit auffallen, du würdest deinen und den Ruf deiner Familie gefährden. Wenn du zum Beispiel außerhalb des Hauses laut lachst, ist es anstößig, denn es könnte die Blicke der Männer auf dich ziehen. Darum mußt du abgeschirmt leben, bis du deinem künftigen Ehemann bei der Hochzeit übergeben wirst.« Kasturbai will dieses neue Leben überhaupt nicht gefallen, doch sie hat keine andere Wahl und muß sich von ihrer Mutter nach den traditionellen Vorstellungen erziehen lassen. Sie muß kochen lernen, um die strengen Diätvorschriften ihrer Kaste einhalten zu können; auch müssen ihr die religiösen Regeln der Reinhaltung in Fleisch und Blut übergehen. Was als rein oder unrein gilt, ist den Kasten seit Jahrhunderten vorgeschrieben. »Hindus unserer Kaste dürfen niemals mit Unberührbaren zusammen essen«, predigt die Mutter immer wieder. »Und wer gegen dieses Gesetz verstößt, kann sich nur durch rituelle Waschungen wieder säubern.« Vor allen Dingen muß Kasturbai jedoch lernen, wie sie ihren zukünftigen Ehemann zufriedenstellt. »Eine tugendhafte und keusche Hindufrau, die ihren Mann liebt, muß jeden seiner Wünsche erfüllen«, erklärt die Mutter voller Überzeugung. »Der Mann ist das Oberhaupt der Familie, der Mittelpunkt des Hauses. Nach ihm müssen sich alle anderen richten. So werden die Mahlzeiten zum Beispiel immer zuerst ihm serviert, danach den größeren Söhnen. Wir Frauen ziehen uns mit den Mädchen und den kleinen Jungen in den Frauenteil des Hauses zurück, um dort zu essen.« Viel Neues muß Kasturbai nun lernen, und die Lektionen scheinen kein Ende zu nehmen. »Eine Frau darf weder Zeit noch Mühen scheuen, ihrem Mann stets zu gefallen«, trichtert ihr die
Mutter ein und verrät ihr gleichzeitig die traditionellen Rezepte der Schönheitspflege. Kasturbai lernt, wie man Öle und Blütenblätter miteinander vermischt, um wohlriechende Parfüms zu erhalten, die das Haar glänzend und die Haut geschmeidig machen, und wie man wirkungsvolle Mixturen herstellt, die die Rötungen auf den Fußsohlen hervorrufen, was als ganz besonderes Schönheitsmerkmal gilt. Doch zufrieden macht es Kasturbai nicht. »Sind die Frauen denn nichts anderes als die Sklavinnen der Männer?« fragt sie herausfordernd. »Dürfen sie über ihr eigenes Leben niemals selbst bestimmen?« Frau Makanji lächelt verständnisvoll und streicht dem jungen Mädchen über das Haar. »Wart nur ab, Kasturbai. Wenn du erst verheiratet bist, wird es dir eine Freude sein, deinem Mann zu dienen«, antwortet sie ernst. »Und was die Freiheit angeht, fühlen wir Frauen uns ohnehin nur ungezwungen, wenn wir unter uns sind. Da du mich immer begleitest, weißt du ja, wie häufig wir uns gegenseitig besuchen.« Kasturbai winkt ab. »Ja, aber wir fahren immer in einem Wagen mit zugezogenen Gardinen. Ich begreife einfach nicht, warum es unschicklich sein soll, daß Fremde uns sehen. Wir dürfen ja noch nicht einmal den männlichen Mitgliedern des Hauses begegnen, das wir besuchen.« Die Mutter schmunzelt. »Du wirst es verstehen lernen, Kasturbai, wenn du älter bist und mehr über das Leben weißt. Wir Frauen empfinden diese strengen Vorschriften als Schutz, sie geben uns ein Gefühl der Sicherheit. Wir leben in unserer eigenen Welt nach Regeln, die die HinduGesellschaft bereits vor vielen Jahrhunderten aufgestellt hat. Wir leben ausschließlich für die Familie, das ist der Platz, auf den wir gestellt sind.« Die Mutter ist überzeugt von der Richtigkeit ihrer Worte. Keine Hindufrau würde ihre Art zu leben in Frage stellen. Wie sehr sich jedoch Ideale und Ziele von denen der Kolonialherren unterscheiden, wird ihnen bewußt, als die Engländer die Witwenverbrennung verbieten und unter strenge Strafe stellen.
Was für die Briten ein grausamer Brauch ist, empfinden indische Frauen als den einzigen Ausweg, sie nach dem Tod ihres Mannes vor einer trostlosen Zukunft zu bewahren. Aber nicht nur an dieser Tradition rüttelt die Kolonialmacht, die englische Verwaltung versucht auch die Kinderehen abzuschaffen. Kopfschüttelnd unterhalten sich Frau Makanji und ihre Freundin während des nächsten Besuchstages über dieses Thema. »Wissen die Herren denn nicht, daß die frühe Heirat die einzige Methode ist, die Keuschheit einer Frau vor der Ehe zu bewahren?« entrüstet sich Frau Makanji, und ihre Freundin antwortet schulterzuckend. »Vermutlich kennen sie nicht das Leben in einer Großfamilie, in der viele Generationen unter einem Dach wohnen und verheiratete und ledige Söhne, heranwachsende Enkelsöhne und oft auch Neffen in unmittelbarer Nähe von jungen Mädchen leben.« Kasturbais Mutter nickt. »Was wissen sie überhaupt über unser Volk? Gewiß machen sie sich keine Gedanken über die Mädchen, die vor der Eheschließung den Verlust ihrer Jungfräulichkeit hinnehmen müssen und dann für immer verloren sind, da ja auch spätere Wiedergeburten keine Errettung bringen können. Wir sind für sie nichts anderes als eine wilde Hammelherde.« Die Freundin kann ihr nur zustimmen. »Die Briten werden nie begreifen, wie sinnvoll und richtig unsere Traditionen sind.« Kasturbai lauscht dem Gespräch schweigend und macht sich ihre eigenen Gedanken. Unwillkürlich muß sie an die Hochzeiten denken, die sie miterlebt hat und die jedesmal aufregend gewesen waren. Die schönen Gewänder, der glitzernde Goldschmuck, die Musik, der Tanz und das gute Essen, die vielen Menschen, die so fröhlich miteinander feierten. All das hat früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, eine geheimnisvolle Anziehung auf sie ausgeübt. Doch inzwischen weiß sie genug über die Beziehungen zwischen Mann und Frau, um der Ehe mit einiger Skepsis entgegenzusehen. Nein, sie will nicht heiraten, zumindest jetzt noch nicht, und von daher kann sie die Pläne der Engländer eigentlich nur begrüßen. Ich will nicht mein Zuhause verlassen
und zu fremden Leuten ziehen müssen, denkt Kasturbai niedergeschlagen. Mit einer Schwiegermutter und älteren Schwägerinnen zusammenleben, die über mich bestimmen und mich bewachen werden. Man wird von mir verlangen, einem Mann zu dienen, ihm ununterbrochen Kinder zu gebären, und die einzigen Lichtblicke werden die Besuche in meinem Elternhaus sein, in das ich für ein paar Tage heimkehren darf, bis mein Mann oder meine Schwiegermutter finden, daß ich lange genug fort war und mich wieder zurückbefehlen. Eine gute Hindufrau zu sein, bedeutet, sich bis zur vollkommenen Aufgabe der eigenen Persönlichkeit mit einem Mann zu identifizieren, mit seinen Ideen und seinem Beruf. Wie sie sich dabei fühlt, ist unwichtig, sie wird sich in ihr Schicksal fügen müssen. Eine Hindufrau ist keine Kämpfernatur, die aufsteht, um Jahrhunderte alte Traditionen zu verändern. Auch wenn Kasturbai bezweifelt, ob solche lebenslange Selbstaufgabe richtig ist, bleibt ihr nur der Wunsch, noch lange nicht heiraten zu müssen. Sie hofft, wenigstens eine Frist von ein paar Jahren zu haben.
Das große Fest (1882) Wie immer steht Kasturbai gleich nach der Morgendämmerung auf, verrichtet die ihr aufgetragenen Hausarbeiten und ist nun in der Küche damit beschäftigt, das Mittagessen für die Familie zuzubereiten. Der Topf mit Reis und Gemüse steht bereits auf der Kochstelle und brodelt leise vor sich hin, während sie sorgfältig die erforderlichen Gewürze zusammenstellt. Gewürze sind wichtig in der indischen Küche, Fleisch hingegen ist verpönt, zumindest bei den Hindus. Kasturbai kann die Menschen, die Tiere töten, um sie anschließend zu verspeisen, nicht verstehen. Vorsichtig hebt sie den Deckel vom Topf, gibt die Gewürze hinein und rührt sie mit einem hölzernen Löffel unter das Gemüse. Der heiße Dampf, der dabei aufsteigt, macht die Hitze in der Küche noch unerträglicher, trotzdem verrichtet sie ihre Arbeit mit sicheren Handgriffen. Kasturbai hat viel gelernt in den letzten Jahren, ist eine gute Köchin und Hausfrau geworden, ein braves Mädchen, das der Mutter fleißig zur Seite steht. Dreizehn Jahre zählt sie nun und ist zu einer kleinen Schönheit herangewachsen, zierlich und anmutig, mit großen, dunklen Augen in einem fein geschnittenen Gesicht und glänzenden, schwarzen Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichen. »Dein Vater möchte mit dir sprechen«, die Mutter kommt in die Küche, tritt an die Kochstelle und sieht prüfend in den Topf. »Du sollst sofort zu ihm kommen.« Erstaunt blickt Kasturbai auf. »Jetzt sofort, noch vor dem Essen?« Die Mutter nickt und weicht dem Blick ihrer Tochter aus. »Komm, wir dürfen ihn nicht warten lassen. Deine Schwester wird die Kocherei übernehmen.« Neugierig folgt Kasturbai der Mutter. Was um alles in der Welt mochte der Vater von ihr wollen? Hatte sie etwas angestellt? Nein, sie war sich keiner Schuld bewußt. Vielleicht würde sie nun endlich erfahren,
welchen Grund die vielen geheimnisvollen Aktivitäten hatten, die sich in letzter Zeit abspielten. Warum, zum Beispiel, hat der Vater so oft mit dem Priester verhandelt? Warum drängt ein Strom von Handwerkern und Kaufleuten ins Haus? Das alles deutet auf ein wichtiges Ereignis hin. Der Vater blickt von seinem Buch hoch, als die beiden Fravien eintreten. Er bittet sie, Platz zu nehmen, und sieht Kasturbai eindringlich an. »Ich habe Nachricht von Karamchand Gandhi«, beginnt er. »Du erinnerst dich an ihn?« Kasturbai nickt. »Es ist viele Jahre her, aber…« Der Vater läßt sie jedoch nicht ausreden. »Mein Freund teilt mir mit, daß er langsam alt wird und furchtet, nicht mehr lange zu leben. Seine drei Söhne sollen darum verheiratet werden, solange er sich noch kräftig genug fühlt, um an den Feierlichkeiten teilnehmen zu können.« Aufmerksam sieht Kasturbai den Vater an. Sie weiß immer noch nicht, was er ihr eigentlich mitteilen will, denn daß sie als Achtjährige mit Mohandas Gandhi verlobt wurde, hat sie längst vergessen. In ihrem Elternhaus ist schließlich nie wieder über diese Tatsache gesprochen worden. »Ich weiß, meine Tochter«, fährt der Vater fort, »du bist erst dreizehn, und eigentlich wollte ich ein oder zwei Jahre länger warten, aber wenn Karamchand drängt, werden wir unser Einverständnis geben müssen.« Kasturbai sieht ihn verständnislos an, und Gokuldas sieht ein, daß er deutlicher werden muß. »Um es kurz zu machen, Kasturbai, du wirst in wenigen Wochen heiraten, und zwar den Jungen, dem du bereits als Kind versprochen wurdest, Mohandas Gandhi.« Kasturbai erschrickt. »Aber Vater, ich bitte…« Sie unterbricht sich und blickt hilflos zur Mutter hinüber, doch die schweigt. Von ihr ist keine Hilfe zu erwarten. Niemals würde sie auf die Idee kommen, ihrem Mann zu widersprechen, und ihrem Gesicht kann man nicht ansehen, was sie denkt. Kasturbai spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. »Der Priester hat den Termin bereits festgelegt«, erklärt
der Vater. »Wie ihr wißt, können Hinduhochzeiten nur bei nördlichem Umlauf der Sonne gefeiert werden, wenn der Planet Venus sichtbar ist, außerdem muß der Augenblick der Eheschließung sorgfältig ausgewählt werden. Unser Priester hat viel Zeit darauf verwandt, nicht nur den richtigen Tag, sondern auch den, bis auf die Sekunde genauen Zeitpunkt zu errechnen, der für das ›Hasta milap‹, das Sich-die-Hand-reichen, glückverheißend ist.« Freudestrahlend sieht er das unglückliche Mädchen an. »Du wirst eine wunderschöne Braut werden, Kasturbai. Und du wirst eine herrliche Aussteuer bekommen, das verspreche ich dir.« Seine Tochter nickt abwesend. Sie hat ihm überhaupt nicht richtig zugehört, sondern versucht sich an Mohandas, den Spielgefährten ihrer Kindertage, zu erinnern. Nebelhaft erscheint das Bild eines unauffälligen, bescheidenen Knaben, schmächtig, mit abstehenden Ohren, einer großen Nase und vollen Lippen. Und dieser Knabe soll ihr Mann werden? Kasturbai weiß, daß ihr keine andere Wahl bleibt, als sich zu fügen, und erholt sich langsam von dem ersten Schrecken. Die Tatsache, daß sie wenigstens keinen wesentlich älteren Mann heiraten muß wie viele ihrer Freundinnen, sondern einen gleichaltrigen, der ihr zudem nicht unbekannt ist, tröstet sie ein wenig. Hatte sie ihn als Kind nicht sogar einmal bitten wollen, ihr heimlich Lesen und Schreiben beizubringen? Immer noch niedergeschlagen, aber doch auch mit ein wenig Hoffnung im Herzen lauscht sie dem Vater, der berichtet, daß Karamchand Gandhi praktischerweise vorgeschlagen hat, seine drei Söhne gleichzeitig zu verheiraten. »Da die Bräute alle in Porbandar leben, hätte das den Vorteil, daß mein Freund und seine Familie die weite Reise nur einmal machen müssen«, erklärte Gokuldas. »Sein Vorschlag kommt auch uns, den Brauteltern, entgegen, denn auf diese Weise können die Kosten für Ausstattung, Saalmiete, Bewirtung der Gäste, Bestellung eines Priesters und all die anderen Formalitäten unter drei Familien aufgeteilt werden.« Ein Vorzug, der tatsächlich nicht von der Hand zu weisen ist, denn
Hinduhochzeiten sind teuer und können eine Familie fast in den Ruin treiben. Auch wenn Gokuldas wohlhabend genug ist, um eine standesgemäße Hochzeit allein auszustatten, gefällt ihm Karamchands Idee. Auf diese Weise wird das Fest um vieles glanzvoller, ohne daß es ihn auch nur eine Rupie mehr kostet. Nun, da Kasturbai eingeweiht ist, läßt man sie an den Vorbereitungen teilhaben. Die Aussteuer muß besorgt werden, alles, was sie in ihr neues Heim mitnehmen wird. Der Schneider kommt, um Maß zu nehmen, der Juwelier, um seinen schönsten Schmuck zu präsentieren, und der Schalweber breitet seine hauchdünnen, herrlich bestickten Tuche aus. Kasturbai hat überall ein Mitspracherecht. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürt sie, wie es ist, im Mittelpunkt zu stehen. Diesmal geht es ausschließlich um sie, und sie ist Kind genug, all die Aufmerksamkeit bewußt zu genießen. Sie darf Farben und Stickereien für ihre Gewänder aussuchen, darf das Gewicht des Stirnschmucks, der Armbänder, Ohrringe und Ringe ausprobieren und die herrlichen Kostbarkeiten in die Sonne halten, um zu sehen, wie sich das Licht in den geschliffenen Steinen bricht. Und bei all dem ist sie nicht allein, nein, alle Frauen der Familie kommen, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie lachen, schwatzen, scherzen mit ihr und bewundern die Braut. Sie singen Hochzeitslieder, die lustig und lehrreich zugleich sind, besprechen die Speisenfolge für das Hochzeitsmahl und die Zubereitung des köstlichen Menüs. Kasturbais Vater ist zwar immer dabei, hält sich jedoch im Hintergrund. Schweigend beobachtet und bewacht er das Ganze, aber es ist die Zeit der Frauen. Ihr Geplauder und Gelächter, ihre Begeisterung sind seine Belohnung. Die Tage vergehen wie im Flug und sind für Kasturbai eine Zeit der Freude und Trauer zugleich. Der Freude, weil alle geliebten Menschen sich um sie versammeln, fröhlich sind und es aufregend ist, so viele neue Kleider und Schmuck zu bekommen; der Trauer, weil sie weiß, daß sie bald die Geborgenheit ihres Elternhauses verlassen und mit einer fremden Person ein neues Leben in einem neuen
Zuhause beginnen muß. Tapfer versucht sie, die Angst vor der Zukunft zu unterdrücken. Mit welchem Aufwand eine Hinduhochzeit ausgerichtet wird, bleibt jedoch nicht allein den Eltern der Brautleute überlassen. Der Ältestenrat der Kaste, der Panchayat, hat ein wichtiges Wort bei der Planung mitzureden. Alle Väter müssen vor den Ratsmitgliedern erscheinen, um ihre Pläne bekanntzugeben, Dewan Gandhi in Rajkot ebenso wie die Väter der Bräute in Porbandar. Bis in alle Einzelheiten wird geprüft, ob der Festverlauf mit den vorgeschriebenen Richtlinien übereinstimmt, wie viele Gäste geladen werden, wie das Festessen zusammengestellt ist und welche Art von Unterhaltung den Gästen geboten wird. Alles bedarf der Zustimmung und muß den finanziellen und gesellschaftlichen Stellungen der Familien entsprechen. Im Fall Gandhis ist alles ordnungsgemäß, und der Panchayat erteilt seine Zustimmung. Der Hochzeit steht nun nichts mehr im Wege. Doch bevor man damit beginnen kann, Freunde und Verwandte in Kenntnis zu setzen, muß erst ein anderer bedacht werden: die Familiengottheit. Mit roter Tinte schreibt Gokuldas eine Einladung, die er, gemeinsam mit seiner Frau, in den Tempel bringt und der Statue zu Füßen legt. Nun hat alles seine Richtigkeit, und die eigens dafür engagierten Männer und Frauen können ausschwärmen, um im Namen der Familie Makanji die Gäste einzuladen. Das dauert einige Tage, denn die Gästeliste ist lang, und man kann es sich nicht leisten, auch nur einen zu übersehen. Einen Tag vor der Hochzeit beginnen die Zeremonien, Die erste ist das »Mandap muhurat«, das im Kreis der engsten Verwandten stattfindet. Das »Mandap« ist eine Art Baldachin, der von vier, mit Blumen und Blättern geschmückten Stangen, gehalten wird. Während der Priester der Familie leise Gebete singt, wird unter dem Zeltdach ein Loch gegraben. Dort hinein geben die Männer etwas rotes Pulver, eine Betelnuß, ein wenig Milch und
Dickmilch sowie eine Kupfermünze. Dann setzen sie einen Stab in die Vertiefung und schließen das Loch. Normalerweise feiert man im Haus der Braut, doch Gokuldas erwartet mehr Leute, als sein Haus aufnehmen kann. Außerdem sollen gleichzeitig ja auch die beiden anderen Eheschließungen abgehalten werden. Darum haben die drei Elternpaare beschlossen, einen Wadi zu mieten, einen speziellen Ort, an dem Hochzeiten gefeiert werden. In diesem Wadi findet die nächste Zeremonie statt. Es ist das »Griha shanti«, das dem Haus der Neuvermählten Frieden bringen soll und bei dem die Planeten verehrt werden. Zu diesem Zweck schüttet man neun kleine Häufchen Reis auf den Boden und versieht jedes mit einer Betelnuß. Die Betelnüsse stellen die Planeten der HinduMythologie dar: Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Rahu und Ketu. Diese werden nun gebeten, das Brautpaar zu segnen. Endlich ist der große Tag da und Kasturbais Aufregung ins Unermeßliche gestiegen. Am frühen Morgen versammeln sich ihre Freundinnen und die verheirateten weiblichen Verwandten, um ihr das zeremonielle Bad zu bereiten, das nach Kräutern und Parfüm duftet. Zuerst tritt ihre beste Freundin vor und besprengt den Kopf der Braut dreimal mit dem Wasser. Während Kasturbai badet, singen alle zusammen und tanzen um sie herum. Schließlich legt man ihr das Hochzeitskleid und die kostbaren Juwelen an, schmückt sie mit Blumen und malt ihr mit einer Paste aus Henna komplizierte Muster auf Hände und Füße. Zur selben Zeit bricht der Hochzeitszug des Bräutigams auf. Der Brauch schreibt vor, daß Mitglieder der Familie Makanji der Prozession entgegengehen, Süßigkeiten überreichen und den Zug mit Fanfaren zum Wadi geleiten. Der Hochzeitszug ist ein eindrucksvolles Schauspiel, das der Familie die Gelegenheit bietet, ihren Wohlstand und ihre gesellschaftliche Stellung herauszustellen. Die Familie Gandhi macht da keine Ausnahme. Alle sind aufs beste gekleidet und haben ihren kostbarsten Schmuck angelegt.
Der Zug wird von einer Kapelle angeführt, hinter der alle hermarschieren, an der Spitze reitet Mohandas, der Bräutigam, auf einem reich geschmückten weißen Pferd. Er trägt eine gesalbte Kokosnuß, eine Silbermünze und sieben Betelblätter bei sich. Am Ende des Zuges gehen seine Mutter und die anderen Frauen der Familie und singen die traditionellen Hochzeitslieder. Am Tor zum Wadi wird die Prozession angehalten. Gokuldas Makanji und andere männliche Verwandte seiner Familie begleiten die Frauen zu ihren Plätzen, während Kasturbais Mutter mit einer Schale, in der Zinnoberpaste, Reiskörner und eine Öllampe liegen, zu dem Bräutigam tritt. Sie murmelt ein Gebet, während sie Mohandas mit der Paste salbt. Nun erst erscheint die Braut. Sie wird von ihrem Onkel zum Tor geleitet und beugt sich nieder, um den rechten Fuß ihres zukünftigen Mannes zu berühren, woraufhin Mohandas mit eben diesem Fuß eine irdene Schale zertreten muß, eine symbolische Geste, mit der er von der Vergangenheit Abschied nimmt und ein neues Leben beginnt. Danach treten die Hochzeitspaare in die Halle, in der die eigentlichen Feierlichkeiten stattfinden. Zuerst setzen sich Braut und Bräutigam gegenüber; ein Stück weißes Tuch wird zwischen sie gespannt. Dieser »Vorhang« trennt sie bis zur Zeremonie des »Hasta milap«, zu der die Braut aufsteht und ihren Platz an der rechten Seite des Mannes einnimmt. Nun werden lange Gebete gesungen, bis sich schließlich Gokuldas erhebt und neben das Brautpaar tritt. »Hiermit überlasse ich meine gesunde Tochter dem Bräutigam und verzichte fortan auf alle Forderungen an sie«, sagt er feierlich, nimmt einen Grashalm und legt Kasturbais und Mohandas rechte Hände so ineinander, daß nur noch der Halm die beiden Handflächen voneinander trennt. Bis zu dem vom Priester errechneten Augenblick für das »Hasta milap« sind es nur noch wenige Minuten, und als es soweit ist, wird der Grashalm auf die Sekunde genau zwischen den Händen herausgezogen. Das Paar ist für immer miteinander verbunden, und die Anwesenden überschütten sie mit Blumenblättern und
Reiskörnern. Verheiratet sind sie damit immer noch nicht. Jetzt muß Mohandas den Schleier entfernen, der Kasturbais Gesicht bisher bedeckte, und beide binden einen roten Faden um das Handgelenk des anderen, salben einander und tauschen Betelblätter aus. Den endgültigen Abschluß der Zeremonien bildet der Gang um das heilige Feuer. Sieben Schritte müssen Kasturbai und Mohandas gemeinsam zurücklegen, von denen jeder einen Segenswunsch symbolisiert: Nahrung, Kraft, Wohlstand, Glück, Nachkommenschaft, Vieh und Frömmigkeit. Nach dem siebten Schritt ist die Ehe unwiderruflich geschlossen, und der Priester bespritzt das Paar mit geweihtem Wasser. Mann und Frau verbeugen sich erst vor dem Bildnis der Familiengottheit, anschließend vor den Verwandten beider Familien, und jedesmal, wenn sie sich verbeugen, werden sie gesegnet und erhalten ein Geschenk. Frau Makanji beobachtet besorgt ihre Tochter. Sie sieht bezaubernd aus in dem schweren roten Sari und dem reichen Goldschmuck, aber… »Kasturbai ist eine wunderschöne Braut«, flüstert ihr in diesem Augenblick eine Freundin zu. »Du mußt sehr stolz auf sie sein.« Die Mutter nickt zögernd. »Aber glücklich ist sie nicht«, gibt sie leise zurück. »Sieh nur, ihr Gesicht wirkt vor Angst fast versteinert.« Die Freundin kichert unterdrückt. »Warst du bei deiner Hochzeit etwa glücklich?« fragt sie belustigt. »Erinnere dich. Wir alle hatten an diesem Tag Angst vor der Zukunft. Aber mach dir keine Sorgen. Sobald sich Kasturbai bei der Familie ihres Mannes eingelebt hat, wird sie zufrieden aussehen, wie jede gute Hindu-Frau.« Die Festlichkeiten dauern eine Woche, und die Gäste werden aufs beste bewirtet und unterhalten, aber das Brautpaar schickt man gleich nach der Zeremonie fort, damit sie Mann und Frau werden. Zum ersten Mal stehen sie sich allein gegenüber, beide verängstigt und unsicher. Vor Nervosität wagen sie es kaum, sich anzusehen. Der schüchterne, spindeldürre Knabe mit dem blassen
Gesicht wirkt nicht gerade anziehend auf Kasturbai. Schweigend fügt sie sich in ihr Schicksal. Die Feiern sind vorüber. Für Kasturbai endet damit das sorgenfreie und unbeschwerte Leben in ihrem Elternhaus, sie gehört jetzt zur Familie der Gandhis und ist sich bewußt, daß die nächsten Monate schwer für sie sein werden. Als Fremde in einer fremden Umgebung wird man sie beobachten und abschätzen und erst, wenn sie sich bewährt hat, akzeptieren. Tränenreich nimmt sie Abschied von ihren Eltern und Geschwistern und klettert unglücklich in den Ochsenkarren, der sie nach Rajkot bringen soll. Mohandas und sie dürfen während der Reise nicht zusammenbleiben. Die junge Frau wird angewiesen, im Wagen der Schwiegermutter Platz zu nehmen. Soll sie darüber froh oder traurig sein? Sie weiß es nicht. So reist Kasturbai bangen Herzens einer Zukunft entgegen, von der die Priester und Astrologen sagen, daß sie glücklich sein wird.
Ein neues Leben (1882-1885) Der Weg nach Rajkot ist weit. Er führt durch kilometerlange Pappelalleen, an Flüssen entlang und zwischen Obstgärten, violetten Safranfeldern, grünen Reisterrassen und roten Mohnfeldern hindurch. Alles ist neu für Kasturbai und so ganz anders als daheim in Porbandar, ihrer Stadt, die sie zum ersten Mal verlassen hat. Erstaunt stellt sie fest, daß auf den Feldern nicht nur Männer, sondern auch Frauen arbeiten. Frauen, die Äpfel ernten, Reis pflanzen und das Winterfutter für das Vieh vorbereiten. Frauen, die sie plötzlich glühend beneidet. Wie gerne wäre sie eine von ihnen und könnte auch im Freien unter der Sonne arbeiten. Statt dessen muß sie in diesem engen Ochsenkarren sitzen, eingesperrt und Menschen ausgeliefert, die ihr vollkommen fremd sind. »Das sind arme Leute«, erklärt ihr die Schwiegermutter und zeigt auf die Menschen, die draußen so fleißig ihrem Tagwerk nachgehen. »Bei den Armen müssen auch die Frauen auf den Feldern mitarbeiten.« Kasturbai überlegt, ob es nicht von Vorteil sein kann, arm zu sein, als ein Menschenauflauf die Straße blockiert und ihnen die Weiterfahrt verwehrt. Wildes Geschrei und Gezeter dringen zu ihnen. Die Männer der Familie steigen aus, um festzustellen, was los ist, und Kasturbai späht neugierig durch die zugezogenen Vorhänge. Sie sieht ein junges Mädchen, sicher nicht viel älter als sie selbst, das sich schreiend und weinend an einen älteren Mann klammert. Ein paar jüngere Männer versuchen, sie mit Schlägen wegzureißen. Das Mädchen hält beide Arme schützend über ihren gesenkten Kopf. Ihre ganze Haltung drückt Angst aus. »Brauchen Sie Hilfe?« will Karamchand von dem Mann wissen, doch der schüttelt nur den Kopf. »Eine Familienangelegenheit«, sagt er. »Mischen Sie sich lieber nicht ein. Meine Tochter ist
ihrem Mann schon zum dritten Mal davongelaufen. Jetzt hat er seine Brüder mitgebracht, um zu zeigen, daß er sich nicht alles gefallen läßt.« Die Gandhis nicken voller Verständnis und steigen wieder in ihre Wagen. Sobald der Weg frei ist, fahren sie weiter. Kasturbai jedoch hat plötzlich das Gefühl, einen kalten Lufthauch zu spüren. Dieses Mädchen war halb ohnmächtig vor Angst, aber keiner hielt es für notwendig, ihr zu helfen. Wie sehr habe ich mich doch geirrt, als ich glaubte, daß die Frauen, die auf den Feldern arbeiten, zumindest einen Hauch von Freiheit spüren können, denkt sie. In Wirklichkeit ist auch für sie alles nur Zwang, Unfreiheit und Grausamkeit. Nein, die Armut bringt keine Vorteile für die Frauen. Man muß schon als Mann auf die Welt kommen, um wirklich frei leben zu können. Fünf Tage dauert die Reise, dann ist Rajkot, Kasturbais neue Heimat, erreicht. Mohandas und sie bekommen im Haus der Gandhis ein Zimmer zugewiesen, das sie nun beziehen. Wie in vielen indischen Großfamilien leben auch hier mehrere Generationen unter einem Dach, und der Platz ist dementsprechend beengt. Rücksichtnahme auf andere Familienmitglieder gilt daher als oberstes Gesetz. Den jungen Eheleuten bietet sich in der Folgezeit wenig Gelegenheit, Zuneigung und Wärme füreinander zu entwickeln. Auch wenn es anders gewesen wäre, ihre Gefühle hätten sie ohnehin nicht zeigen dürfen, das empfand man im höchsten Maße als unschicklich. Mohandas besucht den ganzen Tag über die Schule, Kasturbai bleibt allein zurück. Sie muß unter der Anleitung ihrer Schwiegermutter lernen, sich dem Lebensstil der Gandhis anzupassen. »Du wirst bald feststellen, daß sich unsere Gewohnheiten grundlegend von denen in deinem Elternhaus unterscheiden«, erklärt Putlibai Gandhi ihrer jüngsten Schwiegertochter streng. »Als Tochter eines reichen Kaufmanns warst du daran gewöhnt, die Freuden des Alltags zu genießen, und ich weiß, daß dein Vater es gern sah, wenn seine Familie die Früchte seines
geschäftlichen Erfolgs auskostete. Einfachheit hast du zu Hause nicht kennengelernt. Bei uns ist das anders, du wirst lernen müssen, in Zukunft sehr sparsam zu sein.« Mit diesen Worten hat Putlibai nicht übertrieben. Obwohl Dewan Gandhis Einkommen nicht gerade klein ist, muß sie sehr sorgfältig haushalten, um sämtliche Mitglieder der Großfamilie beköstigen und kleiden zu können. Kasturbai soll jedoch nicht nur zur Sparsamkleit erzogen werden, sie muß auch lernen, alle anfallenden Hausarbeiten zu verrichten und vor allen Dingen ein bescheidenes, wohlgefälliges Leben zu führen. »Auf kostbare Kleider, Schmuck und andere materielle Güter kannst du gut verzichten«, belehrt Putlibai sie. »Du mußt dich mehr der geistigen Welt zuwenden, dich einer asketischen Lebensweise befleißigen, jeden Tag in den Tempel gehen und gewissenhaft die Fastenzeiten einhalten. Dann wirst du eine gute Hindufrau werden.« Kasturbai nickt pflichtschuldig, bezweifelt insgeheim jedoch, daß sie diesem Frauenideal gerecht werden kann. Aber nicht nur Putlibai, auch Mohandas versucht, seine junge Frau zu erziehen. Er hat sich Bücher besorgt, in denen die ideale Hindufrau sehr anschaulich beschrieben wird. Mit diesem neuen Wissen und dem Vorbild seiner Mutter vor Augen, die für ihn fast eine Heilige ist, macht er sich daran, Kasturbai zu formen. Absolute Treue soll sie ihm halten, sich ihm in völligem Gehorsam unterordnen, ohne seine ausdrückliche Erlaubnis weder das Haus verlassen, noch den Tempel besuchen. Sie soll sein, wie es die Tradition der Hindus seit Jahrhunderten verlangt. Kasturbai lacht ihn einfach aus. Mit seiner Angst vor der Dunkelheit, vor Dieben und Schlangen, entspricht er so gar nicht dem strahlenden Bild, das sich ein junges Mädchen von einem Mann macht. »Wenn ich in den Tempel gehe, brauche ich dich nicht zu fragen, und wenn ich meine Eltern besuche auch nicht«, erklärt sie resolut. »Warum auch? Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb ich in jeder Beziehung vollkommen sein muß und du nicht.« Kasturbai setzt ihren Kopf durch und besucht den Tempel,
wann immer sie Lust dazu hat. Für sie, die im »Purda«, in der Abgeschiedenheit von der Außenwelt und von fremden Männern, aufgewachsen ist, ist der Tempelbesuch nicht nur religiöse Pflicht, sondern willkommene Abwechslung, die behüteten, anständigen Frauen auch ohne die ausdrückliche Genehmigung eines argwöhnischen Ehemannes erlaubt ist. In diesen ersten Ehejahren ist Mohandas mißtrauisch wie kein zweiter, und er quält Kasturbai ständig mit seiner krankhaften Eifersucht. »Ich habe mich nicht schuldig gemacht«, gibt sie verletzt zurück. »Und ich weiß nicht, womit ich deine Verdächtigungen verdient habe. Eher solltest du darüber nachdenken, wie ich mich bei deinen ständigen Vorwürfen fühle. Ein Diener, dem man Unrecht tut, kann seinen Dienst kündigen, ein Sohn das Haus seines Vaters verlassen, ein Freund die Freundschaft beenden, aber eine Frau muß stillhalten, wenn ihr der Ehemann mißtraut. Wo soll sie hingehen?« Mohandas sieht sie schweigend an, dreht sich um und geht. Aber schon am nächsten Tag quält er sie erneut mit seiner Eifersucht. Kasturbai ist wieder ohne zu fragen im Tempel gewesen. »Weißt du denn nicht, daß eine Frau nach Hindubrauch Besitz ihres Mannes ist«, hält er ihr vor. »Ich bin dein Gebieter, und du hast jedem meiner Befehle zu gehorchen.« Nachdenklich sieht Kasturbai ihn an. Natürlich, dieser Grundsatz ist ihr bereits von den Eltern eingetrichtert worden, aber er gefällt ihr trotzdem nicht. »Ich will eine treue Ehefrau sein«, antwortet sie mit ruhiger, aber fester Stimme, »und ich werde deinen gerechten Anordnungen Folge leisten, aber ich werde ganz sicher nicht deine Sklavin sein. Niemals!« Daß die Ehe trotz aller Schwierigkeiten erträglich bleibt, ist einzig und allein Kasturbais Verdienst. Wenn die Spannungen zwischen ihnen zu groß werden, läßt sie es niemals zu einer harten Auseinandersetzung kommen, die sich ohnehin nicht geziemt hätte, sondern zieht sich einfach zurück und besucht ihre Eltern.
Sie widersetzt sich auf freundliche, aber bestimmte Art, ohne laut zu werden, ohne Szenen zu machen. In dieser Zeit lernt der junge Mohandas von Kasturbai die Grundregeln des gewaltlosen Widerstandes, einer Waffe, die ihm bei der Befreiung Indiens unentbehrlich werden wird. Doch bis dahin vergeht noch viel Zeit. Vorerst bemüht sich Mohandas weiterhin, seine Frau zu vervollkommnen. Diesmal hat er die Idee, ihr Lesen und Schreiben beibringen zu wollen. »Wir könnten dann viel öfter beieinander sein«, versucht er sie zu überzeugen und schießt mit seinen Argumenten wie so häufig weit übers Ziel hinaus: »Du mußt dich bemühen, nicht hinter meinem geistigen Niveau zurückzubleiben. Wie sollen wir sonst unsere Gedanken austauschen können?« Diese Begründung kann Kasturbai natürlich nicht widerspruchslos hinnehmen. »Bin ich dir etwa zu dumm?« will sie gekränkt wissen. »Dann hast du vermutlich vergessen, daß man Mädchen den Schulbesuch verwehrt, um ihre Entwicklung zu einer guten Hindufrau nicht zu gefährden. Und das soll ich doch sein, nicht wahr? Eine gute Hindufrau. Du kannst nicht alles haben, Mohandas. Und wenn du meinst, daß du dich mit mir nicht unterhalten kannst, mußt du dir andere Gesprächspartner suchen.« Betroffen sieht der Junge sie an. »Aber ich dachte, es wäre dein Wunsch, Lesen und Schreiben zu lernen.« Kasturbai winkt ungeduldig ab. »Früher, ja, da habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht«, erwidert sie ernst. »Doch heute? Nein, ich will es nicht mehr lernen und aus den von dir genannten Gründen erst recht nicht. Mich beeinträchtigt meine Unbildung überhaupt nicht, und wenn sie dich stört, kann ich es nicht ändern.« Um nichts auf der Welt würde Kasturbai zulassen, daß dieser anmaßende Junge sich auch noch als ihr Lehrer aufspielt. Ganz abgesehen davon, daß ihr kaum die nötige Zeit zum Lernen bliebe, denn ihre Tage sind lang und anstrengend genug. Einen Haushalt mitzuleiten, zu kochen und sich um die ständigen
Sonderwünsche ihrer Schwiegermutter zu kümmern, ist eine hinreichend anspruchsvolle Aufgabe. Die Familie Gandhi ist groß, da sind Karamchand und Putlibai, ihre vier Söhne, die dazugehörigen Frauen und deren Kinder. Außerdem empfängt der Dewan von Rajkot sehr viele Besucher, um deren leibliches Wohl sich Kasturbai zusätzlich kümmern muß. Als jüngste Schwiegertochter in einem derart umfangreichen Haushalt hat sie kein leichtes Brot und einfach zu vielen »Herren« zu dienen. Kasturbai ist fünfzehn, als sie zum ersten Mal schwanger wird, und sechzehn, als sie ihr Kind in einem engen, fensterlosen Raum, der abseits vom Familiengeschehen liegt, zur Welt bringt. Nach Überzeugung der Hindus verunreinigen Geburten, deshalb sind ausschließlich Unberührbare Hebammen. Die Kenntnisse dieser Frauen sind völlig unzureichend, und ihre Instrumente bestehen oft nur aus einem gewöhnlichen Messer zum Durchschneiden der Nabelschnur. Allein und vollkommen isoliert von der übrigen Familie übersteht Kasturbai die schwere Geburt. Ihr erstes Kind, ein Junge, so wie sie es sich sehnlichst gewünscht hat, ist winzig und schwach. Vorsichtig reinigt sie den Säugling mit Sand und Öl und ist überglücklich, als sie ihn endlich in ihren Armen halten kann. Fast zur gleichen Zeit erkrankt Mohandas Vater ernstlich. Schon lange leidet er an einer Fistel, die bisher allen Arzneien getrotzt hat. Karamchand wird zunehmend schwächer, und ein britischer Arzt empfiehlt als letzten Ausweg eine Operation, die der Hausarzt wegen des Alters und der Schwäche seines Patienten ablehnt. Man überläßt es Putlibai und Mohandas, Karamchand zu pflegen. Jeden Tag sammelt der besorgte Sohn frische Heilkräuter für Medizin, und er massiert seinen Vater, um das lange Liegen erträglicher zu machen. Doch sein Zustand verschlechtert sich. Mohandas läßt seinen Vater kaum noch allein. Nur wenn die Sehnsucht nach seiner schönen Frau übermäßig wird, überläßt er seinen Platz am Bett des Kranken einem anderen Familienmitglied. So auch in der Nacht, als Karamchand stirbt.
Sein ganzes Leben lang wird Gandhi sich nicht verzeihen, daß er in der Todesstunde des Vaters sein Verlangen nicht unterdrücken konnte. Während Mohandas versucht, mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden, bricht über seine junge Frau ein großes Unglück herein. Ihr schwächliches Baby stirbt, es war einfach nicht stark genug zum Leben. Selbst noch ein Kind muß sie ihr erstes Kind begraben. Der Tod ihres Sohnes stürzt Kasturbai in tiefe Verzweiflung. Hinzu kommt, daß sie ihre neu gewonnene Position als Mutter verloren hat, denn kinderlose Hindufrauen gelten als Schädling für die Familie und ziehen den Unwillen der Götter auf sich. Tapfer und still trägt sie ihr Unglück.
Geburt und Abschied (1886-1890) Die dürre, kupferfarbene Erde ist geborsten und wird nur noch bedeckt von gelbem, abgestorbenem Gras. Traurig hängen die Kronen der Palmen und Mangobäume, während ein heftiger Windstoß den Sand durch das versengte Grün ihrer Zweige und Blätter fegt. Die Augen der Menschen sind hoffnungsvoll zum Himmel gerichtet, wo sich schwere, schwarze Wolken türmen. »Dieses Jahr wird der Monsun unser Land überschwemmen«, machen sie sich gegenseitig Mut. »Ganz gewiß wird es sehr viel Regen geben. Hört nur, wie der Papiha-Kuckuck ruft. Ein sicheres Zeichen!« Doch dann ziehen die Wolken weiter, und die Hoffnung weicht bitterer Verzweiflung. Drei Jahre lang hat Indien nun keinen richtigen Monsunregen gehabt, und die Wasserreserven sind erschöpft. Das Land, die Menschen, Tiere und Pflanzen leiden unter der Dürre. Nur das Wasser für die Angehörigen der höheren Kasten ist durch jahrhundertealte Gesetze sichergestellt. Sie haben eigene tiefe Brunnen, und während die Unberührbaren dursten müssen, weil die Flüsse ausgetrocknet sind, können sie immer noch frisches Brunnenwasser schöpfen. Auch die Gandhis gehören dieser privilegierten Gruppe an, doch im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen ihrer Schicht, die das Leid der Armen wenig berührt, bemühen sie sich, die Not ein wenig zu lindern. Der Dewan hat sich sein ganzes Leben lang für die Bedürftigen eingesetzt und nun, wo er nicht mehr da ist, bemüht sich die Familie in seinem Sinne zu handeln. Auch Kasturbai hat schon unzählige Eimer Wasser herbeigeschleppt und in den großen Holzbottich geleert, aus dem die Durstenden schöpfen dürfen. Mühsam richtet sie sich auf und stemmt die Hände gegen ihren schmerzenden Rücken. Neunzehn Jahre ist sie nun alt und zu einer strahlenden Schönheit erblüht. Einen
Augenblick verharrt sie so, dann sammelt sie flink ihre Gerätschaften zusammen und geht zurück ins Haus. Ein Freund der Familie, der Brahmane Mavji Dave, ist gerade zu Besuch gekommen. Seine Stimme hat sie bereits gehört. Da wird es Zeit, daß sie einen kleinen Imbiß richtet, denn der hohe Mann erwartet zu Recht eine Stärkung. Rasch unterzieht sich Kasturbai der rituellen Waschung, ohne die sie die Küche niemals betreten darf, und kleidet sich neu an. Dann erst bereitet sie die Speisen und Getränke zu und trägt alles in den Raum, in dem die Gandhi-Brüder und ihr Gast sitzen. Während sich die Männer angeregt unterhalten, serviert Kasturbai schweigend. Keiner richtet das Wort an sie, keiner hat auch nur ein dankbares Nicken übrig, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil es üblich ist, die Bewirterin nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Frauen sind daran gewöhnt, nutzen die Gelegenheit, sich zu informieren und lauschen aufmerksam, aber mit unbeteiligter Miene der Unterhaltung. Für sie ist es die einzige Möglichkeit, Neuigkeiten zu erfahren, da die Männer sie niemals in irgendwelche Pläne einweihen. Heute geht es um Mohandas, wie Kasturbai schnell herausfindet. Seine Zukunft wird geplant, und er ist der erklärte Mittelpunkt dieser Gesprächsrunde. Schon seit langem ist es eine abgemachte Sache, daß er in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters treten und Dewan, Berater und Minister des Herrschers von Rajkot, werden soll. »Ein Jurastudium in London wäre genau die richtige Grundlage für deine Karriere«, erklärt der Brahmane gerade, und die anderen sehen ihn überrascht an. Auch Kasturbai hält einen Augenblick verblüfft in ihrer Tätigkeit inne. Mohandas soll nach London? Nein, damit ist sie ganz und gar nicht einverstanden. Doch sie weiß, daß man sie nicht nach ihrer Meinung fragen wird. Rasch beendet sie ihre Arbeit und verläßt, wie man es von ihr erwartet, den Raum. Doch sie ist neugierig genug, um die Tür nicht ganz zu schließen und heimlich der weiteren Unterhaltung zu lauschen. »Wir kennen dich schon lange, Brahmane«, sagt Laxmidas, Mohandas älterer Bruder jetzt. »Und wir wissen, wie gebildet und
weitblickend du bist.« Mavji Dave zuckt mit den Schultern. »Ich schätze es nun einmal, mit der Zeit zu gehen, und habe daher auch meinen eigenen Sohn zur Ausbildung nach Übersee geschickt. Die Zeit dort hat ihm sehr zu seinem Vorteil gereicht.« Nachdenklich wiegt Laxmidas den Kopf hin und her. »Dieses Studium wird eine Menge Geld kosten, nicht wahr?« Der Brahmane nickt. »Ja, natürlich. Ich schätze, Mohandas wird etwa 5.000 Rupien benötigen. Und das ist noch knapp gerechnet.« »Nun, ich glaube schon diese Summe übersteigt bei weitem unsere Möglichkeiten«, erwidert Laxmidas ehrlich. »Seit dem Tode unseres Vaters hat sich unser Lebensstil sehr verändert. Wir bewohnen zwar noch immer dieses Haus, haben es aber schwer, genügend Geld für unsere Familie zu verdienen.« Seine Brüder nicken bestätigend. »Das ist jedoch nicht alles«, fährt Laxinidas nachdenklich fort. »Ich sehe in diesem Englandaufenthalt ein weiteres Problem. Immerhin hätte Mohandas es dort mit Ungläubigen zu tun. Ich befürchte, daß er in England zu vielen fremdartigen Versuchungen ausgesetzt wäre, die ihn in Gefahr bringen könnten. Nein, ich bin dafür, daß er nach seiner Reifeprüfung am College von Bhavnagar studiert.« Seine Brüder stimmen ihm zu, und die Lauscherin Kasturbai lächelt zufrieden. Auch aus dem 100 Kilometer entfernten Bhavnagar wird ihr Mann nur hin und wieder heimkommen können, aber es ist immerhin keine jahrelange Trennung. Schnell läuft sie in die Küche zurück. Blitze zucken am Himmel, es donnert, und plötzlich ist es, als würde sich der Ozean über das Land ergießen. Nichts ist mehr zu sehen, weder die Erde, noch die Straßen und Häuser, nur Wasser, überall Wasser. Wild und trübe trägt es Lehmhütten davon, Flechtdächer aus Palmenblättern und Zweigen, Eimer, Tongefäße und Reisigkörbe. Einen ganzen Wust von Dingen, die noch bis vor kurzem in irgendeinem Haushalt gedient haben. Hand in Hand laufen die Menschen, um einen sicheren Unterschlupf zu erreichen. Ihre Augen strahlen vor Glück. Gewiß, viele Häuser
werden zerstört, aber das ist unwichtig. Schließlich haben sie gelernt, ihr Leben jedes Jahr neu zu beginnen. Die Hauptsache ist, daß die Felder nicht mehr durstig sind, das ist das einzige, was zählt. Endlich ist der Monsunregen gekommen, und wie immer wird er Vernichtung, aber auch Leben und Fülle bringen. Der Preis, den er für sein Geschenk fordert, ist hoch, aber die Gabe entsprechend: Es ist Wasser, die Quelle des Lebens. Auch die Gandhi-Brüder begrüßen das kostbare Naß mit Freude, zumal sie sich keine Gedanken um ihr Haus machen müssen. Es ist solide gebaut und hat bisher noch jedem Monsunregen getrotzt. Ausgelassen tanzen sie im Hof und lassen erleichtert den strömenden Regen über ihre Körper rinnen. Kasturbai steht neben ihrer Schwiegermutter und blickt belustigt auf die fröhlichen Männer. Vorhin, vor dem Monsun, als die Luft noch schwer war und die dunklen Wolken niedrig hingen, bewegten sie sich müde und träge, doch jetzt scheinen sie außer Rand und Band. Immer höher steigt die rötlich gelbe Flut, die sich gurgelnd durch den Hof wälzt und bis in die letzte Ritze dringt. »Da ist er endlich, der langersehnte Monsunregen«, meint Putlibai leise neben ihr. »Er verheißt neues Leben. Sobald das Wasser abgelaufen ist, wird überall frisches Grün sprießen.« Nachdenklich schweigt sie eine Weile, dann wendet sie sich Kasturbai zu und sieht sie aus wissenden Augen an. »Aber der Monsun ist nicht der einzige, nicht wahr? Auch du wirst neues Leben schenken. Du erwartest wieder ein Kind.« Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Putlibai hat genug Schwangerschaften durchgemacht, um das beurteilen zu können. Kasturbai nickt glücklich. »Ja, ich werde Mohandas einen Sohn schenken. Ich bin ganz sicher, daß es wieder ein Junge wird. Und dieser Sohn wird leben. Das weiß ich genau.« Außerdem wird er mir endlich den Platz in der Familie sichern, fugt sie in Gedanken hinzu und fühlt sich unendlich erleichtert. In einigen Tagen wird Mohandas nach Bhavnagar abreisen, um mit seinem Studium zu beginnen, und sie
kann beruhigt allein zurückbleiben. Nie wieder wird man geringschätzig auf sie, die kinderlose Frau, herabblicken. Nein, nie wieder, denn als werdende Mutter ist sie eine Freude der Götter. Mohandas ist fort. Wie sich jedoch bald herausstellt, verläuft sein Collegeaufenthalt wenig erfolgreich. Der Unterrichtsstoff erweist sich als so schwierig, daß er nicht damit zurechtkommt und bald hoffnungslos hinter seinen Kommilitonen zurückbleibt. Außerdem leidet Mohandas unter der Trennung von seiner schönen Frau. Ununterbrochen denkt er an sie, ist unkonzentriert und fällt durch alle Prüfungen. Schon nach dem ersten Semester kehrt er nach Rajkot zurück. Kasturbai ist glücklich, ihn wieder bei sich zu haben, trotzdem muß er sich ihren gutmütigen Tadel gefallen lassen. »Ich weiß«, sagt sie lächelnd, »du warst nicht fähig, von Zuhause fort zu sein, nicht wahr?« Und Mohandas, froh, wieder mit ihr zusammen sein zu dürfen, erwidert: »Es macht keinen Spaß ohne dich.« In diesem Augenblick ahnen beide nicht, daß sie bald für sehr lange Zeit getrennt sein werden. Keiner weiß später mehr zu sagen, wer das Thema des EnglandStudiums wieder ins Gespräch gebracht hat, plötzlich ist es da, und Mohandas, dem klar ist, daß er unter der Trennung von Kasturbai leiden wird, ist doch auch neugierig auf diese andere, westliche Welt. Einzig die hohen Kosten halten die Familie immer noch davon ab, sich für das Studium in Übersee zu entscheiden. »Vielleicht könnten wir die Reisekosten mit Kasturbais Schmuck finanzieren«, schlägt Mohandas vor, erntet jedoch nur Befremden. »Du kannst deiner Frau nicht ihre einzigen Kostbarkeiten und damit ihr väterliches Erbe wegnehmen«, geben seine Brüder zu bedenken. »Was würden ihre Freundinnen sagen, wenn sie ohne Schmuck erscheint. Jede würde sofort sehen, daß sie mittellos ist.
Schließlich tragen indische Frauen ihr Geschmeide, um zu zeigen, daß sie etwas besitzen und wirtschaftlich abgesichert sind.« Mohandas schüttelt entschieden den Kopf. »Immerhin ist es auch zu Kasturbais Vorteil, wenn ich eine gute Ausbildung erhalte. Warum also sollte sie mir zu diesem Zweck nicht ihren Schmuck zur Verfügung stellen?« meint er gelassen. »Wartet nur, ich werde sie schon dazu überreden.« Doch als er Kasturbai noch am selben Abend auf das Thema anspricht, reagiert sie geradezu entsetzt auf seinen Vorschlag. »Ich soll arm sein? Und jeder wird es sehen können? Wie um alles in der Welt stellst du dir das vor? Die anderen Frauen werden keine Achtung mehr vor mir haben«, wehrt sie entschieden ab. »Wenn du unbedingt in London studieren willst, mußt du dir etwas anderes einfallen lassen, Mohandas. Ich werde dir ganz gewiß nicht meinen Schmuck dafür geben. Mein Vater hat ihn mir zu unserer Hochzeit geschenkt, und da mir als Frau nichts von dem Haus und dem Grundbesitz zusteht, ist er mein Anteil an dem mir zustehenden Erbe. Willst du mich wirklich darum bringen? Kannst du das verantworten?« Nein, nie im Leben wird Kasturbai ihre Knöchelreifen aus Silber, die Halsketten mit Edelsteinen und die ziselierten Goldohrgehänge hergeben. Mohandas sieht schnell ein, daß jedes weitere Wort sinnlos ist. Schließlich kennt er seine Frau mittlerweile gut genug und weiß, daß sie sich zu nichts zwingen läßt. Aber begreifen kann er sie nicht. Mehr Verständnis für den Protest der Schwägerin, zeigen seine Brüder und sie versprechen, die nötigen Mittel auf andere Weise aufzutreiben. Da Mohandas Studium in England nun einmal beschlossene Sache ist, ringen sie sich dazu durch, ein größeres Darlehen aufzunehmen, um damit die Schiffspassage, die Studien und den Aufenthalt zu finanzieren. Kasturbai ist gegen die Reise, zumal jetzt, wo sie wieder ein Kind erwartet. Sie weiß kaum etwas über England, dennoch soll
sie ihren Mann in dieses so weit entfernte und unbekannte Land reisen lassen. »Ich sorge mich, wenn du hier fortgehst«, murmelt sie in Mohandas Armen. Und er versucht, sie zu beruhigen. »Du brauchst wirklich keine Angst um mich zu haben. Ich werde auf mich acht geben, das verspreche ich, und in drei Jahren komme ich wohlbehalten als Advokat zurück.« Seine beschwichtigenden Worte sind für Kasturbai nur ein schwacher Trost. Schon jetzt weiß sie, daß sie während der ganzen Zeit keinen Kontakt zu Mohandas haben wird. Eine Frau sendet keine privaten Mitteilungen an ihren Mann und erhält auch keine von ihm. Das ist einfach nicht üblich. Sie wird ihm also drei Jahre lang ihre Gedanken und Gefühle nicht anvertrauen können. Seine Briefe werden an seine Brüder adressiert sein, und sie muß sich für die kleinste Information, die man an sie weitergibt, dankbar zeigen. Wenige Tage vor Mohandas Abreise überschlagen sich die Ereignisse. Zum einen wird er vom Altestenrat der Kaste, dem Panchayat, aufgefordert, nach Bombay zu kommen und Auskunft über seine Pläne zu geben. Und Kasturbai bringt ihren Sohn zur Welt, einen kräftigen, gesunden Knaben, den die glücklichen Eltern Harilal nennen. Über die Geburt des Kindes herrscht große Freude, die auch einen religiösen Grund hat. Nach Hinduglauben können nämlich nur Söhne nach dem Tod der Eltern die Verbrennungsriten vollziehen, die den Verstorbenen den Eingang in die Ewigkeit garantieren. Es ist daher unerläßlich, wenigstens einen Sohn zu bekommen, und dieses Glück ist Kasturbai und Mohandas zuteil geworden. Dem jungen Vater fällt es nun um so schwerer, sich von Frau und Kind zu trennen. Also beschließt er, das Gespräch mit dem Ältestenrat erst unmittelbar vor seiner Abreise zu fuhren, da er sein Schiff ohnehin in Bombay besteigen muß. Doch der Abschied läßt sich nicht mehr lange aufhalten. Mit Tränen in den
Augen läßt Kasturbai ihren Mann ziehen. Drei Jahre sind eine unendlich lange Zeit, vor allem, wenn sie vor einem liegt. Was kann währenddessen nicht alles geschehen. Auch Mohandas ist sehr niedergeschlagen, als er in den Zug steigt, und begreift plötzlich nicht mehr, warum er überhaupt den Wunsch verspürt hat, das ferne London kennenzulernen. Hätte er sich auf dem College in Bhavnagar bloß mehr Mühe gegeben. Zudem steht ihm noch das Gespräch mit dem Panchayat bevor. Er ist sich sicher, daß es keine angenehme Unterredung für ihn sein wird, doch er ahnt nicht, wie dramatisch dieses Treffen verlaufen soll. »Das Leben in einem fremden Land ist mit vielerlei Gefahren der Verunreinigung verbunden«, erklärt ihm der Altestenrat wenig später streng. »Der ständige Kontakt mit Ungläubigen und falschen Nahrungsmitteln ist nicht mit unserem Glauben zu vereinbaren. Du darfst diese Reise nicht antreten.« »Aber ich verspreche, mich reinzuhalten«, erwidert Mohandas eindringlich. »Ich habe meiner Mutter geschworen, weder Fleisch noch Wein, noch fremde Frauen anzurühren. Diesen Eid werde ich niemals brechen, unter gar keinen Umständen.« Doch der Ältestenrat läßt sich nicht überzeugen. »Wenn du auf diese Reise bestehst, werden wir dich zum Kastenlosen erklären müssen«, hält man ihm vor. »Du weißt, was das heißt, nicht wahr? Jeder Kontakt mit dir würde Verunreinigung bedeuten. Keiner deiner Verwandten und Freunde darf dich zum Schiff begleiten, keiner je wieder mit dir zusammen essen. Willst du das wirklich auf dich nehmen?« Mohandas nickt entschieden. »Ja, das will ich. Mein Schiff geht morgen. Meine Familie hat große Mühe gehabt, mir dieses Studium zu finanzieren, und ein Teil des Geldes mußte bereits gezahlt werden. Niemals werde ich zulassen, daß dieses Opfer umsonst gegeben wurde.« Der Ältestenrat muß einsehen, daß hier ein Unbelehrbarer vor ihnen steht. Kopfschüttelnd wenden sie sich ab. Das Gespräch ist beendet. Seines Rückhalts beraubt, den jeder Hindu in der Gemeinschaft seiner Kaste findet, und unsicher, was ihn im fremden Land erwarten wird, tritt Mohandas die Seereise an.
Kasturbai ahnt von diesen Vorkommnissen nichts. Glücklich und stolz übernimmt sie die neue Aufgabe, ihr Kind zu erziehen. Durch die Geburt des Sohnes hat sie nach traditioneller Vorstellung die Leistung erbracht, die man von ihr als Frau erwartet. Harilal ist ihr erster persönlicher Erfolg. Die Beziehungen zwischen der jungen Frau und ihrer Schwiegermutter werden nun enger und herzlicher. Obwohl beide verschiedene Temperamente und Charaktere haben, eint sie die Aufgabe, den kleinen Harilal zu versorgen. Die Ratschläge von Mohandas Mutter, die in der Kindererziehung natürlich viel erfahrener ist – schließlich hat sie selbst eine Tochter und drei Söhne großgezogen – sind Kasturbai eine große Hilfe. Harilal wird nach traditionellen Hinduregeln erzogen. So trennt sich Kasturbai in der ersten Zeit nur selten von ihrem Sohn. Vierundzwanzig Stunden am Tag wird er gehätschelt und umhegt, und nachts schläft er im Bett der Mutter. Im Alter von zwei Jahren wird Harilal in den Tabus seiner Kaste unterwiesen, die er sein Leben lang beachten muß. So lernt er zum Beispiel, nur mit der rechten Hand zu essen, die linke wird für unreine Verrichtungen benutzt. Er wird angehalten, nicht zu niesen, bevor Gebete gesprochen werden, weder im Tempel, noch bei der Andacht im Haus. Schon in jungen Jahren nimmt er an Gottesdiensten teil und erfährt, wie Opfer gebracht werden. Harilal macht Kasturbai viel Freude. Durch ihn hat sie sich in ihr Leben gefunden und ist, trotz Mohandas’ Abwesenheit, zufrieden. In diese Harmonie platzt ein Ereignis, das ihr die mühsam gewonnene Ausgeglichenheit wieder nimmt: Putlibai stirbt. Plötzlich und unerwartet schließt sie für immer die Augen, ohne daß eine lange Krankheit die Familie vorgewarnt hätte. Kasturbai ist verzweifelt und trauert tief um sie, die ihr in den letzten Monaten wie eine eigene Mutter ans Herz gewachsen ist. Nun ist sie wieder allein.
Von ihrer Schwägerin erfährt sie, daß die Gandhi-Brüder beschlossen haben, Mohandas nicht über den Tod seiner Mutter zu informieren. »Laxmidas sagt, es gibt keinen Anlaß dazu«, verrät die Schwägerin. Kasturbai schüttelt entsetzt den Kopf. »Aber Mohandas ist der jüngste Sohn und stand Putlibai immer am nächsten. Er muß doch erfahren, was geschehen ist.« »Die Männer meinen, es sei besser für Mohandas, wenn er nichts weiß«, erklärt die Schwägerin. »Schließlich ist er allein in einem fremden Land, kann nichts an dem Geschehnis ändern und hat niemanden, der ihn trösten könnte. Sicher haben sie recht mit ihrer Entscheidung.« Kasturbai zweifelt daran, aber sie kann natürlich nichts ändern. Ohne die Sicherheit, die ihre Schwiegermutter ihr gab, fühlt sie sich unglücklich und verloren. Ihr Leben ist nun sehr einsam geworden. Ungeduldig beginnt Kasturbai auf Mohandas’ Rückkehr zu warten. Er ist ihr Mann und der Vater ihres Sohnes. Es ist an der Zeit, daß er endlich die Verantwortung für seine Familie übernimmt.
Die Frau eines Advokaten (1891-1893) Der 10. Juni 1891 ist ein großer Tag für Mohandas Gandhi. Er besteht sein juristisches Examen und wird im High Court von London als Mitglied aufgenommen. Diesmal ist es ihm gelungen, sein Studium erfolgreich abzuschließen und die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht zu enttäuschen. Er ist Advokat geworden, wie er es versprochen hat. Nun endlich darf er der Sehnsucht nach seiner Familie, vor allem nach Kasturbai und Harilal, nachgeben. Keine Stunde länger als nötig will Mohandas in England bleiben und tritt daher einen Tag nach seiner Anwaltsvereidigung die Heimreise an. Viele gute Freunde und Erinnerungen läßt er in dieser sonderbar fremdartigen, aber auch faszinierenden, westlichen Welt zurück. In Paris erlaubt sich Mohandas einen kurzen Zwischenaufenthalt, um den berühmten Eiffelturm zu besichtigen, der zwei Jahre zuvor, zur ersten Pariser Weltausstellung, eingeweiht wurde. Danach jedoch reist er auf direktem Wege und ohne weitere Unterbrechungen via Marseille nach Indien. Am Ballard Pier in Bombay erwartet ihn sein älterer Bruder. »Du siehst sehr britisch aus«, stellt Laxmidas mißbilligend fest und mustert den Jüngeren von oben bis unten. »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Hoffentlich hast du dich unseren indischen Traditionen nicht zu sehr entfremdet.« Mohandas schüttelt gereizt den Kopf, er will jetzt keine Vorwürfe hören, sondern wissen, wie es um seine Lieben daheim steht. »Wie geht es Mutter?« fragt er, aber Laxmidas weicht einer Antwort aus. »Eigentlich wollte ich den Aufenthalt in Bombay nutzen, um deine Wiederaufnahme in die Kaste zu beantragen«, meint er statt dessen, »aber wenn du in dieser Aufmachung vor den Panchayat
trittst, kannst du dir jedes weitere Wort sparen.« Kopfschüttelnd blickt er auf die westliche Kleidung des Bruders, der ihm in seiner gebügelten Hose, dem Hemd mit dem steifen Kragen und den blankgeputzten Lederschuhen allzu fremd erscheint. »Das ist jetzt nicht so wichtig«, entgegnet Mohandas. »Drei Jahre bin ich fortgewesen, und da ist es wohl verständlich, daß ich auf schnellstem Wege nach Hause möchte. Der Ältestenrat muß warten.« Ungeduldig drängt er Laxmidas zum Bahnhof, um ja den nächsten Zug nach Rajkot nicht zu verpassen. Während der langen Bahnfahrt hat der Altere genügend Zeit, seinem Bruder die traurige Neuigkeit schonend beizubringen. »Es gibt da etwas, das wir dir bisher nicht mitgeteilt haben, um dir in der Ferne kein Leid zuzufügen«, beginnt er vorsichtig, doch Mohandas ist sofort alarmiert. »Was ist geschehen?« will er wissen. »Nun rede schon. Ist etwas mit Kasturbai oder meinem Sohn? Ist einer von ihnen erkrankt?« Laxmidas schüttelt den Kopf. »Nein, die beiden sind wohlauf, aber…« Er zögert, weicht den besorgten Blicken des Bruders aus und sieht angelegentlich aus dem Fenster. Doch irgendwann muß Mohandas die Wahrheit erfahren: »Unsere Mutter starb im letzten Jahr«, sagt er leise. »Ganz plötzlich. Die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen.« Er schweigt und fugt nach einer Weile wie tröstend hinzu: »Es ging sehr schnell, sie hat nicht lange leiden müssen.« Zur selben Zeit bereitet Kasturbai in Rajkot alles für den Empfang ihres Mannes vor. Sie kann es kaum noch erwarten, ihn endlich wieder zu Hause zu haben und da sie als Hindufrau ihre Freude über seine Heimkehr nicht zeigen darf, kocht sie ihm alle seine Lieblingsgerichte. Die drei Jahre sind ihr endlos vorgekommen, vor allem die letzten Monate seit dem Tod ihrer Schwiegermutter wollten und wollten nicht vergehen. Nun aber ist er auf dem Weg zu ihr und, was fast genau so wichtig ist, er kehrt erfolgreich heim.
»Ich bin die Frau eines Advokaten«, murmelt Kasturbai stolz vor sich hin und ist glücklich, daß die Zeit des Wartens und der Abhängigkeit von der Familie endlich ein Ende haben wird. Wenn Mohandas erst Dewan von Rajkot ist, wird er allein für sie und ihren Sohn sorgen können. Sie werden ein eigenes Haus beziehen, und sie muß nie wieder auf die Mildtätigkeit der Familie angewiesen sein. Keiner wird dann mehr befehlen: »Kasturbai, hol Wasser! Spül die Wäsche! Putz den Reis!« Die letzten drei Jahre hat es eigentlich kaum eine ruhige Minute für sie gegeben. Tagein, tagaus ist sie hin- und hergelaufen, hat die Wäsche gespült, sie zum Trocknen aufgehängt, Eimer voller Wasser von der Zapfstelle geholt und den Reis im Holzsieb geputzt, immer nur sie. Dabei haben es ihre Schwägerinnen gewiß nicht böse gemeint, nein, es ist einfach so, daß die Jüngste für alle Arbeiten zur Verfügung stehen muß, vor allem wenn ihr Mann kein Geld zum Lebensunterhalt beiträgt, sondern im Gegenteil sehr viel Unkosten verursacht. All das wird nun bald der Vergangenheit angehören. Ist Mohandas erst zurück, können sie endlich ihr eigenes Leben fuhren. Doch als ihr Mann eintrifft, bemerkt Kasturbai sofort, wie sehr er sich verändert hat. Er wirkt niedergeschlagen, und das nicht nur wegen des Todes von Putlibai. »Sicher, ich bin nun Advokat«, gesteht er Kasturbai, »aber vom indischen und moslemischen Recht habe ich keine Ahnung. Die Familie hat große finanzielle Opfer für meine Ausbildung gebracht, und ich muß mich nun erkenntlich zeigen. Nur weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll, und die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern.« Tief enttäuscht hört Kasturbai ihm zu. Natürlich versteht sie seine Situation und erkennt seine Schwierigkeiten, aber sie begreift auch sofort, daß sie auf die Verwirklichung ihres Traums vom eigenen Heim noch eine Weile wird warten müssen. Und es kommt alles schlimmer, als sie befürchtet. Mohandas’ Bemühungen, Dewan von Rajkot zu werden, scheitern. Die Situation hat sich in den Jahren seiner Abwesenheit
sehr verändert. Die britischen Kolonialherren besetzen jetzt diese Position, ohne Rücksicht auf Traditionen zu nehmen. Nicht einmal die Hoffnung, eine gutgehende Anwaltspraxis aufmachen zu können, erfüllt sich. Kein einziger Klient ist daran interessiert, sich von Mohandas Gandhi vertreten zu lassen. Um überhaupt etwas zu tun, kümmert er sich um Wiederaufnahme in die Kaste. Er reist nach Bombay, wo der Panchayat ihn äußerst ungnädig empfängt. »Du hast nur die eine Möglichkeit«, erklärt man ihm schließlich. »Du mußt zur Buße, Versöhnung und vollkommenen Reinigung ein Bad im heiligen Fluß nehmen, sonst können wir dich beim besten Willen nicht wieder in die Kaste eingliedern.« Mohandas hat sich bereits sehr weit von den indischen Gepflogenheiten entfernt, und da er ohnehin kein Anhänger des Kastensystems ist, kann er den Sinn für ein derartiges Bad nicht einsehen. Doch seine älteren Brüder reden ihm gut zu: »Als Kastenloser hast du überhaupt keine Chance, in Indien Karriere zu machen. Schließlich gibt es hier nicht nur Engländer, und das Volk hält nach wie vor an den alten Traditionen fest.« Mohandas fügt sich widerwillig, nimmt sein Bad und wird wieder in die Kaste aufgenommen. An seinen Problemen ändert das nichts. Auch das Zusammenleben mit Kasturbai erweist sich als schwierig, und die Freude, ihren Mann endlich wieder bei sich zu haben, währt nicht lange. Erneut beginnen die Auseinandersetzungen. Mohandas ist eifersüchtiger als je zuvor und wirft ihr außerdem vor, die Würde seines Berufes nicht zu begreifen. Sicher, ihre Schönheit bezaubert ihn noch immer, doch die Kluft zwischen ihnen wächst von Tag zu Tag. Er ist ihr vollkommen fremd geworden, kleidet sich westlich und verlangt englischen Kakao und Haferbrei zum Frühstück. »Ich will, daß Harilal künftig wie ein englisches Kind erzogen wird«, ordnet er an. »Der Junge muß unbedingt abgehärtet und widerstandsfähig gemacht werden.« Er zögert einen Augenblick und fährt dann unwillig fort: »Überhaupt muß sich hier einiges ändern. Ich habe
in England gebildete und moderne Frauen kennengelernt, die großen Eindruck auf mich gemacht haben. Auch du wirst irgendwann begreifen, welchen Einfluß ich ausüben, welche Positionen ich einnehmen kann. Und wenn es einmal so weit ist, mußt du dich als meiner würdig erweisen. Darum solltest du endlich Lesen und Schreiben lernen und dich für moderne Ideen aufgeschlossen zeigen.« Ja, es wird ganz deutlich. Mohandas’ Bild von der idealen Frau hat sich geändert, und er versucht, Kasturbai neu zu formen. Sie aber läßt sich dadurch nicht beeindrucken. »Ich werde weder Lesen noch Schreiben lernen«, weigert sie sich entschieden. »Und ich werde diesen Haushalt nicht nach deinen sogenannten modernen Vorstellungen fuhren. Ganz abgesehen davon, daß durch deine Sonderwünsche Haushaltskosten unnötig in die Höhe schnellen, sind wir hier immer noch in Rajkot und nicht in London.« Wie früher bemüht sich Kasturbai um Gelassenheit und widersetzt sich auf freundliche, aber bestimmte Art seinen Neuerungen. Nur als er einen Stundenplan für Freiübungen ausarbeitet und beginnt, alle im Haushalt lebenden Kinder allmorgendlich zu unterweisen, läßt sie ihn gewähren. Ein bißchen Bewegung wird den Kindern nicht schaden, denkt sie, und während dieser Zeit bin ich wenigstens davon entlastet, sie beaufsichtigen zu müssen. Seit Karamchands Tod ist Mohandas ältester Bruder das Oberhaupt der Gandhis, und Laxmidas trägt schwer an der Verantwortung für die ganze Familie. Er hat damit gerechnet, daß Mohandas nach seiner Rückkehr einen beträchtlichen Teil der Haushaltskosten übernehmen wird, aber sein Bruder findet, trotz der kostspieligen britischen Ausbildung, einfach keine Arbeit und hat infolgedessen auch keine Einkünfte. »Die Leute müßten ja mit Dummheit geschlagen sein, wenn sie eine Person wie mich beschäftigten«, gesteht Mohandas Kasturbai seine Ohnmacht ein. »Ich habe schließlich nicht einmal
das Wissen eines Justizsekretärs.« Und obwohl sie sich selbst elend genug fühlt, versucht sie ihn zu trösten. Wieder ist Kasturbai schwanger, und angesichts des zu erwartenden Familienzuwachses werden auch die Sorgen größer. In dieser Situation sieht Mohandas keinen anderen Ausweg mehr, als nach Bombay zu fahren und sich dort eine Anstellung zu suchen. Aber auch hier hat er keine Chance. Der junge Gandhi ist einfach zu sanft und zu unerfahren, um sich durchsetzen zu können. Nach langem Suchen gelingt es ihm schließlich, ein Mandat übertragen zu bekommen. Der Fall kommt vor Gericht, und Mohandas hat gute Aussichten auf Erfolg. Sorgfältig bereitet er sich auf den Prozeß vor, doch als er an der Reihe ist, sein Plädoyer zu halten, bekommt er vor Verlegenheit kein Wort heraus. Tief beschämt verläßt er den Gerichtssaal und kehrt resigniert nach Rajkot zurück. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr bringt Kasturbai ihren zweiten Sohn zur Welt. Das Kind erhält den Namen Manilal, und man feiert seine Geburt mit den traditionellen Festlichkeiten. Doch bei aller Freude können weder Mohandas noch Kasturbai ihre aufsteigende Angst verdrängen. Mit Manilal muß ein Menschlein mehr versorgt werden, benötigt Nahrung und Kleidung, und Mohandas hat noch immer nicht die geringste Aussicht auf ein eigenes Einkommen. Verzweifelt sucht er weiter nach einer Anstellung und wird nach wochenlangen Bemühungen von einer armen Bäuerin bevollmächtigt, sie zu vertreten. »Die Frau ist steuerlich so hoch eingestuft«, erklärt er der interessiert lauschenden Kasturbai, »daß ihr noch nicht einmal das Nötigste zum Überleben bleibt. Natürlich wird es unsere finanzielle Situation kaum ändern, wenn ich ihr helfe, aber ein Erfolg spricht sich herum, und weitere Mandanten werden folgen.« Seine Frau nickt zustimmend. »Ja, wenn du diesen Prozeß gewinnst, werden auch andere Menschen ihr Vertrauen in dich setzen und dich um Hilfe bitten. Du wirst sehen, es wird alles gut.« Ihre Hoffnung soll sich jedoch
nicht erfüllen. Obwohl Mohandas verzweifelt darum kämpft, der Frau zu ihrem Recht zu verhelfen, scheitert er und ist danach mutloser als zuvor. Auch Kasturbai ist unglücklich und weiß nicht mehr ein noch aus. Wie um alles in der Welt soll es weitergehen, fragt sie sich niedergeschlagen. Wir trauen uns ja kaum noch, Laxmidas unter die Augen zu treten. Als die Hoffnungslosigkeit am größten ist, kommt plötzlich aus heiterem Himmel ein Brief aus Porbandar. Der Absender enthält den Namen von Geschäftsleuten, alten Freunden des Hauses Gandhi. Wir haben von Mohandas und seiner Qualifikation als Rechtsanwalt gehört, schreiben sie. Und wir möchten ihn bitten, uns bei einer Angelegenheit in Südafrika behilflich zu sein, weil wir nicht sicher sind, ob wir unseren dortigen Anwälten trauen können. Das gebotene Honorar ist zwar nicht übermäßig hoch, aber Mohandas bleibt keine andere Wahl, er muß dieses Angebot annehmen. Und obwohl es eine weitere Trennung von Frau und Kindern bedeutet, ist auch Kasturbai von der Notwendigkeit, daß er gehen muß, überzeugt. Zwei Wochen später verläßt Mohandas Indien. Ein Jahr, so heißt es, wird er in Südafrika bleiben, und Kasturbai ist fest entschlossen, ihr ungeliebtes Leben in der Großfamilie der Gandhis klaglos weiterzuführen. Schon jetzt steht fest, daß ihr Mann immer noch nicht in der Lage sein wird, für ihren und den Unterhalt der Kinder aufzukommen. Immerhin kann er von seinem Gehalt das Darlehen abbezahlen, das für sein Auslandsstudium aufgenommen werden mußte, und auf diese Weise Laxmidas zumindest ein wenig entlasten. Illusionen über ihre Zukunft braucht Kasturbai sich nicht zu machen. Eine weitere Zeit der Einsamkeit und der Abhängigkeit
steht ihr bevor. Und wie bisher wird man sie spüren lassen, daß sie auf die Barmherzigkeit der Familie angewiesen ist.
Jahre des Wartens (1893-1895) Nichts hat sich geändert. Nach wie vor ist Kasturbai für den Haushalt der Gandhis zuständig, kümmert sich außerdem um ihre beiden Söhne und geht in jeder freien Minute in den HaveliTempel, um dort für den Erfolg Mohandas und für ihre Kinder zu beten. Die einzige Freundin, die sie noch hat und die sie gelegentlich besucht, ist Aruna, eine fast gleichaltrige, verheiratete Frau und Mutter von vier Kindern. Zwei ihrer Söhne sind im Alter von Harilal und Manilal, und während die Kinder miteinander spielen, nutzen die beiden Frauen die Gelegenheit für lange Gespräche. Aruna ist freundlich und nett, aber seit ihr Ehemann trotz seiner Jugend als Kaufmann Karriere gemacht hat, spricht sie kaum noch über etwas anderes. Stolz läßt sie sich in allen Einzelheiten über die Tüchtigkeit Bahadurs aus, lobt seinen Fleiß, seinen Ehrgeiz und seine Erfolge. Ein Thema, bei dem Kasturbai nicht mithalten kann. Schließlich hat Mohandas, außer dem abgeschlossenen Studium, bisher nicht viel Berichtenswertes geleistet, und es ist ungewiß, ob sich das jemals ändern wird. Man hat sie zwar darüber informiert, daß er wohlbehalten in Südafrika eingetroffen ist, wie es ihm dort ergeht, weiß sie jedoch nicht. Kasturbai ist sich selbst gegenüber ehrlich genug, um einzugestehen, daß sie ihre Freundin ein wenig beneidet. Immerhin hat Aruna alles, was sie selbst sich so brennend wünscht: Ein eigenes Haus und einen erfolgreichen Ehemann, der daheim ist und sie und die Kinder versorgt. Aber muß Bahadur deswegen einziges Gesprächsthema sein? »Ich staune immer wieder, wie sehr du deinen Ehemann verehrst«, entfährt es ihr unwillig, als Aruna wieder einmal ellenlange Geschichten über die beruflichen Erfolge ihres Mannes zum besten gibt. »Du liebst Bahadur über alle Maßen, nicht
wahr?« Aruna nickt strahlend. »Aber warum?« Kasturbai beugt sich vor und sieht der Freundin forschend ins Gesicht. »Sag, warum liebst du deinen Mann so sehr? Was ist das Besondere an ihm?« Verständnislos sieht Aruna sie an. »Warum ich ihn liebe? Was für eine Frage? Weil er mein Mann ist, natürlich.« Kasturbai schüttelt den Kopf, die Antwort reicht ihr nicht aus. Sie ist plötzlich sehr ernst geworden. »Und wenn deine Eltern einen anderen Mann für dich ausgewählt hätten, würdest du den genauso lieben?« Ratlos zuckt Aruna die Schultern. »Ich weiß nicht, was du meinst. Natürlich, ich muß meinen Mann doch lieben. Schließlich gibt er mir und meinen Kindern ein Zuhause, Essen und Kleider«, antwortet sie zögernd. »Und außerdem, wenn ich ihn nicht liebte, würde er mich vielleicht schlagen.« Kasturbai nickt bedrückt. »Siehst du, das meine ich. Seit Monaten schwärmst du mir von deinem Mann vor, wie gut er ist, wie tüchtig und wie geschickt, doch in Wirklichkeit hast du gar keine Wahl, ihn anders zu sehen. Nach den Hindugesetzen haben die Frauen den Status von Leibeigenen und niemals Hoffnung auf ein eigenständiges Leben. Von der Wiege bis zum Grab sind wir von einem Mann abhängig. In der Kindheit von unserem Vater, als Erwachsene von unserem Gatten und im Alter von unserem Sohn. Außerdem werden uns ständig die Tugenden einer guten Hindufrau vorgehalten: Selbstaufopferung, Mildtätigkeit, Hingabe an den Ehemann, Respekt vor den Älteren und gute Haushaltsführung.« Aruna nickt. »Ja, und wir alle bemühen uns, gute Hindufrauen zu sein. Was ist falsch daran? Es war schließlich schon immer so.« Nachdenklich blickt Kasturbai auf die spielenden Kinder. »Ja, es war schon immer so und es hat wohl keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen.« Wie Kasturbai es vorausgesehen hat, sind die folgenden Monate nicht gerade leicht für sie. Es fällt ihr immer schwerer, von
Laxmidas abhängig zu sein, zumal sie weiß, daß der Schwager sehr sparsam wirtschaften muß. Um sparen zu helfen, versucht sie, mit Wenigem auszukommen. Zwar behauptet sie, lediglich aus religiösen Gründen ein oder zwei Tage in der Woche zu fasten, doch in Wahrheit will sie Laxmidas die Bürde erleichtern. Und immer stärker beschäftigt sie die Ungewißheit und die Frage, ob sich Mohandas in Südafrika durchsetzen kann? Es ist seine letzte Chance. Diese Befürchtung spricht zwar niemand aus, aber sie beherrscht die Gedanken jedes einzelnen Familienmitgliedes. Kasturbai versucht, was in ihrer Macht steht, zu tun, um ihrem Mann zu helfen. Da sie ihm nicht schreiben und ihm Mut machen kann, betet sie inbrünstig und hofft auf Erhörung. Und Kasturbais Gebete scheinen zu wirken. Mohandas kann seinem Bruder von ersten beruflichen Erfolgen berichten, und Laxmidas ist verständnisvoll genug, die guten Nachrichten an Kasturbai weiterzugeben. »Ich glaube, daß diese Erfolge deinen Mann sehr ermutigen«, sagt er zuversichtlich. »Seinen Briefen nach zu urteilen, gewinnt er das Vertrauen in sich zurück, das er wegen der vielen Fehlschläge in der Vergangenheit verloren hatte.« Nachdenklich sieht er sie an. »Vielleicht war das kostspielige Studium in England ja doch nicht umsonst, und wir können eines Tages stolz auf Mohandas sein.« Das Gespräch ist beendet, und die erleichterte Kasturbai beschließt, Gott sofort für die Antwort auf ihre Gebete zu danken. Auf dem Platz vor dem Haveli-Tempel herrscht wie stets reges Treiben. Da erst das Opfer ein Gebet vollständig macht, haben hier zahlreiche Händler ihre Verkaufsstände aufgeschlagen und bieten Kokosnüsse und zu Girlanden gewundene Hibiskus- und Tagetesblüten als Opfergaben an. Weiße Zuckerbällchen, eine Speise der Götter, locken riesige Fliegenschwärme herbei, und die Räucherstäbchen, die es in den unterschiedlichsten Duftnoten zu kaufen gibt, liegen sorgfältig gestapelt auf den Ladentischen. Kasturbai trifft ihre Wahl, geht an das Tempeltor und schlüpft aus ihren Sandalen. Sorgfältig stellt sie diese in Reih und Glied zu
den anderen Schuhen, die hier bereits in großer Anzahl stehen, denn kein Gläubiger würde auf die Idee kommen, den Schmutz der Straße ins Innere des Tempels zu tragen. Dann läutet sie die Messingglocke, um ihren Besuch anzukündigen. In dem in grelles Sonnenlicht getauchten Hof herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, feste Gebetsstunden gibt es nicht. Ehrfurchtsvoll berührt Kasturbai die Treppe am Eingang des Tempels mit ihrer Stirn und betritt das Haus der Götter. Der große Andachtsraum liegt im Dämmerlicht, und die Duftwolken der Räucherstäbchen – deren Schwaden die Gebete zu den Göttern emportragen sollen – und der berauschende Geruch von Sandelholz liegen schwer in der Luft. Ein Brahmanenpriester nimmt die Opfergaben entgegen und träufelt mit einem Löffel heiliges Wasser in Kasturbais Handfläche. Sie saugt es auf wie Nektar und benetzt anschließend mit der noch feuchten Hand Stirn und Haar. Dann läßt sie sich nieder und versinkt in stille Andacht, die von den Gesängen der Priester begleitet wird. Nachdem Kasturbai ihr Dankgebet gesprochen hat, fällt ihr ein, daß die beruflichen Erfolge ihres Mannes ja mit einem höheren Verdienst verbunden sein könnten, und neue Hoffnung erfüllt sie. »Ach Gott, laß Mohandas endlich in der Lage sein, unseren Unterhalt zu bestreiten, damit meine Söhne und ich nicht länger als rechtlose Bettler im Haus der Gandhis leben müssen.« Das Jahr ist fast zu Ende, und Kasturbai wartet immer sehnlicher auf Mohandas Heimkehr. Zugleich ist sie aber auch besorgt. »Sicher wird er wieder darauf bestehen, mich Lesen und Schreiben zu lehren«, vertraut sie ihrer Schwägerin an. »Und vermutlich wird er wieder fremde Sitten mitbringen und versuchen, sie mir aufzuzwingen.« »Als seine Frau hast du die Pflicht, diese Neuerungen in deinem Leben anzunehmen«, hält ihr die Altere vor. »Die Männer wissen, was sie tun, glaub mir.« Kasturbai nickt schweigend. Was soll sie zu solchen Worten sagen? Sie kennt sich gut genug, um zu wissen, daß sie ihren eigenen Willen hat und auch diesmal nicht
alles widerspruchslos hinnehmen wird. Ein wenig fürchtet sie sich schon heute vor den Auseinandersetzungen, die es zweifellos geben wird, und vor diesem ständigen Kampf, den sie ihr ganzes Leben lang führen muß, um sich einen Zipfel eigener Persönlichkeit zu bewahren. Im fernen Südafrika bereitet Mohandas indessen alles für seinen Abschied vor. Sein Auftrag ist erfüllt, er hat den Rechtsstreit für seine Mandanten erfolgreich abschließen können. Am Tag vor seiner Abreise organisiert ein neugewonnener Geschäftsfreund, Dada Abdullah, für Mohandas eine Abschiedsparty. Auf dieser Feier fällt ihm durch Zufall eine Zeitung in die Hände. Er überfliegt die Schlagzeilen und stößt auf eine versteckte Meldung über einen Gesetzentwurf, der den Indern in Südafrika das Wahlrecht aberkennen soll. »Habt ihr das hier gelesen?« erkundigt er sich aufgeregt bei seinen Freunden. »Die Regierung ist dabei, euch eure Rechte streitig zu machen. Wollt ihr nichts dagegen unternehmen?« Hilflos sehen sie einander an, schütteln unschlüssig die Köpfe, und Dada Abdullah zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Wir gehen ohnehin nie zur Wahl. Warum sollen wir uns über diesen neuen Gesetzentwurf aufregen?« Fassungslos blickt Mohandas ihn an. »Was ist los mit euch!« ruft er aus. »Ihr dürft diese Entwicklung nicht einfach widerspruchslos hinnehmen, wenn ihr nicht wollt, daß man euch immer mehr Rechte nimmt und irgendwann sogar eure Selbstachtung. Wir Inder sind gleichberechtigte Bürger des britischen Empires«, fährt er eindringlich fort, »und wir müssen darauf bestehen, auch als solche behandelt zu werden.« Plötzlich, ohne daß es jemand bemerkt hat, ist aus der Abschiedsparty ein Komitee zur Bekämpfung des geplanten Gesetzes geworden, und seine Freunde bestürmen Mohandas, in Südafrika zu bleiben und den Kampf zu organisieren. Mohandas überlegt nicht lange. Sicher, in Indien erwartet ihn seine Familie, aber auch eine Ungewisse Zukunft. Und wenn er
auch kein Geld für seine Hilfe annehmen will, so bieten ihm die Kaufleute der indischen Gemeinde, die bereit sind, ihn als ihren ständigen Rechtsbeistand zu verpflichten, ein gesichertes, regelmäßiges und ziemlich hohes Einkommen. Mohandas wird sofort aktiv. Zuerst unterrichtet er seinen Bruder davon, daß sich seine Heimkehr auf unbestimmte Zeit verzögert. Dann schickt er Telegramme an die Nationalversammlung von Natal, verteilt Petitionen und schreibt an die Presse. Seine Forderungen lauten: Schluß mit den Diskriminierungen, Eintracht zwischen Europäern und Indern und weitestgehende Selbstverwaltung für die indische Gemeinde. Von all dem ahnt Kasturbai nichts. Sie bereitet alles für Mohandas Rückkehr vor und wartet täglich darauf, daß Laxmidas sie zu sich ruft, um ihr den genauen Termin seiner Ankunft mitzuteilen. So trifft sie die Neuigkeit vollkommen unvorbereitet. »Mohandas ist ein angesehener Mann geworden in Südafrika«, beginnt Laxmidas ein wenig umständlich. Offensichtlich fällt es ihm schwer, ihr klarzumachen, daß sie weiterhin von ihrem Mann getrennt sein wird. »Er hat nicht nur seine Aufgabe dort auf das beste bewältigt, sondern ist auch gebeten worden, länger zu bleiben.« Er zögert, doch als er ihren verständnislosen Blick sieht, fügt er deutlich hinzu: »Wir werden also vorerst nicht mit seiner Rückkehr rechnen können.« »Mohandas kommt nicht heim?« Tapfer drängt Kasturbai die aufsteigenden Tränen zurück. Eine gute Hindufrau darf schließlich keine Gefühle zeigen. Laxmidas nickt. »Ja, er bleibt vorerst in Südafrika. Und ich denke, das ist nicht die schlechteste Lösung, denn dort hat er jetzt ein gutes Auskommen. Was täte er hier in Rajkot? Er müßte noch einmal von vorne beginnen und eventuell wieder scheitern. Hingegen ist er nun in der Lage, uns regelmäßig eine ordentliche Summe Geld zu unserem Haushalt beizusteuern, Geld, auf das wir dringend angewiesen sind. Sag selbst, ist es nicht am besten so?« Kasturbai muß einsehen, daß ihr Schwager recht hat. Immerhin hat sich einer ihrer Wünsche
erfüllt. Mohandas kann sie und die Rinder unterhalten und hat sie damit aus der verhaßten Situation der Almosenempfänger befreit. Daß es noch einmal zwei Jahre dauern wird, bis sie ihren Mann wiedersieht, weiß sie zu diesem Zeitpunkt ebensowenig wie sie die näheren Hintergründe seines Fernbleibens kennt. Erst viel später erfährt sie, daß die in Südafrika lebenden Inder Mohandas zu ihrem Führer gegen die Tyrannei der Engländer auserkoren haben und er ihre Rechte gegenüber der britischen Regierung wahrnehmen soll. Sicher wäre ihr die Trennung leichter gefallen, wenn Laxmidas diese Einzelheiten nicht für sich behalten und sie das erste Mal Grund gehabt hätte, stolz auf ihren Mann zu sein.
Das Leben verändert sich (1896) Mohandas kehrt heim. In wenigen Stunden schon wird er da sein. Kasturbai, die so lange auf die Rückkehr ihres Mannes warten mußte, kann sich kaum noch bis zu seiner Ankunft gedulden. Um die Zeit zu vertreiben, bereitet sie wieder einmal – wie schon damals, als er aus England zurückkehrte – seine Lieblingsspeisen zu. Emsig werkelt sie in der Küche, in der es, noch bevor der Topf auf dem Feuer steht, betörend duftet, denn Kasturbai hat die Zutaten für jede Speise speziell zusammengestellt und alle Gewürze wie eh und je mit dem Steinmörser frisch gemahlen. Ein herrlicher Wohlgeruch von Chili, Pfeffer, Kardamom, Ingwer, Koriander, Muskat, Gelbwurz und Safran zieht durch das ganze Haus, ein wirklich würdiger Willkommensgruß. Das Schiff, das Mohandas in seine Heimat bringt, legt in Kalkutta an, und er besteigt noch am selben Tag die Eisenbahn nach Bombay. In Allahabat hat der Zug 45 Minuten Aufenthalt. Mohandas will die Zeit nutzen, um sich ein wenig in der Stadt umzusehen. Als er am Gebäude der einflußreichen Zeitung »The Pioneer« vorbeikommt, hält er inne; es wäre doch eine Gelegenheit… Kurzentschlossen betritt er die Redaktionsräume und bittet um ein Gespräch mit dem Herausgeber. Mr. Chancey läßt seinen unverhofften Gast nicht lange warten, und so kann Mohandas ihm schon wenig später ausführlich die Lage der Inder in Südafrika schildern. »Ich möchte das öffentliche Interesse für meine Landsleute wecken, die von den Briten unterdrückt und diskriminiert werden«, beendet er seinen Bericht. »Natürlich verstehe ich ihr Anliegen«, erwidert Mr. Chancey nachdenklich, »aber da Sie einige Zeit nicht in Indien waren, wissen Sie vermutlich nicht, daß es auch hier immer häufiger zu
Auseinandersetzungen kommt. Ich glaube, der »Pinoneer« sollte sich auf die hiesigen Probleme beschränken. Wenn Sie jedoch einen Aufsatz über das Leben der Inder in Südafrika schreiben wollen, verspreche ich Ihnen, einen Artikel darüber zu drucken.« Diese Zusage ist mehr, als Mohandas erwartet hat. Zufrieden verläßt er das Verlagshaus. Zwar hat er seinen Zug verpaßt – der nächste fährt erst am folgenden Abend – , aber nun ist er drei Jahre von Zuhause fort gewesen, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger wirklich nicht an. Kasturbai ist glücklich, ihren Mann wieder daheim zu haben, bemerkt jedoch schnell, wie sehr er sich verändert hat, ganz anders als damals nach seiner Rückkehr aus England. Er scheint reifer geworden zu sein, nachdenklicher und verantwortungsbewußter. Eine Entwicklung, die sie erstaunt, aber auch erfreut. Stolz beobachtet sie ihn, wie er Tag für Tag an einem Bericht über die Lebensumstände der Inder in Südafrika schreibt. »Ich habe Mohandas als Kind gekannt, als Schuljungen, als einen extrem eifersüchtigen und besitzgierigen Knaben, als einen unklaren, verlorenen jungen Menschen, der durch die westliche Kultur verwirrt war«, gesteht sie ihrer Freundin Aruna. »Als zielstrebigen Mann, der selbst von Leuten in fremden Ländern respektiert und dessen Rat auch von älteren Menschen beachtet wird, habe ich ihn bisher noch nicht gesehen. Ich bin sehr glücklich darüber und bedauere nur, daß seine Mutter Putlibai das nicht mehr erleben darf. Wie stolz wäre sie auf ihren Sohn gewesen.« Aruna hat interessiert zugehört. »Du hast lange Zeit darauf warten müssen, daß dein Mann seinen Weg findet«, entgegnet sie herzlich. »Jetzt, wo er Erfolg hat, wird sicher auch dein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen, nicht wahr? Ihr werdet bald euer eigenes Haus beziehen.« Kasturbai zögert, ihr eben noch strahlender Blick verdunkelt sich. »Nein, das werden wir nicht«, entgegnet sie traurig. »Zumindest nicht hier in Rajkot. Mohandas will nicht hier bleiben. Er ist
eigentlich nur heimgekommen, um mich und die Kinder zu holen. Wir werden schon bald nach Südafrika übersiedeln.« »Nach Südafrika?« Erschrocken sieht Aruna die Freundin an. »Ihr geht fort aus Rajkot, ja sogar aus Indien? Oh, Kasturbai. Sicher fürchtest du dich vor der Fremde?« Kasturbai zuckt die Schultern. »Mohandas hat mir viel erzählt, über das dortige Leben, über sein Haus, das er gekauft hat, über seine Freunde und über die Arbeit, die er dort leistet. Trotzdem sind meine Gefühle zwiespältig. In Südafrika werden wir zwar endlich unseren eigenen Haushalt führen und nicht mehr in der Familie der Gandhis leben müssen, aber ich kenne bisher nur Porbandar und Rajkot. Es bedeutet eine große Umstellung für mich, denn es ist eine andere Welt, in die wir ziehen.« Wie groß die Umstellung tatsächlich sein wird, kann Kasturbai zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ahnen. Südafrika ist in vier Provinzen aufgeteilt: Natal, Transvaal, die Kap-Provinz und den Oranje-Freistaat. Sie sind zwar locker miteinander verbunden, doch jede hat ihre eigene Regierung und ihre eigenen Gesetze. Nur in einem Punkt sind sich alle Provinzen einig: In ihrer Abneigung gegen die Farbigen. Diskriminierungen und Demütigungen, von denen Kasturbai in ihrem verschlafenen Rajkot niemals gehört hat, die sie aber bald am eigenen Leibe erfährt, sind an der Tagesordnung. Trotzdem hält Mohandas es nicht für nötig, sie darüber zu informieren. Er plant die Übersiedlung seiner Familie nach Natal in allen Einzelheiten, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Gefühle seiner Frau zu nehmen. Selbst Laxmidas befremdet sein Verhalten, und er stellt seinen jüngeren Bruder zur Rede. Doch Mohandas läßt sich nichts sagen. »Der Ehemann ist der Lehrer seiner Frau, das ist nun einmal so«, entgegnet er schroff. »Ich entscheide, welche Informationen sie benötigt, lehre sie, wie sie sich in ihrer neuen Umgebung zu benehmen hat, und lege fest, welche Kleidung sie und meine Söhne tragen sollen. Für eine Hindufrau ist absoluter Gehorsam
höchste Pflicht, ich bin ihr Herr und Meister, und sie schuldet mir ungeteilte Aufmerksamkeit.« »Ja natürlich«, stimmt Laxmidas zu. »Daran habe ich ja auch nicht gezweifelt. Es ist dein gutes Recht, von deiner Familie zu verlangen, mit dir nach Südafrika zu gehen, aber du mußt sie auf das Leben dort vorbereiten. Statt dessen zwingst du Kasturbai, viele Traditionen aufzugeben und ihre Kleidung und ihr Benehmen europäischen Vorstellungen anzugleichen.« Mohandas zuckt nur mit den Schultern. »Mir bleibt leider keine andere Wahl«, erklärt er mit Nachdruck. »Wir müssen zivilisiert wirken, um in Südafrika Einfluß zu gewinnen, ohne den wir der Gemeinschaft nicht helfen können. Da kann ich meiner Familie nicht erlauben, ohne Schuhe und Strümpfe zu gehen. Was sollen die Leute von uns denken?« Bis zu ihrer Abreise setzt sich Mohandas auch weiterhin für die südafrikanische Frage ein. Der Kampf, gegen die Rassendiskriminierung muß in erster Linie in Südafrika geführt werden, trotzdem nutzt er jede Gelegenheit, seine Landsleute von der Misere, in der die Inder im fernen Land leben, zu unterrichten. Er trifft sich mit vielen einflußreichen Männern und schreibt seinen Bericht zu Ende. Mohandas sucht und findet einen Mann, der bereit ist, zehntausend Exemplare seines Aufsatzes zu drucken. Stolz stellt er seiner Frau das Ergebnis vor. »Der Aufsatz enthält alles über die Lage unserer indischen Landsleute in Südafrika, sowie ihre Forderungen, die unhaltbare Situation zu verändern. Ich habe mir große Mühe mit den Formulierungen gegeben, um diese Abhandlung objektiv und ohne den leisesten Hauch von Drohung oder Feindseligkeit zu verfassen.« Fast ehrfürchtig nimmt Kasturbai das dünne Heftchen in die Hand, das wegen der Farbe seines Umschlages später den Titel »Die grüne Broschüre« erhalten wird, und bedauert in diesem Augenblick sehr, das Werk ihres Mannes nicht lesen zu können. Plötzlich fällt ihr etwas ein. »Wenn die Lebensbedingungen der Inder in Südafrika so schwierig sind, hältst du es dann wirklich für richtig, daß wir dorthin gehen?« Mohandas winkt ungeduldig ab.
»Um den Menschen dort zu helfen, müssen wir mit ihnen leben«, stellt er streng fest, und Kasturbai nickt nachdenklich. Die neue Hochachtung, die sie für ihren Mann empfindet, verbietet es ihr, weitere Fragen zu stellen. Mohandas kennt die Verhältnisse in Südafrika. Er wird schon wissen, was richtig ist, und gewiß wird er ihre Söhne und sie nicht in Gefahr bringen. »Was willst du mit den Exemplaren deines Aufsatzes anfangen?« wechselt sie statt dessen das Thema. »Sie werden verschickt«, entgegnet Mohandas entschieden. »Ich habe eine Liste mit den Namen und Adressen von Zeitungen, Zeitschriften und politischen Führern zusammengestellt, die alle meine Broschüre erhalten sollen. Ich bin schon sehr gespannt auf die jeweiligen Reaktionen.« Die Wirkung der kleinen Broschüre ist größer, als er gehofft hatte. Viele Zeitschriften besprechen das Büchlein, das auf diese Weise Popularität im ganzen Land erlangt. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er freilich nicht, daß er wegen dieser Broschüre beinahe gelyncht wird. »In Bombay ist die Pest ausgebrochen!« Kasturbai bringt die erschreckende Neuigkeit mit nach Hause. Sie hat am Brunnen davon erfahren, dem gut funktionierenden Informationszentrum der Frauen in Rajkot. »Es ist eine schwere Epidemie, und viele Menschen sind bereits gestorben. Die Leute fürchten, daß die Seuche sich ausbreitet und sogar bis zu uns nach Rajkot gelangt.« Mohandas, der erst in der letzten Nacht die Versandaktion seiner Broschüre abgeschlossen hat, blickt erschrocken auf. »Wir müssen sofort etwas unternehmen«, nickt er entschlossen und eilt aus dem Haus. Verständnislos sieht Kasturbai ihm nach. Was um alles in der Welt hat er nun wieder vor? Er wird doch nicht nach Bombay fahren wollen? Die Stunden schleichen zäh dahin, und Kasturbai wartet ängstlich auf Mohandas Rückkehr. Es ist bereits später Abend, als sie erleichtert seinen Schritt auf der Treppe hört.
»Ich habe mich dem Sanitätsdepartment zur Verfügung gestellt und bin auch aufgenommen worden«, berichtet er. »Wir haben einen Ausschuß gebildet, und ich erzählte ihnen von meinen Erfahrungen mit der Pest in Südafrika. Es gibt keinen sicheren Schutz vor dem ›schwarzen Tod‹, aber zumindest vorbeugende Maßnahmen.« Bei aller Besorgnis stellt Kasturbai zufrieden fest, wie sehr sich ihr Mann verändert hat. Ruhig und fachkundig gibt er seine Anweisungen: »Das Wichtigste ist die Reinlichkeit. Unsaubere Latrinen sind Brutstätten von Krankheiten. Sorge bitte dafür, daß in diesem Haus alles Notwendige getan wird.« Nachdenklich hält er inne. Kasturbai spürt, daß Mohandas mit seinem Bericht noch nicht am Ende ist. Abwartend sieht sie ihn an und richtig, wenige Augenblicke später fährt er seufzend fort: »Weißt du, was mich wirklich entsetzt hat?« Stumm schüttelt sie den Kopf. »Diese sinnlosen Kastenvorurteile. Noch nie sind sie mir so bewußt geworden wie heute.« Verständnislos sieht Kasturbai auf. Das indische Kastensystem besteht seit mehr als 3000 Jahren. Sie ist in diese Hierarchie hineingeboren und damit groß geworden. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, die bestehende Ordnung anzuzweifeln. »Mein Vater hat mir von einem Gleichnis erzählt, das in den heiligen Schriften steht«, beginnt sie zögernd. »Es handelt von der Entstehung der Kasten. Zuerst war da Purusha, der Ahnherr der Menschen. Seinem Haupt entsprangen die Brahmanen, die oberste Kaste, seiner Brust die Kshatriyas, seinem Bauch die Vaishyas und seinen Füßen die Shudras. Außerdem gibt es die Parias, die jedoch nicht von Purusha abstammen und daher als kastenlos und unberührbar gelten.« Mohandas nickt. »Ja, ich weiß. Ich kenne dieses Gleichnis. Es endet damit, daß der Ahnherr anordnet, kein Mensch dürfe die Zugehörigkeit zu seiner Kaste ablegen und sich mit anderen Kasten vermischen.« »Und so wird es seit Jahrtausenden gehandhabt«, ergänzt Kasturbai. »Auch wir haben nicht anders gehandelt. Wir stammen beide aus der Kaste der Vaishyas und haben einander geheiratet.
Unsere Eltern wären niemals auf die Idee gekommen, uns Partner aus anderen Kasten zu geben.« »Aber warum ist das so?« ereifert sich Mohandas. »Ich kann keinen religiösen Hintergrund für dieses System erkennen. Außerdem ist das starre Kastendenken einfach töricht, wenn es um das gemeinsame Überleben geht. Ich will dir erklären, was ich meine. Der Sanitätsausschuß hat beschlossen, aus Gründen der Sauberkeit, die Latrinen in der Stadt zu inspizieren. In den ärmeren Vierteln, dort also, wo die Angehörigen der niedrigeren Kasten leben, waren die Menschen zur Zusammenarbeit bereit und führten eifrig alle empfohlenen Verbesserungen durch. In den Wohngebieten der höheren Kasten leistete man uns erbitterten Widerstand. Dabei haben gerade sie die unhygienischsten Jauchegruben. Unsere Vorschläge trafen jedoch auf taube Ohren. Und weshalb? Nur weil wir einer niedrigeren Kaste angehören. Ungeachtet der Gefahr ziehen es die angeblich Weisesten unseres Volkes vor, mit dein furchtbaren Gestank und der Angst vor der Krankheit zu leben. Diese Überheblichkeit kann ich einfach nicht begreifen. Sie ist absurd, sinnlos und reformbedürftig.« Erschrocken sieht Kasturbai ihn an. »Du kannst nicht ernsthaft mit dem Gedanken spielen, unser Kastensystem abzuschaffen«, entgegnet sie entsetzt, doch Mohandas schüttelt nur ärgerlich den Kopf. »Wie sollte mir das gelingen? Ich bin nur ein kleiner Advokat und hätte keine Chance im Kampf gegen die Höchsten unserer Gesellschaft.« Diese Antwort erleichtert Kasturbai ein wenig, dennoch bleibt ein Hauch von Beunruhigung zurück. Der Himmel mag wissen, was sie an der Seite dieses Mannes noch alles erleben wird. Trotz aller Schwierigkeiten arbeitet der Sanitätsausschuß recht erfolgreich, und nach einer Weile nimmt die Angst vor der Pest ab. Alles atmet auf, als aus Bombay keine neuen Erkrankungen mehr gemeldet werden. Rajkot ist von der Seuche verschont geblieben. Mohandas kümmert sich nun wieder verstärkt um seine Rückkehr nach Südafrika.
»Wir müssen unseren Unterricht fortsetzen«, erklärt er Kasturbai. »Es gibt noch viele Umgangs- und Verhaltensformen, die ich dir beibringen muß. Schließlich will ich mich vor meinen weltoffenen westlichen Freunden nicht wegen dir schämen müssen.« Doch sie weigert sich. »Ich bin deine Frau und ich bin wie ich bin«, erklärt sie und entschuldigt sich mit Hausarbeiten. Während der Überfahrt kann sie mir nicht so leicht entkommen, denkt Mohandas, dann werde ich Kasturbai und die Kinder vierundzwanzig Stunden am Tage um mich haben, und sie kann sich nicht mit irgendwelchen Verpflichtungen herausreden. Einige Tage später – Mohandas hält sich gerade in Kalkutta auf – erreicht ihn ein wichtiges Telegramm aus Durban. Die südafrikanischen Freunde bitten dringend um seine Rückkehr. Mohandas eilt sofort zurück nach Rajkot. In Bombay unterbricht er seine Reise und bucht für sich und seine Familie die Passage nach Südafrika. Das nächste in Frage kommende Schiff ist die »S.S. Courland«. Der Abschied von Rajkot fällt Kasturbai unendlich schwer. Die Zukunft ist einfach zu ungewiß, als daß sie ihr etwas Freundliches abgewinnen kann. Ohne zu wissen, ob und wann sie Verwandte und Freunde je wiedersehen wird, sagt sie ihnen traurig Lebewohl und besteigt mit ihrer Familie den Zug nach Bombay. Zischend und fauchend setzt sich die schwere Lokomotive in Bewegung, rollt langsam aus der Bahnstation und nimmt dann, immer schneller werdend, die Fahrt auf. Kasturbai steht am Fenster. Mit tränenblinden Augen blickt sie zurück, bis auch der letzte Baum Rajkots im Dunst verschwunden ist.
Ein unfreundlicher Empfang (1896) Bombay. Eine große, eine laute Stadt, die sich immer schneller auszubreiten scheint. Schon erklimmen ihre Siedlungen auf der einen Seite die Abhänge des Malabar Gebirges und greifen auf der anderen sogar auf die flachen Küstengewässer des Meeres über. Wie verstreutes Spielzeug liegen dicht an dicht Hausboote, Schiffe, Segelboote und Dschunken aller Größen und Formen vor Anker. Es ist Abend, als die Gandhis in Bombay eintreffen, und die Sonne neigt sich bereits zum westlichen Horizont. Hütten, viktorianische Paläste im Schatten tropischen Grüns, breite Boulevards und Plätze, ja sogar das Meer, das tief in das Herz der Stadt einschneidet, sind in ein sanftes Rot getaucht. Kasturbai kann nur sprachlos staunen und glaubt sich, obwohl sie erst einige hundert Kilometer von Rajkot entfernt ist, in einer anderen Welt. Doch Mohandas läßt ihr keine Zeit, sich umzusehen. Ohne Umwege fahren sie vom Bahnhof direkt zum Hafen, wo die »S.S. Courland« vor Anker liegt. An Bord nimmt der Kapitän sie persönlich in Empfang. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mr. Gandhi«, sagt er höflich. »Und es ist mir eine Ehre, Sie auf meinem Schiff begrüßen zu dürfen.« Mohandas bedankt sich für die freundliche Aufnahme. »Sie scheinen auf dieser Reise viele Passagiere zu haben«, meint er sich umsehend. »Das Schiff ist ausgebucht«, bestätigt der Mann. »An Bord sind fast vierhundert Ihrer Landsleute, die in Südafrika arbeiten und Geld verdienen wollen. Offensichtlich hat Ihre Grüne Broschüre die Menschen nicht abgeschreckt, sondern eher ermutigt.« Mohandas nickt stolz.
»Das ist gut so. Je mehr Inder sich in Südafrika aufhalten, umso leichter wird es sein, die Lebensumstände dort zu verändern.« Am nächsten Morgen, in aller Frühe, sticht die »S.S. Courland« in See. Kasturbai steht an der Reling und blickt auf die Küste Indiens zurück, die langsam kleiner wird. Schon jetzt hat sie Heimweh. »Ich verlasse nicht nur mein Land, sondern auch mein altes Leben«, flüstert sie leise zu sich selbst. »Der Abschied ist endgültig, denn eines steht fest: Nie wieder wird es werden wie früher.« Drei Wochen soll die Reise dauern, und Mohandas nutzt die Zeit, Frau und Kinder in »respektable« Menschen zu verwandeln, die einem englisch erzogenen Rechtsanwalt zur Ehre gereichen. Er debattiert mit Kasturbai über die Kleidung, die sie tragen soll. Sie aber weigert sich standhaft, englische Kleider anzuziehen. Mohandas schlägt schließlich einen Kompromiß vor: »Was hältst du von den langärmeligen hemdartigen Blusen, wie sie von den Parsenfrauen getragen werden. Mit einem Sari darüber sind sie gewiß praktisch. In Südafrika werden die Parsen von den Weißen als die am meisten zivilisierten Asiaten betrachtet. Wenn man sich mit ihnen identifiziert, verleiht das Ansehen.« Kopfschüttelnd sieht Kasturbai ihn an. »Ist dir das so wichtig?« Erstaunt erwidert er ihren Blick. »Ich will etwas erreichen«, sagt er bestimmt. »Das kann ich nur, wenn die Menschen, mit denen ich verhandeln muß, mich ernstnehmen.« Und Kasturbai fugt sich. Das Thema Kleidung ist ihr einfach nicht wichtig genug, um sich deswegen ständig zu streiten. Damit nicht genug, besteht Mohandas darauf, daß sie und die Kinder Schuhe und Strümpfe tragen, und zwar von morgens, wenn sie aufstehen, bis abends, wenn sie zu Bett gehen. Kasturbai gibt schließlich auch in dieser Frage nach, obwohl die Prozedur für sie unbequem und ungewohnt ist. In Rajkot sind sie meistens barfuß gelaufen und haben nur bei den Besuchen im Tempel Sandalen
getragen. Niemals wären sie dort auf die Idee gekommen, ihre Füße mit festen Schuhen einzuengen. »Ich habe das Gefühl, als würde ich bei jedem Schritt hinfallen. Meine Füße schmerzen, und ich sehne mich schon jetzt nach dem Abend, wenn ich endlich diese Marterinstrumente ausziehen kann«, klagt Kasturbai. Mohandas ist unerbittlich. So oft wie möglich läßt er seine Familie auf dem Schiffsdeck Spazierengehen und überprüft dabei ihre Haltung. »Geht gerade. Haltet den Kopf hoch«, gibt er seine Anweisungen, und Kasturbai sehnt sich immer öfter nach dem Frieden von Rajkot zurück. Dort konnte sie sich anziehen, wie sie es gewohnt war, sie konnte gehen und auf dem Boden sitzen, wie es ihr gefiel. »Man muß einen hohen Preis für deine Zivilisation zahlen«, wirft sie ihrem Mann vor, müht sich aber ihm zu liebe trotzdem weiter ab. Auch das Essen müssen Kasturbai und ihre Söhne neu erlernen. Daheim saßen sie am Boden und hielten große, runde Schüsseln auf den Knien. Man mischte Reis und die jeweiligen Beilagen mit den Fingerspitzen der rechten Hand, packte die kleinen Häppchen zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger und schob sie sich in den Mund. So hat Kasturbai es gehalten, seit sie allein sitzen und essen konnte, und so machen es auch ihre Kinder. Jetzt muß sie mit herunterhängenden Füßen an einem Tisch sitzen, die Teller sind kleiner, und die Finger darf man überhaupt nicht zum Essen benutzen. Wie ein Habicht wacht Mohandas über sie und tadelt endlos, wenn sie den Löffel nicht korrekt in die Hand nehmen oder das Messer nicht handhaben, wie es sich gehört. »Während ihr eßt, müßt ihr den Mund geschlossen halten.« Kasturbai fällt es schon schwer genug, mit Besteck umzugehen, mit geschlossenem Mund zu essen, ist noch viel schwieriger. Bald werden die Mahlzeiten für sie zu einem einzigen Alptraum, zumal die Speisen ebenfalls ungewohnt sind und nicht halb so gut schmecken wie das, was sie selbst zubereitet. »Du glaubst nicht, wie sehr ich das Ende dieser Reise herbeisehne«, erklärt sie immer wieder. »Ich freue mich schon
darauf, in unserem neuen Zuhause ein gutes Essen kochen zu können und es anschließend auf die einzige Art und Weise zu verzehren, die mir gefällt.« Etwa fünf Tagesreisen ist das Schiff noch von der südafrikanischen Stadt Durban entfernt, als ein schwerer Sturm losbricht. Der Segler wird von riesigen Wellen hin- und hergeschleudert, und die Passagiere furchten jeden Augenblick unterzugehen. Für die meisten Reisenden – so auch für Kasturbai und ihre Söhne – ist es die erste Seereise, und sie haben Todesangst. Der Kapitän versucht sie zu beruhigen. »Ich weiß, der Sturm ist schrecklich«, sagt er, »aber ich habe schon Schlimmeres erlebt und bin sicher, daß wir alles heil überstehen werden.« Doch jedesmal, wenn sich das Schiff wieder hart auf die Seite legt, droht es zu kentern und in der tobenden See zu versinken, und Kasturbai denkt, ihr Ende sei gekommen. »Wenigstens sterben wir alle gemeinsam«, murmelt sie und schwört sich, sollten sie mit dem Leben davonkommen, niemals wieder ein Schiff zu betreten. Wenn ich wenigstens beten könnte, denkt sie verzweifelt, doch die Seekrankheit läßt nicht einmal Gebete zu. Bei dem ständigen Schleudern und Schlingern scheint sich der Magen selbständig zu machen und um die eigene Achse zu drehen. Wie soll man dabei, zu Gott sprechen? Wie gelähmt beobachtet Kasturbai ihren Mann, der als einziger an Bord, abgesehen vom Kapitän und der Besatzung, nicht unter der Seekrankheit leidet und bemüht ist, sich nützlich zu machen. Er tröstet seine Familie, ermutigt die anderen Passagiere und versucht immer wieder, ihnen allen Wasser einzuflößen und Schiffszwieback anzubieten. »Ihr müßt etwas zu euch nehmen«, behauptet er streng, »sonst werdet ihr bei der Landung zu schwach sein, das Schiff zu verlassen.« Doch die Mägen weigern sich ganz entschieden, auf seinen Ratschlag zu hören. Endlich läßt der Sturm nach, und das Schiff erreicht wohlbehalten die Stadt Durban. Ihre Ankunft steht jedoch unter
einem schlechten Stern. Durch die Nachrichtenagentur Reuter ist eine vollkommen entstellte Fassung der Grünen Broschüre nach Südafrika gelangt, und der auf nur drei Zeilen reduzierte Aufsatz vermittelt bei den Weißen den Eindruck, daß Mohandas Ärger machen will und ihnen vorwirft, seine Landsleute schlecht zu behandeln. »Und nun kommt der Verfasser dieser Broschüre mit einer ganzen Schiffsladung Inder zurück«, schimpfen sie erbost, »um unser Land mit diesen Kaffern zu überschwemmen und gleichzeitig für deren Gleichberechtigung zu kämpfen.« Wütende Demonstranten belagern den Hafen und fordern den Kapitän der »S.S. Courland« lautstark auf, wieder auszulaufen und die Inder in ihre Heimat zurückzubringen. Als die Demonstranten mit ihren Parolen nichts erreichen, versuchen sie die Landung der indischen Passagiere zu verhindern, vor allem der Sprecher der Neueinwanderer, dieser unverschämte junge Rechtsanwalt, soll nicht wieder ins Land kommen. »Wenn Gandhi seinen Fuß auf südafrikanischen Boden setzt, werden wir ihn lynchen«, rufen sie zornig und drohen mit erhobenen Fäusten zum Schiff herüber. Um Zeit zu gewinnen und in der Hoffnung, daß sich der Sturm in ein paar Tagen gelegt haben wird, verfügt die Regierung, daß die »S.S. Courland« erst einmal unter Quarantäne gestellt wird. Hat es nicht eine Pestepidemie in Bombay gegeben? Na also. Damit ist eine gute Begründung gefunden, das Schiff für einige Tage in der Bucht festzuhalten und am Anlegen zu hindern. Für die Passagiere beginnt eine nervenaufreibende Zeit. Die meisten wollen nach Indien zurück, so unfreundlich haben sie sich den Empfang nicht vorgestellt, doch Mohandas ist dagegen. »Ihr habt ebenso wie die Weißen das Recht, in Südafrika zu sein«, erklärt er ihnen. »Darum dürft ihr euch nicht durch Drohungen ängstigen lassen.« Immer wieder muß Mohandas seine Landsleute beruhigen. Außerdem versucht er, herauszufinden, was an Land vor sich geht, und er setzt den Unterricht seiner Frau fort. Doch Kasturbai, viel zu betroffen über
den unerfreulichen Beginn ihres neuen Lebens, ist nicht mehr recht bei der Sache. Die Nachrichten, die Mohandas täglich von seinem Freund Dada Abdullah erhält, sind tatsächlich besorgniserregend. Angestiftet durch die Regierung in Natal halten die wütenden Weißen öffentliche Versammlungen ab, in denen Mohandas verdammt und seine Abschiebung gefordert wird. Aufgebracht drohen sie damit, alle Inder umzubringen, falls sie in Durban an Land gehen. Am nächsten Tag bieten sie Geld an. Sie sind bereit, die Kosten für die Rückreise aller Passagiere zu übernehmen und ihnen auch noch das Fahrgeld zu vergüten. »Geht zurück nach Indien«, rufen sie. »Wir werden euch alle eure Auslagen ersetzen.« Mohandas ist bestürzt, aber Kasturbai und die Kinder sind entsetzt und verzweifelt. »Was sind das bloß für Menschen?« flüstert sie verschreckt und begreift schnell, daß sich der Zorn der Weißen hauptsächlich gegen ihren Mann richtet. Sie hat Angst um ihn. »In Rajkot war es ruhig und sicher. Niemals haben wir dort unter der Überheblichkeit der Weißen und unter ihrem Zorn leiden müssen. Warum mußten wir hierherkommen?« hält sie ihm vor. »Was werden sie dir antun? Warum sind sie so wütend auf uns?« Mohandas zuckt mit den Schultern. »Ich habe nichts Unrechtes getan«, erwidert er. »Meine Forderungen für die indische Gemeinde in Südafrika sind gerecht. Es ist mir wirklich unverständlich, warum sie darüber so empört sind.« »Deine Forderungen mögen ja gerecht und vernünftig sein«, erzürnt weist Kasturbai auf den wütenden Mob, der immer noch am Kai steht und Drohungen zum Schiff herüberbrüllt. »Aber wie willst du denen das erklären?« »Wir müssen auf Gott vertrauen«, erklärt er und bricht damit jede weitere Diskussion ab. »Er wird uns durch diese Krise führen.« Am Ende des fünften Tages hat die Regierung keinen Grund mehr, das Schiff länger in der Bucht festzuhalten und erteilt die Genehmigung zum Anlegen. Kasturbai ist erleichtert. Sie brennt
darauf, endlich wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Das anhaltende Schaukeln und Schlingern, das Gefangensein auf engstem Raum, möchte sie keine Stunde länger als unbedingt nötig ertragen müssen. Aber sie macht sich natürlich Sorgen um Mohandas. Haben die Weißen sich wirklich ausreichend beruhigt und werden sie ihn in Ruhe lassen? »Ach, warum sind wir nur an diesen schrecklichen Ort gekommen?« murmelt sie leise vor sich hin. »In dieses fremde Land, zu diesen merkwürdigen Menschen. Auch ohne feindseligen Empfang wäre das alles schon beunruhigend genug gewesen.« Endlich können die Passagiere das Schiff verlassen. Nur die Gandhis bleiben zurück. Kasturbai wartet mit gepackten Sachen auf Mohandas, der sich mit dem Kapitän bespricht. »Wir haben die Empfehlung bekommen«, berichtet er, als er zurückkommt, »bis Einbruch der Dunkelheit an Bord zu bleiben und dann unauffällig das Schiff zu verlassen.« »Wie Diebe in der Nacht«, murrt Kasturbai niedergeschlagen. Doch Mohandas winkt ab. »Meine Freunde meinen, es sei so für uns am sichersten, sie müssen es schließlich wissen.« Eine Stunde später, als ihn der Kapitän in Begleitung Mr. Laughtons, dem Rechtsberater der Schiffsagentur, aufsucht, ändert er seine Meinung. »Sie haben es nicht nötig, Mr. Gandhi, die Stadt im Schutz der Finsternis zu betreten«, erklärt der Brite großspurig. Und Mohandas ist mittlerweile ebenfalls der Ansicht, daß er dieses Versteckspiel nicht verdient hat. »Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, nickt er, »aber was haben wir für eine Alternative?« »Schicken Sie Ihre Frau mit den Kindern in einer Mietkutsche zum Haus des Parsen Rustomjee, er ist doch ein Freund von Ihnen, nicht wahr?« Mohandas bestätigt es. »Gut.« Laughton nickt zufrieden. »Sie hingegen werden den Weg dorthin zu Fuß gehen, mit hocherhobenem Haupt, wie es Ihnen zusteht. Und ich werde Sie begleiten. Das wäre mein Vorschlag. Wenn Sie kein Feigling sind, nehmen Sie ihn an.«
»Nein, Angst habe ich gewiß nicht«, lacht Mohandas. »Außerdem haben sich die Weißen, wie es aussieht, zerstreut, und ich glaube nicht, daß mich jemand angreifen wird, wenn ich in Ihrer Begleitung bin.« Laughton lacht. »Na also, dann ist die Sache abgemacht. Können wir gleich aufbrechen?« Doch Kasturbai ist keineswegs mit diesem Vorschlag einverstanden. »Ich werde mit dir gehen«, sagt sie. »Ich lasse dich nicht allein, wenn du in Gefahr bist.« »Das geht nicht«, widerspricht Mohandas. »Der Weg ist zu weit für die Kinder.« Kasturbai läßt sich nicht so schnell überzeugen. »Ich will an deiner Seite stehen«, sagt sie. »Außerdem kenne ich die Rustomjees nicht. Es sind keine Hindus, sie haben eine ganz andere Lebensart. Wie können wir allein dorthin gehen?« »Du mußt es, der Kinder wegen«, befiehlt Mohandas in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr zuläßt, und Kasturbai, will sie vor dem Fremden keinen Streit vom Zaun brechen, muß sich fugen und besteigt wenig später die Rikscha, die von einem riesigen Schwarzen gezogen wird. Ihm gibt Mr. Laughton die Adresse der Rustomjees und macht sich dann mit Mohandas zusammen zu Fuß auf den Weg. Als die Rikscha anfährt und sie Mohandas aus den Augen verliert, gelingt es Kasturbai nur mit Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Die Fahrt verläuft ohne Zwischenfälle. Kasturbai und die Kinder werden im Haus von Mohandas Freunden herzlich aufgenommen. Sie bedankt sich ein wenig zerstreut und wartet nervös auf Mohandas Ankunft. Auch die Rustomjees sind besorgt und setzen sich schweigend zu ihr. Die Zeit verrinnt, nichts geschieht. Es wird immer wahrscheinlicher, daß Mohandas etwas zugestoßen ist.
»Er hätte schon längst hier sein müssen«, erklärt Mrs. Rustomjee ratlos. »So lang ist der Weg nicht.« Ihr Mann erhebt sich. »Ich werde ihm entgegengehen«, sagt er. »Diese Ungewißheit ist nicht länger zu ertragen.« Kaum ist er an der Tür, biegt Mohandas endlich um die Ecke. »Er kommt«, ruft Mr. Rustomjee den wartenden Frauen zu. »Aber mein Gott, wie haben sie ihn zugerichtet.« Mohandas Gesicht und Körper ist blau und schwarz von Blutergüssen. Weinend läuft Kasturbai ihrem Mann entgegen. »Was haben sie mit dir gemacht?« ruft sie. »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, versucht er sie zu beruhigen. »Ich bin nicht schwer verletzt.« Aber Kasturbai läßt sich nicht so leicht abfertigen. Sie holt ein Gefäß mit Wasser und tupft die Blutergüsse mit ihrem Taschentuch ab. In diesem Augenblick betritt der Schiffsarzt der »S.S. Courland« das Haus. »Ich habe erfahren, daß der Mob Mr. Gandhi auf offener Straße zusammengeschlagen hat«, sagt er. »Und ich bin hier, um zu helfen.« Dankbar führt Kasturbai ihn zu ihrem Mann, und er beginnt sofort, Mohandas gründlich zu untersuchen. Während er die Wunden versorgt, dringen sonderbare Geräusche von der Straße ins Haus. »Was ist draußen für eine Unruhe?« wundert sich Mr. Rustomjee und geht zur Tür, um nachzusehen. »Eine lärmende Menschenmenge hat sich vor dem Haus versammelt«, erklärt er Augenblicke später mit wachsbleichem Gesicht. »Hört nur.« »Wir wollen Gandhi, wir wollen ihn lynchen!« fordern die Männer wütend, und ihre Rufe sind auch noch deutlich zu verstehen, als Türen und Fenster fest verriegelt werden. »Wenn Gandhi nicht herauskommt, stürmen wir das Haus«, droht der Pöbel zornig und scheint durch nichts zu beruhigen zu sein. »Was sollen wir’ bloß tun?« Ängstlich blickt Kasturbai ihren Mann an. »Wir können doch nicht warten, bis sie hier eindringen und uns alle niedermetzeln. Draußen sind Polizeibeamte. Warum greifen sie nicht ein?«
»Sie sind in der Minderheit«, beantwortet Mr. Rustomjee ihre Frage, während er vorsichtig aus dem Fenster späht. »Außerdem, bei einer Auseinandersetzung mit Farbigen werden weiße Polizisten in Südafrika selten gegen weiße Bürger aktiv. Aber ich glaube…« Er verstummt und läuft, um einen besseren Ausblick zu haben, an ein anderes Fenster. »Ja, richtig. Da kommt der oberste Ordnungshüter Durbans. Er wird uns gewiß helfen.« Erleichtert schließt Kasturbai für einen Moment die Augen. »Wird er es allein schaffen, die Leute zu vertreiben?« Rustomjee zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Diese Rassisten sind sehr aufgebracht. So ohne weiteres werden die bestimmt nicht verschwinden.« Dieser Tatsache ist sich auch Polizeichef Alexandra bewußt, und er versucht erst gar nicht, die wütende Menge zu zerstreuen. Statt dessen bemüht er sich, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Er scherzt mit ihnen und erzählt Witze, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, ihre Gereiztheit abzukühlen. Als es dunkel wird, ist Alexandra völlig erschöpft, doch die Männer haben sich immer noch nicht beruhigen lassen, im Gegenteil, die Menge wächst und scheint immer wütender zu werden. Der Polizeichef ist mit seiner Weisheit am Ende und schickt zwei Boten in das belagerte Haus. »Wir sollen Mr. Gandhi ausrichten«, erklären die Polizisten atemlos, »daß er, wenn er das Leben seiner Familie und seiner Freunde retten will, in einer Verkleidung aus diesem Haus fliehen muß.« »Und als was soll ich mich verkleiden?« will Mohandas wissen. Die Boten überreichen ihm ein Bündel, das die Uniform eines indischen Polizisten enthält. »Ziehen Sie das an.« Ohne Zögern schlüpft Mohandas in Hose und Jacke und windet zum Schluß den obligatorischen Madras Turban um den Kopf. Dann verabschiedet er sich von der weinenden Kasturbai. »Werden wir hier jemals in Frieden leben können?« fragt sie verzweifelt, und Mohandas beruhigt sie. »Sei unbesorgt, im Grunde sind es nette Menschen. Und wenn das
Mißverständnis erst aus der Welt ist, werden sie auch gut zu uns sein.« »Daran kannst du noch glauben?« Verständnislos schüttelt Kasturbai den Kopf. »Ich bin mir da gar nicht sicher.« Doch ihr Mann hat keine Zeit mehr, etwas zu erwidern. Ungeduldig drängen die Polizisten zum Aufbruch, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als den fliehenden Männern hilflos nachzusehen. Mein ganzes Leben lang habe ich für meine Familie und mich ein eigenes Heim haben wollen, denkt sie, und jetzt, da ich es bekommen soll, werden wir von feindseligen Rassisten bedroht, die meinen Mann töten wollen. Nein, der Preis ist zu hoch.
Die Zeit in Südafrika (1896-1899) »Hängt den alten Gandhi an den sauren Apfelbaum«, schreien die wütenden Männer vorne auf der Straße. »Hängt ihn auf, hängt ihn auf!« Ganz deutlich hört Kasturbai ihre Rufe, während sie ihrem Mann nachsieht, der das Haus der Rustomjees im Schutz der Dunkelheit durch die Hintertür verläßt. Kein Zweifel, wenn er dem Mob in die Hände fällt, wird man ihn in Stücke reißen. Zitternd vor Angst läuft sie zu einem Fenster, von dem aus sie die tobenden Menschenmassen beobachten kann, und späht hinaus. Noch scheint Mohandas nicht entdeckt worden zu sein. In Gedanken begleitet sie ihn auf seinem Fluchtweg. Er und die beiden Polizisten übersteigen nun den Zaun zum benachbarten Grundstück und versuchen, unentdeckt durch dessen Haupteingang auf die Straße zu gelangen. Dann müssen sie sich durch die wütende Menge schlängeln, die sich hoffentlich nur auf das Haus der Rustomjees konzentrieren und nicht auf den notdürftig verkleideten Mann achten wird. An der nächsten Straßenecke wartet bereits eine Droschke, die Mohandas in Sicherheit bringen soll. Wenn er sie erreicht… Das Warten zerrt an den Nerven, Minuten werden zu Stunden, doch endlich trifft die erlösende Nachricht ein, daß Mohandas’ Flucht geglückt und er sicher in der Polizeistation eingetroffen ist. Vor Erleichterung steigen Kasturbai die Tränen in die Augen. Ihre Kinder an sich drückend hört sie, wie Polizeichef Alexandra versucht, die Menge zu zerstreuen. »Gandhi ist entkommen«, ruft er. »Er ist nicht mehr im Haus. Ihr könnt jetzt gehen.« Verdutzt sehen sich die Männer an, dann brechen sie in Gelächter aus.
»Wir glauben dir nicht, Alexandra!« brüllen sie zurück. »Auf den Trick fallen wir nicht herein.« Der Polizeichef winkt ungeduldig ab. »Es ist wahr«, sagt er. »Aber wenn ihr mir nicht glaubt, könnt ihr ein oder zwei Leute auswählen, die in das Haus kommen und es durchsuchen dürfen. Wenn sie Gandhi finden, können sie ihn haben, wenn nicht, müssen sie friedlich nach Hause gehen.« Der Vorschlag wird angenommen, und Augenblicke später betreten zwei Männer das Haus und durchsuchen jedes Zimmer. In einem Raum finden sie Kasturbai, die ihnen weinend entgegenblickt, während ihre beiden Söhne sich erschreckt an die Mutter schmiegen, aber von Mohandas keine Spur. »Er ist wirklich verschwunden«, melden die Männer der Menge, die zwar murrt, sich aber langsam aufzulösen beginnt. Alexandra atmet erleichtert auf. »Der einzige Ort, an dem ich Ihren Mann wirklich schützen kann, ist die Polizeistation«, erklärt er Kasturbai. »Ich werde jetzt zu ihm gehen und ihm nahelegen, so lange dort zu bleiben, bis die Menschen sich beruhigt haben. Außerdem werde ich einen Reporter vom ›Natal Advertiser‹ zu Ihrem Mann schicken. Er soll Mr. Gandhi interviewen und ihm die Möglichkeit geben, dieses Mißverständnis aufzuklären, die jene drei unseligen und aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze der Nachrichtenagentur Reuter ausgelöst haben.« Kasturbai dankt ihm unter Tränen, v »Bitte, Mr. Alexandra. Können meine Söhne und ich ebenfalls in der Polizeistation bleiben?« Flehentlich sieht sie ihn an. »Ich möchte bei meinem Mann sein, und außerdem wüßte ich ohnehin nicht, wohin wir sonst gehen können. Wir sind ja vollkommen fremd in Ihrem Land.« »Aber Mrs. Gandhi«, schaltet sich nun Rustomjee in das Gespräch ein. »Sie bleiben natürlich hier bei uns. Das ist überhaupt keine Frage.« Alexandra nickt zufrieden. »Ja, das ist die beste Lösung. Die Polizeistation eignet sich nicht als Unterkunft für Frauen und Kinder.« Damit ist die Sache
entschieden. Mit einem kurzen Gruß verabschiedet er sich und geht. Sehnsüchtig sieht Kasturbai ihm nach. Im Gegensatz zu den Männern ist sie sicher, daß die Polizeistation eine geeignetere Unterkunft für sie wäre als das Haus der Rustomjees. Um nicht unhöflich zu erscheinen, wagt sie keinen Widerspruch, ist aber dennoch vollkommen ratlos. Es ist erschreckend, wie sehr sich der Lebensstil ihrer Gastgeber von dem ihren unterscheidet, den sie in der Zurückgezogenheit Rajkots geführt hat. Niemals ist sie dort aus der Küche oder ihrem Zimmer getreten, ohne ihr Gesicht zu bedecken, und nun? Männer und Frauen sitzen wie selbstverständlich beieinander, unterhalten sich, und die Frauen bedecken nicht einmal ihren Kopf, geschweige denn ihr Gesicht. Aber das ist noch nicht alles. Die Rustomjees sind Parsen und essen Fisch und Fleisch. In Rajkot ist sie niemals auch nur in die Nähe von Fleischessern gegangen, nun muß sie mit ihnen unter einem Dach leben, und das alles ohne Mohandas. »Gott wird es verstehen«, hofft sie verzweifelt. »Er weiß, daß wir im Augenblick keine andere Wahl haben.« Irgendwie gehen auch diese Tage vorüber. Nachdem Mohandas den Beweis erbracht hat, daß seine Reden und Artikel in Indien nichts enthalten, was er nicht schon in Südafrika gesagt hat, beruhigt sich der Pöbel langsam, und er kann schließlich die Polizeistation verlassen. Endlich führt er seine Familie in sein Haus, eine Villa im englischen Stil, die in einem eleganten Viertel an der Küste liegt. Glücklich geht Kasturbai durch die Zimmer. Sicher, das Haus hat lange Zeit leer gestanden, muß gereinigt und gelüftet werden, aber es ist ein gutes Haus, und sie ist fest entschlossen, daraus ein Heim zu machen. Immerhin ist es das erste Mal, daß sie in ein Haus einziehen kann, das ganz das ihre ist, und die Freude darüber läßt langsam die Befürchtungen und Ängste der ersten Tage verblassen.
Mit Feuereifer macht sie sich daran, all die fremdartigen Dinge in Augenschein zu nehmen, zum Beispiel die Küche. In Rajkot und Porbandar hat sie stets auf dem Boden gehockt und einen kleinen runden Ofen zum Kochen benutzt. Hier muß sie vor einem riesigen schwarzen Ungetüm mit sechs Kochstellen stehen, das man »Herd« nennt. Geduldig zeigt Mohandas seiner Frau, wie man den Herd mit Holz und Kohle anheizt. Es dauert zwar einige Zeit, aber Kasturbai bringt es schließlich fertig, sich daran zu gewöhnen. Die nächsten Monate verlaufen ruhig und friedlich. Mohandas hat beruflichen Erfolg und verdient genügend Geld, um sich den europäischen Lebensstil, den er fuhren möchte, leisten zu können. Als gefragter Anwalt trägt er europäische Kleidung, steife weiße Kragen, bunt gestreifte Krawatten und blank geputzte Schuhe. Er ist zum gut verdienenden Inder aufgestiegen, der den Stil der westlichen Welt nachahmt, aber dort nicht zu Hause ist. Eine Tatsache, die ihn mit der Zeit immer rastloser werden läßt. Wie schon häufig bemerkt Kasturbai, wie ihr Mann sich verändert. Mohandas beginnt eine schier unerschöpfliche Energie an den Tag zu legen und kann sich ständig aufs Neue über die Ungerechtigkeiten der britischen Regierung entrüsten. Seine Mandanten vertrauen ihm bedingungslos, und er entwickelt sich zu einem ausgezeichneten Organisator und zu einer vorausschauenden Führerpersönlichkeit. Noch stärker als zuvor beginnt er sich nun für die indische Gemeinde einzusetzen, schreibt Petitionen und Pressemitteilungen und organisiert die indische Kongreßbewegung in Natal. Kasturbai erwartet ihr drittes Kind. Diesmal verläuft die Schwangerschaft jedoch nicht ohne Komplikationen, und sie fühlt sich manchmal sehr krank und schwach. Die Arbeit im Haushalt fällt ihr immer schwerer, aber sie verrichtet sie tapfer weiter, um Mann und Kindern ein anheimelndes Zuhause zu schenken. Besorgt beobachtet sie dabei Mohandas, der noch ruheloser wird. Die Arbeit in der Anwaltskanzlei scheint ihn nicht mehr zu
befriedigen, und als er von der Wohlfahrtsorganisation seines Freundes Rustomjee erfährt, die gerade ein Krankenhaus eröffnet hat, verspürt er plötzlich den Wunsch, Kranke zu pflegen. »Am liebsten würde ich gar keine andere Arbeit mehr verrichten«, gesteht er Kasturbai. »Das geht natürlich nicht, da ich für euch sorgen muß, aber ich habe mich entschlossen, jeden Morgen zwei Stunden im Krankenhaus zu arbeiten. Es ist eine gute, sinnvolle Tätigkeit, die mir zudem eine Menge Wissen über Krankenpflege vermittelt.« Kasturbai läßt ihn gewähren. Sie hält das ganze lediglich für eine neue Marotte und erhebt auch keinen Einspruch, als Mohandas verkündet: »Dein Gesundheitszustand macht mir große Sorge, und ich bin fest entschlossen, zur Geburt unseres dritten Kindes nicht nur eine Hebamme, sondern auch einen Arzt zu holen. Dir soll die beste medizinische Versorgung zuteil werden. Und nach der Entbindung werden wir eine Krankenschwester einstellen, die sich um dich und das Neugeborene kümmern soll.« »Meinst du nicht, daß es schwierig sein wird, in Südafrika eine indische Pflegerin zu finden?« gibt Kasturbai fast belustigt zu bedenken. »Eine Engländerin nützt mir nämlich nichts, da ich mich nicht mit ihr verständigen kann.« Mohandas muß ihr recht geben. »Vielleicht könnte ich übersetzen«, überlegt er, doch Kasturbai lacht ihn aus. »Du bist den ganzen Tag in deinem Büro. Wie willst du da dolmetschen können? Nein, wir brauchen keine Krankenschwester. Ich kann auch allein für mein Kind sorgen. Wenn wir noch in Indien leben würden, hätten wir auch keine Pflegerin genommen.« Mohandas ist anderer Meinung. »Du hast neun Monate unser Kind getragen und mußt auch noch die Schmerzen der Entbindung erdulden. Da habe ich als Vater und Ehemann die Pflicht, für deine Betreuung zu sorgen. Und für den Fall, daß der Arzt nicht zur rechten Zeit kommen kann, werde ich mich selbst auf die Entbindung vorbereiten.« Verblüfft schüttelt Kasturbai den Kopf. Sie kann es kaum fassen, aber
Mohandas wird tatsächlich immer wunderlicher. Normalerweise ist es in Indien üblich, daß der Ehemann die Schwangerschaft seiner Frau einfach übersieht, und wenn das Kind da ist, käme er niemals auf die Idee, auch nur die Windeln zu wechseln. Nun will Mohandas sich sogar selbst auf die Geburt vorbereiten, dabei ist Geburtshilfe ausschließlich Unberührbaren vorbehalten. Unglaublich! Kasturbai ist viel zu erstaunt, um zu widersprechen, und verfolgt schweigend, wie er sich ein Buch aus Indien schicken läßt, das einen detaillierten Bericht über Geburt und Babypflege beinhaltet. Der ständige Sinneswandel ihres Mannes gibt ihr Rätsel auf. Es ist eine schwere Geburt, und als der kleine Ramdas endlich auf der Welt ist, fühlt Kasturbai sich schwach und elend. Wegen ihrer Blutarmut muß sie für einige Zeit das Bett hüten. Eine Krankenpflegerin kümmert sich um sie, Mohandas versorgt das Baby. Außerdem wird eine englische Erzieherin eingestellt, die die älteren Söhne unterrichten soll. Zu Kasturbais Entsetzen wohnt diese Ungläubige bei ihnen im Haus. Dabei bleibt es nicht, im Gegenteil. Es zeigt sich deutlich, daß sich Mohandas’ Vorstellungen vom Leben immer mehr wandeln. So ändert er zum Beispiel seine zwiespältige Haltung den Kolonialherren gegenüber, als der Burenkrieg ausbricht. Obwohl die Inder in Südafrika als Bürger zweiter Klasse angesehen werden, ist Mohandas davon überzeugt, sie müßten in diesem Krieg einen Beitrag für die Krone leisten. »Ich sehe nicht ein, warum wir Inder uns in diesen Krieg einmischen sollen«, meint Kasturbai. »Die Briten unterdrücken uns genauso wie die Buren. Überdies sind die Buren ein kleines Volk, das ums nackte Überleben kämpft. Warum sollten wir da zu seiner Vernichtung beitragen?« »Aber wir sind britische Untertanen«, hält Mohandas ihr entgegen. »In jeder Bittschrift, die wir einreichen, berufen wir uns darauf. Und wenn wir auf der einen Seite behaupten, stolz auf unser britisches Bürgerrecht zu sein, dann können wir auf der
anderen nicht die Hände in den Schoß legen, wenn die Briten und damit auch wir selber bedroht sind.« »Aber was hat eure Hilfe für einen Wert?« gibt Kasturbai zu bedenken. »Keiner von euch hat je eine Waffe geführt, ihr könnt nicht in Reih und Glied marschieren, mit schwerem Gepäck auf den Schultern weite Märsche machen. Die Weißen würden euch wieder nur als Kulis behandeln, euch verhöhnen und auf euch herabsehen.« Nachdenklich sieht Mohandas sie an. Ihre Argumente sind nicht vom Tisch zu wischen, zumal die Briten selbst kein großes Interesse an der indischen Unterstützung zeigen und zögern, die tausend Inder, die er ihnen angeboten hat, als Soldaten einzusetzen. Schließlich einigt man sich darauf, daß die freiwilligen Inder als Sanitäter Verwendung finden, und sie ziehen, unter Mohandas Führung, in den Krieg. Da die britische Armee Niederlage auf Niederlage erleidet, gibt es sehr viele Verwundete, und die indische Sanitätskolonne hat alle Hände voll zu tun. Es ist harte Arbeit, denn zum Teil müssen sie die verletzten Soldaten sieben oder acht Meilen weit tragen, bis sie ausreichend medizinisch versorgt werden können. Mohandas’ Freiwilligenkorps erfüllt seine Pflicht mit Auszeichnung, und die Inder sind voller Hoffnung, daß es zu einem Umdenken in der Haltung der Weißen ihnen gegenüber kommt, doch dies ist ein Trugschluß, es ändert sich überhaupt nichts. Nur in Mohandas geht erneut eine Veränderung vor. Die Erfahrungen, die er in diesem Krieg macht, hinterlassen ihre Spuren. Brutalität und Grausamkeit lassen in ihm den Entschluß reifen, künftig nur noch der Menschlichkeit zu dienen. Dazu gehört, daß er mit vielen, ihm unsinnig erscheinenden Traditionen brechen muß. »Die Kastenbräuche der Hindus sind töricht, absurd und teilweise sogar unmenschlich«, erklärt er Kasturbai. »Das soziale und häusliche Leben unserer Landsleute ist unbedingt reformbedürftig, und darum verlange ich von meiner Familie, mit
gutem Beispiel voranzugehen.« Wieder einmal zwingt er seine Frau, ihr Leben vollkommen zu ändern und Altgewohntes, in dem ihre Eltern sie streng erzogen hatten, aufzugeben. So ziehen zum Beispiel Angestellte aus der Anwaltspraxis in das Haus der Gandhis, gleichgültig, ob sie Hindus anderer Kasten, Moslems oder Christen sind. Für Kasturbai ist das eine große Umstellung, die mit ihren Prinzipien der Reinheit kaum zu vereinbaren ist. Aber Mohandas’ neue Ideen erfordern genau das. Er behandelt die Mitbewohner des Hauses, als ob sie zur Familie gehören, und des öfteren kommt es deswegen zu Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. Ein ständiger Streitpunkt ist dabei die Leerung der Nachtgeschirre. Die Büroangestellten säubern ihre Nachttöpfe in der Regel selbst, doch ein Neuankömmling, ein indischer Christ aus einer Familie von Unberührbaren, scheint dies nicht für nötig zu halten. Mohandas beauftragt Kasturbai, das Schlafzimmer des Christen zu säubern, doch da begehrt sie auf. »Ich habe alles hingenommen, was du mir in den letzten Monaten zugemutet hast, aber ich leere nicht den Nachttopf eines Unberührbaren. Du weißt, daß das für die Hindus unserer Kaste die größte Verunreinigung überhaupt bedeutet. Dein Auftrag ist ungeheuerlich.« Mit geröteten Augen blickt sie ihn zornig an. »Niemand in diesem Haus ist ein Unberührbarer«, gibt Mohandas entschieden zurück. »Wenn du ihn nicht reinigen willst, muß ich es tun.« Kasturbai zuckt mit den Schultern. Sie hält seine Worte für eine leere Drohung, aber als ihr Mann seinen Mantel auszieht und sich bückt, um den Topf unter dem Bett hervorzuholen, greift sie ein. »Nein, laß, ich werde ihn leeren«, sagt sie schluchzend, nimmt den Topf und will weinend die Treppe hinabsteigen. Noch immer gibt sich Mohandas nicht zufrieden. Er will, daß sie ihre Arbeit lächelnd verrichtet, nicht mit Tränen in den Augen. »Ich werde diesen Unsinn in meinem Hause nicht dulden«, ruft er ärgerlich hinter ihr her. Und Kasturbai, unglücklich, sich wieder einmal gefügt zu haben, stellt den Topf auf den Boden und
entgegnet scharf: »Dein Haus, Mohandas? Dann muß ich mich wohl dafür bedanken, daß ich darin leben darf. Obwohl, im Augenblick könnte ich mir wirklich Schöneres vorstellen.« Ungläubig lauscht Gandhi ihren Worten nach, dann verliert er die Beherrschung. Außer sich vor Wut stürzt er die Treppe hinunter, ergreift Kasturbai am Arm und zerrt sie zur Pforte. »Geh aus meinem Haus«, schreit er und will sie auf die Straße stoßen. Entsetzt sieht Kasturbai ihn an. Was ist in ihn gefahren? Ist die Meinungsverschiedenheit bezüglich der Entleerung eines Nachttopfes so schwerwiegend, daß man seine Frau in einem fremden Land aus dem Haus wirft? Tränen laufen ihr in Strömen über die Wangen, und sie schluchzt: »Hast du kein Schamgefühl? Mußt du dich so weit vergessen? Wo soll ich hin? Ich hab hier keine Eltern und Verwandten, die mich aufnehmen können. Weil ich deine Frau bin, glaubst du wohl, daß ich mich herumschubsen lassen muß. Um Himmels willen benimm dich und schließ das Tor. Es braucht niemand zu sehen, daß wir uns hier streiten.« Mohandas erschrickt. Wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können? Beschämt blickt er auf die roten Striemen auf Kasturbais Arm, die der feste Druck seiner Hände hinterlassen hat, und schließt rasch die Pforte. Es ist nun einmal so: Sowenig wie seine Frau ihn verlassen kann, kann er sie verstoßen. Sie sind aufeinander angewiesen. Kasturbai und Mohandas gehen schweigend an ihre Arbeit und versuchen, den Streit im tiefsten Winkel ihrer Erinnerung zu vergraben, doch beiden gelingt es nicht, den Vorfall zu vergessen. Mohandas sieht ein, daß neue Gedanken und Methoden eine lange Zeit und sehr viel Geduld benötigen, um akzeptiert zu werden. Er begreift, daß er mit Ungeduld nicht weiterkommt und unbedingt lernen muß, sein Temperament zu zügeln. Und Kasturbai? Sie ist vollkommen verwirrt. Irgendwie ist Mohandas wohl doch noch nicht ganz dem ungeschickten Jüngling entwachsen, der nicht für sich selber eintreten kann, sich
vor Gericht blamiert und der vor allem nicht den Erwartungen der Familie entspricht. Gewiß, er ist erfolgreich, hat Karriere gemacht. Aber ist er tatsächlich schon weise genug, um gegen die Lehren von Generationen religiöser Führer verstoßen zu dürfen? Mohandas hat seine Meinung schon so oft geändert, vielleicht ist sein jetziges Verhalten wiederum nur eine Station, aus der er bald herauswachsen wird. Ich bin in den Fragen der Tradition viel konservativer als mein Mann, stellt sie nachdenklich fest. Meine Eltern haben mich dahingehend erzogen, daß es bei den Menschen Hochgeborene und tief unten Stehende gibt. Das soll nun alles falsch sein? Kopfschüttelnd blickt sie auf ihre Hände, die sich unwillkürlich zu Fäusten ballen. Ich will mir nicht ständig Mohandas’ unausgereifte Ideen aufzwingen lassen, begehrt sie auf, und doch tief in ihrem Innern ist sie sich dessen bewußt, daß sie die großen Zusammenhänge nicht begreifen kann. Grundsätzlich bin ich ja bereit, seine Philosophien anzunehmen, gibt sie schließlich zu. Aber dazu muß er mich erst einmal von ihrer Richtigkeit überzeugen. Dann will ich gerne umdenken.
Die Phoenix-Siedlung (1900-1914) Kasturbai ist wieder schwanger. Und als ihr jüngster Sohn Devadas auf die Welt kommt, erholt sie sich lange Zeit nicht von der schweren Geburt. Die Arbeiten im Haus, selbst die leichtesten, bereiten ihr größte Mühe. Besorgt beobachtet Mohandas seine Frau. Er, der schon bei der schwierigen Entbindung von Ramdas dabeigewesen war, hatte nun auch die wesentlich gefährlichere von Devadas miterlebt. Ein weiteres Kind könnte Kasturbais Tod bedeuten, davon ist er überzeugt. Und er beschließt, um erneute Schwangerschaften zu vermeiden, von nun an in Brahmacharya – völliger Enthaltsamkeit – zu leben und in Gedanken und Taten Selbstkontrolle zu üben. Erstaunt hört Kasturbai seine Entscheidung, erklärt sich aber einverstanden. Genau wie Mohandas ist sie erst 31 Jahre alt, aber auch sie hat Angst davor, ein weiteres Mal schwanger zu werden. Nach den Idealen früherer Jahrhunderte soll der Jüngling in den ersten fünfundzwanzig Jahren seines Lebens das andere Geschlecht meiden, von fünfundzwanzig bis fünfzig eine Familie gründen und im Alter von fünfzig bis fünfundsiebzig mit seiner Frau zusammenleben, ohne sie zu berühren. Mit fünfundsiebzig aber wird er sie verlassen und die geistige Vollendung suchen. Ganz bewußt tritt Mohandas nun – allerdings zwei Jahrzehnte zu früh – in die dritte Lebensphase eines orthodoxen Hindu ein und versucht auch seine Anhänger zu einem Leben in Enthaltsamkeit zu überreden. »Eine wahre Erfüllung der Gewaltlosigkeit ist ohne Zölibat unmöglich«, erklärt er ihnen. »Gewaltlos leben heißt allgegenwärtige Liebe zeigen. Was aber bleibt einem Mann, der seine Liebe einer Frau schenkt, für andere übrig?« Große Zustimmung findet er mit seinen Ansichten nicht.
Als problematisch erweist sich die Ausbildung der GandhiSöhne, des mittlerweile zwölfjährigen Harilal und des achtjährigen Manilal. Da die Hauslehrerin Mohandas’ Ansprüchen nicht gerecht wird, müssen er und Kasturbai überlegen, wie es weitergehen soll. Eine Schule für die Kinder zu finden, ist jedoch gar nicht so einfach, denn der Unterricht erfolgt nach Rassen getrennt. Nur wenigen Kindern von ganz besonders angesehenen Farbigen wird die Genehmigung erteilt, Schulen für Weiße zu besuchen. »Soll ich versuchen, meinen Einfluß geltend zu machen, um eine Zulassung zu erhalten?« meint Mohandas nachdenklich, und auch Kasturbai ist unschlüssig. »Vielleicht ist es gar nicht so gut für die Jungen, mit weißen Kindern aufzuwachsen. Vielleicht würden sie dadurch der indischen Gesellschaft entfremdet. Ich denke, wir sollten sie auf einer indischen Schule anmelden.« Doch Mohandas schüttelt den Kopf. »Diese indischen Schulen hier sind von zweifelhafter Qualität. Die Lehrer sind ungeeignet, und die Ausbildung läßt zu wünschen übrig. Was hat es für einen Sinn, die Jungen in so eine Schule zu schicken?« »Aber sie müssen eine Ausbildung erhalten.« »Ich werde sie selbst unterrichten«, entscheidet Mohandas schließlich, muß jedoch bald darauf einsehen, daß diese Methode keine gute Lösung ist. Wegen seiner Verpflichtungen gegenüber der indischen Gemeinde und seiner Sozialarbeit kann er kaum die nötige Zeit dafür erübrigen. Wenn er abends spät nach Hause kommt und mit seinen Söhnen die Lektionen durchnimmt, sind alle drei zu müde, um sich ausreichend konzentrieren zu können. Also versucht Mohandas, die Jungen morgens in aller Herrgottsfrühe zu unterrichten, aber dann sind die Kinder noch vollkommen verschlafen. Auf die Dauer können solche Methoden nicht gut gehen, und Kasturbai sagt ihm klar und deutlich, was sie von seinem Unterricht hält. Nach vielen Monaten der Auseinandersetzungen entschließt sich Mohandas endlich, seinen größeren Sohn Harilal auf eine Internatsschule nach Indien zu schicken.
Die Jahre vergehen, und Mohandas entwickelt sich immer mehr zum politischen Führer und sozialen Erneuerer der HinduGesellschaft. Für die indischen Einwanderer, die nach Südafrika kommen und erst einmal Fuß fassen müssen, gründet er den Phoenix-Ashram, eine sich selbst versorgende Siedlung in der Nähe von Johannesburg. Doch damit nicht genug. Noch einmal ändert er seine Grundsätze und beginnt nun, allen Annehmlichkeiten des Daseins bewußt zu entsagen, eine Gesinnung, die er bis zu seinem Tode beibehält. Um das einfache Leben bis zur letzten Konsequenz fuhren zu können, gibt er das bequeme geräumige Haus in Durban auf und zieht, von vielen seiner Anhänger und Freunde begleitet, mit seiner Familie ebenfalls auf die Phoenix-Farm. Zum größten Teil sind es natürlich Inder, die sich ihm anschließen, aber auch ein wohlhabender Architekt polnischer Abstammung, Herrman Kallenbach, der in Deutschland aufgewachsen ist und als Universalgenie des Bauhandwerks gilt, ist mit von der Partie, ebenso der englische Missionar Charles Freer Andrews. Auf der Farm beginnt Mohandas seine neuen Ideen in die Praxis umzusetzen. Er ist davon überzeugt, daß jede Arbeit den selben Wert hat und auch ein Dasein als Handwerker oder Bauer ein erstrebenswertes Leben ist. Alle Menschen auf Phoenix sind gleichberechtigt, egal welcher Kaste, welcher Religion oder welcher Nationalität sie angehören. Sogar die Frauen verrichten hier, gemeinsam mit den Männern, alle notwendigen Arbeiten und haben die selben Rechte und Pflichten. Wer Führungsqualitäten entwickelt, übernimmt es, andere anzuleiten. So entsteht in der Phoenix-Siedlung eine ganz neue Art der Gemeinschaft, die von allen Mitbewohnern akzeptiert wird. Es ist ein Leben voller Enthaltsamkeit im Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Kasturbai fällt es nicht schwer, sich auf der Farm einzuleben und Entbehrungen auf sich zu nehmen. Glanz und Wohlleben, die sie in ihrer Jugend kennengelernt hat, bedeuten ihr nichts mehr, zumal sie sich einen verantwortungsvollen Wirkungskreis ausgesucht hat. Sie ist für
die hauswirtschaftliche Organisation der Farm zuständig, kann nach eigenem Gutdünken schalten und walten und gehört meistens zu den ersten, die sich mit allen Konsequenzen zu Gandhis neuen Ideen bekennen. Eigentlich hätte Kasturbai mit ihrem Leben ganz zufrieden sein können, wenn nicht ihre angegriffene Gesundheit gewesen wäre. Jahrelang kann sie sich nicht von der letzten Entbindung erholen, Ihr Zustand will sich einfach nicht bessern, und Mohandas bringt sie schließlich zu einem Arzt, der sie gründlich untersucht. »Ihre Frau braucht zusätzliche Nahrung«, stellt der Mediziner fest. »Ihre streng vegetarische Diät ist nicht kräftigend genug, um den großen Blutverlust, den sie zweifellos bei ihrer letzten Entbindung erlitten hat, auszugleichen.« »Sie glauben, daß der Zustand meiner Frau nur auf einen Ernährungsfehler zurückzuführen ist?« Zweifelnd sieht Mohandas den Arzt an. »Was fehlt ihr denn, um wieder gesund zu werden?« »Rinderbrühe«, antwortet der Arzt mit Bestimmtheit. »Eine kräftige Rinderbrühe ist das beste Mittel gegen Blutarmut.« Erschrocken schüttelt Mohandas den Kopf. »Das ist ausgeschlossen«, entgegnet er, »ausgerechnet Rinderbrühe, unmöglich!« »Dann ist das Leben Ihrer Frau keinen Pfifferling mehr wert«, erklärt der Arzt schonungslos. »Sie werden sie verlieren, wenn Sie nicht auf mich hören.« Niedergeschlagen sieht Mohandas auf seine Hände. »Fragen Sie Kasturbai«, stößt er schließlich hervor, »wenn sie einverstanden ist, habe auch ich nichts dagegen.« »Ich glaube kaum, daß Ihre Frau im Augenblick in der Lage ist, derartige Dinge zu entscheiden«, weicht der Arzt aus. Es ist offensichtlich, daß er mit Kasturbai bereits darüber gesprochen und sie sein Ansinnen rundheraus abgelehnt hat. »Wenn meine Frau ihre Einwilligung nicht gibt, kann auch ich Ihnen keine Genehmigung erteilen«, erklärt Mohandas entschieden. »Ich komme morgen früh wieder, dann werden wir weitersehen.« Als Mohandas am nächsten Tag zurückkehrt, hat
der Arzt Kasturbai bereits eine Schale Rinderbrühe eingeflößt. Mohandas ist entsetzt. »Dazu waren Sie nicht berechtigt«, fährt er den Mann zornig an, doch der zuckt nur mit den Schultern. »Natürlich war ich das. Seit wann muß ich meine Patienten über die Art der Behandlung um Rat zu fragen.« »Kasturbai darf niemals davon erfahren«, beschwört ihn Mohandas. »Es ist schlimm genug für sie, nichtvegetarische Nahrung zu essen, aber Rinderbrühe ist für eine Hindufrau frevlerisch.« »Dummes Zeug«, entgegnet der Arzt. »Sie müssen unbedingt mit Ihrer Frau sprechen. Sie hat vier Kinder. Sie wird gewiß nicht sterben wollen.« Doch Kasturbai weigert sich auch angesichts der drohenden Lebensgefahr, Fleischbrühe zu essen. »Niemals«, sagt sie mit kaum hörbarer Stimme. »Bring mich zurück nach Phoenix, dort werde ich bald gesund werden.« Mohandas nickt zustimmend. Er hat seinen Glauben an den Arzt verloren, und hierlassen will er Kasturbai auf gar keinen Fall. Gegen den ausdrücklichen Rat des Mediziners tritt er mit seiner Frau die lange und anstrengende Heimreise an. Kasturbai ist bis auf die Haut abgemagert und so schwach, daß Mohandas sie auf seinen Armen ins Zugabteil tragen muß. Beunruhigt stellt er fest, wie leicht sie geworden ist. »Vielleicht wäre es besser, noch einen anderen Arzt zu konsultieren«, gibt er zu bedenken, doch Kasturbai schüttelt müde den Kopf. Wie durch ein Wunder übersteht sie die Strapazen der Reise und tatsächlich beginnt es ihr auf der Farm langsam besser zu gehen. Auch wenn sie immer noch nur aus Haut und Knochen zu bestehen scheint, kann sie ihr Gewicht jetzt halten und nimmt nicht mehr ab. Um ihr selbst helfen zu können, beschäftigt sich Mohandas intensiv mit Naturheilkunde. Er liest Bücher und holt Ratschläge von Fachkundigen ein. Schließlich wertet er seine gesammelten Informationen aus und schlägt seiner Frau eine Diät
vor, die sämtliche Hülsenfrüchte ausschließt. Kasturbai nimmt diesen Ratschlag zunächst nicht ernst. »So ein Unsinn«, erwidert sie scharf. »Linsen und Bohnen sind mir bisher immer gut bekommen. Warum machst du deine Experimente nicht mit dir selbst?« Nachdenklich sieht Mohandas sie an. »Wie du willst«, sagt er dann. »Ich werde von heute an ein Jahr lang auf alle Hülsenfrüchte verzichten. Wirst du mir dabei folgen?« Verwirrt schüttelt Kasturbai den Kopf. »Warum willst du das tun?« fragt sie verständnislos. »Alle deine Leibgerichte werden mit Hülsenfrüchten zubereitet. Nein, das kann ich nicht zulassen. Nimm dein Gelöbnis zurück, und ich werde tun, was du willst.« »Wie kann ich Worte zurücknehmen, die meine Lippen verlassen haben?« entgegnet Mohandas lächelnd. »Einmal ausgesprochen sind sie außerhalb meines Machtbereiches. Außerdem, was taugen Worte, wenn man sie ohne Überzeugung sagt?« Die Gandhis verzichten in Zukunft auf Hülsenfrüchte, und schon bald zeigt sich, wie gut Kasturbai diese Diät bekommt. Sie nimmt an Gewicht zu, fühlt sich zunehmend kräftiger und kann sich bald wieder um die Versorgung der Menschen in der Siedlung kümmern. Ganz gesund wird sie jedoch erst wieder, als sie erfährt, daß ihr ältester Sohn Harilal nach Südafrika zurückkehrt. Der Siebzehnjährige hat einige Zeit bei Mohandas Familie in Rajkot gelebt und ist in Bombay zur Schule gegangen. Er ist bereits verheiratet, und Kasturbai bedauert immer noch, daß sie an der Hochzeit ihres Ältesten nicht teilnehmen konnte. »Mein Bruder Laxmidas wird Harilal begleiten«, hatte Mohandas damals erklärt. »Für uns ist die Reise einfach zu weit.« Um so mehr freut es Kasturbai, daß er endlich heimkommt und ist glücklich darüber, wieder alle vier Kinder um sich versammeln zu können. Aber die Freude währt nicht lange. Harilal macht seinem Vater bittere Vorwürfe, weil er ihn kein Universitätsstudium beginnen
läßt. Mohandas hält nichts davon und bleibt hart. Traurig beobachtet Kasturbai die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn. Sie hatte sich so auf ein harmonisches Familienleben gefreut und nun…? Während Harilals Abwesenheit ist im Leben der Gandhis so vieles grundlegend anders geworden, daß es dem Sohn schwerfällt, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Er bittet seinen Vater, ihn nach England zu schicken, um dort ebenfalls Rechtsanwalt zu werden, doch auch das lehnt Mohandas schroff ab. »Diese moderne Ausbildung ist vollkommen sinnlos«, meint er, und Harilal muß sich resigniert fügen. Als sein Vater dann jedoch einen anderen jungen Mann aus dem Ashram für ein Jurastudium in London auswählt, ist er außer sich. Tief gekränkt kehrt er nach Indien zurück. Kasturbai leidet unter der Unnachgiebigkeit ihres Mannes und der neuerlichen Trennung von ihrem Ältesten. Doch auch die Behandlung, die Ramdas und Devadas, ihre beiden jüngsten Söhne, durch den Vater erfahren, macht ihr zu schaffen. Immer müssen sie länger und härter arbeiten als die anderen Kinder des Ashrams. Selbst bei Eiseskälte werden sie im Morgengrauen aus ihren Betten geholt, um Holz zu hacken oder ein Feld umzugraben. Als sie Mohandas darauf anspricht, zuckt er nur mit den Schultern. »In der Siedlung gibt es immer etwas zu tun«, erwidert er unerbittlich und ist nicht bereit, die harten Bedingungen für seine Söhne, die immerhin noch im Kindesalter sind, zu erleichtern. Daß sie unter seinen Idealen leiden müssen – so sehr, daß sogar ihre Schulausbildung zu kurz kommt – übersieht er dabei großzügig. Im August 1905 veröffentlicht die Regierung von Transvaal eine Neufassung des Asiaten-Gesetzes. Alle Inder, die älter als acht Jahre sind, müssen ihre Fingerabdrücke registrieren lassen und den Ausweis ständig bei sich tragen. Weigerungen haben
Geldstrafen, Inhaftierung oder sogar die Ausweisung zur Folge. Die Kennkarte muß bei jeder Gelegenheit vorgezeigt werden, egal ob Behördendienste in Anspruch genommen werden oder ein Fahrrad gekauft wird. Mohandas wehrt sich energisch dagegen, daß Inder wie Kriminelle behandelt werden. Er organisiert eine Kundgebung, an der 3000 Menschen teilnehmen, die einhellig fordern, das Gesetz zu widerrufen. Gandhis Einfluß ist unverkennbar, denn jeder der zwei Dutzend Redner ruft zum passiven Widerstand gegen die Verfügung auf. Am Ende der Kundgebung werden die bereits ausgestellten Ausweise verbrannt. Die Folgen sind unvermeidlich. Unzählige Inder werden verhaftet, verurteilt und inhaftiert, Gandhi eingeschlossen. Der zivile Ungehorsam ist zu seiner wichtigsten Waffe geworden. Sobald Mohandas aus der Haftanstalt entlassen wird, richtet er für die Familien derer, die sich noch im Gefängnis befinden, einen Zufluchtsort ein – die Tolstoj-Farm. Zu der einundzwanzig Meilen von Johannesburg entfernt liegenden Farm gehören fast tausend Morgen Land, die Kallenbach stiftet. Und der Widerstand geht weiter. Als das Oberste Gericht in einem Musterprozeß entscheidet, daß Ehen von Hindus, Moslems und Parsis ungültig, indische Frauen also Konkubinen ohne Status und ihre Kinder unehelich sind, wird durch diese neuerliche Beleidigung eine weitere Protestwelle heraufbeschworen. Diesmal ist auch Kasturbai entschlossen, sich aktiv an den Kundgebungen zu beteiligen. Sie marschiert mit einer Gruppe von Frauen in die Kohlebergwerke von Natal und überredet die indischen Bergarbeiter, ihre Arbeitsplätze zu verlassen, um so ihren Protest auszudrücken. Die Minenbesitzer sind sprachlos über die spontane und einmütige Reaktion der insgesamt fünfzigtausend Vertragsarbeiter. So etwas hat es noch nie gegeben! Die Frauen, die diesen Stein ins Rollen gebracht haben, werden verhaftet. Für Kasturbai ist es der erste Gefängnisaufenthalt,
dennoch läßt sie sich nicht abschrecken und wird von nun an Mohandas’ aktive Helferin im Kampf gegen die Willkür der Regierung. Die Streiks gehen weiter. Alle Inder legen ihre Arbeit nieder. Diesmal sind sie fest entschlossen, ihre Rechte durchzusetzen und sich auch durch Drohungen nicht länger einschüchtern zu lassen. Die wirtschaftlichen Verluste werden schließlich so groß, daß die Regierung einlenken muß. General Smuts ist bereit, Mohandas zu empfangen und mit ihm über neue Lebensbedingungen für die Inder zu verhandeln. Dieses Treffen nimmt Mohandas zum Anlaß, endgültig seine europäische Kleidung abzulegen. Barfüßig und nur mit einem Dhoti, dem traditionellen indischen Gewand, bekleidet, erscheint er zu den Verhandlungen. Und er hat Erfolg: Die Einschränkungen gegen indische Ehen werden aufgehoben und die Lebensumstände seiner Landsleute wesentlich verbessert. Mohandas Arbeit in Südafrika ist damit beendet. Er wird nun von seinen Anhängern und Freunden nur noch »Bapu« genannt, das Hinduwort für Vater, und Kasturbai, die wegen ihrer mütterlichen und verständnisvollen Art sehr beliebt ist und verehrt wird, heißt »Ba« – Mutter. Als sich die Gandhis zur Heimreise nach Indien rüsten, zeigen einige der wohlhabenden Gönner, die Gandhis Kampf finanziell unterstützten, ihre Anerkennung und Dankbarkeit, indem sie Kasturbai wertvollen Schmuck aus Gold und Silber schenken. Mohandas verlangt von ihr, daß sie den Schmuck, der so gar nicht zu seinen Ansichten vom einfachen Leben paßt, zurückgibt, doch Kasturbai schüttelt entschieden den Kopf. Sie ist nicht bereit, diese Anerkennung für entbehrungsreiche Jahre und viele persönliche Opfer aufzugeben. »Meinetwegen kannst du auf den Schmuck verzichten, ich werde es nicht tun«, fährt sie Mohandas böse an. »Ich will nicht mit leeren Händen nach Indien zurückkehren. Und das unsere Söhne deiner Meinung sind, wundert mich nicht, sie tanzen sowieso nach deiner Pfeife. Aber wie steht es mit deinen
zukünftigen Schwiegertöchtern? Wenn ich den Schmuck schon nicht tragen darf – sie wollen ihn bestimmt.« Mohandas läßt sich nicht erweichen. »Die Kinder denken noch gar nicht ans Heiraten und später werden sie gewiß keine Frauen wählen, die Schmuck lieben. Was soll das Gezänk? Über dieses Thema können wir reden, wenn es soweit ist.« »Mit dir reden?« Kasturbai lacht böse auf. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß man mit dir nicht reden kann. Du wirst deinen Schwiegertöchtern niemals Schmuck schenken, du, der versucht, aus meinen Söhnen Heilige zu machen. Nein, der Schmuck wird nicht zurückgegeben. Und überhaupt, welches Recht hast du, über meine Geschenke zu bestimmen?« »Wurde dir der Schmuck für deine oder für meine Verdienste geschenkt?« will Mohandas aufgebracht wissen, und Kasturbai muß einräumen: »Gut, ich gebe es zu, aber deine Verdienste sind so gut wie meine. Tag und Nacht habe ich für dich gearbeitet und mich abgeplagt. Ist das kein Verdienst?« Wie immer, wenn es um Meinungsverschiedenheiten geht, die seine Grundsätze betreffen, setzt Mohandas sich unerbittlich durch. Kasturbai muß nachgeben. Ihre Enttäuschung darüber ist groß. Aber allmählich überwiegt die Freude, die sie über ihre Heimkehr nach Indien empfindet. 18 Jahre hat sie in Südafrika gelebt, eine lange Zeit. Endlich wird sie ihr Vaterland wiedersehen. Zuvor jedoch muß die Zukunft der Phoenix-Farm gesichert sein. Normalerweise hätte der älteste Sohn die Nachfolge antreten sollen, doch der Kontakt zu dem in Indien lebenden Harilal ist fast abgebrochen. Harilal versucht, seinen eigenen Weg zu gehen und ohne die Hilfe des Vaters eine vernünftige Ausbildung zu bekommen, ein schwieriges Unterfangen, da er zwischenzeitlich selbst eine Familie zu ernähren hat. Bleibt also nur der Zweitälteste Sohn, Manilal. Die Trennung von ihm ist für Kasturbai ein bitterer Wermutstropfen, und sie läßt den Einundzwanzigjährigen nur ungern ohne den Schutz der Familie zurück.
Heimkehr (1914-1915) In Europa verdichten sich die politischen Spannungen, und alles deutet darauf hin, daß es zum Krieg kommen wird. Trotzdem beschließt Mohandas, bevor er nach Indien zurückkehrt, noch einmal nach London zu reisen. Er will sich dort mit seinem betagten Freund und politischen Lehrmeister, dem Führer der indischen nationalistischen Bewegung, Gopal Krishna Gokhaie, treffen und der britischen Regierung die Situation der Inder in Südafrika darlegen. »Ich werde dich begleiten«, erklärt Kasturbai eifrig. »Schließlich war ich noch nie in England und ich bin sehr neugierig auf die Sehenswürdigkeiten Londons.« Mohandas ist einverstanden. »Ich freue mich, dir den Ort zu zeigen, an dem ich als junger Mensch studiert habe«, entgegnet er lächelnd. »Und wenn du möchtest, werde ich dir auch einige meiner Freunde von damals vorstellen.« Kasturbai lacht vergnügt. »Die Kinder sollten aber nicht mit uns fahren«, überlegt Mohandas weiter. »Ich denke, es ist besser, sie unter der Obhut von Charles Andrews und den anderen Phoenix-Leuten zu lassen und schon nach Indien vorauszuschicken. Sie können dort auf uns warten.« Kasturbai stimmt zu, und wenige Tage später besteigen sie das Schiff, das sie nach Southhampton bringen soll. Die Seereise verläuft zunächst ohne Zwischenfälle, doch als sie in Madeira anlegen, erfahren sie, daß der große Krieg jeden Augenblick auszubrechen droht, und als sie den Ärmelkanal passieren, erreicht sie die Nachricht von der Mobilmachung. Der Kapitän hat große Mühe, sein Schiff durch die unterseeischen Minen zu lotsen, die im ganzen Kanal
ausgelegt sind, dadurch verzögert sich ihre Ankunft um zwei Tage. Am 4. August 1914 erklärt Großbritannien Deutschland den Krieg, am 6. August treffen die Gandhis in London ein. Gleich bei der Ankunft erfährt Mohandas, daß sein Freund Gokhaie in Paris festgehalten wird, und er bedauert sehr, auf dieses Treffen verzichten zu müssen. Sie werden sich also erst in Indien wiedersehen, und Mohandas muß die britischen Angelegenheiten ohne den Freund erledigen. Kasturbai findet London aufregend. Es ist so ganz anders als die Städte, die sie kennt: Geschäfte, Fabriken, Warenhäuser, Verlagshäuser, Bürogebäude – alles ist größer und, da in den Straßen wesentlich mehr dieser neumodischen Automobile fahren als in Südafrika, ist auch der Verkehr viel dichter und hektischer. Gerade in diesen Tagen geht es in London besonders geschäftig zu, denn die Stadt bereitet sich auf den Krieg vor. Die jungen Männer unterziehen sich einer militärischen Ausbildung, und die Frauen nähen Wäsche und Uniformen, stellen Verbandszeug her und arbeiten in den Munitionsfabriken. Bei aller Faszination, London ist keine Stadt, in der Kasturbai auf Dauer leben möchte. Immer stärker sehnt sie sich nach Indien zurück, wo jetzt sicher schon ihre Kinder und die Freunde aus dem Phoenix-Ashram auf sie warten. Bis zu ihrer endgültigen Heimkehr aber muß sie sich noch einige Monate gedulden. Mohandas ruft eine Versammlung der in Großbritannien und Irland lebenden Inder ein. Wie zur Zeit des Burenkrieges ist er auch diesmal der Ansicht, seine Landsleute sollten am Krieg teilnehmen. Kasturbai ist entschieden anderer Meinung: »Es besteht ein großer Unterschied zwischen Indern und Engländern«, erklärt sie voller Überzeugung, »wir sind Sklaven, sie die Herren. Wie kann ein Sklave in der Stunde der Not mit dem Herrn zusammengehen? Ist es nicht die Pflicht des Sklaven, der frei werden will, sich die Not seines Herrn zunutze zu machen?« Mohandas schüttelt den Kopf.
»Natürlich kenne ich die Standesunterschiede zwischen Indern und Engländern«, entgegnet er, »doch wir werden nicht wie Sklaven gehalten. Gewiß gibt es viele schlechte Beispiele, aber meistens liegt die Schuld an irgendwelchen Beamten, nicht am System. Diese Menschen gilt es, durch Liebe zu bekehren, wenn wir unsere Lage verbessern wollen.« Kasturbai blickt ihn verständnislos an. Haben sie im Umgang mit den Engländern nicht genug Lehrgeld zahlen müssen? Ihr Mann läßt sich nicht beirren. Auch während der Versammlung wird heftig diskutiert, und es gibt viele Stimmen dagegen. Geduldig versucht Mohandas, seinen Landsleuten seinen Standpunkt zu erklären: »Ich schlage ja nicht vor, die kämpfenden Truppen zu unterstützen, sondern möchte vielmehr ein Ambulanzkorps organisieren. Wir müssen den Briten zeigen, daß wir zu ihnen halten, ohne unmittelbar in das Kriegsgeschehen einzugreifen.« »Das ist Unsinn«, ruft ein Inder dazwischen, »wir sollten lieber die Situation nutzen, unsere Forderungen durchzusetzen. Wer weiß, ob wir je wieder so eine Gelegenheit bekommen.« »Wir dürfen Englands Not nicht ausnutzen«, ruft Mohandas beschwörend in die Versammlung, »glaubt mir. Es ist zweckmäßiger und weitblickender, auf das Kriegsende zu warten. Wenn wir den Briten jetzt helfen, werden sie später unseren Forderungen gegenüber viel aufgeschlossener sein.« Trotz der unterschiedlichen Ansichten melden sich viele Freiwillige auf Mohandas’ Aufruf und sind bereit, sich zum Sanitätsdienst ausbilden zu lassen. Die englische Regierung nimmt das Angebot der Inder zwar nur zögernd an, dankt ihnen jedoch dafür, daß sie dem Reich in kritischer Stunde ihre Dienste zur Verfügung stellen. Gerne wäre Mohandas noch länger in England geblieben und hätte sich um die Organisation des Ambulanzkorps gekümmert, doch Kasturbais Drängen und eine Brustfellentzündung zwingen ihn schließlich, in ein wärmeres Klima zurückzukehren.
Die Lage Bombays rechtfertigt den Namen: bom baia – schöne Bucht. Glücklich läßt Kasturbai ihre Blicke über die Stadt und die hängenden Gärten des Malabargebirges wandern. Nach mehr als achtzehn Jahren ist sie endlich in die Heimat zurückgekehrt, ein wunderbares Gefühl. Erstaunt ist sie über den herzlichen Empfang, der ihnen bereitet wird. Natürlich ist Mohandas auch in Indien längst kein Unbekannter mehr, aber wie sehr man seine südafrikanischen Erfolge in der Heimat bewundert, wird ihr erst jetzt richtig bewußt. Der erste Mensch, der Mohandas und Kasturbai auf indischem Boden begrüßt, ist der berühmte Dichter, Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur, Rabindranath Tagore. Er steht am Fuß der Gangway und schließt Mohandas gerührt in die Arme. »Willkommen in der Heimat, Mahatma«, sagt er und ist damit der erste, der Mohandas diesen Beinamen verleiht, der »große Seele« bedeutet und später zu einem festen Begriff werden soll. Begeisterte Menschen begrüßen die Heimkehrer mit Girlanden aus sonnengelben Tagetesblüten, roten Hibiskusdolden und duftendem Jasmin. Kasturbai ist überwältigt, und während Mohandas und sie sich einen Weg durch die jubelnde Menge bahnen, überbringt Tagore Grüße von ihren Söhnen. Devadas, Ramdas und der Rest der Phoenix-Gemeinschaft ist in seinem Ashram in Shantiniketan untergekommen, um sie dort zu erwarten. »Bevor ihr sie begrüßen könnt, müßt ihr unbedingt nach Poona reisen«, erklärt der Dichter. »Dort werdet ihr von Gokhaie ungeduldig erwartet. Er brennt darauf, Mohandas der Gesellschaft der Diener Indiens vorzustellen.« Kasturbai ist ein wenig enttäuscht. Am liebsten wäre sie so schnell wie möglich nach Shantiniketan gefahren, um endlich ihre Söhne in die Arme schließen zu können, aber sie begreift, daß dieser neuerliche Aufschub unumgänglich ist. Zunächst einmal muß geklärt werden, wie ihr Leben nun weitergehen soll, immerhin haben sie in Indien kein Zuhause mehr. Als Mohandas sich in Südafrika dazu entschlossen hatte, auf persönliches Eigentum zu verzichten, stellte er auch die Überweisungen an
seine Familie in Indien ein. Laxmidas und die anderen Brüder mißtrauten seiner neuen Gesinnung, dachten, er wolle sie um die Unterhaltsbeihilfe betrügen und brachen gekränkt die Beziehungen ab. An eine Rückkehr nach Rajkot, in das Haus der Gandhis, ist also nicht zu denken. Wieder einmal sind sie auf die Hilfe und Unterstützung Fremder angewiesen, und die »Gesellschaft der Diener Indiens«, die ausnahmslos aus reichen Männern besteht, scheint dafür genau die rechte Adresse zu sein. Der Empfang in Poona ist ebenso herzlich; viele Menschen wollen den Helden der indischen Bewegung in Südafrika schon an der Bahnstation begrüßen. Auch Gokhaie ist gekommen, und die Freude über das Wiedersehen steht deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Ohne Mohandas und Kasturbai Zeit zum Ausruhen zu gönnen, nimmt er sie gleich mit zu sich nach Hause, wo sich die »Gesellschaft der Diener Indiens« zu einem Treffen versammelt hat. Gokhaie wünscht, daß auch Gandhi Mitglied dieser Gesellschaft wird, doch die anderen Herren stellen schnell fest, daß ein großer Unterschied zwischen seinen Idealen und Arbeitsmethoden und den ihrigen besteht. Mohandas muß ihnen recht geben. »Ihr wollt englische Herrschaft ohne die Engländer«, wirft er ihnen vor. »Mich hingegen interessiert im Augenblick weniger die Nationalität der Verwalter als ihre Methoden und ihre Moral.« Von oben herab sehen die europäisch gekleideten Herren ihn an. Sie haben einen Löwen erwartet, einen Giganten, der General Smuts besiegt hat. Statt dessen sehen sie eine magere kleine Gestalt mit einem lächerlich großen Turban und einem flatternden Lendentuch, die zudem eine seltsame Meinung vertritt. »Wie können indische Politiker mit Anzügen aus der Bond Street die Herzen der Bauern erreichen?« fragt Mohandas kopfschüttelnd. Nein, er legt wahrhaftig keinen Wert darauf, Mitglied dieser Gesellschaft zu werden, und auch Gokhaie begreift schnell, wie unüberwindlich die Gegensätze sind.
»Komm mit mir, Mohandas«, sagt er ablenkend. »Ich möchte dir meinen Garten zeigen. Du wirst in den kommenden Jahren noch genug Gelegenheit haben, mit den Herren Meinungsverschiedenheiten auszutauschen.« Mohandas ist froh, dem Kreis entgehen zu können, und folgt dem Älteren ohne Zögern. Auch Kasturbai hat sich in eine ruhige Ecke des prachtvollen Gartens zurückgezogen. Eine Weile hat sie, wie es von ihr erwartet wurde, mit den Frauen der Politiker verbracht, aber sehr schnell gemerkt, daß sie zwischen ihnen wie ein Fremdkörper wirkt. Diese eleganten, reich mit Schmuck behangenen Damen leben in einer anderen Welt, einer Welt, die Kasturbai wohl von früher kennt, der sie aber nicht nachtrauert. Auch wenn ich nur einen schlichten Baumwollsari trage, ist mein Leben doch um vieles reicher als das dieser Frauen, denkt sie und empfindet fast so etwas wie Mitleid mit ihnen, die sich ihr so überlegen glauben und deren Dasein sich doch nur an der Oberfläche abspielt. Nachdenklich beobachtet sie zwei Pfauen, die durch den Garten tänzeln und mit balzendem Imponiergehabe ihre Schwanzfedern zu schillernden Rädern entfalten, als sie Mohandas und seinen alten Freund bemerkt, die ganz in ihrer Nähe auf einer Bank Platz nehmen. »Was für Pläne hast du für die Zukunft, Gandhi?« will Gokhaie gerade wissen. »Wirst du wieder eine Kanzlei eröffnen?« Entschieden schüttelt Mohandas den Kopf. »Ich habe beschlossen, nicht mehr als Rechtsanwalt zu arbeiten. Statt dessen wollen meine Frau und ich uns auch in Indien für die Verbreitung der Gewaltlosigkeitsidee einsetzen. In Südafrika haben wir damit einen bedeutenden Sieg errungen, und für Indien könnte dieses Konzept der einzig mögliche Weg in die Freiheit sein.« Kasturbai tritt näher und nickt bestätigend zu seinen Worten. »Wir werden einen neuen Ashram gründen«, sagt sie. »Und uns dort mit unserer Phoenix-Familie niederlassen.« Erstaunt sieht Gokhaie auf. In Indien ist es nicht üblich, daß eine Frau sich in Männergespräche mischt, doch ihr Engagement
scheint ihm trotzdem zu gefallen. Freundlich nickt er ihr zu, während Mohandas fortfährt: »Ja, in einem neuen Ashram können wir und unsere Freunde nach unseren Idealen leben und sie außerdem den Menschen unserer Umgebung näherbringen.« »Ich bin sehr vermögend und bereit, diejenigen zu unterstützen, die Indien aus Unfreiheit und Apathie herausfuhren«, erklärt Gokhaie nach kurzem Nachdenken. »Um die Finanzierung eures Ashrams müßt ihr euch keine Sorgen machen, die übernehme ich. Indien braucht Menschen wie euch.« »Wir müssen noch viel über Indien lernen«, gibt Mohandas zurück. »Es ist ein fremdes Land für uns geworden, wir sind sehr lange fortgewesen.« »Dann geht auf die Suche nach Indien«, meint Gokhaie eindringlich. »Das hier«, mit einer weitausholenden Geste weist er auf sein luxuriöses Anwesen, »ist nicht typisch. Ihr müßt das wahre Indien entdecken und das Leben der einfachen Menschen beobachten. Dann werdet ihr schnell erfahren, was zu tun ist und was eure Landsleute brauchen.« »Und während wir durch das Land reisen, können wir gleichzeitig überlegen, wo wir unsere neue Siedlung bauen wollen«, greift Kasturbai seinen Vorschlag sofort begeistert auf. »O ja, das ist eine wunderbare Idee.« Wohlwollend mustert Gokhaie die beiden Menschen, die vor ihm stehen. »Als ich euch vorhin, als ihr aus dem Zug gestiegen seid, in diesen traditionellen Gewändern sah, wußte ich, ich werde in Frieden sterben können«, sagt er ernst. »Ihr müßt dafür sorgen, daß man wieder stolz auf Indien sein kann.« Zunächst reisen Kasturbai und Mohandas nach Shantiniketan, um ihre Leute aus der Phoenix-Siedlung zu treffen. Überglücklich schließt Kasturbai ihre Söhne in die Arme. Einige Tage später kommt es auch zu einem Wiedersehen mit Harilal, ihrem Ältesten, der im nahen Kalkutta lebt, das mehr als unerfreulich verläuft. Die Differenzen zwischen Vater und Sohn sind so groß, daß nicht einmal mehr ein Gespräch möglich ist.
Immer wieder versucht Kasturbai zwischen den beiden zu vermitteln, aber ihre Ansichten sind einfach zu gegensätzlich. Mohandas besteht darauf, daß Harilal seine Anschauung übernimmt, doch der legt keinen Wert auf ein Leben im Ashram, sondern sieht sich als erfolgreicher Rechtsanwalt. Da er von diesem Ziel ohne familiäre Hilfe weit entfernt ist, hat er in seiner Verzweiflung Trost im Alkohol gesucht, ein Verhalten, das sogar die immer auf Ausgleich bedachte Kasturbai streng verurteilt. Der Bruch zwischen Harilal und seinen Eltern hat sich nach diesem Wiedersehen verstärkt, und keiner der Betroffenen sieht eine Möglichkeit zum Einlenken. Mohandas und Kasturbai planen ihre Reise durch das Land. Die Kinder sollen unter der Aufsicht von Tagore und Charles Andrews im Ashram des Dichters bleiben, bis sie ihnen ein neues Zuhause bieten können. Kurz vor ihrer Abreise trifft sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel die furchtbare Nachricht vom Tod Gokhaies. Er ist so unerwartet gestorben, daß er nicht mehr in der Lage war, sein Versprechen ihnen gegenüber einzulösen. Abgesehen von der großen Trauer, die Kasturbai und Mohandas empfinden, ist auch ihre Zukunft wieder vollkommen in Frage gestellt. Wer wird nun den neuen Ashram finanzieren? Wieder einmal stehen sie mit leeren Händen da.
Indische Impressionen (1915) Es ist früh am Morgen, als Mohandas und Kasturbai zu ihrer großen Reise durch Indien aufbrechen. Kalkutta scheint gerade zu erwachen. Noch sind die Straßen fast leer, und die kühle Morgenluft ist prickelnd und klar. Bald wird die Sonne höher steigen, die Hitze zu flimmern beginnen und die Stadt stinkend und staubig werden. Die Rufe der ersten Händler, die frisches Gemüse und Stauden von fingergroßen, süßen Bananen in flachen Körben auf ihren Köpfen tragen und lauthals anpreisen, hallen durch die ruhigen Straßen. »Diese Morgenstunden sind wirklich die schönste Tageszeit«, stellt Kasturbai auf dem Weg zum Bahnhof begeistert fest und beobachtet ein paar herrenlose Kühe, die gemächlich durch die Stadt trotten, sich mitten auf der Straße niederlassen und gelangweilt widerkäuen. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen, niemand hindert sie daran, sie werden verehrt, gelten als heilig und dürfen nicht geschlachtet werden. Wer einer Kuh das Leben nimmt, hat nach hinduistischer Überzeugung einen Mord begangen. »Wußtest du, daß diese freilebenden Rinder die Existenz vieler armer Menschen sichern«, fragt Mohandas, der Kasturbais Blick gefolgt ist. »Sie geben Milch, aus der Joghurt und Butter gemacht werden, der Urin wird als Desinfektions- und Heilmittel eingesetzt, und ihr Dung ist ein wichtiger Brennstoff. Man verwendet ihn auch für die Felder und als Insekten abwehrender Mörtel zum Bau von Lehmhütten.« Interessiert hat Kasturbai ihm zugehört, lacht nun jedoch spöttisch auf: »Trotzdem vertreten viele Engländer angeblich die Meinung, daß mit dem Schlachten der Kühe der Hunger vieler Menschen gelindert werden kann.« Mohandas nickt amüsiert. »Das ist Unsinn. Abgesehen davon, daß selbst stundenlanges Kochen das Fleisch nicht weich machen würde, dürften viele
Inder als Vegetarier es ohnehin nicht essen. Die Briten berücksichtigen einfach nicht, daß allein die Zumutung, Rindfleisch zu essen, einen gläubigen Hindu bis ins Mark trifft. Die herrenlosen Straßenrinder hingegen, die kostenlos gemolken werden können, bieten den Ärmsten der Armen eine wichtige Versorgungsmöglichkeit. Ja, die heiligen Kühe retteten schon manches Menschenleben.« »Unsere Kolonialherren haben sich noch nie die Mühe gemacht, uns Inder zu verstehen«, stellt Kasturbai bitter fest. »Offensichtlich können sie nicht begreifen, daß in Indien andere Bedingungen herrschen als in ihrem Land.« Sie haben den Bahnhof erreicht und besteigen den Zug. Indien neu zu entdecken, erweist sich für beide als aufregendes Abenteuer, auch wenn es nicht gerade bequem ist, mit der Eisenbahn kreuz und quer durch das riesige Land zu fahren, sich auf den schlechten Strecken monatelang durchrütteln zu lassen und den feinen Staub zu schlucken, der Augenschmerzen verursacht, Nase und Kehle belegt, das Atmen erschwert und so unangenehm zwischen den Zähnen knirscht. Trotz Drahtnetzen und Jalousien dringt dieser Staub ins Innere der Waggons und bedeckt binnen kurzer Zeit alles mit einer dicken grauen Schicht, der man beim besten Willen nicht Herr werden kann. Auch die langen Aufenthalte an Stationen, an denen die Gandhis in quälender Hitze auf die Weiterfahrt des Zuges warten müssen, sind nicht gerade angenehm. Nur die Händler, die Erfrischungen und fetttriefende Kuchen feilbieten, machen die Pausen ein wenig erträglicher. So gewinnen sie als erstes die Erkenntnis, daß die Zustände in Indien nicht mit jenen in Südafrika zu vergleichen sind. Sie, die jahrelang in ihrem durchorganisierten Ashram gelebt haben, stoßen hier bereits auf Schwierigkeiten, wenn sie nur eine Eisenbahnfahrkarte kaufen wollen. Kein Inder hält es offensichtlich für nötig, sich in Reih und Glied anzustellen, und man muß kräftig seine Ellenbogen benutzen, um bis zum Schalter vordringen zu können. Anschließend auch noch in den Zug zu
gelangen, wird zu einem Kampf mit den Massen. Die Menschen sind rücksichtslos, arm und schmutzig. Immer wieder mustert Kasturbai fassungslos die unglaublich verdreckten und zerlumpten Gestalten, und es ist ihr unbegreiflich, warum man nicht arm, aber trotzdem sauber und ordentlich sein kann. Mit jedem Kilometer, den sie durch das unendliche Land fahren, lernen sie eine neue Lektion und werden sich immer mehr der ungeheuren Aufgabe bewußt, die vor ihnen liegt. Und trotzdem. Erst jetzt wird ihnen richtig klar, wie sehr sie das Gefühl von Heimat in all den Jahren in der Fremde vermißt haben und daß es ihr Land ist, durch das sie nun reisen. Die Menschen, deren Lebensbedingungen sie erforschen wollen, sind Inder wie sie, ihre Brüder und Schwestern. Die Fahrt durch das trockene Landesinnere ist besonders beschwerlich. Gnadenlos brennt die Sonne vom tiefblauen Himmel, sie duldet kaum ein Zwielicht, geht schnell auf und unter. Kasturbai, erschöpft von der unbeschreiblichen Trockenheit, blickt müde aus dem Fenster des ratternden Zuges. Gerade fahren sie an einer seichten Wasserstelle vorbei, zu der die Bauern ihre trägen schwarzen Büffel fuhren. Die Tiere werden den ganzen Tag von Kindern gehütet, die herumplanschen oder auf den Büffeln reiten, während die dunkelhäutigen Ungeheuer gutmütig vor sich hin dösen, ihren Kopf eigenartig ausgestreckt, als läge er auf der Wasseroberfläche. Ein kleines Dorf kommt in Sicht, das nicht anders aussieht als die unzähligen kleinen Dörfer, die sie bereits gesehen haben. Überall ist die vorherrschende Farbe gelb. Das Gelb des Lehms, auf dem alles gebaut wird, die niedrigen Häuser, die klobigen Mauern und die holprige Straße. Brütende Hitze liegt über allem. Nirgendwo wächst ein Baum. Der Zug hält an der kleinen Station, und Kasturbai beobachtet ein paar Frauen in verwaschenen Baumwollsaris, die Wasser vom Brunnen holen. Hoch aufgerichtet gehen sie barfuß die Straße entlang, auf dem Kopf große, bauchige Gefäße. Manche halten kleine Kinder an der
Hand, die folgsam neben ihren Müttern hergehen. Am Brunnen reden sie miteinander. Sie haben keine Eile, helfen sich gegenseitig, die gefüllten Behälter auf den Kopf zu heben, und treten dann den Rückweg zu ihren Häusern an. Kasturbai glaubt fast, das Klirren ihrer Armreifen, die sie an Unter- und Oberarmen tragen, zu hören, so bekannt ist ihr diese Szene aus ihrer eigenen Jugend. Die Frauen schleppen wie Lasttiere und dennoch schreiten sie gelassen und selbstbewußt. Ohne den Kopf zu drehen, nehmen sie alles wahr, was um sie herum vorgeht. Kein Tropfen Wasser wird verschüttet. Als sie an einer Gruppe Männer vorbeikommen, bedecken sie ihr Gesicht mit dem Zipfel ihres Saris. In diesem Augenblick ruckt der Zug an und fährt weiter. Kasturbai schließt die Augen und lehnt sich zurück. Ist es eine Reise in die Zukunft oder in die Vergangenheit? Sie weiß es nicht mehr, weiß nur, daß sie trotz aller Müdigkeit glücklich ist, hier zu sein. Zufrieden legt sie ihren Kopf auf Mohandas’ Schulter, der, sich eifrig Notizen machend, neben ihr sitzt. Gleich darauf ist sie eingeschlafen. Der Zug läßt eine dichte Staubwolke hinter sich. Der Wind wird sie von einem Feld zum anderen, von einer Ortschaft in die nächste tragen. Es ist Mittagszeit, und die Dörfer, an denen sie vorbeifahren, wirken wie ausgestorben. Der Rauch von Kuhdung, den die Frauen als Feuerung zum Kochen verwenden, schwebt in der Luft, und die Hirtenjungen, die für ihre Ziegen und Schafe zu dieser Jahreszeit nur karge Weiden finden, haben sich in den Schatten kleiner Lehmhütten zurückgezogen. Schwärme von Aasgeiern sitzen, auf Beute lauernd, am Rande der Dörfer. Ihr Stellenwert als Gesundheitspolizei ist unbestritten. Auch die mageren Hunde, die die Abfallhaufen nach Gemüse- und Obstschalen durchwühlen, fungieren als eine Art Müllverwerter. Als Kasturbai erwacht, fühlt sie sich wunderbar ausgeruht und erfrischt. Es ist bereits später Nachmittag, und die Sonne, deren Stand den Lebensrhythmus der hier lebenden Inder bestimmt, steht schon recht tief. Um diese Tageszeit werden die Menschen
wieder aktiv, pflügen die Felder, schöpfen Wasser, kaufen und verkaufen auf den Märkten. Am Rande einer Ortschaft entdeckt Kasturbai Hunderte von Leuten. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelt es durcheinander, doch der Sinn ihres Tuns ist bei flüchtigem Hinsehen nicht zu erkennen. »Was machen die Leute dort«, will sie von Mohandas wissen. »Bauen sie etwas?« Interessiert beobachtet sie, wie Männer Hacken schwingen und damit den Boden lockern. Frauen bilden lange Reihen und reichen Steine weiter. Zwischendrin stehen ein paar Esel. Die Kiepen, die rechts und links an ihnen herunterhängen, werden mit Sand beladen. Es sind meistens Frauen, die die Erde bewegen. Ihre Gesichter sind kaum zu erkennen, weil sie sich ein Tuch über Kopf und Schultern drapiert haben, um die immer noch brennende Sonnenglut abzuhalten. Erde und Steine werden von ihnen in flachen Körben auf dem Kopf transportiert. Barfuß gehen sie auf ausgetretenen, schmalen Pfaden zu einer Grube und schütten dort die Körbe aus. Ihre Bewegungen sind langsam, wie in Zeitlupe aufgenommen. Auf der Baustelle gibt es keine Hektik, und Hacken, Schaufeln und Körbe sind die einzigen Arbeitsgeräte. Mohandas sieht flüchtig auf. »Das ist ein Bewässerungsprojekt«, entgegnet er und wendet sich wieder seinen Notizen zu. »Davon gibt es zur Zeit mehrere in Indien. Tausende von Frauen arbeiten auf diesen Baustellen unter menschenunwürdigen Bedingungen.« »Sie arbeiten genauso schwer wie die Männer«, stellt Kasturbai erstaunt fest. »Aber gewiß ist ihr Lohn niedriger, nicht wahr?« Mohandas nickt. »Trotzdem sind sie froh, eine Möglichkeit zum Geldverdienen gefunden zu haben. Die Frauen gehören zu den Kastenlosen. Ihre Ansprüche sind denkbar gering, und sie tragen ihr Schicksal mit Ergebenheit und Gleichmut. Ach ja«, müde seufzt er auf, »es gibt so unendlich viel zu tun in diesem Land, daß man wirklich nicht weiß, wo man beginnen soll.« Nachdenklich sieht Kasturbai ihren Mann an, und es ist ihr, als sehe sie ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal: Mahatma
Gandhi – die große Seele. Ein kahlgeschorenes Haupt, eine dünnrandige Brille, den schmächtigen, gebeugten Körper in ein grobes weißes Tuch gehüllt, ein Notizbuch in den Händen und einen Bambusstab, auf den er sich neuerdings beim Gehen stützt, zwischen den Beinen. Wie sehr hat er sich verändert in all den Jahren, die sie nun gemeinsam verbracht haben. Nichts, aber auch gar nichts mehr erinnert an den unsicheren Jüngling, den sie einst geheiratet hat. »Es wird dir gelingen, Indien zu verändern«, sagt Kasturbai voller Überzeugung. »Und ich werde dir dabei mit aller Kraft helfen.« Dankbar lächelnd greift Mohandas nach der Hand seiner Frau und hält sie für einen Moment in der seinen. Doch dann blitzt plötzlich der Schalk in seinen Augen auf. »Aus dir ist doch noch eine gute Frau geworden, Kasturbai«, sagt er schmunzelnd. »Wer hätte das gedacht.« Scherzhaft versetzt sie ihm einen Stoß in die Seite. »Wenn du den Mund aufmachst, Mohandas Gandhi, dann kommt nur dummes Zeug heraus«, sagt sie vorwurfsvoll, doch ihre lachenden Augen strafen ihre Worte Lügen. Eine Weile sehen sie sich stumm an, spüren beide die Zusammengehörigkeit und das tiefe Einverständnis. Dann wenden sie sich wieder dem Land zu, das am Fenster der Zuges vorbeizufliegen scheint, ihrem Land, ihrer Heimat. Immer weiter fährt der Zug, und Kasturbai und Mohandas erreichen schließlich den Norden Indiens, wo sie einen eindrucksvollen Morgen am heiligen Fluß, dem Ganges, erleben. Es ist noch recht früh, und die Steintreppen, die hinunter zum Wasser fuhren, sind kalt. Nebelschwaden kräuseln sich über dem träge dahingleitenden Strom. Verschlafene Gesichter tauchen auf, Bettler räkeln sich, und Deckenbündel erwachen zum Leben. In der Ferne hört man Tempelglocken und religiöse Gesänge. Nun treffen auch die ersten Pilger ein. Spärlich bekleidet, fröstelnd und die Lippen unaufhörlich im Gebet bewegend, eilen sie mit ihren Schnabelkännchen aus Messing hinunter zum Ufer. Priester,
deren Oberkörper die heilige Schnur der Brahmanen bedeckt, nehmen unter löchrigen Bambusschirmen Platz. Sorgfältig ordnen sie ihre Opfergeräte und richten den Altar für den Tag her. Dann tragen sie vor einem Spiegel die hellen Stirnmale auf, ziehen mit Sandelholzpaste oder Kalk die drei Striche, die sie als Verehrer Shivas eindeutig erkennbar machen. Fasziniert beobachten Kasturbai und Mohandas das Leben auf den Ghats, den Ufertreppen von Benares. Da sie selbst Gläubige sind, erscheinen ihnen viele dieser Szenen vertraut. Und trotzdem ist Ganga – die göttliche Mutter – auch für sie ein Erlebnis. An ihr zu sterben, bedeutet für einen Hindu die Erfüllung, und ein Bad in ihren Fluten reinigt von allen Sünden. Der Ganges ist ein Fluß für alle: Für die Pilger ein Heiligtum, für die Bauern Wasserspender und für die Schiffe Transportweg. Zwischen dem Himalaja, wo er entspringt, und dem Golf von Bengalen, in den er mündet, liegt eine 2500 Kilometer lange Reise durch die indische Seele. Allmählich wird es heller über den Steintreppen, und der Pilgerstrom am heiligsten Wallfahrtsort der Hindus nimmt zu. Die Gesichter sind dem Fluß zugewandt. Mit gesenkten Augen erwartet man den Aufgang der Sonne jenseits des Ganges. Aus Tempeln und Schreinen nahe dem Ufer dringen Duftwolken qualmender Raucher-Stäbchen. Sobald sich der glutrote Ball über den Horizont zu schieben beginnt, steigen die Gläubigen in die heiligen Fluten, benetzen den Körper dreimal und lassen, tief ins Gebet versunken, die Kraft der aufgehenden Sonne zusammen mit dem göttlichen Wasser in sich eingehen. Leuchtend gelbe Blumengirlanden und kleine Opferschälchen werden auf die Wasseroberfläche gesetzt. Schnell steigt die Sonne nun höher, und ihre Strahlen wärmen die Ghats, auf denen es immer geschäftiger zugeht. Auf Plattformen verharren Yogis, unbeeindruckt vom gleißenden Sonnenlicht, mit geschlossenen Augen im Lotossitz.
Längst hat sich die Morgenröte verflüchtigt, das dunkelrote Licht in grelles Gelb verwandelt und das facettenreiche Treiben an den Ghats beginnt allmählich abzunehmen. Monatelang fahren Kasturbai und Mohandas im Land umher, sehen sich mit wachen Augen um, lernen dazu und entdecken ein Nebeneinander von Erhabenem und Profanem, von unermeßlichem Reichtum und bodenloser Armut, das sie zugleich schockiert und fasziniert. Indien hat viele Gesichter. Interessiert verfolgt das ganze Land – durch die Presse genau informiert – die Reise der Gandhis, und immer häufiger erhalten sie Briefe von wildfremden Menschen, die mit dem berühmten Mahatma zusammentreffen wollen. So erreicht sie eines Tages auch die Einladung einer Gruppe wohlhabender Kaufleute aus Ahmedabad, die Kasturbai und Mohandas, da sie gerade in der Nähe sind, gern annehmen. Die Begrüßung ist freundlich, und die Speisen und Getränke, die man ihnen serviert, sind köstlich. Nach dem Essen folgt eine angeregte Unterhaltung, natürlich streng nach Geschlechtern getrennt. Während sich die Männer in die eine Ecke des Raumes begeben, setzen sich die Frauen in der anderen zusammen. Bei dieser Gelegenheit zieht eine reiche Industriellenwitwe Kasturbai ins Gespräch: »Ist es nicht schwierig, mit einem Mann zu leben, der von allen verehrt wird?« will sie wissen, und Kasturbai antwortet freundlich: »Man muß sich ihm anpassen, dann geht es gut.« »Und wobei ist das Anpassen am schwersten?« will die Frau wissen. Kasturbai überlegt einen Augenblick. »Bei seinen Eßgewohnheiten«, antwortet sie dann. »Mohandas liebt bittere Chutneys besonders, Sie wissen, das sind kleingeschnittene, eingelegte Gemüsestücke. Aber die sind gar nicht nach meinem Geschmack. Ich selbst esse lieber Puris, in schwimmendem Fett gebackene Pfannkuchen, und pikante Pickles.«
Erstaunt sieht die Frau sie an und weiß offensichtlich nicht recht, was sie von dieser Antwort halten soll. Doch Kasturbai blickt so harmlos drein, daß es beim besten Willen nicht möglich ist, ihr eine Respektlosigkeit zu unterstellen. Trotzdem wäre sie natürlich wesentlich freundlicher auf eine derart – wie sie meint – dumme Frage eingegangen, wenn sie gewußt hätte, daß man in der anderen Ecke des Raumes über ihre Zukunft verhandelt. Mohandas hat von seinem Plan, einen neuen Ashram zu gründen, berichtet, und die Kaufleute sind von seiner Idee begeistert. »Wenn Sie sich hier niederlassen wollen, Mr. Gandhi«, sagt einer von ihnen, »bin ich gern bereit, Ihnen meinen Grund und Boden am Ufer des Sabarmati-Flusses zur Verfügung zu stellen.« »Und wir bieten Ihnen und Ihren Leuten finanzielle Unterstützung an«, beeilen sich die anderen, ihn zu überreden. »Für die Unabhängigkeit Indiens ist uns kein Preis zu hoch, und wir sind überzeugt davon, daß Sie uns dazu verhelfen können. Immerhin haben Sie die Briten in Südafrika schon einmal besiegt.« Nachdenklich sieht Mohandas die Herren der Reihe nach an. »Ich bedanke mich sehr für Ihr großherziges Angebot«, sagt er dann. »Aber ich muß Sie warnen. Mein Ashram soll allen Menschen offenstehen, und ich würde auch eine kastenlose Familie aufnehmen, wenn sie in den Ashram eintreten will. Ich weiß nicht, ob sich meine Pläne mit Ihrer Überzeugung vereinbaren lassen.« Doch die Herren lachen ihn nur aus. »Zuerst einmal müßten Sie eine Familie finden, die bereit ist, mit Ihnen zu leben«, sagen sie. »Kein Harijan würde es wagen, die gesellschaftlichen Schranken zu durchbrechen und in Ihren Ashram zu ziehen.« Mohandas zuckt mit den Schultern. »Warten wir es ab«, entgegnet er. »Ich habe Sie zumindest darauf hingewiesen. Wenn Sie trotzdem bereit sind, uns Grund und Boden, sowie finanzielle Hilfe zur Verfügung zu stellen, würden meine Frau und ich das Gelände gern besichtigen.«
Bereits am nächsten Tag besuchen Mohandas und Kasturbai den Ort am Sabarmati und finden übereinstimmend, daß sie es nicht besser hätten treffen können. »Wir sollten das großzügige Angebot wirklich annehmen«, findet Mohandas. Kasturbai nickt zustimmend. »Endlich haben wir eine neue Heimat«, stellt sie glücklich fest.
Der neue Ashram (1915-1917) Niedrige, weißgetünchte Hütten ducken sich in einen Hain schattenspendender Bäume, und an den seichten Uferstellen des träge dahinfließenden Sabarmati, in dem die Frauen ihre Wäsche auf flache Steine schlagen, waten Kühe und Wasserbüffel. Obwohl die überbevölkerte Stadt Ahmedabad mit den schwarzen Schornsteinen ihrer Textilfabriken und den verschachtelten Elendsquartieren deutlich sichtbar auf der anderen Seite des Flußes liegt, wirkt hier alles ländlich und friedlich. Kasturbai, Mohandas, ihre Söhne Ramdas und Devadas und fünfundzwanzig Freunde, von denen einige schon in der südafrikanischen Phoenix-Siedlung dabei waren, haben sich in ihrem neuen Ashram bescheiden eingerichtet. Das Leben in den einfachen Hütten ist sehr spartanisch, und die sanitären Einrichtungen sind äußerst primitiv. Daß es oft am Notwendigsten fehlt, macht niemandem etwas aus. Auch Kasturbai und Mohandas bewohnen nur kleine Räume, die lediglich mit einem Bett, einem Bord und einem Stuhl möbliert sind. »Wir werden unsere neue Siedlung Satyagraha-Ashram nennen«, erklärt Mohandas seiner Familie und den Freunden. »Denn Satyagraha wird in Zukunft unser Leitgedanke sein.« Die anderen sehen sich verständnislos an. »Satyagraha?« fragt Kasturbai kopfschüttelnd. »Was bedeutet dieses Wort?« »Ausgerechnet du mußt mich das fragen?« schmunzelt Mohandas. »Du, die meine Lehrmeisterin, mein Guru, in Satyagraha war?« »Satya beinhaltet Wahrheit und Liebe, Agraha Stärke oder Kraft«, versucht Kasturbai das Geheimnis zu ergründen, doch dann begreift sie. »Du hast ein Wort für unsere besondere Waffe gegen die Engländer erfunden«, stellt sie bewundernd fest. »Einen Namen für unsere Bewegung des gewaltlosen
Widerstandes: Satyagraha, die Stärke, die aus Wahrheit, Liebe und Gewaltlosigkeit geboren wird.« Mohandas nickt. »Wir müssen unseren Gegner von seinem Irrtum mit Geduld und Liebe überzeugen. Überzeugen, nicht zerschmettern. Satyagraha vergilt Böses mit Gutem, bis der Übeltäter des Bösen müde geworden ist. Das ist die einzige Chance, die wir gegen die Engländer haben.« Alle stimmen ihm zu, nur Charly Andrews will Näheres wissen. »Aber wieso hast du gesagt, daß Ba deine Lehrmeisterin in Satyagraha war?« Während Mohandas antwortet, sieht er seine Frau liebevoll an. »Schon in frühen Jahren habe ich gemerkt, daß Kasturbai einen eigenen Willen hat. Sie tat nichts, wovon sie nicht überzeugt war. Ich konnte böse werden, ich konnte sie unglücklich machen, konnte sie zum Weinen bringen, aber ich konnte sie nicht zwingen, etwas zu tun, was sie nicht wollte. So entdeckte ich auf meiner ständigen Suche nach Wahrheit das Gesetz, daß man Liebe empfinden und Leiden ertragen muß, um den Gegner zu überzeugen. Das ist das Grundprinzip von Satyagraha, vom passiven Widerstand.« Der neue Ashram scheint ein Erfolg zu werden. Wie in einer großen Familie leben hier alle zusammen, essen die Mahlzeiten gemeinsam, beten und arbeiten. Gewöhnlich steht man um vier Uhr morgens auf und wäscht sich, halb fünf beginnt die Andacht, und danach bekommt jeder seine Arbeit zugeteilt. Davon gibt es allerdings mehr als genug. Die Obstbäume müssen kultiviert und Getreide gepflanzt werden. Es wird studiert und in den umliegenden Dörfern unterrichtet. Der Freitag ist immer Feiertag. Wie bereits in der Phoenix-Siedlung hat Kasturbai auch in diesem Ashram die hauswirtschaftliche Leitung übernommen und gibt mit heller, klarer Stimme ihre Anweisungen. Ihre scharfen Augen sehen alles. Sie ist liebenswürdig, aber wenn es darauf ankommt auch streng und entschlossen. Faulenzen und Herumtrödeln gibt es bei ihr nicht, und nur wer zuverlässig und gut arbeitet, hat keine Schwierigkeiten mit ihr zu befürchten. In
Kasturbais Teil des Hauses, zu dem auch die Küche gehört, herrscht sie nach ihren eigenen Vorstellungen. Natürlich gibt es Helfer bei der Küchenarbeit, aber das Kochen übernimmt Kasturbai selbst. Peinlich genau achtet sie auf Reinlichkeit. »Ich will hier keine Fliegen sehen«, pflegt sie zu sagen. »Und wenn man alles sauber hält, bleiben sie auch fern.« Nur wenige Wochen nach Gründung der Siedlung kommt es zu einem ersten Skandal. Seit Jahrhunderten hat das indische Kastensystem jene an den Rand der Gesellschaft verbannt, die die schwersten und widerwärtigsten Arbeiten zu verrichten haben: die Unberührbaren oder, wie Mohandas sie nennt, die Harijan – Kinder Gottes. Sie werden als die Niedersten der Niederen angesehen, und ein gläubiger Hindu darf weder sie noch etwas, was sie in den Händen hielten, berühren. Selbst der Schatten eines Unberührbaren gilt als unrein. Mohandas, der nicht bereit ist, diese alten Gesetze hinzunehmen, will in seinem Ashram auch Unberührbare wohnen lassen. »Unsere Geldgeber werden damit niemals einverstanden sein«, gibt Kasturbai zu bedenken. »Was sollen wir machen, wenn sie ihre Zahlungen einstellen.« »Gott wird uns helfen«, erwidert Mohandas überzeugt und setzt lächelnd hinzu: »Außerdem habe ich meine Pläne vor unseren Finanziers nicht geheimgehalten. Kann ich etwas dafür, daß sie mir nicht glaubten?« Aufmerksam sieht Kasturbai ihn an. »Du hast also Unberührbare gefunden, die bereit sind, in den Ashram einzutreten.« Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung, und Mohandas nickt zufrieden. »Ja, und zwar eine ganze Familie. Noch heute werde ich mit den Mitgliedern unseres Ashrams sprechen, und wenn sie einwilligen, können die Harijan bald einziehen.« »Warum willst du sie um Erlaubnis fragen?« will Kasturbai mit leisem Spott wissen. »Letztendlich wirst du doch das tun, was du für richtig hältst, und wie stets werden sie dich gewähren lassen. Falls tatsächlich jemand persönliche Vorbehalte haben sollte, wird er es nicht wagen, dir Widerstand entgegenzusetzen.« Doch
Mohandas scheint gar nicht mehr zuzuhören, und Kasturbai spricht ins Leere. Dabei wäre es für sie so wichtig gewesen, dieses Thema ausführlich zu besprechen. Ich möchte selbst nicht, daß Unberührbare hier einziehen und ich Haus, Küche und Geschirr mit ihnen teilen muß, gesteht sie sich ein. Sicher, auch in der Phoenix Siedlung haben wir mit Harijan zusammengelebt, aber das war etwas anderes. In Südafrika kümmerte sich niemand darum, mit wem wir zusammenwohnten, doch hier in Indien werden die religiösen Gesetze viel stärker beachtet. Alle Welt wird mit den Fingern auf uns zeigen und uns gleichfalls wie Unberührbare behandeln. Kasturbai behält ihre Zweifel jedoch für sich, und bereits wenige Tage später reist die Familie an und wird von allen Siedlungsbewohnern freundlich willkommen geheißen. Dudhabhai, Daniben und ihre kleine Tochter Laxmi nehmen also ihren Platz in der Gemeinschaft ein, doch bald soll sich zeigen, wie recht Kasturbai mit ihren Befürchtungen hat. Auch andere Frauen aus dem Ashram haben Probleme damit, mit den Unberührbaren zusammenzuleben, und in schweigendem Übereinkommen bemüht man sich, die Harijan zumindest aus der Küche fernzuhalten. So wird es Daniben nicht erlaubt, beim Kochen zu helfen, und Dudhabhai gleich an der Küchentür abgefertigt. Falls einer der beiden trotzdem irgendwelche Haushaltsgegenstände in die Hände bekommt, werden diese sofort gründlich gereinigt. Wer kann es den Frauen verdenken? Der Glaube an die Unberührbarkeit wurde in der Hindu-Religion seit Jahrhunderten gepredigt, da ist es einfach unmöglich, ihn in wenigen Monaten auszurotten. Mohandas ist tief enttäuscht über das Verhalten der Frauen und eines Abends, nach dem Gebet, sagt er es ihnen unmißverständlich: »Auf keinen Fall werde ich diese ungleiche Behandlung auch nur einen Tag länger dulden. Wenn ihr mit diesen Menschen nicht zusammenleben wollt, könnt ihr jeder zeit den Ashram verlassen.«
Die Frauen ziehen sich zurück um nachzudenken, Kasturbai hingegen bleibt. »Ich habe nichts gegen die Harijanfamilie persönlich«, sagt sie. »Aber ich gebe zu, daß es mir hier in Indien wesentlich schwerer fällt, die alten Lehren zu mißachten. Trotzdem sehe ich ein, daß du recht hast, und ich werde mich bei den Harijan entschuldigen.« Keine der Frauen verläßt den Ashram. Alle bleiben da und bemühen sich in der folgenden Zeit ehrlich, ein gutes Verhältnis zu den Unberührbaren aufzubauen. Auch Kasturbai gibt sich redlich Mühe, freundet sich mit Daniben an und verrichtet die Küchenarbeit von nun an mit ihr gemeinsam. Dabei lernt sie natürlich auch deren Tochter, die kleine Laxmi, besser kennen und sieht zum ersten Mal, wie reizend dieses Kind ist, ja, sie ist so von dem Mädchen angetan, daß sie in jeder freien Minute mit ihm spielt, es füttert und sogar wäscht. Kasturbai, die Mutter von vier Söhnen, die nie eine Tochter gehabt hat und nie eine haben wird, verliebt sich unweigerlich in die kleine Laxmi und lernt durch diese Liebe, die Harijan nicht nur mit dein Verstand, sondern auch mit dem Herzen zu akzeptieren. Endlich kann sie wirklich begreifen, wie absurd Kastenvorurteile sind und beschließt, Mohandas dabei zu helfen, die Unberührbarkeit auszurotten. Die Harmonie im Ashram ist also wieder hergestellt, doch außerhalb der Siedlung begegnet man den Harijan nach wie vor mit großer Feindseligkeit und Mohandas Geldgeber weigern sich sogar, ihn weiterhin zu unterstützen. Grundsätzlich sind sie zwar mit vielen seiner Ideen einverstanden, aber das öffentliche Zusammenleben mit Unberührbaren wollen sie auf keinen Fall tolerieren. Die finanzielle Lage wird von Tag zu Tag kritischer, zumal auch die Kaufleute aus Ahmedabad keine Spenden mehr schicken. Das Weiterbestehen des Ashrams ist ernsthaft gefährdet, doch Mohandas läßt sich nicht beirren. Voll Vertrauen in die Güte von Mensch und Gott ruft er zum Gebet. Und tatsächlich, die Antwort darauf bleibt nicht aus. Der Textilmagnat Sarabhai kommt zum Ashram und gibt ohne große Worte oder Bedingungen eine Tasche mit 13 000 Rupien ab. Kasturbai und
ihre Mitbewohner können das Wunder kaum fassen. Mohandas dankt dem Spender freundlich und nimmt, als wäre nichts Besonderes geschehen, die Arbeit wieder auf. Die finanziellen Probleme sind damit fürs erste zwar gelöst, aber die Probleme mit den Unberührbaren bleiben. Große Schwierigkeiten ergeben sich bei der Benutzung des öffentlichen Brunnens. Der Mann, der den Schwengel dreht, will dem Harijan aus dem Ashram kein Wasser mehr geben. Er befürchtet, sich und das lebensnotwendige Naß, für das er verantwortlich ist, zu verunreinigen. Die Lage wird immer komplizierter, bis Dudhabhai eines Abends eine Neuigkeit verkündet: »Meine Familie und ich werden die Siedlung verlassen«, erklärt er. »Ich habe eine Anstellung in Bombay gefunden und werde sie auch annehmen, weil uns allen damit geholfen ist. Die Zeit ist einfach noch nicht reif für Bapus Pläne.« Mohandas bedauert das Ausscheiden der Familie sehr, aber Dudhabhai läßt sich nicht umstimmen. Auch Kasturbai ist niedergeschlagen, denn schließlich bedeutet der Fortzug der Harijan auch eine Trennung von Laxmi. »Wäre es nicht viel besser für das Mädchen, wenn es im Ashram aufwachsen würde«, gibt sie zu bedenken. Daniben muß ihr recht geben, doch sie will sich auch nicht von ihrer Tochter trennen. »Laxmi ist noch so klein«, sagt sie ernst. »Sie braucht mich. Aber wenn sie älter ist, werde ich sie gern zu euch zurückschicken.« Kasturbai ist mit diesem Vorschlag einverstanden und verabschiedet sich herzlich von den Harijan. Ihr bleibt nicht lange Zeit, um über die Trennung betrübt zu sein, denn kurz darauf trifft die nächste Schreckensnachricht ein. Harilals Frau ist unerwartet gestorben und hat einen verzweifelten Mann und zwei kleine Kinder zurückgelassen. Der älteste Gandhi-Sohn, untröstlich über diesen Verlust, sucht immer häufiger Vergessen im Alkohol. Ja, er hadert so sehr mit seinem Schicksal, daß er sogar mit dem Gedanken spielt, zum Islam überzutreten. »Harilal weigert sich, unsere Hilfe anzunehmen«, stellt Kasturbai traurig
fest und kann Mohandas den Vorwurf nicht ersparen, daß er und seine Unnachgiebigkeit an dieser Entwicklung mit schuld sind. »Aber seine Söhne, Rasik und Kanti, werden wir zu uns holen«, beschließt sie ohne zu zögern. »Da Harilal sich in seinem Zustand ohnehin nicht um sie kümmern kann, werden sie hier im Ashram am besten aufgehoben sein.« Mohandas nickt zustimmend. Obwohl er mit Harilals Lebenswandel ganz und gar nicht einverstanden ist, muß er sich eingestehen, daß Kasturbai mit ihren Beschuldigungen nicht ganz unrecht hat. So ist er froh, wenigstens seinen Enkeln helfen zu können. »Du hast sehr viel Arbeit, nicht wahr?« Mitfühlend und mit deutlich schlechtem Gewissen sieht Mohandas seine Frau an. »Du mußt dich um den Ashram kümmern, dessen Mitgliederzahl ständig zunimmt, um die Besucher und um mich. Wie willst du nun auch noch Harilals Kindern gerecht werden?« »Ich werde es schon schaffen«, antwortet sie lächelnd. »Bisher konntest du dich doch immer auf mich verlassen. Aber wenn du an mir zweifeln solltest, will ich dir eine Geschichte erzählen.« Kasturbai setzt sich neben ihren Mann und macht es sich bequem. Dann beginnt sie: »Es war einmal vor vielen Jahrhunderten ein König, der durch sein Land reiste, bis er auf Leute stieß, die in dunklen Höhlen lebten. Er war erschrocken über die Finsternis und befahl, jeder Familie Lampen zu geben und ausreichend Öl, sie zu füllen. Viele Jahre später kam er wieder in die Gegend, und wieder lagen die Höhlen im Dunkeln. Die Lampen waren vergessen oder zerbrochen, das Öl ausgelaufen. Der König schickte nach neuen Lampen und nach neuem Öl, aber als er ein Jahr später zurückkehrte, waren die Höhlen erneut finster, und der König rief seinen Minister, einen weisen Mann, und bat um eine Erklärung. »Nun ja«, sagte der Minister. »Du hast die Lampen den Männern gegeben. Du hättest sie den Frauen geben sollen.« Der König verstand den Rat, und seither sind die Lampen nie wieder ausgegangen.« Eine Weile ist es still zwischen ihnen. »Ich werde dich nie wieder unterschätzen«, sagt Mohandas schließlich, und
Kasturbai nickt nachdrücklich. »Das solltest du auch nicht, denn ich habe ein weiteres Anliegen, das ich mit dir besprechen möchte und das unbedingt ernstgenommen werden muß.« Erwartungsvoll sieht Mohandas seine Frau an, und sie fährt eindringlich fort: »Mir scheint, in Indien gibt es noch andere Dinge, für die wir kämpfen müssen, als nur die Freiheit.« Mohandas nickt zustimmend. »Sicher, es gibt viele Probleme. Man weiß kaum, wo man anfangen soll, sie zu lösen, aber…« Kasturbai unterbricht ihn ungeduldig. »Ich spreche über ein ganz bestimmtes Problem, nämlich über die Hygiene und die Reinlichkeit. Hier bei uns im Ashram ist alles sauber und ordentlich, aber in den umliegenden Dörfern herrschen katastrophale Zustände. Die Inder ziehen es vor, im Dreck zu leben, statt einen Besen in die Hand zu nehmen und ihre Umgebung sauber zu fegen. Wenn man das ändern könnte, würde es wesentlich weniger Elend und Krankheiten geben.« »Du hast völlig recht«, entgegnet Mohandas. »Auch ich habe darüber nachgedacht, bin jedoch noch zu keiner Lösung gekommen. Vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, dies zu verbessern. In der Umgebung von Ahmedabad wird Baumwolle angebaut und in den Spinnereien und Webereien der Stadt verarbeitet. Handwerk und Handel haben hier eine lange Tradition, dennoch sind die Leute arm, und es gibt viele soziale Probleme. Eine meiner wichtigsten Aufgaben besteht darin, die Arbeitsbedingungen auf den Baumwollplantagen zu verbessern und die Arbeiter von der Willkür und Ausbeutung durch die Plantagenbesitzer zu befreien. Und du könntest mich unterstützen, indem du den Menschen Ordnung, Sauberkeit, Disziplin und Rücksichtnahme beibringst. Was hältst du davon? Wollen wir es versuchen?« Kasturbai ist sofort einverstanden, und mit Elan und Tatkraft gehen sie an die Arbeit. Schon bald kann Mohandas nicht mehr auf ihre Mitarbeit verzichten, denn bei den Besuchen in den Hütten der Dorfbewohner findet Kasturbai stets den richtigen Ton und erhält auf ihre Fragen
immer eine ehrliche Antwort. Sie kommt auch dort zum Ziel, wo andere qualifizierte Mitarbeiter Gandhis versagen. Gibt es Schwierigkeiten, wird die Ba geschickt, um die Ursache zu ergründen. »Warum waschen die Frauen in den Dörfern ihre Kleider nicht, obwohl man sie lehrt, daß Sauberkeit und Hygiene die Grundlage für ein besseres, gesünderes Leben sind?« Im Ashram findet niemand eine Erklärung, aber vor Kasturbai scheuen sich die Frauen nicht, die Wahrheit zu sagen. »Bitte den Mahatma, er soll mir einen zweiten Sari geben«, erklärt eine Frau. »Dann verspreche ich ihm, jeden Tag zu baden und meine Kleidung zu waschen.« Durch die soziale Arbeit in den umliegenden Dörfern ist Kasturbais Aufgabenbereich sehr gewachsen. Doch sie ist zufrieden, weil sie Erfolge verzeichnen kann, und Mohandas ist sehr stolz auf seine tüchtige Frau. Von nun an ist sie häufig anwesend, wenn er Besucher empfängt, äußert selbstbewußt ihre Meinung und wird nach ihren Ansichten gefragt. So ist sie auch dabei, als einige Monate später ein Mann namens Rajkumar Shuklabe in den Ashram kommt, den Mahatma zu sprechen wünscht und von der Notlage der Indigobauern in Champaran berichtet. Dieser kleine Ort, von dem bisher weder Kasturbai noch Mohandas irgendetwas gehört haben, soll zu einem entscheidenden Wendepunkt im Leben der Gandhis und damit auch für die Zukunft Indiens werden.
Von Champaran bis Amritsar (1917-1919) »In Champaran bebauen über eine Million Bauern von Engländern gepachtetes Land«, berichtet Shuklabe niedergeschlagen. »Als Pacht müssen sie fünfzehn Prozent ihrer Felder mit Indigo bepflanzen und an die Engländer abführen. Seitdem die chemische Industrie in Deutschland synthetischen Indigo entwickelt hat, geriet der Weltmarkt für natürlichen Indigo zunehmend in Absatzschwierigkeiten und brach schließlich zusammen. Wir Bauern durften deshalb keinen Indigo mehr anpflanzen, gleichzeitig wurde jedoch die Pacht erhöht. Wir widersetzten uns, und die Großgrundbesitzer reagierten mit Gewalt. Heute herrscht in Champaran das Chaos. Die Pächter werden körperlich gezüchtigt und ihre Häuser geplündert.« Shuklabe hält inne und sieht Mohandas eindringlich an. »Du mußt uns helfen, Bapu. Komm mit mir nach Champaran und überzeuge dich von unserer Not.« Nachdenklich wiegt Mohandas den Kopf. »Wie soll ich euch helfen? Ich habe weder Macht noch Einfluß. Ihr müßt euch an den indischen Kongreß wenden. Dort wird man eine Kommission bilden, die euer Problem untersucht.« »Eine Untersuchung wird stattfinden, gewiß«, erwidert Shuklabe abwehrend, »aber danach wird alles wieder im Sand verlaufen. Nein, dieser Weg nützt uns nicht. Uns kann nur jemand helfen, der wirklich bereit ist, sich einzusetzen, so wie du es für unsere Landsleute in Südafrika getan hast. Bitte, Mahatma, reise mit mir nach Champaran und bilde dir deine Meinung selbst. Dann magst du urteilen, ob wir deine Hilfe verdienen oder nicht.« Mohandas zögert, aber Shuklabe zeigt sich so beharrlich, daß Kasturbai schließlich vermittelnd eingreift: »Warum sollen wir seine Bitte nicht erfüllen? Auch wenn du vielleicht nichts an der Situation der Bauern Champarans ändern kannst, wird es doch gut sein, die Machenschaften der Feudalherren aufzudecken. Und ich
könnte mich um die sozialen und gesundheitlichen Probleme der dort lebenden Menschen kümmern. Hier im Ashram wird es eine Zeitlang auch ohne uns gehen.« Mohandas gibt schließlich nach und reist gemeinsam mit Shuklabe, Kasturbai und einigen anderen Ashrammitgliedern nach Champaran. Am Bahnhof werden sie von einer riesigen Menschenmenge begrüßt. Es hat sich herumgesprochen, daß der Mahatma kommt, und die Bauern hoffen inständig, daß es ihm gelingen möge, ihre Lage zu verbessern. Ihre unbeschreibliche Armut und die offensichtlichen Ungerechtigkeiten der Engländer lassen Mohandas gar keine andere Wahl, er muß bleiben und versuchen, ihnen zu helfen. Gewissenhaft beginnt er nun, sich mit der Situation vertraut zu machen und sucht zunächst die britische Pflanzervereinigung auf. »An Außenstehende geben wir keine Informationen«, heißt es dort, und der britische Distriktskommissar, an den er sich anschließend wendet, fordert ihn unmißverständlich auf, sofort abzureisen. So desinteressiert Mohandas anfangs war, jetzt ist sein Mitleid geweckt, und er denkt nicht daran, unverrichteter Dinge heimzukehren. Unermüdlich reist er mit Shuklabe durchs Land und spricht mit den Menschen. Er entwickelt einen einfachen, aber wirkungsvollen Plan, in dem er alle Anwälte der Gegend auffordert, hinaus in die Dörfer zu gehen, um Beweise zu sammeln. Berge von Beweisen über die Ungerechtigkeiten, die den Bauern tagtäglich widerfahren. Der Aufruf findet Gehör, und aus dem ganzen Land eilen Studenten und Juristen herbei. Der Regierung gefällt es überhaupt nicht, daß Mohandas sich einmischt, und als er eines Tages auf einem Elefanten – einem für die Region durchaus üblichen Beförderungsmittel – in ein Dorf einreitet, kommt ihm ein Polizist auf einem Fahrrad entgegen. Mit wichtigem Gesicht händigt ihm der Beamte eine schriftliche Verfügung aus, in der Mohandas aufgefordert wird, Champaran umgehend zu verlassen.
»Ich werde erst gehen, wenn ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe«, erwidert Mohandas mit ruhiger Stimme. »Das ist mein gutes Recht als Inder.« »Falls Sie der Aufforderung nicht augenblicklich nachkommen«, versucht der Beamte Mohandas einzuschüchtern, »werden Sie wegen ›Störung der öffentlichen Ordnung‹ angeklagt und müssen morgen vor Gericht erscheinen. Überlegen Sie sich das gut«, fügt er warnend hinzu. »Mit Männern wie Ihnen wird bei uns kurzer Prozeß gemacht.« Mohandas lächelt den Polizisten freundlich an. »Gut, ich werde kommen, aber nun wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht länger aufhalten würden. Ich habe viel zu tun.« Tausende von Bauern drängen sich vor dem Gerichtsgebäude. Sie wissen, der Mahatma ist gekommen, ihnen zu helfen, und sie haben gehört, daß er deshalb nun Schwierigkeiten mit den Behörden hat. Die Atmosphäre ist entsprechend gespannt, und die Briten fühlen sich ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut. Verunsichert beantragt der Staatsanwalt, die Verhandlung zu verschieben, doch Mohandas ist dagegen. »Ich bin schuldig, denn ich habe Ihre Aufforderung, Champaran zu verlassen, nicht befolgt«, erklärt er dem Richter. »Doch ich habe es nicht aus Respektlosigkeit getan, sondern aus Gehorsam einem höheren Gesetz gegenüber – der Stimme meines Gewissens.« Das hohe Gericht zieht sich zur Beratung zurück und verschiebt die Urteilsverkündung schließlich um einige Tage. In der Zwischenzeit läßt man Mohandas frei. Wochen später wird das Verfahren eingestellt. Gandhi triumphiert. Der bürgerliche Ungehorsam hat gesiegt, zum ersten Mal in Indien. Während Mohandas sich mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Problemen der Bauern befaßt, besucht Kasturbai Dorf um Dorf. Die große Armut und der Schmutz überall entsetzen sie. »Hier ist eine massive Kampagne notwendig«, meint sie zu ihrer Freundin Maniben Patel, die sie auf ihren Wegen begleitet. »Wir müssen die Menschen aus dem Morast, in dem sie sich befinden,
herausziehen und Frauen- und Kindergruppen organisieren. Mit deren Hilfe werden wir die Dörfer reinigen.« »Vermutlich müssen wir ihnen dazu erst einmal beibringen, wie man Besen bindet«, entgegnet Maniben, nicht weniger betroffen als Kasturbai. »Die Frage ist nur, wie sinnvoll die Schufterei sein wird. Vermutlich werden die Menschen wieder in ihren alten Schlendrian zurückfallen, sobald wir ihnen den Rücken kehren.« Kasturbai läßt sich nicht beirren und beginnt mit der Arbeit. Der Erfolg gibt ihr schließlich recht, denn in den Monaten, die sie in Champaran verbringt, gelingt ihr so etwas wie eine kleine Revolution. Alle Dörfer im Distrikt werden ordentlich und sauber, die Fliegen, Moskitos, Müll und Dreck verschwinden, und die Menschen werden reinlicher, ja mehr noch, alle, die vorher nur mit ihrem Daumenabdruck gezeichnet haben, können jetzt mit ihrem Namen unterschreiben. Kasturbai ist glücklich über diese Erfolge, und Mohandas lobt sie sehr. »Du hast damit bewiesen, daß du die Fähigkeit hast, zu organisieren und Menschen zu fuhren.« »Wie es aussieht«, nickt sie zufrieden, »haben wir beide die Zeit in Champaran gut genutzt.« »Das kann man sagen«, erwidert Mohandas. »In diesen sechs Monaten haben wir mehr als tausend unwiderlegbare Beweise über die ausbeuterischen Methoden der Pflanzer zusammengetragen. Der Regierung bleibt gar nichts anderes übrig, als eine Untersuchung anzuordnen, und die vorliegenden Beweise machen nur ein Untersuchungsergebnis möglich. Die Frage ist jetzt, was die Großgrundbesitzer als Wiedergutmachung an die Bauern zahlen müssen. Auf jeden Fall hat sich gezeigt, daß die Macht der Regierung und der englischen Siedler der Macht des indischen Volkes unterlegen sind. Ein wunderbarer Sieg und gleichzeitig ein wunderbarer Beginn unserer großen SatyagrahaBewegung.« Die Gandhis rüsten zur Heimreise, doch Kasturbai verläßt die Menschen in Champaran nur schweren Herzens. »Ich habe ihnen versprochen zurückzukehren«, erzählt sie Mohandas. »Und sie
mußten mir versprechen, nicht zu vergessen, was man sie inzwischen gelehrt hat. Es ist aber nicht so, daß nur ich den Dörflern eine wichtige Lektion erteilt habe«, setzt sie nachdenklich hinzu, »auch ich habe sehr viel gelernt. Nämlich, daß die Leute zwar arm und schlicht sind, aber trotzdem herzlich und lernwillig. Alles, worum sie bitten, ist ein wenig Verständnis und Anleitung.« Mohandas und Kasturbai kehren zurück in ihren Ashram am Sabarmati. Es bleibt ihnen jedoch keine Zeit, sich von ihren Champaran-Erlebnissen zu erholen, denn dort wartet bereits die nächste Aufgabe auf sie. Die Arbeiter der Tuchwebereien Ahmedabads kämpfen um eine Lohnerhöhung, da die Lebenshaltungskosten in die Höhe geschnellt sind. Die Arbeitgeber lehnen ab, und es kommt zu spontanen Arbeitsniederlegungen. Mohandas versucht zu schlichten und nach Kompromissen zu suchen, doch die Arbeitgeber sind nicht bereit zu verhandeln. »Ihr müßt standhaft bleiben«, ruft er den Arbeitern zu, »und dürft erst wieder in die Fabriken zurückkehren, wenn eure Forderungen erfüllt sind. Nur eines dürft ihr auf keinen Fall vergessen: Ganz gleich wie und womit man euch provoziert, euer Kampf um gerechtere Löhne muß gewaltlos bleiben.« Eine Weile halten sich die Arbeiter an seinen Plan. Da sie jedoch über keine finanziellen Reserven verfügen, sind viele von ihnen bald bereit, aufzugeben und zu den alten Bedingungen weiterzuarbeiten. Noch einmal macht Mohandas ihnen Mut und verkündet, daß er fasten wird, bis der Arbeitskampf beendet ist. Dieser Entschluß verwirrt nicht nur die Streikenden, sondern auch die Webereibesitzer, und nach drei Tagen einigt man sich auf eine Lohnerhöhung von 35 Prozent. Überall im Land beginnt es nun zu schwelen. Das Volk begreift langsam, daß es nicht jede Ungerechtigkeit hinzunehmen braucht und daß Einigkeit und Zusammenhalt stark machen. So schließen
sich auch die Bauern von Kheda, in der Nähe von Ahmadabad, zusammen, da sie aufgrund ihrer schlechten Ernte nicht in der Lage sind, den hohen Steuersatz aufzubringen. Die Regierung besteht auf dem festgesetzten Betrag, und wieder ruft man Mohandas, um zu vermitteln. Auch diesmal gelingt es ihm, einen Kompromiß zustandezubringen, mit dem alle Beteiligten zufrieden sind: Die reicheren Bauern zahlen die geforderten Abgaben, während die ärmeren die Steuern teilweise oder ganz erlassen bekommen. Die Verehrung für den Mahatma wächst. Er ist inzwischen zu einer Figur großer moralischer Autorität geworden, auf seine Stimme hört man im ganzen Land. Der Satyagraha-Ashram, in dem mittlerweile fast 200 Menschen wohnen, wird immer mehr zum politischen Zentrum Indiens, und der Strom der Besucher reißt nicht mehr ab. Aber nicht nur das Volk, sondern auch die indischen Politiker hören auf Mohandas. »Wir müssen durch Einheit, Disziplin, Würde und Zuverlässigkeit zeigen, daß wir mehr Freiheit verdienen. Dann wird England sie uns auch gewähren«, erklärt er ihnen voller Überzeugung und erreicht damit, daß der Präsident der moslemischen Liga, Mohammed Ali Jinnah, sich bereit erklärt, mit dem vorwiegend hinduistischen Nationalkongreß zusammenzuarbeiten, um für alle patriotischen Bestrebungen im Land zu kämpfen. Ein wichtiger Schritt, denn damit haben sich Hindus und Moslems, die beiden großen, politischen Strömungen des Landes, vereinigt und stellen eine Macht dar, die Großbritanien nicht mehr übersehen kann, je größer der Wunsch der Inder nach Unabhängigkeit wird, umso stärker übt die britische Verwaltung ihren Gegendruck aus. Immer neue Gesetze werden erlassen, um die Freiheit der Inder einzuschränken. Eines Tages kommt Jawaharlal Nehru zu Besuch in den Ashram. Er ist der Sohn eines bedeutenden indischen Politikers und, obwohl noch recht jung an Jahren, selbst bereits einer der führenden Köpfe der Kongreßpartei. Nehru bringt Neuigkeiten, und es handelt sich um keine angenehmen:
»Diesmal haben die Engländer ein Gesetz erlassen, in dem sie ein absolutes Versammlungsverbot festlegen«, berichtet er den Gandhis zornig. »Das können wir nicht hinnehmen, Bapu. Wir müssen uns endlich wehren.« Kasturbai lächelt den Besucher beruhigend an. »Wir wissen, Jawaharlal, wie ungeduldig du bist«, entgegnet sie. »Und daß du viel nachdrücklicher gegen die Briten vorgehen möchtest. Aber dabei dürfen wir niemals unsere Satyagraha-Taktik außer acht lassen. Wenn wir uns wehren, dann muß das gewaltlos sein.« Mohandas nickt nachdenklich, doch dann legt sich ein fast boshaftes Lächeln auf seine Lippen. »Ich habe eine Idee, die selbst dir gefallen wird, Jawaharlal«, meint er dann. »Wir werden einige Tage des Fastens und des Betens ansetzen.« Verständnislos sieht Nehru ihn an, doch dann begreift er langsam, und seine Augen leuchten auf. »Du meinst einen Generalstreik, Bapu?« Mohandas schüttelt mit gespielter Entrüstung den Kopf. »Ein Generalstreik? Was für ein Gedanke? Ich sprach von Fasten und Beten.« Und Kasturbai fahrt, nun gleichfalls lächelnd, fort: »Natürlich kann man nicht arbeiten, wenn man den ganzen Tag fastet und betet, leider.« »Ja tatsächlich, eine bedauerliche Begleiterscheinung, die den Engländern sicher nicht gefallen wird«, entgegnet Nehru. »Nur, werden die Menschen uns auch folgen? Diese Aktion würde ja nur dann Auswirkungen haben, wenn sich möglichst viele Leute daran beteiligen.« Mohandas wird unvermittelt ernst. »Wir beten zu Allah, Jesus Christus oder zu Shiva. Wir sprechen achtzehn offizielle Sprachen und mehr als fünfhundert Dialekte. Eine winzige Minderheit zählt zu den reichsten der Welt. Die große Mehrheit hat kaum zu essen. Die einen wohnen in schneebedeckten Gebirgen, die anderen in verdorrenden Wüsten und wieder andere unter schattigen Palmen, krasse Gegensätze also, aber wenn der Feind vor der Tür steht, dann halten wir zusammen wie Pech und Schwefel, wie ein Volk.« Wenige Tage später reist Mohandas nach Bombay, um seinen
neuesten Plan zu organisieren. Er ruft die Menschen auf, ihm zu folgen, verteilt aufrührerische Schriften, verbotene Bücher und veröffentlicht eine Zeitung, die nur illegal verkauft werden kann. Da das Volk geschlossen hinter Mohandas steht, werden die Tage des »Fastens und Betens« im ganzen Land eingehalten mit der Folge, daß das gesamte Wirtschaftsleben Indiens zum Erliegen kommt. Trotz des Versammlungsverbotes kommt es zu riesigen Demonstrationen, bei denen sich Hindus und Moslems verbrüdern und gemeinsam durch die Straßen marschieren. Während dieser aktiven, aber friedlichen Protestaktionen gibt es in anderen Teilen des Landes gewalttätige Ausschreitungen. Brandstiftungen, Sabotageakte und Plünderungen sind an der Tagesordnung, ja sogar Attentate auf britische Polizisten werden verübt. Mohandas ist entsetzt und will den Generalstreik – der angeblich keiner ist – beenden, aber die Aktion ist außer Kontrolle geraten, die Gewalttätigkeiten gehen weiter. Er fährt zurück in seinen Ashram nach Ahmedabad und findet seine Freunde dort äußerst niedergeschlagen vor. »Was ist geschehen?« will er erschrocken wissen, doch keiner traut sich, ihm von den grauenhaften Ereignissen zu erzählen. Kasturbai unterrichtet ihn schließlich: »Trotz des öffentlichen Versammlungsverbots kamen in Amritsar Tausende unserer Landsleute zu einer Protestversammlung zusammen. Sie trafen sich auf einem Platz, der Jallianwallah Bagh heißt und von hohen Mauern umgeben ist, die nur wenige enge Durchgänge haben. Ohne jede Vorwarnung führte General Dyer einhundert Soldaten auf den Platz. Er hatte auch zwei Panzerwagen dabei, die aber nicht durch die schmalen Zugänge fahren konnten und deshalb zum Glück nicht benutzt wurden. Die Soldaten stellten sich auf und schossen gezielt in die Menge, auf Männer, Frauen und Kinder.« Kasturbai muß ihren Bericht unterbrechen, heftiges Schluchzen schüttelt sie. Mohandas ist blaß geworden. »Was geschah dann«, will er ungeduldig wissen. »Sind viele Menschen zu Schaden gekommen?« Kasturbai nickt und fährt stockend und mit tonloser Stimme fort: »Zehn Minuten lang feuerten die Soldaten. Die
eingeschlossenen Menschen versuchten durch die schmalen Ausgänge zu entkommen, die Mauern hochzuklettern oder sich auf den Boden zu werfen. Es war ein unvorstellbares Chaos. Manche Frauen sprangen mit ihren Kindern in den Brunnen in der Mitte des Platzes, um dem Dauerbeschuß zu entkommen. 1650 Kugeln wurden abgeschossen, fast jede Kugel traf. 379 Menschen wurden getötet und über tausend verletzt. Da General Dyer das Kriegsrecht über die Stadt verhängte, drang die Nachricht erst verspätet an die Öffentlichkeit. Selbst London soll über das grausame Blutbad entsetzt sein und hat Dyer seines Postens enthoben.« Kasturbai weint leise vor sich hin, und Mohandas verbirgt fassungslos das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile blickt er hoch und sieht Frau und Freunde ernst an. »Ich habe einen Fehler gemacht, als ich an das Gute in den Briten glaubte, eine Zusammenarbeit mit ihnen ist nicht möglich.« »Ja.« Kasturbai trocknet ihre Tränen. »Es gibt keine andere Möglichkeit, die Engländer müssen unser Land verlassen.«
Spinnrad und Khadi (1919-1922) Erschöpft hält Kasturbai inne. Sie und ihre Helferinnen sind gerade mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt, als sie den Klagelaut ihres Enkels Rasik, der krank im Nebenzimmer liegt, hört. Rasch läuft sie nach nebenan und legt ihre Hand auf die glühend heiße Stirn des Kindes. »Das Fieber ist schon wieder gestiegen«, sagt sie besorgt zu ihrer Freundin Maniben, die ihr aus der Küche gefolgt ist. »Am besten ich mache ihm gleich einen neuen Brustwickel. Würdest du bitte frischen Fruchtsaft holen?« Maniben nickt, doch als Kasturbai das Laken zurückzieht und der aufgetriebene, kleine Bauch mit den blaßrosa Flecken zum Vorschein kommt, sehen sich die Frauen entsetzt an. Typhus! Sie haben es schon seit ein paar Tagen befürchtet, nun ist es entsetzliche Gewißheit. Kasturbai faßt sich als erste. »Wir müssen Rasik sofort isolieren«, sagt sie beherrscht. »Nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Krankheit sich im ganzen Ashram ausbreitet.« Maniben stimmt ihr zu und bewundert nicht zum ersten Mal die Sachlichkeit der Freundin, die trotz ihres Kummers zuerst an die Allgemeinheit denkt. Mitleidig betrachtet sie das kranke Kind und schreckt auf, als sie verzweifeltes Schluchzen hört. Kasturbai hat sich auf den Stuhl sinken lassen und die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen. »Ich weiß nicht einmal, wie ich Harilal erreichen soll«, stößt sie verzweifelt hervor. »Seit Monaten hat er sich nicht mehr gemeldet, aber in der Stunde der Not muß doch der Vater bei seinem Kind sein.« Maniben tritt näher und legt tröstend einen Arm um die zuckenden Schultern der Freundin. Sie weiß, wie sehr Kasturbai darunter leidet, daß ihr Ältester sich vollkommen von seinen Eltern zurückgezogen hat. Sie würde so gern helfen,
aber auch sie ist ratlos. Besorgt sieht sie die Freundin an, die selber nicht die Kräftigste ist. Es ist einfach zuviel, was Mohandas ihr aufbürdet. Kasturbai hat sich um das leibliche Wohl der Bewohner des Ashrams zu kümmern, um die unzähligen Besucher, die Enkel und um Mohandas, den sie oft auf seinen Reisen begleitet, von ihren sozialen Aufgaben und den schrecklichen Aufregungen wegen der politischen Lage in Indien – das Entsetzen über das Blutbad von Amritsar ist noch nicht verwunden – ganz zu schweigen. Maniben kann nur hoffen, daß es der Freundin gelingt, auch noch diese Bürde zu tragen. Trotz Kasturbais aufopfernder Pflege stirbt Rasik nur wenige Tage später. Immerhin ist es ihr gelungen, unter Einhaltung strengster hygienischer Maßnahmen, eine Epidemie im Ashram zu verhindern. Doch Mohandas läßt seiner Frau keine Zeit zum Trauern. Obwohl er über den Tod seines Enkels ebenso betroffen ist wie sie, läßt der Zorn über die hemmungslose Brutalität der Briten ihn handeln. Er beschließt, nach Nordindien zu reisen, um seine neueste Aktion gegen die Kolonialherrscher vorzustellen und bittet sie, ihn zu begleiten. »Wir werden zu einer gezielten Politik der Nichtzusammenarbeit aufrufen«, erklärt er Kasturbai. »Britische Güter müssen ebenso boykottiert werden wie britische Schulen oder Stellenangebote der britischen Verwaltung. Außerdem werde ich die beiden Orden zurückgeben, die ich für meinen Sanitätsdienst in Südafrika erhalten habe, um zu demonstrieren, daß mein Bruch mit den Briten endgültig ist.« Nachdenklich sieht er Kasturbai an. »Du hattest recht, als du mir damals in London sagtest, daß zwischen Indern und Engländern ein großer Unterschied besteht. Ich habe die Briten im Burenkrieg, während der Zulu-Revolte und im Ersten Weltkrieg mit meinen Sanitätskorps unterstützt, ließ keine Gelegenheit aus, der britischen Regierung zu dienen. Als Bürger Großbritanniens, für den ich mich hielt, glaubte ich meine Pflicht zu tun. Heute weiß ich, es war ein Fehler zu glauben, daß ein Inder jemals ein gleichberechtigter Bürger des Empire sein kann.«
Kurz vor ihrer Abreise in den Norden trifft im Ashram ein Brief ein, der die Ankunft Laxmis ankündigt. Das Mädchen aus der Harijan-Familie, die eine Weile in der Siedlung lebte, ist nun alt genug, um in den Ashram einzutreten. Kasturbai freut sich sehr auf das Wiedersehen, ist jedoch gleichzeitig auch ein wenig besorgt. »Ich habe so wenig Zeit, mich um das Kind zu kümmern. Hoffentlich wird sie sich nicht einsam fühlen.« Maniben beruhigt sie. »Wie um alles in der Welt soll sich ein Mensch hier einsam fühlen«, lacht sie. »Der Ashram quillt über von Leben, und es wird sich immer jemand finden, der sich der Kleinen annimmt. Mach dir darüber keine Gedanken.« Als Kasturbai mitbekommt, wie sehr sich ihr jüngster Sohn Devadas über den Einzug des Mädchens freut, kann sie vollkommen beruhigt die Vorbereitungen für die Reise treffen. Einen Tag vor der Abfahrt stellen sich zwei junge Männer im Ashram vor. Sie heißen Pyarelal Nayyar und Mahadev Desai und bitten Mohandas und Kasturbai, an ihrer Seite für die Freiheit Indiens kämpfen zu dürfen. Gebildete junge Leute sind den Gandhis stets willkommen, sie nehmen sie bereitwillig auf und sind auch sofort einverstanden, als die beiden sie auf ihrer Reise begleiten wollen. Mohandas Aufruf zur Nichtzusammenarbeit mit den Engländern wird im ganzen Land befolgt. Studenten verlassen ihre Klassenräume, Bauern bezahlen keine Pachtzinsen mehr, wohlhabende Anwälte geben ihre Praxen auf, in denen sie mit Briten zusammenarbeiten. Doch Mohandas geht noch weiter. »Wir müssen britische Waren boykottieren«, schlägt er vor. »Wofür zum Beispiel brauchen wir englische Tuche? In Indien wächst genug Baumwolle, um alle Inder zu kleiden.« Er ruft seine Landsleute auf, ihr eigenes Tuch zu weben und zu spinnen. Wieder geht er mit gutem Beispiel voran und setzt sich jeden Tag ans Spinnrad. Mohandas und alle Ashram-Mitglieder tragen von nun an nur noch Kleidung aus selbstgesponnenem
Tuch, und Kasturbai hat schon wieder eine zusätzliche Aufgabe. Sie entwickelt sich zu einer besonders geschickten Spinnerin und beginnt damit, die Frauen in den umliegenden Dörfern gleichfalls in dieser Kunst zu unterweisen. Mohandas, in seinem selbstgesponnenen Tuch, das er lendenschurzartig um den Leib geschlungen hat, reist durch das Land und fordert die Menschen auf, ihre Kleidung aus ausländischen Stoffen abzulegen und auf einen Haufen zu werfen. Dann hält er ein Streichholz an den Kleiderberg. Bald finden überall in Indien große Kleiderverbrennungsaktionen statt. Mahatma Gandhi wird vom Volk verehrt und geliebt, nicht nur wegen seiner Politik, sondern weil er auch selbst nach seinen gepredigten Prinzipien der Armut, der Demut und des guten Willens lebt. Für die Inder ist seine freiwillig angenommene Armut Zeichen seiner Heiligkeit. Er und seine Anhänger starten immer neue Aktionen des zivilen Ungehorsams, und schließlich haben die Briten genug von dem spindeldürren, kleinen Mann, der ihnen so viele Probleme bereitet. Mohandas wird verhaftet und vor Gericht gestellt, die offizielle Anklage lautet auf Volksverhetzung und Aufruhr. Am Tag der Verhandlung betritt Kasturbai den Gerichtssaal mit sehr gemischten Gefühlen. Sie weiß, was Mohandas vorhat, daß er selbst diesen Prozeß für die Demonstration der SatyagrahaBewegung benutzt, aber sie weiß auch, daß sie nun lange Zeit von ihm getrennt sein wird. Der Richter kann gar nicht anders handeln, als ihn zu einer langen Haftstrafe zu verurteilen. Schließlich wollen die Engländer ein Exempel statuieren. Und trotzdem, bei aller Sorge um Mohandas, auf einen derart seltsamen Prozeß ist auch Kasturbai nicht vorbereitet. Als Richter Broomfield den Gerichtssaal betritt, verbeugt er sich respektvoll vor dem Angeklagten. »Ich nehme an, Sie werden sich selbst verteidigen, Mr. Gandhi?« Mohandas schüttelt den Kopf. »Es wird überhaupt keine Verteidigung geben, Euer Ehren«, antwortet er freundlich. »Ich bekenne mich schuldig, und wenn Sie glauben, daß das System und das Gesetz, das Sie vertreten,
gut ist für die Menschen in diesem Land, und daß meine Aktivitäten dem Allgemeinwohl schaden, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als mich mit der härtesten Strafe zu belegen, die es für dieses Delikt gibt.« Erschrocken hebt Kasturbai eine Hand zum Mund. Mohandas nimmt wirklich keine Rücksicht, weder auf sich noch auf seine Familie. Wie wird der Richter auf diese Worte reagieren? Nachdenklich mustert Broomfield seinen seltsamen Angeklagten, dann nickt er. »Sie haben recht, Mr. Gandhi«, sagt er müde. »Mir bleibt wirklich keine Wahl. Ich verurteile sie hiermit zu sechs Jahren Gefängnis, aber ich möchte hinzufügen, daß sich niemand mehr freuen wird als ich, wenn die Regierung das Strafmaß eines Tages reduziert.« Damit ist die Verhandlung geschlossen. Der einsetzende Tumult im Gerichtssaal verhindert jedes weitere Wort, und der Richter zieht sich mit einem letzten bedauernden Blick auf den Verurteilten zurück. Wenig später wird Mohandas in das Zentralgefängnis Yeravda in Poona überstellt. Wie betäubt geht Kasturbai nach Hause. Sechs Jahre, eine unvorstellbar lange Zeit. Auch wenn Mohandas gewiß damit rechnet, früher aus der Haftanstalt entlassen zu werden, was soll bis dahin geschehen? Der Kampf um die Unabhängigkeit kann doch nicht einfach unterbrochen werden. Aus dieser Notwendigkeit heraus überwindet Kasturbai ihre Scheu und tritt zum ersten Mal selbst an die Öffentlichkeit, um einen flammenden Appell an ihre Landsleute zu richten. »Liebe Männer und Frauen unseres Landes«, ruft sie ihnen zu. »Mohandas Gandhi ist heute zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden, und ich kann nicht leugnen, daß sich diese harte Strafe auch auf mich auswirkt. Aber ich habe mich mit dem Gedanken getröstet, daß es uns möglich ist, das Urteil zu mildern und aus eigener Anstrengung heraus seine Freilassung zu erwirken, lange bevor die Haftstrafe beendet ist. Wenn Indien erwacht und alle mithelfen, habe ich keine Zweifel, daß wir seine Freilassung erreichen. Bis dahin müssen wir unseren Kampf weiterführen.
Wir dürfen jetzt nicht nachgeben, denn dann hätten wir versagt. Deshalb appelliere ich an alle Männer und Frauen, die Mitleid mit mir haben und meinen Mann achten, sich mit ganzem Herzen auch während seiner Abwesenheit für unsere Ziele einzusetzen.« Kasturbai hält nervös inne. Kein Zweifel, die Menschen hören ihr zu. Erleichtert atmet sie auf und fährt, nun ein wenig sicherer, fort: »Besonderen Wert legt der Mahatma auf Spinnrad und Khadi, unsere selbstgesponnenen und selbstgewebten Stoffe. Wenn wir auf diesem Gebiet Erfolg haben, lösen wir nicht nur ein wirtschaftliches Problem Indiens und seiner vielen Menschen, wir befreien uns auch von unseren politischen Fesseln. Die Antwort Indiens auf Mohandas Gandhis Verurteilung sollte sein: Erstens: Männer und Frauen tragen keine ausländischen Stoffe mehr, sondern nur noch Khadi und überreden andere, das gleiche zu tun. Zweitens: Alle Frauen sehen es als religiöse Pflicht an, jeden Tag Garn zu spinnen und andere zu überreden, es auch zu tun. Drittens: Alle Kaufleute beenden den Handel mit ausländischen Gütern.« Kasturbais Aufruf findet Gehör. Besonders die Frauen, die im öffentlichen Leben Indiens niemals eine Rolle gespielt haben, fühlen sich von ihr angesprochen und beginnen langsam ein soziales und politisches Bewußtsein zu entwickeln. Zu Tausenden verlassen sie den heimischen Herd und beteiligen sich an den Boykottmaßnahmen und an den Aktionen des zivilen Ungehorsams. Daß sie dabei Bekanntschaft mit Polizeiknüppeln, Gefängnis und sogar Gewehrkugeln machen, nehmen sie um den Preis der Freiheit in Kauf. Die Auswirkungen der Nichtzusammenarbeit-Politik sind in England bald empfindlich zu spüren. Englische Stoffe finden in Indien keinen Absatz mehr. Die Zahl der Arbeitslosen in den Webereien von Manchester steigt. Um Indien als Absatzmarkt nicht zu verlieren, wehrt sich die Kolonialmacht mit allen Mitteln, aber die protestierenden Frauen mit Kasturbai als Vorbild weichen selbst vor der rohen Gewalt nicht zurück.
Unzählige werden verhaftet und sitzen monatelang im Gefängnis. Kasturbai selbst nimmt an vielen Protestaktionen persönlich teil, gleichgültig, ob politische oder soziale Forderungen erhoben werden. »Du mutest dir zuviel zu, Ba«, warnt Maniben eines Tages. »Ich seh’ doch, wie erschöpft du bist. Du mußt dich unbedingt ein wenig ausruhen.« Kasturbai schüttelt entschieden den Kopf. »Gerade jetzt, wo Mohandas im Gefängnis ist, gehören diese Tätigkeiten genauso zu meinen Pflichten wie die Hausarbeit. Zeit zum Ausruhen bleibt da einfach nicht.« Nachdenklich beobachtet sie ihren Sohn Devadas, der ausgelassen mit Laxmi durch den Ashram tollt. Der Junge ist wirklich begeistert, eine kleine Schwester bekommen zu haben, und verbringt einen großen Teil seiner freien Zeit mit dem Mädchen. »Im Augenblick habe ich ganz andere Sorgen, Maniben«, fährt Kasturbai schließlich fort. »Ich muß irgendwie Geld beschaffen, um den Ashram weiter unterhalten zu können. Wir bekommen zwar nach wie vor Spenden, aber die Siedlung ist so gewachsen, daß die Mittel einfach nicht mehr ausreichen.« Maniben erschrickt. An dieses Problem hat sie noch gar nicht gedacht. »Weißt du, was du tun kannst?« Kasturbai schüttelt niedergeschlagen den Kopf, doch dann hat sie plötzlich eine Idee: »Wir werden die Frauen Indiens um Hilfe bitten«, erklärt sie und macht schon wieder ein fröhliches Gesicht. »Ganz gewiß werden sie uns unterstützen.« Und tatsächlich, begeistert erfüllen die Frauen Kasturbais Bitte. Viele sind bereit, einen Teil ihres sonst so eifersüchtig gehüteten Gold- und Silberschmucks zu spenden, und andere schließen sich zu kleinen Gruppen zusammen und besetzen die Eingänge zu Geschäften, in denen Tabak, Getränke und die üblichen Rauschmittel wie Betel verkauft werden. Sie fordern alle Käufer, die die Läden betreten wollen, auf, ihr Geld lieber für den Erhalt des Ashrams auszugeben als für überflüssige Genußmittel.
So etwas hat es noch nie gegeben. Ein ganzes Heer von Frauen unterstützt auf diese Art den Satyagraha-Ashram und damit den Kampf für die Freiheit des Landes. Und sie alle tragen Khadi. Eine einfache Stoffbahn, ohne Saum und Naht, mehrere Meter lang, birgt das Geheimnis eines effektvollen Kleidungsstückes. Der um die Hüften geschlungene Stoff bedeckt die Beine bis unter die Knöchel und die in Handbreite gelegten Falten, etwas unter dem Nabel in einen Unterrock gesteckt, öffnen sich bei jedem Schritt wie ein Fächer. Das andere Ende der Stoffbahn wird über die Bluse gelegt und über die Schulter geworfen, über den Kopf gezogen oder kann auch wie ein Schleier vor das Gesicht gehalten werden. Der Sari aus selbstgesponnener Baumwolle setzt sich in allen Bevölkerungsschichten durch. Als Mohandas zwei Jahre später aus der Haft entlassen wird und heim in seinen Satyagraha-Ashram reist, grüßen ihn Hunderte von Menschen am Wegesrand mit dem Spinnrad. Die Herstellung von Khadi ist das Symbol für Indiens Unabhängigkeitskampf geworden. Überall im Land, sogar bei den Politikern und Kongreß-Mitgliedern, gilt Khadi als einzig tragbare Mode, und das ist nicht zuletzt Kasturbais Verdienst.
Manilals Hochzeit (1924-1928) »Bist du eigentlich nicht eifersüchtig auf die vielen Frauen, Ba, die ständig um den Mahatma herumschwänzeln und ihn fortwährend vergöttern?« Maniben und Kasturbai sitzen vor der Küchenhütte und schälen Gemüse für das Abendessen, als Sarojini Naidu eintrifft. Die bekannte indische Dichterin ist zu einer der treuesten Anhängerinnen Mohandas geworden und kommt ihn recht häufig besuchen. Belustigt blickt Kasturbai von ihrer Arbeit auf. »Sarojini ist eine hinreißend schöne Frau, nicht wahr?« stellt sie fest und mustert ihrerseits die Besucherin mit den schwarzglänzenden Haaren und den blitzenden dunklen Augen, die gerade geschickt ihren Sari rafft, damit der Saum nicht auf dem Boden schleift. »Und sie ist sehr gebildet«, fährt Kasturbai fort. »Trotzdem, nein, ich habe nicht das Gefühl, ihr unterlegen zu sein. Im Gegenteil, ich mag sie sehr gern, und wir haben eine herzliche Beziehung zueinander.« Mit einer anmutigen Geste streicht Sarojini eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie auf Mohandas Hütte zugeht. Sie wirkt sehr selbstsicher. Nichts scheint sie aus der Fassung bringen zu können. Ihre dunklen Augen blicken aufmerksam in das Treiben um sie herum und entdecken in diesem Augenblick die beiden Frauen vor der Hütte. Freundlich lachend winkt sie zu ihnen herüber. Kasturbai erwidert den Gruß und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. »Naja, ich meine ja nicht nur Sarojini«, sagt Maniben gedehnt. »Täglich empfängt Bapu weibliche Besucher, elegante, kluge und gebildete Frauen, die sich in den meisten Fällen nicht nur von seinen Ideen angezogen fühlen, sondern auch von ihm als Mann. Mit seinen kleinen Augen über der enorm großen Nase und dem breiten, fast zahnlosen Mund ist er nicht gerade eine Schönheit,
kann aber, wenn er will, sehr viel Charme entwickeln. Und die Frauen liegen ihm zu Füßen, erfüllen ihm alle Wünsche und betrachten es als Auszeichnung, wenn sie ihm irgendwelche Handreichungen machen dürfen.« Kasturbai zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Ich habe mich daran gewöhnt«, entgegnet sie. »Außerdem bin ich mir meiner Stellung hier sehr wohl bewußt und muß mich nicht bedroht fühlen. Meinetwegen können diese Frauen Mohandas umschwärmen, lange Gespräche mit ihm führen und neue Ideen entwickeln. Er gehört mir und sonst niemandem.« »Auch nicht Mirabehn?« Gespannt sieht die Freundin Kasturbai an. »Immerhin gibt sie sich große Mühe, dem Mahatma zu gefallen.« Nachdenklich blickt Kasturbai auf. Ja, Mirabehn, die Engländerin, die vor einigen Wochen in den Ashram eingetreten war, ist wirklich ein Fall für sich. Eigentlich heißt sie Madeleine Slade und ist die Tochter des britischen Admirals Sir Edmund Slade. Als sie in London von Mohandas und seinen Idealen hörte, wurde sie zu einer erklärten Anhängerin seiner Ideen und beschloß spontan, ihr Dasein seinem Kampf zu widmen. Sie bereitete sich sehr sorgfältig vor, lernte bei Schweizer Bauern das einfache Leben und verbrannte während der Überfahrt nach Indien ihre gesamte Pariser Garderobe. Bei ihrer Ankunft im Ashram trug sie ein grobes, einfach geschnittenes Gewand und warf sich vor Mohandas auf die Knie. Er gab ihr den Namen Mirabehn und hieß sie wie eine Tochter willkommen. »Ich weiß es nicht«, sagt Kasturbai zögernd. »Ich glaube nicht, daß ich eifersüchtig bin auf Mirabehn, aber ihr Verhalten stört mich schon ein wenig. Sie ist so übereifrig. Ständig versucht sie, Mohandas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und irgendwelche Gunstbezeugungen von ihm zu erhalten. Immer wieder bittet sie ihn darum, mit schwierigen Aufgaben betraut zu werden, und jeder Blick, jedes freundliche Wort von Bapu scheinen sie glücklich zu machen. Ich kann nicht einschätzen, ob Mohandas ihr Benehmen genießt oder nur erträgt. Mich würde ihre
bedingungslose Liebe erdrücken.« Mohandas weiß von diesem Gespräch natürlich nichts. Für ihn gehört die Verehrung der Frauen, mögen sie nun Sarojini Naidu, Mirabehn oder sonstwie heißen, einfach dazu. Und einer Journalistin gegenüber, die in den Ashram kommt und ihn auch darauf anspricht, erklärt er schmunzelnd: »Wer in Indien ein politischer Führer sein will, muß erst ein Heiliger werden.« In den Monaten nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hält sich Mohandas zunächst mit der aktiven politischen Arbeit zurück und verbringt die meiste Zeit damit, über die moralischen und religiösen Ziele, die er verfolgt, nachzudenken und zu schreiben. Nackt, nur mit seinem Lendentuch bekleidet, sitzt er auf der Matte am Boden, seine dünnen Unterschenkel an die Oberschenkel gelegt. Die Fußsohlen zeigen nach oben. Seine Hände sind mit dem Spinnrad beschäftigt, und rechts und links von ihm sitzen Mahadev und Pyarelal, die jedes Wort, das er ihnen diktiert, aufschreiben. Dann reist er wieder durch das Land und fordert bei jeder Gelegenheit Unabhängigkeit für Indien, insbesondere auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Weiß Gott, Mohandas hat wirklich andere Probleme, als sich über die Frauen, die ihn so nachdrücklich bewundern, Gedanken zu machen. Manilal kommt zu Besuch! Über ein Jahr hat Kasturbai ihren Sohn, der noch immer auf der Phoenix-Farm in Südafrika lebt, nicht mehr gesehen, und sie freut sich unendlich darauf, ihn wenigstens für eine Weile bei sich zu haben. Fünfunddreißig Jahre ist ihr Zweitältester nun und – ein Umstand, der Kasturbai ein Dorn im Auge ist – noch immer nicht verheiratet. Ganz fest hat sie sich vorgenommen, diesen Punkt bei seinem diesjährigen Besuch endlich in Angriff zu nehmen. Eines Abends, die Arbeit ist getan, und Mutter und Sohn sitzen allein am Ufer des Sabarmati, um nach der Hitze des Tages die etwas kühleren Abendstunden zu genießen, hält sie die Gelegenheit für günstig,
das heikle Thema anzusprechen. Doch Manilal lacht nur. »Wenn ihr, du und Vater, ein Mädchen findet, das mich heiraten will, werde ich es akzeptieren«, sagt er und spricht damit genau das aus, was seine Mutter hören will. Da er die ganzen Jahre fern von ihnen in Südafrika gelebt hat, ist sie sich nicht sicher gewesen, ob er bereit willig an den alten Traditionen festhält und mit einer ausgewählten Ehefrau einverstanden ist. Doch nun hat er sie praktisch gebeten, ein Mädchen für ihn auszusuchen. Das läßt Kasturbai sich natürlich nicht zweimal sagen, und noch am gleichen Abend trägt sie Mohandas ihr Anliegen vor: »Ich finde, es ist an der Zeit, daß Manilal eine Familie gründet«, beginnt sie eifrig. »Bevor er dieses Mal nach Südafrika zurückkehrt, sollten wir ihn verheiraten. Kennst du ein Mädchen, das für unseren Sohn in Frage kommt?« Mohandas, der ganz andere Sachen im Kopf hat, winkt ungeduldig ab. »Was ihr Frauen nur immer mit dem Heiraten habt?« murrt er. »Manilal ist alt genug, sich selbst eine Frau zu nehmen, wenn er es wünscht. Was haben wir damit zu tun?« »Dein Sohn will aber an den alten Traditionen festhalten und hat uns gebeten, ihm eine Frau zu suchen«, gibt Kasturbai unmißverständlich zurück. »Also ist es auch unsere Pflicht, das zu tun. Erkundige dich nach heiratsfähigen Mädchen. Es wäre schön, wenn wir die Angelegenheit bald zu einem guten Ende bringen könnten.« Mohandas seufzt, sieht aber ein, daß er dieser Bitte nachkommen muß und fragt bei einem Freund an. »Da du bereits zwei deiner Söhne verheiratet hast, wirst du mir sicher helfen können: Ich suche nach einer passenden Frau für Manilal. Wie stelle ich das an?« »Ich werde mich gerne einmal für dich umhören«, verspricht der Freund zuvorkommend. »Wenn ich etwas in Erfahrung bringe, gebe ich dir Bescheid.« Mohandas nickt dankbar. »Ich hoffe, du hast bald Erfolg, andernfalls wird Ba mich nicht in Frieden lassen.« Der Freund hält Wort und teilt Mohandas schon bald den Namen eines heiratswilligen Mädchens mit. Da die Gandhis die
Familie des Mädchens sehr gut kennen, halten sie die Verbindung durchaus für erstrebenswert. »Du mußt nach Akola fahren und dir das Mädchen ansehen«, verlangt Kasturbai von Manilal, doch der schüttelt nur den Kopf. »Ihr sollt sie euch ansehen und entscheiden. Wenn ihr sie akzeptiert, habe ich nichts gegen die Heirat.« Mohandas reagiert wenig erfreut auf Manilals Bitte. »Ich habe eigentlich angenommen, ich wäre meinen väterlichen Pflichten ausreichend nachgekommen, indem ich das Mädchen ausfindig gemacht habe«, grollt er. »Nun soll ich sie mir auch noch ansehen, dabei habe ich genügend anderes zu tun.« »Ich werde nicht zulassen, daß du dich dieser familiären Aufgabe entziehst«, verlangt Kasturbai energisch, und Mohandas reist schließlich mit ihr nach Akola, einer Stadt sechshundert Kilometer nordöstlich von Bombay. Kasturbai schließt das Mädchen auf den ersten Blick in ihr Herz und erzählt ausführlich von Manilal. Die zwanzigjährige Sushila ist begeistert von der Aussicht, den Sohn des großen Mahatma zu heiraten und willigt sofort ein. Doch Mohandas bittet sie, sich mit ihrer Entscheidung Zeit zu lassen. »Denk in Ruhe darüber nach und teile uns deinen Entschluß schriftlich mit«, sagt er ernst. Kaum sind Kasturbai und Mohandas wieder zu Hause, kommt der Brief von Sushilas Vater, der ihnen mitteilt, seine Tochter sei bereit, Manilal zu heiraten. Mohandas gibt sich damit nicht zufrieden, er schreibt zurück: »Ich bat Sushila, mir zu antworten, und warte auf ihren Brief.« Sushila ist es zwar unangenehm, einen solchen Brief schreiben zu müssen, aber da ihr nichts anderes übrig bleibt, fugt sie sich. In wenigen Wochen soll die Hochzeit in Akola stattfinden. Kasturbai ist sehr aufgeregt. Immerhin ist es für sie die erste Hochzeit in der Familie, denn als Harilal damals heiratete, lebte sie noch in Südafrika und konnte an der Zeremonie nicht teilnehmen. Voller Begeisterung plant sie die Geschenke, die Braut und Bräutigam erhalten sollen. Mohandas kann nur mit
dem Kopf schütteln. »Diese Hochzeit soll eine schlichte Angelegenheit werden ohne irgendwelche Geschenke, ganz egal von welcher Seite«, mahnt er, aber Kasturbai widerspricht ihm heftig: »Ich bin die Mutter des Bräutigams, vergiß das nicht. Unmöglich kann ich die Braut mit leeren Händen in unserem Haus willkommen heißen.« »Pflück ein paar Blumen im Garten«, erwidert Mohandas ruhig. »Die kannst du Sushila zur Begrüßung geben.« Kasturbai sieht ihren Mann an, als würde sie an seinem Verstand zweifeln, und streitet sogar mehrere Tage mit ihm. »Es ist gut«, sagt sie schließlich. »Ich bin bereit, meiner zukünftigen Schwiegertochter lediglich einen weißen Sari zu schenken, zu dem ich das Garn selbst gesponnen habe. Ist das ein Kompromiß, dem du zustimmen kannst?« Mohandas zuckt mit den Schultern und gibt resigniert nach. »Wenn es sich nicht vermeiden läßt, mach, was du für richtig hältst.« Als die Gandhis zu den Hochzeitsfeierlichkeiten in Akola eintreffen, sind alle Vorbereitungen bereits getroffen. Sushilas Mutter unterrichtet Kasturbai von dem Hochzeitsprogramm und zeigt ihr voller Stolz die kostbaren Kleider und teuren Saris, die sie für ihre Tochter gekauft hat. »Ich weiß wohl, daß der Mahatma die Eheschließung ganz schlicht und ohne Geschenke wünscht, aber damit hat er wohl nicht gemeint, daß ich Sushila ganz ohne Mitgift in die Ehe schicken soll.« Kasturbai schüttelt bedauernd den Kopf. »Bapu wird diese kostbare Ausstattung niemals akzeptieren«, warnt sie. »Wenn Sie trotzdem darauf bestehen, daß Sushila diese Geschenke erhält, wird er sie ihr, sobald wir wieder im Ashram sind, fortnehmen und an die Armen weitergeben.« Ungläubig sieht die Mutter der Braut sie an. »Bapu wird gewiß verstehen, daß ich meine Tochter nicht mit leeren Händen gehen lassen will.« »Nein, das wird er nicht«, widerspricht Kasturbai mit Nachdruck. »In diesen Dingen ist er sehr streng und
unnachgiebig. Glauben Sie mir. Er hat alles weggegeben, was ich jemals besessen habe, und mir nicht einmal erlaubt, Geschenke von Freunden zu behalten.« Verwirrt senkt Sushilas Mutter den Kopf. »Was soll ich bloß machen?« murmelt sie enttäuscht. »Behalten Sie alles hier«, gibt Kasturbai mit verschmitztem Lächeln zurück. »Sushila und Manilal werden bald nach Südafrika reisen. Dann können Sie ihr mitgeben, was Sie wollen, aber sprechen sie besser nicht mit Bapu darüber.« Die beiden Mütter beschließen, die Geschenke vor Mohandas geheimzuhalten und Sushila erst zu übergeben, wenn sie an Bord des Schiffes geht, das sie nach Südafrika bringen wird. Bereits einen Tag nach den Hochzeitsfeierlichkeiten reisen die Gandhis nach Ahmedabad zurück. Es bleibt nur noch wenig Zeit, bis das junge Paar nach Südafrika abreisen soll, und Kasturbai versucht sie zu nutzen, um ihre junge Schwiegertochter in die Lebensgewohnheiten der Familie einzuweisen. Dabei entspricht Ba so gar nicht der Vorstellung, die Sushila sich von einer Schwiegermutter gemacht hat. Ihre älteren Schwestern hatten ihr nämlich erzählt, daß sie in den Familien ihrer Männer, zu denen sie nach der Hochzeit zogen, wie Dienerinnen behandelt wurden, die auf den leisesten Wink zu gehorchen hatten. Kasturbai, die sich noch gut daran erinnern kann, wie schwer sie es als junges Mädchen im Haus der Gandhis gehabt hat, ist da ganz anders. Mit viel Verständnis macht sie ihrer Schwiegertochter den Umzug so leicht wie möglich und nimmt sich sehr viel Zeit, sie anzuleiten. Währenddessen plant Mohandas wieder einmal neue politische Aktionen. Direkter Anlaß dafür ist eine Kommission, die die Briten eingesetzt haben, um den verfassungsrechtlichen Status Indiens zu überprüfen. Mahatma Gandhi und die Führer der Kongreßpartei boykottieren die Arbeit des Ausschusses, als sie feststellen, daß keine Inder darin vertreten sind. Im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen, die von der Polizei mit Prügeln und Schlägen aufgelöst werden.
Die Inder bilden nun ihre eigene Kommission, um die Verfassung für eine autonome Regierung Indiens aufzusetzen. »Wenn die Briten unserem Vorschlag nicht innerhalb eines Jahres zustimmen«, erklärt Mohandas der Öffentlichkeit, »wird der Kongreß die völlige Unabhängigkeit Indiens und den Austritt aus dem britischen Empire durch gewaltlose Nichtzusammenarbeit anstreben.« Schon bald steht fest, daß die Engländer nicht bereit sind, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. »Um die Unabhängigkeit zu erreichen«, verkündet Jawaharlal Nehru, mittlerweile Präsident des Kongresses, »wird es von nun an zivilen Ungehorsam auf allen Gebieten und in allen denkbaren Formen geben.« Niemand zweifelt daran, daß die Engländer Nehru für diese Worte ins Gefängnis werfen werden, doch zuvor kommt er noch einmal in den Ashram am Sabarmati, um sich zu verabschieden. »Gott beschütze dich«, sagt Kasturbai und lächelt den jungen Nehru, den sie wie einen Sohn liebgewonnen hat, herzlich an. Doch der antwortet höhnisch: »Wo ist Gott, Ba? Er scheint zu schlafen.« Mohandas, der von weitem zugehört hat, schmunzelt. »Auseinandersetzungen über dieses Thema sind sinnlos«, meint er. »Jawaharlal sieht in der Religion Indiens tödlichsten Feind, der die Saat der Zerstörung in sich trägt. Wir sollten mit ihm einig sein, daß wir verschiedener Meinung sind.«
Liebe und Salz (1928-1930) »Ich habe mich verliebt, Ba, und ich möchte heiraten.« Es ist Backtag im Ashram, und die Frauen müssen hart arbeiten, um bis Sonnenuntergang fertig zu werden. Auch Kasturbai steht mit teigverklebten Händen und mehlbestäubtem, erhitztem Gesicht in der Küche und hat eigentlich gar keine Zeit, sich mit dem Liebesgeständnis ihres Jüngsten zu beschäftigen, doch als sie sein verzweifeltes Gesicht sieht, nickt sie nur. »Ich komme sofort, Devadas. Warte in meinem Zimmer auf mich.« Rasch reinigt sie sich notdürftig, füllt zwei Becher mit Tee, der, mit Milch und Zucker aufgekocht, eine bei der Hitze wunderbar belebende Wirkung hat, und folgt ihrem Sohn. »So, du willst also heiraten. Wer ist es? Kenne ich sie?« Devadas läßt den Kopf noch tiefer hängen. »Ja, das Mädchen ist dir gut bekannt und ihre Familie ebenfalls. Es ist Lakshmi Rajagopalachari.« Entsetzt sieht Kasturbai ihn an. »Und wie steht Lakshmi dazu? Weiß sie überhaupt von deinen Plänen?« Der junge Mann nickt. »Wir lieben uns«, antwortet er schlicht. Gedankenverloren greift Kasturbai nach ihrem Becher und nippt an dem Tee. »Weder Bapu noch Lakshmis Vater werden mit dieser Verbindung einverstanden sein«, sagt sie dann. »Aber das wißt ihr sicher.« »Ja, natürlich, Ba.« Unglücklich sieht er sie an. »Können wir wenigstens mit deiner Unterstützung rechnen?« »Wie um alles in der Welt stellst du dir das vor, Devadas?« Mißbilligend schüttelt Kasturbai den Kopf. »Lakshmi ist die Tochter eines Brahmanen, du gehörst der Kaste der Vaisya an. Ihr dürft noch nicht einmal miteinander essen. Wie könnt ihr da an Heirat denken?«
»Aber wir lieben uns«, wiederholt Devadas verzweifelt. »Da muß es doch einen Ausweg für uns geben.« »Leider spricht dies nicht gerade für eure Verbindung«, gibt Kasturbai schroff zurück. »Du weißt, dein Vater und ich vertreten die Auffassung, daß von den Eltern arrangierte Ehen glücklicher verlaufen als ein Bündnis aus Liebe. Sogar Manilal, der wesentlich älter ist als du und der noch nicht einmal in unserer Gemeinschaft lebt, hat sich daran gehalten.« »Ja, ich weiß.« Ärgerlich winkt Devadas ab. »Alte Traditionen und Kastenvorurteile. Nur, bei den Harijan laßt ihr sie auch nicht mehr gelten. Warum also kann es für Lakshmi und mich keinen Weg geben?« Nachdenklich sieht Kasturbai ihren Sohn an, dann erhebt sie sich. »Ich muß zurück in die Küche«, sagt sie, »aber ich werde mit deinem Vater sprechen. Wir werden sehen, was er dazu sagt.« Wie nicht anders erwartet, ist Mohandas strikt gegen die Eheschließung seines Sohnes mit einer Frau, die aus einer anderen Kaste stammt, doch weil Devadas ihm keine Ruhe läßt, erklärt er sich schließlich zu einem Gespräch mit dem Vater des Mädchens, dem Brahmanen Rajagopalachari, bereit. Die beiden Männer kennen sich gut, ja sie sind sogar miteinander befreundet, so eng, wie es ihre unterschiedliche Kasten Zugehörigkeit eben zuläßt. Und natürlich sind sie sich in dieser Angelegenheit einig. »Eine Heirat kommt nicht in Frage.« Aber Devadas und Lakshmi bleiben hartnäckig, und schließlich finden die beiden Väter einen Ausweg. Sie sind überzeugt, daß dadurch die Angelegenheit im Sand verlaufen wird. »Wir sind mit eurer Verbindung nur unter einer Bedingung einverstanden«, teilt Mohandas seinem Sohn das Ergebnis ihrer Beratungen mit. »Ihr müßt eure Gefühle fünf Jahre lang prüfen und dürft euch in dieser Zeit nicht sehen. Kein einziges Mal. Wenn ihr dann noch immer heiraten wollt, werden wir nichts mehr dagegen sagen.« Devadas und Lakshmi erklären sich einverstanden. Gewiß, fünf Jahre sind eine lange Zeit, aber sie sind sich sicher, daß ihre Liebe sie unbeschadet überstehen wird.
Mohandas bleibt keine Zeit, sich noch länger mit diesem Problem zu beschäftigen. Im ganzen Land herrscht große Spannung, und die Augen aller Inder sind wieder einmal auf den Satyagraha-Ashram gerichtet, wo der Mahatma die nächste Kampagne des zivilen Ungehorsams vorbereitet. Diesmal verspricht es wirklich, eine aufsehenerregende Aktion zu werden, und da es Mohandas wichtig ist, alle seine Vertrauten, Freunde und Familienangehörigen dabei zu haben, bittet er sogar Manilal, eigens hierfür aus Südafrika zu kommen. Kasturbai freut sich wie immer auf ein Wiedersehen mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter Sushila. Wie sich bald zeigt, gibt es jedoch noch eine andere Sushila, die in dieser Zeit in ihr Leben tritt und trotz des großen Altersunterschiedes zu einer ihrer engsten Freundinnen werden wird… »Ich habe eine jüngere Schwester, sie heißt Sushila.« Der junge Pyarelal Nayyar, mittlerweile Mohandas Privatsekretär und von allen Ashram-Bewohnern sehr geschätzt, hat die Gandhis um eine Unterredung gebeten. »Wenn ich meine Mutter besuchte, habe ich ihr immer sehr viel von meiner Arbeit und meinem Leben hier erzählt. Nun wünscht sie sich nichts sehnlicher, als mich begleiten zu dürfen. Bisher war meine Mutter stets dagegen«, erklärt Pyarelal schmunzelnd. »Sie meinte, es wäre genug, bereits den Sohn an die revolutionäre Bewegung des Mahatma verloren zu haben. Doch Sushila gab keine Ruhe, und so erlaubte Mutter ihr schließlich, die Ferien in unserer Siedlung zu verbringen. Ja, und nun wollte ich wissen, ob auch ihr mit dem Besuch meiner Schwester einverstanden seid.« Ein wenig hilflos zuckt Mohandas die Schultern. »Grundsätzlich schon, Pyarelal«, entgegnet er, »das weißt du. Aber der Ashram platzt aus allen Nähten. Ich wüßte im Augenblick wirklich nicht, wo wir deine Schwester unterbringen sollten.« »Laß das Mädchen nur kommen, mein Junge«, schaltet sich Kasturbai gutmütig in das Gespräch. »Sie kann in meinem
Zimmer schlafen. Ich werde mich gern ihrer annehmen, denn wie es scheint, wirst du nicht viel Zeit für sie haben.« Fragend sieht der junge Nayyar von Kasturbai zu Mahatma. »Hast du dich entschieden, Bapu? Steht das Ziel für unsere nächste Kampagne fest?« Mohandas nickt lächelnd. »Warte bis heute abend, dann kommmen Nehru und die anderen Kongreßführer in den Ashram, und ich werde euch allen gemeinsam meine Pläne vorlegen.« Sechs Wochen hat Mohandas gebraucht, die neue, spektakuläre Aktion auszuarbeiten. Nun ist er fertig, und seine Anhänger warten gespannt darauf, daß er das Geheimnis lüftet. »Ich habe mir viel Zeit für die Auswahl unserer nächsten Kampagne genommen«, beginnt Mohandas, »weil ich auf jeden Fall vermeiden möchte, daß es wieder zu Gewalttätigkeiten kommt, und ich glaube, ich habe das Richtige gefunden: Einen Boykott der Salzsteuer-Gesetze.« Verständnislos sehen sich seine Zuhörer an, doch Mohandas fährt bereits fort: »Wir leben in Indien, einem Land, das zum großen Teil von Salzwasser umgeben ist. Trotzdem halten die Kolonialherren das Monopol der Salzherstellung. Salz ist bei der Hitze, der wir hier ausgesetzt sind, ein lebensnotwendiges Produkt. Gleichwohl muß jeder Inder, wenn er Salz kauft, eine Steuer an die britischen Kolonialherren zahlen. Von nun an werden wir uns jedoch weigern, dieses britische Gesetz anzuerkennen. Wir und alle Freiwilligen, die bereit sind, uns zu begleiten, werden einen Fußmarsch an die Küste machen und unser eigenes Salz herstellen.« Mohandas Anhänger sind von diesem Plan, dessen Symbolträchtigkeit unübersehbar ist, begeistert und machen sich eifrig daran, den Salzmarsch zu organisieren. Der Mahatma hingegen geht auf die Suche nach Männern, die ihn auf dieser Reise von Ahmedabad zu der etwa 400 Kilometer entfernt liegenden Küstenstadt Dandi begleiten wollen. Das Meer soll zu Fuß, ohne Eisenbahn oder Automobil zu benutzen, erreicht werden. Kasturbai hilft ihm dabei, indem sie zu den Frauen
spricht. »Wir müssen unsere Männer ermutigen, sich gegen die Briten zu erheben. Wenn wir keine Angst zeigen, werden auch sie furchtlos sein.« Am Morgen des Marsches versammeln sich alle im Ashram. Gebete werden gesungen, und jeder nimmt Abschied von seinen Lieben. Die Gandhis sind sogar mit drei Generationen vertreten: Mohandas, seine Söhne Manilal, Ramdas und Devadas, sowie Kanti, Harilals zweiter Sohn. Tapfer sagt Kasturbai den dreien Lebewohl. Ihre Schwiegertochter Sushila kann die Tränen nicht zurückhalten, hat der Mahatma am Abend zuvor nicht gesagt: »Ihr müßt bereit sein zu sterben, denn es ist nicht auszuschließen, daß die Briten ihre Gewehre gegen uns einsetzen.« Die Worte klingen Sushila noch immer in den Ohren. Hilfesuchend stürzt sie sich in die Arme ihrer Schwiegermutter. Kasturbai versucht sie zu beruhigen. »Willst du, daß dein Mann das Bild einer weinenden Frau mit sich trägt?« fragt sie. »Sieh, alle diese Frauen hier werden von ihren Söhnen und Männern getrennt, aber sie weinen nicht. Warum du?« Schließlich ist es soweit. Mohandas, inzwischen einundsechzig Jahre alt, unzählige seiner Freunde und Ashramkollegen und ein starkes Kontingent Presseleute brechen zum großen Salzmarsch auf. Die Bewohner der Stadt Ahmedabad klatschen ihnen begeistert Beifall. Fünfzehn bis fünfundzwanzig Kilometer marschieren sie am Tag, legen oft Pausen ein und werden von Sympathisanten entlang der ganzen Strecke begrüßt. Die Begeisterung wächst täglich, und immer mehr Inder schließen sich dem Zug an, besonders als die Zeitungskorrespondenten ausführlich über das Ereignis berichten. Vierundzwanzig Tage dauert der Marsch, dann ist das Ziel, die Stadt Dandi, erreicht. Die Menschen, allen voran Mohandas, waten ins Meer, um ein rituelles Bad zu nehmen, dann hebt der Mahatma eine Handvoll Salz vom Strand auf und bricht damit das Gesetz.
Der Marsch und die symbolische Geste schlagen ganz Indien in Bann. Plötzlich will jeder Salz gewinnen, und die Kampagne des zivilen Ungehorsams weitet sich immer mehr aus. Nicht ganz unerwartet beginnen nun auch die Massenverhaftungen. Die Gefängnisse sind bald überfüllt. Insgesamt werden wegen Übertretung des Salzgesetzes sechzigtausend Inder verhaftet – und die Zeitungen in der ganzen Welt berichten täglich darüber. Letztendlich verhaftet man auch Mohandas. Endlich habe ich wieder einmal Zeit, mich gründlich auszuschlafen, schreibt er an Kasturbai, die die Ereignisse so gut es geht von daheim aus verfolgt. Doch dann geschieht etwas, das die ganze Welt erschüttert. Eine der geplanten Aktionen dieser Satyagraha-Kampagne ist der Versuch der gewaltfreien Übernahme des Salzwerkes Dharsana, das der britischen Regierung gehört. Der amerikanische Journalist Webb Miller hört von diesem Plan und macht sich auf den Weg zum Salzwerk. Rund zweitausendfünfhundert Mitglieder des Kongresses und Anhänger Gandhis versammeln sich unter Führung der Dichterin Sarojini Naidu auf dem glühend heißen Plateau vor dem Eingang des Salzwerkes. Ihnen stehen vierhundert einheimische Polizisten in Khaki-Uniformen und braunen Turbanen gegenüber, bewaffnet mit langen, stahlbeschlagenen Schlagstöcken, sowie fünfundzwanzig Gewehrschützen. Mit schreckgeweiteten Augen beobachtet Miller, wie eine Reihe unbewaffneter Männer nach der anderen schweigend auf die schlagstockschwingenden Polizisten zugeht und sich zusammenschlagen läßt, ohne auch nur einen Arm zu heben oder sich notdürftig vor den brutalen Schlägen zu schützen. Miller berichtet: Die Getroffenen fallen zu Boden, bewußtlos oder sich vor Schmerzen windend, mit zerschmettertem Schädel oder gebrochener Schulter. Der Boden ist mit Körpern übersät, Blutflecken breiten sich auf den weißen Khadi-Tüchern aus.
Bahrenträger hasten – unbehelligt von der Polizei – herbei und tragen die Verletzten zu einer Strohhütte, die zu einem provisorischen Lazarett eingerichtet wird. Dann kommt die nächste Reihe. Obwohl jeder weiß, daß er gnadenlos niedergeknüppelt, ja vielleicht sogar getötet wird, kann ich keine Anzeichen von Wankelmut oder gar Angst entdecken. Es gibt keinen Kampf, kein Gemenge. Die Marschierer gehen einfach weiter, bis sie niedergeschlagen werden. Alle Hoffnung, Indien mit dem britischen Empire zu versöhnen, sind nach diesem Tag für immer verloren.
Der Kampf geht weiter (1930-1933) Kasturbai hat sich an dem Salzmarsch nicht beteiligt. Die Anstrengung wäre einfach zu groß für sie gewesen. Stattdessen ist sie zu Hause geblieben, hat den Frauen Mut gemacht und sich um den Ashram gekümmert. Der Schwester Pyarelals hat sie sich freundlich angenommen und dafür gesorgt, daß das junge Mädchen sich rasch in das ungewohnte Leben im Ashram einfügt. Nun möchte Sushila am liebsten für immer bleiben. Als Mohandas und Tausende Mitstreiter ins Gefängnis gesteckt werden, geht Kasturbai in die benachbarten Dörfer und spricht den Leuten Trost zu. Eines Tages erhält sie die Nachricht, daß Manilal von der Polizei niedergeschlagen wurde und als vermißt gilt. Natürlich macht sie sich große Sorgen um ihren Sohn und läßt sich auch nicht beruhigen, als es heißt, er sei gefunden, liege aber mit schweren Kopfverletzungen in einem Krankenhaus in Surat. Und obwohl Kasturbai von ihren vielen Reisen durch die Dörfer – zu Fuß oder mit dem Ochsenkarren – erschöpft ist, macht sie sich gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter sofort auf den Weg zu Manilal. Als die beiden Frauen das Krankenhaus erreichen, erfahren sie, daß Manilal, sein Bruder Ramdas und andere Freiheitskämpfer bereits ins Sabarmati-Gefängnis gebracht worden sind. Kasturbai atmet erleichtert auf. »Wenn Manilal aus dem Krankenhaus entlassen wurde, muß es ihm besser gehen«, beruhigt sie ihre Schwiegertochter. »Du mußt dir keine Sorgen machen, Sushila. Viele von unseren Landsleuten sitzen hinter Gittern, warum soll es ausgerechnet unseren Männern besser ergehen?« Nachdem sich die beiden Frauen davon überzeugen konnten, daß Manilal und Ramdas einigermaßen erträglich untergebracht sind, schickt Kasturbai ihre Schwiegertochter zurück in den Ashram und reist selbst weiter nach Gujarat, wo Devadas
gefangengehalten wird. Unter der Bevölkerung spricht sich bald herum, daß die Ba kommt, und in Scharen strömen die Menschen zum Bahnhof, sie zu empfangen. Bei ihrer Ankunft sieht Kasturbai erstaunt auf die Menschenmenge und erkundigt sich: »Was ist geschehen? Wartet ihr auf jemanden?« Verwirrt sehen die Leute sie an. »Wir sind alle hier, dich willkommen zu heißen, Ba.« »Mich?« wundert sich Kasturbai und kann nur den Kopf schütteln. »Ich bin doch niemand Besonderes. Warum vergeudet ihr eure Zeit mit Warten auf mich? Es gibt so viel Arbeit im Land, und wir alle müssen jede Minute des Tages dafür nutzen.« Auch Devadas geht es den Umständen entsprechend gut, und er freut sich sehr, seine Mutter zu sehen. »Würdest du mir einen großen Gefallen tun, Ba«, bittet er eindringlich, und als sie nickt, fährt er fort: »Ich weiß, ich darf mich nicht mit Lakschmi in Verbindung setzen, aber könntest du ihr mitteilen, daß ich gesund bin? Sie wird sich gewiß Sorgen machen.« »Ich weiß zwar nicht, ob es deinem Vater recht ist, aber ich werde ihr Bescheid geben«, verspricht Kasturbai lächelnd und verabschiedet sich. Immerhin, zwei Jahre Prüfungszeit haben die jungen Leute bereits hinter sich, stellt sie dabei nachdenklich fest. Bisher ließen sie sich nicht beirren. Vielleicht geht ja für die beiden doch noch alles gut aus. Die Kampagne des zivilen Ungehorsams in ganz Indien hält an; die Briten kommen nicht mehr umhin, sich ernsthaft mit dem Indien-Problem auseinanderzusetzen. Eine Round-tableKonferenz wird einberufen, bleibt jedoch ohne Ergebnis, weil der Kongreß, die einzige offizielle Vertretung des indischen Volkes, nicht gehört wird. Der britische Premierminister MacDonald spricht die Hoffnung aus, daß an der zweiten Gesprächsrunde auch indische Kongreß-Mitglieder teilnehmen mögen, vergißt jedoch zu erwähnen, daß die meisten von ihnen im Gefängnis sitzen. Der indische Vizekönig, Lord Irwin, läßt daraufhin Gandhi und ein Dutzend anderer Führer von einem Tag auf den anderen
frei und lädt sie ein, an der zweiten Round-table-Konferenz in London teilzunehmen. Kasturbai hält sich während dieser Zeit in Ahmedabad auf. Die Salzmarschkampagne hat Spuren hinterlassen. Durch die Massenverhaftungen sitzen noch immer viele Familienväter im Gefängnis und sind nicht in der Lage, ihre Angehörigen zu ernähren. Kasturbai geht von Haus zu Haus und von Dorf zu Dorf, um den Armen zu helfen und sich derer anzunehmen, die gerade aus den Gefängnissen entlassen worden sind. Als sie eine Nachricht von Mohandas erhält, in der er sie bittet, mit ihm nach London zu reisen, sagt sie ab. »Warum soll ich mitkommen?« fragt sie. »Wie könnte ich dir in London von Nutzen sein? Die Menschen hier brauchen mich, und ich habe sehr viel Arbeit.« Mohandas reist ohne sie nach England und erregt dort großes Aufsehen. Reporter und Schaulustige folgen ihm auf Schritt und Tritt, und die Zeitungen und Wochenschauen sind voll von der außergewöhnlichen Gestalt in Schal und Lendentuch. Ja, London liegt Mohandas zu Füßen, und er kann als gleichgestellter Führer einer Nation auftreten, nicht als Bittsteller. Der Salzmarsch hat bewiesen, daß England Indien nicht gegen den Mahatma regieren kann. Trotzdem verläuft die Reise erfolglos, und Indien kommt seiner Unabhängigkeit keinen Schritt näher. Mohandas kehrt mit leeren Händen in die Heimat zurück und wird, gemeinsam mit allen anderen Führern, erneut verhaftet. Außerdem wird der indische Kongreß unter dem Vorwand, er behindere die Arbeit der britischen Regierung, für ungesetzlich erklärt und aufgelöst. Die Arbeit muß nun heimlich fortgeführt werden, und um der niedergeschlagenen Bevölkerung Mut zu machen, ergeht der Aufruf: »Der Kampf um die Freiheit geht weiter!« Die Kampagnen des bürgerlichen Ungehorsams werden wieder aufgenommen, und diesmal verhaftet man Kasturbai als eine der ersten. Sie muß in einer Gefängniszelle ohne jede Annehmlichkeit leben und den kleinen Raum monatelang mit mehreren Personen teilen. Viele der Frauen brechen zusammen, weinen, geraten in Wut und verlieren durch
die Enge mehr und mehr ihr geistiges Gleichgewicht. Nur Kasturbai bleibt ruhig, tröstet und bittet um Geduld. Die Erfahrungen dieser Inhaftierung lassen sie unverzüglich handeln. Gleich nach ihrer Entlassung gründet Kasturbai in Maroli, Gujarat, einen Ashram, wo die Männer und Frauen, die in den Gefängnissen gelitten haben und krank geworden sind, Genesung finden können. »Es ist ein Brief für dich gekommen, Ba.« Maniben zeigt Kasturbai das Schreiben, und da sie weiß, daß die Freundin es nicht lesen kann, erzählt sie ihr den Inhalt. »Die Frauen Rajkots bitten dich um Hilfe, diesmal allerdings nicht wegen der Engländer, sondern wegen des Prinzen von Gujarat. Er ist ein Lüstling, schreiben sie. Regelmäßig entführt er junge schöne Mädchen, hält sie für einige Zeit in einem abgelegenen Landhaus gefangen und läßt sie dann, wenn er genug von ihnen hat, wieder frei. Die Mädchen sind nach einem solchen Zwangsaufenthalt an Körper und Geist zerbrochen und natürlich für alle Zeiten entehrt.« Bisher hat noch niemand Kasturbai vergebens um Hilfe gebeten, und so ist sie auch jetzt sofort bereit, zu reisen. In Begleitung von Maniben fährt sie nach Rajkot, in die Stadt, in der sie so viele Jahre im Haus der Gandhis gelebt hat. »Ich werde zum gewaltlosen Widerstand gegen den Prinzen aufrufen«, erklärt Kasturbai, spricht auf mehreren Versammlungen und schärft den Frauen ein, daß sie sich für ihr Recht erheben und Gerechtigkeit und Schutz vor Mißhandlungen fordern müssen. Als der Prinz davon erfährt, läßt er Kasturbai und Maniben sofort verhaften und in jenes Landhaus bringen, das er zur Schändung unschuldiger Mädchen benutzt. Eine Weile hält man die beiden im Keller in Einzelhaft, dann zusammen in einem Raum. Sie bekommen weder ausreichend zu essen, noch zu trinken. Die Frauen Rajkots zeigen Kasturbais Verschwinden beim Distriktkommissar an, aber da der Prinz ein ausgezeichnetes Verhältnis zu den Engländern hat, geschieht nichts. Es dauert
Wochen, bis bekannt wird, wo die beiden Frauen gefangengehalten werden und Devadas, eben erst aus der Haft entlassen, eine Besuchserlaubnis bekommt. Bestürzt über die schrecklichen Bedingungen, in denen seine Mutter leben muß, trägt er die Sache den Behörden vor und gibt keine Ruhe, bis Kasturbai und Maniben in ein anderes Gefängnis verlegt werden. Mohandas ist froh, daß ihm sein jüngster Sohn diese Aufgabe abnimmt, denn in der Zwischenzeit hat die britische Regierung einen Plan ausgetüftelt, nach dem Indien in Religionsbezirke getrennt werden soll. Hindus, Moslems, Sikhs und Christen sollen eigene selbständige Provinzen erhalten – das Land damit geteilt und geschwächt werden. Der Plan sieht sogar einen eigenen Bezirk für die Unberührbaren vor, ein Vorhaben, das Mohandas auf gar keinen Fall hinnehmen will. Als Gegenmaßnahme beschließt er zu fasten. »Ich werde erst wieder etwas essen«, verkündet er der Öffentlichkeit, »wenn dieser Plan von der Regierung aufgegeben wird, selbst wenn ich daran zugrunde gehen muß.« Kasturbai, noch immer in Rajkot gefangen, erhält unterdessen Besuch von Sushila Nayyar. Pyarelals Schwester, die mittlerweile in Bombay Medizin studiert, sich jedoch so oft wie möglich im Ashram aufhält, wirkt niedergeschlagen. »Bapu hat sich zu einem Fasten bis zum Tod entschlossen. Er schickt mich mit dieser Nachricht, Ba, bevor du es von anderer Seite erfährst.« Kasturbai ist erschüttert. Sie hat nur noch einen Wunsch: Heim zu Mohandas. Um ihre Freilassung zu erwirken, beginnt sie ebenfalls zu fasten und nimmt nur noch Früchte und Milch zu sich. Schon nach zwei Tagen erlaubt man ihr, das Gefängnis zu verlassen. Auf dem schnellsten Wege reist sie zu Mohandas. »Wo kommst du so plötzlich her?« will er überrascht wissen, als sie den Ashram erreicht. »Man hat mich aus dem Gefängnis entlassen«, antwortet sie.
»Und wo ist Maniben?« Fragend sieht er sie an. »Sie ist nach wie vor inhaftiert«, antwortet Kasturbai und erschrickt. Erst in diesem Augenblick wird ihr bewußt, was sie angerichtet hat. »Du hast deine Kameradin im Stich gelassen?« Ungläubig schüttelt Mohandas den Kopf. »Das kann ich nicht glauben.« Kasturbai senkt beschämt den Blick. »Als Sushila mir die Nachricht brachte, daß du wieder fasten willst, habe ich alles andere vergessen. Ich wollte nur noch heim, um dir zur Seite stehen zu können.« »Und was willst du nun tun?« fragt Mohandas. »Ich werde noch heute abend zurückkehren«, erwidert sie ohne Zögern. »Aber du wurdest aus dem Gefängnis entlassen. Sie werden dich gewiß nicht wieder aufnehmen«, gibt Mohandas zu bedenken. »Sie werden mich einlassen«, behauptet Kasturbai selbstsicher, »und wenn ich die ganze Nacht vor ihrer Tür sitzen muß.« Tatsächlich fährt sie noch am selben Tag nach Rajkot zurück und bittet darum, wieder ins Gefängnis zu dürfen. Verwirrt gewährt man ihr die Bitte, um sie am nächsten Morgen, gemeinsam mit Maniben, endgültig zu entlassen. Die Wirkung auf Mohandas’ Fasten ist überraschend. Die Führer der Moslems und der Unberührbaren verbünden sich miteinander. Die Tempel der Hindus öffnen sich plötzlich für die Unberührbaren, und die Angehörigen verschiedener Kasten setzen sich hin und brechen gemeinsam das Brot. Nehru kann es nicht glauben. »Was für ein Zauberer ist Bapu, und wie gut kennt er die Fäden, die er ziehen muß, um die Herzen der Menschen zu bewegen.« Die Briten müssen schließlich einsehen, daß sie gegen diese Übermacht nichts ausrichten können und lassen den Gedanken an ein geteiltes Indien fallen. Mohandas kann sein Fasten beenden. Das ganze Land atmet erleichtert auf.
Sevagram im Zentrum Indiens (1933-1938) Ein weiteres Jahr vergeht, und Mohandas faßt den Entschluß, den Satyagraha-Ashram in die Hände eines Harijans zu geben und an einem anderen Ort einen neuen Anfang zu machen. Gleichzeitig will er sich aus dem Kongreß zurückziehen, obwohl dessen Führer ihn bei Problemen weiterhin zu Rate ziehen und sein Einfluß nach wie vor sehr stark bleibt. Die neue Siedlung soll in Sevagram, im Zentrum Indiens, errichtet werden, doch vor dem Umzug gibt es ein großes Fest zu feiern. Die fünf langen Jahre der Prüfung von Devadas und Lakshmi sind um, und das Paar kann es kaum erwarten, endlich heiraten zu dürfen. Es wird eine prunkvolle Hochzeit, die der Brahmane Rajagopalachari seiner Tochter ausrichtet, und diesmal wiederspricht Mohandas nicht. Stolz betrachten er und Kasturbai das schöne Brautpaar, das sich seinen Sieg so tapfer erkämpft hat. »Vor fünf Jahren wäre diese Ehe für mich undenkbar gewesen«, raunt Mohandas seiner Frau leise zu. »Doch ich bin ehrlich genug zuzugeben, daß ich meine Meinung über diese Angelegenheit geändert habe.« Kasturbai nickt nachdenklich. »Vor fünf Jahren wollte es noch keiner wahrhaben, doch nun sollten wir alle so aufrichtig sein und eingestehen, daß das Kastensystem Indien nur schadet, daß es die Hindugesellschaft zerstückelt und schwächt. Trotzdem bin ich überzeugt davon, daß die Ehe von Devadas und Lakschmi eine Ausnahme bleiben wird.« Kasturbai freut sich aufrichtig für das junge Paar, kann aber ihre Trauer, die sie wegen des Umzuges verspürt, nicht ganz unterdrücken. Es fällt ihr unendlich schwer, die vertraut gewordene Umgebung in Ahmedabad aufzugeben. Sevagram. Hier in der Einsamkeit, bei schlechten klimatischen Verhältnissen, wo die Sommermonate unerträglich heiß sind und
die Monsunregen die Erde zu unpassierbarem Matsch aufweichen, wird ein neuer Ashram gebaut. Das winzige Dorf, das in der Nähe liegt, hat weder eine Post- noch eine Bahnstation, und das Leben wird für alle, die Mohandas folgen, zur täglichen Herausforderung. Die Schwierigkeiten des Neubeginns sind kaum zu überwinden, aber gerade das reizt den Mahatma. Die Bevölkerung der Umgebung besteht zum größten Teil aus Harijans. Zwei von ihnen nimmt Mohandas in seiner einfachen Lehmhütte auf, um durch sein Beispiel zu zeigen, wie man ihre jahrhundertelange Benachteiligung beenden kann. In der Nähe Sevagrams gibt es bereits einen Frauenashram, den Mahila-Ashram, der sich nach Mohandas’ Ideen gegründet hat und in dem junge mittellose Mädchen in verschiedenen Berufen ausgebildet werden. So lernen sie für sich selbst zu sorgen und in den Dörfern zu helfen. Die Mädchen dieses Ashrams wollen Mohandas an seinem Geburtstag einen Besuch abstatten. Vorsorglich teilen sie ihm diesen Entschluß mit, und er schreibt zurück, daß sie willkommen seien, aber keine sonderliche Bewirtung erwarten dürfen. Es gäbe nur Wasser vom Brunnen. Die Mädchen packen also ihr Mittagessen ein und marschieren in aller Frühe zu dem acht Kilometer entfernt liegenden Ashram, um an der Morgenandacht teilnehmen zu können. Nach den Gebeten bleiben sie sich selbst überlassen, weil die Bewohner mit den anfallenden Arbeiten beschäftigt sind. Irgendjemand rät ihnen, sich auf der Veranda von Kasturbais kleinem Haus niederzulassen und dort ihr Mittagessen zu verzehren. Die Mädchen folgen diesem Rat. Kurz darauf kommt Kasturbai und wundert sich über die fremden Besucherinnen. »Wer seid ihr?« fragt sie. »Und warum eßt ihr kaltes Mittagessen?« Die Mädchen erzählen ihr von Bapus Bedingungen, und Kasturbai kann nur den Kopf schütteln. Sofort öffnet sie die Vorratskammer, holt Orangen, Früchte, Nüsse und Joghurt und verteilt die Speisen. Außerdem sorgt sie für ein paar Kannen
kühlen Trinkwassers. Als Mohandas die Veranda betritt, blickt er erstaunt auf die Mädchen. »Was geht hier vor?« will er verwundert wissen. Vorwurfsvoll sieht Kasturbai ihn an. »Erzähl mir nicht, dein Ashram sei so bankrott, daß er nicht eine Handvoll Gäste bewirten kann«, schilt sie ihn, doch Mohandas zuckt nur mit den Schultern. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich habe den Mädchen vorher erklärt, daß wir sie nicht verköstigen können.« »Du kannst erklären, soviel du willst«, gibt Kasturbai lächelnd zurück. »Jetzt sitzen sie auf meiner Veranda und sind meine Gäste, und ich lasse niemanden hungrig fortgehen.« »Du hast schon so viel zu tun«, meint Mohandas entschuldigend. »Ich wollte nicht, daß du noch mehr Arbeit hast.« »Ich weiß, Bapu.« Mit einer kurzen, aber innigen Geste streicht Kasturbai ihrem Mann über den Arm. Dann mustert sie ihn aufmerksam. »Wie geht es dir heute?« Sie weiß wohl, daß die primitiven Bedingungen des neuen Ashram und das ungesunde Klima Mohandas gesundheitlich genauso zu schaffen machen wie ihr. Auch jetzt sieht er wieder elend aus, und Kasturbai beschließt, daß es Zeit ist, Sushila Nayyar zu Hilfe zu rufen. Die junge Medizinerin, die kurz vor ihrem Abschlußexamen steht, kommt sofort, um Mohandas zu untersuchen. Besorgt stellt sie fest, daß sein Brustfell, mit dem er bereits früher Probleme hatte, angegriffen ist. »Bapu schläft das ganze Jahr über auf einer offenen Veranda und ist Kälte und Feuchtigkeit ausgesetzt. Wenn er gesund werden will, muß er zumindest für eine Weile in einem geschlossenen Raum schlafen. Noch besser wäre ein vorübergehender Wechsel in ein milderes Klima.« Kasturbai entscheidet, daß Mohandas von nun an in ihrer Hütte schläft, und widerwillig erklärt er sich einverstanden. Als er sich nach der ersten ruhigen Nacht tatsächlich besser fühlt, erkennt er, wie recht Sushila hat. »Die arme Ba«, ruft er aus. »Niemals hatte sie ein Zimmer für sich. Dieses kleine Häuschen wurde eigens für
sie errichtet, und ich habe den Bau selbst beaufsichtigt. Sie sollte endlich mehr Bequemlichkeit und Ruhe haben. Und jetzt komme ich und beanspruche ihr Haus für mich.« Wie sich bald herausstellt, ist Mohandas’ Krankheit jedoch schon zu weit fortgeschritten, so daß er Sevagram verlassen muß, um in einem gesünderen Klima geheilt zu werden. Kasturbai packt alles zusammen, was er für einen längeren Aufenthalt braucht: Kleidung, Decken, Matratzen, Töpfe und Pfannen. Sie begleitet ihren Mann in das Landhaus eines Freundes am Strand in der Nähe Bombays, wo sie ihn pflegt, für ihn kocht und wäscht, ihn sogar füttert, weil er sehr schwach ist. Nach zwei Monaten Ruhe und Erholung ist Mohandas wieder bei guter Gesundheit, und beide kehren nach Sevagram zurück. So vernünftig und umsichtig Kasturbai ist, wenn es um Mohandas’ Gesundheit und sein Wohlbefinden geht, so uneinsichtig ist sie bei sich selbst. Als in der Nähe des Ashrams eine Cholera-Epidemie ausbricht und Sushila Nayyar die Bewohner impfen will, weigert sich Kasturbai. »Auf keinen Fall werde ich mir das dreckige Zeug in die Adern injizieren lassen«, wehrt sie entschieden ab und läßt sich durch nichts und niemanden davon abbringen. Daran gewöhnt, dem Beispiel Kasturbais zu folgen, verweigern nun auch viele andere Ashram-Bewohner die Impfung. Wie durch ein Wunder bleibt die Siedlung trotzdem von der Seuche verschont. Und wieder steht eine Hochzeit ins Haus. Diesmal heiratet Laxmi. Mohandas und Kasturbai haben das Mädchen wie eine Tochter großgezogen, und obwohl sie niemals formell adoptiert wurde, gibt es keinen Zweifel, wer diese Hochzeit ausrichtet. Kasturbai stürzt sich mit Feuereifer in die Vorbereitungen. Bei den Eheschließungen ihrer Söhne war dies nie ihre Aufgabe, doch jetzt ist sie endlich selbst die Brautmutter. Natürlich wird die Zeremonie – wie könnte es im Hause Gandhi anders sein – äußerst schlicht werden, trotzdem verbreiten die Frauen im Ashram Vorfreude und Aufregung. Belustigt beobachtet Mohandas das geschäftige Treiben.
»Was wirst du Laxmi zur Hochzeit schenken«, will er eines Tages von Kasturbai wissen. Die sieht ihn nur verständnislos an. »Du hast entschieden, daß es kein Geschenk geben wird. Hast du es dir anders überlegt?« »Warum schenkst du Laxmi nicht den ganzen Goldschmuck, den du gehortet hast?« Bei den Worten lächelt er verschmitzt, und Kasturbai antwortet in gespieltem Zorn: »Goldschmuck? Mit einem Dieb wie dir in der Nähe erwartest du, daß ich noch Goldschmuck habe?« Beide brechen in herzliches Gelächter aus. Nach der Hochzeit zieht Laxmi mit ihrem Mann nach Südindien, doch sie verspricht, Ba so oft es geht zu besuchen. Kasturbai freut sich über das Glück des Mädchens, ist gleichzeitig aber auch betrübt über die Trennung. Doch dann geschieht etwas, was sie noch viel unglücklicher macht. In den Zeitungen erscheinen wieder einmal Berichte über ihren Sohn Harilal, der in der südindischen Stadt Madras wegen Trunkenheit und ungebührlichen Benehmens festgenommen worden ist. Zornig diktiert Kasturbai einen Brief an ihren Ältesten. Es schickt sich nicht für einen intelligenten Jungen, sich so zu benehmen, schreibt sie an den Einundfunfzigjährigen, der selbst bereits Großvater ist. Ich kann vor Scham nirgendwohin gehen, klagt sie und bittet den Sohn, sie nicht länger zu quälen und vor allem seinen Vater nicht noch mehr zu verletzen. Wie üblich beantwortet Harilal den Brief nicht. Er kann einfach nicht vergessen und sieht nach wie vor in Mohandas den Mann, der sein Leben von Kindheit an zerstört hat. Aufregungen, Entbehrungen, Gefängnisaufenthalte und Fasten haben die Gesundheit Kasturbais angegriffen. Ihr schwaches Herz macht ihr zu schaffen, und als die kalte Jahreszeit anbricht, wird sie ernsthaft krank. Sie muß zu Sushila in die Stadt, um eine schwere Lungenentzündung auszukurieren. Die junge Frau
genießt es, ihre mütterliche Freundin einmal ganz für sich zu haben, und pflegt sie voller Hingabe. »Ich bin sehr froh, daß du damals nicht im Ashram geblieben bist, sondern dein Medizinstudium aufgenommen hast«, sagt Kasturbai eines Abends, als die beiden gemütlich beieinander sitzen. Sushila lächelt. »Du hast mich ja fast dazu gezwungen, Ba. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich lieber öfter an Bapus Aktionen gegen die Engländer teilgenommen.« »Und wem hättest du damit genützt?« will Kasturbai wissen. »Bapu hatte genug Unterstützung. Wenn du dich auf dein Studium konzentrierst und später einmal die armen Menschen in den Dörfern heilen kannst, wirst du deinem Volk viel mehr helfen.« Nachdenklich sieht Sushila sie an, dann nickt sie. »Du hast recht, Ba, und du hast mir damit eine wichtige Entscheidungshilfe gegeben. Ich verspreche dir, daß ich mein Studium abschließen und promovieren werde.« Auch nach ihrer Rückkehr in den Ashram bleibt Kasturbai anfällig und schwach und kann nicht einmal ihre Pflichten als Gastgeberin erfüllen, wenn hohe Gäste zu Besuch kommen. Sie erholt sich erst wieder, als die Kinder ihres dritten Sohnes zu ihr in den Ashram ziehen. »Solange Ramdas’ Frau studiert, sind Sumitra und der kleine Kanu bei uns am besten aufgehoben«, erklärt sie Mohandas, und obwohl die Kinder eine zusätzliche Belastung für die ohnehin stark beschäftigte und nicht mehr junge Kasturbai bedeuten, meistert sie diese zusätzliche Aufgabe mit großer Freude. Die Kinder lieben ihre Großmutter heiß und innig und wachsen vollkommen unbeschwert im Ashram auf. Welcher Kaste sie angehören, wissen sie nicht und fühlen sich in den Hütten von Unberührbaren genauso zu Hause wie anderswo. Es gibt keinen normalen Schulunterricht für sie, aber es findet sich immer jemand, der sich die Zeit nimmt, sie zu unterrichten. Sie lernen Rechnen, erhalten Sprachunterricht, aber alles ganz sporadisch, ganz zufällig, ohne Plan und Methode. Mohandas hält das Leben
im Ashram für eine ausreichende Schulung und Ausbildung, und so schickt er die Kinder erst mit dreizehn Jahren auf eine richtige Schule. Sumitra und Kanu verleben eine glückliche Kindheit, und es fehlt ihnen nie an Zuneigung, an Liebe und Wärme. Laxmi kommt zu Besuch, und da Kasturbai gerade keine Zeit für sie hat, schließt sie sich einigen Frauen an, die ausgehen wollen, um Saris zu kaufen. Mohandas hat zur Regel gemacht, daß Baumwollkleidung nur gekauft werden darf, wenn man selbstgesponnenes Garn dagegen eintauscht. Laxmi, seit ihrer Heirat der strengen Disziplin des Ashrams entwöhnt, hat schon lange nicht mehr am Spinnrad gesessen und daher kein eigenes Garn. Sie muß also erst Garn kaufen, um es gegen einen Sari eintauschen zu können. Als die Frauen in die Siedlung zurückkehren, treffen sie Mohandas und Kasturbai. »Wo seid ihr gewesen?« will Bapu wissen und stellt, nachdem er die gewünschte Auskunft bekommen hat, sofort die nächste Frage: »Und wie viele von euch haben ihr eigenes Garn gesponnen?« Es stellt sich heraus, daß Laxmi die einzige ist, die Garn kaufen mußte. »Das hätte ich nicht von meiner eigenen Tochter gedacht«, sagt Mohandas vorwurfsvoll, während Kasturbai schweigend daneben steht. »Warum hast du nicht gesponnen?« »Ach, ich hatte keine Zeit«, versucht Laxmi sich herauszureden, doch Mohandas gibt sich nicht damit zufrieden. »Warst du den ganzen Tag so beschäftigt, daß du nicht eine Stunde dem Spinnen widmen konntest?« Laxmi will nicht noch mehr lügen und schweigt deshalb. »Ich furchte, du mußt den Kauf rückgängig machen und den Sari zurückbringen«, sagt Mohandas. Laxmi ist sehr enttäuscht, wagt aber keinen Widerspruch. Stattdessen übernimmt nun Kasturbai ihre Verteidigung. »Laß das Mädchen den Sari behalten. Sie wird versprechen, es nicht wieder zu tun.«
»Nein, ich kann keine Ausnahme machen«, erwidert Mohandas streng, »am wenigsten bei Familienangehörigen.« Kasturbai legt tröstend den Arm um die Schultern der jungen Frau. »Du weißt, wie unnachgiebig Bapu ist. Wenn er nein sagt, kann auch ich ihn nicht umstimmen. Außerdem bist du eindeutig im Unrecht.« So muß Laxmi am nächsten Tag den Sari in den Laden zurückbringen. Ach ja, es fällt ihr nicht leicht, wieder in den strengen Ashramalltag zurückzufinden. Eines Morgens, als die Glocke wie üblich fünfzehn Minuten vor der Gebetszeit, die auf fünf Uhr festgesetzt ist, läutet, ist sie noch so müde, daß sie einfach verschläft. Ba weckt sie noch einmal, und Laxmi erhebt sich zögernd. »In fünf Minuten werde ich am Gebetsplatz sein«, sagt sie. »Ich will nur rasch meine Haare kämmen.« Bapu, Ba und alle Ashrambewohner warten fünf Minuten auf sie und beginnen, als Laxmi nicht erscheint, mit dem Gebet. Eine halbe Stunde später kehrt Kasturbai zurück. Als Laxmi, die wieder eingeschlafen ist, ihre Schritte hört, springt sie schnell aus dem Bett und greift nach dem Kamm. Schon steht Ba in der Tür. »Warum bist du nicht zum Morgengebet gekommen?« »Ich konnte mein Haar nicht rechtzeitig herrichten«, entgegnet Laxmi schuldbewußt, doch Kasturbai läßt diese Ausrede nicht gelten. »Wenn dein Haar deinem Gebet im Wege steht, dann muß etwas damit geschehen«, erwidert sie kühl, holt eine große Schere aus ihrem Zimmer und schneidet die langen Haare rigoros ab. Laxmi wagt nicht zu protestieren. Sie weiß, daß Kasturbai von sich selbst, aber auch von jedem anderen erwartet, daß er seinen Pflichten sorgfältig nachkommt. »Ich bin zwar ungebildet, aber nicht unwissend«, pflegt sie von sich zu sagen. »Und ich habe eine klare Vorstellung von dem, was gerecht und was nicht gerecht ist.« Kasturbai hat aber auch eine klare Vorstellung von dem, was über den Kampf um die Freiheit des Landes hinaus getan werden
muß. Die Erfahrungen von Champaran sind noch frisch in ihrem Gedächtnis, und daher organisiert sie zahlreiche Frauengruppen, die in die Dörfer gehen sollen, um dort einen sozialen Wandel zustandezubringen. Unter ihrer Anleitung befassen sich die Frauen mit ihren ureigensten Problemen: Bildungsmöglichkeiten, Abschaffung von »Purda«, Mutterschutz und vieles andere mehr. Mit besonderem Engagement bekämpft Kasturbai »Sati«, die Witwenverbrennung. »Es ist ein grausamer Brauch, der in der Öffentlichkeit glorifiziert und idealisiert und von den Frauen widerspruchslos akzeptiert wird«, erklärt sie Mohandas kopfschüttelnd. »Und obwohl die Briten die Verbrennungen unter Strafe gestellt haben, gibt es noch genug Frauen, die auf diese Weise in den Tod gehen. Darunter sind viele kaum älter als dreißig Jahre, ja sogar Kinder. Keiner kann mir erzählen, daß diese Mädchen freiwillig den Tod suchen.« Mohandas nickt zustimmend. »Der Druck der Familie spielt eine wichtige Rolle. Ich habe sogar davon gehört, daß einige der Witwen versuchten zu fliehen. Da dies aber für ihre Familie eine Schande gewesen wäre, band man sie mit Stricken auf die Scheiterhaufen, und ihre verzweifelten Todesschreie wurden von der schrillen Musik aus Trommeln und Blasinstrumenten übertönt.« Entsetzt sieht Kasturbai Mohandas an, während er fortfährt: »Nun ja, die Alternativen für Witwen, die nicht den Feuertod wählen, sind allerdings gleichfalls grausam.« Seine Frau kann ihm nur zustimmen: »Man erwartet von ihnen völlige Entsagung. Ja, diesen Frauen wird noch nicht einmal gestattet, die Hochzeiten der eigenen Kinder zu besuchen. Statt dessen müssen sie wie Sklaven arbeiten, werden schlecht behandelt und beschimpft, und treten in der Familie Unglücksfälle auf, sind angeblich sie die Ursache. Sie sind finanziell abhängig, nicht erbberechtigt und dürfen keine neue Ehe eingehen.« Eine Weile schweigen beide nachdenklich, dann meint Mohandas:
»Gewiß, es ist nicht mehr so schlimm wie früher, als ein Radschputen-Herrscher starb und seine 700 Frauen mit ihm in den Feuertod gingen, aber Gesetze haben noch niemals die Einstellung der Gesellschaft geändert.« Kasturbai seufzt ratlos. »Das ist wahr. Wollte man das Los der Witwen verbessern, müßte man ihnen zum Beispiel eine Wiederverheiratung erlauben. Doch dagegen würden sich die Frauen wehren, weil sie eine neue Heirat als Sakrileg empfänden und befürchten würden, den Namen ihrer Familie zu beschmutzen. Diese armen Frauen glauben, daß ihr Witwenstand die gerechte Strafe für schlechte Taten in einem früheren Leben ist und daß sie sich ohne Groll damit abfinden müssen.« Mohandas nickt. »Das Bewußtsein der Gesellschaft zu ändern, ist langwierig. Alles, was wir machen können, ist unseren Schülern zu raten, mit gutem Beispiel voranzugehen und Witwen zu heiraten. Es wird zwar selbst die aufgeklärten jungen Leute Überwindung kosten, wäre aber zumindest ein Anfang.« Auch Kasturbai weiß keine andere Lösung und muß sich damit zufriedengeben. Mit Genugtuung beobachtet sie jedoch, wie die von ihr geführten Frauengruppen sich zu einer Organisation zusammenschließen, die die Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrem Stand und ihrem Geschlecht herbeiführen will. Das ist immerhin ein weiterer großer Schritt in eine neue Zukunft.
Der Kreis schließt sich (1938-1942) Mohandas beginnt unaufhaltsam seine Bemühungen zu verstärken, mit denen er die traditionellen Lebensformen der Hindu-Gesellschaft erneuern will. Er verlangt die Aufhebung aller Benachteiligungen der Harijans – der Gotteskinder. Auch Kasturbai protestiert gegen die Diskriminierung der Harijans und wird zu sechs Wochen Haft verurteilt. Welche Wandlung hat diese Frau durchgemacht? Wie viele ihrer anerzogenen Grundsätze und Überzeugungen hat sie aufgegeben! Wenn andere Menschen über die Unterschiede zu Unberührbaren sprechen, sagt sie einfach: »Was wollt ihr? Wir sind alle von Gott gemacht. Wie kann es da hoch und niedrig geben?« Die Gandhis rufen zum Boykott aller Tempel auf, die den Harijans bei Gottesdiensten keine gleichen Rechte einräumen. Im Zug dieser Kampagne muß auch Mohandas nach Delang in Orissa reisen, und Kasturbai sowie einige andere Ashram-Bewohner wollen ihn begleiten. In Delang steht der Jagannath Puri-Tempel, der von den Hindus als einer der fünf wichtigsten Schreine der Welt betrachtet wird. Es ist einer der Tempel, in dem man nicht bereit ist, das Kastentabu zu brechen, aber Kasturbai brennt trotzdem darauf, ihn zu besichtigen. Zwar ist Mohandas der Meinung, daß kein Hindu mit Selbstachtung den Puri-Tempel betreten darf, und Kasturbai will auch nicht gegen seine Anordnungen verstoßen, aber sie findet trotzdem, daß sie den Tempel zumindest von außen besichtigen kann. Eines Morgens macht sie sich also, begleitet von der Frau und dem Sohn Mahadev Desais und ihrer Schwiegertochter Sushila, auf den Weg. Doch als sie vor dem Tempel steht, ist dessen Anziehungskraft so unwiderstehlich, daß sie einfach hineingehen muß. »Du weißt, Bapu ist dagegen«, erinnert sie Sushila zaghaft.
Kasturbai nickt und betritt den Tempel. Als Mohandas davon erfährt, ist er zutiefst verletzt und macht Kasturbai Vorwürfe. »Ich kann einfach nicht begreifen, daß jemand, der mir so nahe steht wie du, meine Sache verrät«, wirft er ihr vor und schickt sie und die anderen Frauen ärgerlich nach Sevagram zurück. Tagelang ist Mohandas niedergeschlagen und tadelt wegen des Vorfalls sogar Mahadev, der ihm daraufhin schriftlich seine Kündigung anbietet. Das schmerzt Mohandas jedoch noch mehr. »Du bist fast wie mein Sohn«, sagt er traurig. »Darf ich dich denn nicht für eine Untat zurechtweisen?« Auch Kasturbai ist bekümmert wegen dieser Angelegenheit, obwohl sie Mohandas’ Reaktion als zu heftig empfindet. Kränken wollte sie ihn wirklich nicht, auch wenn sie im Lauf der Zeit ein gesundes Selbstvertrauen entwickelt hat und mit ihrem selbstbewußten Auftreten ihrem Mann gegenüber sogar ziemlich spitz werden kann. Der Vorfall gerät über die politischen Geschehnisse allerdings bald in Vergessenheit. Seit drei Jahrein tobt in Europa wieder ein Krieg, und nun bekommt auch Indien die Auswirkungen vor den eigenen Grenzen zu spüren. Die Japaner sind vorgestoßen, und man befürchtet ihren Einmarsch. Für Mohandas ist der Krieg jedoch ein Problem, das Indien nicht direkt berührt. »Wir interessieren uns in erster Linie für unsere Unabhängigkeit«, sagt er. »Und ich finde, es ist jetzt wirklich an der Zeit, daß die Briten Indien auf ordentliche Weise verlassen sollten.« Der Plan wird als »Verlaßt-Indien-Resolution« bekannt. »Überlaßt Indien Gott«, fordert Mohandas von den Engländern. »Wenn das zu viel verlangt ist, dann überlaßt es der Anarchie.« Aber es geschieht nichts. Die Engländer lassen sich wie immer Zeit, und Gandhi ruft neue Kampagnen des zivilen Ungehorsams ins Leben. Sushila Nayyar, die sich zur Zeit in Neu-Delhi aufhält, um ein Praktikum zu absolvieren, bittet darum, sich an den Aktionen
beteiligen zu dürfen, doch Kasturbai ist dagegen, und so bleibt Sushila vorerst fern. Da die Pläne des Mahatmas allerdings bereits allgemein bekannt sind und sich das ganze Land in einem Zustand höchster Anspannung befindet, sorgt sie sich sehr um ihre Lieben. Als ihr dann von einem Bekannten vertraulich mitgeteilt wird, es seien bereits Haftbefehle gegen Mohandas und die anderen Kongreßführer erlassen, hält Sushila nichts mehr. Sie bittet um Urlaub und fährt mit dem nächsten Zug nach Bombay, dem jetzigen Hauptquartier der Bewegung. Mohandas, Mahadev, Pyarelal, Mirabehn und all die anderen freuen sich über Sushilas Erscheinen, nur Kasturbai kritisiert ihr Verhalten. »Was hast du hier zu suchen? Warum gefährdest du deine Ausbildung?« »Aber ihr sollt alle verhaftet werden«, ruft Sushila aus. »Da kann ich doch nicht in Delhi bleiben und so tun, als ginge mich das alles nichts an.« »Es wird immer wieder gefährliche Situationen geben«, beharrt Kasturbai. »Du darfst deine Ausbildung deswegen nicht unterbrechen. Ich dachte, darüber wären wir uns einig.« Auch Mohandas nimmt die Warnung der jungen Frau nicht ernst. »Wir werden nicht verhaftet, keine Sorge. Die Briten haben genug mit ihrem Krieg zu tun und daher ganz andere Probleme.« Am nächsten Morgen jedoch, als sich die ganze Gesellschaft zum Gebet zusammenfindet, zeigt sich Mahadev unausgeschlafen und übelgelaunt. »Was ist los mit dir?« will Kasturbai wissen, doch der Freund winkt nur müde ab. »Das Telefon hat mich heute nacht nicht schlafen lassen. Laufend riefen irgendwelche Leute an, um sich zu erkundigen, ob Bapu bereits verhaftet ist.« Mohandas, der die Worte Mahadevs gehört hat, lacht amüsiert auf. »Selbst die Briten sind nicht so töricht, den Mann zu verhaften, der ihr bester Freund in Indien ist. Schließlich rufe ich unsere Landsleute immer wieder zu Ruhe und Besonnenheit auf, anstatt
die durch den Krieg entstandene Notlage der Engländer auszunutzen.« Als die Morgengebete beendet sind, gehen alle wie gewohnt an die Arbeit. Wenig später läutet es an der Tür, und als Mahadev öffnet, stehen mehrere Polizeibeamte mit einem ganzen Stapel Haftbefehle auf der Treppe. »Sie haben eine halbe Stunde, um das Notwendige zu packen«, sagt der Sprecher des Polizeitrupps. Mahadev rennt die steilen Stufen zum oberen Stockwerk hinauf, geht in Mohandas Zimmer und verkündet atemlos: »Sushila hatte doch recht. Die Polizei ist da. Sie sind gekommen, uns zu verhaften.« »Die Briten sind doch immer wieder für eine Überraschung gut«, erklärt Mohandas erstaunt. »Weißt du schon, wen sie alles mitnehmen wollen?« »Sie haben viele Haftbefehle dabei, aber von uns hier trifft es nur dich, Mira und mich.« »Gut, dann müssen wir uns wohl fertigmachen.« Mohandas nickt und wendet sich an Kasturbai. »Wenn du ohne mich nicht leben kannst, darfst du mitkommen«, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber es ist mir lieber, wenn du hierbleibst und meine Arbeit fortführst.« Niemand zweifelt daran, daß Kasturbai der Aufforderung nachkommen wird. Schnell packt man die wichtigsten Dinge zusammen, um sich anschließend noch einmal zu einem kurzen Gebet zu treffen. Dann werden die Gefangenen abgeführt. Niedergeschlagen sieht Kasturbai ihnen nach und betet dabei flehentlich: »Beschütze meinen Mann und gib mir die Kraft, seinen Kampf fortzusetzen.« Die Nachricht von Mohandas’ Verhaftung verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Tausende von Menschen strömen herbei, und Kasturbai ist den ganzen Vormittag damit beschäftigt, mit ihnen zu sprechen, sie zu beruhigen und ihnen Mut zu machen. Bald finden sich auch einige Kongreßführer ein.
»Bapu wollte diesen Abend in Shivaji-Park auf einer öffentlichen Versammlung sprechen. Nun ist er verhaftet worden. Was sollen wir tun?« »Ich werde ihn vertreten«, erklärt Kasturbai mit fester Stimme, doch die Männer sehen sie zweifelnd an. »Was ist, wenn auch du verhaftet wirst, Ba? Wenn du Gandhi vertrittst und statt seiner sprichst, werden sie dich ebenfalls ins Gefängnis werfen.« Kasturbai zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Und wenn schon. Erwartet ihr, daß ich abseits stehe, wenn die ganze Nation inhaftiert wird?« »Dann sollte dich Sushila begleiten«, schlagen die Männer vor. »So kommt ihr wenigstens zusammen ins Gefängnis, und sie kann sich um dich kümmern.« Fragend sieht Kasturbai ihre junge Freundin an, und als sie zustimmt, nickt auch Ba. »Gut, damit bin ich einverstanden.« Es ist alles gesagt, die Männer sind entlassen und die beiden Frauen allein. »Ich möchte dir jetzt eine Botschaft diktieren«, sagt Kasturbai. »Du mußt mehrere Abschriften davon machen und den Text an verschiedene Leute verteilen. Falls wir tatsächlich verhaftet werden, soll jemand anderes diese Zeilen verlesen. Schließlich können sie uns nicht alle auf einmal ins Gefängnis stecken.« Sushila nickt, und Kasturbai beginnt ihre Nachricht an das indische Volk zu diktieren: »Wenn ihr diese Botschaft erhaltet, sind Bapu, seine engsten Freunde und ich verhaftet. Ich fordere euch auf, trotzdem weiterhin nach den Idealen des Mahatma zu leben. Auch Indiens Frauen sind dazu aufgerufen. Sie sollen alle, ungeachtet der Kaste, ihres Standes oder des Glaubens, in diesen Kampf eintreten. Wahrheit und Gewaltlosigkeit müssen unsere Parole sein.« Es ist bereits Nachmittag, als Kasturbai das Haus verläßt, um zu der Versammlung zu gehen. Am Fuß der Treppe wartet ihr Enkel Kanu mit ein paar eilig hergestellten Abzeichen, auf denen »do or die« (handle oder stirb) steht.
»Bapu hat das angeordnet«, erklärt der Junge. »Jeder Freiheitskämpfer soll dieses Abzeichen an seiner Brust tragen, damit er sofort von der Polizei identifiziert werden kann und unschuldige Bürger nicht unnötigerweise belästigt werden.« Schnell will Kanu eines der Abzeichen an Kasturbais Sari heften, doch sie wehrt belustigt ab. »Diese Botschaft ist in meinem Herzen eingeprägt. Ich brauche kein Papierabzeichen, um mich oder andere daran zu erinnern?« Gemeinsam mit Sushila geht sie weiter, als ihr plötzlich ein Polizeibeamter den Weg vertritt. »Du solltest das nicht tun, Ba«, sagt er respektvoll. »Du solltest zu Hause bleiben und dich um deine Gesundheit kümmern.« »Wie kann ich zu Hause bleiben, wenn alle meine Söhne und Töchter von den Briten verfolgt werden?« fragt Kasturbai und geht unbeirrt auf den Wagen zu, der bereits auf sie wartet. Doch der Beamte folgt ihr. »Wenn du nicht umkehrst, Ba, zwingst du mich, meine Pflicht zu tun«, warnt er noch einmal. Kasturbai lächelt nur. »So tue sie, mein Sohn.« Wenige Augenblicke später befindet sie sich auf dem Weg zum Arthur-Road-Gefängnis, wo sie gemeinsam mit Sushila inhaftiert wird. Auch Kasturbais Verhaftung spricht sich schnell herum, und Pyarelal, der eine Abschrift der Botschaft besitzt, versucht nun zur Versammlung zu gelangen. Die schöne Dichterin Sarojini Naidu, die gleichfalls eine Kopie hat, beobachtet, wie Pyarelal abgeführt wird, dann schleicht sie sich zur Hintertür hinaus und entkommt unauffällig. Vorsichtig macht sie sich auf den Weg zum Shivaji-Park, aber die Polizei ist bereits dort und zerstreut die Menge, indem sie die Menschen mit Polizeiknüppeln schlägt und mit Tränengas beschießt. Es wird nicht gestattet, die Versammlung abzuhalten. Sarojini Naidu übergibt Kasturbais Botschaft den indischen Tageszeitungen und dem Untergrundsender der Widerstandsbewegung. Zwar wird sie bei dieser Aktion gleichfalls verhaftet, doch die Nachricht kann trotzdem verbreitet werden.
Eine weibliche Aufseherin begleitet Kasturbai und Sushila ins Gefängnis. Ein eisernes Bett mit einer schmutzigen Kokosmatte und noch schmutzigeren Bettlaken ist das einzige Möbelstück. Sushila zieht die Tücher ab, breitet Kasturbais eigene Matte über jene, die das Gefängnis bereitgestellt hat und bittet sie, sich niederzulegen und auszuruhen. Minuten später ist Kasturbai eingeschlafen. Am nächsten Morgen fühlt sie sich schwach und kraftlos. Als der Gefängnisarzt seinen Rundgang macht, bittet Sushila um einige Medikamente und um Früchte für Kasturbai. »Sie können sich kaufen, was Sie brauchen«, sagt er. »Geben kann ich Ihnen nichts.« »Aber wir haben kein Geld«, erklärt Sushila. »Und wie soll ich Ihnen dann helfen?« antwortet der Arzt unfreundlich. »Vielleicht könnten Sie Freunde von uns anrufen und bitten, die Dinge zu bringen?« Sushila gibt nicht auf, doch der Arzt schüttelt entschieden den Kopf. Endlich willigt er ein, etwas Medizin und Äpfel aus dem Krankenhaus zu schicken, aber alles, was sie erhalten, sind zwei Äpfel am späten Abend. Nicht nur die Versorgung, auch die Unterbringung ist katastrophal. Am schlimmsten ist der ekelerregende Gestank, der aus den undichten Abwasserrohren dringt und den beiden Gefangenen Übelkeit verursacht. Am nächsten Tag stellen die Frauen ihre Betten daher auf die Veranda hinaus und verbringen die meiste Zeit dort. Eine Woche bleiben sie in dem Gefängnis, dann kommt gleich nach dem Abendgebet ein Wärter. »Packen Sie Ihre Sachen zusammen«, fordert er sie auf. »In zwei Stunden werden Sie abgeholt.« »Wo werden wir hingebracht?« will Kasturbai wissen, doch sie erhält keine Auskunft. Als sie gepackt haben, fährt auch schon der Wagen vor, und der Gefängnisdirektor persönlich hilft ihnen beim Einsteigen. »Wohin bringen Sie uns?« fragt Kasturbai auch ihn, und der Mann lächelt sie freundlich an. »Wir bringen Sie zu Bapu.«
Am frühen Morgen des nächsten Tages kommen sie in Poona an und werden zum Aga-Khan-Palast gefahren, wo Mohandas und die anderen inhaftiert sind. Als Kasturbai und Sushila aus dem Wagen steigen, sehen sie einen ihnen unbekannten Mann, der die Veranda fegt. Offensichtlich hat man ihre Ankunft nicht bekanntgegeben. »Wo ist Bapus Zimmer?« erkundigt sich Sushila, und der Mann weist ihnen den Weg: »Am Ende des Ganges rechts.« Mohandas und Mahadev sind gerade damit beschäftigt, den Entwurf einer Erklärung an die Regierung zu überarbeiten und so in ihre Arbeit vertieft, daß sie die Neuankömmlinge zunächst nicht bemerken. Als Mahadev aufblickt und Kasturbai sieht, freut er sich sehr, Mohandas jedoch runzelt die Stirn. »Du siehst schlecht aus«, sagt er. »Bist du krank?« Kasturbai verneint die Frage, liest jedoch in seinen Augen ein weiteres Anliegen. »Du willst wissen, ob ich die Regierung gebeten habe, mich hierher zu verlegen«, lächelt sie. »Ich weiß, das käme einer Verletzung deiner Prinzipien gleich, aber sei unbesorgt, ich habe die Engländer um gar nichts gebeten. Es war ihre Idee, mich zu dir zu bringen.« Jetzt erst kann Mohandas sich freuen, seine Frau zu sehen. Der Aga-Khan-Palast ist eine luxuriöse Haftanstalt und ganz und gar nicht mit dem Kerker zu vergleichen, in dem Kasturbai die letzten Tage gesessen hat. Trotzdem fühlt sie sich nicht wohl. Es gibt nichts für sie zu tun, und das Leben fließt wie ein träger Strom dahin. »Wenn du dich langweilst, dann such dir eine Beschäftigung«, rät Mohandas, aber das ist leichter gesagt als getan. Plötzlich aber kommt Leben in den Palast. Die Wachmannschaft wird von hektischer Unruhe gepackt. Vier oder fünf Männer sind eifrig damit beschäftigt, Haus und Hof zu säubern, und überall werden Blumen verteilt. Die Gefangenen erfahren, daß der Generalinspekteur der Gefängnisse, Oberst Bhandari, erwartet wird. Als der Oberst bald
darauf eintrifft, gehen Mahadev, Kasturbai und einige andere hinaus, um ihn willkommen zu heißen. Nur Mohandas hält es nicht für nötig, seinen gewohnten Tagesablauf zu ändern. »Der Oberst will das Gefängnis inspizieren, nicht mich«, sagt er achselzuckend. Genau in dem Augenblick, als Mahadev Oberst Bhandari die Hand gibt, zuckt er zusammen, greift sich an die Brust und sinkt zu Boden. Sushila kommt sofort und sucht nach Mahadevs Puls, aber es gibt keinen mehr. Mahadev Desai ist tot. Das ganze Gefängnis trauert um ihn, vor allem Kasturbai ist sehr niedergeschlagen. Mit langsamen Bewegungen sammelt sie die Blumen ein, mit denen die Zimmer geschmückt waren und streut sie über Mahadevs leblosen Körper. »Ich habe ihn so lange gekannt, so viel mit ihm gemeinsam erlebt«, erzählt sie Sushila. »Er war fast wie ein Sohn für…« Kasturbai verstummt. Ihre Augen sind blicklos in die Ferne gerichtet, es scheint fast, als hätte sie eine Vision. »Mahadevs Tod ist ein böses Omen«, sagt sie plötzlich flüsternd. »Ich werde die nächste sein…« Mahadev wird im Park des Aga-Khan-Palastes eingeäschert. Da er so völlig unerwartet starb, können weder seine Frau noch seine Kinder daran teilnehmen. Kasturbai ist an diesem Tage sehr schwach. Dennoch besteht sie darauf, teilzunehmen, wenn Mahadevs sterbliche Überreste den Flammen überantwortet werden. Die Nachricht vom Tode Mahadevs hat sich in der Gegend rasch verbreitet, und innerhalb weniger Stunden versammelt sich eine Menschenmenge entlang des Zaunes. Sie warten geduldig und begreifen erst, als der schwarze Qualm zum Himmel aufsteigt, daß sie einen ihrer beliebtesten Anführer verloren haben. Nie wieder wird Mahadev in Fleisch und Blut vor ihnen erscheinen. Ein gedämpftes Klagen ertönt, und mit Gebeten auf den Lippen beobachten die Menschen, wie der Rauch höher und höher steigt und sich langsam in den Wolken auflöst.
Die Gefangenen des Palastes sitzen um das Feuer herum und singen ihre Gebete, bis der letzte Funke den Körper verzehrt hat und erlischt. Seit Mahadevs Tod ist das Leben im Gefängnis nicht mehr dasselbe. Es ist, als ob das Lachen verschwunden wäre…
Eine Mutter für Indien (1942-1944) »Ja, es ist, als ob das Lachen aus unserem Leben verschwunden wäre«, wiederholt Kasturbai nachdenklich und verstummt. Sie ist vollkommen erschöpft. Sieben Tage lang hat sie die Vergangenheit aufleben lassen, hat mit der jungen Ärztin, die zu ihren Füßen kauerte und sich eifrig Notizen machte, ihr Leben noch einmal durchlebt, hat mit ihr geweint und gelacht. Doch nun ist sie müde, unendlich müde. Ein heftiger Hustenanfall schüttelt sie, und besorgt tritt Sushila an ihre Seite. »Du solltest dich niederlegen, Ba.« Kasturbai nickt und läßt sich willig auf ihr Lager führen. In den folgenden Monaten verschlechtert sich Kasturbais Gesundheitszustand zusehends. Sie leidet unter Atemnot und wird immer häufiger von schweren Hustenanfällen heimgesucht. Bald ist sie so schwach, daß sie nicht mehr laufen kann. Wenn sie in den Garten möchte, muß sie in einem Rollstuhl gefahren werden, bis selbst diese kleinen Ausflüge zu anstrengend für sie werden. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Sushila.« Kasturbais Stimme ist nur noch ein Flüstern. »Aber Ba, so darfst du nicht…« »Nein, widersprich mir nicht«, unterbricht Kasturbai die junge Frau. »Den Tod kann man nicht verleugnen. Aber ich habe eine letzte Bitte. Ich würde gern Harilal noch einmal sehen.« Sushila hat Tränen in den Augen. »Ich werde es Bapu sagen«, nickt sie, wartet, bis Kasturbai eingeschlafen ist und verläßt dann leise den Raum. Die Ba wird sterben? Das kann, nein, das darf nicht sein. Kasturbais Zustand wird immer bedenklicher. Sie bekommt eine schwere Bronchitis, aus der schon bald eine Lungenentzündung wird, und darf das Bett nicht mehr verlassen. »Vielleicht kann dieses neue Wundermittel Penicillin ihr helfen«, sagt Sushila zu Devadas, der schnellstens an das
Krankenbett seiner Mutter geeilt ist und sich seit einigen Tagen im Palast aufhält. Er nickt, bereit nach jedem Strohhalm zu greifen. »Wir müssen mit dem Gefängnisarzt sprechen. Er soll uns Penicillin besorgen.« Der Engländer erweist sich als sehr hilfsbereit, und schon bald trifft das Medikament, auf das Kasturbais Freunde ihre letzte Hoffnung setzen, ein. Sushila ist bereits dabei, die Spritze auszukochen, als Mohandas zu ihr tritt. »Bist du sicher, daß Ba am Leben bleibt, wenn sie das Penicillin bekommt? Bist du sicher, daß es ihr hilft?« »Nein«, antwortet Sushila wahrheitsgemäß. »Ich habe noch keine Erfahrungen mit Antibiotika und kann die Wirkung kaum einschätzen.« »Dann gib es ihr nicht. Stör sie nicht. Laß sie in Frieden.« »Aber Bapu…« Hilflos sieht Sushila ihn an, und Devadas widerspricht seinem Vater energisch. »Es ist immerhin eine Chance, wahrscheinlich die letzte. Warum läßt du es uns nicht versuchen?« Eindringlich sieht Mohandas ihn an. »Weil ich die Qualen deiner Mutter nicht unnötig verlängern will«, antwortet er ruhig, und Devadas senkt schweigend den Kopf. Inzwischen ist es der Polizei tatsächlich gelungen, Harilal zu finden. Er ist betrunken, seit Tagen schon, und hat daher die Aufrufe weder in den Zeitungen gelesen, noch im Radio gehört. Die Beamten haben sich redlich bemüht, einer sterbenden Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen, doch nun zeigen sie sich übereifrig und herzlos und sind noch nicht einmal bereit, dem betrunkenen Mann wenigstens ein paar Stunden Zeit zum Ausnüchtern zu geben. So wie er ist, verschmutzt und nach Alkohol stinkend, schleppen sie ihn an das Bett seiner Mutter. Harilal weiß noch nicht einmal, wo er ist und was mit ihm geschieht. Er ist kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten, geschweige denn, seine Mutter überhaupt zu erkennen. Als Kasturbai ihren Ältesten in diesem Zustand sieht, bricht sie in Tränen aus. Sie ist so durcheinander, daß die Ärzte ihr ein
Beruhigungsmittel geben müssen. Ihre Freunde, die sich um das Bett versammelt haben, blicken angewidert auf Harilal. Mohandas ist der erste, der sich aus der Erstarrung löst. »Wir danken Ihnen vielmals für Ihre Mühe«, sagt er höflich zu den Beamten. »Aber nun ist es wohl besser, diesen Mann wieder fortzubringen.« Kasturbai schluchzt verzweifelt, und Mohandas tröstet sie, so gut er kann. »Denk an Gott«, sagt er, »und überlaß alles weitere ihm.« Seit Tagen verweigert Kasturbai jede Nahrung. Nur ein paar Tropfen Wasser aus dem heiligen Gangesfluß nimmt sie zu sich. Mohandas weicht kaum noch von ihrer Seite und hält sie stundenlang in seinen Armen. Das Atmen fällt Kasturbai am leichtesten, wenn sie aufrecht im Bett sitzt. An Mohandas Brust gelehnt, kann sie wenigstens für kurze Zeit schlafen. Da ihre Gesichter dabei so nahe beieinander sind und Lungenentzündung medizinisch als ansteckende Krankheit angesehen wird, sind die Ärzte auch um Mohandas sehr besorgt. Doch der läßt sich nicht verunsichern. »Nach mehr als sechzig Jahren des Zusammenseins wollen Sie, daß ich meine Frau im Stich lasse?« fragt er ungläubig. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Wissen Sie nicht, daß wir alle in Gottes Hand sind?« Es ist der 22. Februar 1944. Wie üblich kommt Mohandas, bevor er seinen Morgenspaziergang antritt, in Kasturbais Zimmer. Sie ist bereits wach und sieht ihm aus klaren Augen entgegen. »Würdest du dafür sorgen, daß man mir meinen weißen Baumwollsari bringt«, bittet sie mit fester Stimme. »Du weißt schon, den rotgeränderten, der aus von dir gesponnenem Garn gewebt wurde.« Mohandas erschrickt. Er weiß genau, welchen Sari Kasturbai meint. Schon viele Jahre bewahrt sie dieses Kleidungsstück sorgsam auf und hat immer wieder den Wunsch geäußert, nach ihrem Tod in diesem Sari verbrannt zu werden.
Eilig kommt Mohandas der Bitte seiner Frau nach, und als die weiße, roteingefaßte Stoffbahn geholt ist, hilft er ihr, sich umzukleiden. Dann setzt er sich zu ihr, fest entschlossen, sie auch nicht einen Augenblick mehr allein zu lassen. Den Tag verbringt Kasturbai ohne Probleme, aber zum Abend hin fällt ihr das Atmen immer schwerer. Von zahllosen Hustenanfällen erschöpft, lehnt sie an Mohandas Schulter. Devadas hält die Hände seiner Mutter. Noch immer plagen ihn Zweifel. Wäre es nicht doch besser gewesen, ihr das Penicillin zu geben? »Du wirst dich der Familie annehmen müssen«, sagt Kasturbai plötzlich mit klarer Stimme in die Stille hinein. »Dein Vater ist ein Sadhu, ein Heiliger, der allen Bindungen entsagt. Ich verlasse mich darauf, daß du dich um alles kümmerst.« »Natürlich Mutter«, antwortet Devadas mit Tränen in den Augen. »Aber warum sprichst du so? Ganz gewiß wird es dir bald wieder besser gehen.« Kasturbai lächelt sanft und flüstert: »Nein, meine Zeit ist um.« Müde lehnt sie sich zurück und schließt die Augen. »Traure nicht nach meinem Tod«, sagt sie noch zu Mohandas, dann stirbt sie in seinen Armen, den Kopf an seine Brust gelehnt. 150 Trauergäste versammeln sich auf dem Gefängnisplatz, als Kasturbais Scheiterhaufen entzündet wird. Mohandas spricht Gebete der Hindus, der Parsen, der Moslems und der Christen. Der Tränen, die er vor allen weint, schämt er sich nicht. »Ein Leben ohne Ba kann ich mir einfach nicht vorstellen«, sagt er. »Aber ich glaube fest daran, daß Leben und Tod einer Ordnung und einer Kraft unterworfen sind, die wir nicht beeinflussen können. Gleichgültig, wie sehr man auch versucht zu retten, wer sterben muß, stirbt zur vorbestimmten Stunde, keinen Augenblick früher und keinen später. Auch Kasturbai starb, als sie sterben mußte. Um ihretwillen begrüße ich den Tod, denn er bringt ihr Erlösung von den Qualen. Doch mit ihr geht auch ein Stück meiner selbst, und sie hinterläßt eine Lücke, die sich nie wieder schließen wird.«
Ein Unglück, das jedes indische Haus überschattet, wird Kasturbais Tod genannt, und selbst politische Widersacher Mohandas’ vergessen ihre Differenzen mit dem unbequemen, unnachgiebigen Mann. In Zeitungen des In- und Auslands erscheinen Nachrufe. Maharadschas, Industrielle und Politiker der verschiedenen Überzeugungen schicken Beileidsbezeugungen und Würdigungen von Kasturbais Verdiensten. Universitäten und Colleges schließen ihre Tore. In Ahmedabad stehen die Webstühle in den Webereien still. Politische Freunde und Anhänger Gandhis gründen den nationalen Kasturbai-GandhiTrust, zur Fortbildung und Unterstützung der indischen Frauen. Seit der Unabhängigkeit des Landes wird den Frauen laut Verfassung die Gleichberechtigung garantiert, doch da die meisten von ihnen Analphabeten sind, kennen sie ihre Rechte nicht einmal. Der Trust, der zum Gedenken Kasturbais ins Leben gerufen wurde, soll helfen, allen Frauen bis zum Jahre 2000 Lesen und Schreiben beizubringen. Mahatma Gandhi hat einmal von seiner Frau gesagt: Sie hat Größe, ohne es selbst zu wissen, und Mut, ohne es zu zeigen. Vielleicht ist das der Grund, warum man die bescheidene Kasturbai Gandhi in den meisten historischen Büchern zu erwähnen vergaß. Als sie starb, trauerten Millionen ihrer Landsleute um sie, nicht, weil sie die Frau des Mahatmas war, sondern aus dem Gefühl heraus, eine aufopfernde, liebende und verständnisvolle Mutter verloren zu haben – eine Mutter für Indien.
Zeittafel 1869 Kasturbai und Mohandas werden in Porbandar geboren 1882 Die dreizehnjährige Kasturbai wird mit dem gleichaltrigen Mohandas verheiratet 1885 Karamchand Gandhi, Kasturbais Schwiegervater, stirbt Kasturbais erstes Kind stirbt kurz nach der Geburt 1888 Geburt des Sohnes Harilal Mohandas geht für drei Jahre zum Jurastudium nach England 1891 Mohandas kehrt nach Indien zurück 1892 Geburt des zweiten Sohnes Manilal 1893 Mohandas geht nach Südafrika 1896 Mohandas kehrt zurück, um Kasturbai und seine Söhne nach Südafrika zu holen 1897 Geburt des dritten Sohnes Ramdas 1899 Burenkrieg in Südafrika 1900 Geburt des vierten Sohnes Devadas 1903 Gründung des Phoenix-Ashrams 1909 Gründung der Tolstoi-Farm 1914 Vereinbarung über die Erleichterung für die Inder in Südafrika zwischen Mohandas und General Smuts wird erlassen 1914 Die Familie Gandhi reist nach London 1915 Rückkehr nach Indien Informationsreise durch das Land Einrichtung des Ashrams bei Ahmedabad 1917 Hilfe in Champaran 1919 Mohandas ruft zum Generalstreik auf Es kommt zum Blutbad von Amritsar 1920 Beginn der »Nichtzusammenarbeit« 1921 Die Spinnrad-Bewegung
1922 Mohandas wird zu sechs Jahren Haft verurteilt 1924 Mohandas wird vorzeitig aus der Haft entlassen 1927 Manilals Hochzeit 1930 Der Salzmarsch 1931 Zweite Round-table-Konferenz in London 1932 Kasturbai wird vom Prinzen von Gujarat gefangengenommen Mohandas beginnt mit seinem »Fasten bis zum Tode« 1933 Devadas’ Hochzeit mit einer Brahmanentochter Umzug nach Sevagram 1934 Mohandas zieht sich aus der aktiven Politik zurück 1942 Die Verlaßt-Indien-Kampagne, Verhaftung Kasturbais, Mohandas’ und ihrer Freunde Mahadev Desai stirbt 1944 Kasturbai stirbt im Palast des Aga Khan in Gefangenschaft 1947 Indien erhält die Unabhängigkeit 1948 Mohandas wird von dem Hindufanatiker Nathuram Godse in Neu-Delhi erschossen