Marc Laidlaw
Kalifornia Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von EDDA PETRI
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VE...
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Marc Laidlaw
Kalifornia Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von EDDA PETRI
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 0605320 Titel der amerikanischen Originalausgabe KALIFORNIA Deutsche Übersetzung von Edda Petri Das Umschlagbild malte Ralle Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1988 by Marc Laidlaw
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Paul & Peter Fritz, Literarische Agentur, Zürich (# 47619) Erstausgabe by St. Martin’s Press, New York Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1995 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber, Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-08571-X
Das interaktive Fernsehen hat seinen Höhepunkt erreicht: eine stehende Verbindung zum Hauptdarsteller einer Lieblingsserie ist möglich geworden. Millionen können sein Schicksal rund um die Uhr mit ihm teilen, seine Gefühle »live« miterleben, mit ihm leiden und lachen und glücklich sein. Und der Deal mit dem Publikum bringt den Darstellern ein Vermögen ein. Doch Sandy Figueroa aus der beliebten Figueroa-Familie hat das Geschäft gründlich satt. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die sogar ihr ungeborenes Baby im Mutterleib schon für Reality-TV präparieren laßt, möchte er aus dem Medienrummel aussteigen. Doch das ist für einen »Verdrahteten« nicht einfach, vor allem, wenn aus dem Reality-TV durch verrückte Anhänger einer blutrünstigen Sekte schaurige Realität wird. Eine brillante, bissige Satire über die Macht und die Idiotie der Medien und die Sensationsgier eines sattsam verblödeten Publikums.
Es ist nicht unvernünftig, beinahe jede Art von Irregularitäten in einem so entlegenen und vernachlässigten Teil des Landes – wie Kalifornien – zu erwarten. 1 California Reporter 582 (1906)
VORSCHAU
Feedback. »Alles Gute zum Geburtstag, Kalifornien.« »Ich wünsche dir einen schönen Tod…« Du wirst mir mit Küssen und Kredit danken. Der Wald glitschiger Mißbildungen erhob sich wie etwas, das vom Boden des Meers ausgekotzt worden war. »In deiner Wurzel-Chakra ist ein Haarknäuel.« »Sonnenbräune, Mann! Alles Bräune!« Kali-Kali-Kalifornia! »Er möchte die Drähte entfernt haben.« »Die Leute wollen in sie rein. Sie wollen fühlen, was sie fühlt.« – frei von ihrem trüben Ektoplasma. »Viel zu knallig…« »Du fühlst, wie du scheibchenweise aufgeschnitten wirst, während du gleichzeitig selbst die Scheibchen schneidest.« »Jetzt möchte ich gern Sushi essen.« – heiße Schokolade und gebratene Zwiebeln. »Bloß weil dir Vergnügen Angst einjagt.« Meine Tochter… »Willkommen in Libidopolis!« Feedback. – glitzerte im dunklen Eingang, als Kerzenschein die schlanken Stäbe und Drähte auf- und abwanderte. »Das ist der Moderator von Nachrichten Neunzig.« »Aber ich habe gefühlt, wie du gestorben bist!« »Keine Familienshow?« »Ich habe vergessen, daß du keine Rolle gespielt hast.« »Krrrauuuuu.«
»Madam, es ist nicht nötig, unschuldige Kinder abzuschlachten.« »Aber das ist sie nicht!« »Es ist kupferfarben, Baby.« »Ein Traum, ein Tanz. Maya.« »Das Kind hat eine Geburtsschuld.« » – Fressen für Riesengeier!« »Und du nennst dich einen Seehund?« »Kali-ma! Kali-ma!« »Stimmt es, daß ihr Hunde ein schlechtes Langzeitgedächtnis habt?« »Bald werdet ihr so blind und weiß wie Grottenolme sein.« »Ich ziehe es vor, es für synthetisch zu halten.« Die Ehrwürdige Tochter erkannte einen Penis, wenn sie einen sah. »Treiben… dahintreiben mit dem dürren Laub.« »Ich nehme an, du benutzt keine Berater mehr für deine Garderobe?« »So eine Art Eisernes-Kleinkind-Mode.« »Aber hallo! Jetzt weiß ich sicher, daß du in einem Reagenzglas ausgebrütet wurdest.« »Die einzige Mutter, die dieses Kind je kennenlernen wird, ist unsere dunkle Göttin Kali.« – gegen das Fenster im Büro gefallen und hat die Nacktschnecken aufgesaugt, die an der Scheibe klebten. »Sie studieren die Dinge, um die Gott sich nicht kümmert.« Fleisch ist so… eklig! »Männer! Köter und Männer!« Krabben und Reis. Kein Preis! »Papi, er soll aufhören! Er macht meine Sex-Spielzeugsachen kaputt!« »Sie hat völlige Kontrolle über das Militär!« »Kali-Kali-Kali-ma!«
Inzwischen schossen die Nonnen bereits. »So wenig Seehunde im Publikum.« »Schau mir jetzt in die Augen!« »Elvis lebt!« Feedback… WEITER!
TEIL EINS
1 GEBURT LIVE
Beinahe Mitternacht. Poppy lag in der Dunkelheit. Und außerhalb. Schweiß bedeckte ihr Gesicht wie eine Schönheitsmaske. Ihr Keuchen klang wie die Schreie eines Fremden. Aber das war nur eine Hälfte von ihr. Die andere Hälfte glitt in einem sich kräuselnden, muskulösen Schweigen dahin. Mutter und Kind. Sich selbst gebärend. Die Gipswände mit den schäbigen Tapeten des alten Hotels erstickten ihre Schreie. Mit den Fingern bohrte sie Löcher in die Schaumgummimatratze. Blutlachen bildeten sich auf der mit Plastik beschichteten Bettwäsche. Warme Flüssigkeit strömte in rhythmischen Stößen aus ihrem Schoß. Sie war ausgelaugt, aber noch nicht leer. Sie war so erschöpft, daß sie sich nicht vorstellen konnte, weiter durchzuhalten. Aber der schlimmste Teil kam noch. Die Fötaldrähte arbeiteten seit dem siebten Monat und hatten auf einer privaten Nabelschnurleitung gesendet, die von allen anderen Empfängern abgeschirmt war. Poppy hatte Zugang zu ihrer Tochter durch diesen Draht, der als Zweiwegkanal diente, bis die Schnur gekappt wurde. Durch die Säuglingsaugen mit den schweren Lidern blickte sie hinaus in die orangefarbene Dämmerung und hörte in den mit Flüssigkeit gefüllten Ohren den eigenen Herzschlag und den ihrer Mutter. Dieser Teil von Poppy war nicht ausschließlich Poppy. Das kleine Mädchen – probeweise Calafia genannt – hatte ein selbständiges Leben. Ihre Seele war ein heller Fisch, der sich nicht in dem
Schlagnetz der Drähte verfing. Manchmal fragte Poppy sich, ob ihre Tochter ab und zu in die Nabelschnur und die Drähte ihrer Mutter hineinkroch, um durch Poppys Augen zu sehen und durch ihre Ohren zu hören. Hier gab es allerdings nichts, was sehenswert gewesen wäre. Nichts, woran sich ein Kind erinnern sollte. Häßliche Wände. Eine gelbe Glühbirne in einer antiken Fassung an der Decke. Verbogene Jalousien hingen wie dünne Rippen hinter den verstaubten Gardinen. Es war eine Schande, daß ihre Tochter diesen häßlichen Anblick als ersten auf der Welt haben sollte – diese Bruchbude, ohne jede Schönheit oder einen Hinweis auf die Wunder der modernen Zeit. Poppys Drahtehemann, Clarry Starko, hielt diesen Gegensatz von schmuddligem Hotel und neuem Leben für einen grandiosen Regieeinfall. Sie hatte sich nie von ihm dazu überreden lassen wollen; aber laut Vertrag stand ihm das Recht zu, über so vage Punkte wie kreative Kontrolle zu entscheiden. Clarry war irgendwo in der Nähe, wie immer unsichtbar. Sie spürte beinahe seine Finger auf ihrer Seele. Er arbeitete im Übertragungswagen des Studios, überwachte alles auf den Monitoren, überprüfte die sensorische Qualität, zeichnete alles auf und brüllte die Mitarbeiter an. Ein Dutzend Menschen hing an Poppys Wahrnehmungen – Millionen warteten auf die Sendung dieser Nacht – aber keiner half ihr. Sie war ganz allein hier, im Griff einer uralten Macht. Sie spürte, wie sie sich hin- und herwälzte und preßte, preßte. Die beiden Wahrnehmungssysteme verschmolzen, überlappten sich und wurden unscharf. Jeder Atemzug schmeckte nach einer warmen salzigen Flüssigkeit. Das Zimmer wurde dunkel und still, während ihr Schoß plötzlich mit Licht und Lärm überschwemmt wurde. Die Glocke schlug in ihrem inneren Ohr. Mitternacht.
Es war der 9. September 2050. Zweitausendundfünfzig Jahre nach Christus, wer auch immer das gewesen sein mochte. Irgendeiner der über tausend Götter, die man in Kalifornien verehrte. Auf den Straßen wurde Jubelgeschrei laut. Fremde hießen das Kind willkommen, ohne es zu wissen. Heute war Kalifornien zweihundert Jahre alt, und Calafia, zehn Sekunden alt, wurde von derselben unwiderstehlichen Kraft aus der Dunkelheit herausgepreßt, die sie eines Tages dorthin zurückzerren würde. Die Schmerzen ließen etwas nach und verhießen Erlösung. Jetzt war der entscheidende Moment da! Wie ein Wassermelonenkern flutschte sie heraus. Jetzt war überall Licht. Kein Teil von ihr war mehr im Dunkeln. In ihren Ohren dröhnte es wie Meeresrauschen. Zwei Paar Ohren hörten jetzt die lärmende Menge unten. Eine warme Septembermitternacht in Kalifornien. Die Mitternacht ihrer Geburt. Als Poppy erschöpft zusammensank, spürte sie dennoch, wie Stärke in ihr aufstieg. Sie schloß die Augen für einen Moment… Ein zweites Paar Augen zitterte und öffnete sich. Es starrte auf die unscharfe gelbe Helligkeit. Sie fröstelte in der trockenen Luft, die so kalt war verglichen mit dem Ort, von dem sie gekommen war. Sie machte den Mund auf und schrie kläglich. Poppy setzte sich auf. Ihre Tochter lag zwischen ihren Beinen und blickte zur Decke hinauf. Einen Augenblick lang sah sie deutlich, was ihre Tochter sah: Verschwommene Lichter und Farben. Irgendwie schön, trotz der Häßlichkeit des Zimmers. Dann eine warme, duftende Gestalt. Ihre eigenen Hände nahmen sie liebevoll hoch, um ihr ins eigene Gesicht zu schauen.
Als sich die Augen von Mutter und Tochter trafen, schoß ein grauenvoller Schmerz durch beide. Rückkopplung! Beinahe hätte Poppy Calafia fallen lassen. Der Schmerz ging durch und durch und bedrohte die Seelen von beiden, auch die neugeborene. Poppy legte ihre Tochter ab. Ein durchsichtiges, schimmerndes koaxiales Kabel mit dünnen, bunten, zusammengedrehten Drähten lief von Calafias Leiste in Poppys Vulva. Poppy zog noch ein Stück Kabel aus ihrem Schoß. Ein kleiner schwarzer Ring kam zum Vorschein. Sie drehte den Verbindungsring und zertrennte so feinsäuberlich die Nabelschnur. Dabei spürte sie ein dumpfes Zwicken. Dann fühlte sie sich… verkleinert. Wieder nur zwei Augen, zwei Ohren. Sie war wieder sie selbst, allein, niemand anderer mehr. Nichts extra. Poppy zog an dem Kabel, das aus ihr heraushing, und spürte die entsprechenden Rucke im Innern. Sie biß die Zähne zusammen und riß noch einmal mit aller Kraft. Ein kurzer Schmerz – und die Nachgeburt kam heraus. Ein durch Blut glitschiges Netz glitt aufs Bett. Es sah aus wie der Wurzelstock einer exotischen Schlingpflanze. Bis auf die allmählich schwächer werdenden Erinnerungen an die Wehen hatte Poppy keine Schmerzen. Nachdem ihr Schaltkreis von dem des Kindes getrennt worden war, bestand auch nicht mehr die Gefahr einer Rückkopplung. Bis einige Einstellungen von Hand bei Calafias System gemacht waren, konnte niemand ihre Drähte über einen Monitor anzapfen. Das Kind hatte jetzt eine Privatsphäre, die Poppy verwehrt war. Schmerzen und Erschöpfung machten Freude Platz. Mein Baby, dachte Poppy. Meine Tochter. Das Mädchen lag still da und reckte die Ärmchen und Beinchen in die Höhe. Mund und Augen waren geschlossen. Poppy hob es hoch. Da gingen die Augen wieder auf.
Orangefarbene, strahlende Flammen. Lebhafte Augen. Figueroa-Augen. Poppys Augen waren ebenso orange wie die ihrer Brüder Sandy und Ferdinand und ihrer Schwester Miranda. Aber am meisten ähnelte das Baby ihrem Vater Alfredo. Wie er hatte Calafia ein faltiges Gesicht und kaum Haare. Sogar der mürrische Ausdruck war ganz Alfredo! Das war auch kein Wunder. Calafia war schließlich seine Idee gewesen. Nur die neueste und beste Technologie für den jüngsten Neuzugang zum Figueroa-Clan. Calafia war das erste Kind, das mit Drähten geboren worden war. Und sie war bereits jetzt ein Star. Poppy seufzte und hielt den Säugling an die Brust. Sie war dankbar für diese wenigen ruhigen Augenblicke. Der Preis, ein Star zu sein, war eine anstrengende Geschichte. Clarry Starko hielt sich nie lange mit zarten Augenblicken auf. Pausen in seinen Sendungen wurden immer durch einen Schrei oder eine Explosion unterbrochen. Manchmal fragte sich Poppy, ob Clarry wirklich der geeignete Regisseur für jemand mit ihrer Ausdrucksfähigkeit war. Als er ihr die Idee für die Serie zum erstenmal vorgetragen hatte – zu einem Zeitpunkt, als sie verzweifelt Arbeit suchte und nicht mehr geglaubt hatte, daß sie eine Karriere über die Drähte hatte – war sie für seine Begeisterung dankbar gewesen. Wie hätte sie ihm absagen können? Und bis jetzt war es für sie super gelaufen. Aber irgend etwas kollidierte bei dem hektischen Tempo des Programms mit ihren natürlichen Neigungen. In der alten Show, der Familienshow, war sie immer das Sensibelchen gewesen. Oft hatte sie sich um die Geschwister kümmern müssen, wenn die immer mehr analytisch denkende Mutter eigene Ziele
verfolgte. Oft hatten die Geschwister bei Poppy nach der Zärtlichkeit gesucht, die sie brauchten, was allerdings nicht häufig vorkam. Poppy sehnte sich oft nach ruhigen Zeiten, wo Gefühle herrschten oder man sich zumindest sinnvoll unterhielt. Aber für Clarry gab es nur das halsbrecherische Tempo, Drehbücher mit Intrigen, unerwarteter Gewalt, Verdrehung der Realität und einen möglichst verkorksten Schluß. Sie paßten eigentlich nicht zusammen – und waren daher genau so ein hybrides Paar, wofür Hollywood berühmt war. Verkrampft. Unberechenbar. Manchmal mußte Poppy zugeben, daß sie die Arbeit haßte. Aber es war alles, was sie hatte. Ihre Show. Und jetzt ihre Tochter. »Komm, wir machen dich sauber und wickeln dich ein«, flüsterte sie zärtlich. Handtücher und Babysachen lagen auf dem Nachttisch. Sie wischte Calafia vorsichtig ab, wobei sie besonders auf die Genitalien – so wie diese waren – achtete. Ein Kabel mit einem silbrig glänzenden Adapter hing aus der Leiste des Babys. Poppy zog die Nabelschnur heraus und ließ sie neben das Bett fallen. Dann wickelte sie die Kleine in ein weiches Baumwolltuch und danach in eine feste Decke mit stoßdämpfender Auflage. (An den Zweck dieser Decke wollte sie nicht denken.) Schließlich noch eine weitere Decke. Dabei flüsterte sie ständig mit ihrer kleinen Tochter. »Calafia ist doch ein hübscher Name, oder etwa nicht? Du hast am selben Tag Geburtstag wie Kalifornien. Heute vor zweihundert Jahren wurde es ein Staat. Ist das nicht ein schöner Zufall?« Es war kein Zufall. Sie sprach nur so, weil es sich in der Show gut machte. Alles, was sie dachte, wurde übertragen. Sie fügte manchmal ein paar eigene Sätze ein, damit es für das Publikum, das später die Show sah, keine Lücken gab. Alle
Stars – bis auf einige ganz verschrobene Typen – führten unaufhörlich Selbstgespräche, um das Publikum ja auf dem laufenden zu halten. Es war das goldene Zeitalter der Monologe. Dabei gab es heute nacht wirklich jede Menge zu hören. Der Lärm auf den Straßen der Stadt, das Feiern, wurde von Minute zu Minute zu lauter. Jetzt jeden Augenblick… Irgendwo in der Nähe klirrte Glas. Poppy wußte nicht, ob es im Hotel gewesen war oder nicht. Sie nahm das Kind auf den Arm und lief zum Fenster. Schnell zog sie die Jalousien hoch und blickte auf die Straße. Die Welt zehn Stockwerke tiefer lag in weiter Ferne. Sie hatte das Gefühl, als blicke sie in einen Abgrund. Auf dem Gang vor dem Zimmer flüsterte jemand. Man hatte sie gefunden. Die Gestalten in Clarrys kompliziertem Drehbuch sollten seinem Spezial zur Zweihundertjahrfeier noch zusätzliche Spannung verleihen. Sie hörte beinahe die Vorschau: »Poppy und ihr neugeborenes Baby in großen Schwierigkeiten. Alles in der nächsten Episode von ›Poppy auf der Flucht‹!« Sie lauschte atemlos. War das eine rauhe Stimme? Keuchen? Schritte? Ein Hund bellte. Es klang grauenvoll. Aber es gab noch Hoffnung. Das Gebäude war so alt, daß es noch eine Feuerleiter hatte. Straßenlichter, Neonreklamen, die Scheinwerfer der vielen Autos, schimmerten durch die Eisensprossen und versprachen ihr einen momentanen Vorteil. Besser als nichts. »Wir müssen da raus«, flüsterte sie. »Mein armes Baby. Sie haben uns gefunden. Sie finden uns immer.«
Sie suchte auf der Fensterbank nach einem elektrischen Schalter, fand aber nur Staub und tote Spinnen. Das Hotel war zu alt für bequeme Automaten. Farbe verklebte das alte Fenster schloß. Die konnte sie nie wegkratzen. Sie lehnte sich gegen die Scheibe und fühlte die Leere der Nacht dahinter. Das Glas war wie ein trüber Wasserschleier, der alles dahinter verzerrte. Wenn Poppy die Scheibe einschlug, würde sie der Krach verraten. Ihre alten Instinkte wurden wach und fingen sie ein. Sie hörte auf, die Situation als Show zu sehen, als eine Aufführung. Sie mußte jetzt ihre Tochter retten und empfand die Gefahr für beide ganz real. So wenig Plätze zum Verstecken. So viele Verfolger. Poppy war immer auf der Flucht. Poppy zog die Gardinen vor. Das Kind war still. Es wog fast nichts. Sie legte es aufs Bett und zog die oberste Decke über das kleine Gesicht, um die neugeborenen Augen vor Glassplittern zu schützen. Dann sah sie sich im Zimmer um. Ihre Augen fielen auf einen verrosteten Klappstuhl aus Metall, der an der Wand lehnte. Im Gang hörte sie lautes Knurren. Keine Zeit für weitere Vorsichtsmaßnahmen. Sie packte den zusammengeklappten Stuhl und schlug mit den Beinen wie mit einem Rammbock gegen die Scheibe. Die Gardinen dämpften das Klirren nur leicht. Auf dem Gang wurden Schritte laut. Sie näherten sich dem Zimmer. Schnell nahm sie Calafia hoch. »Komm, nichts wie raus!« Die verstaubte Gardine schützte sie vor den spitzen, scharfen Scherben, als sie durchs Fenster hinausstieg. Beim Anblick des endlosen, langsamen Verkehrsstroms auf der Straße, zehn Stockwerke tiefer, wurde ihr schwindlig. Die Menschen schwenkten Laternen auf und ab und verschwanden
damit in den Häusern. Feuerwerk explodierte. Tiefe Schatten glitten langsam an den Wänden empor, während die Funken in allen Farben des Regenbogens herabrieselten. Poppy blickte zum Nachthimmel empor, um dort Hilfe zu finden. Der Vollmond hing wie das Pendel eines Hypnotiseurs mitten in der Bewegung erstarrt da. Vor ihr stiegen sämtliche Hypnosesitzungen auf, die sie mitgemacht hatte, um ihre Tropen zu verbessern, um in die Handlung ganz eintauchen zu können und die Glaubwürdigkeit von Momenten zu verstärken und Bilder wie diese zu vermitteln. Sie starrte den Mond an. Den widerlichen Mond. Den Mond, wo alles zur Hölle gegangen war. Dann kam eine Explosion… Feuerwerk! Calafia riß Mund und Augen auf. Als das Kind die goldenen Flammen der Pyrotechnik am Himmel sah, fing es an zu schreien. Die Augen des Babys und die Flammen hatten die gleiche Farbe. Die nächsten Knallkörper ließen die Feuerleiter erzittern. Poppy bot ein perfektes Ziel, indem sie sich wie ein betäubtes Opfer benahm. Nach einigen Augenblicken erfaßte ihr Verstand einige Komponenten dieser chaotischen Zweihundertjahrfeier. Jemand schlug die Tür im Zimmer hinter ihr ein. Sie kletterte schnell über die Zickzackleiter zur nächsten Plattform. Bis auf eins waren alle Fenster entlang der Feuerleiter erleuchtet. Sie lief zu dem dunklen Fenster. Es war offen. Sie hörte lustvolles Stöhnen. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Sie stieß gegen eine Schnapsflasche auf dem Fensterbrett. Als sie umfiel und auslief, gluckerte sie so leise wie Calafia, die unfaßbar ruhig blieb. Auf dem halben Weg zur siebten Etage, schaute Poppy nach oben und sah einen Schatten, der sich durch die Gardine ihres
kaputten Fensters schlängelte. Wie ein Tintenfleck lief er über die Fensterbank und landete auf der Feuerleiter. Poppys Schritte brachten die Eisenleiter ins Schwanken. Das Gestänge hing schon über hundert Jahre an der bröckelnden Hausmauer. Inzwischen waren alle Gesetze zur Sicherheit dieser Einrichtungen längst in Vergessenheit geraten. Jetzt schwankte die Leiter, als marschiere eine Armee darauf. Poppy erreichte das sechste Stockwerk. Hier war die Maximalhöhe, aus der sie sich eine Überlebenschance ausrechnete, falls sie springen mußte. Fünfter Stock. Die Chancen waren nur geringfügig besser. Gebrochene Beine und Wirbelsäule für sie… und für das Kind? Keine Ahnung. Jetzt hörte sie oben einen Schrei und einen dumpfen Aufprall. Noch mehr dunkle Schemen waren auf die Feuerleiter geklettert. Einige sprangen direkt von einem Stock auf die Plattform des nächsten, ohne die Stufen zu benutzen. Vierter Stock. Die Straße unten wirkte wie die in einer Spielzeugstadt, wie ein Modell, das auf ihre Hand wartete. Fahrräder, Tretautos und andere Wagen kurvten wild um die Fußgänger herum, die die Wege verstopften und auf Zementsäulen balancierten, wo sonst nur Blumentöpfe standen. Lamas und Kühe brüllten als Reaktion auf die frustrierten Schreie ihrer Besitzer. Am lautesten war das Freudengeschrei über die Feier. Jede Bar war voll, Menschentrauben standen an den Theken. Privathäuser dienten als Kneipen. Menschen drängten sich auf den Baikonen der Häuser und quollen aus den Wohnsupermärkten. Poppy wünschte, daß auch auf ihrer Feuerleiter Menschen wären, zwischen denen sie sich verstecken könnte. Als sie den dritten Stock erreichte, hörte sie über sich Metall quietschen. Eine Gestalt fiel neben ihr in die Tiefe, gefolgt von
Rostwolken und Eisenstücken. Sie landete in einem Abfallhaufen. Eines der vielen Opfer dieser Nacht. Poppy zögerte. Die Plattform im zweiten Stock war ziemlich kaputt und hatte viele gefährliche Löcher, wie Zahnlücken. Und im ersten Stock gab es schon lange keine Plattform mehr. Flüstern. Gummi quietschte. Eine heisere Stimme rief: »Poppy!« Sie mußte hinunter. Auch wenn es aussichtslos war. Die Fenster im zweiten Stock waren mit Brettern vernagelt oder zugemauert. Die Plattform senkte sich unter ihrem Gewicht langsam auf die Straße hinab. Die verrosteten Halterungen brachen stellenweise aus dem Mauerwerk. Ziegelstaub und Rostflocken rieselten wie Konfetti der Armen auf die Menge unten. Niemand bemerkte es. Die Leute wischten den Dreck ab und liefen fröhlich weiter. Poppy stieg vorsichtig über die breiteste Lücke. Dabei hielt sie sich mit einer Hand am Geländer fest. Die ganze Feuerleiter ächzte. Jetzt war sie auf gleicher Höhe mit den Straßenlaternen – immer noch schwindelerregend hoch. Als sie das Gewicht auf die andere Seite des Lochs verlagerte, sprangen zwei Verfolger vor ihr auf die Plattform. Schnell warf sie sich über die Lücke zurück. Die Feuerleiter zerbrach laut in zwei Teile. Poppy fand direkt an der Abbruchkante Halt. Die beiden Verfolger betrachteten sie von der anderen Seite aus. Sie standen vollkommen still. Poppy sah die feuchten, dunklen Augen und die heraushängenden rosa Zungen. »Du kannst nicht entfliehen«, sagte der eine und streckte eine dicht behaarte Hand aus. »Das Kind gehört uns.« Es war die heisere Stimme vom Korridor. »Sagt dem Präsidenten, er soll sich zum Teufel scheren!« schrie Poppy.
Die beiden schauten sich an und schnupperten in der Nachtluft. Sie waren ›Teges‹, ›Lassies‹, die noch aus den ersten Tagen der Tier-Mensch-Hybrisation stammten. Die Tierschützer hatten vergeblich gegen die Züchtung dieser unglücklichen transgenetischen Geschöpfe protestiert, allerdings mit wenig Erfolg. Militante Tierschützer hatten erklärt, daß es absolut grausam sei, hilflose Hunde mit menschlichen Charaktereigenschaften auszustatten. Es sei furchtbar, diesen glücklichen Tieren Schuld, Reue, Ehrgeiz und Entschlußlosigkeit einzupflanzen. Es gab Fälle, in denen Tiere von dem Humanimalismus profitierten, nicht aber Hunde. Die Veränderung zerstörte sie und machte auch die sanftmütigste Rasse zu Killern. Allerdings loyale Killer. Sie waren hervorragende Meuchelmörder und riskierten alles, um ihren rein menschlichen Herren zufriedenzustellen. In diesem Fall Präsident McBeth. Ganz vorsichtig kletterten die Lassies nach oben. Poppy erkannte, daß sie zum dritten Stock hinauf wollten. Von dort konnten sie neben sie springen. Dabei würden die Biester womöglich die ganze Leiter herausreißen. Sie würde fallen… sie würde wahrscheinlich sterben oder zu betäubt oder zu verletzt sein, um wegzulaufen. Sie blickte auf die Straße hinab, auf die Menschenmenge. »Schaut mich an«, sagte sie leise. »Warum sieht mich denn keiner?« In dem Verkehrslärm und dem Geschrei der Leute hatte niemand das Ächzen und Brechen der Feuerleiter gehört. Über ihr schlichen Füße auf Gummisohlen. Sie schob sich ein Stück zur Seite. Die Feuerleiter schwankte bedrohlich. Noch ein Stück. Das Baby wimmerte und öffnete die goldenen Augen. Es war jedes Risiko wert, das Kind vor dem Präsidenten in Sicherheit zu bringen.
»Das hast du nicht verdient, Baby. Du hast keinen Steuerbetrug begangen.« Clarry Starko liebte es, Präsident McBeth als schurkischen Geizhals zu schildern. »Sie hat die Geburtsschuld!« rief ein Hund von oben. Poppy schaute hinauf und wollte sich mit ihm streiten. Doch da merkte sie, daß er sie nur ablenken wollte. »Gib das Kind her!« Die Feuerleiter protestiert lautstark gegen das Gewicht eines zweiten Hundes. Poppy beugte sich über das Geländer, über die Straße mit Licht und Schatten, über das Gewimmel aus Menschen und Fahrzeugen. Dann hielt sie sich mit einer Hand fest, mit der anderen streckte sie das Baby in die Luft. Noch nicht… noch nicht. Die Plattform senkte sich unter dem zu großen Gewicht. Im nächsten Moment würde sie es vermindern. Der Hund auf ihrer Höhe schlich vorsichtig, aber nicht ängstlich, näher. Noch nicht… Ein alter mit Benzin betriebener Kombiwagen tauchte direkt unter ihr auf. Das Dach war abgesägt. Der Fahrer hupte wild, um eine Gruppe Sänger mit Tieren vom Gehsteig zu verjagen. Stoffbündel und Körbe waren im offenen Wagen. Der Fahrer fluchte und trat auf die Bremse. Das Fahrzeug stand. Jetzt! Poppy ließ los und sah Calafia fallen. Ihr Tochter landete einigermaßen weich auf einem Stoffballen und rutschte dann zwischen Körbe und Bündel, als der Wagen anfuhr und durch eine Lücke in der Menge verschwand. Der Schock über das, was sie getan hatte, zerriß beinahe ihre Tropen-Trance. Sie hatte ihre neugeborene Tochter fallen lassen. Sie empfand die Tat wie eine echte Bedrohung, nicht als die Drahtshow, die es ja war.
Die Landung hatte aber sicher ausgesehen. Die stoßsichere dicke Decke würde Calafia’ auch schützen. Und dennoch… Fluchen hinter ihr. Poppy drehte sich um. Jetzt mußte sie sich den Lassies stellen. Sie griff mit der freien Hand in die Tasche und holte eine Waffe heraus. Der Hund auf der Plattform vor ihr knurrte, als er die Pistole sah, und zog die Lefzen über den gefährlich scharfen Zähnen hoch. Sie wußte, daß er nicht um Gnade bitten würde. Nicht jetzt. Nichts konnte sie abhalten zu schießen. Nichts außer dem Gewicht, das von oben auf sie herabsprang. Der zweite Hund überraschte sie und schlang die Fellarme um Poppy. Sie ließ das Geländer los. Beide stürzten in die Tiefe. Menschen schrien und genossen den Höhepunkt der Show. Im nächsten Augenblick prallten Poppy und der Hund auf Beton. Poppy lag benommen unter dem Hund und fragte sich, woher sie die Kraft nehmen sollte, den Köter abzuschütteln und zu fliehen. Lassie knurrte und drückte Poppy die Kehle zu. Die Welt wurde schwarz. Sie konnte nicht atmen, sich nicht bewegen. Der Hund würgte sie richtig, er war in die Tropen so vertieft, daß er in der Rolle des Hundeschauspielers aufging, der von seiner hündischen Wildheit übermannt war und die Menschen haßte. Sie hätten einen Mann im Hundekostüm einsetzen sollen, dachte Poppy. Er würgt mich tatsächlich. Die schwächere Hälfte der Feuerleiter brach aus der Hauswand. Clarry hatte beabsichtigt, ein überzeugendes Ende für ihren Angreifer zu bringen. Doch als sie in die Dunkelheit stürzten, war es zu spät dafür. »Kai«, wollte sie sagen. »Kai, ich bin’s. Poppy!«
Offenbar erkannte der Tege sie aber nicht. Sie konnte kaum sprechen. Jetzt war er nur noch der Hund des Präsidenten. Und sie war auf der Flucht. Seine legale Beute. Schwärze. Nirgends Licht. »Kai!« Calafia… »Mein Gott!« rief ein Gaffer. »Das ist so realistisch!«
»Schnitt! Es reicht, Kai. Laß sie los, du Scheißköter!« Poppy hatte das Gefühl, als hätte eine Welle sie auf ein Riff gespült. Sie war völlig erschöpft. Clarry Starko und ein paar Helfer zerrten Lassie weg. Kai blickte jetzt eingeschüchtert und verstört drein. Er hatte den Schwanz zwischen die weiten Hosenbeine geklemmt. Die Helfer führten ihn weg. Clarry half Poppy auf die Beine. »Na, alles in Ordnung?« »Mir ist schwindlig.« Poppy klammerte sich kurz an ihn und blickte umher. Die Menschen merkten langsam, daß sie eine Live-Drahtshow miterlebt hatten. Mehrere Männer zogen die Feuerleiter auf die Seite. Sie war hohl und wog fast nichts. Sie hätte keinen Welpen erschlagen können. Der Gehsteig war dick gepolstert, um Poppys Fall aufzufangen. Allerdings hatte sie ihn beim Aufprall so hart wie Beton empfunden, so sehr war sie in den Tropen der Verfolgung aufgegangen. So viel Unrealität ließ das Hotel unecht aussehen. Die Ziegelmauern schienen aufzuweichen und im feuchten Nachtwind zu schwanken. Die ganze Straße, samt Lichtern und Menschen, hätte eine Kulisse sein können. »Du siehst ziemlich schlimm aus«, sagte Clarry. »Furchtbar blaß. Hier nimm einen Twist und werde wieder braun. Ist übrigens gratis. Du warst hervorragend als Mamma.«
Er gab ihr eine kalte Silberphiole. Poppy wollte sie beiseite schieben, aber er drückte sie ihr in die Hand. Seine große, schwarze Hand ließ ihre rosige zwergenhaft aussehen. »Los. Du hast eine Pause verdient. Ich kümmere mich ums Saubermachen.« »Ich will keinen Twist, Clarry. Ich will mein Baby.« »Alles klar. Ich hole sie. Rühr dich nicht von der Stelle.« Er ging am Übertragungswagen vorbei. Die Straße war noch belebter als bei der Aufzeichnung; aber hier unten, inmitten der Menge kam Poppy alles zweidimensional vor, als seien die Menschen aus Pappe geschnitten, die auf verschiedenen Ebenen aneinander vorbeiglitten. Sie fühlte sich selbst etwas flach. Gemalte Augen folgten ihr. Erkennen. Alle kannten Poppy. Ihre Show erzielte immer höhere Einschaltquoten, obwohl sie nie so populär wie die ›Figueroa Show‹ werden würde, in der ihre ganze Familie verdrahtet war und immer live kam. Sie sollte sich freuen, weil die Leute sie erkannten, und nicht davor zurückschrecken. Aber an diesem Abend brachte der Ruhm keine Zufriedenheit. War das das richtige Leben für ein Kind? Poppy war für die Drähte erzogen worden, aber nicht in ihnen geboren worden. Ihre Jugend war unversehrt gewesen. Sie war weder Sender noch Empfänger. Die Medienoperation, bei der man durch Nervenkitzel Polynerven zum Wachsen brachte, war an ihrem siebzehnten Geburtstag (mehr oder weniger) freiwillig erfolgt. Damals war sie älter als die meisten Kinder gewesen, wenn diese ihre Drähte bekamen. Aber die meisten Kinder war NE – Nur Empfänger – und sie war auch ein Sender. Aber Calafia hatte nie die Wahl gehabt. Poppy ging in eine Seitenstraße zwischen einer Drogerie und einem Sushi-Taco-Stand. Dann drehte sie die Hälften der Silberphiole. Clarry hatte recht. Ein Twist würde ihr helfen, die Gedanken zu ordnen. Sie warf einen Blick zurück auf das
Hotel auf der anderen Straßenseite. Sie suchte das kaputte Fenster des Zimmers, in dem Calafia geboren worden war. Vielleicht sollte sie im Hotel ein Zimmer nehmen und mit dem Baby heute nacht dort schlafen. Sie wollte nicht wieder mit den Kollegen Zusammensein. Das Baby verdiente etwas Besseres. Clarry fand sie, als sie gerade die beiden Hälften des Twists an die Schläfe setzen wollte. Er schlug ihr einen Arm herab, ehe der Strom die Drähte erreichte. »He, was soll das, Clarry?« fragte sie verärgert. Dann sah sie sein Gesicht. »Was ist passiert?« Clarry war ein Lächler. Er lächelte eigentlich immer, es sei denn, etwas Furchtbares war geschehen. Jetzt sah sein Gesicht so grau wie ein alter Lappen aus. Er kaute wie ein Verrückter auf der mit Vitaminen angereicherten Tabaklakritzenschlange. Aus der tiefen Westentasche wickelte er unentwegt Nachschub ab. »Poppy, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Es… es hat da eine Pleite gegeben.« »O mein Gott! Das Baby!« Sie wollte loslaufen, aber er hielt sie am Ellbogen zurück. »Wohin willst du?« Sie funkelte ihn wütend an. »Was meinst du? Wo ist sie? Ich will sie sofort sehen.« Clarry schüttelte den Kopf. »Poppy, als du sie fallen gelassen hast… wo ist sie da gelandet?« Poppy hatte das Gefühl, innerlich zusammenzubrechen. Alles zerbrach. Sie war allein. Die Drähte erfaßten das alles nicht. Niemand konnte die Angst teilen, die sie fühlte, die wachsende Panik. Was geschah? »Wieso?« fragte sie. »Ich ließ sie in den offenen Kombi fallen, direkt auf die Stoffballen.«
Clarry schüttelte den Kopf. »Es war nicht unser Wagen, Poppy. Ich habe dir doch gesagt, daß wir bei der Menschenmenge Probleme mit der Koordination haben würden. Unser Kombi blieb eine halben Block entfernt stecken. Niemand weiß, woher der andere gekommen ist – oder wohin er gefahren ist.« Clarry fing sie gerade noch auf. »Bleib ruhig, Baby. Alles wird braun, total braun. Wir finden sie schon.« »Du hast sie verloren!« flüsterte Poppy. Er seufzte und zog sie auf die Straße zum Übertragungswagen. Ein Rudel räudiger Lassies – Straßenköter, macho canes – trottete vorbei und schnüffelte ekelhaft in ihre Richtung. »Erinnerst du dich, was für ein Wagen es war?« fragte Clarry. »Was war drin? Wer saß am Steuer?« »Es war alles genauso, wie wir es geprobt hatten. Du hast doch alles aufgezeichnet! Spiel es ab!« »Beruhige dich! Ich wollte nur wissen, ob du etwas Außergewöhnliches bemerkt hast. Es tut mir leid. Niemand hatte eine Ahnung, bis unser Wagen leer aufgetaucht ist.« »Ich rate dir, sie zu finden, Clarry!« Er kaute wild auf der Tabakritze und spuckte die braune Soße aus. Dann schluckte er. »Mit ihren Augen ist es bestimmt leicht. Wenn wir den Wagen heute nacht nicht mehr finden, senden wir eine Suchmeldung – wir senden global. Sie kann nicht durch das Netz schlüpfen, Poppy. Wir setzen eine Belohnung aus, was meinst du?« Poppy nickte, hatte aber kaum zugehört. Lösegeld war das richtige Wort. »Ich wollte nie, daß sie hineingezogen wird.«
»Komm, Poppy, das haben wir doch ewig durchgekaut. Es besteht keine Gefahr für das Kind. Es ist in Sicherheit, das schwöre ich.« »Ich wollte sie nicht bei den Aufnahmen. Ich habe das Zeug, aus eigener Kraft das Publikum zu fesseln. Aber du mußtest ja wieder einen deiner ekelhaften Knüller einbringen. Du mußtest mein Baby haben!« »Hör zu. Wir kriegen sie. In weniger als einer Stunde.« »Wenn du sie verlierst, Clarry… geh zur Hölle!« Poppy blieb mitten auf der Straße stehen und bedeckte ihr Gesicht. »Ich will mein Baby wiederhaben!« »Ruhig, Baby. Du machst dich ganz blaß. He, Poppy, schau mal, wer da kommt! Das ist doch Cornelius. Der Seehund aus deiner alten Show.« Poppy drehte sich um und suchte in der Menge nach dem vertrauten Gesicht. Ja, da kam er. Wie immer in seinem gestreiften Anzug und der glänzenden Krawatte. Der übliche Duft von Sushi und Old Spice umwehte ihn. »Guten Abend, Miss Figueroa.« »Cornelius«, flüsterte sie und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Was machst du denn hier?« »Ihr Vater hat mich geschickt. Ich soll fragen, ob Sie mit Calafia nicht zu einer Geburtstagsfeier kommen wollen. Er will die Geburt Ihres Töchterchens und den zweihundertsten des Staats feiern.« »Meine Tochter…« Sie wollte weglaufen; aber Clarry hielt sie fest. »Hallo«, sagte Clarry. »Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin Poppys Drahtmann.« Cornelius verbeugte sich leicht. »Clarence Starko, ich freue mich. Die Serie hat mir bis jetzt gut gefallen… in den Flachversionen.«
»Du bist nicht verdrahtet? Seehundchen, da verpaßt du das meiste der Show!« »Ich wurde nie verdrahtet, nicht einmal für die Figueroas«, erklärte Cornelius. »Ich nehme an, daß niemand meinen Standpunkt vermißte, da so wenig Seehunde im Publikum waren.« Er schaute Poppy an. »Die Entbindung ging problemlos, nehme ich an?« »Ach, Cornelius…« »Was ist denn, Miss Poppy? Sie sehen… verängstigt aus.« »Es geht ihr gut«, sagte Clarry. »Nur etwas ausgebrannt von der vielen Arbeit und…« »Laß uns in Ruhe, Clarry!« »Ich sage dir, Poppy, eine Stunde, höchstens zwei. Werde bloß nicht blaß!« »Clarry, würdest du uns jetzt bitte in Ruhe lassen?« Sie wartete, bis Clarry weg war, dann nahm sie Cornelius am Arm und führte ihn die Straße entlang. »Das Baby ist weg, Cornelius. Verschwunden.« »Ich verstehe nicht.« »Ich kann jetzt nirgendwo hingehen. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich muß hierbleiben und nach Calafia suchen. Vielleicht ist sie irgendwo in der Nähe. Vielleicht war alles ein Mißverständnis. Ich kann es nicht fassen. Ich weiß nicht, was ich machen soll.« »Verschwunden?« fragte Cornelius. Sie konnte ihm nicht antworten. Ein Zufall? Was konnte es sonst sein? Warum hatte sie Angst, daß es etwas Schlimmeres sein könnte? Was war, wenn jemand ihr Baby entführt hatte? »Kann ich irgend etwas für Sie tun? Haben Sie die Polizei benachrichtigt? Ihr Vater wird Ihnen doch bestimmt helfen.« »Bis jetzt habe ich noch gar nichts unternommen. Ich habe es soeben erst erfahren.«
Lautes Bellen und Knurren unterbrach sie. Cornelius drehte sich schnell um. Ein Lassie rannte mit gefletschten Zähnen auf sie zu. Speichel tropfte auf sein Hemd. Es war Kai, der Hund, der sie beinahe erwürgt hatte. »Kai, was…« Der Hund sprang Cornelius an und schnappte nach dem Hals des Seelöwenmanns. Poppy schrie so laut um Hilfe, daß alle Menschen sich ihnen zuwandten. Männer versuchten die Humanimals auseinanderzureißen. Cornelius lag auf der Straße, während kräftige Männer Kai wegschafften. Der Anzug des Seehunds war in Fetzen. »Ich wollte doch nur ein Autogramm«, beschwerte sich der Hund. »Er ist mein Fell-Lieblingsstar.« Clarry Starko tauchte in der Menge auf. »Scheiße! Dieser Kai ist verrückt. Der Köter hat den Verstand verloren!« Alle sahen fasziniert zu, wie der transgenetische Lassie weggeführt wurde. Er knurrte immer noch empört. Blutspritzer waren auf den Gesichter und Händen der Männer, die ihn an die Leine genommen hatten. Poppy kniete neben Cornelius. Seine Schnauze war übel zugerichtet, seine Kleidung ruiniert. Trotzdem setzte er sich auf und lächelte. »Hunde jagen mich ständig«, sagte er. Clarry pfiff. »Vielleicht müssen wir den Tege absetzen.« Cornelius sprang auf. »Er hat nicht um das Leben gebeten, das Sie ihm gegeben haben. Und jetzt wollen Sie es ihm wieder nehmen?« »Moment mal! Es war nicht meine Idee, Tiere in Menschen zu verwandeln. Ich will dich nicht beleidigen – und ich bin auch sehr für die Rechte der Tiere – aber meiner Meinung nach war es für beide Teile nicht gut.« Cornelius musterte Starko kühl. Dann wurde sein Blick wärmer, als er sich wieder an Poppy wandte. »Ich sage Ihrem
Vater, daß Sie nicht kommen können. Bitte, rufen Sie ihn doch an.« »Das mache ich.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küßte seine Schnauze. »Tu da etwas Heilmittel drauf. Salbe.« Der Seehund verabschiedete sich mit einer Verbeugung und verschwand in der Menge. Mehrere Menschen baten ihn schüchtern um ein Autogramm, aber er ging wortlos weiter. »Mach dir wegen des Babys keine Sorgen«, sagte Clarry. »Wir haben es bald wieder. Heil und gesund.« »Meine Tochter wird nie wieder in einer Show auftreten.« Clarry wollte widersprechen, aber die Ereignisse dieser Nacht hatten Poppys Befürchtungen bestätigt. Daher zuckte er nur die Achseln. »Du hast mich«, erklärte Poppy. »Es ist meine Show und das sollte reichen. Ich setze mein Baby nicht diesem Leben aus.« Er breitete die Hände aus. »Braun, Poppy, total braun. Es war nur eine so unwiderstehliche Idee, verstehst du? Die Zweihundertjahrfeier. Die Geburt. Eine Verfolgungsjagd…« »Eine Entführung.« »He, Moment mal! Was war das? Rede doch nicht so einen Blödsinn! Es war doch kein Verbrechen. Nur ein bißchen Pech.« »Willst du etwa behaupten, daß rein zufällig ein absolut identischer Kombi anstelle des Studiowagens gekommen ist? Und daß es Zufall war, daß er direkt unter der Feuerleiter hielt, als ich mein Baby fallen ließ? Das war schlimm und zwar erheblich mehr als ein bißchen Pech.« Er schaute sie verlegen an. »Na ja…« »Ich glaube nicht, daß es Zufall war, Clarry. Aber falls doch, dann suche gefälligst weiter! Ich rufe inzwischen die Polizei.« »Noch nicht, Poppy. Was ist, wenn sie von allein zurückkommt?«
Poppy lächelte, obwohl sie schwarz sah. »Sie ist zwanzig Minuten alt, Clarry. Glaubst du etwa, daß sie uns entgegenläuft? Nein, ich verständige die Polizei. Du solltest dich eigentlich darüber freuen. Kostenlose Reklame!«
2 MEERESKRATZER MEGA-PARTY
Dandy Figueroa lag auf seinem warmen, elastischen Geleefuton und füllte die Lungen mit schmackhaftem, harzigem Redwood-Primo. Er inhalierte immer wieder, bis die Lungen sich wie bei einem Perlentaucher blähten, ehe er einen besonders tiefen und schwierigen Tauchgang wagen wollte. Dann ließ er langsam das Mundstück der Wasserpfeife aus dem Mund gleiten, schloß die Augen und überließ es seinem Körper, wahllos durch die Kanäle zu zappen. Im Haus war es seine Lieblingsbeschäftigung, angedröhnt durch die Kanäle zu flitzen, die Live-Drahtfrequenzen modulierten im Gleichklang mit seinen Gedanken, die nach tiefen Zügen am Rauschkraut völlig chaotisch wurden. In einer halben Sekunde durchraste er an die fünfhundert Kanäle, keiner ganz synchron mit seiner jeweiligen Stimmung. Er wartete darauf, daß ihn etwas wirklich fesselte. Die meisten Sendungen waren Müll, der Äther war verdreckt mit Werbung und Quiz-Shows. Schlechte Medien lauerten in seinen Polynerven wie ein Alzheimer Prion, das nur darauf wartete, sich zu kristallisieren. Er verlor wenig Kontrolle, aber viel Unterscheidungsvermögen, wenn er zugedröhnt war. Das war Teil des Spaßes, aber auch ein happiger Trip. Das Redwood schärfte seine Stimmung und machte es den Horrorshows leicht, ihn zu packen. Jetzt – zum Beispiel – hatten Käfer ihn erwischt. Jessie Christo! Sie krochen aus seinen Poren, kitzelten ihn an den Füßen und drückten seine Fußnägel wie Kanaldeckel auf. Dann krabbelten sie zu seinem Gesicht und gleichzeitig zu den Genitalien. Er wußte nicht, was er zuerst zudecken sollte:
Gesicht oder Gemächt. In Panik versuchte er auf einen anderen Kanal umzuschalten, aber aus Angst verhedderte er sich im Signal und konnte keine anderen Sender bekommen. Er konnte erst aus diesem Alptraum aufwachen, wenn die Show zu Ende war. Es war keine richtige Horrorshow. Die packte nicht so erbarmungslos zu. Es war ein Werbespot. Plötzlich besprühte ihn ein kühler Film von Kopf bis Fuß. Eine purpurrotbraune Wolke aus Flieder und Schokolade löste die flinken kleinen Monster auf, ehe sie sein Gesicht oder die Genitalien erreichten. Schillernde Flügel, Schuppenpanzer, Facettenaugen und zitternde Fühler – alles verschwand. Froh und erleichtert lag er da und war dankbar für das Spray, ganz gleich, was das Zeug gewesen war. »Doktor McNguyens Linderndes Antipsychotikum«, flüsterte eine sexy Stimme seltsamerweise nur in ein Ohr. »Jetzt in Sprühdosen.« Sandy war zu erschöpft, um einen anderen Kanal einzustellen. Er blieb auf diesem und ließ das friedliche Gefühl und den angenehmen Duft langsam abklingen. Die Drähte brachten ihn direkt in eine reguläre Drahtshow. »Schaut euch Sandy an!« sagte jemand. In diesem Moment fühlte er, wie sich sein Zwerchfell mit Gelächter aus der Konserve zusammenzog. Es war ein ekliges Gefühl. Seine ältere Schwester Poppy blickte ihn an. Sie hielt eine Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken. Wenn er seine Identität losließe, würde er in ihren Gesichtspunkt hineingleiten. Die Versuchung war groß, da sein Körper plötzlich eng eingeschnürt war. Das war ebenso schlimm wie die Käfer. Langsam erstickte er. Sein Vater stand hinter Poppy und beobachtete ihn offensichtlich erheitert. »Woher kommt ihr beiden denn?« wollte Sandy fragen, aber er hatte keine Kontrolle über den Mund.
Statt dessen hörte er sich sagen: »Wie komme ich hier raus?« Wieder Gelächter. Die Rippen taten ihm weh, als er sich dagegen wehrte; aber der erbarmungslose Druck darauf schmerzte noch mehr. Er kämpfte dagegen an. Der Druck wurde etwas schwächer, machte ihm aber immer noch Angst. Es war, als pulsierte seine Kleidung, besonders zwischen den Beinen. Es war, als massiere ihn eine Hand dort. Allmählich wurde alles wie schon öfter gehabt. Ein Flackern. Seine Identität schwankte. Er wurde jemand anderer – jemand, der größer und schwerer war und eine tiefere Stimme hatte. Dieser Jemand sagte: »Sandy, was sollen wir bloß mit dir machen?« Er war sein Vater. O nein! Der Drogenrausch ließ nach. Jetzt erkannte er, was los war. Wiederholungen! Aus unerfindlichen Gründen war er in den VierundzwanzigStunden-Figueroa-Kanal geraten. Vom Gesichtspunkt seines Vaters aus sah er sich selbst sehr klar: Gummianzug, Lederriemen überall und Chromhandschellen. Er sah ungefähr fünfzehn Jahre alt aus. Diese Episode der ›Figueroa Show‹ war vor fünf Jahren gedreht worden. Er konnte sich nicht an die Aufnahme erinnern; aber damals hatte er die meiste Zeit im Drogenrausch verbracht, und das waren härtere Dinger als das RedwoodMarijuana jetzt. Mit zwölf brauchte er schon eine Dosis ET, um auf der richtigen Seite aus dem Bett zu steigen. Dann streute er MMSG auf die Cornflakes, um mit jedem knackigen Biß weitere bizarre Visionen zu bekommen. Bis Mittag trank er ein paar Schlückchen ESP-3 und TAB-Synthetik. Dann war sein Verstand völlig ausgeflippt. Gegen Mitternacht rauchte er zum Einschlafen noch etwas entspannendes Gras oder Animal Master. Natürlich wirkte keines dieser internen Stimulantien
durch die Drähte. Auf diese Weise verschafften ihm Drogen so viel Privatleben, wie es für einen Drahtstar eben möglich war. Seine Schwester Miranda lief in der Wiederholung ins Zimmer und brüllte los, als sie Sandy in den Gummisachen sah: »Papa, Papa, er soll aufhören! Er macht mein SexSpielzeug kaputt!« Sandy konnte nicht ertragen, wieder zu seinem eigenen elenden Gesichtspunkt zurückzugehen. Er sah zu, wie sein jüngeres Ich noch einen Moment lang an den Lederriemen herumfummelte und dann die Hände entmutigt sinken ließ. »Ich gebe auf«, sagte dieser Sandy – er war noch im Stimmbruch. »Ich dachte, es sei ein chinesischer PuzzleAnzug.« Eine warme Hand legte sich auf die Schulter seines Vaters, und eine noch wärmere Stimme sagte: »Er kommt wirklich nach dir, Alfredo!« Sandy zuckte beim Klang dieser Stimme zusammen und schlüpfte wieder in seinen eigenen Gesichtspunkt. Von diesem GP aus, der ihm so paßte wie ein Kindertaucheranzug, sah er seine Mutter zum erstenmal seit Jahren wieder. »Mama…« »Mama…« Jetzt redeten beide: Sandy-Damals und Sandy-Jetzt. Sie trat zu ihm. Sie hatte den Schlüssel für die Handschellen. Tränen standen in seinen Augen, als sie sich hinkniete, um ihn zu befreien. Ihre Augen waren dunkelbraun. Als einzige der Figueroas hatte sie die orangefarbenen Irisimplantationen verweigert. »Mama«, murmelte er. »Mama…« Er konnte es nicht mehr ertragen. Die anfängliche Verwirrung ging vorbei. Jetzt war er wieder in der Lage auszuschalten. Schwer atmend lag er auf dem Rücken. Ab und zu klang es beinahe wie Schluchzen.
Mama. Sie wieder lebendig zu sehen, war die schlimmste Folter, schlimmer, als von Insekten gefressen zu werden. Kein Psychospray konnte diese Schmerzen lindern. Heute abend konnte er keinen weiteren Streifzug durch die Kanäle ertragen, obwohl es eine Million anderer Shows gab, die ihn vielleicht erheitert hätten. Er wollte jetzt keine falsche Fröhlichkeit. Wäre ihm danach zumute, würde er nicht allein in seiner Wohnung sitzen, Marijuana rauchen und herumzappen, während das restliche Kalifornien seine zweihundertsten Geburtstag feierte. Er blickte auf die antike Kit-Kat-Uhr über dem Futon. Sie hing neben dem Photo mit Autogramm von Danny Bonaduce. Bergkristallaugen und ein buschiger Schwanz – als Pendel bei der Uhr, nicht bei Danny – sagten ihm, daß es weit nach Mitternacht war. Alles Gute zum Geburtstag, Kalifornien, wünschen dir ich und Danny. Das vergilbte Photo hatte seinem Vater gehört – »He, Alf! Laß keine Pointe aus! Danny B.« Trotz des großen Altersunterschieds spürte Sandy eine Seelenverwandtschaft. Sie waren Sitcom-Brüder, beinahe durch ein Jahrhundert getrennt, aber hätte es ohne die ›Partridge Family‹ eine ›Figueroa Show‹ gegeben? Du hast es auch nicht leicht, was, Danny, alter Junge? Es war bitter, als die Lichter ausgingen und die Drähte verstummten. Jeder dachte damals, daß du in der gefrorenen Zone von Wiederholungen ewig ein Jugendlicher bleiben würdest. Danach hattest du deine wilden Jahre, hast dich von dieser japanischen Tussi scheiden lassen und hast Karate unterrichtet. Aber wenn Leute dich später trafen (Ich glaube sogar die Bullen, wenn sie deine DNA-Abdrücke nahmen.) musterten dich scharf und sagten: »He, bist du nicht der Kotzbrocken aus
der ›Partridge Family‹?« Ich war dieser Kotzbrocken, du Arschloch! Ja, Danny, wie ich. Niemals werde ich älter als siebzehn. Außer natürlich im echten Leben – aber was zählt das schon? Sandy stand auf und zog die Bambus-Rollos eine Handbreit hoch, um aus dem Fenster zu schauen. Am Tag hätte er Äcker, Traktoren und riesige Redwood-Marijuana-Hybride, einen Wald hoher, rauchbarer Bäume, gesehen. Jetzt sah er Lichter und hörte Musik und Lachen. Die Mulcharbeiter und die Beschneider der Bäume wußten, wie man eine Party feierte! Sie schlugen in faszinierendem fremdländischen Rhythmus auf Stahltrommeln und spielten die Bandsägen wie gefährliche Kazoos.∗ Er war blöd, wenn er hier die ganze Nacht sitzen blieb, wenn seine Angestellten sich draußen amüsierten. Sie würden ihn mit Recht für blaß halten, wenn er sich nicht zeigte. Er verließ das Zimmer und ging die knarzende Treppe hinunter. Bereits auf der Veranda roch er den belebenden Duft von Pinien, Pot und frisch getrampelter Erde. Er schaute den Arbeitern zu, die vor ihren langgestreckten, niedrigen Unterkünften juchzend und lachend Luftsprünge machten. Er wollte die fröhliche Stimmung nicht stören. Daher setzte er sich auf die Veranda der zweistöckigen Bruchbude, die er sein Heim nannte, und schaute einfach zu. Es war, als sähe er einen fremden Planeten. Ganz gleich, wie schmutzig er sich machte, ganz gleich, ob er blaues Arbeitszeug trug und sich die Haare wachsen ließ und im Jargon der Arbeiter sprach – er war nie einer der ihren. Er war der Drahtshow-Star und würde es immer bleiben. Alle kannten ihn – die intimsten Augenblicke seiner Jugend waren von Fremden aufgesogen worden, deren Leben für ihn immer ein Geheimnis bleiben würde. Niemand ∗
Kazoo = Rohr mit einer Darmsaite, die durch Summen zum Schwingen gebracht wird (Musikinstrument und Spielzeug) – Anm. d. Übers.
verstand, warum er den S/E-Status aufgegeben hatte. Welcher Sender/Empfänger würde freiwillig ein Nur-Empfänger wie alle anderen sein wollen? Niemand konnte verstehen, warum er einer von ihnen sein wollte, ein ganz einfacher NE, nachdem er das Luxusleben einer der beliebtesten Drahtshow-Familien der Welt genossen hatte. Aber die Menschen wußten nur das, was die Drähte ihnen übermittelten, und diese Drähte waren Polynerven, keine echten Drähte. Was das Publikum als Vergnügen empfand, war für Sandy hohl und bedeutungslos gewesen. Sein ganzes Leben hatte aus einer Reihe von Situationen bestanden, die eine Gruppe von ›Kreativ-Beratern‹ sich ausgedacht hatte und die seine Familie mit Improvisationen ausgelebt hatte. Sandy hatte von einem Leben geträumt, in dem alles einfach passierte, ohne Regie. Wo er auf Wellen reiten konnte und nur das tat, was getan werden mußte oder wozu er gerade Lust hatte, ohne ständig auf ›Situationen‹ achten zu müssen. Ja, er hätte gern ein faules Leben geführt. Ein Leben, wo man herumlag, sich volldröhnte und in jede schwachsinnige Show einschaltete, die gerade über die Drähte kam – und niemals, nie wieder, senden müßte. Das wunderbare Leben eines einfachen NEs. Er wollte sich so früh wie möglich aus der Show zurückziehen, aber seine Eltern hatten es nicht erlaubt. Er wollte sich sofort nach seinem achtzehnten Geburtstag verabschieden und die Familie ihrem Schicksal überlassen. So lange brauchte er aber nicht zu warten. Als er siebzehn war… Ach, Mama. Er wollte nicht an sie denken. Nicht jetzt. Es brachte nichts, an die schönsten Zeiten zurückzudenken, vor allem nicht in einer Nacht wie heute, wo ihn das Lachen und die Musik ohnehin deprimierten.
Er hatte gewollt, daß die Show aufhörte. Stimmt. Aber nicht so. Nicht auf dem Mond. Na ja, er hatte sich ein eigenes Leben gezimmert, wie die anderen auch. Poppy hatte Erfolg mit dem Ableger der Familienshow. Das verdiente sie auch. Papa war groß im Geschäft, obwohl Sandy sich ihn nicht als großen Boss vorstellen konnte. Das war eher Mamas Stil. Sie war die treibende Kraft in der Familie gewesen. Sie war ehrgeizig und hatte mit den Sendeanstalten beinhart verhandelt. Kein Wunder, daß die Familie ohne sie nicht weiterarbeiten wollte. In gewisser Weise war Sandy jetzt glücklich – so glücklich, wie er sein konnte. Er besaß eine Ranch, die von selbst lief, und er konnte bequem von den Einkünften leben. Und von seinen Tantiemen. Sein Hauptproblem war nur die Langeweile. Zu viel Zeit: Zeit zu denken, zu surfen, zu haschen, in den Drähten herumzuflitzen und die Sonnenbräune zu vertiefen. Ihm gehörte zwar die Plantage, aber er leitete sie nicht. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie man das machte. Er wohnte am Rand der Plantage, sprach mit den Arbeitern, besuchte Aufsichtsratssitzungen und empfing die Dividenden. Den Rest der Zeit zappte er durch die Kanäle oder ritt auf den eiskalten Wogen des Pazifiks vor der felsigen Küste Nordkaliforniens. So war das Leben ohne Kreativ-Berater und SituationsKrämer. Zehn Jahre – sein halbes Leben – war für ihn geplant worden: Er hatte immer noch keine Ahnung, wie er sinnvolle Tagesabläufe gestalten sollte. Seine jüngeren Geschwister, Mir und Ferdi, waren noch mehr verloren, da sie geboren wurden, als die Show schon lief und sie daher mit der Draht-Routine aufgewachsen waren. Schon ehe sie selbst zu S/Es verdrahtet wurden, lebten sie nur in einer künstlichen Welt, wo alles laut Drehbuch ablief; aber sie wußten es nicht. Sie wußten es auch
jetzt noch nicht. Für sie waren die Grenzen nie klar gezogen worden. Schritte näherten sich. »Mister Figueroa?« Im ersten Moment erkannte er die Stimme nicht. Er bestand darauf, daß die Arbeiter auf der Plantage ihn Sandy nannten und so taten, als sei er ein Kumpel von ihnen. Eine Gestalt mit zerrissenem Anzug betrat die Veranda. Ein Verband zierte die Schnauze des Besuchers. Die hundeähnlichen Schnurrbarthaare waren zusammengezwirbelt und wie Pfeifenreiniger hochgebogen. »Corny?« Der Seehundmann verbeugte sich tief. Auf den schwarzen Lippen lag eine Entschuldigung. Sandy stieß einen Freudenschrei aus und schlang die Arme um den Besucher. Cornelius blieb steif wie immer. Er erwiderte die Umarmung, aber ungeschickt, als täte sie ihm weh. Er fühlte sich immer unbehaglich, wenn Menschen ihre Gefühle so zur Schau trugen. »Seien Sie gegrüßt, junger Herr. Verzeihen Sie mir mein Aussehen. Ich hatte eine unangenehme Begegnung mit einem Hund, der ein Autogramm wollte.« »Ist doch völlig egal, wie du aussiehst! Für mich siehst du großartig aus. Aber was willst du hier?« »Ihr Vater veranstaltet heute nacht eine Geburtstagsfeier und vermißt Poppy und Sie schrecklich. Ich habe ihm angeboten, mein Bestes zu tun, um Sie zu überreden zu kommen.« »Und wo ist Poppy?« »Ich… äh… konnte sie nicht überreden.« »Ist es eine große Party? Ich meine, wirklich groß? Oder bloß so ein Familientreffen?« »Es ist eine ziemlich große Feier.«
Sandy seufzte. »Ich hasse diese Galas. Meinst du, daß er mir sehr böse ist, wenn ich mich drücke?« »Er wird sehr enttäuscht sein, wenn Sie beide nicht kommen. Und gerate dadurch ebenfalls in ein schlechtes Licht.« »Na schön«, meinte Sandy. Plötzlich hatte er ungeheure Lust, zu der Party zu gehen, obwohl er wußte, daß es ihm dort nicht gefallen würde. »Ich nehme an, ich sollte mich entsprechend anziehen.« Er zeigte auf die verschlissenen Jeans, die nach Schweiß und Marijuana stanken. »Oder kann ich so gehen?« »Sie kennen den Geschmack Ihres Vaters, Mister Santiago.« Cornelius folgte Sandy ins Haus und nach oben. Der Seehundmann war nach der Genbehandlung und dem mentalen Programmieren, die er bei seiner Erschaffung hatte erleiden müssen, mehr als neurotisch. Er blieb im Zentrum von Sandys Zimmer stehen, als habe er Angst, mit den dreckigen Wänden oder Möbeln in Kontakt zu kommen. Ihm ekelte sogar vor dem Boden, auf dem alles mögliche herumlag. Ausgestopft hätte er auch nicht weniger lebendig ausgesehen. Cornys offensichtliches Unbehagen veranlaßte Sandy, sorgfältig nach sauberen Sachen zu suchen. Schließlich fand er zwei einigermaßen geruchsfreie Socken (eine rot, die andere grün) und ein paar Schwammsandalen, bei denen die Knöchel nach innen gebogen wurden. Seine einzigen sauberen Hosen waren Badehosen mit tropischem Muster. Außerdem fand er noch ein relativ frisches schwarzes T-Shirt aus Leder. Darüber zog eine (etwas angelaufene) Kettenpanzerweste. Dann krönte er seine Bemühungen mit einer griechischen Fischermütze. »Was meinst du?« fragte er. Cornelius zitterte merklich. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie keine Garderoben-Berater mehr beschäftigen?« Sandy grinste. »Machst du Witze? Als die mich angezogen haben, mußte alles Markenkleidung sein. Alles, damit die Sponsoren glücklich sind! Jedesmal, wenn ich beim Scheißen
die Hosen runterließ, mußte ich auf das Schild in meinen Unterhosen schauen.« Er senkte die Stimme, um eine Hintergrundstimme aus der Show nachzumachen. »Ja, Santiago Figueroa trägt Zelt-Shorts, die Shorts der Stars.« Cornelius enthielt sich jeder Bemerkung. Er machte auf dem Absatz seiner polierten Schuhe kehrt und hielt die Tür auf. »Sollen wir meinen Truck nehmen?« fragte Sandy. »Nein, außer er hat Flügel. Wir kommen sowieso schon zu spät.«
Die dunklen Cannabis-Schonungen von Humbocino glitten schnell unter Cornelius’ fliegendem Jaguaero dahin. Bald kam die den Staat umspannende Metropole von San Frangeles in Sicht. Von Tijuana im Süden bis zu den Fabriken im Norden, in Weed, erstreckte sich die Frangeles ›Franchise‹ oder das ›Irrenhaus‹ ohne nennenswerte Unterbrechung. Sandy flitzte öfters in Begleitung eines Himmelsführers nach oben, um die schönen Farben zu bestaunen. Normalerweise war der Anblick so atemberaubend, daß er eine Ewigkeit angedröhnt war; aber diese Nacht war die Schönheit einfach unglaublich. Soweit er nach Süden und Osten schauen konnte (was ziemlich weit war, da kein Nebel herrschte) erstrahlte die Stadt im Lichterglanz der Feierlichkeiten. Aus den Zentren der Wohnsupermärkte schossen Feuergarben hoch und explodierten harmlos (so hoffte man) inmitten des Luftverkehrs. Der Himmel war voll von verrückten Autos, die schaulustig umherkreisten und damit Teil des Spektakels wurden. Das Land sah aus wie ein Teppich mit brennenden Juwelen, der über Hügel und Terrassen gelegt war, ja sogar bis ins Meer reichte. Cornelius flog auf die Küste zu, weg von dem schaurigschönen Frangeles, hinaus in die Dunkelheit.
Am westlichen Horizont sah Sandy eine Lichterkette auf dem Wasser. Vielleicht eine Parade von Atomjachten, die draußen ankerten, um die Feier auf dem Festland zu betrachten. Der Jaguaero verlor an Höhe, bis sie dicht über dem Meer dahinschossen. Sandy musterte Cornelius, ob der Seehundmann das Wasser sehnsüchtig betrachtete; aber er schien keine zarten Gefühle für die Wiege seiner Ribosomen zu hegen. Plötzlich erhob sich direkt vor ihnen ein riesiges Bauwerk aus dem Meer. Es war ein Bürohaus vor der Küste mit hell erleuchteten Fenstern. Der vordere Scheinwerfer des Flugautos erfaßte die Wellen, die gegen die unterste Etage schlugen. Sandy umklammerte die Kanten des Sitzes, weil er einen sofortigen Aufprall erwartete. Doch Cornelius steuerte den Jaguaero elegant nach oben. Während Sandy nach Luft rang, rasten sie fünf Stockwerke hoch und schwebten über dem Dach, während unten ein Luftauto in die hauseigene Garage glitt und die Landezone für Cornelius freimachte. Eine Minute später summten sie durch fluoreszierende Korridore. Cornelius parkte an einem reservierten Platz neben den Fahrstühlen. »Hier entlang, Mister Santiago.« Im Fahrstuhl stieg Sandy der Duft eines kräftigen weiblichen Pherofüms in die Nase. Sein Kopf füllte sich sofort mit den Bildern und Lauten von Sex, alles durch den Duft hervorgerufen. Er steckte die Hände in die Badehose, um die Latte vor Cornelius zu verbergen, den das aber wahrscheinlich überhaupt nicht interessiert hätte. Nachdem die Türen geschlossen waren, versuchte Sandy sich durch Mnemospiele und mathematische Gleichungen abzulenken. Er war sich bewußt, daß er aus den Jahren an den Drähten eine große Menge sexueller Ängste mitgenommen hatte. Damals hatte er sich ja nicht einmal zwischen die Beine
greifen können, ohne daß Horden liebeslüsterner Teenager loskreischten und verrückt spielten. Auch jetzt als NE konnte er es nicht fassen, tatsächlich ein Privatleben zu haben und sich, wann immer er mochte, genüßlich am Sack kratzen zu können, ohne daß Millionen an dem Vergnügen teilhatten. Der Duft machte ihn wahnsinnig. Am liebsten hätte er sich das Hemd und die Badehose heruntergerissen. Sogar Cornelius fing allmählich in diesem stickigen Kasten an, verführerisch auszusehen. Die Türen gingen auf. Lachen und Musik drangen in den Aufzug. Cornelius nahm Sandys Arm und steuerte ihn fest um die Menge herum. Sandy hätte sich lieber mitten hineingestürzt, um die Quelle des Duftes zu finden. Rein verstandesmäßig war ihm schon klar, daß das Pherofüm nur oberflächlich war; aber dieses Wissen half ihm bei seiner durch das Parfüm erregten Lust gar nichts. Er wollte diese Frau finden, wer auch immer sie war, und sie in ein dunkles Büro zerren und dort sein Gesicht zwischen ihren… Doch Cornelius zog ihn unerbittlich weiter. Essensduft und andere Wohlgerüche schlugen ihnen entgegen. Viele Gäste trugen osmodelische Duftkugeln um den Hals. Die Luft um Sandy füllte sich mit Lichtspuren. Seine Nase vibrierte vor Begehren. Die Menge wurde zu einem verschwommenen Gebilde aus Stoff und Juwelen, zu einem einzigen, summenden, Honig sammeln wollenden Party-Insekt. Sie kamen an einer Reihe hoher Fenster auf Meereshöhe vorbei. Wellen schlugen gegen die Scheiben und warfen phosphoreszierende Gischt wie weiße Spitzenfächer über die Köpfe der Gäste. Klumpen aus Seetang tanzten auf den Wellen, ihre langen Wurzeln trieben darunter. Schnecken hinterließen glitzernde Schleimspuren auf dem Glas. »Jetzt möchte ich gern Sushi essen«, sagte Sandy. »Haben Sie noch nicht zu Abend gegessen?«
Sandy schüttelte den Kopf. Cornelius zeigte auf ein langes Büfett. »Bedienen Sie sich. Ich werde Ihren Vater suchen.« Kaum war der Seehundmann in der Menge verschwunden, nahm Sandy sich von einer mit Eis bedeckten Platte eine Handvoll mit Honig glasierter Garnelen und wollte ebenfalls in der Menge untertauchen. Das war als Figueroa ziemlich schwierig. Die Gäste unterbrachen ihr Gespräch und lächelten ihm zu. Manche verbeugten sich. Andere begrüßten ihn laut und herzlich, was ihm jedoch nichts bedeutete, da es absolute Fremde für ihn waren. »Sandy! Hallo! Wie ist das Leben?« »Recht lebenswert, danke.« Er war halb durch den Raum, als eine Sirupstimme sagte: »Sandy, mein Junge!« Die Stimme war unverkennbar. Sandy setzte sein verlogenstes Lächeln auf. »Reverend…« Der Reverend Gouverneur von Kalifornien, Thaxter H. J. Halfjest, wartete mit ausgebreiteten Armen, um Sandy ans Herz zu drücken. In seiner Krone aus Golddraht blitzten große Juwelen und Halbedelsteine. Das dichte, rotgoldene Haar drang aus der Krone heraus, wodurch er etwas unordentlich wirkte. Kleidung und Schuhe waren golden. Ein goldener Umhang fiel von den Schultern. Diamanten funkelten in den Ohrläppchen und Nasenflügeln. Die mit Edelsteinen besetzten Bänder um Hals und Arme klirrten, wenn er sich bewegte. »Ich bin ja soo froh, daß du kommen konntest!« Er hakte sich bei Sandy ein und tätschelte ihm die Hand. Sandy täuschte einen Hustenanfall vor, um sich zu befreien, ehe der Gouverneur ihn erdrückte. Man konnte Halfjest nicht beleidigen. Nichts störte ihn. Sein Leben war perfekt. Er war nicht nur der Gouverneur, sondern auch ständig auf Sendung. Seine Drahtshow war nur von der
der Figueroas übertroffen worden und nun – seit Marjories Tod – Nummer Eins der Einschaltquoten Kaliforniens. Kein anderer Politiker war so offen für alle globalen Lauscher. Wenn ein Empfänger in Halfjest lebte, konnte er sich der Illusion hingeben, eine politische Ausbildung zu bekommen, indem er aus erster Hand sah, wie Politik gemacht wurde. Doch das war ein sorgsam einstudiertes Trugbild. In Wirklichkeit bewegte man sich in der sonnengebräunten und duftenden Haut des größten Entertainers seit Liberace. Showgeschäft, nicht Politik, verlieh Halfjest seinen Charme. Er kredenzte seinem Publikum Kaviar und Champagner, was die wenigsten sich leisten konnten. (Obwohl sie als Steuerzahler nicht schlecht lebten.) Er führte sie durch das Spektakel seines sich ständig verändernden Palasts in Sacramento, über die dicken Teppiche, duftenden Rasenflächen und plätschernden Kanäle. Er gab rauschende Parties – wie die heutige –, bei denen man die Reichen und Prominenten der Welt kennenlernen konnte. Halfjest hatte die Korridore der Macht für seine Wähler geöffnet – und fuhr mit ihnen auf Rollschuhen durch die spiegelnden Marmorhallen. Er tat so, als sei er jederzeit offen für die Meinungen seines Publikums. Gelegentlich schaltete er auch auf Gegenstrom und tat einen Blick in die Leben seiner Anhänger oder hörte sich an, was sie sagten. Das war das ständige Versprechen der Drähte: Das simultane Zusammenspiel aller Bürger im Staat, das ständige Zählen und Miteinbeziehen ihrer Meinungen und Wünsche, ausgeführt von ihren beliebtesten Repräsentanten, den Verkörperungen ihres Willens. Halfjest behauptete natürlich – wie andere Politiker –, ein einsamer Mann zu sein und nicht die übermenschliche Fähigkeit zu besitzen, alle Wünsche sofort erfüllen zu können, und daß er auch nicht immer momentanes Verlangen von tiefen, bewußten Sehnsüchten unterscheiden könne. Der Prozeß, alles zu
speichern, zu analysieren und bei so viel Input zu funktionieren, ging weit über die Möglichkeiten eines Computers dieser Zeit hinaus, ganz zu schweigen von der eines Menschen. Daher wurden die Drähte, mit allen ihren Möglichkeiten, für die endlose Aufgabe der Zerstreuung eingesetzt. Hätte Sandy gewollt, hätte er jetzt seine Drähte aktivieren und sich in die Sendung des Gouverneurs einschalten können. Er hätte dastehen können und sich mit sich selbst vom Gesichtspunkt Thaxters aus unterhalten können. Aber das war widerlich. Es war schon schlimm genug, als Einzelner mit ihm zu reden, und dann noch das Ganze doppelt? Nein, danke! Außerdem bestand immer die Gefahr der Rückkopplung. Hätten sich ihre Augen getroffen… »Hast du es dir gutgehen lassen, Sandy?« »Braun, Thax. Total braun. Und du?« »Ich war total in Hektik, um diese Geburtstagsfeier vorzubereiten. Hör zu, wir haben einen Wettbewerb. Wir brauchen einen neuen Namen für Kalifornien. Etwas Sensationelles, um die Zweihundertjahrfeier hervorzuheben.« »Ein neuer Name? Das ist doch ein Witz, Thax. Was stört dich an ›Kalifornien‹?« Halfjest preßte entsetzt die eingeölte Hand an die Brust. »Heißt das, du weißt das nicht? Ich habe doch allen gesagt, was für ein grauenvoller Name es ist. Ich meine die Assoziationen, die Bilder! Einfach gräßlich!« »Ist mir wohl bis jetzt glatt entgangen.« Der Gouverneur wollte Sandys Hand wieder ergreifen, aber dieser steckte sie gerade noch rechtzeitig in die Tasche. »Die Mythen Kaliforniens sind alle so schrecklich. Calafia war eine grausame Amazonenkönigin – nicht nur eine harmlose Feministin! Sie duldete Männer nur als Futter für ihre Riesengeier! Es ist eine entsetzliche Geschichte. Ich hasse
es, daß unser schönes Land derartige Assoziationen ertragen muß. Stell dir vor: Die Menschen kamen auf der Suche nach Gold und endeten auf dem Boden eines Vogelkäfigs! Was haben diese Spanier sich nur gedacht, als sie diesen gräßlichen Namen aussuchten!« Sandy zuckte die Achseln. »Die waren bestimmt ziemlich enttäuscht, als sie nach El Dorado suchten und statt dessen Los Angeles fanden.« Sandy suchte verzweifelt nach einem bekannten Gesicht in der Menge, nach irgendeiner Entschuldigung, um vom Reverend Gouverneur wegzukommen. Er fühlte sich wie auf einer der Geburtstagsparties in seiner Kindheit: Hunderte von Fremden lächelten ihn an und riefen ihn beim Namen. Gerade wollte er sich tollkühn entschuldigen, als eine junge Frau hinter Halfjest trat und den Arm um seine glänzende Mitte legte. »Ah, da bist du ja, mein Liebling«, sagte Halfjest und küßte die junge Frau. »Ich bin sicher, daß du dich an Santiago Figueroa erinnerst.« Einen Moment lang trafen sich ihre Augen. Sandy dachte, sie sei die Frau, die das Sexpherofüm trug. Aber sie brauchte so etwas nicht, um ihn zu erregen. Eigentlich wäre ihm sogar lieber gewesen, sie hätte überhaupt nichts angehabt. Ihm wurde heiß. Sein Puls raste. Ihr Anblick und die Erinnerungen, die aufstiegen, ließen ihn erröten. Sie hatte das rotgoldene Haar ihres Vaters. Nur war es bei ihr lang und ergoß sich in Wellen bis auf die Schenkel. Sie trug einen kurzen Rock und eine Bluse aus goldschwarz gestreiftem Stoff. Wie ihr Vater war sie von Kopf bis Fuß mit Edelsteinen behangen. Eine zarte Tiara war in die Haare geflochten. Um die Fußknöchel hingen Kettchen mit Juwelen. Auch auf den zehn Zehennägeln funkelten Edelsteine in zehn Farben.
»Dyad«, brachte Sandy mühsam heraus, weil seine Kehle so trocken war. »Hallo, Sandy. Wo hast du gesteckt?« »Oben… oben in Humbo«, sagte er. »Auf meiner Ranch.« Dyad nahm Sandys Hände, führte sie an die Lippen und küßte die Handflächen. Es war, als hätte man seine Arme in eine Steckdose gesteckt. »Drei Jahre«, flüsterte sie. »Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.« »Ich habe gerade Sandy von dem Wettbewerb erzählt, Schätzchen.« »Ja, Papa.« Sie schob sich neben Sandy und legte ihm den Arm um die Taille. Dann streichelte sie seinen knackigen Hintern. »Ist dir schon etwas eingefallen?« »Nein, aber wir werden schon einen Namen finden.« Dyad nahm Sandys rechte Hand und saugte an der Rückseite seines Daumens. Dann knabberte sie an der Haut über dem ersten Gelenk. Sandys Beine wurden butterweich, aber er war hin- und hergerissen. Als er sich das letzte (und auch das erste) Mal mit Dyad eingelassen hatte – in jener Nacht hatte er seine Jungfräulichkeit verloren –, hatte alles phantastisch angefangen, aber mit unsäglicher Demütigung für ihn geendet. Wie ihr Vater war auch Dyad ständig live auf Sendung. Als sie mit Sandy geschlafen hatte, hatten Legionen lüsterner Teenager (Er versuchte, nicht an alle älteren Bewunderer im Publikum zu denken.) daran teilgenommen. Die Kids hatten nur darauf gewartet. UNSERE NACHT MIT SANDY! Hinterher standen noch monatelang in ihren Fanzines lange, übertriebene, beinahe andächtige, Beschreibungen des Geschlechtsakts. SUPERSEX MIT DEM SANDMANN! Alles war aufzeichnet, kopiert und dann unter den jungen Fans getauscht worden, während Sandy vor Scham am liebsten im Erdboden verschwunden wäre. PROBIERE IHN SELBST AUS – HEUTE UND
NACHT! Seitdem war er Dyad aus dem Weg gegangen. Obwohl er jetzt nicht mehr verdrahtet war, hatte er Angst, denn sie war es noch. Einige seiner alten Fans – jetzt keine Teenager mehr – warteten vielleicht auf eine zweite Chance, es wieder mit ihm zu treiben, wenn auch aus zweiter Hand. Bei diesem Gedanken schrumpften seine Orchideen schneller als man in ein Pinguinschwimmloch springen konnte. »Was denkst du, Sandy?« fragte Thaxter. »Bis jetzt habe ich noch nichts besonders Phantasievolles gehört; aber ich bin sicher, daß uns etwas Besseres einfällt als diesen alten Spaniern. Goldia, Orangette, Neu Atlantis.« »Libidopolis«, murmelte Dyad und knabberte weiter an Sandys Daumen. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen. »Bis später, Papa«, sagte Dyad und brach ihre Liebkosungen ab. »Sandy und ich haben einiges nachzuholen.« »Ich brauche seine Meinung, Dyad. Vielleicht möchte er einer der Preisrichter beim Wettbewerb sein.« »Das kannst du später mit ihm besprechen.« Sie schob Sandy in die Menge. »Ich dachte, wir kämen nie weg«, sagte Sandy und lachte. »Aber hör zu, Dyad, ich bin nicht sicher, daß es eine wirklich braune Idee ist.« »Ach was, es ist bronzebraun, Baby! Ich bin nicht länger S/E. Schon seit Monaten nicht mehr. Ich bin NE wie du. Diesmal sind wir völlig ungestört.« »Wahnsinn«, sagte er. Und dann: »O nein!« Cornelius war hinter Dyads Schulter aufgetaucht. »Dein Vater möchte dich sprechen, Sandy.« Sandy fluchte leise, weil er durch das endlose Gequatsche von Halfjest so viel Zeit verloren hatte. Er und Dyad sollten längst unten sein, in einem dunklen Büro unterhalb der Wasseroberfläche, und die verlorene Zeit wettmachen. Bei JEDE
dem Gedanken drängte sich sein Prügel unter den Hosenbund. Dyad spitzte die Lippen, wandte sich ihm halb zu und streifte wie unabsichtlich die Schwellung mit dem Handrücken. »Kannst du ihn nicht noch ein Weilchen vertrösten?« fragte er mit versagender Stimme. Cornelius blickte ihn verlegen an. »Ich bringe ihm sowieso schon schlechte Nachrichten. Ich würde Ihre Unterstützung wirklich schätzen.« Sandy seufzte. »Das ist schon braun«, erklärte Dyad. »Ich sehe dich später.« Sandy nickte. »Ich warte auf dich.« Dann wandte er sich an Cornelius. »Du schuldest mir einen Gefallen.« Dyad verschwand ohne einen Kuß. Vielleicht wollte sie den Abschied so leichter machen, aber Sandy war nur noch mehr frustriert als vorher. Diese Etage auf Meereshöhe – und einige weitere unterhalb der Wellen – gehörten dem CEO, dem Aufsichtsratsvorsitzenden, dem Besitzer des Meereskratzers – kurz gesagt Alfredo Figueroa. Die leitenden Angestellten blickten hinaus auf die grünen Fluten, die Fische und die Meerespflanzen, während die unteren Chargen ihre Tage damit verbrachten, in die kalte Dunkelheit hinauszustarren, wo nicht einmal ein Leuchtfisch ihre sinnlose Warterei erhellte. Im tiefsten Stockwerk des Gebäudes befanden sich der Postraum und die Cafeteria, wo die Leute unter extremem Druck arbeiteten. Alle mußten sich als Teil ihrer Ausbildung einer psychischen Dekompression unterziehen. Der Korridor zu Alfredos Büro war gesäumt von Palmen und Farnen, ab und zu stand ein Humanimal da – hauptsächlich Seehunde, Tege-Leibwächter und Butler. Sie standen reglos zwischen den Pflanzen. Cornelius machte die Tür auf. »Nach Ihnen, Santiago.«
Sandy zögerte und schnupperte. Er hatte das lüsterne Pherofüm bis zum Ursprung verfolgt. Es gehörte jemand in seiner Familie. Und er glaubte zu wissen, wem. Drinnen glänzte der verhaßte Mond über dem ruhelosen Meer wie auf einem riesigen flachen Bildschirm. Schaum schlug gegen die Fensterwand und lief herab, als käme er von dem beinfarbenen bösartigen Ball. Wut und Trauer stiegen in ihm auf, wie immer, wenn er den Satelliten sah. Ein halbkreisförmiger Schreibtisch stand nahe dem Fenster, so daß der alte Mann an ihm wie zwischen Meer, Himmel und Seekratzer eingesperrt dasaß. Alfredo Figueroas Gesicht schien von innen heraus zu leuchten, wie ein ausgehöhlter Kürbis mit einer Kerze. Jede Falte schien wie mit einem scharfen Messer aus Schweizer Stahl eingeritzt zu sein. Doch dieser Kürbis war verrottet und an der Außenseite weich. Die goldenen Augen flackerten wie Kerzenflammen. Sie wirkten immer noch jugendlich. Alfredo hatte so wenige Haare übrig, daß er kahlköpfig aussah. Als er den Kopf zur Seite drehte, schimmerten ein paar Strähnen wie feine Kaktusnadeln. »Mach die Tür zu, Santiago, und setz dich!« Sandy sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Sein jüngerer Bruder Ferdinand lümmelte in einem großen orangefarbenen Geleesessel und winkte ihm mit einem Finger. Miranda, jetzt neun Jahre alt, lag auf einem Sofa. Sandy mußte sie unwillkürlich anstarren. Irgendwie hatte sie durch eine Operation im letzten Jahr einen überüppigen Körper bekommen. Ihre Brüste über der Wespentaille waren riesig, die Hüften ausladend. Auch beim Gesicht hatte man künstlich nachgeholfen und ihr einen schwülen, sexy Ausdruck verliehen. Die vollen Lippen glänzten ständig. Ihre Augen waren wie glühende Kohlen in einem Grill. Der Duft, der von ihr herüberwehte – eine Destillation reinsten Sexes – war in
dieser Umgebung furchteinflößend. Alles im Raum roch nach Inzest, ganz zu schweigen von Pädophilie. Miranda lächelte Sandy zu, räkelte sich und zog dann die Beine hoch, um ihm Platz zu machen. Ihr Geschlecht war übertrieben lumineszent geschminkt. Sie tätschelte die Kissen und sagte: »Komm, setz dich zu mir, Bru-Bru.« Sandy hatte das Gefühl, wegen des Pherofüms ersticken zu müssen. Er brach in Schweiß aus und wich zurück. Sein Kettenhemd klirrte. »Laß nur.« »Was ist denn los, Sandy?« fragte Ferdinand zynisch. »Hast du deine Schwester nicht lieb?« »Ferdinand«, sagte der Vater warnend. »Schon gut!« meinte Ferdinand. »Dann setze ich mich neben dich, Miranda. Sandy kann meinen Sessel haben.« »Na schön, Ferdinand, von mir aus. Obwohl du noch kein richtiger Mann bist.« »Woher willst du wissen, daß ich noch nicht meinen Körper veredeln ließ?« Er setzte sich neben Miranda auf das Sofa. Die beiden erforschten sich sofort mit den Händen. Dann knabberte Ferdi an Mirs Hals, bis sie vor Vergnügen schnurrte. »Mein Gott, ihr beide benehmt euch zum Kotzen«, sagte Sandy. Miranda warf ihm einen eisigen Blick zu. »Und du? Bist du etwa ein wiedergeborener Puritaner? Sage mir ja nicht, was ich tun oder lassen soll. Nur weil dir jedes Vergnügen Angst macht…« »Das reicht!« mischte sich Alfredo ein. »Ich habe euch nicht zum Streiten hergebeten.« »Und warum sind wir hier, Vater?« fragte Miranda. »Darin sind wir nun mal am besten.« »Ich wollte meine Familie um mich haben. Ich wollte wieder die alte Magie fühlen.« Er rieb sich die knotigen Finger, als wolle er die Knöchel herausmassieren.
»Du bist sentimental«, sagte Miranda. »Wenn du die alte Magie haben willst, hättest du Dämonen heraufbeschwören müssen. Da wir gerade von Hexen reden – wo ist denn deine Zigeunerschlampe?« »Vielleicht seid ihr meine Dämonen«, meinte Alfredo. Dann musterte er Cornelius scharf. »Wo ist mein Baby?« »Ich fürchte, es hat Ärger gegeben, Sir. Poppy wollte nicht mit mir kommen. Ich weiß auch nicht genau, was passiert ist, aber…« »Bist du in eine Schlägerei geraten, Cornelius?« »Ich kann nichts dafür, Sir.« »Poppy ist doch nicht handgreiflich geworden, oder?« »Du meine Güte! Nein, Sir! Es hat bei der Aufnahme für ihre Show Ärger gegeben. Es sieht so aus, als sei das Baby…« In diesem Augenblick klopfte jemand lautstark an die Tür. Ein Seehundmann steckte den Kopf ins Zimmer und sagte atemlos: »Sir, die Nachrichten! Kanal Neunzig!« »Worum geht es?« »Poppys Kind, Sir. Ihre Enkelin.« »Was zum… warte eine Minute.« Alfredo drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Die Meereslandschaft vor dem Fenster verschwand und wurde durch die Live-Projektion einer wilden Franchise-Straße ersetzt. Menschen hoben die Gläser, als wollten sie den Figueroas zuprosten. Alle benahmen sich vor der Kamera wie Schmierenkomödianten. Sandy war für das Flachschirmbild dankbar, weil er keine Lust hatte auf den Drähten mitzumachen. Die meisten Nachrichtenprogramme wurden flach und über Draht gesendet, so daß die Zuschauer entweder die manchmal grausige Realität aus angenehmer Entfernung betrachten oder in den Körper eines verdrahteten Journalisten schlüpfen konnten, um unmittelbar an den erregenden Ereignissen teilzunehmen. Sandy hatte keine Lust
bei dieser Szene mitzumachen. Der Mob stieß ihn ab. Er sah zu echt aus. Jetzt trat eine Nachrichtensprecherin auf. Der Körper war weiblich, aber – wie alle Moderatoren – trug sie die androgyne Plastex-Maske, das Markenzeichen von Kanal 90. Die Nachrichten, die Sie brauchen, von dem Gesicht, das Sie kennen! Nur die Stimme und die Kleiderwahl verrieten eine kaum merkliche Individualität; aber dadurch wurde der oder die Moderatorin nicht weniger unauffällig oder vertrauenswürdiger als ein Kollege. Die Sprecherin sagte: »…Wer unser beliebtes Programm ›Poppy auf der Flucht‹ aufmerksam verfolgt hat, wird in der morgigen Sendung eine angenehme Überraschung erleben. Bei der Aufzeichnung eines Speziais anläßlich der Zweihundertjahrfeier in und vor dem Gebäude hinter mir, kam es zu unerwarteten Schwierigkeiten. Seit Monaten wissen wir, daß das jüngste Mitglied der Figueroa-Familie in Poppys Bauch heranwächst, aber nicht einmal Branchenklatschmäuler wußten, daß die Geburt des Babys zeitlich auf die Zweihundertjahrfeier Kalifornias abgestimmt war.« »Ich wußte, daß das keine gute Idee war«, schimpfte Alfredo. »Du hattest keine Wahl«, sagte Miranda. »Poppy ging mit dem Ding nur schwanger. Ihr Vertrag legte alles fest.« Die Kamera fuhr zurück und zeigte die Fassade eines alten Hotels. In einigen Fenstern brannte Licht. Menschen drängten sich auf den oberen Rampen einer Feuerleiter. Unten hüpften Kinder auf dem mit Matten bedeckten Gehsteig. Nachrichten 90 fuhr fort: »Laut Aufnahmeteam verlief alles nach Plan. Die junge Poppy wurde von Schauspielern in der Rolle der Schergen von Präsident McBeth auf dieser Feuerleiter verfolgt. Aber dann ging etwas schief, als sie das Neugeborene in einen unten vorbeifahrenden Wagen fallen ließ.«
»Was hat sie?« Alfredo sprang auf. »Was für ein Stunt ist das? Ich habe nie gehört – wir haben in unserer Show nie so einen Blödsinn, so etwas Gefährliches erlaubt! Das Baby ist verletzt, oder? Mein Gott, diese neue Show ist grauenvoll…« »Es geht noch weiter, Sir«, unterbrach ihn Cornelius. »Das Baby Figueroa landete sicher, soweit wir wissen. Aber leider weiß es niemand genau, denn das Auto verschwand mit dem Kind und konnte bis jetzt nicht identifiziert werden. Bis das kleine Mädchen gefunden wird, bleibt das Schicksal des Figueroa-Babys ebenso geheimnisvoll wie die Handlung von ›Poppy auf der Flucht‹.« Niemand in Alfredos Büro sagte etwas. »War es ein Publicity-Stunt, den sich die Produzenten von Poppys Show einfielen ließen?« fragte die Nachrichtensprecherin. »Ein neuer Gag in der Handlung, der erst in einer späteren Episode erklärt wird? Zur Stunde kann das niemand sagen, auch nicht der Schöpfer des Programms, der begabte Drahtist Clarence Starko. Starko ist offenbar im Augenblick damit beschäftigt, die Suche zu koordinieren und die Mutter des Säuglings, unsere wunderbare Poppy Figueroa, zu trösten.« Jetzt kam eine Einblendung: Poppy in Überlebensgröße. Mit geschlossenen Augen lehnte sie an einer schmutzigen Hauswand. Ihr Kopf fiel zur Seite, als die Hälften einer Silberphiole über den schleimigen Asphalt rollten. »Mein Gott«, flüsterte Sandy. »Das alles und dann noch getwistet!« »Hier ist NN-Nachrichten Neunzig, mit ›faszinierende Fakten‹ live aus Snozay.« Das Bild wechselte zu einer anderen Live-Reportage. Ein männlicher Sprecher mit komischem Partyhut berichtete von der Eröffnung einer Datenbank oder irgendeines Wohnsupermarkts anläßlich der Zweihundertjahrfeier.
»O Mann!« sagte Ferdinand. »Wie ätzend! Wahnsinnsdramatik!« Alfredo schaltete das Bild ab. Wieder schlugen die Wellen gegen die Fensterfront. In der ganzen Zeit hatte sich der Mond kaum von der Stelle gerührt. Jawohl, ich stecke hinter allem, schien er zu sagen. Hinter dem Verschwinden des Babys und hinter allen anderen schrecklichen Ereignissen auf dieser Erde. Alfredo wandte sich an den Seehundmann. »Cornelius, du hast das gewußt und mir nichts gesagt?« Cornelius zitterte sichtbar. Sandy legte ihm die Hand auf die Schulter. »Papa…« »Ich versichere Ihnen, daß ich fast nichts wußte, Sir. Ich bin über die Details ebenso erstaunt wie Sie. Ich… kann es nicht fassen.« »Was ist mit Poppy?« fragte Alfredo. »Warum kommt sie jetzt nicht nach Hause, wo sie unsere Hilfe mehr als sonst braucht.« Ferdinand stand auf, zündete ein Kelpie an und blies den gelben, jodhaltigen Rauch ins Büro. »Vielleicht hat sie Angst, dir unter die Augen zu treten, Papa. Immerhin hat sie gerade deine Investition in den Sand gesetzt.« Alfredo sank über dem Schreibtisch zusammen. »Ich hätte nie auf sie hören dürfen! Mitten in einem Thriller eine Geburt! Das tut man einfach nicht! Sie hat die Anlagen zu einer großen Tragödin. Sie ist eine dramatische Schauspielerin, nicht ein… eine menschliche Zielscheibe! Das, Kinder, macht die Industrie mit euch, wenn ihr versucht, allein gegen sie zu kämpfen. Ja, Chevy Chase hatte recht. Hollywood frißt seine Kinder. Wir waren so gut, weil wir zusammen waren. Wir haben uns gegenseitig sicher und bei Verstand erhalten. Poppy kennt nur das. Sie kann mit Unabhängigkeit nicht umgehen. Sie ist in einer Truppe groß geworden, wo alle sie bemutterten
und auf sie aufpaßten. Ich habe sie gewarnt, wie schwierig es ist, allein zu sein.« »Wer hört schon auf dich?« sagte Miranda. »Sieh dich doch an! Du drückst dich hier rum und hast ständig Angst, daß dich jemand aufspürt und dich von deinem Chefsessel jagt. Bist du wirklich glücklich, wenn du hier in einem Meereskratzer sitzt? Ist einer von uns glücklich, seit wir die Drähte verlassen haben?« »Ach, damals waren wir glücklich?« Sandy lachte zynisch. Miranda winkte ab. »Du warst nur glücklich, wenn du voll Ozon oder getwistet warst oder wenn du mit deinem niedlichen Schniedelwutz im Duo mit Dyad in der Öffentlichkeit protzen konntest.« »Das ist nur ein einziges Mal passiert!« brüllte er. Alfredos überdramatisches Schluchzen beendete den Streit. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. »Ich dachte, Calafia würde uns wieder zusammenbringen. Sie war das letzte Projekt eurer Mama, ehe… Ich dachte, es würde wunderbar sein, wieder ein Stückchen Marjorie unter uns zu haben.« »Ja, eine wunderbare Idee!« sagte Miranda. »Ein geborener S/E. Genau das richtige, um uns davon abzulenken, an die Drähte zu denken! Wozu soll das Baby gut sein? Doch nur, um in einer eigenen Show zu glänzen. Und wie soll uns das helfen? Calafia ist doch nur eine Konkurrenz. Glaubst du, daß irgend jemand nach Ringos Solokarriere noch die Beatles hören wollte?« »Wir… wir müssen sie erziehen. Sie wird in Gesellschaft von guten Schauspielern aufwachsen. Überlegt nur, was da aus ihr werden kann!« »Vielleicht wird sie uns hassen. Wie findest du das? Entschuldige, Alf, aber ich sehe dich nicht als großartigen väterlichen Programmierer.«
Aber Alfredo war tief in seinen Illusionen und Hoffnungen versunken. »Sie muß ein bildschönes Kind sein. Wir finden sie, ganz gleich, wo sie ist. Wenn es eine Entführung ist, werden wir das Lösegeld bezahlen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder bei uns ist. Marjories kleiner Engel…« »Du meine Güte!« sagte Miranda mit unverhohlenem Ekel. »Du hast das Baby noch nicht gesehen, aber du liebst es jetzt schon mehr als uns. Calafia ist der perfekte Star, den du immer wolltest – oder wird es sein, bis sie zu nahe kommt, zu real wird. Gott möge verhüten, daß sie mal ihren eigenen Kopf hat…« »Laß Papa in Ruhe, Mir«, unterbrach sie Sandy. Er war selbst überrascht, daß der Schmerz des Vaters ihn so berührte. Vielleicht war es aber auch der Anblick von Poppy vor dem Hotel. Sie war echt verzweifelt gewesen. Das war kein Reklamegag oder eine hypnotropische Aufführung gewesen. »Papa, wir finden das Baby. Miranda weiß nicht, was sie redet. Sie ist durch ihren eigenen Duft völlig ausgeflippt.« »Du willst sie finden?« sagte Ferdinand und drückte den Kelpiejoint auf dem orangeroten Teppich aus. »Ist das Santiago, der da große Reden schwingt? Was war dein altes Motto, Sandy? Abschalten und antörnen!« »Du kleiner Klugscheißer! Ich war nicht der Grund, warum wir eingegangen sind.« »Na klar, gib Mama die Schuld! Sie kann sich nicht verteidigen. Glaubst du das wirklich?« Sandys Wangen brannten. Mit zuckenden Lippen wandte er sich ab. Nein, er wollte seine Erniedrigung nicht zeigen. Er wollte überhaupt nichts zeigen. »Tatsache ist doch«, fuhr Ferdinand mit seiner hohen Piepstimme fort, »daß wir ohne sie hätten weitermachen können. Es war eine Tragödie, aber so etwas steigert auch die Einschaltquoten! Wir waren zu fünft, das war genug – und
dann noch du, Cornelius. Papa hätte wieder heiraten können, nachdem sich die Wogen geglättet hatten. Da draußen gibt es jede Menge Tussies, die so poppig wie Marjorie waren. Vielleicht sogar noch poppiger.« »Du hast leicht reden«, sagte Alfredo und stöhnte. »Aber ohne dich, Sandy, konnten wir nicht weitermachen. Du hast alles absichtlich kaputt gemacht. Mama hätte gewollt, daß wir weitermachen. Sie war für die Drähte! Aber du blöder, drogensüchtiger Schlappschwanz hast ihren Tod als die Entschuldigung genommen, nach der du schon lange gesucht hattest. Du hast es als billige Chance genutzt, deine Freiheit zu bekommen. Du kotzt mich an, wenn du anbietest, das Baby zu finden. Du hast dich doch schon vor Jahren von der Familie verabschiedet und hast Alf die Verantwortung aufgehalst, uns aufzuziehen. Jetzt kommen wir auch ohne dich zurecht.« »Das ist ein bißchen grausam, Ferdi«, sagte Miranda. »Ein bißchen.« »Nein, im Gegenteil«, widersprach Ferdinand. »Es ist viel zu milde ausgedrückt. Was meinst du, Sandy?« »Ich habe Angst, den Mund aufzumachen. Ich will nicht, daß die Scheiße reinfliegt, die du herumschleuderst.« »Jetzt reicht’s!« brüllte Alfredo. »Seid still! Alle!« Die Kinder schwiegen. Es war ihnen peinlich, daß sie wieder in die alten Verhaltensmuster gerutscht waren: bösartige Streitigkeiten, Rufmord, gemeine Unterstellungen und ordinäre Ausdrücke. Ach ja, die guten alten Zeiten waren zurückgekehrt, ohne daß sie dabei auf Sendung waren, ohne daß jemand sie dafür bezahlte. Sandy war plötzlich klar, daß sie jetzt alle Nur-Empfänger waren. Trotz seiner großen Worte hatte auch Ferdi sich operieren lassen. Nur Poppy war noch verdrahtet. Alfredo spitzte die Lippen und starrte auf die Schreibtischplatte. »Wir haben alle Fehler gemacht. Mein
größter war, in dieses Geschäft einzusteigen. Du hast recht, Miranda. Ich war hier nie glücklich, wenn ich den großen Boss gespielt habe. Ich habe einmal gedacht… na ja, es war schwierig für mich, ohne eure Mutter weiterzumachen. Aber vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, es noch mal zu versuchen. Ich habe immer noch etwas Macht in Hollywood. Ich kann sie benutzen, um die Welt für meine Enkelin sicherer zu machen – sobald ich sie gefunden habe.« »Und wer kümmert sich ums Geschäft, Papa?« fragte Ferdinand. »Du hast jetzt einen Meereskratzer. Du kannst ihn nicht einfach fallen lassen.« Alfredo warf Sandy einen fragenden Blick zu. »O nein!« rief Sandy. »Ich habe mein eigenes Geschäft. Die Plantage beansprucht meine gesamte Zeit.« Lügen. »Kannst du hier nicht ein Weilchen aushelfen, Sandy? Damit ich mich ganz der Suche nach Calafia widmen kann? Ich bete zu Gott, daß es nicht lange dauern wird. Wenn du bereit wärst, mir zu helfen, könnte ich dich hier gut gebrauchen. Ich bringe dir auch alles bei, was du wissen mußt. Viel ist es nicht.« »Laß mich sie suchen«, sagte Sandy. »Du bist hoffnungslos«, rief Ferdinand. Sandy wendete sich ab. Das hatte er auch früher immer getan. Er verfluchte die anderen, weil sie es schafften, daß er sich so elend fühlte. Sie hatten früher seine Talente nicht geschätzt – und jetzt auch nicht. Alle waren so in sich selbst verliebt und griffen auf alte Starallüren zurück. Jeder versuchte den anderen an die Wand zu spielen, auch wenn niemand zuschaute. Sein Vater war der alternde Held, der keine Gefahr scheute, um ein kleines Mädchen zu retten. Sandy gestand sich allerdings auch ein, daß man ihm die gleichen Motive unterstellen konnte. Er redete sich ein, daß er wirklich helfen wollte; aber hier war das nicht möglich. Hier standen zu viele Egos im Weg.
»Genau wie ein Baby!« hörte er Ferdi sagen, als er die Tür hinter sich zumachte. Die Partygeräusche und osmodelische Düfte lockten. Er mußte in der Menge untertauchen. Er brauchte dringend einen gründlichen Denkwechsel. Er brauchte Dyad. Auf der runden Tanzfläche wirbelten die Paare über den Mosaikboden. Der Reverend Gouverneur thronte auf einem Podium in der Mitte, trank Champagner und segnete die Menge, indem er ein goldenes Rauchfaß schwang. Seine Augen hingen besonders liebevoll an einer Stelle. Sandy sah dort Dyads Tiara in den goldroten Haaren funkeln. Er lief auf sie zu. Seit Jahren hatte er nicht mehr getanzt. Aber selbst die vollkommene Beherrschung der uralten Schritte hätten ihm nichts genützt, um durch die sich drehenden Menschen zu gelangen. Man tanzte die Chaotische Attraktion. Dyad sprang zurück, wirbelte vorwärts und glitt direkt auf Sandy zu. Dabei zog sie einen großen, grauenvoll jungen Mann hinter sich her. Seine Haut war hell, ätzend wenig sonnengebräunt. Das rabenschwarze Haar und die roten Lippen verdankten die Farbe der Kosmetikindustrie. Sandy wich zurück und stieß mit einer juwelenbehängten Matrone und deren jugendlichem Partner zusammen. Kaum hatte er sich entschuldigt, war der Tanz zu Ende. »Sandy!« rief Dyad. »Hier sind wir.« Jetzt gab es kein Entrinnen. Sandy zwang sich zu einem Lächeln. Als er den Mann neben Dyad sah, fühlte er den Stich der alten Eifersucht. »Sandy, du erinnerst dich an Raimundo Navarro-Valdez?« Raimundos Augen funkelten, aber nicht vor Vergnügen. Er hatte denselben Gesichtsausdruck wie immer. Allerdings waren die Lippen im Lauf der Jahre so scharf und schmal wie Rasierklingen geworden. Seine Augen verrieten einen Verstand, der noch schmalspuriger war als die Lippen.
»Ja«, sagte Sandy und streckte die Hand aus. Raimundo ignorierte die freundliche Geste, machte nur eine knappe Verbeugung und schlug die Hacken der glänzenden schwarzen Stiefel zusammen. Dann wendete er seine volle Aufmerksamkeit wieder Dyad zu. Er hielt den Arm um ihre Taille gelegt, um seine Besitzansprüche zu betonen. »Raimundo und ich heiraten nächsten Monat«, verkündete Dyad fröhlich. »Deshalb sende ich nicht mehr. Eigentlich empfange ich auch nicht mehr. Raimundos Familie ist gegen jede Art Verdrahtung.« Sandy spürte plötzlich eine Kältewelle im Magen. Ein Sog. »Heiraten?« Soweit Sandy sich erinnern konnte, sah er jetzt Raimundo zum erstenmal lächeln. »Eine antiquierte Tradition; aber in der Alten Welt gibt es immer noch Menschen, die sie hochhalten.« »Was für eine alte Welt ist das, du Schwachkopf? Und was gefällt dir an der neuen nicht?« Raimundo ignorierte ihn weiterhin und lächelte Dyad an. »Wir sind nicht total altmodisch«, erklärte Dyad und zwinkerte Sandy zu. »Damit will ich sagen, daß wir eine offene Ehe führen werden.« Raimundos Lächeln war wie weggewischt. »Offen? Was meinst du damit?« »Ich glaube, ihr beide solltet darüber noch einmal in Ruhe reden«, sagte Sandy. Die Worte verbrühten ihm den Mund. Er ging zurück, als müsse er einer Flutwelle ausweichen. Das war der Grund, warum er nach Humbo geflohen war! Die Menschen wurden immer wieder so komisch. Merkwürdige Situationen entwickelten sich – auch ohne ein Gremium bezahlter Berater. »Bis später, Kinder. Herzlichen Glückwunsch – für euch beide.« »Aber Sandy, wir wollten uns doch heute abend noch treffen«, rief Dyad. »So wie in alten Zeiten.«
Das war zu viel für ihn! So schnell er konnte, floh er durch die Menge. Endlich fand er eine stille Ecke, wo ein Sofa unter einem dunklen Fenster stand, an das keine Wellen schlugen. Er setzte sich und betrachtete sein Spiegelbild auf der dunklen Scheibe. Das mentale Sargossa beruhigte ihn langsam. Da tippte ihm jemand auf die Schulter. »Mister Santiago?« Auf der Scheibe war hinter ihm der Seehundmann zu sehen. »Hallo, Corny.« »Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht, Sir.« »Mir geht’s gut, Corny, prächtig. Ich habe nur nachgedacht.« »Nachgedacht, Sir?« »Ja, ich weiß, daß man das nicht für eine meiner Haupttugenden hält, aber manchmal kann man nicht anders. Vielleicht werde ich den Laden hier eine Zeitlang übernehmen. Ich würde dann einen ehrlichen Beruf erlernen, was? Ich würde einen ziemlich guten Boss abgeben. Dunkler Anzug, konservative Krawatte, Aramis. Ein neues Image. Papa soll ruhig Calafia suchen. Vielleicht tut ihm das gut.« Er drehte sich um und erwartete, daß der Seehundmann hocherfreut sein würde. Statt dessen machte dieser ein bedrücktes Gesicht. Er war in Gedanken weit weg. »Was ist los, Corny?« »Ach, nichts. Es ist nur – na ja – der Abend heute – mit Ihnen allen zusammen – hat mich wehmütig gestimmt. Ich dachte an die Tage, als wir alle gemeinsam die Show machten. Es muß an den Tropen liegen.« Sandy seufzte. Dann schlug er Cornelius auf die Schulter. »Ich nehme an, daß Seehunde von Natur aus nicht Erinnerungen nachhängen, stimmt’s?« »Ich weiß es nicht, Sir. Aber manchmal tut es sehr weh. Unnatürlich weh.« »Das brauchst du mir nicht zu erzählen!« Cornelius schaute Sandy mit Tränen in den Augen an.
»Komm mit mir, Corny! Bleib bei mir, wenn ich mit Papa rede. Du schuldest mir noch einen Gefallen.« »Gewiß, Sir.« »Und nenn mich nicht ›Sir‹! Du bist nicht mehr mein Butler! Du arbeitest jetzt als selbständiger Mann – oder Seehund oder was auch immer. Du bist mein Freund!« »Ihr Freund? Meinen Sie das im Ernst?« »Würde ich es sonst sagen?« Cornelius blickte einen Moment lang verdutzt drein. »Entschuldigung, es sind wieder die Tropen. Ich vergaß, daß Sie jetzt keine Rolle spielen.« »Nein, du Trottel! Es ist echt. Mehr oder weniger.«
3 EIN ALTES WEIB IN EINER KUTSCHE OHNE HOLZPANEELE
Ein schwarzer Kombi mit abgesägtem Dach fuhr durch Straßen, auf denen nicht mehr so viele Menschen waren. Das kam nicht daher, daß der Morgen graute und die Leute ihre Betten aufsuchten. Nein, die Feierlichkeiten waren noch voll im Gang. Die meisten Kalifornier wollten das Ereignis der Zweihundertjahrfeier so lange wie möglich feiern. Diese Feier war mehr als die üblichen Straßenfeste. Nein, es gab einen ganz anderen Grund, warum die Straßen immer stiller und menschenleerer wurden, durch die das schwarze Gefährt ratterte. Hier waren die Gebäude heruntergekommen, die Straßen dunkel und stinkend. Die Häuser waren eingefallen, die Seelen jedoch hatten sich emporgehoben. Eine dünne alte Frau fuhr den Wagen. Sie war so zart wie ein Vögelchen. Ohne den Sicherheitsgurt wäre sie dauernd gegen die Scheibe geschleudert worden. Ihre alten Finger waren dünn, aber zäh wie Efeuranken. Sie umklammerte das Lenkrad mit verzweifelter Kraft. Die Arme, die aus den weiten Ärmeln des schwarzen Gewandes hervorkamen, waren ebenfalls sehr dünn. Die Alte fuhr mit wahnsinnigem Tempo, obwohl das auf diesen Straßen lebensgefährlich war. Immer wieder mußte sie um dunkle Flecken auf der Straße herumkurven, weil sie nicht wußte, ob es Pfützen oder tiefe Löcher waren. Oft war Höchstgeschwindigkeit nötig, um über alle möglichen Hindernisse hinwegzukommen. Stacheldraht, rostige Metallteile, zerbrochene Glasröhren mit Phosphorpulver oder gelegentlich eine faule Ratte fanden sich nach einer ihrer
wilden mitternächtlichen Fahrten immer am Kühlergrill. Einmal hatte eine Schwester Mechanikerin sogar einen menschlichen Fuß in den Speichen der Radkappe gefunden, der knapp über dem Knöchel abgetrennt war. Die fortgeschrittene Verwesung des Fußes hatte alle frommen Töchter beruhigt, daß die alte Amtsschwester keinen unschuldigen Menschen überfahren hatte. Sie schwebte ständig in Gefahr, daß man ihr den Führerschein entzog. Trotz ihrer verrückten Fahrerei und den dämonischen weiten Sätzen über die Rinnsteine war sie eine sanfte Seele, die immer weinte, wenn sie einen Rattenschwanz unter dem Scheibenwischer entdeckte. Aber nichts, und schon gar nicht weiche Gefühle, konnten sie dazu bewegen, langsamer zu fahren. Deshalb hatten die Töchter gerade sie für diese Aufgabe ausgewählt. Plötzlich übertönte das Schreien eines Säuglings den Lärm des alten benzinbetriebenen Motors und das ständige Klingeln in ihren Ohren. Hinten zwischen den Getreidesäcken schrie ein Kind. In diesem heiligen Bezirk war Babygeschrei ebenso ungewöhnlich wie eine Sirene, da die Polizei niemals die Gesetze in der Heiligen Stadt durchsetzte. Die Alte warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, daß der Säugling bei der wilden Fahrt nicht aus dem Nest geschleudert worden war. Das Baby war in Sicherheit, aber sie überließ derartige Dinge ungern dem Schicksal, besonders nach den Schwierigkeiten, die sie gehabt hatte, das Kleine zu erwischen. Sie hielt an. Die Straße war hier so eng, daß kaum noch wilde Hunde hindurchlaufen konnten. Eigentlich kam der Wagen überall durch, aber während des Tages war an einigen Stellen Schutt von den Häusern herabgefallen (Vielleicht hatte aber auch die Valis-Sekte den Dreck hingeschaufelt.) und bildete jetzt immer wieder Hindernisse. Die Alte stellte den Motor ab
und stieg aus. Dann musterte sie vorsichtig die Umgebung. Erst nachdem sie sicher war, daß niemand sie beobachtete oder rosa Lichtstrahlen auf sie abschoß, ging sie nach hinten, um nach dem Baby zu sehen. Ja, da schrie ein gesundes kleines Mädchen. Die Brustwarzen der Alten juckten und taten sogar etwas weh. Trockene Erinnerungen. Seit vielen Jahren hatte sie keinen Säugling mehr schreien hören. Die Töchter gebaren keine Kinder, da sie keinerlei Kontakt mit Männern hatten – da sei Gott davor! Das Baby war zwischen die Säcke gerutscht. Es dauerte eine Zeitlang, bis die Alte den Säugling hervorgeholt hatte. Die Kleine schrie sich die Lunge heraus und schüttelte die Fäuste wie kein Säugling in der Erinnerung der alten Frau. Sie sprach beschwichtigend auf das Baby ein und preßte es an die Brust. Sie wünschte, daß ihre Augen besser wären und (zum erstenmal in dieser Nacht) daß es nicht so dunkel wäre. Die Gebäude waren hier so hoch und standen so nahe beieinander, daß von den helleren Bezirken Franges kaum Licht hereinfiel. Die Alte konnte nur mit Mühe Augen, Nase und Mund erkennen. Die Hohe Priesterin hatte versprochen, daß das Mädchen orangefarbene Augen haben würde; aber ob das so war, ließ sich in dieser Dunkelheit nicht feststellen. Aber es mußte ja das Baby sein, daß sie haben wollten. Decke und Windeln hatten sich gelockert. Jetzt strampelte sich die Kleine frei. Die Alte legte sie auf einen Mehlsack und beugte sich hinab, um das Baby wieder zu wickeln. Doch dann wich sie mit einem lauten Schrei zurück. Irgendwo in der Nähe war ein Feuerwerkskörper explodiert. Das Licht drang durch die Ruinen bis zur Straße. In dem flackernden Feuerschein sah die Alte eindeutig einen kleinen Pe… Pe… Penis! Penis? Es war ein Junge…
Ihr stockte das Herz; aber ihre Gedanken arbeiteten so schnell, daß sie das Blut weitertrieben. Es war eine absolute Katastrophe, daß das Baby ein Junge war. Es hieß, daß sie auf unerfindliche Weise das falsche Kind gestohlen hatte. Ein Wechselbalg. Der kosmische Zorn der Mutter Kali würde sie treffen, ganz zu schweigen von dem schmerzlichen und unmittelbaren Zorn der Hohen Priesterin Kalis. Am schlimmsten für die alte Schwester war das Bewußtsein, daß sie das… männliche Kind angefaßt hatte. Ihre Finger hatten beinahe dieses… dieses… dieses schreckliche Ding, dieses abstoßende Symbol der Männlichkeit berührt. Das war alles verboten. Es war noch schlimmer als verboten: Es war ekelerregend. Ihr wurde bei dem Gedanken ganz schlecht. Früher hatte sie mit Männern geschlafen. Das war lange, ehe Kali sie rief. Sie hatte einen Mann, sogar Kinder gehabt, männliche Kinder, aber das alles lag weit zurück. Die Vorstellung, daß plötzlich – aus dem Nichts – ein männliches Glied aufgetaucht, ja ihr beinahe in die Hände gefallen war, machte ihr furchtbare Angst. Die alte Frau wußte nicht ein noch aus. Halbtot vor Angst warf sie die beschmutzte Windel über den Säugling, um sich den Anblick des winzigen Pipis zu ersparen, falls noch eine Feuerwerksrakete aufleuchtete. Sie wußte nicht, ob sie den Jungen auf die Straße legen und dort liegen lassen sollte, oder ob sie ihn tiefer zwischen die Säcke stopfen und so tun sollte, als habe sie ihn nie genau angesehen. Damit würde sie die schwere Entscheidung auf die Hohe Priesterin abladen. Das bedeutete zwar, daß sie den Tempel entweihte, aber sie konnte behaupten, ihre Mission nach besten Kräften erfüllt zu haben. Woher sollte sie wissen, daß das falsche Kind von der Feuerleiter fallen würde?
Wenn sie jedoch das Kind auf der Straße liegen ließ und mit leeren Händen zurückkam, hatte sie keine Entschuldigung. Dann würde die Hohe Priesterin sie für ein dämliches, blindes, altes Weib halten und behaupten, ihre Gebrechlichkeit hätte ihr vorgegaukelt, einen Penis anstelle der zarten Aprikose eines kleinen Mädchens zu sehen. Die Alte kannte einen Penis, wenn sie einen sah, aber was war, wenn die Hohe Priesterin ihr nicht glaubte? Es würde ihr auch nicht helfen, wenn sie darauf bestand, genaue Einzelheiten eines so gotteslästerlichen Objekts zu kennen. Das gab den Ausschlag. Sie würde nicht mehr und nicht weniger tun, als das, was die Hohe Priesterin ihr aufgetragen hatte. Wenn sie mit dem falschen Säugling zurückkam, konnte man das nicht ändern. Es war nicht ihre Schuld. Überhaupt nicht. Es war einfach ein Mißgeschick. Wie viele Säuglinge wurden um Mitternacht der Zweihundertjahrfeier des Staates Kalifornien von einer Feuerleiter geworfen? Sie kletterte wieder ins Auto und versuchte, das Ding aus ihren Gedanken zu streichen, das hinter ihr plärrte. Sobald der Caravan fuhr, würde das Baby zwischen die Säcke rutschen. Dadurch erklärte sich auch, daß die Windeln verrutscht waren. Nein, sie würde nicht noch mehr Befleckung riskieren, indem sie das Kind noch mal anfaßte. Mit neuem Mut betrachtete sie den Schutthaufen auf der Fahrbahn. Ihrer Meinung gab es nur eins: Mit vollem Tempo drauflos und drüber. Und falls das Kind dabei herausgeschleudert wurde, nun… Unfälle geschehen immer wieder. Die Festivitäten anläßlich der Zweihundertjahrfeier waren für viele Kalifornier (besonders Arbeitnehmer) sehr wichtig. Derartige zeitliche Vergnügungen waren weit unter der Würde der gottesfürchtigen Besetzer der Heiligen Stadt. Für diese war
Feiern keine willkommene Unterbrechung der Pflichten, die sie übernommen hatten. Gouverneure waren gekommen und gegangen, ohne eine sichtbare Spur in diesem Stadtbezirk zu hinterlassen, abgesehen von denen, deren Maßnahmen die Bewohner in noch größere Armut gestürzt hatten. Vor vierzig Jahren hatte ein Präsident der Vereinigten Staaten die Region besichtigt und zu einem unbewohnbaren Katastrophengebiet erklärt, das unbedingt staatlicher Hilfe bedürfe – wären in der Staatskasse ein paar Dollar übrig gewesen. Es gab jedoch kein Geld und daher auch keine Hilfe. Schließlich gab es auch für die Ärmsten der Armen genug Gründe, um wegzugehen. Woanders war das Leben auch hart, aber warum unnötig leiden? Einige wagten den Vorstoß ins urbane Niemandsland und fühlten sich dort wohl. Es waren Vettern im Geist der Eremiten, die früher in die Wüste gewandert waren und sich von Heuschrecken ernährt hatten oder die arktischen Eisgefilde gezogen waren und von Moos und Flechten gelebt hatten oder die in die schwerelosen Asteroid-Kolonien gegangen waren, wo ein frommer Mensch sich in seiner Selbstgerechtigkeit sonnen konnte und dahinsiechte, weil seine Knochen sich langsam wegen der Schwerelosigkeit auflösten und implodierten. Die neuen Bewohner der vergessenen Stadt waren Pioniere des Verfalls, für die die Ruinen einer einst modernen Stadt als Symbole ausreichten, um ihre Seelen über die Gesetze der Schwerkraft hinauszukatapultieren. Auf Schuttbergen, aus denen ab und zu ein Schild ALLES BESETZT herausragte, empfingen Mönche mit feurigen Augen, die von Speed lebten, Zen-Prophezeiungen. Unverständliche Runen sprühten sie als Graffiti-Poesie auf graue, rauchgeschwärzte Mauern. Das waren die ersten Tempel und die ersten Riten der neuen Visionäre.
Als nächstes kamen natürlich die Jünger. Einige waren orthodoxe Ruinenganoven, die wie Profi-Schakale durch die Dunkelheit schlichen, immer auf der Suche nach einem senilen Bürger oder Bettelmönch, der so tief im Satori war, daß er sich nicht verteidigen konnte oder wollte. Rudel und Gangs von Jugendlichen, Tiere, die um ein Territorium kämpften, rissen die Straßen auf, welche die Priester für sich beanspruchen wollten. In einer solchen Atmosphäre mußte Religion einfach blühen und gedeihen! Allmählich fanden diese Banden Aufnahme in dieses neue Eleusis und wurden zu Wächtern der gefallenen Tempel. Immer seltener fanden die Gesetzeshüter von draußen Gründe, diesen Stadtbezirk zu betreten. Die verteidigenden Engel hielten die Straßen dunkel und verfallen. Damit impften sie die Stimmung ein, die für das unermüdliche Trachten nach Rettung am besten ist. Keiner konnte durch diese Straßen gehen, ohne die Verletzbarkeit des Fleisches anzuerkennen und zu sehen, wie wenig es bedeutete, nur zu existieren. Skrupellose spirituelle Ausbeuter trugen zu diesen Erkenntnissen ihr Scherflein bei. Die Banden verteidigten diejenigen, die hoch auf den Tragbalken der Ruinen hockten, in Sonne und Mond starrten, bis sie blind wurden und herabstürzten. Angeblich durchstreiften die Jugendlichen sogar die Stadt, um nach Akolyten zu suchen. Sie bereiteten denen, die das Schicksal in ihre dreckig-reinen Hände trieb, eine blutige Taufe. Keiner dieser Wächter belästigte den Wagen der Ehrwürdigen Tochter, da sie ihn jede Nacht umherfahren sahen. Die Alte hatte auch nichts gegen die Jugendlichen und verdrängte den Gedanken, daß einige von ihnen Männer waren. Männer mochten wohl auch zu irgend etwas nützlich sein, dachte sie. Das ganze Leben war ein Balance-Akt, ein
Kompromiß. Nur der Tod, das schwarze Erbarmen, war Totalität, ein perfekter, abgeschlossener Handel. Endlich sah sie den schwarzen Tempel ihrer Sekte. Einige Bewohner der Heiligen Stadt hatten sich in alten Wohnanlagen, zerfallenen Supermärkten, Waschsalons, Hochgaragen, Banken und Bowling-Bahnen eingenistet. Die Töchter Kalis aber hatten eine richtige Kirche gefunden, deren Zugehörigkeit unklar war, die jedoch eindeutig frommen Zwecken gedient hatte. Über dem Portal war eine Markise, auf welche die Töchter mit schwarzen Plastikbuchstaben den Namen ihrer Göttin angebracht hatten: KALI KOMMT BALD! Unter dem großen Schild stand eine kleine Bude, von der aus in alter Zeit Priester Predigten an die Vorbeigehenden gehalten und sich Unvorsichtige als Jünger gekrallt hatten. Als die Töchter den Tempel erbten, waren die Metallrahmen der Fenster leer gewesen. Jetzt hatten sie dort durchsichtige bunte Plastikscheiben eingefügt. Die Greisin war erst vor einigen Jahren bei den Töchtern eingetreten, als die Hohe Priesterin erstmals die Tore des Tempel geöffnet hatte. Davor hatte sie Kali auf andere Art gedient, allerdings nicht so bewußt. Jetzt hielt sie in der dunklen Gasse neben dem Tempel und pochte mit dem geheimen Klopfzeichen an die Hintertür. Quietschend öffnete sich die Tür. Eine Tochter in schwarzer Robe mit Kapuze knickste respektvoll vor der Alten. »Hol die Hohe Priesterin«, befahl die Ehrwürdige Tochter. »Mein Auftrag ist ausgeführt.« »Aber es ist gleich Messe«, protestierte die Junge. »Sag es ihr noch vorher. Sie muß es unbedingt wissen!« Die jüngere Tochter verschwand und überließ der Greisin ihren Posten. Der Tagesanbruch war näher, als sie gedacht hatte. Im Tempel eilten die Töchter umher, um ihre Aufgaben noch schnell vor Sonnenaufgang und der letzten nächtlichen Zeremonie zu erledigen.
Das ziemliche ramponierte Kirchengestühl war voll besetzt. Die Schatten der Betenden tanzten über die Wände, wo noch ab und zu im Licht Hunderter von Votivkerzen schmutzige Goldverzierungen schimmerten. Die Kerzen brannten in den Seitennischen und auf der breiten Bühne am Ende des sich senkenden Fußbodens. In der der Bühne gegenüberliegenden Wand war hoch oben ein kleines viereckiges Fenster, hinter dem sich das Allerheiligste befand, wo die heiligste Flamme von allen brannte. Plötzlich erlosch diese Flamme. Drei Töchter huschten über die Bühne und löschten die Votivkerzen, andere die in den Nischen, so daß es im Tempel dunkel war. Ich bin zu spät gekommen, dachte die Ehrwürdige Tochter. Die Morgenmesse fing an. Vom Fenster des Allerheiligsten schnitt plötzlich ein Licht durch die Finsternis, das heller als alle Kerzen war. Es fiel direkt auf eine schmuddelige Leinwand über der Bühne. Die Töchter legten die Handflächen aneinander und stöhnten. Das Licht war so hell, daß es sie blendete. Aber sie wagten nicht, den Kopf zu wenden. Dann schob sich gnädig ein Schatten vor und dämpfte den grellen Schein. Schwarze Finger glitten über das weiße Feld. Ein schwarzer Arm verdunkelte die Leinwand. Jetzt tauchten Kopf, Schultern und Arme einer tanzenden Frau auf. Ihr Körper folgte. Wie eine Schlange wand sie sich vor der Leinwand. Sie war schwärzer als der Nachthimmel und verdrängte damit das Licht, das der verhaßten Sonne ähnelte. Wieder war es dunkel im Tempel; aber diesmal war die Finsternis noch tiefer als vorher. Jetzt herrschte die Dunkelheit Kalis, deren Name ›schwarz‹ bedeutete.
Die Augen der Ehrwürdigen Tochter rollten nach oben. Sie sank auf die Knie. Sie war nicht die einzige in Trance, da narkotisierender Rauch aus den Ventilationsschächten zischte. »Kali!« flüsterten die Töchter. »Kali-ma!« »Töchter!« rief die Hohe Priesterin. Ihre Stimme schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. »Töchter, das Zeitalter der Sonne geht zu Ende. Heute nacht ist die Zeit Kalis. Regierungen werden stürzen, Nationen werden zerbrechen. Heute nacht hat sogar dieses dekadente Land der Mohn- und Lotusfresser die Kraft und die Verschlagenheit Ihres Zorns. Während Kalifornien singt und lacht, hat die Göttin bereits mit ihrer schwarzen Faust das goldene Haar fest im Griff.« »Kali-Kali-Kali-ma!« Schatten krochen wie schwarze Tinte in die Gehirnwindungen der Greisin, rissen ihre Geheimnisse und Sünden heraus und nährten sich von ihrer Scham. Sie bohrten so weit, bis sie ihre Galle herausspuckte. Doch immer noch schwieg sie und schluckte die bittere Blasphemie. »Wahrlich ich sage euch, Töchter: Die lange Nacht senkt sich herab. Kalis Zeitalter ist über uns. Wir leben im Zentrum des Sturms, in Kalis Auge. Unsere Mutter wird uns retten, wenn sie den schwarzen Balsam völliger Auslöschung ausgießt.« »Kali verschone mich!« schrie die Ehrwürdige Tochter. Sie konnte das Zerfleischen der schwarzen Klauen nicht länger ertragen. »Ich habe gesündigt! Ich habe einen Mann berührt!« Schweigen. Nach diesem Bekenntnis verstummte sogar die Hohe Priesterin. Die Finsternis war zwar noch bedrohlich, aber irgendwie normaler. Mehrere Kerzen flammten auf. Auch die Mutterflamme im Fenster des Allerheiligsten brannte wieder. Die Amtsgreisin raufte sich das Haar und flehte stumm um Gnade. Oh, wie würde die Göttin sie bestrafen! Jetzt würde sie
niemals sterben dürfen. Für immer mußte sie unter der brennenden Sonne dieses Kaliforniens aus Chrom und Plastik leben und das Lächeln der jungen Männer mit bronzefarbener Haut ertragen. Plötzlich erschien die Hohe Priesterin aus dem Nichts, packte sie an den Schultern und riß sie hoch. »Wie hast du gesündigt, alte Frau? Hast du bei deiner Mission versagt? Warum bist du nicht direkt zu mir gekommen? Wie konntest du scheitern? Wann bist zu zurückgekommen? Welcher Mann hat dich abgelenkt? Können wir dich nicht mehr allein lassen oder willst du unbedingt diesen Tempel mit deiner widerwärtigen Greisinnenlüsterkeit entehren?« »Bitte, bitte!« flehte die Ehrwürdige Tochter. »Im Wagen… da habe ich es berührt. O verzeih mir, Kali! Verzeih mir, Priesterin!« Die Hohe Priesterin schob die Alte durch die Tür nach draußen. »Hör auf zu flennen! Die Schmerzen, die du jetzt fühlst, sind nichts im Vergleich zu denen, die du als Strafe spüren wirst.« Da stand der schwarze Kombi. Es war alles still. Das Kind gab keinen Laut von sich. Vielleicht war es doch herausgefallen? Würde das die Hohe Priesterin gnädiger stimmen? Die Alte bezweifelte das. »Einen Mann, hast du gesagt. Wo?« Die Alte deutete mit zitternder Hand auf den Wagen. Die Hohe Priesterin und zwei Töchter traten an den Kombi, während andere – strenge Wächterinnen – die Ehrwürdige Tochter stützten. Die Hohe Priesterin wühlte zwischen den Säcken und Bündeln. Schließlich fand sie, was sie suchte, und stieß ein bitteres Gelächter aus. »Einen Mann, hast du gesagt?«
»Ein männliches Wesen, Priesterin! Ich meinte, ein männliches Wesen. Ich habe alles so gemacht, wie du es mir aufgetragen hast. Es lief auch alles perfekt. Der andere Kombi wurde aufgehalten. Das Kind fiel vom Himmel… aber… aber es kam das! Ich wollte nicht schauen, aber wie konnte ich… es… nicht sehen!« Unruhe machte sich unter den Töchtern breit. Einige blickten ängstlich zum Himmel. Aber gnädigerweise war noch kein Vorbote der Morgenröte zwischen den Ruinen zu sehen. »Nein, das war kein Mann«, erklärte die Hohe Priesterin und lachte. »Es war nicht einmal ein Knabe, liebe Ehrwürdige Tochter. Aber ich verstehe, wieso dir bei deinen schlechten Augen ein derartiger Fehler unterlaufen konnte.« »Ein Fehler?« sagte die Greisin hoffnungsvoll. Das Baby fing an zu weinen. Die Hohe Priesterin nahm die Windeln ab und hob den Säugling hoch in die Luft. Im schwachen Lichtschein aus dem Tempel sah die Greisin wieder das Ding, das sie auf der Straße so in Panik versetzt hatte. Doch nun – bei besserem Licht – erkannte sie ihren Fehler. Das Kind besaß weibliche Genitalien, eine haarlose Spalte, einen winzigen Hügel – und noch etwas. Es war kein Penis, sah aber fast genauso aus. »Siehst du, alte Frau?« Die Hohe Priesterin schüttelte das Baby. »Siehst du jetzt, was du für ein Zeichen der Männlichkeit nahmst? Es ist nichts, vor dem man sich fürchten muß. Nein, es ist ein Triumph. Das ist das Kind, das du holen solltest. Kein anderer Säugling ist mit dieser Ausstattung geboren worden.« Die Ehrwürdige Tochter konnte die Augen nicht von dem winzigen Schwänzchen wenden, das aber nicht aus Fleisch und Blut bestand, sondern ein Plastikschlauch war. Am Ende befand sich auch keine Eichel, sondern ein schlichter Metallverschluß.
Das Lachen der Hohen Priesterin hallte von den Hauswänden wieder. Weit in der Ferne hörte man – wie eine unabsichtliche Antwort – den Lärm der Stadt. Die Greisin stieß einen Seufzer aus und sank auf die Straße. »Ja, alte Frau, du hast Kali gut gedient.« Die Hohe Priesterin gab den anderen Töchtern ein Zeichen. »Gebt ihr die Belohnung, die Kali versprochen hat. Die Schwarze Nadel – Kalis Segnung!« Die Amtsgreisin jauchzte vor Freude und Erleichterung. Die Töchter umringten sie und halfen ihr auf die Beine. »Ist es nicht wunderbar?« jubelten sie. »Kalis Segnung!« »Noch heute nacht stirbst du!« »Dank sei der Göttin!« rief die Alte. »Ich wünsche dir einen schönen Tod«, sagte die Hohe Priesterin. »Du verdienst ihn.« Während die Töchter ihr zu dieser Belohnung verhalfen, blieb die Hohe Priesterin zurück. Sie hielt den Säugling an die Wange und sog die scharfen Gerüche der Nacht ein, die an dem warmen kleinen Körper hingen. Sie roch Schwefel, Schießpulver und den Messinggeruch menschlicher Angst. Nicht die Angst des Kindes, nein, aber die Angst der anderen, die es während der Nacht berührt hatten. Die eigene Mutter mußte sich vor dem Kind gefürchtet haben. Die Hohe Priesterin blickte zum Nachthimmel empor, der ein schwarzer Mahlstrom aus Rauch war. »Jetzt ist Kali deine Mutter«, flüsterte sie. Das Baby schrie erschreckt auf. »Ja, Tochter, wir alle sind ihre Kinder. Aber für dich hält sie etwas ganz Besonderes, Einzigartiges bereit.« Das Kind beruhigte sich und blickte die Hohe Priesterin mit den goldenen Augen an. Das kleine Mädchen war schöner als
sie gedacht hatte. Seine Augen leuchteten wie die Sonne. Aber diese Sonne würde der anderen ein Ende bereiten. »Zur Ehre dieser Nacht sollst du einen besonderen Namen erhalten. Ja, Tochter. Von nun an sollst du Kalifornia heißen.«
TEIL ZWEI
4 SKLAVENAUFSTAND
Alfredo Figueroa stand an der Fensterfront auf Meereshöhe. Er hatte die Daumen in die Hosenträger gehakt, die nie aufhörten zu kratzen, und blickte hinaus, wo eine einsame Gestalt mit langem, sonnengebleichtem Haar auf den Wellen zu stehen schien. Sandy hatte etwas gefunden, das ihm in der Firma Spaß machte: Er surfte auf den Brechern, die sich an einer Ecke des Meereskratzers bildeten. Alfredo gönnte sich dagegen keine Minute Vergnügen, sondern widmete sich ganz dem Geschäft. Er hatte geglaubt, daß die Arbeit ihn von dem Kummer ablenken würde, aber sie war nur eine zusätzliche Bürde geworden. Die Gedanken an Marjorie gingen nie fort, sie konnten nicht zugeklebt werden, nicht einmal von den Papierbergen der Bürokratie. Alfredo hatte der Firma die Chance eingeräumt, ihn zu heilen, ihm alle Gefallen zurückzugeben, die er – als Amerikas Lieblingsvater – der Geschäftswelt erwiesen hatte. Er hatte als die Verkörperung eines lebenden Sponsors gelebt. Drei Jahre arbeitete er nun schon hier – aber nichts hatte sich gebessert. Am schlimmsten für die Öffentlichkeit war, daß nach den Figueroas keine Familie mehr gekommen war, die auch nur teilweise so beliebt geworden wäre. Es war, als hätte das Publikum selbst eine Mutter verloren und miterleben müssen, wie die Familie zerbrach. Das war auch die bittere Wahrheit. Die meisten Zuschauer hatten nie eine heile eigene Familie gehabt – und schon gar keine mit so klaren und festen Banden wie die Figueroas. Wir waren ein Hort der Stabilität, dachte Alfredo stolz. Wir waren immer für die Menschen da. Mit all unseren Problemen.
Auf uns konnten sie zählen. Unsere Drähte waren ihr moralisches Rückgrat. Und dann… dann haben wie sie sitzenlassen. Wir haben uns gedrückt. Sind einfach weggelaufen. Abgehauen. Kein Wunder, daß ich mir seitdem beim Rasieren nicht mehr ins Gesicht blicken kann. In einer Zeit, in der uns die Menschen am nötigsten brauchten, haben wir sie verlassen und die Tatsache ignoriert, daß unsere Probleme ihre Probleme geworden waren. Es war wirklich nicht fair, ihnen unsere Unterstützung einfach so zu entziehen. Wer weiß, welche anderen Einflüsse in die Lücke geströmt sind, die wir zurückließen? Schließlich waren wir gesund und traditionell – dafür sorgten schon unsere Zensoren beim Sender. Wir waren eine lebende Therapie. Ob sie uns wieder annehmen würden? Ob sie uns – oder denen, die noch von uns übrig sind – wieder trauen würden? Warten sie auf die nächste Staffel oder haben sie das Interesse verloren? Brauchen die Menschen uns genauso wie wir sie? Nein. Die Heilung, die ich brauche, ist nicht hier in dieser Weltabgeschiedenheit. Man muß in der Welt stehen und sie in sich hineinlassen. Das ist der einzig faire Weg, sich in eine Veränderung zu begeben. »Mr. Figueroa«, sagte jemand. »Ihre Prophetin ist da.« Alfredo wandte sich vom Fenster ab. »Ich lasse bitten.« Er hatte Schmetterlinge im Bauch, als sei er wieder ein Junge. Es war wie Drahtfieber. Dabei war er nicht auf Sendung. Außerdem schützte ihn das Antidrahtshowfeld des Gebäudes davor, irgendein Signal außer speziell codierten Geschäftssignalen zu empfangen. Die Prophetin machte ihn immer nervös und aufgeregt. Die Vorfreude, sie zu sehen, brachte ihn oft dazu, die Gedanken auf Metaphysik und Philosophie zu richten. Lautlos betrat sie den Raum.
»Prophetin«, sagte er und verbeugte sich. Er bekämpfte die Nervosität mit Förmlichkeit. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht sofort mit all seinen Zweifeln herauszuplatzen. Die Prophetin glitt zum Schreibtisch und streckte ihm die Hand entgegen. Sie trug ein weites, bauschiges Gewand aus bunten Schleiern. Goldketten mit Amethyst-Pyramiden, Bergkristallen, alten Sicherungen, Perlen aus Papiermache, Türkisen, Kobold-Talismanen, Monopolyspielfiguren, Mäuseschädeln, Haifischzähnen, Zahngoldfüllungen, durchbohrten Tektiten, Hufeisenmagneten, Ginseng, Wurzeln vom heiligen Johannes dem Eroberer, gestrickte MojoSäckchen, Fettwurz-Yonis, Wachs-Phalluse, winzige flackernde Neon-Mandalas, Messingglöckchen, antike Fernseher aus Seifenstein… Alfredo nahm die duftende Hand und küßte sie. Die Prophetin drehte ihm die Handfläche zu. Verblüfft sprang er zurück. Ein Auge blinzelte auf der offenen Hand. Sie lachte über seine Verblüffung. »Es ist nur ein Hologramm, Alfredo. Keine Angst.« Das Auge verabschiedete sich blinzelnd, als sie die Hand zurückzog. »Es sieht so echt aus«, sagte er staunend. »Na, das soll’s auch! Aber es ist nur eine Illusion. Durchbohre den Schleier! Erinnerst du dich? Nimm niemals etwas für bare Münze.« »Ich versuche, daran zu denken«, sagte er ernst. »Ich sage mir immer wieder, daß es… daß alles unreal ist. Ist das richtig?« »Ja, unreal. Ein Traum, ein Tanz. Maya.« Alfredo überlegte. Waren alle seine Gedanken an das Publikum auch illusorisch? Was wußte er wirklich von der Welt, jenseits des verfeinerten Bereichs, den er bisher bereist
hatte? Nichts! Nur was er von den Drähten aufgeschnappt hatte. Und seine Programmwahl wurde – wenn auch unabsichtlich – durch seinen jeweiligen Gemütszustand so abgestimmt, daß sie seinen Erwartungen entsprach. Welche Beweise hatte er, daß sein Publikum aus isolierten Individuen bestand, die nicht über eigene Familien verfügten? Könnte man nicht sagen, daß ›Einsicht‹ lediglich seine eigene Verzweiflung reflektierte und das begrenzte Ausmaß seiner Erfahrung? Die Prophetin hob die Hände über den Kopf und drehte einige schnelle Schritte einer Tarantella, um Alfredos Aufmerksamkeit zu erregen. Er erstarrte und war ihr willenloses Opfer. Sie ließ die Arme sinken und ging um den Schreibtisch herum. »Sag mir, was dir Sorgen bereitet, Alfredo. Ich sehe Angstfalten auf deiner Stirn. Ein dunkle Wolke ist über deinem Scheitelchakra, und Knoten sind in deinem Sonnengeflecht.« Ihr Gesicht wurde ernst, als sie auf seine Lenden hinabblickte. »Nein so was! In deinem Wurzelchakra ist etwas, das wie ein Haarknäuel aussieht, mit Specköl und Stahlwolle…« Alfredo mußte lächeln, als er das hörte. »Das verlangt nach sofortiger Behandlung durch einen Experten. Du brauchst eine gründliche Kundalini-Reinigung deines Abflußsystems. Wie konntest du das so lange verschlampen?« Mit geschickten Fingern öffnete sie die Verschlüsse von Alfredos Gürtel und Hose. Dabei sang sie leise und monoton vor sich hin. Glöckchen klingelten, als sie den Kopf senkte. Die Schleier verbargen ihre Aktivitäten; aber Alfredo spürte sie durchaus. Er stöhnte und wich zurück. Dann stützte er sich auf den Schreibtisch, als sich die Nebel des mentalen Geschwätzes langsam teilten…
Plötzlich sauste Sandy an den Fenstern vorbei – keine drei Meter entfernt – und winkte fröhlich ins Büro. Dann fiel ihm allerdings der Unterkiefer runter, als er seinen Vater und die Seherin sah. Er verlor das Gleichgewicht und fiel vom Brett. Die Welle trug ihn mit sich fort. »Großer Gott!« sagte Alfredo. »So patriarchalisch!« tadelte die Prophetin und hob den Kopf. »Kein Wunder, daß du so viele Probleme hast.« »Nein, nicht das. Mein Sohn.« »Er macht dir Sorgen? Nun, gönne deinem Verstand Ruhe.« Sie stand auf und preßte sich dicht an ihn. Ein spitzer Nagerzahn piekste durch sein Unterhemd. »Wir müssen die volle Kundalini aktivieren. Schlangen zeugen.« »Nein – nein, jetzt nicht.« Alfredo blickte zum Fenster hinaus. Sandy schwamm mit einem Arm über dem Brett davon. Alfredo räusperte sich, stopfte seine schlaffe Nudel in die Wäsche und zog die Hosen hoch. Er konnte die Hosenträger nicht spannen. Fluchend riß er sie ab und warf sie in den Reißwolf. Die Prophetin setzte sich auf seinen Sessel, holte einen winzigen Spiegel heraus, den sie an einer Kette um den Hals trug, und überprüfte die Lippen. »Na ja, vielleicht brauchst du ein kleines Geschäft«, meinte sie. »Ich habe mich schon überall umgeschaut, aber noch nichts gefunden.« Alfredo verstand sie falsch. »Umgeschaut? Nach dem Baby?« »Natürlich geht’s um das Baby, was sonst? Siehst du, was passiert, wenn du die schlafenden Schlangen nur störst, sie aber nicht richtig weckst? Dein Kopf ist voll mit konsendiertem Samen. Du mußt das chi zirkulieren, es wieder in das Bronzegefäß herabziehen – oder die Alchemie aufgeben.«
Alfredo seufzte und setzte sich auf die Schreibtischecke. »Na ja. Also nichts Neues.« »Ich habe dir gesagt, daß du nicht zu viel erwarten darfst. Selbst wenn die Kidnapper ihre Pläne über die Drähte hinausposaunen würden, sind die Chancen, sie zu hören… du von allen Menschen solltest doch am besten wissen, wieviel an Informationen jeden Tag durch uns hindurchgeht. Wir baden darin. Ein winziges Stückchen Wahrheit über deine Enkelin herauszufischen ist wie… wie zu versuchen, einer einäugigen Schildkröte in einem Ozean, so groß wie das Universum, ein Hundehalsband überzustreifen.« Alfredo schaute sie groß an. »Wie bitte?« Die Prophetin winkte ab. »Ein altes buddhistischen Sprichwort, das große Schwierigkeiten bezeichnet! Eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen, ist gar nichts im Vergleich. Ich werde mit falschen Informationen bombardiert. Die Drähte laufen heiß mit Spekulationen und Gerüchten. Überlastung! Niemand weiß etwas, Alfredo. Wenn, dann würde ich es auch wissen. Und dann würdest du es als erster erfahren.« Er ergriff ihre Hände. »Ich danke dir, Prophetin.« »Du brauchst dich nicht zu bedanken, Alfredo. Du bist ein alter Freund. Kreuze meine Handflächen nur mit Kredit an.« Er nickte. »Ich mache die übliche Überweisung. Und du gibst auch bestimmt nicht auf?« »Nicht, bis die Schildkröte an der Leine ist.« Die Seherin stand auf. »Du weißt, daß du mich jederzeit rufen kannst. Und schalte mal nachmittags die Show ein. Es wäre nett, zur Abwechslung einen Gentleman im Publikum zu haben.« »Du weißt, daß ich die Show hier nicht empfangen kann«, sagte er. »Aber ich nehme mir mal einen Nachmittag für dich frei.«
»Du bist lieb.« Sie küßte ihn auf die Wange und ging zur Tür. Dann blieb sie stehen. »Ach, Alfredo. Beinahe hätte ich es vergessen. Es gibt da Gerüchte… über dieses Gebäude.« »Was für Gerüchte?« »Genaues weiß ich auch nicht. Ich habe eine codierte Leitung angezapft. Aber vielleicht hast du das karma der Firma geerbt.« »Großartig!« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mir schon überlegt, hier wegzugehen. Vielleicht zurück nach Hollywood.« »Schau in dein Herz, Alfredo. Wenn du dort keine Antwort findest, frage ich mal bei den Sendern, ob sie eine freie Stelle haben.« »Danke, Prophetin.« »Ciao. Einen schönen Tag noch.« Die Tür schloß sich hinter ihr. Alfredo schaute wieder aufs Meer. Sandy surfte jetzt in diskreterer Entfernung. Er sah seinem Sohn eine Zeitlang zu und wartete, daß sich seine Gedanken klärten. Gerade wollte er wieder an die Arbeit gehen, als sich etwas auf dem Wasser bewegte. Es kam vom Ufer. Schnell drückte er auf den Vergrößerer am Fenster und erstarrte vor Schreck. Die Angst wich schnell einer tiefen Resignation. Zeichen und Omen bedrängten ihn. Er brauchte nicht in sein Herz zu schauen, um zu wissen, was sie bedeuteten. Es war Zeit, den Meereskratzer zu verkaufen und aus dem Geschäft auszusteigen. Jetzt.
Das Meer war kabbelig, grau und eiskalt. Aber in dem isolierten Anzug spürte Sandy die Kälte kaum. Ein schöner Brecher kam um die nordwestliche Ecke des Meereskratzers.
Er saß rittlings auf dem hellgrünen Turbo-Hyperflex-Brett, zählte die Wellen, arbeitete das Muster heraus und ging wieder in die notwendige Trance. Es ging ihn schließlich nichts an, was Papa tat. Er war auch nur ein Mensch. Sollte er den Rest des Lebens im Zölibat verbringen, nur weil seine Lebenspartnerin durch einen Unfall ums Leben gekommen war? Ich bin hier um zu surfen, nicht um zu richten. Sandy zog den Kopf ein, kniete sich hin und griff unters Brett. Winzige, kräftige Handgelenkpropeller zogen ihn in die konkave Höhlung der Welle. Er suchte nach den Handschuhen in einem Fach. Die Gebäudereinigungsleute benutzten sie, wenn sie Fenster unterhalb der Wasserlinie putzen mußten. Die Welle packte ihn. Er hielt sich an den Seiten des Bretts fest, zog die Knie an und kam zum Stehen. Jaaa! Er schoß an einer Fensterfront vorbei. Das war die seltsamste Welle, die er je erlebt hatte. Sekretärinnen hörten auf zu tippen. Leitende Angestellte standen mit den Kaffeetassen an den Lippen da und starrten ihn an. Sandy winkte. Er fühlte sich besser als high. Er fühlte sich richtig lebendig. Nein, so ein Schreibtischjob war nichts für ihn! Mehrere Angestellte winkten zurück. Er konnte sie nicht hören, hatte aber den Eindruck, daß sie ihm zujubelten, während er an den Farntöpfen, Makrameeblumenampeln, Monitoren, Hausmeistern und Personalchefs vorbeizischte. Alle schauten ihm voll Bewunderung und grünem Neid in den Augen hinterher… Jetzt aber Tempo! Er fuhr zu weit vor der Welle und verlor Geschwindigkeit. Es war teuflisch schwierig in diesen Gewässern. Wenn er nicht richtig über den Wellenkamm glitt und ins Tal abrutschte, war er im Eimer. Tiefes Wasser war keineswegs so weich wie ein
Kissen. Er hatte Angst, gegen den Meereskratzer geschleudert zu werden. Mit Mühe schlängelte er sich auf den Kamm. Jetzt ritt er eine Herde weißer und grüner Hengste ins Tal und überblickte sein Privatmeer. Jetzt schien er direkt in den Himmel hinaufgetragen zu werden. Er streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Jessie Christ in einem limonengrünen Surferanzug. Vielleicht würde es ihm doch in der Firma gefallen, wenn er so seine Zeit verbringen konnte. Doch dann packte ihn ein anderes schwindelerregendes Gefühl und zog ihn zurück auf die Erde – zumindest auf den Ozean. Und? Rate mal! Sandy war von der köstlichen Sicherheit des Bretts abgerutscht. Spuckend tauchte er wieder auf. Das Wasser schmeckte nach Jod und Öl. Er paddelte dahin und wartete, bis das Brett zurückkam und ihn auffischte. Schnell kletterte er wieder drauf, kniete sich hin und blickte nach Osten zur Küste. Boote. Das war nicht die übliche Flotte von Wassertaxis und Fähren. Dafür war es zu früh am Tag. Diese Boote sausten über das Wasser, ohne auf die Schläge der Wellen zu achten. Irgendwie schoß Sandy das Wort ›Piraten‹ durch den Kopf. Vielleicht lag es daran, daß die Männer Kanonen bei sich hatten. Sandy steckte die Arme ins Wasser und steuerte nach Süden, entlang der Ostseite des Meereskratzers. Das Wasser war hier besonders kabbelig. Er machte sich ganz klein, um sich vor den Booten zu verstecken. Offenbar waren es noch viel mehr, als er gesehen hatte. Das Dröhnen der Motoren, das Geschrei der Besatzungen drang mit dem Wind zu ihm. Dunkle Vorahnungen senkten sich auf ihn. Ein einzelner Surfer gegen eine Flotte von Piraten? Wieder eine Seeschlacht für eine historische Show?
Er drückte auf den Sprechfunkknopf am Bug des Bretts. »Corny? He, Corny, hörst du mich?« Der Lautsprecher krächzte und knackste. Wellen schlugen auf ihn. »Ja, Sandy?« »Hast du in letzter Zeit mal einen Blick auf die Küste geworfen?« »Ja, habe ich.« »Warum hast du mir nicht gesagt, was da los ist?« »Wir sind nicht sicher, was geschieht. Ich warte auf Anweisungen von Ihrem Vater.« »Du hättest mich zumindest warnen können! Ich sehe hier unten überhaupt nichts, du Trottel. Bring die Schlinge rum und hol mich rein!« Schwärme von silbrigen Fischen tobten unter Sandy durchs Wasser. Wie Quecksilbertropfen spritzten sie vor dem Gebäude auseinander. Sandy hielt eine Hand über die Augen und spähte wieder nach Osten. Da rasten die Boote übers Wasser. Er schaute nach oben. Cornelius betätigte den großen Kran und senkte den Arm mit der Schlinge aufs Wasser. Das dauerte! Am liebsten wäre Sandy vom Brett gesprungen und getaucht. Die Boote waren wie ein Hornissenschwarm, der jeden Augenblick stechen konnte. Schnell packte er die Schlinge und hakte sie in den Karabiner an seinem Anzug. Dann klinkte er noch das Brett ein. Sofort ging er in die Höhe. Er drehte sich um die eigene Achse. Immer wenn er nach Osten ausgerichtet war, sah er aus der Luft fünfzig bis sechzig dicht besetzte Boote. Einige hatten silbrige Kanonen im Bug. Als sie auf den Meereskratzer zufuhren, teilten sie sich wie Elritzen um einen Baumstamm. Cornelius hievte Sandy auf das Dach. Eine Spezialabteilung Seehundmänner – der Sicherheitsdienst für die Firma – lief aus der Garage und riß sich die Kleider vom Leib. Jetzt sah man die glänzenden dunklen Felle. Alle waren schlank aber
muskulös und trugen Gurte mit Holstern für Waffen und Messer. Sandy hatte den Seehundmännern mehrmals bei ihren morgendlichen Freiübungen auf dem Dach zugesehen, wobei sie Hymnen sangen; aber er hatte die Truppe noch nie im Einsatz erlebt. Einen Augenblick lang wurde ihm um die Menschen in den Booten Angst. »Gehst du mit, Corny?« Cornelius betrachtete angeekelt das Wasser und schüttelte sich. »Ich kann nicht schwimmen.« Sandy machte große Augen. »Und dann nennst du dich einen Seehund?« »Einen Verbannten.« Der Anführer der Seehundmänner bellte einen Befehl. Dann sprangen alle von der Dachkante. Sandy lief zu der niedrigen Mauer und sah ihnen zu, wie sie tauchten. Anmutige braune Körper teilten das Wasser und glitten unter der Oberfläche dahin. Trotz der bedrohlichen Lage auf See war ihr Anblick atemberaubend schön. Welche Bedrohung stellten diese Boote eigentlich dar? Wie als Antwort auf Sandys Gedanken, stellten die Boote die Motoren ab. Die Männer entfalteten segelgroße Transparente. Schnell fing sich der Wind darin und blähte sie. Sandy las laut die kühnen Worte: »DRÄHTE FÜR DIE ARBEITER! SENDUNGEN BILDEN! BIST DU NICHT LIVE, BIST DU TOT!« Verwirrt blickte er Cornelius an. »Hört alle her!« ertönte eine Stimme. Im Bug des größten Boots stand ein Mann. Lautsprecher waren an seinen Hüften befestigt. Er hielt ein Mikrophon vor die Lippen. »Die Zeit ist gekommen, daß auch wir Arbeiter Drähte bekommen! Acht Stunden tote Zeit ist ein tägliches Verbrechen – schlimmer als Mord. Es schneidet uns vom Rest der Welt ab.«
Irgendwie stimmte das. Allerdings hegte Sandy Zweifel, ob es illegal sei. Bürogebäude waren teilweise vom Netz ausgeschlossen. Computer und Computerverbindungen waren erlaubt, aber kommerzielle Sendungen waren blockiert, mit Ausnahme von Probealarmen. Dann schrillten die Sirenen und lähmten alle bis ins Mark. Es war nicht effizient, Arbeitern zu gestatten, ihre Lieblingsprogramme zu genießen, während sie zum Wohl der Firma schaffen sollten. Wer konnte sich auf zwei oder mehr Welten gleichzeitig konzentrieren? Die Firma trat im Bewußtsein zurück, sobald verlockendere Themen auftauchten. Dann litt die Arbeit, das arme Ding. Einige Firmen hatten in eine milde Form der Sinnesstimulation investiert – eine Art Ganzkörper-Muzak –; aber man hatte diese gelegentlichen Reize mit dem Ansteigen von nervösen Beschwerden in Zusammenhang gebracht. Drahtstille war sicherer. Der Mann im Boot schrie weiter: »Wir sind gekommen, um unsere Forderung mit einem Opfer zu untermauern! Gemeinsam haben wir die Macht, euch Firmentyrannen zu stoppen! Gegen uns seid ihr machtlos!« »Redet der zu mir?« fragte Sandy. Im nächsten Augenblick knallte es. Möwen flogen erschreckt hoch. Aus den Kanonen stiegen Flammen mit langen Rauchfahnen auf. Sandy geriet so in Panik, daß er beinahe in das von Seehundmännern wimmelnde Meer gesprungen wäre, um sich zu retten. Doch der Rauch hatte keine tödliche Wirkung. Er stank nicht einmal. Die Luft über den Booten färbte sich schwarz, während das Gebäude unversehrt blieb. Sandy wartete, daß der Wind den Rauch vertriebe. Aber das Zeug war zäh. Schweigen breitete sich aus, während er mit Cornelius abwartete, was die Demonstranten als nächstes tun würden. Da kamen langsam die ersten Boote aus dem Dunkel.
Sie waren leer. Kein Zeichen der Demonstranten. Die Seehundmännertruppe schwamm im Kreis umher, da niemand ein Angriffsziel sah. »Wo sind sie hin?« schrie Sandy dem Anführer der Seehundmänner zu. »Untergetaucht!« brüllte dieser zurück. Sandy lief zum Aufzug. Einige Stockwerke tiefer hielt der Lift. Sein Vater stieg zu. »Hast du das gesehen?« fragte Alfrede. »Teilweise«, antwortete Sandy. Der Aufzug fuhr weiter nach unten. Alfredo schüttelte den Kopf. Er zitterte am ganzen Leib. »Bis jetzt hatte ich noch nie Feinde.« »Das sind nicht deine Feinde«, sagte Sandy. »Das sind deine Fans. Du hast die Firmenpolitik des Meereskratzers nicht festgelegt.« »Ich… ich will doch nur geliebt werden!« »Das tun wir alle«, meinte Sandy trocken. »Mein Publikum…« »Ich weiß, Papa. Das sind die Menschen da draußen.« Die Türen des Aufzugs öffneten sich. Sie standen auf einem dunklen stillen Korridor. Am Ende des Gangs preßten sich viele Menschen vor die Fenster und starrten in das grünlich schimmernde Wasser. Man machte Alfredo und Sandy Platz. Draußen sanken die Demonstranten langsam, wie in Zeitlupe, vorbei. Jetzt sah Sandy, was ihm auf der Oberfläche verborgen geblieben war. Jeder Demonstrant hing in Ketten mit schweren Gewichten. Ein Junge, nicht älter als Ferdi, trug Handschellen. Sie waren mit einer langen Kette an einen Stockanker befestigt, wie Sandy ihn nur von Tätowierungen oder auf Popeye-Cartoons gesehen hatte. Die meisten Ertrinkenden waren in Sandys Alter oder jünger. Er staunte voll Entsetzen über ihre selbstlose Hingabe für eine so törichte, tödliche Sache. Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern ertranken
sie ruhig und absichtlich für das Recht, Drähte zu tragen. Er fragte sich, welche Programme sie in diesen letzten kostbaren Zuschauerminuten wohl sahen. Er hoffte, daß die Shows gut seien. Sie könnten mich sehen, dachte er. Wiederholungen, aber trotzdem mich. Vielleicht sollte ich da draußen bei ihnen sein und mein Leben für die Drähte riskieren. Verdammt, diese Jungs haben mich reich und berühmt gemacht. Was habe ich je für sie getan? Na klar, wir haben zusammen gelacht und ein paar Tränen vergossen. Na und? Bin ich je für irgend jemand gestorben? Sandy hatte genügend Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen. Die Demonstranten sanken verdammt langsam. Sandys Atem schlug sich auf der Fensterscheibe nieder. Wie ironisch, daß er Atem ans Fenster verschwendete und die Ertrinkenden mit der Nähe von so viel Sauerstoff quälte. Aber diese bemerkten es nicht. Ihr Augen waren auf eine andere Szene gerichtet. »Sandy«, sagte sein Vater mit brüchiger Stimme und riß ihn aus der Versenkung. Alfredo klang krank. »Wir müssen tiefer fahren. Wir müssen… das bezeugen. Sie tun es für uns – nicht nur gegen uns.« Der Aufzug brachte sie diesmal viel, viel weiter in die Tiefe. Hier unten ging die Arbeit wie gewöhnlich weiter. Offenbar hatte noch niemand etwas von oben gehört. Da! Jetzt summten einige Telefone. Als die Figueroas eintraten, hielten alle mitten in der Bewegung inne. Alle Gespräche verstummten. Die Aufseherin verließ ihre Plattform und kam mit breitem Lächeln näher. Vater und Sohn ignorierten sie und gingen direkt zu einem Fenster. Sandy spähte ins dunkle Wasser hinaus. »Guten Tag«, sagte die Aufseherin. »Ist das eine Überraschungsinspektion?«
Alfredo winkte ihr zu schweigen. Es kam Sandy so vor, als sähe er draußen dunkle Schemen. Aber es war zu dunkel, um sicher zu sein. Plötzlich wurde eine Lampe hinter der Scheibe eingeschaltet. Das Licht beschien die Züge einer dunkelhäutigen Frau. In ihren Augen war kein Leben mehr. Nur die Ketten glitzerten, die sie nach unten zogen. Die Lampe gehörte ihr. Jetzt fiel ihr Schein auf ein großes Banner, das sich über ihr entrollt hatte und das sie mit ihrem Gewicht strammzog. Darauf stand: STIMMT JA BEI PETITION 5,997! Jetzt gingen noch mehr Lampen an – oben und unten. Weitere Spruchbänder schwebten wie Schlingpflanzen durchs Wasser. Alle Menschen dieses Stockwerks drängten sich jetzt an die Fenster, Sandy wich zurück. Er hatte das unsinnige Gefühl, die Scheibe müßte gleich brechen und sie würden alle hinaus ins Meer getrieben – hinaus zu den Toten – oder die Toten zu ihnen herein. Alfredo umklammerte Sandys Arm. »Ich kann nicht mehr. Sie sind alle… wie Kinder für mich.« Sie sind deine Kinder, Papa, dachte Sandy. Du warst für die meisten ein Vater. Damit sind sie eigentlich meine Brüder und Schwestern. Manche könnten sogar ich sein. Jetzt, während sie sterben, während der Verstand stehen bleibt, während Drähte das letzte Fünkchen Leben transportieren… könnten sie träumen, daß sie der gute alte Sandy Figueroa sind. Armer Sandy. Armer Jeder. Kurz darauf waren sie wieder bei Cornelius auf dem Dach. Der Sicherheitsdienst der Seehundmänner sammelte die Boote der Demonstranten ein, ehe sie wegtrieben. »Komm, Corny, ich will weg von hier«, sagte Sandy. »Können wir dich irgendwohin mitnehmen, Papa?« Alfredo schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich fahre nach Hause. Hollywood. Ich will ein paar Sachen… in Ordnung
bringen. Sandy, ich… ich will nicht, daß du die Firma übernimmst. Es ist nicht die richtige Arbeit für uns. Ich weiß eigentlich nicht mal genau, was diese Firma macht. Aber ich weiß, daß es… das nicht wert ist.« Er machte eine hilflose Handbewegung auf die Wellen. »Ich werde sie verkaufen – nein – verschenken! An die Familien dieser Menschen, falls sie welche haben.« Dann senkte er den Kopf und weinte. Sandy wandte sich ab. Er wußte nicht, was er denken oder fühlen sollte. Für dieses Szenario gab es keine Modelle. Wahrscheinlich hatte nicht einmal Danny Bonaduce so etwas erlebt, wie das Schreckliche hier. Cornelius steuerte stumm den lindgrünen Jaguaero landeinwärts und überließ Sandy den Frieden, den er brauchte, um seine Gedanken zu ordnen. Anfangs blickte er überhaupt nicht durch. Er hatte das Gefühl, daß seine Seele ein Auge ohne Lid war. Der Schock hatte ihn für eine Kanonade markerschütternder Drahtshows aufgerissen: Detonationen, eklige Farben und – was am schlimmsten war – die klebrige künstliche Süße der öffentlichen Therapiekanäle, welchen ihn mit unangemessen milden Ratschlägen und ruhigen Bildern quälten. »Liebe dich! Liebe deinen Nächsten! Laß dir von Dr. McNgyen zeigen, wie…« Nachrichtensendungen überschlugen sich mit Meldungen über Massenselbstmorde in allen Teilen des Staats. Sandy schaltete sie ab und wechselte zu einer Friedensstation. Ihr Signal war ein weicher Messinggong, der monoton klang, aber ihm bei geschlossenen Augen intensive Harmonie brachte. Jede Körperzelle begann zu vibrieren. Vielleicht brauchte er ein Nickerchen. Cornelius räusperte sich. »Wäre es vermessen, wenn ich frage, wohin wir fliegen?«
»Hm.« Sandy machte die Augen auf und sah Dächer, Swimmingpools und verkrüppelte Walnußbäume. Sie waren weiter geflogen, als er gedacht hatte. »Sacra-Delta?« fragte er. »Der Reverend Gouverneur?« »Ach was, bloß so ins Blaue! In Ordnung?« Cornelius ging höher, um dem örtlichen Luftverkehr nach Südosten auszuweichen. Der Sacra-Delta-Komplex lag im Herzen der Franchise. Früher war der Regierungsdistrikt ein baulich schönes Ensemble gewesen, jetzt war hier einer der heruntergekommensten Bezirke der Stadt. Ein transparenter Berg krönte die glitzernde Kuppel des Capitoleinkaufszentrums. Er war ein Machwerk aus Transportröhren, Metallstreben und winzigen Büros, wo man sehen konnte, wie die Beamten Papier in die Reißwölfe steckten oder Haare schnitten. Manche leisteten sich in der Kaffeepause ein Quickie in den mit Onanimaten ausgerüsteten Aufenthaltsräumen aus Glas. Als Krönung war oben ein goldenes Spitztürmchen: Das Hauptquartier von Thaxter Halfjest. Cornelius schaute Sandy fragend an; doch dieser schüttelte den Kopf. Sie flogen in weitem Bogen von diesem Phantasieland der Bürokratie über dicht belebte Straßen weiter. Sandy hätte sich dort unten in den Kneipen und Kaschemmen vergnügen können; aber er brauchte jetzt jemand, mit dem er reden konnte. Er brauchte einen Freund, jemand, der die Ambivalenz seiner Gefühle den Drähten gegenüber verstand. »Sehen Sie!« sagte Cornelius. »Ich glaube, da unten ist jetzt die Navarro-Valdez-Ranch.« »Stimmt«, sagte Sandy. Er wollte Cornelius wegen dieses offensichtlichen Versuchs, ihn fröhlicher zu stimmen, tadeln. »Was für ein Zufall. Ich habe gerade an Dyad gedacht.«
Auf einem kahlen, unkrautfarbigen Platz inmitten der dicht bebauten Franchise standen mehrere Häuser im spanischen Stil. »Was meinst du, wollen wir Raimundo und Dyad mal besuchen?« Cornelius steuerte direkt auf die Ranch zu. Sandy wartete, daß jemand über Funk ihre Identität kontrollieren würde. Er wartete immer noch, als sich zwei Silbernadeln vom Boden erhoben. Zwillingsrauchwölkchen stiegen hinter ihnen auf und streckten die Fühler nach dem Jaguaero aus. »Vorsicht!« Cornelius zog das Luftauto im letzten Augenblick hart nach oben, weg von der Ranch. Raketen explodierten an der Stelle, wo sie soeben noch geflogen waren. Druckwellen schüttelten den Jaguaero wie die Hand eines zornigen Vaters. Sandy lachte nervös und beugte sich zum Funkgerät. »He, Rancho Navarro-Valdez, ihr habt uns beinahe abgeschossen! Ich bin ein alter Freund der Familie.« »Nennen Schie Name und Grund Ihres Beschuchsch«, sagte eine Stimme mit leichtem Sprachfehler. »Ich bin Santiago Figueroa. Ich möchte Mrs. Navarro-Valdez meine Aufwartung machen.« »Schie haben keinen Termin.« Das war eine klare Antwort. »Die Idee ist mir ziemlich spontan gekommen.« »Alle Beschucher müschen von Raimundo Navarro-Valdesch genehmigt werden. Er ischt gesssäftlich unterwegsch.« »Hören Sie! Sagen Sie Dyad, daß Sandy hier ist und sie besuchen will!« »Landeerlaubnisch wird nur erteilt für rein gesssäftliche Angelegenheiten. Sssaffen Schie Ihr Luftauto weg, schonscht zerschtören wir esch.« »Blöde Schau!« flüsterte Sandy.
Er gab Cornelius das Zeichen, außerhalb des gesperrten Luftraums über der Ranch zu kreisen. Die Gebäude der hacienda sahen wie weiße Zähne auf dem trockenen, staubigen Land aus. Sandy dachte an Dyad. Offenbar war sie eine Geisel im Haus ihres Ehemanns. »Der einzige Freund, den ich auf der Welt habe«, sagte er. »Und jetzt kann ich sie nicht mal besuchen, wenn ich will.« Er musterte die Türme Sacra-Deltas in der Entfernung mit neuem Interesse. »Na schön! Dann zu Thaxter! Aber wir wollen ihn in seinem trauten Heim aufsuchen. Das Einkaufszentrum geht mir im Moment zu sehr auf den Sack.« Sie bogen von der Ranch ab. Hinter ihnen ertönte wieder eine Detonation – der Abschiedsgruß. Das Radio hatte Sandys gelispelte Bemerkung übertragen. Östlich vom magischen Berg der Regierung und nördlich der Ranch von Navarro-Valdez lag ein Besitz, der im Gegensatz zu dem schmutzigen Gitterwerk der Vorstädte wie ein Rummelplatz im Grünen aussah. Luftautos schossen auf und ab wie Bienen, die einen unendlich tiefen Nektartopf gefunden hatten. Hier brauchte Sandy keine Angst zu haben, abgeschossen zu werden. Der Gouverneur hieß alle Besucher willkommen. Cornelius parkte den Jaguaero auf einem der beiden eigens für die Figueroas reservierten Plätze eines gut besetzten Parkhochhauses. Das waren die Vorteile, die Ruhm und Reichtum mit sich brachten, dachte Sandy: Im ganzen Land Parkplätze! Und eine Masse Fanatiker, die bereit waren zu sterben, damit sie während der Arbeitszeit in deine Unterhosen kriechen können. Sandy und der Seehundmann gingen über einen Rasen aus schwammigem hybriden Dichondra, der unter den Füßen überraschende Düfte verströmte. Bei einem Schritt roch es nach Rosen, beim nächsten stank es nach Knoblauch. Sie
stapften durch einen Duftdschungel aus Flieder, Roastbeef, Rosmarin, Limonenverbera und Rum. Zum Glück wehte eine leichte Brise. Die frische Luft hinderte die Wohlgerüche daran, allzu stark zu werden; denn dann wäre einem nach einigen Schritten mit Sicherheit kotzübel geworden. Durch Wolken von heißem Kakao und gebratenen Zwiebeln schritten sie eine breite, goldene Treppe hinauf. Die übliche Menschenmenge schob sich durch die unteren Stockwerke des Hauses. Einige standen in schummrigen Bars und murmelten leiser als die Musik. Andere tanzten im hell erleuchteten Ballsaal. Kinder rannten die Treppen auf und nieder. Eine hochmütige Spanielhündin hing am Arm eines schwarzen Labradors in Lederkleidung. (Thax war genetisch sehr liberal – mußte er auch sein, da der Anteil an Teges jedes Jahr um fünf Prozent anstieg.) Solange Sandy zurückdenken konnte, wurde hier dieselbe Party gefeiert. Viele Gäste hofften, einen Blick von Thaxter Halfjest zu erhaschen und – wenn auch nur kurz – mit ihm in Interaktion treten zu können und damit Teil seiner permanenten Sendung zu werden. Selbstverständlich konnte Thaxter nicht die ganze Zeit den Gastgeber spielen. Man sah ihn in seinem Heim nur selten. Die meisten Gäste kannten ihre Rollen und spielten sie problemlos. In dieser sich selbst genügenden Gesellschaft kam man mit der Außenwelt nur durch den Party-Service oder Klatsch in Berührung. Die Gespräche drehten sich immer im Kreis – wie die Kanäle und Wasserfälle, die sich durchs Haus zogen und über die Wände plätscherten: Ein komplizierter, vollkommenen künstlicher Kreislauf, der in der realen Welt niemals überlebt hätte. Sandy fragte nach dem Reverend Governeur und wurde an einen transgenetischen Butler verwiesen. Die Gestalt im Frack stand steif in einer Ecke des Ballsaals und hielt ein Tablett mit hors d’œuvres. Sein Gesicht war ein lila Klumpen aus dicken
Falten. Ständig sabberte er auf die Silberglocke, die sinnvollerweise die Häppchen schützte. Der Tege blickte Sandy aus einer Ansammlung blauer und roter Karbunkel an, die wie Augen einer Kammuschel aussahen. Thaxter hatte mit aquatischen Modellen herumexperimentiert, aber nicht an irgendwelche Patentrechte rühren wollen. Daher hatte er sich mit etwas weniger Säugetierartigem als einem Seehundmann begnügt. Sandy war nicht sicher, woher die ursprünglichen Gene dieses Butlers stammten. Cornelius schien äußerst beunruhigt zu sein. »Entschuldigung«, sagte Sandy. »Ist Thaxter zu Hause?« Der Mund des Butlers war ein scheußlicher Anblick. Anstelle von Zähnen hatte er eine Art Schnabel mit der nassen Zunge eines Papageien. Er sprach auch kein Englisch, sondern stieß krächzende, kreischende Laute aus. Überaus ekelhaft war auch der starke Mundgeruch. »Ich möchte ihn sprechen, wenn er da ist.« »Kraaauechzzz«, sagte der Butler und neigte den Kopf. Diese Geste sollte bedeuten, daß er Sandy behilflich sein wollte. »Könntest du mir jemand zeigen, der es weiß?« »Kraaauechzzz.« »Bronzebraun, du Trottel. Danke.« Sie gingen in die oberen Etagen und lauschten an den Türen, bis Sandy die unverkennbare Stimme des Gouverneurs hörte. Wie immer machte er Vorschläge zu Lösungen von Problemen, die bisher niemandem aufgefallen waren. Sandy klopfte und drückte die Tür auf. Ein Tege-Wachmann, mit einem noch schlimmeren Gesicht als der Butler, versuchte ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen; aber das Geräusch erweckte die Aufmerksamkeit von Thaxter Halfjest, der gerade einer kleinen Gruppe am anderen Ende des riesigen Raums einen geschliffenen Vortrag hielt. Halfjest winkte Sandy. Die lila
Mißgeburt gab den Weg frei. Sie war teilweise Seekuh, wie Sandy auf den zweiten Blick feststellte. »Sandy, mein lieber Junge!« rief Thaxter und breitete die Arme aus – er war und blieb ein Showmann. Cornelius faltete die Arme über der Brust und blieb bei der Tür stehen. »Ich bin sicher, daß du dich an Mario Vespucci erinnerst.« Beinahe wäre Sandy über eine unmöglich lange Schleppe aus rotem Samt mit Zobelbesatz gestolpert. Getragen wurde sie von einem Mann mit einer Hakennase, die fast so rot wie sein Gewand war. Der Papst von Las Vegas. »Santiago, wie schön, dich wiederzusehen«, sagte der Papst. »Wie lange ist es her? Fünf Jahre? Zehn?« Sandy erinnerte sich daran, daß er sich zu verneigen hatte und den protzigen Brillantring küssen mußte. Dabei las er die Schrift auf der Fassung: KLASSE VON 00. »Euer Heiligkeit«, sagte er. »Ich glaube, es war das ›Figueroa Familien Weihnachtsspezial‹«. »Ach ja. Ich schwebte ein, um eine Aufhebung der Geschenkesteuer zu verkünden.« Der Papst stieß Sandy in die Seite und senkte die Stimme, als wolle er ihm ein Geheimnis anvertrauen, das sein Gefolge nicht hören sollte. »Ich reise jetzt incognito. Dieser geizige Schotte im Weißen Haus will alle elektronischen Memos besteuern, die zwischen den Staaten gewechselt werden. Kannst du dir das vorstellen? Das politische Geschäft besteuern? Verfluchter McBeth!« »Mario, beruhige dich!« bat Halfjest. »Suche dein Alpha! Es ist nicht gut für das Herzkreislaufsystem, wenn man sich so aufregt.« »Meins ist aus solidem Plastik!« Der Papst schlug sich gegen die Brust. Sandy fragte sich, wie irgend jemand den Papst von Las Vegas verstecken könnte. Vielleicht in dem Gewächshaus von
Halfjest. »Die Tarnung ist nicht übermäßig wirkungsvoll, Euer Heiligkeit«, sagte er. »Wahrscheinlich nicht; aber das ist auch nicht nötig.« Vespucci zeigte zur Decke. »Wie ein Gott falle ich vom Himmel. Und wie Superman springe ich mit einem Satz wieder hinauf.« Er zwinkerte Sandy zu. »Da sind alle machtlos. Du hast die Redwoods verlassen, wie ich höre?« Sandy schüttelte den Kopf. »Seit Wochen war ich nicht mehr high.« »Habe ich dich um eine Beichte gebeten?« Er hob die fetten Hände. »Das ist der Fluch meines Berufs! Jeder will sich bei mir auskotzen.« Sandy zuckte die Achseln. »Tut mir leid.« Der Papst neigte sich noch näher. »Du bist nicht etwa ein Sender zur Zeit, oder? Denn wenn du einer bist, muß ich dich leider bitten, diese Begegnung aus deinem Leben herauszuschneiden.« »Ich bin absolut NE. Aber was ist mit Thaxter?« Der Gouverneur grinste und nahm Sandy am Ellbogen. »Ich habe einen ganz neuen Apparat für Spezialeffekte, direkt aus den Livermore Live-Draht Labors. Der macht aus alten neue Szenen und blendet sie nahtlos in meine Sendungen ein, wann immer ich es will. Das genießt mein liebenswertes Publikum im Augenblick.« »Du scherzst! Du fütterst deinen Empfängern tatsächlich Realität aus der Konserve?« »Ich bezeichne es lieber als ›synthetisch‹.« »Aber warum, Thax? Was ist los?« »Du hast gehört, was der Papst gesagt hat. McBeth will unseren… Verkehr besteuern, den elektronischen. (Den anderen bestimmt auch noch. Daran zweifle ich nicht.) Er will alles wissen, was vor sich geht. Leidet anscheinend langsam unter Verfolgungswahn, fürchte ich.«
»Und du redest hier so hinter seinem Rücken«, sagte Sandy. »Er hat uns dazu getrieben. Es gibt kein Privatleben mehr.« »Wann hattest du je ein Privatleben?« Thaxter verbeugte sich leicht und lächelte. »Das ist etwas anderes. Ich war mit meinem Publikum, dem ich vertraue, allein. Aber McBeth will eine Zensur durch den Präsidenten einführen. Er ist anal, in der schlimmsten Weise. Er will, daß alles durch das Weiße Haus geht, ehe es an die Öffentlichkeit freigegeben wird. Das richtet sich gegen alles, wofür ich stehe. Kalifornien soll nicht von diesen engstirnigen Betonköpfen in Neu England beherrscht werden. Das werde ich nicht dulden.« »Dann gibt es also tatsächlich eine Verschwörung gegen McBeth?« »Ja, jetzt vielleicht. Sie ist noch winzig, aber er hat es sich selbst zuzuschreiben. Ich habe allerdings diesem Mann nie getraut! Trotz aller Petitionen hat er sich immer noch nicht verdrahten lassen. Ich kann diese Mentalität nicht verstehen. Er ist vollkommen rückständig! Der Mann bezieht alle Nachrichten von Flachschirmen. Er hat keine Berührung mit der Realität. Er hat etwas Böses zu verbergen – er und seine neopuritanischen Busenfreunde.« Der Papst machte eine abfällige Handbewegung. »Das ist der letzte Seufzer der alten Garde, Thaxter. Warum glaubst du mir nicht? Danach kommt die Revolution.« »Ich glaube, die hat bereits begonnen«, sagte Sandy. »Ein Haufen Kamikazes hat gerade bei Papas Meereskratzer demonstriert, weil…« »Ja, ja, wir wissen Bescheid«, unterbrach ihn Thaxter. »Und ich sage: Gut gemacht! Sie haben meine volle Unterstützung.« Sandy war über diese Worte erstaunt. »Deine Unterstützung? Aber das sind doch… Fanatiker! Jugendliche! Und sie begehen Selbstmord!«
Thaxter zuckte die Achseln. »Na und? Das macht jeder, der von seiner Sache begeistert ist, wenn die Situation aussichtslos ist. Diese selbstlose Tat beleuchtet eine beschämende Ecke unserer Gesellschaft: Lohnsklaven, die acht Stunden lang vom Leben abgeschnitten sind – und das sechs Tage in der Woche. Ich erwarte, daß aus dieser Aktion etwas Gutes kommt, Sandy. Sie wird der Sonderwahl für die Petition neunundfünfzigsiebenundneunzig besonderen Aufschwung geben. Damit wollen wir diese schrecklichen Bürohengste aus ganz Kalifornien vertreiben.« »Ich befürchte, du hast gerade eine ganze Flotte Wähler verloren.« Das schien Halfjest nicht zu berühren. »Es gibt noch massenhaft Wähler. Außerdem besagen meine Statistiken, daß sie zum Wählen noch zu jung waren.« In diesem Punkt war Thax unerbittlich. Sandy gab auf. »Da wir gerade von Ausschalten reden. Ich wollte Dyad besuchen.« »Ach, das ist keine gute Idee! Versuche es gar nicht erst!« Thaxter machte ein ernstes Gesicht. Er sah beinahe wütend aus. »Ich werde es nicht noch mal versuchen. Jemand hat auf mich geschossen.« »Ach, dieses Mädchen! Ich verstehe Dyad nicht. Diese sogenannten Kastilier – noch eine regressive Partei! – verlegen die gesamte Operation in die Südamerikanische Republik. Wahrscheinlich ist sie inzwischen mit Raimundo in Baja. Diese Menschen werden nicht zufrieden sein, bis sie eine Zeitmaschine gefunden haben, um die Menschheit zurück ins finstere Mittelalter zu bringen. Dyad hat sich alle Drähte entfernen lassen! Kannst du dir das vorstellen? Das ist eine gefährliche Operation! Noch nie habe ich mich von ihr so abgeschnitten gefühlt.«
»Mexiko?« sagte Sandy. Großartig. Dann werde ich sie niemals wiedersehen. »Sie hat mir das Herz gebrochen«, klagte Halfjest. »Ich unterbreche euch nicht gerne, aber…«, sagte der Papst. »Verzeihung, Euer Heiligkeit.« »Ja, ich muß heute abend eine Messe in Caesars Coliseum feiern, ehe die Gladiatorenspiele anfangen.« »Ach ja? Heiliger Vater, dann müßtet Ihr die Antwort auf die alte Frage kennen: ›Würfelt Gott?‹.« »Ha, würfelt er? Mein Junge, er ist einer unserer besten Gäste. Wir geben ihm auf Kosten des Hauses eine Suite, Drinks, Mädels, alles, was du dir vorstellen kannst.« Der Papst lachte schallend. »Das ist eine hervorragende Investition. Das kannst du mir glauben. Der alte Junge verliert jedesmal sein letztes Hemd.« Thaxter lachte und schüttelte den Kopf. »Wie schrecklich! Ein Gott, der spielt! Meint ihr beiden nicht auch, daß es Zeit wird für neue Götter?«
5 OKKULTSCHLEIMER
Die Seherin tobte. Sie tobte mit ihrem Publikum. Sie mußte die Aufmerksamkeit packen. Diese Menschen lebten in ihrem Körper; aber der Anblick langweilte sie. Der Schleier war ihnen lieber als das Gesicht darunter. Das Publikum gierte nach den Illusionen, die sie ihm bot. Es zog die unstofflichen Phantasien fester Nahrung vor. Am meisten liebten sie es, wenn die Prophetin die Leute wegen ihres schlechten Geschmacks beschimpfte. »Die mentale Entartung, die ich hier sehe, ist kriminell!« schrie sie. »Bin ich denn die einzige, die eigenständig denkt? Laßt uns über Konzepte reden! Laßt uns darüber Äonen lang reden! Ihr geht in der Entwicklung zurück. Bald werdet ihr so blind und weiß wie Grottenolme sein. Eure Körper werden verkümmern. Ein Schleier wird sich über eure Augen legen. Ihr werdet nichts anderes mehr sein als Fleischisolierung für eure Drähte.« Das Publikum lachte vorsichtig zustimmend. »O Shiva!« rief sie mit gespielter Verzweiflung. »Habt ihr überhaupt gehört, was ich gesagt habe?« Auf den hohen Reaktionstafeln an den Wänden leuchteten die zustimmenden Lichter auf, so daß sie wie Blitze in bunten Kirchenfenstern aufleuchteten. Die Seherin stellte das mit Befriedigung fest. »Ich sehe, daß einige von euch noch atmen. Aber wieviel dringt wirklich zu euch durch?« Jetzt flackerten weniger Lichter. Sie warf einen Blick auf die Einschaltquoten, um zu sehen, wie sehr das Publikum noch mitging. Die Leute waren noch zu befangen, um sich ganz
hinzugeben. Sie gab ihrem Verbindungstechniker ein Zeichen: Pflücke mir ein paar von ganz oben! Sie sah jetzt alles verschwommen. Ihre Drähte wurden warm und summten. Seitlich glitt sie in den Astralbereich, segelte auf dem reinen Äther der Information und schöpfte die Aufzeichnungen Akaschis ab. Schatten füllten das Studio und ließen das Publikum, die Techniker und die Geräte an den Wänden verschwinden. Ein Insektenauge trat an die Stelle der normalen Augen der Seherin. Die Facetten waren aus allen optischen Signalen ihres großen Publikums zusammengesetzt. NE war die falsche Bezeichnung. Die meisten Menschen dachten nie an die Tatsache, daß sie alle potentielle Sender waren. Drähte waren Drähte. Man mußte nur wissen, welche Schalter man betätigen mußte. Ihre Verdrahtung war mit dem Fernziel der Zweiwegverbindung gemacht worden, so wie Telefongesellschaften früher auf den Drucktastenapparaten Tasten mit Symbolen angebracht hatten, die niemand jahrelang benutzte. Die Prophetin mußte jetzt nur die Augen ihres Publikums öffnen und sie wie ihre eigenen benutzen. Jetzt schaute sie in schmuddlige Wohnzimmer mit Plastikdeckchen. Sie lehnte sich an zersplitterte Türrahmen, streichelte räudige Hunde und hockte sich in eine Gasse, als ihre Därme revoltierten. »Ich bin von euch enttäuscht«, sagte sie und schloß die Finger, um den Informationsstrom etwas zu bändigen. »Ich meine euch, ja, Leute, euch… mein Gott! Ihr habt keinerlei Respekt. Ja, da draußen sitzt einer von euch und scheißt auf die Straße. Ja, ich sehe dich – ganz deutlich sehe ich dich, verdammt noch mal! Hast du je darüber nachgedacht, daß das eine Sauerei ist? Ich scheiße auch nicht aufs Programm, oder? Ihr schaltet doch nicht bei mir ein, um so was zu erleben, oder? Wir wissen alle, daß so was passiert. Schließlich sind wir alle
erwachsen; aber ich stecke euch nicht mit der Nase rein. Wie würde es euch gefallen, wenn ich mich so unhöflich benehmen würde? Ihr seid so auf mich fixiert, daß ihr – jeder von euch – in die Hosen scheißen würdet oder auf den Schaukelstuhl oder mitten in die Küche – oder wo, zum Teufel, ihr gerade seid. Wenn ihr wollt, daß ich mich um eure Darmtätigkeit kümmere, mache ich das. In Ordnung. Aber das sage ich euch: Ich werde nicht euren kollektiven Arsch abwischen!« Die Prophetin gab das Zeichen: Schneiden! Das Signalfenster schloß sich. Wieder frei von den Blutegeln musterte sie ihre Mitarbeiter, die Apparate und das ruhelose Publikum im Studio. »Es ist Zeit, wieder abzusahnen«, sagte sie. Die Quotenmonitore summten, während das Publikum größer wurde. Überall im Staat waren die Menschen, die eigentlich nur zufällig das Programm eingeschaltet hatten, jetzt ganz im Bann der Prophetin. Mit diesem Teil ihrer Show hatte sie über hundert Konkurrenten massenhaft Empfänger abgeworben. Niemand übertraf die Prophetin. Sie verstand ihr Handwerk. Niemand hatte so viel Talent, Illusionen zu weben. Die Seherin ließ den Neuankömmlingen Zeit, sich einzustellen. »Heute, Leute, gehen wir durchs Feuer. Wer das nicht will, soll sich ausschalten. Ich warne euch, damit ihr so tun könnt, als wärt ihr verantwortungsbewußte Erwachsene mit freiem Willen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Das Feuer ist schmerzhaft. Es ist das Feuer der Wahrheit. Es wird euch nicht behagen. Na ja, einigen wird es vielleicht sogar Spaß machen, aber für die meisten wird es eine sehr unangenehme Erfahrung.« Die Quoten stiegen ständig. Wie immer. »Ich bin sogar sicher, daß ihr es hassen werdet. Es wird euch weh tun!« Die fehlende Reaktion machte sie wütend. »He,
Leute, warum laßt ihr das jeden Tag mit euch machen? Warum schalten sich so viele von euch für diesen Trip ein? Für ein paar Brocken hingerotzter Erleuchtung! Was ist das wert? Ihr wollt weg von hier, Leute, ihr wollt mich für immer vergessen. Schaltet euch doch woanders ein, wo jemand ruhig ist, alles als gegeben betrachtet und niemals in die Tiefe schaut. Schaltet euch in euch selber ein!« Da! Jetzt hatte sie die Menschen – sie hatte einen Nerv getroffen. Sogar das Publikum im Studio sah so wütend aus, als wollte es sie zerfleischen. Jetzt wollte sie kein Fünkchen empfangen. Sie steigerte die Feindseligkeit auf ein fast unerträgliches Maß. Das war echtes Showtalent! Das war Spannung! »Ihr hört das nicht gerne, stimmt’s? Ihr mögt es nicht, wenn man euch sagt, ihr sollt selbständig denken. Es geht euch völlig gegen den Strich. Es kratzt an dem Training und den Gewohnheiten, die ihr für die wahre Natur haltet. Dann will ich euch mal was sagen, Leute. Ihr habt keinen blassen Schimmer, was Natur ist. Wenn ihr das wüßtet, würdet ihr nicht so leben, wie ihr es tut. Ihr seid die ersten eurer Spezies: Die Ur-Degenerierten, die ersten echten Zweidimensionalen, die am weitesten Zurückentwickelten. Erinnert ihr euch noch ans Fernsehen? Heutzutage eine Kuriosität; aber eure Großeltern sprechen vielleicht noch manchmal darüber. Das war die gute, alte Zeit, stimmt’s? Das Fernsehen hat die Gehirnzellen beschäftigt – und auch die Muskeln. Beim Fernsehen hatte man die Wahl. Man konnte es abschalten. Man konnte irgendeinen Kanal einschalten – ganz wie man wollte. Man konnte ein Dutzend Dinge ansehen. Aber man mußte sich entscheiden, es zu tun. Man konnte sich nicht einfach treiben lassen. Und die Bilder damals… nur flache Bilder auf einer Kiste. Man mußte die Phantasie benutzen, die Erfahrung, das Wissen über die Welt, um so zu tun, als seien sie echt, daß
diese flachen kleinen Geschöpfe lebensgroße, atmende Menschen waren. All das war sehr gesund! Das war der Höhepunkt unserer Entwicklung! Das war genau das, wozu sich unser Sonne, unser Planet, unsere Körper und unser Verstand in zig Milliarden Jahren entwickelt hatte: Fernsehen! Leute, dazu waren wir gebaut. Dazu gehörte keine Invasion der Technologie. Man mußte keine Polynerven wachsen lassen. O nein! Fernsehen war natürlich, anregend und gesund!« Die Prophetin machte eine Pause. Das Publikum war auf dem Höhepunkt. Zeit zu fliegen. »Aber die Dinge haben sich seitdem verändert, Freunde. Ja, die Dinge haben sich eindeutig verändert.« Sie hielt die Hände hoch und gab den Technikern Zeichen. In Sekundenbruchteilen hatten diese sie auf dem Hauptsignal herausgeholt und sie in eine sichere, stille Nische des Bewußtseins umgeleitet, so daß sie nichts von ihrer Persönlichkeit verlor oder durch den reißenden Signalfluß eine psychische Erosion erlitt. Die ganze Zeit über stieg der Signalfluß beim Publikum, vor allem nachdem die Seherin aus dem Weg war. Ihr Verstand wäre explodiert wie ein Lehmklumpen in einer Stromschnelle, hätte sie das Signal durch sich hindurchlaufen lassen. Dunkelheit erfüllte den Raum, erfüllte ihren Verstand, floß durch die Luftwege und erfüllte ihr Publikum. Diese Finsternis war so intensiv und total wie ein Systemtod, dauerte aber nur einen Augenblick lang. Dann schalteten die Techniker das den Verstand betäubende sensorische Feedback ein, das Feuer, durch welches die Prophetin ihre Fans täglich hindurchjagte. Alle Empfänger, welche die Prophetin angezapft hatten, wurden plötzlich in Sender verwandelt, ihre Signale gründlich gemischt und wieder hinausgeschickt. Einen schmerzlichen Moment lang war das Publikum der Prophetin imstande, durch alle Augen gleichzeitig zu schauen. Für die meisten war das
Feuer zu viel. Viele Solipsisten, die zu Hause saßen und sich von den Drähten stillen ließen, hielten sich für das Zentrum der Welt und fanden das richtig gut. Jetzt flammte in ihren Köpfen ein grelles Licht: Demokratie! Sie verspürten die Realität von Menschenmassen, erfuhren aus erster Hand, daß ihr kostbares, verhätscheltes Ego nur eine Illusion war, eine seidenweiche Selbsttäuschung. Sie sahen, daß sogar die Einsamkeit künstlich war und die Errichtung unglaublich komplizierter Barrieren erforderte. Sie waren kaum mehr als Staubkörnchen im Sandsturm der Menschheit. Sie waren nicht nur nicht das Zentrum des Universums, sondern mußten erkennen, daß das Universum kein Zentrum hatte. Ach, wenn sie nur einen Weg fänden, diese Kraft zu bändigen, um sich zu regieren. Das war das Versprechen der Drähte. Aber kein Politiker hatte bisher eine Möglichkeit gefunden, das zu tun, ohne den Verstand zu verlieren. Alles blieb im Reich der ›Magie‹ – oder der Kunst, wie die Prophetin insgeheim sagte. Sie war die Weberin der Drahtträume der Welt. Augen in Augen in Augen. Nerven in Nerven in Nerven. Jedes Signal wurde zum Kannibalen und fraß sich selbst und wurde an den Achsen des Schmerzes verstärkt. Feine Unterschiede verloren sich in groben Verallgemeinerungen. Die Seherin blieb stumm, aber ihr Fleisch heulte auf. Die Sirene des Feedbacks drang bis in ihr Allerheiligstes vor, durchbrach ihren Abschirmungskokon. Sie konnte der reinen Kraft des Publikums nicht widerstehen. Und dadurch wurde diese Kraft auf größte Konzentration destilliert. Hundert Prozent. Die Reinheit des Bewußtseins der Ausstrahlung kletterte eine unendlich steile Kurve hinauf und zog sie mit. Die Prophetin fiel auf den Boden, ohne es zu spüren. Sie riß ihr Publikum mit nach unten. Dann verfiel sie in wilde Zuckungen und schluckte die weiße Hitze. Sie explodierte,
flog gleichzeitig in alle Richtungen. Sie war in ebenso viele Fragmente aufgespalten wie Menschen im Publikum waren. Sie hatte das Gefühl, alle zu sein. Hände griffen nach ihr. Jemand schob eine harte Gummischeibe zwischen ihre Zähne. Ihre Arme waren auf den Seiten des Throns festgeschnallt. Die Techniker – Gott schütze sie! – ließen sie frei. Jetzt konnte sie auf den Drähten dahingleiten, ihren Körper fallen lassen, das Publikum betäubt und zitternd zurücklassen, während sie neue Dinge für die Menschen fand, die sie ihnen vorwerfen konnte, wenn sie wieder ihr altes Selbst gefunden hatten, nachdem sie durch das Feuer gereinigt waren. Dann waren die Leute bereit, die Visionen zu sehen, welche sie für sie webte. Frei. In strahlender Dunkelheit schweben. Sehen… Sie sah Drähte. Überall liefen Drähte. Drähte in menschlicher Gestalt. Drähte wie graphische Darstellungen von Nerven im Raum aufgespannt. Drähte in allen Farben sendeten und empfingen. Empfingen und sendeten. Dreidimensionale Antennen von wunderschöner, hauchzarter Komplexität, gehalten durch den schwachen Schimmer einer Matrix aus Fleisch und Blut, die im Vergleich zu den ursprünglichen Drähten beinahe häßlich aussah. Um die Drähte sah sie den Schein eines göttlichen Elektromagnetismus, der die Drähte mit Energie versorgte und der sich weithin ausbreitete. Polaritäten waren umgepolt, ließen Magnetnadeln tanzen und den echten Norden verraten. Alle diese plasmischen Straßen führten zur MACHT und zum FLUSS. Wo der Strom sich windet, sehe ich zukünftige Strömungen. Stimmen. In weiter Entfernung.
Das Stakkatogeplapper einer binären Konversation, einer Ein-Aus-Ideologie, fiel uninterpretiert durch die Reste ihres bewußten Verstands und glitt weiter zwischen die immer breiter werdenden Spalten in ihr Unterbewußtsein. Dort traf es auf ihre eigenen Drähte. Diese sogen die Laute gierig ein. Turgor in ihren Polynerven, eine leichte, befriedigende Ausdehnung. Wie Dampf stiegen Daten von den Drähten auf. Sie beugte sich über diese dampfende Spalte im Fußboden ihres Unterbewußtseins als sei sie das Orakel von Delphi und empfange psychoaktive Dämpfe. Träume füllten ihre Seele. Schließlich kamen die Visionen und Stimmen: … blicke nicht mehr in Augen oder durch Augen, sondern schwimme durch den Taschenspielertrick des Willens durch die Augen, den Kopf, die Arme und Beine, um die Kurve des Sehens zu erforschen. Ich sehe um mich herum wie mich die Mutter, die mich gebar, einst um die Ecken der Zeit sah. Ich habe die Mauer zerstört… … und ich begehre dich, so wie du mir Liebe schuldest, daß du mich ertragen mußt, um dich an ihm zu freuen. Wenn du mich der Unnatürlichkeit beschuldigst, weil ich mich deiner Bitte nicht beuge, kann ich dich ebenfalls wegen deiner Unfreundlichkeit verdammen, weil… …in den Laibungen der sechs Fenster sind ein Chor wunderschöner Engel, Büsten in Medaillons, insgesamt vierundzwanzig, die Musik machen und Weihrauchfässer schwingen… … diese Schnur Null Eins Sieben, diese… … Mann, die Frau, die Kinder am Lufttisch, ruhen sich auf einem Wunder aus, das seine Definition sucht… Noch nicht ausgewerteter Informationsfluß. Aus diesem Fluß trank sie. Bedeutungslos, sogar für die Prophetin. Ihr Talent war, aus diesem verworrenen Knäuel bunte Fäden zu spinnen
und dann die einzelnen Fäden zu einem lebendigen Teppich zu verweben. Es waren purer Klatsch, wilde Gerüchte und Unterstellungen, die – zusammengefügt – als wesentliche Teile eines Geheimnisses erschienen, das nur sie enthüllen konnte. Die Seherin trieb durch die Dunkelheit, die Hände an dem riesigen unsichtbaren Gewebe. Intuition inspirierte sie. Sie sah kaum, was sie in den Händen hielt. Sie nahm die einzelnen Stränge und verwob sie. Das konnte niemand so. Es war reines Vergnügen zu sehen, was aus dem Chaos entstand. Ein schmales Sternenband wurde von dunklen Wirbeln verdeckt. Hundemenschen rutschten über Metalltreppen nach unten. Das Lächeln eines Mädchens traf wie eine scharfe Waffe. Beinahe bereit. Ein vollständiger Gedanke tauchte vor ihr auf, eine Idee, abgeschrieben von dem auf Drähten ruhenden Kosmos, noch nicht ganz entrollt, wie ein zusammengelegter Gobelin. Sie packte die metaphorischen Ecken und schüttelte ihn glatt, um das ganze Bild zu sehen. Und ließ das Gewebe schreiend fallen. Sie floh zurück ins Bewußtsein, tastete sich blind zurück in den Körper, den sie sich wie einen klammen Kälteschutzanzug überstreifte. Das Herz raste, die Zunge war geschwollen. Sie spuckte den Gummischnuller aus und öffnete die Augen. In Panik. Das Publikum wartete auf ihre Worte. Wartete, daß das Orakel sprach, Erleuchtung verhieß, irgendeinen Hoffnungsstrahl ins trübsinnige Leben brachte, der Passage durch das Feuer einen Sinn gab. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
Es war unmöglich, den Menschen zu beschreiben, was sie gesehen hatte, obwohl das ganz deutlich gewesen war. Ja, sie könnte es beschreiben – aber sie wagte es nicht. Wenn es wahr war, was sie wußte, und wenn sie diese Wahrheit enthüllte, würde sie sterben. Obwohl vieles von dem, was sie wob, Lug und Trug war, wodurch sie manchmal an dem zweifelte, was sie gesehen hatte, erfüllte sich immer ein Teil – und das genügte, um sie schweigen zu lassen. Zum erstenmal im Leben hatte die Prophetin vor den Drähten Angst. Sie fürchtete sich vor dem, was sie ihr gesagt hatten. Sie fürchtete, daß sie vielleicht wieder sprächen. Sie fürchtete sich vor dem, was sie tun konnten. Ihr Publikum wartete. Sie mußte irgend etwas sagen. Sie mußte die Leute ablenken. Sie stand auf, hob die Arme und blickte ins Publikum. Gespanntes Schweigen. Lichter ließen die Wände erstrahlen. Sage ihnen irgend etwas! Sie warf den Kopf zurück, schloß die Augen und… stieß den sybillinischen Schrei aus: »Elvis lebt!«
Nach jeder Sendung hielt die Prophetin private Beratungen ab. Für zahlende Klienten hatte sie einen regulären Arbeitsplan, aber um ein gutes Karma anwachsen zu lassen, nahm sie immer drei arme Klienten umsonst an. An diesem Tag gab sie auf dem Weg aus dem Studio dem Terminplan-Computer den Befehl, alle Sitzungen abzusagen. Als sie in das Wartezimmer blickte, um die Wohltätigkeitsfälle nach Hause zu schicken, sah sie drei Menschen dort sitzen, die bereits ausgewählt waren. Die eine Frau war ihr zu gut bekannt. Sie kam jedesmal, wenn ihr Sohn weggelaufen war, um sich irgendeinem Kult anzuschließen.
Sie war eine Landplage. Die Seherin hatte keine Bedenken, sie nach Hause zu schicken. Dann war noch ein Mann da, der ziemlich verzweifelt wirkte. Seine Haut sah schwammig und angefault aus, wie ein Pilz, der jederzeit platzen und seine Sporen verspritzen würde. »Sie brauchen einen Arzt, keinen Rat«, sagte die Prophetin. »Ich würde Schwierigkeiten bekommen, wenn ich Ihnen etwas anderes sagte.« »Keine Meditationen? Nichts, was mir hilft, mich zu entspannen?« flehte er. Sie hob warnend den Finger. »Wenn ich Ihnen eine kleine Weißlicht-Mantra-Bestätigung gebe, macht mir die Ärztekammer die Hölle heiß. Wie Blutegel würden sie sich auf mich stürzen. Nein, vergessen Sie das.« Der Mann schlurfte aus dem Raum und hinterließ einen feuchten Schimmelfleck auf dem Stuhl. Die letzte Klientin saß still hinter der Tür. Die Prophetin zögerte. Die Frau war ganz in Schwarz gehüllt, sogar die Augen waren durch einen Schleier verborgen. Sie saß ganz aufrecht da und hielt ein schwarzes Bündel im Schoß. »Entschuldigung, Sie sind eine Tochter Kalis, oder?« fragte die Prophetin. Die Gestalt nickte. »Seid gegrüßt, göttliche Prophetin.« Die Frau war nicht mehr jung. Die Kali-Sekte faszinierte die Prophetin. Selbst nach den Ereignissen der Nachmittagssendung zögerte sie, die Frau wegzuschicken. Die Töchter Kalis gab es noch nicht lange. Grundlage der Sekte war ein okkulter Mischmasch und absolute Geheimhaltung. »Das ist wirklich eine Überraschung«, sagte die Prophetin. »Ich habe noch nie eine Tochter Kalis in der Öffentlichkeit gesehen. Sie waren aber nicht im Publikum, oder?«
Die Tochter schüttelte den Kopf. »Das gestatten mir meine Gelübde nicht.« »Es muß sich um etwas ganz Dringliches handeln, wenn Sie die Heilige Stadt verlassen haben.« Die Prophetin war zu neugierig, um nicht mit der Frau zu sprechen. »Bitte, kommen Sie doch in mein Büro.« Ihr Büro war auch ein Studio. Es war sehr klein und seit dreißig Jahren nicht benutzt worden. Es war mit Apparaten vollgestopft, die zum Großteil nicht mehr funktionierten. Nur an einigen flackerten Lichter und zuckten Nadeln. Das war reine Augenwischerei. Die Prophetin dachte zu spät daran, daß es die Tochter Kalis beleidigen könnte. Viele Bewohner der Heiligen Stadt hatten jedem Kontakt mit moderner Technologie abgeschworen – besonders den Drähten, welche für die fanatischeren Sekten ein Fluch waren. Aber wenn der Tochter Kalis die Drähte Unbehagen bereiteten, zeigte diese das nicht. Liebevoll wiegte sie das schwarze Bündel auf dem Schoß. Jetzt erkannte die Prophetin, daß die Tochter Kalis ein Kind hielt. Die Tochter einer Tochter. Seltsam… sie hatte geglaubt, die Frauen lebten zölibatär. Auf alle Fälle waren sie gegen Sex mit Männern: YChromosomen-Verseuchung. Es mußte ein Kind aus Parthenogenese sein. Vielleicht war die Tochter aber auch auf ganz altmodische Weise in Schwierigkeiten geraten. Die Prophetin unterdrückte ein Lächeln. Kein Wunder, daß die Frau Rat brauchte! »Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. »Ich wollte Ihnen das zeigen«, sagte die Tochter und hielt das Kind hoch. Der Schleier fiel vom Gesicht des Säuglings. Der Seherin stockte der Atem, als sie die außergewöhnlichen Züge sah. Die Augen des Babys leuchteten wie neu geschlagene Goldstücke. Das Haar war kurz und glatt und so orangefarben wie die Haut. Ein kleines Mädchen.
»Das ist eine Figueroa«, flüsterte sie. Die Tochter preßte den Säugling an sich. »Was?« »Das muß… das ist das Figueroa-Kind, das seit der Zweihundertjahrfeier vermißt wird. Wie ist es zu euch gekommen?« Warte, bis ich Alfredo erzähle, daß mir das Kind in den Schoß gefallen ist! Alfredo, mein süßer, heimlicher Geliebter… du wirst mir dafür mit Küssen und Kredit danken! »Wir haben sie auf unsrer Türschwelle gefunden«, sagte die Tochter zurückhaltend, als fürchte sie sich vor Figueroas und Zweihundertjahrfeiern. »Ein Opfer für Kali, das mitten in der Nacht gebracht wurde.« »Das ist unglaublich. Ist Ihnen nicht klar…? Nein, Ihnen nicht. Hören Sie: Nach dem Baby wird überall gesucht! Nur jemand, der so isoliert wie Sie lebt, hat die Nachrichten nicht gehört. Die arme Mutter wird überglücklich sein, ihr Kind endlich wiederzusehen.« Die Tochter stieß einen Laut aus, der wie Knurren klang. »Die einzige Mutter, die dieses Kind je kennenlernen wird, ist unsere dunkle Göttin Kali.« »Die Kleine hat eine Mutter aus Fleisch und Blut und eine Familie. Ich kenne sie zufällig sehr gut.« Die Tochter Kalis wandte sich zornig ab. »Wenn das so ist, habe ich meine Zeit verschwendet. Nehmen Sie das Kind und geben Sie es den Eltern zurück. Mit einem derartig verseuchten Kind habe ich nichts mehr zu schaffen.« Wieder hielt sie der Prophetin den Säugling entgegen, diesmal aber nicht wie ein Geschenk, sondern wie ein Stück Müll. Die Prophetin spürte in der Frau ungeheure Kälte. Noch ein rationales Argument, und sie würde sich von dem Kind trennen. Es würde gut sein, das Baby vor dieser ›liebevollen‹ Fürsorge zu retten.
Das Bündel war leichter, als die Seherin vermutet hatte. Sie hielt die Hand unter das seltsam schwere Köpfchen, aber das schien nicht nötig zu sein. Der Säugling war merkwürdig stark. Die Kleine hob den Kopf und schaute die Prophetin an. ›Na, mein kleiner Liebling‹, wollte die Prophetin sagen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Ihre Zunge schwoll plötzlich. Der Puls hämmerte auf den Amboß in den Ohren. Die goldenen Augen des Kindes bannten sie, hingen vor ihr wie zwei Sonnen, während der Rest der Welt in Flammen aufging. Sie spürte, wie ihr Körper sich im Innern empörte, wie die Polynerven sich wie Ohrwürmer benahmen, deren Nest plötzlich aufgedeckt worden war. Sie bissen und kratzten. Ein starkes, brennendes Energiefeld stieß ihr wie mit elektrischen Messern mehrmals gegen die Rippen und die Schädeldecke. Goldene Augen… Ein Monster! Die kleine Mißgeburt, die noch keine Silbe aussprechen konnte, spielte mit den Drähten der Prophetin wie ein alter Technikhase, zapfte den Strom im Studio an und setzte Schaltkreise in Gang, die abgeschaltet sein sollten. Sender, Empfänger – die Prophetin wußte nicht mehr, was sie war! Sie fühlte, wie eine hinterlistige Persönlichkeit in sie eindrang. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war, als packe eine Hand ihre Nerven, quetschte sie zusammen und schrie: »Siehst du! Dazu sind die Drähte da!« Es war, als habe sie die Drähte noch nie im Leben benutzt… »Was… was…« Sie rang nach Luft, konnte nicht mehr sprechen. Von einem Körperende zum anderen oszillierte ein Strom. Anfangs war er langsam, nahm aber stetig zu, bis er in der Nähe des Herzens den Höhepunkt erreichte. Sie wollte das
Kind fallen lassen; aber ihre Finger gehorchten ihr nicht. Ihre Handflächen brannten. »Nimm… sie… zurück!« Die Tochter Kalis bewegte sich nicht. »Ich dachte, Sie wollten das Kind!« Die Seherin wurde taub und blind. Sie fühlte sich isolierter denn je im Astralbereich ihrer Drähte. Es schien kein Entkommen zu geben. Aber sie hatte Angst in ihren Körper zurückzukehren, so wie er jetzt war. Ihre Angstvision war richtig. Doch sie hatte diesen Teil nicht vorausgesehen. Es mußte noch andere Aspekte geben, die sie übersehen hatte – und das gab ihr einen winzigen Hoffnungsschimmer. Vielleicht konnte man doch entfliehen… nicht sie, aber alle anderen. Oder vielleicht auch nicht. Das schwere Kind wurde ihr aus den Händen genommen, aber es war zu spät. Der Nervenrhythmus ihres Herzens war außer Kontrolle. Das lebenswichtige Organ schlug nicht mehr regelmäßig, sondern zitterte wie ein Sack voller Würmer. Herzflimmern ist keineswegs ein schmerzloser Tod; aber das war der Prophetin gleichgültig. Sie war froh, daß die letzten Empfindungen so… intensiv waren. Schmerzen halfen die Grenze zwischen den Sphären zu verwischen. Sie überlegte, welche Gebete dieser Stimmung am angemessensten wären: tibetische, ägyptische oder modernere? Om mani padme Anubis Jesus Hermes muttergottesoooooooo…
6 MOHN MACHT MÜDE
Die großen Wüsten Kaliforniens waren von einem wasserlosen Häusermeer ertränkt worden. Die Mojave gab es nicht mehr. Zwar erinnerte die Sonne sich wehmütig an die Wüste, sandte aber ihre erbarmungslos heißen Strahlen auf die Kakteen in den Dachgärten der Einkaufszentren und die Arbeiter, welche die Klimaanlagen warteten, ebenso wie früher auf hart gebackene Erde, die Yucca-Palmen, den Wacholder und die Eselhasen. Yuccas und Wacholder wuchsen immer noch, allerdings hauptsächlich als Bonsai-Pflanzen in Töpfen, zwischen den Dachkakteen. Eselhasen, stachelige Leguane und Klapperschlangen, denen die Giftzähne gezogen worden waren, hatten nahezu unversehrte Lebensnischen als Haustiere gefunden. Es gab aber auch neue Tiere unter dieser Sonne. Der Kojudel, eine pfiffige Mischung aus Zwergpudel und heimischem Kojoten, war bei den munteren Siebzigjährigen, die jetzt die früheren Wüstenlandstriche bewohnten, sehr beliebt. Doch von dem, was die Wüste einst in Hülle und Fülle besessen hatte, war nichts mehr zu sehen: Land. Wo früher Berge in majestätischen Farben – schwarz wie Obsidian, orange wie Rost, grün wie Kupfer – gewesen waren, standen jetzt Häuser auf Betonklippen. Die natürlichen Farben waren zu langweiligen Pastelltönen homogenisiert und demokratisiert worden. Man ging auf krümeligem Kies statt auf der alten Krume. Das Land war von Straßen und Einfahrten wie mit Adern durchzogen. Es erstickte unter dem schweren Mantel der Parkplätze, auf denen sich die Wohnwagen drängten. Die Straßendecken nahmen so viel Wüstensonne auf, daß man
überschüssige Wärme absaugte und in kältere Regionen verkaufte. Schnee – eigentlich jeglicher Niederschlag – kam so gut wie nie. Die Wüste war für Menschen höchst ungastlich; aber das hatte noch nie die Erschließer neuer Bebauungsgebiete abgehalten. Die Death-Valley-Wohnanlage hatte eine Generation von Architekten während der Planung und des Baus so zur Nachahmung angeregt, daß sie jetzt viele Kunden auf einer zehnjährigen Warteliste hatten. Eine ähnliche Liste bestand auch für die Mitgliedschaft im Devil’s Golf Course Country Club. Allerdings war hier die Wartezeit kürzer, da in der Sommerhitze zwei oder drei Spieler pro Woche tot umfielen. (Die Sterberate der Caddies war noch viel höher.) Es war ein gnädig kühler Tag, als Poppy Figueroa, Clarence Starko und ein fürs Sensorische zuständiger Mitarbeiter, Chick Woola, am Ende ihrer Fahrt durch die bebaute Mojave vor dem Tor eines kleinen Erholungsorts ankamen. Der Ort war so abgelegen, wie es sich ein Urlauber nur wünschen konnte. Er lag an einer ausgebeuteten Kiesgrube, die jetzt zur Hälfte mit grünem Salzwasser gefüllt war, über das eine gefährlich enge Brücke führte. Woola, der an diesem Tag als Fahrer des Studiomobils eingesprungen war, zögerte, ehe er drüberfuhr. Clarry blickte über die tiefe Kiesgrube auf die halbrunden und würfelförmigen Touristenunterkünfte auf der anderen Seite. Die häßlichen Hütten hatten keine Fenster. Sie standen zwischen verrosteten Maschinen und aufgelassenen Fabrikgebäuden. Staub wirbelte zwischen ihnen auf. Das einzige Zeichen von Leben war eine Reihe buckliger Palmen mit überraschend karmesinroten Blättern. Auf der Brücke stand ein Schild mit dem Namen fieser touristischen Hochburg: BLUTENDE PALMEN – Zuflucht eines Märtyrers –
Dieser Ort war nicht auf vielen Landkarten eingezeichnet. »Mir gefällt das ganz und gar nicht«, sagte Woola, der Sensor-Mann. »Machst du Witze?« fuhr Clarry ihn an. »Das ist einfach hinreißendes Material! Ja, hinreißend!« Dabei vertilgte er Tabakritze wie Spaghetti. Er gab sich Mühe, positiv zu klingen, war aber innerlich wohl aufgeregter als Poppy. Und das mit gutem Grund. Schieres Pech hatte ihn hierher geführt. Üble Gerüchte, die ihm mächtigen Ärger bringen konnten. Vor zwei Tagen hatte Poppys Auftragsdienst eine anonyme Nachricht mit fünf Worten übermittelt: »Ich weiß, wo sie ist.« Außerdem war noch diese Adresse, in der Mitte von Nirgendwo – jedenfalls nahe dran – angegeben. Clarry hatte ihre Post überwacht, aber offenbar nicht sorgfältig genug. Diese Botschaft war ihm durch die Lappen gegangen, sonst hätte er sie vernichtet, ehe sie ihn zerstörte. Eigentlich wußte niemand, wo sich das Baby befand. Nicht mal er wußte es. Dabei steckte er tiefer in der Sache drin als die alte Hexe, die ihn angestiftet hatte. Hätte er mit ihr Verbindung aufnehmen können, hätte er sie um Rat gefragt, obwohl er das alte Luder jetzt noch mehr haßte, wo er persönlich in Gefahr war. Unglücklicherweise hatte Clarry keine Ahnung, wie er sie erreichen könnte. Er wußte nicht einmal, wer sie war oder wo sie wohnte. Nach Beendigung des Auftrags und Empfang der Ware sollte es keinerlei Nachrichten oder Treffen geben. Und jetzt das! Jemand anderer gab jetzt den Ton an. Vielleicht war einer ihrer Leute zum Verräter geworden? Clarry war so von seiner Angst beherrscht, daß er Poppys Anwesenheit neben sich kaum wahrnahm – dabei war ihr innerer Aufruhr ungleich größer. Er dachte nur an sich.
Niemand konnte ihm helfen, niemand seine Warnung hören. Beide konnten einander nicht trösten. Poppy riß ihn immer tiefer in die Scheiße, weil sie ihm vertraute und keine Ahnung hatte, daß er der Verursacher ihres Schmerzes war. Arme Poppy. Armer Clarry. Nein, sie konnten nicht zurück. Keiner. Besonders nicht Clarry. Nein, Sir! Er mußte herausfinden, wer die Nachricht geschickt hatte und wieviel diese Leute wußten. Er mußte herausfinden, ob sie ihn belastet hatten. Unter dem Gewicht des Kastenwagens zitterte die Brücke. Clarry blickte ins trübe Wasser hinab. Groteske, glatte Salzsäulen ragten wie steife Finger zwischen grünen gelatineartigen Kissen aus fluoreszierendem grünen Moos hervor. »Was für eine Kulisse«, flüsterte Poppy. Sie hatte sich aus dem offenen Fenster gebeugt, um besser sehen zu können. Ein Schauder durchfuhr sie. Er wurde als Ausschlag der Nadeln und Lämpchen auf dem Instrumentenbrett sofort registriert. Ja, es war hinreißendes Material, stimmte Clarry ihr stumm zu. Echt morbid! Unter anderen Umständen hätte er die dramatischen Möglichkeiten wirklich geschätzt. Wer hier draußen lebte, mußte krank oder getwistet sein. Er betete, daß alles nur ein Betrug sein möge, eine falsche Spur, irgendein verrückter Eremit, der aufgrund einer vermeintlich göttlichen Eingebung glaubte, die Lösung der Mystery-Show zu haben. Das war genau, was sie für ›Poppy auf der Flucht‹ brauchten: Bizarre Umwege des immer verschlungener werdenden Pfads auf der Suche nach dem Figueroa-Baby. Noch mehr verstiegene Illusionen, welche die Wahrheit verschleierten, und Hinweise, die nirgendwo hinführten. Falsche Fährten konnten Clarrys Haut retten und gleichzeitig die Einschaltquoten der Show – als ob ein Unterschied zwischen diesen beiden Dinge bestünde.
Woola parkte den Studiowagen neben dem Stamm einer leprösen Palme. In der leichten Brise schabten die blutroten Blätter wie die Scheren eines Einsiedlerkrebs über das Dach. Das Geräusch betonte die Trostlosigkeit dieses Orts. Clarry schluckte schnell noch ein Langzeit-Antidepressivum ohne Wasser, nur mit dem Saft der Tabakritze. Poppy stieg aus und Woola setzte sich auf ihren Platz. Clarry warf einen prüfenden Blick auf die Meßgeräte, um die Stärke des Signals zu kontrollieren. »Sei vorsichtig!« rief er Poppy hinterher. Sie drehte sich um und schenkte ihm ein tapferes Lächeln. Sie sah schrecklich aus. Am liebsten wäre Clarry mit ihr gegangen – an ihrer Stelle gegangen; aber er spielte in der Show nicht mit. Er war nichts als der Drahtzieher hinter den Kulissen. Durch die Drähte in ihrer Haut wußte er aber auch alles im selben Augenblick wie sie. Alles bis auf ihre Gedanken. Jetzt nahm sie ihn mit zu einer der Hütten, über deren Tür ein Schild war: BÜRO. »Intensiv«, sagte Woola. »Pss!«
Eine Glocke bimmelte absurd, als Poppy die Tür zum Büro zumachte. Es war leer. Nur ein längst veralteter Mondjahrkalender hing an der kahlen Wand. Einzige Lichtquelle war eine trübe Linse, die in der Mitte der Kuppeldecke angebracht war. Sie konnte auch ein schmutziges Dachfenster sein. Nach einigen Minuten hatten sich Poppys Augen auf die Beleuchtung eingestellt. Sie ging zu der Plastiktheke und suchte nach einer Glocke, um einen dienstbaren Geist zu rufen.
Statt dessen entdeckte sie einen Mann, der zusammengerollt hinter der Theke lag. Ein zerfetzter Frotteebademantel bedeckte fast ganz den Kopf, ließ aber die alten grauen Beine offen. Der ist tot, dachte sie. Aber da murmelte er: »Nichts frei!« Zwischen den Frotteefalten bewegten sich nur seine Lippen. »Ich… ich suche jemand.« »Ach super! Sehe ich wie ein Jemand aus? Na, bei meinem Glück wahrscheinlich schon.« »Ich habe eine Einladung nach Nummer Sechs.« »Besuche sind bei uns verboten. Erlaubt sind nur Strafen. Und nur eine Mahlzeit am Tag. Super, was? Du bist doch nicht hier, um jemand zu bestrafen, oder?« »Nein. Ich meine…« »Super! Pech gehabt. Du… du hast wohl keine Idee, wie man das macht, oder? Ich meine, jemand richtig weh tun… nicht nur körperlich, sondern auch die Gefühle zertrampeln. Du hast keine Ahnung, oder? Ich meine, das wäre super und…« Der Mann schien aufstehen zu wollen. »Ich finde selbst den Weg«, sagte Poppy, um ihn zu beruhigen. Er war ihr unheimlich. Der Mann gab sofort nach. »Super. Laß mich ruhig hier. Offensichtlich komme ich allein klar. Null Probleme, nein, Sir. Ich bin gut gekleidet und habe eine urgemütliche Schlafstelle. Klar, hau ruhig ab. Ich brauche keinen.« »Ja, klar«, sagte Poppy. »Super.« Draußen legte sie die Hand über die Augen, weil die Sonne so blendete. Sie hatte ein ungutes Gefühl und wollte von Clarry nicht gesehen werden. Daher drückte sie sich in den Schatten eines kaputten Baggers. In der Ferne waberte die Hitze über einer Hügelkette, die wie von fabrikmäßig hergestellten Spuckblasen bedeckt war: der neueste Stil der Wohnanlagen. Polyhedral hingen die Einheiten aneinander und
bildeten gemütliche, Spontannachbarschaften, die ansteckend waren und sich schnell ausbreiteten. Poppy fragte sich, wie lange noch Blutende Palmen in dieser trostlosen Isolation bleiben würde. Die Hitze machte schwindlig. Sie stützte sich an die Wand eines hohen runden Gebäudes, das einem Silo ähnelte. Die rostige Metallbeschichtung war verblüffend kühl. Ein Käfer kroch über ihre Finger, breitete Flügel aus und summte davon. Sie schloß die Augen, spürte die Drähte in sich und stellte sich vor, wie die Drähte ein Eigenleben entwickelten und parallel, aber getrennt und unmenschlich, neben ihrem Leben dahinsummten. Es war beruhigend zu wissen, daß das alles aufgezeichnet wurde – jetzt, in diesem Moment… und das… und das… nicht fragmentarisch, wie sie es fühlte, sondern kontinuierlich. Dadurch wurde die Illusion einer fließenden, einheitlichen Realität geschaffen. Dieser Augenblick würde nie verlorengehen, ganz gleich, was später mit ihr geschah. Clarry legte alles auf Eis. Seit geraumer Zeit hatte Poppy das Gefühl, daß etwas Schreckliches passieren würde. Natürlich nicht so schlimm wie das, was bereits geschehen war. Nein, eher eine saubere Art, die Dinge zu beenden. ›Dinge‹, das war ihr Leben, das tatsächlich in der Nacht geendet hatte, als sie ihr Baby verlor. Das war der Höhepunkt von Poppys Geschichte gewesen. Danach konnte sie eigentlich gleich zum Ende hüpfen. Und das tat sie jetzt. Hüpfen. Von einem Moment zum nächsten. Alle guten Teile lagen hinter ihr. Jetzt galt es nur noch, ein paar lose Enden zu verknüpfen, ehe sie aus den Drähten schlüpfte. Es war Zeit, mit einer anderen Geschichte anzufangen. Diese Fahrt in die Wüste war eine falsche Spur. Das wußte sie.
Obwohl sie nicht pessimistisch sein wollte, wußte sie, daß es keine leichte Lösung für das mysteriöse Verschwinden geben konnte. Aber auch keine harte Lösung. Langsam würde es ihrem Publikum auch dämmern, daß Calafia nie wieder in der Show auftreten würde. Der ›Gimmick‹ würde bald verblassen. Die Leuten haßten es, wenn in einer Draht-Show ein Geheimnis nicht aufgedeckt wurde. Es gibt keine Spannung, wenn man weiß, daß man nie die Lösung erfahren wird. Wie Poppy würden die Menschen bald aufhören, Fragen zu stellen und die Hoffnung aufgeben. Vielleicht fühlte sie sich deshalb jetzt so ruhig und unbeteiligt. Sie bereitete ihr Publikum – das noch keine Ahnung hatte – auf eine Riesenenttäuschung vor. Poppys Gedanken mischten sich mit den Rostflocken unter den Fingerspitzen. Auch ich flocke weg, dachte sie. Sie schluckte den Kiesstaub, der sich zwischen den Zähnen angesammelt hatte. Clarry fragte sich bestimmt auch, was sie jetzt tun würde. Ach was! Er konnte diesen Teil ja später herausschneiden. Sie blickte nach oben und sah die Nummer Sechs. Die Hütte war eine gespaltene Kuppel, wie das Oberteil eines Schädels, der schon lange in der Erde vergraben war, und den die Sonne gebleicht hatte. Die Tür stand etwas offen und sah aus, als könnte man sie nicht mehr schließen. Kalt im Winter, ein Ofen im Sommer. Dieser Schädel war die Unterkunft irgendeiner armen Seele. Das Gehirn in ihm war seit langem verwelkt… Poppy ging hin und schob die verwitterte Holztür weiter auf. Eine Eidechse huschte zwischen ihren Füßen ins Freie. Sang da jemand? »… roll-roll-roll weiter…« »Hallo?« Poppy trat ein. Sie fühlte einen kurzen kalten Schlag im Körper, ein elektrisches Kribbeln, das sofort wieder verging.
Sie kannte dieses Gefühl von Besuchen in Bürohäusern während der Arbeitszeit. Es bedeutete, daß ihr Signal gestört oder blockiert wurde. Solange sie sich in diesem Raum befand, konnte sie weder senden noch empfangen. Plötzlich war ihre Isolation ungemein gesteigert. Sie hatte Angst. Clarry blieb bei Poppy, als sie die Hütte betrat. Er wünschte, er könnte sie manuell steuern, wie eine ferngelenkte menschliche Kamera: Sie in diese oder jene Richtung drehen, Nahaufnahmen machen, weit weg gehen. Er war nicht zufrieden, daß er nur sehen konnte, was sie sah, und nur tun konnte, was sie tat. Aber so war es nun mal mit den Drähten! Die winzige runde Hütte war voll mit dürren Ästen und blassen Klumpen toter Vegetation. Eine dünne Stimme, die auch noch falsch sang, beschrieb Clarry, was er sah: »Roll weiter… Steppenhexe, roll, roll weiter…« Ja, Steppenhexe. Diese kugeligen trockenen Pflanzenstöcke kratzten Poppys Hände und verhängten sich in ihrer Kleidung. Im Hintergrund der Kuppel sah er, fast verdeckt von den dürren Zweigen, das Gesicht der schrecklichen Sängerin. Ihre Haut war so weiß wie sonnengebleichte Knochen. Das graue Haar wehte wie eine Winterwolke und verfing sich in den Steppenhexen. Als sie Poppy sah, erhob sie sich. Die dürren Zweige zogen ihre Haarsträhnen wie die Fäden einer Marionette nach oben. Clarry verspürte körperliche Erleichterung. Dort gab es keine weiteren Hinweise, nur Wahnsinn und Senilität. Nichts, was ihn verraten würde. »Roll, roll, Steppenhexe, roll«, quäkte die Alte. »Hallo«, sagte Poppy. »Haben Sie mich herbestellt?« »Ich? O ja. Es ist nicht mehr viel Zeit. Ich brauche im Garten Hilfe. Alles hat vergessen zu blühen.«
Poppy wollte nähertreten, aber die Steppenhexenbüsche waren zu dicht. »Ich bin Poppy«, sagte sie. »Poppy Figueroa.« »Poppy, die Mohnblüte… Mohn macht müde!« Es klang fast wie ein Lied. »Früher gab es überall Mohn. Wie Steppenhexen. Ich habe sie gern betrachtet. Sie bedeckten mit ihren wunderschönen Farben die Hügel und grünen Täler. Weißt du, daß Mohn früher die Staatsblume war? Jetzt gibt es nichts mehr als Steppenhexen.« Die Alte machte eine Drehung. Die dürren Bündel hefteten sich an ihre Mitte. Sie preßte sie an sich, als nähme sie ausgetrocknete Säuglinge an die Brust. »Roll, roll…« »Haben Sie mir die Nachricht geschickt?« fragte Poppy. »Wegen meiner Tochter. Waren Sie das?« »Poppy! Mohn!« rief die alte Frau. Plötzlich waren ihre Augen hell und klar. Doch der Zauber ging vorüber wie der Schatten einer dahinziehenden Wolke. Die Greisin ließ sich wieder auf ihrem knisternden Thron nieder. Sie schluchzte leise. Plötzlich sprang sie vorwärts. Die Bewegung war so heftig, daß sie sich von den dürren Ästen der Steppenhexen losriß. Sie streckte die Hände aus, die von getrocknetem Blut und Wundschorf bedeckt waren. Sie trug ein zerfetztes Baumwollkleid. »Ich war da, als du sie verlorst«, sagte die Alte. »Ich war da. Und ich weiß, wo sie ist. Ja, ich weiß es.« Clarry drückte wie wahnsinnig auf die Knöpfe der Instrumente. Dieses verrückte alte Weib! Warum sagte sie nicht einfach alles? Warum quälte sie ihn so? »Und wo?« fragte Poppy. »McBeth hat sie geraubt! Seine Götter! Böse Hunde – böse Hunde! Sollten nicht so zu ihren Herren sprechen! Aber du hättest deine Steuern zahlen sollen!« Clarry sank mit einem Seufzer der Erleichterung zurück.
»O mein Gott!« murmelte Poppy. »Das ist die Show, alte Frau! Das war nur die Show – nicht das wirkliche Leben!« »So? Nicht das Leben? Du glaubst, daß ich nicht weiß, was real ist.« »Ich bin sicher, daß Sie…« »Ich weiß, was ich weiß.« Clarry zog sich fast ganz aus Poppy heraus und überwachte die Aufnahme nur nebenbei. Das Geschwätz der Alten und Poppys höfliche Antworten waren unwichtig. Nachdem sie so weit herausgefahren waren, konnten Poppy ruhig eine Zeitlang mit dem alten Weib reden. Wahrscheinlich konnte er später ein paar amüsante Dialogfetzen herausschneiden. Erleichtert lachte er. Seine Angst war unbegründet gewesen. Woola lachte auch, allerdings aus anderen Gründen: Dieses alte Mädchen war verrückt. Sie kannte die Wahrheit nicht. Vielleicht kannte nur eine einzige Person die Wahrheit. Und das war auf keinen Fall Clarry.
Poppy blieb hinter der Schwelle stehen, als der kalte Schlag der Signal-Blockierung nachließ. Sollte sie wieder nach draußen gehen? Zurück in Clarrys Reichweite? Was dachte er wohl, nachdem er so plötzlich abgeschnitten war? Wenn sie hier in Gefahr wäre, würde er in Sekundenbruchteilen herbeieilen. Ihr kam der Gedanke, daß wer auch immer sie hierher gelockt haben mochte, nicht gewollt hatte, daß die Begegnung aufgezeichnet würde. Das würde Clarry ganz und gar nicht gefallen. Nachdenklich blickte sie sich in dem dämmrigen Kuppelbau um. Bis auf den kleinen Tisch in der Mitte war der Raum leer, aber sauber gefegt. Auf dem Tisch stand ein generischer
Holovisionapparat mit Prismabildschirm. Es war das billigste Modell auf dem Markt. Als Poppy näher ging, schaltete sich das Gerät ein, als hätte es nur auf sie gewartet. Plötzlich sah sie im Prisma Clarry Starko. Er sah in dem vollgestopften Schneideraum in seinem Hollywoodhaus vor seinem alten Sens8-Deck. Er schaute ihr aus dem Schirm heraus direkt in die Augen. Irgendwie sah er anders als jetzt aus. Die Haare waren kürzer, und er trug einen Schnurrbart. Das war Clarry, wie sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, als er sie wegen ihrer Show angesprochen hatte. Dieser Gedanke war schmerzlich. Damals hatten sie mit großer Vorfreude die Schwangerschaft geplant und hatten jedes Angebot als gutes Omen betrachtet, weil es für sie und das Kind Sicherheit bedeutete. Na ja, sie war keine Prophetin. Das hatte sich klar herausgestellt. Die Blickpunktkamera fuhr auf Clarry zu und erschreckte ihn. Das Ende der Tabakritze fiel ihm aus dem Mundwinkel. »Wer sind Sie?« fragte er in den Raum hinein. »Wie sind Sie hereingekommen?« Die antwortende Stimme war irgendwo hinter dem Bildschirm. Sie klang kühl und gebildet, war aber elektronisch geglättet, bis sie keinerlei menschliche Merkmale mehr aufwies, aufgrund derer man sie hätte identifizieren können. »Das ist unwichtig, Mr. Starko. Ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten.« Clarry blickte den Besucher – und damit in die Kamera und die Hütte – lange an, ehe er antwortete. »Was für ein Angebot?« fragte er schließlich. »Ich möchte eine Szene mit Ihnen als Regisseur drehen lassen. Damit werden Sie sich einen Namen machen und Ihren Ruhm besiegeln.« »Ach ja? Mit einer Szene? Wieso sind Sie da sicher?«
»Große Regisseure gehen große Risiken ein – besonders heutzutage, wo jeder Stunt schon einmal gemacht wurde. Das Publikum langweilt sich. Um in die Geschichte einzugehen, muß man Geschichte machen! Ich biete Ihnen die Chance, einen historischen Moment aufzunehmen, während er sich ereignet. Die Chance, an der Schöpfung dieses Moments mit Ihren Fähigkeiten mitzuwirken. Sie dürfen sich aber nicht mehr ins Geschehen einmischen, wenn es einmal in Gang gesetzt ist, aber Sie können mit den Kristallen, die Sie produzieren, machen, was Sie wollen. Ich werde mich um alles kümmern, mit Ausnahme der Produktion. Dafür sind einzig und allein Sie verantwortlich.« Poppy beugte sich näher an den Bildschirm. Das Hologramm war absolut deutlich mit unendlicher Tiefenschärfe. Die Kamera mußte als Anhänger an einer Kette getragen worden sein, klein und unauffällig. Derartige Apparate wurden häufig benutzt, um für Drahtprogramme die Flachbild- und die Holoversion simultan zu filmen, damit die verdrahteten Schauspieler – und das Publikum, das durch sie lebte – nicht vermeiden mußten, in die Kamera zu schauen, was die Realität des Programms möglicherweise beeinträchtigt hätte. Poppy blickte auf die schwarze Fensterscheibe hinter Clarry. Darin konnte sie die undeutliche Silhouette des unsichtbaren Sprechers ausmachen. Es war eine große, gesichtslose Gestalt in einem schwarzen weiten Gewand. Kein Wunder, daß Clarry so verblüfft dreinschaute – der Besucher wirkte nicht wie ein Mensch. »Sie sind Schauspielerin, oder?« fragte Clarry zynisch, aber begeistert. »Oldtimer, was? Sie wollen, daß ich Ihr Come back produziere, so wie Gloria Swanson in dem alten Film Boulevard der Dämmerung. Sie wollen den Durchbruch in die Drähte, weil keiner mehr die alten Flachleinwand-Filme ansieht. Aber warum kommen Sie zu mir?«
»Ich habe keineswegs den Wunsch, meine Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, Mr. Starko. Ich möchte lediglich die Zukunft verändern.« »Und wie?« »Lassen Sie mich Ihnen als erstes zeigen, wie ich Ihre Loyalität gewinnen möchte.« Der Kameraträger näherte sich Clarrys Schneidetisch. Der Raum drehte sich um das Auge der Linse und wurde an den Rändern unscharf. Poppy sah eine Hand in schwarzem Handschuh, die auf den EJECT-Knopf des Sens8-Geräts drückte. Ein Würfel aus aufnehmendem Kristall glitt aus dem Schlitz. Die Hand steckte einen schwarzen Eiswürfel in das Abspielgerät und drückte auf START. Clarrys Schneideraum und die Hütte in der Wüste füllte sich abrupt mit Schreien. Poppy wurde heiß, als glühe sie vor Fieber. Im Prisma wich Clarry vom Gerät zurück. Dann machte er einen Sprung und wollte ausschalten; aber die schwarze Hand hielt ihn auf. Das Signal speiste sich offensichtlich durch Clarrys Drähte. Poppy konnte es in dieser Entfernung – Gott sei Dank! – nicht spüren. Clarrys Körper erzitterte stark. »Was… wo haben Sie das her?« fragte Clarry in Panik. Die schwarze Hand hatte Erbarmen und schaltete aus. »Sie haben es erkannt?« »Es ist ein Schnüffel-Würfel. Sie… Sie könnten zum Tod verurteilt werden, nur weil Sie das Ding bei sich haben.« »Ja, weil es authentisch ist. Aber wieso wissen Sie das? Es ist ein Schnüffelfilm von hervorragender Qualität – man spürt, wie jeder Körperteil einzeln abgetrennt wird, während man sie gleichzeitig selbst abschneidet. Man kann es synthesieren, legal herstellen; aber nicht mit dem Null-Budget des Schwarzen Markts. Das ist Erste Klasse, das Werk eines
talentierten, aber mittellosen Drahtisten… wie Sie sich sicher erinnern.« Clarry war leichenblaß. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Sie hatten kein Recht, mir das ohne Warnung vorzuführen.« »Aber Mr. Starko, so eine Überraschung war es doch nicht! Sie haben es gleich erkannt, oder?« Clarry antwortete nicht, sondern blickte die Gestalt nur stumm an – und scheinbar auch direkt in Poppys Augen. »Wieso kommt es, Mr. Starko, daß männliche Künstler sich immer verpflichtet fühlen, überall Blut zu verspritzen, das Publikum in Grauen zu tauchen? Ist das, weil sie eigentlich vor Blut Angst haben? Weil sie die Frauen um die Macht der Menstruation beneiden? Blut ist der Träger von Leben und Tod, nicht wahr? Sind das nicht die Mächte, die auch Sie gern meistern würden? Die Dinge, die Ihnen wirklich Angst machen und wegen denen Sie sich hilflos und schwach fühlen?« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« »Ich spreche von Dunkelheit und Geheimnissen… von Tod und Blut und dem Grab, Mr. Starko. Damit sind Sie doch vertraut, nicht wahr? Sie haben diese Erfahrungen in der Unterwelt der kleinen Hölle gemacht, die wir Hollywood nennen, nicht wahr? Ich weiß, daß Sie von dort kommen, daß das die Quelle ist, aus der Ihre Wurzeln vielleicht heute noch trinken. Sie haben nie eine Ausbildung an einer der StudioStudien absolviert. Sie waren nicht für den Umgang mit reichen Snobs oder Drahtstars geboren. Sie hatten eine praktische Ausbildung bei den Drähten. Schnüffel-Shows. Das schwärzeste aller schwarzen Medien. Seit damals sind Sie weit nach oben gekommen, Mr. Starko; aber weiter kommen Sie nicht.« »Was wollen Sie?« Clarrys Stimme klang hart. Er sah jetzt auch nicht mehr verängstigt aus, sondern wirkte wie ein kühler
Geschäftsmann. »Wenn Sie glauben, daß Sie mich mit diesem schwarzen Würfel erpressen können, kennen Sie mich doch nicht so gut, wie Sie glauben. Ich arbeite zwar in Hollywood, aber ich bin keineswegs reich. Wenn Sie Geld wollen, müssen Sie sich schon an die wenden, die diese Schnüffelfilme machen… die den Dreck der Straße und die Ausgeflippten bringen… die sich mit Erpressung und Drohungen auskennen. So haben sie mich auch dazu gebracht, für sie zu arbeiten. Es sei denn, diese Menschen machen sie nervös.« »Ich will kein Geld, Mr. Starko. Sie haben vergessen, was ich gesagt habe. Ich will Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Hilfe bei einer kleinen Szene, die ich mir ausgedacht habe. Im Gegenzug biete ich Ihnen an, daß niemand erfahren wird, unter welchem Namen Clarry Starko diese schmuddligen Untergrundfilmchen gedreht hat. Niemand wird erfahren, wie er seine ersten populär gewordenen Draht-Shows finanziert hat.« Poppy hatte den Eindruck, als sei hier eine lange Pause geschnitten. Clarrys Gesicht veränderte sich zu abrupt. »Eine Szene, ja?« sagte er. »Was für eine Szene?« Die Kamera fuhr ganz nah an ihn heran. Die Stimme der Frau klang unnatürlich laut, in Anbetracht dessen, daß es sich um ein äußerst vertrauliches Gespräch handelte. Die Worte dröhnten in Poppys Kopf, vertrieben falsche Meinungen und trieben ihr mit schmerzhaften Hammerschlägen das Unwissen aus. Die Frau in Schwarz beschrieb einem jüngeren Clarry die Szene, die Poppy am Abend der Zweihundertjahrfeier spielen sollte. Sie beschrieb jede intime Einzelheit mit genauer Kenntnis, was und wie die Drähte gut rüberbringen konnten. Sie schilderte den Ablauf fast genauso, wie er sich dann abgespielt hatte. Der mysteriöse Kombi.
Die Entführung. Poppy stand wie erstarrt in der leeren Rundhütte in der Wüste. Sie war vor Entsetzen wie gelähmt, als sie hörte, daß Clarry immer ihr Feind gewesen war. »Und… und was passiert mit dem Baby?« fragte Clarry, nachdem die Frau mit der Erklärung des Verbrechens fertig war. »Das geht Sie nichts an.« »Nein? Aber was ist mit Poppy Figueroa?« »Das kann Ihnen doch egal sein. Sie kennen diese Frau doch auch nicht besser als die hier drin.« Die schwarze Hand zeigte auf das Abspielgerät. »Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, daß Poppy mitmacht?« »Ich glaube, daß sie mitmacht, wenn Sie ihr den Vorschlag so unterbreiten, wie ich Ihnen sage. Sie ist Schauspielerin. Eine arbeitslose Schauspielerin und zu jung, um zu glauben, daß ihre Karriere vorbei ist – trotz des Traumas, das sie vor kurzem erlitt. Sie wird sich auf die Rolle stürzen.« »Und woher wissen Sie, daß ich mitmache?« Die schwarze Hand erschien und schaltete das Sens8-Gerät wieder ein. Clarry stöhnte. Seine Augen traten aus dem Kopf. »Ich glaube, daß ich Sie überzeugen kann«, sagte die unmenschliche Stimme. Dann wurde der generische Prismabildschirm in der Hütte dunkel. Poppy wartete, ob das Hologerät ihr noch etwas mitteilen wollte. Sie dachte an Clarry, der im Studiowagen saß und alles durch ihre Augen mit ansah. Warum war er nicht längst gekommen? Ach ja! Natürlich! Ihr Signal war blockiert. Seit sie die Hütte betreten hatte, bekam er nur Statik. Aber auch das hätte ihn
schon längst alarmieren müssen. Vielleicht hatte er sich in den Hütten verirrt. Vielleicht stand er schon vor der Tür. In Panik lief sie hinaus. Sie wollte nicht, daß er das Holovisionsgerät sah. Sie wollte nicht, daß er sie fragte, was sie gesehen hatte. Mit dem Rücken an der Tür stand sie zitternd im heißen Sonnenlicht. Als sie das Gefühl hatte, wieder genug Kraft zu haben, um weiterzugehen, lief sie durch die Schatten der Silos und Fabriken. Sie wollte weg vom Büro und den Männern laufen, hinein in die Reste der Wüste. Doch plötzlich kam sie aus dem Schatten und sah den Studiowagen vor sich. Hinter den getönten Scheiben saß Clarry. Er saß nur da und starrte vor sich hin. Dabei hatte er die ganze Zeit über gewußt, wo ihr Baby hingekommen war. Als Clarry sie sah, machte er die Seitentür auf und beugte sich heraus. »So ein Pech! Ich glaube kaum, daß wir von den Aufnahmen viel brauchen können.« Wie unter Zwang ging Poppy auf ihn zu. Die blutroten Palmen schienen zu schwanken und in der Hitze zu schmelzen. Poppy brachte kein Wort heraus. Sie wußte – als hätte die Frau in Schwarz es ihr direkt gesagt –, daß sie nicht verraten durfte, was sie gesehen hatte. Das war leicht. Das Schweigen der Wüste war überwältigend. Da fiel es ihr nicht schwer, sich anzuschließen. Weit entfernt hörte sie lautes Dröhnen, als schlügen schwere Hämmer auf die Erde. Sie merkte nicht, daß das ihr Herzschlag war. Poppy berührte das heiße Blech des Studiowagens und fühlte den Staub, der dort klebte, aber alles wie weit entfernt. Die Schatten der Palmen krochen über ihren. Sie entrann dem Ektoplasma, indem sie wieder ins Sonnenlicht trat. Sie ging weg vom Wagen, weg von Clarry und den Dingen, die er wußte oder nicht wußte. Sie überlegte, ob die ganze Show nur eine Illusion gewesen sein könnte. Sie fragte sich, welche
Illusion Clarry gesehen haben könnte. Vielleicht war alles nur eine Lüge gewesen. Aber sie würde nie wagen, ihn zu fragen, ob es echt gewesen war – oder doch? Das Sonnenlicht preßte auf das grüne Wasser unten in der Kiesgrube. Ekelerregende Finger zerrten an Poppys Drähten. Ertrunkene Dinge riefen ihren Namen. »Poppy?« Eine Hand auf ihrer Schulter. »Komm weg von hier. Es ist gefährlich. Die Klippe könnte unter dir wegbröckeln.« Poppy sah Clarry, aber nicht deutlich. Die Sonne spiegelte sich auf seinen Augen. »Mir ist schwindlig«, sagte sie leise. »Die Hitze ist auch grauenvoll. Komm, gehen wir zurück zum Wagen. Da ist es kühler.« Nicht so kühl wie das grüne Wasser mit den Fingern, dachte sie. Sie schüttelte seine Hand ab. Mit ihm in den Studiowagen zu steigen, war vielleicht die schwerste Aufgabe ihres Lebens. Nachdem sie in einer Lo/Ox Gesundheits-Schnellimbiß-Bude zu Abend gegessen hatten, beschloß Clarry, die Nacht in der Wüste zu verbringen. Er nahm drei Zimmer in einem Motel an der alten Interstate 40 – der 40-Winx. Poppy und Chick Woola und er hatten alle ein eigenes Zimmer. Clarry stellte darin sofort sein tragbares Schneidegerät auf, das mit dem zentralen Sens8-Deck im Studiowagen verbunden werden konnte. Poppy war während des Essens sehr verschlossen. Ein paarmal spürte Clarry ihre Augen. Als sie fragte, was los sei, zuckte sie nur die Achseln. Dann sagte sie, daß sie müde sei und ging ohne ein weiteres Wort auf ihr Zimmer.
Clarry schob ihr seltsames Verhalten darauf, daß sie immer noch wegen des Babys bedrückt war. Er konnte das nicht nachfühlen. Poppys lange Trauer überraschte ihn. Sie hatte das Kind doch gar nicht kennengelernt. Es gab doch nichts, was zu betrauern war oder was ihr fehlen konnte. Die Episode lag inzwischen mehrere Monate zurück. Aber Frauen waren bei solchen Sachen oft komisch. Nun hatte die große Enttäuschung alles wieder aufgewühlt. Er fühlte sich sehr erleichtert. Clarry rief die Aufnahmen vom Nachmittag ab. Wieder trat er in den dunklen Kuppelbau bei den Blutigen Palmen. Er konzentrierte sich ganz auf einen Punkt: Wenn er einen Film bearbeitete, trat er immer in diesen überwachen Trancezustand ein, der ganz nahe an das Gefühl herankam, das er gehabt hatte, wenn er unter den Drogen stand, die ihn zu dem perfekten, seelenlosen Drahtmann, den Meister in Ho-Woods Horrorszene gemacht hatten. Diese Trance war besser als ein Drogen-High. Sie war zuverlässig und überaus angenehm. Wenn die Arbeit gut ging, kaute er kaum Tabakritze. Die dürren Steppenhexen rissen ihm die Hände auf. Die alte Frau mit der Haut so weiß wie Bleiche sang ihr dünnes Lied. Hier konnte er nicht viel retten. Wenn er die Szene zusammenschnitt, blieben vielleicht ein paar brauchbare Gesprächsfetzen. Für seine geschärften Sinne war die Aufnahmequalität ziemlich armselig. Es war, als sei er mit dem zentralen Sens8Deck verbunden. Wieder drückte er und versuchte eine andere Zeile. Aber die war auch nicht viel besser. Das bedeutete… Es war keine schlechte Verbindung, sondern es lag an der Aufnahme. Die ganze Szene in der Hütte wirkte dünn, körnig, wie eine billige Raubkopie, die so oft kopiert worden war, bis Löcher beim Ton und Geruch auftraten, es statt gezackter
Berggipfel nur noch Hochebenen gab und das Gefühl der Realität verlorenging. An manchen Stellen kamen darunterliegende Aufzeichnungen durch und führten zu einer schlecht schmeckenden Synthese. Aber das ergab keinen Sinn! Es gab hier keine früheren Aufzeichnungen! Er arbeitete direkt mit dem Masterwürfel, ganz frisch. Es mußte doch irgendwie an der Verbindung liegen. Clarry beschloß, zum Studiowagen zu gehen, um mit dem Hauptgerät zu arbeiten, wo er mit der Diagnoseschaltung den Ursprung der Störung orten konnte. Er klopfte an Chicks Tür. Woola machte langsam auf und steckte den Kopf heraus. Ein fremder blonder Junge lag bewußtlos auf dem Bett. Die Hälften der Silberphiole hielt er noch in den Händen. Das Make-up war verschmiert. An den Schläfen waren blaue Flecken. Clarry erinnerte sich dunkel, den Jungen auf dem Parkplatz herumlungern gesehen zu haben. »Ich gehe kurz raus«, sagte Clarry. »Entschuldige die Störung.« Der Kastenwagen stand auf dem Parkplatz neben der Straße. Nachts herrschte auf der Wüstenpiste reger Verkehr. Hauptsächlich Schwerlaster schafften ihre Ladung durch die Franchise. Der Studiowagen bebte jedesmal, wenn so ein Brummi vorbeirauschte. Clarry fühlte sich nicht so sicher wie sonst, wo er sich beim Bearbeiten so geborgen wie im Mutterschoß vorgekommen war. Clarry schaltete das Sens8-Masterdeck ein und stimmte sich auf die Bearbeitungskanäle ein. Er hielt gleichzeitig mehrere Stränge fest, die er nach Belieben spleißen oder verweben konnte. Am besten war es, nur mit ein paar Gesichtspunkten zu arbeiten, damit das Publikum die Wahl zwischen den
Schaltkreisen hatte. Aber die heutige Sitzung zeigte nur Poppy. Es war langweilig einfach. Warum aber diese Störungen? Clarry überprüfte den Würfel. Sauber und blank. Er reinigte den Schlitz und schaltete das Abspielgerät wieder ein. In der nächsten Sekunde ging er durch die Mittagshitze, weg von der rostigen Silowand, an der Poppy gerade noch gelehnt und an Gott-weiß-was gedacht hatte. Jetzt kam die Kuppel. Die Aufnahmequalität war ausgezeichnet. Offenbar lag das Problem doch bei der Verbindung. Gut so. Dann trat er ein. »Roll…« Verdammt, wieder unscharf. Auf dem Master. Clarry dachte nach. Ja, schon bei der Aufnahme war ihm alles irgendwie komisch vorgekommen. Aber dann hatte er die Bedenken in der realen Zeit vergessen. Jetzt aber beim Bearbeiten war die schlechte Qualität nicht zu übersehen. Sie raubte jeden Sinn der Realität. Er hörte in der Hütte die piepsige Stimme des alten Weibs und Poppys Stimme. »Noch mal zurück!« befahl er. Das Sens8 gehorchte. Poppy ging rückwärts wieder aus der Tür. »Standbild!« Da! Der Sekundenbruchteil, mit dem Poppy über die Schwelle trat, entsprach genau dem Punkt, an dem das Signal schlecht wurde. Zufall? Er hielt diesen Moment fest. Poppy stand mit einem Fuß mitten in der Luft halb in der Hütte da. Hinter ihr war die heiße, klare Wüste – so real, als stünde er selbst dort. Vor Poppy war eine Art Nebel. Ein Schleier. Als ob ein Amateur schlecht gespleißt hätte. Clarry ließ die Bilder noch ein Stück zurücklaufen. Er drückte einen winzigen, durchsichtigen Zeitkeil zwischen Poppy und das Innere der Hütte. Jetzt konnte er den Raum
etwas deutlicher sehen. Dann blitzten Poppys Augen auf. Es war nur wie ein Blitz, aber es reichte. Die Kuppelhütte war leer. Keine Steppenhexen. Keine geschwätzige Greisin. Leer – bis auf einen Tisch und einem Holovisiongerät. »Verdammte Scheiße!« murmelte Clarry. Er nahm die Hand vom Zeitschalter und ließ die nächsten Bilder in Zeitlupe vorwärtslaufen. Er sah, wie der Schleier fiel und die dürren Zweige der Steppenhexen und das alte Weib erschienen. Nachdem er den Trick erkannt hatte, wirkte alles unglaublich künstlich. Clarry konnte es nicht fassen, daß er darauf reingefallen war. Seine Entschuldigung war, daß er sich auf andere Dinge konzentriert hatte. Er hatte krampfhaft auf einen falschen Hinweis für Poppy gewartet, der ihn entlasten würde. Dieses Wunschdenken und die Spezialeffekte hatte ihn eingelullt und aufs Eis geführt. Scheiße! Die ganze Zeit, in der er gedacht hatte, Poppy würde mit dem alten Weib plaudern, hatte sie Holovision angeschaut und Gottweißwas gesehen. Was war wirklich in dieser Hütte geschehen? Warum hatte sie nicht darüber gesprochen? Er hatte ein flaues Gefühl. Sehr blasse Ideen kamen ihm – wie die geblähten weißen Bäuche toter Fische tauchten sie an der Oberfläche seines Bewußtseins auf, wie nach einer Explosion oder Gift in der Tiefe. Die Nachricht, die sie in die Wüste gelockt hatte, stammte nicht von einem verrückten Fan Poppys. Nein, das war das Werk einer ganz hinterhältigen Person, die Poppy und Clarry kannte und wußte, wie die beiden dachten. Clarry hatte von einem neuen Gerät für Spezialeffekte gehört, einem Realitäts-Synthesizer, mit dem man so etwas machen konnte. Aber das Gerät existierte nur als Prototyp – niemand in seinen Kreisen hatte es bis jetzt gesehen. Wer auch immer
Poppy die Nachricht geschickt hatte, mußte großen Einfluß haben – in Ho-Wood oder den Forschungslaboratorien. Nur eine Person hatte das und das Baby. Diese alte Hexe in Schwarz. Was für ein Spiel spielte sie jetzt? Aufs Kreuz legen? Ihn zum betrogenen Betrüger machen? Benutzte sie jetzt dafür ihr Drehbuch, so wie sie Clarrys Kopf für die Intrige benutzt hatte? Sie hatte ihn erpreßt. Jetzt holte sie zum Schlag gegen ihn aus. Er wußte, daß er recht hatte. Sie wollte ihn hängen sehen. Er mußte unbedingt mit Poppy reden und genau herausfinden, was sie gesehen hatte – selbst wenn das bedeutete (o Gott!) seine Rolle bei der Schurkerei zu gestehen. Wenn er gestand, konnte er vielleicht irgendeinen Schutz bekommen, wenn das Luder in Schwarz ihn der Polizei auslieferte. Ja, er mußte herausfinden, was Poppy wußte. Dazu mußte er ihr wahrscheinlich alles beichten. Clarry nahm sich nicht einmal die Zeit, das Deck auszuschalten. Er lief zurück aufs Zimmer und schluckte schnell einen Tranquilizer. Dann fiel sein Blick auf das tragbare Deck. Poppy war immer noch eingeschaltet. Keine Aufzeichnung, nur ihr Strom lief noch durchs Master-Deck. Das war die übliche Verfahrensweise: Das Deck blieb immer mit ihr verbunden, falls etwas geschah, das man für die Show verwerten könnte. Clarry verdrängte seine normalen beruflichen Skrupel, sich ohne Poppys Erlaubnis in ihre Drähte zuzuschalten. Er wollte ja nur einen kurzen Blick tun, um zu wissen, wo sie sich jetzt aufhielt, damit er die geeignete Strategie entwerfen konnte, wie er sich ihr am besten näherte. Wie vorauszusehen war, wälzte sie sich im Bett und weinte.
Clarry blieb auf NE mit ihr verdrahtet und ging zu ihrem Zimmer. Er klopfte an. Das Klopfen hörte er durch beide Ohrenpaare. Poppy zog das Kissen über den Kopf – und damit auch über seinen. Er versuchte mental, sie aus dem Bett zu drücken. Aber das war sinnlose Kraftanstrengung, da er sie nicht mittels der Drähte bewegen konnte. »He, Poppy!« rief er. »Komm doch bitte raus. Nur für eine Sekunde.« Sie lag ganz still. Er in ihr auch, wie erstarrt, als sie seine Stimme hörte. Sie hatte Angst vor ihm. Ihre Muskeln fühlten sich verkrampft an. »Poppy, ich bin’s! Ich muß dich etwas fragen. Los, wach auf! Es ist irrsinnig wichtig.« Nach einigen Minuten war er bereit aufzugeben und den Manager des Motels zu bitten, Poppys Zimmer aufzuschließen. – ›Ich fürchte, sie hat eine Überdosis genommen!‹ – Da fühlte er, wie sie aufstand. Sie hatte die Phiole wieder benutzt. Ihre Schläfen waren blaurot, wo sie die Silberhälften zu lange angepreßt hatte. Total weggetreten. Kein Wunder, daß sie sich so langsam bewegte. Er fühlte sich etwas besser. Vielleicht ging sie ihm gar nicht aus dem Weg, sondern war nur getwistet. Die Tür öffnete sich. Er stand sich selbst von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er schlug schnell die Augen nieder, ehe die Rückkopplung des Augenkontakts einsetzte. Der anschwellende Nervenschrei wurde damit abgeschnitten, ehe er den Höhepunkt erreichte. Er nahm sie am Ellbogen. »Komm mit. Wir müssen reden.« Sie wollte sich freimachen. »Was…?« »Draußen, Poppy. Ernstlich, wir müssen reden. Draußen sind wir ungestörter.«
Sie trug nur ein dünnes Gewand, aber die Nacht war warm. Er ging mit ihr zum Studiowagen. Mit den bloßen Füßen stolperte sie mehrmals. »Clarry, hör auf! Du tust mir weh!« Er ließ sie los. Sie wich von ihm zurück. Jetzt war sie hellwach und blickte ihn mißtrauisch an. Sie weiß es! dachte er. Ihr Blick sagt alles. Irgendwie hatte sie in der Hütte die Wahrheit erfahren. »Poppy«, sagte er und blieb stehen. Was jetzt? Die passenden Worte flogen ihm nicht direkt zu. »Ich gehe zurück ins Bett.« Er war jetzt in ihr, fühlte den Kies, der sich in ihre Fersen grub, und den Wind, der um ihre Beine wehte. Ein Schwerlaster donnerte vorbei. »Poppy, ich weiß, was in der Hütte passiert ist.« Sie verkrampfte sich und wollte weglaufen. »Nein«, sagte er. »Lauf nicht weg! Wir müssen reden.« »Laß mich in Ruhe!« Wieder verschwendete er Energie, um sie mental zu beeinflussen, wegzugehen, nein, zu ihm zu kommen. In seiner Aufregung hatte er die Körper verwechselt. Aber seine Verzweiflung hatte offenbar den gegenteiligen Effekt ausgelöst. Poppy lief los. »Poppy, bleib stehen! Sag mir, was passiert ist.« Verdammt! Clarry lief hinter Poppy her. Er steckte in ihrem und in seinem Körper. Sie hatte Schmerzen, aber ihre Angst – die er durch die Drähte ebenfalls berührte – war noch viel stärker. Sie lief wie der Teufel. Vorbei am Studiowagen, über den Parkplatz des Motels zur Straße. Brummi-Ungeheuer heulten vorbei, als sei die Nacht ein hungriger Schlund, der sie einsaugte. Die Rücklichter verschwanden. Die Hupen hallten in die Weite hinaus. Durch Poppys Augen war alles verschwommen. Sie weinte.
»Poppy, komm zurück! Wir müssen reden! Ich will dir erklären… ich sage dir alles… das schwöre ich. Sag mir nur, was du weißt!« Durch Poppys Drähte konnte er sich nicht mehr hören. Der Straßenlärm war zu groß. Sie lief immer weiter von ihm fort. Clarry war sicher, daß er sie einholen, festhalten und zum Sprechen zwingen könnte. Schließlich trug er Schuhe, und sie war barfuß. Er lief schneller. Poppy schien zwischen den Scheinwerfern hin- und herzulaufen, um ihnen auszuweichen – aber das war eine Illusion. Die Lichter bewegten sich. Poppy stand ganz still. Ihre Silhouette wirkte wie eine Statue. Clarry konnte nicht erkennen, in welche Richtung sie blickte, bis er sich selbst im Licht der Scheinwerfer eines Brummis auf sie zulaufen sah. Dann sah er als Überblendung ihr Gesicht aus seinen Augen. »Poppy!« rief er. Er spürte, wie sie tief Luft holte. Er streckte die Hand aus… Sie wich zurück und lief in eine Lücke zwischen den stetig anrollenden Brummis. Wie eine Tänzerin überquerte sie einen Fahrstreifen. Vor ihr lagen noch drei Bahnen. Im Augenblick waren sie dunkel und wirkten wie tiefe Täler. Dann tauchten riesige Scheinwerfer auf. Die Dunkelheit verwandelte sich in einen tödlichen Fluß, einen Lichterstrom, der beide mit sich riß. Der grelle Berg donnerte aus dem Nichts heran, verfehlte jedoch Poppy. Nein, er erwischte sie mit einer Kante. Das reichte. Clarry spürte alles. Jedes brutale Detail des Aufpralls. Er wurde hineingezogen, während sie hinausgeschleudert wurde. Er war eine Facette eines dreifachen Schreis: Poppy, er und das Quietschen der Bremsen des Lasters. Er hörte den Geräuschtornado durch zwei Ohrenpaare… dann nur durch
eins, weil Poppys Ohren nicht mehr funktionierten. Ihre Polynerven waren gefühllos. Die Nadeln auf den Geräten im Studiowagen fielen kraftlos zur Seite. Die Drähte waren tot. Der Verkehrsstrom hielt an – aber nur für Poppy. Clarry ging weiter die dunkle Straße hinab, wo die Drähte endeten. Er ging dahin und fragte sich, ob er je den Weg zurück zu der Stelle finden würde, wo Poppy in strahlender Helle in ihrem Blut lag.
7 TRAUMA IN DER GLITZER-STADT
Der Vorteil von Alkohol – auch wenn Trinken altmodisch war – im Vergleich zu anderen Drogen war seine hervorragende Art und Weise, das Bewußtsein zu unterdrücken, ständig von Drahtshows umbrodelt zu sein. Mit genügend Alkohol konnten schon die fundamentalen unbewußten Prozesse ausreichend vergiftet und sabotiert werden, so daß kein Teil der Anatomie auf die Drähte eingeschaltet blieb. Sandy hatte diesen Punkt noch nicht ganz erreicht oder war bereits drüber hinaus und wieder auf dem Weg zurück ins Körperbewußtsein. Was auch immer der Grund war – er kam langsam wieder zu sich und lag inmitten von Poppys. Grunzend drehte er den Kopf beiseite, um nicht mehr in all die Gesichter sehen zu müssen. Er wollte in seinem gegenwärtigen Zustand nicht von irgendeinem Mitglied seiner Familie gestört werden. Aber Poppy ließ nicht locker: Poppy mit den Nachrichtenmoderatoren, Poppy in alten Ausschnitten der Familienserie, Poppy in ständiger und immer größer werdender Gefahr, Poppy im… Krankenhaus? An diese Episode konnte er sich nicht erinnern. Das mußte eine neue Entwicklung in ›Poppy auf der Flucht‹ sein. Diese Show war dümmlich, einfach zum Kotzen. Wenn er sie nur abschalten könnte! Alle Signale abschalten! Den Mund abschalten, der laut seinen Namen brüllte. Jetzt wachte er richtig auf. Er war im Palast von Thaxter Halfjest und lag im Karpfenteich. Immer noch hörte er jemand seinen Namen rufen. Nachhall aus dem Schlaf. Er hob den Kopf über den Kies am Ufer und sah zwischen lila Schwertlilien und bunten Wasserlichtern Cornelius. Ohne
Hemd – man konnte deutlich die Brustwarzen sehen – saß der Seehundmann mitten im Teich. Sein Schnurrbart bewegte sich rhythmisch, während er das Schlaflied eines Seehunds sang. Neben ihm schwamm ein Glas, das am Brunnen angebunden war. Es war bis zum Rand mit Drambuie gefüllt. Plötzlich griff Cornelius ins Wasser. Nach einem kurzen, stummen Kampf hielt er einen fetten blaugepunkteten Karpfen in die Höhe. Fisch und Seehundmann beäugten sich mit erstaunlicher Ähnlichkeit: Beide hatten Schnurrbarthaare, hervorstehende Augen und ein breites Maul. Cornelius zeigte seine nadelspitzen Zähne und machte sich bereit, den Karpfen in der Mitte durchzubeißen. »Corny, nein!« Erschrocken ließ Cornelius den Fisch fallen. Er blickte verdutzt zu Sandy und wischte sich mit dem nassen Handrücken übers Maul. »Wir sind hier Gäste«, sagte Sandy. »Fisch ist ein hervorragendes Mittel gegen einen Kater, Sir.« »O Corny! O Christ!« Jetzt machte sich Sandys Kater in seiner unnachahmlichen Art bemerkbar. Hätte er einen lebendigen Karpfen für ein geeignetes Mittel gegen die Schmerzen gehalten, hätte er wohl auch zugebissen. So aber sank er nur stöhnend zurück und blickte zu dem mit Moos bedeckten Kandelaber an der Decke. »Wie bin ich hierher gekommen?« »Ich habe Sie getragen, Sir. Ich dachte, frisches Wasser würde Sie erquicken.« Sandy spritzte sich etwas von der lauwarmen Brühe ins Gesicht. »Hast du jemand meinen Namen rufen hören oder habe ich das geträumt?« Cornelius zeigte nach oben. »Ich glaube, der Reverend Gouverneur hat Sie gerufen.«
»Was will er bloß?« Sandy kratzte sich den Bauch durch das Hemd. »Corny, wann habe ich zum letztenmal in einem Bett geschlafen?« »Richtig geschlafen?« »Was willst du damit sagen?« »Nun, ich gehe wohl recht in der Annahme, daß Sie damit nicht das Teilen eines weichen Lagers zum Zweck sexueller Vereinigung meinen, Sir?« »O nein! Jetzt weiß ich sicher, daß du in einem Reagenzglas ausgebrütet wurdest.« »Sie haben nicht mehr in einem Bett geschlafen, seit wir den Meereskratzer verlassen haben – das war vor einer Woche. Darf ich Sie daran erinnern, daß ich meine nächtliche Bequemlichkeit ebenfalls geopfert habe, um Sie bei diesem waghalsigen Sturz ins Laster zu begleiten?« »Niemand hat dich dazu gezwungen.« »Nein, ich tat es um meiner Seelenruhe willen. Sie sind mein Freund, und ich würde meine Pflichten vernachlässigen, würde ich Sie sich selbst überlassen.« »Gib zu, daß du allmählich königlich braun wirst!« Cornelius dachte darüber kurz nach und nickte schließlich. »Es ist besser, als im Meereskratzer zwischen den vielen Leuten von Termin zu Termin zu hetzen. Das Leben hier scheint mir mehr in der Tradition meiner Seehundvorfahren zu sein, die auch meistens faul in der Sonne lagen.« Sandy schüttelte den Kopf. »Die Arbeitswelt ist nichts für uns, Corny. Wir müssen mitnehmen, was wir finden. Wir sind dazu geschaffen, auf der schlingernden Brandung der Realität zu surfen. Ooo… mein Kopf!« Sandy stand unsicher auf und streckte dem Freund die Hand entgegen. »Komm, Corny, Sushi-Zeit!«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich zum Frühstück lieber Haferflocken essen. Wenn ich schon keinen wirklich frischen Fisch haben kann…« »Hier muß es doch irgendwo einen Hummertank geben.« Auf den Marmorkorridoren um den Teich hörte man Schritte. Thaxter Halfjest erschien und lief mit ausgebreiteten Armen auf den Teich zu. Das war seine normale Art, jemand zu begrüßen. Aber jetzt war sein Gesicht merkwürdig blaß und ernst. »Sandy, mein Junge! Das bist du ja! Ich war nicht sicher, ob du noch bei uns bist. Ein paar Leute haben zwar behauptet, mit dir letzte Nacht gevögelt zu haben, aber du weißt doch, was die Leute für Geschichten erzählen.« »Was ist denn los, Thax?« Der Gouverneur ließ die Arme sinken. »Ich habe grauenvolle Nachrichten. Poppy ist auf der Intensivstation im Welby-Kildare-Hospital.∗ Dein Vater heuert gerade ein komplettes Ärzte- und Pflegeteam an, um sie nach Hause zu bringen; aber das braucht Zeit. Du solltest sofort runterfliegen, Sandy.« Sandy ging tropfnaß zu ihm. Er erinnerte sich an seine ›Träume‹. »Mein Gott! Deshalb war ihr Gesicht ganz eingebunden. Über die Drähte drüber. Was ist passiert?« »Ich hole den Jaguaero«, sagte Cornelius und lief unter Hinterlassung nasser Fußabdrücke los. »Ein Unfall, nehme ich an. Zieh lieber trockene Sachen an. Ich lasse dir welche zur Garage schicken, wenn du mir deine Größe verrätst.« Aber Sandy fand das nebensächlich. Sogar sein Kater war nicht mehr schlimm. »Nein, danke, Thax. Ich trockne unterwegs. He, Corny, warte auf mich!« ∗
Dr. Welby und Dr. Kildare sind bekannte Helden einer medizinischen TVSerie in den USA. – Anm. d. Übers.
Sandy war über ein Jahr nicht zu Hause gewesen. Hollywood war wie immer: Eine große, stinkende Schüssel, in der die Menschheit in einer psychedelischen Regenbogensuppe herumschwamm. Smogverzehrende Aerophyten waren zu Anfang des Jahrhunderts ausgesetzt worden, um die tödlichen Kohlenwasserstoffe im Becken umzuwandeln. Sie hatten inzwischen den Himmel sauberer als einen Hundenapf ausgeleckt. Leider hatten ihre Abfallprodukte die Region mit einem bunten Film überzogen, der nie ganz weggewaschen wurde. Durch ihn war der alte Spitzname ›Glitzer-Stadt‹ noch zutreffender geworden. Wo man auch hinblickte, sah man in der Nachmittagssonne Gift wie Pailletten glitzern. Dieser Flitter legte sich wie polychromatische Schuppen auf alles in den Straßen. In einem Sturm ähnelte das LA-Becken einem hübschen Briefbeschwerer, in dem die Flocken umherstoben, wenn man ihn schüttelte. Cornelius steuerte über Hügel dahin, die so trocken und verrunzelt wie der Rücken einer alten Frau waren. Er glitt über Wohnwürfel dahin, die im Schatten der gefährlich übereinander geführten Freeways wie Spielzeughäuschen wirkten. Er kreiste über dem stachligen khakifarbenen Prinzessin Zsa Zsa Gabor Memorial Kaktusschutzgebiet, ehe er in den Jet-Stau östlich vom Beverly Canyon geriet. In einer so verstopften Region wie dem Becken führten die örtlichen Verkehrskontrollen und die individuellen Antikollisionsgeräte der Luftfahrzeuge zu dem ärgerlichen Zustand, den man als Hunde-Magnet-Syndrom kennt. Dank der vielen Sicherheitsvorrichtungen war es praktisch unmöglich, mit einem anderen Jet zusammenzustoßen. Wenn zwei Luftautos direkt aufeinander zuflogen, bogen sie automatisch kurz vor dem Zusammenstoß ab, so wie sich zwei
Nordpole in Magneten abstießen, wenn man sie zusammenbrachte. (Viele Generationen von Kindern freuten sich über die Späße der schwarzen und weißen Scott-Terrier mit den Magneten in den Schnauzen.) Abstürze wegen Kollisionen gehörten daher längst der Vergangenheit an. Gerieten aber drei oder mehr Luftautos dicht aneinander, wurde das Ausweichballett sehr kompliziert. Wenn nun Hunderte oder Tausende von Autos, ja schon Dutzende, ein Ziel anflogen, führte das zu einer riesigen Blase von Ablenkkräften – einem sphärischen Sperrgitter –, einem kugeligen leeren Raum, von dem alle Flugautos gleichzeitig abgestoßen wurden, so daß keines in die ersehnte Zielzone eindringen konnte. Dann mußten alle warten, bis die Computer Ordnung geschaffen hatten. Je attraktiver ein Ereignis war, desto länger das Warten. Und an diesem Tag war beim Welby-Kildare-Hospital – mit Dr. McNguyen als Sponsor – besonders viel los. Krankenwagen mit Sirenen hatten Vorrang. Wenn sie im Zickzack über die Notbahnen dahinrasten, drehten sich die zurückgestoßenen Jets im Kreis. Während Cornelius mit dem Jaguaero schwebte und auf ein Loch wartete, betrachtete Sandy den rauchigen Abgrund des Beverly Canyons, ein Geschenk der San Andreas-Falte an Grundstücksmakler des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die glatten Wände des Canyons waren von Fenstern, Baikonen und hängenden Gärten bedeckt. Das Haus der Figueroas lag mehrere Meilen nördlich und stand auf dem exklusivsten Teil dieses berühmten Geländes. Sandy konnte es noch nicht sehen, weil es von so vielen schwebenden Reklamen verdeckt wurde. Jetzt materialisierte sich vor ihnen ein riesiges Reklamehologramm, durch das man fliegen konnte. Sandy betrachtete es anfänglich mit Ärger dann mit Neid.
Man sah sieben Menschen. Jeder repräsentierte eine verschiedene Rasse aus allen möglichen Zeitaltern. Große Schlagzeilen flimmerten um sie herum und schickten laute synchronisierte Botschaften in Sandys Drähte: Vergeßt Ozzie und Harriet! Schmeißt die Bradys weg! Wer braucht die Bundys? Scheiß auf alle Murgatroyds und Figueroas! Keiner von denen hat auch nur ein Siebtel von dem, was wir bieten! Die erste Familie, die wirklich wie ihr seid! Leute, auf uns könnt ihr zählen! Und wir kommen jetzt mit unserer Magie – DIE MAGISCHEN 7 Unser Ersatz, dachte Sandy verbittert. Alle versuchen, die Lücke zu füllen. Nach der angemessenen Trauerzeit – dreißig Tage – hatte Hollywood gleich angefangen, die Formel noch mal auszuprobieren. Die Versuche dauerten noch an, bis jetzt hatte es aber nicht geklappt. Beinahe hätte Sandy den Nachsatz verpaßt: Wir können nicht versprechen, daß nicht einige von uns sterben werden – wir sind nicht unsterblich! Aber wir werden die Show niemals aufgeben und euch im Stich lassen! Sandy sah, wie Corny das Lenkrad fester packte. Er war sicher, daß der Seehundmann den Jaguaero direkt durch den Kopf des Vaters dieser Sippe jagen wollte; aber da gab der Computer ihnen grünes Licht, und sie setzten zur Landung an.
In der Eingangshalle und den Korridoren des Hospitals drängten sich Poppy-Fans. Scharen von Frauen (und nicht wenige Männer) waren völlig hysterisch. Die orangefarbenen implantierten Augen standen voll Tränen, die Gesichter waren vor Schmerz verwüstet. Unglücklicherweise erkannten die meisten Sandy und Cornelius und stürzten sich auf die beiden. »Sandy! O mein Bruder! Corny, hilf mir! Hilf mir! Ich bin abgeschnitten… ich sterbe… wo bin ich? Mein Baby… wo ist mein Baby… bitte… bitte… ein Autogramm!« Da wurde der Sicherheitsdienst auf das Problem aufmerksam und drängte die wahnsinnigen Poppies zurück. »Hier entlang, Mr. Figueroa, sie ist im Daktari-HowserFlügel«, sagte ein junger Mann. »Was für eine Freude, Sie zu begleiten, Sir. Ich habe durch Sie, Sir, Dyad meine Jungfräulichkeit geopfert. Supersache! Meiner Meinung nach haben Sie sie genauso behandelt, wie ich es getan hätte… nur… na ja… ich habe mir nur gewünscht, daß Sie die Ejakulation noch ein Sekündchen hinausgezögert hätten. Das wollte ich Ihnen schon immer sagen, Sir. Ja, ist mir ehrlich eine große Freude!« Die Poppys waren hier nicht die einzigen Drahtshowenthusiasten. Sandy kam an einem vollen Wartezimmer vorbei, wo die Leute simultan sagten: »Nur zu, Dr. McNgyen, sagen Sie mir schonungslos die Wahrheit. Es ist… ist doch unheilbar, oder?« Diese Leute konnten in jede beliebige Show eingeschaltet sein – oder auch Werbung. Einige Jugendliche stolzierten auf künstlichen Hühnerbeinen dahin, um dem noch immer so beliebten Rooster-Man nachzueifern. Die Intensivstation bestand aus kreisförmig angeordneten, versiegelten, sterilen Zellen mit durchsichtigen Wänden. Sandy bahnte sich einen Weg durch Ärzte, Schwestern und Medizinprogrammierern hindurch, sobald er seinen Vater in
einer Klarsichtzelle entdeckt hatte. Er klopfte gegen die Scheibe, bis Alfredo ihm zunickte, daß er eintreten solle. Bei der Luftschleuse hielt ihn eine Krankenschwester auf. »Tut mir leid. Nur Familienmitglieder haben Zutritt.« »Ich bin ihr Bruder«, sagte Sandy. »Nein, ich meine ihn.« Sie zeigte auf Cornelius. Der Seehundmann machte ein beleidigtes Gesicht. »Aber er gehört zur Familie«, erklärte Sandy. »Wir würden den Familienhund auch nicht reinlassen.« »Schon gut«, sagte Cornelius kühl. »Ich kann sie durchs Glas sehen.« Sandy hatte einen Fluch auf den Lippen, funkelte aber die Schwester nur wütend an. Es war rechtswidrig, aber nichts zu machen! Das Krankenhaus hatte eigene Vorschriften. Er ging durch die Luftschleuse. In der Kammer auf halbem Weg reinigte ihn ein violettes Licht von mikroskopisch kleinen Anhaltern. Dann ertönte eine Glocke, und die innere Tür ging auf. »Sandy«, sagte sein Vater. »Ich bin froh, daß du da bist. Sie… sie ist Koma.« Poppy lag in einem Hängebett. Sie war ganz in Hautplast gewickelt. Aus jedem Körperteil ragten Nadeln heraus wie bei der Übungspuppe eines Akupunkteurs. Winzige smaragdgrüne Lichtpunkte saßen in den Köpfen der Nadeln. Alle blinkten – manchmal unregelmäßig, manchmal in Reihe. Das einzig sichtbare Stückchen Fleisch waren Poppys halbgeschlossene Lider mit den schmalen orangefarbenen Halbmonden darunter. Sie schien kaum noch zu atmen. »Wann ist es passiert?« »Heute nacht. Sie hat an ihrer Serie in der Mojave gearbeitet. Ein Lastwagen hat sie erwischt.« »Ein Unfall?«
Alfredo zögerte. »Niemand weiß genau, was passiert ist – oder warum. Starko war da; aber so wie er die Sache schildert, na ja… ich bin nicht sicher.« Sandy schluckte. Keiner der beiden wollte offen spekulieren; aber Sandy wußte auch so, was los war. Das Verschwinden ihres Babys hatte Poppy gebrochen. Dann hatte sie zu viele Drogen genommen, um ihre Trauer zu unterdrücken. Als er das letzte Mal mit ihr geredet hatte, schien sie ihm weit über ihre üblichen High-Zonen hinausgewandert zu sein… besiegt. »Warum lebt man überhaupt?« hatte sie gefragt. Und viele Menschen hatten mit ihr geschluchzt. Wenn man sich elend fühlte, sagte man immer so etwas. Es war eine Standardklage der Drähte. Erst jetzt erkannte Sandy, daß sie es ernst gemeint hatte. Zu spät. Wenn irgend etwas bei dem Unfall zufällig war, dann die Tatsache, daß Poppy noch am Leben war. Sandy beugte den Kopf und wünschte sich, einen Herzschlag zu hören… irgend etwas, damit er wußte, daß seine Schwester noch lebte. Mit den blinkenden Nadeln sah sie wie ein außerirdisches Insekt aus, das in seiner Puppe hing. »Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Ich hätte für dich da sein sollen, Poppy. Ich hätte mit dir in Verbindung bleiben müssen, damit du jemand zum Aussprechen gehabt hättest. Ich hätte dir helfen müssen, deine… meine Nichte zu suchen.« Nicht einmal ein Zittern als Zeichen des Verstehens lief durch ihre Lider. Tränen traten in seine Augen. Die blinkenden grünen Nadeln machten ihn schwindlig. Alfredo legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich halte es hier nicht aus«, sagte Sandy. »Warte doch auf mich im Haus, Sohn. Mir und Ferdi sind auch da. Ich möchte, daß wir jetzt alle zusammen sind. Ich
habe mich darum gekümmert, daß Poppy nach Hause gebracht wird, sobald ihr Zustand stabil ist. Es wäre für sie gut, wenn wir alle da wären, wenn sie aufwacht.« »Wann soll das sein?« Alfredo starrte auf die durchsichtige Wand, als sei sie aus Ziegeln gebaut. Er gab keine Antwort. Die Menge draußen wurde unruhig, aber nicht lange. Cornelius trat dicht an die Scheibe. Er wirkte frisch und ungemein tüchtig. Sandy drückte den Arm seines Vaters. »Ich warte auf dich zu Hause.« Gleich hinter der Luftschleuse war Cornelius neben Sandy. »Wie geht es ihr, Sir?« »Sie ist im Koma. Mein Gott, Corny, ich war so blaß und egoistisch. So abgefuckt zum Kotzen…« Sandy stolperte, aber Cornelius hielt ihn fest. Wasser quietschte in Sandys Schuhen. »Komm, nichts wie raus! Ich will nach Hause.« »Das Canyon-Haus?« »Wohin sonst?«
Jetzt lag das Figueroa-Haus, voll mit Erinnerungen, unter ihnen. Es war ein glücksverheißender Alptraum aus gegensätzlichen Architekturstilen: Bauhaus, Viktorianisch, südkalifornischer Freistil, spanische Kolonialbauweise. Trotz dieser Widersprüche war das Ganze nicht übel. Sandy liebte das Haus mit dem Durcheinander von Schieferplatten, Dachfenstern, Zinnen, Türmchen und Ziergiebelfenstern. Es wirkte kitschig und gleichzeitig nüchtern, wie es so inmitten der Kakteen und blühenden Büschen stand. Überall huschten Kolibris umher. Pupurne Blütenblätter der Jakarandabäume flatterten über die Balkone und hinaus in die warme Tiefe des Canyons. Erstarrte rote Ozeane von Bougainvillea ergossen
sich über den Rand. Wenn die Heimkehr nur nicht so traurig wäre! Sandy sah eine Gruppe Touristen vor dem äußeren Tor. Sie zeigten auf den anfliegenden Jaguaero. »Wie ich sehe, sind wir wieder in den Nachrichten«, sagte er. »Ich bin überrascht, daß das Hospital nicht gestürmt wurde.« »Als du bei Poppy warst, hat ein Mann draußen auf dem Korridor Raubkopien der Würfel mit ihrer Operation verkauft.« »Verdammt! Wo ist er hingegangen?« »Ich habe ihn mit einem gebrochenen Finger in die Notaufnahme geschickt.« Sandy machte die Luke auf und sprang hinaus in den glühendheißen Wind. Auf dem Regenbogenwassereishimmel lagen limonengrüne Streifen. Im Haus war es kühl und schattig. Aus den Wänden und dem Boden quollen Erinnerungen wie Wiederholungen auf einem Kanal, den er nicht wechseln konnte. Alle diese Bilder in seinem Innern gingen viel tiefer als die Drähte. Cornelius marschierte sofort in die Küche zum Meeresfrüchtetank. Sandy hörte hinten im Haus Lachen und Plantschen. Er ging zum Hallenbad. Im strahlend hellen Raum sah er Miranda nackt vom Dreimeterbrett in das Becken voll nackter Männer springen. Ein dicker Glatzkopf stand am Beckenrand. Sandy erinnerte sich vage an ihn. Er arbeitete als Gag-Mann und war ihm widerlich. Kaum tauchte Mir auf, feuerte der Kerl sofort weitere todsichere Erfolgsideen ab: »Das bringt’s echt, Mirry! Wir koppeln kleine Jungs jeden Alters an. ›Lolita gegen Megalon!‹ Mit deinem Aussehen und japanischen Spezialeffekten…« Sandy brauchte ein paar Sekunden, um sich zu beherrschen. Am liebsten hätte er alle angebrüllt, daß sie abhauen sollten. Er unterdrückte auch die Wut auf seine Schwester, daß sie
angesichts der Tragödie hier herumalberte. Aber Miranda lebte nicht nach seinen Regeln. Sie hätte ihn nur ausgelacht und den Fremden gesagt, sie sollten ihren spießigen älteren Bruder ignorieren. Das Haus gehört mir genauso wie dir, Sandy. Poppys Zustand war nur eine weitere Verwicklung in dem Leben, das sie irrtümlicherweise für eine Drahtshow gehalten hatte. Sandy floh vor dem Lärm und Lachen. Auf dem Korridor traf er Ferdinand. Auch er war nackt und tropfnaß und aß ein klebriges Sandwich. »He, Bru, das Wasser ist genau richtig. Ein Haufen junger Hengste im Pool, alle drauf aus, Freude zu bereiten. Kommst du mit?« »Nein… äh… danke, Ferdi. Wie weit seid ihr, du und Miranda, bei der Suche nach Calafia gekommen?« »Cala-wer? Ach das! Wir haben aufgegeben. Also hör mal! Was geht uns das Balg an? Poppy kann sich in ihrer Show allein ausheulen. Ich sage dir was ganz im Vertrauen: Mir und ich arbeiten an einem Projekt. ›Kindbraut‹! Für Mir eine echte Chance zum Durchbruch. Der Inzestaspekt ist was ganz Neues. Den hat noch keine Show gebracht. Ich bin ziemlich sicher, daß ich die Rolle des Ehemanns spiele…« »Klingt wie Neuland für dich«, unterbrach Sandy ihn und ging weiter. Kids, sagte er sich. Sie sind eben Kids. Man kann nichts anderes von ihnen verlangen… Im Wohnbereich des Hauses stieß er wieder auf einen Fremden. Ein schwarzer Mann schaute auf den Canyon hinaus, wo Möwen kreisten und sich in die blutigen Federn hackten. Der Mann kam Sandy irgendwie bekannt vor. Er kaute an einem braunen Strick, der aus der linken Tasche kam und spuckte ab und zu in den Abgrund.
Der Mann sah Sandy und streckte ihm die Hand entgegen. »Santiago?« »Kennen wir uns?« »Nicht persönlich; aber ich habe viel über Sie gehört. Früher habe ich keine Ihrer Shows ausgelassen. Ich bin Clarence Starko. Clarry.« Sandy schüttelte ihm die Hand. »Poppys Drahtmann? Sie… Sie waren doch dort, als…« Clarry fröstelte. »Ich war da. Ich war bei ihr, bis Ihr Papa kam. Er war so nett, mich hierher einzuladen, bis wir mehr über ihren Zustand erfahren.« »Nichts Neues«, sagte Sandy und schüttelte den Kopf. Er ging zur Fensterfront und blickte in die Schatten hinab. »Was ist gestern nacht wirklich passiert?« »O Mann! Das! Es war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Poppy war total deprimiert. Man hatte uns auf eine falsche Spur gelockt, wegen des Babys, verstehen Sie? Wir sind total sinnlos da rausgefahren. Sie können sich vorstellen, wie Poppy sich fühlte. Erst voll Hoffnung und dann eine riesige Null, absoluter Schlag ins Wasser. Es war, als ob ihr Lebenswille zerbrochen wäre. Die ganze Show hat sich doch nur noch um Poppys Suche gedreht. Wir wollten sogar den Titel ändern.« »Sie war also deprimiert?« Clarry nickte und spuckte vom Balkon. »Irgendwie hat die Wüste alles noch schlimmer gemacht. Mich hat’s auch erwischt. Poppy war so müde, daß ich uns Zimmer in einem Motel genommen habe. Ich dachte, sie würde gleich schlafen. Aber als ich am Schneidedeck saß und aus dem Fenster schaute, sah ich sie plötzlich in Richtung Highway gehen, wo ein Laster den andern jagt. Sie ging wie in Trance. Ich dachte an Schlafwandeln und bin hinterhergegangen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, sie hätte geschlafen. Dann hätte ich
sie aufwecken und zurückbringen können. Aber sie war hellwach. Als ich sie fragte, was los sei, schaute sie mich nur groß an und sagte: ›Versuch nicht, mich aufzuhalten, Clarry.‹« Sandy lief es eiskalt über den Rücken. »Selbstmord?« flüsterte er. »Ich habe natürlich trotzdem versucht, sie aufzuhalten. Aber sie hat durchgedreht. Sie riß sich von mir los und lief auf die Straße. Um ein Haar hätte ich sie noch erwischt… ich war ganz nahe… aber da hat sie sich direkt vor einen Laster geworfen. Einfach so. Ich dachte, jetzt sei alles zu spät.« Starko schwieg, blickte auf seine Schuhe und schüttelte den Kopf. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Ein längeres Stück Tabakritze verschwand in seinem Mund. »Sie war aber nicht ganz tot«, fuhr er schließlich fort. »Der Brummifahrer rief Hilfe. Ein mobiles Krankenhaus war zufällig in der Nähe. Wenn es eine Meile weiter gewesen wäre, hätte sie nie überlebt.« »Ich bin nicht sicher, daß sie überlebt hat«, sagte Sandy. »Ja, ich weiß, was Sie meinen.« Plötzlich kam Sandy ein schrecklicher Gedanke. »Sie war doch nicht auf Aufnahme, als es passierte, oder?« »Nein, wir waren auf Standby; aber es ist nichts auf Eis.« »Gut! Wenn es aufgenommen wäre und dieser Kristall nach draußen kommt…« Clarry nickte. »Wie die Aasgeier würden sich alle draufstürzen. Da haben Sie recht. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« »Sie waren doch auch bei der Entführung dabei, oder?« Clarry schaute ihn überrascht an. »Ja, natürlich. Ich habe bei der Show Regie geführt. Ich habe mich um alles gekümmert. Arme Poppy.« »Haben Sie noch den Master-Würfel?« »Sicher, warum?«
»Ich möchte mir alles gern ansehen. Wissen Sie, als ich die Sendung fühlte, hatte ich den Eindruck, als sei sie geschnitten. Sie war so… so irgendwie dünn. Synthetisch. Bei unserer alten Show habe ich auch ein bißchen beim Schneiden mitgemacht. Daher springen mir solche Sachen in die Augen. Sie wissen schon, wovon ich rede.« Clarry Starko trat von einem Fuß auf den andern. Er kaute heftig. »Möglich. Ja. Die Bullen haben das Master mitgenommen und eine Weile behalten. Sie sagen, daß jemand mit den Bildern gepfuscht hat?« »Vielleicht die Bullen«, meinte Sandy. »Aber warum sollten sie das tun? Was hätten die zu vertuschen?« »Ich weiß nicht«, sagte Sandy. »Ich hatte nur das komische Gefühl, daß die ganze Szene nicht echt war.« Clarry schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht über mich gebracht, die Szene noch mal anzusehen. Aber jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Das Sens8-Deck in meinem Studiowagen hat einen großen Speicher. Die Originalaufzeichnung ist noch drin. Ich hebe sie immer auf, falls mit dem Master-Würfel etwas schiefgeht. Wir könnten alles auf einen neuen Kristall kopieren und ihn mit dem Würfel vergleichen, den ich den Bullen gegeben habe. Vielleicht sehen wir irgendwelche Unterschiede.« »Wann könnten wir das machen?« Starko ging bereits zur Tür. »Sofort. Ich parke oben.«
Clarry wickelte einen leeren Würfel aus und nahm den mit der Originalaufnahme der Entführung aus dem Deck im Studiowagen. Während er den Würfel in den Finger drehte, von dem die Polizei auch eine Kopie hatte, kaute er heftig auf
der Tabakritze und dachte über Sandy nach. Poppys Bruder. Wie ähnlich sich die beiden waren! Er wollte Sandy nicht enttäuschen. Das wäre ihm vorgekommen, als würde er Erde auf Poppy schaufeln und sie lebendig begraben. Er konnte seinen Verrat nicht rückgängig machen, aber vielleicht konnte er helfen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Es war wie eine unerwartete zweite Chance. Ein weiteres Motiv war, daß das schwarze Miststück ihn irgendwie ruinieren wollte. Da war er sicher. Wenn er sich beeilte, konnte er sie vielleicht aufhalten. Das hieß aber, daß er sie finden mußte. Sie hatte von Anfang an die Trumpfkarten gehabt, als sie mit den Schnüffelfilmen aufgetaucht war, die er auf dem Weg von der Gosse nach oben gemacht hatte. Er wünschte sich, daß er diese verdammten Kristalle nie aufgenommen hätte – aber damals hatte er keine andere Wahl gehabt. Auch damals war er erpreßt worden. Seine Drogensucht hatte ihn ins Unglück gestürzt, weil er jeden Tag Nachschub brauchte. Allerdings – jetzt fiel es ihm schwer, das zuzugeben – hatte er damals auch ein bißchen Haß im Herzen gehegt, der ihn auch motiviert hatte. Haß auf das System, das eine Familie, die so weiß wie Reis war, an der Spitze der Quoten hielt, obwohl in diesem Staat Weiße seit Jahren eine Minorität waren. Der spanische Familienname Figueroa konnte nicht die Tatsache verschleiern, daß sie weiß waren. Weiß! Weiß! Es gab ethnische Familienprogramme. Ihr Erfolg schien jedoch auf der Unterstützung zu beruhen, die sie nicht empfingen. Das heile Familienleben, das sie spielten, war so völlig abgehoben von der Ghetto- und Slumrealität, daß es noch künstlicher wirkte als das der Figueroas. Daher gewannen diese Shows kein loyales Publikum und berührten keine tiefliegenden Nerven. Ja, er hatte bei der Entführung mitgespielt, weil man ihm ein Messer an die Kehle gesetzt hatte… aber anfangs hatte
er auch eine dumpfe Freude dabei verspürt. Bis er Poppy als Person und nicht als Symbol seiner Frustrationen kennenlernte. Danach war das Gefühl, außer Kontrolle zu geraten, ständig stärker geworden… Aber jetzt war es Zeit, die Kontrolle wieder zu übernehmen. Stöbere die Hexe in ihrem Koben auf! Bewege dich zur Abwechslung mal aus eigenem Antrieb, anstatt immer nur zu springen, wenn jemand dir in den Hintern tritt! Clarry ging mit einem Würfel in jeder Hand zurück ins Haus. Sandy zeigte ihm eine Riesenkonsole im Herrenzimmer. Die Anlage war vom feinsten und hatte mehrere Schalttafeln, die Clarry noch nie gesehen hatte. Er steckte die Würfel in Doppelschlitze. »Eins noch, Clarry«, sagte Sandy. »Sagen Sie meinem Vater nichts davon. Ich will nicht, daß er sich falsche Hoffnungen macht.« »Klare Sache.« »Danke, Mann. Wenn Poppy Ihnen vertraut hat, kann ich das wohl auch.« Der Gedanke an Poppys Vertrauen traf Clarry wie ein Dolchstich. Er zwang sich zu lächeln. Sein Mund war voll Tabakritzensaft. Er wußte nicht, wohin er ihn spucken sollte. Sandy machte ihn nervös. Er schluckte alles runter. »Klare Sache«, sagte Clarry noch mal. »Okay. Dann weisen Sie mich mal ein. Den Polizeiwürfel zuerst. Das ist der, den ich bei der Sendung gesehen habe.« Clarry beugte sich über die Konsole. Bereits jetzt verspürte er Futterneid. Was für eine Anlage! Hier konnte man die gewünschte Stelle ebenso leicht finden, wie atmen. Dann kam die Szene aus seinen Drähten, durchdrang ihn und blieb in der Zeit erstarrt stehen. Hier bin ich zu weit gegangen, dachte Clarry. Über den Punkt der möglichen Umkehr hinaus.
Einen Moment lang fühlte er unerklärliche Panik. Er hatte unbeschreibliche Angst, alles wieder zu fühlen und nochmals zu durchleben. Aber die Panik war nicht allein seine, sondern kam auch über die Drähte von Poppy, sobald die Szene anfing, sich zu bewegen. Nacht. Schwindel. Er blickte auf die Menschenmenge hinab und hörte die Verfolger. Ein Kombi hielt unten. Jetzt sagte eine leise, unhörbare Stimme, als sei sie nur ein Gedanke von ihm. Es war eine Frauenstimme. Poppys Stimme. Er preßte einen kleinen Körper an die Brust. Nur eine Sekunde lang. Das Baby. Ich habe es nie halten oder berühren können, bis auf das Streicheln von Poppys Bauch. Ehe er Calafia richtig spüren konnte, ließ er sie los. Er sah den lautlosen Fall, sah, wie der in Decken gewickelte Säugling hinten auf einem Kombi landete, sah, wie der Wagen davonfuhr. Von irgendwoher, tiefer als aus den Drähten, erhielt er einen Schlag. In diesem Moment hatte er etwas von sich selbst verloren – etwas Unwiederbringliches. »Gehen Sie zurück!« sagte Sandy von draußen, außerhalb der Szene. Das Bild wurde unscharf und blieb stehen. Dann rollte der Kombi zurück. Das Kind fiel nach oben in Poppys Arme. Im Rücklauf klang die Menschenmenge wie ein Haufen Wahnsinniger. Dann fing alles wieder an. Panik. Das Kind fiel. Der Kombi fuhr. Stop! Zurück! Der Kombi fuhr zurück, das Kind flog nach oben in seine/ihre ausgestreckten Arme. Stop mitten in der Luft. »Okay«, sagte Sandy. »Rufen Sie jetzt genau den gleichen Punkt auf der Kopie ab!«
Es dauerte nur Sekunden, um die beiden Szenen parallel zu haben. Clarry stellte das Baby scharf ein und fixierte es auf denselben Punkt in beiden Versionen. Beide Kanäle brachten das Standbild simultan. Er war jetzt zweimal Poppy: Clarry in Poppy in Poppy in Clarry. Ein Echo in Körpern. Beide Versionen von Poppy waren identisch. Er sah auch im Baby keine Abweichung. Aber unten auf der Straße war das anders. Sandy sagte es als erster. »Da stimmt was nicht!« »Die Autos«, sagte Clarry. »Sie sind völlig verschieden. Sehen Sie! Farbe, Modell, alles! Das sind auch verschiedene Fahrer. Im Original gibt es keine Holzpaneele.« Plötzlich war alles offensichtlich. Der Masterkristall war verändert worden – aber wie? Und von wem? Die Polizei hatte bestimmt nichts verfälscht. Diese Aufnahme war ihr einziger Hinweis bei der Fahndung nach dem Kombi. Es sei denn, daß sie – oder jemand, der Zugang zu den Beweismitteln hatte – nicht wollte, daß der Kombi der Entführer gefunden werden sollte. Im Meisterwürfel, den die Bullen an sich genommen und zurückgegeben hatten, war der Fahrer ein großer weißer Mann mit schütterem Haar. Auf der Originalaufnahme, die Clarry jetzt erst aus dem Deck des Studiowagens geholt hatte, wurde der Kombi von einer kleinen Gestalt gefahren, die in schwarze Gewänder gehüllt war. Der Wagen auf dem Würfel der Polizei war weiß mit Holzimitaten an den Seiten, der im Original war schwarz und ohne Holzseiten – wie der Kombi, den Clarry als Ersatz bestellt hatte. Hätte er die Sequenz gleich nach der Aufnahme angesehen, wäre ihm die Veränderung sofort aufgefallen. Aber er hatte sich nie die Mühe gemacht. Und die Polizei suchte nach einem weißen Kombi mit einem weißen Mann als Fahrer. Falls sie überhaupt suchte.
»Super«, sagte Sandy. »Jetzt den Wagen vom Originalbild trennen.« Er sprach mehr zum Computer als zu Clarry. »Ich möchte wissen, woher dieser Kombi kommt. Das ist ein alter Gasbrenner. Die Dinger sind nicht mal mehr legal, ausgenommen… Scheiße! Außer in der Heiligen Stadt.« Er stieß das fast im selben Moment aus, als der Computer mit der Analyse fertig war: »Gasautos sind zur Zeit in Kalifornien verboten. Das einzige Gebiet, das von diesen Emissionsrestriktionen aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgenommen ist, ist District CL-37, die sogenannte Heilige Stadt.« Im nächsten Augenblick schaute Clarry nicht auf den Schauplatz der Entführung sondern auf eine Landkarte von Kalifornien. Die Heilige Stadt war mitten in der Frange, südlich von Snozay, wo die Folge der Zweihundertjahrfeier aufgenommen worden war, rot eingefärbt. »Die Heilige Stadt«, sagte Clarry leise. »Das paßt«, meinte Sandy. »Die meisten Sekten dort sind ziemlich primitiv. Ich wette, daß der Kombi von dort gekommen ist… und wohin er mit meiner Nichte verschwunden ist.« »Jesus«, sagte Clarry. »Aber wer ist so verrückt, da hineinzugehen, um die alte Kiste zu suchen? Wo fangen wir an?« »Ich weiß genau, wo wir anfangen müssen«, erklärte Sandy. »Vielleicht können Sie mir helfen?« Sandys Begeisterung war ansteckend. Und Clarry wollte das Miststück in Schwarz in ihrem eigenen Netz fangen. Er konnte das tun – und damit seinen Fehler etwas wettmachen. »Ja, Sandy, klar! Was hast du für eine Idee?« »Ich war doch mal Sender. Ich habe immer noch die Drähte dafür. Ich drücke auf den Knopf und sende wieder, aber diesmal mit geschlossenem Schaltkreis. Ich zahle Ihnen, was
Sie wollen, damit Sie am Empfänger bleiben und meine Fortschritte auf dem Monitor verfolgen. Ein einzelner Typ dürfte in der Heiligen Stadt nicht allzuviel Aufsehen erregen.« Clarry stieß einen lauten Pfiff aus. »Sie wollen in die Heilige Stadt gehen?« Sandy nickte. »Ja, und zwar live.«
8 KALIFORNIA, HIER KOMME ICH!
Dandy lag hinter einem Schrotthaufen. Seine Nase war dicht über dem nassen Beton, der nach Öl und Müll stank. Er hatte das Gefühl – illusorisch –, daß er seine Polynerven spüren konnte. Oder gab es einen anderen Grund, warum er so fröstelte? Angst vielleicht? Nein! Er stützte sich auf die Ellbogen und spähte über den Schrotthaufen. Nichts zu sehen. Zu dunkel. Daß es kein Licht gab, beunruhigte ihn weniger als das Fehlen von Geräuschen. Die Heilige Stadt war plötzlich stiller als das Grab einer Bibliothekarin. Noch vor einer Minute war er sicher gewesen, daß ihn jemand verfolgte. Jetzt gab es keinerlei Anhaltspunkte, daß überhaupt jemand in der verbotenen Zone wohnte. Zwei logische Erklärungen kamen ihm: Entweder hatte er die Verfolger abgeschüttelt und sie hatten sich für immer verzogen, oder sie warteten da draußen auf ihn, warteten mit der Geduld erfahrener Jäger, bis er sich durch irgendeine Dummheit verriete. So etwas Blödes, wie mit dem Ärmel an einer hervorstehenden Metallkante hängen zu bleiben und den ganzen widerwärtigen Schrotthaufen auf sich zu reißen. Sandy unterdrückte den Schmerzschrei; aber der Schrott hatte seine eigene Stimme. Klappernd und klirrend verrutschte alles. Sekunden später hatte das Zeug ihn begraben. Er lag eingeklemmt da und konnte nur noch einen Arm mühsam bewegen.
Der Schrott lag fest in der neuen Position. Sandy gab sein Schweigen auf. Stöhnend packte er einen Pfosten, um sich herauszuziehen. »Laß mein Bein los!« Der Pfosten schüttelte seine Hand ab. In der Dunkelheit sah Sandy nicht einmal eine Silhouette. Er mußte zugeben, daß alles ziemlich dramatisch war. Clarry konnte das bestimmt eines Tages gut verwerten, obwohl die Bilder so dunkel waren. Es war ein Teil seines Abkommens mit dem Drahtmann, daß Starko alles, was er wollte, zusammenmischen und die Senderechte zum Höchstpreis verkaufen konnte, sobald alles vorbei war. In dieser Endfassung würde Sandys Stimme in der Finsternis großartig klingen. Man stellte sich dabei einen etwas unbeholfenen Hünen vor. Er wartete, daß das unbekannte Es noch etwas sagte. »Wer bist du?« fragte Es. Sandy stöhnte und wollte sich aufrichten. Die Beine waren schon frei. Aber etwas stieß ihn zurück. »Keine Bewegung! Wer bist du?« »Bleib ruhig! Ich will dir ja nichts tun.« »Du hast meine Unterkunft zerstört. Ich gebe dir fünf Sekunden. Wenn du mir dann nicht gesagt hast, wer du bist, schmeiße ich dich den Heiligen Rollern vor. Sie machen gleich ihre Mitternachtspatrouille.« Die Heiligen Roller? Die kannte Sandy nicht. Aber er war sicher, daß er sie auch nicht kennenlernen wollte. »Ich heiße Sandy«, sagte er. »Ich suche eine Kirche.« Die Stimme lachte. »Dann bist du hier richtig! Eine spezielle Kirche?« »Gibt… gibt es denn Unterschiede?« Jetzt überschlug sich die Stimme. »Du mußt neu sein.«
In der Ferne hörte Sandy eine Art Wolfsgeheul, begleitet von einem Knattern, das er nicht bestimmen konnte. Vielleicht Feuerwerk oder Donner? »Okay, Neuling. Ich lasse dich rein, bis sie weg sind. Aber dann ziehst du Leine, kapiert? Mein Lama ist in tiefer Meditation versunken. Ich soll die Abwehrriten nonstop ausführen. Er wäre nicht begeistert, wenn er mich dabei erwischt, daß ich Fremde anschleppe. Böse Einflüsse, kapiert? Also sei mucksmäuschenstill, kapiert?« »Klar«, sagte Sandy. Alles, um den Heiligen Roller zu entgehen. Eine Hand half ihm auf die Beine. Stolpernd ließ er sich durch Schuttberge führen, die er nicht sehen konnte. Dann ging es eine kurze Treppe hinauf. »Jetzt ganz still! Kein Wort!« Sandy nickte, obwohl er das in der Dunkelheit idiotisch fand, hielt er die Geste für angebracht. Er hatte das Gefühl, der Typ konnte ihn im Finstern sehen. Sandy wünschte, er hätte eine Nachtbrille mitgenommen. Sein Plan war gewesen, möglichst hilflos zu wirken, um damit das Mitgefühl irgendeiner religiösen Gruppe zu erwecken, die dann das Vergnügen haben würde, ihn als einen der ihren zu adoptieren. Das Wolfsgeheul kam näher. Zwischen den unsichtbaren Gebäuden klangen die Schreie unheimlich. Dann hörte er jemand schluchzen oder murmeln oder als spräche jemand unmelodisch die Worte eines Lieds. Plötzlich traf das Dröhnen eines Gongs seine Ohren. Er fiel auf den Boden. Eine Trompete blies gespenstisch jammervoll zum Wecken, brach aber abrupt ab, als die tiefe Stimme von Sandys unsichtbarem Wohltäter mystische Drohungen ausstieß, während im Hintergrund das unheimliche Summen weiterging.
»He, Dämonen! Ihr geht hier auf dünnem Eis! Ja, gestern nacht kam ein haariger Kerl mit drei Augen. Er hat nicht einmal so lange gelebt, daß er das bereuen konnte!« Sandy setzte sich auf und umschlang die Knie. Wieder jaulte die Trompete ohrenbetäubend. Zimbeln klirrten. Der Lärm draußen auf der Straße war unglaublich. Die Heiligen Roller waren direkt vor ihnen. Aus ihrem Geschrei hörte er einige Worte heraus: »Halleluja! Aiiuu-nuu-uuui!« »Gloria! Gloria Halleluja!« »Wir kommen, o Herr! Wir zählen auf dein strahlendes Erbarmen, o Herr! Zeig uns nur den Weg zu dem Ungläubigen, der sich bei uns eingeschlichen hat – für dieses Verbrechen soll er büßen und bedauern, je in deinem glorreichen Licht geboren zu sein!« »Erbarmen! Oh, habe Erbarmen! Ich spüre dich, o Herr!« Gleichzeitig stieß Sandys Begleiter weiterhin in die Trompete. Er setzte sie nur ab, um finstere Drohungen zu brüllen: »Hört her! Alle Dämonen müssen sofort dieses Gebiet räumen oder ewige Bestrafung erleiden. Jedem Dämon, der nach fünf Sekunden noch in Reichweite meiner Stimme ist, werden die Augen im Kopf gekocht. Seine Zunge wird als Nachtisch gegessen. Ihm werden die Genitalien ausgerissen und zur Abschreckung auf eine Stange gespießt. Fünf Sekunden! Ich fange jetzt an zu zählen! Eins… zwei… drei…« »O Herr, du bist wirklich ein selten feines Exemplar!« »Halleluja!« »Auiiuu-wuu-wuit!« »…dreieinhalb…« »Führe uns, o Herr! Zeig uns den Weg!« »Ich rieche einen Sünder!« »Ich rieche Essen.«
»Zeig dich, du Sünderbraten! Laß dich entfernen aus den Augen Gottes!« »Vier… viereinhalb…« Das Geschrei wanderte die Straße hinab. Ein merkwürdiger Lärm begleitete die Heiligen Roller. Es klang, als schleppten sie etwas, das über die Straße schrammte. Es war ein Höllenlärm. Wenn das Licht nur besser gewesen wäre! Sandy überlegte, was Clarry da draußen in der weltlichen Franchise aus all dem machen würde. Er saß in seinem Studiowagen und stöpselte an Monitoren herum. Cornelius war auch bei ihm. Der Seehundmann hatte Sandy angefleht, nicht zu gehen. Schließlich hatte er geschworen, an Starkos Seite zu bleiben, bis Sandy mit der kleinen Calafia in den Armen wieder sicher zu Hause wäre. »Vierunddreiviertel…« »Auuu-uuu-uuui!« »Fünf! Das war’s! Alle Dämonen, die noch da sind, sind jetzt totes Fleisch. Los, zeigt euch!« Sandy räusperte sich so leise wie möglich. »Wie ich sehe, fordert mich keiner heraus! Das ist ziemlich klug von euch!« Dann nahm der Unsichtbare Sandy wieder bei der Hand. Er stand auf. Vorsichtig wurde er wieder die Treppe nach unten geführt und auf die Straße. »Ich wünschte, einer dieser Dämonen würde eines Tages bleiben. Ich könnte ein bißchen Abwechslung gebrauchen.« »Superauftritt!« sagte Sandy. »Ich bin nicht überrascht, daß die Typen abgehauen sind. Du kannst einem wirklich Angst machen, du Amateur!« »Amateur? Also, ich bin nie… nie hier rausgekommen! Weiter jetzt! Geh schon oder du bekommst die Dämonenbehandlung.«
»Tut mir leid, Ma’am«, sagte Sandy und folgte in den Schrotthaufen, der ihn zuvor begraben hatte. »Ma’am?« schrie die Stimme. »Das ist die größte Beleidigung… ich hätte dich den Rollern vorwerfen sollen!« Sandy ging weiter. Er tastete sich an den Gebäuden entlang. Das war mühsam; aber allmählich lernte er, Hindernisse zu spüren, ohne in sie hineinzurennen. Aber dann beschloß er, auf das Tageslicht zu warten, ehe er weitermarschierte. Er setzte sich im nächsten Torweg in eine Ecke und verkroch sich in der isolierten Jacke. Sie bot nur geringen Schutz gegen die nächtliche Kälte; aber er war vollkommen erschöpft und schlief ein. Nach wenigen Minuten schreckte er vor einem hypnagogischen Dämonen zurück, schlief aber gleich weiter. Er konnte sich an seine Träume nicht erinnern, und Drähte konnten sie nicht aufzeichnen.
»Wach auf und zeig deine Markierung!« »Vielleicht ist er taubstumm, Reb. Stoß ihn mal an!« Sandy öffnete die Augen. Der Anblick war grau und trostlos. Er war zu benommen, um der Stiefelspitze auszuweichen, die ihn in die Rippen trat. Drei Gestalten in weiten Kapuzengewändern standen drohend vor ihm. Der ständige Nieselregen hatte die Umhänge aufgeweicht, so daß sie schlaff und schwer herabhingen. Das Trio schien nicht in guter Laune zu sein. »Guten Morgen«, sagte Sandy. »Ihr braucht mich nicht zu treten. Ich bin so auch aufgewacht.« »Ich sagte, du sollst mir deine Markierung zeigen«, sagte der Junge in der Mitte, der Reb hieß. Alle drei waren noch Teenager; aber der in der Mitte schien der Anführer zu sein. »Erledige das, Zev!« sagte er zu dem Burschen rechts von ihm.
Zev packte Sandys linke Hand und zog sie mit der Handfläche nach oben zu sich. Alle betrachteten die Haut, als würden sie Sandys Lebenslinie messen. Dann schaute Reb Sandy in die Augen und lachte. »Er hat keine«, sagte Zev. »Keine was?« fragte Sandy. »Eine Markierung, die zeigt, zu welcher Sekte du gehörst«, antwortete Reb. »He, Reb, vielleicht gehört er zur Ohne-Markierung-Sekte!« Die Jungen lachten schallend. »Ist das ein Verbrechen?« fragte Sandy. Die Burschen schauten sich an. »Schon möglich«, sagte Reb. »Aber das ist ein Glück für uns. Wir bekommen eine Kommission für jeden neuen Gottesköder, den wir aufgreifen.« »Gottesköder?« wiederholte Sandy. »Packt ihn!« befahl Reb und trat einen Schritt zurück. Seine Kameraden nahmen Sandy an den Armen. Er war größer als die beiden, hielt aber Widerstand für keine gute Idee. Schließlich hatte er das doch mehr oder weniger gewollt, oder? Regen peitschte ihm ins Gesicht, als sie ihn auf die Straße schleppten. »Ich komme ja mit, Jungs. Schon gut. Seid nicht so grob.« Sie schienen ihn nicht zu hören. Reb ging voraus. Unbekümmert marschierte er durch die Pfützen. Er wandte nur ab und zu den Kopf, um zu sehen, ob der Rest ihm folgte. »Was hat es mit dieser Markierung auf sich?« rief Sandy ihm zu. »Wenn ich eine brauche, lasse ich mir gern eine machen. Ich will nicht gegen irgendwelche Regeln verstoßen. Ich bin neu hier.« »Das ist nicht zu übersehen«, rief Reb über die Schulter zurück. »Keine Angst – sobald wir uns klar geworden sind, wem wir dich verkaufen, bekommst du eine. Die Wandernden
Juden haben die beste Stellenvermittlung in der Heiligen Stadt. Natürlich möglich, daß du keine große Zukunft hast. Das hängt alles davon ab, wo du landest.« Beim Weitergehen sah Sandy die Heilige Stadt im Tageslicht. Er sah Menschen in den verfallenen Gebäuden, auf den Gehwegen und auf den alten Straßenüberführungen. Alle starrten ihn an, als die Juden ihren Gefangenen durch die Straßen führten. Einige hatten kahl geschorene Köpfe mit roten Ringen, die wie Zielscheiben auf die Glatzen gemalt waren. Andere schnitten sich offensichtlich nie die Haare und trugen sie wie Schleier über den Gesichtern. Einige gingen nackt, andere hatten sich in rostige Drähte oder in koaxiale Kabel gewickelt. Ein alter Mann mit einem fast zwei Meter langen Bart lehnte aus einem zerbrochenen Fenster und pöbelte die Juden an, als sie vorbeigingen. Reb warf einen Ziegelstein nach dem Alten und traf ins Schwarze. »Gib’s auf, neue Jünger zu werben, Rapunzel!« rief er hinauf. Der alte Mann blickte ihn niedergeschlagen… oder schlicht verdutzt an. »Oje«, sagte Reb nach einigen Schritten. »Man würde wirklich nicht mehr denken, daß das hier je Amerika war. Die Religionsfreiheit ist aus dem Fenster geflogen, als keiner hingeschaut hat.« »Und was ist mit meiner Freiheit?« fragte Sandy mutig. Reb hob die Schultern. »Du hättest sie besser festhalten sollen. Aber keine Angst. So übel wird es nicht werden. Wir haben ein paar gute Stammkunden. Die Kirche Christi zum Beispiel, Atomwissenschaftler. Die sind recht interessant. Sie behaupten, sie könnten die Heilige Dreifaltigkeit spalten und so effizient sichere und saubere Energie herstellen. Sie brauchen Forschungsobjekte. Willst du deine unsterbliche Seele einer Energiegewinnungsgesellschaft spenden?« »Ich würde sie lieber behalten… und in einem Stück.«
»Vielleicht wärst du ein guter Ignostiker. Das sind die Geschwister vom Fruchtlosen Orden. Sie studieren alles, worum Gott sich nicht kümmern kann. Da könntest du eine lohnende spirituelle Karriere mit dem Zählen von Fusseln machen.« »Kennst du zufällig eine Kirche, die Autos fährt? Ich meine alte Benzinautos.« Reb blickte ihn verblüfft an. »Fährt? Nein. Reparieren? Ja. Du willst also bei den Himmelsmechanikern eintreten?« Er legte den Kopf zurück und lachte schallend. Da sie sich gerade unter einer Überführung befanden, war das Echo ziemlich laut. Verschreckt flogen Fledermäuse auf, die in den Nischen geschlafen hatten. »Noch nie hat jemand gebeten, bei den Mechanikern einzutreten! Sie zahlen aber ziemlich gut. Na ja, du siehst aus wie ein Typ, den sie gern bekehren würden.« »Was für ein Typ ist das?« fragte Sandy. Reb blickte die anderen beiden Wandernden Juden an. Jetzt krümmten sich alle drei vor Lachen. Sie antworteten gleichzeitig. »Neugierig.« »Bescheuert.« »Ein kompletter Trottel.« Sandy mußte grinsen. »Ja, das bin ich wirklich.«
Die Himmelsmechaniker zahlten für Sandy einen Preis, der ihm ziemlich peinlich war: Ein Jahr kostenlose Wartung der solaren Skateboards der Juden. Dann gaben sie Sandy einen ockerfarbenen Tempelarbeitsanzug und einen leeren Werkzeugkasten. Er wurde zu einer der tiefen rechteckigen Montagegruben im Boden ihres äußeren Heiligtums geführt. »Hier schlafen die Akolyten«, wurde ihm gesagt.
Offenbar war er der einzige Jünger des Tempels. Er kletterte in die Grube und fand einen Haufen alter ölverschmierter Lappen. »Was ist das?« fragte er den Priester, der am Ende der Grube stand und eine Pfeife rauchte. »Das ist dein Bett«, erklärte der Priester. Reb hatte den kleinen schwarzen Mann als den Großen Hohen Schmiermaxe vorgestellt, aber auf dem Namensschild auf der Brusttasche des Mönchsarbeitsanzugs stand mit kursiver Schrift: »Bob.« Sandy betrachtete nachdenklich die Fetzen. Na ja, wenigstens mußte er sie nicht mit jemand teilen. »Was ist mit meiner Markierung?« fragte er und hob die Hand. »Bekomme ich eine?« »Nachdem du eine Zeitlang hier warst, reichen deine Fingernägel als Identifikation.« Sandy seufzte und machte die Werkzeugkiste auf. »Die ist ja leer!« »Geduld, Akolyt! Bei jeder Initiation bekommst du ein neues Werkzeug. Heute abend fängt deine Ausbildung mit dem Ritus des Schraubenschlüssels an. Ich lasse dich jetzt allein, damit du dich einrichten und auf deine zukünftigen Aufgaben seelisch vorbereiten kannst. Zieh deine Arbeitskombination an.« Nachdem ›Bob‹ gegangen war, kletterte Sandy aus der Grube und ging zur Tür des äußeren Heiligtums. Von dort aus überblickte man einen eingezäunten Parkplatz. Die Straße lag dahinter. Sandy hatte schon seit mehreren Minuten das Wolfsgeheul gehört, das das Kommen der Heiligen Roller ankündigte. Er ging zum Zaun. Mit lautem Halleluja tauchten die Roller auf. Das metallische Klirren kam von den Rollschuhen, auf denen sie unterwegs waren. Außer diesen ungewöhnlichen
Fortbewegungsmitteln boten die Roller keinen spektakulären Anblick. Nachts waren sie weit mehr angsteinflößend. Jetzt waren sie nur ein Haufen alter Damen auf Rollschuhen, bei deren Anblick sich einem wirklich nicht die Nackenhaare aufstellten. Das dachte Sandy, bis er bemerkte, daß die schwarzen Handtaschen der Damen Menschenköpfe waren, die sie an den Haaren herumwirbelten. Und ihre Bibeln waren in weich aussehendes, weißliches Leder gebunden… Dann war der Spuk verschwunden. Sandy rang nach Luft. Am liebsten wäre er zurück in die Grube gerannt und hätte sich versteckt. Ein schwerer Zyklonzaun schützte den Tempel. Dort war er sicher. Er konnte sich glücklich schätzen, in der vergangenen Nacht den Heiligen Rollern entkommen zu sein. »Starko«, flüsterte er. »Sind Sie noch dran? Ich glaube, ich habe Glück gehabt. Die Himmelsmechaniker dürften wissen, wo man alte Benzinautos findet. Ich werde eine Zeitlang mitspielen, die Initiationen über mich ergehen lassen und ein paar Freunde finden dann fange ich mit dem Schnüffeln an.« Hinter ihm klapperte eine Werkzeugkiste. Er drehte sich um. ›Bob‹ kam lächelnd mit mehreren Mechanikern auf ihn zu. Es waren Männer und Frauen. »Akolyt, bist du bereit, Instruktionen über den Gebrauch des Schraubenschlüssels zu empfangen?« Sandy beugte den Kopf. »Ich bin bereit, o Meister. Betrachtet meinen Kopf als leere Werkzeugkiste, die nur darauf wartet, gefüllt zu werden.«
Clarrys Studiowagen war ein Saustall. Überall leere SushiPackungen, Sojasoßendruckflaschen und Kaffeekolben. Der Spucknapf war ständig randvoll. Nach einiger Zeit bemerkte Clarry nicht mehr, daß Cornelius etwas streng – irgendwie
modrig oder wie ein nasser Hund – roch. Er behandelte ihn wie jeden anderen Assistenten, erklärte ihm die Funktionen des Decks und brachte ihm die Grundlagen der Schneidetechnik bei. Cornelius erledigte alle Arbeiten manuell mit visuellen Kontrollen, da er nicht verdrahtet war. Trotzdem lernte er schneller als alle anderen, mit denen Clarry bisher zu tun gehabt hatte. »Du hast eine natürliche Begabung für diese Arbeit, Cornelius. Bist du sicher, daß du nie vorher am Schneidetisch gearbeitet hast? Du könntest wirklich gut werden. Ich meine, wirklich ein As!« »Nie. Ich durfte bei den Figueroas nicht einmal in die Nähe der Decks.« »Was für eine Schande! Du hast nämlich wirklich Goldfinger, mein lieber… äh… Mann.« Der Seehundmann schien geschmeichelt zu sein. »Danke, Sir. Ich liebe kreative Arbeit.« Erstaunlicherweise gingen die beiden sich in der Enge des Wagens nicht auf die Nerven. Vielleicht weil sie so verschieden waren. Zimmergenossen mit ähnlicher Persönlichkeit – oder derselben Spezies – vertrugen sich oft ganz und gar nicht. Größere Gegensätze als zwischen dem Mann und dem Seehund konnte man sich kaum vorstellen. Clarry und Corny. Wenn Clarry nicht mehr konnte, nahm Corny seinen Platz ein. Es gab nicht sehr viel zu tun. Der Aufnahmeprozeß war weitgehend automatisiert. Corny übte und erledigte alle möglichen Schneide/Produktions-Aufgaben, die Clarry ihm stellte, um dem Seehundmann eine Freude zu machen. Sie hatten sich geeinigt, daß einer immer am Deck Wache halten mußte, falls Sandy in Schwierigkeiten geriet oder seinen großen Fund machte. Sandy trug einen Sender unter der Haut, durch den sie jeden seiner Schritte in der Heiligen Stadt
verfolgen oder ihn im Notfall aufspüren konnten. Aber seit Wochen hatte Sandy sich nicht mehr viel bewegt. Nicht seit er bei den Himmelsmechanikern eingetreten war. Anfangs waren mehr oder wenig immer beide im Studiowagen. Als aber die Tage vergingen, ohne daß Sandy großen Fortschritt machte oder Geheimnisse enthüllt wurden, gingen sie zu Schichtarbeit über. Clarry legte sich ein paar Stunden hin, um zu schlafen, oder machte einen Spaziergang oder ging einkaufen, um die Beine zu strecken. Dann löste er Cornelius wieder ab. Er hatte keine Ahnung, wie der Seehundmann die freie Zeit verbrachte, fragte auch nicht. Manchmal fuhren sie den Wagen zu einem neuen Standplatz, um Abwechslung zu haben. Sie lernten die Außenbezirke um die Heilige Stadt recht gut kennen, besonders die, wo es gutes Essen gab. Clarry suchte nach Kreolischen Speisen und konnte stundenlang über verschiedene Gumbo-Rezepte reden. Cornelius hielt streng Diät und aß nur rohen Fisch und ab und zu eine Schüssel Haferflocken oder Misosuppe. Clarry fand die Arbeit nervtötend. Stumpfsinnige Überwachung. Aber sie diente einem gutem Zweck. Er hatte das Gefühl, dadurch Poppy irgendwie zu helfen. Darüber konnte er natürlich nicht mit Cornelius sprechen. Die Motive des Seehundmanns waren anscheinend rein sentimental. Sandy war sein bester Freund. Treu wie ein Hund, dachte Clarry, wenn er an Cornelius dachte. Er war neidisch; denn er hatte nie viele richtige Freunde gehabt.
Die Wochen vergingen. Sandys Handflächen und Fingernägel waren nicht mehr rosig, sondern wurden durch den ständigen
Umgang mit Schmierfett und Öl grau. Seine sonnengebräunten Unterarme wurden blaß, schmutzig und hatten überall Narben. Das Leben im Tempel war hart. Die Ausbildung erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit. Nach einigen Tagen war jeder Gedanke an seine eigentliche Mission durch die spirituelle Erziehung fast ganz verdrängt worden. Er war aber während dieser Zeit unerwartet glücklich. Er hatte nie zuvor seine Hände benutzt. Die Arbeit machte ihm Freude, gab ihm das Gefühl, etwas zu leisten. Ein Gefühl von Realität! Nur nachts, in den zehn oder zwanzig Sekunden, ehe er erschöpft in Schlaf versank, dachte er kurz an das Kind Calafia, das aus den Zellen seines Vaters und seiner Schwester gemacht worden war. Calafia war nicht das Produkt von Inzest im eigentlichen Sinn. Es hatte keine körperliche Vereinigung zwischen Vater und Tochter gegeben. Nur die Chromosomen hatten zusammen gelegen, so verschlungen wie die krausen Wollfäden eines aufgetrennten Pullovers. In gewisser Weise war Calafia aus Ersatzteilen zusammengestückelt worden. Sandys neue Umgebung beeinflußte seine Sensibilitäten. Seine Mentoren hielten ihn für einen hochintelligenten Schüler – allerdings war er auch ihr einziger Schüler. Sie ermutigten ihn, immer Fragen zu stellen, solange diese sich auf die Arbeit als Mechaniker bezogen. Allmählich steuerte Sandy in den Unterrichtsstunden auch andere Themen an. Zum Beispiel die anderen Sekten in der Heiligen Stadt. Vor allem interessierte er sich für die verschiedenen Transportmittel Sie nannten das vergleichende Religionsstudien. Seine Werkzeugkiste füllte sich schnell. Jeden Tag kam die nächstgrößere Sperrklinke zu seiner Sammlung. Vom Tragen der schweren Kiste wuchsen auch seine Bizepse. Für die Himmelsmechaniker waren das nicht einfach Werkzeuge – es waren Schlüssel, um die Geheimnisse der
Naturwissenschaft, der Technologie und des Fortschritts aufzuschließen. Ihrer Meinung nach war durch Nichtgebrauch ein Großteil des praktischen Wissens verloren gegangen. Ihre Minimalforderung war, daß man sich an die alten Fertigkeiten wieder erinnerte, sie praktizierte und so bewahrte. Eines Tages – so deuteten sie apokalyptisch an – müßte man vielleicht wieder ohne Drähte, ohne Computer, überhaupt ohne Automation leben. Die Himmelsmechaniker waren vorbereitet, in dieser Situation eine Führungsrolle zu übernehmen. Dann würde es ungemein wertvoll sein, ein tiefes Verständnis von dem zu haben, was sie ehrfürchtig als ›bewegliche Teile‹ bezeichneten. »Alles bewegt sich«, sagte Bob eines Abends ungewöhnlich feierlich zu Sandy und beschrieb mit den Händen immer größer werdende Kreise, je mehr er sich begeisterte. »Der Planet rast durchs All. Der Mond läuft um den Planeten. Die Erde kreist um die Sonne. Das Sonnensystem ist gefangen in der langsamen Rotation der galaktischen Scheibe, welche auf ewig expandiert und zwischen den anderen Galaxien wie eine Dampfwolke aufsteigt. Stell dir vor, du könntest diese ganze Energie, diesen kosmischen Dampf, sammeln und damit eine riesige Maschine antreiben. Stell dir vor, wie es wäre, wenn die Expansion des Universums gewaltige Kolben bewegen würde. Vielleicht tut sie das ja. Und jetzt stell dir vor, daß unzählige Universen miteinander verbunden sind. Einige ziehen sich zusammen, andere dehnen sich aus. Ein Satz Kolben geht nach oben, einer nach unten. Wer würde dann wissen, wie man mit dieser unvorstellbaren Maschine umgeht? Treibt sie eine Lokomotive oder eine Latrinenpumpe an?« »Gute Frage«, sagte Sandy, kletterte in seine Schlafgrube und überlegte krampfhaft, was die beiden L-Begriffe wohl sein könnten. »Meinst du, daß ich je an einem dieser alten Verbrennungsmotoren arbeiten darf?«
»Ich sehe keinen Grund, warum nicht.« »Weißt du, was ich wirklich gern sehen würde?« Bob kniete sich neben Sandy, zog kräftig an der Pfeife und nebelte sich ein. »Was denn, mein Sohn?« »Eine dieser alten Benzinkutschen.« Bob schüttelte traurig den Kopf. »Davon findet man heutzutage kaum noch welche, die laufen. Aber ab und zu bekommen wir mal eine rein.« Sandy strahlte. »Ach ja? Du meinst, dann könnte ich an einem Benzinauto arbeiten?« »Möglich. Ein paar Sekten haben noch diese Vehikel. Die gehen dauernd kaputt.« »Wie viele gibt es deiner Meinung nach in der Heiligen Stadt?« »Ach, keine Ahnung. Nicht viele. Man sieht sie selten auf den Straßen. Ich habe auch schon welche auf Friedhöfen parken sehen, wenn ich Generatoren und andere Geräte repariert habe. Es dürften so an die hundert sein. Aber wenn du das wirklich willst, besteht durchaus die Möglichkeit, daß du mal einen Benziner in die Finger bekommst.« Sandy nickte. »Aber denke dran, Santiago, daß diese Dinger der Vergangenheit angehören. Die zukünftigen Maschinen sind woanders. Es stimmt, daß du ein Akolyt bist; aber in gewissem Sinn sind wir das alle. Während wir die Vergangenheit bewahren – und unsere Ursprünge ehren –, schulden wir der Zukunft die Treue, der Entwicklungsmaschine.« Sandy fühlte sich mutlos. Ungefähr hundert Benzinautos. Die Heilige Stadt war voll davon. Zu viele, um sie alle aufzuspüren. Er nickte wieder, wie um Bobs Worte zu bestätigen, aber seine Gedanken wanderten in die Ferne. »Santiago, hast du eine Minute?«
Er schreckte aus seinen Träumen auf. »Klar. Ich war nur schon fast eingeschlafen.« »Ich möchte dir etwas zeigen. Ich glaube, daß du so weit bist, es zu schätzen. Es wird dir klarmachen, was ich dir über den Zweck unserer Arbeit gesagt habe, über unsere höchsten Ziele. Komm mit, wenn du Interesse hast.« Sandy stand auf und folgte Bob durch die schmutzigen Korridore des Tempels. Dann gingen sie durch die Hauptkathedrale mit den hydraulischen Pressen und den zu Pyramiden aufgetürmten Batteriekästen. Dahinter war eine Tür, durch die er noch nie gegangen war. Sandy hatte immer geglaubt, daß sich dahinter ein besonders heiliger Ort befände, weil die Himmelsmechaniker immer so merkwürdige Gesichter gemacht hatten, wenn sie hineingingen oder herauskamen. Alle sahen aus, als hätten sie ins Herz eines unbeschreiblichen Mysteriums geblickt. Unwillkürlich war er nun aufgeregt zu sehen, was sich hinter dieser Tür befand. Im Inneren Heiligtum arbeiteten mehrere Mechaniker noch um diese späte Stunde. Ihre Körper verdeckten erst den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit. Aber dann sahen sie Sandy. Lächelnd traten sie beiseite. Nackt und majestätisch stand die Maschine vor ihm. Aufrecht stand sie da. Noch fehlte der Kopf, aber es handelte sich zweifellos um eine menschliche Gestalt. Allerdings hatte sie vier Arme. Es war der schönste Roboter, den Sandy je gesehen hatte. Der Körper war groß, die Schultern waren einen Kopf höher als seine. Es war ein dreidimensionales Gespinst aus Drähten und polierten Stäben: Eine Spinnwebskulptur. Sandy folgte mit den Augen den Nerven, Sehnen, Muskeln und Organfasern. Alles war aus Metall, biegsamem Plastik und Keramik gemacht. Anstelle von Herz und Lunge war ein dichter Kokon da. Ein hohles Gebilde, das wie der arachnide Meister dieses androiden Gewebes aussah.
»Ein Roboter?« fragte Sandy. »Ja und nein. Es hängt vollkommen vom menschlichen Willen ab. Es wird eine Polynervenverbindung zur Bedienungsperson haben; aber seine eigenen Nerven sind Superkonduktoren. Es wird den menschlichen Willen verstärken, so daß man mit ihm die kompliziertesten Sachen ausführen kann – und die, wozu man sehr viel Kraft braucht. Das ist das höchste Ziel der Technologie, wie wir es heute sehen. Es soll die menschliche Kreativität erweitern und verbessern, nicht ersetzen.« Sandy trat näher an die leuchtende kopflose Figur heran. Ein Bein steckte in einem durchsichtigen Futteral. Die Mechaniker waren dabei, das gesamte Skelett mit diesem zähen, unsichtbaren Stoff zu umhüllen. Bis auf den Kopf und diese Hülle schien die Figur fertig zu sein. »Für das, was wir hier tun, brauchen wir keine Drähte«, erklärte Bob. Die Gegenwart des künstlichen Menschen hatte ihn in Verzückung versetzt. »Andere, außerhalb der Heiligen Stadt, sind von Drähten überabhängig. Aber eines Tages wird die Bilanz gezogen: Das ist dann Evolution! Und diese Maschine – oder andere, die noch kommen – werden mit Sicherheit eine wichtige Rolle bei dieser Weiterentwicklung spielen.« »Sie sieht fast fertig aus«, sagte Sandy. »Nur noch ein paar Tage Arbeit. Deshalb fand ich, daß du sie sehen solltest. Bald wird sie nicht mehr in unseren Händen sein. Wir müssen sie bei den Besitzern abliefern. Als Akolyt mußt du wissen, daß es diese wunderbare Maschine gibt. Vielleicht siehst du nie wieder eine wie sie. Oder… vielleicht baust du eines Tages andere Versionen.« »Sie ist wunderschön«, sagte Sandy. Aber die Statue machte ihm auch Angst, weil sie ihn an die Polynerven erinnerte, die jeden Teil seiner Anatomie durchbohrten. Dieses Ding aus
Metall machte einen Körper aus Fleisch zum Gegenstand des Spotts. Allein die Hände waren so feingliedrig und präzise nachgebildet, daß seine eigenen dagegen klobig und plump aussahen… bis auf die perfekten Drähte in seinem Fleisch. »Ich sehe die Drähte eines Tages als ungeheure Kraft für die Demokratie, nachdem die Mucken ausgebügelt sind. Ich ziehe es vor, selbst von den Drähten Abstand zu nehmen, bis – na ja, für den Rest meines Lebens.« »In anderen Worten: Wir sind jetzt alle wie Testpiloten?« »Ja, das stimmt. Und besonders diejenigen, die diese Maschine kontrollieren.« Die Mechaniker konnten die Hände nicht von der Statue lassen. Sie musterten Sandy eifersüchtig. Kaum war er zurückgetreten, machten sie sich sofort wieder an die Arbeit und paßten die Kristallhaut weiter an. Dabei berührten sie ständig den Körper. Sie berührten ihn so ehrfürchtig, als sei er eine heilige Reliquie. »Na, was denkst du?« fragte ›Bob‹, als sie das innere Heiligtum verließen. »Sehr schön«, antwortete Sandy. Aber er hoffte die Maschine nie wiederzusehen. »Ich habe einen heimlichen Traum«, sagte Bob, als Sandy wieder in die Schlafgrube stieg. »Willst du ihn hören?« »Klar. Aber wird er sich erfüllen, wenn du ihn erzählst?« Bob grinste zu ihm herab. »Es gab einmal einen großen Mann – kein Mechaniker, aber trotzdem ein großer Mann. Er hieß Martin Luther King. Ihm war klar geworden, daß die Menschheit Maschinen gebaut hatte, die sie in die tiefsten Seegräben oder ins All bringen konnten. Aber trotz dieses technischen Fortschritts konnten wir immer noch nicht anständig miteinander umgehen und uns alle als menschliche Wesen sehen. Dadurch bin ich auf eine Idee gekommen: Was wäre, wenn wir für uns Vehikel bauen könnten, Anzüge oder
Spezialkörper, die uns helfen, durch das Reich der Gesellschaft zu reisen, durch die Welt der menschlichen Beziehungen, das gefährlichste Grenzgebiet von allen… die uns sicher und menschlich unter Vermeidung von Kollisionen und mit Gefühlssteuerungssystemen befördern würden? Kannst du dir das vorstellen? Maschinen, die uns zu richtigen Menschen machen würden. Vielleicht können wir mit allen unseren Drähten, Computern, Körperhilfen, Genmanipulationen eine neue Technologie erschaffen, die das alles fertig bringt. Natürlich ist die Programmierung anfangs sehr schwierig, aber ich glaube, daß es zu schaffen ist. Und vielleicht können wir in ferner Zukunft, wenn alles unsere zweite Natur geworden ist, die Maschinerie ablegen und – und einfach wir selbst sein. Natürlich kann man ein U-Boot oder einen Raumanzug nicht ausziehen und erwarten, daß man überlebt. Aber wer weiß, in welche interpersönlichen Bereiche wir bis dahin vorgedrungen sind: Seltsame Orte, die wir uns jetzt noch nicht vorstellen können.« »Ja, Sandy, das ist jedenfalls mein Traum. Sandy? Oh… na ja… schlafe weiter. Und Simmering schütze dich!« Ein Alarm weckte Cornelius in seiner gemieteten Schlafkiste. Er stand auf, verschlang die letzten Garnelen, die in der Thermos mit sprudelndem Salzwasser schwammen, und trat auf das Laufgitter. Die luftige zehngeschossige Schlafgarage hatte weder Wände noch Fußböden oder Decken. Sie bestand nur aus Streben, an die kleine Zellen angeschraubt waren, und Gitterlaufstegen und Treppen. Es wurde bald dunkel. Clarence war bestimmt hungrig. Cornelius kaufte an einem Stand Jambalaya und CajunPopcorn. Beim Geruch der stark gewürzten Speisen drehte sich ihm der Magen um. Er hielt die Tüte weit von sich, als er zur Arbeit eilte. Was für eine Verschwendung von guten Meeresfrüchten…
Der Studiowagen parkte an einer Ecke in einer gottverlassenen Gegend am Rand einer alptraumhaften Landschaft. Der Boden war von Industrieabfällen verseucht gewesen. Deshalb hatte man ihn mit Bodenreinigern behandelt. Doch diese hatten mit den Giftstoffen zu einer unerwarteten chemischen Reaktion geführt: Riesige Pilze und elefantenähnliche Gebilde waren aus dem Boden gewachsen. Die Dinger waren graugrün und sahen schleimig aus, waren aber trocken und so glatt wie polierter Marmor. Dieser unheimliche Dschungel trennte die sektenfreie Frange von der Heiligen Stadt. Als Cornelius den Kastenwagen sah, blieb er stehen. Das Vehikel schaukelte heftig. Es gab nur einen logischen Grund für diese Bewegungen. Cornelius verdrückte sich in den Schatten einer Einfahrt, stellte das Essen ab und bereitete sich auf längeres Warten vor. Clarence hatte wohl den Befriedigungs-Service gerufen. Schließlich war er auch nur ein Mensch, und wie alle Menschen redete er ständig über Sex, unternahm aber nichts. Cornelius nahm an, daß Clarence die Lüsternheit nicht mehr hatte ertragen können. Vielleicht würde er in der nächsten Zeit nicht mehr über Sex reden. Gerade wollte Cornelius weggehen, als die Bewegung im Wagen aufhörte und die Seitentür aufglitt. Zwei Hunde sprangen heraus: Ein Labradormischling und eine Spanielhündin mit hochgetürmten Haaren. Der Rüde hatte einen Metallkoffer an einem Riemen über die Schulter geschlungen. Wahrscheinlich war elektronisches Gerät darin. Die Hunde blickten nach allen Seiten, sahen aber Cornelius nicht, der am liebsten unsichtbar gewesen wäre. Erst nach einigen Minuten wagte er es, den Kopf auf die Straße zu stecken. Die Hunde gingen in die andere Richtung, bogen um eine Ecke und waren verschwunden.
Es war beinahe dunkel. Die Schatten boten genügend Deckung in der verlassenen Straße. Trotzdem spürte Cornelius eiskalte Angst, sich zu zeigen. Als er schließlich seinen ganzen Mut zusammennahm und das Versteck verließ, lief er zitternd so schnell er konnte zum Studiowagen. Die Tür stand noch einen Spalt offen. Er schob sie ganz auf und stieg hinein. Clarence saß zusammengesunken über der Konsole. Die Zeiger flackerten wie verrückt. So hatte Cornelius sie noch nie gesehen. Einige lagen aber still da – wie tot. Tot… Um Clarence Starko hatte sich eine Blutlache gebildet. Blut floß unter seinem Kinn über das Deck und über die Arme. Dann tropfte es zwischen den Müll auf dem Boden. Die Augen waren offen, aber starr. Er sah weder Cornelius noch sonst etwas. Überflüssigerweise hatten die Mörder das Seil Tabakritze mehrmals eng um Clarrys Hals geschlungen. Ein Ende steckte noch zwischen seinen blutverschmierten Zähnen. Am meisten Sorge machte Cornelius das merkwürdige Benehmen der Zeiger auf den Geräten. Das Sens8 war tot. Sandy war abgeschnitten. Es sei denn, daß… Cornelius durchwühlte den Wagen. Endlich fand er unter einem Schränkchen eine Plastikschachtel, die wie ein Handcomputer aussah. Er schaltete ihn ein. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Karte auf – und ein blinkender Punkt: Der Sucher, mit dem sie jeden Schritt Sandys verfolgen konnten. Zum Glück funktionierte er einwandfrei. Cornelius hätte vor Dankbarkeit weinen können. Dann durchfuhr ihn der schreckliche Gedanke, daß Clarences Mörder womöglich zurückkommen könnten. Oder…
Sie waren jetzt hinter Sandy her, nachdem sie dessen Pläne kannten. Cornelius stieg aus dem Kastenwagen, verschloß die Tür von innen und schob sie zu. Die gefärbten Scheiben verbargen das Massaker vor neugierigen Augen. Er steckte den Sucher in die Tasche und blickte ängstlich nach allen Seiten. Niemand hatte ihn beobachtet. Auf der anderen Straßenseite erhob sich der Wald der Scheußlichkeiten wie etwas, das vom Boden des Meeres ausgekotzt worden war. Trotz seiner Angst vor dem Meer marschierte Cornelius in den graugrünen Dschungel hinein.
Sandy sah den Roboter schon bald nach dem ersten Blick darauf wieder. Bob nahm ihn mit der Gruppe Mechaniker mit, die das Wunderding liefern und aufstellen sollten. Zu fünft marschierten sie in einer kalten Nacht durch die Heilige Stadt. Sandy verließ zum erstenmal seit seiner Initiation den Tempelbezirk der Himmelsmechaniker. »Es ist Zeit, daß du hinaus in die Welt gehst, Santiago. Es wird ein großer Teil deines Praktikums sein, daß du Kunden hilfst. Händchenhalten.« Der Roboter war in Tücher und dicke Schutzdecken gehüllt und auf einen Karren gebunden. Sandy hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, den Karren zu Fuß durch völlig verkommene Straßen der Heiligen Stadt zu ziehen. Bob und ein anderer Mechaniker trugen Waffen. Der Grund dafür wurde Sandy erst klar, als er in der Ferne das Geheul der Heiligen Roller zwischen den Ruinen hörte. »Okay«, sagte Bob schließlich und winkte Sandy. »Du und ich müssen hier einen Augenblick warten.« Er nickte den drei Mechanikern – alles Frauen – zu, weiterzugehen. Sie
verschwanden in dem dunklen Torweg eines verfallenen Gebäudes. »Es ist besser, wenn die Frauen vorgehen«, erklärte er seinem Schüler. »Dann gibt es keinen Aufruhr.« Nach wenigen Minuten kehrten die Mechanikerinnen zurück. Drei ganz in Schwarz gekleidete Gestalten folgten ihnen. Bob nahm Sandy beiseite, damit die anderen den Roboter auf dem Wagen losbinden konnten. Die Mechanikerinnen hoben ihn auf die Schultern und gingen bis zum dunklen Torweg. Als die drei schwarzen Figuren folgen wollten, räusperte sich Bob laut und vertrat ihnen den Weg. »Entschuldigung«, sagte er leise. Die drei musterten Bob und Sandy. Schleier verbargen ihre Gesichter, aber nicht ihre Feindseligkeit. »Dürfen wir auch hineingehen?« fragte Bob. »Ich bin der Obermechaniker. Ich muß beim Aufstellen ein paar Feinheiten adjustieren.« Die drei Gestalten blickten ihn stumm an. Nach einer kleinen Ewigkeit fragte die eine: »Und was ist mit ihm?« Es war eine Frauenstimme, voller Mißtrauen. Sandy tippte sich an die Brust: »Moi?« »Er ist mein Akolyt, ein äußerst begabter Schüler. Das ist Teil seiner Ausbildung. Wir wollen keineswegs eure Sekte beleidigen.« Die drei berieten sich kurz. Dann erklärte wieder die erste: »Du kannst hineingehen, Bob, wenn es unbedingt nötig ist, damit das Gebilde funktioniert. Aber dein Akolyt bleibt hier draußen.« »Fein«, sagte Sandy leise. »Bitte, es ist so kalt – und er wird bestimmt keinen Ärger machen.« »He, Bob, ist schon gut«, sagte Sandy. »Könnte er nicht wenigstens in eurer Vorhalle warten?« bat Bob.
Schweigen. Eine halbe Minute lang. Die Mechanikerinnen warteten mit ihrer Last im Dunkeln. Die drei in Schwarz traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Schließlich liefen zwei hinein. »Er kann in der Vorhalle warten. Aber keinen Schritt weiter!« stieß die dritte ärgerlich hervor. »Aber nur, wenn es keine Umstände macht«, sagte Sandy. Bob winkte ihm zu schweigen. »Ich danke euch«, sagte ›Bob‹. Die Frau ging bereits hinein. Er nahm Sandy am Ellbogen und flüsterte: »Sei vorsichtig, Santiago. Deine Spezies ist hier ganz und gar nicht gefragt.« »Was für eine Spezies?« »Männer!« Die Vorhalle war ein großer Raum. Ein alter kastanienroter Teppich lag auf dem Boden. Die kleinen Kerzen brachten auch nicht viel Licht in die Dunkelheit. An einem Ende führte eine Treppe in schwarze Höhen. Zu beiden Seiten gingen Korridore ab. Sandy setzte sich auf eine Betonbank. Die vier Himmelsmechaniker und die Frauen in Schwarz verschwanden in einem Korridor. Sandy hörte ihre Schritte verhallen, dann gedämpfte aufgeregte Stimmen, wieder Schritte und Flüstern. Die Geräusche endeten so abrupt, als habe man eine Tür zugeschlagen. Sandy lehnte sich an die Wand und reinigte sich die Fingernägel. Die Zeit verging langsam. Jedenfalls kam es ihm so vor. Seine jüngsten Erlebnisse waren zum Großteil reine Verschwendung von Drahtzeit gewesen. Alles wurde aufgezeichnet, jeder Augenblick seiner Mechanikerausbildung wurde an Clarry zur Sichtung und Bearbeitung übermittelt. Bearbeiten. Das war Starkos Stärke. Im echten Leben wäre es ein Luxus gewesen. In der Endversion von Sandys Abenteuer würde Clarry mit Sicherheit diesen Teil herausschneiden, wo der Held in einer dämmrigen Vorhalle herumsaß. Der vierarmige Roboter würde ein paar gelungene Schüsse bringen,
vielleicht als Aufmacher für Sandys Schufterei bei den Himmelsmechanikern. Bisher hatte allerdings sein Aufenthalt in der Heiligen Stadt dramatisch nichts gebracht. Sandy sah es vor sich: Seine erste Solo-Sendung. Anfangen würde sie mit seiner ersten Nacht, als er sich hinter einem Schrotthaufen versteckte. Dann die Szene mit dem Mann oder der Frau oder was auch immer es gewesen war. Die Rettung in letzter Sekunde. Die Heiligen Roller. Ein paar düstere Bilder, wie er durch die dunklen, unbekannten Straßen irrte, ehe er einen Schlafplatz fand. Schnitt. Das grobe Wecken durch die Wandernden Juden. Ein paar Szenen, wie sie ihn behandelten. Kurze Einblendungen über die verschiedenen Kulte in der Heiligen Stadt. Andeutungen, daß es dort eine riesige anarchische Gesellschaft gab, die aber aus Zeitmangel nicht ausführlicher gezeigt werden konnte. Dann harter Übergang direkt in die Werkstatt der Himmelsmechaniker, um das Publikum nicht mit irrelevanten Nebensächlichkeiten zu langweilen. Die Arbeit in der Werkstatt im Prinzip unwichtig, aber Möglichkeit, ein paar interessante Charaktere vorzustellen, die er in der Heiligen Stadt kennengelernt hatte. Bob würde eine kleine Rolle bekommen. Eigentlich komisch, wenn er daran dachte, daß er fast jede wache Minute des Tages mit ihm verbrachte. Aber sobald die Sendung bearbeitet war, würde der Große Schmiermaxe auf eine ziemlich unbedeutende Figur zusammengeschnitten sein. Er würde Clarry vorschlagen, einige Schnappschüsse von seiner Ausbildung zu machen und dann gleich zu der dramatischen Nacht überzugehen, in der der Roboter enthüllt worden war. Ja, natürlich konnten sie noch etwas von heute nacht mitnehmen, um das Schicksal des Roboters zu zeigen. Keine lose Enden hängen lassen. Aber diese endlose Warterei würde Clarry bestimmt rausschneiden. Wenn er sie nur jetzt gleich rausschneiden könnte!
Zu viel hatte sich bei seiner Suche als nebensächlich herausgestellt. Er war in einer Stellung gelandet, wo er nichts mehr auf eigene Faust untersuchen konnte, selbst wenn er gewußt hätte, wo er in dieser Stadt voll Kopfjägern auf Rollschuhen und Ignostikern und allen möglichen anderen Wahnsinnigen mit der Suche hätte anfangen sollen. Sandy stand auf und ging hin und her. Plötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß er zum erstenmal, seit die Wandernden Juden ihn erwischt hatten, allein war – ohne Bewachung. Er war frei zu gehen! Langsam ging er zur Tür. Würde ihn jemand aufhalten? Wenn die Priesterinnen ihn beobachteten, wären sie bestimmt froh zu sehen, daß er fortging. Und Bob war irgendwo anders. Bob war… »Santiago! Da bist du ja.« … direkt hinter ihm. Sandy verkrampfte sich. Er wußte, daß er nicht in die Freiheit laufen würde. Draußen war es dunkel und unheimlich. Es würde ihn seinem Ziel nicht näherbringen, wenn er durch die Nacht lief, wo es von religiösen Räubern nur so wimmelte. Bob lief freudestrahlend auf ihn zu. »Es funktioniert, Santiago! Warte, bis du es siehst! Der Roboter kommt hierher. Beim Großen Zahnrad und Getriebe! Ich bin in Ekstase!« Sandy hörte Stimmen. Sie klangen überschwenglich und kamen näher. Er hörte Lachen und Singen. Alles Frauenstimmen. Und dann fiel der Schein der Kerzen auf die schlanken Stangen und Drähte des transparenten Körpers. Die schimmernde Gestalt bewegte versuchsweise die vier Arme und summte leise. Mit anmutigen Schritten trat der Roboter aus dem Dunkel, als sei ihm das Gehen angeboren. Anbeterinnen in schwarzen Gewändern folgten in einigen
Schritten Entfernung. Keine von ihnen verlieh dem Ding durch den Willen Kraft oder steuerte es. Jetzt hatte der Roboter einen Kopf, einen Verstand und ein eigenes Gesicht. Ein kleines lebendiges Gesicht mit strahlenden orangefarbenen Augen. Sandy stockte der Atem. Er klammerte sich an den Türgriff. Er hatte Angst um sein Leben und seinen Verstand. Beides schien zu entgleiten. Er fühlte sich wie in einem Schwebezustand, alle Zweifel waren außer Kraft getreten. Er war ebenso in Ehrfurcht versunken wie die schwarzen Schwestern, die ihr von einem Roboter geborenes Baby umringten. Der Roboter ging noch einen Schritt weiter, noch einen, direkt auf Sandy zu. Der Kopf eines Säuglings auf einem kräftigen Metallkörper. Der Körper eines Säuglings in dieser Brust versteckt. Der Wille eines Säuglings zwang die mechanische Konstruktion, durch den Raum zu gehen und vor Sandy stehenzubleiben. Das waren die Augen eines Säuglings, aber nicht der Intellekt eines Säuglings. Das Baby mit den orangefarbenen Augen blickte Sandy an. Sechzehn kräftige Finger legten sich auf seine Schultern. Der Druck war sanft, angsteinflößend. Er spürte, wie ein mächtiger Strom durch seinen Körper schoß, den nicht seine Nerven, sondern die Polynerven registrierten. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte es. Sandy schluckte. »Auf mich?« Das Baby lächelte. Es hatte bereits zwei Vorderzähne. Sandy hatte diesen Meilenstein im seltsamen Leben seiner kleinen Nichte verpaßt. Im Augenblick hatte er den heftigen Wunsch, auch alle weiteren Ereignisse zu verpassen, die sie noch erleben würde.
Er wollte weglaufen, hinaus in die Nacht und immer weiter, ohne Rücksicht auf das Risiko. Er wollte die Suche und die Arbeit abbrechen. Alles aufgeben, wenn er nur diesem Schreckgespenst entrinnen würde, diesem mechanisch aufbereiteten Baby. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er war nicht nur in Calafias metallischen, sondern auch in ihren mentalen Fängen. Mit einer leichten Bewegung hatte sie ihn in Fesseln geschlagen und hielt seine Drähte jetzt wie Zügel in den Händen. »Komm mit«, sagte sie. Getrennt von seinem Willen, verraten von seinen Gliedmaßen, folgte er.
TEIL DREI
9 DIE MENSCHLICHE MARIONETTE ALS MEISTER
Kali haßte es, einen menschlichen Körper zu tragen. Fleisch war eklig – überall Blut, Wärme und Furzgeräusche. Aber dieser zog sie an, sog sie in sich ein. Ihre Seele wurde von der Schwerkraft seines Bluts gefangengenommen. Fleisch war ein Magnet und sie das Eisen. Aber sie war ein Eisen mit eigenem Willen. Im Gegensatz zu den Töchtern war dieser Mann verletzbar, so wie die Seherin gewesen war. Diesmal würde sie vorsichtiger sein. Sie würde nicht in seine Bioschaltkreise eingreifen. Tod war ein Energieausfall und nützte ihr nichts. Sie mußte ihn kontrollieren, ohne ihn zu töten. Aber das konnte sie jetzt tun. Es war schöner, als mit einem Schoßhund zu spielen. Da sie sich jetzt in dem Roboter frei bewegen konnte, konnten die Töchter ihr auch keinen guten Grund nennen, warum sie kein Tier zum Spielen haben sollte. »Bezahlt den Großen Schmiermaxen«, sagte sie. »Wir behalten den da.« Wegen des Schleiers konnte man den Ausdruck auf dem Gesicht der Hohen Priesterin nicht sehen, aber eine andere Tochter rief: »Er ist ein Mann! Kali verbietet das!« »Ich bin Kali!« Sie stampfte wütend mit dem Kristallschuh auf den Boden. Das konnte niemand bestreiten. Kali schickte den blonden Mann in einen dunklen Korridor, ohne sich um die Klagen der Himmelsmechaniker zu kümmern. Der Pfeife rauchende Priester wollte seinem Akolyten hinterhergehen, aber die Töchter wehrten sich heftig
dagegen, daß noch ein Mann in ihr Reich eindrang. Kali hatte sie richtig eingeschätzt. Ihr Glaube an sie war fast so gut wie Drähte, die ihnen fehlten. Die Töchter würden ihre Entscheidung verteidigen. Außerdem gefiel ihnen wahrscheinlich die Vorstellung, einen Mann als Spielzeug zu haben. Vielleicht konnten sie ihm zu allgemeiner Belustigung Kunststücke beibringen. Kali folgte dem Mann auf dem Korridor. Sie genoß die großen, weichen Schritte. Sie hatte immer gewußt, daß Gehen so angenehm sein mußte. Sie steuerte ihn vor sich her ins Kinderzimmer. Über Kalis Wiege hing ein kunstvolles Mobile aus Holz, das der globalen genomischen Bibliothek nachgebildet war, ein Geschenk der Hohen Priesterin. Es machte Kali Spaß, mit den Augen den verschlungenen Verbindungen zwischen allen Teilen der Schöpfung zu folgen, von den Vorläufern der Zellkerne bis zum Menschen. Dabei genoß sie es, als Beobachterin außerhalb zu sein. »Du hast doch nach mir gesucht, oder?« fragte sie den Mann. Dieser wich zitternd in eine Ecke und schaute sie starr an. Dieses Zittern war unwirtschaftlich, da er bereits ziemlich warm war. Sie stoppte es. Seine Augen traten hervor. Sie ließ ihn die Lider schließen und öffnen; aber es sah nicht richtig aus. Sie ließ ihn nochmals blinzeln, diesmal schneller. Es war immer noch nicht so natürlich wie bei den Töchtern. Sie versuchte, nicht an das Problem zu denken, sondern es ihm zu überlassen. Gleich darauf bewegte er die Lider selbständig. Sie war zufrieden. Offensichtlich brauchte sie nicht alles für ihn zu tun. »J-jaa«, sagte er. »I-i-ich…« Das Gestammel war unnötig, eine nervöse Fehlreaktion. Kali adjustierte den Stimmapparat. Dabei ließ sie ihn kurz stöhnen und plappern. Beim nächstenmal würde er besser sprechen.
Kali kam die Idee, daß es lustig sein müßte, die Welt durch seine Augen zu betrachten; aber sobald sich ihn; Augen trafen – Kali blickte in Kali – spürte sie einen dumpfen Schmerz. Sofort ließ sie ihn woanders hinschauen. Dann zwang sie ihn, die Knie zu beugen und sich ehrerbietig vor ihr hinzuknien. »Wie heißt du?« fragte sie. »Santiago Figueroa. Du kannst mich Sandy nennen.« Kali kicherte. »Ich heiße Kalifornia, aber du kannst mich Kali nennen.« »Kali«, wiederholte er. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Die Worte kamen jetzt leichter. Er entspannte sich. Santiago Figueroa schien ein netter Mann zu sein. Plötzlich erfüllte sie ein Glücksgefühl. Sie streckte ihre winzigen Muskeln, und die aus Metall reagierten sofort. Der Mann erschrak, als sich ihre vier großen Arme bewegten. »Was ist los?« fragte Kali. »Sehe ich nicht gut aus? Das ist meine Erwachsenen-Hülle.« »Ja, sie ist wunderschön«, versicherte er. »Aber sie ist auch sehr stark. Du solltest vorsichtig damit sein.« »Keine Angst. Sie zerbricht nicht.« »Nein, ich meine… du solltest vorsichtig sein, damit du niemand weh tust.« Kali kreuzte die glasartigen Arme. »Solange sich die anderen gut benehmen, werde ich keinem weh tun. Hältst du mich etwa für böse?« »Nein, nein, keineswegs!« Sandy lachte und lächelte sie an. Das gefiel ihr so, daß sie das Lächeln sofort fixierte. Dann sah und fühlte sie, wie Sandy versuchte, es wegzumachen. Seine Augen zuckten, und er zog mit den Fingern an den Mundwinkeln.
»Was… was machst du?« fragte er, wagte jedoch nicht, ihr in die Augen zu blicken. »Das tut weh. Nicht viel, aber ein bißchen.« Kali fühlte durch seine Polynerven, fand aber keinerlei Schmerzen. »Nein, tut es nicht«, widersprach sie. »Es ist ein Lächeln und sehr schön. Es bedeutet, daß du glücklich bist.« »Ja, ich bin glücklich, klar. Aber ich finde ein kleineres Lächeln besser, weil es nicht so weh tut.« Kali ließ sein Lächeln ein bißchen zurückgehen, wartete kurz, und entfernte es dann ganz. Sie hatte keine Lust mehr, ihn glücklich zu machen. Sie strich mit den vier Händen über ihren glänzenden Körper und sagte: »Ich habe es satt, daß die Erwachsenen alle Macht haben. Jetzt bin ich genau wie sie. Nein, ich bin sogar besser. Die Hohe Priesterin kann mir jetzt nicht mehr sagen, was ich tun soll. Wenn es nach ihr ginge, würdest du hier eine Menge Ärger bekommen. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich beschütze dich.« Sandy neigte den Kopf etwas. »Danke, Kali. Ich bin dir dafür dankbar. Du hast recht. Ich habe nach dir gesucht. Alle wollten wissen, wo du warst.« »Wer ist alle?« »Dein Großpapa. Deine Mama. Dein anderer Onkel und deine Tante.« »Ich habe keine Mama. Ich bin Kali.« »Doch, du hast eine Mutter. Deine Mama ist meine Schwester.« Darüber dachte Kali kurz nach. Dann stemmte sie die unteren Hände in die Hüften. »Wie ist das möglich?« »Na, ist dir nichts aufgefallen? Du hast doch bestimmt deine schönen goldenen Augen gesehen. Sie sind genau wie meine. Schau her, Kali!« Er legte die Finger auf die Wangen. Sie sah, daß er recht hatte. Sandys Augen war golden wie ihre. Sie durfte ihm aber
nicht lange in die Augen sehen, weil sonst die Rückkopplung drohte. »Die Augen deiner Mutter sind auch golden«, sagte Sandy. »Niemand sonst hat Augen wie wir.« »Ist meine Mutter eine Göttin?« »Nein, du hast eine menschliche Mutter. Es geht ihr nicht gut. Dein Großpapa möchte dich auch sehen. Er wird glücklich sein zu hören, daß es dir gut geht.« »Erst will ich was zum Anziehen, damit ich wie alle anderen aussehe.« »Kleider?« »Na, so kann ich doch nicht rumlaufen, oder?« »Daran habe ich nicht gedacht. Hm, mal sehen, was wir tun können. Du bist groß, aber nicht so riesig, daß wir dich nicht anziehen könnten. Die Extra-Arme könnten aber ein kleines Problem sein.« »Ein weites Gewand reicht fürs erste«, sagte sie. »Hole es!« »Ich weiß nicht, wo…« »Ich steuere dich. Geh los!« Kali lenkte Sandy aus dem Kinderzimmer heraus zu einer Treppe. Auf den Stufen warteten die Töchter. Einige wichen vor dem Mann zurück, andere musterten ihn mit Abscheu. Kali schnitt mit ihm Grimassen. Dann verkürzte sie seine Stimmbänder, so daß er mit ihrer Kinderstimme sagte: »Ich beobachte euch! Der Mann ist meine Augen!« Um jeden Zweifel auszuräumen, rief sie die Töchter beim Namen. Im oberen Geschoß befand sich die Wäsche- und Kleiderkammer. Kali ließ durch Sandy zwei Festgewänder heraussuchen, welche die Hohe Priesterin bei besonderen Zeremonien zu tragen pflegte. Die Tochter Beschließerin sagte kein Wort. Als Sandy die Treppe wieder hinabgehen wollte, versperrten ihm die Töchter den Weg. »Geh weiter!« sagte sie. »Die Gewänder sind für Kali.«
Die verschleierte Hohe Priesterin ergriff die Roben. »Gib sie her!« rief sie. »Sie gehören mir.« Sandy packte ihr Handgelenk. Die Töchter waren stumm vor Entsetzen. Schreiend wollte sich die Hohe Priesterin losreißen. »Faß mich nicht an!« schrie sie. »Wie kannst du es wagen, mich zu berühren?« »Laß die Gewänder los!« sagte Sandy mit Kalis Stimme. »Sie gehören mir! Laß mich sofort los!« Die Hohe Priesterin kratzte ihm mit den langen, spitzen Fingernägeln, die so scharf wie Katzenkrallen waren, die Wange auf. Kali spürte es nicht, wohl aber Sandy. Kali zwang ihn, die Hohe Priesterin nicht loszulassen, während diese immer wieder zuschlug, bis ihre Finger blutig waren. Kali ließ ihn sich nicht bewegen, bis die Hohe Priesterin nach Luft ringend aufgab. »Kali spricht durch mich«, erklärte er ihr. »Kali sieht durch meine Augen. Und was sie sieht, macht sie sehr, sehr zornig. Kali möchte die Gewänder anlegen, damit sie den Töchtern nahe sein kann. Sie will nicht, daß sie sich vor ihrer Erwachsenen-Maschine fürchten. Du solltest Kali geben, was sie will. Wenn nicht, wird sie dir weh tun.« Sandy ließ die Hohe Priesterin los. Sie wich zurück und rieb sich das Handgelenk. »Du darfst ihn nie wieder berühren«, sagte Kali durch Sandys Mund. »Er ist mein Onkel.« »Ich weiß, wer er ist!« kreischte die Hohe Priesterin. »Ein Dämon!« »Hole Verbandszeug und Heftpflaster. Du hast ihn verletzt, du verbindest ihn.« Die Hohe Priesterin warf Sandy einen empörten Blick zu, ging dann aber. Die anderen Töchter ließen ihn unbehelligt passieren. Wieder im Kinderzimmer betrachtete Kali Sandys Wunden und strich leicht mit den Kristallfingern darüber.
Tränen liefen ihm aus den Augen. Sie setzte ihm ein leichtes Lächeln auf. »Es tut nicht weh«, sagte sie. »Ich habe die Nerven abgeschaltet.« »Tut mir leid, Kali; aber du irrst dich. Es tut weh. Du hast vielleicht die Polynerven abgeschaltet, aber ich habe noch andere, die du nicht kontrollieren kannst. Du kannst sie nicht fühlen, aber ich.« Kali dachte darüber nach und überlegte, ob sie zornig auf Sandy sein sollte. Vielleicht konnte er nicht anders? Er war wirklich ein minderwertiges Geschöpf. »Nun, bald bist du wieder heil. Zieh mich jetzt an!« »Jawohl, Kali.« »Aber paß auf, daß du keine Blutflecken machst!« »Jawohl, Kali.« Er band das Gewand am Hals fest, so daß es wie ein Umhang herabfiel. Die Extra-Arme störten. Sie brauchte Kleidung nach Maß. Während Kali sich noch durch Sandys Augen bewunderte, kam die Hohe Priesterin herein. »Gut«, sagte Kali. »Wenn du ihn versorgt und verbunden hast, gib ihm schmerzstillende Drogen. Und zwar sofort!« Die Hohe Priesterin verneigte sich. »Ja, Kali. Ich dachte mir schon, daß du so etwas wünschen würdest. Ich habe alles mitgebracht.« Sie hielt eine schwarze Röhre hoch: Kalis Nadel. Als Kali sie sah, wurde sie mißtrauisch. Manchmal brachte diese Nadel den Tod, nicht nur Linderung der Schmerzen. »Warte!« sagte sie. »Bring das her!« Wieder verneigte sich die Hohe Priesterin und ging zu Kali. »Du möchtest die Nadel sehen?« »Ja«, erklärte Kali. »Wie kann ich wissen, was in der Nadel ist?«
»Ganz einfach«, erklärte die Hohe Priesterin. Sie stach die Nadel in Kalis Hals. Der Roboter geriet außer Kontrolle. Kali versuchte, nach der verräterischen Hohen Priesterin zu greifen, aber keiner ihrer Hilfsnerven funktionierte richtig. Sie wirbelte um die eigenen Achse und prallte gegen die Wand. Dunkelheit strömte in ihre Adern und dann in ihr Gehirn. Sie sank zu Boden. Als die Hohe Priesterin die Nadel aus Kalis Hals zog, fiel Sandy ebenfalls zu Boden, als sei er eine Marionette, deren Schnüre man plötzlich abgeschnitten hatte. Wie betäubt lag er da und hörte das metallische Klirren, als Kali das Bewußtsein verlor. »Kannst du dich bewegen?« fragte die Hohe Priesterin ihn mit barscher Stimme. Sandy hatte Angst, es zu versuchen, weil er fürchtete, gelähmt zu sein. Doch dann stellte er fest, daß die Gliedmaßen gehorchten – ihm gehorchten. Er setzte sich auf. Die Hohe Priesterin half ihm mit fester, schwieliger Hand auf die Beine. Der Roboter mit dem prächtigen Gewand lag auf dem Boden. Kalis Mund und Augen waren leicht geöffnet. Sie sah aus wie jedes andere kleine Mädchen, das mitten im Spiel eingeschlafen war. Sandy wich zurück, weil er Angst hatte, sie könnte aufwachen und wieder die Kontrolle über ihn ausüben. Noch nie hatte er eine so schreckliche Erfahrung gemacht. In dem Leben auf den Drähten hatte er beinahe alles, was es gab, mittels der Polynerven gefühlt; aber niemals diesen Verlust von Selbstkontrolle. Normalerweise führten DrahtEmpfindungen live nicht zu Bewegungen der Gliedmaßen. Sie waren von motorischen Aktivitäten durch einen Strom isoliert, der die modulare netzartige Formation von Neuronen verhinderte, um Muskelsignale zu unterdrücken. Wie in der REM-Schlafphase lief man im Traum, ohne die Beine zu bewegen. Kali hatte Sandy jedoch richtig laufen
lassen. Während er wach war und um Körperkontrolle kämpfte, hatte sie ihn träumend dazu gebracht, alles zu tun, was sie wollte. »Sie schläft noch eine Zeitlang«, sagte die Hohe Priesterin. »Hier, steck dir das an, ehe sie aufwacht. Es blockiert ihre Kontrolle über deine Drähte.« Sie gab ihm eine Art Schale aus weicher Plastik, die hinter das Ohr paßte, und half ihm beim Befestigen. »Solltest du sie nicht aus dem Ding herausnehmen?« fragte Sandy, Die Frau in Schwarz war offensichtlich von Kalis Machtübernahme nicht sehr beeindruckt. Sie nickte und streifte das Gewand von der Brust des Roboters. Sandy sah eine Metallklappe. Die Hohe Priesterin öffnete sie. Darunter lagen die silbrigen Rippen, die mit Scharnieren am Rückgrat befestigt waren. Geschickt klappte die Hohe Priesterin sie auf. Kali lag inmitten der komplizierten Elektronikgeräte entspannt da. Die winzigen Ärmchen und Beinchen hatte sie angezogen. Verblüfft sah Sandy die Gummisteckdose an ihrer Leiste, aus der die Hohe Priesterin ein Kabel herauszog. »Sie… was ist das?« »Ein peripheres Kontrollkabel.« Sandy holte tief Luft. »Einen Moment lang habe ich geglaubt, daß ›sie‹ ein ›er‹ wäre.« »Das geht vielen so. Demnach hast du sie vorher noch nicht gesehen? Nicht einmal während der Planungsphase?« Sandy schüttelte den Kopf. »Nein, mein Vater hat…« Er brach ab und sah staunend zu, wie die Hohe Priesterin Kali aus dem Roboter nahm, in die Wiege legte und eine schwarze Decke über sie breitete. »Wer bist du?« fragte Sandy. Die Hohe Priesterin lachte leise. »Männer dürfen die Töchter Kalis nicht anschauen. So lautet jedenfalls das Gesetz. Aber da
ich das Gesetz geschrieben habe, schere ich mich den Teufel darum.« Sie hob den Schleier. Sandy brauchte einen Moment, um zu glauben, was er sah, obwohl er es bereits vermutet hatte. Das Gesicht der Frau war blaß und abgespannt, zeugte aber von Stärke und Charakter. Es erinnerte Sandy an Poppys Gesicht, allerdings waren die Züge durch Lebenserfahrung schärfer und härter als Poppys je sein würden. Natürlich war es nicht Poppys Gesicht, sondern das seiner Mutter. Ja, seiner Mutter! Er streckte die Hand aus, wagte jedoch nicht, sie zu berühren. »Hallo, Santiago.« Sie nahm seine Hand und drückte sie gegen ihre Wange. Die Geste war nur oberflächlich liebevoll. Ihre dunklen Augen blieben kalt und trocken. Offenbar fühlte sie sich in dieser Rolle nicht wohl »Ich hatte nicht erwartet, dich je wiederzusehen.«
Es gab eine Wiederholung, die Sandy nie ein zweites Mal durchlebt hatte, obwohl die Master-Aufzeichnung eine EndlosSchleife war, die ständig in seinem Hinterkopf ablief. Als er siebzehn war… Als die Figueroa-Show auf dem Höhepunkt der Beliebtheit war, hatten die Drehbuchschreiber den Boden des DramaFasses ausgekratzt, um neue packende Situationen zu bringen. Sie hatten Mythen, Legenden und Schundliteratur durchforstet. Es gab keinen Schauplatz und keine Lebenslage, die ihnen zu ausgefallen gewesen wäre. Die Familie hatte bereits fast alles erlebt, was einer Familie passieren konnte, und war trotzdem noch ungemein populär. Geburt. Inzest. Zölibat. Drogen. Asketentum. Schizophrenie. Holismus. Versagen. Erfolg. Verbrechen. Strafe. Krieg. Frieden. Freßsucht. Bulimie. Täglich wurde die menschliche
Natur nach Sitcom-Möglichkeiten erforscht. Alfredo und Marjorie Figueroa hatten beschlossen, die kleine Calafia zu schaffen, um ein paar neue Situationen bringen zu können. Aber die Technologie war noch unsicher, eher eine Art Wunschvorstellung der Forschungsund Entwicklungsabteilung. Das war etwas für die Zukunft. Während die Kreativ-Berater der Familie sich die Köpfe zerbrachen, machten die Figueroas Urlaub. Sie genossen Improvisationen. Darin waren sie am besten. Ganz gleich, wie kompliziert die Szenarien konstruiert waren, bemühten sie sich, vom Drehbuch wegzukommen, weil sie wußten, daß sich die besten Situationen aus dem Fluß der Realität entwickelten. Man konnte sie nicht vortäuschen oder mit Zwang herbeiführen. Die Familie erfand nicht einen kompletten Tag, improvisierte aber vom Frühstück bis zum Abendessen. Jetzt hatte sie die Chance, einen ganzen Monat lang Abenteuer zu schaffen. Marjorie schlug den Mond vor. Mars war pittoresker, aber man brauchte eine Woche, um dorthin zu kommen. Der Mond war nur ein Kurztrip. HoloBroschüren priesen seine Weltklasse-Hotels an, die kosmopolitische Bevölkerung, die phantastische multikulturelle Küche, den Duty-free-Einkauf und die Erholung in niedriger Schwerkraft. Alles war echt hyper! Mit der Landung begann Sandys grenzenlose Enttäuschung – im Gegensatz zu dem angepriesenen herrlichen Lebensraum auf dem Mond war alles wie ein riesiger Hamsterbau, ein Wohneinkaufszentrum ohne Ausgänge. Sie hätten irgendwo auf der Erde sein können. Selbst die reduzierte Schwerkraft, die Ehemänner munter halten sollte, während die Frauen Einkäufe machten, führte bei allen nur zu Verstopfung. Nirgends ein Hauch von Anderweltgefühl. Vielleicht war der Ausblick von ihrem Hotel früher großartig gewesen, aber jetzt
verdarben die Fabriken, in denen Tektiten verarbeitet wurden, und die Bova-Burger-Restaurants um die Lunar-Luxus-Läden alles. Nach drei Tagen hatten sie sämtliche Möglichkeiten des Einkaufszentrums ausgeschöpft. Sandy kam sich wie ein Gefangener vor. Es war ein Alptraum, zumal er absolut überzeugt war, im nächsten Moment wegzuschweben. Marjorie schlug einen Mondspaziergang vor. Sie heuerte einen Führer an. Sie kauften Vakuum-Anzüge und fuhren am nächsten Tag mit einem ›Vakuum-Tölpel‹, einem Geländewagen, der umständlich zwischen breiten Reifen und hydraulischen Beinen wechselte, aus der Stadt. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie in die Wildnis gelangten. Der Mensch war beinahe achtzig Jahre auf dem Mond – genug Zeit, um alles zu versauen. Die wenigen Stellen der ›jungfräulichen‹ Mondlandschaft waren nur noch als Schutzgebiete zu besichtigen. Nachdem die Industrieanlagen verschwunden waren, störten nur die Reifenspuren der Mond-Buggies, die überall waren, sogar die Kämme der Hügel waren abgefahren. Kein Regen fiel, um die Rillen zu glätten. Kein Wind verwehte sie je. Sie waren für immer auf die Oberfläche des Mondes eingeätzt. Daneben gab es natürlich auch die üblichen Graffiti. Nur ein reinlichkeitsbewußter Meteor, der zufällig einschlug, konnte das alles beseitigen. Die Figueroas stiegen bei einem Mondkrater aus. Das Mare durfte man nur zu Fuß durchqueren. Sandy dachte, daß sie endlich Frieden und Einsamkeit gefunden hätten, weitab von den Menschenmengen der Fabriken und Einkaufszentren. Aber die Figueroas waren nicht die einzigen, die einen Wochenendausflug hierher gemacht hatten. Von überall kamen kleine Autos angefahren. Andere, erfahrene Camper – Mondbewohner, die den Ansturm vorausgesehen hatten –, lagerten bereits an den besten Plätzen. Wo immer die
Figueroas hinkamen, waren schon andere da. Sie marschierten weiter. Ferdinand und Miranda voraus, Alfredo und Marjorie dicht beisammen. Weder Poppy noch Sandy brachten es fertig, großen Enthusiasmus vorzutäuschen. Sandy dachte immer, daß der Mond von der Erde aus besser aussah – und die Erde ebenso. Er gab sich Mühe, den seltenen Blick auf seine Heimat zwischen den Sternen zu würdigen, aber Werbesatelliten für Limonade und Sexhilfen verdeckten immer wieder Nordamerika. Nie würde er das Plakat vergessen, das vorbeischwebte und die Premiere eines Heimatfilms anpries: FREITAG MITTAG BEDEUTET ANGST UM LUNA! Schließlich schlugen sie ihr Lager in Ubehebe III auf, einem winzigen Krater, der die Illusion von Mondwildnis vermittelte, wenn man den Müll übersah, der überall herumlag. Sandy schlief mit dem Wunsch ein, sie wären zu Hause geblieben. Schreie weckten ihn. Es waren nicht Töne im üblichen Sinn. Sie kamen nur durch die Lautsprecher in seinem Helm und durch seine Polynerven. Im ersten Moment war er desorientiert und hielt die Schreie für eine neue Komplikation in seinen unsicheren Träumen; deshalb stand er auch nicht gleich auf. Dann bewegte er sich plötzlich mit einem anderen Körper, blickte durch andere Augen und fühlte um sich und in sich Donner. Es war kein Traum. Er hatte die Drähte seiner Mutter angezapft und fühlte, was sie fühlte. Marjorie kauerte an einem engen, dunklen Ort. Über ihr waren nur in einem Spalt Sterne zu sehen. Der ganze Mond bebte. Sie streckte die Hände aus und stieß zu beiden Seiten an Felswände. Eine schwarze Wolke verfinsterte die Sterne. Ein erdrückendes Gewicht senkte sich auf sie – preßte Sandy aus ihrem Körper heraus, so daß er schreiend an der Wand des Kraters hinaufflog. Lawine.
Wie in einem Alptraum versuchte er zu laufen, aber die Panik trieb ihn zu schnell vorwärts. Er fiel in den Staub, erhob sich und schrie. Seine Lautsprecher übertrugen die Schreie und das Schluchzen seiner Geschwister. Alfredo rief etwas – aber von seiner Mutter kam kein Laut. Marjories Drähte waren tot. Abgeschnitten. Hinterher stellten sie Überlegungen an: Marjorie hatte offensichtlich allein einen Spaziergang machen wollen und hatte sich an dem Führer vorbeigeschlichen, obwohl dieser sie gewarnt hatte, niemals allein loszugehen. Sie war in einem Hohlweg, als eine Erschütterung – vielleicht von ihr selbst hervorgerufen – die Steinlawine ausgelöst hatte, die sie unter sich begraben hatte. Es gab keine Hoffnung, die Leiche zu bergen. Sie stellten an der Unglücksstelle einen Gedenkstein auf und hielten dort die Trauerfeier. Die letzte Episode der Figueroa-Show wurde live vom Fuß des Abhangs zur Erde übertragen. Die Figueroas hatten sich allem gestellt, was eine Medienfamilie nur erleben konnte: Dem Tod von Haustieren und Verwandten. Aber dieser Tod zerstörte sie – als Unterhaltungsware, als öffentliche Institution und als Familie. Sandy erinnerte sich immer noch an das Gefühl, als seine Mutter starb. Nie hatte er bezweifelt, daß sie unter den Felsen lag. Er war dort gewesen, in ihren Drähten, als es geschah. Er hatte versucht, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihr Tod sekundenschnell und wahrscheinlich schmerzlos gewesen war. Aber das war kein wirklicher Trost. Er hatte in den letzten drei Jahren alle möglichen Zweifel gehabt: Zweifel an sich, Zweifel an der Menschheit und Zweifel am Wert des Universums. Aber niemals hatte er den Tod seiner Mutter angezweifelt. Jetzt bestand kein Zweifel, daß sie lebte.
»Es war ein Spezialeffekt!« erklärte sie. »Als wir die Lawine ausgelöst haben, war ich schon meilenweit weg.« »Wir?« »Ich hatte Hilfe. Allein hätte ich es nicht tun können.« »Wer?« Sie wurde rot. »Dein Vater hat mich betrogen, Sandy. Er hatte jahrelang eine Geliebte. Diese Seherinschlampe, du kennst sie. Die ganze Zeit über hatte ich niemand, der mich… nun… verstand.« »Aber warum? Warum wolltest du, daß wir alle dich für tot hielten?« »Ich hatte meine Gründe. Ich mußte verschwinden, um meine eigentliche Arbeit weiterzuführen. Alf wagte nie so zu träumen wie ich. Für ihn wäre Kali nur eine Enkelin. Er konnte – wollte nicht die Möglichkeiten sehen. Er war wie ein Klotz am Bein und hat euch alle benutzt, um mich herabzuziehen.« Sandy schüttelte den Kopf. Er war wie betäubt. Er hatte das Gefühl, als würde er immer noch von einer äußeren Kraft kontrolliert, als hätte Kali jetzt auch noch Macht über ihn. Er blickte zum Baby hinüber. Die Kleine schlief und sah wie ein Engel aus. »Sie ist erstaunlich, nicht wahr?« fragte Marjorie Figueroa. »Ein Wunder der Programmierung. Und sie wächst so schnell.« »Du… du hast es um ihretwillen gemacht? Dann hast du damals schon geplant, sie zu entführen.« »Santiago, es würde zu weit führen, dir alles zu erklären. Und ich habe auch nicht die Absicht, dir alles zu sagen. Du sollst nicht in diese Sache verwickelt werden.« Sandy wunderte sich, daß er nicht das Bedürfnis hatte, seine Mutter zu umarmen oder zu jubeln oder zu schluchzen. Sein Herz war kalt, ebenso kalt wie ihres war. Das wußte er. Diese Kälte hatte er von ihr geerbt.
»Ich stecke schon drin«, sagte er. »Wir alle. Für Poppy war es am schlimmsten. Sie hat deswegen versucht, sich umzubringen. Das war kein Trick, keine falsche Sendung – sie ist beinahe gestorben. Vielleicht erholt sie sich nie wieder davon.« Marjorie senkte den Kopf. »Ich habe gehört, was Poppy gemacht hat. Es tut mir leid. Ich habe versucht, sie wissen zu lassen, daß es dem Baby gut ginge. Ich habe sie vor diesem Mann gewarnt, diesem Clarence Starko. Sie hätte ihm nie trauen dürfen. Er hat sie verraten.« »Clarry?« »Ich selbst habe ihn gekauft. Ich habe durch ihn die Entführung arrangieren lassen.« »Und… und Poppy weiß das?« »Ich habe versucht, es ihr zu sagen. Ich dachte, es würde ihr helfen, wenn sie etwas von der Wahrheit wüßte – allerdings nicht alles. Auf keinen Fall so viel. Wie hast du mich gefunden?« »Mit Clarrys Hilfe. Wir haben deinen Kombi auf der Originalaufzeichnung entdeckt und nach ihm gesucht.« Marjorie runzelte die Stirn. »Die Bilder sollten verändert werden. Man hat mir gesagt, daß das geschehen sei.« »Mein Gott, wer arbeitet mit dir zusammen? Der Kristall wurde verändert, als die Polizei es hatte.« Sie wandte sich ab. »Du solltest nicht hier sein. Wer außer dir weiß noch Bescheid?« Sandy zuckte die Achseln. Er war sicher, daß er es ihr nicht sagen sollte. »Du machst doch nicht etwa die Dummheit, alles live zu senden, Santiago?« »Nur an Clarry. Nicht einmal Papa weiß, daß ich hier bin.«
»Gut. Denn es ist gefährlich, hier zu sein. Wenn jemand wüßte, daß du mich gefunden hast, gäbe das Ärger. Ich glaube nicht, daß ich dich schützen könnte.« »Schützen vor wem oder vor was?« Marjorie blickte auf das schlafende Baby. Dann nahm sie Sandy am Arm. »Komm mit. Ich weiß nicht, was sie hört. Ihre Drähte schlafen niemals, weißt du. Sie fängt ständig alles mögliche auf. Verhalte dich lieber so, als würde sie dich noch kontrollieren.« Sie gingen auf den Korridor und überraschten dort mehrere Töchter, die vor der Tür Wache hielten. Sandy gab sich Mühe, das hohe Stimmchen Kalis nachzumachen. »Geht weg!« quäkte er, »Ich sehe alles, was ihr tut.« Sie huschten davon. Seine Mutter war wieder verschleiert und spielte die Hohe Priesterin. Sie führte ihn durch einen großen Raum mit einer Bühne an einem Ende und vielen Sitzreihen. Einige Töchter saßen wie erstarrt, als Mutter und Sohn vorbeigingen. Sie führte ihn über eine enge Treppe in eine kleine Kammer, die nur ein Fenster hatte. Auf dem Fensterbrett flackerte eine Kerze in einem Glas. Sandy spähte durch das Fenster und blickte in den großen Raum, durch den sie soeben gegangen waren. »Ist das eine alte Kirche?« fragte er. »Es war ein Kino. Du kannst dich an diese Filmtheater nicht mehr erinnern. Aber jetzt wird es Zeit für die MitternachtsShow.« Sie legte den Schalter einer schwarzen Metallkiste um. Sofort ergoß sich ein Lichtstrom durchs Fenster. Die gegenüberliegende Wand des Kinotempels wurde strahlend hell. »Elektrizität ist im Tempel streng verboten. Die Töchter glauben, daß Kalis Geist dieses Licht erzeugt. Tatsache ist aber, daß wir eine geheime Stromleitung hereinlegen ließen.
Ich brauche Elektrizität, um mit dem Computer zu arbeiten, den ich zur Programmierung von Kali brauche. Sie hat einen unglaublichen Verstand. Ihr menschliches Gehirn ist mit etwas in der Maschine verschmolzen. Sie ist ein erstaunliches Geschöpf. Die Töchter haben keine Ahnung, wie erstaunlich. Sie lassen sich leicht beeindrucken.« Marjorie trat in den Lichtstrahl und machte mit den Händen alle möglichen Bewegungen. Riesige Schatten tanzten über die weiße Kinoleinwand und schüchterten die Töchter ein. Dann nahm sie bizarre Scherenschnittfiguren auf Stäben. Damit führte sie ein Schattentheater auf, das in den Tempel projiziert wurde. Sie kicherte, als die Schatten tanzten, aber Sandy fand die Vorstellung keineswegs amüsant. Plötzlich schaltete sie das Licht aus, als sei sie mit sich selbst unzufrieden, und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. »Meine armen Töchter«, sagte sie. »Die meisten sind tragische Fälle. Als Kind mißbraucht, gefühlsmäßig zurückgeblieben… ich gebe ihnen ein Dach über dem Kopf, Freundlichkeit und etwas, an das sie glauben können. Weißt du, ich habe hier eine Einrichtung geschaffen, die mir für Kali als die geeignete Umgebung erschien. Eine Göttin braucht Anbeter.« »Betest du sie an?« fragte Sandy. Marjorie blickte ihn mit müder Ironie an. »Du meinst, daß ich nein sagen sollte. Aber beten nicht alle Großmütter ihre Enkel an? In meinem Fall ist es noch mehr. Kali ist jetzt mein Leben. Sie verdient Anbetung… jedenfalls in Kürze.« »Anbetung? Sie ist nur ein Baby!« »Nur ein Baby? Ich fürchte, nein. Sie ist ein mächtiges Werkzeug. Sie hat den Körper eines Kindes, aber die Kräfte einer Göttin und das Herz eines Sendeanstaltintendanten.« »Die Sendeanstalten… stecken die hinter allem?«
»Du weißt schon zu viel, Santiago. Glaube mir, alles, was du weiterhin erfährst, bringt dich in noch größere Gefahr.« Sandy nickte. Er glaubte, langsam zu verstehen. »Kali kann Menschen kontrollieren. Daher ist sie der üblichen Drahttechnologie einen Schritt voraus. Sie wird in dem Glauben aufwachsen, eine Göttin zu sein und die Macht durch göttliches Recht zu verdienen.« »Sie verdient diese Macht!« »Aber sie ist ein Baby!« »Sie sieht sich nicht so. In vieler Hinsicht ist ihr Verstand jetzt schon über den der meisten Erwachsenen hinausgewachsen.« »Gibt ihr das das Recht, die Menschen zu manipulieren? Ich kann nicht glauben, daß das deine Idee war. Hast du dir das wirklich allein ausgedacht oder sind die Sender an dich herangetreten? Haben sie beschlossen, daß du die Beste für dieses Projekt bist? Sie hätten es nicht gewagt, Vater deshalb anzusprechen, stimmt’s? Nur du warst skrupellos genug, um dein eigenes Fleisch und Blut zu geben… zu opfern.« Marjorie richtete sich auf und zog den Schleier übers Gesicht. »Ich könnte dich den Töchtern vorwerfen«, sagte sie. »Sie würden dich in Stücke reißen, wenn ich es ihnen befehle.« »Na los! Tu’s doch! Du hast mich schon einmal in Stücke gerissen, Mutter. Auf dem Mond. Ich wünschte, du wärst damals gestorben! Das war leichter zu schlucken als dieser grauenvolle Plan.« »Du solltest es nie erfahren«, sagte sie. »Dieses Wissen ist nichts für Kinder.« »Ich hätte es irgendwann aber erfahren, oder? Wenn Kali erschienen wäre? Wenn sie gekommen wäre, um uns zu kontrollieren? Wird sie sich langsam in unsere Träume schleichen und so schrittweise übernehmen?«
Marjorie antwortete nicht. Sie bebte. Vielleicht aus Empörung. Aber Sandys Wut war mindestens so stark wie ihre. Er ging auf die Tür zu. »Wohin willst du?« fragte sie. »Ich gehe weg.« Sandy verließ die Kammer und ging die Treppe hinab. Dann schob er sich durch die Töchter. Er wollte zurück ins Kinderzimmer gehen, wo Kali schlief. Hinter sich hörte er seine Mutter schreien: »Haltet ihn auf! Haltet ihn auf!« Die Töchter wollten ihm den Weg versperren, aber er sprach wieder mit der Babystimme und verscheuchte sie. Als er die Tür zum Kinderzimmer aufmachte, sah er Kali in der Wiege liegen. Schnell nahm er sie heraus. Da schlug sie die Augen auf und blickte ihn an. »Onkel?« sagte sie. »Ja, Kali. Ich bringe dich jetzt nach Hause.« »Haltet ihn auf!« rief seine Mutter auf dem Korridor. Mehrere Töchter kamen furchtsam ins Zimmer, aber keine bewegte sich, bis die Hohe Priesterin da war. Sie stellte sich vor Sandy auf die Schwelle. »Was machst du?« Sandy hielt das Baby an die Brust. »Ich bringe sie nach Hause. Dort kann sie wie ein normales Kind in einer menschlichen Umgebung aufwachsen.« Den Töchtern stockte der Atem. »Ja, genau!« schrie Sandy. »Wie ein normales Kind! Das ist sie – oder sollte sie sein. Sie ist keine Göttin. Sie ist nur ein kleines Baby.« »Kali, greife in ihn!« sagte Marjorie. »Übernimm die Kontrolle! Du hast seine Gotteslästerung gehört. Er ist ein Ungläubiger. Du mußt ihn entfernen… abschalten. Du weißt, wie man das macht, Kali. Wer nicht gehorcht, muß abgeschaltet werden.«
Sandy lachte, obwohl ihm ihre Worte Angst einjagten. Zweifellos konnte Kali ihn abschalten, wenn ihre Kontrolle über ihn so stark war, wie er befürchtete. Er lachte nur, weil seine Mutter vergessen hatte, daß er immer noch das Gerät hinterm Ohr trug, das Kalis Signale blockierte. Doch da griff eine winzige Hand nach dem Ding und nahm es weg.
Kali stand in der Mitte des Zimmers und blickte auf ihren Onkel Sandy herab. Sie trug wieder ihre Erwachsenen-Hülle. Sandy lag zusammengerollt auf dem Fußboden, als würde er tief schlafen. Als sie in ihn eindrang, um durch seine Drähte zu leben, spürte sie überhaupt nichts. Er war leer. Sie hatte ihn aus der Realität herausgeschnitten. »Gut«, sagte die Hohe Priesterin. »Er hat den Verstand verloren, wie du siehst. Er wurde von Feinden hergeschickt, um dir Schwierigkeiten zu machen.« Kali kniete nieder und streichelte zärtlich Sandys Wange. »Onkel«, flüsterte sie. Sie hatte seine orangefarbenen Augen gemocht und die freundliche Art, in der er mit ihr geredet hatte. »Du kannst ihn aber noch bewegen, Kali, oder?« Als Antwort zuckte Sandy zusammen und setzte sich auf. Dann kam er schwerfällig auf die Beine. Er taumelte im Zimmer umher, prallte gegen die Wände und stolperte über die langen Gewänder der Töchter. Mit Entsetzensschreien wichen sie vor ihm zurück, waren aber insgeheim entzückt. Kali stellte fest, daß sie Sandys Augen so adjustieren konnte, daß er nicht mehr gegen Hindernisse lief. Sie ließ ihn mit schlaffem Mund und starrem Blick ziellos im Zimmer umhergehen, bis er sie langweilte. Etwas anderes erweckte ihre Aufmerksamkeit.
»Was sind das für Geräusche?« fragte sie. »Geräusche?« wiederholte die Hohe Priesterin. Irgendwo in der Nähe war eine dumpfe Explosion zu hören. Dann kamen Schreie und Schritte. Der Lärm kam von der Straße, hallte aber im Tempel wieder. Kali hörte Plastik zerbrechen. Das mußten die Türen in der Vorhalle sein. Die Töchter und die Hohe Priesterin liefen aus dem Kinderzimmer. Kali folgte ihnen. Eine Schar verschreckter Töchter kam ihnen entgegen. »Männer!« kreischten sie. »Hunde und Männer!« Kali roch beißenden Rauch. Die Hohe Priesterin drehte sich um und wollte Kali zurückschieben. »Du mußt dich verstecken, Kali. Los, geh zurück!« Kali hatte es satt, von Erwachsenen herumgeschubst zu werden. Sie wich nicht von der Stelle. »Ich will sehen«, erklärte sie trotzig. »Das ist kein Spiel. Komm schnell mit, damit sie dir nicht weh tun. Sie suchen diesen Mann – deinen Onkel.« »Was wollen sie von ihm? Sind das seine Freunde? Ist das meine Familie?« »Du hast außer uns keine Familie, Kali. Tu, was ich dir sage!« Kali lachte. »Nein, du mußt mir gehorchen.« Sie schob die Hohe Priesterin beiseite. Über die Köpfe der Töchter hinweg sah sie Fremde, die in die Vorhalle drängten. Männer in schwarzen Anzügen mit Helmen und Hundemänner, die Waffen trugen, die gefährlicher als Reißzähne waren. »Er ist da hinten«, rief die Hohe Priesterin. »Verrate ihn nicht!« sagte Kali. »Ich bringe euch zu ihm.« »Nein!« schrie Kali. Sie schickte ihren Willen durch die Halle, in die Drähte der Fremden. Die Hundemänner waren nicht verdrahtet, aber es
reichte, die Männer zu kontrollieren. Kali blickte jetzt gleichzeitig durch zwei Dutzend Augenpaare. Sie hingen an ihr und der Hohen Priesterin, die wieder schrie: »Kommt mit mir!« Kali ließ die Männer die Waffen heben. Sie wußte, wie sie die Männer dazu brachte zu tun, was sie wollte, ihnen aber auch zu gestatten, bei Einzelheiten – wie Zielen und Feuern – ihrem Instinkt zu folgen. Jeder Schuß traf ins Ziel. Kali stand nur eine Handbreit neben der Hohen Priesterin, aber kein Schuß verunstaltete die glänzende Oberfläche ihres Roboters. Die Hohe Priesterin fiel vor Kalis Füße. Rauch stieg aus ihrem blutroten und schwarzen Torso auf. Sie wand sich und blickte mit unverschleiertem Gesicht zu Kali empor. Kali beugte sich herab, um zu sehen, ob die Augen der Hohen Priesterin orangerot seien. Sie hatte erwartet, daß sie es seien, aber sie waren es nicht. Da verlor sie das Interesse. Ihr Verstand wendete sich den Soldaten zu – oder was auch immer diese Fremden waren. Sie schickte die Männer in alle Richtungen. Die Hunde folgten ihnen von allein. Die Töchter kauerten in der Vorhalle und dem Tempel. Ihr Verstand war zwischen Kali, der toten Hohen Priesterin und den Soldaten hin- und hergerissen. Kali traute diesen Frauen nicht länger. Sie hatten keine Drähte – und im Vergleich dazu war Glaube ein dünnes Fädchen. Es war Zeit, das Nest zu verlassen. Sie schickte ein letztes Signal an ihren Onkel Sandy, konnte ihn jedoch nicht mehr fühlen. Er war abgeschaltet – wahrscheinlich für immer –, kaputt. Herausgeschnitten hatte die Hohe Priesterin gesagt. Kali war das egal. Sie hatte da draußen noch mehr Familie. »Wir gehen jetzt«, befahl sie den Soldaten, ihrer Eskorte.
Die Männer und Hunde machten kehrt und marschierten wieder hinaus. Kali ging mit, auf ein Heim zu, das sie noch nie gesehen hatte.
10 BA-HA-HA
Ohne auf die ständig wechselnde Umgebung zu achten, ging Cornelius dahin. Seine Augen waren nur auf die winzige Karte auf dem Handcomputer geheftet, wo ein Lichtpunkt Sandys Standort anzeigte. Die Heilige Stadt ignorierte den Seehundmann ebenso wie er sie. Die Frage, ob Teges eine Seele hatten, war heikel. Niemand war an ihr lange genug interessiert, um Cornelius als Konvertiten zu gewinnen. Selbst hier gab es Grenzen. Außerdem ähnelte er anderen Mystikern, als er ganz auf einen Punkt konzentriert umherwanderte und auf ein Gerät blickte, das auch ein Gebetscomputer sein konnte. Im Morgengrauen hatte Cornelius dasselbe Gebäude schon zweimal umrundet. Sandy war irgendwo da drinnen. Er stieg beim Eingang über zerbrochene Plastiktüren. Dann betrat er eine dämmrige Vorhalle. Unzählige verschreckte Augen hefteten sich auf ihn. Schwarze Schemen kauerten wie Fledermäuse mit Flugverbot in den Ecken. Bis auf leises Wimmern herrschte Schweigen. Niemand bewegte sich, als er eintrat. Da ihm offenbar von den schwarzen Häufchen keine Gefahr drohte, ging er weiter in einen großen Saal. Er sah nur den blinkenden Punkt in seiner Handfläche. Plötzlich prallte er mit jemand zusammen. »Entschuldigung«, sagte er und ging weiter. Der andere sagte nichts, sondern stolperte in Richtung Vorhalle weiter. Cornelius sah ihm nach, bis die Silhouette des Manns sich vor dem Eingang abzeichnete. Als er wieder auf
den Bildschirm blickte, stellte er fest, daß der Sandy-Punkt ebenfalls fortging. »Warte!« rief er und lief zurück. Er erwischte Sandy vor dem Eingang. Schnell zog er ihn ein Stück weiter, um den neugierigen Augen und Ohren zu entgehen. »Ich bin so froh, Sie zu sehen«, sagte Cornelius. »Ich weiß, daß Sie mir verboten haben, Ihnen zu folgen, aber Clarence Starko wurde gestern abend ermordet. Ich befürchtete, daß Sie ebenfalls in Lebensgefahr schwebten. Hoffentlich habe ich Sie nicht bei einem wichtigen Unternehmen gestört.« Sandy lächelte, sagte aber nichts. Cornelius vermutete, daß das Licht ihn blendete. Allerdings war es im Freien nicht viel heller als in der Halle. Er konnte kaum die freudlose Ockerfarbe von Sandys komischer Arbeitskombination ausmachen. Wie zu Cornys Beruhigung war Sandys Name auf der Brusttasche eingestickt. »Wie ich sehe, geht es Ihnen gut«, fuhr Cornelius fort, als wollte er beide von dieser Tatsache überzeugen. »Es geht Ihnen doch gut, oder?« Immer noch keine Antwort. Sandy schwankte leicht. Immer noch lächelte er. Dann machte er eine kurze Drehung und marschierte wortlos, an Cornelius vorbei, weiter. Jetzt konnte der Seehundmann sich nicht mehr vormachen, daß es Sandy gut ginge. Nein, der Junge hatte offenbar den Verstand verloren. Für Cornelius war die Suche nach Calafia von zweitrangiger Bedeutung. Wenn sie in der Heiligen Stadt war, würde sie nicht so schnell verschwinden. Sie war noch nicht alt genug zum Krabbeln. Wie immer galt seine Hauptsorge dem Wohlergehen seines Freundes.
Der Seehundmann hakte sich bei Sandy ein und führte ihn vorsichtig auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen war. Da er schon die ganze Nacht herumgelaufen war, fühlte er sich müde; aber die Sorge um Sandy verlieh ihm neue Kräfte. Für den Weg aus der Heiligen Stadt brauchte er auch das letzte Erg. Allein hatte Cornelius kein Aufsehen erregt. Jetzt aber erregte der Anblick von Sandy und dem Seehundmann das Interesse der Bewohner der Heiligen Stadt. Prediger belästigten sie den ganzen Tag, so daß sie nur langsam vorankamen. Erst als es Abend wurde, ging es schneller. Sandys Ausdruck hatte sich niemals verändert, auch nicht, als man sie belästigte. Ohne Klagen zockelte er mit Cornelius dahin. Ständig stolperte er und wäre oft gefallen, hätte Cornelius ihn nicht aufgefangen. Endlich sahen sie Straßenbeleuchtung in der Ferne und wußten, daß sie es bis in die Welt der Elektrizität nicht mehr weit hatten. Hier schlenderten die Menschen in üblicher Kleidung umher, ohne sichtbare Spuren von Selbstfolterung. Man sah auch keine extrem religiösen Symbole. Ein Lichtermeer verkündete die Eröffnung eines Wohneinkaufzentrums. Eine Blaskapelle spielte flotte Polkamusik. Ballons schwebten über Imbißbuden und vor den Fenstern der Wohnungen. Zivilisation. Cornelius führte seinen geistig weggetretenen Schützling an der Hand zu einem runden Plastiktisch. Dann kaufte er eine Platte Paella und ließ Sandy damit sitzen. Er wollte sich erkundigen, wo sie sich genau befanden. Sie brauchten dringend den Jaguaero. Aber der parkte in einem Terminal irgendwo am Rand der Heiligen Stadt.
Halt mich fest! Halt mich fest! Festhalten, festhalten, hilf mir, Corny! Ich habe Meeresfrüchte, Mama!
Krabben und Reis. (Schneide die Drähte durch. Durchschneiden, Mama!) Sehr schön. Zum doppelten Preis. Festhalten! Denk nach! Festhalten! Wo bist du? Warum? Wer bin ich? Willkommen zu einer neuen Folge mit Riquard Wiglore, Medienchirurg. Ich? Wiglore? Festhalten… … zu einer neuen Folge von ›Da bist du ja!‹ Die Live-DrahtShow, die Sie an exotische Orte versetzt und beweist, daß – wo auch immer Sie sind – das Motto gilt: »Da bist du ja!« Krabben und Reis. Wer bist du? Der heiße neue Star von ›Die Magyk7‹ – seit Sandy Figueroa hat kein junger Mann mehr so große Sehnsucht gehabt – festhalten! Willkommen bei der nächsten Orgasmus-Stunde in dem jungen Körper von Fawni Pornish. Sehr nett. Oooo… Festhalten! Wo? Hollywood, Kalifornien. »Ruft einen Arzt! Jemand soll einen Arzt rufen!« Ich brauche keinen Arzt. Ich bin Doktor Wiglore. Ich bin… »Sandy? Santiago, kannst du mich hören?« »Der Bursche hat den Verstand verloren.« Kalifornien ist ein Zustand des Bewußtseins. Regina Quatermaine, Ambisex-Bulle! Kalifornien ist ein Polizeistaat. Sie ist meine Wärterin. Abschneiden! Die Drähte. Schneiden!
Die Drähte. (Festhalten!) Die Drähte. Mexiko… »Ich habe das schon mal gesehen: Das ist ein Drähtesüchtiger. Der Mann braucht einen Arzt…« Aber ich bin Arzt. Und Da bist du ja! Als Cornelius zurückkam, herrschte Trubel um Sandy. Er war der Star einer kleinen, aber energiegeladenen Aufführung. Er lag zitternd ausgestreckt auf dem Boden, starrte zur Decke und zuckte krampfhaft. Der Seehundmann bahnte sich einen Weg durch die Menge und kniete neben dem Freund nieder. »Draht-Epilepsie«, erklärte jemand. »Davon habe ich auch schon gehört. Könnte jedem von uns passieren.« »Ach, wirklich? Auf welchem Kanal ist er?« »Ist das ansteckend?« Sandy schien Cornelius nicht zu sehen. Er setzte sich auf. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er krümmte sich plötzlich, als müßte er sich übergeben. »Was ist los?« fragte Cornelius. »Woisss…?« würgte Sandy heraus. »Was?« »Kalli…« »Calafia? Hast du sie gesehen?« Sandys Gesicht wurde vor Anstrengung rot. Von wo immer aus er redete, kostete es ihn wahnsinnig viel Energie, die Worte über die Entfernung zu bringen. »Schneiden… Drähte… Me… Mexiko.« »Ich bringe dich nach Hause, Sandy. Bald haben wir’s geschafft.« »Messsiko… Messsi…«
»Mexiko?« Cornelius erinnerte sich an das Gespräch im Palast von Thaxter Halfjest. Dyads Drähte waren abgeschnitten worden. Jetzt war sie in Mexiko. Wollte Sandy, daß er ihn nach Mexiko brachte, damit er sich dort die Drähte entfernen lassen konnte? Warum? »Schon gut. Ich kümmere mich um ihn«, sagte Cornelius und hob Sandy hoch. »He, bist du nicht… ja, du bist es! Du bist… wie heißt du gleich wieder?… äh… ja. Erinnert ihr euch noch an die Familie vor den Magyk7?« »Stimmt! Das ist einer von den… Figaronis!« Corny machte eine Verbeugung. »Wir sind zur Eröffnungsfeier gekommen«, erklärte er. »Aber entschuldigen Sie uns jetzt bitte. Wir werden im Hauptbüro erwartet.« Dann ging er schnell mit Sandy weg. Cornelius hatte die Drähte nie gemocht, ihnen auch nicht getraut, obwohl die Figueroa-Show nur durch sie möglich geworden war, und das die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen war. Und wenn die Drähte für Sandys Zustand verantwortlich waren? Ja, sie mußten abgeschnitten werden. Besser noch – ganz entfernt werden. Cornelius hatte nicht gewußt, daß das möglich war. Ausschalten ja, aber entfernen? Die Drähte bildeten ein kompliziertes, verzweigtes Netzwerk. Sie waren überall. Die Entfernung war mit Sicherheit gefährlich. Konnte er Raimundo trauen? Zwischen ihm und Sandy gab es keine Liebesbande. Aber Raimundo mußte einen vertrauenswürdigen Arzt kennen, wenn er Dyad von ihm operieren ließ. Cornelius würde dafür sorgen, daß derselbe Arzt auch Sandy half. Dyad würde ihm helfen.
Also auf nach Mexiko! Der Entschluß stand fest, aber er war noch längst nicht ausgeführt. Teges durften die Grenze nicht ohne Erlaubnis der höchsten Stellen und sechs Monate Quarantäne überschreiten. Die Gesetze waren streng. Mexiko schätzte seine humanimalischen Arbeitskräfte sehr. Es waren hauptsächlich Chihuahuas. Sie arbeiteten in ausländischen amerikanischen Fabriken. Man befürchtete Epidemien unter den Teges. Es war aber ganz unmöglich, Sandy allein nach Mexiko zu schicken. Die Kapelle spielte laut, während Cornelius den Freund durch die Menge schleppte. Plötzlich tauchte ein bekanntes Gesicht auf: Das Gesicht hätte er überall wiedererkannt. Das Gesicht kannten alle. Weiche Plastex-Wangen, strahlende Augen, neutrale Frisur. Ein Mensch mit lächerlich gleichmäßigem androgynen Gesicht. Es war ein Moderator von NN, den Nachrichten 90, der über die große Eröffnung berichtete. Cornelius sah ihm nach, wie er genüßlich einen getoasteten Seeburger zwischen die feuchtkalten Lippen der Maske schob. Er genoß sichtlich das Bad in der Menge, wo jeder ihn erkannte und liebte. Cornelius hatte sich noch nie so über die Eröffnung eines Wohneinkaufzentrums gefreut. Und er hatte schon an einigen teilnehmen müssen!
(Schneiden-schneiden-schneiden. Schneidet die Drähte, schneidet die Drähte!) Dunkle Nacht. Mitternacht. Gewitter. Donner. Blitz. Kerzen flackern in einer zugigen alten Zelle mit Steinmauern. Ein kalter Wind bläst auf ihre nackten, schweren Brüste, pfeift durch die Lücken zwischen ihren langen scharfen Zähnen.
Ein Baby weint. Sie nimmt es hoch, packt mit der fetten Hand ein Füßchen und hält das Kind mit dem Kopf nach unten über eine silberne Terrine. Schwarze Gestalten tanzen singend um sie herum. Ihr Gesang bildet einen rauchigen Kranz aus bösen Runen. Der Säugling schreit. Jemand schiebt ihr ein Messer in die Hand. (Schneiden-schneiden-schneiden…) »Heil dir, Satan!« krächzt sie. »Gieße deine dunkle Macht in das Elixier des Lebensbluts dieses Kindes. Lasse die Macht über mich kommen, wenn ich in dem frischen Blut bade. Laß es die abstoßenden Narben des Alters hinwegspülen!« Sie hebt das Messer und setzt es an die zarte weiße Kehle des Kindes. (Schneide-schneide-schneide! Schneide die Kehle durch – schneide die Kehle durch…) »Einen Moment, Madam!« Sie zögert. Ihre dunklen Helfershelfer werden blasser und lösen sich langsam auf. Die tiefe Stimme des Fremden hat ihren Gesang unterbrochen. Ist es ihr Herr und Meister? Ist der Dunkle zu früh gekommen? Nein. Sie sieht einen großen Sterblichen mit Silberhaar in einem weißen Gewand. Er hält eine Flasche mit hellroter Flüssigkeit, genau die gleiche Farbe wie das Blut des Säuglings. »Wer bist du?« schreit sie. »Ein Besucher aus einem anderen Zeitalter, aus einem anderen Zeitkanal. Ich komme als Antwort auf deine Gebete. Warum so viel unnötiger Aufwand? Warum das Blutvergießen? Und alles, um eine zarte Haut zu bekommen! Ist es möglich, daß du noch nicht von Dr. Batoris Wunderformel der Jugend gehört hast?« »Was?« fragt sie.
»Ich bin hier wirklich in einem finsteren Zeitalter. Madam, es ist nicht nötig, unschuldige Säuglinge abzuschlachten, um die Essenz zu gewinnen, welche sich seit langem als hervorragender Faltenentferner erwiesen hat. Sie können die Wunderlotion haben, indem Sie nur diese Flasche öffnen. Keine Blutbrühe, keine Mühe!« »Sind Sie wahnsinnig?« kreischt sie. »Babyblut aus der Flasche?« »Es ist die gleiche Substanz, die Sie bekommen, wenn Sie einem Baby die Kehle durchschneiden. Wir haben sie in großen Mengen in unseren patentierten Markfässern hergestellt.« »Aber… aber wirkt sie auch?« »Ob sie wirkt? Aber, Madam, Sie werden den Unterschied nach der ersten Anwendung fühlen und sehen. Machen Sie die Probe!« Sie nimmt die Flasche aus seinen Händen, die in Gummihandschuhen stecken, schraubt die Kappe ab und gießt das warme Flaschenblut in die hohle Hand. Es riecht echt, sieht echt aus, es schmeckt echt! Entzückt streicht sie es ins Gesicht. »So, Madam, bitte schauen Sie sich an!« Dr. Batori hält einen Spiegel hoch. Darin sieht sie, wie sich ihr runzliges Altweibergesicht verwandelt: Falten und Tränensäcke verschwinden unter der glitschigen roten Maske. Innerhalb weniger Minuten ist sie wieder ein schönes junges Mädchen. Auch ihr Bauch ist verschwunden, die Beine sind schlank und fest. Sie wischt sich übers Gesicht und entläßt mit herrscherischer Geste die Diener, die sie nun nicht mehr braucht. »Entfernt euch! Nein, Sie nicht, Doktor!« Der silberhaarige Mann verbeugt sich elegant. »Madam, Sie sehen einfach hinreißend aus.«
Er hält die Flasche hoch und spricht zu ihr und ihren Augen, ihren Nerven, ihren Drähten – zu Santiago tief in ihr. »Dr. Bartoris Wunderformel der Jugend. Wenn Sie bereit sind, aus dem finsteren Zeitalter herauszutreten! (Mit Zustimmung der McNguyen-Industries.)« (Schneiden-bitte-schneiden-bitte-schneiden.)
Allejandro Gutierrez war seit zwanzig Jahren Zollinspektor und hatte viel über seine Erlebnisse zu erzählen. Die Geschichten hatten sich in seinem Kopf angesammelt, daß er das Gefühl hatte, er würde bald verrückt werden. Seine Familie fand sie zum Kotzen langweilig. Allejandros Gegenspieler in dem Büro auf der anderen Straßenseite hatte selbst viele Geschichten zu bieten und fiel daher Allejandro immer mitten im Satz ins Wort. Ja, Allejandro hätte tagelang erzählen können, was er alles gesehen hatte, aber niemand hatte ihn je darum gebeten. Bis jetzt. Es war ein typischer Tag an der Grenze. Privatfahrzeuge warteten auf Allejandros Inspektion, ehe sie nach Mexiko weiterfuhren. Luftautos parkten in der glühenden Mittagshitze, Tretmobile und Rollbrettfahrer. Kleine Jungen liefen umher und verkauften Sandalen. »Chiclet – zwei Dollar!« schrien sie. Einige schwenkten Kobras aus Gips und Modelle von Raumfahrtbussen, die in der Fabrikstadt zusammengebaut worden, die früher ›Ensenada‹ geheißen hatte. Es gab viel zu tun, aber nicht so viel, daß Allejandro nicht Zeit für ein Schwätzchen mit seinen Gästen gehabt hätte. Die beiden Typen waren in einem glänzenden mint-grünen Luftauto vorgefahren. Sie wirkten wie seltsame Zwillinge, als sie Allejandros Schalter betraten. Da kommt die nächste
Geschichte, war sein erster Gedanke. Sein amerikanischer Partner gestikulierte wild und brüllte über die Straße: »Ihr seid Nachrichtenreporter! Ihr kommt doch von Kanal 90, stimmt’s? Alex! He, die machen aus dir einen Star!« Journalisten, ja, aber reichlich merkwürdige! Allejandro lud sie ein, ihm eine Zeitlang bei der Arbeit über die Schulter zu sehen. Der große Reporter sagte, daß Kanal 90 sie geschickt habe, um die Aufgaben eines Grenzbeamten aus erster Hand zu erfühlen. Die Maske wölbte sich bei ihm über einer erstaunlich großen Nase. Der andere Reporter war einen Kopf kleiner, sagte fast nichts, summte aber ab und zu vor sich hin oder stieß Worte aus, die keinen Sinn ergaben. Der Große erklärte, daß sein Partner Live-Werbung machte, die auch zum Programm gehörte. Allejandro platzte fast, seine Geschichten loszuwerden; aber der starke Verkehr machte es schwierig, mit den Nachrichtenmännern zu sprechen. Er überlegte, ob er sie nach der Arbeit zu sich nach Hause einladen könnte, um ihnen die Geschichten richtig erzählen zu können. Inzwischen gab er den Männern in den Masken beim Kontrollieren schon ein paar Proben. Sie schienen begeistert zu sein – zumindest der Große. Allejandro vermutete, daß der Auftrag sie langweilte. Er begann mit der Geschichte, als die Roboter, die für das kunstvolle Stutzen des giftigen Efeus zuständig waren, außer Rand und Band geraten waren, als sie die Wüstenstriche im Osten patrouillierten, und Sandego gestürmt hatten. Kurz vor dem Höhepunkt gähnte der Große unübersehbar. Allejandro brach enttäuscht ab. Wie konnte er die beiden davon überzeugen, daß seine Arbeit voll Überraschungen und Gefahren steckte. Da hielt ein Wagen mit Nonnen. Verdammt! Allejandro tippte an die Mütze, um die frommen Frauen passieren zu lassen. Aber sein amerikanischer Kollege hatte
weniger Achtung vor der katholischen Kirche. Er ließ die Nonnen aussteigen. Der Wagen hatte Klimaanlage, und die Nonnen trugen natürlich schwere schwarze Gewänder. Es war eine Schande, sie zu zwingen, in der Gluthitze zu stehen, während der Zöllner alles inspizierte. Plötzlich tauchte der amerikanische Inspektor aus dem Wagen auf und hielt einen Beutel mit rotem Pulver. Das waren keine getrockneten und zerstoßenen Chilischoten. Allejandro schrie den Reportern eine Warnung zu. Doch da feuerten die Nonnen auf beide Zollstationen und Allejandro. Sie hatten die Waffen unter den Gewändern verborgen gehabt. Jetzt holten sie unter den Hauben Feuermesser heraus. Allejandro robbte ins Büro und rief um Hilfe. Sirenen heulten. Er hörte, wie der Wagen der Nonnen mit quietschenden Reifen anfuhr. Im nächsten Augenblick war er im dichten Verkehr Tijuanas untergetaucht. Der große Reporter schob seinen Partner zum Auto. »Wohin wollt ihr?« rief Allejandro. »Wir müssen immer an einer saftigen Geschichte dranbleiben. Das ist unsere Aufgabe.« Allejandro sah ihnen hinterher. Er war wie betäubt und tief enttäuscht. Seine Chance, ein Star zu werden, war dahin. Der grüne Wagen hob sich in die Lüfte und verschwand in der Dunstglocke über Tijuana. Sie hätten bleiben und sich seine Geschichten anhören sollen, dachte er. Diese Nonnen waren nichts im Vergleich zu den Dingen, die er schon gesehen hatte.
Wir kehren jetzt zu der an dieser Stelle programmäßigen Werbesendung zurück. Sie sehen Chas Tatty als Klarabell La Honda und Porcy Jones als Tryque Trombalos. Neu ist Eloi Killian Shemhamphorasch als Blorg.
Unten die narbige Oberfläche des Mondes mit Kratern: »Hältst du es für sicher, hier zu landen, Trych?« »Ich weiß nicht, Klarabell. Fragen wir lieber Blorg.« Blorg – hungrig und mißtrauisch – sieht den beiden entgegen. Blorg hatte Riesenappetit auf Menschenfleisch. Der Käfig ist stark. Blorg weiß, daß es nichts zu fressen bekommt, wenn es nicht kooperiert. »Blorg, ist es sicher zu landen?« »Es sieht hungrig aus, Klarabell.« »Dann füttere es!« »Ich denke nicht daran. Sieh, was bei der letzten Fütterung passiert ist. Da drin ist das Bein von Glanz. Füttre du doch Blorg.« »Nein, ich nicht!« »Du nicht füttern, ich nicht reden«, sagt Blorg. »Schau, Blorg, wir haben kein Menschenfleisch mehr für dich. In unseren Speisekammern herrscht Ebbe. Wenn du noch mehr von uns auffrißt, ist Schluß. Das Schiff fliegt nicht von allein. Wir müssen landen und etwas zu essen suchen. Vielleicht finden wir da unten ein Nachschubschiff der alten Kolonie, wo noch ein paar Überlebende für dich drauf sind.« Blorg wandte ihnen den Rücken zu. »Es hat keinen Zweck. Es sagt uns nichts.« »He, ich weiß! Warum geben wir ihm nicht ein paar von diesen neuen leckeren Superschnüren mit Käse- und Fleischgeschmack?« »Das frißt es nicht. Es will richtiges Fleisch.« »Aber diese Leckerbissen sind ein echtes Fleischsynthetikprodukt in neuen lustigen Formen.« Später. »Mmmm. Blorg lieber Superschnüre fressen als Menschenfleisch. Blorg glücklich. Blorg sagen: Landen sicher, aber Nachschubschiff nicht da. Blorg sagen: Gehen in nächsten
Supermarkt und kaufen viele von Neuen Superschnüren mit Käse- und Fleischgeschmack.« »Super, Blorg! Du bist okay!« »Bitte schneiden. Drähte.«
leckeren
Sandy stöhnte auf dem Rücksitz. Er hatte die Augen halb offen, war aber keineswegs wach. Er schlug um sich und schrie: »Blorg ganz zufrieden.« Dann zerrte er an seiner Kanal 90-Maske und kaute auf den Lippen. Cornelius betete, daß sie nicht zu spät kämen. Auf dem Land unter ihnen war fast jegliches Leben vernichtet worden. Sie blickten auf öde braune Erde. Einstmals leuchtende Plastikschilder lagen kreuz und quer auf den Parkplätzen vor Geistereinkaufszentren, wo inzwischen Kakteen wucherten. Ab und zu zockelte eine zusammengesunkene Figur auf einem Maultier dahin und wirbelte Staubwolken auf. Cornelius konnte nicht begreifen, warum Raimundo die Baja Kaliforniens als Standort für sein Heim gewählt hatte. Der Navigator zeigte an, daß sie weniger als drei Meilen vom Besitz der Navarros entfernt waren. Aber noch konnte er kein bewohnbares Land entdecken. Plötzlich veränderte sich alles. Plötzlich flog der Jaguaero über eine grüne Welt. Aus dem Nichts erhoben sich Bäume. Silberne Bäche schlängelten sich durch kühle, schattige Wälder. Pferde liefen über Wiesen. Schafe weideten auf Hügeln, die von kreisförmig angepflanzten Kakteen gekrönt wurden. Anfangs hielt Cornelius alles für eine Fata Morgana. Doch dann sah er Steinmauern und dahinter wieder Wüste. Das enge Tal war eine fruchtbare Oase, die vor der gnadenlosen Baja-Sonne geschützt und durch eine Quelle bewässert wurde. Ein isoliertes Kleinod.
Plötzlich tauchten neben Cornelius glitzernde Silberpfeile auf. Die Flugzeuge sahen eindeutig militärisch aus. Der Jaguaero schwankte und bebte, als sie ihn auf beiden Seiten mit Magnetgriff festnahmen. »Danke für den liebenswürdigen Empfang«, sagte Cornelius und biß die Zähne zusammen, weil alles bebte. Er hoffte, daß die Piloten anständig sein würden – die geringste Abweichung von der Flugbahn würde den Jaguaero in Stücke reißen. Jetzt wurden die Jets langsamer. Die Bäume glitten gemächlich unter ihnen dahin. Cornelius sah einen braunen Hengst. Der Reiter trug einen breitrandigen weißen Hut, schwarze Stiefel und einen blauen Anzug mit rotem Rand um den Hals. Überrascht blickte der Reiter zu den Flugzeugen hinauf. Cornelius war sehr erleichtert, als er das Gesicht sah. Es war Dyad. Sie verschwand unter Bäumen. Dann tauchte das rosa Dach einer großen hacienda auf, deren Stuckwände strahlend weiß gekalkt waren. Die Flügel des kunstvollen schmiedeeisernen Tors standen offen. Durch sie gelangte man in einen Innenhof, wo blaues Wasser aus einem Springbrunnen floß. Baumaloen und andere Agaven mit Stämmen so dick wie Lastwagenreifen standen ringsum. Der Jaguaero wurde vor dem Tor sanft auf den Boden gesetzt. Die Jets waren schlank und wie Geschosse geformt. Sie hatten Pfeilflügel und Metallarme. Ein kurzes Summen und Klicken, dann hatten sie den Griff am Jaguaero gelöst. Cornelius machte die Tür auf und sprang hinaus. Er schaute zu den Bäumen und hoffte, Dyad zu sehen. Jemand befahl ihm, die Hände zu heben. Cornelius drehte sich langsam um. Fünf Wachposten standen vor ihm. Die große Holztür der Hacienda ging auf. Ein schlanker junger Mann mit schmalen Lippen trat in die mittägliche Hitze. »Ich grüße Sie, Raimundo!« rief Cornelius.
Raimundo Navarro-Valdez blieb überrascht stehen. Dann erkannte er den Besucher und lief auf ihn zu. »Was wollen Sie hier? Sie sind doch einer dieser Figueroas!« »Nicht ganz, Sir. Nur ein enger Freund der Familie. Ich komme im Namen und auf Wunsch von Santiago Figueroa.« Raimundo schien nicht überzeugt zu sein. »Ist er das im Wagen? Was will er? Offenbar steht er unter Drogen.« »Ich wünschte, es wäre so einfach, Sir. Er braucht die Behandlung Ihres besten Chirurgen.« »Meines Chirurgen? Was reden Sie da für Unsinn?« »Santiagos Drähte müssen unbedingt entfernt werden, so wie Sie es bei Ihrer Braut machen ließen.« »Seine Drähte…« Raimundo konnte es nicht glauben. »Das kann doch nicht sein. Er ist der schlimmste von allen: ein unverbesserlicher Sender.« »Dyad war früher auch so, wenn ich mich nicht irre.« Raimundo zögerte, fand aber dann anscheinend, daß er alle Trümpfe in der Hand hielt. Er winkte den Wachen, sich zu entfernen. »Wer weiß noch, daß ihr hier seid?« fragte er. »Ich habe Sandy ganz geheim hergebracht.« »Hallo, Cornelius.« Dyad kam aus dem Schatten eines Nußbaums. »Was ist denn los?« Sie sah Sandy im Jaguaero. Sofort stieg sie ein und legte ihm die Hände an die Wangen. »Sandy, was ist passiert?« Sandy machte die Augen halb auf. »Stirb, du hyperbolischer Hund!« schrie er mit krächzender Stimme. »Vorsicht, Gockel-Mann! Sie sind Läuse!« Cornelius erklärte alles. Sobald Dyad verstanden hatte, was Sandy brauchte, fuhr sie Raimundo an: »Was stehst du noch hier? Los, rufe Dr. Vargas!« Als die Sonne hinter den Hängen des saftig grünen kleinen Tals unterging, trank Cornelius mit den Gastgebern auf der
Terrasse Sangria. Raimundo zupfte in meditativer Stimmung an einer zwölfsaitigen Gitarre. Der jeweilige Rhythmus zeigte seine wechselnden Stimmungen an, welche von langsamer, feierlicher klassischer Musik zu feurigem Flamenco wanderten. Dyad trug ein weißes Baumwollkleid und schenkte mit dem Schöpflöffel immer wieder Sangria aus einer großen Schüssel, in der Erdbeeren und Zitronenscheiben schwammen. Sie setzte sich dann neben Raimundo und beobachtete sein Gesicht und seine Finger. Anfangs schien er sie nicht zu bemerken; aber dann hörte er auf zu spielen und legte das Instrument weg. »Sie müßten bald fertig sein«, sagte Dyad. »Aber er wird nicht so bald aufwachen.« »Ist das alles?« fragte Cornelius. »Kann er die Drähte so schnell herausziehen?« Dyad schüttelte den Kopf. »Er zieht sie nicht raus. Er spritzt ein chemisches Mittel in die Lymphknoten, das sich dann langsam im ganzen Körper ausbreitet und die Polynerven auflöst. Der Körper absorbiert alles und scheidet es aus. Sofort nach der Injektion werden die Signale gestoppt. Er ist dann schon vom Sender abgeschnitten. Allerdings dauert es ungefähr eine Woche, ehe die Drähte sich vollständig aufgelöst haben. Möchtest du ihn sehen, Cornelius?« Raimundo stand schnell auf. »Warte. Ich möchte dabei sein, wenn er aufwacht. Er muß mir ein paar Fragen beantworten.« »Natürlich, Raimundo. Du kannst mit deinem Gast machen, was du willst. Aber er wacht nicht vor morgen früh auf. Erinnere dich, wie lange ich gebraucht habe, bis ich wieder klar war. Ich dachte nur, daß Cornelius sich vielleicht davon überzeugen will, daß es seinem Freund gut geht.« Raimundo seufzte. »Na schön«, sagte er und griff wieder zur Gitarre. »Aber ich rufe heute abend meinen Vater an. Er hat bestimmt viele Fragen, wenn Santiago das alles gesehen hat,
was der Seehundmann behauptet. Wenn er diesem Kind nahe war und so schwere Schäden davongetragen hat, besteht kein Zweifel, daß sie es ist, vor der wir uns fürchten.«
Allmählich wichen die Alpträume und Werbesendungen. Danach kamen friedlicher Schlaf und Träume, aus denen er aufwachen konnte, wenn er wollte. Aber Schlaf war ein Heilmittel, das nie an Neuheit verlor. Daher war er nicht erpicht, ihn zu beenden. Flüstern. Sandy schlug die Augen auf. Mehrere Leute standen in dem sonnendurchfluteten Zimmer. Er lag in einem riesigen Bett mit frischer weißer Bettwäsche. Es war so warm, daß er die Decke abwerfen wollte; aber dann wurde ihm bewußt, daß Fremde bei ihm waren. Einer war ein alter großer Mann mit einer Hakennase. Er trug eine Uniform mit vielen Auszeichnungen an der Brust. Sandy hatte das Gefühl, ihn irgendwie zu kennen – ihn vor Jahren schon einmal gesehen zu haben. Hinter ihm stand Raimundo Navarro-Valdez. Ach ja! Der alte Mann war sein Vater: General Joaquim Navarro-Valdez. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der General. Seine Stimme klang überraschend freundlich. Sandy hörte in seinen Körper, suchte nach Schmerzen, fand jedoch keine. War er denn krank gewesen? Und dann erinnerte er sich. Kali. Die Heilige Stadt. Die Trennung… Eine ungewohnte Stille durchdrang ihn. Friede lag auf und in seinen Nerven. Obwohl er sich Mühe gab, konnte er keine Werbung, keine Spiel-Shows, überhaupt keine Programme – weder alberne noch weiterbildende – finden. Nichts außer seinem Herzschlag, dem Zucken der Muskeln und dem sanften Hintergrundmurmeln natürlicher Originalgedanken.
»Sie sind in Mexiko«, sagte der General. »Cornelius hat Sie hergebracht«, erklärte Raimundo. »Sie wollten sich die Drähte entfernen lassen.« Sandy fröstelte. »Ich glaube nicht, daß ich sie jemals wieder tragen will. Nicht, solange sie da draußen ist. Jetzt weiß ich, was man mit Drähten machen kann.« Die Augen des Generals verengten sich. »Sie haben es gefühlt? Die Drähte sind wie Marionettenschnüre, nicht wahr?« Sandy nickte. »Ja, sie kann sie so benutzen.« Der General blickte Raimundo an, dann die dunkelhäutige Frau, die auf der anderen Seite des Betts stand. »Habe ich es nicht gesagt? Es ist genauso, wie wir gedacht haben.« Er heftete den Blick wieder auf Sandy. »Sie hatten Glück, daß Sie noch zu uns gekommen sind. Wir haben Ihre Drähte gerade noch rechtzeitig entfernen können.« »Was wird jetzt?« Dann fiel es Sandy wieder ein. Seine Mutter hatte als Hohe Priesterin verkleidet ihm angedeutet, daß es Dinge gäbe, die sie ihm nicht sagen könne. Die Sendeanstalten planten, Kali zur Göttin zu erheben. Er berichtete dem General und den anderen, was Marjorie gesagt und was er gesehen hatte. »Sie glauben, daß es nur die Sendeanstalten sind?« Joaquim Navarro-Valdez schüttelte den Kopf. »Nein, dahinter steckt McBeth. Die Sender erledigen nur die Drecksarbeit für ihn. Wer könnte so viele Menschen gleichzeitig besser packen? Wer besser als Hollywood mit seiner riesigen Propagandamaschinerie? Nur dort kann man eine Waffe in einen Star verwandeln und alle auf Selbstzerstörung einstimmen.« »Aber warum?« fragte Sandy. »Um die Kontrolle zu übernehmen, warum sonst? Um die verdrahteten Massen mit einem Verstand arbeiten zu lassen.«
»Aber das wäre doch dann nicht der Verstand des Präsidenten, sondern Kalis.« »Für McBeth ist es leichter, ein Kind zu kontrollieren als Milliarden von Erwachsenen. Sie ist der natürliche Fokus für derartige Macht: Ein Baby, das selbst glaubt, das Zentrum des Universums zu sein.« »Sollten wir das wirklich alles vor ihm besprechen, Vater?« fragte die Frau. »Er weiß mehr als ich, Sebastiana«, antwortete der General. »Ich bin sicher, daß er uns helfen will, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Richtig, Santiago?« »Es war entsetzlich«, sagte Sandy. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das ist, wenn man überhaupt keine Kontrolle mehr über den Körper hat.« Der General nickte. »Ich habe mir schon viele Dinge vorgestellt: Eine ganze Nation, die sich wie ein Mann bewegt, kann gegen jeden Feind geführt werden. Sie wäre unbesiegbar. Interne Machtkämpfe schwächen und zerstören Armeen und Nationen. Aber in einer derartigen Gruppe gäbe es keinen Streit, keinen Widerstand. Vor uns liegt eine beängstigende Herausforderung. Santiago, Sie sind jetzt Ihre Drähte los; aber Sie sind nicht frei von dem, was die anderen Sklaven vielleicht tun werden.« Die dunkelhäutige Sebastiana beugte sich über Sandy. »Wie haben Sie gemerkt, daß sie über Sie Kontrolle gewann? Hat sie sich auch in Ihre Gedanken eingenistet oder nur in Ihren Körper?« »In meine Gedanken nicht«, sagte Sandy. »Aber sie konnte meinen Gesichtsausdruck verändern. Ich muß so ausgesehen haben, als würde ich alles denken, was sie wollte, daß ich denke.« »War sie freundlich? Hat sie Ihnen Angst eingejagt? Oder sah sie wie ein ganz normales kleines Kind aus?«
Sandy blickte beinahe ehrfürchtig zu Sebastiana auf. Zum erstenmal war er völlig frei von der Befangenheit, die durch die Drähte gekommen war. Auch wenn er nicht gesendet hatte, hatten die Drähte ihn immer erinnert, daß seine Privatsphäre nicht unbeobachtet war. Selbst als er NE war, hatte er nicht gewußt, wann seine Stimmung bewirkte, daß die Drähte sich plötzlich einschalteten. Oft hatten seine müßigen Gedanken Sendungen ausgelöst und ihn in Kanäle geschaltet, die seiner jeweiligen Stimmung zu entsprechen schienen. Beim Sex war es noch schlimmer gewesen. Jetzt war er von diesem Geschwätz und der ständigen Einmischung befreit. Er starrte Sebastiana an, als sei sie die erste Frau, die er je sah. Dunkles Haar, klare blaue Augen, olivenfarbene Haut. In seinem Kopf waren keine Stimmen – nichts außer ihrem Bild. Vielleicht würde es ihm hier in Mexiko gefallen? Kalifornien zurücklassen, die Drahtsklaven vergessen, ein ruhiges Leben führen… Sebastiana lächelte und strich ihm über die Stirn. »Es tut mir leid. Sie sind bestimmt müde. Verzeihen Sie mir die Fragen.« »Nein, das ist es nicht. Ich… na ja, vielleicht bin ich müde; aber ich fühle mich besser als je zuvor. Es ist wirklich unglaublich. Ich spüre ein tiefes Gefühl von Frieden und Ruhe. Ich könnte stundenlang hier liegen und darin baden.« Der General räusperte sich. »Ruhen Sie sich aus. Sie werden Ihre Kräfte brauchen, wenn sie zurückgehen.« »Zurück?« fragte Sandy und sah den gerade gefundenen Frieden plötzlich bedroht. »Nach Kalifornien. Sie müssen Ihre Nichte finden. Sie kennen sie besser als jeder andere. Und jetzt hat sie keine Macht mehr über Sie.«
»Sie finden? Und was dann?« »Dann werden Sie tun, was getan werden muß«, sagte der General. »Was auch immer das sein mag.«
11 WER PASST AUF DEN BABYSITTER AUF?
Alfredo stand auf dem Balkon und blickte in den tiefen Beverly-Canyon hinab, der mit bräunlichem Dunst gefüllt war, wie der Rauch seiner Tofu-Zigarette. Eine schmutzige Angewohnheit; aber er konnte sie nicht ablegen. Er hatte aufgehört, sich wegen seiner Gesundheit, seines Images oder wegen irgend etwas Sorgen zu machen. Trotzdem war er immer noch besorgt. Besorgt und teilnahmslos. In der Ferne läuteten die Türglocken. Alfredo rührte sich nicht. Sollte ein anderer hingehen. Wieder Hollywood. Wie konnte er so blöde gewesen sein? Die Sendeanstalten waren für ihn geschlossen. Er hätte es wissen müssen! Niemand kümmerte sich um einen Gestrigen, einen Flüchtling aus einer Familien-Show. Die Figueroas waren Schnee vom vorigen Jahr, befanden sich auf der Talsohle der eigenartigen Fünfzehnjahres-Sinuswelle zwischen Popularität und Nostalgie. Mit Sicherheit würde er tot sein, wenn die Wiederholungen eine neue Kultwelle auslösen würden. Poppy lag im Koma. Seine Frau war lange tot und seine Geliebte seit kurzem. Sein ältester Sohn war ohne ein Wort ebenso mysteriös wie seine Enkelin verschwunden. Es war komisch, wie teilnahmslos er sich fühlte, als ob Schmerz und Schock in ihm ein Reservoir ansammelten für den Zeitpunkt, an dem er bereit war, daraus zu trinken. Er hatte eine Serie vorgeschlagen: »Papa die Waise.« »Ich liebe diese Idee, Alf. Einfach großartig; aber ohne deine ganze Familie haben wir keine Chance, es mit der Konkurrenz, den Magyks, aufzunehmen.« Ja, die Magyk7 waren zu ungeahnten Höhen aufgestiegen. Er kaute wie wild auf dem
Soja-Filter. »Such dir eine neue Frau – am besten wäre eine interrassische Geschichte – adoptiere ein paar Kinder, dann können wir vielleicht wieder reden. Aber bis dahin ist es allein dein Geld.« Aus Mitleid boten sie ihm die Rolle eines Bauern im ›Hollywood Schach‹ an. Erobere die Stadt im Sturm! Irgendwo im Haus klirrte etwas. Dann schrie Miranda. Alfredo blickte zurück. Seine Tochter kam rückwärts in den Wohnraum. Ein Roboter folgte ihr. Aber es war kein mattschwarzes Ungetüm, sondern hatte einen schimmernden Kristallkörper. Miranda rannte schreiend davon. Ihre üppigen Brüste wogten. Auch Alfredo traute seinen Augen nicht beim Anblick dieses phantastischen Monsters. Doch dann sah er das kleine Menschengesicht des Roboters – und die orangefarbenen Augen. Miranda sprang über ein Sofa und versteckte sich dahinter. Der Roboter füllte den Türrahmen aus und hielt Augenkontakt mit Alfredo. »Großpapa«, sagte er. Alfredo bewegte hilflos die Lippen. Er wußte, wer das war – sein mußte, der da die Roboterhülle so lässig wie einen Schlafanzug trug und wie eine Erwachsene sprach. Er rang nach Worten, um sie zu begrüßen. »Cal… Calafia?« »Kalifornia«, verbesserte sie ihn. Der Name schien ihr Schwierigkeiten zu machen; aber gleichzeitig schien sie erleichtert, nachdem sie ihn ausgesprochen hatte. Ein Lächeln huschte über das kleine Gesicht und ließ es aufleuchten. »Ich habe meine Eskorte draußen gelassen. Ist das in Ordnung?« »Eskorte?« wiederholte Alfredo, immer noch wie betäubt. »Sie benehmen sich gut… zumindest solange ich sie an der Leine habe.«
»Eskorte woher?« »Ursprünglich? Ich habe nicht gefragt. Aber sie kennen dich.« Alfredo ging ein paar Schritte vorwärts und zeigte auf das Sofa. »Begrüße deine Nichte, Miranda.« »Ich habe mich fast eingeschissen vor Angst«, sagte Miranda und verließ das Versteck. »He, wo hast du das Kostüm her? Einfach geil. So ‘ne Art Eiserner Strampelanzug.« Alfredo breitete die Arme aus und drückte die harte Hülle seiner Enkelin ans Herz, obwohl sie ihn nicht fühlen konnte. Ihre Wange war weich, die Augen lebendig. Behutsam erwiderte sie mit den vier kräftigen Armen die Liebkosung. »Wo ist meine Mammi? Onkel sagt, sie sei verletzt.« »Dein Onkel? Meinst du Sandy? Wo ist er?« »Weiß ich nicht. Er ist zurückgeblieben. Ich will meine Mammi sehen.« »Ja, natürlich, sofort. Sie ist hier… unten. Komm, komm, Calafia.« »Kalifornia«, wiederholte sie. »Ich heiße Kalifornia. Aber da wir verwandt sind, kannst du mich Kali nennen.«
Die Türen des Aufzugs öffneten sich vor dem Zimmer mit den durchsichtigen Wänden. Ein Mann in weißer Uniform saß vor der Tür und beobachtete eine Reihe von Monitoren. Kali ging an ihm vorbei, legte den Kopf an die Scheibe und blickte auf die Gestalt in dem Hängebett. Mammi, dachte Kali. Sie erinnerte an das, was ihr Onkel Sandy gesagt hatte: Ihre Mama war eine normale Person, keine Göttin. Wie konnte eine Göttin eine normale Mutter haben? Eine verletzte Mutter. Sie klopfte gegen die Scheibe, die nicht aus Glas war, sondern aus einem Material, das dem ihrer Rüstung ähnelte.
Ein Teil Kalis analysierte das Material, obwohl das völlig überflüssig war. Sie schaltete das Geplapper ab. Sie lernte, daß nicht alles wichtig war. Aus allen Richtungen – von außen und von innen – strömten Informationen auf sie ein. Nicht alle waren gleich wertvoll; aber es gab keine Formel, um zu berechnen, was wichtig war. Aber das hier war wohl wichtig, dachte Kali. Ihre Mama… »Du kannst hineingehen«, sagte ihr Großvater. »Ich bleibe hier.« Kali ging durch die Schleuse in den Säuberungsraum. Dann stand sie über der Frau in den Drähten. Sie kannte nicht einmal den Namen ihrer Mama. Sie wurde neugierig, als sie ihre Mama so still wie eine Puppe daliegen sah. Mama hatte Drähte in sich, das fühlte Kali. Alle hier schienen Drähte zu haben – nicht wie die Töchter. Das war gut! Denn das hieß, daß sie in die Menschen hineinschlüpfen konnte. Sie konnte gleichzeitig in allen sein. Im Tempel war Kali noch nicht klar gewesen, wieviel Macht in ihrer Reichweite war. Eine Art elektrische Barriere in den Tempelwänden hatten sie von dem Kosmos der Informationen abgeschnitten, die über den Rest des Erdballs schwärmten. Kein Wunder, daß sie sich dort so winzig und hilflos gefühlt hatte. Die Töchter hatten sie absichtlich im Glauben gehalten, nur ein Baby zu sein. Jetzt wußte sie aber, daß sie eine Göttin war. Wenn sie mit ihrem Verstand hinausgriff, stand ihr jede Art von Wissen zur Verfügung. Wenn sie zum Beispiel jetzt mehr über ihre Mama erfahren wollte, brauchte sie nur darüber nachzudenken… Und das Wissen strömte herein. Sie hieß Poppy Figueroa. Kali war in Poppy, in einem schmuddligen Zimmer, spürte die Krämpfe und Wehen, sah wie Drähte und Blut ausgepreßt
wurden, erlebte die Geburt eines kleinen Mädchens mit orangefarbenen Augen. Ihre eigene. Seltsam. Erinnerungen wurden ausgelöst. Sie stiegen in Kalis Verstand auf. Sie hatte das alles schon einmal gesehen. Ja, sie war dort gewesen: In ihrer Mama und in sich. Sie hatte gesehen, wie sie geboren wurde. Sie hatte gespürt, wie sie ans Licht und die Luft kam. Sie hatte zu Poppy aufgeschaut, während Poppy auf sie herabgeblickt hatte. Sie hatten einen Moment lang den Schmerz der Rückkopplung erlitten, bis ihre Mama fürsorglich weggeschaut hatte. In jenem Moment waren sie eine Einheit gewesen. Ein Verstand. Ein Leben, das sich aus zwei Augenpaaren betrachtete. Mamas Augen waren auch orange. Kali wollte versuchen, sie zu öffnen. Orangefarbene Augen unter weißen Lidern. Kali versuchte sich hinter diese Lider zu schieben. Leuchtende Stille. Schweben, verloren, gleiten ohne Ziel. Keinerlei Gefühl. Kali war früher schon einmal dort gewesen. Sie war in ihrer Mama gewesen. Jetzt existierten keine Barrieren mehr. Niemand konnte sie trennen. Sie mußte nur hinausgreifen und… Hebt euch! befahl sie den Lidern. Die Lider empfingen von Poppys Gehirn gemischte Signale. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Kali konzentrierte sich darauf, daß sie nur ihr gehorchten. Hebt euch! Die Lider ihrer Mama flatterten. Öffneten sich einen Spalt. Sprangen weit auf. Orangefarbene Augen. Kali sah ihre Mama und sich selbst. Sie war hier in dem sauberen Krankenzimmer und gleichzeitig mit verkrampften
Beinen auf einem schmutzigen Hotelbett. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen im Netz der Polynerven. Kali hörte, wie draußen ein Monitor piepste. Der Mann im weißen Anzug rief etwas. Alfredo lief zur Scheibe. »Was ist los?« rief er. »Hast du das gesehen? Hast du das gesehen?« Kali trat einen Schritt zurück, hielt aber die Verbindung aufrecht. Sie bewegte die Finger, Ellbogen und Arme ihrer Mama. Sie drehte den Kopf von einer Seite auf die andere und ließ die Lider normal funktionieren. Von Kalis Blickpunkt aus sah ihre Mama alles leicht verschwommen. Die Löcher und grauen Stellen zeigten neurologische Schäden an. »Sie heilt sie!« sagte Alfredo ehrfürchtig. Mama, dachte Kali. Traurigkeit überfiel sie. Sie war aus diesem Schoß gekommen. Was hast du, Mama? Warum kommst du nicht zu mir? Poppys Körper wälzte sich hin und her. Anfangs waren die Bewegungen zögernd gewesen, dann immer heftiger geworden. Poppys Arme reckten sich sehnsüchtig Kali entgegen. Aus ihrer Kehle kamen tierische Laute. Sie bemühte sich aufzustehen; aber das Hängebett und der Muskelschwund nach dem langen Liegen hielten sie zurück. Kali wollte nicht von einer Marionette umarmt werden; aber sie konnte nicht ertragen, wieder von Poppys Körper getrennt zu werden, nachdem sie drin war. Poppy rollte aus dem Hängebett und plumpste auf den Boden. Wieder streckte sie die Arme nach der Tochter in der Roboterrüstung aus. Endlich kam die Umarmung. Kali wußte nicht mehr, in welchem Kopf sie sich befand. Ein Teil von ihr sprudelte über vor Aufregung und Verzweiflung. Gleichzeitig betrachtete Kali die Szene auch aus den Augen ihres Großvaters Alfredo und kurz aus denen des Arztes. Sie wollte nicht in den Männern sein – es trübte ihren Realitätssinn; aber sie konnte es nicht ganz
kontrollieren. Ihr Verstand war wie ein Kopfsteinpflaster aus vielen verschiedenen Menschen zusammengesetzt. Dieses Gefühl verstärkte ihre Einsamkeit. Wie konnte sie – eine Göttin – sich wie ein Waisenkind fühlen? Plötzlich schob sie der Arzt beiseite, um Poppy zu untersuchen. Kali verließ das Krankenzimmer, blieb aber auch drinnen. Sie erlebte alles durch die Hände des Arztes. Sie spürte die Arme ihrer Mutter. Alfredo fiel Kalis Kristallkörper um den Hals und küßte die warmen Wangen. »Du hast sie geheilt!« sagte er. Freudentränen liefen ihm übers Gesicht. »Du hast sie geheilt! Du bist ein Wunder! Das ist der schönste Tag meines Lebens. Der Tag, an dem du zu uns gekommen bist. Ach, Calafia – Kali, entschuldige. Natürlich kannst du deinen Namen ändern, wenn dir der andere besser gefällt.« Poppy nickte, als der Arzt sie wieder ins Hängebett legte. »Sie ist doch bald wieder die alte, oder?« fragte Alfredo zuversichtlich. »Wir werden alle wieder vereint sein. Wir alle… was ist, Kali? Wohin gehst du?« »Ich fühle mich nicht gut«, antwortete Kali und ging zum Aufzug. Die Körper des Arztes und ihres Großvaters hingen schwer an ihr. Vor dem Haus waren die Soldaten, die sie hergebracht hatten, unruhig geworden. Kali hatte das Gefühl, in viele Teile zu zerfallen. Sie mußte alles irgendwie festigen. »Kann ich mich irgendwo ausruhen?« »Aber natürlich. Du bist ja nur ein Baby, nicht wahr? Du brauchst viel Ruhe. Ein kleines Schläfchen. Du kannst ein Gästezimmer benutzen, bis wir eins für dich hergerichtet haben. Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Kali. Warte, bis ich es… na ja, der Welt erzähle!« Der Welt, dachte Kali.
Die Welt – das klang so klein. Während die ›Welt‹ tobte, um Kali zu sehen, verbrachte diese den ersten Tag daheim zurückgezogen und schaute sich endlos Wiederholungen von ›Poppy auf der Flucht‹ an. Sie wollte ihre Mama so kennenlernen wie sie im Leben gewesen war. Wenn sie Poppys Körper dazu brachte, die alten Bewegungsmuster wieder durchzuführen, bestand die Chance, daß der irgendwo im verletzten Gewebe schlummernde Wille auch wieder reaktiviert würde. Jedenfalls hoffte Kali darauf. Immer wieder spielte Kali das Band mit der Entführung ab. Schließlich kam es ihr wie ein alltägliches Ereignis vor, sich selbst zu gebären. Immer wieder gebar sie sich. Sie war in den Drähten, bewohnte den Körper ihrer Mama, fühlte das verrostete Eisen der Feuerleiter unter den Händen, hörte die Hunde und sah das kleine Bündel, das in Decken gewickelte Baby, in den Kombi fallen, der – wie günstig – gerade unten hielt. Vorwärts und rückwärts, vorwärts und rückwärts – hundertmal fiel sie. Tausendmal. Mehr, noch mehr. Währenddessen war Poppys Körper in Therapie. Kali konnte sich nicht dazu bringen zuzugeben, daß sie allein diesen Körper bewohnte. Alle glaubten, daß Poppy aus eigener Kraft sich bewegte und von den Toten zurückkehrte. Langsam kamen die Muskeln wieder. Neue Gelenke schoben sich unter das feine Netz der Narben. Poppys Gesicht machte die richtigen Ausdrücke, obwohl sie nicht immer zur jeweiligen Situation paßten. Kali konnte nur nachmachen, was sie in der Draht-Show gesehen hatte. »Du erwischt mich nie!« schrie sie unvermittelt. Die Therapeuten glaubten, daß sie zu ihnen spräche, wunderten sich kurz, fuhren jedoch fort, ihr auf alle mögliche Art weh zu tun, weil es für ihre Gesundung notwendig war. Die Menge um das Haus der Figueroas wuchs ständig. Autos sausten im Tiefflug über den Canyon, um einen Blick auf Kali
zu erhaschen. Touristen drängten sich auf den Baikonen der Restaurants auf der gegenüberliegenden Seite, bis die Last zu viel wurde und am Sonntagmorgen ein Haufen Gaffer – zusammen mit unschuldigen Frühstücksgästen – in den Abgrund stürzten. Daraufhin sammelte sich eine Herde trauernder Angehöriger vor der Figueroa-Villa und flehte Kali an, die Toten zurückzubringen – wie sie es mit ihrer Mutter gemacht hatte. Kalis Militäreskorte hatte alle Hände voll zu tun, die erregten Menschenmassen zurückzudrängen. Die Soldaten patrouillierten vor dem Haus, auf den Dächern und bewachten Türen und Fenster. Einige bezogen sogar im Innern Posten. Kali sah alles mit ihren Augen. Sie dienten ihr als private ferngesteuerte Roboter. Eines Nachmittags beobachtete sie wieder alles auf diese Art, als Alfredo dem Offizier der Wache eine beunruhigende Frage stellte. »Entschuldigen Sie«, sagte ihr Großvater. »Wie halten Sie und Ihre Männer das durch? Wie alte Haudegen, was? Ich wollte nur sagen, daß Sie Ihre Sache fabelhaft machen. Aber ich habe eine Frage, die Sie mir vielleicht beantworten können.« Kali beobachtete ihn durch die Augen des Offiziers. Sie spielte ›Guck-Guck‹. Am liebsten hätte sie den Mann zwinkern oder scheu flüstern lassen: »Ich bin’s, Großpapa.« »Wie haben Sie Kali gefunden?« fragte Alfredo. »Wer hat Sie beauftragt?« Das war eine gute Frage. Kali wußte die Antwort selbst nicht. Die Soldaten waren so unter ihrer Kontrolle, daß sie nie über persönliche Dinge sprachen – eigentlich über gar nichts. Wenn sie sich unterhielten, waren das Selbstgespräche Kalis, die sie die Soldaten ausführen ließ, damit sie sich wie normal benahmen. Ihr erschien das wichtig, bis sie das wahre Ausmaß ihrer Macht offenbaren würde.
Aber ihr Großvater brauchte eine Antwort. »Kali hat uns gerufen«, erklärte der Offizier. »Sie hat uns durch die Drähte das Signal übermittelt und uns den Weg durch die Heilige Stadt gezeigt. Dann haben wir sie gerettet.« Kali hatte ihrem Großvater über den Tempel ein bißchen, aber nicht viel erzählt. Alfredo nickte, als ergäbe die Antwort einen Sinn, und ging weiter. Für ihn war die Auskunft ausreichend, nicht aber für Kali. Woher waren die Soldaten gekommen? Vielleicht sollte sie den mentalen Griff bei einigen lockern und warten, ob sie miteinander darüber sprachen; aber sie fürchtete, daß die Männer etwas Unvorhersehbares tun würden, wenn sie sie auch nur für eine Sekunde los ließ. Einer der Hundesoldaten lief dem Offizier vor die Augen. Die wilden, loyalen Hundemänner waren den menschlichen Soldaten treu von der Heiligen Stadt gefolgt, obwohl keiner von ihnen von Kali gesteuert wurde. Ihr Offizier pfiff dem Hundemann. »Hierher, Junge!« Schnell lief der Hundesoldat zu ihm. »Sir!« »Stimmt es, daß ihr Hunde ein schlechtes Langzeitgedächtnis habt?« Der Hund schaute ihn leicht beleidigt an. »Sir?« »Ich bin neugierig. Erinnert ihr euch an Dinge nur aufgrund des Geruchs oder denkt ihr tatsächlich und erinnert euch an Dinge, die nicht als feste Körper vorhanden sind?« Jetzt war der Hund eindeutig beleidigt. »Ich bin über achtzig Prozent Mensch, Sir, und stolz auf mein Erbe. Mein außergewöhnlich guter Geruchssinn wird durch ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis gesteigert. Es stimmt auch nicht, daß ich farbenblind bin – wie manche Menschen glauben. Ich kann mich an einem Motherwell oder ebenso wie jeder Vollmensch erfreuen.«
»Hm. Dann – nur als Test – dürftest du keine Probleme haben, mir zu sagen, wer uns den Befehl erteilte, in die Heilige Stadt zu gehen. Wer hat uns geschickt, diese junge Göttin zu holen?« »Ich entsinne mich deutlich an die Umstände, Sir, aber ich kann Ihnen nicht den Namen der Person nennen, die uns den Befehl gab. Der Befehl wurden durch die Snozay-Zentrale verschlüsselt. War das eine Trickfrage?« »Snozay-Zentrale«, wiederholte Kalis Offizier leise. »Darf ich jetzt gehen, Sir?« »Ja, bist ein guter Junge.« Der Hund ging, warf aber noch verstohlen einen Blick zurück. Die Snozay-Zentrale war nur ein Büro, das ausgebildete Soldaten ausschickte, um bei privaten, kleineren Streitigkeiten zu helfen. Idealerweise waren die Männer dazu da, um Gewalt zu verhüten; aber sie waren auch befugt, Gewalt im Interesse ihrer Auftraggeber auszuüben, vorausgesetzt, daß sie nicht gewisse, ziemlich weit gezogene Parameter überschritten. Kali schloß sich direkt ins Auftragsdienstbüro ein, bei dem die Söldner und Tausende anderer Soldaten lediglich Nebenanschlüsse waren, durch Gefühle ferngesteuerte Kampfeinheiten. Kali durchstöberte die Akten und hatte innerhalb von wenigen Minuten den Originalauftrag ihrer Eskorte zur Quelle zurückverfolgt. Es war leichte, aber langweilige Arbeit. Der Auftrag, in die Heilige Stadt zu marschieren, war von einer höheren Befehlsstelle gekommen, für welche die verschiedenen Söldnerzentren nur Zweigbüros waren. Kali hielt an dieser Weiche inne und blickte zurück auf den Informationsfluß über die Drähte, als sei es eine Spur aus Brotkrumen. Sie sah, wenn sie sich nach hinten ausdehnte, unzählige Astraldrähte. Jeder endete in der zwiebelähnlichen
Sackgasse eines menschlichen Körpers: in einem menschlichen Leben – in diesem Fall in einem Soldaten. Söldner wie diese arbeiteten im ganzen Land. Sie bewachten Banken und chemische Fabriken. Einige trainierten mit ihren Waffen, andere aßen Lunch, während die, die nachts Dienst hatten, schliefen. Von dem Punkt aus, wo Kali schwebte, konnte sie in jeden sofort eindringen. Doch als sie nach vorn schaute, sah sie, daß diese Hauptlinie nur ein dünner Zweig war, der aus einem dickeren Ast kam. Sie raste über die Datenzweige an den Baumstamm. Als er sich ihr näherte, schoß ihr Bewußtsein blitzartig dahin, um die Drähte zu füllen, die neu zur Verfügung standen. Gleichzeitig war sie in Tausenden von Städten, hörte unzählige Gespräche und war in eine Million Tätigkeiten verwickelt. Einige Aufgaben waren rein militärisch, andere stumpfsinnige Bürotätigkeit. Manche Menschen taten überhaupt nichts. Kali hätte in sie eintreten und sie nach Wunsch Bewegungen ausführen lassen können, aber sie hatte das Gefühl, daß sie Zeit brauchen würde, um zu lernen, wie man derartig komplexe Tätigkeiten koordinieren mußte. Jetzt hätte sie vielleicht ein Chaos angerichtet. Geduld. In der Zwischenzeit mußte sie die Quelle des Originalbefehls finden, die von irgendwo ganz oben in der Informationshierarchie zum Snozay-Zentrum getröpfelt war. Es gab noch viele Sprossen auf dieser Leiter. Und sie kletterte weiter nach oben. Es war Tag und gleichzeitig Nacht, Winter und simultan Sommer. Die Hemisphären des Planeten waren überbrückt. Sie schlief und wachte, redete in Sprachen, die sie anfangs nicht verstand. Da sie aber Zugang zu vielen Sprachinterpreten hatte, wuchs ihr Verständnis im Nu.
Kali war überall. Sie dehnte sich aus und bedeckte die Welt, wachte im Innern von allen auf. Sie fragte sich, ob die Menschen merkten, wenn sie in ihnen wach wurde. Sie blickte durch ihre Masken hinaus. Sie sah sich selbst und sah manchmal einen Ruck des Erkennens in anderen. Allerdings mußte sie immer schnell wegschauen. Ständig bestand die Gefahr der Rückkopplung. Sie hatte Mühe, ihre Aufregung zu zügeln: Die Erde war wie ein Riesenspielzeug, das sie anflehte, mit ihr zu spielen. Gleichzeitig spürte sie, daß in ihr auch etwas Seltsames vor sich ging. Es war… es fühlte sich an, als würde etwas aufwachen und sich in ihrem Innern umschauen. Als würde jemand aus ihren Augen schauen, so wie sie durch die Augen der anderen. Was spielte sich in ihr ab? Wurde sie von innen heraus überwacht? War ein Teil von ihr abtrünnig? Gab es in ihr einen Beobachter, der vor der Geburt bereits implantiert worden war? Hatte der, der ihn eingepflanzt hatte, auch die Söldner geschickt, um sie aus der Heiligen Stadt zu befreien? Eins stand fest: Wenn derartige Personen existierten, waren sie nicht verdrahtet, sonst hätte sie das gespürt. Dann wären das jetzt ihre Subjekte. Sie hätte mit Sicherheit eine Spur gefunden. Es sei denn, diese Leute kannten eine Möglichkeit, ihr Signal zu blockiere, und setzten diese jetzt ein, weil sie auf sie gewartet hatten. Mit wachsender Angst wurde ihr klar, daß diese Söldner so ausgeschickt worden waren, daß sie bei der Rückverfolgung der Spur unausweichlich durch die Äste und Zweige an genau diesen Punkt gelangen mußte. Zweifellos hatte sie auf dem
Weg zahllose Alarme ausgelöst. Durch ihre Aktionen hatte sie unwiderruflich den Beobachter geweckt. Sie hielt inne. Zum erstenmal in ihrem kurzen Leben strömte plötzlich Kälte durch jeden Polynerv auf Erde und Mond. Der Mond… Sie sah ihn am Nachthimmel der Erde. Er ging auf und versank hinter dem Zenit wieder. Der Mond war unter ihren Füßen. Einige ihrer Untertanen standen im Mondstaub, beschienen vom reflektierten Licht der Erde. »Wer bist du?« fragte sie flüsternd das Ding in ihr. Auf dem ganzen Planeten und in den Einkaufszentren seines Satelliten wurde diese Frage geflüstert. Menschen berührten ihre Münder, weil sie nicht wußten, woher die Worte gekommen waren. Niemand verstand, warum sie sie überall gleichzeitig hörten. Etwas geschah… immer schneller… etwas Angsteinflößendes. Sie sagten es im Chor, ein furchtsames universales Flüstern: »Wer…?«
»Kali?« Die Stimme ihres Großvaters. »Hier ist jemand, der dich sprechen möchte.« Sie öffnete die Augen des winzigen Körpers in der Hülle des Erwachsenenrüstung, die in einem dunklen Raum im Haus der Figueroas saß. Ihre Suche nach Hinweisen hatte zu nichts geführt. Das Gefühl, einen Beobachter in sich zu haben, wuchs wie ein Krebsgeschwür. »Kali?« »Ja, Großpapa, komm herein!« Die Tür öffnete sich einen Spalt. Das hereinströmende Licht wurde von zwei Männern verdunkelt. Alfredo kam als erster. Er lächelte stolz. Der andere Mann trug ein weiß- und orangefarbenes Gewand, das mit blitzenden Edelsteinen und
Kristallen bedeckt war. Obwohl Kali ihn noch nie gesehen hatte, wußte sie sofort, um wen es sich handelte. »Kali, ich möchte dich mit dem Reverend Gouverneur von Kalifornien bekannt machen. Thaxter Halfjest.« Der Gouverneur fiel vor Kali auf die Knie, ergriff eine ihrer Kristallhände und küßte sie. Kali konnte die Lippen nicht fühlen. »Kali, das ist die größte Ehre. Ich habe auf diesen Tag gewartet, seit Alfredo und deine Großmutter Marjorie – Gott sei ihrer Seele gnädig – mir ihre Pläne erläuterten. Ich bin so froh, daß es dir gut geht. Und was du tust – phantastisch, einfach phantastisch.« Kali fand keine Worte. Sie brauchte länger als sonst, aus den Tiefen ihres Ichs heraufzusteigen. Sie wehrte sich dagegen, auch nur eine Sekunde nicht den Beobachter mit allen Kräften zu verfolgen. Sie wollte das Ding mit der Wurzel ausreißen, sich von ihm reinigen. Sie haßte das Gefühl, daß etwas in ihr lauerte. Sie haßte den Gedanken, daß jemand oder etwas sie benutzte. Halfjest schwätzte weiter. Er blickte ihr in die Augen und sagte etwas über Hollywood und daß Kali der größte Star sei, eine natürliche… »Die Sendeanstalten sind an mich herangetreten, Alfredo, und baten mich, als den Freund der Familie, mit dir und Kali wegen eines Programms zu sprechen. Als ihr Vormund…« »Ein Programm? Was redest du da, Thax? Warum sind sie nicht direkt zu mir gekommen?« »Nun, sie sagten, es sei ihnen eine Ehre, wenn ich euch das Angebot unterbreiten würde. Alle können es nicht erwarten, Kali kennenzulernen – sie live zu sehen, wenn du verstehst, was ich meine. Sie bieten ihr ein eigenes Programm. Da sie bereits verdrahtet ist, sind alle Leitungen für sie offen.« »Eine… eine Show? Ihre eigene Show?«
»Die Menschen wollen in sie hineinkommen. Sie wollen fühlen, was sie fühlt. Weißt du, was man über dich sagt, seit du deine Mutter von den Toten zurückgebracht hast, Kali? Sie halten dich für eine Göttin. Sie wollen in dir sein. Ein DrahtShow-Sakrament.« »Eine Göttin«, flüsterte Kali. Die Töchter hatten das auch gesagt. Eine Zeitlang hatte sie es geglaubt. Aber eine Göttin, eine echte Göttin, duldete keine Parasiten. Keine Beobachter in sich. Keine… keine Babysitter! Eine Göttin konnte nicht manipuliert werden. Kali starrte Thaxter an. Sie tat es instinktiv, weil sie das am besten konnte. Sie griff hinaus und verfolgte seine Drähte, indem sie in sie hineinglitt. Sein Lächeln wurde breiter, als wollte er ihr Platz machen, als fühlte er ihr Kommen. Der Gouverneur war ständig auf live geschaltet und sendete ständig an seine Fans. Das bedeutete, daß diese alle in ihm waren und Kali anblickten. Aber warum fand sie sich nicht? Warum kamen keine Schmerzen durch die Rückkopplung, als sie sich durch seine Augen betrachtete? Nur um sicher zu sein, schaltete sie sich ganz in Thaxter Halfjests Programm ein. Seltsam! In seiner Draht-Show war er ganz allein. Er ging durch einen Park, bewunderte Bäume und roch an Blumen. Sein Lächeln im Haus der Figueroa wurde immer breiter. Kali verstand nichts mehr… Sie war in ihm, sah aber nicht, was Thaxter tatsächlich sah. Sie versuchte, die Drähte des Gouverneurs zu erfassen, mit denen er im Park herumspazierte; aber nichts geschah. Es war eine Illusion. Er war überhaupt nicht im Park. Er war hier –
direkt vor ihr; aber sie konnte ihn nicht berühren, nicht in ihn kriechen. Da sagte eine Stimme tief in ihr, die Stimme ihres Beobachters: »Guck-Guck, Kali. Ich sehe dich. Kannst du mich nicht sehen?« Es war die Stimme von Gouverneur Halfjest. Kali stand von dem Stuhl auf. Das erforderte ihre gesamte Kraft. Thaxter Halfjest war da und gleichzeitig nicht. Sie hob ihre schimmernden Arme. »Du!« sagte sie. »Ja, meine Liebe. Ich bin der glückliche Überbringer dieser guten Nachrichten«, antwortete der Gouverneur. »Es handelt sich dennoch nur um Kalis Show«, sagte Alfredo. »Keine Familienshow? Nur Kalis?« Kali wollte etwas sagen, aber ihr Mund gehorchte nicht. Zum erstenmal zog man an ihren Drähten, so wie sie an so vielen anderen gezogen hatte. Sie wollte Halfjest Drähte aus Notwehr verletzen… Und war plötzlich in dem illusorischen Park und roch an illusorischen Blumen. Sie hörte ihn kichern. Sie war tatsächlich in Halfjests Körper. Aber er war irgendwie dünn und nicht real. »Ja, ja, es ist eine Freude, dich endlich kennenzulernen, Kali«, sagte er. »Ich hatte Angst, die Hohe Priesterin Marjorie würde einen Weg finden, dich ganz für sich zu behalten. Aber dein Talent – wie meins – verdient es, die Welt daran teilhaben zu lassen.« »Was… was tust du?« fragte Kali. Sie konnte diesen Mund, diesen Körper bewegen – aber das nützte ihr ebensowenig wie die Fähigkeit, einen Traum zu kontrollieren. »Ich nehme deinen Platz ein, Kleines. Für ein kleines Mädchen wie dich ist die Verantwortung viel zu groß. Ich bringe dich an einen wunderschönen Ort, der für dein Alter sehr viel passender ist.«
Kali sah weiter vorn zwischen den grünen Bäumen einen mit Platten ausgelegten Weg und eine Wiese. Schaukeln, Rutschen, eine Sandkiste und ein Planschbecken. Thaxter marschierte sie direkt dorthin. Dann begann sein Körper, jetzt ihr Körper, sich zu entleeren. Sie sank auf den Boden zu. Die Bäume wurden immer größer und reckten sich dem künstlichen Himmel entgegen. Sie blickte nach unten und sah, wie seine Hände schrumpften, klein und knorrig wurden. Das Haar verschwand auf seinen Armen, so daß nur rosige Säulen zurückblieben. Seine Schritte wurden immer kürzer. Dann kam sie gar nicht mehr voran, sondern stolperte und landete auf allen vieren. Hilfe, dachte sie. Sie wollte zurück in ihren richtigen Körper. Sie sehnte sich nach der Sicherheit der Erwachsenen-Rüstung; aber sie konnte sie nicht finden – auch nichts anderes, was ihr vertraut war. »Wenn es dir ein Trost ist, wirst du viel populärer sein als die Magyk7«, sagte der Gouverneur. Kali setzte sich auf den Weg und rief verängstigt: »Warum?« Halfjest sprach aus ihren Nerven, ihrem Blut, ihren Nägeln: »Kalifornien ist in der Welt führend in der Wissenschaft, in der Technologie, in der Mode, den schönen Künsten und in der Kultur. Dieser Staat regiert die Welt auf so vielen Gebieten, daß ich nicht einsehe, warum er nicht einfach die Welt regieren sollte.« Und dann war Halfjest verschwunden. Kali war wieder ein Baby – oder zum erstenmal wirklich ein Baby. Hilflos war sie in der Schlinge, die Halfjest geknüpft hatte, um sie zu fangen. Sie schrie auf und kratzte auf den Steinplatten, bis ihre weichen Fingerspitzen bluteten. Die Schmerzen waren nicht schlimm, aber real. Niemand kam als Antwort auf ihre Schreie. Es würde auch niemals jemand kommen. Es war außer ihr niemand
vorhanden. Von einer Welt von Milliarden – alle ihre Gesellschaft, mögliche Spielkameraden – jetzt so… Als Kalis Augen nach einiger Zeit ganz trocken waren, ging sie weiter zum Spielplatz auf der Wiese. Es war ein weiter Weg – für ein Baby.
12 PENG! RISSEN DIE SCHNÜRE
Poppy wachte in einem Traum auf. Sie wußte, daß sie träumte; aber dieser Zustand war dem, bewußt zu sein am nächsten seit… seit wann? Wie lange war es her, seit sie eine Straße entlanggelaufen war, die in einen Sternenstrom explodierte und in Töne, die langsam zu einem Styx der Stille und des Schweigens wurden. Wie lange war das her? Im Traum suchte sie nach etwas, suchte überall und fühlte sich so hohl wie die hohlen Stellen, die sie umfingen. Und als sie es gefunden hatte, wachte sie beinahe auf – aber nicht ganz. Der Traum war zu friedlich. Sie wollte ihn nicht verlassen. Sie befand sich auf einer grünen Wiese und sang leise, als sei sie noch ein Kind. Sie sang nur für sich – wirklich –, weil sie schwach war und genesen mußte. Sie umschlang sich, sang leise weiter und wiegte sich selbst hin und her – hin und her. Sie hielt ihre Tochter, hielt sich selbst – auf einer grünen Wiese. Das Kind war sehr klein, sehr zerbrechlich, sehr verängstigt. Die Stimme der Mutter beruhigte es etwas. Mit goldenen Augen blickte die Kleine zu Poppy auf, und Poppy konnte sich durch die Augen des Kindes sehen. So wie diese Augen bei der Geburt gewesen waren: ganz ohne Schmerz. Es gab keine Rückkopplung, nur einen warmen Strom. Das war ihre Tochter. Diese Kleine. Im Traum fing die Tochter an zu reden und ihrer beiden Ängste auszusprechen. »Hilf mir«, sagte das Kind. »Hilf mir, Mama.« »Ja, ich helfe dir.«
»Mama…« »Poppy.« Das war eine andere Stimme. Eine beharrliche Stimme, die versuchte, sie von ihrer Tochter wegzuzerren. Ich habe zu lange nach dem Baby gesucht, um es jetzt wieder zu verlieren, dachte sie. Sie konnte diese Stimme bekämpfen – sie mußte es. Aber dann hatte diese Stimme Hände. Hände, sie sie überall berührten, versuchten, sie aus dem Traum zu reißen, Poppy wegzureißen von ihrem Kind. Nicht jetzt. Nicht nach alledem. Wie konnte sie das Baby wieder verlieren? Bitte, Mama! Nicht noch mal! »Poppy, ich bin’s. Sandy. Los, wach auf! Es ist nur ein Traum!« Sandy? Poppy öffnete die Augen. Ihr Bruder stand über ihr. Sie war – wo? Natürlich in einem Bett. Sie hatte geschlafen. Geträumt. Geträumt von einer grünen Wiese, wo jemand gesungen und nach ihr gerufen hatte. Sie spürte einen großen Verlust, wußte aber nicht genau, welchen. Was hatte sie verloren? Sie war völlig verwirrt. »Sandy, wo bin ich?« Sandy blickte erleichtert drein. »Du erkennst mich? Man hat mir gesagt, du würdest unter Amnesie leiden. Du bist zu Hause, Schätzchen. Wie fühlst du dich? Auf dem Weg der Besserung, wie ich sehe.« Poppy versuchte sich aufzusetzen. Die Muskeln taten so weh. Ihr ganzer Körper schmerzte. Warum? »Sandy, hatte ich einen Unfall?« fragte sie. Er blickte sie verwundert an. »Du erinnerst dich nicht? O Poppy! Das war mir nicht klar. Ich wollte dich nicht zu sehr bedrängen.«
»Mein… mein Baby. Ich habe von meinem Baby geträumt, glaube ich.« Sandys Gesicht veränderte sich. Er runzelte die Stirn. »Kali?« »Calafia«, erklärte Poppy. »Jetzt nennt sie sich Kali.« Poppys Herz machte einen Luftsprung. Sie schwang die Beine über die Bettkante. »Sie ist hier?« »Ja, sie ist hier. Man sagt, daß sie deine Heilung bewirkt hat. Ich bin nicht sicher, wieviel ich glauben kann; aber es besteht kein Zweifel, daß sie über erstaunliche Kräfte verfügt. Sie würde jetzt bei dir sein, aber sie soll gleich eine Drahtshow aufnehmen.« Poppy fühlte sich plötzlich schrecklich verlassen und fragte sich, warum man ihr nicht ihre Tochter gebracht hatte, als sie aufwachte. Vielleicht litt sie tatsächlich unter Amnesie. Vielleicht wachte sie jeden Tag so auf und hatte keine Erinnerung an die vielen Tage, die es vorher gegeben hatte. Vielleicht hatten alle keine Lust mehr, ihr dasselbe immer wieder zu erzählen. Für sie war jeder Tag eine Enthüllung, aber für die anderen war es immer eine schreckliche Mühsal, wenn sie erwachte. »Eine Drahtshow?« wiederholte Poppy. »Jetzt schon? Sandy, wie lange ist… ist mein Unfall her?« Poppy zögerte. Details über den Unfall kamen zurück, sie war geflohen. Man hatte sie verfolgt. Plötzlich erinnerte sie sich an Clarry… »Es war vor ein paar Monaten, Poppy. Was… was ist los mit dir?« »Clarry Starko«, sagte sie und blickte sich schnell im Zimmer um, als könnte er irgendwo versteckt sein. »Clarry ist tot«, erklärte Sandy. »Er wurde ermordet.« Poppy legte sich zurück und stellte keine Fragen. Die Gewißheit, daß er sie nicht mehr verfolgen würde, reichte ihr.
Keine mitternächtlichen Verfolgungsjagden mehr. Warum Fragen stellen? Die Antworten würden sie nur verwirren. Im Augenblick gab es Wichtigeres, obwohl sie nicht sicher war, was es war. Ein verschwimmendes Bild. Ein Hauch von Grün ein Nachhall ihres Traums. Goldene Augen. Ihr Baby! Sie erinnerte sich an das Gefühl, als sie das Kind im Arm gehalten hatte. Die Erinnerung an die Calafia – Kali – im Traum war so real wie irgendeine andere Erinnerung an ein Gefühl. Es war so real wie die Erinnerung von Sandys Händen auf ihren Armen, als sie aufwachte. Vielleicht war das jetzt ein Traum, und die grüne Wiese war real. Sie wünschte, sie könnte dort wieder mit ihrer Tochter sein. »Ich möchte sie sehen, Sandy«, sagte sie. »Na, du hast doch deine Drähte. Du kannst dich doch jederzeit in sie hineinschalten. Es ist ein großes Ereignis. Sie ist eine Kultfigur, der geborene Star. Die Sender bringen sie praktisch auf jedem Kanal. Du kannst sie überhaupt nicht verpassen. Sie ist live. Du kannst sie vollkommen erfühlen.« Poppy schloß die Augen und versuchte das Signal ihrer Tochter zu empfangen. Sie kannte es genau. Sie erinnerte sich an die starke Verbindung, die zwischen ihnen bei der Geburt bestanden hatte. Diese war wie ein intimer geschlossener Schaltkreis gewesen. Wenn sie nur diesen Kanal wieder finden könnte! Die Erinnerung allein müßte genügen, um das Programm zu empfangen. Aber mit ihren Drähten war irgend etwas nicht in Ordnung. Vielleicht hatte der Unfall ihren Empfang zerstört. Poppy erinnerte sich nur immer wieder an den Traum. Die grüne Wiese wurde deutlicher. Sie sah alles schärfer.
Jetzt veränderte sich die Traumerinnerung, als träumte sie mit offenen Augen. Das Blickfeld war weitergewandert. Sie befand sich jetzt an einem späteren Zeitpunkt. Sand rann durch ihre Finger. Kleine Finger. Sie hörte jemanden weinen. Als sie die Augen hob, blickte sie zu einem blauen Himmel empor. Wieder nahm sie eine Handvoll Sand und ließ ihn wegfließen. Dann sank sie schluchzend zu Boden. »Mami…«, sagte sie. Poppy öffnete die Augen und sah Sandy. »Sie vermißt mich, Sandy.« Ihr Bruder schien verwirrt zu sein. »Was ist los, Poppy?« »Das Programm ist so traurig. Warum zwingen sie das Kind, so traurige Sachen zu machen? Es ist auch zu privat, wirklich nicht für die Öffentlichkeit geeignet.« »Was siehst du?« »Kannst du sie denn nicht fühlen?« fragte Poppy. »Na klar«, antwortete er. »Natürlich fühle ich sie. Ich hätte nur gern gewußt, wie du das Ganze findest. Warum ist es traurig?« »Ja… weil sie ganz allein in dem Park ist. Sie spielt weinend im Sand und ruft nach… nach mir, nehme ich an. Ganz allein.« Jetzt war Sandy eindeutig verwirrt. »Bist du sicher? Das klingt nicht wie das Programm, was sie… äh… was ich bekomme.« »Was fühlst du?« Sandy stand abrupt auf. »Poppy, fühlst du dich kräftig genug, ein Stück zu gehen? Nur bis zum Auto.« »Ich glaube schon«, sagte sie zaghaft. Ihre Beine fühlten sich kräftig an. Sie wollte sie bewegen. »Warum? Können wir zu ihr fahren?« »Ja. Ich bin neugierig. Sie ist in der Studio City.« »Im Studio?« sagte Poppy erstaunt. »Der Park sah so echt aus.«
»Aber du weißt doch, was sie heutzutage mit Spezialeffekten machen können«, erklärte Sandy. Noch beim Sprechen hatte sich sein Gesicht verändert. Er blickte sie mit großen, verängstigten Augen an. »Was hast du, Sandy?« »Ich bin nicht sicher Komm, sehen wir mal, ob wir dich auf die Beine bekommen.«
Aus der Luft sah es aus, als fände in der Studio City eine Revolution statt. Die Menschen krochen fast übereinander, um näher an das Gebäude zu kommen, wo Kali ihre Live-Sendung machte. Sandy hatte eine VIP-Berechtigung, deshalb wurde der Jaguaero nicht abgelenkt, sondern konnte auf dem Dach landen. Er geleitete Poppy zum Gästeeingang. Als sie an der Dachkante vorbeigingen, blickte er auf den Mob. Ein Zittern ging durch die Menschenmenge. Dann waren alle wie auf einen Schlag ruhig und friedlich. Sie formten manierliche Schlangen in konzentrischen Ringen um das Gebäude und den glitzernden Straßen. Schweigen senkte sich auf die Studio City, den Staat, vielleicht die Welt. Sandy wollte nicht über die Reichweite der Sendung nachdenken. Die Öffentlichkeit hatte Kalis Geschichte wie die Wiedergeburt des Messias verfolgt, allerdings ohne sektiererische Voreingenommenheit. Niemand mit Polynerven würde freiwillig Kalis Sendung verpassen. Unglücklicherweise hatte Thaxter Halfjest es gerade jetzt geschafft, seine Petition 5,997 durchzubringen, die Maßnahme, die Signal-Blocker in Bürogebäuden verbot, wodurch jetzt noch mehr Menschen im Staat offen für die Sendungen waren. Alle hatten Kali eingeschaltet, ihre Medien-Göttin, die alle an den Drähten hielt. Sie gehörten ihr wie die Tausende von Neuronen in einem einzigen Gehirn, die aber jetzt zum
erstenmal verknüpft waren und jetzt eingeschaltet wurden. Sie schufen mit unzähligen Kombinationen eine neue Persönlichkeit, etwas, das anders und größer als jeder von ihnen war. Eine neue Form von Bewußtsein entstand gerade jetzt auf den Straßen von Frangeles unter Sandy. Eine Art Monster oder Gott erwachte. Sandy hatte Angst, daß es ihn sehen und seinen Verrat sofort durchschauen könnte. Sandy hatte sich vor diesem Tag und der Rückkehr nach Kalifornien gefürchtet und sie deshalb aufgeschoben, bis General Navarro-Valdez ihm mitgeteilt hatte, daß er nicht länger warten durfte. Bei seiner Heimkehr am Morgen hatte er das ganze Haus in Aufruhr vorgefunden. Kali war bereits ins Studio gefahren. Alfredo war erstaunt, ihn zu sehen, hatte aber keine Zeit gehabt, ihm Fragen zu stellen. Da Sandy sein Kommen bis zum letzten Moment hinausgezögert hatte, war er von ihren Plänen ausgeschlossen geblieben. Aber das spielte keine Rolle. Er mußte allein handeln, da nur er wirklich Bescheid wußte. Na ja, jetzt wußten es offenbar noch viele. Sie hatten sich Kali ergeben. Mit militärischer Präzision hatten sie sich auf den Straßen aufgestellt und warteten auf ihre Befehle. Aber ein Hauch von kritischem Verstand mußte doch noch in ihnen sein und ihnen sagen, daß diese ganze Disziplin und Harmonie nicht auf natürlichem Weg gekommen war. Irgendwo in dem Netz von Drähten fragten sich bestimmt einige, was, zum Teufel, vor sich ging. Sobald die Begeisterung verflogen war, würden sie hilflos in der Falle sitzen. Ein Zittern von Unentschlossenheit mußte doch durch dieses riesige, erwachende Gehirn laufen, wo Nischen von synergistischer Psychose darauf warteten, entdeckt zu werden, oder etwa nicht? »Kali hat bereits die Kontrolle über das verdrahtete Militär der Welt übernommen«, hatte der General ihm erklärt. »Aber
die Bürger sind noch weitgehend unberührt. Mit der bevorstehenden Sendung wird sich das ändern.« Ja, in diesen Minuten veränderte es sich. Sandy spürte es überall: Die Menschen um ihn herum atmeten, bewegten sich, handelten alle gleichzeitig, mit einem Verstand. Kontrolliert von einem Kind. Er fragte sich, wo ein Kind derartige Disziplin gelernt haben könnte. Was nützten Kali diese Aufmärsche in Reih und Glied? Er hatte gedacht, daß es vielleicht ein spielerisches Chaos, eine kreative Hektik geben würde, nachdem Kali die Kontrolle übernommen hätte – nicht diese eiskalte Ruhe. Nicht dieser Ernst. Das verhieß das Kommen eines schrecklichen Regimes, das über Tyrannei oder Faschismus hinausging, das unvorstellbar schlimmer sein würde als alles, was die Welt bis jetzt erlebt hatte. Es mußte eine dieser Macken sein, von denen Bob gesprochen hatte. Sandy war heilfroh, Kalis Kontrolle beobachten zu können und nicht am eigenen Leibe zu spüren. Sie konnte ihn nicht aus dem Innern heraus berühren; aber sie konnte ihm alles mögliche von außen zufügen. Vielleicht hatte sie das bereits getan? Welche Skrupel hatte denn schon ein kleines Kind? Besonders ein Kind mit derartig scharfem Verstand für militärische Taktik. Ich darf auch keine Skrupel haben, dachte er. Schließlich bin ich nur hergekommen, um meine Nichte zu ermorden. Ich habe ihre Mutter mitgebracht, damit sie mir dabei zuschaut. Und diese Menschenmenge? Sie wird mich in Stücke reißen. Von mir wird kein Teil mehr heil sein – nicht ein einziges Mitochondrion. Es sei denn, daß Kalis Tod sie alle lähmt… so wie ich in Schock verfiel, als sie mich abgeschaltet hat. Aber selbst dann werden mich die Leute kaum mit Freude oder Erleichterung betrachten – sie werden mir nie und nimmer
danken, daß ich ihr Idol getötet habe. Aber vielleicht ängstigt die Menschen das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Auch ich habe vor Angst meine Bräune verloren. Meine Bronzehaut wurde so bleich wie ein Fischbauch. Ach, alles ist so verdammt unvorhersehbar! Sandy musterte Poppy von der Seite. Sie schien benommen und desorientiert. Er hätte sie doch nicht mitnehmen sollen. »Wie fühlst du dich?« fragte er. Poppy hob mutlos die Schultern. »Die Kleine ist so traurig, Sandy. Ganz allein in dem Park. Laß uns schnell zu ihr gehen.« Die Entscheidung war gefallen! Sie gingen an den Wachhunden des Studios und den noch schlimmeren Teges vorbei und betraten das Gebäude. Draußen und drinnen herrschte atemlose Stille. Nur eine schrille Kinderstimme sprach mit künstlichen Pausen. Kalis Stimme. Sandy und Poppy stiegen über die Laufstege aus Metallgitter oberhalb der Bühne nach unten zu dem Meer aus Tausenden von Gesichtern. Die Menschen standen Kopf an Kopf und waren alle auf das Zentrum der riesigen Halle fixiert. Dort stand Kali in ihrer schimmernden Erwachsenen-Hülle auf einem hohen Podium. »Bleib einen Moment stehen, Poppy«, sagte Sandy. Er trat auf eine Rampe und ging auf Zehenspitzen vorwärts. Seine Schwester klammerte sich ans Treppengeländer und blickte auf Kali hinab, als erkenne sie ihre Tochter überhaupt nicht. Aber das war natürlich, denn Kali sah nicht aus wie das Baby, das Poppy in der Aufregung des 9. September für wenige Augenblicke gesehen hatte. Auch jetzt war von ihr außer dem kleinen Köpfchen, der aus der Entfernung kaum größer als ein Punkt war, in der schimmernden Hülle nicht viel sichtbar. Selbst ihre Sprache klang wie die eines Roboters.
Ihre Worte waren sehr laut, obwohl sie nicht elektronisch verstärkt wurden. Das war auch nicht nötig, da alle Zuschauer still waren und – via Drähte – durch Kalis eigene Ohren zuhörten. »…Menschheit ist eine Einheit«, sagte sie gerade. »Es ist unsere Bestimmung, uns zu verbinden, uns vollständig zu vereinigen, mit einem Verstand zu handeln, mit einem Herz, mit einem Körper, mit einer Seele, mit einer alle umfassenden Absicht.« Sandy hockte sich hin und betrachte Kali durch das Metallgitter der Rampe. Er hatte das Gefühl, als sei er mitten in der Luft erstarrt und fiele für immer in die Tiefe. Näher mußte er nicht an Kali herankommen. Von hier aus konnte er schießen und sie treffen. Eine kalte blaue Feuerlinie würde diesen ungeschützten kleinen Schädel durchbohren. Er brauchte nur das Ziel einzustellen – den Rest erledigte die Waffe. Die selbstauslösende Zielpistole benötigte keinen Schützen, nur jemand, der sie hielt. Das Töten erledigte sie ganz allein. Mit zitternder Hand faßte er in die Tasche. Schritte hinter ihm ließen die Rampe vibrieren. »Sandy«, flüsterte Poppy. Er ließ die Waffe los. Irgendwie mußte er seine Schwester von hier wegbringen. Wenn er Alfredo fand, konnte er sie bei ihm lassen. Aber er hatte Angst, aufzuschieben, weswegen er gekommen war. Vielleicht würde er nie wieder den Mut haben – oder die Gelegenheit. »Sandy«, sagte Poppy. »Ich weiß nicht, was hier geschieht, aber…« »Es ist alles in Ordnung, Poppy«, sagte er ruhig und nahm sie bei den Schultern. »Wir bringen dich jetzt an einen sicheren Ort.«
»Das ist nicht meine Tochter, Sandy. Ich kann sie immer noch fühlen. Sie ist irgendwo in einem Park. Das ist nicht Calafia, sondern ein fremdes Kind.« Sandy blickte hinab auf das Babygesichtchen und die verzückte Menschenmenge. Es war eindeutig Kali. Arme Poppy. Sie war wirklich verwirrt. »Doch, das ist Calafia«, erklärte er. »Vielleicht sieht sie in dieser Erwachsenen-Rüstung für dich fremd aus. Ich weiß, daß du sie nicht gesehen hast, seit sie geboren wurde. Aber es ist deine Tochter.« Poppy begann zu weinen. »Du verstehst mich nicht! Sie ist hier: In mir! Ich weiß, wo sie ist. Ich bin jetzt – in diesem Moment – auf sie eingestimmt. Das Ding da unten hat ihren Körper, aber sie ist nicht da drin.« Sandy schob seine Schwester zurück zur Treppe, weil er Angst hatte, sie könnten Aufsehen erregen; denn Poppy sprach immer lauter. »Du glaubst mir nicht!« sagte sie. »Ich glaube, daß du immer noch desorientiert bist.« »Aber das ist sie nicht! Jemand anderer benutzt ihren Körper. Sie wurde hinausgestoßen… sie ist verloren. Sie braucht mich, Sandy. Sie…« Poppys Frustration erreichte den Höhepunkt. Sie stieß einen wütenden Schrei aus und lief ihm davon, direkt nach unten in die Menge. »Warte!« schrie Sandy. Dann rannte er hinter ihr her. Sandy hatte ein komisches Gefühl, als er durch die Menge lief. Obwohl alle Gesichter auf das Podium fixiert waren, schaute niemand Kali direkt an. Alle Augen waren abgewendet. Er erinnerte sich an die Schmerzen bei der Rückkopplung, als er in Kalis Bann gestanden hatte. Die
Überlastung könnte vielleicht alle diese Menschen aus der Versklavung herausschocken – vielleicht sogar Kali töten. Sandy traf auf keinerlei Widerstand. Niemand machte ihm Platz, aber niemand drückte zurück, wenn er jemand beiseite schob. Ein paar fielen zu Boden und blieben einfach liegen. Poppy war weit vor ihm. Sie kletterte aufs Podium. Dann packte sie Kali bei den kristallenen Schultern und starrte ihr ins Gesicht. Gleich darauf schrie sie gellend: »Wo ist sie? Was habt ihr mit ihr gemacht?« Sekunden später war Sandy neben ihr auf dem Podium; aber beinahe war er zu spät gekommen. Das Zentrum des Podiums senkte sich, während der Studioboden sich wie ein Schutzschild langsam darüberschob. Sandy sprang nach unten, ehe sich der Spalt geschlossen hatte. Er landete halb betäubt, hörte Poppy und Kalis Schrei. Dann herrschte hier unter dem Studio schreckliches Durcheinander. Irgendwelche Leute stießen ihn vom Podium. Techniker versuchten Poppy von Kali zu trennen, die mit ihren vier Armen wild und kräftig auf die Frau einschlug. Poppy hielt tapfer aus. Aber die Kristallfäuste Kalis brachten ihr außer blauen Flecken tiefe Wunden bei und rissen alte vom Selbstmordversuch wieder auf. Blut floß. Alfredo Figueroa lief herbei. »Aufhören!« schrie er. »Kali, hör auf! Was tust du, Poppy? Das ist deine Tochter…« Er riß Poppy von ihrem Baby im Robotergewand weg. »Wo ist sie?« schrie Poppy. »Mach doch die Augen auf, Mädchen!« sagte Alfredo. »Erkennst du dein eigen Fleisch und Blut nicht?« »Den Körper ja, aber nicht die Seele. Wo ist mein Kind?« Kali betrachtete ihre Mutter mit verächtlichem Lächeln und schlug weiter mit den vier Armen wild um sich. An den
schimmernden Fingern glänzte Blut. »Haltet sie mir fern!« sagte sie. »Also, Kali, sie ist etwas verwirrt und verzweifelt«, beschwichtigte Alfredo. »Aber sie ist deine Mutter.« »Ich sagte: Haltet sie von mir fern!« Poppy riß sich los und stürzte sich erneut auf Kali. Alle im Raum wollten sie zurückreißen, bewegten sich aber ungeschickt und schwerfällig. Vielleicht waren sie durch Kalis Kontrolle betäubt. Vielleicht hatte sie noch nicht gelernt, alle gleichzeitig zu manipulieren, mit Ausnahme, sie ruhig zu stellen. Jetzt bewegten sie sich ruckweise, ja ein wenig widerspenstig, auch Alfredo, der Poppy wegzerrte, die immer noch schrie und mit den Beinen stieß. Sandy drückte sich in die Schatten. Er war der einzige, der Kalis Hilferuf entging. Während er zuschaute, wie Poppy sich verbissen wehrte, fiel ihm die Waffe in der Tasche ein. Konnte er jetzt einen guten Schuß auf Kali abgeben, solange alle abgelenkt waren? Dann bemerkte er auf der anderen Seite des Studios eine Gestalt, die, wie er, ebenfalls im Schatten stand. Erst hielt er sie für einen Tege, einen Sicherheitshund oder Seehundmann, der nicht verdrahtet war und somit auch von Kali nicht kontrolliert werden konnte. Ja, ihr seid die einzigen, die ihr entkommen könnt, dachte er. Jedenfalls noch für eine Weile… Aber es war kein Tege. Er sah etwas funkeln. Schmuck. Kristall. Thaxter Halfjest. Mißtrauisch sah Sandy, wie der Gouverneur fasziniert zuschaute, wie Poppy allmählich – mit Gewalt – beruhigt wurde. Warum hatte Kali nicht Halfjest gepackt und versklavt? Er war der größte Sender in Kalifornien, durch und durch
verdrahtet und ständig auf live geschaltet. Er wäre für sie doch nützlich. Sandy wünschte, daß er jetzt – nur für diesen Moment – die Drähte hätte. Mit ihnen hätte er sich bei Thaxter einschalten und sehen können, was dieser sah. Er erinnerte sich an das letzte Gespräch mit dem Gouverneur. Thax hatte etwas über eine Maschine für Spezialeffekte gesagt, mit der er Präsident McBeth verblüfft hatte. Ein Synthesizer. Thax mußte eine Möglichkeit gefunden haben, sich mit Hilfe dieser Maschine gegen Kali zu schützen. Einen Weg, sie in ein falsches Szenario abzulenken. Aber warum versteckte er sich jetzt hier? Warum half er Poppy nicht, wenn es in seiner Macht stand? Ein Synthesizer, dachte Sandy. Für Spezialeffekte. Effekte wie… ein Tod auf dem Mond? Ein veränderter Kombi? Sandy konnte die Augen nicht von Halfjest wenden. Der Gouverneur stand ruhig da, nicht so überschwenglich wie sonst. Er starrte ins Leere. Dann bewegten sich seine Lippen, seine Hände zuckten. Sandy las die stummen Worte von Thaxters Lippen ab. Kali sprach synchron: »Schafft sie fort! Ich will sie nie wiedersehen.« Sobald Kali schwieg, war auch Thaxters Mund reglos. Sandy kämpfte gegen seine bessere Überzeugung, kämpfte dagegen an, seiner Intuition zu trauen, daß beide dieselben Worte gesagt hatten – Thaxter nur einen Sekundenbruchteil vor Kali. Poppy weinte, als man sie wegschaffte. Eine grüne Wiese, dachte er, ein Park. Er fühlte, wie sich alles um ihn veränderte, wie eine Flutwelle des Bewußtseins nahte, die nur Böses ahnen ließ. Ein riesiges konformistisches Gehirn machte sich bereit, die Welt
zu motivieren… sein häßliches Bewußtsein erhob sich wie eine unendlich hohe Angstwoge. Eine Woge, ja. Wenn er in diesen Begriffen dachte, konnte er damit fertig werden. Er erinnerte sich an das Surfbrett unter den Füßen, wie das Wasser sich hob, um ihn zu tragen. Es war so real wie eine Sendung, kam aber aus seiner eigenen Vorstellungswelt. Es war der Gedanke, den er brauchte, um ihn jetzt durchzutragen. Reite auf dieser Woge oder geh auf ewig unter… Und dann dachte er gar nichts mehr. Vollkommene Stille herrschte in ihm. Die Waffe glitt in seine Hand. Er hielt sie auf dem Rücken versteckt. Ruhig trat er aus dem Schatten und ging geradeaus. Er rechnete mit dem Überraschungsmoment. Das war seine einzige Chance. Er ging direkt auf Kali zu. Sie stand allein, ihre Marionetten waren alle mit Poppy beschäftigt. Kali hörte ihn kommen und drehte sich abrupt in seine Richtung. Einen Moment lang schaute sie ihn verängstigt an, doch dann – als sie ihn erkannte – breitete sich ein Lächeln über ihre Züge. »Hallo, Thaxter«, sagte Sandy ganz normal. Kali breitete ihre vier Arme aus in der Weise, wie der Gouverneur die Geste millionenfach gemacht hatte, so daß sie für ihn mehr als eine Gewohnheit war: Ein Reflex. »Sandy, mein Junge«, sagte Kali. Nicht Onkel Sandy. Plötzlich schwankte Kali, wurde wütend, die Stimme versagte ihr. Sie wandte sich dem Korridor zu, wo ihre Helfer mit Poppy beschäftigt waren. »Helft mir!« schrie sie. Ihre Stimme war zu tief. »Hilfe!« Thaxter bewegte sich im Schatten. »Hilfe!« schrie er mit brüchiger Stimme. Sein Kopf wandte sich Sandy zu. Kali wiederholte die Bewegung.
Waffe raus! Zielen! Feuern! Alles in Sekundenschnelle. Die Woge brach sich um Sandy. Er war immer noch oben, ritt auf ihr durch die Gischt, welche in Wirklichkeit die Stimme der Menge war. Mit dem Ozean konnte man nicht diskutieren. Man konnte eine Welle nicht dazu überreden, so zu brechen, wie man es gern hatte. Es gab auch keine Chance, bei Thaxter oder seinem Spielzeug um sein Leben zu bitten. Jetzt war kein Platz für Situations-Berater. Alles war reine Improvisation. Aber Sandy behielt das Gleichgewicht. Mit dem Klirren von zerbrechendem Kristall stürzte der Gouverneur zu Boden. Er lag zuckend da. Die goldene Krone schmolz und floß in seine Augenhöhlen. Die Haare verbrutzelten, Juwelen wurden schwarz und zerbarsten in der Hitze. Sandy hatte ein sauberes Loch in der Mitte von Thaxters Stirn erwartet; aber der Kopf des Gouverneurs sah wie eine Marshmallow aus, die man in letzter Sekunde aus dem Kaminfeuer geholt hatte. Noch ein Schemen schoß aus den Schatten hervor und rannte auf dicken Beinen durch den Raum. Ein roter Umhang flatterte hinterher. Der Papst von Las Vegas. Sandy sprang ihn von hinten an, riß ihn mit der Samtschleppe zu Boden. Der Papst lag mit offenem Mund da. Kali trat neben Sandy und blickte auf den fetten Würdenträger. »Was hast du mit mir gemacht?« fragte sie. Sandy sah, wie ihre Augen aufleuchteten. Sie beugte sich über den Papst und starrte ihn mit loderndem Blick ins Gesicht. »Schau mich an!« befahl sie. »Du bist ein böses Mädchen«, stammelte der Papst. »Du kannst mir nichts anhaben.« »Ach, nein?« Kali griff hinter sein linkes Ohr und holte einen kleinen Apparat hervor, der so aussah, wie der, den Sandy im
Tempel Kalis getragen hatte, um das Signal des Babys abzublocken. »So… und jetzt schau mich an!« Der Papst wollte wegschauen, aber offenbar war sie in seine Drähte eingedrungen und erzwang die Konfrontation. Seine Augen hingen wie gebannt an ihren. Dann fing er an zu schreien, sein rotes, aufgedunsenes Gesicht wurde purpurrot, die Blutgefäße in seinen Augen wurden schwarz und platzten. »Kali«, sagte Sandy und packte eine Hand, doch sie gab nicht nach. »Hör auf! Töte ihn nicht! Du tust dir nur selbst weh!« Doch Kalis Gesicht war weiß und schmerzverzerrt. Sie konnte nicht aufhören. Sandy warf sich gegen ihre harte Rüstung und warf sie zu Boden. Der Papst schluchzte hemmungslos und schlug die Hände vor die Augen. »Es war alles McBeths Plan«, stieß der Papst wimmernd hervor und flehte um sein Leben. »Er und Thaxter… es war ihr Plan. Er ist wirklich vollständig verdrahtet.« »Papst…«, warnte Sandy. »Nein… nein! Du hast recht. Du hast alles durch mich gesehen. Es war Dr. McNguyen! Er…« »Nein, auf ihn kannst du nicht die Schuld abwälzen.« Sandy packte die roten Samtfalten und schüttelte den Papst.∗ »Ich weiß alles über Marjorie, und ich bin der einzige, der das je wissen wird. Wenn du meinem Vater auch nur ein Wort verrätst oder ihm weh tust, bringe ich das zu Ende, was Kali angefangen hat… oder lasse sie den Rest erledigen.«
∗
In diesem Augenblick atmete die clairaudiante, verstandspringende, unsterbliche, außerirdische Intelligenz, besser bekannt als Dr. McNguyen, erleichtert auf und wandte seine ganze Aufmerksamkeit einem Stoß von Dokumenten zu, auf denen stand: PLAN B: TEGE REBELLION (DRAHTLOS) – Anm. d. Verf.
»Ich werde nichts sagen, wenn du auch nichts sagst.« Der Papst schlug die mit Blut verklebten Lider nieder. »Aber bitte, ich… ich glaube, ich bin blind.« Schweigen. Absolute Stille. Plötzlich hörte Sandy viele Schritte. Poppy kehrte zurück an der Spitze der Menschenmenge. Als sie Kali sah, stieß sie einen Schrei aus. »Du bist da!« sagte sie. »Du bist wirklich da!« Kali blickte sich in dem Kellergewölbe um. Techniker, ihr Onkel, der tote Gouverneur und der zitternde Papst. Sie warf alle vier Arme hoch und fing an zu schreien. Sie ließ alles gleichzeitig hinaus: Hysterische Angst und Erleichterung. Poppy nahm sie in die Arme. »Mama«, sagte Kali. »Mama, ich bin hier. Hier!« »Ich weiß, Baby, ich weiß.« Poppy wollte die Scharniere an Kalis Kristallrüstung öffnen, aber ihre Finger zitterten zu sehr. Sandy trat zu ihr. Er erinnerte sich, wie man den Roboter öffnete. »Setz dich«, sagte er zu Kali. Geschickt klappte er die Scharniere zurück. Jetzt sah man im Herz der enormen kalten Maschine ein kleines Kind. Poppy nahm ihr kleines Mädchen in die Arme und wiegte es liebevoll hin und her. Alfredo ging zu ihr. »Sch, sch, mein Liebling«, sagte Poppy. »Jetzt ist alles gut.« Kali wurde ruhiger, aber Tränen flossen weiter über das Gesichtchen. Die Techniker und alle, die Poppy hatten fortschaffen wollen, blickten betreten, aber auch getröstet drein, als seien Poppys Worte auch für sie bestimmt gewesen. In der Tat schickten Kalis Signale immer noch die Worte durchs Studio, hinaus zu den Satelliten, umhüllten die Erde und stiegen zum Mond empor. Alle, die verdrahtet waren, empfingen den Trost einer Mutter, ganz gleich ob sie im Dunkeln oder im Hellen lebten, im Sommer oder im Winter, an
den Polen oder auf dem Äquator. Und wie Kali weinten viele, als sie hörten, daß jetzt alles gut sei. Ja, jetzt war alles vorbei. Das hatte sie versprochen. Vorbei das sehr kurze Regime der Kalifornia.
13 SERIENSUCHT
EINE TEGE-TRAGÖDIE: HUMANIMALS HOLLYWOOD Rezension von Nigel Wadds-Wright
IN
Höhepunkt der Gala-Eröffnung von McNguyen’s Viet-Celtic Theater gestern abend war die Premiere einer Sendung, bei der einem kleinen Kreis die erste Produktion vorgeführt wurde, die von einem Humanimal gemacht wurde: »Eine Tege-Tragödie: Humanimals in Hollywood.« Der Semiseehund Cornelius, besser bekannt als der ›Corny‹ aus der einst so populären ›Figueroa-Show‹, tritt in die Fußstapfen von Ron Howard, Rob Reiner und Maggie Simpson, als letzter in einer Reihe von hochbegabten Sitcom-Schauspielern, die hinter die Drähte traten und ihre eigenen Programme schufen. Geschrieben, bearbeitet und produziert hat dieser Seehundmann praktisch alles ganz allein – obwohl er unverhohlen bekennt, in der Schuld des verstorbenen Clarence Starko zu stehen, dem umstrittenen Drahtist von ›Poppy auf der Flucht‹. Die Neunzig-Minuten-Dokumentation des Semiseehunds bringt weit tiefere Einblicke, Pathos und echte Gefühle als ein Konzentrat, ein ›Best of‹, von einem Jahr mit Hochzeiten, Beerdigungen und Bar Mitzvahs der Magyk7. Die Dokumentation bringt durch die kühne Verbindung von Flachschirm- und Draht-Technologie erstaunliche Effekte. Fokus der Handlung ist der Kampf mehrerer prominenter Transgenetiker der Vergnügungsindustrie: Besonders der heiße Jungstar Kai Corgi, der geheimnisvolle E. K. Shemhamphorasch und der beliebte, aber (wie wir hier
eindeutig sehen) geistesgestörte Kindergewalt-Star Wayne Clutterbuck, besser bekannt als ›Gockel-Mann‹. Kai Corgi, der zu globalem Starruhm gelangt war, nachdem er einen erfolgreichen Kampf gegen eine unfreiwillige Euthanasie-Verordnung bis zur montäglichen ›Nachtsitzung des Berufungsgerichts‹ geführt hatte, ist in dieser Dokumentation erbarmungslos in seiner Analyse, wie Hollywood (das hier als Mikrokosmus für die Menschheit im großen steht) durch ignorante Stereotypen an der globalen Unterdrückung der Teges Schuld hat. Als aktiver Kämpfer für die Rechte der Tiere – nicht nur der Teges – hat Kai sich in letzter Zeit von Auftritten in Drahtshows zurückgezogen. Doch er machte eine Ausnahme, um seinen guten Freund Cornelius in einer Adaption der Kalifornia-Story darzustellen. (Sendung heute abend: Zeit und Kanal finden Sie im Programm.) Mit großer Sympathie sehen wir, wie Shemhamphorasch, ein geschulter Shakespeare-Schauspieler, dessen höchstes Ziel ist, als Hamlet oder Othello ›auf den Brettern zu stehen‹ (dessen genetische Quellen jedoch Raum für offene Spekulation lassen), immer wieder Rollen bekommt, wo er als verrückt spielender außerirdischer Schwachkopf kaum ein paar Silben zu stammeln hat – wenn er überhaupt eine Sprechrolle bekommt. Wir wollen hoffen, daß die Industrie endlich die Augen öffnet und die Talente dieses unterschätzten Schauspielers erkennt, damit dieser endlich die Chance bekommt, die Rollen zu spielen, die er mit Sicherheit verdient. Ich jedenfalls würde ein Vermögen für das Vergnügen ausgeben, E.K.S. als Willy Loman zu sehen. Die deprimierendsten Momente sind allerdings das Porträt von Wayne Clutterbuck. Da sehen wir einen Tege auf dem Höhepunkt seiner Karriere – sein Gehalt ist alles andere als ›Hühnerfutter‹ – gefangen auf dem Böden des Abgrunds persönlicher Qual. Cornelius arbeitet hervorragend heraus, daß
die Qual des Gockel-Manns seine Unfähigkeit ist, sich mit seinen transgenischen Wurzeln abzufinden. Mit gespreizten Beinen steht er über dem riesigen moralischen Abgrund zwischen Mann und Gockel, unfähig, eine von beiden Identitäten anzunehmen oder abzulehnen. Clutterbuck ist eine wahrhaft tragische Gestalt. Die Abschnitte, in denen man seine verschiedenen Drogenabhängigkeiten im Detail mitverfolgen kann, sind äußerst schmerzhaft und schmutzig. Man sollte diese Sendung unbedingt mit den Kindern erleben. Sie wird den Eltern die Augen öffnen, welche erwarten, daß die Drähte die Rolle eines unbeaufsichtigten Kindermädchens oder Nachhilfelehrers übernehmen können. Cornelius versteht wirklich sein Handwerk mit den Drähten, aber es sind die Flachschirm-Abschnitte, die der Show die größte Dimension verleihen. Sie schaffen eine Distanz zwischen uns und dem Sujet und erinnern uns dadurch daran, daß wir niemals die Gedanken eines anderen vollständig wissen werden, obwohl unsere Polynerven uns das vorspielen. Mit dem scharfen Auge eines Insiders, versetzt Cornelius uns in eine Welt, die er gut kennt – es ist eine qualvolle Reise, voll Ungerechtigkeit und Bigotterie, gleichzeitig schenkt sie uns große Hoffnungen auf einen aufgeklärten, erweiterten Blick auf… nicht auf die Menschheit, sondern auf die Intelligenz. Am edelsten in diesen Geschöpfen sind nicht unbedingt ihre menschlichen Qualitäten: Es ist etwas, das ich nicht so einfach benennen kann. Wir sollten Cornelius für seine Kühnheit und seine Aufklärung dankbar sein. Mit Beben warte ich auf seine nächste Drahtproduktion, ganz gleich, ob er sich weiter mit ernster Gesellschaftskritik beschäftigt oder direkt in nervenzerreißende Unterhaltung einsteigt!
Nachmittags war die Bajasonne heiß, sogar im Schatten des grünen Tals. Cornelius nahm die Kritik, mit der er die Augen beschattet hatte, herunter, um sie noch mal zu lesen. Er lag auf einem weichen Diwan, trank einen Margarita und knabberte an einer frischen, eisgekühlten Forelle, die er am Morgen im Fluß unterhalb des Hauses gefangen hatte. Er dachte an seine Verwandten, die sich auf spitzen, mit Möwenexkrementen bekleckerten Felsenklippen sonnten. Sie taten ihm leid. Nie würden sie das Vergnügen einer rein terrestrischen Existenz kennenlernen. Andererseits mußten sie sich nicht mit so viel Unsinn herumschlagen. Dieser Nachmittag war eine seltene Ruhepause in seinem in letzter Zeit schrecklich hektischen Stundenplan. Echte Seehunde hatten keine Vorstellung von Urlaub – brauchten ihn ja auch nicht. Vielleicht war das eine Idee für sein nächstes Projekt. Seit seine erste Produktion auf den Markt gekommen war, fischte er mit ständig wachsender Verzweiflung nach zündenden Ideen. Eins stand fest: Er mußte seinen Wurzeln treu bleiben. Obwohl ihm McNguyen Industries versprochen hatten, Sponsor für sein nächstes Werk zu werden, hatte er sich selbst geschworen, die unterdrückte humanimalische Energie zu befreien, die er tagtäglich um sich herum knistern hörte. Sie suchte nur nach einem Weg ins Freie. So viel Ungerechtigkeit. Wenn er nur alle seine Ideen auf ein großes Konzept ausrichten könnte! Ein alles überspannender Plan fehlte ihm; aber er spürte sein Werden… Cornelius blickte auf, als Dyad ihn aus der schattigen Kühle des Hauses rief. Hineingehen war wie ein Sprung in kaltes Wasser. Sie wartete in der Bibliothek. »Es fängt gleich an.« Zwischen den uralten Büchern stand eine antike Kostbarkeit: Ein 68 Zentimeter Farbfernseher. Da alle drei keine Polynerven hatten, war das Gerät mehr als eine Kuriosität. Ein Ledersofa und mehrere Polstersessel standen davor. Cornelius
ließ sich in einen Sessel fallen, Dyad nahm das Sofa. Wenige Sekunden später kam Raimundo und setzte sich neben sie. »Ich weiß nicht, warum du mich zwingst, diesen Schrott anzusehen«, beschwerte er sich mit dem Stolz eines Aristokraten. »Das ist ein großer Moment«, erklärte sie. »Es kann durchaus mit einer neuen Episode von ›Gilligan’s Island ‹ mithalten.« »Also, wirklich! Wie kannst du die beiden vergleichen!« empörte sich Raimundo. »Ach, Raimundo, geh raus und laß dich bräunen!« Raimundo schien zu schmollen, aber das war sein üblicher Gesichtsausdruck. Unter der launischen Fassade steckte ein ganz netter Kerl, wie Cornelius festgestellt hatte. Auf keinen Fall nahm er ihm übel, daß er Drahtshows nicht mochte. Niemand traute den Drähten mehr. Fernsehen und Holographie erlebten eine neue Blütezeit – wahrscheinlich vorübergehend. Darüber war Raimundo hocherfreut, besonders wenn die Programme ihm Anlaß zu beißender Kritik boten. Er war ein Feinschmecker uralter Sitcoms. Die neueren Shows hielt er für blaß und beschissene Abfallprodukte. Der Bildschirm leuchtete blau auf. Barocken Fanfaren folgte eine Melodie, die Cornelius in etwas einfacherer Version schon tausendmal gehört hatte. Es war die Musik, die er aus Träumen kannte: Das Figueroa-Thema. »Heute abend… endlich können wir es bringen… eine packende Dramatisierung der Story hinter der Story, die alle kennen: ›Aufstieg und Fall Kalifornias‹!« »Es spielen…« Verblüfft sah Cornelius auf die Liste der Schauspieler: »Dane Magyk als Alfredo! Helouise Magyk als Marjorie!« So stand’s also um das Versprechen des Papstes zu schweigen, das er Sandy gegeben hatte. Er hatte seine intime Kenntnis den Sendern verkauft, sogar eine strafrechtliche Verfolgung für die
Chance, sich selbst zu spielen, riskiert. »Nona Magyk als Poppy! Danny B. Magyk als Sandy! Miggles und Pepe als Mir und Ferdi! Baby Wego als Kali! Und als Gast-Star: Kai, der Wunderhund, als Cornelius!« Die Besetzung war bizarr unangemessen, obwohl Cornelius Kai seinen Segen gegeben hatte. Alfredo war ein fast zwei Meter großer Zulu, Marjorie eine zierliche Philipinofrau. Beide konnten allerdings wunderbar singen. Cornelius hatte die Musiknummern der Magyk7 immer genossen. Sandy war der einzige der Truppe, der entfernt wie ein Weißer aussah: Ein kleiner, etwas dicklicher Rotschopf mit näselnder Piepsstimme. Und die kleine Kali war eindeutig eine Zwergin. Die Geschichte begann mit Kalis Geburt, die in einer Luxussuite im Laguna Cliffs Marriott nachgestellt wurde. Danach erlahmte Cornelius Aufmerksamkeit. Zum Glück summte in diesem Moment das Telefon. »Sie gestatten«, sagte Cornelius. Er ging in eine Ecke der Bibliothek und schaltete den Bildschirm ein. Sandy – der echte Sandy – schaute sie an. »Seht ihr es euch an?« »Ja, es läuft; aber ich kann nicht behaupten, daß ich ganz bei der Sache bin.« »Ich kann es nicht über mich bringen, zu… na, du weißt schon!« »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen einen genauen Bericht geben kann.« Hinter Sandy befand sich eine riesige Halle, wie eine Höhle, voll mit Maschinen. Funken sprühten aus Schneidbrennern und brachten Helligkeit ins Dunkel. Ohrenbetäubendes Hämmern, Bohren und Sägen übertönte fast Sandys Stimme. Sandy war mit Öl und Schmutz bedeckt. Er hatte in der Heiligen Stadt Glückseligkeit gefunden und war dorthin zurückgekehrt, um
seine Ausbildung bei den Himmelsmechanikern zu beenden – oder vielleicht dort den Rest seines Lebens zu verbringen. »Ach, was solls!« sagte er. »Wichtig ist die Arbeit, die du leistest. Ich gratuliere dir zu deiner Show, Mann. Ich fand sie echt super-braun, Corny.« »Ich bin froh, daß Sie es gestern abend geschafft haben«, sagte Cornelius. »Es war schön, die Familie wieder vereint zu sehen.« Dieses Familientreffen sorgte für Unruhe im VC-Theater. Miranda und Ferdinand schwebten auf dem Gipfel der Popularität mit ›Kind-Braut‹. (Ferdi spielte die Rolle des Schwagers, die etwas kleiner und weit weniger kontrovers war als die, welche er ursprünglich für sich geplant hatte.) Aber seit der Nacht der Überlastung waren Poppy und Kali nicht viel in den Sinnen der Öffentlichkeit. Vergangene Nacht hatten die beiden eigentlich wie jede andere Mutter und Tochter ausgesehen. Kalis alarmierend schnelles Wachstum hatte sich verlangsamt. Sie konnte jetzt schon laufen – auf ihren eigenen Beinen. Poppy hatte Kali erlaubt, die Drähte zu behalten, aber sie blieb ständig auf ihre Tochter eingeschaltet und überwachte die Benutzung. Alfredo schien diesmal überhaupt nicht an der Aufmerksamkeit des Publikums interessiert zu sein. Er ließ Kali nicht aus den Augen und spielte mit ihr, als bestehe die Gefahr, daß das Kind sich langweilte. Alfredo erfaßte nicht ganz die Bedeutung ihrer erstaunlichen Intelligenz und ihrer kurzen Erfahrung mit der Beherrschung der Welt. Für Alfredo war sie nur ein Enkelkind, das er necken, anbeten und umsorgen konnte. Jemand rief Sandy aus dem Hintergrund. Er winkte ab und nickte Corny zu. »Also dann… laß mich wissen, ob es etwas taugt. Ich kann ja jederzeit eine Wiederholung erwischen. Bis später, Corny.« »Auf Wiedersehen.«
Als Cornelius sich wieder dem Programm widmete, waren die Dinge noch schlimmer geworden. Raimundo räusperte sich, stand auf und ging hinaus. Dyad seufzte. »Entschuldige uns eine Minute, Cornelius. Ich glaube, Raimundo ist über irgend etwas verärgert.« »Das kann ich ihm allerdings nachfühlen.« Der fette kleine Santiago-Darsteller watschelte keuchend neben Kai-Cornelius am Strand entlang. Er warf einen Stock in die Wellen, und der Hundmann sprang hinterher. Dabei stieß er eine sehr schlechte Imitation eines Seehundrufes aus. Offenbar hatte niemand beim Drehbuch beachtet, daß der echte Cornelius nicht schwimmen konnte. Cornelius leckte sich das Salz des Margarita von den Lippen und dachte ans Meer. Quälende genetische Erinnerungen kamen an die Oberfläche und jagten ihm Angst ein, ehe sie wieder verschwanden. Er beneidete Kai um die Fähigkeit, in den Wellen zu plantschen. In dieser Hinsicht hatte das Programm seine Rolle verbessert. Cornelius war ein Seehund, der nicht schwimmen konnte. Was hatte er sonst noch verloren, als er seine Menschlichkeit erwarb? Ja, was hatte er überhaupt gewonnen? Am meisten konnten die Menschen auf ihre Daumen stolz sein. Selbst ein Tege mußte zugeben, daß diese Fortsätze nützlich waren. Cornelius benutzte seinen, um den Fernseher auszuschalten.