Cover
DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Svatopluk Zlámaný Kacenburger Sommer und Drei gegen dre...
27 downloads
589 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover
DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Svatopluk Zlámaný Kacenburger Sommer und Drei gegen drei
Zwei Kriminalerzählungen
Vor der malerischen Kulisse der Kacenburg finden alljährlich traditionelle Festspiele statt, so auch im Sommer 197… Die bewährte Laienspielgruppe eröffnet die Veranstaltung mit dem ebenso bewährten Spektakel. Alles läuft wie am Schnürchen bis zum Wettbewerb der Bogenschützen. Als der beste Schütze ermittelt ist und seine Siegestrophäe vom Burggrafen entgegennehmen soll, wartet er vergeblich, denn der Burggraf – sonst der Schloßverwalter Korsa – liegt hinter den Kulissen mit einem Armbrustpfeil im Rücken. Eindeutig handelt es sich um Mord. Zdeňek Boucký, Leiter der örtlichen Kripo, kann zwar bald ein Motiv – 270 000 Kronen – entdecken, vom Täter aber fehlt jede Spur.
Svatopluk Zlámaný
Kacenburger Sommer Drei gegen drei
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Hra na slepou bábu Verlag Mladá fronta, Praha 1979 © Svatopluk Zlámaný 1979 Aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer Die Erzählung „Drei gegen drei“ erschien bereits in leicht gekürzter Fassung als Blaulicht-Heft.
Inhalt
Kacenburger Sommer
8
Hra na slepou bábu
Drei gegen drei Hra tři na tři
140
Kacenburger Sommer
ERSTES KAPITEL, in dem ein sorgloser Zuschauer dringend auf die Bühne gebeten wird Dem Fotografen entging nichts. Er hielt gerade das eindrucksvolle Bild fest, wie ein Henkersknecht in einem scharlachroten, enganliegenden und wohl ziemlich unbequemen Kostüm aus einem Häuschen eilte. Am Henker in seiner Arbeitskleidung war nichts Besonderes, aber das Häuschen war mit den Silhouetten eines Männchens mit Regenschirm und eines Fräuleins im Minikleid geschmückt, und deshalb hatte der Schnappschuß gewiß Seltenheitswert. Der Henkersknecht grinste den Fotografen drohend an, fuhr sich mit dem Finger über den Hals und lief zu seinen Kumpanen, die sich am Eckturm des Schlosses unter einem Balkon aufgestellt hatten. Der Burggraf war mit seiner blumigen Rede noch nicht zu Ende. Seine Kleidung wirkte sehr dekorativ: gelbe Lederhosen, Reitstiefel mit Theatersporen, leinenes Wams, Musketierhut, Hirschfänger am Gurt. Erstaunlicherweise wurde der Burggraf in diesem Aufzug nicht ohnmächtig, obwohl er in der Hitze des Julinachmittags auf heißem Sand stand und seine Stimmbänder 8
anstrengte, damit ihn das Publikum auch auf den hintersten Bänken der Terrasse hören konnte. Abwechselnd wandte er sich an dieses Publikum und an die Prinzessin, die ein weißes Brautkleid und einen kegelförmigen Hut trug. Sie lauschte den Worten auf einem Balkon, wobei sie mit einem großen chinesischen Fächer wedelte. Der Redner konnte sich offenbar nicht entscheiden, wem mehr Ehre gebühre. Nach Jarolíms Meinung hätte er sich nach seinem gekünstelten Alttschechisch richten und daran denken müssen, daß zu seiner Zeit in der ersten Reihe nicht die Honoratioren aus dem Kreis und der Stadt saßen, sondern der Plebs, daß also Ihre Durchlaucht die Prinzessin die wichtigste Persönlichkeit war. Die Gewohnheit hielt den Redner jedoch in eisernen Klauen, und Jarolím wartete nur darauf, wann er aus der Rolle fallen und einen Anlaß zu allgemeiner Heiterkeit bieten würde, etwa durch die Anrede Edler Genosse Vorsitzender, oder indem er die Prinzessin frech als Fräulein Jana bezeichnete. Schon anfangs hatte er sich im letzten Moment auf die Zunge gebissen, als er anstelle von versammeltem Volk beinahe von versammelten Werktätigen sprach. Niemand hätte sich gewundert, und sicherlich wäre das als Gag des Regisseurs aufgefaßt worden, der gut wußte, daß gerade so etwas vorzüglich für die Eröffnungsfeier des Kacenburger Sommers geeignet war. Jarolím streckte vorsichtig sein gebrochenes Bein aus und ließ den Blick über das bunte Häuflein schweifen, das sich am Eckturm aufhielt. Er bedauerte, seinen Fotoapparat im Hotel vergessen zu haben. Diese Aufnahme, dachte er, würde ich ‚Kacenburg in nuce‘ nennen. Außer den Henkersknechten standen dort mehrere Lakaien in Livree. Die weißen Kittel eines Arztes, einer Schwester und eines Krankenwagenfahrers strahlten in der Sonne. Ein Polizeiwachtmeister wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und umklammerte 9
mit der anderen eine Eiswaffel, um die ihn die meisten Zuschauer beneideten. Im Hintergrund waren ein Krankenauto, ein Streifenwagen und ein Erfrischungskiosk zu sehen. Durch das Schloßtor watschelte der Narr mit einer Schellenkappe, sein blau-gelbes Kostüm ähnelte einem Fußballerdreß, im Unterschied zu den Kickern hatte es jedoch auch verschiedenfarbige Beinkleider. Der Narr brachte ein großes Tablett voller Juicegläser, machte den Lakaien und Henkern eine lange Nase und steuerte auf die erste Reihe des Publikums zu. Die vornehmsten Gäste erhielten die begehrte Erfrischung. Ein Glas blieb übrig. Forschend blickte der Narr in die Menge, ehe er es einem Mädchen in der zweiten Reihe reichte. Der Burggraf redete weitschweifig über den vergangenen Ruhm der Kacenburg, deren Ruinen auf dem Berg hinter dem Schloß emporragten, und erwähnte alle bedeutenden Persönlichkeiten, die in den letzten sieben Jahrhunderten auf der Burg oder im Schloß genächtigt hatten. Allmählich drang er bis zur Gegenwart vor, in der die Kacenburg ihren Ruhm wiedererlangt hatte. Der Narr stellte sich einige Schritte hinter den Burggrafen und kommentierte die Ansprache mit zustimmender oder zweifelnder Miene. Wie Jarolím mit einem einzigen flüchtigen Blick feststellte, langweilten sich die Gäste geduldig. Wahrscheinlich hatten sie die Rede schon bei der Eröffnung der vorangegangenen Kacenburger Sommer vernommen. Er amüsierte sich jedoch ausgezeichnet. Die Festlichkeit paßte zu dem Schloß, das man einst in reinem Renaissancestil errichtet hatte, das aber durch romantische An- und Umbauten des neunzehnten Jahrhunderts hoffnungslos verunstaltet war. In den achtziger Jahren hatte sich der Besitzer eines halben Dutzends Textilfabriken das verfallene Schloß als Schmuckkästchen für sein gerade erworbenes Adelsprädikat zugelegt. Statt es zu res10
taurieren, ließ er es nach seinem Geschmack umbauen – an die Seitenflügel des einstigen Ehrenhofes wurden runde Türme mit Zinnen, einem Wallumgang und Balkonen geklebt, der Hof wurde durch eine hohe Mauer geschlossen, auf der eine Galerie zu den Arkaden des ersten Stockwerks führte, und ins Schloß gelangte man über eine nachgemachte Zugbrücke, die einen frisch ausgehobenen, tiefen Bärengraben überspannte. Vor vierzehn Tagen, gleich nach seiner Ankunft in Podhradí, war Jarolím ums Schloß gewandert und hatte sich überzeugt, daß an dem Gebäude alle Stile vertreten waren, die Europa jemals hervorgebracht hatte. Die Karnevalskostüme der Mitwirkenden bei der Eröffnung des Kacenburger Sommers fügten sich organisch in dieses Stilgemisch ein. Der Burggraf kam endlich zum Schluß seiner Ansprache, nun lediglich ans Publikum gewandt. Der Narr trat näher, pochte sich bedeutungsvoll an die Stirn und zeigte auf den Balkon der Prinzessin. Nun blickte auch der Burggraf zur Prinzessin auf und bat sie, der Eröffnung gnädig zuzustimmen. „Ich willfahre deinem Wunsch, mein treuer Burggraf!“ erklang es von oben mit unsicherer Stimme. Die Prinzessin spielte sonst eine stumme Rolle. Bei günstigem Wetter spukte sie gegen ein geringes Honorar in den Burgruinen als Weiße Frau, um die Touristen zu ergötzen. Dabei trug sie ebenfalls das Brautkleid. Die Henkersknechte spannten ein langes Band. Ein verschwitzter Lakai brachte in einer Silberschale eine Büroschere, ein Schritt hinter ihm stand der Narr mit einem Pokal. Auf der Galerie stellten sich blitzblank herausgeputzte Posaunisten auf. Der Fotograf, der mehrere Apparate umgehängt hatte, knipste die Henker und den Auftritt der Posaunisten, und nun konzentrierte er sich auf den Burggrafen. Dieser durchschnitt das Band, der Narr trank inzwischen heimlich aus dem Pokal und 11
reichte ihn erst dann dem erschöpften Festredner. Genau in dem Augenblick, als der Burggraf den Pokal an seine trockenen Lippen hob, ertönte eine perfekt geblasene Fanfare. Der Burggraf trank den Pokal aus und ging, offenkundig erleichtert, über die Zugbrücke in den Schloßhof. Seine Aufgabe hatte er vorläufig erfüllt, und wahrscheinlich freute er sich auf eine Erholungspause im Schatten. Das Schauspiel fand auf der linken Seite statt. Um den Turm der Prinzessin schritten nun sechs Dudelsackpfeifer in echt Strakonicer Tracht und spielten den Marsch aus dem Film „Die Brücke am Quai“. Hinter ihnen marschierte ein karnevalistisch bunter Zug. Der Narr versuchte zwar, die zerschnittenen Enden des Bandes zusammenzuknüpfen und das Defilee aufzuhalten, aber vier Henkersknechte griffen sogleich ein und trugen ihn auf den Schloßhof. Die Dudelsäcke pfiffen jetzt den Radetzkymarsch, und schon kamen zwei Männer in blitzenden Rüstungen hereingeritten. Sie waren mit langen Lanzen bewaffnet. Ein Ritter trug einen Schild mit dem Wappen der Herren von Kacenburg, der andere wollte in dem berühmten Turnier für die Stadt Podhradí kämpfen. Das Kacenburger Wappen war auch auf einen Teppich gestickt, der am Balkon der Prinzessin hing, und das Stadtwappen prangte auf einem Banner an der gegenüberliegenden Balkonbrüstung. Dort war seltsamerweise niemand. Jarolím überlegte eine Weile, welcher Ritter bei dem Festspiel siegen würde – eigentlich war das eine delikate protokollarische Angelegenheit. Die Ritter brachten die Pferde unter dem Turm zum Stehen und erwiesen mit hochgesteckten Lanzen der Prinzessin ihre Reverenz, dann machten sie eine Kehrtwendung und begrüßten etwas weniger ehrerbietig das Publikum. Die Posaunisten waren inzwischen von der Galerie über dem Schloßtor verschwunden, sie kannten das 12
Schauspiel von den Proben und gedachten nicht, sich in der Sonnenglut zu foltern. Die Ritter ritten fort, und die Dudelsackpfeifer spielten jetzt für sechzehn Fechter, die in historischen Kostümen hereinmarschierten und beim Laufen mit den Klingen der Säbel, Degen, Florette und Dolche grüßten. Dann erschienen neun Bogenschützen, einfach mit dem bekleidet, was in der Garderobe übriggeblieben war. Ein hussitischer Fußsoldat schritt neben einem gascognischen Kadetten, ein Postillon neben einem österreichischen Leutnant, der fünfte Bogenschütze trug den Galarock eines k. u. k. Professors, der sechste kam als Nikolausteufel auf den Turnierplatz, den siebenten zierte eine Uniform, die offenbar von einem patagonischen Admiral stammte, sein Nachbar lief barfuß in einem gestreiften Badeanzug, Modell 1890, einen Strohhut auf dem Kopf, während der neunte in vortrefflich sitzendem Frack, gestreiften Hosen und tadellosem Zylinder an einen Botschafter vor dem Antrittsbesuch am königlichen Hof erinnerte. In Podhradí hatte Jarolím viel freie Zeit. Nach den medizinischen Prozeduren spazierte er durch den Park oder um den Teich, las Bücher, wozu er in Prag durchaus nicht kommen konnte, sah sich Filme an, die ihn zu Hause nie ins Kino gelockt hätten, und obwohl er kaum eine Möwe von einer Ente unterscheiden konnte, verbrachte er einen Abend bei einer Veranstaltung des örtlichen Jagdvereins. Vom ganzen Kacenburger Sommer freute er sich am meisten auf die abendlichen Schloßkonzerte, doch er wollte auch die Schauspiele „Die Nacht auf Karlstein“ und „Das Zvíkover Teufelchen“ nicht versäumen. Warum sollte er sich also die festliche Eröffnung entgehen lassen? Er amüsierte sich, aber interessant wurde es erst jetzt. Die ersten beiden Fechter standen kampfbereit vor dem Tor. Jarolím trug noch das Abzeichen seines Fechtklubs, obwohl es zu seinem beträchtlich angewachsenen 13
Bäuchlein längst nicht mehr paßte. Elf Jahre hatte er jedoch jeden Mittwochabend im Fechtsaal trainiert, und jetzt genügte ihm ein Blick, um festzustellen, daß er hier kein laienhaftes Herumgefuchtel sah, sondern daß die Burschen die klassische Kunst des Fechtkampfes vorzüglich beherrschten. Diese Männer hätten selbst vor den strengen Augen seines Trainers bestanden. Der Kacenburger Sommer schien mehr zu versprechen, als Jarolím vermutet hatte. Außer einem halben Dutzend eifriger Maler in einem Zirkel des Kulturhauses und einer Gruppe guter Musiker gab es also auch eine hervorragende Fechtschule. Er wollte Zdeněk Boucký bitten, ihn gleich nach dem Auftritt mit den Fechtern bekannt zu machen. Die Dudelsackpfeifer spielten einen Tusch, Beifall rauschte auf, und die Prinzessin warf dem ersten Sieger eine Rose mit Schleife zu. Das folgende Paar war keineswegs schlechter. In gefährlicher Nähe der Fechter hüpfte der Narr mit einem Besen herum und versuchte, die Männer nachzuahmen. Das Publikum lachte lauthals. Jarolím beachtete den Narren ebensowenig wie den Fotografen, der unermüdlich umherschwirrte und ein Foto nach dem anderen knipste. Der achte Zweikampf war beendet. Wieder marschierten alle neun Bogenschützen auf, die Henkersknechte holten aus dem Schloßhof neun Zielscheiben, Lakaien gingen von einem Schützen zum anderen und verteilten Köcher mit Pfeilen. Der Narr fand schnell ein neues Vergnügen. Er erschien auf dem Turm neben der Prinzessin, und nachdem er das Publikum mit der Geste eines Landesherrn begrüßt hatte, wurde auch er sportlich tätig. Ohne abzuwarten, bis der Wettbewerb begann, hatte er schon einen Bogen in den Händen und schoß als erster. Der gelb und blau gestreifte Pfeil verfehlte die Zielscheibe bei weitem, der Narr klatschte lobend und legte gleich einen zweiten Pfeil in die Sehne. 14
Die Bogenschützen ignorierten ihn, sie verwahrten sich nicht einmal, als er sogar ihre Zielscheiben traf. Mehr als die Hälfte der Schützen zeigte selbst in dem karnevalistischen Aufzug eine solide sportliche Leistung. Es ging um den Ausscheid, und sie strengten sich an. Nur der Nikolausteufel schoß ständig daneben, auf seiner Scheibe steckte lediglich ein gestreifter Pfeil des Narren, der gascognische Kadett und der k. u. k. Professor schnitten nicht viel ruhmvoller ab. Von weitem war jedoch kaum zu erkennen, wer in den Endausscheid gelangte. Schließlich zählte der Oberhenker die Treffer und verkündete durch ein Sprachrohr das Ergebnis: Am besten war der Postillon, den zweiten Platz belegte der befrackte Botschafter, und als dritter sollte sich der barfüßige Jüngling im altmodischen Badeanzug mit ihnen messen. Das Finale ähnelte dem mittelalterlichen Vogelschießen. Weit hinter den Scheiben, die von den Henkersknechten weggetragen wurden, war auf dem Rasen ein geschälter Fichtenstamm aufgerichtet. Auf seiner Spitze, in fast unerreichbarer Entfernung, steckte ein schwarzer Holzvogel mit gespreizten Flügeln. Kopf und Flügel des Vogels waren lose befestigt und konnten selbst mit einem Streifschuß heruntergeholt werden. Wer dem Vogel den Kopf abschoß, wurde Sieger des Wettbewerbs. Die Schützen traten nacheinander an. Der Fotograf knipste schon alle drei Finalisten, doch den Vogel hatte bisher kein einziger Pfeil berührt. Der Narr auf dem Balkon versuchte ebenfalls sein Glück, und von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er den ganzen Wettbewerb verderben. Er wurde von der Prinzessin nachdrücklich ermahnt und schließlich durch eine Ohrfeige zur Ordnung gerufen. Trotzig warf er den Bogen fort und lief die Treppe hinunter. Auf dem Hof verspottete er wenigstens jeden, der danebenschoß. 15
Kurz darauf gelang es dem Schützen im Badeanzug, den rechten Flügel abzuschießen. Mit dem nächsten Pfeil traf der Postillon den Stamm dicht unter dem Vogel. Die weiteren Pfeile verfehlten ihr Ziel nur um Zentimeter. Der Diplomat nahm zeremoniell den Zylinder ab, legte ihn auf ein ausgebreitetes Taschentuch, und in der atemlosen Stille erklang ein leises Knacken, der Kopf war abgefallen, vom Vogel verblieb ein kläglicher Torso. Die Zuschauer klatschten Beifall, die Dudelsackpfeifer machten sich bereit, um den Sieger zu feiern, aus dem Schloßhof brachten Lakaien die Preise für die Finalisten. Die Bogenschützen hatten sich mehr als eine Rose mit Schleife verdient – die Goldmedaille war eine Pfefferkuchenscheibe, groß wie ein Wagenrad, Silber erhielt der Jüngling, der dem Vogel den Flügel abgeschossen hatte, seine Scheibe hatte die Ausmaße eines stattlichen Brotlaibs, und die Bronzemedaille aus Marzipan von der Größe eines Talers war auch nicht zu verachten. Jarolím merkte, daß der Ablauf zum ersten Male stockte. Die Finalisten standen nebeneinander mit dem Gesicht zum Schloßtor, der Diplomat und der Postillon freuten sich offenbar schon ungeduldig darauf, ihre Kostüme ausziehen zu können. Man wartete quälend lange. Die Prinzessin beugte sich über das Geländer und blickte zum anderen Turm. Dort hatte sich von Anfang an niemand gezeigt. Wahrscheinlich sollte der Burggraf auf dem Balkon dem Programm zuschauen. Die Bogenschützen traten von einem Bein aufs andere, am Tor antwortete ein Lakai auf ihre fragenden Blicke nur mit einem Achselzucken. Die Prinzessin wandte sich an den Narren, der wieder auf der Galerie stand. Schließlich hörte man das Bimmeln der Schellen, als der Narr die Galerie entlanghüpfte, froh darüber, für kurze Zeit die Hauptperson zu sein. Er rief aus vollem Hals, damit es gut zu verstehen war: „Herr Burggraf! 16
Herr Burggraf, wo sind Sie? Sie kriegen keine Prämie, Sie kommen ins Loch! Herr Burggraf, Ihre Durchlaucht wird Sie ausschimpfen!“ Der Narr verschwand im Turm und erschien sofort wieder auf der Galerie. Als ringe er nach Atem, beugte er sich über die Zinnen. Das Publikum klatschte, es vermutete eine gelungene komische Nummer. Kaum jemand hatte den Schrei des Narren vernommen, und niemand hatte ihn begriffen. „Hilfe! Hilfe!“ Erneuter Beifall und dazu ermahnendes Zischen derjenigen, die jedes Wort des Narren hören wollten. „Hilfe!“ schrie der Narr mit versagender Stimme und wehrte mit beiden Händen den erneuten Beifall ab. „Hilfe, schnell! Herr Korsa ist ermordet worden.“ Der Beifall verebbte. Die Zuschauer in den ersten Reihen, die vom Schauplatz nicht mehr als zwanzig Meter entfernt waren, erkannten bald, daß dieser Auftritt nicht zum Eröffnungsprogramm des Kacenburger Sommers gehörte. Die angsterfüllte Miene des Narren war für diesen miserablen Laiendarsteller zu überzeugend. Zdeněk Boucký erhob sich. Jarolím blickte ihn unschlüssig an. „Komm mit, wenn du willst“, antwortete Boucký auf die unausgesprochene Frage. „Wenn das wahr ist …“ Jarolím humpelte schnell seinem Freund hinterher, der an den schreckensstarren Schützen vorbei auf den Schloßhof lief und nach rechts abbog, da hinter dem Tor eine steile Wendeltreppe auf die Galerie führte. Jarolím kam eine Weile nach Boucký an. Zum Tatort gelangte er durch eine Tür auf der Galerie. „Verdammt …“, fluchte Boucký leise. Er trat beiseite, damit auch Jarolím sehen konnte, was geschehen war. Hinter der hohen Steinschwelle lag bäuchlings der Kacenburger Burggraf, im Alltag der Schloßverwalter František Korsa. Unter seinem linken Schulterblatt steckte 17
ein Pfeil. Der große Blutfleck auf dem leinenen Wams war noch nicht trocken.
ZWEITES KAPITEL, in dem ein ganz anderes Programm beginnt, nachdem die Eröffnungsfeier des Kacenburger Sommers vorzeitig beendet wurde Jarolím kannte Zdeněk Boucký seit der gemeinsamen Schulzeit auf dem Gymnasium. Boucký war nach dem Abitur zur Polizei gegangen, inzwischen hatte er es zum Leiter der Kripo im Kreis Podhradí gebracht. Karol Jarolím hatte Jura studiert, für die Kriminalistik entschied er sich erst nach dem Wehrdienst. Weil sie alte Freunde waren, überlegten sie nicht lange, wer die größere Autorität besaß – Boucký hatte schon einen Stern mehr und bekleidete einen ansehnlichen Posten, Jarolím war als promovierter Jurist gleich bei der Prager Zentrale eingestellt worden. Schweigend beschlossen sie also, daß sie einander respektieren würden. Boucký, dessen Aufgaben in dem ruhigen Landkreis nicht besonders bunt und reich waren, blickte achtungsvoll auf Jarolím, der ein Bein gebrochen hatte, und wagte nicht einmal zu fragen, wie das passiert war. Prag ist eben Prag, dachte er, dort geht es lebhafter zu, vielleicht etwas zu lebhaft. Und Jarolím schwieg darüber – er war froh, daß ihm der Arzt erlaubt hatte, aus Prag wegzufahren und eine Kur in Podhradí zu machen, wo er im Parterre eines kleinen Hotels wohnte und nicht fünf Stockwerke in seine Wohnung steigen mußte. Jarolím verbrachte mehrere Abende mit Boucký. Bald merkte er, daß Boucký ein erfahrener Praktiker war, der seinen Kreis genau kannte. Dem Mann in der Provinz wiederum imponierte der Überblick, den Jarolím bei der 18
Prager Zentrale gewonnen hatte. Boucký sagte nicht laut, daß er nur nichtige Fälle hatte, gegen einfältige Diebe und kurzsichtige Betrüger ermittelte, und auch Jarolím verhehlte, daß es ihm kaum besser erging. In Podhradí gab es einfach keine anderen Straftaten, und dem Anfänger wurden in Prag keine größeren Fälle anvertraut. Bei dem provinziell geruhsamen Leben hatte Boucký jedoch nicht sein fachliches Wissen vergessen. Er betrachtete den erschossenen Burggrafen vorsichtig von allen Seiten und rief vom Balkon aus einen Wachtmeister herbei, der am anderen Turm stand. „Wieviel Mann hast du hier?“ fragte Jarolím. „Drei“, antwortete Boucký. „Einer ist im Streifenwagen geblieben, zwei habe ich in den Park geschickt, damit sich beim Schießen niemand dorthin verirrt.“ Boucký befahl dem Wachtmeister, niemanden an den Tatort zu lassen, und eilte zum Streifenwagen. Aus dem Park kamen schon die beiden Polizisten gelaufen. Sie mußten sich durch eine Menschenmenge zwängen. Viele Leute verließen in unsinniger Panik die Terrasse und den Park, als befürchteten sie, ebenfalls ermordet zu werden, während sich andere auf der Zugbrücke drängten und unbedingt auf den Schloßhof, am liebsten auf den Turm zu dem Toten wollten. Die Henkersknechte bewiesen beachtliche Geistesgegenwart, indem sie sich unterhakten und eine Kette bildeten. Es gelang ihnen auf diese Weise, dem Ansturm standzuhalten. „Niemand darf ’rein!“ schrie Boucký und übertrug mit einer energischen Handbewegung dem ersten Polizisten das Kommando über die freiwilligen Helfer in scharlachroten Uniformen. „Und auch niemand ’raus!“ rief er über die Schulter dem verirrten Häuflein aus Lakaien, Bogenschützen, Fechtern und Musikern zu. Auf einer Steinbank am Tor saß der Narr, das Gesicht kalkweiß. Jarolím vermutete, daß sich der Mann gerade übergeben hatte und daß sich dasselbe wieder19
holen könnte. Der Regisseur des Festes und Hauptorganisator des Kacenburger Sommers, der pensionierte Gymnasialprofessor Urban, beugte sich über den Narren und redete beruhigend auf ihn ein. Während die Zuschauer flohen oder möglichst viel sehen wollten, wirkten die Darsteller in ihrer starren Haltung, als spielten sie „Dornröschen“ und wären gerade von der bösen Fee in hundertjährigen Schlaf versetzt worden. Selbst der so unermüdliche Fotograf Dufek, der Leiter der Genossenschaft Fotex, stand still da, und es fiel ihm nicht ein, die vielleicht sehenswertesten Szenen aufzunehmen, die er je in Kacenburg vor die Linse bekam. Im Streifenwagen griff Boucký nach dem Telefon. Die Verbindung kam sofort zustande, doch mit dem Ergebnis war er nicht sehr zufrieden. Die Zentrale versprach ihm zwar, sofort alle freien Leute zu schicken, und die Besatzungen der drei Streifenwagen, die auf den Landstraßen des Kreises Podhradí patrouillierten, würden alle notwendigen Spezialisten aufsuchen und zum Tatort bringen, aber man würde diese Spezialisten erst lange und mühsam in Gärten, Gaststätten, Badeanstalten und Wäldern aufspüren müssen. „Hätte ich nicht lieber das Tor schließen sollen?“ fragte Boucký unschlüssig, als er aus dem Wagen stieg und zum Parkausgang blickte, aus dem sich ein lauter Besucherstrom wälzte. „Das darfst du nicht mal“, antwortete Jarolím. „Es gibt Paragraphen gegen Freiheitsberaubung.“ „Einen Paragraphen!“ erwiderte Boucký abschätzig. „Was würdest du denn tun?“ „Darf ich?“ fragte Jarolím. „Du bist hier der Herr.“ „Was meinst du?“ Jarolím stieg in den Wagen und schaltete den Lautsprecher ein. Er wartete einen Moment, bis sich der Apparat erwärmt hatte, und nahm das Mikrophon vom Armaturenbrett. 20
„Bürger“, erschallte seine Stimme aus dem Lautsprecher auf dem Wagendach. „Sie haben keinen Grund zur Panik, gehen Sie in Ruhe heim, Ihnen droht keine Gefahr. Wir bitten aber alle, die sachdienliche Hinweise zur verübten Tat geben können, zu unserem Wagen zu kommen. Das ist Ihre gesetzliche Pflicht.“ Boucký stand am Auto und gebärdete sich skeptisch. Aus dem Strom löste sich tatsächlich kein einziger Zeuge, alle sahen sich nur nach dem Streifenwagen um und drängten sich verwirrt durchs Tor. „Komm …“, sagte Boucký nach wenigen Minuten. Jarolím gab seinen Mißerfolg zu und kehrte mit Boucký zurück ins Schloß. Auf der Galerie wartete der Arzt. „Brauchen Sie mich noch?“ begrüßte er Boucký. „Ich kann nicht mehr helfen, der Tod ist sofort eingetreten.“ „Ich hätte nie geglaubt“, sagte Boucký auf der Schwelle, „daß man jemanden mit einem Pfeil töten kann. Korsa war doch ziemlich dick angezogen.“ „Stimmt“, meinte der Arzt, „aber sehen Sie, wie eng sein Wams ist, oder wie das heißt. Hätte er einen losen Mantel getragen, wäre der Pfeil gebremst worden.“ Jarolím nutzte gleich die Kenntnisse, die er in der erzwungenen Freizeit erworben hatte, und erklärte: „Irgendwo habe ich gelesen, daß im Mittelalter ein Bogenschütze aus hundert Meter Entfernung einen Ritter aus dem Sattel werfen konnte, indem er ihm die Beine durchbohrte.“ „Holen Sie die Bogenschützen“, wandte sich Boucký an den dritten Wachtmeister, der ihm wie eine Ordonnanz gefolgt war, „bringen Sie die Männer hier irgendwo unter, und bleiben Sie bei ihnen, damit sie untereinander nicht viel reden. Und der Regisseur soll herkommen, Professor Urban.“ Jarolím sah sich inzwischen um. „Ist dir etwas aufgefallen?“ fragte Boucký. 21
„Mir brummt schon der Schädel“, bekannte Jarolím. „Man konnte ihn von dort unten treffen. Am ehesten vom Standpunkt des dritten, vierten, sechsten und siebenten Schützen.“ Er zeigte auf den leeren Platz vor dem Schloß. Von der Stelle, wo Korsa in dem verhängnisvollen Augenblick gestanden hatte, waren vier der neun weißen Kreise gut sichtbar. „Außerdem aus dem Schloßhof und den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite.“ „Dort war niemand“, wandte Boucký ein. „Sicher kannst du das leicht beweisen“, erwiderte Jarolím grinsend. „Und dann von dort!“ Er deutete auf die Galerie über dem Tor, die zum Prinzessinnenturm führte. „Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, daß der Mörder über die Köpfe der Zuschauer hinweg aus dem Park geschossen hat.“ „Sieh mal, wie er daliegt“, sagte Boucký. „Leider wissen wir nicht, wie er gefallen ist.“ „Den Pfeil hätte jemand sehen müssen.“ „Bestimmt? Alle haben nur auf das Wettschießen geachtet.“ „Das glaube ich nicht.“ „Ich will dir nichts einreden“, sagte Jarolím lächelnd, „übrigens beneide ich dich nicht.“ „Du machst mit!“ erwiderte Boucký sofort, „Du hast genug gefaulenzt!“ „Ich bin nicht von hier“, wehrte Jarolím ab, obwohl er ungeduldig auf Bouckýs Aufforderung gewartet hatte. „Abgemacht!“ erklärte Boucký im Befehlston und deutete damit an, daß er immerhin ein Sternchen mehr hatte. „Wir setzen uns dort rein.“ Die Tür von Korsas Büro war nicht verschlossen. Jarolím nahm eine Rolle Packpapier aus dem Schrank und breitete einen Bogen auf dem Schreibtisch aus. „Wollen wir uns vorläufig hier einrichten?“ „Fingerabdrücke? Du denkst, der Mörder …“ „Vorsicht kann nie schaden.“ 22
Sie setzten sich, und Boucký schlug den Notizblock auf, den er aus dem Streifenwagen mitgenommen hatte. „Wieviel Verdächtige haben wir?“ „Wie Sand am Meer. Zuerst neun Bogenschützen.“ Boucký schrieb an den Rand einer leeren Seite die Zahlen eins bis neun und fuhr fort: „Dann sechzehn Fechter, acht Posaunisten, die Prinzessin, den Narren, den Regisseur, außerdem den Maskenbildner, und hier haben sich auch der Fotograf, die Henkersknechte und ein Dutzend Lakaien herumgetrieben. Noch jemand?“ „Das reicht vorläufig“, sagte Jarolím. „Wer ist eigentlich dieser Narr?“ „Der Lackierer Benedikt. Eifriger Laienschauspieler, Sonntagsmaler, Vorsitzender des Anglerverbands, achtundvierzig oder fünfzig Jahre, verheiratet, zwei Kinder, nicht vorbestraft. Zufrieden.“ „Ist er Bogenschütze?“ „Sogar ein erstaunlich guter“, bestätigte Boucký. „Die Bogenschützen kenne ich alle. Benedikt kommt nicht in Betracht.“ „Warum?“ „Hast du seine Pfeile gesehen? Sie waren gestreift, damit sie nicht mit den Treffern der Wettkämpfer verwechselt werden konnten.“ „Ein Pfeil mehr hätte ihm gereicht.“ „Er hatte doch nicht den geringsten Grund …“ „Du mußt das wissen, du bist von hier“, sagte Jarolím feixend. Auf den Arkaden erklangen Schritte. Der Wachtmeister brachte Professor Urban. Boucký deutete auf einen freien Stuhl. „Setzen Sie sich, Herr Professor. Irgendwo müssen wir anfangen, deshalb beginnen wir mit den Bogenschützen. Nennen Sie uns die Männer in der Reihenfolge, in der sie auf den Platz kamen.“ „Bitte sehr“, sagte Urban seufzend. „Die Eins war 23
Herr Vyskočil, Alois Vyskočil, aber ihn haben wir nur der Vollständigkeit halber genommen. Der Mann in der Hussitentracht, erinnern Sie sich?“ „Was bedeutet der Vollständigkeit halber?“ fragte Jarolím. „In Podhradí gibt es nur sieben Bogenschützen einschließlich Herrn Benedikt. Damit es besser aussah, einfach aus Gründen der Regie, haben wir drei Männer dazugenommen.“ „Was ist dieser Vyskočil?“ „Von Beruf? Taxifahrer. Herr Korsa selber hat ihn gebeten, bei uns mitzumachen.“ „Gut. Die Zwei?“ „Der Gascogner Kadett, Antonín Mach, Einkäufer in der Textilfabrik. Ein richtiger Bogenschütze. Die Drei …“ Urban blickte zu Boucký auf, ob die Antwort ausreiche, und fuhr dann fort: „Der Postillon …“ „Einer von den besten Schützen“, bemerkte Jarolím. „Überhaupt der beste“, berichtigte ihn Urban. „Kamil Bouček, Erdkundelehrer in der Grundschule. Die Vier hatte Jiří Král, ein Fotograf von Fotex, aber er war nur eingesprungen, mit ihm haben wir vorher gar nicht gerechnet.“ „Der Leutnant, nicht wahr“, meinte Boucký. „Warum nicht gerechnet?“ „Ich habe ihn wortwörtlich im letzten Moment anstelle von Herrn Berger geholt, František Berger“, wandte er sich erklärend an Jarolím, „Fahrdienstleiter auf dem Bahnhof. Er hat mir erst heute früh gesagt, daß er außerplanmäßig Dienst hat.“ „Král hat vorher nie geschossen?“ „Nein. Er hat vormittags im Park geübt, weil er sich nicht vor der ganzen Stadt gar zu lächerlich machen wollte.“ Jarolím achtete darauf, daß sein Nicken gleichgültig aussah. 24
„Der fünfte“, berichtete Urban weiter, „der Mann in der österreichischen Beamtenuniform, war Milan Suchý, ein Elektromechaniker, ein richtiger Bogenschütze. Der sechste, der als Teufel ging, war Lubomír Veverka, ein Bulldozerfahrer, er war auch nur zusätzlich da. Die Sieben, der Admiral, war der Buchhändler Václav Kulhavý, er ist ein richtiger Bogenschütze. Der Mann im Badeanzug, der den Flügel abgeschossen hat, war mein Kollege Professor Čeněk Pazderka, Sport- und Mathematiklehrer, der Trainer unserer Bogenschützen. Die Neun, den Diplomaten, kennen Sie sicher“, sagte er zu Jarolím, „er ist der Direktor des Hotels, in dem Sie wohnen. Ludvík Kubata.“ „Ich habe ihn nicht erkannt“, gestand Jarolím. „Gute Arbeit von Herrn Wetengel“, sagte Urban lächelnd. „Herr Wetengel war Friseur, jetzt ist er Rentner, aber er macht bei uns den Maskenbildner. Wie Sie sehen, erfolgreich.“ Drei und vier, sechs und sieben, überlegte Jarolím. Der Gymnasialprofessor Bouček und der Fotograf Král, dann der Bulldozerfahrer Veverka und der Buchhändler Kulhavý. Bouček und Kulhavý sind Bogenschützen. Den günstigsten Platz hatten der Hotelchef Kubata, der Sportlehrer Pazderka und Bouček. „Wann wurde entschieden, wer sich auf welchen Platz stellt?“ „Das hat niemand entschieden“, antwortete Urban. „Bei den Proben standen sie jedesmal anders, heute haben sie sich eben so aufgestellt … Soweit ich mich erinnere, stand bei der Generalprobe auf der Eins der Professor anstelle des Hussiten. Sonst entsinne ich mich nicht mehr …“ „Sie sind doch der Regisseur und müssen eine bestimmte Vorstellung haben …“ „Das ist nicht wesentlich“, entgegnete Urban. „Ich mußte an andere Dinge denken. Zum Beispiel für die 25
Prinzessin einen Fächer besorgen, damit sie nicht vor Hitze ohnmächtig wird, den Rittern sagen, sie sollen nicht mit den Schwertern, sondern mit den Lanzen grüßen, weil sie damit kämpfen, und die Juicebüchsen mußte ich auch selber öffnen, was soll ich Ihnen erzählen! Und wenn der Postillon neben dem Teufel auftritt, wirkt das ebenso komisch, als wenn sich der Postillon neben den Admiral, den Hussiten oder den Diplomaten stellt, meinen Sie nicht?“ „Wo waren Sie während des Programms?“ fragte Jarolím. Urban sah Boucký an. „Wo? … Ich weiß nicht, warum ich dem Herrn hier …“ „Weil Doktor Jarolím aus der Zentrale der Kriminalpolizei in Prag ist“, sagte Boucký, jedes Wort betonend. „Wo haben Sie sich aufgehalten?“ Die Mitteilung, woher Jarolím kam, hatte Urban sichtlich beeindruckt. „In der Garderobe, zeitweise auf dem Hof. Als Regisseur muß ich …“ „Wann waren Sie während des Programms allein?“ „Überhaupt nicht, dafür habe ich Zeugen! Ständig waren überall Leute und …“ „Welche Schwierigkeiten oder Streitigkeiten hatte Korsa?“ unterbrach ihn Jarolím. „Das Übliche“, sagte Urban achselzuckend. „Ganz gewöhnliche Dinge. Ein Bauunternehmen ließ sich Zeit, oder man hat ihm eine neue Beleuchtung versprochen, und es rührte sich nichts. Eben der tägliche Ärger.“ „Deshalb wird man aber nicht ermordet. Wer konnte ein Interesse an seinem Tode haben?“ „Darüber grübele ich auch die ganze Zeit!“ „Anders gefragt: Welchen Nutzen könnte Korsas Tod jemandem bringen!“ „Ich habe wirklich keine Ahnung. Wenn er monatlich zweitausend Kronen hatte, ist das viel. Wegen so einem Posten hätte ihn niemand umgebracht.“ 26
„Wo sollte Korsa bei der Vorstellung sein?“ „Auf dem Balkon des Burggrafenturms. Dort, wo das Wappen von Podhradí hängt.“ „Hat Sie als Regisseur nicht gestört, daß sich Korsa dort nicht gezeigt hat?“ „Er war nicht auf dem Balkon?“ „Nein.“ Urban schüttelte den Kopf. „Ich stand an der Zugbrücke, als Korsa sich nach der Begrüßungsrede umgedreht hat und zum Turm gegangen ist.“ „Auf welchem Wege?“ fragte Jarolím. „Über die Wendeltreppe hinter dem Tor“, sagte Urban mit einer Miene, als müsse er seine Zeit mit überflüssigen Kleinigkeiten vergeuden. „Man kann auch bei den Türmen hinauf, wie Sie sicher gesehen haben, Herr Doktor, aber er ist über die Wendeltreppe gegangen.“ „Haben Sie nicht auf seinen Balkon geblickt?“ „Wie denn? Vom Hof aus ist der Balkon nicht zu sehen. Das hätten eher Sie vom Zuschauerraum aus bemerken müssen, meine Herren.“ Hätten wir, gaben Boucký und Jarolím zu. Selbstverständlich ist uns aber nicht eingefallen, sofort nachzuprüfen, warum der Burggraf nicht auf seinem Balkon erschien. „Wann waren Sie im ersten Stock?“ „Als Sie mich gerufen haben“, antwortete Urban. „Wenn Sie nicht mehr können, als den erstbesten, der Ihnen in die Hände gerät, des Mordes zu verdächtigen …“ „Hat er das Inventar ordentlich übernommen? Ist hier vielleicht etwas verlorengegangen?“ „Ich habe ihm alles in bester Ordnung übergeben.“ „Wann?“ „Vor zwei Jahren. Als Pensionär war ich vorher drei Jahre lang Schloßverwalter.“ „Warum haben Sie aufgehört?“ „Als Pensionär“, wiederholte Urban mit Bitterkeit. 27
„Ich war mehrmals krank, und da hieß es gleich, ich würde die Arbeit nicht mehr schaffen. Übrigens war es mir ganz recht, so habe ich wenigstens mehr Zeit für eigene Dinge.“ „Was heißt das?“ „Ich leite einen Malzirkel im Kulturhaus. Und die Vorbereitungen für den Kacenburger Sommer beginnen schon im Winter. Wenn Sie hören wollen …“ Sie wollten es nicht und dankten dem Professor.
DRITTES KAPITEL, in dem Künstler aller Art auftreten Der Fotograf Jiří Král fuhr sich durch das zerzauste Haar. „Ich hätte mich bestimmt besser als Narr geeignet. Sie haben ja gesehen, daß ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe. Praktisch hatte ich zum ersten Mal einen Bogen in der Hand, auch als Junge habe ich nie damit gespielt. Doch als Herr Urban zu mir kam, konnte ich nicht nein sagen. Ich habe also den ganzen Vormittag geübt, trotzdem bin ich aus dem Rahmen gefallen, was soll ich mir da vormachen, nicht wahr?“ Er trug noch die österreichische Offiziersuniform, hatte sie jedoch unvorschriftsmäßig aufgeknöpft. Den angeklebten gezwirbelten Schnauzbart hatte er abgerissen und das Monokel in die Tasche gesteckt. „Wann hat Sie Professor Urban eingeladen?“ „Heute früh. Vielleicht gegen halb neun.“ „Kennen Sie Professor Urban gut?“ „Natürlich. Er wohnt in derselben Straße, und ich sehe ihn jede Woche im Kulturhaus. Voriges Jahr hat er mir bei einer Ausstellung geholfen.“ „Was für eine Ausstellung?“ „Winteraufnahmen aus den Bergen, sechzig Fotos. 28
Wenn man tagtäglich Paßfotos macht und höchstens Babys auf dem Bärenfell oder selige Bräute fotografiert, muß man mal was Vernünftiges tun, um nicht völlig zu verblöden.“ „Verzeihung“, sagte Jarolím lächelnd, „übrigens geht es nicht um Professor Urban. Wie sind Sie mit Herrn Korsa ausgekommen?“ „Oft sind wir uns nicht begegnet. Er ist erst kurze Zeit hier und geht auf die Sechzig zu, und ich bin Ende Zwanzig, verstehen Sie, was ich meine?“ „Wie war er, persönlich?“ „Über Tote nur Gutes“, antwortete Král. „Herr Burggraf, sagt Ihnen das etwas?“ „Leider nein“, erklärte Jarolím. „Wie meinen Sie das?“ „So wie ich das sage. Gut geeignet für feierliche Reden, aber wehe, wenn jemand wirklich was von ihm verlangt! Nehmen Sie beispielsweise den Kacenburger Sommer, dafür habe ich zehnmal mehr getan als er, und ich verliere kein Wort darüber. Gestern war ich im Atelier und habe Kulissen gemalt, alles in meiner Freizeit, und ich erwarte nicht, daß mir jemand Dankeschön sagt. Oder nehmen Sie Professor Urban, was der für das Schloß und für die Stadt leistet! Wenn was zu besorgen war, ist der alte Wetengel rumgefahren, die Beleuchtung im Schloß und auf der Bühne hat Milan Suchý installiert, und ich könnte noch mehr aufzählen. Korsa war hauptsächlich zur Dekoration da, er hatte die Seehundkrankheit.“ „Bitte?“ Jarolím neigte sich fragend zu dem Fotografen. Král hielt die Arme wie Seehundflossen an den Körper. „Die Seehundkrankheit. Hände weg von der Arbeit!“ „Worüber haben Sie sich mit ihm gestritten?“ „Gestritten? Warum sollte ich?“ Der junge Mann warf den Kopf zurück. „Ich habe meine Arbeit gemacht, und 29
wenn er was gesagt hat, habe ich ein Ohr hingehalten und alles zum anderen wieder rausgelassen.“ „Mit wem stand er dann auf Kriegsfuß?“ „Korsa? Mit niemandem. Der konnte alle um den Finger wickeln. Und jeder dachte noch, das ist ein Wundertier.“ Jana Hurychová, die Weiße Frau von den Kacenburger Ruinen, vor einer Stunde eine Prinzessin, sonst Sekretärin des Verwalters, genauer gesagt, sein gesamtes Personal, also auch Schloßführerin, hatte ebenfalls keine Zeit gefunden, sich umzuziehen und abzuschminken. Bevor sie kam, schaute Jarolím von der Galerie auf den Hof und überzeugte sich, daß Bouckýs Anordnungen streng befolgt wurden. Am Parktor stand ein Polizist aus dem ersten Streifenwagen, der als Verstärkung gekommen war, und vertrieb unerbittlich alle zudringlichen Besucher. Ein weiterer Polizist bewachte die Zugbrücke, andere Männer hatten rings ums Schloß Posten bezogen. Jarolím blickte sich um, als er die Tür zuschlagen hörte. Die Prinzessin benahm sich nicht wie eine Landpomeranze. Auf dem Balkon war sie mit ihren einstudierten fürstlichen Gesten nur eine schlechte Schauspielerin gewesen, die Karikatur einer hohen Dame, ein kostümiertes Büromäuschen. Jetzt stand sie aufrecht und gebieterisch im Zimmer, ihre Augen flammten vor Zorn. Sie verbargen etwas, was Jarolím vorläufig nicht benennen konnte. „Was wollen Sie von mir? Warum halten Sie mich fest? Ich habe nichts gesehen, weil ich die ganze Zeit auf dem Balkon gesteckt habe, das wissen Sie genau, und dafür habe ich siebenhundert Zeugen, Sie beide gehören auch dazu. Also was wollen Sie?“ „Eine Zeugenaussage, Fräulein Hurychová“, sagte Boucký kühl. Er hatte beschlossen, mit den Fragen zu beginnen und die Rolle des bösen Mannes zu überneh30
men, danach konnte Jarolím gelassener und verbindlicher die Vernehmung fortführen, falls es nötig war. „Vielleicht begreifen Sie, daß die Aufklärung eines Mordes etwas Zeit und Unbequemlichkeit kostet. Mit wem hatte František Korsa in letzter Zeit irgendwelche Konflikte?“ „Ich weiß nichts.“ „Sie haben zwei Jahre zusammen in einem Büro gesessen. Es wäre nicht ratsam, etwas zu verheimlichen. Also …!“ „Er ist mit jedem gut ausgekommen, das wird Ihnen ganz Podhradí sagen.“ „Wir fragen Sie. Und außerhalb von Podhradí?“ „Weiß ich nicht. Er war immer hier und ist nur selten dienstlich fortgefahren.“ „Kam Ihnen nicht merkwürdig vor, daß sich Herr Korsa nicht auf dem Balkon gezeigt hat?“ „Er hat keine Hitze vertragen, sehen Sie nicht den Ventilator hier auf dem Schreibtisch? Weil er eine halbe Stunde in der prallen Sonne stehen mußte, und noch in dem Kostüm, dachte ich, ihm ist schlecht geworden.“ „Nur Sie? Was hat der Narr dazu gesagt, Herr Benedikt?“ „Nichts. Ich habe ihn erst nach Herrn Korsa geschickt, als die Bogenschützen die Preise kriegen sollten und er immer noch nicht erschien.“ „Was haben Sie Herrn Benedikt gesagt?“ „Er soll ihn holen. Wäre Ihnen was Schlaueres eingefallen?“ Jarolím meinte, es wäre klug, die Prinzessin zu besänftigen. „Fräulein Hurychová, niemand verdächtigt Sie, aber Ihre Aussage kann außerordentlich wertvoll sein. Wann kam Benedikt zu Ihnen herauf?“ „Als die Bogenschützen angetreten sind, nach den Fanfaren. Sie haben ihn doch auch gesehen, nicht wahr?“ „Woher nahm er den Bogen?“ 31
„Der Bogen lag im Turm, das war so vorgesehen.“ „Wo genau?“ „Auf dem Fenster, das vom Turm auf den Hof geht. Jedenfalls habe ich den Bogen dort liegen sehen, als ich auf den Balkon gegangen bin. Und später ist Benedikt mit dem Bogen gekommen, die Pfeile hat er auch mitgebracht.“ „Erinnern Sie sich, wie viele Pfeile er hatte und wie sie aussahen?“ „Warum fragen Sie mich so was? Ich habe gespielt, Sie haben zugeguckt. Haben Sie die Pfeile gezählt? Ich nicht.“ „Was hat er Ihnen geantwortet, als Sie ihn losgeschickt haben, um Korsa zu suchen?“ „Zu Ihren Diensten, edles Fräulein“, antwortete sie mit ironischem Lächeln. „Hat er sich nicht gewundert, daß Korsa überhaupt nicht auf dem Balkon erschienen ist?“ „Wenn ja, dann hat er mir’s nicht gesagt, und Zeit zum Quatschen hatten wir nicht. Fragen Sie ihn doch selber!“ Sie fragten ihn, natürlich. Der Narr hatte sich umgezogen und abgeschminkt. In ziviler Kleidung war er auf den ersten Blick völlig unscheinbar. Er hatte schon den ersten Schock überwunden, sein Gesicht sah aber immer noch aus wie nach einem Kneipenbummel, der einen tüchtigen Kater hinterlassen hat. Über den Verlauf des Ereignisses sagte er nichts Neues. Ausführlicher ließ er sich über Korsa aus. „Ein richtiges Arbeitspferd, schade um ihn“, erklärte er. „Sehen Sie nur, was er aus dem Schloß gemacht hat! Sie können sich doch erinnern!“ Er starrte Boucký lange an, bis dieser nickte und sagte: „Ich bin erst reichlich ein Jahr in Podhradí. Auf dem Schloß wird viel gemacht, das stimmt. Wie war das denn bei Urban?“ 32
„Urban? Ein bißchen Schulmeister und ein bißchen Künstler, das ist zwar beides recht schön, aber nicht für die Arbeit“, sagte Benedikt. „Es reicht eben nicht, prächtige Einfälle zu haben wie Urban, als er den Kacenburger Sommer ausgedacht hat, jemand muß alles erledigen und besorgen. Urban war schon ein bißchen alt. Ich habe nichts gegen ihn, Regie führen kann er, aber als Organisator war Korsa unbezahlbar.“ „Sie haben ihn also geschätzt“, kommentierte Jarolím. „Und die anderen, Korsas Kollegen, Bekannte und so weiter?“ „Keiner kann’s jedem recht machen. Er war penibel, die Post hat er gleich am selben Tag beantwortet, in den Depots hat er Ordnung geschaffen, daß es eine Freude war.“ „Waren sie vorher nicht in Ordnung?“ „Verschwunden ist nichts, damit das klar ist“, antwortete Benedikt, „da würde ich Urban bestimmt unrecht tun. Ich will Ihnen mal an einem Beispiel erklären, wo der Unterschied liegt. Urban kam mal in den Zirkel, in unseren Malzirkel im Kulturhaus“, fügte er gleichsam beiläufig hinzu, „und hat uns gebeten, die Bilder in den Depots zu reinigen und die Rahmen zu reparieren. Warum nicht, in ein paar Monaten war alles erledigt Aber Urban wäre nie darauf gekommen, was Korsa gemacht hat. Der war noch keinen Monat hier, da ließ er schon in den Depots die verrosteten Fenstergitter gegen neue auswechseln, er hat eine Stahltür besorgt und die elektrischen Leitungen erneuern lassen, bei den alten konnte alles jeden Moment abbrennen. Korsa hat mehr praktisch gedacht“ „Sie haben gesagt, er habe es nicht jedem recht gemacht.“ „Wer kann das schon?“ erwiderte der Narr. „Ich habe nur gesagt, daß er auf Ordnung geachtet hat.“ „Ist dir etwas aufgefallen?“ fragte Boucký, als Benedikt gegangen war. 33
„Eines haben sie alle gemeinsam“, antwortete Jarolím nachdenklich, „sie können eine halbe Stunde reden und dabei nichts sagen. Der Narr war noch am interessantesten. Übrigens, was ist das für ein Malzirkel?“ „Das ist ein Kapitel für sich. Künstlerischer Volkskitsch, ich sage das geradeheraus, damit du mich nicht für einen Lokalpatrioten hältst. Ebensogut könnten sie sich Malzirkel Antitalent nennen. Sie meinen es sicher gut, Pech ist nur, daß guter Wille nicht genügt, Kunst kommt eben von können. Andererseits ist es besser, sie malen, als daß sie in der Kneipe sitzen und saufen. Urban ist seltsamerweise von ihnen sehr angetan.“ „Wie viele sind es?“ „Sechs.“ „Kenne ich einen?“ „Sogar drei, Urban, Král und Benedikt, vorläufig. Außerdem gehören der Typograph Louvar, der Goldschmied Kudrna und der Fahrdienstleiter Berger dazu.“ „Mit Berger würde ich gern reden. Er, Kudrna und Louvar waren doch nicht hier?“ „Louvar hat den Chefhenker gespielt, Kudrna hat als Lakai die Schere gebracht.“ „Um so mehr möchte ich Berger kennenlernen“, sagte Jarolím. Nach langer Untätigkeit fühlte er sich blendend, zumal er sich ungezwungener als sonst bewegen konnte, schließlich war er nur als Privatperson bei den Ermittlungen zugegen. „Warum? Berger wird uns nichts Neues sagen.“ Boucký wollte jedoch nicht die Vorschläge seines Kollegen aus der Zentrale völlig ablehnen, denn Jarolím war sicher gewohnt, schönere Verbrechen aufzuklären als er, da die Bewohner des Kreises Podhradí bei Straftaten nicht gerade erfinderisch waren. „Eine halbe Stunde kann ich opfern“, verkündete er großzügig. Eine halbe Stunde opfern, wiederholte Jarolím im stillen. Gerade das ist in unserem Beruf schwer und 34
schlecht. Wir haben hier ein Dutzend Verdächtige, und nur einer ist der Mörder. In dieser halben Stunde müssen wir festlegen, mit wem wir reden, wir müssen den Wahrheitsgehalt der Aussagen herausfinden, die möglichen Motive bewerten und gegebenenfalls weitere Spuren entdecken. Und in elf von den zwölf Fällen vernehmen wir einen Unschuldigen, der vielleicht das erste Mal in seinem Leben mit der Kriminalpolizei zu tun hat, und gerade deshalb, weil er völlig schuldlos ist, überrascht und verwirrt erscheint. Der Mörder erwartet uns, ein Unschuldiger nicht. Und gerade einen Unschuldigen können wir mit einem unpassenden Wort so verletzen, daß er das viele Jahre, ja vielleicht das ganze Leben nicht verwindet. Mit einem solchen Wort können wir auch sein Vertrauen verlieren und bewirken, daß er sich einigelt und verschweigt, was für die Ermittlung entscheidend ist. Die Eisenbahner empfingen die Kriminalisten in der Hoffnung, Einzelheiten über die Sensation zu erfahren. Auch auf dem Bahnhof wurde darüber gesprochen. Berger hatte jedoch keinen Dienst, er sollte erst am nächsten Morgen erscheinen, der Dienstplan war nicht geändert worden. Jarolím und Boucký waren sich wortlos über das weitere Vorgehen einig. Sie hatten offenbar keine Zeit vergeudet. Boucký raste bravourös durch die Straßen und hielt vor einem altersschwachen Häuschen. Auf einer Bank saß eine junge Frau und hütete zwei Kinder, die auf dem Rasen herumkrabbelten. Die Frau schüttelte nur verwundert den Kopf und erklärte: „Mein Mann ist auf dem Schloß, das heißt im Kulturhaus. Sie haben dort eine eilige Arbeit, etwas für das Fest.“ „Das Kulturhaus ist im Wirtschaftshof“, sagte Boucký, der schon wieder am Lenkrad saß. Nach wenigen Minuten fuhren sie durch ein Barockportal in einen parkartig angelegten Hof und stoppten 35
vor dem ehemaligen Gesindehaus. Die Mauern atmeten die gespeicherte Hitze aus. Nirgendwo regte sich ein Lebewesen. Der Flur, der nach Schimmel roch, war angenehm kühl. Im ersten Stock spielte ein Kofferradio. Der Mann im Atelier hatte offenbar das Klopfen überhört. Sie mußten mehrmals an die verschlossene Tür hämmern, ehe geöffnet wurde. Beim Anblick der Kriminalisten sah Berger so verwirrt aus, als wäre er mit einer Geliebten überrascht worden. „Sie wünschen …?“ Boucký stellte seinen Kollegen diesmal förmlich vor. Berger, der einen kurzen, mit Farbe befleckten Kittel trug, machte danach kein freundlicheres Gesicht. Jarolím mußte einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken – sich über nichts zu wundern, gebietet sein Beruf zuallererst. Am Fenster standen sechs Staffeleien, auf jeder war ein Keilrahmen mit Leinwand befestigt und das gleiche Farbfoto aus einer Illustrierten angezweckt, ein romantisches Gebirgstal mit einer alten Mühle an einem Bach. Jarolím traute seinen Augen nicht. Auf der ersten Leinwand sah er vorläufig nur den Himmel voller Gewitterwolken. Die zweite Leinwand wurde vom Gebirgsbach durchschnitten, sonst war die Fläche leer. Der dritte Maler war bisher nicht über einige Bäume am Wasser und am Berghang hinausgekommen. Auf der vierten Leinwand war lediglich die Mühle, der fünfte Künstler hatte nur Berge gemalt, und der sechste hatte den Vordergrund ausgeführt. Jarolím begriff nichts. Er schielte zu dem langen Arbeitstisch an der anderen Wand, wo viele ungerahmte Gemälde lagen, sofern der Ausdruck Gemälde überhaupt angebracht war. Sie kamen ihm bekannt vor. Bald entsann er sich, daß etwas Ähnliches im Vestibül seines Hotels hing, allerdings in viel größerem Format, und beim Höflichkeitsbesuch, den er dem Leiter der Polizei abgestattet hatte, war an der Wand des Arbeitszimmers 36
ein Werk ähnlicher Art zu bewundern gewesen. Jarolím erinnerte sich jedoch nicht, mit welchem Namen das Geschmiere signiert war. War es Urban? „Kacenburger Sommer“, antwortete Boucký auf Bergers stumme Frage. „Ich möchte nur wissen, warum Sie heute nicht mit den Bogenschützen aufgetreten sind.“ „Dazu haben Sie gleich Unterstützung aus Prag mitgebracht?“ fragte Berger spöttisch. „Warum haben Sie nicht mitgespielt?“ „Wie fragen Sie mich eigentlich?“ entgegnete Berger. „Privat oder dienstlich? Zur Vorstellung ist ein Ersatzmann für mich gegangen, wenn das eine so welterschütternde Affäre ist. Wer hat überhaupt mit solchem Unsinn angefangen? Korsa?“ „Herr Berger“, mischte sich Jarolím ein, „wir können selbstverständlich haargenau nach Paragraphen vorgehen, wenn Sie darauf bestehen, und jedes Wort protokollieren. Wir können aber auch alles abkürzen. Schließlich wollen wir nur wissen, warum Sie heute nicht mitgespielt haben.“ „Vielleicht sehen Sie, daß ich alle Hände voll zu tun habe!“ Berger zeigte auf den Arbeitstisch, auf dem Bilderrahmen, Glasscheiben und ein halbes Dutzend bis zum letzten Detail gleiche Gemälde lagen. Auf allen Bildern trat ein Hirsch, mindestens ein Zehnender, aus grünem Waldesdunkel an ein Seeufer. Jarolím faßte die Geste als Einladung auf und betrachtete den Tisch. „Eins, zwei, drei, vier, fünf … Warum sind das gleich sechs Hirsche?“ „Darum“, antwortete Berger unwillig. „Soll ich mich herumzanken, weil der eine was Besseres gekriegt hat als der andere? Sie wissen ja, wie neidisch die Leute sein können.“ „Das weiß ich nicht“, sagte Jarolím kopfschüttelnd. „Wie meinen Sie das?“ 37
„Heute beginnt doch der Kacenburger Sommer“, erklärte Berger, „wir haben hier einen Haufen geladene Gäste, und wer kann ihnen etwas als Andenken geben? Korsa hat keinen Repräsentationsfonds, auf dem Rathaus sind sie auch nicht freigebig, am Ende müssen wir herhalten, unser Malzirkel. Weil die anderen im Programm wichtigere Dinge gemacht haben und ich bloß Statist bin, habe ich angeboten, wenigstens die Bilder zu rahmen.“ „Urban sollte Sie so sehen!“ Jarolím dachte an den Professor, der sich offenbar für einen echten Künstler hielt. „Urban? Der ist auch froh, daß ich ihnen aus der Klemme helfe.“ „Ja? Weiß er, daß Sie hier sind?“ fragte Boucký. Berger wurde unsicher. „Eine Stechuhr haben wir hier nicht, und seit heute morgen habe ich nicht mit ihm gesprochen.“ Jarolím bat Boucký hinter Bergers Rücken durch ein Zeichen, wenigstens eine Weile mit der Vernehmung fortfahren zu dürfen. „Wer wird die Gemälde verteilen? Korsa?“ „Höchstwahrscheinlich. Darf der irgendwo fehlen?“ „Wie kommen Sie mit ihm aus?“ „Ich brauche gar nicht mit ihm auszukommen. Aber ich mag nicht, wenn jemand seine Nase so trägt!“ Recht gekonnt ahmte er Korsas zeremonielle Körperhaltung nach. „Mit welchem Recht? Ich verstehe nicht viel von Kunst, ich male bloß zu meinem Vergnügen und um anderen eine Freude zu machen, wenn ich ein Bild verschenke, doch was ich bei der Arbeit leiste, danach sollten Sie sich bei der Bahn erkundigen! Und Korsa, der Herr Burggraf? Genaugenommen ist er bloß ein besserer Hausmeister. Warum fragen Sie eigentlich nach ihm?“ „Weil er heute nachmittag ermordet wurde“, sagte 38
Jarolím mit gleichgültigem Tonfall, als hätte er den Schnee vom vergangenen Jahr erwähnt. „Was? Korsa? Und wer hat …?“ Jarolím hielt diese Bemerkung für überflüssig und beeilte sich, Bergers Schock auszunutzen. „Wir möchten von Ihnen hören, was Sie alles über Korsa wissen. Mit wem er sich nicht vertragen hat, wer sein Feind war und warum.“ „Korsa? Nein, das weiß ich nicht, mir wäre nicht im Traum eingefallen …“ „Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?“ „Ich glaube, am Mittwoch, ja, am Mittwoch, als ich vom Dienst kam.“ „Allein, oder war jemand dabei?“ „Allein. Wir haben bloß ein paar Worte gewechselt, ich hatte vierundzwanzig Stunden Dienst hinter mir.“ „Und wann haben Sie Urban gesehen?“ „Heute früh. Wann ungefähr? Um acht oder neun.“ „Was haben Sie ihm gesagt?“ „Daß ich arbeiten muß.“ „Was haben Sie genau gesagt?“ „Genau erinnere ich mich nicht. Konnte ich denn ahnen, daß das so wichtig ist?“ Jarolím überlegte, warum der Fahrdienstleiter log – dem Leiter des Zirkels brauchte er doch nichts zu verheimlichen. „Und Urban?“ „Wollte für mich Ersatz besorgen.“ „Wen?“ „Ich erinnere mich nicht, ob er jemanden erwähnt hat.“ „Merkwürdig“, sagte Jarolím, „bei all der Hektik vor der Eröffnungsfeier hat er nichts dagegen eingewandt, daß er im letzten Moment jemanden für Sie suchen mußte.“ „Hier improvisieren wir alles mögliche!“ Berger blick39
te Boucký an, als erwarte er Zustimmung. „In Prag ist das vielleicht anders, aber wir in Podhradí kennen uns alle, und einer hilft dem anderen.“ „Ohne Erklärung?“ „Ich war nicht so wichtig“, antwortete Berger. In seiner nicht langen Praxis hatte Jarolím diese Ausrede mehrmals gehört, und auch Boucký war sie längst vertraut. „Ein ganz gewöhnlicher Statist, nichts weiter.“ „Stellen Sie nicht dauernd Ihr Licht unter den Scheffel“, sagte Jarolím und beobachtete Bergers Reaktion. Der Fahrdienstleiter suchte eine Weile nach einer passenden Erwiderung. Dann entschied er sich, nur die Schultern zu zucken.
VIERTES KAPITEL, in dem die Ermittlung zu ersten überraschenden Schlüssen kommt Jarolím blickte auf den einzigen Schmuck des Büros, ein druckfrisches Plakat des Kacenburger Sommers. Ein Ritter in Rüstung grüßte mit emporgerecktem Schwert die Prinzessin auf dem Balkon und versprach allen Besuchern unvergeßliche Erlebnisse. Auch Jarolím durfte zufrieden sein – an einen Mord mit einem Pfeil würde sich nicht einmal sein Chef erinnern, der abgebrühte Kripoveteran Bärbeißer. „Du mußt verstehen, daß wir ein ordentlicher Kreis sind“, sagte Boucký zu seinem Freund, während er zwei Tassen Kaffee auf den Tisch stellte. „Bei uns wird kaum gemordet, und wenn doch, dann auf alttschechische Art mit einer vollen Schnapsflasche, einem Knüppel oder einer Axt. Das da“ – er zeigte auf den Flur – „braucht dich nicht zu wundern, das ist nicht wie in Prag.“ Das Kreisamt war aus seiner sonntäglichen Schläf40
rigkeit erwacht. Jarolím war einmal zu Besuch gewesen, als Boucký Dienst hatte, und damals lag das Gebäude wie ausgestorben da, nur auf den schmutzigen Fensterscheiben in den Fluren summten Fliegen. Jetzt hörte er Telefone klingeln, und vom Hof drangen die Geräusche an- und abfahrender Autos herauf. „Ein Irrenhaus“, fuhr Boucký entschuldigend fort, als müsse er sich schämen, weil es in seinem Kreis zu einem Mord gekommen war oder weil sich seine Untergebenen als überaus diensteifrig erwiesen. „So etwas hat es nicht gegeben, seit ich hier bin. Jeder will mitmachen. Ein Mord und …“ Jarolím fiel ihm ins Wort: „Ja, einer. Vorläufig.“ „Bist du verrückt?“ schrie Boucký. „Oder denkst du, daß …“ „Ausschließen können wir nichts. Zweifellos war das ein Mord mit Vorbedacht, keine Affekthandlung. Und wer so etwas plant und dann den entscheidenden Schritt tut, wird bestimmt nicht zögern, beispielsweise auch einen zufälligen Zeugen zu beseitigen. Oder jemanden, der nach Korsa der nächste auf der Liste ist.“ „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Jarolím streckte erleichtert das gebrochene Bein aus. „Dasselbe wie du, doch ich würde an das Schlimmste denken. Hör mal, wer war eigentlich dieser Korsa?“ „In unserer Kartei ist er nicht“, antwortete Boucký, ohne zu zögern, „die kenne ich auswendig. Ein bißchen können wir aber finden.“ Er griff zum Telefon. Kurze Zeit später blätterte er schon in einem Aktendeckel. „Viel gibt das nicht her.“ Er blickte Jarolím in der heimlichen Hoffnung an, daß wenigstens er aus den Informationen etwas ableiten könnte. „Achtundfünfzig Jahre, Witwer, zwei erwachsene Kinder, die aber nicht hier wohnen.“ „Und wo?“ „Du fragst zuviel, gestrenger Herr!“ sagte Boucký. 41
„Ursprünglicher Beruf Fachlehrer für Tschechisch und Geschichte. Später hat er den Pauker an den Nagel gehängt und mehrere Arbeitsstellen im kulturellen Bereich gehabt, in Podhradí war er das zweite Jahr. Guter Ruf, nicht vorbestraft. Fahrerlaubnis, Besitzer eines Škoda Tudor, der noch älter ist als deine Blechlaube.“ Jarolím, der sonst auf seinen rostigen und schnaufenden Spartak nichts kommen ließ, blieb diesmal still. „Alles in bester Ordnung“, schloß Boucký. „Hat er Verwandte? Ich meine außer den Kindern.“ „Eine Schwester, ich erinnere mich, daß er sie mal erwähnt hat. Alles zusammen haben wir also Null Komma nichts.“ Boucký klappte den Aktendeckel zu und blickte aus dem Fenster. „Wenn’s nach mir ginge, würde ich am liebsten Urban und Berger festnehmen, doch …“ „Das überlegst du dir lieber, nicht wahr?“ „Nicht mal in Prag würdest du das riskieren“, antwortete Boucký. „Und hier? Beide haben einen guten Ruf, es gäbe einen Skandal, wenn wir danebengreifen würden. Aber daß einer von ihnen lügt, ist klar.“ „Vielleicht beide. Übrigens weiß ich nicht, wie Berger beweisen soll, daß er von früh an im Atelier gesteckt hat.“ „Beweisen müssen leider wir“, erwiderte Boucký. Jarolím trank langsam seinen Kaffee aus und sagte dann: „Hör mal, willst du nicht Korsas Wohnung ansehen? Dort müßte sich etwas finden lassen. Wo wohnt er denn?“ „Dvořákova zwanzig. Die Wohnung habe ich gleich versiegeln lassen.“ „Hm … Vielleicht hat euer Daktyloskop etwas herausbekommen.“ „Auf dem Pfeil ist kein einziger Fingerabdruck. Aber bei Korsa nachsehen müssen wir sowieso, ich erledige das gleich.“ Eine Viertelstunde später öffnete ein Techniker die 42
Wohnungstür und stellte fest: „Das Schloß ist unversehrt.“ Die Einzimmerwohnung wirkte unpersönlich und uninteressant. Typenmöbel, schon ziemlich abgenutzt, ein kleiner Bücherschrank, billige Teppiche, vergilbte Stores. An der Wand hing ein einziges Bild, ein Kupferstich aus dem frühen 19. Jahrhundert, der eine romantische Landschaft darstellte. Boucký zog Gummihandschuhe an und gab Jarolím ebenfalls ein Paar. Der Schreibtisch war nicht abgeschlossen. Auf der Platte lagen mehrere Bündel Briefe. „Er hat viel korrespondiert“, bemerkte Boucký. Jarolím nahm ein Bündel, das mit einem Gummiring zusammengehalten wurde. Auf allen Umschlägen stand anstelle der Adresse „Nr. 853 776, Kennwort Herbst unter eigenem Dach“. Neugierig zog er den ersten Brief aus dem Umschlag.
Sehr geehrter Herr! Ich antworte auf Ihr Inserat mit dem Kennwort „Herbst unter eigenem Dach“ und teile Ihnen mit, daß ich Sie gern näher kennenlernen möchte, wenn Ihre Absichten wirklich ehrlich sind. Jarolím hatte bisher nicht glauben wollen, daß sich zwei Menschen tatsächlich nur mit Hilfe eines telegrammartig kurzen Textes in einem Inserat finden. Korsa hatte sehr viele Zuschriften erhalten.
Werter Herr. Auf Ihr Inserat „Herbst unter eigenem Dach“ antwortend, möchte auch ich einen treuen Freund bzw. Ehepartner finden. Sehr geehrter Herr, wertes Inserat, werter Herr, sehr geehrtes Inserat. Das hatte kein spöttischer Witzbold ausgedacht, die Briefe waren zweifellos echt. Einen 43
schickte Milada Klouková aus České Budějovice, ein anderer stammte von Laura Bourcová aus Plzeň.
Nach dem Lesen Ihres Inserats habe ich mich entschlossen, Ihnen zu schreiben und mich über Ihre Absichten und Möglichkeiten zu erkundigen. Ich selbst könnte zu einem gemeinsamen Leben ein Einfamilienhaus mit 800 m2 Garten beisteuern, hauptsächlich Obstgarten. Vor Ihrer Antwort mache ich Sie aber darauf aufmerksam, daß ich mich mit meinem Neffen (einem Notar) berate, weil es sich um eine wichtige Entscheidung handelt. Und dann wiederum:
Mein Herr! Sobald ich Ihr liebenswürdiges Inserat gelesen hatte, habe ich mich hingesetzt und nach der Feder gegriffen, um Ihnen mitzuteilen, daß ich mich mit Ihrem Angebot Nr. 853 776 ernsthaft beschäftige. Ich bin fünf Jahre Witwe, die Kinder sind selbständig, und ich habe ein monatliches Nettoeinkommen von 2 600 Kronen als Leiterin in einem Kiosk für Erfrischungen. Meine Ersparnisse würde ich gern mit einem gutsituierten Herrn passenden Alters zu einem gemeinsamen Leben vereinen, und ich beabsichtige deshalb, Sie in Erwägung zu ziehen. Jarolím zündete sich eine Zigarette an und überflog die restlichen Briefe. Es waren noch über fünfzig Zuschriften, und keine war kürzer als zwei Seiten. Bei den ersten Briefen hatte er lediglich die einleitenden Abschnitte gelesen. Korsa hatte sich offenbar für einen „gutsituierten Herrn“ ausgegeben, was bei zweitausend Kronen Monatsgehalt, der kleinen Wohnung und dem klapprigen Tudor im Schuppen eine dreiste Behauptung war, die an Heiratsschwindel grenzte. 44
„Sein Sohn wohnt in Domažlice, Podestátova siebenundneunzig“, sagte Boucký, „seine Tochter ist bei ihrem Mann in Indien, er arbeitet schon anderthalb Jahre dort als Monteur, und sie ist mit den Kindern nachgereist. Hast du etwas gefunden?“ „Ja, einen gutsituierten Herrn“, antwortete Jarolím. Er hatte vergessen, daß der anwesende Techniker den schwarzen Humor nicht zu verstehen brauchte. „Der Burggraf wollte heiraten und bekam Angebote von heiratslustigen Witwen mit Haus und Vermögen.“ Jarolím steckte die Briefe wieder in die Umschläge und bündelte sie mit dem Gummiring. Ein kleineres Bündel Briefe war direkt an František Korsa adressiert.
Sehr geehrter Herr, wir haben uns zwar noch nicht persönlich gesehen, aber aus Ihren Briefen und aus dem beigelegten Foto habe ich den Eindruck, daß wir gut zueinander passen könnten. Ich habe über Ihre Informationen nachgedacht und mir gesagt, wenn wir unsere Ersparnisse zusammenlegen, können wir wirklich bald „unter eigenem Dach“ wohnen und einen guten neuen Wagen fahren. Vielleicht wird Sie interessieren, daß ich von einem Grundstück gehört habe, das in Jihlava zum Verkauf angeboten wird, ein Einfamilienhaus mit Garage und 37 Obstbäumen im Garten. Der Schätzwert beträgt 128 000 Kronen, aber der Besitzer verlangt nur 180 000 – weil er schnell nach Brno ziehen will –, was ein günstiger Preis ist. Jarolím griff nach dem nächsten Brief in der Absicht, das Bündel ganz durchzulesen. Hundertachtzigtausend, ein günstiger Preis, nur zweiundfünfzigtausend über dem Schätzwert! Wieviel könnte Korsa dazu beitragen und woher würden sie noch Geld für den Wagen neh45
men? Er muß mindestens hunderttausend gespart haben – aber wie?
Lieber František! Ich habe Ihren Brief erhalten und schlage Ihnen vor, daß wir uns am Sonntag, dem 3. August, in Prag treffen. Prag liegt für beide gerade auf halbem Wege. Mein D-Zug kommt um 11.35 Uhr auf dem Hauptbahnhof an. In Prag gehe ich gern ins Café Europa auf dem Wenzelsplatz, und dort würde ich auf Sie warten, oder Sie auf mich. Mein Foto haben Sie schon, ich werde ein blaues Kostüm und eine gelbe Bluse anhaben. Dort ist es ruhig, und wir können alles besprechen. Damit Sie sich von meiner Seriosität überzeugen, bringe ich mein Sparbuch mit, und ich bitte freundlichst um dito. Bis ich in Rente gehe, kommen noch etwa 16 000 dazu. Wenn Ihre Ersparnisse so hoch sind, wie ich annehme, könnten wir das gemeinsame Leben schon in unserem eigenen Haus beginnen, und wir könnten noch 150 000 „auf die hohe Kante legen“, wie man sagt. Boucký war schon fertig und stand etwas ungeduldig hinter Jarolím, der die Briefe las. Es war offenbar eine engere Auswahl aus der Menge der ersten Zuschriften, die Korsa erhalten hatte. „Hast du etwas gefunden?“ „Setz dich hin, und du wirst staunen!“ Jarolím reichte Boucký einige Umschläge. Er las weiter. Die Briefe unterschieden sich kaum voneinander. Sie klangen durchweg sachlich und enthielten konkrete Angaben über Immobilien, Autos und Sparguthaben, manchmal folgten Auskünfte über den Gesundheitszustand und die Anfrage, wie es damit beim geehrten Herrn Korsa oder dem lieben František bestellt sei. Nur hin und wieder verzierte ein Sätzchen über die 46
Liebe zur Natur oder zur Kunst die geschäftsmäßigen Schreiben. „Lehrer, Angestellter, Burgverwalter – und hat mindestens hunderttausend gespart?“ fragte Boucký ungläubig. „Heiratsschwindel wäre auch ein Motiv für einen Mord.“ „Ich kann mir keine verschmähte Frau mit Pfeil und Bogen vorstellen!“ „Sie kann einen Verwandten haben. Entweder einen Rächer, wie in einem Schauerroman, oder einen Gauner.“ „In keinem Brief steht auch nur ein Wort über Verwandte in Podhradí.“ „Hast du ein Sparbuch gefunden? Jemand kann vor uns hier aufgeräumt haben.“ „Aber wann? Ich habe gleich den ersten Streifenwagen losgeschickt, um die Wohnung zu versiegeln.“ „Immerhin eine dreiviertel Stunde nach dem Mord und mehrere Stunden, nachdem Korsa die Wohnung verlassen hatte. So konnte jemand erst stehlen und dann morden.“ „Ich lasse alle Mieter befragen“, sagte Boucký. „Aber wer bleibt am Sonntag bei solchem Wetter zu Hause?“ Jarolím schlug vor: „Am besten, wir fahren gleich in Korsas Büro.“ Hinter dem Tor des Schloßgartens empfing sie ein Polizist, den Boucký dorthin beordert hatte, ein anderer bewachte das Gebäude auf der anderen Seite. Ein mürrischer Nachtwächter führte die Kriminalisten zur Treppe des Burggrafenflügels. Das Siegel an der Bürotür war unversehrt. In dem Raum hatte sich seit dem Vormittag nichts verändert, das Packpapier lag noch auf dem Schreibtisch. Boucký nahm Korsas Schlüsselbund aus der Tasche, der Schreibtisch war auch hier nicht verschlossen. Sie suchten anderthalb Stunden, ohne etwas Beachtenswertes zu entdecken. Im Büro befand sich nur die 47
pedantisch geordnete amtliche Korrespondenz. Auch im Panzerschrank lagen keine persönlichen Aufzeichnungen. Es blieb der Tresor. „Hast du den Schlüssel?“ Boucký sah sich im Büro um. „Irgendwo muß er sein, in der Wohnung war er nicht.“ Er steuerte geradewegs auf eine alte Kaminuhr zu, die auf einer steinernen Konsole stand, und hob sie leicht an – der Schlüssel lag darunter. „Wie bist du daraufgekommen?“ „Natürliche Intelligenz, falls du weißt, was das ist“, erwiderte Boucký lächelnd und wandte sich zum Tresor um. Fünfzehn Blöcke Eintrittskarten, die Inventarbücher, 628 Kronen in bar und fünf Sparbücher, mehr enthielt der Tresor nicht. Die Sparbücher, von denen jedes auf einer anderen Zweigstelle in der Bezirksstadt ausgestellt war, gehörten Frant. Korsa, Fr. Korsa, Korsa Fr., František Korsa und F. Korsa, und alle Konten waren durch ein Kennwort gesichert. „Wieviel sind es bei dir?“ fragte Jarolím, der im ersten Sparbuch blätterte. „Sechsundfünfzigtausendzweihundert“, antwortete Boucký. „Und in deinem?“ „Genau sechsundvierzigtausend.“ Sie setzten sich an den Tisch und rechneten die Einlagen zusammen. Auf Korsas fünf Sparbüchern befanden sich insgesamt zweihundertsechsundsiebzigtausend Kronen. „Alle Achtung!“ bemerkte Boucký. „Er hat regelmäßig eingezahlt“, stellte Jarolím fest. „Zuletzt vorgestern, vorher am dritten Juni, am zweiten Mai, am vierten April …“ „Stimmt“, sagte Boucký, der die Daten in einem anderen Sparbuch verglich. „Am fünften März, vierten Februar, dritten Januar, nicht wahr?“ 48
Alle Sparbücher waren am selben Tage angelegt worden, die Gesamtsumme betrug am Anfang zehntausend Kronen. Korsa hatte nicht überall den gleichen Betrag eingezahlt, bei einem Sparbuch waren es eintausendachthundert, bei einem anderen zweitausendzweihundert Kronen. In den kommenden Monaten unterließ er es nie, eine runde Summe hinzuzufügen, stets insgesamt etwa zehntausend Kronen, fünfmal waren die Summen sogar beträchtlich höher, einmal hatte Korsa in vier Wochen sechsunddreißigtausend Kronen gespart. „Mit dem Sparen hat er angefangen, als er zwei Monate auf der Kacenburg war, schon im November.“ „Und hat nicht damit aufgehört, das fleißige Bienchen“, bemerkte Boucký. „Eines wäre wichtig, sehr wichtig: Wußte der Mörder von den Sparbüchern?“ „Also müssen wir einen Freund und Vertrauten suchen. Vielleicht hast du bemerkt, daß Korsa hier in Podhradí keinen gefunden hat“, sagte Boucký. „Wie ich ihn gekannt habe, würde ich sagen, daß er zu niemandem sehr mitteilsam war, außer zu seinen Bräuten in den Briefen.“ „Oder gerade umgekehrt: jemand finden, der ihm aus irgendeinem Grunde auf die Finger gesehen hat. Aus Neid, Rache, Eifersucht, was weiß ich. Von den Einnahmen und den Sparbüchern konnte er auch durch Zufall erfahren haben.“ „Vielleicht jemand, der ihn auf der Sparkasse gesehen hat“, stimmte ihm Boucký zu. „Oder wir müssen uns alle vornehmen, die an den Tresor heran konnten“, sagte Jarolím nach kurzem Nachdenken. „Das wäre nur die Prinzessin Jana Hurychová“, meinte Boucký, den Blick auf die Situationszeichnung des Tatorts gerichtet.
49
FÜNFTES KAPITEL, in dem alles anders ist, als es anfangs scheinen mochte Jarolím sagte niemals, daß er seinen Beruf ungern ausübe und viel lieber Agronom, Dreher oder Bildhauer wäre. Er hatte diese Tätigkeit nach reiflichem Überlegen gewählt, und bis auf die Ernüchterung, die ein Anfänger auf jedem Gebiet erlebt, war er recht zufrieden. Ihn beunruhigte höchstens von Zeit zu Zeit der Gedanke, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Nun war er unverhohlen begeistert, daß die langweilige Untätigkeit beendet war. Der Fall Korsa war offenbar nicht innerhalb der Grenzen von Stadt und Kreis zu lösen. Was sich nicht schnell auf amtlichem Wege erledigen ließ, würde vielleicht dank freundschaftlicher Hilfe gehen. Als Jarolím bei seinen Betrachtungen bis hierher gelangt war, rief er seinen Prager Kollegen und Freund Matějka an, der wegen seiner roten Haare unter dem Spitznamen Rotfuchs bekannt war. „Rotfuchs, wie das tägliche Brot brauche ich eine kleine Hilfe. Du könntest uns den genauen Text des Inserats Nummer 853 776 in der ‚Práce‘ heraussuchen, Kennwort ‚Herbst unter eigenem Dach‘, das Inserat ist ungefähr vor zwei Monaten erschienen.“ „Wer ist uns? Seit wann sprichst du im Pluralis majestatis?“ „Die hiesige Kripo. Das ist ziemlich wichtig.“ „Haben sie dich als Aushilfe eingestellt?“ „Sozusagen. Kann ich morgen gegen Mittag anrufen?“ „Sofort brauchst du das zufälligerweise nicht? Ist das wirklich so wichtig?“ „Vielleicht. 853 776, hast du das notiert?“ „Natürlich gleich. Soll ich Bärbeißer sagen, daß du’s ohne Arbeit nicht aushältst?“ Bärbeißer nannten sie ihren Prager Chef. Niemand 50
wußte, ob er seinen Spitznamen kannte, es fand sich aber kein Wagemutiger, der das durch eine direkte Frage überprüfen wollte. Jarolím legte lieber gleich auf. Er wußte, daß er sich auf Matějka verlassen konnte. „Korsa hat Stück für Stück die Schloßsammlung ausgeraubt“, sagte Boucký, „anders ist das nicht zu erklären.“ „Auf mich hat er einen intelligenteren Eindruck gemacht“, wandte Jarolím ein. „Allerdings täuscht ein guter Eindruck oft. Er hätte doch wissen müssen, daß das früher oder später herauskommt.“ „Die meisten Diebe sind hoffnungslos dumm“, entgegnete Boucký. „Dafür sind die wenigen schlauen so gerissen, daß sie schwer zu fassen sind. Ich könnte dir manches erzählen“, spielte er auf seine Erfahrungen in der Prager Zentrale an. „Wieviel Leute hast du hier?“ „Jetzt? Niemanden. Wozu denn?“ „An deiner Stelle würde ich auf dem Schloß sofort eine Inventur machen.“ „Ich ermittle in einem Mordfall.“ „Weißt du ganz sicher, daß das nicht damit zusammenhängt? Ich würde die Inventur nicht aufschieben.“ „Fällt dir ein Motiv ein, ein Zusammenhang? Mir nicht.“ „Na und? Wenn du mehr Fakten beisammen hast, kommen die Einfälle ganz von selber“, zitierte Jarolím fast wörtlich Bärbeißers Lieblingsspruch, und wie er gleich feststellte, machte das auf Boucký den erwünschten Eindruck. „Schlimmer ist es, zu den Einfällen die Fakten aufzutreiben“, fügte er als eigenen Gedanken hinzu und verriet nicht, daß er manchmal so vorging. „Wir haben hier wenig Leute.“ „Gerade deshalb solltest du möglichst bald anfangen. Sieh mal, vielleicht hat jemand die Sammlungen ausge51
raubt, Korsa hat das gemerkt, und da hat man ihn zum Schweigen gebracht. Jetzt lastet alles auf ihm.“ „Aber seine Sparbücher? Sie sehen nicht wie Fälschungen aus. Hat jemand auf seinen Namen gespart?“ „Das ist nicht entscheidend, vorläufig jedenfalls. Immerhin haben wir die Heiratsangebote, alles kann man nicht vortäuschen.“ Jarolím erinnerte sich an die dickleibigen Inventarbücher in Korsas Tresor. Wie viele Positionen enthalten sie? Waffen, Bilder, Porzellan und Möbel in den Ausstellungsräumen und im Depot – wie lange kann eine Inventur dauern? Trotzdem, solange wir nicht wissen, womit Korsa gehandelt hat, haben wir nicht die geringste Ahnung, wo wir seine Handelspartner und wahrscheinlich auch den Mörder suchen müssen. Wenn Korsa das Schloß nicht selber ausgeraubt hat, stellen wir zumindest fest, für welche Exponate sich die Diebe am meisten interessiert haben. Dann kann in großem Maßstab nach entwendeten Wertgegenständen gefahndet werden, und auf einem Umweg gelangen wir zum Täter. Möglicherweise. Boucký war nicht leicht zu überzeugen. Nach einer Stunde gingen jedoch auf dem Schloß die Lichter an, als würde ein fürstlicher Ball veranstaltet, und am Tor parkten mehrere Wagen, mit denen alle Männer gekommen waren, die Boucký in der Nacht hatte zusammentrommeln können. In den Inventarbüchern waren viel mehr Gegenstände verzeichnet, als Jarolím geschätzt hatte. Die Männer warteten auf Befehle. Jarolím überlegte fieberhaft, wie er am vernünftigsten vorgehen könnte. Er begriff, daß er dazu anders geschulte Mitarbeiter brauchte als diese Wachtmeister, die sonst auf den Straßenverkehr achteten oder sich mit Prügeleien und kleinen Eigentumsdelikten befaßten. Die Armen kochen aber mit Wasser, und er mußte sehr schnell kochen. 52
„Haben Sie Funkgeräte?“ fragte er. Sie hatten alles, was man im Dienst gebrauchen kann: Pistolen, Munition, Handschellen, Tränengas, nur Sprechfunkgeräte fehlten. Erst nachdem alle Geräte aus der Waffenkammer geholt waren, konnte die Inventur nach Jarolíms Rezept beginnen. Vier Wachtmeister saßen auf der Galerie des ersten Stockwerks vor vier Inventurbüchern. Alle anderen Männer betrachteten systematisch die Sammlungen. Zum Glück enthielt jedes Buch das Inventar eines Stockwerks, sonst wäre im Äther ein hoffnungsloses Sprachgewirr entstanden. Die Geräte wurden auf vier verschiedene Frequenzen eingestellt, und nach einer Weile begann ein reger Funkverkehr. Ein Mann meldete zum Beispiel seinem Partner: „815, Prozellanfigur, Tänzerin oder Nymphe, ungefähr vierzehn Zentimeter hoch.“ Der Wachtmeister am Tisch auf der Galerie blätterte in seinem Buch und hakte die Nummer 815 ab. Da die Sammlungen gut geordnet waren und auf allen Exponaten eine Bestandsnummer klebte, ging die Arbeit ziemlich rasch voran. Boucký und Jarolím sahen bald, daß ihre Hilfe nicht vonnöten war, deshalb begaben sie sich ins Gemäldedepot. Berger hatte nicht übertrieben, als er Korsas Sorgfalt lobte. Die Bilder lagerten der Reihe nach, und obwohl Boucký und Jarolím durch einige übergroße Gemälde aufgehalten wurden, ging ihnen die Arbeit von der Hand. Sie vermochten lediglich festzustellen, ob Format und Thema des Bildes mit den Angaben im Inventarbuch übereinstimmten, zu gründlicheren Untersuchungen hatten sie weder die Zeit noch die Qualifikation. Es fehlte nichts, gar nichts. „Verstehst du das?“ „Überhaupt nicht“, bekannte Boucký. „Warten wir ab, was unsere Revisoren sagen.“ Sie gingen auf die Arkaden zu den vier Wachtmeistern. 53
„Fehlt etwas, Jungs?“ fragte Boucký. „Groggläser“, antwortete ein feister Fähnrich, der mit hochgeschlagenem Kragen und zugeknöpfter Uniform dasaß, „sonst nicht eine Stecknadel“, fügte er enttäuscht und zugleich vorwurfsvoll hinzu. Jarolím hatte vor den gehetzten Polizisten ein schlechtes Gewissen. Seine Schmerzen im Bein wurden unerträglich. Er hinkte in Korsas Büro und schaute zu, wie Boucký aus den Vorräten des Schloßverwalters zwei Tassen starken Kaffee brühte. „Das war ein Schlag ins Wasser“, sagte Boucký. „Warum? Wir wissen wenigstens, woran wir sind.“ Jarolím schlürfte den heißen Kaffee und verbrannte sich die Zunge. „Fahren wir morgen in die Bezirksstadt?“ „Meinst du zu Korsas Schwester und Schwager?“ „Hast du etwa ein besseres Programm?“ „Gut. Jetzt gehen wir aber schlafen.“ „Die Nacht … Hast du schon daran gedacht?“ „Wie?“ wunderte sich Boucký. „Ich will dir nicht raten, aber … Mir scheint, Korsas Fall ist eine Angelegenheit von mehr als zwei Personen und betrifft nicht nur das Opfer und den Mörder. Die Inserate und das Geld sind zu merkwürdig, nicht wahr? Heute nacht muß etwas passieren. Deshalb würde ich an deiner Stelle lieber die Straßen kontrollieren. Vor allem dort, wo die Männer wohnen, die wir heute verhört haben. Alles antreten und ’raus, Wagen und Streifen. Es schadet bestimmt nichts, wenn sie Bekannte mit Namen anreden, soll doch jeder wissen, daß man ihn bemerkt und erkannt hat, und von Unbekannten sollen sie die Ausweise verlangen.“ „Was willst du damit verhindern?“ fragte Boucký zweifelnd. „Das weiß ich nicht. Vielleicht ist alles umsonst. Aber wenn … Jedenfalls bist du sicher, alles getan zu haben.“ Boucký nahm nach kurzem Zögern den Hörer ab. 54
SECHSTES KAPITEL, das unterwegs spielt und zu einer unvermuteten Spur führt Jarolím und Boucký legten sich wenige Stunden vor der Morgendämmerung mit dem Bewußtsein schlafen, daß es auf den Straßen wie im Ausnahmezustand aussah. Froh waren sie jedoch nicht. Die Vermutungen über Korsas Einkünfte hatten sich nicht bewahrheitet, und das Mordmotiv würde noch schwieriger zu finden sein. Früh holte Boucký seinen Freund im Hotel ab. Boucký war zwar rechtzeitig aufgestanden, aber beim eiligen Rasieren hatte er sich mehrmals geschnitten, und auf dem bläßlichen Gesicht waren mehrere Stoppelbüschel, stehengeblieben. Trotzdem wirkte er durchaus zufrieden. Die von Jarolím vorgeschlagene Vorsichtsmaßnahme hatte unerwartete Früchte getragen. Die Streifen hatten achtzehn verdächtige Personen festgenommen, darunter vier rückfällige Taschendiebe und eine im ganzen Staat gesuchte Betrügerin. Alle Festgenommenen hatten sich vom Besuch des Kacenburger Sommers etwas ganz anderes erhofft. Bouckýs Respekt vor Jarolíms Ratschlägen war sehr gestiegen. „Fahren wir in meinem Wagen?“ fragte Jarolím frisch und voller Energie. „Ich lebe recht gern auf dieser Welt“, erwiderte Boucký und zeigte auf den parkenden Dienstwagen mit zivilem Kennzeichen. „In dem Wagen und mit dir als Fahrer können wir noch schneller im Jenseits landen“, sagte Jarolím. Im stillen war er erleichtert, daß er nicht am Steuer sitzen mußte. „Was versprichst du dir eigentlich von diesen Koukals?“ fragte Boucký unterwegs auf der Landstraße. „Wenn nicht einmal Korsas Schwester und Schwager etwas mehr wissen …“, antwortete Jarolím ausweichend. Ihn freute, daß man ihn in Podhradí ernst nahm und 55
für einen Experten aus Prag hielt und daß niemand ahnte, wie wenig er bisher dort galt. Allerdings kann ich meine Reputation leicht verlieren, dachte er. Wenn ich mich blamiere, wird das bald bis Prag zu Bärbeißer dringen, und den angekratzten Ruf wiederherzustellen, dürfte Jahre dauern. Der Mörder hatte sicher genug Gelegenheit, Korsa schon früher zu töten. Wenn er sich entschloß, die Tat vor mehreren hundert Zuschauern zu begehen, mußte er einen genau durchdachten Plan haben. Er dürfte kaum aus Exhibitionismus auf der Bühne gemordet haben, eher boten ihm die Umstände bei der Eröffnungsfeier den besten Schutz. Es ging nicht um eine Sensation, sondern um einen raffinierten Gegner, den wir schwer zu fassen kriegen würden. „Kannst du noch einen Kaffee vertragen?“ unterbrach Boucký Jarolíms Betrachtungen. „Etwas Klügeres habe ich nie von dir gehört. Aber wo?“ „Vier Kilometer weiter ist eine recht ordentliche Gaststätte, dort habe ich schon öfter gesessen.“ Das Gasthaus lag zwischen Podhradí und der Bezirksstadt. Auf den Parkplatz fuhr gerade ein Linienbus aus Podhradí. Die Reisenden konnten für zehn Minuten aussteigen, um sich die Beine zu vertreten oder etwas zu trinken. „Das wird ein Gedränge, verdammt!“ fluchte Boucký, als er eine Parklücke im Schatten entdeckt hatte. „Übrigens, kennst du das Fräulein dort?“ Aus dem Autobus stieg die Kacenburger Weiße Frau und Prinzessin, Korsas Sekretärin Jana Hurychová. Jarolím hinkte zu ihr und begrüßte sie: „Guten Morgen, Euer Durchlaucht!“ Als sie Boucký erblickte, wurde sie etwas verlegen, nahm aber die Einladung an und setzte sich mit den Kriminalisten an einen kleinen Tisch. „Fahren Sie weg?“ fragte Boucký. „Wir werden nicht petzen, daß Sie die Schule geschwänzt haben.“ 56
„Das können Sie ruhig!“ entgegnete sie lächelnd. „Sie sind eigentlich jetzt die Burggräfin, nicht wahr? Sind Sie dienstlich unterwegs?“ Sie zögerte ein wenig, ehe sie die Frage verneinte. „Wir nehmen Sie mit“, sagte Jarolím. „Das ist bequemer, auch wenn Herr Boucký fährt.“ „Wir bringen Sie bis vor die Haustür“, fügte Boucký hinzu. „Danke“, sagte sie abweisend. „Ich zahle!“ Sie rief den vorüberhastenden Kellner, obwohl sie ihren Kaffee kaum angerührt hatte. „Das überlassen Sie uns“, protestierte Boucký. „Sie geben uns also einen Korb?“ „Wie Sie sehen“, antwortete sie unsicher und verstockt zugleich. „Wohin fahren Sie eigentlich?“ „Das geht Sie nichts an!“ „Glauben Sie wirklich, wir würden das nicht erfahren, wenn wir das wollten?“ „Warum interessiert Sie das?“ „Wir sind eben so.“ „Reicht es, wenn ich Ihnen sage, daß ich ins Krankenhaus fahre?“ „Ein Krankenhaus haben wir auch in Podhradí“, griff Boucký ein. „Ich fahre eben woandershin.“ Die Reisenden aus dem Bus strömten schon zur Tür. Jana Hurychová blickte ihnen nach, aber offenbar hatte sie kapituliert. „Und ich will nicht zu spät kommen.“ „Wir werden mindestens zwanzig Minuten eher als der Bus dort sein.“ Boucký winkte dem Kellner. Sie begaben sich schweigend zum Wagen. Jarolím überlegte, ob er an Jana Hurychovás Stelle eine solche Begegnung als reinen Zufall ansehen würde. Einfache Gemüter neigen zu Mutmaßungen. 57
„Wann kommen Sie nach Podhradí zurück?“ fragte er im Konversationston. „Das weiß ich nicht, ungefähr in zehn Tagen, möglicherweise schon in einer Woche. Ist das wichtig?“ „Vielleicht.“ Jarolím ließ nun seinen Gedanken freien Lauf. „In Podhradí gibt es ein großes Krankenhaus, aber Sie fahren woandershin. Und Sie fahren nicht nach Prag oder Hradec, also brauchen Sie keine Spezialuntersuchung in einer Klinik, habe ich recht?“ „Das haben Sie doch immer“, antwortete sie wie ein trotziger Teenager. „Es ist nichts Akutes“, fuhr Jarolím ungerührt fort, „sonst würden Sie zu einem Arzt in Podhradí gehen, oder ein Krankenwagen würde Sie hinbringen. Es muß auch ein anderes Krankenhaus sein. Sie fahren zur Schwangerschaftsunterbrechung.“ „Woher wissen Sie das?“ stotterte sie, eher vor Wut als vor Scham errötend. „Denken ist unser täglich Brot“, antwortete er lässig. „Das dürfen sie doch niemandem sagen … die ärztliche Schweigepflicht …“ „Wurde von niemandem verletzt“, beendete Jarolím den Satz. „Sie brauchen nicht zu befürchten, daß wir das in Podhradí ausposaunen. Wir wissen mehr, als Sie denken, und reimen uns manches zusammen.“ Jarolím ließ sie eine Weile in Ruhe, damit seine Worte wirken konnten. Es freute ihn, daß ihm Boucký trotz der schnellen Fahrt mit Respekt und Interesse zugehört hatte. Vorläufig war er auf Zufälle und auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung angewiesen. „Warum sind Sie mir nachgefahren?“ fragte sie, noch immer unsicher und überrascht. „Selbstverständlich möchten wir gern wissen, warum Sie einen Tag nach dem Tode Ihres Chefs fortfahren.“ Ihre Lippen zuckten krampfhaft. Sie antwortete erst 58
nach geraumer Zeit. „Das steht schon länger fest … Vor vierzehn Tagen haben sie mich für heute bestellt.“ „Um so besser“, sagte Jarolím, „uns genügt die Wahrheit.“ „Nur der Vollständigkeit halber“, ließ sich Boucký vernehmen. „Was sagt Ihr Verlobter dazu?“ „Dem dürfen Sie das aber nicht verraten“, rief sie beinahe unter Tränen. Jarolím befand sich Boucký gegenüber im Nachteil. Er wußte nicht, daß Jana Hurychová verlobt war, und schon gar nicht, mit wem. „Natürlich weiß er vorläufig nichts“, fuhr er selbstsicher fort, wobei er Boucký zuzwinkerte. Es sah aus, als wäre er vorzüglich informiert. Bevor er eine weitere Frage aussprach, kam ihm Boucký zuvor. „Wer ist denn der Vater?“ Anderswo hätte Jarolím seinen Freund warnend ans Schienbein getreten. Der Verlobte konnte der Vater sein und von der Schwangerschaft nichts wissen. Ein klügeres Mädchen hätte auch bald begriffen, daß die Kriminalisten durchaus nicht so gut unterrichtet waren, wie sie vorgaben. „Das geht nur die Kommission etwas an, nicht Sie“, erwiderte Jana Hurychová. „Sollen wir uns dort erkundigen?“ fuhr Jarolím fort. Nun fühlte er sich wieder überlegen, denn das Mädchen hatte verraten, daß sie außer ihrem Bräutigam auch einen Liebhaber besaß. „Die ärztliche Schweigepflicht gilt nicht so absolut, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Vergessen Sie nicht, daß wir einen Mord aufklären.“ „Habe ich etwa jemanden ermordet?“ „Ich habe nach etwas anderem gefragt“, sagte er schroff. „Behalten Sie das wirklich nur für sich?“ „Sehen wir aus wie verklatschte Marktweiber?“ „Wenn das rauskommt, ist mein Leben völlig ver59
pfuscht“, antwortete sie schluchzend. Unwillkürlich sagte sie damit auch, daß sie in letzter Zeit viel durchgemacht hatte. Jarolím schämte sich, weil er das Mädchen so hart bedrängen mußte. Wer hat mit Jana Hurychová geschlafen und wer ist ihr Verlobter? Er mußte es erfahren, selbst wenn Jana Hurychová die Antwort verweigerte. „Er“, sagte sie fast unhörbar, und sie seufzte wieder. „Herr Korsa.“ Jarolím nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Die Prinzessin war von dieser Geste beeindruckt. Stotternd erzählte sie, daß alles unverhofft geschehen sei, sie wisse selber nicht, wie. Jarolím überließ es Boucký, das Mädchen zu beschwichtigen, bis der Wagen vor dem Bezirkskrankenhaus hielt. Er dachte an den unbekannten Verlobten und erinnerte sich daran, wie Jana Hurychová zwanzig Minuten nach der Nachricht von Korsas Tod ausgesehen hatte. Man hatte nicht nur ihren Chef ermordet, sondern auch ihren Liebhaber und den Vater des unerwünschten Kindes. „Mit wem ist sie verlobt, Mann?“ fragte er, als Jana Hurychová ausgestiegen war. „Mit Jiří Král. Das ist der Vorteil, wenn der Mensch eine Zeitlang wenigstens ein bißchen direkt von wo ist, wie Schwejk sagt.“ „Von Korsa hast du aber nichts gewußt“, bemerkte Jarolím trocken. Also Jiří Král. Der Ersatzbogenschütze, der gestern eilig für Berger eingesprungen ist und in der Uniform eines österreichischen Leutnants auf Platz vier stand, von wo aus er den Burggrafen auf der Galerie treffen konnte. Jarolím pfiff vielsagend. „Das könnte ein echtes Motiv sein, was meinst du?“ „Ich weiß nicht. Wie ich Král kenne, hätte er eher Korsa ein paar Backpfeifen verpaßt und vielleicht auch Jana eine runtergehauen“, wandte Boucký ein. 60
„Korsa war einen Kopf größer, und er war stärker als Král, trotz des Altersunterschieds.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Král geschossen haben soll, und niemand hat es bemerkt.“ „Er konnte erst später schießen, beim Finale. Da waren die ausgeschiedenen Bogenschützen bereits auf dem Schloßhof.“ „Korsa hat sich doch überhaupt nicht auf seinem Balkon gezeigt.“ „Und wenn er vorher irgendwo gewesen ist, zum Beispiel auf der Toilette? Král hat auf einmal eine Gelegenheit gesehen. Eine Kurzschlußreaktion.“ „Vergiß nicht, daß er ein miserabler Schütze ist.“ „Allerdings. Das konnte er aber vortäuschen. Also vorbedachtes Handeln. Ist es überhaupt so schwer, einen Mann zu treffen?“ „Sicher, wenn man ihn mit dem ersten Schuß töten will. Und das mußte der Mörder.“ „Selbstverständlich bestreite ich das nicht“, gab Jarolím zu. „Was hältst du dann von dem Dreieck KorsaHurychová-Král?“ „Král hat ein Motiv, die Hurychová kann von Korsas Ersparnissen wissen, von ihr dürfte auch Král erfahren haben, woher das Geld stammt. Korsa hat die Hurychová geschwängert, und sie wollte sich vielleicht auch an ihm rächen“, sagte Boucký bedächtig, während er durch die stark frequentierten Straßen des Stadtzentrums fuhr. „Hut ab, ein schönes Dreieck.“ „Abscheulich, mit Verlaub“, sagte Jarolím, „äußerst abscheulich. Außerdem gar nicht so logisch. Danach hätte eher Korsa den Verlobten ermorden oder die Hurychová beseitigen müssen, meinst du nicht? Vom Verhältnis zwischen Král und der Hurychová und den weiteren Möglichkeiten ganz zu schweigen.“ „Wir wissen eben vorläufig nichts“, sagte Boucký mit einer Ruhe, um die ihn Jarolím beneidete. 61
SIEBTES KAPITEL, das mit einem traurigen Besuch beginnt, von einem merkwürdigen Fund berichtet und ohne erfreuliche Aussichten endet Als sie an der Wohnungstür mit dem Schild ING. ANTONÍN KOUKAL geklingelt hatten, öffnete ihnen eine alte, schwarzgekleidete Frau. Boucký und Jarolím waren erleichtert, daß Frau Koukalová schon vom Tode ihres Bruders wußte. Ihre Nachbarn waren bei der Eröffnung des Kacenburger Sommers gewesen und hatten ihr abends nach langen Bedenken und mit vielen Umschweifen berichtet, was im Schloß vorgefallen war. „Das habe ich von Anfang an erwartet“, sagte Frau Koukalová. Jarolím fragte vorsichtig: „Von Anfang an?“ „Ja, gleich als er auf die Kacenburg gegangen ist.“ „Warum hatten Sie solche Befürchtungen?“ „Er hätte nicht dorthin gehen dürfen, er hätte die Stelle nicht nehmen sollen“, sagte sie unter Tränen. „Wenn er wenigstens vorwärtsgekommen wäre, vorher hatte er als stellvertretender Direktor im Museum das gleiche Gehalt. Aber er wollte sein eigener Herr sein …“ „Was hat Sie gleich zu Anfang, wie Sie sagen, auf den Gedanken gebracht, daß er in Podhradí …“ „Er selber, František, er hat das gesagt.“ „Können Sie sich etwas genauer erinnern? Was hat er gesagt?“ „Daß dort alles Spitzbuben sind.“ Sie strich über den abgegriffenen Plüsch einer alten Tischdecke, deren Fransen angegraut waren. „Er hat sie gleich durchschaut.“ „Hat er einen Namen genannt, einen Posten?“ „Namen hat er nicht genannt, aber ich kann mir vorstellen, wie das gewesen ist. František war ehrlich bis auf die Knochen, deshalb hat er auch sein Leben lang bloß Armut und Not gekannt, er ist ihnen auf die Schli62
che gekommen, und sie haben ihn beseitigt. Mein Gott, so! Erschossen wie ein Tier!“ Sie brach wieder in Tränen aus. Boucký brauchte eine Weile, bis er sie beruhigt hatte. Jarolím sah sich inzwischen flüchtig im Zimmer um, das mit dunklen Möbeln aus der Jahrhundertwende eingerichtet war und viele Antiquitäten enthielt. Die fünf alten Uhren, die Gemälde und das Meißner Porzellan waren zweifellos sehr wertvoll. „Frau Koukalová“, sagte Jarolím, „sicher werden Sie verstehen, daß wir möglichst viel über Ihren Bruder wissen müssen, um den Mörder zu finden. Wenn Sie das aber zu sehr aufregt, würden wir uns vorläufig an Ihren Gatten wenden …“ Sie blickte ihn mit verschleierten Augen an. „Toník ist doch im März gestorben, am dritten.“ „Herzliches Beileid“, flüsterte Boucký verlegen – er kam sich wie ein Tölpel vor und nahm an, Jarolím würde berechtigterweise dasselbe denken. Frau Koukalová war plötzlich gefaßt und wischte sich die Tränen ab. „Fragen Sie alles, was Sie möchten! Ich bin jetzt allein auf dieser Welt, mutterseelenallein, aber das darf nicht ungesühnt bleiben, keinesfalls …“ Ideale Zeugen sind zurückhaltender, dachte Jarolím, aber was ist in unserem Beruf schon ideal? Du wolltest eine Chance haben, und hier hast du sie. Wenn deine Nerven versagen oder wenn du den Fall verpatzt, kannst du dir rechtzeitig in einem Notariat oder Betrieb eine neue Stelle suchen, Doktor Karel Jarolím. „Beginnen wir von Anfang an“, sagte er, und Frau Koukalová nickte. „Wichtig ist alles für uns. Wie waren die finanziellen Verhältnisse Ihres Bruders?“ „Wenn Sie wissen, was mein Bruder all die Jahre für ein Gehalt hatte, können Sie sich das leicht vorstellen. Er hat nebenbei gearbeitet, wo er nur konnte, hat Deutschstunden gegeben, Korrekturen gelesen, in Jihlava war er 63
sogar beim Theater als Statist, jahrelang hat er jede Woche Toto gespielt. Erst in Podhradí ging es ihm besser, er hat gesagt, daß er endlich etwas sparen kann, aber viel kann das nicht sein, und was hat er heute davon?“ Den letzten Satz sagte sie schon in der Küchentür. Bevor die Kriminalisten etwas einwenden konnten, hatte sie einen Wasserkessel auf den Gasherd gestellt. „Hat er Ihnen nicht gesagt, wieviel er gespart hat?“ „Nein“, antwortete sie aus der Küche. „Hat er irgendwann davon gesprochen, daß ihn in Podhradí oder direkt im Schloß jemand bedroht? Hat er eine bestimmte Person genannt?“ forschte Boucký. „Nein, nur so allgemein.“ Sie kam ins Zimmer zurück. „Gestatten Sie, Herr Doktor!“ Jarolím stand auf und rückte den Stuhl beiseite, damit Frau Koukalová ein altmodisches Büfett öffnen und eine Kaffeedecke herausnehmen konnte. Er beobachtete, wie sie die Decke auf dem Tisch ausbreitete, und sah das Bild, dem er bisher den Rücken zugewandt hatte. Es war ein altes Ölgemälde, eine Eichengruppe an einem flachen, unregelmäßigen Bachufer, spätnachmittags im Gegenlicht, gesehen. Das Bild war in Helldunkel gemalt – Jarolím als Laie bezeichnete es wenigstens so –, oder es war verblichen und nachgedunkelt. Irgendwie kam Jarolím die Landschaft bekannt vor, er konnte sich aber nicht entsinnen, wo und wann er sie gesehen hatte. Am ehesten erinnerte sie ihn an die Lužnice, auf der er als Student mit einem Kanu gepaddelt war. Hat der unbekannte Maler gerade den Ort gewählt, an dem wir viele Jahre lang angelegt und gezeltet haben? Er nahm kaum Bouckýs weitere Fragen wahr. „Vielleicht war das bei einer bestimmten Gelegenheit, Frau Koukalová, etwas muß doch den Anlaß zu einer solchen Äußerung gegeben haben.“ „Er hat sich mir kaum anvertraut, aber …“ Sie ging in die Küche, um ein Tablett mit Kaffeetassen und einer 64
Schale Gebäck zu holen. Jarolím hörte nicht auf, in seinem Gedächtnis zu bohren und sich alle Fahrten auf der Lužnice zu vergegenwärtigen. „Nehmen Sie zum Beispiel dieses Bild.“ Sie zeigte auf das Ölgemälde, das Jarolím so stark beschäftigte. „Gehörte es ihm?“ fragte Boucký. Jarolím zuckte zusammen und war plötzlich erregt. „Nein, meinem Mann. Wie Sie sehen, hat er Antiquitäten gesammelt.“ Sie blickte sich im Wohnzimmer um, und beide Männer taten unwillkürlich dasselbe. „František hatte dazu nie die Mittel. Mein Mann war zwar Bauingenieur, aber Malerei hat ihn immer interessiert, und er meinte oft, daß er seinen Beruf verfehlt hat.“ „Ja, und das Bild …“, krächzte Boucký. Die Erregung war auf ihn übergesprungen, während Jarolím schon wieder völlig gelassen und beherrscht war. „Mein Bruder ist einmal gekommen, schon aus Podhradí, und da hat er meinen Mann ausgefragt, woher das Bild stammt Mein Mann hatte es schon vor unserer Heirat gekauft, vor mehreren Jahren, er war Witwer, und ich war von meinem ersten Mann geschieden.“ Jarolím, der das natürlich nicht wußte, nickte nur klug und ermunternd. „Und weiter?“ „Ich habe dem keine Beachtung geschenkt, um ehrlich zu sein. Ich erinnere mich nur, daß mein Mann das Bild von der Wand nehmen mußte, František hat es sehr lange angesehen, und schließlich hat er es für ein paar Tage ausgeliehen.“ „Warum?“ „Warum, weiß ich nicht mehr“, antwortete sie mit sichtlichem Bedauern wegen ihrer Gedächtnislücken. „Ich weiß nur, daß er ein oder zwei Wochen später das Bild zurückgebracht hat, und meinem Mann hat er gesagt, es sei alles in Ordnung.“ „Hat Ihren Mann nicht interessiert, worum es ging?“ Frau Koukalová fuhr mit der Hand über ihre Stirn, 65
auf der tiefe Denkfalten hervortraten. „Damals wußte ich nicht, daß das einmal so wichtig sein wird. Und das ist es, nicht wahr?“ „Vielleicht“, sagte Boucký. „Was ich Ihnen jetzt sage, würde ich wirklich ungern auf meinen Eid nehmen“, fuhr sie fort, „aber mir scheint, mein Bruder hat etwas in dem Sinne geäußert, das Bild könnte vielleicht aus den Kacenburger Sammlungen stammen.“ Möglicherweise habe ich es dort gesehen, überlegte Jarolím. Ich erinnere mich nicht an eine Landschaft, sondern an ein Bild. Habe ich es bei einer Besichtigung der Kacenburg gesehen oder bei der flüchtigen Inventur im Depot? „Und stammte es von dort?“ „Offenbar nicht. František hätte ihnen Beine gemacht, wenn dort auch nur die kleinste Kleinigkeit verschwunden wäre!“ „Wann war das, Frau Koukalová?“ „Wenn ich das wüßte! Warten Sie! Ja, im Herbst, als František auf der Kacenburg angefangen hatte. Und es war schon kalt, mein Mann hat am Vormittag Fridex in den Kühler getan.“ Die Männer tauschten einen kurzen Blick. Gerade zu der Zeit hatte Korsa begonnen, auf seinen fünf Sparbüchern schnell Geld anzuhäufen, genauer gesagt: Damals hat jemand die fünf Sparbücher angelegt. Jarolím dachte an einen weiteren notwendigen Schritt: Wir brauchen gute Fotos von František Korsa, jemand muß damit alle fünf Sparkassen aufsuchen und die Angestellten fragen, ob und in welchem Zusammenhang sie diesen Mann kennen. Vor ihren Schaltern sehen sie zwar täglich Hunderte von Gesichtern, aber sie könnten sich an einen Mann erinnern, der regelmäßig Anfang jeden Monats eine ziemlich hohe Summe eingezahlt hat. 66
„Hatte Ihr Bruder dieses Bild irgendwann gesehen, bevor er auf der Kacenburg war?“ Jarolím stellte die Frage nur beiläufig, weil er sie nicht für wesentlich hielt. Erst nachträglich merkte er: Gerade diese Frage war der Beweis, daß er schon als Kriminalist dachte und alle Möglichkeiten in Betracht zog. Bei der Antwort erstarrte er beinahe. „Selbstverständlich, das Bild hängt hier seit eh und je“, sagte Frau Koukalová, und sie kam gleich Jarolíms nächster Frage zuvor: „Das hat ihn vorher nie interessiert.“ Der Fall, der mit dem unerwarteten Höhepunkt bei der Eröffnungsfeier des Kacenburger Sommers begonnen hatte, nahm jetzt nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich größere Dimensionen an. Jarolím, seiner Natur nach Phlegmatiker und hier nur Gast, fieberte vor Tatendrang. Offenbar wurzelten die Ereignisse in der Vergangenheit, in der Zeit, bevor Korsa die Kacenburg verwaltete. Korsa wußte wohl, warum er gleich nach der Übernahme des Inventars neue Gitter und eine Stahltür anschaffte, wie der Narr Benedikt anerkennend festgestellt hat. Vielleicht ließe sich Korsas Verhältnis mit der Hurychová als Mordmotiv völlig ausschließen, nur … Nur, sagte sich Jarolím, da sind die fünf Sparbücher und hauptsächlich die Briefe, die kaum untergeschoben sein können. „Würden Sie uns das Bild für einige Tage leihen, Frau Koukalová?“ Jarolím wollte sich nur an Tatsachen halten. Boucký begriff seine Absicht, er war auf dem Lande nicht eingerostet, denn er nickte ruhig, als wollte er dasselbe sagen. „Vielleicht hat das gar keine Bedeutung, aber vorläufig können wir nicht ausschließen, daß wir es für unsere Ermittlungen brauchen.“ „Natürlich, wenn es nötig ist“, antwortete sie, ohne nach den Gründen zu fragen. Boucký und Jarolím hätten sich schmeicheln können, auf die Zeugin einen guten 67
Eindruck gemacht zu haben, so daß sie ihnen voll vertraute. Boucký nahm einen Kopfbogen der Kriminalpolizei aus der Aktentasche, und beide Kriminalisten zeigten nochmals ihre Dienstausweise. Frau Koukalová betrachtete sie, verglich die Fotos mit den Gesichtern und holte bereits willig eine Schreibmaschine. Bevor Boucký die Quittung geschrieben hatte, brachte sie eine Rolle Schnur und einen Bogen Papier.
ACHTES KAPITEL, in dem zwei Fachfrauen zu Wort kommen Jarolím ertappte sich leicht beschämt dabei, daß er die Suche nach Korsas Mörder als erregendes Abenteuer empfand – ähnlich wie früher schon manches bei seiner Arbeit. Unbewußt hatte er sich eine verbreitete Ansicht über seinen Beruf zu eigen gemacht. Freude an der Arbeit wird Kriminalisten abgesprochen, das gehört sich einfach nicht. Ein Zootechniker, Schweißer oder Postangestellter darf Freude an seiner Arbeit haben, ein Kriminalist hat sie trübsinnig auszuführen, als etwas Aufgezwungenes und Zeitweiliges, das ohnehin bald aus der Welt verschwindet. Einem Kriminalisten geziemt griesgrämige Würde. Es ist schwer zu sagen, warum Verantwortung Freude an der Arbeit ausschließen soll, aber es ist nun einmal so. Einem Arzt, der eine unheilbare Krebsgeschwulst diagnostiziert, wird mehr Freude gestattet als einem Kriminalisten, der einen Täter sucht, obwohl es diesem vielleicht noch gelingt, in die Gesellschaft anständiger Menschen zurückzukehren. Schon als er sich für den Dienst bei der Kriminalpolizei entschied, hatte Jarolím eine solche Haltung abgelehnt. Allerdings gestand er nur engen Freunden, daß 68
ihm seine Arbeit gerade wegen des geistigen Abenteuers Spaß machte. In einem Moment, wenn sich nach langen Mühen die letzte Tür öffnete und den Blick ins dreizehnte, geheimste Zimmer freigab, hüpfte ihm das Herz vor Freude. Später war er noch offenherziger und erklärte, daß in der kriminalistischen Tätigkeit etwas von der Freude des Jägers stecke, es sei der atavistische Triumph des Urmenschen, der die Angehörigen seiner Sippe schützt, wenn er in der Nähe der Siedlung ein angriffslustiges Raubtier aufspürt und unschädlich macht. So konnte er allerdings nur mit jemandem reden, der wenigstens ungefähr wußte, wie prosaisch der Alltag bei der Kriminalpolizei aussieht. Moralisten, die ein scheinbar ideales Bild dieser Arbeit zeichnen, gelangen nie in eine Wohnung, wo drei Wochen lang ein Toter neben einer brennenden Gasheizung gelegen hat, sie betreten nie die Spelunken verkrachter Existenzen und können sich kaum die verunstalteten Seelen vorstellen, in deren Tiefen ein Kriminalist, der dieser Bezeichnung würdig ist, eindringen muß. Und die begreifen dann nicht, daß die Jägerhaltung ein bißchen Selbsterkenntnis und ein bißchen Stilisierung ist. Das bewahrt einen Kriminalisten vor Ekel und Panik, die ihn ausreißen ließen, bevor er mit der Ermittlung begönne. Jede Ermittlung besteht aus fieberhafter Tätigkeit und aus Pausen, in denen der Kriminalist auf neue Tatsachen wartet und die bisher gewonnenen Erkenntnisse auswertet. Eine solche Pause erlebten Jarolím und Boucký, als sie auf der Ausfallstraße die Stadt verließen. Schweigend überlegten beide, wie weit sie bisher gekommen waren und was sie nun unternehmen sollten. Hinter der Stadt bog Boucký auf einen Rastplatz ab, bremste, schaltete den Motor aus und nahm den Hörer des Polizeifunks. „Wen willst du anrufen?“ fragte Jarolím. Jede vergeudete Minute tat ihm leid. 69
„Wenn ich Glück habe, könnte das auch bei der Entfernung funktionieren“, antwortete Boucký ausweichend. Er drückte die Taste und nahm den Hörer in die Hand. „Rose, Rose, Rose, hier Herzog, hören Sie mich? Rose, hier Herzog, hören Sie mich? Kommen.“ Eine Weile warteten sie, dann vernahm auch Jarolím aus dem Hörer eine leise und durch atmosphärische Störungen unterbrochene Stimme: „Herzog, Herzog, Herzog, hier Rose drei, ich höre schlecht. Kommen.“ „Rose drei, hier Herzog“, sagte Boucký mit sieghaftem Lächeln. „Melden Sie, wo Sie sind. Kommen.“ „Herzog, hier Rose drei, wir sind bei Kilometer sieben auf der Landstraße Podhradí-Bratronice. Kommen.“ „Rose drei, hier Herzog, nehmen Sie etwas zum Schreiben … Pack schnell das Bild aus“, wandte er sich an Jarolím. „Fahren Sie sofort zur Kacenburg, betrachten Sie die Ausstellung, und lassen Sie sich notfalls das Depot öffnen. Überzeugen Sie sich, ob Sie dort folgendes Bild sehen. Technik Ölmalerei. Format achtundsechzig mal einhundertfünf Zentimeter. Auf der rechten Hälfte des Bildes sind vier alte Eichen an einem Bach, der zwischen Geröll in Richtung Betrachter fließt, im Hintergrund geht die Sonne unter und ihre Strahlen dringen durch das Laub. Auf der linken Hälfte ist eine offene Landschaft, in der Ferne leicht vernebelt. Über den Feldern steigt Rauch zum Himmel, offenbar haben Hirten ein Feuer angezündet. Das Bild wirkt ziemlich alt. Wiederholen Sie, was Sie aufgeschrieben haben! Kommen!“ „Herzog, hier Rose drei. Technik Ölmalerei …“ „In Ordnung. Und jetzt schalten Sie das Blaulicht und die Sirene ein, und rasen Sie los, ich warte auf Empfang, Ende.“ „Warum fahren wir nicht selber nach Podhradí?“ fragte Jarolím. „Ich will wissen, woran wir sind. Wenn das Bild fehlt … 70
Korsa konnte auch eine Kopie deponieren und das Original verkaufen.“ „Die Koukals hatten das Bild, bevor Korsa nach Podhradí kam.“ „Glaubst du Frau Koukalová jedes Wort?“ „Übrigens hatte ich dasselbe vor“, sagte Jarolím. „Ich wollte das Bild aufs Schloß mitnehmen und mir alle Säle und das Depot ansehen. Mir kommt das Gemälde bekannt vor.“ „Und was paßt dir nicht?“ „Eine Expertise würde ich von Kunsthistorikern einholen, nicht von einem Wachtmeister aus einem Streifenwagen.“ „Sage ich vielleicht, daß ich das nicht will?“ erregte sich Boucký. „Von hier aus sind es wenige Kilometer bis zum Bezirksmuseum. Wenn ich etwas Bestimmtes weiß, fahren wir dorthin und lassen das Bild begutachten. Dann werde ich wissen, ob Korsa ein Idiot war, der Kopien ins Depot gesteckt hat, damit er die Gemälde Stück für Stück verkaufen konnte.“ „Auch Dummheit hat ihre Grenzen!“ „Ich weiß nicht, wie man in Prag stiehlt“, sagte Boucký, „aber bei den Dieben, die ich in unserem Kreis kennengelernt habe, ist mir kein Genie untergekommen. Jemand hat plötzlich eine Idee, die Gelegenheit ist günstig, und weiter denkt er nicht.“ „Korsa hat aber fast zwei Jahre lang gespart.“ „Gerade das beweist, daß er ein Trottel war.“ Der Polizeifunk ertönte, Boucký griff nach dem Hörer. „Herzog, hier Veilchen. Hören Sie mich? Kommen.“ „Unsere Zentrale“, sagte Boucký zu Jarolím, bevor er sich meldete. „Herzog, hier Veilchen. Rose drei ist am Ort, warten Sie auf Nachricht. Ein Telegramm aus Prag für Doktor Jarolím ist eingegangen, soll ich es vorlesen?“ 71
„Wenn jemand mithört, kann er sich amüsieren“, bemerkte Jarolím anstelle einer Antwort auf Bouckýs unausgesprochene Frage. „Sie werden schon wissen, was man durchgeben kann“, sagte Boucký. „Herzog, hier Veilchen. Das Telegramm lautet: Neun-
undfünfzig Strich einhundertzweiundachtzig. Intelligenter Witwer ohne Anhang, sehr gut situiert, sucht ebensolche Dame passenden Alters zwecks späterer Heirat. Kennzeichen Herbst unter eigenem Dach. Unterschrift Rotfuchs. Kommen.“ „Danke, ich warte auf Rose. Ende.“ Boucký legte auf. „Korsas Inserat, nicht wahr?“ „Ja. Gut situiert war er, von der Intelligenz würde ich lieber schweigen.“ Es verging eine quälend lange halbe Stunde. Obwohl alle Türen offenstanden, verwandelte sich der Wagen in einen Backofen. Endlich ertönte wieder eine Stimme: „Herzog, hier Rose drei. Das Bild liegt im Depot unter der Inventarnummer zweihundertachtundsechzig. Kommen.“ „Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?“ „Ja.“ „Wer ist am Apparat?“ „Oberwachtmeister Hadraba.“ „Ist das Bild in Ordnung?“ „Ja, unbeschädigt, Format und Beschreibung stimmen genau überein.“ „Na also“, seufzte Boucký. „Danke, kehren Sie auf Ihre Strecke zurück. Ende.“ „Vielleicht liegen wir völlig falsch. Weißt du, wie viele Bilder mit Eichen am Bach es gibt? Aber das Format …“ „Wir fahren!“ erklärte Boucký kategorisch und startete. Im Bezirksmuseum fanden sie in einem Nebenraum
72
der Gemäldegalerie zwei Experten, die Kunsthistorikerinnen Frajberková und Zemanová. „Echt?“ erwiderte Dr. Frajberková, eine ruhige Frau von etwa vierzig Jahren, als die Kriminalisten ihr Anliegen vorgetragen hatten. „Was soll echt sein, Jungs?“ Diese Anrede schmeichelte ihnen zwar nicht, aber sie schluckten sie und packten Frau Koukalovás Bild aus. „Komm und sieh dir das an, Hanička“, forderte die Frajberková ihre reizvolle jüngere Kollegin auf. „Wo habt ihr das her, Jungs?“ „Das braucht Sie nicht zu interessieren, Frau Doktor“, entgegnete Boucký im Kommißton, „für Sie ist das unwichtig.“ „Spielt euch nicht als Detektive auf, ihr Hübschen.“ Frau Frajberková grinste über das ganze Gesicht, daß ihre braunen Augen kaum noch zu sehen waren. „Wir sind keine Hellseherinnen.“ „Das scheint ein deutscher Romantiker zu sein“, sagte Frau Zemanová. Sie trug das Gemälde zum Fenster und hielt es gegen das grelle Licht, damit die Oberfläche der Farben hervortrat. „Irgend etwas stimmt nicht, um die Wahrheit zu sagen. Was meinst du, Chefin?“ „Schund“, verkündete Frau Frajberková, nachdem sie eine moderne Brille aufgesetzt hatte, die in ihrem gutmütigen, runden Gesicht auffällig wirkte. „Wer?“ fragte Boucký. „Das heißt nicht wer, mein Sohn, sondern was“, berichtigte ihn Frau Frajberková mit mütterlicher Nachsicht. „Kein Franz Schund oder Georg Schund, sondern der Schund, einfach Plunder, Kitsch.“ „Also dann …“ Boucký holte Atem für eine energische Antwort. „Schund“, wiederholte Frau Zemanová, die sich offensichtlich darüber amüsierte, daß ihre Vorgesetzte die Besucher wie kleine Jungen behandelte. „Schund, aber von einem Könner. Siehst du die Farbe hier, Helena? Sie glänzt 73
richtig.“ Frau Zemanová benetzte am Waschbecken einen kleinen Schwamm und fuhr damit über das Bild. „Ein bißchen zu sauber … Und er hat absichtlich an Firnis gespart.“ „Er wollte wohl eine aufgeplatzte Oberfläche haben, damit es Patina kriegt“, fiel Frau Frajberková ein. „Jungs, aus dem Stegreif können wir euch nichts Hundertprozentiges sagen, aber allem Anschein nach ist das eine solide gemachte Fälschung. Habt ihr das selber gemalt, oder hat euch jemand geholfen?“ Boucký, der in seiner Würde als Kripochef zutiefst verletzt war, explodierte beinahe, während Jarolím lachte. „Tante, seien Sie nicht so häßlich zu uns“, fiel er in den Konversationston der fülligen Kunsthistorikerin ein, und sogleich hatte er sie entwaffnet und für sich gewonnen. „Wir wollen vorläufig nichts schwarz auf weiß, aber können Sie uns wenigstens sagen, ob das wirklich eine Fälschung ist?“ „Warum eigentlich nicht?“ antwortete Frau Frajberková. Sie kramte eine kleine Nagelschere hervor und kratzte winzige Farbschuppen ab. „Solche Farben sind damals überhaupt nicht hergestellt worden. Das hat jemand gemacht, der mit dem Pinsel umgehen kann, aber technisch sein Handwerk nicht vollkommen beherrscht.“ „Sieh mal, Helena!“ sagte Frau Zemanová, die das Bild umgedreht hatte und auf den wurmstichigen Rahmen klopfte. „Ist das nicht ein bißchen zu antik?“ Frau Frajberková wühlte in einem Haufen Krimskrams, der einen Tisch an der Wand völlig bedeckte. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte Boucký, der endlich begriffen hatte, daß man ihm mit Verständnis und Wohlwollen entgegenkam. „Setz vorläufig Kaffeewasser auf“, sagte Frau Frajberková. „Wo ist bloß …“ „Was suchen Sie?“ erkundigte sich Boucký dienstfertig, kaum daß er das Wasser in den Kessel eingelassen hatte. 74
„Das weiß ich erst, wenn ich’s gefunden habe.“ Sie kramte weiter in dem Berg aus Papier, Knöpfen, Fotokopien, Autokerzen, Uhrrädchen, Kugelschreiberminen und Farbtuben, schließlich entdeckte sie ein Stück Kabel, das von einem Bügeleisen stammte, und knipste ein Drähtchen ab. „Sehen Sie!“ sie steckte den Draht in ein Holzwurmloch auf dem Keilrahmen. Nach wenigen Millimetern stieß sie auf einen Widerstand. Frau Frajberková umkreiste das Löchlein mit einem Bleistift und bohrte immer von neuem, stets mit demselben Ergebnis. Das wiederholte sie auf dem Bilderrahmen, der ebenfalls deutlich von Holzwürmern beschädigt war. „So stellt sich der kleine Max Antiquitäten vor. Der Rahmen hat nie einen Holzwurm gesehen, aber damit es glaubwürdiger wirkt, hat der Fälscher das Holz hübsch verziert. Also was, Jungs, gebt’s schon zu, habt ihr das selber gemacht oder irgendwo gemaust?“ „Frau Mutter“, antwortete Jarolím unter dem diskreten Lächeln der jüngeren Kunsthistorikerin. „Sie können sich darauf verlassen, daß wir mit einem Gastgeschenk zu Ihnen gekommen sind. Sagen Sie uns nur noch, für wieviel wir das verkaufen können.“ „Dazu gehören immer zwei. Du brauchst noch einen Trottel, der dir das abkauft. Ein Prachtstück ist es nicht, aber die Preise steigen ständig. Wenn du Geld brauchst, Doktorchen, und mir zehn Prozent Provision gibst, verkloppe ich das für achttausend.“ „Überlassen Sie das lieber mir“, fiel Frau Zemanová ein, „mit ein bißchen Glück können wir zehn- bis zwölftausend herausschlagen. Zu dem Preis habe ich schon schlechtere Schinken gesehen.“ „Fälschungen?“ „Originale, aber reines Handwerk, Routinearbeiten, die nur wegen der Nachfrage so viel kosten, und wegen des Jahres, in dem sie entstanden sind, und eventuell wegen 75
des Namens des Malers, der sie in einer schwachen Stunde gemalt und nicht gleich in den Ofen gesteckt hat.“ „Also dürfen wir das als Fälschung betrachten?“ fragte Boucký. „Junge, Junge“, sagte Frau Frajberková kopfschüttelnd, „haben sie dir als Säugling Rum in die Flasche getan? Was erklären wir dir die ganze Zeit?“
NEUNTES KAPITEL, das voller fleißiger Bemühungen steckt, aber wenig Ergebnisse bringt Jarolím wartete auf eine Verbindung mit Prag und blickte auf den niedrigen Bücherschrank. Darauf lehnten zwei Bilder an der Wand – das eine hatten sie von Frau Koukalová mitgebracht, das andere stammte aus dem Depot auf der Kacenburg. Jarolím konnte sie nur daran unterscheiden, daß auf dem zweiten hinten die Inventarnummer klebte. Über den Bildern hing ein Plakat des Kacenburger Sommers. Das zum Gruß erhobene Schwert in der Hand des gepanzerten Ritters wirkte auf Jarolím wie eine Drohung, aber zugleich wie Spott. „Das verstehe ich nicht. Ingenieur Koukal besaß das Bild schon, bevor er zum zweiten Mal geheiratet hat, also mindestens sieben Jahre vor Korsas Erscheinen auf der Kacenburg.“ Boucký deutete aufs Telefon. „Meinst du, daß sie das machen? Ich würde mich nicht trauen, so etwas zu verlangen.“ „Ich auch nicht, auf amtlichem Wege“, sagte Jarolím und griff nach dem Hörer, kaum daß es geklingelt hatte. „Bist du das, Rotfuchs? Hier ist Karel Jarolím. Hör mal, ich brauchte noch was von dir. Das können wir auch 76
dienstlich machen, aber wir wollen nicht lange warten und viel erklären, deshalb …“ „Du hast Bammel vor Bärbeißer“, kommentierte Matějka. „Laß das“, erwiderte Jarolím, der hoffte, daß Boucký diese Bemerkung nicht gehört hatte. „Man müßte alle Personen feststellen, die ungefähr in den letzten zehn Jahren alte Gemälde inseriert haben, unter den Rubriken Kauf oder Verkauf.“ „Mehr willst du nicht? Bloß zehn Jahre! Hast du außer deinem kaputten Bein auch was am Kopf?“ Jarolím schielte zu Boucký – konnte er es hören oder nicht? Um Matějkas durchdringenden Tenor zu dämpfen, drückte er den Hörer fest an die Ohrmuschel. In Podhradí brauchte niemand zu erfahren, daß er sich das Bein nicht bei einer Heldentat im Dienst gebrochen hatte, sondern ganz unrühmlich und einfach dumm, als er zur Straßenbahn rannte, auf Hundedreck ausrutschte und mit dem Schienbein auf die Bordsteinkante fiel. Der Knochen hatte der Wucht des übergewichtigen Körpers nicht standhalten können. „Wir brauchen das für einen Mordfall, sonst würde ich dich nicht belästigen.“ „Woher soll ich die Leute nehmen, du armer Irrer? Oder soll ich mich eine ganze Woche in die Universitätsbibliothek setzen?“ „Eine Woche dauert zu lange, periculum in mora ∗ .“ „Sit tibi terra levis ** “, antwortete Matějka ebenso gebildet und schon resigniert. „Ich fange gleich an, aber schriftlich müssen wir von euch etwas kriegen, sonst frißt mich Bärbeißer mit Haut und Haaren. Quod licet Jovi, non licet bovi *** .“ ∗
Gefahr [ist] im Verzug, nur schnelles Eingreifen wendet Gefahr ab. (Lat.) Leicht sei dir die Erde! (Lat.) *** Was dem Jupiter erlaubt ist, ist nicht dem Ochsen erlaubt. (Lat.) **
77
„Das kriegst du“, versprach Jarolím mit der Großzügigkeit; mit der man fremdes Gut verteilt. „Das wird eine Ermittlung im Republikmaßstab“, sagte Boucký, als Jarolím aufgelegt hatte, „oder eine Blamage im Republikmaßstab und ein schneller Berufswechsel“, fuhr er geradezu hellseherisch fort, als hätte er Jarolíms Gedanken gelesen. „Wenn ich hier Chef wäre, würde ich einem kranken Kumpel, der praktisch nicht geschlafen hat, eine Tasse Kaffee anbieten“, sagte Jarolím und zündete sich eine Zigarette aus Bouckýs Schachtel an. „Sollst du haben“, sagte Boucký und nahm den Hörer ab, „und als Zugabe ein Würstchen. Doch damit kommen wir bei unserem Mord auch nicht weiter.“ „Nein, das nicht“, bestätigte Jarolím, ständig den Blick auf beide Gemälde gerichtet. „Hör mal, könntest du beschwören, daß sich Korsa überhaupt nicht auf dem Balkon gezeigt hat?“ „Er wurde doch erschossen, bevor …“ „Ich frage dich, ob du das mit ruhigem Gewissen beeiden würdest?“ Boucký schritt unruhig auf und ab und schwieg. Das konnte Jarolím entweder so verstehen, daß Boucký die Frage nur für rhetorisch hielt oder daß er verlegen war. Er redete erst, als die Sekretärin schon Hörnchen, heiße Würstchen und Kaffee gebracht hatte. „Du hast auch nicht auf den Balkon geguckt!“ sagte er auf einmal mit vollem Mund. „Darum geht es mir!“ bestätigte Jarolím. „Wir wissen nicht mal die genaue Zeit von Korsas Tod. Er kann gleich über die Freitreppe auf die Galerie und dann auf den Turm gegangen sein. Vielleicht ist er auch auf dem Balkon gewesen, dann fortgegangen und erst später erschossen worden.“ „Ja und?“ „Du bist hier der Chef“, sagte Jarolím. „Ich an deiner 78
Stelle würde mir alle Fotos von der Vorstellung beschaffen. Dort ist doch dauernd ein Fotograf herumgerannt …“ „Dufek, der Leiter von Fotex.“ „Ja, und soweit ich mich erinnere, habe ich gleich von Anfang an Knipsen gehört. Kaum jemand von den Zuschauern ist ohne Apparat gekommen, und weil euer Mummenschanz hier die größte Sensation ist, hat jeder bestimmt einen Meter Film verbraucht. Wenn du alle Filme einsammeln läßt, nicht nur die Filme von dem Fotografen, sondern auch von den Leuten, die dort fotografiert haben, und versprichst, daß die Aufnahmen ordentlich entwickelt werden, kriegst du eine ausführliche Reportage vom Verlauf der Vorstellung, Minute für Minute. Wir werden genau wissen, wo jeder zur kritischen Zeit gewesen ist, mag er uns auch weiter belügen.“ „Von der Zuschauertribüne aus kann man den Schloßhof kaum sehen“, wandte Boucký ein. „Trotzdem wird es ausreichen.“ „Mehr als das! Soviel ich weiß, waren vier Busse mit Ausflüglern dort, man müßte auch die Teilnehmer auffordern …“ „Selbstverständlich.“ „Weißt du, was das für Arbeit macht?“ „Verlange ich das von dir? Ihr habt doch ein Labor, oder nicht?“ „Mein Gott, du hast Talent, die Leute zu beschäftigen“, sagte Boucký seufzend. Er trank seinen Kaffee aus und setzte sich ans Telefon. Jarolím las inzwischen nochmals den Obduktionsbefund. Der tödliche Pfeil war fast waagerecht geflogen, der Mörder konnte also nicht vom Schloßplatz oder vom Park aus geschossen haben. In Betracht kamen nur die Arkaden und die Galerie. Boucký setzte alles in Bewegung, was Arme und Beine 79
hatte. Vor allem Fotex und den Leiter Dufek aufsuchen. Nicht nur seine Filme verlangen, sondern auch alle Filme, die zum Entwickeln hingebracht wurden, denn auf vielen dürfte die Eröffnung des Kacenburger Sommers sein. In die Betriebe fahren, die Busse hergeschickt haben, die Exkursionsteilnehmer herausfinden und von ihnen die Filme ausleihen. Alle hiesigen Fotoamateure abklappern, sofern nur vermutet werden kann, daß sie auf der Zuschauertribüne gesessen haben. „Und was noch?“ fragte Boucký. „Wir haben vorläufig nur an die Bogenschützen gedacht“, sagte Jarolím. „Ich würde den Täter unter allen suchen, die freien Zutritt zum Hof und zum Schloß hatten. Der Täter mußte den Ablauf kennen, denn einen Bogen zu nehmen und Korsa zu erschießen kann keine plötzliche Eingebung gewesen sein.“ „Einverstanden.“ „Wer leitet die ganze Maskerade?“ „Professor Urban, den kennst du.“ „Wo war er?“ „Hinter der Szene, wo ein Regisseur hingehört, auf dem Schloßhof unter dem Prinzessinnenturm. Urban war gleichzeitig so etwas wie ein Inspizient, damit alles klappte.“ Jarolím skizzierte einen Lageplan, machte einen Kreis, bezeichnete ihn mit einer Eins und schrieb auf ein anderes Blatt unter Eins den Namen Urban. „Wer hilft Urban?“ „Dufek, der Fotograf.“ Die Zwei malte Jarolím unter die Zugbrücke. „Um die Reklame kümmert sich Wetengel. Er war gestern in der Garderobe und hat den Mitwirkenden künstliche Bärte angeklebt, hat sie geschminkt und so weiter.“ „Wovon lebt er?“ „Er war Friseur, jetzt ist er Rentner und verdient sich 80
nebenbei etwas bei Fotex als Vertreter, früher hat man dazu Agent gesagt.“ „Wer hatte die Finanzen in der Hand?“ „Korsa natürlich.“ Jarolím blickte wieder auf die Gemälde. „Die Dekoration hat der Malzirkel gemacht, den Urban leitet. Wer ist alles in dem Zirkel?“ „Die meisten kennst du schon. Der Fahrdienstleiter Berger, der Fotograf Král, der auch Bogenschütze ist …“ „Und der Verlobte von Jana Hurychová, mit der Korsa geschlafen hat.“ „Ja. Dann der Lackierer Benedikt, der Narr. Der Typograph Louvar, einer von den Henkersknechten. Und der Goldschmied Kudrna. Übrigens sind wir sie schon gestern durchgegangen, wenn du dich erinnerst.“ Jarolím unterstrich im Verzeichnis zwei Namen und zeigte Boucký das Blatt. „Was ist damit?“ „Berger hat kein Alibi, Král hat ein Motiv.“ „Beides ist unsicher, und keines erklärt die Sparbücher in Korsas Tresor und das Bild bei Koukals.“ „Muß das direkt damit zusammenhängen? Ebensogut kann es ein Zufall sein.“ „Das werden wir wissen, wenn wir den Mörder haben.“ „Trotzdem“, sagte Jarolím, der wieder auf die Zeichnung starrte, „ich wüßte zu gern Genaueres über Král und Berger. Damit wir wenigstens für den Anfang etwas Sicheres haben.“ „Klein, aber mein“, spottete Boucký. „Dann interessieren mich Korsas Konten. Wann kriegst du die Nachricht von den Sparkassen?“ „Ich habe einen verläßlichen Burschen hingeschickt und ihm ein ganzes Fotoalbum mitgegeben, geradezu einen Sammelband ‚Korsa in der Fotografie‘. Bis zum Abend ist er zurück.“ 81
„Gut. Und jetzt sage mir, wie man zu so viel Geld kommt, wenn man ungefähr zweitausend Kronen monatlich verdient.“ „Man kann erben. Korsa hat aber nicht geerbt. Im Toto gewinnen …“ „Regelmäßig die gleiche Summe am Anfang jeden Monats?“ „Stehlen.“ „Auf der Kacenburg ist unter Korsa und seinen Vorgängern nichts verschwunden.“ „Dann bleiben nur Heiratsschwindel, Erpressung und Rauschgift- oder Devisenhandel.“ „Heiratsschwindel würde ich weglassen“, sagte Jarolím. „Das kann man nicht so systematisch machen, und er hätte nicht erst hier damit angefangen.“ „Rauschgift- und Devisenhandel klingt auch nicht überzeugend“, erklärte Boucký. „Die Regelmäßigkeit fällt wirklich auf.“ „Man kann auch durch Erpressung viel einnehmen. Wen konnte er hier erpressen? Du bist doch von hier, verdammt noch mal.“ „Mann!“ Boucký stand auf und lief durchs Zimmer. „Logisch ist das, aber denk mal vernünftig nach! Wenn ein Erpresser von jemandem zehntausend monatlich fordert, muß der Erpreßte in einem Jahr an den Bettelstab kommen. Zehntausend sind mehr als drei anständige Monatsgehälter! Ich kenne im Kreis niemanden, der sich das leisten könnte. Er müßte ein Haus verkaufen, mindestens ein Haus, und nach einem Jahr … Unsinn, wenn er das verkaufte, würde der Erpresser gleich mehr verlangen, eine große Summe auf einmal.“ „Ich streite ja nicht mit dir“, sagte Jarolím lachend. „Und wenn das ein Anteil aus irgendwelchen ungesetzlichen Einnahmen wäre?“ „Das glaube ich nicht. Über die Wirtschaftskriminalität im Kreis habe ich einen soliden Überblick. Selbstver82
ständlich gibt es das, aber so systematisch? Das sind meist kleine Fälle, du weißt doch, was in den Läden und Lagern los ist, es geht höchstens um ein paar Hunderter monatlich, selten um vierstellige Summen.“ „Korsa ist regelmäßig in die Bezirksstadt gefahren und hat das Geld dort eingezahlt. Seine Milchkuh brauchte nicht in Podhradí zu stehen.“ „Das ist wohl am wahrscheinlichsten.“ „Er ist aber hier ermordet worden.“ „Vielleicht absichtlich, um die Aufmerksamkeit abzulenken.“ „Das setzt allerdings voraus, daß der Mörder das Schloß und die Vorstellung genau kannte und sich dort ungestört bewegt hat. Ist das bei einem Fremden möglich?“ Boucký überlegte. „Kaum.“ „Also ist der Täter von hier. Král konnte ihn aus Eifersucht ermorden – falls er von der Schwangerschaft seiner Braut weiß.“ „Das dürfte er nicht wissen. Deshalb läßt sie die Abtreibung woanders vornehmen.“ „Er kann es trotzdem wissen. Sie können das wegen der Leute verabredet haben, in Podhradí hätte sich schnell herumgesprochen, daß sie auf der Gynäkologischen liegt.“ „Möglich“, gab Boucký unwillig zu. „Dann Berger … Ich hatte mit der Bahn noch nichts zu tun. Vielleicht hat der Fahrdienstleiter Dreck am Stecken? Und Korsa hat ihn erpreßt?“ „Auf dem Bahnhof können wir uns diskret erkundigen“, stimmte Boucký zu. „Ich frage mich, ob deine Diskretion angebracht ist. Wäre es nicht gerade umgekehrt besser, die Sache offen anzupacken, um so den Täter zu einem unbedachten Zug zu zwingen, ihn zu provozieren?“ „Ich weiß nicht, was du dir in Prag alles erlauben 83
kannst“, antwortete Boucký, „nimm aber bitte zur Kenntnis, daß du es hier mit unbescholtenen Bürgern zu tun hast, und nicht nur das. Der Kacenburger Sommer und alles Drumherum sind der Stolz der ganzen Stadt. Weißt du, was Honoratioren sind? In kleinen Städten bedeutet dieser Begriff noch etwas, und wir könnten tüchtig anecken.“ „Ja? Was bist du hier eigentlich? Der Chef der Kripo oder der Chef des diplomatischen Protokolls?“ „Kriminalistik schließt ein bißchen Diplomatie nicht aus“, erwiderte Boucký. „Hast du jemals das Wort Taktik gehört?“ „Richtig. Und erinnerst du dich, wie wichtig dabei die Zeit ist?“ Boucký zuckte nur die Schultern. „Sicher, aber was können wir unternehmen? Vor allem Korsas Vergangenheit durchleuchten, also bei seinen Arbeitsstellen nachforschen und mit aller Kraft hoffen, daß wir vielleicht auf die Andeutung einer Spur stoßen …“ Er blickte Jarolím ein bißchen ratlos und flehend an, „Ich habe wenig Leute, hilfst du mir?“ „Das muß ich wohl, aber ich wette mit dir um jede Summe, daß der Täter von hier stammt“, antwortete Jarolím. „Als Gegenleistung siehst du dir inzwischen die Prinzessin Hurychová gründlich an.“ „Warum?“ fragte Boucký, eher verwundert als unwillig. „Warum?“ wiederholte Jarolím. „Unter anderem deshalb, weil du ein Einheimischer bist.“
84
ZEHNTES KAPITEL, das auf viele Irrwege führt, in einem Dschungel endet und trotzdem nicht überflüssig ist Am nächsten Morgen startete Jarolím seinen sklerotischen Spartak, um Korsas Lebenslauf zu erkunden. Seit dem Abend wußte er, daß von elf befragten Sparkassenangestellten sieben mit Sicherheit unter mehreren vorgelegten Fotos Korsa erkannt und als Kunden bezeichnet hatten, der regelmäßig hohe Beträge einzahlte. Danach hatte Jarolím nochmals Personalakten, Fragebögen und Beurteilungen Korsas durchgesehen, hatte sich ein halbes Dutzend Adressen herausgeschrieben, und von Erfolgswünschen des skeptischen Zdeněk Boucký begleitet, fuhr er zu den Orten, wo Korsa gearbeitet hatte, bevor er Verwalter der Kacenburg wurde. Am Anfang schien ihm das Glück wohlgesinnt zu sein. Obwohl Urlaubszeit war, traf er gleich an der ersten Stelle mehrere ehemalige Kollegen und Vorgesetzte Korsas an. Von seinem tragischen Tod wußte man schon überall, und Jarolím mußte bei allen Aussagen ein gehöriges Maß Pietät abziehen – über Tote nur Gutes. Er verlor nicht sein Selbstvertrauen und war überzeugt, selbst die kleinste Spur, die zum Kernpunkt des Falles führen könnte, nicht zu übersehen. Als er jedoch gegen Mittag die beschriebenen Seiten im Notizblock betrachtete, verließ ihn sein Optimismus, und er sagte sich zum ersten Male, daß er wohl einen kostbaren Tag vergeude. Selten hatte er erlebt, daß alle Aussagen so übereinstimmten wie die Zeugnisse der Leute, die neben František Korsa gelebt und gearbeitet hatten. Ein gewissenhafter und bescheidener Lehrer, ein bescheidener und gewissenhafter Bibliothekar, ein gewissenhafter und bescheidener Mitarbeiter mehrerer Volksbildungsinstitutionen, ein bescheidener und gewissenhafter stellver85
tretender Leiter eines kleinen Museums. Korsa wurde nirgendwo für überdurchschnittlich befähigt gehalten, und niemandem war eingefallen, ihm einen verantwortungsvolleren Posten anzuvertrauen, allerdings konnte ihm niemand Unfähigkeit vorwerfen, von Unehrlichkeit ganz zu schweigen. Er lebte, wie es seinem Gehalt entsprach, und sorgte für seine Familie. Für größere Anschaffungen nahm er Kredite auf und zahlte sie jedesmal ohne die geringsten Komplikationen vorzeitig ab. Hin und wieder borgte er von Kollegen kleinere Summen, zwanzig oder fünfzig Kronen, die er beim nächsten Gehalt zurückgab. Wo er konnte, suchte er eine Gelegenheit zu Nebenverdiensten. Alles deckte sich mit den Informationen, die Jarolím von Korsas Schwester erhalten hatte. Nachmittags kehrte er nach Podhradí zurück. Boucký saß am Schreibtisch, auf dem sich Negative häuften. Er nahm Rolle für Rolle und sah im Betrachter sorgfältig die einzelnen Aufnahmen an. Fast alle Negative erhielten einen Punkt am Rand, von ihnen wollte Boucký einen Abzug haben. Neben dem Schreibtisch stand Fähnrich Landa, der Chef und einzige Mitarbeiter des Fotolabors. In seiner Miene mischte sich wütende Verzweiflung mit Resignation. „Bis wann willst du das alles haben?“ fragte er, als Boucký nach den Filmrollen eines weiteren fleißigen Amateurfotografen griff. „Bis gestern“, antwortete Boucký. „Was hast du ausgerichtet?“ fragte er Jarolím, und kaum hatte er sich zu ihm umgewendet, war er wieder in seine Arbeit vertieft. „Praktisch nichts Neues, alle bestätigen nur, was wir schon über Korsa wußten“, antwortete Jarolím. Er blickte auf Landa und zuckte die Schultern. Ihm war etwas merkwürdig zumute, hier ein Gast zu sein, der dank seiner Zugehörigkeit zur Prager Zentrale zwar privilegiert war, aber keine Befehle erteilen durfte, ein86
schließlich so unangenehmer, wie sie der Fähnrich von Boucký erhalten hatte. „Also vorläufig das“, sagte Boucký, der seine Augen vom Betrachter losriß und seine schmerzende Wirbelsäule streckte. „Qualität ist nicht nötig, Hauptsache, die Herrschaften sind zu erkennen.“ „Qualität für Vertrauen, Ihr Wunsch ist mir Befehl, sind Sie nicht zufrieden, sagen Sie es uns, sind Sie zufrieden, behalten Sie es lieber für sich“, plapperte Landa, während er die Negative in einen Karton legte. Boucký beachtete den Fähnrich nicht mehr, damit das Gespräch nicht mit einem überflüssigen Mißton endete, und sagte zu Jarolím: „Dein Freund Matějka hat angerufen. Wer ist eigentlich dieser Bärbeißer?“ „Unser Chef.“ „Das habe ich mir gedacht. Angeblich wütet er wie die Schwarze Hand oder wie der schwarze Tod, genau weiß ich es nicht mehr, aber ich habe es wörtlich aufgeschrieben“, fuhr er ernst fort. „Wegen der vielen Forderungen, die wir haben. Matějka soll auf seinen Befehl von dir verlangen, uns ein bißchen zu bremsen.“ Landa, der gerade hinausging, grinste bei diesen Worten ohne Rücksicht auf Subordination. „Prag habe noch andere Sorgen als den Kreis Podhradí. Also bremse uns bei Gelegenheit. Im übrigen haben wir hier eine Liste von Inserenten alter Gemälde, Käufer und Verkäufer, vor einer Stunde hat der Fernschreiber wie irre gerattert. Es ist zum Mäusemelken“, sagte er, eine Lieblingswendung gebrauchend. „Wir werden uns selber damit abplagen müssen. Schließlich können wir nicht verlangen, daß alle Kreise bloß für uns arbeiten, da hat euer Bärbeißer beinahe recht. Hilfst du mir dabei?“ Sein hilfloses Gesicht erinnerte an die Miene von Fähnrich Landa. „Nein, ich gehe mich sonnen“, antwortete Jarolím und blickte auf die Uhr. „Was nicht allzuweit entfernt ist, könnte ich noch heute schaffen.“ 87
„Ich habe schon ein bißchen sortiert.“ Boucký suchte in den Papieren auf dem Schreibtisch und nahm eine Handvoll Zettel. „Hier sind Verkäufer. Wenn der Täter nur das Existenzminimum an gesundem Menschenverstand besitzt, hat er nicht selber inseriert. Ich stelle mir vor, daß Korsa hier nichts angerührt hat, getreu dem Grundsatz von Ganoven, das eigene Haus sauberzuhalten. Er konnte woanders Kontakte haben, entweder Diebstahl und Verkauf organisieren oder jemanden erpressen, das bleibt offen.“ „Gib mir ein paar Adressen“, sagte Jarolím großmütig. „Ich fahre gleich los.“ Den ersten Inserenten traf Jarolím nicht zu Hause an. Er mußte ungefähr vierzig Kilometer fahren, ehe er zum nächsten kam. Sammler alter Kunst gibt es wesentlich weniger als Fans des Prager Fußballklubs Sparta. Jarolím wußte nicht, ob er wirklich erfolgreich begann. Der Käufer besaß eine kleine, aber offenbar kritisch und anspruchsvoll angelegte Sammlung romantischer Stilleben. Er zeigte bereitwillig seine letzte Erwerbung, nannte sogleich den Verkäufer und mußte nur in seinem Notizbuch blättern, um auch die Adresse zu finden. In derselben Stadt hatte Jarolím zum zweiten Male Glück. Der Sammler, Ökonom in einer Maschinenfabrik, kannte sich in Porträts aus und erinnerte sich sogleich an den Verkäufer. „Herr Doktor“, sagte er zu Jarolím, „eine solche Liebhaberei ist nicht verbreitet wie Briefmarkensammeln. Sie sehen doch, mit meinen zweiundfünfzig Jahren habe ich elf Bilder, und davon stammen zwei von meinen Schwiegereltern. Bis ich das Geld zusammengespart habe und etwas kaufen kann, dauert es eine Weile, und das ist ein Ereignis. Selbstverständlich gehe ich auch zum Antiquitätenhandel, und manchmal verkaufen Erben einen ganzen Nachlaß. Wenn aber ein Sammler an einen 88
anderen, verkauft, entsteht daraus in der Regel ein näherer Kontakt. Vielleicht erfahre ich etwas, was ihn interessieren könnte, oder er spielt mir ein Porträt zu.“ Jarolím merkte, daß sein Zeitplan nicht einzuhalten war. Der Ökonom vermutete hinter der gewandten Konversation des unerwarteten Gastes eine profunde Sachkenntnis, und Jarolím konnte sich nicht gleich zurückziehen. Er hörte also geduldig zu und überlegte, wann er das nächste Etappenziel erreichen würde. Zumindest hatte er herausbekommen, daß der Ökonom Korsa nicht kannte. Jarolím wollte nun drei andere Adressen aufsuchen, Leute, die Bilder verkauft hatten. Das erschien ihm zwar überflüssig, aber er würde wenigstens das ruhige Gewissen haben, diese Stadt abhaken zu können. Endlich verabschiedete er sich und beschloß, die folgenden drei Besuche möglichst schnell zu erledigen, selbst auf die Gefahr hin, den Ruf eines unhöflichen Polizisten zu hinterlassen. Er hegte noch die Hoffnung, in die nächste Stadt zu fahren und die dortigen Sammler zu befragen. Chefarzt Hajšman wohnte nur zwei Straßen weiter. Er war gerade heimgekommen und zeigte sich nicht besonders gesprächig. „Ich habe eine kleine Landschaft verkauft. Wenn ich ehrlich sein soll, war ich sehr enttäuscht. Das Bild hatte ich von meinen Eltern geerbt, und sie hatten felsenfest geglaubt, sie würden einen Schatz besitzen, einen echten Lederholz.“ Jarolím nickte, obwohl er den Namen Lederholz zum erstenmal hörte. „Ich verstehe gar nichts von Gemälden und habe das nur als gut angelegtes Geld betrachtet, das mir einmal zupaß kommt. Als voriges Jahr meine Tochter geheiratet hat und ich ein Haus bauen wollte, war mir natürlich jede Krone willkommen. Ich verstehe nichts davon, wiederhole ich, und damit mich niemand für dumm verkauft, habe ich mir eine Expertise besorgt. Da bin ich aus allen Wolken gefallen. 89
Nach dem ersten Experten haben mir unabhängig voneinander noch zwei weitere versichert, daß das bestimmt kein Lederholz ist, höchstens irgendein zweitrangiger Epigone. Ich wußte nicht, ob ich das Bild vor Wut zerhacken und in den Ofen stecken oder als Familienandenken behalten sollte. Geld habe ich aber gebraucht, und so habe ich in der Zeitung inseriert. Als erster hat sich ein Fleischer aus Ustí gemeldet. Auf den ersten Blick war mir klar, daß der Mann einfach nicht mehr weiß, was er mit seinem Geld noch machen soll. Er hat mir vierzehntausend auf die Hand gezahlt. Hätte ich zwanzig verlangt, hätte er sie auch gegeben.“ „Haben Sie seine Adresse?“ „Die Adresse, warum? Er heißt Pavlišta, daran erinnere ich mich, weil ein Pavlišta mit mir zusammen studiert hat. Es dürfte wohl kein großes Problem sein, in Ustí einen Fleischer Pavlišta zu finden.“ „Sicher nicht“, pflichtete ihm Jarolím bei. „Übrigens, haben Sie die Expertisen angezweifelt?“ „Nein, aber er hätte bestimmt zwanzigtausend gegeben, unter uns gesagt. Was hilft’s? Den anderen Interessenten habe ich geschrieben, daß das Bild verkauft ist, es waren übrigens nur drei, aber …“ Etwas in der Stimme des Chefarztes ließ Jarolím aufhorchen. „Bitte?“ „Ich hatte das schon vergessen, als zwei Monate später einer kommt und nach dem Bild fragt. Ich habe ihm gesagt, das Bild ist längst fort, und er faßt sich an den Kopf, ein Lederholz, Jesusmaria, ein Lederholz! Und wenn es bloß ein Epigone ist! Und er will die Adresse des neuen Besitzers. Entweder ich hatte sie behalten, oder hier lag irgendwo Pavlištas Angebot.“ Er zeigte auf den Schreibtisch voller Bücher, Zeitschriften und Papiere. „Er hat mir sehr dafür gedankt, wahrscheinlich hat er Pavlišta mehr geboten, damit er das Bild kriegt.“ „Wer war der Mann?“ 90
„Wie soll ich das nach so langer Zeit wissen? Auf meiner Station liegen achtzig Patienten, ich müßte ein Gehirn wie ein Computer haben.“ Jarolím blickte hoffnungsvoll auf den Schreibtisch. „Würden Sie den Brief noch finden?“ „Ist das so wichtig?“ „Ich habe keine Diagnose, Herr Chefarzt, das heißt, ich mache eine Differentialdiagnose, das ist zutreffender.“ „Das sieht eher aus, als würden Sie aus dem Kaffeesatz lesen“, bemerkte Dr. Hajšman. „Moment, ja, ich erinnere mich … Der Mann hat ziemlich spät geschrieben, es war das letzte Angebot, das mir die Anzeigenannahme geschickt hat, damals habe ich hier in meiner Aasgrube gewühlt und konnte den Pavlišta beim besten Willen nicht finden, aber ich wußte wenigstens die Straße, in der er wohnt, und die Adresse habe ich dem Mann auf sein eigenes Angebot geschrieben.“ „Wenn Sie den Namen nicht wissen, könnten Sie den Mann wenigstens beschreiben?“ „Er war zwischen fünfzig und sechzig, ja, über fünfzig. Ungefähr so groß wie Sie, graumeliertes braunes Haar.“ Jarolím wußte aus der Praxis, daß von Zeugenbeschreibungen keine Wunder zu erwarten waren. Der Chefarzt bestätigte das, als er nach einer Minute konzentrierten Nachdenkens endete: „Er wirkte sehr seriös, sicher werden Sie wissen, was ich damit meine.“ „Ja“, sagte Jarolím höflich, da ihm nichts anderes übrigblieb. In der Hoffnung, daß Bärbeißer von seinem ergebnislosen Forschen und Umhertappen niemals etwas erfährt, begab er sich zu einer weiteren Adresse, neugierig, wen er dort kennenlernen würde. Unterwegs überlegte er, nach wieviel Dienstjahren er genügend Erfahrung erworben hätte, um niemals ratlos eine völlig neue Welt zu betreten, wie es der Kreis von 91
Sammlern alter Gemälde war. Er versuchte, sie wenigstens annähernd einzustufen. Die erste Kategorie bilden Sammler, die seit jeher Gemälde besitzen und eine gefühlsmäßige Bindung zu ihnen haben. An den Wänden ihrer Wohnungen hängen die Bilder, die in der Kindheit, der Jugendzeit und bei der Hochzeit dort gehangen haben. In gewisser Weise kann er sich selber dazuzählen. In seiner Einzimmerwohung gibt es zwei Bilder, unter denen er sich als Junge wegen einer Vier in Betragen rechtfertigen mußte und die später sahen, wie er das Abiturzeugnis und das Doktordiplom nach Hause brachte. Über ihren Marktwert, der sicher unwesentlich ist, hat er nie nachgedacht. Zweitens sind es Sammler oder eher Spekulanten, die Geld in Bildern anlegen und auf steigende Preise warten. Erst bei der dritten Kategorie kann man von wirklichen Sammlern sprechen. Ihnen geht es jedoch vor allem ums Repräsentieren. Sie zahlen Tausende dafür, um anderen ein Gemälde an der Wand zu zeigen und beispielsweise sagen zu können: „Haben Sie schon meinen neuen Schikaneder gesehen?“ oder „Wie gefällt Ihnen unser Kosárek?“ Und schließlich sind es Sammler wie der Ökonom, der Porträts liebt. Schade, dachte Jarolím, mit ihm würde ich gern einen Abend bei einer Flasche Wein verbringen. Eine merkwürdige Leidenschaft, Gesichter zu sammeln. Was mag der Ökonom an den Abenden machen? Wie wählt er seine Objekte aus? Unterhält er sich mit ihnen? Denkt er über das Schicksal des steifen Adelsfräuleins, des strengen Offiziers, des fünfzehnjährigen Mädchens und des müden Schmieds nach? Projiziert er seine eigenen Erlebnisse in fremde Gestalten, oder bereichert er sein Leben mit dem, was er aus ihren Gesichtern liest? Gewissermaßen ist jede Sammlerleidenschaft nur ein Armutszeichen, ein Ersatz für eigenes Erleben. Ich brau92
che keine Gesichter zu sammeln und sie stundenlang schweigend zu betrachten, ich lerne jeden Tag so viele kennen, daß mir davon der Schädel brummt. Dieser Ökonom lebt aber auch nicht in einer Einsiedelei, und trotzdem braucht er elf Porträts, elf Gesichter an den Wänden seiner Wohnung. Bevor Jarolím zu einem Schluß kam, hielt er vor dem Haus, in dem Frau Kubíková wohnte. Die Witwe eines früher offenbar begüterten Architekten freute sich über den Besuch. Sie lebte allein, und Jarolím brachte eine Abwechslung. Ein solcher Gast war ein Ereignis, er bot Gesprächsstoff, wenn sie sich im Café mit einer Freundin traf und ihr eingehend schilderte, daß sie zum erstenmal einen echten Detektiv gesehen hatte. „Sie können sich vielleicht vorstellen, Herr Doktor“, erzählte sie umständlich, „daß ich mit meiner Rente … Also ich wollte meiner Enkeltochter ein Hochzeitsgeschenk kaufen und brauchte Geld. Da habe ich inseriert, und nach ein paar Tagen kamen sehr viele Angebote. Als erster erschien ein Herr Valach aus Brod und hat das Bild gleich genommen. Für sechstausend; zuerst hat’s mich fast überrascht, daß es so viel wert ist.“ „Haben Sie den Preis festgesetzt?“ „Ja, nach dem, was ich im Antiquitätenhandel gesehen habe.“ Sie holte aus dem Sekretär ein altes Familienalbum und blätterte darin, um Jarolím ein Foto ihres Gatten zu präsentieren, der in einem Sessel gerade unter diesem Bild saß. Jarolím überlegte, wie ihm die Flucht gelingen könnte. Vernünftigerweise kam nicht in Betracht, daß Frau Kubíková in Machenschaften irgendwelcher Art verwickelt war. „Sehen Sie, und vielleicht habe ich einen Fehler gemacht“, sagte die Witwe. „Etwa vier Wochen später erschien bei mir einer von den Herren, denen ich schreiben mußte, daß das Bild schon verkauft ist. Er hat das 93
sehr bedauert, und als er das Foto sah, hat er die Adresse von Herrn Valach aus mir herausgelockt.“ Jarolím spitzte sogleich die Ohren. Schon zum zweiten Male hörte er von einem Interessenten, der zu spät kam und erfahren wollte, wer das Bild gekauft hatte. Ein Zufall? Zufälle haben in der Kriminalistik nichts zu suchen, bestenfalls darf man sie dulden, wenn bewiesen ist, daß es wirklich nur ein Zufall war. Welchen Sinn hatte das? Wenn der Käufer vorher wußte, um was für ein Bild es sich handelte, wäre das noch verständlich gewesen. Jarolím nahm an, daß jemand, der eine Sammlung unbedingt um ein bestimmtes Gemälde bereichern wolle, bereit wäre, dafür einen unchristlichen Preis zu zahlen. Was konnte ihm aber ein undeutliches und schon vergilbtes Amateurfoto sagen? „Wer war das, Frau Kubíková?“ „Und wenn Sie mich schlagen, ich weiß es nicht mehr. An den Herrn Valach erinnere ich mich, weil ich ihm geschrieben habe, ob er noch etwas dazulegt, denn das Bild ist mehr wert als sechstausend. Er hat mir geantwortet, daß er so viel bezahlt hat, wie ich verlangt habe, und nachträglich keine Krone mehr gibt. Daran entsinne ich mich, an den Herrn Valach, aber wie der andere Herr geheißen hat …“ Jarolím brauchte eine Viertelstunde, um von Frau Kubíková eine ungefähre Beschreibung zu erhalten. Schließlich griff sie nach dem Album und suchte ein Foto ihres Cousins aus Mähren, der dem unbekannten Mann sehr ähnlich wäre. Jarolím blieb wieder nichts übrig, als sich höflich zu bedanken. Nachdem er sich endlich verabschiedet hatte, erinnerte er sich zum Trost daran, daß er weder Boucký noch Bärbeißer in Habachtstellung melden müsse, wie er die Befehle ausgeführt hatte. Er setzte sich ans Lenkrad und blickte auf die Uhr. Herrn Valach in Brod könnte er noch erreichen, und bei ein bißchen Glück würde er 94
bis Ustí kommen, sich dort bei der Polizei nach dem Fleischer Pavlišta erkundigen und mit ihm reden, sofern der reiche Mann nicht gerade auf Sizilien oder in Dubrovnik weilte. Er verließ die Stadt und preßte aus dem altersschwachen Spartakmotor das Letzte heraus, so daß er befürchtete, die Kolben würden heißlaufen. Der Wagen bestand jedoch den Geschwindigkeitstest, und das Glück verließ Jarolím auch in Brod nicht. Er traf Ctirad Valach an, den Chef des einzigen Hotels im Ort. „Frau Kubíková ist ein übergeschnapptes altes Weib“, sagte der Hotelier mit unprofessioneller Rauheit. „Jeder kauft natürlich gern billig, aber eine alte Frau übers Ohr zu hauen, das brächte ich nicht fertig. Als sie mir mit ihren Briefen auf den Wecker ging, habe ich Experten gefragt. Ihrer Meinung nach ist der Preis von sechstausend völlig angemessen. Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen.“ „Etwas anderes“, erwiderte Jarolím. „Hat sich für dieses Bild nicht noch jemand interessiert?“ „Das haben Sie auch schon mitgekriegt?“ wunderte sich der Hotelchef. „Fürs Gefängnis reicht das aber nicht, für jede Gemeinheit wird man nicht eingesperrt.“ „Das verstehe ich nicht“, bekannte Jarolím gegen seine Gewohnheit. „Etwa zwei Monate später hat sie mir jemanden hergeschickt … Wie soll ich dazu sagen?“ überlegte er. „Einen Animierherrn. Wissen Sie, was Animierdamen waren? Also etwas in der Art. Auf einmal taucht hier ein Kerl auf, den ich noch nie gesehen habe, zufälligerweise angeblich auch ein Sammler, und will das Bild haben. Er hat mir siebentausend geboten, dann sogar acht.“ „Haben Sie ihm das Bild verkauft?“ „Wo denken Sie hin, es hängt dort hinter Ihnen.“ Valach zeigte auf das Gemälde, das Jarolím aus Frau Kubíkovás Album kannte. „Vielleicht habe ich ihm unrecht 95
getan“, sagte dann Valach. „Erst dachte ich, daß er nur ihr Komplize ist, aber er ist wohl selber Sammler. Schließlich habe ich sogar ein Bild von ihm gekauft. Also lassen Sie das sein.“ „Sie haben ein Bild gekauft? Warum?“ „Er hat von seinem Bruder eine Sammlung geerbt, die nicht zu seinen Bildern paßte. Vielleicht wissen Sie, daß sich manche Sammler ziemlich eng spezialisieren.“ „Und Sie?“ „Ich bin nicht so festgelegt“, bekannte der Hotelchef mit entschuldigender Miene. „Um ehrlich zu sein, ich bin ein ausgesprochener Amateur.“ Wirklich ehrlich müßtest du sagen, daß du Geld in Gemälden anlegst, dachte Jarolím. „Und er hatte unten im Wagen ein Bild, das mich interessiert hat. Das da!“ Das Gemälde stellte eine Landschaft dar, auf einer Seite thronte eine Burgruine auf einem hohen Felsen. „Wie hieß der Mann?“ „Alois Kolata, und er war aus Pardubice.“ Alois Kolata, Pardubice, notierte Jarolím. Morgen erfahre ich dort mehr. Oder ich weiß, daß ich völlig danebengeschossen habe. Er dachte an die vergeblichen Gedächtnisanstrengungen Frau Kubíkovás und an das Foto ihres mährischen Cousins. „Wie sieht dieser Herr Kolata aus?“ „Knapp sechzig Jahre“, antwortete der Hotelchef prompt, und er fuhr im Eilzugtempo fort: „Groß, breitschultrig, angegrautes Haar, Scheitel auf der linken Seite, Brille mit dunklem Rahmen, ein bißchen zu modern für seine Kleidung. Er spricht laut, entweder hört er schwer oder ist gewöhnt, auf Versammlungen ohne Mikrophon zu reden, und ist ein bißchen heiser, als hätte er etwas mit den Stimmbändern. Am ehesten kleiner Angestellter, ausgedienter Unteroffizier oder Lehrer, kurz, jemand, der sich gern ein bißchen aufspielt.“ Valachs genaue Beschreibung paßte überhaupt nicht 96
zu dem Bild, das Frau Kubíková gezeichnet hatte, auch nicht zu dem Foto ihres Cousins. Wären nicht der Scheitel und Brille gewesen, hätte Jarolím an den ermordeten František Korsa gedacht. „Wissen Sie die Adresse?“ „Leider nein. Er hatte versprochen, bald noch etwas zu bringen, eine flämische Landschaft, aber er ist nicht mehr aufgetaucht, obwohl wir uns verabredet hatten. Ich hätte ihn gemahnt, aber kann ich an Alois Kolata, Pardubice, schreiben?“
ELFTES KAPITEL, in dem die Ermittlung zwar zu mancherlei Ergebnissen, aber leider zu keinem anständigen Abschluß gelangt Das Glück blieb Jarolím nicht treu. Zuerst klingelte er vergeblich an der Wohnungstür eines weiteren Inserenten. Nach einer Weile erfuhr er von den Nachbarn, daß die Familie schon eine Woche auf Urlaub in Bulgarien war. Dann streikte auf der Landstraße der Wagen. Jarolím suchte drei viertel Stunden lang den Fehler, und als er aus Verzweiflung am Zündschlüssel drehte, sprang der Motor erstaunlicherweise an. Wo der Fehler lag, wann er ihn völlig unbewußt beseitigt hatte und wie lange die Reparatur vorhalten würde, wußte Jarolím nicht. Es war ohnehin spät, so daß weitere Besuche entfielen. Er hielt beim nächsten Gasthaus, das sich ambitiös Motel nannte, mietete ein teures, schlechtes und lautes Zimmer, aß im stickigen Speiseraum etwas, was er höchstens seinen schlimmsten Feinden vorsetzen würde, und wartete anderthalb Stunden, bis er Zdeněk Boucký in Podhradí telefonisch erreichte. Jarolím berichtete ihm seine Ergebnisse und deutete zurückhaltend an, welche Schlüsse daraus zu ziehen wären. 97
Nicht besser erging es ihm am nächsten Morgen in Pardubice. In der ganzen Stadt wohnte nur ein Alois Kolata, wie er auf der Meldestelle mit Erleichterung gesehen hatte. Er fragte noch bei der Kriminalpolizei nach und erfuhr, daß der Mann dort bisher weder als Zeuge noch als verdächtige Person registriert war. Alois Kolata war zu Hause. Der pensionierte Weichenwärter wunderte sich über den Besuch, seine Frau räumte eilig das Zimmer auf, das als Wohn- und Schlafraum diente. Und Alois Kolata erschrak geradezu, als er vernahm, er hätte einem Hoteldirektor ein Gemälde verkauft. Den Namen Ctirad Valach, versicherte er Jarolím, höre er zum erstenmal. Jarolím erblickte an den Wänden zwei armselige Landschaftsgemälde, das Hochzeitsbild des Ehepaares Kolata und das Foto einer Dorfklub-Fußballmannschaft, der zweite Spieler von links war offenbar der um vieles jüngere Alois Kolata. Dem Kriminalisten war keine Erholungspause vergönnt. Über ihre erste Begegnung mit der Kriminalpolizei aufgeregt, drangen die beiden Alten mit Fragen auf ihn ein, die er teils nicht beantworten konnte und teils nicht beantworten wollte. Die meiste Zeit brauchte er zur Erklärung, daß die Kolatas nichts, gar nichts zu befürchten hätten, nicht verdächtig wären, geschweige denn beschuldigt, das Ganze sei ein Irrtum, oder jemand habe sich hinter ihrem unbescholtenen Namen versteckt. Glorreich, sehr glorreich bin ich wieder einmal hereingefallen, sagte sich Jarolím auf der Straße, als er schon am Lenkrad den beiden Alten zum letztenmal zuwinkte und auf das Türschild sah, das mit Grünspan überzogen war. Im Laufe des Tages trat allmählich eine Wende ein. Jarolím schaffte acht Besuche. Jedesmal hörte er mit anderen Worten die gleiche Geschichte. Immer begann es mit einem Inserat, in dem ein altes 98
Gemälde angeboten wurde. Auf solche Anzeigen kommen nicht so viele Zuschriften wie auf Annoncen, in denen jemand viertausend Ziegelsteine und einen neuen Trabant anbietet oder die Absicht bekundet, eine Lebensgefährtin zu finden, Kind kein Hindernis, Auto und Haus mit Garten und Garage vorhanden. Die Inserenten hatten nach dem Verkauf des Bildes die übrigen Briefe nicht einfach in den Papierkorb geworfen, sondern gewissenhaft alles abgeschrieben. Dann tat sich eine Zeitlang nichts. Plötzlich, nach einem Monat oder sogar einem Vierteljahr, erschien ein unangemeldeter Besucher, ein Interessent, und fragte, wer das Glück gehabt hätte, ihm beim Kauf zuvorzukommen. Er erhielt die Adressen in der Regel ohne Schwierigkeiten. Immer hatte er zufälligerweise kein Stückchen Papier bei sich, und immer forschte er nach, ob sein Brief noch vorhanden war. Dann schrieb er sich die Adresse des neuen Besitzers auf diesen Brief: Wenn ich Ihnen schon die Zeit stehle, werde ich Ihnen nicht noch sauberes Papier rauben. Wiederum verfloß eine gewisse Zeit, bis sich der Interessent beim neuen Besitzer meldete. Er bedauerte, zu spät gekommen zu sein, knüpfte ein Gespräch an, bot zu einem günstigen Preis ein Gemälde an, weil … und es folgte ein maßgeschneiderter Grund, je nachdem, ob es sich um einen Sammler handelte, um jemanden, der ein Geschenk gesucht hatte, oder um einen Mann, der einfach nicht wußte, wie er sein Geld anlegen sollte. Jarolím war schon beim Hotelchef eingefallen, daß es nicht schaden würde, das durch Gelegenheitskauf erworbene Gemälde zu fotografieren und zu messen. Auf dem Film befanden sich nun fünf Aufnahmen, zwar technisch unzulänglich, in der Hinsicht überschätzte er seine Fähigkeiten keineswegs, aber als Information genügte es. Wesentlicher war etwas anderes. Mochte die Erinnerung der Zeugen nach der langen Zeit auch verblaßt sein, eines hatten alle Aussagen gemeinsam: Den 99
ersten und den zweiten Besuch machte stets eine andere Person. Kaum jemand besaß eine so außergewöhnliche Beobachtungsgabe wie der Hotelchef, aber die Unterschiede bei der Beschreibung des Mannes, der die Adresse des neuen Besitzers erkundete, und des Verkäufers, der ihn dann aufsuchte, waren offensichtlich. Sicherheitshalber hatten hier zwei Männer gearbeitet, die sich mit größter Wahrscheinlichkeit hinter Namen völlig fremder Personen versteckten wie im Falle des Pardubicer Alois Kolata, Namen, die aus Telefonverzeichnissen oder von Türschildern stammten, vielleicht waren sie auch völlig erdacht. Das muß ich im Laufe des morgigen Tages feststellen, nahm sich Jarolím vor. Schlecht ist jedoch, überlegte er auf dem Wege nach Podhradí, wachsam auf die Motorgeräusche achtend, daß ich nicht die Fotos aller Männer mitgenommen habe, die als Verkäufer in Betracht kommen. Die verworrenen Aussagen passen auf manchen in Podhradí, nur Valachs Beschreibung läßt sich eindeutig auf František Korsa beziehen. Jarolím erinnerte sich an die Sparbücher. Im Kopf konnte er die Einzahlungen nicht rekapitulieren, er vermutete jedoch, daß die Einnahmen aus dem Gemäldeverkauf allein nicht ausgereicht hätten. Zudem mußte der andere Mann seinen Anteil bekommen, dieses Hühnchen hatte sicher nicht umsonst gescharrt. Wer ist Herr Eins und wer Herr Zwei? Woher stammt das Geld auf Korsas Sparbüchern? Gehören sie wirklich Korsa? Und woher nehmen sie so viele Gemälde, wenn unbezweifelbar auf dem Schloß nicht einmal eine Postkarte fehlt? Es ist nicht ausgeschlossen, fuhr Jarolím in seinen Betrachtungen unwillkürlich als Selbstgespräch fort, daß der Anteil des zweiten Mitglieds der Firma aus unbekannten Gründen – vielleicht durch Korsas Schuld – 100
unangemessen niedrig war. Das wäre ein Mordmotiv. Dann hätte sich der Mörder seines Komplizen entledigt. Er mußte jedoch wissen, daß in Korsas Tresor fünf Sparbücher liegen. Mußte er das wirklich wissen? Ist hier nicht der Wunsch der Vater des Gedankens? „Wichtig ist, was wir wissen müssen“, antwortete ihm auf alle Fragen Zdeněk Boucký, als Jarolím endlich im Büro saß und auf den Ritter mit erhobenem Schwert blickte. „Im Vergleich zu dem, was wir bisher herausbekommen haben …“ Er winkte ab und reichte Jarolím zwei maschinenbeschriebene Blätter. „Hier hast du zum Beispiel die Hurychová.“ Es war nicht gerade wenig. Jarolím las, daß Jana Hurychová noch unter Urbans Verwaltung nach dem Abitur, also vor drei Jahren, auf der Kacenburg angefangen hat. Sie ist im unfernen Osek geboren worden, der Vater ist Eisenbahner, die Mutter Verkäuferin, sie hat ältere Geschwister, einen bisher ledigen Bruder und eine verheiratete Schwester. In Podhradí lebte sie während der Schulzeit bei einer Tante, nach dem Tode der Frau wurde ihr die Wohnung zugesprochen. Diese Wohnung ist klein und schlecht, die Einrichtung stammt aus der Erbschaft. Jana Hurychová war dreimal im Ausland, stets als Gruppenreise, einmal auf Rügen, zweimal am Plattensee. Lebensweise, Ansichten und Ansprüche gleichen denen ihrer Altersgenossinnen mit ähnlicher Bildung. Keine Konflikte, aber auch keine engen Freundschaften. Diskret ist erforscht worden, daß Jana Hurychová seit ihrem 17. Lebensjahr mit sechs Männern Beziehungen gehabt hat. Mit Jiří Král geht sie das zweite Jahr, sie will ihn heiraten. Mitglied des örtlichen Tennisklubs. Bei einer Anfrage im Krankenhaus – mehr erlaubte der Arzt nicht – ist von ihr versichert worden, daß sie keinen Zugang zum Tresor hatte und nicht wüßte, wohin Korsa den Schlüssel legte. Schön, dachte Jarolím, aber vom Verhältnis mit Kor101
sa steht hier kein Wort. Wenn das verheimlicht werden konnte, dürfte auch Feindschaft zwischen ihnen der Öffentlichkeit verborgen geblieben sein. Oder … Fähnrich Landa trat ohne anzuklopfen ein, vor Erschöpfung grau im Gesicht. Er sah Jarolím nicht an und warf nur eine Handvoll Vergrößerungen auf den Tisch. „Hier ist das! Wollen Sie eilig noch was, oder reicht Ihnen das Irrenhaus, das wir unten schon haben?“ „Ich danke dir sehr, Mílo“, beschwichtigte ihn Boucký. Von Disziplin ist nichts zu merken, dachte Jarolím. Seltsam, daß Zdeněk nicht ein bißchen vorschriftsmäßigeres Verhalten von seinen Untergebenen verlangt. Boucký schien seine Gedanken zu lesen. „Du mußt das verstehen“, sagte er, sobald Landa hinausgegangen war. „Keiner von uns hat vorausgesehen, was wir dem Labor eingebrockt haben. Das sind kilometerweise Filme. Zum Trocknen mußte er beinahe eine Turnhalle mieten.“ Jarolím war wieder sehr froh, daß nicht er, sondern Zdeněk Boucký die Befehle gab. Er griff schweigend nach den Vergrößerungen, nahm seinen Notizblock, schrieb den Namen des Besitzers und des Verkäufers auf die Fotos und ergänzte die Angaben mit den Formaten. „Hör mal“, sagte Boucký erstaunt. „Ihr in Prag müßtet einen besseren Überblick haben. Werden oft alte Bilder gestohlen?“ „Was glaubst du, woran ich dauernd denke?“ antwortete Jarolím. „Natürlich nicht. Dieses Jahr waren es vier Fälle, und davon sind drei schon aufgeklärt.“ „Sieh mal!“ Boucký zeigte auf ein Foto von einem Gemälde des heiligen Hubertus, dessen Armbrust auf einen Hirsch mit einem leuchtenden Kreuz zwischen den Geweihstangen gerichtet war. „Das ist doch von hier.“ „Von der Kacenburg?“ „Aus dem Depot.“ 102
„Den heiligen Hubertus hat ein Ingenieur Pavel Mika von einem Dozenten Benetka aus Prag gekauft“, sagte Jarolím, nachdem er das Foto umgedreht hatte. „Hast du das Bild gesehen?“ „Wahrscheinlich, wenn ich es fotografiert habe. Kannst du feststellen, was das für ein Ingenieur Mika ist?“ „Alles läßt sich machen.“ Boucký diktierte durchs Telefon eine Anfrage, die nach wenigen Minuten per Fernschreiber hinausging. „Mann, wir haben immer noch fast nichts. Kannst du dir vorstellen, wieviel Geld die ganze Angelegenheit schon gekostet hat?“ Jarolím gebärdete sich mitleidvoll. „Was haben wir denn überflüssigerweise gemacht?“ „Du bist in Prag gewöhnt, immer genügend Geld und Leute zu haben.“ Er bestätigte wiederum, daß er nicht wußte, wie wenig Jarolím bisher in der Zentrale galt. „Aber wir sind schließlich nur ein Kreis.“ „Wollen wir nicht ins Depot gehen?“ schlug Jarolím vor, um von diesem Thema abzulenken. „Können wir.“ Boucký legte Jarolíms Fotos in die Aktentasche und nahm eine Schachtel aus dem Schrank. „Was hast du da?“ „Warum hast du mich gestern abend angerufen? Manchmal bin ich auch zu etwas nütze, und deshalb habe ich heute früh ein paar Leute losgeschickt. Sie haben die gleiche Verkaufsmethode entdeckt wie du. Und sie haben auch fotografiert.“ „Du meinst also, daß …“ „Möglich ist alles.“ Sie fuhren zur Kacenburg und blätterten im Inventarbuch. Die Gemälde waren nicht genau beschrieben, und Boucký schickte sich gerade an, das Aufwendigste vorzuschlagen und die Sammlung durchzusehen, als Jarolím auf das Buch klopfte. „Nummer vierhundertachtzehn. Der heilige Hubertus.“ 103
„Format?“ fragte Boucký lebhaft. „Stimmt auf den Zentimeter überein.“ Das Gemälde war an seinem Ort. Sie betrachteten es mit ungläubigen Augen, maßen es und verglichen es mit der Fotografie. Alles stimmte überein. „Verstehst du das?“ fragte Boucký. „Vorläufig nicht“, antwortete Jarolím zurückhaltend. „Ich will nichts Voreiliges sagen, das wäre nicht klug.“ Boucký blickte auf den Kollegen aus der Zentrale, fragte jedoch nicht weiter. Sie begannen mit der gründlichen Durchsicht der Sammlung. Alle Gemälde, deren Fotos sie bei sich hatten, lagerten im Depot. „Karel“, sagte Boucký, als sie bei einem Glas Pilsner saßen, um den Staub hinunterzuspülen, „wenn das nun Kopien sind?“ Jarolím nickte lobend. „Hab dich nicht so weise!“ fuhr ihn Boucký an. „Du hast die Bilder gesehen, ich nicht!“ „Ich bin allerdings kein Experte. Mich interessiert, wer diesen blühenden Handel betrieben und wer von den beiden Komplizen versagt hat.“ „Das ist doch klar: Korsa. Wir kennen nur nicht seinen Partner.“ „Von klein auf beneide ich jeden, dem gleich alles klar ist. Korsa, sagst du? Wo hast du einen Beweis? Vielleicht hat sein Komplize die Nerven verloren, während Korsa weitermachen wollte? Deshalb hat er sich Korsas entledigt.“ „Das kannst du auch nicht beweisen.“ „Nein. Vorläufig würde mir reichen, wenn ich wüßte, wer imstande ist, so vollkommene Kopien herzustellen.“ „Urban“, sagte Boucký, „nur Professor Urban.“ „Der ehemalige Schloßverwalter, also der erste Verdächtige. Zur Mordzeit war er nachweislich im Parterre.“ „Bewiesen ist das nicht“, wandte Boucký ein. „Freilich kann ich mir Urban nicht als Mordschützen vorstellen.“ 104
„Damit konnte er rechnen. Wir werden allerhand brauchen!“ Jarolím nahm seinen Block und schrieb. „Zuerst schickst du eure Leute los, um die Gemälde für ein Gutachten auszuleihen, ob das Originale oder Kopien sind. Sie müßten die Fotos aller Personen mitnehmen, auf die wenigstens annähernd die Beschreibung der enttäuschten Interessenten und der Verkäufer paßt. Das sind Korsa, Wetengel, Berger und Urban. Kannst du feststellen, wer öfter aus Podhradí fortgefahren ist?“ „Korsa in die Bezirksstadt, Urban wohl ziemlich selten, Berger hat als Eisenbahner einen Freifahrtschein, und Wetengel ist fast ständig unterwegs.“ „Der Friseur? Warum?“ „Er ist doch Handelsvertreter von Fotex. Wetengel bereist die halbe Republik und verkauft in Neubaugebieten und auf Dörfern Farbfotos. Außerdem nimmt er Bestellungen für kolorierte Fotos auf, hauptsächlich Hochzeitsbilder.“ „Dieser Herr interessiert mich am meisten. Wollen wir nicht morgen mit ihm beginnen?“ „Können wir“, stimmte Boucký zu. „Und die anderen?“ „Wir werden sie weiter observieren.“ Jarolím wußte, was diese wenigen Worte bedeuteten. Die erste Nacht nach dem Mord hatte Boucký zur Abschreckung seine Macht gezeigt. Bis zum Morgengrauen fuhren Funkwagen und Motorräder durch alle Straßen, Streifenpolizisten zu Fuß knüpften das Netz noch dichter. Jedem, also vornehmlich dem Mörder, mußte klar sein, daß er unbeobachtet keinen Häuserblock weit kommen würde. Jetzt sind weniger Menschen in Aktion, und sie sind nicht zu sehen. Podhradí wirkt nach außen wiederum friedlich. Lediglich die Wohnungen aller Verdächtigen, die möglicherweise nur wichtige Zeugen und somit gefährdet sind, werden ständig beobachtet. In Prag wäre 105
das nicht leicht, aber hier, wo fast jeder jeden kennt, ist das eine geradezu übermenschliche Aufgabe. Wie sorgfältig muß man die Posten auswählen, wie umsichtig die Ablösung organisieren, wie genau den Alarmplan ausarbeiten, damit niemand etwas merkt. Jarolím fragte nicht nach Einzelheiten, damit Boucký sein Interesse nicht als Mißtrauen auslegte. Wenn alles vorbei ist, dachte er, lasse ich mir das ausführlich beschreiben, damit ich sehe, was man in einer verschlafenen Kleinstadt, wo solche Aktionen ungewöhnlich sind, zum Schutze eines möglicherweise bedrohten Menschen vor dem möglichen Angriff eines unbekannten Mörders unternehmen kann. Das erregte und beruhigte ihn zugleich, und er verspürte Stolz, ähnlich dem Hochgefühl eines Soldaten, der in einem Eliteregiment dient und sich bemüht, nicht hinter seinen Kameraden zurückzustehen. Als er in sein Hotel hinkte, wählte er absichtlich einen Umweg. Er war geschult und ahnte, wo sich die Standplätze der Beobachter befanden, entdeckte jedoch keinen einzigen, zu Recht nahm er an, daß auch er unablässig beobachtet würde, was man ihm später bestätigte. Nur erfuhr er nie, welchen Decknamen ihm Boucký gegeben hatte. Im Funkverkehr der Polizei hieß er Moppel. Moppel watschelt in deinen Sektor. Er kam zufrieden angewatschelt.
ZWÖLFTES KAPITEL, in dem man echte Durchschnittsware wiederfindet Dufek, der Leiter von Fotex, blickte nur in sein Heft und antwortete sofort, Herr Wetengel sei gerade in …, und dann nannte er gleich vier Städte, deren Entfernung von Podhradí insgesamt einhundertsechzig Kilometer maß. 106
Wetengel hatte kein festes Gehalt und keine feste Arbeitszeit, er bekam lediglich eine Provision von den abgeschlossenen Aufträgen und kehrte manchmal am nächsten Tage, zuweilen jedoch erst nach zwei Wochen zurück. Eine Viertelstunde später wurde im ganzen Gebiet, in dem sich Wetengel aufhalten konnte, von der Polizei an alle Streifenwagen durchgegeben, einen grauen ŠkodaLieferwagen mit dem Kennzeichen PDA 98-76 und dem Firmenzeichen Fotex zu melden. Nur melden, hieß es im Befehl, den Fahrer nicht kontrollieren, anhalten oder behindern. Nach endlosen vierzig Minuten lag die Antwort vor Jarolím und Boucký auf dem Schreibtisch. Wetengel hatte sich eine Stadt ausgewählt, in der gerade ein großes Neubauviertel errichtet wurde. Die Kriminalisten vermuteten, ihn am ehesten dort anzutreffen. Nach einer Stunde schneller Fahrt schaukelte ihr Wagen schon auf der provisorischen Straße aus nachlässig hingelegten Platten. Sie fuhren gerade am Einkaufszentrum vorbei, das vorläufig aus Kiosken und Verkaufswagen bestand, als Jarolím überflüssigerweise leise sagte, als könnte ihn jemand außer Boucký hören: „Dort! Siehst du ihn?“ Boucký nickte und spähte nach einem Parkplatz aus. Es gelang ihm, den Wagen auf einer lehmigen Fläche zwischen zwei Autos zu zwängen. Das Kennzeichen, zwar zivil, aber immerhin aus Podhradí, war auf den ersten Blick nicht zu sehen. Der Friseur stand auf dem Marktplatz. Hinter den Fenstern seines Lieferwagens waren einige Warenmuster ausgestellt, weitere lagen auf einem Klapptisch. Jarolím und Boucký brauchten sich kaum Mühe zu geben, um von Wetengel nicht bemerkt zu werden. Ihn umringte ein dichtes Häuflein kaufwütiger Frauen. Sie betrachteten die Bilder und überlegten, was am besten in die neue Wohnung passen würde. Wetengel kam mit 107
dem Ausfüllen der Bestellungen kaum nach. In vierzehn Tagen, versicherte er, spätestens in vierzehn Tagen erhalten Sie die Bilder mit der Post per Nachnahme zugeschickt. Selbst beim Schreiben plapperte er, daß aus einer neuen Wohnung erst dann ein echtes Heim würde, wenn die Wände mit den prachtvoll gerahmten Farbfotos geschmückt seien, die Fotex in bester Qualität anfertige. Jarolím erstarrte. Er hatte gewußt, was hier feilgeboten wurde, trotzdem verschlug es ihm den Atem beim Anblick der vielen röhrenden Hirsche im Böhmerwald, der weißen Birken auf blühenden Hängen, der hölzernen Bauernhäuser im Schatten riesiger Kirschbäume, der Gänslein auf Dorfteichen und der Kätzchen mit Wollknäueln. Weil jeder manchmal davon träumt, ein Diktator zu sein, stellte er sich vor, was er für ein Regime im Gefängnis einführen würde. Einsperren würde er alle Angestellten von Fotex, von Herrn Wetengel bis zum Leiter Dufek. Die Zellenwände würde er mit diesen greulichen Farbfotos vollhängen lassen, der Knastfunk würde vom Wecken bis zum Abendlied nur Schnulzen spielen, und in der Bibliothek wären nur kitschige Kinderbücher und Jungmädchenromane aus früheren Zeiten zu finden. Eine harte, aber homöopathische Behandlung, das Kurieren einer Krankheit mit denselben Mitteln, die sie hervorgerufen haben. Er wußte jedoch, daß Wetengel bisher kein Gesetz übertreten hatte und daß es vorläufig nicht ratsam war, sich zu zeigen. Dazu wird später Gelegenheit sein, überlegte er, und vielleicht bleibt ein bißchen Hoffnung, ihn beim Handeln im Namen der Firma zu ertappen, mit der Korsa etwas zu tun hatte. Dann könnten wir in dem riskanten Spiel auch den entscheidenden Trumpf einsetzen – das Adressenverzeichnis. Alles hängt davon ab, was Wetengel für Nerven hat. Ebensogut können wir umsonst hergefahren sein, und die Fahrt begründen wir – begründet Zdeněk 108
Boucký – mit einer Vernehmung, die sonst bis Wetengels Rückkehr nach Podhradí hätte warten müssen. „Aber das sind doch bloß Fotografien“, sagte seufzend eine Kundin, die beinahe entschlossen war, zwei Bilder zu kaufen. Wetengel begrüßte gerade eine junge Frau, die ein großes Hochzeitsfoto brachte, um es in einem Monat per Nachnahme koloriert zurückzuerhalten. „Ich wundere mich wirklich, warum Ihnen unsere Landschaftsbilder nicht gefallen, gnädige Frau“, erklärte Wetengel, „Wo finden Sie sonst so etwas? Sie haben aber Glück, gnädige Frau“, beglückte er sie mit der abgenutzten Anrede zum zweitenmal, „ich könnte Ihnen auch etwas Außergewöhnliches anbieten, hier habe ich auch mehrere Originale, garantiert echt handgemalte Ölbilder. Möchten Sie sie sehen?“ Jarolím hielt Boucký am Ellbogen fest, damit er nicht vorzeitig eingriff. Der Gedanke, der Hausierer könnte auf der Straße Gemälde (oder vielleicht Kopien) aus der Kacenburger Galerie anbieten, war jedoch geradezu absurd. „Mir haben Sie nichts davon gesagt“, ließ sich vorwurfsvoll eine Frau vernehmen, die schon die Farbfotografie „Hradschin bei Sonnenuntergang“ mit bonbonfarbenem Himmel bestellt hatte. „Madam“, erwiderte Wetengel entschuldigend, „Sie sehen selber, daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht!“ Er öffnete die Hintertür des Lieferwagens und holte das Sonderangebot des Tages hervor. Das erste Bild stellte einen Hirsch dar, der aus einem dichten romantischen Wald an ein Seeufer tritt. Jarolím erinnerte sich sofort, daß er das Bild im Atelier des Malzirkels gesehen hatte. Der Fahrdienstleiter Berger hatte es gerade in sechsfacher Ausführung gerahmt. Ringsumher erklang bewunderndes Seufzen. „Ja, aber was kostet das?“ Wetengel kramte noch ein halbes Dutzend ähnlicher 109
Werke hervor. Es waren einsame Hütten auf grüner Flur, alte Weiden am Bach, Birken am Berghang und verschneite Landschaften. „Fast nichts, gnädige Frau, fast nichts“, versicherte er. „Wenn Sie das bei einem akademischen Maler kaufen würden, müßten Sie acht- bis zehntausend Kronen bezahlen. Bei mir bekommen Sie das Bild für tausend Kronen, einschließlich Rahmen und Glas, und die kleineren kosten nur siebenhundert.“ „Tausend Kronen?“ wiederholte eine Frau, die zweifellos beinahe zum Kauf entschlossen war. „Billiger kann ich es nicht ablassen“, sagte Wetengel bedauernd. „Bedenken Sie nur, was alles kostet, die Farben und die echte Leinwand, der Rahmen und das Glas, und hier steckt zehnmal mehr Arbeit drin als in irgendeinem modernen Geschmiere, bei dem Sie Rotkäppchen nicht von einem Motorrad unterscheiden können, das müssen Sie zugeben!“ „Ich würde das nehmen“, erklärte eine Frau, die ein gesticktes Trachtentuch und eine Kittelschürze aus Nylon trug, und zeigte auf eine zuckrige Winterlandschaft. „Moment“, fuhr Boucký scharf dazwischen, und bevor ihn Jarolím daran hindern konnte, trat er zu Wetengel und hielt ihm seinen Dienstausweis unter die Nase. „Kriminalpolizei! Herr Wetengel, packen Sie Ihren Kram ein, und kommen Sie mit.“ Hilflose Wut würgte Jarolím. Es half nichts, er mußte Boucký beistehen und die aufgebrachten Frauen beruhigen, die sich betrogen fühlten, als hätte er sich beim Schlangestehen vorgedrängt. „Herr Wetengel“, sagte Boucký, als sie zu dritt in einem Raum der örtlichen Kriminalpolizei saßen, „soll ich Ihnen den Paragraphen über unerlaubten Handel vorlesen? Sie haben nur eine Konzession für den Verkauf von Fotografien. Wer hat Ihnen diese Gemälde in Kommission gegeben?“ 110
Wetengel hatte genügend Zeit zum Nachdenken gehabt. Die Fahrt und das Verhandeln bei der Kriminalpolizei hatten ziemlich lange gedauert. Boucký hatte nach Jarolíms Meinung das Verhör viel zu spät begonnen. „Herr Wetengel“, fuhr Boucký fort, „ich rate Ihnen, bestreiten Sie keine Dinge, die klar sind. Sie denken doch nicht, daß wir Sie hier rein zufällig entdeckt haben!“ „Bestreite ich denn etwas? Ich habe einfach öffentlich verkauft, dazu habe ich eine Genehmigung.“ Er griff in die Brusttasche. „Ja, für Fotografien“, sagte Jarolím, „aber woher stammen die Ölbilder?“ „Die Bilder habe ich angeboten, um sie zu verkaufen, das ist wahr“, antwortete Wetengel mit gebrochener Stimme. „Meine Herren, Fotex zahlt nicht viel, das können Sie mir glauben. Meine Rente ist miserabel, ich würde lieber zu Hause bleiben und nicht kreuz und quer über Land fahren, das ist bestimmt kein Zuckerschlecken. Im Winter habe ich ein paar Bilder gemalt, und da wollte ich mein Glück versuchen …“ „Sie haben die Bilder selber gemalt?“ „Ja.“ „Nach dem Gesetz haben Sie auch das Recht zu lügen, aber das kann ich Ihnen nicht empfehlen. Sie behaupten, daß alle diese Gemälde Ihnen gehören, daß es sich um garantiert echt handgemalte Ölbilder handelt, mit Ihren Worten ausgedrückt?“ „Ja.“ „Und die Rahmen?“ „Die kann man in jeder Stadt kaufen, sogar bei uns in Podhradí. Was ist daran Besonderes?“ „Wo haben Sie die Rahmen gekauft?“ „Das weiß ich nicht mehr. Wo war ich bloß vor etwa zwei Monaten? Entweder in Karviná oder in Opava, genau erinnere ich mich nicht.“ 111
„Sie werden sich erinnern“, griff Jarolím ein. „Sie werden sich noch an mehr erinnern, Herr Wetengel. Sie reden den Leuten ein, daß Sie Originale verkaufen, dabei beschaffen Sie sich Serien zu sechs Stück. Sechsmal Hirsch, sechsmal Hütte, sechsmal Weihnachten, das haben Sie doch in Ihrem Wagen! Wie paßt das zusammen?“ „Sind das etwa keine Originale?“ verwahrte sich Wetengel. „Ein Original ist ein handgemaltes Bild.“ „Nein, das stimmt nicht, aber dazu kommen wir später. Was sagt Ihnen der Name Alois Kolata, Herr Wetengel?“ „Wie bitte?“ „Alois Kolata, Pardubice.“ „Herr Doktor, wissen Sie, wieviel Bestellungen ich täglich aufnehme? Sie brauchen bloß zu Fotex in den Versand zu gehen.“ „Ihm haben Sie keine Fotografien verkauft, Herr Wetengel.“ „Dann weiß ich nicht, woher ich ihn kennen soll.“ „Merken Sie nicht, daß wir das vielleicht wissen, wenn wir Sie danach fragen?“ „Sehen Sie, jeder weiß eben etwas anderes“, antwortete Wetengel. „Ich habe einfach ein paar Bilder gemalt.“ „Ein paar kitschige Ölschinken!“ sagte Jarolím, der allmählich unsicher wurde. „Ob das Kitsch ist oder nicht, das beurteilen nicht Sie, Herr Doktor, Sie sind schließlich bloß Jurist“, fuhr der Friseur erhaben und unerschüttert fort. Boucký und Jarolím hatten schon erkannt, daß sie einen Gegner vor sich hatten, dessen Widerstand ständig wuchs. „Ein Urteil über künstlerischen Wert ist erstens eine Angelegenheit von Fachleuten, und zweitens gefällt jedem etwas anderes. Ende des Jahres hätte ich dafür die Steuern bezahlt, und basta“, erklärte er, ohne mit der Wimper zu zucken. „Heute haben Sie mich aber unbegründet an der Ausübung meiner Arbeit gehin112
dert. Sie haben mich in aller Öffentlichkeit verunglimpft, und Sie können sicher sein, daß ich mich über Sie beschweren werde.“ „Also gut“, sagte Jarolím auf einmal entschlossen – Wetengels Drohung bezweifelte er nicht, doch er meinte, das könnte kaum ein größeres Malheur sein als völlig falsche Vermutungen, „bis zum Jahresende werden wir aber nicht mit dem Abrechnen und Bezahlen warten, Meister.“ „Wissen Sie nicht mal, wann der Termin ist? Wofür hat man Ihnen den Doktortitel gegeben?“ „Am Jahresende ist der Abrechnungstermin für die Steuern, aber nicht für Mord“, sagte Jarolím absichtlich langsam. Wetengel antwortete nur mit einem Schulterzucken, und seine Miene sagte: Euch grüne Jungs stecke ich noch in die Tasche.
DREIZEHNTES KAPITEL, dessen Unglückszahl wirklich in eine Richtung führt, die für den Täter verhängnisvoll ist In den Garagen des Kreisamtes stand kein einziger Wagen mehr. Boucký war resigniert Jarolíms Ratschlägen gefolgt und hatte jeden losgeschickt, den er nur von der Arbeit losreißen konnte. Sein Chef begleitete das mit skeptischen Blicken. Mit den Wagen wurden die Gemälde geholt, die unter so merkwürdigen Umständen den Besitzer gewechselt hatten, und bei der Gelegenheit sollten auch der Besucher und der Verkäufer identifiziert werden. Ein Wagen fuhr ins Bezirksmuseum, um die Kunsthistorikerinnen Frajberková und Zemanová nach Podhradí zu bringen. Im Labor bearbeitete Fähnrich Landa immer noch die erschütternd reiche Ernte, die 113
Berufs- und Amateurfotografen bei der Eröffnungsfeier des Kacenburger Sommers eingebracht hatten. Jarolím, der über alles und nichts zu entscheiden hatte, humpelte durchs Gebäude und beobachtete das Treiben, um sich irgendwie zu beschäftigen. Autos kamen an und fuhren ab Telefone klingelten, Fernschreiber ratterten. Er wußte, daß er die Ermittlung in die richtigen Gleise gelenkt hatte und daß sich aus dem riesigen Materialberg ein logisches Gebäude errichten ließ, an dem Absicht und Tat des Mörders sichtbar wären. Das Ganze, sagte er sich, ist immer mehr als die Summe der Teile. Seine Hypothese hatte festere Umrisse bekommen, trotzdem fehlte immer noch der unwiderlegbare Schuldbeweis wie ein Stein, der ein Gewölbe zusammenhält. Jarolím hielt es für ausgeschlossen, noch nicht darauf gestoßen zu sein. Am ehesten ist es etwas, was ich gesehen habe, was ich in der Hand hatte, was ich gehört habe, und weil ich leider keine geniale Intuition besitze, habe ich es nicht bemerkt und mich mit etwas anderem befaßt. Wenn dieser irre Tag beendet ist, werde ich mir einen Frontvorrat an Kaffee und Zigaretten kaufen, werde die Protokolle, Inventuren und Expertisen durchsehen und nicht eher vom Stuhl aufstehen, bis ich es gefunden habe. An einer Wand des geräumigen Speisesaals hing eine Sammlung alter und kostbarer, zur Freude und Spekulation für schweres Geld erworbener Gemälde. Es waren vorläufig siebzehn, und alle hatten einen Doppelgänger im Kacenburger Depot. Auch sie hatte Jarolím herbringen lassen, und er hatte aus Bosheit angeordnet, die Bilder ungeordnet nebeneinanderzuhängen. Die beiden Kunsthistorikerinnen sollten zeigen, ob sie wirklich ihr Handwerk verstünden. In einem Anfall von sarkastischem Humor hatte er an der gegenüberliegenden Wand die Werke aufhängen lassen, die aus Wetengels Wagen stammten. 114
Er ging durch den Speiseraum und blickte auf die Uhr. Kurz darauf betrat er Bouckýs Zimmer. „Hast du jemanden frei?“ fragte er gleich in der Tür. Boucký hatte gerade den Hörer aufgelegt. Hilfesuchend richtete er die Augen zur Decke. „Nein, ich habe fast alle nach Hause geschickt, und der Rest bummelt, reicht das, du Verrückter? Selbst wenn ich eine Brigade befehligen würde, könntest du alle beschäftigen.“ „Ich brauche bloß einen oder zwei“, sagte Jarolím. „Warum plötzlich so bescheiden? Nimm dir zehn. Wozu denn wieder, verdammt?“ „Malzirkel. Haussuchung im Kulturhaus, und dann vielleicht alle Bilder herbringen, die man dort findet.“ „Herr Doktor beider Rechte, sprechen Sie gelegentlich mit dem Staatsanwalt, oder lesen Sie sich die Strafprozeßordnung durch. Über Haussuchungen werden Sie viel Neues und Interessantes erfahren.“ „Gewiß, aber auch über Verdunkelungsgefahr. Sowieso befürchte ich, daß wir schon viel Zeit verloren haben.“ „Wie meinst du das?“ Jarolím erklärte ihm kurz den Verdacht, der während des Umherschweifens durch das Gebäude in ihm gereift war. Boucký saß da, den Kopf auf die Hände gestützt, und hörte zu. Dann wühlte er in den Papieren auf seinem Schreibtisch. „Über Kudrna, Benedikt und Urban habe ich in der Hinsicht nichts. Wenigstens vorläufig nicht. Dafür sollte dich interessieren, daß zum Beispiel Louvar einen bereits gebuchten Urlaub in Bulgarien abgesagt hat. Král baut das zweite Jahr ein Haus, und seit dem Frühjahr ist es um keine Schicht Ziegel gewachsen, weil er kein Geld hat. Und Berger war gerade bei Mototechna mit einem Wagen dran und hat darauf verzichtet, weil er noch eine Zeitlang sparen muß.“ „Das widerlegt gar nichts“, wandte Jarolím ein. „Du 115
mußt zugeben, daß es eher für meine Hypothese spricht.“ „Ich muß dauernd was“, sagte Boucký aufgebracht, „dauernd muß ich dir nur zustimmen, und das bringt uns nicht weiter. Noch mal zwei Leute … Woher soll ich sie nehmen? Ich könnte sie höchstens von einer Streife auf der Straße abziehen.“ Bald darauf fuhren zwei Polizisten mit Jarolím ins Kulturhaus. Nach einer Stunde kehrten sie zurück. Jarolím war schon auf vielen Ausstellungen gewesen, hatte jedoch nie das geschäftige Durcheinander gesehen, das einer Vernissage vorausgeht, und er war sicher, daß es ihm ein zweites Mal nicht glücken würde, Vorbereitungen der Art zu verfolgen, wie sie sich im Speisesaal des Polizeikreisamtes abspielten. An einer Wand bot sich ein Anblick, den angeblich Betrunkene haben: Alle Gemälde waren doppelt vertreten. Bei der zweiten Kollektion war ein und dasselbe Bild sogar gleich in sechs Exemplaren vorhanden. Jarolím vergaß wieder, daß hier das schwerste Verbrechen aufgeklärt wurde, das das Gesetz kennt. Er schlenderte durch den Speisesaal und amüsierte sich. Auf einmal kam effektvoll ein Streifenwagen mit heulender Sirene und Blaulicht angerast. Er brachte die Kunsthistorikerinnen Frajberková und Zemanová. Die Polizisten, die das Atelier im Kulturhaus durchsucht hatten, beendeten schnell das Aufhängen ihrer reichen Beute. Die Kunsthistorikerinnen gebärdeten sich erschrocken, erheitert und begeistert zugleich. Der Fahrer hatte offenbar während der ganzen Fahrt aufs Gaspedal getreten. Die Frauen dachten einerseits an ihre unversorgten Kinder, andererseits packte sie berufliches Interesse und Neugier auf neue Erlebnisse, die ihnen die beiden Burschen von der Kripo versprachen. „Vor allem benötigen wir von Ihnen ein Gutachten“, sagte Jarolím nach der kurzen Begrüßung, „ein vorläufiges, zu nichts verpflichtendes Gutachten, allerdings eine 116
seriöse Information, welche Gemälde Originale und welche nur Kopien sind.“ „Wir geben ausschließlich seriöse Informationen“, sagte Frau Zemanová lächelnd. „Bloß deshalb haben wir uns achtmal beinahe totgefahren?“ fiel Frau Frajberková grinsend ein. „Sie wissen doch, worum es geht?“ fuhr sie Boucký im Amtston an. „Wenn ich das nicht wüßte, junger Mann“, erwiderte Frau Frajberková, „würde ich jetzt in der Kaufhalle nach einem Korb anstehen. Meine Kinder schreien zu Hause vor Hunger, du Unmensch!“ „Wollen Sie uns prüfen?“ fragte Frau Zemanová, die schon auf das erste Bilderpaar blickte, und eher kokett als betroffen fügte sie hinzu: „Dafür sind wir schon zu alt.“ „Frau Doktor …“, sagte Jarolím bittend und entschuldigend. „Ich bin schon artig“, erwiderte Frau Zemanová. Sie zeigte auf das erste Bild: „Original.“ Beim zweiten meinte sie: „Kopie.“ „Bitte“, wandte sich Jarolím an Frau Frajberková. „Ich möchte ungern, daß Sie von Ihrer Kollegin beeinflußt werden.“ Sie nickte und drehte den Gemälden den Rücken zu. Boucký begleitete Frau Zemanová und notierte ihre souveränen Urteile. „Original, Kopie, Kopie, Original …“ „Das habt ihr beiden gemalt, was?“ Frau Frajberková deutete auf die Schätze aus Wetengels Wagen und aus dem Kulturhaus. „Hut ab, Jungs, immer weiter so, und aus euch wird noch was.“ „Wir wollten Ihnen eine Freude machen“, sagte Jarolím. Er blickte sich nach Boucký und Frau Zemanová um, die gerade fertig waren. „Sie sind an der Reihe, Frau Doktor.“ Frau Frajberková, die älter und bedachtsamer als ihre Kollegin war, betrachtete die Gemälde länger. Mehrmals 117
nickte sie anerkennend. Am Ende stimmten die Urteile in allem überein. „Der Fälscher ist ein äußerst talentierter Kopist, der in Maltechnik und Farbzubereitung geschult ist“, sagte sie langsam, als diktiere sie in die Schreibmaschine. „Er ist routiniert und kann einen oberflächlich gebildeten Laien täuschen, von einem einfachen Kriminalisten ganz zu schweigen.“ „Sie sagen ‚der Fälscher‘?“ fragte Jarolím. „Warum nur einer? Könnte das nicht das Werk von mehreren Fälschern sein?“ „Ausgeschlossen. Als ich vorhin dort Ihre Prachtstücke angesehen habe, schien mir, daß der Fälscher mit dem Gesellen aus der Werkstatt identisch ist, der sich auf Bäume spezialisiert hat.“ „Ich verstehe Sie nicht“, sagte Jarolím – nicht ganz wahrheitsgemäß, aber er achtete darauf, der Kunsthistorikerin nichts zu suggerieren. „Junger Mann“, sagte Frau Frajberková, die unerwartet schnell zur gegenüberliegenden Wand geschritten war, „haben Sie den Schwejk gelesen? Erinnern Sie sich an den Hund Balabán, der ein Dutzend Väter hatte? Und von jedem hatte er etwas anderes geerbt, vom ersten das schiefe Maul, vom zweiten die krummen Beine, der dritte hatte ihm lange Ohren hinterlassen, der vierte ein borstiges Fell oder so ähnlich. Also dieser Schund“ – sie benutzte wieder das Wort, das Jarolím in seinen Sprachschatz als offenbar eingebürgerten Ausdruck von fachlich gebildeten Kunstkennern einreihte – „ist genauso entstanden. Siehst du das, Hanička? Den Himmel und die Wolken hat der eine gepinselt, der andere kann nur blühende Wiesen malen, der dritte ist Spezialist für fließendes und stehendes Wasser, der vierte macht die Schuppen, der fünfte die Puppen, der sechste setzt die Bäume hin, und der ist von allen weitaus der beste.“ 118
Die beiden Frauen gingen jetzt von Bild zu Bild. Fachlich interessiert und offenbar belustigt machten sie sich auf weitere Übereinstimmungen aufmerksam. Jarolím trat zu ihnen. „Entschuldigen Sie, und der Maler der Bäume … Was könnte er von Beruf sein?“ „Ich bin bloß Kunsthistorikerin, mein Goldjunge“, sagte Frau Frajberková seufzend. „Woher soll ich das wissen? Er kann ebensogut Rangierer wie Kaderleiter sein, Detektiv oder Agronom.“ „Das ist so eindeutig, daß wir Ihnen das auf der Stelle unterschreiben“, bemerkte Frau Zemanová. „Mehr können Sie nicht sagen? Wenigstens eine Andeutung, privat, ohne Unterschrift.“ „Waren Sie mal im Louvre?“ fragte Frau Frajberková. „Tagtäglich sitzen dort Dutzende von Malern, keine Betrüger, sondern ehrliche Leute, und kopieren alte Meister, entweder zu ihrem eigenen Vergnügen oder als Handwerk. Sie verkaufen die Bilder dann selbstverständlich als Kopien und signieren sie stolz mit ihrem eigenen Namen. Das ist eine besondere Art von Talent, von allein würden sie kein Stilleben mit Ziegenbohnen zustande bringen, aber als Kopisten sind sie einfach unübertrefflich.“ „Nehmen Sie ein anderes Beispiel“, fiel Frau Zemanová ein. „Es gibt doch Schauspieler, die Tischgenossen, berühmte Kollegen oder bekannte Persönlichkeiten einzigartig imitieren können, aber auf der Bühne spielen sie ihr Leben lang nie eine größere Rolle.“ „Wieweit muß man als Kopist ausgebildet sein?“ „Eine Ausbildung schadet zwar keinem, aber wenn Sie eine Kunstakademie meinen, die braucht er nicht unbedingt besucht zu haben. Wer Talent und Sitzfleisch hat und die Fachliteratur studiert, kommt recht gut ohne jedes Zeugnis aus. Deshalb habe ich vorhin von Rangierern und Kaderleitern gesprochen, falls Sie das nicht schon vergessen haben.“ 119
Es folgten mehrere Stunden mühseliger Kleinarbeit. Boucký leitete die Ermittlung, und Jarolím sah lediglich zu. Zuerst wurden mit beiden Kunsthistorikerinnen ausführliche Protokolle geschrieben. Sie enthielten Gutachten über die Kopien und über die wahrscheinliche Entstehungsweise der Bilder, die Wetengel vertrieben hatte und die – in unterschiedlichem Grade der Vollendung – im Atelier des Malzirkels gefunden worden waren. Es war schon Abend, als die Wagen wieder losfuhren. Kurz darauf klingelte es an der Wohnungstür des Fahrdienstleiters Berger, des Typographen Louvar, des Lackierers Benedikt, des Fotografen Král, des Goldschmieds Kudrna und des Gymnasialprofessors Urban. Auch Dufek, der Leiter von Fotex, wurde ins Kreisamt gebracht. Vor dem Start hatte Jarolím nachdrücklich daran erinnert, daß die Vorgeladenen nicht vorzeitig merken durften, wer alles vernommen wurde. Auch im Gebäude mußten zufällige Begegnungen vermieden werden. Während die Wagen vorfuhren, diktierte Jarolím einer Schreibkraft das Grundschema der Vernehmung. Sieben Vernehmungen zur gleichen Zeit waren für die Kriminalpolizei eines Kreises ungewöhnlich, und Boucký teilte seine Leute so ein, daß sich in jedem Raum wenigstens ein erfahrener Polizist befand. Jarolím war wieder froh, nur Gast zu sein. Er mußte niemanden vernehmen, konnte von Zimmer zu Zimmer gehen, die Fortschritte verfolgen, auf Zetteln Anregungen geben, notfalls einige Fragen stellen und sich wie auf einem Kommandoturm einen Überblick über die Lage an der ganzen Kampflinie verschaffen. Wetengel beharrte auf seiner Behauptung, er und kein anderer hätte alle Bilder gemalt. Selbst als man ihn in den Speiseraum führte und ihm die Wand zeigte, die mit Hirschen, Berghütten und Birken in Öl vollge120
hängt war, blieb er dabei. Er ließ sich sogar durch das Gutachten der beiden Kunsthistorikerinnen nicht erschüttern, in dem stand, daß alle Bilder die Produkte einer Werkstatt wären, deren einzelne Mitglieder sich auf Bäume, Häuser, Gewässer, Personen oder Wolken spezialisiert hätten. Als sein Werk bezeichnete die Ölschinken auch Berger. Von Wetengels Geschäften wisse er nichts, er gab nur zu, dem Friseur mehrere Bilder geschenkt zu haben. Welche es wären, erinnere er sich leider nicht mehr. Kudrna bestritt entschieden alles. Král gestand ein, daß man sich im Zirkel manchmal gegenseitig helfe, wie er sich vorsichtig ausdrückte. Schließlich sind wir ein Kollektiv, nicht wahr? Er bestritt den Verkauf, wußte angeblich nichts von den Kopien. Ebenso wie Berger bezweifelte er das Gutachten der Kunsthistorikerinnen. Auch Louvar verteidigte sich geschickt: Wenn Mitglieder eines Zirkels lange Zeit unter einer Leitung arbeiten, seien gewisse verwandte Züge in ihrem Schaffen unvermeidlich. Er war belesen und redete ständig mit ernster Miene von einer Schule wie bei den Malerwerkstätten in der Renaissance. Jarolím interessierte sich am meisten für die Vernehmung von Professor Urban. Der Leiter des Malzirkels charakterisierte ausführlich das Talent der einzelnen Mitglieder, lenkte vom Thema ab und kam erst dann zu den Fragen zurück, wenn es ihm am günstigsten erschien. Verkauf? Lächerlich, meine Herren, wer würde diese dilettantischen Bilder kaufen? Er sprach mit der nachsichtigen Überlegenheit eines Kenners und erfahrenen Pädagogen, der längst weiß, daß aus seinen Zöglingen nichts Besonderes werden könne. Er wolle sie jedoch nicht verletzen, indem er ihnen diese bittere Wahrheit ins Gesicht sagte. Im Speiseraum zuckte Urban nur mitleidig die Schul121
tern über der Ausstellung seines Zirkels. Selbstverständlich, das alles oder fast alles sei ihm bekannt, ja und? Warum jedes Bild sechsmal gemalt wurde? Sie sind doch zur Schule gegangen, Herr Doktor, sagte er zu Jarolím, und dort haben gleichzeitig nicht sechs, sondern dreißig Schüler gemalt, alle das gleiche Bild. Jarolím beschloß, seine strategischen Reserven einzusetzen. Er zeigte Urban das Gutachten der Kunsthistorikerinnen über die Malerwerkstatt. Urban bezweifelte höflich, daß diese zwei Expertinnen, die sicherlich mit alter Kunst vertraut wären, auch die Schöpfungen von stümperhaften Laien zu beurteilen vermöchten – schließlich sei Kunstgeschichte ein ganz anderes Gebiet als Pädagogik, und davon verstehe er wiederum mehr. Dann beklagte er sich wie ein Lehrer auf einer Elternversammlung. Ja, es sei sehr gut möglich, daß sich seine Schüler gegenseitig geholfen hätten. Sie hätten allesamt mehr Ehrgeiz als Talent und rängen deshalb um seine Anerkennung, am ehesten würden sie ihn auf diese Weise hintergehen. Mit Bewunderung äußerte sich Urban jedoch über die Kopien der Gemälde aus der Kacenburger Sammlung. Das hier, sagte er schon beim ersten Bild, habe ein wirklicher Könner gemalt, und er, Urban, wünschte ihn kennenzulernen. In all den Jahren seiner pädagogischen Praxis sei er einem solchen Talent nicht begegnet. Er lächelte nur traurig über die Unterstellung, selber der Kopist zu sein. „Wenn das wahr wäre, meine Herren, und ich tatsächlich eine solche Begabung besäße, wäre ich nicht auf dem Gymnasium von Podhradí geblieben, sondern hätte heute ein Atelier in Prag und würde vielleicht an der Kunstakademie Restauratoren ausbilden, das können Sie mir als Fachmann glauben.“ Die Zeit verging, und Jarolím ahnte, daß seine Kollegen bei den Vernehmungen bald nicht mehr wußten, was sie noch fragen könnten. Er erinnerte sich an Frau 122
Frajberkovás Worte, daß der Maler der Bäume am begabtesten sei, und suchte ein freies Telefon, um die Nummern von allen Zimmern zu wählen, in denen Vernehmungen stattfanden, und zu fordern: Unbedingt herausbekommen, wer die Bäume gemalt hat, und das Ergebnis auf Apparat 22 melden! Der Apparat 22 stand in dem Raum, wo ein ziemlich unerfahrener Fähnrich mit dem Leiter von Fotex focht. Dufek war in Podhradí eine geachtete Persönlichkeit, und der Fähnrich, der kaum Vernehmungspraxis besaß, empfand ihm gegenüber großen Respekt. Schon in der Tür erkannte Jarolím, daß dem Fähnrich die Fäden gänzlich aus den Händen geglitten waren.
VIERZEHNTES KAPITEL, das Licht unter den Schatten der Bäume bringt, aber vorläufig die Hauptfrage nicht beantwortet Jarolím betrachtete die Notizen des Fähnrichs und überflog die halbe Seite Protokoll, die aus der Schreibmaschine hervorsah. Dufek beobachtete ihn gelangweilt. „Herr Dufek, erwarten Sie nicht, daß ich mit etwas in der Art anfange: Wir wissen alles, abstreiten hilft nichts. Ich sage nur soviel, daß wir wirklich genug erfahren haben und daß Sie im Laufe von vielleicht nur wenigen Minuten, höchstens Stunden, die Aussicht auf mildernde Umstände durch ein Geständnis verlieren. Wieviel hat monatlich der Verkauf der Bilder eingebracht, die der sogenannte Malzirkel gepinselt und Herr Wetengel in der ganzen Republik feilgeboten hat?“ fragte Jarolím mit einem flüchtigen Blick in seinen Block, in dem keine einzige Zahl stand. „Warum fragen Sie nicht gleich Herrn Wetengel?“ „Wir haben ihn gefragt.“ 123
„Ich weiß nichts davon. Übrigens bin ich nicht im Zirkel.“ „Wieviel? Ohne Grund frage ich Sie nicht, das können Sie mir glauben.“ „Ab und zu ein paar Kronen“, gestand Dufek, „aber das ist lange her, und inzwischen war eine Amnestie.“ „Wie lange her?“ „Gut ein halbes Jahr vor der Amnestie“, antwortete wieder ziemlich selbstsicher der Fotex-Leiter. Danach hatten die lukrativen Geschäfte vor annähernd zwei Jahren geendet. „Was sagen Sie, wenn ich Ihnen die Kollektion zeige, die Herr Wetengel gestern durch die tschechischen Lande gefahren hat?“ „Daß er Ihnen das selber erklären soll.“ „Das tut er auch mit aller Kraft. Ich frage aber Sie.“ Das Telefon klingelte. Es meldete sich ein Oberwachtmeister, dem Králs Vernehmung anvertraut worden war. „Die Bäume hat immer nur Kudrna gemalt.“ „Danke“, sagte Jarolím schroff. Er dachte nach: Kudrna ist Goldschmied. Wie sah in Kudrnas Jugend die Lehrausbildung aus? Was konnte er lernen? Goldschmied ist allerdings ein Handwerk, zu dem man unbedingt künstlerische Begabung braucht. Oder deckt Král den wirklichen Täter, am ehesten Urban? Warum? Die einzige Erklärung wäre, daß Král und Urban bei einer anderen, und zwar viel ernsteren Tat Komplizen sind. „Ich warte, Herr Dufek.“ „Worauf?“ „Wieviel hat Ihnen dieses andere Geschäft … Wie soll ich es am besten bezeichnen? Wieviel hat der andere Sektor bei Fotex eingebracht?“ „Vielleicht wissen Sie, wie unsere Finanzen geregelt sind, was für eine Genossenschaft wir sind und welche Einkünfte wir haben.“ 124
„Wer ist wir? Wen meinen Sie?“ „Mich und unsere Mitglieder.“ „Und die Mitglieder des Malzirkels?“ „Ich bezahle sie nicht, und geht es ihnen etwa besonders gut?“ „Seit gewisser Zeit wirklich nicht“, bestätigte Jarolím. Er wollte eine kleine Pause machen und Dufeks Reaktion auf diese Andeutung beobachten. Das Telefon klingelte jedoch wiederum. „Spezialist für Bäume war Jaromír Kudrna“, meldete Bouckýs Stellvertreter, der den Fahrdienstleiter Berger vernahm. „Ausgezeichnet, also ist schon der zweite zur Vernunft gekommen“, meinte Jarolím. „Machen Sie weiter.“ Dufek schien das nicht zu berühren. „Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß wir nicht nur Sie vernehmen, Herr Dufek“, sagte Jarolím, „bei weitem nicht. Und wie Sie vielleicht herausgehört haben, sind andere realistischer.“ „Was wollen Sie von mir wissen?“ „Die Wahrheit, Herr Dufek, nur die Wahrheit, und die ganze Wahrheit. Sie haben nicht nur mit bunten Fotografien und dem Kitsch aus dem Malzirkel gehandelt. Sie hatten noch ein Tätigkeitsgebiet.“ „Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen. Selbstverständlich machen wir auch Porträts und fotografieren bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen, wie übrigens jedes Atelier.“ „Das meine ich nicht.“ „Leider weiß ich nicht, was Sie meinen.“ Boucký kam herein und zeigte Jarolím zwei Seiten eines Protokolls, das Louvar unterschrieben hatte. Bedeutungsvoll tippte er auf einen Absatz.
Ich nehme an, daß unsere Bilder seit einiger Zeit zu viel niedrigeren Preisen verkauft werden oder Wetengel bzw. 125
Dufek einen unangemessen hohen Gewinnanteil behalten. Anders kann ich mir nicht erklären, warum unsere Einkünfte so stark gesunken sind. Wie die anderen Mitglieder des Zirkels glaube ich aber, daß es sich nur um eine vorübergehende Schwierigkeit handelt, deshalb habe ich auch zu den ungünstigen Bedingungen meine Arbeit fortgesetzt. Jarolím nahm das Protokoll und ging mit Boucký auf den Flur. „Konfrontieren?“ fragte Boucký. „Damit würde ich noch warten. Was sie tun, ist eine Verkürzung der Frontlinie. Sie gestehen den Kitschhandel, um das Wesentlichere zu verschweigen, den Mord an Korsa.“ „Du kannst recht haben“, sagte Boucký nachdenklich. „Ich schlage als Arbeitshypothese vor: Wenn nun gerade diejenigen die Frontlinie verkürzen, wie du dich ausdrückst, die etwas vom Mord wissen? Vielleicht der Täter?“ „Also Král“, sagte Jarolím, „bei dem noch Eifersucht auf Korsa wegen Prinzessin Jana hinzukommt. Dann Louvar. Und Berger.“ „Glaubst du das?“ „Nein, sie können einfach die schwächeren Nerven haben.“ „Was dann?“ „Ich vermute einen direkten Zusammenhang zwischen den gesunkenen Einkünften und Korsas Erscheinen auf der Kacenburg. Es hat mich gejuckt, das Dufek ins Gesicht zu sagen, nur Korsa ist leider tot. Wenn sie sich nun abgesprochen haben und aussagen, Korsa hätte das ganze Unternehmen geleitet? Wie willst du das widerlegen?“ „Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, Korsa hätte sie erpreßt.“ 126
„Was denn sonst? Der Zirkel hat schon mehrere Jahre auf Hochtouren produziert, bevor Korsa aufs Schloß kam. Und zweifellos zur allgemeinen Zufriedenheit. Sieh mal, ein Král fängt an, sich ein Haus zu bauen. Woher nimmt er das Geld in seinen Jahren und bei seinem Gehalt? Familie Louvar fährt mehrere Jahre hintereinander mit Čedok durch Europa, vom Kaukasus bis Paris. Berger bestellt ein Auto, und gleich einen teuren Wagen. Auf einmal tritt aus heiterem Himmel eine Stagnation ein.“ Boucký hielt eine unangezündete Zigarette zwischen den Lippen, spielte mit dem Feuerzeug und nickte. „Da sind noch die Kopien.“ „Kudrna, das weißt du schon, nicht wahr? Louvar, Berger und Král sagen, daß er die Bäume gemalt hat.“ „Aber wer hat die Kopien verkauft?“ „Das ist unsere schwächste Stelle“, sagte Jarolím. „Die Zeugen erinnern sich wie üblich an alles und nichts.“ Er deutete auf einen offenen Fensterflügel. „Sieh dich an und stell dir vor, du würdest mal eine dicke Hornbrille tragen und mal eine randlose Brille, heute kämmst du dir einen Mittelscheitel und ziehst dich wie ein Playboy an, morgen kleidest du dich wie der Inhaber eines gut gehenden Gemüseladens, mal Ehering, mal Siegelring, mal gar keinen, und dann erwarte nach einem halben Jahr, nach einem Jahr, nach zwei Jahren eine einigermaßen glaubwürdige und informative Zeugenaussage. Wenn du dann den Zeugen auch die Fotos von Einstein, Mastroianni und von eurem Chef vorlegst, zeigen bestimmt einige mit dem Finger auch darauf und sagen: Das war der Mann, ich erinnere mich genau, er hat mir gleich auf den ersten Blick nicht gefallen.“ „Du behältst wenigstens deinen Humor“, sagte Boucký. „Was sollen wir aber tun, um Gottes willen?“ „Druck auf der ganzen Linie. Allen, die sich noch sperren, das vorlegen, was die anderen ausgesagt haben. 127
Irgendwie müssen sie darauf reagieren. Und das wieder vor den anderen auf den Tisch packen!“ „Schön, aber vergißt du nicht zufälligerweise Korsa?“ Jarolím blickte sich auf dem langen, düsteren Flur des Polizeigebäudes um, der nur mit Plakaten geschmückt war. Das erste warnte vor Bränden zur Zeit der Getreideernte, das zweite, ein Farbdruck von Český Krumlov, forderte französisch zum Besuch der Tschechoslowakei auf, auf dem dritten, das in Podhradí jetzt am meisten verbreitet war, grüßte ein Ritter mit erhobenem Schwert die Prinzessin auf dem Schloßbalkon. „An Korsa denke ich dauernd“, sagte Jarolím. „Wir sollten wieder zur Sache kommen, nicht wahr?“ Die nächste Stunde brachte keine neuen Ergebnisse. Alle Vernommenen hatten zweifellos herausgefunden, daß in den Nebenzimmern ihre Freunde in derselben Lage saßen und offenbar die Verteidigungslinie behaupteten. Sie gaben zu, ihre Bilder in der Regel als Serie angefertigt zu haben. Professor Urban gab ihnen sechs Vorlagen, und sie begannen zu malen. Weniger gern gestanden sie, daß jeder von ihnen stets nur das malte, was er am besten konnte, und dann zu den anderen Staffeleien ging. Lediglich Wetengel bestand verbohrt darauf, die Bilder selbst gemalt zu haben. Urban behauptete, die Serienproduktion wäre die einzige Methode gewesen, um diesen Stümpern etwas Grund zum Selbstbewußtsein zu geben. Er gebärdete sich wie ein Wohltäter, dessen Opferbereitschaft nicht gewürdigt wird. Jarolím mußte ein unangenehmes Telefongespräch mit Major Mikulík führen, dem Leiter des Kreisamtes. Die Reputation als Fachmann aus der Prager Zentrale sank offenbar. Die Ergebnisse, die er dem Major vorweisen konnte, standen in einem schreienden Mißverhältnis zu den aufgewandten Kräften und Mitteln, das mußte er selbst zugeben. 128
Kurz entschlossen schritt er in das Zimmer, in dem der Goldschmied Kudrna vernommen wurde, und bat den Ermittler, kurze Zeit fortfahren zu dürfen. Der Mann willigte ungern ein, denn auch unter dem Fußvolk des Kreises hatte Jarolím an Autorität eingebüßt. „Herr Kudrna“, sagte er höflich, „ich führe Sie in eine kleine Ausstellung. Dann werde ich Ihnen etwas vorlesen, und es wird nur an Ihnen liegen, unter welchen Umständen sich das Ganze noch einmal wiederholt.“ Kudrna folgte ihm schweigend in den Speiseraum. Sie gingen durch einen langen Flur, wo Fähnrich Landa laborfrische Vergrößerungen sortierte. Dabei verfuhr er nach Jarolíms Vorschlägen. Die Fotos hingen in mehreren Reihen übereinander und waren mit Wäscheklammern an Nylonschnüren befestigt. Angeordnet waren sie in zeitlicher Folge und gegliedert nach Herkunft und Inhalt, außerdem nach dem Standpunkt des Fotografen. Landa hatte vollkommene Arbeit geleistet, jede Serie war mit einem Schildchen versehen, auf dem der Name des Fotografen stand. Mit einem flüchtigen Blick erkannte Jarolím, daß die reichhaltigste und beste Sammlung von Dufek stammte. „Wissen Sie, was mich bei Ihnen stört, Herr Kudrna?“ sagte Jarolím, als seine Hand schon auf der Klinke lag. „Daß sich jemand wie Sie mit solchen Pfuschern und Nichtskönnern einläßt. Im Unterschied zu den anderen im Zirkel können Sie nämlich etwas. Mich brauchen Sie nicht ernst zu nehmen, Sie sagen vielleicht, was versteht schon ein Polizist davon, aber so drücken sich die Fachgutachten aus.“ „Bisher haben Sie mich wie einen Farbenkleckser behandelt“, erwiderte Kudrna. Jarolím ließ ihn vorgehen und schaltete erst dann das Licht an. Aus der Dunkelheit sprang eine lange Reihe von Bilderpaaren. „Das können nämlich bloß Sie, Herr Kudrna. Warum 129
unterstützen Sie immer noch die Stümper, die nicht mal wissen, wie man einen Pinsel richtig in der Hand hält?“ Kudrna fragte mit gespieltem Erstaunen: „Was ist das?“ „Ihr Werk. Zwar keine Gesamtausstellung Ihres Lebenswerkes, aber weitere Bilder werden wir noch auftreiben. Trotzdem ist das eine recht umfangreiche Sammlung geworden.“ „Sie meinen doch nicht, daß ich das …“ „Das meine ich nicht, das weiß ich. Ich weiß, daß Sie das gemalt haben, und ich weiß auch, daß Sie für andere gearbeitet haben.“ Er zeigte auf die Wand, an der Wetengels Ware hing. „Davon reden wir nicht, dort sind von Ihnen bloß die Bäume. Aber das hier sind ungewöhnlich gelungene Kopien.“ Kudrna schwieg. Jarolím kam es vor, als zähle der Goldschmied die ausgestellten Bilder. „Wieviel haben Sie für das Stück bekommen?“ „Ich habe nichts …“ „Selbstverständlich weiß ich, daß Sie selber nichts verkauft haben“, bluffte Jarolím wie ein gerissener Kartenspieler. „Verkauft haben die Bilder andere, übrigens zu Ihrem Nachteil. Wieviel ist für Sie geblieben?“ „Wenig, ein paar Kronen … ein paar Hunderter …“, gestand er nach einer Weile der Unsicherheit, offenbar darauf vertrauend, einen Fluchtweg zu finden. „Höchstens tausend, nein, einmal fünfzehnhundert. Aber das ist schon mehrere Jahre her.“ „Wie lange? Nicht ganz zwei Jahre?“ „Ja“, bestätigte Kudrna völlig erstarrt. „Und dann wurden Sie noch mehr bestohlen?“ „Es gab gewisse Schwierigkeiten“, murmelte Kudrna. „Tausend, fünfzehnhundert, sagen Sie. Nehmen wir an, daß Sie die Hälfte abstreiten, also doppelt soviel bekommen haben. Wissen Sie zufälligerweise, für wieviel er diese Landschaft verkauft hat?“ Kudrna zuckte die Schultern. Selbst ein schlechter 130
Menschenkenner mußte sehen, daß sich der Goldschmied nicht verstellte. „Für neuntausend.“ „Wirklich?“ Jarolím beeilte sich, Kudrnas Verblüffung auszunutzen und fragte sofort: „Was hat er Ihnen von den sogenannten Schwierigkeiten gesagt?“ „Daß er das nicht allein macht, die Nachfrage sinkt, der Verkauf ist aufwendiger und so, aber mit der Zeit wird sich alles wieder einrenken.“ „Erinnern Sie sich, wann das war?“ „Das Datum weiß ich wirklich nicht mehr“, sagte Kudrna, und das schien ihn offenbar zu ärgern, „ich erinnere mich nur, daß ich in seine Wohnung gegangen bin.“ „Herr Kudrna, wir bestehen bei jeder Antwort auf Genauigkeit. Waren Sie an einem Wochentag bei ihm oder an einem Sonntag? Sie sagen: in seine Wohnung. Also welche Adresse? In welchem Raum haben Sie miteinander gesprochen?“ fragte Jarolím möglichst gleichgültig, als würde er notwendige Formalitäten erledigen. „Wohin sind Sie gegangen?“ „In die Tylova ulice fünfzehn“, antwortete Kudrna leicht verwundert. Er wußte nicht, daß Jarolím erst jetzt seinen Komplizen identifizierte. „Wir haben im Wohnzimmer gesessen wie immer, und es muß Sonnabend oder Sonntag gewesen sein, beim besten Willen weiß ich das nicht mehr genau.“ „Gut, und Urban?“ „Hat gesagt, daß es schwieriger geworden ist. Und daß wir in größerem Maßstab auch im Malzirkel weiterarbeiten müßten. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Dufek würde das irgendwie regeln.“ „Es mußte Sie doch interessieren, warum es auf einmal schwieriger geworden war.“ „Freilich. Er sagte etwas wie: Wer gut schmiert, der gut fährt.“ 131
„Das Fahren interessiert mich ebenfalls. Wer ist alles gefahren außer Wetengel und Urban?“ Jarolím wagte sich schon zum zweiten Male auf ungeprüftes Eis. „Ich weiß von keinem anderen, glauben Sie mir!“ „Wir haben mancherlei über Korsa gehört. Was können Sie mir über ihn sagen?“ „Korsa? Der durfte doch nicht mal was ahnen!“ schrie Kudrna geradezu.
FÜNFZEHNTES KAPITEL, in dem einem Kriminalisten ganz am Schluß ein Licht aufgeht Jarolím ließ Kudrnas Aussage protokollieren und rief dann Boucký auf den Flur. „Etwas hätten wir wenigstens unter Dach und Fach … Acht Jahre lang hat Kudrna Kopien von Gemälden aus dem Kacenburger Depot angefertigt. Dort befindet sich nichts Besonderes, kein Bild, bei dem ein Kenner auf den ersten Blick sagen würde: Das stammt doch aus Podhradí! Solche Schätze habt ihr hier eben nicht. Den Verkauf besorgte Urban, anfangs wahrscheinlich allein, später in Zusammenarbeit mit Wetengel. Sie besuchten zuerst Inserenten, und dann schwatzten sie den schnellsten, erfolgreichsten Käufern noch ein günstiges Angebot auf, eine von Kudrna gemalte Kopie.“ „Wetengel ist Friseur, und er hat mehrere Jahre im Theater als Perückenmacher gearbeitet“, bemerkte Boucký. „Zweifellos konnte er sich gut maskieren.“ „Fotex hat also drei Tätigkeitsbereiche. Der erste ist die hiesige, völlig legale Arbeit, der zweite der ebenfalls legale, wenn auch verabscheuungswürdige Verkauf von fotografischem Kitsch. Dazu gehört der Vertrieb der ga132
rantiert echt handgemalten Bilder, wie das Wetengel nennt. Den dritten Bereich haben Urban und Wetengel geschäftlich geleitet. Das ist der Verkauf von Unikaten an Liebhaber alter Gemälde. Korsa hat das unter den uns bekannten Umständen erfahren …“ „Als er in der Wohnung seines Schwagers ein Bild aus dem hiesigen Depot entdeckte“, fuhr Boucký fort, „hat er Urban, den vorherigen Verwalter, tüchtig unter Druck gesetzt.“ „Und die Summen erpreßt, die er auf die Sparbücher eingezahlt hat. Die Anklage wegen Erpressung käme zu spät. Wir haben hier einen Mord zu untersuchen.“ „Wer gesteht, daß er erpreßt wird, bringt sich selber in Mordverdacht. Können wir das von Urban erwarten? Das ist ein hartgesottener Kerl.“ „Das werden wir sehen“, sagte Jarolím. „Dem Herrn Professor wird bei der Konfrontation mit Kudrnas Aussage ziemlich unwohl werden. Wenn er das allerdings abstreitet, sind wir wieder da, wo wir schon waren.“ „Wir brauchen noch jemanden, Dufek oder Wetengel“, sagte Boucký. „Sollten wir nicht lieber eine Pause machen? Vorläufig können wir alle in Zellen stecken. Dazu haben wir Gründe genug, das wäre eine Festnahme wegen Verdunkelungsgefahr. Und wir könnten uns eine Weile erholen und in Ruhe alle Protokolle durchgehen.“ „Dafür kann ich mich nicht begeistern“, antwortete Boucký. „Du kennst nicht die hiesigen Verhältnisse, begreif doch endlich, daß wir hier Prominente verhören, geachtete Bürger. Und was bringt uns das, wenn wir sie einsperren? Wir überführen Korsa der Erpressung. Wir stellen vielleicht fest, daß er Urban erpreßt hat. Oder Wetengel, vielleicht Kudrna, meinetwegen auch Dufek. An der Sache ändert sich dadurch nichts, wem willst du den Mord nachweisen? Wenn ich mir den morgigen Tag vorstelle …“ Er winkte hilflos ab. 133
„Stimmt“, sagte Jarolím düster, „eigentlich besorgen wir ihnen nur mildernde Umstände, weil sie ihre krummen Geschäfte nachgewiesenermaßen unter dem Druck eines Erpressers gemacht haben.“ Fähnrich Landa kam die Treppe herunter und verkündete lakonisch: „Fertig!“ „Was, Mílo?“ fragte Boucký, als wäre er aus dem Schlaf geweckt worden. „Meine Herren, darf ich Sie zur Eröffnung einer Fotoausstellung einladen?“ Der Fähnrich verneigte sich. Jarolím und Boucký, beide gleich müde und ratlos, hätten sich lieber ausgeruht. Als sie jedoch in das abgemagerte und fahle Gesicht des Laborleiters blickten, konnten sie die Einladung nicht ablehnen. Aus einer höflichen Besichtigung wurde bald konzentrierte, harte Arbeit. Sie riefen sich die Aussagen der Zeugen ins Gedächtnis, die gleich nach dem Mord verhört worden waren, und erkannten, daß die Fotos den Wahrheitsgehalt vorzüglich dokumentierten. Urbans, Wetengels, Kudrnas und Králs Alibi wurde beinahe jede Minute durch Fotos bezeugt, manchmal sogar mehrfach. Den Amateuren war wohl zu ihrem Verdruß immer wieder auch Dufek aufs Bild geraten, der unermüdlich die Mitwirkenden auf dem Schloßplatz fotografierte. Es dauerte eine Stunde, bis sie die Fotos betrachtet hatten. Landa saß in der Ecke an einem Tischchen und trank aus einer bauchigen Tasse starken Kaffee. Entweder wollte er nicht mehr nach Hause, oder er nahm an, für ihn würden sich noch weitere Aufgaben finden. Über ihm hing vielleicht durch zufällige, vielleicht absichtliche Ironie als Gegensatz zu seiner gebeugten Gestalt ein Plakat des Kacenburger Sommers mit dem gepanzerten Ritter, der sein Schwert zum Gruß emporreckte. „Zufrieden?“ fragte Landa trocken. „Geh schon endlich schlafen, Mann“, sagte Boucký. „Nach dem da?“ Der Fähnrich hob die halbleere Kaf134
feetasse hoch. „Heute habe ich mindestens zehn Tassen getrunken.“ Jarolím wurde wieder von dem Gedanken gepeinigt, wie ein einfältiger Tolpatsch schon mehrmals die vielversprechende Spur übersehen zu haben. Er konzentrierte sich aufs äußerste und dachte an alle Zeugenaussagen, Eindrücke und Protokolle. Nichts, nichts und wieder nichts. Gleichzeitig wußte er, daß er am nächsten Morgen nicht nur den Fall Korsa aufgeben mußte, wenn er die Ermittlung nicht abschloß, sondern auch seine kaum begonnene Karriere als Kriminalist. Das letzte Telefongespräch mit Mikulík verhieß nichts Gutes. Der Major, selbst in seiner Wohnung mit Anfragen und Interventionen bombardiert, verlangte entweder Ergebnisse oder die Einstellung der Verhöre. Sein Ultimatum war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Nur um nicht wie eine Säule dazustehen und seine Ratlosigkeit nicht zu zeigen, hinkte Jarolím zum anderen Ende des Flurs und betrachtete nochmals eingehend die Fotos. Der Burggraf der Kacenburg hält seine letzte Rede in der letzten Stunde seines Lebens. Prinzessin Jana Hurychová, seine Sekretärin und Geliebte, lauscht seinen Worten auf dem Balkon, mit ihrem Fächer wedelnd und einen hohen gotischen Hut auf dem Kopf balancierend. Der Narr Benedikt bringt Erfrischungen und macht den Lakaien und Henkern, die nach einem Trank lechzen, eine lange Nase. Der Burggraf zerschneidet das Band, auf der Galerie blitzen die Posaunen. Die Strakonicer Dudelsackpfeifer marschieren auf, im Hintergrund sind schon die gepanzerten Ritter zu sehen. Der Ritter reckt sein Schwert empor, das wie der ver135
chromte Puffer eines neuen Autos aussieht, und grüßt ehrerbietig die Prinzessin. Die Sonne spiegelt sich auf der Klinge, auch die Rüstung blitzt und blinkt. Sechzehn Fechter in historischen Kostümen erscheinen, danach kommen die Bogenschützen, der Postillon und der Leutnant, der Gascogner Kadett und der Nikolausteufel, der Admiral und der Diplomat, alles bekannt, alles vielfach aufgenommen. Jarolím zuckte zusammen. Er blickte sich um, ob Fähnrich Landa noch anwesend war, und krächzte: „Haben Sie die Negative?“ „Selbstverständlich.“ „Bringen Sie mir die Filme Nummer neunundzwanzig, fünfundzwanzig, vierzehn, sechzig, zweiunddreißig und achtzehn!“ rief er wie im Fieber. Landa gebärdete sich, als habe er nichts anderes erwartet, und ging schweigend fort. „Was hast du?“ fragte Boucký apathisch. Jarolím zeigte auf das Plakat mit dem Ritter. „Siehst du das Schwert?“ „Ja und?“ fragte Boucký mit dem Ausdruck eines Mannes, der zu seinen eigenen Sorgen noch einen Geisteskranken besänftigen muß. „Und das hier, Herrgott!“ Jarolím stieß mit dem Zeigefinger auf ein Foto. „Hier ist auch das Schwert zu sehen, nicht wahr?“ „Selbstverständlich!“ Boucký deutete mit seinem Tonfall an, daß er nun nicht mehr an der Zurechnungsfähigkeit seines Kollegen zweifelte. „Begreifst du noch nichts, verdammt?“ schrie Jarolím. „Guck dir die anderen Bilder an, schnell! Das haben Dutzende Leute fotografiert, und überall hat der Ritter eine Lanze in der Hand, aber kein Schwert! Ist dir das jetzt klar? Erinnere dich doch, sie sind mit einer Lanze gekommen! Das hier sind Dufeks Fotos von der Generalprobe!“ 136
Boucký gab nur einen langen Pfiff von sich. „Kannst du dich entsinnen, daß Urban selber gesagt hat, er hätte im letzten Moment eine Änderung angeordnet? Warum sollten sie mit einem Schwert grüßen, wenn sie dann mit Lanzen kämpfen?“ „Ja“, sagte Boucký. „Dufek hatte mehrere Apparate. In einem ließ er den Film von der Generalprobe, und bei der Premiere hat er einfach darauf weiterfotografiert.“ „Das sollte sein Alibi sein, und er glaubt noch immer, daß es hundertprozentig sicher ist. Er brauchte nur für wenige Augenblicke zu verschwinden!“ „Angeblich kann er sein Alibi jede Minute belegen, weil er ständig auf der Bühne war, vor aller Augen. Wir haben ihn bei der Vorstellung auch nicht mehr beachtet.“ „Er ist die Treppe hinaufgelaufen und hat über die Galerie mit Benedikts Bogen auf Korsa geschossen.“ „Genau so. Präzisionsarbeit.“ Fähnrich Landa kam mit einer Schachtel Negative zurück. Nach wenigen Minuten waren die Schlüsse unwiderlegbar bewiesen. „Wir können gleich den Staatsanwalt anrufen, damit er herkommt und den Haftbefehl bestätigt“, sagte Boucký. „Das will ich lieber nicht aufschieben.“ Gerade in dem Augenblick, als Dufek seinen Widerstand aufgab und gestand, daß er nach langem Überlegen den Plan erdacht hatte, den unersättlichen Erpresser František Korsa zu ermorden, klingelte das Telefon. Jarolím nahm den Hörer ab. „Jungs, was mährt ihr da noch?“ fuhr ihn der Major erbost an. „Habt ihr uns nicht schon genug Schande gemacht? Wenn eine Beschwerde kommt, erwartet nicht, daß ich euch decke! Alles hat seine Grenzen! Wann hört ihr gnädigerweise damit auf, und laßt die Leute nach Hause gehen?“ Jarolím gönnte sich einige Schweigesekunden und 137
wählte dann sorgfältig die Worte. „Der Staatsanwalt wird jeden Moment erscheinen.“ „Warum? Was hat er gesagt? Wer hat sich beschwert?“ „Wir haben gerade den Mörder überführt“, antwortete Jarolím weiter im Konversationston. „Unter dem Druck der Beweise hat er gestanden.“ Jarolím nahm nicht mehr wahr, was Mikulík sagte. Er blickte auf den geknickten Dufek und dachte an seinen Beruf. Woran er dabei dachte, vermochte er nicht deutlich auszudrücken. Er war unendlich müde und freute sich darauf, daß er am nächsten Tage bis mittags schlafen konnte.
138
139
Drei gegen drei
1 Jarolím wußte, daß man einen Abend auf mancherlei angenehme Weise verbringen kann. Trotzdem saß er zu Hause vor dem Fernseher und verfolgte das Fußballspiel Sparta gegen Bohemians. Sparta, das um den Verbleib in der Liga rang, erreichte nur mit Ach und Krach ein Unentschieden. Hätte er abends nicht ferngesehen, wäre ihm nicht eingefallen, morgens in der Zeitung die Reportage auf der Sportseite zu lesen. Als Kriminalist verglich er jedoch gern den eigenen Eindruck mit fremden Berichten. Zudem hatte es im ungünstigsten Moment eine Bildstörung gegeben, gerade als den Spartanern in der 17. Minute der ersten Halbzeit ein Tor glückte. In der Einfahrt eines alten Mietshauses in der TůněStraße faltete er die Zeitung mit dem Gefühl zusammen, ausreichend informiert zu sein. Er dachte an seine bevorstehende Arbeit, die höchstwahrscheinlich ebenso langweilig wie das Fußballspiel sein würde. Das Schutzdach in der Hofecke für seinen altersschwachen Octavia hatte er erst unlängst erworben. Mit Unwillen bemerkte er nun, daß ihm ein Renault, der 140
ungeschickt vor der Nebengarage abgestellt war, die Ausfahrt versperrte. Den Fahrer des Renault erblickte er nirgendwo. Jarolím ging um den Wagen herum und fand eine offene Werkzeugtasche, die neben einer getrockneten rostfarbenen Pfütze stand. Der Renault gehört einem Liederjan, denn dort lag auch eine Montagelampe, deren Schnur bis zur Steckdose an der Garage reichte. An der Klinke der Garagentür hing eine Windjacke. Jarolím zündete sich eine Zigarette an und ersann eine Schmährede, mit der er den rücksichtslosen Mann zu begrüßen gedachte. Die Zigarette war aufgeraucht, die Zeit verstrich, Jarolím versuchte, den Renault beiseite zu schieben, und griff nach der Klinke. Der Wagen war jedoch abgeschlossen. Der erboste Kriminalist schrieb einige giftige Worte auf einen Zettel und beschloß, sie hinter den Scheibenwischer zu stecken. Er gedachte, höchstens noch fünf Minuten auszuharren. Dann würde er zu Fuß gehen, und den ganzen Tag würde er bei der Fahrbereitschaft um einen Wagen betteln müssen. Durch die Einfahrt kam ein älterer, angegrauter Mann und ging geradewegs auf den Renault zu. Da der Mann Jarolím bekannt vorkam, verschluckte er alle bissigen Bemerkungen, die ihm auf der Zunge lagen, und beobachtete, wie er den Wagen aufschloß, sich ans Lenkrad setzte und den Zündschlüssel ins Schloß steckte. Der Wagen gab nicht einmal ein Blubbern von sich. Der Mann stieg aus und schüttelte den Kopf. Erst jetzt bemerkte er Jarolím. „Haben Sie Herrn Pokorný gesehen?“ „Kenne ich nicht“, antwortete Jarolím und zeigte auf seinen Octavia. „Ich würde aber gern rausfahren.“ Der Mann war sichtlich verlegen. „Gestern ist mir die Elektrik kaputtgegangen, alles auf einmal“, erklärte er. „Wir haben den Wagen abgeschleppt, und Herr Pokorný hat mir versprochen, den Schaden zu reparieren.“ 141
Jarolím deutete mit der Fußspitze auf die Tasche. „Ist das sein Werkzeug?“ „Wahrscheinlich. Herr Pokorný ist natürlich jetzt nicht zu Hause, aber … Aber ich halte Sie hier auf, entschuldigen Sie. Tomek.“ Er reichte Jarolím mit einer leichten Verbeugung die Hand. „Jarolím.“ Der Kriminalist erinnerte sich nun, woher er Dr. Tomek kannte. „Wir sind Kollegen, beinahe. Ich bin bei der Kripo.“ Der Rechtsanwalt blickte Jarolím forschend an und verletzte den Stolz eines erfolgreichen Anfängers, als er sagte: „Ich entsinne mich nicht …“ Dann stemmte er sich gegen den Rahmen der Vordertür und griff mit der anderen Hand ans Lenkrad. „Wohin wollen Sie?“ fragte Jarolím, der schieben half. „Ich nehme Sie mit.“ „Zuerst wollte ich zum Gericht nach Dejvice, Akten einsehen, aber ich möchte nicht Ihre Zeit stehlen.“ „So viel Zeit ist immer da“, erklärte Jarolím. Die Solidarität zwischen Autofahrern siegte. „Wenn er wenigstens angerufen hätte, daß der Wagen noch nicht in Ordnung ist“, sagte Tomek seufzend. Jarolím zuckte nur die Schultern und angelte die Schlüssel aus der Hosentasche. Das Schutzdach war niedrig, und er mußte sich bücken, als er zu seinem Wagen trat. Der Schlüssel stieß im Schloß auf einen ungewohnten Widerstand. Jarolím bemerkte erschrocken, daß der Wagen nicht abgeschlossen war. „Das ist mir noch nie passiert“, sagte er über das Dach hinweg zu Tomek. Dann öffnete er die rechte Wagentür. Tomek wollte beim Einsteigen die Aktentasche auf den Rücksitz legen, zuckte aber zurück. „Mein Gott, Herr Kollege …“ Jarolím blickte sich um. Erst jetzt erkannte er im Dämmergrau unter dem Schutzdach, daß auf dem Rücksitz ein zusammengekrümmter Mann saß. 142
„Pokorný …“ Tomek seufzte. „Ihr Pokorný ist völlig blau. Aber warum schläft er sich ausgerechnet in meinem Wagen aus?“ „Er schläft doch nicht …“ Tomeks Stimme sagte mehr, als seine Worte auszudrücken vermochten. Jarolím griff ins Handschuhfach nach der Taschenlampe und richtete den Lichtkegel auf den Mann. Er schien ungefähr dreißig Jahre alt zu sein und hatte ziemlich gelichtetes blondes Haar. Am Hinterkopf war eine schwarze runde Wunde, kleiner als ein Zehnhellerstück. Auf dem Sitz neben seiner verkrampften Hand lag eine Pistole. „Wer hat ihn erschossen?“ Jarolím verlor die Selbstbeherrschung, was einem Doktor juris und besonders einem Kriminalisten nicht anstand, und blickte fragend auf Tomek. „In meinem Wagen ist ihm nichts passiert“, erwiderte schlagfertig der Rechtsanwalt.
2 Die Ermittlung begann mit Routinearbeit. Besichtigen des Tatorts, Fotografieren, Fingerabdrücke, Anfertigen einer Skizze. Danach wurde Pokornýs Wohnung untersucht. Er wohnte im Hinterhaus des Hofes. Es wurde nichts Bemerkenswertes gefunden. Das Türschloß, das nur eingeschnappt war, wies keine Spuren eines Einbruchs auf. Man entdeckte allerdings nirgendwo den Personalausweis und den Führerschein des Toten, auch die Fahrzeugpapiere von Tomeks Renault und Pokornýs Felicia, der in einem Schuppen auf dem Hof stand, waren verschwunden. Brieftasche und Geldbörse fehlten ebenfalls, dagegen waren Sparbücher vorhanden, und tausendachthundert Kronen steckten in einem Töpfchen 143
im Küchenschrank. Auch in der Jacke, die an der Garagenklinke hing, waren weder Brieftasche noch Ausweise. Die Schlüssel des Renault befanden sich in der Hosentasche des Toten. Bisher war es ein üblicher Kriminalfall. Ein etwas komplizierter Fall, aber das ist zu Beginn der Ermittlungen normal. Ein Fall, der in die höchste Dringlichkeitsstufe eingeordnet wurde, weil Mord die schwerste Straftat ist. Trotzdem ein Fall, der unter anderen Umständen von erfahrenen Kriminalisten auf gewohnte Weise behandelt worden wäre. Es kommt jedoch selten vor, daß als Verdächtiger ein Kriminalist figuriert. Dr. jur. Karel Jarolím durfte an dem Tage erfahren, wie man sich als Objekt kriminalistischer Ermittlungen fühlt. Mitglieder der Mordkommission schrieben ein ausführliches Protokoll, in dem er angeben mußte, um wieviel Uhr er seinen Wagen verlassen, ob er ihn ordentlich verschlossen, wann er am Morgen den Hof betreten, unter welchen Umständen er die Beschädigung des Schlosses bemerkt und wie er den Toten entdeckt hatte, wer Zeuge der ganzen Angelegenheit war und von wem er den Namen des Toten erfahren hatte. Mit dem Fall wurde Jarolíms Freund und Kollege Matějka betraut, der bei der Kripo unter dem Spitznamen Rotfuchs bekannt war, was er seinem feuerroten Haarschopf verdankte. Matějka übernahm den Auftrag mit gemischten Gefühlen. Er war Ökonom und befaßte sich fast ausschließlich mit Wirtschaftsvergehen, Morde waren nicht sein Fach. Einerseits wollte er seinem Freunde helfen, auf dem zumindest der Schatten eines Verdachtes lag, andererseits erwartete er gerade von ihm Unterstützung. Der Chef hatte Matějka den Fall offenbar mit der stillschweigenden Übereinkunft zugeteilt, daß ihm Jarolím beistehen würde. Jarolím wurde damit angedeutet, daß er offiziell nicht zu den Verdächtigen 144
gehörte, und Matějka sollte einen Assistenten haben, zwar einen Anfänger, aber immerhin einen bewährten Mann. Matějka dachte laut über den Fall nach, so daß Jarolím und Tomek seine Gedanken verfolgen und kommentieren konnten. Wenn Matějka die Annahme verwarf, Petr Pokorný sei von Jarolím ermordet worden, mußte er sich fragen, warum der Tote gerade in dessen Wagen lag. Weil es der Wagen eines Kriminalisten war, bot sich die Erklärung an, daß jemand Jarolím in Schwierigkeiten bringen wollte. Es gab zwei Motive zur Auswahl. Entweder war es ein Racheakt, oder Jarolím sollte wenigstens eine Zeitlang von seiner Arbeit ferngehalten werden, um einen Fall nicht zu beenden. Gründliche Untersuchungen förderten in dieser Hinsicht jedoch nichts zutage. Es blieb nichts anderes übrig, als auf gewohntem Wege in der Ermittlung fortzufahren. „Der ermordete Petr Pokorný“, diktierte Rechtsanwalt Tomek der Protokollantin als Zeugenaussage, „war mein Klient in einem Zivilprozeß. Gestern versagte in meinem Wagen aus mir unbekannten Gründen die Elektrik, und weil ich wußte, daß Pokorný Automechaniker ist, rief ich ihn an, damit er den Fehler suchte und beseitigte. Nach seiner Zusage bat ich einen Freund, meinen Wagen in den Hof des Hauses abzuschleppen, in dem Pokorný wohnt. Er hatte versprochen, daß ich den Wagen am nächsten Morgen abholen könnte.“ „In was für einem Streit haben Sie Pokorný vertreten?“ fragte Matějka. „Es ging um die Vaterschaft des Kindes einer gewissen Ludmila Bílková. Wir haben nachgewiesen, daß nicht mein Klient der Vater ist, sondern ein anderer von den zahlreichen Liebhabern der Bílková“, erklärte der Rechtsanwalt in flüssiger Rede. „Ein gewisser Jan Myslík.“ „Wer ist dieser Myslík?“ „Ein ziemlich primitiver Kerl, zur Zeit Lagerarbeiter 145
auf dem Bahnhof Vyšehrad. Die Familie Bílek hat eben gemeint, daß ein Vater mit siebzehnhundert brutto für die Katz ist, während ein qualifizierter Automechaniker wie Pokorný besser zahlen kann. Dafür erhält sie jetzt die Rechnung für die Gerichtskosten …“ Er winkte nur vielsagend ab. „Wann war der Prozeß abgeschlossen?“ fragte Matějka. „Vorigen Freitag.“ „Also vor vier Tagen“, bemerkte Jarolím. „Wann haben Sie Pokorný das letzte Mal gesehen?“ „Bei der Verhandlung. Gestern habe ich lediglich mit ihm telefoniert. Er wußte nicht, wann er heimkommen würde, und da haben wir abgemacht, daß ich den Wagen auf den Hof stelle und Schlüssel und Fahrzeugpapiere in seinen Briefkasten werfe. Er sollte sie dann in den Wagen legen, ich habe einen zweiten Schlüssel.“ „Myslík dürfte für uns interessant sein“, sagte Jarolím, „aber wir sollten nichts überstürzen. Vaterschaftsprozesse ziehen sich lange hin, und sicher haben Sie Pokorný als Ihren Klienten näher kennengelernt. Erinnern Sie sich, ob er mit jemandem – wie soll ich mich ausdrücken – eine offene Rechnung hatte?“ Der Rechtsanwalt überlegte eine Weile. „Aus den letzten Jahren weiß ich von nichts. Früher war er einmal in eine Sache verwickelt, doch er hatte Glück.“ „Worum ging es da?“ „Pokorný hat damals in einer Werkstatt in Hlubočepy gearbeitet, Toyota-Service. Es ging um Diebstahl, aber er hat sich Gott sei Dank besonnen und rechtzeitig damit aufgehört, so daß er unter die Amnestie fiel. Seinerzeit wurde er nur als Zeuge vernommen.“ „Während die anderen …“, sagte Matějka. „… vor Gericht kamen und auch zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden. Einzelheiten weiß ich nicht, ich habe keinen von ihnen vertreten, sondern nur davon gehört.“ 146
„Wir wissen vorläufig auch nur wenig“, sagte Jarolím. „Pokorný ist erschossen worden.“ Er breitete die kaum getrockneten Fotos auf dem Tisch aus und blickte auf den Blutfleck an der Werkzeugtasche. „Wer so im Freien auf jemanden schießt, muß ein ungewöhnlich starkes Motiv haben.“ „Myslík hat eines“, bemerkte Matějka. „Wieviel muß er zahlen?“ „Allein an Alimenten schuldet er bisher mindestens sechzehntausend Kronen“, antwortete Tomek. „Der Prozeß hat über vier Jahre gedauert. Die Spezialuntersuchungen in Vaterschaftsprozessen sind kompliziert und sehr kostspielig.“ „Ein Schuß auf einem engen Hinterhof muß in der ganzen Umgebung zu hören sein“, sagte Matějka versonnen. „Ist dieser Myslík so blöd, oder ist er einfach verrückt?“ „Weiter als bis zum kleinen Einmaleins ist er in der Schule bestimmt nicht gekommen“, meinte der Rechtsanwalt. „Doch …“ „Er konnte einen Schalldämpfer benutzen“, fiel Jarolím ein. „Außerdem ist erwiesen, daß gestern abend zwei Halbstarke auf dem Nachbarhof die Motoren ihrer Feuerstühle ausprobiert haben. Weißt du, was das für eine Geräuschkulisse ist? Wieviel Dezibel macht eine 250er Jawa?“ „Auf jeden Fall“, erklärte Tomek nach einer Pause, bevor der ratlose Matějka antworten konnte, „handelt es sich um ein geplantes Verbrechen. Ich will Ihnen in nichts hineinreden, meine Herren, aber ich an Ihrer Stelle würde bei Myslík anfangen.“ „Irgendwo müssen wir anfangen“, stimmte ihm Matějka zu und erhob sich. Da Tomek sitzenblieb, fügte er unmißverständlich hinzu: „Vorläufig danke ich Ihnen, Herr Doktor.“ „Ich würde gern wissen, wie Sie vorankommen“, sagte 147
Tomek. „Sie müssen mich verstehen. Wer einen Klienten von mir angreift, ist auch mein persönlicher Feind.“ „Sei kein Bürokrat, Rotfuchs“, griff Jarolím ein. Er fühlte sich irgendwie unwohl, und als er den Spitznamen gebrauchte, dachte er daran, daß der Ökonom Matějka für diesen Fall nicht so sehr geeignet war. Er war zwar sein Freund, aber diesmal lag Jarolím besonders an einem schnellen Erfolg, an einem Abschluß ohne jeden Zweifel. An der eigenen Haut spürte er, wie einem Unschuldigen zumute ist, der in einen Kriminalfall hineingerät. „Vernehmen kann Doktor Tomek niemanden, aber warum sollte er nicht nach Vyšehrad mitkommen?“ Matějka zuckte die Schultern. Damit drückte er keine Zustimmung aus, sondern resignierte. Im Unterschied zu Jarolím, einem in jeder Hinsicht großzügigen Pykniker, mochte der knochige, lange Matějka keine Improvisation, und er war stets gereizt, wenn nicht sämtliche Vorschriften streng beachtet wurden. In diesem Fall, der seinem Fachgebiet fernlag, fühlte er sich jedoch so unsicher, daß er keine Anregung und keine Hilfe abzulehnen wagte.
3 Während Tomek geduldig die abgeblätterte Fassade des Hauses gegenüber dem Vyšehrader Bahnhof betrachtete, saßen Matějka und Jarolím in einem Büro mit dem überführten Vater, der eine für seine Verhältnisse geradezu horrende Summe an Alimenten schuldete. Myslík war ein riesenhafter Dickwanst, dessen Bierbauch über dem gespannten Gürtel hing. Die wäßrig-blauen Augen blickten ausdruckslos aus dem gedunsenen Gesicht. Es war nicht leicht zu begreifen, was Ludmila Bílková an ihm gefallen hatte, jeder verstand jedoch sogleich, wa148
rum die Familie der jungen Mutter beschlossen hatte, lieber Petr Pokorný einzufangen. „Wir möchten von Ihnen nur eine Kleinigkeit wissen“, sagte Matějka streng. „Was haben Sie gestern abend gemacht?“ Myslík ließ seinen Blick zu Jarolím gleiten, als erwarte er von ihm mehr Freundlichkeit. „Na nichts. Ich war zu Hause.“ „Seit wann? Und was haben Sie gemacht?“ „Na wie immer“, antwortete Myslík. Wie ich Rotfuchs kenne, dachte Jarolím, faßt er das als Widerstand des Vernommenen auf, und es fällt ihm nicht ein, daß er jemanden vor sich hat, dessen Wortschatz nicht mehr als dreihundert Wörter enthält. „Was ist das, wie immer?“ fragte Matějka erwartungsgemäß. „Nach der Schicht bin ich nach Hause gegangen, um zwei war Schluß. Unterwegs habe ich in der Otokarova eingekauft. Dann habe ich mich eine Stunde aufs Ohr gehauen, und als meine Kumpel gekommen sind, haben wir in die Röhre geguckt.“ „Welche Kumpel?“ Der Lagerarbeiter zählte an den Fingern ab: „Kovář Ludvík, Dvořák Václav, Mazal Hugo.“ „Wo finden wir sie?“ „Na hier auf dem Bahnhof.“ Myslík freute sich, weil er das seltene Gefühl intellektuellen Übergewichts verspürte. „Was haben Sie im Fernsehen gesehen?“ „Na was schon?“ sagte Myslík, und Jarolím, vorläufig ledig und kinderlos, nahm sich vor, seine bisher ungezeugten Kinder für das Wörtchen, „na“ gegebenenfalls zu ohrfeigen. „Sparta gegen Bohemians.“ Jarolím beschloß, in die Vernehmung einzugreifen. „Das habe ich auch gesehen. Was sagen Sie zum ersten Tor?“ 149
„Na gekonnt“, meinte der Golem vom Bahnhof. Ein Indiz wie ein Donnerschlag, urteilte Jarolím, der sich erinnerte, daß gerade zu der Zeit eine Bildstörung war. „Mir kam es regelwidrig vor.“ „Na wie man’s nimmt“, erwiderte Myslík mit einer Prager Volksweisheit. „Bis wann haben Sie ferngesehen?“ „Bis kurz vor elf. Wir haben ein paar Flaschen ausgepichelt … Das ist doch nicht verboten?“ „Die Herren Dvořák, Mazal und Kovář bestätigen Ihnen, daß Sie den ganzen Abend gemeinsam verbracht haben?“ „Na klar. Den Vašek, also Dvořák, hat seine Alte geholt, der wohnt nebenan, und da haben wir halt Schluß gemacht.“ „Vorläufig danken wir Ihnen“, sagte Matějka und wandte sich an Jarolím. „Ruf Herrn Dvořák.“ Er fand ihn an der Laderampe, wo auch zwei weitere Männer in abgetragener Arbeitskleidung standen. Selbst jemand, der kein Kriminalist war, hätte erkannt, daß die beiden Mazal und Kovář hießen. Dvořák, der ältere, klügere und bereitwilligere, bestätigte Myslíks Aussage im ganzen Umfang. Als sich jedoch die Vernehmung in ein zwangloses Gespräch verwandelte, wobei es um das Fußballspiel ging, sagte Dvořák: „Schade, daß gerade in dem Moment das Bild ausgefallen ist. Ich würde zu gern wissen, ob das wirklich Abseits war. Die Spartaner kenne ich …“ Jarolím antwortete ihm mit einer Variante der Sätze aus der Morgenzeitung, und damit Dvořák nichts auffiel, stritt er sich mit ihm über die Mannschaftsaufstellung. „Nur noch eine Kleinigkeit“, ließ sich Matějka vernehmen. „Erinnern Sie sich, in welcher Reihenfolge Sie zu Myslík gekommen sind?“ Dvořák wurde unsicher. „Zuerst ich mit Mazal und 150
dann Kovář. Beschwören kann ich das aber nicht, soll ich mir so was aufschreiben?“ Matějka winkte großzügig ab. „Selbstverständlich nicht. Ich habe nur der Vollständigkeit halber gefragt.“ „Wir wollen nämlich alles ganz genau wissen“, fügte Jarolím hinzu. „Haben Sie gegen neun den Krach auf der Kreuzung gehört?“ Matějka nickte mit einer Sekunde Verspätung. „Ich kann mich nicht erinnern“, antwortete Dvořák, ohne zu zögern. „Was meinen Sie?“ „Bremsenquietschen und dann einen Aufprall“, sagte Jarolím. „Auf die Minute genau kann ich nichts sagen, aber so was Ähnliches haben wir gehört. Doch von uns ist keinem eingefallen, vom Fernseher aufzustehen und aus dem Fenster zu gucken, das kennen Sie ja.“ „Das kenne ich“, bestätigte Jarolím mit herzlichem Lächeln. „Schicken Sie uns bitte jetzt Herrn Mazal her.“ „Zuerst habe ich mich gewundert, was du für Zeug redest“, sagte Matějka, sobald die Tür hinter dem Eisenbahner ins Schloß gefallen war. „Ich weiß immer noch nicht, worauf du hinauswillst.“ „Im Fernsehen war beim ersten Tor das Bild ausgefallen, und das Tor wurde auch nicht nachträglich als Aufzeichnung gesendet. Myslík konnte es gar nicht sehen, und die anderen haben vergessen, ihm das zu sagen. Aber irgendwie mußte ich ihre Aufmerksamkeit ablenken. Paß auf, wie sich jetzt die beiden anderen an den angeblichen Verkehrsunfall erinnern werden!“ Jarolíms Vermutung bestätigte sich. Kovář und Mazal erinnerten sich sofort, daß sie vernommen hatten, wie Bremsen quietschten. Mazal hatte sogar Glas splittern hören. Einer behauptete, sie wären alle drei gemeinsam zu Myslík gegangen, während der andere erklärte, Mazal wäre erst allein gekommen und danach wären Dvořák und Kovář erschienen. 151
„Haben Sie etwas ausgerichtet?“ fragte Tomek draußen. Matějka faßte kurz das Ergebnis zusammen. Tomek schüttelte den Kopf und sagte: „Hier scheint etwas nicht zu stimmen. Kaum ein Klient von mir hat ein so vollkommenes Alibi, und bei Unschuldigen steht es damit gewöhnlich am schlechtesten. Aber wenn ich das von der anderen Seite betrachte, sage ich Ihnen, daß Sie vorläufig nur ein Indiz in der Hand haben, das fürs Gericht nicht ausreicht. Der Staatsanwalt würde nicht mal mit Ihnen reden. Die Reihenfolge des Erscheinens bedeutet gar nichts, auf der Kreuzung von Bělehradská und Otakarova ist mindestens jede Stunde Bremsenquietschen zu hören, außerdem war das eine ausgesprochen suggestive Frage, Herr Kollege“, wandte er sich nachsichtig an Jarolím, „also eine unzulässige, wie Sie sicherlich wissen. In der Angelegenheit ziehen wir an einem Strang, gerade deshalb würde ich Ihnen größte Zurückhaltung empfehlen. Der Verteidigung wird nämlich sonst ein bequemer Angriffspunkt geboten. Mich interessiert noch das erste Tor. Myslík hat davon gesprochen, obwohl er es nicht sehen konnte. Auch hier kann es sich um einen erklärlichen Irrtum handeln, um eine absichtslose Lüge. Er konnte bei der Störung beispielsweise auf der Toilette gewesen sein und hat nun wiedergegeben, was er von den anderen gehört hat. Jetzt wird sich natürlich das vierblättrige Kleeblatt absprechen, und sie werden alles einheitlich zu Protokoll geben.“ „Wenn einer von ihnen weiß, daß Myslík einen Mord begangen hat, könnte er die Nerven verlieren“, wandte Matějka ein. „Sie verlangen vom Glück ein bißchen zuviel, Herr Kollege!“ Die drei Männer standen unschlüssig auf dem Gehsteig vor dem Wagen. Keiner wußte weiter. Ein echter Kriminalist kennt Ratlosigkeit, er spricht nur nicht dar152
über. Er schützt sich davor durch intensive Arbeit und studiert ähnliche Fälle. Wenn das zu nichts führt, versucht er, bei der Ermittlung tiefer in das Leben des Opfers einzudringen. Wird er auch hier nicht fündig, erforscht er das weitere Umfeld. Unablässig wartet er darauf, irgendwo auf eine Goldader zu stoßen, auf eine neue Spur. Er handelt ebenso wie ein Schriftsteller, der sich nicht auf die Inspiration verläßt, sondern an die Regel hält, die von fünf Prozent Talent und fünfundneunzig Prozent Fleiß spricht. Nur eines darf ein Kriminalist nicht sagen – daß morgen auch noch ein Tag sei oder daß der Morgen klüger als der Abend sei. Das könnte die Weisheit eines Besiegten sein, das Geschwätz eines Gefreiten, der nach dem Krieg zu einem Napoleon geworden ist. Jarolím und Matějka wußten das ebensogut wie Tomek. „Myslík hat sich also gleich drei Zeugen besorgt“, sagte schließlich Matějka. „Meine Herren, das nenne ich Gründlichkeit.“ „Halt dich an die Tatsachen, Rotfuchs“, ermahnte ihn Jarolím. „So leicht ist nicht jeder auf Wunsch bereit, mit einer falschen Zeugenaussage einen Mord zu decken. Du müßtest beweisen, daß alle an Pokornýs Tod ein Interesse hatten, und erst dann könntest du mit einer solchen Hypothese aufwarten!“ „Sie brauchen nicht zu wissen, wozu Myslík ein Alibi braucht!“ „Für fast bewiesen können wir annehmen, daß sie sich gegenseitig ein Alibi bezeugen“, sagte der Rechtsanwalt bedächtig. „Seltsam, Fußballfans hocken vor dem Fernseher, während das Spiel zwei Straßenbahnhaltestellen weiter stattfindet.“ Jarolím und Matějka nickten. Das gebot die Höflichkeit, aber ihnen wollte beim besten Willen nichts Klügeres einfallen. Dabei dachten sie ständig daran, daß sie vielleicht Minuten vergeudeten, die ihnen später – in 153
einer Stunde, morgen, irgendwann – dringend fehlen würden.
4 Tomek fuhr in Matějkas Trabant los, um Petr Pokornýs Verwandte aufzusuchen und ihnen den Tod ihres Bruders und Schwagers mitzuteilen. Wenn er ehrlich sein sollte, tat er das lediglich aus Neugier. Er wollte sehen, wie der Bruder seines Klienten lebte. Petr Pokorný kannte er mehrere Jahre, seinem Bruder Pavel war er noch nie begegnet. Er war erstaunt, als er in der Větrná ulice eine ansehnliche Villa mit gepflegtem Garten und neuer Garage vorfand. Der schreiende Unterschied zu Petrs Hinterhauswohnung, dunkel und nur mühsam modernisiert, hätte ihn eigentlich nicht verwundern dürfen. Sein Klient war ein geschiedener Schürzenjäger, Pavel Pokorný offenbar ein ordentlicher Familienvater. Auf das Klingeln reagierte niemand. Als er sich schon zum Gehen anschickte, kam eine junge Frau in den Garten. Tomek begrüßte sie und stellte sich vor. Sie schloß die Gartentür auf. „Kommen Sie kontrollieren? Bitte!“ „Kontrollieren?“ fragte er erstaunt. „Ich bin freigestellt, um mein krankes Kind zu pflegen. Sie können sich überzeugen, Pavlík liegt im Bett, eben hat er eine Spritze bekommen.“ „Ich bin Rechtsanwalt, Frau Pokorná, und habe Ihren Schwager Petr vertreten …“ Sie blieb in der Gartentür mit einer Miene stehen, die ausdrückte, daß sich alles gleich draußen erledigen ließe. Er blickte auf die Haustür. „Es ist … Ich werde Sie nicht lange aufhalten, doch …“ 154
„Wie Sie wünschen!“ Sie führte ihn in ein geräumiges Wohnzimmer im Erdgeschoß und deutete auf einen Stuhl, blieb jedoch selber stehen. „Ihr Schwager ist gestern abend plötzlich verstorben.“ Tomek wählte umschreibende Worte, obwohl er bereits bemerkt hatte, daß Marta Pokorná nicht ohnmächtig werden würde. „Wirklich?“ fragte sie teilnahmslos. „Er wurde das Opfer eines … eines tragischen Ereignisses“, fuhr der Rechtsanwalt fort. „Das wundert mich gar nicht. Er hatte mit solchen Ereignissen viel zu tun.“ „Die Kriminalpolizei untersucht den Fall“, sagte Tomek und gebärdete sich wie ein subalterner Beamter, der lediglich die ihm auferlegte Pflicht erfüllt. „Ihr Schwager wurde nämlich ermordet.“ „Das hat uns noch gefehlt!“ Diese Worte waren halb Seufzer, halb Schrei. „Als hätte er uns nicht genug Schande gemacht!“ In ihrer Stimme war nur ein Bedauern zu hören – Bedauern über sich selber, über den erneut befleckten Namen der Familie. „Ich hielt es für meine Pflicht gegenüber dem Toten, Ihnen das mitzuteilen“, sagte Tomek wiederum ausdruckslos, „und erlaube mir nur zu fragen, ob Ihr Schwager Sie gestern abend angerufen hat.“ „Wir haben nicht miteinander gesprochen, schon lange nicht!“ erwiderte sie in einem Tonfall, als müsse sie sich gegen eine Verleumdung verwahren. „Hat ihn auch Ihr Gatte nicht angerufen?“ „Von hier aus nicht, und ich würde mich sehr wundern, wenn … Er kam um halb sechs wie immer, und angerufen hat er nur dienstlich.“ „Also bestimmt nicht seinen Bruder?“ „Dort habe ich gesessen und gelesen!“ Sie zeigte auf einen Sessel unter einer Lampe. Auf dem Tischchen davor mehrere Nummern der Zeitschriften „Ahoj“, „Burda“ 155
und „Vlasta“. „Von hier aus hat mein Mann etwa um halb neun Ingenieur Kouba angerufen, den stellvertretenden Direktor seines Betriebes. Vorher und nachher hat er den ganzen Abend oben in der Mansarde bei seiner Arbeit gesessen. Dort hat er zwar auch ein Telefon, aber warum sollte er auf einmal Petr anrufen?“ „Es genügt, wenn ich weiß, daß er ihn nicht angerufen hat“, sagte Tomek. Sie antwortete mit einem Blick, der andeutete, daß sein Besuch schon zu lange dauere. „Über alles andere unterrichtet Sie die Kriminalpolizei, und die Erbschaftsangelegenheit erledigt das Notariat mit Ihrem Gatten.“ Sie unterdrückte ein spöttisches Grinsen, aber ein Achselzucken konnte sie sich nicht versagen. „Er hat doch nichts gehabt. Der Wagen geht bald aus dem Leim, und wenn ich mich an seine Wohnung erinnere …“ Marta Pokorná winkte ab, als wäre es schade um jedes weitere Wort. Tomek dachte an die größere Summe auf Petr Pokornýs Sparbüchern, sah jedoch keinen Grund, das zu erwähnen. Er erhob sich und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich bin froh, daß Sie das so tapfer tragen.“ Marta Pokorná hielt ihn nicht zurück, und es fiel ihr auch nicht ein, wenigstens förmlich zu danken. Tomek merkte auf dem Weg zum Gartentor, daß er versäumt hatte, was einfach selbstverständlich sein sollte – er hatte ihr nicht sein Beileid ausgedrückt. Als er ins Auto stieg, überlegte er, wann der rechte Augenblick zum Kondolieren gewesen wäre. Er kam nicht darauf. Tomek blickte sich noch einmal zur Villa um. Marta Pokorná schaute von der Haustür aus zu, wie er in Matějkas altem Trabant losfuhr, der eine deformierte Stoßstange und einen bisher unlackierten ausgewechselten Kotflügel hatte. Sie mußte denken, ihr Schwager und sein Rechtsanwalt würden zueinander passen. Auf dem Wege nach Karlín, wo Pavel Pokorný bei der 156
Firma Stavex arbeitete, bedauerte Tomek einen Augenblick, daß er den Kriminalisten nicht vorgeschlagen hatte, in der nächsten Stunde das Telefon des Ehepaares Pokorný überwachen zu lassen. Zu gern hätte er vernommen, mit welchen Worten Marta Pokorná ihrem Mann die Nachricht vom Tode seines Bruders mitteilte. In Karlín zeigte sich jedoch, daß das nichts genutzt hätte. Die Sekretärin des Abteilungsleiters Pavel Pokorný sagte Tomek, ihr Chef sei schon anderthalb Stunden unterwegs im Betrieb, und sie wisse nicht, wo sie ihn erreichen könne, da manche Betriebsteile nicht einmal ein Telefon besäßen. Tomek blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Das Warten verbrachte er mit fruchtlosen Betrachtungen. Er erinnerte sich an alles, was er von Petr Pokorný wußte. In den Jahren, die sich der Prozeß hinzog, hatte er seinen Klienten ziemlich gut kennengelernt. Bisher war ihm jedoch nie eingefallen, daß Petr Pokorný einen Feind haben könnte, der nicht vor einem Mord zurückschreckte. Jan Myslík, der jetzt Alimente zahlen muß, bis er schwarz wird. Dann Ludmila Bílková, die einen aussichtsreicheren Alimentenzahler als Myslík verloren hat. Schließlich die Diebesbande vom Toyota-Service, also die drei, die im Unterschied zu Petr Pokorný vor Gericht und hinter Gitter gekommen waren. Sonst fiel Tomek niemand ein. Und dennoch – hat einer von ihnen ein ausreichend starkes Motiv? Hätte Tomek den toten Petr Pokorný nicht mit eigenen Augen gesehen, wäre ihm das undenkbar erschienen. Allerdings besaß er als alter Jurist seine Erfahrungen und wußte, daß man auch wegen zwanzig Kronen oder eines schiefen Blicks ermordet werden kann. Ebensogut, sagte er sich, kann gerade jetzt jemand überlegen, wie er sich an mir rächt, obwohl ich nicht weiß, wer das sein könnte. Schließlich habe ich 157
nicht jeden Fall dorthin gebracht, wohin ihn meine Klienten gern haben wollten. Auch die Gegner meiner Klienten könnten sich rächen. Endlich kam Pavel Pokorný zurück. Obwohl er vier Jahre älter als sein Bruder war, wirkte er geradezu jugendlich, wenigstens durch seinen sportlichen Habitus. Selbst in dem fleckigen Overall, den er über den Anzug gezogen hatte, sah er elegant und sympathisch aus. Das war seinem Bruder nicht einmal gelungen, als er sich sehr anstrengte, vor Gericht einen guten Eindruck zu machen. Auch Pavels Gesicht war trotz aller verwandtschaftlichen Ähnlichkeit völlig anders. Sogleich war zu erkennen, daß er gewohnt war, Entscheidungen zu fällen und zu verantworten. Tomek saß schweigend in einer Ecke und wartete, bis sich die Sekretärin an ihn erinnerte. Pokorný wollte schon in sein Zimmer gehen, als sie ihn auf den Besucher aufmerksam machte. Das Büro wirkte bescheiden und nüchtern, es war lediglich mit fünf gerahmten Diplomen an den Wänden geschmückt. Pokorný zog am Reißverschluß, entledigte sich des Overalls und hängte ihn an einen Haken. „In welcher Angelegenheit sind Sie gekommen, Herr Doktor?“ „Hat Sie Ihre Frau noch nicht angerufen?“ fragte Tomek. „Nein. Ist zu Hause etwas passiert? Sind Sie Kinderarzt?“ „Jurist, Rechtsanwalt. Ihr Bruder war mein Klient.“ Pokorný atmete erleichtert auf. „Ihrem Bruder ist ein Unglück zugestoßen“, fuhr Tomek fort. „Er ist plötzlich gestorben. Gestern abend.“ „Petr …“, sagte Pokorný so langsam, als hätte der Name seines Bruders drei Silben. „Was ist ihm zugestoßen?“ „Ich bin kein Kriminalist und habe lediglich erfahren, daß es ein gewaltsamer Tod war.“ 158
„Ein Autounfall?“ „Wahrscheinlich, aber fast sicher ein Mord. Selbst ein Zufall kommt nicht in Betracht.“ „Verzeihung, das glaube ich nicht. Warum sollte jemand Petr …“ Er sprach das schicksalsschwere Wort nicht aus und trat ans Fenster, um auf den Hof zu blicken. „Und Selbstmord? Ich hätte nie gedacht, daß Petr so etwas …“ „Selbstmord war es nicht, Herr Pokorný.“ Pokorný wandte sich zu Tomek um. „Weiß man schon, wer …?“ Wieder sprach er den Satz nicht zu Ende. „Nein. Die Einzelheiten wird Ihnen die Kriminalpolizei mitteilen, sicher wird bald jemand zu Ihnen kommen. Ich frage Sie nur … Bitte, verstehen Sie mich, Ihr Bruder war mein Klient. Hat er irgendwann angedeutet, daß er mit jemandem Streit hatte, Konflikte oder ähnliches?“ „Niemals. Außer in der Angelegenheit mit dem Kind, worüber Sie sicher viel mehr wissen als ich“, sagte Pokorný bedächtig. Es war zu sehen, daß er sich in dem Zusammenhang ungern an den toten Bruder erinnerte. „Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?“ In der Villa hatte Tomek bei keiner Frage gezögert. Jetzt bedauerte er sogleich, daß er so schamlos fragte, der betroffene Blick Pavel Pokornýs brachte ihn in Verlegenheit. „Ich?“ Pokorný überlegte eine Weile. „Daran erinnere ich mich nicht genau. Man lebt dauernd im Streß, ich nehme mir noch Arbeit nach Hause mit. Wenn man sich etwas vornimmt, schiebt man das von einer Woche zur anderen auf, und ehe man sich’s versieht …“ „Haben Sie ihn gestern abend angerufen?“ „Nein. Warum fragen Sie mich das?“ Das Erstaunen mischte sich mit unverhohlener Entrüstung. „Das könnte wichtig sein, um den Zeitpunkt des Todes festzustellen“, beeilte sich Tomek zu erklären. 159
„Verstehe“, sagte Pokorný besänftigt. „Aber leider … Gestern habe ich nur unseren Vize angerufen, zweimal, es ging um die Einrichtung unserer Werkstätten in Prosek. Ich habe ihn zuerst etwa um drei Viertel acht aus meinem Arbeitszimmer und dann gegen neun aus dem Wohnzimmer angerufen, als mir noch etwas eingefallen ist … Wir wohnen in einem Einfamilienhaus. Sonst habe ich mit niemandem gesprochen, und es hat auch niemand bei uns angerufen, das heißt auch nicht Petr. Das müßte ich wissen, wir haben zwei Apparate.“ „Die Kriminalpolizei wird sicher mehr an Ort und Stelle ermitteln“, sagte Tomek. „Wo ist das passiert? Zu Hause?“ „Ja“, bestätigte der Rechtsanwalt. „Ich weiß selbst nicht viel darüber, die Kripo vertraut Außenstehenden ihre Ergebnisse nicht gern vorzeitig an.“
5 Tomek hatte sein Tagesprogramm schon abgeschrieben. Mittags sollte ein Klient in sein Büro kommen, mit ihm mußte er sich treffen. Sonst brannte nichts, so daß er beschloß, alles andere aufzuschieben. Von Karlín aus fuhr er geradewegs zur Kriminalpolizei. Er dachte an die unähnlichen Brüder. Von Petr hatte er über Pavel nur ein paar Sätze gehört, Andeutungen, daß sich die Brüder längst nicht mehr verstanden. Tomek brauchte nicht viel Phantasie, um sich eine annähernde Vorstellung vom Ansehen Petr Pokornýs zu machen, des Außenseiters, der es im Leben keineswegs leicht hatte und sich angestrengt bemühte, den richtigen Weg zu finden. Vor allem war Petr Pokorný sein Klient gewesen, und das verpflichtete Tomek ebenso wie einen Arzt, für den auch ein schmutziger Alkoholi160
ker mit Wunden aus einer Schlägerei einfach ein Patient ist, ein Mann, dem er mit allen Kräften helfen muß. Durch den plötzlichen Tod Petr Pokornýs fühlte sich Tomek seiner Verpflichtungen nicht entbunden. Eher war das Gegenteil der Fall. „Marta Pokorná, meine Herren“, referierte er Jarolím und Matějka seine Eindrücke, „das ist ein Weibsbild, hart wie Stein, was sage ich, wie Stein? Wenn Frau Pokorná von einem Panzer überfahren wird, bleibt sie heil, und der Panzer ist kaputt. Solche Bemerkungen mache ich nicht oft, aber ich habe mehr Lebenserfahrung als Sie beide zusammen, und wenn ich Ihnen sage, daß mir so etwas lange nicht begegnet ist, dann können Sie sich vorstellen …“ „Und Pokorný?“ unterbrach ihn Matějka. „Genau das Gegenteil. Obwohl er mit jedem Zoll ein Mann ist, hat ihn das tüchtig mitgenommen.“ „Hat er Ihnen einen Tip gegeben, wer als Mörder in Betracht käme?“ „Nein. Ausdrücklich habe ich nicht danach gefragt. Übrigens wußte ich von Petr Pokorný, daß er sich mit seinem Bruder nur selten traf, aber der Kontakt war offenbar nicht völlig abgebrochen. Von ihm werden Sie nichts erfahren.“ „Meinen Sie, daß doch etwas zu finden wäre?“ fragte Jarolím. Tomek überlegte, ob er die zweite Zigarette dieses Tages anzünden dürfte, und zögerte einen Moment mit der Antwort. „Halten Sie das bitte für eine reine Vermutung, aber …“ Er griff in die Tasche nach der Zigarettenschachtel, immer noch unschlüssig, ob er rauchen könne. „Pavel Pokorný wohnt in einer kleinen Villa, die von seinen Eltern stammt. Das heißt, sie gehörte dem Vater, nach dessen Tode erbten sie zu je einem Drittel, die Witwe und die beiden Brüder. Unlängst, vor fünf Wochen, ist auch die alte Frau Pokorná gestorben. Also war 161
Petr Pokorný der Besitzer der halben Villa. Mit seinem Bruder hätte er sich bestimmt vertragen, aber ich erlaube mir zu bezweifeln, daß Marta Pokorná unter ihrem Dach ein schwarzes Schaf wie ihren Schwager haben wollte.“ „Sie meinen, daß …“ „Im Unterschied zu Ihnen darf ich meinen“, sagte Tomek lächelnd. „Sie müssen beweisen. Pavel Pokorný war gestern zu Hause, er hat gearbeitet und angeblich zweimal mit dem stellvertretenden Direktor seines Betriebes telefoniert. Einmal in seinem Arbeitszimmer, das zweite Mal im Wohnzimmer, wo seine Frau saß. Ich bezweifle nicht, daß er die Wahrheit gesagt hat und Ingenieur Kouba, der stellvertretende Direktor, das bezeugen wird. Das Alibi seiner Frau aber ist fragwürdiger.“ „Aber die Entfernung zwischen ihrer Villa und dem Tatort!“ wandte Matějka ein. „Moment, Rotfuchs“, ließ sich Jarolím vernehmen, „in Prag fährt die Metro. Wie weit ist es von der Metrostation bis zu Pokornýs?“ „Kaum hundert Meter, und wie nahe der Tatort an der Metro liegt …“ „Fahrzeit annähernd acht Minuten, also insgesamt sechzehn, mit Wartezeit hin und zurück zwanzig“, rechnete Jarolím, „dazu viermal fünf Minuten Fußweg, alles zusammen nicht mehr als eine dreiviertel Stunde.“ „Eine Frau mit einer Pistole?“ „Soweit ich mich erinnere“, entgegnete Tomek, „ist eine Pistole neben Gift die häufigste Art, wie Frauen einen Mord verüben. Wenn Petr Pokorný erstochen oder mit einem Hebebock erschlagen worden wäre, würde ich eine Frau als Täter eher ausschließen.“ „Auf der Pistole muß allerdings ein Schalldämpfer gewesen sein“, sagte Matějka. „Das ist ein nebensächliches Detail“, erklärte Jarolím. „Einen Schalldämpfer zu bauen ist nicht schwer.“ 162
Matějka blickte seinen Freund verwundert an. „Du willst ernsthaft behaupten, daß sich Marta Pokorná in die Metro gesetzt hat, um ihren Schwager zu ermorden?“ „Ich schließe nur nichts aus. Interessanter dürfte eine andere Sache sein, Herr Doktor“, wandte er sich an Tomek. „Petr Pokorný war an den Diebstählen beim Toyota-Service beteiligt. Er hörte vor der Amnestie damit auf, vielleicht nur aus Angst, vielleicht hatte er wirklich Gewissensbisse, wie er im Protokoll angab, jedenfalls wurde er nicht verurteilt. Er nicht, aber die anderen drei. Uher ist mit drei Monaten davongekommen, Kopřiva saß anderthalb Jahre, und am meisten hat Čížek gekriegt, drei Jahre. Čížek ist vor drei Wochen aus der Haft entlassen worden.“ „Ich werde lieber weiterhin als Rechtsanwalt urteilen. Zeigen Sie mir den Zusammenhang, Herr Kollege!“ „Bitte! Alle drei Angeklagten wurden vor allem durch Petr Pokornýs Aussage überführt. Er war sich offenbar nicht ganz sicher, daß ihm nach der Amnestie keine Strafe drohte, und hat auch berichtet, wonach er bei der Vernehmung gar nicht gefragt wurde.“ „Das ist erwägenswert“, gab Tomek zu. „Čížek hat sich bestimmt die drei Jahre nicht mit Liebe an seinen Komplizen erinnert. In Kartouzy sitzen und wissen, daß Pokorný in die Kneipe gehen kann oder ins Grüne fahren, Mädchen haben … Ich weiß freilich nicht, ob sich Čížek nach seiner Entlassung mit Pokorný getroffen hat.“ „Setzen Sie voraus, daß Petr Pokorný Ihnen das anvertraut hätte?“ „Nein.“ „Ich auch nicht.“ Es klopfte, der Ballistiker kam herein. Er brachte eine Kassette mit der Pistole und der tödlichen Kugel, Fotos von den Fingerabdrücken und mehrere beschriebene Blätter. „Was habt ihr herausbekommen?“ fragte Matějka. 163
Der Ballistiker ließ sich auf einem Stuhl nieder, schielte zu dem Rechtsanwalt und sagte ausweichend: „Wir haben die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen …“ „Das ist Doktor Tomek, du kannst reden“, versicherte Jarolím eilig. „Die Pistole ist eine belgische 6,35er, hergestellt etwa neunzehnhundertachtunddreißig. Sie ist nicht registriert. Der Besitzer hat sie gut mit Nähmaschinenöl konserviert, Vaseline oder Waffenöl besaß er nicht. Vor dem Benutzen hat er alle Teile trockengerieben.“ „Also hat er etwas von Waffen verstanden“, bemerkte Matějka mit einem Seitenblick, der Jarolím andeutete, daß man von Marta Pokorná solche Kenntnisse nicht erwarten durfte. Der Ballistiker fuhr fort: „Fingerabdrücke sind weder auf dem Magazin noch auf den Patronen, nur auf dem Kolben und dem Abzug. Sie stammen vom Toten, aber es ist äußerst unwahrscheinlich, daß er selbst die Pistole in die Hand genommen hat. Er hätte kaum so schießen können.“ „Abgesehen davon, daß sich niemand von oben in den Schädel schießt“, sagte Tomek. „Uns hat am meisten diese kleine Beschädigung der Pistole interessiert.“ Der Ballistiker stand auf und zeigte mit einer Bleistiftspitze auf kaum sichtbare Rillen. Bereitwillig gab er Tomek eine Lupe und die Kassette, offenbar hielt er ihn für eine hochgestellte Persönlichkeit, vielleicht für den Staatsanwalt. „Sehen Sie?“ Die Lupe ging von Hand zu Hand. Die schrägen Rillen konnten niemandem entgehen. „Was schließen Sie daraus?“ fragte Tomek. „Auf die Pistole wurde vor dem Schuß ein Schalldämpfer aufgesetzt. Er bestand offenbar aus zwei Teilen, die mit einem Messingring und einer Schraube zusammengehalten wurden. Hat man ihn nicht am Tatort gefunden?“ 164
„Leider nein.“ „Einen Augenblick! Wie schwierig ist es, einen Schalldämpfer anzufertigen?“ „Je nachdem, ob Sie ihn länger benutzen wollen oder ob Sie ihn nur für einmal brauchen. Am üblichsten ist ein Schalldämpfer aus Metall, aber wir kennen Fälle, wo ihn ein Täter auch aus Holz oder sogar aus Pappe gebastelt hat. So ein Schalldämpfer hält natürlich nicht mehrere Schüsse aus und vermindert die Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses, auch die Reichweite und die Durchschlagskraft sind geringer. Bei einem Schuß aus nächster Nähe spielt das aber keine Rolle. Möglich ist auch eine Materialkombination, beispielsweise ein Ring wie bei einem Gartenschlauch hält den Dämpfer aus anderem Material. Wer sich Mühe gibt, kann mehrere Typen anfertigen, dann ein paar Patronen opfern und irgendwo außerhalb der Stadt ausprobieren.“ „Welche technischen Kenntnisse sind dazu nötig?“ „Um ein Auto kurzzuschließen, muß man mehr wissen. Das Prinzip ist in jedem Buch über Ballistik oder in Alben mit kleinen Handfeuerwaffen zu finden, und Sie können sich darauf verlassen, daß ein geschickter Bastler eher lernt, einen Schalldämpfer zu bauen als einen Pullover zu stricken.“ „Brächte das auch eine Frau zustande?“ „Natürlich. Körperliche Kraft braucht man nicht, das ist eigentlich bloß eine Fummelarbeit. Ich hätte nicht die Geduld dazu, aber ich kann auch nicht häkeln.“ Der Ballistiker ging, begleitet von neidischen Blicken, denn er hatte seine Arbeit schon beendet. Tomek sah auf die Uhr. „In einer halben Stunde kommt mein Klient … Darf ich danach wieder hier vorbeischauen?“ „Wie Sie sehen, haben wir Sie schon in unsere Gruppe aufgenommen“, sagte Matějka resigniert. „Und wir?“ „Wir wissen, daß es ein gründlich geplanter Mord 165
war, keine Affekthandlung“, antwortete Jarolím. „Wenn schon die Pistole darauf hingewiesen hat, so bestätigt das der Schalldämpfer klipp und klar.“ „Gut, aber was machen wir nun?“ Matějka gab zu verstehen, daß er bereitwillig den Ratschlägen eines Mannes zu folgen gedachte, in dessen Auto eine Leiche gefunden wurde. „Václav Čížek“, sagte Jarolím. „Er hatte drei Jahre Zeit, alles bis ins einzelne zu durchdenken.“ „Abklopfen müssen wir ihn sicher“, sagte Matějka. „Hast du schon festgestellt, wo wir ihn finden?“ „Er wohnt in der Slezská, eine Arbeitsstelle hat er bei Stavex gefunden.“ „Bei Stavex ist doch Pavel Pokorný!“ „Čížek arbeitet dort bei der Wartung von Elektromotoren.“ „Wirklich interessant“, bemerkte Tomek. Die Kriminalisten brachten den Rechtsanwalt in sein Büro und fuhren in die Stavex-Werkstatt, die sich hinter einem Bretterzaun in der Invalidova befand. Hier arbeiteten nur zehn Mann, am Tor hielt niemand die Besucher auf. Jarolím zog an der Stechuhr eine Karte aus dem Kasten. Václav Čížek hatte am Vortag um 16.47 Uhr den Betrieb verlassen. Nach dem Foto erkannten sie ihn sofort, ohne fragen zu müssen, Čížek war ein gealterter, ziemlich großer Schönling mit glattgekämmtem blondem Haar und scharfgeschnittenem Profil. Er arbeitete in aufreibendem Tempo an der Reparatur eines Elektromotors, sein jüngerer Gehilfe schaffte es kaum, die kurzen Anweisungen auszuführen. Eine Weile standen die Kriminalisten abseits, Matějka unschlüssig, während es Jarolím gelegen kam, den Mann zu beobachten. Die Arbeiter hatten die Besucher bisher nicht bemerkt. Jarolím stellte sich so hin, daß ihm nur Čížek ins Ge166
sicht sehen konnte, und sagte: „Wir sind von der Versicherung und möchten mit Ihnen sprechen.“ Čížek blickte auf. Er erkannte offenbar gleich, wer die Besucher waren. „Rutschen Sie mir den Buckel ’runter“, fuhr er sie an und machte eine Pause, ehe er hinzufügte: „Mit der Versicherung.“ Čížek wußte, daß ein Versicherungsvertreter nicht den Schutz genießt wie ein Polizist. „Sehen Sie nicht, daß wir hier im Druck sind?“ Jarolím erwiderte nichts, sondern zog nur seinen Dienstausweis aus der Tasche und zeigte ihn Čížek hinter dem Rücken des Gehilfen. „Es geht um die Unfallversicherung, wir kommen in Ihrem eigenen Interesse.“ „Da Sie nun mal unser alter Kunde sind“, fügte Matějka hinzu. „Einen Moment“, sagte Čížek unwillig. Er wischte sich die schmutzigen Hände an einem Bündel Werg ab und gab dem Gehilfen auf, Kontakte zu reinigen und dann im Lager vier Meter dreipoliges Kabel zu holen. „Warum müssen Sie hier aufkreuzen, verdammt noch mal?“ machte er sich wütend Luft. „Schicken Sie mir eine Vorladung, und ich tanze bei Ihnen an. Ich hätte sowieso beinahe die Stelle verloren. Wenn im Werk ausposaunt wird, daß die Kripo zu mir kommt, bin ich durch. Ich habe meine Strafe bis zur letzten Stunde abgesessen, also was wollen Sie von mir?“ „Tragen Sie hier eine materielle Verantwortung?“ fragte Matějka mit fachlichem Interesse. „Dafür sind die Meister und der Lagerverwalter da, wem soll ich das noch sagen?“ „Und trotzdem hat Ihnen jemand Schwierigkeiten gemacht?“ Čížek nahm eine Zigarettenschachtel aus der Tasche seines Monteuranzugs und schnippte mit dem Feuerzeug. „Sie kennen doch die Leute. Inzwischen hat sich 167
das Gott sei Dank erledigt. Wenn Sie aber anfangen, jeden hier auszufragen …“ „Wir sind von der Versicherung“, erwiderte Jarolím grinsend. „Erzählen Sie ruhig, daß wir Sie mit einer Unfallversicherung belästigen. Wann sind Sie gestern gegangen?“ „Kurz vor fünf.“ Čížek kniff die Augen zusammen und wirkte gleich selbstsicherer. „Heute mache ich wieder Überstunden. Ich brauche jede Krone, das werden Sie wohl verstehen.“ „Was haben Sie danach gemacht?“ „Ich bin zusammen mit Pepík Linter weggegangen, fragen Sie ihn! Wir sind mit der Straßenbahn bis zum Černý pivovar gefahren, und dann bin ich in die Kneipe gegangen. Kennen Sie den ‚Kleinen Bären‘ in der Ječná?“ Jarolím wohnte in der Nähe und kannte die Gegend. Von der Ječná geht die Tůně-Straße ab, und von der Gaststätte „Zum Kleinen Bären“ bis zum Hof, in dem Petr Pokorný erschossen wurde, waren es nicht mehr als hundertfünfzig Meter. „Haben Sie in der Gaststätte allein gesessen?“ „Das Alleinsitzen habe ich lange genug im Knast genossen! In einer Kneipe muß das Bier fließen, und es muß warm und laut sein“, erklärte Čížek lebhaft und bereitwillig zu einem Thema, über das er sehr genau Bescheid wußte. „Wir waren dort … wie viele? Etwa sechs.“ „Wie lange?“ Čížek wunderte sich über die überflüssige Frage. „Bis zum Schluß.“ „Genügt Ihnen als Abendbrot nur ein Bier?“ „Eins bestimmt nicht, ich habe neun getrunken. Und Abendbrot hatte ich auch, Rinderbraten und Knödel.“ „Erinnern Sie sich, wieviel Sie gezahlt haben?“ „Ungefähr fünfundfünfzig Kronen, weil meine Braut gekommen ist … meine Freundin. Sie hat zwei Wermut getrunken.“ 168
„Wie heißt sie? Und die Adresse!“ „Vlasta Holcová, Vršovice, Na louži achtunddreißig.“ Matějka, der ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis besaß, signalisierte Jarolím, daß er über diese Dame etwas wisse. Jarolím brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um darüber im Bilde zu sein, daß Čížeks Geliebte entweder in ein Wirtschaftsdelikt verwickelt gewesen war oder eine Tat begangen hatte, die im Strafgesetzbuch asoziales Verhalten heißt, was meist Prostitution bedeutet. „Wann ist Frau Holcová gekommen?“ „Gegen neun. Ich habe nämlich in der Kneipe plötzlich gemerkt, daß ich früh ohne eine Krone aus dem Haus gegangen bin. Am Tisch wollte ich mir von niemandem was borgen, da habe ich Vlasta angerufen, damit sie in den ‚Bären‘ kommt.“ „Haben Sie vorige Nacht zu Hause geschlafen?“ „Nein, bei meiner Freundin.“ „Kennen Sie sich lange?“ „Schon ein paar Jahre, bevor sie mich eingebuchtet haben.“ „Wann haben Sie bemerkt, daß Sie kein Geld hatten?“ „Erst dort.“ „Von wo haben Sie Frau Holcová angerufen?“ „Aus der Kneipe. Auf dem Flur ist ein Telefon.“ „Mit wem haben Sie am Tisch gesessen?“ „Mit Vlasta, dann mit Jindra Bezoušek, das ist ein Kumpel von der Fahne, der ist beim ‚Bären‘ Stammgast, dann Karel Řejha, Luděk Bohatý, und wie die anderen beiden heißen, weiß ich nicht.“ „Woher kennen Sie Řejha und Bohatý?“ „Řejha aus dem Knast, und mit Bohatý habe ich mal in einer Werkstatt zusammen gearbeitet.“ „Wann haben Sie angerufen, daß Sie kein Geld haben?“ „Wann kann das gewesen sein? Halb acht vielleicht, die Nachrichten im Fernsehen waren gerade zu Ende.“ 169
„Wo arbeitet Uher jetzt?“ „Als Baggerfahrer in der Südstadt. Wenn Sie denken, daß ich mich nochmals in was reinziehen lasse, sind Sie auf dem Holzweg. Mir reicht, daß ich mir einmal die Finger verbrannt habe.“ „Wann haben Sie sich mit Uher getroffen?“ „Ich bin ihm zufällig zwei Tage nach meiner Entlassung begegnet. Wir haben bloß kurz miteinander gesprochen.“ „Worüber?“ „Denken Sie, ich bin eine Studentin und führe ein Tagebuch?“ „Ich denke, daß Sie eine Aussage verweigern. Wie Sie wünschen“, sagte Matějka. „Ich habe eine Arbeitsstelle gesucht und ihn gefragt, wieviel man so verdient.“ „Wie oft haben Sie sich mit Pokorný getroffen?“ „Den habe ich zuletzt bei der Gerichtsverhandlung gesehen.“ „Wann haben Sie sich mit Kopřiva getroffen?“ „Vor zwei Wochen, einmal.“ „Wo?“ „Ich war bei ihm zu Hause“, antwortete Čížek unwillig. „Um sich ein bißchen an die guten alten Zeiten in Hlubočepy zu erinnern?“ „Meine Strafe habe ich abgesessen, wie oft soll ich das noch wiederholen? Ich habe eine Arbeit gesucht, und Kopřiva hat mir geraten, ich soll bei Stavex anfangen.“ Der Gehilfe war mit dem Kabel wiedergekommen, blieb aber abseits stehen. Offenbar hatte er erkannt, wer die Versicherungsvertreter waren. „Čížek“, sagte Jarolím bedächtig, „an Ihrer Stelle würde ich mich daran erinnern, wie unangenehm es ist, wenn Aussagen voneinander abweichen. Wie man sich bettet …“ 170
Er drehte sich unvermittelt um und verließ den Raum, so daß er nicht nur Čížek verblüffte. Matějka konnte ihm kaum folgen.
6 In ihrem Dienstwagen fuhren die Kriminalisten weiter nach Karlín. Unterwegs griff Jarolím zum Telefon, ließ sich mit der Zentrale verbinden und ordnete an, Václav Čížek und Vlasta Holcová bis auf Widerruf zu observieren. Matějka wandte nichts dagegen ein, konnte jedoch die Frage nicht unterdrücken: „Was sollte deine Bemerkung bedeuten, daß die Aussagen voneinander abweichen?“ „Einmal ist das wahrscheinlich“, sagte Jarolím. „Solche Kerle lügen präventiv, weil sie das für sicherer halten, und außerdem muß man immer so tun, als sei man über alles informiert.“ Er wußte gut, daß Vernehmungspsychologie nicht zu Matějkas starken Seiten gehörte. Matějka fand sich souverän in den Labyrinthen der Wirtschaftskriminalität zurecht, aber bei Vernehmungen, namentlich bei improvisierten, ging er zu direkt vor oder hielt sich stur an ein schnell ausgedachtes Schema. „Entweder wir haben völlig danebengeschossen oder ins Schwarze getroffen. Kommt dir nicht merkwürdig vor, daß unser Čížek es geschafft hat, sich in den drei Wochen seit seiner Entlassung mit zwei Komplizen zu treffen, während er den dritten nicht einmal erwähnt?“ „Deshalb hast du ihn nicht weiter nach Pokorný gefragt?“ „Richtig.“ Matějka steuerte den Wagen eine Weile schweigend. „Den Schalldämpfer konnte Čížek mit der linken Hand 171
machen“, sprach er vor sich hin, „aber überlegtes Handeln paßt nicht zu ihm. Beim Toyota-Service war er nicht sehr erfinderisch, das war der plumpeste Diebstahl, den man sich vorstellen kann.“ „Von überlegtem Handeln habe ich auch nicht gesprochen“, erwiderte Jarolím. „Den ganzen Abend ein Stück vom Tatort dazusitzen? Dazu braucht man Nerven aus Stahl, und er kann sich beherrschen, die erregten Ausbrüche waren bestimmt nur gespielt oder eine anormale Portion an Dummheit, und diese Bedingung erfüllt er auch, wie du meinst.“ „Aus der Gaststätte verschwinden und auf Pokornýs Hinterhof gehen konnte er“, gab Matějka zu. „Ein Motiv hatte er, bleibt die raffiniert waghalsige Ausführung der Tat.“ „Das traue ich ihm zu.“ „Mir will dieser Myslík nicht gefallen. Erinnerst du dich, was Tomek über sein Alibi gesagt hat?“ Intelligenz bedeutet manchmal ein Handikap, dachte Jarolím. An Myslíks Stelle würde ich meinen Widersacher in einem verlorenen Prozeß nicht ein paar Tage nach der Gerichtsentscheidung erschießen, und wenn ich Čížek wäre, würde ich nicht die Rechnung mit einem ehemaligen Komplizen begleichen, kaum daß ich aus dem Gefängnis gekommen bin. Doch Myslík und Čížek sehen solche Dinge ganz anders als ich, und wenn es mir nicht gelingt, in ihr Denken einzudringen, ist meine Arbeit doppelt schwer, weil ich nicht einmal ahne, wo die Beweise für ihre Schuld oder Unschuld zu suchen sind. Im Besucherraum wartete Tomek auf sie, begierig auf die letzten Ergebnisse. Als er sie erfahren hatte, wiederholte er im Büro bei einer Tasse Kaffee wiederum seine Warnung. „Myslík hat drei Zeugen, Čížek sogar fünf und sein Täubchen als Zugabe, das ist ein bißchen zuviel des Guten.“ 172
„Soll ich daraus schließen, daß Sie meinen, die beiden hätten Pokorný ermordet?“ Tomek ließ sich von Matějkas Ironie nicht beirren. „Wieviel Zeugen für den gestrigen Abend haben Sie? Ich zum Beispiel nur meine Frau.“ „Ich überhaupt niemanden“, fiel Jarolím ein. „Wenn wir Vlasta Holcová vernehmen, wird sie bestimmt Čížeks Aussagen bestätigen. Myslík ist auch aus dem Schneider. Ich halte nur Marta Pokorná für eine offene Frage.“ Es klopfte. Ein Wachtmeister trat ein und gab Matějka eine Meldung. „Verdammt!“ rief Matějka leise und ließ das Formular auf den Tisch fallen. „Das hat mir noch gefehlt!“ „Was ist los?“ „Ich muß in meinen eigenen Buddelkasten, mindestens für eine Stunde. Vormittags sind auf dem Bahnhof Vyšehrad mehrere Waggons entgleist, und als die Ware umgeladen wurde, fehlten fast dreißig Prozent der Ladung an Südfrüchten.“ „Kann das nicht warten?“ fragte Tomek. „Bedaure sehr, das geht nicht. Wir hatten schon mehrere ähnliche Fälle, die alle nicht aufgeklärt wurden. Die Meldungen kamen immer erst von den Bestimmungsbahnhöfen. Kommst du mit, Karel?“ „Ich muß nicht auf jeder Hochzeit tanzen. So wird jeder bei seinen Leisten bleiben. Du zähl deine Bananen, und ich werde versuchen, Vlasta Holcová zu finden.“ Matějkas Gesicht verriet Enttäuschung. „Versprichst du dir davon so viel?“ „Das werden wir sehen. Aber etwas muß ich noch erledigen.“ Er griff nach dem Telefon. Kaum hatte er einige Worte gesagt, hellte sich Matějkas Miene auf. Nach wenigen Minuten begann auch der völlig uninformierte Tomek zu ahnen, warum sich Matějkas Stimmung zum Besseren gewendet hatte. Er erriet 173
die Fähigkeiten des Mannes, der ins Büro gekommen war, um einen Auftrag entgegenzunehmen. Václav Procházka war ein Stützpfeiler der Prager Kriminalpolizei. Mit vierundfünfzig Jahren hatte er zwar einen niedrigen Rang, der eher jahrelangem Dienst an Straßenkreuzungen entsprach als einer ausgedehnten Fahndungsarbeit, aber Tomek, ein guter Menschenkenner, ließ sich davon nicht täuschen. Es war gleichgültig, daß Procházka keine Ermittlung leiten konnte und daß er sich zeitlebens nicht um Fortschritte in dieser Hinsicht bemüht hatte. Meldungen schrieb er ungern, er tippte sie mit zwei Fingern, und gewöhnlich enthielten sie viele Rechtschreibfehler. Man nahm an, daß er die Fehler absichtlich machte, nur damit niemandem einfiel, über Aufstieg und Versetzung zu reden. Procházka war nämlich mit seinem Posten vollauf zufrieden und erstrebte nichts anderes. Man nannte ihn „Pragspezialist“, und obwohl diese Bezeichnung sehr schmeichelhaft klang, erfaßte sie nicht den ganzen Bereich seiner Fähigkeiten. Als Ermittler wäre er bestenfalls einer von vielen durchschnittlichen Kriminalisten gewesen. Dagegen kam ihm im Gelände keiner gleich. In Plzeň, Pardubice, ja selbst in Mělník hätte er sich nicht zurechtgefunden, sein Aktionsradius umfaßte das Gebiet von Prag und Umgebung. Dort kannte er sich besser aus als jeder andere. Sofern er überhaupt noch zum ersten Male irgendwohin kam, fühlte er sich augenblicklich im neuen Milieu heimisch und benahm sich so natürlich, daß ihn jeder für einen ständigen Gast oder alten Bekannten hielt. Niemand vermutete, daß dieser Mann unbestimmten Alters etwas mit der Kriminalpolizei zu tun hatte. Procházka trug sportliche Kleidung und stets gute Schuhe. Er war ein vortrefflicher Erzähler und unbezwingbarer Trinker. Die Empfangshalle eines erstklassigen Hotels, der Kulissenraum eines Theaters, eine verräucherte Kneipe, eine 174
Fußballergarderobe, eine Weinstube, ein Jugendklub oder ein Café – Procházka fiel nicht auf. Wenn es ihm um mehr Ruhm gegangen wäre als um die Anerkennung im engen Kreis der Prager Kriminalisten, wäre er ein hervorragender Schauspieler geworden. Ohne schauspielerisches Talent hohen Ranges kann man nicht zehnmal am Tage Gebaren, Benehmen und Sprechweise völlig ändern, sich zehnmal in stets neue Gesellschaft einfügen und das Notwendige erfahren. Dabei gewahrte niemand, daß dieser Trinker eigentlich fast nichts trank und daß dieser Erzähler eigentlich nichts erzählte, sondern unmerklich das Gespräch dorthin steuerte, wohin er es haben wollte. Procházka bekam den Auftrag, alle Aussagen Čížeks zu überprüfen. Er machte sich keine Aufzeichnungen, weil ihm das wichtigtuerisch und anfängerhaft vorkam, sondern nickte nur. So ein Čížek ist eine Kleinigkeit, sagte sein wortloses Nicken, noch heute würde ein ausführlicher Bericht vorliegen. Jarolím und Matějka zweifelten nicht daran. In der Partie gegen den unbekannten Gegner hatten sie ihren stärksten Trumpf ausgespielt.
7 Tomek war durch und durch Jurist, er wagte es nicht, Jarolím zu bitten, beim Besuch Vlasta Holcovás dabeisein zu dürfen. Jarolím hatte in seinen wenigen Dienstjahren schon seine angeborene Beobachtungsgabe entwickelt und merkte, was der Rechtsanwalt wünschte. Er wägte das Risiko ab, das er durch die Teilnahme einer unberechtigten Person auf sich nahm. Hier war jedoch alles anders, ein Kriminalist findet nicht jeden Tag eine Leiche im Auto, und schon gar nicht in seinem eigenen. 175
„Kommen Sie mit hinauf, Herr Doktor?“ fragte er, als er an der Bordsteinkante der Straße Na louži hielt. Er schielte zur Ecke, wo ein etwa zwanzigjähriger Bursche im Jeansanzug mit dem Motor seiner Jawa alle Hände voll zu tun hatte, während ihm ein älterer und konservativ gekleideter Mann wenigstens mit Ratschlägen half. Die Observation von Vlasta Holcová war gesichert. „Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten“, sagte Tomek. „Ohne Unannehmlichkeiten würde mir etwas fehlen.“ Im zweiten Stock öffnete ihnen eine schlanke dunkelhaarige Frau, der man nicht ansah, daß sie zweiunddreißig Jahre zählte und zwei Gefängnisstrafen wegen asozialen Verhaltens verbüßt hatte. Und niemand wäre daraufgekommen, daß sie sich vier Stunden täglich der Tätigkeit einer Putzfrau widmete, um eine legale Quelle ihrer Einkünfte vorzuweisen. Wer sie für eine einundzwanzigjährige Schauspielerin gehalten hätte, die zwischen Angeboten von Hauptrollen in interessanten Filmen wählen kann, hätte keinen unverzeihlichen Mangel an Menschenkenntnis gezeigt. Ihr Äußeres war in tadellosem Zustand. Dagegen war ihrer Sprechweise die heimatliche Vorstadt anzumerken, und ihren Wortschatz pflegte sie offenbar weitaus weniger als ihre lackierten Nägel. „Was wollen Sie denn?“ empfing sie Jarolím. Jarolím hielt ihr seinen Dienstausweis vor die Nase. „Haben Sie ein wenig Zeit für uns?“ „Das muß ich wohl“, antwortete sie mit bitterer Würde, die aus drittklassigen historischen Filmen abgeschaut war. Sie betraten das Appartement. Selbst das letzte Detail war offenbar von einem begabten Innenarchitekten entworfen worden, um einen angemessenen Rahmen für die schöne Bewohnerin zu schaffen. Jarolím und Tomek vertrauten einander später an, daß sie sogleich dasselbe 176
gedacht hatten: Was konnte wohl die feine Vlasta Holcová am Ganoven Čížek finden? Beide vermochten sich schwer vorzustellen, daß sie überhaupt geneigt war, sich mit ihm auf der Straße sehen zu lassen. „Wann hat Sie gestern Václav Čížek angerufen?“ begann Jarolím ohne Umschweife. Er merkte, daß sich im Zimmer kein einziger Gegenstand befand, den Vlasta Holcová selber ausgesucht hatte. Matějka hätte sicherlich den Schluß abgelehnt, den Jarolím wagte: Die Holcová wohnt lieber in einem unpersönlichen Raum wie im Schaufenster eines Möbelladens oder in einem Hotelzimmer, ehe sie riskieren würde, daß etwas die eigene Plumpheit verrät und bei den Kunden einen ungünstigen Eindruck erweckt. Hier trafen sich Zweckmäßigkeit und Respekt vor Autorität. Sie lächelte wie ein Mannequin, das auf den Laufsteg hinausgeht. „Ihre Sorgen möchte ich haben. Kurz vor acht.“ „Haben Sie gewußt, daß Čížek von der Arbeit nicht nach Hause kommt, das heißt zu Ihnen?“ „Wir sind beide erwachsen und unabhängig“, antwortete sie wieder so hoheitsvoll wie eine gekränkte Prinzessin. Tomek saß etwas abseits, und Jarolím fing seinen Blick auf. Er las darin Unzufriedenheit und die Aufforderung, Vlasta Holcová richtig zu vernehmen. Vor ihm saß schließlich keine Unschuld vom Lande, die über ihre erste polizeiliche Vernehmung erschrickt, sondern eine Kriminelle mit reichen Erfahrungen auf diesem Gebiet. „Wir können in einer weniger schönen Umgebung fortfahren, Frau Holcová. Sie kennen schließlich außer der ‚Embassy-Bar‘ und dem ‚Jalta‘ auch andere Gebäude in Prag.“ Den Augenausdruck kann man durch keinerlei Kosmetik verschönen. Die Augen, die sich jetzt auf Jarolím hefteten, hätten auch einer Sechzigjährigen gehören 177
können. Es waren Augen, die schon viel gesehen hatten und immer auf der Hut waren. Ohne Mühe konnte sich Jarolím vorstellen, wie diese Augen am Abdruck einer Pistole zusammengekniffen wurden und wie sie den erschossenen Mann unter dem Auto betrachteten. Für einen Moment schwand aus Vlasta Holcovás Gesicht sogar das eingeübte Lächeln. Diese Veränderung hätte jedoch nur ein Fotoapparat mit einer Einstellung von weniger als einer hundertstel Sekunde erfaßt. Sie wappnete sich sogleich wieder mit diesem Lächeln. „Ich bin eine berufstätige Frau. Und ins ‚Embassy‘ darf jeder ’rein, Sie genauso wie ich, jeder, der anständig angezogen ist und sich benehmen kann, das wissen Sie vielleicht, wenn Sie mal dagewesen sind.“ „Holcová!“ Jarolím wählte zur Abwechslung den traditionellen Polizeiton. „Also ’raus damit, ja! Hat Ihnen Čížek vorher gesagt, daß er von der Arbeit nicht gleich zu Ihnen kommt?“ „Gewöhnlich gehen wir abends aus, um etwas zu uns zu nehmen“, erwiderte sie erhaben. „Gestern hatte er zu tun und schaffte es nicht, nach Hause zu kommen.“ „Wo futtern Sie gewöhnlich?“ Jarolím hatte beschlossen, eine ganz andere Stilebene zu benutzen als diejenige, in der sich Vlasta Holcová gefiel. „Wie oft waren Sie im ‚Kleinen Bären‘?“ „Gestern zum ersten Male. Wir besuchen sonst lieber bessere Restaurants.“ Sie betonte die letzten beiden Worte. Unter anderen Umständen hätte sich Jarolím über das vornehme Gehabe amüsiert. Schließlich wußte er, daß Vlasta Holcovás Eltern gelernte Weber waren, die als Fuhrmann und Geschirrwäscherin arbeiteten. „Aber unter so einfachen Leuten ist es manchmal angenehm und erfrischend“, beendete sie ihre Erklärung, ganz wie er erwartet hatte. „Wann sind Sie in die Gaststätte gekommen?“ „Etwa um neun.“ 178
„Hatte Čížek wirklich kein Geld?“ „Er hatte es zu Hause vergessen, das kann Ihnen auch passieren.“ „Sie haben es hier sehr hübsch“, bemerkte Tomek. „Ich hatte keine Vorstellung davon, wieviel eine Raumpflegerin halbtags verdienen kann.“ „Ich bin sparsam“, antwortete die Besucherin der ‚Embassy-Bar‘. Ein unvermeidlicher, aber überflüssiger Weg, sagte sich Jarolím und stand auf. Es war zu früh für irgendwelche Schlüsse außer einem – der Mörder und sein möglicher Komplize konnten die Zeit zwischen der Tat und dem Auffinden des Toten dazu nutzen, die Aussagen genau abzusprechen, so daß sie nicht leicht zu widerlegen waren. Jarolím war sich inzwischen auch über Václav Čížeks Rolle bei Vlasta Holcová im klaren, er mußte nur eine technische Kleinigkeit überprüfen. Die linke Tür im Flur führte offenbar ins Badezimmer, rechts befand sich hinter einem Vorhang eine Kochnische. Eine zweite Tür hatte keine Klinke, sondern wurde nur mit einem Schlüssel geöffnet. Jarolím drehte ihn um und blickte hinein. In der schmalen Kammer standen nur ein abgewetzter Sessel und ein Tischchen mit einer Lampe, einigen Bierflaschen und einem Stoß Zeitschriften. „Das ist die Kammer. Dort geht es ’raus“, sagte Vlasta Holcová nervös. Jarolím lächelte freundlich. „Verzeihung, Sie sagen Kammer, ich würde Wachstube sagen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Wie ich es gesagt habe, Holcová. Lassen Sie das lieber beizeiten!“ Schweigend schlug sie hinter den Männern die Tür zu und schloß ab. „Čížek ist ihr Zuhälter …“, flüsterte Tomek auf der Treppe. 179
„Ja. Die ganze Zeit habe ich mir gesagt, daß sie ihn nicht in den Schrank stecken kann, wenn sie Kunden empfängt.“
8 Während Jarolím und Tomek zu Stavex fuhren, um ein paar Worte mit dem stellvertretenden Direktor Kouba zu wechseln, hetzte Matějka sich und seine Untergebenen. Bei Stavex bestätigte Kouba, daß ihn der Abteilungsleiter Pokorný am Abend zweimal angerufen hatte, und er erinnerte sich auch an die Zeit. Er erläuterte noch, worum es ging, obwohl das völlig gleichgültig war. Mehr Zeit brauchte Jarolím für die Verabschiedung, weil er deutlich zu verstehen geben mußte, daß Kouba aus ihrem Besuch keinerlei Verdacht gegenüber Pokorný ableiten dürfe. Ein Besuch der Kriminalpolizei hinterläßt stets einen Verdacht, und Jarolím lag daran, Pokorný, den kurz nach dem Tode seiner Mutter ein neuer Schlag getroffen hatte, möglichst zu schonen. Bei der Kripo spürten sie sogleich große Betriebsamkeit. Matějka hatte die Suche nach dem Mörder nicht eingestellt. Er wußte, daß jede Stunde wertvoll war, der Täter konnte sein Alibi sichern, konnte entwischen und gegebenenfalls die gleiche Tat wiederholen. Ein Mord ist das schwerste Verbrechen, seine Aufklärung hat also Vorrang. Als jedoch gerade an diesem Tage der Unfall auf dem Bahnhof Vyšehrad ein Problem lösen half, über das man sich schon monatelang in mehreren Kreisämtern der ganzen Republik den Kopf zerbrach, vermochte er die Ermittlungen nicht aufzuschieben. Matějka informierte sich auf dem Bahnhof über den Umfang des Schadens, der schon tags zuvor entstanden war, und stellte fest, wer als Täter in Frage kam. Es han180
delte sich um eine Bande, denn einer mußte die gestohlene Ware abtransportieren und ein weiterer verkaufen. Auf die Vernehmung warteten nun elf Eisenbahner, unter ihnen Jan Myslík und zwei weitere Teilnehmer des Fernsehabends. Das Alibi dieser drei war zwar schon überprüft worden, Matějka wollte jedoch keinen Fehler machen. Er arbeitete einen Vernehmungsplan aus, und bald darauf gingen elf Mitglieder von Matějkas Gruppe ans Werk. Matějka erhielt regelmäßig Meldungen über den Verlauf, und wenn er Widersprüche feststellte, gab er weitere Hinweise. Jarolím und Tomek kamen sich fast überflüssig vor. Sie kehrten jedoch bald gemeinsam mit Procházka in Matějkas Zimmer zurück. „Ich habe alles beisammen“, sagte der Pragkenner selbstbewußt. „Čížek machte genehmigte Überstunden mit einem gewissen Linter. Josef Linter, wohnhaft Vyšeradská achtundzwanzig. Sie haben beide um sechzehn Uhr siebenundvierzig das Werk verlassen und sind mit der Fünfzehn ins Zentrum gefahren. Čížek ist beim Černý pivovar ausgestiegen.“ Bisher bestätigte das lediglich die Aussage. Procházka fuhr jedoch ungerührt fort. „Von der Haltestelle ging Čížek durch den Park in den Modesalon neben der Poliklinik. Dort war ein Kostüm mit Nerzbesatz ausgestellt, ein Modell für zweitausendachthundert, tags zuvor hatte das seine Begleiterin anprobiert, eine Brünette um die Dreißig, Maße achtundneunzig, neunundsechzig, achtundachtzig. Es stand ihr gut, Čížek hatte fünfhundert Kronen angezahlt. Gestern wollte er es abholen, aber er kam, um sich zu entschuldigen, daß er das Geld zu Hause vergessen hätte und das Kostüm bestimmt heute bezahlen würde. Es wartet noch immer auf ihn. Dann begab er sich die Ječná hinauf. Im Tabakladen an der Štěpánská kaufte er zwei Päckchen Sparta und zahlte mit einem Hundertkronenschein, den 181
er aus dem Portemonnaie nahm. In der Gaststätte ‚Zum kleinen Bären‘ aß er Rinderbraten aus der Konserve und trank neun Bier. Er saß am Stammtisch mit den Herren Řejha, Bezoušek, Bohatý, Truska und Ticháček, die dort gut bekannt sind. Entweder war er das Trinken nicht mehr gewöhnt, oder die Konserve war verdorben, jedenfalls lief er jeden Augenblick auf die Toilette, um sich zu übergeben. Nach sieben Uhr merkte er, daß er kein Geld bei sich hatte. Er telefonierte auf dem Flur mit seiner Freundin, die dann um neun kam. Nach Meinung der einen ist sie zu fein für ihn, die anderen halten sie für eine qualifizierte Sexualarbeiterin, um das hübsch auszudrücken. Sie trank zwei Wermut, aß aber nichts. Die Beschreibung würde auf die Frau passen, die das Kostüm anprobiert hat.“ „Prima“, sagte Matějka. „Wie lange ist er vom Tisch weggeblieben?“ „Sie erinnern sich, daß er oft draußen war, und spotteten über ihn, weil er noch öfter lief, als es bei Biertrinkern üblich ist. Ich habe das im Eiltempo gemacht und bin nicht dazu gekommen, alle Zeugen zu befragen“, sagte er entschuldigend, als hätte er eine unvollständige Arbeit abgeliefert. „Die Schätzungen weichen voneinander ab, das Maximum ist eine reichliche Viertelstunde. An einem Tisch, an dem sechs Mann sitzen, fällt es nicht auf, Wenn jemand fehlt.“ „Was hatte Čížek gestern an, wissen Sie das zufällig?“ fragte Matějka. „Graue Flanellhosen, ein blaues Sporthemd und eine gelbe Bundjacke ohne Futter und Innentaschen“, antwortete Procházka irgendwie betroffen. „Eine Aktentasche, eine Tasche?“ „Nichts. Sein Portemonnaie steckte in der Gesäßtasche, und die beiden Zigarettenschachteln in den Seitentaschen der Jacke. Viel mehr hat dort nicht Platz.“ „Die Pistole hätte er dann äußerst unbequem und ris182
kant hinter den Gürtel stecken müssen“, sagte Tomek, „dazu noch den Schalldämpfer. Können Sie sich vorstellen, wie er damit durch die Straßen gelaufen ist? Oder er mußte alles irgendwo verstecken, dort montieren und spätestens in einer knappen halben Stunde zurückkommen … Nein, meine Herren, von dieser Version verabschieden wir uns lieber, meinen Sie nicht?“ Auf Matějkas Schreibtisch klingelte das Telefon. Matějka nahm den Hörer ab und hörte eine Weile konzentriert zu. „Danke, ich komme gleich. Fahren Sie vorläufig fort, ich vergleiche das noch mit den anderen Aussagen.“ Jarolím erkannte an Matějkas Miene, was geschehen war. „Wer ist umgekippt?“ „Noch niemand, aber Myslík wackelt schon.“ Nach Matějkas Plan drang man bei den Vernehmungen von unwesentlichen Einzelheiten zum Kern der Sache vor. Schon zu Beginn widersprachen sich viele Aussagen. Nur Menschen mit einem phänomenalen Gedächtnis könnten sich beim Arrangieren eines Alibis alle die scheinbar bedeutungslosen Einzelheiten einprägen, die ein Kriminalist bei der Vernehmung wissen will. Und gerade diejenigen, deren Aussagen am perfektesten übereinstimmen sollten, die Teilnehmer des Fernsehabends bei Myslík, waren sich nicht einig, in welcher Reihenfolge sie in die Wohnung gekommen waren, sie erinnerten sich auch nicht, wer wo im Zimmer gesessen hatte, wußten nicht, ob alle Rotwein oder Weißwein getrunken hatten, ob die Flasche einen Korken oder einen Plastverschluß hatte. Bis zum nächsten Tage hätten sie ihre Antworten einstudieren können, und die Ermittlung wäre bei unbeweisbaren Verdächtigungen steckengeblieben. Natürlich kann niemand dafür verurteilt werden, daß er nicht weiß, auf welchem Stuhl er gesessen hat, aber wer etwas verbergen will, fühlt sich nicht wohl, wenn er merkt, daß der Ermittler 183
die anderen abweichenden Aussagen kennt und ihn als Lügner durchschaut. Folglich muß er vermuten, die anderen hätten schon mehr gesagt, und da denkt auch er an die letzte Zuflucht, die mildernden Umstände bei einem Geständnis. „Herr Myslík“, sagte Jarolím, als der dicke Riese in Matějkas Büro saß, „Sie glauben wohl, wir hätten nur Ihre Bananen im Kopf, was?“ „Ich weiß nichts“, antwortete er, „ich habe mir Fußball angeguckt.“ „Erinnern Sie sich, daß wir noch vor dem Unfall auf dem Bahnhof waren? Was denken Sie darüber?“ Auch ein Mann von Myslíks Geistesgaben mußte daraufkommen, daß jemand die Bande angezeigt hatte. Offenbar dachte er das. Er wurde unsicher und schielte zum Spiegel an der Wand. Es war ein durchsichtiger Spiegel, im Nebenraum saß Tomek, der ihn sah und hörte, das Telefon in Reichweite, um gegebenenfalls durch einen Hinweis zum Verlauf der Vernehmung beizutragen. Vorläufig beobachtete der Rechtsanwalt amüsiert, wie Myslík seine Gesichtszüge zu einer überzeugenden Maske ordnete. Myslík meinte, durch alberne Scherze seine Vernehmer gewogen zu stimmen, und erwiderte: „Das Denken überlasse ich den Pferden, die haben einen größeren Kopf.“ „Wann haben Sie Petr Pokorný zuletzt gesehen?“ „Den Gauner?“ erleichterte sich der überführte Vater. „Pokorný wurde gestern abend ermordet. Gerade zu der Zeit, als Sie angeblich Fußball gesehen haben, wobei Sie nicht einmal wissen, daß gerade beim ersten Tor eine Bildstörung war. Was haben Sie uns dazu zu sagen?“ „Ich soll ihn umgebracht haben?“ stotterte Myslík. „Gemocht haben Sie ihn nicht“, fuhr Matějka in sachlichem Ton fort, „und zur Tatzeit waren Sie nicht in Ihrer Wohnung. Wir wissen, daß Ihre Kollegen lügen, 184
jeder sagt etwas anderes. Einen Grund, aus Rache Pokorný zu ermorden, hatten allerdings nur Sie, und Sie waren nicht zu Hause. Was würden Sie selber daraus ableiten? Überdenken Sie gut Ihre Lage, und dann antworten Sie mir!“ Im Zimmer herrschte lange gespannte Stille. Gedämpft drangen die Laute der nachmittäglich belebten Straße herauf. Myslík starrte Jarolím an, der eine kleine Pantomime begann. Er nahm einen Aktendeckel vom Schreibtisch, blätterte darin und nickte hin und wieder. Jarolím glaubte, daß Myslík eine solche Belastung nicht lange aushalten würde. „Ich gestehe also alles, ja?“ krächzte der Lagerarbeiter. „Nur wenn Sie wollen, wir kommen auch ohne Ihr Geständnis aus“, sagte Jarolím. „Seit heute morgen sind so viele interessante Dinge passiert, daß Ihnen davon schwindlig werden würde.“ Das Telefon klingelte, Matějka nahm ab. „Es ist nichts“, sagte Tomek, „ich möchte nur gratulieren! Ich habe vier Jahre gebraucht, um ihn zu überführen. Leider ist es nicht der Richtige.“ „Das werden wir gleich sehen, danke“, sagte Jarolím mit einem bedeutungsvollen Blick auf Myslík. Er legte auf und sah völlig gleichgültig aus dem Fenster, damit Myslík die Bedeutung dieses Satzes abwägen konnte, was er nun mit allen Kräften seines schwächlichen Hirns versuchte. „Ich gestehe alles“, sprudelte es aus ihm hervor wie aus einem gerissenen Milchbeutel. „Die Waggons haben wir ausgeräumt. Schon seit dem Winter. Ich habe aber nicht damit angefangen, ich hätte mir mit den Plomben keinen Rat gewußt.“ „Gestern haben Sie Waggons ausgeraubt?“ „Na klar“, verkündete Myslík geradezu siegesbewußt. „Der Zug stand von früh an auf der Acht, und … da ha185
ben wir das Ding gedreht, flink wie Teufel. Warum haben mir die Dämlacks nicht gesagt, wie das mit dem ersten Tor war und …“ „Uns interessiert jetzt mehr Pokorný“, unterbrach ihn Matějka. „Sie glauben doch nicht, daß ich jemanden umbringen kann? Meine Kumpel müssen mir bezeugen, daß wir gestern zusammen geklaut haben!“ Er ließ seine erschrockenen Augen von einem Gesicht zum anderen schweifen. „Ich sage Ihnen alles von Anfang an, bloß …“ Er wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Diesmal meldete sich der Diensthabende mit der Frage, ob Matějka den gerade eingetroffenen Obduktionsbefund aus dem Institut für Gerichtsmedizin haben wolle. Jan Myslík, der davon überzeugt war, daß es sich wieder um ihn handelte, wurde dem Ermittler übergeben, der ihn zuerst vernommen hatte.
9 Jarolím und Matějka saßen verwirrt vor dem Obduktionsbefund und überlegten schweigend, ob sie nicht einen anderen Beruf wählen sollten, wo ein Diplom ausreicht und Talent keine Bedingung ist. Ein Ökonom und ein Jurist brauchen ihr Brot nicht bei der Kriminalpolizei zu verdienen. Der Befund der Gerichtsmediziner ließ die Eindeutigkeit vermissen, die sie selbst erreichen wollten und also auch von anderen erwarteten. Die Pathologen konnten jedoch die Todesursache nicht genau feststellen. Sie konstatierten eine starke Blutung im Gehirn und eine Schädelfraktur, die von einem kräftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand an die linke Schläfe herrührte. Die Art des Gegenstandes sei nicht zu bestim186
men, fügten die Gerichtsmediziner hinzu, es könnte sogar eine geballte Faust gewesen sein, möglich sei auch ein Karateschlag mit der Handkante, selbst ein Schlag mit der flachen Hand, wenn der Täter ein kräftiger Mann sei, dessen Hände von anstrengender körperlicher Arbeit verhornt sind. Im Schädel des Toten wurde das Projektil einer Pistole vom Kaliber 6,35 mm gefunden. Dieser Schuß könne ebenfalls den Tod verursacht haben. Um die Einschußstelle sei zwar keine Leukozytose gewöhnlichen Ausmaßes entstanden, allerdings berechtige das nicht zu weitergehenden Schlüssen. Die starke Blutung der Schußwunde bedeute lediglich, daß Pokorný auf dem Boden lag, als er erschossen wurde, und daß große Blutgefäße im Gehirn beschädigt wurden. Es sei allerdings möglich, aber medizinisch nicht nachweisbar, daß ihm erst ein tödlicher Schlag an die Schläfe versetzt wurde, und danach habe man auf ihn geschossen. Man könne annehmen, jedoch nur annehmen, daß zwischen dem Tod, der durch den Schlag verursacht wurde, und dem Schuß in den Schädel kurze Zeit verstrichen sei. Vitale Reaktionen würden sich auch bei Leichen in den ersten Stunden nach dem Tode zeigen. Insgesamt waren es zwei Seiten, auf einer Maschine mit engster Zeileneinstellung geschrieben, aber den Kriminalisten genügte allein der Umstand, daß die Dinge ganz anders verlaufen waren, als sie bisher angenommen hatten. „Ich möchte wagen, Ihnen eine Hypothese anzubieten“, sagte endlich Tomek. „Der Mörder hat Pokorný zuerst erschlagen wollen, aber er war sich des Erfolges nicht völlig sicher. Erst dann entschloß er sich, die Pistole zu benutzen, die er vielleicht deshalb anfangs nicht gebrauchte, weil er dem Schalldämpfer nicht traute und einen Knall befürchtete, eventuell hatte er sie vorsorglich mitgenommen, falls es ihm nicht gelingen würde, 187
Pokorný mit einem Faustschlag zu erledigen, oder als Schutz vor Gegenwehr.“ „Ebenso konnten es zwei Mörder gewesen sein“, erwiderte Matějka, der zutiefst verstimmt war, weil er Tomek an den Ermittlungen teilnehmen ließ und weil sich die Kriminalpolizei vor ihm blamierte, von weiteren Konsequenzen ganz zu schweigen. „Einer hat das mit der Hand besorgt, und der andere hat ihm zur Sicherheit mit der Pistole den Rest gegeben.“ „Wobei beide Täter nicht einmal gleichzeitig erscheinen mußten“, fügte Jarolím hinzu, der Matějkas Gefühle teilte. „Grundsätzlich können wir das nicht ausschließen“, stimmte ihnen Tomek zu, der vorgab, als hätte er die veränderte Stimmung nicht bemerkt. „Könnten Sie das näher erläutern, Herr Doktor?“ forderte ihn Matějka auf. Jarolím versuchte es selbst. „Čížek konnte Pokorný mit bloßen Händen angegriffen haben, daher stammt die Verletzung mit dem stumpfen Gegenstand. Die Holcová war vielleicht im Hinterhalt oder stand nur Schmiere, und weil sich der Zweikampf zu Čížeks Ungunsten entwickelte oder in einem Moment, als sich jemand näherte, oder rein aus Nervosität, hat sie geschossen. Sie hat kein Alibi für den ersten Teil des Abends, aber wir haben keinen Beweis, das ist wesentlicher.“ „Wir müssen diese Möglichkeit im Auge behalten“, sagte der Rechtsanwalt. „Ich würde Myslík ebenfalls nicht völlig ausschließen. Er gesteht den Diebstahl, mag sein. Aber welche Strafe droht ihm bei Mord? Ich erinnere mich an ähnliche Fälle, wo man das kleinere Übel wählte. Lieber lange sitzen als kurz hängen.“ „Aber wenn die anderen Myslíks Aussage bestätigen?“ wandte Matějka mit den Worten ein, die Jarolím schon auf der Zunge lagen. „Das werden wir bald wissen“, sagte Jarolím. 188
„Ich teile Ihren Optimismus nicht“, erwiderte der Rechtsanwalt höflich. „Wenn Sie die anderen durch die Konfrontation mit Myslíks Aussagen in die Enge treiben, werden sie ihn zweifellos mit allen Kräften belasten. Als ob die Losung lautete: An allem ist Myslík schuld! Darauf kommt auch ein Dummer. Sie müssen beweisen, daß er wirklich an dem gestrigen Diebstahl beteiligt war und ein Alibi besitzt. Die anderen Diebestaten schließen den Mord nicht aus.“ Es war still geworden. Jarolím hatte einen schlechten Tag, er war nicht in Form und wußte nicht, was er Tomek entgegnen sollte. Ihm war nur die Verkehrtheit der Situation bewußt, da ein Rechtsanwalt die Beweise der Verteidigung zerschlug und die Kriminalisten die Unschuld eines potentiellen Mörders zu beweisen hatten. Auch Matějka war nicht wohl zumute, obwohl er gerade eine lange gesuchte Diebesbande gefunden hatte. Jetzt wurden auf seine Anordnung hin die Lieferscheine an den Ständen und in den Obstgeschäften überprüft. Myslík, Čížek, Holcová, überlegte Jarolím angestrengt. Unwillkürlich dachte er daran, welchen Eindruck er von ihnen gewonnen hätte, wenn sie Mitreisende in einem Zugabteil gewesen wären. Der feiste Myslík sah aus wie ein regelmäßiger Besucher von Bierkneipen. Václav Čížek wirkte wie ein ehemaliger Leistungssportler, der sich immer noch fit hielt. Und Vlasta Holcová war auf den ersten Blick einfach eine schöne Frau. Von diesen dreien konnte einer der Mörder sein. Zwei von ihnen hatten schon Erfahrungen mit der Kriminalpolizei. Während der Jahre im Strafvollzug hatten sie außerdem manches Nützliche von ihren Mitgefangenen erfahren. Wenn tatsächlich einer von ihnen der Mörder war, rechnete er mit weiteren Vernehmungen und hatte sich mehrere Varianten zur Defensive ausgedacht. Myslík besaß nicht diese Erfahrungen, aber planen hatte er in aller Ruhe können. 189
Jarolím kam sich eine Weile hilflos vor. Er war es nicht allein. Als das Telefon klingelte, wollte niemand nach dem Hörer greifen. Was nutzte es, wenn unter der Beweislast noch jemand gestand, an dem Diebstahl beteiligt gewesen zu sein?
10 Zur Dokumentation des Falles Pokorný kamen zwei weitere Zeugenprotokolle hinzu. Der Zeuge hieß Lájoš Čongrády, die Zeugin Anna Hartlová. Sie waren beide Stadtreiniger, was früher verständlicher Straßenkehrer hieß. Vor einer Stunde waren sie bei ihrer Arbeit in die Ječná ulice gelangt. Die Hartlová saß am Lenkrad eines Multicar, Čongrády kippte Papierkörbe auf die Ladefläche aus. Es wird für immer unbeantwortet bleiben, ob sich der sechsmal vorbestrafte Čongrády und die Hartlová mit einer ebenfalls keineswegs blütenreinen Vergangenheit zu ihrer Tat wirklich aus Ehrlichkeit entschlossen, wie sie versicherten, ob sie sich nicht einigen konnten oder ob jemand zugesehen hatte, so daß sie aus der Not eine Tugend machten. Sie saßen da und blickten auf Matějka, der eine abgegriffene lederne Brieftasche öffnete. In einer Seitentasche steckten Petr Pokornýs Personalausweis und Führerschein sowie die Fahrzeugpapiere von zwei Autos, seinem Felicia und Tomeks Renault. Das Fach für kleine Geldscheine war jedoch leer. Matějka blickte die Zeugen forschend an. „Wir stehlen nicht“, sagte Čongrády mit deutlich slowakischem Akzent, „da wären wir nicht hier, Herr Major.“ „Gucken Sie mal hinten in die große Geldtasche, Herr 190
Kriminalrat“, versuchte es die Hartlová mit einem anderen, Matějka ebenfalls nicht zustehenden Titel. Matějka faßte hinein und zog vier Hundertkronenscheine hervor. „Danke“, sagte er überzeugt. „Erinnern Sie sich genau, aus welchem Korb Sie das ausgekippt haben?“ „Natürlich“, versicherte Čongrády, wobei er seine langen gelben Zähne zeigte. „Im ersten nach der Querstraße, wie heißt sie bloß? Tůně-Straße!“ „Haben Sie in dem Korb noch etwas anderes gefunden?“ „Nur normalen Dreck“, teilte Čongrády mit, „lauter Mist, Geld keins.“ Matějka überlegte schnell, wen er sich für lange Zeit zum Feinde machen könne, indem er ihm befahl, alles gründlich zu betrachten, was die Hartlová und Čongrády auf ihrem Multicar gesammelt hatten. Wenn ihm vielleicht unverdientermaßen das Glück wohlgesinnt war, das Glück, das sich nach einem tschechischen Sprichwort bei jedem niederläßt, weil es sich einmal ausruhen muß, würde er auch den weggeworfenen Schalldämpfer mit Fingerabdrücken finden. Aber eher würde jemand eine Stunde lang unappetitliche Arbeit verrichten müssen. Romantik gibt es eben in der kriminalistischen Praxis kaum, sagte er sich und nahm den Hörer ab, um den unvermeidlichen Befehl zu erteilen. „Wo haben Sie Ihren Wagen?“ „Direkt hier vorm Haus“, antwortete die Hartlová, und sie schilderte, wie sie mit wildem Rattern geradewegs aus der Ječná zur Polizei gerast wären. „Was sagt dir das, Rotfuchs?“ fragte Jarolím, als das kurze Protokoll abgefaßt war. Matějka blickte schweigend auf den Hof. Auf dem Asphalt war die gesamte Wagenladung ausgebreitet, und zwei Männer wühlten sie durch. Čongrády stand mit verschränkten Armen daneben und gebärdete sich, als 191
hätte er darüber das Kommando. Seit seinen Tagen als Gefreiter hatte er wohl keine schönere Stunde erlebt. „Wenig“, antwortete Matějka. „Und dir?“ „Wenigstens können wir vermuten, in welcher Richtung der Mörder gegangen ist. Nicht hinunter zum ‚Kleinen Bären‘, sondern gerade umgekehrt hinauf zum Platz, also auch zur Metrostation.“ „Du hörst einfach nicht auf, an Marta Pokorná zu denken, nicht wahr?“ „Was kann man sonst daraus ableiten?“ „Einen Moment“, fiel Tomek ein, „nehmen Sie an, daß Marta Pokorná ihren Schwager mit der bloßen Hand erschlagen konnte? Erinnern Sie sich an den Obduktionsbefund! Ich habe sie gesehen, die Figur einer Karatekämpferin hat sie nicht.“ „Fassen wir zusammen“, sagte Matějka. „Petr Pokorný wurde durch einen Schlag an die Schläfe getötet, das heißt, er wurde niedergeschlagen, und danach hat man ihn in den Schädel geschossen. Die umgekehrte Reihenfolge wäre Unsinn. Der Täter hat die Klinke deines Wagens herausgerissen“, wandte er sich an Jarolím, „die Leiche aufgehoben und auf den Rücksitz gelegt. Dazu braucht man außer Nerven auch ziemlich viel Kraft. Also sollten wir Frau Pokorná lieber vergessen. Nach der Blutlache ist zu schließen, daß Pokorný auf dem Boden lag, als geschossen wurde, und zwar neben dem Renault, den er reparieren wollte, und neben der Montagelampe. Die Lampe war jedoch ausgeschaltet.“ „Entweder ist der Mord bei Tageslicht verübt worden, und Pokorný hatte noch kein Licht gemacht, oder der Täter hat die Lampe ausgeknipst“, fuhr Jarolím fort. „Moment“, griff Tomek ein, „welcher Täter? Der erste oder der zweite? Ich halte es für das wahrscheinlichste, daß der erste Pokorný dort liegenließ, während die Lampe brannte, der zweite hat ihn dann am Wagen liegen sehen, als er über den Hof lief. Weil seine Nerven 192
bis zum äußersten gespannt waren, dachte er, Pokorný suche einen Fehler unter meinem Auto, und hat gleich geschossen. Ohne Licht hätte er ihn in der dunklen Ecke kaum erkannt. Er hat dann die Leiche in Ihren Wagen gesteckt, damit sie nicht gleich gefunden wurde, und die Tat ungeschickt als Selbstmord arrangiert.“ „Gut“, sagte Jarolím. „Und wer hat aus Pokornýs Jacke, die an der Garagentür hing, die Brieftasche genommen? Und warum hat er sie weggeworfen?“ „Er hat vielleicht etwas gesucht und gefunden.“ „Oder es sollte wie ein Raubmord aussehen. Die vierhundert Kronen hat er in der Panik übersehen“, sagte Jarolím. „Meine Verehrten, wir vergeuden unsere Zeit“, erklärte Matějka. „Immerhin haben wir festgestellt, daß Čížek mit Pokorný eine alte Rechnung zu begleichen hatte, und seltsamerweise hat er ihn nach seiner Entlassung angeblich nicht gesehen, obwohl er eine Arbeit in dem Werk gefunden hat, wo Pokornýs Bruder ein ziemlich hohes Tier ist. Zweitens brauchte er Geld, um das Kostüm für seine Herzensdame zu kaufen. Er hatte hundert Kronen bei sich, konnte also in der Gaststätte bezahlen, aber tat so, als sitze er ohne einen Heller da, und rief die Holcová an. Warum, wenn nicht deshalb, um sich für die künftigen Stunden ein Alibi zu sichern? Er konnte nicht wissen, wann der Tote im Octavia gefunden wird. Wenn ich noch die geringe Entfernung vom Tatort bedenke, ist mir alles klar, und ich weiß, was ich jetzt tun werde.“ Irgendeinen Blödsinn, dachte Jarolím. „Und was?“ fragte Tomek leise. „Er wird ständig observiert“, antwortete Matějka. „Ich lasse ihn einfach festnehmen, und wenn er alle fünf Sinne beisammen hat, gesteht er lieber. Ich glaube nicht an zwei Täter, er hat Pokorný erschlagen und danach sicherheitshalber erschossen.“ 193
„Und wenn er nicht gesteht?“ wandte der Rechtsanwalt ein. „Das ist sein Problem“, antwortete Matějka verbohrt. „Mich betrifft das nicht mehr.“ „Ich wage zu bezweifeln, daß der Staatsanwalt den Fall überhaupt annimmt. Und vor Gericht? Herr Kollege, ich werde Čížek nicht verteidigen und werde für mich behalten, was ich hier gehört habe, aber handeln Sie nicht voreilig. Sie müssen zuerst beweisen, daß Čížek und Pokorný einander nicht mochten. Beweisen! Daß es mehr als eine Aversion war, also Todfeindschaft. Wird Ihnen das gelingen? Wie? Čížeks Arbeitsstelle bei Stavex, wo Pokornýs Bruder arbeitet, ist lediglich ein Zufall ohne jeden Beweiswert. Er brauchte Geld? Sie werden vielleicht sagen, daß er von Pokorný alte Anteile einfordern, erpressen oder erbitten wollte. Das klingt sehr wahrscheinlich, Sie brauchen nur noch den Beweis, und schon haben Sie das erste Indiz. Nur ein Indiz, leider. Ihr Procházka mag überdurchschnittlich gewitzt sein, doch die Aussage der fast siebzigjährigen Tabakverkäuferin zerpflückt Ihnen jeder Verteidiger so, daß nichts übrigbleibt, zufälligerweise kaufe ich auch dort. Ein zwangloses Gespräch am Ladentisch ist eine Sache, eine Aussage unter Eid eine andere. Wenn die Alte Čížek identifizieren sollte und das Gericht ihr glaubt, bleibt immer noch die Möglichkeit, daß er Vlasta Holcová ausnutzt und sich sogar ein Abendbrot und neun Bier bezahlen läßt. Das ist zwar kein schöner Zug von ihm, wäre aber für den Fall belanglos. Die Entfernung zum Tatort nutzt ein intelligenter Verteidiger gegen Ihre These aus. Der Mörder kann sonstwo beim Bier sitzen und mit einem Taxi hinfahren, beispielsweise. Sonst müßten Sie beweisen, daß Čížek eiserne Nerven besitzt. Auch dann werden Sie kaum weiterkommen. Wie wollen Sie beweisen, daß die Pistole ihm gehört? Wie erklären Sie, daß die Brieftasche an einer Stelle gefunden wurde, die nicht 194
auf dem Wege zur Gaststätte liegt? Panik? Bitte, aber wo sind dann die eisernen Nerven?“ Jarolím verfolgte ein bißchen schadenfroh, wie Tomek Matějkas schöne Konstruktion einriß. Bevor er etwas vorschlagen konnte, sagte Matějka: „Herr Doktor! Bei aller Achtung sage ich Ihnen, daß ich mir von heute an Rechtsanwälte vom Leibe halte!“ „Warum denn?“ wunderte sich Tomek. „Seien Sie froh, daß ich hier bin. Können Sie sich vorstellen, was für perfekte Arbeit Sie leisten würden, wenn Ihnen immer ein Rechtsanwalt über die Schulter sähe?“ Matějka lächelte mehr diplomatisch als versöhnt. „Dann wären Ihre armen Klienten vor Gericht zu bedauern!“ „Vielleicht“, sagte Tomek. „Es gäbe aber weniger problematische Anklagen.“ „Rotfuchs“, ließ sich Jarolím vernehmen, „du bist heute der Chef. Wenigstens etwas könntest du tun, was ich vorschlage. Laß Pavel Pokornýs Sekretärin holen. Und möglichst bald, in zwanzig Minuten ist dort Dienstschluß. Pokorný braucht das nicht zu wissen.“ Matějka war Jarolíms Freund, und er war nicht arrogant. Auch die angeborene Vorsicht verwehrte ihm, den Vorschlag abzulehnen, zumal er selbst nicht weiter wußte. Er griff sogleich zum Telefon. „Was erhoffst du dir davon?“ fragte er, um vor Tomek das Gesicht zu wahren. Es sollte nicht so aussehen, als unterwerfe er sich gefügig Jarolíms Weisungen. „Die Verhältnisse bei Stavex könnten uns mancherlei bringen“, antwortete Jarolím ausweichend. Matějka zuckte nur die Schultern und ordnete an, daß sogleich ein Fahrzeug mit zivilem Kennzeichen nach Karlín fahren solle, um die Sekretärin höflich und diskret zu einem Besuch der Kriminalpolizei aufzufordern. Viel versprach er sich nicht davon. Er nahm an, daß Ja195
rolím in seiner heiklen Lage einfach nach allem griff, was ihm einfiel. Ihm selbst fiel nichts ein, vielleicht deshalb, weil ihn Tomeks Anwesenheit nervös machte. Jarolím nahm seine Umgebung kaum wahr. Die Hypothese, die er gerade entwickelte, wollte er nicht vor Tomek vortragen. Der Rechtsanwalt kam ihm trotz aller höflichen Liebenswürdigkeit wie ein gefürchteter Examinator vor, bei dem er schlecht vorbereitet zur Prüfung erschienen war. Auch unter anderen Umständen hätte sich Jarolím gesagt, daß noch Zeit sei, seine Vermutung auszusprechen. Matějka konnte Hypothesen mit einem ironischen Satz vom Tisch fegen. Tomek betrachtete die beiden jungen Kriminalisten und verbarg sorgsam seine Befürchtungen. Er unterschätzte weder Matějka noch Jarolím. Der eine war ihm zu trocken und nüchtern, aber aus Erfahrung wußte er, daß solche ausdauernden Pedanten am Ende jedes Knäuel entwirren. Den anderen hielt er für einen leicht verrückten Phantasten, der jedoch so viel Energie besaß, daß er einmal auf die richtige Lösung kommen mußte. Hier spielt aber auch die Zeit mit, sagte sich der alte Rechtsanwalt. Schaffen sie es, oder, besser gesagt, schaffen wir es, bevor …? Er war sich am meisten klar darüber, welches Gewicht ein Satz haben kann, der mit dem Wörtchen „bevor“ beginnt.
11 Die Kriminalisten waren nicht völlig zur Untätigkeit verurteilt. Es kamen ununterbrochen Meldungen. Vorläufig war nur nicht zu erkennen, welche sich später als besonders inhaltsreich und bedeutsam erweisen würde. Das Bild der Diebesbande nahm immer festere Konturen an. Auch zwei beteiligte Fahrer und sieben Obst196
verkäufer an Straßenständen waren schon vernommen worden. Jetzt ging es nur noch um Details, von der neuen Verplombung der ausgeraubten Waggons bis zur Aufteilung der Beute. Auch die Beobachter meldeten sich. Der junge Mann hatte endlich sein Motorrad repariert, und weil er ihm offenbar nicht traute, fuhr er nicht schneller als die Straßenbahn, in die Vlasta Holcová eingestiegen war. In Sichtweite hinter ihm hielt sich ein dunkelgrauer Škoda, gelenkt von einem Mann, der das Motorrad beobachtete. Niemand konnte die Funkanlage des Škoda bemerken, und das junge Paar, das später in die Straßenbahn zustieg, war auch völlig unauffällig. In einer anderen Straßenbahn, die ins Zentrum fuhr, lasen mehrere Fahrgäste die erste Ausgabe des Abendblattes. Dazu gehörten auch Václav Čížek und sein Beschatter, allem Anschein nach ein fanatischer PopmusikFan, der keinen Schritt ohne seinen Kassettenrecorder tat. Wer konnte erkennen, daß es ein Sender war? Ein anderer Observator kaufte gerade in einer Kaufhalle in Kačerov ein. Er ging durch alle Reihen und hatte an der Kasse nur ein Päckchen Zwieback im Korb. In der gleichen Zeit hatte Marta Pokorná den Einkauf für die ganze Familie erledigt. Ein weiterer Mann langweilte sich schon eine Viertelstunde, während er den Eingang des Stavex-Bürogebäudes beobachtete. Pavel Pokorný, den er noch nie gesehen hatte und trotzdem nicht übersehen durfte, erschien nicht. Er blieb wie üblich nach der Arbeitszeit in seinem Büro. Der Mann lebte auf, als ein Wagen mit einer bekannten Nummer anhielt. Zwei Bekannte stiegen aus und gingen ins Haus. Kurz darauf kamen sie mit einer Frau in mittleren Jahren wieder und fuhren los. Eine Verhaftung? Ihn hatten nur Dinge zu interessieren, die mit seinem Auftrag zusammenhingen. Er wußte nicht, daß es Pavel Pokornýs Sekretärin war, in der weibliche 197
Neugier und die Besorgtheit der Hausfrau miteinander rangen. Bisher hatte sie Kriminalisten nur im Fernsehen gesehen. Sie war freudig erregt, vergaß jedoch nicht, darüber nachzudenken, was und wo sie einkaufen sollte. „Wir werden Sie nicht lange aufhalten, Frau Nováková!“ Mit diesen Worten verstimmte Matějka die Frau gleich nach der Begrüßung, denn gegen ein Aufhalten, wenn es nur interessant wäre, hatte sie gar nichts einzuwenden. „Seit einiger Zeit ist in Ihrem Betrieb ein gewisser Jaromír Semrád beschäftigt, der einmal straffällig war. Es liegt nichts gegen ihn vor, aber Sie werden verstehen, daß wir solche Leute im Auge behalten. Kennen Sie ihn?“ „Freilich kenne ich ihn“, antwortete stammelnd die Sekretärin. Sie erinnerte sich zwar kaum an den Mann, aber sie wollte nicht gleich dankend verabschiedet werden. „Semrád ist eigentlich dein Fall“, wandte sich Matějka an Jarolím. Das ist eine Gemeinheit, zu der nur Matějka fähig ist, dachte Jarolím. Er mußte jetzt die Frau mühsam über einen Mann befragen, von dem er nur den Namen wußte, und stellte fest, daß es ihr ebenso erging. Das Interesse an Semrád war nur ein Rauchvorhang, der das Interesse an Václav Čížek verhüllte. Für Marie Novákovás Schweigsamkeit konnte sich niemand verbürgen. „Dann arbeitet bei Ihnen noch einer, Václav Čížek“, sagte Matějka. „Der hat doch erst neulich angefangen.“ „Kennen Sie ihn? Ist auch alles in Ordnung?“ „Jetzt schon.“ „Vorher nicht?“ „Das weiß ich nicht genau, er arbeitet in einer Außenstelle bei der Wartung, das gehört zu einer anderen Abteilung. Vielleicht wollten sie ihn in der Probezeit entlassen, die läuft übrigens immer noch. Unser Chef 198
hat sich aber bei der Kaderleitung für ihn eingesetzt, und da haben sie ihn behalten.“ „Ihr Chef? Ihn betrifft doch die Wartung gar nicht.“ „Čížek ist zu ihm gekommen, also zum Chef. Danach hat der Chef den Kaderleiter angerufen.“ „Was hat er gesagt?“ Frau Nováková schwankte, ob sie antworten solle. Jarolím verstand das und griff in die Befragung ein. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Čížek, an den Satz, daß inzwischen alles „erledigt“ sei. Wie so oft bluffte er. „Reden Sie ruhig, Frau Nováková. Meinen Sie, wir wissen nicht, daß Sie die Gespräche Ihres Chefs auf dem zweiten Apparat mithören?“ Der pedantische Matějka, der nur Berechnungen, Statistiken und graphische Darstellungen kannte, hätte nie gewagt, so etwas zu sagen. Er wandte sich unwirsch um, aber Jarolím signalisierte ihm mit einem Augenzwinkern, daß er gut wisse, was er tue. „Manchmal durch Zufall …“, bekannte Frau Nováková, erstaunt über die Allwissenheit der Kriminalpolizei, und errötete schamhaft. „Natürlich“, beschwichtigte sie Jarolím. „Wir werden Sie nicht anschwärzen. Man hält eben einfach den Hörer in der Hand und vergißt, gleich aufzulegen, nicht wahr? Was hat er gesagt?“ „Er hat mit Kudrna gesprochen, das ist unser Kaderleiter … daß das mit Čížek nicht so brennt und warum er nicht im Betrieb bleiben kann und daß ihn, also Pokorný, jemand falsch informiert hat.“ „Und Kudrna?“ „Der hat bloß was gesagt wie meinetwegen, wir legen die Sache vorläufig auf Eis.“ „Hatte Čížek danach keine Schwierigkeiten mehr?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ Marie Novákovás Aussage wurde nicht einmal protokolliert. Die Frau war nur durch das Versprechen, als 199
Entschädigung für ihre verlorene Zeit nach Hause gefahren zu werden, zum Gehen zu bewegen. Jarolím versäumte nicht, für die Zeugin einen Wagen mit Blaulicht anzufordern, damit sie wenigstens ein bißchen Polizeiromantik genoß, weil sie so sichtlich enttäuscht war. Kurz darauf kam die Meldung, daß sich Čížek und die Holcová in einem Bistro auf dem Karlovo náměstí getroffen hatten. „Interessiert dich Pavel Pokorný immer noch nicht, Rotfuchs?“ fragte Jarolím. „Mit Čížek hatte er bestimmt irgend etwas zu tun, aber was weiter?“ „Frag lieber, was zuvor war!“ schrie Jarolím beinahe. „Nach dem Tode der Mutter haben die beiden Brüder die Villa geerbt. Glaubst du, daß Marta Pokorná davon sehr begeistert war?“ „Ganz bestimmt nicht“, bemerkte Tomek. „Das schwarze Schaf der Familie“, fuhr Jarolím fort, „und auf einmal ist ein Komplize in dem Betrieb beschäftigt, wo Pavel Pokorný einen leitenden Posten innehat. Was hat Pokorný eigentlich für ein Alibi? Zwei Telefongespräche, eines aus seinem Arbeitszimmer oder unbeweisbar, ebensogut konnte er irgendwo aus einer Zelle anrufen, und das andere bestätigt nur seine Frau.“ „Ich will mich nicht streiten“, sagte Matějka müde. „Was sagen Sie dazu, Herr Doktor?“ „Pavel Pokornýs Telefonate? Das beweist wenig, aber er braucht nichts zu beweisen, im Unterschied zu Ihnen, Herr Kollege. Selbst der Umstand, daß er gegen Čížeks Einstellung interveniert und dann das Gegenteil davon tat, hat keinerlei Beweiskraft. Sicher begreifen Sie, daß Sie mit solchen Indizien nicht vor die Öffentlichkeit treten können.“
200
12 An einem Tischchen im Bistro saßen bei Kaffee und Juice zwei junge Leute, dem Aussehen und Benehmen nach offenbar Studenten. Er schmierte ihr ständig komplizierte Formeln aus der organischen Chemie in einen Block und würzte die Erklärungen mit Anekdoten über Professoren, sie bekannte, daß sie eine Prüfung verschieben müsse, weil sie wahrscheinlich mit Schimpf und Schande durchrauschen würde. Der Student hatte diese Prüfung schon ein Jahr hinter sich, war sich jedoch seiner didaktischen Fähigkeiten nicht sicher und verließ sich auf die Hilfe eines offenbar phänomenal begabten Honza, der durchaus nicht kommen wollte. Niemand merkte, daß die Studentin ihrem Partner gar nicht zuhörte und das Gespräch des Paares am Nebentisch mitstenografierte, soweit die Worte im Lärm zu erfassen waren. Ein Recorder war zu diesem Zweck nicht brauchbar. Von Zeit zu Zeit gingen der Student oder die Studentin hinaus, um nach ihrem Honza auszuschauen. Dort übergaben sie die Stenogramme einem Mann, der geduldig auf eine Straßenbahn wartete. Von ihm wanderten die Blätter zum Fahrer eines in der Nähe parkenden Škoda. Der Fahrer entzifferte die Aufzeichnungen und schaltete dann die Funkanlage ein. Václav Čížek und Vlasta Holcová am Nebentisch beschäftigten sich nicht mit organischer Chemie. Vielmehr ging es um Geld, irgendwelches Geld, das er an dem Tag bestimmt bekommen sollte und das zu ihrem Verdruß wohl nicht mehr zu erwarten war. Die Aufzeichnungen der Studentin sahen ungefähr so aus. Sie: Sie müssen einen Grund haben, warum sie zu dir kommen. Wegen nichts und wieder nichts kreuzen sie nicht in meiner Wohnung auf und fragen mich irgendwelchen Quatsch von gestern.
201
Er: Das machen sie bei jedem, der aus dem Knast kommt. Sie: Bei mir nicht, und ich war zweimal drin. Er: Das kriegst du nicht immer zu wissen. Danach machte die Studentin einen langen Strich. Sie saß wenige Meter von der Musikbox entfernt, und ein Gast hatte nichts Besseres zu tun, als eine Münze einzuwerfen und das lärmendste Stück aus dem Repertoire auszuwählen. Die Studentin resignierte einen Moment, verwandelte den Strich in eine Notenlinie und schrieb die Melodie auf. Ihr Partner erklärte ihr indessen die Bedeutung einer komplizierten Säure. Sie: Das war deine Idee, ich will nichts von dir haben. Heute bist du blank, also spiel dich nicht als Freier auf. Er: Pech ist Pech, aber das geht vorbei. Sie: Ich brauche das gar nicht. Er: Brauchst du mich überhaupt? Sie: Wahrscheinlich nicht, wenn ich das so sehe. Du quatschst zuviel. Er: Ich? Das darfst du nicht sagen. Was denn? Sie: Du weißt schon. Er: Du spinnst. Sie: Warum hat dann der Bulle die Kammertür aufgemacht? Er ging gleich drauf zu. Der mußte doch von jemandem wissen, daß du dort hockst. Er: Das ist ein Zufall. Sie: Ich habe gehört, was er gesagt hat. Er: Und was? Er hat einen Stuhl gesehen. Sie: Eben. Er: Also was hat er gesagt? Sie: Eine Wachstube, du Dämlack du! Der Student erzählte von einem Professor für organische Chemie, den bei jungen Männern jede Abweichung
202
von konservativer Kleidung empörte, hingegen hätte ein kürzeres Kleid oder ein größerer Ausschnitt noch keinem Mädchen geschadet. Leider sei er damit nicht zufrieden, er verlange auch noch Kenntnisse in Chemie. Nun sang Karel Gott aus voller Kehle, und der Student überlegte hilflos, wie er den blitzenden Schrein, der mit Lärm vollgestopft war, unschädlich machen könnte. Ihm fiel nichts Vernünftiges ein. Sie: Das Geld laß meine Sorge sein. Dich habe ich für was anderes. Wenn dir das nicht paßt, spuck’s aus und hau ab. Er: Ist was passiert? Hat bei dir immer alles hundert Prozent geklappt? Sie: Ich weiß Bescheid. Du bist nun mal ein Pechvogel und ein Stümper. Wenn du dir einen Zwerg kaufst, ist er bestimmt am nächsten Morgen gewachsen. Jeder Tscheche ein Musiker, Böhmen das Konservatorium Europas, fluchte der Student im stillen. An der Musikbox dachte wiederum jemand, daß ihm ohne Dezibel traurig zumute wäre. Dieser Musikfreund bevorzugte eine Polka. Sie: Zur Parade halte ich dich nicht! Allein wirst du dich in nichts einlassen. Du machst, was ich dir sage, und zerschlägst bloß dem die Fresse, den ich dir zeige. Mehr nicht, verstanden? Er: Paß auf, daß ich nicht dir die Fresse zerschlagen muß! Der Student ging bei einem Liedchen Hana Zagorovás hinaus, um wieder nach Honza Ausschau zu halten. Dann kaufte er sich an der Theke Zigaretten. Dabei ließ er den Blick gleichgültig zum Tisch am Fenster gleiten. Er hatte sich beide Gesichter schon verläßlich eingeprägt, schließlich war er ein Profi. Plötzlich bemerkte er, wie sich Vlasta Holcovás Miene veränderte. Dafür wußte 203
er keine Erklärung, es war wie bei einem Film, wenn der Ton ausgefallen ist. Eine richtige Megäre, beurteilte er die Frau. Ihr Gesicht zeigte jedoch nicht nur Wut. Es war noch etwas anderes. Angst. Sie: Hast du wieder irgendwo was mitgehen lassen, oder hast du einen umgebracht? Er: Noch ein Wort, und ich verpasse dir ein Ding, daß du vom Stuhl kippst. Sie: Das ist das einzige, was du kannst! Er: Hör auf damit! Noch ein Wort, dann reicht’s, reiz mich nicht! Wenn ich jemanden … Sie: Wen denn? Gib ruhig an! Čížek zahlte und gab mit herrschaftlicher Geste sieben Kronen Trinkgeld. Als er aufgestanden war, half er seiner Begleiterin galant in den Mantel. Die Studentin begutachtete anerkennend die erstklassige Garderobe der Frau. Einen Augenblick blieb sie noch sitzen, während Čížek und Vlasta Holcová schon den Raum verließen, nach außen hin gelassen und sorglos. Auf dem Gehsteig folgte ihnen der Mann, der sich immer noch nicht entschieden hatte, welche der sieben Straßenbahnlinien er benutzen sollte. Mit einer Verzögerung von nur wenigen Minuten gelangten alle Aufzeichnungen der Studentin abgeschrieben in Matějkas Büro. Sie gingen von Hand zu Hand, weil ihr Inhalt das Geheimnis des ganzen Falles bergen konnte. „Das genügt Ihnen immer noch nicht?“ fragte Matějka nervös. „Als Hilfsmittel für die Vernehmung schon“, urteilte der Rechtsanwalt trocken. „Sie müssen aber beweisen, daß Ihre Zeugin in dem lauten Raum wirklich alles unverstümmelt gehört hat.“ „Wenn Sie nicht dauernd so recht hätten!“ erleichterte sich Matějka. 204
Seine Depression wurde durch schnell aufeinanderfolgende Enttäuschungen vertieft. Wozu griff er mit unverhohlener Gier nach einem Zettel, auf dem lediglich stand, daß Pavel Pokorný noch immer in seinem Büro saß? Was brauchte er zu wissen, daß Marta Pokorná den Garten sprengte? Er erfuhr also nur, daß seine Leute an ihrem Platz waren – wo sonst sollten sie sein? Zu alledem waren auch die Ermüdungen über den Diebstahl festgefahren. Die Aussagen über Myslík widersprachen sich. Er konnte nicht zugleich beim Ausrauben der Waggons helfen und auf der Straße Schmiere stehen. Wer log mehr, Myslík oder seine Komplizen? Hatte er keine Zeit, in die Tůně-Straße und zurück zu gelangen? Wie ein Gefangener in der Zelle ging Matějka von einer Ecke zur anderen. Tomek las in Ermangelung einer besseren Tätigkeit immer wieder den Obduktionsbefund. Jarolím erging es noch schlimmer. Er erschöpfte seine ganze Energie allein mit dem Vorspiegeln von Ruhe. Ihm kam es vor, als hätten sie schon die Lösung des Falles vor Augen gehabt, aber irgendwie war sie ihnen entglitten, in einem Wust von Meldungen und Erwägungen untergegangen. Alles zeugte davon, daß der Tag sogar viel schlechter enden würde, als er begonnen hatte. Wenn es ganz schlimm kommt, dachte er mit Galgenhumor, kann Matějka auch mich als Mordverdächtigen einsperren. Nicht nur das, dieser Tag würde ohnehin höchst unangenehme Folgen haben. Malheur und Mißerfolg sind tragbar und verzeihlich, wenn alles nach Vorschrift verläuft; er wollte lieber nicht daran denken, wie oft sie diese ignoriert hatten. Nur ein eindeutiger und unbestrittener Erfolg kann Sünden wider die strengen Regeln rechtfertigen, wie sie zum Beispiel die Mitarbeit eines Außenstehenden war. Das wußte natürlich auch Matějka, und selbst Tomek sah, daß Unannehmlichkeiten auf ihn zukommen würden. Da betrat der Fahrer des grauen Škoda das Zimmer. 205
Jeder hat einmal einen schwachen Moment. Matějka fiel im ersten Moment der feige Gedanke ein, daß Unfähigkeit und Disziplinlosigkeit von Untergebenen eine Entschuldigung für ihn sein könnten. Er schämte sich gleich dafür, nachdem er wie ein Feldwebel den Mann angeschrien hatte: „Was machen Sie denn hier?“ Der Mann nahm Habachtstellung ein. Gewöhnlich brauchte er bei Matějka nicht strammzustehen, aber er hatte schon ein paar Dienstjahre hinter sich und spürte, daß Vorsicht nie schaden könnte. „Wir haben Festgenommene gebracht“, meldete er Matějka.
13 Nachdem Vlasta Holcová und Václav Čížek das Bistro verlassen hatten, wurden sie weiter beobachtet. Das übernahmen jetzt zwei neue Männer. Der Student und die Studentin sollten zurückkehren, um die Erfüllung ihrer Aufgabe zu melden. Sie hielten sich nur wenige Minuten am Karlovo náměstí auf und wurden somit Zeugen einer unerwarteten Szene. Die Straße überschritten Čížek und seine Begleiterin noch ruhig. Kaum hatten sie jedoch den Park betreten, brach zwischen ihnen erneut ein Streit aus, der sich schnell zuspitzte. Der Beobachter überlegte, ob er den Grund des Streits feststellen solle, was freilich auch bedeutete, daß er dann die Observation aufgeben müßte, oder ob er warten könne, wie sich die Ereignisse weiter entwickeln. Obwohl er geschult war, sich schnell zu entscheiden, konnte er sich nicht entschließen. Er sah, wie Vlasta Holcová stehenblieb und Čížek eine kräftige Ohrfeige gab. Čížek stand einige Sekunden starr da, hielt noch einen weiteren Schlag aus und packte dann die 206
Frau mit beiden Händen am Hals. Ob er sie loslassen, würgen oder zu Boden werfen würde, wußte der Beobachter nicht. Er trat zu ihm, da er nicht zulassen durfte, zum passiven Zeugen einer schweren Straftat zu werden. „Jetzt ist es genug, hören Sie auf!“ befahl er energisch. Čížek blickte sich flüchtig nach ihm um. Er sah einen langhaarigen, schmächtigen Burschen von Anfang Zwanzig, der eine volle Einkaufstasche trug, und meinte einen solchen Rotzbengel nicht fürchten zu brauchen. „Hau ab, du Lausejunge!“ zischte er und schüttelte wieder sein Opfer. Vielleicht hatte er nur unwillkürlich den Kleiderkragen ein bißchen angezogen, Vlasta Holcová japste nach Hilfe. Die Mütter, die mit Kinderwagen das Purkyně-Denkmal umkreisten, blieben entsetzt stehen. „Im Namen des Gesetzes, hören Sie sofort auf!“ Čížek hatte sich schon entschieden, den Auftritt zu beenden. Er schleuderte die Frau wie einen Lappen ins Gesträuch und ging zum Angriff auf den Frechling über, der es gewagt hatte, ihn zu ermahnen. „Ich werde dir das Gesetz zeigen!“ schrie er und holte mit der Rechten aus. Hätte die Faust tatsächlich den vermeintlichen grünen Jungen getroffen, wären ihm mehrere Zähne ausgeschlagen worden, vielleicht wäre sogar der Kiefer gebrochen gewesen. Den grünen Jungen hatte man jedoch vorzüglich ausgebildet, selbst gefährlichsten Angriffen zu begegnen. Er packte die ausgestreckte Rechte und beschleunigte mit einem Ruck den Schwung des Angreifers. Čížek stürzte auf den staubigen Asphalt. Bevor er aufstehen konnte, waren seine Arme schon nach hinten gedreht, und auf dem Rücken schnappten Handschellen zu. Danach zeigte ihm der langhaarige Bursche seinen Dienstausweis. Bisher hatte Čížek offenbar nicht gewußt, was alles in einer gewöhnlichen Einkaufstasche enthalten sein kann. 207
Um Vlasta Holcová, die sich gerade im Gebüsch aufrappelte, bemühte sich der andere Observator. Sie ergab sich ohne Widerstand. Auch Čížek ließ sich gehorsam zu einem Auto führen, das vor dem ehemaligen Jesuitenkollegium parkte. Ein Wagen für die Frau wurde per Funk herbeigerufen, vom Moldauufer kam ein Streifenwagen der Verkehrspolizei. Die Mütter mit Kinderwagen strömten zuhauf, und einige Wochen war für Gesprächsstoff und den Neid derjenigen gesorgt, die dieses Schauspiel versäumt hatten. Matějka ließ Čížek sogleich vorführen, Čížek hatte den ersten Schreck über die unerwartete Festnahme schon überwunden, jedoch nicht vermutet, bei der Polizei bekannte Gesichter wiederzusehen. „Vorzustellen brauchen wir uns nicht mehr“, empfing ihn Matějka, „und wir brauchen auch keine überflüssige Zeit zu verlieren. Wie war das, als Sie ihm eine verpaßt haben und er nicht mehr aufgestanden ist?“ „Wer?“ „Noch eine solche Antwort, und wir vernehmen nur Zeugen. Sie werden dann einfach mit den Aussagen konfrontiert, und mildernde Umstände können Sie in den Wind schreiben. Vielleicht wissen Sie, was das in Ihrem Falle bedeutet. Antworten Sie oder nicht?“ Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Jarolím seinem Kollegen angedeutet: Siehst du, Rotfuchs, wie du das kannst! Halt dich nur an mich, und du lernst außer deiner trockenen Ökonomie noch was Nützliches fürs Leben! Er mußte jedoch ein amtliches Gesicht machen. „Jeder Kerl langt einer Frau mal eine. Wollen Sie alle herzerren?“ „Antworten Sie auf die Frage! Sie wissen sehr gut, wen wir meinen.“ Čížek trat von einem Bein aufs andere und beleckte sich die Lippen. „Ich habe ihn nicht mal angerührt. 208
Konnte ich wissen, daß er von Ihnen ist? Er sieht aus wie ein Halbstarker.“ „Wir fragen nach dem, der liegengeblieben ist“, griff Jarolím ein, „zum dritten und letzten Male, Čížek.“ „Was schon … Wir haben uns ein bißchen gestritten.“ „Worüber?“ „Das wissen Sie doch, also was fragen Sie?“ „Lange werden wir nicht mehr warten!“ sagte Matějka. „Er kann erzählen, was er will, aber ich habe wirklich bloß ein paar Kronen für die erste Zeit gebraucht, bis ich wieder flüssig bin. Ich hätte ihm alles wiedergegeben.“ „Wieviel wollten Sie?“ „Das weiß ich nicht mehr, aber ungefähr drei. Dreitausend.“ „Genau dreitausend?“ Jarolím blickte auf das erste Blatt, das er auf Matějkas Tisch greifen konnte. „Ungefähr. Ich war gestern voll und erinnere mich wirklich nicht mehr.“ Čížek wirkte immer sicherer. „Das sollten Sie aber! Wenn Sie wollen, sage ich Ihnen, daß sich andere besser erinnern. Ich sage Ihnen, mit welcher Straßenbahn Sie gefahren und bei welcher Haltestelle Sie ausgestiegen sind, in welchem Modesalon Sie waren, vorgestern und gestern, wo Sie dann mit einem Hundertkronenschein zwei Päckchen Sparta bezahlt haben und um wieviel Uhr Sie in der Gaststätte behauptet haben, Sie hätten keinen Heller bei sich. Ich weiß, was vorher war und was dann geschah, wir kommen auch ohne Ihre Aussage aus, aber Sie brauchen sich über nichts zu wundern!“ Čížek muß jetzt glauben, daß wir ihn schon längre Zeit observieren, dachte Jarolím. Er beschloß, diesen Eindruck zu bestärken und setzte – wieder wie ein Glücksspieler, jedenfalls nach Matějkas Ansicht – seine Reserven ein. „Ja, Čížek. Meinen Sie ernsthaft, daß unser Mann nur 209
zufälligerweise ein paar Schritte von Ihnen entfernt war, als Sie Frau Holcová angefallen haben? Wenn das nicht geschehen wäre, würden Sie immer weiter unter Aufsicht bleiben, wie wir Sie schon vorher aufs Korn genommen haben, Sie haben gar keine Ahnung, wie lange schon!“ „Er hat mich provoziert!“ krächzte Čížek. „Ohne die Amnestie würden wir beide gleich dastehen. So ist er ein Unschuldslamm, und mir glauben Sie kein Wort! Er wird Ihnen gerade die Wahrheit sagen! Petr kenne ich, das Aas!“ Čížek, dessen Intelligenzquotient nicht besonders hoch war, machte die neue Erfahrung, daß es nicht ratsam ist, einen Gegenspieler zu unterschätzen. Er versuchte einen brillanten Ausweg zu finden. „Möchten Sie freiwillig ein volles Geständnis über alles ablegen, was zwischen Ihnen und Petr Pokorný geschehen ist?“ „Klar! Das sage ich ihm ruhig ins Gesicht!“ „Genug!“ rief Jarolím mit erhobener Stimme. Mit einer Geste brachte er auch Matějka zum Schweigen. Er vermutete, daß sein Kollege imstande wäre, vorzeitig etwas zu sagen, wozu noch Zeit war, nahm schnell den Hörer ab und bat eine Schreiberin ins Büro. Čížek sagte aus, daß er sich erst tags zuvor zu einem Besuch bei Petr Pokorný entschlossen hätte. Daran hätte er zwar schon früher gedacht, aber ohne konkretes Datum. Er wollte nicht die Gunst der repräsentativen und zärtlichen Vlasta Holcová verlieren, und um sich ihr ebenbürtig zu fühlen, gedachte er sich wie ein freigebiger Liebhaber aufzuführen. Von den neuen Kollegen war keiner bereit, ihm Geld zu borgen, und erst im „Kleinen Bären“ wäre ihm eingefallen, einfach zu Pokorný zu gehen und ihn um ein Darlehen zu bitten. Er bestand darauf, daß es nur ein Darlehen sein sollte und daß Pokorný lüge, wenn er behaupte, er fordere von ihm einen Anteil 210
aus dem Diebstahl beim Toyota-Service oder erpresse ihn. Čížek hätte Pokorný schon auf dem Hof gesehen, wo er gerade seinen Renault reparierte. („Er hat einen Paradeschlitten und will mir nicht mal lächerliche dreitausend pumpen, damit ich meiner Verlobten ein Kostüm schenken kann.“) Pokorný hätte gerade die Schnur der Montagelampe in die Steckdose gesteckt. Er hätte die Bitte gleich abgelehnt, und im Streit hätte Čížek zugeschlagen. Von dem Schlag wäre Pokorný neben den Renault gefallen, hätte aber nicht einmal das Bewußtsein verloren. Da wäre jemand in den Hof gekommen, und Čížek wäre geflohen. Weil er befürchtete, daß ihn Pokorný anzeigen würde, sicherte er sich ein Alibi für den ganzen Abend. Er gab also am Tisch vor, das Geld vergessen zu haben, und rief seine Geliebte an, um auch für die späteren Stunden einen Zeugen zu haben. Deshalb merkte er sich auch die Nummer des Taxis, mit dem er nachts zu Vlasta Holcovás Wohnung fuhr. Der Charakter der Beziehung zwischen der Holcová und Čížek, der nicht nur Geliebter, sondern hauptsächlich Rausschmeißer und Zuhälter war, blieb vorläufig ungeklärt. „Das ist alles?“ „Ja. Und ich verlange eine Gegenüberstellung.“ „Bitte“, sagte Jarolím und suchte ein Foto des Toten heraus, eine große Detailaufnahme des Gesichts. „Lebendig können wir ihn allerdings nicht mehr zeigen.“ „Was? Was ist das?“ schrie Čížek. Seine Augen drückten Entsetzen aus, und er schien in dem Moment gealtert zu sein. „Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich habe nur gewußt, daß ich auch wegen einer Backpfeife hinter Gitter komme, weil ich erst ein paar Tage aus dem Knast bin.“ „Vorhin haben Sie Ihre Vorsicht auch vergessen“, bemerkte Matějka. „Woher haben Sie die Pistole?“ „Was für eine Pistole?“ 211
„Eine belgische 6,35er.“ Matějka zeigte ihm eine Aufnahme der Waffe. „Eine Pistole habe ich zuletzt bei der Fahne in der Hand gehabt! Sie glauben doch nicht … Das ist nicht meine!“ „Wessen dann?“ „Woher soll ich das wissen? Bin ich vielleicht ein Räuber?“ Bei der weiteren Vernehmung bestand Čížek unerschütterlich auf seiner Version der Ereignisse. Niemals hätte er eine Pistole besessen, nur annähernd vermöge er sich vorzustellen, wie ein Schalldämpfer aussehe, und er wisse nichts über seine Konstruktion. Er bestritt auch, in Pokornýs Jackentasche gegriffen und ihm die Brieftasche entwendet zu haben. Vielmehr hätte er gehofft, sich mit Pokorný zu einigen, und zwar auf eine vierstellige Summe. Er hätte natürlich nicht angenommen, daß Pokorný so viel Geld bei sich trage und nur in die Tasche zu greifen brauche, um ihm dreißig Hundertkronenscheine an Ort und Stelle auszuzahlen. Nach dem Schlag hätte er nicht mehr an das Geld gedacht, sondern er hätte nur schnell und unbemerkt vom Hof verschwinden wollen. Wenn das seine letzte Widerstandslinie ist, wird es nicht leicht sein, sie mit einem Schlag zu durchbrechen, dachte Jarolím. Und wenn Čížek die Wahrheit sagt, sind wir bei der Ermittlung kaum auf halbem Wege angelangt.
14 Matějka hatte wählen können: alles selber machen, bei den Vernehmungen aller Verdächtigen im Vyšehrader Fall assistieren und somit einen guten Überblick haben, 212
oder Zeit gewinnen, die Aufgaben unter ein Dutzend Kollegen aufteilen, von ihnen lediglich die Ergebnisse erfragen und sich intensiv der Aufklärung des Todes von Petr Pokorný widmen. Er hatte sich für die zweite Möglichkeit entschieden und stellte nun fest, daß einigen weniger erfahrenen Kollegen die Ermittlung aus den Händen glitt. Myslíks Aussage überführte alle Festgenommenen. Als Vergeltung versuchten sie nun, Myslík möglichst schwer zu belasten. Auf einmal erwies sich, daß Myslík zugleich an mehreren Stellen auf dem Bahnhof gewesen war und sich gleichzeitig um die Verteilung der gestohlenen Ware gekümmert hatte. Auch Myslík durfte nicht unterschätzt werden. Der feiste Lagerarbeiter durchschaute die neue Lage und begann aus den Widersprüchen in den Aussagen der anderen Vorteile zu ziehen. Er benahm sich wirklich originell, indem er weiterhin die Rolle des reuigen Schuldigen spielte, der todunglücklich ist, wenn er sich nicht gleich an alles erinnert, und Gedächtnislücken durch eifrige Beschreibungen von Nebensächlichkeiten ausfüllte. Myslík bestritt gar nichts und nickte ohne Zögern zu jeder vorgelegten Aussage, ob sie ihn nun stark belastete oder der vorherigen widersprach. Matějka, der an dem Tage von einem erfahrenen Rechtsanwalt beobachtet wurde, stellte sich vor, wie chaotisch die Anklage klingen müßte. Vor Gericht würde Myslíks Rechtsanwalt die Widersprüche leicht finden und entsprechend betonen. Bestenfalls würde der Fall zur erneuten Ermittlung zurückgegeben, aber ein Fähigerer als der Trottel Matějka würde ihn leiten. Es war nicht einmal ausgeschlossen, daß Myslík von allen am besten davonkommen würde. Entweder man zweifelte an seiner geistigen Gesundheit, oder er trat im Prozeß als das verführte Opfer auf, das sich wenigstens bemüht hat, durch ein Geständnis zur Liquidierung der Bande beizutragen. Am bedenklichsten war, daß Matějka nicht mehr mit 213
Sicherheit erklären konnte, Myslík habe sich abends nicht in der Nähe der Tůně-Straße aufgehalten. Die Zeittabelle, anfangs logisch und übersichtlich, änderte sich von Aussage zu Aussage. Wenn er den Fall in Ruhe gründlich betrachten könnte, würde er in wenigen Tagen alles aufklären und ordnen. Da jedoch nicht beantwortet war, was Petr Pokornýs Tod verursacht hatte, der Schlag oder der Schuß, war der Mörder vielleicht noch in Freiheit, oder er nutzte in der Haft die Gelegenheit aus und trübte das Wasser. Matějka war aufrichtig unglücklich. Er bedauerte, daß er den Fall gemeinsam mit Jarolím bearbeitete, mochte er zehnmal sein Freund sein. Ihm, Matějka, würde keiner helfen. Das Wohlwollen des Chefs hat seine Grenzen, und ehe er sich’s versieht, wird er wegen erwiesener Unfähigkeit versetzt, und den Fall bekommt ein anderer, jemand, dem es vielleicht nicht schwerfällt, mit der Festnahme des Mannes zu beginnen, in dessen Auto eine Leiche gefunden wurde. Nichts läßt sich ausschließen. Matějka hielt sich vor, trotz eindeutiger Vorschriften zugelassen zu haben, daß Rechtsanwalt Tomek den Gang der Ermittlungen verfolgte. Er hatte völlig vergessen, wie oft Tomeks Bemerkungen und Vorschläge förderlich gewesen waren. Nun saß Matějka vor einem Berg Protokolle aller Vernommenen des Vyšehrader Falles und versuchte umsonst, wenigstens einen festen Punkt zu entdecken, an dem er den Hebel ansetzen konnte, der Myslíks Verteidigung ins Wanken bringen würde. Dann befahl er telefonisch dem Ermittler, in dessen Zimmer Myslík saß, er solle die Vernehmung unterbrechen, sobald es möglich wäre, und den Lagerarbeiter zu ihm bringen. „Du verlierst Zeit, Rotfuchs“, sagte Jarolím freundlich und seltsamerweise ruhig, als ginge es nicht auch um seine Haut. 214
„Fällt dir etwas Besseres ein?“ schrie Matějka über den Aktenberg auf seinem Schreibtisch. Ihn reizte der Anblick von Tomek und Jarolím, die in einer Ecke an einem Tischchen saßen, sich leise, aber erregt unterhielten, eine Zigarette nach der anderen rauchten und Kaffee tranken, während er seine Tasse noch nicht angerührt hatte. „Amüsieren Sie sich gut, meine Herren?“ „Jetzt schon“, sagte Tomek mit freundlichem Lächeln. Den Rechtsanwalt gedachte Matějka zu ignorieren. „Weißt du etwas Vernünftigeres?“ fuhr er Jarolím an. „Vielleicht“, antwortete Jarolím, und Tomek bestätigte es mit einem Kopfnicken. „Versuche nur mal einen Moment anzunehmen, daß Čížek die Wahrheit gesagt hat und Myslík nur auf dem Bahnhof war.“ „Kennst du diese Aussagen?“ Matějka schlug heftiger, als er wollte, mit der Hand auf die Akten. „Das kann ich mir gut vorstellen. Sie würden Myslík auch den Raub der Schatzkammer im Veitsdom anhängen. Vorläufig sollten wir uns an die Fakten halten. Also dann … Petr Pokorný wurde von Čížek niedergeschlagen, nachdem er zum Renault gegangen war, um dort den Fehler zu suchen. Er hatte den Wagen noch nicht geöffnet, nur die Lampe angemacht. Das bedeutet, daß es dunkel wurde, es muß also zwischen halb und drei Viertel sieben gewesen sein. Pokorný fiel neben den Wagen. Daraufhin lief Čížek fort. Was weiter? Ein Monteur, der vor einer Garage neben einem Wagen liegt, ist ein alltäglicher Anblick. Wer bleibt stehen und bemerkt, daß sich der Mann nicht bewegt? Dann kam der Mörder mit der Pistole, der im Unterschied zu Čížek töten wollte. Selbst Čížek ist nicht so dumm, einen geplanten Mord auf einem Hof zu verüben, dazu bei Tageslicht. Da hätte er nicht weit zu fliehen brauchen, ein Streifenwagen hätte ihn bald aufgegriffen. Auch der andere Täter glaubte Petr Pokorný in der Wohnung anzutreffen.“ „Wer soll denn der andere Täter sein?“ 215
„Pavel Pokorný“, antwortete Jarolím in einem Tonfall, in dem man überflüssige Fragen abweist, und fuhr fort: „Es wurde schon dunkel, auf dem Hof leuchtete nur die Montagelampe, also hat er nicht bemerkt, daß sich sein Bruder nicht bewegte. Er hatte es eilig und befürchtete, ein andermal nicht genügend Mut zur Tat aufzubringen oder kein Alibi zusammenzubekommen. Pavel Pokorný schoß seinem Bruder in den Kopf und schaltete das Licht aus, das vielleicht zuerst. Dann verlor er die Beherrschung.“ „Woher willst du das wissen?“ „Aus seiner Handlungsweise, Rotfuchs. Er wollte von Anfang an einen Selbstmord vortäuschen. In der Wohnung wäre ihm das sicher glaubwürdiger gelungen, aber hier? Wäre Doktor Tomeks Wagen aufgeschlossen gewesen, hätte er den Toten dorthinein gepackt. Auf diese Weise wollte er die Zeit bis zum Auffinden der Leiche hinausschieben. In der Ecke steht unter dem Schutzdach mein Octavia, und dort ist es auch am hellen Mittag schummrig. Deshalb hat er die Tür aufgebrochen und die Leiche dorthin getragen. Er steckte dem Toten die Pistole in die Hand, und seltsamerweise besaß er noch so viel Verstand, um den Schalldämpfer abzunehmen.“ „Gut“, sagte Matějka, immer noch zweifelnd. „Wie kannst du aber erklären, warum er seinem Bruder die Ausweise aus der Tasche gestohlen hat?“ „Das kann ich. Es war Panik, ganz gewöhnliche Verwirrung. Der Mordplan war unerwarteterweise geplatzt. Deshalb hat er eilig alles zusammengerafft und nicht gemerkt, daß weniger mehr sein kann. Er täuschte einen Selbstmord vor, aber bot uns zur Auswahl auch einen Raubmord an. In der Aufregung nahm er nur die kleinen Geldscheine heraus. Das Fach, das für Hundertkronenscheine bestimmt ist, hat er nicht geöffnet.“ Jarolím wandte sich zu Tomek um. Schweigend er216
kannte er ihm die Mitautorschaft an dieser Lösung zu und ließ ihn fortfahren. „Sie haben nicht alles bedacht, denn Sie haben nicht den eigentlichen Schuldigen erwähnt. Sehen Sie, Kollegen, im Unterschied zu Ihnen beiden habe ich Marta Pokorná kennengelernt, und vielleicht habe ich sie zutreffend charakterisiert, wenn Sie sich erinnern. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie oft und in welchem Ton sie ihrem Mann den Bruder vorwarf, das räudige Schaf, den Kriminellen und so weiter, der jetzt verlangen könnte, in die Villa zu ziehen, die ihm zur Hälfte gehört. Sie müssen die Umstände von Čížeks Anstellung bei Stavex klären. Ich würde sagen, daß Pavel Pokorný unter dem Druck seiner Frau zuerst Čížek aus dem Betrieb entfernen wollte, worauf Čížek zu ihm ging und ihm drohte: Wenn man mich hier rausschmeißt, werde ich jedem erzählen, was für ein Kerl Ihr Bruder ist! Also stahl Pavel Pokorný nicht die Brieftasche, sondern die Ausweise, das heißt die Identität, er stahl den Namen, damit sein Bruder aus der Welt verschwand und er im Betrieb und hauptsächlich zu Hause seine Ruhe hatte. Der Mensch hat auch ein Unterbewußtsein.“ „Warum hat er sie dann nicht verbrannt?“ erwiderte Matějka, der schon ziemlich schwankend geworden war. „Warum hat er die kleineren Banknoten herausgenommen?“ „Aus Feigheit, Rotfuchs“, sagte Jarolím. „Sein Plan ging nicht auf, und er improvisierte. Sicher wäre es klüger gewesen, die Brieftasche nicht anzurühren oder sie erst zu Hause zu vernichten, doch er hatte in der Panik einen Raub vorgetäuscht. Dann wollte er die Brieftasche möglichst schnell loswerden. Vielleicht bedauerte er schon seinen ersten Einfall, aber woher hätte er den Mut genommen, umzukehren und die Brieftasche wieder in die Jacke zu stecken?“ „Und die Telefonate?“ 217
„Zuerst konnte er aus einer Zelle anrufen, gleich auf der Metrostation gibt es mehrere. Wenn du die Fahrzeit von Kačerov bis Pavlovo náměstí und die paar Schritte bis zum Tatort bedenkst, wirst du merken, daß er das leicht geschafft hat. Beim zweiten Male telefonierte er zu Hause, und das bezeugt nur seine Frau.“ „Frau, Pokorná hat mir gesagt, er hätte oben gearbeitet, und sie hätte ihn nicht gestört. Wie es auch gewesen sein mag, sie hatte Sorgen mit ihrem kranken Kind. Unbeobachtet fortzugehen ist kein Problem, ich kenne das Haus“, fügte Tomek hinzu. „Aufgrund solcher Vermutungen kann ich ihn nicht des Mordes beschuldigen!“ sagte Matějka, mehr zu Tomek als zu Jarolím gewandt. Er respektierte nun den Rechtsanwalt als vertrauenswürdigen Schiedsrichter. „Sie würden allerdings kaum erklären können, warum Sie ihn nicht einmal vernommen haben“, sagte Tomek. „Etwas anderes will ich nicht von dir, Rotfuchs, von nun an werde ich schweigen, und ich lasse dich alles allein machen, nur das darfst du nicht unterlassen“, drängte ihn Jarolím. Matějka blickte versonnen aufs Telefon.
15 Der Beobachtungswagen fuhr in sicherem Abstand hinter Pavel Pokornýs Fiat in die Větrná ulice. Beide Polizisten verstanden ihr Handwerk. Sie werden um die Villa mit der Nummer 45 fahren, überprüfen, ob der observierte Mann ins Haus gegangen ist, und eine Meldung durchgeben. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird man sie ablösen, und sie werden zur Einsatzstelle zurückkehren, oder sie parken außerhalb der Sichtweite der Villa und warten auf weitere Befehle, gegebenen218
falls hängen sie sich wieder an den Wagen des Observierten an. Ein gewöhnlicher Dienst, ziemlich langweilig. Von besonderen Vorfällen konnten auch die beiden Polizisten im weißblauen Streifenwagen nicht reden, der von der anderen Seite in die Větrná ulice einbog. Der Streifenwagen durchfuhr sein Revier. Die Meldung würde nur wenige Worte umfassen. Der Beifahrer im Streifenwagen fummelte an seinem Feuerzeug herum. Der Stein hatte sich festgeklemmt und ließ sich während der Fahrt in dem hüpfenden Wagen nicht lösen. „Bleib mal stehen, ich will das Ding in Ordnung bringen.“ Der Fahrer hielt vor Pokornýs Villa. Pavel Pokorný war nicht entgangen, daß in der Sokolská, auf der Brücke und dann zu Beginn der Schnellstraße etwa zweihundert Meter hinter ihm ein Cortina fuhr, der einen viel stärkeren Motor hat als ein Fiat 850. Die Nerven, sagte er sich, aber er drosselte die Geschwindigkeit. Der Cortina, mit zwei Personen besetzt, fuhr ebenfalls langsamer. Hier, wo jeder Fahrer erleichtert das Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung zur Kenntnis nimmt und Gas gibt, war das höchst beunruhigend. Pokorný zwang sich zur Ruhe. Sie haben keinen Beweis, finden nichts, womit sie mein Alibi widerlegen könnten. Der Schalldämpfer liegt im Kanal bei der Metrostation und bleibt irgendwo im Flußbett liegen oder landet auf einer Müllkippe, falls er in die Reinigungskammern gelangt. Sonst haben sie nichts, gar nichts. Er überlegte, ob er nicht zur Probe im Zickzack durch die Straßen des Villenviertels fahren solle, um sicherzugehen, daß der Cortina, der die Schnellstraße auf derselben Ausfahrt wie er verlassen hatte, ihn wirklich verfolge. Er schloß aber, daß er dadurch gestehe, 219
von der Verfolgung zu wissen, und hielt das nicht für klug. Ein anderer Gegenzug würde besser sein. Er fährt noch langsamer, damit er die Nummer des Cortina erkennt. Zu Hause geht er gleich ans Telefon und ruft die Polizei an. Sie muß irgendwie auf die Bitte um Schutz reagieren, wenn sich ein Mann meldet, dessen Bruder gestern von einem unbekannten Täter ermordet wurde. Es ist sein gutes Recht, sich zu fürchten, es würde sogar unglaubwürdig wirken, wenn er sich gleichgültig verhielte. Pavel Pokorný erblickte den entgegenkommenden Wolga. Der Streifenwagen interessierte ihn nicht, er beobachtete im Rückspiegel den Cortina. Während er schon fast im Schrittempo fuhr, sah er, daß ihm der Cortina folgte. Der Streifenwagen hielt gerade vor seinem Haus, kaum vierzig Meter vor ihm. Der Beifahrer manipulierte an einem kleinen glänzenden Gegenstand, ohne das zu verbergen, ja im Gegenteil. Der Schalldämpfer, nichts anderes als mein Schalldämpfer! Noch habt ihr mich aber nicht! Ohne zu zögern, legte Pavel Pokorný den zweiten Gang ein, gab Gas und riß das Lenkrad scharf nach links. Es war eine schmale Einbahnstraße, er kannte jedoch die Gegend und wußte, daß ihm zu der Zeit kein anderer Wagen entgegenkommen würde. Wo haben sie den Schalldämpfer gefunden? Wo haben sie ihn bloß gefunden? Wie ist ihnen eingefallen, gerade diesen Kanalabfluß abzusuchen? Er hörte eine Sirene. Der Streifenpolizist kannte die Gegend ebenfalls und wußte, welche Straße eine Einbahnstraße war. Er hatte noch nichts zu tun gehabt, und jetzt erwischte er einen Kerl, der frech die Verkehrsregeln übertrat. So verhält sich beim Anblick eines Streifenwagens nur ein Betrunkener. Den Fahrer kümmerte nicht mehr, ob sein Genosse das Feuerzeug repariert hatte. Er begann mit der Verfolgung. 220
Wenige Augenblicke später raste trotz des Verbotsschildes auch der Cortina in die Einbahnstraße. Die Streifenpolizisten bemerkten ihn und schwankten eine Weile, welchen der beiden Gesetzesbrecher sie zuerst verfolgen sollten. Der Fahrer des Cortina erwartete nichts anderes und schaltete schon den Funk auf die Frequenz der Streifenwagen. Es dauerte nur Sekunden, bis sich die Besatzungen beider Wagen verständigt hatten. Der Fiat hatte indessen einen großen Vorsprung erlangt. Wenn Pokorný mehrmals die Richtung geändert hätte, um irgendwo auszusteigen, hätte er eine Chance gehabt, den Polizeiwagen zu entwischen. Statt dessen suchte er den kürzesten Weg zur Schnellstraße, Er raste so schnell auf die Überholspur, daß er beinahe einen Unfall verursachte. Die erschrockenen Fahrer bremsten und blockierten eine Weile die Auffahrt. Selbst das Blaulicht des Streifenwagens und die heulende Sirene räumten sie nicht schnell genug, weil inzwischen ein neues Rudel Autos aus dem Stadtzentrum näher gekommen war. Pavel Pokorný sah mit Befriedigung, daß er diese Runde gewonnen hatte. Er wußte nicht, was im Gutachten der Pathologen stand, ahnte nicht, wie umstritten die Schuld am Tode seines Bruders war, was für eine Diskussion darüber geführt werden würde, ob er tatsächlich einen Mord begangen oder die Tat an einem untauglichen Objekt verübt hatte, wie die Juristen sagen, denn ermorden, des Lebens berauben, kann man nur einen Menschen, keine Leiche. Vielleicht hätte er dann zu Hause auf eine Nachricht von der Polizei gewartet, die seine Bitte um Schutz vor dem Mann im Cortina abgelehnt hätte. Statt dessen floh er. Wohin, wußte er vorläufig nicht. Er konzentrierte sich nur auf die Flucht selber, auf die „Flucht an sich“, wie es Jarolím später nannte. Pokorný, der Absolvent einer Ingenieurschule und Fernstudent 221
im dritten Studienjahr, verhielt sich weniger klug als der kaum schreibkundige Golem vom Bahnhof Vyšehrad. Jan Myslík manövrierte, Pavel Pokorný flüchtete. Er begriff jedoch, daß die Schnellstraße eine Falle war. Bald würden die Ausfahrten blockiert sein, und vielleicht war schon ein Hubschrauber gestartet, der ihn in wenigen Minuten finden würde. Pokorný verließ auf der nächsten Ausfahrt die Schnellstraße und steuerte völlig gedankenlos aufs Zentrum von Kunratice zu. Er hatte keinen Plan, ihm genügte es, irgendwo unterzutauchen. Wieder hatte er Glück. Er überholte den Autobus, der gerade bei der Endstation hielt und einem Häuflein Wartender die Türen öffnete. Pokorný parkte seinen Fiat hinter der Ecke, besorgte sich ohne Eile einen Fahrschein und fuhr kurze Zeit später auf der Benešover Landstraße nach Prag. Am Stadtrand beim ehemaligen Zollhaus begegnete der Bus einem Streifenwagen. Die Besatzung, durch zwei Motorradfahrer verstärkt, revidierte alle Autos, die Prag verließen.
16 In der Větrná ulice vernahmen Jarolím und Matějka von Marta Pokorná, daß ihr Mann noch nicht von der Arbeit heimgekommen sei. Sie beschlossen, im Wagen auf ihn zu warten, denn die letzte Meldung hatte gelautet, daß er aus Karlín in Richtung Kačerov gefahren war. Dann kam die Funkmeldung über Pavel Pokornýs Flucht, deren Motive unklar wären, und von der vorläufig mißlungenen Verfolgung. Immer neue Wagen und Menschen wurden eingesetzt. Eine dreistündige Haussuchung in der Villa war ebenso ergebnislos wie die Vernehmung Marta Pokornás. 222
Erst eine Stunde vor Mitternacht wurde Pavel Pokorný festgenommen, als er auf einem gestohlenen Fahrrad über Feldwege aus Prag fliehen wollte. Fertig, sagte Jarolím im stillen und legte den Hörer auf. Bald dachte er jedoch anders. Wenn in zwanzig Minuten der Verhaftete hergebracht würde, wartete noch Arbeit auf die Kriminalisten, und erst dann endete dieser Tag, an dem vom frühen Morgen an alles schiefgegangen war.
223
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1985 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/133/85 • LSV 7234 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 09/2010 622 660 3 00200