Inger Edelfeldt, Jahrgang 1956, gehört zu den wichtigsten Autorinnen von Kinder- und Jugendliteratur in Schweden. Auch ...
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Inger Edelfeldt, Jahrgang 1956, gehört zu den wichtigsten Autorinnen von Kinder- und Jugendliteratur in Schweden. Auch in Deutschland ist sie anerkannt – für ihren Roman »Briefe an die Königin der Nacht« erhielt Inger Edelfeldt den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
Lizenzausgabe als Ravensburger Taschenbuch Band 8054 erschienen 1998 Erstmals in den Ravensburger Taschenbüchern erschienen 1989 (als RTB 1720) Die Originalausgabe erschien 1983 bei Almquist & Wiksell Förlag AB, Stockholm unter dem Titel »Duktig Pojke!« © 1983 by Inger Edelfeldt Die deutsche Erstausgabe erschien 1985 im Spectrum Verlag, Stuttgart © 1985 für die deutsche Textfassung Spectrum Verlag, Stuttgart Umschlagillustration: Gabie Hilgert RTB-Reihenkonzeption: Heinrich Paravicini, Jens Schmidt
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Ravensburger Buchverlag Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. 6 5 43 2 1
02 01 00 99 98
ISBN 3-473-58054-6
1 Er war ein sehr braves Kind, sonst unterschied ihn eigentlich nichts von anderen Kindern; ich meine, was man hätte bemerken können. Ich glaube, an und für sich hatte er eine glückliche Kindheit; Er wuchs ja auf dem Land auf: Ja, damals wohnten wir noch auf dem Land, Harald – das ist mein Mann –, Jim und ich.
Als ich klein war, hatte ich nie Angst. Wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, irgendwelche Menschen oder Dinge geliebt zu haben. Wahrscheinlich kam die Angst erst, als ich etwas älter wurde und alles Mögliche zu lieben begann, vielleicht habe ich da erst gemerkt, wie sehr ich mich fürchtete. Natürlich hatte ich eine schreckliche Angst davor, meine Eltern zu verlieren, aber noch viel mehr fürchtete ich seltsamerweise, dass ich mich selbst verlieren könnte. Bestimmt würde es sehr wehtun, sich selbst zu verlieren, die Schmerzen wären sicher noch größer, als wenn man von den Kreuzottern gebissen wurde, vor denen meine Mutter mich immer warnte. Die Kreuzottern, die zusammengeringelt 9
im hohen Gras lagen und nur darauf warteten, Kindern ohne Gummistiefel an die Füße zu fahren. Ich träumte oft davon, dass der Weg zu unserem Haus hinauf von schwarzen Schlangen übersät war, über die ich steigen musste. Die Schlangen schienen im Traum vor meinen Füßen aus der Erde herauszuwachsen. Sie konnten mein Entsetzen förmlich riechen und wurden von mir wie Nägel von einem Magneten angezogen. Ich war so ein empfindliches Kind. Das behauptete meine Mutter immer, und das musste für alles als Erklärung herhalten. Wenn ich wütend wurde, dann nur, weil ich so ein empfindlicher Junge war, und blieb ich schweigsam, dann hatte das ebenfalls damit zu tun, dass ich so sensibel war. Mein Vater dagegen hatte sich dafür entschieden, dass ich ein tüchtiger Junge sei. Wenn ich schwieg, kam das ausschließlich daher, dass ich so intelligent war. Ich bin sicher, dass meine Eltern mich liebten und mein Bestes wollten. Aber dennoch entstand nach und nach ein Gefühl in mir, dass ich etwas in meinem Inneren vor ihnen verbergen musste, eine Art geheimes Herz, das nur mir gehörte und das sie niemals akzeptieren würden. Instinktiv wusste ich, dass es besser war, das zu verbergen, was einem am meisten bedeutete. Das, was einem besonders gut gefiel, war immer besonders streng verboten, und wenn man darauf verzichtete, war man ein tüchtiger Junge. Das habe ich früh gelernt. Das war auch der Grund meines Schweigens. Ich wachte über mein Inneres wie ein Drachen über seinen Schatz. Was genau es war, das ich verbergen musste, wusste ich. nicht. Aber es war irgendetwas sehr Wichtiges, etwas, das den eigentlichen Kern meiner Person ausmachte. Wenn ich das verlöre, würde ich tatsächlich mich selbst verlieren. Wir wohnten auf dem Land, ungefähr fünf Kilometer von der Stadt entfernt, wo mein Vater arbeitete. Bevor ich in die Schule kam, spielte ich dort draußen meistens für mich allein. Ringsum 10
gab es große Wälder, und in der Nachbarschaft lag ein Bauernhof. In meiner Erinnerung ist das alles ein verzaubertes Land. Ich war vollauf damit beschäftigt, Schätze zu vergraben, Reisighütten zu bauen und den riesigen Eber zu ärgern, der sich in einem Gehege in der Nähe befand. Meine Mutter sagte immer: Verirr dich nicht! Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke und an alle Gefahren, vor denen meine Mutter mich warnte, sehe ich einen kleinen Jungen vor mir, der einen Waldweg entlangrennt, von den Schlangen, den Hornissen, dem Eber, den Brennnesseln und natürlich auch von den Trollen verfolgt. Dennoch muss es dort draußen recht friedlich gewesen sein. Und in der kleinen Landschule, in die ich schließlich kam, gab es auch nichts, vor dem man sich hätte fürchten müssen. Ich war meistens allein und hatte keinen eigentlichen Freund, aber die anderen Kinder ließen mich in Frieden. Und dennoch lauerte die Angst überall. Mit der Stimme einer Eule konnte ihr Schrei aus der Dunkelheit ertönen, sie huschte draußen vor meinem Fenster über den Kies, und dann dachte ich: Jetzt kommt Es, das große, unbekannte Es, das mich bestrafen wird, das mich auflösen und mein heimliches Herz auffressen wird. Jetzt kommt das Große Entsetzen. Nur wenn ich mit Krister, dem Sohn des Bauern, zusammen war, fühlte ich mich richtig sicher und geborgen. Ich trottete immer hinter ihm her, wenn er im Stall war und wenn er die Kühe hereinholte. Das Allerschönste aber war, wenn ich neben ihm auf dem Traktor sitzen und auf die Felder hinausfahren durfte, wo die Möwen aufflatterten und kreischend durch die Luft sausten. Dort waren wir wie in einer eigenen Welt, vom Lärm des Motors und dem Rütteln des Traktors eingehüllt. Dort fühlte ich mich ganz sicher, und ich träumte davon, dass der Traktor einfach weiterfahren würde, bis wir alle anderen weit hinter uns gelassen hätten, und dass Krister mir dann die Hand
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auf die Schulter legen und sagen würde: Jetzt reißen wir beide zusammen aus! Bei dieser Vorstellung wurde mir innerlich jedes Mal ganz sonnig und warm. Mein heimliches Herz schlug heftig und schnell, und die Möwen kreisten über den Feldern und stießen trotzige Schreie aus.
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2 Als Haralds Firma nach Stockholm verlegt wurde, mußten wir wohl oder übel ebenfalls umziehen. Jim war damals ungefähr neun, ja, er war neun Jahre alt. Das war in jenem Jahr, als er von Harald und mir eine Autorennbahn zum Geburtstag bekam, eine teure Angelegenheit. Er freute sich sehr darüber, das tat er wirklich. Ich weiß noch, wie er in der neuen leeren Wohnung in Råcksta auf einer der Umzugskisten saß und sagte: »Jetzt möchte ich gleich meine Autorennbahn auspacken!« Harald war zum stellvertretenden Direktor befördert worden und hatte daher keine Zeit mehr, mit Jim zu spielen, und ich konnte mit dieser Autobahn nichts anfangen. Übrigens hatte ich gerade eine Fehlgeburt hinter mir und war wohl nicht besonders gut in Form. Aber Jim machte ja nie irgendwelche Schwierigkeiten.
Als ich ungefähr neun Jahre alt war, kam mein Vater eines Tages freudestrahlend nach Hause – eines der seltenen Male, dass ich ihn so erlebt habe. Seine Firma werde in Stockholm eine Filiale eröffnen, und er bekäme dort einen 13
besseren Posten. Mama war allerdings nicht besonders begeistert. »Denk doch an Jimmy, Harald«, sagte sie, als alle anderen Argumente nichts mehr ausrichteten. »Denk doch an alles, was man über Drogen und Jugendkriminalität und so liest; ich glaube, in der Stadt ist das Milieu doch sehr hart, und Jimmy ist doch so ein empfindlicher –« »Ich bin überhaupt nicht empfindlich!«, protestierte ich, worauf meine Mutter mich vorwurfsvoll ansah. »Da hörst du’s, Ulla-Britt«, sagte mein Vater. »Du verzärtelst den Jungen viel zu sehr. Ein bisschen mehr Schwung und Tempo würden ihm nur gut tun. Nicht wahr, Jimmy?« Da standen sie nun beide und warteten darauf, dass ich etwas sagte. Ich sagte aber nichts. Ich ging in mein Zimmer, hörte sie jedoch draußen weiterdiskutieren. »Ja, ja«, sagte mein Vater, »du möchtest natürlich am liebsten hier draußen hocken bleiben und dich von aller Welt abkapseln, und dabei haben wir jetzt endlich eine Chance! Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass es uns nicht ganz leicht fallen wird, uns in Stockholm einzuleben. Aber wer sich nicht bewegt, läuft Gefahr zu stagnieren. Das, wogegen man einen Widerwillen empfindet, muss man überwinden, sonst wird man zum Versager!«
Wir zogen natürlich um, und die neue Wohnung, die mein Vater unter der Anleitung eines Innenarchitekten ganz modern einrichtete, gefiel mir überhaupt nicht. Unser neues Zuhause lag im achten Stock eines Hochhauses im Vorort Råcksta; das Licht, das durch die großen blanken Fenster hereindrang, kam mir kalt und suchend vor wie Scheinwerferlicht, und aus meinem Fenster blickte ich auf eine breite, gerade Straße hinunter. Nachts
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baute ich um mein Bett herum Stühle auf, über die ich Decken hängte, um ein geborgenes Eckchen zu haben. Im Herbst würde ich in eine große Schule kommen, das wusste ich. Ich hoffte, dass sich dort irgendetwas ganz Unerhörtes ereignen würde, dass ich einen richtigen Freund finden würde, einen Kumpel, der lange Schritte machte und mir beibrachte, ordentlich zu fluchen, und überhaupt ein richtiger Draufgänger war. Einer, der mir beibringen könnte, weniger Angst zu haben. Ich würde ein richtiger Stadtjunge werden, redete ich mir ein, und ich stellte mir vor, wie ich in ein paar Jahren mit den anderen Jungen durch die Stadt stiefeln würde. Vielleicht würde ich sogar zu einer Clique gehören, und irgendwann in ferner Zukunft würde ich mir auch ein Moped anschaffen. Doch seltsamerweise erschien mir dieser Gedanke gar nicht so verlockend.
Am ersten Schultag begleitete mich die Angst auf meinem Weg durch das Schultor. Eine hallende Steintreppe hinauf und einen langen Flur entlang begleitete sie mich. Ein paar von meinen zukünftigen Klassenkameraden standen vor der Klassenzimmertür, und ich musterte sie verstohlen, in der Hoffnung, den Freund zu entdecken. Sie sprachen mich nicht an, sondern musterten mich nur ihrerseits, und aus lauter Angst, wie ein Provinzler zu klingen, wagte ich nicht, den Mund aufzumachen. Ich wollte ihnen erst ein Weilchen zuhören, um zu lernen, wie man hier sprechen musste. Aber ich hatte mir keineswegs vorgestellt, dass es auch so weitergehen würde. Ich hatte nicht erwartet, dass sie mich ausschließen würden. Denn das taten sie. Es kam mir so vor, als hätten sie sich gleich bei meinem ersten Auftauchen dafür entschieden.
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Im Unterricht wagte ich auch kaum, den Mund aufzumachen. Und während der langen Abende daheim schloss ich die Tür meines Zimmers hinter mir, kroch in meine Bettecke und vertiefte mich in die Schulaufgaben, um nicht denken zu müssen. In den Schulbüchern fand ich die Sicherheit, die ich brauchte. Da ich so viel las und lernte, schrieb ich fast immer die besten Klassenarbeiten, und jedes Mal, wenn der Lehrer die Ergebnisse vorlas, erhielt ich wenigstens eine Bestätigung meiner Existenz. In diesen kurzen Augenblicken wurde ich von einer Freude und von einem Triumphgefühl erfüllt, die so stark waren, dass mir fast davon übel wurde. Jetzt hatte ich es ihnen aber gezeigt! Eigentlich hatte ich das Gefühl, nur in diesen Augenblicken wirklich zu leben. »Ja, ja, Jimmy«, sagte Papa, »da sieht man, was so ein Umzug in die Stadt für Wunder bewirken kann!« »Er war doch vorher auch ein guter Schüler«, sagte meine Mutter. »Übrigens kann er hier ja nicht viel anderes tun als lesen.«
Bald stellte ich fest, dass es auch Nachteile hatte, sich vor den anderen auszuzeichnen. Meine Schulkameraden schätzten es nicht besonders, dass ich immer der Beste war. Wenigstens nahm ich an, dass es das war, was sie so gegen mich aufbrachte. Aber vielleicht verbreitete ich auch ganz einfach den Geruch von Angst. Meine Füße zogen Schlangen an. Und plötzlich, ohne dass ich eigentlich bemerkt hatte, wie es passiert war, war ich zum Streber geworden, zum Hackhuhn der Klasse. Jetzt hatte die Angst Gestalt angenommen, jetzt verfolgte sie mich mit vielen harten Schritten. Mit den Händen voller Schnee wartete sie vor dem Schulhof auf mich, vor allem aber hatte die Angst Augen bekommen – achtundzwanzig Augenpaare, die 16
mir folgten, wenn ich an die schwarze Tafel vor ging, achtundzwanzig Münder, die einstimmig Buh riefen, wenn die Lehrer die Noten vorlasen. Damals hatten wir eine nervöse kleine Klassenlehrerin, die häufig Weinkrämpfe im Flur bekam. Einmal wurde sie von Krister, dem Klassenschreck, im Klassenzimmer im Kreis herumgejagt. Sie schwankte auf ihren dünnen Absätzen, und die Klasse lachte unbändig. Ich versuchte, ebenfalls zu lachen, konnte es aber nicht. Die Lehrerin hatte einen schwachen kleinen Mund, der sanft über Präsens, Imperfekt und Plusquamperfekt sprach. Schließlich erstarb ihre Stimme jedoch, vom Klappern der Pultdeckel und von dem Plappern der Schüler verschluckt. Eines Tages verschwand die kleine Lehrerin völlig, verjagt von einem Hagel aus nassen Radiergummis und gut gezielten Gummibändern. An ihrer Stelle kam Majken. Majken pflegte neben der Klassenzimmertür zu stehen und ihren großen Schlüsselbund zu schwenken, während sie auf Schüler wartete, die zu spät kamen. Sie hatte extrem kurz geschnittene Haare, die an das Fell einer Kuh erinnerten, und trug mit Vorliebe groß gemusterte Kleider. Die ganze Person kam mir groß gemustert vor. Ich dagegen war sehr klein gemustert und konnte Majken nicht ausstehen, vor allem dann nicht, wenn ich zu spät kam und mir das penetrante Klirren ihres Schlüsselbundes durch den Flur entgegenschallte. Majken verabscheute Schüler, die nicht laut vorlesen wollten. Ich verabscheute Majken und lautes Vorlesen. Achtundzwanzig Münder bereiteten sich jedes Mal auf Gelächter vor, wenn ich mich über das Lesebuch beugte. Majken hatte für Schüler, die nicht forsch und munter waren und die sich von den anderen unterschieden, nicht viel übrig. Das wussten meine Klassenkameraden. Es kam immer häufiger vor, dass sie vor dem Schulhof auf mich warteten. Mir kamen sie wie Raubtiere vor, die einfach nichts anderes im Kopf hatten als Bosheiten und Quälereien. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, 17
wie sie die Köpfe zusammensteckten, um immer neue Folterqualen für mich auszuhecken. Aber warum sie unbedingt über mich herfallen mussten, das begriff ich nicht. Sie schienen fast wie unter einem Zwang zu handeln. Vielleicht war ich etwas ganz unglaublich Besonderes und Ungewöhnliches, etwas, das sie deshalb vernichten wollten. Richtig schlimm wurde es dann in der sechsten Klasse, als Anders dazukam. Er war ein richtiger Rüpel, der ein für alle Mal beschlossen hatte, sämtliche Hausaufgaben zu ignorieren. Mich hasste er vom ersten Augenblick an. Es machte ihm großen Spaß, mich zu hassen, das war ihm deutlich anzumerken. Am meisten amüsierte es ihn, so zu tun, als wollte er mein Freund werden. Dann ging er neben mir her und machte ein freundliches Gesicht, während er meine Angst in sich hineinschlürfte wie eine Katze, die Sahne schlabbert. Vor allem an eine Begebenheit kann ich mich gut erinnern. Es war an einem Freitagabend bei einem Klassenfest. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich zu diesem Fest ging. Schon als ich den Schulhof überquerte, die Musik und die Stimmen von oben hörte und die erleuchteten Fenster sah, wollte ich umkehren. Aber irgendwie hoffte ich insgeheim immer noch auf ein Wunder. Das Klassenzimmer war mit Luftschlangen und Ballons festlich geschmückt. Die Bänke waren zu Tischen zusammengeschoben, auf denen Popcornschüsseln, Limonade und Cola standen. Die meisten Jungen waren schon da und hatten sich in einer Ecke des Zimmers versammelt, in einer anderen Ecke standen die Mädchen. Ein alter Plattenspieler ließ schnarrend Yellow Submarine ertönen, und eigentlich sollten wir wohl tanzen. Ich setzte mich auf einen etwas abseits stehenden Stuhl und versuchte, so auszusehen, als wäre es mir völlig egal, ob ich allein sei oder nicht. Ich konnte nicht umhin zu hören, worüber die Jungen sich unterhielten. Sie stellten eine Rangliste der Mädchen auf, die sie am meisten sexy fanden. 18
»Agneta sieht echt gut aus, wenn sie ihre Brille nicht aufhat«, sagte Peter. »Und dann dieser Mund!« »Ach, Mann«, sagte Niklas, »guck dir lieber Yvonne an, wenn die den Busen so rausstreckt, da haut’s dich doch gleich um!« »Yvonne ist in Ordnung«, nickte Anders. »An der kann man so ziemlich überall herumfummeln. Die ist saugeil! Eine echt scharfe Nummer!« Die Jungen lachten und johlten begeistert. »Ich wusste gar nicht, dass du mit Yvonne gehst«, sagte Niklas voller Bewunderung. »Na ja, mit ihr gehen kann man das wohl nicht gerade nennen«, sagte Anders. »Wir haben eben so einiges miteinander getrieben.« Er sah sich um, und dabei fiel sein Blick auf mich. In seinen Augen glomm ein erwartungsvoller Funke auf. »So, da hockst du also?«, sagte er. »Willst du nicht auch mitquatschen? Komm her, du Scheißer!« Das war ein Befehl. Ich stand auf und stellte mich zu ihnen. »Hast du schon mal gefickt?«, fragte Anders. »Nein«, sagte ich, denn was hätte ich sonst auch sagen sollen. »Möchtest du denn gern ficken?«, fragte Anders unverdrossen weiter, und die anderen wieherten hingerissen dazu. Ja, wollte ich denn überhaupt ficken? Ich war zwölf Jahre alt und hatte eigentlich keine Lust, mir deshalb den Kopf zu zerbrechen. Ich wusste nicht sehr viel darüber, und das, was ich wusste, erschien mir nicht besonders verlockend. Der Sexualkundeunterricht in der Schule, natürlich, und dann hatte ich auch einen Blick in eine Pornozeitschrift geworfen, die die Jungen unserer Aushilfslehrerin Frau Svensson vor Beginn der obligatorischen Sexualkundestunde aufs Pult gelegt hatten. Frau Svensson sagte nichts, sie errötete nur, biss die Zähne zusammen und warf die Zeitschrift in den Papierkorb. Dann sagte sie, wenn wir irgendwelche Fragen hätten, könnten wir sie ja auf Zettel schreiben, sie werde dann versuchen, die Fragen zu beantworten. Ein besonderer Zettel wanderte durch die ganze 19
Klasse, bevor er bei ihr landete. »Was ist das, was Frau Svensson zwischen den Beinen hat?«, stand darauf. Anders saß selig lächelnd in seiner Bank, während ringsum das Gekicher anschwollt Die Frage, die ich mit kindlich runden Buchstaben auf meinen Zettel geschrieben hatte: Wie kann man wissen, dass man verliebt ist?, wurde mir von Fräulein Svensson nie beantwortet. In der folgenden Woche kam Majken zurück und verpasste uns einen dröhnenden Vortrag über Kondome mit und ohne Gleitmittel, über die großen Risiken eines unterbrochenen Beischlafs, über den Weg der Spermien zum Ei, den Menstruationszyklus und die Häufigkeit der verschiedenen Geschlechtskrankheiten, jetzt und vor zehn Jähren, mit genauen Prozentangaben. Majken wurde nicht gefragt, was sie zwischen den Beinen habe, da alle nur zu genau wussten, dass sie äußere und innere Schamlippen hatte, eine Scheide, eine Gebärmutter, Eileiter und Eierstöcke – höchstwahrscheinlich alles ordentlich mit den Zahlen eins bis sechs durchnummeriert, wie auf der Anschauungstafel, die sie mit ihrem Zeigestock zerschrammte. Jetzt stand also Majken da und bewachte unser Klassenfest mit Argusaugen hinter ihren großen runden Brillengläsern. Ob sie wohl eingreifen würde, wenn die Jungen auf mich losgingen? Aber in ihren Augen war es bestimmt selbstverständlich, dass man einen Schwächling wie mich in die Mangel nahm. »Na?«, sagte Anders. »Wen würdest du denn gern ficken?« »Deine Mami?«, schlug Niklas vor, worauf die Umstehenden kicherten und Würgelaute von sich gaben. »Yvonne ist doch einsame Spitze, was?« »Ja klar«, sagte ich. Yvonne hatte einen zu engen rosa Pulli an und einen zu kurzen schwarzen Rock, ihre Lippen waren leuchtend rosa geschminkt, und das ganze Mädchen roch nach Frau – schwül und süßlich wie eine reife Frucht.
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»Aber Yvonne ist mein Mädchen«, betonte Anders. »Übrigens glaube ich kaum, dass du bei ihr Chancen hast. Und wenn du es je versuchst, dann wehe dir! Geschnallt?« Und ob ich das geschnallt hatte! Dann versuchte ich mir vorzustellen, mit welchem der Mädchen ich eventuell befreundet sein könnte. Die einzige wäre wohl Eva, die schweigsame Eva mit den großen Augen. Ihre Brust unter der gepunkteten Bluse war ebenso flach wie die eines Jungen, und ihr weiches, ungeschminktes Gesicht war das eines Kindes. Ich hatte mir schon ein paar Mal ausgemalt, dass sie und ich Freunde werden könnten. Dass sie sich in mich verlieben könnte und mich zu Hause besuchen, mit mir Tee trinken und Platten hören würde. Vielleicht würden die anderen mich in Ruhe lassen, wenn ich eine Freundin hätte? Aber Eva stand sicher so weit unten auf der Rangliste der sexy Mädchen, dass ich mich nur lächerlich machen würde, wenn ich mit ihr befreundet wäre. Plötzlich verließen Yvonne und ihre Freundin die Mädchengruppe und kamen mit wiegenden Hüften auf uns zu. Yvonne blieb vor Anders stehen, der daraufhin die Haare zurückwarf und sich auf die Lippen biss. »Na, was ist, hast du keine Lust zum Tanzen?«, fragte sie. »Da läuft nichts«, sagte Anders, und die anderen murmelten zustimmend. »Trübe Tasse«, sagte Yvonne. Dann fiel ihr Blick auf mich. Ich errötete und wusste nicht, wohin ich sehen sollte. »Jimmy«, sagte sie spöttisch, »du willst natürlich tanzen, nicht wahr?« Sie gehörte sonst zur Gruppe meiner Peiniger, und mir schien, als hätte sie auch jetzt ein kleines grausames Funkeln im Auge. Oder meinte sie es etwa ernst? Ich wurde völlig verwirrt und sagte nichts. »Also, von mir aus, tanzen wir eben«, sagte Anders verbissen. Ich verdrückte mich in eine Ecke neben ein Bücherregal. Dort setzte ich mich hin und tat so, als würde ich lesen, während ich 21
in Wirklichkeit davor zitterte, was für besondere Qualen die anderen sich wohl für heute Abend ausgedacht hatten. Eine Zeit lang blieb ich dort hocken und begann mich schon darauf vorzubereiten, unbemerkt nach Hause zu schleichen, als Anders wieder zu mir herüberkam. »Hast du schon wieder ein Lexikon gefunden?«, fragte er säuerlich. »Nein, das ist ein Buch über Indianer.« »Aha, ich dachte, du würdest nur Nachschlagewerke lesen.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Hör mal, ein paar von uns kommen mit zu mir nach Hause, meine Alten sind nicht da, sturmfreie Bude! Kommst du mit?« Aha! Gefahr im Verzug. »Nein, ich bleibe lieber hier.« Meine Stimme klang in meinen Ohren wie ein dünnes Krächzen. »Mensch, bist du etwa sauer, weil wir dich ein bisschen hochgenommen haben? Das spannst du doch, dass das nur Ulk war?« Niklas und Peter kamen auch her, vermutlich witterten sie noch mehr Ulkmöglichkeiten. »Kommt er mit?«, fragte Niklas. Das war es also, was sie gemeinsam ausgeheckt hatten. »Nee, der Kleine will heim zu Mami«, sagte Peter. Und da wurde ich dann doch wütend. »Also, von mir aus«, sagte ich. »Ich komme mit.« »Der wird uns doch bloß verpfeifen«, wandte Peter ein. Was denn verpfeifen? Mein Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen, aber jetzt konnte ich mich nicht mehr aus der Affäre ziehen. Und wer weiß – wenn ich vorgab zu glauben, dass sie mich akzeptierten, würden sie es vielleicht auch tatsächlich tun. Anders hatte eine ganze Bande zusammengetrommelt. Schräg vor mir trabte Eva, und das beruhigte mich etwas. Ich heftete meinen Blick auf ihren wippenden Pferdeschwanz und ihren gepunkteten Blusenrücken. Vielleicht war ich in Eva verliebt?
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Anders schloss die Wohnungstür auf, und wir traten ein. Die anderen wirkten übertrieben aufgekratzt, ich dagegen zitterte im tiefsten Inneren, und meine Nackenmuskeln verkrampften sich vor Angst, während meine Mitschüler sich an der Tatsache der sturmfreien Bude vor Glück zu berauschen schienen. Und Eva, war Eva auch so glücklich? Sie hängte ihre Jacke neben meine Jacke, ohne irgendwelche Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. Warum war sie mitgekommen? War sie unter der unschuldigen Oberfläche etwa doch eine von ihnen? Anders hatte ein ganz normales Zimmer voller normaler Sachen. Das überraschte mich. Auf seinem Bett thronte sogar ein kahler Teddybär. Eigenartig, dass dieselben Hände, die mich an die Schulmauer gepresst hatten, auch mit diesem Teddy gespielt und geschmust hatten. Mit einem verlegenen Lächeln warf Anders den Teddy auf den Boden. »Mein Alter hat Bier im Kühlschrank stehen«, sagte er. »Macht er denn keinen Stunk, wenn du das klaust?«, fragte Yvonne. »Ha, ich weiß doch, wie ich meinen Alten nehmen muss«, sagte Anders. »Wo sind deine Eltern denn?«, wollte Gunilla wissen. »Fort. Irgendwo. Ist mir doch scheißegal.« »Meine Alten sind immer daheim«, sagte Gunilla gequält. »Da läuft überhaupt nichts. Die gehen nicht mal tanzen. Was jobbt dein Alter denn so?« »Nachtwächter«, sagte Anders. »Irgendwo gibt’s auch ein paar Kippen, glaube ich.« Er verschwand kurz und kehrte mit einem Aschenbecher zurück. »Mein Alter jobbt im Lager«, sagte einer, und dann begannen sie alle darüber zu reden, was ihre Eltern machten. »Und dein Alter, Jimmy? Was macht der? Der schreibt wohl Nachschlagewerke?« 23
»Jimmys Alter ist garantiert Professor ...« »Mein Vater ist Abteilungsleiter«, sagte ich. Und da war’s natürlich passiert. »Mein Vater ist Abteilungsleiter«, ächzte Peter. »Ich glaub, mich streift ein Bus.« »Lass mal ein Bier rüberwachsen!« »Jimmy hat keinen Alten, Jimmy hat einen Vaaater!« »Jetzt hört doch endlich auf, ihn dauernd hochzunehmen.« Yvonne, ganz Weib, saß nach hinten gelehnt auf dem Bett. Ich begriff nicht, warum sie mich verteidigte. Ich fürchtete mich vor ihr, vor ihren Launen, vielleicht aber noch mehr vor ihrer gerundeten Weiblichkeit, die ich nicht verstand und von der ich mich auch nicht angezogen fühlte. Anders war ganz Mann. Er hatte ein paar Zigaretten aufgestöbert und stand jetzt mit einem Glimmstengel im Mund und einer Bierdose in der Hand da. »Sieh an, sieh an, du legst dich ja gewaltig für unseren kleinen Streber ins Zeug«, sagte er. »Man könnte fast meinen, du fährst auf den Bubi ab!« »Red keinen Stuss!«, wehrte Yvonne ab. Und ich saß da und versuchte, Yvonne sexy und aufreizend zu finden. Ich schaute verstohlen ihre Brüste an, aber das einzige, was mir dabei einfiel, war das Euter einer Kuh. Wirklich eine typische Provinzlerassoziation! Ich errötete fast in meiner Ecke. Wenn die anderen gewusst hätten, worüber ich mir den Kopf zerbrach, hätten sie sich halb kaputt gelacht. Jetzt müsste ich doch lüsterne Gefühle bekommen, dachte ich – immerhin bin ich ein Mann. »Willst du keine Kippe, Jimmy?«, fragte Anders befehlerisch. Und ich wagte nicht, die Zigarette abzulehnen, sondern nahm sie und steckte sie in den Mund, obwohl ich es überhaupt nicht wollte, obwohl ich eine Todesangst davor hatte, den Rauch in die Lunge einzuziehen, zu husten und nach Rauch zu riechen, wenn ich nach Hause käme. Wenn ich überhaupt nach Hause käme, dachte ich. Denn wer konnte schon wissen, was sie noch 24
alles mit mir vorhatten? Ich fühlte mich wie ein Tier, das eingekreist worden ist, um geschlachtet zu werden. Ich wartete nur auf die Blicke und Gesten, die den wirklichen Angriff signalisierten. Jedes Mal, wenn Anders sich dazu entschlossen hatte, mich ordentlich aufs Korn zu nehmen, pflegten seine Augen fasziniert aufzuleuchten, wie die eines kleinen Jungen, der darangeht, einem Insekt die Beine auszurupfen. Sobald ich diesen Blick sah, wusste ich, dass ich verloren war. Der Rauchgeschmack in meinem Mund war so bitter, dass ich wohl oder übel noch einen Schluck Bier trinken musste; jetzt roch ich bestimmt sowohl nach Rauch als auch nach Alkohol. »Wollen wir denn gar nichts machen?«, gähnte Gunilla. »Hier ist es stinkfad.« »Wir könnten was spielen«, schlug Maria vor. »Was denn spielen?« Anders blies eine Rauchwolke aus. »Bestimmt nicht Mutter, Vater und Kind, wenn du das geglaubt hast. Wir könnten doch Russische Post spielen?« »Aber mit echten Küssen!«, sagte Gunilla. Und da sah ich, wie Anders kurz überlegte, sich zu mir umdrehte und mich mit diesem Blick musterte, der mich vor Angst erstarren ließ. Mit diesem Herrscherblick ... »Jimmy geht als Erster vor die Tür«, entschied er.
Ich stand im Flur vor Anders’ Zimmer und hörte sie durch die geschlossene Tür hindurch kichern und reden. »Bist du noch da, Jimmy?«, rief Anders’ Stimme. »Bestimmt ist er schon heim zur Mami.« »Jimmy, wir sind fertig. Kuss, Umarmung oder Klaps?« »Klaps«, sagte ich. »Du meinst natürlich Kuss!« »Klaps«, wiederholte ich und hörte, wie idiotisch ich klang. Klaps, klaps, Klapsmühle ... 25
»Kuss, meinst du. Was für eine Zahl?« »Dreizehn«, sagte ich. Die Tür ging auf, und drinnen im Zimmer warteten Gunillas kaugummirosa Lippen auf mich. Alle kicherten. »Kuss, Kuss«, riefen zehn schadenfrohe Stimmen um mich herum. »Weißt du, wie man das macht – ein Mädchen küssen?«, fragte Anders. Ihr Gelächter schien mich ersticken und vernichten zu wollen. Ich drehte mich um und ging hinaus. Ich schloss die Tür und ließ das Gelächter dahinter zurück. Dann wühlte ich in dem Schuhhaufen in der Garderobe nach meinen Sandalen. Irgendjemand rief etwas hinter mir her, aber niemand versuchte, mich aufzuhalten. Als ich auf die Straße hinauskam, merkte ich, dass ich meine Hände in den Taschen zu Fäusten geballt hatte. Ich bekam sie fast nicht mehr auf.
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3 Nein, ich hatte wirklich keine Ahnung davon, dass seine Mitschüler ihn so quälten. Woher hätte ich das wissen sollen? Er sagte ja kein Wort. Natürlich habe ich gemerkt, dass er einsam und traurig war, aber wenn ich mit ihm sprechen wollte, ging er jedes Mal auf Distanz. Ich wusste nichts von dem ganzen Treiben, bis die Sache mit seiner Jacke passierte. Warum plagen sie ihn nur so! Ich weiß nicht, aber man kann ihm das doch nicht schon so früh angemerkt haben, oder? Nein, die Ursache war vermutlich, dass wir vom Land kamen und dass Jim so ein zartes und sensibles Kind war. Er rauchte nicht und hörte auch nicht Pop oder Rock oder so etwas. Harald meinte, die anderen seien nur neidisch, weil Jim so intelligent sei – das sei der wahre Grund. Er sagte, Jim müsse lernen zurückzuschlagen, das sei das einzig Richtige. Ja, ich weiß, ich hätte mich mehr anstrengen müssen, um Jim zu helfen. Aber, du lieber Gott, es war einfach unmöglich, seine Schale zu durchbrechen, und manchmal hatte ich fast das Gefühl, dass er mich hasste. 27
Natürlich hatte ich ihn lieb, ich bin doch seine Mutter. Aber ich verstand das alles wohl nicht so richtig. Wie damals, als er sich weigerte, in die Schule zu gehen, und überhaupt nicht mehr aus dem Haus gehen wollte. Unser Arzt riet mir, mit dem Jungen zum Psychiater zu gehen. Aber ich hielt das nicht für richtig, und Harald wäre ja sowieso dagegen gewesen. Der Junge selbst wollte gar nichts. Manchmal war es geradezu erschreckend, ihn so zu sehen. Es war, als hätte er vor allem nur noch Angst. Als hätte er irgendwie Angst vor dem Leben an sich.
Wer hatte sie verpfiffen? Wer hatte zu Hause von Anders’ elternfreiem Abend erzählt? Die Mutter von irgendjemandem, der anonym bleiben wollte, hatte Anders’ Vater angerufen und ihm gesagt, er solle gefälligst besser auf seinen Sohn aufpassen. Für Anders hatte das Gezeter und gestrichenes Taschengeld bedeutet. Sein Versuch, uns seinen Mut und seine Reife zu demonstrieren, war zu einem albernen Jungenstreich degradiert worden. Das erforderte dringend Rache. Wer der Schuldige war, wusste zwar niemand so genau. Aber es ließ sich ja leicht erraten. Ich selbst hatte meiner Mutter nichts erzählt. Sie hatte den Rauchgeruch zwar bemerkt, aber ich hatte behauptet, ein paar Jungen hätten die kurze Abwesenheit der Lehrerin dazu benutzt, auf dem Fest zu rauchen. »Was ist das eigentlich für eine Schule, in die du da gehst?«, fragte meine Mutter. »Ich hoffe doch sehr, dass du nicht vorhast, es ihnen nachzumachen. Was haben diese Jungen überhaupt für Eltern?«
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Den ganzen Schultag hörte ich die anderen flüstern, aber erst nach der letzten Stunde wurde ich regelrecht angeklagt. Wie so oft standen sie vor dem Schulhof und warteten auf mich. »Jimmy«, sagte Anders. »Ja, was ist?« »Ich habe doch gesagt, dass du uns nicht verpfeifen sollst!« »Ich habe niemanden verpfiffen.« Anders lächelte ungläubig. »So, und wer hat denn dann gepfiffen? Einer von uns etwa?« Ich begegnete Evas Augen und sah meine eigene Angst darin gespiegelt. War sie es gewesen? Sie gehörte nicht zu ihnen. Die Angst machte uns verwandt. Sie stand schweigend da und fingerte an ihrem Kragen herum. Hatte sie etwa ein schlechtes Gewissen? Sie schien sich krampfhaft darum zu bemühen, ihre Angst vor den anderen zu verbergen. »Naa, wer hat denn hier gepfiffen?« »Ich nicht«, sagte ich. Ichnichtichnichtichnicht hallte es in meinem wild hämmernden Herzen wider. Ich renne. Sie rennen. Ihre Füße hämmern gegen den Boden, es klingt wie das Knattern von Maschinenpistolen. Die Angst! Sie erfüllt mein ganzes Ich, will mich sprengen. Die ganze Welt besteht nur noch aus Schritten, aus kaltem Schweiß und rasenden Herzschlägen. Mein Herz wächst und wächst, bis es den ganzen Brustkorb mit seinem Pochen ausfüllt. Sie packen meine Arme. »Jimmy, wir wollen nur, dass du es zugibst.« »Ich war es nicht.« »Warum bist du so schnell nach Hause gegangen? Hat es dir denn nicht gefallen bei Anders?« »Mir war schlecht.« »Du hast Gunilla traurig gemacht.« »Das war echt schwach von dir, dich so einfach zu verpissen ...« »... und verpfiffen hast du uns auch!« 29
»Das kapierst du doch, dass man sich so nicht benimmt –Freunden gegenüber schon gar nicht!« Gelächter. Dann reißen sie mir die Jacke vom Leib. Es ist eine ganz neue Jacke. Anders wirft sie in eine Pfütze und hüpft dann mit Niklas auf ihr herum, dass das Wasser nur so spritzt. Als ihnen das keinen Spaß mehr macht, sagt Anders: »Los, setz dich auf deine Jacke!« Als ich mich weigere, drücken sie mich mit Gewalt ins Wasser hinunter. »Jetzt bleibst du zehn Minuten hier sitzen«, sagt Anders. »Wir hauen ab, lassen aber einen Wachposten zurück, der sieht, wenn du aufstehst. Nächstes Mal überlegst du es dir vielleicht, bevor du uns wieder verpfeifst!« »Was wird denn seine liebe Mami dazu sagen?« »Aber Jimmy, hast du schon wieder die Hose voll gepinkelt?« »Nein, jetzt machen wir Schluss«, sagt Gunilla. »Er flennt ja schon!« »Ich flenne überhaupt nicht!« Die Behauptung, ich würde weinen, ist der Gipfel der Demütigung. Plötzlich scheint ihnen das alles keinen Spaß mehr zu machen, rasch und verstohlen verdrücken sie sich. Kaum sind sie außer Sichtweite, da stehe ich auf. Das Wasser läuft mir an den Beinen hinab. Aber das schmutzige Wasser ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind der Hass und die Demütigung. Ich will etwas zerstören, etwas Schönes oder Kostbares zerschmettern. Es kann unmöglich wahr sein, dass ich es bin, der hier frierend und gedemütigt in der Sonne steht. Leute gehen vorüber und sehen mich und meine nasse Jacke, und ich kann mich nicht dazu überwinden, die Jacke aufzuheben. Es ist eine teure Jacke, aber ich gehe ohne Jacke nach Hause und fühle mich wie ein Verbrecher. Ich gehe in meiner nassen Hose nach Hause und möchte am liebsten jemanden erschlagen, ganz egal, wen. Jemanden, der glücklich ist.
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»Aber Jimmy, was ist denn passiert? Du bist ja ganz nass! Und wo hast du deine Jacke gelassen?« Das Gesicht meiner Mutter sah plötzlich genauso aus wie damals, als ich mich als kleiner Junge verletzt hatte. Schockiert und erstarrt. Als wäre sie diejenige, die verletzt worden sei. Ich verabscheute diesen Gesichtsausdruck. »Die Jacke habe ich in der Schule vergessen«, sagte ich. »Du lügst. Ich seh es dir an, dass du lügst.« Sie trat näher zu mir her und sah mich empört und zugleich mitfühlend an. »Jim, kannst du nicht ausnahmsweise einmal mit mir reden? Ist irgendein Kind böse zu dir gewesen?« »Sei nicht albern!« Ich verabscheute ihre Wortwahl, die mich zu einem Baby abstempelte. »Jetzt müssen wir aber miteinander reden. Sonst sehe ich mich gezwungen, deine Lehrerin anzurufen und mit ihr zu sprechen.« »Das tust du nicht!« »Aber begreifst du denn nicht, was ich mir für Sorgen mache. Mit irgendjemandem muss ich doch reden, sonst –« »Okay, Mama«, sagte ich. »Die anderen haben mir die Jacke vom Leib gerissen und sie in eine Pfütze geworfen.« Plötzlich fühlte ich mich innerlich ganz eiskalt, wie erstarrt. Meine Stimme klang entsprechend. »Deine Schulkameraden? Aber warum, Jimmy?« »Was weiß ich.« Sie war ganz weiß im Gesicht. Warum regt sie sich denn so auf?, dachte ich. Es war mir peinlich, sie so schockiert zu sehen. Mir kam es irgendwie würdelos vor, sich davon so stark berühren zu lassen. »Ich wusste es«, sagte sie. »Ich wusste, dass es so kommen würde. Was sollen wir nur tun, Jimmy?« Ich zuckte die Schultern.
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Aber als ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir geschlossen hatte, kroch ich unter die Bettdecke, genau wie früher, als ich klein war. Als mein Vater nach Hause kam, lag ich immer noch im Bett. Ich hörte ihre gedämpften Stimmen draußen in der Küche. Dann klopfte es an die Tür, und ich kroch rasch aus meinem Versteck heraus. Mein Vater kam herein und machte das Licht an. Er sah mich sehr ernst an, wie ein Politiker, der eine wichtige Debatte beginnen will. »Deine Mutter hat mir erzählt, was passiert ist«, sagte er. »Aha«, sagte ich. Er räusperte sich und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Ein Geruch nach Pfeifentabak und Haarwasser erfüllte das Zimmer. »Also, jetzt wird es wohl am besten sein, wenn wir diese Sache gründlich besprechen«, sagte er. »Hast du eine Ahnung, warum sie dir so zusetzen?« »Weil es ihnen Spaß macht, vermute ich.« »Unsinn. Es muss ja einen einleuchtenden Grund geben. Natürlich sind sie neidisch auf dich.« » Warum denn?« »Wegen deiner guten Noten natürlich. Und weil du dich ordentlich benimmst. Es sind immer diejenigen, die es zu etwas bringen im Leben, die den Neid der anderen hervorrufen. Du musst ganz einfach lernen, dir Respekt zu verschaffen. Wir leben in einer harten Welt, das weißt du.« Ja, das hatte ich inzwischen erfahren. Ich schwieg, und er rückte näher zu mir her, sodass ich jeden einzelnen Punkt der Bartstoppeln auf seinen Wangen unterscheiden konnte. »Du, ich werde dir etwas erzählen«, sagte er vertraulich. »In der Grundschule versuchten die anderen mich einmal zu verdreschen. Aber ich schlug so wild zurück, dass die halbe Klasse eine ganze Woche lang mit blauen Augen herumlief. Es ist eine traurige Tatsache, aber man muss den anderen zeigen, was man 32
wert ist, sonst setzt man sich nicht durch«, klärte er mich in freundlichem Tonfall auf. »Ich weiß«, sagte ich. »Aber ich kann mich nicht prügeln. Ich weiß nicht, wie man das macht.« Da müsse man einfach nur zurückschlagen, sagte er. Das sei eine Art Instinkt. Das Prügeln müsse man genauso lernen, wie man das Schwimmen lerne. Um nicht zu ertrinken. Ich hörte kaum, was er sagte. Seine Stimme erreichte mich nicht mehr. Er redete noch eine Zeit lang auf mich ein, und abschließend sagte er, er glaube an mich und ich solle mit meiner Mutter Geduld haben. Dann legte er mir die Hand auf den Kopf, fuhr mir durch die Haare und ging hinaus. Nachdem er gegangen war, weinte ich. Gott weiß, warum ich ausgerechnet da zu weinen begann, nachdem ich es doch bisher nicht getan hatte.
Am folgenden Tag kam ich viel zu spät in die Schule. Ich war der Einzige, der zu spät kam. Der Schulhof war leer und wirkte viel größer als sonst, wie eine Wüste. Ein vergessenes Sprungseil kroch über den Asphalt, und – weit vorne gähnte das Schultor. Es kostete mich große Überwindung, darauf zuzugehen. Als ich das Schulgebäude betrat, war mir, als müsste ich mich gleich übergeben. Der Unterricht hatte schon längst begonnen; die Treppen und Korridore waren leer und badeten in einem grauen, kalten Licht; durch die geschlossenen Türen drang ein dumpfes Gemurmel, von Scharren und Gelächter unterbrochen. Ich blieb lange vor der Tür zu unserem Klassenzimmer stehen und lauschte diesem Gemurmel. Ich wusste, dass sie gerade mit Gruppenarbeit beschäftigt waren. Ich hörte Anders lachen, Gunillas Stimme, Majkens Ermahnungen. Sogar das knirschende Geräusch der Kreide auf der schwarzen Tafel hörte ich. Und all diese Geräusche drangen wie Nadeln in mich ein, bis ich vor 33
Angst, Widerstand und Abscheu fast zersprungen wäre. Schließlich hörte ich, wie Majken sich mit energischen Schritten der Tür näherte, und dachte verzweifelt: »Sie weiß, dass ich hier stehe!« Also hob ich die Hand und klopfte. »Herein!«, sagte Majken. Ich machte die Tür auf. Da saßen sie; alle Gesichter drehten sich zu mir um, und ich hatte das Gefühl, als wären meine Kleider wieder nass und eiskalt. Es ist mir unmöglich, dieses Klassenzimmer zu betreten, dachte ich; wenn ich hineingehe und mich zu ihnen setze, werde ich sterben, werde ich mich auflösen. »Warum kommst du zu spät?«, fragte Majken. Ich öffnete den Mund und versuchte zu antworten. Doch da war es, als sei etwas in meinem Kopf abgeschaltet. Plötzlich hatte ich Angst davor, meine eigene Stimme zu hören. Das Klassenzimmer war unwirklich und weit weg, wie in einem Traum: alle diese Gesichter mit ihren kichernden Mündern, die glänzenden gelben Bänke, die Zeichnungen, die grell an der Wand leuchteten. Und vor mir türmte Majken sich auf, ihr gemusterter Hosenanzug flimmerte mir vor den Augen. Ich glaubte, ohnmächtig zu werden. »Mir ist schlecht«, flüsterte ich. »Ich muss heimgehen.« Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, verließ ich das Zimmer. »Will jemand Jim nach Hause begleiten?«, hörte ich sie hinter mir sagen, und da begann ich zu rennen. Ich rannte die Treppe hinunter und über die Wüste des Schulhofs, und das Sonnenlicht stach mir in die Augen. Alles ringsum war plötzlich unwirklich geworden. Das Gefühl, das mich oben im Klassenzimmer überfallen hatte, wollte mich nicht verlassen. Am liebsten wäre ich mit geschlossenen Augen gerannt. »Mama, ich bin krank«, sagte ich. Und das war ich auch. Irgendetwas war mit mir geschehen, war abgeschaltet worden.
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Während der drei Wochen bis zu den Sommerferien verließ ich kaum mein Zimmer. Ich wagte fast nicht zu sprechen, da mir meine Stimme so eigenartig in den Ohren klang. Mein Körper war mir seltsam fremd, und ich traute mich kaum im Spiegel anzuschauen aus Angst, mich nicht mehr wieder zu erkennen. Am liebsten lag ich ganz still da, mit geschlossenen Augen, denn wenn ich mich nicht bewegte, konnte ich mir einbilden, ich existiere nicht mehr. Dann existierten nur noch meine Gedanken, mein geheimes Herz – wie eine kleine Insel mitten in der Wirklichkeit. Ja, das Schlimmste war das Gefühl, dass nichts eigentlich wirklich war. Ich konnte zum Beispiel dasitzen und meine Hand anschauen und mich fragen, was dieser scheußliche Fleischklumpen mit mir zu tun habe. Und der Gedanke an all die anderen Menschen, die sich selbst auch als Ich erfassten, widerte mich fast am meisten von allem an. Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatte die Welt um mich herum ihr vertrautes Gesicht verloren und war zu etwas vollkommen Unerklärlichem geworden. Klick – wie wenn eine Glühbirne kaputtgeht. »Ob das wohl ein Vitaminmangel sein kann, Jimmy? Was meinst du?«, sagte Mama. »Oder vielleicht eine Erkältung, die nicht zum Ausbruch kommt?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Mir kommt es vor, als ob mich jemand ausgeschaltet hätte.« »Ausgeschaltet?« Meine Mutter machte ein erschrockenes Gesicht. »Vielleicht ist es diese Geschichte mit deinen Kameraden, die dich krank macht?« Ich zuckte abweisend die Schultern. Jetzt wollte sie mich wieder dazu bringen, mich ihr zu öffnen. Aber ich fand es demütigend und beschämend, mich ihr zu öffnen, mich meiner Mutter auszuliefern wie ein kleines Kind. Übrigens würde sie bestimmt nicht verstehen, was ich meinte. Sie würde mich nur
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mit aufgerissenen, bekümmerten Augen anschauen und ich würde mich wieder einmal schuldig fühlen. »Papa braucht nichts davon zu erfahren«, schärfte sie mir ein. »Er hat genügend Sorgen mit seiner Arbeit. Über das Benehmen deiner Mitschüler hat er sich schon genug aufgeregt. Er sagte, ich hätte dich verzärtelt, und das sei der Grund, warum sie hinter dir her seien.« Bei diesen Worten sah sie sehr entrüstet aus. Und ich schämte mich. Ich schämte mich in Grund und Boden. Jetzt hatte sie wirklich den Beweis dafür, dass ich ein empfindlicher Junge war, ein kleiner Schwächling, der sich von anderen in die Enge treiben ließ und den man schützen musste. Nachdem ich mich mehrere Tage geweigert hatte, in die Schule zu gehen, schleppte sie mich zu einem Arzt. »Vielleicht bist du nur überanstrengt«, sagte sie auf dem Weg dorthin. »Als du klein warst, bist du manchmal sehr müde geworden und hast dich in dein Schneckenhaus zurückgezogen. Weißt du noch?« Ich antwortete nicht, sah nur meine Füße an, die automatisch vorwärts gingen: eins, zwei, eins, zwei. Wenn ich die Schritte zählte, fühlte ich mich sicherer, da hatte ich wenigstens etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte. »Wir hätten nie umziehen sollen«, sagte meine Mutter. »Weißt du noch, wie gut es dir ging, als du immer draußen im Freien spielen konntest? Weißt du noch, als du dauernd im Stall gesteckt hast und hinter diesem Krister herliefst? Wie ein kleines Hündchen.« Sie lachte nervös. Einen kurzen Moment lang wurde mir schwindelig. Ich erinnerte mich daran, wie es gewesen war, neben Krister auf die Felder hinauszufahren, und diese Erinnerung schmerzte. Inmitten all dieser grauen Trostlosigkeit empfand ich sie fast als Hohn. Aus einer anderen, entfernten Wirklichkeit stieg ein flüchtiger Duft nach sonnenwarmem Heu auf. Ich presste die Zähne aufeinander.
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Der Arzt untersuchte mich und sprach anschließend mit meiner Mutter. Als sie aus dem Sprechzimmer herauskam, wirkte sie sehr aufgebracht, sie wollte aber nichts verraten, bevor wir wieder unten auf der Straße waren. »Er hat dir ein paar Beruhigungstabletten verschrieben«, sagte sie leise, »und dann hat er gemeint, wir sollten die PKJ aufsuchen.« »Was ist denn das?« »Die Psychiatrische Kinder- und Jugendberatung.« Aha. Das war es also. So einer war ich, einer von diesen lächerlichen Typen, die über ihre Probleme reden mussten. Wie demütigend. Jedes Mal, wenn ich an der Tür des Schulpsychologen vorbeiging, hatte ich ein unangenehmes Gefühl gehabt. Dort hockten immer diese Leute mit ihren Problemen herum und warteten auf ein Gespräch, und ich versuchte stets, so schnell wie möglich an ihnen vorbeizugehen, um nur nicht mit einbezogen oder gar entlarvt zu werden. Denn wer Probleme hatte, war nun einmal lächerlich. Es war eine Schande, nicht allein mit allem fertig zu werden. Demnach war ich jetzt verurteilt und abgestempelt. Ich würde nie ein richtiger Mensch werden, nur ein halblebendiger, sensibler Junge, über den sich alle ins Fäustchen lachten. »Ich habe dem Arzt gesagt, dass deine Schulkameraden viel eher psychologische Beratung brauchen«, sagte meine Mutter verärgert. »Dein Vater würde überschnappen, wenn er das hier erführe. Er spricht doch immer davon, dass man das Leben nur richtig anpacken muss, und mit Tante Cecilia will er ja kaum etwas zu tun haben, nur weil sie früher einmal in der Psychiatrie war. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen.« Ich musterte meine Füße. Wie viele Schritte waren es nach Hause?
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»Nein, ich glaube, du musst dich ganz einfach ein wenig ausruhen«, fuhr sie fort. »In letzter Zeit hast du zu viel gelernt. Der Arzt hat gemeint, du könntest die letzten Wochen ruhig freinehmen. Ich hole deine Bücher in der Schule, dann kannst du zu Hause lernen und versäumst nicht so viel.«
Meine Mutter rief Majken an und sagte, ich sei überanstrengt. Meinem Vater sagte sie, ich hätte eine Nebenhöhleninfektion. Jeden Morgen kam sie in mein Zimmer, um mich zu wecken, und stellte das Frühstückstablett neben mein Bett – Tee und leckere Brote, Obst und Vitamintabletten. Und ich sah sie jedes Mal mit derselben ausdruckslosen Miene an. Sie wartete. Ich wusste, dass sie darauf wartete, bis ich endlich meine zwölfjährige Seele umkrempeln und ausstülpen würde, um sie ihr auf einem Tablett zu servieren, genau so, wie sie mir das Frühstück servierte. Täglich fragte sie mich die Hausaufgaben ab. Manchmal verabscheute ich sie beinahe, gerade weil sie so freundlich und geduldig war, egal wie man sie behandelte. Anstatt wütend zu werden, huschte sie in ihr Zimmer, um dort zu weinen. Das Beste, was sie in dieser Zeit tat, war, dass sie mir eine Menge Jugendbücher kaufte, die ich verschlang. Auf diese Art lernte ich Captain Bigglesworth kennen, allgemein bekannt unter dem Namen Biggles. Seltsamerweise fand ich es außerordentlich beruhigend zu lesen, wie er und seine Kameraden deutsche Flugzeuge abschossen, Spione verfolgten und in fernen Ländern ihr Leben riskierten. Ich war Ginger, der Kopilot; oft lag ich in der Dunkelheit ganz still in meinem Bett und stellte mir vor, mein Flugzeug sei im Feindesland abgestürzt und ich läge verletzt in einem lehmigen Acker. Jeden Augenblick konnten die Deutschen kommen und mich finden. Doch da hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen und Biggles stand vor mir. Er kniete neben mir hin und sagte: Ich glaubte 38
schon, ich würde dich nie finden ... aber du bist ja verletzt! Lass mich deine Wunde verbinden ... Dann half er mir aufzustehen und stützte mich auf dem Weg zum Waldrand. Als ich einschlief, konnte ich seine Atemzüge noch an meinem Ohr hören ...
Am letzten Schultag ging meine Mutter in die Schule und holte mein Zeugnis ab, und mein Vater gab mir für jede Eins zehn Kronen, und dann fingen die Sommerferien an. Seit wir in die Stadt gezogen waren, verbrachten wir jeden Sommer einige Wochen bei meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter. Sie hatten ein großes Haus in der Nähe eines Sees und als kleiner Junge war ich immer voller Begeisterung zu ihnen gekommen. Die konnte ich jedoch diesmal nicht recht aufbringen. »Wie schön, jetzt kannst du wieder mit Papa und Großvater zum Angeln hinausfahren«, sagte meine Mutter ermunternd zu mir, als wir im Auto hinfuhren. Und ich erinnerte mich daran – oder war es die Erinnerung eines anderen, es kam mir alles so fern vor –, wie die Fischschuppen auf dem Boden lagen und wie kleine silberne Münzen glänzten, nachdem Großvater und ich unseren Fang gesäubert und ausgenommen hatten. Und wie ich in den Pflaumenbaum kletterte, um grüngelbe Pflaumen zu pflücken, wie es im Holzschuppen nach Holz roch und wie Großvater im Schaukelstuhl auf der Veranda saß und schaukelte, während die Insekten surrten und der See zwischen den Bäumen glitzerte. Die Sommer eines kleinen Jungen, voller Entdeckungen und Spiele, voller selbstverständlicher Dinge. Aber diesen kleinen Jungen kannte ich nicht mehr, er war mir fremd geworden. Bei meinen Großeltern schloss ich mich diesmal in die hinterste Kammer ein und vergrub mich in die Lektüre alter Zeitschrif39
ten. Mir kam es vor, als hätte es sogar der Sonnenschein auf mich abgesehen, um mich irgendwie zu entlarven. Beim Anblick des klarblauen Himmels und der grünen Bäume wurde mir übel. Draußen wuchs und gedieh alles, siedete und summte es von Leben. Ich aber gehörte nicht dazu, sondern fühlte mich nur bedroht. Manchmal musste ich wohl oder übel das große Zimmer mit dem offenen Kamin durchqueren, wo früher einmal ein kleiner Junge gesessen und Äpfel gebraten hatte. Ich schlich auf die Veranda hinaus und huschte rasch durch die Bäume zum Örtchen hinüber. Dort hockte ich dann im Halbdunkel und betrachtete die Illustriertenbilder, die an die Bretterwand geheftet waren. Ein Bild hatte es mir ganz besonders angetan. Es stellte ein junges Mädchen namens Katy dar und ihren Verehrer, den Seeräuber Schwarzer Ned. Der Schwarze Ned hatte einen Träger von Katys Kleid heruntergerissen, sodass ein halber schneeweißer Apfel zum Vorschein kam, und der Text unter dem Bild lautete: Schlampe! Dies wirst du mir büßen! Ich starrte Katy und den Schwarzen Ned wie hypnotisiert an, um die Antwort auf eine halbdefinierte Frage, die Lösung eines lebenswichtigen Problems zu finden. Was ist Liebe, Schwarzer Ned? Allmählich wurde mir nämlich bewusst, dass ich bald einer seltsamen Krankheit zum Opfer fallen würde, die Pubertät genannt wurde. Und ich starrte Katys weißen Apfel an um festzustellen, ob dabei irgendetwas mit mir passierte. Nachdem ich ein Weilchen ergebnislos gewartet hatte, dass etwas mit mir passierte, warf ich mich wieder ins Tageslicht hinaus und eilte in mein Versteck zurück. Wir blieben drei Wochen bei den Großeltern, und die meiste Zeit verbrachte ich in der Kammer. Meine Eltern versuchten, mich mit den verschiedensten Tricks ins Freie zu locken, und ich fühlte mich dabei wie ein Hund, mit dem man Gassi gehen muss. 40
Eines Abends belauschte ich zufällig ein Gespräch, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Sie glaubten wohl, ich schliefe schon, aber ich saß dicht neben der Kammertür und hörte alles, was draußen im Zimmer gesagt wurde. Sogar das Prasseln des Kaminfeuers hörte ich. »Was ist eigentlich mit Jim los?«, fragte Großmutter. »Er hat sich so verändert.« »Na ja«, sagte meine Mutter. »Das ist wohl das Alter. Außerdem hat er sich in letzter Zeit ein wenig überanstrengt.« »Überanstrengt?«, sagte mein Vater. »Jim braucht sich doch wirklich nicht zu überanstrengen, um mitzukommen. Er ist ja kein Dummkopf!« »Es gibt doch andere Sachen als die Schule, die in diesem Alter schwierig sind«, flocht Großmutter ein. »Da beginnt man über alles Mögliche nachzudenken und zu grübeln. Ich kann mich noch gut erinnern, wie verschlossen und empfindlich du mit zwölf, dreizehn warst, Ulla-Britt.« »Vielleicht hat der Junge Mädchengeschichten im Kopf«, schlug Großvater vor und lachte. »Das glaube ich nicht«, sagte meine Mutter. »Er interessiert sich mehr für Bücher. Und außerdem ist er noch so jung, da kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass er schon an So Etwas denkt und –« »Natürlich nicht!«, unterbrach sie mein Vater. »Du sorgst schon dafür, dass ein richtiges altes Weib aus ihm wird, du liegst ihm ja von früh bis spät in den Ohren, wie empfindlich er ist! Und dabei würde es dem Burschen nur gut tun, etwas abgehärtet zu werden, sonst kneift er später im Leben, wenn er mit echten Schwierigkeiten konfrontiert wird.« »Hat er denn nette Freunde?«, erkundigte sich Großmutter. »Na ja«, sagte Papa, und ich hörte es seiner Stimme an, dass er verlegen war, »ich glaube, auf diesem Gebiet ist er ziemlich anspruchsvoll. Er ist wohl viel weiter als die meisten Jungen seines Alters. Was hältst du von einer Partie Schach, Evert?« 41
Ich kroch unter die kühle, schwere Bettdecke, schloss die Augen und betete: Lieber Gott, hilf mir, dass ich meine Eltern nicht hasse, und lass mich wieder gesund werden und lass mich verstehen, warum ich lebe. Davon, dass meine Mitschüler mir so zugesetzt hatten, hatten sie nichts erwähnt. Dafür war ich an und für sich dankbar, aber gleichzeitig bestätigte es, was ich schon wusste: Es gab nichts Verächtlicheres, als geschlagen zu werden. Es war verächtlicher, geschlagen zu werden, als zu schlagen. Die lächerlichen, weibischen Außenseiter, das waren diejenigen, die geschlagen wurden. Ich verkroch mich unter der Decke, konnte aber dennoch nicht einschlafen. Warum muss man das Kind von irgendwelchen Eltern sein? dachte ich. Irgendwo muss es doch einen Weg geben, den ich gehen kann, irgendwo muss es einen Weg, einen Platz, ein Leben geben, wo ich zu mir selbst finden kann – wenn ich je herausfinden sollte, wer ich selbst bin. Und wenn bis dahin überhaupt noch etwas von mir übrig ist, wenn die Unwirklichkeit mich bis dahin noch nicht völlig verschlungen hat.
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4 Am meisten beunruhigte es mich, dass Jim so viel allein war. Kinder sollen ja mit Gleichaltrigen zusammen sein. Das heißt, in der siebten Klasse hatte er ja einen Freund, aber ich glaubte nicht, dass dieser Freund ganz dasselbe Niveau hatte wie Jim. Dieser Junge wirkte irgendwie so roh und brutal. Harald sagte immer, Jimmy sei seinen Klassenkameraden weit voraus, sei viel reifer als sie und so. Woher er das nun wieder wissen wollte. Aber für mich war es mehr oder weniger selbstverständlich, alles zu glauben, was Harald sagte. Er war ja gebildet und hatte eine so gute Stellung. Harald war immer beschäftigt, keine Minute konnte er stillsitzen. Im Urlaub angelte er oder reparierte Stühle. Und sonst musste er immer häufiger Überstunden machen, er war fast nie zu Hause. Ich wusste natürlich, was das bedeutete. Aber ich will nicht von mir reden. Ich möchte nur feststellen, dass ich Harald wirklich liebte. Ja, nicht weil er tüchtig und erfolgreich war, diese Seite seiner Persönlichkeit war es nicht, die mich anzog, sondern weil er in seinem tiefsten Inneren ein klei43
ner Junge war. Wahrscheinlich war es falsch, ihn ausgerechnet wegen der Eigenschaft zu lieben, für die er sich schämte und die er am liebsten vergessen wollte. Aber ich konnte nichts daran ändern. Ach, all das ist ja so banal. Dieselbe Geschichte in tausendfacher Variation. Fast alle Ehen sind doch mehr oder weniger unglücklich. Nach einiger Zeit, nach ein paar Jahren ... Ist es nicht so?
Der Sommer verstrich, und nichts hatte sich verändert. Es lässt sich kaum beschreiben, wie es ist, vor lauter Angst kein Kaufhaus betreten zu können. Wie es ist, wenn man sich davor fürchtet, plötzlich zu verschwinden, vom Licht der starken Lampen ausgelöscht zu werden oder von den Strahlen der freundlichen Sommersonne, die auf einen Platz herabscheint und ihn noch größer erscheinen lässt. Ich musste über seltsame Dinge grübeln, zum Beispiel kam es vor, dass ich mich davor fürchtete, außerhalb meines eigenen Körpers zu landen und ihn davongehen zu sehen, während mein Bewusstsein zurückgehalten wurde, in einer seltsamen Sphäre zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen. Die beste Art, die eigene Existenz spürbar zu machen, war, die Fingernägel fest in die Handflächen zu bohren, dass der Schmerz selbst zu einer Art Anwesenheit wurde. Immer wieder zwang ich mich dazu hinauszugehen, Läden zu betreten und Plätze zu überqueren. Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die Nagelabdrücke wie dunkle Halbmonde auf der rot werdenden Haut auftauchten, wenn ich die Hände öffnete. Im Herbst würde alles besser werden, redete ich mir ein. Dann würde ich in einer anderen Schule anfangen und ein neuer Jim werden. Ich würde in die siebte Klasse, in die Oberstufe kommen, und in der Oberstufe plagten einen die anderen doch nicht, oder? 44
Doch gleich als ich den Hof der neuen Schule zum ersten Mal überquerte, begann ich nach Zeichen Ausschau zu halten, dass alles genauso werden würde wie zuvor. Diese Jungen, die da an der Wand beieinander standen – sprachen die nicht über mich? Und da waren ja Stefan und Ove aus meiner alten Klasse. Aber von meinen eigentlichen Quälgeistern war keiner hier gelandet, weder Anders noch Krister noch Peter. Als ich Eva allein unter der Eingangstür stehen sah, verspürte ich einen kleinen Stich. Sie sah ein wenig älter aus und hatte eine neue Frisur, aber ihr Gesicht mit den großen dunklen Augen und den weichen Lippen war unverändert. Ich begrüßte sie, wagte aber nicht, mich mit ihr zu unterhalten. Unser neuer Klassenlehrer, Zottel, hatte einen Bart, trug eine Mao-Jacke und liebte Gruppenarbeit. Ganz im Gegensatz zu mir, denn jedes Mal, wenn die Gruppeneinteilung fertig war, fehlte mein Name auf der Liste, und Zottel sagte: »Bei welcher Gruppe möchte Jim Lundgren mitmachen?«, worauf alle seufzten. Jim Lundgren wollte am liebsten in einer kleinen Gruppe ganz für sich allein sein. Meine neuen Klassenkameraden hatten mir prompt den Stempel Streber aufgedrückt, und ich schämte mich für meinen Wissensdurst und versuchte, ihn so gut wie möglich zu verbergen. Zottel verabscheute ich, weil er gemeinsame Leistungen den individuellen vorzog. Dadurch bedrohte er das einzige Stückchen festen Boden, das mir noch verblieben war. Ein paar Wochen nach Beginn des neuen Schuljahres hatte mich immer noch niemand handgreiflich drangsaliert, obwohl sie mich natürlich alle recht seltsam fanden, das hatte ich schon bemerkt. Und ich wartete nur darauf, dass es wieder anfangen würde – jene speziellen Blicke, das Gelächter, diese ganz besondere Stimmung, die den Ausbruch von Grausamkeiten ankündigte. Ganz allmählich begannen sie mich ein bisschen hochzunehmen, sozusagen im Vorübergehen. Am Ende eines Schultages 45
konnte zum Beispiel ein Kranz aus spuckenassen Radiergummistückchen um meinen Stuhl liegen: Hier sitzt der Verachtete. Manchmal kritzelten sie meine Bücher voll, und während einer Gruppenarbeit begannen sie, mich damit aufzuziehen, dass ich so viele schwierige Wörter könne. Einer der Jungen nahm mein voll geschriebenes Blatt und zeichnete mit Filzstift etwas darauf. »Weißt du dafür ein schwieriges Wort?«, fragte er, und die anderen, die seine Zeichnung sahen, brachen in lautes Gelächter aus. Und schon stand Zottel neben mir und sah auf die Zeichnung hinunter. »Jimmy kann wirklich gut zeichnen«, sagte jemand. »Hm«, sagte Zottel taktvoll, »diese Dinge behandeln wir ja an und für sich in der Sexualkunde.« »Ich habe das nicht gezeichnet«, versuchte ich mich zu verteidigen. In der folgenden Pause wurde ich zum ersten Mal an die Wand gedrängt und beschimpft, und damit war alles wieder beim Alten.
Ich büffelte, büffelte und büffelte. Die Vorstellung, nicht der Beste zu sein, war mir unerträglich. Wenn ich ein paar Fehler in einer Klassenarbeit gemacht hatte, fühlte ich mich körperlich krank. Die roten Striche auf dem Blatt schwirrten mir wie giftige Insekten vor den Augen. Ich würde es ihnen schon noch zeigen, dass ich mehr wert war als sie, dass ich auf lange Sicht gewinnen würde. Und wenn ich meine fehlerfreien Arbeiten nach Hause brachte, leuchtete etwas wie Zärtlichkeit in den Augen meines Vaters auf, und er legte mir die Hand auf die Schulter. »Du wirst es zu etwas bringen im Leben«, sagte er. Was er nicht wusste, war, dass ich auf dem besten Wege war zu verschwinden. Die Unwirklichkeit hatte mich fest im Griff. 46
Manchmal während des Unterrichts versanken die Stimmen meiner Mitschüler in einem weit entfernten Gemurmel, das Licht nahm eine bedrohliche Helligkeit an, meine Hände schienen einer anderen Person zu gehören, und um ruhig zu bleiben, begann ich, alle Fächer in meinem Block mit Kreuzchen zu füllen, Blatt für Blatt mit kleinen ordentlichen, wahnsinnigen Kreuzchen. Aber inzwischen stand mein Entschluss fest – um jeden Preis würde ich es schaffen, ich würde kein Schwächling sein, ich würde es ertragen. Wenn nötig, würde ich hart wie Stein werden.
In der siebten Klasse, im Frühjahr, geschah Das Wunder, das heiß Ersehnte, Unmögliche – ich bekam einen Freund. Er hieß Ulf, ging in eine Parallelklasse, war ein Jahr älter als ich und ließ sich nur dann dazu herab, sich um mich zu kümmern, wenn es ihm langweilig wurde, mir die Haare mit Kaugummi zu verkleben. Zum ersten Mal kam ich in der Bücherei mit ihm ins Gespräch; das war zwar nicht gerade sein Lieblingsaufenthalt, aber er tauchte doch jedes Mal dort auf, wenn er eine neue Nummer Welt der Technik zu erwischen hoffte. Wir standen nebeneinander am Zeitschriftentisch. Ich kannte Ulf schon vom Sehen, wir hatten zweimal die Woche miteinander Deutschunterricht, und ich hatte mich schon darüber gewundert, warum dieser coole Typ so wenig Freunde zu haben schien. »Hallo, was suchst du denn für ‘ne Zeitung?« Ulf hatte die Stimme eines erwachsenen Mannes, dunkel und heiser. Er hatte mich angesprochen! Meine Verblüffung war so groß, dass ich kaum eine Antwort herausbrachte. »Na ja«, sagte ich und versuchte, genauso lässig zu klingen wie er, »eben irgendwas zu lesen.« 47
»Das ist ja lauter beschissener Schwachsinn, was da herumliegt. Keine einzige Welt der Technik mehr!« »Ich habe gehört, dass ziemlich viele Zeitungen gestohlen werden«, sagte ich. »Vielleicht ist das Abonnement jetzt gekündigt worden.« Ein breites Lächeln tauchte auf Ulfs Gesicht auf. In seinem Mund glitzerte ein Goldzahn als Erinnerung an irgendein wildes Ereignis, vielleicht eine Schlägerei, dachte ich. »Klar, Mann, da hast du was gesagt. Vielleicht gibt’s keine mehr, weil ich sie alle hab mitlaufen lassen.« »Hast du sie einfach mitgenommen?«, piepste ich mit meiner Stimmbruchstimme und war damit sofort entlarvt. »Klar, Mann, hier kann doch kein Schwein rumsitzen und lesen. Was ist denn das für ‘n Buch?« »Nichts Besonderes.« »Grie-chi-sche Mytho-lo-gie«, las Ulf ungläubig. »Stimmt, du bist ja dieser Typ, der immer nur liest und liest.« So wurde also unsere Bekanntschaft eingeleitet. Er schwärmte noch ein Weilchen begeistert von Mopeds, dann bat er mich, ihm Bescheid zu sagen, wenn ich die Zeitschrift je sehen sollte. »Du kannst sie ja für mich mitlaufen lassen, dann besorg ich dir ein paar Zigaretten«, waren seine Abschiedsworte, als er aus der Bücherei hinausschlenderte. Ich war völlig benommen. Er hatte mich nicht verhöhnt, mich nicht gepiesackt. Er hatte sich so aufgeführt, als wollte er etwas mit mir zu tun haben. Ob das wohl eine Falle war? Als wir uns das nächste Mal wieder begegneten, wollte ich ihn schon begrüßen, doch diesmal war er in Gesellschaft zweier Jungen und schien mich überhaupt nicht zu bemerken. Am nächsten Tag kaufte ich die neueste Nummer der Welt der Technik. Als wir nach der Deutschstunde das Klassenzimmer verließen, überholte ich Ulf. »Hallo, Ulf«, sagte ich heiser. »Wie steht’s?«
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»Beknackt. Dieser Jönsson ist doch ein echter Fiesling. Hast du gemerkt, wie er hinter mir her war? Und dabei hatte ich diese beschissene Hausaufgabe ja nicht mal angeguckt.« Das verkündete er voller Stolz. »Ich habe die Zeitschrift«, sagte ich und fühlte mich wie ein Kreuzzugsritter, der dem Papst eine Reliquie überreicht. »Die Zeitschrift? Ach so, die. Hast du sie geklaut?« »Nein, ich habe sie gekauft. Du kannst sie von mir leihen.« »Wie kann man nur für etwas blechen, das man umsonst haben kann«, sagte Ulf lässig und schlug die Zeitschrift auf. »Echt stark!« Er ächzte. »Guck mal, was für ein Ofen! Mein Vetter hat eine Honda. Wenn ich ein Moped habe, werd ich es mindestens auf hundert frisieren! Ich weiß, wie man das macht.« Er befeuchtete seinen Daumen und blätterte weiter. So blieben wir noch ein Weilchen nebeneinander stehen, und er drückte sein Bedauern aus, dass ich erst vierzehn werden würde und daher noch ein Jahr warten müsste, bevor ich mir ein Moped zulegen könnte. Ich stimmte eifrig in sein Bedauern ein und bewunderte sogar das Motorenöl, das er an die Hände bekommen hatte, als er seinem Vetter mit seiner Honda geholfen hatte. »Mensch, so ein Ofen, da fahren die Weiber doch echt drauf ab! Die werden so geil, dass ihre Titten nur so abstehen. Übrigens, wenn du die Übersetzung hast, kann ich sie doch bei dir abschreiben, okay?« »Okay«, sagte ich widerstrebend. »Saugut, aber ehrlich! Ich muss jetzt verduften, Hasse und die anderen Typen warten auf mich.« Ich blickte lange hinter ihm her. War es möglich, dass ich einen Freund bekam? Seine Bemerkung über die Übersetzung dämpfte meine Begeisterung allerdings etwas. Wenn ich ihn abschreiben ließe, wäre das ja Betrug, fast so etwas wie Diebstahl. Ulf befasste sich bestimmt mit all diesen Dingen, vor denen man
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sich in Acht nehmen musste: Klauen, Rauchen, Schwänzen, Biertrinken. Ja, vielleicht haschte und fickte er sogar ... Warum wollte er dann mit mir, einem Streber, zusammensein? Er hatte doch behauptet, er gehöre zu einer Clique. Komisch, dass ich ihn dennoch so oft allein sah und dass er bald darauf fast täglich mit mir zusammen war. Ich bewunderte Ulf zwar, doch gleichzeitig verachtete ich ihn auch, weil er so dumm war. Ich gewöhnte es mir an, mich jedes Mal mit seiner Dummheit zu trösten, wenn er mich wieder einmal verhöhnt hatte. Das Bewusstsein, dass aus Ulf nichts Besonderes werden würde, freute mich. Er würde wohl Automechaniker oder so etwas werden. Ich selbst war zutiefst davon überzeugt, eine außergewöhnliche Zukunft zu haben. Eines Tages würde ich es ihnen zeigen. Bis dahin musste ich mich eben verstellen und so tun, als wäre ich ganz normal. Ich musste zum Beispiel die gleichen Ausdrücke benutzen wie Ulf, dieselbe Einstellung haben wie er. Ich beobachtete ihn unablässig und versuchte zu verstehen, wie er funktionierte, um seine Fragen richtig beantworten zu können. Ich versuchte, Jugendlicher zu spielen, allerdings ohne großen Erfolg. Besonders schwer fiel es mir, über Mädchen zu reden. Ulf sprach gern und häufig über sämtliche Mädchen aus seiner Bekanntschaft. So wie er sie beschrieb, hätte man meinen können, es handle sich um Motorräder. »Haste schon mal Cillas Titten gesehen? Das schmeißt einen ja glatt um! Saugeil! Und ihr Hintern! Der rotiert wie geschmiert!« Er machte ein verträumtes Gesicht. »Ja, ich finde sie auch recht hübsch«, sagte ich entgegenkommend. » Cilla ist eine echt scharfe Nummer. Und trotzdem gibt sie sich mit diesem miesen Typ Jörgen aus dem Gymnasium ab.« Ulf schnaubte verächtlich. »In jeder Pause stehen sie in irgendwelchen Ecken herum und knutschen.«
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»Aber Cilla hat doch gar keinen Freund. In den Pausen steht sie doch immer mit Lena und Susi zusammen.« Ulf starrte mich an. »Du hast vielleicht ‘ne Mattscheibe, aber ehrlich. Doch nicht diese Cilla, du Blödmann. Die sieht ja stinkfad aus. Ich meine natürlich Cilla Stenström aus der 9 g. Hasse kennt sie. Bestimmt kein Problem, die umzulegen. Sie hat so einen Blick, du weißt schon ...« »Was für einen Blick?«, fragte ich. »Den Schlafzimmerblick, natürlich. Du trägst wohl noch Windeln, was? Als ich so alt war wie du, hatte ich’s schon mit zwei Bräuten getrieben.« Ich benutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, was er eigentlich mit getrieben meinte. »Mensch, Kleiner, du hast wohl von gar nichts ‘ne Ahnung, was?«, sagte er. »Wenn ich getrieben sage, dann meine ich getrieben. Alles, was man eben mit einer Puppe so macht.« Sein Gerede bewirkte, dass ich mich nach einem Mädchen umzusehen begann, in das ich mich verlieben könnte. Oder auf das ich abfahren könnte, wie Ulf es ausdrückte. Er fragte mich immer wieder, ob ich denn auf keine abfahre, und schließlich tischte ich ihm eben Eva auf, damit er endlich aufhörte, mich zu nerven. Seltsamerweise fühlte ich mich zu Eva hingezogen. Im Laufe des Winters hatte ich sie manchmal auf dem Schulhof gesehen; ihr blasses Gesicht unter der erdbeerroten Mütze leuchtete aus dem grauen Haufen plappernder, lachender Schüler und erinnerte mich irgendwie an eine seltene Blume. Einmal war ich ihr auch auf der Treppe zur Turnhalle begegnet; wir blieben voreinander stehen, und ich wollte etwas sagen, doch als ich den Blick senkte und die grüne Turnhose um meine blassen Schenkel flattern sah, verstummte ich völlig. Ich hätte wenigstens eine Lederjacke, ausgebleichte Jeans und eine Sonnenbrille tragen müssen, dann hätte ich es vielleicht gewagt, ein Wort an sie zu richten. Wir standen uns einen Augenblick lang gegenüber und sie lächelte leicht. Ich sah, dass sie auf dem 51
linken Nasenflügel einen kleinen Leberfleck hatte. Unter ihrem gelben Turnzeug zeichnete sich kaum die Andeutung eines Busens ab. Das Klappern ihrer weißen Holzschuhe hallte mir noch in den Ohren, als sie zwischen den Garderobenschränken verschwand. »Das hat ja gerade noch gefehlt, dass du ausgerechnet auf dieses Brett da abfährst«, seufzte Ulf, nachdem ich ihm anvertraut hatte, dass ich sie hübsch finde. Dann behauptete er, er habe mit den Mädchen in der Deutschgruppe über mich gesprochen und die seien samt und sonders der Ansicht, dass ich eine trübe Tasse sei. So war es immer. Erst war er mein bester Kumpel und schrieb meine Übersetzungen ab, um mich dann kurz darauf zu verspotten, mich auf die Brust zu boxen und mir zu sagen, wie trüb ich sei.
Eines Tages beschloss Ulf, nach der Schule mit mir nach Hause zu gehen. Am liebsten hätte ich Nein gesagt. Er sollte nicht entdecken, was für eine Mutter ich hatte. Ulf selbst hatte keine Mutter, sondern eine Alte, und die ließ sich meistens nicht blicken, wie er sagte. Er wohnte ganz in der Nähe der Schule, daher war ich ein paar Mal in der Mittagspause bei ihm gewesen, um seine Platten mit Steppenwolf und Rolling Stones anzuhören und seine Motorradbilder zu bewundern, die er aus den amerikanischen Zeitschriften seines Vetters ausgeschnitten und an die Wand geheftet hatte, neben zwei Bildern, die eine üppige Blondine in leopardgemustertem Minikleid zeigten. Ich kam nie dahinter, was seine Eltern eigentlich taten, und fragte auch nicht danach, da ich vermeiden wollte, dass er mich nach meinen Eltern fragte. Meine Mutter war ja in jeder Beziehung so, wie eine Alte nicht zu sein hatte, und außerdem war sie gerade jetzt in anderen Umständen, etwas, das mich sowieso
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anekelte. Vielleicht, weil es mich daran erinnerte, dass ich früher selbst einmal in ihrem Bauch gelegen hatte. Das Einzige, was ich meiner Mutter bisher über Ulf gesagt hatte, war, dass ich mit einem Jungen aus der Parallelklasse manchmal Deutsch lernte, und das fand sie nur gut. Ein paar Mal hatte sie schon gesagt, ich solle ihn doch mitbringen, aber ich wusste, dass sie unangemeldete Gäste verabscheute und dass ich sie eigentlich vorher anrufen und vorbereiten müsste. Doch das würde Ulf natürlich lächerlich und muttersöhnchenhaft finden, daher ließ ich es bleiben. Er hatte ja keine bestimmten Regeln, an die er sich zu halten brauchte. »Meine Alte ist ein bisschen komisch«, sagte ich in der U-Bahn zu ihm. »Ein bisschen hennig und nörgelig und so.« »Wundert mich nicht«, sagte Ulf. »Wieso?« »Na ja, ist doch deine Alte, du Holzkopf.« »Selber Holzkopf!« »Sure, Einstein.« Er legte die Füße auf den Sitz gegenüber und sah sich um, ob sich jemand im Wagen darüber aufregte. Dann rülpste er ausgiebig und laut. Das konnte er sehr gut. Außerdem konnte er sehr überzeugende Fürze in der Achselhöhle erzeugen. Ich versuchte so zu tun, als regnete es draußen ...
»Bei uns zieht man die Schuhe aus, bevor man hereinkommt«, sagte meine Mutter zu Ulf. Sie trug ein geblümtes Umstandskleid und warf mir über seinen Kopf hinweg einen verzweifelten Blick zu. Ulf riss sich die Schuhe von den Füßen und drehte sich mit einem ähnlichen Blick zu mir um. »Ihr wollt natürlich eine Tasse Tee haben?«, fragte sie in etwas sanfterem Tonfall und wackelte in die Küche hinaus. 53
»Nicht nötig«, wehrte ich ab. » Oh doch, dafür reicht die Zeit schon noch!«, beharrte sie »Wir essen ja erst um sechs, wenn Jims Vater nach Hause kommt.« Sie deckte den Tisch, und dann blieb uns nichts anderes übrig, als uns hinzusetzen. Mir brach der kalte Schweiß aus. »Die Hefeschnecken habe ich heute Morgen gebacken« sagte sie, und ich hoffte, Ulf würde selbst gebackenen Kuchen nicht allzu läppisch finden. »Schmeckt riesig«, stellte er fest und kaute eifrig. Dann wurde es still, bis meine Mutter begann, Konversation zu machen. »Ich freue mich wirklich, dass Jim einen Freund gefunden hat«, sagte sie. Ich zerdrückte die Zuckerwürfel auf dem Grund meiner Teetasse methodisch mit dem Löffel und wartete auf die Fortsetzung. »Jim ist ja immer ein bisschen eigen gewesen«, sagte sie dann. Eigen! Wie ich dieses Wort hasste! Da saß ich nun und hatte mich eigen zu fühlen. Was waren das überhaupt für Leute, die eigen waren? Wahrscheinlich solche mit Kniebundhosen, zuckenden Augenbrauen und Kochtopfhaarschnitt. »Hör auf«, murmelte ich und erhielt einen gekränkten Blick von ihr. »Ich meine nur, dass er viel allein gewesen ist und andere Interessen als die anderen gehabt hat.« »Ach so«, brummte Ulf und fiel über den Marmorkuchen her, während er mir unter dem Tisch einen leichten Tritt versetzte. Er wollte natürlich, dass wir endlich in mein Zimmer verschwinden sollten, aber ich wagte es nicht, meine Mutter zu kränken. Ihre Stimme leierte weiter und wurde immer schärfer und angespannter. Wenn ihr nur die Stimme versagen würde, wenn sie nur endlich verstummen würde, dachte ich. Da hockte sie mit ihrem riesigen Bauch, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich am liebsten verschlingen würde, um mich ebenfalls in ihrem Bauch zu haben, als hilflosen kleinen Wonnekloß. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Was sagte sie gerade: »... dass 54
es jetzt noch hell draußen ist, erst vor ein paar Wochen wäre es um diese Zeit schon dunkel gewesen. Als Jim klein war, saß er oft am Fenster und fragte: Mama, wer malt den Himmel am Abend denn so schön an?« »Hör auf!«, fauchte ich. Ulf warf eine zerknüllte Zigarettenschachtel auf den Tisch und sah sich nach einem Aschenbecher um. »So, so, du rauchst also?« Meine Mutter holte unwillig einen Aschenbecher. »Ja, hier bei uns raucht eigentlich nur Harald, Jims Vater.« »M-hm«, machte Ulf und zündete sich mit geübter Geste seine Zigarette an. Meine Mutter sah mich Hilfe suchend an. »Jetzt werdet ihr wohl eure Hausaufgaben machen wollen, denke ich. Wenn ihr noch mehr Tee wollt, könnt ihr den ja in Jims Zimmer trinken. Kuchen gibt es auch noch.« »M-hm«, machte Ulf wieder und stand auf. Hinterher würde sie mich sofort darauf aufmerksam machen, dass er sich nicht bedankt hatte, das war mir jetzt schon klar. Als wir in meinem Zimmer waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten, entschuldigte ich mich dafür, dass meine Mutter war, wie sie war. »Ach was, das ist doch scheißegal!« Er blies einen Rauchring. »Manche Mütter sind eben so. Außerdem ist deine Alte jetzt auch noch angebufft, und da werden sie doch sowieso gaga. Fressen Linoleum und so.« »Linoleum?« »Ja, die Alte meines Vetters hat Linoleum gefuttert, als sie so war. Möchtest du eine Kippe?« »Nein danke.« »Hier bei uns raucht nur Jims Vater«, kicherte Ulf und ahmte die Stimme meiner Mutter treffend nach. »Jim natürlich nicht, der würde ja nur seine feinen Bücher vollkotzen.« »Hör auf.«
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Ulf sah sich in meinem Zimmer um, und ich wünschte, dass ich mein Trollmaskottchen und meine Bücher über Geschichte und Mythologie versteckt hätte. Wenigstens lag eine Nummer der Welt der Technik neben meinem Bett, in die Ulf sich vertiefen konnte, während er den Rauch tief inhalierte. Ich versuchte mir ein cooles Gesprächsthema einfallen zu lassen. »Na, und wie läuft’s denn zur Zeit so mit Cilla?«, fragte ich. »Was soll das heißen, wie es läuft?« Ulf klang gereizt. »Ich meine ja nur, habt ihr euch unterhalten oder so?« »Unterhalten? Du bist wohl nicht ganz dicht! Aber sie guckt, Mann! Sie guckt so, dass es einen fast umhaut. Diesen Jörgen lässt sie bestimmt bald abblitzen, und dann ...! Hast du schon mal gecheckt, ob es da auch ein paar Astlöcher gibt?« Er gluckste anzüglich. So fuhr er eine Zeit lang fort, doch dann ging er dazu über, meine Plattensammlung zu inspizieren: »Mensch, hast du ‘ne Menge Platten ... Tschaikowski, Beethoven, Mooozart. Du bist ja total beknackt, haste denn keine echten Platten?« »Das ... das sind die Platten von meinem Alten«, log ich. »Die stehen nur hier.« »So ein Gelalle«, sagte Ulf. »Du stehst natürlich auf diesen Typen, auf diesen Mooozart.« Dann fand er zum Glück Abbey Road. Er legte die Platte auf und stellte den Verstärker auf höchste Lautstärke, bis die Fensterscheiben zitterten. »Meine Alte dreht durch!«, winselte ich und drehte leiser. »Mann, hier hält es doch keine Sau aus!« Ulf rülpste geräuschvoll. »Wie schaffst du das bloß! Kein Wunder, dass du so beknackt bist.« »Mensch, hör auf!« »Hör auf, höör auf!«, äffte Ulf mich nach und boxte mich auf die Brust. »Wie wär’s mit ‘nem Ringkampf, du Schwachkopf?« Er warf mich aufs Bett, und ich versuchte, mich verzweifelt zu wehren, aber jedes Mal, wenn ich glaubte, ihn überrumpelt zu haben, drückte er mich wieder hinunter. »Gibst du auf, Ein56
stein?« Sein Goldzahn funkelte, und sein nach Rauch riechender Atem drang mir in die Nase. Früher hatte ich diese Handgreiflichkeiten immer verabscheut, doch als er mich diesmal auf die Matratze hinunterpresste, wurde mir plötzlich ganz weich und matt im ganzen Körper. Ich wollte, dass er weitermachen sollte, mehr tun sollte, begriff aber nicht, warum und was. Ich begriff kaum, dass ich erregt war, denn dazu bestand ja keinerlei Anlass. Es war nur ein seltsamer Zufall, ein Versehen. Aber Ulf durfte es natürlich unter keinen Umständen merken. »Okay, okay, ich gebe auf!«, rief ich, worauf er mich sofort losließ. Mein Herz klopfte, und mir war sehr seltsam zumute, als ob ich einen elektrischen Schlag bekommen hätte. »Mensch, bist du ein Schwächling«, sagte Ulf. »Du bist schließlich älter!«, verteidigte ich mich. »Pah! Du bist ja ganz außer Atem, wie ein altes Weib!« »Bin ich gar nicht!« Ulf reckte sich träge und begann zu beschreiben, was er mit Cilla anstellen würde, wenn er je mit ihr allein sein sollte. Ich hörte wie im Nebel zu. »Bist du sauer?«, fragte Ulf. »Du wirkst ja völlig daneben.«
»Das war wirklich kein besonders netter Junge«, entschied meine Mutter. »Er hat sich ja nicht einmal verabschiedet, obwohl Harald inzwischen nach Hause gekommen ist! Und ich will doch sehr hoffen, dass du dich nicht von ihm zum Rauchen verleiten lässt!« Sie musterte mich forschend. »Bitte, sei mir nicht böse, weil ich das sage. Aber, mein Lieber, du weißt doch, dass ich nur dein Bestes will. Das begreifst du doch?«
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Wo soll ich nur hin? Wenn ich nur für den Rest meines Lebens hier unter der Decke liegen bleiben könnte, still, ganz still und ruhig, hier, wo es nichts gibt außer Stille und Gedanken. Still, ganz still, wie ein kleiner erbärmlicher, feiger Angsthase. Die Ohren auf den Rücken angelegt, den Schwanz zwischen den Beinen. Angsthase, Streber, Hackhuhn ... Du möchtest wohl wieder klein sein, Jim? Kleines Jimmybubilein. In Mamis Bauch liegen, weich, geborgen und dunkel... Nein, nein, nur das nicht! Bitte, erspart mir das! Bringt mich an einen ganz weißen und leeren Ort, weit weg, in eine Oase, auf eine Wolke, an einen ganz kühlen, reinen Ort. Erspart mir dieses kriechende, dieses falsche, angespannte Pubertätsgefühl, ich möchte es wie eine Schale abwerfen! Aha, das willst du also! Du willst sterben. Aber diese Worte wagst du nicht einmal zu denken. So, denk jetzt gefälligst: Der Streber und Langweiler Jim Lundgren will sterben. Sei still, ich will nicht sterben! Ich möchte wirklich werden; lieber Gott, hilf mir, wirklich zu werden! Pah, was soll das heißen – wirklich? Ich weiß nicht. Ich begreife überhaupt nichts. Alle Türen sind geschlossen, ich werde nie existieren! So ein Gewäsch! Warum beklagst du dich überhaupt? Du bist doch so begabt, mein Kleiner. Du bist doch ein tüchtiger Junge. Büffel-büffel! Ich kann nicht mehr. So leicht gibst du auf: Du hast wirklich keinen Mumm in den Knochen. Willst du nicht auch das Däumchen ins Mäulchen stecken? Gute Nacht, Bubilein, träum süß. Von Eva? Als ob sie dich retten könnte. Hör auf! Sweet dreams, Einstein.
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5 Manchmal frage ich mich, wie das für Jim wohl war, eine kleine Schwester zu bekommen. Vor allem am Anfang, meine ich. Als sie ganz klein war, fiel es mir ziemlich schwer, meine Aufmerksamkeit zwischen ihr und Jim zu teilen. Ich hatte das Gefühl, mich noch mehr um ihn kümmern zu müssen, da er ja so einsam war. Aber das war nicht so einfach, manchmal kam es mir so vor, als spräche ich mit einem – ja, mit einem Fremden! Manchmal glaubte ich sogar zu spüren, dass er mich hasste, und da fragte ich mich natürlich, was ich falsch gemacht hatte. Von Natur aus bin ich wohl etwas ängstlich und nervös, aber ich hatte ihn ja nie schlecht behandelt, ihn angeschrien oder so. Überhaupt versuchten Harald und ich in Anwesenheit des Jungen alle Auseinandersetzungen zu vermeiden; für Kinder ist es ja nicht gut, wenn die Eltern sich anschreien, davon können sie verunsichert und aggressiv werden, glaube ich. Wir versuchten immer, ruhig und glücklich zu wirken, damit Jim wenigstens ein harmonisches Zuhause hatte, als Ausgleich für seine 59
Schwierigkeiten mit seinen Mitschülern. Nicht auszudenken, wenn der Junge gewusst hätte, dass sein Vater mich ständig betrog! Dank Tinas Geburt und Haralds Karriere war an eine Scheidung ja überhaupt nicht zu denken. Allerdings wollte ich natürlich auch nicht, dass Jim zu sehr von mir abhängig wurde, wie Harald immer behauptete. Aber irgendjemand musste doch versuchen, ihn ein wenig zu trösten. Ich sah schließlich, dass er litt. Auch wenn er mich abwies, wollte ich ihm doch zeigen, dass ich mich für ihn interessierte. Ich wollte verhindern, dass er aufgab, dass er einer von diesen Außenseitern, Aussteigern wurde, man hört ja so oft von begabten, vereinsamten Jugendlichen, die plötzlich ausflippen. Ich begreife einfach nicht, warum es mir so schwer fallen muss, eine gute Mutter zu sein. Meine Mutter schaffte es doch, einer fünfköpfigen Kinderschar eine vorbildliche Mutter zu sein. Sie kümmerte sich um alles, buk, nähte, stand morgens um fünf auf, um mit allem fertig zu werden. Und klagte nie. Kein Wunder, dass wir sie vergötterten. Papa, ja, der trank ab und zu einen über den Durst, aber es wäre ihr nie eingefallen, ihn anzuschreien oder anzubrüllen. Sie behandelte ihn einfach wie ein kleines Kind und erreichte es, dass er uns geradezu würdelos vorkam, wie er so mit der Flasche in der Hand angeschwankt kam. Es war, als hätte er in der schönen sauberen Küche nichts verloren. Manchmal spielte er mit seinen Kumpanen Karten und trank bis spät in die Nacht. Ich schämte mich für ihn, er war einfach zu jämmerlich. Aber Mutter schaffte es mit der Zeit, dass er immer weniger trank. Ich hatte allerdings ständig Angst davor, dass er wieder anfangen könnte. Hin und wieder roch er auch später noch leicht nach 60
Schnaps. Wenn ich etwas fürchte, dann den Alkoholismus.
Meine »Freundschaft« mit Ulf blieb bis zum Ende des Schuljahres unverändert. Manchmal war er kameradschaftlich und manchmal gemein und hinterhältig. Ringkämpfe machten wir keine mehr, und bald dachte ich nicht mehr an meine damaligen Empfindungen. Ich begann ein regelmäßiges Lauftraining und machte jeden Abend Liegestütze. In der Schule wurde ich nicht mehr so viel wie früher drangsaliert, die anderen begnügten sich damit, mich zu ignorieren. Meine Freundschaft mit Ulf hatte mir wohl ein wenig Ansehen verschafft. Am Schuljahresende erhielt ich alle meine wohlverdienten Einsen in einem weißen Umschlag, den Ulf mir wegzunehmen versuchte, um ihn vor die U-Bahn zu werfen. »Schon wieder lauter Volltreffer!«, sagte mein Vater und klopfte mir auf den Rücken. »Das lobe ich mir! Möchte nur wissen, wo du noch endest!« Und wie immer, wenn er mich lobte, wurde mir ganz warm, ein starkes, Schwindel erregendes Gefühl, wie ein Rausch. Du lieber Gott, ich existiere! Aber gleichzeitig fragte ich mich selbst, wo ich enden würde, wie er sagte. Vor meinem inneren Auge sah ich mich selbst irgendwo in weißer Anstaltskleidung in einem Krankenhausbett sitzen und mit irrem Blick französische Präpositionen vor mich hin murmeln. Ulf, der für sein Zeugnis bestimmt keinen Pfennig bekommen hatte, würde die Sommerferien mit seinem Vetter und dessen Freundin auf einem Campingplatz auf der Insel Öland verbringen. Seine Eltern fuhren ohne Ulf in den Urlaub. »Bin heilfroh, wenn ich sie nicht sehen muss«, sagte er. »Diese Lahmärsche. Im Sommer werde ich mir ein Moped zulegen.«
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Während der ganzen Sommerferien sah ich nichts von ihm. Ich hockte bei meinen Großeltern in der Kammer und las Zeitschriften, während meine kleine Schwester Tina ununterbrochen schrie. Katy und der Schwarze Ned hingen immer noch an der Klowand, und Katys Busen, vielmehr ihre Titten waren immer noch genauso weiß. Das ist ungefähr alles, was ich von diesen Sommerferien noch in Erinnerung habe. Ach ja, ich glaube, in jenen Wochen war es auch, dass mein Vater einen Waldspaziergang mit mir machte, um mit mir über meine bevorstehende Männlichkeit zu reden. »Hm, hm«, begann er und sah mich ernst an. »Jetzt bist du ja bald erwachsen.« Pause. »Ich nehme an, du weißt, worauf ich ... hm ... zu sprechen kommen möchte. Ja, das meiste wirst du wohl schon wissen. Na ja, und vielleicht hast du’s auch schon ausprobiert, sozusagen. Aber wenn du irgendwelche Fragen hast, bin ich gern zu einem Gespräch bereit, unter uns Männern. Mit deiner Mutter wirst du über So Etwas ja nicht sprechen können.« Ich wusste nicht, was ich ihn fragen sollte, am liebsten hätte ich das Gesprächsthema gewechselt. Ich wollte mir meinen Vater nicht als geschlechtliches Wesen vorstellen. Ich wollte möglichst überhaupt nicht an Dinge denken, die irgendwie mit dem Geschlecht zu tun hatten. Geschlechtsreif. Wie ein Kaninchen. Bald ist es so weit, bald musst du anfangen, Jimmy. Noch ein Gebiet, auf dem du tüchtig sein musst. Eine Eins in Sexualität. Ich hatte nur leider das Gefühl, dass mich dort etwas Entsetzliches erwartete. Dunkel und unentrinnbar lauerte es in mir, an der Stelle, wo sich mein geheimes Herz befunden hatte. »Naa?«, sagte mein Vater erwartungsvoll. »Irgendwelche Fraugen wirst du wohl haben?« »Nein.« »Na, na, du brauchst dich nicht zu genieren. In deinem Alter war ich ... nicht mehr ganz unschuldig, könnte man sagen. Ha, ha.« 62
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich kühl. »Ich habe schon alles in der Schule gesehen.« (In Biologie hatten wir ein paar pädagogische Aufklärungsfilme gesehen. Vor allem ein scharf beleuchteter Penis ist mir noch in Erinnerung, ungefähr 2 x 1,5 Meter groß, der irgendetwas Grünliches von sich gab, während eine energische Stimme verkündete: »So also sieht es aus, wenn man Gonorrhöe hat.«) »Ich weiß ganz genau, wie das alles geht«, versicherte ich. »Na, dann ist’s ja gut. Nimm es mir nicht übel, mein Junge. Ich will nur nicht, dass du irgendwelche Probleme kriegst.« Und dann gingen wir schweigend nach Hause zurück.
Als ich Ulf im Herbst wieder sah, bekam ich fast einen Schock. Er war noch cooler und männlicher geworden, komplett mit Lederjacke und Moped. Seine Schultern waren breiter und in seinen Augen lag ein seltsam erwachsener Ausdruck. Obwohl ich ihn eigentlich nicht ausstehen konnte, hielt ich mich mit Vorliebe in seiner Nähe auf. Vielleicht glaubte ich, seine coole Art könnte auf mich abfärben. Er dagegen war von meiner Gesellschaft nicht mehr besonders angetan; seit er ein eigenes Moped hatte, war sein Ansehen bei Hasse und der Clique nämlich um einiges gestiegen. Während der Sommerferien schien er ziemlich viel mit den anderen zusammengesteckt zu haben. Ein einziges Mal, als niemand es sah, durfte ich hinten auf dem Moped mitfahren. Ich hielt mich an Ulf fest, und der Wind blies mir ins Gesicht. Wenn er nur weiterfahren würde, schneller, immer schneller, weit weg von allem. Born to be wild. Fahr nur, fahr zu! Egal, ob wir einen Unfall bauen. Er setzte mich vor meinem Haus ab und sagte: »Grüß deine Alte, Einstein!« 63
Ich weiß nicht, warum Ulf plötzlich darauf bestand, ich müsse ins Jugendhaus mitkommen. Aber nachdem er mehrere Wochen kaum mit mir gesprochen hatte, kam er eines Tages in der Pause zu mir hergeschlendert und sagte: »Hör mal, Einstein, hast du Lust, am Freitag ins Jugendhaus mitzukommen?« »Weiß nicht.« »Ach, Mensch, sei doch nicht so verdammt trüb. Du bist ja so lahmarschig, dass dir der Hintern fast einschläft! Aber wenn du nicht willst, von mir aus ...« »Was wollt ihr dort machen?« Er grinste. »Ja, was glaubst du wohl? Ein paar Bierchen kippen, ein bisschen schwofen und eine geile Braut aufreißen. Du könntest doch eine scharfe Tante vertragen, oder?« Jetzt oder nie, dachte ich. Jetzt werde ich wild und frei, koste es, was es wolle. »Okay«, sagte ich. »Find ich riesig«, sagte Ulf. »Das heißt, wenn deine Alte es erlaubt...« Bestimmt glaubte er, eine gute Tat vollbracht zu haben, als er mich fragte. Es kann unmöglich gesund sein, wenn ein Jugendlicher nur daheim herumsitzt und liest und klassische Musik hört. So dürfen Jugendliche einfach nicht sein. Richtige, normale Jugendliche sind eine spezielle Tiergattung, daher baut man besondere Häuser für sie, wo sie ihren Lieblingsbeschäfti-gungen nachgehen können: spezielle Jugendmusik hören, auf dem Klo Bier trinken und sich so gut wie möglich auf die Paarung vorbereiten. Solange es Jugendhäuser gibt, haben die Jugendlichen einen Ort, wo sie hinkönnen, und brauchen nicht in den UBahnhöfen herumzuhängen, Wände zu beschmieren oder andere Sachen zu machen, die Jugendliche eben tun, weil sie Jugendliche sind. 64
Wenn ich ins Jugendhaus ginge, würde ich vielleicht auch etwas von einem normalen Jugendlichen annehmen. Nur hoffte ich, dass ich als Voraussetzung dafür keine Wände beschmieren und Straßenlampen zertrümmern musste. Zwar verachtete ich alle Arten von Gruppen aus vollem Herzen, aber dennoch wollte ich dazugehören, wie die anderen sein. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass ich mich auf diesen Besuch im Jugendhaus freute. Das Ganze kam mir eher wie eine schwierige Pflichtübung vor. Je mehr ich daran dachte, desto größer wurde meine Angst. In meiner Phantasie wurde das Jugendhaus zu einem geheimnisvollen Saloon, wo vollbusige Mädchen und breitschultrige Jungen auf hohen Barhockern saßen. Ein Ort, wo geile Bräute mit weit aufgerissenen Mündern auf den armen vierzehnjährigen Mann warteten, der nicht einmal wusste, wie man küsst. Vierzehn Jahre und ungeküsst! »Aber Jimmy«, sagte meine Mutter, »was um Himmels willen hast du denn im Jugendhaus verloren? So etwas passt doch gar nicht zu dir.« Ich hatte das unvermeidliche Gespräch mit ihr bis auf die allerletzte Minute aufgeschoben. Voller Entsetzen starrte sie mich mit vorwurfsvollen Augen an. »Was ist denn nur in dich gefahren, Jim? Glaubst du etwa, dass du auch so sein musst wie all die anderen? Was macht man eigentlich in so einem Jugendhaus? Da wird doch nur Bier getrunken und Krawall gemacht!« Ihre Worte ließen mich innerlich erschauern, aber ich war fest entschlossen, lässig und erfahren zu wirken. »Da gibt’s eine Diskothek, wo man tanzen kann. Und dann trifft man da auch Mädchen«, sagte ich möglichst beiläufig. »Aber Jim, das gehört doch wohl kaum zu deinen Interessen? Und du bist es doch gar nicht gewöhnt, mit so vielen Gleichaltrigen zu verkehren. Wird das nicht ein bisschen viel auf einmal, dieses Jugendhaus? Wäre es nicht besser, wenn du daheim blei-
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ben würdest, im Fernsehen kommen so schöne Sendungen, und dann hast du ja noch deine Hausaufgaben.« »Mensch, hör auf!« Ihre ängstliche Miene erweckte in mir den Wunsch, ihr zu trotzen, hart und höhnisch zu sein. »Sprich doch nicht so. Das klingt so roh!« Sie sah gequält aus, als hätte ich sie geschlagen. »Und das alles kommt so plötzlich. Du weißt, wie viel dauernd passiert und was ich mir für Sorgen mache. Jetzt, da Tina krank ist und alles.« Merkwürdigerweise hatte dieser flehende Tonfall nur zur Folge, dass ich sie verletzen wollte. Aber gleichzeitig flößte er mir auch ein schlechtes Gewissen ein. »Aber Mama«, sagte ich, »habe ich denn jemals etwas Gefährliches oder Schlimmes getan?« »Nein, das hast du nicht, Jim«, gab sie zu. »Aber versprich mir trotzdem, dass du dich nicht betrinkst ... Irgendjemand könnte dich dazu verleiten ...« Zum Glück begann Tina im Kinderzimmer wie am Spieß zu brüllen, sodass ich mich leise verdrücken konnte, während meine Mutter bei ihr war. Ich fühlte mich sehr mutig und trotzig, als ich davonging, ohne mich zu verabschieden. Gleichzeitig fragte ich mich, ob dies wohl der erste Schritt auf der schiefen Bahn war. Der Rest würde dann mehr oder weniger automatisch folgen.
Schon gleich zu Anfang wäre ich am liebsten umgekehrt, doch das war unmöglich. Mir kam es vor, als stünde ich vor einer lebenswichtigen Wahl. Wenn ich zurückginge, würde ich an meiner Feigheit ersticken. Aber ich weiß noch, wie mir der kalte Schweiß ausbrach und meine Knie vor Angst ganz weich wurden, als ich mir vorstellte, dass ich mich jetzt dem Abend näherte, dem andere Jugendliche die ganze Woche voller Er-
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wartung entgegenfieberten – dem Höhepunkt, der Freitagabendfete mit der Clique. Die Angst begleitete mich auf dem ganzen Weg zum Jugendhaus, genau wie früher, als ich klein war. Als ich klein war, hatte die Angst von einem großen dunklen Wald geflüstert, voller tiefer Tümpel, in denen kleine Jungen ertrinken konnten. Jetzt flüsterte sie mir von einer anderen Art Dunkelheit, einem kalten Asphaltdunkel, wo die Bierdosen mit dem Klang der Beerdigungsglocken aneinander stießen und hinter jeder Ecke Fahrradketten rasselten. Ich sah mich selbst wie ein gejagtes Tier im scharfen weißen Licht der Straßenlampen rennen, während Schreie und grausames Gelächter hinter mir herhallten. Aber Ulf und seine Clique waren richtig kameradschaftlich zu mir; ich fragte mich unwillkürlich, was sie wohl im Schilde führten. Wir standen am Eingang des Jugendhauses und ich hörte Lärm und Musik herausdringen. Ich wollte wieder umkehren, aber jetzt war es endgültig zu spät. Der Junge am Eingang ergriff meine rechte Hand und drückte mir einen kleinen, grün phosphoreszierenden Stempelabdruck auf den Handrücken. Aha, dachte ich, jetzt habe ich also den Tauglichkeitsstempel, wie das Fleisch beim Händler, und niemand kann mir ansehen, dass ich eigentlich etwas Untaugliches bin: ein Streber, Mozarthörer und Stubenhocker. Meine Beine zitterten. Bei Ulf daheim hatte ich zögernd ein wenig Bier getrunken, bevor wir uns auf den Weg machten, und hatte davon einen bitteren Geschmack im Mund zurückbehalten. Es war schrecklich, feststellen zu müssen, dass ich sogar vor dem Bier Angst hatte; abergläubische, kindische Angst vor diesem Gebräu, das mir geradezu als Einlass in die Welt der kriminellen Jugendbanden vorkam. Schon allein der Geschmack erfüllte mich mit schlimmen Vorahnungen. Bei Ulf hatte ich mich verstellt, hatte die Bierdose zwar an den Mund gehalten, aber nur ein, zwei Schlucke getrunken. Ulf, dessen Bierkonsum sehr groß war, hatte ein paar
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Dosen in einem Papierkorb in der Nähe des Jugendhauses versteckt, da man im Haus selbst nicht trinken durfte. »Die Ordner, diese Schwuchteln, sind ja andauernd wie die Geier hinter einem her«, sagte er. Schwuchtel war sein neuestes Lieblingswort. Er benutzte es bei jeder Gelegenheit. Das Jugendhaus war in zwei Abteilungen aufgeteilt – eine Cafeteria, wo man Getränke und Süßigkeiten kaufen oder auch nur so dasitzen und sich unterhalten konnte, und eine Diskothek, wo man – aber natürlich nicht ich – tanzen und knutschen konnte. Ich besorgte mir eine Cola und eine Tafel Schokolade und setzte mich rasch an einen leeren Tisch in der Cafeteria. Meine Beine schienen nie mehr mit dem Zittern aufhören zu wollen. Ulf zuckte die Schultern und folgte den anderen in die Disco, wo bunte Lichter fieberhaft blinkten und zuckten. Die geilen Bräute scharten sich keineswegs um meinen Tisch. Kein Mensch schien überhaupt zu bemerken, dass ich existierte. Nach einer Weile kam Ulf wieder heraus, kaufte sich eine Cola, rülpste laut und kam zu meinem Tisch. »Na du«, sagte er, »warum hockst du denn so trübselig hier herum?« »Ich muss nachdenken.« »Denken? Warum denn das? Das kannst du doch daheim erledigen. Warum reißt du dir nicht ‘ne Tante auf? Mensch, da drinnen wimmelt’s nur so von scharfen Puppen. Da brauchste nur zuzugreifen.« »Geh schon mal rein, ich komme gleich nach.« »Nee, dann hockst du morgen früh noch hier.« Er sah sich um, und plötzlich begannen seine Augen zu funkeln. »Du, siehst du die Kleine da hinten? Die mit den krausen Haaren? Mensch, die ist ja völlig zu. Der fallen ja fast die Augen aus dem Kopf, wenn sie dich anguckt. Soll ich sie mal herholen?« »Nein! Ulf, lass das!« Ich hielt ihn krampfhaft am Arm fest.
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»Was ist denn los mit dir? Ich quatsch sie nur mal kurz an, damit sie herkommt und sich zu dir setzt. Hast du etwa Angst vor Mädchen, oder was soll das?« Ulf riss sich los und ging zu dem Mädchen mit dem Lockenkopf hinüber. Sie war klein und hatte ein rundes, blasses Gesicht, das mich an diese kleinen Osterhexen mit Köpfen aus Styroporkugeln erinnerte. Ihr weißblondes krauses Haar ähnelte einem Pudelpelz, und sie hatte eine ausgeschnittene rote Bluse an. Als Ulf mit ihr sprach, musste sie so sehr lachen, dass sie fast vom Stuhl fiel. Ob sie sich wohl über seine Bemerkungen über mich so sehr amüsierte? Zu meinem Entsetzen ließ sie sich bereitwillig, wenn auch auf schwankenden Beinen, zu meinem Tisch führen. »Darf ich mich setzen?«, kicherte sie und plumpste mir gegenüber hin. Ulf machte ein zufriedenes Gesicht. »Ich muss rein und etwas mit Kent besprechen«, sagte er. »Aber –« »Du kannst doch noch ein bisschen sitzen bleiben und mit der Kleinen quasseln.« Er wandte sich an das Pudelmädchen. »Den ollen Jimmy musst du mit Vorsicht behandeln, Kleine. Im Start ist er ein bisschen schwerfällig, beschleunigt ziemlich langsam, aber wenn man ihn richtig nimmt, dann ...« »Ulf!« »Es kann natürlich sein, dass er ‘ne Schwuchtel ist, aber das musst du schon selbst rausfinden.« »Das bin. ich überhaupt nicht«, protestierte ich, aber Ulf war schon in die Diskothek unterwegs. »Ich heiße Mia«, stellte das Pudelmädchen sich vor und sah mich zwinkernd an. »Sag mal, bist du traurig, oder was?« »Nein.« Mein Blick fiel direkt in ihren Ausschnitt, auf ihre Brüste, die ebenfalls wie Styroporkugeln aussahen. Und auf einmal fragte ich mich, was für ein Gefühl es wohl sein musste, ein Mädchen zu sein. Das Mädchen mir gegenüber schien plötzlich in etwas unpersönlich Weibliches verwandelt zu werden, in 69
eine dieser Tafeln, auf denen nummerierte weibliche Geschlechtsorgane im Querschnitt abgebildet sind. Ich hörte eine Lehrerstimme leiern: »Das Einführen des Penis in die Vagina wird durch das Sekret erleichtert, das ...« Es war so absurd, dass ich in Gelächter ausbrach. Mia kicherte erstaunt. »Was denn? Zuerst bist du supertraurig, und dann lachst du. Warum lachst du über mich?« »Doch nicht über dich, das war etwas anderes.« »Geheimnisvoll bist du auch noch. Ziehst wohl ‘ne echte Schau ab!« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um sie aufzubauschen. »Mensch, bin ich zu!«, erklärte sie und streckte die Hand nach der Colaflasche aus. »Ist da was drin?« »Ja.« Sie nahm die Flasche, trank einen Schluck und sah mich daraufhin gekränkt an. »Du hast doch gesagt, dass was drin sei!« »Das ist es doch auch.« »Überhaupt nicht!« »Klar ist was drin! Coca-Cola.« Ihre braunen Augen musterten mich ungläubig. Dann begann sie wieder zu lachen. »Du! ... Du bist ja echt bärig, hast du das gewusst? Du bist überhaupt nicht wie die anderen Typen.« »Nein, ich bin schon immer etwas eigen gewesen«, sagte ich dumpf. »Bist du jetzt wieder traurig?« »Nein, ich bin daran gewöhnt.« »Aber du, hör mal. Ich mag dich doch. Komm doch mit in die Disco, zum Tanzen!« »Ich kann nicht tanzen.« »Ich glaub, du kannst mich nicht leiden, was?« Sie sah gekränkt aus. »Wenn ich nicht so unheimlich zu wäre, hätte ich überhaupt kein Wort mit dir gequatscht. Ehrlich.« »Aha.«
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»Weißt du, was ich glaube?«, fragte sie listig. »Ich glaube nämlich, dass du Schiss hast vor Mädchen. Aber ich werde mich nicht aufdrängen. It’s your problem, sozusagen.« Sie stand auf und schwankte davon. Am. Eingang zur Disco wurde sie sofort von einem starken Typ aufgegabelt. Er legte seine Hand auf ihr jeansbekleidetes Hinterteil und schob sie mit geübtem Griff in die Discohöhle hinein. Nach einiger Zeit wagte ich mich auch hinein, wenn auch nicht auf die Tanzfläche. Dort drinnen war es brechend voll. Viele tanzten, aber ebenso viele saßen auch rauchend an den Wänden entlang, schmusten oder starrten nur vor sich hin. Ständig wechselnde Farben flackerten über die Gesichter; alles in dem Raum schien darauf angelegt zu sein, die Menschen voneinander zu entfernen. Oder vielleicht war auch etwas mit mir nicht in Ordnung. Die anderen fanden es vielleicht unheimlich gemütlich in der Disco. In der Nähe der Tür saß ein zierliches weibliches Wesen in meinem Alter. Irgendetwas an ihrer Haltung und ihrer Art, die Arme über der Brust zu verschränken, erinnerte mich an Eva. Ich zögerte ein Weilchen, dann setzte ich mich neben sie. »Hallo«, sagte ich und fühlte mich wie ein Idiot. »Hallo du«, sagte sie. Und dann saßen wir nebeneinander und starrten vor uns hin, wie in einem klassischen Lustspiel. Was sollte ich nur sagen? Was würde Ulf sagen? »Hm«, begann ich. »Hast du eine Zigarette?« »Nein, ich rauche nicht.« Sie klang distanziert. »Ich auch nicht«, sagte ich rasch. »Wozu wolltest du dann eine Zigarette?« Wir lachten beide, und dann schwiegen wir wieder. »Kommst du oft hierher?«, brachte ich schließlich heraus. Sie schüttelte den Kopf. Was sollte ich jetzt tun? Den Arm um sie legen? Nein, mit ihr tanzen natürlich – Oh Graus! »Du möchtest vielleicht tanzen, oder?« 71
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich auch nicht«, sagte ich. »Was hast du gesagt? Man hört ja gar nichts bei dem Krach!« Ihr Gesicht, das gerade geisterhaft blau im Discolicht aufleuchtete, wirkte zart und weich, um die Augen herum hatte sie jedoch einen energischen Ausdruck. »Ich auch nicht«, wiederholte ich. »Nein? Gut.« Erneutes Schweigen. »Hör mal«, sagte sie plötzlich, »hier kriegt man ja Ohrenweh. Gehen wir doch lieber raus.« Sie warf einen wütenden Blick auf den Discjockey, der in seiner Lederweste und mit seinem breiten Halsband über der Menge thronte. Habe ich jetzt etwa eine Braut aufgerissen? dachte ich verwirrt, während wir zur Garderobe gingen, um unsere Jacken zu holen. Verstohlen versuchte ich festzustellen, ob ihr Hintern irgendwie besonders rotierte. Und die Titten? Ob sie wohl die richtigen Titten hatte? Eine Braut mit geilen Kurven? Ulfs Stimme unterbrach meine Überlegungen. »Gratuliere, Jimmy!«, nuschelte er begeistert. Zuerst begriff ich gar nicht, wozu er mir gratulierte. Er selbst war blendender Laune, vermutlich, weil er ein blondes, schmollmündiges, gelangweilt wirkendes Mädchen an der Hand hielt, das die richtigen Titten hatte und ein wenig an die Leopardenmieze an seiner Wand erinnerte. »Gratuliere ebenfalls«, erwiderte ich. »Hast du Benne gesehen?«, wollte Ulf wissen. »Er hat versprochen, dass wir in die Bude seines Bruders ganz hier in der Nähe gehen könnten.« »Bestimmt ist er noch in der Disco.« »Gehst du auch gerade? Komm doch mit. Die Kleine kann auch mit.« Ich sah die Kleine an. Sie nickte. »Da kann man auch pennen«, sagte Ulf anzüglich. 72
Wir gingen eine dunkle Vorortstraße entlang, Ulf, Ylva – so hieß die mit dem Schmollmund –, ich und meine Kleine. Ich wusste nicht einmal ihren Namen und fragte auch nicht danach. Ich hatte die totale Maulsperre. Bei der Übergabe des Schlüssels hatte Benne uns mitgeteilt, wie viele Betten und Sofas es in der Wohnung gab, in die wir wollten. Und ich konnte noch nicht einmal küssen. Ich schielte auf das Mädchen neben mir und nahm ihre Hand, denn Jungen und Mädchen sollen sich bekanntlich ja an der Hand halten – das ist das wenigste. Für den Anfang und so. Ihre Hand war klein und kalt und wirkte, als wäre sie genauso wenig an andere Hände gewöhnt wie meine. Ich fühlte mich die ganze Zeit mehr oder weniger hilflos, obwohl ich sie an der Hand hielt. Ich sah direkt auf Ulfs breiten Rücken, und plötzlich wurde mir klar, dass er ein Mann war und ich selbst nur ein kleiner Junge. Ich versuchte, die hündische Bewunderung zu verdrängen, die ich angesichts seiner breiten Schultern, seiner Lederjacke und seiner langen, selbstsicheren Schritte empfand. Eigentlich verachtete ich ihn ja, weil er dumm war. Ich dachte daran, wie dumm er war, und fühlte mich gleich besser. Wir überquerten einen Hinterhof, und Ulf begann aus vollem Hals zu grölen: »Get your motor running ... head out on the highway!« Ich stellte mir vor, wie die Leute in den umliegenden Häusern sagten: Schrecklich, diese heutige Jugend!, und dann versuchte ich mich wild und frei zu fühlen. Das gelang mir nicht besonders gut, aber immerhin schaffte ich es, in dem dunklen Treppenhaus meinen Arm um die Taille meiner Auserwählten zu legen. Dabei spürte ich, wie schmal und angespannt sie war. »Scheiße, ich hab mit dem Schlüssel daneben getroffen, sonst finde ich das Loch doch immer gleich!«, gab Ulf feixend von sich, und sein Weibchen seufzte ergeben. 73
So was Lächerliches, dachte ich. Muss man wirklich so sein? Ich wünschte, ich wäre zu Hause bei meinen Büchern und Platten. Trübe Tasse. Wir machten das Licht im Wohnzimmer von Bennes Bruder an. Ein durchgesessenes gelbes Sofa stand einem fast leeren Bücherregal gegenüber. An der Wand hing ein Plakat, auf dem ein nacktes Mädchen abgebildet war, das gerade ein Sonnenbad nahm. In einer Zimmerecke lehnte eine kaputte E-Gitarre an ein paar Kartons. Ulf ging gleich mal ins Schlafzimmer, um zu checken, wie es dort aussah. »Ich habe Hunger«, sagte Ylva sauer. Bald darauf hockten wir alle vier in einer fremden Küche und futterten Knäckebrot. Ulf hatte im Kühlschrank eine Flasche Bier entdeckt, die wir gemeinsam leerten. Ein weiterer Schritt auf der kriminellen Laufbahn, dachte ich. Plötzlich fiel mir mit einem nervösen Sog in der Magengrube ein, dass meine Mutter vermutlich mit verweinten Augen zu Hause saß und auf die Uhr schaute. Ulf verzog sich so rasch wie möglich mit seiner schmollmündigen Braut ins Schlafzimmer, und ich landete unvermeidlich neben meiner weiblichen Zielscheibe auf dem dottergelben Sofa. Wir saßen sehr aufrecht ein Stück auseinander, während uns die Sonnenanbeterin von der Wand aus anschmachtete. »Soll ich eine Platte auflegen?«, fragte ich. Um die Paarungslaute aus dem Schlafzimmer etwas zu dämpfen, dachte ich. Zwar schienen die beiden sich vorläufig nur zu unterhalten, aber bestimmt würde es gleich dort drinnen losgehen. Mit Musik würden die Gesprächspausen auch nicht so peinlich wirken. Das fremde Mädchen und ich hätten uns ebenso gut Briefe schreiben können, so gründlich überlegten wir uns jeden Satz, bevor wir ihn herausließen. Sie hieß Merike. Ihre Eltern kamen aus Estland, und sie spielte Querflöte und hasste Pferdebücher. 74
Das Gespräch drohte immer schleppender zu werden, bis wir schließlich eine Rettung fanden: einen Stapel Zeitschriften, den Merike zufällig unter dem Sofa entdeckte, als sie dort nach einem verlorenen Ohrring suchte. Da gab es den Playboy und ähnliche Herrenzeitschriften, vor allem aber ein echtes Pornoheft, das sie mit erwartungsvoll funkelnden Augen und einem Ich werd verrückt! auf den Lippen hervorholte. Das hat gerade noch gefehlt, dachte ich. Falls ich alle anderen Winke verpasst haben sollte. Das Einführen des Penis in die Vagina wird durch das Sekret erleichtert, das ..., hallte es mir durch den Kopf. »Sieh mal!«, piepste Merike schockiert und andächtig zugleich, und da blieb mir nichts anderes übrig, als hinzuschauen. »Müssen die so riesig sein, das ist ja wahnsinnig! Aber ich habe gehört, dass Neger noch größere haben. Stimmt das?« »Keine Ahnung.« »Und hier! Warum tun sie das? Das kann doch nicht besonders schön sein? Was glaubst du?« Sie kicherte begeistert. »Ich weiß nicht.« »Mensch, das ist ja nicht zu fassen! Aber bequem ist das ganz bestimmt nicht. Außerdem hat sie eine Perücke auf, und warum lässt sie die Stiefel im Bett an?« Forschend sah ich das rosafarbene Fleisch an, das da auf den Heftseiten kroch, lag und stand; außer einem vagen Ekel, vermischt mit Neugier, die man angesichts etwas Verbotenem empfindet, fühlte ich nichts. Was mochte Merike wohl empfinden? »Hast du schon mal mit jemandem geschlafen?«, fragte ich plötzlich. Ich weiß nicht, warum es mir entfuhr, ich hatte nicht vorgehabt, so etwas Drastisches zu sagen. »Nein«, antwortete sie und schwieg ein Weilchen. Dann sah sie mich an, und dabei trat dieser energische Zug um die Augen deutlicher hervor. »Und außerdem habe ich meine Tage«, fügte sie hinzu, »dass du’s nur weißt.« »Aha«, sagte ich und fühlte mich sehr dämlich. 75
»Bist du jetzt sauer auf mich?«, fragte sie mich besorgt. »Nein.« »Hast du denn schon mit jemandem geschlafen?« »Nein, ich habe noch nicht einmal jemanden geküsst«, teilte ich ihr mürrisch mit, ohne zu begreifen, warum ich so offenherzig geworden war. »Aber das hast du doch bestimmt schon getan?« »Na ja, ein paar Mal.« Sie warf lässig die Haare über die Schulter zurück. »Wie viele denn?« »Beinahe zwei.« »Beinahe?« »Ja, den zweiten Jungen hätte ich auch geküsst, wenn nicht gerade in dem Augenblick direkt neben uns ein Knallfrosch explodiert wäre. – Ist das ehrlich wahr, dass du noch nie jemanden geküsst hast?« Sie sah mich mit staunenden Augen an, als hätte sie einen seltenen Schatz gefunden. »Ja, noch nie.« »Soll ich dich mal küssen, damit du weißt, wie das ist?« »Wenn du Lust hast, gern.« Sie presste ihre Lippen etwas unbeholfen auf meinen Mund, und ihre Zunge suchte die meine. »Na, hat es dir gefallen?«, fragte sie anschließend stolz. Und ich wollte ihr nicht verraten, dass ich enttäuscht war. Denn es war kein besonderes Gefühl gewesen. Weder angenehm noch unangenehm. Nur komisch und völlig ungewohnt. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich hinterher irgendwie verändert sein müsse. Jetzt jedoch war ich geküsst und fühlte mich kein bisschen anders als sonst. »Es hat Spaß gemacht«, sagte ich tröstend. »Spaß gemacht!« Merike wirkte nicht sehr zufrieden, als sie das hörte. »Ich glaube, ich muss mehr üben. Au, wir haben die Zeitung zerknittert.« Sie nahm das Pornoheft wieder in die Hand, und dann vertieften wir uns gemeinsam in die Kontaktanzeigen. 76
»Hilfe, ich brech zusammen!«, piepste Merike. »Hör mal! ›Vitaler Hengst mittleren Alters, gut erhalten, sucht brünstige Stute für vergnügliche Stunden im Stall. Mit oder ohne Sporen. Wieher. P 190-408!‹« Wir mussten so wahnsinnig lachen, dass wir den missglückten Kuss völlig vergaßen. »Aber hier, auf diese Anzeige kannst du antworten«, konterte ich. »Ein schüchterner Junggeselle mit Ambitionen möchte eine freche, sündige und geile junge Schmusekatze kennen lernen.« »Ob der immer mit so ‘nem schwarzen Strich über den Augen rumläuft wie auf dem Foto?« »Und hier, hier ist eine Biene, die Schule spielen will! Hilfe, ich sterbe!!« Wir erstickten fast vor Gelächter. »Aber du«, sagte Merike mit plötzlichem Ernst. »Was glaubst du wohl, was das für ein Gefühl sein muss, Herr Hengst zu sein? Herr Hengst, guten Tag, Herr Hengst!« »Bestimmt ist das nur ein Witz.« »Nein, das glaube ich nicht.« Merike sah sehr bestimmt aus. »Herr Hengst ist garantiert ein kleiner fetter Bürovorsteher mit X-Beinen. Am Hafersack um den Hals zu erkennen.« Erneuter Lachanfall. Doch dann blieb mir plötzlich das Lachen im Hals stecken, als mir einfiel, wie spät es sein musste. Wahrscheinlich fuhr jetzt gar keine U-Bahn mehr. Ich sah auf die Uhr. Nein, es war noch nicht einmal zwölf. Aber ich hatte überhaupt keine Lust, nach Hause zu gehen, jetzt, da es endlich ein bisschen lustig wurde. »Du kannst doch hier übernachten«, schlug Merike vor. »Das mache ich auch.« »Dann kommt meine Mutter um vor Sorge. Übrigens ist sie vielleicht schon umgekommen. Ich muss sofort daheim anrufen, bestimmt hat sie schon die Polizei verständigt.« Merike sah mich teilnahmsvoll an.
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Und richtig. Schon die angespannte Art, wie meine Mutter Lundgren sagte, verriet, was kommen würde. Diese gespannte, anklagende Stimme, die meine sämtlichen Magennerven in kleine Seismographen verwandelte. »Entschuldige, dass ich so spät anrufe. Ich hab vergessen, auf die Uhr zu schauen.« »Wenn du wüsstest, was für Sorgen ich mir gemacht habe«, begann sie. »Wo bist du jetzt? Wagst du es überhaupt, um diese Zeit mit der U-Bahn nach Hause zu fahren?« »Ich möchte eigentlich hier übernachten.« »Wo? Bist du bei diesem Ulf?« »Nein, in der Wohnung von Bennes Bruder.« »Von Bennes Bruder?? Jimmy, es war wirklich schlimm genug, dass du einfach so davongegangen bist. Jetzt solltest du lieber heimkommen, damit wir über die ganze Sache sprechen können. Und wer ist noch in dieser Wohnung?« »Ulf und seine Freundin und ein anderes Mädchen, das Merike heißt.« Am Hörer wurde es still. Dann begann sie davon zu reden, ich solle keine Dummheiten machen mit Mädchen und so. Ich erwiderte ziemlich gekränkt, in der Schule habe ich schließlich Sexualkunde gehabt. »Du klingst so gereizt«, sagte sie, »du bist doch jetzt hoffentlich nicht böse auf mich?« Nein, böse war ich nicht, aber gedemütigt, für unmündig erklärt. Schließlich gestattete sie mir widerstrebend zu übernachten, doch da war der Abend schon im Eimer. Ich hatte den Hörer aufgeknallt, ohne mich zu verabschieden, doch dafür hockte meine Mutter jetzt wie ein Papagei auf meiner Schulter und schnarrte: Denk an meine Nerven! Was ist denn in dich gefahren! Warum wirst du so grob? Ich begriff selbst nicht, warum ich sie immer verletzen wollte. Das kam automatisch, wenn ich ihre Stimme hörte. 78
Merike saß immer noch auf dem Sofa, blätterte in den Zeitschriften und kicherte vor sich hin, aber ich hatte den Spaß an allem verloren. Und ich mochte ihr auch nicht erzählen, warum ich plötzlich so missgestimmt war.
Die ganze Nacht lag ich mucksmäuschenstill auf meiner Matratze auf dem Boden, während Merike allem Anschein nach auf dem Sofa friedlich schlief. Aus dem Schlafzimmer war kein Laut zu hören, wenigstens nichts, was darauf schließen ließ, dass dort drinnen Paarungsakte stattfanden. Einmal kam Ulf heraus, um auf die Toilette zu gehen. Ich sah, dass er sowohl Hemd als auch Unterhose anhatte. Am folgenden Morgen aßen wir noch etwas Knäckebrot und dann gingen die Mädchen nach Hause. Merike schien gekränkt zu sein, sodass nicht die Rede davon sein konnte, Telefonnummern auszutauschen. In ihren Augen hatte ich mich natürlich sehr eigenartig verhalten, als ich am Abend so unvermittelt verstummt war. Ich begleitete Ulf zum Jugendhaus zurück, wo er sein Moped abholen wollte. »Na«, fragte er, »wie ist es dir denn ergangen? Du hast ja auf dem Boden gepennt.« »Ja, das Sofa war ein bisschen zu eng.« »Kann ich mir vorstellen.« Er machte ein verträumtes Gesicht und erzeugte schmatzende Laute mit den Lippen. »Mann, diese Ylva, die ist vielleicht eine geile Nummer! Das war meine fünfte Jungfrau!« »Aha«, sagte ich. Mir war Ylva am Morgen unverändert sauer und desinteressiert vorgekommen, und sie hatte sich auffallend schnell auf den Heimweg gemacht. »Worüber habt ihr beide denn so gewiehert?«, erkundigte sich Ulf. »Ihr habt ja geradezu geröhrt, Mensch!« 79
»Oh, ach so – über ein ... über ein Pferd.« »Was ist denn an einem Pferd so lustig?« »Das Pferd hat eine Kontaktanzeige geschrieben.« »Ich kapier überhaupt nichts. Worüber habt ihr euch die ganze Zeit unterhalten?« »Über verschiedene Sachen. Übrigens hatte sie ihre Tage.« »Mensch, so ein Pech!« »Ja, die Ärmste.« »Was denn? Wieso die Ärmste? Du bist doch schließlich auf ‘ne Niete abgefahren, Mensch!« Er zündete sich eine Zigarette an und machte dieses anzügliche Gesicht, das ich verabscheute. »Ylva, die hat ganz bestimmt nicht ihre Tage gehabt, das darfst du mir glauben. Nicht, dass mich das gehindert hätte ...« Inzwischen waren wir beim Jugendhaus angekommen. Der ganze Hof lag voller Bierdosen, und in den Wasserpfützen, die der nächtliche Regen hinterlassen hatte, schwammen unzählige aufgelöste Zigarettenstummel. An der Wand hatte sich jemand übergeben. Ich fühlte mich müde, schmutzig und gleichgültig. »Bist du in sie verliebt?«, fragte ich, um etwas zu sagen. »In Ylva? Quatsch, das ist doch keine, in die man sich verliebt. Wenn ich in sie verknallt gewesen wäre, hätte ich sie doch nicht gleich am ersten Abend gebumst.« »Aber wenn du nicht in sie verliebt warst, warum ...« »Mensch, das macht man eben.« Er schwang sich auf sein Moped. »Das ist doch so eine, mit der kann man das machen! Aber die Kleine, die du dir da geangelt hast, das ist doch eine von denen, die immer zuklemmen, das sah man ja von weitem! Du hast wirklich keinen blassen Schimmer von Weibern, wie man sie rumkriegt und so. Auf dem Gebiet bist du ehrlich hinterm Mond, du alte Schwuchtel!« Er versetzte mir den üblichen Stoß an die Brust. »Nenn mich nicht dauernd Schwuchtel!«, protestierte ich.
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Ulf lächelte entschuldigend, und ich hoffte, dass er mir nicht anmerkte, wie sehr er mich verletzt hatte. Innerlich war mir ganz kalt geworden. »Nimm’s nicht so tragisch«, sagte er. »Das kapier ich doch, dass du kein Homo bist. Glaubst du, ich war sonst dein Kumpel, was?« Er bot mir an, mich nach Hause zu fahren, doch das lehnte ich ab. Ich zog die U-Bahn vor. Ich hatte nicht die geringste Lust, wieder hinter ihm zu hocken und seinen Lederrücken anzustarren. Auch so fühlte ich mich klein und gedemütigt genug. »Mann, mach doch kein so bedeppertes Gesicht«, sagte Ulf. »Es gibt doch noch mehr Weiber!« Damit ließ er den Motor an, und als er die Straße hinauf tuckerte, hörte ich ihn brüllen: »Mehr Glück beim nächsten Mal!«
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6 Ich kann mich noch gut an jenen Sommer erinnern, als Mutter starb. Das war eine entsetzliche Zeit für mich. Sie war gleichsam ein fester Punkt in meinem Dasein gewesen. Und dann plötzlich – nicht mehr da. Papa war völlig gebrochen, er wurde überhaupt nicht damit fertig. Er wusste ja nicht einmal, wie man ein Paar Strümpfe auswäscht. Als Harald und ich kamen, hatte er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, er saß in seinem ungemachten Bett und lallte und roch nach Schnaps, und unter dem Bett stand ein voller Nachttopf, und das ganze Haus stank danach. »Jetzt bringen sie mich ins Altersheim«, sagte er und weinte, und da weinte ich auch, und Harald ging hinaus. Ein wahres Glück, dass Jim nicht dabei war. Er war ja so ein sensibler Junge, nervös und so, und wir wollten ihn mit all diesen Dingen verschonen, daher hatten wir den Bauern angerufen, dessen Hof in der Nähe des Hauses lag, wo wir früher, als Jim klein war, gelebt hatten, und hatten ihn gefragt, ob er einen Helfer gebrauchen könne. Ja, er konnte jemanden brauchen, der beim Unkraut83
jäten mithalf. Jim war natürlich damit einverstanden. Es war ja nur gut für ihn, frische Landluft zu atmen und außerdem noch ein wenig Geld zu verdienen. Er durfte eine Woche bei Lindströms bleiben, während Harald und ich alle Angelegenheiten regelten und Papa wieder auf die Beine zu bringen versuchten. Meine Schwester kümmerte sich um Tina. Um Tina machte ich mir ziemliche Sorgen, sie schrie fast immer und führte sich schrecklich auf, ich befürchtete schon einen Hirnschaden oder etwas Ähnliches. So unruhig und unvernünftig war Jimmy nie gewesen, als er klein war.
Mit fünfzehn dachte ich sehr viel an den Tod. Ich schwelgte in schwermütigen Stimmungen, in Musik und Erzählungen, die an den Tod erinnerten. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass man sich nicht zu sehr mit dem Dunklen einlassen sollte. Es gab gewisse Menschen, so dachte ich, die von ihrer Veranlagung her dem Schlaf und dem Vakuum näher standen als andere. Und diese Menschen konnten auch leichter weggerissen werden, gerade weil sie sich nicht ganz in der Wirklichkeit befanden. Ich vermutete, dass ich zu dieser Sorte Mensch gehörte. Ich hatte nicht mehr so große Angst davor hinauszugehen, saß aber immer noch am liebsten in meinem Zimmer und las und hörte Musik, oder ich machte Waldläufe im nahen Wald, allein und mit dem Kopf voller chaotischer Gedanken über Größe, Leiden und Tod. Es kam mir nur folgerichtig vor, dass Großmutter ausgerechnet in jenem Sommer starb. Als meine in Tränen aufgelöste Mutter es mir sagte, brachte ich nur ein Ach! heraus, ohne irgendwelche sichtbare Gemütsbewegung zu zeigen. Es waren ja ihre Trauer und ihre Welt, und ich verabscheute es, gefühlvoll und empfindsam zu wirken. Ich redete mir ein, der Tod sei für mich 84
etwas anderes – ein Ton, eine stumpfe Farbe im Sonnenuntergang, ein einsames Meer. Am allerwenigsten beinhaltete der Tod den Schmerz um jemanden, den man gern gehabt hatte. Ich hatte nämlich überhaupt niemanden gern, das war die bittere Wahrheit. Es gab keinen einzigen Menschen, den ich gern hatte, am allerwenigsten mich selbst. Ich versuchte, mir einzureden, Großmutters Tod bedeute mir gar nichts. Aber dennoch wälzte ich mich nachts im Bett und stellte mir ihren Körper im Zustand des Verfalls vor, ihre knorrigen Hände, die mir unzählige Schals gestrickt hatten, ihre langen, tropfenförmigen Ohrläppchen. Tot, alles tot, sinnlos, unbegreiflich tot. Die Vorstellung, dass mein eigener Körper dasselbe Schicksal erleiden würde, verursachte mir Übelkeit. Doch nichts von alledem zeigte ich nach außen. Eigentlich fand ich es erschreckend, dass ich nicht wirklich um Großmutter trauern konnte. Aber Gefühle waren etwas Peinliches. Wirklich große Menschen hatten ihre Gefühle unter Kontrolle, sie ließen sich nicht davon überrumpeln. So wie ich, sagte ich mir. Ich gehörte ganz einfach zu einer anderen Sorte Mensch. Nicht wie meine Mutter, die weinte und zitterte und hysterisch davon redete, der ganze Sommer sei jetzt zerstört, während Tina, die alle Stimmungen sofort auffing, auf ihrem Schoß saß und brüllte wie am Spieß. Dafür hatte ich nur Verachtung übrig. »Und du, mein armer Jim, deine Sommerferien! Du kannst doch nicht den ganzen Sommer in der Stadt verbringen, oder?« Sie entschied, dass ich bei Lindströms auf dem Bauernhof wohnen und dort mithelfen sollte. Ich hatte zwar überhaupt keine Lust, aber sie bestand unter so vielen Tränen darauf, dass ich schließlich nicht umhin konnte nachzugeben. Meine Mutter begleitete mich zum Bahnhof, setzte mich in den richtigen Zug und stand mit rot verweinten Augen vor dem Abteilfenster, bis der Zug abfuhr. Das Ganze war sehr peinlich. Sie hatte mir eine Tüte Süßigkeiten und ein Comicheftchen
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zugesteckt, obwohl sie genau wusste, dass ich schon seit langem Kafka las. In meinem Koffer lag ein ordentlicher Stapel Lektüre und außerdem ein schwarz eingebundenes Notizbuch, mein Tagebuch. Ich weiß noch, wie ich dasaß und meine ganze Umwelt hasste, während der Zug aus der Stadt rollte, an Äckern, über die der Wind hinwegfegte, und Nadelwäldern vorbei. Die Sonne brannte durchs Fenster auf meine gerunzelte Stirn, und die Zugräder rasselten: Alle-müssen-sterben-alle-müssen-sterben ... Krister holte mich am Bahnhof ab. Er sah fast noch genauso aus wie vor sechs Jahren, und einen gespenstischen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass Krister so ländlich wirken würde. Die Schildmütze hatte in seinem ungekämmten Haar einen Rand hinterlassen, und er trabte behäbig in seinen großen, abgewetzten Gummistiefeln einher. Ein Bauerntölpel, dachte ich. Das war die einzig richtige Bezeichnung für ihn. »Willkommen, Jim!«, sagte er und lächelte sein breites Lächeln, das ich so gern gehabt hatte. Jetzt kam es mir eher schafsähnlich vor. »Das ist aber lange her!«, fuhr er fort. »Sechs Jahre, nicht wahr?« »So ungefähr.« »Ja ja, die Zeit vergeht. Dann wirst du dieses Jahr also fünfzehn?« »Bin ich schon geworden.« »Schau mal einer an. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass du gewachsen bist?« Er lächelte wieder, auf eine onkelhafte Art, die mich sehr ärgerte. Wie hatte ich nur so zu ihm aufsehen können? Aber gerade diese ländliche Sicherheit machte mich besonders unsicher, gab mir das Gefühl, nervös und verweichlicht zu sein. »Dann bist du jetzt also im Mopedalter«, fuhr er fort. 86
»Das kann ich nicht behaupten.« »Ach nein?« Er sah verwirrt, fast ein wenig verletzt aus »Soll ich dir einen Koffer abnehmen?« »Danke, das ist nicht nötig.« »Aber sie sehen so schwer aus. Was hast du denn alles dabei?« »Kleider und so. Und ein paar Bücher.« Dabei sprach ich Bücher auf eine Art aus, die verstehen ließ, dass dergleichen ihm vermutlich fremd sei. »So, so.« Er wirkte etwas bekümmert. »Hier bei uns wirst du allerdings nicht allzu viel zum Lesen kommen. Wir stehen um sechs Uhr früh auf und gehen aufs Feld und dann zeitig ins Bett. Von körperlicher Arbeit wird man müde, wie du weißt. Aber du scheinst ja jedenfalls kräftige Armmuskeln zu haben. Bekommt man das vom Blättern?« »Ich mache jeden Abend Liegestütze.« »Wenn du willst, kannst du meinen Expander leihen«, sagte er, und das klang richtig kameradschaftlich. Inzwischen waren wir beim Auto angelangt; er legte meinen Koffer hinten in den Kofferraum, dann nahmen wir Platz. Dumpfer Stallgeruch erfüllte den Wagen; Krister hatte sich demnach nicht umgezogen, bevor er zum Bahnhof gefahren war. »Dieses Jahr haben wir viel Mühe mit dem Unkraut«, sagte er. »Die Felder sind voll davon. Wir sind für jede Hilfe dankbar.« »Aha.« Darauf folgte ein langes Schweigen. »Sollen wir etwas Musik machen?« Er schaltete das Radio ein, und eine Stimme trällerte etwas von Liebe und uns zwei. Ich blickte durch die Fenster voller Fliegendreck auf weidende Kühe, grüne Wiesen und leuchtend weiße Sommerwolken hinaus. Wie sollte ich das nur eine ganze Woche lang aushalten?
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Es gibt Menschen, die nur geradeaus zu blicken scheinen, schrieb ich an jenem Abend in mein schwarzes Tagebuch. Mit dieser Formulierung war ich sehr zufrieden, sie klang wie eine Weisheit, wie etwas, das man in einem philosophischen Traktat finden kann. Ich saß in Lindströms kleinem Gästezimmer und fühlte mich total distanziert, in meine eigene kleine Blase aus Misstrauen und Kälte eingeschlossen. Das Fenster war halb offen, und der Wind, der den geblümten Spitzenvorhang erzittern ließ, trug einen verführerischen Duft nach Blumen und sommerwarmem Grün ins Zimmer herein. In der Ferne hörte ich Kühe muhen und Hunde bellen; es war wie in einem idyllischen Film über das Landleben. Das Mittagessen war schrecklich. Die runde Frau Lindström hatte mich freudestrahlend willkommen geheißen. »Jim, mein Junge«, sagte sie. »Wie schön, dich nach so langer Zeit wieder zu sehen!« Und dann kam Herr Lindström vom Feld und war genauso leutselig, und wir setzten uns an den reich gedeckten Tisch, auf dem die Landbutter in gelbem Glanz erstrahlte und das frisch gebackene Brot verlockend duftete. Fleisch und Kartoffeln türmten sich in den Schüsseln. Und Krister! Krister sah einfach unerträglich gesund aus – lauter weiße Zähne, Sonnenbräune und semmelblondes Haar. Er hielt hartnäckig an diesem kameradschaftlichen Ton fest, neckte mich, grinste und kam mit dummen Fragen. Bildete er sich vielleicht ein, dass ich ihn immer noch bewunderte, dass ich immer noch Ringkämpfe im Heu machen wollte und ihm an den Fersen kleben würde wie damals, als ich klein war? Der Gedanke daran erfüllte mich mit Unbehagen. Die Gesprächsthemen während des Essens waren: die Sau, die bald ferkeln würde, Traktoren, Futtertröge, alte Dreschmaschi-
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nen und anderes mehr, das zur Landwirtschaft gehörte. Ich konnte nichts dazu beisteuern. Diese drei Menschen schienen sich sehr gut zu verstehen. Ich dachte, das müsse an einer gewissen Eingleisigkeit liegen. Ich dagegen war kompliziert. Sie wirkten unerträglich lebenstüchtig und offen, und alles im Haus war fröhlich, warm und menschlich – frisch gestärkte Vorhänge, bunt gemustertes Geschirr, helle, luftige Zimmer. Das alles kam mir wie eine Verschwörung gegen mich vor. Selbst der Wecker in meinem Zimmer tickte auf eine ganz besondere Art – hurtig und siegesgewiss. Auf dem Tisch neben dem schmalen, knarrenden Bett lagen ein paar Ausgaben der Zeitschrift Land neben ein paar zerlesenen Mickymausheften. Und an der Wand hing ein Bild von einem Troll mit einem Blumenkranz im Haar. Ich muss es als eine Prüfung ansehen, sagte ich mir. Hier kann mich ja doch keiner verstehen.
Es war anstrengend, auf dem Feld Unkraut zu jäten. Gegen sechs Uhr morgens begaben wir uns mit unseren Plastiksäcken auf die Äcker hinaus und zogen langsam über die Felder, die mir unendlich vorkamen, während die Sonne herabbrannte und die lehmige Erde sich unter den Stiefeln verklumpte. Es war nicht einfach, die verstreut wachsenden Wedel des Windhafers im Getreide zu entdecken, daher musste man sich ständig konzentrieren und der Sack wurde nach und nach immer schwerer. Für einen blassen, grübelnden Philosophen war es vor allem langweilig, tödlich langweilig. Ich verwandelte das Ganze in eine Punktejagd, um es besser zu ertragen, und jeder zwanzigste Windhafer, den ich fand, brachte mir einen Punkt ein. Seltsamerweise war es weniger langweilig, wenn Krister dabei war; vielleicht, weil ich mich in seinen Augen bewähren wollte. 89
Auf seine unbeholfen freundliche Art versuchte er immer wieder ein wenig zu sticheln, und ich erkor ihn rasch zu meinem Hassobjekt. Er repräsentierte alles, was ich verachtete. Ich konnte seine Art, das Leben als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, nicht ertragen, die Vorstellung, dass jemand damit zufrieden sein konnte, einfach nur zu arbeiten, zu schlafen und zu essen. Abends schrieb ich ganze Aufsätze über ihn in mein Tagebuch. Das Schlimmste war, dass es mir von Tag zu Tag schwerer fiel, mich hier als etwas Besonderes zu fühlen. Einer der Gründe war vielleicht, dass Lindströms immer noch den kleinen Jungen in mir sahen, der ich früher gewesen war. Mir war selbst, als könnte ich jenen ängstlichen kleinen Jungen über die Wiesen und Felder laufen sehen, und als ich die alten Plätze wieder fand, wo ich früher gespielt hatte, fühlte ich eine beklemmende Wehmut, derer ich kaum Herr wurde. Hier draußen interessierte sich außerdem kein Mensch für meine Begabung und .meinen Tief sinn, und das ließ mich noch mehr schrumpfen. Ich war kein besonders erfolgreicher Unkrautjäter und hatte nicht die blasseste Ahnung davon, wie man Traktor fährt, einen Stall ausmistet oder Heu macht. Als ich erfuhr, dass Krister Diplomlandwirt war, sank mein Selbstbewusstsein noch mehr. Wenn er tatsächlich so intelligent war, dachte ich, wie konnte er dann so unverschämt zufrieden und lebensbejahend wirken? Das war zutiefst ungerecht. Eines Tages gerieten Krister und ich aneinander. Ich saß abends bei einer Tasse Kaffee in der Küche und las die Zeitung. Er kam herein, machte sich ein Brot und ließ sich geräuschvoll mir gegenüber nieder. »Na, wie geht’s?«, fragte er. »Passabel«, antwortete ich und stellte zu meinem Verdruss fest, dass ich den gleichen ländlichen Tonfall angenommen hatte, wie ihn die ganze Familie Lindström sprach. »Hast du etwa Heimweh?«, fragte er. 90
»Nein, wieso?« »Na ja, du sagst ja nicht besonders viel, sitzt meistens irgendwo allein herum und machst ein mürrisches Gesicht.« Das war wirklich die Höhe. So, ich machte also ein mürrisches Gesicht! Kapierte er denn nicht, dass ich litt, dass sie mich mit ihrer oberflächlichen Verständnislosigkeit quälten, mit ihrer frischfröhlichen Mentalität und ihrem zuversichtlichen Gerede? »Ich mache überhaupt kein mürrisches Gesicht!« »Nein, ist ja schon gut.« Er lächelte schwach. »Vielleicht bist du auch nur erschöpft von dem vielen Jäten. Meine Eltern und ich wollten morgen Vormittag eigentlich eine kleine Pause einlegen und zum Schwimmen fahren, während Reine und Walter nach dem Stall schauen. Aber du bleibst wohl lieber daheim, um zu lesen?« »Mal sehen.« Zwischen Kristers Augenbrauen tauchte eine sehr kleine, aber deutlich sichtbare Falte auf. »Du könntest dich ruhig ein bisschen zusammennehmen«, sagte er. »Es ist wirklich nicht nötig, dass du einen jedes Mal gleich anknurrst, wenn man dich anzusprechen versucht.« »Das hängst ganz davon ab, was man zu mir sagt«, verkündete ich von oben herab. Darauf trat ein peinliches Schweigen ein. Ich blätterte die Seiten um und hielt mir die Zeitung vors Gesicht. Und dann hörte ich seine Stimme, die entschuldigend und verlegen klang wie die eines kleinen Jungen und außerdem von geradezu lächerlichem Mitgefühl erfüllt war. »Ach, das habe ich ja völlig vergessen ... ich meine das mit deiner Großmutter ... ich wollte dich nicht kränken ... entschuldige bitte.« I ch senkte die Zeitung und sagte: »Bitte, bitte. Mach dir nichts draus.« Und ohne zu begreifen, warum, fügte ich hinzu: »Ehrlich gesagt ist es mir scheißegal, dass sie tot ist. Alle Leute sterben doch früher oder später, nicht wahr?«
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Er starrte mich an, versuchte zu lächeln, schlang sein Brot rasch hinunter und verließ das Schlachtfeld. Die Tür fiel ins Schloss. Eigentlich hatte ich gar nicht gewollt, dass er ging, das merkte ich erst hinterher. Und warum hatte ich diese abscheuliche Bemerkung über Großmutter gemacht. So etwas durfte man ja kaum denken und noch weniger aussprechen! War ich tatsächlich drauf und dran, allmählich verrückt zu werden? Bald konnte ich ja nichts mehr äußern, das nicht zynisch oder verletzend war. Selbst wenn ich es gewollt hätte, so hätte ich doch nicht freundlich sein können. Es war, als ob alles, was ich tat, schief ginge, weil etwas in meinem Innern unheilbar und zutiefst verkehrt war. Ich wollte alles zerstören, es genauso dunkel und hohl machen, wie ich selbst war. Ich hatte meine Hände nun schon so lange zu Fäusten geballt, dass ich sie nicht mehr öffnen konnte. Beim Frühstück sprach Krister nicht mit mir. Alle seine Ausfälle und Neckereien blieben aus. Er tat so, als wäre ich gar nicht da. Daraufhin stolperte ich den ganzen Morgen wie ein Schlafwandler durch das Getreide; die rasselnden, wogenden Felder waren wie ein alptraumhaftes Meer, das nie enden würde. Wie hielten Lindströms das nur aus, Tag für Tag, Jahr für Jahr? Ich schleppte mich durch die stickige Luft, der Plastiksack scheuerte am Rücken und der Schweiß floss in Strömen. Und Krister sagte kein Wort zu mir. Nach ein paar Stunden Arbeit fuhr ich mit Lindströms ins Schwimmbad, wo wir uns erholen und Kaffee trinken wollten. Ich nahm ein Buch mit, um nicht über irgendwelche Banalitäten plappern zu müssen und um zu wissen, wohin ich schauen sollte. Es war eine Qual, in der prallen Sonne zu sitzen, während ringsum Kinder schrien und johlten und kleine, fröhlich lachende Gruppen im Gras neben dem Schwimmbecken saßen, als ob es keinen Ernst, keinen Kummer und keine Einsamkeit gäbe. Schon allein das Geräusch all dieser Geselligkeit kam mir wie Hohn vor. Ich gestattete es mir nicht einmal, ins Wasser zu 92
gehen. Die Luft war stickig, und am Himmel waren dunkle Wolkenfetzen aufgetaucht. Ich hieß sie aus ganzem Herzen willkommen. Frau Lindström kam aus dem Wasser und setzte sich neben mich. Ihr nasser, halb nackter Körper war mir viel zu aufdringlich und viel zu nahe. Ich erschauerte. »Aha, du liest ein Buch.« Sie holte Tassen und eine Thermoskanne aus der Tasche und warf ab und zu unruhige Blicke an den Himmel. »Es sieht ganz nach Regen aus, dann können wir heute Nachmittag nicht jäten!« »Mm.« »Willst du denn nicht ins Wasser gehen?« »Nein.« »Du wirkst etwas mickrig, finde ich. Deine Mutter sagte, du seist ein wenig müde und bedrückt und hättest keinen Appetit; sie hofft, dass Landluft und Sonne dich ein wenig aufleben lassen.« Aha, das hatte sie also gesagt. Stopft den Jungen voll mit Schweinebraten und setzt ihn ein Weilchen in die Sonne, damit er mit einem dämlichen Lächeln auf den Lippen wieder nach Hause kommt, mopsfidel und braungebrannt mit runden Backen. Diesen Triumph gönnte ich meiner Mutter nicht. Aber ... eigentlich müsste ich jetzt nach Großmutters Tod doch Mitleid mit ihr haben; wenn ich sie jetzt verabscheute, musste ich wirklich ein sehr schlechter Mensch sein. Vielleicht war ich das tatsächlich – ein schlechter Mensch. Unabänderlich, unheilbar schlecht. Bei diesem Gedanken wurde es mir eiskalt. »Möchtest du einen Krapfen?«, fragte Frau Lindström bekümmert. »Nein, danke.« Krister stand auf dem obersten Sprungbrett. Als er sprang, flog sein Körper wie ein bronzefarbener Pfeil durch die Luft. Das konnte er also auch. Aber bestimmt war er zu unkompliziert, um es richtig genießen zu können. Ich konnte nicht springen. 93
Rasch kehrte ich zu meinem Buch zurück. Dennoch beobachtete ich aus dem Augenwinkel heraus, wie er aus dem Schwimmbecken kletterte und wasserglänzend, außer Atem und voller Energie zu uns herkam. »Warum hüpfst du nicht hinein ins kühle Nass, Jimmy?«, fragte er. Seine Stimme klang genauso freundlich-spöttisch wie immer, die Feindseligkeit war verschwunden. »Bist du wasserscheu?« »Hab keine Lust.« »Wir könnten doch ein Wettschwimmen machen?« Mit ihm um die Wette schwimmen, obwohl ich wusste, dass er gewinnen würde??? »Neei-n.« »Kannst du etwa nicht schwimmen?« »Klar kann ich das!« »Also dann komm doch!« Seine kräftige Hand packte mich am Fuß. »Lass los!«, sagte ich rasch. »Aber Krister, lass ihn doch in Ruhe!«, fiel Frau Lindström ein. »Du siehst doch, dass er traurig ist.« Krister zuckte die Schultern und machte ein resigniertes Gesicht. Und ich vertiefte mich wieder in mein Buch, um die brennende Röte in meinem Gesicht zu verbergen. Dann hob ich vorsichtig den Blick und sah seinen braunen, wasserglitzernden Rücken zum Schwimmbecken hinunter verschwinden. Am liebsten wäre ich aufgestanden, um ihm zu folgen. Aber ich konnte es nicht, ich konnte es einfach nicht.
Der Regen kam, ein richtiger Wolkenbruch, der alles weitere Jäten an diesem Nachmittag unmöglich machte. Ich saß im Gästezimmer und schrieb in mein Tagebuch, das bald voll geschrieben war mit meinen Leiden, die sich mit meiner ordentlichen, unpersönlichen Schülerhandschrift über die Seiten er94
gossen. Auf die Innenseite des Einbandes hatte ich ein Bild geklebt, das ich aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte – ein Hermeskopf mit weit geöffneten Augen. Ich wusste eigentlich nicht, warum ich es ausgeschnitten hatte, musste es aber immer wieder von neuem lange anschauen, von der Kraft und der Reinheit des Gesichts fasziniert. In den Augen des Gottes lag ein Mut, den ich mir selbst nie zutraute. Ich pflegte das Hermesgesicht mehr oder weniger jeden Tag anzuschauen. Es war wie ein Ritus; ich glaubte wohl, dass auf irgendeine magische Art und Weise etwas Mut und Unabhängigkeit auf mich übergehen würden, wenn ich das Bild nur konzentriert genug anschaute. Vielleicht ist es die Pflicht eines jeden Menschen, die vollkommene Einsamkeit zu erlernen, schrieb ich in das Tagebuch. Ich warf einen Blick auf das Fenster; der Wolkenbruch hatte einen grauen Vorhang vor die idyllische Aussicht gezogen. Denn das Ich eines Menschen ist ja letzten Endes doch nichts anderes als ein Regentropfen, der auf die Erde fällt, schrieb ich, und dann legte ich mich aufs Bett, um mir die Fortsetzung auszudenken. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich hörte dem Regen zu, und plötzlich schien es mir, als hätte sich eine neue Melodie in das Brausen der fallenden Tropfen eingeschlichen. Was war das? Es versetzte mich in Panik. Du bist allein, sagte die Melodie, allein und eingesperrt, und hier draußen ist das Leben; hier draußen kannst du eine Öffnung finden. Frische, eine große Nähe, die deine erstickende Hülle vielleicht durchdringen könnte. Wenn du nur nachzugeben wagtest... Ich bekam Todesangst. Alle Gedanken und Worte verschwanden, und ich war nur noch ein verängstigtes, verschüchtertes kleines Kind, das nichts wusste und nichts erlebt hatte. Und irgendwo hinter dem Regenvorhang, irgendwo draußen in der allzu großen Wirklichkeit lebten Milliarden von Menschen. Ich glaubte ihre Stimmen im Regen zu hören. Mach auf, mach auf, mach auf, sangen die Tropfen. 95
Und ich konnte es nicht. Ich krümmte mich wie ein Wurm in dem schmalen Bett und ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. Ich wollte um Hilfe rufen, ich wollte, dass jemand hereinkäme, jemand Lebendiges, denn die Angst stand an meinem Bett und sprach davon, wie kurz das Leben sei, wie kurz und unersetzlich, und wie schwer es sei, es zu genießen, wenn man sich erst einmal davon abgewandt habe. Aber niemand kam. In jener Nacht träumte ich wieder von Schlangen; ich ging ganz allein über eines der unendlichen Getreidefelder, und meine Füße wurden schwerer und schwerer. Ich bückte mich, um die Lehmklumpen unter meinen Stiefeln zu entfernen, und da sah ich, dass es Schlangen waren, die sich um meine Füße gewunden hatten.
Am folgenden Tag blieb ich dem Windhafer fern, unter dem Vorwand, dass ich Kopfschmerzen hätte. Ich hockte im Gästezimmer und rang mit meiner Angst. Es war genau wie früher, als ich klein war – am liebsten wäre ich unter die Decke gekrochen, um mich dort zu verstecken. Aber stattdessen kauerte ich auf dem Bett und las. Als ich in die Küche hinausschlich, um mir ein Brot zu machen, stieß ich natürlich mit Krister zusammen. Ich sah ihn hasserfüllt an, doch das schien er gar nicht zu bemerken. »Ach, bist du nicht mit den anderen draußen auf dem Feld?«, fragte er. »Nein, ich habe Kopfschmerzen.« Ich stellte mir meine Antwort in einer eiszapfenbehängten Sprechblase vor. »Ich glaube, du bist ein bisschen zu zimperlich.« Es klang nicht unfreundlich. »Nimm eine Kopfschmerztablette und geh in die Sonne hinaus, dann geht’s dir bald besser.« Nichts wie raus an die Luft, das hilft gegen alles. 96
»Willst du mich nicht begleiten und die Kühe nach Hause treiben, wie früher, als du klein warst?«, schlug er vor. »Ich bin aber nicht mehr klein«, fauchte ich. »Ich weiß.« Krister seufzte. Und dann begleitete ich ihn doch. Wir folgten einem holprigen Weg, der mit Gras und Kamille bewachsen war. Vögel flatterten von den Stacheldrahtzäunen auf und Schmetterlinge tanzten wie weiße Blätter über dem Wegrain. Und die Sonne schien auf das raschelnde Getreide herab und der Himmel war leuchtend blau, und ich hasste still und konzentriert vor mich hin. Krister pfiff unbekümmert. Ab und zu unterbrach er sich, um mir Fragen zu stellen, die ich einsilbig beantwortete. »Nach der Neunten wirst du wohl im Gymnasium anfangen?« »Ja.« »Und was hast du dann für Pläne, beruflich, meine ich?« »Weiß nicht.« »Du wirst wohl in die Fußstapfen deines Vaters treten, nehme ich an?« Wir waren bei der Kuhweide angelangt. Die Kühe scharten sich am Zaun, glotzten uns unverwandt an und schüttelten ihre Hörner. Ich verspürte keine große Lust, ihnen im Weg zu sein, wenn sie durch das Tor herauskämen. Während Krister sie hinaustrieb, stellte ich mich neben einen der Zaunpfosten und schwieg. Um seinem Blick auszuweichen, als er zurückkam, um das Tor zu schließen, musterte ich voller Interesse das Gras und die Steine am Wegrand. Und dort entdeckte ich plötzlich etwas Schwarzes, Dünnes mit einem schwachen Zickzackmuster, das zwischen den Grashalmen hindurchschimmerte. Es bewegte sich nicht – genauso wenig wie ich. Ich war vor Schreck erstarrt. Denn dort lag sie, ganz so, als ob mein Alptraum eine Vorwarnung gewesen wäre – die Kreuzotter, das Entsetzen meiner Kindheit. Ich war wieder fünf Jahre alt und zum Tode verurteilt. Hier lag das Entsetzen, die Strafe für alles Schlechte und Hässliche, das ich in meinem Inneren barg. Wie hypnoti97
siert starrte ich die Schlange an und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Nun beiß mich schon!, dachte ich. »Krister!«, brachte ich heraus. Sofort stand er neben mir, überrascht und aufmerksam. »Was ist?« »Sieh mal!« »Was?« Er erblickte die Schlange und stampfte auf den Boden, sie blieb jedoch reglos liegen. »Du bist wirklich ein kleiner Hasenfuß«, sagte er. »Die Schlange ist ja mausetot, sieh doch!« Er fuhr mit dem Kuhstock in den Kies, und der Schlangenleib flog auf den Weg hinaus und blieb steif und blank zwischen den Kamillebüscheln liegen. »Nicht einmal eine ganze Schlange! Nur ein Schwanz. Wahrscheinlich hat eine Katze damit gespielt.« Er bückte sich und hob die halbe Schlange auf. Ich stand immer noch wie versteinert da, bis er meine eine Hand packte und den Schlangenschwanz in meine Handfläche legte. »Fass sie einmal an!«, sagte er. »Sie ist ganz steif!« Ich schloss die Hand um die kalte Schlange, ließ sie aber sofort darauf auf den Boden fallen. »Behalt sie doch! Als eine Erinnerung an deinen gefährlichen Aufenthalt auf dem Lande!« Krister lachte, und ich stimmte in sein Gelächter ein, plötzlich waren sämtliche seelischen Leiden vergessen. »Komm jetzt, wir gehen!«, sagte er und schlug mir leicht auf die Schulter. Die Kühe trotteten unter ungeduldigem Muhen in einem ruhigen Strom brauner Rücken den Weg hinauf. Krister ging hinter ihnen her, schwang seinen Stock und pfiff ein paar kurze, klare Töne. Mein Herz war plötzlich zum Überlaufen voll; es war, als ob ein Wind von den Feldern in meine Brust hineingeblasen hätte – einer dieser Winde voller Lerchengesang, die nach Sommer duften. Und als ich Kristers Rücken betrachtete und das Geräusch seiner Schritte hörte, wusste ich, dass ich ihn nicht hasste. Ich hasste ihn überhaupt nicht. Ich 98
blieb mitten auf dem Weg stehen und starrte direkt in die Nachmittagssonne hinein. Er drehte sich nicht um. Die Lerchen flogen aus den Sträuchern am Rand der Kuhweide hoch; ihre Leiber bebten vor Gesang, als sie sich himmelwärts warfen. Langsam ging ich den Weg hinauf. Etwas war geschehen, das ich nicht verstand. Wir saßen alle am Tisch und tranken den abendlichen Kaffee. Mir kam es so vor, als sprächen alle mit viel zu lauten Stimmen, alles war so scharf und verwirrend, wie wenn man Fieber hat. Ich war mir Kristers Gegenwart sehr bewusst und vermied es, ihn anzusehen. Jede seiner Bewegungen schien in mir Spuren zu hinterlassen; es war, als wäre ich in ein Instrument verwandelt, das er durch seine bloße Anwesenheit stimmen konnte. Ob die anderen es mir wohl ansahen, wie erregt ich war? Erregt, voller verwirrender Gedanken und so geschockt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es war keineswegs unangenehm, nur ganz und gar anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Wie wenn ich plötzlich Fieber bekommen hätte und nicht wüsste, was ich damit anfangen sollte. Alles schien einfach zu versinken. »Noch ein Stück Kuchen?« »Kopf hoch, mein Junge!« »Aber ein bisschen Farbe hast du jetzt doch abbekommen!« »Morgen kommst du doch mit aufs Feld? Es ist ja dein letzter Tag!« Der letzte Tag? Ich starre auf das farbenfrohe Muster der Tischdecke. Der Kaffee in meiner Tasse wurde kalt; ich blieb noch lange sitzen, nachdem die anderen, aufgestanden waren, berauscht, wie ausgewechselt – und völlig verständnislos. Ich wollte zu Krister hineingehen. Seine Tür war geschlossen, und ich wollte zu ihm hineingehen. Das Radio in seinem Zimmer war an, und ich hörte Rascheln von Papier und ab und zu das Knarren seines Stuhles. Ich saß im dunklen Wohnzimmer 99
und fühlte mich aufgekratzt und zittrig und von diesem unbekannten Etwas erfüllt, das mich nicht verlassen wollte. Jetzt hat sich der Abgrund aufgetan, dachte ich. Jetzt gibt es keinen Weg zurück. Und während dieser Gedanke mich entsetzte, war er mir doch auch lieb. Ich fühlte mich schicksalhaft verurteilt, hilflos. Mein geheimes Herz pochte und schlug ... Ich musste einfach zu Krister hineingehen um festzustellen, ob es dann schlimmer werden würde, um sein Gesicht beobachten zu können, um diesen eigenartigen Schmerz deutlicher zu spüren. Aber ich hatte keinen Anlass, ihn zu stören, und er schien ja sehr beschäftigt zu sein ... Mein Klopfen wurde mit einem Murmeln beantwortet. »Störe ich?« »Ja, eigentlich schon, aber wenn du dich beeilst, werfe ich dich wenigstens nicht hinaus.« Seine Stimme klang munter. Er drehte sich zwar nicht um, aber sein Rücken und die blonden Locken ließen die Flutwelle in mir noch höher steigen. »Ich wollte mir nur einen Bleistift ausleihen.« Krister drehte sich um. »Im Ständer auf der Arbeitsplatte in der Küche gibt’s jede Menge Bleistifte, das weißt du doch.« »Nein, das habe ich nicht gewusst.« (Bitte, schick mich nicht weg, lass mich hier bleiben.) »Was machst du eigentlich?« »Buchhaltung.« »Macht das Spaß?« »Es geht so.« Dann begannen seine Augen zu glitzern. »Ganz so viel Spaß wie Tagebuchschreiben natürlich nicht...« »Was meinst du damit?« »Du liebe Zeit, du wirst ja knallrot. Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass ich die Tagebücher anderer Leute lese? Nein, ich habe nur gesehen, dass du etwas in ein Buch schreibst. Schreibst du etwa Gedichte? Über unglückliche Liebe und solche Sachen?« »Nein.« »Mensch, ist doch klar, dass ich nur Spaß mache! Ich wollte nur versuchen, dich zum Lachen zu bringen.« 100
Ich lächelte nervös. Aus dem Radio strömte I can’t get no satisfaction, und ich, der ich sonst die Stones verabscheute, bat, dableiben und zuhören zu dürfen. Das neue Gefühl verschwand nicht. Am liebsten wäre ich das Papier gewesen, auf dem er schrieb, oder die Stuhllehne, an die er sich lehnte. Mein Herz schlug so heftig, dass ich glaubte, es müsste die Musik übertönen. Krister schien etwas gesagt zu haben. »Na, wie ist es, sehnst du dich immer noch nach der Stadt?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Hast du denn kein Heimweh nach deiner Freundin?« »Welcher Freundin?« »Dieser Kleinen in Stockholm, die auf dich wartet.« »Ich habe keine Freundin in Stockholm«, sagte ich verärgert. »So, so. Du bist also sozusagen noch nicht hängen geblieben?« »Nee-ein. Du ... du hast natürlich die ganze Nachbarstadt voller Mädchen?« »Keine Spur. Unsereins ist endgültig hängen geblieben. Sesshaft geworden, wie man sagt. Schade, dass du nicht über Sonntag bleibst, dann hättest du sie kennen lernen können.« »Aha.« Ich hörte, wie angespannt meine Stimme klang. »Ja, im Herbst wollen wir heiraten, mit allem Drum und Dran«, erklärte er stolz. Dann sah er auf die Uhr. Der Stones-Song war zu Ende. »Nimm doch diesen Bleistift«, sagte er. Ich nahm den Stift und blieb wie ein Schwachsinniger stehen. »Hast du noch was auf dem Herzen?«, fragte er. Nein, das hatte ich ja nicht. Oder besser gesagt, ich hatte viel zu viel auf dem Herzen. Ich drehte mich um und ging hinaus. Die ganze Hochstimmung war verschwunden, und eine bedrückende Enttäuschung, ein schreckliches Gefühl der Lächerlichkeit und Blamage war an ihre Stelle getreten. »Viel Spaß beim Tagebuchschreiben«, rief er hinter mir her.
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Was war ich? Was war mit mir geschehen? Wohin war der alte Jim Lundgren verschwunden? Warum hatte ich bisher nichts begriffen? Wie sollte ich zurückfinden? In jener Nacht fand ich kaum Schlaf. Es war mir nur allzu sehr bewusst, dass Krister in einem Zimmer in meiner Nähe schlief und dass sein nackter Oberkörper am nächsten Tag direkt neben mir sein würde, wenn wir über die Felder gingen. Die kleinen goldenen Härchen auf seinen Armen würden glänzen, und unter der glatten, braunen Haut würden die Muskeln spielen. Der letzte Tag. Krister schlief vermutlich ausgezeichnet oder er lag da und träumte von seiner Verlobten. Bestimmt war sie blond und vollbusig wie Ulfs Weiber, bestimmt verdiente sie ihn gar nicht. Ihr einziger Verdienst war, eine Frau zu sein. Und ich war ein Mann, oder vielmehr ein Junge, und das war unvorstellbar. Vielleicht würde ich es wegtrainieren können, dachte ich. Höhenangst und Stottern und Linkshändigkeit kann man ja auch wegtrainieren, also warum nicht auch ... das hier? Ich wollte an etwas anderes denken, ich versuchte es mit dem Gymnasium, mit Kafka und mit dem Tod, ja sogar mit Motorrädern und Mädchen. Im Laufe der Zeit würde ich bestimmt ein Mädchen kennen lernen, das mich von dieser Sache heilte. Aber jetzt gerade wollte ich nichts anderes, als in seiner Nähe sein, und ich dachte an all das, was ich über Leute gehört hatte, die nicht so waren wie alle anderen. Ich versuchte mir einzureden, dass es unmöglich sei, dass das Ganze ein Irrtum sei, dass ich momentan etwas verwirrt sei, schließlich vermochte ich jedoch an nichts anderes mehr zu denken als daran, dass ich verliebt war. Ich lag im Bett und wurde zwischen Scham und Ekstase und Verwirrung hin und her gerissen, und plötzlich glaubte ich ganz deutlich Ulfs Stimme zu hören: Du Schwuchtel, hörte ich ihn sagen, du bist ja völlig beknackt, du alte Schwuchtel!
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7 Jim sah recht erholt aus, als er nach Hause kam, aber irgendwie wirkte er ruhelos. Er war damals fünfzehn, und jetzt hinterher habe ich verstanden, dass er ungefähr um diesen Zeitpunkt herum begriffen haben muss, wie ... dass er ein ... ja, dass er sich damals wohl über seine ... Veranlagung klar wurde. Damals verstand ich von all dem gar nichts, ich hatte mit Tina alle Hände voll zu tun. Hinterher habe ich mich manchmal gefragt, ob wir nicht trotz allem einen Psychiater hätten aufsuchen sollen, schon damals, als der Junge sich einzuschließen begann und so. Es war ihm anzumerken, dass er es sehr schwer hatte. Dann wären wir vielleicht viel besser mit allem zurechtgekommen und viele zukünftige Schwierigkeiten wären uns erspart geblieben. Aber Jim hätte sich vermutlich nie damit einverstanden erklärt. Er wurde nur immer kühler und reservierter, es schmerzte geradezu, ihn so zu sehen. Harald, ja, Harald bekam von all dem nicht so viel mit, für ihn war die Hauptsache, dass der Junge gut in der Schule war. Von Depressionen und schlechten Nerven und ähnlichen 103
Dingen wollte er nichts hören; so etwas hatte man gefälligst selbst zu überwinden.
Als ich in jenem Herbst wieder in die Schule kam, fühlte ich mich, als wäre ich weit weg gewesen, in einer anderen Welt. Ja, ich war ein Wechselbalg. Ich betrachtete meine Schulkameraden wie durch ein Fenster. Ihr ahnt ja nicht, was ich bin, dachte ich, ich bin nicht so wie ihr. Wahrscheinlich habe ich nicht die ganze Zeit ausschließlich an Das Eine gedacht, aber Das Eine existierte doch wie ein grauer Schatten in meinem Innern. Ich hoffte, dass mein dunkles Geheimnis mir wenigstens ein geheimnisvolles Flair verlieh, damit meine Umgebung sich fragte, welchen düsteren Erfahrungen Jim Lundgren in der 9 g sein interessant ausgezehrtes Aussehen wohl verdankte ... Mein Großes Geheimnis bedrückte mich nicht nur, ich erlebte beim Gedanken daran auch eine Art kitzelnder Spannung. Denn auch wenn meine Gefühle noch so verboten und verächtlich waren, so trug ich doch endlich etwas Wirkliches, etwas Lebendiges in meinem Innern. Etwas, das sich nicht verdrängen ließ. Aber oft hätte ich alles dafür gegeben, um wieder in jene Zeit zurückkehren zu dürfen, bevor ich Das Eine wusste. Denn jetzt wusste ich wirklich Bescheid. Ich bin homosexuell, dachte ich. Das Wort ging mir dauernd durch den Kopf: hoo-moo-sexuelll. Sowie ich das Wort irgendwo entdeckte, begannen meine Wangen zu brennen, ich hörte auf zu atmen und mein Herz pochte fieberhaft. Ich sehe es noch deutlich vor mir, wie Jim Lundgren mit fiebrig glänzenden Augen die Regale nach etwas durchsucht, das sich vielleicht auf sein Geheimnis beziehen könnte. Und wie er Die Nelkenmuschel von Bengt Martin entdeckt, dann zur Ausleihe schleicht, als die Bibliothekarin gerade abwesend ist, den Ausleihschein mit S. Karlsson ausfüllt und das Buch schließlich mit 104
nervösen, schweißnassen Händen zuunterst in seiner Schultasche versteckt. Dann sehe ich ihn zu Hause auf dem Bett liegen und das Buch hinter dem aufgeschlagenen Geschichtsbuch lesen, für den Fall, dass seine Mutter hereinkommen sollte. Das Buch schien förmlich durch alle Wände hindurch den Geruch nach Homosexualität zu verströmen, es war, als ob seine Vibrationen meine Mutter draußen in der Küche erreichen müssten ... Ich tat mein Möglichstes, um nach außen hin normal zu wirken. Dadurch, dass ich Ulf genau beobachtet hatte, hatte ich inzwischen ein großes Geschick darin erreicht, Jugendlicher zu spielen. Ich hatte mir eine schwarze Lederjacke zugelegt, die Ulfs Jacke peinlich ähnlich sah, und rauchte sogar ab und zu ein wenig. Für das Geld, das ich beim Unkrautjäten verdient hatte, kaufte ich mir einen Expander, den gleichen, den Krister hatte. Und aus lauter Furcht, dass meine Gesten allmählich feminin werden könnten, hielt ich stets die Hände in den Hosentaschen vergraben. Das Schlimmste war der Aufenthalt im Umkleideraum vor und nach dem Turnunterricht. Nicht dass ich beim Anblick meiner halb nackten Mitschüler keuchend in einer Ecke gestanden oder sie unter der Dusche lüstern angestarrt hätte, aber ich hatte das Gefühl, dass Einer Wie Ich sich so benehmen müsste. Es wurde fast zu einer Zwangsvorstellung – solltest du sie nicht doch ein wenig anstarren? Außerdem hatte ich irgendwo gehört, dass man vor lauter Angst, eine Erektion zu bekommen, eine Erektion bekommen konnte, und je mehr ich daran dachte, desto größer wurde meine Angst davor. Die anderen Jungen machten Ringkämpfe und neckten sich unter der Dusche, unterhielten sich über Weiber und schmiedeten Pläne fürs Wochenende, während ich in meine Kleider schlüpfte und aus dem Umkleideraum huschte. Ich fürchtete mich davor, meine Mitschüler anzuschauen, ganz so, als ob Das Eine mir an den Augen abzulesen wäre, genau wie man früher 105
in den Augen der Hexen während der Messe ein auf dem Kopf stehendes Kreuz zu erkennen geglaubt hatte. Ich hielt mich meistens abseits (was nicht schwer fiel, da meine Mitschüler mich vollkommen ignorierten, auch wenn sie mir nicht mehr aktiv zusetzten). Aber während des Unterrichts machte ich mich dafür umso mehr bemerkbar. Meine Hand befand sich ständig oben in der Luft, und mein Name wurde fast immer als Erster genannt, wenn die Ergebnisse von Klassenarbeiten vorgelesen wurden. Das trug nicht gerade zu meiner Beliebtheit bei. Ulf und ich schienen uns immer weniger zu sagen zu haben. Sein Freundeskreis wuchs, er wurde immer raubeiniger und schwänzte immer häufiger den Unterricht. Außerdem hatte er eine feste Freundin, ein kleines, stark geschminktes Mädchen, das ihn hingebungsvoll anschmachtete. Ich musste immer wieder daran denken, dass Ulf mich früher Schwuchtel genannt hatte. Vielleicht hatte er damals schon etwas geahnt, wofür ich noch blind gewesen war? Ich konnte ganze Nächte hindurch wach liegen und mich fragen, ob er es wusste, ob er es jemandem gesagt hatte, ob er mir deshalb auswich, weil er glaubte, ich wurde vielleicht Annäherungsversuche machen. Daher dachte ich mir einen Plan aus, den ich bei nächster Gelegenheit in die Tat umsetzen wollte.
Ulf und ich standen in der Raucherecke und trugen fast identische Jacken – ich fühlte mich, als machte ich den vergeblichen Versuch, sein Spiegelbild zu sein. »Wie steht’s?«, fragte ich. »Mensch«, sagte Ulf, »nach dem Mittagessen hau ich ab, hier hält’s doch keine Sau aus. Hasse und ich und noch ein paar zischen in die Stadt.« »Aha«, sagte ich anbiedernd, »und was habt ihr dort vor?« 106
»Nur ein bisschen Shit auftreiben«, erklärte er lässig. »Sollen wir auch ‘ne Portion für dich mitlaufen lassen?« Es fiel mir schwer zu verbergen, wie unangenehm mir das alles war. Schon allein die Vorstellung, Hasch zu rauchen, flößte mir Angst und Schrecken ein. »Na ja, ich weiß nicht«, sagte ich. »Es wäre ja dumm, wenn ihr meinetwegen erwischt werden würdet.« »Pah«, sagte Ulf, »so leicht lassen wir uns nicht schnappen. Ist schließlich nicht das erste Mal.« »Kommt Lotta auch mit?« Ulf zog die Luft durch die Zähne ein – das bedeutete Ja. »Du, sag mal«, begann ich, »wegen Weibern und so ...« Ulf setzte sofort seine Kennermiene auf, was mich beinahe daran gehindert hätte fortzufahren. »Also, dieses Mädchen in deiner Klasse«, stotterte ich, »diese Katarina oder wie sie heißt, weißt du, ob die schon in festen Händen ist?« »Meinst du etwa Das Gebiss?« Ulf grinste. »Bist du scharf aufs Gebiss? Na ja, dir ist eben nicht zu helfen.« Er klang nicht unfreundlich. »Die ist frei, nehme ich an.« Das Gebiss. Sie hatte leicht vorstehende Vorderzähne, das genügte offensichtlich, um sie als unakzeptabel abzustempeln. Ulf bot mir großmütig an, sie mit mir zu seiner Geburtstagsfeier einzuladen. Das werde bestimmt kein Problem werden, schließlich sei sie ja nicht gerade umwerfend beliebt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so ins Zeug legen würde, und ich hatte überhaupt keine Lust, mit irgendeinem Mädchen verkuppelt zu werden. Ulfs Fete war mir auch zuwider. Er und seine Kumpane rauchten Hasch, das wusste ich, und es war durchaus möglich, dass einige von ihnen auch viel härtere Drogen konsumierten. Aber dennoch konnte ich schlecht ablehnen. Ich wollte es mir selbst beweisen, dass ich hinzugehen wagte, ich wollte sozusagen mein schauspielerisches Talent ausprobieren. 107
Am Abend der Fete saß ich mit eiskaltem Magen vor dem Telefon und bekämpfte den Wunsch, Ulf anzurufen, um ihm zu sagen, ich hätte Kopfschmerzen. Vielleicht würden die anderen mich ja dazu zwingen, etwas zu rauchen? Ich hatte genügend über Fehlzündungen, Halluzinationen und Überdosen gehört, um ordentlich weiche Knie zu haben, als ich vor Ulfs Wohnungstür stand und auf den Klingelknopf drückte. Seine Eltern waren wie üblich nicht zu Hause. Ulf hatte im Wohnzimmer Matratzen auf den Boden gelegt und eine rote Glühbirne in die Deckenlampe geschraubt. Eine LP mit Black Sabbath trug zur weiteren Stimmungsmache bei. Ulfs langhaarige Kumpane und ihre Mädchen saßen oder lagen auf den Matratzen an der Wand. Und auf dem Sofa saß Katarina Holmquist mit einer Freundin. Beide wirkten verloren. Auf dem Tisch stand eine Reihe Weinflaschen, von gefährlich glitzernden Injektionsspritzen jedoch keine Spur. Ulf und ein paar seiner Kumpane verschwanden ab und zu in Ulfs Zimmer und kamen mit glänzenden Augen und einem leichten Haschduft im Haar zurück, aber niemand machte irgendwelche Anstalten, mich auf die Toilette hinauszuzerren, um mir eine schmutzige Spritze in den Arm zu jagen. Dennoch war ich steif wie ein Stock und trank zum ersten Mal in meinem Leben so viel Wein, dass ich einen Schwips bekam. Und das hätte ich nicht tun sollen. Denn plötzlich nahm mein schauspielerisches Talent überhand, und ich konnte mein altes Ego, den draufgängerischen, redegewandten Normal-Jim, nicht mehr daran hindern, den Versuch, Katarina aufzureißen, so heftig zu übertreiben, dass Katarina mit einem befremdeten Ausdruck in den Augen immer weiter ins Sofa zurückwich. Ich muss ihr wie ein ungewöhnlich misslungener Cowboy erschienen sein. »Hallo, Süße«, zischte ich ihr ins Ohr. »Ich bin stockbesoffen! Absolut zu!«
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Ich war eine einzige große, stinkende Lüge. Ich hasste mich selbst, sah ein, wie lächerlich ich war. Und außerdem war es mir ganz klar, warum ich mich so benahm – ich hatte keinen freien Willen mehr, wurde nur noch von meiner Angst regiert. Wie üblich. Die Angst hatte mir eine Rüstung geschmiedet, die so schwer und undurchdringlich war, dass ich kaum atmen konnte. Mit der Zeit würde ich darin verschwinden. Mitten im Fest machte ich mich aus dem Staub. Ich glaube kaum, dass mich jemand vermisste. Mit einem sehr unmännlichen Tränenkloß im Hals und hochgezogenen Schultern trottete ich zur U-Bahn-Station hinunter, um auf die Bahn zu warten, die mich zu meiner Mutter, den Schulbüchern und einer weiteren schlaflosen Nacht zurückführen würde. Ich hatte das Gefühl, dem einen Käfig entronnen und in den nächsten unterwegs zu sein.
Die U-Bahn-Station war eisig kalt und fast menschenleer. Mitten in der grauen Trostlosigkeit saß ein dunkelhaariges Mädchen in einem roten Lackmantel auf einer Bank. Ich ließ mich auf die äußerste Kante der Bank nieder. Irgendetwas war mit dem Mädchen nicht in Ordnung. Ich sah in die andere Richtung. »He, du!«, sprach sie mich an. Ich stellte mich taub. »He, du!«, wiederholte sie. »Hast du Streichhölzer?« »Nein, ich rauche nicht.« Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich, dass ihr Gesicht krankhaft blass war, als hätte jemand alle Farbe aus ihr herausgepresst. Ihr Mantel war aufgegangen, und ich stellte fest, dass sie keinen Rock trug, nur eine schwarze Spitzenstrumpfhose, obwohl es so kalt war. Zuerst begriff ich gar nichts, sondern starrte nur ihr ungekämmtes Haar, ihre weißen Hände und ihre ausdruckslosen Augen an.
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»Was gibt’s denn da zu glotzen?«, fuhr sie mich an. »Mensch, du siehst ganz schön fertig aus. Bist du down?« »Na ja, ein bisschen schon«, erwiderte ich. »Ja, wer ist das nicht ... Wie alt bist du?« Sie sah mich prüfend an. Ihre Augen waren leer, schwarz, zwei Bohrlöcher, die in ein grenzenloses Dunkel hineinführten. Diese Augen erschreckten mich mehr als alles, was ich bisher gesehen hatte. Es waren die Augen eines völlig fremden Wesens; die Augen eines Geschöpfes, das von einem Ort herkam, den ich mir nicht vorstellen konnte. »Achtzehn«, log ich ganz automatisch. »Danach siehst du aber nicht aus!« Sie hüllte sich fester in ihren Mantel. »Du. findest bestimmt, dass ich ziemlich ausgeflippt aussehe, was? Kannst es ruhig zugeben.« »Neeei...in ... Du wirkst nur etwas müde ...« »Etwas müde.« Sie lachte trocken. »Herrgott noch mal. Ich pfeife auf dem letzten Loch, mein Kleiner!« Sie schien mich nett zu finden. Das beunruhigte mich und machte mich zugleich stolz. Denn das Mädchen hier auf der Bank war eine echte Ausgeflippte, das war mir klar. Und Ausgeflippte musste man freundlich und verständnisvoll behandeln. Ich bemühte mich, entspannt und interessiert zu wirken, und hatte das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Doch gleich darauf wurde mir eiskalt vor Angst, als ich mir vorstellte, ich könnte in irgendetwas hineingezogen werden. Wenn sie jetzt meine Hilfe beanspruchen würde? Wenn sie mich mit ihren wachsbleichen Händen anfassen würde? »Haste zweihundert Mäuse?«, fragte sie. Ich zuckte zusammen, versuchte aber unberührt zu wirken. »Nein. Wieso?« »Nur so.« Sie fingerte an einer Laufmasche in ihrem Strumpf herum. »Du bist nicht zufällig geil oder so?« »Nein.« Ich war völlig verwirrt.
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»Schon gut, mach dir nicht gleich ins Hemd, Kleiner. Ist doch klar, dass du nicht geil bist auf mich. Ein feiner Junge wie du.« Sie senkte den Blick. »Aber vielleicht hast du trotzdem zweihundert Mäuse? Keine Angst, natürlich nicht für einen Fick. Nur so, aus reiner Freundschaft. Aus Mitmenschlichkeit! Bläh! Hör nicht auf mich. Du bist ja so verdammt fein, rauchst ja nicht einmal.« »Was denn rauchen?«, fragte ich. Ulfs Haschdämpfe hingen mir noch in der Nase. »Was denn rauchen? Hast du geglaubt, ich meine Shit? Rauchst du etwa Shit?« »Hab’s aufgesteckt«, behauptete ich. Warum log ich nur die ganze Zeit, wurde das zur Gewohnheit? Was würde ich als Nächstes auftischen? »Du hast es aufgesteckt!«, stellte sie bewundernd fest. »Ja, pass nur auf, dass du nicht in der Scheiße hängen bleibst.« Sie stand auf und schaute zwinkernd auf das Gleis hinaus, der heranrasenden Bahn entgegen. »Jetzt kommt meine Bahn. Fährst du mit?« Wir setzten uns einander gegenüber hin. Ich fühlte mich unsicher und zugleich bedeutend. »Mensch, du siehst vielleicht weggetreten aus«, sagte sie. »Du selbst siehst auch nicht gerade viel besser aus.« Durfte man so etwas überhaupt zu einer Ausgeflippten sagen? »Mann, du nervst. Im Augenblick geht’s mir ganz ordentlich. Aber bald ist es wieder so weit.« »Aha«, sagte ich. »Aber was ist denn mit dir los?« Sie beugte sich vor. »Ist jemand fies zu dir gewesen? Hast du Probleme mit deiner Tussi?« »Ich habe keine Tussi«, sagte ich bitter. »Ich bin homosexuell.« Das Wort rutschte einfach aus mir heraus. Plopp, wie ein fertiges Ei aus einem Huhn. »Aha«, sagte sie ungerührt. »Hast du Probleme mit deinem Typ?« »Nein, ich habe Probleme mit mir selbst.« 111
Sie lachte. Ihr Lachen war so klang- und freudlos, dass ich nicht wusste, wohin ich schauen sollte. »Wer hat das nicht? Ich persönlich zum Beispiel fahr auf horse ab. Das hättest du nicht gedacht, was? ‘ne echte Drogensüchtige, eine von denen, über die sie in den Zeitungen schreiben. Ja, so eine bin ich. Das ist der Grund, warum ich mich flachlege. Um die verdammte Scheiße bezahlen zu können.« Bitte sehr, Jimmybubi. Ein Stück aus dem Wirklichen Leben. Alle Verstellung fiel von mir ab. Ich konnte nur noch stottern: »Aber ... das ist ja schrecklich ... kannst du nicht...« »Quatsch, so verdammt wichtig ist man ja auch wieder nicht, da brauchst du nicht gleich zu heulen«, unterbrach sie mich. »Auf dieser Kugel gibt’s drei Milliarden Menschen oder noch mehr. Und täglich kommen mehr auf die Welt, immer mehr und noch mehr. Und wenn da einer stirbt, das merkt doch keiner. Ich selbst werd’s ja nicht einmal merken.« »Aber gibt es denn keine Möglichkeit...« »Aufzuhören? Glaubst du etwa, ich hätte es nicht versucht? Klar, ich war auch einmal so blauäugig zu glauben, ich könnte wieder auf die Beine kommen und normal werden, aber die Sache hat nur einen Haken – wenn man erst einmal in der Scheiße gesteckt hat, erkennt man alles so deutlich, man sieht alles viel zu deutlich, und dann wird einem klar, wie beschissen alles ist, nichts ist etwas wert. Alle lügen nur. Wenn sie bumsen wollen, lügen sie, und wenn sie nicht bumsen wollen, lügen sie auch. Aber bumsen wollen sie verdammt noch mal die ganze Zeit. Und wenn man sieht, wie es ist, wirklich sieht, dann spielt das alles überhaupt keine Rolle. So verdammt wichtig ist man ja gar nicht.« »Aber wie kannst du nur so denken?«, versuchte ich hilflos einzuwenden. »Wie kannst du dich selbst so besudeln?« »Mann, du spuckst vielleicht Töne, Kleiner.« Sie sah mich mit mütterlicher Gereiztheit an. »Es gibt schließlich noch schlimmere Sachen als das, womit ich mich beschäftige, oder? Krieg, 112
zum Beispiel. Bevor die anderen sich das Maul über einen zerreißen, sollten sie lieber erst mal checken, was sie selbst so alles treiben, oder?« Die Bahn hielt. Das Mädchen stand auf und wickelte sich fester in seinen Mantel. Und plötzlich sah ich, dass diese Ausgeflippte etwas erschreckend Aufrechtes an sich hatte, etwas beinahe Unantastbares. »Tschüss«, sagte sie. »Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal.« Nachdem sie ausgestiegen war, saß ich wie nach einem Bombenangriff da und versuchte, die Bruchstücke meiner Wirklichkeit wieder einzusammeln. Warum schämte ich mich so entsetzlich? Ausnahmsweise schämte ich mich diesmal nicht wegen meines Großen Geheimnisses, sondern wegen meiner Falschheit, meiner Feigheit. Wegen meines Duckmäusertums. Mitten in all ihrem Elend war die Drogensüchtige für das eingestanden, was sie war. Warum konnte ich mich nicht genauso verhalten – ich, dem es doch eigentlich so gut ging? Ja, mir ging es ja so gut, so gut. Ich fuhr nach Hause und kroch in mein gemütliches kleines Bett in meinem gemütlichen kleinen Zimmer und biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien. Vor Scham, vor Verwirrung, vor Angst. Direktor Lundgrens Prachtjunge.
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8 Ich hätte das nie von meinem Sohn geglaubt. Eine Zeit lang hatte er ja sogar eine Freundin, ein sehr liebes, angenehmes Mädchen, das sowohl Harald als auch mir gut gefiel. Damals atmete ich für kurze Zeit auf; ich glaubte, Katarina könnte Jim helfen, durch sie würde er offener und fröhlicher werden. Sie wirkte so natürlich und positiv. Manchmal vielleicht etwas zu burschikos, aber das lag vermutlich daran, dass sie so frei erzogen worden war. Aber ich glaube, Jimmy ließ nicht einmal Katarina an sich heran. Wenn er damals jemanden gehabt hätte, mit dem er hätte reden können, wäre vielleicht alles noch gut geworden. Es soll ja ziemlich häufig vorkommen, dass Jungen in der Pubertät solche Phasen durchmachen, Phasen, in denen sie glauben, anders zu sein als die anderen, unnormal eben. Jim hat wohl irgendwie daran festgehakt, er grübelte ja immer so viel. Manchmal denke ich, vielleicht ist es meine Schuld, dass er so wurde. Harald behauptete ja immer, dass ich den Jungen verwöhnte und ihn von mir abhängig machte. Allerdings kann Harald eigentlich gar 115
nichts sagen, er selbst war nämlich immer völlig verkrampft, wenn er mit Jim zusammen war. Nur ab und zu, wenn er in Jims Zimmer ging, um sich dieses Muskelding auszuleihen, das Jim sich gekauft hatte, schaffte er es, einigermaßen natürlich mit dem Jungen zu reden. Dann stand er da und zog und zerrte und versuchte, wieder jung zu sein. Das klingt ziemlich boshaft, nicht wahr? Aber es hat mich schon sehr verbittert, dass Harald sich so wenig engagierte. Natürlich sehe ich ein, dass seine Arbeit wichtig war. Aber es ist immerhin auch möglich, dass alles so kam, weil Jim nie einen richtigen Vater hatte.
Es gab einen Jimmy, den du nicht kanntest, Mama. Einen Jimmy, der im Dunkeln onanierte und anschließend den bittersüßen Geruch der Selbstbefleckung gründlich und lange von sich abwusch. Einen Jimmy, der von Adrianus und Antinous las, von .Apollo und Hyacinthos, und der die Gedichte von Karin Boye auslieh und der Bibliothekarin dabei nicht in die Augen zu sehen wagte – und das nur, weil die Schwedischlehrerin gesagt hatte: »Karin Boye soll ja angeblich homosexuell gewesen sein, aber wenn man ihre hervorragende Lyrik liest, braucht man sich von solch übler Nachrede natürlich nicht beeinflussen zu lassen.« Und dieser Geheim-Jimmy war es auch, der in Mann und Frau, dem Aufklärungsbuch von 1931, das Papa von seinem Vater geerbt hatte, unter der Rubrik Krankhafte Äußerungen des Geschlechtstriebes folgende Erörterungen von Prof. Albr. von Notthaft las: Ivan Block, Wachenfeld, Löwenfeld u.a. haben gefordert, dass perverse Personen mit Gewalt in ärztlich geleitete Anstalten einzuweisen seien, um dort behandelt zu werden. 116
Da etliche Perverse in vielen Fällen geheilt wurden, wäre dieser Vorschlag in Erwägung zu ziehen, schon allein um dieser armen Menschen willen, vorausgesetzt, dass für solche Zwangsmaßnahmen sowohl die geeigneten Orte zugänglich als auch die Kosten erschwinglich sind. (S. 229-230) Oscar Wilde, der du in Einzelhaft kamst, um die anderen Häftlinge nicht zu verführen, und du, Ludwig von Bayern, Michelangelo und Gustav III., leidet ihr jetzt unter dem Funkenregen im Kreis der Sodomiten? Werden wir uns dort treffen? Es könnte natürlich interessant sein, auch ein paar von den alten Griechen und den alten Persern kennen zu lernen ... Es gab einen Jimmy, den du zu kennen glaubtest, Mama. Er hatte ein Pin-up-Mädchen an die Innenseite seiner Schranktür geklebt, das du verabscheutest, aber wenn du gewusst hättest, was er stattdessen gern aufgehängt hätte, wärst du bestimmt hingerissen von der vollbusigen Blondine gewesen. Beim Fernsehen machte Normal-Jim jedesmal laute Bemerkungen über die Mädchen, die auf der Mattscheibe auftauchten. Wenn sein Vater ausnahmsweise keine Überstunden machte, kam er manchmal abends in Jims Zimmer, um den Expander auszuleihen und Kumpel zu spielen. Normal-Jim spielte mit und grinste brav, wenn sein Vater darauf anspielte, was für breite Schultern sein Jimmybubi bekommen habe und dass tatsächlich endlich ein richtiges Mannsbild aus ihm geworden sei. Herr Direktor Lundgren stand ab und zu in meinem Zimmer und schwitzte mit dem Expander, um zu beweisen, dass er immer noch im besten Mannesalter sei. Ich verabscheute den Geruch, den er dabei verströmte – nach Schweiß, Tabak und Rasierwasser. Diese Stunden, die er in meinem Zimmer verbrachte, gefielen mir ganz und gar nicht. Ich sehe immer noch vor mir, wie rot sein Gesicht war, wie er sich bis zum Äußersten zwang, als ob die beste Möglichkeit, der Kumpel seines Sohnes zu sein, darin bestünde, mit ihm die Kräfte zu messen. 117
»Du bist bestimmt nicht so unschuldig, wie du aussiehst, ha, ha«, sagte er und klopfte mir auf den Rücken. Müde und erschöpft nach meiner schlaflosen Nacht in einem persischen Badehaus schaute ich verstohlen auf und sagte: »Nein, Papa.« Warum Katarina Holmquist sich in mich verliebte, weiß ich nicht. Doch, vielleicht weil ich anders war. Das sagte sie oft: »Du bist so anders, Jimmy.« Am Montag nach dem Fest entschuldigte ich mich bei ihr, weil ich mich so dämlich benommen hatte. Das war der Anfang. Wir saßen im Speisesaal und aßen kaugummirosa Fleischwurst und hellblaue Kartoffeln und sie lächelte mich überschwenglich an, weil ich mich bei ihr entschuldigt hatte. Mit ihren dunklen, munteren Augen und ihren kurzen, glänzenden Haaren sah sie sehr hübsch aus, und ich dachte: Oh Mann, hier sitze ich tatsächlich und quassle mit einer Schnecke, und sie scheint mich auch noch nett zu finden! »Das war mir doch gleich klär, dass du nicht wirklich so bist«, erklärte sie. »Aber es war wahnsinnig anstrengend, das kann ich dir sagen! Du bist mir vorgekommen wie eine schlechte Kopie von Ulf, und Ulf ist nicht gerade mein Ideal, wenn ich es so sagen darf.« »Was, du stehst nicht auf Ulf?«, fragte ich verblüfft. »Ich habe geglaubt, alle Mädchen fahren auf ihn ab!« »Was? Wie kommst du denn darauf?« Sie wirkte mindestens ebenso verblüfft wie ich. »Na ja, er ist doch ein toller Typ. Findest du nicht einmal, dass er gut aussieht?« »Nicht besonders«, sagte Katarina. »Findest du das?« »Das kann ich doch nicht wissen«, sagte ich rasch. »Jungs sind wirklich idiotisch!«, erklärte Katarina. »Sie wagen nie zuzugeben, wenn sie einen anderen Jungen gut aussehend finden, aus lauter Angst, man könnte sie dann für unnormal halten.« 118
Wie immer, wenn sich jemand meinem Geheimnis näherte, lenkte ich das Gespräch mit aller Macht in eine andere Richtung. Es war erfrischend, sich mit Katarina zu unterhalten; sie hatte eine Menge entschiedener Ansichten, für die sie auch eintrat. Und außerdem konnte sie aufmerksam zuhören. Wir begannen, uns regelmäßig in den Pausen zu treffen und zu unterhalten (Ulf strich vorbei und sagte: »Nicht locker lassen, Einstein!«), und ich sorgte dafür, dass wir immer dort saßen, wo alle uns sehen konnten, denn dann würden die anderen glauben, ich hätte eine Freundin. Allmählich wurde es wichtig, eine Freundin zu haben. Vor kurzem noch war es wichtig gewesen, ein Moped zu haben. Jetzt war es die Freundin. Während unserer Gespräche begann Katarina mich immer häufiger hingerissen anzuschauen, und wenn sie mir zulächelte, glänzten ihre Augen voller Zärtlichkeit. Was sie dabei wohl empfand – ob das Verliebtheit war? Wie konnte sie nur in mich verliebt sein, in den langweiligen Streber, der laut Ulf keine Ahnung hatte, wie man Weiber behandelte? Vielleicht war ich ebenfalls in sie verliebt; ich hoffte es wenigstens. Dann würde dieses Andere vielleicht aufhören, dieses Andere, das mich veranlasste, in der Stadt verstohlen Männer anzuschauen, und das mich schier verzweifeln ließ, wenn diese Männer vorbeigingen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Dieses Andere, das veranlasste, dass mir vor Sehnsucht und Verwirrung der Atem stockte, wenn ich so viel wie einen halben Blick von einem Mann auffing – auch wenn ich es nie, unter keinen Umständen gewagt hätte, den Blick zu erwidern. Ich hatte Katarina sehr gern und sehnte mich nach unseren Gesprächen, aber obwohl ich sie hübsch fand, wurde ich kein bisschen erregt, wenn ich an sie dachte. Bald machten wir Hand in Hand lange Spaziergänge in der Mittagspause, und ich dachte triumphierend: Ich habe eine Freundin, ich habe eine Freundin!
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Wir küssten uns, und ich empfand nichts dabei. Es schmerzte mich, hinterher ihre leuchtenden Augen und ihren lächelnden Mund zu sehen: »Jimmy, ich bin in dich verliebt!« Ich strich ihr übers Haar und sagte, dass ich sie gern habe, dass ich aber ein komischer Typ sei – sie müsse sich davor hüten, mich zu sehr zu mögen. »Ach was, du bist doch nicht komisch, das glaubst du nur«, sagte sie munter. Ich wurde zu ihr nach Hause eingeladen, und ihre Mutter musterte mich mit wohlwollendem Blick, während ich brav und wohlerzogen alle ihre Fragen nach Schule und Zuhause beantwortete. Es war ihr anzumerken, dass sie mich als viel versprechenden Jüngling betrachtete. Meine Eltern wiederum waren von Katarina begeistert. Mama war wie immer etwas ängstlich, aber Papa sah aus, als wäre ihm eine Zehnkilohantel vom Herzen gefallen. »Du passt doch hoffentlich auf die Kleine auf«, sagte er zu mir. »Anfangs muss man sie immer mit Samthandschuhen anfassen, Frauenzimmer sind nun mal übertrieben empfindlich.« Katarina liebte es, über Beziehungen und Gefühle zu reden. Sie führte zum Beispiel ein langes, ernstes Gespräch über Sex mit mir und erklärte unter anderem, sie sei noch nicht so weit, dass sie mit mir schlafen könne. Ich werde es ihr hoffentlich nicht allzu sehr übel nehmen, wenn ich noch ein Weilchen warten müsse? So genannte interessante Menschen, die für eine unkonventionelle Daseinsform einzutreten wagten, fand sie besonders spannend. Einmal erzählte sie lange und ausführlich von einer Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hatte. Ich sagte, so etwas finde ich ekelhaft. Jetzt hinterher frage ich mich wirklich, warum ich nicht mit ihr über mein Geheimnis zu sprechen wagte. Wenn überhaupt jemand, dann hätte sie es doch verstanden. Doch das war unter
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meiner Würde; ich hatte keineswegs vor, mich ihr anzuvertrauen, mich schwach und kläglich zu zeigen. Es wurde immer schwieriger, ihr meine Verliebtheit vorzuheucheln. Ich fühlte mich wie ein Verräter; meine Falschheit und mein schlechtes Gewissen verursachten mir körperliche Übelkeit. Allmählich wuchs sogar eine Abneigung gegen sie in mir heran, weil ich mich nicht in sie verlieben konnte. Sie merkte, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Ich spürte, dass unsere Freundschaft sich aufzulösen begann, falsch und beschmutzt wurde, geschwollen vor schlechtem Gewissen. Katarinas Reaktion darauf war, sich klein und hilflos zu stellen, mich zu küssen und an sich zu drücken, um mich schließlich forschend anzuschauen. An einem Frühlingstag, als sie uns in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, um auf ihrem Bett mit mir zu schmusen (unter einem Poster, auf dem ein Junge und ein Mädchen Hand in Hand in den Sonnenuntergang gingen), sah sie mich plötzlich so lange ernst und prüfend an, dass ich den Kopf abwandte. Jener Tag, jene Stunde sind tief eingegraben in meiner Erinnerung. Die Luft draußen war sehr klar, die Sonne schien ins Zimmer und fiel auf Katarinas Gesicht – auf ihr Gesicht, das so dicht vor mir war, dass ich das Licht in ihren Augen, die flaumigen Wangen und die kussbereiten Lippen sah, ihr ganzes empfindsames Gesicht, das ich zu verabscheuen begonnen hatte, weil es nicht das eines Mannes war. »Jimmy, du wirkst so abwesend«, sagte sie. »Woran denkst du?« »An nichts Besonderes.« »Du denkst immer an nichts Besonderes, wenn ich dich frage«, beharrte sie. »Ich werde verrückt, wenn du so abwesend bist.« »Aha«, sagte ich. »Ja, daran kann ich auch nichts ändern.« »Entschuldige.« Sie sah wütend und gekränkt aus. »Wenn du mich nicht mehr leiden kannst, dann sag es lieber gleich.«
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»Doch, doch, natürlich mag ich dich«, beteuerte ich pflichtschuldigst. »Aber du bist in eine andere verliebt?« »Nein, das bin ich nicht.« Lange Zeit sah sie sehr nachdenklich und bekümmert aus. Ich wusste, dass das letzte Wort noch lange nicht gefallen war. »Versprich mir, dass du dich nicht ärgerst«, begann sie. »Ich muss über eine Sache mit dir reden, über die ich nachgedacht habe.« Sie sah noch bekümmerter aus, so als ob sie mich am liebsten noch einmal um Entschuldigung gebeten hätte. »Ich bin wohl in dich verliebt, vermute ich. Und das werde ich wohl auch weiterhin sein. Aber auch wenn du nicht an mir interessiert bist, können wir doch trotzdem Freunde bleiben. Ich meine ... sexuell interessiert. Ich habe mich manchmal gefragt... ob du vielleicht überhaupt keine Mädchen magst?« Mich überkam ein kurzes Schwindelgefühl. »Was soll das heißen, dass ich keine Mädchen mag?«, kläffte ich. Katarina wich meinem Blick aus. »Ach, vergiss es. Das war dumm von mir.« »Nein, jetzt will ich wissen, was du meinst.« Ich entdeckte, dass ich wie mein Vater klang. Ich zitterte am ganzen Körper. »Du brauchst doch nicht gleich so sauer zu werden!«, sagte Katarina verzweifelt. »Das ist doch nicht so schlimm. Ich wollte ja nur sagen, dass wir trotzdem Freunde bleiben können, wenn das der Fall sein sollte. Aber wenn du nicht darüber reden willst, hat es keinen Sinn mehr, dass wir uns sehen. Ich finde es einfach zu anstrengend, mich immer wieder fragen zu müssen, woran du eigentlich denkst.« »Ich denke an nichts besonders Interessantes.« »Doch, das tust du bestimmt! Und du brauchst wirklich nicht so zu tun, als ob du an mir interessiert wärst, wenn du es nicht bist!« Jetzt reichte es mir. Sie hatte kein Recht, mich anzuklagen, schließlich hatte sie sich mir ja aufgedrängt, mit ihren großen 122
fragenden Augen und zudringlichen Händen und mit ihrem Geschwätz über interessante Menschen. Ich wollte diese Zärtlichkeit, dieses verdammte Verständnis in ihr zerstören. »Hör auf! Du nervst mich«, sagte ich eiskalt. »Also gut, ich bin nicht in dich verliebt und bin es auch nie gewesen! Bist du jetzt zufrieden?« Katarina starrte mich an. Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Das war verdammt gemein von dir.« Und dann fügte sie mit einer Stimme hinzu, die mindestens genauso eisig war wie meine: »Geh jetzt lieber nach Hause, das alles wird mir zu viel.« »Aber«, sagte ich. »Geh, habe ich gesagt.« Katarina wandte den Kopf ab. Ich wollte erklären, konnte aber nicht sitzen bleiben. Ich konnte nur fliehen, an Katarinas erstaunter Mutter vorbei, mit offenen Schnürsenkeln ins Treppenhaus hinaus, auf die Straße hinunter, wo der strahlende Sonnenschein mich in Empfang nahm. Warum hatte ich etwas so Dramatisches gesagt? Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich selbst; ich hasste alles, einfach alles! Ich hasste alle Menschen, die auf dem Bahnsteig standen und der Frühlingssonne entgegenlächelten. Ja, ich wollte etwas zerstampfen, etwas Unschuldiges, Schönes zerstören. Und ich hasste mich selbst. Der Hass war so groß, dass er mich von innen aufzufressen drohte. Oh, ich möchte dich umbringen, Jim Lundgren! Ich möchte dich in Stücke zerreißen, alle Falschheit abschälen und in unbefleckter, lichter Gestalt wieder hervortreten – als einer, der gut und wahr ist, einer, der es wert ist, geliebt zu werden. Ich hasse mich, weil ich nicht ich bin, begreift ihr das, ihr verdammt sorglosen grauen Menschen?
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Warum hatte ich ihr nicht gestanden, wie es um mich bestellt war? Stattdessen hatte ich mir den einzigen Menschen, der mich wirklich verstehen wollte, zum Feind gemacht. Es war, als hätte ich eine Sperre in mir, eine automatische Sperre, die mich daran hinderte, ehrlich zu sein. Ich hatte es mir oft ausgemalt, wie ich mein Großes Geheimnis jemandem anvertrauen würde. Aber wie formuliert man so etwas? Im Geiste stellte ich mir oft vor, wie ich ins Wohnzimmer treten würde, wo meine Eltern vor dem Fernsehapparat saßen. Ich bin hoo-moo-sexuelll, sagte ich dann. Ihre vom Fernsehlicht grau leuchtenden Gesichter wandten sich mir zu. Aber Jim, was sagst du denn da?, wimmerte meine Mutter. Hör sofort auf, solchen Unsinn zu erzählen!, rief mein Vater aus. Setz dich hin und benimm dich anständig. Verflixt, jetzt hat dieser ungeschickte Torwart doch schon wieder den Ball verpasst!
Und wenn es Katarina jetzt einfiele, mit anderen Leuten über mich zu sprechen! Wenn sie sagen würde, Jimmy habe mit ihr Schluss gemacht, da er homosexuell sei! Jetzt war sie ja so wütend auf mich, dass das ohne weiteres möglich war. Und Mädchen bequaken ja sowieso alles mit ihren Freundinnen. Sobald ich mich zeigte, würden alle mich anstarren und schließlich würde ich die Schule wechseln müssen. Ich erinnerte mich an einen Lehrer, den wir einmal in der Sechsten gehabt hatten, einen Herrn Persson. Er sah ganz normal aus, mit Bart und Rollkragenpulli, und war an und für sich ein recht netter Kerl. Aber er unterhielt sich etwas zu gern mit den männlichen Schülern, und einmal beging er den Fehler, seinen Arm um einen Jungen zu legen, der Kummer hatte – um ihn zu trösten. Das beobachtete irgendjemand, und noch am selben 124
Tag wurden Perssons Handschuhe aus seiner Jackentasche gestohlen. Später am Tag stand Krister auf dem Pult, wirbelte die Handschuhe im Kreis herum und schrie exaltiert: »Schwuchtelhandschuhe! Schwuchtelhandschuhe!« Ich hörte es bis auf den Flur hinaus, und als ich ins Klassenzimmer trat und Krister mich erblickte, warf er mir die Handschuhe ins Gesicht. »Da hast du ein paar Homobazillen!«, schrie er. Herr Persson stand in der Tür. Er sagte nichts, sah uns nur an, als wären wir eine Koppel geliebter Hunde, die ihm in die Fersen bissen, wenn er ihnen den Rücken zukehrte. Er blieb lange so stehen, und es wurde ganz still im Zimmer. Krister glitt vom Pult herunter und huschte an seinen Platz. »Ihr könnt die Handschuhe als Andenken behalten«, sagte Persson und ging. Wir sahen ihn nie wieder.
Katarina und ich wechselten kein einziges Wort mehr während des restlichen Schuljahres. Wenn sie an mir vorbeiging, sah ich in eine andere Richtung. Ich beschloss, mein Geheimnis völlig zu verdrängen. Es sei nicht wichtig, sagte ich mir. Hier im Leben komme es nur darauf an, tüchtig zu sein. Ich hatte ganz gewiss nicht vor, irgend so ein lächerlicher kleiner Schwulibert zu werden, irgend so ein armer Außenseiter, über den man lachte oder weinerliche Zeitungsartikel schrieb. Die ganze Sache war letzten Endes ja nur schmierig und abstoßend, eigentlich völlig undenkbar. Einen Mann zu lieben! Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie zwei bleiche, dickliche Männer nebeneinander lagen und sich betatschten, wie sie kicherten und sich überhaupt ganz und gar würdelos benahmen. Diese Vorstellung erfüllte mich mit Unbehagen und Abscheu. Es war doch schlecht möglich, dass ich zu 125
Denen gehörte, wenn ich einen solchen Widerwillen davor empfand?
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9 Nach der neunten Klasse wirkte Jim ziemlich erschöpft und es wäre vielleicht gut gewesen, ihn ein Jahr aussetzen zu lassen, doch davon wollte Harald nichts wissen, und Jim selbst schien auch gern weitermachen zu wollen, wenigstens glaube ich das. Er hatte ja glänzende Noten, war der Beste der Klasse. Seine Intelligenz wird er wohl von Harald geerbt haben. Na ja, auf jeden Fall wollten wir ihn ein bisschen ermuntern und Harald schlug daher vor, den Jungen auf so eine Sprachenreise nach England zu schicken, damit er ein bisschen in die Welt hinauskäme. Die meisten seiner Mitschüler waren ja schon im Ausland gewesen, daher fanden wir, dass Jim auch eine Reise machen sollte. Jim weigerte sich jedoch, nach England zu fahren. Er wollte lieber daheim in seinem Zimmer sitzen und lesen. Wenigstens hatte er einen kleinen Ferienjob bei der Post, und abends trainierte er immer mit diesem Muskelding. Das einzig Erfreuliche war, dass Jim und Tina sich mittlerweile so gut verstanden. Tina war damals 127
ungefähr drei Jahre alt. Früher hatte Jim sie nie richtig zur Kenntnis genommen, aber jetzt begann er mit ihr zu spielen, und sie wirkten beide richtig vergnügt dabei. Tina sprach zwar immer noch nicht viel und sie bekam auch noch diese schrecklichen Schreikrämpfe. Aber sie und Jim schienen sich irgendwie gegenseitig zu trösten.
Seltsam, dass man sein Leben in zwei Hälften einteilen kann. Normal-Jim, der im Herbst ins Gymnasium kam, weigerte sich entschieden, sich mit Geheim-Jim zu befassen, mit dem Jim, der die verbotenen Gedanken manchmal nicht mehr fern halten konnte, sondern hilflos einer schmerzlichen, schwindelnden Erregung nachgab, die intensiver war als alle anderen Gefühle. Ich weiß immer noch, was für ein Gefühl es war, kopfüber in diese Fantasievorstellung hinabzustürzen; das Gefühl, einer Sache nachzugeben, die einerseits so stark und betörend wonnig war und andererseits so entsetzlich verboten. Es kam mir vor, als wäre ich von einem Gift abhängig. Aber Normal-Jim blieb unverändert steif und ordentlich. Direktor Lundgrens beispielhafter Sohn, der mit manischem Eifer seine Hausaufgaben machte und niemals die Schule schwänzte ...
Im Gymnasium gab es dann mehrere Intelligente in der Klasse, sodass ich und ein paar andere eine Art Elite bildeten, an die sämtliche Lehrer stets die Frage richteten, wenn die anderen Schüler nicht mehr weiterwussten. Schließlich machten wir uns nicht einmal mehr die Mühe, die Hände hochzustrecken. Wir saßen einfach da und hörten nachsichtig zu, wie die anderen falsche Antworten gaben. Dann konnte man durch das Ausschlussverfahren die richtige Antwort herausfinden, die man mit 128
müder, gleichgültiger Stimme gab. Ja, ja, das weiß doch jedes Kind, aber ich kann es euch ja aus Gefälligkeit sagen. Alle Lehrer fielen zwar nicht darauf herein, aber es fiel uns nicht schwer, unsere Haltung immer so anzupassen, dass wir einen vorteilhaften Eindruck machten. In den Pausen stand jetzt kein Ulf mehr paffend in der Raucherecke. Ulf hatte mit der Schule aufgehört, und seltsamerweise fehlte er mir. Manchmal war es ziemlich anstrengend, intelligent zu sein; so zum Beispiel, wenn man sich auf die Klassenarbeiten vorbereitete – obwohl man vorher geochst hatte, bis man vor Müdigkeit schielte, spürte man doch jedes Mal denselben Druck, wenn man sich mit verbissener Miene und gut gespitztem Bleistift zum Schreibsaal begab: Ich muss der Beste sein, ich muss einfach! Sonst verliere ich mein Ansehen, sonst werden sie ganz schön schadenfroh grinsen, diese Schweine! Ja, wenn ich nicht der Beste bin, dann verschwinde ich. Jim Lundgren, sorge dafür, dass deine Bleistifte schön nadelspitz sind, schreibe die Formel der Trihydroxibensenkarboxylsäure mit sicherer Hand hin, denn du bist ja intelligent, Jim! Aha, Anders versucht von dir abzuschreiben! Da musst du zuerst etwas Falsches schreiben und es später wieder korrigieren, nachdem er das Falsche abgeschrieben hat. Widerlich, solche Leute, die nicht allein fertig werden! Diebstahl nenne ich das, jawohl, echten Diebstahl! Dummerweise kann ich es nicht wagen, die Hand davor zu halten, das würde kindisch wirken. Ich bin aber nicht kindisch, ich bin intelligent! Ich war fast immer der Beste. Wenn die Noten vorgelesen wurden, überkam mich jedes Mal aufs Neue ein exaltiertes Gefühl, wie wenn ich erfolgreich vom obersten Sprungbrett gesprungen wäre. Ich verbarg meine Erregung hinter einer gleichgültigen Maske; denn aus irgendeinem Grund schämte ich mich auch. Es war ein Zeichen der Unreife, sich so hysterisch darüber zu freuen, dass man der Beste war. Und dabei hielt ich mich für 129
sehr reif. Jetzt, da ich von den anderen in Ruhe gelassen wurde, wagte ich es viel häufiger, mich während des Unterrichts zu äußern. Ich konnte gut formulieren, und es gelang mir, die banalsten Dinge so zu äußern, dass sie klug und durchdacht klangen. Allerdings vertrat ich häufig Ansichten, die nicht meinen eigenen entsprachen. Und es gelang mir geradezu unheimlich gut, die Bemerkungen meiner Mitschüler mit ein paar wohlgezielten Hieben zunichte zu machen. Leif und Lennart, die beiden anderen Intelligenten, waren ungefähr so wie ich. Ihre neunmalklugen Ausführungen kamen mir allerdings oft ein wenig lächerlich vor. Ich will nicht behaupten, dass ich ausschließlich der guten Noten wegen büffelte. In manchen Fächern, wie Schwedisch und Geschichte, lernte ich, weil es mir Spaß machte. Aber ich musste eben in allen Fächern der Beste sein. Ich war ein gehemmter, unglücklicher Junge, und die einzige Möglichkeit, meine fehlende Lebensfreude zu kompensieren, schien darin zu bestehen, noch mehr zu büffeln, noch mehr zu können. Wenn ich der Beste war, konnte ich die anderen wenigstens verachten, weil sie dümmer waren als ich. Und wenn ich der Beste war, würde niemand vermuten, dass ich in meinem tiefsten Innern eine lächerliche, unbeherrschte Gestalt war, die im Fach Verbotene Fantasien bestimmt ebenfalls die besten Noten bekommen hätte. Wenn die anderen gewusst hätten, wie ich mich fühlte, hätten sie mich vielleicht bedauert. Aber mich durfte niemand bemitleiden! Mitleid hat man mit den Schwachen, die Erfolgreichen bewundert man. Einen Zufluchtsort hatte ich allerdings, wo keine Ängste und Probleme mich erreichen konnten. Ich liebte die Literatur –Romane, Lyrik, alles, was ich auftreiben konnte. Die Schulbücher waren meistens uninteressant, aber es gab Bücher, die mich berauschten und mir das Gefühl verliehen, in tiefes Wasser eingetaucht oder wie ein Vogel zur Sonne geflogen zu sein. Aber dennoch war mir immer, als fehlte etwas. Vermutlich 130
glaubte ich, die Wahrheit müsste wie eine Perle in einer Muschel in einem der Bücher verborgen sein – jene große, schöne Wahrheit, von der so viel die Rede war. Der Sinn des Lebens und so. Eines Tages würde ich auf die erlösenden Worte stoßen, die alles erklärten. Das Leben, den Tod, einfach alles ... Wir Intelligenten trafen uns ab und zu bei einem von uns. Dann tranken wir Tee und diskutierten über den Sinn des Lebens, die Existenz oder Nichtexistenz Gottes, das Sein oder Nichtsein der Philosophie, die wahre Beschaffenheit des Daseins und andere wichtige Fragen. Ich will nicht behaupten, dass diese Diskussionen wertlos waren. Aber wenn ich an sie zurückdenke, kann ich nicht umhin, leicht zu schmunzeln. Man stelle sich ein schummriges Zimmer vor, in dem drei sehr ernste junge Männer hocken und den Eindruck erwecken, als ruhte die ganze Welt auf ihren Schultern. Das Licht einer dicken Kerze glitzert in drei Teetassen, und im Bücherregal sind einige tiefsinnige Bücher auszumachen. »Diese buddhistische Theorie über die Auflösung des Ich sagt mir eigentlich nicht besonders zu. Sie kommt mir etwas weltfremd vor«, sagt einer der jungen Männer. »Ach, das hast du alles nicht richtig verstanden«, kontert ein anderer triumphierend. »Es geht doch nicht um eine Auflösung, es handelt sich vielmehr um ein Aufgehen, und zwar im All.« »Aber Nirwana bedeutet doch Erlöschen, oder nicht?«, wendet der Dritte ein. Das Komische an diesen drei jungen Männern ist, dass keiner von ihnen eigentlich dem anderen zuhört. Sie warten nur darauf, selbst zu Wort zu kommen. Alle drei sind fest entschlossen, nicht von ihren Ansichten abzurücken, da sie befürchten, sonst unintelligent zu wirken, und alle drei zerbrechen sich verzweifelt den Kopf, warum die Unterhaltung eigentlich so unergiebig ist – kann es sein, dass die anderen mit ihren geringeren Intelligenzquotienten nicht richtig begriffen haben, worum es eigentlich geht? 131
Leif mit seinen einsfünfundneunzig und seinem widerspenstigen Kleinjungenschopf schrieb Gedichte: Die Metamorphose des Ich ist essenziell für Terras zukünftiges Geschick. "Wie grüne Sturmwinde durchbrechen wir die Einfriedung des Seins. Stürme treiben die kleinen Seelenschiffe an den Strand des Lebens. Ewig – Vivere non est necesse. Persona necesse est. Leif las seine Gedichte mit einem steinerweichenden Pathos vor; ich verstand sie eigentlich nie, das war wohl der Grund, warum sie mich so stark beeindruckten. Dann verfertigte Leif ein paar Gedichthefte mit Matrizenabzügen, die er uns stolz überreichte. Unsere Schwedischlehrerin erhielt auch eins und fand es mächtig imponierend. Der bloße Gedanke, dass jemand sich in diesen harten Zeiten, da die Jugendlichen vor allem Fenster einwarfen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, zerstörten, für Gedichte interessierte, rührte sie zutiefst. Leif Jansson – Gedichte über das Sein liegt immer noch in meinem Bücherregal und ruft mir Leifs lange, bleiche, im Schein der Kerze gestikulierenden Hände in Erinnerung, seine wild zuckenden Augenbrauen, wenn er uns erklärte, warum der Marxismus in der Praxis nicht standhielt, und seine großen Füße, die immer in sorgfältig gestopften Strümpfen steckten. Die hatte ihm seine Mutter gestopft, während er über die Metamorphosen des Ich schrieb.
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Angeblich gibt es irgendein wichtiges Hormon, das nur bei Körperkontakt erzeugt wird. Und ohne dieses Hormon wird man zu einer langweiligen, leblosen Gestalt. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber wenn es zutrifft, dann weiß ich, wer mich davor bewahrt hat, endgültig zu vertrocknen. Ich hatte ja schließlich eine kleine Schwester, etwas, das ich tunlichst zu vergessen versucht hatte, auch wenn das nicht ganz einfach gewesen war, da sie die ganze Zeit einen ziemlichen Lärm machte. Sie hatte es sich angewöhnt, wie angewurzelt auf meiner Türschwelle zu stehen und mir mit großen Augen beim Expandertraining zuzuschauen. Sie begann, mich regelrecht zu verfolgen. Ich war ihr Idol – es interessierte sie überhaupt nicht, ob ich tüchtig war oder ein Versager, normal oder unnormal. Sie wusste nur, dass ich unwiderstehlich komisch aussah, wenn ich abends dastand und mich mit diesem seltsamen Apparat abmühte. Sie sagte nicht besonders viel, für ihre drei Jahre war sie ziemlich spät entwickelt, aber ihr Lächeln war so beredt, dass ich schließlich kapitulierte und anfing, mit ihr zu spielen. Ich brachte es sogar fertig, mit ihr zu schmusen und zu tanzen (sie liebte nämlich klassische Musik!). Das Beste an Tina war natürlich, dass es überhaupt keine Möglichkeit gab, sich vor ihr zu blamieren. Egal, was er tat, sie liebte ihren »Immi«. Meine Mutter bat mich oft, nach Tina zu schauen, wenn die Kleine wieder einmal »völlig unmöglich« war, wie meine Mutter es ausdrückte. Meistens gelang es mir, Tina zu beruhigen, und bald war ich darauf genauso stolz wie auf meine Erfolge in der Schule. Aber ich machte mir auch fast genauso große Sorgen um Tina wie um mich selbst. Sie war so ungeheuer empfindlich. Merkwürdigerweise begann ich ihr Geschrei zu schätzen, es war, als ob sie gewissermaßen all dem Ausdruck verlieh, was ich selbst empfand und immerzu unterdrücken musste. Ich selbst war ja so ein braves Kind gewesen, wie
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meine Mutter immer gern zu betonen pflegte. Brav und ordentlich. Was mir an meiner Mutter besonders auf die Nerven ging, war, dass ich mich stets von ihr beaufsichtigt fühlte. Sie beobachtete mich verstohlen und vorsichtig, schlich auf Zehenspitzen an meine Tür und war sogar irritiert, wenn ich beim Baden die Badezimmertür abschloss. Vielleicht glaubte sie, ich wolle mich in der Badewanne ertränken, oder – noch schlimmer – dass ich mich »selbst befleckte«. Ich spürte ihre Augen durch alle Wände hindurch, ich hatte das Gefühl, dass sie voller Entsetzen in ihrem Zimmer aufwachte, sobald ich mein Glied nachts auch nur berührte. Das Entsetzliche Laster der Selbstbefleckung. Ich wusste, dass fast alle es taten. Ich wusste, dass es weder sündig noch verächtlich war, das stand sogar im Biologiebuch. Aber in meiner Familie sprach man nicht über So Etwas. Mein Vater erzählte zwar mit Vorliebe zweideutige Geschichten und machte Anspielungen darauf, was für ein großer Casanova er sei, aber dennoch sorgten er und meine Mutter dafür, dass ich zu Hause nie etwas Unpassendes erlebte. Mein Vater versteckte sogar seine Kondome hinter den Büchern in seinem Regal, ausgerechnet! Dort hatte ich einmal eine Packung Black Jack gefunden, als ich Die Geschichte der Antike herausholte. Wenn das völlig normale Eheleben meiner Eltern etwas so Geheimes und Unmoralisches war, dass mein Vater seine Kondome so sorgfältig verstecken musste, dann musste meine eigene gräuliche Selbstbefleckung ja weitaus schlimmer sein ... Ich war beinahe nie allein in der Wohnung. Ganz selten kam es vor, dass meine Mutter eine Freundin besuchte, doch dann musste ich Tina beaufsichtigen, ihr Märchen vorlesen und sie ins Bett bringen. Eines Abends, als meine beiden Eltern ausnahmsweise ausgegangen waren und ich Tina zum Schlafen gebracht hatte, stand ich im Badezimmer und hielt den Lippenstift meiner Mutter in 134
meiner zitternden, schwitzenden Hand. Bevor ich ihn nahm, hatte ich genau kontrolliert, wie er im Verhältnis zur Seife und zum Zahnputzbecher stand, um ihn hinterher genau so wieder hinstellen zu können. Ich atmete sehr hastig und stand so dicht am Spiegel, dass ich deutlich zwei kleine erregte Jimmygesichter in meinen Pupillen erkennen konnte. Ich sandte meinem Bild im Spiegel ein Wahnsinnslächeln zu. Der rote Lippenstift ließ meine Zähne unnatürlich weiß erscheinen, und ich hatte die Haare so gekämmt, dass sie mir in einer Art schräger Locke ins Gesicht fielen. Ich war so erregt, dass ich zu zerspringen drohte, und dennoch wollte ich diesem Drang eigentlich nicht nachgeben, dieses Verhalten würde mich nur in eine neue Rolle drängen, in eine Tuntenrolle. Aber wie ein Autor aus der guten alten Zeit es ausgedrückt hätte: Es war, als hätte ich Fieber im Blut. Nicht etwa, dass ich eine Frau sein wollte, es war auch nicht, weil ich mich geschminkt besonders schön fand oder weil es spannend war, sein Aussehen zu verändern. Nein, das Aufregende bestand einzig und allein darin, dass es verboten war. So verboten und so tabuisiert, dass ich mein eigenes Todesurteil in mein bleiches Jungengesicht zu malen glaubte, als ich mit aufgerissenen Augen und schmerzendem Glied vor dem Spiegel stand. Als ich die Schritte meiner Eltern im Treppenhaus hörte, begann ich mich hektisch zu waschen. Gleich darauf trat ich mit etwas geröteten Wangen und einem scheinheiligen Lächeln auf den Lippen in den Flur hinaus. »Tina ist vorhin eingeschlafen«, versicherte ich. »Ich lerne gerade Chemie.« Hier kann man wirklich fragen, warum ich mich nicht ganz einfach heimlich zu irgendeinem der bekannten Treffpunkte begab. Aber ich beteuerte mir ja immer wieder, dass ich nicht wirklich So Einer sei. Auf jeden Fall nicht auf diese lächerliche Tuntenart, die bei Denen allgemein üblich war. Außerdem hätte ich es nie gewagt, allein in ein Lokal zu gehen, noch weniger 135
natürlich in So Ein Lokal. In der Zeitung hatte ich die einschlägigen Anzeigen gesehen. Und dann gab es ja den allgemein bekannten Club Timmy – ich stellte mir ein ungeheuer dekadentes Milieu vor, mit lila pulsierendem Licht und männlichen Stripteasetänzern. Damals wurde gerade der geschminkte Pop modern, und es war mehr oder weniger in, zumindest bisexuell zu sein, wenn man es nur auf eine genügend schicke Art war. Natürlich lockte es mich, dorthin zu gehen, aber ich hatte mich nun einmal entschlossen, es lächerlich zu finden. Männer, die mit dem Hintern wackelten und geziert lächelten und Ohrringe trugen! Wenn ich die Homosexualität je ausprobieren sollte, dann würde es auf eine würdige Art und Weise geschehen, vor den Augen der Umwelt verborgen. Wie man seine Abartigkeit auch noch öffentlich demonstrieren konnte, das begriff ich einfach nicht. Übrigens kam man ja auch gut ohne Liebe aus ... Liebe war ja nicht alles. Große Männer zum Beispiel hatten oft keine Zeit für die Liebe. Die mussten an wichtigere Dinge denken. Große Männer würden morgens nie zerknautschte Kissen glatt streichen, und ihr Gemüt war ebenso rein und fleckenlos wie ihre Betttücher es waren. Ach, wer nur so ein großer Mann sein könnte, ein Denker, der mit seinem qualvoll erworbenen Wissen anderen Menschen half! Ein Siddharta! Ein lichter Engel, der sich über den Sumpf der tierischen Triebe erhob ... Warum konnte ich nicht ein großer Wissensvermittler werden oder wenigstens eines dieser Wunderkinder, die in der Zeitung erwähnt werden? Ich konnte doch gut schreiben, zum Beispiel. Alle diese jungen Genies mit ihren Erstlingsromanen und Gedichtbänden, was hatten die eigentlich vorzuzeigen? Bald konnte ich kein Buch mehr lesen ohne dabei zu überlegen, ob ich es nicht hätte besser schreiben können. So brachte ich mich sogar noch um den Genuss des Lesens. Und jedes Gesicht, das mir aus den Zeitungen entgegenblickte, hatte nur eine Bot-
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schaft: Warum bist du nicht so tüchtig? Warum bist du kein Björn Borg, kein Lyriker wie Gören Sonnevi? Es artete fast in eine Art Krankheit aus. Ich konnte nichts mehr genießen, an nichts teilhaben, ohne mich zu fragen, ob ich etwas Ähnliches hätte ausrichten können. Zwar wusste ich nicht, was sich eigentlich ändern würde, wenn ich gepriesen und bewundert werden würde. Wenn andere mich bewundernswert fänden, würde ich selbst mich vielleicht auch so sehen – das war es wohl, was ich hoffte. Aber wenn ich homosexuell werden würde, könnte das alles ja nie klappen. Denn alles, was ein Homosexueller tut, bleibt immer ein wenig tuntig, dachte ich. Und wenn er den Mount Everest bezwingt, so ist er doch ein Homosexueller; ein Homosexueller kann erstaunliche Dinge leisten, obwohl er homosexuell ist, aber irgendwie wird es nie genauso gut wie bei den Normalen. Alles, was er tut, wird irgendwie ein bisschen schmuddelig, wie ein altes Taschentuch, dachte ich. Doch wonach sollte ich streben? Das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass ich etwas vermisste. Ich schaffte es nicht, derjenige zu sein, der ich sein wollte. Der richtige Jim, der so war, wie ich sein wollte. Dieser Jim schaffte alles und konnte alles, er hatte sein Leben voll und ganz unter Kontrolle. Hoch oben zwischen den Wolken stand er und winkte mir zu: Hier bin ich, du Ferkel! Hör endlich mit diesen Dummheiten auf! Die führen doch nirgends hin!
Die letzte Klasse. Ich konnte es kaum fassen, dass ich in die letzte Klasse ging. Vor ein paar Jahren noch war es mir selbstverständlich erschienen, dass die Schule ewig weitergehen würde, und wenn sie irgendwann nach tausend Jahren zu Ende sein würde, dann wäre man erwachsen. Dann wäre man ein Mann und dazu imstande, das Leben zu meistern. 137
Und plötzlich war die Zeit einfach verschwunden, war in einem kompromisslosen Pauken untergegangen, das keine anderen Lebenserfahrungen zugelassen hatte. Ich hatte mich in einem Treibhaus aufgehalten, von allem abgeschirmt außer meinen eigenen Vorsätzen – und wer weiß, ob diese Vorsätze überhaupt meine eigenen waren? Und was kam nach dem Abitur? Das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass ich zum Militär musste, und daran wollte ich lieber nicht denken. Danach würde ich wohl oder übel ein Studium beginnen müssen, mit weniger würde sich mein Vater nicht begnügen. Ich würde noch ewig zu Hause wohnen, durch das Studium Schulden machen und nie dazu kommen, das zu tun, was ich eigentlich wollte – was es auch sein mochte. Normal-Jim hatte gegen all das eigentlich nichts einzuwenden. Zwar fand er es ziemlich lästig, aber bekanntlich wird man ja durch Leiden geadelt, und außerdem sah er keine Möglichkeit, all dem zu entgehen, das heißt, wenn er sich nicht blamieren wollte, und das wollte er ja nicht. Es war natürlich möglich, dass man irgendetwas Wesentliches verlor, wenn man so weitermachte, wenn man fortwährend Dinge tat, die man eigentlich verabscheute. Allmählich würde man vielleicht ein ganz erstarrter Mensch werden, der jeglichen Kontakt mit seinen tiefsten Gefühlen verlor. Das war der Preis, den man bezahlen musste, sonst war man ein Schlappschwanz. Nur keine Gefühlsduselei ! Aber in mir lebte trotz allem eine kleine, deutlich vernehmbare Stimme, die genau wie Tina bei einem ihrer Trotzanfälle ungeniert schrie: Ich will aber nicht! Ich will nicht!
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10 Unglaublich, wie schnell das ging! Plötzlich war der Junge im letzten Schuljahr, und dann kam das Abitur und das alles. Ja, heutzutage ist das ja nicht mehr so feierlich mit dem Abitur wie früher, und ich weiß eigentlich auch nicht viel darüber, da ich selbst kein Abitur gemacht habe, aber gerade darum freute ich mich so auf Jims großen Tag. Wenn ich es mir allerdings genau überlege, wirkte Jim nicht besonders froh und erwartungsvoll. Er machte sich wohl Sorgen, weil er zum Militär musste. Am 15. Juli sollte er einrücken. Harald behauptete, das sei eine wichtige Erfahrung, ganz abgesehen von all den netten Kameraden, die man dort bekäme. Aber Jim schien sehr nervös zu werden, wenn er daran dachte. Es machte ihm wohl zu schaffen, dass er so weit von zu Hause stationiert werden sollte, er musste ja nach Boden in Nordschweden, der Ärmste. Na ja, das hatte dann ja auch die entsprechenden Folgen ... Doch damals in der Zeit ums Abitur hätte der Junge doch eigentlich recht zufrieden sein müssen, er hatte doch die allerbesten 139
Zeugnisse. Mit diesen Noten hätte er Arzt oder was auch immer werden können. Harald wollte unbedingt, dass Jim studierte. Natürlich hätte er auch in die Firma eintreten können, wenn er das gewollt hätte, aber davon war nicht die Rede. Allerdings kann man ja nie wissen, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln, manchmal denke ich immer noch, dass ... ja, dass er sich vielleicht noch ändert.
Es war Frühling. Frühling, goldene Jugendzeit und der ganze Quatsch. Und bald würden die Glücklichen Tage der Frisch Gebackenen Abiturienten anbrechen. Bald würden die Schüler das Schultor hinter sich lassen und der Welt stolz erhobenen Hauptes entgegentreten. Der Welt, die eine einzige große Klasse war, in der man versuchen musste, der Beste zu sein. Während dieser letzten Wochen waren alle in der Schule sehr aufgekratzt. Abiturfeiern und Feten lösten einander ab, manche Schüler brachten sogar Wein mit und steckten sich Fliederzweige ins Haar. Die Lehrer sprachen voller Rührung von der Zeit, die nun vergangen war. Unser Gemeinschaftskundelehrer ermahnte uns, an unsere Zukunft zu denken, und als Geschenk durften wir unser Gemeinschaftskundebuch behalten. Die letzten beiden Wochen waren am schlimmsten. Während des Unterrichts wurde gesungen und alle waren hysterisch fröhlich und erwartungsvoll, denn das sollte man ja sein. Das heißt, alle bis auf einen gewissen Jim Lundgren, der mit düster gerunzelter Stirn umherwandelte und sich von der Menge unterschied. Der süßliche Duft nach welkem Flieder bekam ihm nicht, lustige Männchen auf der schwarzen Tafel trugen nicht zur Erheiterung seines Gemüts bei, und es wäre ihm nie eingefallen, in der Mittagspause barfuß auf dem warmen Asphalt des Schulhofs herumzurennen. Denn eigentlich gab es ja nichts zu feiern, dachte er. Nur acht Monate Barras und dann eine Universität ... 140
Selbst Lennart und Leif sahen nicht ganz so feierlich aus wie sonst. Offensichtlich hatte Leif die Metamorphosen des Seins augenblicklich zugunsten der goldenen Jugendzeit vergessen. Außerdem war er lächerlich verliebt in ein Mädchen, mit dem er neuerdings viel zusammensteckte, und als ob das nicht genügte, hatte seine Mutter ihm eine eigene Wohnung in der Stadt besorgt, wo er in Ruhe und Frieden seine Gedichte schreiben konnte – ab jetzt bestimmt nur noch Liebesgedichte. Ich hoffte wirklich, von diesen Ergüssen verschont zu bleiben. Ich persönlich versuchte mich nämlich stoisch an die Vorstellung einer völlig lieblosen Zukunft zu gewöhnen. »Du hättest wenigstes mitsingen können!«, warf Leif mir nach einer unserer letzten Schwedischstunden vor, in der die Klasse unsere Lehrerin Fräulein Jacobsson mit Liedern und fröhlichen Zurufen gefeiert hatte. »Warum denn?«, fragte ich. »Weil man den anderen sonst die Stimmung verdirbt.« Er sah mich prüfend an. »Was ist eigentlich los mit dir, du siehst echt deprimiert aus.« »Ach was, nur meine übliche Selbstmordstimmung«, sagte ich leichthin. »Aha.« Leif wirkte ziemlich ratlos. »Allgemeiner Weltschmerz oder etwas ganz Spezielles?« »Allgemeine Trübsal, wie immer.« »Mein Gott«, sagte Leif. »Reiß dich doch ein bisschen zusammen. Keep a stiff upper lip und so. Mit so einer Leichenbittermiene brauchst du gar nicht erst zu meiner Fete zu kommen.« Seine Abitursfete.. In seiner neuen Wohnung. Mit seiner neuen Freundin und einer Menge fröhlicher, singender, junger Menschen. »Na gut«, sagte ich. »Dann bleibe ich eben weg. Damit ich euch nicht die Stimmung verderbe.« Leifs Augenbrauen fuhren bekümmert in die Höhe. »Natürlich kommst du! Es wird garantiert eine unheimlich gute Fete! Mei141
ne Schwester hat versprochen, ein paar von ihren irren Freunden herzuschicken, absolut surrealistische Typen!« Er sah sehr stolz aus. »Wie nett«, sagte ich gemessen. »Ich habe noch nie einen echten Irren gesehen.« Ich saß in Leifs Zweizimmerwohnung in Bellmansgatan in einem alten Ledersessel und starrte mal an die Zimmerdecke und mal auf die Bücher in Leifs Bücherregal. Der Sessel war bequem; ich musste es wissen, da ich seit meiner Ankunft wie festgenagelt in ihm saß. Ab und zu torkelte Leif vorbei, rief: »Mensch, du brauchst ein Glas Wein!« und drückte mir ein Glas Wein in die Hand. Die Wohnung war zum Bersten voller Leute; Freunde von Freunden, die ich nie gesehen hatte, riefen mir Hallo zu und verschwanden in der lärmenden Menge. Ich fühlte mich wieder einmal so einsam und voller Selbstmitleid, dass ich fast einen Tränenkloß in den Hals bekam, war aber eisern entschlossen, meine gleichgültige, desinteressierte Maske aufzubehalten, als verachte ich das kindische Benehmen der anderen. Dann würde wenigstens keiner dieser Schwachköpfe auf die Idee kommen, mich zu bemitleiden. »Trink, trink, Brüderlein, trink, jupeidi, jupeida! Jimmy? Jimmy, was zum Teufel ist eigentlich los, du siehst ja aus wie ein Bestattungsunternehmer!« Ja, Jim Lundgren, mein Lieber, untersteh dich, die gute Stimmung zu verderben! Hier ist es verboten, ein trübes Gesicht zu machen! Juhuu! Die Freude wohnt in den Weinflecken auf unseren weißen Abiturientenmützen! Cheeese, Jimmy, watch the birdie! »Hallo!«, sagte eine sehr fidele Stimme in mein Ohr. Ich arrangierte meine Gesichtszüge à la Hamlet an Ophelias Grab und drehte den Kopf um. Ein mir vollkommen unbekanntes Individuum starrte mich braunäugig durch eine Brille mit roten Stahlbügeln an. Ein paar Farbspritzer auf dem einen Brillenglas ließen darauf schließen, dass das unbekannte Individuum die Bügel in einem spontanen 142
Anfall selbst angemalt hatte. Idiotisch, dachte ich. Dass er außerdem eine rote Abiturientenmütze aufhatte und in einem alten Frack steckte, machte die Sache kein Haar besser. Ich befand mich immer noch an Ophelias Grab. »Kennen wir uns?«, fragte ich von oben herab. »Nein, so viel ich weiß, nicht. Aber du scheinst dich hier nicht besonders wohl zu fühlen, daher dachte ich, wir könnten uns vielleicht ein bisschen unterhalten.« »Aha, und du meinst, dann würde ich mich wohler fühlen?« Er schien sich sehr zu amüsieren, sein Lächeln hatte etwas Respektloses an sich und seine Augen funkelten vergnügt. »Du bist natürlich einer von Leifs wohlgeratenen kleinen Mitschülern?« »Ja, stimmt genau.« »Hmm, dann solltest du doch eine Abiturientenmütze aufhaben, oder?« »Ja, aber wie du siehst, habe ich das nicht.« »Nein, hast du nicht«, bestätigte er. »Du sitzt hier und weichst von der Menge ab.« Mir kam es vor, als hätte er das in einem zweideutigen Tonfall gesagt, doch das bildete ich mir bestimmt nur ein. Denn es war doch ausgeschlossen, dass er mein Großes Geheimnis erahnt hatte? Das konnte man doch nicht so einfach erraten? »Du bist wohl ziemlich schweigsam, was?«, fuhr er fort. Ich wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Seine Kostümierung kam mir überspannt und kindisch vor, und sein Jargon war auch recht irritierend. Er hat zu viele Filme mit den Marx Brothers gesehen, dachte ich. »Ich bin ein geborener Langweiler«, erklärte ich und musterte ihn mit eiskaltem Blick. »Oh je!«, sagte er. »Na ja, ich selbst gehöre zu diesen peinlichen Typen, die immer lustig zu sein versuchen.« »Aha.«
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»Versuchen, habe ich gesagt! In Wirklichkeit kenne ich kaum jemanden hier. Das ist der Grund, warum ich auf diese unfeine Art angetorkelt komme und deine Bekanntschaft zu machen versuche. Ich dachte, ich könnte dich aufmuntern, dann kannst du mich, wenn du aufgemuntert bist, auch aufmuntern. – Nein, ich habe keinen sitzen, ich bin immer so, leider – wo war ich stehen geblieben, ach so, ja, also – ich kenne Leifs Schwester und außerdem habe ich Leif beim Umzug geholfen. Ohne meinen alten Volvo Duett hätte er seine alte elektrische Schreibmaschine und sämtliche Bücherkisten nie hierher bringen können.« »Vermutlich hast du einen Band Metamorphosen des Seins von Leif Jansson als Dank bekommen?«, bemerkte ich trocken. »Wie konntest du das wissen?«, rief er lächelnd aus, und als ich seinem Blick begegnete, schlug der Blitz ein. Diese braunen Augen strahlten förmlich den unverhülltesten Flirt aus, den ich je gesehen hatte. Ich versuchte mir einzureden, das sei nur Einbildung, aber mein Körper sagte etwas ganz anderes. Mir verschlug es die Sprache, während er weiterredete, als wäre nichts geschehen. »Möchtest du noch einen Schluck Wein?«, fragte er. »Es ist noch genug da.« »Nein danke«, sagte ich und versuchte meine eiskalte Haltung zu wahren. Das hier war ja absolut unwahrscheinlich. In meinem Kopf drehte sich alles vor Wein, Verwirrung und einer Erregung, die sich nicht verbergen ließ. Hier, auf der Abiturfete eines Mitschülers einen unbekannten Kerl zu treffen, der völlig ungeniert mit mir flirtete, das war, als wäre ich auf dem UBahnhof in Råcksta auf einen Elefanten gestoßen. Solche Sachen passierten einfach nicht. Ich sah beharrlich an ihm vorbei. Ich hatte mir Begegnungen an schummrigen Straßenecken vorgestellt, wo fremde Männer einen fragten, ob man »Feuer habe«, ich hatte an dämmrige Parks gedacht, wo harte Männer sich in dem kalten Licht der Straßenlaternen entblößten, ich hatte an dekadente Kellerlokale 144
gedacht, mit Schwaden von Rauch und Parfüm. Und das alles hatte mir Angst gemacht. Drei Jahre lang hatte ich in Cafes, auf Bahnsteigen und Straßen verstohlen Männer und Jungen beobachtet, und sowie zwei Männer ein bisschen zu eng nebeneinander standen oder sich ein bisschen zu herzlich anlächelten, hatte ich gedacht: Sind sie’s oder sind sie’s nicht? Manchmal hatte ich Männer gesehen, die sich den Arm um die Schultern legten, wenn sie durch die Stadt gingen, und deren Lächeln fast gleichzeitig aufleuchtete, wie einander begleitende Akkorde einer Melodie, Männer, die das wagten und die sich nichts aus den Blicken der Leute machten. Hungrig war ich ihnen mit dem Blick gefolgt, aber eigene Erfahrungen hatte ich nie gemacht. Einmal nur hatte ein Mann einen Annäherungsversuch gemacht. Im Wolfspelzmantel und mit schweren Goldarmbändern hatte er neben mir im vollbesetzten U-Bahn-Wagen gestanden und hatte seine Hand an die meine gepresst, doch als ich kein Interesse zeigte, stieg er aus. So nicht, dachte ich. Nicht ohne Liebe, für alle Goldarmbänder der Welt nicht. Die da. Jene. Meine Mutter und ich sahen einmal einen blassen Mann mit zerknittertem Mantel, der auffallend viele Jungen nach Zigaretten fragte. Mädchen fragte er nicht. »Schau dir mal den da an!«, sagte meine Mutter. »Der belästigt lauter kleine Buben. Den habe ich schon einmal gesehen.« »Ja«, sagte ich, »um das zu tun, muss man schon ziemlich verzweifelt sein.« »Dann ist man ein Homo!«, sagte meine Mutter und sah mich an, als wäre ich völlig vertrottelt.
»Wo bleiben denn deine Saltos?«, wollte der aufdringliche junge Mann mit der roten Mütze wissen. »Warum nimmst du nicht an den Orgien teil?« Er zeigte zum andern Zimmer
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hinüber, wo Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad im Marathongesang erscholl. »Ich hab noch nie besonders viel für Orgien übrig gehabt«, erwiderte ich beherrscht. »Ach nein? Na ja, das hätte ich mir eigentlich denken können ... Ich hole mir noch Wein und ein Brot – willst du nicht auch was essen? Nein, das auch nicht. Na, dann tschüss, meditier schön!« Damit verschwand er. Ich stoße alle von mir ab, dachte ich. Ob ich ihn jetzt wohl für alle Zeiten abgeschreckt hatte? Warum kam er denn nicht wieder zurück? Dieser Flirt war bestimmt nur ein Versuch, mich auf die Schippe zu nehmen. Und was würde überhaupt passieren, wenn er tatsächlich interessiert sein sollte? Ich war so unerfahren, und das würde ich vermutlich auch für den Rest meines Lebens bleiben. Eine pathetische kleine Gestalt, die zu Hause saß, die Blätter ihrer Topfpflanzen polierte und zu Opernmusik onanierte. Die breitschultrigen Jünglingen hündisch nachblickte, unnatürlich krause Haare hatte und der die Kinder auf der Straße hinterherjohlten. Der verrückte Typ blieb lange im anderen Zimmer verschwunden, und mir wurde immer weinerlicher zumute. In der Hoffnung, vergnügter zu werden, leerte ich ein paar Gläser Wein, doch das half kein bisschen. Ich wurde nur immer trauriger, bis ich schließlich beschloss zu gehen, bevor ich mich blamieren würde. Bedeutende Männer pflegen sich übrigens selten auf fröhlichen Partys wohl zu fühlen. Das geistige Klima solcher infantiler Veranstaltungen ist nicht besonders befriedigend. Als ich mich von dem Sessel erhob, merkte ich, dass ich ziemlich betrunken war. Meine Füße kamen mir sehr weit entfernt vor. Ich tastete mich in den Flur hinaus und begann verzweifelt, in dem Kleiderhaufen nach meiner Jacke zu wühlen. Es war genau wie in der guten alten Zeit – Jimmy entflieht den Festlichkeiten, und draußen im Flur ergeben der Lärm und das
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Gelächter aus den Zimmern stets dasselbe Lied: Du darfst nicht mitmachen, wenn du nicht so bist wie wir! »Wohin des Wegs? Willst du schon fort?« Ich drehte mich um und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Vor mir stand dieser ausgeflippte Clown mit seinem alten Frack und seiner roten Brille. Wie einem schlechten Studentenkabarett entsprungen. Für seine abgeschmackten Scherze konnte er sich wirklich einen anderen aussuchen! »Ich muss raus, bevor ich auf die goldene Jugendzeit kotze!«, fauchte ich und machte einen weiteren vergeblichen Versuch, meine Jacke zu finden. »Au weia, dir scheint’s ja nicht gerade bestens zu gehen«, stellte mein Verfolger fest. »Was ist denn so schlimm?« »Nichts«, sagte ich so reserviert wie möglich. »Wenigstens nichts, was dich interessieren könnte.« Es bereitete mir gewisse Schwierigkeiten, die Wörter richtig zu artikulieren. »Mensch, sei doch nicht so schwierig«, seufzte er. »Ich glaube, du musst dich mit jemandem unterhalten.« Und dabei sah er so mitfühlend aus, dass ich am liebsten auf der Stelle losgeheult hätte. »Ausgerechnet mit dir, was?« Er war wohl so ein Typ, der gern den Amateurpsychologen spielte, so ein einfühlsamer Sanfter, der mit Vorliebe über Hemmungen sprach. »Ja, mit mir.« »Mann, zieh dir lieber was Altes über!« »Schon geschehen«, sagte er zerstreut und zupfte an seinem Frack. Ein kleines Lachen wollte in mir hochblubbern, ganz unvermutet, es ertrank jedoch rasch wieder in meinem Selbstmitleid. »Wohin willst du? Fährst du nach Hause oder hast du vor, nur so allgemein auf der Straße herumzutorkeln?«, fuhr er fort »Ich bin nicht betrunken«, sagte ich. Endlich hatte ich meine Jacke gefunden.
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»Ich auch nicht«, sagte er. »Und ich brauche auch jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.« »Tatsächlich? Du bist doch so lustig und geistreich?« »Ja, ja, ja.« Plötzlich sah er müde und verletzt aus. »Findest du mich denn so schrecklich aufdringlich?« Er legte die Hand auf meine Schulter, und das hätte er nicht tun sollen. Ich zuckte zurück, als hätte ich einen elektrischen Schlag erhalten. »Ich m-muss jetzt gehen«, stotterte ich. »Auf Wiedersehen.« »Was für ein komischer Zufall; ich muss jetzt ebenfalls gehen. Übrigens heiße ich Mats, falls es dich interessieren sollte. Und weiter Karlsson, was das Ganze noch interessanter macht. Und du hast einen braunen und einen schwarzen Schuh an.«
»Fährst du direkt nach Hause?«, fragte Mats, als wir den Hof überquerten. »Der Abend hat ja gerade erst angefangen. Wir könnten doch irgendwohin gehen und ein Glas trinken? Pass auf, dass du nicht stolperst.« »Ich stolpere nicht. Ich bin nicht betrunken!« »Wo wohnst du?« »In Rå-håcksta. In einem ganz fantastisch gemütlichen grauen Ho-hochhaus.« Wir kamen auf die Straße hinaus und stießen mit einem herausgeputzten Paar zusammen, das offensichtlich zu irgendeiner Festlichkeit unterwegs war. Sie warfen Mats, der seine Mütze zog und einen Diener machte, saure Blicke zu. Groucho Marx, dachte ich, nur blond und mit üppigerem Schopf. Gut sieht er aus, tatsächlich sehr gut... »Gefällt es dir in Råcksta?«, fragte er. »Saugut gefällt’s mir da, echt saugut.« »Du wohnst natürlich noch bei deinen Eltern?« »Welch eine Schande. Ja, das stimmt.« 148
»Hab ich mir gedacht«, sagte er, und ich überlegte, ob ich irgendwie auf eine peinliche Art von ihnen geprägt war. Mamas Fingerabdrücke am Kragen, ihre Fürsorge vom Scheitel bis zur Sohle sichtbar. Ein mamifizierter Schuljunge. Huch, wie scheußlich! »Halt«, sagte Mats, »wir müssen hier um die Ecke.« »Wieso? Die U-Bahn liegt dort drüben!« »Ja, aber meine Wohnung liegt hier in Hornsgatan. Wir könnten doch bei mir eine Tasse Tee trinken.« »So, und warum?« »Einfach so. Weil ich heute Abend so gesprächig bin.« »Nee, ich muss heim«, sagte ich und versuchte, cool zu wirken. »Mir geht’s beschissen.« »Dann ist es wirklich nicht ratsam, den langen Weg nach Råcksta zu fahren. Ich hab eine prima Toilettenschüssel, in die du reinkotzen kannst.« Er sprach die ganze Zeit in mild ironischem Tonfall, doch selbst ich in meinem benebelten Zustand konnte hinter der Ironie und dem Jargon eine Wärme und Aufmerksamkeit ahnen, der ich nie zuvor begegnet war – wenigstens nicht bei einem Mann. Ich ließ mich willenlos mitführen; meine Beine trabten irgendwo weit unter mir davon. Ich bin nicht betrunken, dachte ich. Ich bin doch kein Schwächling, der sich volllaufen lässt und sich würdelos benimmt. Ich bin wie immer völlig klar im Kopf. Was denn, eine offene Haustür? Mats machte das Treppenhauslicht an – was habe ich hier in einem fremden Treppenhaus mit einem Unbekannten verloren? In einen Aufzug mit greller Beleuchtung hinein; wer ist dieser Graublasse im Aufzugsspiegel, dieser Typ mit dem hektischen Gesicht, der leicht hin und her schwankt? Das kann doch nicht Jim Lundgren sein? Jim Lundgren auf Abwegen, struppig und nervös und plötzlich seltsam aufgekratzt. Jetzt hält der Aufzug, hellgelbe Wände, Karlsson in schwarzen Buchstaben auf dem 149
Metallschild, Mats steckt den Schlüssel ins Schloss, ich stelle fest, dass er an den Nägeln zu kauen pflegt, auf der Hutablage liegt ein Zylinder, weit unten auf dem Boden stehen meine Schuhe und gähnen verlassen, die Tür führt in Mats’ Wohnzimmer, auf dem Tisch ein auseinander montiertes Radio – »Ich repariere es gerade«, erklärt Mats, »willst du eine Tasse Tee, setz dich doch irgendwohin, wo Platz ist.« Was tu ich eigentlich hier, gerade eben war ich doch auf Leifs Fest, was habe ich getan? Ich bin einem Unbekannten in seine Wohnung gefolgt, bequemer Sessel, aus der Küche kommt Geklapper. Was empfinde ich für Mats? Quatsch, man empfindet doch nichts für jemanden, den man gar nicht kennt. Übrigens bin ich zu müde, und schlecht ist mir. Im Bauch, so ein Schlauch ... Du bist ja völlig zu, Jimmy, Scheiße, bequemer Sessel, muss ich zugeben ... bequemer ... Ses...sel ... »He, Jim, wach auf! Auf dem Tisch steht Tee!« » O-o-oh!« Ich hob den Kopf. Was sollte ich sagen? Wollte er mich jetzt etwa verführen? Hör endlich auf, dir etwas einzubilden, Jimmy! Aber an der gegenüberliegenden Wand glaubte ich ein geheimnisvolles Bild zu erkennen. Es schien einen Mann mit nacktem Oberkörper darzustellen, aber ich war mir nicht ganz sicher. Übrigens wäre doch bestimmt niemand so dumm, sein Geheimnis öffentlich auszustellen. »Nette Wohnung«, sagte ich. »Hast du sie selbst gestrichen und eingerichtet?« »M-mm, ich arbeite als Dekorateur, da fällt es mir nicht besonders schwer, so was zu machen. Aber das Haus wird demnächst saniert, und da werde ich mir die Miete kaum noch leisten können. Ich hätte gern eine Zweizimmerwohnung, hier wird’s allmählich etwas zu eng.« »Aber du wohnst doch allein hier?« »Klar, eine echte Junggesellenbude. Hier eilt keine geschäftige kleine Ehefrau umher, um Bananenschalen und schmutzige Unterhosen einzusammeln.« 150
»Ich sehe gar keine Bananenschalen«, wandte ich undeutlich nuschelnd ein. »Nein, wer sagt denn, dass man eine geschäftige kleine Ehefrau braucht, um Bananenschalen wegzuräumen? Wegräumen kann ich selbst recht gut, und übrigens bin ich einer von diesen verdammten Homos, daher werde ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende eine kleine Ehefrau entbehren müssen. Der Zucker steht da drüben.« Ich rührte unsicher in meiner Tasse und wich seinem Blick aus. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, fuhr er beinahe wütend fort. »Ich bin zwar vor kurzem schmählich verlassen worden, aber unappetitlich werde ich nur samstags bei Vollmond, sonst bin ich völlig gesund und kein bisschen unnormal. Aber samstags wachsen mir hohe Absätze unter den Füßen, und ich stürze zum nächstbesten Konsum hinüber und kaufe ihr gesamtes Lager an Vaseline auf. Dann lauere ich neben den Pissoirs und entführe kleine Knaben, damit du’s nur weißt!« Ich lachte hysterisch und konnte nicht aufhören. »Ja, du lieber Himmel, man könnte sich wirklich totlachen«, sagte Mats. »Es ist nicht zum Aushalten, wie komisch dieser ganze Schlamassel ist. Ich glaube, ich werde meine Berufsbezeichnung im Telefonbuch in Homosexueller umändern lassen, da manche Leute zu glauben scheinen, ich hätte keine anderen Eigenschaften als meine ... äh ... sexuelle Veranlagung. –Ja, ja, damit meine ich nicht dich, über deine Absichten weiß ich ja gar nichts.« Er verstummte abrupt und betrachtete mich prüfend. Ich sagte nichts. »Ach was, ich predige wieder mal«, sagte Mats. »Und dabei solltest du doch erzählen.« Hartnäckiges Schweigen. »Jimmy, hallo! Sag doch was!« »Es ist Samstag!«, sagte ich und spürte, wie es in meinen Mundwinkeln zuckte. 151
»Ja, aber nur ein kümmerlicher Halbmond.« Wir lachten beide. »Übrigens, kleine Abiturienten pflege ich nie zu verführen, vor allem dann nicht, wenn sie betrunken sind. Abiturientenmützen machen mich nicht besonders an. Aber du – kannst dir sicher vorstellen, dass ich Uniformen förmlich vergöttere.« »Aha«, sagte ich. »Wenn du auf Uniformen stehst, musst du bis nach dem 15. Juli warten.« Ich fühlte mich plötzlich ganz entspannt; sein Humor wirkte erfrischend wie eine kalte Abreibung. »Du willst doch nicht behaupten, dass du zum Barras musst?« Mats wirkte bestürzt. »Wohin denn?« »Nach Boden natürlich, wohin denn sonst?« Er klopfte mir vorsichtig auf die Schulter und sagte, es werde bestimmt nicht so schrecklich werden, wie ich es mir vorstellte. Wenn man nur immer seinen Schlagring anbehalte, komme man ganz gut durch, versicherte er. Und dann hinterher komme einem alles andere umso schöner vor. Ja, was ich denn anschließend vorhätte? Ich erzählte ihm von meiner unentrinnbaren Zukunft, und er sah plötzlich ziemlich irritiert aus; nicht verächtlich oder distanziert, sondern leicht gereizt, als fände er, dass ich mich nicht so viel beklagen sollte. »Du musst deinen Eltern eben klarmachen, dass du das alles nicht willst«, sagte er. »Irgendwann muss man anfangen. Was würdest du gern tun, wenn du selbst entscheiden dürftest? Du bist schließlich erwachsen!« »Ich weiß nicht«, sagte ich. Seine Bemerkung kam mir wie eine schreckliche Anklage vor; ich fühlte mich erschöpft und sehr kindisch. Das alles war zu viel auf einmal. »Ich schaffe es nicht, jetzt darüber zu sprechen. Mir ist schlecht. Lass mich bitte nur ein Weilchen hier sitzen, um mich auszuruhen, dann verdufte ich bald.« Er machte ein reumütiges Gesicht. 152
»Entschuldige, ich bin eine echte Dampfwalze. Sprechen wir lieber über etwas anderes.« Und das taten wir auch. Wir unterhielten uns sehr energisch über Kultur, Politik und andere allgemeine Themen, als wäre es lebenswichtig, ein beredtes Schweigen zu vermeiden. Er fragte mich nicht, ob ich homosexuell sei, und warum hätte er das auch tun sollen? Das hatte er mit einer Art sechsten Sinn sicher schon auf dem Fest erschnuppert. Wir sprachen zwar nicht darüber, aber die ganze Zeit lag eine Spannung zwischen uns, ein vibrierendes Band aus Erwartung und Unruhe – wenigstens meinerseits, da ich nicht wusste, ob ich nachgeben sollte. Sobald mein Schwips etwas nachgelassen hatte, war NormalJim wieder aufgetaucht, und Normal-Jim war der Ansicht, ich solle mich lieber vor Mats hüten, vor seinen funkelnden Augen, seinem unverdrossenen Redestrom und seiner lebendigen Ausstrahlung. Das alles waren nur Dummheiten, durch die man in Schwierigkeiten kommen könnte. Geheim-Jim dagegen wäre gern über Nacht bei Mats geblieben, er hätte sich gern von seiner Wärme verführen lassen und alles Zögern und alles Schamgefühl abgelegt, die wie eine Mauer zwischen ihm und dem, was er sich am allermeisten wünschte, standen. Aber Mats fragte mich nicht, ob ich bei ihm übernachten wollte, diese Entscheidung blieb mir also erspart. Er begleitete mich zur letzten U-Bahn, und als wir da auf dem Bahnsteig standen, hatte ich das Gefühl, als müssten wir uns jetzt küssen, aber es waren Leute in der Nähe, also berührte er nur meine Schulter mit einer leichten Geste und lächelte. Auf dem ganzen Heimweg war ich in einen Zustand unbändiger, vibrierender Freude versunken und hatte alles vergessen, was mich erwartete und was ich eigentlich für eine Rolle spielen wollte. All das dank einer leichten Berührung und eines Lächelns.
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Verstohlen wie ein Verbrecher schlich ich in mein Zimmer und machte die ganze Nacht kein Auge zu. Am folgenden Tag rief ich Mats von einer Telefonzelle aus an, worauf er mich für den Abend vor der Abiturfeier zum Essen einlud. Schon allein seine Stimme machte mich zittrig; die ganze Welt um mich herum schien sich im Auflösungszustand zu befinden – Schule, Familie, Kameraden; alles würde bald wie nach einem Bombenangriff in Trümmern um mich liegen. Wenn das mit Mats klappte. Wenn ich das Unvorstellbare tun würde, das, worauf ich so energisch zu verzichten beschlossen hatte. Wenn ich mich berühren ließe und einer von Denen würde.
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11 Als Jim am Morgen des Tages, an dem die Abiturfeier stattfinden würde, nicht nach Hause kam, verging ich fast vor Sorge. Er war auf irgendeinem Fest bei einem seiner Mitschüler gewesen. Nachts gegen zwei hatte er angerufen und gesagt, er habe die letzte Bahn verpasst, und ich sagte, dann nimmst du eben die erste Bahn morgen früh, und er versprach, er wolle gleich morgens nach Hause kommen, doch das machte er dann doch nicht; stattdessen kam er in seinen ausgefransten Jeans direkt zur Abschlussfeier. Und dabei hatte ich extra seinen Anzug aufgebügelt und alles, und dann tat er uns das an. Er hätte wirklich auch ein bisschen an uns denken können. Harald hatte sogar frei genommen; ich glaube fast, das war das erste und letzte Mal, dass ich das bei hm erlebt habe. Er wurde natürlich sehr ärgerlich, und als Jimmy morgens von der Schule aus anrief, fuhr er ihn vielleicht etwas zu heftig an. Aber trotz allem war es ein schönes Gefühl, den Jungen in der weißen Abiturientenmütze zu sehen. Jim selbst wirkte zwar sehr geistesabwesend, er sah aus, als dächte er an etwas, das ihn 155
froh machte, aber gleichzeitig wirkte er irgendwie mürrisch und abweisend, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Er hatte ganz glänzende Augen. Wahrscheinlich mach-. ten das die vielen Reden aus, und dann war ja auch alles so feierlich, das letzte Beisammensein mit all seinen Schulkameraden und Lehrern und so. Tina – sie war damals fünf – kroch auf seinen Schoß und sagte etwas, und da lachte er. Er schien Tinas kleinen Glückwunsch mehr als alle Geschenke, alle Blumensträuße und alles Geld zu schätzen, ja, sogar mehr als das Konversationslexikon, das Harald ihm gekauft hatte. Seltsam, dass nichts jemals so wird, wie man es sich vorgestellt hat. Vielleicht sollte man sich lieber gar nichts vorstellen.
»Wo bist du vorgestern eigentlich abgeblieben?«, fragte Leif, als wir uns am Montag nach seiner Fete trafen. »Mir war ein wenig übel, deshalb bin ich gegangen.« »Ach so.« Er holte Luft und verstummte, als wollte er eigentlich etwas sagen, was er sich dann doch noch verkniff. »Aber ich bereue nicht, dass ich gekommen bin«, fuhr ich fort. »So, dann hast du es doch noch nett gehabt? Mir kam es so vor, als hättest du die ganze Zeit mit wahrer Leidensmiene in einem Sessel gehockt.« »Na ja, ich unterhielt mich auch ein wenig mit einem dieser Irren, die deine Schwester mitgebracht hatte.« »M-mm. Ja, das habe ich gesehen. Mats Karlsson, nicht wahr?« »Ja, vielleicht hieß er so. Hast du was gegen ihn, weil du seinen Namen so betonst?« »Nee, er ist wohl nur allgemein etwas ausgeflippt. Er erinnert mich immer an die Marx Brothers.« »Komisch, genau das habe ich auch gedacht.« 156
»Jaa ...«, sagte Leif zögernd und sah aus, als müsse er etwas Schwerwiegendes bedenken. »Und dann glaube ich, dass er schwul ist.« »So, so, hat er versucht, dich zu verführen?« »Ganz bestimmt nicht!«, sagte Leif und bekam einen metallischen Blick. »Das würde ihm wohl ziemlich schwer fallen. Aber so etwas merkt man ja, sozusagen.« »Tatsächlich?« »Klar. An der Körperhaltung, finde ich. Also, ich an deiner Stelle würde mich vor ihm in Acht nehmen. Warum grinst du so?« »Ich finde nur, dass das ein ganz besonders paradoxer Ausdruck ist.« »Was denn?« Er sah verwirrt aus. »Ich an deiner Stelle, natürlich.« »Ach so. Ja, vielleicht ist es das. Warum siehst du denn so fidel aus? Hast du übrigens eine Ahnung, wer den Sekt in meine Schreibmaschine geleert hat?«
»Willkommen«, sagte Mats. Er trug einen grünen Pulli, und sein Brillengestell war diesmal grün gestrichen. Seine Haare waren frisch gewaschen und standen ihm buschig vom Kopf ab. Ich hatte den Eindruck, dass er mich umarmen wollte, wich aber ein wenig zurück, und da begrüßte er mich nur ganz fröhlich, als ob nichts wäre. Ich fragte mich, ob er ahnte, wie nervös ich war, wie ich mit eiskalten Händen und klopfendem Herzen in der Bahn gesessen und mich mal gefühlt hatte, als wäre ich zu meiner Hinrichtung unterwegs, und dann wieder, als ginge es um meine Befreiung. Meiner Mutter hatte ich gesagt, ich sei auf eine Fete eingeladen. Sie merkte, wie sehr ich auf mein Äußeres bedacht war, bevor
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ich ging, und fragte, ob irgendein besonderes Mädchen kommen werde. Irgendein besonderes Mädchen! Ich musterte Mats’ Lockenkopf, seine schlanke Taille und die feste Rundung seines Hinterns unter den abgetragenen hellblauen Jeans, und in mir wirbelte eine kleine Melodie auf, ein paar lachlustige Töne wie Sonnenreflexe. Doch ja, hierher hatte ich gewollt, genau hierher! Aber – ich würde nur ganz kurz bleiben, damit ich gar nicht erst in Versuchung kam, mir etwas zu vergeben. Das hatte ich beschlossen. Unter keinen Umständen würde ich bei Mats übernachten, am nächsten Tag war ja meine Abiturfeier. »Ich hab extra für deinen Besuch dekoriert«, sagte Mats und zog den Vorhang vor der Wohnzimmertür zurück. Der Tisch war mit Kerzen,’ Blumen und Wein gedeckt. Und außerdem war er mit kleinen weißen Abiturientenmützen übersät. »Du bist ja verrückt!«, sagte ich und lachte. »Ich habe nur mal eben meine alte Abiturientenmütze geklont«, erklärte er. »Nimm Platz, das Essen ist gleich fertig.« Ich setzte mich aufs Sofa. Als er hereinkam, setzte er sich in den Sessel. Ich fragte mich, ob er sich nur deshalb nicht neben mich setzte, weil er mich abstoßend fand, oder ob er mich nur nicht gleich erschrecken wollte. Bestimmt ist er nicht an mir interessiert, dachte ich. Er kann doch jeden haben, den er will – unabhängige Burschen mit James-Dean-Augen und Erfahrung. Was sollte er schon mit einem kleinen Schuljungen anfangen, der bei seinen Eltern wohnte. Er begann ein großes Palaver und äußerte eine unglaubliche Menge Ansichten und Meinungen, und zwischendurch füllte er immer wieder hinterhältig mein Weinglas, bis ich ebenfalls eine beachtliche Anzahl Ansichten und Meinungen zum Besten gab. Plötzlich kam es mir vor, als wäre die Luft im Zimmer dichter geworden, als hätte sie zu vibrieren begonnen. Mats redete atemlos weiter, aber wenn er sein Glas anfasste oder mit der 158
Serviette spielte, sprachen seine Hände von etwas ganz anderem als Kulturpolitik. Tristan und Tristan, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein. Meine Nervosität war einer rauschhaften, strömenden Wärme gewichen. Ich wagte ihn kaum anzuschauen. »Ich hatte schon befürchtet, dass du nicht mehr zurückkommen würdest«, sagte er. »Ich auch.« Ich betrachtete unverwandt den Dessertteller. Ich spürte Mats’ Blick, er kitzelte mir wie der Nachklang einer Berührung unter der Haut. Dennoch kämpfte ich gegen eine kindische Furcht an. Und dann, mitten in all diesen widersprüchlichen Gefühlen, musste ich plötzlich ans Militär denken. Noch ein Monat, dachte ich, dann muss Jim Lundgren seine Schnürsenkel vorschriftsmäßig schnüren und mit fünfzehn anderen das Zimmer teilen. Monat für Monat, viel schlimmer noch als die Schule. Aber das wird einen richtigen Mann aus mir machen – »Ich will nicht!«, sagte ich in die Luft hinaus. »Was willst du nicht?«, fragte Mats. Er glaubte offensichtlich, dass ich etwas ganz anderes meinte. »Zum Kommiss«, sagte ich und biss die Zähne aufeinander. »Warum verweigerst du dann nicht?« »Dann lande ich im Gefängnis.« »Und warum bemühst du dich nicht um irgendeinen Stabsposten? Schreibmaschine schreiben oder so.« »Das ist doch genauso schlimm. Vor den Strapazen an sich habe ich keine Angst, das ist doch klar. Nein, es ist diese Rechtlosigkeit, dieser völlige Verlust der Identität...« »Man kann es andererseits auch als gute Gelegenheit betrachten, sich darin zu üben, seine Identität zu behalten«, sagte Mats erbarmungslos. Ich hob den Kopf und starrte ihn verständnislos an. »Mats, meinst du das wirklich?« »Natürlich.« 159
»Du hast das vielleicht geschafft«, sagte ich, »aber begreifst du denn nicht, dass verschiedene Menschen unterschiedlich empfinden können?« Er begegnete meinem Blick und sah ungewöhnlich ernst aus. »Wenn ich etwas in diesem Leben begreife, dann ist es wohl das. Aber irgendwann musst du selbst wählen! Du kannst nicht einfach dasitzen und alles mit dir geschehen lassen. Wenn das mit dem Kommiss wirklich so schlimm ist, dann musst du dich eben wegen nervöser Beschwerden oder so was ausmustern lassen.« »So, so«, sagte ich, »und was glaubst du wohl, was meine Eltern dann sagen würden?« »Herrgottnochmal!« Mats machte eine weit ausholende Geste und fegte dabei eine der geklonten weißen Mützen auf den Boden hinunter. »Immer höre ich nur Eltern! Sollen deine Eltern denn dein Leben in Ewigkeitamen regieren?« Ich sagte nichts, sondern blickte nur wieder auf den Nachtisch und fühlte mich unreif und gemaßregelt. »Jimmy?« Ich schwieg. Meine Kehle war zugeschnürt. »Jimmy?« Seine Stimme klang so zärtlich und aufmerksam, dass es mich schmerzte. »Hör mal, ich wollte dich nicht verletzen, verstehst du?« Er setzte sich plötzlich neben mich aufs Sofa. »I did it again«, sagte er. »Ich und meine große Klappe.« Ich blickte ihm gerade in die Augen. Er war mir so nahe, dass ich den Duft seiner frisch gewaschenen Haare spürte. Er darf mich nicht berühren, dann explodiere ich, dachte ich, und im selben Augenblick spürte ich seinen Arm um meine Schulter. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, ihn anzusehen. Das reicht, dachte ich; das ist schon mehr, als ich je zu wünschen gewagt habe, mehr verkrafte ich nicht. Seine Hand auf meinem Oberschenkel, sein Atem an meinem Hals. »Soll ich dir etwas verraten?«, flüsterte er mir ins Ohr. 160
»Was denn?« »Du bist scharf auf mich, Jim, du abscheulicher kleiner Abiturient.« »Ich weiß.« »Soll ich dir noch was verraten? Ich bin scharf auf dich. Was sollen wir dagegen tun, was meinst du?« »Ich weiß nicht ...« »Natürlich weißt du das.« Ich war völlig hilflos. Ich hatte bisher nie geahnt, was für ein Gefühl es sein konnte, mit einem anderen Menschen zusammen zu sein. Ich hatte nicht geahnt, auf was ich zu verzichten bereit gewesen war. Es war, als wäre ein Damm in mir geborsten; als könnte die befreite Flutwelle alles nur Erdenkliche mit sich reißen. Es machte mir beinahe Angst. Inmitten der Umarmung und des Rausches wusste ich dennoch, dass außerhalb der Liebeswärme eine ganz andere Wirklichkeit existierte. Nicht zuletzt die Stimme meiner Mutter erinnerte mich daran, als ich sie anrief, um ihr zu sagen, dass ich die Nacht über wegbleiben würde. Es war, als würde ein Scheinwerfer auf mich gerichtet. Ich sah tausend erhobene Zeigefinger, ich sah ihre Augen, ihre schockierten, ungläubigen Augen, und die meines Vaters, lodernd vor kindischem Zorn. Denn zwei Männer lieben sich nicht. Zwei Männer lieben sich vor allem nicht körperlich. Seltsam, dass man nach einem verachtungswürdigen Erlebnis in einen so tiefen, harmonischen Löwenschlaf sinken kann. Seltsam, dass man anschließend nicht dahinsiecht, bleich und hohläugig und für immer von seinen Perversionen gezeichnet, sondern dass man wie ein ganz normaler Mensch spricht, lacht und lebt. Aber das Seltsamste von allem ist, dass man sogar die Unverfrorenheit besitzt, genauso glücklich zu sein, wie wenn man ganz normal wäre.
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Und dabei sollte man sich doch wirklich und wahrhaftig schämen.
»Mats?« »Mmmmm.« »Mats, wach auf! Es ist schon halb zehn, und um zehn muss ich in der Schule sein! Warum hat der Wecker nicht geläutet?« »Hö? Ach, ich hab wohl vergessen, ihn zu stellen.« »Du brauchst deshalb nicht so zufrieden auszusehen. Musst du nicht zur Arbeit?« »Nein, ich hab gestern angerufen und gesagt, ich sei krank. Ich muss dich doch nach der Schule in Empfang nehmen, ist ja immerhin dein Abitur!« »Mensch, nimm mich nicht auf den Arm. Das kannst du nicht machen!« »Was denn, was denn? Ich meine das absolut ernst.« Er sah bestimmt aus. »Warum sollte ich nicht auf dich warten dürfen, du Dummkopf?« »Kapierst du das wirklich nicht? Meine Eltern kommen hin!« »Oooooh!« Seine Augen wurden groß wie Untertassen. »Deine Eltern kommen hin! Und warum darf ich deine Eltern nicht kennen lernen? Schämst du dich etwa meinetwegen?« Ich lachte über seine melodramatisch zerknitterten Gesichtszüge. Dann stürzte ich ins Badezimmer hinaus, spritzte mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und schlüpfte in meine Kleider, die in einem Haufen auf dem Boden lagen. Zur hochehrwürdigsten Abiturfeier zu spät zu kommen stellte wohl den Gipfel der Verworfenheit dar, dachte ich. Das kam davon, wenn man sich in den Sumpf der Sünde hinabließ; was würde wohl als Nächstes auf mich warten? »Halt, Jimmy, warte!«, ertönte Mats’ Stimme, als ich die Tür zum Treppenhaus, aufmachte. 162
»Was ist?« Ich drückte auf den Aufzugsknopf. Mats tauchte in der Türöffnung auf. »Du hast ja nichts an«, sagte ich ermahnend. »Ich weiß. Aber ich wollte noch irgendetwas sagen – ja, also, ich komme zur Schule. Wann ist das Affentheater denn vorbei?« Ich gab nach; von mir aus sollte er eben kommen, Hauptsache, er nahm sich zusammen. »Gegen elf, halb zwölf, bis dahin werden wir wohl fertig gejubelt haben«, sagte ich. »Allerdings würde ich mich freuen, wenn du angezogen erschienst!« »Worauf du dich verlassen kannst!«, versicherte Mats. In seinen Augen tauchte ein fröhliches Funkeln auf. »Wie wär’s mit einem Kuss, bevor du gehst?« »Aber Mats, du kannst doch nicht splitternackt hier im Treppenhaus stehen. Die Nachbarn –« Er drückte mir einen hörbaren Kuss auf die Lippen und lachte. »Die sind daran gewöhnt! Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht; kleine Abiturienten zu entführen. Du bist ja ganz stachelig !« »Ich muss jetzt gehen, ich –« »Au weia! Dann nichts wie los! Und vergiss nicht, der Große Bruder sieht dich überall!«
In der Schule rief ich dann erst mal meine Eltern an, um ihnen zu erklären, warum ich nicht nach Hause gekommen war. Nachdem ich von meinem Vater Jimdasistunverzeihlich! und von meiner Mutter Deinanzugliegtgebügeltaufdeinembettunddiemützeistnochhierzuhause zu hören bekommen hatte, knallte ich den Hörer wütend auf und rannte durch den Flur in die Aula. Auf dem Podium standen zwei Mädchen in Trachten und sangen etwas über die Schönheit der Natur. Ich schlich hinein und setzte mich ganz hinten hin. In meinem Mund war noch der 163
Geschmack nach Wein und Küssen, mein Gesicht war voller Bartstoppeln und meine Augen juckten vor Müdigkeit. Die Rektorin hielt eine Rede über uns unschuldige kleine Abiturienten. Wir würden nun. flugs ins Leben hinaustaumeln und schöne Gelegenheiten erhalten, unsere Flügel auszuprobieren. Sie wisse, dass wir allesamt herzensgute und anständige Schüler seien, die den guten Geist der Schule mit sich tragen würden, wo immer sie sich auch befänden. Früher, erklärte sie, sei das Abitur für manche ein schrecklicher Tag gewesen, für andere wiederum ein unbeschreibliches Glück. Aber heutzutage brauche niemand sich als Versager zu fühlen, nur weil das Zeugnis vielleicht etwas weniger glänzend ausgefallen sei; denn letzten Endes bedeuteten ein fröhliches Herz und Unternehmungsgeist genauso viel wie gute Noten, nicht wahr? Gemeinschaftsgefühl und gute Kameradschaft seien auch etwas, das man wertschätzen müsse, und sie wisse ja, dass unsere Schule während all dieser Jahre eine wahre Hochburg gerade dieser Tugenden gewesen sei. Ja, es sei eine glückliche Zeit gewesen, und wenn sie uns jetzt zum letzten Mal sehe, sei sie sowohl von Stolz als auch von Trauer bewegt! Beifall. Dann Abschiedsessen im Speisesaal: leuchtendrosa Schinkenstreifen mit Kartoffelsalat. Fräulein Jacobsson fragte sich sicher, warum ihr Starschüler so geistesabwesend wirkte, während sie Goethes Bedeutung für die zeitgenössische deutsche Literatur mit ihm diskutierte. Sie konnte ja nicht ahnen, an wen ich die ganze Zeit denken musste. Dann war es Zeit für die Preisverteilung an die besten Schüler. Jim Lundgren, unrasiert und mit struppigem Haar, aber intelligent, nahm Amalia von Helvigs Briefe an Erik Gustav Geijer, in Leder gebunden, aus der vor Rührung zitternden Hand der Rektorin entgegen. Mit diesem eindeutigen Beweis seiner Tüchtigkeit marschierte er an seinen Platz zurück. Vier weitere Tüchtige erschienen nacheinander auf dem Podium. Dann folgte das feierliche Öffnen der Zeugnisse. 164
»Was wirst du nach dem Kommiss machen?«, fragte Steffe mich, als wir uns auf den Schulhof hinausbegaben. »Sicher studieren, oder?« »Ich weiß noch nicht«, antwortete ich, denn ich wusste es wirklich nicht. Ich hatte ein Gefühl, als ginge ich auf Luft – der ganze Halt unter meinen Füßen war verschwunden. »Bist du nicht glücklich, Jimmy?«, fragte Sylvia. »Doch«, sagte ich und lächelte. »Das bin ich wirklich!«
Meine Eltern und Tina standen am Schultor, meine Mutter mit einem Blumenstrauß und der Abiturientenmütze im Arm. Sie war beim Friseur gewesen und hatte sich herausgeputzt wie für ein Galadiner. Die Schuhe meines Vaters glänzten unter den perfekten Hosenaufschlägen. Und ich sah zum ersten Mal, was für traurige Gestalten sie waren. Feierlich und rührend standen sie da, wie zwei stolze Eltern auf einem Foto der Jahrhundertwende, Die Glückliche Familie betitelt. Mein Vater mit seiner vergilbten Abiturientenmütze auf dem Kopf, mein armer Papa mit seinem Tüchtigkeitskomplex, der sich so deutlich in seinem ordentlichen Krawattenknoten und in seiner aufrechten Haltung spiegelte, und meine Mutter, die ihr eigenes Leben verloren hatte und jetzt verzweifelt durch andere zu leben versuchte. Ich hätte die beiden am liebsten umarmt und sie mit einem Zauberstab berührt, der alle Knoten auflöste. Doch das ging nicht. In unserer Familie umarmte man sich nicht. Mein Vater klopfte mir auf die Schulter. »So, jetzt bist du also aus dem Ei geschlüpft, Jim. Aber es war schon ein starkes Stück, dass du heute Morgen nicht nach Hause gekommen bist, um dich umzuziehen. Du siehst wie einer von diesen Hippies aus, man muss sich ja schämen mit dir. Was hast du heute Nacht eigentlich getrieben, he?« Er warf mir einen vielsagenden Unter-uns-Männern-Blick zu, der mich zum Lachen brachte. 165
»Jim war bei seinen Freunden, Harald«, sagte meine Mutter müde. »Wann dürfen wir sie denn kennen lernen?«, fuhr mein Vater im selben Tonfall fort. Ich kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten, da mir in diesem Augenblick jemand auf die Schulter klopfte. Mats. Da stand er vor mir, untadelig rasiert und frisiert, in irgendeinem komischen alten Anzug. Seine Brillengläser trugen fast unmerkliche Spuren von grüner Farbe. Er hielt einen großen Rosenstrauß in der Hand. »Hallo, Jim«, sagte er zu mir, und dann begrüßte er meine Eltern mit ausgesuchter Höflichkeit. Es war seltsam zu sehen, wie mein Vater Mats’ ausgestreckte Hand nahm. Wenn du wüsstest, dachte ich, wenn du nur wüsstest, dass diese Hand mich erst vor ein paar Stunden gestreichelt hat. Dann würdest du sie fallen lassen, als wäre sie eine Schlange. »Ich heiße Mats«, sagte Mats. »Guten Tag«, sagte mein Vater. »Harald Lundgren.« Meine Eltern sahen beide erstaunt und etwas gestört aus. »Guten Tag«, sagte meine Mutter misstrauisch. »Du bist wohl einer von Jims Mitschülern?« »Na ja«, sagte Mats. »So etwas Ähnliches. Ich gehöre zum Bekanntenkreis, könnte man sagen.« Ich hoffte, dass sie das unanständige Glitzern in seinen Augen nicht bemerken würden. Mats überreichte mir den Strauß. »Hier, Jimmy! Die Blumen sind von jemandem, der eigentlich herkommen und dich umarmen wollte, leider aber verhindert ist.« »Ach? Von wem denn?«, sagte ich und blickte mit einer Mischung aus Lachlust und Verwirrung auf die zwei kleinen roten Rosenknospen, die triumphierend ihre Köpfe aus einer Vielzahl weißer Rosen herausstreckten.
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Auf dem Gesicht meines Vaters breitete sich sogleich ein stolzes Lächeln aus. »Aha, aha. Hab ich’s nicht gesagt, Ulla-Britt?« Und dann trennten wir uns. Am liebsten hätte ich mich Mats in die Arme geworfen, um ihm zu folgen und alles andere sausen zu lassen. Aber ich konnte überhaupt nichts tun, ich wagte ihn kaum anzuschauen aus lauter Angst, dass man uns ansehen könnte, was wir getan hatten. Als ob wir kriminell wären. Willenlos ließ ich mich zum Auto führen und nach Hause befördern. Unterwegs machte mein Vater tausend alberne Anspielungen auf die junge Dame, die den Strauß geschickt hatte, und Tina kroch mir auf den Schoß und fragte mit großen Augen: »Jimmy, bist du jetzt ein richtiger Abendturent?« »Na ja«, sagte ich und lächelte in mich hinein, »das kommt wohl darauf an, wie man es betrachtet.« »Oh doch«, sagte mein Vater mit abrupter Herzlichkeit. »Du hast weiß Gott keinen Grund, dich zu schämen. Ist es nicht ein herrliches Gefühl, ins Leben hinauszutreten und zu wissen, dass einem alle Türen offen stehen? Du darfst deine Chancen nur nicht mit einer Menge unnötiger Grübeleien und unreifer Launen verspielen wie so viele andere junge Leute!« Meine Mutter seufzte. »Jim weiß bestimmt, was für ihn am besten ist.« Und ich sagte nichts. Daheim gab es dann Torte und Verwandtschaft und ermunternde Reden und ein schönes Konversationslexikon und Die Goldene Jugendzeit. Als ich in jener Nacht einschlief, klang mir jedoch nichts von all dem in den Ohren. Nein, ich hörte nur Mats’ Stimme. Du bist wunderbar, Jimmy, du bist wunderbar.
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12 Kurz nach dem Abitur setzte Jim es sich in den Kopf, mit einem Freund auf die Insel Öland zu fahren. Ich meinte, er sollte sich vielleicht vor dem Militärdienst noch etwas ausruhen, doch auf dem Ohr wollte er nichts hören. Er sagte, genau das habe er ja vor – sich auszuruhen, und das sagte er in einem solchen Tonfall, dass ich richtig traurig wurde. Harald sagte, das wisse man ja, wie es in solchen Zeltlagern zugehe. Die ganzen Nächte würden durchgemacht, mit Mädchen und so. Aber es sei nur gut für Jimmy, sich ein wenig auszutoben. Wenigstens war Harald dieser Ansicht.
»Jim, jemand will dich sprechen!« Meine Mutter stand im Flur und hielt den Telefonhörer in der Hand. »Wer denn?« »Er hat seinen Namen nicht gesagt. Wahrscheinlich einer aus deiner Klasse.« Ich nahm den Hörer und hörte Mats’ Stimme, die spöttisch und unnötig laut »Hallooo Sweetheart!« flötete. »Pssst!«, zischte ich. Er lachte. »Oh, Verzeihung, ich dachte, deine Mutter sei 169
noch am Apparat. Wie geht es dir? Hast du dich erholt?« »Wovon denn?« »Von deinem Großen Tag natürlich, wovon denn sonst? Nein, Spaß beiseite, ich wollte dir einen anrüchigen Vorschlag machen. Ich hab ab übermorgen Urlaub und hatte eigentlich vor, mit meiner alten Klapperkiste nach Öland zu fahren. Und da fiel mir doch in letzter Minute ein, dass du vielleicht Lust haben könntest mitzukommen? Ich habe ein mausgraues Zelt, in das es hereinregnet, dreizehn Dosen Blutwurst, die ich gratis bekommen habe, und zwei Schlafsäcke. Wir könnten gemeinsam einen Campingplatz heimsuchen, was meinst du?« »Mensch, das geht doch nicht. Ich würde unheimlich gern mitkommen, aber du weißt ja, dass ich bald zum Kommiss muss.« »Ach was, doch erst am fünfzehnten! Was glaubst du wohl, wie lange dreizehn Dosen Blutwurst reichen?« »Irgendwann werden wir wohl auch was anderes als Blutwurst essen!« Sein spöttisches Lachen kitzelte mich am Ohr. »Du sagst wir. Also kommst du mit!« »Aber meine Elt-« »Wunderbar! Dann kommst du morgen gegen sechs vorbei, damit wir Pläne machen können. Das ist einsame Spitze! Ich muss aufhören, jemand läutet an der Tür! Bis morgen, gib deinen Eltern einen Kuss von mir!«
Der Geruch nach Zelt und Meer wird für mich immer untrennbar mit Romantik verbunden sein. Quatsch, es gibt doch keine Romantik, wird man mir entgegenhalten. Doch, die gibt es, antworte ich, selbst wenn die Sandkörner zwischen den Zähnen knirschen, während man der zehnten Blutwurstdose zu Leibe rückt ... Und wenn man mit der Sonne im Rücken am glänzenden Wasserrand entlanggeht, auf einen verborgenen Platz in den 170
mit Strandgras bewachsenen Dünen zu, und wenn man morgens im glühend heißen Zelt aufwacht und mit unaussprechlicher Überraschung und Dankbarkeit entdeckt, dass ein anderer Mensch neben einem schläft. Während dieser beiden Wochen auf einem ganz normalen Campingplatz veränderte sich meine Wirklichkeit. Ich kann nicht behaupten, dass der ganze Urlaub unablässig in Rosenschimmer getaucht war. Aber zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich die Kontrolle aufgeben, die Beherrschung, die meine einzige Rettung gewesen war, wenn ich mich einsam fühlte. Es war, als würde die Wirklichkeit, die echte, vor Leben vibrierende Wirklichkeit endlich meine Sinne erreichen. Ich sah und fühlte fast wie ein kleines Kind, mit derselben Neugier und demselben Schwindel erregenden Gefühl, vor einem Wunder zu stehen. Als Mats und ich durch den Wald hinter dem Zeltplatz gingen, glaubte ich, Gras, Bäume und honiggelbe Abendsonne zum ersten Mal zu sehen. Ja, sogar als der stickige Geruch nach Brathähnchen sich in der Dämmerung über die kleinen weißen Tische des Gartenlokals senkte, während Fernsehlärm das Wellenbrausen des Meeres hinter den Kiefern übertönte, fand ich, dass wir etwas höchst Wundervolles erlebten. Ich hatte bisher noch nie erlebt, wie es ist, wenn man seine Umgebung an sich heranlässt, ich hatte mir nie Zeit gelassen, Wind, weichen Sand und die warme Haut eines anderen Menschen zu erleben – ich hatte noch nie den Genuss erlebt. Jetzt erlebte ich ihn. Aber Mats und ich konnten uns nicht wie andere Liebende den Arm um die Schultern legen, während wir im Gartenlokal saßen und fernsahen. Unsere Liebe musste sich in ein ausgeblichenes Zweimannzelt zurückziehen und in ein schwer zugängliches Versteck im Wald. Es macht ja solchen Spaß, sich über das Privatleben anderer Menschen aufzuregen. Ich erinnere mich an einen späten Nachmittag – ich war schwimmen gewesen und kam zu unserer Decke im Sand 171
zwischen den Grasdünen zurück, wo Mats mit geschlossenen Augen auf dem Rücken in der Sonne lag. Ich ließ ein paar kalte Wassertropfen auf ihn fallen. Er reagierte nicht. Da bückte ich mich und ließ meine nassen, kalten Haare über seinen Brustkorb streifen, und er lag immer noch still. Ich streckte mich im Sand aus und legte meinen Kopf auf seinen Brustkasten, schloss die Augen und spürte seine Hand in meinem Haar, während die Sonne das Dunkel hinter meinen Augenlidern in tiefrote Muster auflöste. Hinter den Strandgrasbarrieren glaubten wir unsichtbar zu sein. Doch als ich die Augen aufschlug, sah ich ein neugieriges Kindergesicht, braun gebrannt und von einem schwarzen Cowboyhut beschattet, das zwischen den Grashalmen hindurchlugte. Die hellen Augen begegneten fest und unbestechlich meinem Blick. Dann trat ein sehr kleiner Mann aus seinem Versteck hervor. Er hatte eine blaue Badehose an und einen Spielzeugpistolengurt um die Hüften. »Päng, päng«, sagte er mit Nachdruck und richtete seine kleine Pistole auf uns. Mats rieb sich die Augen und ich setzte mich hin. »Hallo«, sagte ich. Das Kind sah uns mit unschuldigem Blick und dem Hauch eines Lächelns auf den Lippen an. »Scheißschwulis«, sagte es sanft. »Du kennst aber schöne Wörter«, sagte Mats. »Von wem hast du die denn gelernt?« »Von meinem Papa«, teilte das Kind zuvorkommend mit. Mats und ich sahen uns an und zogen die Augenbrauen hoch. Ich reckte den Hals und entdeckte, dass eine junge Frau mit Strohhut und ihr männlicher Begleiter in eine nur ein paar Meter von uns entfernte Sandmulde eingezogen waren. Das Kind stand immer noch da und sah uns fasziniert an. »Möchtest du ein Pfefferminzbonbon?«, versuchte Mats und reichte ihm eine Bonbontüte. 172
»Ich ess keine Schwulenbonbons«, verkündete das Kind. »Wie du willst.« Mats lächelte und begann, genießerisch an seinem Bonbon zu lutschen. Der kleine Junge hatte offensichtlich Entscheidungsschwierigkeiten. Ich merkte, dass die Frau mit dem Strohhut aufgestanden war und sich uns näherte. »Hans!«, rief sie. »Was machst du da? Komm sofort zu Mama zurück, hast du gehört? Hast du mich verstanden!« Mit vor Empörung leuchtenden Augen stand sie vor uns. »Hallo, Süße«, sagte Mats und lächelte. »Sie haben vielleicht Nerven!«, sagte sie. »Was wollten Sie dem Jungen da geben?« »Pfefferminzbonbons«, sagte Mats. »Die sollen gut sein gegen alberne Vorurteile, habe ich gehört. Wie Dörrpflaumen gegen Verstopfung.« Mir wäre es lieber gewesen, wenn er gelassen geblieben wäre. Dadurch, dass er sie provozierte, wurde ja auch nichts besser. Rot im Gesicht und sprachlos, starrte sie ihn an. »Solche wie Sie sollten auf öffentlichen Badeplätzen verboten sein«, stieß sie hervor und nahm ihren Sohn fest an der Hand. »Wir sind kein bisschen verboten.« Mats gähnte. »Auf jeden Fall nicht mehr verboten als minderjährige Spione mit Cowboyhüten. Tschüss, Süße!« Sie entfernte sich. Die Familie zog demonstrativ in eine andere Mulde um. Mats hatte sich wieder hingelegt und wirkte völlig unberührt. Er streckte mir die Arme entgegen und lächelte. Ich fühlte mich beschmutzt. Auf einmal hatte ich den Eindruck, dass unsere vorher so schimmernde Liebe säuerlich und abgestanden roch, wie alte Teebeutel ungefähr. Ein Gefühl der Demütigung schlug über mir zusammen. Und mitten darin Mats’ strahlendes, irritierendes Lächeln, das in meinen Augen zu einer süßlichen Tuntengrimasse wurde. Wie war es möglich, dass sich alles so plötzlich verwandelte, wie konnte ich alles nur so schlagartig durch eine ganz andere Brille sehen, nur wegen 173
eines Wortes und eines angewiderten Ausdrucks in den Augen einer Fremden? Ich wollte irgendetwas zerschlagen, genau wie damals, als ich klein war. »Musst du denn unbedingt immer provozieren und Theater spielen?«, sagte ich zu ihm. »So bestätigst du ja nur die Vorurteile der Leute!« »Jawohl«, entgegnete er. »Und sie bestätigen meine. Ich habe keine Lust, brav und vorsichtig zu sein und die anderen zu verstehen, wenn sie sich so benehmen. Ich kann nicht andauernd in Filzpantoffeln umherschleichen, sonst ersticke ich. Mit Predigten hätte man bei der sowieso nichts erreicht, und außerdem habe ich Urlaub.« »Aber es ist doch unnötig, dass du dich so dämlich aufführst!« »Ich bin so dämlich, wie ich will!« Mats warf mir einen finsteren Blick zu. »Ich bin viel zu lange angepasst gewesen, jetzt habe ich einiges nachzuholen. Aber du kannst von mir aus gern wieder in die Heteroverpuppung zurückkriechen und eine kleine Kopie deines Vaters werden.« »Es wird ja noch was dazwischen geben«, fauchte ich. Er seufzte müde. »Jimmy, ich weiß genau, was du meinst und wie du dich fühlst. Wir sollten uns deshalb wirklich nicht streiten. Komm her!« Ich schüttelte den Kopf. Das Gefühl der Demütigung und der Beschmutzung wollte mich nicht verlassen. Ich stand auf und warf mir den Bademantel über die Schultern. »Jimmy, wo willst du hin?« »Ich möchte allein sein.« »Von mir aus. Als ob du nicht schon genug allein gewesen wärst. Aber okay, ich verstehe.«
An jenem Abend umrundete ich den ganzen Campingplatz, während die letzten Sonnenstrahlen der Dämmerung wichen 174
und die Lichter in den Zelten angingen. Barfuß ging ich die kühlen, kieferzapfenbestreuten Wege entlang. Ich ärgerte mich mehr über mich selbst als über diejenigen, die sich über uns empört hatten. War ich tatsächlich so schwach? Und Mats, warum weigerte Mats sich, Kompromisse zu schließen? Befürchtete er, sonst in Zweifeln und Schamgefühlen zu ertrinken? Hingen unser Selbstvertrauen und unsere Liebe an einem so dünnen Faden, dass ein einziger angewiderter Blick genügte, um alles zunichte zu machen? Vielleicht war die Schwindel erregende Freude, die ich empfunden hatte, nur eine hysterische Verteidigung gegen die Schande? Doch nein: Diese Freude war das Echte und nicht das Gefühl der Schande. Diesem Gefühl durfte man nicht nachgeben; ich begriff, dass dies der Grund war, warum Mats auf seinem theatralischen Getue bestand, auf seiner Verspieltheit und seinem trotzigen Lächeln, oder – wenn man es so nennen wollte – auf seinem Tuntengetue. Wie hatte ich ihn nur lächerlich finden können? Die Eltern des kleinen Cowboys waren lächerlich, nicht wir. Sie hatten Angst und waren auf dem besten Weg, einen weiteren kleinen Jungen zu erziehen, der Angst hatte. Nachdem ich lange dort zwischen den hohen Kiefern umhergewandert war und das Meer hinter den Bäumen und Dünen hatte atmen hören, spürte ich zum ersten Mal bewusst mein geheimes Herz schlagen, ununterbrochen und unbeirrbar wie die Wellen. Ich liebe dich, Mats. Und Liebe kann nie lächerlich sein.
Auf der Landzunge jenseits der Bucht blinkte ein Leuchtturm. Der Sand war kühl, und die Tangbüschel erinnerten in der Dunkelheit an liegen gelassene Perücken. Wir waren mitten in der Nacht an den Strand hinuntergegangen, um aus Treibholz ein Feuer zu machen und Würstchen zu braten. Mats suchte in seinen Taschen. »Verflixt, keine Streichhölzer!« 175
»Nimm zwei Holzstücke, Robinson«, schlug ich vor. »Ich bin nicht Robinson, ich bin Freitag«, sagte Mats. »Ich muss dir doch immer alles nachtragen.« »Ich wusste nicht, dass Robinson und Freitag –«, begann ich. »Homosexuell waren!«, sagten wir wie aus einem Munde und lachten. Das nächtliche Meer verschluckte das kleine Wort in seinem gemächlichen Brausen und das Licht des Leuchtturms blinkte wie ein weit entfernter Stern. »Ich lauf schnell zum Zelt zurück und hole Streichhölzer, Mister Robinson«, sagte Mats. »Kommst du mit oder bleibst du stinkfaul hier liegen?« »Ich bleibe liegen.« »Wenn irgendwelche Bösewichte kommen, brätst du ihnen mit dem Ziegenfellschirm eins über! – Bis nachher!« Allein. Ganz allein auf dem Rücken im Sand und Meer, Himmel und Erde so nähe, dass ich mich fast selbst wie eine stille Sanddüne in der Dunkelheit fühlte. Allein – zwischen Himmel und Meer kreiste ein Meeresvogel. Allein – voller Liebe und mit schlafschweren Lidern. Auf einmal fühlte ich, dass ich in dieser Welt zu Hause war, genauso sehr wie der Meeresvogel und die ständig wiederkehrenden Wellen. Nur ich selbst konnte meine Hülle öffnen, meine Verpuppung, wie Mats gesagt hatte. Niemand sonst. Ein Mensch kam auf dem Sandpfad zwischen den Grasbüscheln auf mich zu. Er war wirklich; ich war wirklich. Im Schein des Feuers, das wir anzündeten, waren wir uns so nahe, dass wir vor Glück, vor vollständiger Anwesenheit zu verschmelzen schienen. Und hinterher, als ich neben dem verglimmenden Feuer mit seinem Kopf auf meinem Arm vor mich hin dämmerte, dachte ich: Dies wird mir niemand nehmen können, niemals.
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13 Ich hatte es mir ja gleich gedacht, dass es Probleme geben würde, als der Junge zum Militär musste. Wenn man bedenkt, wie scheu und zurückgezogen er immer gewesen war. Damals wusste ich ja noch nichts über dieses andere Problem – mit so einer Veranlagung kann man doch ausgemustert werden, nicht wahr? –, aber ich machte mir trotzdem Sorgen um ihn. Harald und ich hätten ihn natürlich gern ganz für uns gehabt, als er auf Urlaub kam, aber er musste jedes Mal woanders hin. Jetzt kann ich es mir ja denken, wohin, aber damals konnte ich es nicht. Wenn ich nur an das schöne Essen damals denke, das kaputtging, weil er nicht rechtzeitig nach Hause kam! Und dann – ja, dann wurde das Ganze ja zu viel für ihn. Mir tat er Leid, aber Harald hatte nur Verachtung für ihn übrig. Andererseits muss man Harald auch verstehen. Er dachte wohl daran, wie er selbst um seine Ausbildung und sein Fortkommen hatte kämpfen müssen. Für ihn ist es ja ein Glaubenssatz, dass man nicht aufgeben darf: Als er jung war, hat er es bestimmt auch nicht leicht gehabt. Aber darüber will 177
er ja am liebsten nicht sprechen.
Ich verabscheute es! Vielleicht verabscheuten es die anderen genauso sehr, aber ich bildete mir ein, dass keiner so sehr darunter litt wie ich. Die Stube. Ich kann immer noch den Geruch nach verschwitzten Wollsocken, feuchten Kleidern und frisch eingefetteten Marschstiefeln in der Nase spüren. Das Namensschild zwischen dem ersten und dem zweiten Uniformknopf. Die geputzten Stiefel und dieser verdammte Leibriemen. Das Bett noch einmal frisch bauen! Waffenpflege – säubere deine Maschinenpistole gefälligst liebevoller! Feuchtigkeitsflecken an der Decke des Waschraums, zwei Duschen und zwei Steckdosen. Klapprige Betten übereinander, tausend dumme Witze über Sex. Das Exerzieren war nicht besonders schlimm, da ich nichts dagegen hatte, mich zu bewegen. Aber die Stimmung auf der Stube! Alle waren sich darin einig, dass alles beschissen war, und unsere Gleichgültigkeit gegeneinander machte die allgemeine Stimmung auch nicht besser. Hier wurden echte Männer erzeugt. Hier brach wenigstens einmal wöchentlich ein hemmungsloses Saufgelage aus. Es lebe der Schwanz! Es lebe der männliche Humor! Es leben alle rückenklopfenden, onanierenden, völlig normalen Waffenbrüder! Ich erinnere mich an Pekka, dessen Mutter ihm peinliche Pakete mit sauberen Taschentüchern und Seife schickte. Ich erinnere mich an Peter, der eigentlich Abstinenzler war und ein Gesicht machte, als müsste er Gift trinken, als die anderen Kerle ihn zwangen, den eingeschmuggelten Schnaps hinunterzuwürgen. Ich erinnere mich an den strammen Jonne, der Industrieboss werden wollte, und ich erinnere mich an die Pornoheftchen und die harten Krimis, die Leff immer las. 178
An die Krawalle erinnere ich mich auch; wie ein schwächlicher, zurückhaltender Junge immer wieder gegen die Wand gedrängt und gepiesackt wurde, ohne dass jemand eingriff. Ich selbst hatte fleißig mit dem Expander geübt und wusste auch genau, wie man sich nicht benehmen durfte, daher wurde ich in Frieden gelassen. Aber am allerbesten erinnere ich mich daran, wie ich abends im Bett kauerte, lange Briefe schrieb und Todesängste bei der Vorstellung hatte, dass einer der anderen mir die Briefe entreißen und lesen könnte. »An wen schreibst du denn die ganze Zeit?«, erkundigte sich Leff aus dem Unterbett. »An meine Freundin natürlich.« »Aha!« Leff stieß einen schmatzenden Laut aus. »An das Loch daheim! Seid ihr fest befreundet?« »So kann man es nennen.« »Ja, dann ist es ja klar, dass du hier unheimlich frustriert werden musst. Ist sie was zum Vorzeigen?« »Wie meinst du das?« »Na, gut im Bett und so. Hast du ein Foto?« »Nein.« Aber er ließ nicht locker. Am nächsten Morgen, als wir draußen an der Waschrinne standen und über das eiskalte Wasser fluchten, setzte er sein Interview fort. Ich sagte, sie heiße Maria, habe einen Mordsbusen und sei ein wahres Ass im Bumsen. Und am Abend nahm ich einen leeren Briefbogen, steckte ihn in einen Umschlag, schrieb: Maria Karlsson, Döbelnsgatan 17, Stockholm drauf, frankierte ihn und bat Leff, ihn zur Post mitzunehmen. Konnte ich mich jetzt sicher fühlen? Unter keinen Umständen durfte ich vergessen, wie meine Freundin hieß! Maria, Maria, Maria, dachte ich, während ich meine Marschstiefel methodisch einfettete. Geliebte Maria, ich sehne mich so wahnsinnig nach dir, nach dem Duft deiner Haut, nach deinen
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Lippen an meinem Hals. Du hast aber eine erstaunlich tiefe Stimme, Maria ...
Als ich meinen ersten Urlaub bekam, musste ich ihn wohl oder übel mit einem Besuch bei meinen Eltern einleiten. »Na, wie läuft es denn so?«, erkundigte sich mein Vater. »Da wird’s wohl ganz schön zugehen, wie?« »Scheuern die Stiefel sehr?«, fragte meine Mutter. »Soll ich dir Pflaster mitgeben?« Mats, es ist eine Ewigkeit gewesen, natürlich ist es das gewesen, wie in allen Liebesgeschichten. »Ich halte es nicht aus!«, sagte ich zu Mats, aber er lachte nur und bemerkte, ich solle nicht vergessen, dass ich die ausgezeichnete Allerweltssalbe des Heeres ganz umsonst bekäme; im nächsten Sommer könnten wir unsere Blutwurst darin braten! Im nächsten Sommer? Stellte er sich eine Zukunft mit mir zusammen vor? Ich wagte es kaum zu glauben. »Und was hast du denn so gemacht?«, fragte ich. »Nichts Besonderes. Ein paar Freunde getroffen.« Ich werde nicht fragen, ich werde nicht fragen! »Was für Freunde?«, fragte ich. »Oh, bist du etwa eifersüchtig? Was hast du denn die ganze Zeit über gemacht? Du warst doch mit den vielen knackigen jungen Burschen zusammen!« »Sei nicht albern. Und was habt ihr getan, du und deine Freunde?« »Wir sind ausgegangen, zum Tanzen und so.« »Wo denn? In so einem Klub?« »Wie? Ja, genau, in so einem Klub.« Ich schwieg.
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»Soll ich etwa allein daheim sitzen und Spitzen klöppeln?«, sagte Mats. »Wenn du willst, können wir heute Abend ausgehen. Nur wir beide. In so einen Klub.« »Das will ich nicht«, sagte ich rasch. »Ich will mich nicht wie ein Schaf in einer Herde fühlen.« »Oh, ich vergaß, du willst dich ja in keine Gruppe einordnen lassen«, sagte Mats. »Du glaubst ja, dass man gleich zu einem Herdentier wird, wenn man nur an irgendeiner Art von gemeinsamer Aktivität teilnimmt. Die einzige Gruppe, die du eventuell unterstützen könntest, wäre so ‘ne Art Reichsverband für Jim Lundgrens Persönliche Entwicklung, wie?« Ich versuchte meinen Verdruss zu schlucken. Eigentlich wollte ich mich gar nicht streiten, aber es war, wie wenn die ganze Gereiztheit, die ich im Laufe der Wochen unterdrückt hatte, jetzt nur darauf pochte herauskommen zu dürfen. Ich war so voller Unbehagen und Frust, dass ich mich nicht einmal bei Mats entspannen konnte. Wie soll das nur weitergehen? dachte ich. Was würde nach diesen Monaten des Falschspiels und der Anspannung von mir noch übrig bleiben? »Versuch es doch selbst, in eine normale Diskothek zu gehen, dann wirst du schon sehen, was passiert!«, fuhr Mats fort. »Versuch mal, einen Jungen in einem normalen Heterolokal aufzufordern, komm dann aber bitte nicht anschließend mit deinem Veilchen und deiner eingeschlagenen Nase zu mir, um dich verarzten zu lassen! Vielleicht sollten wir ein bisschen in der Öffentlichkeit schmusen, dann wirst du schon sehen, wie lang es dauert, bis wir an die Luft befördert werden.« »Müssen wir unbedingt diskutieren? Ich fahre bald zurück und muss dann wieder durch den Schlamm kriechen, während du tanzen gehst.« »– in solche Klubs«, ergänzte Mats. »Ich verspreche dir, ein Foto von mir im Paillettenkleid mit platinblonder Perücke zu schicken, das du den Jungs zeigen kannst.« »Die kippen um vor lauter Geilheit, wenn sie das sehen!« 181
»Klar.« »Du hast mir gefehlt.« »Und du mir auch, du Dummkopf. Ich habe mit keinem einzigen Herdenschaf geschlafen. Das hast du doch hören wollen, nicht wahr?« »Mmmm. Mir geht es erst ganz langsam auf, dass ich nicht mehr dort bin ...« »In der Stube? Nein, wer würde dich in der Stube schon so küssen !«
Der Garnisonsarzt sah mich mit müden, gleichgültigen Augen an. »Nun, und was fehlt dir?« »Mir geht es nicht besonders gut.« »Aha, Bauchschmerzen natürlich. Das kommt in der ersten Zeit häufig vor. Ich verschreibe dir ein paar Tabletten.« »Die Seele tut mir aber auch weh.« »Welche Seele?«, fragte er zerstreut. »Ich verschreibe dir ein paar Tabletten. Bafucin hilft gegen das meiste.« »Ich möchte wissen, was man tun muss, um ausgemustert zu werden.« Der Arzt sah so befremdet aus, als ob ich ihn gebeten hätte, den Abfalleimer hinauszutragen. »Daran hättest du eigentlich früher denken müssen, Lundgren. Personen mit nervösen Beschwerden«, er musterte mich abschätzend, »werden, wie du sicher weißt, vom Militärdienst befreit.« »Ja, ich weiß. Aber ich habe anfangs ja geglaubt, ich würde es schaffen.« »Du siehst ja nicht gerade schwach aus, Lundgren. Und das mit der Ausmusterung ist kaum etwas, das man einem gesunden, kräftigen jungen Mann empfehlen möchte. Das gibt ja einen Fleck ins Protokoll. Also Lundgren, ich rate dir, noch ein paar 182
Wochen durchzuhalten und dir die Situation gründlich zu überlegen.« »Aber –« »Ich verschreibe dir etwas Bafucin gegen die Erkältung. Der Nächste!«
Bei meinem zweiten Urlaub schaffte ich es einfach nicht, meine Eltern zu besuchen. Ich rief von Boden aus an und sagte, ich hätte eine lästige Mageninfektion bekommen. Meine Mutter begann natürlich zu lamentieren. Mats und ich stritten und liebten uns mit derselben Heftigkeit. Mir kam es vor, als hätte ich ihn kaum berührt, bevor es wieder an der Zeit war aufzubrechen. Er begleitete mich zum Zug, und als wir so eng nebeneinander auf dem Bahnsteig standen, spürte ich, dass ich ihn einfach küssen musste. So wie die andern es auch tun durften. Ich schloss die Augen und ignorierte alle eventuellen Kommentare und verlegenen Gesichter. Als ich Mats anschließend aus dem Zugfenster zuwinkte, bemerkte ich, dass die Dame mir gegenüber eigenartig nervös wirkte. Natürlich hatte sie gesehen, dass wir uns küssten, und jetzt wusste sie nicht so recht, wie sie sich benehmen sollte. Nachdem sie ein Taschenbuch mit dem Titel Serie des Herzens. Unter glühender Sonne aus der Tasche geholt und ein paar Zeilen gelesen hatte, sah sie mich verstohlen über den Rand des Buches hinweg an. Ich lächelte verbindlich. Sie errötete und verschwand – später sah ich sie im Speisewagen allein vor einem vollen Aschenbecher und einer leeren Teetasse sitzen. Und ich – ich würde es noch eine Woche lang versuchen, mein Bett zu bauen und Briefe an Maria zu schreiben. Ich hasste es, zu lügen und mich zu verstellen, und dennoch beherrschte ich 183
diese Kunst mittlerweile beinahe perfekt. Kaum hatte ich die Stube betreten, als ich automatisch damit anfing. »Hallo, Jungs, wie sieht’s aus? Habt ihr’s wild getrieben, ein paar anständige Löcher aufgerissen und für eine weitere richtige Männerwoche Kräfte gesammelt? Mit frischer Kraft voran, hähä!«
Mit drei Dosen Heeressalbe, ein paar militärgrünen Hemden und einigen anderen Dingen im Gepäck läutete ich an einem regnerischen Abend an der Tür meiner Eltern. Ich kam schweren Herzens zu ihnen, denn das, was ich ihnen zu sagen hatte, würde ihnen kaum Freude machen. Ich war bis auf weiteres ausgemustert. Nachdem ich den Garnisonsarzt immer wieder aufgesucht hatte, hatte er meiner Hartnäckigkeit nachgegeben und mein Anliegen an die Musterungsbehörde weiterbefördert. Ich hatte berichtet, dass ich in der Schule geplagt worden sei und davon Agoraphobie davongetragen habe, aber von Homosexualität hatte ich kein Wort gesagt. Aus diesem Grund wollte ich nicht ausgemustert werden. Meine Liebe war nicht die Ursache dafür, dass ich dem Zusammenbruch nahe war. Um vor der Begegnung mit meinen Eltern Mut zu sammeln, hatte ich ein paar Tage bei Mats gewohnt. Sie ahnten noch nichts, sondern glaubten, ich käme zu einem normalen Urlaubsbesuch nach Hause. »Hallo, Jim«, sagte meine Mutter. »Du kommst aber spät. Der Fischauflauf ist schon ganz trocken und zäh geworden.« »Tag«, sagte ich. »Ist Papa daheim?« »Ja, natürlich ist er das, er will dich doch treffen. Ist irgendetwas Besonderes, du wirkst so angespannt!«
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Papa kam in den Flur heraus. Er klopfte mir auf den Rücken und begrüßte mich: »Na, hast du dich wieder mal aus den Schützengräben losreißen können?« Das hier wird nicht einfach, dachte ich. »Du siehst ja recht gesund und gut erholt aus. Hast du dich jetzt allmählich an das Leben beim Militär gewöhnt?« »Nein. Ich bin vom Wehrdienst befreit.« Meinem Vater verschlug es die Sprache. Sein Gesicht erstarrte. »Du machst natürlich einen Witz«, sagte er dann. »Nein, es ist wahr. Endgültig ist es zwar erst in einem Jahr, aber –« »Willst du in vollem Ernst behaupten, dass du so leicht aufgegeben hast?« »Harald, schrei ihn nicht so an. Er ist schon nervös genug!« »Ich bin nicht nervös, Mama, du bist diejenige, die nervös ist.« »Aber warum?«, fragte mein Vater. »Aus welchem Grund? Bequemlichkeit? Was ist denn in dich gefahren? Du hast doch bisher noch nie aufgegeben?« Er sah ebenso verzweifelt wie wütend aus. »Papa, ich bin volljährig. Das entscheide ich selbst.« »Ach so, das tust du also? Aber gleichzeitig wohnst du auch zu Hause. Und was hast du jetzt vor, willst du dir einen Job besorgen oder gedenkst du nur, hier herumzuhängen und deine kostbaren Gefühle zu pflegen?« »Harald, beruhige dich doch! Du weißt doch, wie schwer es heutzutage für die jungen Leute ist, eine Arbeit zu finden, und außerdem fängt Jimmy doch nächstes Jahr mit dem Studium an!« Meine Mutter klammerte sich an den Arm meines Vaters. Ich sah die beiden verblüfft an. Plötzlich wusste ich, dass ich keineswegs im nächsten Herbst mit dem Studium beginnen würde. Es gab andere Dinge, die viel wichtiger waren. »Das werde ich eben nicht tun!«, sagte ich. »Was soll das hier eigentlich darstellen – eine Art Jugendrevolte oder was?« brüllte mein Vater. 185
»Harald, du weckst Tina!« »Ich habe wirklich geglaubt, dass du zu intelligent für so etwas bist, Jim. Was willst du denn mit deinem guten Zeugnis anfangen? Das dich so viel gekostet hat?« »Ich schenk es dir!«, erwiderte ich. »Du kannst es dir einrahmen und übers Bett hängen! Vielleicht fördert das euer eheliches Glück ein wenig!« »Jim!« Meine Mutter schnappte nach Luft und mein Vater musste sich offensichtlich beherrschen, um nichts Übereiltes zu tun, wie er körperliche Gewalt zu bezeichnen pflegte. Plötzlich fühlte ich mich müde. Warum hatte ich so viele unnötige Bosheiten von mir gegeben? Ich fühlte mich wie die Hauptperson in einem Zornige-junge-Männer-Stück. Und dabei hätte ich mich viel lieber auf vernünftige Art und Weise mit meinen Eltern unterhalten. Es schockierte mich, dass ich einen Streit verursacht hatte. Es war ihnen doch immer so wichtig gewesen, sich nicht zu streiten. Daher kam mir dies jetzt wie etwas Unerhörtes, Unvorstellbares vor. Gegenseitiges Genörgel und Gemecker waren gestattet. Aber sich anschreien, niemals! Und hier standen wir nun und schrien. Vielleicht hätte ich das als eine Art Befreiung erleben müssen, doch stattdessen wurde ich nur müde und unendlich traurig, weil mein Vater sich wiegerte, auch nur eine Silbe von dem zu verstehen, was ich sagte. Ich nahm meinen Koffer und ging auf die Tür zu. »Aber Jim, wo willst du denn hin?«, jammerte meine Mutter. »Wir müssen das doch klären!« »Dann klärt es untereinander! Sprecht vernünftig miteinander, wenn ihr überhaupt noch wisst, wie man das macht!« »Jim! Diesen Ton verbitte ich mir! Dann brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen!« »Von mir aus! Ich kann mir wesentlich angenehmere Aufenthaltsorte vorstellen!« »Bist du in schlechte Gesellschaft geraten oder was ist eigentlich passiert?« 186
»Ich gehe jetzt, Papa.« Ihre erregten Stimmen folgten mir noch ins Treppenhaus hinaus. Ihre Sorge, ihre Wut und Verzweiflung blieben mir wie ein steinharter Klumpen im Magen stecken. Ich ging zu Mats und durchnässte sein Hemd mit meiner regennassen Jacke.
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14 Nach und nach erzählte Jim mir von diesem anderen Jungen, dass sie zusammenziehen würden und so. Zuerst bekam ich natürlich einen regelrechten Schock. Von solchen Dingen hatte ich zwar schon gelesen, aber das war immer irgendwie weit entfernt gewesen. Es war mir unbegreiflich vorgekommen, ich meine, ich hatte es mir einfach nicht vorstellen können, wie das wohl sein musste, so einer zu sein. Und dann der eigene Sohn ... Nein, ich will absolut nichts Negatives über Homosexualität sagen. Heutzutage wird das alles viel mehr akzeptiert, nicht wahr? Man hat ja die Gesetze geändert und so. Die Menschen sind heutzutage ja viel freier. Ich versuche, ich versuche es wirklich, das alles ganz natürlich zu sehen, aber das ist sehr, sehr schwierig. Ich hätte nie geglaubt, dass ich zu diesem Thema würde Stellung nehmen müssen. In unserer Familie hat man über solche Dinge nie gesprochen. Und ich kann es einfach nicht verstehen! Wenn man es sich überlegt, wenn man sich zwei Jungen zusammen vorstellt, ich meine, intim zusammen. Es ist sehr 189
schwer, das nicht peinlich zu finden. Sie hätten doch nicht zusammenziehen müssen! Sie hätten es doch etwas diskreter handhaben können. Wenn zwei zusammenziehen, wirkt es immer so endgültig! Und die Nachbarn! Es gibt eine Mutter, die ihren kleinen Sohn davor gewarnt hat, mit Jim und Mats im Aufzug zu fahren. Mein Sohn Jim, der immer der anständigste Junge war, den man sich vorstellen konnte! Einen kleinen Jungen vor ihm zu warnen! Dass Jim und Mats es auch so offen zeigen müssen, als ob sie stolz darauf wären! Ich wagte Harald damals nichts zu sagen. Ich behauptete nur, Jim würde zu einem Freund ziehen, da es so schwierig sei eine Wohnung zu finden. Harald schien sich kaum dafür zu interessieren; der Junge hatte ihn so sehr enttäuscht, dass er vielleicht nur froh war, ihn nicht mehr sehen zu müssen. Unsere Ehe litt natürlich darunter. Ein Tanz auf Rosen war sie ja nie gewesen, mit Haralds ständigen Seitensprüngen und häufigen Reisen. Aber vorher hatte ich das alles besser ertragen. Es gibt ja so wenige glückliche Ehen. Da muss man eben an die Kinder denken und seinen eigenen Kummer möglichst zu vergessen suchen. Aber jetzt fühle ich mich plötzlich so hoffnungslos verlassen. Alles scheint mir zu entgleiten, das ganze Leben vergeht einfach! Ich weiß, ich weiß – ich müsste mich befreien, wie es heißt, aber das hat doch keinen Sinn. Ich kann ja nichts. Und diese Sache mit Jim. Ich möchte so gern, dass er glücklich ist. Ob er das jetzt wohl ist? Ich habe diesen Mats, seinen ... Freund ein paar Mal getroffen, und er wirkt wie ein ganz normaler Junge. Eigentlich sogar
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ganz besonders nett. Aber ich kann trotzdem nicht aufhören, mir den Kopf zu zerbrechen. Ob alles so gekommen ist, weil Jim in der Schule von den anderen so drangsaliert wurde? Oder ob die anderen es irgendwie spürten, dass er schon damals anders war, und ihm daher so zusetzten?
Meine Eltern beruhigten sich allmählich; mein Vater hielt mir keine Vorträge mehr und begnügte sich mit vereinzelten kleinen Ausbrüchen. Etwas, das er überhaupt nicht begreifen konnte, war, dass ich eine Aushilfstätigkeit als Postsortierer angenommen hatte. Ich hätte doch in der Firma anfangen können – natürlich nicht gleich mit gut bezahlter Arbeit, aber man konnte sich ja hocharbeiten! Wenn man sich nur ins Zeug legte. Wenn man Rückgrat zeigte. Und Ellenbogen. Aber ich mochte das Wettrennen nicht mehr mitmachen. Ich brauchte eine Atempause, um feststellen zu können, was ich eigentlich tun wollte. Ich hatte das Gefühl, einer riesigen Maschinerie entronnen zu sein, einem Laufrad, in dem wir Schüler mit den Zeugnisnoten vor der Nase gerannt waren. Beinahe alles, was ich bisher getan hatte, hatte ich getan, um eine Rolle zu konstruieren, die den anderen imponieren würde. Jetzt wachte ich langsam auf. Trotz Familienstreitigkeiten, Geheimnistuerei und Unruhe war ich doch glücklicher, als ich je zuvor gewesen war. Diese seltsame Wahrheit, der Sinn des Lebens, den ich mit der Nase in philosophischen Büchern gesucht hatte, schien auf einmal überall um mich herum zu existieren. Er lag in der Entdeckung, dass ich ein ganz eigenes Leben besaß, dass ich lieben, denken und sprechen konnte, ohne mich ständig fragen zu müssen, was die Leute sagen würden, dass ich tatsächlich meine eigenen Ansichten haben und meinen eigenen Interessen nachgehen konnte. Niemand hatte das Recht, von mir zu verlangen, dass ich nicht ich selbst sein sollte. 191
Aber manchmal war es schwierig. Manchmal war es schwierig, froh und voller Liebe und Selbstvertrauen zu sein. Es konnte immer noch vorkommen, dass ich Anfälle von Schuldgefühlen bekam, wie damals, als ich mit meiner Mutter gesprochen hatte und sie mich ansah, als wäre ich ein völlig Fremder ...
»Aber wäre es nicht besser, wenn du zu Hause wohnst, bis du eine eigene Wohnung gefunden hast?«, fragte meine Mutter. »Wenn man nicht sehr gut befreundet ist, kann es manchmal doch zu Reibereien kommen.« »Aber wir sind sehr gut befreundet«, sagte ich. Ich hatte ihr soeben mitgeteilt, dass Mats und ich eine Zweizimmerwohnung gefunden hatten, die wir teilen wollten. »Und was ist mit dieser Maria? Seid ihr denn nicht mehr befreundet?« Ach ja, Maria. Ich hatte meiner Mutter weisgemacht, ich sei mit einem Mädchen namens Maria befreundet. Bei Maria übernachtete ich manchmal, und Maria war ja so schüchtern, daher konnte es noch ein Weilchen dauern, bis meine Eltern sie kennen lernen durften. »Maria zieht nach Hudiksvall zurück, da ihr Vater gerade gestorben ist«, sagte ich. Ich war inzwischen zu einem professionellen Lügner geworden und hatte ein reizendes kleines Märchen von der schüchternen, begabten Maria erfunden, die Kunstgeschichte studierte und als Nachtwache im Krankenhaus arbeitete. Bei diesen Erzählungen pflegten die Augen meiner Mutter wie Wunderkerzen zu funkeln. Wenn sie geahnt hätte, dass Mats und ich uns Marias Schicksale morgens beim Frühstück auszudenken pflegten! »Ach, die Ärmste!«, sagte meine Mutter, und mein schlechtes Gewissen .begann mich geradezu zu würgen.
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»Nun«, fuhr sie fort, »und wer ist dieser Junge? Was macht er? In letzter Zeit weiß ich überhaupt nichts über deinen Bekanntenkreis.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. »Er arbeitet als Dekorateur im Kaufhaus Tempo.« »Aber dann muss er ja älter sein als du? Ich dachte, es sei ein Schulfreund, jemand, den du schon lange kennst. Hast du dir das wirklich gut überlegt? Vielleicht ist dieser Junge ja ganz unzuverlässig? "Wie lange kennst du ihn schon?« »Vier, fünf Monate.« Sie sah missmutig aus. »Lieber Jimmy, du kannst doch nicht mit einem wildfremden Menschen zusammenziehen. Und was wird mit dem Essen und so? Du kannst ja kaum ein Spiegelei braten, und dieser andere Junge – wie hieß er doch gleich?« »Er heißt Mats, und er kocht ganz ausgezeichnet. Das kann ich übrigens auch lernen.« »Und sein Privatleben? Was weißt du von ihm, vielleicht schleppt er jeden Abend Mädchen mit und macht die Nächte durch.« Ich konnte ein Lächeln kaum unterdrücken. »Das tut er nicht. Ich kenne ihn sehr gut, Mama.« »Aha, und warum haben wir bisher noch nichts von ihm gehört?« Jetzt muss ich es sagen, dachte ich. Jetzt oder nie. Meine Fingernägel gruben sich in die Handflächen. Wie drückt man so etwas aus? »Wir haben eigentlich nie besonders viel miteinander gesprochen, du und ich, Mama.« Ich bemühte mich, ruhig und beherrscht zu wirken. Meine Mutter stand vom Küchentisch auf, um einen Topf vom Herd zu nehmen. »Ja, du bist ja immer recht schweigsam gewesen – das heißt, wenn du mich nicht gerade angefahren hast.« Wieso war es so ungeheuer schwierig, es auszusprechen? Es war, als hätte meine Mutter eine fürchterliche Macht über mich. 193
Sie, meine Mutter, diese bekümmerte kleine Gestalt, die im grauen Licht, das vom Fenster hereinfiel, über den Herd gebeugt stand. »Ich habe dich nie verletzen wollen«, versuchte ich. »Weder dich noch Papa, das weißt du doch?« »Du und dein Vater, ihr habt euch ja nie gut verstanden.« Mütterlicher Triumph straffte einen Augenblick lang ihren Rücken. »Ich habe eigentlich nie Gelegenheit gehabt, ihn kennen zu lernen«, sagte ich. »Manchmal frage ich mich übrigens, warum ihr euch nicht scheiden lasst.« Diese Bemerkung entfuhr mir unwillkürlich. »Aber Jim, so schlecht ist es doch nicht um uns bestellt!« Sie rührte heftig im Kochtopf. »Ziehst du nur deshalb so Hals über Kopf aus, um zu zeigen, wie schrecklich es daheim ist?« »Nein, der wahre Grund ist, dass Mats und ich uns lieben.« Meine Mutter ließ den Löffel fallen, lautlos glitt er in die Soße hinein. Auf einmal war es totenstill in der Küche. Es war, als befänden wir uns in einer mit ungesagten Worten bis zum Bersten angefüllten Druckkammer. »Was hast du gesagt?« Ihre Stimme klang ganz dünn. »Nur, dass Mats und ich uns lieben.« Sie drehte mir immer noch den Rücken zu. »Lieben? Was meinst du damit, lieben?« »Genau das, was du befürchtest, das ich meinen könnte, Mama.« Wieder Schweigen, langes Schweigen. »Du erlaubst dir einen Scherz mit mir, Jimmy, nicht wahr?« Hoffnungsvoll. »Nein, ich scherze nicht. Wir sind eng befreundet. Es gibt keine Maria, es gibt nur Mats.« »Aber Jim, du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass ... dass du mit einem anderen Jungen zusammen ... ja, ich meine ... intim zusammenlebst ... mit einem anderen Jungen?« »Doch.« 194
Meine Mutter sah aus, als hätte ich ihr ein Messer ins Herz gerammt. »Aber das ist doch nicht möglich, du bist doch nicht so einer.« Ihre Augen wechselten den Ausdruck; plötzlich sah sie genau wie damals aus, als meine Mitschüler mich in der Schule gepiesackt hatten. »Er hat dich natürlich verführt. Von solchen Fällen hat man ja gehört. Aber ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dir so etwas zustößt. Du warst doch immer so vorsichtig.« »Nein, du warst immer diejenige, die vorsichtig war! Und verführt hat er mich überhaupt nicht; ich weiß schon seit langem, dass ich Jungen mag.« Wieder das Messer. »Und hast nichts gesagt! Und das ganze Gerede von Maria, alle Lügen, die du uns aufgetischt hast? Entschuldige bitte, aber jetzt werde ich doch sehr traurig. Ich habe geglaubt, ich könnte mich auf dich verlassen, Jimmy. Warum hast du nichts gesagt? Vielleicht kann man ja etwas tun, du musst doch versuchen, das da ... irgendwie zu überwinden. Nichts an dir lässt darauf schließen, dass du diese Veranlagung hast.« »Doch, dass ich mit Jungen schlafen möchte.« »Sei wenigstens nicht so brutal! Und was wird dein Vater sagen? Daran wage ich nicht einmal zu denken. Er findet solche Sachen so ekel-« Sie unterbrach sich und wich meinem Blick aus. Ich versuchte mich zu beherrschen, so gut es ging. Aber es ging nicht. »Es ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal, was er findet!«, hörte ich meine eigene Stimme sagen, und sie klang so kalt und hasserfüllt, dass ich selbst davor Angst bekam. »Wenn hier jemand ekelhaft ist, dann wohl er – mit seinen ewigen Seitensprüngen und anzüglichen Witzen. Ihr habt wirklich keinen Grund, euch über mich aufzuregen, ihr mit eurer kaputten Ehe!« Natürlich, jetzt weinte sie. Aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, sie um Verzeihung zu bitten. Wie zu Eis erstarrt
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stand ich da und lauschte ihrem verzagten Schluchzen, das eine schlimmere Waffe war als alle Worte. Lange Zeit sagte sie nichts. Dann wandte sie plötzlich den Kopf, wie eine Katze, die ein unerwartetes Geräusch hört. »Ist es meine Schuld, dass du so geworden bist?« »Aber Mama, du begreifst ja gar nichts. Ich habe dich doch überhaupt nicht angeklagt. Die Sache mit Mats ist das Beste, was mir je passiert ist!« Sie sah mich an, sprachlos, als ob ich sie jenseits aller Vernunft verletzt hätte. Dieser Blick – er schaffte es, mein ganzes erwachsenes Getue, alle meine Vorsätze, alles wegzuätzen bis auf mein schlechtes Gewissen. Ich wollte sie rütteln und schrein: Nein, Mama, ich habe nicht versucht, dich umzubringen! Mama, ich bin noch da! Ich bin es, den du ansiehst, zum ersten Mal in deinem Leben siehst du mich wirklich an! Ich konnte diesen Blick nicht mehr ertragen, sondern ging wortlos in den Flur hinaus und nahm meine Jacke. Wie ein Roboter kam sie hinterhergetappt, genau wie damals, als ich klein war und fortgehen wollte. »Gehst du jetzt zu ihm?«, fragte sie mit erkämpft neutraler Stimme. »Ja.« »Nimm wenigstens die Steppjacke, draußen ist es kalt.« Da brach alles in mir zusammen. »Hör endlich auf, mein Leben mit deinen bekümmerten kleinen Händen zu betasten!«, brüllte ich. »Lass mich in Ruhe! Du willst mich ja ersticken, verdammt noch mal!« »Jimmy, die Nachbarn!« Ich knallte die Wohnungstür zu und stürzte die Treppe hinunter. Es war, als würde ich vor einem Ungeheuer fliehen, das mich mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte.
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Ich stand in der herbstgrauen Kälte im U-Bahnhof von Råcksta und versuchte, meine lebensnotwendige Freude Stück für Stück wie einen Legoturm wieder aufzubauen. Die Freude, die der Blick meiner Mutter getötet hatte. Die nie wieder erwachen würde. In mir lebten jetzt nur noch schlechtes Gewissen, Verzweiflung und Scham. Ich hatte zwar versucht, mich auf diese Situation vorzubereiten, doch diese Gefühle hatte ich mir nicht vorstellen können. Ich hatte geglaubt, meine neu erwachte Freude sei unbezwinglich. Blicke, Blicke – was war meine Liebe anderes als eine Zielscheibe für die Blicke der anderen. Am liebsten hätte ich mich wie früher tief unter der Decke verkrochen. Jim Lundgren! Vor ein paar Monaten erst warst du der tüchtige Junge, voll ausgereift, gut geschmiert, mit lobender Auszeichnung anerkannt. Alle Türen standen dir offen. Und jetzt sieht deine Mutter dich an, als wärst du ein Mörder. So eng sind demnach die Grenzen. Jetzt hast du einen anderen Namen bekommen, eine Aussatzglocke hängt dir jetzt um den Hals. Ab jetzt bist du ein Aussätziger – ein Scheißhomo, ein Scheißschwuler, eine Schwuchtel, eine Tunte. Vielleicht haben Mats und ich uns falsch verhalten. Vielleicht sollten wir es nicht so offen zeigen, vielleicht sollten wir lieber nicht zusammenziehen. Vielleicht würde ich es nicht verkraften. Alle Menschen würden mich als verkrachte Existenz betrachten, ich würde das Leben meiner Eltern zerstören, ich würde ... Familienkäfig, Verwandtschaftszaun, Heuchelei und Misstrauen. Stell dir vor, wenn die Kollegen deines Vaters etwas erfahren! Dein Vater würde sterben, wenn er sein Prestige einbüßen müsste. Schäm dich, Jim! In die Ecke mit dir! Schreib hundertmal: ICH VERSPRECHE, SO ZU WERDEN WIE ALLE ANDEREN. Schluck Beruhigungstabletten, führe eine unglückliche Ehe, sauf dich zu Tode, mach was du willst, aber behalte diese verdammten schwulen Schweinereien für dich!
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Du bist doch gar nicht so, Jimmy! Du bist doch ein tüchtiger Junge.
Die Tür zu Mats’ Wohnung ging auf. Im ersten Stock in Hornsgatan standen sich zwei erbärmliche Schwuchteln im blaßgrauen Herbstlicht gegenüber und sahen sich an. »Komm herein«, sagte die eine Schwuchtel, die sofort bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Flur war voller Umzugskisten. Ich tastete mich an ihnen vorbei und setzte mich an den Küchentisch. Auf dem Tisch lag eine karierte Tischdecke, eine sehr interessante Decke mit Fransen, an denen man zupfen konnte. Ich spürte Mats’ Hand auf meinem Nacken. Nein, ich durfte diese Welle aus Lust und Zärtlichkeit nicht noch einmal in mir aufsteigen lassen. »Lass das!«, sagte ich. »Aha!« Er setzte sich mir gegenüber hin. »Was ist passiert?« »Ich habe mit meiner Mutter gesprochen.« »Und?« »Ich habe ihr gesagt, dass ich zu dir ziehen werde.« »Und?« »Ich habe ihr gesagt, dass wir uns lieben.« »Du machst dich!« Mats lächelte wie ein stolzer Vater. »Was hält sie davon?« »Das kannst du dir ja denken.« Ich starrte beharrlich auf den Tisch. »Sie sah aus, als ob ich sie umgebracht hätte. Und dann meinte sie, du hättest mich verführt und ähnlichen Unsinn.« »Ich habe dich nicht verführt, ich habe dich hypnotisiert!« Jetzt war seine Hand wieder zur Stelle. »Fass mich bitte nicht an!« »Wieso? Rieche ich schlecht oder was ist los?«
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»Nein. Gewöhn dir doch diesen Jargon ab. Ich bin so müde, Mats. Ich weiß nicht, ob ich das alles durchstehen werde.« »Was alles?« Zwischen seinen Augenbrauen war eine kleine Falte entstanden. »Einfach alles. Das mit dem Umzug. Ich habe hin und her überlegt, und ich glaube ... ja, vielleicht haben wir uns übereilt dazu entschlossen.« »Mit anderen Worten, du hast mich satt?« »Nein!« Ich hob den Kopf und sah seine dunklen, traurigen Augen. »Natürlich nicht. Aber durch den Umzug wird alles so offiziell. Wir müssen es doch nicht unbedingt zeigen ...« »Dass wir Schwulis sind, meinst du?« »Nicht dieses Wort, ich verabscheue es.« »Ich weiß. Aber du bist dennoch einer. Du bist schwulschwulschwul, kapiert? Mamas Rizinusöl kann dagegen gar nichts ausrichten! Und was hast du jetzt vor, willst du etwa zu Mami zurückkehren und dich entschuldigen? Und zugeben, dass ich dich verführt habe und dass alles nur ein kleines Versehen war, und ab jetzt wirst du den geraden Weg gehen und heiraten und eine Familie gründen und dich selbst und andere hassen.« »Mats, ich wollte –« »Stell dir nur mal vor, wie glücklich du werden wirst! Du, in Hamburg traf ich mal einen Kerl, der war völlig kaputt, er war schwul und verheiratet und gelähmt vor Angst, dass etwas herauskommen könnte, er soff wie ein Loch, aber das war nicht das Schlimmste.« »Mats, ich wollte nur –« »Nein, das Schlimmste war, dass er über sich selbst lachte. Jimmy, er war bemitleidenswert, er war ein seelisches Wrack. Und es gibt viele wie ihn. Aber wenn man dazu steht, wie man ist, dann ist das verdammt wenig bemitleidenswert!« Es flimmerte vor meinen Augen. Ich glaube, ich weinte. »Jimmy?«
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»Ich kann deine Predigten nicht mehr hören. Das weiß ich doch alles. Ich bin kein Idiot.« Jetzt war Mats gekränkt. Ich kränkte alle. Nichts hatte sich verändert. Ich war genau wie früher. »Es tut mir Leid«, sagte Mats leise. »Ich will dich nur nicht verlieren. Und wenn du so etwas sagst, kriege ich Schüttelfrost. Du darfst einfach nicht auf dieses Gewäsch hereinfallen, dass man nichts zeigen soll und dass man das Leben anderer Menschen zerstört und den ganzen Senf.« »Ich weiß.« Er strich mir übers Haar. Ich hinderte ihn nicht daran. »Weißt du was«, sagte er. »Wir gehen jetzt gleich zu deiner Mutter und sprechen mit ihr. Damit sie dem Gespenst in die Augen sehen kann. Komm.«
Ich weiß nicht, wie er es anstellte, aber er schaffte es, sie ganz und gar zu bezaubern. Als sie uns hereinließ, sah sie verweint aus, aber nachdem wir uns an den Küchentisch gesetzt hatten und den Kaffee tranken, den sie unbedingt hatte kochen müssen, merkte ich, dass sie immer mehr aufblühte. Das war einzig und allein Mats’ Verdienst. Er lächelte sein unwiderstehlichstes Lächeln und funkelte interessiert mit den Augen, während sie Dinge aus ihrem Leben erzählte, die ich noch nie gehört hatte. Ein frischer Wind schien durch die Lundgren’sche Wohnung zu wehen. Tina kam von einer Freundin nach Hause, sie war ebenfalls sofort von Mats begeistert. Wir hockten alle vier im Wohnzimmer auf dem Boden, machten Spiele und lachten. Ich konnte kaum glauben, dass es wahr war. »Deinem Vater verraten wir vorläufig lieber nichts«, sagte meine Mutter mit Verschwörermiene. »Wir behaupten einfach, du seist vorübergehend zu einem Freund gezogen.« 200
Ich schielte zum leeren Sessel meines Vaters hinüber; ein finsterer Schatten schien dort zu lauern, eine dunkle Bedrohung der Idylle. Er war auf einer Konferenz, aber sein Geist hörte jedes Wort, das wir sagten. Als wir gehen wollten, beugte Mats sich vor und nahm meine Mutter in den Arm. Und sie klammerte sich geradezu an ihn.
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15 Dieses entsetzliche Weihnachtsessen! In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas Peinliches erlebt. Harald hätte sich wirklich zusammennehmen können, fast die gesamte Verwandtschaft war ja versammelt, und Jim ist immerhin sein Sohn. Es war so schlimm, dass ich am liebsten gar nicht daran denken möchte.
Beim Umzug brachte meine Mutter uns Umzugsgrütze und eine gehäkelte Tischdecke, die sie gemacht hatte, »um die Nerven zu beruhigen«. Zu Weihnachten schenkte sie uns eine große Dose Pfefferkuchen und bestand darauf, unsere Fenster zu putzen. Mats und ich verbrachten Weihnachten nicht zusammen. Mats fuhr zu seinen Eltern nach Skelleftea hinauf. Oh ja, er hatte ebenfalls Eltern, die keine Ahnung davon hatten, was für ein sündiges Leben ihr Sohn in Stockholm führte. Sie waren freireligiös und hätten dergleichen nie geduldet, daher hatte er ihnen keinen Hauch einer Silbe davon verraten, wie es um ihn bestellt war. Mir hatte er jedoch jedes Mal die Leviten gelesen, wenn ich Befürchtungen darüber geäußert hatte, was meine Eltern sagen könn203
ten, und das fand ich nicht ganz in Ordnung. »Das ist doch ein ziemlicher Unterschied«, behauptete Mats. »Meine Eltern wohnen im hintersten Winkel, und nichts würde davon besser werden, wenn sie etwas über uns erführen. Ihre Nachbarn würden ihnen nur das Leben schwer machen, wenn es herauskäme. Von ihren Freunden in der Pfingstgemeinde ganz zu schweigen.« »Dann müssten sie dir doch eigentlich egal sein. Als Mitglieder der Pfingstgemeinde sind sie ja deine geschworenen Feinde! Du weißt doch, was die Pfingstler über Homosexualität denken.« »Ja, aber meine Eltern sind nicht so. Ich möchte sie nur nicht unnötig aufregen.« »Unnötig! Wirst du jedes Jahr zu Weihnachten hinauffahren und ihnen etwas vormachen? Ich hatte geglaubt, wir würden Weihnachten gemeinsam verbringen.« »Aber ich fahre doch immer an Weihnachten zu ihnen hinauf. Sonst sehe ich sie das ganze Jahr über nicht.« »Du könntest ihnen doch sagen, dass du Weihnachten mit deiner Freundin verbringen möchtest.« Mats wirkte gereizt. »Dann würden sie nur vorschlagen, dass ich sie mitbringen soll. Sie fragen übrigens dauernd, wann ich denn eine Familie gründen werde.« »Du hast doch eine Familie«, bemerkte ich säuerlich, »ich kann ja mitkommen.« »Mensch, sei doch nicht so schwierig. Weihnachten ist doch ohnehin nichts Besonderes. Und wir sehen uns ja bald wieder.« Als er abreiste, waren wir verkracht. Ich bekam Bauchschmerzen und musste mich übergeben. Es war am Tag vor Heiligabend, ich lag allein in einem Doppelbett, mir war übel, und ich tat mir schrecklich Leid. Mein einziger Trost war, dass ich das Weihnachtsessen mit der Verwandtschaft am nächsten Tag versäumen würde.
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Typischer Irrtum! Die Nummer zog nicht. Meine Mutter wusste augenblicklich Rat, als ich anrief und versuchte, mich vor den weihnachtlichen Festivitäten zu drücken. »Wir haben eine Schachtel Kohlepulver im Medizinschrank, wenn du heute und morgen je ein Päckchen nimmst, wirst du gar nichts mehr von deinem Magen spüren, selbstverständlich musst du am Heiligen Abend herkommen, sonst wären alle so enttäuscht, du brauchst ja nur kurz zu kommen, ich bitte Papa, dir heute Abend die Kohle mit dem Wagen vorbeizubringen, dann geht es dir morgen früh wieder gut.« »Aber das geht doch nicht –« »Wieso denn nicht? Mats ist ja nicht da, und irgendwann muss Papa ja sehen, wie du wohnst. Diese kleine Mühe kann er sich ruhig machen, übrigens ist es ihm auch wichtig, dass du am Heiligabend zu uns kommst.« Ich schaffte es nicht zu protestieren. Dann sollte er eben kommen. Eigentlich müsste ich ja vorher die Wohnung aufräumen, eventuell verdächtige Bücher aus dem Bücherregal herausnehmen und sämtliche Spuren entfernen, die auf Perversion schließen ließen. Aber das wäre zu feige gewesen, ich konnte mich nicht dazu überwinden. Außerdem war mir sterbensübel.
»Na, mein Junge!« Mein Vater zog seinen Mantel aus. Das tat er auf eine ganz besondere Art, die seine ganze Persönlichkeit entlarvte: ruck, zuck, hinauf auf den Kleiderbügel, nur keine glättenden Hände über den Stoff. »So, so, Magenschmerzen hast du also«, fuhr er fort. »Hast du etwas Schlechtes gegessen?« »Ich weiß nicht. Ich glaube eher, es ist nervös.« »Nervös, nervös, immer ist alles nervös. Kein Mensch übergibt sich doch vor Nervosität!« Er kam in die Wohnung herein. »So, hier wohnst du also.« Forschend musterte er unsere Pressspan205
regale und IKEA-Möbel. Er, Mama und Tina würden im Herbst in eine Villa ziehen. »Ja, hier wohnen wir«, sagte ich und verschwand mit vermutlich aschgrauem Gesicht im Schlafzimmer. Mein Vater kam mit zwei kleinen grünen Tüten in der Hand hinterher. »Dieses Pulver nehme ich immer, wenn ich auf eine wichtige Konferenz muss und mich schlecht fühle. Bisher hat es jedes Mal geholfen ... wo schläft denn der andere Junge?« »Hier.« »Aber das ist doch ein Doppelbett?« »Ja, wir haben es billiger bekommen. Zwei Einzelbetten wären viel teurer gewesen.« »Hatte dieser andere Junge denn kein eigenes Bett?« »Er heißt Mats. Nein, sein Bett war alt und kaputt.« »Kräftig benützt, was? Dann habt ihr hier wohl euer Nest für die Mädchen, nehme ich an.« Seine Stimme klang eigenartig. »Das nicht gerade«, sagte ich, wobei mir der kalte Schweiß ausbrach. Mein Vater sah nachdenklich aus. Er legte die Kohlepäckchen auf den Nachttisch und trat ins Wohnzimmer. Ich muss ihn daran hindern, dachte ich. Aber ich blieb im Bett liegen und hörte ihn draußen rumoren. Und dann hörte ich ihn in irgendetwas blättern. Mit einer Zeitschrift in der Hand tauchte er in der Türöffnung auf. »Jimmy, was zum Teufel ist das hier?« »Die Zeitschrift Revolt.« Ich wunderte mich darüber, dass ich so unberührt klingen konnte. »Revolt! So! Jimmy, was ist das eigentlich für eine Art von Pornographie?« Seine Stimme zitterte, auf seiner Stirn traten die Adern hervor. »Pfui Teufel, Jim, das ist alles, was ich dazu sagen kann. Das ist ja widerwärtig! Damit würde ich mir verdammt noch mal nicht mal den Hintern wischen!« »Begreiflicherweise«, sagte ich. »Das Papier ist zu dick und zu glatt.« 206
Ich glaubte, er würde mich umbringen. Sein Gesicht war hochrot, sein ganzer Körper wie erstarrt. »Jim, leg sofort diesen aufsässigen Ton ab. Was geht hier eigentlich vor? Was zum Henker treibt ihr eigentlich? Ich bin nicht von gestern, Jim. Ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Sieh mir in die Augen!« Ich blickte an die Decke und kämpfte mit der Übelkeit. »Sieh mir in die Augen, habe ich gesagt! Ist bei dir eine Schraube locker oder was ist mit dir los?« Ich stürzte an ihm vorbei ins Badezimmer hinaus. Als ich wieder herauskam, saß er auf dem Sofa und sah mich an, als wäre ich ein einziger gigantischer Kotzhaufen. »Wie lange läuft das hier schon?«, fragte er und machte eine Geste zum Schlafzimmer hinüber, als ob Mats und ich all unsere Zeit dort verbrächten. »Läuft was?«, fragte ich müde. »Diese verdammte Schweinerei, die ihr hier treibt?« »Ich treibe keine Schweinerei!« »Ach so, und wozu benutzt ihr dann das Doppelbett, wenn ich fragen darf?« »Papa, können wir nicht ein anderes Mal darüber reden?« »In was für eine Gesellschaft bis du da eigentlich hineingeraten?«, bellte er. »Ich war noch nie in besserer Gesellschaft!« »Diesen unverschämten Ton verbitte ich mir! Ich hätte ja ahnen müssen, dass irgendetwas nicht stimmte. Das ist wohl auch der Grund, warum du ausgemustert worden bist, was? Das war wirklich schon schlimm genug, Jim. Aber das hier! Ist das vielleicht eine Modelaune, so eine David-Bowie-Masche? Ich hätte dir wirklich etwas mehr Intelligenz zugetraut. Auf so was hereinzufallen !« »Papa«, wandte ich ein, »ich bin auf nichts hereingefallen.« »Jetzt hörst du mir gefälligst zu! Du ziehst augenblicklich hier aus! Augenblicklich!« Er sah sich um, als wären sämtliche
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Räumlichkeiten von der Pest verseucht. »Ich verbiete dir, dich mit solchen Dingen abzugeben!« »Schrei mich nicht an, ich habe Bauchschmerzen.« »Kein Wunder! Die hast du natürlich diesen Schweinereien zu verdanken! Nein, Jim, jetzt gehe ich lieber, bevor ich mich zu etwas Übereiltem hinreißen lasse. Wir müssen das alles nach Weihnachten klären. Hoffentlich hilft das Pulver.« Er machte ein paar lange Schritte, drehte sich dann aber noch einmal in der Türöffnung um. »Gibt es gegen so etwas keine Medizin?« Dann schlug die Tür hinter ihm zu.
Meine Mutter rief noch am selben Abend an und redete mit ihrer allerdünnsten, kläglichsten Stimme auf mich ein. Ich müsse morgen einfach kommen, dann sei alles für sie viel leichter. Papa habe versprochen, sich ruhig zu verhalten. Die ganze Verwandtschaft werde ja da sein und da könne er mich ja nicht gut attackieren. Sie wolle jedenfalls sehr, dass ich komme; und schließlich sei es ja wohl noch genauso ihr Zuhause wie das seine, oder etwa nicht? Alle Verwandten freuten sich schon darauf, mich zu treffen, ich könne doch nicht ausgerechnet am Heiligen Abend wegbleiben? Schließlich gab ich nach, vor allem, weil ich keine Lust hatte, den ganzen morgigen Tag allein in der Wohnung zu bleiben und mich nach Mats zu sehnen.
Heiliger Abend. Mein Vater irrte wie ein unseliger Geist durch die Wohnung – Fernseher an, Fernseher aus, wo ist die Pfeife, wo steckt die Zeitung? Her mit ‘nem Gläschen Schnaps! Zu mir sagte er kein Wort. Seine Augen funkelten beängstigend, mir kam es vor, als müsste er jeden Augenblick platzen. 208
Wir vermieden es tunlichst, uns anzusehen. Der Weihnachtsfriede durfte nicht gestört werden. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich ganz ruhig sei, wünschte mich aber mit jeder Faser meines Körpers so weit wie möglich weg. Meine Mutter deckte den Tisch mit Weihnachtsschmuck und roten Servietten. Sie hatte schwarze Ringe unter den Augen. Ich verzog mich mit Tina ins Kinderzimmer. Sie war schrecklich aufgeregt und fragte, ob Mats und ich heiraten würden. Papa habe nämlich zu Mama gesagt, »die beiden werden wahrscheinlich auch noch eine kirchliche Trauung wollen«, und Tina freute sich schon auf eine Hochzeit mit zwei Bräutigamen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. »Du darfst das aber nie zu Papa sagen!«, schärfte ich ihr ein. Allmählich traf die Verwandtschaft ein. Tina und ich gingen in den Flur hinaus, wo meine Mutter mit einem frohen Lächeln auf den Lippen alle willkommen hieß. Sie traten ins Wohnzimmer und bewunderten die Weihnachtsdekorationen, lachten und schwatzten, als ob die unerträglich gedrückte Stimmung pure Einbildung wäre. Tina und zwei kleine Cousinen setzten sich vor den Fernseher, der unablässig die frohe Weihnachtsbotschaft hinausposaunte. »Na, Jim, mein Junge«, sagte Tante Sara. »Was wirst du denn jetzt anfangen? So ein begabter Junge wie du wird doch bestimmt studieren?« »Nein, ich arbeite zur Zeit als Postsortierer.« Es klang, als ob ich etwas Perverses gesagt hätte. »Aber das ist doch keine Arbeit für einen intelligenten jungen Mann wie dich!« Tante Cecilia kam als Letzte, in diskreter Alltagskleidung, mit einem zögernden Lächeln auf den Lippen. Vorzeitig pensioniert. (Soll ein Mensch verstehen, warum sie dauernd zusammenklappt? Sie hat es doch so gut, unverheiratet zwar, sieht aber nicht schlecht aus. Und so eine gute Ausbildung!)
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Wir nahmen das weihnachtliche Festessen in Angriff. Der Fernseher verströmte fröhliche Weisen, und alles war so normal und familiär, dass ich zu ersticken glaubte. Am Weihnachtsbaum glitzerte derselbe Schmuck, den wir schon immer gehabt hatten, und ich glaubte einen zwölfjährigen, verängstigten Jimmy vor dem Baum sitzen zu sehen, einen Jimmy, der Lametta und Kerzen anstarrte, ohne sie wahrzunehmen. Er drehte sich um und sah mich mit seinen gequälten, kalten Augen an, als wollte er mich zu sich ziehen. Mir wurde ganz kalt. »Aber Jimmy, du isst ja gar nichts!«, sagte Tante Sara besorgt. »Geht’s dir nicht gut?« »Nein, ich habe eine Magenverstimmung gehabt.« »Das tut mir aber Leid. Übrigens, deine Mutter hat gesagt, dass du ausgezogen bist, aber die Einzelheiten habe ich nicht ganz mitgekriegt. Wohnst du jetzt mit einem Mädchen zusammen?« »Nein, mit einem Jungen.« »Ach so. Ja, es kann ja auch Spaß machen, mit einem Freund zusammenzuwohnen. Eine Familie bekommst du ja früh genüg, und dann ist es nur schön, wenn man auf ein paar sorglose Jahre zurückblicken kann.« Die Glühweinkannen wurden immer leerer, die Witze hagelten, und allenthalben wurden Geburten, Reisen und gemeinsame Erinnerungen mit einer Herzlichkeit diskutiert, an der ich nicht teilhaben konnte. Die ganze Zeit war mir das Gesicht meines Vaters vor Augen, eine starre rote Maske aus männlicher Jovialität. Vielleicht war ich der Einzige, der diesen verzweifelten Zug in seinem Gesicht bemerkte, diesen schrecklichen, erstarrten, verzweifelten Zug voller – ja, voller Todesangst. Konnten sie denn über nichts anderes reden als über Familienangelegenheiten? Handelte das ganze Leben nur davon, zu heiraten, Karriere zu machen, sich Kinder und Häuser und immer mehr Polsterungen der Familienidylle zuzulegen?
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Tante Cecilia schwieg die meiste Zeit. Über der Sülze wechselten wir ein paar Blicke und sie sandte mir ein vorsichtiges Lächeln. Sie war ja unverheiratet, vielleicht war sie gar nicht an Männern interessiert? Daran hatte ich noch nie gedacht. Vielleicht war das der Grund, warum mein Vater sie so ausdrücklich verabscheute? Während der Bescherung saßen Tante Cecilia und ich nebeneinander, sagten aber nicht viel. Mein Vater redete dafür um so mehr. Traditionsgemäß spielte er den Weihnachtsmann, mit rotem Mantel, Wattebart und Zipfelmütze kostümiert. Ich erinnerte mich daran, mit welcher Spannung ich seine Ankunft erwartet hatte, als ich klein war und wir noch auf dem Land wohnten. Damals wollte ich den Weihnachtsmann zurückbegleiten und draußen im Wald bei ihm in seinem Häuschen wohnen; ich weiß noch, wie maßlos getäuscht ich mich fühlte, als ich erfuhr, dass mein Vater der Weihnachtsmann war. Eigentlich sollte der Weihnachtsmann nach der Bescherung hinausgehen, um sich umzuziehen, doch stattdessen hielt er sich längere Zeit bei den Glühweinkannen auf. Er wirkte nicht mehr ganz nüchtern und meine Mutter warf ihm verzweifelte Blicke zu, während sie neben Tante Malin saß und über Babykleider sprach. Ich sehe noch alles deutlich vor mir, wie eine Szene aus einem Drama, höre noch jeden einzelnen Tonfall, jede Bemerkung. »Eigentlich komisch, jetzt plötzlich Großmutter zu werden«, sagte Tante Malin. »Sehe ich etwa wie eine Großmutter aus?« Der Weihnachtsmann, der sich dem Sofa genähert hatte, ließ sich neben sie plumpsen. »Nee, du siehst eher wie Ava Gardner aus«, nuschelte er, »das ist noch ein echtes Vollblutweib. Du wirst Schwedens attraktivste Großmutter, meine liebe Malin!« »Ich glaube, der Weihnachtsmann hat ein wenig zu tief ins Glas geschaut«, sagte Malin lachend.
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»Oh nein, ich bin nur liebenswürdig. An Weihnachten muss man liebenswürdig sein. Um ehrlich zu sein, ich habe dich immer sehr sexy gefunden, Malin. Das darf man doch sagen, oder?« »Harald!«, sagte meine Mutter. »Willst du dich nicht lieber umziehen?« »Ulla-Britt ist natürlich auch hübsch«, fuhr der Weihnachtsmann fort, »aber manchmal kann sie einem schon auf den Wecker gehen.« »Aber Harald!«, sagte Tante Malin. »Harald, darüber können wir sprechen, wenn du nüchtern bist«, sagte meine Mutter angespannt. »Ooooh nein, meine Liebe, ich werde jetzt reden!«, sagte mein Vater, und ich hörte, dass alle Scherzhaftigkeit aus seiner Stimme verschwunden war. Jetzt, jetzt ist es so weit, dachte ich und blieb wie erstarrt zwischen den Geschenkpapieren sitzen. Ich wagte es nicht, den Kopf zu heben. Obwohl alle unbeeindruckt weiterlärmten und der Fernseher weiterhin Weihnachtslieder ausspie, hatte ich das Gefühl, dass alle Geräusche bis auf seine Stimme erstarben. »Es gibt da einige Sachen, über die ich reden möchte«, fuhr er mit der Beharrlichkeit des Betrunkenen fort, »und jetzt werde ich reden, verdammt noch mal! Du, Ulla-Britt, bist nämlich diejenige, die den Jungen ruiniert hat, und das werde ich dir nie verzeihen!« »Harald!« »Wieso den Jungen ruiniert?«, ließ sich Tante Malins klare, zurechtweisende Stimme vernehmen. Ich saß verstummt auf dem Boden und fühlte mich genau wie früher, als ich klein war und sie in meiner Anwesenheit über mich sprachen. »Du hast ihn mit deiner Überängstlichkeit kaputtgemacht«, trompetete er.
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»Aber Harald«, wandte Tante Malin mit erstauntem Lachen ein. »Wovon redest du denn eigentlich, um Himmels willen? Jimmy ist doch weder ruiniert noch kaputt, er ist doch so begabt und –« »Ja, ja, meine Liebe, nur ist es leider so, dass Jim es vorzieht, mit jungen Männern ins Bett zu gehen, daher brauchen UllaBritt und ich uns auf keine Enkel zu freuen!« »Harald!«, schrie meine Mutter mit einem schrillen Möwenschrei, dann wurde es totenstill im Zimmer. Nur der Fernsehapparat plapperte weiter. Die Stimmung war unbeschreiblich, wie wenn jemand gerade mitgeteilt hätte, ein Krieg sei ausgebrochen. Mein Vater hatte mit sehr lauter Stimme gesprochen. Ich stand auf. Die Situation war zu grotesk: Von Geschenkpapier umgeben, stand ich da, die verständnislosen Blicke der ganzen Verwandtschaft auf mich gerichtet. Und das ausgerechnet am Heiligabend. Tina begann zu schreien und aus dem Fernseher ertönte »Oh du fröhliche ...« Ein klassisches Familiendrama aus einem schwedischen Spielfilm. »Papa, das sind Dinge, die dich überhaupt nichts angehen«, brachte ich schließlich heraus und bemühte mich, möglichst eisig zu klingen. »Lass mich mit meinen Angelegenheiten in Frieden.« »So, das soll ich also tun?« Der Weihnachtsmann riss sich den Bart ab. »Begreifst du denn nicht, was du für mich zunichte machst? Und für dich selbst auch! Begreifst du nicht, dass du mit deinen verdammten Schwulenmätzchen deine letzten, kläglichen Chancen zerstörst?« Nein, ich hielt es nicht aus, dazubleiben und mich mit ihm auseinander zu setzen, nicht vor all den anderen. Mit dieser Sache mussten sie allein fertig werden, ich weigerte mich entschieden, ihnen dabei zu helfen. »Jim, geh nicht!«, piepste meine Mutter. »Du musst ihnen erklären, dass dein Vater sich geirrt hat!«
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Ich musste weg! Tina klammerte sich an mich, als ich im Flur stand. Sie heulte aus Leibeskräften. Ich stieß die Kleine beiseite, öffnete die Wohnungstür und schlug sie hinter mir zu. Im Treppenhaus war es kalt – lauter geschlossene Wohnungstüren, hinter denen sich Weihnachten abspielte. Jetzt fliehst du ja schon wieder, Jimmy! Du hättest dableiben und mit ihnen reden sollen. Du hättest dich wie ein erwachsener Mensch benehmen sollen, hättest sitzen bleiben und eine schöne Rede halten sollen über das Recht eines jeden Menschen auf sein eigenes Leben. Du weißt, dass du stark sein musst, stark ... Aber als ich auf dem fast menschenleeren Bahnsteig in Råcksta stand und auf die Bahn in die Stadt wartete, war keine Kraft mehr in mir übrig. Ich sah zu dem enormen Gebäude der Wasserwerke hinauf, wo die erleuchteten Fenster wie immer an Weihnachten ein gigantisches GOD JUL – Frohe Weihnachten – über die ganze lange Fassade bildeten. Mit diesen Fenstern könnte man auch etwas anderes signalisieren, dachte ich hysterisch, zum Beispiel JIM IST SCHWUL in zehn Meter hohen Buchstaben, damit es auch wirklich alle wussten. Vielleicht war es ja meine Pflicht, es jeder Tante und kleinen Kusine, jedem ehemaligen Mitschüler, jedem zukünftigen Kollegen, jedem Menschen, dem ich begegnete, offen zu bekennen? Vielleicht war es meine Pflicht, mich ständig den anderen zu zeigen, sie zu provozieren und ihnen schließlich alles zu erklären? Vielleicht war es meine Pflicht, beherrscht, erwachsen und verständnisvoll zu sein, wenn sonst niemand es war. Aber nein, das war mir alles zu viel, ich wollte nur in Ruhe gelassen werden. Die Stimme meines Vaters tönte mir auf dem ganzen Weg in die Stadt im Kopf. JIMMY ZIEHT ES VOR, MIT JUNGEN MÄNNERN INS BETT ZU GEHEN! Und ich bildete mir ein, dass alle Leute mich anstarrten und es mir an der Stirn ablasen, dass ich SO EINER war. Ich rannte die weihnachtlich glitzernde Drottninggatan entlang nach Hause. Die Wohnung war leer und dunkel und ich hatte 214
nur Augen fürs Telefon. Ich versuchte mich zusammenzunehmen, um ihn nicht anzurufen, doch es ging nicht. Die Nummer seiner Eltern stand in seinem Telefonverzeichnis. Mats’ Mutter nahm den Hörer ab. »Mats ist gerade mitten in der Bescherung, wer ist denn bitte am Apparat? Mal sehen, ob er kurz herkommen kann.« »Jim, bist du’s? Was ist denn?« »Papa. Entschuldige, dass ich am Heiligen Abend anrufe, aber ich muss einfach mit dir sprechen. Papa hat alles über uns erfahren und die ganze Verwandtschaft war anwesend, als er herausposaunte, ich zöge es vor, mit jungen Männern ins Bett zu gehen!« »Und stimmt das etwa nicht?« »Mats, kannst du zurückkommen? Müssen wir denn zerstritten sein? Ich schaff das nicht allein.« Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Im Hintergrund hörte ich Weihnachtslieder und Gelächter und eine Stimme, die Mats rief. »Jimmy«, sagte er leise, »wir sind überhaupt nicht zerstritten, wenigstens ich bin es nicht. Ich mag dich, das weißt du. Aber mit deinem Vater musst du selbst fertig werden. Ich komme noch vor Silvester zurück, das versprech ich dir.« »Du fehlst mir so.« »Du mir auch.« Er flüsterte fast. »Aber du musst auch ohne mich funktionieren, verstehst du das nicht?« »Doch, klar. Während du oben in Norrland den Normalen spielst, soll ich hier für alles einstehen und mit allem fertig werden.« »Jimmy.« Er klang sehr bedrückt, ja, fast kindlich betrübt. »Das alles weiß ich doch. Das Leben ist nicht immer so einfach, ich …« »Ist gut.« Als ich seine bedrückte Stimme hörte, war mein Zorn schlagartig verraucht.
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»Du, ich muss jetzt gehen, sie rufen nach mir«, sagte er angespannt. Wir verabschiedeten uns flüsternd wie zwei schuldbewusste Kinder. Ich zog den Telefonstecker heraus und nahm eine Schlaftablette, um eine Zeit lang allem zu entfliehen. Kurz bevor ich einschlief, war mir, als klopfte jemand an die Tür, ich stand aber nicht auf, um aufzumachen. Sthlm, 1.1.75 Jim, ich gestehe, dass das, was am Heiligen Abend geschah, äußerst bedauerlich war, und möchte mich hiermit dafür entschuldigen. Ich werde es aber dennoch nicht dulden, dass du dein Leben und deine Karriere zerstörst, indem du in Kreisen verkehrst, die sich bewusst außerhalb der Gesellschaft und der herrschenden Moral stellen. Du hast dich früher immer beispielhaft benommen, und deine jetzige Handlungsweise fasse ich als einen fehlgerichteten Protest gegen irgendetwas auf, vielleicht gegen eine elterliche Autorität, die du missverstanden und als fordernd erlebt hast. Deine Mutter und ich haben immer dein Bestes gewollt, ich hoffe, dass du dies einsiehst. Du kannst dein Leben doch nicht durch einen solchen Schritt einfach in Trümmer legen. Hast du deine Situation auch wirklich genau bedacht? Was die Sache an Weihnachten anbelangt, möchte ich darauf hinweisen, dass deine Mutter die ganze Angelegenheit auf eine außerordentlich geschickte Art und Weise in Ordnung brachte. Das Ganze war natürlich äußerst peinlich, was du zweifelsohne selbst einsehen wirst. Es gelang deiner Mutter jedoch, die Verwandten davon zu überzeugen, dass es sich um ein bedauerliches Missverständnis handle. Keiner der Anwesenden konnte oder wollte dir irgendwelche Perversitäten zutrauen, daher können wir diese Seite der Ange-
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legenheit vorläufig als mehr oder weniger erledigt betrachten. Als Tatsache bleibt jedoch bestehen: Wenn du vorhast, weiterhin mit diesem Jungen zusammenzuleben, dann musst du auch bedenken, was du für mich und deine Mutter damit zerstörst. Wir haben dich immer unterstützt und ermuntert, aber in diesem Fall muss ich dir doch ernsthaft raten, Deine Einstellung zu überprüfen. Auch ohne deine überspannten Pubertätsmätzchen habe ich genügend Sorgen. Du bist in geordneten Verhältnissen aufgewachsen und hast eine glückliche Kindheit gehabt, daher begreife ich nicht, was dich zu dieser Reaktion veranlasst hat. Vielleicht können wir doch mit dem Problem zurechtkommen. Irgendeinen Ausweg muss es geben. Du kannst dich nicht weiterhin mit Individuen abgeben, die sich außerhalb des normalen Lebens gestellt haben. Du bist immer bei uns willkommen. Da wir trotz allem einen tief verwurzelten Glauben an dich haben und bereit sind, dir zu verzeihen, brauchst du von unserer Seite keine Repressalien zu befürchten. Da du jetzt ja arbeitslos bist, könntest du doch demnächst dein Studium beginnen. Warum gehst du nicht ans Telefon? Es ist dir bestimmt bewusst, dass deine Mutter am Weihnachtsabend noch mit dem Taxi in die Stadt fuhr, um mit dir zu reden, und dass sie ganz außer sich vor Sorge wieder zurückkam, da du die Tür nicht aufgemacht hast. Sie glaubte, du hättest dir etwas angetan. Sie ist nicht stark, das weißt du. Es war übrigens auch unnötig, sie anzuschreien, als sie dich am nächsten Morgen aufsuchte. Begreifst du nicht, wie das alles unsere Ehe belastet? Hat dieser Junge dich irgendwie in der Hand? Antworte sofort oder komme nach Hause. Dein Vater.
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Stockholm, 2.1.1975 Lieber Papa, ich kann gut verstehen, dass dir das Weihnachtsessen unangenehm war. Schließlich hast du dich blamiert. Mein Leben und meine »Karriere« lass meine Sorge sein. Im Frühjahr werde ich mich wieder um einen Job bemühen, das wird schon klappen. Du hast alles missverstanden. Du willst ganz einfach nicht verstehen. Ich bin nicht kriminell geworden, Papa, und dies ist kein Pubertätsmätzchen. Was meinst du eigentlich überhaupt damit, »einen solchen Schritt zu machen«? Es geht hier doch nicht darum, sich einem Lager anzuschließen, um ein anderes zu bekämpfen. Ich bin in keine homosexuelle Armee eingetreten, deren einziges Ziel es ist, ihre perversen Laster wie Unkraut in den Beeten der Gesellschaft auszusäen. Und außerdem geht es ja gar nicht darum, ob ich homosexuell bin oder nicht. Es handelt sich eher darum, dass ich mich selbst verwirkliche, etwas, das ihr beide, du und Mama, auch tun solltet. Zu einer Lebensform finden, die man bejahen kann, selbst wenn das bedeutet, dass man mit den heiligen Normen bricht. Sonst geht man doch gefühlsmäßig vor die Hunde. Alles, was ich möchte, ist mit einem Menschen zusammenzuleben, den ich liebe. Ich möchte nur ein ganz eigenes Leben haben und arbeiten, essen, mich freuen, lieben und schlafen wie andere Menschen auch. Was ich außerdem von dieser Gesellschaft halte, ist eine andere Frage, aber ich habe bestimmt nicht vor, irgendwelche Bomben zu legen, wenn es das ist, was du befürchtest. Fast habe ich das Gefühl, du willst, dass ich unglücklich bin, nur weil du selbst nicht glücklich bist, du willst, dass ich mit geballten, tief in den Taschen vergrabenen Fäusten herum218
laufen soll wie früher, als ich klein war. Du willst, dass ich hart werde und alle hasse, die es wagen, anders zu sein, genau wie du. Und was wollt ihr mir überhaupt verzeihen? Ich habe das Gefühl, dass ihr mich als ein Produkt betrachtet, das euch misslungen ist. Denn im Grunde genommen geht es doch eigentlich darum – ihr glaubt, dass ihr versagt habt. Aber ich habe euch ja nie vorgeworfen, »mich kaputtgemacht zu haben«. Ich bin wie ich bin, und ich will so sein, versuch das doch bitte zu begreifen. Das ganze psychologische Herumwühlen in Ursachen und schlimmer Kindheit könnt ihr ruhig bleiben lassen. Natürlich kann ich mir Ursachen denken, aber mir ist es überhaupt nicht wichtig zu erfahren, warum ich »so« geworden bin. Ich will nur wissen, warum ich nicht »so« sein darf. Du bist viel zu sehr auf Gut und Schlecht fixiert. Ich habe keine Ahnung, wie gute Eltern sein müssten. Ihr habt getan, was ihr konntet, nehme ich an. Wir haben uns wohl nie besonders viel unterhalten. Wessen Schuld das ist, weiß ich nicht, wenn überhaupt jemand die Schuld daran hat. Unsere Familie ist allerdings nicht besonders glücklich. Du und Mama, ihr solltet versuchen, miteinander ins Reine zu kommen, sonst solltet ihr euch lieber scheiden lassen, finde ich. Da du mir gute Ratschläge erteilst, kann ich dir ja auch ein paar geben. Übrigens weiß ich, dass du Mama betrogen hast und es immer noch tust, aber ich habe dich deshalb nie verurteilt. Aber ehrlich gesagt finde ich deine Doppelmoral jetzt ziemlich ekelhaft. Solange etwas im Geheimen geschieht, ist es offenbar gestattet. – Vielleicht solltet ihr beide einmal verreisen? Ich bin ja, wie du so richtig festgestellt hast, im Augenblick arbeitslos, daher könnten Mats und ich solange Tina versorgen.
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Was euer allem Anschein nach so ersehntes Enkelkind betrifft, da wirst du wohl an die Behörden schreiben müssen und fragen, warum zwei Männer kein Kind adoptieren dürfen. Übrigens, vielen Dank für den Brief. Dein Sohn
Sthlm, 3.1.75 Jim! Was fällt dir eigentlich ein? Was sind das für Anspielungen? Du kannst doch meine Seitensprünge nicht mit deinen Schwulengeschichten vergleichen! Ich kenne zahllose Männer, die eine Freundin haben, da braucht man doch kein Wort darüber zu verlieren. Das ist doch etwas ganz Normales, dass ein richtiger Mann ein wenig Abwechslung braucht. Männer sind sowieso polygam. Ich verstehe nicht, warum du unsere Ehe in diese. Geschichte hineinziehen musst. Davon verstehst du doch nichts. Und was meinst du damit, dass ich mich »nicht verwirklicht« haben sollte? Du brauchst dir nicht einzubilden, dass ich unglücklich bin, wie du so frech behauptest. Ich habe es zu etwas gebracht im Leben, und das ist mehr, als man von deinen Stallbrüdem sagen kann, die ja nur der Lächerlichkeit preisgegeben sind. Ich verbiete dir, so zu werden wie sie. Ich hatte einen Kommilitonen, der homosexuell war, und der hat sich zu Tode gesoffen. Ich bin wirklich außer mir! Was meinst du damit, dass du und dieser Junge Tina versorgen könntet? Was würde das denn für einen Eindruck machen? Und glaubst du etwa, das wäre gut für das Kind? Wo hast du nur deine Intelligenz gelassen? Ob das mit dem Adoptivkind ein Scherz war oder
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nicht, das weiß ich nicht, doch behalte deine schlechten Witze in Zukunft lieber für dich. Deine Mutter ergreift natürlich deine Partei. Sie ist so gefühlsbetont. Deine ganze Schwäche hast du natürlich von ihr. Man kann aber nicht nur seinen Gefühlen nachgeben. Es geht schließlich ums Überleben. Ich möchte nicht, dass mein Sohn zu einer lächerlichen Figur wird, Jim. Du kannst dich immer noch aus dem Schlamassel retten. Selbst wenn du tatsächlich so veranlagt bist, wie du behauptest, brauchst du dem nicht nachzugeben. Kurz gesagt: Meine Geduld ist jetzt zu Ende. Entweder du kommst nach Hause und verhältst dich wie ein normaler Mensch, oder du kannst dich mit deinem erbärmlichen Tuntengetue begraben lassen, bis dir ein Busen wächst. Vater
Stockholm, 5.1.75 Lieber Papa, warum können wir das alles nicht wie zwei erwachsene Menschen besprechen? Ich kann gut verstehen, dass du dich in deiner Männlichkeit bedroht fühlst. Aber wäre es jetzt nicht an der Zeit einzusehen, dass du das Opfer einer verkehrten Leistungs- und Erfolgsmoral bist? Dass du die ganze Zeit deine Stärke beweisen musst! Ist das nicht sehr anstrengend? Ich glaube, ich ziehe es vor, mich mit meinem Tuntengetue begraben zu lassen. Aber wegen des Busens brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bin nämlich genauso sehr ein Mann wie du – das liegt an den Chromosomen, wie du weißt. Weder Mats noch ich spielen Frau. Und wenn wir es täten, würde es dich auch nichts angehen.
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Übrigens vergleiche ich meine »Schwulengeschichten« nicht mit deinen Seitensprüngen. Ich hintergehe nämlich niemanden. Viel Spaß in der Ehe! Grüße, Jim
Stockholm, 7.1.75 Jetzt will ich nichts mehr mit dieser Angelegenheit zu tun haben. Ich werde meine kostbare Zeit nicht mehr auf deine Aufsässigkeit vergeuden. Sei in Zukunft bitte so freundlich rechtzeitig anzurufen, bevor du uns besuchen kommst, damit ich mich vorher entfernen kann. Kümmere dich um deine arme Mutter. Sie ist mit den Nerven so ziemlich am Ende. Und das ist allein deine Schuld. Ich habe an meine Arbeit zu denken und wasche meine Hände in Unschuld. Harald Lundgren
Eine Zeit lang hörte ich nichts mehr von meinen Eltern. Doch dann wurden Mats und ich ganz überraschend an meinem Geburtstag von ihnen zum Abendessen eingeladen. Meine Mutter hatte meinen Vater angeblich dazu überredet, sich zu einem Treffen mit Mats bereit zu finden. Mats hatte natürlich kein besonders großes Verlangen danach, meinen Vater zu treffen (er hatte die Briefe gelesen), er fand jedoch auch, es sei besser, sich entgegenkommend zu zeigen, nachdem mein Vater nun endlich, wenn auch erst nach einiger Überredung, eine versöhnliche Fingerspitze ausgestreckt hatte. »Ich möchte zu gern wissen, was er diesmal im Schild führt«, sagte Mats. »Ob er mir wohl eine leichte Lobotomie vorschlagen wird, oder ob er nur checken möchte, ob ich Haarspray und Damenstrumpfbänder benutze?« 222
»Und wie sollte er das mit den Strumpfbändern checken?« »Mit seinem Röntgenblick natürlich, oder mit seinem eingebauten Geigerzähler, der sofort zu ticken beginnt, wenn irgendwelche Perversitäten in der Nähe sind.« »Wenn du dich bei meinen Eltern auch so albern aufführst, werden sie auf der Stelle tot umfallen.« »Also gut – ich werde mich in ein Fischnetz drapieren und einen Kranz grüner Nelken im Haar tragen.« »Wir haben keine Nelken mehr, aber im Kühlschrank liegt noch etwas Brokkoli, tut es das auch?« »Halt die Klappe, Mann! Natürlich werde ich kolossal gesittet auftreten und mit deinem Vater die aktuellen Börsenberichte diskutieren. Dann gehen wir zusammen aus und heben einen, und anschließend verführe ich ihn. Ich steh auf echte Männer.« Mats lernte meinen Vater an jenem Abend doch nicht kennen. Kurz bevor wir kamen, rief mein Vater an und sagte, er müsse noch in eine wichtige Konferenz. Es gehe um eine Entscheidung, die sich nicht verschieben lasse. Da wurde es mir plötzlich klar, dass er derjenige war, der Angst hatte. Natürlich hatte er an jenem Abend keine Konferenz, das hätte er schon früher gewusst. Nein, er hatte ganz einfach Angst, ungeheure Angst davor, den Schwulen Mats kennen zu lernen und einsehen zu müssen, dass dieser Mats kein Untermensch war. Er befürchtete, dass seine heiligen Werte einstürzen könnten, auf denen seine eigene zerbrechliche Sicherheit gründete. Außerhalb der vorgeschriebenen Grenzen durfte es keine Freude oder Selbstverwirklichung geben. Es durfte niemanden geben, dem alle Pflichten und Normen egal waren; der es wagte, frei, verletzlich und unwiderruflich unmöglich zu sein. Da würde seine Welt einstürzen. Aber ich hatte jetzt getan, was mir möglich war. Er würde eben auf seinem männlichen Weg weitergehen müssen, mit an den
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Schläfen festgewachsenen Scheuklappen. Das war jetzt eher sein Problem und hatte mit mir nicht mehr viel zu tun.
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16 Ich werde es wohl ganz einfach akzeptieren müssen, wie es ist. Wenn Jim nur glücklich ist. Aber während Tina im Kindergarten ist und Harald bei der Arbeit, habe ich viel Zeit zum Nachdenken. Manchmal bekomme ich schreckliche Beklemmungen; es ist, als ob nichts mehr stimmte. In meinem eigenen Leben, meine ich. Ich habe auch niemanden, mit dem ich sprechen kann; über eine unglückliche Ehe kann man ja mit keinem Menschen sprechen. Dann schauen die anderen nur auf einen herab, und Harald gegenüber wäre es auch nicht fair, darüber zu reden. Merkwürdig – ausgerechnet dann, wenn man es nötig hat zu reden, darf man es nicht tun. Alle benehmen sich so, als gäbe es kein Unglück. Es ist, als wäre es eine Schande, nicht glücklich zu sein. Übrigens grüble ich nicht nur über meine Ehe, ich denke über vieles nach. Als ich jung war, hatte ich immerhin eine gewisse Lebensfreude. Und dann merkt man es einfach nicht – man merkt nicht, wann genau man seinen Glauben an das Leben verliert. Ganz plötzlich sitzt man eines Tages einfach da und ent225
deckt, dass man etwas verloren hat, ohne zu wissen, was und warum. Warum muss alles nur so schrecklich banal sein? Das hier ist doch mein Leben! Mein Ich! Das Einzige, was ich habe. Und dann wurde nur das hier daraus. Man darf keinen Menschen zu sehr lieben, das ist mir allmählich klar geworden. Das darf man nicht. Keiner lässt einen herein. Ich fühle mich so schrecklich einsam, als wäre mir alles entglitten. Mein ganzes Leben ist mir zwischen den Händen zerronnen; jetzt ist es zu spät, etwas daran zu ändern. Daher bin ich der Ansicht, dass man Jim erlauben sollte, das zu tun, was er will. Damit er nicht auch sein Ich verliert, so wie ich es getan habe. Harald begreift das alles überhaupt nicht. Er scheint zu glauben, ich müsse mich entscheiden – entweder ich halte zu Jim oder zu Harald. Als handelte es sich um ... ja, um einen Krieg. Muss das denn so sein? Herrgott, mein ganzes Leben liegt in Scherben, und ich begreife nicht warum. Ich hielt alles für so selbstverständlich. Und ringsum geht alles weiter wie bisher. Als ob ich Luft wäre. Als ob ich aufgehört hätte zu existieren.
An einem strahlenden Frühsommertag schlenderte ich zwischen den Marktständen auf dem großem Marktplatz Hötorget umher und fühlte mich unverschämt glücklich. »Hallo, Jimmy!«, hörte ich eine kumpelhafte Stimme hinter mir rufen. Zuerst erkannte ich ihn gar nicht, er sah so bemüht erwachsen aus, mit Leinensakko und Krawatte und allem Drum und Dran. Es war Steffe, den ich seit der Abschlussfeier nicht mehr gesehen hatte. Bisher war ich davon verschont geblieben, ehemalige Mitschüler zu treffen. Mit Leif hatte ich fast allen Kontakt verloren, seit er 226
von meinem Verhältnis mit Mats erfahren hatte, und Lennart war nach Malmö gezogen. Mit Steffe, der mich jetzt pflichtschuldigst anlächelte, hatte ich früher kaum gesprochen. Er hatte zu jenen gehört, die den Unterricht schwänzten und sich durch flegelhaftes Benehmen auszeichneten. »Tag, Steffel«, sagte ich und verwandelte mich automatisch in den alten Schüler-Jimmy zurück. Ich wurde ungeheuer verlegen, vermutlich weil ich wusste, was für ein Bild er von Jim Lundgren haben musste, dem Streber und Langweiler mit dem flackernden Blick. Mitten in der sommerlichen Wärme rieselten Schulerinnerungen wie kalter Regen auf mich herab. »Na, was macht das Leben?«, fragte Steffe. »Ich kann nicht klagen.« »Du studierst wohl, oder?« »Nein, seit ein paar Monaten habe ich einen Job in einem Freizeitheim.« »Was?« Steffe stutzte. »Warum bist du denn nicht an der Uni, du warst doch so ein guter Schüler?« »Na ja«, sagte ich, »ich hatte keine Lust mehr. Vielleicht fange ich später mal mit dem Studium an, wenn ich mich dazu motiviert fühle. Aber jetzt möchte ich lieber eine ruhige Kugel schieben.« (Warum musste ich mich überhaupt entschuldigen?) »Ach?« Steffe sah so ungläubig aus, dass es fast schon komisch war. »Ich sammle gerade Punkte, um mit Volkswirtschaft anfangen zu können.« Er musterte mich verstohlen und rückte sein Revers zurecht. »Irgendwie hast du deinen Stil verändert«, stellte er fest. »Hast du was von Leif und Lennart gehört?« »Nein, ich bin nur ab und zu mit Leifs Schwester zusammen.« Sofort breitete sich das viel sagende Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ach so, ich wusste gar nicht, dass sie deine Freundin ist?« »Das ist sie auch nicht. Sie ist nur mit meinem Typ befreundet.« Einen kurzen Augenblick lang schien Steffe zu erstarren und sein Gesicht nahm einen unbeschreiblich verwirrten Ausdruck 227
an, doch dann brachte er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. »Wie bitte?«, fragte er höflich. In seinen Mundwinkeln tauchte ein belustigtes kleines Lächeln auf, und sein Rücken hatte sich gestrafft, ungefähr wie bei einem Politiker, der sich darauf vorbereitet, die Bemerkungen des Gegners mit ein paar gut gewählten, überlegenen Scherzen abzufertigen. »Sie ist eine Freundin von Mats, und Mats und ich wohnen zusammen.« »Ach so«, sagte Steffe rasch. »Ich wohne jetzt mit meiner Freundin zusammen. Habe eine Wohnung im Zentrum gefunden, nicht schlecht, was? Man muss ganz schön auf Draht sein, wenn man was erreichen will.« »Ja, da hast du Recht«, stimmte ich ihm zu. »Eine Wohnung in der Innenstadt ist natürlich optimal. Mats und ich, wir wohnen hier ganz in der Nähe –« Steffe sah auf die Uhr. »Ich sehe gerade, dass ich mich beeilen muss.« Er lächelte nervös. »Monika wartet mit dem Essen. Glaube nur nicht, dass immer sie kocht.« »Nein, wenn man zusammenwohnt, kann man sich die Arbeit ja teilen«, stimmte ich verbindlich zu. »Genau, schließlich soll die Frau nicht alles im Haushalt machen.« Er sah wieder auf die Uhr, wirkte unschlüssig und sagte schließlich: »Ach, übrigens. Das wird dich wohl nicht besonders interessieren, aber in einer Woche findet so eine Art Klassentreffen in unserer alten Schule statt. Man hat uns das Schülerzimmer zur Verfügung gestellt, das Ganze wird wohl so ‘ne Art Party werden, nehme ich an. Hat dich jemand angerufen?« »Nein.« »Komisch.« Steffe blickte wieder auf die Uhr. »Aber bestimmt hat niemand etwas dagegen, wenn du auch kommst.« Er unterbrach sich. »Weißt du was, gib mir deine Adresse, dann schicke ich dir eine Einladung.« 228
Ich blieb stehen und sah hinter ihm her, wie er mit langen, zielbewussten Schritten dem U-Bahn-Eingang zustrebte. Als ich mir darüber klar wurde, was ich ihm zu sagen gewagt hatte, war ich ganz baff. Was dachte er jetzt wohl? Während des ganzen Gesprächs hatte er diese belustigte, distanzierte Miene beibehalten, und gegen Ende hatte er den Eindruck erweckt, als könnte er sich kaum noch beherrschen. Das wird ein Fest, wenn die Jungs das zu hören bekommen!
Als ich den alten, vertrauten Schulhof überquerte, spürte ich ein vages Unbehagen in der Magengrube. Voll böser Erinnerungen türmte sich das graue Schulgebäude vor mir auf. Ich fragte mich, wie viele verschlossene, unglückliche Jungen wohl dort drin durch die Korridore gegangen waren, in der Überzeugung, dass sie als Einzige die Träger finsterer Geheimnisse seien. Alles wurde wieder in mir lebendig – das Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Unwirklichkeit, das Geräusch von angestrengtem Jungenlachen in dem hallenden Treppenhaus, selbst der Geruch nach Kreide und saurem Tafelschwamm und das Gefühl, dass der Sonnenschein einen speziellen trockenen Duft erhielt, wenn er durch die geflammten Korridorfenster hereindrang. Was sollte ich zu meinen ehemaligen Mitschülern nur sagen? Warum war ich überhaupt hergekommen? Nur, um mir selbst zu beweisen, dass ich einer Begegnung mit ihnen gewachsen war. »Aber Jimmy, du bist doch so begabt, warum arbeitest du denn in so einem Freizeitheim?« Einer der Gründe für mein Unbehagen war ein Gespräch, das am Tag zuvor an meinem Arbeitsplatz stattgefunden hatte. Ich hatte geglaubt, dort akzeptiert zu sein, mit Haut und Haaren und sämtlichen persönlichen Eigenschaften, inklusive eventueller 229
Schwulitäten. Ich hatte der Leiterin zwar nichts über meine Veranlagung gesagt, hatte aber angenommen, sie sei sich darüber im Klaren, da Mats mich oft mit dem Auto von der Arbeit abholte und wir in keiner Weise ein Geheimnis aus unserem Verhältnis machten. Doch dann kam es: »Jim, ist das dein Freund, der dich immer mit dem Auto abholt? Ja, das habe ich mir gedacht. Du darfst nicht glauben, dass ich etwa Vorurteile hätte, aber die Kinder könnten verwirrt werden, und wenn ihre Eltern etwas davon erfahren, könnten sehr unangenehme Situationen entstehen. Du verstehst sicher, dass ich mich nicht in dein Privatleben einmischen will. Eigentlich bitte ich dich ja um keine große Sache, ich fände es nur besser, wenn ihr es nicht ganz so offen zeigen würdet. Du weißt ja, wie es ist. Nicht alle Leute akzeptieren ein homosexuelles Verhältnis.« Sie sah mich freundlich und mit einem Ausdruck des Bedauerns an, und was sollte ich da schon sagen? Wie sollte ich ihr klarmachen, dass alle diese kleinen Rücksichtnahmen, die ihr so unbedeutend vorkamen, in Wirklichkeit sehr groß waren? Dass sie insgesamt Leben und Persönlichkeit sehr stark beschränkten. Aber wie gesagt, ich weiß ja, wie es ist. Nämlich so, dass man auf der Straße möglichst nicht zu eng nebeneinander zu gehen hat, da normale anständige Mitbürger sich sonst an ihren Bratwürsten verschlucken könnten. Die heterosexuelle Liebe gilt überall als etwas Selbstverständliches, von der Zahnpastareklame bis zum Flugpreisrabatt – homosexuelle Liebe dagegen existiert eigentlich gar nicht. Alles, was Junge-und-Mädchen tun, ist selbstverständlich, ebenso selbstverständlich wie Essen und Schlafen. Man heiratet, man zieht zusammen und man legt sich Kinder zu. Aber meine Liebe muss ständig verteidigt werden; ich fühle mich wie ein Zebra, das pausenlos erklären muss, warum es gestreift ist. Warum ist es so geworden? Warum seid ihr zusammengezogen? Warum seid ihr so glücklich miteinander? 230
Warum habt ihr Topfpflanzen am Fenster, genau wie normale Leute?
Ich hatte vorgehabt, das Schülerzimmer froh und entspannt zu betreten, doch kaum hatte ich die Schwelle überschritten, ja, kaum hörte ich draußen im Korridor den Lärm und das Gelächter, als ich in jene abweisende Haltung zurückschlüpfte, die während der Schulzeit mein Kennzeichen gewesen war. Es war der siebzehnjährige Jim, der die Schwelle überschritt, der die Anwesenden ausweichend begrüßte und sich mit verschränkten Armen in eine einsame Ecke setzte. Leif war der Einzige, der zu mir herkam. »Tag, Jimmy«, sagte er vorsichtig. Er erzählte ein wenig von seinem Gedichtband, den er im Autorenverlag herausbringen würde, und dann verriet er mir, dass seine Verlobte ein Kind erwarte. Meine Anwesenheit schien ihm peinlich zu sein und er strengte sich sehr an, möglichst natürlich zu wirken. Er blickte mir fest in die Augen und lächelte viel häufiger als nötig. Seit er erfahren hatte, dass Mats und ich zusammenlebten, war es jedes Mal so gewesen. Ich selbst fiel hilflos in den Jargon und in die Ansichten von Schul-Jimmy zurück, und so saßen wir mit starren Masken vor dem Gesicht da und diskutierten den Verfall der Kultur. Bald darauf entschuldigte er sich und ging zu einer der Gruppen, die zusammenstanden. Ich bildete mir ein, alle würden mich anstarren. Wie viele meiner Klassenkameraden mochten wohl schon darüber Bescheid wissen, dass ich ein Abtrünniger vom rechten Glauben war? Mit wie vielen hatte Steffe schon gesprochen? Im Geist hörte ich eine ihrer Unterhaltungen: »Das hätte man sich eigentlich gleich denken können, dass bei Jim irgendetwas nicht stimmt. Er hat natürlich nur deshalb so wild gebüffelt, um zu kompensieren.« 231
»Um seinen Schwanz zu kompensieren, was?« »Ha, ha. Möchte nur wissen, auf welche Jungs aus der Klasse er besonders scharf ist!« »Mensch, wie kann man nur! Ist ja widerlich!« »Möchte gern wissen, welche Rolle er hat – die männliche oder die weibliche?« »Na ja, von mir aus können diese schwulen Heinis ja machen was sie wollen, aber abstoßend ist es schon.« »Los, komm, gehn wir in die Stadt, was aufreißen!« »Aber ‘ne Tussi, wenn ich bitten darf!« »Klar, Mensch, was glaubst du denn von mir? Glaubst du etwa, ich sei auch so ein beschissener Arschficker?« »Nimm’s nicht so ernst, Mann. Das kapier ich doch, dass du nicht vom anderen Ufer bist. Würde ich sonst hier neben dir sitzen und dir auf die Schulter klopfen?« Ja, dachte ich, wovon war ich eigentlich ausgeschlossen? Von der Unsicherheit, dem Rückengeklopfe und dem bemühten Cowboygetue. Von der Fremdheit, dem Leistungsdruck und der lähmenden Angst, sich zu blamieren. Von all den Dingen, mit denen richtige Männer sich herumschlagen müssen. Warum sollte ich überhaupt danach fragen, was sie über mein sexuelles Verhalten sagten? Ich wusste ja, dass ich nicht ekelhaft war. Eigentlich musste ich mich glücklich schätzen, dass ich all dem entronnen war. Plötzlich wäre ich am liebsten mit einem Satz zwischen die Kartoffelchips und Weinflaschen auf den Tisch gesprungen, um in ein schallendes Gelächter auszubrechen und mir vor ihren Augen die Kleider vom Leib zu reißen! Hier bin ich! Es ist mir scheißegal, was ihr denkt, ihr trüben Tassen! Ihr könnt euch von mir aus gegenseitig auf den Rücken klopfen, bis ihr tot umfallt! Ich glaube, an diesem Abend ging es mir auf, dass ich keine Angst mehr hatte. Die anderen, die mich schweigend in meiner Ecke sitzen sahen, fragten sich sicher, warum der Streber auf 232
einmal so eigenartig vor sich hin lächelte, warum Direktor Lundgrens Sohn plötzlich aussah, als brüte er goldene Eier aus.
Das Morgengrauen lag in der Luft, und die Vögel im Baum, der in unserem Hof wuchs, hatten schon zu singen begonnen, als ich nach Hause kam. Leif und ich waren zusammen in die Stadt zurückgefahren; er hatte noch auf einem gemeinsamen Kneipenbesuch bestanden, um mit mir über den Sinn des Lebens zu sprechen. Er war ziemlich betrunken, sonst hätte er es sicher nicht gewagt, einen so lasterhaften Vorschlag zu machen. Als wir uns trennten, waren wir mindestens so dicke Freunde wie in unserer Schulzeit. Er beteuerte immer wieder, er habe mich einzig und allein deshalb so wenig gesehen, weil er so viel um die Ohren gehabt habe. Wir müssten uns bald wieder treffen und weiterreden. Leise ging ich die Treppe zu Mats’ und meiner Wohnung hinauf, ich schloss auf, schlich hinein und kroch neben dem Mann, den ich liebte, unter die Decke. Er öffnete ein schläfriges Auge unter dem widerspenstigen goldblonden Schopf und murmelte: »Na, bist du mit ihnen fertig geworden?« »Ja«, sagte ich und legte mich mit der Nase auf seinem warmen Brustkorb zurecht. »Na bitte«, sagte Mats. »Ich habe doch immer gewusst, dass du ein tüchtiger Junge bist.
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