Nikolaus Glattauer
Jakobus, Stiefsohn Gottes
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Nikolaus Glattauer
Jakobus, Stiefsohn Gottes
scanned by unknown corrected by ni Sie haben ihn geholt, kurz vor Sonnenuntergang, die Anklage lautet auf Hochverrat und Sabbatschändung, das Urteil Tod durch Steinigung. Im Krebsgang zieht sein Leben an ihm vorbei. Immer ist er im Schatten Jesu gestanden - seines Bruders. Er hat ihn geliebt und gegen ihn angekämpft, er hat ihn verspottet und um ihn geweint. Sehr spät erst ist er ihm gefolgt. Die Nachwelt hat Jakobus vergessen, wohl auch, weil er zu Lebzeiten Jesu nicht zu dessen Anhängern gehörte, nicht einmal die Kreuzigung seines Bruders hat er miterlebt. Doch dann, vierzehn Jahre später, zieht er nach Jerusalem und wird, so Paulus, neben Simon Petrus und Johannes zu einer der drei "Säulen" der Urchristengemeinde. ISBN 3-902144-45-9 2002 Jung und Jung, Salzburg und Wien
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Buch Sie haben ihn geholt, kurz vor Sonnenuntergang, die Anklage lautet auf Hochverrat und Sabbatschändung, das Urteil Tod durch Steinigung. Im Krebsgang zieht sein Leben an ihm vorbei. Immer ist er im Schatten von Jesus gestanden – seinem Bruder. Er hat ihn geliebt und gegen ihn angekämpft, er hat ihn verspottet und um ihn geweint. Sehr spät erst ist er ihm gefolgt. Die Nachwelt hat Jakobus vergessen, wohl auch, weil er zu Lebzeiten Jesu nicht zu dessen Anhängern gehörte, nicht einmal die Kreuzigung seines Bruders hat er miterlebt. Doch dann, vierzehn Jahre später, zieht er nach Jerusalem und wird, so Paulus, neben Simon Petrus und Johannes zu einer der drei »Säulen« der Urchristengemeinde. Suggestiv und sensibel erzählt Nikolaus Glattauer von Freundschaft, Verrat, Liebe; von Macht und Opfer der Frauen, wie Maria und Maria Magdalena, und den gewaltsamen Toden jener, ohne die es das Christentum nicht gäbe. Im Zentrum aber steht die Rivalität der Brüder: um die Liebe der Mutter, erste Fragen, letzte Antworten. Und das Wissen darum, daß diese stets mehrdeutig sind.
Autor
NIKOLAUS GLATTAUER, geboren 1959 in der Schweiz als Sohn österreichischer Eltern, aufgewachsen in Wien. Er arbeitete siebzehn Jahre lang als Journalist, seit 1998 als Lehrer. Dies ist sein erster Roman.
Inhalt Buch ........................................................................................ 2 Autor....................................................................................... 3 Inhalt....................................................................................... 4 In der Stunde des Todes........................................................ 8 Jakobus wird zu seiner Steinigung vor die Tore Jerusalems geführt. Wie er sich weigert, seine Schuld einzugestehen, wie er im Mob Zachäus erkennt und wie die Kinder die ersten Steine werfen..................................8
Elisabeths Geheimnis........................................................... 11 Wie die Schreie Marias im verbotenen Raum Jakobus dazu brachten, die falsche Frage zu stellen, wie Josef am Tag darauf verschwand und wie der stumme Wanderhändler dafür auftauchte............................................11
Die Nacht nach dem Urteil .................................................. 36 Jakobus bereitet sich auf seinen Tod vor. Von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen, von Nero, dem verräterischen Hemdes und von der geheimen Schuld des Hohepriesters Ananus..............................................36
Der letzte Tag beginnt ......................................................... 63 Jakobus sitzt an seinem Tisch, er wartet auf seine Mörder. Wie er den jüdischen Krieg voraussieht und wie er Jesu Tod mit seinem vergleicht. ............................................................................................................................63
Vierzig und einen Tag in der Wüste .................................. 69 Wie Jesus den Gelähmten gehend machte, aber missverstanden wurde, wie Mirjam zu Jesus reiste, damit er Susa räche, und wie sie ihm dann in die Wüste folgte und dort auf Johannes und Jakobus traf...................69
Die Schlachtung des Donnerbruders ............................... 110 Wie Jakobus Jakob dem Wilden das Leben rettete, wie er zehn Jahre später von dessen Tod erfuhr und wie er, fünf Jahre danach, Rosa zurückbekam, Maria, seine Mutter, aber dafür verlor. Auch Mirjam, mit
Jakobus an dessen Todestag über Zeiten und Räume hinweg verbunden, spricht. Wie sie den Tod Marias erlebte, was ihr Susa über die Geburt Rosas erzählte und wie sie Sau! bei der Steinigung des Stephanus zum ersten Mal traf............................................................................................... 110
Im Licht des späten Tages................................................. 141 Jakobus will Susa losschicken, um Rosa zu warnen, da beginnen die schreienden Steine zu sprechen. Wie Jakobus mit dem schiffbrüchigen Saul an die Küste Maltas gespült wird, wie Saul den Biss der Schlange überwindet und das Beispiel von der Wasserrose und dem Winterstern. ......................................................................................................................... 141
In den Betten der Römer................................................... 155 Mirjam erzählt, wie Rosa in Caesarea vor Ananus gebracht wurde, in den schmutzigen Handel einwilligte, der Simon Petrus die Freiheit brachte, und wie Petrus durch die Katakomben entkam....................... 155 Jakobus, Mirjam in Gedanken hinterher, berichtet, wie Saul auf Malta den Biss der Viper überwand, dafür aber die schreienden Steine in alle Winde zerstreute. .......................................................................................... 155
In der Stunde des Todes (II) ............................................. 191 Die Steinigung des Jakobus. Wie sich Zachäus, als Jakobus zu Boden geht, zu diesem legt und wie sich die Steine in Wassernüsse verwandeln. ......................................................................................................................... 191
Diesmal der Anfang ........................................................... 196 Nun ist es Susa, die spricht. Wie sie von Kornelius aus dem Gelobten Land geführt wurde, welche Botschaft sie vor dem verschlossenen Grab des Abrahamsfelsens erkannte und wie sie Rosa bittet, Papyrus und Schreibstift zu nehmen, und damit das Ende einer Geschichte zu ihrem Anfang macht................................................................................................ 196
DIE PERSONEN DER HANDLUNG IN DER HISTORISCHEN BETRACHTUNG .............................. 201 ORTE DER HANDLUNG ................................................ 206 DIE RELIGIÖSEN JÜDISCHEN SEKTEN................... 209 DIE NEUE SEKTE DER CHRISTEN ............................ 213
Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf… Von den anderen Aposteln habe ich keinen gesehen, nur Jakobus, den Bruder des Herrn. Paulus, Gal 1,18-19 Von dort brach Jesus auf und kam in seine Heimatstadt… Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten:…Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Markus 6,1-3 Ananus, mit seinem Charakter, glaubte, jetzt, da Festus tot und Albinus noch unterwegs war, sei seine Gelegenheit gekommen. Er rief die Richter des Sanhedrin zusammen und brachte vor sie einen Mann namens Jakobus, den Bruder des Jesus, der der Christus genannt wurde, und noch andere. Er beschuldigte sie, das Gesetz übertreten zu haben, und verurteilte sie zum Tod durch Steinigung. Flavius Josephus, » Antiquitates ludaicae« Jakobus. Der Bruder Jesu stand dem Wirken Jesu wahrscheinlich, wie seine Brüder, Joses, Simon und Judas, skeptisch gegenüber. Erst nachdem der auferstandene Christus ihm erschienen war, glaubten Jakobus und seine Brüder an Jesus. Jakobus gewann bald Autorität in der Gemeinde. Als Paulus um 57 n. Chr. nach Jerusalem kam, um die Kollekte seiner Missionsgemeinden zu überbringen, wurde die Gemeinde von Jakobus und den Ältesten geleitet. Das große Bibellexikon Jakobus war ein Bruder Jesu (Mk 6,3; Gal 1,19). Die katholische Überlieferung kennt ihn als Vetter Jesu, weil die Lehre von der Reinheit der Maria keine Geschwister Jesu
zulässt, obwohl sie im Neuen Testament (z. B. Mk 6,3) erwähnt sind, und identifiziert ihn – fälschlich – mit Jakobus dem Jüngeren. Jakobus mit dem Beinamen »der Gerechte« war neben Petrus und Johannes Leiter der ersten Christengemeinde in Jerusalem (Apg 12,17; 15,13; Gal 2,9). Jakobus erlitt nach zuverlässigen Zeugnissen den Märtyrertod durch Steinigung. Ökumenisches Heiligenlexikon
In der Stunde des Todes
Jakobus wird zu seiner Steinigung vor die Tore Jerusalems geführt. Wie er sich weigert, seine Schuld einzugestehen, wie er im Mob Zachäus erkennt und wie die Kinder die ersten Steine werfen. Sie werden nicht aufhören. Kein Zurück. Diesmal das Ende. Ich spüre das eigene Blut unter meiner Zunge, mich ekelt, wer hat je gesagt, Blut schmecke süß? Die späte Sonne tritt hinter die Wolken, bald wird sie den Tag beschlossen haben und damit mein Leben. An meinen Mördern vorbei sehe ich die Heilige Stadt, Jerusalem. Noch saugt sie am roten Gelb des Abendlichts, bald wird es mein Blut sein, das sie tränkt. Den Wein, den mir die Tempelwächter gegeben haben, nahm ich in einem Zug. Der Weihrauch, sagt man, in kleinen Mengen zugefügt, betäubt die Glieder. Bin ich deswegen müde? Werde ich müde genug sein, um den Tod zu ertragen? Ich schmecke das Blut unter meiner Zunge. Sie haben mich in die Mitte gestellt, um mir die Hände aufzulegen, so wie es Brauch ist. Mörderhände. Sie können meinen Tod kaum erwarten. Da stehe ich in den Falten des Alters, nackt. Gleich nach dem Stadttor haben die Priester halten lassen. Ich musste mich ausziehen. Die Sandalen nahmen sie mir zuerst, dann das Tuch, dann das Hemd, das die Lenden bedeckt. »Warum das Hemd?«, fragte ich. »Was nützt euch das Hemd eines alten Mannes?« Doch um das Hemd geht es ihnen nicht. Sie wollen mich nackt sehen, der Würde beraubt. Nur sie steht noch zwischen mir und ihren Steinen. -8-
Die Kinder begannen. Mit Steinen, nicht größer als Kaktusfeigen. Einer traf mich am Kopf. Ich ging in die Knie, doch die Soldaten ließen mir keine Pause. Schnelle, harte Stöße in den Rücken zwangen mich auf. Sie folgen dem Gesetz: Der Henkersplatz muss vor dem Sonnenuntergang erreicht sein. Dann habe ich Zachäus erkannt, das Tuch prall gefü llt mit Steinen. Zachäus, du also auch heute dabei. Hat dir sein Tod denn nicht gereicht? Willst du nach dem ersten nun auch Susas zweiten Bruder sterben sehen? Glaubst du, deine Schuld ließe sich dadurch abtragen, dass du ihrer Zeugen ledig wirst? Wie schief ist dein Leben doch gewachsen! Doch ich verurteile dich nicht. Auch die schiefen Äste gehören zum Wald, und gäbe es nur die gerade gewachsenen, wo fänden all die Vögel Platz, um ihre Nester zu bauen? Als sich unsere Blicke getroffen haben, bist du eilig hinter die Kinder getreten. Du kannst mir nicht in die Augen sehen. Meiner Schwester konntest du nur einmal in die Augen sehen, da legtest du ihr im Hafen von Kafarnaum mit Gewalt dein Kind in den Bauch, Was hätte aus Susas Leben werden können ohne dich. Jesus hätte dich damals doch erschlagen sollen. Jesus. Ihm konntest du in die Augen schauen, selbst als er am Kreuz hing, Mirjam hat mir davon erzählt. Du hast dich nicht satt sehen können an seinen Qualen. »Er hat wie getrunken aus Jesu Wunden, das Schwein.« Ich erinnere mich an Mirjams Tränen, als sie mir, ihren Blick scharf gestellt auf die Vergangenheit, von Jesu Tod erzählte. Mir willst du nun nicht in die Augen sehen? Willst darauf warten, dass ich meine schließe? Ich kann dir versichern, ich werde meine Augen nicht schließen, ich werde sie offen halten, diesmal bis zuletzt. Ihr habt zu früh begonnen, Zachäus. Die voreilig geworfenen Steine der Kinder haben euch verführt. Scharfe Rufe der Soldaten. Dann war es mit dem dumpfen Tok der in den Sand schlagenden Steine wieder vorbei. -9-
Endlich haben wir den Henkersplatz erreicht. Zweimal bin ich bis dahin am Boden gewesen, zweimal haben sie mir wieder aufgeholfen, dem Greis, den sie nun endlich los sein dürfen. Sie haben mich in die Mitte gestellt und mir die Hände aufgelegt. Auf Hochverrat und Sabbatschändung lautete die Anklage. »Gestehst du, Jakobus, heute, vor Jahwe und dem Tod?« »Nein, ich gestehe nicht.« Nicht vor euch, nicht vor dem Tod. Nicht gestern, nicht heute. Nicht vor Gott. Und du, Simon Petrus, auch du wirst nichts gestehen, und du wirst, ich weiß es, der Nächste sein. Dein Leben oder das meiner Schwester mit ihrem Kind. Ich musste wählen. Ich habe gewählt. Rom, Simon Petrus, wird dein Kreuz sein, damit die meinen leben können. Die letzten Sonnenstrahlen. Wenn die Heilige Stadt aus dem Licht gerückt ist, werden sie erneut beginnen. Und nicht mehr aufhören, bis es vorbei ist. Doch ich bin vorbereitet. Sie werden mit harten Steinen nach mir werfen, ich aber werde Wasser fallen sehen. In tausenden Nächten habe ich dafür geübt. Ich, Jakobus, jener Sohn von Maria und Josef, der bis zuletzt geblieben ist. Ich, Jakobus, der älteste Sohn der Maria aus Nazareth. Ich, Jakobus, meinem Bruder hinterher, selbst noch im Sterben.
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Elisabeths Geheimnis
Wie die Schreie Marias im verbotenen Raum Jakobus dazu brachten, die falsche Frage zu stellen, wie Josef am Tag darauf verschwand und wie der stumme Wanderhändler dafür auftauchte. Tausendmal habe ich sie fallen sehen in meinen Träumen, brechen über meinem Kopf, bei Tag, bei Nacht, in Schweiß gebadet auf meinem Tuch. Tausendmal, Susa, seit dem Tag, da du die Zeichen des Fremden in mein Herz gelegt hast. Ein Leben lang habe ich nicht gewusst, für wen sie gedacht waren. Für Vater, der ging? Für unsere harte Mutter? Für ihn, den nie groß gewordenen Bruder? Für dich, die du mir mit deinen Geistern als einzige geblieben bist? Nein, sie waren für mich bestimmt. Es gibt ein Land, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt. Der Wind lässt sie zu Boden regnen, wenn sein mächtiges Kleid die Zweige streift. Manchen berührt dabei der Tod. Mancher schließt für immer die Augen. Doch dann ergießt sich süßes Wasser über sein Haar, und sein Leben steht in einem neuen Kreis. Mirjam war die erste, der ich von den rätselhaften Nüssen erzählte. Der Stumme musste Mutter die Geschichte in den Sand gezeichnet haben, wie es seine Art war. Nein, nicht die Geschichte, nur die Kreise, die Linien, die Zahlen, die Symbole. Mutter ist es immer gewesen, die daraus Sinn entstehen ließ. Ich erinnere mich an ihr Murmeln und die Stille, die jedesmal eintrat, wenn der Händler, zum Zeichen, richtig verstanden worden zu sein, die Spuren mit einem Handstreich wieder -11-
verwischte. Meistens erzählte Mutter später am Abend von den Zeichnungen. »Habt ihr verstanden, Kinder?« – »Ja, Mutter.« – »Auch du, Susa?« – »Ja, Mutter.« »Es gibt ein Land, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt?«, hat Mirjam erstaunt gefragt. Mirjams Leute stammten aus Magdala, doch sie war eine von uns, die Haare trug sie offen, an den Füßen noch keine Sandalen, ein Kind war sie wie wir. »In Nüssen?« »In Nüssen«, habe ich gesagt, »so groß wie die Steine am Feld, aber weiß und weich und voll mit süßem Wasser.« »Woher weißt du das?« Ich wusste es von dir, Susa. Mutter hatte dir warum dieses Mal nur dir? – die Geschichte erzählt. »Sie gehört mir. Ich musste Mutter versprechen, sie nicht zu verraten.« Ich hatte dir schwören müssen zu schweigen. Doch an jenem Tag, an dem ich Mirjam davon erzählte, galten Schwüre nicht. Es war der Tag, an dem Vater nicht mehr zurückkam. »Von Susa«, habe ich gesagt, »der Stumme hat es Mutter in den Sand gezeichnet. Mutter hat es Susa weitererzählt.« Die Erwähnung des Stummen, Susa, hat genügt, sie hat dir geglaubt, sogar aus meinem Mund. »Wo ist dieses La nd?« »Hinter den Schneebergen«, habe ich gesagt. »Werdet ihr mir das Land hinter den Schneebergen einmal zeigen?« »Wir?« »Dein Bruder oder du.« »Ja«, habe ich gesagt, »wenn wir alt genug sind für ein Pferd.« Hätte ich denn wissen können, dass dem Haus Josefs der Esel bestimmt war und nicht das Pferd? Nur wenige Jahre später, du erinnerst dich, Schwester, waren sie alle gegangen. Mutter und Jesus hinunter ans Kleine Meer Genezareth, Mirjam nach Tiberias, dem Römer hinterher und seinem Silber. Aus mir war ein junger Mann geworden, geübt in -12-
der harten Arbeit an Vaters Steinen, aus dir eine junge Frau, geübt schon im stummen Gespräch mit der Vergangenheit. Du hattest außer mir keinen mehr in Nazareth. Mit Mirjam hatte das Dorf gebrochen. Von hier bis Magdala sprachen alle nur noch verächtlich von der Hure des Römers. Doch du, Susa, nanntest sie weiter deine Freundin. Hättest du Mirjam anvertraut, was du in diesen Tagen selbst vor mir verbargst? Dann kam der achte Tag, an dem wir unseren Kindern Namen gaben. Bleich, den ängstlichen Blick zitternd an das Fenster geheftet, als hofftest du dort jemanden zu sehen, der jetzt noch ungeschehen machen könnte, was geschehen war, erwartetest du mich, ich sehe es, als wäre es gestern gewesen, am Abend jenes achten Tages. Ich kam von der Arbeit aus den Höhlen. Doch nichts sonst geschah, als du deine Worte, eines nach dem anderen, in der dämmrigen Stille unseres Hauses abstelltest wie Krüge zum Verkauf. Hinter dem Fenster blieb es Nacht und jedes Wort, wo es war. »Ich habe«, sprachst du, stockend zwar, doch fest in der Stimme, »im Acker ein Kind zur Welt gebracht.« Den Namen seines Vaters, sprachst du, wirst du nicht nennen, heute nicht und nie für alle Zeit, wohl aber jenen des Kindes. »Es heißt Rosa.« »Rosa?«, fragte ich. »Der Stumme hat mir diesen Namen gezeichnet.« »Lebt der Stumme in dem Land hinter den Schneebergen?«, habe ich Jesus gefragt, damals, als wir Kinder waren. Wir saßen zu zweit im Feld über einem Korb Feigen. Ich sah Jesus wie beiläufig die Schultern heben, die zusammengekniffenen Augen auf die Feigen gerichtet, die auf seinem Schoß lagen. »Ja. Wenn es dort Leben wie Sand gibt…«, sagte er dann. »Wenn es dort Leben wie Sand gibt?«, wiederholte ich seine -13-
Worte. »Ja«, sagte er. Sonst nichts. Da wurde ich wütend auf die Stille, die sein nüchternes Ja zwischen uns gestellt hatte. »Musst du deine Augen denn immer zusammenkneifen, wenn du sprichst?«, fragte ich ihn jetzt. Jesus, den keiner von uns anders kannte, antwortete, als hätte man ihm diese Frage zum erstenmal gestellt. »Ich muss sie zusammenkneifen, sonst sehe ich nicht scharf.« Zwinkerchen, so haben wir ihn als Kinder genannt, Zachäus, Mirjam, Esther, wir alle, auch du, Schwester. Keiner von uns hat es böse gemeint, keiner außer Zachäus. Zachäus war sein Feind, damals schon, Jesus ließ ihn an dich nicht heran. Da nutzte Zachäus jede Gelegenheit, ihn zu beleidigen. Im Lehrhaus: »Kein Wunder, Zwinkerchen, dass du die Tora nicht auswendig kannst. Du kannst sie ja nicht einmal lesen.« Im Weinberg: »Freunde, dieser Wein wird sauer. Zwinkerchen sammelt die Beeren.« Beim Stockball am Feld: »Nach dem Ball sollst du schlagen, Zwinkerchen, nicht nach der Otter, die aus dem Sandloch schaut.« »Leben wie Sand?« »Ja, wie Sand«, antwortete Jesus, »der Stumme hat es Mutter für Susa gezeichnet. Der Stumme kommt aus einem Reich, in dem es Leben gibt wie Sand in der Wüste. Eher wird der Regen das letzte Sandkorn weggespült haben, als dass die Leben dort aufhören werden zu sein.« »Warum hat er es Susa gezeichnet und nicht uns?«, fragte ich. Jesus sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Er schob sich eine Feige in den Mund, während er sagte: »Er kommt wegen Susa, weißt du das nicht?« Ich wusste es nicht. Damals war ich sieben Jahre alt. Es gibt ein Land, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt. Susa, Schwester, ich habe dir geschworen, diese Sätze für mich zu behalten, doch ich habe meinen Schwur -14-
gebrochen. Es waren die Tage, die ich heute noch rieche, tief sitzt die Übelkeit in meinem Bauch, es waren die Tage, als sich die fremden Nüsse in meine Träume drängten und dort groß und hart wurden. An jenem Tag, da Vater ging und nicht mehr kam, regneten sie als schwarze Steine vom Himmel. Und ich brach meinen Schwur, um den Schmerz zu teilen. Erinnerst du dich, Susa? Wir hatten die Tage davor bei Tante Elisabeth verbracht. Der Himmel weiß, warum es Mutter immer wieder an diesen Ort getrieben hat. Zu den beiden Alten und Johannes, ihren merkwürdigen Sohn. Jahr um Jahr zogen wir an den großen Festtagen zu den kahlen Bergen hinunter, zum Laubhüttenfest, zum Lichterfest, zum Fest der Erstlinge, Mich hat Johannes nicht mögen, unseren Bruder hat er geliebt. Darum hat sich Jesus als einziger auf diese Reisen gefreut. Mutter, wann fahren wir endlich wieder zu Johannes’ Leuten? Mutter, wie geht es Johannes’ Leuten? Mutter, sag, wie geht es Johannes? Was hatte Jesus dem Kind zu sagen, dem fremden? Warum hatte er mir so oft so wenig zu sagen? Hat er denn geahnt, wie es mit Johannes kommen würde, viele Jahre später? Hat er geahnt, dass sein Tod den Tod in unserem Haus vorwegnehmen würde wie die unheilvolle Stille über dem Meer den aufziehenden Sturm? Hat er damals gehofft, verhindern zu können, was die eigene Mutter nicht hatte verhindern können? Als Jesus von Johannes’ Festnahme erfuhr, wollte er es nicht wahrhaben, doch da rollte der Kopf seines Freundes schon zu den Füßen des Herodes. Ich habe ihn, seit ich denken kann, verflucht, den Heuschreckenesser, der Jahwe spottete, indem er sich seinen Propheten nannte, ich habe ihn verflucht, da stand er noch nicht im Wasser des Jordans, ich habe ihn verflucht, da war er noch das Kind, dem ich Feigen bringen musste als Geschenk, dem Kind, das mir den Bruder nahm. Denn Jesus entzündete sich an Johannes wie die neue Kerze, deren Docht man an der -15-
niedergebrannten entflammt. Als der Bote in Jesu Haus kam, um ihm von Johannes’ Schicksal zu berichten, fand er uns statt ihn. Schlimme Geschichten waren, du erinnerst dich, Susa?, in Nazareth an unsere Ohren gedrungen, Geschichten über ihn, den inzwischen groß gewordenen kleinen Bruder. Geschichten von üblen Gelagen im Hafen, von Huren, Zöllnern, sogar Handgreiflichkeiten, und er immer mitten darin, mit zusammengekniffenen Augen, um scharf zu sehen, doch blind für die richtigen Freunde, so habe ich es damals empfunden. »Jakobus, lass uns zum nächsten Sabbat in Kafarnaum sein«, hatte Susa gesagt, »ich vermisse Mutter.« »Meinetwegen«, sagte ich wohl gegen meinen Willen. Ich verabscheute das große Dorf am Kleinen Meer. Immer lag Fischgeruch über den Häusern, in den polierten Töpfen ihrer Bewohner sammelten sich Drachmen statt Linsen, die Frauen beteten Attargatis an und Baal, die Männer missachteten das Gesetz des Sabbat. Vor den zornigen Augen der Pharisäer jagten sie und schlachteten, pflügten sie und säten, droschen sie und mahlten. Nicht eines der vierzig Sabbatverbote war ihnen heilig. Jeder der Männer, so lehrte es uns die Synagoge, würde das Kommen des Messias um sieben weitere Jahre verzögern. Dorthin war Mutter mit Jesus gezogen. »Warum gehst du nicht, Schwester?«, habe ich dich gefragt. Deine Antwort war mir unverständlich, damals: »Ich will bei dir sein, wenn du den Traum erntest, den ich für dich säen sollte.« »Warum nur Kafarnaum?«, hast du gefragt. Nein, mehr: Du hast Mutter angebettelt, angefleht, nicht dorthin zu ziehen. »Warum nicht gleich nach Tiberias in den Fuchsbau des Herodes oder, noch besser, nach Rom, wohin Tiberius dem Augustus gefolgt ist, ein Schwein dem anderen.« Mutter war auf dein wütendes Fragen hin aus dem Schatten des Küchenhofs getreten. Sie muss beim Kochen gewesen sein. Sie hat das Kochen gehasst. -16-
Vater hatte gerne gekocht. Niemand konnte mit Kreuzkümmel, Dille, Zimt und Minze besser umgehen als er. Wer es nicht gesehen hatte, hätte nicht geahnt, wie seine groben, vom Hauen der Steine harten, schwieligen Hände ein Minzeblatt streicheln konnten. Einmal sprach er zu einem Lamm, das für die Schlachtung bestimmt war. Er entschuldigte sich bei dem Tier dafür, dass er es töten werde. »Manches Lamm wird eher in das Reich Gottes eingehen als manc her Mensch«, sagte er, dabei strich er sich mit der Hand über den schwarzen Bart und lächelte. Als Vater gegangen war, verbrannte Mutter alle Gewürze, die sie finden konnte. Fortan kochte sie nur noch mit Salz, und keinem Gewürzhändler hat sie je wieder den Weinbecher gereicht. »Warum nur Kafarnaum?«, hörte ich dich an jenem Tag fragen. Ich war dir in den Küchenhof gefolgt. Mutters Antwort kam unerwartet schnell. »Weil dort die richtigen Menschen für uns sind«, sagte sie. »Die richtigen Menschen?« Ich sah, wie Mutter ihre Hände an der Schürze zu reiben begann, so heftig, dass die Kuppen der Finger bald rot leuchteten. »Die richtigen Menschen für uns, Mutter? Niemand von uns kennt dort jemanden.« Hier seien, hörte ich dich sagen, deine Freundinnen, Martha, Mirjam, und die Freunde der Brüder, Daniel, Esra, Thomas. Aber um dich, Susa, ging es Mutter nicht, und nicht um mich, der ich älter war als Jesus und dennoch hinter ihn gestellt. Ich mochte bleiben, wo ich war, und ich lieferte Mutter, die Verletzung meine r Seele verschweigend, noch die passenden Gründe hinterher: Einer müsse schließlich Vaters Geschäfte weiterführen, Mutter, nicht? Mutter schwieg damals, und sie fügte ein Leben lang nichts hinzu.
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Was war es, das sie damals in Kafarnaum suchte? Heute, da der Sanhedrin meinen Tod beschlossen hat, hier in der Stadt, die niemals meine Heimat war, ahne ich es. Sie suchte die schwarzen Steine. Jerusalem, dein Geruch klebt an meinem Gewand. Der Geruch der Zwietracht, der Geruch der üblen Reden. Der Gläubigen, die wissend tun, der Ungläubigen, die gläubig tun, der Mächtigen, die ungläubig sind und unwissend zugleich. Jetzt Ananus. Damals Kaiphas. Er hatte keine Wahl. Du ließest ihnen keine Wahl, Bruder, das wusstest du. Ich aber sage euch… Bruder. Zwinkerchen. Jesus. Ich, ich, ich. Selbst wir haben dich damals nicht verstanden. Keiner hat dich verstanden. Warum hast du dein Feuer nicht gezügelt? Du, der Gesalbte?, der König der Juden? Wie hätten wir dir glauben können. Wie erst die Priester? Kaiphas und mehr noch sein Schwiegervater Ananus, der erste Ananus, der Vater jenes Zwergs, der sich jetzt auf meine Kehle gesetzt hat. Spöttisches Unverständnis auf ihren Gesichtern, als du den Mund auftatest. Wie hätten sie dein Herz begreifen sollen, wenn sie schon deine Worte kaum verstanden. Wie ein Bauer sollst du vor ihnen gestanden sein, halb nur, scheinbar, dein Wissen über die Schrift, halb nur, scheinbar, dein Glauben, halb dein Versuch, dich zu verteidigen. Feuer nur in der Gestik. Ich aber sage euch… Wie hätten Kaiphas und Ananus, sein übermächtiger Schwiegervater, denn anders handeln sollen? Du kniffst, hieß es, die Augen zusammen, als sie das Urteil sprachen. Du wolltest scharf sehen, was du nicht hören mochtest. Für sie musste es ausgesehen haben wie Verschlagenheit. Jetzt ich in deinen Fußstapfen, doch nicht deinetwegen, immer noch nicht deinetwegen, Bruder. Rosa ist es, die mir keine Wahl lässt. Hätte ich etwas anders machen können? Oder nur: alles? Der heuchlerische Ananus ist im Schatten seines Vaters zu meinem Kaiphas geworden. Welchen Vorwurf den anderen -18-
Priestern machen? Ihnen komme ich als Trophäe zur Einweihung des neuen Tempels gerade recht. Und welchen Vorwurf den Gesetzeswächtern? Sie kennen so viele Verbote, wie das Jahr Tage hat, und so viele Gebote, wie Menschen in eine Synagoge passen, wie viele davon übertrete ich denn nicht von Sabbat zu Sabbat. Und bin auch noch stolz darauf. Welche Wahl lasse ich ihnen? Als der Wagen anfuhr, lag Traurigkeit in ihren Gesichtern, auch in Jesu Gesicht, erinnerst du dich, Schwester? Lange standen wir hinter dem Haus und winkten ihnen nach. Mirjam hatte Tränen in den Augen. »Jetzt ist er zum erstenmal gegangen«, sagtest du leise. Ich habe es nicht gewagt nachzufragen, ich hatte Angst vor der Antwort. Loderten damals scho n die Flammen des Himmels in deiner Brust, Bruder? Und von welcher Kerze stammten sie? Immer noch von jener des Heuschreckenessers? Ich habe den Rabbi gefragt, als ihr gegangen wart. »Welches Wesen hat die Flamme der Kerze, die ich an einer anderen Kerze entzünde: Ist es noch die alte Flamme oder bereits eine neue?« Der Rabbi sagte, eine solche Flamme sei nicht gänzlich eine, die war, und sie sei nicht gänzlich eine, die nicht war. Doch ohne die Luft, die unsichtbar über den Flammen liege, würde diese nicht brennen und jene nicht. Was war aus der Luft über dem Leben meines Bruders geworden? Ich war dabei, als der Bote, von Zacharias geschickt, in Jesu Haus kam, um von Johannes’ Festnahme zu berichten. Zu Fuß war er nach Kafarnaum gekommen, die halbe Strecke gelaufen, ohne zu essen, ohne zu rasten. »Der Herodes, der Fuchs, hat Johannes nach Machairos schleppen lassen.« Du schlugst, Susa, die Hände zusammen, ich, der ich gestanden war, musste mich setzen, ich spürte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor. Johannes also in den Kerkern des -19-
Fuchses, wir wussten, das wird sein Ende sein. Er hätte die Herodias, des Herodes Frau, nicht öffentlich schmähen dürfen. Mutter stand nur da und schwieg. Dann nahm sie das Buch Moses, doch statt darin zu lesen, hielt sie es dir, Susa, so lange hin, bis du nach ihm griffst. Dann sagte sie etwas, das keiner von uns verstand: In aller Vergangenheit sei niemand größer gewesen als Johannes, der getauft hat. Aber in Zukunft werde jeder größer sein als Johannes, der getauft hat. Johannes’ Feuer ist an jenem Sabbat erloschen, doch den Bruder hat er mit seinem Tod entflammt. Wir hatten ihn und Mutter bis zu diesem Tag jeden Monat einmal besucht. Den klebrigen Fischgeruch, den wir in unseren Haaren nach Hause trugen, haben wir tapfer ertragen, den üblen Geschmack, den jene, die wir mit weintrüben Augen in den Gassen liegen sahen, hinterließen, später mit Nazareths Wassern aus unseren Mündern gespült. An diesem Sabbat aber gesellte sich der Tod dazu. Die Nachricht von Johannes’ Festnahme und sein Ende waren damals bereits eins. Und du, Susa, verändertest dich, wurdest noch stiller, verlorst die Farbe an deinem Hals. Du stahlst dich davon, wenn ich begann, den Esel für Kafarnaum zu beladen. Ich dachte, es liege an ihm, an den Leuten, mit denen er sich umgab, die er Mutter ins Haus brachte, ungebeten, ungefragt, ich glaubte, an deinem Schweigen das Missfallen zu erkennen. Ich aber sage euch… Ich dachte, es sei dir peinlich, in den Gassen als seine Schwester erkannt zu werden, als Schwester Jesu, der sich in den Wassern des Jordans mit einer Krankheit des Geistes angesteckt haben musste. Ich wollte dich schonen, also begann ich, Ausreden für unser Fernbleiben zu erfinden. Ich dachte, ich täte es dir zuliebe. Warum hat mir niemand gesagt, dass ich es mir zuliebe tat? Ich wollte mich vor dem Feuer meines Bruders schützen. Zwei Tage zu Fuß durch den Staub, das bedeutete es, wenn wir zu Johannes’ Leuten in die kahlen Berge zogen, Kinder waren -20-
wir damals noch, alle noch unter einem Dach. Den müden Jabo an der Leine, das Tier beladen mit Wasser und Geschenken. »Darf ich oben sitzen, Mutter?« »Nein, Jakobus, du hast starke Beine, du kommst nach deinem Vater.« »Darf ich oben sitzen, Mutter?« »Warte noch, bis die Sonne untergegangen ist, Jesus, oder willst du, dass der Esel auf halbem Wege eingeht?« »Warum darf Jesus oben sitzen und ich nicht?« »Du bist doch mein Großer«, sagte Mutter. Ihr Großer. »Wer war zuerst da, er oder ich?« Manchmal hat mir Mutter bei dieser Frage über den Kopf gestreichelt. »Ist das wichtig für dich?« »Ja, es ist wichtig für mich«, sagte ich. »Alle wissen es, nur ich nicht.« Mutter hatte an mir vorbeigesehen, statt zu antworten. »Frag ihn«, hieß dieser Blick. Ich fragte ihn, als er, mit zusammengekniffenen Augen, den Steinen ausweichend, den Weg von der Synagoge herunterkam. »Wer von uns beiden war früher da, ich oder du?« Er sah erstaunt auf. »Ich«, sagte er. »Du?« »Ja, ich.« »Und warum bin ich größer und stärker?« »Bist du das?« »Ja, das bin ich.« »Dann bist vielleicht du der ältere. Aber ich war schon da.« Ich hätte ihm für diese Antwort ins Gesicht schlagen können. Was das heiße, nicht älter, aber schon da, was das wieder heiße, entweder älter und früher da oder nicht älter und daher nicht früher da, Idiot, Zwinkerchen. »Mutter sagt, manche Menschen sind immer da. Mutter sagt, ich war so oft da, dass ich schon ihre eigene Mutter gewesen -21-
bin. Mutter sagt, daher kommt das Böse.« »Woher?« »Dass wir glauben, wir sind nur einmal da.« »Sag das nur nicht in der Synagoge!« Ich ging zu Vater. Doch der sagte nichts, selbst jetzt nicht, wo es um alles ging. »Vater, ich bin doch älter als Jesus. Warum hat Mutter ihn lieber?« Ein Verdacht nur, doch nagend, ein einziges Mal ausgesprochen vor dem Vater, dann nie wieder, und auch damals sogleich der Rückzug: »Also bin ich nun der Erstgeborene oder nicht?« »Was war zuerst da, Sohn, der Kern, der aus dem Granatapfel kommt, der von dem Baum kommt, der aus dem Kern kommt, oder der Baum, der aus dem Kern kommt, der aus dem Granatapfel kommt, der von dem Baum kommt?« »Vater, das ist keine Antwort. Gib mir eine Antwort! « Doch Vater schwieg und schlug wieder seinen Stein. Das muss der Winter vor den Tagen gewesen sein, die ich heute noch rieche. Tief in meinem Bauch sitzt der üble Geruch, meine Gedanken bäumen sich dagegen auf. Aber im Krebsgang suche ich die Vergangenheit: Warum, Vater, bist du damals gegangen? In hunderten Tagen und Nächten jagte ich, Kind noch, in meinen Träumen vergeblich nach dem Grund für das Verschwinden meines Vaters. Von nirgendwoher eine Antwort. Mutter, Jesus, ihr bliebt, merkwürdig genug, wortlos. Als gäbe es nichts zu fragen, als gäbe es nichts zu suchen, als hätte kommen müssen, was kam. Nur dich, Susa, sah ich, wie mich, auf der Jagd und, wie mich, jeden Morgen von neuem erfolglos heimkehren. Es war Zachäus, der mir die Beute eines Tages, als ich längst im Mannesalter stand, ausgeweidet auf den Tisch legte. Hätte ich wissen können, dass eine Ratte in dem Fell versteckt war, die sich, kaum hatte ich hingegriffen, in meiner Hand verbiss? »Dein Vater ging für eure Mutter«, sagte Zachäus. »Alle haben -22-
es gewusst, sie selbst wohl am besten, aber bestimmt auch Jesus, ihr Lieblingssohn.« Zachäus muss die Wirkung seiner Worte erkannt haben, denn sein Ton wurde nun mit jedem Wort süßer. Ich sei, sagte er, einer der ihren geblieben, ein Nazarener, anders als Jesus, der habe sich für Kafarnaum entschieden und schwinge dort große Reden, umgebe sich mit Gesindel, allen voran die Verräterin, Mirjam, die sich die Haare mit Safran färbe wie die Huren im Hafen. Einst sei sie eine kluge, vernünftige Frau gewesen, jetzt werfe sie meinem verwirrten Bruder, den man in keine Synagoge mehr lasse, das Silber hinterher, mit dem sie ihr Mann zurückkaufen wollte. »Nimm den Speer wieder herunter, Freund, beende die Jagd nach dem Geist deines Vaters! Deine Schwester braucht dich jetzt mehr.« »Um meine Mutter zu schützen?«, fragte ich nach, scheinbar gefasst, doch ahnungslos, gierig auf eine Antwort, ich vermochte die Ratte nicht zu riechen. »Hätte dein Vater ihr Verbrechen bezeugt, wäre sie gesteinigt worden oder, da Josef aus Davids Haus kommt, sogar verbrannt.« »Verbrechen?« Es traf mich wie ein Blitz über dem Großen Meer, dass in diesem Moment die Ratte zubiss, spürte ich nicht. Mit einem Mal schien alles hell, klar. Alles, was bisher im Dunkel des Verdachts gelegen war, zeigte im grellen Licht des Blitzes seine Fratze. Verbrechen. Jesus das Kind eines anderen. Nur das konnte Zachäus gemeint haben. Du bist der ältere. Aber ich war schon da. Der Bruder ein Kind der Schande. Mutters Kind. Aber nicht Vaters. Wie lange lebte ich schließlich mit dieser falschen Wahrheit? Doch die Schuld dafür trug Zachäus nur halb. Die Ratte verbiss sich in mich, weil sie mein faules Fleisch gerochen hatte. Die Tage, die ich heute noch rieche. Der Geruch steckt tief in meinem Bauch, er will heraus, im Krebsgang suche ich die -23-
schwere Vergangenheit. Scheinbar weiche ich zurück und gehe doch in Wahrheit seitwärts auf und davon. Ich wage es nicht, den Blick von der Zukunft zu nehmen. Erinnerst du dich, Susa? Wir waren auf dem Weg zu Tante Elisabeth und Zacharias. Doch diesmal wussten wir nicht, aus welchem Anlass. Diesmal kein Festtag. Diesmal keine Geschenke. Diesmal keine fröhliche Miene bei Mutter, als wir uns dem Haus näherten. Alles war anders, alles wurde anders. Als wir Kinder vom Acker her riefen, wie jedesmal, um sie auf unser Kommen vorzubereiten, hielt uns Mutter zurück. »Schreit nicht, Kinder, sie erwarten uns.« Doch niemand kam uns entgegen. Im Dunkel das Haus, als wir über die Schwelle traten. Die Anwesenheit der Alten nur in den Nasen, der Lehm hatte ihren Geruch angenommen. Die Tante empfing uns an der Leiter, wo sie uns wortkarg wie nie – nach oben führte. Zacharias war beim Glätten des Daches, da Regen bevorstand, Johannes entdeckten wir schließlich im Halblicht beim Füllen der Vorratskrüge. Nirgendwo zuvor und nirgendwo danach habe ich Fenster kleiner empfunden als damals jene in dem Haus der beiden Alten. Und dennoch, nicht eine Lampe, die das Haus erleuchtete. Gefiel sich Johannes deswegen später so in dem grellen Licht, in das er sich selbst getaucht hatte? Und dann der verbotene Raum. Wir hatten davor nie hineindürfen, auch Johannes war es nicht erlaubt, in den verbotenen Raum zu gehen. Früher war eine Truhe vor der Tür gestanden, wenn wir kamen. Jetzt stand dort der steinerne Ofen, den man vom Hof in das Haus geschleppt hatte, als ihn draußen niemand mehr benutzen wollte. Wie konnte Tante Elisabeth den verbotenen Raum betreten? Durch welche Tür? Es war, daran bestand kein Zweifel, ihr Raum. Mutter wusste um das Geheimnis, auch daran kein Zweifel. An diesem Tag haben wir sie darin schreien gehört. »Ist es Mutter, die da geschrien hat?« Jesus hörte die Schreie -24-
als erster. Wir spielten vor dem Haus. Hochzeit oder Totenklage, nicht Stockball jedenfalls wie sonst, das ist mir erinnerlich. Johannes hatte seinen Vater, den Priester, in die Synagoge begleiten müssen. Er war es, der die Schläger und den Ball besaß, ohne ihn konnten wir nicht Stockball spielen. »Mutter? Im verbotenen Raum? Da hast du dich verhört, Bruder!« Mutter liege oben, das Fieber sei über Nacht in sie gefahren, so habe es beim Morgenkäse jedenfalls die Tante erzählt. Doch Jesus ist nachschauen gegangen. Immer alles ergründen, hinter die Dinge schauen, unter die Dinge, über die Dinge, statt, wie andere, einfach die Dinge zu sehen, so war er damals schon, mit zusammengekniffenen Augen. »Kommt, schnell!«, hat er gerufen. Und wir ihm hinterher. Eingetaucht in das lehmige Dunkel, die Augen blind, kauerten wir uns rund um den Ofen und lauschten. Ja, es war Mutters Stimme, die da durch das Rohr des Ofens brach. Ungewöhnlich laut. Klar. Worte an Elisabeth. Elisabeths Worte an sie zurück. Dann war sie plötzlich still. Und dann nur noch diese andere Stimme. Die Stimme eines Mannes. Ich kannte sie, aber ich erkannte sie nicht. Die vertraute Stimme eines Fremden. Wie war jener in das Haus gekommen? Weißt du noch, was Mutter gesprochen hat, Susa, hast du sie damals verstanden? Ich erinnere mich kaum an die Worte, und für ihren Sinn war ich damals wohl zu dumm. Und Jesus? Er saß der Tür am nächsten, das Ohr dicht am Ofenrohr, als uns der verbotene Raum Sätze vor die Füße spuckte, die nicht für uns bestimmt waren. Er war es, der uns plötzlich wegzog. »Kommt«, sagte er, »hinaus!« Der Name unseres Vaters ist gefallen, immer wieder, ich weiß noch, dass ich beim Nennen seines Namens erschrocken bin, und deiner, Jesus, mehrmals. Und dann diese Töne, die Mutter gegen Schluss von sich gegeben hat. »Das war doch, als hätte ihr einer den Mund zugehalten«, sagte ich. Wir waren nicht mehr in der Stimmung zu spielen. Dann -25-
meine Idee. Wir werden Johannes in den Brunnen lassen und erst wieder heraufholen, wenn er uns verraten hat, welches Geheimnis hinter der Türe verborgen ist, zu dritt würden wir es schaffen, wenn wir zusammenhielten. Ich blickte zu Jesus. Er vermied es, mich anzusehen. Aber er widersprach nicht. Also warteten wir. Hätte uns Johannes das Geheimnis verraten? Hätte er es uns verraten können? Hätte er, der bereits mit der krächzenden Stimme des werdenden Mannes geschlagen war, uns damals verständlich machen können, was ich selbst erst so viele Jahre später verstand, deinem Sterben lauschend, Mutter, deinen Worten am Totenbett oder besser: dem lauschend, was ich zwischen deine Worte geraten sah, Nichtgesagtes, so lange an das Gesagte gefügt, bis es erkannt war: Du, Mutter, hattest nicht noch ein Kind gewollt, das du würdest erziehen müssen, um es zu verlieren. Elisabeth, die Frau des Priesters, hatte dir ihre helfende Hand geboten, ein Zimmer und ihr Schweigen. Wir warteten damals vergebens auf Johannes. Dafür rief uns gegen Sonnenuntergang Mutter zu sich, an das Bett, in dem wir sie den ganzen Tag über vermuten sollten, rief uns mit hoher, harter Stimme, wie wir es von ihr gewohnt waren. Nein, sie rief dich, Jesus, rief, wie immer, deinen Namen, wir nur dabei, so selbstverständlich wie die Flosse an dem Fisch, auf dessen Fang man wartet. »Geht es dir wieder gut, Mutter?« »Ja, Jesus, so schlimm ist es nicht, geh spielen!« »Geht es dir also nicht mehr schlecht, Mutter?« »Nein, mein Großer. Bereite den Esel vor. Wir werden morgen nach Hause fahren.« Es brannte mir auf der Zunge: »Wer war der Mann, mit dem du vorhin gesprochen hast? Unten.« Da drehte sich Mutter mit einer schnellen Bewegung zu mir, schon sehe ich den Zorn aus ihren Augen fahren. Jesus muss sich eilig vor mich gestellt haben, denn er, nicht ich, bekam den Schlag ins Gesicht. Du wolltest mich damals beschützen, -26-
Bruder, ihren Zorn auf dich nehmen. Unempfänglich warst du schon für die Wut irdischer Eltern geworden, Ungehorsam gab es für dich nicht. Ich erinnere mich an deine letzten Jahre in der Synagoge. Wie ungern bist du hingegangen. »Muss ich denn gehen?« »Natürlich, jeder muss.« »Wer sagt, Mutter, dass jeder muss?« Sie sage das, und Moses sage es: »Du sollst das Kind mit der Tora mästen, wie du den Ochsen mästest mit Heu.« »Aber wir sitzen ja doch nur gelangweilt auf der Bank und sprechen, ohne zu verstehen, nach, was der Einäugige vorliest.« Du hast in Zweifel gezogen, Jesus, was in Zweifel zu ziehen verboten war. Die Säulen und Gefäße und Töpfe und Kelche und Worte, so hast du geklagt, lenkten dich ab, immer habe man Dinge vor den Augen und Worte in den Ohren, statt Menschen vor den Augen und Gott in den Ohren. »Nicht Gottes Söhne sind wir in diesem Tora-Haus, sondern Söhne Pantheras.« Mutter verstand nicht. Ich schon. Man hatte dir erzählt, dass das ToraHaus vor vielen Jahren aus dem Speisesaal eines abgerissenen Hauses entstanden sei, das einem gottlosen Römer mit Namen Bandira oder Panthera gehört habe. Du mochtest den Namen vor Mutter arglos gebraucht haben, da begann ich, ihn gegen dich zu verwenden. Um dich ein wenig zu ärgern, der eine Bruder den anderen, arglos im Grunde, das Verhängnis nicht ahnend, das Worte mit sich bringen können, wenn einer sie falsch verstehen will. Mir, Kind noch, ging es nur darum, den Bruder zu necken. Ging es mir nur darum? »Sohn des Panthera, du musst heute wohl von einem Schwein gegessen haben, so wie es hier stinkt!« – »Seht her, der Sohn des Panthera ist sich zu gut für die Arbeit am Weinberg, schläft unter den Reben, statt sie zu zählen.« Sogar der einäugige Diener tat mit. »Und, Sohn des Panthera, was hat Elija im zweiten Buch der Könige am Jordan getan?« Wir haben damals -27-
ganz kurz nur unseren Spaß gehabt, du hast meistens dazu gelacht. Dich hat der Name überlebt, Bruder, nein, er hat zu leben erst begonnen, da warst du lange schon tot. Sohn des Panthera, so nannten sie dich zuletzt, verächtlich. Wie wohl der Name hierher gekommen sein mochte, in die unheilige Stadt, so weit von Nazareth entfernt. Sogar die Alten nennen dich den Sohn des Panthera, sie müssten es besser wissen. Mir, deinem Bruder, haben sie den Vater nie abgesprochen, und doch habe ich nie einen gehabt. Dich, der du Sohn keines Vaters bist und aller Väter zugleich, machten sie zum Sohn eines Gottlosen. Das ist ihre Rache. Warum auch hast du Gott vor ihnen Vater, nein, schlimmer noch: Abba genannt, Väterchen? Nie hast du dich selbst als Gottessohn bezeichnet, warum dann ihn, verniedlichend, als Väterchen? Du hättest wissen müssen, dass du sein Volk damit beleidigen würdest. Als Söhne Israels glaubten sie, ein Recht auf ihre Säulen zu haben. Die Säulen hast du niedergerissen und ihnen stattdessen deinen Blick gegeben. Wie konntest du annehmen, dass sie diesen Tausch gutheißen würden? Damals, als du vor Mutter sagtest, du wollest nicht mehr in die Synagoge gehen, glaubte ich dich zu verstehen. Die vielen Säulen vor der Bank, auf der wir saßen, still sitzen mussten, selbst wenn wir sprachen, verhinderten, das meintest du wohl, dass der Geist des Herrn in unsere Seelen drang. Du machtest die Säulen und Gefäße, die Töpfe und Kelche dafür verantwortlich, dass wir Gott nicht begriffen. Du hättest uns dafür verantwortlich machen sollen. Denn uns war es recht. Wir, froh darüber, dem Blick des Einäugigen entzogen zu sein, waren, während wir fleißig die Worte der Könige und Propheten sprachen, in Gedanken beim Stockball oder beim Fischen im Boot auf dem See. Dennoch, oder gerade deswegen, glaubte ich dich zu verstehen. Ich sagte zu Mutter, Vater könne dir fortan die heiligen Worte deuten, an den Abenden nach der Arbeit, damit du sie besser verstündest. Da sagtest du, du -28-
wollest deine eigene Schrift. »Ich will meine eigene Schrift«, sagtest du, »Johannes hat auch eine.« Mutter überlegte einen Tag, dann gab sie dir meine, die des Erstgeborenen, die des Gottgeweihten. Ich wurde nicht gefragt. An deiner Ablehnung der Synagoge änderte sich nichts. Bald hast du den Diener in dein Missfallen eingeschlossen. Du wolltest dich seinem strengen Ton nicht mehr fügen. Immer wieder kam es dazu, dass du, während die anderen gehen durften, bleiben musstest. Ob du denn dieses oder jenes Wort nicht verstanden habest? Ob du denn dieser oder jener Auslegung nicht folgen könnest? Ob du denn verstündest, was der Herr mit »Brot«, mit »Krug«, mit »Stab«, mit »Schaf« gemeint habe? »Ja, ich habe es verstanden.« Da standest du mit zusammengekniffenen Augen. »Nein, Sohn, denn du hast nicht mit dem Herzen zugehört.« »Doch, frage mich.« »Wozu die Laus fragen, wie der Wein schmeckt?« Der Einäugige hatte immer öfter Mühe, sich zu beherrschen. Oft wurde ich Zeuge eures Streits. »Ach, Jakobus, warum schlägt dein Bruder nicht nach dir?« »Er ist eben anders, Herr. Darf Jesus jetzt trotzdem gehen?«, flehte ich. Meistens ließ dich der Diener auf meine Bitte hin gehen, aber manchmal war jede Fürsprache vergebens. Und dann, ich weiß nicht, warum, begann ich Mal für Mal zu weinen. Stand da, vor dir und ihm, ich, Jakobus, der ältere, und weinte mir die Seele aus dem Leib. Wenn wir nach Hause kamen, waren die Spuren der Tränen in meinem Gesicht. »Hast du wieder für ihn geweint?«, fragte Mutter. Ich brauchte darauf nicht zu antworten, ihr nächster Satz war stets der gleiche. »Gut so, Jakobus, du hast gut daran getan, für Jesus zu weinen. Denn hätte Kain den Herrn richtig verstanden, er hätte für Abel geweint, statt ihn zu töten.« -29-
Ich habe deinetwegen geweint, Bruder, gewiss, aber habe ich für dich geweint? Oder doch nur für mich? Tränen, das weiß ich heute, alt geworden, sind selten für einen anderen da. Jesus hat Mutters Schlag genommen ohne ein Wort der Klage. Und kein Wort der Erklärung gab es für uns. Tante Elisabeth war am Abend freundlich wie stets, wir bekamen zum Nachtmahl Honig, ich hatte kein Verlangen danach. Johannes und seinen Vater, den Priester, sahen wir an diesem Abend nicht mehr. »Wir werden Johannes besser doch nichts davon sagen«, sagte Jesus, du erinnerst dich, Susa?, vor dem Schlafengehen. Jesus sprach von Johannes wie von einem Bruder. Es war der Abend vor dem Tag gewesen, an dem Vater ging. Wir waren auf dem Rückweg nach Nazareth. Jerusalem weit hinter uns, Mutter auf dem Rücken des alten Jabo, seltsam erschöpft, blutleer im Gesicht, die nachtschwarzen Haare, die ich sonst in festen Strähnen über ihre schmalen, nackten Schultern tanzen sah, waren zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden. Mutter lag mehr auf dem Tier, als sie darauf saß, ihr Kopf baumelte über Jabos Hals, eine Hand hatte sie in sein Fell gekrallt, die andere hing für Jesus herab, daneben Susa. Jesus, die Hand in jener Mutters, stolpernd neben dem Tier. Ich voran über den weißen Staub, dem Schicksal davon und doch hinterher. »Ist das nicht der Stumme?«, hörte ich Susa plötzlich rufen. Ihre Hand deutete zurück. Ich drehte mich um. Ich schärfte die Augen, sah unter der Schatten spendenden Hand genauer hin. Ich erkannte ihn, klein hinter uns. »Ja, das ist der Stumme«, sagte ich. Und dann sah ich Mutters Blick, an jenen meines Bruders geheftet. Jesu Augen waren weit aufgerissen, was sah er? Warum lag so viel Traurigkeit in ihnen? Mutter trank aus seinen Augen, ihre Hand immer noch in seiner. Mir war, als färbte sich der Boden vor ihren Füßen rot. »Der Herr sei mit dir«, sagte Mutter, als uns der Stumme -30-
einge holt hatte. Der Fremde hob zur Antwort seine Hände über den Kopf, legte sie mit den Innenseiten aneinander wie zum Gebet. Doch anders, als wir es tun, hielt er die Finger dabei gegen den Himmel gestreckt. Welch seltsamer Gruß, du erinnerst dich, Schwester? Wortlos standen sie einander gegenüber, Ewigkeiten lang. Mutter, die vom Rücken des Tieres geglitten war und dem Stummen nun ebenso stumm gegenüberstand. Dann streckte der Stumme Mutter die geschlossene Hand entgegen, öffnete sie für einen Moment, ehe er sie sofort wieder schloss. Ich habe, Schwester, ich schwöre es, damals erkannt, was der Stumme Mutter zeigte, schnell, wohl, um bei uns Kindern keinen Verdacht zu erregen. Ich habe Vaters schwarze Steine erkannt. Ich habe den Stummen verflucht. Die Begegnung mit ihm und das Verschwinden des Vaters, die, fühlte ich, gehörten zusammen. Und mehr noch: Musste ich denn nicht annehmen, dass auch Mutter und Jesus damit zu tun hatten, in einem unseligen Zusammenspiel, das mir verborgen bleiben sollte? Ja, Susa, ich habe Schlüsse gezogen, wenn auch die falschen. »Wo ist Vater?«, habe ich gefragt. Immer wieder, nachdem wir das Haus leer fanden. Leer und aufgegeben bis auf die Kräuter, die Mutter sofort verbrannte. Am ersten Tag war in meiner Frage noch Zuversicht. »Wo ist Vater?« »Er wird morgen kommen.« Am nächsten Tag: »Wo ist Vater?« »Er wird kommen.« Am dritten Tag: »Er wird sicher kommen.« Dann: »Er wird sicher noch kommen.« Zuletzt die Wahrheit: »Er wird nicht mehr kommen. « »Also stimmt es, was Jesus sagt? Vater hat uns verlassen?« »Es stimmt, Jakobus, dass er mich verlassen hat, aber nicht euch.« Deine Antwort, kleine, harte Mutter, war von Tränen begleitet. -31-
Doch Tränen genügten mir nicht, dich aus meinem Unglück zu entlassen. Ich beharrte darauf: »Warum hat er uns verlassen?« Wie viele Stunden habe ich mit der Jagd nach der Antwort auf diese Frage verbracht. Als mir Zachäus Jahre später den falschen Hasen auf den Tisch legte, glaubte ich, sie sei vorbei. Das Verbrechen, das Mutter begangen haben musste, war Untreue. Du hättest sie öffentlich anklagen sollen, Vater, statt zu fliehen, dies war mein erster Gedanke, sie hätte die höchste Strafe verdient, oder ihr den Scheidebrief geben, denn dann hätte ich den Vater nicht verloren. Aber nein, du musstest gehen und warfst mich, obwohl ich dir freiwillig an den Haken gegangen war, in mein Leben zurück, wie man am Großen See den unreinen Fisch ins Wasser zurückwirft. Ich irrte. Vater war nicht gegangen. Er hatte sich nur ausgetauscht. Du, Susa, hast Vater in der Gestalt des Stummen wiedergefunden. Er war es, der dir geholfen hat, dein Kind im Dunkel der Nacht zur Welt zu bringen. Er war es, der dein Kind viele Jahre später aus den Betten der Römer befreite. Er war es, der da war, in allen Zeiten und Räumen. Er war es, der Jesu Erbe auf dein Kind übertrug. An mir, der ich blind war, vorbei. Ohne ihn gäbe es uns nicht, uns, die sie heute Christianoi nennen. Wenige Jahre ist es her, du erinnerst dich, Susa?, dass wir dem Stummen das letzte Mal begegneten. Hier war es, hier in Jerusalem. Sein Gesicht platt wie das des Rochen, die schief sitzenden Augen, die glatten schwarzen Haare, immer noch zu einem Knoten gebunden, wie wir es nur von Frauen kennen. Fast schien es, als trüge er dasselbe Tuch wie damals, als er Mutter im Staub die Zeichnung gab, auf welcher Vater fehlte. Wir begegneten ihm in den Tagen, an denen für uns die Nacht anbrach. Wir befanden uns auf dem Weg von Daniels Haus zum Abendmahl. Müde waren wir geworden, gebeugt, an diesem -32-
Abend auch im Herzen. Ich hatte die Ältesten unserer Gemeinde in Daniels Haus gebeten, um mit ihnen für Saul das Brot zu brechen. Saul, der sich nur noch Paulus nennen ließ. Man hatte mir an diesem Tag die Nachricht von seiner Gefangennahme gebracht. Sie würde, daran bestand kein Zweifel, diesmal seinen Tod bedeuten. Nein, Saul, nicht, weil ich dich mochte, nicht deswegen bin ich in dieser Nacht fast erstickt, ich habe dich nicht gemocht. Zuerst der Täufer, dann du, zwei Köpfe, ein Herz. Ihr wart es und euresgleichen, die Jerusalem gegen uns aufbrachten, ihr seid es, derentwegen sie uns heute jagen. Da der Sohn des Priesters, der niemandem Recht geben konnte, der glaubte, sein brennendes Herz in den Wassern des Jordans löschen zu können, dort der Sohn der Pharisäerin, einmal Jude, einmal Römer, voll Hass einmal gegen jene, dann gegen diese. Nein, nicht weil du uns zum späten Freund geworden wärest, fühlten wir unsere Herzen schwer wie Stein, Saul, sondern weil in dir, in deinem bevorstehenden Tod unser Scheitern enthalten war. Wenn nicht einmal du, Saul, mit deiner gnadenlosen Rechthaberei stark genug warst, deinen Willen in unsere Gemeinden zu tragen, wie sollte dann sein Vermächtnis überleben? Dein Vermächtnis, Bruder, als später Samen in unsere Köpfe und Herzen gelegt. Die Ältesten waren von jeher nicht bereit, deine stolzen Worte statt der Gottes zu nehmen, ich aber sage euch…, wer wollte es ihnen verübeln? Wir hier, geduldet gerade noch in den verdunkelten Häusern der Mutigsten, klägliches Häuflein, das wir geworden sind, waren dabei, in den flammenden Spuren, die du gelegt hast, zu verglühen. Saul goss immer noch Öl hinzu. Wir hatten ihn davor gewarnt, nach Jerusalem zurückzukehren. Jetzt hatten sie ihn in Ketten. Er würde es nicht überleben. Würden wir es überleben? Sind wir die richtige Wahl gewesen? Ich, Jakobus, dein älterer Bruder und doch von Anfang an dir hinterher, nicht zuletzt, um dich vor -33-
mir zu sehen. Hunderte Male habe ich dir die Hand sanft wieder auf den Tisch gelegt, die du so streng erhoben hattest. Ich aber sage euch…, hä ttest du doch weniger gesagt und mehr auf mich gehört! Wir waren also auf dem Weg, um in Daniels Haus das Brot zu brechen, die Köpfe leer und doch zum Bersten voll, da habe ich dich, stummer Freund, leibhaftig wieder gesehen, nach so vielen Jahren. Du standest einfach da, im Weg. Standest plötzlich vor uns, scheinbar unverändert, scheinbar ohne Alter, wie aus der fernen Zeit geschnitten und in die Gegenwart eingefügt, klein, schmal, stumm, und hobst dieselbe Hand zum gleichen Gruß wie damals vor Mutter im Staub Galiläas. Susa, du musst ihn noch vor mir erkannt haben. Du zupfst plötzlich an meinem Ärmel, grob, lässt den Stoff nicht los, rufst, wie gewohnt, halblaut nur, undeutlich, kaum zu verstehen, an meiner Seite: »Schau!« Du reißt mich aus meiner Erstickung, deutest gerade nach vor, auf ihn hin, da steht er. »Geht weiter«, sage ich schnell zu den anderen, zu Rosa. »Geh, wir kommen nach.« Rosas Zögern, ihr Zaudern, ihr Blick, fragend zur Mutter, ohne Aussicht auf Antwort, doch folgsam wie stets, schon sind die anderen ins Dunkel der Nacht abgetaucht. Wir sind allein mit dem Fremden. Wir erwidern den Gruß auf unsere Art. Was auch den Stummen fragen?, muss ich mir wohl gedacht haben. Und, vor allem, wie ohne Worte fragen? Mutter hat es gekonnt, wenn stimmt, was Jesus erzählt hat, früher. Da erhebst du, Susa, die Stimme, zum ersten Mal seit Jahren, sprichst klar. Ich drehe mich ungläubig zu dir, überrascht, dich sprechen zu hören, als hätte es die Geister in deinem Kopf nie gegeben, als hätte der Fremde sie mit einem Mal verscheucht, höre dich, meinen Blick auf deinen Lippen, sprechen, dann erst erfasse ich den Sinn deiner Worte. »Bist du es gewesen«, höre ich dich den Stummen fragen, -34-
gerade heraus, »der mein Kind den Römern in die Betten gelegt hat?«
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Die Nacht nach dem Urteil
Jakobus bereitet sich auf seinen Tod vor. Von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen, von Nero, dem verräterischen Hemdes und von der geheimen Schuld des Hohepriesters Ananus. Kein Zurück. Diesmal das Ende. Einzig Tiras ist gestern Abend im Sanhedrin zu mir gestanden, mit schwacher Stimme nur, der alte Mann, doch immerhin auf meiner Seite, er allein gegen vierzig. Jeder zweite Sitz ist leer geblieben, so wenig Gewicht hat mein Leben mit den Jahren bekommen. Ihm, Ananus, bin ich gewichtig als Last auf der Seele. Lange musstest du warten, Ananus, um dich von mir befreien zu können, ohne Aufsehen zu erregen. Jetzt hast du die Gelegenheit genutzt. Jerusalem ist ohne Prokurator, Festus abgesetzt, der Neue nicht einmal an Land gegangen. Gerade ein Ta g bleibt mir noch, die Zeit zwischen dem nächsten Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang. Diesmal mein Ende. Diesmal mein Tod. Sabbatbruch, Gotteslästerung. Hochverrat. Um sicher zu gehen, ist er sogar damit gekommen. Hochverrat, wie lächerlich! Wie hätte ich Rom denn verraten sollen? Und an wen? Von der Straße, Ananus, musstet du deine Zeugen gegen mich auflesen, bestechliche Kaufleute und betrunkene Soldaten, die mich für einen Becher Wein sogar an die Zeloten verkauft hätten. Der Hochverrat ist in Wahrheit deine hohe Kunst, Ananus, doch dafür ist der neue Herodes in Caesarea blind. Nero Honig um das gefräßige Maul zu schmieren, wird Agrippa nicht müde, Caesarea hat er in Neronias umbenannt, dem Schlächter zu Ehren. Mit protzigen Taufen glaubt er, saubere Siege zu -36-
erringen, während er taub ist für das schmutzige Wehklagen in den Gassen, mit dem eben der Vorkrieg zwischen unseren Völkern eingesungen wird. Dieser Herodes will nicht einmal hinsehen. Er hat sein Volk verraten, er ist schon jetzt mehr Römer, als er jemals Jude war. Überall lauern die zelotischen Dolchleute auf ein Zeichen, um die Paläste der Patrizier zu stürmen. Kaum ein Haus mehr in Jerusalem, in dem sie nicht das Gift der Zwietracht versprüht hätten, keine Fackel mehr in den Gassen der Heiligen Stadt, die nicht in Öl für das Feuer getränkt wäre, das uns alle vernichten wird. Doch niemand gebietet den Maßlosen Einhalt. Ananus, denkst du wirklich, ich hätte dein doppeltes Spiel nicht durchschaut? Uns Alte willst du aus dem Weg haben, damit wir das Feuer nicht mehr klein halten können, in dem du hoffst, deine Feinde nach und nach umkommen zu sehen: Heiden wie Juden, Priester wie Gesetzeswächter. Und zuletzt den dummen, eitlen Herodes. Ich komme dir als Opfer mehr als recht. Jetzt kann der letzte Zeuge deiner Schandtat für immer stumm gemacht werden. Schnell musstest du das Todesurteil über mich fällen. Das ist getan, keine sieben Stunden ist es her. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Susa, du schläfst. Die Geister bewahren deine Gedanken davor zu begreifen. Zuerst haben sie dir nur das Lachen genommen, nach und nach auch die Worte. Bei Jesu Tod bist du dabei gewesen, damals, vor fast fünfunddreißig Jahren, du neben Mutter. Wirst du mich heute auf dem Weg zum Henkersplatz begleiten? Und welches Schicksal, frage ich mich, wird dich nach meinem Tod erwarten? Ich habe vergebens nach dem Stummen schicken lassen. Wie viele Jahre dachte ich, er sei der Dämon, den der Satan selbst in unser Haus gebracht hat. Im Schatten der Sprachlosigkeit sah ich ihn lauern, wie im Schatten des Felsens die Katze lauert, die auf die Gelegenheit zu reißen wartet und sich dem Hirten erst zeigt, wenn sie ihn bereits beraubt hat. Warum nur sah ich in -37-
ihm die listige Katze und nicht den mächtigen Adler, der hoch über den Felsen seine Kreise zieht, um den eigenen Horst zu bewachen? Ich weiß heute, alt geworden, dass es mit uns ohne ihn anders gekommen wäre, mit dir, Jesus, mit unserem Haus, mit mir, bestimmt mit dir, Rosa. Ich habe so sehr gehofft, ihn einmal noch zu sehen, und gleichzeitig habe ich Angst davor. Er ist mehr als ein Mensch. Er ist, Bruder, irre ich mich?, für alle Zeiten das, was du für die Dauer deines kurzen Lebens warst, er steht nicht in, sondern zwischen den Räumen, die wir Leben nennen. Rosa wird jenseits des Jordans ins heidnische Pella gehen müssen, ich habe bereits ihr Wort darauf. Wie ähnlich sie Mutter geworden ist, doch stark konnte sie werden, wo Mutter nur hart geblieben ist. Sie ist es, in deren Hände ich das Vermächtnis meines Bruders lege. Ananus wird Rosa in Pella nicht vermuten, denn unsere Stärke, auszuweichen, ist ihm wesensfremd, und die Blicke der Römer, scharf gestellt auf uns Christianoi, sehen über unsere Frauen hinweg, als wären sie Luft. Christianoi, so nennen sie uns neuerdings, auch gestern nannten sie uns mit diesem Namen, als sie ihr Urteil gegen mich sprachen, Christianoi, die Anhänger des Christos, jetzt also sogar schon in Jerusalem. Welch großsprechender Name für das elende Häuflein, das wir geworden sind. Doch besser immerhin, einen eigenen Namen zu bekommen, als mit den Dolchleuten in einen Topf geworfen zu werden. Von ihnen wird nichts übrig bleiben. Sie sind, wie der Täufer war, sie machen sich alle zu Feinden, sie speien Feuer, das zerstört, statt dass es wärmt. Ihn konnte man mit solchem Feuer entzünden, den großen, nie groß gewordenen Bruder, er fing es wie Stroh und verbrannte darin. Wie ich die Brandstifter verachte, auch die in den eigenen Reihen. Zuerst Johannes, dann Saul, auch der wurde schließlich zum Opfer des selbst gelegten Feuers. Ich hatte ihn davor gewarnt, nach Jerusalem zurückzukehren. Die Häuser der -38-
Heiligen Stadt, ließ ich ihm ausrichten, seien längst zu trocken, um seinem hitzigen Atem standzuhalten. Was Jerusalem braucht, ich weiß es, ist nicht das Feuer, sondern das Wasser der regnenden Nüsse. Jetzt liegt Saul in Ketten auf dem Schiff, das ihn nach Rom unter das Schwert bringen wird. Lange hat er nach seiner Gefangennahme gegen das Todesurteil angekämpft, doch die eigenen Leute hier in Jerusalem ließen ihn fallen. Feuer greift nicht auf verbrannter Erde. Ich werde mich gegen meinen Tod nicht wehren. Ananus hat sich nicht verrechnet. Dabei konnte ich es zunächst kaum glauben: »Wegen Verstößen gegen die Gesetze Moses’ klagst du mich an, Ananus? Du? Ausgerechnet du?« »Schweig, alter Mann, bis die Zeugen an der Reihe sind. Du hast den Vorwurf jetzt gehört.« Seine ungeduldige Gestik sollte mich einschüchtern, sollte mir Warnung sein, den Mund nicht aufzutun, sollte mich für den Moment zum Schweigen bringen, so wie mich mein Tod für den Rest seines Lebens zum Schweigen bringen sollte. Und ich schwieg. Ich durfte Rosa, die der Schlange in ihrem Unterleib nun endlich den Kopf abgeschlagen hat, nicht in Gefahr bringen. Doch was, Ananus, wenn ich gesprochen hätte, statt zu schweigen? Das Erbe des Heuschreckenessers Wie Jakobus Jesus vor dem Mob rettete, der ihn als »falschen Propheten« über den Felsen stürzen wollte, wie er Rosa, deren Herkunft sich endlich klärte, durch List verlor, und wie er vierzehn Jahre nach Jesu Tod nach Jerusalem aufbrach, um dessen Erbe weiterzutragen. »Wo willst du hin, Kind? Schon wieder! Gekleidet bist du wie die Hafenweiber, die den Fischern gefallen wollen, und deine -39-
Augen vergrößerst du dir mit schwarzen Pasten wie die Dirnen, die man in die Lager der Römer schickt.« Ich, der ich Rosa fraglos Vater geworden war, hörte dich, Susa, im Hinterhof des Hauses bei meinen Steinen laut auf Rosa einreden. Wie oft hatte ich bis dahin schon auf Seiten des Kindes eingegriffen. Schwester, warum solche Worte? Rosa kleide sich, wie sich junge Frauen eben kleideten, ein wenig Freude sei ihr doch zu gönnen, lese sie denn nicht in der Thora, wie es sich gehöre, helfe sie ihr, der Mutter, denn nicht auf den Äckern? Und ihm sogar mit Hammer und Meißel, wo immer es ihre Kraft erlaubte? »Susa, so lass sie doch!« Susa verstummte, ich spürte Rosa von hinten auf mich zutreten. Ohne hinsehen zu müssen, hatte ich ihre aufblühende Gestalt vor meinen Augen: Voll waren ihre Lippen geworden, üppig die Rundungen unter dem Hemd. Lange und heftig kamen die Tage der Unreinheit über sie. Kaum sechzehn war Rosa und reif für die Ehe. Ohne jede Scham waren die Blicke der unverheirateten Männer, die an meinem Haus, am Haus des Steinmetz, vorbeigingen. Und schamlos durften ihre Blicke sein, galten sie doch dem Kind der Schande, vor dem ein Mann die Lüsternheit nicht zu verbergen zu brauchen glaubt. Susa, auch du sahst nicht, was Schreckliches kommen sollte an diesem Sabbat. Und so verlorst du, die du Menschen immer nur verloren hast, nie gewonnen, an diesem Tag deine Tochter. Nach dem Vater, der Mutter, der Freundin, dem Bruder nun auch dein Kind. Was hatte dich Rosa gegenüber so misstrauisch, so bitter, so böse werden lassen? Das Misstrauen gegenüber deinem Kind war von seiner Geburt an gewachsen wie das Unkraut im Wein. Und ich war zu müde, um es zu jäten, als es noch jung war. Ja, ich war müde geworden. Müde nicht nur im Fleisch, müde vor allem im Geist durch die vielen untauglichen Versuche, das schwierige Erbe in den richtigen Booten über das Meer zu schicken, in deinem Sinne weiterzuführen, Bruder, was -40-
du begonnen hast, ja, müde geworden allein durch den Versuch zu erkennen, was du begonnen hast. Auch in unseren Reihen waren mit den Jahren die falschen Propheten an die Ruder gekommen. Jene sprachen zu Fremden in den Gassen die loderndsten Worte, die abends mit erfrorenen Herzen bei ihren Familien saßen. Und jene begannen, dein Erbe in Pacht zu nehmen, die das Gesetz nicht mehr kennen wollten, nicht die Väter Israels und nicht das Heilige Buch, jene, die immerzu scharf sahen und übersahen, dass scharfe Blicke vor allem ein Talent haben: jenes, anderen Schmerzen zu bereiten. Wie anders, so hörte ich später, hatte es nach deinem Sterben begonnen. Wie stark und doch nachgiebig, wie entschlossen und doch großherzig waren die Zwölf gewesen. Eine Synagoge sollte entstehen für alle, die das neue Israel sein wollten, und nicht nur für jene, die glaubten, durch das Befolgen von Gesetzen bereits bei Gott zu sein. Sie brachen weißes Brot in deinem Namen, Bruder, sie tranken roten Wein in deinem Namen, sie gedachten deiner, indem sie miteinander aßen und andere einluden, mit ihnen zu essen. Patrizier und Bettler, Kaufleute und Marktweiber, die Töchter der höchsten Priester und die Mütter der geringsten Zöllner. Was dein Leben nicht vermocht hatte, vollbrachte dein Sterben. Es gibt ein Land, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt. Der Wind lässt sie zu Boden regnen, wenn sein mächtiges Kleid die Zweige streift. Manchen berührt dabei der Tod. Mancher schließt für immer die Augen. Doch dann ergießt sich süßes Wasser über sein Haar, und sein Leben steht in einem neuen Kreis. In einem neuen Kreis. Das war es. Eher wird der Regen das letzte Sandkorn weggespült haben, als dass die Leben aufhören werden zu sein. Mutter, so hörte ich in Galiläa, war Zeugin gewesen, vorne dabei, als du ein letztes Mal wiederkamst, bevor du in einen anderen Kreis tratst, damals, als jeder, der hören wollte, hörte, -41-
und jeder, der sehen wollte, hörte und sah, und jeder, der sprechen wollte, hörte und sprach. Mutter, so klein, so bleich, so hart, wie sie war, sie blieb vorne dabei, als du uns zeigtest, wie das Leben den Tod übersteht. »Ob du mir glaubst oder nicht, Jakobus, er ist unter uns geblieben, er ist nicht tot«, hat Mirjam gesagt, »er ist gestorben und trotzdem geblieben, ich weiß nur nicht, als welcher.« »Als welcher?« Ich kann nur gelacht haben, damals. Was könne einer, den die Römer gekreuzigt haben, anderes sein als tot? Und was all die anderen, die sie gehängt haben in den letzten Jahren, seien die etwa nicht tot? Der junge David, Judas’ Bruder aus Kerijot, sei der etwa nicht tot gewesen, als ihr ihn, angefressen schon von den Vögeln, vom Kreuz genommen habt, nachdem die Soldaten euch zwei Tage nicht zu dem hängenden Freund gelassen hatten? »Haben wir damals einen Geist eingegraben und begossen mit unseren Tränen?« »Ich habe es erfahren«, hat Mirjam gesagt. »Du hast es erfahren?« »Der Herr hat deinen Bruder ins Leben zurückgeholt.« »Mirjam!« Ich wusste nicht, ob lachen oder wütend sein. Ich werde wohl gelacht haben. Zwinkerchen ins Leben zurückgeholt? Der Herr? Etwa so: »Väterchen, ich bin nicht gestorben.« – »Ja, Sohn der Maria aus Nazareth, ich, der Herr, wecke dich auf, denn du bist nicht gestorben.« Deutlich noch sehe ich Mirjams Gesicht, steinern wie der Fels, den ich gerade beschlug. »Wir haben es«, sagte sie da, »immer falsch verstanden. Jesus hat es richtig verstanden.« »Was hat er richtig verstanden?« »Es ist nicht der Tod, der nach dem Sterben kommt.« Natürlich, du hattest es richtig verstanden. Es. Moses. Den Herrn. Alles. Immer. Ich sehe dich mit zusammengekniffenen Augen, wie ich dich anders in meinen Kopf nicht mehr -42-
bekomme, in der Synagoge stehen. Längst warst du zu einem aus Kafarnaum geworden. Um Nazareth zu besuchen, glaubten wir, seist du gekommen, das war nicht lange vor dem Tod des Täufers. Immer noch habe ich dein Bild vor mir, schmal warst du geworden, schmäler erschienst du mir noch als der Vater meiner Erinnerung. Ich sehe dich, die Hände zu Fäusten geballt wie ein Kind, weiß vor Wut in jener Synagoge stehen, die einst unsere Schule war. Du standest da und spucktest Feuer…. und die Blinden werde ich sehend machen. Ich hörte deine Worte, sie brachten mir den Schweiß auf der Stirn zum Gefrieren. Die umstehenden Leute antworteten dir mit eisigen Blicken. Du?, ohne Frau immer noch, ohne Arbeit. Du?, ohne Ansehen, ohne Geld. Du, der du deinem Haus den Rücken gekehrt hast, um in ein stinkendes Fischerdorf zu gehen, du wollest jemanden sehend machen? So stand es auf ihren Gesichtern. Sie zischten einander Worte der Ungeduld zu, der Empörung, des Spotts. Sie verstanden dich nicht, mehr noch, sie begannen, ich wusste nicht, was tun vor Scham und Wut und wieder Scham, über dich zu lachen, zuerst noch hinter vorgehaltener Hand, dann immer dreister, unverhohlen zuletzt, allen voran der einäugige Diener, dein alter Lehrer: »Sehend willst du die Menschen machen, du, der du bis zuletzt die Tora nicht aufsagen konntest? Du, Jesus, Sohn des Panthera, du willst heilen im Namen des Herrn?« Alle lachten sie auf, als Simon diese Worte sprach, Zachäus am lautesten. Und du standest da, mit zusammengekniffenen Augen, und machtest alles nur schlimmer. Bezogst auf diesen Makel den Spott, der doch einzig deinem Hochmut galt. »Ich weiß, was ihr sagen wollt«, sagtest du und griffst dir an die Augen. »Ihr meint wohl, wer Arzt ist, sollte es zeigen, indem er zuerst sich selbst…« Weiter kamst du nicht. Ich sah sie einander fassungslos ansehen. Nein, verrieten ihre Gesichter, das sei es nicht gewesen, was sie sagen wollten, das nicht. »Wer glaubst du denn, dass du bist?«, rief einer, dann noch einer, dann brüllten es alle, und lauter wurde der Spott von Augenblick zu -43-
Augenblick, verwandelte sich allmählich zu Hohn, wurde Gewalt. Ich erkannte es rechtzeitig. Du, Bruder, der du Zeit deines Lebens so wenig rechtzeitig erkannt hast, konntest nicht aufgeben, holtest stattdessen die alten Propheten hervor und verfügtest über sie, zitiertest Elija, begannst Elischas Worte in deinem Sinne umzudeuten, ohne Respekt, anmaßend, du verlorst nun endgültig den Boden unter den Füßen. Du schleudertest, aufrecht stehend zwar noch, aber deinen bebenden Körper hin und her wiegend, wie sich das Korn wiegt im Wind, flammende Speere nach uns, wie sollte da einer sein Herz öffnen können? Du warst, wie ein Blitz traf es mich, von Jesus zu Johannes geworden. Sie haben dich damals nur verschont, weil ich ihnen zuvorkam. Bis hinauf zum Abrahamsfelsen haben sie dich getrieben, dort lagst du, nur eine Handbreit vom Ab grund entfernt, unter ihren Fußtritten im Staub, wehrlos wie eine Blindschleiche unter den Schnabelhieben des Raubvogels. Nur Momente, bevor die letzten, die tödlichen Tritte gekommen wären, trat ich zwischen dich und die anderen. »Bleib in Zukunft, wo du hingehörst, Narr!«, brüllte ich. »Setze deinen Fuß nie wieder in unsere Synagoge!« Ich brüllte dich an, wie ich es zuvor nie getan hatte. Es half. Sie ließen von dir ab. Doch du, im letzten Moment gerettet, sahst mich an, mit zusammengekniffenen Augen, als hättest du die Gefahr nicht einmal begriffen, in der du dich befunden hattest. »Ich gehöre zu allen«, antwortetest du. Da schlug ich dir ins Gesicht und ging. Ich habe Saul später die Geschichte erzählt, nicht, um dich verächtlich zu machen, ich habe sie ihm erzählt, damit er aus ihr lernen möge. Denn Saul war aus deinem Holz geschnitzt, groß vor allem in den Worten. Größer eure Worte als die Fähigkeit der Menschen, sie richtig zu verstehen, hinter das Getöne der Anmaßung zu hören, hinter das Feuer zu greifen, das doch, bei dir wenigstens, Bruder, das immerhin habe ich inzwischen begriffen, nur einen Sinn hatte, jenen nämlich, den Worten das -44-
Licht zu geben, das sie verdienten. Wie sehr Saul dir nacheiferte, mehr noch, dich nachahmte. Wie rastlos sein Bemühe n wurde, dich durchzusetzen, mehr durchzusetzen, als begreifbar zu machen, wie rastlos sein Bemühen war, deinen Worten Geltung zu verschaffen, Geltung, nicht Gültigkeit. Seine Gier nach dir hatte begonnen, als er, gerade noch der Pharisäer, gerade noch der Todfeind der Zwölf, begriff, dass dein Sterben tatsächlich deinen Tod überwunden hatte. Immer wieder wollte er meine Meinung dazu hören, die Meinung des Bruders. »Weil du ihn besser gekannt haben musst als jeder seiner Schüler«, sagte er. Musste ich? Hatte ich ihn je gekannt? Eigens dafür war Saul zu uns nach Nazareth gereist. Einen ganzen Tag quälte er mich mit Fragen nach Jesus. Wer genau sei Zeuge seiner Auferstehung geworden und wann und wo. »Auferstehung? Nennt man es so?«, fragte ich. »Ja, Auferstehung.« Er schien über meine Frage überrascht. Wo er predige, oben im Norden bei Barnabas, predige er von nichts anderem. »Auferstehung«. Wieder also ein solches Wort der Anmaßung. »Wie sagst du dazu?« Dazu? Wozu? Was hätte ich ihm sagen sollen? Hätte er denn Verständnis gehabt für die gezeichneten Worte eines stummen Wanderhändlers?, für die Schmerzen schwarzer Steine, für die Töne des Lebens zwischen den Räumen? Es war in diesen Tagen, dass der Zeltmachersohn begann, sich in Jesu Namen »Paulus« zu nennen. Jesus sei ihm erschienen, sagte er jedem, der es hören wollte. Jesus habe ihn im Traum gerufen. Ihn? Nicht, dass der Bruder das nicht gekonnt hätte. Er muss es gekonnt haben. Ich weiß es von Mirjam. Als sie mir das erste Mal davon erzählte, lachte ich. »Warum sollte ich dich anlügen?« »Wie meinst du das: im Traum erschienen?«, fragte ich. -45-
»Er zeigt mir in meinen Träumen die Wege.« »Den Weg? Im Traum?« »Nicht den Weg. Wege. Ich muss einen unter vielen wählen.« Solltest du also auch Saul in die Träume gefolgt sein? Ausgerechnet ihm, dem Feuerspucker? Und warum nie mir? Ich denke, Saul hat gelogen. Ich denke, es war die Angst vor dem Tod, die ihn in deine Fußstapfen treten ließ. Du warst sein Lebenselixier geworden. Er nahm es mit nach Antiochia und begann es zu beschwören, um leichter daran glauben zu können. Die Angst vor dem Tod war bei Paulus größer als die Angst vor dem Sterben. Mit Antiochias Aufstieg als unserem geistigen Zentrum begann in Jerusalem der Abstieg. Wer konnte, der ging, Simon Petrus zuerst, dann Philippus, Johannes, Matthias. Wer blieb, den schien die Stadt, die unheilig gewordene, zum Verstummen zu bringen. Nur Jakob der Wilde erhob die Stimme wie eh, Jakob, der Bruder des Johannes, wie ich der ältere von zweien, der Sohn des Zebedäus, mir mit den Jahren vertraut geworden, der ältere dem älteren. Einmal rettete ich sein Leben, er bald danach das meine. Ich gab ihm meine Hand, er gab mir schließlich seinen Tod. Denn nah war damals das Unheil, das über unser Haus brach. Als ich dich, Susa, im Dunkel des Hauses verschwinden sah, nahm ich das Kind sanft an meine Seite. »Wo willst du denn hin?«, fragte ich Rosa, »jetzt, vor dem Sabbat?« Die Antwort kam klar und ohne Verzug. Sie wolle zu Martha, der kranken Freundin, die seit Tagen wieder von den Schütteldämonen heimgesucht werde. Ihre Großmutter verstehe sich auf kein anderes Mittel, als die Kranke ans Bett zu fesseln. Martha habe sie um Hilfe gebeten. »Angefleht hat sie mich, Vater, ich muss.« Das Kind, Schwester, hat sich bei diesen Worten an meinen Arm geschmiegt. Wie sehr es mich an die eigene Mutter -46-
erinnerte, die bleichen Züge gerahmt von den lose fallenden dunklen Haaren. Geflüstert sind die Worte des Kindes gekommen, es werde sich diesmal an das Sabbatgebot nicht halten. »Ich kann ihr helfen, Vater, ich weiß es, sie ruft nach mir, und wie soll ich jemals Gott hören, wenn ich die um Hilfe rufende Freundin nicht höre?« Das war seine Frucht, des Bruders Frucht, das muss ich gewusst haben, denn statt zu sprechen, schwieg ich nun, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, schwieg und schlug umso heftiger den Stein, wie ich es bei Vater hunderte Male gesehen hatte. Und du, Susa, dachtest, bereits schwer wieder im Kopf von den Kräutern der Heilerin, ich, der Bruder, der Vater, der Mann hätte die Sache bereinigt. Wie hätte ich ihr die Bitte abschlagen sollen und wie ahnen, dass ihre Worte an diesem Tag nur einen Zweck erfüllen sollten, den, mich zu täuschen. Das Kind wollte nicht in Marthas Haus, sondern hinter die steinernen Mauern des Herodes, na ch Caesarea ans Meer, in das die Sonne fällt. Sie wollte nicht die Freundin aus den Klauen der Dämonen befreien, sondern den Freund aus den Klauen der Römer. Sie wollte, kaum sechzehn Jahre alt, Simon aus dem Gefängnis befreien, den ersten der Zwölf, den Kefas, den Petrus, den Felsen, auf dem die neue Gemeinde gebaut werden sollte. Ihre Worte kamen aus dem Herzen, doch sie stellte sie absichtlich in die falsche Stunde, in gutem Glauben, doch mit bitteren Folgen für ihr Leben. Was hätte sie sich an Leid ersparen können. Simon Petrus war von den Soldaten des Herodes gefangen genommen, blutig geschlagen und in Caesarea in den Turm geworfen worden. Fels sollte zu Staub zermalmt werden. Gotteslästerung, so mussten die Schriftgelehrten die Worte der unseren seit jeher deuten, deine Worte bereits, Bruder, die aus den Mündern deiner Jünger noch mehr. Mit versteinerten Mienen saßen sie unseren Leuten in den Synagogen gegenüber und versuchten zu verstehen, was sie nicht verstehen konnten, -47-
mit bitterem Kopfschütteln bedachten sie jedes ihrer Worte, wenn sie von Gott sprachen, als wäre er der Gott der Ausgestoßenen, der Dirnen und Zöllner, ein Gott der Gesetzlosen, an den man nur glauben müsse, um ihm schon zu gefallen, ein Gott, dem die Einhaltung der Gesetze, von Moses niedergeschrieben und in der Halacha in seinem Namen gesprochen, plötzlich nichts mehr bedeuten sollte? Mit den Händen vor den Gesichtern erhoben sie sich, wenn ihr, nach Fisch und Wein riechende Bauern, damit begannt, im Namen eines zum Tode Verurteilten, Sünden zu vergeben, wie es nicht einmal den Gelehrten zustand. Mit den Händen vor den Gesichtern, aus Scham gleichermaßen wie aus Entsetzen, verließen sie eure Versammlungen, welches Wunder, wie oft sie darüber hinwegsahen, ohne die Stimme zu erheben, ohne die Gesetzeswächter anzurufen, ohne euch aus der Stadt treiben zu lassen. Doch jetzt war etwas anderes, viel Schlimmeres dazugekommen. Eure flammenden Worte richteten sich nicht mehr an ihre Leute und an sie, die in der Nachfolge der Könige und Richter standen, an sie, die zum Heilsvolk gehörten. Die Worte, mit denen ihr das Reich Gottes verkündetet, schossen über die Grenzen des auserwählten Volkes hinweg und zielten direkt auf die Herzen seiner Feinde ab, auf die Herzen jener, die nicht unter Moses’ Gesetz standen, die nicht von David kamen. Als wolltet ihr aus dem niedrigen Schwein das gottgefällige Lamm machen, so begannt ihr eure Worte an jeden Dahergelaufenen zu verschwenden, gleich, ob Heide, Proselyt oder Gottesfürchtiger. Das war Sauls Werk, ich hatte es kommen sehen. Saul, der keine Grenzen kannte und keine Vorsicht, Saul, der wie ein Sandsturm über dem Dorf jede Ritze suchte, in die er dringen konnte. Sah er sich abgewehrt von dem guten Dach über dem festen Haus, fegte er mit gleicher Lust in das morsche Holz des übel riechenden Stalls. Wurde er abgehalten von einem mächtigen Fels, war er schon im Anzug über dem brüchigen -48-
Schiefer. Er legte seine Saat in das Fleisch wie der Wurm seine Larven, gleich, um welches Fleisch es sich handeln mochte. Jetzt konnten die Schriftgelehrten nicht mehr schweigen. Sie begannen, wer konnte es ihnen verübeln, ihren Glauben zu verteidigen, sich gegen den Frevel zur Wehr zu setzen, der drohte, ihr Gefüge auseinander brechen zu lassen. Simon Petrus sollte der erste sein, der daran glauben musste. Als er auf dem Weg in das Haus seiner Frau war, nahmen sie ihn fest, tags darauf holten sie sich Jakob, den alten Freund. Ich aber sah an den Zeichen immer noch vorbei, wollte an ihnen vorbeisehen wie all die Jahre seit Jesu Tod. Doch deine Tochter, Susa, ließ nicht locker. »Warum gehst du nicht auch in die Synagogen, Vater?«, fragte sie mich. Sie sagte »Synagogen«, sie meinte sie alle, nicht die eine. Ich stellte mich taub. Sei der Verlust des Vaters, so hielt ich entgegen, nicht ihr, mir selbst hielt ich es entgegen, für das Haus denn nicht schlimm genug gewesen? Dann der Verlust des Bruders, Jesus. Sollten wir, aus Davids Geschlecht, denn nun mit mir den letzten Mann verlieren? So dachte ich wohl. Dabei war es nur die Feigheit, die mich an die Seiten unserer Gemeinde stellte. Denn dort, an den Seiten, war ich seit jeher gestanden, als Kind in Nazareth, später in der Synagoge, dann bei der Arbeit, immer an den Seiten. Für die Mitte hatte es nicht gereicht. Ich versuchte dem Vorwurf auszuweichen, so geschickt ich konnte. Rosa schwieg. Natürlich schwieg sie. Sie wusste, ich hatte sie mit Absicht falsch verstanden. Unerträglich, Susa, die Stille, die dein Kind in solchen Momenten auszuwerfen begann. Umso lauter wurde ich vor unverho hlenem Zorn. Ich solle wohl hingehen und den Mund groß auftun wie die anderen, ja? Den Mund auftun wie Saul, das reiche Söhnchen, das selbst nicht wisse, wohin es gehöre, ob zu den Römern oder den Juden oder den Griechen, sei es das, was sie von ihrem Vater wolle, zu sein wie Saul? Sei es das, was sie -49-
von ihm verlange, dass er fortziehe von hier, feig zurücklasse die Schwester, sie, Rosa, sich selbst überlasse? »Mich? Ich ginge mit«, sagte sie. Mehr nicht. Was darauf antworten? Es machte mich wieder still. Ich wusste, dass sie meinte, was sie sagte. Sie wäre mitgegangen. Und weil sie erkannte, dass ich nicht gehen würde, ging sie ohne mich. Auch Jesus war stets ohne mich gegangen. Bis er eines Tages nicht wiederkehrte. Damals. Kaum alt genug war Rosa, um auf eigenen Beinen zu stehen. Damals kam Jesus auf einem jungen Esel, um uns beiden, dir, Susa, und mir, mitzuteilen, er sei gerufen, rechtzeitig zum Pessachfest als der Verkünder in der Heiligen Stadt einzuziehen. »Gerufen?«, fragte ich erstaunt. »Abba verlangt es von mir.« Schon wieder: Abba, Väterchen. »Warum redest du Jahwe immer mit Väterchen an?«, fragte ich ihn aufgebracht. Doch er, schmal, kleiner als ich, sah mich von unten her an, kniff die Augen zusammen und zuckte mit den Schultern. »Bruder, du reizt sie damit.« »Ich weiß«, sagte er und hieß mich, während er dem Kind zärtlich über die Haare fuhr, mit der anderen Hand schweigen. Er wollte darüber nicht sprechen. Er ging ohne Abschied. Das war vierzehn Jahre, bevor auch ich ging. Vierzehn Jahre, bevor Rosa den Pferdewagen bestieg und nicht wiederkehrte. Vierzehn Jahre, bevor sie Jakob den Wilden, den Sohn des Zebedäus, den Freund, über dem weißen Marmor Caesareas hinschlachteten wie ein Vieh. In diesen Tagen, da ich die Tochter und den Freund unter demselben Mond verlor, setzte ich Susa auf den Esel, verschloss mein Haus und zog nach Jerusalem. Vierzehn Jahre nach deinem Tod, Bruder. Nicht, um dir zu folgen, aber immerhin, um fortan denen beizustehen, die dir folgen wollten.
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»Ich kann ihr helfen, Vater, ich weiß es, sie ruft nach mir, und wie soll ich jemals Gott hören, wenn ich die um Hilfe rufende Freundin nicht höre?« Ich gab nach. »Was wirst du deiner Mutter sagen?« »Marthas Leute werden am Abend einen Knecht nach unserem Hause schicken, er wird euc h in meinem Namen bitten, in den Tagen des vollen Mondes nicht auf meine Rückkehr zu warten. Mutter wird dich entscheiden lassen, du wirst ja sagen. So werde ich bis zum kommenden Sabbat Zeit haben, Martha zu bewachen. Die Dämonen werden keine Gelegenheit finden, neuerlich von ihr Besitz zu nehmen.« Ich sah von meiner Arbeit auf, ihr, die immer noch eng an meiner Seite stand, schmal die Lippen, fest der Blick, gerade ins Gesicht. War das denn noch das Aufbegehren gegen die Eltern? Nein, hier keimte mehr. Ein Plan war das, wie ich ihn sonst nur von Männern kannte, von Männern, die gewohnt waren, Kämpfe zu führen. Ich würde mich in Acht nehmen müssen, das wusste ich in jenem Moment im Hof unseres Hauses in Nazareth, als ich ihre harten Augen sah. Ich hatte Recht mit meinem Verdacht, doch ich wusste nicht, dass es bereits zu spät war. Sie kämpft mit uns, dachte ich, lass sie kämpfen, dachte ich, lass sie Martha, die alte Freundin, vor den Sabbat setzen, lass sie gehen. »Geh«, sagte ich, »aber schick diesen Knecht, damit sich deine Mutter keine Sorgen macht.« Hätte ich ahnen können, dass Rosas Plan aus mehr Windungen bestand, als sie zugab? Hätte ich ahnen können, dass auch ich getäuscht werden sollte, vor allem ich? Wie einfältig ist doch der in eine Täuschung Eingeweihte, wenn er glaubt, die Kenntnis davon nähme ihn schon von der Täuschung aus. Der Wagen wartete bereits auf sie. Doch nicht ans Kleine Meer zu Marthas Haus sollte ihre Reise gehen, sondern in die andere Richtung, ans Große Meer nach Caesarea, in die Richtung des Sonnenuntergangs. Vorn auf dem Gaul saß Mirjam, die Rosa, ohne dass du, Susa, es geahnt hättest, zur -51-
zweiten Mutter geworden war. Nicht eine Mutter, von der man Trost erwartete, wenn man im Fieber lag, nicht eine Mutter, in deren Schoß man die ersten Tränen weinte, eine Mutter für ihre Bestimmung hatte sie gefunden. Mirjam, die schon dem Bruder die Nächste war bis über den Tod hinaus, sie war Rosa still zur Mutter geworden. Und durch das Kind zum Band zwischen mir und dir, Bruder, zwischen meinem Leben und deinem immer wiederkehrenden Sterben. »Haben sie dich gehen lassen, Rosa, ohne Fragen zu stellen?« »Ja, Mirjam, Mutter glaubt mich die nächsten zwei Nächte bei Martha.« »Zwei Nächte nur?« »Vater glaubt, ich bleibe länger. Er hat mir geraten, Mutter durch einen Boten zu beruhigen.« »Du konntest Jakobus nicht die Wahrheit sagen?« »Nein.« »Nein«, sagte Rosa, während ich in weiter Entfernung, verschluckt vom Halbdunkel des hereinbrechenden Abends, die Tür hinter mir schloss, »nein, er ist noch nicht so weit.« Das sagte sie, auch wenn ich nichts hörte als den dahinfahrenden Wagen. Rosa hat gewusst, dass ich mich Vater nur nennen ließ. Nie fragte sie nach ihrer Herkunft. »Du weißt, dass ich nicht dein richtiger Vater bin, Kind, und du weißt, dass du keinen von uns je nach der Wahrheit fragen kannst. Mutter nicht, denn die Dämonen würden sie umbringen. Und mich nicht, weil ich nicht mehr weiß als du.« »Ja, Vater, ich werde nicht fragen.« Rosa schien sich in ihr Schicksal gefügt zu haben, und doch wusste ich nicht, ob es nicht besser gewesen wäre zu lügen und dem Kind dafür das heimliche Rätseln zu ersparen. Ich hatte dich gefragt, Susa. »Sollten wir denn nicht einen Vater erfinden, irgendeinen, um ihr die Fragen nach der Wahrheit zu ersparen?« -52-
»Die Wahrheit. Gibt es eine?«, antwortetest du. Die Fragen danach gab es. Und die vielen falschen Antworten. Ich bekam die richtige fünf Jahre nach Rosas Verschwinden. Die Wahrheit. Susa, du hast nie darüber gesprochen, jedem Blick bist du ausgewichen seit jener dämmrigen Nacht in unserem Haus, in der du mir stockend und bleich gestandest, daß du im Staub von Nazareths Äckern und unbemerkt von den Leuten vaterlos ein Kind ins Leben gestellt hattest. Noch wollte ich dir nicht glauben, allein dein Blick ließ mich erkennen, wie ernst es dir war. »Es lebt, es ist ein Mädchen. Es hat keinen Vater.« »Keinen Vater?« »Keinen Vater.« Was heiße, keinen Vater. Jedes Kind habe einen Vater, wer also sei es? Und wo das Kind? Fragen, die ich nicht stellte. Nicht stellen konnte. Die Stille unseres Hauses hätte aus jeder Frage einen Dolchstoß gemacht. Die Nacht hinter dem Fenster blieb schwarz, während du sprachst. Ich starrte auf deinen Bauch. Er war, wie ich ihn kannte. Nicht anders als immer. Ich hatte nichts gemerkt. Natürlich. Es war vorbei. Da schämte ich mich dafür, dich so angesehen zu haben, und ich wandte mich ab. Mein Blick suchte den deinen, ich fand ihn an das Fenster geheftet. Vergebens. Was auch immer du erwartetest, es blieb weg, und jedes deiner Worte blieb, wo es war. Ich stellte keines dazu. »Hol es«, sagte ich. »Sie«, sagtest du. »Sie wird Rosa heißen.« Du brachtest Rosa noch in derselben Nacht in unser Haus. Legtest sie mir in die Hände. Sie schrie nicht, kein Laut kam aus ihrem kleinen Mund. Es sei, sagtest du, der achte Tag. Sie war in ein wärmendes Tuch gewickelt, ein purpurrotes Tuch, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Jemand musste all die Tage für das Kind gesorgt haben, es gewaschen, es gefüttert. Wer? Du -53-
nicht, das war gewiss, du bist hier im Haus gewesen. Wer dann? Mit Worten fragte ich dich nicht danach. Und meine Blicke blieben ohne Antwort. Ich schlug vor, das Kind nach Kafarnaum zu bringen. Am Kleinen See sollte ihm ein Name gegeben werden, nicht öffentlich vielleicht, um den bösen Worten vorzubeugen, aber immerhin im Kreis der Familie. »Bringen wir es zu Mutter. Wir werden es in ihrem Haus taufen, wie das Gesetz es verlangt.« Deine Reaktion war völlig unerwartet. Du brülltest mich an. Dein Kind sei es, und hier bleibe es, wohin es gehöre, zu seiner Mutter, niemand sonst als du werde es aufziehen, und Mutter sei die letzte, der du es geben wolltest, Mutter, die nur einen Menschen kenne in ihrem Leben, ihn, Jesus, den ewig Kleinen. Er bekomme doch bereits alles, was an Liebe in ihr vorhanden sei. »Soll denn das Kind, wenn es schon keinen Vater hat, auch noch ohne Mutter sein?«, riefst du und wurdest, bleich eben noch vor Furcht, nun rot vor Zorn. Ich stimmte zu. Und wusste zugleich, ich würde fortan die Last der Vaterschaft auf mich zu nehmen haben. Du, Schwester, selbst nicht mehr jung und doch unverheiratet geblieben, erwartetest es von mir. Und bald schon musste ich dem Kind Vater und Mutter sein. Denn als die bösen Geister kamen, stahlen sie dir, so schien es, nach dem Lachen die Gefühle für dein Kind. »Wo willst du hin, Kind? Schon wieder! Gekleidet bist du wie die Hafenweiber, die den Fischern gefallen wollen.« Warum nur hatte Susa an jenem Tag solch harte Worte gebrauchen müssen. War Rosa deswegen nicht wiedergekommen? Fast fünf Jahre vergingen, in denen ich keine Antworten bekam. Ich spürte, dass Rosa lebte. Ich spürte, dass es sinnlos gewesen wäre, nach ihr zu suchen. Dich, Schwester, hatten die Geister in ihren Händen. Littst du deswegen keine Schmerzen, weil du die Geschehnisse nicht begriffst? Ich bekam eine Antwort, als ich längst aufgehört hatte, Fragen zu stellen. Ich bekam sie von Mirjam. Es war der Tag unserer ersten -54-
großen Versammlung in Jerusalem. Mirjam war dabei, an vorderster Stelle, wie es ihr zustand, wir stiegen den Ölberg hinauf, um unsere Gedanken zu ordnen. »Du weißt«, begannst du, Mirjam, aus heiterem Himmel, »dass Susa ihr Kind nicht aus freiem Willen empfangen hat.« War es eine Frage gewesen oder eine Feststellung, ich weiß es nicht mehr, aber deine Worte kamen, daran erinnere ich mich wohl, wie eine Gewitterwolke über dem Meer. Ich schwieg. »Es war Zachäus«, sagtest du. Ich zwang mich, weiterzugehen. »Zachäus?«, brachte ich gerade noch hervor. »Sie hat es dir also nicht gesagt.« Jetzt die Feststellung, keine Frage mehr, du wusstest tatsächlich nicht, ob ich all die Jahre im Unklaren gelebt hatte oder ob ich die Klarheit durch das Gift der Kränkung absichtlich hatte trüb werden lassen. »Er hat sie gegen ihren Willen genommen.« Und dann sagtest du das Unfassbare wie nebenher. »Ich war dabei.« »Geh jetzt, Susa, sie warten zu Hause schon auf dich, geh, ich werde allein damit fertig.« Mirjam, die man überall die Gelbe nannte, weil ihr Haar vom Safran hell war wie der Honig, versuchte ihren Schmerz zu unterdrücken. Sie saß mit Susa zu Füßen der Schlafstatt auf dem Boden, mit ihren Rücken lehnten sie an einer der Kleidertruhen. Sie waren allein in dem großen Haus am Stadtrand von Tiberias, der neuen stolzen Hauptstadt Galiläas. Agaton, den Mirjam seit wenigen Monaten ihren Mann nannte, war frühmorgens nach Sepphoris, der alten Garnisonsstadt, beordert worden. Die Sklaven und Knechte hatten ihren Dienst beendet und bereits ihr Schlafhaus aufgesucht. Iris, Mirjams ägyptische Magd, war eben gekommen, um ein letztes Mal nach der Herrin zu sehen. Geistesabwesend ließ Mirjam ihre Finger über die goldbesetzten Elfenbeineinlagen an den Seitenwänden der Truhe gleiten. Gold, Edelsteine, Seide und die Krüge, die immer voll waren. Ja, -55-
deswegen war sie Agaton gefolgt, deswegen hatte sie es auf sich genommen, für ihre Leute nur noch die Hure des Römers zu sein. Es würde dafürstehen, hatte sie gedacht. Besser einen schlechten Ruf als ein Leben auf dem Boden, kriechend über dem schwarzen Öl der fetten Früchte der Olivenbäume, kriechend zwischen den Dornen der Weinhänge, kriechend im fauligen Schleim am Hafenrand, um den Fischern beim Flicken der Netze zu helfen, mit nackten Waden und Schenkeln, an denen sich alle mit ihren Blicken bedienen durften, die wollten, ewig in Sorge vor dem Zöllner, der einem noch die letzte Münze nahm. Ja, besser die Hure des Römers und ein Leben ohne Sorge als das Leben der ihren, so hatte sie gedacht. Sie hatte sich geirrt. Agaton verspottete sie, Agaton mißachtete sie, Agaton schlug sie. Und Agaton nahm sie neuerdings auch gege n ihren Willen. Bald, sie hatte es in seinem Gesicht gesehen, als er am Vorabend schwitzend über ihr lag, würde er beginnen, sie mit seinen Freunden zu teilen, wie es seine Freunde mit ihren gekauften Frauen taten. Mirjam unterdrückte neue Tränen. »Und du versprichst mir, jetzt nicht mehr zu weinen, Freundin?« Susa streckte die Hand nach Mirjams Knie aus. Susa, die Gute, unverheiratet immer noch wie so viele hier, seltsam, wo waren die Männer von früher nur geblieben? Mirjam ließ Susa gehen. Sie habe Susa gehen lassen, damals, erzählte sie mir, wir stiegen den Ölberg hinauf. »Die Nacht war schon hereingebrochen, Susa wollte noch am selben Abend mit einem der Windboote nach Magdala, von dort frühmorgens weiter nach Kafarnaum zu ihrem Bruder.« Zu ihrem Bruder, so habe sie es damals schon gesagt, nicht: zu ihrer Mutter, nein: zu ihrem Bruder. »Hätte ich sie doch nicht allein gehen lassen!« Mirjam hatte sich nach einer Weile erhoben. Über die Steintreppe stieg sie hinab in den Wohnhof. Ihr Blick schweifte über die steinernen Krüge und Säcke, prall von Öl und Getreide, -56-
die Kisten dahinter, gefüllt mit Gold und Seide. Sie streifte mit ihren Blicken den mit Edelsteinen besetzten Webstuhl, verfing sich in dem Hängebett, das ihr Agaton von einem Feldzug mitgebracht hatte, riss sich los und und sah auf dem Marmorboden vor dem Sommerofen die tönernen Scherben eines Weinkelchs. Der Kelch musste am Vorabend vom Tisch gestürzt sein, rotgeränderte Stellen zeugten noch von dem Vorfall. Als Mirjam auf die Scherben zutrat, um sie aufzusammeln, sah sie die tote Gottesanbeterin. Ihr Lieblingstier. Mehr als fingerlang, die Augen seltsam weit geöffnet, lag es halbverdeckt unter den Scherben. Mirjam beugte sich hinunter und schreckte sofort wieder hoch. Das Tier war verstümmelt. Seine Beine lagen einzeln neben dem Corpus. Ausgerissen. Angesengt. Agaton, das Schwein. Mirjam gab sich einen Ruck, nahm das Tier, hob es auf, legte es auf den Tisch. Sie blickte zurück auf den zerbrochenen Ton und spürte mit einem Mal das Verlangen, nein: die Notwendigkeit, Susa zu begleiten. »So, wie ich war, bin ich Susa gefolgt. Ich rief ihren Namen. Ich begann zu laufen, stolperte über Gesträuch, strauchelte an Gestein, das ich in der Dunkelheit nicht sehen konnte, rief ihren Namen wieder und wieder. Irge ndwann sah ich, fast schon bei den Booten, den dumpfen Lichtschein einer Fackel. Ich sah, fern, eine Gestalt vor mir auftauchen, wachsen im Dunkel, allmählich Umrisse annehmen. Von weitem schon rief ich das Grußwort, aus Furcht wohl vor der Stille, dann no ch einmal. Als ich der Gestalt bis auf wenige Schritte nahe gekommen war, vernahm ich, lallend, kaum zu verstehen, die bekannte Stimme: »Sei gegrüßt!« Es war Zachäus, Sohn des Zilla aus Nazareth, dessen trunkenes Gesicht vor mir aus der Nacht stieg. Biergeruch schlug mir aus Bart und Maul entgegen. Ich konnte nicht anders, als angewidert den Kopf zur Seite zu drehen. Da entdeckte ich, über einen dieser Steine gelegt, an dem die großen Windboote angetaut werden, Susa. -57-
Ich ließ Mirjam reden, damals, ließ sie reden, ohne sie anzusehen, ich unterbrach sie nicht, hörte die Worte, jedes ein Schwerthieb, während meine Beine von allein gingen. Sie sei auf Susa zugestürzt. Wie ein angebissener Fisch sei meine Schwester dort gelegen, den Rock über den Nabel gezogen, habe nach Luft gerungen. »Susa, mach die Augen auf! Susa, was ist geschehen?« Schnell legte sie der Freundin das eigene Hemd über den blutigen Busen, nahm ihren Kopf, zärtlich, streichelte ihr über die Wangen. Sie drehte, Susas bebende Glieder in ihren Armen, bebend selbst jetzt vor Zorn, den Kopf zurück zu Zachäus. Der stand da, das Hemd nachlässig über die Knie gezogen, wankend und aufrecht zugleich, voll Scham und Stolz zugleich, wie Männer nur dastehen können, stand da, einen Bierkrug in der Hand und tat gar nichts. »Du hast sie…«, presste Mirjam heraus. Mehr Worte wollten nicht kommen. Sie habe sich, erzählte sie, am dritten Tag nach dem Verbrechen auf die Suche nach Zachäus gemacht. Sie wollte ihn zur Rede stellen und in Susas Namen deren Recht einfordern. Zachäus, so verlangte es das Gesetz, musste Susa heiraten. Sie habe Zachäus in den Weinhängen gefunden. Er sei wie immer bei der Arbeit gewesen. Alles sei wie immer gewesen. Er habe zuerst so getan, als könnte er sich an nichts mehr erinnern, danach so, als wäre nichts geschehen. »Was redest du da für Unsinn, Gelbe? Das hast du wohl geträumt. Und Susa, eine aus Jesu Sippe, die nimmt ein Mann nicht einmal geschenkt.« Jetzt erst unterbrach ich Mirjam. »Susa den Zachäus heiraten?«, entfuhr es mir. »Warst du denn in ihrem Auftrag bei ihm?« Nein, sprachst du, nicht in ihrem Auftrag. »Susa wusste nichts. Jesus schickte mich.« Es sei das erste Mal gewesen, dass sie sich -58-
von Jesus habe schicken lassen. Ich solle Agaton verlassen, hatte Susa gesagt, da sei das Schreckliche noch Zukunft gewesen, nahe Zukunft bereits, doch noch nicht geschehen, da seien sie beide noch Seite an Seite gesessen, mit den Rücken an die Kleidertruhe gelehnt. »Warum verlässt du ihn denn nicht?«, fragte Susa. »Ihn verlassen? Ich habe sons t niemanden.« »Jesus wird dich aufnehmen.« Sie habe die Bemerkung überhört, sprach Mirjam, wir stiegen immer noch den Ölberg hinauf, ich neben ihr, der weiß gewordenen Freundin. Sie habe sich später gefragt, warum sie auf den Satz nicht weiter eingegangen sei. Sei sie geschmeichelt gewesen? Habe sie eine jener Bemerkungen zu hören geglaubt, wie sie unter unverheirateten Freundinnen fallen, um zuerst der einen, dann der anderen die Schamesröte ins Gesicht zu treiben? »Nein. Ich habe Susas Worte deswegen überhört, weil dein Bruder damals der letzte gewesen wäre, dem ich folgen hätte wollen. Ich habe ein falsches Bild gehabt, von mir.« »Mir? Hast du wirklich ›mir‹ gesagt? Ein falsches Bild von dir, nicht von ihm, Jesus?« Ich fragte nach, doch ich hatte dich richtig verstanden. Du selbst seist der Mensch gewesen, den du in diesen Tage neu zu sehen begannst. Du hast in diesen Tagen das Land zu finden begonnen, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt. Du hast begonnen, dieses Land mit Jesus zu durchqueren, und bist ihm nicht mehr von der Seite gewichen. Nicht im Tod. Und nicht danach. Es waren die Tage, als Jesu Leben in einen neuen Kreis zu treten begann. Es waren die Tage, als es Johannes seinen Jüngern in den Wassern des Flusses ins Gesicht schrie: »Der, der nach mir kommt, ist stärker als ich. Denn der, der nach mir kommt, war eher da als ich.« Es waren die Tage, als Johannes’ Kopf fiel. Es waren die Tage, als Jesus vierzig Tage in die Wüste ging -59-
und von diesem Augenblick an nur noch auf das Kreuz zu. Es waren die Tage, als Mirjam beschloss, Jesus in der Wüste beizustehen und von da an bis zu seinem Tod. Es waren die Tage, da Susa beschloss, das Kind zu bekommen, das ihr mit Gewalt in den Bauch gelegt wurde, dafür aber die Geister in ihren Kopf zu lassen, bis zu meinem Tod. Stehend unter den Ölbäumen, mit Mirjam Aug in Aug, meine Hand in die ihre gelegt, mehr ihre Stärke suchend als ihre Zärtlichkeit, glaubte ich endlich zu begreifen und begriff doch wieder nur das Nächstliegende. Zachäus also Rosas Vater. Ich dachte, Susa sei es, die mir Mirjam endlich begreifbar machen wollte. Hätte ich denn wissen können, dass es Mirjam Zeit ihres Lebens nicht um Susa gegangen ist? Hätte ich ahnen können, dass ich an diesem Tag längst noch nicht alles gehört hatte? »Warum liegt dir nach all den Jahren daran, dass ich Susa verstehe?«, fragte ich. »Mir liegt nicht daran, dass du Susa verstehst. Du sollst Rosa verstehen. Du wirst sie noch diese Woche wiedersehen.« Hatte ich richtig verstanden? Mir musste die Stimme versagt haben. Fünf Jahre war Rosa nun fort. Niemand wusste, wohin sie gegangen war. Einen Knecht hat sie schicken wollen, doch kein Knecht ist gekommen. Zu Martha hat sie gewollt, doch Martha hat sie gar nicht erwartet. Auf einem Wagen ist sie gesessen, einer aus dem Dorf hat sie gesehen, neben einer zweiten Person, die habe er unter ihrem Mantel nicht erkannt, doch nicht in Tiberias am Kleinen Meer, sondern in Cäsarea. »Sie wiedersehen?« Ich hieß Mirjam mit einer kurzen Handbewegung stehen bleiben. Ihre weißen Haare wehten in dem heißen Wind, der abends von der Wüste kam, ihre Augen leuchteten grün im Widerschein der Olivenbäume. »Ja. Es ist Zeit.« Wie hätte ich damals ahnen können, dass sich Rosa, -60-
inzwischen reif geworden für einen Mann, reif für einen Sohn, nur zu einem Zweck auf die Welt gekommen sah, jenem, dein Erbe anzutreten, Bruder? Als sich alle Zeichen gegen die Christianoi wandten, als sie begannen, die Synagogen vor uns, nein: vor euch, damals noch vor euch, zu verschließen, als ihr schon in einem Atemzug genannt wurdet mit den Dolchleuten, als Jakob vor den Augen der Meute starb, da wurdest du, unschuldiges Kind, zu Simons Retterin bestimmt. All das wusste ich nicht und nicht, welch entsetzliches Opfer du dafür zu bringen bereit warst. »Geh«, sagte ich. Der Wagen wartete hinter dem Haus Leviathans. Vorne auf dem Gaul saß Mirjam. Nicht ein Mond war verstrichen all die Jahre, unter dem Mirjam nicht damit beschäftigt gewesen wäre, Rosa für die Gemeinde zu gewinnen. Ungesehen, so wie das Wasser unter dem Acker den Stein höhlt, indem es sich Tropfen für Tropfen darin festsetzt, bis er das Wasser eines Tages nicht mehr halten kann und bricht. Hatte ich es verdient, nach Vater und Mutter nun das Kind, das mir zur Tochter geworden war, an den Bruder zu verlieren? Der Stachel der Eifersucht saß in meinem Fleisch. Kaum noch ein Mann, hatte ich, mit Susa in Nazareth allein gelassen, gegen Dürre, Wind und Krankheit kämpfen müssen, er hingegen lebte allein von Mutters umsorgender Liebe. Ich ging Tag für Tag in Vaters Höhlen und schlug den Stein, bis mir die Hände dabei schwielig wurden, er ging in die Synagogen und hielt die großen Reden. Und während ich begann, am harten Stein selbst hart zu werden, tauchte eines Tages der Heuschreckenesser auf, und alles wurde nur noch schlimmer. Jesus begann ihm nachzueifern, hielt nun, diesem gleich, seine blumigen Reden nicht mehr in den Gebetshäusern, sondern unter den Narzissen und Anemonen des Jordans. Er zog durch die Straßen, umringt bald von Frauen, die ihn »Herr«, gefolgt bald von Männern, die ihn Erlöser, Christos, nannten. Ich indes zog meine müden -61-
Schritte hinter dem Ochsen, um die Felder der Nachbarn zu bestellen, damit sie meiner Familie zusätzliches Brot geben würden. Jesus sah man immer und überall, die Augen zusammengekniffen, den Finger zum Himmel gerichtet, die Stimme erheben. Man hörte ihn »Amen« sagen, doch nicht, um zu antworten, wie das seit Abrahams Zeit Brauch gewesen ist, nicht, um zu segnen oder zu verfluchen, nein, Amen an vorderster Stelle, am Beginn seiner Worte: Amen, ich aber sage euch. Er gleich nach Gott.
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Der letzte Tag beginnt
Jakobus sitzt an seinem Tisch, er wartet auf seine Mörder. Wie er den jüdischen Krieg voraussieht und wie er Jesu Tod mit seinem vergleicht. Diesmal das Ende. Sie werden mich holen und nicht mehr gehen lassen. Mein Tod wird ihren Tag beschließen. Ein kleiner Tod, der für wenige Freunde bitter genug ist, um ihnen die Ruhe des Schlafes zu stehlen, und für wenige Feinde süß genug, um ihnen den Hass der Gedanken zu nehmen. War es anders, damals, als sie dich holten, Bruder? Mutter war dabei und Susa und Mirjam und Zachäus, der musste eigens aus Nazareth gekommen sein. Und der Stumme, auch der war dabei, warum hat mir Mirjam erst so viele Jahre später davon erzählt? Du sollst zu ihm gesprochen haben, Bruder, als dein Atem in einem letzten Seufzen entwich, nicht zur Mutter und nicht zur Schwester, zu ihm sollst du gesprochen haben, der deinem Leben, wie ich bis dahin dachte, nicht näher gewesen sein konnte als dem meinen der unbekannte Ackersmann, an dem ich vorbeizog, einzig, weil mir der Zufall seinen Acker in den Weg gestellt hat. Zu ihm also hast du gesprochen und, bis heute kann ich es nicht glauben, zu Zachäus. »Jetzt ist es vollbracht«, sollst du ihm zugerufen haben, nein, zugebrüllt, vom Holz hinunter, die wunden Augen ein letztes Mal offen und doch wieder nur zusammengekniffen wie Zeit deines Lebens. Galten deine letzte Worte wirklich Zachäus? »Wenn nicht Zachäus, dann dem Stummen«, sagte Mirjam.
»Dem Stummen?« »Dem Stummen oder Zachäus. Sie sind nebeneinander -63-
gestanden.« Ich versuchte ein Lächeln, ich weiß es noch, und suchte nach einer Bemerkung, die mich aus dem Gespräch entlassen würde. Schließlich sagte ich: »Zachäus neben dem Stummen? Dann können die letzten Worte meines Bruders nur ein Fluch gewesen sein.« Heute, hier an meinem Tisch, den Tod vor Augen, will ich diese Worte nie gesagt haben. Wie viele Jahre habe ich doch dem Stummen Unrecht getan. Und Zachäus? Was aus ihm wohl geworden sein mag? Diesmal kein Zurück. Ananus, du wirst die Wächter schicken, sobald die Sonne über dem Tempel steht. Tiras wird in dem Bemühen scheitern, dein Tun noch zu vereiteln. Albinus, dem neuen Statthalter, wolle er, so raunte er mir zu, eilig eine Delegation entgegenschicken, damit könne das eigenmächtige Vorgehen des Priesters vielleicht noch rechtzeitig gebremst werden. Das war, als sie mich aus der Quaderhalle schickten, um, daran bestand kein Zweifel mehr, meinen Tod zu beschließen. Guter Tiras, begreifst du nicht, dass dein Tun Ananus gerade recht ist? Du wirst die Wut der Römer entfachen, sie werden sie an unserem Volk auslassen und nicht an dem Priester. Ananus braucht die Zwietracht, um den Vorkrieg zu gewinnen. Die Beute wird der Bürgerkrieg sein. Söhne Israels werden gegen Söhne Israels kämpfen, denn niederbrennen muss die Stadt des Vaters, damit sich aus ihrer Asche der Sohn endlich über den Vater erheben kann. Zuvor muss ich sterben. Denn nur mein Tod kann ihm die Sicherheit geben, dass sein frühes Verbrechen für alle Zeiten verdeckt bleibt. Ich werde meine Mörder am Tisch erwarten. Ich werde ihnen Wein anbieten. Ich werde ihnen nicht entgegentreten, nicht mit Worten, nicht mit Silber. Die Priester und Gelehrten irren, wenn sie, von Ananus aufgestachelt, glauben, mein Tod diene Jerusalem. Doch ich klage sie nicht an. Die Bewegungen, mit -64-
denen sie den Lehm ihrer Lebenstöpfe formen, sind falsch, doch der nur kann sie anklagen, der diese falschen Bewegungen allein im Auge hat. Betrachte die Bewegungen aller Menschen zusammen, aus großer Entfernung, und du wirst die falschen nicht mehr von den richtigen unterscheiden können. Ein einziges wirres Bemühen siehst du, aber entsteht nicht das Leben ebenso sehr durch jene, deren Bewegungen gelingen, wie durch jene, deren Bewegungen misslingen? Dient nicht die misslungene Bewegung der gelungenen, damit sich diese abheben kann, um Vorbild zu werden, und dient nicht die gelungene Bewegung der misslungenen, indem jener, dessen Tun misslingt, die Hoffnung daraus schöpft, es in Zukunft richtig zu machen? Was habe ich, Jakobus, nicht selbst alles falsch gemacht! Der Lehm, mit dem ich mein Leben zu formen versuchte, bröckelt an vielen Stellen. Mutter, Vater, euch habe ich verurteilt, Jesus, dich habe ich beneidet, Susa, dich habe ich vergessen, Rosa, dich habe ich betrogen. Kann einer im Sterben gutmachen, was er im Leben falsch gemacht hat? Schon wälzt sich Susa unruhig auf ihrem Tuch, bald werden sie die Geister der Nacht denen des Tages übergeben. Rosas Bett ist heute leer geblieben, rastlos ist sie selbst in den mondlosen Nächten um die unseren besorgt, besucht jene, um tröstende Worte zu spenden, hilft diesen mit Brot aus, hält dritten in der schweren Krankheit die Hand. Und bei Tag schreibt sie. »Was schreibst du nur den ganzen Tag?«, fragte ich sie. »Nichts.« Nichts. Unwillig begnügte ich mich mit dieser Antwort. Mirjam sagte: »Sie wird wohl jene Worte nachschreiben, um die du sie damals betrogen hast.« Damals. »Schreib!«, hatte Rosa gesagt, zweimal sieben Jahr ist es jetzt her, dass ich sie wiederbekam, »schreib auf, jedes Wort!« Ja, hatte ich der fiebernden Frau, die wieder meine Tochter geworden war, versichert. »Ja, ich schreibe doch!« Damals. Ich saß an ihrem Bett, an ihrem Kopf und hielt das -65-
Pergament in der einen, den Pinsel in der anderen Hand. Doch ich log. Keines ihrer Wort schrieb ich nieder. Mein Schmerz über das, was ihr geschehen war, ließ es nicht zu. Ananus, jetzt hast du es also wirklich zum obersten unter den Priestern gebracht. Niemand außerhalb meines Hauses weiß von deinem Verbrechen an Rosa, oder sollte ich sagen: dem Verbrechen an Rom? Rom und den Herodes hast du getäuscht, um politischen Gewinn daraus zu ziehen, mein Kind war nur der Ball, den man schlägt, um den Gegner zu treffen. Alle hast du damals verraten, doch Verräter nennst du jetzt mich. »Schuldig wegen Hochverrats.« Wie lächerlich du aussahst, als du den Spruch verkündetest, den zu verkünden du nicht einmal das Recht hast. Hat Kaiphas seine Vorwürfe gegen Jesus nicht ebenso in das Tuch des Hochverrats gekleidet, um die Römer auf seine Seite zu bekommen? Wie hätte Jesus Rom denn verraten sollen? Ihm, der nicht einmal imstande war, die Verräter in den eigenen Reihen zu erkennen, war Verrat so fremd wie dir, Ananus, Treue. »Deine eigenen Leute werden dich verraten, wenn du nicht zur Vernunft kommst…« Jesus hatte mich damals unterbrochen. »… zur Vernunft kommst, und?«, wiederholte er meine Worte. »…zur Vernunft kommst, nach Hause zurückkehrst und endlich eine Frau nimmst.« Immer lauter war ich dabei geworden. »Welch ein König bist du denn? König in wessen Namen? In unserem Namen? König der Juden! Warum denn nicht gleich unser Gott?« Statt zu antworten, hat er den Wasserbeutel für die Reise nach Jerusalem gefüllt und dann dem jungen Esel die Decke aufgelegt. »Sie werden dich schlage n.« »Ich werde es sein, der sie schlägt, indem ich ihnen beide Wangen hinhalte.« »Sie werden dich töten.« -66-
»Ich werde wiederkommen.« »Niemand wird dir zuhören.« »Es wird genügen, wenn einer mich hört.« »Sie werden dich nicht in die Synagoge lassen.« »Meine Synagoge wird dort sein, wo Menschen an einem Tisch zusammenkommen.« »Ich werde dir diesmal nicht helfen können, diesmal nicht, Bruder, ich werde nicht da sein.« »Du wirst mir helfen, Bruder, indem du bist, gleich, ob hier oder dort, denn du wirst hier sein und dort, so wie ich immer hier bin und dort zugleich. Denn das Leben ist ein Kreis, in dem es keinen Anfang gibt und kein Ende, so lange, bis das Himmelreich gekommen ist.« Die Woche ging um, da brachten sie die Nachricht von deinem Tod. Du seist verraten worden, hieß es, der Verräter habe danach Hand an sich gelegt. Was man gegen dich vorgebracht habe, fragte ich. »Hochverrat.« Ich weinte. Ich hielt deinen Tod für sinnlos. Was wusste ich damals von Sinn und Unsinn? »Hochverrat? Was soll der alte Mann gegen Rom denn tun können?«, hörte ich Mirjam rufen, nachdem das Urteil gegen mich gesprochen war. Mirjam hatte darauf bestanden, auf den Stufen vor den Toren zur Versammlung auf mich zu warten. Das alte Mädchen. Ich hatte vergebens versucht, sie davon abzubringen. Sie müsse sich um Susa kümmern, sie dürfe ihr Leben nicht auch noch riskieren, Rosa werde nach Pella gehen, aber Susa sei dafür zu krank, sie würden Fragen stellen, sie würden von ihr, Mirjam, die Antworten darauf wollen. Als ich aus der Quaderhalle kam, stand Mirjam auf den Stufen. »Mirjam, du musst dich versteckt halten!« Statt einer Antwort der Vorwurf. »Hochverrat? Warum hast du dich denn nicht gewehrt, Jakobus?« -67-
Du hättest diese Frage nicht gestellt, hätten dich deine Augen nicht vor Jahren schon im Stich gelassen, ja, du hättest es besser gewusst, hätten deine Augen in Ananus den kleinen Priester aus Caesarea erkannt, der Rosa damals an die römischen Soldaten verkaufte. »Sie werden mich so schnell nicht holen kommen, und außerdem habe ich in Tiras einen starken Freund, der sich beim Prokurator für mich verwendet.« »Bei Festus? Der ist tot.« »Bei Albinus, dem neuen«, antwortete ich, »der steht mit seinen Leuten schon vor den Toren der Stadt.« Da wusstest du, dass ich dich belog. Du hast den Kopf gesenkt und damit meine Art, mich in den Tod zu fügen, respektiert. Du müsstest jetzt mit Rosa reden, sagtest du dann leise, ich möge nach Hause gehen, um mich auf die Verhandlung vor Albinus vorzubereiten, du wusstest, wo du Rosa jetzt fändest, es gebe viel zu besprechen. Dann gingst du. Ich werde dich wohl nie wiedersehen. Da sitze ich nun vor Susa, die schläft, und warte auf die Stunde, die den Tod bringt. Ich höre Geräusche von der Straße her. Und enden sie nicht eben vor dem schweren Tor zu meinem Haus? Rosa? Ist Rosa gekommen, um ihrem Vater doch noch beizustehen? Warum nur habe ich Nazareth verlassen? Wem hat es genützt? Simeon, Johannes, Magda, Rosana, Andreas, Maria aus Sepphoris, Stephanus, Levi, Judas, Natanael, Johannes, Philippus, Jakob der Wilde, Saul. Alle sind sie tot und noch viele mehr. Und Simon Petrus in Rom wird der nächste sein. Schritte auf den Treppen. Rosa? Kann das ihr Schritt sein? Susa ist aufgewacht, richtet sich auf, die Augen starr auf die Tür geheftet. »Rosa?«, rufe ich ängstlich.
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Vierzig und einen Tag in der Wüste
Wie Jesus den Gelähmten gehend machte, aber missverstanden wurde, wie Mirjam zu Jesus reiste, damit er Susa räche, und wie sie ihm dann in die Wüste folgte und dort auf Johannes und Jakobus traf. Tausendmal habe ich sie fallen sehen in meinen Träumen, brechen über meinem Kopf, bei Tag, bei Nacht, in Schweiß gebadet auf meinem Tuch. Tausendmal, Susa, seit dem Tag, da du die Zeichen des Stummen in mein Herz gelegt hast. Die Zeichen blieben, als Vater ging und nicht zurückkehrte. Die Zeichen blieben, weil Vater ging. Dann ging, eines Tages, Rosa. Und die Wasser regnenden, weichen Nüsse verwandelten sich in schwarze Steine, die mir im Schlaf den Kopf zerschlugen. Sie lächelte, als sie ging. Nach den kalten Monaten wird sie sich für einen Mann entscheiden müssen, dachte ich, als ich Rosa auf dem Wagen im Halbdunkel der Nacht verschwinden sah. Da tratest du, Susa, völlig unerwartet an meine Seite. »Du willst sie verloben?«, fragtest du. Wie lange schon hattest du keine Frage mehr an mich gerichtet. Wütende Worte gegen Rosa, Worte, die wieder und wieder kamen wie der Hahnschrei am Morgen, daran hatte ich mich gewöhnt. Und jetzt das. Hattest du meine Gedanken erraten? »Ja, ich will sie verloben.« »Mit wem?« Ich zögerte. »Nur, wenn sie mit ihm einverstanden ist.« Ich wollte den Namen nicht nennen, eine Ahnung? Ich spürte, dass du mich ansahst, ich vermied es, deinen Blick zu treffen, -69-
sah in den Himmel, der noch nicht Nacht war und doch nicht mehr Tag. Hast du, Schwester, die du das Geheimnis um Rosas Geburt seit sechzehn Wintern verborgen in dir trugst, damals gewusst, was du aus meinem Mund hören würdest? »Mit wem.« Es war nicht einmal mehr eine Frage. Zögernd, nicht aus Rücksicht, denn ich kannte die Zusammenhänge nicht, nur aus unbestimmter Regung, diesem Flackern des Gewissens, das einen manchmal warnen will, vor einem Fehler bewahren, doch schnell wieder verlischt, wenn man es nicht an die Luft lässt, zögernd also, aber doch, nannte ich auf dein Drängen hin den Namen. »Zachä us. Er hat mich gefragt.« Du sprachst, Schwester, darauf lange kein Wort. Schon wertete ich dein Schweigen als unerwartetes Einverständnis, da sagtest du: »Wenn du sie ihm zur Frau gibst, gehe ich über den Abrahamsfelsen.« Dann verließt du das Haus und kamst erst bei Sonnenaufgang zurück. »Wo bist du gewesen?« Ich fragte dich, du antwortetest mit keiner Silbe, du trugst ein Tuch, das ich bis dahin bei dir nicht gesehen hatte, ich fragte erneut, bekam abermals keine Antwort. Ich wurde zornig. Ich griff nach deiner Schulter, du entwandest dich schnell, dabei löste sich ein Knoten deines Tuchs, ein Stein fiel zu Boden, glänzend schwarz, glatt, kaum einen Handteller groß. Einer der schreienden Steine. Bei Vater glaubte ich Steine wie diesen einmal gesehen zu haben, aber es mochte ein Irrtum gewesen sein, denn wann immer sie mich später heimsuchten, blieb nichts von ihnen als Spuren in meinem Kopf. Durch Steine wie diesen hatte ich vor wenigen Wochen vom Tod des Zebedäers erfahren. Die schwarzen Steine. Kopfgeburten, die in meinen Ohren schrien, mir jedesmal fast den Verstand raubten. Und nun lag ein solcher Stein vor mir auf dem Boden. Ehe ich danach greifen konnte, hattest du ihn schon aufgehoben und eilig zurück in dein Tuch gesteckt. Wie kamst du zu den schreie nden Steinen? Nein: Wie kamen sie zu dir? Sprachen sie -70-
auch mit dir? Ich wollte dich fragen. Doch der Hass, den ich über deine Züge gezogen sah, erstickte meine Fragen. Da griff ich mit Gewalt in dein Tuch, nahm, was ich zu mir gehörig glaubte, und stieß dich in dein Zimmer. Du hattest es noch nicht verlassen, als die Posaune des Synagogendieners das Ende des Rüsttags verkündete. Ich begann mich damit abzufinden, dass der Knecht nicht mehr kommen würde, den Rosa versprochen hatte zu schicken, um vor dir den Schein zu wahren. Es werde wohl Gründe dafür geben, dachte ich, auf meinem Lager sitzend, den Becher in den roten Wein getaucht. Woher hattest du den Stein?, fragte ich mich. Waren sie es, die dir immer wieder die Nacht in den Kopf legten? Und warum diese Abscheu vor Zachäus? »Wenn du sie ihm zur Frau gibst, gehe ich über den Abrahamsfelsen.« Sollten diese Worte etwas erklären? Zachäus. Viele Jahre davor. Wir noch Schüler in der Synagoge. Die Tage, als Jesus, kaum fünfzehn, zum erstenmal heilte. Bis heute weiß ich nicht, was ihn damals wie einen Orkan über Zachäus hat kommen lassen. Mit dir, Susa, wird es vielleicht zu tun gehabt haben, denke ich heute, auf meinem Lager, den Becher in den roten Wein getaucht, den schwarzen Stein in meiner Hand, deinen Stein, Susa. Du warst es jedenfalls, Susa, ich erinnere mich, die Mutter um Hilfe rief. »Mutter, komm schnell, Jesus bringt Zachäus um.« – »Was ist denn los?«, rief ich dir hinterher. »Frag Mirjam.« Ich bin sofort zu Mirjam gelaufen, um sie zu fragen, was geschehen sei. »Nichts«, antwortete Mirjam. Sie log. Es musste mit Susa zu tun haben, dachte ich damals. Es hat mit Susa zu tun gehabt. Zwei Tage davor hatte es begonnen. »Was kannst du denn besser als Jesus?«, fragte Susa und sah Zachäus herausfordernd -71-
an. Die Frage stach wie der Rüssel einer Mücke. Noch trug Susa keine Sandalen und die Haare offen, noch zählten wir alle nicht zu den Erwachsenen, doch auch nicht mehr zu den Kindern. Wir saßen in Daniels Haus unter der Öllampe, der Schein des Lichts flackerte über unsere immer noch heißen Gesichter, streifte unsere klebrigen Hemden, brachte die feuchte Haut zum Glänzen. Wir hatten den ganzen Tag über gefeiert. Ganz Nazareth hatte gefeiert. Wir hatten ihn gefeiert – Jesus. Esdras, der Gelähmte, war wie durch ein Wunder gehend geworden. »Was kannst du denn besser als er, dass du es wagst, ihm selbst jetzt nicht zu gehorchen?« Die Frage einer Schwester, die stolz auf ihren Bruder ist. Susa traf Zachäus mit Blicken, die im Schein des Kerzenlichts aus ihren Augenhöhlen quollen wie das Öl aus der Kanne. Zachäus krallte seine dicken, kurzen Finger in das Holz des Tisches. Ich sah ihn mit den Schultern zucken. Selbst jetzt. Was hätte er mit diesen Worten schon anfangen können? Ich stand steif an die Tür gelehnt, anwesend und doch nicht dabei, wie einer, der das Leck im Boot allmählich wachsen sieht und sich zum rettenden Korkring stellt. »Ein Wunder des Herrn«, hatten die Menschen in den Gassen gerufen, Esdras, den noch keiner je einen Fuß vor den anderen setzen gesehen ha t, schoben sie wie eine Trophäe den halben Tag vor sich her. Sie sangen Loblieder, und jeder, der alt genug war, durfte sich aus den Weinfässern bedienen. Der Herr hatte sein Volk nicht vergessen, Galiläa sei sein Haus geblieben, die Heiden würden einst mit Jahwes Hilfe in den Staub geschmettert werden. So waren sie, während sie den Herrn besangen, von Stunde zu Stunde ausgelassener geworden. Allein Susa schien daran keinen Gefallen zu finden. Mit finsterem Gesicht trabte sie der Menge hinterher, suchte immer wieder die Hand des Bruders. Nicht meine Hand, nicht die des ältesten, Jesu Hand wollte sie, die Mutter nicht ausließ. Der Triumphzug war von unserem Haus ausgegangen, denn in keinem anderen Haus als dem Haus Josefs, der aus Davids -72-
Geschlecht stammt, hatte sich das wundersame Wirken des Herrn ereignet. Esdras war von seinen Leuten auf einer hölzernen Matte vor unser Haus gebracht worden. Ich, der ich die brodelnden Stimmen vor der Tür als erster vernahm, eilte, um nachzusehen. »Vater ist nicht da«, sagte ich. Vater, der beliebteste Steinmetz des Dorfes. Entweder stand er, den Meißel in der Hand, im Hof des Hauses über dem Schlagstein oder in einer der Höhlen über dem Fels, den er zu Quadern und Ziegeln drosch. Dazwischen schnitt er das Zedernholz zu Balken, damit Nazareth seinen Häusern Zäune und Dächer geben konnte. »Vater ist in den Höhlen«, sagte ich. Da schob sich Jesus an mir vorbei durch die offene Tür. »Mutter ist da«, sagte er, »ich hole sie.« Schon schälte sich ein einzelner Mann aus der Gruppe. Es war der kurze, schmale Schatten des Stummen, den ich zuerst auf unser Haus zukriechen sah, dann erst erkannte ich seine Gestalt. Er trat auf Jesus zu, auf das halbe Kind, und begann, ihm Zeichen zu geben. Auch Susa kam nun dazu und Mutter und Tante Elisabeth, Gast zu dieser Zeit in unserem Haus. »Esdras muss in das Haus gebracht werden, auf seinem Bett«, sagte plötzlich Jesus. »Das geht nicht«, riefst du, Susa, »das Bett passt nicht durch die Tür.« Du wusstest, wovon du sprachst. Wir hatten es einige Tage zuvor mit einem Bett ähnlicher Größe versucht. Vater hatte das wertvolle Stück, das aus einem einzigen Baumstamm gemacht war, nach dem Tod Judiths von ihrem Sohn geschenkt bekommen. Doch es gelang uns nicht, es durch die Tür und den schmalen Vorraum zu bringen. Wie wir es auch drehten, schoben, immer war eine Kante, eine Ecke, ein Pfosten hinderlich. Umständlich musste es Vater schließlich über die Außentreppe auf das Dach des Hauses tragen, dort das Zweiggeflecht aufbrechen, ein Loch durch die Lehmdecke schlagen, um es so von oben in den Wohnraum lassen zu können. -73-
Wir würden auch diesmal keine andere Wahl haben, und mühsamer noch würde die Arbeit werden, da ein Mensch an das Bett gebunden war, nicht zu schaffen wohl ohne des Vaters Hilfe. Das war es, was du meintest, Susa. »Das geht nicht.« »Es geht«, sagte da Mutter, schob mich, Susa und alle Bedenken zur Seite, griff die Leiter und bestieg vor den Augen aller das Dach. Es ging. Noch bevor die Sonne am höchsten stand, war das Dach geöffnet und Esdras, zum eigenen Schutz mit straffem Seil an seine Matte gebunden, mit dieser in das Haus gelassen. Ich war so sehr in die Arbeit vertieft, dass ich mir die Frage nicht stellte, was Esdras und die seinen in unserem Haus begehrten. Doch bald würde ich es erfahren, schon hatten sich die Menschen um ihn herum gesetzt. Die einen hockten, jeder einen Becher mit frischem Wasser in der Hand, auf dem eilig mit Stoff ausgelegten Boden, die anderen saßen auf den hölzernen Bänken rund um den Tisch. Nicht lange kann es gedauert haben, denn halb gefüllt noch waren die Becher, da erhob sich Elisabeth, die Alte, und hieß uns, ich glaubte zuerst, mich verhört zu haben, gehen. »Geht, bitte«, sagte sie, »geht und wartet beim Brunnen, bis ich euch rufe.« Schlimm genug, geholfen zu haben und nun ausgeschlossen zu sein, ausgerechnet von ihr, Johannes’ Mutter, schlimm genug für mich, doch schlimmer noch wurde alles mit ihren nächsten Worten: »Jesus, du bleibst.« »Warum Jesus und nicht ich?«, rief ich, die eigene Zunge nicht mehr unter Beherrschung vor, wie ich meinte, gerechtem Zorn. Mutter wich meinem Blick aus. »Pass auf Susa auf«, sagte sie. Das genügte mir nicht. »Er kann auf Susa aufpassen.« Da schob sich Elisabeth zwischen uns. »Diesmal Jesus. Das nächstemal du.« Es war eine Lüge, ich wusste es, diesmal Jesus, immer Jesus, seit jeher und in aller Zukunft nur Jesus. Ich ging. Tränen fraßen sich, ungeweint, ihren Weg von der Kehle zu meinem Herzen. -74-
Und nicht nur Jesus blieb. Als wir uns, um die Stille zu töten, halbherzig singend am Sommerherd versammelten, Esdras’ Leute, du, Susa, und ich, fehlte neben Mutter und Jesus, jetzt war ich achtsam geworden, auch der Stumme. Wieder verfinsterten sich meine Gedanken, abermals wollte ich Fragen stellen, Anklage erheben: Vater, wo bist du? »Ich will es sehen«, hauchtest du mir da ins Ohr, Schwester, unterbrachst meine Gedanken, stießest mir deinen Arm in die Seite, verschwörerisch, wie nur du sein konntest, und warfst deinen Blick, geschickt, so dass nur ich ihn fing, auf die Ritze in der Wand, die Vater seit Wochen ausbessern wollte. Ich schüttelte verneinend den Kopf, sah dich an, sah dein aufforderndes Nicken, spannte zugleich schon meine Muskeln, um mich zu erheben, dein Nicken, dein Lächeln, dein Stirnrunzeln, sah dich aufstehen, gehen. Und blieb doch, wo ich war. War es die Furcht, entdeckt zu werden, oder mehr die Furcht zu entdecken? Ich weiß es nicht, weiß es heute noch nicht. Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich damals gesehen hätte, was du, Susa, gesehen zu haben behauptetest? Wir später der feiernden Menge hinterher. »Sag ihnen, was du gemacht hast«, rauntest du Jesus zu, die Hand vergebens nach der seinen ausgestreckt. Doch Mutter hieß die Tochter schweigen. »Ich habe es gesehen.« Schon bekam deine Stimme diesen von Tränen erstickten Klang, den keiner von uns hören wollte, vor allem Vater nicht. »Was hast du gesehen, Susa?«, fragte er. »Dass Jesus es war.« »Was war?« »Der den Gelähmten gehend gemacht hat.« Was dann geschah? Es ist aus meiner Erinnerung entschwunden. Hat Vater Susa damals absichtlich überhört? War ihm Mutter vielleicht zu schnell ins Wort gefallen, ihm oder ihr, der vorlauten Tochter? Und was tat Jesus, während die kleine Schwester sein Wunder ins rechte Licht gerückt haben -75-
wollte? Ich habe es vergessen. Nur wenige Stunden später war Jesus schon nicht mehr bei uns. Worüber die anderen sprachen, worüber ganz Nazareth sprach, ich hörte es nicht. »Jesus hat gemacht, dass Esdras wieder gehen kann«, sprach Susa, »er, nicht der Herr.« »Wahrscheinlich ist es der Stumme gewesen, der Esdras damals im Namen seiner schwangeren Frau in Großmutters Haus geschickt hat«, sagte Rosa. So habe es ihr Mirjam jedenfalls erzählt. Der Stumme müsse demnach gewusst haben, dass Elisabeth als Gast in eurem Hause war. »Er hat seit jeher um ihre verbotenen Künste gewusst, Vater, er hat ihr, sagt Mirjam, doch einmal sogar eure Mutter geschickt.« »Mutter«, fragte ich, ohne den Ton der Frage, denn ich hatte es inzwischen gelernt, zu Mutter keine Fragen zu stellen. Seit Stunden, seit Tagen redete Rosa. Und ich, wieder ihr Vater nach fünf Jahren Wartens, sollte es niederschreiben. »Schreib auf, was ich sage, versprich es, schreib auf jedes Wort, es muss erhalten bleiben«, sagte sie, immer wieder. »Ja«, log ich. Wie Kröten den Eiern entschlüpften ihr die Worte. Warum sie aufschreiben, zu welchem Zweck? Immer noch steckte das Fieber in Rosas ausgemergeltem Körper, doch das Reden schien sie zu beruhigen. Esdras’ Frau Sarah, so erzähle es Mirjam, sei wohl ungewollt schwanger geworden. Was hätten die beiden, die schon dreizehn Kinder hatten, anderes tun sollen, als sich an Elisabeth zu wenden? Sarah sei nach der Geburt ihres letzten, eines totgeborenen Kindes dem Bett kaum noch entstiegen. Sie und Esdras, der an Beinen und Füßen Gelähmte, lebten von der Hand in den Mund. Wie wären sie imstande gewesen, ein weiteres Maul zu füttern? Esdras sei an diesem Tag gekommen, um Elisabeths Rat zu holen und die nötigen Kräuter. Ich unterbrach. »Und Jesus? Warum durfte er bleiben?« Der Stumme habe darauf gedrängt, Susa habe es, atemlos an der -76-
Ritze in der Wand, selbst gesehen. »Der Stumme wollte, dass Jesus im Namen Jahwes seinen Segen über Elisabeths Kräuter legt.« »Jahwes Segen?« »Damals schon«, sagte Rosa. »Und warum hat Jahwe von mir nichts gewollt?« Bitter kamen meine Worte, getaucht in Neid, doch Rosa ließ das Wasser meiner Gekränktheit abfließen. »Hast du das wirklich vergessen? Dich schickte er in derselben Nacht für vierzig Tage in die Wüste, um Jesus im Kampf gegen seinen Versucher beizustehen. « »Er hat ihn gesegnet«, sagte Susa, damals, als ich zu vergessen beschloss, was ich nie gehört haben wollte. »Wie, gesegnet?« Der Stumme habe mit großer Geste alle zu schweigen geheißen, als Jesus vor das Bett des Gelähmten trat und sprach: »Was immer du und Sarah tun wollt, ihr tut es in Jahwes Namen, und eure Schuld ist euch allein dadurch vergeben.« So schnell seien die Worte gesprochen gewesen, dass sie bereits heraus waren, als Anna, Esdras’ Schwester, mit einem Aufschrei auf Jesus zustürzte und ihm die Hand vor den Mund hielt. Wie könne er solche Worte gebrauchen, wie derart anmaßend sein, wie den Herrn in seine Verfügung nehmen mit leichtfertig dahingesagten Worten? Da habe Jesus aufgestampft, rot vor Zorn, die Augen zusammengekniffen. »Leichtfertig? Leichtfertig dahingesagt, nennt Ihr solche Worte? Was denkt Ihr denn, Frau, ist leichter zu sagen: ›Deine Schuld ist dir vergeben!‹ oder: ›Steh auf und geh!‹?« Als die Stille, die diesen Worten folgte, drückend zu werden begann, nahm der Gelähmte plötzlich Jesu Hand und führ te sie an seine toten Beine. »Ich verstehe, Sohn, was du sagst, und darum sage ich dir: Nun, da ich weiß, dass mir vergeben wäre, werde ich aufstehen und gehen, denn leichter ist es für mich, -77-
gehend zu werden, als mich in Jahwes Vergebung auszuruhen.« Und schon habe sich Esdras erhoben, unter Stöhnen, eine Hand fest auf die Schulter des knienden Jesus gestützt, die andere am Bettrand, erhob sich mit einem Ruck, stemmte sich hoch, während ihm Mutter den Rücken stärkte, setzte einen Fuß nach vor, ohne zu zögern, den anderen hinterher und war gehend. »Genau so und nicht anders, Bruder, ist es gewesen. Er hat Esdras, den Gelähmten, geheilt, kein anderer. Und wenn du mir nicht glaubst, dann frag Jesus selbst.« Doch der blieb, als die feiernden Menschen längst wieder in ihre Häuser gegangen waren, verschwunden. Mirjam war da, ich erinnere mich, Zächäus, Judith und Daniel, Susa, Gad und Ethi, der jüngste Sohn des Matthäus. Der Schein der Öllampe, nun heller als zuvor, ließ kein Ausweichen zu. Zächäus musste Susa antworten. »Was kannst du denn besser als er, dass du es wagst, ihm selbst jetzt nicht zu gehorchen?« hatte Susa gefragt. Rot sah ich den Dicken werden vor Wut. Da konnte ich nicht anders: Statt das lecke Boot zu verlassen, erhob ich die Stimme. Lauter als nötig und schneller als gut sagte ich gänzlich ohne Zusammenhang – gänzlich ohne Zusammenhang? in die Stille hinein: Es gebe doch dieses alte, verlassene Haus hoch oben auf dem Berg, das verbotene Haus, in dem früher die griechische Dämonenpriesterin gelebt habe, das Haus, in dessen Keller sie ihre Taler vergraben haben soll. Vater habe heute erzählt, dass die Männer Nazareths in den nächsten Tagen aufbrechen wollten, um das Silber zu holen. Wäre das nicht der würdige Abschluss eines großen Tages? Ich würde sie führen, heute noch, gleich, wir würden uns, geschützt von der Nacht, den Schatz holen und das Haus danach dem Erdboden gleichmachen, die Väter würden Augen machen. So hastig sprach ich, dass ich jetzt, mehr der Not nach Luft gehorchend als der Absicht, eine Pause zu machen, in meiner Rede einhielt. Ich stand nun nicht mehr an die Tür gelehnt, sondern war in die -78-
Mitte des Raumes getreten, an den Tisch, um den die anderen saßen. Schon sah ich Mirjams Ablehnung im Schein des Öllichts, Judith mit niedergeschlagenen Augen tiefer in ihren Sessel rutschen, Daniel, wie er sich, die Lippen fest aufeinandergepresst, mit einer schnellen Handbewegung den Schweiß von der Stirn wischte, schon glaubte ich, dass ich mit meiner Idee, was hatte mich nur dazu gebracht, damit zu beginnen?, auf peinliches Unverständnis gestoßen war, da sprachen plötzlich meine Lippen, und nichts als die Ausgeburt einer plötzlichen, wahnsinnigen Eingebung waren die Worte: »Jesus hat gesagt, ihr wärt nicht mutig genug.« »Unsinn. Ich mache mit.« Es war Zachäus. Dem Himmel sei Dank. Er ist dabei, dachte ich, und schon sah ich ihn aufstehen und die anderen mit spöttischen Blicken mustern. Und da standest du auf, Susa. »Dann bin auch ich dabei.« Dann? Ich überhörte damals, was Zachäus nicht überhört haben konnte, wäre denn sonst passiert, was später passierte? Ja, Susa, dass Jesus Zachäus wenige Tage später beinahe erschlug, hatte mit dir zu tun. »Vater wird stolz auf uns sein«, sagte Susa. Und da war auch schon Mirjam aufgestanden, dann gehe auch sie mit, aber nur bis vor das Haus der Hexe und nicht hinein. Und Daniel stand auf, packte die Kerze und sagte: »Los also, wozu noch Zeit verlieren?« Und so brachen wir, halbe Kinder noch, am Abend des Tages, an dem Jesus zum ersten Mal zum Heiler wurde, in meinem Namen auf, um zu zerstören. Zächäus, Judith und Daniel, Mirjam, Susa, Gad und Ethi, der jüngste Sohn des Matthäus. Und ich, Jakobus, ihnen allen voran und doch, in Wahrheit, holpernd durch das Dunkel, nur dem Licht des Bruders hinterher. -79-
Das Haus der alten Griechin, sie tot, seitdem wir denken konnten, keiner von uns kannte mehr ihren Namen, stand allein über den Weinbergen Nazareths, am höchsten Punkt, dort, wo der Wind den Sand der Wüste ablegt, bevor er ihn, umso heißer geworden, im Herbst über unsere Häuser fegt. Wir sahen kaum den Boden unter unseren stolpernden Füßen, als das schwarze Dach des Geisterhauses endlich aus dem Halbdunkel der Sternennacht zu steigen begann. Schwarze Gestalten schliefen dort ihren unheiligen Schlaf, darauf lauernd, aufgeweckt zu werden und damit frei, wieder mit ihrem unseligen Treiben zu beginnen, so hatte es jeder von uns von seinem Vater schon erzählt bekommen, das Haus der Dämonen, ein Haus, das die bösesten unter ihnen schon zu Lebzeiten der Greisin in Besitz genommen haben, samt ihrer Seele, aus Rache für die vielen Austreibungen, die sie unter den Ärmsten Galiläas vornahm. Keuchend, als Reihe bereits weit auseinander gerissen, erreichten wir endlich die Spitze des Berges. Zächäus ging an meiner Seite, klein, fest, lauter noch keuchend als die anderen, doch unbeirrbar wie stets. »Er hat wirklich gesagt, wir wären zu feig dafür?« Ich hatte befürchtet, dass Zachäus damit beginnen würde. »Ja«, sagte ich schnell, »wenigstens habe ich es so verstanden.« »So verstanden? Hat es Jesus nun gesagt oder nicht?« Zachäus brachte seine Worte nur mühsam über die Lippen, so heftig rang er nach Luft, kämpfte er mit jeder seiner Bewegungen. Ich erhöhte das Tempo, wollte ihn loswerden, doch Zachäus blieb auf gleicher Höhe. »Stimmt es denn, was Susa über Jesus und den Gelähmten geredet hat?« Was nun darauf wieder sagen! Ich schwieg. »Warst du dabei?«, hechelte Zachäus. Nein, wie oft denn noch, wir seien alle draußen beim -80-
Sommerherd versammelt gewesen, als Jahwe über unser Haus gekommen sei, auch Susa übrigens, nur soviel dazu, wie er Susas Worte zu bewerten habe. »Sie gibt mit ihm an.« »Ich weiß. Jede kleine Schwester gibt mit ihren großen Brüdern an.« »Mit dir gibt sie nicht an.« Ich schwieg und beschleunigte meinen Schritt. Schon hörte ich hinter mir die dünnen Stimmen der anderen. Ich möge doch langsamer gehen, es komme keiner mit. »Ihr könnt auch allein gehen«, hörte ich Susa wütend rufen. Zachäus blieb unvermittelt stehen. Er warte auf die anderen. Ich könne weitergehen, das Haus sei schließlich bald erreicht. »Er hat schon versucht, sie zu nehmen, als sie noch ein halbes Kind war«, sagte Mirjam unter den Armen hervor, in denen sie ihren Kopf hielt, wir nebeneinander unter den Zweigen eines Ölbaumes, hoch über Jerusalem. Hatte ich laut gedacht? Erschreckt fuhr ich auf, als Mirjam, nachdem sie lange in Schweigen versunken war, so wieder begann: »Erinnerst du dich an die Nacht, in der wir in das Haus oben am Berg stiegen und du alles zerschlugst, was nur zerschlagen werden konnte?« Hat sie wissen können, dass ich in Gedanken eben genau dort war, bei Zachäus, bei den Tagen, als mein Bruder wie der Orkan über ihn kam? Wir waren losgezogen, um in das Haus der toten Griechin einzusteigen, doch als die ersten endlich seine Mauern sahen, hatten wir einander verloren. Daniel und Judith kamen lange nach uns, erschöpft kauerten wir im Gras, den eigenen Atem in den Ohren, ängstlich vor jedem Geräusch, das jeden Moment angreifen mochte. Zachäus kam noch etwas später, keuchend, beschmutzt mit Erde, zerrissen das Hemd, hatte er sich in Dornensträuchern verfangen? Und du, Susa, kamst bis zuletzt nicht. »Was tun wir jetzt?«, fragte Mirjam in das Stoßen unseres Atems hinein. Zachäus und ich, beide fühlten wir uns -81-
angesprochen. »Susa wird umgekehrt sein«, sagte Zachäus, »wir brauchen nicht zu warten.« – »Wir warten«, sagte ich fast gleichzeitig, »sie muss jeden Augenblick kommen.« »Und wenn ihr etwas passiert ist?« Mirjams Stimme klang ängstlich, doch Männer waren wir, wenn auch nur als Kinder. »Was soll schon passiert sein?«, riefen ich und Zachäus jetzt wieder fast gleichzeitig. Als Susa längere Zeit nicht kam, entschieden wir, ohne sie in das Haus zu steigen. Ja, ich erinnere mich. Es war die Nacht, hieß es später, als Jakobus, der Sohn des Josef und der Maria, in das verbotene Haus einstieg und dort von den Dämonen überfallen wurde. Ich sollte für diese Tat härter bestraft werden als für jede andere Tat, die ich bisher verübt hatte. Schon kamen die Ältesten zum Vater, um ihn zur Rechenschaft für das unentschuldbare Verhalten seines Sohnes zu ziehen. Da geschah es, dass Jesus den Zachäus, Sohn des Zilla, halb totschlug und sich damit selbst in die Schuld stellte. Meine Tat hatte damit ihre Schwere verloren, Jesu Tat aber wog wenig gegen die Heilung des Esdras. Es geschah also – nichts. Und wenn nun die Taten der Menschen, so dachte ich damals, die guten und die schlechten, einander allesamt aufwögen? »Ja, ich erinnere mich«, sagte ich zu Mirjam. »Erinnerst du dich auch daran, wie Zachäus aussah, als er endlich zu uns stieß?«, fragte sie weiter und fügte die Antwort selbst hinzu: »Er kam zerrissen und schmutzig, als hätte er sich in Staub und Dornen gewälzt.« »Er ist hingefallen?« Ich nahm zunächst die falschen Worte und kleidete sie, halbherzig, in den Ton der Frage. Dabei wusste ich doch, was wirklich geschehen war. »Er ist nicht hingefallen«, sagte ich müde. »Über Susa ist er hergefallen«, sagte Mirjam, »sie hat geschrien, damals hat sie noch geschrien, doch wir haben nichts gehört. Manchmal ist der eigene Atem lauter als der Schrei eines -82-
anderen.« »Er hat mich festgehalten, ich habe geglaubt, der Teufel ist in ihn gefahren.« »Wie festgehalten?«, Mirjam begann nun selbst zu flüstern. Sie saßen hinter Josefs frisch gemeißelten Steinen. Susas dünne Stimme bebte vor Wut. »Festgehalten eben. Mit seinem ganzen Gewicht.« »Er hat sich auf dich gelegt?« »Als Ganzer. Er hat seine Hände, er hat versucht…« »Er hat dich als Frau angegriffen?« Susa nickte. »Er ist mit seinem Mund ganz nah gekommen, es hat gezischt, ich habe seinen Speichel gerochen.« »Und du?«, fragte Mirjam. »Er hat gekeucht und geschwitzt.« Susa verzog ihr Gesicht vor Ekel. Er habe gesagt, er liebe sie, er werde sie heiraten, später, er müsse sie küssen, jetzt. »Und du?«, fragte Mirjam. »Was, und ich?« Susa war zwölf. »Ich werde um Hilfe rufen, hörst du, geh runter von mir!« »Ich tu dir doch nichts.« »Doch. Du tust mir weh. Und gib endlich deinen Mund weg! Hör auf!« Ein Schrei. Laut. Schrill. Dann noch einer. »Sei doch endlich still!« »Ich werde es den Brüdern sagen.« »Den Brüdern? Der eine ist ein Feigling, und der andere ist nicht dein Bruder.« »Jesus ist nicht mein Bruder?« » Frag deinen Vater.« »Dann heirate ich eher Jesus als dich.« »Ich habe ihn weggestoßen.« Sie habe ihm gesagt, das solle er -83-
nicht noch einmal wagen. »Und hat er seine Zunge in deinen Mund getan?« Susa senkte den Blick. Sie nickte. Mirjam musste auflachen. Schnell hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Zachäus’ Zunge in deinem Mund?« Dann wurde sie ernst. »Ich werde es Jesus erzählen«, sagte sie. »Ich habe es Jesus erzählt, nicht Susa«, sagte Mirjam. »Und deswegen hat er Zachäus halb totgeschlagen?«, fragte ich. »Deswegen und wegen allem.« Mirjam machte eine Handbewegung, die ich nicht verstand. Sie zeigte nach oben, sie zeigte gegen den Himmel. »Wegen allem«, wiederholte ich gedankenlos und fügte, als ich zu verstehen glaubte, schnell hinzu: »Du meinst, wegen allem, was Jesus noch erwartete?« »Ich meine, wegen allem, was ihn nicht erwartete.« Du musst meine neuerliche Ratlosigkeit erkannt haben, streicheltest die scheue Hand des alt gewordenen Mannes, des Mannes, der sich eine Frau Zeit seines Lebens versagt hat. Nicht etwa, wie viele es dachten, mit Absicht, nicht etwa als Frucht der gereiften Entscheidung, vielmehr, weil ihn die verwinkelten Gassen einfach daran vorbeigeführt hatten. Die einzige Gasse, die er je zu gehen bereit war, ist ihm verschlossen geblieben, Mirjam hatte ihn als Mann nie wahrgenommen, und wo sich eine andere später einladend auftat, sah er, wie fern auch am Horizont, doch gleich ihr Ende und wusste sie so ruhigen Herzens zu meiden. Und wieder erriet Mirjam meine Gedanken. »Er war anders als du, nicht besser, aber anders«, sagte sie. »Jesus ist wie geschaffen dafür gewesen zu leben, er hat die Kunst zu widerstehen hart erlernen müssen. Darum hat er Zachäus verprügelt. Den, der auf der Welt sein durfte, einzig, um sich das Leben zu holen.« Und Mirjam, die Augen geschlossen, meine Hand sanft in der ihren, Mirjam, die erste -84-
unter den Jüngerinnen, die Sprecherin der neuen Synagoge, ging zurück, wurde wieder zu Mirjam der Gelben, Mirjam aus Kafarnaum, der Hure des Römers. Still lag sie im Schatten des Ölbaums und saß doch gleichzeitig wieder im Boot, das sie über den Kleinen See brachte. Damals, Susas Blut noch in der Nase, das Bild der geschändeten Freundin vor Augen. Zachäus am Ufer mit heruntergezogener Hose. Sie werde Jesus davon erzählen, dachte Mirjam. »Diesmal wird Jesus ihn totschlagen.« »Hätte ich ahnen können, Kind, dass Jesus nicht daran dachte, Zachäus mit Gewalt zur Verantwortung zu ziehen?« Mirjam hielt die Zügel des Gespanns fest in der Hand. Neben ihr auf dem Wagen saß Rosa. Sie waren die halbe Nacht unterwegs, doch weder Mirjam noch Rosa empfanden Müdigkeit. Schon hatte sich das Himmelstuch gesenkt, um das klebrige Salz des Großen Meeres auf ihren Gesichtern abzustreifen. Bald würden sie in Caesarea sein. Philippus würde sie erwarten, die Pläne für Simon Petrus’ und Jakobs Befreiung würden gemacht sein. Jetzt galt es, stark zu werden für die nächsten Tage, nichts weniger als das Überleben der Gemeinde, das Überleben seines Erbes, Jesu Erbes, stand auf dem Spiel. »Und was hat Jesus gesagt, als du ihm von Susas Schändung erzählt hast?« »Er war nicht da.« »Wo war er?« »Er war mit seinem Bruder in der Wüste.« Als Mirjam Marias Haus betreten habe, um Jesus zu erzählen, was Zachäus seiner Schwester angetan hatte, sei sie in eine Versammlung seiner Schüler geplatzt. Schnell habe sie versucht, Jesu Gesicht in der Menge zu erkennen, vergebens. Stattdessen die eindringlichen Worte, vor denen sie ihre Ohren nicht verschließen konnte. »Denn nur der Menschensohn kann Gottes Werk vollenden, kein anderer als der Menschensohn. Und wer -85-
lebt, als sei er Gott, lebt als falscher Gott, und wer stirbt, als sei er Gott, stirbt als falscher Gott.« »Das waren die Worte meines Bruders?«, fragte ich. »Nein, es war Johannes. Johannes, der Fischer, der Bruder Jakobs«, sagte Rosa, meine kranke Tochter. Ich sprach längst mehr aus Mitleid mit ihr als aus einem Bedürfnis. Tage schon hatte ich an Rosas Bett verbracht, geduldig zugehört, geduldiger, als es mein Alter erwarten lassen durfte. Immer noch sah ich sie im Fieber. Würde sie je wieder gesund werden? Ich hatte die Schriftrolle offen über meinen Schenkeln liegen, den Pinsel in der Hand, die Schreibkohle vor dem Schemel. Rosa drehte kurz den Kopf zu mir. Es schien sie zu beruhigen, mich über das Papier gebeugt zu sehen. Also tat ich, als schriebe ich. Doch kein Wort schrieb ich, nicht eines. »Wir glaubten bisher, mit strengem Gesetz, sattem Frieden und reicher Ernte kommt uns das Himmelreich, er aber sagt uns: Den Armen ist das Himmelreich bereits im Geist.« Johannes sei am Wort gewesen, der jüngere Sohn des Zebedäus, der Lieblingsschüler Jesu. Irgendwann habe er zu sprechen aufgehört. Und irgendwann habe einer das Wort an Mirjam gerichtet: »Aus welchem Grund bist du in Jesu Haus gekommen?« »Ich suche ihn.« »Du suchst ihn jetzt vergebens.« »Ich brauche seine Hilfe.« »Du suchst ihn hier vergebens.« »Es geht um seine Schwester. Es ist wichtig. Wenn sie keine Hilfe bekommt, geht sie vor Schande in die Wüste.« Da sagte einer: »Jesus ist es, junge Frau, der in der Wüste ist, und nichts ist wichtiger, als ihm jetzt durch Gebet beizustehen.« Mirjam kannte den Mann nicht, sie verstand auch nicht, was er mit seinen merkwürdigen Worten gemeint hatte, mehr noch: Sie wollte diese Worte gar nicht verstehen. Schon spürte sie Zorn aufsteigen, da traten die im Raum Anwesenden, einer nach dem -86-
anderen, auf sie zu, gaben ihr die Hand zum Gruß, verbeugten sich vor ihr, einer Frau, und nannten ihr ihre Namen, als wäre sie eine Person, die Achtung verdiente. Es war Jakob der Wilde, jener Jakob, den später alle nur den Donnerbruder nannten, der sie als erster ansprach. »Nennt man dich nicht die Frau des Römers?«, fragte er und musterte Mirjam aus spöttischen hellen Augen. »Nein«, antwortete Mirjam nach kurzem Überlegen, »man nennt mich die Hure des Römers. Und euch nennt man Hunde am Abfalltrog eines Nazareners.« Ich sah Rosa mit der Zunge ihre Lippen befeuchten. »Schreibst du denn auch auf, was ich dir sage? Schreib es Wort für Wort, es muss erhalten bleiben.« »Jedes Wort, Kind.« Ich log. Manchmal, dachte ich damals, erfahren Menschen Linderung am besten in den Schatten, die der Baum der Wahrheit wirft. Heute weiß ich, dass die Schatten der Zweige trügerisch sind. Du spürst die sengende Sonne erst, wenn deine Haut bereits verbrannt ist. »Wie sehr ich mich getäuscht habe, damals. In allem.« Rosa hörte aufmerksam zu. Sie klebte an den Lippen der Freundin, die ihr zugleich Mutter geworden war. »In allem?« »In allem.« Sie habe erwartet, Jesus in einem Haufen von Nichtsnutzen und Raufbolden anzutreffen, so wie man es sich in Nazareth damals erzählte, sie habe erwartet, einen anzutreffen, der Susa ohne zu zögern rächen würde, einen, der sich nicht zu schade wäre, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, Gewalt mit Gewalt, anders jedenfalls als Susas zweiter großer Bruder, der ewig Zögernde, der den Blicken auswich, statt ihnen entgegenzutreten, der schwieg, wenn ihn die Männer des Dorfes mit derben Worten herauszufordern versuchten. Rede nie übel, -87-
Sohn, Jakobus. Wer übel redet, handelt übel, wer übel handelt, denkt übel. Rede gut, Sohn, die üble Rede ist schlimmer als der üble Gedanke, sie ist die wahre Mutter der üblen Tat. Wie oft hatte Jakobus, als Kind schon, die Worte des Vaters wiederholt, er hatte sich daran zu halten versucht. Wie Josef wurde er Steinmetz und schlug den Stein, wem auch immer der Schlag gerade galt. Von Jesus habe man sich andere Dinge erzählt. Gleich einer Fackel, so schwärmten die Jungfrauen selbst in Tiberias, könne einen der Nazarener entzünden, wenn man ihm nahe komme. Gleich dem Feuer könne er einen verzehren und gleich dem Regen wieder zum Blühen bringen, wie es ihm beliebe. Hier ein Gelage mit Zöllnern, dort eines bei den Hafenweibern, er immer dabei, ein Fresser und Trinker, mit zusammengekniffenen Augen, um schärfer zu sehen als die anderen, blind geworden aber für die Regeln der Alten und Gelehrten. Dieses Jesu wegen sei sie nach Kafarnaum gegangen. »Und euch nennt man Hunde am Abfalltrog eines Nazareners.« »Bist du gekommen, uns zu beleidigen?« Es war die harte Stimme Marias, die das Netz zerschnitt, das Mirjams Worte über den Raum gebreitet hatten. Für Momente waren sie darunter wie gefangen gewesen, nicht einmal das Atmen habe man gehört, als Jesu Mutter in Mirjams Rücken die Stimme erhob. Da stand sie, schmal, klein, den Körper vom Mund abwärts in schwarze Wolle gehüllt. Mirjam hatte Susas Mutter viele Jahre nicht gesehen. Sie erkannte sie kaum. Maria war alt geworden. »Maria!« Mirjam bemühte sich, freundlich zu sein, doch Marias Miene blieb starr. »Bist du gekommen, um meine Brüder im Haus meines Sohnes zu beleidigen?« Meine Brüder? Meinte sie diese Männer hier? Jakob der Wilde ihr Bruder? Mirjam versuchte die schneidende Kälte in Marias Worten zu überhören, ging auf sie zu: »Susa braucht Hilfe.« -88-
»Jesus ist es, der Hilfe braucht.« »Das habe ich gehört. Er ist in der Wüste?« »Die Wüste ist in ihm. Seit fast vierzig Tagen schon.« »Ist er also fort?« »Nein.« Maria deutete über den Tisch. Dort stand auf dem Boden eine Truhe. Mirjam blickte fragend zurück, immer noch hielt Maria den Arm starr auf die Truhe gerichtet. Jetzt erkannte Mirjam im Halbdunkel über der Truhe die Umrisse einer Tür. Hatten sich Levi und Natanael zufällig wie Wächter davor gestellt, die Beine leicht gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt? Zu Levi, dem Zöllner, passte es, doch der wirre Natanael, wie lächerlich, als wären sie Soldaten. Befand sich Jesus hinter dieser Tür? Befand sich dort ein Raum? Sie wandte sich wieder Maria zu, besser, sie wollte sich ihr zuwenden, denn als sie sich umdrehte, war Maria weg, einfach fort. »Das nächste Mal, Kind, dass ich deine Großmutter gesehen habe, ist auf der Schädelstätte gewesen, Jesus hinterher, ihre kleinen Füße Schritt für Schritt in das Blut getaucht, das er vergoss.« Mirjam musste, nachdem Maria verschwunden war, auf die Knie gegangen sein, ohne es gemerkt zu haben. »Und was tust du jetzt, Mirjam aus Magdala?«, fragte Simon, der später nur noch Petrus, der Felsen, genannt wurde. Er trat auf sie zu, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Sie blickte, während sie auswich, zu ihm hinauf und entschied sich. »Ich suche ihn in der Wüste.« »Und was tun wir jetzt?«, fragtest du, Mirjam, in das Stoßen unseres Atems hinein. Wir waren bis vor die Tür des Hauses gekrochen, Zachäus und ich allen voran. »Warten wir noch?« »Ich sage dir doch, Susa wird umgekehrt sein«, sagte Zachäus, »wir brauchen nicht zu warten.« Als Susa nicht kam, ich -89-
erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern gewesen, beschlossen wir, ohne Susa in das Haus zu steigen. Ich kauerte neben Zachäus auf dem Boden. »Wir gehen. Durchs Fenster. Ich voran.« Nacht umgab uns. Die ebenerdig gelegenen Fenster wären groß genug gewesen, um jeden von uns durchzulassen, auch Zachäus, den Dicken, doch waren ihnen Gitter vorgebaut. Wir tasteten sie der Reihe nach ab. »Wir werden bei diesem das Gitter herausreißen müssen«, sagte ich, glühend vor seltsamer Aufregung, mit flüsternder, bebender Stimme nun, doch bebend nicht aus Angst, nein, Angst war es nicht, die ich empfand, es war ein Rausch. »Dieses reißen wir heraus. Und dieses dort«, sagte ich, wie trunken, und deutete auf zwei Fenster, knappe zwei Faden voneinander entfernt. Da sagte Judith und schob dabei Gad und Ethi, die beiden Kleinen, vor sich her: »Wir machen nicht mehr mit.« »Dann verschwindet«, sagte ich, »aber wehe, ihr verratet ein Wort.« Daniel und Mirjam blieben bei dem Fenster, vor dem sich Judith, Gad und Ethi jetzt von uns trennten, Zachäus und ich machten uns an das nächste, aufrecht stehend nun, mit Stein und Stock gingen wir gegen das Eisen vor, nicht mehr verhalten sprachen wir, sondern laut wie auf dem Feld beim Ballspiel, die Vorsicht war dem Übermut gewichen. »Warum will Susa, dass ich Zwinkerchen als Führer anerkenne?«, fragte Zachäus. »Weiß nicht«, sagte ich. Wüsste ich doch selbst nur, warum, dachte ich. »Sie vergöttert ihn.« »Hast du schon gesagt.« »Dich aber nicht.« Ich blickte Zachäus über die Schulter hin an. Sah ihn mit kleinen, bedächtig gesetzten Schüben unter das Eisen fahren, mehr stochern als stoßen, den Blick hart geradeaus gerichtet. »Kannst du denn nicht richtig hinschlagen? So werden wir morgen noch vor dem Gitter stehen«, sagte ich und stieß den -90-
Stein so fest gegen das Eisen, dass mir die Finger schmerzten. Zachäus hatte Recht. Susa vergötterte Jesus. Aber die Sache mit Esdras, war sie denn wirklich nur ihrer Phantasie entsprungen? Als Vater nach Hause kam, stand Esdras inmitten des Raums auf beiden Be inen. Seine Leute knieten ringsum auf dem Boden und beteten. Nur Jesus nicht. Der stand als einziger einfach da, nein, nicht als einziger, auch der Stumme stand aufrecht im Raum, die Hände gefaltet, doch nicht vor der Brust, sondern hoch über dem Kopf. Vater ging quer durch den Raum, stieg dabei über die Betenden hinweg, als wären sie lästiges Geröll, geradewegs auf ihn zu. Ich habe die Blicke gesehen, die Mutter und er einander zuwarfen. Ich vermochte sie nicht zu deuten, aber es hat sie gegeben, Blicke des Einverständnisses, Blicke, die den, dem sie galten, auf einen Altar hoben, Blicke, wie sie mir niemals gegolten hatten. Vater begrüßte Jesus schnell durch ein Kopfnicken und wollte ihn dann mit sanftem Druck auf die Schultern zum Niederknien bewegen. Doch Jesus, ich, der ich in der Tür gestanden bin, um das Wunder zu bestaunen, wurde Zeuge, entwand sich seinem Griff, zornig, die schmalen Augen, fast glaubte ich mich verschaut zu haben, mit Tränen gefüllt, und lief davon, hinaus. Vater, im selben Moment wü tend, ich erkannte es an den Falten seiner Stirn, wollte hinterher, doch Mutter hielt ihn zurück. Dann sahen sie mich. Sahen mich stehen und ließen mich, während sie selbst niederknieten, stehen, wo ich war. Ich stieß den Stein gegen das Eisen, wieder und wieder, bis mir davon die Finger blutig wurden. »Ich werde ihm niemals folgen«, sagte Zachäus, »eher schon dir, wenn du möchtest.« Und: »Da, jetzt!« Ich sah ihn mit zwei Fingern den Keil unter das Eisen schieben, es knarrend aus der Mauer brechen. Zachäus blickte triumphierend herüber. Zu mir, der ich das Eisen auf meiner Seite keinen Fingerbreit hatte -91-
bewegen können. »Deine Seite war leichter«, sagte ich, stieß Zachäus weg und griff mit blutigen Fingern selbst in das Eisen, um es aus der Verankerung zu brechen. Mir folgen?, wohin?, dachte ich und hatte mit einem Mal Mirjam vor mir, ihre Augen vor den meinen, in den meinen, sie hinter dem Eisen, ich davor. Ich zog und zerrte. Wie war sie, die ich doch eben noch neben mir an einem der Fenster gesehen hatte, nun auf die andere Seite gekommen? Mir gegenüber und doch mit ferner Stimme hörte ich sie nun rufen: »Seid ihr so weit?« Weiter zog ich und zerrte. Nur noch das Gitter, halb gelöst, war zwischen uns, doch schon warf ich das Eisen zur Seite, stemmte mich, mit schmerzenden Händen, an der Mauer hinauf und schob mich, den Kopf voran, durch das dunkle Loch. Da. Gleißendes Licht. Wüstensand. Kurz musste ich meine Augen schließen. Als ich sie öffnete, stand mein Bruder vor mir, daneben Mirjam, und der Boden war übersät von Manna, wie es die Alten uns überliefert haben. Dann war Zachäus neben mir, größer geworden, wie mir schien, nicht größer als ich, doch kräftig, nicht dick mehr seine Gestalt, fest seine Stimme, und er sagte: »Wenn du willst, folge ich dir!« »Folgen? Wohin?«, fragte ich, und schon sah ich ihn lachend zu seinen Füßen greifen und das zu Boden gefallene Manna aus dem heißen Sand heben. »Wo ewig Brot vom Himmel fällt…« Doch halt!, er sprach die süßen Worte nicht zu mir, sprach, jetzt sah ich es deutlich, an mir vorbei. Nicht mir galt sein Blick, nicht mir hatten die Worte gegolten, nicht ich war es, dem er folgen wollte, Jesus war es. Mein Bruder stand da. Und schon sah ich Jesu Hand nach seiner greifen, wie in verschworener Gemeinschaft beide, da war plötzlich Mirjam zwischen ihnen, kein Kind mehr, eine Frau, schmal, doch mit aufrechtem Rücken. »Zachäus hat Susa Gewalt angetan«, sagte Mirjam. Sofort zog Jesus seine Hand zurück. Stattdessen packte er Zachäus am Hemd und hob ihn hoch, immer höher, und immer größer wurden die beiden, wuchsen unaufhaltsam gegen den -92-
Himmel, überragten nun schon den Tempel, der aus dem Nichts über dem Sand entstanden war, da wandte sich Zachäus, immer noch in Jesu festem Griff, an mich. »Besser, du folgst mir als ihm«, sagte er und blickte auf mich herab. »Dir folgen?«, rief ich zu ihm hinauf, der sich nun der Umklammerung meines Bruders entwand und auf der höchsten Zinne des Tempels zu stehen kam. Etwas tropfte auf meinen Kopf. Vorsichtig führte ich es an die Lippen. Es schmeckte süß und weich und weiß. Es war Manna, es musste aus Zachäus’ Hand gefallen sein. »Ja, mir. Dem, der die Kraft hat, in den Tod zu springen, ohne zu sterben«, rief er zurück. Doch kaum waren die Worte verklungen, war an Zachäus’ Stelle der Bruder getreten, Jesus, der nun mit zusammengekniffenen Augen von der höchsten Zinne des Tempels zu mir herunterblickte. »Der, der in den Tod fällt und doch nicht stirbt, bin ich«, rief er und machte einen Schritt auf den Rand der Zinne zu, bereit offenbar, sich hinunterzustürzen. »Doch nicht für mich«, rief ich. »Für dich und die anderen«, rief er. »Nicht für mich. Nicht jetzt schon«, flüsterte da Mirjam neben mir. Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt. Kaum habe ich die leisen Worte hören können, doch Jesus hielt sich mit einem Mal die Ohren zu. »Nicht jetzt schon«, wiederholte Mirjam, leiser noch als zuvor kamen die Worte über ihre Lippen. »Es ist noch nicht vollbracht.« »Dann wäre es vollbracht!«, brüllte Jesus hinunter, die Hände an den Ohren. Ich wandte meinen Blick ab, schloss die Augen, sah nichts mehr, nur noch Dunkelheit. »Warum öffnen wir sie nicht?«, hörte ich Daniel wie aus einer anderen Welt fragen. Da war ich wieder, ich, Jakobus, der Halbwüchsige. Mirjam deutete auf die Truhe, die zu unseren Füßen stand. »Wir können sie hier nicht öffnen, wer weiß, was -93-
darin ist?« »Wir können sie doch nicht mitnehmen«, wandte Daniel ein. »Mirjam hat Recht«, raunte ich, »wir schauen noch in die anderen Räume. Wer weiß, ob das Silber wirklich in dieser Truhe ist.« Da sah ich, undeutlich nur, hinter der Truhe die Umrisse einer Tür aus der Wand treten. »Schau, Zachäus!«, rief ich, »eine geheime Tür!« »Da gehe ich nicht mehr hinein«, sagte Daniel, »wir sind wegen des Silbers gekommen, und da ist es, keine Frage, hier in der Truhe.« Wer wisse, was hinter der Tür versperrt gehalten sei, vermutlich all die Dämonen, die die Griechin Zeit ihres Lebens ausgetrieben habe. Schon war ich bereit aufzugeben, griff ich nach Mirjams Hand, um sie zur Umkehr zu bewegen, schon hatte ich den schwache n Schein der Kerze wieder von der Tür genommen, schon legte sich mein Blick auf den mit Elfenbein verzierten Deckel der Truhe, da schob sich Zachäus zwischen meinen Beinen auf allen vieren an die Tür heran. »Pscht, da sind Stimmen.« Schnell zog ich meine Hand wieder zurück. Jetzt gab es kein Umkehren mehr, Zachäus wollte Stimmen gehört haben, hatte er wirklich etwas gehört? Von unten her, eine Wange an die Tür gedrückt, sah er uns herausfordernd an. »Zu feig dafür…«, nur geflüstert kamen die Worte, wie nebenbei, doch sie waren der Haken, an dem der Fisch sich verbeißen musste. Zu feig dafür. Niemand hatte diese Worte gebraucht, schon gar nicht Jesus, gelogen hatte ich, um sie auf meine Seite zu bringen, jetzt hing ich am Haken der eigenen Lüge. »Ehrlich? Stimmen?«, sagte ich und tat herausgefordert. Ich kniete mich neben ihn und legte auch meine Wange an die Tür. Ich brauchte keine Sekunde, um die Stimme wiederzuerkennen. Hinter der Tür sprach, unverkennbar sein Näseln, unverkennbar das Weib in seinem Hals, der Heuschreckenesser. Ich ließ Mirjam, wo sie war. Ich musste hinein, hinauf, hinter -94-
die Tür, den Tempel hinauf zu den Zinnen. Es ging um Jesu Leben. Er durfte nicht springen. Schnell durch den ersten Raum, da, die Tür zur Treppe in den nächsten Stock, vo r der Tür eine Truhe. Ich trat sie mit den Füßen zur Seite. Nein, nicht nur zur Seite, ich trat sie in hundert Stücke, griff mir den nächstbesten Stein und schlug weiter auf das Holz ein, bis von hundert Stücken jedes wieder in hundert Stücke zerborsten war. Dann brach ich durch die Tür und rannte quer durch den Raum zur nächsten, die wieder von einer Truhe verstellt war. Mit jener tat ich es wie mit der vorigen und von dieser an nicht anders mit weiteren sieben. Mit blutig gestoßenen Füßen und Händen, schwitzend aus allen Poren, erreichte ich endlich die höchste Zinne des Tempels und sah, vornüber gebeugt, bereit zum Sprung, Jesus. »Jesus«, rief ich von weitem, »Bruder, bleib, wo du bist!« Da erst bemerkte ich, hinter mir, ihn: Johannes. Ich bemerkte ihn, ohne mich dafür umdrehen zu müssen, ich bemerkte ihn, indem ich ihn roch. Dann erst wandte ich mich ihm zu. Stinkend wie ein Kamel stand er, aufrecht und wankend zugleich, trotz des Stabes, an dem er sich hielt, so, wie nur trunkene Männer stehen, trunken, ganz gleich, wovon. Wie Elija, der Prophet, will er aussehen, dachte ich, doch wie ein Dämon kleidet er sich, ein behutsam lenkender Prophet will er sein, doch er wurde ein Feuerwerfer. Er gibt vor, die Menschen mit dem kühlenden Wasser des Jordans vor dem Glühen Gottes zu schützen, doch er löscht bestenfalls das Feuer, das er selbst gelegt hat. Den Weizen von der Spreu will er trennen, damit diese vom Winde verweht werde, doch er schlägt das Korn so lange mit dem Dreschflegel, bis nur noch wertloses Pulver übrig ist. Die Zukunft habe begonnen, und die Weissagungen der Alten seien Gegenwart geworden, rief Johannes, doch die eigenen Alten überließ er sich selbst. Es werde einer kommen, der mächtiger sei als er selbst, verkündete er landauf, landab, dieser werde die Söhne Israels nicht nur mit Wasser taufen, sondern mit dem Feuer des Gerichts. Und wen -95-
meinte er damit, Bruder? Dich. Dich meinte er. Und entzündete damit das Stroh deiner Jugend an seiner tödlichen Flamme. Wilder noch geworden, stürzte ich mich auf den verhassten Freund des Bruders. Ein Satz genügte, dann ein einziger schneller Hieb mit dem Holz, das in meiner Hand mit einem Mal zum Schwert wurde. Surrend spaltete es Johannes’ Kopf, der aufplatzte wie faules Obst. Dann sackte der Rumpf über dem rollenden Schädel zusammen. Da sah ich Jesus, immer noch die Hände an den Ohren, langsam wieder von der Zinne steigen. Mit zusammengekniffenen Augen kam er auf mich zu, betrachtete den toten Freund, dann mich, dann wieder Johannes. Jesus schien weder traurig noch froh. »Sein Tod«, sagte er dann, »hat mir den Rückweg genommen.« Mirjam, so erzählte man mir später, war geblieben, wo sie gewesen war, sie hatte sich, als der Dämon von mir Besitz ergriff, auf den Boden geworfen und zu beten begonnen. Zachäus hatte nicht die Kraft, mich zu bändigen. Wie rasend habe ich gegen die hölzerne Truhe getreten, wie rasend gewütet, bis Truhe und Tür in Trümmern vor mir lagen. Doch damit nicht genug. Ich bin in das dahinter liegende Zimmer gerannt und habe, ein Holz in der Hand, das ich aus der zertrümmerten Truhe riss, alles zerschlagen, was in dem nur spärlich ausgeleuchteten Raum zu erkennen gewesen war. »Weiß nicht. Weiß nicht«, habe ich gebrüllt, aus Leibeskräften, wie man es mir, dem stillen Kind des Steinmetz, nicht zugetraut hatte. Ja, Mirjam, alte Freundin, ich erinnere mich. Es waren die Tage, da sich mein Bruder für mich in die Schuld gestellt hat. »Warum hast du Zachäus verprügelt?«, fragte ich ihn, sobald ich ihn fand. Weder Mirjam noch Susa hatten mir Antwort gegeben. Auch Jesus wollte nicht antworten. Nicht auf meine Frage. »Weißt du, dass mich Mutter mit der Rute geschlagen -96-
hat?« Ich war noch nie mit der Rute geschlagen worden. Er drehte sich um und bot mir seinen Rücken. »Zieh das Hemd hinauf, aber vorsichtig.« Ich vermochte es nicht. Kaum einen Daumenbreit konnte ich das Hemd bewegen, denn es klebte am geronnen Blut der Striemen, die die Rute auf seinem Rücken hinterlassen hatte. Nein, solche Wahrheiten wollte ich nicht sehen. Damals und auch später nicht. Wäre ci h sonst seinem Sterben ferngeblieben? »Wegen Zachäus«, entfuhr es mir. »Nicht wegen Zachäus. Wegen Esdras«, sagte er, während er mir wieder das Gesicht zuwandte. »Wegen Esdras?« Jetzt verstand ich nichts mehr. War er nicht eben noch einen ganzen Tag lang dafür gefeiert worden? Hatte Nazareth nicht seine Weinfässer geöffnet, weil der Gelähmte wieder gehend war? Hatte er, Jesus, denn nicht dabei sein dürfen, als Gott, der Herr, ein Zeichen setzte? Ging nicht sogar das Gerücht, dass er, Jesus, als erster seine Hand auf Esdras’ genesene Beine hatte legen dürfen? »Wegen Esdras?«, fragte ich erstaunt. »Sie verstehen nichts«, sagte er. Jesus schien trauriger, als ich ihn je zuvor erlebt hatte. »Sie haben überhaupt nichts verstanden.« »Wer hat was nicht verstanden?« Und wieder antwortete Jesus nicht. Stattdessen die merkwürdige Gegenfrage: »Warum will Susa, dass mich Zachäus als Führer anerkennt?«, fragte er. Ich log. »Weiß nicht«, sagte ich. »Doch, du weißt es.« Natürlich wusste ich es. Damals schon. Weil er war, wie nur er war. Weil er einzigartig war. Doch für die Wahrheit war ich damals nicht reif. Ich hatte Angst zu verlieren. Ich war das Gefühl nie losgeworden, dass wir gegeneinander, nicht füreinander gemacht waren. Als müsste jeder, um selbst ganz zu werden, den anderen erst überwinden. Als würde der Atem des einen den Atem des anderen verkürzen, als wäre das Glück des -97-
einen das fehlende Glück des anderen. »Weiß ehrlich nicht. Sag es mir!« »Sie glauben«, sagte er, »es ist der Herr, der uns heilen kann. Aber er heilt uns nicht.« Jedes Wort presste er einzeln heraus, als wäre jedes Wort eine Geschichte. Ich hielt den Atem an. »Sie sind vor Jahwe auf die Knie gegangen, weil sie glaubten, er habe Esdras gesund gemacht. Ich aber sage euch, wir müssen lernen, uns selbst gesund zu machen. Denn Gott ist weniger unser Vater, als er unser Kind ist.« Ich wollte nicht hören, was ich da hörte. »Dass du das vor Mutter ja nicht wiederholst!«, sagte ich streng. Ich versuchte zu lachen. Er lächelte zurück. »Vor allem lernt Gott vom Menschen und danach erst der Mensch von Gott, denn in den Händen der Menschen ist das Leben.« Daniel hatte uns verraten. Unbeachtet lief er, während ich begann, auf die Tür hinter der Truhe einzutreten, aus dem Haus, den Berg hinunter, ins Dorf. Schne ll waren unsere Väter auf den Beinen gewesen. Auf halbem Weg seien ihnen Zachäus und Mirjam entgegengekommen, heulend, die Geister noch in den Augen. Jakobus sei von Sinnen. Die Dämonen. Die Truhe. Das Holz. Die Truhe? Das Holz? Niemand habe sie verstanden. Den Männern, hieß es, habe sich, als sie das verbotene Haus betraten, ein Bild der Verwüstung geboten. Kurz und klein geschlagen war alles Holz, zerfetzt waren die Tücher, und überall mussten die Dämonen vergiftetes Wasser verschüttet haben, denn es hatten sich Pfützen gebildet. Jarobim habe einen Tropfen auf seine Lippen bekommen, zufällig, aufgespritzt durch einen unachtsamen Fußtritt. Es habe süß geschmeckt, wie Honig, eine Versuchung, das habe er sofort erkannt, er habe ausgespuckt, trotzdem sei im folgenden Jahr jedes seiner Lämmer krank geworden. Und inmitten dieser Pfützen sei ich gelegen, Jakobus, glühend wie ein Stein in der Wüste, die -98-
Augen starr, in beiden Händen, fest umkrallt, Steine, wie sie keiner je gesehen hatte, glatt und glänzend schwarz, nicht rund, eher in der Form einer Muschel. Als ihr danach hattet greifen wollen, näher kamt meinen Händen, hätten die Dämonen plötzlich vor Schmerz zu schreien begonnen. Ihr seid hinausgelaufen, die schrillen Schreie in euren Ohren, hinaus und hinunter, so schnell euch eure Beine tragen konnten. Vater gelang es gerade noch, mich an Füßen und Händen zu fassen und aus dem Haus zu tragen. Doch als ihr mich in sicherem Abstand auf den Boden legtet, da waren die Steine in meinen Händen verschwunden. Am nächsten Tag kamt ihr mit Fackeln. Als das Haus niedergebrannt war, hobt ihr ein Loch aus, weihtet die Erde und vergrubt Stock und Stein darin. Der Schädel, den ihr dabei fandet, musste, spracht ihr, der alten Griechin gehört haben. Er lag, in einem messerscharfen Schnitt vom Rumpf getrennt, unter zersplittertem Holz. Die Sonne steigt in den Zenit Ananus kommt früher als erwartet, er will auch Rosas Leben. Wie Jakobus Simon Petrus für seine Tochter opfert und seine Rolle in dem Konzil, in dem die Apostel Petrus und Paulus als Gegenspieler aufeinander trafen. Diesmal das Ende. Ich habe gezittert, als Ananus zur Tür hereinkam. Hat er es bemerkt? Ich habe ihn gleich am Schritt erkannt, am kurzen Schritt des kleinen Mannes. Nun sind seine Schritte mit den Jahren auch noch schwer geworden. Umso leichter sein Vater zu werden schien, wie auf Flügeln getragen von der Liebe seines Volkes, desto schwerer zog er in seinem Schatten seine Kriechspuren durch den Sand Jerusalems. Ich beneide ihn nicht, nicht um sein hohes Amt und nicht um sein reiches Erbe. Ich, der ich so lange darunter litt, keinen -99-
Vater zu haben, habe nun Mitleid mit dem, der immer nur Sohn sein durfte. Auch dich, Susa, müssen die Schritte geweckt haben. Aufrecht sehe ich dich auf deinem Lager sitzen, die Augen aufgerissen, unbeweglich an das Holz der Tür geheftet, die noch im Morgendunkel liegt. Dann Ananus’ Schritte, die steinerne Stiege herauf, kurze Schritte, unverkennbar. Da sinkst du auf deinem Tuch, noch ehe er zur Tür herein ist, wieder in den Schlaf zurück. Deine Miene drückte Enttäuschung aus. Als hätten dich die Geräusche jemand anderen erwarten lassen. Hast du Rosa erwartet?, fragte ich mich. Ananus war es. Er kommt, um mich zu holen, dachte ich. Kann er mit der Vollstreckung des Urteils nicht warten, bis sich der Tag geneigt hat, wie es Gesetz ist? Doch ich irrte. Er kam nicht wegen mir. Er ging, nachdem er in meinem Haus seine Falle für Rosa ausgelegt hatte. Listig wollte er sein, doch ich habe seine Absicht durchschaut. Was, Ananus, Sohn des wahr en Ananus, wenn ich dich gestern Nacht vor dem Sanhedrin verraten hätte? Was, wenn ich es jetzt noch täte? Was, wenn dein großer Vater’ erführe, auf welch schändliche Weise du seinen Namen damals in Caesarea missbraucht hast? Was, wenn ich Rosa schicken würde, dich bei den Römern anzuklagen?, Rosa, den lebendigen Beweis deiner Schuld: »Seht diesen Mann«, könnte sie in die Runde der Priester und Pharisäer rufen, »den Mann, den ihr zu unserem höchsten Priester gemacht habt, sein Amt ist auf Schuld gebaut. Denn er, dem ihr vertraut, betrog sein eigenes Volk zu Gunsten seiner Feinde. Ich war die Gegenleistung. Mein Fleisch ließ ich ihn gebrauchen, als wäre ich sein Vieh, Israel kostete es das Leben eines Königs.« Doch ich habe Rosa nicht geschickt, lieber sehe ich sie in Sicherheit als auf der Zeugenbank. Es nützt nichts, wenigstens das habe ich gelernt, Anklage mit Anklage aufzuwiegen, Schuld -100-
mit Gegenschuld abzugelten. Ich zitterte, als er zur Tür hereinkam. Am Tisch wollte ich meine Mörder erwarten, ihnen Wein anbieten und frisches Brot, wie wir es gelernt haben. Nicht entgegentreten wollte ich den Ketten, nicht mit Worten, nicht mit Münzen. Keinen Versuch unternehmen zu entkommen. Keinen Widerstand leisten. Das Ende sehen und es nehmen. Allein, ich konnte nicht. Ich schickte, kaum war Ananus gegangen, den Burschen um einen Reiterboten. Simon Petrus in Rom wollte ich warnen. Dem Boten, so dachte ich, werde ich den Auftrag geben, nach Caesarea aufzubrechen, ans Große Meer, dort würden unsere Leute wissen, was zu tun sei. Doch im letzten Moment, Simon, verzeih mir!, entschied ich mich anders – und ich opferte dein Leben für den Versuch, das meiner Tochter zu retten. Simon Petrus. Den ganzen Sommer über sind die düsteren Nachrichten aus Rom gegen unsere Gemeinde gezogen wie die Wolken des Gewitters gegen unsere Berge. Nero sei schlimmer noch als Claudius, kein Jude mehr sicher vor ihm, und uns Christianoi möge er unter allen jüdischen Sekten am wenigsten. Ein Wahnsinniger sei er, einmal Schausteller, dann Wagenlenker, dann Kaiser. Ein Mörder, der fürchtete, von unserem Gott gefällt zu werden. Wir hörten, dass ihm unsere eigenen Leute in die Hände spielten. Auch in Rom hatten die Dolchleute die Synagogen unterwandert. Fast täglich erwarteten wir die Nachricht, dass man dich, Simon Petrus, in Ketten gelegt habe. Wir verdanken dir viel. Und mehr noch vielleicht, als es dich ohne den Mut der unseren nicht mehr gäbe, die einst deinen Kopf aus der Schlinge des Herodes gezogen haben, würde es uns ohne dich nicht geben: Ja, du bist zum Felsen geworden, wie Jesus es vorherbestimmt hat. Doch zugleich bist du zu jenem mächtigen Baum geworden, der in diesen Felsen seine Wurzeln schlug und seither dem schlimmsten Wetter trotzt, indem er den Wind durch seine biegsamen Äste fahren lässt. -101-
Wie lange hielt auch ich dich für einen Schwächling. Einer von uns warst du, ein Galiläer, und doch aus einer anderen Welt. Man sagte, du könnest nicht ja und nicht nein sagen, jedem wollest du alles recht machen und tätest dabei doch nur dir selbst recht. Man sagte, kalt seist du und glatt wie der Aal, mit dem du Handel triebest, und dein Silber wachse ebenso schnell, wie deine Fische ihre Schuppen verloren. Man sagte, dein kantiges Gesicht, die gerade Nase, die sicheren Bewegungen des gefestigten Mannes, all das nichts als Täuschung. In Wahrheit seist du feig und von jenem weißen Fleisch, das in den Muscheln steckt, aus welchen nur die alten Weiber schlürfen. Mit Hohn sprachen unsere Leute in Nazareth von dir, sprachen, ich will mich nicht ausnehmen, wir von dir. Wie sehr wir dich verkannten! Bis heute hast du ihm die Treue gehalten. Ihm, seinem schweren Erbe, später mir. Die große Versammlung damals, in dem Jahr, als Rosa wiederkehrte, als Saul, Schaum vor dem Mund wie stets, so tat, als sei er es, dessen Auferstehung gefeiert werden müsse. Damals, als wir im Namen des Bruders, nein, im Namen des Vaters hier in Jerusalem zusammentrafen. Zum ersten Mal kamen wir aus beiden Welten, hier die Alten, die ihre Synagogen nie verlassen hatten und sich um dich, Simon, und Johannes scharten, dort Saul, Barnabas und Markus, die mit Antiochia weit oben in Syrien die größte und stolzeste unserer Gemeinden im Rücken hatten. Nur: Verstanden sich jene in Antiochia noch als Söhne Israels? Es sollte um die Frage gehen, unter welchen Bedingungen wir uns fortan der Heidenwelt würden öffnen dürfen, auf welche der Gesetze Moses’ sich einer noch verpflichten müsse, um zu uns zu gehören. Aus Sauls Blick sprach der Hass gegen die Väter Israels, wie zuvor aus seinem Blick der Hass gegen uns aufmüpfige Kinder Jahwes gesprochen hatte, Kinder, die er verfolgte und sogar tötete im Namen der Gerechtigkeit. Jetzt war Moses für ihn tot, gestorben mit Jesu Auferstehung. Welch tragischer Irrglaube. Die eine -102-
Hand Gottes mit Hilfe der anderen abschlagen. Mit einem Auge schärfer sehen wollen, indem man das andere schließt. »Warum zwinkerst du immer, Bruder?«, fragte ich, da waren wir noch Kinder. »Man sieht besser, wenn man es klein macht«, sagte Jesus. »Was klein macht?« »Die Dinge«, sagte Jesus und: »David hat ihn klein gemacht, darum hat er gewonnen.« »David? Wen klein gemacht?« »Goliath!« »Was hat Goliath damit zu tun?«, fragte ich, neben der Mutter hergehend, Jesus an ihrer Hand. Darauf antwortete Mutter für ihn: »Dein Bruder hat Recht. Wenn du besser sehen willst, tritt ein paar Schritte zurück. Wenn du willst, dass man dir zuhört, lerne zu schweigen. Wer es versteht, aus Großem Kleines zu machen, wird siegen, wer aber aus Kleinem Großes machen will, verlieren.« Hast du Ihn, Bruder, deswegen Abba genannt, Väterchen? Hast du deswegen den Blick für das Große nie geübt? Du bist ihnen in die Falle gegangen, ohne Vorsicht, ohne Rücksicht, mit zusammengekniffenen Augen, es muss deine Feinde herausgefordert haben. Sie glaubten, du wollest sie verhöhnen. Und deine Freunde hat es enttäuscht. Als du dich gegen den Tod nicht wehrtest, fühlten sie sich betrogen. Dafür poltern sie jetzt umso lauter. »Hört nicht auf die Gesetze des Tempels«, wetterte Saul, »denn unser Tempel ist, wo die Zwölf in seinem Gedenken zusammensitzen! Hört nicht auf die Gesetze der Schriftgelehrten, denn welches ihrer Gesetze kann höher sein als die Auferstehung des Messias, deren Zeuge wir wurden.« So predigte uns Saul mit sich überschlagender Stimme, mit der feurigen Zunge des Heuschreckenessers. Sein Nachfolger in Wahrheit, nicht deiner, Bruder, doch darüber sprach ich nie ein Wort. Auferstehung. Welch großes Wort, -103-
Zwinkerchen. Wie sehr du immer missverstanden wurdest! Am meisten von deinen Freunden. Das Sterbenkönnen war die Botschaft, nicht das Auferstehen. Das Verlierenkönnen, nicht das Siegen. Das Loslassen, nicht das Anhaften. Das Nichtbegehren, nicht das Begehren. Saul ging von vornherein den falschen Weg. Ich weiß es. Heute mehr als früher. Er ging den Weg, der uns, nein: ihn selbst zur Auferstehung führen sollte. Saul stieß uns Alte vor den Kopf. Kleiner noch an Wuchs war der Zilizier, als wir ihn aus seinen Tagen in Jerusalem in Erinnerung hatten, magerer noch geworden am Orontes, ausgezehrt vom lodernden Hass gegen jene, die anders dachten als er selbst. Wolle er denn wirklich, so fragten wir ihn, dass einer, nur weil er schon bisher als Heide gelebt habe, nun im Namen Jesu so fortfahren dürfe, Gesetze missachten, die ihm, dem Bruder selbst, heilig waren: der achte Tag, die Gebote der Reinheit, der Schwur auf die Thora? Sollten denn, so fragten wir besorgt, bald nur noch Ungläubige Einlass in unsere Gemeinde finden? Um solche Fragen ging es, deswegen hatte ich Saul und Josef Barnabas, den Leviten aus Zypern, nach Jerusalem gebeten. Doch dann kamen Saul und Barnabas und drehten alles in ihrem Sinne um, wie Saul immer alles umgedreht hat, je nachdem, wo er und sein Sinn gerade standen. Und plötzlich saßen wir Alten da und mussten uns fragen lassen, unter welchen Bedingungen wir denn noch Glaubende sein wollten. Wir. Hier in Jerusalem. Die Erben Jesu. Mirjam, die Erste in der Gemeinde, oder Johannes, der Zebedäer, der Jesus zum Bruder geworden war wie Jakob zu dem meinen. Was hättest du dazu gesagt, Bruder? Dem heiligen Volk, von dem wir stammen, wollte Saul den vordersten Platz absprechen. Als würde der Hirte den Hammel, der zur Verteidigung die Hörner hebt, wenn er die Gefahr der Wölfe wittert, von der Herde ausschließen und stattdessen die Wölfe an seine Stelle setzen, nur weil diese besser jagen -104-
können. Ohne dich, Simon, hätten Saul und die seinen die Gemeinde damals in Brand gesetzt. Du hast es verstanden, die Flammen zu zügeln, bevor sie genügend Nahrung fanden. Nein und ja sagtest du ihm und mir zugleich. Gewiss, ich war damit anfänglich nicht zufrieden, doch nicht Schwäche, sondern Umsicht war es, die dich leitete. Weich warst du, gewiss, doch weich nicht anders als die Blätter des Baumes, die den Wind durch seine Zweige lassen, damit der Stamm nicht bricht. »Stimmt es denn, Ananus, dass Rom Simons wegen in Asche liegt?« Ich habe gezittert, Schwester, als Ananus zur Tür hereinkam. Ich sprach von Simon, ich musste sprechen, Worte gegen die verräterische Stille setzen, Worte aufbauen gegen die Angst. Worte auch als Brücke über unser Geheimnis. Mit schwerem Schritt kam er auf den Tisch zu, an dem ich saß, griff zum Weinkelch, noch ehe er den Mund zum Gruß auftat. Er setzte sich. Ein schneller Blick auf dich, Susa, die kranke, schlafende Frau, wie nebenbei. Doch zu lange blieben seine kalten Augen auf deiner schweißnassen Stirn. Ich durchschaute ihn. Er wollte sichergehen, dass ihm von dir keine Gefahr mehr drohte. Dann erst nahm er meine Frage auf. »Wegen eures Simons das Feuer, fragst du?« Ich sah Ananus, den kleinen Sohn des alten Ananus, zurückgelehnt in seinem Stuhl, höhnisch den Kopf schütteln, dann auflachen. Nein, nicht seinetwegen, nicht seinetwegen allein, jedenfalls. Nicht nur ihm, dem stolzen, dummen Simon, werde es in Rom jetzt an den Kragen gehen, uns allen habe die Stunde geschlagen. »Ihr werdet es nicht überleben. Ihr werdet nicht eure faulen Eier in unsere Nester legen.« Faule Eier. Dieses Wort gebrauchte er, Susa. Ich ließ ihn reden und reden, schenkte ihm nach und ließ ihn weiter reden, unbarmherzig kroch die Sonne den -105-
Himmel dabei hinauf. War er wirklich gekommen, mich zu holen? Allein und jetzt schon? »Ist Rom zerstört?«, fragte ich, als er mir Gelegenheit dazu gab. »Die halbe Stadt.« »Wie viele sind wir dort? Jetzt.« Ananus zog die Stirn in Falten, dann legte sich der Ausdruck des Spotts darüber. »Meinst du die Söhne Israels oder die Söhne Pantheras?«, sagte er, bevor er wieder den Kelch an die Lippen führte. Er lachte laut auf. Die Söhne Pantheras, dachte ich. War denn dieser Unsinn immer noch im Gedächtnis der Priester? Ich ließ ihm Zeit, sich am eigenen Hohn zu erheitern. »Ich meine uns«, sagte ich dann, »die Söhne Abrahams und Jakobs. Die Töchter Israels und Judas. Und unsere Gemeinde gehört dazu, wie immer ihr uns jetzt auch nennt.« Ich wollte weiter an meiner schmalen Brücke bauen, Worte setzen, Buchstabe hinter Buchstaben, verbindlich gerade genug, um ihn am Reden zu halten, unverbindlich genug, ihn nicht zu reizen. Ich wollte Zeit gewinnen. Es war zu früh. Ich wollte noch nicht sterben. Doch ohne es gemerkt zu haben, hatte ich ihm sein Stichwort auf den Tisch gelegt, nun baute er seine Brücke, schamlos, über Raum und Zeit hinweg zu seiner Schuld. Ich hätte eben von den Töchtern Israels gesprochen, knüpfte er an meine Worte an, das treffe sich gut, denn damit sei er bei dem Grund seines Besuchs. Der Grund seines Besuchs? Noch nicht die Verhaftung? Noch nicht die Ketten? Zeit noch? Wieviel? »Ist sie in der Stadt?« »Sie« hat er gesagt, »sie«, nicht einmal den Namen, als wüsste ich auch ohne Namen, wen er meinte. Natürlich wüsste ich es. »Nein«, sagte ich, log ich, so ruhig ich konnte, »sie ist nicht in der Stadt.« Ananus schien mir nicht zu glauben. Er musterte mich. Ich wolle ihm weismachen, die Tochter stehe ihrem Vater in seiner -106-
letzten Stunde nicht bei? »Sie ist nicht meine Tochter, das weißt du.« Ananus schwieg. Nicht aus Kalkül, wie der erfahrene Richter beim Verhör geschwiegen hätte, um die Zunge des anderen zu lösen, wie es sein Vater getan hätte, stets auf Lauer, stets dem hinterher, was unter, nicht dem, was auf der Zunge lag. Dieser Ananus schwieg, weil er nichts zu sagen hatte. »Da wüsste ich, Susa, dass er wegen Rosa gekommen war.« – »Was hat er von Rosa gewollt?«, fragst du da. Was er von Rosa gewollt habe? Ich sehe dich an, sehe die Frage, ich gla ube nicht, was ich da sehe. Du hast es vergessen. Kannst du es wirklich vergessen haben? Ich schweige. »Was willst du von Rosa?«, fragte ich. Nicht er, sagte er, der ein Fuchs sein wollte und nichts war als ein Hahn, nicht er sei es, der etwas von ihr wolle, Tiras sei es, Tiras habe vorgeschlagen, sie als Zeugin vor den Sanhedrin zu bringen, sie wisse doch gewiss einiges zu meiner Verteidigung vorzubringen, zumindest anhören müsse man sie der Gerechtigkeit wegen. Der Gerechtigkeit wegen! Ananus, du dummer Mensch. Habe ich denn nicht eben noch das Leuchten des Hasses auf deinem Gesicht gesehen, als du von unserer Vernichtung sprachst? Glaubst du denn, ich sei so leicht zu täuschen? Ich musste so tun, als ließe ich mich täuschen, ich musste seinem Vorschlag zustimmen, so tun, als würde ich die Chance ergreifen, mich zu retten. »Verstehst du?«, frage ich Susa. Sie nickt. Sie hat nichts verstanden. Die Geister haben sie endgültig besiegt. Sie wird in meiner letzten Stunde nicht dabei sein, sie wird nicht einmal begriffen haben, dass es meine letzte Stunde ist. »Fünf Stunden gebe ich dir, keine Stunde mehr«, sagte er und -107-
ging mit schwerem Schritt und flachem Atem zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. »Fünf Stunden«, rief ich ihm hinterher. »Ich werde sofort den Burschen schicken, sie zu suchen, immerhin geht es um mein Leben«, rief ich und versuchte, nicht zu hoffnungsfroh zu klingen, das hätte mir selbst Ananus nicht geglaubt. Und ich schickte den Burschen. Doch ich schickte ihn, den ich beobachtet wus ste, den sie verfolgen würden, nicht, um nach Rosa zu suchen, ich ließ ihn einen der Reiterboten holen. Ich werde diesen, dachte ich, in weitem Bogen an Rosa und Jerusalem vorbei, mit einer Warnung für Simon nach Caesarea schicken. Doppelt dachte ich, wäre der Gewinn. »Doch dann, Susa, als der Bote vor mir stand, konnte ich das Spiel nicht spielen. Sie würden Verdacht schöpfen. Ananus musste wissen, dass Rosa keinen Schritt mehr nach Caesarea setzen würde. Ich gefährdete ihr Leben und das unserer Leute in Caesarea noch dazu. Und ich änderte den Auftrag des Boten.« Den Ölberg hinauf solle er reiten und weiter. Bis die Nacht hereinbreche, sollte er das Pferd antreiben, immer dem Sonnenaufgang entgegen, in die Berge Judäas hinein, ohne Unterlass, ohne sich umzusehen, denn er werde verfolgt werden, und ohne zu rasten. Wenn er angehalten werde und aufgefordert zu sagen, wohin der Weg ihn führe, so solle er sagen, dass er unterwegs sei, Rosa zu holen, die Tochter des Jakobus, Rosa, die sich in den Bergen versteckt halte. Sie, so schnell er könne, nach Jerusalem zurückzubringen, sei er geschickt, es gehe um des Vaters Leben. »Tat ich damit Recht?«, frage ich dich, Susa. »Ich habe das Leben von Simon Petrus gegen jenes Rosas eingesetzt.« Da nimmst du meine Hand und lä chelst. Hast du mich zuletzt verstanden? »Sie wird nach Pella gehen müssen, Schwester, heute noch. Er will nun auch ihr Leben.« Meine Stunden sind ab jetzt gezählt. Eben ist der Bote -108-
gegangen, schon steht die Sonne im Zenit, mir bleibt nur noch wenig Zeit, um mein Kind zu warnen. Das muss noch getan werden, dann wird mein Tod den Tag beschließen. Diesmal das Ende. Ich habe gezittert, als Ananus zur Tür hereinkam. Als er ging, zitterte ich nicht mehr.
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Die Schlachtung des Donnerbruders
Wie Jakobus Jakob dem Wilden das Leben rettete, wie er zehn Jahre später von dessen Tod erfuhr und wie er, fünf Jahre danach, Rosa zurückbekam, Maria, seine Mutter, aber dafür verlor. Auch Mirjam, mit Jakobus an dessen Todestag über Zeiten und Räume hinweg verbunden, spricht. Wie sie den Tod Marias erlebte, was ihr Susa über die Geburt Rosas erzählte und wie sie Sau! bei der Steinigung des Stephanus zum ersten Mal traf. Ich erfuhr von Jakobs Tod in Nazareth, bei meiner Arbeit in den Höhlen. Als Mirjam an diesem Tag zu später Stunde noch in unser Haus trat und mit zitternden Händen von den Ereignissen in Caesarea zu sprechen begann, wusste ich bereits, was geschehen war. Die Weiße Stadt hatte mir den Freund geschlachtet. Es war das zweite Mal, dass die schreienden Steine mich fanden. Die Steine, die im Haus der alten Griechin erstmals in meinen Händen schrien, kamen in den Höhlen über mich. Und wenn ich auch nicht taub war für die Worte, so war ich doch taub für ihren tieferen Sinn: Ich hatte nicht erkannt, dass sie mir neben Jakobs Tod auch Rosas kommendes Unglück verkündeten, mich vorbereiteten auf die schwere Zeit, da ich mein Kind verloren glaubte, wenn schon nicht an den Tod, so doch an einen -110-
unbekannten Ort. Ich erkannte den Zusammenhang auch nicht, als ich später einen Stein aus Susas Tuch fallen sah. Den Sieg über den Tod hätte ich in diesen Tagen erkennen können und blieb doch blind, denn im Tod des Freundes sah ich nur den gefällten Baum, dem Wind und Würmer bald den Rest besorgen würden. Ich sah nicht den Kern der Frucht, der den nächsten Baum bereits in sich trägt. Wir waren für einige Wochen nach Jerusalem gegangen. Das war im vierzehnten Jahr nach Jesu Tod. Doch die Tore der Häuser, in denen die Anhänger meines Bruders früher volle Krüge gefunden hatten, blieben immer öfter für sie versperrt. Die Zeit des rauhen Wetters schien auch in den Herzen der Menschen angebrochen. Die kleine Gruppe der Christianoi litt darunter wohl am meisten. Und mich Nazarener zählte man gegen meinen Willen – da noch gegen meinen Willen – dazu. Lange Tage und Nächte verbrachten wir durchnässt in kalten Gassen. War es der neue Caesar, dessen kalter Wind von Rom her über das Große Meer in unser Land wehte? Oder hatten da schon die Dolchleute die Luft vergiftet, sie, die ihre Untaten nicht wie Männer begingen, indem sie sich dazu bekannten, sondern feig im Verborgenen. Unter jedem Mantel mochte ein gezückter Dolch lauern, hinter jedem freundlichen Gesicht die Fratze der Feuer spuckenden Echse. Keiner in der Stadt wollte es riskieren, dem Unglück Tür und Tor zu öffnen, so blieben den unseren, die mit der aramäischen Zunge der Aufständischen sprachen, die Häuser verschlossen. Vielleicht waren es aber Herodes Agrippa und seine Steine, die Jerusalems Menschen in Angst versetzten. Tag für Tag wuchs die Mauer, die er von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, wuchs gleich einem grauen Monster, das den Menschen jede Sicht nahm. Der Staub kroch gemeinsam mit der Nässe unter die Hemden, das kalte Feuer des gebrannten Lehms schmerzte in den Augen, der Lärm der Hämmer dröhnte in den -111-
Ohren. Wozu war die Mauer gut? Wen wollte er schützen? Die Bürger Jerusalems vor Rom? Dafür war der Herodes zu sehr des Caesars Kettenhund. Die Juden vor den Griechen? Die würden nicht aus ihren prächtigen Städten kommen, um den Schmutz von den armseligen Häusern der Söhne Israels zu kratzen. Eine einzige Erklärung blieb: Die Mauer war von Juden für Juden gebaut, von Juden gegen Juden erdacht. Das steinerne Monster sollte uns entzweien. Jerusalems Juden gegen die Juden Caesareas, Judäas Juden gegen jene Galiläas, Galiläas Juden gegen jene Samarias, Söhne Israels gegen Söhne Isaraels. Die Menschen rochen das Gift und kamen dagegen nicht an, denn der Himmel über Jerusalem war getränkt davon. Tief sitzt der üble Geruch der Vergangenheit in meinem Bauch, Susa, doch auch die schlimmsten Gedanken wollen gedacht sein. Ich war damals noch keiner von euch, die ihr im Namen meines Bruders zusammenkamt. Ich war an den Seiten, wie ich es zu sein gewohnt war. Die meiste Zeit oben in Nazareth. Nach Jerusalem kam ich nur, wenn Mirjam mich drängte, des toten Bruders zu gedenken. Ihrem Wort folgte ich, nicht einer inneren Stimme, wie ihr gedacht haben mochtet. Dann begannt ihr mich, wenn auch nicht vor meinen Ohren, zu den Säulen zu zählen. Den Säulen eines neuen Tempels, der im warmen Licht des Herrn entstehen sollte, nicht im grellen Schein der stolzen Priester. Säule nanntet ihr mich in einer Reihe mit Johannes und Simon, dem Fels, gleich nach Mirjam nanntet ihr mich und in einem Atemzug mit den ältesten unter jenen, die im Namen meines Bruders durch das Land zogen, Simon und Johannes, Nathanael und Jakob, Thomas und Levi. Doch davon wusste ich nichts. Ein halbes Jahr musste noch vergehen, ehe ich Vaters Heim in Nazareth für immer verschloss. Euer Häuflein sah ich hart getroffen. Klein war die Gruppe immer gewesen, die in Jesu Namen Abend für Abend zusammentraf, ohne viel Aussicht darauf, je mehr als einen -112-
Tisch für das gemeinsame Mahl zu benötigen. Nun wollten die Sessel selbst eines Tisches nicht mehr warm werden. Kaum jemand hörte noch zu, wenn einer der Zwölf in Jesu Namen auf offener Straße seine Stimme erhob. Unverständnis erntetet ihr bei den Gesetzeswächtern, Spott, Hohn und sogar Zorn bei den Templern. Bald gingen Simon und Johannes lieber zu den alten Feinden nach Samaria, um dort zu sprechen, wovon zu sprechen war, zu warnen, wovor zu warnen war, zu verkünden, was zu verkünden war. Immer weniger der bekannten Gesichter sah ich, wenn ich nach Jerusalem kam. Mirjam war nach Tiberias zurückge gangen, Mutter nach Kafarnaum. Ihre Züge waren hart geworden und ihre Worte durch das Leiden erbarmungslos. »Warum, Mutter, kommt du nicht in unser Haus in Nazareth?«, fragte ich sie. »Um den ganzen Tag für Susas Kind da zu sein?«, war ihre Antwort. »Nein, Mutter, um jemanden zu haben, der für dich da ist.« »Jene, die für mich da waren, sind gegangen. Zuerst der Mann, dann der Sohn.« Der Sohn. Ich schwieg. Mehr als fünf Jahre sollte ich Mutter nicht wiedersehen. Und dann auf ihrem Totenbett. Schließlich vertrieb die rauhe Luft auch Jakob den Wilden aus Jerusalem. »Ich gehe nach Caesarea zu den Kampfspielen«, sagte er. »Dein Messer lass diesmal zu Hause!«, sagte ich, scherzhaft, in Anspielung auf den Vorfall, der uns viele Jahre davor zu Freunden hatte werden lassen. »Bist du denn, Jude, mit dem Messer ebenso mutig wie mit dem Maul?« »Soll ich dir das deine stopfen?« »Wagst du es, gegen einen Soldaten Roms die Hand zu erheben?« »Wer seid ihr schon, Römer! Fliegen auf saftigem Fleisch, das -113-
euch nicht gehört.« Ich war durch die lauten Stimmen auf die Szene an der Hafenmauer, unweit des Drusiums, aufmerksam geworden. Der Weg zum Markt hatte mich am Hafen vorbei- und gerade auf die beiden Männer zugeführt, deren letzte Sätze ich eben vernahm. Ich sah, wie der Soldat mit langsamen Schritten auf den hünenhaften Mann zutrat, der trotz seiner heftigen Worte scheinbar gelassen an der Mauer lehnte. Ich muss, gelähmt im Kopf, ohne jede Vorsicht weitergegangen sein. Schon sah ich den Römer ans Schulterband greifen, wo er das Schwert trug, nicht nach Römerart am Gürtel, sondern eben im Schulterband, so wie unsere alten Krieger ihre kurzen Schwerter trugen. Zu seinen letzten Worten erhob sich der Riese, von dem ich nur die Seite sehen konnte, ja mehr den Rücken noch als die Brust. Er überragte an Höhe sogar die Mäste der kleineren Boote. In der Rechten hielt er ein krummes Messer. Nun zog der Römer sein Schwert. »Was tust du hier? Wie nennt man dich?«, hörte ich ihn, der dem Riesen nun bis auf zwei Armlängen entgegengekommen war, fragen. Da ging der Riese mit einer Schnelligkeit, die man nicht erwartet hätte, zu Boden, legte sein Messer dort ab, kam wieder hoch und begann zu reden, jedoch nicht, wie zuvor, in der Sprache der Griechen, die jedermann verstehen musste, sondern in unserer Sprache, in jener Galiläas. »Jakob bin ich, Sohn des Zebedäus, Bruder des Johannes, ein Sohn Israels bin ich, ein Schüler des Jesus aus Nazareth, des Menschensohns unseres Herrn, und hier stehe ich auf dem Boden des Landes, das ihr uns weggenommen habt, und schaue auf das Meer, weil es mir so beliebt.« Ein was? Ein Schüler Jesu, des Menschensohns? Keine drei Monate war es her, dass sie die Nachricht von Jesu Tod nach Nazareth gebracht hatten, und da stand nun einer und wies sich als ein Schüler aus? War es die vertraute Sprache des -114-
Landsmanns, der sich durch seine ungezügelten Worte in Gefahr zu bringen drohte, war es das Nennen meines kleinen toten Bruders, war es der große Bruder in mir? Meine Verwirrtheit begann zu weichen. In der Rechten das mit Salz und Wachs gefüllte Netz, in der Linken den Gehstock, hielt ich nun wenige Schritte von den beiden Männern entfernt. Der Römer hatte Jakob nicht verstehen können, die Geste der niedergelegten Waffe sah er wohl, doch war an die Stelle des bedrohlichen Messers nun das bedrohliche Wort getreten, dem er nicht zu folgen vermochte. Wurde er von dem Riesen angegriffen, verhöhnt, beleidigt? Der Römer tat, was zu tun ihm keiner verübeln konnte. Er hielt Jakob das Schwert an die Brust und bezeichnete ihn damit als gefangen. Schon sah ich die Hände des Riesen, hinter dem Rücken gefaltet, verräterisch zucken. »Er entschuldigt sich«, sagte ich da, halblaut, scheinbar mehr vor mich hin als zu jemandem anderen, doch für das Ohr des Römers bestimmt, in griechischer Sprache. Der Mann da komme aus dem Hügelland. »Er sieht nur so ungestüm aus, er ist harmlos.« Der Römer wandte nun mir überrascht den Kopf zu, wurde dabei unachtsam. Und du, Jakob, als wolltest du mich, der ich dir zur Hilfe gekommen war, öffentlich Lügen strafen, glaubtest, die Gunst des Moments nutzen zu müssen, schobst mit schneller Bewegung das Schwert an deiner Brust zur Seite, tatst einen Satz, warst an dem Soldaten vorbei und begannst zu laufen, quer über die Plattform, mitten durch die Menschen, die sich, aufkreischend, nach allen Seiten warfen. Doch als hätte dir der Römer deinen Verstand geraubt, steuertest du jetzt auf den steilen Tempelhügel zu wie ein Schiff auf das vernichtende Gewitter. Der Hügel würde dich zur leichten Beute machen. Nun waren auc h die bislang unbeteiligten Römer am Platz gezwungen einzuschreiten. Sie, die man unter all den Menschen vorher gar nicht wahrgenommen hatte, wurden von dem -115-
Ereignis aus der Menge gestülpt wie die reife Feige aus der zu eng gewordenen Haut. Schon sah ich die einen zur Lanze greifen, andere mit gezogenen Schwertern dir nachsetzen, dritte mit aufgeregten Rufen nach einem Anführer schicken. Du warst nicht weit genug gekommen, zu viele Menschen standen dir im Weg, statt sie wegzustoßen, wichst du ihnen aus, verlorst Zeit, verlorst Geschwindigkeit. Da ließ ich, ohne auf den Römer zu achten, der neben mir stand, mein Netz fallen, nahm den Stock, holte weit aus, zielte, schoss und lief dem Surren hinterher. Das Holz, ich sah es im Laufen, wohl eher von Jahwe gelenkt als von meinem Geschick, traf dich an den Beinen. Du straucheltest, stolpertest und fielst zu Boden wie ein Vogel, dem Jahwe im Flug die Flügel ausgerissen hatte. Der Römer, vor dessen Schwert du geflohen warst, blieb weit hinter mir zurück, und dennoch schien ich zu spät zu kommen. »Lass ab! Nicht! Lass ab!«, schrie ich, schrie es noch im Laufen, als ich sah, wie ein anderer Soldat, jener, der als erster über dir zu stehen kam, das Schwert hob, um es dir in den Rücken zu stoßen. Da kam, quer über den Platz gebrüllt, der Befehl des Zenturio, die Waffen wegzustecken. »Steckt die Waffen weg! Alle!« Sein Befehl. Seine Stimme. Die Stimme des Kornelius. Ich hörte sie damals zum erstenmal. Die Stimme des einen, der anders war, des einen, den Caesareas Juden mit Lob und Achtung bedachten, jenes einen, der unsere Gesetze kannte und respektierte, damals schon. Heute besitzt er die Bilder und Statuen der Heiden nicht mehr, weil er in Simons Haus einer von uns geworden ist, das war Simons Verdienst. »Waffen weg!«, brüllte er. Sofort gehorchten die Soldaten jenem, der sich mit Rebstock, Helmbusch und Goldring als ihr Führer auswies. Sie ließen Jakob aufstehen. Es war das erstemal, dass ich dem Donnerbruder gegenüberstand. Mehr als zehn Jahre sollten vergehen, bis sein Tod uns in diesem Leben trennte. Es war das Jahr, da die -116-
Ereignisse über mein Leben kamen wie die Heuschrecken über die Felder. Innerhalb eines Mondes verlor ich zuerst den Freund und dann die Tochter, eines Mondes, in dem mein Lebenslicht unter den Schleie rn der Dämonen beinahe erstickte, deines, Susa, wie ich dachte, für immer. Ich wusste, warum der Zebedäer nach so vielen Jahren wieder nach Caesarea gehen wollte. Die Spiele bedeuteten Menschen, die Menschen bedeuteten Zuhörer, viele Zuhörer konnten neue Freunde bedeuten. Jakob wollte aufbrechen, um Jesu Wort zu verkünden. »Aber diesmal wird keiner da sein, um dich vor den Schwertern der Römer zu beschützen.« Ich klopfte ihm lachend auf die Schulter. Launige Worte unter Freunden, leichtfertig dahingesagt. Worte, in denen der Tod beschlossen lag. Wie Recht Vater doch gehabt hatte! Rede nie übel, Sohn, Jakobus. Wer übel redet, bandelt übel, wer übel handelt, denkt übel. Rede gut, Sohn, die üble Rede ist schlimmer als der üble Gedanke, sie ist die wahre Mutter der üblen Tat. Ich hatte nicht geahnt, dass Wort und Gedanke, durch mich geboren, das Schwert schliffen, unter dem Jakob fallen würde. Ich erfuhr in Nazareth von seinem Tod, noch bevor uns Mirjam die Nachricht brachte. Die schwarzen Steine brüllten sie mir ins Herz. »Wir gehen hinauf nach Nazareth«, hattest du, Susa, gesagt, nachdem Jakob aufgebrochen war. »Sollte ich Jakob nicht folgen?«, fragte ich. »Was willst du dort?«, fragte Rosa und verweilte so lange auf dem Wort »du«, bis ich verstand, was sie mir damit sagen wollte. Nein, nein, antwortete ich, keine Sorge, es gehe mir nicht um den Seelenfang, für die Wahrheit seien Simon und Jakob zuständig, aber so manchen Silberling gebe es zu verdienen, Caesarea sei eine blühende Stadt, einem Steinmetz würde es dort an Arbeit nicht fehlen. Rosa hielt mich davon ab. Ich solle mit dem Unsinn aufhören, Mutter habe Recht, sagte sie, als ich gerade damit begann, meine -117-
Gründe gegen eine Rückreise nach Nazareth und für ein Begleiten des Freundes nach Caesarea zu nennen. »Hör auf, Vater, in Nazareth wird uns die Sonne wärmen. Lass uns bis zum Monat des Pessach nach Hause gehen.« Nach Hause. Rosa gebrauchte dieses Wort nur selten. Ich habe mich oft gefragt, ob wir ihr je ein Zuhause waren, ihr, der man schon bei der Gebur t statt des Betts nur den Acker bot, ihr, der man statt eines leibhaftigen Vaters nur das Wort dafür gab und statt der Mutter nur die Sehnsucht nach ihr. »Nach Hause«, wiederholte ich, denn es schmeichelte mir, dass Rosa mein Haus Zuhause nannte. Wir ginge n damals also wieder hinauf nach Galiläa. Mir würde es oben in Galiläa an Arbeit nicht fehlen, Susa, wann immer es die Geister zuließen, in den Weinbergen helfen, wie sie es seit jeher getan hatte, du, Rosa, würdest einem Mann gegeben werden. Die Zeit war gekommen. »Was, in aller Welt, ist dir eingefallen, als du den Stock nach dem Römer schleudertest?« Es war keine Frage, die der Zebedäer stellte, nachdem die Soldaten auf Kornelius’ Befehl hin weggetreten waren. Es war Anerkennung, die in der Stimme des Riesen lag. Anerkennung für den vermeintlichen Mut, mit einem Stock die römischen Soldaten angegriffen zu haben. Er umarmte mich, klopfte mir dabei dankend auf den Rücken. »Nur zielen musst du noch lernen, Nazarener.« »Ich habe nicht den Römer treffen wollen, sondern dich«, sagte ich leise. Der Zebedäer löste sich von mir, nahm mich mit seinen riesigen Händen an den Schultern wie ein Kind, das man zur Rede stellt. »Sag das noch einmal.« »Hätte dich mein Holz nicht getroffen, wäre es das Eisen des Soldaten gewesen.« Ich hätte, sagte ich, nach ihm geworfen, um ihn zu retten. Die Römer hatten ihn besiegt sehen müssen, um ihn verschonen zu können. Manchmal müsse einer fallen, damit -118-
ihn die anderen wieder aufstehen lassen. Ich sprach schnell, in unserer Sprache, auf aramäisch, der Riese ließ mich wieder los. »Es hätte mich töten können, Nazarener.« Er sah mich aus großen hellen Augen an, sein Gesicht war rund und weiß, es erinnerte mich an das eines Kalbs. Plötzlich verzog es sich zu einem breiten Lachen: »Nein, es hätte mich nicht töten können.« »Nein, hätte es nicht.« »Man kennt dich bei uns«, sagte er. Bei uns? Ach so, natürlich. Die Schüler des Menschensohns. Ich hatte in diesem Umkreis seit jeher nichts zu tun gehabt. Als er mit Mutter nach Kafarnaum ging, habe ich ihn verloren wie davor schon den Vater, geblieben waren mir ein Haus, eine Schwester, in der die Geister wohnten, eine Tochter, der ich Vater sein musste, und Arbeit gerade genug, um Öl, Weizen und Salz für drei zu bekommen. Nein, ich bin nicht einer von jenen geworden, die im Namen des Menschensohns als Wunderheiler durch das Land zogen und dabei blind wurden für die Wunden derer, die ihnen am nächsten standen. Ich wollte über Jesus nicht sprechen. »Ich sollte nach meinem Netz sehen«, sagte ich, während ich mich abwandte, um zu gehen, »ich habe Salz und Wachs unterwegs verloren.« Und er habe sein Messer verloren, setzte Jakob schnell hinzu und heftete sich an meine Ferse. »Warum hast du den fremden Soldaten beschimpft?«, fragte ich ihn, als wir gingen, mehr um die drückende Stille mit Worten zu füllen als aus Neugier. »Der war mir nicht fremd. Den habe ich gekannt«, sagte Jakob, an meiner Seite nun, den Blick geradeaus gerichtet. »Woher?« Ich spürte den Ruck, den sich der Riese geben musste, um weiterzusprechen. »Er ist dabei gewesen, er hat sich freiwillig gemeldet, ich habe gesehen, wie er sich vorgedrängt hat, um dabei zu sein, er hat ihm die Dornen des Akanthusstrauches auf das blutende Haupt gesetzt.« »Den Akanthus? Wem auf das Haupt gesetzt?« -119-
Jakob schien meine Frage nicht zu hören. »Er hat ihm das Hemd vom Leib gerissen und gelacht, und er hat es vor sich auf den Boden gelegt und ausgebreitet, langsam, als wäre alles ein Spiel, und dann hat er sich, so dass alle es sehen mussten, darüber entleert.« Ich sah den Riesen gegen die Wut ankämpfen. »Er hat es getan, ohne ihn zu kennen.« »Menschen tun Menschen Dinge meist nur an, weil sie einander nicht kennen.« Jakob blickte auf mich, nickte langsam: »Denkst du, es ist so, dass einer fallen muss, um für die anderen aufzustehen?« »Ja, das denke ich«, sagte ich. »Manch einer muss fallen, um wahrhaft aufzustehen.« »Nicht jeder?«, fragte der Zebedäer zurück. »Nur mancher, nicht jeder?« »Vielleicht jeder«, sagte ich. Als wir die Stelle an der Mauer erreichten, an der Jakob sein Messer niedergelegt hatte, war es nicht mehr da. Er zuckte mit den Achseln. »Wird einer genommen haben«, sagte er. Ich hob mein Netz vom Boden. »Wenn du nach Nazareth gehst, begleite ich dich«, sagte er. »Meinetwegen«, sagte ich. »Wir müssen zuerst zum Theater, dort wartet mein Bruder«, sagte er, »hoffentlich ist er inzwischen nicht auch an die Soldaten geraten.« Er lachte. Ich sagte, vielleicht nur, um sicher zu gehen: »Wer war der Mann, über dessen Hemd sich der Römer entleert hatte?« »Dein Bruder«, sagte Jakob. Die Verhandlungen, die uns einen sollten, waren abgeschlossen. Saul und Josef Barnabas waren wieder nach Antiochia zurückgekehrt, Simon und Rachel nach Caesarea ans Große Meer aufgebrochen, um dort ein Schiff nach Rom zu besteigen. Wir saßen in Julias Haus in Gabaon. Daniel und Ruth, -120-
Sarah, Salome, Philipp, die beiden Johannes, Mariame, Andreas, der Bruder des Judas, der alte Usis, Susa, und du, Mirjam, natürlich. Es war die Zeit des kurzen Regens, der Flachs stand gelb auf den Feldern, und die jungen Männer waren bis Sonnenuntergang damit beschäftigt, die Ernte einzuholen. Der Wind wehte vom Großen Meer zu uns herüber, trocken geworden wie Sand, bis er uns endlich erreichte. Wir hätten allen Grund gehabt zur Freude. Uneins waren wir zusammengekommen, einig haben wir uns wieder getrennt. Christianoi. Wir begannen sogar, an dem Namen Gefallen zu finden. Und doch wirkten wir seltsam betrübt. Wir gedachten der vielen, die wir in den letzten Jahren verloren hatten, verloren an die Schwerter der Römer, an die Steine der Griechen, an die Stricke der eigenen. Mit Stephanus hat es begonnen. Und die Zeiten wurden schlechter. Agrippa war wankelmütig. Einmal stand er auf Seiten der Tempelpriester, dann wieder gab er öffentlich den Pharisäern Recht, und neben all dem ließ er die Zeloten gewähren, als kümmerte ihn das Feuer nicht, das sie entfachen wollten. Der neue Herodes war blind für die Geschicke seines Volkes, ein Kettenhund der Römer nur, für den Caesar in Rom lauter kläffend als je einer zuvor. Immer öfter wurden wir, die wir am Rande standen, zur Zielscheibe einer Wut, die ein Opfer suchte. Die Pharisäer beschimpften, verhöhnten, verspotteten uns, vertrieben uns aus den Synagogen. Die Sadduzäer verfolgten und verhafteten uns, verweigerten uns den Zutritt zum Tempel. Viele von uns mussten sterben, weil sich die Heilkundigen weigerten, die Häuser zu betreten. Fünf Jahre war es her, dass ich mein Leben in Nazareth aufgegeben habe, um für immer zu euch zu stoßen. Säule hattet ihr mich genannt, noch ehe ich überhaupt einer der euren war. »Du bist unsere Säule«, hatte Jakob gesagt, immer wieder. Ich ging, nachdem sie Jakob geschlachtet hatten und Rosa -121-
nicht mehr kam. Beide die Opfer meiner Worte. Und beide Opfer der fehlenden Tat. Hätte ich Jakob nicht in die Weiße Stadt begleiten müssen, wie es mir die Ahnung eingegeben hatte, statt auf die anderen zu hören? Wäre ich nicht verpflichtet gewesen, Rosa zu suchen, als sie selbst nach Tagen nicht in unser Haus zurückkam, statt mein schlechtes Gewissen im Wein zu ertränken? Ich ging, weil ich begonnen hatte, Jesus zu begreifen. Die schreienden Steine hatten mich gelehrt, auf jene Stimme zu hören, die stets nur einen einzigen Zuhörer hat: einen selbst. Die Stimme, die jedem in der Brust sitzt. Jesus hatte ihr vertraut. Ich hatte mich bis jetzt vor ihr versteckt. »Nimm deine Schwester und dein Kind, geh nach Jerusalem, du bist zu mehr nütze als zum Schlagen des Steins.« Eine schwache Säule bin ich euch gewesen, brüchig und bröckelnd unter dem Gewicht, das ihr mir auflegtet. Sosehr es mir auch das Herz zerriss, ich konnte nicht verhindern, dass sie in unseren Reihen wüteten, unsere Kinder verschleppten, unsere Frauen folterten und unsere Männer töteten. Sosehr es mir auch auf der Zunge brannte, wie selten konnte ich mehr tun als schweigen, wenn sie uns die Gebetshäuser verbaten, uns aus den Tempeln jagten. Sosehr ich mich auch bemühte, das Feuer zu löschen, das uns bedrohte, das Feuer der Feinde ebenso wie das Feuer der Freunde, ich war doch kaum mehr als der Sommerregen, gerade stark genug, es für einige Momente klein zu halten. Fünf Jahre war es her, dass Rosa fortgegangen war. Was hätte ich für ein Lebenszeichen nicht alles gegeben! Nicht das Zeichen, dass sie lebte, wohlgemerkt, denn dass sie lebte, wusste ich. Ein Zeichen, wie sie lebte, das war es, wonach ich verlangte. Ein Zeichen, das mir gestatten würde, Antworten auf meine Fragen zu finden. Warum ist sie gegangen? Warum ist sie ohne Abschied gegangen? Und warum ohne uns? All die Jahre, Mirjam, hattest du nie ein Wort darüber verloren, dass du die -122-
Antworten kanntest. Und jetzt kamst du, Mirjam, und benutztest einen Spaziergang zu den Ölbäumen Jerusalems, um mir das Wiedersehen mit meiner Tochter anzukündigen. Ich hatte nach diesem Spaziergang bis zu der Stunde gewartet, da wir in Julias Haus in Gabaon zusammenkamen. Drei Tage waren vergangen, die Fragen brannten mir auf der Zunge. »Ich sollte wütend auf dich sein«, sagte ich. »Ich weiß«, sagtest du. Sonst nichts. Wir saßen etwas von den anderen entfernt. Kaum einer sprach, und wenn, dann kamen die Worte nur geflüstert, die Jahre der Verfolgung hatten sich als Gewichte auf unsere Zungen gelegt, als Seile um unsere Kehlen geschnürt. »Sag mir nur eines: Warum ist sie gegangen?« Die weiß gewordene Frau sah mich an, doch ehe sie antworten konnte, kam Julia aus dem Haus zu uns in den Hof gestürzt. Auf mich zugestürzt. Bleich, die Hände vor dem Mund, als sie sprach: »Die Mutter, Maria, sie ist im Tod.« Ich erhob mich. Niemand sprach. Niemand bewegte sich. Ich spürte Mirjams Blicke auf meinen Lippen. »Du musst sofort nach Kafarnaum«, sagte Julia. »Ich werde nicht gehen«, dachte ich. Julia sprach weiter. »Zachäus ist gekommen, dich zu holen. Er wartet auf dem Wagen.« Zachäus, ausgerechnet er. Jener Zachäus, der es gewagt hatte, drei Mal schon, die Dämonen des Unglücks über mein Haus zu bringen, ausgerechnet er ist nun gekommen, mich abzuholen? »Zachäus?«, musste es mir über die Lippen gekommen sein. Denn wie um mich zu bestätigen, sagte nun Julia, Zachäus habe eigens den langen Weg unternommen, um mich nach Kafarnaum zu bringen. »Er sagt, wenn du Mutter lebend antreffen willst, ist keine Zeit zu verlieren.« Zachäus, der Todesbote. »Ich komme«, sagte ich. »Ich komme mit«, sagte Mirjam. Jesu Mutter liege im Sterben, hörte ich, als wir das Haus verließen, Julia in den Halbkreis rufen. Sie sagte nicht: Jakobus’ Mutter. -123-
»Acht Monate hat sich Maria damals gegen den Tod gewehrt. Als sie schließlich verlor, ähnelte sie einer Ähre, aus der das letzte Korn gedroschen war.« Mirjam musste schlucken. Das lange Sprechen hatte ihre Kehle trocken gemacht. Rosa war dabei, ihre Habseligkeiten in das große Leinentuch zu packen, das sie aus der Zeit in Caesarea in ihr neues Leben in Jerusalem mitgenommen hatte. Sie waren allein im Raum. Ba ld würde der Tag die Nacht verscheucht haben, dann mussten sie, um Ananus zu entkommen, aus der Stadt sein, dachte Mirjam, sie würden Jakobus nicht wiedersehen. Rosa unterbrach ihre Gedanken. »Wart ihr denn die ganze Zeit über an Marias Seite?«, fragte sie. »Sie wird diese Nacht nicht sterben«, habe ich Jakobus sagen hören, Abend für Abend, acht Monate lang. Jede Nacht war ich an seiner Seite, an seiner, nicht an der Seite der Frau, die im Sterben lag. »Woher weißt du, dass sie diese Nacht nicht sterben wird?«, habe ich gefragt. Seine Antwort, Rosa, ist merkwürdig gewesen. »Ihre Haare sind trocken«, hat er gesagt. Kein Wort dazu. »Ich habe diese Antwort zuerst hingenommen. Ich schrieb die vermeintlich wirren Worte der Trauer um seine Mutter zu«, sagte Mirjam. »Hätte ich denn wissen können, dass Jakobus um seine sterbende Mutter keine Trauer empfand? »Keine Trauer um ihr Sterben?«, fragte Rosa. »Wohl um ihr Sterben, nicht aber um sie«, antwortete Mirjam. »Für ihn war das zweierlei, ich habe den Unterschied bis heute nicht begriffen.« Gewiss, sie habe seine Träume gekannt. Tausendmal habe sie den Schweiß, den ihm die nächtlichen Dämonen auf die glühende Stirn legten, weggewischt, tausendmal ihn stammelnd von den fallenden Nüssen sprechen hören, tausendmal ihn wieder in den Schlaf gesungen. Gewiss, die Worte habe sie gehört, doch so wenig sie ihren Sinn begriffen habe, so wenig -124-
habe sie ihren Ursprung erkannt. »Es waren die Zeichnungen des Stummen, heute weiß ich es.« »Sie stirbt nicht, weil sie den Tod fürchtet«, habe ich gesagt, damals. Doch Jakobus hat verneinend den Kopf geschüttelt: »Sie stirbt nicht, weil sie das Leben fürchtet. Sie wartet so lange im Zwischenraum, bis die Angst vergangen ist.« Ich habe die Worte dem Kummer zugeschrieben. Ich habe mich geirrt. Auch Jakobus hat damals geirrt. Als Maria eines Morgens tot in ihrem Bett lag, fand er ihre Haare trocken wie je. »Sieh doch, ihre Haare sind trocken geblieben«, hörte ich ihn sagen, ungläubig, enttäuscht. Höre ich ihn jetzt noch sagen, jetzt, wo er es ist, der seinen Tod erwartet. Ungläubig sehe ich ihn auf die tote Frau starren, die nie wirklich seine Mutter war, ihre weißen, dürren Haare zwischen seinen Fingern. Stunden musste er so an ihrem Bett gesessen sein, in Gedanken versunken, als sei etwas geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen. »Ihre Haare sind trocken geblieben«, sagte er, »welch schreckliche Tode mögen sie gestorben sein, zuerst Jesus, jetzt seine Mutter.« »Er hat seinen Bruder bis heute nicht verstanden, stimmt das?«, fragte Rosa. Hat. Die Vergangenheit, die nun beide Brüder einschließt. Wie zufällig erhob sich Mirjam, trat zwei Schritte an das Fenster, um nach dem Wagen zu hören, der jeden Moment kommen musste. Sie schluckte die Tränen. Jakobus, seit den Abendstunden zum Tod verurteilt, wird den kommenden Tag nicht überleben. Wie mag er, nur wenige Straßen entfernt, seine letzten Stunden verbringen?, allein mit Susa. Er wird Angst haben, er ist nicht mutig, er war es nie. Er war es nur einmal, damals, als sie in Jesu Wüste aufeinander trafen. Damals hat Jakobus den Teufel in der Gestalt des Täufers zum Kampf gefordert und Jesus damit den Rückweg ins Leben verstellt. Johannes hat es den Kopf gekostet, doch Jesus konnte an diesem Tag seine Reise als Menschensohn beginnen, geradewegs auf das Kreuz zu. -125-
Jakobus hat sie geliebt, auf seine Art. Mirjam wusste es. Zeit seines Lebens hat er wohl darauf gewartet, sie in das Land hinter den Schneebergen zu führen. Zeit seines Lebens hat er darauf gewartet, alt genug zu werden für ein Pferd. Doch dem Haus Josefs, das von David herkam, war nur der Esel bestimmt. Noch lag das Dunkel der Nacht über Jerusalem. Jeden Moment würde der Wagen kommen, um Rosa nach Pella zu bringen, hinaus aus der Stadt, hinaus aus Judäa. »Und den Stummen? Den hat er wohl ebenso wenig verstanden, nicht?« »Er dachte, der Stumme trägt Schuld am Verschwinden des Vaters.« »Und? Ist er denn für Josefs Tod nicht verantwortlich gewesen?« »Wieso Tod?«, sagte Mirjam. Rosa horchte auf. Sie kannte diesen Klang in der Stimme der alten Freundin. Es war der Klang, der die Frage zur Antwort werden ließ. Sei Josef damals denn nicht in den Tod gegangen? Sei er denn nicht den Jordan hinunter, wie alle es sich zu erzählen wussten, allein, des Nachts, die Tage nutzend, da Maria mit den Kindern bei Elisabeth war, um Maria am Leben zu erhalten, ihr Ansehen zu bewahren, ihr die Schande zu ersparen? »Du weißt, Mirjam, was ich meine. Jeder in Nazareth hat gewusst, dass Jesus nicht Josefs Sohn war.« Mirjam suchte Rosas Blicke. Auch sie kennt also die alten Geschichten, dachte sie, auch sie glaubt sie: Jesus kein Kind seines Vaters. Den Jordan hinunter. Als wäre ein Mann wie Josef gegangen, nur weil ein dummes Dorf an seiner Ehre rüttelte. »Wer sagt, dass er nicht Josefs Sohn war?«, flüsterte Mirjam, Worte, eher für sich bestimmt als für andere, und gleichzeitig hörte sie Rosa weitersprechen, mit der festen Stimme der selbst bereits ins Alter gekommenen Frau. »Sie hat mich nicht gehört«, dachte Mirjam. Sie beließ es dabei. -126-
»Und deine Mutter wollte das Kind wirklich ertränken?«, fragte Mirjam. Susa blieb der Freundin die Antwort auf diese Frage schuldig, stumm waren ihre Lippen, während sie ihre Beine davonzutragen schienen, hinauf zum Abrahamsfelsen ging der Weg. Was wollte Susa dort? Mirjam sah sich immer weiter hinter Susa zurückfallen. Ahnte die verwirrte Freundin etwas von ihrem Plan? Rosa musste nach Caesarea gebracht werden. Simons Leben hing davon ab. Lauter und lauter waren die Stimmen der Dämonen geworden, die sich in Susas Kopf eingenistet hatten. Sie versiegelten ihre Lippen. Sie kämpfte gleichermaßen gegen das Schreien der Geister und gegen die Tränen, die ihr den Hals hinaufstiegen. Mirjam hörte die Freundin mit den Tränen kämpfen. Sie bereute es, Susa auf die Ereignisse angesprochen zu haben, die nun schon so lange zurücklagen. Sie war zornig auf sich selbst. Mit verhaltener Wut beschleunigte sie ihre Schritte. Susa hatte einen Weg eingeschlagen, den Mirjam noch nie gegangen war, den Berg hinauf, an den Weinhängen vorbei, hinter dem Hügel Levis hinein in den Wald. Wohin wollte sie? Mirjam ließ sich führen. Und wenn es Susa bis an die Ufer des Jordans getrieben hätte, Mirjam wäre an diesem Tag mitgegangen. Ob es das schlechte Gewissen war? Ein paar Tage noch, dann würde sie ihr die Tochter stehlen. Susa hatte keine Ahnung. Auch Jakobus nicht. Ein paar Tage noch. Vielleicht weniger. Nicht für lange, gewiss, doch stehlen immerhin. Sie konnte den beiden die Wahrheit nicht sagen. Was hätte sie sagen sollen? Gib mir dein Kind, damit es Simon Petrus aus dem Gefängnis befreit? Gib mir dein Kind, sonst schlachten sie Simon, wie sie den Zebedäer geschlachtet haben? Riskiere das Leben deiner Tochter, damit uns Simon erhalten bleibt? Zwei Wochen war es nun her, dass sie mit der Nachricht von Jakobs Tod nach Nazareth gekommen war. Ihr schien es, als sei sie zur falschen Zeit in das Haus des Steinmetz getreten, -127-
niemand schien hören zu wollen, was in Caesarea Schreckliches geschehen war. Waren Jesu Geschwister denn nicht fähig zu begreifen, was die Ermordung Jakobs bedeutete, auf welch schwachen Säulen das Erbe des Menschensohns inzwischen ruhte? Von Susa mochte man mehr vielleicht nicht erwarten können, doch selbst Jakobus hatte unbeteiligt gewirkt. Er war an jenem Abend aus einer seiner Höhlen gekommen, wund an Armen und Händen von der harten Arbeit mit Hammer und Meißel? –, durchnässt das Hemd – vom Schweiß? –, gerötet die Augen – vom Staub? Jakobus wollte sie an jenem Abend nicht sprechen lassen, sie hatte kaum begonnen, da würgte er ihre Worte auch schon wieder ab. Sie möge aufhören, bitte. Er wisse, was geschehen sei. »Du kannst nichts wissen.« Also habe sie weitergesprochen. Jakobus schien es nur über sich ergehen zu lassen. Und sie, Susa, sie da vorne mit eiligem Schritt jetzt, wie getrieben, ist mit offenen Augen am Tisch gesessen, kein Zeichen der Rührung, als Jakobs Name fiel, kein Zeichen der Anteilnahme, als sie begann, seinen Tod zu beschreiben, das Schweigen der Meute, als zunächst der Schädel, dann Jakobs gemarterter Körper auf den weißen Stein fiel. Dann das Kreischen, während sie ihn verstümmelten. Jakobus hatte ihr bedeutet zu schweigen. Dann stand Susa auf und ging. Sie gehe jetzt schlafen. Sie freue sich über ihren Besuch. Sie freue sich? Was hatten die Dämonen nur aus ihr gemacht. Jetzt folgte Mirjam der wirren Freundin auf einem verwachsenen Pfad in die Hügel hinein, immer schneller wurden ihre Schritte, was hatte Susa vor? Und da, zwischen die Schritte gesetzt, war ihr die Frage entkommen: »Und deine Mutter wollte das Kind wirklich ertränken?« Mirjam reuten die eigenen Worte. Kannte sie denn die Geschichte nicht ohnedies? Hatte ihr Susa damals nicht erzählt, -128-
Wort für Wort, was die eigene Mutter von ihr verlangte, an Zachäus’ Brunnen? »Wir gehen hinunter zu Elisabeth, Kind, sie kann tun, was getan werden muss.« Nein, sie gehe nirgendwohin und schon gar nicht zu der Alten. Wie lange noch, glaube sie, werde sie die anderen über ihren Zustand im Unklaren lassen können? Glaube sie denn, sie könne Jakobus, den strengen Bruder, ungestraft täuschen? Er werde Fragen stellen und Antworten verlangen. Wenn er jetzt auch noch blind zu sein scheine für die anschwellenden Rundungen ihres Bauchs, so werde er es nicht bleiben. »Geh zu Elisabeth, sie kennt die Kräuter.« »Für die Kräuter ist es zu spät, Mutter.« »Dann wird sie geschickte Hände haben, dir zu helfen.« »Geschickte Hände? Elisabeth, die Frau des Priesters?« »Ja, man sagt so.« »Man sagt so?« »Ich sage so. Ich habe es selbst oft genug gesehen.« Susa schüttelte sich vor Abscheu. Nein, sie wolle nicht. Sie nahm einen Schluck aus dem Becher, den ihr die Mutter über den Tisch geschoben hatte. Nein, dafür sei sie nicht in Jesu Haus gekommen. Sie stand aufrecht vor dem Tisch, bleich das Gesicht wie eh, trüb die Augen trotz des Zorns in ihrem Herz. Angstvoll sah sie Maria, die harte Mutter, sich gegenüber. Doch hatte sie nicht selbst die Schürze von ihrem Bauch gezogen, ehe sie das Haus betrat? Die schützende Schürze, weit und lang wie die Tücher der Männer, abgenommen mit der Absicht, der Mutter ohne Worte zu erzählen, was sie sich Jakobus und den Männern zu erzählen schämte? Jesus hatte sein Wort gehalten. Sie solle Zachäus zum Mann nehmen, hatte er ihr geraten, mit zusammengekniffenen Augen. »Zachäus wird mit seiner Aufgabe wachsen.« Niemals, sagte sie. »Es ist um des Kindes Willen«, sagte Jesus. »Geht es denn nie um mich?« Da sagte -129-
Jesus, ehe er ging: »Du und dein Kind, glaubst du denn, ihr wäret zwei verschiedene Herzen?« Jesus hatte bis zu diesem Tag geschwiegen. Doch jetzt hat sie der Mutter den Bauch ohne Schürze zur Tür hineingeschoben. Susa sah das Entsetzen in ihren Augen. »Seit wann?« »Lange.« »Wer ist der Vater?« »Keiner.« Von da an verfolgte sie Maria mit harten Worten, bis zuletzt in den Acker hinein, in dem sie gebar. Susa lag neben ihrem Erbrochenen, unfähig, sich zu rühren, der Geruch des Blutes, das geflossen war, lag in jedem Atemzug. Die halbe Nacht hatte sie um ihr Kind gekämpft. Als sie das Fleisch zerbiss, durch das das schreiende Kind mit ihr verbunden war, verlor sie das Bewusstsein. Im Licht des Mondes sah sie noch das Mädchen in den steinigen Staub rollen, dann wurde es dunkel. Ein Wimmern weckte sie. Da trat, kaum hatte sie das nackte Bündel ertastet, Maria aus der Nacht. »Lebt es?« Susa war unfähig zu antworten. Wo kam jetzt die Mutter her? Hatte sie ihr bei der Geburt zugesehen, geduckt hinter einem Gebüsch, statt ihr beizustehen? Hatte Maria darauf gewartet, gehofft, dass sie das Kind tot aus ihrem Körper pressen würde? »Und danach wollte sie es ertränken.« »Das glaube ich nicht«, sagte Mirjam, damals. »Und warum hat sie mir das Kind dann weggenommen? Aufgehoben vom Feld, einfach so, aufgenommen und zu Zachäus’ Brunnen getragen?« »Sie hat es dir wirklich weggenommen?« So schnell habe sie nicht schauen können, sei die Mutter auf dem Boden gewesen, habe das Kind gepackt, in ihr Tuch gehüllt und sei davon, dem Haus Zachäus’ zu. Sie habe sich gedacht, Maria wisse also, dass Zachäus der Vater sei, und wolle ihm den -130-
Bastard bringen, den er nicht anerkannte, doch nicht das Haus, sondern der Brunnen auf Zachäus’ Grund sei ihr Ziel gewesen. Sie der Mutter hinterher, stolpernd, verkrustet die Hände von Blut, zerschunden Bauch und Rücken vom Kampf auf der Erde. Schon habe sie die Mutter an der Seilwinde mit eiligen Griffen den Wasserkübel hochziehen gesehen. Das Kind, brüllend nun aus vollem Hals, sei auf dem Brunnenrand gelegen. Da ließ eine Stimme vom Himmel her sie plötzlich einhalten, nein, keine Stimme, ein Schrei, wie sie noch keinen vernommen habe. Nicht laut, doch gellend im Ohr, so schmerzend, dass es der Schmerz selbst sein musste, der schrie. So schnell war alles gegangen, der Schrei, das Dunkel der Nacht, Maria musste den Kübel wieder ausgelassen haben, sie hielt nun das Kind fest in den Händen, das Kind, das keinen Laut von sich gab. Dann trafen ihre Blicke jene Marias, ihr ungläubiges Schauen an ihr vorbei, das Entsetzen in Marias Blick, in die Tiefe der Nacht hinter ihr gerichtet. Sie drehte sich um. Da stand der Stumme. »Bei ihm warst du also die erste Woche?«, hat Mirjam Susa damals gefragt. Susa hat genickt. »Das ist keine Antwort. Ich meine: Wo war der Stumme?« Keiner in Nazareth habe ihn je ein Haus bewohnen sehen, keiner ihm je Gastfreundschaft gewährt, keiner je daran gedacht, dass er anderswo sein könnte als jeweils dort, wo er gerade auftauchte. Doch Susa gab keine Antwort. »Und was hat Jakobus gesagt, als du mit dem Kind gekommen bist?« »Nicht viel«, sagte Susa. Er habe keine Frage zuviel gestellt. »Wirst du mit Jesus gehen?«, fragte Susa Mirjam da unvermittelt. »Ob ich mit ihm gehen werde?« »Ja. Wirst du?« »Nein.« Nein, hat sie damals gesagt. Und ist doch mit ihm gegangen. Zwei Jahre lang. Für sie wurden es zweimal zwanzig Leben. -131-
Durch ganz Galiläa ist sie ihm gefolgt, in Sandalen, oft auf nackten Füßen, selten auf dem Rücken eines Esels, den ihnen ein dankbares Haus statt Silber für eine Heilung überlassen hat. Und in fremde Länder hat es sie verschlagen, den Jordan hinunter bis an das Tote Meer, nach Tyrus an das Meer, in das die Sonne fällt, zu den Griechenstädten im Osten, einmal sogar bis in die Dörfer zu Füßen der Großen Schneeberge im Norden. Dort erzählte ihr Jesus erstmals vom unendlichen Wasser. »Ich werde bald nicht mehr unter euch sein, und doch wird mein Leben bei euch sein.« »Du wirst bald nicht mehr sein?« Sie verstand ihn zunächst nicht. »Sie werden mich töten.« »Dich töten? Wer?« »Ihr alle.« »Wir?« »Ihr habt keine Wahl. Es ist der Weg. Doch ich werde hier sein und dort, so wie ich immer hier war und zugleich dort. Denn das Leben ist eine Wüste aus Sandkörnern, die so lange besteht, bis das Wasser der vom Himmel regnenden Nüsse das letzte Sandkorn aufgelöst haben wird.« »Hörst du mir denn zu?« Rosas Stimme riss Mirjam, die am Fenster stand und in das Halbdunkel der Nacht starrte, aus ihren Gedanken. »Du weißt, was ich meine, jeder in Nazareth hat gewusst, dass Josef nicht sein Vater war.« Ach, habe das jeder gewusst?, fragte Mirjam zurück. »Und wessen Sohn denn also?« Rosa fiel mit ihrer Antwort noch in die Frage. »Der Sohn des Stummen!« Rosas Stimme klang herausfordernd. Sie hatte ihr Tuch fertig gepackt, saß nun am Rand der Schlafmatte, die Beine angezogen, nur Pinsel und Papyrus lagen in der Falte ihres Oberkleids, ihre Finger spielten ungeduldig mit einem Stück getrockneten Tintenkuchen. Ja, der Sohn des Stummen. Sie wisse es von Zachäus, ihrem -132-
Vater. Rosa senkte den Blick. Selten nahm sie seinen Namen in den Mund, seit sie die Wahrheit kannte, noch nie hatte sie ihn Vater genannt. Wieder sah Mirjam sein trunkenes Gesicht aus dem Hafen von Tiberias steigen. Kaum die Hälfte einer Stunde hatte sie Susa allein gelassen, es hatte gereicht. Mirjam konnte nicht anders, als angewidert den Kopf zu schütteln. Da blendete sie plötzlich von der Straße her grelles Licht. Eine Fackel. Jemand musste sie unmittelbar unter ihr Fenster gestellt haben. Ein Zufall? Oder suchte man bereits nach ihnen? »Pscht!«, rief Mirjam in den Raum, während sie ihren Finger an den Mund führte, um das Schweigegebot noch zu verstärken. Rosa handelte schnell, wie gewohnt, eilig erstickte sie die Flamme der Wachskerze, dann stopfte sie Papyrus und Pinsel zu den anderen Dingen in das Tuch, duckte sich hinter das Lager. Jetzt wurden Männerstimmen laut. Ein Klopfen an der Tür. Zweimal kurz, zweimal lang. Das verabredete Zeichen. Doch noch schien Mirjam Verrat möglich, zu oft waren die ihren in den letzten Jahren Opfer von Verrat und Intrige geworden. Immer noch einen Finger vor dem Mund, bedeutete sie jetzt Rosa, unter das Bett zu kriechen. Es würde sie nicht schützen, wenn es Soldaten wären, die vor der Türe lauerten, aber die oberflächlichen Blicke gewöhnlicher Denunzianten würde sie damit täuschen können. Wieder das vereinbarte Klopfzeichen, doch dazu das Rasseln des Eisens, Soldaten! Halblaut nur, fast geflüstert, da das Wort des Römers: Rosa, Tochter des Jakobus, sie möge ihm öffnen, wenn ihr in dieser Nacht geholfen werden solle. Lob dem Herrn, das war seine Stimme. Kornelius. Der Römer auf Seiten der Juden. Der Jude auf Seiten der Christianoi. So schnell sie es mit ihren alten Füßen vermochte, war Mirjam bei der Tür, um zu öffnen, doch als sie das Holz zur Seite schob, war vor ihr nicht nur Kornelius. Vor dem Brusteisen des Römers stand, klein, fast zwergenhaft, er, der Stumme. -133-
Der gelbe Flachs der Felder Samarias blendete meine Augen, als uns Wagen und Esel über holprige Wege dem Sterben der Mutter entgegenzogen. Mirjam neben mir, Zachäus auf dem Tier, die Rute in der Hand, um es immer wieder anzutreiben. Er dachte, wir hätten keine Zeit zu verlieren. Niemand konnte wissen, dass mehr als ein halbes Jahr vergehen würde, bis sie den Tod endlich in ihre harten weißen Haare ließ. Ich musste meinen Blick wohl in Zachäus’ Rücken gegraben haben. Denn mit einem Mal drehte er sich zu mir. Sein Gesicht schien mir runder geworden, seine Augen standen schief über den Backenknochen. Hatte er immer so starke Backenknochen gehabt? Waren denn seine Augen immer schon schief in ihren Höhlen gelegen? »Sie ist über den Abrahamsfelsen gestürzt«, sagte Zachäus. »Über den Abrahamsfelsen«, wiederholte ich. »Alles gebrochen. Sie kann nicht mehr gehen.« »Ich werde ihn zur Rede stellen«, dachte ich, später. Mirjam schien meine Gedanken erraten zu haben. Sie griff nach meiner Hand. Es sollte mich beruhigen, doch es tat weh. Noch mehr schmerzte aber der Gedanke, der nicht aus meinem Kopf wollte. Susa hat sich nicht gewehrt, damals, als ihr im Hafen Gewalt angetan wurde. Wie, nicht gewehrt?, fragte ich mich. Jakob der Wilde hat sich nicht gewehrt. Wie, nicht gewehrt? Wirklich?, in der Weißen Stadt? Was, am helllichten Tag an der Mauer gleich bei dem Drusium? Den Stock zum Zeichen der Aufgabe auf den Boden gelegt? Dafür nur das Grinsen der beiden Römer geerntet? Die Sonne hat auf seine Stirn gebrannt, sein Schweiß ist auf den weißen Marmor getropft. Höhnisch die Mörder rings um ihn. Ach, er sei also nicht bereit für ein kleines Spiel, einen kleinen Zweikampf zur Unterhaltung der Leute? Ach, nein, zu feig dafür. Dann werde das Volk eben einen anderen Zweikampf zu sehen bekommen. »Dann wird das Volk -134-
eben zu sehen bekommen, was zwei Soldaten des Imperiums mit einem Aufrührer machen, der sie verspottet, Rom verspottet und nebenbei den eigenen Herodes.« Jakob sah nicht, was kam, denn er hatte den Blick demütig zu Boden gerichtet. Sah nicht die beiden Eisen nebeneinander hochgehen. Sie trennen ihm beide Arme vom Rumpf. Zwei Hiebe mit zwei langen Schwertern, gleichzeitig geführt. Er zusammengesackt. Den Schrei unterdrückt. Die Zunge dabei zerbissen. Das Blut dünn aus dem Mund gesickert. Das Gesicht in Angst. Die Augen weit aufgerissen. Darin das Lachen der Mörder. Nicht genug. Jakob am Boden, mächtiger auf den Knien noch als die Römer neben ihm. Der kleinere der Soldaten zieht das Messer, geht auf ihn zu, reißt mit der Linken den Kopf am Haarschopf nach vorn, schneidet mit der Rechten den Hinterkopf entlang von Ohr zu Ohr, dann, schnell, von Schläfe zu Schläfe quer über die Stirn. Jakobs Schrei. Sie ziehen dem Zebedäer den blutigen Haarkranz vom Schädel wie die Haut von der Wurst, sie halten die Trophäe gegen den Himmel, bluttrunken, die Menschen johlen. Gejohlt?, die Meute gekreischt?, die eigenen Leute? Der Zebedäer zuckend auf rotem Marmor. Er hat sich nicht gewehrt, er hat es mit sich geschehen lassen. Noch nicht genug. Jakobus in seiner Höhle. Auf den Knien über den Scherben. Blutig geschürft Arme und Beine. Die Hände an die Ohren gepresst. Der Meißel aus der kraftlosen Hand auf den Steinboden gerollt. Kaum länger erträgt er das Schreien in seinen Ohren. Die Steine tanzen vor seinen Augen, klein, schwarz, Dolchstiche in seinem Kopf. Noch nicht genug? Der große Soldat tritt mit dem geharnischten Fuß nach dem zuckenden Menschen. Der kleine Soldat steht breitbeinig über dem Stock, den Jakob zum Zeichen der Unterwerfung auf den Marmor gelegt hatte. Warum nur hat er sein Messer in -135-
Jerusalem gelassen? Der Römer brüllt in die Menge: Wollt ihr eurem Herodes den Kopf des stinkenden Galiläers auf einem silbernen Tablett überbringen? Die Menge kreischt, klatscht, schwitzt, johlt. »Ja«, brüllt sie wie aus einem Mund. Die Hände an den Ohren. Unerträglich das Schreien. Die Schmerzen im Kopf. Die Steine tanzen vor den Augen, schwarz, glatt. Der große Soldat nimmt die Lanze, stochert nach dem Kinn des besinnungslosen Zebedäers, spießt das Eisen durch seine Kehle, stemmt den Menschen damit hoch, braucht beide Arme, um die Lanze zu halten, grinst, keucht, Schweiß tropft ihm von der Stirn, steht da, wankend und sicher zugleich, wie nur siegestrunkene Männer dastehen können. Der kleine Soldat zückt das Schwert, nimmt Maß, holt aus, nimmt noch einmal Maß, schlägt zu, der Hieb trennt den Kopf vom Rumpf, das Holz der Lanze im Hals des Zebedäers splittert. Das war vor fünf Jahren. Damals habe ich zuerst den Freund verloren, dann das Kind. Jetzt gewinne ich Rosa im Tausch gegen die Mutter wieder zurück. Die Tochter, die nie meine Tochter war, gegen die Mutter, die nie meine Mutter war. Was bin ich ihnen gewesen? »Wir werden bei Morgengrauen an ihrem Bett sein«, sagte Zachäus zu uns zurück. »Fahren wir gleich nach Kafarnaum, oder willst du vorher in dein Haus?« Ich musste Zachäus’ Frage überhört haben, denn erst Mirjam, die ihren Ellbogen gegen meine Seite drückte, riss mich aus meinen Gedanken. »Zachäus hat etwas gesagt«, sagte sie. Zachäus. Ich werde ihn zur Rede stellen müssen. Das Gelb des Flachses war in der untergehenden Sonne rot geworden. Tausendmal, Susa, habe ich sie fallen sehen, brechen über meinem Kopf. Brechen über Jakobs Kopf. Das Wasser vermischte sich mit seinem Blut und lief in einem zitternden -136-
Rinnsal über den weißen Marmor die Mauer entlang. Diesmal kein »Steckt die Waffen weg« im rechten Moment, diesmal kein Zenturio, diesmal kein Helmbusch, um den Mördern Einhalt zu gebieten. Diesmal der Hieb. Surrend das Ende. Das Kreischen der Meute in Wogen, während sie den Freund in Agrippas Namen schlachteten. Das Schweigen der Meute, als der Schädel gefallen war. Alles hatten mir die Steine in meiner Höhle in die Ohren gelegt, Mirjam hätte sich den weiten Weg zu meinem Hause sparen können. Simon, der fast zur gleichen Zeit unter die gekreuzten Schwerter der Römer genommen wurde, ging damals wie durch ein Wunder frei. Ich wusste nicht, dass Rosas Verschwinden und seine Rettung eins waren. Hast du, Susa, es gewusst? Habe ich dem Stein in deinem Tuch zuwenig Bedeutung beigemessen? Wie konnte ich an einen Zufall glauben, wo ich heute denke, dass mich nicht einmal der Blick des Fremden, den ich auf der Straße fange, zufällig trifft. Sie haben mir Rosas Auftrag verschwiegen, sogar Mirjam, oder: vor allem sie. Ob ich denn wisse, dass Menschen wie ich es seien, die andere zu Lügnern erst machten, Menschen wie ich, die jeder unbequemen Wahrheit ihren Widerstand entgegensetzen, hat mit Mirjam am Ölbaumberg vorgeworfen. Nein, ich wusste es nicht, damals, und heute halte ich es für eine billige Entschuldigung. Erlaubt denn die Angst, auf Widerstand zu stoßen, schon die Lüge? Jakob, der Freund, war also gegangen. Ich, Jakobus, aber ging in diesem Jahr für immer nach Jerusalem, um die Last deines Erbes, Bruder, mit jenen zu teilen, die unter ihr zu zerbrechen drohten. »Halt, Susa, wir gehen direkt auf den Abrahamsfelsen zu.« Mirjam blieb stehen. »Nicht, du weißt, dass wir dort nicht hindürfen.« Auch Susa -137-
blieb jetzt stehen. »Ich muss dir etwas zeigen«, sagte Susa. »Was denn?« »Steine.« »Steine? Die kannst du mir doch auch morgen zeigen. Wir gehen zurück«, sagte sie. »Komm.« »Kommt«, sagt Saul und winkt, während er Stephanus nicht aus den Augen lässt, die Steineträger mit großer Geste in die vorderste Reihe. »Keine Scheu«, ruft er, »der Gottlose muss büßen.« Und an Stephanus gewandt ruft er: »Ist das etwa Silber, um die Priester zu bestechen?« Los, er solle zeigen, was er da in seinen Händen halte, jetzt, den gerechten Tod vor Augen, er, der sich versündigt habe gegen den Herrn und den Tempel und glaube, sich seiner Strafe durch Taler entziehen zu können. Und kaum hat Saul zu Ende gesprochen, kräftig die Stimme des jungen Mannes, dicht noch das schwarze Haar auf dem Kopf, bückt er sich auch schon nach dem nächstbesten Stein. Es war der Tag, an dem ich Saul zum ersten Mal gesehen habe. Was aber tut Stephanus? Stephanus, der Erste der Griechen, halbnackt schon, erniedrigt, tritt einen, nein, zwei, drei Schritte auf ihn zu und spricht mit der festen Stimme des geübten Redners, als den man ihn in Jerusalem kennt: »Du wirfst den ersten Stein? Wer bist du, dass du es wagst, den ersten Stein zu werfen?« Jetzt schiebt sich, noch während Stephanus spricht, Sirach, der Flechter, an Saul vorbei, von hinten an Stephanus heran, hebt nun einen Stein von gewaltiger Größe mit beiden Händen gegen den Himmel und lässt ihn, ehe Saul noch ein Wort erwidern kann, auf Stephanus niederfallen. Wie aus einer Kehle kommt der Jubelschrei, als Stephanus zu Boden geht, langsam, sich im Fallen scheinbar noch dagegen aufbäumend, doch blutüberströmt in wenigen Atemzügen. Der Jubel der Frauen um mich herum widert mich an. Ich will gehen, -138-
doch ich kann den Blick nicht von Stephanus wenden, dem Freund, der sich krümmt, während die Männer, nun jeder einen Stein in der Hand, beginnen auszuholen. Sie hatten ihn nicht rechtmäßig verurteilt, ihn nicht einmal angehört. Sie wussten, dass die Menschen ihr Urteil längst gefällt hatten. Die Meute hatte ihn vor die Stadt getrieben, und Stephanus sprach Worte, die sein Ende besiegelten. Den Bezwinger des Tempels nannte er Jesus und den Verkünder der einzigen Wahrheit. »Der Verkünder der einzigen Wahrheit?« Thomas wiederholte die Worte. Thomas, einer der angesehensten unter den Hellenisten. Er mochte nur mitgezogen sein, um Stephanus beizustehen, doch jetzt schien auch er nicht mehr zu wissen, was er von Stephanus halten sollte. »Der Verkünder der einzigen Wahrheit?« Thomas ließ den Tross halten. Stephanus richtete sich in voller Größe auf, griff in die Tasche seines Hemds, kramte darin herum und streckte dem überraschten Thomas mit einem festen Lachen die geschlossene Hand entgegen. Der nahm sie, tastete sich vorsichtig in die zur Faust geballte Hand – und zog die seine mit einem Aufschrei wieder zurück. In den Sand fiel ein Stein, oder waren es mehrere? Schon drängten von hinten Menschen nach vor, um zu sehen, warum der Zug zum Stehen gekommen war. »Stephanus soll gesteinigt werden«, brüllten einige, »Tod dem Stephanus« andere. »Tod dem Verräter«, brüllte einer, der neben mir unter die Frauen getreten war. Da habe ich ihn erkannt: die zusammengewachsene n Augenbrauen, die hervorstehende Nase. Saul aus Tarsus. Das also war jener, der seit Monaten als Todesengel über unserer Gemeinde schwebte. Kein Vorwurf gegen einen von uns, den Saul nicht sofort stimmgewaltig unterstützte. »Tod dem Verräter«, rief er, und er meinte uns, uns alle. Stephanus hatte seinen Stein wieder aufgehoben. -139-
»Der Verkünder der einzigen Wahrheit?«, fragte Thomas zum dritten Mal. »Ja«, sagte Stephanus, »und eher werden die Steine zu sprechen beginnen, als ihr begreift, dass der Menschensohn unter uns ist.« Da drehte sich Thomas um und ging. Jetzt nur noch das gekrümmte, blutige Fleisch. Stephanus unter Steinen begraben, eine schwarze Silhouette im nachscheinenden roten Licht der untergegangenen Sonne Jerusalems. Der letzte Stein macht dem Zucken ein Ende. »Seht nach, was er in seiner Hand gehabt hat!«, brüllt Saul an uns Frauen vorbei. Ich will ihn ansprechen. Dann die Worte, die mich im letzten Moment davon abhalten, die mich erschreckt herumfahren lassen. Da steht er. Der Stumme. »Weiß Jakobus, dass du hier bist?« »Nein«, sage ich. »Steine«, hörte ich eine Stimme in meinem Rücken, »er hat Steine in seiner Hand gehabt.« »Bleib nicht in Jerusalem, Mirjam aus Magdala«, sagt der Stumme zu mir. »Geh hinauf nach Nazareth, heute noch, sie brauchen dein Leben mehr als deinen Tod.«
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Im Licht des späten Tages
Jakobus will Susa losschicken, um Rosa zu warnen, da beginnen die schreienden Steine zu sprechen. Wie Jakobus mit dem schiffbrüchigen Saul an die Küste Maltas gespült wird, wie Saul den Biss der Schlange überwindet und das Beispiel von der Wasserrose und dem Winterstern. Kein Zurück. Diesmal das Ende. Ich spüre, wie die Sonne ihre Kraft allmählich verliert. Eine Stunde noch, kaum mehr, dann wird mein Tod ihren Tag beschlossen haben. Hier sitze ich nun an deinem Bett, Schwester, und warte darauf, dass sie mich holen. Ich bin erschöpft, ich habe die Steine schreien hören, nach all den Jahren heute wieder schreien hören, wohl zum letztenmal. Jetzt sind sie fort. Leer ist der Platz, an dem ich sie so viele Jahre aufbewahrt habe. Ich fühle, dass sie diesmal für immer von mir gegangen sind. Wohin? Zu wem? Es war ein Zeichen. Es ist das Zeichen. Diesmal kein Zurück. Diesmal mein Tod. Ananus trachtet Rosa nach dem Leben, nach all den Jahren. Rosa, nach mir die letzte Zeugin seiner Schuld, denn Simon Petrus ist weit weg, Mirjam glaubt er nicht eingeweiht und Susa an die Geister gegeben. Ananus hat leichtes Spiel. Die Mauer hat Jerusalem die Sicht verstellt. Sieht Jerusalem denn nicht die Dolchleute, die, ohne zu wissen, dass sie es im Geist des Priesters tun, die Feuer der Zwietracht legen? Sieht die Stadt nicht die plumpe Hast, mit der Ananus die Tempeldiener wie die -141-
Hüter der Lehre auf seine Seite zu ziehen versucht, einmal jene mit feurigen Worten gegen diese ausspielt, dann wieder diese mit polternden Worten gegen jene? Sieht sie nicht den Keil, den er zwischen Herodes Agrippa und die Römer treibt? Ananus will den Krieg. Die stärkste Rüstung ist die Sauberkeit. Nur wer sauber ist, nein, anders: sauber scheint, kommt unbeschadet aus dem Vorkrieg. Niemand wird dem Satan folgen, wenn er zu den Waffen ruft, der Triumph des Bösen geht immer vom Engel aus. Ananus wird euch den Triumph versprechen. Auch wenn es vor allem sein Triumph über den Vater ist, für den er unser Volk ins Blut schicken wird. Jetzt muss er den Sanhedrin gewinnen. Ein einziger schwarzer Fleck im makellos gebleichten Kleid des Hohepriesters, und Ananus würde den Vorkrieg verlieren. Ich werde beim nächsten Sonnenaufgang nicht mehr unter den Lebenden sein. Ananus will Rosa also zugleich mit mir zum Verstummen bringen. Schnell. Ohne Aufsehen. Doppelt soll Rosas Opfer sein. Zuerst musste sie sich von dem Erpresser im Gewand des Priesters verkaufen lassen wie Vieh, jetzt soll sie demselben Mann auch noch ihr Leben opfern. Doch Ananus unterschätzt mich. Als er ging, war meine Angst dem Plan gewichen. Schnell genug war ich beim Fenster gewesen, um seine Männer ins Dunkel der Torbögen huschen zu sehen. Ich wusste es, er lässt mich überwachen. Mein Vorhaben mag also gelingen: Der Reiterbote wird Ananus’ Männer auf die falsche Spur führen, weg aus Jerusalem, mit Gottes Hilfe tief hinein in die Berge im Osten, Rosa wird für die nächsten Stunden in Sicherheit sein. Wer aber wird sie warnen in der Zeit, die uns noch bleibt? Wer sie sicher aus der Stadt geleiten? Wer sie nach Pella fahren? Bei Mirjam ist sie. Ist die alte Freundin klug genug, von sich aus das Richtige zu tun? Wird sie Rosa erneut die bessere Mutter sein? »Bin ich dir nicht eine gute Mutter gewesen?«, hat Maria -142-
gefragt, das war wenige Stunden, nachdem uns Zachäus an ihr Sterbebett gefahren hatte. Wir waren müde, Mirjam und ich, eine halbe Nacht waren wir unterwegs gewesen. Mein Kopf war voll von den Gedanken, die Mirjams überraschende Ankündigung ausgelöst hatte, ich würde nach all den Jahren mein verlorenes Kind wiedersehen. Erschöpft, müde, auch ein wenig lebensmüde da bereits, warum es verschweigen?, saßen wir bei ihr. »Bin ich dir nicht eine gute Mutter gewesen?« Ich habe die Frage zunächst überhört. Eine solche Frage konnte unmöglich mir gegolten haben. Ich hatte sie durch mich hindurchgelassen, wie die Luft den Regen ungehindert durchlässt, weil der Regen nicht der Luft gilt, sondern dem Boden. Jesus hätte eine solche Frage Mutters gelten können, nicht aber einem von uns, dir nicht, Susa, und nicht mir. Und so verklangen Mutters Worte, ohne in Wahrheit erklungen zu sein, weil da nichts war, das sie zum Klingen gebracht hätte. In den Stunden ihres Todes, Susa, saßest du mit eingezogenem Kopf auf dem kalten Boden und sprachst mit den Geistern. Mir schauderte. Nicht einmal in diesen Stunden warst du mit uns. Wann ist Mutter denn jemals für uns beide da gewesen? Waren wir denn für sie nicht immer nur auch da, auch im Haus, auch im Tempel, auch ihre Kinder? Warst du, Susa, für Mutter denn nicht immer nur seine Schwester, war ich denn je mehr als sein Bruder? »Bin ich dir nicht eine gute Mutter gewesen?« Nein, Mutter, das bist du nicht. Hätte man einer Mutter sagen können, dass sie einem keine gute Mutter gewesen ist? Mirjam gab mir, als ich zögerte, ein Zeichen zu antworten. Und Mutter, unerschütterlich in dem Versuch, nach dem Leben nun auch den Tod zu beugen, stellte die Frage ein drittes Mal. Nicht einmal den Ton änderte sie dabei. Den Ton der Frage. Doch ihre Augen, klein, selbst da -143-
noch blau und klar wie das ungetrübte Wasser des Gebirgsbaches, fragten nicht, sie verlangten die eine Antwort. »Ja, Mutter«, sagte ich. Heute noch sehe ich ihr zufriedenes Lächeln. Sie lächelte, ich aber wandte den Blick zur Seite. »Ja, du bist mir eine gute Mutter gewesen«, log ich noch einmal und schämte mich. Ich schämte mich nicht für meine Feigheit vor den richtigen Worten, ich schämte mich, weil ich wusste, dass die falschen Worte die falschen Taten hervorbringen, so wie der kranke Baum den kranken Apfel hervorbringt. Haben wir es mit Rosa besser gemacht, Susa? Als ich das verlorene Kind später wiedersah, habe ich es kaum erkannt. Rosas Haar roch nach den Düften der Römerfrauen, doch anders als jenen, hatte man ihr neben der Ehre auch die Würde genommen: Sie hatten sie dazu gezwungen, ihre Haare zu schneiden. »Vater«, sagte sie, nachdem sie meine Blicke richtig gedeutet hatte, »sag nichts.« Doch ich konnte nicht anders. »Deine Haare.« »Sie werden nachwachsen. Alles wird nachwachsen. Meine Haare. Mein Herz.« Ich umarmte meine Tocher, sie sollte meine Tränen nicht sehen. Ich fühlte die Hitze ihres zarten Körpers. »Lass dein Unglück hinaus!«, sagte ich. »Komm zu mir und Mutter, leg dich ein wenig hin.« Rosa lag vier Wochen, ohne sich vom Bett zu erheben. Es war Ananus gewesen, damals noch kleiner Priester in Caesarea, Sohn nur da schon, nichts mehr, der Rosa an die Römer verkaufte, die Jungfrau aus einem Dorf in Galiläa, sie würden sich an ihr erfreuen. Ananus, der Erpresser. Rosa war, von wem auch immer, an ihn verraten worden. Warum an ihn, den unbedeutenden Priester? War es Zufall? War es Schicksal? War es Gottes Werk? Wessen Wille, Bruder, ist es, der da geschieht? Susa, unsere Tochter opferte sich für Simon, hast du das je -144-
begriffen? Als sie, verführt mehr als verraten, vor Ananus stand, Simons Befreiung gescheitert schien, noch ehe sie begonnen war, da machte er ihr sein Angebot: Er werde ihr Leben schonen, sie nicht einmal einsperren lassen, ja mehr noch, den Mann, den sie Petrus nannten, würde er freilassen, wenn Wenn. Ananus, du hattest schon damals nur ein Ziel vor Augen: das, auf den Sockel zu passen, den das Volk deinem Vater gebaut hatte, du brauchtest Freunde unter den Römern. Nicht solche oben an der Spit ze, diese standen ohnehin in deines Vaters Schuld, sie würdest du mit des Vaters Hilfe jederzeit für dich gewinnen können, nein, die römischen Soldaten waren es, das Fußvolk, die Messerträger, die du dir gesonnen machen musstest. Jetzt hatte dir die Fügung ein Geschenk in die Hände gespielt. Die kleine Galiläerin war dieses Geschenk, an das man die richtigen Bande knüpfen konnte. Rosa ließ sich verkaufen, da war Simon bereits auf dem Schiff nach Rom und fort aus dem Land. Für dich aber, Ananus, begann der Aufstieg zum ersten Priester unter den Priestern. Susa, ich schwöre dir, ich habe nicht gewusst, dass sich Rosa an die römischen Soldaten verkauft hatte, und wer davon wusste, schwieg, um mir die Schmach zu ersparen. Nicht einmal Mirjam fand den Weg zu mir. Und du, Simon, den das Opfer meines Kindes vor dem Schwert gerettet hat, Simon, du Schöner, Kluger, du nahmst, während ich die Tochter und diese ihr Leben verlor, dein wundersam gerettetes, nahmst deine Frau und gingst nach Rom. Gewiss, du tatest es in Jesu Namen, tatest es in der Redlichkeit, die ohne den Blick auf den eigenen Vorteil nicht bestehen kann, doch jetzt, Simon, ist die Zeit des Tausches gekommen. Rosa wird dein Leben zu Ende führen und damit Jesu Namen weitertragen. Ich habe dafür gesorgt, ich, Jakobus, Jesu Bruder, ich, der ich der Stiefsohn Gottes bin, aber Rosas Vater. Gerade so viel Zeit ist mir geblieben, um nachzuholen, was ich versäumt habe, um aufzufüllen, was leer geblieben ist. Es wird -145-
meine letzte Tat gewesen sein, sie wird ausgleic hen, was ich bei dir, Bruder, versäumt habe. Ich werde Rosa in ein neues Leben retten. Das ist es, Susa, wofür ich geboren wurde. Dieses Mal nach hunderten, dieses Mal vor wieder hunderten, denn wir haben Leben, wie die Wüste Sand hat. Es ist nicht der Tod, der nach dem Leben kommt. Eine Stunde noch, kaum mehr. Die Straßen liegen ruhig im Licht des späten Tages. Ich bin bei Sinnen. Auch wenn ich fast selbst daran zweifle. Ich habe, als du schliefst, die Steine gehört. Ich habe sie schreien gehört, kaum hatten sich Ananus’ Schergen auf die Spuren des Reiters geheftet, ein einzelner Schrei zunächst, klar in meinem Kopf. »Sie sprechen wieder!«, rief ich. Schnell schielte ich nach meiner Strohmatte, in die ich sie vor Jahren genäht hatte, glatt, schwarz, jeder einen Handteller groß, Susa, du erinnerst dich? Der Stein, der eine, war dir, als du vom Feld kamst, aus der Schürze gefallen. Ja, ich habe ihn dir mit Gewalt abgenommen, damals, als Rosa ging. Ich dachte, er ist für mich bestimmt. Es sind meine Steine gewesen, von Beginn an. Die Nüsse des Stummen, in mein Herz gelegt, um zu mir zu sprechen. Als ich damals ein Stück der Matte wieder auftrennte, um nachzusehen, waren aus einem Stein drei Steine geworden. Da wusste ich, dass es nicht Unrecht gewesen sein konnte, den einen zu behalten. Wie viele Stunden habe ich seitdem damit verbracht, sie in der Hand zu wiegen, ihnen zu lauschen, auf ein Wort von ihnen zu warten, vergebens, nicht ein Mal haben sie danach zu mir gesprochen. Ich wagte nicht, sie aus ihrem Versteck zu nehmen, drei Steine waren es geworden, und drei Steine blieben es. Ich wusste nicht, dass ich bis zu meinem Todestag würde warten müssen, um sie wieder zu mir sprechen zu hören. Ich hörte den Schrei, als ich über deinem Bett stand. Eben noch habe ic h Ananus’ Schergen gesehen, an die Spuren -146-
des Burschen geheftet, den ich losgeschickt hatte, scheinbar mit dem Auftrag, Rosa zu finden. Die Tempelwächter werden ihm nichts anhaben, er ist ihr Köder, sie glauben Rosa bald am Haken. Schnell trete ich also zurück in den Schatten des Zimmers. Sie haben meine List nicht durchschaut. Nun habe ich Zeit gewonnen, um Rosa zu warnen. Rosa, denke ich, wird bei Mirjam geblieben sein. Ihr habt unsere Frauen seit jeher unterschätzt. Ich überlege. Eile ist geboten. Ich werde selbst zu Mirjam gehen. Schon werfe ich das Tuch über meine Schultern. Nein, ich werde nicht. Wenn mir nun doch einer folgte? Susa. Sie könnte Rosa gefahrlos warnen. Ihr würde niemand folgen, dem wirren Weib. Ja, Susa wird das Kind vor Ananus retten. Schon bin ich bei deinem Kissen, führe die Hand an deine Stirn, um dich zu wecken, da!, der erste Schrei. Mein Hand fährt zurück. Die Steine. Wieder ein Schrei. Lauter nun. Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern, sinke zu Boden. Und wieder einer. Ich kenne die Stimme. Ich habe vergessen, woher. War damals nicht Sand um mich gewesen?, oder Blut? Ich wende den Kopf zu meiner Matratze. Die schreienden Steine. Endlich! Wie lange habe ich darauf gewartet. Ich will mich vom Boden erheben, an meine Matte greifen, sehen, was ich höre, fühlen, was zu mir spricht, nach so vielen Jahren, doch schwer drückt es mich gegen das Holz der Bretter, ich bin nicht mehr fähig, meine Arme zu heben. Da schiebt sich ein anderes Bild vor meine Augen, schwankend, begleitet von eine m Tosen, die Bretter verlieren unter meiner Brust ihre Farbe, ihre Form. Die Ritzen füllen sich mit Wasser, ich kann mich kaum noch ruhig halten, es wirft mich herum, in Brechern kommt das Wasser über mich, über uns. Wir? Ich bin nicht allein. »Wir kentern«, höre ich eine Stimme in der Sprache der Römer an meinem Ohr vorbei brüllen. Ich blicke nach oben, der Himmel ist schwarz, ich sehe den Mond, wie ich ihn noch nie gesehen habe, sein gelbes Maul ist geöffnet, er beginnt, riesenhafte Steine zu spucken. Sie regnen -147-
auf uns herab, ich sehe sie, groß wie Köpfe, nein, groß wie die Nüsse aus meinen Träumen, grün schimmernd im Licht der Sterne, neben mir auf das brechende Holz schlagen. Salziges Wasser läuft über meine Lippen. Oder ist es Blut? »Wir müssen springen«, rufe ich. »Springt!«, ruft der Soldat, »springt, ehe uns das Schiff zum Grab wird.« Ich erkenne die Stimme des Mannes, dessen Umrisse sich unscharf gegen die wogenden Wellen abheben, Wellen, so hoch, dass sie die Sterne vom Himmel fressen. Es ist Korne lius’ Stimme. Er kämpft sich kriechend zu dem Mann vor, der an den Vormast gebunden ist. Armlänge um Armlänge nähert er sich dem Masten. Dann hat er ihn erreicht. Ohne den Kopf zu heben, tastet der Hauptmann nach dem Gefangenen, bekommt einen der Stofffetzen zu fassen, die ihm triefend von den Gliedern hängen. Da, wieder rollt ein mächtiger Brecher über uns. Ich schlucke Wasser. Ringe nach Luft. Ich ziehe mich an den Tüchern hinauf, die von meinem Bett hängen. Ich taste nach den Steinen. Die Stimme in meinem Kopf schwillt an. Ich höre Töne über den Tönen. Weinen, unerträglich laut. Ich verliere den Halt. Ich spüre, wie das Wasser meine Beine vom Holz zieht, ich liege, und doch falle ich. Ich sehe noch, dass Kornelius wankend das Messer zieht. Grün blitzt es im Licht des Steine speienden Mondes. Kornelius holt aus, fährt mit der Klinge hinter den Rücken des Gefangenen und schneidet ihn mit mehreren schnell geführten Hieben frei. Der Gefangene kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er fällt der Länge nach auf die Bretter. Ein Lichtschein kriecht über sein Gesicht. Es ist das Gesicht eines Greises. Es ist Sauls Gesicht. »Freund«, höre ich Kornelius gegen den Sturm anrufen, »mehr kann ich für dich nicht tun. Schwimm. Vor uns liegt Malta, die Honiginsel. Mit Gottes Hilfe wirst du sie erreichen.« Die Honiginsel? Ich stürze. Meine Finger krallen sich in das Stroh. Die Steine. Der Schmerz. Es ist der Schmerz der Ertrinkenden. -148-
Ich muss den Schmerz von den Steinen nehmen, sie verlangen es von mir, ich spüre sie in meinem Kopf, Töne über den Tönen, sie winden sich, krümmen sich, mein Gott, warum hast du mich verlassen?, ich ertaste sie, glatt, kaum einen Handteller groß, drei Steine, die Töne in meinem Kopf weichen dem einen Ton, mit dem es begonnen hat. Die Farben in meinem Kopf verändern sich. Ein Tuch, im schweren Grün der Oliven, überzieht meine Gedanken. Ich versuche, meine Augen aufzureißen, aber ich sehe nichts. Ich verliere das Augenlicht. Das grüne Tuch hat sich über den Ton des Schmerzes gelegt. Susa, hilf! Ich sehe Saul dem Tod näher als dem Leben. Wie der wütende Herbstwind die losgerissenen Stauden über die Felder jagt, treibt die wild gewordene Nacht ihr Spiel mit dem Alten. Das Wasser wirft ihn über die Bretter, einmal hierhin, einmal dahin, ich versuche ihn festzuhalten. »Saul, so sieh doch her, ich helfe dir«, rufe ich. Doch Saul vergräbt seine Hände unter dem Bauch, scheint dort etwas beschützen zu wollen, was er, bereits an den Mast gebunden, bei sich gehabt haben muss. Endlich bekomme ich ihn zu greifen. Wild hagelt es Steine vom Himmel, doch keiner von uns scheint getroffen. Oder irre ich mich? Sind wir nur unverwundbar geworden? Unter uns splittert das Holz, wir sinken ins Wasser, das süß geworden ist wie Honig und schwer wie das Grün der Oliven. Sicher trägt uns seine Decke durch die tosende Nacht an das Ufer. Ich fühle den kahlen Felsen unter meinem Gesicht, als ich erwache. Ich öffne die Augen. Neben mir liegt Saul. Er atmet. Seine Hände umklammern ein Stück Pergament. Was versucht er zu schützen? Nein, ich bin nicht von Sinnen, Susa. Ich weiß, dass es nur Sarahs Kräuter gewesen sein können, die Saul später vor dem Gift der Schlange bewahrt haben. Warum nur sah ich Steine und nicht Kräuter? Saul überwand die Schlange und genoss es, von -149-
den Bewohnern Maltas wie ein Gott verehrt zu werden. Das Überwinden des Todes, das war es, was ihn in unseren Bann gezogen hatte, darum war aus Saul ein Paulus geworden. Auf den Menschensohn, der lebte, war es Saul nie angekommen. Wie auch, er hatte Jesus lebend kein einziges Mal gesehen. Nur sein Sterben war ihm wichtig, alles, was er sprach, galt dem Wiederauferweckten. Wohin Paulus auch kam, er trat als Jesu Nachfolger auf, als jener, der ihn fortsetzt, nein, mehr noch: als jener, durch den Jesus weiterleben wollte. War es dein unbelohntes Leben, Bruder, das uns zu einer neuen Gemeinde werden ließ, oder dein gewaltiges Sterben? Ich weiß es nicht. Welches ist das Zeichen, in dem wir deiner gedenken sollten: der Fisch des immer wiederkehrenden Lebens oder das Kreuz des nie endgültigen Todes? Wir haben diese Frage nie geklärt. Und welches ist die Pflanze, die zu uns Christianoi passt? Ich fürchte, dass die zart blühende Wasserrose, die auf den Wogen des Lebens treibt, fast unbemerkt in ihrer Schönheit, doch ohne die Gefahr unterzugehen, Leuten wie Saul zu gering ist. Ihre Pflanze ist der Winterstern, den sie mit feuerroten Blättern in den Himmel fahren sehen möchten. Wohin Saul auch kam, überall entstanden aus der Asche, in die er unsere alten Gesetze legte, neue Gemeinden: Arabien, Philippi, Beröa, Korinth oder Ephesus, Zypern, Malta, Rom. Und allen voran Antiochia. Über Josef, den Leviten, hat er sich schnell hinweggesetzt, die Stadt am Orontes überstrahlte bald selbst Jerusalem, doch sie strahlte nur im Schein des Feuers, das er mit seiner Rede nährte. Nein, ich bin nicht von Sinnen. Susa, du wirfst deinen Kopf von einer Seite auf die andere. Meine Gedanken verfliegen. Ich halte ein in meinem Reden. Ich wische dir den Schweiß von der Stirn. Ich liebe dich, Schwester, mehr, als ich Jesus geliebt habe. Du nimmst meine Hand. Deine Lippen formen eine Frage. »Was -150-
verbirgst du in deinem Tuch?«, bricht es da aus dir heraus, du sprichst also wieder, Schwester, du, die ich schlafend wähne. »Was ich da in meinem Tuch verberge?« Ich wiederhole die Frage. Du bleibst mit deinem Blick auf meinen Lippen. Deine Stirn zieht sich in Falten. Ich sehe den Ausdruck der Verwunderung in deinem Gesicht. Du siehst mich ruhig geworden, furchtlos dem Tod entgegensehen. Ist es das, was dich wundert? Mehr kannst du nicht sehen und nichts in meinem Tuch, denn es ist leer. Die Steine sind nicht mehr da. Was also ist es, das dich mit einem Mal wach gemacht hat, Susa? Hat sich in deinem Kopf doch noch die Ahnung meines nahenden Endes eingestellt, nach all den Monaten der Ächtung, der Verfolgung, die du scheinbar unbeeindruckt über dich ergehen ließest, als seien nicht wir es, die man mit bösen Blicken von den Straßen trieb, als seien nicht wir es, denen man die Boten des Todes schickte, anfangs verschlüsselt in Drohungen, die man an den Wänden finden konnte, später unverhohlen. Daniel ging mit den Seinen, als man ihm über Nacht die tote Eule vor das Tor legte. Hast du nun also doch begriffen, dass unsere letzte Stunde gekommen ist? Die letzte Stunde unserer Gemeinde in Jerusalem, der Stadt, die auch nach all den Jahren des Kampfes nicht unsere werden darf. Wessen Stadt wird sie werden, Heilige Stadt seit je und Stadt der Barbaren in einem. Ich habe, während du schliefst, getan, was zu tun war. Der Stumme hat mir dabei geholfen. Er hat mich an Land gezogen, er hat mich vor dem Ertrinken gerettet. Ich habe die schreienden Steine in den Himmel fliegen sehen, was sollen mir da die staubigen Steine der Meute noch anhaben können? Der Stumme. Von einem Augenblick auf den nächsten ist er über mir gestanden, platt das Gesicht wie eh, in Purpur gekleidet, er hat mich an den Schultern gepackt und vom Boden gezogen, er hat mir das Blut von den Fingern gewischt. Er hat mich gewaschen, mich alten Mann, und mir Brot gereicht und Wein, ich habe nicht gefragt, wie er in mein Zimmer gelangen -151-
konnte, die Tür war verriegelt. Ich wusste, als ich ihn sah, dass es Rosas Rettung bedeutete. Wie lange rechnete ich ihm doch den Verlust des Vaters an. Wie viele Jahre konnte ich die damals im Staub der Wüste an Mutter gerichteten Blicke nicht vergessen. Im Krebsgang bin ich scheinbar zurückgegangen, doch in Wahrheit seitwärts auf und davon, durch Zeiten und Räume, um die meinen jetzt wiederzutreffen und diesmal besser zu verstehen. »Ist das nicht der Stumme?«, hattest du, Susa, gegen die drückende Sonne in meinem Rücken gerufen, scharf gestellt die Augen, und gleich noch einmal über die Steine hinweg: »Ist das nicht der Stumme?« Ich war deinem Blick gefolgt und blieb in Mutters Augen hängen. Jesus drückte ihre Hand so fest, dass die Kuppen ihrer Finger weiß davon wurden. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als uns der Stumme eingeholt hatte. »Der Herr sei mit dir.« Wie hätte ich wissen können, dass sich Mutter in diesem Augenblick das letzte Mal ihrem Mann gegenübersah. Rosa, dich hat der Stumme nie verlassen. Nicht, als du geboren wurdest, nicht, als dich Mutter an den Tod zurückgeben wollte, weil sie noch mehr Leid nicht mehr ertragen konnte. Der Stumme ist jener gewesen, gegen den unser Vater sich eingetauscht hatte, als er den Jordan hinab ging, damit er statt seiner für dich sorgte. Als der Stumme plötzlich im Raum steht, will ich ihn Vater nennen, doch ich wage es nicht. »Du kannst mir helfen, Stummer«, höre ich mich stattdessen sagen. »Geh«, sage ich, »geh in das Haus von Kornelius, er soll seine treuesten Soldaten nehmen und Rosa nach Pella geleiten. Ananus will ihr Leben.« Der Stumme hebt zur Antwort seine Hände wie damals. Die gefalteten Hände zieht er über den Kopf, wie wir es bei niemandem noch gesehen haben. Ich überbrücke meine Verlegenheit, indem ich von dir, der Kranken, zu reden beginne. »Wer wird Susa pflegen?«, frage ich, »wenn ich nicht mehr -152-
bin?« Wir könnten dich hier nicht den Geistern überlassen, niemand werde dich nach meinem Tod pflegen. Ich höre auf zu sprechen, der Stumme vergilt es mir, dankend, wie ich denke, mit einem Lächeln, das jedoch ebenso schnell von seinen Lippen verschwindet, wie es zuvor darauf erschienen ist. Ich glaube ihn zu verstehen: Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Nein, ich bin nicht von Sinnen. Der Stumme ist gegangen, um Kornelius zu Rosa in Mirjams Haus zu schicken, wie es mein Plan ist. Du nimmst meine Hand. Deine Lippen beharren auf der Frage. »Was verbirgst du unter deinem Tuch?« Nichts, sage ich. Nichts. Ich lüge nicht. Die Steine sind gegangen. Das leere Tuch ist geblieben. Ich richte dein Laken. Höre ich da nicht Schritte auf der Straße? Ich erhebe mich, so schnell es meine alten Knochen erlauben, ich höre Stimmen, Kornelius’ Stimme, was tut er hier? Vielleicht irre ich, ich schließe die Augen, nein, es ist Kornelius’ Stimme, laut, furchtlos, die Stimme des Hauptmanns, der nur ein einziges Mal nicht da war, als wir ihn brauchten. Damals schlachteten sie Jakob. Schon höre ich ihn an das Eisen des Tores klopfen, drei kurze Schläge, knapp hintereinander, eine lange Pause vor dem vierten Schlag, das verabredete Zeichen. Doch was, wenn er verfolgt wird? Und was ist mit Rosa? Ich öffne die Augen, meine Blicke fallen in deine Worte, Susa. »Sie werden Simon, da du ihn geopfert hast, mit dem Kopf nach unten hängen.« Schon hallen die harten Schritte von Kornelius von der Stiege. Du scheinst nicht im Geringsten an den Ereignissen teilhaben zu wollen. Starrst mich an, immer noch, siehst wie durch mich hindurch. »Sie werden«, sagst du langsam, die Geier auf sein Geschlecht setzen, damit sie es aus seinem lebendigen Leib hacken können. Sie werden, sagst du langsam, seinen Körper in das Fell eines Hundes stopfen und den Tigern in der Arena vorwerfen. Sie werden seinen Tod an den Beginn des hundertfachen Todes -153-
stellen. Die brennenden Leiber unserer Frauen werden die Nächte Roms erleuchten. Unsere Kinder werden ohne Zungen geboren werden und unsere Männer ohne Zungen sterben. »Simon«, sagst du langsam, während ich dir mit offenem Mund lausche, »Simon ist vorgegangen, um für Rosa das Tor zu öffnen.« Da steht Kornelius im Raum, groß wie eh, doch weißer noch geworden in den letzten Wochen, er lächelt kurz, verbeugt sich höflich, doch dann sieht er an mir vorbei. »Ich komme im Auftrag des Stummen, die Heilige Frau zu holen.« Ich sehe ihn an, überrascht. »Die Heilige Frau?«, wiederhole ich. Da tritt Kornelius mit zwei schnellen Schritten an das Bett meiner Schwester und greift nach ihrer Hand. »Ich komme«, sagt Susa. »Sie warten schon auf mich.«
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In den Betten der Römer
Mirjam erzählt, wie Rosa in Caesarea vor Ananus gebracht wurde, in den schmutzigen Handel einwilligte, der Simon Petrus die Freiheit brachte, und wie Petrus durch die Katakomben entkam. Jakobus, Mirjam in Gedanken hinterher, berichtet, wie Saul auf Malta den Biss der Viper überwand, dafür aber die schreienden Steine in alle Winde zerstreute. »Rosa, hörst du mir denn zu?« Meine Stimme war wohl in jenen sorgenvollen Ton gekleidet, der bereits von der Last der bevorstehenden Aufgabe kündete. Sie riss das Kind aus seinen Gedanken. »Bist du denn auch vorbereitet? Hast du den Herren angerufen und Abraham, Isaak und Jakob? Und hast du auch Jesus angerufen, Kind?« »Ja, Mirjam.« Simon musste so schnell wie möglich befreit werden. Und Rosa, die man in Caesarea nicht kannte, würde die entscheidende Aufgabe zukommen, so hatten es Philippus und die anderen beschlossen. Simon wurde in dem Gefängnis gehalten wie ein Tier, in der Nacht war er zwischen zwei Soldaten gekettet, bewacht von zwei weiteren, in Fesseln lag er dann von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von den Römern und ihren kriechenden Dienern verhöhnt, verspottet, gedemütigt. Doch anders als Jakob war er immerhin noch am Leben. -155-
In seinem gehöhlten Schädel hatten, hieß es, die Kinder ihre Notdurft verrichtet, mit seinem Geschlecht die Männer Ball gespielt, seine ausgebluteten Glieder die Frauen dazu benutzt, die herrenlosen Hunde zu verscheuchen. Simon musste aus Caesarea gebracht werden, der Stadt unseres Unheils, und dann hinaus aus dem Land der Samaritaner, jenem Land, in dem Freund und Feind seit jeher die gleichen Gesichter tragen. Ich hielt die Zügel des Gespanns fest in der Hand. Neben mir, in sich versunken, Rosa. Wir waren nun bereits die halbe Nacht unterwegs, unsere Rücken schmerzten, doch weder die eine noch die andere empfand Müdigkeit. Schon hatte sich das Himmelstuch gesenkt, um das klebrige Salz des Großen Meeres auf unseren Gesichtern abzustreifen. Bald würden wir in Caesarea sein. Philippus würde uns erwarten, die Pläne für Simons Befreiung gemacht sein. Denn würde mit Simon jener Fels in Brüche gehen, auf welchem die Säulen des neuen Geistes Israels einst ruhen sollten, wäre Jesu Tod umsonst gewesen. Nein, nicht sein Tod, das Leben, das seinem Tod gefolgt war. Hätte ich wissen können, dass Ruth und Ethel, Nathan und Judas, um den Soldaten Agrippas zu entgehen, Caesarea über Nacht verlassen hatten? Hätte ich ahnen können, dass es niemanden mehr gab, der uns helfen würde, Simon zu befreien, ja, dass es nicht einmal den Plan mehr dazu gab? Dein Kind, Susa, und ich kamen zum vereinbarten Zeitpunkt an die vereinbarte Stelle vor der Stadt. Doch wir blieben allein. Als die Sonne nach Stunden, die wie Jahre vergingen, so hoch stand, dass wir Gewissheit haben konnten, vergeblich auf die Freunde zu warten, wusste ich, was zu tun war. »Wir werden es«, höre ich mich zu Rosa sagen, »wir werden es allein machen, zu zweit. Ohne sie.« Ich würde, dachte ich, Kornelius bitten, uns zu helfen. Und davor würde ich Sarah, Philippus’ Tochter, in ihrer Hütte bei den Müllbergen aufsuchen, Sarah, die -156-
Sehende, sie würde die schwarzen Kräuter finden, wie ich sie früher entlang der heißen Quellen bei Tiberias zu finden verstand, jene Kräuter, die ich einst verwendete, um mich zu betäuben, damals, im Badehaus von Tiberias, damals die Frau, zu der die Männer kamen, zitternd vor Lust, um zu kriegen, wofür sie sich später in der Synagoge schämten. Ich selbst hatte das scheinbar leichte Leben im Badehaus dem harten auf den Äckern vorgezogen, nicht zuletzt auf Zachäus’ Ratschlag hin. Doch ich hatte nicht geahnt, dass zerschundene Selbstachtung ungleich mehr schmerzt als zerschundene Knie. Kaum länger als einen Winter war ich für alle Männer da, ehe mich der eine, Agaton, zur Frau nahm. Ohne die betäubenden Kräuter hätte ich diese Zeit nicht überstanden. Die Kräuter und Kornelius’ Kraft. Mit beider Hilfe würden wir die Soldaten ausschalten und Simon befreien. Rosa, dachte ich, würde ich behutsam, Schritt für Schritt, in meine Gedanken einweihen. Ich wusste nicht, dass das Schicksal so viel mehr von ihr verlangte. »Mit Hilfe des Zenturio? Wir wollen Simon mit Hilfe eines Römers aus der Hand der Römer befreien?« Ich sehe, Susa, den erstaunten Blick deiner Tochter. »Kornelius ist einer von uns«, sage ich. »Simon hat ihn getauft, weißt du das nicht?« Ich halte mein Gesicht fest auf den Pfad gerichtet, der uns in steilen Schlangenlinien zu den Müllbergen führt. Wir sind auf dem Weg zu Sarahs Haus. Die Sonne hat die Stadt zu unseren Füßen in gleiß endes Weiß gelegt. Der Marmor Caesareas fängt das Licht und verwandelt es. Alles wird in diesem Licht zum Feind, greift an, sticht zu, bohrt sich in die Haut, kommt einem, kaum hat man den Mund geöffnet, um zu sprechen, unter die Zunge gekrochen wie die Schlange in das Nest ihres Opfers. In Caesarea muss immerzu abgewehrt werden, will man nicht Schaden nehmen. Ohne Unterlass abgewehrt, damals wie heute, muss aus den Augen gespien werden, will man nicht im Meer seines Irrlichts -157-
ertrinken, will man nicht, eingefangen in seine glühenden Netze, zur Beute werden. »Nein«, sagt Rosa und bleibt abrupt stehen, »nein, das habe ich nicht gewusst. Simon?« Sie fasst mich an der Hand. »Einen Heiden getauft? Einen, der den Sabbat nicht kennt?, dessen Lanze dafür geschliffen wurde, die Brüder und Schwestern Israels zu unterjochen? So einen hat Simon getauft?« Doch ich, wankend, verfangen wohl schon in den glühenden Lichtern der Stadt, getroffen wohl schon von den Messern, die aus den Rauchfängen schießen, will nicht mehr über Kornelius’ Taufe sprechen, wehre ab, verschließe meine Ohren, greife nach einem Kraut, das am Wegrand blüht, greife nach einem anderen Gedanken. »Jesus«, sage ich, »weißt du das?, hat auf seinem letzten Weg nach Jerusalem unweit von Caesarea Halt gemacht, in einem Dorf auf halbem Weg zwischen Sebaste und der Weißen Stadt. Seine Menschen sollten die kleine Schar für eine Nacht beherbergen. Doch die Samaritaner, die von Jesus wohl gehört hatten, wollten gerade ihn nicht hören.« Er solle weitergehen, habe ihn einer angeherrscht. »Geh, du hältst dich nicht an Moses’ Gesetze.« »Ich halte mich an die Gesetze eines Höheren. Ich bin der Menschensohn.« Noch heute, Susa, sehe ich deinen Bruder vor diesem kläglichen Häuflein von Samaritanern stehen, selbst nicht weniger kläglich in seiner Erscheinung, die staubige Stirn mit Schweiß bedeckt, die Augen zusammengekniffen, das Lächeln auf das müde Gesicht nur gesetzt, die Hand immer noch oben zum Gruß. Einer der jüngeren Männer fuhr bei Jesu Worten mit seiner Hand an die Sichel. Langsam, wie zufällig. Doch Johannes, dem Fischer, jung, die Augen scharf wie jene eines Adlers, entging die Bewegung nicht. »Pass auf, Bruder!«, rief er in dem -158-
Moment, als der Samaritaner seine Finger um den Holzgriff der Waffe zu spannen begann. Da setzte Jakob der Wilde auch schon zum Sprung an. Beide Männer stürzten in den Staub, wälzten sich auf dem Boden, oben kam bald der Zebedäer zu liegen, unter dessen gewaltigem Leib wie begraben der Samaritaner. Der Fremde rang nach Luft, stieß dabei unverständliche Worte aus, Worte der Schmähung, Worte wohl auch um Hilfe, an seine Gefährten gerichtet, da trat Jesus mit einem festen Schritt zu den Kämpfenden hin und gebot Jakob durch eine Berührung an der Schulter Einhalt. Keine Sekunde zu früh, denn inzwischen hatten auch andere Samaritaner ihre Sicheln gezogen, zehn Mann, kampfbereit nun, mehr noch, man sah es an ihren Augen, kampfeslüstern. »Zwinkerchen, schick ihnen das Feuer vom Himmel«, rief da Zachäus mit den ihm eigenen zischenden Lauten in Richtung der Kämpfenden. Zachäus, in der zweiten Reihe zwischen den Frauen. Zachäus, damals auch dabei und, ohne es selbst noch zu wissen, auch auf das Kreuz zu, das ihn von Jesus befreien würde. »Zwinkerchen, los, schick den Teufeln das Feuer, sonst steht es schlecht um unser aller Leben.« Da wurde Jesus rot vor Zorn. »Sind Menschen dazu da, Menschen zu vernichten?«, rief er mit schneidender Stimme. »Gehören denn der, der vernichtet, und der, der vernichtet wird, nicht zum selben Leben?« Die Samaritaner hatten uns damals ziehen lassen, um sich später an Jakob und Simon umso härter zu rächen. Lange nach unserer Ankunft in Caesarea klopften wir endlich an das Tor zum Haus des Zenturio. Doch wie schon zuvor bei Sarahs Hütte warteten wir vergeblich darauf, eingelassen zu werden. Die Sonne begann sich dem Abend zuzuneigen, die verletzende weiße Schärfe ihres Lichts war einer gelblichen Wärme gewichen. »Es ist, als läge alles in Milch getaucht«, sagte Rosa plötzlich und zog mit dem Arm einen Halbkreis, der den Horizont umfasste. Ich lächelte. Welch unpassender -159-
Hintergrund für unsere eigene Erscheinung. Meine Haare hingen ungeordnet vom Scheitel, meine Füße hatte ich während des mühsamen Aufstiegs zu Sarahs Haus wund und blutig geschürft. In dem Tuch, das ich jetzt locker über meiner Schulter trug, um es schnell über den Kopf zu ziehen, wie es sich geziemte, wenn man das Haus eines Zenturio betrat, in diesem Tuch, ich sah es erst jetzt, hatten sich Würmer, Käfer und Spinnen verfangen. Kleine Käfer, kleine Spinnen, unscheinbares Gewürm. Sie mussten im Dickicht des steilen Waldpfades zu Sarahs Hütte in die Falten des Stoffs gelangt sein. Von Blättern und Rinden, Steinen und Ästen werde ich sie abgestreift haben, dachte ich, jetzt gab es für sie kein Zurück. Ich bemerkte, dass Rosa mich anblickte. »Was denkst du?«, fragte sie. »Nichts.« »Niemand denkt an nichts.« Rosa hatte Angst. Sie hatte sich zuvor auf dem Marktplatz verraten. Ihre Jugend war mit ihr durchgegangen. Sie hatte die Menschen durch ihre Worte auf sich aufmerksam gemacht. Auf sich, wohlgemerkt. Mich, die ich abseits stand, hatte man mit ihr nicht in Zusammenhang gebracht. Das sollte meine Rettung sein. Mich gab es für unsere Feinde nicht. Man hatte uns, nein: sie, unbehelligt vom Marktplatz gehen lassen. Ich folgte ihr in großer Entfernung, bis wir beide außer Sichtweite waren. Sie hatten sie gehen lassen, weil keiner es wagte, eine Jungfrau vor den Augen der anderen zu verfolgen, nur darum, nur aus Feigheit vor dem gleißenden Weiß, das sich allem und jedem in den Nacken bohrte. Doch schon spürte ich sie ihre Messer wetzen, sie würden die Fährte aufnehmen, die der Donnerbruder mit seinem blutenden Leib zu uns, nein: zu Rosa, gelegt hatte. Rosa hatte sich als Jesu Schülerin gezeigt. Der junge Äthiopier, nicht älter als sie, hatte sie herausgefordert. Er lächelte, als Rosa ihre Worte der Entrüstung gegen die Menge schleuderte, Susa, ich schwöre dir, er lächelte. »An die Käfer denke ich, hier in meinem Tuch«, sagte ich. -160-
»Die Käfer?« »Und die Spinnen und die Würmer. Werde ich sie beachten«, dachte ich laut, »wenn ich später das Tuch in den Brunnen tauche, um es zu reinigen? Werde ich sie retten? Jeden Käfer wieder auf sein Blatt setzen, jeden Wurm auf sein Holz?« »Retten?«, fragte Rosa nach. Und gab sofort die Antwort. »Natürlich. Du bist wie er.« »Jesus hat Käfer gerettet?« »Jakobus hat. Er hat jedes Tier gerettet.« Wir standen schon seit einiger Zeit vor dem steinernen Palast des Römers. Eine weit abgelegene Gasse, niemand störte uns, noch, niemand bog um die Ecke, kein Klirren von Geschirr, wie es von den Nacken der Pferden kommen würde, kein Scheppern, wie es die Rüstungen an den Brüsten der Soldaten hervorbrachten. Doch wie sollte es jetzt weitergehen? Die Zeit drängte. Niemand, der uns öffnen wollte, keine Magd, kein Wächter, kein Diener. Niemand. Wir hatten seit dem Morgengrauen kein Glück. Sarah war nicht in ihrer Hütte gewesen. Versperrt das Tor mit eisernen Ketten, die Fenster mit geflochtenem Blattwerk verhangen. Rosa vermeinte einen Hund gesehen zu haben, der aus der hinteren Tür des Hauses gelaufen kam und eilig hinter den Büschen des Waldrands verschwand. »Einen Hund?«, sagte ich ungläubig. »Ja, einen Hund oder eine Schlange«, sagte Rosa. »Warum gehen wir nicht zu Philippus’ Haus?«, setzte sie übergangslos nach. »Er ist es doch, der uns einweihen wollte.« »Gut, wir gehen zu Philippus’ Haus.« Doch bald schon mussten wir unsere Pläne abermals ändern. Wenn wir den Bestand unserer kleinen Gemeinde in Caesarea nicht gefährden wollten, wenn wir das Leben unserer Freunde nicht aufs Spiel setzen wollten, so erkannten wir bald mit Schrecken, galt es um jedes der Häuser, in dem wir einen der unseren wussten, einen weiten Bogen zu machen. Denn die Geschichten über die Verhaftung Simons drangen, wann immer -161-
wir uns unter Leute mischten, an unsere Ohren wie das Zwitschern der Vögel unter einem Vogelbrotbaum. Klar wie ein See, in dem man sein Angesicht sieht, lag die Absicht der Stadt vor uns gebreitet: Die Jünger Jesu waren vogelfrei geworden. Und Caesarea hatte Blut geleckt. Auf den Pfützen, die nach dem Mord an Jakob stehen geblieben waren, waren schwarze Blumen gesprossen. Die Einwohner Caesareas pflückten sie eilig, sie bereiteten Simons Tod vor. Der Sohn Jonas’, hatten wir eine Wäscherin erzählen hören, müsse, aus Rom kommend, keinen anderen als den Satan an Bord gehabt haben, denn die halbe Mannschaft sei während des großen Sturms über Bord gegangen, so wütend habe das Unwetter getobt, das Jahwe geschickt hatte, um den Satan fern zu halten, und Jonas’ Sohn sei staubtrocken an Land getreten. Er sei einer von Jesu Schülern, ein Sektierer, hörten wir eine andere sagen, der jetzt im Haus der Bewachung liege, mehr tot als lebendig, nachdem ihm die Soldaten den Teufel austreiben wollten. Er sei gefällig zwar in der äußeren Erscheinung und fähig, in allen Sprachen zu sprechen, doch diese Talente täuschten, er und die seinen betrieben Austreibungen mit einem Geschick, wie es nur vom Satan kommen könne. »Er brachte die Jungfrau Tabitha, aus der kein Atem mehr strömte, ins Leben zurück, das ist Teufelswerk.« Und dann die verhängnisvolle Begebenheit hinter dem Tempel des Caesaren. Wir waren gerade dabei, die Straße hinauf zu Kornelius’ Haus einzuschlagen, da, ich wagte es kaum, Rosa dabei anzusehen, begann ein junger äthiopischer Händler, ein fahrender Verkäufer, der vor dem Tempel seine Waren in mannshohen schwarzen Töpfen anbot, über die Taufe des Kornelius zu sprechen. Nicht eigentlich freilich von der Taufe, denn was wusste der Junge schon über unsere Riten und Gepflogenheiten, er sprach, zwischen seinen Töpfen kaum sichtbar, von Zauberei. Zu wem er sprach? Ob es zu diesem -162-
Zeitpunkt schon Zuhörer gab, oder ob sie später dazukamen, erst durch seine Worte aufmerksam gemacht, ich könnte es nicht mehr sagen. Bei uns beiden, Rosa und mir, verfehlten die Worte ihre Wirkung nicht. Wie Tauben, die im Himmel stehen bleiben, wenn sie vom Pfeil getroffen sind, blieben wir vor dem Wagen des Händlers stehen. »Und wisst ihr«, hörten wir den Jungen sprechen, »dass der, der sich voll Anmaßung Petrus nennen lässt, hier in der Weißen Stadt, gleichsam unter den Augen des Statthalters, vor einiger Zeit einen römischen Hauptmann verzaubert hat?« Der Junge sprach mit einer Stimme, die mich mit jedem Wort hellhöriger werden ließ, die mich alarmierte wie die Glocken, die vom ausgebrochenen Feuer künden. Der Junge erzählte eindringlicher, als einer erzählt, der nur erzählen will. Was wollte er? Er war keiner von uns. Ich bekam es, Susa, mit der Angst zu tun. Und dann begann ich, geschah es unbeabsichtigt?, von Rosa abzurücken, mich in mir zu verschließen. Der Junge hatte mich mit seinen Worten, wie einzig zu mir gesprochen, bereits in seinen Bann gezogen. Die schweren Deckel auf den schwarzen Töpfen, zwischen denen ich den Erzählenden jetzt nur noch als Schatten erkennen konnte, sah ich mit einem Mal beiseite geschoben. Sah gleißendes, klares, weißes Licht daraus hervorquellen. Kam Caesareas Licht aus diesen Töpfen? Das Licht wollte gegen den Himmel steigen, wurde aber wie von gewaltiger, unsichtbarer Hand daran gehindert. Mehr und mehr Licht kam; bald sah ich es, wie zu einer Wolke geformt, über den Boden kriechen. Es sucht, dachte ich, einen Weg, aber wohin? Ich empfand Übelkeit. Ich wollte mich übergeben, doch mein Hals blieb trocken, ich wollte fliehen, doch da nahm mich der Junge an der Hand und zog mich behutsam hinter seine Töpfe. Er tat es mit fast zärtlicher Berührung, die mich Vertrauen schöpfen ließ. Schon war die Übelkeit verflogen, schon dachte ich, ich wäre zu Unrecht alarmiert gewesen. Doch -163-
ich wurde, viel zu spät sollte ich es erkennen, getäuscht. Immer noch an der Hand des Jungen, immer tiefer eingetaucht in weiße Wohligkeit und Wärme, missachtete ich die Zeichen des drohenden Unheils, das, langsam und bedächtig seine Linien ziehend, meinen Schenkel hinaufgekrochen kam. Dann der Stich. Kurz, hart. Schmerzhaft. Ein Stich gegen meine Scham. Ich riss mich, wie vom Blitz getroffen, von dem Jungen los, da fiel die Schlange einem Stock gleich zu Boden. Ein Brand durchfuhr meinen Unterleib, ich musste auf die Knie, sah die Schlange von neuem sich zum Angriff erheben, in schlängelnder Bewegung, den Kopf auf mich gerichtet, erneut auf meinen Unterleib. Nein, der Junge half mir nicht. Und Rosa war in einer anderen Welt. Kornelius war es, Susa, der mir half, der Hauptmann unseres Herrn. Schon merkte ich, wie die Schlange ihren faustgroßen Kopf nun zum nächsten Vorschnellen spannte. Das Gift des ersten Bisses musste mich gelähmt haben. Wie sollte ich das Feuer löschen, das von innen her loderte und mit jedem Atemzug, den ich tat, so schien es mir, neue Nahrung bekam? Schon hatte ich mich, unfähig, meine gelähmten Glieder zu rühren, unfähig, meine Hände schützend vor mein Geschlecht zu legen, auf Knien immer noch in einer Wolke aus flammendem Licht, in mein Schicksal gefügt, da beendete das Surren des Schwerts das Spiel der bösen Mächte. Abgetrennt lag der Kopf der Viper neben dem zuckenden Körper. Der purpurne Mantel, der Helmbusch, quer gestellt, ließen mich im selben Augenblick wissen, wem ich meine Rettung zu verdanken hatte. Es war der Zenturio, der über mir stand und das Schwert zurück in die Scheide schob. Jener Zenturio, der Jakob, dem Zebedäer, ein Leben gerettet hat, auch wenn er seinen Tod kein zweites Mal verhindern konnte. Er reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Die Wolken aus giftigem Licht hatten sich verflüchtigt. Frei lag ein schmaler, von schwärzen Steinen gesäumter Weg vor uns. Der reinigende -164-
Geruch von Meerwasser stieg mir in die Nase, vermischte sich in meinem Kopf mit dem fernen Geräusch brechender Wellen. Ich habe die Lichttöpfe besiegt, dachte ich. Er hat die Lichttöpfe besiegt. Hätte ich wissen können, dass der Sieg nur halb war? Dass der Schlange ein neuer Kopf wachsen würde, um sich Zutritt nun zu Rosas Leib zu verschaffen? Mich hatte seinerzeit das Gift ihres Bisses so sehr gelähmt, dass ich es fast ein Jahr nicht vermochte, das Badehaus in Tiberias zu verlassen. Doch dein Kind, Susa, wurde für fünf Jahre eine Gefangene in den Töpfen des Magiers, Lustdienerin für hungrige Soldaten. Der Magier wurde schließlich besiegt, von einem, der stärkere Kräfte hatte, weil er mit dem Wasser der Erkenntnis getauft worden war. »Wir gehen in Simons Haus«, sagte der Zenturio. »Simons Haus, das Haus des Petrus?« »Ja. Es ist das Haus, in dem die Elemente miteinander kämpfen.« Kaum hatte Kornelius diese Worte gesprochen, waren wir auch schon angekommen. Einladend standen die Fässer um die Mauern, ein Garten voll üppiger Blütenpracht erstreckte sich entlang zweier Hügel, durch deren Mitte man ungehinderten Blick auf den Hafen hatte. Caesarea, die Prächtige. Vertraute Stimmen drangen an meine Ohren. Und sah ich durch die geöffnete Tür des Hauses nicht auch schon Simon Petrus und Rachel, seine Frau, die am Tisch über einer Obstschale saßen? Schon sehe ich mich die Arme zur Begrüßung heben, schon bin ich durch die Tür gegangen, da stürzt der Tisch unter Simon plötzlich in sich zusammen, während mir gleichzeitig ein flüchtiger Blick aus den Fenstern eine Flammenwand offenbart, in die sich die Gärten entlang der Hügel verwandelt haben. Ich sehe die Obstschüssel brechen, doch wo ich Feigen und Orangen glaubte, sehe ich nun Käfer, Spinnen und Würmer über das Holz kriechen. Und den Würmern wachsen Flügel, und sie erheben -165-
sich gegen das Dach. Ich sehe Kornelius, starr vor Schrecken. Ein Bär hat sich hinter uns in den Raum geschoben und versperrt uns nun den Weg ins Freie. Schon greifen die ersten Zungen des Feuers nach uns. Warum lächelt Simon immer noch? Warum zieht Kornelius nicht das Schwert? Da, endlich, Kornelius holt surrend aus. Doch was geschieht? Ehe der Schlag landen kann, ringeln sich, wie aus dem Nichts entstanden, zwei Klapperschlangen um die Schneide des Schwertes. Der Zenturio versucht, die Riesenwürmer abzuschütteln, doch kaum hat er eines der Tiere auf den Boden geschleudert, kommt ein weiteres hinzu. Neun Schlangen sind es bald. Sie scheinen nicht angreifen zu wollen, winden sich aber um das Schwert, als wollten sie es auf diese Weise stumpf machen. Kornelius wirft die unbrauchbar gewordene Waffe in hohem Bogen von sich. Warum schreit Rachel nicht die Angst aus ihrer Brust? Warum kann ich das eigene Schreien nicht hören? Warum gibt es außer dem Prasseln des Feuers keine Töne um mich? Da dringt eine vertraute Stimme an mein Ohr. »Und warum nennst du unsere Taufen Zauber?«, höre ich Rosa aus der Ferne sagen. Rosa. Wo war sie? Wo sind wir? Das beißende Weiß Caesareas in meinen Augen, der Tempel des Caesaren, der äthiopische Händler, die schwarzen Töpfe, silbern im Licht der hoch stehenden Sonne. Wir waren hierher gekommen, um Simon zu befreien. Doch Rosa, die ich weit weg von mir stehen sah, ruhig nur nach außen hin, in ihrem Inneren, ich kenne das Kind, bebend vor Zorn, hat sich verlocken lassen. »Und warum nennst du unsere Taufen Zauber?«, sagt sie. Ich sehe den Jungen überrascht zu Rosa blicken. War er es wirklich? »Welche Taufen?«, fragt er. »Die das Feuer besiegen«, ruft Rosa nun mit lauter Stimme. Er wisse nicht, welche Feuer wir mit unserem Glauben besiegen wollen, sagt nun, ruhig, der junge Äthiopier, nicht mehr nur Schatten, sondern leibhaftig Mensch. -166-
Höre ich Hohn aus dieser Stimme? Ich weiß es nicht. Aber ich höre etwas anderes. »Eurem Glauben«, hat der Junge gesagt. Was weiß er von uns? Warum lässt du den Jungen nicht einfach stehen, Kind?, will ich fragen, wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Simons Leben steht auf dem Spiel. Doch mehr als ein Raunen kommt mir nicht über die Lippen: »Pscht! Alle schauen schon.« Schon sehe ich die umstehenden Menschen auf dich aufmerksam werden, Blicke schicken wie Messer, schon sehe ich die Blicke der anderen mit Zorn sich füllen. Was hat sie so außer Fassung gebracht?, frage ich mich. Ich habe sie eben in Simons Haus gesehen, der Bär dort, der hat Rosas Augen gehabt, der Bär, der wie aus dem Nichts in der Tür stand. Ist Rosa der Bär gewesen? Ich glaube nicht an Dämonen in der Gestalt von Schlangen, ich glaube nicht an Menschen in der Gestalt von Bären, ich glaube nicht an Menschen in der Gestalt anderer Menschen, ich glaube nicht an schreiende Steine. Der Bär hat mich angesehen, mit zusammengekniffenen Augen. Diese Augen kenne ich. Warum ist der Bär in das Feuer gestiegen? Niemand hätte ihn dazu treiben können. Schon sehe ich das mächtige Tier Feuer fangen, an den vorderen Pranken zuerst, die es, aufgerichtet zur vollen Größe, die Beine weit gespreizt unter der Last des eigenen Gewichts, wie Fackeln vor sich trägt. In Fontänen schießt das Blut aus den Wunden. Gleich einem Fels steht das Tier nun still gegen die Flammenwand, ein Kampf zweier Mächte, unsere Rettung. Denn dort, wo eben noch der Bär gestanden ist, hat sich hinter ihm nicht die Eingangstür befunden?, dort öffnet sich mir ein weiter, nach unten führender Gang. Ein Ausgang. Ohne zu überlegen, laufe ich hinein, den Käfern hinterher und den fliegenden Würmern, ich laufe den grauen, feuchten Stein entlang, den, und nun weiß ich, wo ich -167-
bin, der Herodes unter der Stadt angelegt hat. Wir sind in den Katakomben von Caesarea. Ich weiß nicht, wie lange ich den Käfern und Würmern hinterhergelaufen bin, noch weiß ich, wohin mich der unterirdische Gang führen wird. Endlich sehe ich Licht gegen das graue, nasse Halbdunkel drängen. Die Käfer und fliegenden Würmer verlieren vor dem Hintergrund des immer stärker einfließenden Lichts allmählich Form und Farbe, zu Hunderten prasseln sie, leblos, auf den steinernen Boden wie Hagelkörner. Ich befinde mich, immer noch laufend, nur noch wenige Meter vor dem Ausgang. Da dringen von weit hinter mir Stimmen an meine Ohren. Ich erschrecke. Ich bleibe stehen. Ich wage es nicht, mich umzusehen. »Bleib stehen, Mirjam, bitte!« Ich drehe mich um. Aus dem Halbdunkel sehe ich eine Gestalt auf mich zulaufen. »Mirjam, so bleib endlich stehen, Rosa ist nicht mehr da.« Ich erkenne Simon Petrus. »Dem Herren sei Dank«, sage ich, »Rosa hat es geschafft. Werdet ihr verfolgt?« Ich schiebe die Haarsträhnen, die sich an meine Wangen geklebt haben, aus dem Gesicht. Ich friere. Mein Kleid ist durchnässt vom Schweiß, kalt geworden in den Stunden, die wir nun schon durch diese Gänge laufen. Simon antwortet nicht. »Sie wird kommen«, höre ich mich sagen. Ich sehe erst jetzt, dass Simon nackt ist. Dunkle Flecken überziehen seinen Körper, verschwollen ist sein Gesicht, die Züge sind kaum noch zu erkennen, was haben sie mit ihm gemacht? Ich sehe das getrocknete Blut, will hingreifen, es wegschieben, als wären es Haarsträhnen, doch ich ziehe meine Hand auf halbem Weg zurück, ich bringe es nicht über mich. Die Nase, denke ich, muss gebrochen sein, was haben sie nur mit ihm gemacht. Ich wende mich ab. Ich will mich übergeben. Ich halte mir die Augen zu, um nicht hören zu müssen. »Natürlich wirst du sie retten. Du bist wie Jakobus«, sehe ich -168-
Rosa sagen, undeutlich, mit weißen Lippen. Ich verscheuche meine Gedanken, nein, sie entgleiten mir. Wen würde ich retten? Wovon spricht Rosa? Ich habe ihr nicht zugehört, es ist die Müdigkeit, die mit mir spielt, mein Alter. Meine Füße tun mir weh, ich sehe einen Käfer im Netz des Tuches über meinem Busen zappeln, ich greife nach ihn, um ihn freizusetzen, er wehrt sich, verstrickt sich dabei nur tiefer in die Wolle, ich lasse ihn, wo er ist. Kornelius werden wir heute wohl ebenso wenig antreffen wie zuvor Sarah, und wo ist Philippus geblieben? Und wann würden die ersten Verfolger auftauchen? »Du hättest dich nicht herausfordern lassen dürfen, jetzt wissen sie, dass wir zu Simon gehören«, werfe ich Rosa vor, während ich mich müde auf den Stufen vor Kornelius’ Haus niederlasse. Rosa schweigt, sie dreht sich um und tritt einige Schritte zur Seite. »Du schweigst?« »Ich ertrage die Sonne nicht länger.« »Ruh dich für eine Stunde aus«, sage ich und deute, ohne dass sie, die mir nun den Rücken zuwendet, es sehen kann, auf die Pinien, die lange Schatten werfen. Ich bekomme keine Antwort. »Bist du mir böse?« – »Nein«, ruft Rosa, dünn ist ihre Stimme, aus der Ferne. Dann fühle ich mich von Müdigkeit übermannt. Als ich erwache, steht Sarah über mir. »Rosa ist bei den Priestern«, sagt sie, bevor ich ein Wort herausbringe. »Sie haben sie, während du schliefst, gefunden und den Priestern übergeben. Sie wird kämpfen müssen.« Ich habe dein Kind, Susa, schon am Abend wieder zurückgehabt. Halb tot vor Angst war ich all die Stunden bis dahin, glaub mir, voll schlechten Gewissens, sie euch entrissen und nun verloren zu haben. Warum nur hat das Kind, wetterte ich mit mir, seinen Mund vor aller Ohren aufgemacht? Was ist -169-
geschehen, dass wir uns hier allein auf uns gestellt sahen? Wo ist Philippus geblieben? Sarah hat mich mitgenommen, nicht in ihre Hütte oben auf den Müllbergen, sondern in das Haus ihres Vaters, zu dem sie einen Schlüssel besaß. Philippus’ Haus, unweit des großen Turms. Doch meinen Fragen nach dem Verbleib ihres Vaters wich sie aus. Sie wisse, sagte sie, ebenso wenig wie ich, wo er sich aufhalte. »Und wenn ich es wüsste, ich würde es dir nicht sagen. Es ist gut in diesen Zeiten, wenn ihr so wenig wie möglich voneinander wisst. Der Herodes will sich auf euren Leichen seinen neuen Tempel bauen.« »Ihr«, sagte sie und »eure Leichen«. Wo stand Sarah? War sie denn nicht mit uns? Und Rosa? Bei den Priestern? Ein schrecklicher Gedanke reifte in meinem Kopf. Ich versuchte mich zu beruhigen, während ich ungeduldig auf eine Erklärung wartete. Sarah war jünger als ich. Sie hatte ein äußere Erscheinung, die die Männer verzauberte. Hast du Sarah je kennengelernt, Susa? Sie hatte die Augen einer Löwin, sie fraß damit. »Woher weißt du, dass Rosa bei den Priestern ist?« Sarah antwortete mit einer Gegenfrage. »Wofür brauchst du die schwarzen Kräuter?« »Weißt du von Rosa, dass wir wegen der Kräuter nach dir gesucht haben?« Wieder unterließ es Sarah zu antworten. Stattdessen griff sie unter ihr Tuch und zog ein Leinensäckchen hervor. »Hier sind fünf mal dreihundertundsechzig und zehn dazu, diese, um Rache zu nehmen. Nimm sie, ihr werdet sie brauchen, jedes einzelne, wenn auch nicht dafür, wofür ihr sie zu brauchen glaubt.« Sprachlos blickte ich sie an, ja mehr noch: verständnislos. Hatte Sarah, während ich schlief, mit Rosa gesprochen? Hatte Sarah von deinem Kind erfahren, warum wir nach Caesarea gekommen sind? Und wenn ja, wie konnte sie in der kurzen Zeit die getrockneten Kräuter gesammelt haben? Stundenlang war ich einst durch das Geröll über den heißen Quellen geklettert, -170-
um zwei, drei Blüten zu finden, die schwarzen Blüten des dampfenden Grases, die ich als Kind bei Elisabeth zum erstenmal gesehen hatte. Für Elisabeth gehörten sie zur Arbeit. Wie lange ich doch nicht verstand, worin ihre Arbeit bestand. Zwei, drei Blüten, gestampft und getrocknet, ergeben eine kaum größere Menge, als Schmutz unter dem Fingernagel der Weinbauern ist, und jetzt hat Sarah fünf mal dreihundertundsechzig dieser Blüten für mich bereit. Welche Gegenleistung hat ihr Rosa dafür versprochen? Misstrauisch, immer noch sprachlos, wollte ich das dargebotene Geschenk nicht ergreifen. Ich weiß nicht mehr, was mich damals dazu brachte, bei Sarah zu bleiben, nicht einfach wegzulaufen, zurück zu Kornelius’ Haus oder einfach davon. Warum fünf mal dreihundertundsechzig und zehn dazu?, fragte ich mich. Um die Soldaten außer Gefecht zu setzen, wären zwei Blätter für jeden genug und ein drittes bereits zuviel, wenn man nicht ihre Leben wollte. Da, in meine Gedanken hinein, neue Rätsel. »Rosa wird ein großes Opfer bringen müssen, denn sie hat jenen, der stumm ist, sprechen gehört und jenem selben, der ohne Gesicht ist, die Wange zum KUSS hingehalten«, sagte die Seherin. »Es werden die Tage kommen, an denen der Schmerz so übermächtig ist, dass er selbst Steine zum Schreien bringt. Dann sollt ihr jenen zur Verantwortung ziehen, der sich schuldig gemacht hat – und dafür, einzig dafür, zehn Blätter dazu.« Ich möge Vertrauen haben. »Noch vor Sonnenuntergang wird Rosa zurück sein und bald darauf Simon Petrus in Freiheit.« Ich fragte damals, merkwürdig genug, nicht weiter. Stattdessen ging ich zurück, in mein eigenes Leben hinein, zwanzig Jahre zurück, als ich selbst die Kräuter nahm, als mein Körper mit dem einer Gazelle verglichen wurde und meine Augen mit denen einer Löwin. Doch meine Augen fraßen nicht, sie wurden gefressen. Mirjam aus Magdala, du hast einen Körper wie eine Gazelle. Mirjam aus Magdala, du hast Augen stolz wie die einer Löwin, und deinen Stolz werde ich, Agaton, dir brechen. -171-
Es war Zachäus, der mir, wir waren uns im Hafen begegnet, den Rat gegeben hatte, es in den Bädern zu versuchen. »Die Arbeit in den Bädern ist keine schmutzige Arbeit, bei der sich eine Knie und Ellbogen wund macht«, sagte er. »Du hast doch geschickte Hände, und was kann für eine unverheiratete Frau besser sein, als sich mit einem Stück Seife ihr Geld zu verdienen?« Zachäus lachte laut und roch dabei nach Bier und versuchte, nach meinen Brüsten zu greifen. Das war, Susa, ein Jahr, bevor er dir mit Gewalt sein Kind in den Bauch legte. Ich wusste, worauf ich mich einließ. Die Bäder von Tiberias waren als Stätte der Sünde bekannt, und den Kindern wurde verschwiegen, was die heißen Dämpfe, die über ihren Dächern in den Himmel stiegen, nein, zur Hölle fuhren, verbergen sollten. Ich ließ mich darauf ein, weil ich mich nicht kannte. Leicht verdientes Geld, dachte ich damals, wiege schwerer als die Leichtigkeit der Seele. Kaum einen Winter hielt ich durch, und dies auch nur, weil mir der Dampf der schwarzen Kräuter Abend für Abend die Sinne benebeln half. Ich wusch die Männer, die kamen, ich seifte sie ein, ich knetete ihr weißes Fleisch, ihre von Untätigkeit fett werdenden Bäuche, ich ließ sie gewähren, wenn sie meine Hände packten, roh oft, Griffe, die kein Auskommen zuließen, und mich zu sich hinunterzogen, wenn sie stöhnten und dabei den süßlichen Dämpfen der Bäder den Geruch von Bier beimengten. Ich hörte zu, wenn sie mir ihre Geschichten erzählten, Geschichten über ihre Heldentaten, Geschichten bärtiger Kinder, die mehr ihre Mütter vermissten als ihre Frauen. Eines Tages färbte ich mir die Haare gelb. Agaton, dessen Art es war, Bedingungen zu stellen, hatte mir dies zur Bedingung gemacht, wenn ich seine Frau werden wollte. Agaton, ein wenig kräftiger als die anderen, ein wenig größer, ein wenig mächtiger, suchte keine Mutter, er suchte eine Frau, und er hatte Silber. Hätte ich wissen können, dass er bereit war, die Frau, nicht aber das Silber zu teilen? »Färbe deine Haare nach der Art unserer Frauen, und ich nehme -172-
dich in mein Haus.« So heiratete ich den einen und wurde für alle anderen die Hure des Römers. Rosa heiratete sie alle und wurde zum Engel. Die Jungfrau den Soldaten, dem Galiläer die Freiheit, so lautete der Handel. Ananus und Rosa beschlossen ihn, während ich bei Sarah saß. Ananus, der Sohn des großen Ananus, damals ein Priester unter Priestern, Ananus, der von seinem Vater nichts mitbekommen hatte als die Gier nach Macht, der von den vielen Eigenschaften seines Vaters nur die schlechteste geerbt hatte: das sture Vertrauen in die Gewissheit, dass Geschenke mehr Vorteile brächten als Argumente. Eine Jungfrau also als Geschenk für die Soldaten, um die Saat der Zwietracht aufgehen zu lassen: Rosa für Simon. Ananus hatte mit Unbehagen gesehen, wie die Schlachtung des Jakob die Menschen in Caesarea einte. Spätbeschnittene wie Gottesfürchtige, Sadduzäer wie Pharisäer, Zeloten wie Essener, Gläubige wie Heiden, sie alle johlten und jubelten, als die Römer ihr grausames Spiel mit dem riesenhaften Galiläer trieben, Schulter an Schulter, Seite an Seite verbrüderten sie sich in seinem Blut. Sie hatten durch die Schmerzensschreie des Gefolterten den neuen gemeinsamen Feind gefunden. Uns. Auch Herodes Agrippa erkannte diese Entwicklung. Dank glücklicher Fügungen in Rom war ihm ein Reich erwachsen, das größer war als das seines Vaters. Durch Kraft und Einheit sollte es nun mächtiger werden als das seines Großvaters. Agrippa wollte ein Reich, in dem Griechen und Römer, Syrer und Juden zu seinem Ruhme nebeneinander lebten, die Einigkeit seiner Menschen waren die Räder, auf denen sein Land später aus der Versklavung Roms geführt werden sollte. Und nun tauchten wir auf. Eine neue jüdische Sekte. Agrippa hörte uns von dem einen Gott predigen, doch gleichzeitig hörte er, wie uns jene, die wie wir an diesen einen Gott glaubten, unter wütendem Geschrei aus ihren Synagogen vertrieben. Er sah -173-
unser Volk mit Ungeduld auf das Kommen des Messias warten, doch wenn wir verkündeten, dass der Messias bereits gekommen sei, wandten sie angewidert ihre Köpfe von uns ab. Juden waren wir und doch nicht Juden. Agrippa sah uns zwischen allen Stühlen sitzen. Der sorgsam geschürte Hass auf uns, so wird er sich gedacht haben, würde das Volk für viele Jahre einen. Einen nach dem anderen werde er hinrichten lassen. Gestern Jakob, den galiläischen Riesen, morgen Simon, den wortgewandten Sohn des Fischhändlers, übermorgen den Pharisäer, der vom Saul zum Paulus geworden war. Rom würde zusehen, ohne die Falle zu ahnen. Ananus dachte anders. Sein Ziel war nicht die Einigkeit des Volkes unter einem mächtigen Herodes, sein Ziel war der Sturz der ganzen Dynastie und aller Herodianer. Nicht ein Kettenhund Roms sollte die Söhne und Töchter Abrahams, Isaaks und Jakobs in die Ewigkeit führen, sondern einer der ihren. Einer wie er. Er. Und nicht die Einigkeit war der Weg dahin, sondern die Zwietracht. Simons Gefolgsleute würden sie säen und ihre flammenden Spuren durch das Land ziehen, auf der sich zuerst die Jüngsten und die Gelehrten, danach die Ältesten und die Priester und zuletzt schließlich Agrippa die Füße verbrennen würden. Dem Galiläer musste zur Flucht verholfen werden. Der neuen Sekte würde er den Anführer geben. Dem Volk seinen Spaltpilz, den Juden den Vorkrieg. Und den bestechlichen Soldaten als Geschenk eine Jungfrau für ihre kalten Betten. »Noch vor Sonnenuntergang wird Rosa zurück sein und bald darauf Simon Petrus in Freiheit.« Sarahs Worte klingen heute noch in meinen Ohren. In Philippus’ Haus saß ich neben ihr. Über uns die Last der bevorstehenden Ereignisse, die Kräuter vor mir in ein Säckchen gefüllt, jetzt unbeachtet auf dem Boden, zwischen uns nur Schweigen. Kaum zwei Stunden vergingen, da hörte ich Rosas Schritte von -174-
der Gasse her klingen. Ich heftete meinen Blick an die Eingangstür, durch die sie jeden Moment treten würde. Ich hatte Angst. Ich fürchtete, eine andere Rosa, eine Verratene, eine Geschlagene, eine Geschändete zu sehen zu bekommen. Schon im nächsten Augenblick könnten, so dachte ich, all unsere Pläne besiegelt sein. Doch Rosa trat in die Tür, sie lächelte, und nichts an ihr schien anders als sonst. »Hast du dir Sorgen gemacht?«, fragte sie. Sie hoffe, ich hätte mir keine Sorgen gemacht. Hier sei sie, mit guten Nachrichten und bereit für alles, was kommen möge. Rosa hielt nun ein in ihrer Rede, plötzlich, ein Loch zwischen den Worten, in das jäh mein Vertrauen fiel. Etwas stimmte nicht. Hätte ich denn wissen können, in welche n Handel das Kind eben eingestiegen war? Doch, ich hätte es wissen können, wenn ich gewollt hätte. Wir hätten alle wissen können, wenn wir zu wissen versucht hätten. Wir haben es nicht versucht, das macht uns schuldig. »Wo bist du gewesen?« Sie sei, antwortete Rosa schnell, zu eben jenen gebracht worden, auf welche wir den ganzen Tag über vergeblich gewartet hätten, jenen, die den Plan zur Befreiung des Simon in ihren Köpfen trügen. Sie sei, kaum dass ich auf den Treppen zu Kornelius’ Haus eingeschlafen war, angesprochen worden. Mit ihrem Namen, als Rosa, Tochter des Jakobus, als jene, mit deren Einsatz das Unternehmen stehen oder fallen würde. »Stell dir vor«, sagte sie, »sie nennen uns die Befreierinnen.« Sie sei aufgefordert worden, sofort mit ihnen zu ge hen, allein, um nicht aufzufallen. »Also bin ich mit ihnen gegangen.« Etwas stimmte nicht, das fühlte ich, wenigstens das. War da nicht dieser kurze Blick, den sie mit Sarah tauschte? Ich würde, das spürte ich, die Wahrheit in den Worten Rosas nicht finden, es musste einen guten Grund für sie geben, mir etwas vorzuenthalten. Ich wusste nicht, aus welchem Grund sie log, und nicht, mit welchem Ziel, doch ich ahnte, dass ich die Anhaltspunkte für das, was vorgefallen war, in den Zeichen, die -175-
ihr Gesicht senden würde, suchen musste, in jenen kleinen unbedachten Regungen der Züge, die den verraten, der seine Gedanken versteckt, während er vorgibt, sie offen zu legen: das leichte Zucken auf der Wange, das schnelle Niederschlagen der Lider, die Färbung des Halses. Ein Griff an die Nase, einer hinter das Ohr. »Setz dich, Kind!«, sagte jetzt Sarah und fügte schnell hinzu: »Ich habe Mirjam schon erzählt, dass du auch zu den Priestern gerufen wurdest.« Wieder dieser Blick, der das Schweigen zwischen zwei Menschen beredt macht, die ein Geheimnis teilen. Ja, sagte Rosa schnell, die Priester hätten sie wohl prüfen wollen, doch, und dies die zweite gute Nachricht, es sei ihr gelungen, sie zu täuschen, sie von ihrer Rechtschaffenheit zu überzeugen. Um Einkäufe zu tätigen, Stoffe, Gewürze, fremde Früchte, Salz, sei sie für zwei Tage mit ihrer Tante in die Weiße Stadt gekommen. »Und das hat den Priestern gereicht?« »Das hat ihnen gereicht.« Und wer genau, fragte ich jetzt, habe sie vor Kornelius’ Haus geholt, etwa Philippus selbst? Nein, nicht Philippus, sagte Rosa und begann, ich sah es wohl, mit den Gedanken zu kämpfen, sah ihre Hand in einer schnellen Bewegung hinter das Ohr fahren, die Handbewegung, die alle folgenden Worte als unwahr verriet: Ein Alter sei es gewesen, dessen Namen sie vergessen habe. Dieser Alte und zwei andere aus unserem Kreis, sagte sie, um die Aussage durch mehr Worte glaubhafter zu machen. Ich wusste, dass sie log. Doch wie der Faden der Seidenraupe stets an zwei Blättern hängen muss, um zu halten, so hä ngt auch jede Lüge, das hatte ich in vielen Jahren gelernt, an zwei Menschen: Einer lügt, ein anderer wird belogen. »Aber dieser Alte«, beharrte ich, »der hat dich doch, wenn er einer von uns ist, nicht an die Priester ausgeliefert?« »Nein, dieser nicht und auch nicht ausgeliefert.« Der Händler sei es gewesen, der junge äthiopische Händler, der sie -176-
anschließend zu den Priestern geführt habe, auch er sei dabei gewesen, habe sie das nicht erwähnt? Rosa schwieg nun, senkte den Blick vor mir, kniete sich vor Sarah auf den Boden, nein, ging vor ihr auf den Boden, fiel in sich zusammen wie ein nur halb mit Korn gefüllter Sack, den man vom Dachboden auf die Bretter der Küche fallen lässt. Dreifach musste die Scham gewesen sein, die sich in Rosa breit zu machen bega nn. Jene zunächst, ohne mein Wissen mit dem feindlichen Priester in Verhandlung getreten zu sein. Zudem jene, mich zu belügen. Die größte Scham aber empfand Rosa über sich selbst. Sie hatte zugestimmt, sich den Soldaten, die Simons Flucht ermöglichen würden, fortan als Frau zur Verfügung zu stellen, solange diese ihre Dienste wollten. Die Jungfrau den Soldaten, dem Galiläer die Freiheit, so lautete der Handel. Ananus und Rosa hatten ihn geschlossen, während ich bei Sarah saß und sprachlos war. Simon selbst hatte keine Ahnung. Ich schwieg, als ich nach und nach die volle Wahrheit zu begreifen begann. Ich schwieg, Susa, vor dir, und ich schwieg vor Jakobus. Ich tat es aus Scham, aber ich tat es auch aus einem zweiten Grund: Es gab jemanden in Caesarea, der bei dem Handel, als Dritter im Bunde, neben Ananus gesessen war, jener, der den Handel eingefädelt hatte. Jener, der keinen Namen hatte und kein Gesicht. Jener, der sprach und sprachlos war zugleich. Ich wollte zuerst herausfinden, wer er war. Rosa hatte ihn sofort erkannt, es war der Junge, mit dem sie hinter dem Palast des Caesaren in Streit geraten war, jener Junge von dunkler Hautfarbe, der schön war wie ein vom Himmel gefallener Engel. Der Junge, erzählte Rosa später, habe sie unter den Pinien unweit von Kornelius’ Haus durch eine sanfte Berührung seiner Lippen auf ihrer Wange aus dem Schlaf geweckt. So süß der Klang der Worte, die er dieser Zärtlichkeit folgen ließ, so hart war ihr Inhalt: Er wisse, flüsterte der Junge, -177-
nein, er sang es mehr, als dass er es sprach, er wisse, dass wir zu der neuen Sekte gehörten und dass wir gekommen seien, einen der unseren seiner gerechten Strafe zu entziehen. Entweder sie folge ihm nun und tue, was er ihr sage, was allen zum Vorteil gereichen werde, vor allem dem Gefangenen selbst, oder aber er rufe die Männer des Herodes, um sie und mich, ihre Begleiterin, ins Haus der Bewachung zu bringen, sie habe die Wahl. Er habe sie wählen lassen und danach kein Wort mehr gesprochen. Stumm sei er von da an gewesen, und stumm blieb er, wenn man das Wort an ihn richtete. Er habe, erzählte mir Rosa Jahre später, statt zu reden… Ich ergänzte ihre Worte: »… gezeichnet?« »Woher weißt du das?«, fragte Rosa erstaunt zurück. Rosa. Voll Mitleid sehe ich ihren Hilfe suchenden Blick von Sarah abprallen, voll Mitleid sehe ich sie erschöpft auf den Boden sinken, das Kind, das sich die Schuld der Welt auf seine schmalen Schultern geladen hat. Voll Mitleid bin ich, denn ich bin ihr Vater. Ich, Jakobus, im Krebsgang dabei, die Zeitspur zurückkrieche nd, die Scheren nach vorn gerichtet, dem Tod davon und gleichzeitig entgegen. Ich, heute in Jerusalem und gleichzeitig überall dabei, durch jene Räume getrennt, die wir Zeiten nennen, wieso verstehe ich jetzt erst, was damals geschah? Zu wem spreche ich? Wer hört mir zu, mir altem Mann, in den letzten Stunden vor meinem Tod? Jesus, hörst du mir zu, Bruder, später geboren und doch mir immer voran, selbst im Sterben? Wenn du es bist, der mir zuhört, dem Greis neben Susa und gleichzeitig dem Kind in jener Stub e, in der du der Menschensohn zu werden begannst, die Augen zusammengekniffen, den Blick scharf gestellt auf das Kreuz, vom ersten Tag an, wenn du mich hörst, dann lass dir eine Frage gefallen: Wessen Wille ist es, der geschieht? Die Steine zeigten mir Rosa, kaum sechzehn Jahre alt, wie sie vor Sarah und Mirjam am Boden sitzt und kaum Worte findet. -178-
Alles sei vorbereitet, quält sie sich heraus, lügt sie, indem sie die volle Wahrheit verschweigt. Alles sei geplant, heute Nacht noch werde die Flucht des Kefas gelingen, darauf ihr Wort, mehr dürfe sie nicht verraten, nicht jetzt. Sie greift zu dem Säckchen neben sich auf dem Boden, nimmt es zwischen die Finger, streicht darüber, tastet nach seinem Inhalt. »Sind das die schwarzen Kräuter, von denen du, Mirjam, gesprochen hast?« »Ja, das sind sie, Sarah hat sie uns gegeben«, sagt Mirjam. Voll Mitleid sehe ich das Kind nach Worten ringen, dann wieder der halben Lüge den Vorzug geben. »Das ist gut. Die Wächter werden betäubt werden müssen.« Ich sehe das Kind mit zitternden Händen das Säckchen aufnehmen und neben sich legen. Fünf Jahre behielten die syrischen Söldner in den Eisen der Römer die Jungfrau, einer gab sie an den anderen weiter und der wieder an einen anderen. Fünf Jahre dafür, dass zwei von ihnen für fünf Minuten wegsahen, als ihr Gefangener in die unterirdischen Gänge stieg. Was für ein Handel! Fünf Jahre verbrachte das Kind in den Zelten der Schweine, ehe sie der Stumme fand und zum Abrahamsfelsen fuhr. Wessen Wille ist es, der da geschieht? Dich, Bruder, hatte Samaria damals ziehen lassen, jetzt rächte es sich. Dir, Bruder, galt die Rache, doch das Kind deiner Schwester traf sie. So wie du es bist, dem in Wahrheit mein Tod gilt. Jakob war Caesareas erstes Opfer in deinem Namen, ihm haben seine Männer, nachdem er sich schon ergeben hatte, Arme und Kopf vom Rumpf getrennt, ehe sie den Marmor mit seinem Blut wuschen. Rosa rissen sie die Seele heraus und das bei lebendigem Leib, denn sie hatte die betäubenden Kräuter in Philippus’ Haus vergessen. Wessen Wille ist es, der da geschieht? Und wieder öffnet sich mir ein Raum zu einer Zeit. Neben mir liegt Saul auf dem Rücken. Ich habe seine kleine, krumme Gestalt, den kahlen Kopf, die vorspringende Nase im Mondlicht -179-
erkannt. Er atmet. Das Meer hat uns rechtzeitig an Land gespült. Seine Hände umklammern ein Leinensäckchen, halb geöffnet. Ich sehe Steine darin, schwarze, glatte Steine, handtellergroß, Steine oder Kräuter, ich kann es nicht entscheiden, für mich haben sich die Unterschiede aufgelöst. Rosa hatte Sarahs Geschenk damals vergessen, unbeachtet blieb das Säckchen, das ihr fünf mal dreihundertundsechzig Tage Erleichterung hätte bringen sollen, in Philippus’ Haus zurück. Fünf mal dreihundertundsechzig getrocknete Blüten und keine mehr, denn Mirjam hatte in einem unbemerkten Moment jene zehn an sich genommen, deren Bestimmung sie erkannt zu haben glaubte. Weiß sie heute, dass sie sich irrte, als sie dem Agrippa durch diese Kräuter den Tod schickte? Nicht der Herodes, Ananus hätte das Opfer der Rache sein sollen. Doch Mirjam verkannte die Zeichen. Als Sarah erfuhr, dass Agrippa der Todesvogel über dem Kopf erschienen war, war es zu spät. Die Krankheit, in die Kräuter gelegt durch die Priesterin, überbracht und verabreicht durch Mirjam, hatte sich in die Eingeweide des Herodes gefressen. In die Eingeweide des falschen Mannes. Ananus blieb am Leben. Musste Ananus denn überleben, um mir jetzt den Tod bringen zu können? Wessen Wille, Bruder, frage ich dich, ist es, der da geschieht? Der Geruch, der von diesen Steinen ausströmt, wohl freigesetzt vom Salz des Meeres, benebelt meine Sinne, mischt sich im Schein des Mondes mit anderen Gerüchen. Wieso bin ich an der Seite Sauls? Wie merkwürdig doch, den Mann, dessen Talent die flammende Rede ist, triefend nass am steinigen Boden zu sehen, dem Ertrinken knapp entronnen, ein Häufchen durchnässte Haut und Knochen, dieser wollte der Welt das Feuer Gottes bringen? In Caesarea bist du an Bord gegangen, Saul, als einer von zweihundert und sechsundsiebzig Männern, doch einer, und das -180-
zählte, von sieben Gefangenen. Mehr als zwei Jahre lang hat dich der Statthalter in jenen Wänden schmoren lassen, denen Simon nach zwei Wochen entkommen ist, dann brachten sie dich auf das Schiff, damit Nero, der Schlächter, in Rom das Todesurteil über dich sprechen möge. Ich hatte dich gewarnt, Saul, wir alle hatten dich gewarnt. Bleib, wo du bist, das ließen wir dich wissen, nicht nur ein Mal und nicht ohne Grund. Wir schickten dir Papyrus, wir schickten dir Boten, wir schickten dir unsere Gebete. Du mögest verkünden, was immer du verkünden wollest, du mögest predigen, wo immer du Zuhörer finden könnest, von Galatien über Philippi bis nach Ephesus, du mögest in deine Herde aufnehmen, wen immer du wollest, auch wenn du ein Hirt geworden warst, der nicht mehr zwischen Schafen und Schweinen unterschied. Bleib, wo du bist, Saul, das sagten wir dir, als Freunde dem Freund, geh, wohin immer du willst, doch komm nicht nach Jerusalem! Die Stadt ist zu dürr geworden für das Feuer deiner Worte. Es nähme uns, einmal entzündet, alle mit in den Tod. Doch du kamst. Du kamst zum Wochenfest. Du hattest Geld für unsere Gemeinde dabei. Wie gering war doch sein Nutzen im Vergleich zu dem Schaden, den du anrichtetest. Du stürmtest, kaum warst du hier an Land gegangen, in den Tempel, um damit zu prahlen, polternd, wie es deine Art war, wie vielen tausenden und abertausenden Menschen, Juden wie Heiden, du erfolgreich Jesus Wort verkündet habest. Wozu sollte das gut sein? Auch bei den Geduldigsten von uns erntetest du dafür nur stillen Groll. Du marschiertest, soviel erfuhren wir später, kaum warst du in Caesarea von Bord gegangen, geradewegs in Philippus’ Haus. Dort muss man dir die Kräuter überlassen haben, jene Kräuter, die Rosa helfen hätten sollen, ihr Schicksal leichter zu ertragen. Du habest Philippus, erzählte man später, mit den Schilderungen deiner Taten beeindruckt. Du habest mehr Mühsal ertragen als andere, seiest öfter in den Häusern der Wächter gesessen, öfter -181-
geschlagen worden und öfter dem Tod nahe gewesen. Fünfmal sollst du neununddreißig Hiebe erhalten haben, dreimal ausgepeitscht worden sein und einmal gesteinigt. Und dreimal Schiffbruch erlitten haben, eine Nacht und einen Tag seist du auf See getrieben. Sarah bezeugte später, diese Worte aus deinem Mund gehört zu haben. Logst du? Oder hast du dein Schicksal, das dich später vor Malta, der Honiginsel, ereilte, vorausgesehen? Dein Schicksal, das ich im Krebsgang mit meinem verknüpfe, das uns jetzt verbindet, nebeneinander auf dem kahlen Stein, nass noch im Licht der aufgehenden Sonne, gemeinsam in der Nähe des Todes. Der Sturm. Nachdem sich das Wasser wieder beruhigt hatte, sind wir auf den Brettern des geborstenen Schiffs eine Nacht und einen Tag im Meer getrieben. Wie zum Trocknen ausgelegte Fische lagen wir auf den Planken, bis uns die Sinne schwanden. Kornelius war wohl ertrunken, so dachte ich. Der Schiffer habe ihn lange gegen die hereinbrechenden Wellen ankämpfen sehen, hieß es, dann habe er ihn von einem Augenblick zum nächsten aus den Augen verloren. Ich hätte darauf vertrauen müssen, dass Männer wie Kornelius nicht untergehen. Alle, die den Sturm überlebt hatten, lagen in die treibenden Bretter gedrückt. Kopf über Kopf, damit sie abwechselnd die Sonne nicht sehen mussten, die ihr weißes Tuch über uns gebreitet hatte, um uns damit zu ersticken. »Der Zenturio ist ertrunken«, hieß es. Ich vermochte kaum, meine Hand an die Augen zu führen, um die Tränen abzuwischen, die ich kommen spürte. Auch das ein Trug: Wir hatten das Wasser nicht mehr, um weinen zu können. Er hat dir das Leben gerettet, weißt du das? Er ist deinetwegen an Bord gegangen, weißt du das, Saul? Er wollte dir in Rom zur Seite stehen. Er würde vor dem Kaiser für dich aussagen, er, -182-
getauft durch Simon, vom Heiden zum Juden geworden im Namen Jesu. Man hatte dich also verhaftet. Nachdem du tausend um tausend Meilen gereist bist, hat dich ein Schritt zu viel nun zu Fall gebracht. Wir haben dich gewarnt. Komm nicht nach Jerusalem. Doch du musstest kommen. Warum? Stiftung von Aufruhr nannten sie es, als sie dich durch Verrat – aus dem Tempel holten, um dir die Ketten anzulegen, den Vorwurf der Tempelentweihung legten sie öffentlich noch dazu, um den Menschen Jerusalems den wahren Grund deiner Verhaftung zu verbergen: die Angst vor dem Feuer deiner Worte, die Angst, die auch unsere war. Inzwischen steigt über dem Land die Sonne auf. Heiß und gierig saugt sie das Wasser auf, mit dem wir seinen Boden benetzt haben. Ich sehe dich in vorsichtigen Zuckungen ins Leben zurückkehren, doch ich sehe auch den Todesengel, der sich nicht geschlagen geben will: Die Sonne hat dir die Viper auf die Spur gesetzt. Du siehst sie nicht, Saul, wie sie, kaum fünf Schritte entfernt, lauert, dir an die Hand zu fahren. Ich sehe sie kriechen und schweige. Dein Tod muss vor dem meinen sein, das spüre ich. Erst wenn die letzte Glut jenes Feuers erkaltet sein wird, das du uns in die Stadt gesetzt hast, erst wenn der Wind die letzten Rauchschwaden vertrieben haben wird, wird einer das Wasser der Erkenntnis bringen können. Es gibt ein Land, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt. Der Wind lässt sie zu Boden regnen, wenn sein mächtiges Kleid die Zweige streift. Manchen berührt dabei der Tod. Mancher schließt für immer die Augen. Doch dann ergießt sich süßes Wasser über sein Haar, und sein Leben steht in einem neuen Kreis.
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Damals. Jerusalem weit hinter uns, Mutter auf dem Rücken des alten Jabo. »Ist das nicht der Stumme?« »Ja, das ist der Stumme.« Die Tage, da Elisabeth Marias Kind genommen hatte. Deswegen waren wir bei ihr gewesen. Doch das wusste ich nicht auf dem Weg zurück nach Nazareth, die Sonne vor mir, über mir. Damals noch in mir? »Hast du je begriffen, Bruder«, höre ich Susa sprechen, »dass Mutter damals in dem Stummen das letzte Mal ihrem Mann begegnet ist?« »Vater?«, frage ich. Ob ich denn Mutters Blick nicht gesehen habe, als uns der Stumme eingeholt hat. Es sei jener Blick gewesen, mit dem sie ihr Leben lang nur Vater beschenkt hat. »Es war der Blick der Liebenden«, sagt Susa. Doch, diesen Blick habe ich gesehen. Und ich sehe ihn noch. Sehe mich meinen Blick an den Blick meiner Mutter heften, sehe mich zu Jesu Augen geführt, sehe diese – wie selten bei meinem Bruder! – weit aufgerissen, sie verströmen eine Traurigkeit, die mich atemlos macht. Ich folge Jesu Blick zurück zu Mutter, die ihn trinkt, als wäre er Wasser, und sehe dann damit den Boden benetzt zu beider Füßen. Mir war, als färbte er sich rot. Nein, Susa, höre ich mich sagen, nicht dem Stummen hat damals Mutters Blick gegolten. Weder dem Fremden in ihm, der in ihr Leben getreten war, noch dem Ehemann in ihm, mit dem sie ihren Weg gekreuzt hatte, um für immer von ihm getrennt zu bleiben. Nein, Susa, so wie du nicht in den Docht schaust, um zu prüfen, ob das Licht der Kerze deinen Raum erhellt, sondern in den Raum selbst, so sah Mutter da in Jesu Augen. In seinem Blick lag Gottes Licht. Wortlos steht ihr euch gegenüber, Ewigkeiten lang. Du, -184-
Mutter, die du dich vom Rücken des Tieres hast gleiten lassen und dem Stummen nun ebenso stumm gegenüberstehst, du senkst den Blick. Der Stumme sieht an dir vorbei, zu ihm, dem Bruder. Ich sehe die Zeichnung, die der Stumme Mutter reicht. Oder ist es ein schwarzes Kraut? Oder ein Stein, glatt, mit dem Aussehen einer Muschel? Es macht keinen Unterschied. Ich erkenne die Wassernüsse meiner Träume, die von Bäumen regnen, darunter uns, im Licht der Sonne, mich, mit geschlossenen Augen, triefend von Wasser und gleichzeitig von Blut. Du, Susa, daneben, Rosa am Arm, in einem Kleid aus warmem, gelben Licht. Ich erkenne Simon, verkehrt auf dem Kreuz, Saul, der mit feurigem Atem den Kopf der Viper spaltet, ich erkenne Mutter zu Füßen des hängenden Bruders und die beiden Männer neben Jesus an ihren Pfählen. Jesus zur Rechten hängt der stumme Händler, seine Haare sind zu einem Zopf geflochten, die Augen schräg gestellt, flach die Nase wie jene des Rochens, fast knabenhaft sein Körper. Jesus zur Linken ein junger Mann. Die Schönheit seiner Züge ist von der Angst vor dem Tod überschattet. Sie haben sein Hab und Gut unter dem Pfahl vor ihm ausgebreitet, sie werden darum würfeln. Ich erkenne die schwarzen, mannshohen Töpfe. »Der Äthiopier?«, fragte Mirjam überrascht, »der war dabei, als dich unsere Freunde holten, während ich auf den Stufen zu Kornelius’ Haus eingeschlafen bin?« »Ja«, sagte Rosa, den Fuß mit jedem Schritt schneller vor den anderen setzend, unsicher im Halbdunkel der Nacht Caesareas, doch getrieben von dem Plan, in den nächsten Stunden Simon zu befreien. Eben war der Tempel des Caesaren als schwarze Silhouette im fahlen Schein des Mondes vo r ihr aufgetaucht. Der äthiopische Händler hatte ihr den Weg genau beschrieben, auf welchem sie ungesehen und ungefragt in das römische Gefängnis gelangen würden. »Hat er uns also vom Marktplatz weg verfolgt?«, fragte -185-
Mirjam. »Ja«, sagte Rosa. »Ich schlug die Augen auf, und er stand über mir, er lächelte.« Hat sie, fragte sie sich im Stillen, ihre Augen nicht nur aufgeschlagen, weil sie seine Lippen auf ihrer Wange gespürt hatte? Hundertfach waren die Windungen des Weges, hundertmal tauchten steinerne Stiegen aus dem Dunkel, die sie nehmen mussten, einmal hinauf, einmal hinunter. Rosa hörte Mirjams schnellen Atem, hörte sie bei dem Versuch, mit dem Schritt der Jüngeren mitzuhalten. Ja, sie hatte seine Lippen auf den ihren gespürt. Oder war es ihre Wange gewesen, nur ihre Wange, oder waren es nur seine Finger? Er hatte gelächelt. Sie sei eine von Jesu Jüngern, das waren seine ersten Worte gewesen. »Ihr gehört zu den Anhängern des Nazareners.« Rosa fuhr jäh hoch. Die Pinien mussten der Sonne ihre langen Schatten zurückgegeben haben, denn Rosa sah sich und den Jungen in gleißendes Licht getaucht. Der Junge hatte sie erschreckt, doch sie erkannte ihn nun als jenen Händler wieder, der vor dem Palast des Caesaren über Simons Taufe gesprochen hatte. Was tat er hier? Sie vermochte nichts zu erwidern. Wo war Mirjam? War Mirjam eingeschlafen? Rosa saß, den Oberkörper auf die zurückgestreckten Arme gestützt, die Beine lang, auf dem Boden und rührte sich nicht. »Ich weiß, dass du den befreien willst, den ihr den Felsen ne nnt«, sagte der Junge. »Du hast zwei Möglichkeiten: Du tust, was ich dir sage, oder ich rufe die Soldaten.« Ich tue, was du sagst, dachte Rosa. »Und was soll ich tun?« »Du kommst mit mir ins Haus der Priester.« Ich werde mit ihm gehen. »Was sollte ich dort?«, fragte sie. »Der Priester Ananus, der Sohn des Hohepriesters Ananus, wird dir einen Handel vorschlagen.« »Mir? Einen Handel? Ein Priester?« -186-
»Der Handel wird ein Opfer von dir erfordern, doch er wird den, den ihr befreien wollt, in Sicherheit bringen.« »Ein Opfer?«, fragte sie. Da griff der Junge nach ihrer Hand, zog diese mit einem schnellen Ruck vom Boden, so dass Rosa nach hinten fiel. Schon war er über ihr. Mit der einen Hand hielt er sie, die ihre Arme unter seinem Gewicht nicht bewegen konnte, am Kinn, die zweite steckte er ihr in den Mund. Finger für Finger, gegen den Widerstand der Zähne, der Zunge, der zuckenden Wangen, der starr geöffneten Augen. Alle Finger seiner Hand, bis auf den Daumen, mit dem streichelte er ihre Nase. Er lächelte. Seine Zähne waren weiß wie der Marmor Caesareas, sein Atem roch. Sie legte ihre Beine übereinander. »Du bist noch nie bei einem Mann gelegen.« Nein. Rosa schüttelte langsam den Kopf. Noch nie. Warum hat sie dem Jungen geantwortet? Als ihr Ananus wenig später die Frage stellte, sei sie wie gelähmt gewesen, vor Ekel mehr als vor Schreck. »Er muss den Ekel in meinem Gesicht bemerkt haben, Vater.« Sie möge sich nicht fürchten, habe der Priester schnell hinzugefügt, er wolle nichts von ihr. Nicht er. Er nicht und auch der Junge nicht. Nichts. Oder nur alles? Die Soldaten. Ich weiß. Vier Männer, zu Beginn vier, dann mehr. Dann alle. Jede Woche warst du bei einem anderen, in mancher Nacht hattest du sie alle zusammen. Sie hatten ihren Spaß mit dir, dem halben Kind, du wehrtest dich gegen nichts. Du bliebst bei Tag in jenem Haus, in dem du gerade die Nacht verbracht hattest. Du wuschest ihnen die Böden, du bereitetest ihnen die Mahlzeiten. Du dachtest, eines Tages würden sie um dich zu streiten beginnen, doch sie taten es nicht, du warst ihnen nicht wichtig genug. Warum hast du die Kräuter nicht genommen? Sie hätten dir dein Los erträglich gemacht, hattest du wirklich auf sie vergessen? Du hast bezahlt. Jetzt willst du es dir von der Seele sprechen, -187-
hier vor mir im Fieber, ich wische dir die heiße Stirn, doch ich bin kaum fähig zuzuhören, kaum fähig, die Wahrheit zu ertragen, ich bin dein Vater, ich bin schuldig. Bin ich schuldig? »Schreib!«, sagst du, »schreib auf, jedes Wort!« Ja, sage ich dem fiebernden Kind, das ich eben erst zurückgewonnen habe, und ich setze mich an deinen Kopf und halte das Pergament in der einen, den Pinsel in der anderen Hand. Doch ich lüge. Keines deiner Worte schreibe ich nieder. Nein, nicht er wollte etwas von ihr. Sie hatte, als sie den Sinn der Worte Ananus’ endlich zu begreifen begann, all ihre Kraft zusammennehmen müssen, um den Blicken des Jungen auszuweichen. Der saß still neben dem Priester. Er hatte seit dem Moment, da sie sich unter den Pinien vom Boden erhoben hatten, um den Weg Richtung Hafen einzuschlagen, kein einziges Wort mehr an sie gerichtet. Nachdem sich ihnen die Tür zu Ananus’ Räumen geöffnet hatte, fragte der Priester, sie waren kaum zur Tür hinein, mit lauter Stimme nach ihrem Namen. Da zog der Junge ein Stück Papyrus aus dem Tuch und hielt es dem Mann entgegen. »Warum sprichst du meinen Namen nicht?«, entfuhr es ihr. Doch statt des Jungen antwortete der Priester: »Er ist stumm. Weißt du das denn nicht?« Scham. Jetzt jene vor allem, Mirjam belogen zu haben, ja, sie immer noch zu belügen. Jeden Moment würden sie an dem bezeichneten Einstieg in die unteren Gänge sein, dort, wo Mirjam auf die Flüchtenden warten müsse, um sie, wie besprochen, sogleich hinunter an den Hafen zu führen. Dort würde Rachel das Boot für Simon bereithalten. »Und die Wächter werden schlafen?«, fragte Mirjam. »Sie werden.« »Und du kennst die Tore, durch die ihr müsst, um in die Gänge zu gelangen?« »Ich kenne sie.« -188-
Simon, Susa, ich schwöre es dir als deine Freundin, hat von nichts gewusst. Ein Engel, wird er gedacht haben, ist geschickt worden, ihn zu befreien, als Rosa plötzlich vor ihm in den kalten Mauern stand. Gott selbst, muss er gedacht haben, ist in der Gestalt eines Engels gekommen, um die beiden Wächter vor dem Eisentor mit Blindheit zu schlagen, hat die beiden anderen dazu gebracht, sich von ihm loszuketten und das Weite zu suchen. Alles kam, wie Ananus es geplant hatte. Das Feuer, das er legen ließ, ermöglichte Simon die Flucht. Rosa lief, um den Schein zu wahren, einige Zeit lang mit, genau so lange, bis die Stelle erreicht war, an welcher ich auf sie warten sollte. Dann, irgendwann, muss sie, als sie uns links hätte folgen sollen, nach rechts abgebogen sein. Dort sackte sie in sich zusammen. Als man sie fand, lag sie in Rauch gehüllt und nur wie durch ein Wunder noch am Leben. Das Feuer muss über sie hinweggerast sein. Ich jedoch sah sie in diesen Tagen brennen. Wir hatten Simon sicher zu seinem rettenden Boot gebracht, doch Rosa blieb fort, fort bis zuletzt, als ich die Stadt wieder verließ. Keine Nacht damals, in der ich das Kind nicht brennen hätte sehen. Von innen nach außen fraßen sich die Flammen durch ihren Körper. Keiner mehr da, um die Feuer speiende Schlange zu köpfen, die sich in jener Nacht in Rosas Geschlecht gegraben hatte und mit jedem Atemzug, den sie von nun an tat, neue Nahrung bekommen würde. Über dem Land, an das mich das Meer gespült hat, ist die Sonne aufgestiegen. Heiß und gierig saugt sie das Wasser auf, mit dem wir seinen Boden benetzt haben. Ich sehe Saul in vorsichtigen Zuckungen ins Leben zurückkehren, doch ich sehe auch den Todesengel, der sich nicht geschlagen geben will: Die Sonne hat dir, Saul, die Viper auf die Spur gesetzt. Ich sehe sie kriechen und schweige. -189-
Schon sind die ersten Melitaner auf unser Häufchen zugetreten, beginnen in einer seltsamen Sprache mit einigen von uns zu sprechen. Auch du erhebst dich nun, schüttelst den feuchten Sand aus deinem Mantel. Was lässt dich ihnen ausweichen? Was führt dich zwischen die Felsen, geradewegs der Viper entgegen? Das Leinensäckchen mit deinen Steinen hast du an dich genommen, das habe ich gesehen, oder waren es Kräuter? Du greifst, um dich beim Klettern abzustützen, mit den Händen auf den Boden, da schnellt die Viper vor, verbeißt sich in deiner Hand, die du jäh zurückziehst. Zwei, drei Aufschreie des Entsetzens höre ich hinter mir. Du schüttelst, während andere auf dich zulaufen, die Schlange ab, in weitem Bogen fliegt sie in den Himmel. Wo wird sie zu Boden fallen? Keiner sieht die Stelle, wir suchen nach dem Tier, wir finden es nicht, als hätte es sich in der Hitze aufgelöst, die über das steinige Land gelegt ist. Wir finden auch deine Steine nicht mehr. Du musst sie, als du die Schlange abgeschüttelt hast, in alle Winde verstreut haben.
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In der Stunde des Todes (II)
Die Steinigung des Jakobus. Wie sich Zachäus, als Jakobus zu Boden geht, zu diesem legt und wie sich die Steine in Wassernüsse verwandeln. Kein Zurück. Diesmal das Ende. Jetzt. Nein, habe ich ihnen gesagt, ich gestehe nicht. Und: ich bereue nicht. Ich habe, als ich sprach, an meinem Blut gewürgt, ich habe die Worte kaum herausgebracht. Wozu soll das Gestehen gut sein? Ananus geht es um das Auslöschen, aus welchem er neu entstehen will. Inzwischen wird er wohl erkannt haben, dass ich ihn mit meiner Suche nach Rosa getäuscht habe. Mein Tod ist mir sicher. »Nein, ich gestehe nicht.« Da bekam ich einen Stoß in den Rücken. »Sprich lauter, damit dich die Leute hören können.« – »Ich habe die Gesetze Moses’ nicht verraten«, wiederholte ich, lauter diesmal, wie ich dachte. Doch ich musste wohl vergebens versucht haben, die Übelkeit in meinem Munde fortzuwürgen, die Worte genügten ihnen nicht, die ich mir entriss. Winseln wollen sie den Köter sehen, im Staub. Zwei kurze, feste Stöße, von hinten gegen meine Kniekehlen gefü hrt, und ich war am Boden. Einer der Tempelwächter, die in meinem Rücken darauf warteten, auf die Seite kommandiert zu werden, um mich so der Meute zu überlassen, musste mit dem Holz der Waffe zugeschlagen haben, das Metall hätte mir die Knie durchstoßen. Ich hörte das Johlen der Menschen. »Stirb!«, hörte ich sie schreien, auch die Kinder. Kinder, wie ich einst eines war, oder nein: wie ich nie eines gewesen bin. »Stirb«, hörte ich die einen rufen und -191-
»Verräter« die anderen. Eine Frau rief, das Kreuz wäre die gerechte Strafe für mich, der ich mich anmaßend »der Gerechte« nennen ließe, nicht der Stein. Glaubte sie denn wirklich, ich ließe mich so nennen? Ich anmaßend? Ich, der ich ein Leben lang darunter gelitten habe, nicht zu sein, was ich sein wollte. Was wollte ich sein? Sohn meiner Mutter, Sohn meines Vaters. Du, Bruder, hast sie mir weggenommen. Ja, mehr noch: Dir genügte es nicht, der Sohn deiner Eltern zu sein, dir gefiel es, Gott Vater zu nennen. Und selbst Vater wurdest du, obwohl du die Frau für das eigene Haus nicht fandest. Du wurdest im Handumdrehen der Vater für unser ganzes Volk. König der Juden. Deine Mörder haben dir diese Worte, hieß es, über den Kopf genagelt. Die Krone der Macht, hieß es, schlugst du aus, die man dir aufsetzen wollte. Mirjam hat erzählt, du habest auf dem Esel bestanden, obwohl sie dir für die Zeit des Pessachfestes ein Reitpferd angeboten hatten. Wem sich Gott auf dem Esel nicht erkennbar machen könne, dem braucht er sich auch zu Pferd nicht zeigen, sollst du gesagt haben. In diesen Worten oder ähnlichen, nicht einmal Mirjam vermochte sich ihrer genau zu entsinnen. Ich habe mir nur eines gemerkt. Du, der Gott. Wie denn, wenn nicht falsch, hätten sie dich begreifen sollen? Jesus, ich habe es nicht bereut, deinem Tod ferngeblieben zu sein, damals. Als du hingst, hieß es, seist du schwächer gewesen als die Schwächsten. Du habest geweint, als sie dir den Akanthus in die Stirn drückten. Du habest geschrien vor Schmerzen, schon als sie dich peitschten, den benebelnden Sauerwein hast du erbrochen. Ich hätte dich in dieser letzten Stunde nicht sehen können, die Augen, wohl zusammengekniffen, wie wir alle dich kannten, scharf gestellt, worauf in dieser Stunde? Zachäus sollen deine letzten Worte gegolten haben. Wieso ihm? Was konntest du ihm mitgeteilt haben? Ihm, der dir bis zuletzt nicht gefolgt ist. Zachäus ist auch heute hier. Es hat uns beide überlebt. -192-
Zachäus, unser Todesengel. Ich versuchte, vorhin auf den Knien, meine Augen zu öffnen, ich wollte ihm im Angesicht meines Todes in die Augen schauen. Doch ich konnte es nicht. Dann haben sie ihre Hände von meinem Kopf genommen. Ich habe sie zur Seite treten hören. Ich will meine Augen öffnen, ich vermag es nicht. Stattdessen höre ich Töne über den Tönen. Den Ton, mit dem es begann, damals, Töne, stumm in mein Herz gelegt, nein, in mein Herz gebrannt. Es gibt ein Land, in dem das Wasser in Nüssen von den Bäumen fällt. Der Wind lässt sie zu Boden regnen, wenn sein mächtiges Kleid die Zweige streift. Manchen berührt dabei der Tod. Mancher schließt für immer die Augen. Doch dann ergießt sich süßes Wasser über sein Haar, und sein Leben steht in einem neuen Kreis. Ich versuche wieder die Augen aufzureißen, diesmal, um den Tönen zu entgehen. Meine Augen brennen aus tausend Wunden, doch ich sehe nichts. Nur Töne. »Auf die Seite«, höre ich jemanden rufen. Gleich werden sie beginnen. Und nicht mehr aufhören. Jetzt das Ende. Rosa ist sicher. Und Mirjam. Und Susa. Heilige Frau hat er Susa genannt. »Heilige Frau?«, habe ich gefragt, gestammelt wohl mehr. Kornelius hat durch mich hindurch gesehen. Susa muss ihn erwartet haben. Sie ist aufgestanden wie von den Toten. Sie hat den Zenturio begrüßt, doch weder mit jenen wirren Gesten, die wir alle von ihr kannten, noch mit den höflichen Worten der gesundeten Frau. Ohne jede Demut, ohne jedes Zeichen des Respekts griff sie nach der ausgestreckten Hand des Römers. »Sie warten schon auf mich«, hat sie gesagt. Wer? Wer wartete auf meine Schwester? Als wären die Geister mit einem Schlag aus ihrem Kopf gewichen, war sie auch schon angekleidet, hatte sich sogar ein wenig Farbe um die Augen getan. Kornelius wartete schweigend. »Wohin gehst du?« Da erst wandte sich Susa mir zu, wie sie es seit Jahren nicht getan hat. Sie hatte Tränen in den Augen, das -193-
konnte ich erkennen, wirkliche Tränen, nicht das Wasser der Geister, das sie in den vergangenen Zeiten so oft hatte fließen lassen. Sie nahm mich zärtlich an beiden Händen. Sie gehe, sagte sie, mit Rosa und Mirjam nach Pella, und sie gehe jetzt, denn schon in wenigen Stunden könnte es dafür zu spät sein. Ich schwieg. Wieder war es Susa, die das Wort ergriff. Sie werde, sagte sie, und sie zwang mich, ihr dabei in die Augen zu schauen, sie werde meinem Sterben fernbleiben. »Ich werde nicht dabei sein, Bruder«, sagte sie. »Ja«, sagte ich. »Du weißt, dass es nur das Sterben ist, aber nicht der Tod.« »Ich weiß.« Sie gab mir einen KUSS, als sie ging. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Ja«, sagte ich. Es war die Nacht in mir, als sie mich holten, um mich vor das Tor der Stadt zu führen, Jerusalem lag im Licht der untergehenden Sonne. »Auf die Seite«, höre ich jemanden rufen. Jetzt kein Zurück mehr. Ein Schlag gegen meine Brust wirft mich nach hinten. Hart schlägt mein Kopf auf den Boden. Ich will die fallenden Nüsse sehen, ich öffne die Augen. Ich will es Wasser regnen sehen. Ich sehe das Wasser regnen. Ich sehe das Brennen ertrinken, das Feuer erlöschen. Da, ein Mann, nahe bei mir auf dem Boden. Er hält sich die Hände vor das Gesicht. Ich erkenne dennoch seine Züge. Saul, du. Du weinst, du versuchst, deine Tränen zu verbergen, doch vor wem? Worte brechen aus dir heraus. Du schiebst dich über den Bretterboden an deine Matte, versuchst, dich an ihren Tüchern hinaufzuziehen, du tastest. Wonach? Zu wem sprichst du? Herr, höre ich dich sagen, leise sagen, fast flüstern. Herr. Wer antwortet dir? Siehst du nicht die Steine, die vor dir auf den Boden prasseln? Sie tragen Stephanus’ Gesicht, ihr Blut -194-
vermengt sich mit deinen Tränen, du tastet nach ihnen. Siehst du sie denn nicht? Du siehst sie nicht. Drei Tage warst du blind, um danach schärfer zu sehen als zuvor, so wirst du es jedem sagen, der es hören will. Doch du wirst in diesen drei Tagen zu hören verlernt haben. Töne über den Tönen. Weinen, unerträglich laut. Ich verliere den Halt. Ich liege, und doch falle ich. Ich spüre, wie sich das Wasser über meinen Kopf ergießt. »Tod dem Verräter«, ruft einer von weit her. Die Stimme erstirbt unter den Tönen in meinem Kopf. »Freund«, höre ich dich sagen, ganz nah bei mir, ganz nah an meinem Ohr, »verze ih mir.« Freund? Ich schmecke den Geruch des Bluts, das meine Wangen hinunterläuft. Gegen den Widerstand der Steine, die sich auf meine Lider gelegt haben, öffne ich die Augen. Zachäus? Du? Ich höre das Brechen meiner Rippen. Es tut weh. »Mehr kann ich für dich nicht tun, als mit dir zu gehen«, sagt Zachäus. »Der Zwerg will mit ihm sterben«, höre ich jemanden rufen. Das Ende. Mein Ende. Ich taste nach dir, Zachäus, du greifst nach meiner Hand. Wild hagelt es Steine vom Himmel, doch sie treffen uns nicht, während wir ins Wasser sinken, das süß geworden ist wie Honig und schwer wie das Grün der Oliven. Sicher trägt uns seine Decke durch die Nacht. Wir müssen schwimmen, höre ich mich sagen. Schwimm, Zachäus. Vor uns liegt die Honiginsel. Sie haben Rosa aus der Stadt gebracht.
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Diesmal der Anfang
Nun ist es Susa, die spricht. Wie sie von Kornelius aus dem Gelobten Land geführt wurde, welche Botschaft sie vor dem verschlossenen Grab des Abrahamsfelsens erkannte und wie sie Rosa bittet, Papyrus und Schreibstift zu nehmen, und damit das Ende einer Geschichte zu ihrem Anfang macht. Alles habe ich gehört und geschwiegen. Jedes Wort, ein Leben lang. Euer Leben lang. Zu hören war ich bestimmt und dafür, euch beim Leben zuzusehen. Wenn ich etwas tat, tat ich es im Stillen, wenn ich sprach, sprach ich für mich. Die Geister, die ich in meinen Kopf ließ, machten mich unempfänglich für die Spiele, die ihr spieltet, Männerspiele. Machtspiele. Gottesspiele. Doch Gott ist nicht Mann, wie er nicht Frau ist. Jakobus, hast du, frage ich, Jesus, unseren gemeinsamen Bruder, je begriffen? Warum bist du mir niemals zum Abrahamsfelsen gefolgt? Wie oft habe ich versucht, dir ein Zeichen zu geben, stumm, nicht durch das Lügen von Worten. Jesu Sterben und Auferstehen war eins. Ich habe ihn, auferstanden, wiedererkannt, verschoben nur in den Zeiten und jenen Räumen, die wir Leben nennen. Er ist mir Vater gewesen, da war ich Kind, und Bruder auch nach seinem Tod. Er war es, der schützend hinter dem Brunnen vor Zachäus’ Haus stand, um das Leben meines Kindes zu erhalten, das Mutter opfern wollte, weil sie seine Bedeutung nicht verstand, und er war Mirjam und Zachäus zugleich, die Rosa zu meinem Kind gemacht haben, ohne einander zu berühren. Durch die Wasser der Kreise, die -196-
wir durchwandern, sind wir miteinander verbunden, so wie der letzte Moment des vergehenden Tages und der erste Moment des kommenden miteinander verbunden sind, ja mehr noch: eins sind. Es ist nicht der Tod, der nach dem Leben kommt. Euch das zu sagen, bin ich nach Pella gegangen, ich, Susa, mit Mirjam, der Freundin, und Rosa, meinem Kind, fort aus der Stadt, die nicht mehr zu retten ist. Dafür musste ich Jakobus in seiner letzten Stunde verlassen. Warum, Bruder, bist du uns niemals zum Abrahamsfelsen gefolgt? Mir nicht, dem stummen Freund nicht, nicht deiner Mutter. Du hast mich einmal gefragt, wo der Stumme lebe. Bei den stillen Steinen, hätte ich gesagt. Hättest du verstanden? Du hast mich einmal gefragt, wer der Stumme sei. Jeder von uns zu jeder Zeit, hätte ich gesagt. Hättest du die Worte verstanden? Du hast mich einmal gefragt, warum der Stumme nicht älter werde. Können Räume denn älter werden?, hätte ich zurückgefragt. »Wo bist du in Nazareth am liebsten, Schwester?« »Beim Abrahamsfelsen«, habe ich gesagt. »Warum beim Abrahamsfelsen?« »Dort sind die Steine still. Sie ruhen sich aus.« »Ich kenne sie. Sie können schreien.« »Sie müssen schreien, um gehört zu werden. Doch die meisten hören sie nicht einmal dann.« »Sind sie fremde Geister?«, hast du gefragt. »Nein. Deine eigenen«, habe ich gesagt. »Dann müssen wir sie loswerden, nicht?« Darauf habe ich nichts mehr gesagt. »Wohin führst du uns, Kornelius, was tun wir hier? Sollten wir nicht auf schnellstem Wege nach Pella gehen, Rosa hinterher?« Mirjam blieb stehen. Auch ich hielt nun und drehte mich zu der Freundin um. Mirjams Haare hingen ungeordnet vom Scheitel, ihre Füße waren wund und blutig geschürft. Steinauf, -197-
steinab, immer schneller waren wir geworden, mit jedem Schritt, als gäbe es ein Zu spät kommen, ein Rechtzeitigsein. Immer nur bei Nacht waren wir unterwegs gewesen, aus Angst, von Ananus’ Gefolgsleuten noch eingeholt zu werden. Kornelius hatte uns sicher aus Caesarea gebracht, doch statt auf direktem Weg nach Pella zu ziehen, waren wir dem Weg nach Galiläa gefolgt. Ich dachte zu wissen, warum. »Komm weiter«, sage ich. Ich versuche ein Lächeln. Mirjam erwidert es nach einem Zögern. Sie geht weiter. Ich gehe weiter. Kornelius uns mit schnellem Schritt voran. Jakobus, so erzählt man, soll gelächelt haben, als ihn die Steine unter sich begruben. Zachäus habe sich freiwillig neben ihn gelegt, als die ersten Steine fielen. Arm in Arm seien die beiden gestorben, die blutenden Wangen aneinandergelegt. Die aufgebrachte Menge sei zunächst erstaunt gewesen, dann amüsiert, doch sie habe ihr grausames Spiel zu Ende geführt. Nikos und seine Leute hätten schließlich dafür gesorgt, dass Jakobus und Zachäus unter die Erde kamen, ehe sich die Geier an ihr Fleisch machen konnten. Beide Männer seien, so erzählten jene, die sie unter den Steinen hervorgegraben hatten, völlig ohne Blut gewesen, wie gewaschen, triefend nass, als hätte man sie aus dem Meer gezogen. Jetzt noch ein Mal, ein letztes Mal wohl, zum Abrahamsfelsen. Ich sehe den Römer schon angekommen. Der verbotene Felsen lässt selbst ihn, mit der Gestalt eines Hünen, klein aussehen. Hoch ragt der steinerne Berg in den Himmel. Darin verbirgt sich die Höhle der stillen Steine, die ich so oft besucht habe, hinter den Bäumen öffnet sich ihr Eingang. Auch Mirjam kommt nun auf uns zu. Sie verlangsamt ihren Schritt. Sie ist außer Atem. In dem Tuch, das sie von der Schulter zieht, um sich Luft zu -198-
verschaffen, haben sich, ich sehe es erst jetzt, Würmer, Käfer und Spinnen verfangen. Ich spüre, wie die alte Freundin nach meinen Gedanken gräbt. »Was denkst du?« Ich will nicht antworten. Kornelius, eben noch an meiner Seite, ist verschwunden. »Weißt du, was er hier will?«, fragt Mirjam. »Und wo ist der Zenturio überhaupt?« »Es ist die Höhle der stillen Steine. Hierher hat der Stumme Rosa damals gebracht, um sich die Römer aus dem Leib zu waschen«, sage ich. »Der Stumme?«, fragt Mirjam. »Ja, der Stumme. Hier ist er zwischen den Zeiten.« Ich nehme sie an der Hand und führe sie unter den dichten Zweigen der Bäume auf den vertrauten Eingang zu. Mirjam tritt vor mir auf die Lichtung. »Ist das eine Grabhöhle?«, fragt sie. »Wie kommt man hinein?« Da fällt auch mein Blick auf den gewaltigen Stein, höher als ein Baum, der den Eingang versperrt. Ich stocke. Mirjam stößt mir ungeduldig in die Seite. »Hierher ha t der Stumme Rosa gebracht, nachdem sie aus Caesarea fliehen konnten«, sage ich schnell, um meine Unruhe zu verbergen. Wer hat, frage ich mich, den Stein vor den Eingang gerollt? Da reißt mich, von hinten kommend, eine Stimme aus den Gedanken. Warum habe ich sofort das vertraute Bild vor mir?, die flachen Gesichtszüge, die schief sitzenden Augen? Auch seinetwegen sind wir gekommen, ich habe es geahnt. Um uns von ihm zu verabschieden. Ich drehe mich um – und sehe einen anderen. Ich sehe einen schönen jungen Mann, gehüllt in weißes Tuch. »Was tust du hier, du, der du Rosa damals an Ananus verraten hast?«, höre ich da Mirjam wütend hervorstoßen. Ich begreife. »Wir suchen nicht dich«, sage ich. »Wenn ihr ihn sucht, sucht ihr auch mich, doch ihr sucht uns hier vergebens, denn ihr sucht die Lebenden unter den Toten«, -199-
höre ich ihn sagen. Und, ehe ich Luft holen kann, ein zweites Mal kaum anders: »Sucht die Lebenden nicht unter den Toten!« »Habt ihr den Stummen noch gesehen?«, fragt mich Rosa jetzt in Pella, mich, die ich endlich Mutter sein darf nach all den Jahren. »Nein.« »Und der junge Äthiopier? Er war es doch, den ihr beim Abrahamsfelsen angetroffen habt.« »Er verschwand so plötzlich, wie er gekommen war, als wäre er ein Engel gewesen.« »Und der Zenturio?« »Blieb verschwunden.« »Und ihr?« »Wir haben gewartet, bis die Nacht kam. Dann sind wir weitergezogen.« »Und jetzt nimm die Feder und schreib, was ich dir sage. Schreib es auf in ihren Namen, in dem Namen Mirjams und Jakobus’, schreib es auf, Wort für Wort, als ihr gemeinsames Vermächtnis, denn wo der eine war, da ist der andere nicht gewesen, und wo dieser gewesen ist, da war nicht der eine. Ich aber war hier und dort zur gleichen Zeit, ich war Jesu Schwester und jene des Jakobus, hinter beiden her und doch beiden voran. Schreib auf, Rosa, denn ich bin alt, und du wirst das Erbe Jerusalems in deine Hände nehmen müssen.« Und Rosa nimmt den Stift, befeuchtet ihn und dreht ihn zweimal in dem Tintenkuchen, der vor ihr auf dem Tisch steht. »Schreib«, sage ich, »beginne mit dem Tod meines zweiten großen Bruders, beginne mit Jakobus’ Tod, mit dem neuen Anfang: ›Sie werden nicht aufhören. Kein Zurück. Diesmal das Ende.‹«
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DIE PERSONEN DER HANDLUNG IN DER HISTORISCHEN BETRACHTUNG Jakobus Geschichtliche Quellen, aber auch mehrere Bibelstellen weisen ihn als leiblichen Bruder des historischen Jesus aus. Die Steinigung des »Bruders des Herrn« Jakobus (Gal 1,19) fällt in die Jahre 60 bis 66. Die moderne Bibelexegese geht mehrheitlich von dem Jahr 64 als Todesjahr aus. Fest steht, dass das Todesurteil gegen Jakobus als Anführer der Jerusalemer Urchristengemeinde durch den Hohepriester Ananus II. in Abwesenheit eines römischen Prokurators gefällt wurde und somit gegen römisches Recht verstieß. Der Historiker Flavius Josephus berichtet davon, dass die Anhänger Jakobus’ vergeblich versucht haben, die Steinigung des Jakobus zu verhindern. Ungeklärt ist, warum Jakobus, der während der Wirkensjahre seines Bruders nicht in Erscheinung tritt, vierzehn Jahre nach dessen Tod die Leitung der Urchristengemeinde übernimmt. In seinem Brief an die Galater (53-55), also ca. fünfundzwanzig Jahre nach Jesu Kreuzigung, bezeichnet der Apostel Paulus Jakobus, Petrus und Johannes als die »Säulen« der Gemeinde (Gal 2,9). Im ersten Apostelkonzil, ca. 48/49, nimmt Jakobus die entscheidende Vermittlerposition zwischen den beiden Kontrahenten Paulus und Petrus ein und ermöglicht so das Weiterführen der Missionstätigkeit. Dabei erhält Jakobus den Beinamen »der Gerechte«. Jakobus’ Haupt wird in Ancona verehrt. Auf Grund der falschen Identifikation mit dem Apostel Jakobus dem Jüngeren gedenken Katholiken seiner am 3. Mai, orthodoxe Christen am 23. Oktober. Jesus Der historische Jesus lebt von ca. 5 v. bis 30 n. Chr. Sein -201-
Geburtsort ist sehr wahrscheinlich Nazareth. Bereits in jungen Jahren zieht er nach Kafarnaum an den See Genezareth, wo er in einem einfachen Lehmhaus lebt, das nur aus einem Wohnraum besteht. Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbringt Jesus mit Predigtwanderungen in die nähere Umgebung. Jesus wird nach mosaischem Gesetz erzogen. Vieles an seinen überlieferten Aussagen lässt auf eine profunde rabbinische Ausbildung schließen. Jesus stirbt als praktizierender Jude, der sich scheinbar vergeblich – gegen die strengen pharisäischen Auslegungen der Heiligen Schrift und die Dominanz des sadduzäischen Jerusalemer Priesteradels aufgelehnt hat. Eine besondere Sympathie Jesu für eine der anderen Sekten seiner Zeit ist weder erkennbar noch wahrscheinlich. Ausgehend von dem Auferstehungsereignis (in manchen Quellen: Auferweckung) wird Jesus für seine Anhänger posthum zum »Gottessohn«. Damit ist das spirituelle Fundament für eine neue Lehre gelegt, die in den Anfängen noch als jene einer neuen jüdischen Sekte verstanden wird. Nicht in Palästina, sondern in den Gemeinden der Diasporajuden, etwa in Syrien oder der heutigen Südtürkei, werden Glauben und das transzendente Weltbild der Christianoi lange nach Jesu Tod als neue, eigenständige Religion wahrgenommen. Für Nichtchristen steht Jesus als historische Person zwar außer Streit, in einer besonderen Rolle als »Gottessohn« wird er aber nicht gesehen. In den ersten rabbinischen Quellen, entstanden vom 2. bis 6. Jahrhundert, wird Jesus an einigen Stellen nur als »ein gewisses Individuum« bezeichnet, an anderen, verächtlich, als Ben Stada, Ben Badira oder Ben Panthera, was den Schluss nahe legen sollte, er sei ein unehelicher Sohn eines Mannes (Soldaten?) dieses Namens gewesen. Maria Magdalena ist eine Galiläerin mit Namen Mirjam aus einem Ort am Westufer des Sees Genezareth mit Namen Magdala, der südlich von Kafarnaum, dem Wohnsitz Jesu, lag. -202-
Ihre Anwesenheit bei Jesu Kreuzigung und ihre häufige Namensnennung in der christlichen Bibel lassen auf eine bedeutende Position innerhalb der Jerusalemer Judenchristengemeinde schließen. Die wichtige Rolle von Frauen innerhalb der Urchristengemeinde wird durch historische Dokumente untermauert. In einem Brief an Kaiser Trajan aus dem Jahr 110 weist Statthalter Plinius darauf hin, dass unter den Anführern der Christen auch Frauen seien, die Diakonissen genannt würden. Josef und Maria Jesu »Nährvater« aus dem Neuen Testament wird dem Haus des altbiblischen Königs David zugerechnet. Das Wort, das in Urtexten den Beruf Josefs bezeichnet, weist ihn als Bauhandwerker aus, der hauptsächlich mit Lehm und Stein arbeitet, unter anderem macht er Höhlen bewohnbar, indem er sie mit Eingängen, Treppen, Vorbauten versieht. Dass Josef in den Texten über den wirkenden Jesus nicht mehr vorkommt, wird mit frühem Tod oder Fortziehen aus Galiläa erklärt. Maria war seine Frau. Von einer besonderen Rolle als »Gottesmutter« durch jungfräuliche Geburt ist in der christlichen Bibel nur in zwei legendenhaften Erzählungen die Rede, die vermutlich an die antiken Vorstellungen von klassischen Heroengeburten (z. B. Herakles, Alexander d. Große) anschließen sollen. Da zur Zeit Jesu früh geheiratet wird – der Bräutigam ist meist jünger als achtzehn, die Braut in der Regel zwischen zwölf und vierzehn –, bringt Maria ihren ersten Sohn noch im Kindesalter zur Welt. Maria, die mehrere andere Kinder gebiert (Mk 6,3), ist bei Jesu Kreuzigung dabei, nach dem Auferstehungsereignis wird sie nicht mehr genannt. Johannes der Täufer ist der Sohn des Priesters Zacharias und seiner Frau Elisabeth. Im Neuen Testament wird er als Asket beschrieben, der mit einem Hemd aus Kamelhaar, Lederschurz und Federnmütze bekleidet ist. Johannes wirkt hautpsächlich im -203-
Jordantal von Peräa. Viel deutet darauf hin, dass er sich den Zorn des Herodes Antipas und seiner zweiten Ehefrau zuzieht, weil er deren Verbindung öffentlich kritisiert. Herodes Antipas hat sich von seiner ersten Frau scheiden lassen, um die Frau eines seiner Halbbrüder zu heiraten, die zudem seine leibliche Nichte war. Der Tod Johannes des Täufers, ca. 28, fällt in die Zeit, in der Jesus seine Wanderpredigten aufnimmt. Ananus I. und II. Ananus II. ist im Jahr 64 der Hohepriester in Jerusalem und führt den Sanhedrin, das oberste jüdische Gremium, an. Dass er in Abwesenheit eines römischen Prokurators die Kapitalgerichtsbarkeit an sich reißt, indem er (mehrere) Todesurteile verhängt, führt nach Jakobus’ Steinigung zu seiner Ablöse. Im Gegensatz zu seinem Vater, Ananus I, der davor viele Jahre Hohepriester in Jerusalem war, ist Ananus II. im Volk nicht beliebt. Ananus I. ist der Schwiegervater des Hohepriesters Kaiphas, der, dreißig Jahre zuvor, Jesu Kreuzigung vorangetrieben hat. Dem offiziellen Verhör des jungen Kaiphas geht ein Vorverhör durch Ananus I. voraus, dessen Urteil für Kaiphas verbindlich ist. Paulus Der Apostel des Neuen Testaments wird in Tarsus im damaligen Zilizien an der heute türkischen Südküste Kleinasiens als Sohn einer begüterten jüdischen Zeltmacherfamilie geboren. Saul ist sein jüdischer Name, als römischer Bürger hat er jedoch das Recht auf einen Zweitnamen – Paulus. Saul wird von seinen Eltern zum Studium des Griechischen, der Philosophie und der Rhetorik nach Jerusalem geschickt, wo er sich von dem berühmten Rabbiner Gamaliel zum Rabbiner ausbilden lässt. Er wird Mitglied der Pharisäer, unter denen er sich – bis zu seiner Hinwendung zur neuen Sekte der Christen – als besonders kompromisslos hervortut. Er beteiligt sich aktiv an Hinrichtungen, wie an der Steinigung des Stephanus. Im Jahr 56/57 n. Chr. wird Paulus – da bereits der einflussreichste -204-
Missionar im Sinne des Heidenchristentums (Hereinholen von Nichtjuden in die Gemeinde) – in Jerusalem festgenommen. Nach längerer Haft wird er nach Rom verschifft und dort im Frühjahr 62 unter Hausarrest gestellt. Hier enden die historischen Aufzeichnungen. Paulus’ Tod wird für die Zeit zwischen 62 und 67 angenommen. Paulus hat nach der Berechnung von Bibelexegeten im Zuge seiner Missionsreisen rund 5000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, rund 15.000 zur See. Kornelius Der Zenturio entspricht dem Rang eines Kompaniekommandanten, Kornelius befehligt die Italische Kohorte, die aus zehn Zenturien besteht. Die Taufe des Kornelius im Jahr 41/42 stellt insofern einen Wendepunkt in der Christianisierung dar, als sie Paulus den Weg für die konsequente Heidenmissionierung ebnet. Kornelius, der sich bereits vor seiner Taufe als gläubiger Jude versteht (Verehrung nur eines Gottes, Sabbatgebot, Speisegebote, Synagogenbesuch), wird von Petrus den »Gottesfürchtigen« zugerechnet. In Ergänzung zu diesen gibt es auch die Gruppe der Proselyten, die zwar Heiden sind, aber durch Beschneidung ihre Zugehörigkeit zum Judentum unterstreichen. Simon Petrus Der Galiläer erhält von seinen Glaubensbrüdern noch zu Lebzeiten den Beinamen Fels (aramäisch: Kefas, griechisch: Petros). Zunächst als Anführer der Zwölfergemeinde, dann als eine der drei »Säulen« (neben Jesu Bruder Jakobus und dem Zebedäer Johannes) führt Simon die Urchristengemeinde bis 44, bevor Jakobus an seine Stelle tritt. Simon stammt aus begüterten Verhältnissen. Als Fischereiunternehmer an einem der bedeutendsten Handelswege zwischen Orient und Okzident, der sogenannten via maris, ist Simons Vater, Jona, eine zumindest im Norden Israels bekannte Person. Als gesichert gilt, dass Simon während seiner Missionsreisen eine Frau (Ehefrau?) an seiner Seite hat. -205-
ORTE DER HANDLUNG
Galiläa Galiläa, im Norden Palästinas, war die Heimat von Josef und Maria, Jesus und Jakobus. Anders als im südlichen Judäa, wurde in Galiläa aramäisch gesprochen. In Jerusalem -206-
wurde das Aramäische, dem die für das Hebräische typischen Kehllaute fehlen, als »Bauernsprache« belächelt. Unter der Regentschaft des Herodes Antipas (4 bis 39) erlebte das traditionell benachteiligte Galiläa mit seiner neuen Hauptstadt Tiberias einen wirtschaftlichen Aufschwung, der jedoch vor allem den griechischheidnischen Bevölkerungsgruppen zugute kam, während die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung (ca. 200.000 Menschen) die soziale Unterschicht aus Tagesarbeitern und Wochenlöhnern ausmachte. In diesem sozialen Spannungsfeld fanden die radikaljüdischen Zeloten in Galiläa ihre Anhänger. Die Herkunft aus Galiläa hat sich für Jesus bei seinem Prozess vor Pontius Pilatus zusätzlich negativ ausgewirkt. Jerusalem war die Hauptstadt Judäas und das geistigreligiöse Zentrum des jüdischen Palästina. Auf Münzen aus der Zeit Jakobus’ wird es als »Jerusalem, die Heilige« bezeichnet. Nazareth war der erste Heimatort Jesu, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Nazareth ist auch als Geburtsort Jesu wahrscheinlich. Bethlehem ist von Judenchristen später zum Geburtsort erklärt worden, weil Juden für die Heimat Davids das Kommen eines mächtigen Friedensfürsten erwarteten. Kafarnaum wurde der eigentliche Wohnsitz Jesu. Kafarnaum war ein ansehnliches und wohlhabendes Fischerdorf, das am Westufer des Sees Genezareth lag. Caesarea war die größte Mittelmeer-Hafenstadt Palästinas. Sie gehörte zu der Provinz Samaria. Seit dem Jahr 6 war Caesarea Sitz der römischen Prokuratoren und römische Legionsstadt. In Caesarea lebten ca. 50.000 syrische Griechen und 5000 Juden. -207-
Damit bildeten die Juden innerhalb der Stadtgemeinde die stärkste Minderheit. Der Konflikt zwischen diesen beiden Ethnien war im Jahr 66 die Initialzündung für das Ausbrechen des Jüdischen Kriegs. Bei der Erbauung Caesareas wurde eine Art Kanalsystem angelegt, durch welches Meerwasser eindringen konnte. Dadurch wurden Abfälle und Abwässer unterirdisch aus der Stadt gespült. Antiochia, das Antakija der heutigen Südosttürkei, war die Hauptstadt der römischen Provinz Syria und die drittgrößte Stadt des gesamten Reiches. Sie überragte Jerusalem an Größe und Bedeutung und wurde Heimat der ersten großen Christengemeinde. Pella lag südlich des Sees Genezareth im Osten des Jordantals. Es gehörte zum Zehnstädtegebiet, das seit 63 v. Chr. unmittelbar dem römischen Statthalter von Syrien unterstand. Nach Pella flüchtete die urchristliche Gemeinde Jerusalems nach Ausbruch des Jüdischen Krieges. Bis 135 ein großer Teil der Exilanten wieder nach Judäa zurückkehrte, war Pella das letzte Zentrum des Judenchristentums.
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DIE RELIGIÖSEN JÜDISCHEN SEKTEN
Die Pharisäer, letztes Glied einer alten Religionspartei, waren meist Laien, die im Alltag die strengen Reinheitsgebote des Alten Testaments befolgten und deren Befolgung durch andere kontrollierten und sanktionierten. Die Schriftgelehrten waren die Führungsgruppe innerhalb der Pharisäer. Die Sadduzäer waren eine Religionssparte, der die Priesteraristokratie und die Patrizierfamilien Jerusalems sowie der Landadel Judäas angehörten. Bis zur Eroberung Jerusalems im Zuge des Jüdischen Kriegs stellten sie im Sanhedrin die Mehrheit. Die mündliche Thora der Pharisäer lehnten sie ab. Die Zeloten, auch »Eiferer« genannt, waren eine religiös motivierte Widerstandspartei gegen die Römer. Sie litten zur Zeit des Jakobus am meisten unter der römischen Unterjochung und sehnten den verheißenen »König der Juden« daher besonders herbei. Judas Ischariot, der »Verräter« Jesu aus dem Neuen Testament, könnte nach dem Verständnis moderner Bibelexegeten Zelot gewesen sein. Der jüdische Historiker Flavius Josephus nennt den radikalen Flügel der Zeloten Sikarier, Dolchleute, nach den krummen Dolchen, die sie führten. Sie begingen, so Josephus, am helllichten Tag, mitten in der Stadt, Mordtaten, mischten sich besonders an Festtagen unter das Volk und erstachen ihre Gegner mit kleinen Dolchen, die sie unter ihrer Kleidung versteckt trugen. Die Essener waren jene Sekte, die heute als Qumran-Sekte Gegenstand ausführlicher Forschung ist. Die Essener dürften im -209-
Kern ein Mönchsorden mit 4000 Mitgliedern gewesen sein, der im Zuge des Jüdischen Kriegs aufgerieben wurde. Jüdischer Krieg Der jüdische Volksaufstand (der bellum ludaicum des Flavius Josephus) brach im Jahre 66, also zwei Jahre nach Jakobus’ Tod, aus und dauerte sieben Jahre. Er endete mit der Niederschlagung des jüdischen Aufstands und der völligen Zerstörung Jerusalems. Parallel dazu kam es zu einem Richtungskrieg zwischen Zeloten und Sadduzäern, zu denen auch Ananus II. gehörte. Dieser Parallelkrieg zum Jüdischen Krieg endete mit dem Untergang der Sadduzäer. Auferstehungs- bzw. Auferweckungsvorstellungen Im traditionellen Judentum war eine Trennung von Körper und Seele undenkbar. Die »unsterbliche Seele« war eine Idee, die dem Hellenismus entstammte. Unter griechischem Einfluss (Sokrates) wurde die Seele als vom Körper verschieden, wenn auch mit ihm verbunden betrachtet. Während sich die jüdischen Sadduzäer klar gegen die Ansicht der Hellenisten stellten und die Seele als mit dem Körper sterblich auffassten, könnten Pharisäer und Essener bereits an eine unsterbliche Seele geglaubt haben. In logischer Folge verstanden Juden zur Zeit Jesu und Jakobus’ die erwartete Auferstehung (aller Menschen) als Auferstehung des ganzen Menschen, bestehend aus Körper und Seele. Unter Auferweckungen wurden vor allem Heilungen vom Totenbett verstanden. Gesetze – Strafen – Gerichtsbarkeit Kapitalverbrechen wie Mord, aber auch Hochverrat (dessen Jesus und Jakobus angeklagt waren) wurden stets mit dem Tod bestraft, wofür Kreuzigen, Verbrennen oder Steinigen in Frage kamen. Auch Vergewaltigung zählte zu den Kapitalverbrechen. -210-
Über den Täter wurde entweder die Todesstrafe verhängt (bei Vergewaltigung einer verheirateten oder verlobten Frau), oder er wurde zu Geldzahlungen an ihre Familie gezwungen. Darüber hinaus musste er das vergewaltigte Mädchen heiraten. Erst die Formulierung »ergreifen« machte den erzwungenen Geschlechtsverkehr zu einer Vergewaltigung. Wurde eine Frau inmitten bewohnten Gebiets »ergriffen«, unterließ es aber zu schreien, wurde eine gewisse Freiwilligkeit angenommen, die Schuld traf dann auch das Opfer. Auch Ehebruch konnte unter bestimmten Voraussetzungen als Kapitalverbrechen gewertet werden. Die gesetzliche Höchststrafe für Untreue war das Verbrennen. Der Scheidebrief war die öffentliche Entlassung der Frau aus der Ehe, die mit einem Verlust der Ehre für die Entlassene einherging. Üblicherweise ging eine hebräische Frau im Fall einer Trennung zu ihrer Familie zurück. Wurde sie von dieser verstoßen, musste sie einen anderen Mann finden. Allein zu bleiben, hätte völlige Ächtung nach sich gezogen. Inzest mit Verwandten ersten Grades galt im alten Judentum als Kapitalverbrechen, das mit dem Tod durch Verbrennen bestraft werden konnte. Ein anderes Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand, war der verbotene Tempelbesuch. So soll Paulus bei der Rückkehr von seiner letzten Missionsreise nach Palästina einen Heiden, den Epheser Trophimus, in die Tempelvorhöfe mitgenommen haben, die nur strenggläubige Juden betreten durften. Dieses ihm angelastete Verbrechen war der offizielle Grund für seine letzte Verhaftung. Obwohl die Kapitalgerichtsbarkeit bei den römischen Besatzern lag, wurden die entscheidenden Vorverhandlungen im Sanhedrin, dem jüdischen Hohen Rat, abgehalten. Der Sanhedrin war die höchste politische Institution des Judentums. Er bestand aus einundsiebzig Mitgliedern, den sogenannten Ältesten, Schriftgelehrten, Vertretern des Adels, Theologen und Juristen. Die Anwesenheit aller Mitglieder war nicht immer nötig. Ort der Prozesse war die Quaderhalle des Jerusalemer -211-
Tempels. Die Sitzordnung des Sanhedrins sah einen Halbkreis vor, in dessen Mitte der Hohepriester, flankiert vom religiösen Adel, saß. Die Richter trugen Talare, der Beschuldigte trug Trauerkleider.
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DIE NEUE SEKTE DER CHRISTEN
Christ leitet sich vom griechischen christianoi (Anhänger des Christos, des Erlösers) ab. Verwendet wurde die Bezeichnung in spöttischer Absicht erstmals im syrischen Antiochia durch Gegner der neuen jüdischen Sekte, frühestens zehn Jahre, wahrscheinlich jedoch erst zwanzig Jahre nach Jesu Tod. Die Zwölf wurden jene vermutlich nicht zwölf »Erwählten« genannt, die – nach Texten im Neuen Testament – von Jesus selbst den Auftrag bekommen haben, in seinem Namen zu predigen und zu heilen. Zwölf war bei Juden eine symbolische Zahl für Ganzheit (zwölf Stämme Israels). Die zwölf Apostel. Mit der Zeit wurden aus den Zwölf (die die Evangelisten später als Auferstehungszeugen anführten, wobei sie Judas durch Matthias ersetzten, um die Zahl wieder voll zu machen) die »zwölf Apostel«, später »die Apostel«. Zu den ursprünglich »Erwählten« stießen später zumindest Paulus, Barnabas und der »Herrenbruder« Jakobus dazu. Apostelkonzil – Judenchristen – Heidenchristen Das erste sogenannte Apostelkonzil fand vermutlich im Jahr 48/49 statt. Dazu kamen u. a. Paulus (aus Antiochia) und Simon Petrus (aus Rom) nach Jerusalem gereist, um dort mit der Urgemeinde den weiteren Weg ihrer Missionsarbeit zu markieren. Dieses Konzil, bei dem Jakobus zum ersten Mal an der Spitze der Jerusalemer Urchristen auftrat, beeinflusste die Geschichte des Christentums entscheidend. Im Wesentlichen ging es dabei um die Frage, ob neben Juden fortan auch Heiden missioniert werden sollten, und wenn ja, in welchem Ausmaß sie noch unter die Gesetze Moses’ gestellt werden müssten -213-
(Beschneidung, Sabbatgebote, Essensgebote etc.). Paulus vertrat dabei die radikale Ansicht, christianisierte Heiden fortan außerhalb der jüdischen Gesetze zu stellen, was der Gruppierung um Simon Petrus zu weit ging. Jakobus nahm die entscheidende Vermittlerposition ein, wofür er später den Beinamen »der Gerechte« bekommen sollte. Paulus verpflichtete sich, die Verbundenheit zu den Judenchristen Jerusalems durch eine Kollekte zu unterstreichen, die er in den christianisierten Gemeinden einheben und der Urgemeinde zugute kommen lassen wollte. Dazu wurde vereinbart, die wichtigsten jüdischen Regeln für alle für verbindlich zu erklären, die im Namen Jesu getauft werden wollten: keine Unzucht, keine Mehrehe, kein Genuss von Götzenopferfleisch sowie kein Genuss von Fleisch erstickter bzw. nicht geschächteter Tiere. Dafür wurde Paulus gestattet, die Heidenmissionierung weiter zu betreiben und dabei auf das Beschneidungsritual zu verzichten. Religiöse Bräuche – Sabbat – Beschneidung Für Juden begann der »Tag des Herrn« am Freitag um etwa 18 Uhr. Am Rüsttag, dem Tag vor dem Sabbat, wurden die Speisen für den Sabbat vorbereitet. Am Sabbat war jede unreine Betätigung verboten, auch ärztlicher Beistand fiel unter dieses Gebot. Anders als es die pharisäische Ausle gung der Schrift verlangte, setzte Jesus die Krankenheilung (als Zeichen praktizierter Barmherzigkeit) über das Sabbatgebot. Der Sabbatkonflikt zwischen Jesus und den Schriftgelehrten war für das spätere Todesurteil mit entscheidend. Für die judenchristliche Gemeinde um Jakobus, Petrus und Johannes bleibt nach Jesu Tod die Ehrung des Sabbat eine Selbstverständlichkeit. Christenverfolgungen Der Brand in Rom brach vermutlich am 19. Juli 64 aus. Kaiser Nero (54-68) wurde, vermutlich zu Unrecht, vorgeworfen, Rom -214-
angezündet zu haben. Gesichert ist, dass er in dem Bemühen, die Schuld öffentlich von sich zu weisen, die damals aufkeimende Christenbewegung dafür verantwortlich machte und bis zu seinem Tod (durch Selbstmord) verfolgen ließ. Kaiser Claudius, Neros Vorgänger, war römischer Kaiser von 41 bis 54. Er vertrieb als Reaktion auf behauptete Unruhen, »ausgelöst durch einen gewissen Chrestos«, sämtliche Juden aus Rom (ClaudiusEdikte). Diese vertriebenen Exiljuden bildeten in der Provinz Syria Gemeinden, die für die neuen Ideen der christianoi besonders empfänglich waren. Die erste größere Christenverfolgung in Palästina gab es unter Herodes Agrippa I. in den Jahren 41 bis 44.
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