Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 717
Irrflug der NACHTJAGD Der Sternentramp unter Ligriden
von Hans Kneifel
Auf...
7 downloads
346 Views
352KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 717
Irrflug der NACHTJAGD Der Sternentramp unter Ligriden
von Hans Kneifel
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie in Alkordoom. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. In den rund fünf Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums für Leid und Unfrieden verantwortlich waren. Aber während Atlan und Chipol gegenwärtig ihre Hilfsmission für die Daila von Aklard unternehmen, sind andere mit der Suche nach Atlan befaßt. Wir meinen Colemayn, den seltsamen Sternentramp, und Tuffelsyt, den betrügerischen Händler. Ihre Aktivitäten führen zum IRRFLUG DER NACHTJAGD…
Die Hauptpersonen des Romans: Colemayn – Der Sternentramp auf Atlans Spur. Tuflelsyt – Colemayns betrügerischer Partner. Talkart und Ipolmen – Leiter des Projekts »Dschungel-1«. Acalner – Kommandant eines Raumschiffs der Ligriden.
1. Zugleich mit den Schmerzen fluteten die Erinnerungen heran. Oder war es umgekehrt? Beides traf zu. Mit wenig Mühe unterdrückte der Weltraumtramp das erste Stöhnen. Noch hatten die stechenden Krämpfe nicht fest zugepackt. Weltraumtramp, Sternenwanderer, Sternen tramp… Diese Bezeichnungen waren ebenso richtig wie falsch. Sie kennzeichneten nur einen Teil seines Lebens; zugegebenermaßen war es ein wichtiger Teil. Im Augenblick aber ergaben diese Benennungen wenig Sinn. Oder doch? Colemayns Gedanken vollführten nun überraschende Wendungen und wirre Wirbel. Seit dem Fluchtstart des winzigen Diskusraumschiffs von Pharst befand er sich, zusammen mit seinem seltsamen Begleiter, in einem fremden Weltall. Die NACHTJAGD raste im Zickzack durch einen Teil der Galaxis Manam-Turu, hinter der ZYRPH’O’SATH her, hinter dem Arkoniden Atlan und hinter Informationen, die Atlan betrafen. In diesem Punkt waren sich Colemayn und Tuffelsyt, der verrückte Pharster, einig: Atlan mußte gefunden werden. »Aber eines sage ich dir, Tuffel!« flüsterte Colemayn im Selbstgespräch. »Mit Atlan wirst du keinen Handel treiben.« Vor der Flucht waren Colemayns Probleme riesengroß gewesen. Im gegenwärtigen Zeitpunkt waren sie nicht geringer. Colemayns Unzufriedenheit war nach dem ersten, gründlichen Schlaf in der Steuerkanzel der NACHTJAGD förmlich ausgebrochen. Die Gründe waren für ihn sonnenklar: Auf dem Planeten Pharst, der Welt zwischen ewiger Nacht und immerwährendem Tag hatte er nur hilflos reagieren können. Jetzt besaß er immerhin ein – gestohlenes – Raumschiff. Und noch mehr Sorgen und Probleme. Überdies kam zum vierten Mal seit langen Jahren der Schmerz aus der Vergangenheit zurück. Er kannte diesen Gegner und erinnerte sich genau an ihn. Langsam wuchtete sich Colemayn aus dem viel zu kleinen Steuersessel und hielt sich, leicht schwankend, an den Kanten der Steuerpulte fest. Schweigend starrte er einen Bildschirm nach dem anderen an. Er versuchte, die Wellen des Kopfschmerzes zu ignorieren. Noch gelang es ihm. Aber er wußte, daß es noch schlimmer werden konnte. Die Sterne der weitestgehend unbekannten Galaxis leuchteten starr und schweigend. Noch zeigte kein Instrument an, daß sich das nächste Flugziel näherte. Es würde noch mehrere Stunden dauern. Tuffelsyt schlief wieder einmal in seiner winzigen Kabine. Als Gefangener hierhergeschafft, war er jetzt innerhalb enger Grenzen frei. Allerdings hatte ihm diese Freiheit kaum etwas genützt. Und… Tuffelsyt wußte noch nichts von den drohenden Krankheits-Überfällen, die den Piloten der NACHTJAGD ausschalten konnten. Colemayn atmete tief ein und aus. Dann bückte er sich und registrierte einen ersten wirklichen Schwindelanfall. Flüchtig dachte er daran, auch weiterhin Aufzeichnungen für sein Sternentagebuch zu machen. Seine Finger ertasteten den Verschluß einer Tasche. Sie befand sich an der seitlichen Außenfläche des grünen Rucksacks, halb geschützt durch das eingearbeitete Tragegestell. Aus der unscheinbaren
Tasche zerrte Colemayn einen ebensolchen Lederbeutel hervor und zog die Schnüre auseinander. Er hob einen etwa faustgroßen, bernsteinfarben und rot schimmernden Kristall hervor. Der faustkeilartige Stein, dessen Ränder und Flächen glitzernde Einschüsse aufwiesen, verschwand zwischen den Säumen des Hemdes. Fast im selben Augenblick, als der kühle Stein die Haut Colemayns berührte, begann er sich besser zu fühlen. Ein beruhigender Strom schien sich von seiner Brust auszubreiten und nach und nach den ganzen Körper zu erfassen. Trotzdem bohrte der Kopfschmerz unverändert. Schwer lehnte sich der Sternentramp an die Wand neben dem offenen Schott. »Atlan!« murmelte er. »Du hast es mir niemals leicht gemacht. Aber so schwer wie derzeit war’s noch nie.« Colemayn schwankte leicht. Unbehagen steigerte sich in Unwohlsein. Durch den kurzen Ringkorridor drang das fistelnde Schnarchen seines Mitstreiters an seine Ohren. »Und der Pharster ist auch keine rechte Hilfe. Im Gegenteil«, ächzte der Sternenwanderer. Er wartete auf die Wirkung des Roten Kristalls. Sie kam nach schätzungsweise dreißig Minuten. Einige Zeit ließ er verstreichen und dachte nach. Dann tappte er, sich mit der linken Hand abstützend, durch den Korridor hinüber zu der winzigen Einbaupantry. Er hatte zwischen Pharst und Wyto-Lowaye gelernt, diese Anlage richtig zu bedienen. Er wählte auf der einfachen Tastatur, die natürlich so niedrig angebracht war, daß sie ein Pharster bedienen konnte, ein alkoholhaltiges Fruchtgetränk. Dazu ein Beruhigungsmittel, das er in den gelbschäumenden Drink mischen ließ. Er trank in kurzen Zügen und fühlte sich noch immer nicht besser. »Verdammte Galaxis!« Die nächste halbe Stunde verbrachte Colemayn damit, den Becher zu leeren und die Wirkung des Kristalls abzuwarten. Als er, sich schließlich weniger schlecht fühlte, ging er daran, die Unordnung in der Kanzel zu beseitigen. Er schaffte es mit gewohnter Präzision und Sicherheit innerhalb von zehn Minuten. Schließlich setzte er sich auf das unbequeme Möbel, das er bis zur höchstmöglichen Stufe hochgefahren hatte. Vor dem Schaltfeld der Ortungsschirme lag das Notizbuch, in Saurierleder einer heute ausgestorbenen Art eingeschlagen, das von einem altarkonidischen Kolonialplaneten stammte. Aus der Oberarmtasche des Hemdes zog er einen biegsamen Stift. Als er das Sternentagebuch aufschlug, tat er es an einer Seite, wo als Lesezeichen eine filigran bearbeitete Fischgräte von eineinhalb Finger Länge lag. Colemayn sehnte sich danach, in tiefster Finsternis zu versinken und von dem meisten, das er zu erleben gezwungen war, nichts mehr zu merken und zu wissen. Nach einigem Nachdenken begann er zu schreiben. Das Leben dauert normalerweise hundert Jahre. Und wenn es hundertein Jahre dauert, rufen sie alle: »Zugabe!« Inzwischen bin ich weitaus älter, auf herkömmliche Weise ausgedrückt, und sie schreien noch immer. Für einen Greis wie mich bin ich ganz hübsch rüstig. Da mein Überlebenspotential offensichtlich unerschöpflich hoch ist, sehe ich auch der Landung auf Bownuthenig mit schweißtreibender Unruhe entgegen… *** Hinter sich hörte er das tappende Geräusch von Tuffelsyts vier stämmigen Beinen. Er wandte sich langsam um und dachte an die erste Etappe des Fluges; etwa ein Pharst-Tag nach dem Fluchtstart. Was war passiert?
Colemayns Erinnerungen waren ebenso präsent, perfekt und klar wie die Gegenwart. Die Einsicht, daß sowohl Tuffelsyt als auch er, Colemayn, nur Spielfiguren auf einem mehrdimensionalen Spielfeld waren, hatte Colemayn aus seinem ersten Schlaf an Bord der NACHTJAGD mitgenommen. Dieses Feld reicht mehrdimensional über die Zeiten hinweg, über die Räume und dehnte sich über verschiedene Milchstraßensysteme aus. Obschon diese Einsicht für ihn an diesem seltsamen Ort neu war, drang er nicht tiefer in die düsteren Nebel der Vergangenheit und ging zielstrebig daran, die Möglichkeiten des kleinen Schiffes voll auszunutzen. Er reinigte seine Kleidung, aß und trank, brachte seine Ausrüstung in Ordnung und programmierte einen Kurs zum nächsterreichbaren Planeten. Dort hofften er und Tuffelsyt mehr Informationen zu finden, konnten Vorräte einkaufen, und sie erfuhren auch, daß die ZYRPH’O’SATH gelandet und schnell wieder gestartet war, mit unbekanntem Ziel. Hinter ihm fragte Tuffelsyt: »Was schreibst du da?« »Die Bilanz unserer gemeinsamen Abenteuer, Händler des Unmöglichen«, entgegnete Colemayn brummig. »Dann schreibe weiter. Wann sind wir in der Nähe von Bownuthenig?« »Zehn Stunden mindestens.« »Und wie geht es dir?« »Warum fragst du?« Der Pharster setzte, soweit dies in dem spitzen, fellbedeckten Gesicht zu erkennen war, eine überlegene Miene auf. »Ich habe gemerkt, daß du nach dem ersten Start eine schlimme Zeit gehabt hast. Völlig unbrauchbar warst du.« »Ach«, schnarrte Colemayn. »Geh zum Teufel. Oder wie man den Kerl bei Euch nennen mag.« »Nur unter Protest«, gab Tuffelsyt mit seiner schrillen, nervenzehrenden Stimme zurück. Immerhin schwieg er. Also hatte er gemerkt, daß der erste Anfall Colemayn unvorbereitet getroffen und tief erschreckt hatte. Er notierte weiter, stichwortartig. Hinter jedem Begriffstand eine kleine Geschichte, eine blumenreiche Schilderung eines Teilabenteuers. Colemayn war sich klar darüber, daß er für den geld- und erfolgsgierigen Händler ein exotischer Kamerad war. Auf keinen Fall würde es eine echte Freundschaft werden. Tuffelsyt war unberechenbar. Als wieder ein feiner, sengender Stich durch beide Schläfen zuckte, dachte der Planetenwanderer an den Moment, an dem die NACHTJAGD wieder einmal in den normalen Weltraum von ManamTuru zurückgefallen war. Ein Summer begann zu arbeiten. Zuerst auf dem Schirm der Voraus-Fernortung, dann nacheinander auf den Vergrößerungen und dem Monitor für den Nahbereich erschienen die Abbildungen eines fremden Schiffes. Augenblicklich regelte Colemayn einen neuen Kurs ein. Er erschrak bis ins tiefste Innere. Das Raumschiff sah aus wie eine goldschimmernde Kugel, in deren Wandungen sich die Sterne und die Sonnenkonstellationen der Galaxis undeutlich spiegelten. Colemayn unterdrückte die helle Panik, die ihn befiel. Unter der Kugel breitete sich eine Plattform aus. Als sich die NACHTJAGD aus dem Kollisionskurs herausschwang und davonraste, sprang Colemayn auf und schloß mit einem Schalterdruck das Schott zur Steuerkabine. Dann riß er die
oberste Klappe des Rucksacks auf, zerrte in fieberhafter Eile das Schwert hervor und wickelte es aus der Umhüllung aus. Colemayn war es, als tastete ein fremder und unerforschlicher Verstand wie ein spinnendünner Finger nach ihm. Er hielt das Schwert in beiden Händen und fühlte eine unerklärliche Angst. Es gab in diesen Momenten der Lähmung und des Schreckens keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Colemayn war allein in der kleinen Kanzel. Der Pharster wußte noch nichts von dieser Bedrohung, und er hatte die Steuerkanzel noch nicht betreten. Die rechte Hand Colemayns tastete nach dem Griff des Schwertes, und seine Gedanken überschlugen sich, verwandelten sich in Bitten und in lautloses Flehen. Er flehte, halb außer sich vor Angst und vor Furcht vor dem fremden Bewußtsein in dem merkwürdig geformten »goldenen« Raumschiff, die Waffe an. Er wollte, daß dieses Schwert ihn vor dem Unbekannten dort drüben verbergen möge. In einem Winkel seines klaren Bewußtseins, das sich weit zurückgezogen hatte, erkannte Colemayn den abstrusen Charakter seines Vorhabens. Dennoch flehte und bettelte er die Waffe an. Er kauerte auf dem glatten Boden, lehnte seine breiten Schultern an die Vorderfront der Pulte und warf immer wieder kurze Blicke auf die Schirme. Dann wieder konzentrierte er sich auf diese abenteuerliche Anrufung des Schwertes und fühlte, wie sich die scharfe Schneide in die Haut der Finger und Handballen bohrte. Gleichzeitig spürte er die Schmerzen im Kopf und im Rückgrat. Er sah weder, wie Tuffelsyt hereinkam und ihn mit seinen riesenhaften dunklen Augen anstarrte, noch den Vorgang, den die Ortungsschirme zeigten. Das goldschimmernde Kugelschiff mit der seltsamen Plattform setzte seinen Flug fort, als hätten die Wesen an dessen Ortungsgeräten den winzigen Fremdkörper nicht gesehen. Oder als ob jemand in dem Flugkörper festgestellt hätte, es lohne sich nicht, die Insassen zur Kenntnis zu nehmen. Das große Raumschiff verschwand. Die Beklemmung wich fast sofort. Die Schmerzen waren geblieben. Tuffelsyt starrte Colemayn beunruhigt an und fragte: »Warum hältst du das Schwert fest?« »Hast du nichts gemerkt, eben…?« Seufzend richtete sich der Sternentramp auf und stierte die leeren Bildschirme an. Tuffelsyt stieß einen zischenden Laut aus und erwiderte halblaut: »Mir war, als würde jemand in meinem Kopf denken. Nur einen winzigen Moment lang.« »Beinahe wäre etwas Furchtbares passiert!« sagte Colemayn. Er lockerte den krampfartigen Griff um das Schwert und wickelte schließlich wieder das Tuch um Schneide und Griff. »Ich habe nichts gemerkt. Ein Angreifer?« »Etwas, vor dem ich Angst hatte. Wirkliche Angst«, bestätigte Colemayn fast gegen seinen Willen. »Ich habe das Gefühl, du übertreibst«, sagte der Pharster. »Ich habe ein kugelförmiges Schiff gesehen, mit einer Art Teller daran.« »Das war der Feind aus dem Dunkel«, sagte Colemayn. »Ich habe keine Ahnung, was diese Kugel wirklich bedeutet. Aber ich fühlte eine Angst, die bis ins Mark ging.« »Vielleicht sagt uns jemand auf Bownuthenig, was es mit diesem Raumschiff auf sich hat«, schloß Tuffelsyt. »Sonst irgendwelche Beobachtungen?« Er zeigte auf die Bildschirme.
Colemayn schüttelte den Kopf und kramte nach dem Beutel, der den Roten Kristall enthielt. »Nein. Spiele dich nicht als Kopilot auf, Tuffelsyt. Du kannst mir ohnehin nicht helfen.« »Vielleicht erzählst du mir aus deinem Leben? Ich stellte mir den Raumflug mit dir weitaus unterhaltsamer vor.« »Raus!« Dann war Colemayn mit seinen Schmerzen wieder allein geblieben. Er preßte den Kristall auf seine Brust und verlor erst nach einer Stunde seine Beklemmung. Zu diesem Zeitpunkt war die NACHTJAGD längst wieder in die Linearetappe geglitten und jagte auf ihr vorläufiges Ziel zu. Colemayn plünderte die Speicher und versuchte herauszufinden, in welchem Teil der fremden Galaxis sie sich befanden. Aber der Sternentramp hatte nicht bemerkt, daß Tuffelsyt seinen Zustand erkannt hatte. Der Pharster, der nicht zögern würde, diesen »Exoten« gewinnbringend zu verkaufen, hatte scharfe Augen. Colemayn beendete seine Aufzeichnungen und bewegte die Muskeln von Oberarm, Schulter und Nacken. Das Bohren und Stechen nahe seinem Rückgrat nahm zu und wurde lästiger. Der Planetenwanderer sagte leise: »Ich kenne dich, Schmerz. Bis heute habe ich dich besiegen können. Ich kapituliere auch jetzt nicht – auch wenn’s schlimmer wird.« Irgendwo voraus lag das System der Sonne Nydro mit dem bewohnten Planeten Bownuthenig. Vielleicht kam man dort zu Hinweisen, wo Atlan zu finden sei. *** Spätestens bei seinem letzten Versuch, das wirkliche Riesengeschäft seiner gesamten Händlerkarriere zu machen, lernte Tuffelsyt die Schwierigkeiten des Lebens kennen. Sein Mißtrauen, schon immer gut ausgeprägt, war bis zum letzten Funken geweckt worden. Er traute niemandem mehr. Nicht einmal Colemayn, wenn es um mehr ging als um die Steuerung des Raumschiffs. Aus diesem Grund hatte Tuffelsyt den Bildschirm in seiner winzigen Kabine immer eingeschaltet. Er beobachtete den Exoten und dessen Handgriffe ebenso wie indirekt die Bildschirme und Instrumente der NACHTJAGD. Tuffelsyt hatte die metallenen Zierzylinder seiner Gliedmaßen abgelegt. Sie waren unbequem, und er müßte sie täglich putzen. Nur während der Besuche auf fremden Raumhäfen gedachte er sie wieder anzuziehen. Sein langer und dichter Pelz zeigte wieder olivgrüne Farbe und war in den vergangenen Stunden sorgfältig gepflegt. Die letzten Spuren der Verhaftung, Gerichtsverhandlung und der Kämpfe auf dem Raumhafen Nald-Pharst waren verschwunden. Das Horn der Finger glänzte wieder dunkelrot poliert, die Krallen waren sorgsam gefeilt und gerundet. Ein ganz kleines bißchen vermißte Tuffelsyt den Schutz der Familie, der Sippe Rotym-Nay. Aber als Sippenverbrecher war er aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen worden. Er mußte seinen Blick in die aufregende Zukunft richten – eines Tages würde er im Triumph zurückkehren und es ihnen allen gezeigt haben! Er säuberte die Folienhäute der Brille, probierte das dehnbare Band aus und legte das Instrument zur Seite. In der mäßigen Beleuchtung innerhalb des Schiffes brauchte er den Helligkeitsschutz nicht. »Der Weg zu Atlan wird beschwerlich werden«, sagte er. Wenigstens wußte er von Colemayn ganz genau, wie der andere Exote aussah, und über welch erstaunliche Fähigkeiten er verfügte.
Aber Colemayn machte ihm echte Sorgen. Er wollte etwas rufen, besann sich und schloß seinen dreieckigen Mund wieder. Es ging dem anderen Besatzungsmitglied wieder schlecht, denn er preßte den unbedeutend und wenig kostbar aussehenden Stein gegen die Brust und saß mit tiefen Falten im grauen Gesicht vor den Kontrollen. Er stöhnte leise; ein Zeichen des Unwohlseins. Was hatte Colemayn an dieser fremden Kugel derartig gestört? Für den Pharster war es ein Raumschiff wie jedes andere gewesen. Er stieß einen leisen Laut der Besorgnis aus und flüsterte zischend: »Ohne Piloten kann ich Atlan nicht fangen!« Und Colemayn war ein guter Pilot. Zwar hatte Tuffelsyt ihm viele Griffe, Schaltungen und Handlungen abgesehen und traute sich zu, die NACHTJAGD bei einer Landung nicht gerade in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Aber vermutlich würde er niemals die ruhige Selbstverständlichkeit haben, die Colemayn auszeichnete. »In dieser Hinsicht brauche ich den Exoten wirklich«, gestand er sich ein. Und wenn der Pilot krank wurde, war die Mission höchst gefährdet; das ultimate Geschäft mit galaktischem Großgewinn würde nicht stattfinden. Er stellte seine vier kurzen, stämmigen Beine auf den Boden. Die künstliche Schwerkraft war von Colemayn heraufgesetzt worden. So verloren weder er noch der Exote etwas von ihren Körperkräften. Sie führten bei jeder Bewegung eine Art Krafttraining durch. Mit zwei Dutzend Schritten war er vor dem geschlossenen Schott. Er drückte den Tastschalter, die Stahlplatte glitt fauchend zur Seite. Langsam hob Colemayn den Kopf mit dem kurzen, weißgrauen Borstenpelz, durch den die dunkelrote Farbe der haarlosen Hautteile hindurchschimmerte. »Ja?« murmelte er. Seine seltsame gelbe Mütze mit roter Quaste lag auf dem Kontrollpult. »Ich mache mir Sorgen«, sagte Tuffelsyt. »Was fehlt dir?« »Nichts.« »Hunger? Durst?« Sie hatten, einschließlich des normalen Bordvorrats des ehemaligen Gefängnisschiffs mehr als genug Nahrungsmittel. Die zeremoniellen Geschenke der Ankläger waren mittlerweile aus ihren prunkvollen Umhüllungen herausgeschält und dort untergebracht, wo sie nicht verderben konnten. Basismaterial und Wasser für die Pantry waren auf Wyto-Lowaye gebunkert worden. »Nein. Du kannst nicht helfen. Schmerzen.« »Wo?« »Hier und… hier. Und es tut verdammt weh!« Colemayn deutete, halb über das Pult gesunken, auf seinen Kopf und den Rücken. Die Bildschirme ließen nur das brodelnde Grau der Linearsprungstruktur erkennen. Tickende und summende Geräusche kamen aus dem Kurscomputer. »Du hast den Stein auf deiner Haut?« »Ja. Woher weißt du…?« ächzte Colemayn. Schweigend deutete Tuffelsyt auf den Interkom, wobei er seinen Arm in die größtmögliche Länge ausfuhr. »Ich verstehe. Du kannst mir wirklich nicht helfen, Tuffel!« Der Pharster stieß einen Fluch aus, den er in Aszmo-Village gelernt hatte. »Ich kann die Pantry auf Wein programmieren, Kileimeinn!«
Das Wort mußte auf den Exoten wie ein deutliches Zeichen der Freundschaft wirken. Aber »Kileimeinn« hob nur schwach den Oberkörper und brummte: »Laß mich allein. Das ist die beste Medizin… doch! Hole mir einen Krug Wein. Aber keine schlaffe Brühe, Tuffel.« Er wußte, auch das würde nicht helfen. Aber es erleichterte vielleicht die lange Wartezeit. Der zweite Anfall seit Pharst kam langsam, aber er war unzweifelhaft kräftiger als der erste, der zudem kürzer gewesen war. Nun wußte der Pharster also genau Bescheid. Was soll’s! dachte sich Colemayn. Warum sollte er es verbergen? Als Tuffelsyt mit einem Krug, einem kleinen und einem großen Becher zurückkam, drehte der Fremde den Sessel herum, trank schweigend und fing dann an, eine Geschichte zu erzählen. Er sprach mit schwacher Stimme. Seine Worte und Sätze kamen stockend, aber sie waren klar verständlich, auch in der fremden Sprache Pharsts. Colemayn erzählte von einem System aus einstmals siebenundzwanzig Planeten, die eine große, weißbrennende Sonne umkreisten. Das System lag nicht in der Galaxis Manam-Turu oder einer anderen, deren Name dem Pharster geläufig war. Fünftausend festungsartige Außenforts, schwerstbewaffnete Raumstationen schützten dieses Zentrum des Großen Imperiums. Dann redete Colemayn von Arkon Eins, dem Wohnplaneten, von dem Atlan kam. Staunend hörte Tuffelsyt zu und schüttete hin und wieder Wein in die Becher. Er wußte, daß Kileimeinn die Wahrheit sprach.
2. Jedes Wort kann blanker Verrat sein! Harmlose Unterhaltungen werden zu dechiffrierbaren Depeschen. Raumfunksprüche strotzen förmlich von Kenntnissen und Wissen, weil sie wertvolle Neuigkeiten über weiteste Strecken transportieren. Mein Stellar-Diarium ist voll von solchen Beispielen. Aus diesem Grund speichert ein Bandgerät jedes Wort, das die Antennen auffangen; in mehreren Sprachen. Ich habe nur noch keine Zeit gehabt, dieses Kauderwelsch einer genauen Prüfung zu unterziehen. Und: Weingenuß schärft die Sinne! (aus Colemayns Sternentagebuch) *** Nach drei Stunden vergingen die Schmerzen. Der Wein hingegen ließ mich stark betrunken zurück. Ich würde eine Handvoll Tage vor den Schmerzen Ruhe haben. Zuerst brauchte ich Schlaf. Dann würde ich mich den gesammelten Funksprüchen widmen können. Ich stemmte mich hoch und stolperte über den schlafenden und schnarchenden Tuffelsyt hinweg. Dann suchte ich seine Kabine auf, klappte zusätzliche Elemente aus der Wand und erwartete, dahinter den nackten Weltraum zu sehen. Nichts da. Ich ließ mich fallen und versank schlagartig in einen abgrundtiefen Schlaf. Irgendwann wachte ich auf. Mein Kopf war völlig klar. Keine Bewegung schmerzte mehr. Ich fühlte mich wie neugeboren und erkannte auch diesen Zustand wieder. Nur im Mund und auf der Zunge hatte ich den Geschmack nach heißem Maschinenraum. »Wieder einmal hat’s geholfen, Mann von Evron, Arkon oder sonstwoher«, sagte ich mir fröhlich, stieß eine säuerliche Alkoholfahne hervor und ging federnden Schrittes in die winzige Sanitärzelle. Als ich sie nach einer längeren Zeit wieder verließ und die Alarmsummer noch immer nicht gedröhnt hatten, war ich sicher, den Kampf gegen das fremde Universum wiederaufnehmen zu können. »Ans Werk, Colemayn!« rief ich laut und schleppte Tuffelsyt in seine Kabine. Er schlief weiter, also würde er mich nicht mit unqualifizierten Fragen stören. Wenn ich ihn wegen fremder Sprachen brauchte, konnte ich ihn noch immer wecken. Ich verbog die Klammer, die zwei Kopfhörer für pharstische Ohren zusammenhielt, stöpselte die Stecker ein und ließ das zurückgespulte Band anlaufen. Ich hörte im Verlauf von drei Stunden fünfundsiebzig Prozent Gerede, das für meine Zwecke nahezu belanglos war. Aber mit dem Inhalt von fünfundzwanzig Prozent, etwa siebzig Funkdialogen, konnte ich etwas anfangen. Ich mußte Tuffelsyt wecken! *** Tuffelsyt, sagte sich Colemayn längst, stellte sich als höchst zwiespältiger Charakter dar. Innerhalb des Raumschiffs war er ausgesprochen kooperativ. Er half Colemayn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Aber die Gefahr lag auf den festen Bodenplatten eines Raumhafens. War das Schiff gelandet, verwandelte sich der Pharster in einen Händler mit der moralischen Großzügigkeit eines Schakals. Jetzt half er Colemayn, die Funksprüche zu verstehen, und erklärte ihm, was bestimmte Ausdrücke oder Fremdwörter bedeuteten. Funksprüche aller Arten konnten, teilweise verstümmelt, abgehört werden: Die ZYRPH’O’SATH hatte Nald-Pharst verlassen und keine Zielangaben gemacht… mehrere
Schiffe von Pharst fragten mit drängenden Rundrufen, ob andere Schiffsortungsleute die NACHTJAGD nach dem Fluchstart gesehen hätten. Es gab nur negative Rückrufe. Kaum verständlich blieb ein Fernspruch, dessen Absender eine Bastion Fünf war. Von dort aus verlangte Halphar, Diener des Gwyn, von der Ligriden-Mannschaft auf Pjol-Kimorz, die zügige Fortführung der Arbeiten… ratlos schrieb Colemayn die einzelnen Begriffe und Namen auf ein Stück Folie. »Kannst du mir helfen?« fragte Colemayn zögernd. Tuffelsyt führte die Geste der Verneinung aus. »Einiges verstehe ich. Anderes nicht. Mach weiter.« Colemayn drückte wieder die Vorlauftaste. Neue Namen tauchten auf. Viele Funksprüche waren stark verstümmelt. Hyptons… die Piraten wurden auf dem vermuteten Flug nach… lard gesichtet… der Notruf eines Schiffes RHANOYR nach einem Zwischenfall in der Triebwerksanlage… eine Meldung in einer maschinenartig klingenden, unbekannten Sprache, mit der beide Raumfahrer nichts anfangen konnten… schließlich der Funkspruch, daß die Hyptons (Colemayn suchte in seiner Erinnerung fieberhaft, ob er diese Bezeichnung kannte) einen alten Feind wiederentdeckt hätten. Er soll aus einer Galaxis gekommen sein, die sich »Milchstraße« nannte. Mit spitzem Zeigefinger deutete Colemayn auf die Abspielgeräte. »Das kann nur der Mann sein, den wir suchen. Atlan, der Mann von Arkon.« »Du kennst diese ›Milchstraße‹?« Tuffelsyt sprach das Wort in unnachahmlicher Verzerrung aus. »Es gibt nichts, das ich nicht kenne«, bestätigte Colemayn gutgelaunt. Die Schmerzen waren verschwunden – restlos. Er wiegte sich in der trügerischen Sicherheit, daß er vor ihnen eine Weile lang absolute Ruhe haben würde. Jedes Ding hatte seinen Preis; auch Colemayns gegenwärtiges Leben war etwas, wofür er zu zahlen hatte. Durch Schmerzen und möglichem biologischen Verfall. Schnell verdrängte er diese trüben Gedanken und sagte: »Weißt du, welcher Planet, welches Sonnensystem auf dieser Fluglinie zu, finden sind?« Auf dem Monitor des Kursrechners erschienen die bisherigen Haltepunkte, eine Unmenge von Zahlen und Symbolen, und am Ende der Linie das Sonnensystem Nydro-Bownuthenig. »Nein. Keine Ahnung«, rief Tuffelsyt aufgeregt und schrill. »Weißt du, wie groß unsere Galaxis ist?« »Natürlich. Sie ist gigantisch.« Manam-Turu war, das wußte der Sternentramp mittlerweile ziemlich genau, größer als die Milchstraße Alkordoom. Eine spiralige Masse von Milliarden Sonnen, deren Entfernung von Alkordoom unbekannt war, sich aber in den gewohnten kosmischen Bezügen bewegen dürfte. »Wir kennen nur einen Bruchteil davon. Du merkst selbst, daß nicht einmal im Rechner die Namen vorhanden sind, die wir suchen.« »Richtig. Wir wissen, daß wir nichts wissen.« »Klugheit spricht aus jedem deiner Worte«, schnappte der Pharster. Der Sternentramp gab gutgelaunt zurück: »Das ist einer der Gründe, weswegen du einen sensationellen Preis bei einem Verkauf für mich erwartest.« »So ist es«, pflichtete Tuffelsyt ihm bei. Ein Summer gab ein unterdrücktes Geräusch von sich. Monitoren erwachten zu dreidimensionalem Leben. Eine Ziffernkombination in einem blinkenden Leuchtfeld sagte aus, daß in weniger als fünfundzwanzig pharstischen Zeiteinheiten die NACHTJAGD in der Nähe der Zielsonne den
Linearsprung beendet haben würde. »Gut so«, meinte Colemayn. »Dort werden wir erfahren, wo jener Planet mit dem fremdartigen Namen liegt.« »Pjol-Kimorz?« »Genau diese Pjol-Angelegenheit«, murmelte Colemayn. »Überdies hast du die Wahl. Entweder verhältst du dich weiterhin still, vernünftig und zurückhaltend – also keine neuen Verkaufs-, Tausch oder Handelsgespräche! –, oder ich lasse dich gefesselt im Schiff zurück. Noch hast du die Wahl.« Das Gesicht des kleinen Pharsters, von dichtem Fell bedeckt, ließ nur sehr wenig Ausdruck erkennen. Trotzdem schien es Colemayn, daß der Partner lächelte. »Auf Bownuthenig habe ich keine Handelspartner. Die Würmer werden dich schwerlich haben wollen.« »Außerdem brauchst du mich, um Atlan zu finden, deine zweite, wertvollere Ware, du skrupelloser Neffe eines Münzenzählers.« »Auch das ist richtig«, keifte Tuffelsyt zurück. Der Sternentramp war sicher, daß der Kleine ihn dennoch bei der ersten Gelegenheit sabotieren würde. Absolut sicher. Die NACHTJAGD schüttelte sich leicht, als sie in den normalen Weltraum zurückglitt. Weit voraus leuchtete die rötlich-gelbe Kugel der Sonne Nydro. Inzwischen hatte Colemayn das Raumschiffchen richtig liebgewonnen. Das Objekt war viel zu gut; um als Gefangenenschiff zur Deportationswelt der Pharster zu dienen. Es gehorchte ihm auf jeden Finger druck, und er ließ sich die Daten des Planeten geben. Langsam, in einer weit ausgeschwungenen Kurve, steuerte die NACHTJAGD auf Bownuthenig zu. Das Funkgerät begann zu blinken; Tuffelsyt meldete sich und bat um Landeerlaubnis. Sie wurde ihm ohne Zögern erteilt. *** Der kleine Diskus senkte sich mit ausgefahrenen Landestützen fast vertikal auf die helle Fläche hinunter. Der Raumhafen dieses Planeten wirkte selbst auf Colemayn, der mehr Anlagen dieser Art als jedes andere lebende Wesen kannte, reichlich seltsam. In einer riesigen Ebene voller kegelförmiger Erhebungen wuchs er auf wie ein Tafelberg. Dicke Baumstämme trugen die ungefügen Strahler, von denen die spiegelglatte Landefläche beleuchtet wurde. Die Bäume und die Landefläche bildeten einen vollkommenen Kreis. Mächtige Kronen schüttelten sich in einem Wind, der in Stößen kam und Staubfahnen aufwirbelte. »Du kennst die Bewohner?« erkundigte sich Colemayn. Er dirigierte die NACHT JAGD auf den Rand des Platzes zu. Dort verband ein igluförmiges Bauwerk die Ebene des Hafens mit dem etwa dreißig Meter darunterliegenden Boden der Landschaft. Zwischen den einzelnen Hügeln, die unterschiedlich groß und hoch waren, wuchsen dieselben Bäume; jünger oder älter, kleiner, größer und weniger wuchtig. »Indirekt. Habe viel von ihnen gehört. Sie sehen aus wie Würmer mit Armen und Beinen«, erklärte Tuffelsyt. »Weder dir noch mir sehr ähnlich.« »Ich sah nur den Kopf vom Raumhafenchef«, meinte Colemayn und zuckte die Schultern. Der Diskus setzte in einer hell ausgeleuchteten Zone auf. Es waren nur wenige Dutzend Schritte bis zum halbrunden Eingang des Kontrollgebäudes. »Der war auch nicht schöner. Aber es sollen ganz verträgliche Burschen sein, die Bownuthenigs«, beruhigte ihn Tuffelsyt. Einer der Nachteile dieses Schiffes war der Umstand, daß es weder für den Pharster noch für den exotischen Colemayn Raumanzüge an Bord gab. Der Planet war daher ausgesucht worden, weil
seine Lufthülle den zwei Raumfahrern normale Überlebensbedingungen bot. Schweigend beobachtete Colemayn den Atmosphäre-Indikator und nickte, als die Anlage beruhigende Werte zeigte. »Ich gehe hinüber«, erbot sich Tuffelsyt. »Einverstanden?« »In Ordnung.« Die äußere Schleusenpforte glitt auf, die Rampe schob sich auf den Boden der fremden Welt zu. Es war tiefe Nacht; undeutlich schimmerten die Sterne von Manam-Turu durch die dünnen Staubwolken. Es roch nach einer Mischung von frischer Erde und blühenden Pflanzen. »Du befiehlst«, sagte Colemayn. »Ich stelle deinen Diener und Piloten dar. Du weißt, was zu tun ist?« »Natürlich. Das weiß ich immer.« »Ein schönes Beispiel von gesundem Selbstbewußtsein«, brummte Colemayn und verließ langsam das Raumschiff. Am gegenüberliegenden Rand des Landefelds standen fünf riesige Raumschiffe, die wie unregelmäßig nachgedrückte Würfel aussahen. Lange Reihen winziger Bullaugen ließen schwaches, gelbes Licht erkennen. Colemayn und Tuffelsyt näherten sich dem bogenförmigen, weit geschwungenen Eingang. Niemand bewachte ihn, es waren auch keine Torflügel zu sehen. Der Sternentramp zuckte die Schultern und bückte sich unter dem Bogen. Trippelnd folgte Tuffelsyt. Die Wände des Iglus wölbten sich nach oben und innen und waren mit breiten Bändern eines seltsamen Frieses geschmückt. Sie bestanden, soweit es Colemayn zu erkennen vermochte, aus verschiedenen Gesteinsarten, die in Scheiben geschnitten und wie ein Mosaik zusammengefügt worden waren. Eine breite Rampe führte abwärts. Dann tauchte der erste Planetarier auf. Ein stählern blauer, walzenförmiger Körper, wie ein Fragezeichen aufgerichtet, bewegte sich auf etwa einem Dutzend lederumhüllter Beine. Sie endeten in runden, weichen Klauenpranken. Aus dem breiten Mund des Wesens kam die Frage. Tellergroße Augen, aus sechseckigen Facetten zusammengesetzt, richteten sich hundertfach auf die Ankömmlinge. »Ihr habt um Landeerlaubnis nachgesucht. Was können wir für euch tun?« Colemayn antwortete, als hätte er niemals andere Texte gesprochen. Aber er war sich darüber im klaren, daß seine Kenntnis der Manam-Turu-Umgangssprache durchaus noch zu wünschen übrig ließ. »Mein Herr, der ehrenwerte und überaus tüchtige Meister aller Kaufleute von Pharst, Juwel der hellen Planetenseite, weises Haupt der Sippe Rotym-Ney, Händler der Sensationen, hat ein Problem. Für euch ist es weniger als ein Erdkrümel, für ihn hingegen eine wichtige Information.« »Kommt ins Innere. Willkommen«, sagte der Planetarier. Seine Stimme war tief, aber weich und angenehm. Die Gliedmaßen, die wie bei einem riesigen Tausendfüßler aus dem aufgerichteten Teil des Körpers herauswuchsen, waren wie Hände, Grabwerkzeuge, Schaufeln und Hacken geformt. An den Gelenken trugen sie an breiten, elastischen Bändern kastenförmige, technisch aussehende Elemente. »Danke.« Sie folgten dem Planetarier über eine zunächst gerade verlaufende, dann sich einwärts und abwärts krümmende Rampe. Colemayn sagte sich, daß das Fehlen von Stufen logisch war. Die Muster des polierten Steines folgten der Krümmung. Sie kamen in einen Kuppelraum, der voller technischer Einrichtungen war und große Fenster in die Richtung des Landeplatzes hatte. Die Technik schien dieselbe wie überall an solchen Orten zu sein, natürlich den Notwendigkeiten der
Bownutheniger angepaßt. »Worin besteht euer Problem?« fragte der Planetarier, nannte die Namen der beiden anderen Planetarier und deutete auf unbequeme Sitzgelegenheiten. »Ich brauche Teile einer Sternkarte. Oder einen Steuerkristall für einen Kursrechner Typ…«, erklärte Tuffelsyt herablassend und nannte einige Spezifikationen. »Mein Herr bittet um Informationen. Er wird dafür mit dem günstigeren Einkauf von Waren bezahlen, deren Art ihr bestimmen könnt. Darüber hinaus ist ihm gelegen, etwas über einen Fremden zu erfahren, der eine wichtige Botschaft für ihn hat, und dadurch auch für mich, seinen Piloten. Der Fremde sieht so ähnlich aus wie ich, und er nennt sich Atlan. Besonderes Kennzeichen ist schulterlanges, fast weißes Haar, das er vermutlich offen trägt. Habt ihr je etwas über ihn gehört?« Colemayn unterstrich seine Frage mit zahlreichen entsprechenden Gesten. In der dunkelblauen Haut des Kopfes, dem erkennbare Gesichtszüge fehlten, war noch weniger Gefühlsregung festzustellen als im pelzigen Antlitz eines Pharsters. »Ich habe die Bezeichnung Atlan gehört. Funkspruch«, erklärte der Planetarier. »Warum sucht ihn der Naldrynne wirklich?« Drei Endglieder deuteten auf Tuffelsyt. Colemayn runzelte die Stirn; bisher hatte er Tuffelsyt als Pharst-Abkömmling definiert. »Weil Atlan ihm ungeahnte Möglichkeit des freien Handels eröffnen könnte«, erwiderte Colemayn doppeldeutig. »Aber…bisher bezeichnete man ihn als Pharster. Abkömmling von Pharst, der Welt zwischen dauerndem Dunkel und immerwährender Helligkeit.« »Wir kennen dieses Planetenvolk eindeutig als Naldrynnen«, antwortete der dunkelblaue Riesenwurm mit Entschiedenheit. Es war ein wenig gespenstisch, wenn sich die vielen Einzelaugen einmal auf dieses, dann auf ein anderes Ziel richteten. »Nun ja«, sagte Colemayn und speicherte diese Information für spätere Zeiten, »so wichtig wird das nicht sein. Ihr kennt die Welt Pjol-Kimorz?« »Neunzehn Norm-Lichtjahre entfernt«, sagte ein anderer Bownutheniger von seinem Schaltpult her. »Sieben Monde. Die Sonne ist als Syntran verzeichnet. Eine von Intelligenzen unbewohnte Welt, erst vor kurzem entdeckt, eine waldreiche Welt. Mehr Informationen sind nicht vorhanden.« Er schien einen Schalter gedrückt zu haben, denn einige Geräte begannen zu summen und zu knistern. Er zog eine schneeweiße Folie aus einem Ausgabeschlitz, die von Kreisausschnitten, Linien und Zahlenreihen übersät war. »Und wo finden wir Atlan?« fragte Tuffelsyt, dem nicht entgangen war, daß man für sie Sternkarten des Nahbereichs vorbereitete. »Das können wir nicht sagen. Wir haben undeutliche Funksprüche aufgefangen. Irgendwer, der sich Hyptons nennt, sucht ihn auch. Piraten sollen ihn entführt haben. Ein wichtiger Planetarier?« »Ein Fremder in dieser Milchstraße«, sagte Colemayn. »So ähnlich wie ich. Habt ihr eine Ahnung, aufweiche Weise und möglicherweise sogar an welchem Ort wir Atlan finden können?« »Definitiv: Nein«, sagten fast gleichzeitig alle drei Planetarier in der Kuppel. »Nein.« »Schade«, murmelte Colemayn und schalt sich, weil er sich zu große Hoffnungen gemacht hatte. »Wieder nichts.« Inzwischen spuckte der Rechner die dritte Sternkarte oder Kursberechnung aus. Mit geschäftsmäßiger Tüchtigkeit heftete der Planetarier die Folien zusammen, stand auf und gab sie Colemayn.
»Du bist der Pilot? Zufrieden?« »Ich bin zu unwürdig«, versicherte Colemayn ernsthaft, »um mich richtig bedanken zu können. Eines Tages wird sich Tuffelsyt, der Händler des Unwahrscheinlichen, gebührend bedanken.« Er rollte die Karten zusammen und steckte sie in eine der vielen Taschen seiner Felljacke. »Und ich danke euch sehr herzlich«, versicherte Tuffelsyt. Er meinte es tatsächlich ehrlich. »Wir brauchen weder Wasser noch Nahrungsmittel. Dürfen wir starten? Noch einmal Dank für die Auskunft.« Der Verantwortliche wedelte verbindlich mit seinen Gliedmaßen. »Wir waren froh, euch helfen zu können. Ihr fliegt nach Pjol-Kimorz?« »Das ist so gut wie sicher«, sagte Colemayn. »Ihr habt nicht viel Raumverkehr?« »Wir sind eine aufstrebende Welt. Wir verstehen uns als Planet an der Schwelle interstellarer Kommunikation.« »Eure Schiffe?« Freundlich winkte er Tuffelsyt und bedeutete seinem riesigen Piloten, ihm zu folgen. Nacheinander verließen sie den Kontrollraum. Fast geräuschlos, nur mit dem Schnurren der weichen Tatzen auf dem glatten Boden, glitt der Chef dieser kleinen Mannschaft vor ihnen her. Vor dem Iglu mit der weißgekalkten, gemauerten Oberfläche blieben sie stehen. Colemayn machte eine grüßende Bewegung. »Ein kleiner, aber schöner Raumhafen«, lobte er. Er log, denn es fehlten augenscheinlich sämtliche technischen Einrichtungen eines funktionierenden Hafens, abgesehen von der Funkanlage und der ausreichenden Beleuchtung. »Er wird in einem Jahrhundert größer und an interstellarem Standard zu messen sein!« versprach der Bownutheniger. Colemayn und Tuffelsyt gingen zur NACHT JAGD, programmierten den Kurs zu Pjol-Kimorz und schlossen dann die Schleuse. Je intensiver sich während der ersten Phase des Starts der Sternentramp mit den Informationen der Folien beschäftigte, desto genauer wußte er schließlich, daß der anvisierte Planet alles andere als langweilig war. Der erste Hinweis: Sämtliche sieben Monde, die auf abenteuerlichen Bahnen um Kimorz rotierten, begannen mit der Vorsilbe Syn. Synzinna wurde der größte Mond genannt, die anderen hießen Synfedde, Synwillo und so fort. Die Sonne – Syntran! – wurde als schnell-unregelmäßig pulsierender Stern ausgewiesen; die Karten sagten nichts über den Rhythmus aus. Aber es war nicht schwer, einen korrekten Flugkurs zu programmieren. »Würde es Euch, Herr Tuffelsyt, sehr molestieren, wenn Ihr Eurem untertänigsten Piloten eine schnelle Mahlzeit zubereiten würdet?« erkundigte sich Colemayn nach einer Weile. Die NACHTJAGD befand sich auf Kurs und raste dem Augenblick der ersten Linearetappe entgegen. »Nicht im mindesten. Mit Wein?« »Wein ist immer gut«, sagte Colemayn. »Ein gutgelaunter Raumfahrer ist die halbe Lebensversicherung.« Tuffelsyt hielt sich zurück. Er ließ nicht erkennen, wie es ihn ärgerte, daß auf dem Planeten der Vielfüßler keine Gelegenheit für intensive Verkaufsgespräche gewesen war. Er tröstete sich mit der nächsten Landung. Oder der übernächsten. Er stellte Colemayn den Becher auf das Steuerpult und sagte schrill: »Alles in Ordnung – mit deiner Gesundheit?« »Erinnere mich nicht daran«, knurrte der Sternentramp. »Ich hoffe, daß der Zustand möglichst lange
anhält.« »Ich teile diese Ansicht.« Die NACHTJAGD schüttelte sich kurz und glitt in die erste Linearetappe. Es würde genug Zeit sein zum Schlafen, Trinken, für Erzählungen und einen neuen Eintrag in das Diarium.
3. Mehr als vier enge Stiefel können auch Tuffelsyt nicht drücken. Er ist, wie ich auch, guter Dinge: Wir sind auf dem Weg zu Atlan. Wieder ein großer Schritt in diese Richtung. Alkordoom ist vorbei. Hier und jetzt ist Manam-Turu. Aber wenn die Leute (welche auch immer) auf Pjol-Kimorz auch nichts Wichtiges über meinen Jugendfreund Atlan wissen – was dann? Antwort: eine fünfte, sechste oder zehnte Odyssee… (Colemayn: Sternentagebuch) *** »Gwyn« Eisenhelm Talkart betrachtete den riesigen Haufen von Baumstämmen verschiedener Länge und Bearbeitungsstufen. Fassungslos sah er die heruntergerissenen Teile der wuchtigen Maschine. »Das war das fünfte Mal«, sagte der Ligride leise und verbittert. »Wie sollen wir jemals mit dem Stützpunkt fertig werden?« Er fügte einen unhörbaren Fluch hinzu und trat wütend nach einem Holzabschnitt. »Nitom!« brüllte er. Aus dem kantigen Zelt kam der Leiter der Baumfällergruppe herausgerannt. Er war ebenso wie Talkart wütend und ratlos. Fünfhundert Mann waren nahe daran, ihr Gesicht zu verlieren; ein Umstand, der gleichbedeutend mit völliger Ehrlosigkeit war und oft tödlich endete. »Hast du eine Erklärung? Ich habe keine«, sagte Talkart. »Und auch Ipolmen redet ständig von unerklärlichen Erscheinungen.« Sie waren vor elf Tagen gelandet. Nach einer ersten, ziemlich gründlichen Analyse hatten sie genau dieses Gebiet als Landeplatz ausgesucht. Wald, Felsboden, Wasser und genügend ebene Flächen, nahe dem Strand eines Meeres-Seitenarms: die vollkommene Synthese aller Notwendigkeiten. Vor ihnen und zwischen Waldrand und Zeltlager erstreckte sich die erste breite Schneise. Die Maschine am Ende der Schneise und die perfekt und halbrobotisch gestapelten Stöße der bearbeiteten Holzrundbohlen waren fast zerstört und durcheinandergewirbelt. Die Hochenergieanlage des wuchtigen Geräts war verschwunden, losgerissen aus den schweren Stahlverbindungen. »Ich bin ebenso ratlos wie jeder andere. Weiß es Halphar schon?« »Nein.« Nitom schloß beide Augenlider. Die milchigen Häutchen schoben sich von unten nach oben, von oben senkten sich die härchenbesetzten Schuppenlider. Er deutete dadurch an, daß er in meditative Zurückgezogenheit versank. Dann öffnete er den schmalen Mund, ließ sein makelloses Gebiß aufblitzen und sagte unterdrückt: »Es ist gefährlich. Halphar sollte es bald erfahren.« »Ich warte«, erklärte Eisenhelm trocken, »bis ich ihm auch eine Erfolgsmeldung durchgeben kann. Es sieht nichts danach aus, als ob das bald der Fall wäre.« »Leider. Wirklich nicht. Fangen wir also wieder einmal von vorn an.« Donnernder Lärm hatte den Technischen Leiter der Expedition noch vor der Morgendämmerung aus seinem Zelt getrieben. Hinter ihm kamen die Ligriden, die sich an dieser Stelle des entstehenden Stützpunkts befanden. Im Licht der Scheinwerfer sahen sie die Unordnung und später auch die fehlenden Ausrüstungsteile. Da sie in der Dunkelheit nichts tun konnten, hatte Talkart sie in die Betten zurückgeschickt. Jetzt stand die Scheibe Syntrans hellrot über der Kimm aus Felsen und Meer.
»Nicht vor einem ergiebigen Frühstück!« meinte Nitom. »Gehen wir.« »Möglicherweise hat Ipolmen eine begreifbare Erklärung.« Wie jeder andere Ligride waren selbstverständlich auch diese Männer in einem starren und unveränderlichen Geflecht aus Verhaltensweisen gefangen. Sie verzichteten auf eine weitergehende Besprechung der aufgetretenen Phänomene, um sich keine Blöße zu geben. Der Ehrenkodex gebot, daß sie den Fakten in schweigender Konzentration nachgingen und erst dann sprachen, wenn sie stichhaltige Argumente aussprechen konnten. Von einigen Zelten wurden die Seitenwände hochgeschlagen und mit denen der benachbarten Notunterkünfte verbunden. Tische klappten auseinander, Sessel und Expeditionshocker scharrten über den Bretterboden. Der Geruch nach frisch zubereiteten Speisen zog durch den morgendlichen Schatten. Die Harmonie dieser Szenen stand in krassem Gegensatz zu der breiten Schneise aus Zerstörung, die sich weit in den Dschungel hinein erstreckte. Die Baumaschinen, die im Schatten des Raumschiffs standen, waren nicht angerührt worden. Talkart war, ebenso wie Ipolmen, ein Hochgeborener. Als Anhänger des Gwyn-Mythos war er darüber hinaus zur Aktivität verpflichtet, zum entschlossenen Handeln und zur höchstmöglichen Steigerung seiner körperlichen und verstandeseigenen Fähigkeiten. Ihn traf dieser fünfte Schlag aus dem Dunkel besonders hart. Schweigend trank und aß er, und als er den Wissenschaftler »Gward« Ipolmen aus der Richtung des Schiffes kommen sah, winkte er ihm. Ipolmen setzte sich neben ihn und strich über seinen weißen, eng anliegenden Helm aus federleichtem, nahezu unzerstörbarem Kunststoff. »Das Schlimme ist, daß von Zwischenfall zu Zwischenfall die Geheimhaltung in Frage gestellt wird.« »BASTION-Fünf wird schwerlich davon begeistert sein.« »Zutreffend. Was sagen deine Geräte?« »Ich habe Lichterscheinungen gesehen. Natürlich ist alles dokumentiert. Komm nachher hinüber und sieh dir an, was wir gespeichert haben. Ist wieder etwas verschwunden?« »Die Energieeinheit der Rodungsmaschine.« »Ausgerechnet.« Wieder schwiegen sie. Jeder der fünfhundert Teilnehmer dieser geheimen Expedition trug noch seinen Helm; dies bedeutete, daß jeder seine Ehre unangetastet besaß – daß es weder Bestrafte noch Ehrlose auf Pjol-Kimorz gab. »Ich sage euch allen«, wandte sich Talkart nach einer Weile an seine Vormänner, »daß auch diesmal weder unsichtbare Geister noch wirkliche Gegner am Werk waren. Irgendeine Kraft, noch unbekannt, greift hier ein. Vielleicht eine Aktion der Hyptons.« »Hyptons! Niemand hat je einen gesehen!« »Kommandant Halphar weiß jedenfalls, wovon er spricht.« Der Planet Pjol-Kimorz war unbesiedelt. Niemand würde dem Expeditionskorps die Besitznahme streitig machen. Atmosphäre, Wasser, Fauna und Flora hatten jedem Test standgehalten: Kimorz war ungefährlich. Nur einige raubtierähnliche Riesentiere zeigten erkennbares Angriffsverhalten. Aber schon eine Strahlensperre genügte, um sie vom Basislager und den Zelten der Pioniere fernzuhalten. Einige Pioniere glaubten seit dem ersten Zwischenfall – ein leeres Zelt war spurlos verschwunden – an die Existenz eines versteckten Feindes, der von dieser Welt stammte und die Eindringlinge zu
vertreiben versuchte. »Wir lassen uns nicht aufhalten!« entschied Talkart und kratzte ein Insekt unter dem tief in den Nacken reichenden Rand des Helms hervor. Ipolmen zog die Kapuze weit in die Stirn und stand auf. »Ich suche weiter. Ich erwarte dich dann im Schiff.« Sie nickten einander zu. »Problemloser Erfolg!« wünschten sie sich. Die Frauen und Männer machten sich wieder an die Arbeit. Ein halbrobotischer Schlepper mit Greiferarmen kam brummend und ratternd vom Schiff und begann, die wild durcheinandergewirbelten Baumstämme an einer anderen Seite zu schichten. Sie sollten einen Teil des versteckten Lagers ergeben, zusammen mit anderen Materialien. Das halbzerstörte Gerät wurde von einer schwebenden Krafteinheit abgeschleppt und zum Schiff zurückgebracht. An vielen Stellen zeigten sich die bisher unbemerkten Spuren des Planetenbebens, das auch das Schiff zum Vibrieren gebracht hatte. Das Schiß! sagte sich Talkart. Es mußte möglichst bald getarnt werden. Ipolmen würde sich natürlich wieder einmal darüber ärgern; der Befehl ging vor, es konnte keine übertriebene Rücksichtnahme auf den Gward-Wissenschaftler geben. Die Schatten wurden kürzer. Die zunehmende Wärme löste winzige Nebelschwaden auf, die zwischen den Stämmen hervorsickerten. Syntran wuchs groß und gelb über dem Meer und überschüttete das Lager mit Helligkeit. Das Licht durchdrang den Wald und schien die Schrecken der späten Nacht zu verscheuchen. Auch Talkart, der überlegt, schnell und entschlossen seine Kommandos gab, überall mit anpackte und mit seinem winzigen Gleiter jeden Punkt ansteuerte, an dem gearbeitet wurde, gewann etwas mehr Zuversicht. Dieser unsichtbare Gegner mußte gefunden werden – möglichst bald. Während in schnellem Arbeitseinsatz die Schneise aufgeräumt wurde, begannen andere Kommandos, den Boden der Schlucht vorzubereiten. Dort sollte das Raumschiff versteckt werden. Noch erwartete Talkart keine Panik. Erste Anzeichen für diesen Zustand gab es aber schon. Zwei Monde erschienen, hellgrün und bläulich strahlend, am Tageshimmel. Es waren Syndunee und Synolff. Der Diener des Gward, der Wissenschaftler, bezog auch diese Weltenkörper in seine rastlose Suche nach dem Grund der unsichtbaren Überfälle ein, das wußte Talkart: Sicher hatte er jetzt, in der Einsamkeit seines Schiffslabors, den Helm wieder abgelegt und die Kapuze über den Schädel gezogen. Sein Schädel war ebenso haarlos wie der aller Ligriden. Noch etwas beschäftigte den Technischen Leiter: der Umstand, daß der Kommandant von BASTION-V entschlossen war, den Stützpunkt vor den Hyptons geheimzuhalten. Dschungel-1, so sollte der Geheimstützpunkt heißen. Also war zu vermuten, daß hinter den Zerstörungen und dem verschwundenen Material die Hyptons standen. Talkart hatte noch nie einen Hypton gesehen. Talkart winkelte den Arm an. Unter dem Band des Kommunikators bewegten sich die feinen Schuppen der olivbräunlichen Haut. »Hier Talkart. Verbinde mich mit Gward Ipolmen.« »Sofort, Chef.« Es knackte zweimal aus dem winzigen Lautsprecher, dann blinkte das Kontaktlicht. »Du hast ein bestimmtes Anliegen?« erkundigte sich der Wissenschaftler trockenen Tones. »Das Schiff wird spätestens morgen abend am Boden der Schlucht versteckt sein müssen. Ich lasse,
so eng wie möglich, möglichst viele Bäume stehen, zur Tarnung.« »Einverstanden. Du handelst auf Befehl Halphars?« »Kein anderer kann mir befehlen. Ebenso wenig wie dir, Ipolmen. Hast du andere Beobachtungen?« »Einige elektrische Entladungen, Blitze, ungewöhnlich stark im Vergleich zu den Testmessungen. Sonst nichts.« »Der Planet scheint zurückzuschlagen, Ipolmen. Es wird so weitergehen. Ich fange zu ahnen an, daß wir weiteren, schlimmeren Phänomenen ebenso hilflos gegenüberstehen werden.« »Es ist nicht einmal ein Pionier verletzt worden – bisher.« »Auch das wird sich ändern. Ich habe diesen Punkt notiert und werde entsprechend reagieren. Wundere dich bitte nicht über etliche Maßnahmen, die möglicherweise etwas Befremden hervorzurufen geeignet sind.« Talkart verwendete bewußt die förmliche Sprache unter Hochgeborenen. Der Verhaltenskodex schrieb es vor; je wichtiger die Nachricht, desto förmlicher der Umgangston. »Du wirst sicher das Richtige unternehmen. Ich spreche mit Kommandant Tarmon.« »Verstanden. Schalte deinen Bildschirm ein. Die Lichtung ist in einer halben Stunde frei und aufgeräumt.« Fast vierhundert Pioniere arbeiteten. Einige von ihnen reparierten die schwere Spezialmaschine und ersetzten mit Roboterhilfe die Energieeinheit. Ein Mond verschwand, zwei weitere tauchten über den endlosen Wäldern und dem Gebirge auf: Syneicka und Synverta. Eine breite Furche wurde ausgeschachtet, der Boden, die Wände und Kanäle für Rohre unterschiedlichen Durchmessers wurden ausgebohrt und ausgehoben. Ein Gerät schwebte aus der Ladeluke des Schiffes und fing an, aus Sand und Mineralien Plastikröhren herzustellen. Roboter verlegten die Stränge. Die dicksten Baumstämme wurden wie Teile von Fundamenten verwendet und bildeten nach einigen Stunden kantige Reihen mit einer gleichmäßigen Oberfläche. Ein Planiergerät schob den ausgehobenen Boden behutsam an die Fundamente heran. Gegen Mittag steuerte Talkart seinen Gleiter in die weit offene Ladeluke des Schiffes und stellte ihn seitlich zwischen den teilweise noch verpackten Maschinen und Einrichtungsgegenständen ab. Das Raumschiff war bis auf eine Notwache entvölkert; fast alle Frauen und Männer befanden sich auf dem Boden des Planeten. Talkart, der das Expeditionsschiff fast so gut wie dessen Kommandant kannte, fand den Weg bis in Ipolmens Labor mit nachtwandlerischer Sicherheit. Er betätigte den Summer, grüßte förmlich in die glühenden Linsen und sagte: »Ich bitte, hineinkommen zu dürfen.« »Willkommen in meiner Klause«, antwortete Ipolmen. »Ein Krug Gnor steht bereit.« Das Schott glitt summend zur Seite. Talkart bückte sich gewohnheitsmäßig unter dem Rahmen, obwohl er hoch genug war, selbst für ihn mit seinen zweihundertzehn Zentimetern Länge. Ipolmens Labor war, wie meist, halb abgedunkelt. Er drehte seinen Sessel herum und deutete auf Krug und Becher. Sie standen mitten auf seinem Arbeitstisch, der von kleinen Geräten, Zeichnungen, Rechnern, Bildschirmen und Modellen vollgestellt war. Talkart setzte sich und schenkte die Becher voll. »Hast du etwas anmessen oder herausfinden können? Wenigstens eine Idee, die uns weiterbringen könnte?« fragte Talkart.
Zwischen den Säumen an den Rändern der weichen Kapuze erschien im Widerschein der Instrumentenbeleuchtung und der Bildschirme und holografischen Symbole das schmale Gesicht des Forschers mit der flachen, breiten Nase und den leuchtenden, gelbgrauen Augen. »Ich habe alle Antennen auf die Monde ausgerichtet, nacheinander, versteht sich. Vielleicht entdecken wir dort einen Gegner.« Talkart blies den Schaum von dem leicht bitteren Getränk und erwiderte: »Auf dem Flug hierher hatte ich genug Zeit, die Unterlagen zu studieren, Wissenschaftler Ipolmen. Die Voruntersuchungen waren ungewohnt gründlich. Seit neun Tagen arbeiten wir auf Pjol-Kimorz. Wir haben nicht das geringste Anzeichen für Leben entdeckt.« »Daran besteht kein Zweifel. Aber da ist etwas, Talkart! Es zählt nicht zu den normalen Vorgängen auf einem unbewohnten Planeten, daß Dinge aus dem Boden gerissen, Maschinen zerstört werden und Gegenstände aller Größen und Materialien unter leichten Bebenerscheinungen spurlos verschwinden.« »Ich bin mit dir einer Meinung!« Zwischen den beiden Gruppen der ligridischen Bevölkerungen waren Meinungsverschiedenheiten keineswegs zwangsläufig vorprogrammiert. Ipolmen und Talkart verstanden einander gut, denn sie widmeten alle ihre Kräfte und Fähigkeiten dem Auftrag. »Hat Halphar sich wieder gemeldet? Ich warte noch immer darauf, daß ich erfahre, wozu die Station eigentlich dienen soll.« »Niemand weiß es bisher. Der Chef aus BASTION-Fünf wird es uns sagen, wenn er es für richtig hält.« »Er muß gute Gründe haben, die Station Pjol-Kimorz vor den Partnern des Neuen Konzils zu verbergen.« »Er hat sie«, lautete die bestimmte Antwort, »und er wird wissen, warum das so sein muß.« Talkart führte die Geste der bejahenden Sicherheit aus und schloß für einige Sekunden beide Augenlider. Das Gnor war ausgezeichnet. Weder Ipolmen noch Talkart hatten ihr Gesicht verloren. Sie wußten, daß sie als Gefolgsleute Halphars von ihm in den Tod geschickt werden konnten. Auflehnung gegen diese geschichtlich bedingte Entwicklung war unehrenhaft und führte zum Gesichtsverlust und damit automatisch zum Verlust von Helm oder Kapuze bei Gwyns und Gwards. Natürlich brauchten in friedlichen Umständen wie dem Bau der Station weder Talkart noch Ipolmen mit einer solchen harten Auslegung der Gesetze zu rechnen. Dennoch war es Recht und Gesetz. »Wir benachrichtigen ihn nach dem nächsten Zwischenfall?« schlug Talkart vor. »Der hoffentlich nicht eintritt. Übrigens: die Pioniere haben nichts bemerkt, an anderen Orten des Planeten.« Zur Absicherung der Baustelle bewegten sich kleine Kommandos durch die Landschaft, machten Beobachtungen und versuchten, jenen unsichtbaren Gegner zu finden – oder die Sicherheit einzuholen, daß es ihn in keiner der vorstellbaren Formen wirklich gab. Zuletzt war laut darüber nachgedacht worden, ob Pjol-Kimorz eine Gemeinschaftsintelligenz entwickelt haben konnte. Mit seiner gesamten wissenschaftlichen Autorität hatte sich noch gestern am Nachmittag Ipolmen gegen diese fragwürdigen Ideen gewandt. »Das habe ich auch nicht erwartet!« pflichtete Talkart bei. »Was wirst du tun, wenn sich die Unruhe vergrößert?« erkundigte sich der Wissenschaftler. »Meine Autorität ausspielen, an den Kodex appellieren, notfalls die vorgeschriebenen Maßnahmen
durchführen.« Beide wußten, was sich hinter dieser Formel verbarg. Der Befehl wurde ausgeführt, koste es, was es wolle. »Einverstanden. An unserer Treue besteht nicht ein Hauch von Zweifel.« »Nicht der mindeste. Noch eine Frage, Ipolmen – was tust du gegen unerwünschte Besucher?« Ipolmen deutete auf zwei große Monitoren, die im Hintergrund des Raumes standen und nichts anderes als die Meßlinien und ständig wechselnde Ziffernreihen zeigten. Ihre Kennfarben waren ruhig; im Bereich der Antennen des Schiffes befand sich kein Fremdkörper. »Wir stehen hier für jedes Nahortungsgerät wie auf dem Präsentierteller«, sagte er schließlich. »Daher laufen unsere Ortungsgeräte ununterbrochen. Nähert sich ein Raumschiff, wird Alarm ausgelöst.« Talkart lachte herzhaft. In das Lachen mischte sich deutliche Erleichterung. »Gut. Und wenn Hyptons uns besuchen, mußt du dir einen guten Zweck für Stützpunkt DschungelEins ausdenken.« »Längst geschehen, Technischer Leiter!« antwortete Ipolmen. Talkart spürte, daß er beinahe eine gefährliche Grenze des Dialogs berührt hätte. Mit der nächsten Bemerkung zog er sich wieder vom schwierigen Grenzverlauf zurück. »Wir Ligriden sind in der Lage, auch die ungewöhnlichsten Vorhaben perfekt durchzuführen. Ich neige dazu, erst nach Kenntnis aller abwägbaren Zufälle und Umstände meinen Auftrag mit aller denkbaren Kraft und Energie durchzuführen oder auszuführen. Deswegen meine Fragen. Du solltest sie keineswegs als lästigen Kritikversuch auffassen.« »Stelle auch weiterhin verständnisvolle und kompetente Fragen«, brummte Ipolmen versöhnt, »und du erhältst jede mögliche. Antwort.« »Vorzüglich.« Talkart leerte den Becher, stattete dem Kommandanten in der Zentrale einen Besuch ab und schwebte dann wieder hinunter zu seinen Leuten. Unablässig dachte er über die Zwischenfälle nach. Einer hatte am frühen Abend stattgefunden, die anderen in der Zeit der nächtlichen Finsternis. Jetzt arbeiteten sämtliche Maschinen auf Hochtouren, und ein Heer von Ligriden und Robotern half ihnen dabei. Der Boden der riesigen Schlucht wurde für die Aufnahme des Schiffes vorbereitet. Unentwegt fielen Bäume mit donnerndem Krachen, wurden gepackt und in die Schlünde der Maschinen geschoben. Äste und Rinde wurden entfernt und zu sägemehlgroßen Partikeln zermahlen. Gebläse wirbelten die Abfälle als zukünftigen Verrottungsdünger in den Wald zurück. Glutbahnen zerschnitten Felsen, Greifer faßten die Bruchstücke und schleppten sie davon. Riesige Ladungen frischgeschälter Baumstämme wurden ins nahe Gebiet der Siedlung geschleppt und dort zu kantigen Bohlen zurechtgeschnitten. Die Fundamente wurden größer und wuchsen, ineinander verfugt und verzapft, in die Länge und Breite. Aus Felsen wurde eine riesige Mauer geschichtet. Sie stützte einen Teil der Schluchtwand ab und wurde von Hochenergiestrahlen Stein um Stein zu einer homogenen Masse zusammengeglüht. Das Schiff würde wenig Spielraum haben, sicher zu landen. Es mußte fast absolut senkrecht in die Schlucht hineinschweben. Für den Kommandanten stellte es lediglich eine Herausforderung dar. Mitten auf einem Stück fertiger Holzfundamente setzte Talkart seinen Gleiter ab. Sofort umringten ihn etwa zwei Dutzend seiner Mitarbeiter. Er hob beide Arme und machte abwehrende Bewegungen. »Die Arbeiten gehen fabelhaft voran!« rief er. »In ligridentypischer Präzision!«
»Weiß Ipolmen endlich etwas?« Die Frauen und Männer trugen alle Formen und Farben von Helmen in unterschiedlichen Materialien. Es waren etwa ein Dutzend verschiedener Ränge oder Abstufungen auf den ersten Blick zu erkennen. »Ipolmen weiß definitiv, daß es keinen geheimen Feind auf Pjol-Kimorz gibt.« »Und das Weltall? Irgendwo draußen, auf den Monden vielleicht?« »Er prüft die Monde, und es gibt kein Raumschiff außer unserem in diesem Sonnensystem.« »Was sagt Halphar?« »Von BASTION-Fünf kam nichts anderes als der Befehl, die Siedlung fertigzubauen!« beharrte Talkart. »Niemandem ist etwas passiert. Es gab nur Materialschäden.« Er machte eine Pause und schloß dann: »In einer Stunde ist Arbeitsende. Ich versichere euch: wir finden heraus, was uns ärgert. Bis zu diesem Augenblick arbeiten wir weiter, als sei nichts passiert.« Seine Untergebenen zerstreuten sich. Sie schwiegen; Rebellion hätte den Kodex verletzt. Der Umstand, daß es nicht einmal einen gebrochenen Arm gegeben hatte, verhinderte tiefere Besorgnis und größere Beunruhigung. Der Techniker lehnte sich gegen die Tür des Gleiters und rief nacheinander die Pionierkommandos. Auf jeden Anruf erhielt er die gleichen Antworten. Die Beobachtungen wurden fortgesetzt, es gab nicht die geringsten Spuren irgendeiner Art von vergangener oder gegenwärtiger Besiedlung, und niemand hatte etwas entdeckt, das als Erklärung für die rätselhaften Zwischenfälle dienen konnte. Talkart ordnete an, daß die Teams am nächsten Tag sich an der Baustelle versammeln sollten. Er beschloß für sich, in der Steuerzentrale des Schiffes zusammen mit dem Kommandanten Nachtwache zu halten. Vielleicht sah er die Lichterscheinungen und die Blitze, und möglicherweise entdeckte er sogar Vorgänge, die dem Ligridenkommando helfen konnten. Die Abenddämmerung endete, ohne daß etwas geschah. Vier Monde begannen ihr verwirrendes, farbenprächtiges Spiel am nächtlichen Himmel. Alles blieb ruhig… zu ruhig, wie Talkart fand.
4. Wenn es stimmen sollte, daß Ordnung das halbe Leben sei, dann befinde ich mich nicht ungern in der anderen Hälfte. Eine Veränderliche Sonne und sieben Monde! Pjol-Kimorz bewegte sich auf einer Bahn, die ziemlich genau eine Astronomische Einheit betrug, um einen gelbweißen Stern, um Syntran. Je länger ich die Werte studierte, desto sicherer war ich, daß die Welt Pjol-Kimorz nicht nur für uns eine Menge Überraschungen bereithielt. (Colemayns Sternentagebuch) *** Tuffelsyt drehte seinen Kopf hin und her, als suche er etwas. Sein Hals war von dickem, olivfarbenem Pelz bedeckt und so gut wie unsichtbar. Dann meinte er mit schriller Stimme: »Du scheinst diesen Atlan wirklich gut zu kennen. Und sehr lange. Länger, als ein Leben ist.« »Meine Lebenszeit entspricht nicht der kurzen Spanne pharstischen Lebens«, wich Colemayn aus. »Tatsächlich kenne ich ihn gut. Deshalb bin ich so in Sorge um ihn!« »Verstehe ich nicht.« »Du scheinst niemals wirkliche Freunde gehabt zu haben«, meinte der Sternentramp und fühlte wieder einen winzigen, halb verborgenen Schmerz in seinem Nacken. »Freunde sind hinderlich. Sie verstellen den Blick aufs Geschäftliche«, erklärte der Pharster. »So kann man es auch sehen. Nicht verstellt ist aber der Blick auf die einzelnen Teile dieses Sonnenbezirks. Das dort ist die Sonne Syntran, du Fürst aller skrupellosen Händler.« »Und was ist Besonderes an diesem Leuchtpunkt?« »Er blinkt. Er winkt uns. Er führt uns zu Atlan. Und er sagt uns, daß er geheime Kräfte hat.« Mit einem einfachen Rechnerprogramm hatte Colemayn die Phasen der Sonne herausfinden können. Als Basis dienten ihm die Informationen der Sternkarte und die hypermagnetischen Ausbrüche, von denen sie drei angemessen hatten. Der Schlüssel war kompliziert, aber nicht unlösbar. Jetzt untersuchten die kombinierten Ortungs- und Testgeräte nacheinander die Monde, während sich die NACHTJAGD langsam näherte. »Dir ist bekannt, daß wir von den Ligriden auf Pjol-Kimorz so gut wie gar nichts wissen?« fragte Tuffelsyt. Colemayn nickte. Er klassifizierte die Monde und versuchte, die verschiedenen Bahnen und Zeiten in ein verständliches Diagramm umzusetzen. »Beim Schwert!« sagte. Colemayn. »Und bei Ishtars weicher Haut. Wir werden schon mit ihnen zurechtkommen. Schließlich sind wir keine Hyptons.« In den vergangenen Tagen hatte ihnen keiner der zufällig aufgeschnappten Funksprüche weiterhelfen können. Immerhin würde die kürze Zwischenlandung auf Kimorz ihnen bei der Suche weiterhelfen. »Ich komme überall zurecht!« verkündete Tuffelsyt großspurig. »Und du anscheinend auch, Kileimeinn?« »Ich habe nur selten Schwierigkeiten«,’bestätigte der Sternentramp. Sie schwebten verhältnismäßig langsam auf der Ekliptik dieses Sonnensystems auf den zweiten Planeten zu. Nur er bot gute Lebensmöglichkeiten; der innere Planet war eine trostlose, heiße Mond-Einöde. »Hast du die Ligriden schon entdeckt?« wollte Tuffelsyt nach einer Weile wissen. »Das wird geschehen, wenn wir über dem Planeten kreisen. Ich habe ein Gefühl, das mir sagt, Zurückhaltung ist besser.«
»Mein Gefühl sagt mir, daß ich dort kein Geschäft machen kann«, erklärte Tuffelsyt wegwerfend. Nacheinander unterzog Colemayn die Monde einer genauen Untersuchung. Die Informationen der Sternkarten und die Beobachtungen der Ortungsgeräte ergänzten einander. Jeder der sieben unterschiedlich großen, fast exakt kugelförmigen Körper wies eine andere Farbe auf. Seine Albedo war abhängig von dem Vorhandensein einer größeren Menge kennzeichnenden Gesteins. Da Colemayn die Namen in der Hauptsprache Manam-Turus nicht kannte, ersetzte er sie durch Buchstaben und Phantasiesilben. Die NACHTJAGD schwebte auf den blaugrün und weiß gemusterten Planeten zu. Innerhalb des Sonnensystems gab es kein zweites Raumschiff. Oder es versteckte sich auf raffinierte Weise. *** Das Raumschiff sollte längere Zeit auf Pjol-Kimorz stehenbleiben. Deswegen hatte Kommandant Acalner nichts dagegen gehabt, daß die oberste Notluke geöffnet wurde. Frische Luft drang herein, und von einem Nebenraum der Zentrale konnte Talkart die Luke über eine steile Treppe erreichen. Es war mitten in der Nacht; Müdigkeit zwang den Technischen Leiter immer wieder, die oberen Lider zu schließen. Sämtliche Bildschirme der Zentrale waren aktiviert. Regungslos standen die Sterne. Die Monde in allen Stadien der Bedeckung wanderten nach rechts oder links, aufwärts oder abwärts. Aufmerksam beobachteten die beiden Männer den Himmel. Irgendwo am Horizont hatten sich Wolken zusammengeballt. Unsichtbare Blitze erzeugten langgezogenes Wetterleuchten. »Noch immer nichts!« murmelte die junge Frau, die vor den Bildschirmen der Spezialortung saß. »Wenn wir darauf warten, wird garantiert nichts geschehen!« sagte Talkart düster. Er schien zum ersten Mal zu bemerken, daß Acalners Assistentin ausnehmend wohlgebaut war. »Wenn es nicht jetzt passiert, sehen wir es morgen oder übermorgen«, erklärte der Kommandant. Gähnend antwortete Talkart: »Ohne mich. Morgen nacht schlafe ich.« Es gab keine feurigen Linien am Himmel. Nicht die geringste Bewegung erschütterte den Planetenboden. Es gab kein Krachen oder Zischen, keine Blitze von ungewöhnlicher Größe. Als endlich der Morgen heraufdämmerte, zeigte sich die Anlage der Siedlung völlig unversehrt; nur Tau glitzerte an den Pflanzen und auf den Metallverkleidungen der schweren Baumaschinen. Schließlich stand Talkart auf, lehnte sich gegen ein Pult und sah Leamey an, während er zum Kommandanten sagte: »Wir können nur hoffen, daß der nächste Schlag nicht mitten am Tag erfolgt.« »Warum? Wo, beim Kodex, liegt der Unterschied?« fragte die junge Frau. »Weil dann mitten in der betroffenen Zone Hunderte tüchtiger und qualifizierter Ligriden arbeiten«, gab Talkart zurück, lächelte sie breit an und verließ die Zentrale. Er war tief enttäuscht und todmüde. *** Drei lange Tage arbeiteten die Ligriden, als wäre nicht das geringste je passiert. Die Schlucht wurde vorbereitet, und Kommandant Acalner landete das Raumschiff in einem meisterlichen Manöver genau am vorgesehenen Platz. Die mächtigen Zweige bedeckten fast die gesamte obere Kugelwandung. An den Stellen, an denen sie Antennen, oder Geschützöffnungen behinderten, wurden die Äste gekappt.
Die ersten Hütten waren in Fachwerkbauweise erstellt. Roboter füllten die Zwischenräume mit beidseitig beschichteter Schaummasse aus und fügten Türen, Fenster und Installationen nach programmierten Mustern und Farben ein. Auf einigen Stellen des verwüsteten, wieder planierten Bodens wurden schnellwachsende Gräser und Pflanzen angesät. Mehrere Zelte konnten abgebrochen und im Schiff verstaut werden. Die flachen, großzügig gebauten Häuser versteckten sich unter überhängenden Felsen, waren in steile Hänge hinein gebaut oder unter riesige Bäume. Zwischen den einzelnen Komplexen wurden dünnere Stämme in den Boden gerammt und mit Quertraversen verbunden. In riesige Tröge aus dicken Brettern wurde Erdreich eingefüllt, ebenfalls angesät und gewässert. Hölzerne Stege verbanden die Teile der Siedlung. Auch die Pioniere beteiligten sich, von Talkart geplant eingesetzt und von den Befehlen gut motiviert, an den Arbeiten. Meter um Meter wuchs die versteckte Siedlung Dschungel-1 in den wild wuchernden Wald hinein und näherte sich dem Ufer des breiten Baches. Zum zehnten Mal unternahm Talkart einen Rundflug in großer Höhe. Selbst ihm, der jeden Quadratzoll des Lagers kannte, fiel es schwer, etwas zu entdecken. »Die Tarnung ist fast perfekt. In ein paar Monaten wird man überhaupt nichts mehr sehen«, sagte er zu Leamey. Sie saß im Kopilotensitz und betätigte den Metalldetektor. Er verzeichnete nur schwache Ausschläge im Bereich von Dschungel-1. »BASTION-Fünf wußte genau, warum sie dieses schwierige Vorhaben dir anvertraut hat«, schmeichelte die Frau ihm. »Heute nacht? Nachtwache in der Zentrale?« Talkart schrieb etwas auf eine Liste und zeigte dann schräg hinunter zu den Zelten. »Heute nacht werde ich mit dir in meinem Zelt verbringen. Vorher können wir einen Spaziergang im Licht von sieben Monden machen.« »Sieben Monde…«, sagte Leamey leise. Er strich über ihren Oberarm und registrierte zufrieden, daß sich die winzigen Hautschuppen aufstellten. Sie lachten sich an, dann widmeten sie sich wieder mit der ausschließlichen Tüchtigkeit den Geräten, jener absoluten Tüchtigkeit, die dieses stolze und kriegerische Sternenvolk auszeichnete. »Ich fürchte mich vor dem nächsten Zwischenfall. Er wird kommen!« sagte Talkart, als er den Gleiter auf sein großes Zelt zusteuerte. »Was macht dich so sicher? Unter den Pionieren herrscht Verstörtheit.« »Das meine ich, Leamey. Ich vertrete die wissenschaftliche Vernunft. In anderen Köpfen herrscht sicher noch ein starker Rest von Aberglauben.« Er setzte den Gleiter neben dem Zeltboden auf, der aus federnden Bauelementen bestand. In den vergangenen Tagen hatte Talkart, dreimal zusammen mit Ipolmen, einzelne Punkte der Zerstörungen besichtigt und einer flüchtigen wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen. Es waren Bebenschäden gewesen. An vier Punkten – abgesehen vom unmittelbaren Bereich in der Baustelle – sah es so > aus, als habe eine riesige Kraft Erde, Felsen und Bäume, ein Teil des Bachufers und kreisförmige Teile des Bewuchses weggerissen, der über dem Moränenkies lag. Die Kräfte, die hier fünfmal eingewirkt hatten, waren groß gewesen, brutal und geheimnisvoll. »Die Gerüchte wuchern.« »Auch das weiß ich«, antwortete Talkart, ging um den Gleiter herum und half Leamey aus dem Sitz. »Ich muß damit rechnen. Zu gegebener Zeit werde ich handeln müssen.« »Ja, das wirst du!« Aus allen Teilen der ausgedehnten Baustelle kamen kleinere Fahrzeuge oder einzelne Ligriden in den unterschiedlichsten Monturen, mit farbigen Schutzhelmen, die sie in den Zelten abnahmen und
gegen ihre gewohnten Kopfbedeckungen austauschten, mit ihren Gerätschaften und Meßinstrumenten. Sie grüßten Talkart und tauschten belanglose Bemerkungen aus. In Talkart wuchs eine böse Ahnung. Drei volle Tage und Nächte hatte jene Art von Ruhe geherrscht, die er von einem unbesiedelten »normalen« Planeten erwarten mußte. Ohne im geringsten zu wissen, worauf sich seine instinktive Furcht gründete, erwartete er in dieser Nacht die nächste Störung. Sie würde, auch das ängstigte ihn, weitaus schwerer sein als alle vorhergegangenen. Einen Augenblick lang dachte er an das Raumschiff, das zwischen Hängen und Felsen eingeklemmt sein würde, wenn diese Materie ihren Halt verlor. Er handelte augenblicklich und schaltete sein Funkgerät ein. Er entschloß sich, Ipolmen anstelle des Kommandanten zu rufen. »Ipolmen spricht.« »Wissenschaftler Ipolmen«, sagte Talkart halblaut und drängend. »Ich ersuche um wohlwollendes Anhören.« Ipolmen registrierte, daß sich der Technische Leiter der starren Formeln bediente. Ein Anlaß von größter Wichtigkeit! »Dein Ansinnen ist wichtig. Ich höre.« »Ich habe eine Bitte, die vermutlich abenteuerlich klingt. Weise den Kommandanten an, heute nacht die Schutzschirme des Schiffes einzuschalten. Ich habe die logisch unerklärliche, aber starke Furcht, daß der unsichtbare Gegner wieder zuschlägt.« Schweigend hörte Ipolmen zu. Dann stellte er eine Gegenfrage. Aus dem Tonfall konnte Talkart nicht heraushören, was Ipolmen dachte. Aber es war ihm unter diesen Umständen gleichgültig, ob ihn der Gward-Wissenschaftler für verrückt hielt. »Hast du mit den Arbeitern gesprochen?« »Nein. Sie sind auch ohne meine Ahnungen genügend beunruhigt. Außerdem haben sie die Nachtruhe mehr als verdient.« Wieder entstand ein gedankenschweres Schweigen. »Einverstanden. Ich werde Acalner sagen, daß wir um die Stabilität des Schluchtgeländes fürchten.« »Das wird er akzeptieren. Ich bin erleichtert. Hoffentlich haben wir alle unrecht.« »Alle?« fragte Ipolmen mit unüberhörbarem Sarkasmus und schaltete sich aus der Verbindung. Dennoch erleichtert blickte Talkart zum Himmel, der zu dunkeln begann, und in dem sich die ersten Sterne zeigten. Im Kantinenzelt lärmten die Maschinen mit den Schalen und Bestecken. Im selben Augenblick zerschnitt die Bahn eines Meteoriten flammend das purpurfarbene Halbdunkel. Der Ligride zuckte zusammen und schloß die beiden Lider seiner Augen. Das war ein Zeichen! Beim gemeinsamen Essen mit seinen Mitarbeitern gestand er sich ein, daß er ebensowenig frei von Aberglauben war wie viele seiner Leute. Sein Verstand sagte ihm, daß er sich mit diesen götzenhaften Eindrücken irrte. Das Gefühl sprach unhörbar das Gegenteil aus. Dasselbe Gefühl warnte ihn auch, seinen Arm um Leameys Schultern zu legen, als sie vor Talkarts Zelt standen. Der Kodex verbot selbstverständlich den intimen Kontakt zwischen den Geschlechtern nicht, wohl aber anzügliche Gesten in der Öffentlichkeit. Nebeneinander standen sie da, blickten zu den Sternen und auf die breiten Bahnen aus Rot, Silber und Bronze, die von drei Monden auf die ruhigen Wellen des Meeres gelegt wurden. »Das Schiff ist gesichert«, sagte Talkart zufrieden. Weit hinter ihnen drang das fahle Glühen der Schirmfelder durch die Baumstämme.
»Wir sind es nicht.« »Bisher hat es noch kein lebendes Wesen getroffen«, widersprach Talkart. Im gleichen Moment schränkte er ein, daß er dies nicht wußte: An den Stellen, an denen die Natur Pjol-Kimorz’ verwüstet war, konnten sich durchaus Tiere befunden haben. »Bisher nicht«, bestätigte die junge Frau skeptisch. »Es sind nur drei Monde, Liebster.« »Die anderen«, lachte er, »kommen früher oder später.« Es waren viele kleine Lichter eingeschaltet. Dschungel-1 sollte eine Geheimstation werden, daher war jede einzelne Lichtquelle derart abgeschirmt, daß sie weder mit höchstempfindlichen Geräten aus dem Weltraum noch aus Gleitern oder Landefahrzeugen aus größerer Höhe gesehen werden konnte. Ihr Licht war indirekt und beleuchtete nur jene Stellen, die von oben nicht einsehbar waren. Mit fortschreitendem Bau der Siedlung vervielfachte sich auch die Anzahl der Tiefstrahler und Flächenleuchten. Ein breites Band von gelbem Licht folgte der gewundenen Schneise durch den Wald bis hinunter zum Sandstreifen des Bachufers. »Später schlafen wir. Komm!« sagte Leamey und ging ins Zelt. *** Derselbe Impuls, der ihn zur Warnung an Ipolmen getrieben hatte, weckte Talkart irgendwann in der Mitte der Nacht. Er öffnete die Augen und lauschte. Außer den gleichmäßigen Atemzügen der jungen Frau hörte er nur die gewohnten Geräusche des Waldes. Im roten Licht einiger Skalenfelder betrachtete er sekundenlang die Schlafende, dann schlug er die Decken vorsichtig zurück und zog sich so leise wie irgend möglich an. Funkgerät? Handscheinwerfer? Mikrophon und Lautsprecher? Alles stand in militärischer Exaktheit auf dem Arbeitstisch direkt neben dem geschlossenen Zelteingang. Talkart wußte mit Bestimmtheit, daß er sich selbst in beginnende Hysterie hineinsteigerte, aber er gab diesem unerklärlichen Drängen nach. Er vergewisserte sich, daß sein Helm richtig saß, ging dann auf Zehenspitzen zurück und tauschte den stählernen, dünnen Helm gegen den weißen, selbstleuchtenden des Bauleiters um. Nur den Kinnriemen mit dem weichen Polster schloß er nicht. Er sah, daß der weiche Kunststoffhelm, der an der Außenseite schwarzes, fellähnliches Kunsthaar trug, vom Kopf seiner neuen Gefährtin zu rutschen drohte. Behutsam’ schob er ihn wieder bis zu den flachen, kleinen Ohren hinunter. Dann verließ er, Scheinwerfer und Mikrophonsatz in der Linken, das Zelt und setzte sich auf den Rand der Bodenplatte. Seine Stiefel versanken halb im feuchten Gras. Die pulsierenden Leuchtziffern der Uhr sagten ihm, daß es kurz nach Mitternacht war. Er wartete. Und während er wartete, machte er sich Gedanken über sein Volk, die seltsamen Riten und Vorschriften aus einer Vergangenheit, die ihm kaum mehr zugänglich war, und darüber, daß die Ligriden und die Hyptons unter dem Begriff des Neuen Konzils zweifellos eine Macht darstellten. Ob sie ihren Einfluß über die gesamte Galaxis Manam-Turu jemals gewinnen konnten, war möglich, aber zweifelhaft. Schon allein der Umstand, daß die wenigsten von ihnen wirklich wußten, wer die Hyptons waren und wie sie aussahen, verwirrte ihn und ließ ihn skeptisch zurück. Daß Halphart, der kalte und arrogante Kriegsherr auf BASTION-V, mit diesen Fremdwesen Schwierigkeiten hatte oder selbständig werden wollte, lag auf der Hand: Der Bau – oder besser der Versuch – von Dschungel-1 bewies es. Geheimnisse vor dem Partner einer Entwicklung derartiger Reichweite… schon das war ein Keim des Abstiegs, der schon vor dem wirklichen Aufstieg zu wachsen begonnen hatte. Jedenfalls war es so, daß die Hyptons von den Ligriden verlangten…
Sein Kopf ruckte in die Höhe. Er zählte unbewußt fünf Monde innerhalb seines Blickfelds. Zwischen den Himmelskörpern sah er deutlich dünne, fahle Linien. Sie waren fast nicht wahrnehmbar und wirkten auf seine Augen wie dünnes, kosmisches Gas. Ein hellerer Lichtschleier erstreckte sich plötzlich von Synverta bis zum Horizont, der vom Wasser des Ozeans gebildet wurde. Wie haarfeine, schwankende Blitze gingen die Lichter hin und her, aber sie lösten sich nicht von den Monden. Sekunden später erkannte der Ligride, daß es in Wirklichkeit eine einzige Linie war, die den Horizont mit dem nächstgelegenen Mond verband und diesen mit den anderen, als ob sie an einem kaum sichtbaren Faden aufgereiht werden sollten. Er sprang auf. Seine Sorge galt zuerst dem Mädchen. Er schleuderte die Kunststoffleinwand des Zeltverschlusses zur Seite, war mit vier langen Schritten seiner muskulösen Beine am Lager und schaltete die Beleuchtung ein. Er rüttelte Leamey wach und schrie: »Anziehen! Notvorrat! Schnell hinaus, zu mir, Lea!« »Was ist…« »Ich muß hinaus.« Als er förmlich durch den Ausgang hinaussprang, dachte er, daß es ein blinder Alarm gewesen sei. Aber in diesem Moment bildete sich mitten in der Terminatorlinie von Syndunee ein Funken, aus ihm wurde ein Blitz, und eine Lichterscheinung, nicht unähnlich einer Meteoritenbahn, zuckte herunter. Sie zielte genau auf die Siedlung Dschungel-1. Mit einem Fingerdruck schaltete Talkart den Schallverstärker ein und aktivierte das Mikrophon. Im Verlauf von nur drei Sekunden geschahen gräßliche, erschreckende Dinge. Sie geschahen fast gleichzeitig oder so dicht nacheinander, daß praktisch kein zeitlicher Unterschied erkennbar war. Talkarts Unruhe war wie weggewischt. Er wurde schlagartig, von einem Sekundenbruchteil zum anderen, zu einem unerschrockenen Angehörigen eines kämpferischen Sternenvolks. Ein jaulendes, kreischendes Geräusch riß alle Schlafenden hoch. Zugleich mit dem Einschlag des Lichtblitzes, der sich vielfach verzweigte und dabei an Farbe und Helligkeit verlor, gab es einen welterschütternden Knall. Ein langgezogener Donner folgte. Dann bebte der Boden. Zuerst in unzähligen winzigen Stößen, die jeden einzelnen Gegenstand in hochfrequente Schwingungen versetzten und einen klirrenden, klappernden und scheppernden Höllenlärm erzeugten. Dann in die Stöße eines schweren Bebens, das die Bäume schwanken und die Äste und Blätter und Nadeln rauschen ließ. Ein Sturmstoß folgte, der ungeheure Mengen von Staub, zerfetzten Pflanzen und Erdreich, von Abfällen und leichteren Gegenständen in einer rasend schnellen Spirale in die Höhe riß. In diesem Chaos aus Lärm und Sturmstößen gingen die Warnungen und Befehle, die Talkart aus voller Kehle schrie, völlig unter. Er versuchte, sich an der Zeltstange und gleichzeitig Leamey festzuhalten, die sich zitternd an ihn klammerte. In einer winzigen Pause, in der nur der Planet bebte, erscholl ein Knistern und Knacken. Dann erloschen die vielen Lampen, eine nach der anderen. Bohlen und Balken brachen, wurden aus ihren Verbindungen und aus dem Untergrund gerissen und hochgewirbelt, als ob sie aus dünner Folie bestünden. Talkart sah die Zerstörung der Siedlung nur als schwarze Fetzen, Bruchstücke und Schemen gegen das tiefe Schwarz des Nachthimmels.
Dschungel-1! In wenigen Herzschlägen war die Arbeit von fast einem halben Monat vernichtet worden. Zum sechsten Mal! Bäume wurden entwurzelt und stiegen senkrecht in die Höhe. Eine gigantische Sandfontäne vom Meeresufer machte mehrere Monde unsichtbar. Zugeschnittene und wohlverfugte Bohlen und Stämme wurden mitsamt der Erde, mit der neuen Ansaat und dem feuchten Kulturboden aus dem Dschungel gerissen und verschwanden irgendwo in der Luft. Das Beben ließ langsam nach. Talkart und das Mädchen kamen taumelnd auf die Beine und sahen gerade noch, wie einige Zelte zerfetzt davonwirbelten. Das fahle Licht erlosch. Als die Sandwolke verschwunden war, erkannte der Ligride, daß auch die Lichtfäden oder Energiebrücken zwischen den Monden abgerissen waren. »Gruppenleiter!« dröhnte seine Stimme durch das nächtliche Chaos. »Versammelt eure Leute! Abzählen. Nur Meldung machen, wenn jemand fehlt oder schwer verletzt ist.« Das Knacken, mit dem er das Megaphon abschaltete, hallte durch das aufgeregte Schreien und Stöhnen. Dann rief er in das Armbandfunkgerät: »Hier Talkart. Ich rufe das Schiff. Seid ihr unversehrt? Hat die Schirmfeldanlage gehalten? Antworte bitte, Acalner.« Noch hatte ihn das Erschrecken und Entsetzen nicht gelähmt und mutlos werden lassen. Die junge Frau beruhigte sich und sah, daß ausgerechnet das Zelt des Technischen Leiters so gut wie unversehrt war. Nur an der Seite klaffte ein breiter Riß, durch den man die Lampen und das breite Lager sah. Der kleine Lautsprecher knisterte, und die Stimme des Kommandanten war zu hören. »Soweit ich es beurteilen kann, ist dem Schiff nichts passiert. Wir sehen nach. In ein paar Minuten wissen wir mehr.« »Verstanden.« Zwischen den Zelten flammten jetzt die Scheinwerfer und die schweren Kaltlichtlampen auf. Strahlenkegel huschten hin und her. Niemand traute sich in das Gebiet der verwüsteten Baustelle. Dieser Zwischenfall schien der bisher schwerste gewesen zu sein. »Ich muß zu ihnen!« sagte Talkart. »Die Gefahr ist vorbei.« »Woher weißt du das?« regte sich die junge Frau auf. »Das alles kann auf uns herunterhageln.« »Es ist verschwunden. Glaube mir!« »Ich habe Angst.« »Glaubst du, ich fürchte mich nicht? Alles ist vorbei«, rief er und rannte los. An mehreren Dutzend Stellen sammelten sich die Ligriden. Zwar liefen sie halbbekleidet oder nur notdürftig angezogen hin und her, aber jeder hatte seinen Helm auf oder die Kapuze seines Mantels oder der Jacke über den Kopf gezogen. »Also doch!« schrie jemand aus dem dunklen Hintergrund. »Die verdammten Hyptons.« »Der Planet rächt sich gegen den Eingriff.« »Die Gesamtintelligenz…« »… werden alle sterben. Zurück ins Schiff!« Zum erstenmal bedauerte Talkart, daß er keine Waffe zur Hand hatte. Er hob den trichterförmigen Lautsprecher und donnerte los:
»Ich dulde keinen Schwachsinn. Nicht einmal denken sollt ihr solche verdammten Gedanken.« »Hierher! Abzählen!« Fünfhundert Frauen und Männer schrien wild durcheinander. Für eine Handvoll Zeit war jeder Verhaltenskodex vergessen. Einige Gruppenleiter schafften es, mit gezielten Befehlen ihre Leute in die Zelte zu verweisen, aus denen sie mit Scheinwerfern zurückkamen. Es war wie beim ersten Mal. Dieselbe Verwirrung, dieselbe Dunkelheit und weitaus mehr Zerstörung. Talkart wandte sich an seine unmittelbar Untergebenen. »Hier spricht Talkart«, sagte er scharf. »Niemand von uns ist zu Schaden gekommen. Nur Materialverluste. Reißt euch zusammen. Denkt an den Kodex der Tapferen!« Seine Worte hallten hart und befehlend über die Zelte hinweg. Die Frauen und Männer duckten sich. Dann trat, nach und nach, eine deutliche Veränderung in ihrem Verhalten auf. Sie richteten sich auf, schwiegen, schienen imaginäre Gegner zu suchen. Hätten sie einen Gegner gesehen, würden sie sich auf ihn gestürzt haben. »Das Beben ist vorbei. Holt Scheinwerfer. Seht nach.« Während er auf die Pioniere einschrie, summte das Armbandfunkgerät. Talkart ließ den Lautsprecher sinken und schaltete die Wiedergabe auf größte Tonstärke. »Talkart spricht.« »Kommandant Acalner. Das Raumschiff ist durchgeschüttelt worden, blieb aber unversehrt. Zwei Schirmfeldprojektoren fielen aus. Ein Stück Hang ist abgerutscht; keine Folgen. Die künstliche Mauer hat breite Risse. Und überall fehlen Bäume, Felsen und Erdreich.« »Danke. Ich komme in wenigen Minuten…« »Halt. Nicht abschalten. Der Funker meldet sich…« »Ich höre.« »Ortung und Funk arbeiten. Ein Objekt wurde angemessen. Gleichzeitig hat es Funkkontakt gegeben.« »Ich komme ins Schiff, sobald ich hier fertig bin.« Mit einer auffordernden Armbewegung rief Talkart die Gruppenleiter zusammen, gab eine Reihe klarer Befehle und ordnete an, daß anschließend sich alle Pioniere ausruhen sollten. Das Frühstück müsse besonders reichlich ausfallen. Er schloß: »Ein fremdes Raumschiff nähert sich. Vielleicht ist es der Feind, der unsere Arbeit zerstört.« »Raumschiff? Hyptons?« Wieder schwirrten Fragen und Vermutungen durcheinander. Talkart winkte ab. »Kein Geschwätz. Ich komme zum Essen mit harten Informationen zurück. Ich versprech’s.« Er wandte sich ab, lief zu seinem Gleiter zurück und sah, daß die junge Frau die Maschine bereits startfertig gemacht hatte. Die vier Spezialscheinwerfer warfen weit gefächerte Lichtbalken auf den verwüsteten Boden. Talkart schwang sich mit einem Satz in den Sitz und sagte halblaut: »Zum Schiff. Gleich in den Laderaum neben der Steuerzentrale.« »Verstanden.« Der Gleiter hob ab, raste in einer weiten Kurve durch die Nacht und näherte sich dem Schiff. Die
betreffenden Sektoren des Schutzschirms waren desaktiviert worden. Minuten nach dem Abheben kamen Leamey und Talkart in die Steuerzentrale. Diesmal waren fast sämtliche Pulte besetzt. Talkart hatte es nicht anders erwartet: auch die Geschützbatterien waren aktiviert, die Zieleinrichtungen suchten halbautomatisch nach dem Gegner. »Gibt es Erklärungen?« fragte Talkart, während sich Leamey neben den Kommandanten setzte. »Ein vergleichsweise winziges Objekt.« Der Kommandant deutete auf die Schirme der Nahortung. Ein Schiff steuerte den Planeten PjolKimorz an. Es hatte eine runde Form; der Impuls war tatsächlich winzig. »Ich beobachte nur Ipolmen und der Kommandant entscheiden!« sagte Talkart und bemühte sich, ruhig zu erscheinen, obwohl er sich in innerlichem Aufruhr befand. Zuerst konzentrierte er sein Interesse auf die Bildschirme. Er las die schnell wechselnden Zahlen ab und runzelte seine auffallend hohe Stirn. Das Raumschiff kam geradlinig näher. Der gegnerische Kommandant, Hypton oder Angehöriger eines anderen Volkes, schien nichts verbergen zu wollen. Überdies wiederholte ein Lautsprecher den ersten Funkruf. »Hier Raumschiff NACHTJAGD. Wir rufen die Ligriden auf Pjol-Kimorz.« Lange Pause. »Habt ihr geantwortet?« fragte Talkart leise. »Nein. Das ist zweifellos der Feind, der uns diese verdammten Streiche gespielt hat. Vernichter unserer Arbeit!« stieß Ipolmen höchst kriegerisch aus, was im Widerspruch zu seiner GwardGesinnung stand. Es war ernst, sagte sich der Technische Leiter. Die unterdrückten Ängste der Ligriden wurden in Aggression umgewandelt. »Das ist eine unbewiesene Annahme«, meinte Talkart. »Warum antwortet ihr nicht?« »Um ihn anzulocken?« »Wenn es der vermutete Gegner ist, dann weiß er so genau wie wir, wo wir uns befinden«, widersprach Leamey ruhig. »Frage wenigstens, wer uns da besuchen will. Vielleicht ist es ein Kontrolleur von Bastion-Fünf.« »Durchaus möglich«, gab der Kommandant zu. »Bisher hat er das Kodesignal nicht abgestrahlt.« »Achtung!« schaltete sich der Ligride am Funkpult ein. »Ein neuer Anruf.« Eine ruhige, dunkle Stimme, die ohne erkennbare Schwierigkeiten in der Umgangssprache ManamTurus redete, erfüllte die Zentrale. »Wir wiederholen unsere Bitte. Hier Raumschiff NACHTJAGD. Unbewaffnet. Wir wissen, daß auf dem Planeten ein Ligriden-Team arbeitet. Wir erbitten Landeerlaubnis zum Zweck von Informationsaustausch. Bitte beantwortet unseren Funkspruch.« »Plumpes Täuschungsmanöver«, sagte der Kommandant. »Vermutlich folgen der NACHTJAGD große Schlachtschiffe.« »Nichts zu sehen«, erklärte die Ortung. Das winzige Schiff kam näher. Möglicherweise war es den Raumfahrern gelungen, die Metallmasse des Raumschiffs anzumessen. Oder, was wahrscheinlicher war, inmitten einer völlig »leeren« Landschaft die charakteristische Energie der Schutzschirme. Unbeirrt schwebte der Raumflugkörper auf die Nachtseite von Pjol-Kimorz zu. »Schußentfernung?« fragte der Kommandant. »Noch nicht optimal.« »Das sind doch die Hyptons!« meldete sich ein Raumfahrer vom Funkpult, obwohl er für diese
Behauptung nicht den geringsten Grund hatte. Ipolmen äußerte sich nicht. Unter der weichen Kapuze hervor sah er auf die Linien und Zielkreise der Feuerleitoptiken. Zwei Geschütze des Schiffes hatten den Näherkommenden genau erfaßt und verfolgten seinen Flug mit robotischer Präzision. Langsam sagte Talkart, jedes Wort wohlüberlegt: »Das Schiff ist winzig. Selbst wenn es doch bewaffnet sein sollte, stellt es für uns keinen Gegner dar. Zwingen wir es zur Landung, dann können wir in Ruhe nachsehen, wer sich darin befindet, und welche Absichten er hat.« »Einverstanden!« antwortete der Kommandant. Auf den Rundumschirmen war deutlich zu erkennen, daß sich die Nacht ihrem Ende näherte. Einzelne Sterne begannen zu verblassen. Es standen nur noch zwei sichelförmige Monde am Himmel. Im Osten zeigte sich über dem Meer der erste vage Streifen grauer Helligkeit. Die NACHTJAGD – welch eine kriegerische Bezeichnung! – hatte die ersten dünnen Schichten der Atmosphäre Pjols erreicht und wurde stark abgebremst. Abermals meldete sich der Sprecher mit der beruhigenden Stimme. »Im Raumschiff befinden sich nur zwei Individuen. Ein Pharster oder Naldrynne namens Tuffelsyt und ich, Colemayn, ein alter Mann, der seinen Freund zu finden versucht. Dabei ersucht er um eure Hilfe. Warum antwortet ihr nicht?« Zu anderer Zeit und unter anderen Umständen hätte Kommandant Acalner anders und schneller entschieden. Jetzt, unter dem Eindruck des Schocks und der eben entstandenen Verwüstungen, gab er seinen Befehl. »Laßt das Schiff näher kommen. Dann versucht, es so zu treffen, daß es notlanden kann. Ich erteile den Feuerbefehl. Auf keinen Fall Maximalintensität oder Dauerfeuer.« »Verstanden, Kommandant«, erwiderte der Ligride am Feuerleitgerät und packte die Auslösehebel. Vermutlich wären die Gward-Anhänger der Pioniereinheiten erschrocken gewesen, wenn sie den Befehl gehört hätten. Ipolmen schien indessen zufrieden zu sein. Vermutlich wollte der Wissenschaftler das fremde Schiff studieren oder mit den Insassen sprechen. Er wandte nicht ein Wort gegen den Befehl des Kommandanten ein. »Jetzt!«sagte Acalner scharf. Zwei Strahlengeschütze feuerten je einen kurzen, vernichtenden Impuls ab. Sie trafen das Schiff an den gegenüberliegenden Rändern. Der diskusförmige Flugkörper schwankte wild, änderte seinen Kurs und sackte schwer durch. Aus den Lautsprechern kam das wilde, kreischende Geschnatter einer hellen Stimme, und der Raumfahrer mit dem dunklen Sprachorgan stieß einen unverständlichen Fluch aus. Er hatte das Raumschiff noch immer in der Gewalt, aber die Maschinen waren getroffen worden. Auf dem Ortungsbild war deutlich zu erkennen, daß sich einige Teile der Verkleidung gelöst hatten und wild durch die dünne Luft wirbelten. Das Schiff zog einen dünnen Rauchschweif hinter sich her, als es in der dichter werdenden Lufthülle in wildem, halb Unkontrolliertem Zickzackflug abwärts gesteuert wurde. »Ausgezeichnet getroffen«, murmelte Leamey. »Hoffentlich stürzt das kleine Schiff nicht ins Meer.« Der Diskus ging schwankend in eine Spiralbahn über und sank schnell direkt auf das Gebiet herunter, auf dem das eigene Raumschiff stand. Jetzt schaltete die Ortung auf Direktbeobachtung über. Die Triebwerke des Schiffes feuerten unregelmäßig, aber übertrieben kraftvoll. »Jedenfalls weiß, der Fremde, wohin er sich retten soll«, sagte Talkart und sah zu, wie die Spirale des abstürzenden Schiffes immer enger wurde. Die Flammen und der Rauch hatten aufgehört, Teile der Schiffshülle zeigten die Löcher und die ausgeglühten Ränder der Einschläge.
»Bodenabstand eineinhalbtausend Meter!« erklärte die Ortungsstation ungefragt. »Alarmiert einige Gleiter«, sagte der Kommandant. »Talkart! Darf ich dich bitten, das Kommando zu übernehmen? Falls es Überlebende gibt, nehmt ihr sie fest und bringt sie ins Schiff. Einverstanden?« »Ich kümmere mich darum«, antwortete er. »Noch einige Sekunden. Ich will sehen, wo das Ding aufschlägt.« »Wird gleich soweit sein.« Der Diskus kippte hin und her, bäumte sich auf und beschrieb über dem Meer einen halben Kreis. Das Raumschiff raste schwankend schräg dem Planetenboden entgegen, und wieder arbeiteten die Triebwerke mit aller Kraft und in unregelmäßigen Stößen. Das Raumschiff fegte auf den Standort der Baumaschinen zu, wurde noch einmal abgefangen und bremste. Dabei schwankte es wieder und schüttelte sich, wurde dicht über den ersten Baumwipfeln abgefangen und schwebte, ein Dutzend Meter über dem Boden, zwischen der zerstörten Siedlung und dem Raumschiff hindurch. »Er schafft’s. Guter Pilot!« knurrte der Kommandant fast bewundernd. Das fremde Schiff verzögerte abermals, seine Triebwerke stießen lange Flammen und grauen Rauch aus, und dann schlug der hintere Teil des Halbwracks auf. Büsche und kleine Bäume brachen in einem Wirbel aus Blättern und Ästen auseinander. Wieder hatte das Objekt Bodenberührung. Talkart merkte sich die Stelle; sie war in wenigen Minuten zu erreichen. Er verließ die Zentrale und rannte zu seinem Gleiter. Als er in dem offenen Laderaum stand, hörte er das Heulen der Triebwerke, das Dauergeräusch berstender Gewächse und eine schnelle Folge dröhnender Schläge aufs Metall. Der Diskus schlug zum letzten Mal auf. Er berührte donnernd mit dem Bodenteil die Gräser, sackte tief durch und pflügte eine schmale, gerade Gasse durch die Gewächse. Nach einem Weg von rund vierzig Metern, der unter einem kratzenden und kreischenden Knirschen zurückgelegt wurde, schaukelte das Raumschiff noch zweimal hin und her und lag dann still. Der Geräuschorkan riß jäh ab. Das Knacken der wenigen Bäume und Büsche, die sich wieder aufrichteten, breitete sich übertrieben laut in der jäh wieder hereinnutenden Stille aus. Talkarts Gleiter senkte sich summend und mit blinkenden Scheinwerfern in die Mitte des Pionierlagers herunter. Talkart richtete sich auf und kletterte auf den Sitz. »Freunde! Mitarbeiter«, dröhnte seine Stimme aus dem Lautsprecher. »Ihr habt es gesehen. Wir schossen ein Raumschiffchen ab. Vielleicht sind’s die Hyptons, vielleicht sind es harmlose Sternenreisende. Nehmt fünf Gleiter, Öffnungswerkzeuge, genügend Scheinwerfer und ein paar Waffen. Wir setzen die Insassen fest und bringen sie ins Schiff.« Seine Untergebenen rannten bereits auseinander und schalteten die Gleitermaschinen an. Im Scheinwerferlicht glänzten ihre Helme. Talkart konnte keinen Gward-Anhänger unter den Kommandos erkennen. Nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: »Falls in dem Wrack noch jemand den Absturz überlebt haben sollte.« Zwei Gruppenführer, Scheinwerfer und Waffen in den Händen, kletterten in seinen Gleiter. »Was wißt ihr im Schiff? Sind es die Zerstörer gewesen?« fragte ein Ligride aufgeregt. Talkart knurrte zurück: »Niemand weiß es. Zum Wrack!« Nacheinander stiegen die Gleiter auf, bildeten eine unregelmäßige Linie und schwebten auf jene Stelle zu, die Talkarts Maschine an der Spitze anflog. Die Ligriden wußten auch ohne Befehle, wie
sie vorzugehen hatten. Die Gleiter senkten sich und schoben sich auf kratzenden Kielen im Kreis auf den Diskus zu. »So, wie er daliegt, sieht er nicht sonderlich gefährlich aus«, brummte Talkart. »Ziemlich marode. Genauso wie unsere Dschungelsiedlung.« An mehreren Stellen war die Außenverkleidung aufgerissen, durchlöchert und zeigte ausgeglühte Ränder. Auf der Unterseite des Diskus waren tiefe Beulen und Risse zu sehen. Ein Teil des Landestützen-Mechanismus war herausgerissen und bis zur Unkenntlichkeit verbogen. In der offenen Schleuse brannte die Notbeleuchtung. Vorsichtig stieg Talkart aus. Rund vier Dutzend Scheinwerfer tauchten das kleine Wrack in gleißendes Licht. »Nicht einmal zehn Meter Durchmesser«, sagte ein Maschinenspezialist. Die gerundete, weitgehend unversehrte obere Hälfte war unterbrochen von winzigen kuppelförmigen Elementen. Vermutlich bedeckten sie Linsen oder Antennen. Die halb zerstörten Buchstaben, die von Talkarts Position aus zu erkennen waren, lauteten logischerweise NACHTJAGD, Nichts rührte sich. Talkart brauchte, um gut verstanden zu werden, keinen Lautsprecher mehr. »Laßt die Scheinwerfer so, wie sie sind – hervorragendes Licht«, sagte er und stapfte durch Gras, zerfetzte Ranken und zerrissene Büsche auf die Schleuse zu. »Rechts und links von mir sichern. Nicht schießen, bevor ich es befehle. Klar?« »Verstanden.« Die Unterkante der Schleuse, die knapp halb so groß wie ein Ligride war, befand sich etwa in Brusthöhe. »Wenn jemand Leitern oder Planken im Gleiter hat – her damit!« Im Halbdunkel des Schleusenraums flackerten plötzlich Lichter. Die Innentür schob sich auf. Es gab kaum Geräusche, also war der Rahmen von der Notlandung nicht verkantet oder verzogen. Ein seltsames Wesen schob sich taumelnd heraus. Es lief – tappte schlurfend – auf vier stämmigen, fellbedeckten Beinen in die Schleuse hinein, richtete riesige dunkle Augen auf die Ligriden und kehrte um. Bevor es im Innern des Wracks verschwand, erkannten die behelmten Männer den fast rechteckigen Körper und den dichten, stellenweise langhaarigen Pelz von olivbrauner Farbe. Eine Minute später tauchte das Wesen wieder auf und trug eine vergleichsweise riesige Brille. »Ihr Verbrecher!« kreischte der Fremde plötzlich los. »Einfach abschießen! Keine Antwort auf höfliche Fragen geben! Seid ihr das erstemal im Weltall? Wir wollen nur mit euch reden…« »Verdammte Hyptons!« kam es aus dem Dunkel hinter den blendenden Scheinwerfern. Augenblicklich fuhr der kleine Raumfahrer wieder zu schimpfen fort. Talkart fing an, den Mut dieses Unbekannten zu bewundern. Er stand keine zehn Schritte von ihm entfernt. »Wir sind keine Hyptons!« schrie er. »Ich bin Tuffelsyt, der pharstische Händler der Sensationen. Oder ein Naldrynne, wie manche sagen. Und mein Pilot ist von Evron. Sieht fast so aus wie ihr. Was habt ihr euch eigentlich gedacht?« Sein kurzer Arm bewegte sich langsam. Er wurde fast dreimal so lang, ohne daß Gelenke zu erkennen waren. Lange, hornige Finger berührten irgendwelche Schalter. Unter der Schleuse öffnete sich mit dem typischen Geräusch verformten Metalls eine Klappe, dann schob sich eine breite Rampe schräg nach unten. Gleichzeitig kamen die vier Ligriden mit wuchtigen Brettern herbei und ließen sie achtlos fallen, als sie die Metallrampe sahen. Talkart machte sich zum Wortführer. Er war der Chef. »Wir sind überzeugt, daß ihr unsere Arbeit aus dem Weltraum heraus sabotiert habt. Sechsmal
bisher.« »Du hast keine Ahnung. Du bist ein Ligride, nicht wahr? Ein Partner im Neuen Konzil!« Der Kleine barst förmlich vor Aggressivität. Fast war Talkart bereit, ihn sympathisch zu finden. Aber der Druck eines halben Tausends Ligriden, die vor der unmittelbaren Zukunft Furcht empfanden, schrieb seine Rolle mehr als eindeutig vor. »Wir sind Ligriden. Wir haben einen festumrissenen Auftrag. Wir kämpfen bis zum Letzten, um ihn zu erfüllen«, sagte Talkart deutlich und in unmißverständlicher Härte. »Ihr seid unsere Gefangenen. Befindet sich noch jemand im Schiff? Der Pilot? Wo ist er?« »Es geht ihm nicht gut. Ich hoffe, ihr habt gute Ärzte. Sonst trifft euch unsere konzentrierte Wut.« »Kommt unbewaffnet heraus. Wir bringen euch ins Schiff. Dort werdet ihr versorgt.« »Ich weiß nicht, ob es der Pilot schafft. Helft ihm. Ich komme. Und wehe, wenn ich mit deinem Chef spreche, du langaufgeschossener Schwätzer.« »Du bist zu winzig«, rief Talkart, »als daß ich mit dir kämpfen würde. Wegen weniger schlimmer Bemerkungen habe ich bessere Männer zerbrochen.« »Sicher mit Schiffsgeschützen gegen winzige Raumboote, wie?« Der Pharster kam die Rampe herunter, stampfte wütend durch das Gestrüpp und schwang sich auf den Kopilotensitz von Talkarts Kommandogleiter. Talkart und Nitom gingen die Rampe hinauf, bückten sich tief und drangen in das Schiff ein. Nach wenigen Schritten befanden sie sich in der Steuerkanzel. Auf den ersten Blick waren keine Zerstörungen zu registrieren; die Bildschirme zeigten das getreue Abbild der Umgebung. Auf dem kleinen Sitz vor dem überraschend gut ausgestatteten Schaltpult (angesichts der Maße war für Talkart sicher, daß die NACHTJAGD ein Pharster-Schiff war) hockte eine Gestalt, nicht ganz so groß wie ein durchschnittlicher Ligride und weitaus wuchtiger. »Ich bin Colemayn, der Pilot«, sagte er mit schwacher Stimme und hob den Kopf. In seiner Hand lag ein knapp faustgroßer Stein, den er immer wieder gegen die Brust drückte. »Eine Frage: warum habt ihr auf meinen Ruf nicht geantwortet. Die Trägerwelle stand.« Er schien erschöpft oder krank. Die tiefen Linien seines Gesichts zeigten es. Seine Haut war rot, fast bronzefarben. »Ich bin Talkart«, erklärte der Ligride. »Du bist krank.« Neben dem Fremden stand ein grüner, etwa röhrenförmiger Gegenstand. Als Talkart die Gurte sah, wußte er, daß es sich um einen Rückentornister handelte. »Mir geht es nicht gut. Alterserscheinungen.« »Ich bin verpflichtet, euch gefangenzunehmen. Draußen sind Gleiter. Wir bringen dich ins Schiffslazarett.« »Keine Waffen. Nicht einmal ein Schiffsgeschütz«, bemerkte Nitom. Er hatte die technische Einrichtung einer schnellen Prüfung unterzogen. Sie hoben den schweren Körper an den Oberarmen hoch und schleppten ihn mit beträchtlichen Schwierigkeiten aus dem Schiff und zu Tuffelsyt in den Gleiter. Der Fremde ließ den faustkeilförmigen Gegenstand nicht aus der Hand. Er hatte darauf bestanden, seinen Rucksack mitzunehmen. »Warum… habt ihr uns… abgeschossen?« murmelte Colemayn. »Das wird man dir später erklären.« Die Gleiter schwebten zu dritt zum Raumschiff, setzten im Laderaum auf, und die Gefangenen wurden in ein leeres Quartier und in das wohlausgestattete Schiffslazarett gebracht. Colemayn wurde mit Roboterhilfe entkleidet und streckt sich mit allen Anzeichen der Erleichterung auf der für
ihn überlangen Liege aus. Er schloß die Augen, nahm halb willenlosem warmes Getränk irgendeiner aufbauenden Flüssigkeit zu sich und preßte, während er einzuschlafen versuchte, den Kristall gegen die Haut seiner Brust. Die Schotte waren verschlossen, und vor ihnen, auf dem hell beleuchteten Schiffskorridor standen wachsam fünf bewaffnete Ligriden. Inzwischen hatte ein Lastenschweber das Raumschiff mit Traktorstrahlen gepackt, hochgehoben und auf den freien Platz vor der Schlucht, zweihundert Schritte hinter dem letzten Pionierzelt und beim Abstellplatz der Baumaschinen, vorsichtig abgestellt und gesichert. Talkart beendete seinen Bericht in der Schiffszentrale. Acalner und Ipolmen hatten schweigend zugehört. Schließlich zog der Gward-Wissenschaftler die Kapuze über den Ohren nach vorn. »Keine Waffen«, sagte er nachdenklich und im Tonfall tiefen Nachdenkens. »Keine Energie-Einrichtungen im Schiff, ein Winzling und ein Kranker. Offensichtlich sind es nicht die Feinde, die wir erwarteten.« Talkart, der sich todmüde und erschöpft fühlte, obwohl es heller Mittag war, sagte entschieden: »Ich bin mit meiner Analyse noch nicht fertig. Ich denke, Ipolmen wird mit wissenschaftlicher Logik und mit der Ruhe eines Gward-Mannes das Problem lösen.« »Zumindest werde ich es versuchen«, versprach der Ligride ruhig. Colemayn genoß es, allein zu sein. Es war ihm gelungen, die Stärke der Kabinenbeleuchtung zu drosseln. Die Schmerzen im Rücken und im Kopf, im Nacken und tief hinter den Augen schienen leichter zu werden. Er bildete sich wie immer während dieser Anfälle ein, daß der Kristall half. In welches Chaos hinein das Schiff gelandet war, notgelandet, das wußte er noch nicht. Er würde es herausfinden, wenn er wieder voll handlungsfähig war. *** An diesem Tag breitete sich überall die Ratlosigkeit aus. Talkart sah keine Veranlassung zum Weiterarbeiten. Was sie mühsam genug wiederaufbauten, wurde vom unsichtbaren Gegner in einer der kommenden Nächte zerstört. Daß dabei die Moral und die Schaffensfreude der Pioniere ebenfalls zerstört wurde, war der eigentliche Grund. Die Teams mit ihren vielen Maschinen und Robotern räumten ohne rechte Lust das Gelände auf und transportierten die Überbleibsel ins offene Gelände hinaus. Talkart tat das einzige, von dem er sich vernünftige Reaktionen versprechen konnte. Er sprach auf seine Untergebenen ein, versuchte Aberglauben und Panik wegzudiskutieren, appellierte an ihren Mut und die kämpferische Einstellung und wies darauf hin, wie beschämend es für ein halbes Tausend Ligriden sein mußte, wenn Kommandant Acalner nach BASTION-V um Hilfe funkte. »Es wird nur eine Kommission aus Gwyn-Herrschern kommen, die uns vorwirft, feige zu sein!« rief er. »Und was wird geschehen? Wir verlieren unser Gesicht.« »Wir verlieren’s auch, wenn wir auf Pjol-Kimorz bleiben.« »So kann man weder kämpfen noch arbeiten.« »Ich verliere auch nicht den Mut«, schrie Talkart. »Und wenn ihr weiterhin von Selbstzweifeln geplagt werdet, wenn ihr nicht kämpft, dann zeige ich euch, wie es die Kriegsherren durchsetzen können.« »Was haben die Gefangenen gesagt?« »Das werde ich wissen«, erwiderte Talkart scharf und drohend, »wenn ich endlich aufhören kann, euch über die Pflichten und Sitten kämpferischer Ligriden aufzuklären.«
Seine Untergebenen zuckten zurück; sie begriffen sehr genau und ebenso schnell, daß er in der Lage war, seine Macht uneingeschränkt zu zeigen. So, wie es Halphart auch tun würde. Er ließ sie schweigend zurück und bestieg den Gleiter, um die Gefangenen zu sehen.
5. Auflehnung gegen das System, selbst wenn es klar erkannt und als antiquiert bezeichnet werden kann, ist unehrenhaft. Nicht einmal die Vertreter der Hoch-Geborenen, die Anhänger der sanften Gward-Religion denken daran, Befehle eines Kriegsherrn in Zweifel zu ziehen. Die Einheit von Körper und Geist ist das schwer erreichbare Ziel, und wenn ein Gward vor ein schwieriges Problem gestellt wird, wird er anders handeln als ein Gwyn. Nur durch beharrlichen Dialog und ausgleichende Betrachtung kann, als aktuelles Beispiel, der Fall der beiden Fremden im Raumschiff auf Pjol-Kimorz gelöst werden. (Ipolmens Betrachtungen) *** Colemayn schüttelte seinen runden Schädel. Ipolmen war fasziniert von der Menge der weißgrauen, borstigen Haare. Mit ruhiger Stimme, aus der die beginnende Genesung herauszuhören war, sagte er: »Von vorn kann nur anfangen, wer am Ende ist. Mein Schiff liegt als Wrack irgendwo draußen, ich liege als Wrack hier…« »… und der Pharster liegt als Gefangener in einer bewachten Kabine. Du bleibst also dabei, daß ihr nicht das geringste mit unseren Problemen zu tun habt?« »Mann der Kapuze!« stöhnte Colemayn ungeduldig und richtete sich auf. Er trank wieder eine große Menge dieses seltsamen warmen Aufbautranks. »Wir wollten nur ein paar Fragen stellen und wieder starten.« »Und, was denkst du, stellt der unsichtbare Gegner dar?« »Beantworte mir noch ein paar Fragen, und vielleicht kann ich dir helfen.« Colemayn hatte, seit er wieder zu sprechen und verstehen fähig war, sich mit dem Ligriden unterhalten. Nach kurzer Zeit hatte seine ruhige, vertrauenerweckende Art den Mann der Wissenschaft – so dachte der Sternentramp – überzeugt. Er erfuhr vom Auftrag, von der Landung, von den Zwischenfällen und der Angst, die sich unter den sonst unerschütterlichen Pionieren und Kriegern ausbreitete. Noch kannte er das Gesellschaftsgefüge der Ligriden nicht. Noch hatte er spärliches Wissen nicht anwenden können. Er stellte Fragen und bekam Antworten. Je mehr er hörte, desto mehr verstand er die Überreaktion der rund fünfhundert Ligriden. »Und was habt ihr im einzelnen während dieser Beben und des Verschwindens gemerkt? Was ist womöglich angemessen worden?« Ipolmen erzählte es ihm. Colemayn fielen die Beobachtungen ein, die er während des Anflugs auf das Sonnensystem Syntran gemacht hatte. Er erkundigte sich nach Tuffelsyt. »Es geht ihm gut. Er darf die Kabine nicht verlassen.« »Waruta nicht?« »Wir trauen ihm nicht, überdies scheint er sich nicht zu langweilen. Er studiert auf dem Bildschirm Teile unserer Bildungsprogramme.« »Dieser schlaue, gerissene Händler des Unfaßbaren«, grinste Colemayn und verzog das Gesicht. Wieder zuckte und bohrte der Kopfschmerz. »Dein Freund?« »Mein Partner in guten und schlechten Tagen. Meist in den schlechten«, erwiderte Colemayn. »Weiter.«
»Ich bin bisher der einzige, der sich mit dir unterhält, und der dir glaubt.« »Zum Thema Glauben. Glaubst du, wenn ich dir sage, daß ich für euch dieses Geheimnis vielleicht lösen kann?« »Vielleicht?« »Höchstwahrscheinlich. Aber ich brauche technische Ausrüstung, Rechenmaschinen und all das andere.« Die Abstammung von einer Nation wilder Krieger zeigte sich, als Ipolmen die Gegenfrage stellte. »Was willst du dafür?« »Das werde ich dir später erklären, wenn ich sicher bin. Geh und frage den Kommandanten oder jenen kämpferischen Talkart.« »Talkart. Einverstanden. Vielleicht setze ich mich durch.« Der schlanke Ligride stand auf, rückte seinen langen Mantel zurecht und war ängstlich darauf bedacht, daß die Kapuze nicht zurückglitt. Colemayn rief ihm nach: »Mich findest du hier.« Der Gwyn-Wissenschaftler lächelte zum ersten Mal, seit er mit Colemayn sprach. Colemayn warf einen Blick auf seinen Rucksack, den die Ligriden aufmerksam durchsucht hatten, nahm einen Schluck, drückte den Kristall ans Herz und tastete nach der Fernsteuerung der Bildschirminformationen. Als er die ersten Kapitel der ligridischen Geschichts- und Sagenwelt angesehen hatte, kam Ipolmen zurück. Zwei Stunden waren vergangen. Die Ränder der Kapuze fielen weit nach vorn, als Colemayn fragte: »Warum tragen alle Ligriden Helme oder Kapuzen? Ist es wegen der fehlenden Haare?« Ipolmen schien ihm einen Großteil seines langsam erwachenden Vertrauens zu schenken. »Zum Teil, ja. Es hat historische Bewandtnis.« Davon erfuhr Colemayn, und von den Lichtlinien zwischen den Monden und dem Horizont, den Blitzen, dem Donner und den gewaltigen Kräften, die sich unterschiedslos im Dschungel ausgetobt hatten. Er begann einzusehen, daß er und Tuffelsyt an einem sehr kritischen Punkt zur Notlandung gezwungen worden waren. Mühsam richtete er sich halb auf, lehnte sich gegen das Oberteil der Raumfahrerliege und sagte: »Vertrauen mir auch der Kommandant und Talkart? Die anderen Untergebenen werden wohl nicht um ihr Urteil gefragt.« »Sie wollen dir die Benutzung der technischen Einrichtungen gestatten. Unter gebührenden Sicherheitsmaßnahmen natürlich.« »Versteht sich«, stimmte Colemayn verständnisvoll zu. »Ich glaube, ich habe da die passende Idee. Über die Gegenleistungen reden wir später. Euch liegt ziemlich viel daran, die Station fertig zu konstruieren, oder irre ich?« »Wir müssen sie bauen! BASTION-Fünf wird ungeduldiger von Tag zu Tag. Es müßten schon längst Vollzugsmeldungen abgegeben worden sein.« »Also«, meinte Colemayn. »In ein paar Stunden holt mich in die Zentrale, oder wie die Station bei euch heißt. Ist es dann Nacht?« »Nicht ganz. Aber du wirst Zeit brauchen, dich von der Pharster-Schalttechnik umzustellen.« »Laß dies, Vater der Kapuze, meine Sorge sein«, brummte Colemayn. Er strahlte geradezu vor Zufriedenheit.
*** Colemayns Garderobe war durch ein pulloverartiges Hemd eines Ligriden bereichert worden. Er sah sich schweigend in der Zentrale um. Mindestens zehn Raumsoldaten mit wuchtigen Helmen und Zeichen darauf richteten ihre Waffen nicht gerade auf ihn, aber in seine Richtung. Kommandant Acalner und Ipolmen erklärten ihm die einzelnen Geräte, Tastaturen und Bildschirme. »Und du willst herausfinden, was uns entgangen ist?« erkundigte sich Talkart, der im Hintergrund in einem halb zurückgekippten Sessel lag und den Fremden aufmerksam betrachtete. »Ich könnte mir’s vorstellen. Mir ist, als hättet ihr etwas übersehen.« Die Direktschirme zeigten die Umgebung im Licht des Tages. Es war die Zeit vor der Abenddämmerung. Ruhig und interessiert betrachtete Colemayn die Lichtung und einen Teil der Verwüstungen. Er sah auch das Materiallager, die Maschinen und die NACHTJAGD dazwischen. Ipolmen bemerkte die gemessene Art, in der sich der Fremde bewegte. Da die Gesichtszüge beider Sternenvölker einander stark ähnelten, schaffte es Colemayn, die aufgeregte Spannung zu mindern – er strahlte Ruhe aus, und der Blick seiner braunen Augen war zuverlässig und sprach von langer, tiefer Erfahrung und einem kriegerischen Schicksal. So wenigstens sah es Talkart. Colemayn setzte sich vor den Rechner und fand sich schnell mit der Tastatur zurecht. Er programmierte zuerst die Bahnen der sieben Monde. Jeder Mond bekam eine Kennfarbe zugeordnet. Auf dem Textschirm erschienen zuerst die Bahnkreise, dann die Farbpunkte, die je einen Mond verkörperten. »Habt ihr eine Berechnung über die gegenwärtigen Positionen der Monde? Und des Planeten?« wollte er wissen. Ipolmen gab das Programm in den Rechner ein. Die Farbpunkte begannen wie wild auf der Bahn zu rotieren und nahmen schließlich ihre exakten Plätze ein. Der Fremde beschleunigte die Bewegungen in ein Verhältnis, das rund zweihundertmal so schnell war. Dann erschien der Planet in der Mitte der Mondbahnen, und das gesamte Bild zog sich in eine perspektivische Darstellung auseinander. Colemayn lehnte sich zurück und wartete. Jeder Mond, von Synzinna bis Syndunee, hatte seine Bahn in eine anderen Neigung und brauchte mehr oder weniger Zeit für einen Dreihundertsechzig-Grad-Orbit. Geduldig harrte Colemayn aus, bis die Monde, ununterbrochen entlang ihre Bahnen wirbelnd, eine bestimmte Stellung erreicht hatten. Dann führte er eine Schaltung aus. Seine Finger waren blitzschnell. Wieder nahmen die Farbkugeln ihre unterschiedlichen Wege auf. Die Kodierung der Schaltung hatte keiner der Ligriden sich merken können, aber jeder sah, daß der Planet in der Mitte und die Monde in der perfekten holografischen Darstellung fast in einer schnurgeraden Linie hintereinander gestaffelt waren. In dem überzeugenden Bild durchdrangen sich die Farben und Rundungen. »Wie gut sind eure Basisdaten von der Sonne? Von Syntran?« fragte er und stand auf. »In den Speichern befindet sich alles, was wir kennen.« Der Fremde nickte und ließ das Pult los. Er wandte sich an den Kommandanten, an Talkart und Ipolmen. »Ich glaube, ich kann die geheimnisvollen Zerstörungen erklären. Mein Angebot lautet: unsere Freiheit, die Reparatur der NACHTJAGD und eine Handvoll ehrlicher Informationen über einen Mann, dessen Namen ich noch nicht nennen will. Ich erkläre euch, wo ihr die Station DschungelEins nicht errichten dürft. Ist das eine diskussionsfähige Sache, Freunde?« Talkart sagte kurz: »Ja. Ein fairer Handel.« Der Kommandant fragte den Techniker:
»Können wir die NACHTJAGD reparieren? Mit unseren Mitteln?« »Selbstverständlich.« Acalner hob die Faust, schlug sie hart gegen seine Schulter und verkündete im scharfen Ton des Kriegers: »Als direkter Kriegsknecht Halphars von BASTION-Fünf muß ich entscheiden. Ich entscheide. Fangt an, das Schiffchen zu reparieren. Macht es gut. Das ist der erste Schritt, den wir dir entgegenkommen, Fremder Colemayn. Wir Krieger sind Ehrenmänner und stehen zu unserem Wort.« »Ich erkenne«, lächelte Colemayn breit, »daß ich mich in bester Gesellschaft befinde. Ehrenmänner unter sich.« Mittlerweile waren einige Lampen zugeschaltet worden. Syntran war untergegangen. Colemayn warf einen langen Blick auf jenen Bildschirm, der zwei Monde über dem Horizont zeigte, über der Wellenlinie ferner Dschungelberge. »Ich glaube nicht, daß ich etwas vergessen habe.« Er koordinierte die genaue Zeit des Schiffschronometers mit der Bewegung der Monde. Entlang der Mondbahnen blinkten einzelne Punkte. »Verdammt!« sagte Colemayn plötzlich. Er winkte Ipolmen. »Du scheinst etwas bemerkt zu haben, was meinen sorgfältigen Überprüfungen entgangen ist?« »Höchstwahrscheinlich. Es dauert noch eineinhalb Stunden.« »Droht ein neuer… Zwischenfall?« »Ja. Bringt euch in Sicherheit.« »Deine Berechnungen…?« »Sie zeigen, daß die Monde wieder in derselben Konstellation stehen werden wie vorhin. Es ist eine Reihe, die einen weiteren Angriff auf euer Lager und dieses Gebiet geradezu herausfordert.« »Talkart! Bringe deine Leute in Sicherheit!« sagte der Kommandant. »Es wird sich zeigen, ob der Fremde richtig rechnet.« »Es kann auch nur ein leichtes Beben sein«, schwächte Colemayn ab. Talkart stand bereits am Schott der Schleuse. »Ich gehe kein Risiko mehr ein. Ich kann nicht mit verstörten Frauen und Männern arbeiten.« »Einverstanden. Bringt euch in Sicherheit. Kannst du sagen, an welcher Stelle Zerstörungen in größerem Maß auftreten?« »Das kann ich nicht. Aber es muß nicht wieder an derselben Stelle wie bisher sein.« »Gefahr für das Schiff?« wollte Acalner wissen. »Durchaus möglich.« Der Kommandant rief die Wachen und befahl ihnen, den kleineren Gefangenen und sich selbst außerhalb des Schiffes in Sicherheit zu bringen. Er wies einen Techniker an, die Schutzschirmprojektoren binnen kürzestmöglicher Zeit zu testen und schaltbereit zu machen. »Eineinhalb Stunden?« »Wenn die Monde in einer Reihe mit der Sonne stehen«, sagte Colemayn und machte ein bedenkliches Gesicht, »wird es soweit sein. Ich werde, um euch zu beweisen, daß es nicht nur kämpferische und mutige Ligriden gibt, hier in der Zentrale bleiben.«
»Es steht dir frei, auch das Schiff zu verlassen«, sagte Acalner ruhig. Colemayn überlegte kurz, dann entschied er sich. »Ich werde mit Talkart zusammen im Gleiter kreisen. Vielleicht machen wir die eine oder andere Beobachtung, die uns allen weiterhilft.« »Auch damit können wir einverstanden sein.« Colemayn ahnte nicht nur, er wußte, daß es innerhalb dieses Sonnensystems zu Überlappungen und hypermagnetischen Effekten kam. Auf dem Weg, deren Gesetzmäßigkeiten berechnen zu können, war er immerhin einen großen Schritt vorangekommen. »Gut. Hoffentlich weiß jeder von euch, daß es auch einen anderen Ort treffen kann.« Kommandant Acalner nickte nur. Kurze Zeit später verließ Colemayn das Schiff über die Rampe zwischen den mächtigen Landestützen. Acalner hatte ihm ein Armbandfunkgerät gegeben. Er sprach kurz mit Talkart, stieg in dessen Gleiter ein und schenkte der jungen Frau, die auf dem Kopilotensitz saß, eines seiner schönsten Lächeln. »Dein Freund? Wo ist er?« fragte Talkart und startete die Maschine wieder. Mittlerweile herrschte wieder das abgrundtiefe Dunkel der Nacht über dem Dschungelrand. »Keine Ahnung. Vermutlich versucht er, deinen Leuten Dinge zu verkaufen, die er nicht hat, und die sie nicht brauchen können.« Talkart lachte kurz. »Ein seltsamer Geselle.« »Nicht ungefährlich. Aber berechenbar«, sagte Colemayn. »Ich glaube nicht, daß er viel Schaden anrichten kann. Er ist mir irgendwie zugelaufen.« »Als Fremder verstehst du wohl nicht, worum es auf Pjol-Kimorz geht«, meinte Leamey mit deutlicher Verlegenheit. Colemayn legte ihr in altväterlicher Zurückhaltung die Hand auf die Schulter und meinte: »Schönste Ligridin, derer ich je ansichtig werden durfte… ich bin durchaus in der Lage, eure Probleme zu verstehen. Ich bin steinalt und weit herumgekommen. Ich sah viele Welten, viele Völker und erlebte unzählige Geschichten. Abenteuer säumen meinen Weg. Was ihr hier und heute erlebt, kennen andere gut, und sie haben es mir erzählt. Einige eurer Bräuche mögen mir fremd sein, aber ich verstehe eure Sorgen. Morgen wissen wir alle mehr. Ich meine, daß ich euch helfen kann. Und ich hoffe, daß es heute nacht nur mit auffälligen Effekten vor sich geht, ohne große Zerstörungen oder gar Opfer.« »Warum trifft es gerade uns? Gerade dieses Gebiet? Wir habendes vorher gründlich untersucht!« sagte Talkart hart. Der Gleiter beschrieb einen weiten Kreis über der Landschaft. Nur die Zone nahe dem Schiff selbst, das Baumaschinenlager und die kleine Zeltstadt waren beleuchtet. Drei Monde beschrieben ihre Bahnen zwischen den Sternen. »Wieviel Zeit haben wir noch?« wich Colemayn aus. Wären die sieben Monde am Nachthimmel in einer Reihe oder einer anderen auffallenden Konstellation gestanden, wären die Ligriden wohl selbst auf diese Zusammenhänge gekommen. »Noch vierzig Minuten.« Nach einer Weile erklärte der Sternentramp: »Es trifft vermutlich auch andere Gebiete. Nur habt ihr euch darum nicht gekümmert. Wenn der Effekt im Meer oder an dessen Oberfläche stattfindet, merkt niemand etwas davon. Es sei denn, er befände sich gerade an dieser Stelle.«
»Ich verstehe«, murmelte Talkart und sah ein, daß er versäumt hatte sich darum zu kümmern. Er steuerte den Gleiter nach einer Warnung des Fremden in einen noch größeren Kreis und umschwebte in einer Höhe von rund dreihundert Metern langsam und wachsam den Mittelpunkt der verheerenden Zerstörungen. Unablässig beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Stützpunkt und dem Materialvorrat. Er rechnete mit der Ungeduld Halphars; noch hatte er sie nicht deutlich gezeigt. Er fürchtete den Zeitpunkt, an dem entweder ein drängender Funkspruch oder eine Untersuchungskommission hier eintreffen würde. »Noch zwölf Minuten«, sagte er irgendwann. Fast lautlos kreiste der Gleiter. Ein halbes Tausend Ligriden warteten, die Notausrüstung griffbereit, auf den berechneten Zeitpunkt. Es gab nicht die geringste Unruhe. Sie waren alle gewarnt worden. Der Schrecken hatte schon jetzt wenig Wirkung, denn man kannte den Zeitpunkt, an dem das Unsichtbare zuschlagen würde. *** Auch in der Nacht barst der finstere Dschungel von Leben. Die faulenden Pflanzen und die Myriaden Pilze, die das faulende Laub und die Nadeln zersetzten und auf diese Weise Nährboden für die riesigen Gewächse schufen, verströmten einen durchdringenden Geruch. Unzählige Schwärme Insekten, winzig klein oder furchterregend groß, summten, flatterten und krochen umher. Nachtjagende Tiere suchten ihre Beute. Unablässig heulten Todesschreie, Angriffsschreie und Warnrufe zwischen den Ästen und dem Blattwerk zu den drei Personen hinauf. Die obersten Teile der Baumkronen wirkten aus dieser Entfernung wie eine leicht gekräuselte Wasserfläche. Das Licht der vier sichtbaren Monde spiegelte sich auf unzählbaren feuchten Blättern und Nadeln, die so groß wie ein Finger waren. Rot, Grün, Gelb und Weiß bildeten sinnverwirrende Farbmuster. Hin und wieder schüttelten sich die Gewächse wie im Fieber, wenn eine Welle heißer Luft vom Boden aufstieg. »Wozu soll eure Station dienen?« fragte Colemayn und beobachtete die Monde, die sich mehr und mehr der verhängnisvollen Stellung näherten. »Das weiß niemand. Nicht einmal Acalner«, gab Talkart zurück. »Aber Halphar weiß es.« »Er tut nichts ohne Grund.« Aus dieser Höhe wirkten Zelte, das Raumschiff und die Reihen der Baumaschinen wie Zwergenspielzeug. Colemayn verschwendete einen langen Gedanken an Tuffelsyt, der irgendwo im Lager war und die Ligriden beschwatzte. »Halt!« sagte er plötzlich. »Bringe den Gleiter über freies Gelände. Seht euch die Monde an.« Das Mädchen flüsterte schreckerfüllt: »Es fängt wieder an.« Die Gleitermaschinen summten laut, als Talkart die Maschine wendete und die Geschwindigkeit heraufsetzte. Gebannt betrachteten sie die Monde. Zwischen ihnen zuckten dünne Blitze auf, tasteten kurz umher und verbanden die Monde auf unsichtbare Weise miteinander, denn sie endeten ausnahmslos in den dunklen Zonen der Trabanten. Eine breite Linie züngelte vom Horizont herauf, hing einige Sekundenbruchteile schräg vor den Sternen und schlug mit einer kleinen, roten Detonation auf der Unterseite der Mondscheibe Synolffs ein. Dann jagte ein weißer Lichtbalken vom gelben Mond herunter und suchte sich sein Ziel.
Einmal, zweimal, dreimal mündete die Lichterscheinung im Meer. Es war wenig zu sehen, aber die Insassen des Gleiters glaubten Wasserwolken oder Dampffontänen zu erkennen. Dann hämmerte das Ende des Strahls in den Dschungel hinein. Zuerst schwach, dann immer stärker, kam der Nachhall der Donnerschläge heran und mischte sich mit dem infernalischen Dröhnen und Krachen, mit dem der tastende Finger weit rechts vom Schiff in den Wald einschlug. Wieder erhob sich eine gewaltige Masse aus zerfetzten Baumstämmen, restlos zersplittertem Holz, abgerissenem Laub, Wasser, Erdreich und zwei Zelten. Ununterbrochen krachte und donnerte es. Die Positionsscheinwerfer des Raumschiffs tanzten wild durch die Dunkelheit. »Langsamer. Wir sind nicht in Gefahr!« brüllte Colemayn. Talkart drosselte die Geschwindigkeit des Gefährts. Der Donner wurde lauter und schärfer. Zweifellos bebte die Planetenkruste, denn die Bäume peitschten wild hin und her. Aus dem Augenwinkel sah Colemayn, wie ein Schaufellader gekippt wurde, sich drehte und dann mit gewaltiger Kraft senkrecht nach oben gerissen wurde. Er verschwand in der Wolke aus zerfetztem Material, die sich heulend und wimmernd zu drehen begann. Auch der Gleiter wurde von den unregelmäßigen Sturmstößen getroffen und schwankte, als er schräg abwärts und in einen Drittelkreis gesteuert wurde. Die Monde verschwanden hinter der riesigen Wolke. Aus der Tiefe des Planetenbodens kamen grollende und ächzende Geräusche. Talkart fing den Gleiter einige Meter über dem Boden ab. Deutlich war zu sehen, daß die hohen Gräser sich bewegten wie Meereswellen. Steinbrocken von Hausgröße und Bäume tanzten auf und ab. Durch den ohrenbetäubenden Lärm und den Staub, der sie einhüllte und zum Husten brachte und dazu, die Augen zu reiben, schrie der Ligride: »Das ist schlimmer als vor fünf Nächten!« »Es ist nicht berechenbar. Noch nicht«, schrie Colemayn zurück. Durch die Dunkelheit flogen vor ihnen undefinierbare Gegenstände. Vermutlich waren es Bohlen oder Bretter. Dann hörte das Donnern in der Luft auf. Der Planetenboden beruhigte sich, die Lichtstrahlen des Schiffes schwankten nur noch leicht. Leamey stieß einen langen Seufzer aus und versuchte, ihr Gesicht zu säubern. »Das war furchtbar«, sagte sie. Ringsherum beruhigte sich die Landschaft. Das Brausen in der Luft entfernte sich aufwärts. Eine Sirene begann aufzuheulen. Talkart nickte Colemayn zu und bewegte den Fahrtheber. Er schaltete sämtliche Scheinwerfer an und richtete sie schräg nach unten. »Ich muß in mein Lager. Zu meinen Leuten«, stieß er hervor. »Das ist der allerstärkste Bebenzwischenfall gewesen, den wir erlebten. Und du hast ihn richtig berechnet.« »Ich bin dabei nicht nur durchgeschüttelt und halb taub, sondern auch ein wenig klüger geworden«, gab Colemayn melancholisch zurück. »Ich komme mit dir, Techniker. Los. Zum Lager.« Er wußte jetzt, daß seine Theorie richtig war. Der Gleiter raste los, fegte dicht über dem Boden auf die Zelte und Plattformen zu. Dort breitete sich an zwei Stellen Bewegung und Unruhe aus. Die Näherkommenden sahen es an den Lichtern, und als sie vor den ersten zerrissenen Zelten anhielten, hörten sie es auch am Lärm. Ein Vorarbeiter rannte auf den Gleiter zu und schrie mit schreckerfüllter Stimme: »Darragh ist fort. Und der kleine Fremde. Sie waren in dem Zelt dort!« Colemayn zuckte zusammen. Der Gleiter landete auf der verwüsteten Bodenplattform. Langsam
stieg er aus und sah sich um. »Und…?« fragte Talkart? »Habt ihr sie gesucht?« »Natürlich. Sie sind spurlos verschwunden. Und das Zelt dazu. Mit allen Einrichtungsgegenständen.« Colemayn drehte sich erschüttert herum und sagte stockend: »Sage deinen Kameraden, daß es keinen unsichtbaren Feind gibt. Es sind die Monde, die gewisse bösartige Eigenschaften haben, die euer Konzept, den Dschungel und eure Nerven verwüsten. Morgen werden wir herausgefunden haben, was ihr dagegen tun könnt.« Er sah, daß an seinem Kommunikationsarmband ein Leuchtfeld aufgeregt blinkte, starrte in das vom Schrecken gezeichnete Gesicht des Ligriden und fuhr fort: »Ich sage die Wahrheit. Sie ist einfach. Ihr habt, weil niemand es besser weiß, am falschen Ort gebaut.« . »Und wo ist der richtige Platz?« schnarrte Talkart in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. »Das ermitteln wir morgen. Oder jedenfalls ein wenig später«, tröstete ihn Colemayn in unerschütterlicher Ruhe. Seine Gedanken waren bei Tuffelsyt und dem unbekannten Darragh. Er erfuhr, daß Darragh die Verkabelungs- und Verdrahtungsroboter programmierte und beaufsichtigte und daher schwer zu ersetzen war. Endlich kam er dazu, den Ruf zu beantworten. »Hier spricht Colemayn, der Fremde«, sagte er. »Wer ruft mich?« »Acalner. Wo seid ihr?« Colemayn sagte es ihm und dankte dem Schicksal, daß ihn dieses Chaos getroffen hatte, als er seine scheinbare Gesundheit wieder hatte. Der Kommandant rief: »Du hast bis auf die Sekunde richtig gerechnet. Ipolmen will dich sprechen. Er ist sehr aufgeregt.« Fast würdevoll entgegnete der hakennasige Fremde: »Ich komme, wenn wir hier fertig sind. Die Gefahr ist vorbei. Bereitet euch auf einen aufsehenerregenden Gedanken vor, Freunde: Ihr habt euch die falscheste aller Stellen für den Bau von Dschungel-Eins ausgesucht. Ende.« Er schaltete den Kommunikator aus und blieb nachdenklich im Zentrum der Aufregungen stehen. Seine Gedanken waren bei Tuffelsyt und Darragh. Lebten sie noch? Wenn ja? Wohin hatte sie der Gravitationswirbel geschleudert? Waren sie verletzt? Bei den freigewordenen Kräften, die gewaltig gewesen waren, konnten sie zerfetzt auf der antipodischen Seite des Planeten abgeworfen worden sein. Den größten Teil der Fragen konnten sie wahrscheinlich niemals beantworten. Und vieles verbarg sich noch in der Finsternis der Nacht. Er warf einen langen Blick auf die unschuldig wandernden Sicheln, Scheiben und Halbmonde vor der Kulisse der Manam-Turu-Galaxis und bat dann den Ligriden, ihn zum Schiff zu fliegen. *** Der zweite Schock traf Tuffelsyt zwar vorbereitet, aber womöglich noch heftiger als der erste. Dunkelheit breitete sich aus. Er bekam keine Luft mehr. Etwas Nasses hüllte ihn ein und schnürte ihm den Atem ab. Der Rahmen der Brille hatte sich tief in die Haut eingedrückt… er versuchte, sich zu bewegen und entdeckte, daß er in starre, feuchte Gewebe eingehüllt war. Er hörte eine Reihe unbekannter Geräusche und dazwischen ein langgezogenes Stöhnen. Er versuchte sich zu erinnern.
Plötzlich hatte der Boden gebebt. Eine rasende Kraft hatte ihn mitsamt der Umgebung hochgerissen. Gerade hatte er versucht, dem begriffsstutzigen Ligriden zu erklären, wie wichtig es war, mit Informationen handeln zu können – und wie hoch dabei die Handelsspanne war. Dann: nichts mehr. Wirbel, Donnern, Schrecken, Atemnot und ein furchtbarer Schlag, der das Bewußtsein auslöschte. »Wo, bei allen Gliedern der scheußlichen Sippe, bin ich?« Er hörte zu seiner Erleichterung seine eigene Stimme. Seine Arme tasteten in den zusammengedrehten Falten des dicken Gewebes herum und suchten nach einer Öffnung. Je mehr er sich bewegte, desto sicherer konnte er sein, daß er physisch unbeschädigt war. Wieder das Stöhnen. Zwischen Tuffelsyts schmerzenden Fingern öffnete sich ein Spalt. Er zerrte und riß daran und zog sich auf diese Öffnung zu. Als er sie erreicht hatte, schob er seinen Körper hindurch und riß die Augen weit auf. Noch immer befand er sich in erstickender Dunkelheit. »Nacht«, sagte er laut. »Kein Wunder.« Seine Stimme schrillte durch die Finsternis. Von rechts antworteten knisternde Geräusche und der heisere Schrei eines Raubtiers. Zwischen einzelnen schwarzen Gewächsen sah er einen schwarzen Himmel und die Sterne darin. Er befand sich also auf der Oberfläche dieser Welt. Schlagartig fielen ihm sämtliche Mosaiksteinchen der Vorgeschichte ein. Darragh! Das war der Name des Ligriden. Also kam das Stöhnen von ihm. »Ich muß warten, bis es hell wird«, brummte er, kroch halb zurück in sein Versteck und begann, als er mit Sicherheit erkannte, welcher Gefahr er lebend entkommen war, zu zittern. Schließlich schlief er ein und wurde von schauerlichen Alpträumen gemartert. Als er schließlich mit einem kreischenden Schrei hochfuhr, sah er, daß es hell geworden war. Wieder stöhnte jemand, diesmal aus der anderen Richtung. Tuffelsyt schaute sich um. Er war also unverletzt. Nach einiger Zeit sah er, daß er sich am Boden einer großen Höhle befand. Er war halb eingewickelt in die Reste des Zeltes. Überall lag zersplittertes Holz herum, Teile von Pflanzen und Trümmer aller denkbaren Materialien. Aus einem riesigen, gezackten Loch hoch über ihm flutete Tageslicht herein. Abermals ertönte das Stöhnen. Tuffelsyt orientierte sich und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die aufgetürmten Abfälle und die Steinbrocken, die zusammen mit zerbrochenen Bäumen heruntergeprasselt sein mußten. »Die Zeltfetzen haben uns gerettet«, sagte sich der Pharster und ging dem Stöhnen nach. Halb bedeckt von gesplitterten Holzteilen, mit seltsam verkrümmtem Körper auf zerrissener Zeltleinwand liegend, hob Darragh die Hand. »Tuffelsyt! Wo sind wir?« »Keine Ahnung. In einer Höhle. Irgendwo.« Tuffelsyt sah, daß der Ligride sein Funkarmband trug. Offensichtlich war Darragh schwer verletzt. Der Pharster nahm seine Hand, öffnete den Verschluß des Bandes und sagte: »Die unsichtbare Kraft hat uns hierher geschleudert. Ich habe furchtbare Schmerzen.« »Ich sehe mich um«, antwortete Tuffelsyt und versuchte, den Schaltmechanismus des Kommunikators zu begreifen. »Wenn du mir mit ein paar Auskünften hilfst, bringe ich dich hinaus.« Er winkte dem Schwerverletzten und schob die Brille zurecht. Ein Rätsel, daß er sie nicht verloren hatte. Er kletterte und stolperte geradeaus, bis er an die Wand der Höhle stieß. Sie war uralt, aber ihn interessierten die Merkmale nicht. Er suchte einen Ausgang. Es war genügend hell; durch die riesige Öffnung in der Höhlendecke drang ein breiter Lichtstrahl ein, in dem der Staub tanzte.
Schritt um Schritt suchte der Pharster die Wand nach einer Öffnung ab und überlegte sich, wieviel Kapital er aus der Situation herausschlagen konnte. »Sieht nicht gut aus. Kileimeinn wird sich grämen«, sagte Tuffelsyt und tastete sich weiter. Felsstücke brachen los und lösten sich, völlig verwittert, während des Fallens auf. Nasses Erdreich polterte herunter, Tuffelsyt fluchte, schlich weiter und stolperte über Steinbrocken und den Schutt aus den Resten des Lagers. Er begriff, daß der Stoff des Zeltes ihn und den Ligriden gerettet hatte. Fieberhaft überlegend tappte er entlang der Höhlenwandung weiter und untersuchte jeden Winkel, Vorsprung und alles, was in dem Zwielicht wie eine Öffnung aussah. Es dauerte nach seiner Schätzung etwa zwei Stunden, bis er die Höhle einmal umrundet hatte, und er fiel beinahe in ein sandgefülltes Loch, das dreimal so groß wie er war. In der Seitenwand klaffte ein Tunnel. Tuffelsyt spannte seine harten Muskeln und kroch hinein. Er kämpfte sich binnen zwanzig Minuten durch ein System von Spalten, Kavernen und Stollen, die in Zickzacklinien aufwärts führten, und als er ins helle Tageslicht blinzelte, kehrte er wieder um und hastete über das Trümmergebirge zu dem Ligriden zurück. »Ich bringe dich heraus. Hab’ einen Weg gefunden. Verdammt schwierig«, erklärte er. »Kennst du den Namen Atlan? Er sieht aus wie mein Pilot…« Er schilderte das Aussehen des Arkoniden und ging auf einzelne Charakteristika ein, die er von Colemayn erfahren hatte. »Halphar von BASTION-Fünf sucht Atlan. Er verlor zuerst die Spur auf dem Planeten Dawaggor. Atlan und ein Junge namens Chipol waren in der ZYRPH’O’SATH. Dann müssen sie mit der GHYLTIROON geflohen sein, die später auf Nolien notlandete. Ich kenne Atlan selbst nicht. Habe nur von ihm gehört.« Der Verletzte hatte es geschafft, sich halb zu befreien. Während ihn Tuffelsyt befragte, wuchtete er mühelos ein paar Balken und Felsstücke vom Körper des Ligriden weg. »Was bedeuten die Hyptons?« Keuchend und schweißüberströmt, durstig und hungrig, sprach der Ligride weiter. Er schilderte das seltsame Verhältnis zwischen diesen beiden Partnern. »Und wie kommt Halphar ins Spiel?« Die Ausführungen waren eher dürftig. Tuffelsyt erfuhr nur noch, daß das Schiff nach der Reparatur von Nolien wieder gestartet war. Halphar suchte Atlan. »Und wie bediene ich dieses Gerät?« Der Ligride erklärte es ihm. Tuffelsyt zögerte unmerklich, dann packte er mit seinen kräftigen Armen Darragh unter den Schultern und schleppte ihn bis zu dem Sandloch. Er kletterte hinunter, und als er sich umdrehte, sah er, wie Darragh ins Loch hinunterrutschte, vor Schmerzen aufbrüllte und liegenblieb. Tuffelsyt sprang zur Seite. »Also kann Atlan inzwischen auf BASTION-Fünf sein. Oder er wird bald dort abgeliefert, als Gefangener. Wieder eine wertvolle Information.« Er ließ Darragh liegen, ohne ihm noch einen Blick zu gönnen. Dann arbeitete er sich an die Oberfläche hinauf und rief die Ligriden. Das Funkecho war schwach, und er konnte ihnen nicht einmal sagen, welche besonderen Geländemerkmale es in seiner Umgebung gab. Er hörte, daß man ihn einpeilte. »Warte dort auf uns«, verstand er ganz schwach. »Wenn wir dich rufen, melde dich. Du wirst gefunden, Fremder. Hast du Darragh gesehen?« Tuffelsyt zögerte mit der Antwort, dann sagte er mit seiner hellen, scharfen Stimme:
»Nein.« Der Suchtrupp war unterwegs. Er besaß einen wichtigen Hinweis. Und er hatte überlebt. Alles andere war unwichtig.
6. Selbst im Chaos liegen Logik und Klarheit. Wir verfügten über nahezu alle Informationen. Sie müssen miteinander verbunden und klug interpretiert werden. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, die Ligriden von meinen wissenschaftlichen Fähigkeiten zu überzeugen; ich mußte ihnen auch nicht die Rolle des Weltraumtramps vorspielen. Die Freude der Ligriden und ihr Mißtrauen hielten sich die Waage. Aber Ipolmen unterstützte mich. Ich begann mit der Sonnenanalyse… (Colemayns Sternentagebuch) *** Wieder starrte die Zentrale von Bewaffneten. Nur Talkart war nicht anwesend. Der Fremde arbeitete an drei Pulten zugleich. Auf einem Bildschirm rotierte langsam die Projektion der Planetenkugel Pjol-Kimorz. »Das ist die Sonne«, erklärte Colemayn. »Syntran. Ich habe es bereits bei unserem Einflug ins System gemerkt, aber nicht für wichtig gehalten. Syntran sendet überstarke magnetische Strahlungen im Hyperbereich aus. In einem Rhythmus, den wir hier dargestellt sehen.« Sämtliche Informationen, die der Ligriden und jene aus dem Speicher der NACHTJAGD, waren verarbeitet. Ein Diagramm erschien auf einem Monitor. Die Zeitlinien erstellten sich, und die Rechneranlage hatte wenig Mühe, die Maxima der Hypermagnetismusstrahlung herauszufinden. »Das heißt, daß die Sonne Materie anzieht und in sich aufsaugt?« wollte Ipolmen wissen. »Richtig. Aber ihre Kraft ist wegen des riesigen Abstands begrenzt. Die Monde wirken als Relaisstationen. Und natürlich würden sie niemals komplette Berge aus, der Planetenkruste herausreißen.« »Aber Wassermassen, Erdreich, Felsen und Bäume.« »Und eure Bauwerke«, sagte Colemayn. Die Hypereffekte verpufften in vielen Fällen wirkungslos im Raum zwischen Syntran und Pjol-Kimorz. Sie waren, ähnlich den Sonnenprotuberanzen, stärker oder schwächer. In der stärksten Version kamen sie seltener vor. Wenn sich die Monde zwischen der Sonne und dem Planeten auffädelten, verfügte die Sonne über eine Reihe, die offensichtlich die Überlappungseffekte zwischen dem normalen Weltraum und der Hyperzone auf den Planeten lenkten. Auch dieser Rhythmus war bestimmbar. »Ich werde versuchen, beide Zackenlinien miteinander zur Deckung zu bringen«, sagte Colemayn. »Vielleicht hilft mir Leamey ein wenig.« Colemayn fühlte sich längst nicht mehr als Gefangener. Er wußte, daß die Techniker Talkarts an der NACHTJAGD arbeiteten. Tuffelsyt und Darragh wurden als einzige Opfer gesucht, waren aber noch nicht gefunden worden. Nicht einmal Colemayn vermochte zu schätzen, ob die weggerissene Materie ins Meer geworfen oder in den leeren Raum zwischen Planet und Monden gerissen worden war – und mit ihr auch die beiden mitsamt dem zerfetzten, Zelt und der Ausrüstung um sie herum. »Was soll ich tun?« Colemayns kräftige Finger bewegten sich geschickt über die Tasten der Terminals. »Wir brauchen eine theoretische Gerade. Wo, auf welchem Punkt des Planeten, trifft sie auf, wenn die gefährliche Mondkonstellation eintritt?« »Das soll ich berechnen?« »Ist nicht weiter schwer. Dauert nur etwas, Teuerste«, meinte Colemayn gutgelaunt. »Habt ihr etwas zum Trinken da?«
»Sofort.« Zwischen Talkart und Ipolmen schien im Augenblick tiefster Friede zu herrschen. Das wurde deutlich, obwohl der Kodex der Ligriden einen offenen Streit entweder ausschloß oder in radikalen Kampf ausarten ließ. Beide nahmen seine Hilfe an und würden ihren Teil der Vereinbarung halten, das war für ihn sicher. »Die pulsierende Sonne wird diesem System für die nächsten paar Millionen Jahre erhalten bleiben«, sagte er und machte einige Übungen, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. Schon seit ein paar Stunden saßen sie hier und rechneten. »Für uns zählt«, erklärte Ipolmen sanft, »nur die nächste Zeit. Unsere Aufgabe, die klar definiert ist, kennst du. Haben wir das Lager Dschungel-Eins gebaut und getestet, fliegen wir mitsamt den Maschinen wieder ab.« »Ich sehe es nicht anders«, meinte Colemayn und nahm einen großen Krug eines Getränks in Empfang, das sie Gnor nannten. »Wann wird der nächste Zwischenfall sein?« »Nicht in den nächsten drei Tagen, beziehungsweise Nächten«, erklärte Colemayn. »Das ist auf dem Monitor dort drüben zu sehen. Das Programm ist stabil.« Sie berechneten auch diese imaginäre Gerade. Die Computer des großen Ligridenschiffs waren hervorragend, ebenso die holografischen Bildwiedergaben. Endlich bewegte sich ein roter Punkt in einer Pol-zu-Pol-Bahn über das Abbild des rotierenden Planeten. »Das ist eine Linie«, sagte Colemayn und veränderte die Wiedergabe auf dem Schirm, »entlang derer die Hyperanziehungskraft einwirkt. Wie ihr seht, sind etwa sechzig Prozent des Planeten von Wasser oder Eis bedeckt.« »Das ist also die Zone der Zerstörung?« fragte Acalner aufgeregt und verfolgte den Punkt, der eine weiße Linie hinter sich schrieb. »Das ist sie«, bestätigte Colemayn. »Schnellerer Durchlauf, Leamey!« »Sonderbar…«, sagte sie. »Das hätten wir eigentlich auch herausfinden können.« »Ihr habt euch zu sehr auf den Auftrag und zu wenig auf die Erforschung von Pjol-Kimorz konzentriert«, entschuldigte Colemayn die eifrigen Ligriden. Er sah das zurückhaltende Lächeln des Gward-Wissenschaftlers nicht. Schweigend starrten sie das Bild an. Die Planetenkugel rotierte um die Polachse. Der Punkt wanderte aufwärts und abwärts. Der feine Strich, der sich wie ein Faden von Pol zu Pol spannte, berührte bei jeder Umkreisung einen anderen Bereich der Landkarte. Als die junge Frau die Umdrehungen um eine Zehnerpotenz schneller machte, wurde aus dem Bild ein sinnverwirrendes Spiel. »Jetzt sind einige Jahrhunderte vergangen«, meinte Colemayn und blickte auf die Ziffern des Zählwerks. »Langsame Schaltung.« Nun drehte sich Pjol-Kimorz in natürlicher Langsamkeit. Die geschwungenen Linien waren breit geworden, aber sie ließen große Gebiete frei. Diese Zonen lagen sowohl über dem Wasser als auch über Küsten, Dschungeln, Gebirgen und jeder anderen Geländeformation. »Wo sind wir in diesem Bild?« Ipolmen schaltete, und mitten in einer breiten Zerstörungszone blinkte ein grüner Punkt. Colemayn stand auf und leerte den Krug.
»Nach links oder nach rechts, ein paar hundert Kilometer, und ihr könnt eure Siedlung auf völlig ungefährdetem Gebiet bauen. Wie ich sagte: Es ist alles eine Frage des Standpunkts.« »… nicht des Standorts?« »Ich meinte Standpunkt und sagte es«, widersprach der Fremde. »Und während ihr umsiedelt, empfehle ich euch, diese Berechnungen noch einmal überprüfen zu lassen. Der Fehler kann nicht sehr groß sein.« Ipolmen kam auf ihn zu und führte die Geste der Zufriedenheit aus. »Ich habe mit Talkart Differenzen deinetwegen gehabt. Ich bin froh, daß der Technische Leiter dieses Mal auf meinen bescheidenen Einwand hörte.« »Ist also das Thema, Tuffelsyt und ich wären der böse Feind und für euer Desaster verantwortlich, endgültig vom Schaltpult und aus den Speichern?« fragte Colemayn. »Es war eine falsche, aber verständliche Annahme«, sagte Kommandant Acalner. »Rufen wir Talkart. Wir starten sofort in das neue Gebiet. Ein Voraustrupp soll den besten Standort vermessen.« Detailkarten erschienen auf den Riesenmonitoren. Entfernungen wurden festgelegt. Die Außenschirme zeigten, nachdem die Filter weggeschaltet worden waren, wieder die natürliche Ansicht der Umgebung. Und sie zeigten auch die schweren Verwüstungen. Colemayn setzte zu einer letzten Bemerkung an, gab seinen Krug wortlos ab und erhielt ihn gefüllt zurück. »Der eine oder andere wird sich fragen, warum nicht schon aus großer Höhe diese Narben im Gesicht des Planeten zu sehen sind. So wie hier müßte es innerhalb der breiten Schneisen überall aussehen. Nein? Richtig. Erstens sieht man im Ozean aus guten Gründen nichts. Zweitens bleiben die Schäden in Gebirgen denkbar gering. Drittens wächst Wald schnell nach, und in vielen Fällen füllen sich die Vertiefungen mit Wasser. Das Wichtigste: Nicht jeder Ausbruch der Sonne trifft die Monde. Vielleicht habt ihr genügend Zeit und Rechnerkapazität, um folgendes ausrechnen zu können: Seit Urzeiten und noch eine endlos lange Zeit wird es in den bezeichneten Bändern Zerstörungen gegeben haben und wieder geben. Der Planet ist vergleichsweise riesig, die Zerstörungen sind verhältnismäßig klein. Jeder potentielle Punkt innerhalb der Vernichtungsstraßen wird im Laufe einiger Jahrhunderttausende einmal leicht oder schwer getroffen. Hier aber stehen wir extrem ungünstig.« Kommandant Acalner wandte sich wieder dem Kommandopult zu. Als er sich umdrehte, sagte er leise und voll verhaltener Wut. »Man hat Tuffelsyt gefunden. Und Darragh. Dein Freund, Colemayn, ist unserer Gastfreundschaft unwürdig.« Colemayn fühlte, wie sich eine eisige Hand zwischen die Schulterblätter legte. »Dieser Pharster!« flüsterte er und ließ den Krug sinken. Sein Gesicht drückte ebenfalls Wut und dazu Fassungslosigkeit aus. »Was hat er sich schon wieder geleistet!« »Er fand Darragh verletzt, stahl dessen Kommunikator und ließ den Pionier einfach liegen. Als man ihn fragte, ob er wisse, wo unser Mann sei, log er.« Colemayn knurrte: »Er ist ein verdammter Lump, dieser Tuffelsyt.« Nach einigen tiefen Atemzügen setzte er hinzu:
»Aber es ist mein Lump.« Alle Augen richteten sich auf ihn. Er hob die Schultern; er hatte nicht darum gebeten, seinen zwielichtigen Freund aus der Kabine freizulassen. Aber er war dennoch verantwortlich. Talkarts Wut konnte er sich so gut vorstellen wie den Abscheu über das Verbrechen an dem Ligriden. Er fragte halblaut: »Lebt Darragh? Ist er schwer verletzt?« »Sie bringen ihn gerade ins Schiffslazarett«, erklärte Acalner. »Versuche, den Kampf mit Talkart zu vermeiden, Fremder. Dich trifft keine Schuld.« »Darüber denke ich anders«, murmelte Colemayn, leerte den Krug und stellte ihn ab. Dann suchte er den Weg zum Schiffslazarett. Zuerst mußte er wissen, was vorgefallen war. Dann erst konnte er handeln. *** Im zweiten Schiffskorridor überholte ihn die Freundin des Technischen Leiters. »Ich bringe dich zu Talkart. Er ist im Lager«, sagte sie. Colemayn nickte ihr dankend zu. Inzwischen erwartete er eine schnelle Gerichtsverhandlung und eine Hinrichtung des Bösewichts, womöglich noch in ritueller Bewaffnung und mit kriegerischen Signalinstrumenten. »Ich werde nicht gerade vom Glück verfolgt«, murmelte er und folgte ihr in den Laderaum. Inzwischen hatte Kommandant Acalner seine Befehle gegeben. Hektische Betriebsamkeit erfüllte das Schiff, das Lager und die Reihen der lärmenden Baumaschinen. Drei schwere Vermessungsgleiter stiegen auf und rasten nach Westen. Vermutlich, dachte Colemayn, würden sich die Ligriden wieder nahe dem Meeresufer am Dschungelrand ansiedeln; laut Karte eine Gegend ebenso gut wie jene, die sie verließen. Die junge Frau landete den Gleiter vor dem Zelt Talkarts. Roboter waren bereits damit beschäftigt, Zelte abzuschlagen und Einrichtungselemente in riesige Kisten zu verpacken. Ein geschäftiges Summen und viele Stimmen aus Funkanlagen erfüllten die Luft. Colemayn und Talkart prallten fast aufeinander, als der Techniker aus dem offenen Zelt stürzte. Der Fremde fing ihn mit ausgestrecktem Arm auf. »Berichte mir, was passiert ist. Du warst dabei?« Talkart maß den Sternentramp mit einem langen Blick aus seinen weit aufgerissenen Augen. »Ich war dabei. Tuffelsyt rief uns über Funk. Es war dreihundert Kilometer weit nördlich, an einem Hang. Eine Kalksteinhöhle, deren Decke durchbrach, als das Zeug, zusammen mit Trümmern und einem Zelt, auf den Hügel geschmettert wurde. Beide überlebten. Tuffelsyt nahm Darragh das Armband ab«, er zeigte auf sein Gerät und sprach aufgeregt weiter, »ließ ihn liegen und fand einen Weg aus der Höhle.« Schweigend hörte Colemayn zu, bezähmte seine Ungeduld und versuchte sich die Handlungsweise und die Motive seines Weggefährten vorzustellen. Jedes Wort paßte auf dessen miesen Charakter. »Dort fanden wir ihn. Als wir ihn nach Darragh fragten, tauchte Darragh mehr tot als lebend aus einer Erdspalte auf. Sofort schrie Tuffelsyt, daß er unseren Mann durch ein tödliches Netzwerk von Spalten ans Sonnenlicht geschleppt habe. Er ist der Retter, schrie er immer wieder. Darragh war zusammengebrochen. Auf der Bahre, halbwegs versorgt, kam er kurz zu sich. Deutlich sagte er: ›Jedes Wort ist eine große Lüge!‹ Du selbst würdest Tuffelsyt nicht glauben; was, denkst du, glauben wir?« »Ihr glaubt ganz richtig, daß Tuffelsyt lügt. Ich bin überzeugt, daß es sich so verhielt, wie Darragh sagte. Wie geht es ihm?«
»Tuffelsyt ist wieder Gefangener. Darragh ist bewußtlos. Wir halten ihn unter Heilschlaf. Mehr weiß ich derzeit auch nicht.« Colemayn sagte nur: »Verdammter Pharster!« Talkart fiel wieder in die seltsam starre Sprache der Ligriden zurück und erklärte in feierlichem Ernst: »Wenn ich die Bestrafung des kleinen Vierbeinigen fordere, werden fünfhundert Ligriden begeistert zustimmen. Was würdest du an meiner Stelle tun?« »Warten und nachdenken«, sagte Colemayn ernst. »Bin ich auch wieder Gefangener?« »Nein. Du kannst tun, was dir beliebt.« »Dann werde ich ins Schiff zurückkehren und ein paar Stunden schlafen«, sagte Colemayn. Er grüßte das Mädchen und den Techniker, drehte sich um und ging zielstrebig auf die Plattform zu, auf der man die NACHTJAGD abgestellt hatte. Dort wimmelte es von Robotern und Fachleuten. Die Hülle wurde geschweißt, die Nähte abgeschliffen, es roch nach eingebrannter Spezialfarbe, und auf einem Gestell lagen die Teile der geknickten Landeeinrichtung. Hämmern, Summen. Funken und versprühte Nebel aus Schmiermittel und Lack bildeten zusammen mit den Arbeitenden eine Art Schutzzone um den Diskus. Der Fremde verzichtete darauf, die Arbeiter zu stören, und sah zu, wie das Raumschiff aus dem Schluchtversteck heraus senkrecht startete und im freien Gelände wieder aufsetzte. Von allen Richtungen schwebten schwere Maschinen und grellfarbene Container auf die weit offenen Ladeluken zu. »Ich glaube, es ist das Klügste, wenn ich Tuffelsyt erwürge und allein nach Atlan suche.« Wieder zuckte er ratlos die Schultern und ging zur unteren Schleuse des Schiffes hinüber. *** Drei Viertel eines Planetentages waren vergangen. Die Morgensonne strahlte auf ein unberührtes Stück Natur von Pjol-Kimorz herunter. Schon kurze Zeit später war es nicht mehr unberührt: Nach dem vorgegebenen Plan begannen die holzfällenden und entrindenden Maschinen in breiter Front zu arbeiten. Wieder lag die zukünftige Siedlung versteckt an einem Hang, unter Bäumen und zwischen überhängenden Felsen. Gleichzeitig wurden die Zelte auf ihren geländeausgleichenden Plattformen aufgestellt. Wieder war Talkart scheinbar überall zur gleichen Zeit, feuerte die Männer an, dirigierte die Maschinen und merkte in jeder Phase, daß der unerträgliche Druck von den fünfhundert Pionieren genommen worden war. Dachte er daran, fiel ihm der breitschultrige, ruhige Fremde ein, ein Meister der Berechnung kosmischer Zusammenhänge. Und von diesem Gedanken war es nur ein winziger Schritt zu Tuffelsyt, dem Verbrecher. Ich muß später Darragh besuchen. Vielleicht erholt er sich schneller, als wir fürchten. Ich brauche ihn. Talkart bedauerte Darragh, haßte Tuffelsyt und sagte sich, daß Ipolmens Einschätzung des anderen Fremden richtiger als seine eigene gewesen war. Beim nächsten oder übernächsten Einsatz würde dies bedeuten, daß er und Ipolmen nicht mehr ranggleich waren, sondern der Weichling ihm, dem Krieger, übergeordnet wurde. Und genau das stört mich! Talkart suchte nach der ersten Pause, die er haben würde, ohne daß die Arbeiten darunter litten. Es war erst gegen Mittag soweit. Die Vermessungsgleiter hatten, wie erhofft, nicht das geringste
Zeichen für irgendeine Bebentätigkeit oder Hypergravitationsstörungen entdecken können. Er rief Leamey und sagte: »Ich bin im Schiff, Liebste. Ich sehe nach Darragh.« »Verstanden. Bleibst du lange? Ich versuche, dich zu vertreten.« Er warf einen langen Blick auf fallende Bäume, auf Stapel geschälter und paßgerecht geschnittener Balken, auf den arbeitenden Maschinenpark und erwiderte: »Ich komme zurück, wenn ich erledigt habe, was wichtig ist. Ein böser Verdacht hat sich in meinen Gedanken eingenistet.« »Ich verstehe… dieser kleine Fremde mit der unerträglichen Stimme?« »Niemand anderer.« Kurze Zeit später ging er langsam durch den Korridor, auf die Krankenabteilung zu. Er wartete, bis der Arzt ihm das Eintreten erlaubte. Zwei Medoroboter standen an den Seiten des Bettes. Darragh lag, fast an allen Gliedern bandagiert, im Nährbad und unter den Heilvibratoren. Die milchigen Unterhäutchen der Augen waren hochgeschoben; er senkte sie, als er undeutlich Talkart erkannte und dessen Stimme hörte. »Wie fühlst du dich, Darragh?« »Talkart! Schmerzfrei bin ich.« »Du erinnerst dich? Was hat dieser Hund mit dir angestellt?« Der Verwundete redete klar, langsam und stockend. »In der Höhle… bewußtlos gewesen… Armband abgenommen… dann halb durch die Höhle geschleppt… liegengelassen. Ich bin ihm gefolgt… er fragte mich aus. Alles über diesen Atlan… es hat lange gedauert… enge Spalten… ein paarmal zusammengebrochen… als ihr gekommen seid… er lügt. Sagt, er hat mich gerettet… nichts davon wahr… dann habt ihr mich gefunden… glaube mir, mir geht’s gut… müde. Verdammte Medizin.« »Du darfst ihn nicht aufregen. Du gefährdest die Heilung«, sagte der Arzt schroff. Talkart legte vorsichtig seine Faust an das Kinn des Ligriden. »Du wirst in ein paar Tagen wieder deine Kabel ziehen, Darragh!« versicherte er in übertriebenem Optimismus. »Tuffelsyt erhält seine gerechte Strafe.« Der Arzt winkte ihn hinaus. Leise schloß sich das Schott, der Mediziner sagte ohne rechte Zuversicht: »So schnell geht es nicht. Innere Verletzungen und ein paar Knochenbrüche. Aber er wird überleben. Trinken wir einen?« »Nur einen. Ich muß arbeiten.« Nach fünfzig Schritten gab es eine Theke und einen Getränkespender. Sie füllten die Einmalbecher und tranken. Während sie sich unterhielten, versuchte Talkart herauszufinden, wie er sich verhalten sollte. Darragh fiel wohl bis zum Ende der Bauarbeiten aus. Ein weiteres Minus für ihn, Talkart. »Ich sehe nach ihm«, sagte der Schiffsarzt. Er warf den leeren Becher in den Konverter und grüßte Talkart. Sie gingen in verschiedene Richtungen auseinander. Talkart wurde das Gefühl kommender Schwierigkeiten nicht los. Nur heute morgen, an Leameys Seite, hatte er seine tiefe, innere Unruhe kurz vergessen können. ***
Etwa gegen Mittag schalteten Ipolmen und Colemayn die Terminals ab. Der Fremde hatte die einmalige Auszeichnung erhalten, in das Forschungslabor des Wissenschaftlers eingeladen zu werden. Sie hatten jeden Teil der Berechnungen noch einmal geprüft. »Etwas macht mich unruhig«, sagte Colemayn. »Keine Ahnung, was es ist. Aber wir haben ein schwaches Glied in der Kette.« »Darragh. Oder Tuffelsyt?« »Tuffelsyt. Ich traue ihm alles zu. Gehst du mit?« Ipolmen klappte ein Fach auf und nahm ein Ding heraus, das wie eine Waffe aussah. Ein fragender Blick des Fremden wurde mit einer eindeutigen Geste bejaht. »Tuffelsyt steht unter Bewachung«, sagte Ipolmen. Colemayn zog ihn mit sich und ging, immer schneller werdend, auf den Sektor im Oberschiff zu, in dem er das Lazarett, die Kabinen und demnach Tuffelsyts »Gefängnis« wußte. »Er stand schon oft unter Bewachung, und dann passierten die schrecklichsten Sachen«, stieß Colemayn hervor. Ipolmen hielt ihn auf und deutete auf ein Schott. Die rote Fläche des Leuchtfelds war aktiviert. »Dort ist der Verletzte.« Er drückte die Kontaktplatte. Das Schott summte auf. Colemayn begriff mit einem Blick, was geschehen war. Quer vor dem Schott lag der Mediziner, dessen Helm neben seinem blutigen Kopf lag. Ein weißer Helm mit schwarzem Ziermuster. Tuffelsyt stand neben dem wuchtigen Heilungstank und schaltete gerade das Vibrationsgerät ab. Colemayn riß Ipolmen die Waffe aus der Hand, machte einen Satz mitten in den Raum hinein und sagte scharf in pharstischer Sprache: »Rühre dich nicht. Ich töte dich, Tuffelsyt. Keine Bewegung.« Der verlängerte Arm des Pharsters bewegte sich auf das normale Maß zurück. Der Sternentramp ging an den Monitor und kippte den Hebel wieder in die Normalstellung zurück. »Ein Verbrechen der unterlassenen Hilfeleistung. Lügen. Diebstahl. Mordversuch an einem Ligriden.« Der Mediziner bewegte sich schwach. Ipolmen sprach weiter und schleuderte jedes Wort wie einen Wurfdolch. »Ein zweiter Mordversuch an einem Hilflosen, um deine Lügen zu vertuschen. Das Maß ist voll.« Der Wissenschaftler war nicht ’ mehr wiederzuerkennen. Colemayn hatte Tuffelsyt am dicken Pelz des Halses gepackt und schob und stieß ihn vor das offene Schott. Ipolmen schaltete an seinem Armbandgerät und sagte schroff: »Alarm! Lazarett. Sechs Bewaffnete und eine Energiefessel.« Colemayn schlug, als sich Tuffelsyt wie rasend zu wehren begann, wobei er ständig pharstische Kraftausdrücke schrie, mit dem Kolben der Waffe hart auf das versteckte Schultergelenk des Kleinen. Mit einem schrillen Schrei brach Tuffelsyt zusammen und stellte sich bewußtlos. Die Bewaffneten quollen in das Krankenzimmer. »Die Ligriden wollen ihn nicht mehr bei sich haben. Legt ihn in die Fessel und schmiedet ihn in dem Schiff an, in dem er gekommen ist. Rodet den Todeskreis, rammt Pfähle ein. Wir werden beraten, wann wir ihn hinrichten.« Tuffelsyt wurde schlagartig wieder wach, schrie etwas, das wie »Mißverständnis« klang, aber er wurde weggeschleppt. Die Energiefessel war eine bernsteingelbe Kugel, die sich um ihn aufbaute, sein Geschrei erstickte und dazu benützt wurde, um ihn durch den Korridor zu rollen. Colemayn gab Ipolmen die Waffe zurück, und gemeinsam hoben die Männer den Arzt auf, überließen ihn der Fürsorge seiner Maschinen und legten den Helm auf seine Brust.
Der Mann war nur niedergeschlagen worden. Er erholte sich rasch und flüsterte: »Er hat mich von hinten niedergeschlagen. Und…« Ipolmen winkte würdevoll ab. Colemayn sagte: »Von vorn hätte er es nicht gewagt.« Ipolmen schwieg, während er Colemayn in die Richtung eines Laderaums dirigierte. Schließlich sagte er in gewohnter Ruhe und Gelassenheit: »Ich glaube, es ist Zeit für euch. Hier ist der Schlüssel für die Energiefessel. Ich will nicht, daß der Fremde stirbt, obwohl er den Tod mehrmals verdient hat. Er forderte Bestrafung geradezu heraus. Dein Schiff müßte so gut wie fertig sein.« »Aber…«, begann Colemayn, aufs neue verwirrt. »Talkart? Kommandant Acalner?« »Ich werde sie ablenken. Es muß wie Flucht aussehen. Bringe dein Gepäck zu dem Gleiter dort. Selbst wenn ich gegen den Tod Tuffelsyts spräche – das Gesetz der Krieger ist gegen mich, und Talkart brächte es bis vor Halphart.« »Der Kleine ist wirklich mein Lump«, sagteColemayn. »Verzeih, wenn ich jetzt auf die wenigen Informationen zu sprechen komme, die ich brauche. Ich, nicht Tuffelsyt.« »Stelle deine Fragen, während wir deinen grünen Rucksack holen.« »Alles über Atlan. Wer ist Halphart? Was ist BASTION-Fünf? Wo finde ich Atlan? Wie funktioniert die Partnerschaft zwischen Ligriden und Hyptons? Was habt ihr vor? Das wäre alles. Atlan ist der wichtigste Punkt. Er ist mein Freund seit einer buchstäblichen Ewigkeit, und er ist einer der besten Männer in vier oder fünf Milchstraßen.« Plötzlich schloß Ipolmen beide Lider. Er wirkte blind und tief in sich selbst versunken. Ohne nachzusehen, ob etwas fehlte, stellte Colemayn seinen Rucksack ab. »Komm.« Wieder gingen sie schweigend in den Laderaum. Ipolmen steuerte den Gleiter hinaus und in langsamem Flug in die Richtung, in der die NACHTJAGD noch immer stand. »Es gibt drei relevante Meldungen über Atlan. Halphart haßt ihn, hat wohl gegen ihn verloren und sucht ihn. Zusammen mit den Piraten, die mangels eines besseren Ausdrucks so genannt werden, soll er nach einem Planeten namens Aklard aufgebrochen sein. Eine andere Meldung sagte kürzlich, daß Atlan mit der GHYLTIROON den Planeten Nolien verlassen hat. Das ist alles. Halphar mit den honiggelben Augen ist ein Gwyn-Diener. Oberster Kriegsherr aller Ligriden an diesem Ort. Ein unerträglich arroganter Niedriggeborener, gerissen und voll brennenden Ehrgeizes. Er schickte uns hierher, um eine Station zu errichten, die wir vor den Hyptons geheimhalten sollen. Daß wir eigentlich nicht aus Manam-Turu sind, dürfest du bereits wissen.« Colemayn nickte. Wieder ein paar Farben mehr für ein riesiges galaktisches Gemälde von Machtrausch, Kampf und Herrschsucht. »Die Lage von BASTION-Fünf hast du während der Rechnerei gesehen. Dein Verstand wäre eines Ligriden würdig. Das Neue Konzil ist ein Name, eine Idee. Wenn Halphar, der den Hyptons verantwortlich ist, Atlan haßt und jagt, bedeutet dies, daß Atlan ihn und das Konzil bekämpft. Wenn er so gut ist, wie du sagst, hat er einen Grund. Also wirst auch du als sein Freund gegen uns kämpfen.« Wieder machte der Wissenschaftler eine Pause. »Ich hoffe also, daß wir uns niemals mehr treffen. Denn dann müßte ich an Talkarts Seite gegen dich kämpfen, und das möchte ich nicht. Dort landen wir – sähe man mich mit dir an dieser Stelle, wäre es Selbstmord.«
Colemayn stand auf, warf sein Bündel in das hohe Gras und streckte Ipolmen die Hand entgegen. »Ich würde nicht kämpfen«, sagte er schließlich. »Ich kämpfe nicht gegen Freunde.« Der Ligride nickte, als habe er keine andere Antwort erwartet. Als er den Gleiter wendete, rief er unterdrückt: »Viel Vergnügen mit Tuffelsyt.« Grinsend schickte ihm Colemayn einen besonders intensiven Fluch aus seiner reichhaltigen Kollektion hinterher. Er schlich auf die NACHTJAGD zu und erlebte in den nächsten sechs Stunden mit, wie die Reparaturen beendet wurden. Ein Robot nach dem anderen mit der Werkzeugausrüstung schwebte in rasendem Flug davon. Es dunkelte. Colemayn schlich näher an sein Schiffchen heran. Bis auf einen Ligriden, der ohne sonderliche Eile Werkzeuge und Metallabfälle in die Fächer seines Gleiters warf, war niemand mehr da. Hochachtung vor dem Wissenschaftler erfüllte Colemayn – Ipolmen war ein weitaus besserer Rechner und Planer als er. Als der Gleiter davonschwebte, kletterte Colemayn in die NACHTJAGD. Er testete in guter Ruhe alle Systeme, programmierte ein neues Teilziel und startete, nachdem sich fast unhörbar beide Schleusentüren geschlossen hatten. Ohne auf den lautlos protestierenden Tuffelsyt zu achten, raste er zunächst nahe der Planetenoberfläche dahin, dann ging er in den Weltraum. Erst nach Eintritt in die Linearetappe konnte er sich um andere Dinge kümmern. Und davon gab es viel zuviel. Der Planet fiel hinter ihm zurück. Er war auf dem Weg zu Atlan. Nur das war wichtig. ENDE
Im nächsten Atlan-Band wechseln wir die Szene und blenden um nach Aklard, der Heimatwelt der Daila. Auch wenn der Planet bereits von den Invasoren kontrolliert wird – es gibt Lücken im Überwachungsnetz. Und durch solch eine Lücke schlüpft der Gesandte von Trysh… DER GESANDTE VON TRYSH – so lautet auch der Titel des Atlan-Bandes 718, der von Arndt Ellmer geschrieben wurde.