Insel der Verdammten von Uwe Anton
Atlan - Obsidan-Zyklus 02 - Insel der Verdammten Die Welt wurde in einem blauen Au...
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Insel der Verdammten von Uwe Anton
Atlan - Obsidan-Zyklus 02 - Insel der Verdammten Die Welt wurde in einem blauen Aufflammen geboren, und mit ihm hielt der Schmerz Einzug. Er brannte wie flüssiges Feuer, ähnelte dem der Entstofflichung einer Transition, war aber viel stärker. Eine Transition Interstellare Entfernungen konnten so ohne Zeitverlust zurückgelegt werden durch einen Sprung durch den Hyperraum. Nur mit einem solchen Antrieb, der eigentlich schon seit langem als veraltet galt, war es uns überhaupt möglich gewesen, in den Kugelsternhaufen Omega Centauri einzudringen. Der von meinem Nacken ausstrahlende Entzerrungsschmerz schaukelte sich langsam auf, bis er unerträglich wurde. Der Schmerz war ein Ziehen und Zerren wie von Lava, auf einer Ebene, die unterhalb der normalen Empfindungen lag und daher umso qualvoller war. Ich wollte schreien, konnte aber nicht. Ich wollte mich bewegen, konnte aber nicht. Was bisher geschah: Im März 1325 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der Außenwelt aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die Vergessene Positronik, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der Vergessenen Positronik. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Die Besatzung verliert die Kontrolle über das Schiff, ein Absturz droht. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus mit einer Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Diesem System droht nun eine vernichtende Katastrophe und Atlan muss im beginnenden Chaos um sein Überleben kämpfen Ebenfalls im Gegensatz zu einer normalen Transition schien die räumliche Versetzung nicht zeitlos zu verlaufen. Ich schien irgendwo zu schweben, im Nichts, zwischen den Dimensionen, ein körperloser Impuls, der gleichzeitig aber doch einen Körper hatte Dann wallte die feurige Lava auf, der Schmerz wurde schier unerträglich, verdichtete sich, ballte sich zusammen und ich hatte tatsächlich wieder einen Körper. Ich konnte noch immer nicht agieren. Ich wusste nicht, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren, bis ich schließlich begriff, dass ich mich auf einem steinernen Boden wälzte. Während mir der Extrasinn kaum verständlich und scheinbar unendlich weit entfernt zu DagorÜbungen riet, verharrten meine Gedanken in der Vergangenheit, konnten sich nicht von ihr
lösen. Die Vergessene Positronik, in die es meine Begleiter und mich während eines Transmittersprungs verschlagen hatte das Leuchten des Hoagh, dem Jorge Javales und ich uns dann in letzter Not anvertrauen mussten Wir hatten uns durch die Öffnung gestürzt, waren entmaterialisiert und mit unbekanntem Ziel abgestrahlt worden. Wohin? Und es war kein normaler Transmittersprung, auch keine normale Transition gewesen. Diese Qual, diese Phänomene I wurden vielleicht hervorgerufen, weil zwei nicht völlig kompatible Systeme benutzt wurden, um euch an einen anderen Ort zu bringen, stellte der Logiksektor nüchtern fest. Es erstaunte mich, dass ich seine Mitteilung überhaupt verstand. Das konnte nur eins bedeuten In der Tat, allmählich ließ der Schmerz nach. Die roten Schleier vor meinen Augen schienen zunehmend dünner und durchsichtiger zu werden, und ich vernahm wieder Geräusche. Ein lautes Stöhnen, nein, eigentlich eher ein Schreien. Jorge Javales! Die Ortsversetzung hatte ihn wesentlich stärker beeinträchtigt als mich. Er war Archivar, ein kleiner, hagerer, schmächtiger Mann, sicher durchaus fähig in seinem Metier, aber keineswegs mit der körperlichen Konstitution oder der Erfahrung eines über zehntausend Jahre alten Arkoniden ausgestattet und auch nicht mit einem Zellaktivator, der mich nicht altern ließ, unempfindlich gegen die meisten Gifte und wesentlich weniger anfällig für Erschöpfung machte. Und an Bord der Vergessenen Positronik war Jorge schon bis an den Rand seiner Belastungsfähigkeit beansprucht worden. Wenigstens hatte er überlebt, im Gegensatz zu dem Raumsoldaten Horgald Massarem und dem Historiker Veloz da Metztat, die keine Chance gehabt hatten. Während Javales sich noch immer stöhnend auf dem Boden wälzte, gelang es mir mühsam, mich auf die Ellbogen aufzurichten und den Kopf zu drehen. Mit vielem hätte ich gerechnet, aber nicht damit. Wir waren nicht in einem Transmitterkäfig materialisiert oder in irgendeiner technisierten Umgebung, sondern in einem Tor aus zyklopischen Steinquadern von mehreren Metern Höhe und Breite. Ringsum dehnte sich bis zum Horizont eine Savanne mit fremdartigen, mir unbekannten Pflanzen aus. Hoch am Himmel stand eine orangefarbene Sonne, deren Schein die Landschaft in ein düsteres Licht tauchte. Rötlich angehauchte Wolkenfetzen trieben langsam vorüber, ins Türkis spielende Schatten huschten über Gras, dessen bis zu mannshohe Halme unter heißen Böen wellengleich wogten. Über einer staubigen Fläche quirlte kurzfristig eine rotbraune Staubhose und löste sich ebenso abrupt wieder auf, wie sie entstanden war. Vereinzelt waren in der Ferne großkronige Bäume zu sehen. Mein Blick glitt zu der einen, dann zu der anderen Innenseite der Torpfosten, zwischen denen wir materialisiert waren. Jeweils zwei senkrechte Reihen aus faustgroßen Kugeln schwebten dort, halb in Kuhlen eingelassen, anscheinend schwerelos, ohne jedoch direkten Kontakt zum Gestein des Tors zu haben. Natürlich erregten sie meine Aufmerksamkeit, aber im Augenblick kam ich sowieso nicht an sie heran, und es gab Wichtigeres zu tun. Zuerst die Umgebung sichern, sie dann erkunden Ich lachte heiser auf. Ich konnte nicht einmal aufstehen! Wenigstens befanden wir uns nicht mehr in der Vergessenen Positronik, inmitten von Spinnenrobotern, die uns mit tödlicher Hartnäckigkeit verfolgten, sondern auf einem Planeten. Auf einer der Welten, die ich in meiner Vision gesehen hatte? Das würde zu der orangefarbenen Sonne passen, die mir ebenfalls erschienen war. Wenn ich mich nicht völlig getäuscht hatte, war das Gestirn von fünf Planeten umringt gewesen. Ich benötigte nicht den Extrasinn, um zu erkennen, dass solch ein System künstlichen Ursprungs sein musste. Fünf Welten, die ihr Zentralgestirn auf gleicher Umlaufbahn umrundeten und dabei stets gleichen Abstand voneinander hatten das konnte kein irrwitziges Spiel der Natur sein.
Erinnerungen drängten empor an Arkon I, meine Heimatwelt, der meine Vorfahren zwei Geschwisterplaneten in den Orbit gesetzt hatten. Oder an die Planetenwälle der Oldtimer, mit denen uralte Gefahren aus der Vergangenheit abgewehrt werden sollten. Erinnerungen, mit deren Hilfe mein Logiksektor versuchte, Zusammenhänge herzustellen und mir einen Hinweis darauf zu geben, wo ich mich vielleicht befand. Wenn ich mich recht entsann, hatte eine dieser Welten einen Mond, der an einen überdimensionierten Diamanten erinnerte und in überirdischem Glanz erstrahlte. Aber diese Zusammenhänge und Hinweise waren erst einmal zweitrangig. Wichtiger war jetzt das nackte Überleben. Es gelang mir, mich vollends aufzurichten. Schweiß brach mir aus den Poren, und mir wurde schwindlig. Ich schwankte, konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Während der Schmerz nachließ, nahm der Druck auf meinen Kopf proportional zu. Ich musste alle Konzentration aufbringen, um ihn zurückzudrängen. Er nahm mir jede Orientierung, verwirrte mich. Bilder drängten empor, drohten das zu überlagern, was ich tatsächlich sah. Ich knurrte unwillig, nahm alle Kraft zusammen und verdrängte die Bilder, die Namen, die Erinnerungen. Vor allem Erinnerungen definieren ein Lebewesen!, versuchte ich mich zu verteidigen, aber ich wusste, dass der Logiksektor Recht hatte. Jetzt ist nicht die Zeit für Erinnerungen. Wenn ich ihnen jetzt nachhänge, werde ich vielleicht sterben. Im Moment zählte nur die Gegenwart. Und die Konzentration auf meine Umgebung. Ich stützte mich an einer Wand des Tors ab. Jorge Javales lag noch immer auf dem Boden, wälzte sich hin und her, stöhnte aber nicht mehr so laut. Ich konnte dem Archivar im Augenblick nicht helfen; er musste die Krise selbst überwinden. Dass es ihm noch nicht besser ging, deutete darauf hin, dass einige oder alle Systeme seines leichten Schutzanzugs ausgefallen waren, darunter die Medo-Einheit. Auch ich vermisste die Schmerz dämpfenden und Kreislauf stabilisierenden Injektionen. Dafür pochte mein Zellaktivator umso heftiger. Heiße Wellen strahlten vom linken Schlüsselbein aus, unter dem der kleine Chip mit dem lebensverlängernden Gerät implantiert war. Während ich tief durchatmete und nun tatsächlich eine Meditation einleitete, die die Pein zurückdrängte und meine Körperfunktionen normalisierte, kniff ich die Augen zusammen. Ganz in der Nähe erhob sich rotbraun ein Felsbuckel, der mich an den Ayers Rock auf Terra erinnerte und auch etwa dessen Größe zu erreichen schien. Ich machte allerdings am Fuß des Berges zyklopische Ruinen aus, die es bei seinem irdischen Gegenstück nicht gab; sogar die Flanken und der Gipfel des Felsbrockens waren von solchen Mammutbauten übersät. Vielleicht findest du dort Hinweise auf deinen Aufenthaltsort! Eins nach dem anderen, flüsterte ich. Ich überprüfte die Aggregate meines leichten Schutzanzugs. Die zum Nackenwulst zusammenfaltbare Helm-Kapuze war unbeschädigt, der geringe Luft-Notvorrat noch vorhanden, doch die Innenklimatisierung war ausgefallen. Das galt ebenso für die Geräte des Aggregatgürtels: Die Projektoren für das Gravo-Pak und den Deflektor- und Individualschirm zeigten nicht die geringste energetische Aktivität. Der Minikom würde stumm bleiben, und ein kurzer Blick verriet mir, dass ich den Kombistrahler bestenfalls noch als Keule einsetzen konnte. Was hatte die Ausfälle verursacht? Allein dieser seltsame Transport oder gab es weitere Gründe dafür? Ich konnte es hier und jetzt nicht feststellen und hatte keine Möglichkeiten zur Verfügung, es vielleicht später durch Untersuchungen herauszufinden. Also war es sinnlos, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Auch das lemurische Armband, das ich seit den Abenteuern auf der Stahlwelt trug, war energetisch völlig tot. Dieser Verlust war nicht so schwerwiegend wie der meiner anderen Geräte. Eines war mir klar: Ich befand mich keineswegs in irgendeiner von Lemurern geschaffenen Umgebung.
Ich lauschte in mich hinein, achtete konzentriert auf meinen Körper. Warum funktionierte mein Zellaktivator noch, wenn jede andere Technik ausgefallen war? War damit zu rechnen, dass er ebenfalls versagen würde? Dann würde mein Leben nur noch nach Tagen zählen, falls es mir nicht gelang, diese Umgebung zu verlassen. Aber ich spürte nichts Außergewöhnliches. Das uralte Gerät, das mein Leben theoretisch ins Unendliche verlängerte, schien von den Ausfällen nicht betroffen zu sein. Ein leises, hohes Kreischen ließ mich herumfahren. Ich kniff die Augen zusammen, machte eine Bewegung am Himmel aus. Dort erkannte ich einen lang gezogenen Kopf mit einem riesigen hellroten Kamm, einen verhältnismäßig kleinen Körper und dünne Flügel mit einer Spannweite von geschätzten fünfzehn Metern. Ein Flugsaurier, stellte der Extrasinn fest. Instinktiv drückte ich mich gegen den Quader, an den ich mich gelehnt hatte. Das Tier zog unbeeindruckt seine Kreise am Himmel. Es stieß mehrmals das hohe Kreischen aus und drehte dann ab. Am Horizont machte ich ein zweites derartiges Geschöpf aus. Sein Weibchen? Oder ein Männchen, das ihm das Revier streitig zu machen drohte? Jedenfalls schien der Saurier uns nicht bemerkt zu haben. Unwillkürlich atmete ich auf. Mittlerweile stand ich wieder sicher. Die Schweißausbrüche hatten aufgehört, die Beine zitterten nicht mehr. Ich ging zu Javales hinüber. Er lag still da, hatte das Bewusstsein verloren; wahrscheinlich eine Gnade für ihn und das Beste, was ihm in diesem Augenblick geschehen konnte. Sein Atem war schwach, aber gleichmäßig; er würde bald wieder zu sich kommen. Ich kniete nieder, drehte ihn in eine stabile Seitenlage und untersuchte kurz seinen Schutzanzug. Wie bei meinem auch waren sämtliche Systeme ausgefallen. Langsam ließ ich den Blick über die Savanne streifen, die das seltsame Gebilde umgab, in dem wir materialisiert waren. Das Gras stand an manchen Stellen kniehoch, an anderen wuchs es übermannshoch. Einige Halme waren bis zu handbreit, andere liefen in gelbbraune Rispen aus. Tiere konnte ich keine sehen, aber ich bezweifelte nicht, dass welche vorhanden waren. Und ich musste mich darauf einstellen, dass es unter ihnen auch räuberische Fleischfresser gab. Ich musste pragmatisch denken. Zunächst hieß es ganz einfach zu überleben; dazu brauchten wir wohl oder übel Waffen, die wir nicht hatten. Unsere technische Ausrüstung war zumindest im Augenblick wertlos. Dann galt es, die Umgebung zu erkunden, vielleicht Kontakt zu einer Raumfahrenden Zivilisation zu bekommen, irgendwie die Heimreise antreten zu können Dazu musst du zuerst einmal wissen, wo du dich befindest!, stellte der Extrasinn klar. Ein Schritt nach dem anderen! Ich knurrte unwillig und ging los, bis ich weit genug von dem Tor entfernt war, um es in seiner Gesamtheit betrachten zu können. Unterstützt vom Extrasinn, der Zugriff auf alle meine bewussten und unbewussten Wahrnehmungen hatte, galt meine Aufmerksamkeit weiterhin der Umgebung, während ich das Artefakt musterte. Es handelte sich in der Tat um einen monolithischen Gesteinsquader mit sechs Metern Höhe, sieben Metern Breite und drei Metern Dicke. Die Toröffnung erreichte vier Meter Höhe und drei Meter Breite. Die Oberfläche der seitlichen Quader schimmerte anthrazitfarben, die des horizontalen dunkelgrau. Ein Anstrich? Ein anderes Material? Hatten die Erbauer die Deckplatte auf die beiden Seitenquader gesetzt oder das Tor aus einem Gesamtblock herausgefräst? Ich ging wieder zurück und trat dicht vor die Außenseite des linken Torpfostens. Sie war mit zahlreichen kunstvoll angefertigten Reliefs bedeckt.
Einige zeigten Lebensformen und Pflanzen, die mir anfangs unbekannt vorkamen, bis sich mein fotografisches Gedächtnis meldete. Ich hatte sie tatsächlich schon einmal gesehen, und zwar in der unerklärlichen Vision, die ich während der Transition der Vergessenen Plattform erlebt hatte. Diese Eingebung hatte ich noch nicht völlig verarbeitet, weil es zu viele Eindrücke gewesen waren, die ich nur abgespeichert hatte, um handlungsfähig zu bleiben. Und ich hatte mir bislang keine Gedanken machen können, welchen Ursprung und welchen Sinn diese Visionen haben mochten. An einen Zufall glaubte ich nicht. Wollte mir jemand mit diesen Eindrücken bewusst etwas mitteilen, oder hatte ich vielleicht unbeabsichtigt eine Art Gedankenreservoir angezapft? Eins meiner Ziele musste sein, mehr darüber herauszufinden. Vielleicht lag auch in diesen Visionen ein Schlüssel zu meiner Rückkehr zur TOSOMA, doch ohne weitere Informationen war es müßig, haltlosen Spekulationen nachzuhängen. Ich widmete mich wieder den Reliefs und entdeckte mehrere schematische Darstellungen eines Sonnensystems. Sie muteten jedoch zumindest auf den ersten Blick extrem merkwürdig an. In der ersten Darstellung war eine Sonne mit nur einem einzigen Planeten abgebildet. In der nächsten wurde sie von zwei Welten umlaufen, dann von drei, vier und letztlich fünf, die als Eckpunkte eines gleichseitigen Fünfecks auf einem Kreisring angeordnet waren. Sollten die Abbildungen einen Werdegang darstellen? Waren die Planeten nach und nach eingetroffen und hatten dabei die gemeinsame zweifellos künstlich stabilisierte Umlaufbahn eingenommen? An etlichen Stellen bemerkte ich winzige, blauweiß funkelnde Kristalle, die in das grauschwarze Gestein eingelassen waren. Sie leuchteten deutlich sichtbar aus sich heraus. Ich berührte sie vorsichtig mit einer Fingerspitze, spürte aber nur die Kälte und Härte ihres Materials. Sie erinnerten mich an Hyperkristalle, Minerale auf Quarzbasis, deren Einschlüsse hyperenergetischer Natur waren, aber mehr oder weniger stabile Stofflichkeit erlangt hatten. Ich konnte mir nicht sicher sein, aber vieles sprach dafür, dass es sich in der Tat um hyperphysikalisch aktive Materialien handelte. Damit würde die Materialisation an diesem Ort eine Erklärung finden. Es war durchaus möglich, dass diese Kristalle als Empfangspol fungiert hatten. Vermutlich sah das Gestein auch nur wie solches aus und barg im Inneren das für einen transmitterähnlichen Prozess notwendige mikro- oder nanotechnische Instrumentarium. War die äußere Erscheinung nur Tarnung? Täuschung für eher primitive Bewohner dieser Welt? Oder gerade durch die Wahl des Materials für eine halbe Ewigkeit konzipiert, weil ständig Wind und Wetter ausgesetzt? Langsam schritt ich um den Torpfosten zur Innenseite. Ein rascher Blick verriet mir, dass Jorge Javales noch immer bewusstlos war. Ich betrachtete die beiden Reihen aus faustgroßen Kugeln, die halb in Kuhlen eingelassen ohne direkten Kontakt zum Gestein schwerelos in der Luft schwebten. Leise fluchend prüfte ich noch einmal die Anzugsysteme, aber sie waren noch immer tot. Zwar hatte ich nichts anderes erwartet, aber ich hätte trotzdem viel dafür gegeben, auf die Ortungsinstrumente zurückgreifen zu können. Zögernd streckte ich die rechte Hand aus und berührte eine der Kugeln. Nichts geschah. Was hatte ich erwartet? Einen elektrischen Schlag, der mich meterweit durch die Luft zurückwarf? Ein Hologramm, das von dem Körperkontakt aktiviert wurde und mir alle nötigen Informationen über unseren Aufenthaltsort gab? Heiser lachte ich auf. Vorsichtig drückte ich gegen die Kugel, doch sie ließ sich um keinen Millimeter bewegen. Ich verstärkte den Druck, aber am Ergebnis änderte sich nichts. Ich betrachtete die glatt polierte Kugel genauer. Sie war von grauschwarzer Farbe und wies helle Einsprengsel und weiße, längliche Flecken auf, so dass ich mich unwillkürlich an das charakteristische Aussehen von Schneeflocken-obsidianI erinnert fühlte.
Obsidian war ein wasserarmes, vulkanisches, kieselsäurereiches Vulkanglas, das sich in einer schnell verfestigenden Lava gebildet hatte. In der irdischen Steinzeit war Obsidian wie Feuerstein wegen seines scharfkantigen, muscheligen Bruches als Material für Werkzeug und Waffen geschätzt worden. Der verwendete Name ging auf den Römer Obsius zurück fälschlich meist Obsidius oder Obsidianus genannt , der in der Antike erstmals ein Stück Obsidian aus Äthiopien nach Rom gebracht hatte. Glaubte man obskuren Thesen, so wirkte Obsidian entkrampfend bei Ängsten und traumatischen Zuständen. Angeblich schützte er vor negativen geistigen Einwirkungen, man errang mit seiner Hilfe die Makellosigkeit des Kriegers und eine geistige Unverwundbarkeit, Erlebtes wurde mit seiner Hilfe aktiviert und bewusst gemacht und konnte so besser verarbeitet werden Nachdenklich untersuchte ich die Kuhlen. Zentimeter um Zentimeter schob ich die Hand vor, bis die Finger sich in der Einbuchtung befanden, zwischen Kugel und Wand. Erneut spürte ich rein gar nichts. Irgendeinen Sinn, irgendeine Aufgabe mussten die Kugeln haben, und ich ahnte, dass ich ihr Geheimnis früher oder später würde ergründen müssen. Ich konnte davon ausgehen, dass das Tor transmitterähnliche Eigenschaften hatte, doch bisher war es mir nicht gelungen, eine wie auch immer geartete Reaktion hervorzurufen. Mit den mir derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln würde es mir auch nicht gelingen. Die Umgebung war potentiell gefährlich. Ich hatte schon zwei meiner Begleiter verloren. Deshalb musste ich alles daransetzen, nicht auch den dritten zu verlieren und mein eigenes Leben zu schützen. Ein leises Stöhnen machte mich darauf aufmerksam, dass Jorge Javales endlich zu sich gekommen war. Ich ging zu ihm und half ihm, sich aufzurichten. Die Bewusstlosigkeit schien dem hageren Mann gut getan zu haben, oder er war zäher, als ich angenommen hatte. Jedenfalls überwand er die Folgen des Transfers fast genauso schnell wie ich und das ohne Zellaktivator. Jorge reagierte nicht anders als ich zuvor: Er öffnete die Augen und sah sich mit einer Mischung aus Befremden und Angst um. Wir sind in Sicherheit, beruhigte ich ihn. Vorerst jedenfalls. Aber diese Sicherheit könnte trügerisch sein. Aus mir sprach die unangenehme Erfahrung von Jahrtausenden. Es wartet viel Arbeit auf uns. Jorge Javales sah mich fragend an. Wir müssen die Umgebung erkunden. Uns einen Überblick verschaffen, Wasser und Nahrung suchen, Waffen bauen, um eventuelle Gefahren von Fauna und Flora abwehren zu können, und ein Nachtlager errichten. Die Notwendigkeiten bestimmen das Handeln. Ich zuckte mit den Achseln. An dieser Weisheit hatte sich seit über 10.000 Jahren nichts geändert. Nein, wir bekommen es nicht hin, flüsterte Lethem da Vokoban und fluchte dann laut auf. Der Arkonide warf einen Blick auf die Hologalerie. Die TOSOMA zog bei ihrem Absturz einen Schweif ionisierter Moleküle hinter sich her, der eine feurige Spur durch die dünne Atmosphäre zog. Kein Raumschiff, sondern ein Komet schien sich rasend schnell der Planetenoberfläche zu nähern. Im nächsten Augenblick fielen sämtliche Holos in sich zusammen. Wo sie gerade noch Außenaufnahmen der Ortungssysteme gezeigt hatten, von der Umgebung des Schiffes und vom Planeten, flimmerten noch kurz wirbelnde Farben des Regenbogens, dann lösten auch sie sich auf. Lethem hämmerte auf eine Taste des Notsystems. Notfall-Ausstoß Nugas-Speicherkugel!, befahl er.
Zu spät. Ein einziger Blick verriet ihm, dass sämtliche Systeme ausgefallen waren. Auch die Notfall- und Hilfssysteme einschließlich des Schwarzschild-Hilfskraftwerks, die eigentlich funktionierten, solange noch der winzigste Hauch von technischem Leben im Schiff war. Der Antrieb funktionierte schon längst nicht mehr, Lethem hatte ausschließlich auf die Hilfstriebwerke zurückgreifen können. Auch die Ortungen waren weitgehend ausgefallen, bis auf wenige Geräte, die ihre Daten noch an das Holosystem weitergegeben hatten. An einen wenngleich nur partiellen Aufbau der Schutzschirme war nicht mehr zu denken gewesen, und jetzt Das Jaulen der Sirenen nahm kurz eine neue Qualität an. Die Töne schienen sich hochzuschaukeln und zu überschlagen und verstummten dann abrupt. Lethem sog scharf die Luft ein. Das ist absolut unmöglich! Vor wenigen Sekunden hatte er noch befürchtet, dass die Speicherbänke oder Reaktoren hochgehen und die spontane Energiefreisetzung das Schiff in eine Gluthölle verwandeln würde, und jetzt Vollständiger Energieausfall!, sagte er, mehr zu sich selbst als zu den anderen ZentraleBesatzungsmitgliedern. Wie aus weiter Ferne hörte er, dass Kommandant Khemo-Massai Befehle erteilte, von denen er wohl selbst am besten wusste, dass sie undurchführbar waren. Nur die Batterien der Notbeleuchtung schienen noch zu funktionieren. Lethem kam sich blind, taub und gelähmt vor. Seine Gedanken rasten. Was konnte den Ausfall sämtlicher Systeme verursacht haben? Die Energiestürme, die im Bereich des Planeten tobten, auf dem er eine Notlandung versuchen wollte? Unwahrscheinlich. Aber es war sowieso sinnlos. Wie konnte er eine Analyse vornehmen, wenn das Schiff nicht mehr über die geringste Energie verfügte? Die TOSOMA würde wie ein Stein in die Tiefe stürzen. Er hatte mit den Korrekturtriebwerken versucht, das Schiff in eine einigermaßen stabile Umlaufbahn zu bringen, aber nicht einmal das war ihm gelungen. Mehr als eine Lagestabilisierung hatte er nicht bewirken können. Schon vor einigen Minuten war der Absturz nicht mehr zu verhindern gewesen. Und jetzt war er zur endgültigen Katastrophe geworden! Wie lange noch?, fragte sich der 45 Jahre alte Pilot. Seine flammend roten Augen blitzten, ihre Blicke huschten hektisch über die Instrumente, als wollten sie sich die Niederlage, das Ende nicht eingestehen. Wie ist es zu dem Energieausfall gekommen? Wie kann ich ihn rückgängig machen? Er wartete darauf, dass die Notsysteme wieder einsetzten, lauschte auf das dafür typische Geräusch einsetzender Aggregate, das er aus Hunderten von Trainingssimulationen kannte, doch es blieb aus. Lethem musste sich zwingen, nicht laut aufzuschreien. Er sah zum Kommandanten hinüber. Der Terraner mit der schwarzen Haut hatte den Mund weit geöffnet, die weißen Zähne gebleckt, doch kein Wort, keine Silbe drang über seine Lippen. Sinnlos!, durchzuckte es Lethem. Wenn January keinen Rat mehr weiß, wenn er genauso hilflos wie ich auf das unausweichliche Ende wartet, auf den Aufprall was soll ich dann noch ausrichten können? Er verfluchte die Blindheit der Systeme. Wie lange noch? Wann wird die TOSOMA auf die Planetenoberfläche prallen? Wann werden wir alle zerschmettert werden? Diese Ungewissheit, wann der tödliche Aufschlag erfolgen würde das war das Schlimmste! Scaul Rellum Falk schwitzte. Das lag nur zum Teil an der sich abzeichnenden Katastrophe. Scaul kam sehr schnell ins Schwitzen und zog kühle Umgebungen vor. Aber der unvermeidliche Absturz trug nicht dazu bei, seinen Temperaturhaushalt auszugleichen. Wie ernst, wenn nicht sogar hoffnungslos die Lage war, erkannte Scaul daran, dass sein Vorgesetzter Tassagol die Fassung zu verlieren drohte. Normalerweise war der Arkonide zwar lebhaft, dabei aber stets gelassen. Mit seiner schulmeisterlichen Art erweckte er manchmal den Eindruck, andere Leute gern belehren zu wollen.
Tassagol hämmerte wütend auf eine Kommunikationskonsole. Wie als Reaktion darauf ging ein Ruck durch das Schiff. Falk hatte den Eindruck, dass die TOSOMA gegen einen elastischen Widerstand geprallt und von ihm zurückgeworfen worden war. Sie schien buchstäblich einen Satz zu machen, und der zweite stellvertretende Leiter der Abteilung Funk und Ortung wurde von den Füßen gerissen. Die Welt stand plötzlich schräg. Falk prallte mit dem Kopf auf den Boden. Er war ein Bär von Mann, bei knapp einem Meter und neunzig fast zwei Zentner schwer, doch der plötzlich veränderten Schwerkraft war auch er nicht gewachsen. Einen Augenblick lang sah er Sterne. Ein Krachen drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr, dann ein gellender Schrei Tassagol! Falk schüttelte sich, um die roten Schleier vor seinen Augen zu vertreiben, und suchte irgendeinen Halt, an dem er sich hochziehen konnte. Ein Griff knirschte und brach unter seiner Hand ab. Falk stürzte zurück. Stöhnend richtete er sich auf die Ellbogen auf. Das Flimmern vor seinen Augen war nicht mehr ganz so grell. Er drehte den Kopf, sah, dass die Funkzentrale in Trümmern lag. Benommen fragte er sich, was die TOSOMA getroffen haben mochte. Aber ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken Tassagol lag halb unter einer aus der Verankerung gerissenen und umgestürzten Konsole begraben; sein rechter Oberschenkel stand in einem irrwitzigen Winkel vom Körper ab und war zweifellos gebrochen. Scaul rutschte über den noch immer unnatürlich geneigten Boden zu ihm. Er sah auf den ersten Blick, dass der weißblonde Arkonide bewusstlos, wenn nicht sogar tot war. Er konnte ihm nicht helfen, musste die Medostation informieren. Während er sich an einer Kommunikationskonsole hochzog, dämmerte ihm allmählich, dass wahrscheinlich nicht nur die Funkzentrale von dem Desaster betroffen war. Falk war für die schiffsinterne Kommunikation verantwortlich. Doch auch wenn er keine absolute Kapazität auf seinem Gebiet gewesen wäre, hätte ihm der Atem gestockt, als sein Blick über die Anzeigen und Skalen der Konsole glitt. Sie war äußerlich unbeschädigt, doch kein einziges System wurde noch mit Energie versorgt. Erst in diesem Augenblick fiel Scaul auf, dass es unnatürlich still im Schiff war. Sogar das Jaulen der Sirenen war verklungen. Eiskalter Schrecken durchfuhr ihn. War war die TOSOMA nur noch ein Totenschiff? Lethem da Vokoban spürte den Ruck, der durch das Schiff ging und dachte, es sei der erwartete tödliche Aufschlag. Scharf schnitten die Sicherheitsgurte in sein Fleisch, drückten ihn in den seinen Körperformen angepassten Kontursessel zurück. Für Notfallbedingungen waren die Sessel mit einem Prallfeld-Generator ausgestattet, mit einer Eigenklimatisierung inklusive eines Notfall-Sauerstoffvorrats, eines autarken MiniaturAndruckabsorbers und eines Anschlusses an die bordinterne Kommunikation samt entsprechenden Individual-Holoprojektoren. Bei einer Übung hatte Lethem sich einmal scherzend bei seinem Ausbilder erkundigt, ob sie auch über eine eingebaute Kaffeemaschine oder sonstige Getränkespender und eine Massageeinrichtung verfügten. Das hatte ihm sehr viel Zeit in der Bordbibliothek beschert, die er mit dem Studium zahlreicher Holo-Simulationen über Schiffskatastrophen verbracht hatte. Und er hatte schnell herausgefunden, dass der menschliche Körper bei einer bestimmten Belastung deutlich weniger aushielt als hochfestes Verbundmaterial. Aber all diese zusätzlichen Sicherungen nutzten jetzt nicht das Geringste, da Isämtliche Systeme ausgefallen waren, auch die Energieversorgung von der der Notbeleuchtung einmal abgesehen. Nur langsam dämmerte ihm, dass zu allen Systemen auch die Andruckabsorber gehörten. Also musste der Aufprall ausgeblieben sein, sonst wäre er auf der Stelle tot gewesen. Irgendetwas hatte die TOSOMA gepackt, ergriffen, den Sturz aufgehalten.
Im nächsten Augenblick wurde Lethem in den Kontursessel gedrückt. Die Faust eines Riesen
schien sich in seine Lunge zu pressen und alle Luft herauszudrücken.
Ein Fremdeinfluss hat die TOSOMA abgefangen!, durchzuckte es ihn. Was wurde hier gespielt?
Wer brachte das Schiff zum Absturz, nur um es dann in letzter Sekunde zu retten?
Im nächsten Augenblick drehte sich die Welt, und er wurde fast aus dem Sessel geschleudert.
Die Zentrale war plötzlich ein Inferno. Er hörte Schreie, sah fliegende Körper, wo eigentlich nur
Luft sein dürfte, hörte Metall knirschen und brechen, fühlte Flüssigkeit auf seiner Haut
Blutspritzer! und schmeckte sein eigenes Blut auf seiner Zunge, in die er sich gebissen hatte.
Dann war mit einem Mal wieder alles ruhig.
Aber nicht still.
Die hektischen Bewegungen waren wieder langsamer, aus den Schreien war Stöhnen
geworden, aus seiner Angst Schmerz.
Etwas hat uns ziemlich unsanft zu Boden gebracht!, dachte er. Was?
Ohne Abdruckabsorber reichte ein Beinahesturz aus nur zwei Metern Höhe bis zum endgültigen
Aufsetzen schon völlig aus, um sämtliche Besatzungsmitglieder wild durcheinander zu wirbeln.
Da half nicht einmal die besonders geschützte Position der Zentrale!
Lethem warf einen Blick auf seine Konsole. Er kannte das Ergebnis, bevor er es sah, brauchte
aber die Bestätigung.
Sämtliche Systeme waren weiterhin ausgefallen. In der TOSOMA floss nicht mehr die geringste
Energie, selbst die schwachen Notfalllampen flackerten vermehrt. Und das bedingte natürlich
auch weiterhin eine Totalblockade der Technik.
Mühsam kämpfte er sich aus seinem Sessel, sah sich in der Zentrale um. Angeblich
unzerstörbare Verbundmaterialien waren zerbrochen, gehärteter Kunststoff schien zerflossen
zu sein. Doch die Wände aus Metallplastik und Ynkonit waren offensichtlich nicht beschädigt,
und er konnte auch keine Brände ausmachen, kein offenes Feuer.
Arkonidische Qualitätsarbeit Er kämpfte sich zum Zentraleschott vor, tastete sich im schwachen Licht voran. Er fluchte leise. Zum Glück gab es zahlreiche redundante Primitivtechniken und Ausrüstungen wie Handkurbeln und so weiter, die auch bei komplettem Energieausfall funktionierten. Aber das würde die Angelegenheit beträchtlich erschweren. Öffnet die Schotten und sammelt die Besatzung!, rief er durch die Zentrale. Wir müssen das Schiff verlassen! Niemand antwortete. Er atmete tief ein. War er der einzige Überlebende? Dann hörte er ein gequältes Stöhnen aus der nur von schwacher Notbeleuchtung erhellten Tiefe des Raums. Ich verstehe es nicht! Das ist unmöglich! Die Verzweiflung stand Hurakin ins Gesicht geschrieben. Wie können sämtliche Energie erzeugenden Geräte gleichzeitig ausfallen? Der Leiter der Abteilung Hauptrechner und Mathematik, der für die Syntroniken und alles, was mit ihnen zusammenhing, verantwortlich war, machte den Eindruck, als sei seine Welt zusammengebrochen. Was durchaus zutreffen mochte. Ohne Energie arbeitete keine Syntronik, nicht einmal ein Vibratormesser. Hurakin hatte nicht nur das Rechnernetzwerk der ATLANTIS, sondern auch das der TOSOMA maßgeblich mit entwickelt und war plötzlich von allem abgeschnitten, was sein Leben definierte. Gerade war er noch ein absoluter, unentbehrlicher Spezialist gewesen. Und jetzt war er nichts mehr, nur noch ein in jeder anderen, aber nicht in dieser Situation ruhiger, zurückhaltender, besonnener, mitunter aber sehr ironischer Arkonide, dessen Fachgebiet soeben zu existieren aufgehört hatte. Und wie es aussah, würde er selbst in wenigen Minuten oder Sekunden zu existieren aufhören.
Zanargun fragte sich, was Hurakin wichtiger war, seine Rechner oder sein Leben. Ein heftiger Ruck ging durch das Schiff, riss den Luccianer fast von den Beinen. Der Leiter der Abteilung Außenoperationen und Chef der Landungstruppen ruderte mit den Armen und hielt sich an einer Verstrebung fest, die er eher zufällig zu fassen bekam. Der sehr schlanke, kahlköpfige Arkonide hatte nicht so viel Glück. Hurakin war kein Schwächling, ganz im Gegenteil. Er war nicht nur ein hervorragender Garrabo-Spieler, sein zweites Hobby war der traditionelle Katsugo-Schwertkampf, der ihm zur körperlichen Ertüchtigung wie auch als Konzentrationsübung diente. Er war der unbestrittene TOSOMABordmeister in dieser Disziplin. Doch nicht einmal Zanargun konnte schnell genug reagieren, um einem Ersatzteilcontainer auszuweichen, der durch das abrupte Abbremsen wie ein Geschoss durch die Zentrale der Abteilung Hauptrechner geschleudert wurde. Als Luccianer war Zanargun an eine Schwerkraft von 1,5 Gravos angepasst. Er war ein hervorragender Einzel- und Nahkämpfer und genoss höchstes Vertrauen der Besatzung. Mit einem unterdrückten Fluch warf er sich vorwärts. Sein Körper schien der Schwerkraft zu trotzen. Dank seiner Herkunft war er dem Arkoniden gegenüber beträchtlich im Vorteil. Auf seiner Heimatwelt trug er das Anderthalbfache des Gewichts mit sich herum, das er an Bord der TOSOMA hatte, und entsprechend war auch seine Muskulatur ausgeprägt. Er bekam Hurakin im letzten Augenblick zu fassen; sein Schwung riss ihn mit sich. Sekundenbruchteile später hätte der schwere Container den Arkoniden zerschmettert. Der Aufprall trieb Zanargun die Luft aus den Lungen, doch er rappelte sich sofort wieder auf. Der Boden neigte sich, und er rutschte hinab, bis seine Füße gegen die Wand stießen. Hurakin schüttelte sich benommen. Danke, sagte er. Das war knapp. Aber ich befürchte, du hast mein Ende nur um ein paar Minuten hinausgeschoben. Wenn überhaupt Warte ab, knurrte Zanargun. Noch sind wir nicht tot. Und du willst doch bestimmt noch mal einen Kaffee mit mir trinken, oder ? Heiß, schwarz und Stark! Hurakin lachte heiser auf. Ich weiß. Wie pflegst du immer zu sagen ? Man kann ja von den Larsaf-Barbaren, wie Atlan sie zu nennen beliebt, halten, was man will aber ihr Kaffee! Einsame Spitze! Das ist etwas, mit dem Terra wirklich die Öde Insel beglückt hat Er verstummte, schaute auf. Zanargun hatte es auch bemerkt. Die TOSOMA schien von einem Augenblick zum anderen zum Stillstand gekommen zu sein. Die in den Notfall-Batterien gespeicherte Energie reichte in der Tat nur aus, um die Notbeleuchtung aufrechtzuerhalten. Jedes Schott, das Lethem erreichte, musste mit einer Handkurbel geöffnet werden. Anfangs befürchtete er, er würde sich im Halbdunkel nicht zurechtfinden. Aber er war schon so oft durch die Gänge des 150 Meter durchmessenden Raumers geschritten, dass er den Weg zum untersten Deck wohl auch im Schlaf gefunden hätte. Schon nach wenigen Metern war ihm klar: Die TOSOMA stand aufrecht, offensichtlich auf den sechs hydraulisch aus der Schiffshülle geklappten Stabilisierungssegmenten, denn Landestützen hatte die TOSOMA keine. Als er beim funktionsuntüchtigen Antigravschacht angelangt war, hatte er erleichtert festgestellt, dass ein Großteil der Besatzung den Absturz wohl überlebt hatte. Die Leute waren mehr oder weniger schwer verletzt, aber Tote wurden nicht gemeldet, und wer dazu imstande war, versuchte mit all seiner Kraft, Ordnung an Bord zu schaffen. Und als er das unterste Deck erreichte, stellte er mit einem leisen Lachen fest, dass er nicht als Einziger auf die Idee gekommen war, die TOSOMA so schnell wie möglich zu verlassen und sich ein Bild darüber zu verschaffen, wo sich der Raumer befand. Lethem erkannte den Mann an seinen kurzen dunkelblonden Haaren und der Statur: Es war Scaul Rellum Falk, ein Kommunikationsexperte aus der Abteilung Funk und Ortung. Der Terraner war mit 42 Jahren etwas jünger als er selbst.
Falk drehte sich zu Lethem um. In seinem Blick schien Erleichterung mitzuschwingen. Ich habe das Schott mit Hilfe des Notrads geöffnet, sagte er. Eine letzte Drehung, und wir können hinaus. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es auch ratsam ist, das Schiff zu verlassen. Lethem zögerte. Wenn sich die TOSOMA nicht auf einem Planeten, sondern noch im All befand Aber nein, sie hatten einen Landeanflug versucht, sich im Gravitationsfeld eines Planeten befunden, und es herrschte eine Schwerkraft, die dem Standard von einem Gravo sehr nahe kam. Öffnen!, sagte er. Und wenn draußen eine Giftgasatmosphäre herrscht? Das Risiko nehmen wir auf uns. Dann sind wir sowieso verloren. Wir können nicht darauf warten, dass irgendwann wie durch Zauberei die Energie zurückkommt. Falk nickte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte das Rad ein letztes Mal. Mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit drückte er das Schott dann auf. Lethems Achtung vor ihm wuchs gewaltig; der Arkonide wusste nur allzu gut, wie schwer das Schott tatsächlich war. Orangefarbenes Licht drang durch die Öffnung und frisch und würzig riechende, problemlos atembare Luft. Lethem trat vor und schaute aus der Schleuse. Mit ungläubigem Staunen kniff er die Augen zusammen und schloss sie dann ganz, als könne er damit vertreiben, was er gesehen hatte. Als er sie wieder öffnete, war das Bild aber noch immer vorhanden. Die TOSOMA war auf einer flachen Staub- und Geröllebene gelandet, die sich, soweit Lethem sehen konnte, bis zum Horizont ausdehnte. Und auf dieser Ebene standen Tausende RaumschiffswracksI Einige mussten uralt sein, waren kaum mehr Skelette, die nur noch von Rost und Ablagerungen zusammengehalten wurden. Andere waren hingegen deutlich jüngeren Datums. Lethem erkannte mehrere lemurische Kugelschiffe samt ihren typischen Ringwülsten mit unterschiedlichen Durchmessern. Dazwischen standen Akonraumer, ebenfalls Kugeln mit den üblichen abgeflachten Polen, eins mit 100 und eins mit 200 Metern Durchmesser. Er sah auch Schiffe seines Volkes, der Arkoniden, viele uralt, manche aber verhältnismäßig neu und äußerlich unbeschädigt. Daneben ein Walzenraumer der Springer, ein Riese mit einer Länge von 1200 und einem Durchmesser von 240 Metern. Dann ein kleinerer Diskusraumer der Blues mit 500 Metern Durchmesser und 200 Metern Höhe. Und immer wieder völlig unbekannte Typen, hier ein birnenförmiges Schiff mit etwa 500 Metern Durchmesser, das zur Landung seltsamerweise auf dem Stiel aufgesetzt war, dort ein Würfel von mindestens fünf Kilometern Kantenlänge, der ihn an die Fragmentraumer der Posbis erinnerte, aber irgendwie noch viel bedrohlicher wirkte, ein Metallberg, um dessen oberes Drittel Wolken zerfaserten. Die matte, silbergraue Hülle war von unzähligen Einschlägen von Mikrokometen gesprenkelt, so dass sie an manchen Stellen fast schwarz wirkte. Waffenemitter und turmähnliche Traktorstrahlprojektoren kündeten nachdrücklich davon, dass das Schiff offenbar nicht gerade zur friedlichen Erkundung des Weltraums eingesetzt worden war. Dann machte Lethem eine goldene oktaedische Doppelpyramide mit einer Kantenlänge von rund 600 und einer Gesamthöhe von etwa 850 Metern aus, die am Horizont aufragte. Nachdenklich ließ er den Blick über die gleichseitigen Dreiecke der Oberfläche gleiten, die die acht Begrenzungsflächen des Oktaeders bildeten. Das war eindeutig ein Schiff der Varganen, eines Volkes, das nur aus Atlans Jugendberichten bekannt war. Raumschiffe der Lemurer, der Arkoniden, der Springer es sah ganz so aus, als hätte es im Verlauf der Jahrtausende ungezählte Raumfahrer hierher verschlagen. Und niemand schien wieder entkommen zu sein, die Raumer und Wracks sprachen schließlich eine beredte Sprache!
Nein, korrigierte er sich. Im Verlauf von Jahrzehntausenden. Die Lemurer waren vor über 50.000 Jahren untergegangen oder nach Andromeda ausgewandert. Diese Schiffe mussten also mindestens so alt sein. Neben ihm deutete Scaul Falk auf die gestrandeten Raumer. Alles andere als rosige Aussichten. Wenn es ihnen nicht gelungen ist, von hier wegzukommen Lethem schüttelte unwillig den Kopf. Aber noch leben wir. Und wir werden nicht aufgeben. Der Blick aus Falks grünblauen Augen blieb gelassen. Lethem wusste, dass der schwergewichtige Terraner stets die Ruhe selbst war, immer freundlich und besonnen. Er wirkte vielleicht eine Spur lethargisch, war es aber keineswegs. Vielmehr hatte er eine schier grenzenlose Geduld. Wenn er dann doch einmal aufbrauste, hieß es, sich warm anzuziehen. Natürlich nicht. Und was hast du jetzt vor? Wir müssen versuchen, alles nur irgendwie Brauchbare an Ausrüstung, Nahrung, Wasser und so weiter zusammenzustellen, was es an Bord der TOSOMA gibt. Danach machen wir eine Bestandsaufnahme. Wer ist verletzt, wer steht uns noch zur Verfügung? Und dann sehen wir weiter. Aber fällt dir hier nichts auf? Lethem sah den Kommunikationsexperten fragend an. Hier stehen jede Menge Raumschiffe, sagte Falk, aber kein einziges Lebewesen ist zu sehen! Die zuckerhutförmigen Gebilde waren unterschiedlich hoch, das kleinste drei Meter, das größte an die zwanzig. Eine Gruppe von sieben dieser Bauten bildete gemeinsam eine hügelartige Anhebung, auf der keine einzige Pflanze wuchs. Der bräunlich schimmernde Boden schien von der Sonneneinstrahlung hart gebacken zu sein. Wir hatten die Objekte schon aus weiter Entfernung ausgemacht, uns ihnen jedoch nur zögernd genähert. Aus der Ferne wirkten sie wie Termitenbauten. Auf Terra waren diese Staaten bildenden Insekten durchaus nützliche Geschöpfe. Sie ernährten sich von Pilzen, die sie buchstäblich züchteten, und von abgestorbenen Pflanzenteilen, besonders Holz. Zur Verdauung der Zellulose benutzten sie Symbionten. Auf der Erde wurden die größten Termiten etwa zwanzig Millimeter lang und waren für die meisten Lebewesen ungefährlich, abgesehen für Ameisen, die als ihre Hauptfeinde galten und gegen die die Termitensoldaten mit ihren großen Kiefern regelrechte Kriege führten. Auf der Erde! Doch wenn eines feststand, dann, dass wir nicht auf der Erde waren, obwohl die Schwerkraft weitgehend dem Standard zu entsprechen schien. Wir näherten uns den Bauten unbehelligt. Ich kam mir lächerlich vor, als ich besonders behutsam auftrat, als könne jede starke Erschütterung das aus vielen Millionen Individuen bestehende Termitenvolk aus seinem Mittagsschlaf erwecken, doch der Logiksektor musste mich nicht zur Vorsicht mahnen. Diese Bauten mussten nicht einmal von Termiten errichtet worden sein. Vermutlich waren sie von ganz anderen Lebewesen geschaffen worden. Ich legte die Hand auf die grobporige Oberfläche des äußersten Baus. Sie war warm von der Sonneneinstrahlung und fühlte sich völlig natürlich an. Auch ohne eine chemische Analyse, auf die ich aufgrund der ausgefallenen Anzugsysteme sowieso verzichten musste, war ich mir sicher, dass das Gebilde aus Erde, Holzpartikeln und Kot bestand. Termitenbauten, sagte Javales. Der offensichtliche Schluss, erwiderte ich. Ich sah mich um, konnte aber keinerlei Öffnungen entdecken, durch die die Bauherren dieser Gebilde an die Oberfläche vordringen konnten. Der nicht unbedingt der richtige sein muss? Ich zuckte die Achseln. Jedenfalls hat man uns kein Empfangskomitee geschickt. Ich wusste nicht, ob ich froh oder enttäuscht darüber sein sollte. Narr!, meldete sich der Extrasinn. Hast du etwa erwartet, dass die Bauherren intelligente Wesen sind, die dir eventuell nützliche Informationen geben können?I
Gehen wir weiter! Ich sah zum Himmel. Der Schein der orangefarbenen Sonne mutete zwar düster an, ihre Lichtstrahlen wärmten allerdings nicht weniger als die auf einem normal bewohnbaren Planeten. Es wunderte mich, dass die Pflanzen der Savanne noch so grün und nicht schon längst verdorrt waren. Pflanzen waren, sehr vereinfacht, gleichbedeutend mit dem Vorhandensein von Wasser, und dieses Wasser mussten wir finden. Noch hatten wir einen gewissen Vorrat, auch an Konzentratnahrung, doch der würde nicht ewig halten. An dem seltsamen Tor hatten wir jedenfalls keine Quelle gefunden. Und da es auf keine unserer Manipulationen reagierte und wir den Transportvorgang nicht wiederholen konnten, hatten wir uns entschlossen, die Ruinen des gewaltigen Felsens zu erkunden, der einzig auffälligen Landmarke, die sich uns bot. Ich hatte Jorge Javales zu äußerster Wachsamkeit angehalten. Bald, das war meine feste Überzeugung, stand eine erste direkte Begegnung mit der Fauna dieser Welt an. Die Waffen funktionierten weiterhin nicht, und die Vibratormesser, Standardausrüstung jedes Arkonidischen Schutzanzugs, konnten wir aufgrund des Technikausfalls nur noch als normale Klingen benutzen. Schutz vor großen Raubtieren boten sie kaum. Während ich nach Wasser und möglichen Beutetieren Ausschau hielt, nach Materialien, aus denen wir ein einigermaßen sicheres Nachtlager erstellen oder ein Feuer entfachen konnten, nachdem die Utensilien unserer Survival-Packs verbraucht waren, dachte ich über unsere Lage nach. Ich wollte Javales nicht beunruhigen, aber sie war alles andere als rosig. Wir kamen nur langsam voran; die Umwelt war keineswegs so harmlos, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Manche Sorten des Savannengrases hatten sich als so scharf entpuppt, dass sie sogar mühelos das Material unserer Schutzanzüge durchtrennten. Und an einigen Stellen schien der Boden nur von den Wurzeln der Pflanzen zusammengehalten zu werden. Als Javales den Fuß auf so eine dünne Schicht setzte, brach er sofort ein, und ich konnte ihn nur mit Mühe aus einem sumpfartigen Untergrund ziehen, der ihn wie Treibsand zu verschlingen drohte. Aber das waren nur kurzfristige Bestandsaufnahmen; ich hatte im Lauf meines Lebens schon lebensfeindlichere Umgebungen kennen gelernt. Größere Sorgen bereitete mir die Tatsache, dass ich noch immer keine Ahnung hatte, wo wir uns befanden. Meine letzte Erinnerung war die, mich an Bord der Vergessenen Plattform dem Leuchten des Hoagh anvertraut zu haben. Doch damit war ein zweiter Transport verbunden gewesen, denn zuvor wurde bereits die Plattform selbst versetzt. Nach allem, was ich wusste, waren wir ein Opfer unglücklicher Umstände geworden. Die Vergessene Plattform war offenbar von der Streustrahlung des Stahlmonds angelockt worden. Der Einfluss des Kosmischen Holländers wiederum musste dann aber genau zu jenem Zeitpunkt die höchste Intensität gewonnen haben, als meine drei Begleiter und ich den Transmitter benutzt hatten, so dass wir in der Plattform statt auf Kharba materialisiert waren. Danach war sie wohl von dem Sonnentransmitter abgestrahlt worden, oder aber der Kosmische Holländer, der keiner nachvollziehbaren Bahn folgte, hatte seine Position aus eigenem Antrieb verändert. Und als wir an diesem Ziel angekommen waren, war schließlich die erneute Versetzung infolge des Leuchtens des Hoagh erfolgt. Wir konnten also überall sein. Ich sah zum Himmel. Ich war gespannt, welche Sternbilder ich erkennen konnte, sobald die Nacht anbrach. Ich wischte mir salzigen Schweiß aus dem Gesicht. Es war echter Schweiß, kein Sekret, wie es bei Erregung aus den Augen von Arkoniden trat. Die Sonne brannte unvermindert heiß vom Himmel, und die zyklopischen Ruinen des Felsbuckels schienen noch genauso weit entfernt zu sein wie am Beginn unseres Marsches.
Wir würden bald Wasser finden müssen. Ich würde es zwar länger aushalten als Javales, doch vor dem Tod durch Verdursten konnte mich auch der Zellaktivator nicht bewahren. Allerdings trug nicht der Durst Schuld an dem Druck auf meinen Kopf. Das waren die verbannten Erinnerungen, die darum kämpften, endlich an die Oberfläche treten zu dürfen. Ich unterdrückte sie weiterhin und musterte Jorge aus dem Augenwinkel. Sein hageres Gesicht mit der Hakennase wirkte eingefallen und ausgezehrt. Die Erschöpfung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Hast du Ich zögerte kurz, entschloss mich dann aber, das Thema zur Sprache zu bringen. Hast du an Bord der Plattform etwas Außergewöhnliches erlebt? Der Terra-Nostalgiker lachte heiser auf. War irgendetwas an Bord dieses Dings InichtI außergewöhnlich? Er blieb stehen, nutzte die Gelegenheit, um sich auszuruhen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich meine normale Erscheinungen? Javales sah mich fragend an. Ich hatte während des scheinbar ewig ausgedehnten Transportvorgangs merkwürdige Visionen gehabt, die ich nicht einzuordnen wusste. Bei mir hatte sich lediglich das vage Gefühl eingestellt, dass sie vielleicht Teil der Lebenserinnerungen des Lemurischen Tamrates Nevus Mercova-Ban sein könnten. Vielleicht ein Hinweis auf ein früheres Experiment mit dem Sonnendodekaeder oder der Bewusstseinstransferanlage? Dem widersprach, dass ich während der Visionen Bruchstücke aus dem Dasein eines Pflanzenwesens namens Xyban-K‘hir durchlebt hatte. Sie waren ungeordnet und wirr gewesen, eher durcheinander geworfene Schlaglichter, die an ein Kaleidoskop von Eindrücken erinnerten, als eine geordnete, sinnvolle Abfolge. Ein mehr als absonderliches Sammelsurium, das sich vor mir ausbreitete, hatte in immer neuen Bildsequenzen mein Bewusstsein überschwemmt. Ich ließ den Blick über die Savanne schweifen, konnte aber keine Bewegung ausmachen, keines der typischen Warnzeichen für die Annäherung eines größeren Lebewesens. Nun fiel es mir schon wesentlich leichter als nach der Ortsversetzung, auf eingeübte DagorTechniken zurückzugreifen und mich in eine leichte Trance zu versetzen. Ich ging vorsichtig und behutsam vor. Strömten die Erinnerungen zu schnell ins Wachbewusstsein, würden sie mein Ich vielleicht mitreißen und für eine gewisse Zeit völlig handlungsunfähig machen. Und das konnte in dieser Umgebung tödlich sein. Langsam tastete ich mich an die brodelnde schwarze Wolke tief in mir heran. Ich wagte nur, sie anzukratzen, blieb an der Oberfläche, drang nicht tiefer vor als unbedingt nötig. Zuerst sah ich nur dunkle Fetzen, die sich immer wieder zusammenballten, Gestalt annahmen und sich wieder auflösten, doch dann wirbelten plötzlich Welten und Sonnen durch mein Blickfeld, unermesslich viele, eine Kleingalaxis oder der Ausschnitt einer großen Galaxis wie der Milchstraße. Einmal glaubte ich, den Kugelsternhaufen Omega Centauri zu erkennen, doch sofort veränderte sich die Konstellation wieder. Sie schien unvermittelt deutlich größer zu sein, elliptisch ausgedehnt, mit viel mehr Sternen, womöglich mehrere tausend Lichtjahre lang Etwa so, wie der Sternhaufen vielleicht einmal ausgesehen hat, ehe er, damals noch eine der Milchstraße vorgelagerte Kleingalaxis, eingefangen und förmlich bis auf den Kern zerrissen und gefressen wurde, raunte der Extrasinn. Ich drang etwas tiefer in die schwarze Gewitterfront verborgener Erinnerungen ein, und mein Blick wechselte auf eine orangefarbene Sonne, die von mehreren Welten umringt war. Ein vertrautes Bild, und diesmal erkannte ich genau, dass es sich um fünf Planeten handelte, die ihr Zentralgestirn auf gleicher Umlaufbahn umrundeten. Ich wusste plötzlich sogar, dass eine volle Tagesrotation 22,5 Stunden beanspruchte. Und ich sah, dass eine der Welten einen Mond hatte, der mich an einen überdimensionierten Diamanten erinnerte. Ein Kristallmond, der von der Oberfläche seines Planeten aus einen scheinbaren Durchmesser aufwies, der mindestens das Doppelte von Luna über Terra ausmachte!
Auch das eine Information, über deren Quelle ich nichts zu sagen wusste. Ich bemühte mich weiterhin, Ordnung in die verworrenen Bilder zu bekommen, sie in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, doch es gelang mir nur unzureichend. Diesige Landschaften erschienen vor meinem inneren Auge und wechselten mit düsteren Sümpfen und himmelhohen Gebirgen ab. Im strahlenden orangefarbenen Licht flogen riesige goldene Plattformen, von denen sich bizarr geformte, zierliche Türmchen und Aufbauten erhoben. Leuchtende Energiesäulen in grellem Weiß erstreckten sich von den Turmspitzen in den Himmel und schienen dem Kristallmond entgegenzueilen. An anderer Stelle gab es hochhausgroße schlanke Zylinder, deren glatte und fensterlose Oberfläche an schmutzig angelaufenes Silber erinnerte. Das Kaleidoskop wirbelte immer schneller, und ich erkannte Städte an Flussläufen und Buchten. Festungen erhoben sich von gratigen Felsmonolithen, Segelschiffe fuhren über Ozeane. Alles in allem handelt es sich offensichtlich um eine präatomare Zivilisation, konstatierte der Logiksektor, ein Gemisch aus antiker terranischer Hochkultur und mittelalterlicher Primitivität. Das maximale Niveau scheint etwa dem des Jahres 1900 der Erde zu entsprechen! Durch mein Blickfeld huschende Maschinen, Dampflokomotiven, Zeppeline und weitere absonderliche Errungenschaften primitiv anmutender Technik bestätigten ihn. Vereinzelt schienen Dampfmaschinen im Einsatz zu sein, doch nirgends konnte ich höhertechnische Geräte entdecken. Und alle Maschinen waren mit viel Messing und Schnörkeln ausgestattet, als hätten die Erbauer den größten Wert nicht auf die Zweckmäßigkeit, sondern auf bloße Äußerlichkeiten gelegt. Ich sah die unterschiedlichsten Städte. Eine schien aus riesigen Perlen zu bestehen, die bis zu fünfzig oder hundert Metern groß waren, eine andere ausgedrungenen, schmutzigen, rußverschmierten Klötzen, eine weitere aus einer Unmenge von Zelten. Sie lagen in den unterschiedlichsten Regionen. Ich sah Savannenebenen, schneebedeckte Gebirgszüge, Lagunen und Flussdeltas, und die Bevölkerung schien ein Gemisch aus diversen Völkern zu sein. Humanoide und Nichthumanoide lebten mehr oder weniger einträchtig beisammen. Ich glaubte, Blicke auf mir vertraute Spezies zu erhaschen, Bewohner der Milchstraße, war mir aber nicht ganz sicher, zu schnell wechselten die Bilder, zu kurz blieben sie selbst für mein fotografisches Gedächtnis bestehen. Wollte ich alle Eindrücke genau analysieren, wäre ich tagelang damit beschäftigt und während dieser Zeit völlig handlungsunfähig. Plötzlich vereinigten sich all diese Bewohner der fünf Welten zu einem einzigen. Er blieb unfassbar und war dennoch völlig konkret zugleich. Es war ein überaus mächtiges Wesen, und es kam mir sonderbar vertraut, zugleich aber unendlich fremd vor. Einige Wimpernschläge lang huschten Dutzende Gesichter und in einer Art Morphing auch wechselnde Gestalten vor meinem inneren Auge vorüber. Der Eindruck, dieses Wesen zu kennen, wurde immer stärker, doch endgültig fassen ließ es sich nicht. Es verharrte stets knapp außerhalb meiner Reichweite. Schließlich blieb nur ein Begriff oder Name? , der mir allerdings nichts sagte: Sardaengar! Dann schien sich diese Gestalt auch in absonderlichen Tieren und Pflanzen zu manifestieren. Riesige Echsen und Käfer dienten den Bewohnern dieser Welten offenbar als Reittiere. Sie alle strebten einer Schlucht entgegen, die mich auf den ersten Blick an den Grand Canyon des nordamerikanischen Kontinents erinnerte. Doch darin funkelte es strahlend hell, wie von tausend Kristallen, und ein Wesen saß darin Ich konnte es nicht genau ausmachen, spürte aber, wie es mich anzog, lockte Vorsicht!, schrie der Extrasinn. Die vertraute Stimme riss mich unvermittelt aus dem Sog. Ich musste meine gesamte Willenskraft aufbringen, um den rasenden Sturz zu bremsen, und befürchtete im ersten Augenblick, dass es mir nicht gelingen würde. Die Anziehungskraft der Schlucht wirkte auf mich wie die eines Schwarzen Lochs auf ein Raumschiff. Lag es an den, Kristallen? Oder an dem Wesen in dem schroffen Tal? Ich konnte es nicht sagen, nicht einmal, ob dieses Wesen überhaupt existierte.
Auf der einen Seite war der Logiksektor, der versuchte, mich mit Hilfe des Monoschirms vor dem Einfluss zu schützen, auf der anderen diese Verlockung, Verheißung Schier eine Ewigkeit schwebte ich zwischen den beiden Polen, spürte, wie sie an mir zerrten, und dann war es vorbei. Der Wettstreit verwandelte sich abrupt in das merkwürdige Gefühl einer allgemeinen, nicht genauer klassifizierten Bedrohung, die sich mit dem Begriff Obsidian-Kluft verband Sonderlich viel ließ sich damit allerdings nicht anfangen, genau wie mit den Erinnerungen an die Vision, die nicht mehr ganz so rätselhaft wie das erste Erlebnis an Bord der Vergessenen Plattform war, aber auch keine Klarheit gebracht hatte. Ich löste mich aus der Trance und öffnete die Augen. Einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich war, dann sah ich die Savanne und den rotbraunen Felsen mit seinen Ruinen, die unser Ziel waren. Vinara, sagte ich. Javales sah mich fragend an. Zumindest eins war geblieben. Diese Welt heißt Vinara, sagte ich. Ihre Bewohner nennen sich Viin, die Sonne wird Verdran genannt und der Kristallmond Vadolon. Wovon sprichst du?, fragte der Archivar. Ich schüttelte den Kopf, geistig zu erschöpft, um zu langwierigen Erklärungen anzusetzen, die sowieso auf Unverständnis stoßen würden. Gehen wir weiter. Als wir den Felsbuckel fast erreicht hatten, kam es zu dem Zwischenfall, den ich insgeheim schon längst erwartet oder befürchtet hatte. Ich kam gerade noch rechtzeitig wieder zu Sinnen. Javales gegenüber würde ich es niemals eingestehen, aber ich war einen Moment lang unaufmerksam gewesen wie schon mehrmals an diesem Tag. Eine weniger erfahrene Person hätte vielleicht gar nicht auf das sanfte Rauschen geachtet, das durch die hier mannshoch stehenden, aber nicht so scharfrandigen Grashalme ging. Eine Bö? Nein. Es trat an mehreren Stellen gleichzeitig auf, setzte sich in verschiedene, auch entgegengesetzt führende Richtungen fort. Gemein war diesen Bewegungen nur eins: Javales und ich befanden uns genau in ihrem Mittelpunkt. Weitergehen, raunte ich. Nichts anmerken lassen! Nicht umdrehen oder umschauen! Javales reagierte besser, als ich erwartet hatte. Der Archivar hielt nur einen Sekundenbruchteil inne und schritt dann weiter aus. Zieh dein Messer. Wir sind nicht allein. Ich spürte den kalten Stahl in meiner Hand und bedauerte, dass die Klinge nicht mehr vibrierte. Für einen wirksamen Stoß war jetzt ein viel größerer Kraftaufwand nötig. Ich sehe es auch. Javales Stimme klang belegt. Stromlinienförmige Bewegungen im Gras. Aber warum kommen sie von allen Seiten? Jagen Raubtiere nicht immer gegen den Wind? Diese offensichtlich nicht. Ich ging schneller. Die Vegetationsgrenze war vielleicht noch vier-, fünfhundert Meter entfernt. Auf dem felsigen Grund der Ausläufer des Berges hatten wir wesentlich bessere Chancen als inmitten des hohen Grases, das uns fast jede Sicht nahm. Zu spät. Als ich das Knurren hörte, wusste ich, was geschehen würde. Bislang hatten die Tiere sich völlig lautlos angeschlichen, und dieses Geräusch konnte nur ein Signal sein. Ich verbiss einen Fluch. Ein Zeichen für ein Rudel! An sechs, sieben Stellen kräuselte sich das hohe Savannengras, doch wenn die Tiere sich im Gänsemarsch anschlichen, hatten wir es vielleicht mit der drei-, vierfachen Anzahl zu tun. Lauf!, schrie ich und stürmte los. Aus dem Augenwinkel nahm ich einen dunklen Fleck wahr, eine verschwommene Bewegung, die sich mir rasend schnell näherte. Das tiefe, dunkle Knurren verwandelte sich in ein lautes Bellen. Ich wirbelte herum, riss das Messer hoch, spürte, wie es in einen nachgiebigen Körper eindrang. Mit aller Kraft stieß ich zu und zog die Klinge gleichzeitig nach oben. Ein übler Geruch
stieg in meine Nase. Ich zog das Messer zurück und holte gleichzeitig mit der anderen Hand
aus. Die Wucht des Schlags warf den Angreifer meterweit durch die Luft.
Der Körper des Tiers, das ich getötet hatte, prallte gegen einen Angreifer, der
Sekundenbruchteile später zum Sprung angesetzt hatte. Nun konnte ich die Räuber zum ersten
Mal genau sehen, und der Extrasinn schlug Alarm, verstummte aber sofort wieder. Es war
kontraproduktiv, Erinnerungen meines fotografischen Gedächtnisses hervorzurufen; jetzt ging
es um das nackte Überleben.
Die Angreifer ähnelten Wölfen, hatten aber riesige, im Augenblick des Jagdfiebers hoch
aufgerichtete Fledermausohren. Sie waren kleiner als irdische Wölfe, hatten graues Fell, und
die Augen blitzen rot aus schmalen Köpfen.
Ich kannte diese Tiere, aber das würde nicht verhindern, dass sie mich reißen würden, um ihren
Hunger zu stillen. Sie waren im Rudel grausame Räuber, die auch Menschen gefährlich werden
konnten.
Oder Arkoniden.
Ein zweiter Angreifer hetzte heran, war so nahe, dass er die Zähne in mein Fleisch schlagen
konnte, ohne springen zu müssen, doch mein nicht mehr vibrierendes Vibratormesser traf ihn
mitten in die Brust.
Ich lief weiter, hörte jedoch vor mir ein kehliges Knurren und wusste: IWir sind eingekreist! Es
gibt kein Entkommen!
Das hohe Savannengras knickte an zahlreichen Stellen um. Ich sah vorspringende Schnauzen,
geifernde Kiefer, die sich ins Unendliche zu vergrößern schienen.
Wir waren umzingelt, ein Festmahl für die Saffrans.
In diesem Augenblick brach vor uns der Boden auf.
Eine braune Flut ergoss sich aus plötzlich entstandenen Löchern, eine Masse von quirligen,
wuselnden Einzelkörpern, die sich zusammenfügten, wie unzählige Tropfen ein Meer bildeten.
Die Termiten, deren Bauten wir entdeckt haben! Es waren in der Tat fingerlange,
quicklebendige Insekten, die buchstäblich aus dem Boden sprudelten. Wie eine Flutwelle
strömten sie auf alles zu, was sich bewegte, auf uns, aber auch auf die Scaffrans. Zu
Tausenden wurden die winzigen Tiere zerstampft, zerbissen und zerschmettert, aber weitere
Zehntausende krabbelten über die Leiber der Opfer, und die hundeähnlichen Raubtiere
erstarrten mitten in der Bewegung.
Sie scheiden ein an der Luft rasch erstarrendes Sekret aus, stellte der Extrasinn fest, mit dem
sie, zu Tausenden und Zehntausenden auftretend, Feinde und Beute spinnenähnlich in Kokons
einwickeln können.
So auch die Raubtiere.
Meine Lungen pumpten Luft, und die Muskeln in den Oberschenkeln begannen zu schmerzen.
Ich lief, was das Zeug hielt. Javales folgte mir.
Die Scaffrans waren nicht so schlau, oder hatten zu spät reagiert. Die Termiten schienen
absolut furchtlos zu sein, auch vielfach größeren Gegnern gegenüber, und überaus aggressiv.
Die hundeähnlichen Angreifer knurrten und bellten nicht mehr, sondern jaulten nur noch,
winselten. Es war ein elendiges Winseln, ein verzweifeltes. Bei lebendigem Leib wurden sie in
die Kokons eingewickelt.
Ich spürte plötzlich harten, felsigen Boden unter meinen Füßen und schaute zurück. Die
mannshohen Savannengräser brodelten beinahe wie ein aufgewühltes Meer. Nur langsam
wurden die Bewegungen schwächer, bis sie schließlich ganz aufhörten.
Javales holte mich schwer atmend ein, blieb ebenfalls stehen. Aus weit aufgerissenen Augen
sah er mich an. Ich dachte, Termiten seien Pflanzenfresser!
Die auf dieser Welt offensichtlich nicht. Ich atmete ebenfalls schwer. Aber das ist nicht alles. Ich
kenne die wolfsähnlichen Tiere, habe sie schon einmal gesehen.
Javales sah mich ungläubig an.
Ich zog ihn weiter, von der Savanne weg und den Ruinen entgegen. Es sind Scaffrans.
Ursprünglich sind sie auf dem Planeten Hayok beheimatet.
Bist du dir sicher? Vielleicht eine Laune der Evolution
Eine so exakte Entwicklung halte ich für höchst unwahrscheinlich.
Und diese Tiere kommen auf Hayok vor? Der Hauptwelt des Sternenarchipels?
Ich nickte. Der Archipel lag etwa 2140 Lichtjahre isoliert oberhalb der Milchstraßenhauptebene,
fast auf gerader Linie zwischen Arkon und Terra, ein offener Sternhaufen, etwa 9200 Lichtjahre
von Sol und 26.000 Lichtjahre von Arkon entfernt. Hayok war der einzige Planet einer
gleichnamigen kleinen roten Sonne.
Vor etwa 55.000 Jahren hatte der Sternhaufen zum Reich der Lemurer von den Halutern quasi
in die Steinzeit zurückgebombt. Dem folgte dann ein langsamer, mühsamer Wiederaufstieg.
Schon wieder Lemurer, stellte der Extrasinn fest. Sie waren in Omega Centauri, sie waren im
Sternenarchipel Hayok. Aber noch können wir keine weitergehenden Schlüsse daraus ziehen.
Deshalb verfolgte ich den Gedanken auch nicht weiter.
Du meinst wir sind auf Hayok?
Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ich war schon auf dem Planeten. Dort gibt es keine solche
Savanne. Außerdem würden wir auch am Tag einige Sonnen des Archipels sehen. Ich deutete
zu dem völlig sternenlosen Himmel. Nein, die Frage muss anders lauten.
Der Archivar nickte. Wie kommen Tiere von Hayok hierher?
Genau. Nicht einmal Intelligenzwesen, sondern Tiere. Jemand muss sie hier eingeschleppt
haben. Also muss diese Welt Besuch von Raumfahrern gehabt haben. Und diese Raumfahrer
gilt es zu finden.
sofern sie nicht bei der Zerstörung des Pyramidendreiecks und des angeschlossenen
Sonnentransmitters hierher verschlagen wurden, ergänzte der Extrasinn.
Falls sie noch leben, sagte Javales.
Falls sie noch leben, bestätigte ich.
Medo-Assistentin Tasia Oduriam sah ihn an, und einen Moment lang wurde ihr Blick etwas
weicher.
Lethem räusperte sich etwas unbehaglich. Die etwas jüngere, untersetzte Arkonidin hatte ein
Faible für ihn, doch er erwiderte dieses Gefühl in keiner Hinsicht.
Dabei war Tasia nicht einmal unattraktiv. Ihr schulterlanges, silbrig blondes Haar umrahmte ein
rundes Gesicht, und ihre hellroten Augen blitzten normalerweise energisch und resolut.
Die Stimme der Arkonidin ließ jetzt jedoch nichts von dieser Entschlossenheit erkennen. Sie
klang belegt und völlig erschöpft.
Hilflos schüttelte sie den Kopf, sah sich dann in der Schleuse um, die zum Dreh- und
Angelpunkt der TOSOMA geworden war. Weniger schwer verletzte Besatzungsmitglieder
trugen über die per Hand ausgekurbelte Rampe Kisten und kleine Container hinaus, um vor
dem Schiff ein behelfsmäßiges Lager zu errichten. Dann richtete sie den Blick wieder auf
Lethem.
Zahlreiche Besatzungsmitglieder wurden verletzt und sind nicht einsatzfähig. Praktisch die
gesamte Zentralebesatzung ist ausgefallen. Und ohne Energie sind wir in unseren
Behandlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Sie seufzte. Das war eine Verharmlosung. Wir
haben nicht mehr die geringste Energie! Kein Diagnosegerät funktioniert, kein automatisches
Skalpell, einfach gar nichts! Besorgt uns Energie, erst dann können wir den schwer Verletzten
wirksam helfen!
Lethem räusperte sich und überging die Aufforderung. Was sollte er auch darauf erwidern?
Dass sie nach Lösungen suchten, aber noch immer nicht die geringste Ahnung hatten, was den
vollständigen Systemausfall verursacht hatte?
Gab es Tote?
Die Medo-Assistentin schüttelte den Kopf. Noch nicht.
Schweben Besatzungsmitglieder in Lebensgefahr? Wir haben zahlreiche Brüche, Verstauchungen, Prellungen, Gehirnerschütterungen und so weiter behandelt. Wie sollen wir ohne Diagnosegeräte innere Verletzungen erkennen? Wir müssen bei jedem einzelnen Patienten eine Diagnose erstellen, und wenn wir sie mühsam erstellt haben, können wir in den meisten Fällen nur unzureichend behandeln! Das ist mir klar. Wer von den Führungsoffizieren ist einsatzfähig? Kommandant Khemo-Massai hat eine Gehirnerschütterung erlitten, die ihn vollständig außer Gefecht setzt. Lethem erinnerte sich an die Schreie, die er unmittelbar vor dem unsanften Aufprall gehört hatte, an das unvorstellbare Chaos in der Zentrale, auf das ihn keine einzige Übung vorbereitet hatte. Kein Ausbilder hatte in Erwägung gezogen, dass die Energie an Bord eines Raumschiffs vollständig ausfallen konnte. Planspiele für diesen Ernstfall waren sinnlos man konnte nichts tun. Cayry?, erkundigte er sich nach der Stellvertretenden Kommandantin. Linker Unterarm gebrochen, eventuell innere Verletzungen. Wir können es nicht genau feststellen und haben zahlreiche dringendere Fälle. IWirI, das waren die Mitglieder der Medizinischen Abteilung, die noch einsatzfähig waren. Zuunarik? Der Zaliter war der Erste Pilot und Lethems direkter Vorgesetzter. Gehirnerschütterung und Fußbruch. Schwer verletzt wurden auch Khim Ganduum, Agir-Ibeth Nir-Adar-Nalo Nilmalladah der Dritte, Phazagrilaath und Gulokhiz. Lethem schluckte schwer. Damit fielen die wichtigsten Offiziere der TOSOMA für die anstehenden Aufgaben aus. Tasia seufzte erneut. Die Last der Verantwortung, die auf ihren Schultern ruhte, wurde immer offensichtlicher. Denn mit der Ara-Frau Mayhel Tafgydo und der Morann-Wanderpflanze Olylyn Salryn waren bei dem Absturz ausgerechnet die Leiterin und die Stellvertretende Leiterin der Bordklinik ausgefallen. Mayhel Tafgydo war mit einem Becken- und doppelten Beinbruch auf keinen Fall dienstfähig, und die Morannii lag in einem Koma, von dem keiner wusste, ob sie je wieder daraus erwachen würde. Lethem war immer stolz darauf gewesen, dass sich die Besatzung der TOSOMA aus so vielen Spezies zusammensetzte wie die keines anderen ihm bekannten Schiffes. Der multikulturelle Austausch war für alle sehr befruchtend gewesen, und Toleranz war an Bord nicht nur ein Schlagwort, sondern ein notwendiger Faktor, der das Zusammenleben und -arbeiten erst ermöglichte. Doch nun dämmerte ihm allmählich die Kehrseite der Medaille. Durch diesen Umstand wurde die medizinische Versorgung der Verletzten stark erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Natürlich gab es an Bord auch Blutkonserven für einer Ishkhorer und holzartige Implantationsfasern für die Wurzelfüße einer Morannii, doch man musste sich erst Schiffspläne verschaffen, um überhaupt herauszufinden, wo sie gelagert wurden. Und dann war noch die Frage, ob man überhaupt an die betreffende Stelle herankam. Im Nachhinein gab der Arkonide Scaul Falk Recht. Die Aussichten waren alles andere als rosig. Er atmete tief durch, versuchte, die Müdigkeit zu verdrängen. Seit Stunden hatten er und andere Führungsoffiziere die Mannschaft immer wieder angetrieben, aufgemuntert und mitgerissen. Es galt, vor dem Schiff ein behelfsmäßiges Lager zu errichten und an Bord einigermaßen Ordnung herzustellen und das mit reiner Muskelkraft, ohne jede Hilfe von Robotern oder Geräten, die Energie benötigten. Was ist das?, riss Tasia ihn aus seinen Gedanken. Fragend sah der Pilot die Medo-Assistentin an. Hörst du das nicht? Er schüttelte den Kopf, drehte sich um, sah hoch und hörte es dann auch. Ein leises Summen, das langsam lauter wurde. Und irgendwie bedrohlicher.
Er kniff die Augen zusammen, konnte am Himmel aber nichts erkennen. Und dann waren sie plötzlich da, erschienen neben der Kugel des uralten arkonidischen Raumers, neben dem die TOSOMA aufgesetzt hatte oder aufgesetzt worden war. Rasend schnell jagten sie um die skelettartige Hülle herum und näherten sich der TOSOMA in etwa einem Meter Höhe über dem Boden. Flugroboter! Ein Gerät schoss geradewegs auf Lethem zu. Die metallische Außenhaut schimmerte golden und messingfarben im Licht der orangefarbenen Sonne. In seiner oberen Polkalotte funkelten Sensoren wie reich facettierte Rubine. Der untere Pol wirkte perforiert und schien die Projektoren der Prallfelder zu bergen, auf denen der Roboter schwebte. Lethem schätzte, dass der Hauptkörper an der breitesten Stelle einen Meter durchmaß und eineinhalb Meter hoch war. Je zwölf unterarmdicke Tentakel entsprangen ober- und unterhalb des Äquators und erreichen maximal ausgestreckt bis zu drei Metern Länge. Sie endeten in achtgliedrigen Greifklauen, Zangen oder Waffen- und Fesselfeldprojektoren. Ausgestreckt waren sie alle. Lethem stellte entsetzt fest, dass zwei der Tentakel auf ihn gerichtet waren. Während er sich zur Seite warf, gingen ihm mehrere Gedanken durch den Kopf. Der erste war: Energie! Die Roboter haben Energie! Also ist der Totalausfall der Systeme kein Zufall oder ein natürliches Phänomen. Jemand hat die TOSOMA bewusst lahm gelegt! Und dann dachte er, dass es ganz so aussah, als wolle dieser Jemand die Besatzungsmitglieder des Schiffes nun mit Hilfe der Roboter einsammeln. Und Lethem sah keine Möglichkeit, sich diesem Zugriff zu erwehren! Er schrie auf, als sich das Fesselfeld um seinen Körper legte, die Arme an seine Seiten presste und ihn dann anhob. Er verlor den Boden unter den Füßen, schwebte immer höher, bis er sich zwei, drei Meter hoch in der Luft befand. Er reckte den Kopf, als er sah, wie ein Besatzungsmitglied aus der Schleuse stürmte, einen Kombistrahler in den Händen, und ihn drohend auf einen der Roboter richtete. Das golden schimmernde Gebilde reagierte nicht darauf, ignorierte den Mann vollkommen. Es war Cisoph Tonk, der Leiter der Abteilung Schiffsverteidigung. Der ziemlich klein gewachsene Terraner ließ die nutzlose Waffe fallen und warf sich mit bloßen Fäusten auf den Metallkörper. Tonk war sehr athletisch gebaut und muskulös, enorm stark, ein reines Muskelbündel, und konnte eine nahezu perfekte Nahkampfausbildung vorweisen, beherrschte Karate, Judo und Dagor. Aber gegen den Roboter hatte er nicht die geringste Chance. Ein Fesselfeld stoppte ihn und riss ihn unsanft hoch. Er hätte es wissen müssen!, dachte Lethem. Tonk war das älteste Mitglied der regulären Besatzung der TOSOMA und wohl auch das mit der meisten Lebenserfahrung. Offenbar schien jeder der Tentakel arme der Roboter mit Waffen- und Fesselfeldprojektoren ausgerüstet zu sein, denn das Metallei, das Lethem gepackt hielt, raste auf die Container zu, die zu einem behelfsmäßigen Lager hatten werden sollen, und sammelte weitere Besatzungsmitglieder ein. Der Roboter hielt reiche Ernte; Lethem sah, dass er immer mehr Besatzungsmitglieder erfasste, bis schließlich auch der letzte Tentakelarm eine Last beförderte und der Ovalroboter von einer Traube aus zwölf Arkoniden und anderen Wesen umgeben war, die genauso bewegungsunfähig wie Lethem selbst den atemberaubend schnellen Flug mitmachen mussten. Der Roboter änderte den Kurs und entfernte sich vom Lager. Er reagierte auf keinerlei Rufe Lethems, fast so, als sei in seiner Programmierung eine Kommunikation nicht vorgesehen. Lethem versuchte zu schätzen, wie lange der Flug dauerte und welche Distanz der Roboter dabei zurücklegte. Es war ihm nahezu unmöglich, aber es mussten Dutzende Kilometer sein. Und er konnte sich kaum Landmarken einprägen. Die Ansammlung von Wracks und gestrandeten Raumern war schlicht und einfach unüberschaubar.
Immer mehr Schiffe tauchten vor ihm auf, bekannte Modelle von Milchstraßenvölkern, aber
auch ihm völlig fremde Typen, die er noch nie gesehen hatte und die auch in keiner ihm
bekannten Datenbank verzeichnet waren.
Allmählich bekam Lethem es mit der Angst zu tun. Wohin brachten die Roboter sie? Weg von
der Ebene der gestrandeten Raumschiffe, so viel war klar.
Scaul Falks Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Hier stehen jede Menge Raumschiffe, aber
kein einziges Lebewesen ist zu sehen!
Aber welches Ziel hatten sie? Und was hatten sie mit ihnen vor?
Schließlich markierte ein blaues Funkeln den Rand der Ebene. Ein See? Und dahinter erhob
sich ein seltsam anmutender Berg mit einer Höhe, die Lethem auf vielleicht 800 Meter schätzte.
Aus der Ferne sah er aus wie ein kegelstumpfförmiger Berg oder wie eine überdimensionale
Hochzeitstorte.
Der Ovalroboter hielt genau auf den See zu und erreichte ihn kurz darauf. Lethem spürte einen
leichten Rück, doch der Flug ging mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Als der Berg größer wurde, konnte Lethem weitere Einzelheiten ausmachen. Hätte er sich
bewegen können, hätte er wohl vor Überraschung laut aufgeschrieen, doch er konnte noch
immer keinen Finger rühren, nicht einmal den Mund öffnen.
Der See war eher ein Meer, und der Berg war in Wirklichkeit eine gewaltige Stadt!
Sie lag direkt an einer Meeresbucht, und ihr Aussehen war schlichtweg bizarr. Über
Jahrtausende hinweg schienen die Erbauer eine Schicht nach der anderen zu einer
Stufenpyramide aufgetürmt zu haben. Lethem zählte vier, sechs, acht dieser Ebenen, die
unterste mit einem Durchmesser von vielleicht zwei Kilometern, während die oberste, achte, nur
gut 100, maximal 150 Meter breit war.
Lethem boten sich zu viele Eindrücke, als dass er sie alle aufnehmen und verarbeiten konnte.
Es würde Tage dauern, diese Stadt zu erkunden. Seinen Blicken bot sich ein ungewöhnliches
Konglomerat von orientalischem Flair und neoklassizistischen Elementen.
Von den umlaufenden Plattformen der Stufen erhoben sich Türme wie gotische Kathedralen
von hundert und mehr Metern Höhe, daneben reihten sich quaderförmige Flachdachgebäude
entlang der Terrassen und geneigten Verbindungsabschnitte zwischen den Stufenplattformen.
Serpentinenwege und ein verschachteltes Labyrinth schmaler Treppengassen verbanden die
einzelnen Elemente.
Der Arkonide sah Kaianlagen und Molen, die weit in die Meeresbucht hinausreichten. In einer
wilden, völlig willkürlich anmutenden Mischung lagen hier Segler, Galeeren und Dampfschiffe
vor Anker. Auf den ersten Blick konnte er jedoch keine Anzeichen für eine Technik ausmachen,
die über das Niveau der Erde des 19. vielleicht beginnenden 20. Jahrhunderts hinausging.
Aber das traf nicht uneingeschränkt zu. Als der Ovalroboter den Stadtrand fast erreicht hatte,
erkannte Lethem vielfältige Maschinen, ovale Maschinenwesen wie die, welche die Besatzung
der TOSOMA gerade verschleppten, aber auch ganz andere Modelle. Sie schienen unentwegt
zu bauen, zu reparieren, fügten hier Erker an, rissen dort halb zerfallene Ruinen ab, überbauten
andere an anderer Stelle.
Und zwischen all dem Gewusel bewegten sich, wie der Arkonide nun sah, Tausende
Lebewesen unterschiedlichster Herkunft in einem Treiben wie auf einem orientalischen Basar.
Während die Roboter ihre Aggregate offenbar problemlos einsetzen konnten, mussten sich die
Bewohner der Stadt jedoch mit rein mechanischer Primitivtechnik begnügen.
Der Ovalroboter wurde merklich langsamer und setzte dann am Stadtrand auf. Lethem spürte,
wie er sanft hinab gelassen wurde, bis seine Füße schließlich wieder festen Boden berührten.
Das Fesselfeld, das ihn umgab, erlosch, und er konnte sich wieder bewegen. Er hörte Rufe,
verwirrte Schreie, auch seine unfreiwilligen Begleiter waren wieder frei.
Langsam schwebte der Roboter auf seinem Prallfeld davon, in die Richtung, aus der er
gekommen war.
Warte!, rief Lethem. Was hat das zu bedeuten? Wohin hast du uns gebracht?
Er setzte dem ovalen Gebilde nach, gab den sinnlosen Versuch jedoch nach wenigen Schritten wieder auf. Zum einen reagierte der Roboter nicht, zum anderen war er zu schnell für den Arkoniden. Schwer atmend blieb Lethem stehen. Weitere Roboter näherten sich, setzten ihre lebende Fracht ab und zogen sich ebenfalls ohne weitere Erklärungen zurück. Lethem drehte sich um. Zwischen den Gebäuden und Gemäuern am Stadtrand machte er Bewegungen aus. Die Aktion war nicht unbemerkt geblieben. Die ersten Bewohner rückten an, um die Neuankömmlinge zu beäugen. Lethem fragte sich, was die Besatzung der TOSOMA erwartete. Sie waren allesamt waffenlos, trugen nur das am Leib, was sie bei sich gehabt hatten, als die Roboter erschienen waren. Einen Augenblick lang gingen ihm düstere Gedanken von Sklaverei und lebenslanger Knechtschaft durch den Kopf. Misstrauisch beäugte er die Neuankömmlinge. Es waren Humanoide mit hellen Haaren und auffälliger Bronzehaut. Sie kamen Lethem fremd, aber gleichzeitig auch vertraut vor, als hätten sich bei ihnen Merkmale aller menschenähnlichen Völker zusammengefügt, die je in der Milchstraße gelebt hatten oder noch lebten. Was durchaus der Fall sein kann. Er dachte an die unzähligen Raumschiffswracks auf der Ebene. Die Stadtbewohner trugen zumeist weite, dunkelbraune Hosen und Jacken, die zu Lethems Erleichterung kaum an Umformen erinnerten. Ihre Füße steckten in Sandalen, und keiner der Männer und Frauen schien bewaffnet zu sein. Der Erste blieb stehen und sagte etwas. Zuerst verstand Lethem kein Wort, doch dann horchte er auf. Er erkannte in den Sätzen lemurische und akonische Elemente, aber auch Brocken aus dem Interkosmo und etliche andere in der Milchstraße bekannte, wenngleich stark entstellte Dialekte. Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Angesichts der Raumerwracks war es wenig verwunderlich, dass sich hier ein Idiom gebildet hatte, das Anleihen aus allen möglichen Sprachen genommen hatte. Schon nach wenigen Minuten verstand er fast alles, was sein Gegenüber sagte, obwohl es ihm noch schwer fiel, ein zusammenhängendes Gespräch zu beginnen und mehr als ein unbeholfenes Gestammel von sich zu geben. Mittlerweile hatten sich einige weitere Besatzungsmitglieder zu ihm gesellt. Er merkte ihnen deutlich die Erleichterung an, dass die Stadtbewohner keinerlei feindlichen Absichten zuhegen schienen. Dann erklang ein lautes Poltern hinter den Humanoiden, mit denen er sich um eine Kommunikation bemühte, und zwei von ihnen wurden einfach zur Seite geschoben. Durch die Lücke drängte sich ein Lethem schluckte. Es war ein Überschwerer von fast quadratischer Gestalt, mit einer Körpergröße von etwa 1,70 Metern und einer Breite von bestimmt über 1,40 Metern. Seine Haut schimmerte grünlich-gelb, und der Schädel war wie bei vielen Vertretern seines Volkes haarlos und zeigte bräunliche Flecken. Der in zwei Zöpfe geflochtene Bart wies das typische Feuerrot seiner Springervorfahren auf, war jedoch mit silbrig grauen Strähnen durchsetzt. In einem grobschlächtig wirkenden Gesicht funkelten kleine rotbraune Augen, von deren Winkeln zahlreiche Falten ausgingen; andere furchten die Stirn. Er trug einen ockerfarbenen, einer Toga ähnlichen Überwurf und Sandalen, und über seinen Rücken hatte er einen leinenen Sack geworfen. Ich bin Umrin Zeles Barbinor, sagte er mit dröhnender Stimme. Willkommen auf Viingh, der Insel der Verdammten!
Wir erreichten die zyklopischen Ruinen des Felsbuckels, ohne auf Wasser gestoßen zu sein. Allmählich wurden die Vorräte unserer leichten Schutzanzüge knapp. Ich legte den Kopf zurück. Die Ruinen bestanden aus unterschiedlich großen, aber allesamt riesigen Steinquadern, die Riesen aufeinander gesetzt zu haben schienen. Sie schienen Gebäude gebildet zu haben, die zum Teil jedoch im Verlauf der Jahrhunderte oder Jahrtausende eingestürzt oder unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen waren. Teilweise konnte ich noch so etwas wie Umrisse oder Strukturen erkennen, teilweise boten sich unseren Blicken lediglich weitläufige Felder aus umgestürzten und ohne jede Ordnung daliegenden bearbeiteten und glatt geschlagenen Felsbrocken. Wir untersuchten die Quader mit unseren beschränkten um nicht zu sagen, so gut wie nicht vorhandenen Hilfsmitteln, entdeckten jedoch nichts, was uns weiterhelfen konnte. Abgesehen von den auf welche Weise auch immer bearbeiteten Quadern selbst gab es keine Spuren, keine Einrichtungsgegenstände oder sonstige Hinterlassenschaften, die auf die Erbauer schließen ließen. Bei der Größe der Ruinen hatte ich schon bald den Eindruck, in ein wirres Felslabyrinth eingedrungen zu sein. Dank meines fotografischen Gedächtnisses hatte ich keine Probleme mit der Orientierung, doch ich fragte mich, wie Jorge Javales sich in diesem Irrgarten fühlen musste. Wie eine Ratte im Labor ? Mit Hilfe, unserer Seile gelang es uns, einen etwa fünf Meter hohen Quader zu erklimmen. Aber auch die Oberseite gab uns keine weiteren Hinweise. Immerhin hatten wir von hier oben einen wesentlich besseren Ausblick, und ich bemerkte auf einigen der höher gelegenen Steinquader seltsame Gebilde, die mich, von unten betrachtet, an überdimensionierte Suppenteller erinnerten. Sie waren dunkler als die braunen Steinquader und schienen nicht aus Gestein zu bestehen. Ich kniff die Augen zusammen, konnte aber keine Einzelheiten erkennen. Dennoch brauchte ich nicht die Hilfe des Extrasinns, um zu ahnen, worum es sich dabei handelte. Offenbar hatten die Flugsaurier hier ihre Horste. Ich sah zum Himmel, doch er war sternen- und flugsaurierlos. Zerfaserte Wolken drifteten rasch vorüber, bedeckten mit ihren Ausläufern halb die Sonne. Grünlich blaue Schatten fielen über das Land, Wind trieb Sand- und Staubschleier über das Savannengras. Wir sollten uns zurückziehen, sagte ich zu Javales, bevor wir ungebetenen Besuch bekommen oder man uns als ungebetene Gäste ansieht. Oder als Eierräuber Langsam drehte ich mich um die eigene Achse, schaute wieder zur Savanne machte dort noch etwas aus drehte mich weiter und sah dann Jorge entgegnete etwas, aber ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Ich hatte noch etwas anderes entdeckt, am Fuß eines Quaders, ganz in der Nähe. Komm mit! Schnell!, sagte ich und machte mich an den Abstieg. Es waren zwei Skelette, die dort lagen, scheinbar friedlich nebeneinander ausgestreckt, als hätten sich dort zwei Wesen zum Sterben gebettet, und zwar vor geraumer Zeit. Die Knochen wirkten wie poliert; Fleisch, Muskeln und Sehnen waren längst verfallen. Bei beiden bestand nicht der geringste Zweifel. Der Schädel mit den typischen Augenhöhlen, Schlüsselbein, Schulterblatt und Brustbein, die wie ein S geschwungene Wirbelsäule mit 33 Knochen, die dem Körper nicht nur die nötige Stützkraft für den aufrechten Gang verlieh, sondern gleichzeitig ein hohes Maß an Elastizität. Sieben echte, drei falsche und zwei frei endende Rippen. Die Oberarmknochen, darunter Ellen, Speichen und Handwurzelknochen. Becken, Kreuzbein und Steißbein aus mehreren miteinander verschmolzenen Wirbeln, darunter Oberschenkelknochen, Kniescheiben, Schien- und Wadenbeine, Fußgelenke aus jeweils sieben Fußwurzelknochen. Um ganz sicherzugehen, kniete ich nieder und untersuchte das erste Skelett sorgfältig. Die Wirbelsäule bestand aus sieben Halswirbeln, zwölf Brustwirbeln, fünf Lendenwirbeln, fünf
Kreuzbeinwirbeln und dem Steißbein aus hier vier Steißwirbeln. Insgesamt verfügte das Skelett über 206 Knochen, von denen sich die Hälfte erwartungsgemäß in den Händen und Füßen befand. Zehenknochen, Fingerknochen, Halswirbel, Mittelfußknochen alles war vorhanden. Das ist ein menschliches Skelett, sagte Javales. Ich gab nur ein nichts sagendes Hmm! von mir. Das zweite Skelett war mit dem ersten fast identisch. Der Schädel war etwas länger gezogen, der Körper etwas höher gewachsen, und anstelle von Rippen verfügte es über die charakteristische Knochen- und Knorpelbrustplatte. Und dieses hier ist das Skelett eines Arkoniden? Javales war Archivar, kein Exobiologe. Nicht unbedingt, beantwortete ich beide Aussagen gleichzeitig! Die Arkoniden sind von der äußeren Gestalt zwar völlig humanoid und unterscheiden sich nur durch die Brustplatten und minimal durch den Schädel von Terranern, doch nicht nur sie haben anstelle von Rippen diese Platte, sondern auch die Akonen. Und das andere Skelett muss nicht unbedingt das eines Terraners sein. Es könnte auch das eines Lemurers sein. Die Haut der Lemurer war samtbraun, das Haar dunkel. Ansonsten gab es keine körperlichen Unterschiede zu den Terranern der Jetztzeit. Die Lemurer waren unsere Vorfahren, hielt Javales dagegen. Sie sind seit über fünfzigtausend Jahren ausgestorben. Ich sah ihn an. Wir leben in einem unendlichen, wunderbaren Universum. Erst vor wenigen Tagen ist der Lemurer Nevus Mercova-Ban im Stahlmond aus der Konservierung erwacht. Warum sollte es nicht mehr davon geben? Oder aber Frühlemurer haben sich in einem Generationenraumschiff mit unterlichtschnellem Antrieb auf eine Reise zu einem anderen Sonnensystem gemacht. Wenn sie irgendwann fast einhundert Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht haben und die Zeitdilatation berücksichtigt wird Javales nickte. Schon klar. Dann könnten sie heute noch leben. Und Omega Centauri wurde von den Lemurern erkundet, fuhr ich fort. Aber es könnte auch das Skelett eines Tefroders sein, der Nachfahren der Lemurer. Die nach Andromeda ausgewandert sind. Ich deutete zum Himmel. Woher willst du wissen, dass wir uns nicht in Andromeda oder dem Leerraum zwischen den Sterneninseln der Lokalen Gruppe befinden? Die Tefroder haben als Lemur-Nachkommen eine verkümmerte drüse als Bestandteil des Kleinhirns, das doppelt so groß ist wie das menschliche. Hier liegt der einzige wirkliche anatomische Unterschied zwischen Tefrodern und Terranern. Nein, lediglich anhand des Skeletts kann man Terraner weder von Lemurern noch von Tefrodern unterscheiden. Ich verteidige keine unhaltbaren Positionen, sagte Jorge. Schon gut, sagte ich. Der Schluss, dass es sich um das Skelett eines Arkoniden und eines Terraners handelt, liegt nahe. Viel wichtiger ist aber eine ganz andere Frage. Wie sind die beiden Wesen hierher gekommen? Und wer von ihnen hat die Scaffrans mitgebracht? Oder ist das eine Skelett doch das eines Lemurers? Denn die haben Hayok ursprünglich besiedelt In diesem Augenblick erklang das hohe, wütende Kreischen aus unmittelbarer Nähe. Ich verfluchte meine Unaufmerksamkeit und warf mich zu Boden. Keinen Sekundenbruchteil zu früh. Ich spürte einen Luftstoß, der mich von den Beinen gerissen hätte, hätte ich nicht schon flach auf dem Bauch gelegen, reckte den Kopf zur Seite und erkannte verschwommen einen mächtigen Oberkörper. Er rauschte über mich hinweg und verschwand aus meinem Blickfeld. Hinter mir wurden Gebeine, die seit Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten friedlich, wenn auch unbestattet geruht hatten, auf- und durcheinander gewirbelt. Zumindest im Tod vereinigten sich nun Arkoniden und Terraner. Oder Akonen und Tefroder. Javales!, dachte ich. Der Archivar war alles andere als ein Kämpfer, auch wenn er notfalls seinen Mann stand. Das hatte er bewiesen, als an Bord der Vergessenen Plattform die Spinnenroboter über uns hergefallen waren.
Sein lauter Schrei bewies mir, dass er noch lebte. Nicht bewegen!, rief ich. Das würde den Burschen da oben nur noch wütender machen! Wahrscheinlich ist es kein Bursche, sondern ein Mädchen, das seinen Horst schützen will! Mich beruhigte, dass der Extrasinn sich zu solch einer Bemerkung hinreißen ließ und mir keinen praktischen Ratschlag gab. Also ging er davon aus, dass ich diese Situation aus eigener Kraft und ohne seine Hilfe bewältigen konnte. Ich rollte mich auf den Rücken. Allzu schnell würde ich den Kopf des Tiers, ein sich verjüngendes, armdickes Gebilde mit einem Dreieck am Ende, das hin und her peitschte, und die roten Augen darin, mit denen der Saurier auf mich heruntergestarrt hatte, nicht vergessen. Im nächsten Augenblick näherte sich das Geschöpf wieder. Nun konnte ich es genau erkennen, sah den unförmigen Körper, die großen, aber hauchdünnen Flügel. Das Tier legte den Kopf schräg und beäugte mich. Sein Oberkörper schien sich aufzuplustern, und ich vernahm das Rascheln der ledrigen Schwingen. Sie greift wieder an! Ich spannte den Körper, warf mich zur Seite und rollte herum. Der Saurier schwebte fauchend und mit ausgebreiteten Schwingen und vorgestrecktem Kopf über mir. Dann stürzte er sich auf mich. Ich konnte dem mächtigen Schnabel gerade eben noch ausweichen und sprang auf. Der Flugsaurier war dem Boden zu nahe gekommen, hatte landen müssen. Ich setzte darauf, dass er sich nicht mehr in seinem eigentlichen Element befand und sich nur noch schwerfällig bewegen konnte. Aber ich sollte eines Besseren belehrt werden. Die Echse jagte mit vorgestrecktem Kopf hinter mir her. Sie setzte die mit spitzen Stacheln bewehrten Flügelenden wie Stöcke ein, mit denen sie sich abstieß, und holte rasch auf. Sie brauchte nur noch auf den Gedanken zu kommen, ihrer Beute seitlich den Weg abzuschneiden, dann wäre es um mich geschehen. Meine Hand tastete nach dem unbrauchbaren Aggregatgürtel. Ich fühlte mich so hilflos wie selten zuvor, rannte weiter, schlug einen Haken. Der Schnabel des Tiers rammte mit ungeheurer Wucht wieder herab, und ich hechtete vorwärts, rollte mich ab, kam mit derselben Bewegung wieder auf die Beine und sprang in die fadenscheinige Deckung eines der zahlreichen Steinquader. Zwei Sekunden später schoss der Flugsaurier um die Ecke des Quaders, verfing sich aber mit einer Flügelspitze, schleuderte unter lautem Geschrei herum und kreiselte zweimal. Ich riss das Messer aus der Gürtelscheide und stürzte mich von hinten auf die Echse, die sich gerade aufrappeln wollte. Sie breitete die Schwingen aus und richtete den Oberkörper auf, reckte den Hals mit dem erstaunlich kleinen Kopf, dessen weit geöffneter Rachen heiser krächzte. Einen Augenblick lang befürchtete ich, dass der Flugsaurier sich in die Lüfte schwingen könnte mit mir auf dem Rücken, um mich emporzutragen und dann in großer Höhe abzuschütteln. Meine Klinge blitzte auf. Ich überlegte nicht, wo das Herz saß, stieß einfach zu und verfehlte mein Ziel. Die Echse schlug mit den Flügeln um sich, verrenkte den Hals und versuchte, nach mir zu schnappen. Aber meine Position auf dem Rücken des Tiers war so günstig, dass der Flugsaurier nur hoffen konnte, mich abzuwerfen. Ich stach erneut zu, aber diesmal nicht in den Körper, sondern in eine Schwinge. Die Klinge fuhr durch die dünne Flughaut wie durch Papier. Der Flugsaurier stieß einen markerschütternden Schrei aus und bäumte sich so heftig auf, dass ich abgeworfen wurde. Ich rappelte mich sofort wieder hoch, hob die Hand mit dem Messer und blickte in die großen roten Augen. Offenbar war es eine völlig neue Erfahrung für das Tier, einem Wesen meiner Größe zu begegnen, das sich wehren konnte. Ich hatte es schwer verletzt; es war fraglich, ob es sich noch einmal in die Lüfte schwingen konnte.
Aber der Saurier war instinktgetrieben, versuchte lediglich, sein Gelege mit seinen Jungen oder Eiern zu schützen. Die Zeit schien stillzustehen. Wir sahen uns in die Augen, und wir sahen darin beim jeweils anderen die Bereitschaft, den Gegner zu töten. Und dann etwas anderes. Die Bereitschaft, den anderen zu verschonen, falls es möglich sein sollte. Auch wenn es nicht der arkonidischen Mentalität entsprach, einem Feind nicht den entscheidenden Schlag zu versetzen, wenn er hilflos am Boden lag, trat ich einen Schritt zurück. Einen Moment lang fragte ich mich, ob mich der Umgang mit den Terranern tatsächlich weich gemacht hatte und ich mein Handeln im nächsten Moment bereuen würde, sollte der Flugsaurier mit seinem Schnabel zustoßen, einer immer noch tödlichen Waffe. Und ob ich mich eingedenk der neuen Umgebung vielleicht für einen edlen Wilden hielt, der auf einen nicht vorhandenen Einklang zwischen Arkonide und Natur hoffte. Dann watschelte der Flugsaurier ebenfalls einen Schritt zurück und begann, mit den Schwingen zu schlagen, und es gelang ihm trotz der Verletzung tatsächlich, sich in die Luft zu erheben. Ich wirbelte zu dem wie erstarrt dastehenden Javales herum, riss ihn mit mir und lief der Savannenebene entgegen. Der Flugsaurier kreiste am Himmel, ohne noch einmal auf uns herabzustoßen. Ein zweiter gesellte sich hinzu, beschränkte sich aber darauf, über uns zu kreisen und uns zu beobachten. Unbehelligt erreichten wir die Ebene mit dem hohen, scharfrandigen Savannengras, unter dem tödliche, gefräßige, Fleisch fressende Termiten auf ihre potenziellen Opfer warteten. Am Fuß des Felsbuckels entdeckten wir schließlich eine kleine Quelle. Javales stürzte darauf zu, doch ich hielt ihn zurück. Tut mir Leid, sagte ich. Du kannst deinen Durst noch nicht stillen. Ich zuerst. Und das gilt auch für alles, was wir an vermeintlich Essbarem finden. Der Archivar sah mich an, nickte dann jedoch. Dein Zellaktivator. Genau. Ich bin gegen Gifte und Verunreinigungen geschützt und werde die Rolle des Vorkosters übernehmen. Bis wir herausgefunden haben, was wir gefahrlos essen können, wirst du mit dem geringen Konzentratriegelbestand auskommen müssen. Jorge war kein ultraharter Elitesoldat von der sausenden Sternenpatrouille, aber ebenso wenig dumm. Er nickte zögernd. Vielleicht war er auch nur zu erschöpft, um mit mir zu argumentieren. Der harte Tag forderte seinen Tribut. Ich seufzte leise. Ich sah noch ganz andere Probleme auf mich zukommen. Angesichts von Jorges zwei linken Händen würde ich früher oder später gezwungen sein, Primitivwaffen zu bauen und auf die Jagd zu gehen. Aber jetzt mussten wir uns um ganz andere Dinge kümmern. Ich schaute zum Himmel. Die Sonne würde bald untergehen, und wir mussten dringend ein Nachtlager errichten. Ich hielt es für unbedenklich, am Rand der Savanne ein Feuer zu machen. Wahrscheinlich errichteten die tödlichen Riesentermiten ihre Gänge lediglich in dem sumpfigen Gelände und sicherten sie mit Hilfe ihres Sekrets vor dem Einstürzen. Solche Flecken gab es in der Savanne womöglich überall, und ich achtete darauf, den Boden sorgfältig auf seine Festigkeit zu überprüfen, bevor ich mich für eine einigermaßen sicher wirkende Stelle entschied. Feuerholz war schnell gesammelt, und wir kannten uns mittlerweile auch mit den unterschiedlichen Grasarten gut genug aus, um auf Anhieb weiche, harmlose Sorten zu finden, die wir zu behelfsmäßigen Unterlagen flechten konnten. Als schließlich die Nacht hereinbrach, traf genau das ein, was ich erwartet hatte. Schon während der Dämmerung hatte ich immer wieder nach oben gesehen, um trotz der orangefarbenen Sonne vielleicht Sternbilder ausmachen zu können, aber ohne den geringsten Erfolg. Fällt dir nichts auf?, fragte ich den Archivar.
Javales sah mich fragend an und zuckte die Achseln. Ich deutete nach oben zur Schwärze. Am Firmament ist kein einziger Stern erschienen. In der Dämmerung waren lediglich zwei kleine, schwach leuchtende Scheiben am westlichen Himmel aufgetaucht, zweifellos zwei der fünf Planeten dieses Systems, aber auch sie waren schon wieder untergegangen. Vielleicht hat die Zwangstransition durch das Sonnendodekaeder die Plattform in einen der lemurischen Leerraum-Sonnentransmitter verschlagen? Das würde zwar das Fehlen von Sternen erklären, hielt ich dagegen, aber eigentlich mussten dann ferne Galaxien zumindest als kleine Lichtflecke erkennbar sein. Siehst du welche? Nein, nichts dergleichen. Außerdem sollten wir uns tatsächlich auf einem Planeten befinden, dessen Gestirn Bestandteil eines Sonnentransmitters ist warum haben wir nur eine Sonne gesehen? Du hast Recht. Immerhin bestehen Sonnentransmitter aus mindestens zwei Sternen. Es blieb dabei, ich konnte am Firmament keinen einzigen Stern sehen, nicht einmal einen Planeten. Meine Gedanken kehrten zu meiner seltsamen Vision zurück. Darin hatte ich ein System mit fünf Planeten auf ein und derselben Umlaufbahn gesehen, und die Reliefdarstellungen auf dem Tor hatten ebenfalls ein solches Sonnensystem gezeigt. Falls diese Welten tatsächlich in gleichem Abstand voneinander um die Sonne kreisten, würden tagsüber die beiden der Sonne am nächsten stehenden Planeten wohl auf jeden Fall vom Muttergestirn überstrahlt werden, und auch die beiden anderen würden vermutlich kaum besonders gut, wenn überhaupt zu sehen sein. Lediglich in der Morgen- und Abenddämmerung würde man sie ausmachen können. Ich konnte sie also nur schwerlich zu einer Zeitbestimmung heranziehen. Aber sie waren zu sehen, wenn auch nur gelegentlich. Und eine Welt, deren Himmel keine Sterne hatte, aber vier Geschwister am Firmament, die man zu unterschiedlichen Zeiten ausmachen konnte welche mythologische Bedeutung mochte dieser Umstand für etwaige Bewohner dieser Planeten haben? Manche Theorien gingen davon aus, dass die Neugier der Menschen, die schließlich zur Erkundung des Universums geführt hatte, hauptsächlich durch den Erdmond geweckt worden war, der groß und irgendwie erreichbar am Himmel stand. Vielleicht hätten die Barbaren von Larsaf III, hätte ihre Heimat nicht über den Mond verfügt, niemals die Sehnsucht verspürt, irgendwann zu den Sternen aufzubrechen. Müßige Spekulationen, knurrte der Extrasinn. Ich gab ihm Recht; ich konnte in der Tat nur Vermutungen darüber anstellen, wie einzelne Kulturen, falls es sie denn gab, die Existenz der Schwesterplaneten mythologisch und sonst wie interpretierten. Eigentlich hielt ich nicht viel von Visionen, Vorahnungen, Bildern, aber die jahrtausendelange Erfahrung hatte mich gelehrt, dass man mitunter durchaus auf sie achten sollte auch vor der Kenntnis diverser normaler Fähigkeiten. Mir war eins klar: Ich würde das Geheimnis dieser Vision ergründen müssen. Wer hatte sie mir eingegeben und weshalb? Wo würde ich diesen Jemand finden? Vielleicht in dem Canyon, den ich gesehen hatte? Ich stand noch immer vor Rätseln, nicht nur was diese Bilder, sondern auch was unseren Aufenthaltsort betraf. Mir war mittlerweile allerdings sehr deutlich bewusst, dass wir unter Umständen viel, viel weiter von Omega Centauri und der heimatlichen Milchstraße entfernt waren, als ich zunächst noch gedacht und gehofft hatte Und das waren keine schönen Aussichten. Umrin Zeles Barbinor schien bewusst deutlich mehr Interkosmo-Brocken als die bronzehäutigen Humanoiden zu verwenden, so dass Lethem den bestimmt über 650 Kilogramm schweren Koloss problemlos verstand.
Der Arkonide beäugte den Überschweren misstrauisch. Seine Spezies hatte in der Milchstraße nicht gerade den besten Ruf. Aber Umrin kam ihm nicht gerade wie ein kriegerischer Söldner vor, und für seine Körpermaße konnte er ja nichts. Viingh?, wiederholte Lethem. Die Insel der Verdammten? Der Überschwere lachte laut auf. Die üblichen Fragen! Alle Neuankömmlinge stellen sie. Warum sollte es ausgerechnet bei euch anders sein? Ja, diese Insel heißt Viingh. Sie ist rund achthundert Kilometer lang und vierhundertundfünfzig breit, und auf ihr werden alle Raumer geparkt, die es in die Obsidian-Kluft verschlagen hat. Lethem war sich ziemlich sicher, welche Frage normalerweise als zweite folgte, und stellte sie deshalb nicht. Stattdessen deutete er auf die Stadt hinter ihnen. Viinghodor, sagte der Überschwere. Aber erzählt! Woher kommt ihr, und wieso seid ihr hier gelandet? Was ist mit euch passiert? Eine lange Geschichte, wich der Arkonide aus. Wieso interessierst du dich dafür? Bist du Informationshändler? Umrin lachte erneut. Informationshändler? Auweia! Ich bin Barde, du Ignorant. Und zwar nicht nur ein, sondern der Barde. Ich will mich ja nicht rühmen, aber in ganz Viinghodor gibt es wohl kaum einen Geschichten- und Legenden-Erzähler, der so angesehen ist wie ich. Barde, dachte Lethem verwundert. Also doch so etwas wie ein Informationshändler. Er sammelt Neuigkeiten und verarbeitet sie zu Gesängen, und wenn er einigermaßen gut ist, kann er sich bestimmt eines interessierten Publikums sicher sein. Kein Wunder, dass er sich für uns interessiert. Wir sind wohl die Neuigkeit überhaupt. Lethem beschloss, sich auf das Spiel einzulassen, und grinste den Überschweren an. Du beantwortest mir meine dringlichsten Fragen, sagte er, und dann setzen wir uns gemütlich zusammen, und ich erzähle dir alles, was du wissen willst. Einen Moment lang flackerte es misstrauisch in Umrins Augen, dann lachte er wieder. Einfach so? Nichts gegen dich, Arkonide, aber so ein Austausch Zug um Zug wäre mir lieber. Einfach so. Vertrauen gegen Vertrauen. Der Überschwere holte aus und schlug Lethem auf die Schulter. Oder deutete den Schlag zumindest an. Hätte er sich nicht zurückgehalten, wäre der Arkonide wohl mit einigen Knochenbrüchen zusammengeklappt. Na schön. Du bist ein Männlein nach meinem Geschmack, Arkonide. Und du entkommst mir sowieso nicht. Ihr seid seit Jahrzehnten die ersten Neuankömmlinge, und ich werde euch überall in Viinghodor finden. Und wer waren die Letzten vor uns? Mograks, sagte Umrin. Etwas abfällig, wie Lethem herauszuhören glaubte. Und ShahanoLemurer, die es durch extreme Hyperstürme hierher verschlagen hat. Beiden Völkern war die TOSOMA in Omega Centauri begegnet. Und dann ist es ihnen so ergangen wie uns? Der Überschwere nickte. Ja. Alle Gestrandeten werden von den Ovalrobotern eingesammelt, nach Viinghodor gebracht und dann sich selbst überlassen. Was hat es mit diesen Robotern auf sich? Wer steuert sie, wer erteilt ihnen Befehle? Umrin verzog das Gesicht. Das weiß niemand. Bis zu einem gewissen Grad stellen sie und andere Roboter die Versorgung sicher und fungieren als Baumaschinen, doch sie reagieren auf keine Kontaktversuche. Tief im Inneren der Bergstadt muss es mächtige Maschinen und Aggregate geben, aber die Ovalroboter bewachen sie, und niemand konnte je zu ihnen vordringen. Lethem horchte interessiert auf. Wann habt ihr es zum letzten Mal probiert? Der typische Schneid der Arkoniden. Umrin schüttelte den Kopf. Natürlich hat es ungezählte Versuche gegeben, sich der Technik der Maschinen zu bemächtigen, doch es ist niemals gelungen. Sie hüllen sich stets in undurchdringliche Schutzfelder und sind unangreifbar. Und sie
hindern uns daran, in die Kavernen einzudringen. Also kommt niemand hinein. So einfach ist das. Vergiss es Lethem da Vokoban, sagte Lethem. Oh, ein Arkonide von Adel. Also vergiss es, Lethem da Vokoban, auch euch wird es nicht gelingen. Auf diese Idee kommen alle Neuankömmlinge. Außerdem ist es wohl nicht besonders klug, in die Kavernen einzudringen, denn von dort stammen die Nahrung, die Kleidung und die einfachen Gebrauchsgegenstände, die die Roboter an die Stadtbewohner verteilen. Und wie sagt ihr Arkoniden so schön? Man sollte keine schlafenden Bekkar wecken. Oder so ähnlich, sagte Lethem. Die Roboter verteilen also überlebenswichtige Güter? Umrin zuckte wieder die Achseln. Sie legen sie eher achtlos in Zugängen ab. Und die Roboter verhindern wahrscheinlich auch, dass wir zu den Raumschiffen zurückkehren können? Ja. Sie bewachen die Ebene der Wracks strengstens. Das kannst du also auch vergessen, Lethem. Keinem ist es je gelungen, dorthin vorzudringen. Ausgesandte Expeditionen wurden stets von den Ovalrobotern zurückgebracht. Somit konnten wir die Wracks leider auch nicht ausschlachten. Und woher die Roboter stammen, wer die ursprünglichen Erbauer waren das alles ist unbekannt? Leider, sagte der Barde seufzend. Aber erst einmal genug der Worte. Wir Viinghodorer sind für unsere Gastfreundschaft berühmt, und die haben wir sträflich vernachlässigt. Kommt, wir führen euch zu den Gebäuden, die die Roboter für Neuankömmlinge errichtet haben. Dann sehen wir weiter. Er stimmte einen Gesang an, der in Lethems Ohren schauerlich klang, und zog den Arkoniden einfach mit sich. Die Hütten am Stadtrand der untersten Ebene Viinghodors waren zwar primitiv, aber sauber, und sie boten mehr als Platz genug für die gesamte Besatzung der TOSOMA. Überrascht stellte Lethem fest, dass die Gastfreundschaft, von der Umrin gesprochen hatte, nicht nur aus leeren Worten bestand. Stadtbewohner trugen Krüge und Körbe mit Nahrungsmitteln heran, und als sich herumsprach, dass viele der Neuankömmlinge verletzt waren, erschienen zahlreiche Heiler, die Tasia Oduriam bei deren Versorgung unterstützten. Ja, das ist Viinghodor, schwärmte Umrin Zeles Barbinor. Die schönste Stadt auf ganz Vinara! Vinara heißt der Planet?, fragte Lethem. Der Überschwere zeigte ein breites Lächeln. Inzwischen ist er von vielen Millionen Lebewesen bevölkert. Das war früher einmal anders. Und Viinghodor ist seine Hauptstadt. Sie gilt als exterritorial, hat einen fast heiligen Status und ist das bedeutendste Handels- und Informationszentrum dieser Welt. Und alle Bewohner Vinaras stammen von Raumfahrern ab, die hier auf dieser Insel gestrandet sind? Du hast es erfasst. Daher stammt ihr Name die Insel der Verdammten, auch wenn sie längst zum prachtvollen Zentrum der Welt geworden ist. Er griff an seinen Bart. Alte Zöpfe schneidet man hier nicht so schnell ab. Hurakin trat zu ihnen. Die sonst so auffallend hellroten Augen in seinem faltigen Gesicht schienen stumpf geworden zu sein. Wir haben durchgezählt, sagte er. Die Roboter sind auch ins Schiff eingedrungen und haben die gesamte Besatzung der TOSOMA hierher gebracht. Niemand ist im Raumer zurückgeblieben. Hat es Tote gegeben? Nein. Hurakin schüttelte den Kopf. Sie waren sehr behutsam beim Transport der Verletzten und scheinen sorgsam darauf geachtet zu haben, dass sich deren Zustand nicht verschlechtert. Bei einigen besonders schweren Fällen, bei denen akute Lebensgefahr bestand, scheinen sie sogar erste Hilfe geleistet zu haben, aber das müssen wir noch genau klären. Da liegen teilweise widersprüchliche Aussagen vor.
Ich habe es euch doch gesagt!, dröhnte Umrin. Die Roboter leisten ganze Arbeit. Ich habe nicht an deinen Worten gezweifelt, beschwichtigte Lethem den Barden. Erzähl mir mehr von Vinara! Es ist eine prachtvolle Welt!, schwärmte der Überschwere geradezu. Im Verlauf ungezählter Jahrtausende sind die Nachkommen der Gestrandeten ausgezogen, um den einzigen Großkontinent des Planeten zu besiedeln und zu erforschen. Längst haben sich Tausende Reiche und Stadtstaaten gebildet, es gibt Bündnisse, Intrigen, sogar Kriege
Das normale Leben halt Umrin sah ihn zweifelnd an und lachte dann gellend. Die Bewohner unserer Welt nennen sich Viin. Dampfschiffe, Segler und Galeeren halten die Verbindung aufrecht, Karawanen ziehen durch die gewaltigen Länder, über die Pässe des Obsidian-Gebirges im Zentrum des Riesenkontinents Viina. Und es ist eine wunderbare, aber auch geheimnisvolle Welt. Sagen und Legenden berichten von mysteriösen Technostädten, von rätselhaften Orten der Kraft, von leuchtenden Säulen, die sich zum Himmel und sogar bis zum Kristallmond spannen, von absonderlichen Geschöpfen, die besondere geistige Kräfte haben und auch von Plätzen, an denen sich die Juwelen der Obsidian-Kluft befinden. Einerseits sind das gefürchtete und gemiedene Orte, weil es dort zu absonderlichen Phänomenen kommt, andererseits stellen sie aber auch Tore dar, durch die man die Spiegelwelten betreten kann. Der Spiegelwelten? Und was ist die Obsidian-Kluft? Nun, die Obsidian-Kluft ist die Schwärze, in die unsere Welten eingebettet sind, und die Spiegelwelten sind jene vier anderen Planeten der Sonne Verdran, die im Laufe der Zeit ebenfalls von hier Gestrandeten besiedelt wurden. Man kann sie über die Obsidian-Tore erreichen vorausgesetzt, man weiß sie zu bedienen! Technostädte, Orte der Kraft, Obsidian-Kluft und Weltentore Lethems Kopf schwirrte. Er bezweifelte, dass alles, was Umrin zu erzählen wusste, hundertprozentig der Wahrheit entsprach, aber es war spannend und farbenprächtig. Und er ging davon aus, dass hinter den Vinara-Legenden zumindest ein Körnchen Wahrheit steckte. Wahrheit, die sich vielleicht benutzen ließ, um den oder die Herrscher dieser Welten ausfindig zu machen und zur Rede zu stellen. Oder zumindest die TOSOMA wieder flott zu machen und mit ihr zu versuchen, dieses Gefängnis zu verlassen. Andererseits dagegen sprach, dass wohl die meisten, wenn nicht sogar alle Besatzungen der Schiffe, die vor ihnen hier gestrandet waren, solche Versuche ebenfalls unternommen haben dürften und damit gescheitert waren. Und mit jedem Satz, den Umrin von sich gab, warf er in Lethem eine neue Frage auf. Warum wurden die anderen Planeten des Systems Spiegelwelten genannt? Wer hatte die ObsidianTore geschaffen, falls es sie denn tatsächlich gab, und zu welchem Zweck? Wer oder was steckte hinter alldem, wer hatte dieses System geschaffen, und wozu hatte es ursprünglich gedient? Lethem wandte sich mit seinen Fragen an Umrin. Das vermag niemand zu sagen, antwortete der Barde, selbst der von Geheimnissen umgebene Herr der Welten nicht, der Uralte Sardaengar. Sardaengar? Angeblich lebt er in der Gebirgsbastion Grataar im Herzen des Ograhan-Gebirges, in Mertras, dem Land der Silbersäulen. Man munkelt, dass er seit Urzeiten darum bemüht ist, das Rätsel zu lösen, es ihm aber nicht gelungen ist. Und Sardaengar ist ? Mit einer Mischung aus Gutmütigkeit und Erheiterung sah Umrin ihn an. Sardaengar ist einer unserer Götter, sagte er leichthin, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt.
Du meinst, er ist …. Umrin unterbrach ihn mit einem Kopf schütteln und sah ihn geradeheraus an. Ich meine es so, wie ich es sage. Sardaengar ist einer der beiden Götter unserer Welt. Vor sehr, sehr langer Zeit, von der nur noch die Legenden berichten, tobte der Kampf der Götter, eine fürchterliche Auseinandersetzung, bei dem der Uralte Sardaengar den Ewigen Litrak in einer gewaltigen Schlacht besiegte. Doch töten konnte er ihn nicht, denn erstens ist Litrak unsterblich und zweitens müssen alle Bewohner Vinaras und der Spiegelwelten sterben, sollte Litraks Leben tatsächlich einmal enden. Deshalb hat Sardaengar seinen Widersacher verbannt, verbannt in ein Gefängnis im ewigen Eis des Casoreen-Gletschers, aber nicht auf dieser Welt, sondern auf der Spiegelwelt Vinara Drei. Seither gilt Litrak als IUntoter Gott im EisI Lethem biss sich auf die Zunge und erwiderte nichts darauf. Dass der Barde so offen von einem Gott sprach, verwunderte ihn. Er respektierte die religiösen Ansichten anderer und wollte Umrin nicht unnötig vor den Kopf stoßen. Aber für ihn stand fest, dass es sich bei dieser Schilderung lediglich um eine Legende handelte. Sie mochte durchaus auf Tatsachen beruhen, war aber bestimmt im Laufe der Zeit entstellt worden, wie Legenden es nun einmal an sich haben. Aber wenn alle sterben müssen, wenn dieser Litrak einmal stirbt dann ist er doch ein guter Gott und Sardaengar als sein Gegner ein böser? Umrin sah ihn fast mitleidig an. Welcher der beiden ewigen Widersacher nun der Gute oder Böse ist das geht aus den ursprünglichen Legenden nicht eindeutig hervor. Beide haben im Lauf der Jahrtausende ihre Anhänger um sich geschart, und je nach Erzählung oder Glaubensrichtung kann es der eine wie der andere sein. Aber das spielt auch gar keine Rolle. Litrak und Sardaengar bestimmen das Leben in der Obsidian-Kluft, und solange ihr Kampf keinen endgültigen Sieger findet, bleibt die Kluft im Gleichgewicht. Lethem nickte nachdenklich. Mit Mythologien war das immer so eine Sache. Mitunter wurde in ihnen ein einziges Wesen als zwei Seiten der gleichen Medaille oder gar als Zwittergeschöpf dargestellt, das einen inneren Kampf gegen sich selbst austrug was dann auf eine rein symbolische Bedeutung der Legenden hindeuten würde. Wie dem auch sei, für ihn und die Besatzung der TOSOMA blieben diese Legenden vorläufig nur Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt nicht einzuschätzen war. Außerdem hatten sie im Augenblick ganz andere Sorgen. Sie mussten sich in Viinghodor einrichten, vergewissern, dass ihnen hier tatsächlich keine Gefahr drohte, und sich organisieren. Erst dann konnten sie sich anschicken, mehr über die Welt herauszufinden, auf der sie gestrandet waren. Und über ihre Legenden. An oberster Stelle stand aber ein ganz anderes Problem. Unser Anführer Atlan ist mit einigen Begleitern von uns getrennt worden, sagte er zu dem Barden. Wir müssen ihn suchen. Getrennt? Noch bevor unser Schiff zur Landung gezwungen wurde. Dann kann er überall sein, auf jeder der fünf Welten. Falls er überhaupt noch lebt. Findet euch damit ab, dass ihr ihn nie wieder sehen werdet. Jedenfalls nicht so bald. Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Wir werden ihn suchen. Dann solltet ihr mit der ehrwürdigen Maghalata sprechen. Wenn euch jemand helfen kann, dann sie. Aber ich bezweifle es. Wer ist diese Maghalata, und wo finde ich sie? Überall und nirgends. Du kannst dich um eine Audienz bei ihr bemühen, aber es könnte dauern, bis sie dich empfängt. Es gibt aber eine andere Möglichkeit Lethem sah den Überschweren fragend an. Ich bringe dich zu ihr, sagte der Barde lachend. Ich kenne sie gut. Das bezweifelte Lethem nicht. Umrin kannte wohl jeden in Viinghodor.
Der Barde legte Lethem wieder eine Hand auf die Schulter. Behutsam, zurückhaltend. Und auf dem Weg zu ihr, sagte er, wirst du mir jetzt endlich erzählen, wie es euch hierher verschlagen hat. Irgendwie muss ich ja auch meinen Lebensunterhalt verdienen. Lethem nickte seufzend. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Es war weniger die Sorge, in der Nacht von unbekannten Tieren oder Intelligenzwesen angegriffen zu werden, als die Erinnerungen, die mich plagten. Li, meine tote Geliebte, ging mir nicht aus dem Kopf, nicht am Tag und erst recht nicht in den zähen Minuten zwischen Wachsein und Schlaf, die sich dahinzogen und zu subjektiven Ewigkeiten dehnten. Ablenkungen und ein Nachtrauern ließ die Umgebung eigentlich nicht zu, doch ich konnte nicht aus meiner Haut heraus und nur versuchen, diese Gedanken mehr und mehr zu verdrängen bevor sie zu einer ernsthaften Gefahr für mich werden konnten! Zu frisch waren die Ereignisse noch. Und auch bei mir war mitunter der Wunsch der Vater des Gedankens. Ich sah Li, wie sie mich neckend ins Bett lockte, wie wir uns heiß liebten und dann einen guten Wein tranken, einen Nettoruna. Wie wir uns darüber unterhielten, welcher Jahrgang der bessere war der 1156er oder der 1161er eine Szene, mit der sie sich, als ihr Bewusstsein in den zuvor konservierten Körper von Nevus Mercova-Ban geschlüpft war, zu erkennen gab und starb, während ihr eigentlicher Körper, von einem primitiven Speer getroffen Ich stöhnte leise auf und versuchte, an nichts mehr zu denken. Als der Schlaf dann endlich kam, war ich plötzlich ein IandererI. War es ein Erinnerungsschub? Oder eher das, was ich schon bei dem scheinbar ewig ausgedehnten Transportvorgang der Vergessenen Plattform durchgemacht hatte? Es war alles andere als eine normale Transition gewesen, und ich hatte die merkwürdigen Visionen, die sich dabei eingestellt hatten, nicht einordnen können, obwohl sich bei mir das vage Gefühl eingestellt hatte, dass auch sie schon vielleicht Teil der Lebenserinnerungen des Tamrates gewesen sein könnten und sie somit einen Hinweis auf ein früheres Experiment mit dem Sonnendodekaeder oder der Bewusstseinstransferanlage darstellten. Aus den wirren Träumen erwachten und erwuchsen Bilder und Informationen, die eine grundlegende Bedeutung hatten, daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Ich schritt durch einen riesigen Saal auf einen nachtschwarzen, würfelförmigen Maschinenblock in Hausgröße zu. Seine Kantenlänge betrug etwa zwölf Meter, und er war völlig fugenlos, wirkte massig und war scheinbar aus einem Stück gefertigt. Mein Atlan-Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Die Transfermaschine! Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatten blauweiße Blitzentladungen sie umzuckt und Li war gestorben. Aber die Erinnerung an die junge Arkonidin bereitete mir in diesem Augenblick keine Pein, zu beeindruckend waren die Eindrücke, die auf mich einstürmten. Einige kleinere, fremdartig aussehende, an knorrige Wirbelsäulenknochen erinnernde Aggregate umgaben den Würfelblock. Eine fünf Meter breite, transparente Rampe führte bis zur halben Höhe des Würfels hinauf, endete allerdings drei Meter vor dessen Wandung. Genau diese Rampe schritt ich nun hinauf. Und ich war nicht allein. Das sind wirklich ganz erstaunliche Erkenntnisse, Hoher Tamrat. Ich drehte mich zu dem Sprecher um, erkannte ihn als Phyna Turic, einen der bedeutendsten Wissenschaftler seiner meiner! Zeit, ein gut aussehender, schlanker Mann mittleren Alters. Bereits leicht ergraute Haare nahmen dem scharf geschnittenen, ebenmäßigen Gesicht etwas von der Strenge und gaben ihm dafür zusätzliche Würde. Sicher, fuhr Turic fort, schon als wir im Jahr 5700 dha-Tamar das 38. Tamaniums Khäragtam in Hol Annasuntha gründeten, vermuteten wir in dem Kugelsternhaufen etwas Besonderes und hielten ihn für den Überrest einer von Apsuhol teilweise IaufgefressenenI Zwerggalaxis.
5700 dha-Tamar, also seit der Reichsgründung das entsprach dem Jahr 50.700 vor Christus. Hol Annasuntha war Lemurisch für Insel der Geborgenheit. Damit war Omega Centauri gemeint. Und mit Apsuhol die Milchstraße. Unabhängig von allen lemurischen Erkenntnissen ging auch die moderne Wissenschaft der Arkoniden und Terraner davon aus, dass der Kugelsternhaufen ursprünglich einmal eine kleine Galaxis gewesen war, die dann von der viel größeren Milchstraße eingefangen und im Laufe von Millionen von Jahren sozusagen vereinnahmt und integriert worden war. Die ausgiebigen Vermessungen, die unsere Vorfahren und nun auch wir durchgeführt haben, lassen keinen Zweifel übrig. Nevus ich! blieb stehen und aktivierte ein Hologramm. Es zeigte Hol Annasuntha; in leuchtend roter Falschfarbendarstellung waren in dem Kugelsternhaufen zahlreiche Objekte hervorgehoben. Die genaue Analyse hat eine Reihe von sonderbaren Ergebnissen geliefert, die auf eine Art zweite Ebene hindeuten. Hier und da fehlen Sterne und Planeten, die unseren Simulationen über eine Absorption der Zwerggalaxis zufolge vorhanden sein Imüssten! Und wo sind diese Sterne und Planeten geblieben?, fragte Turic. Nevus zuckte die Achseln. Bei einer kosmischen Katastrophe vernichtet?, fragte Turic erneut. Nein. Ich vermute eher, dass sie ähnlich wie die Stahlwelt in den Halbraum, also in Miniaturuniversen, ausgelagert oder in den Hyperraum eingebettet wurden. Aus Turics Blick sprach unverhohlener Zweifel. Noch gibt es keine endgültigen, schlüssigen Beweise dafür, fuhr Nevus fort, bevor der andere seiner Skepsis vielleicht sogar zynisch Ausdruck verleihen konnte, aber das war unter anderem der Grund, mit Hilfe der Sonneningenieure im Jahr 6153 mit dem Bau der besonderen Konstellation des Kharag-Sonnendodekaeders zu beginnen! Die Transmitterfunktionen sollten so geschaltet und variiert werden, dass ein Eindringen in diese ausgelagerten Enklaven möglich würde. Hunderte oder gar Tausende Versuche wurden mit der Zeit unternommen, wirklich erfolgreich schien keiner zu sein. Jedenfalls kehrte keine einzige der abgestrahlten Expeditionen zurück. Über ihr Schicksal konnte niemals Genaueres herausgefunden werden! Nevus sprach hier von nicht unbeträchtlichen Zeiträumen. Das Jahr 6153 entsprach dem des Jahres 50.250 vor Christi Geburt. Vereinzelt materialisierten in der Transmitterzone zwar Materialansammlungen, doch damit ließ sich nicht viel anfangen. Es handelte sich um Obsidian, dessen Herkunft nie geklärt werden konnte. Allerdings war es kein normales Obsidian, sondern eine Sorte, die bis zu einem gewissen Grad hyperphysikalische Aktivität in der Art von Hyperkristallen entfaltete. Und diese Daten. Ich habe sie aus Altberichten zusammengestellt. Die entsprechenden Versuche stammen allesamt aus einer Zeit lange vor meiner Geburt. Der maßgeblich daran beteiligte Wissenschaftler war angeblich der Hohe Tamrat Sardaengar. Ich horchte auf. Schon wieder dieser Name, den ich aus meiner Vision kannte. Ich hoffte, dass Nevus ein Hologramm des Tamrats zeigte, doch offensichtlich stand keins zur Verfügung. Schließlich wurden die Versuche mangels greifbarer Ergebnisse eingestellt. An einem der letzten soll Sardaengar persönlich beteiligt gewesen sein. Leider sind die Aufzeichnungen, auf die ich zurückgreifen kann, höchst unvollständig. Nach jenem Versuch im Jahr 6204 wird der Name Sardaengar jedenfalls an keiner Stelle mehr erwähnt. Vermutlich ist er also wie alle anderen Expeditionsteilnehmer zuvor verschollen. Immerhin ist es ihm noch gelungen, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die fremde Zwerggalaxis von der Sterneninsel eingefangen wurde. Seinen Berechnungen zufolge ist dies vor etwa 546 Millionen Jahren geschehen. Diese Zeitangabe ließ mich aufhorchen. Vor etwa 542 Millionen Jahren, also nach kosmischen Maßstäben und eingedenk dieser Zeiträume kurz darauf, war die so genannte Kambrische Explosion erfolgt. Es war damals nicht nur auf der Erde, sondern auf zahlreichen Planeten der Milchstraße zu einer schlagartigen Ausbreitung des Lebens gekommen.
Innerhalb von rund 40 Millionen Jahren entwickelten sich auf meiner Wahl- oder vielleicht auch Zwangsheimat zum Beispiel komplexe Vielzeller mit harten Schalen, und die Artenvielfalt stieg dramatisch an. Dann begann der Krieg gegen die Haluter, fuhr Nevus seufzend fort, und man hatte ohnehin anderes zu tun. In den positronischen Akten Kharags habe ich die Ergebnisse allerdings unter dem Oberbegriff Obsidian-Kluft abgespeichert. Turic zeigte auf die Bewusstseins-Transfermaschine. Und was ist nun mit dem Versuch, den du unternommen hast, Hoher Tamrat? Der begnadete lemurische Wissenschaftler nickte ernst, und ich spürte, dass der Erinnerungsschub aus irgendeinem Grund allmählich versiegte. Ich wurde immer mehr zu mir selbst in Nevus‘ Geist, und Nevus wurde wieder zu einer eigenständigen Person. Ja, dieser Versuch Es war das Jahr 6411. Der Prototyp der Bewusstseins-Transferanlage war gerade fertig gestellt, und ich wollte Kontakt mit einem Bewusstsein herstellen. Doch auch auf diesem Wege habe ich nur wenig Konkretes erfahren. Es gab da wirklich etwas, doch ein Zugriff darauf war nicht möglich. Einen kurzen Augenblick lang gab es zwar einen Kontakt, sonderbare Impressionen sprangen auf mich über, aber das war es dann auch schon Die Worte verhallten irgendwo im Nichts, die Bilder verblichen, die ziemlich genau jener meiner Vision glichen, und Nevus Mercova-Ban zog sich von mir zurück oder ich mich von ihm. Ich fuhr aus dem unruhigen Schlaf auf, brauchte lange, um mich zu orientieren, zu wissen, wo ich in Wirklichkeit war. Nicht mehr in einer lemurischen Station im Halbraum, über 50.000 Jahre in der Vergangenheit, sondern auf einem unbekannten Planeten in der Gegenwart. Zumindest war ich jetzt ein bisschen schlauer als zuvor. Waren die Impressionen, von denen Nevus gesprochen hatte, etwa die aus meiner Vision gewesen? Ich wusste es nicht, würde es in dieser Nacht auch nicht mehr herausfinden. Ich sehnte mich nur noch nach Schlaf, nach Erholung und griff auf eine Dagor-Meditation zurück, um mir das alles zu verschaffen. Einen Augenblick lang glaubte ich Li zu sehen, doch der Eindruck verwehte so schnell, wie er gekommen war. Ein Wunschtraum, nichts weiter ‡Zwischenspiel— Ihr Körper fühlte sich schrecklich an, noch wie tot, und sie war allein. Sie wusste nicht, was davon schlimmer war. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich an das zweite Bewusstsein gewöhnt hatte. Jenes, das eigentlich zu diesem Körper gehörte. Sie hatte zwar meist keinen direkten Kontakt zu diesem Bewusstsein gehabt, doch es war da gewesen, eine Stimme im Dunkeln, ein steter Gedankenfluss, der die schreckliche Einsamkeit zurückdrängte. Schon nach wenigen Stunden hatte sie es nicht mehr missen wollen. Sie wusste, ihr Körper war gestorben gestorben und wieder belebt worden. Er war voll funktionsfähig, doch der Hauch des Todes schien an ihm zu haften, eine Kälte, die tief in den Zellen saß, wie eine Erinnerung an etwas Verbotenes, Undenkbares, die man nicht haben durfte. Doch dieser Körper hatte diese Erinnerung, und er musste sie überwinden, wollte er weiterleben. Sie hatte sich selbst immer nur als Gast in diesem Leib gesehen, als Kontrollinstanz. Ihr Bewusstsein war von dem Roboter Samkar dem ursprünglichen Körper aufgeprägt worden, dem Körper der eigentlichen Li da Zoltral. Ihr Auftrag war gewesen, Li unter Kontrolle zu halten und den Arkoniden Atlan zu beobachten. Lis normales Wachbewusstsein hatte von ihrer
Anwesenheit nichts geahnt, bis der Gastkörper eine Kopfverletzung erlitten hatte. Danach war es zu gewissen Störungen gekommen. Diese Störungen hatten ihren Höhepunkt gefunden, als das Originalbewusstsein der Li da Zoltral im Stahlmond in einen anderen Körper versetzt worden war. Dieser war kurz darauf gestorben mit Lis Bewusstsein. Daraufhin hatte sie die komplette Kontrolle über den Körper übernommen. Doch dieser Körper war kurz darauf gestorben, von dem Speer eines primitiven Wesens namens Krantar getroffen. Samkar hatte ihn an Bord seines Schiffes gebracht, und nun nun war sie hier. Da sie ihren eigenen Namen nicht kannte, würde sie den der ursprünglichen Besitzerin dieses Körpers benutzen Li. Schon allein der Umstand, dass der Körper lediglich zwei Tage nach seinem Tod wieder in den Einsatz geschickt wurde, zeigte, dass etwas überaus Bedeutsames geschehen oder eingeleitet worden war. Samkar ihr Herr und Meister. Sein Charisma war überwältigend und das, obwohl er wahrscheinlich gar kein Lebewesen war. Oder vielleicht doch? Seine Gestalt war königlich. Er war groß, in jeder Hinsicht, und schlank, fast schon hager. Dabei wirkte er überaus ästhetisch, wohlgeformt, auch wenn er eindeutig künstlichen Ursprungs war. Seine Hülle bestand aus einem in einem dunklen Braun schimmernden, weichen Metall. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Unter der Substanz, die ihn bedeckte aus der er bestand , konnte man weder Arm- noch Beingelenke ausmachen. An diesen Stellen gab der Stahl des Hüllenmaterials elastisch nach und ermöglichte ihm die volle körperliche Beweglichkeit. Er war einfach perfekt bis auf eine winzige Kleinigkeit. Auf dem linken Auge schielte er. Hatten seine Erbauer ihm diese Schwäche mit auf den Weg gegeben, um ihm aufzuzeigen, ihn stets daran zu erinnern, dass sie noch viel mächtiger waren als er, dass er auf andere Wesen zwar annähernd vollkommen wirkte, aber im Vergleich zu ihnen doch nur wie ein winziges Insekt war, ein bloßer Erfüllungsgehilfe? Oder hatte dieser Makel andere Gründe, von denen sie nichts ahnte, weil sie im Vergleich zu ihm noch viel, viel unbedeutender war? Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Körper mit jedem Schritt, den sie tat, etwas von der Kälte des Todes verlor, wärmer, lebendiger wurde. Sie sah sich um. Sie hatte die Versetzung vollzogen, so viel war klar. Sie befand sich nicht mehr in den tobenden Energien des Sonnendodekaeders, in denen sie ursprünglich materialisiert war. Allerdings hatte sie ihr eigentliches Ziel offensichtlich noch nicht erreicht. Womit auch nicht zu rechnen gewesen war. Sie blickte an ihrem engen Schutzanzug hinab. Er bestand aus golden-metallischen Pailletten, die so groß wie ihre Fingernägel waren. Am Gürtel reihten sich pechschwarze Aggregatetuis von Handgröße. Handschuhe und kniehohe Stiefel mit flachen Absätzen waren Bestandteil des Anzugs und von pechschwarzer Farbe. Ein ebenfalls pechschwarzer Schulter-Halsring lief zu fingerdicken trapezförmigen Epauletten aus, in die Mikroprojektoren integriert waren. Eine zehn Zentimeter breite, fingerdicke wulstförmige Verdickung reichte bis knapp zur Rückenmitte der Aggregat-Tornister. Sie berührte die kreisförmige Gürtelschnalle, die wie aus Gusseisen gefertigt aussah, und einige Instrumente nahmen ihre Tätigkeit auf. Die Luft war atembar. Auf ihren Befehl öffnete sich der kugelförmige Transparenthelm und faltete sich zusammen. Auf seinen Schutz war sie in dieser Umgebung nicht angewiesen. Offenbar war sie an Bord der Vergessenen Plattform materialisiert. Was nicht ganz ungefährlich sein dürfte Mit einem weiteren Befehl erzeugte sie ein ihren Körperkonturen angepasstes, bläulich transparentes Individualfeld. Dann überprüfte sie die weiteren Bestandteile ihrer Ausrüstung: Gravo-Pak-Flugaggregat, Mikro-Strukturfeldkonverter, Deflektorfeldgenerator.
Besorgt stellte sie fest, dass es Probleme mit der Technik des Anzugs gab, die sich jedoch auf vereinzelte Aussetzer beschränkten. Lediglich der mechanische Teleporter war zur Zeit vollständig ausgefallen oder zumindest so stark gestört, dass sie keinen Zugriff auf ihn bekam. Eine weitere Ortsversetzung wie vom Sonnendodekaeder in die Plattform war ihr also im Augenblick nicht möglich. Sie überprüfte ihre Waffen, 30 Zentimeter lange und 2,5 Zentimeter durchmessende, silbrig chromglänzende Zylinderstäbe, die an die Außenseiten beider Oberschenkel des Anzugs angeheftet waren. Es handelte sich um Stabwaffen mit Kombistrahlerfunktion: lysator, Desintegrator, Thermo- und Intervallstrahler. Der Desintegratormodus ließ sich zu einem 30 Zentimeter langen Desintegratormesser fokussieren. Sie waren von den Ausfällen nicht betroffen, zumindest noch nicht. Dennoch musste sie sich beeilen. Sie konnte nicht genau sagen, ob und wann es bei den Anzugsystemen zu einem Totalausfall kommen würde. Sie musste es allerdings annehmen. Wäre es ihrem Herrn und Meister möglich gewesen, diese Region zu betreten, ohne dass es zu solch einem Totalausfall kommen würde, hätte er wohl kaum sie geschickt, sondern wäre hineingegangen. Jede andere Technik hätte schon längst versagt, und nur der Überlegenheit der Schmieden ihres Herrn war es zu verdanken, dass sie zumindest noch eine Weile darauf zurückgreifen konnte. Sie aktivierte sämtliche Ortungssysteme, erstellte einen als dreidimensionales Holo aufrufbaren und vielfältig einsetzbaren Gesamtplan ihrer Umgebung, speicherte ihn ab und analysierte ihn. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass ihr der Weg in die Zentrale der Plattform verschlossen bleiben würde. Als sie dann die Position einer Notzentrale ermittelt hatte, kamen die Spinnen. Es waren Tausende kleiner, vielleicht handflächengroßer, achtbeiniger Roboter. Sie quollen zwischen den nur schemenhaft erkennbaren, mächtigen Aggregaten hervor und attackierten sie wütend, doch Li ignorierte sie. Das Individualfeld wehrte sie automatisch ab. Bei jeder von Lis Bewegungen wurden sie meterweit zurückgeschleudert, ohne dass dazu die geringste Kraftanstrengung erforderlich war. Erst als ein Warnsignal erklang, reagierte sie auf die Angreifer. Sie lächelte schwach. Die Roboter haben die Schirmfeldstruktur analysiert und absorbieren die Energie! Sie justierte die Feldlinien neu und ging zur Sicherheit zusätzlich gegen die Angreifer vor. Binnen weniger Sekunden hatte sie Hunderte von ihnen zerstrahlt und sich etwas Luft verschafft. Problemlos gelang es ihr, das Schott der Notzentrale zu öffnen und hinter ihr wieder zu schließen. Die Roboter, die mit ihr in den Raum eingedrungen waren, vernichtete sie ebenfalls, um ungestört arbeiten zu können. Sie verschwendete kaum einen Blick auf die Einrichtung der Nebenzentrale, überließ die genaue Analyse den Anzugsystemen. Nach wenigen Augenblicken hatten sie die Außenbeobachtungsanlagen identifiziert und erklärten ihr, wie sie sie aktivieren konnte. Vor ihr bildeten sich mehrere Holoprojektionen. Eine zeigte in einer abstrakten Darstellung die Plattform in Bezug zu ihrer Umgebung. Li runzelte die Stirn. Das riesige Gebilde war inzwischen in eine weite Umlaufbahn um einen der fünf Planeten des einzigen Sonnensystems dieser Region eingeschwenkt. Es war zu einem Teil des Obsidian-Stroms geworden, der sich mehr und mehr zu einem Ring zu ordnen begann, nachdem der weitere Zustrom abgerissen war. Einem Ring, der sich auf der Umlaufbahn des 1126 Kilometer durchmessenden Kristallmonds befand und diesen ebenfalls einzuhüllen und gleichzeitig mit abstürzenden Brocken zu bombardieren begann. Sie beobachtete, wie mehrfach große psimaterielle Kristallsplitter aus dem Mond herausgeschlagen und ins All beschleunigt wurden. I1126 Kilometer, dachte sie. Exakt der Durchmesser eines Sporenschiffs! Ein Datenholo bestätigte, dass der Kristallmond nahezu komplett aus kristallisiert-erstarrter PsiMaterie bestand.
Li lächelte schwach. Ihr war bekannt, worum es sich bei der Obsidian-Kluft handelte, doch diese Bestätigung war dazu angetan, ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Kam es zu einer spontanen oder gesteuerten Reaktion einer solchen Menge von Psi-Materie Die Vorstellung einer solchen Katastrophe überstieg ihr Begriffsvermögen. Sie rief mehrere Holos auf, die den Weg der herausgeschlagenen Kristallsplitter darstellten. Die meisten drifteten ziellos davon, doch einige würden, gemeinsam mit Obsidian-Bruchstücken, in absehbarer Zeit den Planeten erreichen und dort mit gewaltiger Wucht aufprallen. Sie runzelte die Stirn. Hier hatte sich eine gewaltige Gefahr für alles Leben auf dieser Welt auf die Reise gemacht, und es schien niemanden zu geben, der sie aufhalten konnte. Das machte ihre Aufgabe nicht gerade leichter. Die Zeit drohte zu einem alles entscheidenden Faktor zu werden. Sie musste die Vergessene Plattform so schnell wie möglich verlassen und ihren eigentlichen Auftrag erfüllen, sonst war alles verloren. Mit Hilfe der Anzugsysteme erzeugte sie Hologramme, die ihr weitere Informationen über das geheimnisvolle Objekt selbst gaben. Mit Besorgnis stellte sie fest, dass die Vergessene Positronik offensichtlich zu entmaterialisieren versuchte, einen halb stofflichen Zustand annahm, aber wieder zurückgeworfen wurde. Das unregelmäßige Pendeln blieb allerdings nicht ohne Auswirkungen. Während sie die Hologramme studierte, wurde die Plattform mehrfach von Treffern heimgesucht, denen Sekundärexplosionen folgten. Es war abzusehen, dass der riesige Quader über kurz oder lang völlig zerschossen werden würde. Ein weiterer Alarmton der Anzugsysteme riss sie aus ihrer Konzentration. Zu allem Überfluss machte sich vermehrt der Technik hemmende Einfluss bemerkbar. Die Aggregate ihres Paillettenanzugs zeigen immer häufiger Aussetzer und drohten vollständig auszufallen. Sollte es wirklich dazu kommen, würde ihre Mission vielleicht scheitern, noch bevor sie überhaupt im eigentlichen Sinne begonnen hatte. Li wurde in aller Deutlichkeit klar, weshalb Samkar nicht selbst in die Obsidian-Kluft vorgestoßen war nicht hatte vorstoßen können. Li drehte sich zur Tür um. Sie musste die Vergessene Positronik verlassen. Aber draußen warteten die Spinnenroboter und sie konnte sie nun nicht mehr problemlos zurückwerfen oder vernichten. Es sah ganz und gar nicht gut für ihre Mission aus. Und für ihr Leben. Schon nach wenigen Minuten hatte Lethem da Vokoban jede Orientierung verloren. Ein Turm sah für ihn wie der andere aus, und es gab einfach zu viele der riesigen Gebäude, als dass er sich einen als Landmarke hätte aussuchen können. Die serpentinenartigen Wege, die von einer Ebene zur anderen führten, wurden immer wieder von schmalen Treppengassen gekreuzt, und Umrin Zeles Barbinor schien mit Vorliebe auf diese Abkürzungen zurückzugreifen. Als Lethem keuchend eine weitere Ebene erreichte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, ob es die vierte oder fünfte war, zumal der Überschwere nun beharrlich darauf bestand, dass Lethem ihm vom Schicksal der TOSOMA berichtete. Wobei er zur Überraschung des Arkoniden allerdings kaum eine Frage nach den neuesten Ereignissen in der Galaxis stellte. Die Außenwelt schien die Bewohner Viinghodors nicht zu interessieren, jedenfalls nicht so sehr wie das Geschick der Neuankömmlinge. Du bist doch nicht dumm, sagte Umrin, als Lethem sich zum wiederholten Male beklagte, dass er sich wohl heillos verirrt hatte. Die Lager für die Neuankömmlinge befinden sich auf der untersten Stadtebene, die Residenz der Maghalata auf der obersten. Wenn du also nach Hause willst, gehst du einfach immer abwärts. Und bis du begriffen hast, welche Abkürzung du nehmen musst, bleibst du einfach auf den äußeren Wegen. Irgendwann wirst du dann schon unten ankommen und eure Quartiere finden. Du wirst vielleicht etwas länger brauchen, aber verlaufen kannst du dich nicht.
Lethem nickte ungehalten. Diese Möglichkeit war ihm auch schon in den Sinn gekommen. Ihn frustrierte lediglich, dass er so lange benötigte, sich in dem Gewimmel der Stadt zurechtzufinden. Hatte Atlan nicht einmal ein Sprichwort über einen orientalischen Markt zum Besten gegeben? Wer ist denn nun diese Maghalata?, fragte er, um das Thema wieder auf einen Punkt zu bringen, der ihn brennend interessierte und vielleicht noch einmal sehr wichtig werden würde. Eure Herrscherin? Das nicht gerade, antwortete Umrin ausweichend. Bei der Viinvon Viinghodor nimmt die Ehrwürdige Heilige unzweifelhaft eine führende Stellung ein. Sie ist Ratgeberin, Mentorin und Weise und könnte wohl problemlos zur geliebten und geachteten Herrscherin werden. Doch gerade das liegt ihr fern. Sie ist eher eine graue Eminenz im Hintergrund. Man nennt sie übrigens auch ILahamuI. Lethem runzelte die Stirn. Dieser Begriff schien fast die entgegengesetzte Bedeutung von Maghalata zu haben. Mittlerweile konnte er immer sicherer auf seine Kenntnisse der lemurischen Sprache zurückgreifen. Beide Bezeichnungen waren ihr entlehnt. Maghalata setzte sich zusammen aus halaton, gesegnet, heilig, und Maghan, was so viel wie Erhabener, Hoher Herr oder Ehrwürdige bedeutete und auch die lemurisch-tefrodische Anrede für die Meister der Insel gewesen war. Der zweite Titel hingegen lautete IHerrin der SchlachtenI Lahamu war die Bezeichnung der Lemurer für den Planeten Venus gewesen und als Wortstamm später auch ins Sumerische eingeflossen. Ja, sagte Umrin, als sie die fünfhundertste schmale Treppe hinaufstiegen. Kythara hat auch ihre wilde, raue Seite. Über ihre Vergangenheit schweigt sie sich aus, aber zahlreiche Legenden berichten von einer stets siegreichen Kriegerin, die von Spiegelwelt zu Spiegelwelt gezogen ist. Lethem nickte etwas abwesend. Sagen und Legenden schienen in dieser Stadt, wenn nicht sogar auf der gesamten Welt, eine große Bedeutung zu haben. Erneut ließ er sich einen Moment lang von dem Zauber der Stadt in den Bann schlagen. Überall fand man Marktplätze, auf denen Händler ihre Waren anboten, deren Vielfalt Lethem beeindruckte. Offensichtlich war Viinghodor eine sehr wohlhabende Stadt, zumal die Grundversorgung der Bevölkerung von den Robotern übernommen wurde und die hier präsentierten Nahrungsmittel und sonstigen Gebrauchsgegenstände als reine Luxusgüter anzusehen waren. In Tavernen saßen Angehörige der unterschiedlichsten Völker. Der Großteil der Einwohnerschaft schien von den bronzehäutigen Humanoiden gebildet zu werden, die sie am Rand der Stadt in Empfang genommen hatten. Offenbar war in Viinghodor geschehen, was in der Milchstraße noch immer als fast undenkbar galt: Verschiedene Spezies, die in Lethems Welt vielleicht verfeindet waren, hatten hier ihre Gegensätze vergessen und sich vermischt. Aber Lethem sah auch Wesen, die er eindeutig bestimmten Völkern zuordnen konnte. Blues saßen friedlich mit Terranern zusammen, Akonen mit Arkoniden, in der Milchstraße längst ausgestorbene Lemurer unterhielten sich mit Cheboparnern, Überschwere tranken mit Springern. Einen Moment. Umrin legte Lethem die Pranke auf den Arm und blieb mitten auf einem Marktplatz stehen. Ich muss Geld verdienen. Er öffnete den leinenen Sack, den er stets auf dem Rücken trug, und zog vorsichtig eine Lyra aus dunklem, geöltem Holz hervor. Etwa zwanzig straff gespannte Darmsaiten leuchteten im Licht der orangefarbenen Sonne. Der Barde ließ die Finger über sie gleiten und entlockte ihnen tatsächlich melodische Töne. Dazu stimmte er einige Töne an, die Lethem einfach nur schauerlich vorkamen, aber ihr Publikum fanden. Die Gespräche in den umliegenden Tavernen verstummten, und alle Blicke richteten sich auf den Überschweren.
Nachdem der Barde sich eingesungen hatte, vernahm Lethem staunend eine mitreißend vorgetragene Ballade über die gefährliche Expedition der TOSOMA und ihrer heldenhaften Besatzung. Umrin übertrieb gnadenlos, hielt sich nicht mit der Genauigkeit einzelner Details auf und erfand manche Ereignisse einfach dazu vielleicht auch, weil die Reimform es erforderlich machte , fesselte die Zuhörer aber. Und diesen Vortrag musste er sich ausgedacht haben, während er sich mit Lethem unterhalten und ihm die Stadt gezeigt hatte! Die Achtung des Arkoniden vor dem Überschweren wuchs. Und stieg noch einmal gewaltig, als Umrin ihm dann die Lyra in die Hände drückte, Anlauf nahm und mit seinen kurzen Säulenbeine einige Salti sprang und Pirouetten drehte, dass dem Arkoniden schon vom Zuschauen schwindlig wurde. IEr weist also noch immer die für Überschwere typische extrem hohe Reaktionsgeschwindigkeit auf, dachte Lethem. Seine Körperkraft ist mindestens dreimal so groß wie die eines normalen Humanoiden. Obwohl es mangels funktionierender Technik hier in der Obsidian-Kluft wohl keine Mikrogravitatoren gibt und sich die hier lebenden Überschweren im Laufe der Generationen an die normale Schwerkraft angepasst haben müssen, ging die genetische Disposition von Wesen einer Umwelt mit deutlich höherer Gravitation anscheinend nicht verloren und äußert sich weiterhin in diesen überlegenen Fähigkeiten Plötzlich war er froh, Umrin nicht zum Feind zu haben. Der Barde sah wohl seinen bewundernden Blick, nachdem er geschickt einige kleine, perlenähnliche Gegenstände aufgefangen hatte, die man ihm zuwarf, und zu ihm zurückkehrte. Er atmete nicht einmal schwerer. Das hättest du mir wohl nicht zugetraut, fragte er mit gutmütigem Spott. Lethem bemühte sich, möglichst nichts sagend die Schultern zu heben. Und du hast dich in mir auch nicht getäuscht, Arkonide. Ich habe keineswegs den schon obligatorischen kämpferischen, rauen Charakter, den man den Angehörigen meines Volkes den Legenden zufolge früher nachgesagt hat. Ich finde auch nichts an den Kampfspielen aller Art, die gelegentlich hier veranstaltet werden. Früher Er seufzte. Ja, da war das noch etwas anderes. Früher war ich durchaus ein wilder Haudrauf, doch inzwischen habe ich mich von diesem Leben abgewandt und eine zutiefst ruhige, beschauliche und friedfertige Lebensweise angenommen. Lethem räusperte sich unsicher. Er konnte nicht sagen, ob der Barde die Wahrheit sprach oder ihn nur narren, an der Nase herumführen wollte. Gehen wir weiter, sagte er. Ich kann es kaum noch erwarten, diese Maghalata kennen zu lernen Wie heißt sie noch gleich, Kythara? Gehen wir weiter, wiederholte Umrin grinsend und führte Lethem über die sechshundertste Treppe zur nächst höheren Ebene der Stadt hinauf. Schon auf den Stufen drang der Lärm an ihre Ohren. Es hörte sich weder nach einem ausgelassenen Fest an, auch nicht nach hektischem, lautstarkem Feilschen zwischen Händlern und Kunden. Es waren eindeutig Kampfgeräusche. Der Barde nickte zufrieden. Hier sind wir wohl richtig, sagte er und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Es fiel Umrin nicht schwer, sich einen Weg durch die Menge der Schaulustigen zu bahnen, die sich am Rand des Platzes drängten. Lethem blieb ihm dicht auf den Fersen und wäre fast gegen den Überschweren geprallt, als der plötzlich stehen blieb. Da er ihm problemlos über die Schulter sehen konnte, blieb er zur Sicherheit erst einmal hinter ihm. Drei Dinge fielen ihm sofort auf oder besser gesagt Personen. Die erste war ein Springer, aber was für einer! Er war über zwei Meter groß und wohl um die vierzig Jahre alt, eine kräftige, bullige Gestalt mit einem ausgeprägten Stiernacken und extrem breiten Schultern. In seinem derben Gesicht funkelten unter buschigen roten Augenbrauen rötliche Augen, und seine
knollige Nase war zweifellos schon mehrfach gebrochen worden. Das schulterlange feuerrote Haar war genau wie der brustlange Vollbart in Dutzende Zöpfchen geflochten. Er trug Hosen und eine Jacke, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde, aus rotbraunem Leder. Stulpenstiefel reichten ihm bis zum Oberschenkel, und ein Lederüberwurf mit pelzbesetztem Kragen schützte seinen Rücken. In der rechten Hand hielt er eine doppelschneidige Streitaxt mit hüfthohem und fast unterarmdickem Stiel, mit der er offensichtlich hervorragend umzugehen wusste. Er ließ sie so schnell in blitzenden Figuren herumwirbeln, dass ihr kaum mit Blicken zu folgen war. Dabei lachte der Springer laut aber keineswegs aus Spaß. Ein halbes Dutzend Viinghodorer hatte ihn umzingelt, vier der bronzehäutigen Humanoiden und zwei Blues, zwei Meter große, auffallend grazile Wesen, deren Körper von zartem blauem Pelzflaum bedeckt war. Ihre Köpfe waren blassrosa gefärbte Diskusse von jeweils einem halben Meter Durchmesser. Die Körpersprache der Angreifer ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie es ernst meinten, und die Messer in ihren Händen legten ein noch deutlicheres Zeugnis davon ab. Lethem musste sich zwingen, den Blick von der immer wieder aufblitzenden Axt abzuwenden. Er musterte die Frau ganz im Hintergrund auf der anderen Seite des Platzes. Der Arkonide wusste augenblicklich, dass er sie niemals vergessen würde. Sie war groß, fast so groß wie Lethem selbst, schlank und sehr schön. Eine hüftlange Goldlockenmähne umrahmte ein schmales Gesicht mit einer schimmernden Bronzehaut, in dem goldene Augen wie unergründliche Seen funkelten. Sie trug ein knielanges weißes Kleid mit Rollkragenabschluss am Hals und kniehohe schwarze Stiefel. Ein handbreiter schwarzer Gürtel mit einer großen Schnalle, besetzt mit etlichen Taschen und Etuis, lag eng um ihre schmale Taille. Kann das sein?, dachte Lethem. Ist das tatsächlich eine Varganin? Er musste an das varganische Schiff denken, das er auf der Ebene gesehen hatte. Neben, fast schräg vor ihr, als wolle sie sie schützen, stand eine Akonin, sehr schlank und knabenhaft. Lethem schätzte sie auf etwa 30 Jahre. Ihr klassisch schönes, in einem dunklen Samtbraun gefärbtes Gesicht mit dunkelbraunen Mandelaugen, das einen besorgten, aber gleichzeitig auch überheblich-arrogant wirkenden Ausdruck zu zeigen schien, wurde von halblangen, glatten dunkelbraunen Haaren umrahmt. Sie trug einen schlichten dunkelblauen Anzug, der aus einer bequemen, weiten Hose und einer hüftlangen Jacke mit geschlossenem Stehkragen bestand, dazu flache Segeltuchschuhe. Der Springer lachte mit lauter, sonorer Stimme scheinbar unmotiviert auf und sprang vor. Die Axt vollzog zischend einen Halbkreis durch die Luft. Lethem hielt den Atem an. Das war kein Schaukampf, der Springer meinte es offenbar ernst. Ein Blue konnte im letzten Augenblick ausweichen, und auch die anderen Angreifer traten zurück. Aber sie flohen nicht, verständigten sich vielmehr mit Blicken und Handzeichen. Der Springer blieb unbeeindruckt stehen, ließ weiterhin die Axt kreisen. Lethem hatte durchaus den Eindruck, dass er den anderen gewachsen war, doch wenn sie koordiniert angriffen Sechs gegen einen, murmelte er. Ist das fair? Ondaix hat sich die Suppe selbst eingebrockt, erwiderte der Überschwere neben ihm, und wird sie auch selbst auslöffeln. Weshalb wollen die anderen ihm ans Leder? Wahrscheinlich hat er wieder mal ein paar Kunden geprellt, und die sind ihm dann bei dem üblen Geschäft auf die Schliche gekommen. Und deshalb wollen sie ihn gleich umbringen? Es ist bestimmt nicht das erste Geschäft, bei dem er sie über den Tisch gezogen hat. Lethem versteifte sich. Bislang hatten die bronzehäutigen Humanoiden und Blues ihre Messer von einer Hand in die andere geworfen, waren vorwärts und zurück getänzelt alles Gesten, um
ihr Gegenüber zu beeindrucken. Doch mit einem Mal standen sie still da, fixierten den hünenhaften Springer Die Zuschauer schienen es auch zu spüren. Hatten sie bislang die eine oder andere Seite lautstark angefeuert, wurde es nun schlagartig totenstill auf dem Platz. Man hätte eine Feder fallen hören können. Die sechs Angreifer rückten langsam auf den eingekreisten Ondaix vor. Jeden Augenblick würden sie springen, alle auf einmal. Selbst wenn der Springer zwei oder drei von ihnen zuerst erwischte irgendein Messer würde ihn schon treffen. Lethem drängte sich an Umrin vorbei. Ein helles Zwitschern zerriss die Stille. Die Blues besprechen ihre Angriffstaktik!, dachte Lethem. Er sprang zuerst, erwischte einen der Tellerköpfe an seinem mindestens 20 Zentimeter langen Hals und warf ihn mit seinem bloßen Schwung zu Boden. Im nächsten Augenblick brach die Hölle los. Ein lauter, wütender Fluch erklang; Lethem konnte nicht sagen, wer ihn ausgestoßen hatte. Er spürte starke Hände an seinen Schultern, die ihn hochrissen, dann traf ihn ein wuchtiger Tritt in die Rippen. Er wurde herumgeschleudert, prallte gegen einen der humanoiden Angreifer und sah dicht vor seinem Gesicht dessen Messer aufblitzen. Gleichzeitig nahm er aus dem Augenwinkel eine verschwommene Bewegung wahr. Ein Schatten huschte heran, kaum mehr als ein Umriss. Ein Fuß prallte gegen die Hand mit dem Messer, dessen Spitze nur noch Zentimeter von seinem Kopf entfernt war, und schleuderte sie zurück. Ein Schrei erklang, und die andere Hand, die ihn im Genick gepackt hielt, lockerte ihren Griff. Lethem holte zu einem Dagorschlag aus und befreite sich vollends aus der Umklammerung. Er wirbelte herum, sah, wer ihn gerettet hatte. Es war die Akonin, die sich schon dem nächsten Angreifer zugewandt hatte und ihn mit einem gezielten Tritt zischen die Beine außer Gefecht setzte. Ein weiterer Angreifer sprang auf Lethem zu, wurde jedoch von einem Hieb der riesigen Streitaxt zurückgeworfen. Einem Hieb mit der flachen Seite, ohne den Gegner zu töten, wie der Arkonide verwundert feststellte. Es reicht! Die rauchige Stimme war nicht sehr laut, aber befehlsgewohnt. Unwillkürlich hielt Lethem kurz inne, sah sich rasch um, schalt sich einen Narren, weil die Angreifer nun im Vorteil waren. Doch auch sie schienen wie erstarrt zu sein, genau wie der Springer, und blickten zu der Varganin in dem knielangen weißen Kleid, die vorgetreten war. Die Schaulustigen machten ihr Platz bereitwillig und respektvoll, so kam es Lethem jedenfalls vor. Es wird kein Blut fließen, sagte die Varganin leise. Nicht hier und nicht jetzt. Nicht in meiner Gegenwart. Sie wandte sich den Humanoiden und Blues zu. Ondaix wird euern Schaden ausgleichen. Ihr habt mein Wort darauf. Sie sah den Springer an. Das wirst du doch? Der bullige Springer zögerte, eine Sekunde lang, zwei. Dann nickte er. Wenn du es wünschst, Maghalata, wird es so geschehen. Maghalata, dachte Lethem. Ist die Varganin die Ehrwürdige Heilige? Ich wünsche es. Sie wendete sich mit einer weit ausholenden Geste an die Schaulustigen. Und nun widmet euch wieder eurem Tagwerk oder was auch immer ihr gerade getan habt, bevor es zu diesem Zwischenfall kam. Die Menge zerstreute sich schnell. Das Wort der Maghalata war offenbar Gesetz; die Leute wussten, hier würde es nichts mehr zu sehen geben. Umrin Zeles Barbinor trat zu Lethem, packte ihn an der Uniformjacke und schleifte ihn mit zu der Varganin.
Kythara, sagte er und verneigte sich, das ist einer der Neuankömmlinge. Lethem da Vokoban, ein Arkonide edlen Geblüts. Er sucht den Kommandanten seines Schiffes, hat eine wichtige Nachricht für dich und will Vinara unbedingt verlassen. Die Akonin, die ihn vor dem Messerstecher gerettet hatte, blickte ihn spöttisch an. Enaa von Amenonter, stellte sie sich vor. Du hast dir viel auf einmal vorgenommen, wirst aber wenig Glück damit haben. Ich bin eine der wenigen Bewohnerinnen von Viinghodor, die sich danach sehnen, die Spiegelwelten verlassen zu können. Aber das ist über Jahrtausende hinweg meinen Vorfahren nicht gelungen, und es wird auch mir nicht gelingen. Viel schlimmer ist jedoch , sie ließ ihren Blick geringschätzig über die wenigen Passanten gleiten, die sich noch nicht zerstreut hatten, dass kaum ein anderer diesen Wunsch verspürt. Aber Lethem sah die Varganin fest an. Diese Welt wird untergehen. Diese und die anderen dieses seltsamen Systems. Wir haben an Bord unseres Raumschiffs Beobachtungen gemacht, die keinen anderen Schluss übrig lassen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird der Kristallmond Später, unterbrach Kythara ihn. Ich gewähre dir eine Audienz. Heute Abend. Umrin wird dich zu mir bringen. Dann kann ich mir in Ruhe deine Argumente anhören. Und wenn sie gut genug sind, werde ich dir vielleicht helfen. Sie drehte sich um und ließ ihn stehen, als würde sie nicht im Geringsten interessieren, was er ihr berichten wollte. Selbst wenn es sich um eine unausweichliche Katastrophe handeln würde. Als der Morgen graute auf der Erde schrieb man den 19. März 1225 NGZ , fühlte ich mich trotz des Zellaktivators wie gerädert. Die Erinnerungen des Lemurers ließen mich nur unwillig los. Unter der Bewusstseins-Transfermaschine des Stahlmonds hatte ich sein gesamtes Leben noch einmal erlebt. Um nicht unter der Wucht dieser Eindrücke den Verstand zu verlieren, hatte ich sie tief in mir verkapselt. Nun waren einige von ihnen wieder hervorgebrochen. Sie schienen durchaus in einem Zusammenhang mit dem zu stehen, was mir zugestoßen war, doch inwieweit sie hilfreich sein konnten, musste sich erst noch herausstellen. Viel schlimmer waren jedoch die quälenden Gedanken an Li. Ich hatte sie verloren, und solange ich aktiv war, konnte ich die Erinnerung an sie verdrängen, spürte den Schmerz nicht ganz so stark. Doch die Zeit vor dem endgültigen Einschlafen und dann die vor dem richtigen Erwachen die Phasen, in denen sich Traum und Schlaf und Wachsein vermischten und ein Geflecht mit einer ureigenen Wirklichkeit erzeugten diese Zeit war schlimm. Ich richtete mich auf und schüttelte mich, auch um die Nacht mit allem, was dazugehörte, endgültig zu vertreiben. Während Jorge langsam erwachte, versuchte ich eine Bilanz zu ziehen, die jedoch alles andere als berauschend ausfiel. Ohne funktionierende Ausrüstung hatte es uns auf eine unbekannte Welt verschlagen. Schon das reine Überleben würde nicht einfach sein, eine Rückkehr in die Milchstraße lag in noch weiter Ferne. Vielleicht sollten wir noch einmal die Ruinen durchsuchen, schlug Javales vor. Es könnte ja sein, dass wir wichtige Hinweise übersehen haben. Ich schüttelte den Kopf. Wir werden dort nichts Brauchbares finden. In dieser Hinsicht kannst du dich voll auf mein fotografisches Gedächtnis verlassen. Und was nun? Von dem Felsbuckel aus war ringsum nur die Savanne zu erkennen, aus der sich vereinzelt Felspfeiler und Tafelberge erheben, entgegnete ich. Ich habe kein Ziel ausmachen können, das sich anzusteuern lohnt, jede Himmelsrichtung ist so gut wie die andere. Aber vielleicht habe ich gestern etwas anderes entdeckt, das ganz interessant sein könnte. Wir füllten unsere Wasservorräte auf und marschierten los. Der Extrasinn ermöglichte mir eine problemlose Orientierung, und nach kurzer Zeit hatten wir das Zwischenziel erreicht. Es war eine exakt von Osten nach Westen beziehungsweise umgekehrt verlaufende Linie im
Savannengras, ein deutlich auszumachender, breiter Pfad, der die Ruinen am Felsbuckelfuß tangierte. Vielleicht ein Karawanenweg?, überlegte Javales laut. Ganz meine Meinung. Zumindest die Spuren, die wiederkehrende Karawanen im Laufe der Zeit hinterlassen haben. Nach den beiden Skeletten, die wir gefunden hatten, war dieser Pfad ein weiterer Beweis dafür, dass der Planet, auf dem wir gestrandet waren, besiedelt war. Nun hatten wir zwar noch kein Ziel, aber immerhin eine Richtung. In welche Richtung sollen wir dem Pfad folgen? Ich zeigte nach Westen. Am dortigen Horizont schien die Vegetation deutlich üppiger auszufallen. Wir machten uns auf den Weg. Erst gegen Mittag, nachdem wir eine Distanz von vielleicht zwanzig Kilometern zurückgelegt hatten, erreichten wir eine Wasserstelle am Karawanenpfad. Es war ein primitiver steinerner Brunnen, aber er erfüllte seinen Zweck. Wir konnten unseren Durst stillen, und er stellte einen weiteren Beweis dafür dar, dass dieser Planet bewohnt sein musste. Um der größten Mittagshitze auszuweichen, legten wir eine Rast ein. Als wir dann weitergingen, veränderte sich die Landschaft allmählich. Vermehrt wuchsen nun Baumriesen in der Savanne, Buschgruppen kamen hinzu, auch die Fauna schien zahlreicher zu werden. Immer öfter hörten wir Geräusche von Tieren, die sich allerdings nicht in unsere Nähe wagten und im hohen Savannengras verborgen blieben. Noch. Irgendwann würden sie ihre Scheu verlieren. Ich konnte nur hoffen, dass es keine Raubtiere waren. Ach ja, meldete sich der Extrasinn, als wir einen Landstrich erreichten, der wesentlich spärlicher bewachsen war als der Abschnitt der Savanne, den wir gerade hinter uns gelassen hatten. Ich kann an der Position der Sonne feststellen, dass wir uns jetzt über einen vollen Tag lang auf Vinara befinden. Die 360 Grad einer vollen Tagesrotation beanspruchen in der Tat fast genau zweiundzwanzigeinhalb Stunden. In dieser Hinsicht trifft deine seltsame Vision also zu, und damit hat sie es verdient, dass du sie ernst nimmst. Ich antwortete nicht, blieb abrupt stehen. Ich hatte etwas gehört. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein ein klackerndes Schnappen, das eigentlich nur eine Ursache haben konnte. Javales hatte es ebenfalls gehört. Unsicher sah er mich an. Ich hielt einen Finger vor den Mund und nickte knapp. Ich sog tief die Luft ein, glaubte tatsächlich, einen scharfen, unangenehmen Gestank zu riechen. Ganz schwach nur. Wäre er stärker gewesen, hätte er durchaus Übelkeit in mir erregen können. Unwahrscheinlich, meldete der Extrasinn. Wenn es das ist, was du befürchtest, werden sie gegen den Wind jagen! Außer, sie sind sich ihrer Sache völlig sicher!, hielt ich lautlos dagegen. Wenn es ein Rudel ist, ein Dutzend Tiere oder mehr, werden sie uns umzingeln wollen und, wenn sie den Kreis eng genug gezogen haben, keine Rücksicht auf die Windrichtung nehmen! Der Logiksektor schwieg. Ein anderes Geräusch erklang, ein dumpfes Schlagen als würde ein großer, muskulöser Schwanz auf den Boden knallen. Und unmittelbar darauf ein leises, heiseres Knurren. Ich verbiss einen Fluch. Es waren jedenfalls keine Scaffrans, die uns wahrscheinlich umzingelt hatten. Ich sah mich um. In einiger Entfernung gab es schräg links hinter uns eine Felswand. Sie würde uns ein wenig Schutz bieten, und vielleicht konnten wir sie erklimmen, oder wir fanden eine Höhle Aber wir mussten sie erst einmal erreichen.
In das hohe Gras um die Lichtung geriet Bewegung. Es schien geradezu auseinander gesprengt zu werden, als sich ein mächtiger, bislang geduckter Körper plötzlich aufrichtete. Ich sah einen wuchtigen Kopf mit grünlich brauner Schuppenhaut, kleinen Augen, die zwar nicht unbedingt mit Intelligenz, aber zumindest mit animalischer Verschlagenheit funkelten, und einem weit aufgerissenen Maul mit einem mörderischen Gebiss. Ein aufrecht gehender Raubsaurier! Eine raptorähnliche, zweibeinige Bestie, aufgerichtet wohl an die zweieinhalb Meter groß! Und sie war nicht allein, wie weitere Bewegungen im Savannengras verrieten. Eine zweite Bestie richtete sich neben der ersten auf, dann eine dritte, eine vierte Mehr als ein Dutzend der Raubsaurier hatten uns eingekreist! Und sie betrachteten uns zweifellos als willkommenes Abendmahl. Mit einem knurrenden Geräusch sprang der Anführer des Raptorenrudels vor, genau auf mich zu Das Innere von Kytharas Residenz war genauso schlicht wie das Äußere. Lethem konnte nicht den geringsten Luxus ausmachen. Kein überflüssiger Zierrat, kein ausschmückendes Beiwerk. Doch in dieser spärlichen Bescheidenheit lag eine gewisse Eleganz, an die kein noch so protziger Prunk heranreichen konnte. Lethem kam sich unwohl in seiner Haut vor, als er seine drei Gegenüber musterte. Kythara, Ondaix und Enaa von Amenonter sie schienen in diesem Augenblick eine Einheit zu bilden, sich blind zu verstehen, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen werden musste. Die Varganin kam ihm nun geradezu übernatürlich schön vor. Ihre unzweifelhaft vorhandene knisternd-erotische Ausstrahlung hatte ihn ja vom ersten Augenblick an in den Bann geschlagen, aber darüber hinaus zeichnete sie noch viel mehr aus. Sie verfügte über ein beeindruckendes Charisma, eine Aura der Weisheit, Abgeklärtheit und Überlegenheit, die ihn trotz oder gerade wegen ihrer sparsamen Gestik, ihrem leisem Sprechen und der kühlen, gelassenen Mimik fast körperlich traf und dabei keineswegs arrogant wirkte. So atemberaubend Kythara war, so erhaben und unnahbar kam sie ihm gleichzeitig vor. Nicht nur überirdisch schön, sondern insgesamt überirdisch. Wenn er nur eins von ihr wusste, dann, dass sie keine normale Sterbliche war. Er streifte sie kurz mit seinem Blick und senkte sofort den Kopf. Sosehr sie ihn faszinierte, er fühlte sich in ihrer Gegenwart unbehaglich. Sie war eine Varganin. Er hatte sich ausführlich mit diesem Volk beschäftigt, das Atlan in seiner Jugend kennen gelernt hatte. Danach waren die Varganen auf der kosmischen Bühne nie wieder in Erscheinung getreten, und es war nicht einmal sicher, ob diese Spezies heutzutage überhaupt noch existierte. Aber Kythara war wie alle Varganen zur Kommunikation auf telepathischer Übermittlungsbasis fähig. Sie konnte ihre Gedanken in das Bewusstsein anderer Lebewesen übertragen und bis zu einem gewissen Grad deren gedankliche Formulierungen erfassen. Dies war nicht mit echter Telepathie im Sinne von Gedankenlesen zu verwechseln, doch es genügte, um ihn sich fragen zu lassen, ob sie in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch. Und neben ihr die knabenhafte Akonin und der polternde Springer. Die Situation war irgendwie unwirklich. Du wolltest mich unbedingt sprechen?, wandte die Maghalata sich mit ihrer rauchigen Stimme an ihn. Er glaubte, eine feine Ironie aus ihren Worten herauszuhören, die jedoch weder verletzend noch überheblich anmutete. Lethem nickte, räusperte sich, sah von Kythara zu Ondaix und Enaa und wieder zurück zu der Varganin. Mit einem Mal kam er sich vor wie ein kleiner Junge, wusste nicht, wie er es richtig anfangen sollte. Mit der Wahrheit, dachte er. Diese Frau kannst du nicht täuschen oder überreden. Sie ist weise, abgeklärt und dir bei weitem überlegen!
Trotz aller deprimierenden Erkenntnisse ist die Besatzung der TOSOMA und allen voran ich selbst keineswegs bereit, die Hoffnung aufzugeben. Wir müssen einerseits weitere Informationen über diese seltsamen Welten gewinnen, die uns helfen können, in unsere alte Welt zurückzukehren, und mag es noch so viele unüberwindliche Probleme geben. Andererseits müssen wir Atlan finden! Dieser Atlan. Kythara lächelte. Geheimnisvoll, unergründlich. Und wie willst du das bewerkstelligen? Nun war Lethem schon eher in seinem Element. Wir haben einen an einen Transmitterschock erinnernden Energiestoß geortet. Sein Ausgangspunkt war die Vergessene Positronik. Nahezu zeitgleich ging ein zweiter Impuls ein, diesmal von der Oberfläche eines der Planeten, aber nicht dieser hier, auf dem wir uns nun befinden Also nicht Vinara, sondern eine der Schwesterwelten? Lethem nickte. Ich kann also vermuten, dass es Atlan war, der auf eine der Spiegelwelten versetzt wurde. Es ist eine Hoffnung, durchaus begründet, aber mehr nicht Fünf Welten. Unzählige Bewohner. Und ein Arkonide, der eine große Bedeutung für euch hat. Mutet das angesichts der Lage nicht wie eine bloße Trotzreaktion an? Mit einem kurzfristigen Erreichen des Ziels darf niemand rechnen. Wenn es hart auf hart kommt, dauert es im günstigen Fall Jahre, im ungünstigen Fall sind wir für immer hier gefangen, genau wie die Viin Kythara nickte nachdenklich. Lethem versuchte, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Du hast angedeutet, du würdest uns vielleicht helfen. Und ich frage mich, ob wir überhaupt noch einige Jahre haben werden. Der Arkonide deutete auf die großen Oberlichter, die einen freien Blick auf den Himmel gestatteten. Es zeigen sich bedrohliche Zeichen am Himmel, auch wenn wir sie jetzt, am Abend, nicht sehen können. Die Sonne wird von einem dunklen Band geteilt, das sich über das gesamte Firmament zieht. Und im Gegensatz zu euch Viin weiß die TOSOMA-Besatzung genau, worum es sich dabei handelt. Nämlich? Er stockte kurz. Um die materialisierten Obsidian-Trümmer, die sich zu einem Ring geordnet haben, und es ist durchaus damit zu rechnen, dass über kurz oder lang Einzelbrocken auf den Planeten stürzen werden, zweifellos mit verheerenden Folgen Wie als Bestätigung seiner Worte schob sich in diesem Augenblick der Kristallmond über den Horizont. Es war ein ebenso faszinierender wie erschreckender Anblick. Er verbreitete sein kaltes Funkeln und Glänzen, ein Gebilde, das mit seinen ungezählten Facetten einem gewaltigen Diamanten glich und als scheinbare Größe das Doppelte von Luna auf der Erde erreichte. Siehst du es auch?, fragte Lethem. Eine rhetorische Frage. Natürlich sah sie es. Es war klar zu erkennen, dass wiederholt Brocken des Obsidian-Rings mit dem Kristallmond kollidierten. Immer wieder konnte Lethem kurz aufleuchtende Explosionen von Einschlägen beobachten. Wenn wir nichts unternehmen, wird diese Welt früher oder später untergehen, sagte der Arkonide. Du bist dir deiner Sache sicher?, fragte Kythara. Ihre beiden Gefährten schwiegen, als hätten sie nichts dazu zu sagen. Lethem hatte den Eindruck gewonnen, dass Kythara auf ihre Art durchaus humorvoll war, wenngleich bei ihr Ernst und Erhabenheit überwogen. Doch jetzt sprach nicht die geringste Heiterkeit aus ihren Worten. Diese Welten werden untergehen. Vielleicht nicht alle, doch auf jeden Fall einige. Diese Welten werden untergehen, und trotzdem werde ich dir nicht helfen, Lethem da Vokoban. Kann ich dir nicht helfen.
Einen Augenblick lang glaubte Lethem da Vokoban, Vinara würde nicht irgendwann, sondern jetzt, in diesem Augenblick, von einem riesigen Kometen aus dem Obsidian-Ring getroffen und zerschmettert werden. Am liebsten hätte er seine Enttäuschung und Verzweiflung laut hinausgeschrieen, doch diese Blöße wollte sich Lethan nicht geben. Stumm erhob er sich und wandte sich dem Ausgang zu. Seine Mission war gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Die TOSOMA-Besatzung versucht, sich auf der Welt zurechtzufinden und ihre neue Heimat zu erkunden. Atlan und sein Begleiter sind immer noch auf der Suche nach Informationen über ihre Umgebung. Bei ihrer Expedition treffen sie auch auf die Savannenreiter von Vinara.
DIE SAVANNENREITER VON VINARA unter diesem Titel schildert Michael Marcus Thurner die weiteren Abenteuer des unsterblichen Arkoniden Atlan und seiner Begleiter. Band drei dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.