Martin Selle
Im Visier des Killer-Basilisken Codename Sam Band 06
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„Allmächtiger Got...
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Martin Selle
Im Visier des Killer-Basilisken Codename Sam Band 06
scanned 03/2008 corrected 05/2008
„Allmächtiger Gott!“ SAM fuhr der Schreck in die Glieder. Aus dem Dunkel war es wieder zu hören – das beutegierige Röcheln der Bestie. Keine Kreatur dieser Welt würde tun, was der Basilisk tut, wenn er sich sein Opfer holt … Und mehr als eine Steinhand war wirklich nicht zurückgeblieben, nachdem Horst Santer spurlos verschwunden war. Noch während SAM vermuten, des Rätsels Lösung in einer Sage gefunden zu haben, ist es für sie an der Zeit zu beten, denn der Feind ist hoffnungslos überlegen … ISBN: 3-7074-0155-3 Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Erscheinungsjahr: 2003 Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
IM VISIER DES KILLER-BASILISKEN Martin Selle
Illustrationen: Martin Weinknecht
Wien – Stuttgart – Zürich
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Selle, Martin: Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G, Kinder- und Jugendbuch (Krimi) Geheimfall 6. Im Visier des Killer-Basilisken. – 2003 ISBN 3-7074-0155-3
1. Auflage 2003 © 2003 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Covergestaltung: Martin Weinknecht Lektorat: Mag. Dietlinde Lasselsberger Satz: G & G, Wien Druck und Bindung: BBG, Wöllersdorf In der neuen Rechtschreibung. Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.
INHALT 1
Der schwarze Schneemann ..................................... 7
2
Strengste Geheimhaltungsstufe ............................. 15
3
Maulwürfe leben gefährlich .................................... 21
4
Streithähne ............................................................. 28
5
Der Imperator ......................................................... 33
6
Böse Überraschungen............................................ 41
7
Gefährliches Spiel .................................................. 49
8
Geräusche aus dem Nichts .................................... 59
9
Codename Wassermann........................................ 70
10
Der Friedhof der Namenlosen ................................ 81
11
Die Schlinge um den Hals ...................................... 89
12
Das Geheimnis des Basilisken ............................... 97
13
Der Knochenfischer .............................................. 102
14
Die Bombe platzt .................................................. 106
15
Ein gedämpfter Schuss ........................................ 112
16
Die Rattenaugen .................................................. 118
17
Süßer Schnee ...................................................... 127
6
1
Der schwarze Schneemann
Niemand sah und keiner hörte es, als das Unheilvolle einmal mehr geschah. Schüler um Schüler stürzte es ins Verderben, denn es machte selbst vor den Schulhöfen nicht mehr Halt! „Hi, Benny“, drang es aus der Nebelwand hervor. „Heute mal pünktlich beim Zahlen! Dein Glück. Der Basilisk versteht keinen Spaß.“ Langsam trat der schwarze Schneemann, wie die Schüler den mysteriösen Überbringer nannten, aus dem wabernden Dunst. Ein dunkler Ledermantel und ein breitrandiger Schlapphut verhüllten die Gestalt bis zur Unkenntlichkeit. Benny fingerte nervös das Geld aus seiner Jeans. Wortlos zählte der Unbekannte nach – 100 Euro. Er überließ Benny eine dieser Pralinenschachteln, die von einer geflügelten Kreatur mit Hahnenkopf und Schlangenkörper geziert wurden. Benny blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. „Wann schneit es wieder süßen Schnee?“ „Lies dein Horoskop vom Astro-Service“, war der ganze Kommentar dazu. Noch drei Schritte, dann hatte der Nebel den schwarzen Schneemann verschluckt. Süchtig verschlang Benny zwei der Schokoeier. Beseelt 7
und erleichtert freute er sich über den Kauf – doch nie wieder in seinem Leben sollte er Pralinen von Fremden kaufen. Zur selben Zeit lauerte bereits etwas Entsetzliches in den schwülen, stickigen Kloakentunneln Wiens. Kein vernünftiger Mensch möchte ihm begegnen, denn er war es, der im Mittelalter Verwüstung und Tod über Europa gebracht hatte. Jüngsten Berichten zufolge war er jetzt wieder in die Unterwelt Wiens zurückgekehrt – wie in der Sage. Sein Atem stank nach faulen Eiern, ging rasselnd, fast röchelnd, und sein Blick – oh Gott! Niemand konnte die nächtlichen Spaziergänger jetzt noch vor ihrem Schicksal bewahren. Modrig riechende Nebelschwaden entstiegen den Kanalflüssen und schlängelten sich wie graue Seidenschleier durch die Tunnelröhren. Die Strahlen von Taschenlampen flackerten wie glühende Lichtschwerter durch die Finsternis, als sich die Abenteurer um den Stadtführer scharten. Gespenstisch still war es hier unten. „Ich warne Sie!“, mahnte Carsten, der Fremdenführer, mit Nachdruck in der Stimme. „Egal was passiert, verlassen Sie auf keinen Fall die beleuchteten Stollen. Weichen Sie in keinen Seitengang ab! Wenn Sie ein Röcheln hören: stehen bleiben, nicht bewegen und die Augen fest schließen. Sein Blick versteinert!“ „Oh ja! – Und mein Blick verwandelt Steine in Gold“, scherzte ein Mann, auf dessen Brust ein Namensschild mit der Aufschrift Horst Santer klebte. „Aufgelassene Schächte, nicht sichtbare Abgründe mit bis zu zwanzig Metern Tiefe und Faulgase sind weitere tödliche Gefahren hier unten.“ 8
Die Art wie Carsten das sagte, hatte etwas Unheimliches. Ein Raunen ging durch die Menge. Staub und Spinnwebenfetzen schwirrten wie Mücken um die Köpfe der zwölf Nachtschwärmer. Eine einzige trübe Glühbirne tat ihr Bestes, um gegen die Dunkelheit anzukämpfen. „Der versteht seinen Job, was?“, flüsterte Mario seinen Freunden zu. „Kannst du laut sagen“, nickten Sandra und Armin. Niemand bemerkte das verborgene Augenpaar, das sich wie ein Geist aus einer Schattennische schälte und lautlos in einem Parallelgang verschwand. So etwas Entsetzliches hätte ohnehin niemand für möglich gehalten. Und so hatten noch alle das Gefühl, hier unten alleine zu sein … „Wie die Jahresringe eines Baumes Auskunft über sein Alter geben, so gibt uns das unterirdische Wien Einblick in die Geschichte der Stadt, ihre ruhigen und aufständischen Zeiten, ihren Aufschwung, aber es erzählt uns auch von Zeiten der Gefahr“, erklärte Carsten. Der Bedienstete der Nationalbibliothek und Hobbyfremdenführer stand vor einem schwarzen Stolleneingang und hatte sich seiner Gruppe zugewandt. Er dämpfte seine Stimme zu einem geheimnisvollen und unheimlichen Flüstern. „Oft war der Wiener Untergrund Tatort grauenhafter Verbrechen. So auch am 2. April 1894: An diesem Tag ließ ein gewisser Johann Hahn seine Axt besonders scharf schleifen …“ Nun stand doch manchen der Anwesenden die Angst ins Gesicht geschrieben. „Hört ihr das Unheil nahen?“, flunkerte Horst Santer lachend und verzerrte seine Miene im Schein der Taschenlampe zu einer bösen Fratze. 9
Carsten warf ihm einen beleidigten Blick zu. Er hasste es, wenn jemand seine Führungen störte. „Treiben Sie damit keine Scherze, Herr Santer. Aus der Vergangenheit sollte man lernen.“ Er klang, als ahnte er geradezu, dass die Wanderung nicht ihren vorherbestimmten Gang nehmen würde. Horst Santer, der Eigentümer des Schokoladenimperiums Santer & Söhne, wurde ernst. Er dachte an die merkwürdigen Entdeckungen seines Sohnes Jannik. Nur seinetwegen machte er diese Führung mit. In den letzten Tagen waren gewisse Verhaltensweisen an Jannik zu beobachten, die erheblichen Anlass zur Sorge gaben. Gassen, Parks und Pausenhöfe wurden zudem immer öfter von den Schülern gemieden. Schulkassen wurden geplündert und immer mehr Kinder landeten mit merkwürdigen Vergiftungserscheinungen in den Krankenhäusern. „Wir gelangen nun in einen Bereich direkt unter der Schönlaterngasse, den wir das Reich des Basilisken nennen. Der Basilisk, eines der gefürchtetsten Geschöpfe, galt als Ausgeburt eines Hahneneis, das von einer Kröte ausgebrütet wurde. Dieses Monster, eine Kreuzung aus einer Giftschlange und einem Hahn, ist eine der tödlichsten Verbindungen, die die Natur je hervorbrachte.“ „Monster, versteinernder Blick … Blödsinn!“, flüsterte Mario. Carsten wandte den Kopf. Schon seit Beginn der Führung warf er besonders ein Auge auf Sandra, Armin und Mario (SAM), denn die drei waren in einer Beziehung alles andere als normale Kinder: Sie waren Detektive – und zwar richtige! SAM waren nicht wie diese TV-Märchenonkel, die Sachen machten, die in Wirklichkeit gar nicht funktionierten. 10
Mit einer einladenden Handbewegung bat Carsten die Gruftis, wie er seine Touristen liebevoll nannte, ihm in die finsteren Katakomben zu folgen. Blitzlichter tauchten die Ratten und die Risse in den Betonwänden in ein gespenstisches Licht. Horst Santer ging als Letzter. Während die anderen Carsten wie treue Hunde folgten, kniete er nieder, um seine Hose in die Gummistiefel zu stecken. Unter keinen Umständen wollte er diesen Gestank mit nach Hause schleppen. Die Dunkelheit hier unten hatte die anderen schnell wie ein schwarzes Loch verschluckt. „Verdammter Mist!“, fluchte Horst, als er sich aufrichtete. „Auch das noch!“ Er schüttelte seine Taschenlampe. Das Licht flackerte kurz auf und erlosch dann. Alles um ihn herum verschwand jetzt hinter einem undurchdringlichen, schwarzen Vorhang. Bald waren nicht einmal mehr die Schritte der anderen zu hören. Horst war allein. Seine Hände tasteten sich die feuchten Wände entlang. Jeder seiner Tritte klatschte laut auf dem nassen Boden. Er erreichte eine Abzweigung. Nach oben, kam es ihm in den Sinn, und er kletterte eine Steigleiter hoch. Im oberen Quergang rappelte er sich stöhnend auf die Beine, als er plötzlich hinter sich ein dumpfes Geräusch hörte. Der Boden unter seinen Stiefeln erzitterte. Horst erstarrte: Er hörte ein Röcheln und ein stinkender Hauch strich über seinen verschwitzten Nacken. Eine plötzliche Blutleere im Gehirn ließ ihn wanken. Schweißtropfen rannen über seine zuckende Stirn. So musste einem Menschen zumute sein, der zum elektrischen Stuhl geführt wurde. 11
Da war das Röcheln wieder. Schleimiger Speichel triefte auf seine Schultern. Horst wollte schreien, doch seine Stimmbänder versagten ihm ebenso den Dienst wie seine Beine. Aus den Augenwinkeln sah er das riesige Wesen, das mit der pechschwarzen Umgebung förmlich verschmolzen war. Zitternd umklammerten Horsts Finger eine Leitersprosse wie ein Ertrinkender den Rettungsring. Dann drehte er sich langsam um und – wurde von nackter Todesangst gepackt. Die Kreatur war im Dunkel nur schwer auszumachen. Dennoch wusste Horst Santer in diesem Moment, dass er direkt im Visier des Killer-Basilisken stand – einem monströsen Wesen, dem der Geruch des Todes anhaftete! Alle, die je einem Basilisken in die Augen blickten, mussten sterben – so stand es im Lexikon. Das Einzige, das Horst erkennen konnte, waren spitze, gekrümmte Hornklauen. Zwei Flügel, mit Federn so struppig wie Bürsten, schienen direkt den Rippen des Schlangenkörpers zu entspringen. Langsam hob sich eine der Pranken. Über einem schnabelähnlichen Maul, aus dem eine Schlangenzunge wirbelte, saßen zwei blutunterlaufene Augen. Sie funkelten wie die eines angriffslustigen Raubtieres. Was sein giftiger Blick traf, würde zu kaltem, totem Stein erstarren! Im Angesicht des Todes löste sich Horst aus seiner Erstarrung und schrie aus Leibeskräften. Die kahlen grauen Betonwände schleuderten ihm das Echo seiner Hilfeschreie an den Kopf. All seine Gedanken wurden von einer einzigen Frage beherrscht: Was würde nun mit ihm geschehen? Da traf ihn auch schon ein wuchtiger Schlag gegen den 12
Brustkorb. Eine Klaue schlitzte sein Hemd auf und warf Horst zu Boden. Der feurige Blick des Basilisken flammte auf, er zischte kurz und Horst fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Hals. Er fühlte sich wie gelähmt, unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen. Langsam, Stück für Stück, glaubte er zu Eis zu gefrieren – zu Stein zu erstarren! Er stierte in den trüben Kloakennebel, doch er nahm die Umgebung immer verschwommener wahr. Und da erhob sich vor ihm der Basilisk. Mit lautlosen Schritten löste sich das Monster aus der Dunkelheit. Horst wollte sich verzweifelt an einer Leitersprosse hochziehen, doch da schlug sich eine Klaue in seinen Hemdkragen. Panik ergriff ihn. Er konnte seine Arme nicht mehr bewegen! Noch während Horsts letzter Hilferuf in den Weiten des Tunnellabyrinths verhallte, schlug sein Kopf gegen einen Betonklotz. Er stierte den Basilisken an, der ihn durch das faulige Kanalwasser schleppte. Ratten krochen über Horsts Gesicht und hackten ihre gelben Zähne in seine Jeans. Doch die Bisse spürte Horst schon nicht mehr … „Gleich sind wir bei ihnen, Herr Santer!“, hörte er Armins Stimme noch schwach. Horst glaubte, in weiter Entfernung den Strahl einer Taschenlampe in der Dunkelheit tanzen zu sehen. Er versuchte noch einmal zu schreien, aber seine Kehle blieb stumm. Die Geräusche und Lichtpunkte in der Unterwelt vermischten sich zu einem schemenhaften Alptraum. Starre Kälte breitete sich in seiner Brust aus. Dann war alles vorbei … 13
„Verdammt, was ist hier passiert!“, entfuhr es Carsten, als sein Fuß gegen eine platt gedrückte Taschenlampe stieß. Sein Lichtstrahl wanderte suchend durch den Kanalstollen. Sandra bückte sich. Sie spürte ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Magen, als sie mit dem Finger einen feuchten Fleck berührte. Das war eindeutig Blut! „Den Basilisken gibt es doch gar nicht!?“, flüsterte Mario. Ein markerschütternder Schrei riss die drei Hobbydetektive aus ihren Überlegungen. Sie rannten um die Ecke und erblickten eine ältere Frau aus ihrer Gruppe. Voller Angst war sie an der Wand zu Boden gesunken. Als die Lichtkreise ihrer Taschenlampen einfingen, was sie gesehen hatte, war SAM zumute, als hätten sie das Tor zur Hölle aufgestoßen. Armin kniff ungläubig die Augen zusammen. Vor ihnen lag im stinkenden Kloakensumpf neben weißen Pulverspuren eine Männerhand. Sie schimmerte knochenbleich und war erstarrt – erstarrt zu Stein.
14
2
Strengste Geheimhaltungsstufe
‚Sicher wieder ein dummer Scherz von Sandra und Mario‘, dachte Armin. Wie sehr er sich mit seinem Verdacht irrte, konnte er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wissen. Der Uhrzeiger sprang auf neun Minuten vor Mitternacht, als die Straßenbahn an der Haltestelle nahe der alten Villa hielt. Die Tür schwang zischend auf und Armin sprang auf den Gehsteig hinaus. Er schlug den Kragen seiner Jeansjacke hoch. Suchend sah er sich um – da war niemand. Er war allein. Nach einem Blick auf das Straßenschild schlenderte er die Zufahrtsstraße zur Villa hoch. Er war gerade mal zehn Schritte gegangen, als die Alarmglocken in seinem Kopf losschrillten. Alles ging so schnell, dass ihm kaum Zeit blieb zu reagieren. Blitzartig sprang er hinter eine Parkbank, riss die Schultern hoch und rollte sich seitlich ab. Da sah er auch schon zwei Schatten hinter einem Ligusterstrauch hervortreten. Armin krallte seine Hand fest um einen abgebrochenen Buchenast. Die Schatten kamen näher und näher, wurden immer größer und senkten sich schließlich wie zwei Riesen über ihn. Er spürte förmlich, dass sie ihn anstarrten. Er holte zum Schlag aus, doch dann, als ein Autoscheinwerfer die Gestalten kurz streifte, ließ er seine Waffe fallen. 15
„Großartig habt ihr das wieder mal hingekriegt“, meinte er aufbrausend. „Nun mach mal halblang“, sagte Sandra. „Aus der Ferne warst du nicht zu erkennen, und auf unser Codewort hast du auch nicht reagiert.“ „Hab keins gehört.“ „Verrate uns lieber, weshalb du uns mitten in der Nacht zu einem Treffen bei dieser komischen Villa bestellst?“ Mario hielt Armin einen Zettel unter die Nase, auf den mit schwarzem Filzstift geschrieben Folgendes stand: Punkt Mitternacht. Ort des Treffens: siehe Kartenkopie auf der Rückseite. Äußerst wichtig – strengste Geheimhaltungsstufe! „Ist nicht meine Schrift“, winkte Armin ab. „Ich bin von euch herbestellt worden. Hier – die Nachricht kennt ihr doch!?“ Sandra und Mario musterten das Schreiben. „Ist nicht von uns.“ „Von wem dann? Die Schriftbilder sind gleich.“ „Schätze, das erfahren wir, wenn wir der Einladung folgen“, sagte Sandra. Sie sah zur Villa hoch, deren Zwiebeltürme wie zwei Nachtwächter auf der Anhöhe thronten. Ihre Freunde wussten sofort, was sie beabsichtigte. „Haltet ihr das für eine gute Idee?“, fragte Mario. Sandra und Armin überhörten seine Bedenken. Leise wie ein Panter auf Beutezug, näherten sie sich dem schlossähnlichen Haus, das sich vor der runden Scheibe des Mondes als gespenstischer Schatten abzeichnete. „Vorsicht, Leute“, flüsterte Armin, der jetzt langsam 16
doch etwas besorgt war. Er tippte auf ein Messingschild, das im Mondlicht schimmerte. Es trug die Aufschrift Villa Santer. Sie zögerten einige Sekunden, gingen dann aber doch weiter. Bei der massiven Eingangstür aus Holz angekommen, drückte Sandra den Klingelknopf, doch es blieb still. Nur der Wind rauschte düster durch die Blätterkronen der Buchen. Rund um die Villa wirkte alles wie ausgestorben. Armin klingelte nochmals. Vergeblich. Nichts rührte sich. Man hatte den Eindruck, als läge das Haus im Tiefschlaf. Mario drückte die Eisenklinke nach unten. „Es ist offen!“ Tatsächlich ging das Portal knirschend auf. „Verdächtig“, murmelte Armin. „Okay, Jungs. Wollen wir?“, flüsterte Sandra. Armin und Mario nickten stumm. Sachte traten sie über die Türschwelle in die Dunkelheit. Der dicke Perserteppich schluckte den Schall ihrer Schritte. Die Villa schien menschenleer zu sein. „Taschenlampen an“, flüsterte Armin, und Sekunden später wanderten Lichtkreise über alte Möbel, Ölbilder, Marmorstatuen und Glasvitrinen mit Silberpokalen. Vor SAM erstreckte sich eine geräumige Halle, die durch zwei mächtige Treppenaufgänge geteilt war. Helles Mondlicht floss wie geschmolzenes Silber durch eines der hinteren Seitenfenster und zeichnete den unheimlichen Schatten einer Ritterrüstung auf den offenen Kamin. „Ist ja wie in einem Geisterschloss“, flüsterte Mario. Leise schlossen sie die Tür. „Und weiter?“ 17
„Zuerst auf die grobe Tour“, sagte Sandra. „Ist jemand zu Hause?!“ Vernichtende Blicke ihrer Detektivfreunde trafen sie, die sie im Dunkel aber nicht sehen konnte. Ihr Ruf verhallte. Es blieb still wie in einem Grab. „Herr Santer …!“ „Horst Santer ist tot“, zischte Mario verärgert. Allmählich hatten sie das Gefühl, es wäre doch besser gewesen, die Villa nicht zu betreten. Doch da drang aus dem oberen Stockwerk ein Geräusch zu ihnen herab. „Wie immer?“, wisperte Sandra. „Wie immer“, nickte Armin. „Wir trennen uns und nehmen beide Aufgänge gleichzeitig für den Fall, dass einer eine Falle birgt.“ Er schlich zur linken Treppe hinüber. Sich zu trennen und an mehreren Punkten gleichzeitig loszugehen war ein bewährter Trick bei Verfolgungen und Erkundungen; auf diese Weise erreichte sehr wahrscheinlich wenigstens einer das Ziel und konnte Hilfe holen, falls die anderen Pech hatten oder geschnappt wurden. Da hörten Sie wieder das dumpfe Geräusch. Sandra richtete die Taschenlampe auf den Boden und sah, dass der dicke Teppich mit Schuhabdrücken übersät war. „Freunde, da oben ist etwas“, flüsterte Armin, und zeigte auf die obere Treppenkante. Knapp über dem Boden, direkt vor der Ritterrüstung, war ein Stolperdraht gespannt, der nur im Licht zu sehen war. „Vielleicht nicht der einzige“, buchstabierte Sandra lautlos in der SAM-Fingersprache. Armin zog das Schweizer Messer aus seinem selbst gebastelten Detektivgürtel und klappte die kleine Schere aus. 18
Klick. Eine Spannfeder fiel zu Boden. Sandra zuckte zusammen. Der Blechritter wirbelte um die eigene Achse, die Klinge seines Schwertes schnitt wie das Fallbeil einer Guillotine durch die Luft und zersplitterte an der Wand. „Was ist das für ein Versteckspiel?“ In Armins Stimme schwang allmählich eine hörbare Portion Unbehagen mit. Sie bogen jetzt in einen langen Flur ein, der von Türen gesäumt war. Mit rasenden Herzen standen SAM da und lauschten in die kalte Stille hinein. Sekunden, lang wie Minuten, verstrichen, und plötzlich hörten sie wieder das Geräusch! „Es kommt aus dem Zimmer dort“, flüsterte Armin. Er richtete seinen Lichtstrahl auf die Flügeltür am Ende des Ganges. Sie schlichen weiter. Die Augenpaare der Ölgesichter auf den Gemälden schienen sich zu bewegen. Sandra war gerade im Begriff die Tür zu öffnen, als sie Mario am Arm packte und zurückriss. Auf einer Kommode stand ein eiserner Kerzenständer. Ohne jede Vorwarnung schleuderte er ihn gegen den Türgriff. Sofort blitzten grelle Lichtbögen auf und Stromstöße knisterten. „Ein Elektroschock!“, schluckte Sandra. SAM überkam ein Gefühl der Unsicherheit. Lautlos sprang die Tür auf. Der süßliche Geruch versengten Holzes erfüllte den Flur. Sandra, Armin und Mario näherten sich langsam und traten ein. Mario schob mit der Fußspitze den Teppich zur Seite – doch es war keine Falltür und auch sonst nichts Verdächtiges zu sehen. Links neben der Tür erblickten sie ein Stück Kabel, dessen Ende in einer Steckdose mündete. 19
SAM versuchten ruhig und besonnen zu bleiben. Sie standen in einem verdunkelten Zimmer. Die einzige Beleuchtung war eine grün beschirmte Lampe auf einem Schreibtisch. Und dann, noch ehe sich ihre Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, nahm etwas Gestalt an. Ein eiskalter Schauer jagte Sandra über den Rücken.
20
3
Maulwürfe leben gefährlich
Zwei Männer saßen hinter dem Schreibtisch. Die Gesichter waren zur Hälfte beschattet und blieben starr und maskenhaft. Vor dem Schreibtisch standen drei Stühle. „Setzt euch“, befahl einer der Männer mit tonloser Stimme. SAM gehorchten. Es machte keinen Sinn, den Fernsehhelden zu spielen. Im wirklichen Leben endete das meist tragisch, „Na, hab ich zu viel versprochen, Herr Santer?“ „Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte … alle Achtung!“ Das Licht wurde eingeschaltet. Sandra, Armin und Mario schirmten ihre Augen für einen Moment gegen das blendende Licht ab. Jemand lachte amüsiert auf. Es war die Stimme eines Privatdetektivs, der SAM sehr vertraut war und von dem sie viele ihrer Tricks gelernt hatten! „Herr Lennert! Was soll das?“, rief Sandra wütend, aber erleichtert. Rainer Lennert, ein hoch gewachsener Mann mit dichtem schwarzem Haar, erhob sich aus seinem Stuhl. „Wir hätten elektrisiert werden können!“, brauste Armin auf. „Nein, nein“, erklärte Rainer. „Wir haben einen Trafo zwischengeschaltet. Der Stromstoß hätte nicht mal ’ne 21
Fliege gejuckt. Und das Schwert war aus Weichholz und angesägt.“ „Was soll diese geheimnistuerische Einladung?“, fragte Mario. „Die ist doch von dir?“ „Ja.“ Rainer schlug seine Aktenmappe auf. „Darf ich vorstellen: Theodor Santer, seit kurzer Zeit Leiter der Auslandsabteilung beim Pralinen-Hersteller Santer & Söhne. Theo ist Horst Santers Bruder. Mehr brauch ich euch wohl nicht zu sagen. Ihr wart selbst dabei, als vor einer Woche sein Bruder Horst bei dieser rätselhaften Führung starb.“ SAM nickten zustimmend. Theodor Santer erhob sich und reichte ihnen die Hand. „Euer Auftritt hat mich von euren Detektivtalenten echt überzeugt.“ Der gepflegte Mann war ungefähr 55 Jahre alt, trug einen grauen Anzug und rang sich ein Lächeln ab. „Ich hätte meine Villa verwettet, dass ihr in eine der Fallen tappt – nennt mich Theo. Tut mir Leid, falls wir euch erschreckt haben.“ „Um es kurz zu machen“, fuhr Rainer fort, „Theo braucht Hilfe. Ich soll für ihn ermitteln. Die negativen Presseschlagzeilen schaden dem Ruf der Firma.“ „Ich will, dass wieder Ruhe einkehrt“, sagte Theo Santer. „Außerdem ist Horst nicht tot. Der falsche Hund hat sich mit dem Firmenvermögen ins Ausland abgesetzt. Die Geschäfte gehen gerade nicht besonders gut. Als Eigentümer der Firma haftet er mit seinem privaten Vermögen. Ich will unser Familienunternehmen retten.“ „Ich brauche eure Hilfe“, sagte Rainer. „Wieso gerade wir?“, fragte Sandra. „Es geht um Jannik. Er ist Horst Santers Sohn. Ihr seid 22
in seinem Alter und euch wird er daher am ehesten etwas anvertrauen.“ „Was anvertrauen?“, fragte Armin. Rainer Lennert griff in eine Akte, nahm einen Brief zur Hand und zeigte SAM einige Fotos. „Janniks Zimmer in der Villa seines Vaters.“ „Das ist ja ein Ding!“, entfuhr es Armin. „Hat er ’nen Lotto-Sechser gemacht?“ Der Raum glich eher der Brücke des Raumschiffs Enterprise als einem Kinderzimmer. Sandra zählte drei Computer, eine riesige Stereoanlage, zwei Play-Stations, einen Fernseher mit mindestens 150 Zentimeter Bildschirmbreite und eine nagelneue Funkanlage. Überall lagen leere Pralinenschachteln herum und in Regalen standen mindestens 200 Bücher. „Ich glaube, bei mir ist eine Erhöhung des Taschengeldes fällig“, scherzte Mario. „Ich kann mir nicht erklären, woher er plötzlich so viel Geld hat“, sagte Theo. „Jannik hat das alles wirklich selbst bezahlt, ich habe die Rechnungen überprüft. Er war schon immer eine Leseratte und ein Computerfreak …“ „Das kenn ich doch von irgendwo her“, feixte Sandra, und zeigte auf ihre Freunde. „Schokolade hat er allerdings bis vor kurzem gehasst wie die Pest.“ Auf einem Foto war auch Jannik zu sehen. Er war ein rothaariger, ungefähr zwölfjähriger Junge und saß stolz vor seinen Bildschirmen, auf denen Texte in grüner Schrift zu sehen waren. „Woher hat er das viele Geld?“, murmelte Armin. „Das ist nur eine der unbeantworteten Fragen“, fiel ihm 23
Rainer ins Wort. „Theo glaubt, dass zwischen den Firmenschulden von Horst und dem Verhalten seines Sohnes ein Zusammenhang besteht. Es gibt da aber noch eine äußerst seltsame und beängstigende Sache …“ Er sah Theo an. „Es war vor vier Tagen. Ich besuchte Jannik im Zuge der Ermittlungen unangemeldet im Internat, um ihn wegen seines plötzlichen Geldsegens zu befragen. Was ich dort zu sehen bekam, war äußerst merkwürdig. Er aß mit den anderen Mitgliedern der Schultheatergruppe Pralinen unserer neuen Marke Basilisk. Das sind Schokoeier, die mit Kinderüberraschungen gefüllt sind. Wie hypnotisiert summten sie die Schulhymne. Dazu drehten sie sich wie in einem irren Tanz im Kreis. Sie wirkten auf mich wie losgelöst von Raum und Zeit. Und dann – ein schreckliches Bild: Die Muskeln in ihren Gesichtern zuckten plötzlich wild, fiebriger Glanz lag in den Augen und gemeinsam krächzten sie ein wahnsinniges Kichern. Immer schneller drehten sie sich, bis sie schließlich zusammenbrachen. Es schien, als seien sie in einer fernen Welt. Erst nach Sekunden verzogen sich ihre schmalen, blutleeren Lippen zu einem zufriedenen, erleichterten Lächeln. Als sie langsam wieder zu sich kamen, säuselte Jannik glückselig etwas von einem Killer-Basilisken, süßem Schnee und noch mehr Geld. Er wusste überhaupt nicht, was gerade geschehen war. Benny, einer seiner Freunde, musste jedoch ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er liegt noch im Tiefschlaf und zeigt Symptome einer schweren Vergiftung. Doch die Ärzte finden keine Ursache dafür. In letzter Zeit häufen sich solche Fälle. Und es erwischt immer Schüler. Fast alle fantasieren sie von einem schwarzen Schneemann – wenn man den Zeitungsmeldungen Glauben schenken darf.“ 24
„Wie bitte?“ Sandra, Armin und Mario glaubten, nicht recht gehört zu haben. „Das Verschwinden seines Vaters hat Jannik geschockt, er hing sehr an ihm“, meinte Theo. „Wir haben da aber noch etwas Sonderbares in seinen Sachen gefunden: ein Computerhoroskop, leider ohne Empfänger.“ Er las es SAM vor: „Basilisk und Wassermann Gesundheit und Freundschaft: Gefährliche Zeiten, Wassermänner sollten noch nicht in ihren Fluss zurückkehren. Geld: Die Quellen fließen weiterhin. Wetter: Süßer Schnee fällt wieder am Dienstag. Beste Zeit: drei Uhr. Erwarteter Ort: das Nest, dann wie immer.“ „Der Gute erlaubt sich einen Scherz“, lachte Mario. „Schwarzer Schneemann, Basilisk – das sind doch nur Zeitungsenten.“ „Möglich“, sagte Theo. „Aber Horst ist seit einer Woche verschwunden. Seine Leiche wurde bis heute nicht gefunden, und das ist kein Scherz.“ „Theo hat in Janniks Sachen außerdem eine Notiz für dessen Tagebuch gefunden“, sagte Rainer Lennert. „Er will dem Basilisken schon mehrmals begegnet sein. Der Großteil der Informationen ist aber mit einer Geheimschrift verschlüsselt. Möglicherweise steckt mehr hinter seinen Ausflügen in den Untergrund und dem Horoskop, als wir denken.“ „Und wir sollen uns an Janniks Fersen heften und raus25
finden, was es mit seinen geheimen Geldquellen, dem Basilisken, dem schwarzen Schneemann und all den seltsamen Vorkommnissen auf sich hat?“, fragte Mario. „Ich bitte euch darum“, sagte Theo. „Es soll nicht umsonst sein. Ich würde mir nie verzeihen, wenn Jannik etwas zustoßen würde. Er ist ja jetzt … so eine Art Sohn … für mich.“ Theo setzte sich und rieb sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln. „Entweder wir machen eine wissenschaftlich bedeutsame Entdeckung“, sagte Rainer Lennert, „oder wir sind Horst Santer und einem mächtig krummen Ding auf der Spur.“ „Ich glaub, dass an der ganzen Sache was faul ist“, sagte Mario. „So was denkt man sich nicht zum Zeitvertreib aus. Wir haben selbst diese Steinhand gesehen …“ „Allerdings“, bestätigte Sandra ernst. „Und ich glaub nicht an den schwarzen Mann …“ „Ihr werdet in eurer Schule für eine Woche krank gemeldet und werdet an Janniks Internat versetzt“, sagte Rainer. „Aber wie sollen wir das unseren Eltern erklären?“, fragte Armin. „Alles schon abgesprochen und genehmigt“, erwiderte Rainer. „Auch Janniks Schule war einverstanden.“ „Wir sollen Maulwürfe spielen?“, verzog Armin das Gesicht. „Maulwürfe leben gefährlich …“ „Übermorgen ist euer erster Tag in der neuen Schule. Aber Vorsicht! Jannik darf nicht den geringsten Verdacht schöpfen, sonst führt er uns an der Nase herum. Wir bleiben über eure Detektivzentrale und mein Büro in Verbindung, alles klar!?“ 26
„Alles klar“, nickten SAM. „Wir werden dich nicht enttäuschen.“ „Auch ich steh euch jederzeit zur Verfügung“, sagte Theo. „Haltet mich auf dem Laufenden, es geht um meinen Bruder, meinen Neffen und viel Geld.“ Als SAM gegen ein Uhr nachts Theos Villa verließen, kam keinem der drei in den Sinn, dass sie ihre innere Unruhe ernster nehmen sollten – viel ernster.
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4
Streithähne
Die Tage in ihrer neuen Schule sollten für Sandra, Armin und Mario zu einer unvergesslichen Zeit in ihrem Detektivleben werden. Nachdem sich SAM wie geplant für die Projektgruppe Theaterwerkstatt eingeschrieben hatten, meldeten sie sich im Büro der Direktorin Karin Damm. Hinter einem wackeligen Holzschreibtisch, fast gänzlich von blaugrauen Rauchschwaden eingehüllt, saß eine Frau mittleren Alters mit der Ausstrahlung eines Eisberges und schlürfte schwarzen Kaffee. Auf der Schreibtischplatte lagen drei Schülerakten. „Wer hat denn diese dämlichen Passfotos von uns abgegeben?“, murmelte Mario. Karin Damm warf ihm über den Brillenrand hinweg einen mahnenden Blick zu. „Überprüft die Richtigkeit eurer Daten und meldet euch dann bei eurem Projektleiter. Ich hoffe nur, ihr habt Bühnenerfahrung. Für die Aufführung beim Schulfest haben sich etliche Prominente angemeldet. Wenn ihr was versaut, werdet ihr euch wünschen, nie hierher gekommen zu sein …“ „Wir kommen direkt von einem Hollywood-Dreh mit Arnie Schwarzenegger“, scherzte Sandra. Armin seufzte. Er hatte bisher nicht einmal einen Fuß auf 28
eine Theaterbühne gesetzt. Nur zu leicht könnte jemand Verdacht schöpfen, dass sie aus anderen Gründen hier waren. „Die Probe beginnt in einer halben Stunde“, hustete Frau Damm, und steckte einen neuen Sargnagel zwischen ihre schmalen Lippen. „Heuer wird ein Sagen-Zyklus einstudiert. Eure Rollen findet ihr auf dem schwarzen Brett, dritter Gang links.“ „Unsere Tarnung fliegt sofort auf, Sandra“, zischte Armin auf dem Gang besorgt. „Mario und ich haben vom Schauspielen so viel Ahnung wie ein Nilpferd vom Fallschirmspringen!“ „Seit wann so ängstlich? Wir haben einen Auftrag und nicht viel Zeit.“ Sandra, die als Einzige schon seit geraumer Zeit Schauspielunterricht nahm, packte ihre Kumpel an den Hemdsärmeln und zerrte sie zur Besetzungsliste. Vor dem schwarzen Brett drängten sich schon eine Menge Schüler. „Ich spiel den Basilisken! Keiner kennt ihn so gut wie ich!“, rief ein rothaariger Fünftklässler. Sandra, Armin und Mario drängelten sich zwischen all den anderen hindurch. Tatsächlich: Die Sage eines tödlichen Brunnengeistes, des Basilisken von Wien, stand auf dem Spielplan. Neben den Rollen waren die Namen zu lesen: Armin spielte den Basiliskenjäger Doktor Heinrich Pollitzer, Sandra mimte Apollonia, die Tochter des Bäckermeisters aus der Schönlaterngasse 7, und Mario … „He! Du bist die Zweitbesetzung für das Monster!“, rief Sandra. Mario konnte es kaum glauben. „Lass mich das auch lesen!“, verlangte er, und schob ein paar Schüler zur Seite. 29
„Ich fass es nicht – ich bin die Reserve! Ich muss vielleicht gar nicht spielen! Klasse!“ Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. In der Aula wurde es ganz still. Mit einem Schlag herrschte dicke Luft – als hätte Mario schlafende Hunde geweckt. „Du bist doch zum Schauspielen in dieser Gruppe?“, fragte Karl Kröll, der Regisseur, und verteilte die Rollenhefte. Er und die Schüler musterten Mario voller Misstrauen. Ein schier endloser Moment des Schweigens verging. Sandra glaubte einen Kloß im Hals stecken zu haben. „Ich … ich …“ Marios rechter Mundwinkel zitterte. „Ich … ich will gefälligst die Hauptrolle, was denkt ihr, wer ich bin!“, trat er schließlich die Flucht nach vorne an. Er riss die Arme hoch und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Mann, echt cool gespielt – toll!“, reagierte Armin geistesgegenwärtig und applaudierte. „Ja, dieses plötzliche Zittern des Mundwinkels, wirklich meisterlich!“, rief ein anderer Junge namens Felix. Natürlich glaubte jeder, dass es gespielt gewesen war. Es wusste ja niemand von Marios Sprachfehler, den er von Geburt an hatte: eine Lähmung des rechten Mundwinkels – wahrscheinlich ein Fehler der Ärzte. Jahrelang war er deshalb von anderen gehänselt worden. Aber regelmäßiges lautes Lesen half ihm. Heute trat nur mehr gelegentlich ein Zucken des rechten Mundwinkels auf. In Sandras Magen löste sich ein Knoten, als die anderen in den Beifall einstimmten. „Und ich dachte schon, du hättest wirklich noch nie gespielt“, lachte Herr Kröll, und klopfte Mario anerkennend auf die Schulter. „Darf ich bei dieser Gelegenheit vorstel30
len: Sandra Wolf, Armin Hauser und Mario Klein – die drei Neuen im Team.“ Wieder wurde applaudiert. „So toll war das auch wieder nicht, kriegt euch gefälligst ein“, maulte der rothaarige Junge mit einem bitterbösen Blick auf Mario. „Ich spiel den Basilisken und sonst niemand!“ ‚Das ist er also‘, dachten SAM. Jannik hatte das so gesagt, als wäre er der Leiter der Theatergruppe. Am liebsten hätte ihm Mario etwas echt Fieses ins Gesicht gesagt, um ihm vor allen anderen eine Lektion zu erteilen. Aber SAM hatten einen Auftrag, und der ging vor. Jannik Santer war ein störrischer, schmaler Junge mit hellwachen, wasserblauen Augen und rotem Haar. „Irgendwie müssen wir an ihn rankommen“, flüsterte Armin Sandra zu. „Ich hab da ’ne Idee, das könnte klappen.“ Sandra wollte einen bewährten Detektivtrick anwenden. Sie sah nur diese Möglichkeit, doch die war so verrückt, dass der Erfolg mehr als fraglich war. Dennoch, sie musste es versuchen … „He, Rotkäppchen!“, blaffte sie Jannik abfällig an, „du hast doch selbst nicht die geringste Ahnung, worum es in dem Stück überhaupt geht. Und du willst – wie nanntest du Herrn Kröll vorhin doch gleich – dem Dämlack aus der Theatersteinzeit zeigen, wo’s lang geht?“ Karl Kröll klappte die Kinnlade herunter. Die Verhörtechnik war einer von Sandras Spezialtricks. Darin war sie besonders listig. Sie wusste: Legt man jemandem Worte in den Mund, die er nie gesagt hat, und steht so eine Falle, verwickeln sich Verdächtige oft in Widersprüche, verraten sich oder können dadurch aus der Reserve gelockt werden. 31
Der Trick funktionierte auch bei Jannik. Er wurde unglaublich zornig. Für einen ganz kurzen Moment sah Sandra ihr Spiegelbild in Janniks Brillengläsern aufblitzen, dann bohrte sich auch schon seine Faust in ihren Magen. Sandra knickte ein und taumelte zwei Meter rückwärts. Ein böser Hustenanfall schüttelte sie, dann ging sie vor der schadenfroh grölenden Menge zu Boden. Armin und Mario warfen sich einen verwunderten Blick zu. Jannik war so langsam gewesen – Sandra, die mehrere Selbstverteidigungskurse absolviert hatte, hätte den Schlag mit Leichtigkeit parieren können! Warum hatte sie sich als Sandsack verwenden lassen? „Auseinander, ihr Streithähne!“, rief Karl Kröll, und zog Jannik mit einem groben Ruck zur Seite. Stöhnend rappelte sich Sandra auf die Beine. Ihr Magen rumorte immer noch. „Wir sprechen uns noch, Rotkäppchen!“ „Worauf du deinen Hintern verwetten kannst“, zischte Jannik zornentbrannt. Sandra wartete, bis sich die Gruppe auf dem Weg zum Theatersaal ein paar Schritte entfernt hatte, Jetzt konnte sie ihre Freunde in ihren Plan einweihen. „Ob das funktioniert?“, zweifelte Mario. „Ich hätte ihm eine geknallt.“ „Jedenfalls ist das ein unverfänglicher Grund, Jannik anzusprechen“, sagte Armin. Sandra war felsenfest davon überzeugt. „Glaubt mir, jetzt wird sich in unserer Angelegenheit was tun.“ Und es tat sich etwas. 32
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Der Imperator
Der blondhaarige Bodyguard verschwand wie ein lautloser Schatten in einer schummrigen Bar in Rio de Janeiro, Brasilien. Er flitzte zum Ende des düsteren Ganges, als säße ihm der Teufel im Nacken. Pure Angst – Angst um sein Leben – peitschte ihn vorwärts, denn der Imperator, wie Don Ganucci, Boss der Mafiaorganisation Schwarze Piraten, noch genannt wurde, kannte keine Gnade. Würden seine Handlanger diesen Sonderauftrag vermasseln, würde man sie bald mit Blei gespickt im Straßengraben finden. Was war diesem Lauscher in dem Wiener Hotel zu Ohren gekommen? War der Vorfall von damals noch länger ein Geheimnis? Stinksauer knallte der Imperator mit der Faust auf den gläsernen Bürotisch, als Lucio eintrat und die Tür hinter sich ins Schloss zog. „Der kleinste Fehler und ich lass euch Halbaffen aus den Schuhen putzen!“, tobte Don Ganucci. Er war klein und fett. Sein ausufernder Lebenswandel hatte ihm einen Hängebauch und dicke Wurstfinger beschert, die besonders ins Auge sprangen, weil sie mit schweren Klunkern verziert waren. Überall wurde gemunkelt, dass der Don drauf und dran 33
sei, seine dunklen Geschäfte bis nach Europa auszudehnen. Ganucci rechnete nur in Millionen und alle Geschäfte, die Gott verboten hatte, standen auf seiner Tagesordnung: Waffenhandel, Erpressungen, Kidnapping und das Betreiben illegaler Spielhöllen und zwielichtiger Bars. Ganucci war aalglatt und ging über Leichen. Und dennoch – keinem war es bisher gelungen, dem Imperator ein Verbrechen nachzuweisen. Doch in dieser Nacht war der Don knochenbleich im Gesicht und die spärliche Beleuchtung im Hinterzimmer der Diamantenbar ließ seine Augen eiskalt wirken. Außer ihm und Lucio befand sich noch eine dritte Person im Raum. Eine rothaarige Frau, 40 Jahre alt, mit sportlicher Figur und Stupsnase. Diese Frau hieß Donna Summers und war Ganuccis Anwältin. Donna wagte kaum sich zu bewegen. Der Imperator war außer sich. Ein falsches Wort würde ausreichen, um ihn explodieren zu lassen. Und dann wäre dieses falsche Wort das Letzte, das sie in ihrem Leben hören würde … „Dankt dem großen Boss hinter den Wolken, dass ihr noch nicht mit Betonfüßen auf dem Grund irgendeiner Meeresbucht steht“, grunzte der Imperator. Sein Finger zeigte himmelwärts. Er trat bis auf wenige Zentimeter an Lucio heran. Schweißperlen rannen über dessen Wangen, als auch schon Ganuccis Fleischpranke mitten in seinem Gesicht explodierte.
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Donna zuckte zusammen und rang um Fassung. „Gefühlsausbrüche bringen uns nicht weiter, Imperator. Nur du hast damals in Wien den Lauscher gesehen. Niemand will, dass deine Urlaubskarten für den Rest deines Lebens aus dem Zuchthaus kommen …“ Wütend packte Ganucci die auf einer Kommode stehende Zigarrendose und schleuderte sie mit voller Wucht gegen ein Gemälde von Pablo Picasso. Das millionenteure Bild zerriss und fiel auf den blank polierten Parkettboden. „Zum letzten Mal: Der Lauscher und der Computerhacker sind ein und dieselbe Person. Ich will wissen, von wo sie sich in unser Computersystem bei Astro-Service einschleicht. Sie kennt jeden Übergabezeitpunkt und -ort – und erpresst Schweigegeld von mir. Gestern kam wieder eines ihrer anonymen Horoskope! Wir sind durchschaut!“ Don Ganucci knallte ein handgeschriebenes Fax auf den Tisch. Es trug keinen Absender. „Wenn die Kleine singt und mir Interpol* auch nur ein Geschäft in Wien nachweisen kann, werden sie mich einbuchten. Dann ist auch in euren Kassen Ebbe – also strengt gefälligst eure mickrigen Gehirne an und boxt mich da raus. Findet die Hackerin!“ Donna und Lucio ließen sich nicht anmerken, dass sie die Beleidigung gehört hatten, doch allmählich stieg Wut in ihnen hoch. „Beruhig dich. Lass uns lieber hören, was unser Geheiminformant bei Interpol Lucio geflüstert hat“, sagte Donna. Das Muskelpaket mit dem blonden Bürstenhaarschnitt trat einen Schritt vor. Der Imperator ließ sich in seinen Le*
Internationale Polizei 36
dersessel fallen und zertrümmerte mit der Faust eine Packung Pralinen. Der Inhalt, Monsterfiguren aus Plastik zum Sammeln, kam zum Vorschein. „Das Gesicht des etwa elfjährigen Mädchens ist auf dem Videoband des Hotels nicht zu erkennen“, begann Lucio. „Es gibt ein Video!?“ Der Don war geschockt. „Spuck schon aus, dämlicher Lackaffe!“ „Vielleicht gibt es aber doch eine Spur zu der Göre. Vergrößerungen zeigen eine Aufschrift auf dem dunkelblauen Sweater und der Schirmkappe des Mädchens: Wiener …schule, 5a.“ „Keiner riskiert durch einen Spion bei der Operation Basilisk eine Kugel zwischen die Rippen. Nicht umsonst habe ich bei Mott ein Exempel statuiert“, schrie der Imperator aufgebracht. Seine Angst steigerte sich langsam zur Panik. In Gedanken sah er sich bereits mit einer Sträflingsnummer auf der Brust im Kreise anderer Lebenslänglicher seine Runden im Gefängnishof drehen. „Außer mir, Lucio, Angelo und den Schneemännern setzte damals niemand einen Fuß in dieses Wiener Hotel.“ „Wie das Video ja beweist“, erwiderte Donna leicht spöttisch. „Vielleicht hat Interpol deinen Schneemännern das Doppelte geboten und sie erpressen dich. Das Mädchen könnte ein Aufnahmegerät bei sich gehabt haben.“ „Mist, verdammter!“, keifte Ganucci, und schlug erneut mit der Faust so fest auf die Tischplatte, dass diese zersprang. „Wie Mott sind die Schweinehunde mit ihren zehn Prozent Beteiligung nicht mehr zufrieden. Ich habe sie schon länger im Verdacht, wie Mott in die eigene Tasche zu wirtschaften.“ Die bloße Erinnerung an den Schneemann Leo Mott, 37
der den Auftrag gehabt hatte, die Geschäfte in Deutschland auf Vordermann zu bringen, ließ den Imperator vor Wut schnauben. „Wer sich mit mir anlegt, legt sich selbst die Schlinge um den Hals. Ich hab den Mistkerl zu den Engeln geschickt.“ „Na großartig“, seufzte Donna. „Jetzt kann dir die Polizei auch noch einen Mord anhängen. Falls die Göre alles gehört und aufgezeichnet hat, gibt es auch noch einen Beweis.“ Don Ganucci hatte für sie nicht mehr Grips als ein Regenwurm. Doch wer Geld hat, hat Macht. Nur deshalb konnte sich Don Ganucci wie ein Imperator aufspielen. „Versuch dich zu erinnern, Don. Du hast das Mädchen kurz gesehen, als du nach dem Geräusch auf den Flur gegangen bist. Jedes noch so kleine Detail kann helfen, die Zeugin zu finden. Ein Haarschnitt, ausgefallene Schuhe … Erinnere dich an Wien.“ Der Imperator versuchte sich mit grimmiger Miene zu erinnern. Er grinste fies, als er das Treffen vor seinem geistigen Auge nochmals erlebte: „‚Habt ihr den Verstand verloren!‘, winselte das Aas zitternd. Leo Motts ängstlicher Blick fixierte die Pistole in Angelos Hand. Ich leerte den Inhalt der Einkaufstüte von Santer & Söhne auf den Tisch und schob ihm eine der Pralinenschachteln hin. ‚Wo sind die Pralinen, Mott?‘, fragte ich. ‚Sie liegen doch vor dir auf dem Tisch‘, winselte er. Ich sagte: ‚Da sind Plastikmonster drin und nicht das, was drin sein müsste.‘ Mott stand plötzlich der Schweiß auf der Stirn. ‚Jemand hat die Pralinen vertauscht, um sich sein Gehalt aufzubessern‘, winselte er weiter. ‚Das denke ich auch – nämlich du!‘ Ich schnippte mit den Fingern, Angelo hob die Pistole und … dann das Geräusch an der Tür … Ich öffnete und sah diese Göre und 38
… blonde Haare, der dunkelblaue Sweater, rote Turnschuhe … Verdammt! Da war nichts Besonderes. Wie oft soll ich das noch sagen!“, wütete der Mafiaboss. Er schleuderte das Telefon in die Glastür des Barschrankes. Flaschen zersplitterten. „Vielleicht war es auch ein Junge. Mit diesen Schirmkappen sehen sie doch alle gleich aus!“ Was immer der Lauscher wollte. Sein Wissen war für den Imperator eine tickende Zeitbombe. Doch noch fehlte jede Spur. Einzige Anhaltspunkte waren ein unscharfer Videofilm, ein handschriftliches Fax-Horoskop und der Schulaufdruck auf den Kleidungsstücken – doch in Wien gab es viele Schulen. Die Durchführung des Plans, den Don Ganucci soeben ausgeheckt hatte, konnte viele Wochen in Anspruch nehmen. Aber er war fest entschlossen, diese Chance zu nutzen. Fünf Tage blieben ihm noch, um das Schlimmste zu verhindern. „Packt nur das Nötigste ein, wir fliegen noch heute Abend“, ordnete der Imperator an. „Ich kümmere mich in Wien selbst um die Sache.“ „Du kannst Brasilien unmöglich verlassen“, wehrte Lucio ab. „Interpol hat laut unserem Informanten Lunte gerochen. Die sind dir auf den Fersen!“ „Schafft mir diesen Maskenbildner her, dessen Sohn ich freikaufte. Er schuldet mir noch einen Gefallen. In vier Stunden will ich eine neue Visage haben. Donna, du besorgst mir inzwischen einen gefälschten Pass. Lucio, du kümmerst dich um die Flugtickets – erste Klasse versteht sich, Spatzenhirn. Und sag Angelo Bescheid.“ Lucio nickte. Er hatte alle Mühe beherrscht zu bleiben, 39
aber ein Aufbegehren wäre einem Selbstmord gleichgekommen. „In Wien bietet den Schulen eine Summe an, die sie nicht ausschlagen können. Bis Donnerstag will ich jedes Passfoto und jede Schülerakte mit dem Video und jede Handschriftenprobe mit dem Fax verglichen haben!“ Das fette Gesicht des Imperators hatte einen mordlüsternen Ausdruck angenommen. Donna schluckte. Ihr Boss machte vor nichts Halt! Aber würde er auch Kinder … Sie hatte die Frage noch nicht einmal zu Ende gedacht, da hallte auch schon das eiskalte Lachen Ganuccis durch das Zimmer. „Wenn ihr den Lauscher gefunden habt, lasst ihn noch mal beten und dann …“ Sein fleischiger Zeigefinger zeichnete eine waagrechte Linie an seinen kurzen Hals. „Es muss wie ein Unfall aussehen …“
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Böse Überraschungen
Niemand merkte, dass SAM etwas im Schilde führten. Am Mittwochnachmittag, 24 Stunden nachdem Jannik Sandra als Sandsack benutzt hatte, war die Theatergruppe wieder unter sich. Nach der ersten Leseprobe galt es, mit dem Bau der Bühnendekoration zu beginnen. Karl Kröll stand auf der Bühne im Theatersaal und überwachte die Arbeiten. Es wurde gesägt, geschraubt, gemalt und gehämmert. Schließlich sollte das Bühnenbild – es zeigte die Schönlaterngasse und das gruselige Höhlenlabyrinth des unterirdischen Wiens – so echt wie nur irgendwie möglich wirken. „In acht Minuten ist Schluss!“, rief Herr Kröll in den Lärm hinein. „Heute ist der monatliche Kinoabend des Internats. Wir wollen auf keinen Fall zu spät kommen.“ Nach einem kurzen Blick auf den mürrischen Jannik vermutete Sandra, dass er sich nicht für den Film zu interessieren schien. Sie bastelten zusammen an einem düsteren Keller. Jannik hatte bisher kaum mitgearbeitet. Das Ergebnis hinkte deshalb dem Zeitplan hinterher. „Noch zwanzig Minuten, dann ist der Keller fertig“, bat Jannik Herrn Kröll. „Wir schaffen’s in fünfzehn“, unterstützte ihn Sandra. „Ihr wollt wohl eine Rolle aus Romeo und Julia einstu41
dieren?“, ätzte Peter, ein rundlicher Lockenkopf. Die anderen lachten. „Mal wieder oberwitzig heute, Kasper, was?“ Karl Kröll warf einen Blick auf seine Uhr. „Meinetwegen“, rang er sich zu einer Erlaubnis durch. „Aber Punkt halb acht seid ihr marschfertig.“ „Punkt halb acht“, wiederholte Sandra und gab Armin und Mario mit einem Augenzwinkern zu verstehen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, um ihren Plan auszuführen. Mario wollte noch fragen, was sie machen würden, wenn es schief laufen sollte, aber er kam nicht mehr dazu. Herr Kröll bugsierte sie aus dem Saal. Jannik pinselte stumm und geistesabwesend graue Farbe an den Pappfelsen. „Eigentlich steht heute in meinem Horoskop, dass ich nette Leute kennen lernen werde“, wagte Sandra den Versuch, ein Gespräch zu beginnen. Als er Horoskop hörte, hielt Jannik kurz inne. Er murrte ärgerlich, malte aber dann weiter und beachtete Sandra überhaupt nicht. ‚Na dann eben nicht‘, dachte sie. Da fiel ihr Blick auf den Holzträger, der in der Gangmitte das Gewölbe abstützte. Plötzlich hatte sie eine Idee. Irgendetwas würde dadurch passieren … Auf leisen Sohlen machte sie fünf Schritte nach links. Jetzt stand sie genau neben dem Stützpfeiler. Sie ließ den Pinsel auf den Boden fallen. „Kannst du nicht aufpassen. Du versaust den Boden“, murrte Jannik. Sandra bückte sich, um den Pinsel aufzuheben und trat 42
dabei unauffällig gegen den Pfeiler. Er kippte zur Seite weg und krachte auf den Bühnenboden. Eine dichte Staubwolke wirbelte auf. „Janniiiiik!“ Eine Sekunde später schlugen rundherum die ersten Felsbrocken wie Meteoriten auf den Boden. Die Bühne erzitterte unter Sandras Füßen, als bräche sie jeden Moment entzwei. Eine schwere Seitenwand wankte. Jannik riss Sandra mit einem Hechtsprung zur Seite. Ein Mehlsack, der als Gegengewicht für die Wand gedient hatte, riss ab und krachte auf die Bodenbretter. Alles um sie herum verschwand hinter einem undurchdringlichen Vorhang aus weißem Staub. Dann fielen die Höhlenwände in sich zusammen und begruben Sandra und Jannik unter sich. Die Minuten verstrichen. Nichts bewegte sich unter den Trümmern. Allmählich verflüchtigte sich die Staubwolke. Sandra und Jannik öffneten die Augen. „Bin an den dämlichen Pfeiler gestoßen“, japste Sandra. „Hättest du mich nicht …“ „Sollte ich vielleicht zusehen, wie du erschlagen wirst?“, hüstelte Jannik. „Der komplette Aufbau ist im Eimer. Ich hör schon die Gardinenpredigt der Frau Direktor!“ „Die werden wir auch noch überleben.“ „Hast du eine Ahnung … Wenn die Alte losschreit, siehst du nur noch die Brille und das falsche Gebiss.“ Jannik sah Sandra an. „Du siehst ungefähr so frisch aus wie ein alter Putzlappen.“ „Da haben wir ja schon was gemeinsam“, lächelte Sandra. „Danke, Jannik. Übrigens: Wegen gestern – Entschuldigung. Mario ist ein Freund von mir.“ Sandra schob die 43
Pappwände zur Seite und streckte Jannik die Hand entgegen. „Lass uns das Kriegsbeil begraben, ja?“ Jannik zögerte. Er war an freundschaftliche Gesten nicht gewöhnt, aber dann gab er sich einen Ruck und schlug ein. Sandra jauchzte innerlich. Wenn auch etwas anders als beabsichtigt, aber ihr Plan hatte geklappt. Das Eis war gebrochen; Jannik sprach mit ihr. Es war Zeit für Plan B. Sandra spürte, dass sie auf der richtigen Spur war. Hätte sie gewusst, wohin diese Spur führen sollte, sie hätte sie niemals weiterverfolgt. Aber so nahmen die Dinge ihren verhängnisvollen Lauf. „Dass ich beim Bau einer Bühnendekoration zu Fall komme, stand nicht in meinem Horoskop“, sagte Sandra. „Es gibt da eine spezielle Seite in meinem Tagebuch … Führst du auch ein Tagebuch?“ „Der Computer ist mein Tagebuch, aber ich verschlüssel die Aufzeichnungen. Dabei gibt es niemanden mehr, vor dem ich etwas geheim halten könnte, seit Paps …“ Jannik seufzte. „Oh, tut mir echt Leid. Wie taktlos von mir“, entschuldigte sich Sandra, und setzte sich zu ihm. „Wieso interessiert dich das eigentlich?“ „Tut’s nicht wirklich“, log Sandra. Jannik wirkte für einen Moment hellwach. Dann versank er wieder in Schwermut. Seine Augen sahen auf einmal leer und müde aus. Er griff nach einer Schachtel in seiner Jeansjacke und schob ein Schokoei in den Mund. Kurz darauf schien es ihm deutlich besser zu gehen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und in seinen Augen glitzerte es lebensfroh. „Basiliskeneier. Echt cool, was die Dinger bewirken! 44
Magst du auch eins? Ist die neueste Sorte aus unserer Pralinenfabrik.“ „Nein, danke. Ich esse keine Süßigkeiten – ist schlecht für die Zähne.“ Sandra überlegte einen Moment, wie sie es sagen sollte, und packte den Stier dann einfach bei den Hörnern: „Jannik, könnte dein Vater einen Grund haben, sein Verschwinden vorzutäuschen? Oder glaubst du das Märchen mit dem Killer-Basilisken?“ Jannik zuckte mit den Schultern. „Kann sein, kann auch nicht sein“, lachte er. „Ist doch egal.“ Er sah Sandra geistesabwesend an – fast, als sei er wie Alice im Wunderland in eine andere Welt eingetreten. Ihr war klar, dass sie jetzt nichts mehr aus ihm herausbrachte. „Wenn du möchtest, besuche ich dich und deine Mutter morgen, dann können wir reden, das hilft manchmal.“ „Meine Mutter?“ Jannik stand auf und drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis. „Meine Mutter lebt in Deutschland. Sie sind geschieden. Ist nicht lustig, ohne Mutter aufzuwachsen.“ „Ich weiß“, sagte Sandra. „Ich war vier, als meine Eltern starben – bei einem Autounfall mit einem betrunkenen Geisterfahrer auf der Autobahn. Manchmal träum ich noch davon. Ich kenn meine Eltern nur von Fotos. Onkel Rufus schielte nur nach dem Erbe und ließ mich in einem Münchner Waisenhaus verschwinden.“ Jannik hielt inne. „Ein Jahr später adoptierten mich Amanda und Valentin. Sie waren es auch, die mich in letzter Sekunde aus dem brennenden Wrack gezogen haben.“ Jannik setzte sich. „Tut mir Leid wegen dem Faustschlag … Onkel Theo ist auch nur aufs Geld aus. Er war 45
ständig im Ausland unterwegs und hat uns in all den Jahren nicht einmal besucht. Er wusste gar nicht, dass sein Bruder inzwischen Kinder hatte. Bis vor einer Woche zumindest. In seinen Augen schillert ständig das Dollarzeichen.“ Die Tür des Theatersaales wurde mit einem lauten Krach aufgestoßen. „Oh nein, ich hab’s geahnt“, flüsterte Jannik. „Die Alte hat uns gerade noch gefehlt …“ „Kann man euch keine Sekunde aus den Augen lassen!“, schnaubte Karin Damm wie ein wild gewordenes Nashorn. Karl Kröll folgte ihr auf den Fuß. Er lächelte verschmitzt, aber er würde eine gute Ausrede brauchen, um zu erklären, weshalb er die Kinder hier allein gelassen hatte. Sandra nutzte den Aufruhr, den Frau Damms Auftritt verursacht hatte. Sie griff schnell in Janniks Jeansjacke, die auf einem Pappkarton lag, und ließ ein gelbes Kärtchen in ihrer Hosentasche verschwinden. Während die Direktorin schimpfte, überlegte Sandra die nächsten Schritte. Ihr Detektivinstinkt war jetzt voll erwacht. Sie dachte über Dinge nach, die nicht ungefährlich waren. Doch zuerst mussten Armin und Mario eingeweiht werden. Ein Glück, dass der Kinoabend nicht zur Strafe gestrichen worden war. Punkt acht Uhr erlosch das Licht im Saal und die ersten Bilder flimmerten über die riesige Leinwand. Im Schutze der Dunkelheit schlichen Sandra, Armin und Mario gebückt durch den Notausgang in die Nacht hinaus. „Was soll bei dieser Aktion eigentlich rauskommen?“, wollte Mario wissen. „Weiß ich selbst noch nicht“, meinte Sandra achselzu46
ckend. Sie holte Janniks gelbe Visitenkarte aus ihrer Hosentasche. „Ich hab da so ’ne Ahnung. Wir finden sicher was.“ „Und wenn man uns erwischt?“, gab Armin zu bedenken. „Daran will ich nicht mal denken. Dann ist der Auftrag geplatzt!“ Das Taxi brauchte neunzehn Minuten bis zu Horst Santers Villa im 16. Bezirk. Was hier auf der rechten Straßenseite zwischen hohen Lärchen und Eichen vor ihnen aufragte, erinnerte mehr an ein Schloss, als an das Heim eines berühmten Schokoladefabrikanten. SAM gingen hinter dichten Büschen neben der Veranda in Deckung. „Und weiter?“ Armin sah Sandra fragend an. „Wir müssen irgendwie in Janniks Zimmer gelangen“, flüsterte sie. Da huschte ein Lichtschein über ihr Gesicht und sie zuckte zusammen. Die Tür ging auf und drei Männer traten auf die Veranda. Durch den Schatten, den die Tür auf sie warf, konnte man sie jedoch nicht sehen. Armin glaubte zu erkennen, dass der eine eine Pistole bei sich hatte. Einer der Männer begann jetzt zu reden. Er klang aufgeregt. Die anderen beiden standen da wie Schaufensterpuppen. „Danke, Frau Nowak, dass Sie sich noch um das Haus meines Bruders kümmern. Aber Jannik ist vorerst im Internat sicherer. Und passen Sie auf die Hunde auf. Das sind Bestien. Wer weiß, was noch alles …“ Theo Santer brach abrupt ab, als Mario auf einen trockenen Ast trat, der laut knackte. Die Gestalten fuhren herum. Sie starrten direkt in SAMs Richtung. 47
„Es kam von dort unten!“, rief Theo. Sandra, Armin und Mario wechselten alarmierte Blicke. Einige Sekunden lang war es absolut still. „Sie brauchen Ruhe, guter Mann. Sicher nur ein streunender Hund oder ein Marder“, sagte einer der Männer. „Sie haben Recht. Ich verzweifle noch am Schicksal meines armen Bruders. Jedenfalls steht Jannik im Internat unter strenger Aufsicht – für den Fall, dass er wieder einen seiner seltsamen Streifzüge plant. Wenn die Spurensuche auch vergeblich war – trotzdem besten Dank.“ „Wir fahren Sie nach Hause“, sagte einer der Männer und die drei stiegen in ein Auto. Der Motor heulte auf; dann brauste der Wagen davon. „Das war ja ein Streifenwagen“, rief Armin. „Dann waren das also Polizisten“, murmelte Sandra. „Okay, wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Mario. „Ihr beide kommt nach dem Kino noch mal hierher. Ihr wisst, wonach ihr zu suchen habt“, flüsterte Armin. „Ich spiele inzwischen Janniks Schatten.“ Sandra und Mario nickten. Dann schlichen sie sich aus dem Garten der Villa und nahmen die Straßenbahn zum Kino. Leise schlichen sie auf ihre Plätze zurück. Als der Film gegen halb elf Uhr zu Ende ging, ahnten SAM noch nicht, welch böse Überraschungen diese Nacht noch für sie bereithalten sollte.
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Gefährliches Spiel
Es war mitten in der Nacht. Die Turmuhr schlug zweimal. Im Internat schliefen alle – zumindest schien es auf den ersten Blick so. Armin hatte sich in der Besenkammer, die unmittelbar neben Janniks Zimmer lag, versteckt. Möglicherweise würde Jannik heute Nacht wieder einen Ausflug ins unterirdische Wien unternehmen … Armin kontrollierte gerade seinen Detektivgürtel, als ein Geräusch aus Janniks Zimmer drang. Armin presste das rechte Ohr an den Schacht der Klimaanlage. Nebenan wurde gesprochen. Es war zwar unverständlich, aber zweifellos war Jannik nicht allein. Irgendwie musste es ihm gelingen, das Gespräch zu verstehen. Der SAM-Trick Belauschen mit einem Trinkglas fiel ihm ein. Er fand ein Glas in einem Regal. Armin hielt das Glas mit der Öffnung an die Wand und presste sein Ohr gegen den Boden des Glases. (Je größer und dünner das Glas ist, desto besser.) Was er hörte, machte ihm schlagartig bewusst, dass hier jemand gefährlich mit dem Feuer spielte: Tommy, Janniks engster Freund, war heimlich zu ihm ins Zimmer geschlichen. Sie waren mit dem PC beschäftigt. „Verdammt, wie hast du das denn geschafft?!“, entfuhr es Tommy und er rückte so dicht an den Bildschirm heran, 49
dass seine Nase fast den Monitor berührte. „Siehst du, ich hab dir nicht zu viel versprochen!“, triumphierte Jannik. Tommy betrachtete die Buchstaben, Ziffern und grafischen Symbole ehrfürchtig. „Astro-Service“, las er verblüfft. „Bestellen Sie Ihr persönliches Tageshoroskop … Ich schnall’s nicht. Bisher hat es kein Hacker geschafft, ohne Anmeldung zur AstroService-Seite zu gelangen! Du treibst ein gefährliches Spiel, mein Freund. Lass lieber schleunigst die Finger davon, denk an Benny! Und heute Morgen haben sie Peter ins Krankenhaus gebracht.“ „Hat mich Wochen gekostet, bis ich den blöden Code geknackt hab, Tommy. Aber jetzt, jetzt werd ich diese Gauner auspressen wie eine Zitrone.“ „Wovon sprichst du, Mann?“ „Noch weiß ich nicht wer dahintersteckt. Aber sie zahlen Schweigegeld. Ich hab mehrere dieser komischen Horoskope im Computer von …“ „Mist, verdammter!“, fluchte Armin. Die Klimaanlage ging los. „… und du glaubst, in Wirklichkeit stecken dahinter verschlüsselte …“ Ein Luftstrom rauschte. Armin fluchte und presste das Glas an eine andere Stelle. Nebenan las Tommy laut Janniks Computer-Horoskop vor: „Basilisk Heute ist ihr Glückstag. Sie werden lang erwartete Geschenke erhalten und sich fühlen wie ein Imperator. 50
Wetter: Schifahrer freuen sich – es schneit wieder süßen Schnee. Beste Zeit: 3 Uhr Bester Ort …“ „Verflixt!“, zischte Armin wütend. Wieder wurden die Worte vom Rauschen der Klimaanlage übertönt. „Ich wünsch dir wegen deinem Vater, dass du Recht hast, aber … Das Ding ist mir zu heiß, Kumpel. Da mach ich nicht mit.“ Eine Tür wurde zugeschlagen. Armin stellte das Glas zurück. Es war 2:26 Uhr, als Armin merkte, dass er mit seinem Verdacht richtig gelegen hatte und ihm eine lange Nacht bevorstand. Jannik wartete, bis der Nachtportier seinen Rundgang im vierten Stock fortsetzte, dann sprang er durch das Klofenster im Parterre heimlich nach draußen. Im Schein der trüben Hoflaterne stahl er sich zum Fahrradschuppen hinüber. Armin heftete sich sofort an Janniks Fersen. Dabei rief er sich einige Profitricks für die richtige Vorgehensweise im Falle einer Beschattung in Erinnerung. Verhalte dich beim Verfolgen und Beschatten so unauffällig und harmlos wie möglich. Am besten ist es, du bewegst dich in einer größeren Menschenmenge, damit du kein Aufsehen erregst. Armin spähte vorsichtig durch das offene WC-Fenster in den Innenhof der Schule hinaus. Nachts, wenn der Mond sein fahles Licht auf die Gassen warf, und die Straßen zwischen den Häusern wie dunkle Schluchten wirkten, waren nicht viele Menschen unterwegs. Also mussten ihm Schattennischen als Tarnung dienen. 51
Trage Schuhe mit einer weichen Gummisohle. Sie verursachen die geringsten Schrittgeräusche. Vermeide helle, auffällig gefärbte oder gemusterte Kleidung. Jacken sollten immer einen Kragen zum Hochschlagen oder eine Kapuze haben, die sich tief ins Gesicht ziehen lässt – vor allem, wenn es dunkel ist. Nachts kann ein unverdecktes Gesicht hell wie eine leuchtende Glühbirne wirken. Armin hatte dies natürlich bedacht und Turnschuhe und dunkelblaue Kleidung angezogen. Er sah die beiden Schatten nicht, die hinter eine Mülltonne huschten. Leichtfüßig sprang er auf das Fensterbrett und dann in den Schulhof hinunter. Der Schreck fuhr ihm wie ein Messerstich durch Mark und Bein: Jannik fuhr herum. Kreischend jagten zwei Katzen hinter der Tonne hervor und zwischen seinen Beinen hindurch. Er geriet ins Wanken und stürzte auf das Steinpflaster. „Elende Mistviecher!“, zischte er, wurde aber gleich darauf mucksmäuschenstill. Im dritten Stock ging Licht an und ein Fenster wurde geöffnet. Auch Armin rührte sich nicht. Sein Herz pochte wild. „Verschwindet, Flohbestien!“, keifte jemand, beugte sich aus dem Fenster und ließ den Blick über den Internatshof wandern. Dann wurde es wieder still. Armin fiel ein Stein vom Herzen. Es war der Nachtportier gewesen, der nun den Kopf einzog, und das Fenster wieder schloss. Jannik kroch auf die Beine. Er fuhr ohne Licht weiter. Folge verdächtigen Personen auf keinen Fall in zu knappem Abstand, sie könnten Verdacht schöpfen. Benutze wenn möglich die andere Straßenseite, das ist unauffälliger. 52
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Armin schwang sich aufs Rad und folgte Jannik in einigem Abstand auf dem Gehsteig. Versuche dich ständig im Schatten aufzuhalten. Meide jede Lichtquelle. Bewege dich nicht auf der Straßenseite vorwärts, an der die Laternen stehen. Mache ein en großen Bogen um hell erleuchtete Schaufenster. Jannik bog in eine Gasse ein. Sein Gesicht flackerte maskenhaft im Schein einer gelb blinkenden Ampel. Achte darauf, dass sich zwischen dir und dem Verfolgten Autos, Bäume, Fahrkartenschalter usw. befinden. Diese sind für den Verfolgten eine viel größere Sichtbehinderung als für den Verfolger. Wechsle dich bei einer längeren Beschattung mit einem Detektivkollegen ab, der in großem Abstand hinter dir geht (dadurch ist er noch unauffälliger als du). Doch Sandra und Mario hatten heute Nacht eine andere Aufgabe zu erledigen. Armin musste es alleine schaffen. Wenn möglich, laufe nicht ununterbrochen von einem Versteck (Hauseingang, Kiosk, Baum … ) zum nächsten. Das ist zu auffällig. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen. Armin wich in einen Hauseingang zurück und wartete ab. Jannik war abgestiegen. Seine Schritte waren kaum noch zu hören. Er lief am Gasthaus Zum Basilisk in der Schönlaterngasse vorbei. Bald darauf hörte man eine Tür knallen. Stumm wie ein Geist glitt Armin aus dem Eingang und eilte Jannik durch den strömenden Regen nach. ‚Unmöglich‘, dachte er, als er um die Ecke bog. ‚Er kann sich doch nicht in Luft auflösen.‘ Die Gasse war menschenleer. Wohin war Jannik verschwunden? Armins Blick fiel auf das Haus Nummer 7. In einer 54
Mauernische stand eine merkwürdige Steinfigur. Darunter fand sich das Mauerbild eines Bäckergesellen mit einem Spiegel in der Hand. Dann sah er das Schild Basiliskenhaus. Er verstand sofort. Die grünliche Tür war nur angelehnt. Armin stieg eine dunkle Treppe hinab. Er lauschte. Nichts. Nur der Regen prasselte draußen auf die Straße. Hatte Jannik ihn bemerkt? Bestimmt! Er durfte nicht entkommen. Die Straßenlaternen spendeten nur spärliches Licht. Der Keller wirkte unheimlich. Armin schlich weiter. Was jetzt? Verwende im Dunkeln keine Taschenlampe; deine Augen gewöhnen sich nach kurzer Zeit an die Finsternis. Geht es gar nicht ohne Taschenlampe, halte sie als Rechtshänder in der linken, also deiner schwächeren Hand. Wirst du angegriffen, kannst du mit der rechten Hand einen gezielten Gegenschlag ausführen. Armin schaltete seine Taschenlampe ein, die nicht größer war als ein daumendicker Filzstift. Halte die Taschenlampe mit ausgestrecktem Arm weit vom Körper weg, denn ein möglicher Gegner wird seinen Angriff fast immer auf die Lichtquelle und somit an dir vorbei richten. Hältst du die Taschenlampe direkt vor deinen Körper, bist du selbst die Zielscheibe. Vom Regen durchnässt sah sich Armin im Keller um. Es war der tristeste und unheimlichste Ort, den er seit längerem betreten hatte – abgesehen vom sprechenden Wald
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auf Haiti*. Unter dem feuchten Steingewölbe hingen riesige Spinnennetze. An den Wänden standen verstaubte Regale mit leeren Weinflaschen. Ratten hatten in der dicken Staubschicht einer Treppe ihre Spuren hinterlassen. Im Boden entdeckte er eine Falltür. Da waren ebenfalls Fußspuren im Staub zu sehen. Diese stammten jedoch nicht von Ratten. ‚Ein Geheimgang!‘, dachte Armin aufgeregt. Unterdessen wagten sich Sandra und Mario noch einmal zu Horst Santers Villa. Sandra öffnete eine Plastiktüte und warf zwei dicke Fleischstücke über die Gartenmauer. Mario stieß einen Pfiff aus. Sofort kamen die beiden Dobermänner angerannt und machten sich zähnefletschend über die Fleischbrocken her. Sekunden später war das dumpfe Aufprallen zweier Körper auf den Boden zu hören. „Jetzt die Räuberleiter“, flüsterte Sandra. Leise wie Katzen landeten sie im Garten der Villa. Da lagen die beiden Wachhunde im Gras. Reglos. Vorsichtig stiegen sie über die Dobermänner hinweg. „Womit hast du sie eingeschläfert?“ „Meine Großmutter hat einen ganzen Schrank voll Schlafmittel. Die schlummern erst mal für ein paar Stunden. Bist du bereit?“ „Ja.“ „Dann drück uns die Daumen!“
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siehe CodeName SAM 3: „Das Zombie Elixier“ 56
Vorsichtig hob Armin die knarrende Tür des Geheimganges an. Ein rabenschwarzes Loch klaffte vor ihm. In die Dunkelheit führte eine steile Treppe hinab. Das Glucksen von Wasser war zu hören. Mit jedem Schritt wurde es kälter und feuchter. Immer wieder schaltete er kurz die Taschenlampe ein. Das Theaterstück kam ihm in den Sinn. Darin wurde der Basilisk im Brunnen des Bäckerhauses in der Schönlaterngasse 7 gesehen. ‚Jannik sucht doch nicht im Ernst einen Basilisken?‘, dachte Armin. Eine Tür quietschte, als würden Fingernägel über eine Tafel kratzen. Flink lief er in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Er erreichte einen schlauchähnlichen Gang, der sich in zwei Tunnels verzweigte. Er ging nach rechts und stand vor einem Gittertor. Obwohl nach dem Gitter Fußspuren zu sehen waren, war das Schloss nicht aufgebrochen worden. Als wäre ein Geist schnurstracks hindurchgewandert! Woher hatte Jannik einen Schlüssel? Oder hatte ihm jemand das Tor geöffnet? Armin drückte den Türgriff nach unten. Das Tor war ja offen! Zentimeter für Zentimeter leuchtete er den Kanalfluss und die Wände mit seiner Taschenlampe ab. Armdicke Leitungen wanden sich wie Würgeschlangen in Kopfhöhe durch die Gewölbegänge. Sonst war nichts zu sehen. Er hatte das ohnehin erwartet. Was immer sich hier unten in diesem nebeldüsteren Labyrinth verbarg – es musste sich weiter hinten befinden. Das unterirdische Röhrensystem glich einem Spinnen57
netz aus Gängen. Und es stank fürchterlich! Links führte ein schmaler Gang weiter und verlor sich nach wenigen Metern in der Dunkelheit. Armin wählte den Tunnel zu seiner Rechten. Etwa drei Minuten ging er geradeaus, dann hörte er ein fernes, merkwürdiges Brausen. Er glaubte, Schritte zu hören. Oder täuschte er sich? Vermutlich wurde das Geräusch von einem einmündenden Seitenkanal verursacht. Armin schaltete die Taschenlampe aus und tastete sich an der feuchten Wand entlang. Er fühlte grobe Steinkanten. Der Gang war hier zu Ende. Fünf Stufen führten zu einer weiteren Eisentür mit einem T-förmigen Drehgriff. Auch diese Tür war nicht verschlossen. Armin konnte nichts sehen, aber er spürte mit allen Sinnen die Größe des vor ihm liegenden Raumes. Der Widerhall des Rauschens und der veränderte Klang seiner Atmung ließen auf eine Art Höhle schließen. Plötzlich sah er das stumpfe rötliche Licht einer altersschwachen Glühbirne. Schlurfende Schritte kamen aus dem hinteren Teil der Höhle. Armin hatte das lähmende Gefühl, in einem Horrorfilm zu sein. Doch Janniks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich bin hier. Hinterleg es wie immer …“ ‚Das ist doch unmöglich!‘, schoss es Armin durch den Kopf.
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Geräusche aus dem Nichts
Armin stahl sich leise von einer der dicken Steinsäulen, die das Kellergewölbe abstützten, zur nächsten. Vor ihm glänzte ruhiges, schwarzes Wasser in einem viereckigen Becken. Für einen Moment glaubte Armin wie aus dem Nichts Geräusche zu vernehmen: ein weit entferntes, schwaches Klopfen. Was um alles in der Welt ging hier unten nur vor? „Ich hol es mir jetzt …“, hörte er Janniks Stimme nicht weit vor ihm. Sie klang jetzt leicht zittrig und hallte von den Steinwänden wider. War Jannik abergläubisch? Glaubte er wirklich ein Basilisk hätte seinen Vater …? Oder wollte er sich hier unten mit seinem Vater treffen? Mit wem sprach er? Der Boden unter Armins Schuhsohlen vibrierte. In ruckartigen, immer heftigeren Schüben zuckten die Vibrationen durch den steinernen Untergrund. Das war doch wohl nur eine U-Bahn? „Na also“, hörte er Jannik sagen. Papiergeld raschelte. Mit jedem Schritt, mit dem sich Armin jetzt in den hinteren Bereich der Höhle wagte, schlug sein Herz schneller und tat schließlich einen Riesensprung, als er Janniks panischen Angstschrei hörte. 59
„Allmächtiger Gott, neiiiiin!“ Armin spähte durch eine Mauerritze. Er verstand nicht wie, nur dass es geschah. Da stand es. Gleich um die Ecke. Ein riesiges Wesen mit Hahnenkopf und grünbläulich schimmerndem Gefieder. Sandra und Mario knackten das Türschloss mithilfe ihres Dietrichs*. Durch die Hintertür stahlen sie sich leise in die Villa von Horst Santer. Völlige Dunkelheit umfing die beiden. „Janniks Zimmer liegt im ersten Stock“, flüsterte Sandra. „Schnell, ehe er kommt“, murmelte Mario. Sie folgten den Lichtbalken ihrer Stablampen durch die Empfangshalle, liefen, grimmig dreinblickende Gipsstatuen hinter sich lassend, nach oben und fanden sofort Janniks Zimmer. Es musste seines sein, denn wer sonst hätte einen Grund, seine Tür mit einem Spion** zu versehen? Sie gingen hinein. „Jannik scheint ein Fan von Mr. Spock zu sein“, meinte Mario. Sie staunten nicht schlecht. Von dem vornehmen, mit teuren Edelhölzern eingerichteten Flur, waren sie in ein funkelndes Hightech-Ambiente geraten. Das Foto, das sie bei Rainer Lennert gesehen hatten, hatte nur einen Teil von Janniks Computeranlagen gezeigt. „Ich such mir ’nen zweiten Ferialjob. Der Verleih von Computerspielen und Büchern scheint’s alleine nicht zu bringen! Braucht ihr nicht einen zweiten Zeitungsboten?“ * **
Nachschlüssel hier: Guckloch, Beobachtungsglas in der Tür 60
„Jetzt ist keine Zeit für flotte Sprüche“, flüsterte Sandra, und ließ den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über die Zimmereinrichtung gleiten. Links neben dem Bett stand ein Spiegeltischchen. „Sieh dir das mal an! Jannik sammelt Schminksachen?“ Mario öffnete einen Schrank. „Da sind sogar ein Rock und einige Blusen.“ Schauspieler lachten sie von den Postern an den Wänden an. In den Regalen tummelten sich unzählige Sagenbücher und Stofftiere. Überall lagen Schulhefte und CDs herum. „Versuch’s mit dem“, flüsterte Sandra. „Scheint der Hauptcomputer zu sein.“ Mario war der Computerspezialist des Detektivtrios. Wenige Handgriffe genügten und er fand, was er gesucht hatte. Glücklicherweise hatte Jannik die Dateien nicht codiert. Sandra spähte kurz durch den Türspion, doch die Luft war rein. „Sieh einer an“, flüsterte Mario. „Im Inhaltsverzeichnis gibt es eine Datei mit dem Titel Basilisk.“ Er öffnete sie. „Mist, verschlüsselte Texte!“ Doch im Grunde war das für SAM kein Problem, denn sie hatten im Entschlüsseln von Geheimbotschaften schon einige Übung. „Sieht nach einem ABC-Code aus. Haben wir auch schon verwendet“, meinte Mario. „Na, dann los!“
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„So lange schlafen die Hunde nicht“, sagte Sandra ernst. Zuerst suchten sie Worte mit drei Buchstaben heraus. Meist waren das Artikel. Sie ersetzten die Buchstaben durch andere und versuchten so, den Code zu knacken. Mario knetete vor Aufregung seine Finger, bis sie knackten. Sie mussten es schaffen! Armin hörte das Wesen röcheln. Klauen, so scharf wie Rasiermesser, schabten über den Steinboden. Jannik, der unter seiner Jackenkapuze nicht zu erkennen war, stand an die Wand gepresst und drehte den Kopf zur Seite, um nicht in die Augen der Kreatur sehen zu müssen. Welche Bestie hatte da aus Armins wildesten Alpträumen den Weg in die Wirklichkeit gefunden? Der Basilisk schüttelte seinen hässlichen Kopf und wiegte sich vor und zurück. Seine funkelnden Augen schienen dabei jeden Quadratzentimeter des unterirdischen Höhlenlabyrinths wie ein Radar abzusuchen. Er stieß ein lautes, bedrohliches Fauchen aus und hob eine Klaue. Dann passierte alles Schlag auf Schlag: Jannik überwand seine Angst und rannte blindlings drauflos. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Basilisk zuschlagen konnte. Von Panik getrieben bemerkte er Armin im Schatten der Nische nicht, als er an ihm vorbeihastete. Die Glühbirne erlosch. Dann legte sich gespenstische Stille wie eine Daunendecke über die finsteren Gewölbe. Tausend Gedanken gingen Armin durch den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Der Anblick des Basilisken hatte ihn vollkommen verwirrt. Sein Gehirn fühlte sich an wie ein ausgedrückter Schwamm. Viel zu spät kam er zu sich. Er hatte keinen Schlüssel 63
und musste daher vor Jannik die Tür passieren. Aber er durfte auch nicht entdeckt werden! Mit einem Riesensatz sprang Armin auf und torkelte zum Höhlenausgang. Doch Jannik kam plötzlich zurück! „Mist, er ist falsch abgebogen!“, fluchte Armin leise. Er schirmte die Taschenlampe mit der Hand ab. Eine Ratte kroch aus dem Wasserbecken. Er hatte keine andere Wahl. Armin holte tief Luft. Langsam glitt er ins Wasser, tauchte unter und wartete. Bald brannte die verbrauchte Luft in seinen Lungen, wurde weniger und weniger, als plötzlich der Lichtstrahl von Janniks Taschenlampe über die Wasseroberfläche tanzte. Ein Würgen schnürte Armin die Kehle zu. Der Lichtstrahl kam genau über ihm zum Stillstand. Es war aus! Da verschwand das Licht wieder. Armin schoss aus dem stinkenden Wasser und blieb luftschnappend über dem Beckenrand hängen. Dann lief er, vor Nässe triefend, hinter Jannik her. Die Kleider hingen wie schwere Bleiwesten an seinem Körper. Keuchend erreichte er den Gang, an dessen Ende sich die Tür befand. Da hörte er, dass auf der anderen Seite der Schlüssel im Schloss umgedreht und dann abgezogen wurde. Jetzt war ihm schon alles egal. So fest er konnte, hämmerte er mit seinen unterkühlten Händen auf die Metalltür. „Janniiiik!“, brüllte er aus Leibeskräften. Doch die verzweifelten Hilferufe verebbten ungehört in den Weiten des Gewölbes. ‚Ich Idiot‘, dachte Armin ärgerlich. ‚Hätte ich doch ein Zündholz ins Schloss gesteckt, dann wäre es blockiert gewesen.‘ 64
Armin sank in der Ecke auf den Boden. Die nasse Kälte kroch ihm bis in die Knochen. Er fühlte sich, als sei die Verbindung mit der Wirklichkeit für immer gekappt. Aber noch schlimmer als die Kälte und die Finsternis, war die Angst vor dem Killer-Basilisken. Armin hauchte seinen warmen Atem unter sein T-Shirt und rieb sich die zitternden Hände. Vor seinem inneren Auge entstand ein furchtbares Bild: Er sah sein Skelett, das in einigen Jahren durch Zufall, vielleicht beim Bau einer U-Bahn, gefunden werden würde … Verbissen dachte er über einen Ausweg nach. Zuerst brauchte er Licht. Er zog die Taschenlampe aus dem Detektivgürtel, doch sie war voller Wasser und funktionierte nicht. Wenigstens die Papiertaschentücher waren in der Plastikverpackung verschont geblieben. Er trocknete die Batterien und Kontakte ab. Plötzlich hielt er inne. Was war das? Hörte er da ein Röcheln? Armin spürte das Blut in seinen Stirnadern pulsieren. Ängstlich starrte er in die Dunkelheit. Kein Zweifel! Das Untier bewegte sich direkt auf ihn zu. Fahrig baute er die Taschenlampenteile zusammen. Da entglitt die Batterie seinen unterkühlten Fingern. „Verdammt!“, fluchte er. Fieberhaft suchte er sie auf dem nasskalten Boden. Er bekam sie gerade zu fassen, als er zähen Schleim auf seinen Handrücken triefen spürte. Ein fauliger Gestank lag in der Luft. Irgendwie rutschte die Batterie in den Blechschaft. Das Licht flammte auf die zur Tarnung bemalte Tür. 65
Armin gefror das Blut in den Adern. Vor ihm ragten die blutunterlaufenen Augen des Basilisken auf und funkelten hungrig. Die scharfen Krallen schwebten wie blanke Messer vor seinen Augen. Armin glaubte plötzlich zu wissen, weshalb manche Leute von einem Killer-Basilisken sprachen. So musste es sein, wenn man seinen schlimmsten Ängsten ins Gesicht sah. Armin spürte förmlich, wie ihn das Monster musterte – wie ein Panter seine Beute, bevor er sie endgültig riss. Während Armin nicht wagte, in die todbringenden Augen des Untiers zu blicken, hob der Basilisk langsam eine Klaue. Armin blinzelte. Es zischte und Armins Aufschrei verebbte im Tunnellabyrinth. Der Basilisk schob sich noch näher an ihn heran. „Wen sein Blick oder Atem trifft, erstarrt zu Stein“, erinnerte sich Armin an Carstens Ausführungen und an das Bild der versteinerten Hand. „Kampflos kriegst du mich nicht!“, schrie er. Das Monster senkte langsam seinen Schädel. Armin drehte sich blitzschnell zur Seite und trat ihm mit voller Wucht dagegen. Doch dieser verzweifelte Angriff brachte gar nichts! Die messerscharfe Klaue sauste wie ein Fallbeil auf Armin nieder und traf ihn im Gesicht. Er flog zurück wie von einem Vorschlaghammer getroffen. Die Bilder vor seinen Augen verschwammen. Nur noch vage spürte er, dass sich die Krallen des Untiers in seiner Jacke verkeilten. Er wurde wie ein Kohlesack weggeschleppt. „Neiiin!“, kreischte Armin. Er versuchte sich irgendwo festzuklammern, doch seine kalten Hände waren zu steif dafür. 66
Der Basilisk schleppte ihn unsanft eine Treppe hinab, mitten durch ein Gewirr von Spinnennetzen und Rattengerippen. ‚Wie ist das möglich?‘, fragte sich Armin. ‚Welche Augen erlauben ein so schnelles und gezieltes Vorwärtsbewegen in dieser absoluten Dunkelheit?‘ Plötzlich fiel ihm das Schweizer Messer an seinem Detektivgürtel ein. „Jetzt werd ich’s dir zeigen!“, keuchte er. Es gelang ihm, die Klinge auszuklappen. Es waren nur einige Sekunden, die der Basilisk stillhielt, um sich zu orientieren. Diese Zeit nutzte Armin, indem er das Taschenmesser mit ganzer Kraft in den Oberschenkel des Hahnenfußes rammte. Der Basilisk röhrte zwar auf, doch sehr viel schien ihm der Stich nicht auszumachen. Einfach unfassbar bei einer Klinge von zehn Zentimetern Länge! Armin ballte die Faust und hieb auf einen der Flügel ein. Doch das Gefieder schluckte seine Schläge wie dicke Watte. So fest er konnte, stieß er das Messer jetzt in den Flügel der Bestie. Der Basilisk zuckte nicht einmal zusammen – als würde er den Stich überhaupt nicht spüren! ‚Er blutet ja gar nicht!‘, schoss es Armin durch den Kopf. Er fühlte seine Kräfte schwinden. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper, als er weitergeschleift wurde. Plötzlich schleuderte ihn der Basilisk wie einen nassen Lappen gegen die Steinmauer. Er hörte seine Rippen knacken. Die Luft blieb ihm weg und er sank auf etwas nieder, das wie feuchtes Stroh roch. Befand er sich im Nest des Basilisken? Er zweifelte an seinem Verstand, aber ihm blieb keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu führen. 67
Noch einmal erblickte er in die funkelnden, beutegierigen Augen des Basilisken, die direkt auf die seinen gerichtet waren. Dann riss die Kreatur ihr Maul auf und zischte böse. Armin spürte einen stechenden Schmerz am Hals und Sekunden später fühlte er sich wie gelähmt – unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Eisige Kälte kroch in seinen Körper. „Sein Blick verstein …“, keuchte Armin noch, dann schwanden ihm die Sinne. Sandra und Mario konnten nicht ahnen, was ihrem besten Freund gerade zugestoßen war. „Der ABC-4-Code“, meinte Sandra und tippte wieder etwas ein, nachdem sie einen weiteren Artikel und die komplizierte Buchstabenkombination Fewmpmwo im Geist entschlüsselt hatte. SAM verwendeten bei ihren Ermittlungen über 50 Geheimschriften und verschlüsselte Sprachen. Auch Janniks Code war ihnen bestens bekannt. Beim ABC-4-Code schreibt man zwei Reihen Buchstaben untereinander. In die erste Reihe das normale Alphabet, darunter die Buchstaben um vier Plätze nach links verschoben. Somit steht für das A ein E, B=F, C=G, usw. Der verschlüsselte Text ergibt dann für jemand anderen absolut keinen Sinn. Wie in ein spannendes Buch versunken, öffneten sie Datei um Datei und enträtselten die Texte. Welches Geheimnis verbarg sich darin? Sandra blickte durch das Fenster in den Garten hinaus. Die beiden Dobermänner begannen sich bereits wieder zu rühren. „Schneller!“, rief sie. 68
Sie tüftelten weiter. Es dauerte noch zwei Minuten, dann war es geschafft. Ein wichtiger Auszug von Janniks Tagebuch lag entschlüsselt vor ihnen. In ihnen keimte ein beängstigender Verdacht auf. Was sie da lasen, war einfach unvorstellbar.
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Codename Wassermann
„Wozu haben die eigentlich ihre Handys?“ Verärgert und besorgt zugleich legte Rainer Lennert den Hörer wieder auf. Bereits zum fünften Mal an diesem Sonntag versuchte er SAM zu erreichen. Er trat ans Fenster und sah auf die Straße hinunter. In all den Jahren, die sie sich nun kannten, hatte er noch nie erlebt, dass keiner der drei so lange nicht erreichbar war. Was war bloß los? Armin erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen, als er sie Öffnete. Grelles Neonlicht blendete ihn. Jemand beugte sich über ihn, doch er konnte die Person nicht erkennen. „He, Kumpel? Scheinst auch Pech gehabt zu haben.“ Rauch strömte beim Sprechen aus dem Mund des Mannes und sein Atem stank nach Schnaps. Er trug einen ziegelroten, verfilzten Lodenmantel. „Siehst aus, als hätten sie dich durch den Fleischwolf gedreht.“ „Wo … wo bin ich?“ Armin rieb sich die brennenden Augen. Er erkannte, dass er auf der Sitzbank eines UBahn-Waggons lag. Neben ihm saßen zerlumpte Stadtstreicher, die eine Flasche Wodka in der Runde herumreichten. 70
„Auch ’nen Schluck, Kumpel?“, presste eine Frau zwischen ihren schwarzen Zähnen hervor. Armin schob die Flasche mit dem Unterarm beiseite. Dabei fiel sein Blick auf die Armbanduhr. Halb vier Uhr nachmittags! „He Kumpel, was ist mit dir los?“, grunzte einer der Wodkabrüder, dessen Atem nach verfaulten Eiern stank. Armin wich vor ihm zurück, als hätte er die Pest. Eine tiefe Narbe verlief über die Stirn des Mannes. „Ich … ich bin …“ Für einen Moment glaubte Armin, ein Messer unter dem schmutzigen Mantel über ihm aufblitzen zu sehen. Eine Durchsage kündigte die nächste Station an. Der Zug würde jeden Moment anhalten. Armin überlegte fieberhaft, wie er sich einen Weg zur Waggontür bahnen könnte und erinnerte sich an einen Trick, der bei einer Flucht half, entscheidende Sekunden zu gewinnen. Er knallte dem Mann seinen linken Handballen so fest er konnte gegen die Nasenspitze. Sofort schossen diesem die Tränen in die Augen. Für kurze Zeit konnte er nichts sehen – das war Armins Chance! Er schnellte von der Sitzbank hoch, kletterte über die verdatterten Stadtstreicher hinweg und hastete zur Tür. Ein Ruck am Griff, die Türflügel schwangen zur Seite und Armin sprang auf den Bahnsteig hinaus. „Dieser elende Mistkerl – das ist der Dank“, fluchten die Schnapsbrüder, als der Zug anfuhr. Auf der Toilette reinigte Armin sich und seine Kleider so gut es ging. Dann bestieg er die Rolltreppe, die zum Stephansplatz hinauffuhr. Im Südturm des Domes fuhr er mit dem Aufzug ganz nach oben. Auf der Aussichtsplatt71
form konnte er seine Gedanken sammeln und seine Kleidung ein wenig auslüften. Einige Minuten ließ er seinen Blick vom Riesenrad über den Millenniums-Tower bis zum Horizont gleiten. Die Geschehnisse der vergangenen Stunden waren einfach unglaublich. Hatte er das alles nur geträumt? Doch der Geruch seiner Kleidung überzeugte ihn davon, dass alles auch tatsächlich passiert war. Dann machte er sich auf den Weg zum Internat. „Mann, hat dich jemand durch den Fleischwolf …“ „Halt die Klappe, Sandra“, fauchte Armin, als er die Zimmertür hinter sich schloss und erschöpft auf sein Bett fiel. „Wir wollten schon eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben“, sagte Mario, und sperrte die Tür ab. „Wir sollen zu Rainer ins Büro kommen – dringend.“ „Ich setz keinen Fuß vor die Tür, ehe ich nicht eine heiße Dusche genossen habe“, stöhnte Armin. „Und eine Flasche Parfum“, sagte Sandra. Armin hob den Kopf und warf seiner Freundin einen tadelnden Blick zu. „Die haben mich Kumpel genannt!“ Hundemüde ließ er den Kopf wieder aufs Kissen sinken. Eine halbe Stunde später befanden sich SAM auf dem Weg zu Rainer Lennerts Detektei in der Kärntner Straße. Armin fühlte sich sichtlich unwohl, als sie nach mehrmaligem Umsteigen in der Wiedner Hauptstraße in einen Wagen der Straßenbahnlinie 62 stiegen. Er hatte das Gefühl von allen Leuten beobachtet zu werden, während er seinen Freunden von den Ereignissen der vergangenen Nacht berichtete. 72
„… und dann fand ich mich inmitten dieser Stadtstreicher wieder – als war ich einer von ihnen,“ „Hier stinkt was mächtig zum Himmel, Freunde“, sagte Mario überzeugt. „Und deine Messerattacke ließ die Kreatur völlig kalt?“ „Zweimal.“ „Okay“, beschwichtigte Sandra. „Was du erlebt hast, hast du erlebt. Unser Hausverstand sagt uns aber, dass Monster nur in Filmen und Fantasygeschichten existieren. Was also steckt wirklich hinter dem Basilisken, und vor allem: Was ist Horst Santer zugestoßen? Wo ist seine Leiche? Warum kümmert sich die Polizei überhaupt nicht um sein Verschwinden?“ „Sie haben keine Leiche gefunden. Vielleicht, weil er überhaupt nicht tot ist?“, spekulierte Armin. „Die Geheimtür spielt sicher eine Rolle. Nur wo man etwas verbergen muss, tarnt man eine Tür“, meinte Mario. „Und ein Basilisk ist schließlich kein unterirdischer Bankier, der in seinem Revier Geld überbringt.“ Armin horchte überrascht auf. „Woher wisst ihr davon?“ „Dachtest du, wir sind auf der faulen Haut gelegen, während du wie im Film Der dritte Mann im Kanalnetz herumgegeistert bist“, sagte Sandra fast beleidigt. „Wir haben in Janniks Computer einige interessante Horoskope und Dateien gefunden. Er führt genauestens Buch über seine Aktivitäten.“ „Und?“, bohrte Armin neugierig nach. „Jannik ist nicht der Einzige, der den Basilisken zu Gesicht bekommen hat. Es gibt da eine zweite Person, mit der er schon seit mehreren Wochen Ausflüge in die Unterwelt unternimmt.“ 73
„Und wer ist diese Person?“ „Dreimal darfst du raten: Horst Santer!“ „Sein Vater?“ „Irgendwas haben sie dort unten gesucht. Den Aufzeichnungen nach zu urteilen, muss es brandgefährlich sein und könnte etwas mit Santer & Söhne zu tun haben. Und jetzt pass auf: Der Basilisk scheint nicht der eigentliche Grund für diese Spaziergä …“ Die Straßenbahn hielt ruckartig an und die Menschen strömten auf den Gehsteig hinaus. Auch Sandra, Armin und Mario stiegen hier aus. Die Besprechung musste später fortgesetzt werden. Als sie kurz darauf an Rainer Lennerts Bürotür klopften und er sie hereinbat, war Theo Santer bereits eingetroffen. ‚Die hohe Büromiete dürfte Rainer ziemlich zusetzen‘, dachte Mario. Er schien dringend ein paar Aufträge nötig zu haben. Das Zimmer war klein und die Möbel sahen aus wie vom Sperrmüll: ein alter wackeliger Schreibtisch, ein rostiger Aktenschrank und eine abgewetzte Couch. „Heute wurde wieder ein Schüler ins Allgemeine Krankenhaus eingeliefert – die gleichen rätselhaften Vergiftungssymptome wie bei Benny vor wenigen Tagen. Auch in Schulen anderer Bezirke sollen ähnliche Fälle aufgetreten sein. Parallel dazu kommt es auch immer wieder zu Diebstählen: geknackte Schulkassen, ausgeräumte Schultaschen und geplünderte Hosensäcke in den Umkleidekabinen der Turnsäle. Also, wie ist der Stand der Dinge?“, fragte Rainer. „Was habt ihr aus Jannik rausgebracht? Weiß er etwas von Horst?“ Theo musterte Armin neugierig. „Sag mal, hat dich …“ 74
„… jemand durch den Fleischwolf gedreht! Ich weiß“, schnitt ihm Armin seufzend das Wort ab. „Ihr seid euch wohl nicht im Klaren darüber, dass mein Auftrag geheim ist“, brauste Theo auf und wischte mit einem Taschentuch über seine Stirn. „Keine leichtsinnigen Aktionen oder Spaziergänge hatten wir ausgemacht. Wenn einem von euch was passiert, bin ich erledigt – die Zeitungsmeldungen würden mich ruinieren!“ „Kein Grund zur Panik“, versuchte ihn Mario schnell zu beruhigen. Doch eine wirklich geeignete Ausrede fiel ihm nicht ein. „In seinem Schulbrot … eine verdorbene Wurst!“, kam ihm Sandra zu Hilfe. „Ich hab die Nacht auf dem Klo verbracht – wünsch ich keinem“, spielte Armin mit. Er war wirklich knochenbleich im Gesicht. „Bin bald wieder in Ordnung.“ Rainer Lennert erhob sich aus seinem Sessel. „Theo, wo waren Sie vergangene Nacht? Ich hab Sie mindestens zehnmal angerufen. – Wo ihr wart kann ich mir denken.“ Theo schien mit dieser Frage nicht gerechnet zu haben. „Ich … die Polizei … musste noch mal in das Haus meines Bruders. Dann … na ja … wichtige Geschäfte, die ich tagsüber nicht erledigen kann. Musste ein Geschäftslokal besichtigen. Ich will eine Filiale eröffnen. Da sind viele Verträge vorzubereiten. Leider obliegt mir ja jetzt die Firmenleitung alleine.“ „Sie hätten wenigstens das Handy eingeschaltet lassen können.“ „Was kann schon so dringend sein?“ „Der Basilisk“, platzte Armin kurzerhand heraus. „Vergessen Sie die Sage. Die Bestie existiert wirklich!“ 75
Daraufhin herrschte völlige Stille. Die Anwesenden starrten Armin wie ein seltenes Tier in einem Zoo an. „Wie bitte – du warst in den Kanälen!?“, sagte Rainer nach einer Weile völlig entgeistert. „Du hockst zu viel vor der Glotze“, sagte Theo Santer. „Ich weiß genau, was ich erlebt habe“, sagte Armin ärgerlich. „Die Faulgase dort unten können die Wahrnehmung trüben, da kann man schon mal Gespenster sehen. Du bist erschöpft.“ „Wollen Sie damit sagen, Theo, ich hätte nicht alle Latten am Zaun?!“ Armin spürte Wut in sich hochsteigen. „Ich weiß doch, was ich mit eigenen Augen gesehen habe! Ich hab dem Untier sogar mein Taschenmesser in eines seiner Beine gerammt!“ „Was!?“ Rainer musterte sofort Armins Messer. Theo verzog ungläubig das Gesicht. Rainer fasste Armins Taschenmesser mit einem sauberen Taschentuch an und steckte es vorsichtig in einen Plastikbeutel. „Ich kenn ein paar Leute bei der Spurensicherung. Mal sehen, was die mittels einer DNA-Analyse herausfinden. Wenn das stimmt, was du sagst, müssten sich auf der Klinge Reste von Hahnen- oder Schlangenblut, Feder- und Hautpartikel finden lassen.“ „Vielleicht ist ein wissenschaftlicher Klonversuch aus dem Ruder gelaufen!?“, mutmaßte Mario. „Wir ändern den Plan: Das war der erste und letzte Ausflug ins unterirdische Wien“, befahl Rainer Lennert. „Keine Nachforschungen mehr an diesem Ort. Hab ich mich klar ausgedrückt?“ Er blickte erwartungsvoll in die Runde. 76
Sandra, Armin und Mario gaben keine Antwort. „Ob das klar ist?“, wiederholte Rainer mit Nachdruck. „Ja, ja … ist klar“, murmelte Mario. „Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob sich Horst Santer tatsächlich ins Ausland abgesetzt hat“, sagte Sandra. „Du glaubst, mein Bruder wurde von einem Basilisken ermordet?“ Theo Santer lachte. „Also bitte!“ „Jannik geht sicher wieder da runter“, meinte Armin. „Vielleicht sucht er nach Beweisen für irgendetwas, das mit diesen merkwürdigen Horoskopen zusammenhängt. Gut möglich, dass er das nächste Opfer des Basilisken wird.“ „Die Polizei glaubt uns kein Wort davon“, resümierte Rainer Lennert. Armin hielt es für besser, nichts davon zu erwähnen, dass Jannik Geld abgeholt hatte. Man würde ihm ohnehin nicht glauben. „Dieser Lausejunge. Karin Damm soll ihm Ausgehverbot erteilen. Vielleicht erfahrt ihr dann mehr. Ich wäre euch dankbar“, sagte Theo. Seine Angst um Jannik ließ ihn von Tag zu Tag sichtlich nervöser werden. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben einen begründeten Verdacht“, munterte Mario Theo auf. „Hoffen Sie aber, dass wir uns diesmal irren!“ „Aber keine nächtlichen Extratouren mehr. Ihr beobachtet Jannik in der Schule, sonst nirgends!“, betonte Rainer noch einmal. „Ich mach mich auf den Weg zum Spurendienst.“ „Das kann ich erledigen“, bot Theo an. „Mein Weg führt ohnehin am Polizeirevier vorbei.“ „Gut“, erwiderte Rainer „Fragen Sie nach Max Ofner 77
und sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt, dann wird er sich sofort darum kümmern.“ Theo schob das Beweisstück vorsichtig in seine Jacketttasche und verließ die Detektei, „Aus Jannik werden wir nicht mehr viel rausbringen“, seufzte Armin. Sandra und Mario warfen ihm einen fragenden Blick zu. „Heute Nacht hab ich nach ihm gerufen. Ich hatte Angst, dort nie wieder herauszukommen. Bestimmt hat er mich gehört und Verdacht geschöpft.“ „Mal abwarten“, sagte Sandra. „Wenn er dich gehört hätte, wäre er doch nicht einfach weggegangen. Das wäre ja fast einem Mord gleichgekommen. Jedenfalls sollten wir rausfinden, wer dieser Wassermann 2 aus Janniks Tagebuch-Horoskopen ist. Er scheint in seinem Plan eine wichtige Rolle zu spielen. Er berichtet ihm fast jedes Ereignis und gibt sich selbst den Codenamen Wassermann 1.“ „Leute, die Sache stinkt zum Himmel, sag ich euch. Äußerste Vorsicht ist angesagt“, warnte Mario. „In einem Computertext ist von einer Geheimsache Wassermann die Rede. Der Plan, Fotos zu schießen und Schweigegeld damit zu erpressen, stammt übrigens von Wassermann 2.“ Einen Moment lang schwiegen die drei und dachten nach. „Ich hab eine Idee“, sagte Mario dann. „Janniks Computer funktioniert über eine Funkleitung. Er ist damit rund um die Uhr online. Ich muss noch mal für ein paar Minuten an seinen Computer, dann könnte ich alle Dateien per E-Mail an unsere Adresse schicken. Allerdings darf er absolut nichts merken, sonst …“ „Wir könnten Jannik eine Leseprobe für das Schultheater vorschlagen“, meinte Armin. „Er ist ohnehin so ehrgeizig.“ 78
„Übernehmt ihr das“, sagte Sandra. „Ich seh mich mal in der Pralinenfabrik um. Vielleicht finde ich in Horsts Büro was raus. Ich werde auch versuchen über den Basilisken Informationen zu bekommen …“ Plötzlich unterbrach Sandra ihre Ausführungen. „Ich hab’s auch gehört“, flüsterte Rainer. „An der Tür – da lauscht jemand.“ Mario schlich zur Zimmertür. Mit einem Ruck riss er sie auf und sprang auf den Gang hinaus. Ein flinkes Mädchen mit blonden Haaren, roten Turnschuhen und einem dunkelblauen Sweater huschte um die Flurecke. Wie ein Wirbelwind raste Mario hinterher, die Treppe hinunter und auf die Straße. Doch es war zu spät – sie war bereits in der Menschenmenge untergetaucht. „Mist!“, fluchte Mario, und schlug mit der Faust gegen die Hausmauer. „Ein Beweis mehr, dass jemand auf uns aufmerksam geworden ist“, sagte Sandra, und zog ihren Pferdezopf durch die Öffnung in ihrer Schirmkappe. Ihre innere Stimme sagte ihr, dass sie und ihre Freunde die Rolle eines Köders übernommen hatten, und sich die Dinge schon bald entscheiden würden – und ihre innere Stimme irrte sich so gut wie nie. Nachdem sie in ihr Internatszimmer zurückgekehrt war, schloss Sandra sicherheitshalber die Tür ab. Sie ließ sich aufs Bett sinken. Und da sah sie ihn. Jemand war vor ihr im Zimmer gewesen. Der handgeschriebene Zettel klebte auf der Innenseite der Zimmertür. Ein Horoskop. Sandra riss den Zettel ab und las: 79
‚Süßer Schnee? Basilisk?‘, dachte Sandra. Ihr drängten sich sofort die schrecklichen Bilder des Spazierganges auf, bei dem Horst Santer verschwunden war. Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. ‚Na, klar! Dieser weiße Staub! Warum ist mir das nicht schon damals aufgefallen? … Oh Gott, wenn das nur nicht … ‘
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Der Friedhof der Namenlosen
Mario sputete sich. Armin war es zwar gelungen, Jannik zu einer Leseprobe des 2. Aktes zu überreden, doch das würde nicht länger als eine Stunde dauern. Eine Stunde würde für sein Vorhaben zwar ausreichen – doch nur, wenn alles klappte wie geplant … Als er die Villa Horst Santers erreichte, stellte er erleichtert fest, dass die Vorhänge der Fenster zugezogen und die Hunde im Zwinger waren. Frau Nowak, die Haushälterin, hatte sie heute schon gefüttert. Mario spähte nach allen Seiten, doch er sah niemanden. Keine neugierigen Gesichter an den Fenstern der Nachbarhäuser, keine Spaziergänger. Er wickelte zwei Stofftaschentücher um seine Handflächen, denn er musste höllisch Acht geben. Oben waren in die Mauer scharfe Glasscherben einbetoniert. Sie würden jedem unvorbereiteten Eindringling die Hände bis auf die Knochen aufschneiden. Er sprang über die Mauer. Im Schutz der Hecken schlich er zum Balkon und kletterte den Efeu hinauf. Gottlob! Das Fenster zu Janniks Zimmer war zum Lüften geöffnet. Vorsichtig drückte er es auf und verschwand im Zimmer. Er hörte sämtliche Alarmglocken läuten. Hatte hier ein 81
Orkan gewütet? Die Poster waren von der Wand gerissen und lagen auf dem Bett. Der Teppich war mit Kleidungsstücken übersät. Schubladen standen offen und Bücher lagen auf dem Boden. Die Tastatur des Computers war diesmal abgedeckt. Jannik hat offensichtlich neue Aufzeichnungen gemacht – oder hatte jemand anderer hier herumgeschnüffelt? Die CDs fand Mario unter der Matratze. Jemand hatte sie dort versteckt. Hastig setzte er sich an den Computer und begann zu tippen. „Er ist uns auf die Schliche gekommen“, murmelte er. Nach zwei Minuten hatte er den Computer hochgefahren und die Dateien gefunden, die er suchte. Doch eine E-Mail zu versenden war unmöglich! Der PC war nicht mehr online, der Code geändert! Mario überlegte fieberhaft. Er musste die Informationen eben auf CD abspeichern und mitnehmen. Die Zeit war viel zu knapp, um alle Texte hier zu entschlüsseln. Fahrig schob er eine CD ins Laufwerk und startete den Kopiervorgang. Da schob sich langsam ein Schatten über den Bildschirm. Bevor er sich umdrehen konnte, spürte er schon einen harten Schlag im Nacken. Sandra beschloss, ihre Nachforschungen über den Basilisken in der Nationalbibliothek zu beginnen. Das war nahe liegend, da Carsten dort als Bibliothekar arbeitete und ihr vielleicht helfen konnte. Sie staunte ordentlich, als sie die Direktion betrat, um sich ordnungsgemäß für zwei Stunden aus dem Internat abzumelden. 82
Ein Mann mit der Statur eines Gorillas und blondem Bürstenhaarschnitt blätterte gerade Schülerakten durch. Er lugte unter seinen buschigen Augenbrauen hervor und musterte Sandra wie ein hungriger Adler auf Beuteflug. „Die Herrschaften sind aus Amerika und auf der Suche nach einer Partnerschule“, erklärte Karin Damm begeistert. Jetzt drehte sich eine rothaarige Frau mit Stupsnase um und blickte Sandra an, die sofort das Gefühl hatte, dass sie diese Frau genau unter die Lupe nahm. „Ich … ich wollte nur schnell für zwei Stunden in die Stadt, um …“ „Schon okay, Sandra“, meinte Karin Damm kurz angebunden. Sandra hatte den Eindruck, dass die Rothaarige dem Boxertyp kurz zunickte. Diese Leute waren ihr nicht ganz geheuer. Sie lief durch die Aula und hinaus zur Straßenbahn. Doch ihr sechster Sinn riet ihr, lieber ein Taxi zu nehmen. Ganz in der Nähe der Schule war ein Taxistand. Sie stieg in den ersten freien Wagen ein. „Ich darf doch, oder?“ „Meinetwegen“, brummte der Taxilenker und fuhr los. Im Rückspiegel konnte sie sehen, dass die beiden Fremden, die eben noch bei Karin Damm gewesen waren, auf den Gehsteig gelaufen kamen und heftig winkten. ‚Was sind das nur für Typen? Warum haben die mich so angeglotzt?‘, dachte sie bei sich. Die Amerikaner folgten dem Taxi in einem schwarzen Mercedes. Er hielt sicheren Abstand. Das waren keine Anfänger! „Was ist los mit dir?“, fragte der Taxifahrer. „Du siehst ja aus, als wäre der Teufel persönlich hinter dir her.“ 83
„Oh … Entschuldigen Sie, ich … ich bin nur ein wenig verwirrt …“ Das Taxi umrundete die römischen Ausgrabungen am Michaelerplatz und bog in den Josefsplatz ein. Die Nationalbibliothek kam in Sicht. Sandra kramte einige Münzen aus ihrer Hosentasche. Der dunkle Mercedes war immer noch hinter ihnen. Sandra wurde flau im Magen, als das Taxi hielt und der Mercedes ebenfalls stehen blieb. Mit einem flüchtigen „Danke“ warf sie dem Taxilenker das Geld in den Schoß, sprang aus dem Wagen, rannte so schnell sie konnte in das riesige Bibliotheksgebäude und blickte durch das Schlüsselloch der schweren Flügeltür zurück. Die rothaarige Frau stieg gerade aus. Sie zog ihr Kleid zurecht und kam über den Platz gelaufen – gefolgt von dem Koloss mit dem blonden Bürstenhaarschnitt. Sandra trat die Flucht an. Sie bahnte sich einen Weg durch die Besuchermassen und rempelte dabei immer wieder Leute an, die sich darüber nicht erfreut äußerten. Über die alten Treppen huschte sie ins Kellerarchiv hinunter, wo sie hinter einer der vielen Türen verschwand. Bestimmt lief die Rothaarige in den Prunksaal hinauf. Dem Himmel sei Dank, dass Sandra nicht zum ersten Mal hier war. Ein Glücksgefühl, als hätte der Weihnachtsmann einem Kind gerade die lang ersehnte Puppe gebracht, überkam sie, als sie zwischen einem der endlosen Regalgänge Carsten erblickte. Er arbeitete in der Handschriften- und Kartensammlung. Der eifrige Bücherwurm musterte sie von oben bis unten. Dann erkannte er sie und lächelte freundlich. „Was führt dich denn zu mir?“ 84
Sandra ließ sich auf einen Sessel sinken und schnappte nach Luft. Sie lauschte angestrengt, doch sie konnte keine Verfolgerschritte hören. Allmählich beruhigte sie sich. „Sie müssen mir helfen, Carsten. Meine Freunde und ich sind einem schweren Verbrechen auf der Spur.“ „Nun beruhig dich erst mal.“ „Ich bin sicher, dass Horst Santer noch lebt!“ „Wie sehr würde ich mir das wünschen. Ich hab so gut wie keine Kunden mehr seit damals.“ „Sehr wahrscheinlich hat er seinen Tod nur vorgetäuscht, um mit dem Firmengeld ins Ausland zu türmen. Sonst wäre seine Leiche ja schon längst aufgetaucht.“ Carsten legte den dicken Wälzer beiseite, in dem er gerade gelesen hatte. Er senkte den Kopf und sah Sandra über den Rand seiner dicken Hornbrillen hinweg an. „Geh mal zum Friedhof der Namenlosen, vielleicht findest du ihn dort. Auf diesem Friedhof werden nur Selbstmörder und Wasserleichen begraben.“ „Ich glaube nicht, dass er tot ist. Er muss in den Kanälen etwas entdeckt haben. Wieso lässt er sonst plötzlich seine hervorragend laufende Firma im Stich? Ich glaube, er wurde für jemanden zur Gefahr und fürchtete um sein Leben. Die genauen Hintergründe weiß ich allerdings noch nicht.“ „Und was hat das alles mit mir zu tun?“ Ohne dass Sandra etwas davon bemerkte, tastete Carsten vorsichtig nach einem Schlapphut mit breiter Krempe hinter seinem Rücken, und ließ ihn in einem Regal verschwinden. „Eigentlich bin ich gekommen, weil ich mehr über den Basilisken wissen muss und gedacht habe, Sie könnten mir helfen“, sagte Sandra. 85
„Der Basilisk ist gefährlich, rätselhaft und unheimlich“, flüsterte Carsten. „Lass die Finger davon.“ Er zog eine Leiter heran, kletterte hinauf und kam mit einem vergilbten, in Leder gebundenen Buch zurück. „Sieh dir das an …“ Er richtete den Schein seiner Tischlampe auf die bräunlichen Seiten. „Damals starben viele Menschen. Keiner, der versucht hat den Basilisken zu töten, kam lebend aus dem Wiener Kanalsystem zurück …“ Verblüfft las Sandra die historischen Zeitungsberichte. „Ein gewisser Josef Donner führt die Sage auf die teilweise katastrophalen hygienischen Zustände im alten Wien zurück. Das hat man jedoch damals nicht erkannt, sondern die Verunreinigung der Brunnen bösen Geistern zugeschrieben. So entstand durch den Aberglauben der Menschen aus den Faulgasen der Kloaken der tödliche Atem und der versteinernde Blick des Basilisken. Die Menschen waren damals sehr abergläubisch. Es gibt ja selbst heute noch Leute, die an Horoskope glauben.“ „Interessante Geschichte“, meinte Sandra. „Die Leute hatten dann wohl eine erbärmliche Angst vor solchen Orten.“ „Ja. Nicht einmal die Polizei wagte sich da runter. So waren die Kanäle, Stollen, Gänge und Kammern des unterirdischen Wiens bald der ideale Unterschlupf für die Platten. So nannte man in Wien damals organisierte Einbrecher- und Schmugglerbanden. Das Kanalsystem diente den Kriminellen aber nicht nur als Versteck, sondern es bot auch ideale Beschaffungswege. Horst Santer nahm öfters an meinen Spaziergängen teil. Er fotografierte auch immer.“ „Und die versteinerte Hand?“, fragte Sandra. 86
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„Ein Trick von mir. Hab sie immer dabei – eine Gipshand. So sind meine Führungen viel spannender. Du verrätst mich doch nicht, oder?“ „Nein, ist doch Ehrensache. Haben Sie Horst Santers Fotos einmal gesehen?“ „Nein. Er hat sie nie hergezeigt, sondern in seinem Safe verwahrt. Hm … Wenn ich so nachdenke … Er hat sie wie ein wertvolles Geheimnis gehütet.“ „Danke, Carsten. Sie haben mir sehr geholfen“, bedankte sich Sandra, und wollte schon gehen. „Wo wohnst du eigentlich?“, fragte Carsten sie noch schnell. „Es gibt nicht viele, die sich für alte Geschichten interessieren. Vielleicht brauch ich bei einem Vortrag mal eine Assistentin!? Und vergiss deine Kappe nicht!“ Sandra kritzelte noch schnell die Internatsadresse auf einen Zettel. Dann machte sie sich auf den Weg zu Santer & Söhne. Kaum war sie weg, nahm Carsten ein Foto zur Hand und betrachtete es eingehend. Er griff zum Telefon. „Hier Skorpion … hab den Lauscher entdeckt … Ja, auf einem Zettel notiert …“ Die kalte Stimme am anderen Ende der Leitung kam aus einem schwarzen Mercedes, der vor der Bibliothek parkte. „In einer halben Stunde in meiner Hotelsuite. Ich wiederhole: Es muss wie ein Unfall aussehen. Sonst übernehmen wir das selbst und Sie erhalten eine kostenlose Fahrkarte in die Ewigkeit.“ Carsten hörte noch ein Klicken. Dann war die Leitung wieder tot.
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Die Schlinge um den Hals
Kaum war Sandra in die Straßenbahn eingestiegen, drängte sich auch schon der Catchertyp mit der Plattnase zwischen die Fahrgäste. ‚Vielleicht hat er’s nur auf mein Taschengeld abgesehen?‘, fragte sie sich insgeheim. Auf alle Fälle war Vorsicht geboten. Rainer Lennert hatte ihr genaue Tipps gegeben, wie man einem Angriff am besten zuvorkommen konnte. Meide menschenleere Gegenden – vor allem nachts. Wechsle die Straßenseite, wenn eine verdächtige Person auf dich zukommt. Wechselt sie ebenfalls die Straßenseite, bist du in Gefahr – misch dich unter Leute, das bietet den besten Schutz. Sandra drängte sich auf die andere Seite des Waggons. Vermeide jeden Blickkontakt zu deinem Verfolger, aber beobachte ihn unauffällig aus den Augenwinkeln. Sandra schnappte sich eine Zeitung, die jemand auf einem der Sitze vergessen hatte, und gab sich den Anschein, als würde sie aufmerksam darin lesen. Der Gorilla arbeitete sich immer näher zu ihr hin. Verstecke Schmuck und Wertgegenstände unter deiner Kleidung. Sandra steckte ihre goldene Halskette unter den dunkelblauen Sweater. 89
Platziere dich in öffentlichen Verkehrsmitteln so, dass dich niemand von hinten attackieren kann. So hast du Rückendeckung. Langsam wich Sandra in eine Ecke zurück. Zeig nie deine Angst, denn das würde den Verfolger in seinem Vorhaben bekräftigen. Geh stets zügig und mit erhobenem Kopf; das demonstriert Entschlossenheit. Versuch eine Armlänge Abstand zur verdächtigen Person zu halten. Sandra sah, dass der Gorillatyp nur mehr zwei Meter von ihr entfernt war. Solltest du tatsächlich überfallen werden, überlass dem Täter dein Hab und Gut und flüchte. Sandra fiel ein Stein vom Herzen, als die Straßenbahn hielt. Die Tür ging auf. Sofort sprang sie hinaus. Sie warf einen Blick über die Schulter. Auch der Mann verließ die Straßenbahn. Er schien ihr aber nicht zu folgen, als sie das Firmengebäude Santer & Söhne betrat. Was führte er im Schilde? Sandra wollte mit Horst Santers Sekretärin über ihren Chef sprechen. „Er benahm sich schon seit Wochen seltsam“, erteilte die brünette Dame bereitwillig Auskunft. „Ständig unternahm er Ausflüge in die Kanalisation. Und aus irgendeinem Grund sorgte er sich maßlos um eure Gesundheit. Richtig merkwürdig war aber, dass er die Produktion der Basiliskeneier – das sind Pralinen für Kinder – stoppen ließ. Dabei war der Absatz enorm. Das hat er noch nie getan.“ Die Sekretärin öffnete ein Schließfach. „Hier.“ Sie reichte Sandra ein Videoband. „Ich soll es 90
jemandem aus seiner Familie geben, falls ihm etwas zustoßen würde. Ich glaube, er ahnte bereits alles – einfach furchtbar! Damals auf dem Foto, das im Prater aufgenommen worden ist, war die Welt noch so friedlich …“ Mit einem Mal verlor sie die Fassung und heulte los. Sandra verstand überhaupt nichts. Sie wollte gerade etwas erwidern, da ging ihr plötzlich ein Lichtermeer auf. Es war, als hätte jemand einen Vorhang geöffnet und den Blick auf eine gut ausgeleuchtete Bühne freigegeben. So musste es sein! Das wäre einfach unglaublich, falls sie Recht behalten sollte! Sie nahm das Video und stürmte davon. Die Sekretärin sah ihr verdutzt nach. Mario sah Kometenschweife vor seinen Pupillen flimmern. Aus Angst vor den Schmerzen wagte er nicht die Augen zu öffnen. Erst als ihn jemand rüttelte, und er eine näher kommende Stimme vernahm, klarten die Bilder vor ihm allmählich auf. „Du unvorsichtiger Lümmel! Um ein Haar hätte ich dich mit dem Besen erschlagen!“ Frau Nowak stand der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. „Wie oft hab ich Jannik schon eingetrichtert, seinen Freunden zu sagen, dass mein Hörgerät manchmal streikt. Könnt ihr euch nicht ausreichend bemerkbar machen? Man muss euch ja zwangsläufig für Einbrecher halten … Ach, ihr jungen Leute seid doch alle gleich!“ „Entschuldigen Sie bitte. Aber ich hab dreimal geklingelt … und gerufen, aber Sie …“ „Ach was“, schnitt die wütende Haushälterin Mario das Wort ab. „Was hast du hier überhaupt zu suchen?“ 91
„Äh … Jannik ist auf einer Leseprobe. Hat sein Rollenbuch vergessen. Ich soll’s ihm holen.“ „Dieser Junge bringt mich noch ins Grab“, seufzte Frau Nowak mit zum Himmel erhobenen Händen. Mario nahm schnell die CD aus dem Laufwerk und zog dann heimlich den Stecker des Computers aus der Dose. „Da ist es ja.“ Er nahm ein Schulheft vom Schreibtisch und schob sich mit einem gekünstelten Lächeln an Frau Nowak vorbei. „Also … ich muss los. Die warten schon auf mich.“ Frau Nowak schüttelte nur missbilligend den Kopf. Mario ärgerte sich, als er die Villa verließ. An ein Dienstbotenzimmer hatte er nicht gedacht. Frau Nowak musste schon geschlafen haben. Er hatte sich aus Unvorsichtigkeit selbst verraten. Jannik würde den herausgezogenen Stecker und das offene Fenster bemerken! Und dass jemand eine CD gebrannt hatte! Oh Mann, wenn das nur mal gut ausging! SAM hatten den Auftrag erhalten, den Fall innerhalb von einer Woche aufzuklären. Jetzt hatten sie nur noch zwei Tage Zeit. Nachdenklich hockten sie in ihrer Detektivzentrale und brüteten einen neuen Schlachtplan aus. Einer der Kellerräume in Armins Elternhaus war SAMs geheime Detektei. Der Eingang lag hinter einem unscheinbaren Weinregal verborgen. Ein Außenstehender konnte ihn nur rein zufällig als solchen erkennen. Doch ihr Büro war hochmodern eingerichtet. Im Laufe der Zeit hatten Sandra, Armin und Mario alles zusammengetragen, was ein richtiges Detektivbüro brauchte: Computer, Fernseher, Handbücher, ein kleines Chemielabor, ein Mikroskop, eine Truhe mit Utensilien zum 92
Tarnen und Verkleiden, Walkie-Talkies und vieles mehr. Hier unten hatten sie schon nächtelang gegrübelt, entscheidende Spuren untersucht und die erfolgreiche Aufklärung von kniffligen Fällen gefeiert. Doch SAMs größter Stolz war ein selbst gegrabener Erdtunnel, der zu der mammutbaumdicken Kastanie im Garten führte. In der Blätterkrone thronte ein stabiles Baumhaus. Niemand (nicht einmal Armins Eltern) wusste, dass die jahrhundertalte Kastanie innen hohl war. Eine Strickleiter sorgte für ihre unsichtbare Verbindung zwischen Geheimzentrale und Außenwelt. „Lasst uns mal die offenen Fragen sammeln“, schlug Mario vor, und nippte an einem Glas Wasser. „Wie orientiert sich der Basilisk in der Finsternis? Er ist so schnell unterwegs, als sei helllichter Tag. Was war das für ein Stich in Armins Hals, bevor er bewusstlos wurde? Ein Betäubungspfeil? Wenn ja – wie wurde er abgeschossen? Woher kam der Basilisk, wenn der einzige Zugangsstollen durch ein Eisentor versperrt war? Existieren möglicherweise bisher unbekannte Mündungskanäle? Woher hat Jannik einen Schlüssel?“ „Wer hat das Warnhoroskop an meine Zimmertür geklebt? Wassermann 2? Wer ist das?“, sagte Sandra. „Wer hat vor Rainers Büro gelauscht und warum?“ Mario legte die CD in das Laufwerk ihres Computers ein. „Das nächste Problem: Jannik wird bemerken, dass eine Kopie gebrannt wurde. Ich hab einfach den Stecker rausziehen müssen; es blieb keine Zeit mehr die Programme ordnungsgemäß zu beenden.“ „Er wird uns die CD wieder abluchsen wollen“, sagte Armin. „Wir sollten sie schnellstens entschlüsseln und dann vernichten.“ 93
„Oder noch mal hingehen und den Stecker und den PC wieder …“ „Vergiss es!“, schnitt Mario Sandra das Wort ab. „Mich bringen da keine zehn Pferde mehr rein. Denkt ihr vielleicht, ich lass mir noch mal eins überbraten!“ „Okay, dann bin ich jetzt wohl dran“, begann Sandra zu schildern, was ihr zugestoßen war. Sie erzählte von den Verfolgern, von Carsten und der Sekretärin. „… und dann hat es bei mir plötzlich geklingelt: Sie hat geglaubt, ich gehöre zu Horst Santers Familie! ‚Horst sorgte sich um eure Gesundheit‘, sagte sie. Sie muss mich für seine Tochter halten.“ „Für seine Großmutter ja wohl kaum“, alberte Armin. „Kannst du einmal ernst bleiben? Warum hätte sie mir denn sonst das Videoband ausgehändigt?“ Sandra hob triumphierend die Kassette hoch. „Worauf wartest du? Rein damit“, forderte Armin und schaltete den Fernseher ein. Horst Santer tauchte auf dem Bildschirm auf. Er saß alleine in seinem Büro und sprach direkt in die Kamera: Hallo, meine Lieben! Wenn ihr dieses Band seht, haben sich meine Vermutungen bewahrheitet. Ihr schwebt wie ich in Lebensgefahr. Seid nicht traurig – vor allem du nicht, Elmira – dazu habt ihr keine Zeit. Öffnet den Safe in meinem Büro und übergebt den Inhalt der Polizei. Eure Mutter soll euch in Deutschland verstecken, bis schlüssige Beweise vorliegen. Aus Sicherheitsgründen muss ich die Safezahlen verschlüsseln. Aber ihr seid clever und werdet das Rätsel lösen: Sei vorsichtig, wenn du hast den Code, er könnte bedeuten Gefahr und Tod. 94
Die Antworten – in Zahlen musst du sie lesen und du wirst verstehen ihr Wesen. Durch Addition der Ziffern vermindere, soweit es geht, alle drei Antworten aus dem Alphabet: Wie viel ist das Doppelte der Hälfte von sieben? Wie oft kannst du vier von sechzehn abziehen? Wie viele Kubikmeter Erde sind in einem Loch, das einen Meter lang, zwei Meter breit und einen Meter tief ist? Passt auf euch auf und traut niemandem. Viel Glück, euer Vater. Danach kam nur noch ein Flimmern. „Wenn Horst Santer tatsächlich eine Tochter hat – wo steckt die dann bloß?!“, murrte Armin. „Das müssen wir eben herausfinden. – Okay, Leute, wir sagen Rainer vorerst nichts von dem Video und ermitteln auf eigene Faust“, schlug Mario vor. „Extratouren wurden uns aber verboten“, erinnerte Armin die anderen. „Wir knacken diesen Code“, sagte Mario sehr bestimmt. „Der Safe könnte die entscheidende Spur sein. Und vielleicht ist Jannik wirklich in Lebensgefahr?“ „Ich darf gar nicht daran denken, was uns blüht, wenn wir als Panzerknacker auf frischer Tat ertappt werden“, murmelte Sandra. „Wir werden verfolgt und belauscht. Also haben wir die Schlinge so oder so um den Hals – los jetzt! Wir haben einen großen Fisch an der Angel.“ Mario verteilte die Rollen. „Armin, du löst das Videorätsel. Wir brauchen den Safecode. Sandra, vertief dich in die CD. Und ich hör mich mal bei ein paar Leuten der Firma Santer & Söhne um.“ 95
„Vielleicht kannst du herausfinden, womit die Pralinen Basiliskeneier gefüllt sind“, sagte Sandra. „Seit sich Jannik so merkwürdig benommen hat, nachdem er eine gegessen hat, quält mich ein schrecklicher Verdacht.“ Armin und Marion nickten. Auch sie hatten schon daran gedacht. „Das wäre allerdings die absolute Katastrophe, Jungs.“
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Das Geheimnis des Basilisken
Don Ganucci war nicht wiederzuerkennen. Der Maskenbildner hatte dem Imperator ein völlig neues Gesicht verpasst. Er trug jetzt einen schmalen Schnurrbart und glattes Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden war. Sonst war er jedoch ganz der Alte geblieben. „Handschriften kann man fälschen“, gab Lucio zu bedenken. „Wenn ich sage sie ist es, dann ist sie es“, schrie der Don wutschnaubend. „Ich hab sie bei der Bibliothek genau gesehen. Schickt sie zur Hölle, ehe sie uns verrät.“ „Blonde Haare, ein Sweater und rote Turnschuhe sind noch lange kein Beweis“, widersprach Donna. „Unsere Schneemänner in Wien haben versichert, dass es ein Junge ist, der sich genau zu den Lieferzeiten dort unten herumtreibt. Er muss der Hacker und der Lauscher sein. Wir können uns keinen Fehler mehr leisten.“ Don Ganuccis durchdringender Blick jagte Donna einen Angstschauer über den Rücken. „Warum wohl, ihr Lackaffen, hätte sie dann dem Skorpion diese gezielten Fragen gestellt?“, hauchte der Imperator kalt. Carsten zuckte zusammen. „Weil sie rumschnüffelt, nach Beweisen sucht – weil sie etwas weiß, etwas gehört hat! Ihr wollt mich nur hinter Git97
tern sehen und zu Don Francesco überlaufen. Wie viel hat euch der Verräter geboten, damit ihr für ihn arbeitet? Ihr glaubt, dass ich keine Kinder umlege, aber da irrt ihr euch gewaltig.“ Lucio, Donna und Angelo, ein grobschlächtiger Glatzkopf, verließen die Suite. „Euch ist doch klar, dass die Spur sofort zu uns führt, wenn die Polizei die Kleine findet“, versuchte Donna die beiden Bodyguards von ihrem Vorhaben abzubringen. „Wir waren in ihrer Schule.“ Angelo starrte sie aus leblosen Augen an und kontrollierte die Patronen in seinem Magazin. Mit einem kalten Klicken lud er seine Waffe. „Ihr seid wahnsinnig“, murmelte Donna. Mario kam von seiner Mission zurück, als Sandra gerade den letzten Buchstaben entschlüsselte. „Vor ungefähr zwei Monaten begannen Jannik und dieser Wassermann 2 sich gegenseitig Horoskope zu schicken“, erklärte Sandra den Text der CD. „Damals muss etwas Schreckliches geschehen sein. Die beiden scheinen eng befreundet zu sein; sie schreiben sich fast täglich. Aber wirklich beunruhigend ist, dass sie sich vor einem Mordanschlag fürchten. Und der Tag, an dem sie begonnen haben Horopskope auszutauschen, ist ausgerechnet der 26. Juni.“ „Der Tag, an dem im Jahre 1212 der Basilisk gesehen wurde“, sagte Mario. „Und heuer, ebenfalls am 26. Juni, nahm Janniks Vater die Basiliskeneier vom Markt“, fuhr Sandra fort. „Deshalb gab es einen fürchterlichen Streit zwischen Horst und 98
Theo. Letzterer wäre bei dieser Sorte am Verkaufserlös beteiligt gewesen.“ „Hast du rausgefunden, woher Jannik den Schlüssel hat?“, fragte Armin. „Ich denke, er hat mit Plastilin einen Abdruck angefertigt und ihn dann von einem zwielichtigen Schlüsseldienst nachmachen lassen. Das ist die einzige logische Erklärung. Und was macht der Code für den Safe?“ „War kein Problem“, erwiderte Armin locker. „Er lautet 995.“ „Alle Achtung“, meinten Sandra und Mario anerkennend. „Wie hast du das so schnell geschafft?“ „War ganz einfach: Die Hälfte von 7 ist 3,5. Das mal zwei gerechnet ergibt wieder 7! Als Nächstes hab ich die Buchstaben des Alphabetes in Zahlen gelesen. SIEBEN: S ist der neunzehnte Buchstabe, I der neunte, das E der fünfte, usw. Das ergibt die Addition 19 + 9 + 5 + 2 + 5 + 14. Dann hab ich die Summe durch Addition der Ziffern reduziert. Somit wird aus der neunzehn 1 + 9 = 10, 1+0 = 1. Nun hieß es 1 + 9 + 5 + 2 + 5 + 5 = 27. 27 ist 2 + 7, das macht 9 – die erste Ziffer des Codes. Und dann immer so weiter“*. „Wir müssen rausfinden, wer sich hinter Wassermann 2 verbirgt. Jannik macht sich höllische Sorgen um ihn“, sagte Sandra. „Mario bleibt an Jannik dran. Wenn ich das letzte Horoskop auf der CD richtig deute, gibt es bald ein aufschlussreiches Treffen.“ Sandras Handy läutete. „Wie bitte!? Das … Alles klar, wir kommen sofort.“ *
Die Lösungen zu den anderen Fragen findest du auf den schlauen Seiten 99
„Wir beide sollen uns heute Nacht um Horst Santers Safe kümmern, wolltest du sagen, oder?“, Armin sah Sandra fragend an, die plötzlich einen sehr verwirrten Eindruck machte. „Ja, ja. Zuerst will aber noch jemand mit uns eine Runde im Riesenrad drehen …“ Die Kabine befand sich gerade am höchsten Punkt. SAM sahen aus dem Fenster hinunter. Die Menschen sahen so klein wie Stecknadelköpfe aus. „Im Film Der dritte Mann wurde der Hauptdarsteller aus einer Gondel des Riesenrades in den Tod gestürzt“, sagte Armin. Rainer rückte endlich mit dem Grund des Treffens heraus. „Der DNA-Test hat eindeutig ergeben, dass sich auf dem Messer Spuren von Hahnenfedern und schuppiger Schlangenhaut befunden haben. Irrtum ausgeschlossen. So ein Test gleicht einem biologischen Fingerabdruck.“ „Ich glaub’s einfach nicht“, sagte Mario. Auch Theo starrte Rainer an, als käme er von einem anderen Planeten. „Die Schlangenhautspuren stammen von einer australischen Todesotter, die in Europa naturgemäß nicht vorkommt. Ihr Gift ist absolut tödlich“, sagte Rainer. „Die Wissenschaftler werden in Scharen kommen, wenn es tatsächlich so ist, dass Basilisken seit Jahrhunderten unentdeckt im Wiener Kanalsystem leben“, überlegte Sandra. „Vielleicht ist der Basilisk das Ergebnis geheimer Tiergenversuche, die fehlschlugen“, meinte Mario. „Und jetzt vermehren sie sich.“ 100
„Das Mistvieh hat mich fast gekillt“, brauste Armin auf. „Was hattest du auch dort unten zu suchen“, fuhr ihn Theo an. SAM blickten sich viel sagend an. „Wieso ist über den Vorfall in den Zeitungen nichts erwähnt worden?“, fragte Armin schnell. „Weil nicht mal wir es wirklich glauben können“, sagte Theo. „Jedenfalls müssen wir dichthalten. Jannik ist in Gefahr. Eine Massenhysterie würde die Lage nur erschweren.“ „Warum nur hat Horst Santer beschlossen, die Produktion der neuen Pralinen zu stoppen?“, fragte Sandra. „Woher wisst ihr das?“ Theo fuhr überrascht zusammen. „Wir ermitteln eben gründlich“, sagte Mario stolz. „Kann man wohl sagen.“ SAM warfen sich verschwörerische Blicke zu. Die anderen Entdeckungen wollten sie für sich behalten. Was hatte es mit diesem Basilisken auf sich? Sie hatten heute Nacht jedenfalls wieder etwas vor. Aber das blieb aus Sicherheitsgründen besser geheim.
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Der Knochenfischer
„Das ist das Verrückteste, was wir je getan haben“, meinte Armin. „Lass uns rennen“, sagte Sandra entschlossen. „Und zwar in den Hinterhof, okay? Dann steigen wir durch ein Fenster in die Fabrik ein und schleichen in Horsts Büro. Die Fenster zum Hof sind bestimmt nicht mit Alarmanlagen gesichert.“ „Gut, aber sei leise!“, keuchte Armin. Sie rannten auf die andere Straßenseite, machten einen weiten Bogen um den Haupteingang der Fabrik und verschwanden in einer dunklen Seitengasse. Der Hinterhof glich einer Müllhalde. Sie rannten zwischen Plastiktonnen, Papiercontainern und Pappschachteln zur Südseite des vierstöckigen Gebäudes. Im Schatten der Hausmauern verborgen, wandte Sandra sich um; neben ihr pumpte Armin nach Luft. „Verdammt“, japste sie, „im Erdgeschoß sind sie vergittert … wir müssen ein Fenster im ersten Stock nehmen … Ich mach dir die Räuberleiter …“ Sandra formte die Hände zu einem Steigbügel und Armin stieg drauf. Seine Finger waren nur noch wenige Zentimeter vom Fenstergriff entfernt, als ein Rascheln Sandra unwillkürlich zusammenzucken ließ. Armin verlor das 102
Gleichgewicht und stürzte auf sie hinunter. Kopfüber fielen sie auf eine riesige Pappschachtel, die lautstark zusammenkrachte. Irgendetwas bewegte sich unter ihnen. Dann, im fahlen Mondlicht, sahen sie, dass sie jemand aus glasigen Augen musterte. Sandra starrte den Mann im ziegelroten Lodenmantel entgeistert an. Über seine Stirn verlief eine tiefe Narbe. „Hallo, Kumpel. Du? Schön dich wiederzusehen. Hast dich ja fein rausgeputzt“, grunzte der Stadtstreicher. Er stank, als sei er gerade einer Mülltonne mit toten Fischen entstiegen. „Wir brechen nicht ein, falls Sie das glauben“, stammelte Sandra verwirrt. Jetzt erkannte Armin den Stadtstreicher aus der U-Bahn wieder. „Ähm … wegen damals … ich …“ „Schon klar. Spielt keine Rolle. Ich kann euch helfen. Übrigens: Ich heiße Johann.“ Mit einer Handbewegung gab er den beiden zu verstehen, ihm zu folgen. Seine bleichen Hände hoben einen Kanaldeckel zur Seite und Johann stieg in das schwarze Loch hinunter. „Und wenn es eine Falle ist?“, protestierte Sandra leise. „Hast du eine bessere Idee?“ Armin setzte einen Fuß auf die erste Leitersprosse. Sandra folgte ihm mit einem tiefen Seufzer in die finstere Welt hinab. Johann führte sie zu einer massiven Holztür. „Das ist schon seit zwölf Jahren mein Revier. Doch seit einiger Zeit geschehen hier unten merkwürdige Dinge. Ich hab Horst Santer schon einige Informationen beschafft, schließlich muss man ja irgendwie seinen Lebensunterhalt 103
verdienen, stimmt’s!? Mit dem Knochenfischen ist es ja längst vorbei. Wo sind nur die guten alten Zeiten geblieben! Damals spannten meine Vorfahren bei den Einmündungen zu den Sammelkanälen Netze und fingen Knochen auf, um sie an die Seifensieder zu verkaufen.“ Sandra rang angeekelt nach Luft. „Das ist hier der reinste Irrgarten. Dort durch die Tür und im Heizhaus dann links. Von den Lagerräumen führt eine Treppe direkt in den Bürotrakt.“ Johann blieb stehen. In seinem dunklen Mantel war er kaum zu sehen. Armin nahm ihn nur am Geruch wahr. Sandra lag eine Frage auf der Zunge. Schließlich platzte sie einfach damit heraus: „Haben Sie schon mal einen Basilisken gesehen?“ Johann schüttelte schweigend den Kopf. Nach einer Weile krächzte er: „Haltet euch links … Gott schütze euch!“ „Warten Sie!“, rief Sandra. Doch der Stadtstreicher war schon wieder verschwunden. Sie folgten Johanns Anweisungen. Er hatte nicht gelogen. Horst Santers Büro lag im obersten Stock. „Wir öffnen den Safe und hauen mit dem Inhalt sofort wieder ab“, flüsterte Sandra. Armin versuchte gerade mit dem Dietrich das Schloss der Bürotür zu knacken, als sie eine Stimme näher kommen hörten. Karin Damm war hundemüde. Die Vorbereitungen für das Schultheater erschöpften sie. Sie schlenderte gerade mit einer Tasse Kaffee in die Direktion zurück, als es passierte. Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch das halb geöffnete 104
Fenster ins Büro. Aus den Augenwinkeln sah sie noch den aufgebrochenen Aktenschrank. Dann spürte sie einen Schlag mit einem harten Gegenstand auf ihrem Hinterkopf, der wie tausend Messerstiche schmerzte. Ihr Gedankenfluss stockte; das Büro verschwamm vor ihren Augen. Sie wollte um Hilfe schreien, brachte aber nur noch ein Glucksen zustande. Zuletzt sah sie noch einen Schatten durch das Fenster huschen, der Schülerakten in der Hand hielt. Dann schlug die Finsternis über ihr zusammen. „Ich hab sie, fahr los“, triumphierte Angelo, und knallte die Autotür zu. Er betrachtete Sandras Passbild in der Akte. Gelassen nannte er Lucio die Adresse – jene, die Rainer der Direktion mitgeteilt hatte. Es war die Adresse der SAM-Zentrale. „Irgendwie schade um die Kleine“, grunzte Angelo.
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Die Bombe platzt
„Verdammt, mach schneller!“, drängte Sandra, und hüpfte von einem Bein auf das andere. Die Schritte kamen immer näher und jetzt flutete ein Bewegungsmelder den Gang mit grellem Neonlicht. Geblendet schloss Armin für einen kurzen Moment die Augen. Da hörten sie einen Gegenstand aus Metall über einen Heizkörper schrammen. Sie hatten den Nachtportier auf sich aufmerksam gemacht. „Mach endlich!“, fieberte Sandra. „Mach’s doch selber, wenn du schneller bist!“, zischte Armin angespannt. Schon schob sich der lange Schatten des Nachtportiers über den Boden. Jeden Moment musste er um die Ecke biegen … da sprang die Tür endlich auf! „Wer da!“, rief der Mann sofort. Sie konnten sehen, wie sein Schatten immer schneller und länger wurde. Einige Atemzüge lang standen Armin und Sandra da wie angewurzelt und konnten sich erst wieder aus ihrer Erstarrung lösen, als der Zeitschalter den Gang wieder in Finsternis tauchte. Wieselflink huschten sie ins Horst Santers Büro und schlossen die Tür. Draußen flammte der Lichtstrahl einer Taschenlampe auf und bohrte sich durch das trübe Türglas. Eine bullige 106
schwarze Gestalt zeichnete sich für den Bruchteil einer Sekunde ab. Dann ging die Bürotür langsam auf und das Licht der Taschenlampe tastete sich suchend über Wände, Möbel und Fenster. Der Parkettboden ächzte und stöhnte unter den wuchtigen Füßen des Nachtportiers. Er kam direkt auf Armin zu. Ein Schweißtropfen perlte über Armins Stirn. Im Lichtkegel blitzte kurz etwas auf – ein Pistolenlauf! Sandra kauerte hinter einem an die Wand gelehntem Ölbild. Ihr stockte der Atem, als die Umrisse des Riesen direkt vor Armin Halt machten. In Armins Eingeweiden rumorte die Angst. Der Platz zwischen dem Ordnerschrank und der Garderobe war kein gutes Versteck. Der Lichtstrahl der Taschenlampe kam immer näher auf ihn zu. Da krachte etwas gegen das Fenster. Erschrocken drehte sich der Portier um. „Dämliche Viecher!“, fluchte er, und hämmerte gegen das Glas, als er die zwei Tauben sah, die sich auf dem Fenstersims niedergelassen hatten. „Typisch für diese Sekretärin. Nicht einmal ihr Büro kann sie nach Feierabend abschließen“, murmelte er, und verließ das Zimmer. Armin strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Draußen wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht. „Das war knapp“, flüsterte er. „Knapp? Ich hab dein Bild schon in der Schülerzeitung gesehen. Schwarz umrandet und mit dem Bildtitel: Er ruhe in Frieden …“ Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Sandra: „Alles wieder okay?“ 107
„Ja, machen wir weiter.“ Sandra zog ihre Jacke aus und verhängte damit die Bürotür. Armin schaltete seine Taschenlampe ein. Der Safe befand sich hinter einem Gemälde des Firmengründers Rudolf Santer. Armin schwenkte das Bild zur Seite und nannte Sandra die Ziffern. „Wenn da jetzt auch noch eine falsch ist …“ „Neun.“ Sandra drehte das Nummernrad nach rechts und dann wieder zurück – es klickte. „Neun.“ Ein Stück zurück: Klick. „Fünf.“ Die Anspannung der beiden wurde unerträglich. Drei Umdrehungen nach links, eine halb zurück. „Sesam öffne dich!“ Armin grinste breit. Sandra beleuchtete das Innere des Safes. Da lag eine Pralinenschachtel. Flüchtig sahen sie sich den Inhalt an. Er bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. „Ja, hier Wassermann 1. Nein … es muss sofort sein … Absolut sicher … Der Stecker war rausgezogen und … Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber wir haben keine andere Wahl. Ich hab wieder ein Horoskop des Basilisken entdeckt. Ja, heute Nacht schneit es Unmengen von süßem Schnee. Mach die Kamera fit … Heute Nacht holen wir uns den Beweis und … Die Falle des Killer-Basilisken kann zuschnappen …. Bleib jetzt cool …“ Jannik schob das Telefon in seine Jacke, spähte nach allen Seiten und schlich los. Mario, dem es gelungen war, das Gespräch zu belau108
schen, wartete einige Augenblicke. Dann nahm er in sicherem Abstand die Verfolgung auf, doch das war nicht einfach. Jannik kannte die Innenstadt wie seine eigene Westentasche. Jede Gasse, jeden Winkel und jeden Hinterhof nutzte er für Abkürzungen. Er erreichte den Graben. An der Dreifaltigkeitssäule erholte er sich kurz, dann betrat er das Café Aida auf dem Stephansplatz. Das Kaffeehaus hatte große, auslagenähnliche Fenster. Das erleichterte Marios Vorhaben. Jannik setzte sich an einen der leeren Fenstertische. Er bestellte etwas und Mario postierte sich auf der gegenüberliegenden Seite der Fußgängerzone hinter einem Fiaker*. Jannik machte einen unruhigen Eindruck. Immer wieder blickte er auf die Uhr. Der Ober brachte ihm eine Cola. Mindestens eine Viertelstunde verging und Jannik saß noch immer alleine an dem kleinen Tisch. Mario wurde ungeduldig. Er beschloss, die Fußgängerzone zu überqueren, um das Café besser unter die Lupe nehmen zu können. Als er hinter dem Fiaker hervortrat, hörte er Reifen quietschen und spürte im Rücken einen heftigen Stoß, der ihn mit der Kraft eines rasenden Nashornes auf das Kopfsteinpflaster schleuderte. Ein Fahrrad knallte gegen die Kutsche und der Fahrer stürzte schimpfend zu Boden. „Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrampelst, du dämlicher Tölpel! Ich hab mir beinahe das Genick gebrochen!“ Die Pferde wieherten erschrocken und bäumten sich auf. *
Pferdekutsche, eine typische Wiener Touristenattraktion 109
Mario stand mühsam auf und begab sich in sichere Entfernung. „Pass gefälligst selbst auf wo du rumkurvst!“ Der Kutscher kam aus dem Café gerannt und sprach beruhigend auf die Pferde ein. Mario sah nun, dass er mit einem blonden Mädchen zusammengestoßen war. Sie hatte die glatten Haare zu einem Zopf gebunden und trug einen dunkelblauen Sweater. Das Mädchen hob seine Schirmkappe auf und zog sein Fahrrad unter der Kutsche hervor. Glücklicherweise war es unbeschädigt geblieben. Ihr Handy läutete. „Ja, hier Nummer 2. Bin schon vor Ort. Kleines Problem mit so ’nem Heini …“ In Mario kochte Wut hoch. Normalerweise würde er sich das nicht gefallen lassen. Aber er ahnte plötzlich, dass er mit Wassermann 2 zusammengeprallt sein musste. Die Ermittlungen waren wichtiger. Er schlich um die nächste Ecke und verschwand in einem Hauseingang. Er wartete ein oder zwei Minuten, dann bezog er wieder seinen Beobachtungsposten vor dem Café. Jannik und das blonde Mädchen umarmten sich, als hätten sie sich schon jahrelang nicht mehr gesehen. ‚Er hat wohl eine Freundin‘, schlussfolgerte Mario. Mit dem Rad waren die beiden zu schnell für ihn. Er überlegte und hatte eine Idee. Jannik reichte dem blonden Mädchen eine verspiegelte Brille. Dann holte er eine Pralinenschachtel aus seiner Jackentasche und die beiden teilten sich den Inhalt. „Mit Sicherheit das Schweigegeld, dessen Übernahme Armin beobachtet hat“, murmelte Mario vor sich hin. „Das müssen mindestens zweitausend Euro sein. Kein Wunder, dass er sich so viel leisten kann.“ 110
Die beiden kontrollierten ihre Kamera, klatschten sich verschwörerisch in die Hände und bezahlten. Auf der Straße sahen sie sich vorsichtig nach allen Seiten um. Mario tarnte sich mit einem Trick: Seine Windjacke, die beidseitig zu tragen war, war innen schwarz und außen ockerfarben. Er trug die Jacke jetzt mit der Innenseite nach außen und schlug den Kragen hoch. Auf diese Weise würde ihn das Mädchen nicht so leicht wiedererkennen. „Verdammt, ich hab ’nen Platten vom Sturz“, ärgerte sich das blonde Mädchen. „Wir müssen zu Fuß weitergehen.“ Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. „Morgen lassen wir die Bombe in den Zeitungen platzen, Elmira“, sagte Jannik siegessicher. „Und wenn er uns auch erwischt?“ „Kann er nicht mit den Spiegelbrillen. Keine Angst. Bald hat der Spuk ein Ende und wir brauchen uns nicht mehr zu versteck …“ Die letzten Worte hörte Mario nicht mehr, weil die beiden in eine Seitengasse eingebogen waren. Er ahnte, wohin die beiden gingen – weg aus dem Licht und der Wärme, hinab in eine dunkle, geisterhafte Unterwelt, wo sie der Killer-Basilisk sofort ins Visier nehmen würde …
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Ein gedämpfter Schuss
Über die Feuerleiter, die direkt in den Innenhof der Firma Santer & Söhne führte, war es für Sandra und Armin ein Leichtes gewesen zu entkommen. In einem Hauseingang verschnauften sie kurz. Sandra war sehr blass. Der Inhalt des Safes, den sie in Händen hielt, bewies, in welch mörderisches Spiel sie diesmal hineingeraten waren. Armin fühlte sich kein bisschen wohler. Beide ahnten, was ihnen nun bevorstand. „Wir treffen uns in der Zentrale“, sagte Sandra. „Da vorn ist eine Telefonzelle. Erzähl Rainer nur, was er unbedingt wissen muss! Uns bleibt nicht mehr viel Zeit …“ „Ich mach so schnell ich kann“, antwortete Armin. „Wart in der Zentrale auf mich.“ Wenig später lief Sandra die breite Zufahrt zu Armins Elternhaus hoch. Es schlummerte friedlich im Mondschein dahin. Aber die Stille täuschte. Seine Eltern waren glücklicherweise nicht da, doch Sandra musste höllisch aufpassen, dass sie nicht Armins Schäferhund Hercule oder gar die Nachbarin, Frau Olsen, weckte. Die stand praktisch Tag und Nacht am Fenster, damit ihr ja nichts davon entging, was bei den Hausers vor sich ging. 112
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Heute Nacht jedoch drohten andere Gefahren. Ein schwarzer VW-Passat parkte seit zwei Stunden gegenüber von Armins Haus. Aber niemand war ausgestiegen … Auch Sandra schenkte dem Wagen keine Beachtung. Sie kletterte über die Gartenmauer. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass ihr Auftauchen von den Insassen des Passats genau registriert wurde. „Das ist das Mädchen“, grunzte Lucio leise, obwohl keine Gefahr bestand, belauscht zu werden. Angelo fingerte die Fotos aus seiner Brusttasche und betrachtete sie noch einmal kurz. Zweifellos – sie hatten das Mädchen, das damals in dem Hotel gelauscht hatte und von dem diese Videoaufzeichnung existierte. Plötzlich zeigte sich seine innere Anspannung, denn seine linke Hand krampfte sich unwillkürlich um seine Pistole zusammen. Er legte die Stirn in tiefe Falten und seine Mundwinkel zitterten. Angelo warf Lucio einen eisigen Blick zu. Lucio brummte zustimmend. Die Gangster waren sich einig. Sandra verschwand gerade hinter den dichten Zierbüschen, die Armins Zuhause von der Straße abschirmten. Angelo schraubte konzentriert den Schalldämpfer auf den Lauf seiner Pistole und stieg aus dem Auto aus. Lucio schloss die Augen. Es dauerte vielleicht eine Minute. Eine Minute, die Lucio vorkam wie eine kleine Ewigkeit. Zuerst hörte er ein leises „Plopp“, und dann das dumpfe Geräusch eines zu Boden fallenden Körpers. Mit einem tiefen Atemzug ließ er das Lenkrad los, das er die ganze Zeit fest umklammert hatte. Jetzt gab es für die beiden Gorillas kein Zurück mehr. Sie hatten es tatsächlich getan. 114
Jannik und Elmira schlüpften leise durch die Tür des Bäckerhauses in der Schönlaterngasse. Im Keller öffneten sie die Bodentür und stiegen die steinernen Stufen in die Dunkelheit hinab. Der Widerhall ihrer Schritte wurde immer leiser. Mario folgte ihnen auf leisen Sohlen. Er spürte sein Herz ein wenig schneller schlagen. Hatten sich die Bäckergesellen damals auch so gefühlt, als man sie nur mit einem Spiegel bewaffnet an einem Seil in den Brunnen hinabgelassen hatte, in dem der Basilisk 1212 zum ersten Mal entdeckt worden war? Mit einem flüchtigen Blick auf die Armbanduhr prüfte Jannik im Schein seiner Taschenlampe, wie viel Zeit ihm noch blieb. Der Dampf, der von den stinkenden Kloaken hochstieg, machte das Vorwärtskommen nicht gerade einfach. Schon beschlich Jannik und Elmira ein Gefühl der Unsicherheit, als sie plötzlich hörten, dass sich hinter dem Gittertor etwas bewegte. „Da ist er!“, flüsterte Elmira aufgeregt. „Bestimmt sind’s nur Stimmen von der Straße oben“, hoffte Jannik. Dann aber verließ ihn doch der Mut. „Wir müssen einen anderen Weg zum Nest nehmen.“ Aus einem Seitengang näherte sich eine röchelnde Gestalt. Schnell setzten Jannik und Elmira ihre Spiegelbrillen auf, sprangen über das träge dahinfließende Kloakenrinnsal und flüchteten in einen anderen Seitengang. Nur wenige Sekunden später erreichte Mario den Gewölbekeller. Viereckige Steinsäulen stützten die Decke ab. Der Basilisk konnte im Dunkel sehen, erinnerte er sich. Sein Atem ist Gift und sein Blick versteinert. 115
Im Schutze der Dunkelheit schlich er von einer Säule zur nächsten. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Mario konnte in dem Dunst kaum etwas erkennen. Er hastete in den Stollen, in dem auch Jannik und Elmira verschwunden waren. Plötzlich hörte er einen markerschütternden Schrei, der schnell leiser wurde und schließlich ganz verebbte. „Hiiilfeeeeeeeeeeeee!!!“ Mario erschauderte: So musste sich der Schrei eines Menschen anhören, der in einen tiefen Abgrund stürzte! Was war Jannik und Elmira zugestoßen? Noch während er grübelte, drang ein gieriges Röcheln an seine Ohren. Es schien plötzlich aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. „Oh Gott, nein!“, stöhnte Armin erschrocken. Er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, als er Sandras Kappe am Fuße der hohlen Kastanie fand. SAM trugen nur Schuhe, in deren Sohlen sie ihre Codebuchstaben eingeritzt hatten. So waren ihre Spuren immer leicht zu verfolgen. Nun erkannte Armin auch Sandras Schuhabdrucke, doch sie endeten abrupt in der Mitte des Gartens. Die danach folgenden Spuren wiesen darauf hin, dass sie Richtung Gartentor geschleift worden war. Wie oft hatte sie Sandra mit ihrer List und ihrem Scharfsinn aus beinahe unmöglichen Situationen gerettet! Und jetzt war ihr selbst etwas Schreckliches zugestoßen. Noch nie in seinem Leben hatte Armin so viel Angst gehabt … Anzeichen eines Zweikampfes entdeckte er keine. Er 116
überlegte, ob er die Polizei verständigen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass sie ihm ohnehin kein Wort glauben würden. Wo war bloß die Pralinenschachtel? Im Falle eines Angriffs hätte Sandra auf jeden Fall versucht, sie noch schnell irgendwo zu verstecken. Armin suchte den ganzen Garten ab. Und tatsächlich: Sandra hatte die Pralinenschachtel hinter einen Ligusterstrauch geworfen. Armin öffnete sie und studierte eingehend den Inhalt. Was er da las, war einfach unglaublich. Plötzlich fügten sich die einzelnen Informationen, die sie bis jetzt gesammelt hatten, zu einem schlüssigen Bild zusammen. Es war ein Bild des Schreckens. Da fanden sich Buchungsbestätigungen von Horst Santer über Flüge nach Rio de Janeiro in Brasilien, Horoskope einer Firma namens Astro-Service und eine Skizze des Wiener Kanallabyrinths. Fahrig tippte Armin Theos Telefonnummer in sein Handy. Theo meldete sich nicht. „Mach schon!“, quengelte Armin. Endlich hörte er Theos Stimme. „Ja … ein zweiter versteckter Zugang befindet sich im Keller Nummer 3 der Firma! Ihr Bruder schmuggelt …“, schilderte Armin hastig. „Sicher! … Noch heute Nacht schneit es wieder süßen Schnee. Der Plan ist genial … Das ist die Chance, ihn zu überführen … Und verständigen Sie die Polizei, Jannik und Mario schweben in Lebensgefahr … Sandra ist schon … oh Gott! … Keller 3!“ Armin beendete das Gespräch abrupt. Er musste Rainer sofort erreichen, sonst würde es für alles zu spät sein! 117
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Die Rattenaugen
Don Ganuccis Gesicht spiegelte freudige Erleichterung wider, als Lucio und Angelo in der Hotelsuite verkündeten: „Das Mädchen ist zum Schweigen gebracht worden. Wie befohlen, Imperator.“ Donnas Mundwinkel zitterten. Sie kämpfte mit den Tränen. Sie saß einem Kindermörder gegenüber und konnte nichts gegen ihn unternehmen! „Ihr habt keine Spuren hinterlassen?“, wollte sich Don Ganucci vergewissern. „Keine Spuren“, grunzte Angelo. „Ihr seid alle wahnsinnig“, flüsterte Donna geschockt. „Wir waren in ihrer Schule. Die Spur wird die Polizei direkt zu uns führen!“ „Bis dahin sind wir längst über alle Berge. Und im Gästebuch steht ein falscher Name …“ Don Ganucci atmete erleichtert auf und zündete sich eine dicke Zigarre an. Er war gerettet. „Jetzt zum Geschäft.“ Das Telefon schrillte. Angelo hob ab. „Der Schneemann ist dran“, sagte er. „Schlechte Neuigkeiten!“ Ganucci drückte die Lautsprechertaste, um mithören zu können. Was er vernahm, ließ sein schiefes Grinsen erstarren. 118
Es war Carsten. Er schien außer sich zu sein: „Ich hab eben den Hacker ausfindig gemacht. Der Computer, mit dem er sich bei Astro-Service einschleicht, steht in der Villa von Horst Santer. Hab das letzte Horoskop mit einem Spezialprogramm zurückverfolgt. Ihr Anfänger habt die Falsche zu den Engeln geschickt! Ein unschuldiges, harmloses Mädchen! Ein rothaariger Junge zockt das Schweigegeld ab. Seht es euch selbst an.“ Carsten hatte aufgelegt. Das Faxgerät begann zu rattern. Der Imperator riss die Seiten an sich. Es waren SAMs Passbilder und die Schulakten. Er wurde leichenblass. „Sandra Wolf, Armin Hauser, Mario Klein“, stammelte der Don starr vor Schreck. „Drei verschiedene Namen – aber ein und dieselbe Adresse! Maulwürfe! Man hat uns Spione auf den Hals gehetzt!“ Dann fiel sein Blick auf die Faxseite mit dem Horoskop. Don Ganucci hatte mit solchen Seiten, die allesamt Schweigegeldforderungen beinhaltet hatten, schon Bekanntschaft gemacht. Und auch diesmal hatte sich der Hacker erfolgreich bei Astro-Service eingeschlichen. Er kannte Ort und Zeit der nächsten Übergabe. Eines aber war diesmal anders als sonst. Auf dem Fax war der Absender vermerkt: Jannik Santer. „Ihr Hampelmänner habt die falsche Person erwischt!“, brüllte der Imperator, und knallte mit der Faust auf den Tisch. „Aber … aber das Videoband des Hotels …“, stammelte Lucio. „Der Lauscher ist eindeutig blond.“ „Ich pfeif auf das Video!“, schrie Don Ganucci mit einem irren Glanz in den Augen. „Um alles muss man sich selbst kümmern!“ Er betastete seine Pistole, die in einem 119
Schulterhalfter steckte. „Macht alles für die Heimreise bereit, ihr Flaschen. Wir treffen uns in einer Stunde auf dem Flughafen.“ „Wo willst du hin?“, fragte Donna besorgt. „Ich bringe jemanden zum Schweigen. Es ist an der Zeit, endlich reinen Tisch zu machen!“ Für einen Moment glaubte Mario zu hören, dass das Röcheln von Klopfgeräuschen unterbrochen würde. Irrte er sich, oder war da ein gewisser Rhythmus zu erkennen? Er gelangte zu einem Steinbecken, in dem dunkles Wasser glitzerte. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe über die Wasseroberfläche tanzen. ‚Wach ich oder träum ich?‘, überlegte er. Zuerst dachte er, es wären die Augen einer Ratte, doch der rote Punkt blinkte. Grauer Stahl erhob sich aus dem Kloakenwasser. Das Ding war nicht größer als eine Schuhschachtel. Für gewöhnlich verwenden so etwas Wissenschaftler. Sie statten es mit einer Kamera aus, um Fotos von entlegenen Meereswinkeln zu bekommen. Vor ihm lag ein Mini-U-Boot. Ein rotes Licht blinkte am Bug. Mario hob das ferngesteuerte Boot aus dem Wasser. An den Seiten befanden sich kleine Schwenkhebel. Mario drehte behutsam daran und es öffnete sich wie ein Buch. Mario staunte nicht schlecht, als er dem U-Boot fünf Schachteln Santerpralinen entnahm. Plötzlich hörte er ein schabendes Geräusch. Das musste der Killer-Basilisk sein. Und da sah er ihm auch schon direkt ins Gesicht, der beutehungrigen Fratze einer Kreuzung aus einem Hahn und einer Schlange. In seinen blutunterlaufenen Augen konnte Marion nur eines lesen: den 120
Wunsch zu töten. Reglos wie ein Tiger vor dem Sprung stand der Basilisk vor ihm. Schaumiger Speichel triefte aus seinem Maul. Mario starrte direkt in die Augen des Monster. Er hatte nie an den versteinernden Blick geglaubt – aber jetzt … Instinktiv umklammerte er seine Taschenlampe fester. Der Basilisk kam einen Schritt näher. Mario spürte den warmen Atem in seinem Gesicht. In Mario erwachte die Kämpfernatur. Er trat dem Basilisken mit aller Kraft gegen das Knie, doch der schien das nicht einmal wahrgenommen zu haben. Noch ehe Mario sich zur Seite rollen konnte, sauste die Pranke des Untiers wie eine scharfe Sichel durch die dunstige Kloakenluft. Eine Kralle streifte seine linke Schläfe. Ein Feuerwerk schien vor Marios Augen zu explodieren und er sank zu Boden. Blut sickerte in seinen Mund. Mario versuchte wegzurobben. Der Basilisk folgte ihm. Mario hörte sein gieriges Röcheln. Er versuchte sich aufzurichten und grub seine Finger in die scharfkantigen Ritzen der Wand. Sein ganzer Körper schmerzte, als es ihm mühsam gelang aufzustehen. Doch da traf ihn ein zweiter, noch kräftigerer Hieb, der ihn wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden taumeln ließ. Er stürzte und die Taschenlampe entglitt ihm. Mit dem Gesicht voran schlug er wieder auf dem nassen Boden auf. Kleine, spitze Steine bohrten sich in seine Haut. Der Schmerz durchfuhr ihn wie ein Stromstoß, doch die Angst war noch stärker. ‚Gleich werden sich die Giftzähne einer Todesotter in mein Fleisch bohren‘, dachte er panikerfüllt. Er fühlte sich wie eine Maus, mit der die Katze spielte, bevor sie ihr endgültig den tödlichen Genickbiss verpasste. 121
Mit allerletzter Kraft drehte er sich auf den Rücken und versuchte an sein Messer zu kommen. Doch es gelang ihm nicht. Der Basilisk hatte sich hoch vor ihm aufgerichtet, öffnete sein Maul und bleckte seine Schlangenzähne, die so lang wie Messerklingen waren. Das Untier ließ seinen grässlichen Kopf nach vorne schnellen und zischte bösartig. Mario zitterte. Plötzlich sah er hinter dem Basilisken ein grelles Licht aufleuchten. Blitzschnell rollte sich Mario zur Seite. Nur wenige Zentimeter neben ihm bohrte sich ein rot gefiederter Betäubungspfeil in eine Bodenritze. Gleich darauf traf die Kreatur ein Schlag mit einem schweren Gegenstand. Der Basilisk taumelte. Dann wurde noch einmal auf den Hahnenkopf eingeschlagen und der Basilisk krümmte sich nun wie ein zertretener Regenwurm auf dem Boden. Keuchend, ein Leitungsrohr in den zitternden Händen, stand Armin da. Er war sich sicher, dass er ihn erledigt hatte. Armin drehte sich zu Mario um und reichte seinem Freund die Hand. „Alles okay?“ Er sah noch das Entsetzen in Marios Augen – doch es war zu spät. Der Basilisk war wieder auf die Beine gekommen, stürzte sich auf Armin und schleuderte ihn zu Boden. Er schlug mit dem Kopf auf einem Stein auf. Das Letzte, das er sah, waren die langen Giftzähne direkt vor seinem Gesicht. „Man sieht doch Licht bevor man stirbt“, murmelte Armin. Dann verlor er das Bewusstsein. 122
Als Armin wieder zu sich kam, sah er sich einem wahren Schlachtfeld gegenüber. „Wir hatten von Anfang an Recht gehabt, nicht wahr“, krächzte er. Mario nickte. „Ein Basilisken-Kostüm wie im Theater: Latexhaut, aufgeklebte Schlangenhaut und Hahnenfedern. Ein Nachtsichtgerät mit Restlichtverstärker stellte die Augen dar …“ „Wie … wie hast du Theo erledigt?“ „Mit seinen eigenen Waffen. Ich hab ihm den Betäubungspfeil reingerammt, mit dem er mich zuerst verfehlt hat.“ Mario half Armin auf die Beine. „Woher hast du die Skizze dieser unterirdischen Gänge?“ „Aus Horst Santers Safe. Aber das erklär ich dir später. Wir müssen schnell weg hier, denn wenn ich Recht habe, dann …“ Plötzlich war wieder dieses Klopfen zu hören. „Verdammt!“, rief Mario. „Jannik und Elmira! Die hab ich ganz vergessen!“ „Das sind Morse-Zeichen! Sie morsen SOS! Mensch, ich hab diese Geräusche hier unten schon mal gehört, aber in der Aufregung nicht als Notsignal erkannt“, rief Armin. „Dann … dann leben sie noch – schnell!“, sagte Mario. Sie folgten dem Klopfen in einen engen, abgelegenen Stollen. Er führte zu einem tiefen Brunnenschacht, der mit Stroh bedeckt als Fallgrube diente! Das Klopfen kam eindeutig aus dem Schacht. Armin leuchtete in das schwarze Loch hinab. Ein Blick durch das Nachtsichtgerät reichte. „Hilf mir, schnell.“ Mit vereinten Kräften rissen sie ein altes Kabel von der Betondecke und ließen es in die Tiefe hinab. Es dauerte ein 123
paar Minuten, dann waren Jannik, Elmira und Horst Santer heraufgeklettert. „Danke“, keuchte Janniks Vater erschöpft. Auf Armins und Marios Schultern gestützt, kämpften sie sich zurück. Theo lag noch immer als Basilisk verkleidet bewusstlos auf dem Boden. Jannik hatte sich den linken Arm gebrochen. „Bist du sonst okay, Jannik?“, fragte Armin. „Oder sollte ich besser Wassermann 1 sagen – oder noch treffender Jannika!?“ Mario verstand kein Wort. Armin reichte Jannik das Foto aus dem Safe. Es zeigte Horst, seine geschiedene Frau und zwei blonde Mädchen im Prater. „Wo … woher weißt du, dass ich meinen Namen geändert habe?“ „Und dein Aussehen. Du hast dir die blonden Haare schneiden und färben lassen, um von den Leuten der Firma Astro-Service nicht erkannt zu werden. Elmira hingegen versteckte euer Vater in einem Jugendheim, bis er genügend …“ Mario schlug sich an die Stirn. „Die beiden sind Zwillingsschwestern?!“ „Dafür ist jetzt keine Zeit“, keuchte Horst. „Wann schneit es süßen Schnee, Jannika?“ „Hat es schon, Paps. Vor zwölf Minuten. Wir können ihm wieder nichts beweisen.“ „Vielleicht ist es noch nicht zu spät und wir können die Lieferung noch als Beweismittel sicherstellen.“ „Die Pralinen aus dem Mini-U-Boot“, sagte Mario und hob die Schachteln triumphierend hoch. „Kluges Kerlchen“, dröhnte eine kalte Stimme hinter ihnen. Fast gleichzeitig fuhren die fünf herum und blickten auf 124
die Pistole, die Don Ganucci in der Hand hielt. Der Imperator entriss Mario die Pralinenschachteln. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Spott und Verachtung offenbarte. „Euer Mut ehrt euch, aber euer Verstand ist winzig“, sagte er. „Genau wie bei diesem Verräter, der in die eigene Tasche wirtschaften wollte.“ Dabei stieg er verächtlich über Theo hinweg. „Mörder!“, schrie Jannika. „Ich hab gehört, was damals im Hotel passiert ist!“ „Aber du hast keinen Beweis, Kleine.“ „Sie haben Sandra auf dem Gewissen, Sie Schwein!“, schrie Armin. Mario wich schockiert zurück. Die Nachricht traf ihn wie ein Blitzschlag. „Sandra ist …“ Er rang um Fassung. Don Ganucci lachte. Er genoss sichtlich Marios Bestürzung und trat mit erhobener Waffe bis auf Nasenlänge an ihn heran. „Ich putze jeden aus den Schuhen, der meine Geschäfte behindert“, knurrte er mit funkelnden Augen. „Ein kluger Plan“, sagte Armin, und versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken, „Uhrzeit und Datum der Schmuggelgeschäfte in die Horoskoptexte ihrer Firma Astro-Service einzubauen.“ „Ich mach nur kluge Pläne, Winzling. Und die Millionen fließen.“ „Geben Sie auf“, sagte Horst mit schwacher Stimme. „In meinem Safe liegen Fotografien, die eindeutig Ihre Mittelsmänner beim Verkauf der Pralinen an Schüler zeigen.“ Don Ganucci musste nur lachen. „Wie sie irgendjemand den Schülern verkauft. Und zwar ihre Pralinen, Mister, 125
nicht meine. Basiliskeneier aus dem Traditionshause Santer & Söhne. Niemand wird je erfahren, dass der süße Schnee darin aus Brasilien stammt. Im Knast haben Sie lange Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie der Polizei ihre Unschuld verklickern können. Vielleicht sogar ein Leben lang – falls einer der Schüler nicht überlebt, nur weil ihr Herr Bruder den Kragen nicht voll genug bekommen konnte. Ein paar Leute mehr oder weniger auf dieser Welt – was soll’s, ha, ha, ha!“ „Sie mieser kleiner Gauner. Der Teufel soll Sie holen!“, fauchte Horst. „Ich muss Sie enttäuschen. Auf mich wartet ein Flugzeug. Sonne, Palmen, Strand – Sie wissen schon. Auf Nimmerwiedersehen, Freunde!“ Blitzschnell packte der Imperator Armin und presste ihn an sich. Armin spürte das kalte Metall des Pistolenlaufs an seinem Rücken. Die anderen wussten, dass sie im Moment nichts für Armin tun konnten. Don Ganucci stieg mit ihm die Kellertreppe hinauf und stolperte in den Regen auf die Schönlaterngasse hinaus. Plötzlich war Rainers Stimme zu hören. „Keine Bewegung! Knarre fallen lassen!“ Rundherum flammten grelle Scheinwerfer auf und bohrten sich in die Dunkelheit. Die Blaulichter der Polizeiautos zogen ihre Kreise über die Häuserwände. Ganucci blieb wie angewurzelt stehen. Armin riss die Hände hoch. Der Don drückte ihn noch fester an sich. „Macht den Weg frei, oder der Junge schluckt Blei!“, krächzte er und lachte. Es war das Lachen eines Wahnsinnigen. 126
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Süßer Schnee
Für Armins Nerven begann eine Zerreißprobe. Der Imperator und die Polizisten musterten sich mit erhobenen Schusswaffen. Und er stand dazwischen. Don Ganucci konzentrierte sich jetzt ganz auf die Polizisten. Das war Armins Chance. Er erinnerte sich an einen Selbstverteidigungstrick. In einer einzigen schnellen Bewegung und mit voller Kraft, schlug er den rechten Arm nach unten. Gleichzeitig drehte er sich um die eigene Achse, schlug mit dem rechten Arm die Pistole seitlich weg und Ganucci mit der linken Hand auf die Nase. Sofort schossen dem Ganoven Tränen in die Augen und er war für einige Sekunden handlungsunfähig. Genug Zeit für Armin, um aus der Gefahrenzone laufen zu können. „Ergib dich, Ganucci! Wir wissen alles über dich!“, rief Rainer Lennert. In den schwarzen Wolkentürmen über dem pulsierenden Lichtermeer begann es jetzt zu donnern. „Deine Kumpel haben gesungen, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen! Sie werden vor Gericht gegen dich aussagen.“ Donna, Lucio und Angelo traten ins Licht. Man hatte ihnen Handschellen angelegt. 127
„Du hast die Grenzen überschritten, Imperator“, sagte Donna kühl. „Das mit den Kindern ging zu weit … Du kriegst lebenslänglich und Einzelhaft. Dann kannst du für den Rest deiner Tage mit deinem Spiegelbild rumschreien.“ Die Worte drangen wie ein Giftpfeil in Ganuccis Gehirn ein. Er riss die Pralinenschachteln entzwei und stopfte die Pralinen gierig in sich hinein. Ganuccis Gesichtsausdruck veränderte sich durch den Regen auf erschreckende Weise. Eben noch maskiert verwandelten sich die klaren Züge zu einer von Krämpfen geschüttelten Fratze. Grünlicher Schaum quoll aus seinem Mund und er vollführte im strömenden Regen einen irren Tanz. Wahnwitziges Gelächter hallte von den Hauswänden wider. Don Ganucci riss die Arme hoch und drehte sich immer schneller im Kreis. Er fühlte sich losgelöst von Raum und Zeit, befand sich in einem unwirklichen Niemandsland. Er fühlte sich wie der Herrscher der Welt. Sein Gesicht glich dem eines Geistes: glasig und knochenbleich. Ein mächtiger Donner grollte durch das schwarze Wolkenmeer, als der Imperator seinen letzten Atemzug durch den weit aufgerissenen Mund sog. Dann fiel sein kraftloser Körper auf das nasse Steinpflaster und blieb leblos im Regen liegen. Einige Augenblicke lang herrschte eine merkwürdige Stille. Selbst der Donner schwieg. „Was … was geht hier vor sich?“, stammelte der Einsatzleiter der Polizei, Inspektor Winter. „Das!“ Jemand trat aus der Dunkelheit ins Scheinwerferlicht. 128
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„Sandra!“ Armin fühlte sich, als fiele ein tonnenschwerer Stein von seinem Herzen. Sandra zerbrach eines der restlichen Basiliskeneier. Weißes, feinkörniges Pulver rieselte aus der Schokoladenpraline heraus. „Es schneit süßen Schnee!“, rief Sandra. „Rauschgift – Schnee!“, entfuhr es dem verblüfften Inspektor Winter. „Eingeführt aus Brasilien und unauffällig in Pralinen versteckt – nicht einmal für Drogenhunde zu riechen“, ergänzte Armin. „Und von Carsten im ferngesteuerten MiniU-Boot durch den Kanal zu Theo Santer geschmuggelt, um sie für viel Geld an leichtsinnige Schüler zu verkaufen.“ Theo, der Basilisk, wurde in Handschellen abgeführt. Don Ganucci zeigte Symptome einer schweren Vergiftung. Genau wie einige der Schüler, die leichtsinnig von Fremden – Dons Dealern, den schwarzen Schneemännern – Süßigkeiten angenommen hatten. Ein Notarzt kümmerte sich um den Imperator, der Opfer seiner eigenen, neu entwickelten Droge geworden war. „Ihr … ihr habt keine Beweise“, krächzte er in einem wachen Moment. „Irrtum“, sagte Armin, zog ein Diktiergerät aus seiner Innentasche, und drückte auf die Stopp-Taste. „Wir ahnten so etwas, nachdem wir in Horst Santers Safe Dollarscheine mit Ihren und Theos Fingerabdrücken fanden. Wohl ein Teil des Lohnes? Und die Telefongesellschaft hat uns eine Liste der Telefongespräche übermittelt, die in letzter Zeit von Theos Apparat geführt wurden. Bei einer Nummer hat sich eine Horoskopfirma namens Astro-Service aus Rio de Janeiro gemeldet. Die steht in keinem Telefonbuch. Wem 130
die wohl gehört? Den Rest haben Sie vorhin schon anstelle von Theo beantwortet. Wir hatten ihn schon länger verdächtigt, weil er in jener Nacht, als Armin den Basilisken mit dem Taschenmesser attackierte, nicht im Büro war. Der Nachtportier und die Überwachungskamera sind gewissenhafte Beobachter.“ Der Imperator wurde von einem Wutanfall geschüttelt. Er packte Armin am Hals, brach jedoch im selben Moment endgültig zusammen. Die Sanitäter schnallten ihn auf eine Bahre und schoben ihn in einen Krankenwagen hinein. „Tolle Arbeit, Jungs!“, lobte Sandra. „Wir … du …“ Freudentränen liefen Armin und Mario über die Wangen. „Angelo und Lucio haben es doch nicht übers Herz gebracht, ein Kind umzubringen. Die Machenschaften des Imperators sind ihnen schon lange gegen den Strich gegangen. Sie haben mich betäubt, und gefesselt und geknebelt in einen Beichtstuhl des Stephansdomes gesetzt. Ein Priester hat mich dann gefunden.“ Armin und Mario schlossen Sandra in die Arme. Als die letzten Polizeiautos wegfuhren, standen die drei noch immer eng umschlungen im Regen. Zwei Tage später trafen sich Sandra, Armin, Mario und Rainer Lennert mit Horst Santer im Prater. Er hatte sie eingeladen, mit ihm einen Tag im Vergnügungspark zu verbringen. Sie ließen die Ereignisse der letzten Tage noch einmal Revue passieren. „Theo wollte schon immer Archäologe werden“, erklärte Mario. „Wir haben herausgefunden, dass er sich vor Jahren einer Forschergruppe angeschlossen hat, die aber in 131
Brasilien Pleite gemacht hat. Sie haben den armen Bruder in der Firma eingestellt ohne zu ahnen, dass er deren Übernahme geplant hat.“ „Theo war der Ältere und daher der Meinung, er hätte das Unternehmen erben müssen“, erklärte Horst. „Die Familie war ihm egal. Er schrieb uns nur, wenn er Geld brauchte. Ein einziges Mal besuchte er uns in den letzten dreizehn Jahren in Wien. Er wusste nicht mal, dass ich mittlerweile geschieden und Vater von Zwillingen bin.“ Armin kaufte sich rosafarbene Zuckerwatte und verzehrte sie genüsslich. „In Rio lernte er Don Ganucci kennen. Der sah in den Schokopralinen die perfekte Art sein Rauschgift zu schmuggeln, und in Theo den perfekten Mittelsmann. Sie wollten damit Millionen verdienen, und falls die Polizei den Schnee finden sollte, wollte Theo seine illegalen Geschäfte Ihnen anhängen und die Firma übernehmen.“ „Aber er hat die Rechnung ohne seine Nichten gemacht, die clevere Computerhacker sind“, sagte Sandra. „Elmira, die sich regelmäßig die Internetseite von Santer & Söhne ansah, entdeckte merkwürdige Horoskope der Firma AstroService. die an Theo adressiert waren. Der Basilisk ist aber natürlich kein Sternzeichen. Sie wurde neugierig und verständigte Jannika. Jannika versteckte sich in Theos Auto, fuhr mit ihm bis zum Hotel und wurde schließlich Zeugin des Mordes an Leo Mott.“ „Jannika ahnte, dass sie etwas gesehen hatte, was sie besser nicht hätte sehen sollen“, führte Armin weiter aus. „Aus Angst, auf dem Videoband der Überwachungskamera des Hotels erkannt zu werden, informierte Sie Jannika und veränderte ihr Aussehen. Sie wussten, dass Sie Beweise sam132
meln mussten. Um Elmira nicht auch noch der Gefahr auszusetzen, haben Sie sie in einem Jugendheim versteckt.“ „Ihr seid helle Köpfe“, sagte Horst. „Genauso war es.“ „Dann aber stoppten Sie plötzlich die Produktion der neuen Pralinenmarke“, sagte Armin, „und Theo begann Verdacht zu schöpfen. Doch er musste das Doppelspiel mitspielen. Er konnte nicht sicher sein, wie viel Jannika schon wusste und ob die Polizei informiert worden war. Er erinnerte sich an den Vorfall im Hotel und er bekam Angst, ebenfalls von Don Ganucci beseitigt zu werden. Also trat er die Flucht nach vorne an.“ „Theo musste an die Firmenleitung und an das Geld herankommen“, erklärte Mario. „Er ließ Horst verschwinden, räumte die Firmenkonten und setzte das Gerücht in die Welt, dass sein Bruder sich ins Ausland abgesetzt hätte. Er wollte Horst dazu zwingen, ihm die Firmenleitung zu übertragen. Dafür brauchte er seine Unterschrift, und konnte ihn daher Gott sei Dank nicht töten. Jannika wollte er als Basilisk einschüchtern und von ihren Nachforschungen abhalten. Auch Carsten spielte in diesem schmutzigen Spiel eine nicht unwesentliche Rolle. Als Schneemann bekam er zwar nicht viel vom Kuchen ab, aber da er sich im Wiener Kanalsystem sehr gut auskannte, war er der ideale Verbindungsmann für den Schmuggel des Rauschgiftes. Als er Sandra von den alten Schmugglerwegen erzählt hat, ist uns ein Licht aufgegangen.“ „Stimmt“, sagte Jannika. „Aber ich hatte keine Angst vor dem Basilisken. Für ein Beweisfoto wäre ich jederzeit hinuntergestiegen.“ „Du meinst wohl für das Schweigegeld“, sagte Mario. „Du hat Geld gebraucht, viel Geld, weil du selbst von die133
sem Mistzeug probiert hast und du bereits auf dem besten Weg warst, süchtig zu werden! Du hast leichtsinnig und unüberlegt wie eine Fünfjährige gehandelt! Vielleicht wäre es dir bald so ergangen wie Benny und einigen anderen, die im Krankenhaus gelandet sind. Zu glauben, Drogen könnten Probleme lösen, ist absoluter Schwachsinn! Drogen schaffen erst recht Probleme. Du zerstörst deinen Körper und viele Süchtige finden schließlich den Tod.“ Jannika schwieg beschämt. „Aber Rainer schöpfte Verdacht, nachdem Theo die Flucht nach vorne angetreten war und ihn eingeschaltet hatte, um rauszufinden wie viel Jannika wirklich wusste.“ „Mich zu beauftragen war Theos Fehler“, schaltete sich Rainer ein. „Er hat nicht damit gerechnet, dass ich euch um Hilfe bitte.“ „Als du damals in der Schule diese Praline gegessen und so merkwürdig darauf reagiert hast“, sagte Sandra zu Jannika, „da ahnte ich, dass es Rauschgift sein musste. Dann fanden wir deine verschlüsselten Aufzeichnungen. So etwas ist immer verdächtig. Dann die Mädchenkleider im Schrank eines Jungen. Und schließlich verwechselte mich die Sekretärin mit Elmira. Das Video und der Safeinhalt mit dem Foto von euch beiden brachten dann endgültig Licht in die Sache.“ „Aber wie habt ihr herausgefunden, dass sich Theo als Basilisk verkleidet hat?“, fragte Elmira. „Basilisken sind Fabelwesen“, sagte Mario. „Als Rainer die Ergebnisse der DNA-Analyse präsentierte, muss Theo sofort gewusst haben, dass sich Armin in den Kanälen herumgetrieben hatte, obwohl er das mit keinem Wort erwähnt hat.“ „Der Rest war mit dem Tonband nicht mehr schwierig“, 134
schloss Armin stolz, als sie sich gerade bei der Geisterbahn anstellten. „Mein Gott! Was für eine Welt!“, seufzte Horst Santer. „Einige Schüler wären beinahe gestorben, weil andere Menschen nach Reichtum gieren. Mit Hilfe der sichergestellten Pralinen können die Ärzte eine Therapie für Benny und die anderen entwickeln.“ „Irgendwann widerfährt jedem Gerechtigkeit“, meinte Sandra. „Ganucci und Theo bekommen bestimmt lebenslänglich. Carsten, Donna, Lucio und Angelo vielleicht zehn Jahre.“ „Ob der Drogenhandel je zu stoppen sein wird?“, fragte Mario. „Nur wenn niemand mehr dieses Gift kauft“, meinte Armin. „Dann können Drogenbosse wie der Imperator ihre schmutzigen Geschäfte vergessen. Echte Freunde können wirklich helfen, wenn’s mal nicht so gut läuft. Drogen gaukeln einem ja nur eine Scheinwelt vor.“ Sie bestiegen die kleinen Waggons der Geisterbahn. „Apropos Geisterbahn“, meinte Sandra und grinste Mario an. „Morgen findet unsere Aufführung statt. Jannika hat dir ihre Rolle überlassen. Du spielst jetzt den Basilisken …“ Mario verzog das Gesicht. „Haben wir keinen neuen Fall, für den wir ermitteln müssen?“ Sandra und Armin lachten, als sich das Tor der Geisterbahn öffnete und sie von der Dunkelheit verschlungen wurden. Sie konnten schließlich nicht ahnen, dass das nächste Abenteuer schon unmittelbar bevorstand … *
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siehe CodeName SAM Geheimfall 7: „Das Alien-Experiment“ 135
Die Lösungen des Rätsels von Seite 103: 2. Frage Antwort: Einmal, denn beim zweiten Mal ziehst du vier schon von zwölf ab! Daraus folgt: EINMAL: 5 + 9 + 14 + 13 + 1 + 12 = 5 + 9 + 5 + 4 + 1 + 3 = 27 = 2 + 7 = 9 3. Frage Antwort: Null Kubikmeter, denn in einem Loch ist nichts, auch keine Erde – sonst ist es ja kein Loch! Daraus folgt: NULL: 14 + 21 + 12 + 12 = 5 + 3 + 3 + 3 = 14 = 1 + 4 = 5 136
Von allen Ungeheuern war keines schrecklicher als der Basilisk. Er entstand aus einem Ei, das ein ger schwarzer Hahn gelegt hatte. Das dotterlose Ei war mit einer dicken Haut überzogen und wurde neun Jahre lang von einer Kröte ausgebrütet. In dieser Zeit entwickelte sich ein Wesen mit einem Atem, der die Erde versengen, und einem Blick, der versteinern konnte. Halb Schlange, halb Hahn schlüpfte er, als Sirius (der hellste Stern) hoch am Himmel stand. Wen sein Blick traf, fiel sofort tot um, war gelähmt oder versteinert. Der Basilisk konnte nur sterben, wenn er einen Hahn krähen hörte oder sich selbst in einem Spiegel sah. Der Basilisk wurde am 26. Juni 1212 im Haus des Bäckermeisters Garhiebl in der Schönlaterngasse Nr. 7 in Wien gesehen: Ein Bäckergeselle stieg in den Hausbrunnen, aus dem entsetzlicher Schwefelgeruch emporquoll. Da sah er ein unheimliches Wesen: einen großen geflügelten Hahn mit glühenden Augen, Schuppenschweif und 137
henden Augen, Schuppenschweif und Klauen. Der geschockte Geselle starb wenig später. Doktor Heinrich Pollitzer identifizierte das Wesen als Basilisken. Er wusste, dass nur ein Spiegel das Ungeheuer vernichten könnte. Vor lauter Entsetzen ob seiner eigenen Hässlichkeit würde es zerplatzen. Und so stieg ein anderer Geselle mutig mit einem Spiegel in den Brunnen hinab. Zuerst hörte man ein Röcheln, dann einen Knall – der Basilisk war zerplatzt. Dann wurde der Brunnen mit Steinen zugeschüttet. Heute befindet sich genau in diesem Bäckerhaus eine Buchhandlung und in einer Mauernische steht eine Plastik des Basilisken. Auch ein Gasthaus Zum Basilisk gibt es heute in der Schönlaterngasse. Die Sage vom Basilisken ist geologisch erklärbar: Anlässlich einer Brunnengrabung dürfte nach dem Durchstoßen einer Sandsteinschicht Schwefelwasserstoff (giftiges, nach faulen Eiern riechendes Gas) entwichen sein. Sandsteingeröll dürfte für die Körperform des Basilisken gehalten worden sein.
Der Wiener Stephansdom
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Wien entstand dort, wo sich alte Völkerstraßen wie der Donauweg (von West nach Ost) und die Bernsteinstraße (vom Mittelmeer zur Ostsee) kreuzten. Mit dem Bau des Limes (der Nordgrenze des römischen Reiches entlang der Donau) errichteten die Römer im 1. Jh. n. Chr. das Lager Vindobona. Dies wurde der Stadtkern Wiens. 1137 wurde Wien erstmals als Stadt genannt und 1156 Residenz des Herzogtums Österreich. Trotz vieler Katastrophen (Brände, Kriege usw.), die die Stadt immer wieder in Mitleidenschaft zogen, gewann sie durch den Handel auf der Donau immer mehr an Bedeutung. 1365 gründete Herzog Rudolf IV., der Stifter, die Universität Wien, die die älteste im deutschen Sprachraum ist. Graf Salm verteidigte Wien 1529 erfolgreich gegen die Osmanen (1. Belagerung). Und auch die 2. Belagerung 1683 durch die Osmanen konnte abgewehrt werden. Wien wurde Hauptstadt der Habsburger-Monarchie und schließlich prunkvolle Kaiserstadt. Um 1660 wurden das Schloss Schönbrunn, das Belvedere und die Karlskirche gebaut. Unter Maria Theresia und Joseph II. (1740-90) entfalteten sich Musikschaffen, Theater, Schulwesen und Wissenschaft. 1805 und 1809 wurde Wien von Napoleon besetzt. Unter Kaiser Franz Josef (1848-1916) wurde Wien zur Weltstadt. Er baute den Ring zur Prachtstraße aus. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges bedeutete den Niedergang der Monarchie. Nach dem zweiten Weltkrieg (1939-1945) musste die großteils zerstörte Stadt wieder neu aufgebaut werden. Heute gilt Wien vor allem als Weltstadt der Musik. Das Wahrzeichen der Stadt ist der Stephansdom, von den Wienern auch liebevoll Steffi genannt (siehe Abb. links). 139
Das Wiener Kanalsystem war in früheren Zeiten oft der Schauplatz für Verbrechen, bzw. stand auch manchmal im Zusammenhang mit deren Aufdeckung. Oft wurden die Allerärmsten, die so genannten Knochenfischer, zu Helfern der Polizei. Sie lebten in den dunklen Gängen des unterirdischen Wiens und errichteten an den Einmündungen zu den Sammelkanälen Netze und Gitter. Damit fingen sie angeschwemmtes Fett und Knochen auf und verkauften dies den Seifensiedern. Manchmal verfingen sich auch menschliche Körperteile und Organe in ihren Netzen. Das passierte zum Beispiel dem Knochenfischer Johann Böhm am 10. April 1932. Er fand damals 280 Fleisch- und Fettstücke in seinem Netz und ging damit zur Polizei. Diese stellte fest, dass es sich bei dem grausigen Fund eindeutig um menschliche Körperteile handelte! Wenig später gelang es, den Zusammenhang zu einem furchtbaren Frauenmord herzustellen und den Fall aufzuklären. Der Hilfsarbeiter Franz Gruber, der die Büglerin Marie Walter auf grausame Weise ermordet hatte, konnte verhaftet werden. Ein weiterer spektakulärer Mord im Untergrund geschah am 2. April 1894: Der Heizer Johann Hahn erschlug seine Kollegen Eduard Lechner und Franz Mayer mit einer Axt. Neben Einzeltätern fanden auch organisierte Einbrecherbanden, die man damals Platten nannte, Unterschlupf im unterirdischen Wien. Die berühmtesten Wiener Platten waren die Beer-Platte und die Kopetzky-Platte. Wiens Kanäle waren auch noch zu Beginn der Zweiten Republik Quartiere des Elends und des Verbrechens.
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