Nr. 293
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Nr. 293
Im Reich der Ausgestoßenen Sie entgehen der Exekution - doch der Mörder erwartet sie in der Unterwelt von Hans Kneifel
Das Geschehen im Großen Imperium der Arkoniden wird gegenwärtig durch innere Konflikte bestimmt – in höherem Maße jedenfalls als durch die Kämpfe gegen die Methans. Es gärt auf vielen Welten des Imperiums. Und schuld daran ist einzig und allein Orbanaschol, der Brudermörder und Usurpator, der in seiner Verblendung und Korruptheit einen politisch völlig falschen Weg beschritten hat. Die Tage Orbanaschols scheinen gezählt, und es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann die Gegenkräfte im Imperium stark genug sind, den Usurpator vom Thron zu stoßen. Kristallprinz Atlan, der eigentliche Thronfolger, und seine verschworenen Gefährten, die Orbanaschol bisher schwer zu schaffen machten, sind augenblicklich allerdings nicht in der Lage, gezielt einzugreifen. Kraumon, ihre geheime Stützpunktwelt, wurde von den Methans zerstört, und Atlan selbst weiß nichts Genaues über das weitere Schicksal seiner rund 15.000 Kampfgefährten. Der Kristallprinz versucht gemeinsam mit Fartuloon, seinem Lehrmeister, nach Arkon zu gelangen. Doch das Unternehmen endet vorerst auf dem Planeten des Gerichts, wo der Kristallprinz, zusammen mit Hunderten von Deserteuren der Flotte und Männern einer angeblichen Fluchthilfe-Organisation, in einem Schauprozeß zum Tode verurteilt und anschließend exekutiert werden sollen. Dazu kommt es jedoch nicht, Atlan und Fartuloon flüchten und landen IM REICH DER AUSGESTOSSENEN …
Im Reich der Ausgestoßenen
3
Die Hautpersonen des Romans: Kaarfux - Ein Staranwalt übernimmt die Verteidigung von zwei »Deserteuren«. Ches Prinkmon - Ein TV-Reporter wird zum Opfer seiner eigenen Sensation. Lothor und Premcest - Atlan und Fartuloon enthüllen ihre wahre Identität. Fralwerc - Beherrscher der Unterwelt von Celkar. Yacori - Fralwercs Assistentin.
1. Ches Prinkmon drosselte die Geschwindigkeit des Gleiters, der an seinen Flanken und auf der Motorhaube das große, deutlich erkennbare Zeichen der Arkon-Vision trug. Hier, am Ende einer ruhigen Straße im nördlichen Kutenarynd, wohnte der uralte Anwalt mit den merkwürdigen Manieren. Ches, unausgeschlafen und hochgradig aufgeregt, fühlte seinen Pulsschlag hämmern wie verrückt. Er hielt die Maschine unter einem uralten Baum an und stieg aus. Er zwang sich dazu, langsam auf die breite Haustür zuzugehen. Er las die Namensschilder: Kaarfux – beratender Sekretär: Lekos und wunderte sich ein wenig. Bürochef Fimm Monhole hatte nicht gesagt, daß hier auch der Sekretär wohnte. Er drückte auf den Knopf, ein Signal ertönte. Eine halbe Minute hörte er hinter der Tür, als Unterbrechung einer milden, volltönenden Orchestermusik, kurze, tappende Schritte und ein hornissenähnliches Summen. Die Stahlplatte glitt geräuschlos zur Seite. Vor Prinkmon stand ein schmaler, rundgesichtiger alter Mann. Hinter ihm, irgendwie drohend im Gegenlicht, schwebte ein Roboter, nicht ganz so groß wie der Anwalt. »Ich bin Ches Prinkmon von Arkon-Vision«, sagte Ches halblaut. »Habe ich das Vergnügen mit Kaarfux, den man Kaarfux mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks nennt?« »Kommen Sie herein. Ich bin von Monhole angerufen worden.« Ches sah, daß der Robot zur Seite schwebte. In den Leuchtfeldern dieser uralten Konstruktion mit der zerschrammten und
zerbeulten Außenhaut spielte sich ein Farbengewitter ab. »Ich störe Sie hoffentlich nicht beim Musikgenuß?« fragte Ches mit dem Anschein von Höflichkeit. »Musikgenuß? Das sind meine Pflanzen. Am lautesten schreit die Tanifera ragens.« Sie kamen in einen großen, vornehm ausgestatteten Wohnraum, dessen eine Wandfläche von einem riesigen Regal eingenommen war. Hier befanden sich Tausende von Komputerspeicherelementen. Eine gigantische juristische Bibliothek, wie Ches erkannte. »Die Pflanzen?« stotterte Prinkmon. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …« Kaarfux lachte gutgelaunt, nahm Ches am Arm und führte ihn durch weit offenstehende altertümliche Flügeltüren in den rechteckigen Hof hinaus. Versteckte Lichter verwandelten den Pflanzenwuchs am Boden und an den drei Seiten des Patio in einen geheimnisvoll wuchernden Dschungel. Erst auf den zweiten Blick sah Prinkmon die halbversteckten Kabel und Anschlüsse und die Verstärker. »Diese Pflanzen …?« »Ich benutze die chemoelektrischen Schwingungen, den Turgordruck und andere Elemente pflanzlichen Lebens, um gewisse Wirkungen zu beobachten. Die Schwingungen werden positronisch hörbar gemacht, in dem man sie in voller Bandbreite ein Stück des akustischen Spektrums hinauftransponiert. Die Pflanzen sehen Sie an, junger Mann. Hören wir, was sie empfinden!« Plötzlich schalteten sich ein paar Scheinwerfer dazu, die den Reporter anstrahlten. Einige Schalter klickten. Dann produzierten die Lautsprecher eine Melodie des Irrsinns. Wilde Kadenzen türmten sich auf, heulen-
4 de Zwischentöne erklangen, auf und abschwellendes Wimmern unterbrach die dunklen, fast rhythmischen Tonfolgen. Für Ches klang dies alles chaotisch. Ähnlichkeit mit zeitgenössischer oder gar alter Musik hatte diese pflanzliche Darbietung nicht. »Was … das sollen die Empfindungen der Pflanzen sein? Des Grases? Der Zierbäume dort hinten?« stammelte Prinkmon. Er war verwirrter, als er zugeben wollte. Diese Reaktion der Pflanzen verletzte sein bisher intaktes Selbstwertgefühl. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und trat einige Schritte zurück. Kaarfux lachte sarkastisch. »Offensichtlich spüren die Pflanzen, daß Sie unruhig und im Augenblick unsicher sind. Oder sollten sie sich irren?« Er schaltete die Musik ab; die Ruhe war wohltuend, aber noch immer rasten die wilden Farbmuster über das Vorderteil des merkwürdigen Roboters. »Ich werde Ihnen den Grund verraten, warum ich derartig aufgeregt bin.« Kaarfux deutete auf den Wohnraum und machte eine einladende Bewegung. Der Robot schwebte vor ihnen und meldete sich mit knarrender Kunststimme: »Ich bringe Ihnen die Getränke.« »Danke.« Die greisenhaft abgeklärte Ruhe des ehemaligen Staranwalts, der Roboter, der mehr einem zerbeulten alten Faß mit vielen bizarren Anbauten glich, die musizierenden Pflanzen im Garten – dabei sagte sich Ches Prinkmon, daß das Thema an sich faszinierend und einen späteren langen Bericht rechtfertigen würde –, das alles schockierte ihn deswegen so stark, weil es so ganz anders war als die Dinge des Lebens, die er bisher kennengelernt hatte. »Was kann ich für Sie oder Arkon-Vision tun?« erkundigte sich schließlich der Starverteidiger. »Ich möchte Sie im Namen und auf Kosten von Arkon-Vision einladen, wieder einen Fall zu übernehmen, der Ihrer würdig ist.«
Hans Kneifel »Sie haben eine bemerkenswerte Geschichte ausgegraben, scheint es mir?« Ches hob das Glas und kostete das belebende Getränk. »Ich brauchte nicht tief zu graben. Verstehen Sie, daß ich nicht gleich die Namen nenne. Es ist besser so. Bei Aufnahmen im Gefängnis haben mein Kollege und ich zwei Männer entdeckt und deren wahre Existenz verifizieren können. Es sind genau solche hoffnungslosen Fälle, durch deren Lösung Sie berühmt wurden. Niemand sonst kann es, niemand sonst hätte die geringste Chance. Sie sind genau der Mann, der die beiden Todeskandidaten retten kann.« Der Anwalt blickte ihn prüfend und schweigend an. Schließlich erklärte er: »Sie haben auch die Reportage über Ogor gemacht, nicht wahr? Ich erkenne Sie wieder. Gute, vernünftige Betrachtungsweise, junger Mann! Machen Sie weiter so.« Ches entgegnete schnell: »Sie können, nein, Sie müssen mir morgen helfen, einen ebensolchen Kommentar abzugeben. Dasselbe Team wird morgen den Massenprozeß gegen die Verräter und Deserteure kommentieren, in Bild und Wort. Für das Wort bin ich zuständig. Ich nenne Ihnen die Namen der zwei Männer noch nicht, Kaarfux, aber Sie werden sie erfahren.« Der Anwalt lehnte sich zurück und lachte genußvoll. Er schien den Antrag des Journalisten noch immer für einen Scherz zu halten. Ches merkte dies sofort. »Ich soll blind zwei Männer verteidigen, ohne sie zu kennen und zu wissen, was sie angeblich oder wirklich verbrochen haben?« »Nicht mehr und nicht weniger als das, was den Leuten von Serrogat vorgeworfen wird. Der Prozeß fängt morgen um zehn Uhr an.« »Das ist reichlich spät!« Es sah so aus, als ob der Staranwalt zumindest nicht mehr ablehnend diesem Verlangen gegenüberstand. »Es ist derjenige Prozeß, wegen dessen Dringlichkeit die Verhandlung gegen Ogor
Im Reich der Ausgestoßenen ausgesetzt wurde. Der Imperator wünscht, daß die sogenannten Verräter und Deserteure schnellstens abgeurteilt und, das denke wenigstens ich, auch sofort öffentlich hingerichtet werden sollen. Es ist sein Befehl. Verstehen Sie, warum zumindest zwei Männer eine Chance erhalten sollten, diesem Massaker zu entgehen?« »Zuerst die beiden Namen.« »Der jüngere, in gewisser Weise der bedeutendere der beiden Gefangenen, heißt Lothor. Der ältere trägt jetzt den Namen Premcest.« »Die Namen sagen mir nichts«, erklärte Kaarfux. »Das ist Absicht. Es sind die Namen, unter denen die beiden Gefangenen so lange sicher sind, wie sie nicht enttarnt werden. Verstehen Sie? Sie verstecken sich in der Anonymität und haben dort noch die meisten Chancen zu überleben. Wenn ihre wahre Identität bekannt wird, sterben sie mit Sicherheit.« Der Anwalt ließ sich nachschenken, dachte schweigend nach, stand auf und spazierte einige Minuten lang durch den Raum und hinaus in den Garten und wieder zurück. Am Ende dieser langen Pause blieb er vor Ches stehen. »Abgesehen vom Honorar, das ich mit Sicherheit einzutreiben weiß – welche Sicherheiten können Sie mir bieten?« »Sicherheiten welcher Art?« »Fachlicher Art. Ich befinde mich, wenn ich die beiden Männer Lothor und Premcest verteidige, in direkter Gegnerschaft zu Orbanaschol. Richtig?« »Richtig.« »Wenn ich aber die Männer unter ihrem wirklichen Namen verteidige, dann wird der Imperator mich ebenso hassen wie meine Mandanten. Richtig?« »Auch das ist richtig.« »Wäre ein Aufschub der Hinrichtung, ein Herausnehmen aus dem Massenprozeß oder gar eine andere, risikoreichere Taktik für die beiden ein Vorteil?« Ches Prinkmon nickte.
5 »Alles, was Premcest und Lothor hilft, wenige Stunden oder Tage länger zu leben, ist ein Vorteil. Mit jeder Stunde haben sie mehr Chancen. Der Imperator ist weit, und er wird nicht an jedem Punkt in die Verhandlung eingreifen. Allerdings weiß jeder, daß er Todesurteile und die sofortige Hinrichtung aller Deserteure verlangt.« »Das erscheint auch mir sicher. Sie sind politisch nicht interessiert?« »Nicht einschlägig, aber mein Beruf verlangt von mir keine Stellungnahme, sondern Objektivität.« »Zurück zu meinen Sicherheiten. Die beiden Gefangenen werden mich als Anwalt akzeptieren?« fragte Kaarfux und winkte Lekos näher zu sich heran. Ches Prinkmon stieß ein humorloses Gelächter aus. »Akzeptieren? Sie würden mit Orbanaschol paktieren, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen würden.« »Hört sich gut an. Heute können wir nichts mehr unternehmen. Lekos, was denkst du über diesen Vorschlag?« Mit rostiger Stimme erklärte der »Berater« augenblicklich: »Das Ansinnen Ihres Gesprächspartners ist ungewöhnlich, aber legal. Juristisch gesehen wäre ein einzelner Verteidiger für jeden der mehreren hundert Deserteure durchaus möglich. In den Ewigen Annalen der Arena der Gerechtigkeit sind Präzedenzfälle verzeichnet. Nach der hier gepflegten Gerichtsordnung sollten Sie sich morgen vor Prozeßbeginn das Einverständnis der beiden Klienten sichern. Ich, der Berater, genüge via Bildtonaufzeichnung als Dokumentation, dasselbe gilt für den Honorarvertrag zwischen Prinkmon und Ihnen. Es hängt alles nur von Ihrem Einverständnis ab.« »Auf alle Fälle muß ich morgen früh mit den beiden Gefangenen sprechen können. Ich brauche natürlich Material für die Verteidigung. Sie werden gewisser Delikte angeklagt, und Meuterei oder Desertion sind keine Kleinigkeiten.« Prinkmon sprang auf und fühlte große Er-
6 leichterung. »Bedeutet das Ihre Zustimmung, Verteidiger?« »Ja.« »Ich hole Sie morgen früh rechtzeitig ab. Wir fliegen mit unserem Gleiter zu Doomyh Kiln, der uns sicher eine kurze Möglichkeit verschaffen kann. Ich spreche noch heute mit ihm. Dann muß ich zurück neben die Kamera, und Sie kann ich in den Gerichtssaal bringen. Können wir es so machen?« »Meinetwegen. Ich werde über Bildkontakt meine Zulassung zu diesem Prozeß beantragen. Der Anschluß ist jetzt zwar nicht besetzt, aber eine automatische Anlage wird meinen Spruch registrieren. Ehe Sie gehen – noch eine formelle Übertragung.« »Ich stehe zur Verfügung«, erklärte Lekos und fuhr einen biegsamen Arm mit Linsen und Mikrophonen aus. Beide Männer erklärten ihre Übereinstimmung für diesen Vertrag und besiegelten sie mit Händedruck und einer Unterschrift. Dann trank Ches einen letzten Schluck und sagte leise: »Ich danke Ihnen persönlich noch einmal, Kaarfux. Hoffentlich schaffen wir es, diese zwei Gefangenen vor dem Schlimmsten zu bewahren. Sie werden sehen, warum es so wichtig ist. Wenn wir es schaffen, haben wir drei Dinge erreicht: Sie haben wieder einen ganz großen Fall, Arkon-Vision hat eine spannende Berichterstattung, und zwei Männer sind mit dem Leben davongekommen.« Interessiert fragte der Starverteidiger zurück: »Ist es, abgesehen von den beiden Gefangenen, für das Imperium so wichtig?« »Sie werden alles begreifen, wenn Sie die Männer sehen. Bis morgen früh, Partner!« Sie gaben sich kurz die Hand; der Anwalt brachte Ches zur Tür. Der Reporter fuhr zurück in sein Hotel, bestellte einen Weckdienst und ein Abendessen, rief das Mädchen aus der Redaktion an, dessen Namen er schon fast wieder vergessen hatte, und schließlich gelang es ihm, kurz mit dem Gefängnisdirektor zu sprechen. Etwas mürrisch, schließlich aber doch entgegenkom-
Hans Kneifel mend, nannte Kiln einen Termin: Sie mußten vor acht Uhr innerhalb des Gefängniskomplexes sein. Prinkmon entspannte sich nur wenig. Diese fanatische Unruhe blieb in ihm. Er würde sie erst wieder losgeworden sein, wenn er von Celkar gestartet war, dem Planeten des Gerichts.
2. Der Gleiter, in dem Kaarfux und Lekos saßen, von Prinkmon gesteuert, hielt vor der zweiten Sperre an. Der Posten kam aus seinem kugelsicheren Bunker hervor, gleichzeitig aktivierten sich die Verteidigungseinrichtungen. »Ich muß Ihren Gleiter durchsuchen. Bitte, gehen Sie dort durch den Eingang!« sagte er. Seit der Meuterei Ogors waren die Wachen verdoppelt und die Kontrollen noch schärfer geworden. Prinkmon und der Starverteidiger stiegen aus, Lekos schwebte summend vom Beifahrersitz hoch und folgte den Männern. »Als ob wir Neuankömmlinge wären«, scherzte der Verteidiger. Jetzt, im ersten Sonnenlicht, sah Ches ihn deutlich. Der Mann schien sich verändert zu haben. In der künstlichen Beleuchtung seines Hauses hatte er wie ein gemütlicher, alter Mann mit runzligem Gesicht und freundlichen Augen gewirkt. Nun sah Ches die Härte und Verschlagenheit in den Augen des Mannes. Sie passierten die Kontrollen, und selbst der Lekos, in dessen Innern eine Bombe hätte verborgen sein können, wurde durchgelassen. Ein anderer Posten brachte den Gleiter. Sie fuhren weiter bis zum Parkplatz, wurden abermals kontrolliert, aber als sie endlich ihre Verbindung mit Doomyh Kiln hatten, rief der Direktor: »Leider, meine Herren, hat man sämtliche Gefangenen schon vor fünfundvierzig Minuten zur Arena gebracht. Kehren Sie sofort um. Es war ein bedauerlicher Zwischenfall, der sehr überraschend kam.«
Im Reich der Ausgestoßenen Kalte Furcht packte den Reporter. Fast eine Stunde verloren! Er rief aufgeregt: »Wir waren um acht verabredet, Kiln! Jetzt ist es zehn vor acht Uhr! Ich war vor einer halben Stunde noch im Hotel zu erreichen und der Verteidiger ebenfalls.« Er trat zur Seite, und Lekos wurde neben seinem Herrn sichtbar. Kiln hob beide Arme vor Verblüffung. »Sie! Ausgerechnet Sie wollen Premcest und Lothor …?« »Deswegen sind wir hier!« bestätigte Lekos mit blecherner Stimme. »Ich habe meinen Kollegen dahingehend Beratung zuteil werden lassen.« »Wo sind die Gefangenen jetzt?« Prinkmon sah seine Chancen abbröckeln wie eine morsche Mauer. »Bereits in der Arena, beziehungsweise auf dem Transport dorthin. Wir wurden von höchster Stelle angewiesen, größte Schnelligkeit bei allen Abläufen walten zu lassen«, gab der Gefängnisdirektor zurück. »Und auch Premcest und Lothor sind nicht mehr innerhalb der Mauern dieses Komplexes?« wollte der Verteidiger wissen. Ches sah förmlich, wie angestrengt er nachdachte, um noch eine erfolgversprechende Möglichkeit herauszufinden. »Nein, ich bedaure.« Alle starrten sich gegenseitig verlegen, aufgeregt und gespannt in die Gesichter. »Gut. Ich habe verstanden. Wir sollten alles unternehmen, um schnellstens in die Arena der Gerechtigkeit zu kommen«, meinte der Verteidiger schließlich. »Geben Sie Ihren Posten Anordnung, uns sofort durchzulassen, Herr Kiln. Wir haben es eilig – und wir werden uns auf diese Eigenmächtigkeit von Verwaltung und Arena berufen, wenn es hart auf hart geht. Wir hören uns noch, Kiln!« Kiln war sichtlich beeindruckt, aber seine Verwirrung war ein gutes Zeichen dafür, dachte Prinkmon, daß Atlan und Fartuloon noch nicht enttarnt worden waren. Er hörte nur noch das gemurmelte Einverständnis des Mannes, dann begleitete sie der Pförtner im
7 Laufschritt zum Gleiter. Das Fahrzeug wendete auf der Stelle und raste mit aufbrummenden Maschinen auf den Ausgang zu. Die Posten ließen sie ohne jede Kontrolle durch. Dann, auf der Piste zur Hauptstadt, holte Prinkmon das letzte aus dem Gefährt heraus. Einmal rief der Anwalt von hinten: »Es wird seine Zeit brauchen, bis sämtliche Angeklagte im Saal sicher untergebracht sind. Man ist hier auf Massenprozesse dieser Art nicht eingerichtet.« »Dennoch«, krächzte das blecherne Vokoderorgan des Robots, »ist größte Eile geboten, sie darf dennoch nicht ausarten, denn in diesem Fall droht die Gefahr eines Verkehrsdelikts.« Rätselhaftes Ding, dachte Ches und jagte den Gleiter über Kreuzungen, Rampen aufund abwärts und durch schmaler werdende Verbindungswege auf den Hochbau der Arena zu. Sie waren, als sie zu dritt die Freitreppe hinaufstürmten, so erschöpft, als wären sie hierher gelaufen. Vor der schwer bewachten Tür des Großen Saales trennten sich ihre Wege. Atemlos sagte Prinkmon: »Aderlohn Dharr und Monhole warten schon und verfluchen mich. Ich sehe alles, was im Saal vor sich geht. Viel Glück für uns, Staranwalt!« Kaarfux nickte kurz und rief: »Irgendwie werden wir es schon schaffen. Sie werden es erleben.« Sie spielten einen verdammt hohen Einsatz, sagte sich Prinkmon, als er nach rechts rannte, seinen Ausweis herauszog und nach einer schnellen Kontrolle die schmale Treppe nahm, die in die Räume der Sprecher, Übersetzer und Kommentatoren hinaufführte. Tatsächlich warteten seine Kollegen bereits, und Fimm Monhole hatte das Mikro bisher übernommen. Mit einem Blick überschaute Prinkmon die Situation: die Verhandlung war soeben eröffnet worden. Man hatte es tatsächlich geschafft, alle Gefangenen, etwa halbkreisförmig umgeben von Wächtern und Raumsoldaten, vor der Richterbarriere zu platzieren.
8 In Höhe der Barriere öffnete sich eine Tür. Zuerst schwebte Lekos herein, dann folgte Kaarfux, bereits in der blauen Tracht des Senioren-Strafverteidigers. Auf eine geheimnisvolle Weise wirkte er maßlos selbstsicher und überlegen. Lekos zog sofort sämtliche Blicke auf sich. Das Gerät, bisher in jedem Prozeß als »Berater« zugelassen und auch verwendet, fuchtelte mit mindestens fünf seiner Vielzweck-Armen durch die Luft und ließ auf seiner Vorderfront fast hypnotisierende Lichtspiele sehen. Die Richter, Beisitzer, Sekretäre und Assistenten wurden vollkommen abgelenkt, obwohl sie gewußt haben mußten, daß Kaarfux mit den 777 Tricks hier erscheinen würde. Es war seit Jahren sein erster Auftritt in der Öffentlichkeit. Nur Monhole und Prinkmon wußten, wie teuer dieser Auftritt wirklich bezahlt worden war; es handelte sich um eine schier astronomische Summe. Monhole schaltete den Ton kurz ab und flüsterte: »Wir haben gezittert. Das war höllisch knapp, Ches!« »Dieser verdammte Kiln«, gab Prinkmon zurück und streifte sich Ohrenhörer und Mikroträger über den Kopf. Dharr machte das In-Ordnung-Zeichen und richtete die Kamera auf den Staranwalt. Die Vergrößerungen auf dem Monitor zeigten, daß er mit dem Verhandlungsleiter sprach. »Wird er zugelassen?« fragte Monhole voller Spannung. Ches vergewisserte sich mit professioneller Selbstverständlichkeit, daß das, was sie hier intern sprachen, auf keinen Fall in die Sendung ging, dann erst antwortete er: »Er hat keinen Zweifel daran. Was ist das?« Monhole hielt einen Karton hoch. Darauf standen die Worte: »Auf Anordnung des Kristallpalasts erfolgt die gesamte Übertragung des Prozesses über eine besonders geschaltete Flottenleitung direkt nach Arkon. Der Imperator sitzt vor dem Bildschirm.«
Hans Kneifel »Das bedeutet …«, knurrte Dharr. Ches winkte ab, er hatte eine solche Wendung durchaus für möglich gehalten und war von der Nachricht nur mäßig überrascht. »Ich habe verstanden. Vorsicht mit der Kamera wegen Premcest und Lothor. Es gibt zweifellos eine Sensation. Nichts provozieren, Dharr!« »Alles klar, Ches.« Der Gerichtssaal war brechend voll. Den meisten Platz benötigten die Gefangenen und ihre Bewacher. Die Bewachung wurde mit professioneller Lässigkeit durchgeführt. Aber die Waffen, die hier vorhanden waren, genügten für einen kleinen Bürgerkrieg. Rund dreihundert Gefangene. Dazu etwa zweihundert Bewacher, hundert Personen juristisches Personal. Und schätzungsweise siebenhundert Zuschauer. Dazu: Übersetzer, Pressevertreter, Verkäufer von Getränken und heißen Fleischbällen, Stewardessen und Boten, Beamte und Angestellte und ein paar Müßiggänger. Eine riesige, unruhige Menschenmenge, die unaufhörlich in Bewegung war. Der eine oder andere wechselte den Platz, die Boten eilten hin und her, Gerichtspersonal verließ den Saal und kam wieder zurück, und unzählige andere Bewegungen fanden statt. Es war ein Hexenkessel voller unzähliger kleiner Geräusche, die sich zu einem Dauerton steigerten. »Können wir weitermachen?« fragte Monhole knapp. »In Ordnung!« sagte Dharr hinter der Linse. Plötzlich merkte Ches, daß er stechende Magenschmerzen hatte. Mit zitternden Fingern legte er einen ersten Schalter um und murmelte: »Ich bin vorbereitet. Los?« Monhole zog sich ans Mischpult zurück und verfluchte abermals seinen vor langer Zeit gefaßten Entschluß, für Arkon-Vision zu arbeiten. Aber er vergaß ebenso schnell alles wieder, als er Ches sagen hörte: »Und wieder schaltet sich Arkon-Vision in eines der heißesten Themen dieses Jahrzehnts ein. Es wird verhandelt gegen die
Im Reich der Ausgestoßenen Meuterer, Deserteure und Verräter von Serrogat. So wurde die Gruppe von Gefangenen genannt, die auf dem gleichnamigen Planeten gefaßt und von Sonnenträger Twellzock mit dem Schiff JERRAWON und der Mannschaft aus Raumsoldaten hierher gebracht wurden. Viele aus den Kampfteams von Serrogat sitzen und stehen dort unten im Gerichtssaal – es sind die schwer bewaffneten Raumsoldaten, die leicht an ihren farbigen Kampfanzügen zu erkennen sind. Wie immer in diesen bewegten Tagen informiert Arkon-Vision Sie über jeden Augenblick des Prozeßverlaufs. Regie am Übertragungsort hat Fimm Monhole, an der Kamera steht Aderlohn Dharr, und Ches Prinkmon kommentiert die Vorgänge. Soeben hat ein Anwalt, der seit Jahrzehnten mit aufsehenerregenden Fällen brilliert und lange nicht mehr vor den Schranken des Gerichts gesehen wurde, den Saal betreten. Noch weiß niemand, wen er vertritt, und was er vorhat. Neben ihm sehen Sie Lekos, seinen sogenannten juristischen Berater. Es ist ein derangiert und uralt wirkender Robot, der aus der ersten Generation dieser Art von Maschinen stammen soll. Lekos ist nichts anderes als ein schwebender Komputer, der einschlägiges juristisches Fachwissen besitzt. Wir sehen, daß auf der Schrifttafel der Name des Staranwalts erscheint. Das bedeutet, daß er für die Vertretung von Gefangenen in diesem Saal zugelassen wurde. Auf keinen Fall wird es Kaarfux, der Mann mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks, wie sein bekannter Spitzname lautet, leicht haben. Denn alle Prozesse, die er bisher führte, wurden durch überraschende Finten, prozessuale Überraschungen oder verblüffende Wendungen gewonnen – von ihm, von Meister Kaarfux mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks.« Die Kamera bewegte sich ganz langsam. Der Monitor zeigte eine ununterbrochene Folge von Gesichtern. Soldaten, Zuschauer und Gefangene, sämtliche möglichen Aus-
9 drucksformen zwischen hoffnungsloser Resignation und kalter, besinnungsloser Wut, die kurz vor der Detonation stand. Die Kamera zeigte alles in erschreckender Deutlichkeit. Während Ches Prinkmon seinen Kommentar gab, wußte er, daß an irgendeinem Bildschirm der Diktator kauerte, haßerfüllt auf das Todesurteil des Schnellrichters wartend. Der Richter stand auf und hob die Hand. Der Lärm wurde eine Kleinigkeit geringer. Ein lauter Summer ertönte. Dieses Geräusch verringerte den Lärmpegel im Saal abermals. Die Lautsprecher knackten, dann war die Stimme des Gerichtsvorsitzenden zu hören. »Hiermit wird das Verfahren ,Das Imperium versus die Deserteure von Serrogat' eröffnet. In einer internen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Verhandlung hat das Gericht dem Antrag des Öffentlichen Anklägers stattgegeben. Dieser Antrag lautete: Die Schuld des Rebellen Helcaar Zunth gilt als erwiesen. Durch diese Entscheidung, deren Wahrheitsfindung außerordentlich schwer und langwierig war, ist auch die verräterische, gegen den Bestand des Imperiums gerichtete Arbeitsweise der Organisation Macht der Sonnen als staatsfeindlich definiert worden. Sämtliche Entscheidungsgremien haben in langem Ringen nach der Wahrheit diesen Tatbestand anerkannt. Damit steht fest, daß es sich bei den hier im Saal befindlichen Gefangenen um Meuterer, Deserteure und Verräter gegen Arkon und das Imperium handelt. Das Wort hat der Öffentliche Ankläger.« Die drei letzten Worte des Obersten Richters – es war ein anderer Jurist, nicht mehr Thorm von Daccsnor – verhallten ungehört und übertönt von dem Lärm, der sich innerhalb von Sekunden erhob. Die Gefangenen sprangen auf oder sanken in sich zusammen. Die Wachen und die Soldaten versuchten, die aufspringenden und fäusteschwingenden Männer zurückzuhalten. Kleine Handgemenge entwickelten sich,
10 aber die Raumsoldaten handelten schnell und hart. Sie bedrohten die Gefangenen mit den Waffen, hier und dort wurde einer der Männer niedergeschlagen oder durch schwache Paralysatorladungen betäubt. Der Starverteidiger stand, scheinbar ungerührt, inmitten des Durcheinanders und redete mit fünf bewaffneten Saalwachen. Er hielt zwei Folien in der Hand und deutete in die dritte Reihe der Angeklagten hinauf. Dharr betätigte die vergrößernden Linsensätze und zeigte auf diese Weise seinem Kollegen, daß auf den karteikartenähnlichen Blättern die Abbildungen von Lothor und Premcest zu erkennen waren. Ches nahm es zur Kenntnis und versuchte, das ausbrechende Chaos gebührend zu kommentieren. Der Ankläger stand auf und hielt, immer wieder von wilden Verzweiflungsschreien und den Geräuschen von Schüssen unterbrochen, eine flammende Rede. Er schilderte die einzelnen Vergehen der verschiedenen Gruppen von Gefangenen und beantragte jedesmal in Übereinstimmung mit geltenden Gesetzen die Todesstrafe. Jetzt zeigte der Bildausschnitt für kurze Zeit die beiden Männer, auf die der Staranwalt zeigte. Noch hatte niemand ihre wirkliche Identität erkannt – aber vielleicht würde dieses Bild, das über den Sender Milliarden von Arkoniden erreichte und natürlich auch den Imperator Orbanaschol, die wirklichen Namen der Rebellen erkennen lassen. Der Ankläger beendete sein Plädoyer mit einem flammenden Aufruf, die einzige Strafe zu verhängen, die das Gesetz für diese Delikte vorsah. Die Todesstrafe! Abermals folgte ein Tumult. Aber er verebbte schließlich, als der Verteidiger der gesamten Gefangenenschar sich erhob und schärfsten Einspruch gegen diese Forderung erhob. Er begann mit einem langen Katalog von Erklärungen, die alle nur einen Zweck hatten, nämlich zu beweisen, daß die vermeintlichen Meuterer ausgenutzt worden waren und nicht gewußt hatten, daß man sie skrupellos ausnutzte.
Hans Kneifel Ches Prinkmon stellte fest, daß auch dieser Pflichtverteidiger ein hervorragender Anwalt war, der sein Metier glänzend beherrschte. Inzwischen kämpften sich die Wachen durch die aufgeregten Gruppen von Assistenten und Hilfskräften und brachten, unterstützt von drei Raumsoldaten, Lothor und Premcest in die erste Reihe der Gefangenen hinunter. Lekos schwebte jetzt vor einem der vielen Mikrophone, und abermals spielten die Lichter auf seiner Vorderseite wilde Folgen. Der Verteidiger mußte erleben, daß Anklage und Richter seine Einwände teils wegen prozessualer Mängel und zum größeren Teil wegen erwiesener Unrichtigkeit niederschlugen. Ein Rededuell zwischen Anklage und Verteidigung begann. Da niemand mehr verstand, was der eine oder andere sagte, beruhigte sich das Publikum im Saal relativ schnell. Auch die Gefangenen hörten heraus, daß ihre Lage nicht mehr ganz so hoffnungslos war. Sie wurden stiller und hörten der Redeschlacht zu, die mit immer erbitterteren Argumenten geführt wurde. Mitten in der Auseinandersetzung unterbrach der Richter die streitenden Parteien und rief: »Mir liegt ein Antrag von Kaarfux vor. Sein juristischer Berater und er verlangen, daß das Verfahren gegen Premcest und Lothor von den Sammelverfahren abgetrennt wird. Diesem Antrag wird stattgegeben.« Im Stillen zollte Ches Prinkmon, der natürlich diese Wendung aufgeregt kommentierte, dem Richter Respekt: er bewahrte größtmögliche Unabhängigkeit von den Befehlen des Diktators. Vermutlich sagte er sich, daß zwei Hingerichtete weniger am Gesamtbild des zu erwartenden Urteils nichts zu ändern vermochten. Mit steinernen Mienen saßen die genannten Gefangenen inzwischen in der ersten Reihe, flankiert von mehreren bewaffneten Saalordnern. Die begleitenden Raumsoldaten hatten
Im Reich der Ausgestoßenen sich zurückgezogen. Im Augenblick herrschte große Ruhe und gespannte Aufmerksamkeit. »Meine Forderungen werden von dieser Maßnahme, die ich nicht anders als taktisch und nutzlos bezeichnen kann«, rief der Ankläger aufgeregt, »keineswegs berührt. Ich gehe auf den letzten Einwand der Verteidigung näher ein. Im einzelnen ist zu sagen, daß …« Für einen Augenblick stockte die bisher ruhige und informative Schilderung des jungen Reporters. Wieder schlug der Schmerz in seinem Magen zu, und er krümmte sich nach vorn und schnappte nach Luft. Ohne auf den Monitor zu sehen, bemerkte er, daß Kaarfux jetzt die zwei Gefangenen erkannt hatte. Der Augenblick der Wahrheit ging für sämtliche Anwesenden vor Gericht unbemerkt vorüber, nur nicht für Premcest/Fartuloon, Lothor/Atlan, Kaarfux und die drei Fernsehleute. Wenn noch jemand die richtigen Namen erkannt und die wahre Natur dieser zwei herausgehobenen Gefangenen bemerkt haben sollte, so tat er nichts, um diese Wahrheit laut herauszuschreien. Vielleicht fünf Sekunden lang brauchten Kaarfux und die beiden Männer, um zu erkennen, was hier wirklich geschah. Dann entspannte sich die Situation wieder, aber der würgende Schmerz blieb im Körper des Kommentators. Etwa eine Stunde lang dauerte das Duell zwischen Verteidigung und Anklage. Immer wieder sah es so aus, als ob die Verteidigung einen leichten Vorteil herauskämpfen konnte. Aber ebenso oft entschied das Gericht nach kurzer Beratung und nach Zuhilfenahme des Komputers, daß auch dieser Einwand oder dieser Antrag nicht zulässig sei. Kurz vor Mittag zogen sich die Richter zur letzten Beratung zurück.
* Ein Teil der Zuschauer ging, andere nahmen ihre Plätze ein. Eine Gruppe von weiß-
11 gekleideten Helfern und eine Menge Roboter schwebten herein und verteilten Essen und Getränke an die Gefangenen und ihre Wachen. Die Unruhe erreichte einen hohen Grad, aber sie schien im Augenblick nicht explosiv zu sein. Die Kamera blieb minutenlang in einer Totale-Einstellung, während das Team ein paar Becher heiße Getränke herunterschüttete und die Tonleitung ausschaltete. »Atlan und Fartuloon wissen, daß sie von Kaarfux verteidigt werden«, sagte Monhole und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ja. Sie haben es erkannt. Und auch Kaarfux hat sie erkannt. Jetzt weiß er, warum wir ihm unser Spesengeld für ein Vierteljahr zahlen werden!« erklärte Dharr. »Was ist los, Ches? Du siehst krank aus, deine Finger zittern.« Ches versuchte, die Beklemmung durch einen langen Schluck und einige Armbewegungen abzustreifen. Aber dieses Gefühl, wie eine Todesahnung kam es ihm vor, verbunden mit dem auf- und abschwellenden Schmerz, ließ ihn nicht los. »Nichts Besonderes«, hörte er sich sagen. »Ich bin krank vor Spannung. Keine Sorge, ich halte durch, Freunde.« Wie auf ein Kommando blickten sie auf den Monitor. Dharr hatte die Kamera bewegt und auf die fragliche Gruppe gerichtet. Leise sprach Kaarfux auf die Gefangenen ein und deutete mehrmals auf den Richtertisch und Lekos. »Es gibt hier einen Arzt, Ches! Willst du eine entkrampfende Spritze?« drängte Monhole und schüttelte seinen Kollegen. »Nein, danke«, sagte Prinkmon und deutete wieder, den Becher hastig abstellend, nach unten. Die gesicherten Türen hinter der wuchtigen Richterbarriere öffneten sich. Nacheinander kamen die Richter und ihre Gehilfen wieder in den Raum. Je mehr Personen hinter ihren Sesseln stehenblieben, desto leiser wurde es im Saal. Es schien, als würden die meisten Zuschauer und selbst die Raumsoldaten mitten in der Bewegung erstarren und
12 den Atem anhalten. Der Oberste Richter klappte ein Dokument auseinander und sagte mit fester Stimme: »Im Namen des Imperiums ergeht folgendes Urteil: Sämtliche Gefangenen von Serrogat, deren Namen im Anschluß an diese Urteilsverkündung verlesen werden, werden zur Todesstrafe verurteilt. Das Urteil erfolgt in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz …« Er kam nicht mehr weiter. Atlan und Fartuloon sprangen auf, rissen die Arme hoch und rissen Mikrophone an sich. Eine donnernde Stimme erfüllte den Raum und übertönte den Lärm von einigen Tausend Arkoniden. »Wir sind keine Deserteure oder Verräter. Wir sind auch nicht die Gefangenen Premcest und Lothor, sondern wir sind die mächtigsten Kämpfer für Freiheit und Recht, die der wahnsinnige Diktator Orbanaschol verfolgt und vor denen er sich fürchtet. Wir sind Atlan, der Kristallprinz, und Fartuloon, bekannt als Leibarzt Gonozals. Wir werden nicht sterben. Auch die anderen Gefangenen werden nicht hingerichtet werden …« Jetzt hatte der Tumult den gesamten Saal erfaßt. Die Gefangenen waren ausnahmslos kampferprobte Männer, die schnell zu reagieren gelernt hatten. Sie stürzten sich auf ihre Bewacher und kämpften mit ihnen um die Waffen. Die ersten scharfen Schüsse krachten auf. Panik bemächtigte sich der Zuschauer. Wachen feuerten wahllos in die Masse der Gefangenen. Die Männer hatten nichts mehr zu verlieren. Jeder, dem es gelungen war, eine Waffe zu ergreifen, benutzte sie auch. Es gab die ersten Toten. Jemand betätigte die Alarmschaltung, und Dutzende von Portalen öffneten sich. Zunächst war der Vorteil der Überraschung auf Seiten der todesmutigen Gefangenen. Die Schüsse wurden zahlreicher, und mehr und mehr Soldaten sanken zu Boden
Hans Kneifel oder feuerten zurück. Es waren Strahlerschüsse, die kreuz und quer durch die halbkreisförmige Mitte des Saales röhrten, aber ebenso wurden Waffenläufe als Schlaginstrumente benutzt. Ein riesiger Gefangener warf sich auf zwei Soldaten, die Schulter an Schulter standen und gezielt tödliche Schüsse abgaben. Er hechtete über drei Sitzreihen hinweg und schlug mit einer weit ausholenden Bewegung ihre Köpfe zusammen, einen lauten Schrei ausstoßend. »Wahnsinn!« schrie der Kameramann und filmte ununterbrochen mit der TotaleEinstellung das Chaos. Ein verirrter Strahlerschuß sprengte einen fingerdicken Riß in die trennende Glasscheibe. Dann sah Ches Prinkmon, warum Kaarfux so lange mit seinen Schützlingen gesprochen hatte. Die Richter waren hinter der Barriere in Deckung gegangen, nur zwei Assistenten hoben die Waffen und schossen mit Schockstrahlern auf die Gefangenen. Unterhalb der Richtertribüne gab es eine schwache Explosion. Dann zeichnete sich der Rahmen einer schmalen, nicht sehr hohen Tür ab. Diese Tür, vielmehr eine wuchtige Platte, kippte nach vorn und schlug schwer auf den Boden. Staub und Mörtelreste wirbelten hoch. Im gleichen Augenblick sprang Atlan nach vorn, rammte mit der Schulter einen Wächter zur Seite und stürzte sich in die dunkle Öffnung. »Nein!« schrie Ches Prinkmon auf. »Das ist … unfair! Sie entkommen unserer Berichterstattung.« Er riß sich die Kombination vom Kopf, rannte an der Kamera vorbei und gab dem massiven Dreifuß einen Tritt. Dann verließ er in rasender Eile die Berichterstatterkabine und sprang die Stufen des Verbindungsgangs hinunter. Dadurch entging ihm das Bild, wie Fartuloon seinem Schützling folgte und sich Kaarfux anschloß. Lekos, dessen Vorderseite ein kalkig weißes Licht ausstrahlte, das alle Umstehenden und diejenigen blendete, die ihn ansahen, schwebte rückwärts den drei Flüchtenden
Im Reich der Ausgestoßenen nach. Nur Monhole behielt die Fassung, hob das Mikrophon auf und knurrte: »Dharr! Auf den Fluchtweg!« »Schon im Bild!« gab der Kameramann zurück und versuchte, seinen Kollegen zu sehen, der durch eine der Türen kommen mußte, durch die sich flüchtende Wachen, davonrennende Gefangene und panisch schreiende Zuschauer hinausstürzten. Lekos verschwand in dem dunklen Schacht. Das grelle Licht flackerte noch einige Sekunden lang, dann ging es aus. Ches Prinkmon wirbelte in den Saal hinein; er hatte einen anderen Eingang gefunden, der nicht von der Alarmschaltung geöffnet worden war. Er sah sich suchend um und nahm gerade noch das Ausbleiben des blendenden Lichts wahr. Dann entdeckten einige wild um sich feuernde Gefangene den neuen Fluchtweg und rannten durch die Sitzreihen auf ihn zu. Die Männer wurden von mehreren Seiten aus unter Beschuß genommen. Einige Soldaten rannten feuernd auf die Öffnung des geheimen Fluchtwegs zu. Als sie nur noch vier Schritte davon entfernt waren und schon fast über die zerborstene Steinplatte stolperten, gab es eine schwere Detonation. Eine Stichflamme schoß aus dem schwarzen Viereck hervor, gefolgt von wirbelnden Trümmern. Eine gewaltige Qualmwolke drang brodelnd aus dem ausgefransten, gezackten Loch hervor. Die Körper der Soldaten waren rückwärts geschleudert worden und lagen bewegungslos da. Kaarfux hatte gezeigt, daß er noch immer für einen Trick gut war. Zuerst hatte Lekos die Funkformel ausgestrahlt, die den Fluchtmechanismus heraussprengte, dann hatte die Bombe gezündet, die seit Jahrzehnten in dem Roboterkörper integriert war. Im gleichen Augenblick stolperte einer der flüchtenden Gefangenen. Der Strahlschuß, der ihn in den Rücken getroffen hätte, schlug Ches Prinkmon voll in die Brust, schleuderte ihn rückwärts und tötete ihn.
13 Die letzten Gedanken des Reporters waren: Alles gewagt und alles verloren … Die wenigen Arkoniden, die in diesem totalen Hexenkessel noch klar zu denken vermochten, hörten, wie aus dem brennenden und qualmenden Fluchtschacht rumpelnde Geräusche ertönten. Der Oberste Richter, der ein passiver Anhänger der Rebellen war und seine Freude über die Flucht des Kristallprinzen und des Bauchaufschneiders gut verbergen konnte, hoffte, daß möglichst viele Gefangene davongekommen sein würden. Er preßte den Kopf zwischen die Arme und merkte zu seiner Erleichterung, daß noch immer Schüsse in die Täfelung hinter dem Richtersessel einschlugen. Also waren die alten Gerüchte, daß es in der Arena der Gerechtigkeit und unterhalb geheime Gänge und Verbindungen gab, doch keine Gerüchte! Er grinste kurz und robbte dann in Richtung auf die offenen Türen zum Beratungsraum davon. Seine Würde war ihm in diesem Moment völlig gleichgültig. Als er zwischen dem wuchtigen Rahmen angekommen war, stellte er sich die Gefühle des Diktators vor und rang abermals mit einem Anfall völlig unmotivierter Heiterkeit.
3. GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN: Nach zehn Schritten erfolgte eine Explosion. Der Druck packte mich im Rücken, warf mich vorwärts und auf eine glatte, schräge Fläche. Augenblicklich geriet ich ins Rutschen und krümmte mich zusammen. Du bist gerettet! schrie triumphierend mein Extrasinn. Es ging rasend schnell durch absolute Finsternis abwärts. Es roch modrig und, Sekunden später, nach den Explosionsgasen. Ein schwerer Körper landete ächzend in meinem Rücken, und Fartuloon sagte: »Dieser Anwalt! Wir werden ihn in ein paar Monaten zum Justizminister machen
14 müssen!« »Falls ihr bis dahin noch lebt«, erklärte er mit trockener Stimme. »Los, aufstehen und geradeaus weiter. Gleich kommt das Gewölbe herunter.« Wir hielten uns aneinander fest. Dann zuckte ein winziger Lichtstrahl auf. Er kam aus einer kleindimensionierten Lampe in der Hand von Kaarfux. »Schnell!« drängte er. Über uns ertönten knisternde und brechende Geräusche. Wir stolperten vorwärts. Unsere Stiefel wirbelten den tiefen Staub auf, der sich ätzend auf unsere Schleimhäute legte und in den Augen brannte. Ich hörte den Anwalt stoßweise sagen: »Der Roboter war früher ein psychologisch wirksames Werkzeug gewesen. Jetzt hat er die letzten beiden Überraschungen ausgespielt. Ich werde ihn vermissen. Nach ungefähr hundertfünfzig Schritten kommen wir in ein verlassenes Archiv der alten Rechtshalle, auf deren Platz man vor einem halben Jahrhundert die Arena gebaut hat. Alle anderen, die diesen Gang kannten, sind inzwischen gestorben. Achtung …« Krachend fielen schwere Blöcke herunter. Aber durch das Splittern und Schmettern der Quadern hörte ich noch andere Geräusche, sie klangen, als ob feuchte Masse sich in die Hohlräume zwischen die Trümmer preßte. »Zweikomponentenmasse!« erklärte Kaarfux. Der Fluchtweg würde hinter uns nur in tagelanger Arbeit zu öffnen sein. »Wie sind Sie auf uns gekommen?« fragte Fartuloon und rannte neben mir auf den Punkt zu, den der Scheinwerferstrahl erhellte. Es schien eine eiserne Tür oder ein Schott zu sein. »Der junge Reporter von Arkon-Vision heuerte mich an.« »Sie wußten …?« »Nein. Ich erkannte Sie erst im Gerichtssaal, eine halbe Stunde vor Ihrem Auftritt, Fartuloon.« »Ihr Handeln, aus welchen Beweggründen auch immer, macht uns zu Freunden!«
Hans Kneifel sagte ich. Wir standen jetzt vor dem alten, fast unkenntlichen Schott. Fartuloon griff nach den schweren Hebeln des Schließmechanismus. »Achtung. Hinter der Tür wartet zwar niemand, aber das Ganze hier ist uralt.« Kaarfux leuchtete die einzelnen Zuhaltungen an, und wir rissen mit aller Kraft an den Hebeln. Aber erst, als wir uns zu zweit an jeweils einem Hebelarm anklammerten und unsere vereinigten Kräfte einsetzten, drehten sich die Riegel knirschend in den Befestigungspunkten. Nach drei Anstrengungen dieser Art rissen wir die Stahlplatten auf. Vor uns war abermals Dunkel. Aber jetzt roch es nach verrottenden Gegenständen aus Leinen, Leder und Papier. »Wir dringen von hier aus ins Kanalisationssystem ein. Eine Fluchtmöglichkeit, die man weitestgehend kennt, aber wenn wir unseren bisherigen Vorsprung nützen, dann bleiben wir unentdeckt. Sie müssen wissen, daß ich meine Karriere auf Celkar als Gemeindesekretär angefangen habe. Ich kenne den Bauplan der alten Stadt Kutenarynd.« Wir hielten uns nicht damit auf, die Tür wieder von innen zu verriegeln. Kaarfux wartete, bis das rostige Zentralschloß einrastete, dann drehte er mit großer Anstrengung ein Stück Metall, das wie massive Verstrebung aussah. Eine Sekunde später lief ein stechend helles Licht, das aus lauter winzigen Explosionen bestand, rund um den Rahmen und schweißte die beiden Teile zusammen. Fartuloon fragte mit ehrfürchtiger Verblüffung: »Sind Sie der Konstrukteur dieses raffinierten Fluchtwegs?« Wieder lief Kaarfux ihnen voraus und zeigte den Weg durch die endlosen, labyrinthisch stehenden Regalwände, die mit irgendwelchen Akten, Spulen und Plänen gefüllt waren und kaum mehr kenntlich vor Spinnweben und dicken Staubschichten. »Es war ein Anwältekollektiv, damals …« »Sie meinen, daß mehrere Anwälte diesen Weg als ihre letzte Zuflucht ansahen?«
Im Reich der Ausgestoßenen Kaarfux lachte selbstgefällig, als er entgegnete: »Er wäre nur benutzt worden, falls einer unserer Mandanten aus Gründen wie in Ihrem Fall zum Tode verurteilt worden wäre. Da es sich bei den Angehörigen dieses Kollektivs um Spitzenkönner handelte, brauchten wir diesen Ausweg niemals zu riskieren. Denn es hätte sicherlich das Ende der Karriere bedeutet.« Er meint, daß noch keiner von dieser Gruppe jemals einen Prozeß verloren hat, erläuterte mein Extrahirn. »Mein Wort! Sie sind tatsächlich der Mann mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks!« staunte Fartuloon. »Wie können wir Ihnen jemals danken, Kaarfux?« »Seien Sie unbesorgt. Wenn Sie überleben und Ihr Programm verwirklichen, dann melde ich meine Forderungen im Kristallpalast an.« Im Zickzack ging es zwischen den Teilen des uralten Archivs hin und her. Wir hasteten ununterbrochen weiter und versuchten, dem Lichtstrahl zu folgen und nirgends anzustoßen, aber immer wieder mußten wir uns den Schmutz aus dem Gesicht wischen, der in großen Flocken von den Spinnwebfäden hing. Der Umstand, daß Kaarfux eine Lampe in der Hand hielt, ließ deutlich erkennen, daß er den Gerichtssaal schon mit bestimmten Absichten betreten hatte. »Keine Sorge. Wir werden es überleben«, gab ich zurück und fluchte, weil ich mit dem Knie gegen ein Hindernis knallte. »Bisher sind wir jedesmal dem totalen Untergang um Haaresbreite entgangen«, pflichtete mir Fartuloon bei. Etwa zwanzig Minuten lang rannten wir durch dieses Archiv und einen anschließenden, von Trümmern erfüllten Gang. Seit einem halben Jahrhundert waren wir die ersten Arkoniden, die diese verschütteten Bauwerke betraten. Die Luft roch abgestanden und faul. Wir bekamen immer wieder Hustenanfälle und rangen nach Luft. Aber uns erfüllte eine euphorische Stimmung; wir waren wieder einmal buchstäb-
15 lich im letzten Augenblick durch ein halbes Wunder gerettet worden. Zwar erhielt jetzt, als wir umrißhaft die Informationen über Prinkmon, Arkon-Vision und Kaarfux bekamen, das Geschehen hinter den Kulissen eine gewisse Logik: Ches Prinkmon mußte uns schon während der mißglückten Meuterei im Gefängnis erkannt haben, ganz sicher aber während des Interviews in unserer Zelle. Daraufhin hatte er seine sensationelle Chance erkannt. Irgendwann, als wir uns durch den knöcheltiefen Schlamm eines anderen, kalten und stinkenden Raumes kämpften, hörte ich Fartuloon fragen: »Was denken Sie, Kaarfux, geschieht jetzt dort oben mit den anderen Gefangenen. Haben Sie Chancen?« »Wenn sie schnell und entschlossen genug sind, werden viele von ihnen entkommen können. Die Unterwelt von Celkar ist natürlich über alles informiert.« »Und wohin flüchten wir?« wollte ich wissen. »Auch in die Unterwelt. Diejenigen, die im verborgenen leben, sind letzten Endes nichts anderes als entkommene Sträflinge, gescheiterte Juristen und die normalen Verbrecher einer jeden Stadt.« Er ist noch gerissener, als du denkst, flüsterte das Extrahirn. Wir stolperten und rutschten durch schlammiges und stinkendes Wasser. Schließlich kamen wir an eine Treppe, und Kaarfux hielt an. »Natürlich habe ich die Unterwelt nicht verständigen können. Aber ich denke, die Betreffenden hören auch Nachrichten und wissen, daß ich mit Ihnen auf der Flucht bin. Wir steigen jetzt abwärts in den Bereich der Kanalisation, der unterirdischen Kraftwerke und der Kläranlagen von Kutenarynd und einem Teil Bassakutenas. Dort werden wir irgendwann auf die Leute Fralwercs stoßen.« Fartuloon lachte kurz auf, schneuzte sich und hustete langgezogen. »Uns ist alles gleich. Hauptsache, wir werden nicht von den Raumsoldaten der
16 JERRAWON gefangen. Ich kann mir vorstellen, daß sie ganz Kutenarynd einer gewaltigen Razzia unterziehen.« »Und ich stelle mir vor, daß Orbanaschol wie ein Rasender tobt und zusätzliche Kräfte herbeibeordert. Sind Sie nun auf unserer Seite, oder sind Sie trotzdem ein Anhänger des Imperators, Kaarfux?« fragte ich leise und wischte meine Hände am Brustteil des Overalls ab. »Ich bin ein Anhänger des Imperators, aber keineswegs dieses Schurken im Kristallpalast. Er scheint wahnsinnig geworden zu sein. Aber ich bin zu alt, um eine Rebellion zu planen. Was ich hier unternahm, geschah unter anderem auch aus Sympathie für Sie beide und Ihren verzweifelten Kampf. Ich weiß, daß Sie eine riesige Anzahl von Anhängern überall im Imperium haben, Kristallprinz.« »Danke!« Kaarfux spuckte aus und richtete den Strahl der Lampe auf verschiedene Teile der steil abwärts führenden Treppe. Auch sie und das umgebende Gemäuer waren uralt: Relikte aus der Siedlungsgeschichte von Celkar. Der Gestank nahm immer mehr zu und wurde fast unerträglich. Ein Zeichen, daß wir uns dem Bereich der Abwasserkanäle näherten. »Es geht weiter!« ordnete Kaarfux an. »Es dauert nicht mehr länger als eine Stunde, falls nicht ein Teil dieser Verbindungen zusammengebrochen oder überflutet ist.« Wir rutschten und stolperten die Treppe abwärts. Zwischen den Fugen der mächtigen Quader und den Sprüngen der herausgebrannten Höhlungen sickerte Wasser, hinterließ Spuren auskristallisierender Mineralien, die im Licht der Lampe schimmerten und funkelten, lief über die Stufen und machte sie glatt wie frisches Eis. Wir klammerten uns aneinander fest und lehnten uns gegen die nassen Wände, als wir Schritt um Schritt die Stufen hinuntertappten. Es ging in rechtwinkligen Absätzen weiter, immer tiefer unter die Planetenoberfläche. Wenn meine Schätzung richtig war, be-
Hans Kneifel fanden wir uns schon längst außerhalb der Grundrißfläche, die von der Arena der Gerechtigkeit bedeckt wurde. Mindestens dreihundert Stufen und dreißig Treppenteile brachten wir hinter uns, ehe Kaarfux aufstöhnte und rief: »Die Lampe ist zu klein dimensioniert. Das Licht wird schwächer.« »Das bedeutet, daß wir schneller laufen müssen!« »Richtig. Beziehungsweise schneller schwimmen«, rief Kaarfux unterdrückt. »Wir sind bereits unten angelangt.« Vor uns plätscherten seine ersten Schritte im Wasser. Ein gemauerter Stollen warf harte Echos zurück. Wir traten von der untersten Stufe in öliges Wasser, dessen winzige Wellen im schwindenden Licht der kleinen Lampe funkelten. Hintereinander stiegen wir in das überraschend warme, dafür aber noch gräßlicher stinkende Wasser hinein und folgten dem Verteidiger. Für sein Alter bewegte er sich schnell und kräftig. Gestank, Wärme und kleine Tiere, von denen wir nur aufleuchtende Augen und blitzschnelle Bewegungen erkannten – das alles war lästig, aber es störte uns nicht. Wir waren ausgeruht, satt und kräftig, und wir kamen trotz der Länge des geraden Stollens und der niedrigen Decke gut vorwärts. Offensichtlich war Kaarfux weit mehr als nur ein gerissener Anwalt, der auch vor gewissen skrupellosen Überraschungen nicht haltmachte. So gut wie er die geheimen, längst vergessenen und überbauten Gänge und Uralt-Anlagen kannte, so eng schien auch sein Verhältnis zur kriminellen Unterwelt von Celkar oder zumindest dem Kontinent Bassakutena zu sein. Jedenfalls strebte er mit uns schnell und sicher einem Punkt entgegen, an dem wir diese finsteren Anlagen verlassen konnten. Ich war gespannt darauf, ob die »Unterwelt« von Celkar sich auch unterhalb des Bodens versteckte, fernab vom Sonnenlicht und frischer Luft. »Wie kommen Sie zu den guten Kontakten zu flüchtigen Verbrechern und anderen Lichtscheuen, Kaarfux?« keuchte ich und
Im Reich der Ausgestoßenen sah, als der Lichtstrahl wieder einmal herumschwenkte, das Ende des Stollens. »Einige von ihnen habe ich verteidigt. Andere wandten sich an mich mit undurchführbaren Aufträgen. Wieder anderen gelang es, gar nicht erst in Haft zu kommen. Und dann gibt es immer wieder Arkoniden, deren Lebensweg abseits der Pfade der Gesetze verläuft.« »Nicht nur auf Celkar!« knurrte Fartuloon. »Es wird Zeit, daß wir aus dieser Brühe herauskommen. Hoffentlich können uns die Unterweltler mit einer Dusche und neuer Kleidung dienen.« »Ich bin sicher, daß Sie alles bekommen, was Sie brauchen. Vielleicht schaffen wir Sie auch irgendwie weg vom Planeten. Sie können sicher sein, daß Orbanaschol eine gewaltige Durchsuchung durchführen wird. Er wird jeden Stein umdrehen lassen.« »Warten wir die Entwicklung ab!« Wir kamen an das Kopfstück des langen, geraden Stollens. Das Wasser versickerte rechts und links in kleinen Öffnungen. Vor uns ragten aus der Wand verkrustete Stahlbügel heraus. Kaarfux nahm die längliche Lampe zwischen die Zähne und machte sich an den Aufstieg. Als ich ihm folgte, lief das schlammige Wasser in mein Haar und sickerte in den Kragen. Ich fluchte unterdrückt, und Fartuloon unter mir fluchte ebenfalls. Aber wir folgten dem zuckenden Lichtschein. Weit über uns rief der Anwalt: »Bitte einen Moment warten!« »Geht in Ordnung.« Wir sahen nicht, was er dort oben tat. Wir hörten ein scharfes Klirren, dann eine leise, undeutliche Lautsprecherstimme, schließlich sagte Kaarfux in grobem Ton: »Macht endlich auf. Kaarfux ist hier, mit zwei Gästen. Keine Tricks, sonst verpfeife ich euch an Fralwerc. Schnell …!« Ein metallisches Kreischen ertönte und schreckte hinter und unter uns Dutzende der unsichtbaren Tiere auf. Sie sprangen pfeifend nach allen Seiten davon. Dann fiel von oben ein breiter Lichtstreifen herunter, und als wir nach oben sahen, erkannten wir am
17 Ende der Stahlbügel ein rundes Einstiegloch. Zwei Paar Arme griffen nach Kaarfux und zogen ihn aus dem Loch heraus, dann folgte ich und sah mich drei Männern gegenüber, von denen einer einen schweren Strahler auf meine Stirn richtete. »Weg damit!« schnarrte Kaarfux. »Es sind Fartuloon und der Kristallprinz.« Um unsere Füße bildeten sich sofort schwarze, stinkende Lachen. Fartuloon schwang sich aus dem Durchstieg, sah sich fröhlich um und wich dem schweren Hebelapparat aus, der ein korkenförmiges Stück Stein zurück in das Einstiegloch drehte. »Flutet den Kanal. Verwischt noch ein paar Spuren«, sagte Kaarfux. »Ist Fralwerc irgendwo in der Nähe?« Der Mann mit der Waffe sagte: »Er hat uns benachrichtigt. Sie wollen Dusche und Essen und so weiter. Wir bringen Sie weiter. Hier entlang.« Der Bewaffnete steckte seinen Strahler ins Futteral zurück. Es waren Teile der offiziellen Flottenausrüstung, wie ich sofort sah. An einem einfachen Schaltbrett klappte einer der Männer mehrere Schalter herunter. Wir sahen nicht, was geschah, aber wahrscheinlich wurden unsere Spuren auf irgendeine Weise verwischt. Wir wurden einen Gang entlang geführt und kamen in kleine Kabinen. Unser Optimismus stieg, als wir uns von den Schauern des heißen Wassers umspülen ließen. Ich hörte durch die dünne Trennwand, wie Fartuloon ein uraltes arkonidisches Siegeslied vor sich hin summte. Ihr seid noch immer in Gefahr! kommentierte der Logiksektor.
4. Das scharfe Bild auf dem großen Monitor spiegelte sich auf der glatten, polierten Schreibtischplatte. Auf dieser Platte spiegelten sich auch die Hände des Mannes. Der Ton zum holographischen Bild war gedrosselt. Trotzdem hörte Lebo Axton jedes Wort des Kommentars und die geschickt eingeblendeten Originalgeräusche.
18 In steigender Unruhe hatte Lebo Axton zunächst den Prozeß gegen Ogor mitangesehen, hatte die Reportagen und die Kommentare nach Ogors freiwilligem Tod erlebt, und jetzt sah er, wie der Prozeß Imperium gegen die Verräter von Serrogat in die letzte Phase ging. Plötzlich beugte sich Axton aus seinem Spezialsessel nach vorn. Er sah und hörte Atlan und Fartuloon aufspringen und ihre Anklage herausschreien. Das Chaos folgte, die Kämpfe zwischen Bewachern und Gefangenen, dann der rettende Auftritt des alten Strafverteidigers mit seinem Roboter. Axton sah die schnelle, entschlossene Flucht der beiden Männer und war begeistert. Er vergaß aber keinen Augenblick, daß auch der Diktator über die Flottenleitung das Geschehen praktisch verzögerungsfrei miterlebte. Er rechnete bereits jetzt mit seinem Anruf. Die Detonation, die einen Teil der Richtertischbarriere zusammensacken ließ und den Fluchttunnel verstopfte, erzeugte einen fahlen Blitz in dem Bild. Dann richteten sich die Linsen der Kamera auf die Kämpfe, die mit einer beispiellosen Härte geführt wurden. Rechts im Hintergrund des abgedunkelten Büroraumes schaltete sich mit einem harten Klicken ein Kommunikationsschirm ein. Noch bevor das Bild scharf genug war, drang die aufgeregte Stimme des Imperators aus den Lautsprechern. Die Worte überschlugen sich fast, als er schrie: »Haben Sie das gesehen? Haben Sie diese zwei Verräter gehört? Sie sind verschwunden, ich werde den Planeten durchwühlen lassen. Aufgetaucht und wieder entkommen, diese Verbrecher!« »Ich habe alles ebenso genau gesehen wie Sie, Imperator!« erklärte Lebo Axton. »Welche Befehle haben. Sie?« Seine Augen huschten zwischen den beiden Bildschirmen hin und her. Im Gerichtssaal herrschte die Panik. Ununterbrochen hämmerte das Dröhnen von Schüssen aus den Lautsprechern.
Hans Kneifel »Kommen Sie sofort zu mir! Wir müssen beraten, was zu geschehen hat.« »Selbstverständlich!« sagte Axton ruhig und drückte einen Schalter. Er sah ohne Überraschung, daß der Imperator die Verbindung getrennt hatte. Aus seinem Sekretariat wurde gemeldet, daß der Gleiter bereit sei. Eines ist sicher, sagte sich Lebo Axton, der Diktator ist abermals in Panik.
5. GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN: Als wir, frisch angezogen und geradezu nach Sauberkeit riechend, uns in einem anderen Raum trafen, versuchten wir zuerst einmal, uns umzusehen. Der Mann mit der Flottenwaffe kam breit grinsend auf uns zu, drehte den Verschluß von einer Flasche und goß drei schartige Gläser halbvoll. »Wir haben inzwischen alles gesehen. Sie haben den Behörden einen fabelhaften Streich gespielt. Sie, Kaarfux, werden sich nicht mehr an der Oberfläche sehen lassen dürfen, solange dieser Kerl auf Arkon hockt. Hier!« Jeder von uns nahm einen Becher. Wir tranken in großen Zügen. Kaarfux schien sich trotz allem über seinen Entschluß zu freuen, denn er taute richtiggehend auf. Lachend fragte er: »Haben Sie Fralwerc gesprochen?« »Ja. Er schickt einen Kurier. Der wird Sie zu einem geheimen Treffpunkt führen. Natürlich alles hier unten.« Die Räume schienen aus dem massiven Fels unterhalb der Hauptstadt herausgeschnitten zu sein. Sämtliche Leitungen lagen einigermaßen sauber befestigt außerhalb der Wände. Die Kammern und Verbindungsgänge waren schmal, aber hell getüncht. Die Klimaanlage arbeitete geräuschlos. Hin und wieder erkannte ich genau im Scheitelpunkt der Gewölbe unregelmäßige Löcher, die offensichtlich mit Schutt oder Steinbrocken oder einem ähnlichen Gemenge gefüllt waren. Aus jeder dieser senkrech-
Im Reich der Ausgestoßenen ten Schächte hing ein Kabel mit einem Schalter daran. Der fast haarlose Mann mit dem breiten Gesicht bemerkte meinen Blick und erklärte: »Das sind Fallen. Sie können einen Abschnitt vom anderen trennen, falls jemand eindringen sollte. Dann kommt alles herunter, schmilzt zusammen und versperrt wie ein Korken das Ganze. Gut, nicht wahr? Stammt von Frallie!« Frallie scheint der Spitzname dieses Fralwerc zu sein, sagte der Logiksektor. »Einverstanden«, sagte ich. »Gut ausgebaut. Wohin sollen wir?« Kaarfux schien eine unantastbare Gestalt auch unter den Ausgestoßenen von Celkar zu sein, jedenfalls wurde er von dem vierschrötigen Hünen mit größter Hochachtung behandelt. Jetzt schaltete er sich in unser Gespräch ein und ließ sein Glas nachfüllen. »Überall gibt es Gänge. Am sichersten sind wir in den Felskrusten der Planeten. Aber auch in der Nähe von allen Industrieanlagen laufen Schlupfwege. Es gibt kein eigentliches Hauptquartier, sondern eine wichtige Gruppe, die immer wieder umzieht und auch beste Verbindungen zur Oberfläche hat.« »Wir werden sie brauchen, diese Verbindungen«, murmelte Fartuloon. »Wir warten auf den Kurier!« sagte der Mann mit der Flasche. »Noch einen?« Langsam folgten wir ihm durch einen Zentralgang, der immer wieder scharfe Knicke ausführte. Die beiden anderen schienen verschwunden zu sein, aber wir kamen an vielen Türen vorbei, hinter denen wir Stimmen hörten und die Lautsprecher der Fernsehübertragung. »Nur Ruhe«, bestimmte Kaarfux. »Für die nächsten Wochen können wir uns hier verstecken. Selbst wenn die schärfste Razzia erfolgt, wird niemand dieses System entdecken. Sie werden mit Sicherheit das gesamte Kanalisationsnetz absuchen, denn diesen Tip haben wir ihnen gegeben. Aber das ist so richtig wie falsch.« »Wir sind keineswegs beunruhigt!« er-
19 klärte ich. Trotzdem blieb die Tatsache, daß wir auf Gedeih oder Verderb den Ausgestoßenen ausgeliefert waren. Der Verbrecher drehte sich plötzlich um, schwenkte einladend die Flasche und sagte schließlich: »Sie sind also der berühmte Kristallprinz Atlan! Ich habe mir immer vorgestellt, Sie würden mit einer riesigen Flotte gegen den Imperator kämpfen!« Fartuloon stieß ein wieherndes Lachen aus und ich mußte ebenfalls grinsen. »Das stellte ich mir vor einigen Jahren auch vor!« versicherte ich. »Aber das Glück ist launisch. Im Augenblick sind wir wieder einmal die Gehetzten und Verfolgten.« Der andere knurrte: »Kann sich blitzschnell ändern. Keiner liebt Orbanaschol. Ich glaube, der liebt nicht mal sich selbst.« Wir stießen befreiendes Gelächter aus und ließen unsere Gläser noch einmal füllen. Durch die linke Wand des Stollens drang jetzt ein dumpf rauschendes Geräusch in den schmalen Korridor hinein. Ich blieb stehen und fragte: »Was ist das? Dieses Geräusch?« Der Mann mit der Flasche erwiderte über die Schulter: »Ich erkläre nichts. Was Sie nicht wissen, können Sie nicht verraten, wenn man Sie schnappt.« »Eine Vorsichtsmaßregel, die ich gutheißen muß«, antwortete ich. Vermutlich verlief hier eine Wasserleitung oder ein Abwasserkanal. Ich verstand natürlich die Vorsicht des Ausgestoßenen. Nach einigen Minuten führte uns der Korridor durch ein System von mindestens fünfzehn rechten Winkeln und auf einen kleinen Platz hinaus. Hier waren die Beleuchtungskörper so angebracht, daß sie indirektes Licht spendeten. Wir blieben überrascht stehen. Die Anlage war alt, und das galt mehr oder weniger für das gesamte Netz von Schlupfwinkeln und Verstecken. Hier saßen etwa zwanzig Arkoniden jeden Alters. Jeder beschäftigte sich mit etwas: Kinder schienen zu lernen, einige andere sahen das Programm, das jetzt nur noch
20 den leeren Gerichtssaal zeigte, in dem die ersten Aufräumungsarbeiten stattfanden. Wieder andere nähten Kleider zusammen, einige hielten Bildbetrachter in den Händen und lasen. Fartuloon meinte fast bewundernd: »Ein Bild des Friedens. Sind Sie sicher, daß wir uns unter sogenannten Ausgestoßenen befinden?« Nicht jeder, der sich hier unten befand, war ein Verbrecher, dies schien klar. Aber sicher hatte jeder von ihnen einen guten Grund, sich zu verstecken. »Absolut sicher«, meinte Kaarfux und schob vorsichtig einen kleinen Jungen zur Seite, der ihm zwischen die Beine gelaufen war. »Denkt daran, daß wir auch eine Gefahr für die Untergrund-Leute darstellen«, gab ich zu bedenken. »Je eher wir weggebracht werden, desto besser für beide Teile.« Die Szene entspannte uns abermals ein wenig; unser Hochgefühl erlitt keinerlei Einbußen. Der Mann mit der fast leeren Flasche deutete auf einige einfache Stühle und sagte leise: »Wir warten hier. Der Kurier muß jeden Augenblick kommen. Ich kann hier nicht weg, weil ich für diesen Abschnitt verantwortlich bin.« Wir hatten gesehen, daß an vielen Stellen einfache Sprechgeräte an den Wänden befestigt waren. Das System der Vorsicht war weitestmöglich ausgebaut worden. »Geht in Ordnung«, sagte Fartuloon, setzte sich und nahm dem Führer die Flasche aus der Hand. Er setzte sie an den Mund und trank einen mächtigen Schluck. Dann schaute er voller Neugierde in die vier Eingänge, die in diesen Aufenthaltsraum tief unter dem Planetenboden hereinführten. Irgendwo mußte der Kurier auftauchen. Sicher versorgten die Ausgestoßenen Kaarfux mit wertvollen Informationen und umgekehrt, und es erschien durchaus denkbar, daß er sie mit Geld oder Waren unterstützte. Jedenfalls trafen uns immer wieder bewundernde Blicke.
Hans Kneifel Ich setzte mich neben Fartuloon und sah ihm in die Augen. Wir verständigten uns mit einem langen Blick, dann meinte er nachdenklich: »Wir haben zwar Kraumon verloren und vieles andere, aber wir haben jetzt die Gewißheit, überall im Imperium Freunde zu haben. Ich weiß, wie dir zumute ist – mir geht es keine Spur anders. Warte es ab. Viel schlimmer kann es nicht mehr kommen.« Langsam nickte ich und entgegnete: »Nein, schlimmer wohl nicht mehr. Aber ich weiß ebenso gut, daß unsere Reserven restlos erschöpft sind. Kein Geld, keine Waffen, nicht einmal eigene Kleidung. Von dieser Warte aus werden wir es schwer haben, den Mörder meines Vaters schnell zu besiegen.« Er schlug mir auf die Schulter und nahm den vorletzten Schluck. »Solange es Männer wie Kaarfux gibt, haben wir keinen Grund, unzufrieden zu sein. Wenn wir den Boß von hier unten treffen, werden wir mehr wissen. He, Namenloser, eine Frage: Wieviel seid ihr hier unten?« »Etwa zweitausend. Es sind jetzt nicht alle da. Doch sie werden kommen, denn vor ein paar Minuten hat Orbanaschol drastische Dinge verkündet. Lebo Axton schickt Spezialtruppen. Und die Leute aus der JERRAWON sind rasend vor Wut.« Die Jagd hatte also bereits begonnen. »Ich verstehe.« Kurz darauf erschien im mittleren Eingang ein junges, schlankes Mädchen mit einer hinreißenden Figur. Sie steckte in einer aufregenden, piratenhaften Kleidung. Knielange Stiefel, enge Hosen und ein breiter Gürtel, in dem ebenfalls eine schwere Flottenwaffe steckte, darüber einen weißen Pullover, der von einer dicken Goldkette geziert war. Sie trug ihr seidenweiches Haar bis weit über die Schultern und warf uns prüfende Blicke zu. Mit rauchiger Stimme sagte sie: »Ich bin der Kurier. Ach – hier sind Sie, Meister Kaarfux!« Sie kam mit energischen Schritten auf uns
Im Reich der Ausgestoßenen zu, schüttelte Kaarfux die Hand und blieb vor uns stehen. Fartuloon warf ihr einen seiner unverschämten Blicke zu und lächelte breit. »Und wir sind die hilflosen Geretteten, die sich Ihrer Obhut anvertrauen, schönster Kurier von Kutenarynd.« Er tätschelte gar nicht väterlich ihre Schulter. Sie schlug seine Finger zur Seite und erklärte ungerührt: »Ich soll Sie, Kristallprinz, von Fralwerc grüßen. Sie ebenfalls, Bauchaufschneider. Er möchte Sie in seinem Geheimquartier sehen. Ich bringe Sie dorthin.« Wir sahen uns in die Augen. Ich wurde aus der Art ihres Blickes und des Gesichtsausdrucks nicht ganz schlau. Sie witterte Aufregungen und Gefahren und machte uns dafür verantwortlich, nicht ganz zu Unrecht, wie mir schien. »Ich finde es nett, daß Sie sich zur Verfügung gestellt haben. Können wir gehen?« »Ja. Nennen Sie mich Yacori. Gehen wir.« Abermals begann ein längerer Marsch durch die Anlage der Ausgestoßenen. Zweimal kreuzte unser Weg einen Schacht der Röhrenbahn, und wir erkannten, daß es Mittel gab, die Ausgestoßenen auf diesem Weg zwischen hier und der »Oberwelt« pendeln zu lassen. Ihr Anführer mußte ein Mann von großer Raffinesse sein.
* Wir brauchten etwas weniger als eine Stunde, um das geheimnisvolle Hauptquartier der Ausgestoßenen von Celkar zu erreichen. Das bildhübsche Mädchen, das uns führte, unterhielt sich mit mir und Kaarfux, aber sie ignorierte Fartuloon. Das unterirdische Reich verteilte sich auf viele einzelne Stützpunkte. Sie waren untereinander durch schmale Gänge verbunden, die gesprengt, überflutet oder mit nachdrückendem Gestein gefüllt und auf diese Weise unbrauchbar gemacht werden konnten.
21 Man sagte und erklärte uns nichts, aber unsere Erfahrung mit solchen Schlupfwinkeln war groß genug. Wir erkannten, daß immer wieder öffentliche Versorgungslinien diese Korridore kreuzten; Röhrenbahnen, Wasserleitungen, Energiekabel und Nachrichtenleitungen, Abwässer und Serviceschächte. Ich war sicher, daß binnen verblüffend kurzer Zeit das gesamte System würde evakuiert werden können. Vielleicht erwies es sich in naher Zukunft sogar als notwendig, denn Orbanaschols Truppen würden sicher auf die Idee kommen, nach solchen Verstecken zu suchen. Dann, plötzlich, blieb Yacori stehen. »Fralwerc ist ein kranker Mann. Sie werden ihn sehen und erschrecken. Bitte, versuchen Sie, Ihr Erschrecken nicht allzu deutlich zu zeigen. Fralwerc ist auf seine Art ein guter, gerechter Anführer.« Kaarfux legte den Kopf schief und sah das Mädchen zweifelnd an. »Keiner von uns ist so dumm, als daß es dieser Ermahnung bedurft hätte«, sagte er scharf. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich meinte eigentlich mehr diesen fetten Prinzenerzieher, der mich mit seinen Augen auszieht.« Fartuloon stimmte ein dröhnendes Gelächter an, beugte sich blitzschnell nach vorn und hakte seine rechte Hand in den Gürtel des Mädchens. Dann hob er sie ohne sichtliche Anstrengung hoch und hielt sie am ausgestreckten Arm einige Minuten lang in der Luft, einen halben Meter über dem Boden. »Es ist kein Fett, Mädchen«, erklärte er jovial und lockerte plötzlich seinen Griff. »Alles Muskeln und Sehnen. In diesem Fall entspricht die körperliche auch der geistigen Stärke.« Sie taumelte bei dem Versuch, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, dann schüttelte sie den Kopf und lächelte Fartuloon schmelzend an. »Jetzt habe ich mich schon wieder geirrt. Trotzdem sind Sie ein Lüstling.« »Nur die Umstände verhindern es, daß ich
22 meinen wahren Charakter zeige. Los, Schwester, bringe uns zu deinem Boß!« »Genug der Tändeleien«, murmelte ich. »Wir wollen Gewißheit.« Jetzt erst sah ich die bewegliche Optik eines Meldesystems, deren Linsen sich auf uns richteten. Das Mädchen drehte sich herum, drückte einen Schalter hinein und sagte in ein Mikrophon: »Ich bin's, Fralwerc. Mit Kaarfux, Atlan und Fartuloon.« Eine heisere Stimme entgegnete: »Kommt herein.« Ein uraltes Sicherheitsschott schwang knarrend nach außen auf. Drei eingebaute Strahler bewegten sich im dicken Rahmen, aber als wir den ersten Schritt vorwärts taten, erloschen die stechend roten Betriebsanzeigen. Wir passierten den Durchstieg und betraten ein Vorzimmer, in dem drei verwegene Gestalten an der Wand lehnten, die Hände an den Kolben der Waffen. Mißtrauisch wurden wir betrachtet, aber das Mädchen winkte uns und stieß die nächste Tür auf. Der dahinterliegende Raum war relativ groß, wohnlich eingerichtet und roch stechend nach Schnaps und Medikamenten. »Willkommen, Kaarfux!« sagte der Mann hinter dem großen Schreibtisch, dessen Platte von allem nur denkbaren Gerumpel übersät war. »Danke. Ihre Organisation hat hervorragend funktioniert. Unsere Gäste: Kristallprinz Atlan und Bauchaufschneider Fartuloon. Ich denke, sie sind genügend bekannt; eine detaillierte Erklärung erübrigt sich wohl.« Fralwerc lachte keuchend und streckte die Hand aus. Ein dünner Handschuh bedeckte die Hand bis fast zum Ellenbogen. Das Mädchen war hinter ihn getreten und schob ihn näher an den Tisch heran. Jetzt sah ich erst, daß Fralwerc in einem Rollstuhl saß, einem halbrobotischen Mechanismus mit allen Schikanen. Fartuloon schüttelte die Hand, auch ich ergriff sie und sah Fralwerc an. Strahlenkrankheit, flüsterte der Logiksek-
Hans Kneifel tor. Der Mann, einst mittelgroß und breitschultrig, war ein Krüppel. Die Krankheit hatte seinen Körper verwüstet. Er war völlig entstellt. Wie er einmal ausgesehen haben mochte, war nicht mehr festzustellen. Ein kantiger Schädel, dessen Ohren angefressen und von schwarzgeränderten Löchern durchbohrt waren. Kein Haar wuchs mehr auf diesem Kopf, selbst die Wimpern und Augenlider wirkten wie angeklebt oder einoperiert. Längliche und kraterähnliche Narben bedeckten jeden Quadratzentimeter des Gesichts, die Nase zeigte die Spuren einer kürzlich vorgenommenen Transplantation. »Sie werden hier alles finden, was Sie brauchen«, krächzte Fralwerc. Ich bemerkte, daß Fartuloon ihn mit ungewöhnlicher Konzentration beobachtete. Ich senkte den Kopf und empfand nichts anderes als grenzenloses Mitleid mit diesem Krüppel. Selbst wenn er einst alles andere als ein Verbrecher gewesen war – dieses Aussehen stieß ihn von selbst aus der Gesellschaft aus und machte ihn in einem langen Prozeß aus Ablehnung, Chancenlosigkeit und Zwang zum Verbrecher. Es gab wenig Chancen für jemanden, der so gräßlich aussah, diesem Teufelskreis zu entkommen. »Ich danke Ihnen und Ihren Leuten, Fralwerc«, sagte ich leise und nicht ohne Verlegenheit, »für den herzlichen Empfang und die Hilfe. Wir fühlen uns, als wären wir von den Toten auferstanden.« »Das kann ich verstehen«, antwortete er. Fartuloon ertappte sich dabei, wie er ihn anstarrte, und gewann augenblicklich wieder die vollkommene Selbstkontrolle. Er stützte sich auf die Schreibtischkante, nachdem er dort Lesespulen, Medikamentenbehälter und einen kleinen Strahler zur Seite geschoben hatte. Sein Blick richtete sich wieder auf das Mädchen, das damit anfing, den Nacken Fralwercs zu massieren. »Sie können diese Nacht hier in der Nähe schlafen«, erklärte der Chef der Ausgestoßenen. »Wir haben immer Zimmer für unsere
Im Reich der Ausgestoßenen Gäste. Alles Notwendige und so. Aber morgen werden wir Sie an einen weitaus sichereren Ort bringen müssen.« »Einverstanden«, murmelte Fartuloon. Beide Hände des Ausgestoßenen waren von dünnen, weißen Handschuhen umgeben. Offensichtlich war die Haut mit Salben bestrichen, denn die halbdurchlässigen Handschuhe rochen nach Chemikalien oder Auszügen aus Heilkräutern. Eine weiche, sehr locker sitzende Jacke umhüllte den noch immer wuchtigen Oberkörper des Mannes. Er kauerte vorgebeugt in seinem Spezialstuhl und sah mich an, dann wieder wanderte sein Blick hinüber zu Fartuloon und zurück zu mir. Ich konnte den Ausdruck der großen, stark geröteten Augen nicht deuten, auch die Gesichtszüge waren von den Narben entstellt und ließen keinerlei Schlüsse zu. Unaufhörlich zuckte ein Nerv und zog den linken Mundwinkel hoch. Ab und zu bewegte Fralwerc die Schultern vorwärts und rückwärts. Er genoß die Massage von Yacoris Fingern. »Bedauern Sie mich nicht«, stieß Fralwerc plötzlich hervor. »Ich bin noch sehr beweglich. Diese verdammte Krankheit!« Er schob mit einem Ruck den Stuhl zurück und warf beinahe Yacori zur Seite. Dann sprang er auf und kam um den Tisch herum. Er war mittelgroß, aber die Krankheit zog seine rechte Schulter schräg nach vorn und nach unten. Er ging schwankend und breitbeinig, aber schnell. Auch die Kniegelenke konnte er nicht ganz durchdrücken. »Ihnen danke ich besonders, Kaarfux«, keuchte er. »Ohne Ihre Medikamente wäre ich schon tot oder wahnsinnig. Danke. Sie kamen immer regelmäßig. Und wer wird jetzt dafür sorgen? Sie können sich doch dort oben nicht mehr sehen lassen, Kaarfux?« »Dort oben«, sagte er in einem Ton, der uns schaudern machte. Die Sehnsucht nach Sonne und Luft, Wasser und Wind sprach aus dieser Betonung. Aber ein Mann von seinem Aussehen hatte kaum eine Möglich-
23 keit, sich dort zu zeigen. »Wie groß ist Ihr Vorrat?« fragte der Anwalt ruhig und hielt Fralwerc an den Ellbogen fest. »Er reicht vielleicht zwei Monate, nicht länger.« Kaarfux nickte und erklärte: »In zwei Monaten hat sich vieles geändert. Bleiben Sie ruhig. Ich verschaffe Ihnen, was Sie brauchen. Wenn ich mich nicht sehen lassen kann, so gibt es viele Möglichkeiten; ich habe mehrere Konten, die mit meinem Namen nicht in Verbindung gebracht werden können. Abgesehen davon: wir sind nicht nur vorübergehend besitzlos, sondern auch ohne Waffen. Sie können da sicher Abhilfe schaffen?« Fralwerc machte eine hölzern wirkende Bewegung und deutete auf die uralten Sessel vor dem Schreibtisch. »Sicher kann ich. Setzen Sie sich bitte – Entschuldigung.« Er schwankte zurück in seinen Sessel und schlug mit der flachen Hand auf einen Kontakt. Sofort öffnete sich in unserem Rücken die Tür, zwei Leibwächter stürzten mit gezogenen Waffen herein. Fralwerc bellte ihnen entgegen: »Laßt sie stecken! Das sind meine Freunde, ich bin nicht gefährdet. Hört zu – sie brauchen Waffen. Was wollen Sie?« wandte er sich an mich. Ich breitete vielsagend die Arme aus und erwiderte lächelnd: »Handlich, nicht zu groß, nach Möglichkeit eingeschossen und mit einem ganz vollen Magazin und Waffengurt. Nicht wahr?« »Schocker oder etwas Tödliches?« wollte er wissen. »Strahler. Das entspricht dem Risiko, das wir im Augenblick tragen«, meinte der Bauchaufschneider. Trotz der merkwürdigen Umgebung und der Ruine, die uns gegenüber im Sessel kauerte, hielt unsere gute Stimmung noch immer an. Fralwerc machte eine befehlende Geste in Richtung der beiden Leibwächter, drehte unter Schmerzen den Kopf und fragte den An-
24 walt: »Sie auch, Meister?« »Ja, bitte. Ich fühle mich sicherer so. Kein zu großes Modell!« »Ihr habt es gehört. Bringt das Spielzeug, Kameraden!« keuchte Fralwerc. Seine Stimme paßte zum Aussehen seines Gesichts und zu seiner verkrüppelten Gestalt. Die Männer verschwanden schnell und fast lautlos. Ich begann mich zu fragen, auf welche Weise Fralwerc seine Autorität zeigte. Nackte, brutale Gewalt schien es nicht zu sein, dafür hatten wir keinerlei Anzeichen gesehen. »Gleich haben Sie die Waffen«, sagte er leise. Offensichtlich bereitete ihm auch das Sprechen Schmerzen. Wieder merkte ich – es gab viele untrügliche Anzeichen, die nur ich kannte, weil wir ein aufeinander eingeschworenes Team waren –, daß Fartuloon diesen narbenzerfressenen Krüppel mit geradezu wissenschaftlicher Neugierde studierte. Und schließlich, nach einigen Sekunden schweigender Überlegung, wußte auch ich mit untrüglicher Sicherheit, daß ich auf irgendeine Weise diesen Mann auch kannte. Ich hatte ihn gesehen. Wo und wann? Mein photographisch exaktes Gedächtnis ließ mich im Stich. Die Vermutung lag nahe, daß es erstens vor langer Zeit gewesen sein mußte, und daß zweitens die Narben und die Spuren der Strahlenkrankheit die Erinnerung beeinflußten. Ich war aber sicher, daß es mir irgendwann einfallen würde. Ich wußte nur nicht, wann es mir einfallen würde, und ich ahnte auch nicht, ob es eine positive oder negative Erinnerung sein würde. Verschiebe die Klärung. Es gibt im Moment wichtigere Dinge, erklärte der Logiksektor. »Abgesehen davon«, fing Fartuloon an und zeigte das entspannte Gesicht, das jeder von ihm erwarten würde, »daß wir Ihnen jede denkbare Menge Dank schulden … aber wo werden wir diese Nacht untergebracht? Und wie sehen Sie, Fralwerc, die Chancen für uns beide, diesen Planeten zu verlassen?«
Hans Kneifel Fralwerc lehnte sich zurück, und das Mädchen, das bisher alles schweigend mitangesehen und gehört hatte, begann wortlos wieder damit, seinen Nacken und die Schulterpartie zu massieren. Es war eine ziemlich makabre Situation. »Sie bekommen heute die beiden besten Räume, die hier in der Nähe sind. Wir befinden uns direkt unterhalb des alten Raumhafengeländes. Hier wird niemand suchen, weder mit Truppen noch mit bestimmten Geräten. Und überdies ist der Boden derart verdichtet und von alten Bauresten durchsetzt, daß man auch nichts finden würde.« Er machte eine Pause und atmete schwer. »Aber es gibt hier ein Dutzend Stellen, an denen Leute von uns an die Außenwelt wechseln können. Diese Löcher sind gefährdet. Heute nacht wird niemand diese Punkte finden, aber je mehr Zeit vergeht, desto unsicherer wird der Platz. Morgen werden wir Sie in die Nähe des Industriegebietes und der Schadstoffumwandler bringen. Dort sind Sie für Wochen sicher.« Die beiden Männer kamen wieder herein und reichten uns die Waffen. Fartuloon und ich prüften die tödlichen Strahler und die Magazine. Es waren Waffen, die gebraucht worden waren, und die Energiemagazine zeigten volle Ladung an. Schweigend schnallten wir uns die Gurte um. Kaarfux unterließ die Prüfung und befestigte den Gurt um seine Hüften. »Das hört sich gut an!« meinte ich. »Und nun zum letzten Satz meiner Frage: wie hoch sind unsere Chancen?« »Sie sind nicht schlecht«, erwiderte Kaarfux und gähnte plötzlich. »Wie das?« Der Anwalt blickte Fartuloon an und erklärte: »Natürlich können Sie sich die Möglichkeit, den Planeten mit einem offiziellen Schiff zu verlassen, aus dem Kopf schlagen. Es geht nur unter bester Tarnung, auf geheimnisvollen Umwegen und günstigstenfalls mit einem Trampschiff oder einem
Im Reich der Ausgestoßenen Handelsraumer. Auf alle Fälle werden Fralwerc und ich Ihnen weiterhelfen. Wir haben unsere Verbindungen. Es ist uns allen klar, daß Sie desto mehr gefährdet sind, je länger Sie sich auf Celkar aufhalten.« »Ich sehe, wir reden dieselbe Sprache«, bestätigte Fartuloon und nickte. »Und jetzt nur noch ein kleines Abendessen und ein langer, erquickender Schlaf. Und schon sind wir morgen früh wieder unternehmungslustig und voller überschäumender Ideen.« Ich brummte: »Du übertreibst.« Yacori hörte auf, den Nacken ihres Chefs zu massieren. Fralwerc lachte stoßweise und entblößte eine Menge schadhafter Zähne. Dann stand er auf, drückte wieder auf den Rufknopf und sagte, als einer der Männer eingetreten war: »Bringe du sie in das Quartier. Nur das Beste, hörst du? Und Yacori hier wird sich um ein genießbares Essen kümmern. Nicht dieses Zeug, das man mir jeden Abend vorsetzt.« Mit einem Gesichtsausdruck, der eine Unmenge von Geduld ausdrückte, gab Yacori zurück: »Sie wissen ganz genau, Chef, daß Sie nichts anderes essen dürfen. Alles andere würde Sie umbringen oder krank machen.« Er winkte ab. »Schon gut. Unsere Gäste … behandelt sie gut, solange sie hier sind. Und jetzt raus mit euch allen.« Nacheinander verließen wir den Raum. Bereits im Vorzimmer herrschte eine vergleichsweise gelockerte, heitere Stimmung. Hinter uns blieben das Schicksal dieses Krüppels und die vielfältigen Gerüche und Stimmungen, von denen nichts sympathisch oder gelöst war. Der Leibwächter führte uns über einen schmalen Korridor, öffnete nacheinander drei Türen und gab uns die Wahl, wer welchen Raum beziehen würde. Natürlich entschieden sich Fartuloon und ich, nebeneinanderliegende Zimmer auszuwählen. Das Mädchen lehnte sich an die Wand, warf jedem von uns einen langen, schwer zu deu-
25 tenden Blick zu und meinte leise: »In einer Stunde hole ich Sie ab. Wir werden uns bemühen.« Fartuloon grinste diabolisch. »Ziehen Sie ein Kleid an, daß Ihren hinreißenden Körper noch besser zur Geltung bringt, schönste Yacori. Mir zuliebe.« Sie antwortete ihm mit einem Fluch, der seinesgleichen suchte, drehte sich um und ging schnell weg. Zehn Minuten später klopfte es an meine Tür. Ich hatte mir die Stiefel ausgezogen und mich auf der Liege ausgestreckt. »Ja?« »Ich bin's, dein väterlicher Freund.« »Nur herein.« Fartuloon schob sich in mein Zimmer, zog mit dem bloßen Fuß einen klapprigen Stuhl herbei und machte das Zeichen, das in unserer Verständigungsart nichts anderes besagte, als daß er sicher sei, nicht abgehört zu werden. Vermutlich hatte er seinen Raum dahingehend getestet. »Nun? Was meinst du?« fragte er scheinheilig. »Ich meine, daß du dich auffallend für Fralwerc interessiert hast. Ich meine ferner«, sagte ich leise, »daß auch ich den Eindruck habe, ihn irgendwoher zu kennen. Richtig?« Er lehnte sich zufrieden zurück und spreizte die Finger. »Vollkommen richtig. Mir kommt er bekannt vor. Aber ich kann nicht sagen, wo und wann ich ihn gesehen habe. Es ist sogar möglich, daß ich ihn vom Bildschirm her kenne. Auf keinen Fall ist die Erinnerung frisch. Natürlich hat ihn die Strahlenkrankheit bis zur Unkenntlichkeit verändert.« »Das habe auch ich gedacht. Abwarten?« Er nickte unruhig. »Beobachten und abwarten. Stets skeptisch bleiben. Wir sind dafür auserwählt, von einer Gefahr in die andere zu stolpern. Eine Gefahr haben wir eben haarscharf hinter uns gebracht, also lauert die nächste bereits auf uns.« »Einverstanden. Wie fühlst du dich?« Fartuloon kratzte sich im Nacken. Er
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knurrte verdrießlich: »Dieses kaltschnäuzige Geschöpf, diese Yacori! Sie ist völlig immun gegen meinen Charme. Und gerade jetzt brauche ich Schönheit um mich, Jugend und jede Menge wohlwollendes Entgegenkommen. Noch ist Zeit – ich werde mich beim zeremoniellen Abendessen geradezu übertreffen und turmhoch über mich hinauswachsen.« »Viel Glück.« Er nickte ernsthaft. Ich wußte, daß er zu einem guten Teil schauspielerte, aber andererseits verstand ich ihn völlig. Seit einer Zeit, die undenkbar weit zurücklag, kannten wir nichts anderes als aufregende Abenteuer und ständige Todesgefahr. Für den Augenblick waren wir sicher, wenigstens schien es so. Trotzdem war auch jetzt und hier Mißtrauen und Vorsicht am Platz.
6. Seine eigene Geschichte hatte ihn eingeholt. Heute zum zweitenmal. Er befand sich auf der Bahn des Verbrechens und der Hinterlist, und heute war seine allerletzte Möglichkeit, diese Straße zu verlassen, fehlgeschlagen. Er bewunderte sich fast, daß er es so lange ausgehalten hatte. Unzufriedenheit mit seinem Schicksal, das Bewußtsein, abermals einer Situation gegenüberzustehen, die ihn in mörderischen Zugzwang brachte, die Resignation über dieses unwillkommene Wiedersehen – alle diese Empfindungen schlugen ihn wie mit Hämmern. Er war im Moment allein. Noch schützte ihn seine Tarnung. Er lachte bitter auf. Seine Tarnung verdankte er seiner Krankheit, die ihn verstümmelt und verkrüppelt hatte. Bestenfalls Mitleid; dies war die edelste Regung, die er in anderen Geschöpfen hervorrufen konnte. Mit Hilfe von Mitleid und dem Unvermögen, einem Krüppel wie ihm etwas anzutun, verdankte er seine Position als Oberster Verbrecher und Herrscher aller Ausgestoßenen.
Nicht einmal sein Name war echt. Er war nicht Fralwerc, obwohl nur zwei Personen auf diesem Planeten seinen wahren Namen überhaupt einmal gehört hatten. Gäbe es diese beiden Personen nicht, würde er sein Inkognito bis zu seinem sicherlich nicht mehr sehr fernen Tod behalten. In dieser Sekunde faßte Psollien alias Fralwerc den Entschluß, diese beiden Zeugen zu beseitigen. Zum erstenmal dachte er seit langer Zeit wieder an kaltblütigen Mord. Keuchend atmete er ein und aus und zwang sich zur Ruhe. »Hätten sie mich erkannt«, sagte er sich leise und dachte daran, daß er ohne Helfer würde töten müssen, »würde ich nicht mehr leben. Meine Krankheit hat mich beschützt.« Vor nicht allzu langer Zeit war er Jagdaufseher des Planeten gewesen, auf dem Gonozal VII. getötet worden war, Heng, Orbanaschol, Sofgart, Offantur und er hatten den tödlichen Anschlag geplant und ausgeführt. Man hatte ihn, Psollien, mit dem Gouverneursamt von Erskomier belohnt. ERSKOMIER! Alte Bilder tauchten in seiner Vorstellung auf. Der junge, nichtsahnende Kristallprinz, Fartuloon, der Leibarzt, Vertraute und »Bauchaufschneider«, der blitzschnell und richtig, für ihn aber höchst verderblich reagiert hatte, der tote Imperator und die Panik, als ihr Plan fast fehlgeschlagen wäre. Nur noch zwei Verschwörer lebten. Wie lange noch? Orbanaschol und er, Psollien. Seit mehreren Jahren erinnerte er sich wieder an seinen eigenen Namen. Versuchte, aus seiner Mitwisserschaft Kapital zu schlagen. Es war nicht viel, was er von Orbanaschol wollte, aber der Imperator reagierte schnell und hart. Er wollte sich des letzten überlebenden Mitwissers entledigen und ließ ihn verfolgen. Krankheit und Flucht! Zwei Schicksalsschläge fast gleichzeitig! Die Flucht beraubte ihn seines Besitzes und seiner Macht. Die Krankheit stahl ihm die Gesundheit, das normale Aussehen und tarnte ihn gleicher-
Im Reich der Ausgestoßenen maßen. Nach einer langen und abenteuerlichen Irrfahrt landete er im Untergrund von Celkar. Kaarfux hatte ihm nichtsahnend das Leben gerettet und ihm zu einer neuen Identität verholfen, teilweise aus echtem Mitleid und teilweise deswegen, weil er von ihm Informationen von unschätzbarem Wert erhielt und die Hilfe der Unterweltler, wenn es nötig war, einen Angeklagten vor dem Tod zu retten. Ein Wort von Kaarfux, und sie holten ihn, um ihn hinzurichten. Oder nur eine deutliche Verärgerung – die Möglichkeit, die er zu kalkulieren hatte, wenn er den Starverteidiger beleidigte – und die Medikamente blieben aus, die sein jämmerliches Leben sicherten. Bis heute war es ruhig gewesen. Es gab nichts anderes als die gewöhnlichen Probleme, die mit zweitausend Personen im Untergrund einhergingen. Und jetzt tauchten die Schatten der Vergangenheit auf. Fartuloon und Atlan. Sie würden den Tod Gonozals rächen, ganz ohne Zweifel. Sie hatten auch allen Grund dazu. Er selbst würde nicht anders handeln; denn er hatte verschuldet, daß auch sie ebenso gejagt und verfolgt wurden, daß der Diktator sich ihrer ebenso wie seiner selbst entledigen wollte, und schließlich war er es auch gewesen, der die Thronfolge des Kristallprinzen mit einem feigen Mord verhindert hatte. Konnte er von ihnen Gnade erwarten? Nein. Was war zu tun? Tod. Er konnte hinübergehen und sie umbringen. Oder er konnte seine Leute schicken, die ihm womöglich nicht gehorchen würden, weil sie trotz ihres Status auf Seiten der zwei Rebellen standen. Also: nein. Er wußte, daß ihm niemand diese dreckige Arbeit abnehmen konnte. Er mußte tatsächlich allein handeln. Irgendeine Überlegung flüsterte ihm zu:
27 DER SÄURESEE. Ein riesiges unterirdisches Becken, in das die Abfälle der chemischen Industriebetriebe flossen, bevor sie umgewandelt wurden. Wer in diesen See fiel, starb wenige Sekunden später eines gräßlichen Todes. Das war es! Natürlich kannte er hier jeden Quadratzentimeter sämtlicher Anlagen. Sein Spezialsessel war schnell und kräftig; auch die Spezialbatterien wurden von Kaarfux mit den 777 Tricks finanziert, jene kleinen, kompakten Energiezellen. Mit Hilfe dieses Werkzeugs und vielleicht einer geräuschgedämpften Waffe konnte er Fartuloon und den jungen Atlan in den öligen, stinkenden See werfen. Dann: ein paar Sekunden, und das Problem war für immer beseitigt. Wie? Wann? An welcher Stelle? Er zuckte zusammen, weil wieder ein Stück Haut mitten auf dem Rücken teuflisch zu jucken und zu schmerzen begann. Niemand durfte etwas ahnen oder merken. Auch nicht Yacori, die wohl seine treueste Anhängerin war. Wenn er die Blicke richtig deutete, mit denen sie diesen Bauchaufschneider angestarrt hatte, dann wußte er, daß er von ihr keinerlei Unterstützung zu erwarten hatte. Er begann kalt und ruhig zu planen. Bis zum Essen blieb ihm noch Zeit. Und dann die ganze Nacht, um den Plan in sämtlichen Einzelheiten durchzuarbeiten. Und morgen würde er ihnen das neue Quartier selbst anweisen, als Zeichen für sein Entgegenkommen und die Wichtigkeit der Gäste. Hervorragend, für den ersten Moment. Nur gut, daß er heute bereits vom Gelände des alten Raumhafengeländes gesprochen hatte. Direkt darunter befand sich der See aus Gift und Säure. Sie durften ihn während des Essens nicht erkennen. Wenn er nicht erschien, würden sie mißtrauisch werden. Kaarfux: das nächste Problem. Er mußte am Leben bleiben, denn er war die Garantie dafür, daß die Ausgestoßenen überlebten und daß er, Psollien – NEIN! Fralwerc hieß
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er! –, noch einige Jahre Herrscher der Unterwelt bleiben konnte. Medikamente, nahezu unbeschränkte Zuwendungen an wichtigen Lebensmitteln und Ausrüstungsgegenständen, die Möglichkeit, die Polizisten zu bestechen, falls sie einmal einen der Ausgestoßenen fingen, der Versuch, mit Hilfe des gerissenen Anwalts nach dem Tod des Diktators wieder Sonnenlicht und den blauen Himmel zu sehen … aus diesem Grund durfte Kaarfux weder angetastet werden noch die geringste Kleinigkeit merken oder auch nur Verdacht schöpfen! Also mußte er es ganz allein durchführen. Eine neue Variante fiel ihm ein. Er war nicht froh darüber, aber die Alternative war für ihn klar und eindeutig: er oder sie. Als das Mädchen hereinkam, um ihn zum Essen zu bitten und dafür zu sorgen, daß er sich nicht die falschen Gerichte auf den Teller häufen ließ, war seine Verwirrung vorbei. Er hatte sich fest entschlossen. Atlan und Fartuloon mußten sterben, und es würde morgen früh geschehen.
* Kurz vor Ende des Essens wurden wir unterbrochen. Einer der Leibwächter kam herein und sagte leise, aber in besorgtem Tonfall: »Chef! Besorgniserregende Nachrichten von oben. Sie greifen hart durch!« Nur Fartuloon, das Mädchen, Fralwerc und ich saßen noch am Tisch; Kaarfux war aufgestanden und öffnete gerade eine alt aussehende Flasche. Der Anführer der Ausgestoßenen legte den Kopf schräg und blinzelte seinen Adjutanten an. »Gefährlich, ja?« »Ja. Wir haben eine Sendung mitgeschnitten. Unaufhörlich berichtet Arkon-Vision von den Zuständen.« »Gut. Spiele sie auf diesen Bildschirm hier. Unsere Gäste sollen erfahren und miterleben, in welcher Gefahr wir seit Jahrzehnten leben müssen.« Ich leerte meinen Teller, schob ihn zurück
und drehte meinen knarrenden Stuhl, so daß ich auf den Bildschirm sehen konnte. Fartuloon nickte mir zu. Er hatte den gesamten Abend lang unausgesetzt Fralwerc beobachtet. Der Leibwächter schloß die Tür. Sekunden später baute sich das Bild auf dem Schirm auf. Zuerst wurde der Gerichtssaal gezeigt. Der Sprecher sagte, daß bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt siebzig Bewußtlose und vierzig Getötete aus dem Saal geborgen worden waren. Im Augenblick gäbe es noch keine genaue Zählung. Es war unklar, wieviel davon Gefangene und wie viele getötete oder geschockte Soldaten und Wächter waren. Es wurden ausführlich die Kampfspuren gezeigt, die Einschüsse, die Brandflecken und die Reste von Wasser und Löschmitteln. Überall waren Sessel aus den Verankerungen gerissen oder Sitzschalen zerbrochen worden. Immer wieder schwebten Maschinen durch das Bild, die Ausbesserungsarbeiten vornahmen oder Material transportierten. Längere Zeit verweilte das Bild auf der offenstehenden, schmalen Tür zu den Übertragungsräumen, an denen der junge Reporter Ches Prinkmon den Tod gefunden hatte. Dann, als der Sprecher anfing, die Arbeiten zu schildern, die man unternahm, um den Fluchtweg freizubekommen, lachte Kaarfux auf. »Sie sollten es gar nicht erst versuchen«, sagte er. »Aber natürlich werden sie irgendwann diesen Stollen freigelegt haben.« »Und wo sind sie dann?« krächzte Fralwerc und legte zwei Finger an sein Ohr. »Sie sind in der alten Kanalisation!« Er lachte mißtönend. Die Öffnung unterhalb der Richterbank war wieder verschlossen worden. Aber man würde von den dahinterliegenden Räumen vordringen, hieß es in dem Bericht. Eine Vielzahl von Gefangenen sei, bewaffnet oder unbewaffnet, aus dem Gerichtssaal geflohen. Man fahndete im Großeinsatz nach ihnen. Die Bildfolge wechselte. Die Kamera fing die JERRAWON ein.
Im Reich der Ausgestoßenen Dort verließen Mannschaften in leichten Kampfanzügen die Luken und die Polschleuse. Diese Reportage war schon, wie der Sprecher ausführte, einige Stunden alt. Es wurde gezeigt, wie überall in der Stadt Polizeiverbände zusammengezogen wurden und systematisch, von Hundertschaften schnell aktivierter Robots unterstützt, Häuser, Straßen und Anlagen durchkämmten und Röhrenbahnstationen ebenso wie öffentliche Plätze und Lokale durchsuchten. Verdächtige Personen wurden in große Transportgleiter verladen. Überall standen bewaffnete Polizisten herum und redeten auf die aufgeregten Bürger ein. Hin und wieder dröhnte ein Schuß auf. Eine andere Szene: Ein luxuriöses, aber keineswegs großes Büro. Eine Wand wurde von Monitoren und Signalanlagen ausgefüllt. Hinter einem Schreibtisch stand ein hagerer Arkonide auf, in eine helle Uniform gekleidet. Der Nachrichtensprecher sagte, daß dies der verantwortliche Chef des Raumhafens Inselkontinent Bassakutena war. Der Chef nickte auf die Frage des Reporters und sagte: »Natürlich habe ich augenblicklich, nachdem ich den versuchten Ausbruch der Verräter von Serrogat im Fernsehen miterlebt habe, den Raumhafen sperren, abriegeln und jeden Start stoppen lassen. Seit diesem Moment sind drei Schiffe gestartet, Handelsschiffe. Unsere Beamten haben sie bis in den letzten Winkel durchsucht. Ich kann die Bürger und die Gerichte beruhigen: es wird kein einziger Gefangener die Chance haben, auf dem Weg über unseren Raumhafen den Planeten zu verlassen.« Der Reporter erkundigte sich zur Sicherheit ein zweitesmal: »Sie haben also den Raumhafen gesperrt? Landungen werden gestattet, Starts sind nur mit Sondererlaubnis und nach Durchsuchung von Schiff und Ladung möglich?« »Jawohl. So verhält es sich.« Kaarfux kicherte wieder verhalten. Er schien eine für sein Alter unangemessene
29 Freude an diesem Versteckspiel zu haben. Inzwischen kannten wir diesen Mann etwas besser. Er war tatsächlich ein scharfer Denker mit einem überlegenen Verstand. Ich glaubte erkannt zu haben, daß ihm auch der Umstand nicht entgangen war, daß Fartuloon und ich Fralwerc besonders intensiv beobachteten. »Es gibt immer Mittel und Wege, Noor!« brummte er. »Sie würden sich wundern, Herr Raumhafenchef!« Fralwerc zog die Schultern hoch und keuchte: »Schlechte Zeiten brechen herein. Ich habe allen von uns die Nachricht zukommen lassen, daß sie hierher zurückkommen. Ich meine, daß sie die Oberfläche verlassen. Hoffentlich kommen sie nicht in eine Kontrolle.« »Sie haben sich ein Jahrzehnt lang nicht gefürchtet, Herrscher der Unterwelt«, schränkte Kaarfux in grobem Tonfall ein. »Fürchten Sie sich jetzt, obwohl die fähigsten Rebellen des Imperiums bei Ihnen sind?« Fralwerc schwieg und warf uns lange, von tiefem Mißtrauen erfüllte Blicke zu. Grundlos lächelte Fartuloon das Mädchen Yacori an, und ausnahmsweise antwortete sie nicht mit einem Fluch. Wieder zeigte der Bildschirm eine neue Folge von Aufnahmen. Der Richter Thorm von Daccsnor wurde interviewt. Der Reporter fragte: »Mir wurde berichtet, daß es seit dem Bau der ›Arena der Gerechtigkeit‹ immer wieder dieselben Gerüchte gibt. Die Arena steht teilweise auf uralten Fundamenten der Gründerzeit. Es soll dort ein Netz von Kanälen, Gängen und Fluchtwegen geben. Bisher hat jede Behörde eine Stellungnahme verweigert. Aber die Flucht des Verteidigers Kaarfux mit Fartuloon und dem Kristallprinzen hat wohl jedem gezeigt, daß es doch solche Gänge geben muß?« Vorsichtig erwiderte der Richter, der nunmehr Ogors Gerichtsakten hatte schließen müssen:
30 »Kaarfux und ich erlebten den Bau der ›Arena‹ seinerzeit mit. Aber ich weiß nichts von einem oder mehreren unterplanetarischen Gängen. Allerdings ist mir bekannt, daß beim Aushub für die Fundamentierungsarbeiten alte Gebäudereste gefunden wurden. Kaarfux war nach meiner Erinnerung damals Sekretär oder Referendar der Stadtverwaltung. Die Stadtverwaltung hat natürlich damals viel mehr Einblick in die Bauvorhaben gehabt als die juristische Abteilung. Ich bedaure, aber ich kann Ihnen nichts Erhellendes sagen. Sicher ist jedoch, daß zumindest ein Tunnel existiert. Oder existiert hat, bis Lekos detoniert ist.« »Zu diesem Thema wollten wir Sie auch noch befragen. Lekos wurde von Kaarfux als juristischer Berater bezeichnet. Geheimnisvoll der Inhalt dieses Roboters, ausgesprochen witzig und auffallend das Aussehen. Was halten Sie von Lekos, Richter von Daccsnor?« Thorm meinte vorsichtig abwägend: »Kaarfux ist ein glänzender Psychologe. Daher auch sein Beiname ›mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks‹. Ich kenne Lekos nicht, aber ich bin überzeugt, daß es ein normaler Roboter war, dessen Wortschatz viele juristische Begriffe enthielt, eine Auswahlschaltung für geschraubte Satzbauweise und darüber hinaus die Kybernetik eines guten Servorobots, eines Hausdiener-Robots etwa. Mehr war mit diesem rostigen Kasten nicht los. Die geradezu bestürzend antiken Leuchtfelder waren nur ein Gag, der optisch viel hermachte, in Wirklichkeit aber nichts bedeutete. Allerdings bedeuteten die blendenden Lichterscheinungen und der Umstand, daß sowohl die Auslöseanlage für den Geheimtunnel und die integrierte Bombe innerhalb des Robots untergebracht waren, für jeden von uns eine Überraschung.« »Mit anderen Worten«, schloß der Reporter ab, »Sie können uns nichts Wichtiges sagen, Richter?« »Ich bedaure«, erklärte Thorm von Daccsnor. Kaarfux lächelte grimmig und nickte, die
Hans Kneifel Sendung widerwillig und mit achtungsvoller Ruhe kommentierend. »Gut erkannt!« sagte er nur. Die letzte Folge von Kurzberichten zeigte wieder die Stadt und die nähere Umgebung. Inzwischen war es Nacht geworden. Überall flammten Scheinwerferbatterien auf. Roboter bildeten wieder lange Ketten und errichteten Energiezäune, langsam die betreffenden Gebiete, Häuser oder Plätze einkreisend und abriegelnd. Die Straßen waren leer und glänzten im Licht der Lampen; ein leichter Regen war niedergegangen. Überall warfen die Drehlichter der Polizeigleiter mehrfarbige Reflexe an die Mauern. Arkoniden flüchteten und wurden eingeholt und verhaftet. Noch immer ertönten die Geräusche weit entfernter Schüsse. Die Polizisten der Stadt verhielten sich zurückhaltend und etwas unsicher. Sie hatten offensichtlich solche Unternehmungen zu selten oder gar nicht geübt. Aber die Raumsoldaten gingen mit großer Routine und Sicherheit vor. Immer wieder konnten die Zuschauer sehen, wie einzelne Personen zu flüchten versuchten. Die Raumsoldaten gingen keine Risiken ein. Sie feuerten augenblicklich aus ihren schweren Schockwaffen und überließen es den Robotern, die Zusammengebrochenen abzutransportieren. Es wurde eine Razzia in einem Großhotel kurz gezeigt. Scharen von Verdächtigen wurden überprüft, überall breiteten sich Chaos und Panik aus. Natürlich waren noch keine Helfer eingetroffen, und das bedeutete, daß ununterbrochen tagelang gesucht und verfolgt werden würde. »Es sieht tatsächlich nicht gut aus«, gab Fartuloon zu, als die Sendung beendet war. »Aber trotzdem beabsichtige ich heute Nacht gut zu schlafen.« Fralwerc ließ seinen Spezialschwebesessel einen Meter weit rückwärts schweben, indem er mit der linken Hand den schweren Steuerknüppel bewegte. »Ich wecke Sie morgen. Nach einem kurzen Frühstück bringe ich Sie dann an einen sicheren Ort. Er hat sogar einen Geheimaus-
Im Reich der Ausgestoßenen gang nach oben.« »Einverstanden«, sagte ich. »Und was werden Sie tun, Kaarfux?« Kaarfux sah auf seine Uhr und schien sich bereits einen Plan zurechtgelegt zu haben. »Ich gehe heute Nacht nach oben. Ich kenne einen Weg zu meinem Haus, und auch dieses Haus ist nicht ganz ohne Überraschungen. Von dort aus werde ich versuchen, Ihnen den Fluchtweg durch den Raum zu öffnen. Wenn Sie einmal ein Lichtjahr von Celkar entfernt sind, können Sie sich als in Sicherheit betrachten.« »Das riskieren Sie?« fuhr Fralwerc auf. »Glauben Sie es nicht? Wohin führen die nächstgelegenen Fluchtwege?« Auch Fralwerc brauchte nicht mehr zu überlegen. Er sagte schnell: »Einer in die Maschinenkammer der Station zwischen Raumhafen und Stadt, der andere in den Waldgürtel im Norden, der dritte endet in einer Anglerhütte eines Öffentlichen Anklägers am Sandron-See.« Kaarfux wandte sich an Yacori. »Können Sie mich in diese Hütte bringen? Von dort ist es nicht weit bis zu meinem Haus, und schließlich bin ich ein alter Mann, der nicht mehr so gut laufen kann. Ich nehme dann denselben Weg und bin morgen nach dem Frühstück wieder bei Ihnen. Einverstanden?« fragte er, uns beide anblickend. »Natürlich. Und … begeben Sie sich nicht unnötig in Gefahr!« sagte ich leise, überrascht von soviel Mut und Risikofreude. Er setzte wirklich sein Leben für uns ein, dieser kalt und nüchtern erscheinende Mann mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck. »Keine Sorge. Ich komme zurück!« Kein Mißtrauen! Er weiß genau, was er tut, sagte der Logiksektor. Fralwerc drehte seinen Sessel. Yacori stellte sich auf ein schmales Trittbrett hinter seinem Rücken und hielt sich an einem Griff fest. Summend glitt das Gefährt zur Tür und aus dem kleinen Raum. Vor der Tür drehte Fralwerc den Mechanismus auf der Stelle, sah uns nacheinander aus seinen roten, dü-
31 ster glühenden Augen an und stieß einige Worte hervor. Jedes einzelne schien ihm Beschwerden zu bereiten. »Schlafen Sie gut. Es wird alles … zum richtigen Ende kommen.« Er verließ das Zimmer, und wir starrten ihm einigermaßen fassungslos nach. Als sich die Tür geschlossen hatte, setzte sich Kaarfux wieder und fragte leise: »Sie, Fartuloon, haben Fralwerc besonders lange und scharf beobachtet. Ich setze voraus, daß Sie über das normale Interesse hinaus einen Grund dafür haben. Kann ich ihn wissen?« Ehe Fartuloon antworten konnte, hob Kaarfux die Hand und fügte schnell hinzu: »Ich bin unparteiisch. Ich stehe zu meinem Versprechen, und ich kooperiere nur aus pragmatischen Gründen mit den Ausgestoßenen. Ich dulde auch unter den drastisch veränderten Umständen gewisse Überlegungen nicht und bemühe mich, beiden Teilen gerecht zu bleiben. Sehen Sie klar, Bauchaufschneider?« Fartuloon grinste; es war ein Wortwechsel nach seinem Geschmack. »Ich akzeptiere Ihre Vorbehalte und Ihre Neugierde. Ja, wir beide beobachten Fralwerc besonders scharf. Der Grund: er erinnert uns an jemanden, den wir gut kannten. Es muß lange Zeit her sein, und die Krankheit hat natürlich das Aussehen verändert und macht das Wiedererkennen fast unmöglich.« »Da wir aber über einschlägige Erfahrungen in überreichem Maß verfügen, nehmen wir an, daß die Erinnerungen keineswegs positiv sein werden. Früher oder später werden wir es erfahren, an wen uns Fralwerc erinnert.« »Zweifellos. Fühlen Sie sich bedroht, Kristallprinz?« Ich schüttelte den Kopf. Im selben Augenblick kam das Mädchen zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. »Wenn Sie einige Ausrüstungsgegenstände brauchen, Meister Kaarfux, dann kom-
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Hans Kneifel
men Sie bitte«, sagte sie. »Ich bringe Sie zum Fluchtgang. Wollen Sie mich mitnehmen, damit Sie etwas Hilfe haben?« Kaarfux stimmte zu. Er wußte, daß sie ihn irgendwie kontrollieren wollte, aber er schien nichts dagegen zu haben. »Gut. Gehen wir. Voraussetzung für rechtzeitige Rückkehr ist zielstrebiges Handeln.« Wir verließen den Raum, verabschiedeten uns im Korridor voneinander und gingen in zwei verschiedene Richtungen auseinander. Ich schlief ein, die Hand um den Kolben der Waffe unter dem Kissen. Aber ich blieb ungestört, bis mich das Hämmern einer Faust an die Tür weckte.
7. Der Spezialsessel bremste summend und wurde um neunzig Grad gedreht. Fralwerc zeigte starke Nervosität. »Haben Sie alles mitgenommen? Nichts vergessen? Sind Sie vorbereitet?« »Natürlich«, erwiderte Fartuloon. Wir hatten etwa fünfzig Meter zurückgelegt. Hier schien sich ein sehr alter Teil des subplanetarischen Systems zu erstrecken. Die Korridore waren breiter und teilweise gemauert, und es breitete sich ein stechender Geruch aus. In der Luft hing wieder das leise Brummen und Dröhnen irgendwelcher Maschinen. Im Schutz unterplanetarer Fundamente bewegten sie uns in eine Richtung, die wir nicht einmal erahnen konnten. »Ganz sicher?« fragte Fralwerc wieder. Der Boden senkte sich ein wenig. Die Lampen waren hier in weitaus größeren Abständen an der Wand und der Decke befestigt. Der chromfunkelnde Sessel glitt vor uns langsam dahin. Fralwerc hatte eine schwere Decke über seine Knie gebreitet und steuerte geschickt mit der Linken. »Ja. Wir sind ganz sicher. Wir haben nur die Waffen und unsere gereinigten Overalls«, erwiderte ich und trottete weiter. Bisher hatten wir nicht einen einzigen Ausgestoßenen gesehen, aber weit vor uns, am En-
de des schmutzigen Stollens, erkannten wir bewegte Lichter und Gestalten. »Wie weit noch?« fragte Fartuloon. »Eine knappe Stunde. Es geht nicht so schnell. Sie wird schwieriger, die Strecke.« »Ich sehe.« Der Stollen führte gerade abwärts. Dann erkannten wir mächtige Rohre, die aussahen, als würden sie aus keramikbeschichtetem Stahl bestehen. Sie kamen aus dem Fels heraus und bildeten mächtige Knicke. Überall erkannte man die Rückstände von Isoliermaterial. Die Ausgestoßenen hatten den Stollen genau unter der Knickstelle hindurchgetrieben und an jedem Rohr einen Hahn angebracht. Primitive, aber schwere Stücke, die mit beträchtlichem Aufwand die Wandungen der Rohre durchstießen. Unterhalb der tropfenden Hähne sahen wir große, kraterförmige Vertiefungen, aus denen ätzender grauer Rauch aufstieg. »Was ist das?« »Industrieabfälle. Meistens hochkonzentrierte Säuren, die im Säuresee gesammelt und abgebaut werden. Wenn wir welche brauchen, kommen wir hierher und zapfen sie einfach ab. Großartig, nicht?« Der Sessel steuerte knapp unterhalb der Rohre vorbei, die einen Durchmesser von nicht weniger als einem Meter hatten. Ein Schalterdruck, und drei Scheinwerfer an den Armlehnen und am Fußteil der Konstruktion flammten auf. Sie beleuchteten eine Gruppe von Männern, die in schwarze und glänzende Arbeitsanzüge gekleidet waren und Schutzhelme trugen. Sie arbeiteten daran, einen Stollen in die Wand zu treiben. Um sie herum standen und lagen altertümliche, aber gut gepflegte Maschinen. Ein dickes Kabel schlängelte sich in die unergründliche Tiefe eines schmalen und niedrigen Nebenstollens davon. »Wie geht's voran?« krächzte Fralwerc und hustete schwer. Die Männer grinsten ihn an und hoben die Werkzeuge. »Verdammt zäh. Massives Gestein. Außerdem müssen wir aufpassen, damit wir nicht ein Rohr erwischen.«
Im Reich der Ausgestoßenen Als wir vorbei waren, begannen die Desintegratoren wieder zu jaulen und zu heulen. Die Ausgestoßenen schienen alles, was sie brauchten, irgendwie zu stehlen, ob es Säure war oder Energie, mit Trinkwasser schien es nicht anders zu sein als mit den Werkzeugen, die sie für die Diebstähle brauchten. Zwar waren solche Verluste exakt auszumessen, aber niemand würde messen, wenn er nicht wußte, daß die eine oder andere Leitung angezapft war. »Sie suchen ein neues Stromkabel. Direkt am See und an der Neutralisationsanlage ist es zu gefährlich!« erklärte Fralwerc und legte zwei Finger an sein verstümmeltes Ohrläppchen. »Rechnen Sie mit weiterem Zustrom in Ihr unterplanetarisches Reich?« erkundigte sich der Bauchaufschneider ironisch. »Damit rechnen wir immer. Es kommen immer mehr. Wahrscheinlich kommen jetzt auch welche aus der Gruppe von Serrogat.« »Das mag sein«, mußte auch ich zugeben. Der Stollen wurde niedriger und winkelte ab. Mehrere Rampen führten im Zickzack weiter abwärts. Immer wieder unterbrachen Rohrleitungen und schwere, alte Kabel mit dicker Isolation die Wände oder verliefen halb aus der Decke herausragend. Schweigend steuerte Fralwerc seinen Sessel durch die schmalen Gänge. Der Boden unterhalb der Stadt war von Gängen und Stollen durchzogen wie eine Frucht oder ein Stück Holz von den Gängen der Bohrinsekten. Dann, ganz plötzlich, sahen wir über der Schulter Fralwercs eine glänzende, von farbigen Schlieren überzogene und von verschiedenen Spiegelungen verzerrte Oberfläche. Ein Ausschnitt davon tauchte am Ende eines Tunnels auf. Wir kamen an einer der bekannten Unterbrechungen vorbei, jenem Loch in der Decke, das mit Gestein und einer auslösenden Sprengladung versehen war. Dann hielt Fralwerc an und sagte kurz: »Wir sind gleich da. Vor uns – der Säuresee.« »Ist das diese glänzende Lache dort vorn, die so stinkt?«
33 »Ja. Wir müssen rund herum und auf der anderen Seite schräg aufwärts.« »Hier scheint niemand zu arbeiten?« fragte Fartuloon. Mir war aufgefallen, daß dieser Mann eine charakteristische Bewegung machte. Es war eine Angewohnheit, die sehr selten war. Er berührte mit Zeigefinger und Mittelfinger das rechte Ohrläppchen, als wolle er ein Hörgerät festdrücken oder einen Miniempfänger festhalten. Wo hatte ich diese Geste schon gesehen? Ich wußte, daß ich sie genau kannte, aber niemals einen Mann namens Fralwerc, der mehr oder weniger regelmäßig diese Geste ausführte. Dein Gedächtnis wird es dir sagen! meldete der Logiksektor. »Das scheint nur so«, meinte Fralwerc kaum verständlich. Der Generator des Sessels summte auf, die Lichtstrahlen der drei kleinen, aber sehr lichtstarken Scheinwerfer bohrten sich in die Finsternis vor uns und schwankten etwas, als der Sessel weiterglitt und sich dem Punkt näherte, an dem sich der Boden des Tunnels scheinbar in den Säuresee absenkte. Wir folgten vorsichtig, aber wir legten instinktiv die Hände an die Kolben der Waffen. Mein Mißtrauen war bisher gemäßigt gewesen, aber jetzt ließ es sich nicht mehr unterdrücken. Ich fing an zu ahnen, daß ich Grund dazu hatte, mehr als nur mißtrauisch und wachsam zu sein. Der Tunnel hörte auf. Fralwerc steuerte seinen Sessel nach rechts und drehte ihn so, daß die Scheinwerfer den Säuresee und einen Teil der Umfassung anstrahlten. Der Scheinwerfer in der rechten Armlehne bewegte sich und wurde zum Suchlicht. Er huschte in wilden Kreisen über den merkwürdig leuchtenden Säurespiegel und blieb an einer Strickleiter haften. Die Leiter war am Rand eines riesigen Behälters aus Spezial-Edelstahl festgeknotet und schwang sich in verrücktem Bogen zu einer trichterförmigen Absaugöffnung, aus der ein fahles Heulen und Brausen zu hören war. Es erfüllte die flache Höhle mit einem Dauersummton und den hallenden Echos. Dort in dem Ab-
34 saugstutzen, der die Gase fortriß und aufwirbelte, verschwand die Leiter. Aus der Dunkelheit rechts neben uns kam die krächzende, pfeifende Stimme Fralwercs. »Einer unserer aufregendsten und … sichersten Fluchtwege. Der See hat einen Durchmesser von hundert Metern. Vierzig Meter tief. Unterhalb der Überflußrinne werden die Abfallsäuren eingeleitet. Jeder, der diesen Fluchtweg benutzt, kommt in der Latrine eines entsprechenden Werkes heraus. Sehr gute Sache. Sie müssen links herum.« »Alles klar!« meinten Fartuloon und ich fast gleichzeitig. Unsere Stimmen erzeugten neue Echos. Der Suchscheinwerfer beleuchtete nacheinander die interessantesten Punkte dieses verblüffenden Sees aus verschiedenen konzentrierten Säuren. Das Becken schien halbkugelig zu sein. An den Rändern war der Stahl nach außen gekrümmt und ragte etwa vier Meter in den Boden dieser Höhle hinein. Einige Handbreit unterhalb des Knicks befand sich die Überlaufrinne mit den Abläufen für die Säure, die aufgespaltet und in ihre ursprünglichen Bestandteile in fester Form umgewandelt wurde. Ununterbrochen strömten Massen von Flüssigkeiten in das Becken, und ebensoviel wurde abgesaugt und in den unsichtbaren, irgendwo in der Kruste dieses Planeten versteckten automatischen Anlagen aufgearbeitet. Es stank scharf und unangenehm, und schon nach einigen Sekunden Aufenthalt in dieser summenden, schwarzen Höhle verloren wir vorübergehend den Geruchssinn. Der Scheinwerfer schwenkte wieder herum und beleuchtete den Rand des Beckens. Zwischen dem ölig daliegenden Säurespiegel und der Felswand gab es nicht mehr als vier, fünf Meter freien Raum. Dann drehte Fralwerc auch den Sessel und kam auf uns zu. Das Licht bildete eine breite Bahn zwischen uns und dem Spezialsessel. »Sie müssen nach links. Dort gibt es ein
Hans Kneifel Schott. Dahinter liegen sichere Aufenthaltsräume in der Nähe der Oberfläche!« sagte Fralwerc laut. Ein schlimmer Hustenanfall folgte. Wieder hob er die Hand im weißen Handschuh und berührte das Ohrläppchen. »Danke für die Beleuchtung«, entgegnete ich. Wieder diese Bewegung, diese einmalige Geste. Wer war Fralwerc wirklich? »Ich halte mich hinter Ihnen. Dann sehen Sie mehr. Vorwärts, Freunde!« »Einverstanden.« Der Sessel schwebte zehn Meter hinter uns und leuchtete Felswand, Stahlboden und die vielfältigen Anlagen, Rohre, Entlüfter und Sicherheitseinrichtungen aus. Unsere beiden Schatten bewegten sich riesengroß vor uns. Die Sohlen erzeugten schmatzende Geräusche auf dem Stahl. Fartuloon und ich hielten uns genau in der Mitte zwischen Säuresee und Wand. Wir mußten ununterbrochen ausweichen, uns bücken und zur Seite springen, wenn wieder Rohrknicke und Abzweigungen aus der Wand herausragten oder sich aus der niedrigen Decke heruntersenkten. Und ganz plötzlich warnte mich etwas. Sekunden später erst wußte ich, daß es die schnelle Veränderung des Lichts und die plötzlichen Bewegungen unserer Schattenbilder waren, die mich retteten. »Achtung!« knurrte ich und drehte mich herum. Gleichzeitig mit dem Warnschrei des Logiksektors gab ich Fartuloon einen Stoß, der ihn in die Richtung der feuchten, triefenden Wand warf. Fralwerc in seinem Sessel kam auf uns zu. Die drei Scheinwerfer blendeten uns, und der schwebende Krankensessel machte einen wilden Satz. Die Absicht war klar: er wollte uns rammen und in den Säuresee werfen. Dort würden wir ein für allemal verschwunden sein. Warum? Alles ging blitzschnell. Im Nebenlicht sahen wir, daß Fralwerc die Decke von seinen Knien geschleudert hatte. In seiner rechten Hand funkelte eine schwere Waffe. Im selben Moment donnerte ein Schuß auf, ein
Im Reich der Ausgestoßenen langer Feuerstrahl röhrte durch die Halle und traf auf das Gestein des Felsens. Der Schuß fauchte zwischen Fartuloon und mir hindurch. Auch der Spezialsessel raste summend vorbei. Im Leuchtschein des tödlichen Strahlenschusses sah ich das Gesicht des Ausgestoßenen. Es war vor Wut verzerrt, die Schatten machten es zu einer wütenden Maske des Hasses. ES IST PSOLLIEN! DENKE AN ERSKOMIER! schrie der Logiksektor. Meine Erinnerung funktionierte wieder! Ich duckte mich. Durch den Lärm und die Echos des Schusses, das Summen der Entlüfter und den aufheulenden Motor des Sessels hindurch hörte ich Fartuloon vor Überraschung und Wut fluchen. Er befand sich irgendwo mir gegenüber an der Wand, versteckt im Dunkel zwischen den Rohrkonstruktionen. Ich duckte mich, als der Sessel haarscharf neben mir vorbeiraste, geradeaus weiter schwebte und dann plötzlich verschwand. Psollien hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet. Ich sprang auf, zog meine Waffe und fühlte, wie meine Schulter gegen den Fels stieß. Dann sagte ich laut und deutlich: »Fartuloon! Ich habe ihn erkannt! Dieser Mann ist nicht Fralwerc, sondern Psollien. Die Krankheit hat ihn verändert, aber seine Geste mit den beiden Fingern hat ihn verraten. Dort vorn in der Dunkelheit lauert einer der beiden noch lebenden Mörder meines Vaters. Psollien, stellen Sie sich!« Die Antwort war ein Schuß, der an der Stelle einschlug, an der ich mich eben noch befunden hatte. Eine glühende Bahn fraß sich in den Stahl. Die hochenergetische Entladung entzündete die Säuredämpfe über der Trefferstelle. Psolliens Stimme, kaum kenntlich, verändert durch die Echos und die entsetzliche Wut, drang von dort vorn zu uns her. »Ihr seid mir einmal entkommen. Hier ist mein Reich. Ihr werdet es nicht mehr …«, ein Hustenanfall, ein fast wimmerndes Keuchen unterbrach ihn, »… lebend verlassen.«
35 »Das bleibt abzuwarten!« sagte Fartuloon unweit von mir und feuerte. Der Strahl schlug ein, aber alles, was wir undeutlich erkennen konnten, war der leere Sessel, der auf dem Stahlrand stand. Psollien war verschwunden. Ich zog mich weiter in die Finsternis zurück. Die Chancen waren gleich verteilt, als Psollien seinen Sessel verließ. Jeder von uns konnte überleben, jeder konnte getötet werden. »Du hast vollkommen recht, Söhnchen!« sagte die Stimme des Bauchaufschneiders. »Ich habe mich nicht erinnert. Aber als du Psolliens Namen erwähntest, paßte alles zusammen. Er muß uns sofort erkannt haben. Alles war geplant, auch diese Falle hier. Nun, wir wissen, was wir zu tun haben.« »Das ist sicher.« Erinnerungsfetzen an Erskomier zogen in meinen Überlegungen vorbei. Inzwischen waren so viele Jahre vergangen, und der haßerfüllte Drang, alles zu rächen, war fast vergangen. Aber der langgesuchte Mörder meines Vaters war hier und lauerte in der Deckung neben dem Säuresee. Hier kannte er jeden Zentimeter, aber auch wir waren in diesem makabren Gewerbe nicht unerfahren. Ich hob die Waffe und verließ die Deckung. Die Höhle war nicht völlig dunkel, aber die wenigen, schwachen Lampen vermochten die Finsternis kaum aufzuhellen. Immerhin konnten wir die Begrenzung des Säuresees erkennen und einige Umrisse von Rohrleitungen und dem Entlüftungssystem. Ich zielte auf eine Stelle zwischen dem Sessel und der Wandung und feuerte zwei Schüsse ab. Die explodierende Materie an den beiden Stellen und die aufflackernden Gase zeigten die Stelle etwas deutlicher, aber ich sah Psollien nicht. Augenblicklich verließ ich meinen Standort und näherte mich der Deckung, in der Fartuloon stand. Durch die Schüsse hatte ich meinen Standort verraten; ein erfahrener Gegner würde entsprechend reagieren, aber auch er mußte sich verraten, wenn er zurückschoß.
36 Genau dies passierte. Psollien sprang aus seinem Versteck und schoß mehrmals hintereinander. Er hatte hervorragend gezielt und kesselte uns förmlich ein. Über uns, vor uns und an mindestens drei anderen Stellen bekamen Rohrleitungen Risse, kochte das Gestein auf und schwirrten glühende Funken und Trümmer durch die Luft. Ätzender Rauch breitete sich aus, Hitzewellen schlugen uns entgegen. Gleichzeitig schossen wir. Sekundenlang spannten sich weißglühende Spurstrahlen durch einen Teil der Höhle und bildeten ein helles, flackerndes Licht verbreitendes Netz. Fartuloon murmelte in den Donner und die Lärmorgie hinein: »Bleib hier. Ich greife ihn von der anderen Seite an. Du gibst mir Feuerschutz. Klar, Söhnchen?« »Eine gute Idee. Aber – gib acht. Keiner von uns weiß, was sich dort alles versteckt. Vielleicht warten dort auch seine Leibwächter.« »Keine Angst. Ich komme heil zurück!« Seine Hand kam aus der Dunkelheit, er drückte kurz meine Schulter und war an mir vorbei. Lautlos lief er in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich wartete fünf Sekunden und feuerte dann einen wilden Hagel von Schüssen ab, sorgfältig verteilt auf die Stellen, an denen ich Psollien vermutete. Wieder verwandelte sich ein Teil des Höhlensystems in einen Bezirk aus Glut, Flammen und Rauch. Die Schallwellen donnerten und krachten, verstärkt durch die Echowirkung, über den schlierenwerfenden Säuresee dahin. Inzwischen mußte die Schießerei die Leibwächter und einen großen Teil der Ausgestoßenen alarmiert haben – es war gar nicht anders möglich. Du mußt verhindern, daß sie hier eindringen. Sie werden auf alle Fälle ihren Boß Fralwerc schützen wollen. Denn sie vermuten, daß hier entweder Sicherheitstruppen oder Polizei eingedrungen sind! sagte mit Bestimmtheit der Extrasinn. Ich handelte sofort und folgerichtig.
Hans Kneifel Noch während der schwarze Rauch von den brennenden Gasen erhellt wurde und der Donner der Schüsse nachhallte, sprang ich aus dem Raum zwischen Betonstützen, Rohren und Traversen hervor und rannte zwanzig Schritt zurück, in die Richtung des Tunnels. Irgendwo dort drüben versuchte Fartuloon, den See zu umgehen. Er würde vermutlich nicht eher schießen, bis er sicher sein würde, Psollien zu treffen. Psollien, den ehemaligen Verbündeten Orbanaschols, vom Diktator ebenso gesucht wie wir – die Verhältnisse hatten sich drastisch geändert seit den Tagen der Jagd auf Erskomier. Ich erreichte den Stollen; ein Luftzug war das Signal. Mit einem Satz sprang ich nach rechts und horchte in den Stollen hinein. Sie kommen! flüsterte der Logiksektor. Ich hörte Schreie und wirre Geräusche, aber weder Schritte noch Schüsse. Ich sah das letzte Stück des Stollens, denn irgendwo dort oben gab es eine stärkere Lampe, von der eine Kreuzung einigermaßen ausgeleuchtet wurde. Ich konnte ganz einfach mit wenigen Schüssen den Stollen sperren. Gleichzeitig aber zeichneten sich meine Umrisse mehr oder weniger deutlich gegen den helleren Hintergrund ab. Ich wich aus und lehnte mich hinter der nächsten Kante an die Wand. Einige Sekunden lang herrschte Ruhe. Ich entspannte mich und überdachte unsere strategische Situation. Sie war keineswegs hoffnungslos, aber alles andere als gut. Wenn es einen anderen Zugang zu diesem Säuresee gab – und dies mußte als wahrscheinlich angenommen werden –, dann würden in kurzer Zeit die Leibwächter und andere Ausgestoßene hier erscheinen und gegen uns kämpfen. Ich hob die Waffe, kontrollierte die Ladung und wartete. Von Fartuloon war nichts zu sehen und zu hören. Auch Fralwerc lauerte irgendwo links von mir. Nach einem Blick in den Tunnel schoß ich wieder. Noch waren keine Leibwächter zu erkennen. Was ich hörte, war vielleicht
Im Reich der Ausgestoßenen nur der Lärm der Bohrgeräte und Desintegratoren jener Arbeitsgruppe. Ich feuerte jetzt langsam und überlegt. Ich setzte einen Treffer neben den anderen und erzeugte eine Reihe von Glutzonen, die unzweifelhaft Fralwerc von mir weg treiben mußten. Wieder flammten Gasentladungen auf, erneut gab es Wolken aus schwarzem Rauch, die von dem Luftstrom erfaßt, in die Höhe gewirbelt und von der Anlage abgesaugt wurden. Unter der Decke der Höhle bildete sich eine dicke Wolke aus brodelnden Gasen. Ich schoß weiter, aber ich achtete darauf, in der Deckung zu bleiben. Aber keine einzige der flackernden Helligkeiten und der Blitze zeigte mir den Gegner. Nur dieser verdammte Spezialsessel stand da und war völlig unversehrt. Du erleichterst Fartuloon das Vordringen, sagte der Logiksektor. Also feuerte ich weiter. Die Energie fraß sich in den stählernen Boden und hinterließ lange weißglühende Spuren. Obwohl immer wieder rote und weiße Gasentladungen die Wände des Felsendomes und die Rohre scharf aus der Dunkelheit rissen, sah ich nicht die geringste Spur des Mörders. Er verriet sich auch nicht, indem er zurückschoß; irgendwo dort kauerte er im Verborgenen und lauerte. Ich hob den Lauf der Waffe und wartete wieder. Nichts geschah. Vor etwa zwei Minuten war Fartuloon zu seinem Alleingang aufgebrochen. Ich hoffte, er würde mir ein Zeichen geben. Und dann heulte ein Schuß dicht an meiner Schulter vorbei, verbrannte einige Haare und schlug ins Zentrum des Säuresees ein. Dort gab es eine schwere Explosion und eine Glutwolke, die Säurenebel und Tropfen nach allen Seiten warf. Ich sprang zurück, drehte mich herum und erkannte am anderen Ende des Stollens eine Gruppe von Männern, die in der Kreuzung auftauchten. Einer von ihnen stand da und hatte eben geschossen. Ich zielte kurz, aber sorgfältig, dann löste sich ein langer Schuß. Die Hochenergie
37 schlug knapp vor den Stiefeln dieses Leibwächters ein, ließ dort den Boden detonieren und verwandelte ihn in einen rauchenden, brennenden Krater. Laut schreiend wichen die Männer aus und verschwanden. Ich schoß ihnen noch einmal nach, hatte aber nicht die Absicht, einen von ihnen zu treffen. Sie hatten mir nichts getan, im Gegenteil: irgendwie verdankten wir ihnen unser Leben. Ich bewegte den Kopf und untersuchte jeden einzelnen Punkt des Kreises, der vor mir lag. Nur noch an wenigen Stellen gab es Spuren des erbitterten, aber nutzlosen Schußwechsels. Weder Fartuloon noch Psollien/ Fralwerc waren zu sehen. Wieder breitete sich eine verderbliche, spannungsgeladene Ruhe aus. Warte! In ganz kurzer Zeit ist alles zu Ende! meinte das Extrahirn mit Gewißheit. Ich war bereit. Ich spielte die Einzelheiten unseres Vorgehens durch. Ich wußte, daß nur dieses Ende möglich war. Von beiden Seiten unter Feuer genommen, mußte der Mörder sein Versteck verlassen und würde im Feuer unserer Waffen sterben. Dies war die trügerische Sicherheit, die uns am Ende des Fluchtwegs blieb. Diese Überlegung brachte mich wieder zurück zu »Meister Kaarfux«, wie Psollien den Staranwalt nannte. Wo war er? Hatten die Soldaten auch ihn und Yacori gefaßt?
8. Kaarfux packte den Arm Yacoris und deutete über das Wasser des regungslos daliegenden kleinen Sees. »Bevor wir wieder in das Labyrinth eurer Fluchtwege hinuntertauchen, möchte ich eine Frage an Sie richten, Yacori.« Sie starrte ihn schweigend an. Kaarfux bemerkte im ersten Dämmerlicht des Tages, daß sie auf eine wilde Art sehr gut aussah. Sie war wie ein unbeherrschtes Tier; schnell und entschlossen und mit einer fast intuitiven Reaktionsschnelligkeit.
38 »Fragen Sie, Anwalt.« Ein Raumschiff startete und raste schräg über die erwachende Landschaft hinweg in das All hinaus. »Was hält Sie in der Nähe Fralwercs? Warum dieses große Maß an Loyalität? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß er einer der übelsten Verbrecher ist, die es jemals gab?« Sie hob die Schultern und erwiderte scharf: »Möglich, daß er ein Verbrecher ist. Aber die erste und einzige Chance, die ich jemals hatte, war Fralwerc. Er ließ mich holen, versteckte mich, ließ mich erziehen und war nie auch nur eine Sekunde anders zu mir als ein besorgter Vater.« »Hmm«, machte Kaarfux. »Möglicherweise müssen Sie um hundertachtzig Grad umdenken. Fartuloon und der Kristallprinz scheinen ein Gespenst aus der Vergangenheit gesehen zu haben. Sie beobachten Fralwerc unausgesetzt. Ich bin sicher, daß es zum Zusammenstoß kommt.« »Zusammenstoß?« fragte sie ungläubig. »Warum? Was soll Fralwerc gegen den Kristallprinzen haben? Und Fartuloon kennt er nicht einmal.« »Warten wir es ab«, sagte er leise. Er war alt und erfahren, und für Yacori stellte er eine Autorität dar, die unzweifelhaft war. Sie blickte ihn voller Unglauben an. »Sie meinen, daß beide eine irgendwie gemeinsame Vergangenheit haben?« fragte sie zweifelnd. »So sieht es aus.« Schweigend starrten sie einige Sekunden lang dieses Bild der Ruhe und des Friedens an. Es gab keinen Lärm mehr und keine aufgeregten Truppenbewegungen zwischen Raumhafen und Stadtgebiet. Kaarfux hatte mit Yacoris Hilfe erledigt, was er sich vorgenommen hatte. Es sah danach aus, als gäbe es unter bestimmten Voraussetzungen eine Fluchtmöglichkeit für Atlan und Fartuloon mit einem Raumschiff. Kaarfux selbst war es gelungen, in seinem Haus alle wichtigen Aufzeichnungen zu verstecken, einige
Hans Kneifel schnelle Kontenbereinigungen vorzunehmen und sich selbst abzusichern. Er trug einen Koffer, in dem seine wichtigsten Habseligkeiten verpackt waren. Dann holte er tief Atem und sagte: »Gehen wir nach unten. Denken Sie darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe. Ich selbst habe bei Ihnen einen Ruf und eine Bedeutung, zu der ich nach wie vor stehe. Aber ich werde nicht zulassen, daß auch hier unten«, er deutete auf den Boden des Bootshauses, »aufeinander geschossen wird.« »Hoffentlich haben Sie unrecht!« flüsterte sie und öffnete die hervorragend getarnte Geheimtür. »Hoffentlich.« Dann bewegten sie sich wieder durch die Stollen und Röhren, benutzten einen simplen mechanischen Lift, umgingen die Sperranlagen und trafen auf der obersten Basis der Geheimanlage auf einen Leibwächter, der ihnen aufgeregt entgegenstürzte. »Nein!« rief Kaarfux, als der Mann auf sie zurannte und ihnen wirre Worte entgegenschrie. Er sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Yacori bewahrte Kaltblütigkeit und schrie in schneidendem Ton: »Nimm dich zusammen! Was ist los! Ich will einen präzisen Bericht.« Kaarfux, der schweigend neben ihr stand, erkannte jetzt, daß sie neben Fralwerc die nächste Autorität hier darstellte. Der Mann beruhigte sich und stieß hervor: »Fralwerc hat Atlan und Fartuloon zum Säuresee gebracht. Dort gibt es ein System von Fluchtwegen. Aber jetzt scheinen sie aufeinander zu schießen. Wir sind nachgerannt, aber jemand sperrt mit einer Hochenergiewaffe den Endtunnel ab.« »Wer ist am Säuresee?« schrie Yacori und wurde bleich. »Nur die drei. Der Boß, der Kristallprinz und der Bauchaufschneider. Sie gingen ziemlich früh. Niemand dachte sich etwas. Aber der Boß hat seine schwerste und neueste Waffe mitgenommen.« Yacori und Kaarfux wechselten einen langen, schweigenden Blick. Das Mädchen
Im Reich der Ausgestoßenen schien zu begreifen, daß die Warnung des Anwalts berechtigt gewesen war. Aber noch wußte niemand, was wirklich passiert war. »Schöne Schweinerei!« maulte der Leibwächter. »Der Boß weiß, was er zu tun hat. Aber warum schießen sie aufeinander? Das muß doch einen Grund haben, Yacori.« Kaarfux nahm seinen Koffer, öffnete ihn und zog einen schweren und großen Handscheinwerfer heraus. Er knotete den Riemen auf und hängte sich das stabförmige Gerät über die Schultern. Dann zog er die Waffe und kontrollierte die Ladung. »Ich kenne den Grund nicht«, gab Yacori zu. »Ich wüßte auch nicht, warum sie Meinungsverschiedenheiten haben sollten.« »Das weiß niemand. Wir sind ratlos!« rief der Leibwächter. Yacori wandte sich an Kaarfux. »Wenn die Polizisten hier eindringen würden, wüßte jeder, was zu tun ist. Aber wir wollen den Boß nicht gefährden.« »Immerhin …«, murmelte Yacori. »Kaarfux! Bitte, helfen Sie mir. Gehen wir zum Säuresee und sehen wir nach.« »Einverstanden.« Yacori deutete entschlossen auf den Leibwächter und sagte schroff: »Los. Du rennst voran. Wir werden ganz schnell restlose Klärung erreichen. Schließlich geht es um die Organisation aller Ausgestoßenen von Bassakutena.« »Richtig.« Sie rannten los; der Leibwächter holte sich ebenfalls einen Scheinwerfer und spurtete ihnen voran. Yacori hinter ihm her, und der Anwalt folgte ihnen etwas langsamer. Sie brauchten bis zur letzten Kreuzung etwa vierzig Minuten. Immer wieder wurden sie von aufgeregten Ausgestoßenen aufgehalten und befragt, aber sie schoben sie einfach zur Seite. Eine Gruppe von mindestens zwanzig bewaffneten Männern, von denen einige ihre Schutzhelme trugen und Detonatoren in den Armen hielten, hatten sich in der Kreuzung der Stollen versammelt. Aber vor einer unsichtbaren Linie, die mit der Seitenkante des
39 letzten Stollenstücks identisch war, hielten sie sich alle zurück. »Wir sind da«, rief Yacori und schob die Männer auseinander. »Was ist los?« »Dort unten wurde wie verrückt geschossen. Hier, siehst du den Krater? Wir wollten nachsehen, Sepca feuerte einmal hinunter in den See, aber sofort wurde zurückgeschossen. Der Boß ist unten. Wir wissen nicht, was wir machen sollen.« »Wir werden euch die Entscheidung abnehmen!« sagte Yacori laut und winkte Kaarfux und dem Leibwächter. »Leuchten Sie einmal hinunter, Meister?« »Natürlich«, erwiderte der Anwalt ruhig. Im Augenblick beherrschte er deswegen die Szene, weil er überlegene Ruhe ausstrahlte. Er nahm den Scheinwerfer, wickelte den Riemen um sein Handgelenk und schaltete das Gerät ein. Er trat über die imaginäre Linie hinaus und richtete den blendend weißen Scheinwerferstrahl schräg nach unten. Er spannte seine Muskeln, aber kein Schuß schlug ihm entgegen. Kaarfux winkte. »Wir riskieren es. Kommt ihr?« »Ja, natürlich.« Vorsichtig gingen sie das letzte Stück des Stollens hinunter. Immer wieder bewegte Kaarfux seinen Scheinwerfer. Der Strahl kippte und taumelte hin und her. Es war wie ein Signal für jemanden, der dort unten mit einer schußbereiten Waffe lauerte. Yacori und der Leibwächter folgten aufgeregt dem Anwalt. Sie hielten die Waffen in den Händen und warteten förmlich darauf, daß sie beschossen werden würden. Schritt um Schritt gingen sie weiter. Sie waren voller Nervosität, ihre Nerven flatterten. Kaarfux erreichte das Ende des Stollens und blieb stehen. Yacori prallte gegen seinen Rücken und stieß einen Schreckenslaut aus. »Ruhig!« brummte der Anwalt. Er veränderte die Einstellung des Fokus. Dann richtete er den Strahl auf die gegenüberliegende Wand und ließ ihn ganz langsam wandern. Die Röhren und die Stahlplatte, der Spiegel des Säuresees und einige rau-
40 chende Spuren von Schüssen waren deutlich sichtbar. Als das Licht ziemlich weit auf der linken Seite des runden Kessels auf die Wand traf, wurde deutlich eine kauernde Gestalt sichtbar, die sich tief in die Deckung zwischen Betontafeln und mächtigen Rohren zurückgezogen hatte. Kaarfux erkannte augenblicklich Fartuloon. Er zog scharf die Luft ein und brüllte laut durch die Höhle: »Hört mit der Schießerei auf. Wir sind hier, Yacori und Kaarfux!« Der breitgefächerte Lichtkegel zog weiter. Fartuloons Gestalt wurde wieder von der Dunkelheit verschluckt. Aber bevor die aufgeregten Leute am Ausgang des Stollens etwas unternehmen konnten, dröhnte ein Schuß auf. Er schlug genau an der Stelle ein, an der eben noch Fartuloon zu sehen gewesen war. Die Entfernung zwischen dem Bauchaufschneider und dem unbekannten Schützen betrug weniger als dreißig Schritte. War Atlan der Schütze? Undenkbar. Also mußte es Fralwerc gewesen sein. Langsam geisterte der Scheinwerferstrahl weiter und fing sich in einer Qualmwolke. Fartuloon hatte längst seinen Standort gewechselt. Als der Donner des Schusses verhallt war, schrie Yacori auf. »Aufhören! Wir helfen dir, Fralwerc!« Ins Echo ihres Schreies klang die Stimme des Kristallprinzen. Er rief: »Es ist nicht Fralwerc! Er ist Psollien, der Mörder des Imperators Gonozal. Zusammen mit Orbanaschol und anderen lockte er meinen Vater in einen Hinterhalt und tötete ihn. Ist das die Wahrheit, Psollien?« Der Lichtstrahl traf den Spezialsessel, der dicht neben der Kante des Säuresees schwebte. Er war leer, aber die Stimme des Chefs schrie durch die Dunkelheit. »Die Wahrheit ist, daß diese beiden Wahnsinnigen die Höhle nicht mehr lebend verlassen werden. Hilf mir, Yacori! Kaarfux, leuchten Sie die Ziele aus!« »Den Teufel werde ich tun«, schrie Kaarfux zurück und richtete das Licht auf den Abzugskanal der Entlüftung.
Hans Kneifel »Schieß doch, Yacori!« kreischte Psollien und feuerte nach links und nach rechts. Aber neben den Stellen, an denen die Energiestrahlen einschlugen, sahen die Wartenden nun das scharfe, weißglühende Mündungsfeuer der Projektordüsen. Atlan und Fartuloon schossen zurück. Ihre Schüsse saßen genau. Aus einer Entfernung von jeweils fünfundzwanzig oder zwanzig Metern feuerten der Bauchaufschneider und der Kristallprinz auf den Mann, den sie als Mörder bezeichneten. Kaarfux griff bewußt nicht ein, und weder der Leibwächter noch Yacori wagten, etwas zu unternehmen. Zehn, fünfzehn Schüsse dröhnten und heulten auf. Sie erzeugten zwischen zwei Rohrbündeln und mächtigen Betontraversen einen Kreis aus Feuer, Flammen und Rauch. Weißglühende Brocken heulten nach den Seiten und versanken zischend im See. Psollien sprang aus seinem Versteck heraus. An einigen Stellen brannte und rauchte seine Kleidung. Er rannte auf den Sessel zu und feuerte wild um sich. Lange Strahlen donnerten in die Richtung der beiden Gegner. Sie schossen zurück und veränderten unaufhörlich ihren Platz. Psollien schrie vor Schmerzen, aber deutlich waren Haß und ausbrechender Wahnsinn zu hören. Sie bestimmten, was er ausdrücken wollte. »Ich habe Gonozal getötet. Aber ich habe nichts davon gehabt. Ihr habt auch nichts davon, denn sie werden euch umbringen. Helft mir, Freunde!« Er rannte im Zickzack, von den Schußbahnen der zwei unsichtbaren Schützen verfolgt, auf den Sessel zu und warf sich hinein. Alles ging in rasender Schnelligkeit vor sich. Die Zusehenden waren wie erstarrt und griffen nicht ein. Mit langen Qualmfahnen hinter sich steuerte Psollien den Sessel vorwärts, schaltete die Scheinwerfer ein und feuerte ununterbrochen, ohne zu zielen, um sich. Der Sessel machte einen langen, gefaden Satz und raste über den Stahl, unablässig verfolgt von den Schüssen. Sie trafen
Im Reich der Ausgestoßenen meist und zerstörten den Mechanismus an verschiedenen Stellen. Auch der Mann im kippenden und schwankenden Sessel wurde mehrmals getroffen. Jetzt schlug das Hinterteil des Geräts auf den Boden auf und erzeugte eine Schleifspur von Funken. Der Sessel krachte gegen einen Pfeiler, drehte sich halb herum und bewegte sich schwankend auf den Säuresee zu. »Ich bringe euch alle um!« schrie keuchend der Mörder Gonozals. Seine Waffe spie Schuß um Schuß aus, die vor dem dahinrasenden Sessel wahre Schauer von Flammen und Glut erzeugten. Einige zehn Meter weit schlitterte der Sessel, dessen Abstandsantigrav ausgefallen war, rauchend und brennend haarscharf am Rand des Beckenrands dahin. Atlan und Fartuloon schossen nicht mehr, aber sie zeigten sich auch nicht mehr. Der erste Scheinwerfer des Sessels fiel aus. Psollien schrie markerschütternd, als der Sessel nach rechts kippte. Der Mörder warf sich auf die andere Seite hinüber und verlor die Waffe. »Frallie!« kreischte Yacori auf. Kaarfux schwenkte den Handscheinwerfer herum und strahlte den Sessel an. Knallend barst der zweite Scheinwerfer. Das Vorderteil des Sessels schlug schwer auf, Psollien wurde herausgeschleudert und hielt sich krampfhaft an der Lehne fest. Mit einem letzten, klirrenden und scheppernden Geräusch, gefolgt von einem gellenden und langen Schrei Psolliens, schleuderte der Sessel herum und kippte mit Psollien in den Säuresee. Fast lautlos versank er in der öligen Flüssigkeit, die augenblicklich wild zu schäumen und zu kochen schien. Einmal tauchte kurz die Schulter und ein wild rudernder Arm des Mannes auf, aber dann versank der Körper endgültig. Fartuloon schrie zu Kaarfux hinüber: »Sie haben gesehen, was passierte. Halten Sie das Mädchen und die Leibwächter zurück, sonst geht der Kampf weiter.« »Ich tue mein Bestes!« rief der Anwalt. »Kommen Sie her. Ich denke, es ist zu En-
41 de.« Fartuloon schob seinen Strahler zurück in die Schutztasche und folgte langsam der Lichtspur. Die Männer des toten Anführers verhielten sich im Moment noch abwartend und ruhig, aber jeder von ihnen hielt eine Waffe in den Fingern. Hinter Fartuloon schob sich der Kristallprinz in die Helligkeit. Seine Waffe blieb nach wie vor auf die Gruppe um Kaarfux gerichtet. »Fralwerc lockte uns hierher. Er ließ uns vorangehen. Plötzlich wollte er uns mit dem Sessel rammen und in den Säuresee stürzen.« »Ihr wollt nichts anderes als hier den Chef spielen!« schrie aufgeregt einer der Leibwächter. Grob erwiderte der Bauchaufschneider: »Unfug! Wir wollen so schnell wie möglich weg, das ist alles. Haben Sie etwas erreicht, Kaarfux?« Atlan hielt sich weiterhin zurück, während Fartuloon auf die Gruppe zuging. Yacori riß sich los und lief ihm entgegen. »Sie haben ihn umgebracht, Bauchaufschneider!« schrie sie und ballte die Fäuste. Sie starrte Fartuloon mit eisiger Wut an. »Meinen einzigen Freund.« Fartuloon schwieg und führte in der bekannten Geste zwei Finger ans Ohrläppchen. Dann erkundigte er sich ruhig: »Diese Bewegung hat er immer wieder ausgeführt, nicht wahr?« »Ja!« »Genau diese Geste machte ein Mann, der auf dem Planeten Erskomier, vor einer Handvoll Jahren, einen Jagdunfall inszenierte. Der Mann hieß Psollien und war der Jagdspezialist. Einst besaß er schwarze Locken und bräunlichen Teint, denn er war kein reinrassiger Arkonide.« »Was wollen Sie damit sagen?« stieß einer der Leibwächter hervor und schob sich neben Yacori. »Nur noch folgendes: Psollien ermordete mit Orbanaschol und den Männern Sofgart, Offantur und Heng zusammen den Vater des Kristallprinzen. Sein einziger Zeuge war ich.
42 Ich rettete Atlan vor dem Attentat, dem auch er zum Opfer gefallen wäre. Aus diesem Grund verfolgt uns der Diktator mit unvermindertem Haß. Als wir den Namen Psollien aussprachen, versuchte Ihr Frallie, uns zum zweitenmal umzubringen. Wir wehrten uns. Man kann diesen Kampf sogar in begrenztem Umfang fair nennen. Jetzt gibt es nur noch einen der Mörder, und er wird nicht mehr lange leben.« Yacori stieß weinend hervor: »Ich kann es nicht glauben. Kaarfux! Sagen Sie mir, ob es die Wahrheit ist, was dieser Mann erzählt.« Kaarfux kam heran und legte ihr einen Arm um die Schultern. Seine Stimme klang überraschend weich, als er sagte: »Ich fürchte, es ist die Wahrheit. Über die Namen und den wahren Vorfall damals auf Erskomier existieren nur Gerüchte. Aber es scheint so gewesen zu sein, wie Fartuloon es berichtete. Sie können sich vielleicht noch erinnern, daß Fralwerc schwarzes Haar und eine bräunliche Haut hatte, denn wir beide kannten ihn noch, als er von der Krankheit noch nicht so entsetzlich verstümmelt war.« »Außerdem«, ließ sich der Kristallprinz erschöpft vernehmen, noch immer abseits der Gruppe und mit schußbereitem Strahler, »sind wir hierher gekommen, weil sie uns sonst hingerichtet hätten. Wir wußten nichts von Fralwerc oder Psollien, ehe wir ihn dank Kaarfux trafen. Wir hatten außerdem nicht das geringste Interesse daran, gegen unseren Retter und denjenigen zu kämpfen, der uns versteckte. Vergessen Sie die Mordtheorie. In ein paar Tagen sind wir ohnehin von hier verschwunden, und dann können Sie tun, was Sie wollen.« Mit tränenüberströmtem Gesicht blickte Yacori zuerst Kaarfux, dann Fartuloon und Atlan an. Schließlich stieß sie hervor: »Ich glaube euch. Gehen wir zurück. Ich verstecke euch, so lange wie es nötig ist. Ich glaube die Geschichte.« Atlan steckte seine Waffe ein und kam näher. Er blieb neben Fartuloon stehen, bis
Hans Kneifel sich die Gruppe auflöste und durch den Stollen zurückging. Mit jedem Schritt wurden der Geruch nach Säuren und den Energieentladungen schwächer. Auch die Erinnerung an den tödlichen Kampf verblaßte oder wurde verdrängt. Die Schwierigkeiten sind noch nicht vorbei, kommentierte trocken der Logiksektor.
9. ERINNERUNGSPROTOKOLL ATLAN: Ich entspannte meine Muskeln und wünschte mich zurück auf die Oberfläche Celkars. Natürlich würden die Stunden oder Tage, bis wir ein Schiff betreten konnten, eine reine Qual werden. Begreiflicherweise waren alle Ausgestoßenen gegen uns, obwohl sie einsehen würden, daß wir tatsächlich nur in berechtigter Notwehr gehandelt hatten. Irgendwo in einem leeren Stollen drehte sich Fartuloon um und musterte mich voller Besorgnis. »Es ist nicht angenehm, von den Schatten der Vergangenheit wieder eingeholt zu werden, Söhnchen. Aber du hast in jedem Punkt hervorragend reagiert. Wann hast du gemerkt, daß es Psollien war?« Ich brauchte keine Sekunde lang zu überlegen. »In dem Augenblick, als er schießend an uns vorbeischwebte. Sein Gesicht war plötzlich fast wieder das Gesicht des viel jüngeren Psollien. Ich nehme an, ein Effekt von Licht und Schatten.« Auch Fartuloon sah im Licht der schwachen Ganglampen alt und müde aus. Die Anstrengung des Kampfes hatte ihm weniger stark zugesetzt als der plötzliche Schock, den Mörder Gonozals ausgerechnet hier zu treffen. Aber wir würden uns ebenso schnell wieder erholen wie sonst. Eine Stunde später saßen wir mit Kaarfux zusammen und nahmen einen kleinen Imbiß zu uns. Wir befanden uns wieder in den bereits bekannten Räumen. »Yacori wird auch diesen Schock durch-
Im Reich der Ausgestoßenen stehen. Mit einiger Sicherheit wird sie die neue Chefin der Ausgestoßenen«, meinte Kaarfux und massierte seine Schläfen. »Die Nachrichten, die wir mitbrachten, sind weniger optimistisch.« »Was ist passiert?« »Einige Schiffe sind gelandet. Sie brachten Spezialeinheiten. Auf Celkar, mit stärkster Konzentration auf Bassakutena und natürlich der Stadt Kutenarynd, finden die schwersten Razzien aller Zeiten statt. Das Fernsehen kommentiert nur noch ausschnittweise und ohne besondere Hinweise, denn sie scheinen sich daran erinnert zu haben, daß auch die Flüchtlinge einen Bildschirm haben könnten.« Ich nahm diese Mitteilung ruhig entgegen. »Was konnten Sie tun, Anwalt?« »Meine Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Es sieht so aus, als könnten wir Erfolg haben. Möglicherweise hält sich einer meiner Freunde an seine Versprechen, die er mir vor Stunden gab. Sie verschwinden hier und müssen sich zu einem Beiboot durchschlagen. Natürlich können Sie es steuern?« »Ja. Keine Sorge. Wir beide können es recht gut«, meinte der Bauchaufschneider. »Dieses Boot müssen Sie starten. Sie finden an Bord Koordinaten, die Sie anfliegen müssen. Dort wartet ein Schiff auf Sie. Mehr konnte ich nicht erreichen. Ausrüstung liegt im Beiboot bereit.« »Wie hoch ist die Aussicht auf Erfolg?« fragte ich direkt. Der Anwalt biß auf seine Unterlippe, überlegte kurz und erwiderte: »So, wie ich Sie kenne, stehen die Chancen acht zu zwei gegen Sie. Denken Sie daran: Sie müssen über offenes Land flüchten und das Boot in den Raum bringen, was zahllose Risiken beinhaltet.« »Wann soll das passieren?« murmelte Fartuloon und schnitt eine Scheibe vom trockenen Schinken herunter und riß gleichzeitig eine Bierbüchse auf. »Morgen, übermorgen. Jeder Moment ist gleich gut. Aber die Suchtrupps sollten natürlich an anderer Stelle abgelenkt sein. Das
43 alles liegt in Ihren Händen. Ich habe nur den Kommandanten der NEKOR bestechen können. Die Rechnung, die ich Ihnen einst präsentieren werde, erhält ungeahnte Dimensionen.« Wir beide lächelten müde und nickten nur. Dies war das geringste aller auf uns wartenden Probleme. In Gedanken versuchten wir bereits, den Fluchtweg auf seine Gefahren abzuschätzen. Kaarfux griff in eine Innentasche und brachte einen Plan der Stadt und der Umgebung zum Vorschein, den er glattstrich und zwischen den Tellern und Bechern ausbreitete. »Gehen wir diesen Plan durch. Ich weiß allerdings nicht, an welcher Stelle man Sie aus dem Labyrinth bringen wird.« Wir sahen den Plan der Stadt und der näheren Umgebung. Der Punkt, an dem das Beiboot versteckt war – in Wirklichkeit hatte es noch vor Ausbruch der Aktionen einen kurzen Flug unternommen und war dann durch die Sperrung des Raumhafens und das Startverbot festgehalten worden – lag abseits des Raumhafens. Fartuloon und ich prägten uns die Einzelheiten des Planes ein und wußten, daß für uns das Entkommen schwierig sein würde. Aber wir mußten es versuchen; eine bessere Chance würde es hier auf Celkar nicht wieder geben. Ich fragte Kaarfux, wie er dieses Arrangement geschafft habe, aber er winkte ab und erklärte: »Je weniger Sie wissen, desto besser ist es für uns alle. Ich werde versuchen, jetzt mit Yacori und den Leibwächtern zu sprechen. Vielleicht bringt man Sie morgen früh zu einem der versteckten Ausgänge.« »Danke, Kaarfux!« schloß ich. »Ich glaube, wir ruhen uns besser aus.« Wir tranken einen letzten Schluck und zogen uns in die kleinen Räume zurück. Ich konnte lange nicht einschlafen, denn alle möglichen Ereignisse und Gedanken darüber plagten mich.
*
44 Wütendes Hämmern an meine Tür riß mich aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch, rieb meine Augen und rief: »Was ist los? Warum werde ich geweckt?« Yacoris Stimme war unverkennbar voller Panik und Sorge. »Stehen Sie auf. Die Soldaten und Polizisten haben einen Eingang gefunden. Wir müssen das System blockieren und die Leute hinaustreiben. Sie müssen uns helfen.« »Ich komme!« rief ich und sprang auf die Beine. Ich erfrischte mich kurz, indem ich Wasser in mein Gesicht spritzte. Dann zog ich mich schnell an und schnallte den Waffengurt um. Das klang gefährlich, aber schließlich kannten wir die vielen vorbereiteten Fallen und Sicherheitseinrichtungen. Ich riß die Tür auf und stieß mit Fartuloon und Yacori zusammen. Männer mit Waffen und Werkzeugen, meist mit Schutzhelmen auf den Schädeln, mit Scheinwerfern und Sauerstoffmasken ausgestattet, rannten vorbei. »Berichten Sie!« forderte ich Yacori auf. Sie trug ebenfalls eine Art Grubenausrüstung und wirkte hilflos und überfordert. Tröstend legte ihr der Bauchaufschneider seine Pranke auf die Schulter. »Wir haben einen Ausgang in einem der Betriebe, die ihren Säureabfall hierher leiten. Wir haben seinerzeit entlang des Kanalrohrs gegraben. Dieser Eingang ist soeben entdeckt worden. Sie dringen ein.« Augenblicklich knurrte Fartuloon: »In der Nähe? Oder ist der Einstieg weit entfernt?« »Ziemlich weit entfernt. In der Nähe des Säuresees natürlich. Wir haben einige Mittel, um sie in die Irre zu führen.« »Worauf warten wir noch? Gibt es einen Bildschirm oder eine Zeichnung, aus der wir etwas erkennen können?« »Ja. Drüben im Büro.« Wir rannten hinüber. Auf einem Bildschirm, der von den versteckten Linsen des entdeckten Einstiegs gespeist wurde, sahen wir einen Teil der Eindringlinge. Sie waren
Hans Kneifel sehr gut ausgerüstet. Mindestens zwanzig Soldaten in Kampfanzügen, die schwere Scheinwerfer mit sich schleppten und langsam vordrangen. Der Eingang war als Rohr getarnt gewesen, und offensichtlich war von Arbeitern des Industriebetriebs dieses bewegliche Rohrstück entdeckt worden. Nur hintereinander konnten die Soldaten vorankommen. Yacori deutete auf eine schematische Zeichnung. »Sie sind bis hier vorgedrungen. Natürlich geht es langsam. Unsere Männer werden jetzt etwa an diesem Punkt sein.« Ich erkannte auf der ungeschickt ausgeführten Funktionszeichnung, daß nach einer gewissen Entfernung zwei Gänge zur Oberfläche an einem gemeinsamen Kreuzungspunkt zusammentrafen. »Wir müssen diesen Gang hier erreichen und die Kreuzung verschließen. Dann werden sie sich wieder weiterkämpfen und schließlich an der Oberfläche landen.« »Gute Idee!« lobte Fartuloon. »Aber auf dem Vordringen schon müssen sie aufgehalten werden. Sonst verlieren wir den Zeitvorteil.« »Wir werden sie aufhalten. Gehen wir!« rief Yacori entschlossen. Wir rannten los. Zum Teil ging es durch bereits bekannte Teile des Gangsystems. Überall herrschte Aufregung, immer mehr Männer mit Ausrüstungen schlossen sich uns an. Vor dem letzten Tunnelstück, das zum Säuresee führte, verschwanden wir in einem Querschacht, der abermals in ein Wohngebiet führte. Wir überholten einige Gruppen keuchender Männer, die schwer an ihrer Ausrüstung schleppten. Nach weiteren zehn Minuten eines erbarmungslosen Rennens taumelte ein erschöpfter junger Mann auf uns zu. »Yacori! Endlich seid ihr da. Sie sind verdammt schnell. Eben haben sie Punkt eins erreicht und passiert. Noch niemand ist dort drüben. Ihr könnt sie schon fast hören.« Punkt eins war die erste Möglichkeit, durch einen ausgelösten Erdrutsch und eine große Menge von Komponentenkleber und
Im Reich der Ausgestoßenen Bruchstein den Gang zu verschließen. Ich hatte mir die Zeichnung gut gemerkt und wußte genau, daß zwischen Punkt eins und zwei ein gerades Stück Stollen lag. »Ich werde die Blockierung an Punkt zwei auslösen«, sagte ich entschlossen. »Kommt jetzt.« Wir rannten weiter. Schwach brennende Lampen warfen trübes Licht auf die Wände aus Fels und verdichtetem Erdreich. Der Schacht machte eine leichte Krümmung und stieg dann ziemlich steil an. Jetzt fingen auch Fartuloon und ich zu schwitzen und zu keuchen an. Die Luft war schlecht, und der Schweiß strömte über unsere Gesichter. »Es ist nicht mehr weit«, stieß Yacori hervor und hielt sich an Fartuloon fest, der hinter mir rannte. Jetzt tauchte eine Gruppe von Männern auf; sie winkten uns zurück, und einer rief unterdrückt: »Sie sind dicht vor Punkt zwei. Wir haben deine Anordnungen abgewartet.« Ich bremste meinen Lauf ab und sagte: »Ich renne los, und zünde die Ladung. Wenn ich losgespurtet bin, schaltet ihr die Lampen ab. Dann gebt ihr mir, wenn unbedingt nötig, Feuerschutz. Aber je mehr die Soldaten merken, daß dieses System bewohnt ist, desto hartnäckiger werden sie sein. Und sollte ich getroffen werden, verlange ich von euch, daß ihr mich zurückholt.« Die Männer gingen zur Seite und gaben den Blick auf einen tragbaren Empfänger frei. Das undeutliche Bild zeigte, daß der Trupp der Polizisten und Raumsoldaten angehalten hatte. Die schweren Waffen behinderten sie. Punkt zwei lag laut Auskunft direkt hinter einer Biegung. Ich war voll sichtbar, wenn ich den Zündungsschalter betätigte. Mit etwas Glück war es zu schaffen. Du solltest es riskieren, sagte der Logiksektor. Fartuloon hob den Arm, dann schob er die Männer auseinander und lief neben mir auf die Stelle des schmaler und niedriger werdenden Ganges zu, an der wir die Wand sa-
45 hen. Wir wurden langsamer und gingen einmal rechts, dann wieder links und abermals rechts um Ecken. Dann, nach der nächsten Ecke, lag das annähernd gerade und gut einsehbare Stück des Fluchtgangs vor uns. Ich warf mich zu Boden und schob vorsichtig den Kopf um die Ecke. »Verdammt!« flüsterte ich. Fartuloon schaute ebenfalls in den kaum mannsbreiten Schacht hinein. Er führte schräg aufwärts und bestand aus weit auseinanderliegenden, flachen Treppenstufen. Deutlich sah ich die herunterhängende Sicherheitsschaltung. Im selben Moment erloschen die wenigen Beleuchtungskörper. Ganz oben, keine fünfzig Meter weit entfernt, erkannte ich deutlich einige Soldaten in Kampfanzügen. Die Zone war gleißend hell ausgeleuchtet. Aber die Männer konnten sich nur schlecht bewegen, aus diesem Grund hatten sie jetzt wohl angehalten und beratschlagten, was zu tun war. Hin und wieder blendete mich der Strahl eines Scheinwerfers, der wohl zufällig nach unten gerichtet wurde … Fartuloon packte mich an der Schulter und sagte: »Wenn es gefährlich wird, schieße ich den Scheinwerfer aus. Spurte jetzt los. Hoffentlich wirkt die Sprengung.« Ich spannte meine Muskeln, wischte mir den Schweiß aus den Augen und konzentrierte mich auf das Ziel. Zwanzig Stufen aufwärts, und dann drei schnelle Bewegungen. Der Rest war schnelle Flucht. Nochmals atmete ich ein, warf mich dann in den Stollen hinein und sprang die Stufen aufwärts. Vier … sieben … elf … gegen die Helligkeit dort oben zeichnete sich das Kabel deutlich ab … fünfzehn … meine Finger schlossen sich um den einfachen Schalter. Ich drehte ihn einmal, zweimal herum und lauschte auf das Knistern der herunterstürzenden Gesteinsmassen. Eine gedämpfte Detonation über meinem Kopf. Gleichzeitig ein Schrei von oben: »Halt! Dort ist einer von denen …!« Eine breite Bahn Sand und Dreck rauschte
46 herunter wie ein Vorhang. Ich warf mich herum und sprang die Stufen abwärts. Nach zwei Sekunden drehte ich mich halb um und stützte mich an der Wand ab. Polternd, knirschend und krachend prasselten Gesteinsbrocken und Erdreich, Sand und die augenblicklich reagierenden und schnell abbindenden Klebematerialien aus dem Loch herunter. Jemand schoß von oben, aber er traf nur einen Gesteinsklotz, der knallend zerbarst. Das Poltern und Krachen der Lawine schwoll an. Der Luftdruck schleuderte mich halbwegs die letzten Stufen hinunter und in Fartuloons ausgebreitete Arme. Er brüllte mir zu: »Dieser Lärm! Da kommt mehr herunter als nur der Inhalt des Loches. Nichts wie weg hier.« Wir flüchteten um die rechtwinkligen Ecken des Korridors. Die Staubwolke holte uns ein und überholte uns. Yacori und einige ihrer Männer kamen uns entgegen und schwenkten erleichtert die Arme. Der Korridor begann zu beben und zu vibrieren: Hinter uns war ein gewaltiges Lärmen und Donnern zu hören. Fartuloon hob die Hände trichterförmig an den Mund und brüllte: »Reißt die Lampen und die Leitungen ab. Wir müssen diesen Korridor so nachhaltig räumen, daß sie gar nicht erst nach Abzweigungen suchen. Habt ihr verstanden?« Eine Handbewegung der neuen Anführerin scheuchte die Männer auseinander. Langsam liefen wir zum nächsten Punkt, an dem die Sperre ausgelöst werden konnte. »Bis Punkt drei gibt es nur massiven Fels und keinerlei Leitungssysteme oder Nebenstollen. Aber an der großen Abzweigung wird es schwierig werden.« »Auch dieses Problem ist zu lösen!« versprach der Bauchaufschneider. Zwanzig Minuten lang, während sich hinter uns der Korken aus Steinen und Sand festigte und ein weiteres Eindringen der Suchtrupps für lange Zeit verhinderte, erlebten wir einen planmäßigen Rückzug. Die Aus-
Hans Kneifel gestoßenen schraubten die Lampen ab, nahmen die Kabel und rollten sie zusammen, entfernten Schalter und die Breitbandkabel der Fernsehleitung. Meter um Meter arbeiteten wir uns rückwärts bis zum Punkt drei dieses Gangabschnitts. Yacori wandte sich an einen der ehemaligen Leibwächter und sagte halblaut, aber im Ton der neuen Autorität: »Bringt das Material an einen sicheren Platz. Wir sprengen auch diesen Sicherheitspunkt. Es dürfte das Beste sein, diese beiden Schlupfwege nach oben für alle Zeiten zu vergessen.« »Aber«, der Leibwächter nahm seinen Schutzhelm ab und kratzte sich ausdauernd am Scheitel, »das bedeutet, daß wir den Zugang dieser Abzweigung verschließen müssen!« »Richtig. Und zwar so perfekt, daß niemand auf den Einfall kommt, in dieser Richtung zu suchen oder zu bohren. Erinnert euch an die Quelle. Wir leiten sie um.« »Meinetwegen. Aber das ist eine höllische Arbeit.« »Was zählt mehr? Die Arbeit oder die Wahrscheinlichkeit, daß sie uns alle entdecken und vor die Arena der Gerechtigkeit schleifen? Zweitausend Ausgestoßene auf einen Schlag? Ich weiß, was wir tun werden.« »Gut. Ich benachrichtige die Baumeister.« Yacori selbst zündete die zweite Sprengladung. Etwa hundertneunzig Meter nach Punkt zwei brach auch hier die Decke ein und ließ eine große Menge Gestein nachrutschen. Wir wichen den heranrollenden Steinen aus und zogen uns noch einmal zurück. Dunkelheit, Staub und Gestank erfüllten jetzt wieder die Reste des gespenstischen Ganges. Schließlich standen wir kurz vor der Kreuzung. Eine Gruppe von Männern eilte davon, um die Einrichtungen des anderen Tunnels zur Oberfläche von Celkar zu demontieren. Plötzlich dröhnte Fartuloons Stimme auf. Der Bauchaufschneider schrie: »Halt!« Während die Männer zögernd stehenblie-
Im Reich der Ausgestoßenen ben, wandte sich Fartuloon an die Anführerin der Ausgestoßenen. »Die Männer sollen die technischen Einrichtungen ruhig demontieren. Aber sie dürfen die Zündungen nicht betätigen. Ich habe da einen besseren Plan. Hören Sie zu, Yacori.« Er winkte mir und erklärte in ein paar Sätzen sein Vorhaben. Es leuchtete uns allen ein. Es war in diesem Zusammenhang und unter den herrschenden Umständen die beste Lösung für uns und die Ausgestoßenen. Yacori gab ihre Anordnungen und ging mit uns zurück in den nächstgelegenen Wohnbezirk.
* Sieben Stunden später schüttelte ich Kaarfux die Hand und sagte in einem Tonfall, den er nicht mißdeuten konnte: »Wir wissen, daß Sie uns gerettet haben. Es wäre verantwortungslos, Sie und die Ausgestoßenen noch länger zu belästigen. Wir werden uns irgendwie zum Beiboot durchkämpfen. Danke für alles. Wir werden an Sie denken, wenn wir im Kristallpalast zu Arkon sind und die Schreckensherrschaft vorbei ist.« Er nickte und lächelte, etwas verlegen, wie mir schien. Auch Fartuloon verabschiedete sich in aller Form vom Strafverteidiger. »Sie bleiben hier bei Yacori?« »Vorläufig. Ich berate sie, wo es nötig ist. Irgendwann wird sich dort oben alles abgekühlt haben. Da ich ein Verfolgter Orbanaschols bin, steht und fällt diese Chance mit Ihrem Erfolg, Kristallprinz.« »Das weiß ich.« Yacori begleitete uns bis zur Kreuzung. Inzwischen war fieberhafte Tätigkeit ausgebrochen. Die Männer stellten einen riesigen Felsblock her, der haargenau in die Öffnung des geraden Gangabschnitts passen mußte. Sie bearbeiteten ihn mit Desintegratoren, und wir sahen, daß seine Oberfläche künstlich gealtert wurde. Der tiefste Punkt dieser Abzweigung würde von der kleinen Quelle, einer Wasserader zwischen den Felsen der
47 Planetenkruste, geflutet werden, nachdem der Block eingepaßt war und wir die Anlage verlassen hatten. Wir trugen einige Rationen Nahrungsmittel mit uns, waren ausgeruht und satt, hatten uns den Plan eingeprägt und wußten, an welcher Stelle wir die Oberfläche betreten würden. Mein photographisches Gedächtnis würde mich nicht wieder im Stich lassen. Yacori hob den Arm und sagte: »Ich hoffe, Sie haben mit allem Erfolg. Wenn Sie der neue Imperator sein sollten, Kristallprinz, dann denken Sie bitte an die Ausgestoßenen im Untergrund von Celkar. Versprechen Sie das?« Ich nickte und ergriff ihre Hand. »Ich verspreche es. Aber bis Arkon ist es weit, und ich ahne, daß noch zahllose Gefahren auf diesem Weg warten.« »Wir werden sie ebenso besiegen«, lachte Fartuloon und zog das Mädchen an seine mächtige Brust. Mit einiger Verblüffung sah ich, daß sie diese halbe Umarmung offensichtlich genoß; ein Umstand, der Fartuloon ebenso überraschte. »Sie sollten versuchen, alle diejenigen an die Oberfläche zu bringen, die keine Verbrechen begangen haben und nicht gesucht werden«, meinte ich. »Aber das ist ein schwieriger Weg. Ich meine, Kaarfux sollte dabei helfen, wenn die innenpolitische Lage sich geändert hat.« »Wir haben schon darüber gesprochen. Viel Glück, Kristallprinz. Und auch Ihnen, Fartuloon.« »Danke, Schwester!« sagte er und drehte sich um. Der Stollen war absolut leer. Sämtliche Einbauten waren demontiert worden. Die Strahlen unserer Scheinwerfer durchbohrten die Finsternis. Wir rannten nicht, aber wir gingen schnell und zielstrebig durch den Stollen. Schon nach etwa fünfzig Schritten kam der erste Punkt, an dem der Schacht verschlossen werden konnte. Wieder ging Fartuloon voraus, leuchtete meinen Weg aus, und ich betätigte die Zündung und rannte
48 auf den Scheinwerfer zu. Hinter uns brach die Decke des Ganges auf einer Länge von fünfzehn Metern zusammen, und wir flüchteten vor dem Staub und den Felstrümmern, die krachend durch den Tunnel polterten. »Hoffentlich geht die Rechnung Yacoris auf«, rief Fartuloon, als der Lärm und die Vibrationen aufgehört haben. »Du meinst, daß sich die Soldaten nicht aufhalten lassen werden?« »Früher oder später wird ein Schlupfloch nach dem anderen entdeckt.« Wir kletterten schier endlose Treppen hinauf. Dann kam ein Stück, das sich korkzieherartig hinaufschraubte und in halber Höhe von uns gesprengt wurde. Dieses Mal brach mit gewaltigem Druck eine unterplanetarische Wasserader zugleich mit dem Gestein und dem Zement aus der Wand und ergoß sich nach unten. Der Effekt würde die Soldaten, falls sie bis hier vorstießen, mit Sicherheit am weiteren Eindringen hindern. Wir kletterten weiter und kamen wieder in einen schmalen, niedrigen Gang, der mit ziemlicher Steigung uns immer näher dem Planetenboden brachte. Nach weiteren fünfzehn Metern zündete ich die dritte Ladung. Wieder wurde ein Teil dieses Ganges mit einer gewaltigen Menge herunterbrechenden Gesteins verstopft. Eine riesige Masse Sand und Geröll sickerte nach und bildete, mit dem Schnellzement durchmischt, einen felsharten Verschluß. Schließlich, nach zwei weiteren Sprengungen, standen wir zwischen den Hauptwurzeln eines uralten Baumes. Fartuloon bewegte die dick eingefettete Kurbel eines Geräts, das in dem hohlen Baum eine unregelmäßig geformte Plattform hob. Ich klappte einen Sehschlitz auf und starrte nach draußen. Nacht. Ruhe. Wir hörten nur Insekten und die Rufe von Nachtvögeln. Herrlich frische Luft strömte herein. »Schnell hinaus. Es ist wie eine Wiedergeburt!« flüsterte der Bauchaufschneider und kletterte innerhalb des Stammes hinauf. Ich reichte ihm die Ausrüstung nach und
Hans Kneifel verschloß mit größter Sorgfalt die verschiedenen Einrichtungen wieder hinter mir. Dann packten meine Hände die Einkerbungen im Holz, und schließlich stand ich neben Fartuloon zehn Meter über dem Boden in der ovalen Öffnung des Baumriesen. »Herrlich!« flüsterte ich. Wir hatten eine der wenigen InfrarotNachtsichtbrillen geschenkt bekommen. Fartuloon setzte das Gerät auf, schwang sich vorsichtig auf einen dicken Ast hinaus und durchforschte die Umgebung. Nach etwa fünf Minuten wisperte er: »Nichts. Niemand erwartet uns. Die Gegend scheint völlig leer zu sein.« Wir machten uns an den Abstieg. Vorsichtig und nahezu lautlos kletterten wir von Ast zu Ast, scheuchten ein paar Vögel aus den Nestern und mußten grinsen, weil dies das beste Zeichen dafür war, daß wir und auch der Geheimeingang bisher noch nicht entdeckt worden waren. Schließlich standen wir auf dem weichen Boden des Waldrands. »Auf zum Beiboot«, meinte Fartuloon. »Es ist noch ein langer Weg bis dorthin. Wir müssen die Dunkelheit ausnutzen.« »Einverstanden«, erwiderte ich leise. »Hoffentlich werden wir nicht gesehen, hoffentlich finden wir das Boot, hoffentlich startet es und wird nicht beschossen, und hoffentlich wartet das Schiff auf uns am angegebenen Treffpunkt.« Der Bauchaufschneider lachte leise und flüsterte: »Dein Optimismus hat, wie mir scheint, stark gelitten. Wir kommen immer wieder durch. Wir werden auch nach Arkon kommen und dort den letzten der Mörder der gerechten Strafe zuführen.« »Ich bin nichtsicher!« Wir schlichen langsam zwischen den Stämmen und kugelförmigen, kleinen Büschen entlang in die Richtung, die wir der Karte entnommen hatten. Zahllose Hindernisse lagen zwischen uns und dem Beiboot. Aber es waren keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.
Im Reich der Ausgestoßenen
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Fartuloon hat statistisch gesehen recht. Ihr werdet durchkommen, behauptete der Logiksektor. Welch ein Trost! ENDE
Lesen Sie nächste Woche ATLAN Nr. 294: Die Beutewelt von Clark Darlton Atlan und Fartuloon auf der Flucht – und auf dem Planeten der Sternenräuber