Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg Umschlagabbildung: corbis
Der literarische Überrasch...
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Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg Umschlagabbildung: corbis
Der literarische Überraschungserfolg aus Spanien: Gleich nach Erscheinen erstürmte Albert Sánchez Piñol mit seinem ersten Roman die Bestsellerlisten Spaniens und erhielt den renommierten Literaturpreis »Ojo critico de narrativa«. In seinem fesselnden Roman entführt uns Albert Sanchez Piñol auf eine ferne Insel. Ein einsamer Leuchtturm, ein verwirrter Leuchtturmwärter, der neue Meteorologe, der hier am Ende der Welt Zuflucht sucht. Doch die Stille täuscht, denn Nacht für Nacht wird der Leuchtturm von unheimlichen Wasserwesen angegriffen. »Im Rausch der Stille« bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Mensch und Kreatur und schöpft aus dieser Begegnung seine ungeheure erzählerische Kraft. Mit radikalem Mut entwirft Albert Sánchez Piñol einen Abenteuerroman á la Joseph Conrad. Ein dunkel leuchtendes Juwel, eine rauschhafte Obsession, ein fantastisches Meisterwerk.
ALBERT SÁNCHEZ PIÑOL wurde 1965 in Barcelona geboren. Er ist Anthropologe. »Im Rausch der Stille« ist sein erster Roman. Er erscheint weltweit in 29 Verlagen und ist in 27 Sprachen übersetzt.
ANGELIKA MAASS, 1952 geboren, arbeitet als Feuilletonredakteurin und Publizistin. Für ihre Übersetzungen von Werken der katalanischen Autorin Merce Rodoreda wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
Albert Sánchez Piñol
Im Rausch der Stille Roman Aus dem Katalanischen von Angelika Maass
S. Fischer
Die Übersetzung wurde vom Institut Ramon Llull gefördert
3. Auflage: August 2005 Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel ›La pell freda‹ im Verlag Edicions La Campana, Barcelona © 2002 by Albert Sánchez Piñol Für die deutsche Ausgabe: © 2005 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: H&G Herstellung, Hamburg Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-10-061602-2
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Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als wir denken. Und deshalb glauben wir, dass wir denen, die wir lieben, nie ganz nah sind. Als ich mich einschiffte, kannte ich dieses grausame Gesetz bereits. Doch es gibt Wahrheiten, die unsere Beachtung verdienen, und solche, mit denen wir uns besser nicht befassen. In der Morgendämmerung zeigte sich uns die Insel zum ersten Mal. Seit dreiunddreißig Tagen waren die Delfine unserem Schiff nicht mehr gefolgt und seit neunzehn konnte man den Dampf aus den Mündern der Besatzung sehen. Die schottischen Matrosen schützten sich mit Fausthandschuhen, die bis zum Ellbogen reichten. Ihre Pelze waren so gewaltig, dass sie an Walrossleiber erinnerten. Für die Senegalesen waren diese frostigen Breiten eine Strafe, und der Kapitän erlaubte, dass sie sich Wangen und Stirn zum Schutz mit Bratfett einrieben. Das Zeug wurde flüssig und drang in die Augen. Ihnen liefen die Tränen, aber sie beklagten sich nie. »Ihre Insel. Da, schauen Sie, am äußersten Horizont«, sagte der Kapitän zu mir. Ich konnte sie nicht sehen. Nur dieses kalte Meer, das wie immer von fernen Wolken verhüllt war. Obwohl wir weit im Süden waren, hatten die Formen und Gefahren der antarktischen Eisberge während unserer Überfahrt nicht für Turbulenzen gesorgt. Kein Berg aus Eis, keine Spur jener urwüchsi5
gen, spektakulären treibenden Riesen. Wir erlitten die Unannehmlichkeiten des Südens, aber seine Großartigkeit blieb uns vorenthalten. Mein Bestimmungsort lag also an der Schwelle einer eisigen Grenze, die ich nie überschreiten würde. Der Kapitän gab mir das Fernglas. »Und? Sehen Sie sie jetzt?« Ja, ich sah sie. Ein Stück Land, das zwischen dem Grau des Ozeans und dem Grau des Himmels zerdrückt wurde und von einem weißen Schaumband umgeben war. Sonst nichts. Ich musste noch eine Stunde warten. Dann wurden, je näher wir herankamen, die Umrisse für das bloße Auge erkennbar. Das war nun mein künftiger Wohnort: Eine Fläche, die es von einem Ende zum andern kaum auf anderthalb Kilometer brachte, in Form eines L. Der nördlichste Zipfel war eine Anhöhe aus Granit, dort stand der Leuchtturm. Sie unterstrich noch seine Kirchturmhöhe. Der Leuchtturm beeindruckte nicht eigentlich durch seine Größe, doch die geringe Ausdehnung der Insel verlieh ihm durch den Kontrast geradezu megalithische Festigkeit. Im Süden, an der Ferse des L, eine kleinere Erhebung, auf der sich das Haus des Wetterbeobachters zeigte. Also mein Haus. Die beiden Gebäude waren durch eine Art schmales Tal verbunden, wo Feuchtvegetation gedieh. Die Bäume standen dicht, wie eine Herde Tiere, die sich aneinander drängen, um von den anderen Körpern geschützt zu werden. Sie waren von Moos bedeckt. Moos, das dicker war als die Hecken in den Gärten, dazu kniehoch, ein seltsames Phänomen. Wie dreifarbige Lepra befleckte es die Stämme: blau, violett und schwarz. Die Insel war von kleineren Riffen umgeben, die da und dort aus dem Meer hervorragten. Es war völlig unmöglich, weniger als dreihundert Meter vor dem einzigen Strand zu ankern, der sich unterhalb des Hauses erstreckte. Es blieb mir deshalb nichts anderes übrig, als mich und mein Gepäck ins Beiboot zu verfrachten. Dass mich der Kapitän an Land be6
gleitete, verstand ich als zusätzlichen Freundschaftsdienst. Nichts verpflichtete ihn dazu. Doch war im Verlauf der Reise zwischen uns eine Form von Einverständnis entstanden, wie es sich manchmal zwischen Menschen verschiedener Generationen entwickelt. Ursprünglich stammte er aus dem Hamburger Hafenviertel, später wurde Dänemark seine Heimat. Falls ihn etwas charakterisierte, so waren es seine Augen. Wenn er jemanden ansah, gab es nichts anderes mehr auf der Welt. Den Einzelnen beurteilte er mit dem Maßstab eines Insektenforschers, Situationen als Sachverständiger. Manche würden das für Härte halten. Ich aber glaube, dass dies seine Art war, seine Vorstellung von Toleranz zum Vorschein zu bringen, die er im Hinterzimmer seines Geistes verbarg. Nie würde er seine Nächstenliebe mit Worten eingestehen, aber ihr galt all sein Tun. Er behandelte mich immer mit der Liebenswürdigkeit eines beauftragten Henkers. Wenn er etwas für mich tun könnte, würde er es tun. Wer war ich denn schon? Ein Mann, der Jugend näher als der Reife, abkommandiert auf eine winzige Insel, über die Polarwinde fegten. Zwölf Monate lang sollte ich dort leben, im einsamen Exil, fern jeglicher Zivilisation, mit einer ebenso monotonen wie belanglosen Arbeit, nämlich der, die Intensität, die Richtung und Häufigkeit der Winde aufzuzeichnen. So war es im Abkommen des internationalen Seewesens festgelegt. Selbstverständlich war die Bezahlung gut. Doch niemand nimmt einen solchen Posten wegen des Geldes an. Wir, der Kapitän, ich, zwanzig Matrosen und vier Boote, erreichten den Strand. Die Männer würden eine Weile brauchen, bis sie die Vorräte für ein ganzes Jahr ausgeladen hätten, dazu die Schiffskoffer und weiteres Zubehör, das ich dabeihatte. Viele Bücher. Mir war klar, dass ich Zeit im Überfluss haben würde, und ich wollte meinen Verstand mit der Lektüre beschäftigen, die mir in den vergangenen Jahren meines Le7
bens versagt geblieben war. »Nun«, sagte der Kapitän, als er merkte, dass die Unternehmung dauern würde, »da sind wir.« So gingen wir, er und ich, durch den Sand. Ein schmaler, ansteigender Weg führte zum Haus. Der frühere Bewohner hatte zum Zeitvertreib ein Geländer gebaut. Holzstücke, die das Meer nicht gewollt und glatt geschliffen hatte, nur behelfsmäßig zusammengenagelt. Ja, das hatte ein vernünftiger Kopf getan. Und auch wenn es unglaublich klingen mag, so war es dieses Detail, das mich zum ersten Mal an die Person denken ließ, die ich ablösen sollte. Dieser Mensch war jemand Konkretes, jetzt konnte ich eine seiner Taten, mit der er auf die Welt eingewirkt hatte, sehen, so zufällig sie auch sein mochte. Ich dachte an ihn, und laut sagte ich: »Seltsam, dass der Wetterbeobachter nicht herausgekommen ist, um uns in Empfang zu nehmen. Er müsste doch sehr froh sein, dass er abgelöst wird.« So erging es mir häufig mit dem Kapitän: Kaum hatte ich etwas gesagt, biss ich mir auf die Zunge ȭ seit einer ganzen Weile gingen seine Ideen meinen voraus. Vor uns stand das Haus. Ein kegelförmiges Dach mit Dachziegeln aus Schiefer und Mauern aus roten Backsteinen. Der Bau besaß nicht die geringste Anmut oder Harmonie. In den Alpen wäre es eine Schutzhütte, eine Einsiedelei in den Wäldern oder ein Zollhaus. Während eines langen Augenblicks gab sich der Kapitän reglos und still wie einer, der Gefahr wittert, der genauen Beobachtung hin. Ich hatte ihm alle Initiative überlassen. Ein früher Morgenwind bewegte die Zweige der paar Bäume, welche die Ecken der Behausung markierten, eine Art kanadischer Eichen. Die Luft war nicht eisig, aber unangenehm. Obwohl es da etwas wie Trostlosigkeit gab, konnte man es nicht recht einordnen. Es lag nicht so sehr an dem, was da war, als an dem, was wir nicht sahen. Wo war der Wetterbeobachter? 8
War er irgendwo, und ging er seiner Arbeit nach? Ging er einfach auf der Insel spazieren? Nach und nach fielen mir Dinge auf, die nichts Gutes verhießen. Die Fenster waren klein, Rechtecke mit sehr dicken Scheiben. Die hölzernen Läden standen offen und schlugen hin und her. Das gefiel mir nicht. Auf der Rückseite des Hauses konnte man entlang der Mauer einen ehemaligen Garten erkennen, der von halb eingegrabenen Steinen begrenzt war. Doch die meisten Pflanzen waren verschwunden, wie von einer Herde Elefanten zertrampelt. Der Kapitän machte eine für ihn typische Bewegung: Er reckte das Kinn, als ob ihn der Kragen des blauen Überziehers leicht würgen würde. Dann stieß er die Tür auf, die sich mit dem Kreischen eines entweihten Pharaonengrabes öffnete. Wenn Türen sprechen könnten, dann hieß dieses Quietschen: »Kommt herein, wenn ihr wollt, aber nur auf eigene Verantwortung.« Wir traten also ein. Die Szenerie erinnerte an den Bericht eines Afrikaforschers. Als hätte eine Kolonne tropischer Ameisen den Raum verwüstet, alles Lebendige verschlungen, die Gegenstände verschmäht. Die wichtigsten Möbel waren intakt. Weniger Zerstörung als Verwahrlosung. Das Ganze nur ein Raum. Das Bett befand sich an seinem Platz, ebenso der Kamin und der kleine Holzstoß. Der Tisch war umgekippt. Das Quecksilberbarometer war ganz. Es gab keine Küchengeräte ȭ ich weiß nicht, warum mir dieses Detail höchst geheimnisvoll vorkam. Weder persönliche Gegenstände meines Vorgängers noch sein Werkzeug waren zu sehen. Doch die Unordnung schien mir eher das Resultat einer seltsamen Verwirrung als irgendeiner Naturkatastrophe zu sein. Und obgleich trostlos, war es insgesamt doch immer noch eine bewohnbare Unterkunft. Das Rauschen der Wellen drang deutlich zu uns herauf. »Wo sollen wir die Sachen des Herrn Beobachters der Lüfte 9
und Winde hinstellen?«, fragte der dazugekommene Senegalese Sow. Die Matrosen hatten es geschafft, das Gepäck vom Strand herzutragen. »Hier, hier, hier hinein, es ist egal«, sagte ich mit großem Nachdruck, um den Schrecken zu überspielen, den mir die plötzliche Stimme eingejagt hatte. Der Kapitän ließ seinen Ärger über die Situation an der Schiffsbesatzung aus: »Bitte, Sow, die Jungs sollen mir diesen Mist wegschaffen.« Während die Männer sich beeilten, die Koffer abzusetzen und aufzuräumen, schlug der Kapitän vor, zum Leuchtturm zu gehen. »Vielleicht finden wir dort Ihren Vorgänger«, sagte er, als uns die Matrosen nicht mehr hören konnten. So viel er wusste, war der Leuchtturm ebenfalls bewohnt. Er erinnerte sich nicht genau, ob er den Holländern, den Franzosen oder wem gehörte, aber irgendjemandem gehörte er. Der Leuchtturmwärter war der Nachbar des Wetterbeobachters, und es wäre nur logisch und verständlich, wenn sie sich unter den gegebenen Umständen angefreundet hätten. Das war jedoch mehr eine Überlegung als eine Hoffnung, die etwas über den Verbleib des Wettermanns besagt, aber nicht den Zustand des Hauses erklärt hätte. Auf jeden Fall lag es nahe, zum Leuchtturm zu gehen. Ich erinnere mich noch an die Unruhe, die ich auf dem kurzen Weg verspürt hatte. Ich glaube, dass sie hauptsächlich auf meine momentane seelische Verfassung zurückzuführen war. Es war aber auch kein Wald, wie wir ihn kennen. Ein Trampelpfad, durch Menschenschritte entstanden, führte uns auf fast geradem Weg zum Leuchtturm. Er wich nur ab, wenn unter dem verräterischen Moos Löcher mit Schlamm und schwarzer Brühe versteckt waren. Gleich hinter den Bäumen war das Meer, dessen tonlose Rhythmen zu uns drangen. Aber das Schlimmste war das Schweigen. Oder besser gesagt: 10
die Nichtgeräusche. Es gab keine Melodien, wie man sie mit waldiger Natur in Verbindung bringt, weder helle Vogelnoch Insektenstimmen. Zahlreiche Baumstämme, von beachtlichen Ausmaßen, waren durch die Wucht der Winde ganz krumm gewachsen. Vom Schiff aus hatte der Wald wie das reinste Dickicht ausgesehen. Aber die Entfernung täuscht oft über die Dichte, die menschliche oder die pflanzliche. Diesmal aber nicht. Die Bäume standen so nah beieinander, dass oft nicht auszumachen war, ob zwei aus der gleichen Wurzel hervorkamen oder ob sie einzeln wuchsen. Unseren Weg querten mehrere kleine Rinnsale. Sie sahen aus wie Schmelzwasser in den Bergen, das aus keiner bestimmten Quelle hervorsprudelt. Mit einem großen Schritt konnte man über sie hinwegschreiten. Die Spitze des Leuchtturms tauchte plötzlich auf, die höchsten Bäume überragend. Mit dem Wald war auch der Weg zu Ende. Wir konnten den nackten Granitsockel sehen, auf dem sich der Bau erhob. An drei Seiten war er vom Ozean umgeben. Bei schwerem Seegang schlug das Meer sicher gewaltig gegen den Felsen. Auf alle Fälle hatte der Architekt gewissenhaft gearbeitet. Eine abgerundete massive Oberfläche, um dem anstürmenden Meer besser Widerstand zu leisten; fünf gut verteilte mittelalterliche Schießscharten; ein schmaler kleiner Balkon mit rostigem Geländer, eine zugespitzte Kuppel. Gänzlich unverständlich erschienen die Zusatzkonstruktionen am Balkon. Gekreuzte Stangen und Pfähle, oft mit scharfen Spitzen. Ein Gerüst für Reparaturarbeiten? Wir hatten weder Zeit noch Lust, darüber nachzudenken. »Hallo! Hallo! Heda!«, rief der Kapitän, indem er mit der flachen Hand gegen die eiserne Tür schlug. Wir erhielten keine Antwort, doch reichte diese eine Bewegung, um festzustellen, dass die Türe nicht verschlossen war. Es war ein äußerst 11
massives Exemplar. Das Eisen war rund zwanzig Zentimeter dick und durch Dutzende Nietnägel verstärkt. Gewicht und Volumen waren so gewaltig, dass wir sie nur mit vereinten Kräften aufdrücken konnten. Drinnen eine seltsame Beleuchtung. Das einfallende Außenlicht schuf eine Stimmung wie in einer Kathedrale. An den Wänden hielt sich eine Kalkschicht, die die konkaven Wände mit weißen Flecken übersäte. Die Treppe schließlich stieg, an den Stein geklammert, spiralförmig empor. Soviel wir sehen konnten, wurde der untere Teil als Lager genutzt, mit einer beträchtlichen Menge an Werkzeug und Vorräten. Der Kapitän murmelte leise etwas vor sich hin, das ich nicht verstand. Er nahm, sehr entschlossen, den Aufstieg in Angriff. Die sechsundneunzig Stufen endeten unter einer Holzdecke, die den Boden des oberen Stockwerks bildete. Ein Stoß gegen eine quadratische Falltür, und wir waren drinnen. Und wirklich, da gab es eine perfekt aufgeräumte, warme Wohnung. Ein Ofen mit einem ellbogenförmigen Rohr stand im Zentrum des beinahe runden Raumes. Eine Wand mit Tür durchbrach die Kugelform des Zimmers. Dahinter befand sich vielleicht die Küche. Eine weitere Treppe führte in ein anderes Stockwerk, sicher in den Maschinenraum des Leuchtturms. Bis hierher schien alles normal; irritierend war die Ordnung, die Art der Ordnung im'Haus. Die Sachen waren sorgfältig entlang der Wände auf den Boden gelegt. Da stapelten sich Gegenstände, die man normalerweise auf Tische oder Regale legt. Auf den Kisten immer ein Gewicht, mochten sie einen Deckel haben oder nicht. Etwa so: eine Schachtel mit Schuhen und auf den Schuhen ein Bügeleisen. Oder so: ein zylindriger Ölkanister, einen halben Meter hoch und voller Schmutzwäsche. Darauf ein Stück Holz, das die Kleider zusammendrückte. Weder das Bügeleisen noch das Holzstück eigneten sich als Deckel; jedenfalls 12
hielten sie nicht den Gestank ab, wenn das der gewünschte Zweck war. Es schien, als habe der Besitzer Angst, die Inhalte könnten, befreit von der Schwerkraft, wie Vögelchen davonfliegen, und als beschwere er deshalb seine kleinen Lager mit schweren Gewichten. Schließlich das Bett. Ein altes Möbel, mit schmalen Eisenstäben am Kopfteil. Und unter drei dicken Decken der Mann. Zweifellos hatten wir ihn im Halbschlaf überrascht. Als wir eintraten, hatte er die Augen schon geöffnet. Aber er reagierte nicht. Er sah uns mit kleinen Maulwurfsaugen an, ohne zu blinzeln. Die Decken wie das Fell eines Bären bis zur Nase hochgezogen. Das Zimmer war in sehr sauberem Zustand, er nicht so ganz. Dieses Schauspiel bewegte sich zwischen Wehrlosigkeit, Nachlässigkeit und Wildheit. Unter der Matratze ein bis oben mit kalter Pisse gefüllter Nachttopf. »Guten Tag, Fachmann für Seezeichen. Wir sind die Ablösung des Wetterbeobachters, Ihres Nachbarn«, sagte der Kapitän ohne Umschweife und wies mit einer Hand in die Richtung des Hauses. »Wissen Sie, wo er steckt?« Die Worte des Kapitäns erinnerten mich, dass wir vom Landeplatz am Strand aus anderthalb Kilometer landeinwärts gegangen waren. Mir war, als sei diese Distanz größer als die ganze Strecke zwischen Europa und der Insel. Und ich dachte auch daran, dass der Kapitän sehr bald fortgehen würde. Eine schwarz behaarte Hand erhob sich vom Bett zu einer unbestimmten Geste. Doch auf halbem Weg gab sie auf. Die Unbeweglichkeit des Mannes machte den Kapitän wütend: »Verstehen Sie mich nicht? Verstehen Sie meine Sprache nicht? Sprechen Sie Französisch? Holländisch?« Doch der Mann tat nichts, als ihn anzustarren. Er bemühte sich nicht einmal, die Decken vom Gesicht zu ziehen. »Um Gottes willen!«, brüllte der Kapitän und ballte die 13
Hand zur Faust. »Ich habe eine wichtige Handelsfahrt zu erledigen. Ich bin auf der Durchreise! Auf Veranlassung der Reederei bin ich von meiner Route abgewichen, um diesen Mann hier abzusetzen und seinen Vorgänger mitzunehmen. Verstehen Sie das? Aber der jetzige Wetterbeobachter ist nicht da. Er ist nicht da. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?« Der Leuchtturmwärter sah uns abwechselnd an. Weiter nichts. Wütend, mit rotem Kopf, ließ der Kapitän nicht locker: »Ich bin Kapitän und befugt, Sie vor Gericht zu bringen, wenn Sie mir notwendige Auskünfte zur Sicherstellung von Gütern und Personen verweigern! Ich wiederhole es zum letzten Mal: Wo ist der für diese Insel bestimmte Wetterbeobachter?« »Bedauerlicherweise kann ich Ihre Frage nicht beantworten.« Stille trat ein. Wir hatten es schon fast aufgegeben, uns mit diesem Wesen zu verständigen, das uns plötzlich mit dem Akzent eines österreichischen Artilleristen überraschte. Der Kapitän, ein wenig ruhiger, änderte den Ton: »Gut, das ist schon besser. Warum können Sie mir die Frage nicht beantworten? Haben Sie Kontakt zum Wetterbeobachter? Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« Doch der Mann hüllte sich wieder in Schweigen. »Stehen Sie auf.«, befahl der Kapitän plötzlich. Der andere gehorchte, langsam. Er zog die Decken zurück und streckte die Füße hervor. Sein Umfang war ziemlich beträchtlich. Er bewegte sich wie ein entwurzelter Baum, der gehen lernt. Er blieb auf dem Bett sitzen und sah zu Boden. Er war nackt. Ihm schien seine Nacktheit nichts auszumachen. Aber der Kapitän wandte den Blick von diesem Körper, berührt von einem Schamgefühl, das der Leuchtturmwärter nicht kannte. Seine Brust war mit einem Fell aus Haaren be14
deckt, die sich wie wilde Pflanzen an beiden Schultern emporrankten. Südlich des Bauchnabels war die Behaarung dicht wie ein Dschungel. Ich erblickte ein schlaffes, aber riesiges Glied. Dass es ebenfalls mit Haaren bedeckt war, und zwar fast bis zur Vorhaut, erschreckte mich. ›Was suchen deine Augen da‹, sagte ich mir und wandte sie ab, hin zum Gesicht unseres Gesprächspartners. Sein Bart war der eines klassischen Säulenheiligen, ganz gepflegt. Er gehörte zu den Männern mit starkem Haarwuchs, der bereits ein paar Zentimeter über seinen auch sehr buschigen Brauen begann. Er saß auf der Matratze, die Hände auf die Knie gestützt, die Arme in symmetrischer Haltung. Seine Augen und die Nase konzentrierten sich auf die Mitte seines Gesichts, so dass viel Platz für die Wangen mit mongolischen Backenknochen blieb. Die Unterhaltung schien ihn kalt zu lassen. Mir war nicht klar, ob er so diszipliniert war oder schlafwandelte. Doch ich beobachtete ihn; seine Grimassen verrieten seine Nervosität: Er öffnete und schloss die Lippen wie eine Fledermaus. Dabei konnte ich seine einzeln stehenden Zähne sehen. Der Kapitän bückte sich, bis sein Gesicht ganz nah am Ohr des andern war: »Sind Sie verrückt geworden? Sind Sie sich im Klaren über Ihre Verantwortung? Sie sabotieren eine Mission, welche die internationalen Verträge zu erfüllen sucht! Wie heißen Sie?« Der Mann sah den Kapitän an: »Wer?« »Sie! Ich spreche mit Ihnen! Wie lautet Ihr rechtmäßiger Name?« »Batís. Batís Caffó.« Der Kapitän, jede Silbe betonend: »Zum letzten Mal, Fachmann für Seezeichen Caffó, ermahne ich Sie: Wo ist der Wetterbeobachter?« Ohne ihn anzusehen, sagte der Mann nach einem Zögern: 15
»Es ist mir nicht möglich, diese Frage zu beantworten.« »Er ist verrückt, er ist einfach verrückt«, gab der Kapitän auf und lief wie ein Tier im Käfig auf und ab. Er ignorierte nun unseren Mann und durchsuchte seine Sachen mit kriminalistischem Gespür. Als er ins Nebenzimmer trat, erblickte ich am Kopfende des Bettes ein Buch. Am Boden, ebenfalls mit einem Stein beschwert. Ich blätterte es oberflächlich durch. Um das Gespräch ein wenig in Gang zu bringen, sagte ich: »Ich kenne das Werk des Doktor Frazer, habe aber keine besondere Meinung dazu. Ich weiß nicht, ob Der goldene Zweig ein Geniestreich ist oder völlig belanglos.« »Das Buch gehört mir nicht, ich habe es nicht gelesen.« Was für eine seltsame Logik. Er sagte es, als müsse zwischen diesen beiden Tatsachen irgendein Zusammenhang bestehen. Aber das war schon alles. Es gelang mir nicht, ihn zum Weiterreden zu bewegen. Er sah mich an mit seiner lustlosen Gespenstermiene und nahm nicht einmal die Hände von den Knien. »Bitte, geben Sie sich keine Mühe!«, unterbrach mich der Kapitän, der nichts von Bedeutung gefunden hatte. »Dieser Kerl hat nicht einmal seine Dienstvorschriften gelesen. Der bringt mich auf die Palme.« Wir konnten nichts weiter tun, als zum Haus des Wetterbeobachters zurückzukehren. Auf halbem Weg jedoch, noch immer mitten im Wald, hielt mich der Kapitän an, indem er mich am Ärmel packte: »Das nächstgelegene Land ist die Bouvet-Insel, welche die Norweger für sich beanspruchen, sechshundert Seemeilen südwestlich von hier«, und nach einer langen, wohl überlegten Pause: »Sind Sie sicher, dass Sie bleiben wollen? Mir gefällt das nicht. Das ist eine Blumentopfscherbe, verloren in dem am wenigsten befahrenen Ozean des Planeten, auf dem16
selben Breitengrad wie die Einöde von Patagonien. Ich kann vor jedem Verwaltungsausschuss beweisen, dass dieser Ort nicht die minimalsten Bedingungen erfüllt. Niemand wird Ihnen etwas vorwerfen. Sie haben mein Wort.« Sollte ich umkehren? Alles wies auf eine Bejahung der Frage hin. Doch in solchen Situationen lässt man sich von versteckten Überlegungen leiten. Ich glaube, dass das Lächerliche der Situation entscheidend für mich war: Ich hatte nicht die halbe Welt durchquert, um auf meinen Posten zu verzichten, nachdem ich gerade dort angelangt war. »Das Haus des Wetterbeobachters befindet sich in gutem Zustand, ich habe Vorräte für ein ganzes Jahr, und nichts hindert mich an der Erfüllung meiner täglichen Aufgaben. Es war sehr wahrscheinlich, dass mein Vorgänger irgendeinem dummen Unfall zum Opfer gefallen war. Vielleicht Selbstmord, wer weiß. Aber ich glaube nicht, dass dieser Mann dafür verantwortlich ist. Meiner Meinung ist er nur für sich selbst eine Gefahr. Die Einsamkeit hat ihn um den Verstand gebracht, und gewiss hat er Angst, dass wir ihn für das Verschwinden meines Kollegen verantwortlich machen. So erklärt sich sein Verhalten.« So sprach ich und war selbst erstaunt, wie scharfsichtig ich die Lage zusammengefasst hatte. Ich hatte nur zwei Dinge ausgeschlossen: meine Gefühle und meine Vorahnungen. Mit dem Blick einer Kobra sah mich der Kapitän an. Er wippte mit dem Körper sachte hin und her, bald auf dem einen, bald auf dem andern Fuß, die Hände auf dem Rücken. »Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen«, insistierte ich. »Eine Enttäuschung hat Sie hierher geführt, da bin ich mir sicher«, behauptete er. Nach kurzem Bedenken sagte ich, »wer weiß«, und er erwiderte, »doch, ganz gewiss, Sie sind aus Verbitterung hergekommen«. Er breitete die Arme aus wie ein Zauberer, der seine Unschuld beweist ȭ die Gebärde eines Spielers, 17
der auf die Fortsetzung der Partie verzichtet. Eine Gebärde, die besagte: Ich kann weiter nichts tun. Wir erreichten den Strand. Die zwanzig Matrosen erwarteten sehnsüchtig den Befehl zur Rückkehr auf das Schiff. Sie bemerkten ohne bestimmten Grund eine oberflächliche Nervosität. Der Senegalese Sow klopfte mir aufmunternd auf den Rücken. Er war ein kahlköpfiger Schwarzer mit schneeweißem Bart. Er zwinkerte mir zu und sagte: »Achten Sie nicht auf die Jungs. Das sind frisch rekrutierte Matrosen, die kommen aus dem schottischen Hochland. Ein Kaktus aus Yucatän ist mit den Geheimnissen und Legenden des Meeres besser vertraut als sie. Die sind nicht einmal weiß, sondern rot. Und jeder weiß: Diese Rasse beherrscht der Kneipenaberglaube. Essen Sie gesund, arbeiten Sie viel, betrachten Sie sich zur Erinnerung im Spiegel, sprechen Sie laut, damit Sie das Reden nicht verlernen, und beschäftigen Sie Ihren Geist mit einfachen Themen. Das ist alles. Denn was bedeutet schon ein Jahr unseres Lebens, verglichen mit der Langmut des lieben Gottes?« Darauf stiegen sie in die Boote und ruderten davon. Die Matrosen sahen mich mit einer Mischung aus Mitleid und Schrecken an. Sie betrachteten mich wie Kinder, die zum ersten Mal einen Vogel Strauß sehen, oder wie brave Bürger angesichts eines langen Zugs von Verwundeten, die aus dem Krieg zurückkehren. Das Schiff entfernte sich mit der Langsamkeit einer Tartane. Mein Blick folgte ihm, bis es nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war. In diesem schwindenden Punkt lag etwas wie ein unersetzbarer Verlust. Ich spürte eine Art Eisenring, der meinen Schädel zusammenpresste. Ich fand nicht heraus, ob es das Gefühl von Heimweh nach der Zivilisation, die Verzweiflung eines Sträflings oder einfach Angst war. Ich blieb noch eine Weile am Strand. Die Bucht hatte die 18
Form eines klar gezeichneten Halbmonds, rechts und links von vulkanischen Felsen verschlossen; spitze, kantige Steine, durchlöchert wie Käse und sehr viel leichter, als ihre Größe vermuten ließ. Der Sand sah wie Weihrauchasche aus, grau und zusammengepresst. Kleine runde Löcher wiesen auf Verstecke von Krebsen hin. Wegen der Klippen rollten die Wellen sehr flach ans Ufer; ein zarter Film aus weißem Schaum markierte die Grenze zwischen Meer und Land. Die Brandung hatte Dutzende von sauberen, blanken Stämmen in die Küste gerammt. Einige waren die Wurzeln gefällter Bäume. Die Gezeiten hatten sie mit kunstvoller Präzision bearbeitet, und man konnte Skulpturen von eigenartig labyrinthischer Schönheit bewundern. Stellenweise hatte der Himmel die Farbe schmutzigen Silbers oder, dunkler noch, einer rostigen Rüstung. Die Sonne war weiter nichts als eine auf halber Höhe hängende Orange, klein, von ewigen Wolken bedeckt, die das Licht nur widerwillig durchsickern ließen. Licht, das in diesen Breitengraden nie den Zenit erreichen würde. Meine Beschreibung ist nicht zuverlässig. Es ist das, was ich sehen konnte. Doch wie man die Landschaft wahrnimmt, spiegelt gewöhnlich das wieder, was man in seinem Innern verbirgt.
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In manchen Situationen verhandeln wir unsere Zukunft mit unserer Vergangenheit. Man setzt sich auf einen abgelegenen Felsen und ist bemüht, ein Bündnis zu schließen zwischen dem, was war ȭ große Niederlagen ȭ, und dem, was noch kommen wird ȭ wahrhafte Finsternis. In diesem Sinne vertraute ich darauf, dass die Summe aus Zeit, Nachdenken und Entfernung Wunder bewirkte. Nichts anderes hatte mich auf die Insel geführt. Während der verbleibenden Stunden dieses unwirklichen Vormittags beschäftigte ich mich damit, mit der Einstellung eines weltlichen Mönchs mein Gepäck auszupacken, zu sortieren und zu ordnen. Denn was sollte mein Leben auf der Insel anderes sein als das Experiment eines empirischen Einsiedlers? Die meisten Bücher fanden Platz in den Regalen, die mein Kollege mir hinterlassen hatte, sonst waren weiter keine Spuren von ihm zu sehen. Danach kamen die Säcke mit Mehl, mit Konserven, das Pökelfleisch, die Ätherkapseln für unvorhergesehene Schmerzen, die Vitamin-C-Tabletten, zu Tausenden, unerlässlich zur Bekämpfung von Skorbut. Die Messinstrumente, zum Glück noch ganz, die Temperaturregister, zwei Quecksilberbarometer, drei diachronische Modulare und die bestens bestückte Hausapotheke. Was die Kuriositäten angeht, die ich im Schiffskoffer 22-E vorfand, in welchem ich Briefe und Gesuche aufbewahrte, so sind die Be20
strebungen verschiedener wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Branchen zu erwähnen. Die Russen der Kiewer Universität machten sich meinen Aufenthalt in einer derart unwirtlichen Gegend zu Nutze und baten mich um ein biologisches Experiment. Aus Gründen, die ich nicht recht verstand, besaß die Insel die idealen Koordinaten zur Vermehrung kleiner Nagetiere. Man hatte mich damit beauftragt, eine wollhaarige Zwergrasse sibirischer Kaninchen zu züchten, für die dieses Klima sehr geeignet sei. Wäre ich damit erfolgreich, würden die dort anlaufenden Schiffe frisches Fleisch vorfinden. Man hatte mir diesbezüglich einige Bücher überlassen, die Fachleute mit großem grafischem Aufwand über die Pflege unterrichteten, die Wollhaarkaninchen benötigen. Ich hatte aber keinen Käfig und auch kein Kaninchen, weder ein wollhaariges noch ein kurzhaariges. Ich erinnerte mich allerdings an das freundliche Grinsen des Schiffskochs, jedes Mal, wenn der Kapitän und ich ihn zu seinem Schmorbraten beglückwünschten, der auf der Speisekarte unter dem Titel »Russisches Kaninchen an Kiewer Sauce« aufgeführt war. Die Geografische Gesellschaft Berlin hatte mir fünfzehn Büchsen Formol mitgegeben. Laut den beigefügten Anweisungen war ich beauftragt, sie bitte zu füllen mit »interessanten einheimischen Insekten, sofern sie zur Gattung der Hydrometridae Halobates und der Chironomidae Pontomyia gehören, die das Wasser nicht scheuen«. Typischer Ausdruck germanischer Tüchtigkeit war der Notizblock mit einem Überzug aus wasserfester Seide. Und falls meine mehrsprachige Bildung etwa nicht umfassend genug war, waren die Anweisungen in acht Sprachen abgefasst, darunter Finnisch und Türkisch. In strengen gotischen Lettern wies man mich darauf hin, dass die Formolbüchsen Eigentum des deutschen Staates waren und dass »die teilweise Beschädigung oder der gänzli21
ehe Bruch eines oder mehrerer Gefäße« entsprechende behördliche Sanktionen nach sich zögen. Zu meiner großen Erleichterung besagte ein zum Schluss beigefügter Zusatz, dass meine Eigenschaft als wissenschaftlicher Mitarbeiter mich von den Sanktionen befreite. Sehr nachsichtig. Leider wurde mir jedoch in keinem Absatz erläutert, wie die Hydrometridae Halobates oder die Chironomidae Pontomyia aussahen, ob es sich um Falter oder Käfer handelte oder welche von Interesse waren und warum. Ein Lyoner Handelsunternehmen, ein Geschäftspartner der Reederei, erbat meine Dienste auf dem Sondergebiet der Mineralogie. Sein Gesuch wurde von einem kleinen Instrumentarium zur Analyse und Erforschung sowie einer Gebrauchsanleitung begleitet. Sollte ich Goldlager mit einer höheren Reinheit als fünfundsechzig Prozent entdecken, wäre man mir ȭ aber nur in diesem Fall ȭ dankbar, wenn ich es »mit der größten Dringlich- und Schnelligkeit« mitteilen würde. Klar doch. Falls ich eine Goldmine finden sollte, wäre meine erste Reaktion selbstverständlich, mich zu einem Lyoner Büro zu begeben, um sie ins Grundbuch eintragen zu lassen. Schließlich ersuchte mich ein katholischer Missionar in verschnörkelter Schönschrift, ich möge mit »viel Vorsicht und Engelsgeduld« einige Fragebogen ausfüllen, die mir die lokalen Eingeborenen beantworten sollten. »Sollten die Bantufürsten der Insel sehr scheu sein, verlieren Sie den Mut nicht«, riet er mir. »Gehen Sie mit gutem Beispiel voran, und beten Sie kniend einen Rosenkranz. Das wird sie motivieren, dem Weg des Glaubens zu folgen.« Zweifellos litt der Missionar an einem schweren Informationsmangel, was meinen Aufenthaltsort betraf, wo ich sicher in keine Bantukönigreiche oder -republiken kommen würde. Und als nur noch zwei Kisten zu öffnen waren, tauchte dieser unerwartete Umschlag auf, der Brief. 22
Ich würde ja gern sagen, dass ich ihn zerriss, ohne ihn gelesen zu haben. Aber ich brachte es nicht fertig. Erst Tage später sollte ich mich an den Ablauf der Ereignisse erinnern. Und warum? Weil dieser dumme Brief mich so aufregte, dass ich die zwei ungeöffneten Kisten vergaß. Ich untersuchte ihren Inhalt nicht, und das hätte wenig später fast meine Ermordung herbeigeführt. Er stammte von meinen früheren Glaubensgenossen. Am meisten erzürnte mich, dass nichts im Brief stand. Seine Verfasser hatten sich Mühe gegeben, der Wahrheit keine Lücke zu lassen, aber er enthielt auch keine Gemeinheiten. Sie wollten mir keinen Grund zum Hass geben und merkten nicht, dass gerade diese Haltung die hassenswerteste war. Am schlimmsten aber waren der Nachdruck und die List, mit denen sie mich um Stillschweigen baten. Ihre einzige Sorge war, dass ich auch in Zukunft gegen sie war und weiter das tun würde, was ich mit ihnen in der Vergangenheit getan hatte. Sie betonten nach wie vor, dass sie mein fahnenflüchtiges Verhalten bedauerten. Sie boten mir sogar an, mich zu rehabilitieren, falls ich mich zur Heimkehr entschloss. Sie glaubten also wirklich, dass meine Verbitterung eine Frage des persönlichen Ehrgeizes war! Was ich las, war weniger ein Brief als ein Katalog von Kränkungen. Ja, aus neuntausend Kilometern Entfernung beschimpfte ich sie. Aber dumm war ich nicht. Trotz meiner Erregung verfluchte ich keine Menschen, sondern nur die Gefühle, die mich noch mit der Vergangenheit verbanden. Ich war nicht der Gefangene meiner kleinen Insel, nur der meiner Erinnerungen. Wenn ich mich auf dieser Insel befand, dann wegen meines politischen Kampfes, der seltsamerweise mit einem Brief begonnen hatte und jetzt, endlich, wieder mit einem Brief endete.
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Irische Waisenkinder, die vom Glück begünstigt waren, kamen ins Institut Blacktorne. England sah in den Waisenkindern Irlands eine lauernde Gefahr, Kanonenfutter für die Aufständischen. Blacktorne hatte die Aufgabe, uns in harmlose, unterwürfige Proletarier zu verwandeln. Vor allem Matrosen. Ein bezeichnender Beruf, denn so wurden die von Geburt an Verdächtigen aufs Meer hinaus vertrieben und gleichzeitig in der englischen Flotte als schwimmendem Gefängnis eingesperrt. Den begabteren Blacktorne-Schülern wurde erlaubt, bis zur Mittelstufe zu studieren. Das betraf auch mich, und so wurde ich Fachmann für Marinelogistik, ein vollkommen mittelmäßiger FML. Das schon, First Class, wie es im Diplom stand, das einem Ihre Gnädige Majestät verlieh. Ehrlicherweise müssen wir zugeben, dass die Pädagogen von Blacktorne nicht katastrophal waren. Sie brachten uns Grundkenntnisse der Ozeanografie und der Meteorologie bei. Der Kommunikation ebenfalls. Das war der einzige Vorteil der englischen Besetzung: Ich mochte noch so sehr Katholik sein, so hatte ich doch Morsen lieber als Latein. Es geschah jedoch, dass die englische Arroganz alle Grenzen überstieg. England glaubt, es könne die Bewohner seiner Kolonien wie Hunde behandeln. Und um die Demütigung noch zu vergrößern, verlangt es Treue von den Hunden, die die Krümel von seinem Tisch fressen. Sie verschifften uns als Matrosen, während ganz Irland Schiffbruch erlitt. Wir sollten als Wetterleute den Himmel betrachten, während sie uns die Zeit und das Land stahlen. Es ging ihnen nicht in den Kopf, dass wir uns dagegen wehrten. Zweimal pro Woche fuhr ich von Blacktorne in die Stadt, wo ich mich für einen Gälischkurs eingeschrieben hatte. Der Unterricht war mir letztlich egal. Er war eine Ausrede, die mir erlaubte, als Verbindungsmann für die Republikaner zu arbeiten. Ich kam nie über das Grundwissen hinaus. Mit mir kam 24
ein Junge namens Tom. Er litt an einer unheilbaren Krankheit, die ihn nicht daran hinderte, der fröhlichste Charakter des ganzen Waisenhauses zu sein. »Ich bin der patriotischste Schwindsüchtige von ganz Irland«, sagte er gern und lachte. Wir hatten Anweisungen dabei. Wir fuhren mit dem Fahrrad und schienen das zu sein, was wir waren: Arme, verwaiste Studenten von Blacktorne, unterwegs zu den Versammlungen eines Folkloreklubs. Manchmal hielt uns eine Militärkontrolle an, die mit ihren gänsekackefarbenen Uniformen das Grün der Landschaft durchbrachen. Ich erinnere mich sehr gut an einen Sergeant mit dem Blick eines Ochsen. »Halt. Durchmarsch aufzählen! Wie viele verflixte Iren seid ihr?«, fragte er, als könnte er nicht bis zwei zählen. »Nur wir beide«, gab Tom stets zur Antwort. Sie untersuchten unsere Tornister und die Gälischhefte, die Wollmützen, sogar die Schuhe und die langen Kniestrümpfe. Sie fanden nie etwas. Doch jemand musste uns verraten haben. Eines Tages kamen wir zu der Kontrolle, und gleich witterte ich eine andere Luft. Außer den Soldaten und dem Sergeant mit dem Ochsengesicht war da ein englischer Offizier. Steif wie ein Stock, mit glasig-grauen Augen und einer Grausamkeit in seiner samtweichen Stimme. Na ja, ein englischer Offizier wie eben alle englischen Offiziere. »Halt. Durchmarsch aufzählen! Wie viele verflixte Iren seid ihr?«, fragte der Sergeant wie immer. »Nur wir beide«, sagte Tom. »Nein«, sagte der Offizier. »Ihr beide und die Fahrräder.« Sie zerlegten sie an Ort und Stelle in ihre Einzelteile. Im Innern einer Eisenstange meines Fahrrads fanden sie den Brief. Es war bloß eine interne Mitteilung der Republikaner zur Aufhebung einer geheimen Zusammenkunft. Das reichte ihnen. Der Prozess war ein Schauspiel. Die Perücken, die dunkel25
rote Samtrobe des Richters, die Mahagoniestrade, und das alles für zwei Kinder. Der ganze Schwulst hatte den Zweck, das Gericht von den Urteilen, die es selbst aussprach, reinzuwaschen. Ich hatte großes Glück, unverdientes Glück. Der Rechtsanwalt, der von Blacktorne bezahlt wurde, merkte an, dass es zwei Fahrräder, aber nur eine Mitteilung gab. Darum müsse einer der beiden Angeklagten zwangsläufig unschuldig sein. Es war eher ein Bittgesuch als eine Verteidigung, ein offener Spalt für das Wohlwollen des Richters. Doch es zeigte eine gewisse Wirkung. In jener Zeit galt Blacktorne noch immer als das Musterbeispiel eines kollaborierenden Instituts. Man wollte es nicht durch die Verurteilung seiner Kinder um sein Ansehen bringen. Letzten Endes, jedenfalls was mich betraf, wollte der Richter lediglich eine öffentliche Demütigung: Er fragte mich, was ich zur irischen Frage zu sagen hätte. Damit zwangen sie mich zum Verrat. »Ich bin der sicheren Überzeugung, dass Irland und England bis ans Ende aller Zeiten durch dieselben Isobathen verbunden sein werden.« »Sehen Sie, Euer Ehren?«, gaukelte der Anwalt vor. »Ein ausgezeichneter Blacktorneschüler und künftiger Fachmann für Marinelogistik. Wir dürfen nicht erlauben, dass jugendliche Überheblichkeit seiner Karriere im Weg steht.« Tom hatte noch schlagendere Argumente: »Ich hingegen, Euer Ehren, glaube, dass nicht einmal die Isobathen Irlands Verbindung mit England aufrechterhalten können werden.« Und dem Anwalt blieb nichts anderes übrig, als sich mit leeren Worten auf Toms Krankheit zu berufen. Ich wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, die reinste Repressalie. Tom wurde zu zwei Jahren in der Strafanstalt von Deburgh verurteilt, wo er an einer Lungenkomplikation sterben sollte. Das ist typisch für zivilisierte Gewaltherrschaften. Zuerst droht man 26
zwei gerechten Männern mit dem Scheiterhaufen, dann lässt man einen frei und kann so nicht vorhandene Milde vortäuschen. Was mir aber von diesem Prozess immer in Erinnerung bleiben wird, ist Toms Haltung. Er sagte, er sei der Besitzer des Fahrrads. Der Schuldige also. Er wusste, dass ihn das Zuchthaus umbringen würde, und er war nach der Verhandlung wütend auf mich. Und warum? Weil ich mit meiner blöden Antwort riskiert hatte, den Richter bis zum Äußersten zu provozieren, so dass sein Opfer vergeblich gewesen wäre. »Ich bin der schwindsüchtigste Patriot von ganz Irland«, verkündete er am Tag vor dem Prozess, indem er seinen üblichen Spruch abwandelte. Er war chronisch krank, und ich würde der Sache mehr dienen. Diese praktische Überlegung ließ sich nicht bestreiten. Sein Körper war nur die Vorhut einer Sache und durfte daher geopfert werden. Wie so viele andere verstand Tom sein eigenes Schicksal als Waffe: Man musste nur gut damit zielen. Und in dieser Zeit bedeutete Edelmut eine zusätzliche Kugel. Aus der Distanz betrachtet, sehe ich zwei Küken, die noch feucht sind. Doch gute Aktivisten müssen ein bisschen kindisch sein. Wir waren neunzehn Jahre alt. Als ich Blacktorne verließ, war ich noch nicht volljährig und bekam einen Vormund zugeteilt. Im Allgemeinen stammten die Tutoren aus armen Familien, die nur an der Unterstützung interessiert waren, die ihnen die Verwaltung für die Beherbergung des Jungen verschaffte, bis dieser selbständig war. Noch einmal lächelte mir das Glück. Mit dem Titel eines FML konnte ich zwar ins Leben treten, aber ohne jenen Tutor wäre ich immer ein Blacktorne-Junge geblieben. Er war ein ziemlich eigenartiger Mensch: Freimaurer, Astronom, ein guter Übersetzer aus dem Russischen und ein sehr schlechter Dichter. Gleich am ersten Tag hatte er den rebellischen Charakter erkannt, der in mir steckte. Und all seine 27
Bemühungen zielten sacht darauf ab, zu verhindern, dass ich mich eines Tages der republikanischen Armee anschloss. Weil er ein Kollaborateur war? Nein. Er war einer jener stillen Patrioten, für die Gewalt einem Sakrileg gleichkam. Er wollte nicht, dass ich mir eine Arbeit suchte, bevor ich nicht ein von ihm selbst erstelltes Studienprogramm absolviert hatte. Unter den Aufgaben, die er mir vorschrieb, gab es sonderbare und sehr sonderbare. Aufsätze mit politischem Thema trugen oft Titel wie »Grundlagen der menschlichen Dummheit, welche die politische Gewalt der Cäsaren, Zaren, Kaiser und des britischen Parlamentarismus rechtfertigen« oder »Führen Sie sechs Gründe an, weshalb die Belgier keinen Staat verdienen, und sechs Gründe, weshalb die Bewohner von Quebec einen Staat verdienen, und umgekehrt« oder »Vergleichen Sie die Geschichte des Reichs des Monomotapa mit einer Kastanie«. Doch nie sprach er direkt von Irland. Nicht alle Aufgaben waren schriftlich zu bewältigen, die meisten waren einsame praktische Übungen. Da gab es zum Beispiel eine, die darin bestand, dass ich genau sechs Minuten und dreißig Sekunden mitten auf einer Wiese sitzen musste. In dieser Zeit sollte ich einzig und allein alle Lebensformen notieren, die innerhalb eines sorgfältig mit Bändern und Fäden abgegrenzten Rechtecks vorkamen. Anfangs sah ich da bloß Gras, doch nach und nach kam eine unglaubliche Vielfalt von kletternden, fliegenden und im Boden lebenden Insekten zum Vorschein. Alles lebte, auch der Wind, und in allem zeigte sich eine mit Worten kaum zu beschreibende Einheit. Die Worte meines Tutors an jenem Tag: »Das waren sechs Minuten und dreißig Sekunden, stellen Sie sich schriftlich die einunddreißigste Sekunde vor.« Titel des Aufsatzes: »Zufällige Elemente des beobachteten Rechtecks.« Durchfallen ließ er mich nie, wenn ich scheiterte, musste ich die Übung einfach wiederholen. Dies allerdings endlos, falls nö28
tig. Jener Aufsatz kostete mich drei Monate. Ich schrieb ihn einmal und noch einmal, bis ich mich eines Tages darauf beschränkte: »Das einzige zufällige Element des Rechtecks ist das Rechteck.« Dann das Unkraut im Rechteck. Ich musste es sorgfältig jäten. Er wies mich an, das Unkraut zwischen den Nutzpflanzen herauszulesen. Weil ich kein Einziges kannte, war ich gezwungen, ihn zu fragen, bevor ich es ausriss. »Das ist kein Unkraut«, sagte er zu dem einen, »man kann die Blätter kochen und Tee daraus machen.« »Das auch nicht«, sagte er zum andern, »das ist Wildspargel, also essbar, ja sogar ganz köstlich.« »Das auch nicht, warum sollte das ein Unkraut sein, wenn es im Mai wunderschöne Blüten hervorbringt?« Schließlich blieb nur noch eine Pflanze übrig. Sie war ohne jeden Nutzen, sie barg kein Geheimnis. Dunkle Blätter, spitz und giftig, ein hässlicher, harter Stängel. Er seufzte: »Einverstanden, eine ganz abscheuliche Pflanze, doch wenn wir sie ausreißen, welchen Sinn hätten dann die andern?« »Keinen«, sagte ich. »Und zu welchem Schluss gelangen Sie also?« »Dass es kein Unkraut gibt.« »Betrachten Sie die Prüfung als bestanden.« Eine andere Prüfung: Irgendeiner Person, die der Schüler auszuwählen hat, während zwei ganzer Tage zu folgen und jedes einzelne seiner Worte aufzuschreiben, jede einzelne seiner Ansichten, seiner Haltungen, Handlungsweisen, seiner intimen Verrichtungen. Mit kindlicher Bosheit wählte ich ihn selbst, und er protestierte nicht, und zuletzt verlangte er von mir, ich solle die Person kritisch bewerten. Ich sagte, sobald man jemanden gründlich kenne, sei es unmöglich, als Richter aufzutreten. »Betrachten Sie die Prüfung als gemeistert«, lautete die Antwort. Alles, was er mir beibrachte, war, dass es in dieser Welt zwei 29
Arten von Einstellungen gibt: Man entscheidet sich für das Leben oder für den Tod. Jemand konnte der einfachste Kohlenträger sein und sich für das Leben entscheiden; ein anderer der namhafteste Literat seines Landes und seiner Zeit und den Weg des Todes wählen. Es kam nicht darauf an. Ich erinnere mich, dass er drei Tage, nachdem ich nach dem Gesetz erwachsen war, starb. Er nahm auf dem Totenbett Abschied von mir mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich aus einem ertragreichen Geschäft zurückzieht. Er sprach zu mir von der Krankheit, die ihn verzehrte, wie ein Kritiker, der die Kunstwerke anderer beurteilt. »Erzählen Sie mir ein bisschen von Ihren Zukunftsplänen, mein Freund«, schloss er. »Wie können Sie so sprechen, während Sie sterben«, warf ich ihm vor, heiße Tränen weinend. »Was verleitet Sie denn zur Annahme, dass Leute wie ich sterben«, warf er mir an den Kopf. An jenem Tag verließen wir beide das Haus durch dieselbe Tür und für alle Zeiten. In gewisser Weise waren die Bemühungen dieses Mannes doppelt unnütz. All die Lektüre, die er mir entsprechend zu den Übungen zu lesen gab und deren Zweck es war, mich vor der Rohheit der Welt zu schützen, machten meine Haut, die sowieso schon zu dünn war, nur noch empfindlicher. Das war nicht seine Schuld. Dank ihm war ich nicht mehr der Jüngling, der aus Blacktorne kam. Doch Irland war noch immer dasselbe, ein Umstand, an dem er nichts ändern konnte. Was nützt es, dass der hellsichtigste Mensch nachts auf die Sonne zeigt? Seine Pädagogik ging an der Wirklichkeit vorbei. So verschrieb ich mich also mit der ganzen Liebe, die seit Toms Tod brachlag, der republikanischen Sache. Die republikanische Bewegung hatte viele Arme, aber zu wenig Köpfe. So jung ich auch war, besaß ich doch gewisse 30
Kenntnisse sowie eine etwas verschrobene humanistische Bildung. Die Führung sah es lieber, dass ich mich der Logistik und nicht dem direkten Kampf widmete. Ich habe immer geglaubt, dass die dramatischsten Schicksale von der Ironie geschrieben werden: Der Marinelogistik-Fachmann von Blacktorne, FML First Class, verwandelte sich in einen subversiven Logistik-Fachmann, und gewiss keinen mittelmäßigen FSL. Bald trat ich in die Untergrundbewegung ein. In den folgenden Jahren setzten die Engländer für jeden Hinweis, der meiner Festnahme diente, eine Belohnung aus. Zuerst belief sich mein Kurs auf zehn Pfund. Dann waren es fünfzehn. Dann genau fünfunddreißig Pfund fünfzehn Schilling ȭ die buchhalterische Genauigkeit der Engländer kann ziemlich übertrieben sein ȭ und schließlich fünfundvierzig. Schade. Ich wurde nie in den kleinen Kreis jener Köpfe aufgenommen, die mehr als fünfzig Pfund wert waren. Ich vermute, dass ich es nicht verdiente. Ich war kein Ideologe und kein General. Bloß ein Verbindungsmann auf halbem Weg zwischen den Führern und den über das ganze Land verstreuten Kämpfern. Doch so, wie die Dinge lagen, war meine Stellung sehr gefährlich. Manchmal flohen wir von den Bauernhöfen eine Minute, bevor die Engländer kamen, durchs Scheunenfenster und in aller Eile. Eines Abends schossen sie sogar auf uns, als wir bereits am Horizont verschwanden. Sie verfolgten uns die ganze Nacht. Gott hab die Vorfahren des alten Irland selig, die einst die steinernen Mauern errichteten, die man in seiner Landschaft überall antrifft: Hinter ihnen suchte ich Schutz und verlor mich in ihren Labyrinthen. Das beweist, dass in den Kriegen die Mächte der Gegenwart und der Vergangenheit miteinander kämpfen. Als gute Iren widmeten wir uns nach jeder Niederlage mit Begeisterung der Vorbereitung der nächsten. Und genau diese termitenhafte Beharrlichkeit raubte dem Feind schließlich 31
den Atem. Dann kam ein glücklicher Tag. Ein Tag, an dem ich, während ich durch Dublin spazierte, begriff, dass ich keinen Tarnanzug mehr trug, sondern einfache Zivilkleidung. Der Unterschied bestand nicht in den Kleidern, der Unterschied war, dass ich keine Angst mehr hatte. Die Engländer zogen sich zurück. Ich sagte, es war ein glücklicher Tag, und nur einer. Bald offenbarte sich mir eine trostlose Welt. Unsere Führer regierten mit einem Despotismus, der dem der Engländer ebenbürtig war. Solche Entdeckungen werden nicht plötzlich offenkundig, wir weigern uns, sie anzuerkennen, aber sie setzen sich langsam durch. Welchen Unterschied gab es denn letzten Endes zwischen dem Buckinghampalast und den Versammlungen der neuen Regierung? Sie übten die Macht nach den gleichen zweckorientierten, despotischen und unmenschlichem Kriterien aus wie irgendein englischer General. Sie taten nichts anderes, als die Ordnung aufrechtzuerhalten, die wir so sehr abgelehnt hatten. Für sie war Irland nicht das Ziel, sondern das Argument, um an die Macht zu kommen. Doch dadurch stießen sie auf einen gefährlichen Widerspruch: Tom, Toms Opfer, das Opfer aller Toms. Unsere Heimat war kein geografisches Gebiet, sie war eine Idee der Zukunft. Unser Patriotismus bedeutete nicht, dass die irischen Männer und Frauen besser seien als die englischen Männer und Frauen. Oder dass die englischen Kartoffeln besser seien als die irischen. Nein. Der Verkommenheit der englischen Herrschaft hatten wir grenzenlose Großmut entgegengestellt. Die feindlichen Soldaten waren lediglich menschliche Patronen, die von den finstersten Interessen des Planeten gelenkt wurden. Wir aber kämpften mit einem höheren Bewusstsein von Freiheit. Darum musste die Vertreibung der Engländer der Anfang einer neuen Welt sein, einer liebenswerteren, gerechteren Welt. Die Führer des neuen Irland 32
jedoch beschränkten sich darauf, die Namen der Besatzer durch ihre eigenen zu ersetzen. Sie änderten die Farben der Unterdrückung, sonst nichts. Es war schamloser Wahnsinn: Noch während die Engländer Irland räumten, schoss die neue Regierung bereits auf ihre ehemaligen Gefährten. Wie war es möglich, fragte ich mich selbst, dass wir nach Jahrzehnten, Jahrhunderten des Kriegs gegen England den ersten Anflug von Freiheit dazu nutzten, uns gegenseitig umzubringen? Wieso waren Menschen in der Lage, die elementarsten Grundsätze zu verraten? Ich lehnte ein kleines Amt in der neuen Verwaltung ab. Ich hatte nicht gegen dieses allmächtige Gebilde des britischen Weltreichs gekämpft, um es durch eine winzige Nachbildung zu ersetzen. Ebenso wenig konnte ich mich in die Reihen der neuen Rebellen einfügen. Ein Bürgerkrieg ist keine Sache, sondern eine Katastrophe: So unglaublich es scheinen mag, in dem Jahr, nachdem England das Land geräumt hatte, waren mehr Iren ums Leben gekommen als im ganzen letzten Krieg. Niemand dachte daran, sich über den Frieden zu freuen, weder die neue Regierung noch die ehemaligen Rebellen. Mit einem Schlag verwandelten sich jene, für die ich mein Leben gegeben hätte, in völlig Unbekannte, die einen wie die andern. Vorher versteckten die Männer Waffen, jetzt versteckten die Waffen Männer. Am unerträglichsten war, dass mir die gewaltige Entfernung bewusst wurde, die mich von denen trennte, denen ich mich so nah geglaubt hatte. Hassen konnte ich sie nicht. Schlimmer: Ich konnte sie nicht verstehen. Es war, als ob ich mit Mondbewohnern sprechen würde. Meine Heimat hatte nie mir gehört. Und jetzt, da sie mir gehören konnte, fühlte ich mich wie ein Fremder in ihr. In einer schlaflosen Nacht erinnerte ich mich an Tom. Was hätte er getan? Würde er so wie ich denken? Würde er mit dem Aufstand 33
fortfahren oder sich vielleicht der neuen Regierung verschreiben? Am Morgen war ich nur zu diesem einen Schluss gekommen: Tom war tot. Nicht ich habe die Sache im Stich gelassen; ich behaupte, die Sache hat mich im Stich gelassen. In meinem Innern starb mehr als nur eine bloße Überzeugung. Mir waren sämtliche Bedeutungen des Wortes Hoffnung abhanden gekommen. In der Tat: Die Geschichte Irlands war immer die Geschichte einer Revolte gewesen, der gerechten Revolte schlechthin. Wenn die irische Sache eindeutig gescheitert war, dann würde auch keine andere Erfolg haben. Alles bewies, dass die Menschen Sklaven eines unsichtbaren, wenn auch zur Fortpflanzung bestimmten Mechanismus waren. Von da an stellte sich mir nur noch eine Frage: Wollte ich in einer von Gewaltspiralen gesteuerten Welt bleiben, die das Unglück der Menschen endlos fortsetzte? Meine Antwort lautete nein, nie mehr und nirgends, und darum entschied ich mich für die Flucht in eine Welt ohne Menschen. Ich war kein Gesetzesflüchtiger. Jetzt floh ich vor etwas Größerem, etwas viel Größerem. Ich verließ Irland und ging auf den Kontinent. Ich wußte nicht recht, wohin ich ging, nur, woher ich kam. Von Frankreich nach Belgien und von dort nach Holland, mit der vagen Idee, ewig ohne Ziel und Bestimmung umherzuziehen. Nie hätte ich gedacht, dass mir mein FML-Titel nützlich sein könnte. In Amsterdam hatte eine internationale Reederei ihren Sitz. Dort wurden Seeleute für alle möglichen Ziele in Übersee angeheuert. Ich schrieb mich in eine lange Liste ein, doch mein FML-Titel und der Mangel an Bewerbern verkürzten die Wartezeit. Der Personalbeauftragte war ein Holländer mit roten Ba34
cken, auf denen sich violette Äderchen abzeichneten. Es war dringend eine Stelle als Wetterbeobachter zu besetzen. Wo? Anfänglich wich der Mann der Frage aus. Doch je länger wir uns unterhielten, desto klarer wurde mir, dass nicht ich mich beweisen musste, sondern dass mein Gesprächspartner sich bemühte, mir die Stelle zu verkaufen. Zuletzt wies er mit einem rosa Fingernagel, der tief ins Fleisch wuchs, auf die Insel. Ich dachte, der Fingernagel irre sich: Ich sah nichts, keine umrissene Fläche, keinen noch so winzigen Fleck. Aber die Karte des Südatlantik war im größten Maßstab, den sie hatten. Ich schaute genauer hin. Die Insel lag auf einem Koordinatenkreuzpunkt. Deshalb konnte ich sie nicht sehen: Sie war so klein, dass sie unter dem farbigen Schnittpunkt der Breitenund der Längengerade verschwand. »Ist das Technikerteam dort sehr groß?«, fragte ich. »Sie werden kaum gesellschaftliches Leben haben«, sagte der Beauftragte. Meine einzige Forderung war, dass mein Name in keinem Register aufgeführt wurde. Als ich meine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte, konnte er seine Freude nicht verhehlen. Er glaubte, er hätte mich hereingelegt.
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Nachdem ich den Brief gelesen hatte, war mir die Lust vergangen, noch weiter Pakete auszupacken. Ich setzte mich auf einen Holzschemel, wie jemand, der eine lange Strecke zurückgelegt hat. Was konnte ich tun? Ein schlechter Zeitpunkt, um den Mut zu verlieren. Trübsinn ist nicht mit Ausruhen beizukommen, so dass ich beschloss, meine Energien zu mobilisieren. Ich dachte, es wäre gut, mich zum Leuchtturm aufzumachen. Falls ich mich mit dem Leuchtturmwärter nicht einigen sollte, hätte ich mir wenigstens Bewegung verschafft und die Erinnerungen vertrieben. Es konnte sein, dass die Verrücktheit dieses Menschen nur eine vorübergehende Verwirrung war. Ich war bereit, ihn zu entschuldigen. Genau genommen war der Kapitän ohne jede Zurückhaltung bei ihm eingedrungen, arrogant wie ein Gockel. Wir hatten ihn im Schlaf überrascht. Doch ein gewissenhafter Leuchtturmwächter schläft bei Tag und arbeitet nachts und wacht über die Regelmäßigkeit der Lichter. Wir waren menschlichen Kontakt vom Schiff her gewohnt, der extrem und fast schon obszön war. Er nicht. Man kann sich seine Überraschung vorstellen, wenn da am Ende der Welt plötzlich zwei Unbekannte auftauchen. Alle Lebenskraft der Insel konzentrierte sich im Wald. Je länger ich durch diese Pflanzenwelt lief, desto mehr erschien mir diese in einem Geheimzustand zu sein, zufällig, ängstlich, wild. Aus dem Gebüsch ragten dicke und dem Anschein nach 36
feste Äste. Wenn man sie knickte, zerbrachen sie wie Mohrrüben. Eines Tages würde der Winter kommen und der Schnee die Bäume wie unter Hammerschlägen zerdrücken. Dieser Wald erschien mir wie ein Heer, das seine Niederlage noch vor der Schlacht unterzeichnet. Auf halbem Wege stieß ich auf eine große, marmorartige Tafel, aus welcher ein einfaches bronzenes Brunnenrohr herausstach. Die Tafel erhob sich vor einer natürlichen Wand, eingerahmt von schwarzem Moos. Es war ein guter Platz; weil es sonst keine Erhebungen gab, bildete diese Tafel ein kleines hydraulisches Becken in ihrer Mitte. Ein dünner Wasserstrahl quoll ununterbrochen aus dem Rohr. Das Rinnsal ergoss sich über einen großen Eimer aus Eisen, der überlief. Ein zweiter, leerer Eimer wartete daneben. Ich begriff, dass ich vor der Quelle stand, die den Leuchtturm versorgte. Es ist seltsam, aus welchen Gründen unser Blick an bestimmten Gegenständen haften bleibt. Bei meinem ersten Spaziergang mit dem Kapitän war mir der Brunnen nicht aufgefallen. Wir hatten nicht darauf geachtet, weil wir nach bedeutenderen Zeichen suchten. Doch jetzt war ich allein, ganz allein, und ein bronzenes Brunnenrohr, das Wasser spie, wurde zum Gegenstand von großem Interesse. Ich trat heran und erblickte über dem Rohr eine Inschrift in unregelmäßigen Lettern. Sie lautete: Batís Caffó lebt hier Batís Caffó errichtete diesen Brunnen Batís Caffó schrieb dies Batís Caffó weiß sich zu verteidigen Batís Caffó beherrscht die Ozeane Batís Caffó hat das, was er will, und will nur das, was er hat Batís Caffó ist Batís Caffó und Batís Caffó ist Batís Caffó Dixit et fecit 37
Ich war enttäuscht. Aus war's mit der Hoffnung auf Einvernehmen. Aus dieser Steinplatte sprach ein ebenso lückenhafter wie endgültig verlorener Verstand. Doch ich hatte nichts Besseres zu tun und folgte dem Weg, der mich zum Leuchtturm führte. Beim Bauwerk angelangt, fand ich die Tür verschlossen. »Hallo, heda«, rief ich, den Kapitän nachahmend. Niemand antwortete mir; das einzige Geräusch, das zu mir drang, waren die Wellen, die über das nahe Felsgelände strichen. Ich dachte an die Inschrift bei der Quelle. Offensichtlich war er ein ziemlich eingebildeter Mensch, denn alle eingemeißelten Sätze begannen mit seinem Namen. Vielleicht war er eine gestörte Persönlichkeit oder krankhaft narzisstisch ȭbeides Defekte, die häufig zusammentreffen ȭ, es ging jedenfalls darum, dass er sich seiner Identität versichern musste. Mein Rufen hatte nun System, ich wiederholte seinen Namen mehrfach: »Batís! Batís!«, schrie ich und formte die Hände zum Trichter. »Batís, Batís! Hallo, Batís! Hallo! Öffnen Sie gefälligst! Ich bin der Wetterbeobachter!« Keine Antwort. Sechs oder sieben Meter über der Tür befand sich der Balkon. Ich wartete in der Hoffnung, dass seine Gestalt auftauchen würde. Weil das nicht geschah, wurde ich beim weiteren Beobachten auf andere Dinge aufmerksam. So sah ich, dass der Balkonboden mit Balken verstärkt war. Beim vorherigen Besuch hatte ich an so etwas wie ein primitives Gerüst gedacht, doch ich täuschte mich. Die Balken hatten nicht dieselbe Form wie die Originaleisenträger, welche ein Dreieck mit der Mauer und dem Balkonboden bildeten. Die Pfähle waren sehr spitz. Tatsächlich war der ganze Balkon von dieser Konstruktion umrahmt, was ihn in einen kunstvollen Igel verwandelte. Der Wind wehte, und ein schepperndes Geräusch drang zu mir. Im untersten Abschnitt des Leuchtturms hingen an dicken Nägeln zahlreiche Seile. An den Sei38
len leere Büchsen, oft paarweise. Durch den Wind schlugen sie aneinander und gegen die Mauern, so dass es wie das Läuten von Kuhglocken klang. Noch mehr merkwürdige Besonderheiten: In den Fugen zwischen den Steinen steckten Nägel, mit der Spitze nach außen. Nägel und Glasscherben, unzählige Scherben. Die freundliche Sonne ließ sie rot und grün schillernd aufblitzen. Ein Stück weiter oben verschwanden die Scherben und Nägel. Bis dort, wohin ein Mensch auf einer mittelgroßen Leiter gelangen konnte, waren die Mauersteine mit behelfsmäßigem Mörtel zusammengefügt, und zwar nahtlos, dadurch hatten sie die Festigkeit einer Inka-Mauer. Nicht das kleinste Fitzelchen hätte dazwischen gepasst. Ich ging um den Leuchtturm herum: Das ganze Bauwerk war auf diese unsinnige Weise gesichert. Als ich meinen Platz vor der Tür wieder eingenommen hatte, sah ich Batís auf dem Balkon. Er zielte mit einer doppelläufigen Flinte auf mich. Trotz meiner anfänglichen Verwirrung ließ ich mich nicht einschüchtern: »Hallo, Batís. Sie erinnern sich an mich?«, sagte ich. »Ich möchte gern mit Ihnen reden. Schließlich sind wir doch Nachbarn. Eine seltsame Nachbarschaft, finden Sie nicht?« »Wenn Sie näher kommen, schieße ich.« Meine Erfahrung war, dass ein Mann, der vorhat, einen andern zu töten, ihm nicht droht, und wenn er ihm droht, so hat er nicht vor, ihn zu töten. »Seien Sie vernünftig, Batís«, ließ ich nicht locker; »ein freundliches Wort.« Er gab keine Antwort, sondern zielte nur unentwegt von seinem Balkon auf mich. »Bis wann läuft Ihr Vertrag?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen. »Erwarten Sie bald Ihre Ablösung?« »Ich werde Sie töten.« Ich war der Überzeugung, dass ein Mann, der nicht reden 39
will, nur durch die Folter dazu gezwungen werden kann. Aber ich war kein Folterer. Ich zuckte die Achseln und ging ohne Eile fort. Als ich wieder in den Wald kam, wandte ich mich um: Er stand noch immer auf dem Balkon, die Beine breit und in der Haltung eines Gebirgsjägers. Er kniff sogar das linke Auge zu. Der Rest des Tages verlief ohne Bedeutung. Ich räumte das Haus fertig auf. Ein seltsames Gefühl überkam mich. Ich biss mir auf die Unterlippe, bis sie blutete, ohne dass ich es bemerkte. Ich brach ein Fass Kognak an und tat dies ganz bewusst. Halb betrunken, halb nüchtern, halb traurig, halb fröhlich, zündete ich den Kamin an. Ich rauchte und warf die Zigarettenstummel ins Feuer. Eine Unzahl von Dichtern spricht von der Sehnsucht nach dem Vaterland. Ich habe die Dichtkunst nie zu schätzen gewusst. Ich glaube, dass der Schmerz ein Zustand ist, welcher der Sprache vorhergeht, und dass darum jede Anstrengung in diese Richtung vergeblich ist. Und ich hatte kein Vaterland mehr. Meine traurigen Gedanken fanden noch mehr Nahrung, als die Dunkelheit hereinbrach. In diesen Gegenden der Welt kündigt sich die Nacht nicht an, sie erfolgt im Sturmangriff. Ein Schreck: Das Halbdunkel meiner Unterkunft wurde plötzlich von weiß aufleuchtendem Licht erhellt, das sofort wieder erlosch. Es war der Leuchtturm. Batís hatte ihn eingeschaltet, der Scheinwerfer begann sich zu drehen, und bei jeder Umdrehung schien er durch meine Fenster herein. Ich konnte es nicht verstehen. Der Scheinwerfer fiel direkt auf mich. Das bedeutete, dass er sehr tief eingestellt war und den weiter entfernten Schiffen wenig nützte. Was für ein seltsamer Kerl, dachte ich. Ich akzeptierte, dass er auf die Insel gekommen war, weil er Einsamkeit suchte. Aber die Art, wie er mit der Einsamkeit umging, war schon sehr besonders. Nach mei40
ner Auffassung findet wahre Einsamkeit im Innern statt und schließt den freundlichen Kontakt mit zufälligen Nachbarn nicht aus. Er jedoch hatte sich dafür entschieden, alle Menschen wie Leprakranke zu behandeln. Wie dem auch sein mochte, in diesem Augenblick interessierten mich die Eigenheiten von Batís sehr wenig. Ich erinnere mich, dass ich eine Petroleumlampe anzündete. Ich setzte mich an den Tisch und stellte meinen Zeitplan auf. So saß ich da. Hinten der Kamin; ich und der Schreibtisch auf der anderen Seite des Wohnraums. Zu meiner Rechten die Haustür und mein Bett, dem in der Kabine auf dem Schiff ganz ähnlich. An der anderen Wand Kisten und Koffer, alles ganz einfach. Wenig später vernahm ich ein entferntes, angenehmes Geräusch. Ungefähr so, wie wenn man in der Ferne das Getrappel einer kleinen Ziegenherde hört. Anfänglich verwechselte ich es mit Regen, einem Geräusch von vereinzelt fallenden, dicken Tropfen. Ich stand auf und sah aus dem nächsten Fenster. Es regnete nicht. Der Vollmond warf bronzenes Licht auf die Meeresfläche. Das Licht fiel auf die Baumstämme, die sich in den Strand gebohrt hatten. Sie erschienen wie reglose menschliche Glieder, und das Ganze erinnerte an einen Wald aus Steinen. Es regnete nicht. Ich dachte nicht weiter darüber nach und setzte mich wieder. Und dann sah ich das. Das. Ich weiß noch, dass ich dachte: Der Wahnsinn hat mir das Augenlicht genommen. Im unteren Teil der Tür war eine Art Katzentürchen. Ein rundes Loch, über dem eine kleine, bewegliche Klappe saß. Ein Arm kam dort herein. Ein ganzer Arm, nackt und sehr lang. Mit zuckenden Bewegungen suchte er irgendetwas im Inneren. Vielleicht das Schloss? Es war kein menschlicher Arm. Wenn die Petroleumlampe und das Feuer mir auch kein sehr helles Licht boten, waren am Ellbogen doch drei Knochen zu erkennen, viel kleiner und spitzer als mensch41
liche. Kein Gramm Fett, reine Muskeln, Haifischhaut. Aber das Schlimmste war die Hand. Die Finger waren durch eine Schwimmhaut verbunden, die fast bis zu den Nägeln reichte. Meiner Fassungslosigkeit folgte eine Woge der Panik. Ich schrie vor Schreck und sprang gleichzeitig vom Stuhl auf. Eine Vielzahl von Stimmen antwortete mir, als sie mich hörten. Überall waren sie. Sie umzingelten das Haus und schrien in unbekannten Tönen, einer Mischung aus Nilpferdgebrüll und Hyänengeschrei. Ich hatte solche Angst, dass ich mein eigenes Entsetzen kaum glauben konnte. Ich schaute zu einem anderen Fenster hinaus, ohne einen Gedanken fassen zu können. Ich konnte sie mehr ahnen als sehen. Sie waren ein Stück größer als ich und dünner. Liefen in der Nähe des Hauses herum und besaßen die Geschmeidigkeit von Gazellen. Im Vollmond zeichneten sich Umrisse ab. Sobald meine Augen sie entdeckten, verschwanden sie aus dem schmalen Blickwinkel, den mir das Fenster bot. Eines von ihnen bleibt stehen, bewegt den Kopf flink wie ein Kolibri, schreit, rennt, kommt wieder, ein paar andere gesellen sich zu ihm und ändern die Richtung, wer weiß warum, das alles in Blitzesschnelle. Hinter mir hörte ich ein Krachen: Sie hatten die Scheiben des gegenüberliegenden Fensters zerschlagen. Die Folge: Ich wurde vom Zuschauer zum Opfer. Heiliger Patrick, sie kamen ins Haus! Nur ihre unkontrollierten Instinkte retteten mich. Das Fenster war ein kleines Rechteck, würde aber einem halbwegs wendigen Körper Durchschlupf bieten. Doch in ihrer gierigen Hast überstürzten sie sich, alle wollten hineinspringen und verschlimmerten nur noch die Verstopfung. Der Leuchtturm erhellte die Szene. Ein winziger Fehler, der absolute Horror. Sechs, sieben Arme, die sich wie Tentakel bewegten, dahinter heulende Gesichter aus einer Unterwelt von Lur42
chen, Riesenaugen, Pupillen wie Nadeln, zwei Löcher als Nase, keine Augenbrauen, keine Lippen, der Mund groß. Ich handelte mehr instinktiv als vernünftig. Ich packte ein dickes Holzscheit aus dem Kamin und schlug mit einem Schrei auf die Arme, die hin und her zuckten. Funken flogen durch die Luft, blaues Blut, Schmerzgeheul und Stücke von verbranntem Holz. Als sich auch der letzte Arm zurückgezogen hatte, warf ich das Scheit nach draußen. Das Fenster hatte Innenläden. Ich wollte es schließen und verriegeln, aber die letzte Klaue ergriff die Gelegenheit, um mir an die Kehle zu gehen. Ich bin selbst überrascht von der Geistesgegenwart, die ich besaß. Statt mich gegen die Handgelenke des Ungeheuers zu wehren, packte ich es bei einem Finger. Ich bog ihn so heftig, dass der Knochen brach. Ich machte einen Satz zurück. In einen leeren Sack kehrte ich die Glut aus dem Kamin und schleuderte sie gegen das Fenster. Der Glutregen verursachte unsichtbare Verwünschungen, und in der Pause, die folgte, schloss ich den inneren Holzladen so schnell, wie ich nur konnte. Die Innenläden dreier Fenster waren noch geöffnet. Nun begann ein tödlicher Wettlauf. Ich sprang von einem Fenster zum andern, schloss die Läden und legte den Riegel vor. Irgendwie begriffen sie, was vor sich ging, und rannten ums Haus bis zum nächsten Fenster. Ich konnte ihren Weg anhand der Stimmen verfolgen, die immer erregter klangen. Zum Glück kam ich ihnen zuvor. Als ich das letzte Fenster schloss, wurde ihre Enttäuschung in einem langen, schauerlichen Klageruf geradezu fühlbar, einem Geheul aus zehn, elf, zwölf Kehlen, ich weiß es nicht, in der Angst verschätzt man sich leicht. Sie waren noch immer da draußen. Verzweifelt überlegte ich, was zu tun sei, und suchte eine Waffe. Die Axt, die Axt, die Axt, riet mir mein Verstand. Aber ich sah sie nicht, ich 43
hatte keine Zeit, sie zu suchen, und begnügte mich mit einer Schaufel. Jetzt schlugen die Ungeheuer zu mehreren gegen ein Fenster. Das Holz zitterte, aber der Riegel war stabil. Außerdem gingen sie ohne besondere Taktik vor, hämmerten ohne Sinn und Verstand dagegen. Unter diesen Umständen konnte ich mich nicht einmal verteidigen, nur warten, auf was auch immer. Mir fiel der Arm beim Katzentürchen ein: Er war noch immer da. Als ich ihn sah, bekam ich fast einen Nervenzusammenbruch. Mit der ganzen Spannung, die ich angesammelt hatte, und mit einer Wut, die ich nie für möglich gehalten hätte, stürzte ich mich auf den grässlichen Arm. Ich schlug auf ihn ein, als ob die Schaufel ein Knüppel wäre, dann drehte ich sie, um ihn abzuhacken, aber sogar jetzt noch leistete er Widerstand. Doch dann durchschnitt ich anscheinend eine dicke Ader, denn das Blut schoss heraus, und der Arm zog sich geschwind wie eine Eidechse zurück. Ich hörte das Wehklagen des halb verstümmelten Ungeheuers. Seine Gefährten jammerten auch. Die Schläge gegen das Fenster verstummten. Ein Schweigen. Das grauenhafteste Schweigen, das ich je gehört habe. Ich war mir ganz sicher, dass sie dort draußen waren. Plötzlich begannen alle auf einmal, wie aufeinander abgestimmt, zu jaulen. Sie miauten, wie Kätzchen, die nach ihrer Mutter rufen. Miau, miau, miau, kurz und zärtlich, traurig und verlassen. Es war, als ob sie riefen: Komm raus, komm raus, alles war ein Missverständnis, wir wollen dir nichts Böses. Es ging ihnen nicht um Glaubwürdigkeit, sie wollten nur den Schrecken zerstreuen. Sie gaben ihr Maunzen von sich, ganz matt, und begleiteten den Betrug mit gelegentlichem Gepolter gegen die Tür und die verriegelten Fenster. Hör nicht hin, bitte, hör nicht hin, sagte ich zu mir. Ich verstärkte die Tür mit Schiffskoffern. Ich legte mehr Scheite ins Feuer, falls es ihnen einfiel, durch den Kamin einzudringen. Unruhig betrachtete ich das Dach. Es war 44
mit Schieferplatten gedeckt. Wenn sie wollten, konnten sie es zerstören und so eindringen. Doch sie taten weder das eine noch das andere. Während der ganzen Nacht sickerte das Licht des Leuchtturms bei jeder Umdrehung eintönig durch die Ritzen. Dünne, lange Strahlen, die mit der Präzision eines Uhrwerks kamen und gingen. Während der ganzen Nacht attackierten sie bald ein Fenster, bald die Tür, und bei jeder Attacke glaubte ich, der eine oder andere Zugang würde nachgeben. Dann ein langes Schweigen. Der Leuchtturm war erloschen. Ganz vorsichtig öffnete ich ein Fenster. Sie waren nicht da. Am Horizont dehnte sich ein zarter, violetter, kürbisroter Streifen aus. Ich ließ mich wie ein Sack zu Boden fallen, die Schaufel noch in den Händen. In meinem Innern kämpften zwei, drei neue, unbekannte Gefühle. Einen Augenblick später wurde eine kleine Sonne sichtbar, die über dem Wasser schwebte. Eine Kerze im Dunkeln hätte besser gewärmt als dieser Stern unter dem Wolkenschleier. Doch es war die Sonne. In diesen südlichen Breiten waren die Sommernächte außerordentlich kurz. Es war zweifellos die kürzeste Nacht meines Lebens gewesen. Mir aber war sie wie die längste vorgekommen.
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In meiner Zeit als Freiheitskämpfer hatte ich eine Methode gelernt: Die beste Art, Sentimentalität und Verzweiflung zu bekämpfen, besteht fraglos darin, das Problem von seiner technischen Seite her anzugehen. Ich stellte folgende Überlegung an: Du bist tot. Du befindest dich auf einer einsamen, kalten winzigen Insel, unvorstellbar weit von jeglicher Hilfe entfernt. »Du bist tot, du bist tot«, wiederholte ich laut, während ich mir eine Zigarette drehte. Das ist deine aktuelle Lage: Du bist tot. Wenn du es also nicht schaffst, hast du nichts verloren. Doch wenn du es schaffst, dich zu retten, dann hast du alles gewonnen: dein Leben. Wir sollten die Kraft einsamer Gedanken nicht unterschätzen. Die Zigarette, die ich rauchte, verwandelte sich wie durch Zauberei in den besten Tabak der Welt. Und der Rauch, der aus meiner Lunge quoll, war die Signatur dessen, der sich darauf einstellt, eine Schlacht bei den Thermopylen zu schlagen. Ich war zwar erschöpft, doch die Müdigkeit verflog. Ich empfand keine Müdigkeit mehr, die Müdigkeit empfand mich. Solange ich müde wäre, solange meine Lider schwer wie Blei wären, würde ich lebendig sein. Auf die Beweggründe, die mich in diese abgelegene Gegend geführt hatten, kam es mir nicht mehr an. Ich hatte keine Vergangenheit, ich hatte keine Zukunft. Ich war am Ende der Welt, inmitten des Nichts, fern von allem. 46
Nachdem ich diese Zigarette geraucht hatte, war ich unendlich fern von mir. Angesichts der tatsächlichen Situation machte ich mir keinerlei Illusionen. Zunächst einmal wusste ich nichts über die Ungeheuer. So musste ich also, wie es auch die Militärhandbücher raten, den Feldzug vom Standpunkt schlimmster Erwartungen her planen. Würden sie tags und nachts angreifen? Immer? Truppweise organisiert? Mit ungebrochener Hartnäckigkeit? Wie lange könnte ich mit meinen beschränkten Mitteln allein und gegen eine ganze Schar Widerstand leisten? Natürlich nicht sehr lang. Batís war es gelungen zu überleben, sicher. Doch er konnte sich auf eine Erfahrung stützen, die mir fehlte. Außerdem saß er im Leuchtturm, eine natürliche Festung: Je länger ich meine Hütte betrachtete, desto erbärmlicher kam sie mir vor. Nur eine einzige sichere Schlussfolgerung drängte sich auf: Nach dem Schicksal meines Vorgängers brauchte ich nicht zu fragen. Wie auch immer, es blieb mir nichts anderes übrig, als eine Art organisierter Verteidigung aufzubauen. Wenn Batís über ein vertikales kleines Fort verfügte, würde ich auf Bodenhöhe einen Schützengraben errichten. Meine Idee war, das Haus mit einer Grube voller Pfähle zu umgeben. So könnten sie nicht die Zugänge erreichen. Mein Problem aber war die Zeitund Energiefrage: Für einen einzelnen Mann erforderte das Umgraben einer solchen Fläche enorme Anstrengungen mit der Handschaufel. Außerdem besaßen die Ungeheuer die Geschmeidigkeit von Pantern ȭ ich hatte es selbst gesehen ȭ, so dass der Graben breit und tief sein musste. Und ich war erschöpft, seit meiner Ankunft auf der Insel hatte ich nicht eine Stunde geschlafen. Ich würde, wenn ich dauernd arbeitete und mich verteidigte, keine Zeit für das kleinste bisschen Erholung haben. Ich stand vor einem höchst simplen Dilemma: Entweder starb ich in den Händen der Ungeheuer oder ver47
rückt vor physischer und geistiger Erschöpfung. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass beide Schicksale auf dasselbe hinausliefen. Ich beschloss, die Arbeiten aufs Äußerste zu vereinfachen. Vorläufig würde ich mich darauf beschränken, große Löcher unter den Fenstern und der Tür zu graben. Ich vertraute darauf, dass das reichen würde. Ich grub einzelne Halbkreise aus und füllte sie mit Baumstämmen. Nachdem ich sie mit dem Messer gespitzt hatte, rammte ich sie, Spitze gen Himmel, in den Boden. Viele dieser Stämme holte ich vom Strand. Beim Aufsammeln hatte ich einen Einfall. Ihre Gestalt und ihre Schwimmhauthände wiesen darauf hin, dass die Ungeheuer aus den Tiefen des Ozeans kamen. In diesem Fall, sagte ich mir, wäre Feuer eine primitive, aber sehr nützliche Waffe. Die Theorie der gegensätzlichen Elemente, in der Tat. Und angesichts der allgemein bekannten Tatsache, dass Raubtiere instinktiv vor Feuer zurückweichen, wie sollte ich da nicht bei diesen amphibischen Tieren erfolgreich sein? Zur Verstärkung meiner Verteidigungsanlagen schichtete ich Holz und auch meine Bücher zu Stapeln auf. Die Papierflamme brennt zwar weniger lang, dafür intensiver. Vielleicht gelänge mir so eine wahrhaft niederschmetternde Überraschung. Adieu Chateaubriand! Adieu Goethe, adieu Aristoteles, Rilke und Stevenson. Adieu Marx, Laforgue und SaintSimon! Adieu Milton, Voltaire, Rousseau, Góngora und Cervantes. Liebe Freunde, man verehrt euch, doch soll sich die Bewunderung nicht mit der Notwendigkeit vermischen, ihr seid nebensächlich. Ich lachte zum ersten Mal, seitdem das Drama begonnen hatte, denn während ich die Stapel aufschichtete, während ich sie mit Petroleum übergoss und eine Rinne grub, um sie mit dem zukünftigen Scheiterhaufen zu verbinden, während ich all diese Verrichtungen ausführte, entdeckte ich, dass ein einziges Leben, ausgerechnet mein Le48
ben, mehr wert war als die Werke aller Genies, Philosophen und Schriftsteller der gesamten Menschheit. Zuletzt die Tür. Wenn ich den Eingang aushob und mit Pfählen versah, stünde ich vor einem Problem: Ich würde mir selbst den Weg versperren. Deshalb machte ich mich zuallererst daran, ein Holzbrett zu bauen, das ich wie eine Brücke über das Loch niederlassen könnte. Doch zu diesem Zeit_punkt konnte ich nicht mehr, ich hatte die Grenze erreicht. Ich hatte den Boden unterhalb der Fenster aufgehackt, hatte Holzklötze zusammengetragen, sie in Lanzen verwandelt und eingerammt. In einer zweiten, weiter entfernten Verteidigungslinie hatte ich Stapel aus Holz und Büchern aufgeschichtet und sie mit einer Zündschnur aus Petroleum verbunden. Die Sonne sank. Man mag an meinem Verstand zweifeln, doch niemals an meinem Instinkt: Die Nacht brach an, und ich wusste aus irgendeiner atavistischen Quelle, dass die Dunkelheit das Reich der Schlächter ist. »Wach auf, wach auf«, sagte ich laut zu mir, »schlaf nicht ein.« Da ich kein Wasser hatte, bespritzte ich mein Gesicht mit kaltem Gin. Dann tote Zeit. Nichts geschah, und ich pflegte die Blasen an meinen Händen, die ich mir beim Aufnehmen der Glut zugezogen hatte, und die Kratzwunden am Hals, Folge der mörderischen Klauen. Der Graben bei der Tür war nicht fertig. Das bekümmerte mich am wenigsten. Mit den Schiffskoffern meines Reisegepäcks baute ich eine feste Barrikade. Meine Erinnerung wanderte nach Irland zurück, bis zu den Aufständen, welche die Straßenpflaster in Fahnen verwandelten. Doch in diesen Momenten hätte ich die Ungeheuer gegen sämtliche Agenten des Königreichs getauscht, so viel ist sicher. Zuvor habe ich gesagt, dass mich der Brief meiner Vorgesetzten fast getötet hätte. So kann man es sehen. Jener Brief war der Grund, weshalb ich ein paar Kisten nicht geöffnet hatte. Nun tat ich es, in erster Linie, weil ich fürchtete, die Kräfte 49
würden mich im Stich lassen, falls ich mich gehen ließ. Und ich bin überzeugt, dass niemand je irgendwo beim Öffnen eines Vierecks aus Holz so große Freude empfunden hat. Ich hob den Deckel, riss den Karton auf, und von Stroh geschützt, befanden sich zwei Gewehre der Firma Remington darin. Die zweite Kiste enthielt zweitausend Kugeln. Ich fing an zu weinen wie ein Kind, auf den Knien. Muss man es erwähnen? Es war ein Geschenk des Kapitäns. Während der Überfahrt hatten wir unterschiedliche Ansichten gewechselt, für ihn stand fest, dass ich das Militär und den Militarismus hasste. »Sie sind ein notwendiges Übel«, sagte er zu mir. »Das Schlimmste am Militär ist, dass die Leute wie kleine Kinder sind«, entgegnete ich, »die ganze Ehre, die man aus Kriegen gewinnt, besteht einzig darin, dass man von ihnen erzählen kann.« Wir saßen oft im abendlichen Gespräch beisammen, und er wusste, dass ich sie zurückweisen würde, wenn er mir Schusswaffen anböte; ganz diskret hatte er im letzten Augenblick die Kisten meinem Gepäck beigefügt. Wenn man mir fünfzig Leute wie den Kapitän gäbe, würde ich ein neues Land gründen, ein offenes Vaterland, das ich auf den Namen Hoffnung taufen würde. Die Nacht brach herein. Der Leuchtturm ging an. Ich verwünschte Batís, Batís Caffó. Sein Name würde für immer mit dem Wort Niedertracht verbunden sein. Dass er verrückt war, war unwichtig, wichtig war nur, dass er von der Existenz der Ungeheuer wusste und mich im Ungewissen gelassen hatte; ich hasste ihn mit der Heftigkeit des Ohnmächtigen. Ich hatte noch Zeit, ein paar kleine Schießscharten in die Fenster zu bohren, rundliche Löcher, so dass man den Gewehrlauf durchstecken konnte. Und über die Schießscharten lange, schmale Guckschlitze. So könnte ich den Außenbereich sehen, ohne dass ich die Läden öffnen musste. Aber es geschah nichts. Keine Bewegung, kein verdächtiges Geräusch. Durch 50
das aufs Meer gehende Fenster konnte ich die Küste sehen. Der Ozean war ruhig, und die Wellen schlugen nicht auf den Sand, sondern strichen sanft darüber. Eine seltsame Unruhe überkam mich. Wenn sie kommen mussten, so sollten sie kommen. Ich wünschte Hunderte von Ungeheuern zu erblicken, die gegen das Haus anstürmten. Ich wollte auf sie schießen, eins ums andere töten. Alles andere, nur nicht dieses unerträgliche Warten. Sämtliche Taschen meines Mantels waren mit Kugeln voll gestopft. Ihr Gewicht gab mir Mut und Zuversicht. Kupferfarbene Kugeln in der linken Tasche, Kugeln in der rechten Tasche, Kugeln in den Brusttaschen. Ich kaute Kugeln. Ich drückte das Gewehr so heftig, dass sich die Adern auf meinen Händen wie blaue Flüsse abzeichneten. Im Gürtel, den ich über den Mantel gebunden hatte, ein Messer und eine Axt. Sie kamen, natürlich. Zuerst erschienen Köpfe, die sich der Küste näherten. Kleine mobile Bojen, die sich wie Haifischflossen vorwärts bewegten. Es mussten zehn sein, zwanzig, ich weiß nicht, ganze Scharen. Sobald sie den Sand betraten, verwandelten sie sich in Reptilien. Die feuchte Haut erinnerte an kunstvoll gearbeiteten Stahl, den man mit Öl eingerieben hatte. Sie krochen ein paar Meter, dann richteten sie sich auf, perfekt zweibeinig. Doch hielten sie beim Vorwärtsgehen den Oberkörper etwas vorgebeugt, wie jemand, der gegen heftigen Wind ankämpft. Ich erinnerte mich an das Regengeräusch der vergangenen Nacht. Diese Entenfüße mussten sich zwangsläufig in fremdem Element fühlen. Sie stapften große Löcher in den Sand und die herumliegenden Kiesel, als liefen sie auf weichem Schnee. Aus ihren Kehlen drang ein Getuschel allgemeiner Verschwörung. Ich hatte genug. Ich öffnete das Fenster, warf ein brennendes Scheit hinaus, welches das Petroleum, das Holz und die Bücherstapel entflammte, und schloss es wieder. Ohne genaues Ziel schoss ich aus der Schießscharte. 51
Die Kreaturen sprangen mit wildem Gekrächz auseinander, ein Tollhaus von Heuschrecken aus abgründigen Tiefen. Ich konnte nichts erkennen. Nur die Flammen, zuerst ganz hoch, hinter denen sie sich undeutlich abzeichneten, Körper, die wie an einem Hexensabbat hüpften oder tanzten, auch ich brüllte. Sie sprangen hoch, duckten sich, versammelten und zerstreuten sich, versuchten zu den Fenstern zu gelangen und wichen zurück. Ungeheuer, Ungeheuer, noch mehr Ungeheuer. Hier, dort, dort, hier. Ich lief von einem Fenster zum andern. Ich hielt den Gewehrlauf hinaus, gab blindlings ein, zwei, drei, vier Schüsse ab, fluchte beim Laden wie ein Barbar gegen Rom, schoss und lud wieder nach, und so während Stunden ȭ oder vielleicht nur Minuten, ich weiß es nicht. Die Feuer brannten schwächer. Ich begriff, dass das Feuer eher ein Schutz moralischer Art als etwas anderes war. Aber sie waren verschwunden. Zuerst merkte ich es nicht. Ich schoss und schoss, bis eine Hülse im Gewehrschloss stecken blieb. Ich drückte wie rasend den Abzug. Ohne Erfolg ȭ wo ist der andere Remington? Wegen der zylindrischen Hülsen, die unter meinen Füßen herumliegen, rutsche ich aus und stolpere. Die Kugeln rollen aus den Taschen. Ich will sie aufheben, doch brauchbare Kugeln und leere Kapseln geraten durcheinander. Ich krieche zur Munitionskiste, greife hinein und nehme eine Handvoll Projektile, ganz kalt sind sie. Für diese Tätigkeiten brauche ich eine gewisse Zeit. Und ich stelle mit Überraschung fest, dass man kein Gebrüll von Ungeheuern hört. Ich stöhne auf wie ein geprügelter Hund. Ich schaue durch die Schießscharten. So weit wie mein Blickwinkel es mir erlaubt, ist kein Feind zu sehen. Die Flammen zucken knapp über den Boden, mehr blau als rot. Sie knistern. Der Leuchtturm streicht mit seinem Licht in regelmäßigen Abständen über die Landschaft. Was brüteten sie aus? Der ganzen Sache war nicht zu trauen. Noch lastete draußen die Nacht. 52
In der Ferne zerriss ein Knall die Luftschichten. Was geschah da? Batís schoss. Sie griffen den Leuchtturm an. Ich spitzte die Ohren. In einzelnen Schwaden trug mir der Wind das Kampfgetöse zu. Die Ungeheuer heulten mit stürmischer Leidenschaft, dort, am anderen Ende der Insel. Batís schoss in großen Abständen, wie wenn er nur sichere Ziele wählte. Bei jedem Schuss wurden die unmenschlichen Flüche lauter. Aber die Häufigkeit, mit der Batís seine Flinte einsetzte, ließ eine ruhige Person erkennen, eher jemanden mit der Gelassenheit eines Löwenbändigers als einen Menschen, der am Abgrund tanzt. Ich meinte sogar, ihn lachen zu hören, doch war ich mir nicht ganz sicher. Danach trat ein Schwall eisigen Windes an die Stelle der Kampfgeräusche. Die Luft bewegte die Kronen der umliegenden Bäume. Das Sausen von Ästen und Blättern, an denen der Wind rüttelte, weiter nichts. Meine Verwirrung wuchs. Das Ganze schien vorbei, doch ich musste auf der Hut bleiben. Wer versicherte mir, dass sie sich nicht wieder gegen das Haus wendeten? Doch es geschah nichts. In der Frühe: Licht, das wie durch einen Mehlschleier drang. Trotz des Verbands und der Salben hatten sich die Blasen an meinen Händen entzündet. Ich vermute, dass es vom starken Druck kam, mit dem ich das Gewehr die ganze Zeit gehalten hatte. Mein Atem roch nach vertrocknetem Tabak; die Galle, die ich ausspuckte, schmeckte nach angebranntem Zucker. Mein allgemeiner Zustand war erbärmlich. Schwache Knie. Verspannter Nacken. Verschwommene Sicht mit gelben Funken. Ich mochte Mitleid mit mir fühlen, aber die Ungeheuer würden es mir nie verzeihen. Die Holz- und Bücherstapel qualmten noch. Ich machte mich daran, den Grund bei der Tür auszugraben. Mitten am Vormittag dann ein völlig unverhoffter Besuch. Batís war das genaue Abbild eines sibirischen Jägers, volu53
minös und mürrisch. Er trug eine Filzmütze mit großen Ohrenklappen und einen mit dicken Fäden zusammengenähten Mantel mit zahlreichen Schnallen. Die Verschnürungen kreuzten seine Brust. Er hielt das Gewehr und eine Art Harpune, die über seiner Schulter hing. Er kam langsam daher, aber sehr selbstsicher, mit der Trägheit eines Elefanten, ein Schwergewicht. Natürlich kann ich nicht sagen, dass ich mich freute, ihn zu sehen. Mein Körper steckte zur Hälfte im Loch. Ich hörte auf zu schaufeln. »Brave Leutchen, nicht wahr? Ich meine die Frösche«, bemerkte er, beinahe sympathisch, und fügte vollkommen kühl hinzu: »Ich dachte, Sie wären tot.« Ich unterdrückte meine Aggressionen. Ich brauchte diesen Menschen, und mit solchen Gefühlen würde ich nur die diplomatischen Manöver ersticken. »Da«, sagte er und stellte mir einen Eimer mit einem Säckchen Erbsen hin. »Sie können auch den Brunnen benutzen.« Er sagte es in dem Ton, den man gegenüber Sterbenden gebraucht: Man gesteht ihnen alles zu, nur nicht die Wahrheit. »Ich brauche etwas mehr als Erbsen und einen Wasserbrunnen, Batís«, sagte ich aus meinem Loch heraus. »Den Leuchtturm, Batís, den Leuchtturm. Außerhalb des Leuchtturms bin ich ein toter Mann.« »Heute Nacht wird es regnen«, bemerkte Batís mit Blick zum Himmel. »Das schreckt sie ab.« »Seien Sie vernünftig«, protestierte ich, die geistige Schwäche auf den Lippen: »Welchen Sinn hat es, wenn wir allein kämpfen? Wenn sie von Angreifern umzingelt sind, müssen die Menschen gemeinsame Sache machen.« »Nehmen Sie so viel Wasser, wie Sie wollen; es gehört Ihnen, wirklich. Und die Erbsen. Ich habe auch Kaffee. Wollen Sie Kaffee? Sie brauchen Kaffee.« 54
»Warum weisen Sie mich zurück? Sie sollten meine Absichten beurteilen, nicht meine Gegenwart.« »Ihre Gegenwart schreibt Ihnen Ihre Absichten vor. Sie können das nicht verstehen. Sie würden es nie verstehen.« »Es geht darum«, sagte ich, »ob wir uns verstehen können.« »Es geht darum«, sagte er, »dass ich der Stärkere bin.« Ich konnte es nicht glauben. Ich schrie auf: »Töten ist das Gleiche wie sterben lassen! Sie sind ein Mörder«, sprach ich das Urteil, »ein Mörder! Alle Gerichte der Welt würden Sie verdammen. Durch Handeln oder Unterlassen werfen Sie mich in die Löwengrube. Sie sitzen sicher in Ihrem Leuchtturm und betrachten das Schauspiel wie ein Patrizier im Kolosseum. Sind Sie glücklich, Batís?«, schimpfte ich immer empörter. Er kniete sich hin. Auf diese Weise befanden sich unsere Köpfe auf gleicher Höhe. Er faltete die Hände und räusperte sich. Meine Einwände hatten ihn nicht berührt. »Im Leuchtturm ist kein Platz mehr. Das ist eine Tatsache. Ich erwarte nicht, dass Sie es verstehen, nur dass Sie es akzeptieren« ȭ er machte eine lange Pause, wobei er es nicht wagte, mich mit seinen kleinen Mongolenaugen anzusehen. Dann: »Gestern habe ich Schüsse gehört. Ich frage mich, ob unsere Waffen zusammenpassen.« Er sprach nicht zu Ende, sondern ließ mich den Rest selbst erraten. Er hielt schon sehr viel länger auf der Insel aus, und sicher wurden ihm die Patronen allmählich knapp. Das war der Gipfel der Gemeinheit. Einerseits war ihm mein Leben egal, andererseits wollte er Munition von mir, um seins zu verteidigen. Ich warf ihm eine Schaufel voll Erde ins Gesicht: »Da! Passt das gut genug zusammen? Verbrecher!« Ich kletterte aus meinem Loch. Mit einem Fußtritt beförderte ich den Eimer und die Erbsen in die Luft. Dieser Tritt irritierte ihn mehr als jedes Argument: 55
»Nein, ich suche keinen Streit! Auch wenn Sie es nicht glauben, ich wünsche Ihnen nichts Böses. Ich bin kein Mörder«, erklärte er, doch im gleichen Augenblick nahm er die Harpune von der Schulter. Er bedrohte mich nicht offensichtlich, er hielt sie mit beiden Händen zwischen sich und mir. »Hauen Sie ab, hauen Sie ab«, schrie ich ihn an und streckte den Arm in der Weise, wie man arme Leute aus einem teuren Restaurant verjagt. Er ging noch nicht. Für einen kurzen Augenblick nahm er eine Verteidigungshaltung an, ohne von seinem Ziel abzulassen. »Hauen Sie ab, Sie elender Langweiler«, höhnte ich und ging entschlossen auf ihn zu. Batís wich langsam zurück, ohne mir den Rücken zu kehren. Ich war kein Mensch. Ich war niemand, nur ein Hindernis zwischen ihm und den Kugeln. Er begriff, dass es ihm nicht gelingen würde. Er wandte sich um und ging mit absoluter Gleichgültigkeit weg. »Eines Tages werden Sie büßen, für alles werden Sie büßen, Caffó!«, verfluchte ich ihn, da hatte er den Wald noch nicht erreicht. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten. Jetzt war ich sicher, dass sie nur nachts angriffen. Batís hatte zwar Waffen dabei gehabt, doch eher, um sich vor mir als vor den Ungeheuern zu verteidigen. Sonst würde er nicht so ungestraft auf der Insel herumspazieren. Leider gelangte ich zu spät zu dieser Gewissheit. Ich fürchtete, dass die erste Ruhe mein letzter Schlaf sein würde. Wer versicherte mir, dass ich am Abend aufwachen würde? Wer versicherte mir, dass ich nicht in einen tödlich dumpfen Schlaf sinken würde, sobald ich nachgab? Meine Angst vor den Ungeheuern war so groß wie die Angst vor der Wehrlosigkeit. Und dennoch überkamen mich im Laufe des Tages Momente der Schwäche. Nicht dass ich geschlafen hätte. Es war ein narkotischer Dämmerzustand, der eher dem Delirium tremens als einem eigentlichen Traumzustand glich. Vor mir, am Rande des Bewusst56
seins, tauchte eine seltsame Mischung aus sinnlosen Visionen, Erinnerungen, Trugbildern und Halluzinationen auf. Ich sah einen kleinen Ausschnitt des Hafens von Amsterdam oder Dublin, ich weiß es nicht. Teerflecken schwammen auf der Oberfläche des Wassers, das gegen die Holzpfeiler stieß und einen hohlen Klang verursachte. Ich sah mich im Haus auf der Insel. Ein Teufel in Menschengestalt schlief auf meiner Pritsche; ich streckte die Hand aus und konnte ihn beinahe mit den Fingerspitzen erreichen. Ich wachte auf, mehr oder weniger. Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben. Was werden sie mir tun, was werden sie mir tun? Die dritte schlaflose Nacht. Wie lange kann es ein Mensch ohne Schlaf aushalten? So wie Batís vorausgesagt hatte, goss es in Strömen. Blitz und Donner. Die untere Wolkenschicht hing sehr tief. Darüber weiße Explosionen, breit wie Seen, kurzlebig wie Zündhölzer, die gleich wieder ausgehen. Der Donner klang, wie wenn jemand ein Service aus tausend Tellern mit dem Hammer zerschlägt. Durch meine Guckschlitze konnte ich die brodelnde Meeresfläche sehen. Der nächtliche Horizont leuchtete auf in Breitseitsalven von Kreuzern, die sich Seeschlachten liefern. Die Blitze zerrissen den Himmel und fielen in brüchig zersplitterter Senkrechte nieder. Danach verwandelte sich der Regen in einen undurchsichtigen Vorhang. Die Sicht betrug nur noch wenige Meter, dann Zentimeter. Das Wasser prasselte auf das Schieferdach. Die Regenrinnen leiteten es an die Eckpunkte, und von dort stürzte es in rauschenden Wasserfällen. Diesmal sah ich sie nicht kommen. Mit einem Mal wurde die Tür zur Trommel, auf die Dutzende wütender Fäuste einschlugen. Sie erbebte so heftig, dass meine Barrikade aus Schiffskoffern umfiel. Ich auch. Ich fiel auf die Knie. Ein böser Zauber machte, dass ich 57
zusammenbrach, dass ich kapitulierte. Das Erdbeben erschütterte nicht nur die Tür, sondern auch meinen Kampfwillen. Das ganze Grauen der Welt konzentrierte sich in dieser zitternden Tür. Ich war in einem Zustand jenseits der Erschöpfung, jenseits des Wahnsinns ȭ aber noch nicht jenseits der Resignation, auch nicht jenseits der Gleichgültigkeit, und deshalb konnte ich mein Schicksal nicht einfach so hinnehmen. Die Stimmen der Ungeheuer hörte ich nicht. Nur den heftigen Regen und die Schläge, die Schläge, die sich gegenseitig übertönten. Ich wimmerte unter leisen Tränen, und zur gleichen Zeit, da ich weinte, wusste ich, während ich mir in die Faust biss, dass keine Vorsehung mich je von der Insel wegholen würde. Die Tür gab nach. Sie zitterte wie ein Lorbeerblatt im Kochtopf, gleich würde sie aus ihrem Rahmen brechen. Wie gelähmt, hypnotisiert, konnte ich den Blick nicht von der Tür wenden. Und genau in diesem Moment äußerster Not geschah ein Wunder, allerdings ganz anderer Art. Ich brauchte keine Rettung mehr, sie war nutzlos. In Kürze wäre ich Aas. Das Wunder war, dass es mir nichts ausmachte, zu sterben. Ich war tatsächlich tot. Ich war also tot, und indem ich das akzeptierte, kam mir meine Fötusstellung da in einem Winkel unnötig, ja lächerlich vor. Ich war tot, aber ich zitterte nicht. Ich war tot, doch bevor ich starb, war es mir vergönnt, das Wesen der Hölle zu erfahren. Denn was konnte diese erschütterte Türe anderes sein als das reine Urbild des Grauens? Ich war so schwach, dass ich nur noch kriechen konnte. Mein letzter Wille war: Ich wollte diese Tür mit den Fingerspitzen berühren. Als ob mir diese Berührung eine Quelle universaler Weisheit erschließen würde, eine weltweit verbreitete Erkenntnis, doch nur in Reichweite derer, die man in Lichtpalästen in Audienz empfängt. Ich war nur noch wenige Zentimeter entfernt. Ich streckte meine Hand hin zur Tür wie zu einer Wand aus Glas. Doch genau in diesem Mo58
ment riss eines der Ungeheuer mit seinen Fäusten den Spalt auf, der als Guckschlitz diente. Sein Arm stieß wie der Schwanz eines Skorpions durch die Lücke herein und griff nach meinem Handgelenk. »Nein!« Und plötzlich wechselte ich vom erhabensten geistigen Wesen zur niedersten Tiernatur. Nein, ich wollte nicht sterben. Ich biss mit den Beiss- und Backenzähnen in die Hand und hieb die Eckzähne hinein, brach ihr ein paar kleinere Knochen und zerriss die Schwimmhaut, die den Daumen und den Zeigefinger verband. Ihr Besitzer stieß einen langen, sehr langen Schmerzschrei aus, der nicht enden wollte, ließ mich aber nicht los. Mit aller Kraft zerrte ich mit meinem Unterkiefer diesen Arm nach hinten, stützte mich dabei mit den Fersen ab, bis irgendetwas nachgab. Durch den plötzlichen Ruck schlug ich mit dem Schädel auf den Boden. Mein Gesicht und meine Brust waren von blauem Blut überströmt; es rann mir über das Kinn und tropfte von meinen Ellbogen. Ich schwankte wie ein betrunkener Affe, ohne mich aufzurichten. Später, Tage später begriff ich, dass ich es war, der mit zusammengebissenen Zähnen diese schauderhaften Laute ausgestoßen hatte. Zufällig berührten meine Hände eines der beiden Gewehre. Ich lud es wie ein Blinder, ohne hinzuschauen. Die Geschosse durchbohrten die Tür. Die Kugeln rissen Löcher hinein. Cremefarbene Späne flogen unterschiedlich hoch. Die draußen heulten wie eine frustrierte Meute. Die Tür verwandelte sich in ein Sieb. Sie waren gegangen, aber ich schoss weiter. Das Gewitter entfernte sich. Bei Tagesanbruch war der Regen nur noch ein sanftes, unbedeutendes Tröpfeln. Erst als es hell wurde, merkte ich, dass mein Mund ganz starr war ȭ und voll. Ich spuckte einen halben Finger und ein Stück Schwimmhaut aus, größer als die Schmetterlinge Brasiliens. Der letzte Blitz jener Nacht erhellte meinen Verstand. Ich 59
hatte tausend namenlose Ungeheuer gegen mich. Doch in Wirklichkeit waren sie nicht meine Feinde, so wie Erdbeben nicht die Feinde der Gebäude sind, sie sind einfach. Mein einziger Feind hatte einen Namen und hieß Batís, Batís Caffó. Der Leuchtturm, der Leuchtturm, der Leuchtturm.
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Vielleicht war es nur mangelnde Übung, doch ein guter Schütze war ich nicht. Nicht einmal meine Vergangenheit als Freiheitskämpfer nutzte mir: Ich hatte nie mit einer Waffe geschossen. Jetzt kam mir mein Vorleben wie bitterer Hohn vor: Hunderte von Gewehren hatte ich erhalten, versteckt und verteilt; Gebrauch von ihnen gemacht hatte ich fast nie. Auf jeden Fall war ich entschlossen, zu trainieren, und man lernt bekanntlich schnell, wenn es erforderlich ist. Der Remington hatte ein Visier, mit dem man die Distanzen präzisieren konnte. Ich stellte es auf fünfzig, fünfundsiebzig, hundert Meter ein und zielte auf leere Spinatbüchsen. Da tauchte das erste Hindernis auf. Den ganzen Vormittag übte ich mit mehr als mittelmäßigem Erfolg. Zur körperlichen kam noch die mentale Schwäche. Die allgemeine Erschöpfung höhlte die Sinne aus. Ich versuchte zu zielen, kniff ein Auge zu und sah doppelt. Mein ganzes Nervensystem brach mit wachsendem Tempo zusammen. Zur andauernden tödlichen Bedrohung kam der fehlende Schlaf, ein altes Foltermittel. Die physiologischen Rhythmen waren weniger durcheinander geraten als vielmehr verschwunden. Ich gab meinem Körper Befehle wie ein Oberst seinem Regiment. Iss. Trink. Beweg dich. Uriniere. Schlaf nicht! Ja, das Schlafbedürfnis und die Angst vor dem Schlaf. Ich lebte in einem geistigen Zustand, in dem sich Schlaflosigkeit und Schlafwandeln vermischten. Manchmal 61
sagte ich zu mir: tu dies, tu das. Lade das Gewehr, oder zünde eine Zigarette an. Die Kugeln gingen nicht hinein, weil die Ladekammer voll war, und ich erinnerte mich nicht, sie gefüllt zu haben. Ich steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen, und es stellte sich heraus, dass ich schon eine rauchte. Doch jetzt hatte ich eine Aufgabe. Bis zu diesem Moment hatte ich mich darauf beschränkt, auszuhalten um des Aushaltens willen, ohne jede Aussicht auf Hoffnung. Jetzt spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Unternehmungsgeist. Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, bewegte ich mich mit der Leichtigkeit der Guerilleros durch den Wald. Ich trug unauffällige Kleidung; gedämpfte Töne, und so weit es mir meine Garderobe erlaubte, wählte ich die Farben der Vegetation, die mich schützen sollte. Die Lederhandschuhe würden die Kälte und die Blasen erträglicher machen. Ich platzierte mich etwa achtzig Meter vom Leuchtturm entfernt. Jeder Freischärler hätte diesen bevorzugten Ort gewählt. Hinter mir war die Vegetation dicht genug, um zu verhindern, dass sich meine Silhouette vor einer Lichtung abzeichnete. Vor mir tarnte mich die letzte Baumreihe, die aber die ausgezeichnete Sicht auf die Tür und den Balkon nicht versperrte. Ich kletterte auf einen dicken hohen Ast. Er besaß eine Vertiefung, in der ich das Gewehr in eine sichere Position bringen konnte. Ich zielte auf die Tür. Wenn er dort herauskam, war er ein toter Mann. Doch er gab kein Lebenszeichen von sich, er ließ sich den ganzen Tag lang nicht blicken, und als es dämmerte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich aus Angst vor den Ungeheuern zurückzuziehen. Glücklicherweise war es eine ruhige Nacht, wenn man so sagen kann. Sie griffen das Haus nicht an. Ich glaube, ein paar strichen in der Leuchtturmgegend herum, denn ich hörte sie, auch einen vereinzelten Schuss von Batís, doch sonst nichts. Ich fühlte mich nicht imstande, Schlüsse daraus zu ziehen. 62
Vielleicht hatte ich sie ja tüchtig verschreckt. Die Schüsse durch die Tür mussten zwangsläufig einige verletzt haben. Vielleicht versuchten sie es lieber beim Leuchtturm, wo Batís mit der Munition sparte. Vielleicht hatten sie in dieser Nacht auch einfach nicht genug Hunger. Wer wusste das schon? Sie folgten keiner Logik und noch weniger den Strategien militärischer Belagerungskunst. Zuletzt erlaubte ich mir sogar den Luxus, eine Ruhepause vorzutäuschen und die Augen zu schließen, eine unechte, aber attraktive Pause. Mit dem ersten Tageslicht bezog ich wieder meine Baumstellung. Diesmal musste ich nicht lange auf ihn warten. Ich lag noch keine halbe Stunde auf der Lauer, als er auf dem Balkon erschien. Halb entblößt, präsentierte er der Welt den Oberkörper eines altgedienten Boxers. Die Arme breit, stützte er sich auf dem verrosteten Geländer auf; unbeweglich, die Augen geschlossen, das Kinn gereckt, hielt er sein Gesicht in unsere armselige Sonne. Er erinnerte an eine Figur aus dem Wachsmuseum. Er war ein perfektes Ziel. Ich stützte den Kolben gegen die Schulter und schloss das linke Auge. Über dem Lauf war seine Brust. Doch ich zögerte. Und wenn ich daneben schoss? Und wenn ich ihn bloß verwundete, schwer oder leicht? Falls es ihm gelang, sich ins Innere zu flüchten, hätte ich alles verloren. Auch wenn er nach einem langen Todeskampf sterben würde, hätte Batís die Balkonpanzerung bereits geschlossen. Mit einem Seil und einem Haken würde ich zwar hinaufklettern können, aber die Eisenplatten, die als Läden an den Balkonfenstern angebracht waren, könnte ich nicht aufbrechen. Das alles sagte ich mir, und ich sagte mir auch, nein, nein, das ist es nicht, und du weißt es. Ich konnte ihn einfach nicht töten. Ich war kein Mörder, auch wenn die Umstände mich dazu trieben. Auf einen Menschen zu schießen bedeutete mehr, als auf einen Körper zu zielen; man tötete damit seine ganze gelebte Zeit. Ich hatte 63
Batís Caffó im Visier und konnte seine Lebensgeschichte sehen. Ich stellte mir seine Zeit vor dem Leuchtturm vor. Gegen meinen Willen drängte es sich mir auf, mein Geist zeichnete das Bild des sprachlosen, erstaunten Kindes Batís, noch weit entfernt von jener Reise, die ihn hierher führen sollte; die mittelmäßigen Erfolge seiner Jugendzeit, die Enttäuschungen und Frustrationen, erfahren in einer Welt, die er sich nicht ausgesucht hatte. Wie viele Schläge hatte er von denselben Händen erhalten, deren höchste Aufgabe es war, ihn zu lieben? Jetzt, da er nur ein wehrloses Ziel war, zeigte sich seine ganze Verletzlichkeit. Warum war er zum Leuchtturm gekommen? War er ein grausames Wesen oder nur ein Vehikel der Grausamkeit? Batís war nur ein Mensch, der halb entblößt ein Sonnenbad nahm. Er trug keine Uniform, welche die Kugel rechtfertigen würde. Und wenn es schon eine schmerzhafte Aufgabe ist, einem menschlichen Wesen das Leben zu rauben: Es zu töten, wenn es sich einfach nur sonnt, das kam mir ȭ na ja ȭ noch abscheulicher vor. Zutiefst empört über mich selbst, stieg ich vom Baum. Ich kehrte zur Hütte zurück und schlug mir zur Strafe die Fäuste gegen den Kopf. Idiot, Idiot, sagte ich zu mir, du bist ein Idiot. Den Ungeheuern ist es egal, ob sie einen Heiligen oder einen Lasterhaften fressen, beides ist Fleisch. Du bist auf der Insel, der Insel aller Schändlichkeiten. Hier überlebt keine Nächstenliebe und keine Philosophie, weder der Dichter noch der Edelmütige, nur ein Batís Caffó. Ich nahm also den schmalen Weg zum Haus und machte beim Brunnen Halt. Seit ich an Land gegangen war, hatte ich nur Gin getrunken. Ich bückte mich zu Batís' Eimer hinunter, der noch da stand. Doch bevor ich trank, bemerkte ich das Abbild im Wasser. Ich konnte kaum glauben, dass ich das sein sollte. Vier Tage der Schlaflosigkeit und der Kämpfe hatten verheerende Spuren hinterlassen. Mein Bart war mittelstark gewachsen; ich 64
war blass, totenblass. Insbesondere die Augen gehörten einem unheilbar Verrückten. Die blauen Pupillen waren Inseln inmitten von sattem Rot. Um meine Augen lagerten sich tiefe dunkelviolette Ränder. Kälte und Angst hatten meine Lippen ausgedörrt. Aus dem Verband meiner Halswunde, der so dick wie ein Schal war, quollen Eiter, Krusten von eingetrocknetem Blut und eine halbfeuchte Flüssigkeit. Der Körper hatte die Kunst des Verheilens vergessen. Zerbrochene Fingernägel. Eine teerähnliche Schicht lag auf meinen Haaren. Ich griff nach einem Haarbüschel über dem Ohr und musste zu meiner größten Verwirrung erkennen, dass sich die Farbe in ein weißliches Grau verwandelt hatte. Ich tauchte den Kopf in den Eimer und schrubbte ihn mit der Nervosität einer Fliege. Ich konnte nicht genug kriegen. Ein schrecklicher Dreck verbarg meine Glieder. Ich legte das Gewehr, die Munition und die Messer ab, zog den Mantel aus, die Wollpullover, Hemden, Stiefel, Strümpfe und Hosen, ich zog mich aus, als wäre jedes Kleidungsstück, das mich schützte, verseucht, und dann kletterte ich die Wand hinauf, aus der die Quelle sprudelte. Dort oben hatte der nächtliche Regen eine Art Becken geschaffen. Das Wasser reichte mir nur bis an die Knie. Ich ließ mich fallen. Die Kälte hatte eine wohltuende Wirkung. Ich schätzte sie sehr, denn die Kühle erneuerte mein Empfindungsvermögen, ich erlangte Klarheit und gewann Kraft. Ich dachte natürlich an Batís. Der Brunnen würde gut als Falle dienen. Früher oder später käme er Wasser holen. Ein Hinterhalt. Wehrlos, unvorbereitet: Mit der Gewehrspitze würde ich ihn fangen, ohne ihn gleich umzubringen. Unterwerfen würde ich ihn, zu einem Angeklagten machen. Ich würde ihn im Leuchtturm in Ketten legen. Und wenn am Horizont das erste Schiff auftauchte, würde ich das Leuchtturmlicht gemäß Morsekode an- und ausmachen. Würden sie Batís strafrecht65
lich verurteilen oder ihn für den Rest seines Lebens in eine Irrenanstalt sperren? Das war zweitrangig. Durch die Wolken brachen schmale, anschauliche Lichtsäulen. Der Himmel schenkte mir eine Oper aus Licht. Die Ränder des Beckens waren mit Moos bedeckt, weich und angenehm zu berühren. Ich hatte keine Eile, es zu verlassen. Meine Glieder hatten sich an die Temperatur gewöhnt. Ich schwebte und blickte zum Firmament; es war die erste Stunde seit der Landung, die allein mir gehörte. So lag ich, als ich hörte, wie sich Schritte näherten. Um nicht entdeckt zu werden, tauchte ich bis auf den Kopf ganz unter. In meiner Stellung war es mir nicht möglich, ihn zu sehen, aber man brauchte nicht viel Fantasie, um zu begreifen, dass Batís genau diesen Moment ausgesucht hatte, um zum Brunnen zu gehen. Er kam mit neuen Eimern, wie man am Geräusch von Blechgeschirr erkennen konnte. Ich verwünschte mein Schicksal. Was konnte ich tun? Es war nur eine Frage der Zeit, bis er meine Kleider und, schlimmer noch, das Gewehr entdeckte. Seine Reaktion ȭ unvorhersehbar. Vielleicht würde er den Brunnen ganz mühelos mit mir teilen. Doch Verrückte haben sehr feine Antennen; ich traute ihm zu, dass er meine Absichten erriet. Und ich wäre ohne Waffe. Es war eine flüchtige Überlegung. Ich hatte eigentlich keine Wahl. Sollte Batís wie durch ein Wunder zurückkehren, ohne die Kleider zu beachten, würde es Tage dauern, bis er wieder an die Quelle käme. Während dieser Zeit hätten die Ungeheuer unzählige Gelegenheiten, mich zu beseitigen. Ich spitzte die Ohren. Er befindet sich genau vor dem Brunnenrohr, ich höre, wie er den vollen Eimer durch einen andern ersetzt. Er hält inne. Er sieht die verstreuten Kleider. Er hat gemerkt, dass noch jemand anders da ist. Ein Pantersprung, und die beiden Körper kugeln übereinander. Er kommt unter mir zu liegen, ich packe ihn mit meinen Beinen. Ich hebe die 66
Faust, doch ohne den Schlag auszuführen. Es ist nicht Batís. Es ist ein Ungeheuer. Ich sprang noch einmal auf, diesmal so weit weg wie möglich. Doch der Schrecken enthielt einen Zweifel. Die Ungeheuer waren Tötungsmaschinen. Und ich hatte etwas Leichtes, Zerbrechliches niedergeschlagen. Die Eimer rollten über den Boden und schlugen mit lautem Scheppern gegeneinander. Ich beobachtete das Ungeheuer vorsichtig aus der Distanz, wie Katzen, die die Neugier von der Flucht abhält. Es bewegte sich nicht von der Stelle, wo es hingefallen war. Es stieß jämmerliche Laute aus, wie ein verletztes Vögelchen. Fischgestank drang in meine Nase. Ich kroch heran, und damit ich es besser betrachten konnte, schob ich die Arme weg, die es mit schützender Gebärde über sein Gesicht gelegt hatte. Es war eines der Ungeheuer, darüber gab es keinen Zweifel. Doch seine Gesichtszüge waren auf wunderbare Weise sanft. Rundliches Gesicht und haarloser Schädel. Die Augenbrauen waren fein gezogene Linien, wie ein Produkt sumerischer Kalligrafie. Blaue Augen. Mein Gott, was für Augen, was für ein Blau. Blau wie der Himmel Afrikas, nein, heller, reiner, intensiver, leuchtender. Eine feine Nase, spitz, unauffällig, der Knochen in der Mitte tiefer liegend als die Nasenflügel. Die Ohren, im Vergleich zu unseren winzig klein, waren fischschwanzförmig; ein jedes teilte sich in vier kleine Wirbel. Wangenknochen, die nicht hervortraten. Der Hals sehr lang, und der ganze Körper bedeckt von einer weißlich-grauen Haut mit grünen Schattierungen. Ich berührte es mit den Fingerspitzen, immer noch misstrauisch. Es war kalt wie eine Leiche und fühlte sich wie eine Schlange an. Ich fasste seine Hand. Sie war nicht so wie die der andern Ungeheuer. Die Schwimmhaut war kürzer und reichte nur ganz knapp bis zum ersten Gelenk. Es stieß einen panischen Angstschrei aus. Das war der Auslöser dafür, dass ich erbarmungslos auf es 67
einschlug, ich weiß nicht, warum ich es tat. Es schrie und stöhnte. Es trug einen einfachen Pullover, so ausgeleiert, dass er ihm als Rock diente. Ich packte sein linkes Fußgelenk. Ich hob den Körper hoch, als wäre es ein Baby, damit ich es besser betrachten konnte. Ja, es war ein Weibchen. Das Geschlecht war von keinerlei Schamhaar bedeckt. Es bewegte verzweifelt die Beine. Ich nahm den Remington und schlug es mit dem Kolben, bis es sich unter einem besonders heftigen Schlag in die Leisten krümmte wie ein Wurm. Es schützte sich mit den Armen und stöhnte, die Wangen auf den Boden gepresst. Der Pullover und die Eimer verrieten mir, dass Batís in irgendeiner Beziehung zu diesem Tier stand. Woher hatte er es, und welchen Wert mochte es für ihn besitzen? Ich wusste es nicht. Tatsache war, dass er ihm einige Kunststücke beigebracht hatte, wie einem Bernhardinerhund. Es trug zum Beispiel Eimer. Dann hatte er sich die Mühe gemacht, es zu bekleiden. Ein Pullover, den nicht einmal türkische Bettler gewollt hätten. Die Kombination eines derart zerlöcherten, schmutzigen Pullovers mit einem Körper, der aus den Tiefen des Ozeans stammte, war ein unmögliches Ensemble, noch grotesker als diese lächerlichen Hündchen, denen die englischen Damen erstklassiges Wollzeug anziehen. Aber wenn Caffó sich die Mühe gab, musste er es ja irgendwie schätzen. Die einfachste Art, mir Klarheit zu verschaffen, bestand darin, es als meine Geisel mitzunehmen. Wenn Caffó etwas an ihm lag, würde er es zurückholen. Ich zog es am Ellbogen hinter mir her und zwang es so, aufzustehen. Ich stülpte ihm einen Eimer über den Kopf, damit es nichts sah. Es zitterte. Die Eimer waren mit einer Schnur zusammengebunden, die ich benutzte, um ihm die Hände auf den Rücken zu binden. Die Spuren des Kampfes aber verbarg ich nicht, Batís sollte es wissen und mir folgen. Ein Schlag mit dem Kolben, und dann zum Haus. 68
Ich setzte es auf einen Schemel. Nachdem ich ihm den Eimer vom Kopf genommen hatte, saß ich lange Zeit vor ihm. Blaues Blut verschmierte seine Mundwinkel. Sein Herz schlug so schnell wie bei einem Kaninchen. Es atmete nur mit dem oberen Teil der Lungen. Sein Blick ging ins Leere, und ich fuhr wie ein Hypnotiseur mit dem Finger vor seinen Augen hin und her. Es folgte ihm vag. Es pinkelte auf den Schemel. Ich blickte aus dem Fenster, von dem aus man den Waldweg sah. Batís kommt nicht. Ich ärgere mich. Mit einer heftigen Ohrfeige schlage ich es zu Boden. Diesmal schreit es nicht. Es bleibt zusammengekauert in einer Ecke sitzen und schützt seinen Kopf mit den gefesselten Händen. Schon Mittag vorbei. Das Licht schwindet. Keine Nachricht von Batís. Natürlich hatte ich nicht die leiseste Absicht, das Weibchen zu behalten. Wenn man die Ungeheuer schon unter gewöhnlichen Umständen zu fürchten hatte, wozu wären sie erst fähig, wenn sie es witterten? Es hatte eine delfinzarte Haut, straff wie die Saiten einer Geige. Es schien jung und fertil zu sein. In Sachen Fortpflanzung kennt die Natur ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Vielleicht konnte es sich seinen Artgenossen über chemische Vorgänge mitteilen, die für den Menschen unsichtbar waren. Ich war bereit, es mit einem Schuss zu opfern. Doch als die Sonne allmählich sank, zerschlug der Lärm einer Donnerbüchse das Fenster. »Elender Bastard«, brüllte eine unsichtbare Stimme. »Warum erklären Sie mir den Krieg? Reichen Ihnen die Froschkerle nicht?« »Und Sie, Caffó?«, schrie ich ins Leere. »Ziehen Sie es vor, Ihren kleinen Rest Munition lieber gegen mich zu verwenden?« »Dieb! Sie beschissenes Arschloch!« 69
Noch ein Einschlag. Das Geschoss bohrte sich in eine Ecke des Fensterrahmens, Holzspäne regneten auf mich nieder. Ich drückte das Tier gegen das Fenster: »Nun schießen Sie, Caffó! Vielleicht treffen Sie!« »Lassen Sie sie los!« Zur Antwort verdrehte ich seinen Arm. Das Tier kreischte. Empörte Schreie kamen als Entgegnung von irgendwoher aus dem Wald. Genau das hatte ich gewollt. Ich lachte: »Was haben Sie, Caffo? Gefällt's Ihnen nicht? Dann hören Sie das hier!« Ich trat mit dem Stiefel auf den nackten Fuß, Schmerzgeheul schallte durch den ganzen Wald. »Hören Sie auf! Töten Sie sie nicht! Was wollen Sie? Was wollen Sie?« »Ich will, dass wir reden. Von Angesicht zu Angesicht!« »Kommen Sie heraus, und dann reden wir drüber!« Er hatte seine Antwort nicht überlegt, sie war zu schnell gekommen und darum kaum aufrichtig. »Sie sind wohl nicht bei Trost! Oder halten Sie mich für einen Idioten? Wer herauskommt, sind Sie. Sofort!« Er gab keine Antwort. Am meisten beunruhigte mich, dass Batís sich einfach zurückziehen würde. Warum sollte er weitermachen? Ich konnte es nicht verstehen. Viele Bauern in Irland würden ihren Nachbarn wegen einer Kuh umbringen. Aber niemand würde sein Leben wegen einer Wölfin aufs Spiel setzen. Ich hatte etwas in meiner Gewalt, dessen Wert ich unmöglich abschätzen konnte. Mir schien, dass sich einige Zweige bewegten. »Caffó, kommen Sie jetzt heraus!«, rief ich. Um ihm das zu sagen, hatte ich das Maskottchen vom Fenster weggeschoben. Ich sah, wie der Doppellaufseiner Flinte an jener Stelle herauskam und wie gelbe Lichter ihn erhellten. Batís' Kugeln waren richtige Splittergeschosse. Er verfehlte mich 70
um Haaresbreite. Der obere Rahmen zerbrach und löste sich. Ein Splitter bohrte sich in meine Augenbraue. Eine unbedeutende Verletzung, die jedoch die Furien in der Hölle weckte. Ich machte das Tier zum Teppich, der am Boden lag, wo ich es mit meinem Stiefel niederdrückte. So hatte ich die Hände frei, um das Gewehr zu bedienen und die Pflanzenwelt voll Blei zu pumpen. Ich schoss auf Brusthöhe, alle Ecken abdeckend. Er konnte überall sein, doch so zwang ich ihn, sich zu ducken. Danach sagte ich etwas, worauf er nichts erwiderte. Was hatte er vor? Mich entern? Die Initiative lag bei ihm, dem Belagerer. Geräuschvoll atmend und wie wahnsinnig blieb mir kein anderer Ausweg, als von Fenster zu Fenster zu springen. Wenn es Batís gelang, die Hausmauer zu erreichen, wäre ich erledigt. Ich sah ihn durch das hintere Fenster: Er ging um das Haus, um mir vom Strand aus in den Rücken zu fallen. Ich drückte ab, doch der Erdwall der Küste schützte ihn. »Ich bringe ihn um!«, schimpfte er, indem er sich duckte. »Beim heiligen Christopherus, ich bringe ihn um!« Seine Situation passte nicht zu seinen Worten: Batís war blockiert. Solange er ausgestreckt auf dem Sand lag, waren seine Umrisse nicht zu erkennen. Doch früher oder später musste er den Strand verlassen, über die linke oder rechte Seite, und in dem Moment wäre er ein geeignetes Ziel. Falls er ihn nicht verließ, umso schlimmer für ihn: Ganz gewiss wären bei Einbruch der Nacht die Ungeheuer sehr froh, ihn dort am Strand zu finden. »Sie müssen sich ergeben!«, rief ich. »Ergeben Sie sich, oder ich bringe Sie beide um!« Er ging das Wagnis ein und traf viel rascher, als ich es erwartet hatte, eine Entscheidung: Batís sprang nach links. Er rannte geduckt und schrie wie eine Sopranistin, die einen Ton hält. Ich konnte gerade einmal zwei Schüsse abgeben. Die Kugeln verloren sich im Meer, er verlor sich im Grünen. 71
Der Schusswechsel brach ab. War er zum Leuchtturm zurückgekehrt? Vielleicht wollte er, dass ich das dachte. Wie auch immer, einem Menschen wie ihm konnte ich keine Geduld unterstellen. Ich band der Geisel einen Strick um den Hals und befestigte das andere Ende an einem Bein des Bettes. Dann öffnete ich die Tür und stieß sie nach draußen. Ich war sicher, dass Batís bei diesem Anblick leiden würde, vielleicht beging er einen Fehler. Das Tier zögerte. Dann rannte es ein paar Meter, im Glauben, frei zu sein, bis sich der Strick straffte und es unter dem Schwung seiner eigenen Bewegung hinfiel. Idiotin. Während einiger Minuten erfolgte keine Reaktion. Ich spähte aus dem Fenster; ich sah das angebundene Tierchen, wie es verzagt am Boden lag. Ab und zu machte es die gleichen Bewegungen wie ein angebundener Hund, der wieder zu seinem Herrchen will. Es hörte auf, machte eine Pause und versuchte es dann von neuem. Doch plötzlich zerschnitt ein gut gezieltes Geschoss den Strick. Diese Treffsicherheit! Was dann folgte, lässt sich nur mit beidseitiger Dummheit erklären: Statt aufeinander zu schießen, begannen wir ein wildes Wettrennen um die Geisel. Ich kam aus dem Haus heraus, er von irgendwo aus dem Wald. Aber Batís war weiter weg. Mit einer Hand packte ich den Hals des Tierchens, das sich nicht wehrte, mit der anderen hielt ich das Gewehr. Mein Arm war zu schwach, um diese Waffe wie eine Pistole zu gebrauchen, und ich schoss fehl. Caffós ganzer Körper war in Bewegung, eine Kugel aus Pelz und Haaren im Wind, die Harpune immer über der Schulter. Aus Angst, das zu verletzen, was er retten wollte, konnte er nicht auf mich schießen. »Ergeben Sie sich!«, drohte ich ihm. »Sie sind tot!« Er spuckte nach mir und rannte in geschickter Zickzacklinie zum Wald. Hier wurde mir eine alte Lehre bestätigt: Es ist nicht leicht, einen Mann zu töten, der sich zu bewegen 72
weiß. Ohne Kugeln im Remington, enttäuscht von meinen kläglichen Schießkünsten, kehrte ich an meinen Zufluchtsort zurück und schlug dabei die Geisel mit dem Gewehrkolben. Der Abend legte sich wie ein Netz aus Finsternis über die Erde. Ich sah den Wald mit dem heimlichen Schützen, mich selbst mit einem Gewehr in Händen, auf einer von Ungeheuern heimgesuchten Insel, neben mir ein Meerungeheuer, und alles war unglaublich irreal. Vor kaum vier Tagen hatte ich noch mit einem Handelskapitän über irische Politik gesprochen. Ich sagte mir: Das alles ist nicht wahr, aber auch: Doch, doch, es ist so, und während ich mit der Welt über ihren Sinn stritt, weckte ein Schuss mich wieder auf. Zwielicht herrschte, und meine Gedanken waren schon mehr bei den Ungeheuern als bei Caffó, da sagte eine mächtige Stimme: »Wie weiß ich, dass Sie nicht auf mich schießen?« »Weil ich Sie schon längst hätte erledigen können und es nicht getan habe!«, antwortete ich unverzüglich. »Sie lieben Sonnenbäder, Caffó? Sie gehen gern frühmorgens, halb nackt, auf den Balkon? Ich habe Sie im Visier gehabt. Ich hätte nur den Abzug drücken müssen, um Ihren Kopf in die Luft zu sprengen«, und mit der Entschlossenheit eines Sergeants befahl ich: »Zeigen Sie sich endlich, verdammt nochmal! Zeigen Sie sich!« Ein Zögern, dann kam er endlich aus dem Wald heraus. »Werfen Sie das Gewehr weg«, befahl ich, »und knien Sie nieder.« Es fiel ihm schwer, aber er gehorchte. Zwar auf Knien, doch ungerührt breitete Caffó die Arme aus, als ob er sagen würde: Da bin ich. »Jetzt kommen Sie heraus!«, verlangte er, die Hände im Nacken. »Mit ihr, mit ihr!« Ich hielt sie als Schild vor mir. Als wir da waren, stieß ich 73
sie gegen BatísэɊ Körper. Ich zielte mit dem Gewehr auf beide. Caffó untersuchte sie, wie ein Tierarzt es mit einer kranken Ziege tun würde. »Sehen Sie denn nicht?«, protestierte er. »Sie haben sie ganz blau geschlagen!« »Was haben Sie denn erwartet? Wenn ihr Blut blau ist«, sagte ich mit grausamer Ironie. Batís schaute auf beide Seiten und dann auf mich: »Nun gut, es wird langsam dunkel. Was wollen Sie?« »Sie wissen schon.« Ich setzte mich, das Gewehr quer über den Knien. Plötzlich war die Situation ganz friedlich, wenn man so sagen kann. Kurz zuvor hätten wir uns noch die Kehle durchschnitten, und nun sprachen wir über unsere Interessen. Wir waren wie zwei Phönizier, die ihre ganze Energie mit eher theatralisch als real gemeintem Feilschen verbraucht hatten. Die Insel war ein seltsamer Ort. »Ich sollte Sie töten, jetzt gleich, aber ich werde es nicht tun«, begann ich in versöhnlichem Ton. »Tatsächlich ist mir alles auf dieser Teufelsinsel egal. Aus mir unbekannten Gründen wollen Sie nicht von hier fort. Sie hatten Gelegenheit dazu, als ich an Land ging, machten aber den Mund nicht auf. Also bleiben Sie, wenn Sie es so wünschen. Aber ich will weg von hier, lebendig und unversehrt.« Ich zeigte zum Leuchtturm hin: »Da will ich rein, mit Ihnen oder ohne Sie. Hinein und überleben. Bald wird ein Schiff vorbeikommen. Wir werden ihm mit dem Leuchtturm Morsezeichen geben, und ich werde an einen ruhigeren Ort reisen. Das ist alles. Natürlich können Sie meine Vorräte behalten. Auch die Gewehre. Ich habe zwei Remingtons und Tausende von Kugeln. Ich bin sicher, dass Sie Ihnen sehr nützlich sein werden.« Ich sah seine verfaulten Zähne, er öffnete in einem unver74
ständlichen Lächeln den Mund halb. Er holte eine kleine, eiserne Feldflasche hervor und nahm einen Schluck. Mir bot er sie nicht an: »Sie verstehen nicht. Diese Insel liegt fernab von jeder Handelsroute. Da passiert kein Schiff bis zur Ablösung des Wetterbeobachters. Ein Jahr lang.« »Warum lügen Sie mich an?«, fuhr ich auf. »Es gibt einen Leuchtturm! Und Leuchttürme postiert man an Orte mit Schiffsverkehr.« Er schüttelte den Kopf. Die Zigarette, die in seinem Mund steckte, spuckte er schließlich aus: »Ich weiß sicher, dass diese Route schon seit Jahr und Tag nicht mehr befahren wird. Sie wollten die Insel zum Gefängnis für die Burenführer machen. Irgend so etwas, ich weiß nicht mehr. Aber die Schiffskarten der Gegend sind alt, sie haben sich hinsichtlich der Größe der Insel geirrt. Hier hätte nicht einmal die Besatzung des Gefängnisses Platz. Sie haben geglaubt, sie sei größer als das hier«, und er machte mit dem Arm eine Bewegung, die alles umfasste. »Der Auftrag für den Bau war an ein Privatunternehmen vergeben. Als die Landmesser kamen, merkten sie natürlich, dass das Projekt nicht durchführbar war, und lieferten Beweise für den Kostenvoranschlag, bevor ihn irgendein General streichen konnte. Der Leuchtturm war in den Plänen des Gefängnisses inbegriffen, so dass sie beschlossen, ihn zu bauen, damit niemand sie der Hinterziehung öffentlicher Gelder beschuldigen konnte. Papierkram eben. Sie bauten den Leuchtturm und reisten ab«, seufzte er sarkastisch. »Sie hätten sich ihren beschissenen Leuchtturm sparen können, hierher kommt kein Inspektor für öffentliche Bauten. Vor allem seit die Engländer den Besitzanspruch am Leuchtturm an die internationale Oberhoheit abgetreten haben. Und was bedeutet das in der Praxis? Nun, dass er vorher der Armee gehörte und jetzt niemandem.« 75
Ich setzte mich wieder. In der Tat, ich verstand gar nichts. »Ich glaub' es nicht! Wenn es so ist, was tun Sie dann hier? Sie kümmern sich um einen Leuchtturm, der gar keine Route bedient?« Seine Laune änderte sich von allein; er hatte hinsichtlich des Tiers das Schlimmste befürchtet, und dass er es nun wieder hatte, wirkte wie Balsam. Er lachte und reichte mir die Feldflasche, jetzt doch. Es war ein kalter, bitterer Likör. Doch die Geste war viel mehr wert als irgendein Getränk. »Ich war nicht für den Leuchtturm bestimmt. Ich bin der frühere Wetterbeobachter. Gut, einen Titel habe ich nie erworben, aber die vom Verband waren gar nicht anspruchsvoll, was die Qualifikation des Personals anging, das sie hierher schickten«; er machte eine Pause. »Das mit dem Leuchtturm hat mir ein Matrose des Schiffs erzählt, das mich auf die Insel brachte, ein Südafrikaner, der die Geschichte kannte.« Mit einer Handbewegung verlangte er die Feldflasche, nahm einen Schluck und setzte hinzu: »Hallo, Kollege. Warum sind Sie hergekommen? Gewinnertypen würden diese Gegend nie ansteuern. Nie. Die Ehrlichen und Ehrenhaften auch nicht. Und Sie? Hat sich Ihre Frau mit einem Eisenbahningenieur davongemacht? Hatten Sie nicht genug Mut, um sich bei der Fremdenlegion zu melden? Haben Sie die Bank betrogen, bei der Sie arbeiteten? Oder haben Sie vielleicht alles im Spielkasino verloren? Schweigen Sie. Es ist egal. Willkommen in der Hölle der Versager, willkommen im Paradies der Nichtsnutze«, und in einem ganz anderen Ton wechselte er das Thema: »Wo ist der andere Remington?« Ich hatte keine Kraft mehr und ließ ihn machen. BatísɊ Tier schaute mit der Gleichgültigkeit einer Kuh zu Boden. Mit zwei Fingern wühlte es im Dreck. Es verschluckte einen Wurm, ohne ihn zu kauen. Batís trat ins Haus. Wie er so vor der Kiste mit den Kugeln kniete, sah er aus wie ein Pirat, der 76
sich an seinem Schatz erfreut. Der Anblick des zweiten Remington und der Munition machte ihn sehr glücklich. »Ein schönes Ding«, sagte er, »ja, ein schönes Ding«, während er den Gewehrkolben befühlte und in den Kugeln wühlte wie ein Wucherer in seinen Goldmünzen. »Helfen Sie mir!«, sagte er auf einmal. »Es wird dunkel. Sie wissen, was das bedeutet?« Batís hatte sein Gewehr und den anderen Remington über die Schultern gehängt. Jeder fasste die Munitionskiste an einem der beiden Seitengriffe. Ja, es wurde Nacht. Er schubste das Maskottchen, und alle drei setzten wir zu einem wilden Wettlauf an. »Schnell, beeilen Sie sich«, trieb er mich durch den Wald, »zum Leuchtturm, zum Leuchtturm!« Und den selben Ausdruck auf Deutsch: zum Leuchtturm, zum Leuchtturm! Aber es war nicht leicht, die Bewegungen von vier Beinen aufeinander abzustimmen; so stolperte ich einmal über eine Wurzel und verstreute die Munition. »Was zum Teufel ist los mit Ihnen?«, beschimpfte er mich, während er die Kugeln zusammenraffte, »sind Sie betrunken?« In der Kiste vermischten sich die Kugeln mit Moos und Dreck, wir liefen schneller, die Nacht brach herein. »Oh mein Gott, mein Gott!«, sagte Batís mit einem Flüstern, und auch »zum Leuchtturm, zum Leuchtturm!« Wir waren noch knapp zwanzig Meter vom Leuchtturm entfernt. Mühsam begannen wir über den Granit hochzusteigen, der sich vor der Tür erstreckte. Plötzlich: »Schießen Sie, schießen Sie!« Ich wusste nicht, was er meinte. »Idiot, hinter dem Leuchtturm!« Ich sah undeutliche Schatten, einer, der nach links sprang, zwei nach rechts, drei, vier. Ich schoss aufs Geratewohl. Die Ungeheuer kannten die Wirkung der Schusswaffen und zogen sich in einem simultanen Sprung zurück. Batís hatte die schwere Kiste übernommen. »Stoßen Sie die Tür auf, sie ist offen«, schrie er. 77
Eine Sekunde, nachdem wir die Tür geschlossen und verriegelt hatten, schlugen die Ungeheuer mit fürchterlicher Wut gegen das Eisen. Caffó stürzte sich auf die Munition, doch ich stellte mich zwischen ihn und die Kiste mit den Kugeln. »Und was ist jetzt los?«, protestierte er. »Sie greifen den Leuchtturm an, ich brauche die Kugeln!« »Schauen Sie mir in die Augen.« »Warum?« »Schauen Sie mir in die Augen.« »Was haben Sie vor?« »Sie sollen mir in die Augen schauen.« Er tat es. Ich nahm den Lauf seines Gewehrs und drückte ihn mir auf die Brust. »Wollen Sie mich töten? Tun Sie es. Ich ertrage den Gedanken nicht, im Halbschlaf zu sterben. Wenn Sie mich töten wollen, so töten Sie mich jetzt. Das ist dann ein Mord, aber wenigstens erspare ich Ihnen den zusätzlichen Verrat.« Er atmete ein und atmete aus, mit der Wut dessen, der nicht die richtigen Worte findet, um auf eine wenig stichhaltige Beleidigung zu reagieren. Er machte eine brüske Bewegung, die mir den Lauf aus den Händen riss. Er drückte ihn mir an die Schläfe. Er war eiskalt. »Sie sind einer von denen, die ewig leben wollen. Haben Ihnen die Klosterbrüder nicht Christi Worte vorgelesen? Haben sie Ihnen nicht gesagt, dass wir oft sterben müssen?« Er nahm die Waffe weg. Und senkte den Blick: »Wir alle müssen sterben. Heute, morgen, wann es die Vorsehung befiehlt. Es ist ein Gewehr für jeden da. Wenn Sie wollen, töten Sie sich.« Ich hatte nicht erwartet, dass sein Verbrechergesicht ein Lächeln andeuten würde. Obwohl der Moment so entscheidend war, gestattete er sich eine Pause und einen Augenblick der Stille. Während wir das Toben 78
draußen hörten, taxierte er mich nach wer weiß welchem Kriterium. Schließlich sagte er: »Sie wollten sich im Leuchtturm verbergen, und schon sind Sie da. Soll ich Ihnen gratulieren? Sie verstehen gar nichts. Sie gehören zu denen, die sich freier fühlen, wenn sie näher an ihrem Gefängnisgitter stehen«, er bewegte fordernd die Hand: »Und jetzt die Kugeln. Die Froschkerle kommen.« Ich trat zur Seite und überließ ihm, was er haben wollte. Obwohl Batís mit seinem Gewehr, einem Remington und der Munitionskiste beladen war, sprang er im Nu die Treppen hoch. Ich erblickte ein paar leere Säcke. Sie dienten mir als behelfsmäßige Matratze. Die Ungeheuer heulten. Batís schoss von einer erhöhten Stelle aus. Aber mein einziger Gedanke war: schlaf, schlaf jetzt. Schlaf. Schlaf. Schlaf.
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Als ich aufwachte, war die Welt in wunderbare Ruhe gehüllt. Irgendwann in dieser Nacht waren meine Lebensgeister zurückgekehrt wie LazarusɊ Seele in seinen Körper, durch göttliches Dekret. Draußen schlugen die Wellen gleichmäßig gegen die nahen Klippen, die Geräusche des Meeres hatten eine heilende Wirkung. Wenn man so dalag, wirkte der Innenraum des Leuchtturms streng und zugleich gemütlich. Durch die Schießscharten, die dem Verlauf der Wendeltreppe folgten, drangen auf unterschiedlichen Höhen Lichtstrahlen ein. Im Schein eines der Strahlen erblickte ich ein Staubflöckchen, das schwerelos schwebte, ganz langsam und in absurder, melancholischer Harmonie. Mein Mund war trocken. Ich richtete mich halb auf und nahm eine Korbflasche. Es war Essig, mir war es gleich. Und wenn es kochender Teer gewesen wäre, ich hätte es getrunken. Als ich mich bewegte, verspürte ich schmerzhafte Stiche, Tausende von Nadeln in jedem Glied, wie wenn das Blut jahrelang nicht geflossen wäre. Während ich so saß, stellte ich bedeutsame Veränderungen fest. Der Sockel des Leuchtturms diente als Magazin, und jetzt bemerkte ich, dass es viel voller war, angefüllt mit Kisten, Säcken und Schiffskoffern. Ich sah genauer hin. Es waren meine. Batís betrat den Leuchtturm. »Wie zum Teufel haben Sie das alles an einem halben Vormittag verfrachten können?«, fragte ich mit der Stimme eines Betäubten, der wieder zu sich kommt. 80
»Sie haben fünfzig Stunden geschlafen«, erwiderte er, wähend er einen Sack Mehl fallen ließ. Ich betrachtete ziemlich stumpfsinnig meine Hände: »Ich habe Hunger.« »Ja, ich weiß.« Er setzte weiter nichts hinzu, doch stieg ich hinter ihm her die Treppe hoch. Ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen, sagte er: »Haben Sie sie nicht gehört? Kein bisschen? Gestern Abend hätten sie mir fast Ärger gemacht. In letzter Zeit sind sie unbändiger denn je«, und dann, leise: »Abschaum, Abschaum...« Er hob die Falltür, und wir betraten die Wohnung. »Setzen Sie sich«, befahl er und wies auf einen Stuhl und einen Tisch. Ich gehorchte. Er blieb stehen, schaute vom Balkon und stopfte seine Pfeife. Ich rieb mein Gesicht, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ein Teller wurde vor mich hingestellt. Die Hände, die ihn vorsetzten, gehörten einem von ihnen, dünne, mit Schwimmhäuten verbundene Finger. Reflexartig sprang ich vom Stuhl auf, einen unterdrückten Schreckensschrei auf den Lippen. Ich konnte hören, wie mein Herz raste. Ich war wieder auf der Insel. »Sie brauchen nicht zu schreien«, sagte Batís. »Es ist bloß Erbsensuppe.« Caffó machte ein schnalzendes Geräusch mit dem Mund wie ein Bauer, der seinen Maulesel anhält. Das Tierchen verschwand geisterhaft durch die Falltür nach unten. Wir wechselten kein Wort mehr, bis ich aufgegessen hatte. »Danke für die Suppe.« »Sie hat sie gemacht.« »Dann danke, dass Sie sie mir aufgetragen haben.« »Sie hat sie gebracht.« Weder Ketten noch Fesseln hielten sie zurück. Ich fragte: »Sie läuft nicht vom Leuchtturm weg?« 81
»Läuft der Hund vom Hof?« Es entstand ein Schweigen, und ich konnte eine gewisse Feindseligkeit nicht verhindern: »Kann sie noch etwas anderes außer Teller und Eimer herumtragen? Haben Sie ihr auch Latein beigebracht?« Er sah mich streng an. Er wollte keinen Streit und war bereit, ihn abzuwehren. »Nein«, erwiderte er. »Weder Latein noch Griechisch. Ich habe ihr nur das hier beigebracht.« Und er hob den Kolben des Remington. »Das ist so viel wert wie alle Latein- und Griechischstunden zusammen.« »Ja, klar«, sagte ich und rieb meinen Kopf. Eine grässliche Migräne hinderte mich, das Gespräch fortzusetzen. »Aber wenn ich Ihre Frage beantworten soll, kann ich Ichnen sagen, doch, sie besitzt einige Fähigkeiten, die sie sehr wertvoll machen. Wenn Froschkerle in der Nähe sind, singt sie.« »Sie singt?« »Sie singt. Wie ein Kanarienvogel.« Die Andeutung eines Lachens entfuhr ihm, eines tiefen, makabren, sehr hässlichen Lachens, und er fügte hinzu: »Sie ist das beste Maskottchen, das in der Umgebung zu finden ist.« Mehr sprachen wir nicht. Ich blieb still auf dem Stuhl sitzen. Mein Gehirn arbeitete langsam. Es fiel mir schwer, die Bilder mit den Wörtern zu verbinden, die sie definierten. Fassungslos, ergriffen von der Verunsicherung eines Menschen, der eine Lawine überlebt hat, betrachtete ich das Zimmer, das Bett, den Balkon, den regungslosen Batís, eine Schießscharte, und nichts besaß eine halbwegs genaue Bedeutung. »Vielleicht sollte ich Ihnen ein bisschen von alledem erzählen«, sagte Batís, indem er meinen Zustand einfach so hinnahm. »Kommen Sie.« Wir stiegen die Eisentreppe hinauf, die den Wohnraum mit 82
dem oberen Stock verband. Dort, direkt unter der Kuppel des Leuchtturms, befand sich die Maschinerie für die Lichter. Ein komplexer Uhrwerkmechanismus; massive Stücke der Eisenhüttenindustrie. Im Zentrum des Saales versorgte ein Generator die beiden Scheinwerfer. Zwei Metallachsen verbanden den Generator mit den zwei Schweinwerfern. Der mobile Aufbau ruhte auf einer Art Zwergeisenbahn, die an der Außenwand des Raumes entlangführte. Batís betätigte drei Hebel, und die Apparatur bewegte sich, indem sie die statische Trägheit mit mächtigem Gequietsche überwand. »Wie Sie sehen, habe ich den Winkel der Scheinwerfer so eingestellt, dass sie die Umgebung des Leuchtturms absuchen. So kann ich sie entdecken, wenn sie herankommen. Bei jeder Umdrehung ändert sich jedoch ihr Neigungswinkel. Sie zielen abwechselnd auf den Fuß des Leuchtturms und in eine gewisse Distanz. Ich kann den ganzen Wald ableuchten. Wenn nötig, bestrahlt das Licht sogar das Haus des Wetterbeobachters am anderen Ende der Insel.« »Ja, ich weiß.« Ich wusste nicht einmal selbst, ob meine Worte ein Vorwurf oder eine bloße Feststellung waren. Batís überging es. »Ich könnte es so einrichten, dass das Licht nur auf die Tür zielt, da unter uns. Doch was würde das nützen? Sie würden die Scheinwerfer meiden. Durch die ständige Bewegung sind sie gezwungen, sich zu bewegen, um dem Lichtkegel auszuweichen. Und wie alle Höllentiere verabscheuen sie das Licht, göttliches wie menschliches.« Das hier war der höchste Punkt der Insel, von wo aus man einen großartigen Ausblick hatte. Das Land erstreckte sich in Form eines Stiefels. Ganz hinten, beim Absatz des Stiefels, hob sich das Schieferdach des Hauses ab. Zu beiden Seiten der Küste waren, ihrem Verlauf folgend, verschieden große Klippen wie Tupfen in den Ozean gesetzt. Im nördlichen Teil 83
gab es eine, die weiter herausragte als die anderen, etwa hundert oder einhundertfünfzig Meter von der Insel entfernt. Ich schaute genau hin und sah am Klippenrand den Bug eines kleinen gestrandeten Schiffes. »Portugiesen«, gab Batís bekannt, bevor ich ihn überhaupt fragte. »Ist noch nicht so lang her, der Schiffbruch. Sie kamen aus ihrer Kolonie Mosambik. Sie waren zu einem Hafen im Süden Chiles unterwegs. Sie führten illegale Fracht und fuhren deshalb einen Kurs fernab der Handelsrouten. Das Schiff hatte nur eine kleine Tonnage, sie bekamen Probleme und wollten die Bouvet-Insel anlaufen. Aber sie blieben an den Klippen hängen«, schloss er mit der Gleichgültigkeit dessen, der sich eine Anekdote aus der Kindheit ins Gedächtnis ruft. »Ich vermute, dass Sie ihnen mit Ihrer gewohnten Liebenswürdigkeit und Beflissenheit sofort zu Hilfe eilten und ihnen Unterkunft und Verpflegung anboten«, sagte ich mit selbstzufriedenem Zynismus. »Ich hätte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, etwas zu tun«, verteidigte er sich halb und halb. »Sie wurden nachts schiffbrüchig, wenn die Klippen am gefährlichsten sind. Die Besatzung kletterte über den Bug auf den Felsen. Sehen Sie ihn? Ja, diese kleine Fläche. Sie wurden natürlich noch vor Sonnenaufgang aufgefressen.« »Und wie kommt es dann, dass Sie über Details wie Nationalität, Route und Bestimmungsort der Portugiesen Bescheid wissen?« »Einer lebte am Morgen noch. Ich weiß nicht, wie es ihm gelungen war, aber er konnte sich in eine Kabine im Bug flüchten, einen winzigen Raum im herausragenden Teil. Durch das Bullauge konnte ich sein Gesicht sehen. Ich verständigte mich schreiend mit ihm, von der Küste aus. Am Anfang verstanden wir uns nicht: Die Glasscheibe war sehr dick, ich konnte nur sehen, wie er die Lippen bewegte. Er kam aus 84
der Kabine, stieg an Deck, und wir unterhielten uns ein bisschen. Der arme Teufel war verrückt geworden, total verrückt. Zuletzt bekam er einen Rappel und verschoss das ganze Magazin eines Revolvers auf mich« ȭ Batís deutete ein schmutziges Grinsen an: »Er verwechselte mich mit einem der Ungeheuer. Egal, er war ein schlechter Schütze. Danach kehrte er in die Kabine zurück, und dort blieb er und erwartete die Nacht. Ich sehe noch sein Gesicht vor mir, eingerahmt vom Bullauge. Armer Trottel. Wenn er auch nur noch ein bisschen Verstand gehabt hätte, hätte er die letzte Kugel für sich behalten.« Ich konnte Batís viel vorwerfen. Aber das Schlimmste war nicht das, was er erzählte, sondern sein Ton. Mit beängstigender Kälte erzählte er das Schicksal jener unglücklichen Portugiesen. Ohne irgendwelche Überlegungen anzufügen. Vor allem: ohne jede Emotion. Wir kehrten in seine Wohnung zurück. Er unterrichtete mich über die Anlage und die Verteidigungstaktik seines Reduits. Seine Anstrengungen konzentrierte er hauptsächlich auf den kleinen Balkon. Die mittelalterlichen Schießscharten waren Beobachtungspunkte und Schießstellungen, von wo aus man die dreihundertsechzig Grad rund um den Leuchtturm im Blick hatte. Er hatte keine Sorge, dass sie durch die Schießscharten eindringen könnten, da die Froschkerle nie durch diese schmalen Öffnungen passen würden und der Stein viel zu hart war, als dass man ihn hätte durchlöchern können. Wenn sie sich Zugang erzwingen wollten, so war es eben über den Balkon. Das erklärte die spitzen Pfähle und andere Befestigungen der Mauern. Ein einziger einigermaßen geschickter Schütze konnte jeden Angriff abwehren, so intensiv und massiv er sein mochte. »Demzufolge liegt die Gefahr für den Verteidiger darin, sich auf dem Balkon exponieren zu müssen«, überlegte ich. »Warum beschränken wir uns nicht darauf, die großen Fenster mit den Eisenläden zu schließen, die Sie eingesetzt haben?« 85
»Auf die Dauer wäre es nutzlos«, sagte er, »die Frösche haben übermenschliche Kräfte. Mit der Zeit würden sie die Panzerung abschleifen, und die Insel bietet kein Ersatzmaterial. Hinter Schloss und Riegel säße ich da als Gefangener meiner eigenen Verteidigungsanlage. Selbst wenn ich eine Schießscharte bohren würde, so hätte ich keinen Schusswinkel. Nein. Die einzige Methode besteht darin, sie mit der Flinte auf Distanz zu halten.« So sprach er, und mir blieb nichts anderes übrig, als die Richtigkeit seiner Worte anzuerkennen. Danach stiegen wir ins untere Stockwerk hinab. Das Portal, das sehr robust war, hatte er mit drei dicken Holzbalken verstärkt. Sie lagen waagerecht. Um sie wegzuziehen, brauchte man sie bloß in den Stein hineinzuschieben, in zwei sehr tiefe, eigens dazu geschaffene Seitenlöcher. Für die Außenseite des Leuchtturms hatte Batís sich die Verteidigungsanlagen ausgedacht, die ich bereits kannte. »Sie klettern wie die Affen, unglaublich«, sagte er mit schlecht verhohlener Bewunderung. Das Einzige, was er dagegen machen konnte, war: Ein Spinnennetz aus Seilen und leeren Dosen, damit er sie kommen hörte; die Steinblöcke mit einem Brei aus gekochtem, mit Sand vermengten Papier verkittet; Nägel und Glasscherben hineingebohrt. »Werfen Sie bloß nie einen verrosteten Nagel oder eine leere Flasche weg«, warnte er mich im Ton eines Söldners. »Im Land der Frösche heißt die offizielle Devise Glas, und die wertvollste Münze ist der Nagel.« Viel mehr war nicht zu sagen. Am Nachmittag ging ich zum Haus des Wetterbeobachters. Im Vergleich zum Leuchtturm war es nur eine Streichholzschachtel, zerbrechlich, nicht zu verteidigen, ganz erbärmlich. Batís hatte alles fortgetragen außer meiner Matratze. Vorsichtshalber nahm ich das Mas86
kottchen mit ȭ ich war mir nämlich gar nicht sicher, ob ich bei meiner Rückkehr die Tür zum Leuchtturm offen vorfinden würde. Doch er machte mir keinen Ärger. So ist die germanische Rasse. Wache, peinlich genaue Intelligenz, die auf geradem Weg vorwärts marschiert, bis die gewaltsamen Ereignisse sie einen Neunzig-Grad-Schwenker machen lassen. Wenigstens dem Anschein nach wurde meine Gegenwart mit der Überzeugungskraft vollendeter Tatsachen akzeptiert. Sobald ich im Leuchtturm war, deponierte ich meine Matratze im Erdgeschoss. Dort würde ich schlafen. An der Wand, die dem Meer am nächsten war. In den Sturmnächten würden die Wogen über die Klippen springen und an das Gebäude schlagen, und nur der Stein würde mich vom aufgewühlten Meer trennen. Aber der Leuchtturm war ein festes Bauwerk, und mich so nah der Brandung und zugleich vom Leuchtturm behütet zu wissen, würde mir das befriedigende Gefühl geben, wie unter der Bettdecke der Kinderzeit vor den schlimmsten Ängsten geschützt zu sein. Ich hatte mich eben ein klein wenig eingerichtet, als Batís nach mir rief. Er streckte seinen Kopf durch die offene Falltür: »Kollege! Haben Sie die Tür richtig zugemacht? Kommen Sie hoch. Bald erhalten wir Besuch.« Eine kriegerische Atmosphäre erfüllte die Wohnung. Batís ging hin und her, schaute kurz durch die Schießscharten, trug Munition zusammen, allerlei Gerät und bengalische Lichter ȭ alles aus meinem Gepäck natürlich. »Worauf warten Sie? Nehmen Sie Ihr Gewehr!«, sagte er, ohne mich anzuschauen. Aus dem ehemaligen Gegner wurde auf einmal ein Kampfgefährte. »Sind Sie sicher, dass sie heute angreifen werden?« »Lebt der Papst in Rom oder nicht?« Wir besetzten den kleinen Balkon, er rechts, ich links, beide auf Knien. Kaum anderthalb Meter trennten uns, es war so 87
eng, dass der Raum zwischen der Schwelle und dem Geländer keine drei Spannen betrug. Oben, seitwärts und insbesondere unten ragten wie die Hörner von Einhörnern Dutzende von verschieden großen Pfählen hervor und wiesen in alle Richtungen. An einigen waren Flecken von eingetrocknetem blauem Blut zu sehen. Batís hielt seine Flinte umklammert. Neben ihm, am Boden, der Remington und drei Zylinder bengalisches Licht. Er hatte den Leuchtturm angemacht. Das Geräusch der Maschinen drang gedämpft zu uns, ein Pendelknarren, lauter, wenn die Scheinwerferwagen sich gerade über uns drehten, leiser, wenn sie sich entfernten. Das Licht strich über den Granitsockel und, ein Stück weiter weg, leicht schwankend über den Waldrand. Doch sie zeigten sich nicht. Eisige Windböen trieben Zweige vor sich her. Ein Wind, der heiser pfiff, sich nicht um die Gefühle kümmernd, die er weckte. Verschwand der Scheinwerfer, versank die Landschaft in fast vollkommener Dunkelheit. »Woher wissen Sie, dass sie von hier kommen? Das Meer ist hinter uns. Wenn sie aus dem Wasser kommen, klettern sie die andere Seite des Leuchtturms hoch«, sagte ich. »Das Meer ist überall, das hier ist eine kleine Insel. Und dass sie Tiere sind, heißt nicht, dass sie keine Türen kennen. Hinter einer Tür gibt es Fleisch.« Batís bemerkte meine Erschöpfung, von der ich mich noch nicht ganz erholt hatte, und meine Nervosität, und fügte hinzu: »Wenn Sie wollen, legen Sie sich hin. Versorgen Sie mich mit Munition, trinken Sie Rum, ganz, wie Sie möchten. Ich habe genügend Angriffe allein durchgemacht, so dass ich Sie nicht brauche.« »Nein, ich kann nicht«, sagte ich und fügte hinzu: »Ich habe zu viel Angst.« Die Dosen, die an den Mauern hingen, klapperten. Es ist der Wind, der Wind, nur der Wind, beruhigte er mich mit einer bedächtigen Handbewegung. Ich musste aber auf ir88
gendeine Gestalt schießen, die nicht erschien. Batís bewegte den Kopf wie ein Chamäleon und warf ein bengalisches Licht. Das rote Licht flog in die Höhe, beschrieb einen Bogen und fiel langsam herab. Eine weite Fläche leuchtete karminrot auf. Aber sie waren nicht da. Ein zweites bengalisches Licht, diesmal grün. Nichts. Der Schimmer erlosch und spiegelte nur Steine und Bäume wider, an denen der Wind rüttelte. »Mein Gott, mein Gott...«, flüsterte Batís auf einmal. »Da kommen mehr Frösche als je zuvor.« »Wo sind sie? Ich sehe nichts.« Doch Batís gab keine Antwort. Er war weit weg, obwohl er da war, neben mir. Sein Mund, die Lippen feucht, stand offen wie bei einem Schwachsinnigen, als ob er tief in sich hineinschaue, statt die Umgebung des Leuchtturms zu überwachen. »Ich sehe nichts. Caffó! Ich sehe nichts, warum behaupten Sie, dass es viele sind?« »Weil sie so ausdauernd singt«, gab er mechanisch zur Antwort. Das Maskottchen hatte eine entfernt balinesisch klingende Weise angestimmt, eine Melodie, die sich unmöglich beschreiben ließ, eine Musik, die man keinem Notensystem zuordnen konnte. Wie viele Menschen mögen dieses Lied gehört haben? Wie viele menschliche Wesen sind mit Anbeginn der Zeiten, seitdem der Mensch Mensch ist, in den Genuss gekommen, diese Musik zu hören? Nur Batís und ich? All jene, die irgendwann dem letzten Kampf die Stirn geboten haben? Es war ein schrecklicher Hymnus und ein barbarischer Psalm, und er war schön in seiner naiven Tücke, sehr schön. Mit der Präzision eines Skalpells berührte er das ganze Spektrum unserer Gefühle; er vermischte sie, wühlte sie auf und verleugnete sie drei Mal. Die Musik löste sich von ihrer Interpretin. Es sangen Stimmbänder, die die Natur zum Ausdruck in abgründigen Tiefen geschaffen hatte, während das Mas89
kottchen mit gekreuzten Beinen dasaß, der Szenerie so fern wie Batís, wie die Ungeheuer, die sich nicht zeigten. Nur ein Mensch, der geboren wird, oder ein Mensch, der stirbt, kann so allein sein, wie ich es war in jener Nacht auf dem Leuchtturm. »Da, sieh«, meldete Batís. Die Invasion der Insel hatte an einer abgelegenen Stelle stattgefunden. Nun kamen sie aus dem Wald. Ganze Herden von Ungeheuern, auf beiden Seiten des Weges. Ich erahnte sie mehr, als dass ich sie sah. Ich hörte ihre Stimmen, ein Gurgelgeräusch aus hundert Kehlen, zweihundert oder vielleicht fünfhundert. Langsam kamen sie heran, ein formloses Heer. Ich sah Schatten und hörte das Gurgeln von Mal zu Mal näher. Mein Gott, dieses kehlige Geräusch, als ob jemand Säure erbricht. Hinter uns brach das Maskottchen ihr feierliches Lied ab. Und für einen Augenblick konnte man meinen, dass auch die Tiere vor dem Leuchtturm innehielten. Sie blieben genau an der vom Scheinwerfer markierten Grenze stehen. Doch plötzlich griffen sie an, mit gemeinsamem Schwung. Sie rannten und sprangen, die Köpfe auf verschiedenen Höhen. Das Gewimmel rückte vor, und zwangsläufig zeichneten sich viele der Ungeheuer im Scheinwerferlicht ab. Ich schoss wild in alle Richtungen. Einige fielen, zahlreiche wichen zurück, aber es waren so viele, dass die Mehrheit weiter voranzog. Ich hätte ein Maschinengewehr gebraucht. Ich schoss wie verrückt, bis Batís den Lauf meines Gewehrs packte. Er war heiß, doch die Haut seiner Pranke war unempfindlich dagegen. »Was zum Teufel tun Sie? Haben Sie den Verstand verloren? Wie viele Nächte können wir aushalten, wenn Sie so fröhlich die Munition verschießen? Ich brauch' kein Feuerwerk. Schießen Sie erst, wenn ich es tue!« Was dann folgte, war eine makabre Lektion. Das Gewirr 90
der Ungeheuer drängte sich gegen die Tür. Aufbrechen konnten sie sie nicht und auch nicht die Mauer hochklettern. Aber es waren genug da, um aus ihren Körpern Pyramiden zu improvisieren. Sie waren ein Durcheinander aus nackten Armen, Beinen und Oberkörpern. Ohne System und Ordnung, wirr sich stoßend, stiegen sie aufeinander, und der Berg wuchs meterweise. Noch hielt sich Batís zurück, seine Kaltblütigkeit war erschreckend. Als der Oberste mit seinen Klauen fast die ersten Pfähle berührte, schob Batís den Doppellauf seiner Flinte durch das Geländer. Der Schuss ließ das Gehirn des Ungeheuers explodieren, Schädelteile flogen wie Eisenschrot durch die Luft. Das Tier fiel, und mit ihm brach der Turm zusammen. »So macht man das, so«, brüllte Batís, »links von Ihnen!« Ein ähnlicher Turm wuchs auf meiner Seite empor. Ich musste allerdings ein paar abknallen, damit er einstürzte. Sie fielen und heulten wie verwundete Hyänen, kugelten hinunter, und kleine Grüppchen trugen die Leichen weg. »Schießen Sie nicht auf die Fliehenden, sparen Sie die Kugeln«, warnte mich Batís. »Wenn wir ihnen genug Aas geben, fressen sie sich gegenseitig auf.« Und wirklich, er hatte Recht. Wenn eine Pyramide zusammenfiel, wimmelten die Ungeheuer wie Ameisen, in deren Haufen man getreten war. Zu fünft, sechst, siebt oder acht nahmen sie die Toten und zogen ab. Ausdauer war nicht ihre Tugend, und bald zerstreuten sie sich. Gellend wie ein Schwarm Wildenten kehrten sie in die Finsternis zurück. »Quak, quak, quak«, ahmte Batís sie verächtlich nach, »quak, quak, quak!« »Immer dasselbe«, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. »Ein paar Tote reichen, damit sie nicht hochklettern. Da wollen sie den braven Batís Caffó verspachteln und schlucken schließlich die eigenen Toten. Frösche, dreckige Frösche.« 91
Dieser Sieg bedeutete einen Wendepunkt in den Angriffen der Ungeheuer. In der folgenden Nacht konnten wir nur wenige ausmachen, sie kamen nicht einmal zu uns heran. Nachts darauf schwaches Getrappel. Meine dritte Nacht im Leuchtturm war die erste, in der sich kein einziges Ungeheuer blicken ließ. Seltsamerweise war sie nicht die ruhigste, denn bis zur Morgendämmerung ruhten wir nicht. Batís wusste aus Erfahrung, dass die Frösche keiner Regelmäßigkeit gehorchten und in jedem Augenblick angreifen konnten; »das ist kein Fahrplan der preußischen Eisenbahn«, warnte er mich. Ich hatte mich nun endgültig im Erdgeschoss des Leuchtturms eingerichtet. Abends stieg ich die Treppe hoch und nahm meine Kampfstellung auf dem kleinen Balkon ein. Die Nächte und Tage folgten einander, und im Lauf der Zeit setzte sich so etwas wie ein Zusammenleben durch. Wer war dieser Mensch? Vom ehemaligen Wetterbeobachter waren nicht mehr Spuren vorhanden, als man sie bei irgendeinem altgedienten Schiffbrüchigen gefunden hätte. Egoistisch und scheu wie eine Wildkatze, entstammte seine Ungeselligkeit weniger der Anpassung an die Umgebung als einem Weg, natürliche Neigungen zu sublimieren. Doch trotz seiner ausgeprägten Rohheit, trotz seiner unleugbar niederen Gewohnheiten bewies er oft den Charakter eines besitzlosen Aristokraten. Schroff, aber auf seine Art loyal; und doch auch von einer wachen Intelligenz, so seltsam das Wort klingen mag. Am scharfsinnigsten zeigte sich Caffó, wenn er seine Tabakspfeife stopfte; mit wildem Blick presste er den Pfeifenkopf zusammen, immer wachsam nach draußen spähend. In solchen Momenten erinnerte er an einen Voltaireianer, die zwar ihre Fantasie anstrengen, dann aber nur Barrikaden aufstellen. Er war die Art Mensch, der sich auf eine einzige, einsame, aber 92
fundamentale Wahrheit beschränkt. Er besaß die Tugend der Vereinfachung. Man könnte sagen, dass er so sehr und so gut vereinfachte, dass sogar er fähig war, die Wurzel des Problems zu verstehen. Wenn es zum Beispiel um technische Fragen ging, besaß er einen klaren, hellen Verstand. Auf diesem Gebiet war er unschlagbar, und dem verdankte er sein Überleben. In anderen Momenten jedoch verfiel er der Ästhetik eines fahnenflüchtigen Kosaken. Er war ein Philosoph der Muskeln, seine hygienischen Grundsätze waren mehr als ordinär, und wenn er aß, erinnerte er an einen Wiederkäuer. Sein Atem ging stoßweise, man konnte ihn meterweit hören. Er bewahrte in sich den Schwärmer, der von seinem eigenen Mythos lebt. Mit jeder Gebärde, mit jeder Verachtung verkündete er, dass nicht er für die Welt, sondern die Welt für ihn gemacht war. Eine Gestalt wie ein irrer Cäsar, der unsichtbare Pferde galoppieren hört und sie zu Tausenden köpft. Doch er machte mir keine Angst, und er quälte mich nicht. Ich begriff bald, dass man von ihm die Solidarität von Raben erwarten durfte. War es innere Würde oder weil einem die Insel eine Schicht aus Primitivität aufdrückte: Ich stellte fest, dass ihm der Verrat sehr fern lag. Batís lebte auf die Zukunft gerichtet ȭ obgleich »Zukunft« in seinem Fall nur den nächsten Tag umfasste ȭ, nie auf die Vergangenheit; nachdem ich einmal im Leuchtturm war, nahm er das als vollendete Tatsache hin. Meine Gegenwart hob unsere gemeinsame Geschichte auf, Kleinlichkeiten, Animositäten und Erpressungen. Ich lebte in einem Ausnahmezustand, ich war bereit, alle Nachteile um des Überlebens willen zu schlucken. Es waren nicht die großen Persönlichkeitsunterschiede, die mich störten; die akzeptierte ich. Doch wie in der Ehe waren Belanglosigkeiten der Grund für die schlimmsten Dramen. Zum Beispiel: sein fast komplett fehlender Sinn für Humor. Batís lachte nur für sich allein, nie im Einverständnis. Wenn ich 93
scherzte, wenn ich einfache Witze erzählte, sah er mich verwirrt an, als ob er sich seiner Schwäche bewusst wäre, das Lustige daran nicht zu erkennen. Eines Morgens nieselte es, und gleichzeitig strahlte die Sonne. Ich las in einem Buch von Frazer, das, wie Batís mir gesagt hatte, nicht ihm, sondern zum Leuchtturm gehörte. Mit anderen Worten: Einer der Erbauer hatte es vergessen. Ich las ohne Interesse, gelangweilt, als Batís vorbeiging. Er lachte und lachte mit gesenktem Kopf und konnte sich kaum beherrschen. Ich werde nie erfahren, ob er mir etwas zu verstehen geben wollte oder nur einfach dort umherging. Er lachte und lachte, den letzten Satz einer Art Witz auf den Lippen: »... er war kein Sodomit, er war Italiener.« Ein hohles Gelächter, das sich selbst anfachte. »Er war kein Sodomit, er war Italiener«, wiederholte er. Er stieg die Treppe hoch und wiederholte lachend den Schluss dieser mir unbekannten Geschichte. Das zweite Mal, als ich ihn lachen sah, stand in einem ausführlicheren Zusammenhang. Nach einem ziemlich heftigen Angriff zog ich mich auf meine Matratze zurück. Es wurde hell, und die Gefahr schwand. Ich machte mich zum Schlafen fertig, als mich ein Geräusch aus dem Bett trieb. Zuerst war es ein Stöhnen des Maskottchens. Schlug er es? Nein. Die Laute des Maskottchens wurden bald von Batís' sehr intimen übertönt. Ich konnte nicht glauben, was meine Ohren mir zu verstehen gaben, ich dachte sogar an eine akustische Halluzination. Nein, das war es nicht. Es war zwar ein Stöhnen, aber eins aus Lust. Das Bett dort oben ließ den Boden rhythmisch erzittern. Kleine Sägespäne lösten sich und fielen auf mich, als ob es im Leuchtturm schneite. Bald waren meine Schultern und Haare mit Sägemehl übersät. Wegen der runden Bauweise des Leuchtturms breiteten sich die Geräusche mit Nachhall aus, und in meiner Vorstellung ungläubig das 94
Bild. Die Paarung dauerte eine Stunde oder zwei, bis zunehmende Geräusche und Bewegungen sie schlagartig beendeten. Wie konnte er es nur mit einem der Ungeheuer treiben, die uns jede Nacht angriffen? Welchen Denkweg hatte er eingeschlagen, um die Hindernisse der Zivilisation und der Natur zu überwinden? Das war schlimmer als Kannibalismus, den man in ausweglosen Situationen letztendlich begreifen kann. Batís' sexuelle Unbeherrschtheit verlangte eine klinische Untersuchung. Natürlich ließen Anstand und gute Manieren es nicht zu, dass ich seine zoophilen Gelüste kritisierte. Aber es war klar, dass ich Bescheid wusste, und wenn er nicht darüber sprach, so eher aus Nachlässigkeit als aus Scham. Eines Tages kam Batís selbst in einer beiläufigen Bemerkung auf die Sache zu sprechen. Ohne dass es mich besonders interessierte, war mein Kommentar rein klinischer Natur: »Und Sie leiden nicht an Dyspareunia?« »Dyspa-was?« »Dyspareunia, schmerzhafter Koitus.« Wir aßen zusammen am Tisch in seiner Wohnung, er saß da mit offenem Mund, den Löffel in der Luft. Er konnte nicht fertig essen. Er lachte so sehr, dass ich glaubte, er würde sich den Unterkiefer ausrenken. Er lachte, wobei er Bauch, Brust und Hals gewaltig anstrengte. Er schlug sich auf die Schenkel und verlor fast das Gleichgewicht. Er weinte dicke Tränen, machte eine Pause, um sie zu trocknen, und lachte von neuem los. Er lachte und lachte; er machte sich daran, ein Gewehr zu putzen, aber er konnte nicht aufhören zu lachen. Er lachte, bis es dunkel wurde und die Nacht unsere ganze Aufmerksamkeit verlangte. Eines andern Tages jedoch, als zufällig die Rede auf das Maskottchen fiel und ich nach dem Grund für die absurde 95
Vogelscheuchenbekleidung, diesen abgewetzten, ausgefransten dreckigen Pullover, fragte, war die Antwort ebenso klar wie kategorisch: »Des Anstands wegen.« So war er, dieser Mann.
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11. Januar Nach Ansicht eines japanischen Philosophen sind es wenige, die die Kriegskunst zu würdigen wissen. Batís Caffó ist einer von denen. In der Nacht führt er Krieg, am Tag macht er Liebe. Es ist schwer zu sagen, welche der beiden Aktivitäten ihn mehr begeistert. In meinem Gepäck hat er ein paar Wolfsfallen entdeckt. Grausame Tellereisen wie die Kiefer eines Hai-fischs. Voller Eifer hat er die Fallen in treffsicherer Distanz ausgelegt. Mäßiger nächtlicher Angriff. Einige Ungeheuer sind in die Falle gegangen, er hat sie erschossen ȭ unnötige Handlung, wenn wir uns wortwörtlich an seine Doktrin, Vorräte zu sparen, halten. Am Morgen ist er zu den Fallen gegangen. Der uneingestandene Wunsch nach einer Trophäe leitete ihn. Allerdings haben die Ungeheuer in ihrer ewigen Gier nach Fleisch die Leichen mitgenommen, mitsamt den Fallen. Das hat ihn sehr frustriert. 13. Januar Dem Gedanken Musashis weiter folgend: Den guten Kämpfer erkennt man nicht an der Sache, für die er eintritt, sondern am Sinn, den er dem Kampf abzugewinnen weiß. Leider hat dieser Aphorismus im Leuchtturm keine Geltung. 97
14. Januar Zu Beginn der Nacht: ungewöhnlich wolkenloser Himmel. Großartiges Schauspiel der Sterne und Sternschnuppen. Ich bin zu Tränen gerührt. Nachdenken über die geografische Breite und Stellung der Sterne. Ich bin so weit weg von Europa; der Standort der Sternbilder am Firmament ist völlig anders, und ich erkenne sie nicht. Aber wir müssen akzeptieren, dass da keine Unordnung ist; Unordnung gibt es nur in dem Maße, wie wir unfähig sind, unterschiedliche Ordnungen und Positionen zu erkennen. Das Universum ist zu Unordnung nicht imstande, wir schon. 16. Januar Nichts. Kein Angriff. 17. Januar Nichts. 18. Januar Nichts, gar nichts. Wo sind sie? 19. Januar ȭ 25. Januar Der südliche Sommer erlischt zaghaft, aber es ist eine grandiose Zaghaftigkeit. Heute habe ich einen Schmetterling gesehen. Hier, beim Leuchtturm. Er ist unstet umhergeflogen, gleichgültig gegenüber unserem Martyrium. Caffó hat ziemlich uninteressiert versucht, ihn mit der Hand zu zerquetschen. Es wäre ein Verbrechen gewesen, denn die Kälte schreitet voran, und ich bin sicher, dass wir keinen mehr sehen werden. Doch es wäre unmöglich, mit jemandem wie ihm darüber zu streiten. Diesem Gefühl könnte man eine weniger philosophische, aber beunruhigendere Überlegung beifügen. Im Sommer wa98
ren die Nächte sehr kurz. Jetzt schreiten wir unerbittlich dem Winter entgegen, das heißt der Dunkelheit. Die Angriffe finden immer nachts statt, und jetzt werden sie mit jedem Tag länger. Was wird sein, wenn die Nächte zwanzig Stunden oder länger dauern? 26. Januar Weil unsere Insel so klein ist, nutzt der Blick die Gegenstände ab. Tausendmal ist er über sämtliche Oberflächen gestrichen. Von den Revieren des Leuchtturms sprechen wir wie von einer Provinz. Jeder Winkel hat seinen Namen, jeder Baum, jeder Stein. Ein seltsam geformter Ast wird sofort getauft. Und so bekommen auch die Entfernungen eine andere Qualität. Hörte uns jemand zu, könnte er denken, wir reden von entlegenen Orten, dabei ist alles in ein paar Schritten zu erreichen. Auch die Zeit wird zu einem relativen Begriff. Der Tropfen, der am Faden eines Spinnennetzes hängt, kann Ewigkeiten brauchen, bis er fällt; manchmal jedoch blinzle ich, und eine ganze Woche ist vergangen. 27. Januar Ich kann nicht verhindern, dass die eigenartige Akustik des Leuchtturms Liebesgeräusche zu mir trägt. Im Allgemeinen wählt Batís dafür das Ende der Nacht, wenn ich mich vom Balkon und aus der Wohnung zurückziehe. Er kann seine Betätigung auf zwei, drei oder gar vier Stunden ausdehnen. Mit der Gleichmäßigkeit eines Stenographen folgt ein Stöhnen dem andern. Er macht Geräusche wie ein durstiger Mensch, der die Wüste durchquert; ein monotoner Todeskampf. Manchmal glaube ich, dass er den synkopischen Rhythmus tagelang durchhalten könnte. Seltsame Polyorgasmen des Maskottchens. Ich kann die andauernde Erregung verfolgen, die rascher werdenden Spas99
men und den Höhepunkt, der das Werk krönt. Alle anderthalb Minuten, wenn's hochkommt, bricht die Erregung in sprudelnd spitzen Schreien aus, in langen, sehr langen Schreien, hält die Lust ganze zwanzig Sekunden und beginnt, statt nachzulassen, von neuem. Gleichgültig nimmt Batís sie wieder und wieder, bis die Lust mit einem Fluch erlischt. 28. Januar Zu unserer Kost gehören auch Krebse. In Europa wollte sie keiner. Sie haben einen äußerst dicken Panzer und darunter viel Fett und wenig Fleisch. Aber wir begnügen uns sehr gern damit, was bleibt auch anderes. Zu Beginn ȭ ich armer Naivling ȭ sah mich die Insel auf den Klippen an der Küste lächerliche kleine Sprünge tun. Die Krebse entkamen mir mit Leichtigkeit und versteckten sich in den Spalten. Die Wellen schlugen mit dumpfem Geräusch gegen die ausgehöhlten Felsen, und der Schaum bespritzte mich. Das war eher gefährlich als lustig. Ich wollte bloß zu den Vorräten im Leuchtturm beitragen, aber das kalte Wasser machte meine Finger taub. Seit langem habe ich nicht mehr so geflucht. Zum Glück kam Batís vorbei und sagte: »Sie sehn wie eine lahme Ziege aus, Kollege.« Er ging Richtung Wald, die Axt auf der Schulter. Hinter ihm das Maskottchen. Mit einem Schnalzen der Lippen gab er ihr einen Befehl. Sie glitt wie eine Schlange zwischen die Steine. Mit einer beschämenden Leichtigkeit fing sie die Krebse. Sie riss auch eine Art Miesmuscheln von den Steinen, die so festgewachsen waren, dass ich nicht einmal gedacht hatte, mich daran zu wagen, denn ich war sicher, dass ich Hammer und Meißel gebraucht hätte. Ihr reichten die Fingernägel. Ich brauchte nur den Korb aufzumachen. Hin und wieder riss das Maskottchen einem Krebs, bevor sie ihn in den Korb warf, ein Bein aus und verputzte es vollständig. 100
Mein Beitrag zur Leuchtturmkost waren eine Art Pilze, die ich im Wald entdeckt hatte. Sie klammern sich an die Rinde der Bäume wie die Miesmuscheln an die Felsen, und ich muss sie mit einem Taschenmesser herausschneiden. Wahrscheinlich haben sie nicht sehr viel Nährwert, aber ich reiße sie trotzdem aus. Außerdem habe ich die Wurzeln bestimmter Waldpflanzen zu einem vitaminreichen Brei zerstoßen. Weil Batís ein so schweigsamer und grüblerischer Mensch ist, verdient der folgende Dialog, festgehalten zu werden. »Und woher wissen Sie, dass das keine Giftkräuter sind?«, fragte er misstrauisch angesichts des Sirups, der herauskam, nachdem ich den Brei mit Gin vermischt hatte. »Die Kräuter sind wie die Menschen weder gut noch schlecht, sie sind anders«, erwiderte ich und nahm einen Schluck. »Wir kennen sie, oder wir kennen sie nicht, weiter nichts.« »Die Welt ist voll von schlechten Leuten, sehr schlechten Leuten. Nur ein Naivling kann an die menschliche Güte glauben.« »Dass die einzelnen Personen von Natur aus besser oder schlechter sein können, ist völlig irrelevant. Die Frage ist, ob die Gemeinschaft, die sie bilden, gut oder schlecht ist. Wie die Menschen in ihrer Summe sind, hängt nicht von ihren Charakteranlagen ab. Stellen Sie sich zwei Schiffbrüchige vor, zwei besonders verabscheuungswürdige Personen. Einzeln können sie unausstehlich sein. Doch gemeinsam werden sie sich für die einzig mögliche Lösung entscheiden: sich verbünden, um die besten Lebensbedingungen zu schaffen. Wen interessieren ihre persönlichen Fehler?« Aber ich weiß nicht, ob er mir zuhörte. Er schluckte die Mischung hinunter und sagte: »In Österreich haben wir Schnaps, den ich lieber mag als Gin.« 101
Wir fischen auch. Bereits lange vor meiner Ankunft hatte Caffó eine ganze Galerie von Angeln aufgestellt, an der Südküste, auf ein paar Felsen, die hervorragen wie kleine, auf drei Seiten vom Wasser umgebene Landzungen. Anders als man meinen könnte, ist unser Problem nicht die Spärlichkeit, sondern das Übermaß der Fänge. Die Fische in diesen Breiten sind vollkommen dumm, oder vielleicht haben sie einfach keine Erfahrung mit Angelhaken. Sie sind so groß und stark, dass sie die ganze Angelrute mitreißen können. Um das zu verhindern, hat Batís sie fest wie Pflöcke in den Stein gerammt. Er hat einen verstärkten Draht entworfen und Angelhaken, die wie Hühnerfüße aussehen, mit drei Einzelhaken. Dennoch geht uns von Zeit zu Zeit eine Angelrute verloren. Noch einen Tag später nach einem solchen Ruck können wir sehen, wie sie von der Strömung fortgetragen wird. Dieser Materialverlust löst Anfälle von Hass aus, die wir gegen niemanden richten können. Wie dem auch sei, wir müssen zugeben, dass wir auf der Insel, jedenfalls was die Nahrung betrifft, unabhängig sind. Die Vorräte, die ich mitgebracht habe, ergänzen und bereichern unsere Kost, doch wir sind nicht von ihnen abhängig. 29. Januar Aus meinem Tagesverlauf. Bei Morgengrauen verlasse ich meinen Wachposten auf dem Balkon. Ich entledige mich meiner Ausrüstung und strecke mich auf der Matratze aus, oft noch in den Kleidern. Mein Bewusstsein erlischt wie ein Öllämpchen, mit einem Hauch, und ich schlafe so lange, wie die Natur es verlangt. Seitdem ich im Leuchtturm bin, erinnere ich mich an keinen Traum. Meistens wache ich am Mittag oder später auf. Ich frühstücke aus einem Aluminiumteller, wie ihn die Zuchthäusler haben. Ist das Wetter ausnahmsweise mild, kann ich den Teller 102
mit nach draußen nehmen. Ich gehe wieder hinein, Toilette. Das ist der schönste Augenblick des Tages. Ich betrachte mich regelmäßig, daher weiß ich, dass sich meine Haarfarbe definitiv verändert hat, zumindest im Nacken. Die Angst der ersten Tage hat sie in ein Aschgrau verwandelt, und so ist es geblieben. Anschließend ziehe ich mich an. Meine Garderobe: Am häufigsten trage ich Hosen aus ganz gewöhnlichem Stoff, der sich jedoch bestens für die gröbsten Arbeiten eignet. Über dem Unterhemd einen Matrosenpullover mit hohem Kragen. An den ersten Tagen trug ich ein Kleidungsstück, das mir bis zur Taille reichte, kakifarben, mit zwei sehr tiefen Taschen auf der Brust, die ich mit Munition füllte, als ob es Bonbons wären. Und das war ironisch bis zur Parodie: Ich hatte erstaunlicherweise nicht bemerkt, dass es eine alte Kampfjacke des englischen Heeres war, bis Batís es mir sagte. Jemand hatte sie irgendwo im Leuchtturm liegen lassen. Vielleicht gehörte sie zum Militärmagazin, zum Lagerbestand der Besatzung, die gar nie auftauchte. So nützlich sie auch sein mochte, ich warf sie ins Meer. Batís hielt mich für verrückt. An zwei Tagen in der Woche mache ich Gymnastik, auch wenn es regnet, was meistens der Fall ist. Weil es hier keinen Friseur gibt, schneide ich meine Haare nach Art der mittelalterlichen Pagen. Was die Rasur betrifft, bleibe ich meinen Grundsätzen treu. Warum wohl schätze ich perfekt rasierte Wangen so sehr? Aus Hygiene? Weil ich mir so eine tägliche Disziplin auferlege? Ich glaube nicht. Die Antwort ist, dass der Übergang von Barbarei zu Zivilisation manchmal von so unbedeutenden Handlungen wie einer guten Rasur abhängt. Caffós dichten Bart finde ich erschreckend. Er pflegt ihn kaum. Mit der Axt, könnte man meinen. Am schlimmsten ist es, wenn er Sonnenbäder nimmt, wobei er am Boden sitzt und den Rücken an die Mauer des Leuchtturms lehnt. Unbeweglich wie ein Krokodil sitzt er da, während das Maskott103
chen mit großem Geschick in seinem Bart wühlt. Eines Tages begriff ich, dass sie es machte, um die Läuse zu verzehren, die sie darin findet. Danach widme ich mich Aufgaben, die ich mir mit Batís teile. Ich sammle Holz. Es wird viel Zeit brauchen, um zu trocknen, und wir müssen es gut stapeln, im Schutz des Leuchtturms, bevor wir es verbrennen; es mag eine unnütze Arbeit sein, aber es verschafft einem die Illusion von Zukunft. Ich sammle die Angelruten ein und verstecke sie im Leuchtturm. Ich repariere und verstärke das Konstrukt aus Konservendosen, suche verrostete Nägel und zerbreche, sparsam mit dem Glas, Flaschen, um die Ritzen zwischen den Steinen noch abweisender zu machen. Keiner, der nicht hier auf dem Leuchtturm gelebt hat, wird je den quälenden Gedanken begreifen, den ein Zentimeter freier Raum zwischen dem einen und dem andern Nagel, der einen und der andern Glasscherbe bedeutet. Ich schnitze auch neue Pfähle, zähle die Munition, die wir noch haben, und teile die Lebensmittel ein. In der Regel hat Batís gegen meine Unternehmungen nichts einzuwenden, wenn ich zum Beispiel vorschlage, einen Stern in die Kugelkapseln zu ritzen, um sie in Splitterprojektile zu verwandeln, oder den Granit zu durchlöchern, der das Gebäude des Leuchtturms umgibt. In die Löcher stecken wir noch mehr Pfähle, nur zwanzig Zentimeter lang und sehr spitz, damit die Ungeheuer sich an den Fußsohlen verletzen. Die Idee stammt von den römischen Feldlagern. Natürlich hindert sie das nicht am Näherkommen, aber es macht es ihnen schwerer. Allerdings ist unsere Umgebung durch diese Konstruktion noch unheimlicher geworden. Bis zum Dunkelwerden verfüge ich über freie Zeit, wenn dieser Ausdruck denn hier, auf dem Leuchtturm, überhaupt einen Sinn haben kann.
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1. Februar Schöne Abenddämmerung. Der Tag zieht sich zurück, als wäre der Horizont eine große Bühnenmaschinerie; er saugt das Licht auf, lässt es versinken und setzt Dunkelheit darauf. Es ist, als malte ein Riesenpinsel den Himmel schwarz an und höbe dabei kleine Funken hervor, die Sterne. Ich stehe Wache und bemerke, dass ein frühzeitiges Ungeheuer uns belauert, ein ungewöhnlich kleines Ungeheuer. Ich hätte es fast übersehen, denn es ist gut versteckt. Es ist nun aber auf den gleichen Baum geklettert, den ich benutzt habe, als ich Batís töten wollte ȭ das hat es verraten. Es beobachtet mich wie ein Käuzchen mit Armen. Ich sitze auf einem Schemel und rauche. Ich lege die Zigarette auf das Geländer und ziele ganz bedachtsam. Das Ungeheuer bringt meine Haltung nicht mit seinem bevorstehenden Tod in Verbindung. Es verharrt weiter auf dem Baum, sieht mich an, ohne zu verstehen. Ich habe sein Herz im Visier. Ein Schuss. Der Körper reißt im Fallen dürres Laub herab, für einen Augenblick verliere ich es aus den Augen. Doch bevor es die Erde berührt, verfangen sich seine Knie in den Ästen. Die Arme baumeln, es ist tot. Das Geschoss hat seine Brust durchschlagen. Batís schimpft mit mir, eine unnötige Kugel. Ich erinnere ihn an die Episode mit den Tellereisen. War es nicht unnötig, auf unbewegliche und darum ungefährliche Ungeheuer zu schießen? »Wir müssen sparen«, sagt er, »Munition ist Leben.« »Ich habe die Munition mitgebracht«, entgegne ich, »und verbrauche sie, wann ich will.« Wir streiten die ganze Nacht, wie zwei kleine Kinder. 2. Februar Heute haben die Ungeheuer die ganze Nacht lang aus der Dunkelheit heraus geschrien, jedoch ohne uns anzugreifen, 105
sehr merkwürdig. Ich versuche mit Batís über unser früheres Leben in Europa zu sprechen, ohne Erfolg. Es ist unmöglich, mit diesem Menschen auch nur das geringste Einverständnis herzustellen. Nicht dass er sich weigert zu sprechen, nicht dass er mir etwas verschweigt. Doch das banale, lockere Gespräch interessiert ihn einfach nicht. Wenn ich ihm etwas von mir erzähle, nickt er zustimmend. Wenn ich ihn nach etwas über ihn selbst frage, gibt er einsilbig Antwort, die Dunkelheit, die den Leuchtturm umgibt, immer im Blick. Und so immer weiter, bis ich es aufgebe. Stellen wir uns zwei Leute vor, die im gleichen Zimmer schlafen und im Traum reden ȭ genauso sind unsere Dialoge beschaffen. 5. Februar ȭ 20. Februar Nichts. Dieses Nichts schließt die Tatsache ein, dass das Maskottchen nicht singt ȭ das ist gut. Meine Berührungen mit ihr sind selten. Entweder treibt sie es mit Batís oder ist mit einfachsten Arbeiten beschäftigt; sie weicht mir aus, weil sie sich mit dem Gedächtnis eines geprügelten Hundes an unsere erste Begegnung erinnert. Wenn sie zum Beispiel den Leuchtturm verlässt, trifft sie zwangsläufig mit mir zusammen. Sie beschleunigt ihren Schritt und hält Abstand, wie ein kleines Vögelchen. Wenn ich das Maskottchen ansehe, überkommt mich manchmal ein Schaudern. Nach kurzer Betrachtung ist klar, dass sie vierhändig, gleichmäßig temperiert, farbenblind, cholerisch und willensschwach ist. Doch sind ihre Körperformen und ihr Benehmen so menschlich, dass man sich sehr anstrengen muss, um der Versuchung zu widerstehen, den Dialog mit ihr aufzunehmen. Denn sie hat die Intelligenz eines Huhns: Sie schaut uns nicht an, hört uns nicht zu; sie sieht uns nicht und hört uns nicht. Sie lebt auf einer einsamen Umlaufbahn. Aber hier hat sie eine Verbindung mit Batís. 106
22. Februar Batís hat sich einen Rausch angetrunken, was bei ihm nur sehr selten vorkommt. Ich habe ihn betrunken gesehen, in der einen Hand die Ginflasche, in der andern das Gewehr. Er tanzte wie ein Zulukaffer auf dem Granitfels, auf dem sich der Leuchtturm erhebt. Danach ist er im Wald verschwunden und erst im letzten Moment zurückgekommen. Unterdessen habe ich das Maskottchen eingefangen und in eine Ecke gebracht, obwohl sie mir Widerstand leistete. Sie war halb tot vor Angst und begriff nicht, dass ich bloß ihren Schädel abtasten wollte. Der Schädel ist vollkommen. Ich meine damit die Vollkommenheit der Oberfläche: eine Kugel, ohne jede Unebenheit. Ein wunderbar rundes Schädeldach, wo es bei den Menschenwesen doch gewöhnlich verschiedene Konnotationen und Fortsätze besitzt. Ist es so beschaffen, um den Druck der ungeheuren Tiefen auszuhalten? Der Schädel hat nicht die Einbuchtungen des geborenen Verbrechers, ebenso wenig die Höcker des frühreifen Genies. Und zur Überraschung des Schädelforschers: keine Entwicklung der Hinterhaupts- oder Scheitelbeinregion. Sein Volumen ist etwas geringer als bei den slawischen Frauen und ein Sechstel ausgedehnter als bei der bretonischen Ziege. Ich fasse sie bei den Backen, damit sie den Mund aufmacht. Sie hat keine Mandeln, stattdessen zeigt sich ein zweiter Gaumen, der offensichtlich dazu dient, das Eintreten von Wasser zu verhindern. Sie leidet an Anosmie, sie hat keinen Geruchssinn. Dagegen können ihre kleinen Ohren Töne wahrnehmen, die für mich unhörbar sind, ähnlich wie bei den Kaniden. Oft ist sie wie abwesend, hat Bewusstseinstrübungen, in denen sie irgendwelche Stimmen, Melodien oder Anrufungen hört und außer sich gerät. Was hört das Maskottchen? Unmöglich, das auszumachen. Schwimmhäute an Händen und Füssen, weniger breit und lang als bei den Männchen. Sie kann die Finger und Zehen unglaublich 107
weit spreizen, wie es ein Mensch nie könnte. Ich vermute, dass es eine Bewegung ist, mit der sich die Ungeheuer im Wasser beim Schwimmen Antrieb verschaffen. Ich ziehe sie unter Schlägen aus, denn sie widersetzt sich. Der Körper ist wunderbar gebaut. Europäische Mädchen würden in Ohnmacht fallen, wenn sie ihre schlanke Figur sähen ȭ allerdings müsste sie beim Auftritt in den Salons seidene Handschuhe tragen. In meiner Eigenschaft als Wetterbeobachter weiß ich, dass die kleine Insel in einer besonderen Meeresregion liegt, die von warmen Strömungen umgeben ist. Das würde auch vieles erklären: vom Reichtum der hoch entwickelten Flora und dem erst spät beginnenden Schneefall ȭ der eigentlich schon hätte einsetzen müssen ȭ bis zum Vorhandensein der Tiere in dieser Gegend. Wären sie in allen Meeren und Ozeanen verbreitet, dann besäße die Menschheit historische Belege dafür, die mehr wären als bloße Legenden. Ebenso habe ich gelesen, dass die Polarfische über einen Gefrierschutz im Blut verfügen. Das trifft auch für sie zu und ist der Grund für das blaue Blut, nehme ich an. Denn wie soll man sonst verstehen, dass komplexe Organismen, die kalte Ozeane bewohnen, keinen Fettspeicher haben? Muskulatur wie Marmor, straffe Haut mit herrlichen Schattierungen in Eidechsengrün. So stellen wir uns eine Waldnymphe mit Schlangenhaut vor. Die Brustwarzen sind schwarz und klein wie Knöpfe. Ich habe einen Bleistift unter die Brüste gelegt, doch er fällt hinunter, als ob sie von einem unsichtbaren Faden nach oben gezogen würden. Mit diesen Äpfeln hätte Newton seine Theorie schwerlich aufstellen können. An dieser Stelle muss unbedingt die Empfehlung der Franzosen angeführt werden, dass die vollkommene Brust in einer Champagnerschale Platz finden muss. Die gesamte Körpermuskulatur zeugt von Gesundheit und Energie, ade Korsett! Hüften wie eine Tänzerin und ein flacher, sehr flacher Bauch. Das Gesäß kompakter als der In108
selgranit. Die Gesichtshaut wie die übrige Haut, während sich beim Menschen die Hautstruktur der Wangen sehr von der des übrigen Körpers unterscheidet. Das Maskottchen ist von einem zarten Film überzogen, der die kleinste Pore verdeckt. Keine Spur von Haarwurzeln unter den Achseln, auf dem Schädel oder in der Schamgegend. Die Schenkel sind ein Wunder an Schlankheit und gehen mit einer Genauigkeit in die Hüften über, die kein Bildhauer wiedergeben könnte. Und das Gesicht: ein ägyptisches Profil. Spitze Nase, die mit der Kugelform des Schädels und der Augen kontrastiert. Die Stirn steigt langsam an wie eine zarte, sehr zarte Felswand, keine römische Büste kommt ihr gleich. Der Hals erinnert an die stilisierten Jungfrauen der Renaissancegemälde. Ich bringe sie in eine dunkle Ecke, und sie zittert vor Angst, ich Idiot, eine Kuh würde auch nicht begreifen, was die Hantierungen des Tierarztes bedeuten. Ich habe eine Kerze angezündet und sie ihr mehrmals vor die Augen gehalten und wieder weggezogen. Grelles Licht lässt die Pupillen schrumpfen, bis sie zu einem schmalen Spalt werden wie bei Katzentieren. Bei dieser Beobachtung konnte ich einen jähen Schreck nicht unterdrücken: Die Augen sind erstaunlich blaue Spiegel, mehr rund als oval. Bernsteinglanz, die Augenflüssigkeit zäh wie Quecksilber. Ich habe mich darin gesehen, als ich sie anschaute, das heißt: mich anschaute. Ich war nahe daran, davon abzulassen. Spiegelt man sich in den Augen des Ungeheuers, wird man von lächerlichen, aber mächtigen Schwindelgefühlen erfasst ȭ soll mich nur derjenige anklagen, der diese Erfahrung kennt. Man kann sie unmöglich beobachten und zugleich Distanz wahren. Wenn ich sie berühre, bin ich mit ihr wie verflochten. Meine Handfläche legt sich auf ihre Wange. Und meine Hand zuckt entsetzt zurück, als hätte ich einen tödlichen Stromschlag bekommen. Zu unseren ursprünglichsten Instinkten 109
gehört, dass wir menschliche Berührung mit Wärme in Verbindung bringen, es gibt keine kalten Körper. Doch ihre Temperatur greift mich an und tut mir weh. Sie erinnert an die Kälte eines Leichnams, aus dem alles Leben gewichen ist. 25. Februar Sie sind aufgetaucht. Es sind viele. Unser täglicher Munitionsvorrat sind sechs Kugeln, und wir mussten acht verschießen. 26. Februar Batís und ich haben neunzehn Kugeln verbraucht. 27. Februar Dreiunddreißig. 28. Februar Siebenunddreißig. 1. März-16. März Zu sehr beschäftigt, um mein Leben zu kämpfen, als schreiben zu können. Und alles, was man aufschreiben könnte, ist nicht erinnernswert. 18. März Die Angriffe lassen leicht nach. Eine ganze Zeit lang habe ich vom Wald aus den Leuchtturm beobachtet, den Balkon. Batís wurde von meinem Verhalten angesteckt und hat sich der Beobachtung wortlos angeschlossen. Er war neben mir, unsere Schultern berührten sich. Mich interessierte besonders dies: Ich wollte den Leuchtturm aus der Perspektive der Ungeheuer betrachten und in die Finsternis ihrer Raubtiermentalität eindringen, um mir vorzustellen, wie sie mich sehen. Batís, nach einer Weile: 110
»Also ich sehe keine Lücke in unserer Abwehr.« Dann ist er gegangen. 20.-21. März Sie beobachten uns, ohne anzugreifen. Zu Beginn war das beunruhigend, später nur noch sonderbar. Meistens sind es flüchtige Gestalten. Ab und zu können wir sie erkennen, zwischen den Bäumen oder in einer gewissen Wassertiefe. Wenn die Scheinwerfer sie ausfindig machen, verschwinden sie. Die Nacht dehnt ihre Herrschaft aus. Jetzt haben wir nur drei Stunden Sonnenlicht. Was bleibt, ist Erbe der Nacht. Ist die Sonne gerade aufgegangen, nimmt sie schon wieder Abschied von uns. Wie soll man die Angst, die das bedeutet, zu Papier bringen? Schon unter normalen Verhältnissen wäre der Aufenthalt hier auf der Insel eine furchterregende, beängstigende Erfahrung. Die Anwesenheit der Ungeheuer, die uns umzingeln, übersteigt jedoch die Grenzen des Verstandes. Oft sind, auch wenn es seltsam erscheinen mag, die Pausen zwischen den Angriffen schlimmer als die Angriffe selbst. Im Leuchtturm drinnen, im Halbdunkel der Öllampen, erreichen uns die vereinten Geräusche von Wind, Regen und Meer, und wir warten auf den neuen Tag und warten und warten, und keiner weiß, ob erst das Licht oder der Tod erscheinen wird. Ich hätte nie gedacht, dass die Hölle so etwas Einfaches wie eine Uhr ohne Zeiger sein könnte. Ende März Ich entdecke, dass Batís Schach spielen kann. Diese unbedeutende Tatsache wirkt wie eine Insel der Zivilisation inmitten all dieses Irrsinns. Drei Partien. Zwei Patt und ein Sieg. Warum sollte ich aufschreiben, wem er gehört?
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4. April Mittag. Wir spielen Schach. Am Abend greifen sie sechsmal in Folge an. Ich schieße so oft, dass das Schloss meines Gewehrs heiß wird. Es war notwendig, und Batís sagt nichts wegen des Munitionsverbrauchs. 8. April Ich eröffne auf romantische Art, scheitere aber an Caffós Abwehr. In dieser Hinsicht ist er sehr geschickt. Er rochiert, und bei meinem Angriff geht langsam Material verloren. Das Zusammenwirken von Mensch und Schachspieler ist allzu offensichtlich, als dass man Anmerkungen beifügen müsste. Überall die Batístianische oder caffotistische Denkweise, wie man will. Die Ungeheuer haben außerhalb der Reichweite der Scheinwerfer geschrien. Ungefähr so wie streitende Aasfresser. Danach haben sie einen seltsamen Angriff unternommen, sich aber zerstreut, bevor wir schießen konnten. Alles in allem ein Rätsel. Das Schlimmste von allem ist, dass die Ungeheuer keiner Logik folgen. Das macht sie unberechenbar. 10. April-22. April Ich denke über die Absichten nach, die mich auf die Insel führten. Ich suchte den Frieden des Nichts. Und statt der Stille habe ich es mit einer Hölle voller Ungeheuer zu tun. Welche neuen Bedeutungen sollten meine Augen herausfinden? Welches wäre gemäß meinem Tutor die richtige Interpretation? Ich muss viel an ihn denken. Wie sehr ich mich auch befrage und prüfe, so drängt sich doch nur diese eine fürchterliche Gewissheit auf, die alles erdrückt: Ungeheuer, Ungeheuer und noch einmal Ungeheuer. Nichts zu sehen, nichts zu beurteilen, nichts zu bedenken.
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23. April und 24. April Schreckliche Nahkämpfe. Durch die Schüsse aus nächster Nähe wird der Balkon mit Eingeweiden, grauer Substanz und blauem Blut voll gespritzt. In zwei aufeinander folgenden Nächten sind die Ungeheuer so weit über die Pfähle hinausgeklettert, dass wir sie mit Fußtritten, Messerstichen und Axthieben abwehren mussten. In diesen Situationen zeigt sich Batís von seiner wildesten Seite. Wenn sie uns zu nah kommen, wenn Arme und Beine die letzten Pfahlzinnen stürmen, legt Batís das Gewehr mit einem Schlachtruf beiseite. Ich schieße weiter und gebe ihm aus einem Schritt Abstand Deckung, er packt mit der einen Hand seine Harpune und mit der andern die Axt. Mit dem einen Instrument sticht er, mit dem anderen schneidet er. Er verletzt, verstümmelt und tötet mit chaotischer Energie, seine Glieder werden zur mörderischen Mühle. Ein wahrhafter Teufel, ein verzweifelter Wikinger, ein Pirat Rotbart beim Entern, das alles und noch mehr. Er wird einem wirklich unheimlich, ich wollte ihn nicht zum Feind haben. Es sind wirkliche Bilder, ich lebe sie, ja, ich, hier und jetzt, aber man erlebt sie wie unter Einwirkung eines Halluzinogens, und wenn die Sonne wieder da ist, zweifle ich ernsthaft an meiner geistigen Gesundheit. Unser Leuchtturmleben kann man nicht glauben; unser Leuchtturmleben ist das unsinnigste aller Epen. Es fehlt ihm jeder Sinn. Ich lese durch, was ich aufgeschrieben habe. Es kann niemals die Verzweiflung wiedergeben, die mich erdrückt; jedwede Erzählkunst wäre nur ein blasser Widerschein des Unglücks, das ich mit Worten zu gestalten versuche. Wir werden hier nicht lebend herauskommen, so viel ist sicher. Ich glaube nicht einmal, dass wir noch den ersten Schnee sehen werden.
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2. Mai Ich erahne einen Hauch von Dankbarkeit bei Batís. Ohne es klar zu sagen oder ein freundliches Wort darüber zu verlieren, begreift er, dass meine Gegenwart zu seinem Überleben beiträgt. Die Angriffe, denen wir ausgesetzt sind, gesteht er mir, übertreffen alles, was er hier auf dem Leuchtturm erlebt hat. Ein Mann allein wäre gar nicht in der Lage, dieser Masse von Insekten, die einem höllischen Irrenhaus entflohen sind, Widerstand zu leisten. Nicht einmal er. Aber so kann es nicht weitergehen. Irgendwann werden sie so viele sein, dass sie uns besiegen. 3., 4. und 5. Mai Immer dasselbe. Ich kann Batís nicht begreifen. Es besteht ein großer Widerspruch zwischen den Gefahren, die uns bedrohen, und seiner Gemütsverfassung. Je verzweifelter die Nächte sind, desto glücklicher erscheint er tagsüber. Eine Art Kampfeuphorie, Sehnsucht nach dem Abgrund. Er will nicht begreifen, dass der Leuchtturm keine Rochade im Schach ist und dass eine einzige nächtliche Partie, die man verliert, unser Ende bedeutet. 6. Mai In der Nacht: Ein Schuss von Batís streift meinen Arm. Er reißt den Ärmel auf und verwundet mich oberflächlich. Doch hat er auf ein Ungeheuer geschossen, das über mich herfiel, und mir bleibt nichts anderes, als ihn zu entschuldigen und zu loben. 7., 8., 9., 10. und 11. Mai Heftigere Angriffe denn je. Einigen Ungeheuern gelingt es, die Mauer auf der anderen Seite des Leuchtturms hochzuklettern, und sie greifen uns von oben her an, wo die Pfähle nicht 114
so dicht stehen. Sie fallen buchstäblich auf uns. Wir schießen abwechselnd mit senkrecht gehaltenem Lauf nach oben und nach unten, von wo sie auch kommen. Im Durchschnitt brauchen wir jetzt jede Nacht fünfzig Patronen. Die Menge der Ungeheuer übersteigt jeden Albtraum. Später erbitterter Wortwechsel mit Batís. Er wirft mir vor, nicht gewissenhaft genug unsere Befestigungen aus Nägeln und Scherben zu reparieren, weshalb seine »Froschkerle« hinaufklettern konnten. Völlig aufgebracht widerspreche ich. Auch wenn es nur aus Langeweile ist, so arbeite ich doppelt so viel wie er. Wir beschimpfen uns. Ich sage zu ihm, er sei ein primitiver, unfreundlicher Hurenbock. Caffó spricht mir jedes Recht ab, erinnert mich daran, dass ich ein verdammter Eindringling sei ȭ das Wort hatte er noch nie gebraucht. Wir stecken tiefer in der Misere als je zuvor. 12. Mai Ein Ungeheuer klammert sich an Batís' rechten Fuß. Ich erschieße es sofort, doch es reißt den Stiefel und die halbe große Zehe mit sich. Er pflegt seine Wunde, ohne sich auch nur ein Stöhnen zu erlauben. Aber so kann es nicht weitergehen.
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Die zunehmenden Angriffe hatten zu einem schleichenden, aber hartnäckigen Verfall geführt. Wir waren wie zwei Bergsteiger, die in große Höhen klettern, wo ihnen der Sauerstoff fehlt. Wir bewegten uns automatisch. Wenn wir redeten, so taten wir es so gedankenlos wie mittelmäßige Schauspieler, die einen langweiligen Text vortragen. Diese Mattigkeit war ganz anders als die, unter der ich an meinen ersten Tagen gelitten hatte, es war eine Langstreckenmüdigkeit, weniger greifbar, weniger niederschmetternd, aber sehr viel härter. Wir redeten nicht mehr miteinander. Wir hatten uns nichts zu sagen, wie zwei Verurteilte, die auf die Hinrichtung warten. Ganze Tage lang waren die einzigen Worte, die Batís über die Lippen kamen, »Kollege«, wenn er unverzüglich etwas brauchte, oder die Warnung »zum Leuchtturm« am Abend. Hier ein gängiges Bild aus jener Zeit: Ich bin bereits wach und mit irgendeiner unabdingbaren Arbeit für unsere Sicherheit beschäftigt. Weil ich sonst nichts zu tun habe, begebe ich mich zum Scheinwerferraum. Da es der höchste Punkt ist, kann ich den Horizont noch in sehr weiter Ferne erkennen. Dort stehe ich in der Hoffnung, es möge sich ein von der Route abgekommenes Schiff nähern. Es erscheint nicht. Auf dem Dach des Leuchtturms befindet sich, zuoberst auf der runden Spitze, eine ganz einfache Wetterfahne aus Eisen. Sehen kann ich sie von meinem Standpunkt aus nicht, nur hören. Sie 116
quietscht schwach vor sich hin. Es ist gleich, in welche Richtung sie zeigt. Unmittelbar nach dem Mittag wird unsere Insel in ein tiefes rosa Licht getaucht, das sie vom Meer abhebt und ihre Winzigkeit noch betont, hier, inmitten des trostlosesten Ozeans. Die Baumkronen erstrahlen in mattem Glanz. Wir vermissen eine gewisse Wärme, die allerdings mehr durch lebendige Bewegung als durch die Außentemperatur erzeugt werden müsste. Kein Vogel. An der Südküste steht eine Gruppe von Bäumen ganz nah am Wasser. Zweige und Laubwerk hängen bis auf die Meeresoberfläche hinunter, wie ein Vorhang, wie an den Ufern eines tropischen Flusses. Ein unpassender Anblick. Wenn ich weiter nach vorn schaue, kann ich meinen ersten Wohnsitz erkennen. Es sind nur etwas über tausend Meter. Aber man könnte meinen, dass zwischen mir und dem Haus eine ganze Epoche liegt. Jetzt betrachte ich es mit der Mentalität eines Soldaten. Ich denke an das Haus wie an eine verlassene Stellung, Niemandsland, das ich nicht einmal unter dem Befehl Alexanders des Großen zurückerobern würde. Ich befinde mich auf dem Balkon. Batís ist unten. Er läuft. Oder besser gesagt, er rührt sich. Unglaublich, wie viele Beschäftigungen er für sich finden kann. Hier, auf dem Leuchtturm. Mag sein Körper ausgezehrt, seine Seele erstarrt sein, immer hat er etwas zu tun. Er schläft, treibt es und kämpft, und die restliche Zeit weiß er mit den verschrobensten Banalitäten auszufüllen. So kann er sich mit wahrem Asiatenfleiß stundenlang dem Schleifen eines Nagels widmen. Oder er sitzt mit nackter Brust und geschlossenen Augen in der Sonne. Wenn er noch den Mund öffnen würde, sähe er aus wie ein richtiges Krokodil. Der Rest interessiert ihn nicht. »Wir werden sterben«, bekannte ich eines Tages. »Wir werden bloß sterben, das ist alles«, entgegnete er mit dem Fatalismus eines 117
Beduinen. Manchmal setzt er sich auf den Granitfels und schaut nur. Sonst nichts. Das ist bedeutend, gerade weil da nichts Bedeutendes ist: Er schaut, wie ein Schlafwandler schauen würde, und flüchtet aus der Zeit. Die kleinen Pfähle, die ich seinerzeit verteilt habe, ragen überall aus dem Boden wie eine Bedrohung, doch er sitzt auf strategisch wichtigem Felsgelände und schaut und schaut und schaut. Er fügt sich ein in den Stein, verwandelt sich in eine Art heidnisches Totem. Batís lebt in einer Art fortwährendem Tod. Am Abend ertönt der gleichförmige Alarm: »Zum Leuchtturm! Zum Leuchtturm!« Mit unserer Apathie war es vorbei, als Batís eines Tages zufällig zu den Scheinwerfern hinaufstieg. Er wollte überprüfen, ob die Beleuchtung richtig funktionierte, und ich schaute in Richtung des kleinen portugiesischen Schiffes. Batís arbeitete an der Maschinerie. Um irgendetwas zu sagen, fragte ich, was das Schiff geladen habe: »Sprengstoff «, sagte er, während er kniend an den Scheinwerfern hantierte. »Sind Sie sicher?«, fragte ich, ohne nachzudenken, nur um etwas zu sagen. »Dynamit. Geschmuggeltes Dynamit«, erläuterte er so wortkarg wie gewöhnlich. Hier brach das Gespräch ab. Später kam ich erneut auf die Frage des Sprengstoffs. Nach dem, was der überlebende Matrose erzählt hatte, hatte das Schiff illegales Dynamit geladen. Sie hatten es aus den südafrikanischen Minenüberschüssen gewissermaßen geschenkt bekommen und gedachten es zu astronomischen Preisen an Chile oder Argentinien weiterzuverkaufen, wo es dazu dienen würde, irgendeine Revolution zu unterstützen. Im Lager des Leuchtturms hatte ich eine komplette Taucherausrüstung gesehen. Mein Gehirn brauch118
te noch zwei Tage, bis der Plan Gestalt annahm. Allein bei dem Gedanken hätte ich am liebsten laut gelacht. Jene Nacht war schrecklich. Die Bestien konzentrierten sich auf die Tür. Batís schoss und schoss halb ins Dunkle, schaffte es aber nicht und bat mich, nach unten zu gehen und den Eingang zu verstärken. Das tat ich auch. Ich stieg die Treppen hinunter, und der Widerhall im Innern des Leuchtturms verbreitete das Geheul wie eine Riesenorgel. Beinahe wäre ich umgekehrt. Irgendwie gelangte ich jedoch zur Tür. Das Eisen, so solid es sein mochte, wölbte sich nach innen. Die Holzbalken waren halb zerborsten, sie knackten bei jedem Stoß. In Wahrheit konnte ich nichts Nützliches tun. Wenn sie hereinkamen, würde uns die Masse verspachteln, und wir wären tot. Batís tötete viele ȭ vielleicht gaben sie aber auch einfach so auf. Am nächsten Tag verlangte Caffó eine Unterredung. Ich gewährte sie ihm mit echter Neugier, denn derlei Initiativen passten gar nicht zu ihm. »Nach dem Mittagessen«, sagte er. »Nach dem Mittagessen«, bestätigte ich. Und er verschwand. Ich glaube, er verbarg sich in irgendeinem Winkel des Waldes. Batís Caffó musste schon sehr durcheinander sein, um sich einsamen Gedanken hinzugeben. Ich widmete mich der Verstärkung des Geflechts aus Seilen und Dosenschellen, welche den Leuchtturm umgaben. Während ich so beschäftigt war, kam das Maskottchen aus dem Leuchtturm. Nachdem sie es mit Batís getrieben hatte, hatte sie sich nicht diesen peinlichen Pullover angezogen. Sie war nackt. Mich sah sie nicht. Sie begab sich an einen schmalen Sandstreifen, mit den höchsten und spitzesten Klippen der Küste. Ich hatte genug von meiner Todesarbeit und folgte ihr. Ich näherte mich, wobei ich über die Klippen sprang, die an jener Stelle hervorragten. Es gab viele. Oft musste ich dabei an den Mund eines Riesen denken, der unter der Erde schlief: 119
Der Sand war sein Zahnfleisch und die Felsen die Zähne. Zwischen den einzelnen Klippen, auf der Höhe der Wogen und des Windes, dehnten sich kleine Strandinseln aus. Ich suchte sie. Sie befand sich in einer dieser Vertiefungen. Das Maskottchen lag da wie eine Eidechse, so unbeweglich, dass man sie mit einem der Steine verwechseln konnte, die sie vor dem stürmischen Meer schützten. Ab und zu drangen die Wogen ein und überfluteten ihren Körper. Doch sie war wie ein Krustentier im Wasser. Sie achtete ebenso wenig auf Ebbe und Flut, wie sie mich nicht beachtete: Ich saß nur ein Stückchen weiter oben auf einem Felsen, es war unmöglich, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Wenn man sie so sah, konnte man Batís' triebhafte Schwäche verstehen. Diesmal war meine Neugier weniger wissenschaftlich. Irgendwie bekam sie das mit, denn weder floh sie noch hatte sie Angst vor mir. Ich strich mit der Hand über ihren Rücken. Feucht glitt ihre Haut darunter weg, als wäre sie mit einer Ölschicht überzogen. Das Maskottchen rührte sich nicht. Und die Tatsache, dass diese Berührung sie nicht verstörte, erfüllte mich seltsamerweise mit einem völlig neuen Unbehagen. Es kam eine Woge, die sie mit Schaum überspülte und mir ihren Körper streitig machte; und dieses weiße Laken war für mich Versuchung und Beschämung zugleich. Über mich selbst entrüstet, zog ich mich zurück. Mir war zumute, als hätte mich eine unbekannte Stimme, der man nichts entgegnen kann, beleidigt. Nach dem Mittagessen sprach Batís tatsächlich mit mir. Wir verließen den Leuchtturm unter dem Vorwand, einen Spaziergang zu machen. Es hatte aber eher den Anschein einer letztwilligen Verfügung als den einer Besprechung. Wir liefen durch den Wald; ohne die Niederlage zu erwähnen und ohne dass ihn sein plebejischer Gleichmut verlassen hätte, beschrieb er die Situation so: 120
»Wenn Sie wollen, so gehen Sie. Sie wissen vielleicht nicht, dass wir eine Schaluppe besitzen. Das Schiff, das mich auf die Insel gebracht hat, hat sie dagelassen. Sie befindet sich in einer kleinen Bucht, ein Stückchen nordwärts vom Haus des Wetterbeobachters gelegen. Unter Pflanzen verborgen. Ich war schon lange nicht mehr dort, aber ich glaube nicht, dass die Froschkerle sie beschädigt haben: An den Menschen interessiert sie bloß das Fleisch. Nehmen Sie Vorräte und so viel Trinkwasser mit, wie Sie aufladen können.« Er machte eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden. Anschließend ein paar gymnastische Bewegungen mit den Armen, die Zigarette zwischen den Lippen, als ob er so seine Verachtung für die Zukunft zeigen wollte: »Selbstverständlich wird es Ihnen nichts nützen. Man kann nirgendwo hinkommen, und Sie werden keinem Schiff begegnen und verhungern und verdursten. Jedenfalls, wenn diese Nussschale nicht in einem Sturm untergeht. Oder die Froschkerle Sie vorher kapern. Ich werde Ihnen nicht das Recht abschlagen, selbst zu wählen.« Statt einer Antwort zündete ich mir ebenfalls eine Zigarette an und pflanzte mich vor ihm auf. Es war kälter als gewöhnlich. Der Dampf, der aus unseren Mündern stieg, vermengte sich mit dem Zigarettenrauch. Batís sah, dass ich überlegte, aber er konnte sich nicht vorstellen, in welche Richtung meine Gedanken gingen. »Ich denke, wir sollten uns anstrengen und ein paar Risiken auf uns nehmen«, verkündete ich endlich. »Genau genommen stehen wir auf verlorenem Posten. Wenn die Ungeheuer weiter gegen die Tür drängen, wird sie nichts aufhalten können. Ich habe gesehen, dass wir eine Taucherausrüstung besitzen, sogar mit Druckluftpumpe. Meinen Sie, wir könnten die ins Boot laden und bis zum portugiesischen Schiff gelangen?« Batís verstand mich nicht. Er runzelte die Brauen. 121
»Das Dynamit, das Dynamit«, sagte ich und wies mit der Hand, die die Zigarette hielt, zum Schiff hin. Batís bewegte seinen Körper, als wollte er Haltung annehmen wie ein Soldat: »Sie wollen mit dem Boot bis zur Klippe mit dem Schiff fahren. Die Taucherausrüstung anziehen, hinuntersteigen und das Dynamit bergen. Sie wollen hinab bis in die Tiefen der Froschkerle, mit meiner Hilfe, und vor ihrer Nase tauchen, um den Sprengstoff herauszuholen. Ist es das?«, ging er meine Absichten noch einmal knapp durch. »Das haben Sie sehr gut zusammengefasst.« Er sah mich an, drehte den Kopf und kratzte sich im Nacken. Nun wölbten sich seine Brauen zu einem seltsamen Gebilde. In einer Mischung aus Mitleid und Gleichgültigkeit betrachtete er mich darunter hervor: »Schauen Sie, Caffó, vielleicht ist das gar nicht so selbstmörderisch, wie es aussieht. Die Ungeheuer greifen uns nur nachts an, wie alle Raubtiere, die man kennt. Das bedeutet, dass sie tagsüber ruhen. Wenn wir den Zeitpunkt richtig wählen, haben wir gute Chancen, es zu schaffen. Und das Meer ist so groß. Wer weiß, wo sie leben? Wer weiß, ob sie ihre Höhle nicht gerade auf der andern Seite der Insel haben oder zehn Kilometer von der Küste entfernt? Auf dem Schiff gibt es nichts, was sie interessiert, wie Sie schon gesagt haben, und sie haben keinen Grund, sich ihm zu nähern.« Er schüttelte den Kopf, das war dummes Zeug. Doch ich gab nicht auf: »Was können wir verlieren? In Wahrheit sind wir doch nur zwei Leichname, die noch reden, weiter nichts. Sie selbst haben zugegeben, dass wir am Ende des Weges sind. Batís«, ließ ich nicht locker, »ich will Ihnen eine irische Geschichte erzählen. Ein englischer Kommissar wollte einmal einen Burschen festnehmen. Der Kommissar sagte, dass General Collins, der Rebellenführer, ohne seine Kommandanten nichts wert sei. 122
Der Bursche war einer dieser fast namenlosen Kommandanten, einer, der die Verbindungen zwischen Collins und den Rebellen aufrechterhielt. Der Bursche wurde verfolgt und verfolgt. Eines Tages kehrte der Kommissar nach einem anstrengenden Tag mit Verhören und vertraulichen Mitteilungen nach Hause zurück. Er war zufrieden. Am nächsten Tag würde er diesen Burschen erwischen.« »Und?«, interessierte sich Batís zaghaft. »Die Freunde des Burschen erwarteten ihn zu Hause in seinem Esszimmer.« »Jetzt will ich Ihnen mal eine deutsche Geschichte erzählen!«, brüllte Batís. »Es war einmal ein armer Junge, ein Junge in einem Bauernhaus. Er versteckte sich auf den Bäumen und unter den Möbeln, und wenn er von da oben runter- oder da unten rauskam, setzte es Hiebe. Ende der Geschichte.« »Ich brauche Sie. Jemand muss die Druckluftpumpe betätigen und die Sprengstoffkisten hochziehen. Ich allein kann es nicht machen.« Bis zu diesem Augenblick hatte er mir geduldig zugehört, wie man einem behinderten Kind oder hochsenilen Alten zuhört, doch als ich bei meinen Argumenten blieb, kehrte er mir den Rücken. »Warten Sie!«, rief ich und hielt ihn am Ärmel fest. Er riss sich mit unerwarteter Heftigkeit los, stieß auf Deutsch mehrere Verwünschungen aus, die Goethe nie geschrieben hätte, und ging vor sich hinredend weg. Ich folgte ihm mit einigem Abstand. Sobald er im Leuchtturm war, beschäftigte er sich mit der Tür. Er reparierte die Schadstellen, ohne mich zu beachten. Aber das würde das Ende nur hinauszögern, nicht vermeiden. »Denken Sie an Ihre Rochaden, Batís«, sagte ich zu ihm, »ohne die Verteidigung des Turms ist der König nichts.« Und beinahe ins Ohr geflüstert, wie bei der Beichte: »Hundert Tote. Zweihundert, dreihundert Ungeheuer von einer Bombe in die Luft gejagt, Batís. Die Lektion werden sie 123
nicht vergessen, und uns rettet sie das Leben. Es hängt von Ihnen ab.« Das Summen einer Fliege hätte ihn mehr gekümmert. Auf alle Fälle hatte ich ihm das Thema dargelegt. Und es schien mir besser, ihm Zeit zu geben, damit er es verdauen konnte. Natürlich war mir die Grausamkeit meines Vorhabens bewusst. Doch die verbleibenden Möglichkeiten waren noch schlimmer. Mit der Schaluppe fort? Wohin? Ausharren? Wie lange? Caffó observierte die Lage mit der Haltung eines schwerfälligen, fanatischen Kämpfers. Ich dagegen litt an der Verzweiflung des Spielers, der im Kasino die letzte Münze einsetzt: Es würde ihm nichts nützen, sie zu sparen. Ich packte ein paar Werkzeuge zusammen, von der Kälte mumifizierte Lappen, Teertöpfe und leere Säcke. Ich wollte zur Schaluppe, die Batís erwähnt hatte, ihren Zustand überprüfen und sie, falls nötig, kalfatern. Danach ginge ich zum Haus des Wetterbeobachters, wo ich weitere Nägel und vor allem Scharniere holen würde. Sicher könnten wir die im Leuchtturm gut gebrauchen. Ich war ziemlich schwer beladen, und als ich ging, lief mir das Maskottchen über den Weg. Ich lud ihr einen Teil der Last auf und lenkte sie mit einem unfreundlichen Stoß in die neue Richtung. Tatsächlich befand sich das Boot an der von Batís genannten Stelle. Eine verschwiegene kleine Bucht, verborgen unter Bäumen und Moosdickicht, das auf dem Holz klebte wie eine Hautkrankheit. Das Bootsinnere war ein Bassin. Doch schon bei oberflächlicher Untersuchung konnte ich erkennen, dass es sich dabei vor allem um Regen- und nicht um Sickerwasser handelte. Das Moos mit seinen nicht sehr tiefen Wurzeln hatte verhindert, dass das Holz gefault war, indem es die Schaluppe gleich einer Teerschicht schützte. Ohne große Mühe konnte ich das Wasser ausschöpfen und die Pflanzenkruste beseitigen. 124
Ich hatte nun alles zur Hand, was für das Abenteuer nötig war. Dass mich Batís nun auch dabei begleitete und kühn den Selbstmord riskierte, war also das letzte Hindernis. Ich hatte meinen Entschluss bereits gefasst. Da überkam mich eine außergewöhnliche Seelenruhe. Die Bucht besaß die Form eines Hufeisens und war nicht größer als ein kleiner Stall. Sie versperrte den Horizont, so dass ich nur mit Mühe und Not das offene Meer sehen konnte. Künstliche Wellen erschütterten das Boot, und durch die leichte Berührung entstand ein hohles Geräusch. Bestimmt würde ich sterben, aber es wäre doch ein selbst gewählter Tod. Damals erschien mir das als Privileg. Eine ganze Zeit lang tat ich weiter nichts, als meine Fingernägel zu putzen, aufrecht und ruhig. Die Maniküre ging einher mit einer Betrachtung über die Vergangenheit. Was ist das Leben schon. Doch es geschieht, dass die Menschheit bei ihrem Spaziergang durch die Welt einen großen Hang zum Nachdenken an den Tag legt. Ich dachte an die früheste Erinnerung aus meiner Kindheit und an die letzte aus meinem zivilisierten Leben. Meine früheste Erinnerung war ein Hafen. Ich war vielleicht drei Jahre alt oder noch jünger. Ich saß auf einem Kinderstuhl in Blacktorne, neben Dutzenden anderer Kinder. Doch ich befand mich in der Nähe eines Fensters, von wo aus man den grausten Hafen der Welt erspähen konnte. Meine letzte Erinnerung war ebenfalls ein Hafen. Der Hafen, den ich vom Heck des Schiffes aus sah, das mich von Europa auf die Insel brachte. Ja, was ist das Leben schon. Das Maskottchen saß auf einem Thron aus Moos, die Beine gekreuzt, die Hände um die Knöchel, den Rücken gegen eine Wand aus Eichen gelehnt. Sie schaute ins Unendliche, das nicht existierte. Sie gab ein so passendes, so vollkommen natürliches Bild ab, dass ihre erbärmliche Bekleidung den Anblick störte. Seien wir nicht naiv: Bevor ich ihr den Pullover 125
auszog, wusste ich schon, was ich wollte. Ich würde bald sterben, und angesichts des Todes ist moralische Integrität weiter nichts als Staub auf dem Weg. Ich würde gewiss sterben, und das Maskottchen war das frauenähnlichste Wesen in meiner Nähe. Ich würde sterben, und das Stöhnen dieses Körpers, tagein, tagaus, über Monate, hatte mich unempfindlich gemacht für die Grenzen der Moral. Was jedoch dann geschah, war völlig überraschend. Ich hatte einen rohen, heftigen, kurzen Beischlaf erwartet. Stattdessen betrat ich eine Oase. Anfangs ließ mich die Eiseskälte ihrer Haut erschaudern. Doch in der Berührung passten sich unsere Temperaturen bis zu einem gewissen Grad einander an, so dass Begriffe wie Kälte oder Wärme nichts mehr bedeuteten. Ihr Körper war ein lebendiger Schwamm, er verströmte Opium und setzte mein Menschsein außer Kraft. Mein Gott, das war's. Sämtliche Frauen, anständige wie Huren, waren nichts als Pagen an einem Hof, zu dem sie nie Zutritt bekämen, Lehrlinge einer Zunft, die noch gar nicht erfunden war. Öffnete diese Berührung ein mystisches Tor? Nein. Das genaue Gegenteil. Da trieb man es mit diesem Ding, diesem namenlosen Maskottchen, und es wurde einem eine groteske Wahrheit enthüllt, transzendent und kindisch zugleich: Europa weiß nicht, dass es in der immer währenden Kastration lebt. Ihre Sexualität war frei von jeder Vorbelastung. Man konnte ihr nicht einmal besonders erotische Raffinessen zuschreiben. Sie trieb es bloß, trieb es mit ihrem ganzen Körper, und dabei existierten weder Zärtlichkeiten noch Liebkosungen, weder Groll noch Schmerz, weder die Entlohnung im Bordell noch die Hingabe der Liebenden. Sie reduzierte die Körper auf einen einzigartigen, eigentlichen Aspekt, und je tierischer sie bei ihrer Tätigkeit war, desto mehr Lust verschaffte sie mir. Eine rein physische Lust, die ich nicht kannte. 126
Überall auf der Welt hat ein Mann meines Alters und mit der entsprechenden Erfahrung Kenntnisse in Sachen Liebe und in Sachen Hass. Er hat trübe Tage durchlebt und bruchstückhafte Schönheit. Er hat Gegnerschaft, Brüderlichkeit und Feindschaft erfahren. Er hat so etwas wie Erfolg erfahren und viele Niederlagen. Gerade da, auf dem Leuchtturm, hatte ich die schlimmsten Höllen- und Todesvisionen erfahren. Doch nicht immer ist es den Menschen gegeben, die äußerste Leidenschaft zu erleben. Obwohl sie das Begehren begehren, wenngleich sie vermuten, dass es irgendwo, nah oder fern, existiert, haben Millionen von Menschen gelebt und sind gestorben und werden Millionen von Menschen leben und sterben, ohne das Wesen zu entdecken, das dieses Vermögen in sich birgt, das sich in ihr so natürlich und einfach zeigte. Bis zu diesem Augenblick hatte mein Körper so Lust erlangt, wie ein braver Bürger Gelder kassiert. Sie machte, dass ich mir über die Lust meines Körpers bewusst wurde, indem ich ihn von mir trennte und jegliche Beziehung zwischen meiner Person und meiner Lust aufhob, die ich wahrnehmen konnte, als ob sie etwas Lebendiges wäre. Alles hat ein Ende, sogar das hier mit ihr, und als wir die Lust gestillt hatten, hatte ich den Eindruck, über die Lust hinaus einen der Höhepunkte menschlicher Erfahrung kennen gelernt zu haben. Langsam kehrte meine Persönlichkeit zu mir zurück. Ich blinzelte, als ob das den Übergang in den Normalzustand erleichtern würde. Ich brauchte ein paar Minuten, um die Temperatur, die Gerüche und die Farben um mich herum aufzunehmen. Sie rührte sich nicht von ihrer Moosmatratze. Sie betrachtete den Himmel und reckte trag die Arme. Wo ist da der Fehler, fragte ich mich, ohne die Frage zu begreifen noch warum ich sie mir stellte. Ich war erneut ich, ich war jemand, und ein diffuses Gefühl von Lächerlichkeit ergriff mich. Ich fühlte mich auf sinnlose Weise erniedrigt. Ich mach127
te eine Erfahrung durch, die ich nicht einordnen konnte, und sie beschränkte sich mit katzenhaften Gebärden darauf, ihre Glieder zu recken. Ich sammelte meine Sachen zusammen und machte mich wieder auf den Weg zum Leuchtturm. Sie sah, dass ich ging, und folgte mir in einigem Abstand. Ich wollte sie hassen. Als wir beim Leuchtturm ankamen, hatte Batís seine Haltung geändert. Mit seiner gewohnten Zurückhaltung wagte er es nicht, mir seine Meinungsänderung darzulegen. In gewissen Punkten war er sehr stolz und sträubte sich, von Ideen überzeugt zu werden, mit denen er sich bereits nicht einverstanden erklärt hatte. Doch dass er an mich herantrat und ein offensichtlich ausführliches Gespräch suchte, konnte nur eins bedeuten: Dass er noch einmal mit mir über den Sprengstoff und den Versuch, seiner habhaft zu werden, reden wollte. Ich war noch ganz durcheinander und beachtete ihn eine Zeit lang nicht. Schließlich sagte ich: »Es gibt da eine alte irische Erzählung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihrer deutschen Geschichte hat. Ein Ire befindet sich in einem dunklen Zimmer. Er tastet nach der Öllampe, er findet sie, zündet sie mit einem Streichholz an und sieht, dass an der gegenüberliegenden Wand noch eine Tür ist. Er beeilt sich hindurchzugehen und sie hinter sich zu schließen, wobei er die Lampe vergisst; er stellt fest, dass er sich erneut in einem Zimmer ohne Licht befindet. Man kann die Geschichte endlos wiederholen, die des verbohrten Iren, der Öllampen sucht und anzündet, durch Türen geht und sie schließt, die Lampe vergisst, immer vorwärts, immer in Richtung einer neuen Dunkelheit. Zuletzt befindet sich der verbohrte Ire in einem Zimmer ohne Türen, in die Falle gelockt wie eine Ratte. Wissen Sie, was er sagt? ›Gott sei Dank, das war mein letztes Streichholz‹«, ȭ ich wurde lauter ȭ: »Diese 128
Person bin ich nicht, Batís, ich bin das nicht! Fünfhundert Tiere für immer erledigt, vielleicht sechshundert. Oder siebenhundert. Was meinen Sie?« Noch täuschte er Bedenken vor. Doch der Jäger hatte bereits Lunte gerochen. »Keine Angst«, scherzte ich, ohne zu lachen oder ihn anzusehen, »wenn es schlecht ausgeht und sie uns fressen, übernehme ich die ganze Verantwortung.« Das Maskottchen saß in einer Ecke und kratzte sich am Geschlecht.
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Nach unseren Beobachtungen waren die Ungeheuer frühmorgens weniger aktiv als zu jedem anderen Zeitpunkt. Zu diesem Schluss gelangten wir, indem wir unseren Zeitplan als Spiegel ihres Zeitplans betrachteten: Genau genommen waren wir es ja, die sich dem Rhythmus, den sie vorgaben, angepasst hatten, und nicht umgekehrt, und darum durfte man eine gewisse Symmetrie erwarten. Nach einer Nacht, die ebenso unruhig gewesen war wie die vorherigen, begaben wir uns zum Boot. Wieder hatte das Überleben an einem Faden gehangen. Zur Verteidigung hatten wir am späteren Nachmittag den Granit wie ein Sieb durchlöchert und genau vor dem Eingang einen Teppich aus Pfählen ausgebreitet. Viel mehr konnten wir nicht tun. Tatsächlich wussten wir nicht, ob das eher abschreckend oder motivierend wirkte. Am Abend wiederholten sie ihren Ansturm auf die Tür, unter Missachtung ihrer Verluste und wie von der Vorahnung eines Finalangriffs geleitet, indem sie in Massen das Pfahlfeld verwüsteten, ein glitschiges, brüllendes Etwas, das mit Köpfen, Füßen und Fäusten gegen die Türe schlug. Es blieb uns nichts anderes übrig, als die wenigen Flaschen zu opfern, die wir noch besaßen. Wir hatten sie mit einem Präparat aus Rum, Teer, Petroleum und allem Brennbaren, was wir noch hatten, gefüllt. Der Flaschenhals war mit alkoholgetränkter Watte umwickelt. Batís zündete sie an und 130
reichte sie mir. Ich schleuderte sie auf die Ungeheuer. Wenn sie zerbrachen, entzündeten sie sich. Ihre Körper waren feucht und brannten nicht gut, doch zumindest in dieser Nacht erschraken sie so sehr, dass sie verschwanden. Wir hatten also nicht geschlafen, doch unser Kopf war frischer denn je. Wir mussten den Weg zum Boot zweimal zurücklegen, bis wir die ganze Ausrüstung verfrachtet hatten, wozu die Druckluftpumpe gehörte, der Taucheranzug aus Kautschuk, das Helmtauchgerät aus Bronze, Spezialschuhe mit Bleisohlen, Seile, eine Art tragbarer Flaschenzug, Bewaffnung und Munition. Wir ruderten rücklings zur kuchenförmigen Klippe, wo sich das Schiff befand. Ab und zu wendete ich den Kopf. Unter solchen Umständen hat man den Eindruck, sich vom Ziel zu entfernen statt ihm näher zu kommen. Es waren nur hundert Meter ȭ nur eine Ewigkeit. Jede Welle, die die Flut bildete, war ein Versteck, und hinter jeder Welle eine Falle. Jeden Augenblick glaubte ich bald da, bald dort runde Schädel auftauchen zu sehen. Stämme, die im Wasser trieben und auf den Wellen schaukelten, erinnerten mich an Glieder von Tieren. »Va bene, va bene, va bene«, sang ich in einem Italienischanfall, ohne Überzeugung, bloß um mich mit der Musikalität der Sprache zu beruhigen. »Halten Sie Ihren blöden Mund«, sagte Batís, der wie ein Galeerensträfling neben mir ruderte. Das Grau von Grabsteinen lastete auf der Ozeanfläche. Ein Schwall Wasser bespritzte uns von der Seite. Meine Lippen wurden ganz salzig. In unserer Angst und drängenden Eile hatten wir unsere Kräfte nicht richtig abgeschätzt: Wir landeten mit einer solchen Wucht auf der Klippe, dass wir der Katastrophe nur entgingen, weil wir mit unserem Boot auf einer schrägen Rampe aufsetzten. Auf einem schroffen, ausgewaschenen Felsen stiegen wir aus. Eine lächerlich kleine, jedoch labyrinthische Ausdehnung voller Trichter, in denen sich halb gefrorenes Wasser ansammelte. 131
Oft rutschten wir aus und mussten Hände und Arme zu Hilfe nehmen. Unser Plan war folgender: Mit dem bloßen Auge sah man, dass die Klippe mit einer sanften Neigung hinunterführte und eine Vielzahl nützlicher Griffe bot. Ich würde wie ein Wasseralpinist die Wand absteigen, die dem Schiff am nächsten war. Von der Felsrampe aus würde Batís mich mit Luft versorgen und die Kisten hochziehen, sowie ich sie angeseilt hatte. Wir würden Risiko und Mühen teilen: Ich wäre die unbedachte Seele, die in die Unterwelt hinabsteigt, er hatte die nicht weniger anspruchsvolle Aufgabe, auf die Sauerstoffzirkulation zu achten und den Sprengstoff zu bergen. Die Pumpe musste von Hand ununterbrochen in regelmäßigem Rhythmus bedient werden. Bekäme ich nicht genug Luft, würde ich ersticken; versorgte er mich mit zu viel Sauerstoff, würden meine Lungen durch den Überdruck platzen. Und das alles musste Batís mit einer Hand bewerkstelligen. Die andere wäre dazu da, um den Flaschenzug zu bedienen, sobald ich das Seil mit Dynamit belud. Wir stellten die Pumpe und den Flaschenzug dicht nebeneinander auf, um ihm die Arbeit zu erleichtern. Ich musste in Batís' Synchronisationsvermögen Vertrauen haben. Ein Seufzer. Das Schiff hatte sich mit dem Bug in die Klippe gebohrt, welcher hinaus- und gen Himmel ragte, mit einer Neigung von etwa dreißig Grad backbords. Der Schiffsrumpf war mit den Felsen fest verbunden wie mit Nietnägeln aus Blei. Im eingesunkenen hinteren Teil stapelte sich zweifellos die Ladung. Batís hatte den Untergang mitangesehen. Er versicherte, dass ein großer Spalt das Schiff am Heck wie eine Konservenbüchse aufgerissen hätte. Wir vertrauten darauf, dass das Loch groß genug war, damit ich hineingelangen konnte. Natürlich hatten wir versucht, die Prozedur zu vereinfachen. Dann hätte der Taucher vom Deck her einsteigen 132
und sogleich in die überfluteten Gänge eindringen können, um den Frachtraum ausfindig zu machen. Doch das war nicht machbar. Ziemlich sicher waren die Innenräume durch die Einwirkung des Wassers verschlossen und verrostet. Da käme ich nicht durch. Außerdem drohte dieser Bereich mit seinen Kanten und Engen den Luftschlauch durchzuschneiden. Es war demnach erforderlich, das ganze Schiff zu durchqueren, bis zum Heck, wo vermutlich das Dynamit war. Ich zog den Taucheranzug und die Bleistiefel an. Ich setzte mich auf die eine Seite des Bootes. Zuerst half mir Batís beim Anziehen des Bronzetauchgeräts, einer Platte, die einen großen Teil meiner Brust und meines Rückens bedeckte. Danach der Helm. Der wurde auf diesem Stück festgeschraubt. Doch gerade als er ihn mir aufsetzen wollte, unterbrach ich ihn. »Sehen Sie«, sagte ich. Es schneite. Zuerst waren es winzig kleine Klümpchen. In einer Minute wuchsen sie auf die Größe von dicken, runden Flocken an. Sie fielen, und im Kontakt mit dem Wasser schmolzen sie. Es schneite über dem Meer, und diese simple, gewöhnliche Erscheinung rief ein seltsames Gefühl in mir hervor. Der Schnee verordnete Schweigen, er war wie der Taktstock eines Dirigenten. Das Meer, das sich bis zu diesem Augenblick leicht gekräuselt hatte, wurde auf einmal ruhig, von unsichtbaren Befehlen gebändigt. Vielleicht wäre dies mein letzter Anblick der Welt, und die Welt hier zeigte sich mir in einfacher, bescheidener Schönheit. Ich öffnete meine Hand. Die Flocken fielen auf den Handschuh und verschwanden sogleich. Ich dachte an Irland. Was war Irland? Vielleicht eine Melodie. Mein Tutor fiel mir ein. Und auch ein Unbekannter. Ein uralter, sehr freundlicher Mann, der mich eines Tages, vor Jahren, als mich die Engländer verfolgten, versteckte, ohne Fragen zu stellen. Das war alles. Ich 133
fühlte schmerzhaft die Spannung der Wangen, die den Tränen vorausgeht. Batís betrachtete den Himmel, den Helm in den Händen. Und verzog dabei das Gesicht. »Es ist bloß Schnee«, sagte er. »Ja, bloß Schnee«, sagte ich, »bloß Schnee. Und setzen Sie mir den Helm auf, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Er schraubte ihn fest und steckte den Luftschlauch in die Nackenverbindung. Ich hatte zwei Seile. Das eine würde ich zur Verständigung mit Batís benutzen; mit dem andern würden wir den Sprengstoff hochziehen. »Sie wissen ja«, erinnerte ich ihn; »wenn ich einmal am Leitseil ziehe, heißt das, dass alles klappt. Wenn ich zweimal dran ziehe, dann habe ich eine Kiste an das Tragseil gehängt. Wenn ich dreimal hintereinander ziehe, dann schneiden Sie den Schlauch mit der Axt durch und fliehen.« Ich justierte die Glasscheiben der Guckfenster, welche kreisrund waren. Eines war vorn und zwei auf beiden Seiten. Wir überprüften, ob der Luftschlauch funktionierte, und dann begann ich den Abstieg. Das Wasser verschlang mich mit einem Kälteschauder. Als ich das wahrnahm, befand ich mich schon unter der Oberfläche. Die Löcher im Fels benutzte ich als Stufen. So konnte ich leicht vorankommen. Ab und zu drehte ich den Kopf, doch durch die Seitenscheiben konnte ich nichts Besonderes erkennen. Hinter mir lag die Unendlichkeit des Ozeans. Vor mir, ein paar Zentimeter von meiner Nase entfernt, zeigte sich lediglich unbewachsener, lebloser Fels. Es kam der Moment, da die Füße keinen Halt mehr fanden. Egal. Batís und ich hatten abgemacht, dass der Schlauch ungehemmt abgerollt werden sollte, so konnte ich, falls die Situation es erforderte, ins Leere springen. Ich ruckte einmal am Seil, das ich bei mir trug, um Batís zu beruhigen, und ließ 134
mich dann fallen. Das Blei in den Schuhen zog mich langsam, mit berechneter Schwerkraft, hinab, bis ich mit einer Kniebeuge landete. Eine träge Staubwolke stieg bis zu meinen Hüften. Den Grund bedeckte nur ein zarter Sandfilm. Er war gut begehbar, eine architektonische Waagrechte. Ich ging wie auf einer Wiese. Allerdings spürte ich die Dichte des anderen Elements, das jede einzelne meiner Bewegungen verlangsamte. Ich bin in einer Welt, dem Erbe des Schweigens. Im Innern des Helms kann ich bloß meinen Atem hören, die Schleimgeräusche, ein halb erschrecktes Stöhnen, das mir entfährt. Ich reiße mich zusammen, denn ich merke, dass meine Geräusche meine Ängste anstacheln. In der linken Hand habe ich zwei Seile, in der rechten ein Messer. Ich schaue in alle Richtungen. Kein Ungeheuer, nichts. Die Sicht ist auf dreißig bis vierzig Meter beschränkt, vielleicht noch weniger. Zu meiner Rechten befindet sich der Schiffsbauch. Ich muss an einen Walkadaver denken. Vor mir die leere Weite. Unbestimmte Partikel treiben ziellos dahin, wie schwarze Schneeflocken. Algenfäden in der Form von Schlangen schweben unschlüssig umher, reglos fast. Dieser ungeheuere offene Raum endet an keiner Tür, die Finsternis ist grenzenlos. Das widersprach den katholischen Lehren: Die Hölle war kein Ort, den man mit einem Mal betrat; in kleinen Schritten gelangte man, unmerklich, hinein. Ich bewegte mich durch völlig verschwommenes Gebiet, eine Übergangszone, in der das Blau in Schwarz auslief; dort waren nicht einmal mehr Wasserpflanzen zu erahnen. Die Landschaft wurde immer großartiger. Sie konnten in jedem Augenblick auftauchen, von überall her. Denk nicht, sagte ich zu mir, denk nicht an die Ungeheuer, du musst nur arbeiten. Das war die unrealistischste und zugleich die vernünftigste Strategie. Ich wandte mich zum Heck. Tatsächlich hatte ein heftiger 135
Schlag den Stahl zusammengedrückt und die Schiffshaut in eine Art künstliche Grotte verwandelt. Das Schiff war leicht nach Backbord geneigt. Durch das Unglück war die Ladung verrutscht und ein Großteil durch das Loch herausgefallen. Das war ein herrlicher Zufall, denn so brauchte ich nicht in den Frachtraum hinein. Metallische, rechteckige kleine Behälter lagen verstreut in der Nähe des Lecks. Ich strich mit dem Handschuh über den nächstliegenden. Als er sauber war, konnte man in Großbuchstaben lesen: »ACHTUNG! SEHR GEFÄHRLICH.« Großartig. Ich musste lediglich eine Schlinge in das Tragseil knüpfen, zweimal am Signalseil ziehen, und schon zog Batís die Last mit deutschem Eifer nach oben. Die Kisten verschwanden über meinem Kopf. Hatte Batís sie in Empfang genommen, ließ er das Seil wieder herunter. Ans Ende des Stricks hatten wir ein Bleigewicht gehängt, um es zu beschweren. Irgendwo in meiner Nähe fiel es hin, und ich machte weiter. Ich arbeitete mit der Leidenschaft eines Bergmanns, als Batís das Seil erzittern ließ, das die beiden Welten verband. Zuerst begriff ich nicht. Drohte uns eine Gefahr? Ich konnte nicht die Spur eines Ungeheuers ausmachen. Nein, das war es nicht. Gewiss hatten wir schon viele Behälter geborgen. Aber ich war vom Fieber eines Goldgräbers besessen. Noch einen, Batís, nur noch einen, flehte ich ihn im Geiste an. Ohne die Erschütterungen des Seils zu beachten, nahm ich noch einen. Batís zog ihn zwar hoch, doch, als das Seil zurückkam, hatte es neben dem Blei einen Knoten; so konnte ich keine Schlinge machen, und das gab mir zu verstehen, dass ich aufhören sollte. Ich nahm meinen ganzen restlichen Verstand zusammen und gehorchte ihm. So widersprüchlich es scheinen mag, waren das die schlimmsten Minuten meines Streifzugs. Es heißt, dass kein Soldat der letzte Tote in einem Krieg sein will. In diesem Ge136
danken verbirgt sich eine nicht besonders leuchtende, aber umso menschlichere Wahrheit. Nachdem ich in die Tiefen hinabgestiegen war und offensichtlich großen Erfolg gehabt hatte, wäre es ein allzu jämmerliches Ende gewesen, wenn man mich gerade jetzt getötet hätte. Auf einmal empfand ich den Taucheranzug als unerträglich schwer. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht bemerkt, dass mein Hals von der Berührung mit dem Stahl ganz wund geworden war. Ich bewegte mich auf die Klippenwand zu, bleischwere Füße schleppend, und meine Bewegungen waren wie in einem kindlichen Albtraum, hoffnungslos langsam. Mein Atem ging, als triebe mich ein geheimer Dynamo an. Ich wollte weg von dort. Doch ich konnte nicht. Zwei aufeinander abgestimmte, vernünftige Menschen hatten eine ganz offensichtliche Dummheit vorher nicht bedacht: Dass ich nach meinem Sprung ins Leere unmöglich auf demselben Weg zurückkehren konnte. Vor mir tat sich der Fels wie ein riesiger, karieszerfressener Backenzahn auf. Da konnte ich nicht hochklettern, und Batís, der genug mit der Druckluftpumpe zu tun hatte, würde mein Gewicht nie mit einer Hand hinaufziehen können. Wie lange würde es noch dauern, bis sie auftauchten? Schrecken und Fantasie gerieten durcheinander. Diese flüssige Unendlichkeit war der unsichtbare Feind schlechthin. Batís dort oben konnte die seltsamen Wege, die der Luftschlauch verfolgte, nicht begreifen. Ich lief hin und her, auf der Suche nach einer gangbaren Stelle. Schließlich merkte ich, dass der einzige Zugang dicht am Schiffsrumpf entlangführte. Doch das war eine Route für einen professionellen Kletterer. Einige Steine lösten sich bereits beim bloßen Kontakt. Ich rutschte aus, und mein Körper verlor fünf, zehn Meter Höhe, ein Abstieg dantesken Ausmaßes. Erneut befand ich mich ganz unten auf dem Boden. Zu meiner Rechten bildete die Wand eine Höhlung; ich glaubte 137
dort irgendetwas zu erkennen, das sich bewegte, eine Gestalt. Nein, nein, sie sind es nicht, sagte ich mir, und ich sagte es mir, weil ich nichts verlor, wenn ich auf Optimismus setzte. Es folgte eine mühselige, äußerst konzentrierte Anstrengung. Stück um Stück musste ich hinaufklettern, ohne den Blick zu wenden, ohne an den Angriff zu denken, bei dem mir ein Arm oder ein Bein abgerissen würde. Ich machte es so wie die Matrosen auf der Strickleiter: Sich mit drei von vier Extremitäten absichern, bevor man die nächste Bewegung macht. Über mir konnte ich schon die Wasseroberfläche sehen und die durchscheinende Gestalt eines Batís, der mich mit der freien Hand anspornte. Ich bemerkte, dass ich in die Hosen meines Taucheranzugs pinkelte. Caffó sprang herbei und zog mich an den Achseln hoch. Er wollte mir aus dem Helm helfen, aber ich schüttelte ihn mit heftigen Bewegungen ab. »Laden Sie das Dynamit ins Boot, schnell!« Als ich die Taucherausrüstung ausgezogen hatte, half auch ich, den Kahn mit Kisten zu füllen. Wir führten so schwere Ladung, dass das Deck kaum eine Spanne aus dem Wasser ragte. Unglaublich: Wenige Minuten später waren wir wieder auf der Insel, unversehrt und triumphierend. Wir ließen den Kahn ganz nah beim Leuchtturm, an einem schmalen Strand mit spitzen Steinen, liegen. Noch an Ort und Stelle öffnete Batís einige Behälter, wobei er den Stiel seiner Axt als Hebel benutzte. Jeder enthielt siebzig Dynamitpatronen, dem Anschein nach trocken und brauchbar. In unserm Innern aber schwelte ein unerklärlicher Irrsinn. Wir schauten einander an. Es schneite stärker als je zuvor. Die Haare wurden von einer weißen Patina überzogen. Wir schauten uns an und schauten die Patronen an und lasen die gleichen Gedanken. Ich konnte nicht glauben, was wir uns wortlos sagten, ich konnte es nicht. Wir hatten etwa fünfzig 138
Behälter mit Dynamit. Mit diesem Material konnten wir wahre Verwüstungen anrichten. Und wenn es sechzig wären? Warum nicht achtzig oder hundert? Unsere Feinde waren für Hass nicht empfänglich. Sie waren Teil der Natur, eine Gewalt von der gleichen Art wie Orkane oder Wirbelstürme. Und dennoch, jetzt, wo wir ein Machtmittel zur Hand hatten, jetzt, wo wir ihnen eine blutige Niederlage beibringen konnten, jetzt wurden wir von wahrer Grausamkeit gepackt. Ich vermute, dass wir verrückt geworden waren, so verrückt, dass wir wussten, dass wir es waren. Ich redete und konnte einfach nicht glauben, was ich selbst sagte: »Töten wir sie. Töten wir sie alle. Tun wir's!« »Ja, töten wir sie! Töten wir sie alle! Tun wir's!«, bestätigte Caffó, und wir kehrten zum Boot zurück, als ob diese zweite Selbstmordreise von Anfang an auf dem Programm gestanden hätte, als ob wir an unserer Stelle andere Leute hinschickten. Wir kehrten zurück zur Klippe, ich legte die Ausrüstung an und tauchte ein mit Handbewegungen, die inzwischen an Erfahrung, Schnelligkeit und Koordination gewonnen hatten. Es war unverzeihlich: Ich war in dem Heck des portugiesischen Schiffes und spazierte schutzlos durch das Land der Ungeheuer. Ich fand die Behälter, und es war, als ob ich lauter Perlen sähe. Wir schafften drei, vier, fünf nach oben. Zehn, zwanzig. Danach, so sehr ich auch am Boden herumwühlte, um verborgene Behälter zu entdecken, schienen die Vorräte erschöpft. Ich riss am Leitseil: alles in Ordnung. Die Schiffshaut war aufgerissen, als ob ein Titan in den Kiel gebissen hätte. Ich gelangte ohne Schwierigkeiten hinein. Meine einzige Sorge war, dass der Schlauch hinter mir auch dem Verlauf einer Art Kanal aus Eisen folgte, eine ausgezeichnete Stelle, da dort keine Spitzen waren, die den Schlauch hätten aufschlitzen können. Das war der Fracht139
raum, voll gestopft mit Behältern. Ich nahm einen, band das Tragseil herum und kippte ihn aus dem Schiff. Ich zog zweimal am Seil, damit Batís wusste, dass er die Ladung hochziehen sollte, und fuhr mit meinem Handwerk fort. Vielleicht fünfzehn, zwanzig oder noch mehr Behälter hatte ich noch gefunden. Ich war müde und machte der mechanischen Bewegung ein Ende. Der Frachtraum wurde vom Licht schwindender Dämmerung erhellt. Das viele Eisen um mich herum verursachte mir klaustrophobische Zustände. Ich war im Schiffsinnern, im Taucheranzug und in meinen Ängsten, die mich mit dem Heldenmut von Ratten hierher geführt hatten. Wenn man noch die Wasserdichte dazunahm, war das hier der finsterste Ort, den ich je betreten hatte. Stahlindustriewände, vom Wasser halb zerfressene Instrumente, die man vor lauter Rost nicht mehr erkennen konnte. Nichts davon war mit Gedanken an das menschliche Glück entworfen worden. Die Bleifüße kamen mit dem Stahl in Berührung und leiteten neue Geräusche und verzerrte Echos weiter. Dieser Raum endete bei einem eiförmigen Schleusentor. Und da sah ich sie, auf der andern Seite. Sie streckten die Köpfe bis zu den Augen hervor und beobachteten mich ungerührt. Wie lange belauerten sie mich schon? Ich schrie im Innern meines Helms. Fliehen konnte ich nicht. Das war ihre Welt, und sie bewegten sich mit unglaublicher Leichtigkeit. Aus allen Richtungen stürzten sie auf mich ein. Ich zerschnitt das Wasser mit meinem Messer, ein rührender Versuch, der sie auf Distanz halten sollte. Doch als ich mich schon tot glaubte, da ȭ die Auferstehung! Die Glasscheiben meiner Guckfenster vergrößerten alles. In Wirklichkeit waren die Ungeheuer kaum einen halben Meter groß. Schmale, kleine Körper, mit einem hell leuchtenden, silbergrauen Streifen auf dem Rücken, der noch Jahre brauchen würde, bis er so dunkel sein würde wie der ihrer 140
Eltern. Wie bei den Menschen war der Schädel der Körperteil, der am wenigsten wuchs. Das machte sie zu wahrhaften Kaulquappen oder buchstäblich Großköpfen. Ihr Gesichtsausdruck war dem Lächeln der Delfine sehr ähnlich. Sie bewegten sich wie ein Schwarm kleiner Vögel, mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit. Sie wichen meinen ungelenken Abwehrversuchen aus, berührten meine Kleidung, vor allem das Helmtauchgerät, und kniffen mit den Fingern hinein, und flohen vor mir. Es ist möglich, dass die Bekleidung, der Taucheranzug, sie an einen entfernten Verwandten erinnerte. O mein Gott, begriff ich, sie spielen bloß. Ja, sie spielten, sie hatten den Schrott in einen Garten verwandelt, und ich war der seltsame Eindringling. Sie piepsten, wenn man ihre begeisterten Stimmen irgendwie beschreiben will. Meine Anwesenheit musste eine außerordentliche Abwechslung sein. Ich hatte Schlächter erwartet und stieß stattdessen auf ein Unterwasserballett. Ich weiß nicht, wie lang ich in ihrer Gesellschaft weilte. Entgegen jeder Vorhersage erhellte ihre Anwesenheit diesen Friedhof mit einem barmherzigen Licht. Ich spürte zum ersten Mal, dass die Angst von mir wich, seit ich auf der Insel gelandet war. Ich fühlte mich von einem drückenden Grauen wie von einem Ballast befreit. Nicht einmal ich selbst war mir der Last bewusst, die die andauernde, systematische Angst bedeutet hatte. Monatelang, Nacht und Tag, Tag und Nacht, hatte ich Angst gehabt, Angst in allen Schattierungen, die Angst als ständige Begleiterin. Warum, so fragte ich mich, warum verlässt dich ausgerechnet jetzt, wo du in den Eingeweiden der Hölle bist, der Schrecken? Ich fand die Antwort erst, als ich einen der Kleinen beim Arm fasste: Auch er hatte keine Angst. Er war ein Ungeheuer, oder ein potenzielles Ungeheuer, und verdiente, dass ich ihn verdrehte, bis ihm die Wirbelsäule brach. Aber er hatte 141
keine Angst. Nur kitzelig war er. Er lachte. Ein Unterwasserlachen. Er lachte mit dem Mund, mit den Brauen und den Augen und mit den Händchen, die dort, wo sie sich berührten, aneinander rieben. Unter Wasser klang das Lachen wie die Klingeln in Hotels. Wie lange war es her, dass ich nicht mehr gelacht hatte? Ich ließ ihn los, und statt zu fliehen, blieb er da, vor mir, mit dem unsteten Flug eines Schmetterlings und lachte. Sein Händchen streifte mit Fötusfingern die Glasscheibe. Er berührte das Glas, und die Erinnerung an diese grauen Fingerchen verfolgte mich noch tagelang. Ich verließ das Schiff. Bei meinem Aufstieg begleiteten sie mich. Sie umkreisten meinen Körper und kitzelten mich zärtlich frech. Wie Bisse verspielter Kätzchen. Je näher ich der Oberfläche kam, desto weniger wurden sie. Als ich den Kopf aus dem Wasser streckte, fuhr Batís auf: »Ich dachte schon, Sie wollten dort bleiben! Mein Gott, was zum Teufel ist da unten passiert?« Ich konnte kaum stehen. Er nahm mir den Helm ab und erblickte einen irren Ausdruck, erblickte einen Boten, der so schwach war, dass er mit dem letzten Atemzug seine Botschaft vergessen hat. »Froschkerle?«, fragte er ganz nervös. »Nein, kleine Delfine!« Batís trat einen Schritt zurück. Er beobachtete mich, als wolle er herausfinden, ob ich noch normal sei. »Das ist der Tiefenrausch«, befand er; »bald werden Sie sich erholt haben.« Doch plötzlich war es, als ob ich ihn mit der mir unterstellten Verrücktheit anstecken würde. Er unterdrückte einen Schrei und nahm das Gewehr von der Schulter. Ganz in unserer Nähe tauchte ein Kopf auf. Ich lag auf dem Felsen und hob einen Arm: 142
»Nicht schießen! Um Gottes willen, Caffó, schießen Sie nicht!« Einen kurzen Moment sah Batís mich an, dann das reglose Ungeheuer und dann wieder mich. »Schießen Sie nicht!«, insistierte ich vom Boden aus. »Es ist nur ein Kind.« Batís war zu langsam. Als er zum Schießen bereit war, war das Meer erneut eine leere Fläche.
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Als wir die Insel betraten, hatte sich die Landschaft verändert. Der Schnee bedeckte die Bäume, und die Zweige trugen eine weiße Last. Den Weg durch den Wald gab es nicht mehr, er war wie ausgelöscht. Unsere Füße waren die ersten, die diesen unberührten Teppich entweihten. Anstelle der gewohnten düsteren Atmosphäre, anstelle dieser ungastlichen Erde verlieh eine Elfenbeinschicht unserem Aufenthaltsort eine unvorstellbare Milde. Der Schnee überdeckte die Kampfspuren, er bedeckte den Granitfelsen und die konische Kuppel des Leuchtturms. Die Abfallberge, die wir draußen, etwa fünfzig Meter entfernt, aufgehäuft hatten, verschwanden vor unseren Augen unter einer Zuckerdecke. Sogar die benachbarten Klippen hatten eine weiße Kappe, welche die Wellen wegzulecken versuchten. Das berauschte mich. Ich hatte den Anblick der Ungeheuerkinder noch nicht verarbeitet, und nun rief der Schnee erneut ein schmerzendes Gefühl von Zärtlichkeit hervor. Wir luden den Sprengstoff aus; ich war abwesend, während mein Körper die Arbeiten zu Ende führte. Für Batís gab es kein Ausruhen. Sein martialischer Geist koordinierte die ersten Aufgaben. Wir ordneten und zählten die Patronen. Wir hatten genug Dynamit, um halb London in die Luft zu jagen. Im Lagerraum fanden sich ein paar hundert Meter imprägnierte Zündschnur und drei Sprengkapseln, quadratische Kisten mit dem dazu passenden T-förmigen He144
bel. Sie gehörten zum Material, das nach Vorschrift jedem Bau beigegeben wurde. Denn wie es die Verordnungen verlangen, sollten sie im Kriegsfall dazu dienen, den Leuchtturm zu zerstören. Aus Versehen oder aus Unkenntnis waren Zündschnur und Zünder in einer Ecke vergessen worden. Hier war es nun vorbei mit Batís' Initiativen, und meine Aktivistenphantasie trat auf den Plan. Wir hätten immer noch die Möglichkeit, die Patronen einzeln zu gebrauchen, als Handgranaten. Doch ich hatte Besseres im Sinn. Zündschnur und Zünder boten uns einen zusätzlichen Vorteil. Meine Idee war, drei verheerende Fronten zu errichten. Die ersten Ladungen würden wir genau vor dem Granitsockel aufstellen. Das wäre die Abwehr, die uns am nächsten lag und, aus Sicherheitsgründen, nicht ganz so schlagkräftig war: Wir waren keine Experten, wir kannten die Sprengkraft des Dynamits nicht so genau, und gingen wir zu weit, konnte der ganze Leuchtturm in die Luft fliegen. Die zweite Front würde etwa zwanzig Meter weiter hinten liegen, wo der Wald anfing. Eine Serie in den Schnee eingegrabener und über die Zündschnur miteinander verbundener Patronen. An dieser Stelle würden wir die größte Sprengkraft installieren. Das war eine durchaus logische Vorsichtsmaßnahme, denn hier ȭ zwischen dem Granitfels und dem Wald ȭ erwarteten wir, dass sich die größte Anzahl Ungeheuer zusammenrottete. Den Bereich zwischen beiden Küsten würden wir sichern, indem wir die Munition in kleine Vertiefungen verteilten. Die dritte Front läge noch ein Stück weiter zurück: Im Innern des Waldes selbst, zwischen den Bäumen getarnt. Sie diente als Mittel zum Zweck. Diese Linie konnten wir sprengen, wann es uns passte. Vor der zweiten, wenn wir eine Flucht auslösen wollten, welche die Masse der Ungeheuer in Richtung zweite Linie treiben würde. Oder danach, wenn 145
man den wenigen Überlebenden, die sich zurückzogen, den Gnadenstoß geben wollte. Jede Linie war mit einem anderen Zünder verbunden, die wir der Reihe nach in Aktion setzen würden, wenn der passende Zeitpunkt gegeben war. Wir arbeiteten den ganzen Tag. Wir machten Bündel aus zehn Sprengpatronen, banden sie zusammen und verknüpften sie mit einer einzigen Zündschnur, wir gruben sie ein, ein paar Meter weiter wiederholten wir die Operation. Wenn wir mit einer Linie fertig waren, gruben wir auch die Zündschnur, die bis zum Leuchtturm reichte, Meter für Meter ein. Wir befestigten sie an der Mauer; sie lief den Stein hoch bis zum Balkon, wo unsere Zünder waren. Das Maskottchen arbeitete auch mit, ohne zu wissen, was sie tat. Sie füllte Säcke prall voll mit Sand vom Strand, die wir dann ans Balkongeländer banden, um uns zu verbarrikadieren. Das wäre unser Schutz vor dem voraussichtlichen Splitterregen. Wir schufteten wie die Sklaven, und kurz vor Abend hatten wir ein großartiges Sappeurwerk beendet. »Heute wird es viele Waisen geben«, dachte ich laut. »Darum geht es«, sagte Batís. Gleich darauf kam die Nacht. Nur sie nicht. Nach all den Tagen, die wir an den Pforten des Todes ausgeharrt hatten, zeigten sie sich in dieser Nacht unverständlicherweise nicht. Je weiter die Stunden voranschritten, desto mehr wurde aus Ungeduld Verzweiflung. Wo sind sie, wo sind sie, wo zum Teufel sind sie, befragte ich die Leere. Batís war als Wächter phlegmatischer. Er beschränkte sich darauf, der Spur der Scheinwerfer mit dem Lauf seines Remington zu folgen. Während es sich in die Dunkelheit bohrte, deckte das Licht nur mehr träge Schneeflocken auf. Keine Spur, kein Fußtritt, bis auf jene, die von unseren Stiefeln stammten, unterbrach die verschneite Landschaft. Meine Hände schwitzten. Immerzu zog ich die Handschuhe aus und wieder an oder wischte mir 146
den Schnee vom Schnurrbart. Hatte vielleicht der Schneefall ihre Gewohnheiten durcheinander gebracht? Die folgende Nacht brachte eine Neuigkeit: ganz wenige. Wir sahen ein paar, oder besser gesagt: Wir hörten sie. Sie quakten mit ihren Froschstimmen auf beiden Seiten der Finsternis, ohne bestimmte Absicht. Als sich die ersten Sonnenstrahlen zeigten, konnten wir sie sehen: Zwei, drei, vier oder fünf, es waren kaum mehr. Sie schweiften in unbestimmter Richtung am Waldrand entlang und kamen nicht einmal in unsere Nähe. Es lohnte sich nicht, eine Kugel zu verschießen, erst recht nicht Dynamit. In den folgenden Nächten dasselbe. Sie waren da und waren nicht da. Die Situation zog sich in die Länge, und die verrücktesten Ideen schwirrten mir wie Mistfliegen durch den Kopf. Oft nahm ich meinen Weg bis zu den drei Sprenglinien, zu den Bündeln, die miteinander verbunden und im Schnee begraben lagen. Ich untersuchte ganz wie ein Forscher ihre Fährten, auf den Knien, bemüht, hinter die Raubtierlogik zu kommen, die sie leitete. Hatten sie das Dynamit vielleicht gewittert? Ahnte diese graue Herdenmasse eine neue Gefahr, die darum mehr zu fürchten war als die Gewehre, die sie schon kannten? Manchmal, während mir der Atem aus dem Mund dampfte, überraschte ich mich selbst dabei, wie ich in wahren Labyrinthen aus Ungeheuerfährten einen Sinn suchte. Und wenn sie klüger waren als Füchse? Doch die Sprengladungen waren intakt. Soweit es möglich gewesen war, hatten wir die Zündschnur vor dem Eingraben durch Röhren und Leitungen geführt, wovon es im Leuchtturm genug gab. Nichts von all dem war zerstört worden. Während dieser Zwischenzeit trieb ich es erneut mit dem Maskottchen. Die gängige Ausrede, um sie mitzunehmen, war, dass sie mir beim Schrotttransport helfen sollte. Tagsüber und weil es sonst nichts zu tun gab, verstärkte ich die 147
Patronen mit einer Schicht aus Alteisen, Nägeln, Kieseln und sonstigen kleinen, aber spitzen Gegenständen, an die wir herankamen. Das Haus des Wetterbeobachters war für meine Absichten sehr geeignet. Auf der Suche nach Angriffsmaterial nahmen wir es buchstäblich auseinander. Und nachdem wir unsere Säcke gefüllt hatten ȭ oder zuvor ȭ, legte ich sie aufs Bett und trieb es mit ihr. Die Philosophie und die Liebe sparen sich ihre Kämpfe für unsichtbare Sphären auf. Aber Krieg und Geschlechtsverkehr sind ein einziger Nahkampf. Ich trieb es mit dem Maskottchen, und es war wie eine akzeptierte Vergewaltigung. Ich hatte nicht genug Glieder, die für die Totalität ihres Körpers, die Oberfläche dieser Haut ausreichend gewesen wären. Ich behandelte sie, als ob ich einem nutzlosen Vieh den Gnadenstoß geben würde. Und am Ende jeder Begattung empfand ich aufrichtigen Hass gegen sie, gegen diese Repräsentantin des Grauens. Die maßlose Lust war nichts Neues mehr. Das verringerte sie jedoch nicht. Ich tat es zwei- oder dreimal, vielleicht viermal. Danach war ich unendlich traurig, fühlte mich verlassen wie ein Kind. Ich war ein Liebhaber ohne Geliebte, ein Verirrter, der in der Wüste im Kreis geht. Der erbärmliche Zustand der Wohnung verstärkte den Eindruck, dass ich mich auf einem toten Gleis befand. Man war an eine Art Rom im Kleinen erinnert, das tausend Jahre Barbareneinfälle zerstört hatten. Ich lag zusammen mit dem Maskottchen unter kalten, schmutzigen Decken, die steifer als Karton waren, und das zerfressene Haus betrachtete mich wie eine Lupe die Ameise. Aus dem Regen, der durch das Dach getropft war, waren Eisplatten geworden. In der Feuchtigkeit bogen sich die Wandbalken wie Sonnenblumen. Dort drinnen verlangsamte sich die Zeit; man sah das Leben aus der Perspektive von Würmern. An jenen Tagen fühlte ich mich dort drinnen in der 148
Schwebe zwischen Leben und Tod. Dort reduzierte sich alles auf zwei Triebe, töten und lieben, und beide verweigerten sich mir: Sie kamen nicht, und sie war eine von ihnen. »Heute kommen sie«, sagte Batís manchmal, mit der Miene eines Bauern, der das Wetter voraussagt. Doch er täuschte sich immer. Sie waren ganz einfach verschwunden. Jetzt bedachten sie uns weniger mit Vorsicht als mit Verachtung. Wenn wir sie sahen, so war es zufällig. Wir hörten kleine Trupps, die sich außerhalb des begrenzten Lichtkegels der Scheinwerfer bewegten. Sie jaulten unter dem nächtlichen Schnee oder belauerten uns schweigend, doch nie war der Leuchtturm ihr Ziel. Man hätte meinen können, dass sie die irdische Dunkelheit auf einer bestimmten Route durchquerten, dass sie sich einem konkreten Punkt zuwandten und dass der kürzeste Weg durch den Wald führte. Das war alles. Eines Tages schossen wir buntes bengalisches Feuer auf die Stimmen und hofften, sie damit anzulocken. Vergebens. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mir eines Tages wünschen würde, von einer Unzahl von Ungeheuern attackiert zu werden. Tatsache war, dass ihre Abwesenheit mich fast um den Verstand brachte. Eines Tages erblickte ich Batís, wie er draußen auf einem Stuhl saß. Ich holte einen zweiten Stuhl und tat es ihm nach. Meiner wackelte ziemlich, und ich verlor das Gleichgewicht und fiel, lächerlich. Wir hatten wenige Stühle, und ich hätte ihn leicht reparieren können. Stattdessen zerschlug ich ihn an der Leuchtturmmauer. Ich zerbrach die Beine und die Rückenlehne, und dann sprang ich darauf herum, bis nichts mehr an ein Möbel erinnerte. Batís sah mir zu, während er an einer Flasche Rum nippte. Er sagte nichts. An einem andern Tag hätte ich das Maskottchen fast umgebracht. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber das ist eigentlich auch nicht wichtig. Ich glaube, sie war mit Holzklötzen bela149
den. Drei trug sie, und einer fiel herunter. Als sie ihn aufheben wollte, fiel ihr, ungeschickt wie sie war, noch einer hinunter. Sie bückte sich, um diesen zweiten Klotz aufzuheben, und verlor den dritten. Dieser Vorgang wiederholte sich, völlig idiotisch, unzählige Male. Ich ging zu ihr. »Jetzt nimm die Klötze«, sagte ich. Sie versuchte es, es misslang. Mit der flachen Hand schlug ich ihr ins Genick. »Nimm die Klötze.« Mein energischer Ton erschreckte sie. »Nimm die Klötze!« Sie zitterte vor Angst. Ich packte sie am Hals. »Nimm die Klötze!« Sie schrie und rief um Hilfe, und das machte mich wütend. Ich hätte sie wohl getötet, wenn nicht Batís aufgetaucht wäre: »Kollege, sie ist bloß ein Frosch.« Es war weniger ein Ausdruck des Erbarmens als die Feststellung, dass er der Besitzer war, selbstverständlich. Dass ich sie misshandelte, berührte Caffó insofern, als ich seine Hoheitsrechte verletzte, weiter nichts. »Ja, ein Frosch. Bloß ein Frosch. Das ist genau das Problem«, sagte ich. Und ich entfernte mich. Meine Frustration entsprang Gedankengängen, die ich mir nicht ohne weiteres eingestehen wollte. An erster Stelle stand ein offensichtliches Problem: Ich hatte mein Leben als Kapital für das Unterseeabenteuer eingesetzt, ich hatte auf dem portugiesischen Schiff meine Haut riskiert. Durch einen unbegreiflichen Zufall traf mein Wagnis mit der Gleichgültigkeit des Feindes zusammen. Das frustrierte mich. Nach unserem Streifzug fühlte ich mich wie ein braver Bürger, der für seine Anstrengungen belohnt werden möchte. Mehr noch: Ich glaubte oder wollte glauben, dass ein allgemeines Blutbad die Gefahren, die mich bedrohten, ein für alle Mal beseitigen und ich die Hölle so für immer vernichten würde. Auf der anderen Seite war da eine Unruhe, die ich nicht einmal in Worte zu fassen vermochte: die Ungeheuer selbst. Jenes Händchen 150
auf dem Glas des Helmtauchgeräts. Und auch die Sexualität des Maskottchens. Tagsüber sorgte geistige Disziplinlosigkeit dafür, dass ich Visionen hatte wie ein Opiumraucher. Da war Batís, quetschte einsilbige Wörter hervor, und ich gab mehr oder weniger Antwort. Doch bei der Sache war ich nicht. Der Raum, der uns trennte, füllte sich mit Bildern aus Rauch. Ich sah das Unterwasserhändchen. Jene Fingerchen, die das Glas berührten, so sicher, so unschuldig. Und ich sah den Körper des Maskottchens. Wie sie die Glieder wand; die Erinnerung überfiel mich, als wäre die Luft eine Projektionsfläche. Alle Winkel dieser Geilheit. Alles ganz wild und leicht zugleich. Das Widersprüchlichste war: Je mehr Lust das Maskottchen mir verschaffte, desto mehr hasste ich sie. Sie repräsentierte ihre Artgenossen; und die Tatsache, dass diese ein derartiges Grauen hervorriefen, sie dagegen solche Lust schenkte, machte meine Nervenkrisen vielleicht verständlicher. »Du musst denken«, sagte ich mir, »denken«, und schlug die Faust gegen die Stirn, »denken musst du, denken.« Für mich war Denken aber nicht gleichbedeutend mit Überlegen, sondern nur mit Planen. Die Handlung schob die Reflexion beiseite; wenn ich versuchte, die Dinge abzuwägen, weigerte sich mein Gehirn, es quietschte wie eingerostete Scharniere. Wir hatten uns auf dem Gebiet des Angriffs eingerichtet, das wollte ich nicht verlassen. »Batís«, sagte ich eines Tages zu ihm, »dass uns nur nicht der Wagemut verlässt. Bieten wir ihnen etwas, versuchen wir sie. Wir müssen die Türe offen lassen.« Bevor er sich dagegen aussprechen konnte, fügte ich eifrig hinzu: »Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht. Eigentlich können sie die Wendeltreppe nur nacheinander hinaufkommen. Ein Schütze an der Falltür kann sie leicht niederschießen. 151
Und dazu wird es nie kommen. Wir wollen, dass sie sich nah beim Leuchtturm zusammenrotten. Haben wir sie dann alle schön beieinander, fliegen sie in die Luft.« Batís sah mich an wie eine Jungfrau, die gleich vergewaltigt wird. Eine Ewigkeit, allein oder mit jemandem zusammen, hatte er den Leuchtturm verteidigt, ohne dass es den Ungeheuern jemals gelungen war, sein Allerheiligstes zu betreten. Und nun schlug ich ihm vor, die Tür offen zu lassen, die Tür seines Leuchtturms. »Tausend tote Ungeheuer, Batís«, sagte ich, sollte die Zahl die beschränkte Fantasie des Mannes wachrufen. »Wer betätigt die Zünder?« In dieser Frage zeigte sich Batís' kindliche Seite. Es gibt zwei Arten von Kämpfern. Solche, die sich Strategien ausdenken, und solche, die immer der kindlichen Neigung verhaftet bleiben, Sachen kaputtzumachen. Ich erkannte mich in der ersten Gruppe wieder, Caffó gehörte zu den Letzteren. »Sie selbst«, beruhigte ich ihn. »Wenn's Ihnen recht ist, werde ich die Falltür der Treppe sichern, während Sie sie zur Hölle schicken.« So machten wir es ab. Mit Anbruch der Dunkelheit öffnete ich die Tür. Alle zwanzig Stufen stellte ich ein brennendes Lämpchen auf. So würde ich sie, wenn sie hereinkämen, leicht sehen und aufhalten können. Ich musste nur mit dem Remington durch die offene Falltür zielen. Nicht einmal der schlechteste Schütze der Welt würde das Ziel verfehlen. Batís war auf dem Balkon, ich hatte die Treppe unter Kontrolle und gab ihm Rückendeckung. »Und? Sehn Sie sie?«, fragte ich ihn. »Nein.« Nach einer Weile: »Und jetzt? Und jetzt, Batís?« »Nein. Nichts. Gar nichts.« 152
Ich wollte es selbst sehen und näherte mich, von Ungeduld getrieben, dem Balkon. »Gehen Sie zur Falltür zurück«, schrie Batís, »zurück, verdammt nochmal! Wollen Sie, dass sie uns töten?« Er hatte nicht Unrecht. Sie waren durchaus imstande, dem Scheinwerferkegel auszuweichen und uns zu überraschen. Doch ich sah auch nichts. Lediglich den zarten Schein der Lämpchen, die auf der Wendeltreppe verteilt waren. Jede Flamme schimmerte und flackerte in der schwachen Zugluft. »Zwei«, sagte Batís. »Wo, wo?«, rief ich von meiner Stellung aus und wollte mehr wissen. »Im Westen. Jetzt kommen sie. Vier, fünf. Ich zähle sie nicht.« »Schießen Sie nicht. Lassen Sie sie herankommen, sie müssen vor allem die offene Tür sehen.« Der Telegrammstil dieses Dialogs machte mich ganz nervös. Caffó bewegte sich auf dem kleinen Balkon hin und her und spähte forschend in die Nacht. Ich zielte mit dem Re-mington ins Leere, sah aber zu Batís hin und fragte ihn alle Augenblicke, ob es in der Landschaft draußen etwas Neues gebe, und vergaß so alle meine Pflichten. Das wäre fast ein tödlicher Fehler gewesen. Das Geräusch von zerbrechendem Glas weckte meine Aufmerksamkeit. Die ersten Lämpchen waren erloschen. »Caffó, sie sind schon da!«, gab ich Bescheid. Ich konnte ihr Bellen da unten hören. Nur mit Mühe und Not erkannte ich die Klaue, die sich an das dritte Lämpchen machte. Auf die Art verlor ich ganze Treppenabschnitte aus dem Blick. Das Erdgeschoss war ein schwarzer Schacht, ein Loch, aus dem Krötenkonzerte emporstiegen. Doch plötzlich kam wie ein Blitz ein einzelnes Ungeheuer auf allen vieren die Treppe hochgeschossen. Es machte sich gar nicht mehr die 153
Mühe, die Lämpchen auszulöschen, ich konnte den kriechenden Körper genau erkennen. Die noch brennenden Lämpchen erhellten seinen Bauch, das von unten kommende Licht betonte das teuflische Aussehen. Es kam auf mich zu und stürzte sich auf das Gewehr. Musste ich schießen? Wenn ich es tat, würden seine Gefährten draußen vielleicht aufgeben, wir aber waren auf ein Gemetzel aus. »Kollege, Kollege«, hörte ich Batís sagen. Ich kam nicht dazu, ihm meine Gedanken auseinander zu setzen, denn das Ungeheuer nahm die Treppe mit eidechsenartiger Geschwindigkeit. Doch als uns nur noch zehn, neun, acht Stufen trennten, machte es plötzlich Halt. Das letzte Lämpchen befand sich ganz nah bei seinem Gesicht. Wir sahen uns an. Ich von der Öffnung der Falltür aus, es acht Stufen vom Gewehr entfernt. Zwischen uns lag nur das Licht. Wir sahen uns in die Augen, und tonnenschwere Rachsucht füllte den schmalen Zwischenraum aus. Es erschien mir wie eine der Visionen des heiligen Antonius; wir beschnupperten uns im wörtlichen Sinn, ein jeder schätzte die Kräfte und Fähigkeiten des anderen ab. Es hielt die Arme auseinander, auf die nächste Stufe gestützt. So konnte ich ein verräterisches Detail erkennen: Es fehlte ihm ein Stück Schwimmhaut und ein halber Finger. Schwarzer Eiter und Narben verschmolzen zu einem widerlichen Geschwür. Er war es. Seit damals hatten sich die Dinge sehr verändert. Ich war keine wehrlose Beute mehr. Jetzt hassten wir uns, wie sich nur zwei Ebenbürtige hassen können. Mein Instinkt trieb mich, ihn gleich an Ort und Stelle zu erledigen. Mein Eigennutz riet mir, ihn nicht zu töten, damit er den Seinen verkündete, dass die Tür offen war, offen, kommt alle. Ich ging einen Kompromiss ein zwischen Wollen und Fühlen: Wenn er noch eine Stufe weiterging, würde ich das ganze Magazin auf ihn verschießen. »Rühr dich, du tierischer Hurensohn«, flüsterte ich, während ich auf ihn zielte. »Rühr dich ein bisschen.« 154
Er bellte. Doch bevor er sich entschied, wurden wir von einem Schuss von Caffó unterbrochen. Er schoss auf seine Artgenossen. Mein Ungeheuer öffnete den Mund und zeigte die Zunge und versteckte sie ȭ eine Grimasse, in der sich Beleidigung und Ohnmacht ausdrückten. Es ging den Weg zurück; ein langsamer Rückzug, ohne dass es mir den Rücken kehrte. Stufe um Stufe ließ es sich hinunter, mit dem Bedauern eines Imperators, der Provinzen aufgibt. Als es ganz verschwunden war, wollte ich von Batís Erklärungen haben: »Und das Dynamit? Warum zum Teufel haben Sie denn den Sprengstoff nicht gezündet?« Mein heftiger Ton brachte ihn nicht aus der Ruhe. Er argumentierte mit wissenschaftlichem Kalkül: »Zum Hineinlassen waren es zu viele und zu wenig für den Einsatz des Dynamits.« Und mit diesen Worten war die Frage erledigt. Doch er hatte richtig gehandelt. All das, was wir uns seit dem Tauchgang zum Schiff erwünscht, alles, worauf wir Tag für Tag, Nacht für Nacht gewartet hatten, erfüllte sich am folgenden Tag. Tagsüber schneite es mit nordischer Ausdauer. Eine halbmeterhohe Schicht bedeckte die Insel. Mitten am Nachmittag sank die Sonne bereits, als hätte sie es eilig, sich von der Welt zu verabschieden. Sie ging überraschend schnell unter, die Dämmerung im Schlepptau, sie floh und wollte nicht unser Zeuge sein. Das Maskottchen sang vom Spätnachmittag an, pausenlos und mit geschlossenen Augen. Es war eine zerstörerische Melodie, die ich noch nie gehört hatte. Ich weiß noch, wie Batís und ich von Blechtellern aßen, in absolutem Schweigen. Hin und wieder sahen wir uns an, oder wir sahen sie an. Sie beunruhigte uns mehr als je zuvor. Aber wir brachten den Willen nicht auf, ihr zu sagen, dass sie schweigen solle. Diese und andere kleine Vorzeichen kündigten entscheidende Ereignisse an. 155
Nach dem Abendessen rauchten wir. Batís strich sich den Bart und schaute zu Boden. Plötzlich fühlten wir uns wie zwei Fremde, die auf einem Bahnhof zusammentreffen. »Batís«, wurde ich neugierig, »haben Sie an einem Krieg teilgenommen?« »Wer, ich?« fragte Caffó uninteressiert. »Nein. Aber eine Zeit lang habe ich als Förster gearbeitet. Ich habe Jägern assistiert, vor allem reichen Italienern. Wir schossen Hirsche, Wildschweine, manchmal Bären ... all das. Und Sie? Haben Sie Kriegserfahrung?« »In einem gewissen Sinne, ja.« »Wirklich? Das hätte ich nie gedacht. Haben Sie am Weltkrieg teilgenommen? In den Schützengräben?« »Nein.« Nach einer langen Pause erkundigte sich Batís: »In welchem Krieg denn dann?« »In einem patriotischen Krieg«, überlegte ich für mich selbst. »Ich kämpfte für die Heimat, nehme ich an. In meinem Fall war das auch eine Insel.« Batís kratzte sich im Nacken. »Ach ja?« »Wissen Sie, dass Heimat auf Lateinisch Land der Väter bedeutet?«, lachte ich. »Das Sarkastische daran ist, dass ich Waise bin.« »Ich würde für meinen Vater keinen Krieg führen, auch nicht für seinen Hof«, und er flüsterte: »Lauter Mist, Mist, Mist...« Ich gab mir keine Mühe, darüber zu reden. Es ging uns jedes Mal gleich. Dem Anschein nach führten wir einen Dialog, doch in Wirklichkeit waren es Monologe, die sich kreuzten. Eine Zeit lang blieb es still. Ich betrachtete den Himmel, ohne vom Stuhl aufzustehen. Der Schnee fiel inzwischen nur noch in unbedeutenden Mengen. Wir würden Vollmond bekom156
men. Bevor der Mond auftauchte, wurden Sternschnuppen sichtbar: Eindringlinge in einer violetten Dämmerung, von kurzer Dauer wie das Auflodern eines Streichholzes und so vergänglich, dass wir nicht einmal einen Wunsch vorbringen konnten. Mit kindlicher Besorgnis fragte er: »Und wer gewann den Krieg?« Ich hatte mich in meinen Gedanken verloren und wusste nicht mehr, worauf er sich bezog: »Welchen Krieg?« »Ihren Krieg«, half er mir, überraschend liebenswürdig. »Wer hat gewonnen? Die Inselpatrioten oder die anderen?« »Der Krieg ist noch nicht zu Ende«, ich lud den Remington und begab mich zur Falltür. »Denken Sie daran, die Hebelachse dreimal umzudrehen, bevor Sie die Zünder betätigen. Wenn sie nicht genug Energie speichern, bekommen sie keinen Kontakt.« Ich verteilte die Lämpchen, die wir noch hatten, auf den Treppenstufen. Danach bezog ich meinen Posten bei der Falltür zur Wohnung. Ich lag auf dem Boden, bei offener Tür und das Gewehr in den Händen. In regelmäßigen Abständen wollte ich von Batís wissen, was los war. »Nicht Frösche, nicht Frösche«, sagte er, die Syntax quälend. Eine halbe Stunde verging. Unten kam mit einem Windstoß Schnee zur Tür herein. Aber es war nur Schnee. »Sehn Sie sie kommen, Batls? Ja?« Keine Antwort. Ich hatte aus dem Fehler der vergangenen Nacht gelernt und wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Ich wollte das Erdgeschoss und die offene Tür nicht aus den Augen verlieren. »Batís?« Ich erlaubte mir einen raschen Blick. Er war auf dem Balkon und kauerte, mit dem Rücken zu mir, hinter der 157
Sandsackbarrikade. Irgendetwas hatte seine Gestalt gelähmt, und er erinnerte an eine Salzsäule. »Batís!«, schrie ich, damit er aus der Ohnmacht erwachte, die ihn ergriffen hatte. »Kommen sie, Batís?« Er bewegte nicht den kleinsten Muskel. Er zwang mich meine Stellung aufzugeben, wenn ich es auch nur widerwillig tat. Ich nahm ihn beim Ellbogen: »Ist es zu kalt? Sollen wir uns für eine Weile ablösen?« »Mein Gott, mein Gott...« Ich hörte eine Ansammlung von Stimmen, bei der man an das Getöse verstopfter Rohrleitungen denken musste. Ich blickte über den Balkon. Ihre Zahl überstieg alles, was sich die krankhafteste Fantasie ausmalen mochte. Ein Vollmond, den die südlichen Breiten größer erscheinen ließ, bot sie uns in prächtiger Theaterbeleuchtung dar. Es waren so viele: Sie bedeckten die Landschaft, sie drängten sich im Wald zusammen und erschütterten die Bäume, so dass sich ganze Schneebrocken lösten. Es waren so viele: Sie kletterten auf die Äste, schaukelten, stiegen hinauf und hinunter und übereinander hinweg. So viele waren da, dass einer Vielzahl nichts anderes übrig blieb, als einfach nur Zuschauer zu sein, und sie versammelten sich auf kleinen Klippen, an der Nordküste und an der Südküste, wie Reptilien in der Sonne. Sie hatten so wenig Platz, dass sie, aufgeregt und außer sich, wie sie waren, nicht einmal die oberen Gliedmaßen rühren konnten; das Ganze erinnerte an einen großen Topf, der mit lebendigen Angelwürmern voll gestopft war. Die Robusteren bewegten sich über die weniger Starken vorwärts, verletzten sie sogar, wenn nötig, und sprangen über die nackten Schädel. Eine breiige Masse aus graugrünem Fleisch, die vor dem Granitfelsen innehielt, wich unentschlossen zurück, als erwartete sie die Befehle eines namenlosen Führers. 158
»Batís«, schrie ich. »Aktivieren Sie die Zünder!« Aber er hörte mich nicht. Seine Unterlippe hing herunter, als ob ein Ohrring daran zerrte. Er hielt das Gewehr mit beiden Händen gepackt, ohne irgendwohin zu zielen. »Batís, Batís«, rüttelte ich ihn an der Schulter. Er senkte den Remington noch tiefer. Er schaute mich an, ohne mich zu erkennen, und flüsterte: »Wer sind Sie? Wo sind wir, wo sind wir, wo?« Das erschreckte mich fürchterlich, gerade weil sich dieser Mensch grundlegender Wahrheiten sonst so sicher war. Mit ihm konnte ich nicht rechnen. Aber ich hatte keine Zeit, um ihm Beistand zu leisten. »Ducken Sie sich«, sagte ich lediglich, indem ich ihn beim Genick packte. Batís betrachtete seine Brust und die Hände, ohne Eile und als ginge ihn die Katastrophe um uns herum nichts an. In gewissem Sinn beneidete ich ihn. Die drei Zünder waren bereit. Zuerst wollte ich die Sammelladungen beim Granitfelsen aktivieren. Der Hebel erreichte den Grund. Eine Sekunde lang guckten der kampfunfähige Batís und ich uns an wie zwei Idioten: Es funktionierte nicht. Doch dann zwang uns plötzlich eine donnernde Explosion hinter der Barrikade auf den Boden, wobei wir schützend die Arme über den Kopf hielten. Die Flammen stiegen wie Vulkanausbrüche in die Höhe, Granitstücke und Eisensplitter aller Art bohrten sich in die Säcke, in die Mauern und verbogen das Geländer wie Draht. Das ganze Bauwerk wankte. Ich hatte den Eindruck, dass es Schlagseite bekam wie der Turm von Pisa. Als ich die Augen öffnete, waren wir von oben bis unten mit einer Schicht aus Staub und Asche bedeckt. Im Innern der Wohnung breitete sich eine undurchsichtige Wolke aus; glänzende Rußpartikel flogen auf halber Höhe. Irgendwo war der Umriss des Maskottchens zu erahnen; sie schrie und schrie voller Entsetzen. 159
Ich robbte über die Barrikade. Dutzende, Hunderte von Ungeheuern hatten sich verflüchtigt. Überall lagen Leichen, die Sterbenden krochen zwischen den Toten herum. Ich blinzelte, wischte mir Wangen und Stirn ab und schrie: »Batís, helfen Sie mir!« Die Überlebenden achteten nicht auf die Toten. Sie stürmten heulend gegen die offene Tür. Halb wieder hergestellt oder vollends verrückt geworden, feuerte Batís mit seinem Gewehr auf die Menge. Ich auch. Bei jedem Schuss betätigte ich das Schloss, und die Hülse flog weg, alles so schnell wie bei einem Maschinengewehr. Man konnte gar nicht daneben schießen. Sie starben wie Fanatiker, sie fielen, und wer hinter ihnen kam, stolperte über die Gefallenen. »Schießen Sie weiter«, brüllte ich und ließ mein Gewehr ruhen, »lassen Sie sie nicht bis zur Tür kommen!« Meine Absicht war, die zweite Ladung zu aktivieren, doch im Kampfgetöse irrte ich mich: Anstatt das Dynamit der zweiten Linie anzuschließen, ließ ich die dritte, weiter hinten liegende, explodieren. Der halbe Wald flog in die Luft. Ein schwarzroter Pilz stieg fünfundzwanzig, fünfzig Meter in die Höhe. Trotz der Schneedecke brannten die Bäume wie Streichhölzer, viele wurden in die Luft herausgeschleudert, drehten sich um ihre Wurzelachse und fielen auf uns. Teile von Körpern bohrten sich in die Pfähle. Sie bombardierten uns wie Kanonenkugeln, und ein Schädel zerplatzte genau in dem Moment an der Schutzvorrichtung des Balkons, als uns die Druckwelle erreichte. Mit der Wucht eines tropischen Orkans riss sie den größten Teil der Säcke und mich selbst mit. Mit einem Mal fand ich mich im Zimmer wieder. Inmitten einer schwarzen Rauchwolke, die mich erstickte, kroch ich auf allen vieren. Der Boden war voller Sand und Funken, die herumhüpften. Draußen, irgendwo, explodierten Dynamitbündel, mit Verspätung und aus Sympathie. Ich hustete, ich spuck160
te, und ich sah das Maskottchen, das wehrlos in einer Ecke des Hauses saß. Eine Sekunde lang tauschten wir einen Blick des Unverständnisses aus. Sie begriff nichts. Ich auch nicht. Mein Atem war schwefelig. Was war da los? Diese Sprengkraft übertraf selbst die optimistischsten Erwartungen. Wo war Batís? War er vom Leuchtturm gefallen wie ein Matrose vom Schiff? Ja, Batís. Ich erriet, dass Caffó im Verlauf der letzten Tage, während ich die verstreuten Ladungen überprüfte und mit Eisenstücken verstärkte, der Versuchung nicht widerstanden hatte, nach eigenem Gutdünken weitere Patronen hinzuzufügen. Wir hatten vereinbart, vorsichtshalber einen Teil des Dynamits aufzusparen. Aber zweifellos hatte er die Minen heimlich mit allem, was wir hatten, aufgefüllt. Wenn die erste und die dritte Dynamitreihe uns um ein Haar getötet hätten, was würde geschehen, wenn wir die zweite losgehen ließen, die so stark war wie die beiden anderen zusammen? »Batís!« Er war auf dem Balkon, unversehrt und schmutzig. Er verschwamm in einem Londoner Nebel, so dass er wie ein Gespenst aussah. Verwandelt in einen wahren Goliath, schrie er die Ungeheuer an, wie besessen von Walkürengeistern, jenseits allen menschlichen Verstandes. Ein beträchtlicher Teil seiner Haare war verbrannt und rauchte. Er feuerte seinen Remington mit einer Hand ab, als ob es eine Pistole wäre, nach rechts und links, die andere schüttelte er drohend, mit geballter Faust. Erstaunlicherweise gelang es einem Ungeheuer, zwischen den Pfählen und dem halb zerstörten Geländer hochzuklettern. Caffó zerschmetterte ihm den Kopf mit dem Kolben, er schlug ihn auf wie eine Wassermelone, fünf Schläge, sechs, sieben, zusätzliche Grausamkeiten, und mit einem Fußtritt stieß er es hinab. Danach richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den letzten Zündkasten. »Batís, tun Sie es nicht, tun Sie es nicht, um alles in der 161
Welt, tun Sie es nicht«, schrie ich auf Knien, ihn bei den Hüften fassend, »wir werden in die Luft fliegen!« Einen Augenblick lang sah er mich mit der Milde eines Feudalherrn an. Dann: »Zur Seite!« Und mit einem Stoß warf er mich auf die Säcke. Unter uns wurden die Ungeheuer in einer Falle ohne Ausweg gebraten. Sie suchten das Meer und fanden nur Feuerwände. Viele rannten, noch immer lebendig, inmitten von Flammen. Die Feuersbrunst verbrannte mehr als die Hälfte der Insel. Die Mischung aus Nacht, verängstigten Ungeheuern und roten Pulverblitzen rief den Eindruck eines abwegigen Schattenspiels hervor. Zwei Drittel des Granitfelsens waren verschwunden. Bis zum Balkon stiegen Irrenhausstimmen empor. Batís senkte den Hebel. Ich glaubte, die Insel gehe unter wie ein bombardiertes Schiff. Von Norden bis Süden erhob sich eine weiß glühende Kuppel. Im Vergleich zu dieser Erscheinung war unser Leuchtturm lächerlich bedeutungslos, wie eine Kerze im Sturmgebraus. Eine Woge aus Schutt und schwarzem Schlamm stieg auf und verdeckte den ganzen Gesichtskreis. Die Schreie der Ungeheuer, Batís' Schreie, meine, alles war mit einem Mal weg. Ich war taub geworden. Inmitten der künstlichen Stille sah ich, wie sich Batís' Lippen bewegten. Ich sah verstümmelte Leiber in unglaublicher Höhe fliegen. Ich sah die Explosion, die wie ein lebendiges Wesen war, das Batís angerufen hatte. Gleichgültig gegenüber der schrecklichen Zerstörung klatschte, tanzte und fluchte Batís wie unter dem Einfluss eines Hexentranks. Eine letzte Lawine schwappte über den Balkon herein, ein Schlackenstrom, der uns mit kaltem Magma bedeckte. Das Ganze war eine Nebenszenerie des Weltuntergangs. Was dann kam, ist nicht sehr wichtig. Batís und ich setzten 162
uns weit entfernt voneinander hin. Wir mieden uns, von einem seltsamen Stumpfsinn gepackt. Wenn das der Sieg sein sollte, so wollte keiner dieses Schlachthofblutbad kommentieren oder feiern. Zwei Stunden später drang der Pfiff einer weit entfernten Lokomotive zu mir. Langsam öffneten meine Ohren wieder das Tor zur Welt der Töne, und kurz vor Tagesanbruch war ich fast wieder hergestellt. Wir machten uns für die allergrausamste Pflicht bereit. Wir würden uns Schals und Taschentücher vor Mund und Nase binden. Als die ersten Lichtschimmer das Feld mit mattem Kerzenschein erhellten, gingen wir hinaus. Es war entsetzlich. Feuerzungen hatten den Leuchtturm schwarz gefärbt. Wo das Metallschrot aufgeprallt war, sah er aus wie ein von den schlimmsten Pocken zerfressenes Gesicht. Die zerlöcherten Säcke am Geländer rieselten noch immer wie Sanduhren. Dort, wo die letzte Ladung explodiert war, tat sich ein riesiger Krater auf. Und die Ungeheuer: Sie lagen überall herum, wie von einem Würgeengel niedergestreckt. Es war unmöglich, die Leichen zu zählen. Überall lagen welche. Viele trieben im Meer. Verstümmelt, schwarz geworden, die Glieder infolge des Feuers mumifiziert. Verdreht wie Puppenfiguren, mit steifen Klauen und offenem Mund. Nie werde ich diesen abscheulichen Gestank von verbranntem Fleisch vergessen, der dem Geruch von gekochtem Essig so unglaublich ähnlich ist. Einigen Körpern fehlte so viel Fleisch, dass die angesengten Rippen wie schwarze Gitterstäbe hervorstanden. Andere bewegten sich noch. Dass wir ihnen den Gnadenstoß gaben, war zuallererst als Akt des Mitleids zu verstehen. Wir gingen zwischen den Toten her, und wenn wir eine Bewegung bemerkten, bohrten wir ihnen, ich ein langes Messer und Caffó seine Harpune, ins Genick. Der schauderhafte Anblick aber bewirkte, dass Batís' sadistischste Seite zutage trat. Einer von ihnen hatte ein Bein vollständig, das andere auf 163
Kniehöhe verloren. Er war nur noch ein Körper, aus dem weißer Rauch stieg und der sich auf den Ellbogen fortschleppte. Statt ihn zu töten, verstellte Batís ihm den Weg. Das Ungeheuer erblickte seine Stiefel, die es daran hinderten, seinen Weg fortzusetzen. Unter krampfhaften Zuckungen änderte es seine Richtung. Batís stellte sich ständig zwischen das Ungeheuer und das Nichts. Aber es gab nicht auf. Mit den Bewegungen einer Schnecke und der Dickköpfigkeit eines Ochsen strebte es meerwärts. »Erledigen Sie es doch endlich, verdammt nochmal!«, schrie ich, indem ich mir das Taschentuch vom Gesicht riss. Er vergnügte sich noch eine Weile. Dann stieß er ihm die Harpune durch den Hals. Eine unbestimmte Zeit lang kippten wir Körper ins Meer. Wir waren bei weitem noch nicht fertig, als ich das Maskottchen auf dem Balkon erblickte. Sie saß mit angezogenen Beinen da und hielt sich am Geländer, als ob sie mit Ketten festgebunden wäre. »Mein Gott«, rief ich aus, »mein Gott, sehn Sie doch nur!« »Was stöhnt sie denn?«, sagte Batís. »Mein Gott, sie weint.«
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Die Katastrophe brach mit der Heftigkeit des Unvorhergesehenen über uns herein. Keine achtundvierzig Stunden waren seit dem großen Gemetzel vergangen. Zwei Tage, nur zwei Tage, ohne dass sie uns angriffen. Ich befand mich irgendwo im Wald. Ich spazierte mit einem Bleistift und einem Notizblock herum und rekonstruierte den Kalender. Seit langer Zeit wusste ich nicht mehr das genaue Datum, das wir hatten. Caffö gab sich in dieser Hinsicht keine Mühe, und ich hatte es, mit kurzen Unterbrechungen, nicht mehr verfolgt. Während der gefährlichsten Zeiten hatte ich den verflossenen Tag ganz einfach deshalb nicht mit einem Kreuz ausgestrichen, weil ich nicht glaubte, dass es noch einen nächsten geben würde. Und, um noch mehr Fehler einzubauen, hatte ich ganze Kalenderseiten zweimal durchlaufen. Das traf für einen ganzen Monat zu, bei dem ich aus Versehen alle Tage wiederholt hatte: Ich konnte die nervöse Spur verfolgen, die vom Schwarzstift zum Rotstift gewechselt war, was die Ursache der Verwirrung war. Der schwarze strich die Tage mit einer Linie aus, welche sie kaputtmachte. Doch war es, als ob der rote Stift den Tagen, die der schwarze ausgestrichen hatte, keine Geltung verschaffen und wieder den gleichen Monat, Tag für Tag, neu beginnen würde. Mit geometrischen Schnörkeln hatte sich der Rotstift bei jedem Datum eingehend aufgehalten und die Zahlen ausgeschmückt, bis sie die Gestalt eines Capriccios angenom165
men hatten. Der erste Februar war ein Ungeheuer auf der Lauer; der zweite war ein Ungeheuer, das sich vor dem Sprung zusammenzog; der achte ein Berg von Körpern, die den Leuchtturm hochkletterten; der elfte eine Gruppe, zur Kolonne formiert. Ich erinnerte mich nicht, derart viel geistloses Zeug zusammengestoppelt zu haben, und hielt es nicht für ein Erzeugnis von mir. Anfangs hatte ich natürlich große Freude daran: Wenn ich die Zeit fälschlicherweise verlangsamt hatte, bedeutete das, dass mein Schiff früher käme, als ich es erwartete. Doch die Berechnung meiner Fehler, der Tage, die ich zweimal ausgestrichen hatte, ergab das genaue Gegenteil von Freude: Der Kalender sagte mir, dass mein Schiff vor zwei Wochen hätte erscheinen sollen. Was konnte geschehen sein? Ein neuer Krieg von weltweitem Ausmaß, der den Schiffsverkehr bis zur Beendigung der Feindseligkeiten unterbrach? Vielleicht. Doch wenn wir Menschen auch dazu neigen, die Schuld für unser Leiden auf die großen Katastrophen zu schieben ȭ das unterstreicht unsere Bedeutung als Individuen ȭ, so schreibt sich die Wahrheit doch fast immer mit Kleinbuchstaben. Ich war das letzte Sandkorn dieses unendlichen Strandes, der Europa heißt. Eine vorgeschobene Einheit, eine Minipatrouille, ein Untertan ohne König. Das Wahrscheinlichste war, dass ein unfähiger Bürokrat oder die Verwechslung von Akten, irgendein unbedeutender Vorfall, die meteorologische Mission in einer falschen Ablage zum Verschwinden gebracht hatte. Die Befehlskette war irgendwo zerrissen worden, das war alles. Es gab mich nicht. Ein in antarktischen Gefilden verlorener Wetterbeobachter, schlimmes Verhängnis, was für eine große Aufregung für eine Reederei von internationaler Größe! Ganz gewiss würde mich der Vorstand bei keiner seiner Zusammenkünfte auf die Tagesordnung setzen. Ich erinnere mich, dass ich die Seiten mit Schwung durch166
ging und versuchte, die katastrophale Berechnung, die von allen Rechenkünsten bestätigt wurde, wieder rückgängig zu machen. Ich erinnere mich, wie der schmutzige Nagel meines Zeigefingers auf und nieder fuhr, als wäre ich der trübseligste Buchhalter der Welt. Nichts, nichts. Tief in mir konnte ich spüren, wie sich die Verzweiflung breit machte: eine Burg, die im Innern meines Magens in sich zusammenstürzte. Mit der Wirkung eines Gerichtsurteils gab mir der Kalender bekannt, dass ich zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war. Am liebsten wäre ich gestorben. Und dennoch lässt sich eine schlechte Nachricht am besten vergessen, wenn man eine noch schlimmere zu hören bekommt. Gab es denn eine noch schlimmere Nachricht? Doch. Ich konnte jener Stimme, die mir vom Balkon aus »Zum Leuchtturm!« zurief, einfach nicht glauben. Ich hörte Batís' Warnung und wie Schüsse die eisige Atmosphäre zerrissen, und etwas sehr Zartes in mir zerbrach. Anfänglich war es mir nicht bewusst. Ich ließ Stift und Papier fallen und rannte um mein Leben. Sie hatten nicht einmal die Nacht abgewartet. Mit dem ersten Dämmerlicht tauchten sie auf und umzingelten den metallschrotfleckigen, angesengten Leuchtturm. »Kollege, Kollege«, warnte mich Batís, während er in alle Richtungen schoss. Die Stufen im Granit waren durch die Explosionen zerstört worden. Man musste klettern, um zur Tür zu gelangen. Batís gab mir Deckung. Zum Ziel wählte er die Ungeheuer, die in meiner Nähe waren. Sie tauchten auf und verschwanden bei jedem Schuss. Doch als ich nur noch ein paar Meter vom Zufluchtsort entfernt war, verwandelte sich meine Angst in Wut. Warum kamen sie zurück? Wir hatten sie zu Hunderten getötet. Und da waren sie von neuem, von neuem. Statt mich zu verstecken, bewarf ich das Nächste mit Steinen. Ich nahm Granitbrocken und schmiss sie ihm ins Gesicht, einen, zwei, 167
drei. Ich erinnere mich, dass ich es anschrie. Das Ungeheuer schützte sich mit den Armen. Es wich ein Stückchen zurück. Und dann, man staune, bewarf es mich mit Steinen! Das alles war schauderhaft und abstoßend zugleich. Caffó erledigte es mit einem gut gezielten Schuss. »Kollege! Kommen Sie herein! Worauf warten Sie?« Ich nahm meinen Platz ein, neben ihm, auf dem Balkon. Ich feuerte ein oder zwei Geschosse ab. Es waren nicht viele Ungeheuer da. Aber es waren welche da. Ich senkte den Lauf. Ihre Anwesenheit bewies, dass jede Anstrengung vergeblich war. Was wir auch tun würden, sie kämen wieder, immer wieder, mehr, alle. Für sie waren Kugeln und Sprengstoff dasselbe wie Regen für die Ameisen: Naturkatastrophen, die man akzeptierte und die nur ihre Zahl reduzierte, aber niemals ihre Ausdauer. Ich gab auf, ich hisste die weiße Fahne. »Wo zum Teufel gehen Sie jetzt hin?«, beschwerte sich Batis. Ich mochte nicht einmal antworten. Ich setzte mich auf einen Stuhl, das Gewehr quer über den Knien, die Hände am Kopf. Ich begann zu weinen wie ein Kind. Vor mir befand sich das Maskottchen. Im Unterschied zu sonst saß sie auf einem Stuhl. Sie saß auf dem Stuhl und hatte den Oberkörper gleichgültig gegen den Tisch gelehnt. Doch wie gewöhnlich betrachtete sie Batís auf dem Balkon, die Schüsse, meine Tränen, den Angriff auf den Leuchtturm mit jener Distanz, wie sie ein Bild mit kriegerischen Motiven beim Besucher einer Gemäldegalerie schafft. Ich hatte mit meinem Mut, meiner Energie, meiner Intelligenz alle Grenzen überschritten. Ich hatte mit ihnen gekämpft, bewaffnet und unbewaffnet, zu Wasser und zu Lande, verschanzt und auf freiem Feld. Und jede Nacht kamen sie wieder, wann sie wollten, mehr und mehr, gleichgültig gegenüber der Zerstörung. Batís schoss immer weiter. Doch 168
dieser Kampf war nicht mehr mein Kampf. O mein Gott, sagte ich mir, während ich die Tränen wegwischte, was konnte ein vernünftiger Mensch in meiner Situation denn sonst noch tun? Was hätte ein entschlossener, ein kluger Kopf getan, was ich nicht schon längst getan hatte? Ich betrachtete meine tränenfeuchten Handflächen und das Maskottchen, das Maskottchen und meine Handflächen. Zwei Tage zuvor hatte sie geweint, und jetzt weinte ich. Die Tränen hatten noch etwas anderes gelockert als nur meinen Körper. Meine Erinnerungen flogen unkontrolliert davon ȭ wenn man geweint hat, denkt man viel freier als sonst ȭ, und mein Gedächtnis rief mir eine längst vergangene Begebenheit in Erinnerung, die typisch für meinen Tutor war. Einst stand ich vor einem Spiegel, versunken in jene rätselhafte Selbstgefälligkeit der Heranwachsenden. Mein Tutor fragte mich, wen ich sähe. »Mich«, sagte ich, »einen Jungen.« »Richtig«, sagte er. Er setzte mir eine englische Soldatenmütze auf den Kopf, wer weiß, woher er sie hatte: »Und jetzt?« »Einen englischen Offizier«, lachte ich. »Nein«, unterbrach er mich, »ich frage Sie nicht, was Sie sehen, sondern wen.« »Mich«, sagte ich, »mit einer englischen Mütze auf dem Kopf.« »Das ist nicht ganz richtig«, beharrte er. Alles verwandelte er in eine seiner Prüfungen, die mich manchmal so ärgerten. Ich verbrachte den halben Nachmittag mit dieser elenden Mütze auf dem Kopf. Er nahm sie mir nicht ab, bis ich einfach antwortete: »Mich sehe ich, mich.« Das Maskottchen und ich betrachteten einander die ganze Nacht. Caffó kämpfte, und wir betrachteten einander, jeder an einer Seite des Tisches, und ich wusste nicht, wen ich da sah, noch wer mich anschaute. Am Ende der Nacht bedachte Batís mich mit der Verachtung, die Deserteure verdienen. Am Morgen machte er einen Spaziergang oder irgendetwas anderes da draußen. Gleich da169
nach stieg ich in die Wohnung hinauf. Das Maskottchen schlief zusammengerollt in einer Ecke des Bettes. Nackt, aber mit Strümpfen. Ich nahm sie beim Handgelenk und setzte sie an den Tisch. Mitten am Nachmittag traf Caffó mit einem aufgeregten Mann zusammen: »Batís!«, sagte ich, vor Begeisterung sprühend. »Raten Sie, was ich heute gemacht habe.« »Zeit verlieren. Ich habe die Tür ganz allein verstärken müssen.« »Kommen Sie mit.« Ich nahm das Maskottchen am Ellbogen mit, Batís folgte mir mit einem Schritt Abstand. Als wir draußen vor dem Leuchtturm waren, ließ ich sie sich auf den Boden setzen. Er blieb ungerührt in meiner Nähe stehen. »Sehen Sie das an«, sagte ich. Ich packte ein, zwei, drei, vier Holzscheite unter den Arm. Das Vierte allerdings ließ ich absichtlich fallen. Ich spielte natürlich Theater. Ich nahm das Scheit, und ein anderes fiel aus dem Stapel. Der Vorgang wiederholte sich immer wieder. Batís sah mich auf seine Art an, ohne zu begreifen, doch ohne mich zu unterbrechen. Los, nun mach schon, dachte ich. Während des Vormittags, während Batís' Abwesenheit hatte ich dieses Experiment ausgeführt. Aber jetzt blieb es ohne Resultat. Batís sah mich an, ich sah das Maskottchen an und sie die Holzscheite. Endlich lachte sie. Ehrlicherweise war ein bisschen Fantasie nötig, um zuzugeben, dass das ein Lachen sein sollte, wie man es sonst kennt. Doch es war ein Lachen. Zuerst ertönte es aus der Brust. Noch hatte sie den Mund geschlossen, aber man hörte bereits ein schrilles Geräusch. Irgendeine innere Stimmverriet es, und Töne gelangten zu uns. Danach öffnete sie die Lippen. Tatsächlich, sie lachte. Sie saß mit gekreuzten 170
Beinen da und warf den Kopf von der einen Seite auf die andere. Mit den flachen Händen schlug sie sich auf die Innenseite der Schenkel. Bald beugte sie den Oberkörper vor, bald verdrehte sie die Augen himmelwärts. Ihre Brüste hüpften im Rhythmus ihres Gelächters. »Sehen Sie?«, sagte ich mit triumphierender Zufriedenheit. »Sehen Sie? Und was meinen Sie nun dazu?« »Dass mein Kollege nicht imstande ist, vier Scheite auf einmal zu halten.« »Batís! Sie lacht!« ȭ ich machte eine Pause in Erwartung einer Reaktion, die aber nicht eintrat. Ich fügte hinzu: »Sie weint. Sie lacht. Was folgern Sie daraus?« »Folgern?«, schrie er. »Ich werde Ihnen sagen, was ich daraus folgere. Ich meine, dass wir wenige, viel zu wenige von ihnen totgeschlagen haben. Ich meine, dass sie sich wie die Käfer vermehren. Ich meine, dass sie bald wieder einen neuen Anlauf nehmen werden, und nicht wie in den letzten Nächten, sondern diesmal zu Tausenden. Das wird unser letzter Abend auf Erden werden. Und Sie halten sich damit auf, wie ein Zirkusclown vier Holzscheite herumzuschwenken.« Doch ich dachte nur an sie. Was machte sie da, im Leuchtturm, mit einem Höhlenmenschen zur Gesellschaft? Letzten Endes kannte ich nur ein paar unwesentliche Punkte aus ihrem Leben. Einmal hatte mir Batís erzählt, dass er sie ausgestreckt auf dem Sand gefunden habe, wie manche Quallen, die zum Sterben an unsere Strände kommen. »Hat sie nie fliehen wollen? Hat sie die Insel nie verlassen?«, fragte ich. Batís schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Ich ließ nicht locker: »Sie schlagen sie oft. Sie müsste Angst vor Ihnen haben. Doch sie flieht nicht. Und an Gelegenheiten fehlt es ihr nicht.« »Sie haben in der letzten Zeit seltsame Ideen.« »Ja. Und ich muss immer wieder diesen einen törichten Ge171
danken denken«, gab ich bekannt. »Können Sie sich vorstellen, dass sie etwas mehr sind als Meerungeheuer?« »Etwas mehr als Meerungeheuer...«, sagte er, ohne mir zuzuhören, während er die jeden Tag weniger werdende Munition zählte. »Warum nicht? Vielleicht gibt es unter diesen kahlen Schädeln mehr als bloße Instinkte. Wenn es so wäre«, ließ ich nicht locker, »könnten wir uns mit ihnen verständigen.« »Und ich glaube, Sie sollten Ihre Fantasie etwas besser im Zaum halten«, unterbrach er mich, während er sein Gewehr absichtlich geräuschvoll lud. Es lohnte sich nicht, zu diskutieren, und ich zog es vor, mir einen streiterfüllten Abend zu ersparen. Gewiss, es kam nicht oft zu Angriffen. Das Maskottchen sang nicht, was uns so etwas wie eine relative Sicherheit verschaffte. Aber wir durften uns nicht täuschen. Unsere Sinne waren schärfer geworden, die Leuchtturmkämpfe hatten uns zu Experten eines ebenso unsichtbaren wie greifbaren Wissens gemacht. Gekräuselte See; auberginendunkle Wogen; in der Luft eine Feuchtigkeit, die so dick war, dass Walfische am Himmel hätten schwimmen können. Lauter Dinge, die nichts zu bedeuten brauchten, die uns aber dennoch, ohne vernünftigen Grund und ohne dass wir Ursache und Folge verbinden konnten, zu erkennen gaben, dass das Jüngste Gericht nahte. Dass sich unter den Wogen Kräfte sammelten und dass unser geschrumpftes Waffenarsenal sie diesmal nicht aufhalten konnte. Alle Zeichen wiesen auf unseren Tod hin. Und vielleicht verfiel ich gerade deshalb wieder dem Maskottchen, weil alles an Bedeutung verlor. Ich musste mich nicht besonders anstrengen, um mich vor Batís zu verstecken. Der Tod war im Begriff, auf unserer Insel zu landen, unser Tod, und das reich172
te, damit dieser Mensch sich in seiner eigenen Welt einschloss. Er verlor seine Zeit mit völlig unpraktischen, aber sehr unterhaltsamen Tätigkeiten. Er flüchtete vor der Wirklichkeit, indem er die Tür reparierte oder die wenigen Patronen zählte, die uns noch blieben. Er kannte jede Einzelne, wie die Bauern ihre Kühe, und gab ihnen sogar Namen. Die Kugeln, die er am schönsten fand ȭ ich weiß nicht, nach welchem Kriterium er sie voneinander unterschied ȭ, hatte er in ein Seidentuch gewickelt und bewahrte sie so getrennt auf. Er löste den Knoten und zählte sie von neuem. Dabei kniff er die Augen zusammen und zeigte mit dem Finger auf sie, als sei er sich der exakten Zahl nie ganz sicher. Er wusste, dass mich seine peinliche Genauigkeit rasend machte, so dass es, und sei es auch bloß, um Spannungen zu vermeiden, ganz natürlich war, wenn ich mich vom Leuchtturm entfernte. Während dieser langen Zeit trieb ich es mit dem Maskottchen immer wieder. Im Haus des Wetterbeobachters, vor allem aber im Wald, falls Batís doch plötzlich auftauchte. Während jener Tage der schleichenden Agonie war die Beziehung zu Batís sehr eingeschränkt. Schlimmer noch: Die Atmosphäre im Leuchtturm war auf ziemlich unbestimmte Weise gespannt. Das Problem war nicht das, was wir zueinander sagten, sondern das, was wir uns nicht mehr sagten. Sie waren noch nicht entschlossen, uns umzubringen, und ich brauchte etwas, um meine Gedanken zu beschäftigen. Mir fiel das Buch von Frazer ein. »Wissen Sie, wo das Buch von Frazer steckt? Ich suche es seit ein paar Tagen und finde es nicht.« »Buch? Was für ein Buch? Ich lese keine Bücher. Das ist etwas für Mönche.« Ich glaubte kein Wort von dem, was er sagte. Warum log er? Stimmte ich ihn derart feindselig, dass er mir sogar den Zugang zu philosophischer Lektüre verwehren wollte? Batís, 173
der auf seine Art sehr diplomatisch sein konnte, entgegnete vom Stuhl her, auf dem er saß: »Bücher wollen Sie? Sie brauchen eine Ablenkung? Sie sind jung. Vielleicht sollten wir ein lebendiges Froschweib fangen.« Und er bedachte mich mit einem äußerst hässlichen ironischen Grinsen. Ob er etwas ahnte? Nein. Er hatte bloß die Absicht, mein Feingefühl zu beleidigen. Er sagte mir damit auch, dass ich mich zurückziehen und das Zimmer verlassen sollte, dass er sich mit dem Maskottchen vergnügen wolle. Ich wollte nicht weggehen. »Das Allerletzte, was man von dieser Insel behaupten kann«, entgegnete ich, »ist, dass sie langweilig ist. Warum machen Sie nicht den Versuch, sie bewohnbarer zu machen? Wahrscheinlich liegt die Lösung, wie wir unser Elend beenden können, vor unserer Nase.« Er unterdrückte eine sarkastische Bemerkung: »Ach, wirklich?«, und er verschränkte, höchst aufmerksam, die Arme. »Dann erzählen Sie mir. Kommen Ihre Bemühungen voran? Welche Fertigkeiten bringen Sie ihr genau bei? Französische Küche? Chinesische Kalligrafie? Oder reicht es Ihnen, mit vier Holzklötzen Kunststückchen zu üben?« Er täuschte sich. Es ging nicht darum, was wir ihr beibringen konnten, sondern darum, was wir von ihr lernen konnten. Das Verheerendste von allem war, dass sich tatsächlich nichts geändert hatte. Wir waren Landschaftsmaler gewesen, die den Sturm mit dem Rücken zum Horizont malten. Wir brauchten uns nur umzudrehen, weiter nichts. Alle Augen schauen, wenige beobachten, sehr wenige erkennen. Nun sah ich sie an auf der Suche nach Menschlichkeit und fand eine Frau. Nicht mehr und nicht weniger, nicht weniger und nicht mehr. Was Mauern zum Einstürzen brachten, waren Geringfügigkeiten: Sie lacht, ist überzeugte Links174
händerin, erträgt es nicht, wenn ich ihr folge und sie verfolge, und kauert nieder zum Urinieren. Kurzum, eine Frau, die diese typisch europäische Vorstellung des Sich-lächerlich-Machens kennt. Ich lächerlicher Kerl, noch immer beurteile ich sie mit dem Maßstab eines Kindes, das die Gesetze der Erwachsenen nicht kennt. Vorher lebte ich mit einem Tier zusammen, und jegliches zivilisierte Verhalten erschien mir als Domestikation. Jeder neue Tag neben ihr, jede Stunde aufmerksamer Beobachtung ließen die Unterschiede mit an ein Wunder grenzender Geschwindigkeit dahinschmelzen. Was lediglich Gegenwart gewesen war, wurde ein Zusammenleben. Und je länger ich mit ihr umging, desto mehr zwang sie mich, sie in ihrer ruhigen Alltäglichkeit zu erleben. Sie schärfte meine Sinne, und so viel ist gewiss, indem sie dies tat und ich begann, sie als alles andere, nur nicht als Tier zu betrachten, veränderte sich die Szenerie wie durch Zaubertrank. Und sie gehörte einer Welt an. Sie war sie. Alle Augen schauen, wenige beobachten, sehr wenige erkennen. Wir sind eine weitere Nacht auf dem Balkon, halb geschützt vor dem fallenden Schnee. Früher hätte ich Berge aus Marmor nicht gesehen, jetzt unterschied ich Sandkörnchen am Horizont. Während einem der kleineren Angriffe an diesen Tagen, als sie unsere letzten Abwehrmittel auf die Probe stellten, verletzte Batís einen von ihnen, einen eher kleineren. Vier andere eilten ihm zu Hilfe. O mein Gott, mein Gott. Was wir für Kannibalenwut gehalten hatten, war nur die Anstrengung derer, die sich der Gefahr aussetzen, unter feindlichem Beschuss Kampfgefährten zu retten. Ich hasste gerade diesen vermeintlichen Kannibalismus, diese Gier, sogar dann Aas zu verschlingen, wenn der Körper noch gar nicht tot war. Wie oft hatten wir nicht auf Lebewesen geschossen, die bloß ihre Brüder retten wollten?
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Wer war ich? Diese Frage stellte ich mir, dort auf dem Leuchtturm, unzählige Male. Wenn die Begierde in mir brannte und gleich, nachdem ich sie besessen hatte. Vor und nach jedem Angriff, wenn die Sonne aufging und wenn sie unterging. Ich fragte es mich jedes Mal, wenn eine schwache Woge unsere Strände erreichte: Vom Balkon aus sah ich das Meer, diese weite Fläche, die wir immer für leer gehalten hatten, und ich strengte meine ganze Vorstellungskraft für diese eine Frage an: Wer bist du, und was tust du hier? Nie würde ich etwas von ihr erfahren. Zu diesem grundlegenden Nicht-Wissen war ich verurteilt. Zwischen ihr und mir erstreckte sich eine unvorstellbare Distanz. Sie war Teil einer Gemeinschaft von Wesen, die in den Tiefen des Ozeans lebten. All meine Fantasie versagte, wenn es galt, mir ihre Welt vorzustellen, ihr Alltagsleben und die banalen Dinge, die Grundsätze, nach denen sich ihre Existenz richtete. Wie könnte ich den inneren Zwiespalt begreifen, in dem sie sich bezüglich der Ihren befand? Würde ich je ihre Frustrationen, ihre Niederlagen verstehen? Nie würde ich erfahren, was sie dazu gebracht hatte, sich im Leuchtturm zu verbergen. Das war ebenso unverständlich, wie es für sie unverständlich sein musste, warum ein fahnenflüchtiger Ire bis hierher gekommen war. Bevor ich zum Leuchtturm gelangt war, hatte sich meine Seele auf verschlungenen Pfaden bewegt. Und wenn 176
ich es für möglich hielt, dass sie mir ebenbürtig war, so musste ich annehmen, dass sich auch ihr Leben auf ähnlichen Bahnen bewegt hatte, wenn auch unendlich von meinen entfernt. Ich wusste ja nicht einmal, ob das Wort »Liebe« für sie irgendeine Bedeutung hatte. Ich ging so sanft mit ihr um, wie ich es vorher niemals getan hatte. Als ich sie zum ersten Mal besessen hatte, war es eine ganz und gar zufällige Handlung, aus reiner Verzweiflung. Bevor ich sie berührt hatte, waren mir ihre Gerüche zuwider gewesen. Die fehlenden Haare, die Farbe ihrer ständig feuchten Haut und wie sie sich anfühlte. Jetzt konnte ich kaum glauben, dass ich diese Vorbehalte je gehabt hatte. Es geschah, dass ich meine Zärtlichkeit nicht unter Kontrolle hatte. Zu Beginn war es Absicht, das lässt sich nicht leugnen: Ich glaubte, wenn ich ihr meine Zuneigung zeigte und sie so liebte, wie ich jede andere Frau lieben würde, würde eine gegenseitige Annäherung stattfinden. Ich glaubte, wenn sie auch nur ein Minimum an Sensibilität besaß, würde sie die riesige Distanz begreifen, die zwischen mir und diesem Batís Caffó bestand. Auf diese Weise, dachte ich, käme die menschliche Seite in ihr ans Licht, wie ein Schmetterling, der aus der Puppe schlüpft. Doch dem war nicht so. Ohne es zu wollen, wurde meine Leidenschaft für sie immer aufrichtiger, aber sie zeigte sich ungerührt. Ich bemerkte, wie in mir eine neue Liebe wuchs, eine Liebe, die der Leuchtturm erfand. Doch je mehr ich mich ihr näherte, desto größer war der Widerstand, auf den diese beispiellose Liebe stieß. Bevor wir miteinander schliefen, schaute sie mir nie in die Augen. Danach war sie ebenso wenig für ein Lächeln empfänglich wie für Liebkosungen. Sie maß die Lust mit derselben Genauigkeit ab wie eine Uhr, welche die Stunden anzeigt. Und mit derselben Kälte. Duldete sie außerhalb des Leuchtturms meinen Körper, so 177
drinnen bloß ein Phantom für sie. Sie wich mir aus. Es war vergeblich, ihr irgendeine Aufmerksamkeit abtrotzen zu wollen. Es gab natürlich noch einen anderen Grund: Caffó selbst. Wenn er anwesend war, konnte sie womöglich noch ungeselliger werden. Ich versuchte, sie mir als ein besonderes Wesen zu denken, das einer speziellen Tyrannei unterliegt. Aber im Leuchtturm, zwischen den Gewehren und ihrem Herrn, war sie gewöhnlich das blöde Stück Fleisch, eine Mischung aus unterwürfigem Hund und scheuer Katze. All das, was ich glaubte, erkannt zu haben, wurde zum Trugbild. In diesen Tagen wusste ich nicht mehr, auf wessen Seite die Vernunft stand. Vielleicht wollte ich nur meine Begierde verbrämen. Vielleicht wollte ich sie auf mein Niveau heben, aus Angst, dass mich der Tod im Zustand eines niederen Wesens holte. Andererseits hatte ich der Welt und den Menschen entsagt. Und wenn ich es erst nicht glauben wollte, so machte sich in mir die Vorstellung breit, dass, ohne es zu wissen, sie die Zuflucht war, die ich seit meiner Flucht aus Europa gesucht hatte. Wenn ich sie nur anschaute, wenn ich sie nur berührte ȭ in diesen Momenten gab es die Grausamkeiten des Leuchtturms nicht. Und ich stellte fest, über mich selbst erschrocken, dass es mich gar nicht interessierte, ob sie mehr oder weniger menschlich, mehr oder weniger Frau war. Es stimmte nicht: Am siebenten Tag ruhte der liebe Gott nicht. Am siebenten Tag schuf er sie und verbarg sie vor uns unter den Wogen. Wie dem auch sein mochte, meine Handlungen machten sich von meinen Überlegungen unabhängig. Ich unternahm geradezu übermenschliche Anstrengungen, um sie weit weg von Batís zu besitzen. Bei einer bestimmten Gelegenheit nahm ich sie mit in den Wald, und danach schliefen wir auf dem Moos ein. An diesem Tag wurden die Nachteile einer auf so groteske Weise heimlichen Liebe offenkundig. Und noch mehr. 178
Ich bin eine Marionette ohne Fäden, ich habe Muskeln meines Körpers strapaziert, von denen ich nicht einmal wusste. Ich wälze mich im Moosbett, und mein Bewusstsein durchwandert sehnsüchtige Welten. Doch als mir ein leises Gähnen entfährt, merke ich, dass ihre Hand mir den Mund zuhält, so fest wie ein Saugnapf aus Fleisch. Ich öffne die Augen. Was macht sie? Ich höre ein derbes deutsches Liedchen. Ganz in unserer Nähe trampeln Batís' Pelzstiefel über die Pflanzen. Er sucht Baumstämme für die Arbeiten am Leuchtturm. Zeigt sich ein passendes Opfer, fällt die Axt erbarmungslos auf es nieder. Jeder Fund wird befühlt, er staunt über seine Macht und lacht vor sich hin. Von meinem Platz aus kann ich nur seine Füße sehen, ein paar Bäume weiter hinten. Er kommt noch etwas näher, so nah, dass die Axthiebe Holzspäne auf unsere Körper regnen lassen. Sie bewahrt bewundernswerte Ruhe. Weder atmet sie noch blinzelt sie, und ihre Hand bittet mich, es ihr gleichzutun. Ich gehorche. An Erfahrung ist sie mir voraus: Wie oft mag sie sich vor Haien oder Mörderwalen getarnt haben? Batís macht Geräusche mit der Kehle, ein zufriedenes Glucksen. Singend entfernt er sich. Stunden später traf Caffó einen anderen Menschen an. Er trat ins Zimmer und setzte sich halb abwesend mir gegenüber. Ich sagte nichts. Er sprach von den üblichen Dingen, der Obsession für die Munition und den kaputten Türen. »Batís«, unterbrach ich ihn, ohne mich zu rühren. »Das sind keine Ungeheuer.« »Wie bitte?« Ich zögerte lange, bis ich es wiederholte: »Wir kämpfen nicht gegen wilde Tiere, ich bin ganz sicher.« »Kollege! Der Leuchtturm hier macht jeden verrückt. Vor 179
allem Sie. Sie sind schwach, Kollege, ein sehr schwacher Mensch! Nicht jeder kann den Leuchtturm aushalten.« Doch ich konnte ihm nicht mehr weiter folgen. Unsere unterschiedlichen Auffassungen waren wie zwei Wege, die an eine Kreuzung gelangten. Ich schüttelte den Kopf, unglaublich müde. Ich sprach schleppend. Jedes Wort hatte sein Gewicht: »Nein, Batís, nein. Sie irren sich. Das muss jetzt ein Ende haben. Wir müssen ihnen unseren guten Willen signalisieren.« »Ich bin taub geworden.« »Wir sollten ein Zeichen setzen. Vielleicht begreifen sie dann, dass dieser Krieg uns nicht interessiert«, ich verlor den Schwung: »Bestimmt ist es schon zu spät. Aber es gibt keinen anderen Weg.« Ich konnte ihm natürlich nicht die ganze Wahrheit erzählen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass Tiere nichts von heimlicher Liebe wissen oder versuchen, einen Ehebruch zu verbergen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass all seine Einwände vor dieser Hand verstummten, die mir den Mund zugehalten hatte. Ich kam weiter vom Thema ab, da wischte er, mit einer Handbewegung, alle Gegenstände vom Tisch. Die Pupillen seiner Augen wurden klein wie Stecknadelköpfe und schwärzer denn je. Er wollte mich nicht hören, er stand vom Tisch auf. Aber nichts konnte sinnloser sein als dieses Gemetzel. Der Feind war kein Tier, und diese simple Feststellung hatte zur Folge, dass ich unmöglich auf sie schießen konnte. Was für einen Sinn konnte es haben, dass wir uns töteten? Warum sollten wir unser Leben auf einer elendigen Insel im Südatlantik verlieren? Es gab keine vernünftige Antwort. Ich bewegte die Hände mit Gebärden, die meinen Gesprächspartner um Verständnis anflehten: 180
»Strengen Sie sich nur ein bisschen an, Batís. Sie können uns tausend Vorwürfe machen. Bedenken Sie: Wir sind Invasoren. Dies ist ihr Land, das einzige, das sie haben. Und wir haben es besetzt mit einer Festung und einer bewaffneten Besatzung. Scheint Ihnen das nicht Anlass genug, damit sie uns angreifen?«, ereiferte ich mich unwillkürlich. »Ich kann es ihnen nicht zum Vorwurf machen, dass sie kämpfen, um ihre Insel von den Invasoren zu befreien! Ich kann nicht!« »Wo waren Sie heute Nachmittag?« Dieser plötzliche Themenwechsel zwang mich, einen unterwürfigeren Ton anzunehmen: »Ich habe ein Nickerchen im Wald gemacht. Wo hätte ich denn sein sollen?« »Ja, natürlich«, sagte er, wie abwesend; »ein Nickerchen. Nickerchen wirken stärkend. Machen Sie sich jetzt bereit, es wird dunkel.« Mit einer Hand hielt er mir meinen Remington hin. Ich nahm ihn nicht. Einfach so, Resultat der vorangegangenen Auseinandersetzung. Meine Weigerung empörte ihn. Aber er sagte nichts. Ich auch nicht. Er ging auf den Balkon hinaus, wenig später folgte ich ihm. Ich trug keine Waffe und blies in die Hände, um sie zu wärmen. Batís nahm eine Hand voll Schnee und warf ihn mir an die Brust: »Da!«, sagte er. »Vielleicht können Sie sie ja mit Schneebällen vertreiben!« »Still.« Sie sang. Vom schwarzen Wald drangen eiserne Stimmen her zu uns. Ein lang gezogenes, anhaltendes, zärtliches Heulen. So zärtlich, dass wir vor Angst fast starben. Batís lud seinen Remington mit jenem vertrauten Geräusch: kreck-klick. »Nicht schießen!«, sagte ich. »Sie singt!«, sagte er. »Nein.« 181
Batís' Gesichtsausdruck bestätigte mir seine Überzeugung, dass ich verrückt geworden war. Ich flüsterte: »Sie singt nicht, sie reden. Hören Sie.« Wir wandten den Kopf. Sie saß auf dem Tisch. Ihre Stimme breitete sich aus bis zum Balkon und darüber hinaus. Ich glaubte zu verstehen, dass sich zwischen den Rufen von draußen und ihrem Gesang ein Zwiegespräch entspann. Die Scheinwerfer gaben nichts anderes zu erkennen als Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Ich ging ins Zimmer. Als ich mich dem Tisch näherte, verstummte sie. Der Wald schwieg auch. Das Zwiegespräch klang in mir nach. Ich wusste nur, dass sich einige Ausdrücke beständiger wiederholt hatten als andere. Wörter wie »Citauca« oder so. Und immer wieder »Aneris« oder etwas in der Art. Doch jeglicher Versuch, diese Laute zu transkribieren, würde fehlschlagen, eine misslungene Partitur. Meine Stimmbänder glichen den ihren wie eine Bürste einer Geige. Dennoch sagte ich, in einem armseligen Nachahmungsversuch und mit einer gehörigen Portion Fantasie: »Aneris.« Sie schaute mich an. Das genügte, um zu behaupten: »Citauca, Batís. Das ist der Name, bei dem sie sich rufen«, sagte ich, großzügig bezüglich der Töne und meiner Interpretation. »Und auch sie hat einen Namen: Sie heißt Aneris. Sie heißen so, sie heißt so. Jede Nacht schlafen Sie mit einer Frau, die Aneris heißt«, schloss ich und senkte die Stimme: »Sie heißt Aneris. Übrigens ein sehr hübscher Name.« Batís hatte sie auf eine anonyme Masse reduziert. Ich glaubte, dass sich seine Auffassung zwangsläufig ändern würde, wenn man ihnen einen Namen gäbe. »Citauca«, »Aneris«, das war egal. Die Wörter, die ich bildete, ja geradezu erfand, waren nur die klägliche Wiedergabe der Töne, die sie von sich gaben. Aber das war weniger wichtig als die Tatsache, ihnen 182
eine konkrete Identität zuzuerkennen. Und dennoch erreichte ich das genaue Gegenteil dessen, was ich hatte bewirken wollen. Batís explodierte wie eine Bombe: »Sie wollen die Sprache der Froschkerle sprechen? Das also? Da haben Sie Ihr Wörterbuch!«, und er warf mir jäh meinen Remington zu, der zwischen uns durch die Luft flog. »Wissen Sie, wie viel Munition wir noch haben? Ja? Sie sind dort draußen, wir hier drinnen. Gehen Sie hinaus, und geben Sie ihnen das Gewehr! Ich möchte sehen, wie Sie das machen. Ja, ich möchte sehen, wie Sie mit den Fröschen verhandeln!« Ich sagte nichts, er aber kam immer mehr in Schwung. Er schwang die geballte Faust: »Raus mit Ihnen, verdammter Schwächling! Besetzen Sie den Treppenabsatz! Gehen Sie die Stufen hinunter, verteidigen Sie die Tür! Und Sie haben mich als Mörder beschuldigt? Sie selbst sind einer! Ein Totschläger von Träumern! Ihretwegen werden sie uns töten! Unser Fleisch wird sie fressen, uns das Mark aus den Knochen saugen, und wenn sie dann voll und satt sind, werden sie über Ihre idiotischen Vorstellungen lachen, dort unten in den Tiefen ihrer nassen Hölle! Aus meinen Augen!« Ich hatte ihn noch nie so gesehen. Er wand sich hin und her wie in den schlimmsten Nahkämpfen auf dem Balkon, und für einen Moment gab er mir das Gefühl, als sähe er in mir einen seiner verhassten Froschkerle. Einige Sekunden hielt ich seinem Blick stand. Doch dann zog ich es vor, das Gespräch abzubrechen. Ich hörte nicht hin und verließ den Raum. Was mich an Batís überraschte, waren nicht seine Argumente, sondern sein Verhalten. Es war verständlich, dass wir unsere Vorsichtsmaßnahmen trafen. Wir hatten sie zu Hunderten getötet. Wir konnten nicht erwarten, dass eine weiße Fahne mit einem Schlag alles lösen würde. Aber es war, 183
als würde Batís jede Erörterung dieser Sache torpedieren. Er wollte nicht einmal davon reden hören. Während der übrigen Nacht geschah nichts. Durch den Guckschlitz in der Tür sah ich einige, wenige nur, die dem Licht der Scheinwerfer auswichen. Oben schoss Batís wie wild und beschimpfte sie in seinem deutschen Dialekt. Er war sehr nervös. Violette bengalische Lichter flogen in die Luft, die völlig unnötig waren. Was sollte ihm all diese Feuerwerksenergie nützen? Nach und nach zog er sich ganz in sich zurück. Er mied jeden Kontakt mit mir. Wenn wir gezwungenermaßen am Abend zusammentrafen, um Wache zu stehen, redete er, ohne etwas zu sagen. Er redete und redete, wie er nie geredet hatte. Indem er so die Atmosphäre mit seinem Geschwätz sättigte und mit seinem Reden jedes Gespräch erstickte, umging er das einzige Thema, worüber man hätte reden sollen. Ich versuchte größtmögliche Toleranz zu üben. Ich hoffte, er würde früher oder später nachgeben. Da ich mit seiner Hilfe schon gar nicht rechnen konnte, entschloss ich mich, allein zu handeln. Ich hätte ihn gern in der Sache zu meinem Komplizen gemacht. Doch es war unmöglich, ihn auf meine Seite zu ziehen. Das Ironischste daran war, dass Caffó selbst mich auf die Idee gebracht hatte. Während unserer Auseinandersetzung hatte er die irrsinnige Idee gehabt, den Citauca unsere Gewehre auszuhändigen. Genau das tat ich. Sehr vorsichtig natürlich. Für Batís' alte Flinte gab es schon lange keine Munition ihres Kalibers mehr, weshalb sie uns überhaupt nichts mehr nützte. Jemand, der so praktisch dachte wie er, würde sie nicht vermissen. Ich begab mich zu dem Strand, an dem ich einst auf die Insel gekommen war. Ich wusste, dass sie an dieser Stelle oft an Land gingen. Dort bohrte ich die Flinte mit dem Kolben fest in den Sand. Herum legte ich einen Kreis aus großen Kiesel184
steinen, ein einfacher Kunstgriff, der jedoch meine Absichten zu erkennen gab. Vielleicht würden sie das Zeichen verstehen. Auf jeden Fall gab es für uns nichts dabei zu verlieren. Drei weitere Tage zogen sich hin, und ehrlicherweise muss gesagt sein, dass Batís sich nicht zwischen Aneris und mich stellte. Ich glaube, dass es dafür verschiedene Gründe gab. Batís wusste nicht, wie er einer schwierigen Situation die Stirn bieten sollte. Natürlich hatte er hinsichtlich meiner Beziehung zu ihr einen Verdacht. Doch waren die Verdächtigungen vager, als ich in unserer Lage erwartet hätte. Menschen, die mit dem Meer leben, sind oft ebenso raue wie praktische Leute. Aus unserem gemeinsamen Leben und der schlichten Tatsache, dass ich mehr Bücher gelesen hatte als er, folgerte er, ich sei eine Art Bibliothekar am falschen Ort. Offensichtlich war der einzige Unterschied zwischen uns der, dass es in meiner Biografie einen ganz besonderen Tutor gegeben hatte, weiter nichts. Batís teilte die weit verbreitete Ansicht, dass Bücher eine Art Gegengift für fleischliche Versuchungen sind, und war daher überzeugt, dass unsere jeweilige Begierde keine gemeinsamen Berührungspunkte hatte. Was ihn wahrscheinlich am meisten verwirrte, war, dass ich ihm den Besitz von Aneris nicht streitig machte. In diesem Fall hätten wir uns geschlagen wie Piraten, was zu seinem Charakter gepasst hätte. Aber ich habe ihm gegenüber nie den Anspruch auf eine Vagina erhoben. Ich hatte etwas Wichtigeres, sehr viel Wichtigeres aufgeworfen: dass der Feind kein wildes Tier war. Ein Mensch mit etwas mehr Verstand hätte daraus abgeleitet, dass diese Idee seine Interessen viel mehr gefährdete, weil es eine Idee war, die mich Aneris unweigerlich näher brachte. Er nicht. Die Realität war für den einfachen Verstand eines Batís Caffó bedrückend, doch das Ergebnis war nicht Klarheit, sondern ein Zusammenbruch. Da 185
er diese Fragestellung als Ganzes von sich wies, konnte er sich auch nicht dem stellen, was ihn am meisten berührte. Seine Antwort bestand darin, dass er sich abwandte und so tat, als ignoriere er das Problem. Die Sache war, dass Batís eine zweifache Belagerung erduldete. Jetzt wurde er von außerhalb und innerhalb des Leuchtturms bedroht. Es war nicht so, dass Batís, Batís Caffó, unfähig war, die Realität zu begreifen. Vielmehr war es so, dass er sie nicht akzeptieren wollte noch konnte. Er hatte sich der Insel auf seine Weise angepasst. Tatsächlich besaß er eine Grundlage moralischer Prinzipien. Er war kein Mörder. Oder er wollte keiner sein. In diesen Tagen wiederholte er öfter denn je die Geschichte von dem Italiener, der mit einem Sodomiten verwechselt worden war, oder umgekehrt. Dabei handelte es sich nicht um einen Witz. Es waren Fragmente einer Vergangenheit, die ich nicht kannte, ein Unfall, eine fahrlässige Tötung, mehr oder weniger zufällige Ereignisse, die ihn zu einem Paria der Gesellschaft gemacht hatten. Vielleicht war er so auf die Insel gelangt, auf der Flucht vor der Justiz. Das berührte mich nicht. Die Frage, ob Batís gut oder schlecht sei, war letzten Endes völlig belanglos. Und zu diesem Leuchtturm ȭ ich selbst konnte es bestätigen ȭ gelangten nur Flüchtlinge der einen oder anderen Art. Es ging darum, dass er sich, sobald er dort auf dem Leuchtturm war, irgendwann gezwungen sah, dem Wahnsinn einen Sinn zu geben. Er entschied sich, die Nächte zu planen und den Tagen auszuweichen. Er machte den Gegner zum wilden Tier, womit er den Konflikt durch Grausamkeit, den Widersacher durch ein Tier ersetzte. Das Paradoxe an seinen Überlegungen war, dass sie sich gerade auf Grund ihrer Unhaltbarkeit behaupten konnten. Der Kampf ums Leben absorbierte alles. Das Ausmaß der Gefahr bewirkte, dass Diskussionen, die er als absurd zurückwies, vertagt wurden. Er hatte sich mit einer Logik ge186
panzert, die jeden Kampf legitimierte. Der Terror der Citauca war sein natürlicher Verbündeter. Je näher die Citauca an den Leuchtturm herankamen, desto mehr Argumente hatte Batís. Je brutaler ihre Angriffe waren, desto weniger verdiente es der Angreifer, dass man über ihn nachdachte. Aber ich war nicht verpflichtet, ihm zu folgen. Das war im Wesentlichen die einzige menschliche Freiheit, die mir dort im Leuchtturm blieb. Und falls sich erwies, dass es keine Tiere waren, würde Batís' Ordnung mit größerer Gewalt zerstört werden als jene, welche die Waffenarsenale von ganz Europa bargen. Das verstand ich erst später. In jenen Tagen sah ich nur einen Batís Caffó, der nicht nachdachte. Doch wer wäre nicht bereit, seine Optik zu ändern, wenn sein Leben und die Zukunft von dem Blick abhingen, den er auf den Feind richtet?
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Es war ein Tag wie jeder andere, ein weiterer Tag auf dem Leuchtturm. Jedoch einer dieser Tage, die mit Vorahnungen beginnen. Die Wolkenleiber wölbten sich in dunklem Schwarzgrau. Einzelne, unzusammenhängende Wolken, die den Himmel wie die Steinchen eines Mosaiks zu Tausenden besetzten ȭ das machte das Himmelsgewölbe noch weiter. Hinter den Wolken ein blassrosa Licht, das von einer glanzlosen Sonne herrührte. Unsichtbare Hände hatten die doppelläufige Flinte verschwinden lassen. Den halben Vormittag grübelte ich darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Doch ich kam zu keinem Schluss. War es ein Akt des guten Willens oder genau das Gegenteil? In den folgenden Nächten, schien mir, dass die Aktivität der Citauca abnahm. Wir sahen sie nicht. Wir ahnten zwar, dass sie da draußen waren und miteinander flüsterten. Doch wenn wir die Scheinwerfer einschalteten, gingen sie dem Kampf aus dem Weg. Der schlagendste Beweis dafür war, dass Batís keinen einzigen Schuss abfeuern konnte. Gab es irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Ausbleiben der Aggressionen und dem Verschwinden des Gewehrs? War es greifbare Realität oder ein Wunsch, den die Hoffnung nährte? Ich durchlitt eine schwache Stunde: Tausend Jahre könnte ich darüber nachdenken und käme zu keinem Ergebnis. Ich war mir keiner Sache mehr sicher. 188
Rauchend spazierte ich bis zur Quelle. Dort fand ich Batís, der mit lächerlich überflüssigen Dingen beschäftigt war. Wie immer arbeitete er, um nicht nachdenken zu müssen, und das hinderte ihn daran, die Absurdität solcher Unternehmungen zu erkennen. Er sah schlecht aus. Er machte den Eindruck, als ob er in seinen Kleidern geschlafen hätte. Ich bot ihm eine Zigarette an, vor allem darum, weil ich wieder so etwas wie einen menschlichen Kontakt herstellen wollte. Aber ich war nicht gut aufgelegt. Er machte den Mund auf, und ich hätte ihn am liebsten angeschrien und ihm die ganze Torheit seines Benehmens vorgeworfen. »Ich habe einen guten Einfall gehabt«, sagte er leise und wusste genau, dass er Unmögliches zum Ausdruck brachte. »Es ist noch immer viel Dynamit auf dem Schiff. Wenn wir noch tausend mehr von ihnen umbringen, wäre das Problem erledigt.« Er befand sich in der Defensive und machte mir auf seine Art Zugeständnisse. Aber ich konnte ihm jetzt keine Gefälligkeiten erweisen. Ich hatte ihn immer freundlich behandelt, hatte mich seinen Grenzen angepasst, hatte Verständnis für seine Beschränktheiten gezeigt und mich mit Pedanterien und Launen abgefunden, wann immer nötig. Seine Vorschläge waren so durchschaubar wie lächerlich. Wie halsstarrig er war! Wir waren zwei Männer, die dabei waren zu ertrinken, und er verfocht die Meinung, dass wir das ganze Meer austrinken sollten. Er brachte einen zur Verzweiflung, mehr denn je; er war einer von denen, welche die guten Dinge verbessern, aber zugleich die bösen verschlechtern. Wenn er noch mehr Citauca umbrachte, würde er alle Türen zum Dialog zuschlagen, falls überhaupt eine offen war, und das Gewaltsystem festigen. Mochte sie auch noch so winzig sein, so war die Möglichkeit der Verständigung mit dem Feind unendlich viel attraktiver als ein Ungewisser und verbrecherischer 189
Kampf. Warum sollte ich ihm bei seinem Privatkrieg folgen? Nein, ich war nicht mehr bereit, noch mehr Citauca zu töten, ich würde es nur aus verzweifelter Notwehr tun. »Wieso nur sind Sie so bockig wie ein Esel? Öffnen Sie die Augen, Caffó! Wir glaubten, das hier wäre die Belagerung von Syrakus, wir beide, mit Gewehr und Dynamit, zwei Archimedes des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch alles weist darauf hin, dass die Ungeheuer um ihr Land kämpfen, das einzige Land, das sie haben. Wer kann ihnen das vorwerfen?« »Ertränken Sie Ihr Hirn in Fusel?«, entgegnete er und zeigte die geballte Faust. »Wissen Sie noch immer nicht, dass Gott an diesem Ort nichts zu sagen hat? Sie wollen Kathedralenlichter sehen, wo nur Asche ist. Sie täuschen sich, Kollege. Wenn Sie noch leben, so deshalb, weil ich Ihnen die Tür zum Leuchtturm aufgemacht habe! Wenn wir sie nicht töten, werden sie uns töten. So ist es. Helfen Sie mir zum Schiff hinunter! Ich habe es für Sie getan. Jetzt wollen Sie mir die Hilfe verweigern?« Das Gespräch war zu einem spitzfindigen Geplänkel zweier Fanatiker geworden. Meine Frustration, seine Verbohrtheit und die unendliche Einsamkeit des Leuchtturms trafen zusammen. »Wir müssen nur etwas geschickt sein«, sagte ich zu ihm, »jede Abneigung lässt sich überwinden.« »Zusammen sind wir stark, bringen Sie uns nicht auseinander«, war sein Gegenargument. Doch dieses Mal war ich nicht bereit nachzugeben, ich konnte nicht nachgeben. Er schützte sich mit den Stärken des erfahrenen Seemanns, ich setzte ihm die Spannkraft des gewandten Fechters entgegen. Als er seine Gegenargumente wiederholte, schrie ich: »Ich bin es doch, der Ihnen zu helfen versucht! Und ich werde es tun, wenn Sie aufhören, sich wie ein Maultier zu benehmen!« Er begann, wie verrückt zu lachen, vergaß seine Wasser190
eimer, die er füllte, schaute mir in die Augen und lachte noch heftiger. »Ein Maultier bin ich, ich, ein Maultier«, sagte er, als ob er mit unsichtbaren Freunden reden würde. Er lachte und wiederholte: »Die Frösche sind feine Pinkel, und ich bin ein Maultier!« Er lachte, mit dem Gesicht zum Himmel, und drehte kleine Kreise wie eine Spielzeugeisenbahn. Empört oder verrückt oder beides. Ich hörte, wie er sich selber die Geschichte vom Italiener, den man mit einem Sodomiten verwechselt hatte, erläuterte. Mit beiden Händen hielt ich mir die Ohren zu: »Seien Sie doch endlich still, Caffó! Still! Vergessen Sie Ihre Italiener und Sodomiten! Wen interessieren denn Ihre lächerlichen Geschichten? Früher oder später müssen wir das einzig Vernünftige tun: mit ihnen paktieren, Frieden schließen, verdammt noch mal!« Auf einmal tat er so, als ob er mich nicht hörte, als sei ich nicht da und er allein bei der Quelle. Dieses kindische Benehmen ärgerte mich: »Die haben vielleicht mehr Verstand als Sie!«, sagte ich und tippte mit dem Finger an meinen Kopf. »Ja, vielleicht sind wir die einzigen Tiere auf dieser Insel! Wir beide und unsere Flinten und Gewehre und Munitionen und Explosionen! Töten ist sehr leicht, aber es ist sehr schwer, sich auf den Feind einzulassen!« »Ich bin kein Mörder«, unterbrach er mich. »Ich bin kein Mörder.« Und paradoxerweise machte er dabei das schauerlichste Verbrechergesicht, das ich je gesehen habe. Er nahm in jede Hand einen Wassereimer und verschwand. In diesem Moment wusste ich, dass Batís irgendwann einmal jemanden getötet hatte und dass ihn das quälte. Vermutlich war es ein großer Fehler, dass ich ihn nicht angehört hatte. Es 191
stimmte allerdings auch, dass er seine Seele unter einer dicken Elefantenhaut verbarg; es war nicht leicht, ihn zu verstehen. Als er weg war, setzte ich meinen Spaziergang fort. Es regnete. Der Regen machte den Schnee schmutzig. Das Eis an den Bäumen schmolz, die Stalaktiten an den Bäumen knackten leise und zerbrachen. Der Pfad wurde schlammig. Ich musste springen, um dem Schlamm auszuweichen. Anfänglich war es mir egal, ob es regnete oder nicht. Die Tropfen drangen durch die Wollkapuze, und ich schob sie einfach zurück. Doch bald regnete es so stark, dass meine Zigarette ausging. Ich war bereits näher beim Haus des Wetterbeobachters als beim Leuchtturm. Ich beschloss, Unterschlupf im Häuschen zu suchen, das mich empfing wie ein Bettelpalast. Die Wolken verdüsterten den Tag, ich fand eine vergessene halbe Kerze und zündete sie an. Das Licht flackerte und Schatten tanzten an der Decke. Ich rauchte, ohne an etwas Bestimmtes zu denken, als Aneris auftauchte. Offensichtlich hatte Batís sie geschlagen. Ich ließ sie sich zu mir aufs Bett setzen. »Warum hat er dich geprügelt?«, fragte ich, ohne Antwort zu erwarten. In solchen Momenten hätte ich ihn umbringen können. Ich fing an zu lernen, dass die Größe der Liebe, die wir für jemanden empfinden, sich darin zu erkennen gibt, wie sehr wir jemanden hassen. Sie war völlig durchnässt. Das unterstrich ihre Schönheit nur noch, trotz der zugefügten Schläge. Sie zog die Kleider aus. Der Übergang zwischen Menschsein und Tiersein hatte keinen Einfluss auf die Lust, die sie mir gab. Wir liebten uns so oft und so intensiv, dass ich gelbe Funken sah. Es gab einen Moment, da ich nicht mehr wusste, wo mein Körper aufhörte und ihrer anfing oder das Haus und die ganze Insel. Danach: Ausgestreckt auf dem Bett, ihr kühler Atem an meinem Hals. Ich spuckte die Zigarette weit weg und kleidete mich an. Ich zog 192
den Gürtel durch die Schnalle und dachte an banale Dinge. Dann trat ich vor die Hütte. Ein kalter Schauer überkam mich. Das Drama manifestierte sich, als ich etwa hundert Meter vom Leuchtturm entfernt war. War es auch nur, um Abwechslung in die Eintönigkeit zu bringen: Ich hatte beschlossen, an der Nordküste entlangzugehen statt auf dem Pfad, der durch den Wald führte. Es war ein geschlängelter Weg. Zu meiner Rechten der Ozean, zu meiner Linken die Bäume, die eine undurchdringbare Wand bildeten. Die Wurzeln wuchsen unter Bänken hervor, welche Erde und Strandgut geformt hatten. Oft musste ich große Sprünge von Stein zu Stein machen, wenn ich nicht ins Meer fallen wollte. Ich sang ein Studentenliedchen. Und mitten in der dritten Strophe sah ich Rauch am Horizont. Eine zarte schwarze Linie, die sich unter dem Wind kräuselte, bevor sie etwas mehr an Höhe gewann. Ein Schiff! Gewiss waren sie aus irgendeinem Grund vom Kurs abgekommen, und nun fuhren sie ganz nah an der Insel vorbei. O ja, ein Schiff! Mit Mühe und Not erreichte ich den Leuchtturm: »Batís! Ein Schiff!«, und ohne anzuhalten: »Helfen Sie mir den Leuchtturm anzustellen!« Caffo hackte Holz. Er hielt inne, um gleichgültig den Horizont zu betrachten: »Sie werden ihn nicht sehen«, befand er. »Zu weit weg.« »Helfen Sie mir ein SOS zu senden!« Ich stieg die Innentreppe hinauf. Er folgte mir langsam. »Zu weit weg«, wiederholte er, »zu weit weg, sie werden ihn nicht sehen.« Er hatte Recht. Die Scheinwerfer des Leuchtturms waren wie das Flirren eines Insekts, das sich mit dem Mond verständigen wollte. Doch mein Wunsch war so heftig, dass ich optische Sinnestäuschungen erlitt, und während eines Moments voll unruhiger Zweifel glaubte ich, das Schiff drehe in unsere Richtung, das kleine Metallteil rücke spürbar 193
näher. Natürlich täuschte ich mich. Der Schiffsrumpf versank am Horizont. Eine Zeit lang konnte man noch den Rauch aus dem Schornstein erkennen, von Mal zu Mal dünner. Dann nichts mehr. Bis zum letzten Augenblick gab ich wie rasend Morsezeichen. SOS. Save our souls. SOS, rettet unsere Seelen. Noch nie haben sich Gebete und Hilferufe so gut vereint wie auf dem Leuchtturm. Und noch nie hat es einen solch günstigen Beweis für den Atheismus gegeben. Sie würden nicht kommen. In dem Schiff dort gab es menschliche Wesen, eine ganze Menge. Familien warteten auf sie, Freunde, Geliebte, Geschicke, die ihnen in diesen, in genau diesen Momenten fern scheinen mussten. Doch was konnten sie von der Ferne wissen? Von mir, vom Leuchtturm? Von Batís Caffó oder von Aneris? Für sie war die Welt, die mich gefangen hielt, nichts weiter als ein ferner Umriss, ein unbedeutender, öder Fleck. »Sie sehen Sie nicht«, sagte Batís ohne jede Regung in der Stimme, weder gute noch böse. Er blickte einfach in die Richtung des Schiffes, in neutraler Haltung, hielt noch die Axt zum Holzhacken in den Händen und blinzelte wie ein Käuzchen. Ich war ungerecht gegen ihn. Doch er war die einzige Person in der Nähe und musste für meine Verzweiflung büßen: »Sehen Sie sich an! Nicht einen Finger haben Sie gerührt! Was sind Sie bloß für ein Mensch, Caffó! Sie helfen mir nicht bei den Citauca, Sie helfen mir nicht bei den Menschen. Aktiv oder passiv sabotieren Sie jedes vernünftige Unternehmen und jeden Versuch zur Rettung. Wenn die Schiffbrüchigen Gewerkschaften hätten, wären Sie der perfekte Streikbrecher!« Batís verließ, wobei er mir auswich, den Leuchtturm. Doch ich verfolgte ihn die Treppen hinab. Ich schleuderte ihm Vorwürfe hinterher. Er tat so, als hörte er mich nicht, und mur194
melte bloß Verwünschungen in irgendeinem deutschen Dialekt. Ich riss ihn am Ärmel. Er hob die Arme und fuchtelte herum, als wenn ich eine unerträgliche Schwiegermutter wäre. Er lief ein Stück weiter, und ich fasste ihn wieder beim Ellbogen oder beim Kolben des Gewehrs, das über seiner Schulter hing. Auf dem Vorplatz vor dem Leuchtturm blieb er stehen. Wir warfen uns gegenseitig Anschuldigungen an den Kopf. Die Silhouette des Schiffs hatte die schwachen Schleusen aufgebrochen, die uns noch von der offenen Feindschaft getrennt hatten. Es dauerte lang, bis ich merkte, dass Batís schwieg. Batís stand mit offenem Mund stumm da. Abwechselnd drehte er den Kopf nach rechts und nach links. Die Nord-und die Südküste waren dicht bevölkert von winzigen Citau-ca. Den Unterkörper im Wasser oder zwischen den Felsen und dem Meer versteckt, wie Krebse. Die Schwimmhäute an Händen und Füßen waren fast durchsichtig. Batís schnaubte wie ein Pferd. Er betrachtete den Himmel, das klare Licht und dann die Gestalten, die am Meeresufer Schutz suchten. Er sah aus wie einer, der durch die Wüste irrt und herauszufinden versucht, ob das, was er sieht, eine Fata Morgana ist oder Wirklichkeit. Er machte einen Schritt nach Norden. Die Kinder versteckten sich hinter den Steinen. Die meisten waren nicht einmal einen Meter groß. Der Anblick dieser Kleinen war beschwichtigend. Sogar die Wogen schienen vorsichtiger, als ob sie ihren Schwung aus Angst, sie zu verletzen, bremsten. Sie benutzten das Wasser als Matratze und beobachteten uns neugierig. Plötzlich nahm Caffó das Gewehr von der Schulter. Mit raschen, ungeschickten Bewegungen schob er die Sicherung hin und her. »Nicht wahr, Sie tun's nicht?«, sagte ich. Er schluckte Spucke hinunter. Sah sich um, glaubte sich 195
außer Gefahr. Es waren Kinder, bloß Kinder, die nicht die Sicherheit des Halbdunkels suchten, um uns zu töten. Und sie kamen gerade jetzt, wo die Tage anfingen, länger zu werden. Zuletzt entschloss er sich, zum Leuchtturm zu trotten, voller Misstrauen, und mich vergaß er. Ein Schuss in die Luft hätte gereicht, um eine Flucht auszulösen. Doch er schoss nicht. Warum schoss er nicht? Wenn es nur unvernünftige Tiere waren, wenn wir ihnen nur Schmerzen und Mühsal zu verdanken hatten, warum tötete er sie dann bedenkenlos? Ich glaube, nicht einmal er selbst erkannte die Tragweite dieses Verzichts. Oder vielleicht doch. Ängstlich wie Vögelchen und vorsichtig wie Mäuschen näherten sich die kleinen Citauca dem Mittelpunkt der Insel. Das heißt dem Leuchtturm. In den ersten Tagen trauten sie sich nicht über die Uferlinie hinaus. Sie erreichten, dass wir uns wie Tiere im Zoo vorkamen. Hunderte von Augen, groß und grün wie Äpfel, betrachteten uns und folgten jeder einzelnen unserer Bewegungen. Wir wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten. Besonders Caffó. Jetzt, wo er einem wehrlosen Feind begegnete, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Seine Verwirrung war Spiegelbild seiner inneren Widersprüche, und sein Skrupel markierte die Grenzen seiner Verbohrtheit. Er wurde zu einer Art menschlichen Spinne. Frühmorgens verließ er nach wie vor den Leuchtturm. Ein paar Stunden später tauchten, immer ganz fasziniert, die ersten Kinder auf. Er spielte den Blinden, doch zog er sich gleich in sein Zimmer zurück. Sehr oft nahm er Aneris mit und band sie mit einem Fußknöchel an den Bettpfosten. Manchmal tat er aber auch so, als wäre sie nicht vorhanden. Sein Verhalten wurde immer unberechenbarer. Er war ein Mann mit starkem Körpergeruch ȭ ich meine damit nicht, dass es unangenehme Gerüche waren, nur eine 196
persönliche Besonderheit ȭ, und das Zimmer wurde mehr denn je von seiner Persönlichkeit erfüllt, einem Dunst von elementarer Wärme, den keine europäische Nase wiedererkennen würde. Um imaginäre Gefahren abzuhalten, schloss er die Balkonpanzerungen, wodurch er das Zimmer verdunkelte. Eines Tages ging ich zu ihm hinein: Ich lokalisierte ihn eher mit der Nase als mit den Augen. Sein Schatten befand sich neben einer Schießscharte, von wo aus er die Neuigkeiten dieses schwimmenden Kindergartens überprüfte, in den sich die Insel allmählich verwandelte. Das Sonnenlicht, das durch die Spalte schien, umrandete seine Augen wie eine Karnevalsmaske. Das war kein Schlafzimmer mehr, das war eine Höhle. »Es sind Kinder, Caffó, sonst nichts. Kinder töten nicht, sie spielen«, sagte ich, den Körper noch halb in der Falltür. Er sah mich nicht einmal an. Seine Antwort bestand allein darin, dass er seinen Finger an die Lippen legte und Schweigen forderte. Auch ich lebte in einer gewissen Verwirrung. Allerdings in einer nicht so ausgeprägten. Sie waren Wesen aus einer anderen Welt, ich verstand sie nicht. Sie führten Krieg gegen uns, und auf einmal schickten sie ihre Kinder aufs Schlachtfeld. Sie behandelten uns wie eine Art Syphilis, die nur Erwachsene befällt. Wie auch immer, man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass es zwischen der in den Sand gebohrten Flinte und dem Auftauchen der Kinder einen Zusammenhang gab. Hatten wir es mit der Denkweise großer Strategen oder absolut unzurechnungsfähiger Wesen zu tun? Und dennoch, wenn sie uns ihre Absicht kundtun wollten: Welche Mittel standen ihnen zur Verfügung? Dort, wo wir Gewehre eingesetzt hatten, hatten sie immer ihre nackten Körper dagegengehalten. Ich hatte mit einer ungefährlichen Flinte um Waffenstillstand gebeten, sie antworte197
ten mit ungefährlichen Körpern. War das eine perverse oder die vollkommenste Logik? Die Kinder merkten recht bald, dass ich ihnen nichts tun würde. In den folgenden Tagen betraten sie das Festland. Noch blieben sie auf Distanz. Obwohl ich ernst zu bleiben versuchte, konnte ich mir oft ein kleines Lächeln nicht verkneifen: Sie beobachteten mich starr, schauten und schauten nur. Die Augen übergroß, die Münder offen, so als stünden sie unter dem Einfluss eines Jahrmarkthypnotiseurs. Eines frühen Morgens ging ich tief in den Wald hinein. Der Pelzmantel war das Kissen für meinen Rücken, die dicken Hosen hielten den Schnee von mir ab, und mit verschränkten Armen wärmte ich meine Brust. Es wurde kein ruhiges Nickerchen. Ein nahes Gemurmel ließ mich die Augen öffnen. Es mochten fünfzehn oder zwanzig sein. Sie hingen auf verschiedenen Höhen an den Ästen und beäugten mich wie Käuzchen. Ich befand mich in jenem Zustand von Halbwachheit, der das Unwirkliche noch verstärkt. Die Bäume waren ihnen nicht vertraut, und sie kletterten ungeschickt hinauf. Das gab diesen Körperchen etwas Zerbrechliches, Verwundbares, so dass ich mich, um sie nicht zu verletzen, ihrer Neugier stellte. Ich dachte: Wenn ich unvermittelt aufstehe, werde ich sie aufscheuchen, und wenn sie dann fliehen, werden sie sich verletzen. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Weg hier«, sagte ich und hob kaum die Stimme. »Geht zurück ins Wasser.« Sie rührten sich nicht. Ich richtete mich auf, mitten in einem Kreis von Zwergspionen. Die meisten waren ruhig und schwiegen. Ein paar tuschelten oder umfassten sich mit einer Zärtlichkeit, die halb Kampfeslust, halb Brüderlichkeit ausdrückte, doch auch sie wandten den Blick nicht von mir. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Füße eines in 198
meiner Nähe zu berühren. Er saß auf einem dicken, waagrecht zum Boden verlaufenden Ast und baumelte mit den Beinen. Ich berührte seinen Fuß, und eine Art allgemeinen Gelächters verbreitete sich über die Pflanzenwelt. Es dauerte nicht lange, da hatten sie Vertrauen gefasst. So sehr, dass sie mir wirklich lästig wurden. Wohin ich auch ging, diese kahlköpfigen kleinen Körper folgten mir auf Schritt und Tritt. Sie waren in der Tat wie die Taubenschwärme, die auf den Plätzen der großen Städte zu Hause sind. Oft drehte ich mich zu ihnen um, und ein ganzer Teppich von Köpfen drängte sich auf der Höhe meines Nabels. Ich machte eine abrupte Bewegung, um sie zu verjagen, doch sie wichen nur ein paar Meter zurück. Sie brannten darauf, mich zu berühren. Die Verwegensten zwickten mich in die Ellbogen und die Knie, liefen weg und versuchten es unter schnatterndem Gelächter von neuem. Wenn ich irgendwo saß, war es der reine Wahn: Zahllose Fingerchen stritten sich um die Haare auf meinem Kopf, um meine Koteletten und meinen Nacken. Ich teilte ein paar Schläge aus, hierhin und dorthin. Doch meine Antwort demütigte eher mich als die Opfer. Soviel ist gewiss: Nach nur wenigen Tagen hatte ich mich daran gewöhnt. Vom frühen Morgen bis zum Abend spielten sie in der Umgebung des Leuchtturms. Als einzige Vorsichtsmaßnahme ließen wir die Tür zum Leuchtturm angelehnt. Sonst fingen sie an zu stibitzen. Wenn die Tür offen stand, gingen sie in den Leuchtturm hinein und nahmen die verschiedensten Gegenstände aus dem Magazin mit: Kerzen, Gläser, Bleistifte, Papier, Pfeifen, Kämme, Äxte, Flaschen. Einmal sogar ein Akkordeon, das größer war als der Dieb, den ich ertappte, als er sich schwer beladen wie eine kleine Ameise davonmachte. An einem andern Tag war es eine Dynamitpatrone. Wer weiß, in welchem Winkel sie die gefunden hatten. Zu meinem Entsetzen überraschte ich sie bei der Aus199
übung eines Spiels, das dem Rugby merkwürdig ähnlich ist, mit der Dynamitpatrone als Ball. Es wäre jedoch nicht recht, sie als Diebe zu beschuldigen. Es war ihnen nicht einmal bewusst, was Diebstahl bedeutete. Dass ein Gegenstand existierte, war Grund genug, damit sie ihn sich aneigneten. Wenn ich sie laut ausschimpfte, so reagierten sie nicht einmal. Es war, als sagten sie: Die Sachen sind da, und wenn sie da sind, nehme ich sie und fertig, sie sind kein Eigentum. Jeder pädagogische Versuch, mit fingierten Drohungen oder sanften Gebärden, war vergeblich. Auch wenn ich das Lager schützen konnte, indem ich die Tür zumachte, so ließ sich nicht vermeiden, dass die äußeren Verteidigungsanlagen beschädigt wurden. Die Flaschenscherben, die in die Ritzen eingefügt und vom Salzwasser ausgewaschen waren, leuchteten in verlockendem Gelb, Grün und Rot. Sie brachen sie heraus, um Ketten draus zu machen. Eines Tages entdeckten sie zu meinem Entsetzen, dass die Blechbüchsen und die Stricke an den Mauern ein ideales Spielzeug waren. Sie verknüpften sie zu langen Schnüren, die sie beim Herumrennen hinter sich her zogen, und wie jeder weiß, ist der Herdentrieb bei Kindern noch größer als bei Erwachsenen. Einen halben Tag brauchte ich für die Reparatur der Verwüstungen. Wenn ich sie erwischte, drohte ich ihnen mit einem höllischen Donnerwetter, aber sie wussten, dass ich harmlos war, und ihre Reaktion war, dass sie mit zwei Fingern ihre Ohren lang zogen. Eine Citauca-Gebärde, die vielleicht unserem Eine-lange-NaseMachen entsprach. Ich fing an, die Kinder als Gewaltbarometer zu benutzen. Solange sie da waren, dachte ich, würden uns die Citauca nicht angreifen. Ich sorgte mich mehr um sie als um mich. Ich mochte mir Caffós Reaktion nicht einmal vorstellen, falls die Kleinen es wagten, die Falltür zu seiner Wohnung aufzumachen. Der größte Schlingel unter ihnen war ein 200
abgrundhässliches kleines Dreieck. Dreieck deshalb, weil seine Schultern sehr breit und seine Hüften schmal und weniger entwickelt waren als die seiner Gefährten, als ob die Natur ihm noch kein eindeutiges Geschlecht zugewiesen hätte. Und hässlich wegen der unendlichen Reihe von Grimassen, die sein Fledermausgesicht schneiden konnte. Die anderen näherten sich mir nur scharenweise, indem sie sich in der Menge schützten. Er nicht. Oft defilierte er an mir vorbei. Er bewegte sich mit festem Schritt, wobei er Ellbogen und Knie mit kriegerischem Übermut hob. Ich achtete nicht auf ihn. Meine Geringschätzung erwiderte er damit, dass er seinen Mund an mein Ohr hielt und hineinredete. In solchen Fällen nahm man ihn am besten bei den Schultern und drehte seinen Körper um einhundertachtzig Grad. Dann ging er seinen Weg zurück wie ein aufgezogenes Spielzeug. Doch bei einer bestimmten Gelegenheit übertrieb er. Eines Spätnachmittags saß ich auf dem Granitfelsen und besserte einen Pullover aus, der bereits voller Flicken war. Die Kinder waren untergetaucht. Alle, bis auf das Dreieck. Jeden Morgen erschien er als Erster, und jeden Abend zog er sich als Letzter zurück. Er kam und kitzelte mich am Ohr. Ich war nun überhaupt kein Nadelkünstler, so dass mir diese zappelige Menge zu einer zusätzlichen Plage wurde. Plötzlich spürte ich, wie er sich an mir festklammerte. Hände und Füße umfassten meine Brust und Taille. Mehr noch: Er schnappte mein Ohr mit den Lippen und saugte an meinem Ohrläppchen. Ich verpasste ihm sogleich eine Kopfnuss, versteht sich. Mein Gott, diese Tränen. Das Dreieck rannte und weinte und plärrte mit entsetzlichem Geschrei. Anfänglich konnte ich nicht anders und musste lachen. Ich bereute es umgehend. Es war leicht zu erraten, dass er kein Kind wie die andern war. Er rannte weinend bis zur Nordküste, blieb aber vor der ersten Woge stehen. Als ob es ihm plötzlich einfiel, 201
dass er in dieser Richtung keine Zuflucht finden würde. Ohne auch nur einen Augenblick zu verlieren, wandte er sich, immer lauthals weinend, zum Südstrand. Diesmal ging er nicht einmal bis ans Ufer. Seine Tränen waren in ein trostloses Schluchzen übergegangen, und das Dreieck drehte sich wie ein Kreisel. Manchmal taucht das Mitleid wie eine Landschaft hinter dem letzten Hügel vor uns auf. Ich fragte mich, ob sich jene Unterseewelt sehr von unserer unterschied: Zweifellos hatten sie Vater und Mutter, und das Dasein des Dreiecks bewies, dass es bei ihnen auch Waisen gab. Ich konnte seine Tränen nicht ertragen. Ich lud ihn mir auf die Schulter, wie einen Sack. Ich trug ihn zum Granitfelsen und nähte weiter. Erneut klammerte er sich an mir fest und saugte an meinem Ohrläppchen; so schlief er ein. Ich tat nicht dergleichen.
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Es war mir klar, dass dieser Frieden nur ein unsicherer Waffenstillstand war und jede Stunde ohne Schüsse und Geheul ein unschätzbarer Aufschub. Doch je mehr Tage und Nächte vorübergingen, desto ferner schienen die Citauca. Alle meine Anstrengungen zielten darauf ab, nicht an das zu denken, was früher oder später eintreffen musste, mochte es sein, was es wollte. Denn so ist der Mensch in seiner Schwachheit: Er hofft und bringt diese Hoffnung unendlich oft zum Ausdruck, und diese ewige Wiederholung bewirkt, dass der Wunsch mit der Wirklichkeit verwechselt wird. Es gab immer mehr Anzeichen dafür, dass der antarktische Winter einem rauen Frühling wich. Die Tage lachten uns länger; mit jedem Tag rang das Licht der Dunkelheit kostbare Minuten ab. Die Schneefälle waren nicht mehr so heftig, die Schneeflocken jedes Mal kleiner. Manchmal ließ sich nicht sagen, ob es schneite oder regnete. Fast nie hüllte uns Nebel ein. Die Wolken waren jetzt viel höher. Und sie waren jetzt viel lauter, das auch. Ich verzichtete auf die Nachtwachen mit Batís. Es war nicht nötig. Doch ich wusste, dass es keine geschenkte Zeit war: Die Anwesenheit der Kinder bekundete nicht nur den Waffenstillstand, darüber hinaus gewährte sie beiden Parteien auch eine Zeit der Entspannung. Ich sagte zu ihm: »Sie werden uns nicht angreifen, Caffó. Die Kinder sind un203
ser Schild. Solange sie da sind, werden sie nicht angreifen. Weder bei Tag noch bei Nacht. Ruhen Sie aus.« Er zählte und polierte die Kugeln. »Wir brauchen uns erst an dem Morgen Sorgen zu machen, an dem sie nicht auf die Insel zurückkehren. An diesem Tag wird vielleicht wirklich etwas passieren, ich weiß nicht, was.« Er band sein Seidentuch auf, zählte die Kugeln und knotete es wieder zu. Er behandelte mich, als hätte ich seinen Leuchtturm nie betreten. Nachdem ich es einmal zugelassen hatte, dass mir das Dreieck näher kam, konnte ich es mir fast nicht mehr vom Hals halten. Jede Nacht schlief es bei mir, am Rande unserer Sorgen. Es war ein Nervenbündel, das sich unter der Decke wie eine Riesenmaus bewegte. Es brauchte lange, bis es zur Ruhe kam. Zuletzt saugte es an meinem Ohr und schlief, fest an mich geklammert, ein, in der Stellung eines Fötus und kleine Geräusche durch die Nase ausstoßend wie eine verstopfte Rohrleitung. Eines Morgens befanden wir uns draußen vor dem Leuchtturm. Ich spielte mit dem Dreieck und Aneris. Wir bewarfen uns mit Schneebällen und lachten wie kleine Kinder. Caffó erschien, und ich musste an einen nassen Raben denken. Sein langer schwarzer Mantel, sein ebenfalls schwarzer Bart und die schwarzen Haare standen in starkem Kontrast zum Weiß des Schnees. Er trug das Gewehr, die Harpune und Holzstämme und hielt alles mit beiden Händen. Er trug eine Last, die man kaum beschreiben konnte. Mehr aus Instinkt als aus Bosheit setzte er unserem Spiel ein Ende. Mit sinnloser Heftigkeit bedrohte er das Dreieck mit einem Stock, so dass es verängstigt davonlief, und nahm Aneris mit in den Leuchtturm. Irgendwie erahnte er die Gefahren eines solchen, dem Anschein nach harmlosen Tuns. Wir spielten, weiter nichts, aber 204
wir spielten. Das Spiel, so unschuldig es sein mag, deckt Übereinstimmungen und Verwandtschaften auf, denn wenn wir mit jemandem spielen, gibt es weder Grenzen noch Hierarchien oder einzelne Lebensgeschichten; Spiel ist ein Raum, der allen gehört und für jedermann da ist. Und so etwas Einfaches, Freundliches griff natürlich Batís Caffó an. Bevor er ging, warf ich einen Schneeball nach ihm, der ihn im Nacken traf: »Los, Caffó, ein bisschen fröhlicher«, sagte ich. »Vielleicht kommen wir alle davon.« Er bedachte mich mit einem Blick, wie man ihn einem revisionistischen Aktivisten zuwirft. Ein zweiter Schneeball wäre gefährlich gewesen. Bevor es mir klar wurde, hatte ich, ohne es zu beabsichtigen, bereits ein paar Gewohnheiten angenommen. Ein neuer Tag begann. Mit dem ersten Sonnenstrahl trennte sich nach erbittertem Kampf die untere von der oberen Welt. Mehr als einmal waren wir im letzten Moment von Überraschungen heimgesucht worden. Die Insel war sozusagen tote Natur. Weil es keine Insekten oder Vögel gab, rührten alle Geräusche, die nichts mit uns zu tun hatten, vom Meer oder von der Luft. Batís und ich hassten die atmosphärische Stille. Tage mit ruhiger See und stillen Winden waren für unsere Nerven eine zusätzliche Prüfung. Für uns stand fest, dass jedes Geräusch von den Citauca herrührte, so dass wir beim geringsten Verdacht bengalische Lichter abschossen. Aber jetzt war meine Sichtweise in Bewegung geraten. Ich musste mich anstrengen, um mich überhaupt an das frühere Leben zu erinnern, als die Stille noch keine Bedrohung war. Das Licht bemächtigte sich der Insel. Die Kinder tauchten auf und begannen, um den Leuchtturm herum zu spielen. Und Batís schloss sich in seinem Fort ein wie ein Elefant, der den 205
Mücken aus dem Weg geht. Das war seine Art, der Wirklichkeit den Rücken zu kehren. Das Dreieck genoss jetzt die Gunst eines Kronprinzen. Nach Lust und Laune hing es an meinem Hals oder auf meinem Rücken. Es war schwer zu begreifen: Über Monate hatten wir Hunderte von Citauca mit Artilleriefeuer vom Leuchtturm fern gehalten. Und jetzt konnte ich ein Kind nicht loswerden, das mir kaum bis zum Nabel reichte. Es besaß den ungestümen Charakter derer, die ihre Kräfte nicht unter Kontrolle haben. Tagsüber führte es die Horden der kleinen Citauca an, Insel rauf und Insel runter. Wenn die andern Kinder gingen, fiel es todmüde um, ohne sich darum zu scheren, dass das Gelände uneben war. Am Ende des Tages las ich es unter einem Baum oder aus einer Vertiefung im Granitfelsen auf und trug es zu meiner Matratze. Ich weiß nicht, warum ich es mit einer Decke zudeckte. Die Citauca schienen weder Kälte noch Hitze zu spüren. Doch ich deckte es zu. Der Sonnenuntergang gehörte ganz mir. Ich hatte die Gewohnheit, am Strand auszuruhen, an dem ich einst an Land gekommen war. Dank der kleinen Bucht liefen dort die Wellen viel sanfter auf. Die Antarktis war die Bühne, und ich saß in einer Vorzugsloge. Die Grenze des ewigen Eises begann tausend Meilen weiter südlich, doch der eisige Kontinent besaß eine solche Bühnenpräsenz, dass ich mich schon von hier aus an ihm freuen konnte. Wenn die Sonne unterging, entbrannte ein Feuerwerk am Horizont. Frühlingshafte Schwefelblitze und Goldäxte zeigten sich mir. Orange-violette Strahlen stritten sich wie Schlangen in der Luft und ringelten sich ineinander. Beim letzten Lichtgeprassel dachte ich mir etwas aus. Ich stellte mir vor, dass die Citauca zu mir sprachen und mit Hilfe der sinkenden Flut murmelten: Nein, heute nicht, auch heute werden wir einander nicht töten. Danach ging ich zum Leuchtturm zurück, um dort die Nacht zu verbringen. 206
Der Schnee schmolz, doch mein Bündnis mit Batís fror ein. So wie die Dinge lagen, war seltsamerweise die Meteorologie das einzige Element, das unseren Bund erneut bestärkte. Während uns die Belagerung durch die Citauca den Atem nahm, dachten wir nicht an andere, ungewissere Gefahren ȭbei einem Bajonettangriff hat der Körper auch keine Zeit, sich um einen eventuellen Anfall von Blinddarmentzündung zu sorgen. Doch jetzt, wo die Citauca verschwunden waren und uns der Frühling mit der ganzen antarktischen Brutalität überfiel, wollten die Stürme kein Ende nehmen. Wenn es donnerte, kamen wir uns vor wie unter Artilleriebeschuss. Die Wände zitterten. Die Schießscharten wurden dauernd erhellt. Die Blitze überzogen den Horizont wie riesige Wurzeln. Mein Gott, das waren Blitze. Wir gaben es nicht zu, aber wir vergingen vor Angst. Aneris nicht. Mag sein, dass sie das wirkliche Ausmaß der Gefahr nicht erfasste. Sie wusste nicht, dass die Erbauer sich nicht die Mühe gemacht hatten, einen Blitzableiter zu installieren. Wir schon. In jedem Augenblick konnten wir vom Blitz getötet werden, wie kleine Ameisen unter der Lupe eines grausamen Kindes. Und so zogen Batís und ich, während Aneris eine entrückte Gleichgültigkeit bewahrte, die Köpfe ein und murmelten wie jene sagenhaften Menschen der Vorzeit Gebete, ohnmächtig gegenüber den Elementen. Doch diese Gemeinschaft ging nicht über die Momente gemeinsam erlebter Angst hinaus. Wenn sich Batís mit ihr in sein Zimmer zurückzog, musste ich meine Gefühle zum Schweigen bringen. Oft konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Im Gewölbe des Leuchtturms dröhnte Batís' raue Stimme, der seine Sklavin quälte. Ich hegte eine aufrichtige Abneigung gegen ihn und musste mich heldenhaft anstrengen, nicht meinem Impuls zu folgen, die Treppen hochzugehen und Aneris aus diesem schmierigen Bett zu holen. In jenen Tagen wäre es mir unendlich viel leichter gefallen, auf 207
Batís zu schießen als auf die Citauca. Er wusste es zwar nicht, aber die feuergefährlichste Dynamitpatrone, die aus dem portugiesischen Schiff aufgetaucht war, war ich selbst. Jede Nacht wurde jetzt meine Zündschnur angezündet, und ich wusste nicht, wie lange ich sie noch löschen konnte, bevor sie explodierte. Denn meine Leidenschaft für sie wurde allmählich größer als die Insel, die sie in Schranken hielt. Manche Musik hat die Eigenschaft, einen nicht denken zu lassen. Dass Aneris eine solche Musik verkörperte, war gewiss. Man konnte höchstens darüber streiten, ob es möglich gewesen wäre, ihr zu widerstehen. Man verstand die Motive, warum Caffó sie mit irgendeinem Lumpen zu bedecken suchte: Ihr Anblick brächte den keuschesten Mönch um den Verstand. Der Pullover, den sie trug, wirkte anstößiger denn je. Dieses ausgefranste, zerlöcherte Stück Wolle, das einst weiß gewesen und jetzt zu einer Farbe irgendwo zwischen Grau und Gelb mutiert war. Und jetzt zog sie es, hinter dem Rücken von Batís, recht häufig aus. Nacktheit war ihr natürlicher Zustand, und sie bewegte sich mit einem wunderbaren Mangel an Schamgefühl, sie kannte nicht einmal das Wort. Sie besaß tausend Facetten, nie würde ich es müde sein, sie zu bewundern. Wenn sie nackt durch den Wald lief. Wenn sie mit gekreuzten Beinen auf dem Granitfels saß. Wenn sie die Treppen im Leuchtturm hochging. Wenn sie sich in unserer armseligen Sonne auf dem Balkon sonnte, eidechsenartig, unbeweglich, das Gesicht zum Himmel, das Kinn gereckt und die Augen geschlossen. Ich schlief mit ihr, wann immer ich konnte. Da nun Batís auf den Zustand eines Gefangenen mit Gewehren beschränkt und die Citauca aus dem unmittelbaren Gesichtskreis verschwunden waren, gab es oft Gelegenheit dazu: Obwohl er sie mehr denn je tyrannisierte, war Caffós Kriterium, nach dem er sie zurückhielt oder sich nicht um sie kümmerte, sehr unbeständig. Nachts litt sie, tags langweilte sie sich. 208
Ich erlebte das einige Male. Wenn ihr nichts anderes übrig blieb, ging sie in die Wohnung hoch, die düsterer war denn je, um irgendetwas Essbares zu verdrücken. Während Batís die Umgebung belauerte, war Aneris mit Aufräumen beschäftigt. Sie hatte eine sehr eigenartige Idee von der Ordnung der Dinge. Regale waren für sie unsichere Orte, die vermied sie. Sie versteifte sich darauf, die Sachen am Boden aufzureihen, dicht nebeneinander und mit Steinchen oben darauf. An den Tagen, an denen er sie freiließ, versteckten wir uns vor Caffó in stillen Waldwinkeln. Die Kinder sahen uns einige Male zusammen, und die Wahrheit ist, dass sie kaum auf uns achteten. Wie jeder weiß, sieht man den Kindern an, was sie denken. Und wahr ist auch, dass sich ihre Toleranz nach dem richtet, was sie sehen, nicht nach dem, was sie glauben. Nichts ist ihnen fremd, nur neu. Wenn ich konnte, beobachtete ich aus den Augenwinkeln Aneris' Beziehung zu den Kindern: Es gab sie praktisch nicht. Sie behandelte sie eher wie eine zusätzliche Plage. Sie konnten Transmissionsriemen zwischen ihr und den Ihren sein, sie konnten ihr Grüße und Nachrichten überbringen. Sie zeigte nicht das geringste Interesse. Sie beachtete sie ebenso wenig, wie wir Ameisen beachten. Eines Tages sah ich, wie sie das Dreieck anschrie. Wenn die Kinder an und für sich schon lästig waren, so war es das Dreieck doppelt und dreifach. Sie verjagte es, aber es fing, wie gewohnt, immer wieder an, als ob ein Gehörschaden es daran hinderte, Schimpfwörter zu verstehen. Für mich war das sein höchstes Verdienst, für sie der unerträglichste Fehler. Doch hätte jeder sehen können, dass so viel Feindseligkeit nicht gegen ein armes Kind, sondern gegen Dritte gerichtet war. Ich hatte mich von den Meinen losgesagt, sie von den Ihren. Das war alles. Der einzige Unterschied war, dass Aneris den Citauca näher war als ich den Menschen. Was nützte es, wenn ich Fragen stellte, die ich nicht beant209
worten konnte? Ich lebte. Ich könnte tot sein, und ich lebte. Nur das, all das. Sie hätten mir die Glieder einzeln ausreißen können, mein Leichnam hätte in den Tiefen des Atlantiks vor sich hinfaulen können. Und stattdessen lag ich neben ihr und machte Liebe mit ihr, wild und grenzenlos. Und dennoch blieben meine Versuche, an sie heranzukommen, fruchtlos. Konnten mich derartige Vorbehalte angesichts ihres Lebens auf dem Leuchtturm überraschen? Ich mochte wollen oder nicht: Die Geschichte jenes Mannes überschnitt sich mit meiner eigenen. Ich war in der Tat Teilhaber seiner Grausamkeit. Andererseits jedoch war es offensichtlich, dass niemand sie gegen ihren Willen festhielt. Man hatte den Eindruck, dass sie Caffó weder wegen seiner Gewaltanwendung hasste, noch ihn wegen des Schutzes, den er bot, bewunderte. Als ob dieser kategorische Mensch, der sie erniedrigte und schlug, ein notwendiges Übel sei und weiter nichts. Wenn wir miteinander geschlafen hatten, ging eine Tür auf. Ich konnte in ihrem Gesicht lesen. Sie sah mich wie durch eine dicke Glasscheibe an, mit einer Art Eindringlichkeit, die man leicht mit Zuneigung verwechseln konnte. Ein paar leidenschaftliche Anwandlungen, die trotz aller Mängel einer Form von Liebe nahe kam. Doch es war nur eine Illusion. Zärtlichkeiten von ihr zu verlangen: Da konnte man ihr auch die Zähne ausreißen. Wenn ich mit ihr, mit der ich im geheimen Einverständnis der zwei einsamsten Liebenden des Planeten verbunden war, reden wollte, wenn ich sie leidenschaftlich umarmte, hatte sie den Blick eines sterbenden Vögelchens. Aber es lohnt die Mühe nicht, eine Szenerie zu beschreiben, die keinem Drehbuch folgte; der Leuchtturm war das Reich des Unvorhersehbaren, und unsere Geschichte verlief in viel verschlungeneren Windungen.
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Eines Tages erschienen die Kinder nicht mehr zu ihrem täglichen Stelldichein. Am Vormittag, als es bereits offensichtlich war, dass sie nicht kommen würden, beobachtete das Dreieck den Ozean wie ein Miniaturbussard. Doch die Angst währte nicht lang. Wenig später umklammerte es mein Knie und wand sich wie ein Schlangenmensch. Wenn es mit mir spielen wollte, drückte es seine Ungeduld immer so aus. Wer am meisten unter dem Fernbleiben der Kinder litt, war ich. Sie waren in diesem staubverdorrten Land die einzige Atempause gewesen. Aneris hielt an ihrem hermetischen Schweigen fest. Und Batís war erfüllt von einer zufriedenen Munterkeit, die eigentlich widersprüchlich erscheinen musste. Doch sie war es nicht. Wenn er es auch nie zugegeben hatte, so wusste er, dass die Kinder wie eine Botschaft zu verstehen waren. Jetzt, wo sie verschwunden waren, würde sich seine Ordnung wieder herstellen. Ganz einfach. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass dem Rückzug der Kinder etwas wie ein neues Ereignis folgen könnte. Ich beobachtete ihn, wie er die Munition aufreihte, neue Panzerungen errichtete, neue Waffen präparierte. Aus den leeren Büchsen hatte er etwas wie eine Orgel mit zahlreichen Pfeifen gebaut, in die er die bengalischen Lichter steckte, die wir noch hatten, um sie als Geschosse einzusetzen. Er war zum Plaudern aufgelegt, ja, er war sogar lustig. Die Aussicht, 211
die Angreifer mit bunten bengalischen Lichtern zu bombardieren, regte ihn außerordentlich an. Er machte schlechte Witze, über die ich nicht einmal lachen mochte. Doch es war wie das letzte Aufleben Sterbender. Wir hatten den Krieg verloren. Aushalten bis zur letzten Kugel: Das rechtfertigte vielleicht seine Lebensauffassung, aber retten würde es uns nicht. Wir aßen zusammen zu Mittag. »Vielleicht warten sie nicht bis zur Nacht«, sagte ich. »Vertrauen Sie auf mich«, meinte er. »Die werden einen schönen Schrecken kriegen.« Und er lächelte schräg. »Und wenn sie nicht kommen, um uns zu töten? Schießen Sie dann auch?« »Und Sie? Schießen Sie nicht, wenn sie es versuchen?« Aneris saß mit gekreuzten Beinen am Boden. Die Augen offen, aber ohne zu schauen, unbeweglich, als ob sie tagträumte. Ich stellte mir vor, dass unsere Gewalttätigkeiten um sie kreisten wie die Planeten um die Sonne. Batís ließ sich aufs Bett fallen. Die Sprungfedern quietschten. Sein dicker Bauch hob und senkte sich. Er schlief nicht und war nicht wach, wie Aneris. Was tat ich mit einem Gewehr in der Hand? Mein Kopf sagte mir, dass ich es aus Vorsicht hielt, mein Herz sagte mir, dass ich es aus Pflicht tat. Batís öffnete die Augen. Er blinzelte nicht. Er betrachtete die Decke, ohne sich vom Bett zu erheben, und sagte zu mir: »Haben Sie die Tür gut zugemacht?« Ich erriet, worauf er anspielte. Das war seine Art, sich zuzugestehen, dass sich die Citauca vielleicht doch dem Tageslicht aussetzen würden. Es brachte mir auch noch andere Einzelheiten in Erinnerung. Während dieser Tage hatte er meinen Entschluss, das Dreieck zu adoptieren, ignoriert. Wo war es? Caffó wurde von praktischen Beweggründen getrieben: Ich 212
sollte während des Kampfes keinen Unsinn machen. Dass er mir dies zu verstehen gab, war unverzeihlich. Hastig eilte ich die Treppen hinunter. Es war nicht da. Ich verließ den Leuchtturm, von Angst getrieben. Dort war es, am Waldrand. Das Licht der tief stehenden Sonne warf bläuliche Flecken auf den Schnee. Das Dreieck hielt einen Finger an den Mund. Als es mich sah, lachte es. Einige Citauca knieten hinter ihm, hielten seine Hüften umfasst und flüsterten ihm freundlich ins Ohr. Zwischen den Pflanzen versteckten sich noch mehr, sechs oder sieben. Ich konnte bloß die Phosphoraugen und die Umrisse der kahlen Schädel erahnen. Ein Schauder ging mir durch Mark und Bein. Aber es war keine Falle. Zahlreiche Citauca-Hände gaben dem Dreieck einen leichten Stoß, so dass es zu mir kam. Es fing an zu regnen. Dicke Tropfen, die mit einem Plopp-plopp kleine Krater in den Schnee schlugen. Das Dreieck klammerte sich an mein Knie und lachte und wollte von mir auf dem Rücken getragen werden. Seine einzige Sorge war die: Was würden wir spielen? Ich vermute, dass die Citauca eine entsprechende Geste des guten Willens erwarteten. Doch mit einem Mal spürte ich, wie seine Muskeln sich anspannten. Ich wandte den Kopf. Batis hatte die Szene beobachtet. Er schritt auf dem Balkon auf und ab und sah dabei aus wie ein beunruhigtes Stinktier. Am Geländer hatte er seine Erfindung festgebunden. »Sie sind friedlich, Batís!«, rief ich. Mit dem einen Arm schützte ich das Dreieck, mit dem anderen fuhr ich durch die Luft und gab Zeichen. »Sie wollen uns nichts tun!« »Verstecken Sie sich im Leuchtturm, Kollege, ich gebe Ihnen Deckung!« Er hantierte an seinem Apparat. Mit einer Zündschnur hatte er sämtliche Büchsen mit den darin versteckten bengalischen Lichtern verbunden. Die Rohrmündungen zielten genau auf uns. 213
»Tun Sie es nicht, Caffó! Zünden Sie nicht!« Doch er tat es. Die Röhren waren nicht lang genug, und die bengalischen Lichter schossen wild in die Gegend. Einige versprühten Funken über unseren Köpfen, andere hüpften über den Boden, bevor sie explodierten. Feuerwerk in acht Farben erleuchtete den Vorplatz. Ich warf mich zu Boden, das Dreieck unter meinem Bauch, doch in all dem Durcheinander entglitt es mir wie ein feuchter Fisch. Die Citauca sprangen auf und nieder und versuchten so den bengalischen Lichtern und Batís' Kugeln auszuweichen. Die Schüsse gingen knapp an meinem Kopf vorbei und brummten wie Bienen, die sich in meinem Ohr ein Nest bauen wollten. Das Dreieck, hin und her gerissen, weinte vor Angst. Geduckt gab ich ihm mit Gebärden zu verstehen, es solle herkommen, ich würde es vor allem Bösen bewahren. Es zögerte. Es wusste nicht, ob es bei mir Zuflucht nehmen oder zu den Wellen rennen sollte. Sein innerer Kampf quälte mich. Es war, als stünde eine gläserne Wand zwischen uns, in der wir keinen Spalt fanden, um erneut zusammenzukommen. Schließlich wich es ein paar Schritte zurück. Dann entfernte es sich. Ich sah noch, wie es kopfüber ins Meer tauchte. Ein Bajonett zwischen den Rippen hätte mich weniger verletzt. So unvernünftig es scheinen mochte: Sein Verlust schmerzte mich mehr als das Scheitern des Dialogs. Sobald ich im Leuchtturm war, sprang ich, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hoch. Wütend packte ich Caffó an der Brust. Ich drückte ihn so heftig, dass ein Knopf seines Pelzmantels in meiner Faust hängen blieb. »Ich habe Ihnen das Leben gerettet!«, protestierte er. »Das Leben gerettet?«, brüllte ich. »Sie haben die letzte Möglichkeit vernichtet, die wir hatten, um es zu bewahren!« Ich ging auf den Balkon hinaus. Wie vorauszusehen, waren die Citauca verschwunden. Auch das Dreieck war nicht da. 214
Bald würde es dunkel sein. Zum Regen gesellten sich seitliche Windstöße. Batís' Apparat, purer Blechkram, klapperte gegen das eiserne Geländer. Zuerst brachte mich dieses Geräusch schier zur Verzweiflung, dann ließ es mich in schicksalsergebenen Trübsinn versinken. Was für elende Totenglocken, sagte ich mir. Batís spähte aufgeregt nach draußen und wiederholte: »Wo, wo, wo sind sie?« Ich konnte nichts weiter tun, als mein Gewehr festzuhalten und mit dem Wind in dieselbe Richtung zu spucken. Manchmal beschimpfte ich ihn verbittert. Wir belauerten uns gegenseitig, halb im Verborgenen, halb offensichtlich. Es wurde Nacht, und die Situation erreichte den Gipfel der Sinnlosigkeit. Wir redeten nicht miteinander, jeder auf einer Seite des schmalen Balkons. Wir wussten nicht mehr, ob wir die Dunkelheit oder uns gegenseitig überwachten. Bis Mitternacht geschah nichts. Der Regen wusch den Schnee weg, produzierte kleine Sturzbäche auf dem Granitfelsen, in denen dürre Äste herumschwammen. Und dann vertrieb der Mond die Wolken, die ihn verdeckten. So konnten wir einige Citauca erkennen. Sie befanden sich an derselben Stelle, der Waldgrenze. Sie machten keine sichtbare Anstrengung, sich dem Leuchtturm zu nähern. Ich suchte das Dreieck. Doch Batís schoss sofort. Als sie die Schüsse hörten, duckten sich die Citauca. Einige flohen auf allen vieren. »Sehen Sie sich Ihre Freunde an!«, jubelte Batís. »Da kriechen sie wie die Würmer. Wo hat man je so elende Kreaturen gesehen?« »Auf jedem Schlachtfeld, Sie Idiot! Ich selbst habe mich kriechend davongemacht, als mir die Kugeln um die Ohren pfiffen!«, schrie ich. »Schießen Sie nicht! Wie sollen wir uns denn verständigen, wenn wir sie durchsieben? Schießen Sie nicht!« Mit einer Hand stieß ich den Lauf seines Remington weg, 215
so dass er in den Himmel zielte. Batís befreite sich jedoch wütend von meiner Hand und feuerte sein Gewehr noch einmal ab. »Nicht schießen! Nicht schießen, Sie Scheißösterreicher!«, sagte ich und zerrte an seiner Waffe. Es war, als hätte ich versucht, ihm einen Arm auszureißen; das machte ihn rasend. Er hielt das Gewehr horizontal, und mit einem Stoß jagte er mich vom Balkon. Es war ein offener Angriff. Laut beschimpfte er mich. Ich saß rot vor Wut auf einem Stuhl und biss mir auf die Lippen. Es war sinnlos, mit jemandem diskutieren zu wollen, der den Verstand verloren hatte. Er folgte mir. Er legte den Remington weg, brüllte, ließ eine Rede vom Stapel, die manchmal schneller wurde und manchmal abriss, völlig wirr, ohne Zusammenhang. Ich beschränkte mich darauf, ihn mit gekreuzten Armen zu betrachten, wie ein Angeklagter auf seiner Bank. Er schwenkte seine Harpune über dem Kopf und erging sich in Lobreden über sich selbst. Aneris saß auf dem Boden, an eine Wand gekauert, die Haut dunkler denn je. Mit dünnem Stimmchen begann sie einen Gesang. Außer sich, versetzte ihr Batís einen Fußtritt. Blindlings, ohne hinzuschauen, wo er sie traf. In diesen Sekunden machte er mir mehr Angst als selbst die Citauca; ich hasste ihn weit mehr, als ich die Citauca je gehasst hatte. Im Strudel von Batís' Energien wurden ganze Möbel umgeworfen. Mit einer Hand packte er Aneris am Hals und schrie ihr irgendeine deutsche Gemeinheit ins Ohr. Er würgte sie mit seiner Pranke. Ich glaubte, er würde ihr den Hals brechen wie einen Flaschenhals. Doch nein. Er ging mit seinem Mund noch näher an Aneris' Ohr und flüsterte Zärtlichkeiten hinein. Sein Ton war ganz anders, als er sonst gewöhnlich war. Mehr noch: Vor lauter Gefühl schwollen seine Tränensäcke an. Noch ein kleines bisschen und er würde in ein Meer von Tränen ausbre216
chen. Er war im Begriff zu weinen ȭ er, die Grobheit in menschlicher Gestalt. Hinter einem der umgefallenen Möbel ragte ein Buch hervor. Ich hob es vom Boden auf. Es war das Buch von Frazer, das Batís irgendwann vor mir versteckt hatte. »Mein Gott, Sie wussten es doch, nicht wahr?«, warf ich ein und wischte den Staub vom Buchdeckel. »Sie haben es immer gewusst.« Unten heulten die Citauca, eher empört als aggressiv. Alle Menschlichkeit Caffós war wie gelähmt. Man ahnte den Zusammenbruch, und statt zu reden, schwieg ich. Das war die beste Art, ihn mit den Tatsachen zu konfrontieren, ihm zu beweisen, dass er kein einziges Argument besaß. Anschließend schlug ich in pädagogisch-freundschaftlichem Ton vor: »Batís, das Einzige, was wir tun können, ist, ihnen im Austausch für den Frieden etwas zu geben. Das sind keine preußischen Regimenter, die fordern keine bedingungslose Kapitulation.« Ich dachte, er sei entwaffnet. Doch auf einmal war es, als ob er Munition aus meinen Wörtern machte. Immer drohender zeigte sein Finger auf mich. Er redete mit ironischer Schlauheit, wie ich es bei ihm nie für möglich gehalten hatte: »Sie haben mit ihr geschlafen, natürlich. Sie schlafen mit ihr. Das ist es!« Ich hatte nur die Absicht, ihm einen vernünftigen Ausweg anzubieten, über den Frieden zu verhandeln, um unser Leben zu retten. Doch die Umstände wollten es, dass er mit Hilfe falscher Überlegungen zu richtigen Schlussfolgerungen kam. »Ihre Interessen in Sachen Liebe stimmen nicht mit meinen eigenen überein«, sagte ich so diplomatisch wie möglich. »Sie haben sie gehabt!«, sagte er in einem Anfall von Wut. »Sie haben sie genommen. Ich wusste es, ich wusste es vom ersten Tag an, an dem ich Sie sah, seit Sie zum ersten Mal 217
diesen Leuchtturm betreten haben. Ich wusste, dass Sie mir früher oder später in den Rücken fallen würden!« Kam es ihm wirklich darauf an, dass wir ein Liebespaar waren? Das ist zweifelhaft. Mit dieser Anschuldigung fand er ein Ventil, um seinen ganzen Hass auf mich zu richten. Nein, ich war nicht für einen Ehebruch verantwortlich. Es war etwas viel Abscheulicheres. Ich war die Stimme, die ein grob vereinfachendes Universum zerschlug, in dem es keine Nuancen gab. Eine Welt, die ihr Überleben dem Vermögen verdankte, an der strikten Trennung von Weiß und Schwarz festzuhalten. Der Gewehrkolben, der wie eine Keule auf mich einhieb, war nicht Hass, sondern Angst. Angst, dass diese Froschkerle uns ähnlich wären, Angst, dass sie einigermaßen annehmbare Dinge verlangten. Angst, dass wir den Gewehrlauf senken müssten, wenn wir ihnen zuhörten. Dieses Gewehr, dem ich nur mit Mühe und Not ausweichen konnte, dieses Gewehr, das mir den Schädel spalten, die Rippen brechen wollte, besaß mehr Eloquenz als alle Redekünste. Es sagte mir, dass Batís, Batís Caffó, in seiner Absicht, sich von den Fröschen zu entfernen, so weit gegangen war, dass er sich schließlich in den schlimmsten aller nur denkbaren Frösche verwandelt hatte: Ein Ungeheuer, mit dem man unmöglich einen Dialog führen konnte. In einem bestimmten Moment hatte ich einen verhängnisvollen Fehler begangen; ich hätte seine Grenzen nicht so weit überschreiten dürfen. Und jetzt war er bereit, mich zu töten. Ich weiß noch immer nicht, wie es mir gelang, durch die Falltür nach unten zu fliehen. Halb rennend, halb rollend landete ich im Erdgeschoss. Aber Batís verfolgte mich, grunzend wie ein Gorilla. Seine Fäuste bewegten sich mit unglaublicher Schnelligkeit. Wie Hammerschläge fielen sie auf mich. Zum Glück trug ich sehr dicke Kleider, so dass die Schläge etwas gedämpft wurden. Er sah, dass er mir nicht weh genug tat, packte mich mit beiden Händen an der Brust und drückte 218
mich an die Wand. Mit einer Stimme, die aus den tiefsten Höhlen seiner Vergangenheit kam, stieß er hervor: »Sie sind kein Italiener, Sie sind kein Italiener, in Ihnen habe ich mich nie getäuscht, das ist mein Problem, dass ich mich nie in Ihnen getäuscht habe, und ich habe Sie machen lassen! Verräter, Verräter, Verräter!« Ich war wie eine Puppe in seinen Händen. Er schlug meinen Körper wieder und wieder gegen die Wand. Früher oder später würde er mir den Schädel oder das Rückgrat brechen. Seine Brutalität machte mich zur Ratte. Das Einzige, was ich machen konnte, war, ihm die Augen auszureißen. Doch als er meine Finger im Gesicht spürte, warf er mich zu Boden und begann, mit seinen Elefantenbeinen auf mir herumzutrampeln. Er machte, dass ich mich wie ein Käfer fühlte. Kriechend wich ich zurück, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass Batís eine Axt in den Händen hielt. »Batís, tun Sie's nicht! Sie sind kein Mörder!« Er hörte nicht auf mich. Ich stand an der Schwelle des Todes, und mein Kopf reagierte nicht. Es tauchten absurderweise nur die Bilder eines überflüssigen alten Traumes auf. Doch als er schon die Axt erhoben hatte, passierte etwas Seltsames mit Batís. Eine innere Schwäche durchzuckte ihn und zugleich ein Intelligenzblitz, der seinen Ausdruck so erhellte wie ein Meteorit, der die Atmosphäre durchkreuzt. Noch hatte er die Waffe erhoben, als er mich mit der unheilvollen Glückseligkeit jenes Wissenschaftlers ansah, der einmal so lange in die Sonne geblickt hatte, bis seine Netzhaut verbrannt war, und nur, um zu wissen, wie lange das menschliche Auge das Licht aushalten konnte. »Die Liebe, die Liebe«, sagte er. Er senkte die Axt mit trauriger Sanftheit. Er hörte Geigen, er war ein Mann, der still die Türe schließt, hinter der seine Kinder schlummern. 219
»Die Liebe, die Liebe«, wiederholte er zart, mit einem Ausdruck im Gesicht, der an ein Lächeln erinnerte. Und plötzlich war er wieder der allerwildeste Batís. Doch ich war nicht vorhanden. Er kehrte mir den Rücken und öffnete die Tür. Was tat er? Mein Gott, er öffnete die Tür! Wie ich so zerschlagen dalag, konnte ich dem, was da vor sich ging, kaum Glauben schenken. Sofort versuchte ein Citauca in den Leuchtturm zu gelangen und bekam den Axthieb ab, der für mich bestimmt war. Mit der andern Hand packte Caffó einen Holzklotz wie eine Keule und ging hinaus. »Batís!«, schrie ich und kroch zur Schwelle. »Kommen Sie zurück in den Leuchtturm!« Er rannte geradewegs über den Granit. Danach mit ausgebreiteten Armen ein gewaltiger Sprung ins Leere. Einen Augenblick lang glaubte ich, er fliege. Die Citauca griffen ihn von allen Seiten her an. Sie kamen aus der Dunkelheit und schrien mit einer mörderischen Lust, wie wir sie noch nie erlebt hatten. Ein paar sprangen auf ihn drauf, doch mit einem geschickten Purzelbaum im Schlamm konnte Batís ihnen ausweichen. Dann verwandelte er sich in den Mittelpunkt eines Rades. Die Citauca versuchten näher zu kommen, er schwang die Axt und den Klotz im Kreis. Ein Citauca klammerte sich an seinen Rücken, und das Geschrei wuchs an. Batís versuchte ihn zu verwunden, schwierige Sache. Bei diesem Manöver verlor er eine lebenswichtige Sekunde, und der Ring um ihn schloss sich. Grauenhaft. Mit dem Citauca, der an seinem Rücken hing, fuhr Batís, ohne auf die Wunden zu achten, die jener ihm zufügte, mit seinen Schlägen ins Leere fort und hielt so die anderen fern. Sie würden kein Erbarmen kennen. Ich verlor meine Zeit. Ich stieg die Treppen hinauf, eine Hand am Geländer, die andere gegen die Leber gepresst, die 220
mich auf Grund der Schläge entsetzlich schmerzte. Eines der beiden Gewehre befand sich in meiner Nähe. Ich trat, die Waffe in den Händen, auf den Balkon. Sie waren nicht mehr da. Weder die Citauca noch Caffó. Stille. Nur der eisige Inselwind. »Batís!«, rief ich dennoch ins Leere, »Batís, Batís!« Er war nicht da und würde nicht zurückkehren.
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Seitdem ich auf dem Leuchtturm war, hatte ich das ganze Spektrum an Qualen durchlitten. So glaubte ich wenigstens. Die Tage, die auf Caffós Tod folgten, brachten eine neue Pein. Die widersprüchlichen Beziehungen, die wir unterhalten hatten, vergrößerten die Unordnung in meinem Gemüt zusätzlich. Der unbestimmte Kummer, der mich packte, wirkte wie ein Rausch. Eine Art fassungslose Traurigkeit, die nicht wusste, welche Richtung sie nehmen sollte. Manchmal weinte ich heftig schluchzend wie ein Kind, manchmal lachte ich verwegen, und noch öfter tat ich beides zugleich. Ich verstand mich selbst nicht. Kann man jemanden vermissen, über den man nie etwas Gutes sagen könnte? Ja, doch nur auf dem Leuchtturm, wo das Ansehen der Schiffbrüchigen umso größer wurde, je mehr Fehler sie hatten. Auf dem Leuchtturm, wo einem noch die entfernteste menschliche Natur nahe kam. Batís war für mich ein von Grund aus fremder Mensch gewesen. Er war jedoch auch der letzte Mensch gewesen, den ich je zu Gesicht bekommen würde. Jetzt, wo er nicht mehr da war, traten seine Qualitäten als unerschütterlicher Fels und als Waffenbruder zutage. Unter der Last dieses dermaßen trüben, gleichzeitig aufgeregten und energielosen Kummers, war es mir unmöglich, Tod und Wirklichkeit auseinander zu halten. Wenn ich Schäden reparierte und die Löcher in den Verteidi222
gungsanlagen stopfte, so gut ich konnte, wenn ich all das tat, redete ich laut mit ihm. Als müsste ich noch immer seine wilde Stimme, seine rauen Manieren ertragen, sein »Zum Leuchtturm« am Abend. Oft suchte ich ihn, um eine Wache oder etwas Praktisches mit ihm zu besprechen, und stieß ins Leere. Wenn ich dann endlich begriffen hatte, dass er nicht da war, dass er nie mehr da sein würde, fiel etwas in mir zusammen. Ich weiß nicht, wie viele Tage, oder waren es Wochen, ich in dieser mehr geistigen als physischen Lähmung dahinlebte. Ich glaube, dass mich nur noch die Trägheit antrieb, die ich mir angeeignet hatte. Batís war tot, und ich hatte alle Lust verloren. Gegen das widrige Geschick sind zwei Männer, die zusammenstehen, ein ganzes Heer ȭ wir hatten es reichlich bewiesen ȭ, einer allein jedoch taugt nicht sehr viel. Meine Hoffnungen bestanden darin, mit dem Feind ins Gespräch zu kommen. Batís' Selbstmord aber untergrub das eigentliche Fundament meiner Strategie. Wieso sollten sie den Frieden wollen, wo sie mich nun problemlos töten konnten? Warum sollten sie über irgendetwas verhandeln, nachdem Batís auf sie geschossen hatte? Ich hatte kaum noch Munition. Die Besatzung der Bastion war auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Noch ein paar Angriffe und der Leuchtturm wäre eine Ruine. Ich war allein und beinahe wehrlos. Darum ängstigte mich auch das Verhalten der Citauca so sehr. Auf Caffós Tod folgte das Schweigen. Sie griffen die Insel nicht an. Und ich konnte diesen unwahrscheinlich friedlichen Wogen keinen Glauben schenken. Die Nächte zogen vorüber ohne Neuigkeiten. Ich auf dem Balkon, das Gewehr auf das Geländer gestützt, und sie stumm, Gott sei Dank. Wenn der Morgen dämmerte, kam ich mir vor wie eine leere Flasche. In jenen Tagen der Trauer kümmerte ich mich nicht um Aneris. Ich fasste sie nicht einmal an, obwohl wir zusammen in Batís' Bett schliefen. Zu meiner Einsamkeit kam noch ihr dis223
tanziertes, kühles Betragen. Das bedrückte mich. Es war, als ob nichts geschehen wäre. Sie sammelt Holz, trägt es her; sie füllt Körbe, trägt sie her. Sie betrachtet die Abenddämmerung. Sie schläft. Sie wacht auf. Ihre Tätigkeiten gehen nie über die einfachsten Verrichtungen hinaus. In ihrem Alltag verhält sie sich wie Arbeiter, denen in einem Fabrikationsablauf bestimmte Hebel zugeteilt sind: Ständig die gleichen Bewegungen, wie man es bei vielen Irrenhausinsassen vorfindet. Eines Morgens wurde ich von ungewohnten Geräuschen geweckt. Ich lag im Bett und sah zu Aneris hin. Sie kniete auf dem Tisch. In den Händen hielt sie einen von Batís' Holzschuhen und spielte damit ein ebenso einfaches wie entnervendes Spiel: Mit ausgestrecktem Arm hob sie ihn hoch und ließ ihn fallen. Klack, machte es, wenn er auf Grund der Schwerkraft auf den ebenfalls hölzernen Tisch krachte. Sie würde sich nie an die Dichte unserer Luft gewöhnen, die unendlich viel geringer ist als die ihrer Welt. Während ich dieses Spiel beobachtete, nahm eine Gedankenwolke Form an. Aneris' Gestalt wurde größer, jedoch auf ungute Art. Die Frage war nicht, was sie tat, sondern was sie nicht tat. Batís war tot, und sie zeigte keinerlei Regung, weder eine positive noch eine negative. In welcher Wirklichkeit lebte sie? Man musste nicht sehr hellsichtig sein, um zu begreifen, dass sie völlig abgewandt von Batís Caffó gelebt hatte und dass sie ebenso abgewandt von mir leben würde. Ich hatte geglaubt, dass Batís' Tyrannei wie ein menschlicher Stausee gewesen war, der Aneris zurückhielt. Doch als er gebrochen war, floss aus diesem Stausee nichts hervor. Ich war nicht einmal sicher, ob die Gefühle, die sie dort im Leuchtturm erlebt haben musste, meinen eigenen glichen. Ich fragte mich, ob ihr möglicherweise dieser Konflikt gefiel, dass sie es in ihrer Selbstbezogenheit genoss, die Beute zu sein, um die sich zwei Welten bekriegten. 224
Ich warf den Holzschuh über den Balkon. Ich nahm sie mit beiden Händen bei den Wangen. Ich streichelte sie, und gleichzeitig hielt ich sie gefangen. Sie sollte begreifen, dass sie mich mehr verletzte als alle Citauca zusammen. Ich wollte, dass sie mich ansah, beim heiligen Patrick, dass sie mich ansah, und vielleicht würde sie dann einen ehrlichen Mann erblicken, ohne irgendwelche Ansprüche. Einen Mann, der nur einen Ort suchte, wo er in Frieden leben konnte, fern von allem und jedem, von der Grausamkeit und den Grausamen. Weder sie noch ich hatten die Verhältnisse dieser hässlichen, kalten und nun auch verbrannten Insel ausgesucht. Und dennoch wäre sie unsere Heimat, so lange wir hier lebten, ob es uns gefiele oder nicht, und es war an uns, sie bewohnbar zu machen. Doch um das zu erreichen, war es nötig, dass sie in mir etwas mehr sah als zwei bewaffnete Hände. Ich weiß nicht mehr, wann ich aufhörte, sie anzuschreien und an ihren Wangen zu zerren, um sie stattdessen zu schlagen. Ich war so wütend, dass der Übergang von Beleidigung und Gewalt fließend wurde. Sie wehrte sich. Als sie mich mit ihren Schwimmhauthänden schlug, war es, als ob man mir ein nasses Handtuch ins Gesicht klatschte. Als ich sie ohrfeigte, war das nicht Hass, sondern Ohnmacht. Der letzte Stoß streckte sie auf die Matratze nieder. Da lag sie, zusammengerollt wie eine Katze, die ihre Krallen zeigt. Ich gab es auf. Warum sollte ich mich abmühen? Was erreichte ich damit, wenn ich sie schlug? Ihre Leere, ihre Geringschätzung, alles sagte mir, dass ich für sie nur eine Nebensache war und nie etwas anderes sein würde. Endlich verstand ich den Abgrund, der uns trennte: Ich hatte Zuflucht bei ihr gesucht, sie beim Leuchtturm. Nie haben so widersprüchliche Prinzipien so nah beieinander gelegen. Doch folgte aus diesem Wissen, dass ich sie weniger begehrte, sie weniger brauchte? Nein. Leider nicht. Aneris hatte auf meine 225
Liebe den Einfluss wie der Vulkan auf Pompeji: Sie zerstörte sie und bewahrte sie zugleich unversehrt. Es stimmt aber auch, dass diese heftige Auseinandersetzung den Vorteil hatte, dass mein Kopf wieder frei wurde. Zum ersten Mal seit Batís' Tod befreite ich mich aus meiner inneren Isolation. Meine Füße trugen mich zum Leuchtturm hinaus. Ein so simpler Vorgang wie das Einatmen kalter Luft belebte mich ganz ungemein. Ihre wohltuende Wirkung dehnte sich auf meine Wangen aus, die sich rosarot färbten. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich merkte, dass ich beobachtet wurde. Wieder befanden sie sich an der Grenze zum Wald. Sechs, sieben, acht. Vielleicht auch mehr. Sie hätten die Gelegenheit nutzen können, um sich in einem tödlichen Spurt auf mich zu stürzen, aber sie taten es nicht. Ich fügte mich ihrer Nachsicht. Obwohl Batís mitten im Waffenstillstand auf sie geschossen hatte und wir so niederträchtig gewesen waren, gaben sie mir eine letzte Chance. Die Geschichte des Leuchtturms war keine logisch nachvollziehbare. Man hätte meinen können, dass ich glücklich auf sie zuging, weil ich nun endlich mit ihnen verhandeln konnte. Das stimmt auch, ja. Stimmt ebenso, wie die Tatsache, dass dies nicht der erste Impuls war, der mich antrieb: Ich sah sie, und was ich fühlte, war die Hoffnung, das Dreieck wiederzubekommen. Ich näherte mich mit erhobenen Händen. Ich lenkte meine Schritte zum Waldrand, ohne Eile, aber bestimmt, und das einzige Geräusch auf der Welt kam vom Schnee unter meinen Füßen. Ich war bereit, alle meine mimischen Künste zu entfalten. Was sie wohl dachten? Die Neugierde verschönerte ihre Augen, und man erkannte in ihnen etwas vom scharfen Interesse ihrer Kinder. Ihre Körper waren auf der Hut, aber entspannt. Einige schauten in meine Augen, andere auf meine Hände. 226
Auf tausenderlei Arten konnte ich jeden ihrer Lidschläge interpretieren, und ich dachte, dass die gegenseitige Neugierde ein hervorragendes Mittel gegen die Gewalt sein konnte. Doch der Leuchtturm war das Reich der Angst. Stellen wir uns ein Insekt mit einem Stachel vor, das uns ins Ohr kriecht. So eroberte mich, plötzlich und schmerzhaft, ein Zweifel. Ich begann mir Fragen zu stellen, und die Fragen wurden stärker als meine Gesprächspartner: Und wenn sie um etwas Besseres kämpfen als um diese Ozeaninsel? Denn wozu sollte ihnen dieses öde Land mit seiner absurden Vegetation und seinen kantigen Steinen letzten Endes dienen? Vielleicht, aber nur vielleicht, war das, was sie begehrten, ein viel höheres Gut: das gleiche, das ich begehrte. Ich hatte bemerkt, dass sich die Aufmerksamkeit der Citauca nicht mehr auf mich konzentrierte. Ich wandte den Kopf. Hinter mir, auf dem Balkon, zeigte sich Aneris' Gestalt. Die Citauca schauten sie, nicht mich an. Ich konnte Aneris' Unruhe riechen. Mit beiden Händen klammerte sie sich an das Geländer, machtlos gegenüber dem, was geschah. Vielleicht glaubte sie, dass die Bande, die uns vereinten, nicht fest genug waren und dass ich sie den Citauca ausliefern würde. Sie täuschte sich natürlich. Allein die Möglichkeit, dass sie Aneris von mir verlangen konnten, machte meine Absicht weiterzugehen zunichte. Je näher ich ihnen kam, desto schwerer fiel es mir, weiterzugehen. Meine Füße wurden langsamer, noch bevor ich ihnen den Befehl dazu gab. Der Schnee machte keine Geräusche mehr. Die Sonne stand über uns, die Wolken verwandelten sie in eine kleine goldene Scheibe. Ich war ganz nah am Wald, nah bei ihnen. Eine dicke Wurzel tauchte auf und verschwand wie der Körper einer großen Schlange. Einer meiner Stiefel trat auf sie. Etwas weiter weg traten ein paar Citauca auf dieselbe 227
Wurzel. Noch nie waren wir so nah beisammen gewesen. Aber das war auch alles. Eine geraume Weile blieb ich dort wie angewurzelt stehen. Die Citauca warteten. Worauf warteten sie? Dass ich ihnen Aneris zurückgab? Sie war das Einzige, was sie von mir verlangen konnten, und das Einzige, was ich ihnen nicht geben konnte. Was für Konflikte das auch zwischen ihnen und Aneris sein mochten, ich würde sie niemals lösen können. Ich hätte ihnen gern gesagt, dass sich sogar über mein Leben verhandeln ließe. Aber nie über ein Leben ohne Aneris. Ich war fähig, ohne Liebe zu leben, falls nötig, aber ohne Aneris konnte ich nicht leben. Was erwartete mich denn, wenn ich sie verlöre? Ein Tod ohne Leben, ein Leben ohne Tod. Was ist schlimmer? Ein Sommer, der friert, oder ein Winter, der brennt? Und so bis ans Ende aller Zeiten. Sie hatte mir gezeigt, was die Lichter des Leuchtturms verbargen; sie hatte mir gezeigt, dass der Feind alles Mögliche, nur kein Tier sein konnte. Dass er es nirgends sein kann, und vielleicht dort auf der Insel noch weniger als sonst irgendwo. Ohne sie hätte ich die Wahrheit nie erfahren, und nur sie konnte sie mir zeigen. Doch während ich diesen Weg zur Wahrheit ging, zusammen mit Aneris, war es unvermeidlich, dass mich die Leidenschaft für Aneris packte, dass ich sie so liebte, wie nur ein Schiffbrüchiger das Leben lieben kann: verzweifelt. Darum war alles so traurig, weil mir der Leuchtturm verriet, dass die Kenntnis der Wahrheit das Leben nicht verändert. Die Liebe und der Hass, die ich für sie empfand, brannten irrsinnig intensiv. Hätte ich in diesem Moment einen Finger erhoben, die Blitze wären aus allen Himmelsrichtungen auf uns herabgefahren. Ich hob natürlich keinen Finger, ich kehrte um. Ein unbedeutendes Detail fiel mir auf: Der Schnee knirschte weniger laut als noch vor einigen Minuten, als ich zu ihnen 228
unterwegs war. Der Grund dafür war einfach. Der Schnee war bereits zusammengedrückt; meine Füße passten genau in die Spuren, die ich auf dem Hinweg gezogen hatte. Den Rest des Tages war ich mit Aufräumen im Haus beschäftigt. Nach dem Streit mit Aneris sah es aus wie im Lager eines Lumpensammlers. Ich brachte es in Ordnung, so gut ich konnte. Sie war nicht da. Kurz nachdem ich den Leuchtturm betreten hatte, war sie verschwunden. Sie würde zurückkehren. Noch vor Abend kam sie durch die Falltür herein, scheu und ängstlich. Falls sie eine heftige Reaktion befürchtete, so täuschte sie sich. Ich beachtete sie nicht. Ich war noch eine geraume Zeit mit Schreinerarbeiten beschäftigt. Danach setzte ich mich an den reparierten Tisch, rauchte und trank Gin, als ob ich allein wäre. Aneris hatte hinter dem eisernen Ofen Schutz gesucht. Ich konnte zur Hälfte ihre Gestalt erkennen: Die Füße, die Knie und die Hände, mit denen sie die Beine umschlungen hielt. Manchmal streckte sie den Kopf halb vor und beobachtete mich. Eine Flasche war leer. Wir bewahrten die Flaschen in einem großen, als Weinkeller verwendeten Schiffskoffer auf, der im Stockwerk mit den Scheinwerfern stand. Zwar konnten sie in derselben Nacht einen erneuten Anlauf nehmen, aber es war mir egal, ich betrank mich trotzdem. Als ich aber zu der Leiter ging, die dort hinaufführte, überlegte ich es mir anders. Ich packte sie an einem Fuß und zerrte sie aus ihrem Versteck hervor. Ich befahl ihr aufzustehen, um sie mit einer Ohrfeige niederzuschlagen, die so heftig war, dass meine Hand auch am nächsten Tag noch rot war. Sie rührte sich nicht vom Boden und krümmte sich weinend. O mein Gott, wie begehrte ich sie. Doch in jener Nacht bestand die größte Demütigung, die ich ihr zufügen konnte, darin, sie nicht zu anzurühren. 229
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Drei Tage und drei Nächte lang war ich betrunken. Vielleicht waren es auch mehr. Alkohol und Zeit spielten Verstecken. Die Trunkenheit war ein Ort, an dem sich die Einfälle auf einer Spirale drehten. Weiter nichts. Ich trank und lebte so hinter dem Bühnenvorhang, als ob die Vorstellung nie beginnen würde. Manchmal, wenn die Sonne unterging, unternahm ich den Versuch, den Balkon zu verteidigen. Ich erreichte einzig und allein, dass ich unter Äthyldämpfen einschlief. Am Morgen waren meine Finger dunkelblau, und mein Zeigefinger fast am Abzug festgefroren, so dass ich ihn beinahe amputieren musste. Ich lebte, weil die Citauca den letzten Angriff sehr genau planten; ich lebte nur noch auf Grund des Respekts, den ich mir durch Schüsse erworben hatte. Was für ein armseliger Trost. Doch die Trunkenheit bot mir mehr Vor- als Nachteile. Vor allem: das Gefühl, Aneris weniger zu begehren. Ich zog ihr etwas an, um mir den Anblick dieser betörenden Nacktheit zu ersparen. Einen Pullover aus schwarzer Wolle mit grandiosen Flicken aus Sackleinen. Die Ärmel waren länger als ihre Arme, und die Bekleidung reichte ihr bis zu den Knien. Manchmal, wenn sie in meiner Nähe war, verpasste ich ihr Fußtritte, ohne von meinem Sitz aufzustehen. Was für ein sinnloses Benehmen. Mein Hohn bestärkte nur eine falsche Macht, die zerbrechlicher war als die über ein 230
Reich, das von Mauern aus Rauch und Zinnsoldaten verteidigt wird. Wenn ich allzu besoffen war ȭ oder zu wenig ȭ, versagten alle Tricks. Sie widersetzte sich meinen Angriffen nicht. Warum sollte sie auch? Je mehr ich absolute Herrschaft vorgaukelte, umso mehr trat mein ganzes Elend hervor. Jedes Mal, wenn ich es mit ihr trieb, bestätigte sich, dass mich statt Gitterstäbe eine Einöde gefangen hielt. Vorausgesetzt, die pure Lust hatte mich getrieben. Meistens wurde ich nämlich, bevor ich auch nur irgendetwas genießen konnte, von leidenschaftlichen Tränen abgehalten. Ja, ich war länger als drei Tage besoffen, viel länger. Am letzten dieser Morgen hatte Aneris die Kühnheit, mich zu wecken. Sie zog mit allen Kräften an meinem Fuß, erreichte aber nur mit Mühe und Not, dass ich die Augen öffnete. Unterhalb der Nasenflügel hatte sich ein Schmerz eingenistet, der mir bereits vertraut und das Ergebnis meines übermäßigen Ginkonsums war. Mein Atem roch nach Zucker. Sogar halb bewusstlos war ich noch in der Lage, mir auszurechnen, dass es weniger aufwendig für mich war, sie nicht zu beachten, als wenn ich mich anstrengte, sie abzuwehren. Doch sie ließ nicht locker, und diesmal zog sie mich an den Haaren. Der Schmerz vermischte sich mit Wut, und ich versuchte, noch immer blindlings, sie zu schlagen. Sie wich mir aus, mit kleinen Geräuschen wie ein aufgeregter Telegraf. Ich warf eine Flasche nach ihrer beweglichen Gestalt, dann noch eine. Zuletzt entkam sie durch die Falltür, und ich fiel in einen dumpfen, ebenso bitteren wie unangenehmen Schlaf. Ich konnte weder schlafen noch richtig wach werden. Wie viel Zeit versäumte ich in diesem hilflosen Zustand? Mein Gehirn war ein Tummelplatz zahlreicher Propheten und Demagogen. Klare Gedanken vermengten sich wahllos mit unvorstellbaren Belanglosigkeiten, und ich konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Nach und nach drängte sich mir 231
die einfache Überlegung auf, dass Aneris sehr ernste Gründe haben musste, um einen derart jähzornigen Säufer wie mich zu stören. Die Morgendämmerung lugte mit Scheu über den Balkon, als ob die Sonne die Insel zum ersten Mal entdeckte. Jetzt konnte ich sie hören, im Innern des Leuchtturms, unter mir. Ein Wirrwarr von Tönen, der die Treppen hinaufkroch. Wer sich noch immer am meisten sträubte, war mein Mund. Er murmelte Wörter wie ein Sterbender: Gewehr, Vorhängeschloss, bengalisches Feuer. Doch ich unternahm nichts. Wie unter einem seltsamen Bann konnte ich nur auf die Falltür schauen. Ein Arm stieß die Falltür auf. Zwei goldene Streifen auf einem Ärmelbund. Danach erschien eine Kapitänsmütze mit den Kennzeichen der Französischen Republik. Und danach ein Paar unfreundliche Augen mit dem unduldsamen Blick des Idealisten, dazu eine lange, fleischige Nase, flankiert von einem blonden, ebenfalls sehr langen Backenbart. Der Mund rauchte eine Havanna. Der Kerl trat ein, ohne besonders auf meine Person zu achten. Er war sozusagen schon im Zimmer, als er wegen einer Flasche, die er in der Manteltasche trug, stecken blieb. Er löste das Problem und schrie: »Fachmann für Seezeichen! Darf man wissen, warum Sie nicht antworten, wenn man Sie ruft? Was ist auf dieser verdammten Insel passiert? Was für eine Katastrophe war das? Ein Erdbeben? Ich dachte, das sei kein Erdbebengebiet.« Er trug einen Stoppelbart, was ihn etwas herabwürdigte. Den bläulichen Uniformrock hatten Scharen von Nagetieren zerfressen, als ob er seit Jahren keinen Hafen mehr angelaufen hätte, um seine Garderobe zu ersetzen. So ließ sein Anblick ganz allgemein an einen Deserteur der Kriegsmarine denken, der sich für das Piratentum entschieden hat. Die Mannschaft roch nach Desinfektionsmittel, wie man es in Kasernen be232
nutzt, und noch Schlimmerem. Es waren Koloniematrosen, die meisten Asiaten oder Mestizen. Sie trugen unterschiedliche Felle, keine ordnungsgemäße Uniform, was ihnen den Anstrich von Söldnern gab. Sie würden nie begreifen, was für eine Erschütterung allein ihre Anwesenheit in mir auslöste. Seit mehr als einem Jahr lebte ich von der Welt abgeschieden; meine Sinne hatten sich an die immer selben Eindrücke gewöhnt. Und mit einem Mal wurde ich mit Dutzenden neuer Gesichter überschwemmt, mit grellen Stimmen und vergessenen Gerüchen. Auf eigene Faust begannen sie das Zimmer zu durchwühlen, in der Absicht, es zu plündern. Unter ihnen stach ein sehr junger Mann, offensichtlich semitischer Herkunft, hervor, schwarzgelockte Haare, Nickelbrille. Er hielt sich abseits, ohne Absichten. Er war kein Matrose und besser gekleidet als die andern. Büroanzug, wenig oder gar nicht geeignet für das Leben auf See. Eine dünne Kette, die in der Westentasche verschwand, wies auf eine verborgene Uhr hin. Die Männer ließen jene Züge erkennen, die sich einem bei dauernder Disziplinlosigkeit ins Gesicht graben. Der junge Mann hingegen hatte das Milchgesicht eines Menschen, der zu viele geistlose Bücher gelesen hat. Er hustete oft. »Mit wem spreche ich? Welchen Dienstgrad besitzen Sie?«, fragte mich der Kapitän. »Stumm, verwundet, krank, verstehen Sie mich nicht? Welche Sprachen kennen Sie? Wie heißen Sie? Antworten Sie! Oder sind Sie verrückt geworden? Natürlich, verrückt«, er hielt inne und schnupperte. »Woher kommt all der Gestank? Wenn Fische schwitzen könnten, würden sie so riechen, das ganze Haus stinkt danach.« Einige Matrosen lachten. Sie lachten über mich. Sie hatten entdeckt, dass es recht wenig zu plündern gab, und nahmen nun etwas mehr Notiz von mir. Der junge Mann blätterte in stark abgegriffenen amtlichen Papieren, und während er darin las, sagte er: 233
»Bevor ich Europa verließ, habe ich das Ministerium um eine Kopie des internationalen Registers der Destinationen in Übersee ersucht. Hier ist ein gewisser Caffó aufgeführt, Batís Caffó«, er hob zögernd die Augen. »So scheint es jedenfalls.« »Caffó? Fachmann für Seezeichen Caffó?«, fragte der Kapitän. »Ich nehme es an, aber sicher bin ich nicht«, bescheinigte der junge Mann, indem er seine Brille zurechtrückte. »In der öffentlichen Auflistung ist das der einzige Name. Aber weder Nationalität noch Stellung sind besonders bezeichnet. Da steht noch nicht einmal, welche Dienststelle ihn geschickt hat, wann und mit welchem genauen Auftrag. Hier steht nur, dass diese Insel sein Ziel war. Die Schuld liegt bei der Reederei, die sich das Recht vorbehält, den öffentlichen Verwaltungen die Auflistungen der ausgewanderten Fachleute zu übersenden. Sie tut es nur ungern und schlecht. Wenn ich zurück bin, werde ich Protest einlegen. Diese Politik schadet bloß ihren eigenen Angestellten. Das heißt mir. Es ist unglaublich! Alle Länder teilen einander die Daten der internationalen Stationen mit. Die Reederei hingegen verschweigt Namen, wenn es ihr passt. Und dabei reden wir von einer höchst erbärmlichen Wetterwarte!« Die Interessen des jungen Mannes und des Kapitäns waren sehr verschieden, die Allianz vorübergehend. Und der Kapitän war ein praktischer Mensch. Die Einzelheiten interessierten ihn nicht, und er beharrte: »Fachmann für Seezeichen Caffó: Dieser Mann kommt, um den früheren Wetterbeobachter abzulösen. Aber wir wissen nicht, wo er steckt. Falls Sie uns keine befriedigende Antwort geben können, müssen wir daraus schließen, dass Sie für sein Verschwinden verantwortlich sind. Verstehen Sie, weswegen man Sie anklagt? Antworten Sie! Antworten Sie, zum Teufel, antworten Sie! Das Haus des Wetterbeobachters ist neben234
an, das hier ist eine kleine Insel, Sie müssen also zwangsläufig wissen, was aus ihm geworden ist! Glauben Sie, dass diese Strecken ein gutes Geschäft sind? Ich bin von Indochina Richtung Bordeaux gefahren, doch dann hat mich die Reederei gezwungen, tausend Seemeilen vom Kurs abzugehen, um einen Mann aufzunehmen. Einen Einzigen. Und nun stellt sich heraus, dass ich ihn nicht antreffe. Hier, ausgerechnet hier, auf einer Insel, wo nicht mehr Erde Platz hat als auf einer Briefmarke!« Er schaute mich wütend an und hoffte, mich mit seinem energischen Blick einzuschüchtern oder durch das insistierende Schweigen zum Sprechen zu zwingen. Es half ihm beides nichts. Mit der Hand machte er eine Bewegung, zum Zeichen, dass er aufgab. Ein beträchtlicher Teil seiner Autorität beruhte auf der Beziehung, die er zu seiner Zigarre unterhielt. Sie gab dicken Qualm ab ȭ man hätte ihn kauen können. Er wandte sich an den jungen Mann: »Den Schweigenden klagt sein Schweigen an, ich glaube, er ist schuldig. Ich nehme ihn mit, damit man ihn aufknüpft.« »Schweigen kann auch eine bedeutende Entlastung sein«, sagte der Jüngling, der in einem Buch blätterte. »Vergessen Sie nicht, Kapitän, dass Sie den Auftrag zu meiner Beförderung bekamen, weil das Schiff, das mich mitnehmen sollte, unter den Auswirkungen des Typhus zu leiden hatte. Wir haben uns um mehrere Monate verspätet. Wer weiß, wie der frühere Wetterbeobachter die Einsamkeit verkraftet hat? Und wenn irgendein Unglück geschehen ist, so macht der Mann hier eher den Eindruck eines Zeugen als eines Verantwortlichen.« Auf einmal lenkte der Kapitän seine Aufmerksamkeit auf einen asiatischen Matrosen, der noch immer in den Schubladen wühlte. Bevor der Matrose etwas merkte, hatte er bereits drei Faustschläge im Nacken sitzen. Der Kapitän nahm 235
ihm ein gestohlenes Zigarettenetui aus Silber weg. Er untersuchte es genau, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, und ließ es dann gleich in den Tiefen seines Mantels verschwinden. Der junge Mann tat nichts dergleichen. Er mochte solche Szenen gewohnt sein. Indem er mir das Buch von Frazer hinhielt, sagte er sehr förmlich zu mir: »Haben Sie sich in all der Zeit keiner anderen Lektüre erfreut? Sie müssen wissen, dass die Gelehrtenrepublik inzwischen einen anderen Kurs eingeschlagen hat. Jetzt hält man sich an höhere geistige Prinzipien.« Nein. Er irrte sich. Nichts hatte sich geändert. Er musste diese dreckigen Männer anschauen, die den Leuchtturm wie eine Horde Bordellbesucher überfielen. Männer, die, während er von den Höhenflügen des Intellekts sprach, alles schlecht machten, was sie anfassten. Er musste mich anschauen, einen Mann, der keine Angst davor hatte, gehängt zu werden, sondern viel mehr, in Gesellschaft solcher Männer leben zu müssen. Einen Mann, der die Verbannung der Unordnung vorgezogen hatte und der die Reise in die umgekehrte Richtung nicht mehr ertragen könnte. Armer Junge. Er strotzte nur so vor Selbstvertrauen. Hätten wir eine Waage, würde ich ihn auffordern, seine ganzen Bücher in die eine Schale zu legen und Aneris in die andere. Natürlich waren die Drohungen des Kapitäns leere Drohungen. Ich war lediglich ein Hindernis, und als solches wurde ich behandelt. Plötzlich nahm er schreiend die Mütze ab. In einer Mischung aus Französisch und Chinesisch, oder was auch immer, schlug er mit der Mütze auf seine Männer ein, und bevor ich es merkte, waren sie verschwunden. Ich hörte sie noch auf den Treppen des Leuchtturms. Befehle, Flüche und Beleidigungen gingen munter und gleichmäßig durcheinander. Dann nichts mehr. Sie waren gegangen, wie sie gekommen waren. Das Meer war bewegter als gewöhnlich; man236
che Wellen schlugen mit einem Geräusch wie Stein auf Stein gegen den Leuchtturm. Andere erinnerten an das Brüllen eines Löwen. Viele Leute haben schon einmal ein Gespenst gesehen, doch ich hatte den Eindruck, dass ich der erste Mensch war, den eine ganze Gruppe Gespenster besucht hatte. Vielleicht war ich ja das Gespenst. Den ganzen Tag über bewegte ich mich nicht vom Balkon weg. Das tatsächliche Objekt meiner Aufmerksamkeit war meine eigene Neugier. Es war so lange her, seit ich eine Gruppe Menschen gesehen hatte, dass mir all ihre Bewegungen ungewohnt waren. Bevor sie gingen, reparierten sie das Haus des Wetterbeobachters. Sie taten es lustlos, nur den Befehlen des Kapitäns gehorchend. War der Wind günstig, konnte ich den Lärm der Werkzeuge und die wütende Stimme des Mannes hören. Aber auch ihm fehlte der Schwung. Seine Beschimpfungen gerieten ihm zu theatralisch ȭ ein Kompromiss zwischen seiner Stellung und dem Wunsch, so bald wie möglich an Bord zu gehen. Ich sah eine kleine Rauchsäule, ebenso menschliche Gestalten. Der Kapitän trank nun mehr, als dass er rauchte. Er achtete nicht besonders auf all das, was ihm der junge Mann vorschlug. Er schlürfte direkt aus einem Bocksbeutel, wendete dem Mann den Rücken zu, aber der Jüngling ließ nicht locker. Er wollte weg. Was sind unsere Gefühle? Nachrichten, die von uns selbst erzählen. Die Beiboote verließen den Strand, bevor es dunkel wurde, und ich fühlte nichts, nichts, nicht einmal Sehnsucht. Das Schiff versank am Horizont. Aus dem Kamin des Wetterbeobachters stieg Rauch. Hinter mir ging mit einem Quietschen die Falltür auf. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie es war. Wer weiß, wo sie sich versteckt hatte. Ein Gericht Büchsenbohnen stellte mich wieder her. Ich schnalzte mit den Lippen, und Aneris gehorchte sofort. Sie räumte den Tisch ab und zog sich eilig aus. Auf ihre Art war 237
sie zufrieden. Ich nehme an, dass mein Rausch etwas Unvorhergesehenes war, das sie verwirrt hatte. Doch nein. Da war ich, treu und ohne mehr von ihr zu verlangen, als sie mir geben wollte. Ich zog eben meinen letzten Pulli aus, als sie die Haltung änderte. Nervös verzieht sie das Gesicht. Sie sitzt mit gekreuzten Beinen da. Sie singt sprechend oder spricht singend. Das Blut kehrte in meine Adern zurück. Die Türpanzerung festmachen, die Lichter des Leuchtturms einschalten, das bisschen Munition, das ich noch habe, verteilen. Ein bengalisches Licht will ich in meiner Nähe haben, mein Gott, mir bleiben nur noch sehr wenige. Alles in Ordnung? Ja und nein. Alles war in Ordnung, doch. Die Dinge waren so gut geordnet, dass sie mich nicht mehr brauchten. Die Citauca überfielen die Insel gleichzeitig von der Ostund der Westküste her. Es handelte sich um zwei kleine Gruppen, die sich vor dem Angriff im Wald versammelt hatten. In kleinen Sprüngen näherten sie sich dem Leuchtturm. Ab und zu erhellten die Scheinwerfer ein Augenpaar. Manche hatten metallgrüne Augen. Während ich auf sie zielte, fiel mir ein altes Lehrbuch des Guerillakampfes ein: Die Aufständischen greifen eine befestigte Stellung immer nur zahlenmäßig in der Übermacht und nachts an, besonders wenn sie in Ausrüstung unterlegen sind. Und wenn sie zwischen zwei feindlichen Stellungen wählen können, werden sie sich immer für die weniger befestigte entscheiden. Das mag nicht mehr sein als bloß gesunder Menschenverstand, doch Guerilleros aus Berufung haben grundsätzliche Lektionen in gesundem Menschenverstand nötig. Sie verflüchtigten sich, und eine Minute später heulten sie am anderen Ende der Insel. Die Ordnung der Dinge verlangte diesen Mann, nämlich mich, nicht mehr, der da in aller Ruhe sein Gewehr putzte, während er Schüsse hörte. Diesen Mann, 238
der sich taub stellte, während ein anderes Menschenwesen dort, in derselben Gegend, um sein Leben kämpfte. Was hätte ich, genau genommen, auch tun sollen? Dem französischen Kapitän sagen, dass uns eine Million Citauca umzingelten? Jetzt, mitten in der Nacht, den Leuchtturm verlassen? Ich zählte mindestens neun Schüsse, und das Einzige, was ich dachte, war, dass es verboten sein müsste, die Munition so sinnlos zu vergeuden. Am nächsten Tag schaute ich bei ihm vorbei. Der Nebel war so dicht, dass ich ihn erst sah, als ich fast vor der Tür war. So viel ich feststellen konnte, war er mehr oder weniger am Leben. Die Haare ein Krauskopf, geschwollene Augen. Er war noch immer wie ein Büroangestellter einer Versicherung angezogen. So unpassende Bekleidung hatte man auf der Insel noch nie gesehen. Hätte ich auch nur ein kleines bisschen Sinn für Humor gehabt, ich hätte gelacht. Weißes Hemd ohne Knöpfe, schwarzes Jackett, vom Kampf zerknittert, faltige schwarze Hosen. Vom Hals baumelte sogar locker eine schmale Krawatte. Das eine Brillenglas war sternförmig zersprungen, die Schuhe starrten vor Schmutz. In einer einzigen Nacht war er vom Zustand des Kleinbürgers in den eines vaterlandslosen Gesellen hinübergewechselt. In der rechten Hand hielt er einen Revolver, der noch immer rauchte. Diese kleine Waffe ließ seine Gestalt paradoxerweise noch wehrloser aussehen. Durch den Nebel trottete er auf mich zu: »Herr Caffó, Gott sei Dank! Ich dachte, ich würde nie mehr ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen.« Ich sagte nichts, er war bloß ein Gespenst aus Fleisch. Während ich seine Hütte auf den Kopf stellte, lief er mir wie ein Hündchen hinterher. Manche Leute verfallen in zwanghafte Geschwätzigkeit, wenn sie sich am Rande des Abgrunds befinden. Er redete viel, ich hörte überhaupt nicht zu. Die beiden 239
Munitionskisten befanden sich unter zwei großen Gemüsesäcken. Sie hatten die Form kleiner Särge. Mit einer eisernen Brechstange sprengte ich den Deckel der ersten Kiste auf, und eine Stille entstand, als ob wir ein heiliges Grab geöffnet hätten. Ich wühlte in den Kugeln herum. »O Gott! Es ist wahr«, sagte er und kniete neben mir nieder. »Gewiss befindet sich ein Gewehr in einer anderen Kiste. Das Reglement verpflichtet die ausgewanderten Wetterbeobachter, über ein minimales Waffenlager zu verfügen. Gestern Abend habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich konnte an nichts denken. Zum Glück hatte ich diesen Revolver zum Schutz vor den Sodomiten auf dem Schiff dabei. Wer hätte sich denn vorstellen können, dass diese Insel der Sitz des Teufels ist?« »Man weiß nie, wohin man gerät. Wir sollten wissen, welches unser Gepäck ist«, gab ich zum Besten. »Nun denn: So haben Sie von Ihrem Gepäck guten Gebrauch gemacht«, und mit einem schüchternen Stimmchen fügte er hinzu: »Sonst wären Sie nicht am Leben.« Er hatte Recht. Was jedoch nicht verhinderte, dass ich mich irgendwie beleidigt fühlte. Ich konnte weder Augen noch Finger von den Kupferkugeln lassen: »Jetzt geht es darum, dass auch Sie guten Gebrauch davon machen. Meinerseits habe ich nichts dagegen einzuwenden, Ihnen die Hälfte der Insel abzutreten. Sie haben zwei Kisten Munition. Ganz bestimmt macht es Ihnen nichts aus, wenn ich eine für mich behalte.« Er blinzelte, ohne zu begreifen. Er richtete sich auf. Mit einem Fuß stieß er den offenen Deckel zu. Fast hätte er mir die Finger eingeklemmt. »Die Munition zum Leuchtturm mitnehmen? Aber wovon reden Sie? Mich, mich müssen Sie zum Leuchtturm mitnehmen!« 240
Er hatte seinen Ton geändert. Zum ersten Mal sah ich mir ihn genauer an. Er gehörte zu denen, die mit der Hoffnung auf den Lippen sterben. »Sie können das nicht verstehen. Hier ist alles anders, undurchsichtig.« »Das konnte ich bereits feststellen! Undurchsichtige Tiefen, in denen es von Haien mit Beinen wimmelt!« »Tatsächlich, Sie verstehen mich nicht.« Mit einer Hand packte ich ihn am Kragen und schleppte ihn bis zum Strand. Ich war nicht viel stärker, doch er war durcheinander, und meine Muskeln waren durch das Inselleben trainiert. Mit beiden Händen drehte ich seinen Kopf zum Meer hin: »Schauen Sie!«, brüllte ich. »Heute Nacht haben Sie sie erdulden müssen, nicht wahr. Jetzt passen Sie gut auf: ein ganzer Ozean. Was sehen Sie?« Er stöhnte etwas und fiel wie eine kaputte Puppe in den Sand. Er begann zu weinen. Ich konnte erraten, was er gesehen hatte. Natürlich konnte ich das. Wäre er einer jener Menschen, die in der Lage waren, etwas anderes zu sehen, er wäre nie auf die Insel gekommen. Ein eisiger Wind vertrieb den Nebel. Die Sonne stand tiefer, als ich gedacht hatte. Er hörte auf zu weinen: »Seit ich auf dieser Insel bin, verstehe ich nichts mehr. Tatsache aber ist, dass ich nicht hier sterben will«, er ballte die Faust. »Ich will nicht.« »Dann gehen Sie«, erwiderte ich. »Der Leuchtturm dort ist ein Trugbild. Da drin werden Sie keine Sicherheit finden. Gehen Sie nicht hinein. Gehen Sie, kehren Sie nach Hause zurück.« »Gehen? Wie soll ich denn gehen?« Er breitete die Arme aus: »Sehen Sie sich um! Sehen Sie irgendwo ein Schiff? Wir befinden uns am äußersten Rand der Welt.« 241
»Glauben Sie nicht an den Leuchtturm«, beharrte ich. »Die enschen, die hierher kommen, haben den Glauben verloren und klammern sich an Trugbilder. Aber noch nie hat jemand ein Trugbild zu fassen bekommen« ȭ meine Stimme änderte sich: »Wenn Sie glauben würden, würden Sie über das Wasser gehen und dorthin zurückkehren, von wo Sie gekommen sind.« »Sie machen sich über mich lustig, nicht wahr? Oder rede ich mit einem Schwachsinnigen?« »Sie haben eine Nacht hier zugebracht und halten mich noch immer für verrückt?« Die Knochen taten mir weh. »Ich bin müde.« Ich setzte mich auf einen Stein. Er sah mich gebannt an. Ich hatte nur den Bauchredner gespielt, meine Fesseln hinderten mich, an das zu glauben, was ich eben gesagt hatte. Zu meiner Überraschung verwandelten sich seine Augen in zwei jäh leuchtende Punkte. Er blinzelte nicht. Wild entschlossen richtete er sich auf. Er zog seine Schuhe aus. Mit knappen Bewegungen krempelte er seine Hosen hoch. Er legte sein Jackett und die Brille ab. Ja, er ging zum Wasser. Ohne zu zweifeln, ohne zu zögern. Ich sah den Rücken dieses entschlossenen sanften Jungen, und eine plötzliche Eingebung ergriff mich. An der undeutlichen Grenze zwischen Meer und Land blieb er stehen. Eine Woge, die näher herankam als die andern, leckte an seinen Füßen; ich selbst spürte den Kälteschauer, der sich mir wie über einen unsichtbaren Draht mitteilte. Ich zögerte. Und wenn er ging? Das Gewehr fiel mir aus den Händen. Ich konnte es nicht glauben. Er ging wirklich über das Wasser. Er machte einen Schritt und noch einen, und das Meer trug seine Füße wie eine flüssige Brücke. Er ging, er setzte den Leuchtturm außer Kraft und die Fehler, die unseren Krieg begründeten. Er hatte 242
begriffen, dass man mit Trugbildern nicht streitet, man vermeidet sie. Er zerstörte alle Leidenschaften und auch alle Perversionen, weil er von Anfang an auf sie verzichtete. Dieser junge Mann ȭ das waren die Augenlider der Welt: Noch ein paar Schritte, und wir würden aus dem Albtraum erwachen. Empört drehte er sich zu mir um: »Was zum Teufel mache ich da?«, schrie er, die Arme weit ausgebreitet. »Sie halten mich wohl für Jesus?« Er ging den Weg zurück. Sobald er auf festem Boden war, besaß er bereits den Geist eines Kämpfers. Er wollte kämpfen bis zum letzten Atemzug. Er sprach von den »Haimenschen«, davon, das Wasser mit Arsen zu vergiften, das Ufer mit Netzen voll zerbrochener Muschelschalen zu überziehen, die wie besser wirken würden, sprach von tausend todbringenden Strategien. Ich ging zum Wasser. Zwei Fingerbreit unter der Oberfläche waren flache Riffe zu erkennen, auf denen er seine Schritte getan hatte. Ich setzte mich an den Strand und hielt das Gewehr wie einen Säugling in den Armen. Ich kippte nach hinten, bis mein Rücken auf eine Unterlage aus Sand traf. Die Welt war endgültig ein vorhersehbarer Ort ohne Neuigkeiten. Ich stellte mir eine jener Fragen, die wir beantworten, bevor wir sie ausgesprochen haben: Wo mochte mein Dreieck sein, wo? Die Sonne sank.
Zentaur 05-09-19
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