Seewölfe 193 1
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Eine unendlich sanfte Dünung hob ihn auf und nieder, und lauwarmer Wind streichelte sei...
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Seewölfe 193 1
Fred McMason 1.
Eine unendlich sanfte Dünung hob ihn auf und nieder, und lauwarmer Wind streichelte sein Gesicht. Wenn er sich umblickte, sah er den fast weißen Strand mit den hohen Palmen, die fast nackten, braunhäutigen und ausgelassenen Eingeborenen und das flaschengrüne Meer, auf dem er mit dem kleinen Beiboot schaukelte. Es war eine Lust, zu leben, fand Arie Vermeulen, der Kapitän der „Godewind“, wie sein dreimastiges Schiff hieß. Doch immer wieder veränderte sich erschreckend schnell das Wetter. So war es auch diesmal. Die Dünung begann hart zu rollen, aus dem sanften Schaukeln wurden harte, knallende Schläge, und der lauwarme Wind blies jetzt eiskalt und wild über die See. Unter seiner Wucht bogen sich die schlanken Palmen, der weiße Strand wurde grau und schmutzig, und aus dem pechschwarzen Himmel schleuderte eine Riesenfaust zornige Blitze. Der Donner, der den Blitzen folgte, ließ alles erbeben, brachte die See zum Kochen und dröhnte in den Ohren. . Der zweite, dritte und vierte Donnerschlag schien den Weltuntergang einzuleiten. Vermeulen spürte einen harten Schlag, und damit rissen seine Träume von südlichen Inseln jäh ab. Die rauhe Wirklichkeit sprang ihn erschreckend nüchtern an. Eine harte See hatte ihn, den erfahrenen Seemann, aus der Koje geschleudert und auf die harten Dielen geworfen. Das Krachen und Schmettern nahm kein Ende. Er hörte das hohle Brausen des Sturmes, das eigentümliche Schleifen und Schlurren und das überlaute Gebrüll seiner Männer. „Verdammt!“ fluchte der Holländer laut und suchte nach einem Halt. Das, was da eben zum Teufel gegangen war, konnte nur der Besanmast gewesen sein, den der Satan persönlich geholt hatte. Vermeulen hatte, nachdem er mehr als zwanzig Stunden ununterbrochen am
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Ruder gestanden hatte, höchstens eine Stunde geschlafen. Und jedesmal träumte er diesen verdammten Traum von den Inseln der Südsee, von den Mädchen, von Sonne und Palmen, und jedesmal erlebte er das gleiche: Er erwachte in einem brüllenden Inferno, in Krachen und Donnern, Brausen und Heulen. Er brauchte sich nicht anzuziehen, er hatte in den Kleidern geschlafen, wie sie alle schliefen, seit der Sturm sie in seinen Klauen hatte und nicht mehr losließ. In der Finsternis griff er erneut nach einem Halt, denn das Schiff holte so stark über, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Fluchend suchte er sich seinen vertrauten Weg an Deck. Die „Godewind“ bewegte sich in einem tobenden Inferno und schien in einen pechschwarzen Kohlensack hineinzusegeln. Knallharte Seen, pechschwarz mit kochenden weißen Kämmen, hämmerten von allen Seiten auf das Schiff ein. Sie türmten sich auf wie unüberwindbare Mauern, wichen zurück, gaben scheinbar den Weg frei und fielen dann brüllend und infernalisch kreischend über das Schiff her, um es systematisch zu zerschlagen. Vermeulen krallte sich am Geländer des Niedergangs fest, als die schwarzen Reiter hohnlachend über den Bug jagten. die Kuhl überfluteten und sich ihren Weg nach achtern suchten. Die Sturzsee riß ihm die Beine weg, zerrte an seinen verkrampften Fingern und peitschte seinen müden Körper. Eiskaltes Wasser drang durch seine Kleider, er schluckte, hustete und würgte und hielt sich mit aller Kraft fest, um nicht über Bord gewaschen zu werden. Auf dem Achterkastell brannte eine trübe blakende Lampe, die der Wind wild hin und her schwang. Sie hing so hoch, daß die kochende See sie nicht auslöschen konnte. Aber in ihrem schwachen, flackernden Schein sah alles nur noch schlimmer aus. Vermeulen war entsetzt über das, was er erblickte.
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Tatsächlich, seine schlimmste Befürchtung war eingetroffen. Den Besan hatte eine See erwischt und kurz und klein geschlagen. Vier Männer waren fluchend dabei, das laufende und stehende Gut zu kappen, damit der außenbords hängende zersplitterte Mast das Schiff nicht noch mehr beschädigte. Bei jeder See hob er sich träge aus dem Wasser und donnerte wie ein Rammbock gegen die Planken. „Cap! Bist du an Deck?“ schrie eine Stimme. Cap – so nannten sie ihn, Cap, die Abkürzung für Captain. Am Kolderstock standen zwei Männer, durchnäßt bis auf die Knochen. „Ja, ich bin's!” schrie er zurück. „Warum habt ihr mich nicht früher geweckt, verdammt?“ „Du hättest auch nichts daran geändert, Cap!“ Vermeulen griff nach einer Axt, drängte sich zwischen die Männer seiner Besatzung und begann wie ein Wilder auf Pardunen, Fallen und Holz herumzuhacken, bis ihm der Schweiß ins Gesicht lief. Aber dann waren sie den nachschleppenden Mast endlich los, und er verschwand achteraus in der kochenden See, über die der eisige Wind pfiff und orgelte. Anstelle des Besans stand jetzt nur noch ein zersplitterter, etwas mehr als yardhoher Stumpen an Deck, ein nutzloses Stück Holz, höchstens noch als Brennholz zu verwenden. Das letzte Sturmsegel an der Fock war schon vor Stunden in lange Streifen zerfetzt worden, die der Wind davongetragen hatte. Die „Godewind“ lenzte wieder einmal vor Topp und Takel, ließ sich von der See knüppeln und schlagen und vom Sturm beuteln wie ein Sklave, der alle Schikanen demütig ertrug, aber bei dieser Behandlung allmählich vor die Hunde ging, bis er ganz kaputt war. „Cap“, sagte der Bootsmann, ein breitschultriger blonder Holländer mit langen, klatschnassen Haaren. „Pit ist über
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Bord, niemand hat es gesehen, aber er ist nicht mehr auf dem Schiff. Wir haben alles abgesucht.“ Vermeulen zuckte zusammen und blickte traurig in die kochende See, die sich den Teufel darum scherte, was aus ihnen und dem Schiff wurde, die sich einen Mann nach dem anderen holte, ihn gierig verschlang und mit ihren nassen Tüchern zudeckte. Pit war der dritte Mann innerhalb von vierzehn Tagen, den die tobende See geholt hatte. Hilflos hatten sie jedesmal mitangesehen, wie der erste und zweite Mann verschwunden waren. Helfen - retten? No, Mijnheer, da blieben nur noch das hilflose Zuschauen und eine ohnmächtige Wut. Da gab es nichts zu helfen. Wer bei diesem Wetter über Bord ging oder achtern abkantete, der kehrte nie wieder, der war für alle Zeiten verloren. Der kehrte ein in das Reich der ewigen Ruhe, sein Dasein war ausgelöscht für immer. Vermeulen wandte sich mit hängenden Schultern ab und schluckte trocken. Pit war weg, dachte er immer wieder, Pit war weg. Das eisige Wasser hatte ihn geholt, umarmt und in die Tiefe gezogen, in diese endlose dunkle Tiefe unter ihnen, die so tief war, daß niemand sie ausloten konnte. Er murmelte ein kurzes Gebet und stemmte sich dabei an die Balustrade, als wieder ein schwarzer Brecher heranfegte, durch die Kuhl schäumte und gurgelte und wie ein hinterhältiges dunkles Gespenst das Achterkastell erklomm. Noch bevor das Wasser über ihnen zusammenschlug, lagen die Männer flach an Deck, krallten sich fest, hielten die Luft an und beteten. War der Brecher vorüber, dann fluchten sie. Sie fluchten auf Gott und die Welt, wenn ihre Gebete nicht erhört wurden, und sie hofften doch immer noch, daß es endlich mal vorbei sein möge. So lange konnte ein Orkan doch gar nicht dauern! Seit vierzehn Tagen ging das schon so. Seit vierzehn Tagen orgelten und brausten sie
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durch eine Hölle, die sie hohnlachend immer weiter herumschlug, die sie peinigte und trieb - wohin, das wußten nicht einmal die Götter. Ab und zu flaute der Orkan ein wenig ab, das war meist am Tage, aber dafür ging es nachts dann immer schlimmer los. Sie trieben nach Norden, oder jedenfalls in nördlicher Richtung, das wußten sie, obwohl sie keinen Kompaß mehr hatten, und nach Norden wollten sie auch, aber nicht auf diese Weise, und vor allem immer an der Küste entlang, nicht inmitten einer teuflisch brodelnden See, in der sie nicht den geringsten Anhaltspunkt fanden. Captain Arie Vermeulen hatte diesen Seeweg gesucht. Wenn sie ihn fanden, sparten sie Tausende von Meilen, denn der Weg „obenrum“, wie sie ihn nannten, existierte mit größter Wahrscheinlichkeit. Es war der Weg über das sibirische Rußland, eine Strecke voller Eis und Kälte, aber sie war zu schaffen. Den Erzählungen nach hatten schon Spanier und Franzosen diese Ecke angeblich befahren. Vermeulen hatte errechnet, daß dieser Seeweg annähernd zwei Jahre Zeit einsparte, zumindest aber eineinhalb Jahre, und neue Erkenntnisse würde er vermutlich auch bringen. Eine dieser Erkenntnisse hatten sie bereits gewonnen, dachte er voller Bitterkeit und Wut. Nämlich die Erkenntnis, daß hier ein ganz anderer Wind wehte, der mitunter wochenlang anhielt, und daß die See dann alles kurz und klein schlug, was sich auf ihr bewegte. Aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Jetzt bestimmten nicht mehr sie selbst den Kurs, das Ruder hatte der Teufel persönlich übernommen, und er würde sie dorthin führen, wo er selbst zu Hause war: in die Hölle nämlich! Auf den Inseln, ja, da hatten sie noch wie im Traum gelebt. Und in ihren Laderäumen hatten sie Gewürze, Kokosnüsse, seltsame und eigenartige Pflanzen, Tabak und andere Kostbarkeiten. Obwohl die Ladung gut und sorgfältig gestaut war, ging es in den beiden
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Laderäumen drunter und drüber. Es rollte und stampfte, und mitunter gluckerte und gurgelte es auch leise. Aber sie konnten nicht nachsehen, nicht bei diesem Wetter, das war einfach unmöglich. Vielleicht war der ganze Kram längst verdorben, vergammelt oder verfault, dachte Vermeulen, und keinen Copper mehr wert. Statt einen ordentlichen Gewinn herauszuschlagen, konnten sie drauflegen und das Schiff nach der Reise, wenn es noch so lange durchhielt, verkaufen. Das war sein Risiko, und es war nicht kalkulierbar. Mancher wurde steinreich, mancher bettelarm. So wie er es sah, begannen für ihn jetzt die sieben mageren Jahre. Selten nur sprach einer der Männer. Sie waren ohnehin wortkarge Gesellen, die sich die Zeit nicht mit Spiel und Tand, Erzählen und Klönen vertrieben. Hier ging es einzig und allein um ihr Leben, um ihr Schiff und die Ladung. Längst war der zersplitterte Besan weit achteraus verschwunden und nicht mehr zu sehen, als sich vor ihnen eine gewaltige Wand erhob. Man sah sie eigentlich nur an der gewaltigen weißen Schaumkrone, einem gigantischen Wirbel, der aus dem Himmel zu fallen schien. Alle Männer, die sich an Deck aufhielten, spürten die Gefahr rein instinktiv. Das, was da auf sie zurückte, war eine jener Wellen, die man in einem Orkan als Kaventsmann bezeichnete, vier, fünfmal höher als alle anderen und mit elementarer Wucht heranjagend. Die „Godewind“ benahm sich, als hätte sie ein besonderes Gespür dafür, und sie reagierte fast wie ein lebendes Wesen. Ihr Bug begann nervös zu tänzeln, als suche er sich die bestmögliche Stelle, um diesem Ungeheuer entgegenzutreten. Das Schiff zuckte wie unschlüssig vor und zurück, blieb auf der Stelle stehen und wurde dann von dem vorauslaufenden Sog unterseeisch erfaßt.
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Dann schnellte der Bug nach oben, fast senkrecht, schien in den dunklen Himmel zu klettern und flog wie ein Korken durch die Luft. Das war es vermutlich, was ihnen allen das Leben rettete. Noch bevor mehr als tausend Tonnen Wasser brüllend niederstürzten und alles kurz und klein schlagen konnten, hatte die „Godewind“ den tobenden Berg aus Wasser zum größten Teil erklommen. Der Sog drehte sie kraftvoll halb um ihre Achse, und das Schiff geriet nicht mehr in den stürzenden Wasserfall. Die „Godewind“ ritt in großer Höhe auf dem Kamm der Welle und erreichte eine beängstigende Geschwindigkeit, die sich mit jeder Sekunde noch steigerte. Die Männer waren wie erstarrt, keines Gedanken fähig. denn jeder einzelne sah sich im Geist längst von den Massen begraben. Am Achterschiff brach die Riesenwelle tobend, heulend, brüllend und donnernd in sich zusammen, doch der andere Teil lief weiter, und auf diesem Teil lief die „Godewind“ mit rasender Geschwindigkeit wie ein Geisterschiff der Hölle. Es war wie ein Ritt auf einer großen Eisscholle, die achtern immer wieder abbrach und krachend in sich zusammenfiel. Immer schneller wurde die rasende Fahrt, immer wilder stürzten dicht hinter dem Schiff die Wassermassen infernalisch heulend zusammen, bis die Kraft der Riesenwelle langsam gebrochen wurde. Bei diesem Ritt auf Leben und Tod ging es buchstäblich um den Bruchteil einer einzigen Sekunde. Nur ein Yard weiter achterlich versetzt, und das Schiff wäre in den Abgrund geschleudert worden, die stürzende Welle hätte es zerquetscht. Vermeulen rief etwas, aber das Wort verließ nicht einmal seine Lippen. Es wurde sofort vom Sturm erstickt und drang nicht weiter. Aber die anderen wußten auch so, was er meinte. Jetzt nämlich begann das „Absetzen“, eine sehr unangenehme Angelegenheit, bei der alles noch einmal hart auf der Kippe stand.
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Schafften sie das Absetzen nicht einigermaßen sanft und gleitend, dann gerieten sie in den eintretenden Gegensog, in jene Stellen, wo die gefährlichen Kreuzseen entstanden und mit Brachialgewalt aufeinander stießen. Vermeulen hatte das ganz richtig gesehen. Verkrampft und bis auf den letzten Muskel angespannt, hatte er sich an der Balustrade verkrallt und wartete auf den donnernden Schlag, der gleich folgen würde, sobald die Welle auslief und mit den anderen zusammentraf. Von den anderen Männern sah er nichts, aber sie lagen irgendwo an Deck und hielten sich fest. Der Kolderstock schwang hin und her, fast sanft bewegte er sich mit dem Ruderblatt, als würde er von zarter Hand geführt. Dann begann er zu schwingen, immer schneller, hieb wie ein Schwert rasend über die Köpfe der flach an Deck liegenden Männer und senste mit tödlicher Wucht über sie hinweg. Sie konnten nichts tun, sie mußten warten und hofften darauf, daß der liebe Gott noch einmal seinen Daumen dazwischen halten würde. Die „Godewind“ lief jetzt fast auf Gegenkurs und wurde immer noch weiter herumgedreht. Dann schien eine unsichtbare Riesenfaust sie anzuhalten. Sie stoppte fast auf der Stelle. Durch das Schiff lief ein ungeheurer Ruck, die Masten, die den Beharrungskräften nicht sofort folgen konnten, bogen sich hart durch. Eine Rah donnerte unter Getöse an Deck und zerschlug die Aufbauten der Kombüse. Vermeulen hatte die Augen geschlossen. Er fühlte überdeutlich, wie das schlagartig gestoppte Schiff rasend schnell nach unten fiel. Planken begannen zu ächzen, im Schiff krachte und knackte es, und dann schlug eine donnernde See in die Backbordseite und ließ die „Godewind“ hart überkrängen. Oben, unten, an den Seiten, überall war Wasser, eisiges, kaltes Wasser, das schäumend und gurgelnd überall herumlief und sie fast erstickte.
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Die „Godewind“ blieb so liegen, pausenlos überflutet von den eisigen Seen, immer weitergeschoben, geknüppelt und gepeinigt. Sie ächzte und stöhnte wie ein krankes Tier, und als sie sich später wieder etwas aufrichtete, geschah das langsam und schwerfällig. Die Sturzsee hatte die Verschanzung zerschlagen, die Kombüse zu einem Teil eingedrückt und die Niedergänge zur Back zertrümmert. Arie Vermeulen richtete sich mühsam auf. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm jeder einzelne Knochen zerschlagen worden. Mit schwacher Stimme rief er nach seinen Leuten. Sie meldeten sich. Sie hatten Blutergüsse, Verstauchungen, Prellungen und blutende Wunden, und sie hatten soviel Salzwasser geschluckt wie nie zuvor in ihrem Leben. Der Kaventsmann war vorüber, aber das Schiff sah aus wie ein Trümmerhaufen. Wie Strandgut trieb es in der wilden See. Arie Vermeulen schickte ein kurzes Gebet in die Nacht. Es war ein Wunder, daß sie es noch einmal geschafft hatten. Aber sie lebten, und die „Godewind“ schwamm ebenfalls noch. Nur ihre leichte Schlagseite behielt sie bei. 2. Am siebzehnten Tag ihrer höllischen Sturmfahrt begann der eisige Wind ein wenig abzuflauen. Die Wogen gingen immer noch haushoch, aber jetzt konnten sie wenigstens darangehen und einigermaßen aufklaren. Die Fockmastrah wurde wieder angeschlagen und ein Sturmsegel gefahren. Danach ging es in die beiden Laderäume. Arie Vermeulen sah sich um und schüttelte den Kopf. „Kaum etwas verdorben“, sagte er zu dem blonden Bootsmann de Jong. „Und das, obwohl das Wasser mehr als fußhoch in den Räumen steht.“ Fässer mit Gewürzen schwammen in der Brühe. Einige waren zerplatzt und hatten ihren Inhalt verstreut, aber die meisten
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waren heil geblieben und hatten den Sturm überstanden. Mit einiger Mühe wurden die beiden Räume gelenzt und auf Lecks untersucht. Vermeulen konnte es kaum fassen, als sie lediglich ein winziges Leck entdeckten. Wasser drang nur ganz schwach ein, sobald die Wellen hart dagegen schlugen. Mit einem Stück Speck wurde das Leck abgedämmt. De Jong schlug ein Holzstück darüber und nagelte es mit Kupfernägeln in den Planken fest. Damit war das Leck abgedichtet. Den Besan konnten sie nicht ersetzen, es gelang ihnen lediglich, einen Teil des zertrümmerten Schanzkleides provisorisch wieder zu erstellen. Auch das Kombüsendach wurde abgedichtet. Dennoch war ihr Schiff schwer angeschlagen. „Mehr können wir nicht tun“, sagte der Kapitän. „Es sei denn, wir finden irgendwo Land und können eine Bucht anlaufen. Ich bin froh, daß die Ladung nicht zerstört oder verdorben ist.“ „Wo sind wir, Cap? Was denkst du?“ fragte Conrad te Poel, einer der Rudergänger. Vermeulen strich sich über den wuchernden Bart. Seit mehr als drei Wochen hatte er sich nicht mehr rasiert, und jetzt sah er ziemlich verwildert aus. „Ich weiß nicht, verdammt, aber irgendwo ziemlich hoch im Norden stehen wir.“ „Aber nicht da, wo wir wollten, Cap!“ . „Nein, wir sind nach Nordosten getrieben, und wir treiben immer noch in dieselbe Richtung.“ „Wenn wir kreuzen ... `, sagte de Jong, aber Vermeulen unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung. „Mit einem lausigen Sturmsegel kreuzen wir bis in alle Ewigkeit, ohne uns von der Stelle zu rühren. Wir lassen uns in die Richtung treiben, in die der Wind uns jagt. Einmal werden wir wieder Land sichten.“ „Das kann dauern, Cap!“ „Einmal sichten wir trotzdem Land“, beharrte Vermeulen. „Und wenn es noch ein paar Wochen dauert.“
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„Aber es wird immer kälter“, wandte de Jong ein. „Wie wir gehört haben, soll es ganz oben im Norden nicht einmal mehr Bäume und auch keine Lebewesen mehr geben.“ „Weißt du eine bessere Lösung?“ „Nein, Cap.“ „Also segeln wir mit dem Sturmsegel weiter, und zwar so lange, bis wir Land sichten.“ Bei den letzten Worten war Vermeulens Stimme hart und unnachgiebig geworden. De Jong nickte hastig. Arie war der Cap, und wenn der sagte, sie segelten weiter, bis sie Land sichteten, dann, zum Teufel, würde Arie Vermeulen auch so lange segeln, bis er einen Landstrich sah. Und wenn es Jahre dauerte! „Sag Visser, er soll versuchen, eine heiße Brühe zu kochen. Mein Magen hängt bis ins Kielschwein runter. Wir haben in den letzten Tagen nichts Warmes mehr gekriegt“, sagte Vermeulen zu de Jong. Immer noch donnerten die Brecher über Deck, und die See schäumte wild. Vermeulen schätzte die Windkraft noch auf Sturmstärke, aber gegen den zwei Wochen andauernden tobenden Orkan war das hier schon fast ein Kinderspiel. Er wunderte sich immer noch, dass sie alles fast heil überstanden hatten und die „Godewind“ nicht mit Mann und Maus untergegangen war. Immerhin - drei Männer mußten ihr Leben lassen, und das nagte und fraß innerlich an ihm. Nichts, rein gar nichts hatte er tun können, um sie zu retten! Etwas später hatte Visser, der jetzt die Stelle des ertrunkenen Kochs einnahm, es tatsächlich geschafft, in der ramponierten Kombüse ein Feuer zu entzünden. Die Fleischbrühe mit Einlage, die dann fertig war, erschien ihnen wie ein Geschenk des Himmels. Sie wärmte die Hände, den Magen, und sie sättigte. „Danach fühlt man sich wie neugeboren“, sagte Visser, ein hagerer, drahtiger Mann mit einem Fuchsgesicht. „Allerdings werden wir künftig nur noch eine warme Mahlzeit am Tag haben.“
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„Wir haben länger als zehn Tage nichts Warmes gehabt“, erwiderte Vermeulen verächtlich. „Aber wieso sagst du das?“ „Weil wir nicht mehr viel Holz haben“, erwiderte Visser lakonisch. „Wir haben genügend Holzkohle an Bord“, protestierte Vermeulen. „Wir hatten, Cap! Jetzt nicht mehr. Dort, wo wir sie aufbewahrten, hat das Wasser alles kurz und klein geschlagen und die Holzkohle über Bord gewaschen.“ Er zeigte mit der ausgestreckten Hand zur Kombüse, neben der früher ein hölzerner Kasten an Deck befestigt gewesen war. Jetzt ragten nur noch die zerfetzten Kanten einiger Bretter hervor. Alles andere hatte die See verschlungen. Vermeulen stieß einen lauten Fluch aus. „Wieviel haben wir noch?“ „Das, was in der Kombüse lag. Zwei oder drei kleine Säcke, mehr ist es nicht.“ „Dann gib nur acht, daß die nicht auch noch über Bord gehen, sonst können wir uns aufhängen.“ Zwei Stunden später flaute der Sturm etwas ab. Immer noch ging die See hoch, und die Dünung hatte Schaumkronen, aber die Wellen leckten nicht mehr über das Deck. Sie donnerten nur noch gegen die Bordwände. Der Himmel war von einem trüben, naßkalten Grau, seltsam konturlos und deprimierend. Dunst hing in der Luft, kalter, dünner Nebel, der sich träge vom Horizont heranschob und alles in ein düsteres, trostloses Grau hüllte. Irgendwie wirkte es unheimlich, fand Vermeulen nach einem langen Blick zum Horizont, so als würde sich das Wetter noch einmal verschlechtern. Außerdem war es kalt, und trotz des langsam aufkommenden Nebels herrschte ein eisiger Wind. Eine Welt, wie sie trostloser nicht sein konnte, eine Welt mit einem schmutzigen Himmel, diesiger Luft und trübem Wasser, eine Ecke, die sich endlos weit ausdehnte und von Ewigkeit bis Ewigkeit reichte. Er schüttelte sich und ging in die Kombüse, um sich an dem schwachen Holzkohlenfeuer ein wenig die
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durchgefrorenen Finger zu wärmen. Außerdem wollte er die Kleidung wechseln, denn die nassen Klamotten, die er auf dem Leib trug, begannen bretthart zu werden, als die eisige Kälte sich darin festsetzte. Er hatte die Hände noch nicht richtig aufgewärmt, als ihn ein lauter Ruf an Deck trieb. „Land Steuerbord querab!“ „Na siehst du!“ sagte Vermeulen und grinste schwach. Mit einem Satz war er an Deck und stieg in die Luvwanten auf. Daß er sich eben noch aufwärmen wollte, war vergessen. Land, mein Gott, dachte er, wie lange hatten sie darauf gewartet. Land bot Schutz vor der grimmigen Kälte, vor der rauhen See, und hier konnten sie endlich darangehen, auch die restlichen Schäden an ihrem Schiff auszubessern. Auf halber Masthöhe sah er den Landstrich. Klein und hingeduckt lag eine graue Linie am Horizont. Er war sich nicht ganz sicher, ob es nicht doch der Nebel war, der sich dort zusammengeballt hatte und das Land nur vortäuschte. Er stieg noch höher hinauf, bis er den Ausguck erreichte, wo der Jungmann stand und mit spitzen Lippen in seine klammen Hände blies. „Wirklich Land?“ fragte er. „Sicher, Cap! Ganz deutlich. Entweder sehe ich dahinten eine Bucht, oder das Land teilt sich. Könnten Inseln sein.“ Vermeulen ließ sich das Spektiv geben und zog es auseinander. Sehr lange blickte er hindurch. „Du hast recht, Jungmann“, sagte er schließlich. „Das sind Inseln, mindestens drei Eilande, wie es den Anschein hat.“ „Laufen wir doch an, Cap, oder?“ fragte der Jungmann schnell. „Darauf kannst du deinen Bart verwetten, deinen ausgefransten! Klar, die Inseln laufen wir an. Aber das wird sich erst entscheiden, wenn wir dichter dran sind.“ Der Jungmann blickte ebenfalls durch das Spektiv, klemmte es dann unter den Arm und blies wieder in seine kalten Hände.
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„Trostlose Inseln scheinen das zu sein, Cap. Ich wette, daß auf denen nicht mal ein Grashalm sprießt.“ „Gras brauchen wir auch nicht unbedingt“, sagte Vermeulen ungerührt. „Hauptsache, wir finden eine geschützte Bucht. Ich mache mir Sorgen um das Schiff, wir müssen es gründlich überholen.“ Später waren deutlich drei Striche am Horizont zu erkennen. Der mittlere Strich war am weitesten entfernt, aber er wies ziemlich große Erhebungen auf. Ein grauer Berg schälte sich aus dem Dunst, und dieser Berg schien direkt in den Himmel zu wachsen. „Welche Insel laufen wir an, Cap?“ fragte der Rudergänger. Vermeulen hob unbehaglich die Schultern. Er gab keine Antwort und blickte wieder durch das Spektiv. Er konnte sich nicht so richtig entscheiden, denn bisher sah er immer noch nicht viel von den Inseln. Er wußte nur, daß die mittlere einen ziemlich großen Berg hatte. Als der Rudergänger ihn fragend ansah, sagte er: „Die mittlere laufen wir an!“ Diese fünf dahingesprochenen Wörter besiegelten das Schicksal der „Godewind“ und ihrer Besatzung. Aber das ahnte niemand, denn sie alle hielten diese tristen, grauen Inseln für unbewohnt. * Immer weiter näherten sie sich der Insel, bis die Einzelheiten klar und deutlich zu erkennen waren. Fast alle standen jetzt an Deck und blickten zu dem Land hinüber. Der Wind drückte den Segler in eine trostlose, kahle Bucht mit einem grauen, steinigen Strand. Dunstiger Nebel stand über dem Boden. Eine langrollende Dünung lief auf den Strand, verlor sich zwischen den Steinen und schäumte kurz auf. In dieser Bucht gab es tatsächlich keinen Baum und keinen Strauch. Nur ein paar handgroße, graugrüne Büsche standen vor den Felsen. Hinter dem Strand bildeten kahle Hügel eine Kette, die weit ins Land
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führte. Noch weiter entfernt befand sich der drohend aussehende Kegel eines vor Jahrtausenden erloschenen Vulkans. Annähernd dreitausend Yards stieg er in den Himmel, an seinem oberen Ende durch eine dunstige Nebelkrone und Schnee begrenzt. Vermeulen spuckte enttäuscht über das Schanzkleid und zog ein mißmutiges Gesicht. Er war sich nicht sicher, was er hier erhofft hatte, aber diese trostlose, graue, kalte und unfreundliche Einöde gefiel ihm überhaupt nicht. Hier wuchs wirklich kein Grashalm. Diese Insel hatte Mutter Natur einstmals erschaffen und sich dann nie wieder um sie gekümmert, dachte er beklommen. Es wirkte alles so unwirklich, so unnahbar und abweisend, als hätte ein Maler eine besonders unfreundliche Landschaft auf die Leinwand gebracht. Aber die Bucht bot Schutz vor dem Unwetter, und wenn sie weiter an den Strand liefen, lagen sie eigentlich ganz günstig da. „Wenigstens haben wir kein Eis“, sagte Vermeulen zu seinem Bootsmann. „Und wenn die Insel bewohnt ist, dann möchte ich die Burschen sehen, die hier leben. Hier gibt es nicht einmal Ratten.“ Der Bootsmann erwiderte nichts. Stumm stand er da und suchte ebenfalls nach einem günstigen Platz zum Ankern, von wo aus sie später das Schiff an Land ziehen konnten. „Da vorn sind Klippen, Cap, da, wo sich das Wasser kräuselt“, sagte er und zeigte mit der Hand auf eine Stelle, wo es leicht zu brodeln begann, als würde dort das Wasser kochen. Vermeulen nickte. Ja. Klippen gab es hier genügend, aber man sah sie erst, wenn man ganz dicht heran war. Die langgezogene Dünung verbarg sie vor ihren Blicken. Er ließ das Segel wegnehmen und noch einmal leicht den Kurs ändern. Dann hatte er die richtige Stelle gefunden. Es war der tiefste Einschnitt in der Bucht, links von einer natürlichen Steinwand begrenzt, die weit ins Meer ragte, und rechts durch
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steinigen Strand und die felsigen Hügel, die weit ins Land reichten. Die Tiefe betrug noch fast zwanzig Faden, aber sie nahm sehr rasch ab. Als sie nur noch dreieinhalb Faden betrug, ließ Vermeulen den Anker fallen. Die Trosse lief aus, der Anker berührte den Grund, glitt über Steine, Felsen und Sand und hakte sich fest. Langsam schwoite die „Godewind“ um ihre Achse. Die immer noch hohe Dünung lief in mehr als zwei Kabellängen Abstand an ihr vorbei. Ein zwar unangenehmes, aber sicheres Plätzchen, dachte Vermeulen. Vor allem würde sie hier niemand stören. Sie konnten in Ruhe darangehen, ihr Schiff auszubessern, ihre Position festzustellen und dann den neuen Kurs wieder aufzunehmen, der sie über die sibirische Strecke bis in die Nordsee führen sollte. Aber zunächst ruhten sie sich gründlich aus. Sie hatten es bitter nötig nach der harten Sturmfahrt. Nur Vermeulen und de Jong blieben an Deck, die anderen legten sich in die Kojen und schliefen sofort ein. De Jong stand breitbeinig an Deck und starrte immer wieder in die Richtung der Felsen und Hügel, dorthin, wo sie ganz besonders wild zerklüftet waren. Schließlich ging er wortlos nach achtern und holte das Spektiv. Lange blickte er hindurch, bis Vermeulen ungeduldig wurde. „Was, verdammt, suchst du denn da immer?“ fragte er. De Jong setzte das Spektiv ab, drehte den Kieker um und kratzte damit seinen Schädel. „Da hat sich was bewegt“, sagte er. „Da, wo die Felsen aussehen wie Höhlenlöcher.“ „Bist du sicher?“ „Sah so aus.“ „Mensch? Tier?“ „Weiß nicht, etwas hat sich bewegt. Zweimal.“ Vermeulen starrte die Stelle an, aber er sah nichts, auch durch das Spektiv erkannte er
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nichts als eine wildzerklüftete, felsige Hügellandschaft. „Kann mir wirklich nicht vorstellen, daß hier jemand lebt“, meinte Vermeulen. „Wovon sollen die denn existieren?“ „Vielleicht von der Jagd, vom Robbenfang oder vom Fischen.“ Gerade als Vermeulen das Spektiv absetzte, sah er ebenfalls ganz deutlich eine Bewegung bei den Felsenlöchern. Er zuckte zusammen, aber auch er vermochte nicht zu sagen, was sich da bewegt hatte. „Ja, es stimmt“, sagte er nachdenklich. „Hier lebt wirklich jemand, auch wenn es nur Tiere sind.“ Die Bewegungen wiederholten sich allerdings nicht, und so war Vermeulen nach einer weiteren Stunde auch wieder beruhigt. Vielleicht war es doch nur ein Tier gewesen, das einmal aufgetaucht und dann wieder verschwunden war. Er schickte de Jong ebenfalls nach unten, damit er sich ausruhen konnte. Er selbst blieb an Deck, stieg einmal auch in die Wanten, um Ausschau zu halten, und gab es dann auf, als er nichts entdeckte. Stunden später erschienen die anderen Männer an Deck und fielen heißhungrig über das her, was der Koch zubereitet hatte. Danach wollte Vermeulen das Beiboot zu Wasser lassen, um an Land die Felsenhöhlen zu erkunden, aber das Wetter zog ihm einen dicken Strich durch die Rechnung. Es briste wieder auf. Zuerst fegten kurze, harte Böen bis in die Bucht, der Himmel verdunkelte sich zusehends, und dann begann es aus den grauen Wolken weiß zu rieseln. Beißender, eisiger Wind fegte Schneeschauer durch die Bucht, die immer dichter wurden. Innerhalb kurzer Zeit begann das Wasser in der stillen Bucht zu brodeln und zu kochen, und hohe Wellen türmten sich auf. Vermeulen fluchte laut. „Zum Teufel, auch noch auflandiger Wind!“ schrie er durch das Tosen und Heulen. „Bringt den zweiten Anker auch
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noch aus, sonst hängen wir in den Klippen!“ Die „Godewind“ war wieder herumgeschwoit, so daß ihr Heck jetzt zum Land zeigte. Der Sturm riß und zerrte an der Trosse. Die Männer ließen die Ankertrosse weiter durchslippen, damit ihr Schiff besseren Halt durch den Anker hatte, und setzten etwas später den zweiten Buganker. Dann wurde es dämmrig, und das Schneetreiben nahm zu. An Deck verstand man sein eigenes Wort nicht mehr, so heulte und brüllte der Wind, der die Schneeschauer jetzt waagrecht durch die Luft trieb. Vermeulen blickte besorgt zum Land hinüber, das jetzt kaum noch zu sehen war. Diese Bucht erwies sich jetzt bei auflandigem Wind als tödliche Falle mit ihren zahlreichen Klippen. Aber er hatte auch nicht damit gerechnet, daß der Wind so plötzlich umspringen und ausgerechnet in diese Ecke der Bucht hineinpfeifen würde. Hielten die beiden Ankertrossen nicht, dann würde es die „Godewind“ hart in die Klippen, zumindest aber auf den steinigen, felsigen Strand jagen — und dann waren sie verloren. Immer wieder ließ er die Trossen überprüfen. Das Schiff bebte und ächzte, aber es hielt sich auf Legerwall, obwohl der Sturm noch an Heftigkeit zunahm. Dann brach die Nacht endgültig herein, und es wurde stockfinster. 3. Die aus etwa vierzig Mann bestehende Gruppe wartete in stoischer Geduld ab. Sie waren Aleuten, den Eskimos oder Inuits nahe verwandt, und sie führten ein mehr als kärgliches und armseliges Dasein. Sie lebten vom Fischfang und von der Robbenjagd, mehr hatte ihr Lebensbereich nicht zu bieten, außer, wenn sich mal ein fremdes Schiff an die Küsten verirrte, was selten genug geschah. Das letzte war vor mehr als vier Jahren hier gestrandet, und es hatte den
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Nordmännern alles das zum Leben geliefert, was sie dringend brauchten. Sie konnten alles brauchen, was es überhaupt gab. Das fing beim Holz an, ging über die zumeist unbekannte Verpflegung und endete mit Werkzeugen und Schießprügeln. Sie waren froh über jedes Stück Holz, das hier antrieb. über jede verwitterte Planke oder jeden zerbrochenen Maststumpf, und sie lauerten gierig auf jedes unbekannte Schiff, das sich verirrte oder aus dem ewigen Eis im kurzen Sommer hier hertrieb. Seit langem hausten sie in ungewärmten Höhlen dicht an der Küste und lebten von Fisch, Robben, Algen, Beeren und Flechten. Ihr Anführer, ein kleiner, drahtiger Mann, ganz in helle Felle gehüllt, schritt in der großen Höhle erregt auf und ab. Seit sie das fremde Schiff gesichtet hatten, war es mit ihrer stoischen Ruhe vorbei. Das Jagdfieber war erwacht, und jeder war nur noch von dem Wunsch beseelt, die Fremden zu überfallen, um sich in den Besitz der gewaltigen Beute zu bringen. Ja, eine gewaltige Beute war das, die jetzt in der Bucht vor Anker gegangen war. Diese Beute war fett, und sie bedeutete Fleisch, Nahrung, Werkzeug, Holz, Taue und Waffen, die wiederum dazu dienten, andere zu überfallen, um sich in den Besitz von noch mehr Beute zu bringen. Der Anführer blieb im Kreis der hockenden Männer stehen und sah einen nach dem anderen an. Über seinem Kopf hing an der Höhlendecke eine kleine Tranlampe, eine zweite Transchale mit einem Moosdocht stand an der Wand und verbreitete neben schwacher Helligkeit auch etwas Wärme. „Dieser Mann“, sagte der Aleut und deutete mit der Hand auf sich, denn sie sprachen von sich selbst immer in der dritten Person, „dieser Mann hat beschlossen, daß Nuito heute nacht die Fremden überlistet. Dieser Mann weiß, daß es am Tage ausgeschlossen ist, denn die Fremden haben furchtbare Waffen, aus denen sie große Kugeln sehr weit
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verschleudern und auch ihre Feinde treffen.“ Der Angesprochene duckte sich noch tiefer, als der Blick des Anführers ihn traf. Er wußte, daß er noch etwas gutzumachen hatte, und nach den strengen Gesetzen war er jetzt an der Reihe. Nur deshalb und weil er auf eine Chance hoffte, war er aus der Gemeinschaft nicht ausgeschlossen worden. Jetzt konnte er sich bewähren, aber er hatte Angst, und er sah es auch an den Gesichtern der anderen, daß sie alle Angst hatten, in dieser höllischen Nacht und bei dem hohen Seegang in die Bucht hinauszufahren. Sehr wahrscheinlich war dies heute seine letzte Nacht, denn zweifellos würde ihn der eisige Tod heute nacht dort draußen erwarten. Der Anführer, noch nicht ganz im Range eines Schamanen stehend, erwartete keinen Widerspruch. Daher fuhr er erstaunt herum, als Nuito sich erhob und den Kopf senkte. „Dieser Mann wird nicht an das fremde Schiff herankommen“, gab er zu bedenken. „Die Wellen sind zu hoch.“ Insgeheim erwartete er zustimmendes Gemurmel aus dem Kreis der anderen, doch sie blieben stumm und blickten ihn nur an. „Dieser Mann wird auch vermutlich, wenn er es schafft, nicht mehr zu den Seinen zurückkehren können.“ „Ein Feigling spricht so“, sagte der Anführer. „Ein Feigling, der Angst um sein Leben hat, obwohl er der Gemeinschaft noch etwas schuldig ist. Aber wenn Nuito nicht will, dann wird er sich auf der anderen Insel wiederfinden, und dieser Mann wird ihn persönlich dahin bringen.“ Die andere Insel war der Ort, wo die aus der Gemeinschaft ausgeschlossenen Aleuten hingebracht wurden, wenn sie gegen ein Gesetz verstoßen hatten. Dort gab es kein Wasser, dort wuchs nichts. Die Insel bestand nur aus kahlen, nackten Felsen und eisüberzogenen Hängen. Länger als drei oder vier Tage hatte dort noch niemand überlebt, zumal
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man ihm keinerlei Werkzeug mitgab und ihn so dem sicheren Tod aussetzte. Nein, dachte Nuito, dann wollte er lieber ehrenhaft sterben und in guter Erinnerung der anderen bleiben. „Dieser Mann wird alles tun, was du verlangst“, sagte er. „Sage diesem Mann jetzt seine Aufgabe.“ „Du hast ein Kajak, und du hast ein Messer“, sagte der Anführer bedächtig. „Deine Aufgabe ist es, hinauszufahren und die Taue, die den Anker halten, zu durchschneiden. Wenn du das getan hast, kehrst du wieder zurück!“ Nuito schüttelte den Kopf, aber das bedeutete bei den Aleuten keineswegs Ablehnung, sondern Zustimmung. „Dieser Mann wird seine Aufgabe erfüllen“, sagte er. „Dieser Mann ist stolz drauf.“ Daran zweifelten zwar die meisten, aber sie gaben wenigstens vor zu glauben, daß Nulto keine Angst hatte und noch stolz war. Wortlos ging Nuito hinaus in den Schneesturm, in das Tosen des Windes und in die eisige Kälte. Niemand folgte ihm, als er sein Kajak aus der Höhle holte, es über den Kopf stülpte und zum Wasser ging. Und niemand begleitete oder half ihm auf diesem letzten Weg. Der auflandige Wind ließ ihn kaum vorankommen. Er verfing sich in dem Kajak, das Nuito über dem Kopf trug, und drückte ihn immer wieder zu Boden. Für die paar hundert Yards brauchte er mehr als eine halbe Stunde, bis er am Wasser war. Die Wellen brausten donnernd gegen das Ufer. Der Schnee nahm ihm die Sicht, aber er wußte, wo das große Schiff ankerte, das hier Zuflucht gesucht oder sich verirrt hatte. Mit zornigen Augen stieg er in sein Kajak und paddelte los, als die nächste Welle sich schäumend vor dem Ufer brach und die Ausläufer gischtend heranrollten. Die zweite Welle warf ihn hoch, drehte das Kajak um und spülte ihn blitzschnell ans Ufer zurück.
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Nuito nahm es gelassen hin. Er stülpte sich sein Boot wieder über den Kopf und ging am Strand entlang, bis er die natürlich gewachsene steinerne Barriere erreichte. An der Spitze dieser Barriere, die weit ins Meer hinausragte, wollte er es noch einmal versuchen. Dann hatte er den Wind im Rücken und würde auf das Schiff zulaufen. Es bereitete ihm Mühe, das Boot wieder ins Wasser zu bringen und durch die Wellen zu steuern. Er sah nichts mehr. Nur der Wind heulte und jammerte sein kaltes Lied, und der Schnee wehte ihm ins Gesicht. Er hielt sich fast dwars zu den Wogen, die ihn blitzschnell weitertrugen, ihn hoben und senkten. Durch seine Fellkleidung drang Wasser und betäubte seinen Körper. Er versuchte, etwas zu erkennen, doch das große Schiff der Fremden hatte keinen Schatten, keinen Umriß, und so verließ er sich auf seinen Instinkt. Er wußte, wo es lag, und er würde es finden. Geschickt paddelte er durch die hohen Wogen, die ihn mit sich fortrissen und hin und her schleuderten. Jetzt mußte er die Stelle erreicht haben, wo es lag. Eine achterlich auflaufende Welle hob sein Boot in die Höhe. Er versuchte zu paddeln, doch die Welle warf ihn wie einen Ball durch die Luft und schmetterte ihn tief nach unten. Lange Zeit war er unter Wasser, ehe er die Orientierung wiederfand. Dann verspürte er einen harten Schlag, und der Bug seines Kajaks wurde zusammengedrückt wie eine leere Schachtel. Nuito war auf das Schiff der Fremden geprallt, und die Wellen warfen ihn immer wieder gegen die Bordwand. Er krallte sich fest, wurde wieder losgerissen, fand nochmals Halt und hatte dann ein Tau in der Hand, das Tau, das den Anker hielt. Sein Kajak war beim Teufel, es hing nach vorn und stand voller Wasser. Zurückpaddeln konnte er damit nicht mehr. Er klammerte sich an dem starken Tau fest,
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hakte die Beine aus dem zerdrückten Kajak und stieß es fort. Die See nahm es mit und schmetterte es noch einmal an die Bordwand, ehe es endgültig verschwand. Verkrampft, durchnäßt und steif vor Kälte, klammerte sich Nuito an das Tau, schlang den einen Arm darum und griff mit der anderen Hand nach seinem Messer, einem Beutestück, das ebenfalls von einem Schiff stammte, das sich an die Insel verirrt hatte und später mit einiger Nachhilfe gestrandet war. Das Tau war stramm und so straff gespannt, daß es jeden Augenblick brechen konnte. Der Aleut setzte sein Messer an und drückte gegen die Kardeele. Sie faserten sofort auf, aber immer wieder, wenn die Brecher ihn überrollten, mußte er seine Arbeit für eine Weile unterbrechen, um neue Kräfte zu sammeln. Sein Körper war taub, er spürte ihn kaum noch, und das Messer bewegte er automatisch mit letzten Kräften. Irgendwann hörte er einen berstenden Knall, als die Kräfte ihn endgültig verließen. Dem Knall folgte ein donnernder Schlag gegen seine Schläfe, das Messer glitt aus seiner Hand und versank in dem tintenschwarzen Wasser. Nuito spürte die Kälte nicht mehr, er war wie erstarrt. Er war nicht mehr er selbst, er war ein anderer, der alles mit unbeteiligten Augen sah. Er sank tiefer und tiefer, und das eisige Wasser, die Kälte und der Tod löschten sein Bewußtsein aus. * Nachdem Arie Vermeulen knapp zwei Stunden geschlafen hatte, übernahm er zusammen mit Visser die Wache. Die anderen Männer hatte er wieder nach unten geschickt. Sie lagen in ihren Kleidern auf den Kojen, bereit, sofort aufzustehen, falls etwas passierte. Vermeulens größte Sorge war, daß die Ankertrosse brach, denn der Wind heulte immer stärker, und die See ging immer höher. Die „Godewind“ schlingerte und
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schaukelte, hob und senkte sich und rollte von einer Seite zur anderen. Visser und er standen frierend an Deck, lauschten dem Jaulen und Winseln des Sturmes, dem Knarren und Ächzen der Blöcke und blickten immer wieder in die Nacht hinaus. Um sie herum war alles pechschwarz. Sie sahen weder das Land noch den Bug ihres Schiffes. Das Wasser erkannten sie nur an den weißen Schaumkronen und Wirbeln, die immer wieder aufstiegen und donnernd an die Bordwand schlugen. Vermeulen ging nach vorn und trat mit dem Fuß gegen eine der beiden Ankertrossen. Sie gab ein helles, singendes Geräusch von sich, ein Zeichen, daß sie unter allergrößter Belastung stand. Jedesmal, wenn eine Welle die „Godewind“ hob, zerrte und riß das Schiff an den Trossen, und die Anker schienen sich ein Stück vom felsigen Grund zu heben. Anschließend erfolgte immer der harte Schlag, sobald das Schiff in sein Element zurückknallte. Mehr Trosse stecken konnten sie nicht, dazu reichte das Tau nicht aus. Sie hatten die Trossen bereits total ausgefahren. „Hoffentlich halten sie“, sagte Vermeulen laut. Gischt stob bei seinen Worten über Deck und hüllte die hei den Männer in einen nassen eisigkalten Schleier. Als sie nach achtern zurückgingen, blieb Vermeulen plötzlich stehen. „Hast du das gehört, Visser?“ fragte er laut. „Ja, hörte sich an, als sei etwas gegen die Bordwand geprallt. Ein Stück Treibholz vielleicht.“ „Treibholz - hier?“ fragte Vermeulen zweifelnd. Der Schlag war an Steuerbord in Höhe der Kuhl erfolgt, das hatte der Kapitän deutlich gehört, und jetzt wollte er es genau wissen. Er ging weiter nach achtern und kehrte bald darauf mit einer angezündeten Öllampe zurück. Viel sah er damit nicht, aber er hielt schützend die Hand um den gläsernen Kragen und leuchtete von der Kuhl aus ins Wasser hinunter.
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Visser stand neben ihm und hielt sich am Schanzkleid fest. Angestrengt blickte er in das pechschwarze Wasser. „Nichts zu sehen, Cap. War wohl doch ein Stück Holz.“ Der nächste Brecher enthob Vermeulen einer Antwort. Gischtspritzer löschten die Lampe aus, Vermeulen rutschte aus und versuchte, wieder auf die Beine zu gelangen. Visser hörte ihn fluchen. Gleichzeitig wusch ein Schwall Wasser über die Kuhl. Während sie wieder nach achtern zurückgingen, überlegte Vermeulen, was das Geräusch verursacht haben konnte. Er fand keine zufrieden stellende Antwort. Zehn Minuten vergingen, während die beiden Männer achtern auf dem Kastell standen. Immer wieder wischten sie sich die überkommende Gischt aus dem Gesicht. Zehn Minuten später gab es einen hellen, peitschenden Knall, der sich deutlich vom Toben der Elemente abhob. Kurz darauf knallte es noch einmal. Gleichzeitig begann die „Godewind“ hart zu krängen. Vermeulen wurde bleich. Mit überkippender Stimme schrie er: „Die Ankertrossen sind gebrochen! Weg mit dem Heckanker!“ Visser, sekundenlang wie gelähmt, hatte die entsetzlichen Laute ebenfalls sofort richtig gedeutet. Er gab keine Antwort. So schnell er konnte, rannte er nach vorn und purrte die schlafenden Männer an Deck. Die „Godewind“ fiel hart ab, eine riesige Woge hob sie hoch und warf sie herum. Die zweite Welle setzte sie mit einem wilden Rauschen zurück und schob sie gleichzeitig weiter vor. Die Besatzung stürmte an Deck. Jeder wußte, was passiert war, und es hätte Vermeulens brüllender Stimme gar nicht bedurft. Sie wußten auch so, was sie zu tun hatten. Es gab nur noch eine einzige Möglichkeit, um das Schiff vor dem drohenden Aufprall auf die Klippen zu retten. Sie mußten den Heckanker ausbringen und die Trosse langsam fieren, so daß sich das
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Schiff wieder fing und die Trosse nicht ebenfalls brach. Wie sie es schafften, wußten sie nicht, aber sie brachten den Heckanker aus und gaben Lose in die Trosse. Die „Godewind“ stampfte und schlingerte, hob sich aus dem Wasser, fiel wieder zurück und rückte mit dem Bug voran auf den Strand zu. Von diesem achteren Anker hing jetzt ihr Leben ab. Sie stemmten sich gegen die Spaken des Bratspills, fierten ganz sachte nach, gaben immer mehr Lose und versuchten so, das Schiff zu stoppen. „Schlagt zwei Segel an!“ schrie Vermeulen. „Beeilt euch! Wenn die Trosse bricht, versuchen wir uns freizusegeln. Zwei Mann an den Kolderstock! Die anderen in die Takelage!“ Daß sie sich unter diesen harten, böigen Winden so dicht unter der Küste freisegeln konnten, bezweifelte wohl jeder. Aber der Wunsch war hier der Vater des Gedanken, und so taten sie alles Menschenmögliche, was sich eben nur tun ließ, um das Schiff zu retten. Das erste Segel, das angeschlagen wurde, flog mit einem lauten Knall davon, als die „Godewind“ noch weiter überholte und der Sturm peitschend in die Leinwand fuhr. Der Mann, der oben auf dem Fußpferd der Rah stand, konnte sich nicht mehr halten. Das brettharte Segel schlug ihm ins Gesicht, daß er vor Schmerzen aufschrie, die eine Hand losließ und sie schützend vor die Augen halten wollte. Zwei, drei Sekunden stand er freihändig und blind auf dem Tampen, dann fegte ihn der Wind weg, und er verschwand mit einem weiteren Aufschrei in dem kochenden Hexenkessel. Mal dwars, dann wieder mit dem Bug zum Strand schob sich die „Godewind“ dem Ufer und damit den Klippen entgegen. Immer noch fierten sie die Ankertrosse nach und versuchten, das Schiff zu stoppen. Nur noch ein paar Yards, dann war die Trosse zu Ende, und es sah nicht so aus, als würde die Masse des Schiffes dem Rest der Trosse gehorchen. Vermeulen versuchte in seiner Verzweiflung noch etwas anderes.
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„Das längste Tau an der Kanone anschlagen, die Brooktaue lösen und über Bord mit dem Ding!“ brüllte er. Mehr im Unterbewußtsein hatten sie alle wahrgenommen, wie der Mann aus der Takelage gestürzt war. Sie wußten nicht einmal, wer er war, und sie konnten ihm auch nicht helfen, genauso wenig wie den drei anderen, die sich die See schon geholt hatte. In totaler Finsternis liefen sie auf die Kuhl. Sie waren gut aufeinander eingespielt, und keiner stand dem anderen im Weg. Was sie taten, ging schweigend und ohne große Worte vor sich. Jeder kannte seinen Handgriff. Während einer die Taurolle holte und an der Kanone anschlug, knüpfte der zweite schon das nächste schwere Tau an das erste. Die Brooktaue wurden mit der Axt gekappt. Beim nächsten Überholen begann die schwere Culverine auf ihrer Lafette polternd vorzurollen. Mit einem krachenden Geräusch durchbrach sie das Schanzkleid und verschwand auf gischtend im Wasser. In diesem Augenblick brach achtern die Ankertrosse. Sie zersprang wie eine Gitarrensaite, peitschte einmal an Deck und verschwand. Damit waren sie drei Anker los. Der vierte Anker war die Kanone, die sie halten sollte. Sie lag längst auf dem Grund, und die Männer belegten das Tau fluchend am Poller und stoppten ab, fierten, stoppten wieder, während die beiden anderen am Kolderstock sich verzweifelt abmühten, die „Godewind“ freizusegeln. Das eine half sowenig wie das andere. Der Druck des Schiffes und der des Windes und Wassers waren zu stark. Während sie noch nachfierten, brach der Holzpoller aus dem Deck, riß zwei Planken auf und flog davon. Durch die härten Fäuste raste der Tampen. Die Holländer hielten ihn in ihrer Verzweiflung fest, aber er riß ihnen die Hände auf, bis sie ihn nicht mehr halten konnten, bis das Fleisch in Fetzen hing und der rasende Schmerz sie zwang, das Tau endgültig loszulassen.
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Damit war auch die vierte Möglichkeit vergeben. Von ihrer Last befreit, sauste die „Godewind“, als würde sie vom Teufel gelenkt, den Klippen entgegen. Wild hob und senkte sich ihr Bug wie ein schnaubendes Ungetüm in die See. Hohnlachend schien sie davonzustieben, ihrer Besatzung Tod und Verderben bringend. Sie konnten nichts mehr tun, überhaupt nichts, und jetzt, als es keine Möglichkeit mehr gab, blieb Vermeulen eiskalt. „Nach achtern!“ rief er. „Wenn wir auflaufen, fliegen die Masten und Rahen an Deck, und zwar nach vorn. Alles nach achtern!“ Auf dem Achterdeck warfen sie sich auf die Planken, suchten nach Halt, verkrallten sich, wo immer sie etwas fanden, und erwarteten den Stoß, der der „Godewind“ das Ende bringen würde. Immer noch jagte das Schiff den Klippen entgegen. Einmal war es Vermeulen, als ändere es sogar die Richtung, um dorthin zu rasen, wo sich die Klippen wie schäumende Wirbel im Wasser abzeichneten. Dann bäumte sich das Schiff ganz überraschend hoch auf. Der Bug steilte hoch und wollte sich in den Himmel bohren, wobei er mitten in der Bewegung erstarrte. Ein Kreischen, ein Krachen, wie sie es schlimmer noch nie gehört hatten. Ein überlautes Bersten erfolgte, als zerschlüge ein Riese in wahnsinniger Eile Holzplanken, Masten und Bordwände. Vermeulen wurde durch den harten Aufprall nach vorn geschleudert. Er hielt schützend die Hände über den Kopf, als er auf dem glatten Achterdeck bäuchlings entlangrutschte und an die Planken der Schmuckbalustrade stieß. Den anderen erging es ähnlich. Alles, was nicht fest war, geriet in Bewegung. Das Kreischen und Bersten, Krachen und Splittern wurde von noch gräßlicheren Geräuschen überlagert. Die Masten waren der harten Beanspruchung nicht gewachsen. Sie schwangen einmal zurück,
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dann neigte sich der Großmast nach vorn, splitterte und brach ab. Unter ohrenbetäubendem Getöse brachen Wanten, Pardunen und Stangen. Rahen, Mast und Spieren donnerten an Deck und schlugen alles kurz und klein. Die „Godewind“ schien von einem unbändigen Vernichtungsdrang beseelt zu sein, denn der Großmast war kaum an Deck, als sich auch Blinde und Fockmast nicht mehr hielten. Donnernd zerschellten sie. Der Topp brach, eine Rah schlug an Deck, und der Rest des Mastes zersplitterte in mehrere Teile. Dann neigte er sich, kippte nach Backbord weg und zerschlug das Schanzkleid von der Kuhl bis zum Vordeck. Der Rest der „Godewind“ wand sich stöhnend, ächzend und kreischend weiter die Klippen hoch. Der Rumpf riß auf, überall entstanden klaffende, gezackte Lecks, in die schäumend und brüllend die schwarze See schlug. Die Todesangst ging auf dem Schiff um. Jeder wußte, daß sie jetzt endgültig und unwiderruflich verloren waren und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich das Schiff in seine Bestandteile auflöste, denn bei dem tobenden Unwetter konnte sich der zerstörte Rumpf nicht mehr lange auf den Klippen halten. Immer höher warf die See das Wrack auf die spitzen Klippen. Immer mehr zerschlug sie es, weitere Planken wurden mit kreischenden Geräuschen zerfetzt. Das Leck im Rumpf wurde größer, schwallartig schoß Wasser in die Räume. Wenn Kapitän Vermeulen noch gedacht hatte, ihm stünden jetzt sieben magere Jahre bevor, dann wurde er hier eines Besseren belehrt: Die sieben mageren Jahre waren schon zu Ende, noch bevor sie richtig begonnen hatten. Neben ihm stöhnte Visser. Er hatte sich verletzt und tastete mit einer Hand an Deck herum, bis er Vermeulens Hand zu fassen kriegte. „Aus und vorbei, Cap“, ächzte er. „Der Teufel hat auch uns geholt, genau wie die anderen.“
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„Er holt uns erst noch!“ schrie Vermeulen zurück. „Stück um Stück wird er uns holen, vermutlich noch heute nacht.“ „Wir haben noch die Beiboote, Cap! Wenn wir die in Lee zu Wasser bringen, können wir an Land pullen.“ Vermeulen lachte hohl. „Ich will nicht noch mehr Leute riskieren. Mit dem unbeholfenen Boot schlagen wir in dieser Brandung sofort um. Dann ersaufen wir in dem Eiswasser ganz erbärmlich. Wir schaffen es nicht einmal, bis zum Ufer zu schwimmen.“ Das sah Visser ein. Mühsam richtete er sich auf. Er stand noch nicht richtig auf den Beinen, als ein lautes Knacken und Knirschen das Heulen und Toben der See übertönte. „Das Vorschiff!“ brüllte er. „Es bricht auseinander!“ In dem weißen Schaum, der vor dem steil aufgerichteten Bug tanzte, ließen sich ganz schwach Einzelheiten erkennen. Das Vorderteil der „Godewind“ zitterte und wackelte wie ein Lämmerschwanz. Deutlich war zu sehen, wie immer mehr Planken herausfetzten und wie abgebrochene Finger nach oben wiesen. Dann brach das gesamte Vorschiff in sich zusammen. Der Stumpf der Blinde sackte krachend in die See, riß das Galionsdeck mit sich und verschwand in einem aufschäumenden Riesenwirbel. Visser, de Jong, te Poel, Vermeulen und die anderen sahen in hilflosem Entsetzen zu, wie ihr stolzes Schiff auseinanderbrach, wie es von der See abgebaut wurde und verschwand. Die Wellen spielten mit den Trümmern, immer wieder wurde das Treibholz krachend gegen die Bordwände geworfen, wobei es den Rumpf noch mehr zertrümmerte. Aber das war jetzt ohnehin gleichgültig. Die „Godewind“ würde nie mehr segeln, sie hatte auf den Klippen vor dieser unwirtlichen Insel ihr Grab gefunden und sich für immer zur Ruhe gesetzt. Die Männer fanden sich zwar damit nicht ab, sie wollten es immer noch nicht so richtig glauben, ihr Schiff zu verlieren, die
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„Godewind“, die sie um die halbe Welt getragen hatte. Aber die Tatsachen bewiesen genau das Gegenteil. Sie saßen nur noch auf einem Wrack, das jeden Augenblick auseinander brechen konnte und dann ganz erledigt war. „Das Beiboot über Bord, Cap!“ wiederholte Visser noch einmal, der es sich jetzt anders überlegt hatte. Zerschlug das Wrack, dann war das Beiboot ohnehin erledigt. So hatten sie aber seiner Ansicht nach wenigstens eine allerletzte kleine Chance. Diesmal stimmte auch Vermeulen zu, als er spürte, wie eine unterseeische Strömung an der „Godewind“ riß und zerrte, wie sie einmal vor und dann wieder zurückgeschoben wurde. Im Nu waren alle Männer beisammen. Jeder hegte Zweifel, ob sie das schwere Boot überhaupt ins Wasser brachten, aber die Angst und der drohende Tod durch Ertrinken oder Erfrieren verliehen ihnen Riesenkräfte. Wieder brach etwas auseinander, und das Deck begann sich stark zur Seite zu neigen. Das spornte sie noch mehr an. Jeder gab sein Bestes, und als das Boot in Lee im Wasser lag und durch die gestrandete „Godewind“ einigermaßen geschützt war, holten sie noch ein paar klamme Decken, Schiffszwieback und Lebensmittel. Alles wurde in fliegender Eile ins Boot geworfen. Ab und zu flog etwas daneben und verschwand im Wasser. Wie sie es geschafft hatten, ins Boot zu klettern, wußten sie später nicht mehr zu sagen. Vermeulen hielt das Boot mit dem Bug zur See. Hier bei den Klippen spürten sie trotz des starken auflandigen Windes, wie das Beiboot immer stärker von dem Sog hinausgezogen wurde. Am Tage hätte Vermeulen eine einleuchtende Erklärung gefunden, aber nachts sah er hart an den Klippen nicht den Strom, die Ebbe, die eingesetzt hatte. Sie riß und zerrte auch an der „Godewind“, und immer noch donnerten schwere Brecher gegen ihren toten Rumpf.
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Es schien eine Nacht ohne Ende zu werden, eine, die von Ewigkeit zu Ewigkeit dauerte und alle Schrecken der Hölle barg. Zunächst versetzte sie der Ebbstrom und trieb sie von dem Wrack immer weiter fort nach Westen, wie es schien. Vermeulen und zwei andere vermuteten das jedenfalls. Dann schlugen ein paar Brecher in ihr Boot, und sie waren nicht in der Lage, es auszuösen. Steifgefroren, übermüdet und halb tot hockten sie im Beiboot und versuchten, wieder Land zu erreichen. Die harte Pullerei verlangte ihnen die letzten Kräfte ab. und dann, irgendwann, ehe noch der Morgen graute, gab es einen Ruck, und das Beiboot saß fest. Außer Vermeulen und de Jong merkte das niemand. Sie waren vor Erschöpfung eingeschlafen, und auch die beiden anderen brachten nicht mehr die Kraft auf, Kommentare von sich zu geben. Vermeulen fiel auf der Ducht in sich zusammen und sank ins Boot. De Jong ließ sich einfach nach vorn fallen, zu seinen Kameraden, die wahllos durcheinander lagen. Visser wurde etwas später durch die eisige Kälte geweckt. Er hatte sich in die eine Decke gehüllt, aber die war bretthart um seinen Körper gefroren und kühlte ihn nur noch weiter aus. Als er erwachte, zog einer der trostlosesten Tage seines ganzen Lebens herauf. Er sah sich frierend und zähneklappernd um. Die Welt war grau und diesig, aber die rauhe See hatte nachgelassen, die Wogen gingen nicht mehr so hoch. Das war der einzige Trost. Alles andere war mehr als erbärmlich, fand er. Sie lagen mit dem Boot an einem steinigen Strand ohne jegliche Vegetation. Über den kalten Boden schoben sich dicke, zähe Nebelschwaden, die sich kriechend auf See hinausbewegten. Selbst der Wind vermochte nicht, sie zu vertreiben.
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Visser registrierte erstaunt, daß es das Wrack der „Godewind“ nicht mehr gab. Es war verschwunden, aber damit hatte er eigentlich auch gerechnet. Zumindest hatte er ein paar Trümmer oder das letzte Gerippe aus Spanten und Kielschwein erwartet. Dann fiel ihm auf, daß es auch keine Klippen an jener Stelle gab, wo sie scheinbar aufgelaufen waren. Also stimmte die Richtung nicht mehr. Mit verzogenem Gesicht und steifen Beinen stand er auf, um auf die Ducht zu klettern. Dann fiel sein Blick ins Boot. Der Jungmann schaute ihn aus gläsernen Augen an. Er hatte den Mund geöffnet, als wollte er noch etwas sagen. Doch daraufhin hatte sich sein Gesicht schrecklich verzerrt und war erstarrt. Visser wußte auch so, daß der Jungmann ausgelitten hatte. Er war tot. Jetzt waren sie noch acht Männer, wie er bestürzt feststellte. Acht Überlebende von einer Besatzung von mehr als zwanzig! Als er sich bewegte, wurde Vermeulen wach, und durch dessen gequälten Schrei erwachten auch die anderen. Schwerfällig krochen sie aus dem Boot und zogen es mit vereinten Kräften weiter auf den steinigen Strand. An manchen Stellen trieben kleine Eisbrocken im Wasser, die sich von den Steinen kaum unterscheiden ließen. Vermeulen blickte einen nach dem anderen an. In ihren ausgemergelten, bärtigen Gesichtern standen die Schatten des Todes. Die meisten konnten sich nur sehr mühsam auf den Beinen halten. Trotzdem hoben sie den Jungmann aus dem Boot und legten ihn weiter vom Ufer weg zwischen die Findlinge, so daß sie ihn nicht immer sahen. Sie wollten nicht gern an den Tod erinnert werden, sie hatten ihn ohnehin jetzt deutlich genug vor Augen. „Wir sind auf der anderen Insel“, sagte der Cap. „Und zwar auf der, die wir nicht anlaufen wollten. Das Wrack muß in jener Richtung liegen, wenn die See es nicht geholt hat.“ „Wenn wir hier nicht elend krepieren wollen, Cap, dann sollten wir sehr schnell
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zur anderen Insel pullen und uns den Rest des Wracks holen“, meinte te Poel. Vermeulen war schlapp und kraftlos von der Kälte, und er dachte an die anderen Männer, die in dieser letzten Nacht ihr Leben gelassen hatten. Aber jetzt, angesichts dieses traurigen Häufleins frierender und zitternder Männer, kehrte ein Teil seiner alten Energie doch wieder zurück. „Ja, kümmern wir uns um die Lebenden“, sagte er. „Damit die nicht auch noch vor die Hunde gehen.“ Sie standen am Strand und schlugen sich die Arme unter die Achseln, um sich aufzuwärmen. Vermeulen bestand darauf, daß sie anschließend am Strand entlangliefen, auch wenn das Kräfte kostete. Es wärmte jedenfalls auf und ließ die erstarrten Lebensgeister langsam zurückkehren. Der Atem stand in dichten Wolken vor ihren Gesichtern, als sie endlich stehen blieben. Danach ging es wieder zurück zum Boot, wo die dünne Eisdecke mit den Riemen zerschlagen wurde. Dann drehten sie das Boot um, bis kein Wasser mehr darin war. „Zunächst sehen wir uns die Insel an“, sagte Vermeulen, „dann pullen wir weiter. Vielleicht gibt es hier Trinkwasser, denn so schnell werden wir diese lausige Gegend nicht mehr verlassen.“ Den toten Jungmann umgingen sie in einem weiten Bogen, obwohl ihn jeder sah. Er lag auf dem Rücken und starrte wie anklagend in den grauverhangenen Himmel. Der Weg ins Inselinnere war enttäuschend. Überall waren Steine, Felsen, grober Kies. Ab und zu sproß zwischen den Steinen ein unansehnlicher, grauer Busch, nicht höher als eine Hand. Das war alles, was es an Vegetation gab, bis auf zwei krüppelige winzige Bäumchen, die sie später entdeckten. „Dieses Eiland hat der Teufel im Zorn erschaffen“, sagte de Jong erbittert. „Hier gibt es kein Wasser, nichts zu beißen, nicht mal einen Seevogel.“
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„Zurück zur anderen Seite“, befahl Vermeulen. „Wenn wir jetzt den Strand erreichen, müßten wir die Insel sehen, vor der wir gestrandet sind.“ Etwas später erreichten sie die lange graue Bucht, in der immer noch der Nebel stand. Der Wind hatte weiter nachgelassen, aber er war immer noch eisig und unangenehm. Eine Barriere aus Felsen und großen Findlingen mußten sie noch erklettern, dann hatten sie den Blick zur anderen Insel frei. Vermeulen, der allen vorangeklettert war und den höchsten Punkt als erster erreichte, blieb oben stehen, als hätte ihn der Blitz getroffen. Als die anderen aufrückten, deutete er nur wortlos mit der Hand zur anderen Seite. Ihre Gesichter waren erst ungläubig, dann versteinerten sie. Was sie sahen, war einfach unglaublich. Auf den Felsenriffen lag immer noch ihre zertrümmerte, entmastete und aufgerissene „Godewind“. Das war es jedoch nicht, was sie so entsetzte. Um das Wrack herum waren kleinere und größere Boote gruppiert, und auf der „Godewind“ selbst war eine Horde wilder Männer dabei, das Schiff total abzuwracken. Sie arbeiteten mit Äxten, Schiffshauern, Beilen und speerähnlichen Dingern. Sie hieben alles kurz und klein, schafften Fässer an Land, nahmen den Proviant mit, das Werkzeug und bargen die auf dem Deck umherliegenden Leinen und Taue. Vor der „Godewind“ hatte sich ein Kreis aus kleineren Booten gebildet. Sie lagen da wie ein Ring, der das Wrack umschloß, und sie schienen die feste Absicht zu haben, ihre Beute zu verteidigen. Die Männer waren in Felle gekleidet, trugen Pelzmützen und waren im Besitz von Waffen, wie Vermeulen deutlich erkannte. „Verdammt!“ sagte Vermeulen entsetzt. „Die klauen uns alles das, was wir dringend brauchen – zum Leben brauchen“, setzte er voller Wut hinzu.
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De Jong schüttelte in wildem Zorn die Fäuste. „Denen werden wir es zeigen!“ rief er grimmig. „Fast scheint mir, als hätten diese Kerle nur darauf gewartet, daß wir auf die Klippen liefen und auseinanderbrachen.“ Vermeulen lauschte den Worten sinnend nach. Dann nickte er. „Wir haben an Land etwas gesehen, das sich bewegte“, sagte er. „Viel später hörten wir einen Schlag gegen das Schiff, den wir uns nicht erklären konnten. Ich glaube, jemand von diesen Halunken hat unsere Ankertrosse gekappt, so daß wir auf die Klippen trieben. Und jetzt kassieren die Kerle ihren Lohn. Nein, das lassen wir nicht auf uns sitzen. Sie haben unsere Kameraden auf dem Gewissen, und wir selbst krepieren elend.“ Je länger er darüber nachsann, desto mehr verdichtete sich sein Verdacht gegen die Nordmänner. Normalerweise hätten die beiden Ankertrossen gehalten, aber hier hatte jemand daran gedreht, und zwar mußte einer dieser Kerle nachts mit einem Boot durch die Brandung gefahren sein, um das zu bewerkstelligen. Vermeulen war sich da ganz sicher. Sie waren belauert worden, schon die ganze Zeit, als sie diese Insel anliefen. Und dann hatten diese Strandräuber die Gelegenheit wahrgenommen. „Wir pullen zum Wrack hinüber“, entschied er, zum Äußersten entschlossen. „Und wie wollen wir uns gegen die Kerle zur Wehr setzen?“ fragte der Bootsmann. „Wir haben keine einzige Waffe.“ „Wir haben noch unsere Messer, Bootsmann. Verstehst du denn nicht? Wir müssen uns das Wrack holen, unser Leben hängt davon ab. Wir kommen so oder so um, aber lieber sterbe ich im Kampf, als daß ich tatenlos auf dieser Insel herumsitze und warte, bis wir verhungern, verdursten oder erfrieren.“ „Richtig, Cap, wir sind deiner Meinung! Ob diese Kerle hier leben oder der Insel nur einen Besuch abgestattet haben?“ Vermeulen zog fröstelnd die Schultern hoch.
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„Möglich, daß es hier Eingeborene gibt“, sagte er. „Vielleicht hat die eine oder andere Insel etwas aufzuweisen, das zum Leben reicht. Fischgründe, Robben oder Wale und auch Tiere an Land. Los jetzt, wir gehen zurück!“ Er warf einen letzten, haßerfüllten Blick auf das Bild, und das steigerte seine Wut nur noch mehr. Immer noch waren die Kerle, er schätzte ihre Gesamtzahl auf mehr als dreißig, emsig damit beschäftigt, alles an Land zu schaffen, was die „Godewind“ hergab. Wie es aussah, taten sie das nicht zum ersten Mal, sondern in ihrem Gebaren lag eine gewisse Zielstrebigkeit, die auf langjährige Übung schließen ließ. Wer weiß, wie viele arme Teufel ihnen schon in die Falle gelaufen sind, dachte Vermeulen. Noch etwas wurmte ihn: Diese Nordmänner, wie er sie nannte, verstanden es ausgezeichnet, mit ihren zerbrechlich wirkenden Booten umzugehen. Sie bewegten sich in der hohen Dünung bei den Klippen damit so sicher wie in einem großen Boot. Die Brandung schien ihnen nichts anzuhaben, sie bewegten sich darin, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Sie kehrten um und liefen zum Boot zurück. „Steine mitnehmen!“ befahl der Cap. „Nehmt sie als Wurfgeschosse, ein paar werden schon treffen.“ Sie vergaßen ihren Hunger und die Kälte. Durst hatten sie in dieser kalten Ecke ohnehin nicht viel. Man brauchte hier nicht viel Wasser, nicht einmal den vierten Teil wie in der Südsee. Dicht am Ufer ruderten sie los, dann richteten sie den Bug des Bootes gegen die See und fuhren durch die Brandung, bis sie die Spitze der natürlich gewachsenen steinernen Barriere rundeten. Jetzt erst wurden sie von den Nordmännern entdeckt, als sie die Barriere gerundet hatten. Vier Kajaks waren es, die den ersten Ring bildeten. In jedem saß ein Mann mit
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ausdruckslosem, maskenhaft starrem Gesicht und blickte ihnen entgegen. Vermeulen hatte diesen Menschentyp noch nie gesehen. Schmale Augen, hervorstehende Wangenknochen, breitflächiges Gesicht, das unter der Pelzmütze hervorschaute. „Weiterpullen, Cap?“ fragte te Poel. Vermeulen nickte grimmig und griff nach einem faustgroßen Stein, der im Boot lag. Abwartend stand er da. Von dem ersten Kajak waren sie noch etwa sechzig Yards entfernt, als der Nordmann sehr ruhig nach einem langen Speer griff. Er richtete sich im Boot nicht auf, sondern blieb sitzen. Er sah, wie die anderen ihre Arbeit an dem Wrack unterbrachen und herüberstarrten. Einige von ihnen packten ihre Äxte fester, und einer hatte eine Muskete in der Hand, die er auf eine hervorstehende Planke legte. Es war jene Stelle, wo der Bug abgebrochen war. „Das ist unser Schiff!“ brüllte Vermeulen, obwohl er wußte, daß ihn niemand verstehen würde. „Schert euch zum Teufel, ihr Halunken! Es gehört uns!“ Stille herrschte, bis auf den eisigen 'Wind, der sein Lied pfiff und die See bewegte. Von den Klippen stieg leichter Nebel auf und ließ alles unwirklich erscheinen. Ein zweiter Kajakfahrer drehte sein Boot um und glitt näher. Furchtlos paddelte er dem Boot entgegen. Dann, noch ehe jemand reagieren konnte, flog sein Speer, so knapp und schnell geschleudert, daß man die Bewegung kaum sah. Vermeulen duckte sich rein instinktiv, obwohl er den Flug der Waffe nicht verfolgen konnte. Er drehte sich auch gar nicht erst um, denn er hörte, wie die Spitze in das Holz knallte. Dafür holte er aus und warf den Stein, noch ehe der Nordmann seinen zweiten Speer ergreifen konnte. Wut, Enttäuschung und Trauer verliehen dem faustgroßen Brocken fast die Geschwindigkeit einer Kanonenkugel. Der Stein durchschlug das Fell ganz vorn am Bug, und als der Nordmann sich hastig
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bewegte, um dem Geschoß auszuweichen, fiel sein zweiter Speer ins Wasser. Das Kajak geriet aus dem Kurs und drehte sich halb um die Achse. „Rammt das Ding!“ brüllte Vermeulen. Er drehte sich um, zerrte den Speer aus dem Holz und hielt ihn zwischen den Händen. Der Nordmann konnte nicht mehr ausweichen. Sein Kajak wurde untergemangelt, und als er sich daraus befreien wollte, um in die See zu springen, war Vermeulen heran. Er schlug dem stupide glotzenden Nordmann den Speer um die Ohren, daß er zersplitterte, langte noch einmal mit der Faust zu und drosch den Kerl über Bord. Der zweite Angreifer wich zurück, erschrocken über den Mut der waffenlosen Männer. Aber Vermeulen hatte schon den zweiten Stein in der Hand, und diesmal traf er den Nordmann, der mit einem wilden Schrei an seinen Hals griff und sich mit dem Boot im Wasser drehte. Dann fiel ein Schuß, und im Boot schrie einer der Leute auf. Ein Speer hatte seinen linken Unterarm durchbohrt. Die Kugel aus der Muskete war te Poel haarscharf am Schädel vorbeigeflogen und bohrte sich tief in das Holz. Vermeulen sah zähneknirschend ein, daß sie auf die Dauer nichts gegen die Nordmänner auszurichten vermochten. Die konnten Musketen und Pistolen abfeuern, Speere und Lanzen schleudern und mit langen Schiffshauern und Degen kämpfen alles tödliche Waffen. Sie selbst mußten wie die Steinzeitmenschen mit Steinen werfen und hatten nur ihre kurzen Messer. Und die konnten sie nur im Nahkampf einsetzen, aber so weit ließen die Nordmänner sie gar nicht erst heran. „Zurück!“ rief Vermeulen, als sich ein ganzer Pulk Angreifer näherte. Die Nordmänner verließen ihre Position' und bewegten sich ziemlich rasch auf das große Boot zu.
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„Die knallen uns mit unseren eigenen Waffen ab“, sagte de Jong erbost. „Und wir können nichts dagegen tun.“ Ein anderes, wesentlich größeres Boot löste sich jetzt von dem Wrack der „Godewind“. Es war mit fünf oder sechs Leuten besetzt. Zwei von ihnen trugen Musketen und verstanden auch damit umzugehen. Für die Holländer war das ein weiterer Beweis, daß diese Kerle nicht zum ersten Male ein Schiff ausraubten. Nein, dachte der Cap, abknallen lassen wollten sie sich so ohne weiteres nicht, sie mußten sich erst einmal auf den Rückzug begeben und auf eine bessere Gelegenheit warten. Vielleicht brachten sie etwas mit List und Tücke zustande. Sie drehten ab und pullten zurück. Immer wenn jemand der Kerle eine Muskete hob, warfen sie sich der Länge nach ins Boot und warteten auf den Einschlag. Zum Glück dauerte das Nachladen der schweren Waffen sehr lange und war außerdem umständlich. Die Nordmänner drängten sie zurück und jagten sie auf die Insel, von der sie gekommen waren. Erst als das Beiboot knirschend auf den Strand lief, drehte das größere Boot ab und kehrte wieder zum Wrack zurück. „Die wissen genau, daß wir auf dieser kleinen Insel elend zugrunde gehen“, sagte Vermeulen. „Aber wie können wir die Kerle nur überlisten?“ „Höchstens nachts“, erwiderte Visser. „Ich habe das Land beobachtet. Die scheinen tatsächlich in Höhlen oder Felsen zu hausen, denn dort bewegte sich hin und wieder jemand. Auch haben sie die Beute dahin gebracht.“ „Damit rechnen sie natürlich auch und werden sich entsprechend vorsehen. Wenn das hier ein Volksstamm ist, müssen wir versuchen, Geiseln zu kriegen. Frauen oder Kinder vielleicht, die wir dann gegen Lebensmittel austauschen können.“ Er sah dem davonfahrenden Boot nach, bis es das Wrack erreicht hatte und die Nordmänner wieder an die Arbeit gingen, um das Schiff restlos abzuwracken.
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Sie untersuchten ihren eigenen Proviant, den sie wahllos mit einigen anderen Kleinigkeiten in der Nacht zuvor ins Boot geworfen hatten. Es gab ein einziges Faß Trinkwasser, und das war gesprungen, weil sich das Wasser in Eis verwandelt hatte. Das andere war ebenfalls kaum der Rede wert. Ein Fäßchen Zwieback, Mehl, etwas Pökelfleisch, etliche Decken und ein abgerissenes Teil eines Segels. Aber noch etwas fand sich, und das war hier immerhin einiges wert: te Poel hatte in seiner Aufregung alles, was er gerade in die Hände kriegte, über Bord geworfen, und darunter waren auch Stahl und Feuerstein sowie eine angesengte kurze Lunte. Sie wunderten sich, daß die Nordmänner sie nicht weiter behelligten, aber die hatten jetzt nur noch Interesse für das Wrack und die brauchbaren Güter. Sie würden aber mit Sicherheit später hier aufkreuzen, um ihnen den Rest zu geben. Vermeulen ließ alles an Land bringen. Dann sah er sich die Wunde an, die der Speer bei dem einen Mann verursacht hatte. Sie blutete nicht mehr, die Kälte hatte sie geschlossen. Er hätte auch sowieso nichts tun können. „Wir wollen alle überleben“, sagte der Cap. „Deshalb und weil vielleicht doch noch eine Hoffnung besteht, haben wir uns vorhin zurückgezogen. Aber wir werden wieder angreifen, bei Gott! Jetzt sammeln wir Steine.“ Visser sah ihn verblüfft an. „Hier liegen doch genügend herum. Wozu sammeln?“ „Willst du hier auf der Insel im Freien stehen? Aus den Steinen bauen wir uns eine Hütte, zumindest einen Windfang, und den legen wir dort drüben bei der Steinbarriere an. Damit haben wir die andere Insel immer im Auge und sind etwas geschützt. Außerdem brauchen wir die großen Steine nicht so weit zu schleppen.“ „Und dann, Cap?“ „Dann warten wir auf zweierlei: auf eine günstige Gelegenheit und auf Strandgut.
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Der Wind dreht nämlich, und weiter draußen in der See dürfte noch einiges an Holz schwimmen. Wenn der Wind noch etwas weiter dreht, wird er einen Teil davon zu unserer Insel treiben.“ Sie blickten ihren Kapitän verblüfft an. „Mann, Cap, hast du gute Gedanken“, sagte de Jong. „An eine Hütte hätte ich gar nicht gedacht. Ich hätte versucht, mir gegen die Kälte ein Loch zu buddeln.“ „Wir bauen eine mit Dach, dazu haben wir schließlich noch das alte Stück Segeltuch. Und um Trinkwasser habe ich keine Sorgen. Bei diesem Scheißwetter regnet es sicher jeden zweiten Tag, oder es fällt Schnee. Jedenfalls geben wir nicht auf, ein Arie Vermeulen gibt niemals auf — und ihr auch nicht. Wir werden auch versuchen, Fische zu fangen. Verdammt, wenn diese lausigen Nordmänner hier überleben, dann werden wir es auch schaffen, und wenn es nur ein oder zwei Wochen sind. Später rüsten wir unser Boot aus, wenn hier genügend antreibt, und segeln zu einer anderen Insel.“ Ja, so war der Cap, dachten sie alle. Er beurteilte die Lage zwar verdammt optimistisch, aber einen gesunden Optimismus brauchten sie jetzt auch. Immerhin, ein paar Tage würden sie es schon schaffen, wenigstens so lange, bis sie diese Insel erkundet hatten und weitersegeln konnten. Unverzüglich gingen sie an die Arbeit. 5. „Wenn diese Sauerei mit dem Eisklopfen mal aufhört, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt“, sagte der Decksälteste der „Isabella VIII.“, Smoky, zu Ferris Tucker, dem hünenhaften, rothaarigen Schiffszimmermann. „Ich würde sogar drei Viertel meines Anteils an Schätzen dafür herausrücken, wieder in der Südsee zu sein, Ferris, das kannst du mir glauben. Einmal kotzt einen das an.“ „Sei nicht so leichtsinnig, vielleicht sind wir bald wieder da“, erwiderte Tucker
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lachend. „Dann kannst du es ganz umsonst haben.“ Die beiden Männer waren damit beschäftigt, wieder einmal auf dem Vorund Galionsdeck Eis zu klopfen, das von überkommenden Brechern gebildet wurde. Eis, immer wieder Eis, es hing ihnen allen zum Hals heraus. Auch daß sie seit zwei Tagen gegen See und Wind anknüppeln mußten, stank ihnen allen. Sie hatten genug Eis gesehen, so viel Eis, daß es für ein ganzes Leben lang reichte. Und von der ewigen lausigen Kälte hatten sie auch genug. Das, was hinter ihnen lag, war eine einzige Eishölle gewesen: Sie hatten die Bekanntschaft von Eisbären, Robben, Seehunden und riesigen Walfischen gemacht, und jetzt, verdammt, nachdem sie die sagenhafte Nordwest-Passage gefunden hatten, wollten sie endlich wieder einmal etwas anderes sehen. Yes, Sir, das konnte man einem ehrlichen und anständigen Seemann nicht verübeln, wenn er wieder warme Sonne, Strand und Palmen sehen wollte, statt sich wochenlang auf einem glatten, glitschigen Deck aus Eis und Sand zu bewegen. Und morgens, wenn man sich an Deck wusch, dann sah man etwas später wie ein Eiszapfen aus und fiel in dieser trostlosen Landschaft gar nicht mehr auf. Jetzt langte es, jetzt wurde wieder Südkurs gesteuert, aber der Wind wollte sie nicht in die wärmeren Zonen lassen. Nachdem sie das Schelfeis mühsam durchsegelt hatten, stemmte sich der rauhe Geselle noch einmal gegen sie. Er blies kräftig aus Südsüdost, und so mußten sie kreuzen. Er blies höhnisch in die See, warf sie hoch und ließ sie schäumen. Das aufgischtende Wasser zerstäubte und überzog alles wieder mit Eis. Darum hackten sie jetzt an den Decks herum, klopften gegen die Pardunen und enteisten das stehende Gut, damit es nicht immer stärker wurde und die ranke Lady mit einem Eismantel überzog. Smoky blickte mit mißmutigem Gesicht auf die anderen Seewölfe, die auf der Kuhl
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und dem Quarterdeck ihre Haumesser schwangen. Sie arbeiteten mit verbissenem Eifer. Die Eisbrocken, die an Deck fielen, schaufelte Stenmark über Bord. Waren sie mit einem Teil fertig, dann wurde Sand gestreut, was meistens Bill besorgte. Das hielt jeweils ein paar Stunden an, dann begann das monotone, nervenaufreibende Mistspiel, wie Smoky sagte, von neuem. Dem Profos, Ed Carberry, stand grämliche Laune im Gesicht. Er wußte nicht, wen er anmotzen sollte, und auch nicht, warum. So bewegte er sich ständig von achtern nach vorn und umgekehrt und griff auch immer wieder selbst zum Schiffshauer. War die „Eiszeit“ wieder vorbei, dann wärmten sie sich in der Messe auf und hielten ein Schwätzchen. Für diese Art Schwätzchen war ganz besonders der alte O'Flynn immer zuständig, denn wenn er einmal begann, dann hörte er auch so schnell nicht mehr auf. Mitunter erzählte er noch, wenn schon der letzte Mann die Messe verlassen hatte, und war dann ganz erbost darüber, daß er für seine Schauergeschichten keinen Zuhörer hatte. Hasard und Ben Brighton dagegen plagten ganz andere Sorgen. Sie hielten sich zusammen mit dem jungen O'Flynn im Ruderhaus auf, das sie von innen, der grimmigen Kälte wegen, mit Segelleinen ausgekleidet hatten. Im Ruderhaus war es nicht gerade angenehm warm, aber die ständig brennende Öllampe verbreitete etwas Wärme, und vor allem pfiff der Wind nicht mehr durch die Ritzen. Auf der herabklappbaren Back waren ein paar Seekarten ausgebreitet. Der Seewolf konnte mit ihnen nichts anfangen, jedenfalls jetzt noch nicht, denn für dieses Seegebiet, in dem sie sich jetzt bewegten, existierte keine Karte. Alles, was es gab, waren daher nur vage Vermutungen und Theorien. Philip Hasard Killigrew, wie der Seewolf hieß, hatte eine Behauptung aufgestellt, auf der auch die ganze Reise basiert hatte.
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Fand man die Nordwest-Passage, die ja auch nur angeblich existieren sollte, die sie aber immerhin gefunden hatten, dann gelangte man nach Hasards Ansicht wieder in den Pazifischen Ozean, wenn man Südkurs segelte, und dies möglichst mehrere Wochen lang. Dan O'Flynn. der die Navigation von der Pike auf beim Seewolf gelernt hatte und auch immer wieder eigenständige Ideen entwickelte, war anderer Meinung. Ben Brighton, Hasards Stellvertreter, hatte ebenfalls seine eigene Meinung und Ansicht darüber, wo sie wieder herauskämen. „Wir haben uns in den Hudsonbai schon einmal total versegelt“, sagte Ben, „und als wir einige Tage lang Südkurs liefen, trafen wir überall auf Land, und es ging nicht mehr weiter. Das kann hier genauso zutreffen. Die Möglichkeit besteht, daß zum Pazifischen Meer überhaupt keine Durchfahrt existiert und wir wieder auf Land stoßen.“ „Dann lasse ich mich hängen“, konterte Hasard trocken. „Hast du den geringsten Beweis dafür, Sir?“ fragte Ben. Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Nein, nur eine logische Überlegung“, sagte er. „Ich habe alle Karten durchstudiert, die wir an Bord haben, und schließe daraus, daß alle Ozeane miteinander Verbindung haben. Dazu brauche ich mir nur jene Kontinente vorzustellen, die wir schon umsegelt haben. Wäre hier oben alles Land, dann müßten wir mehr Eis haben, aber das ist nicht der Fall. Folglich drängt wärmeres Wasser nach Norden, und das stammt eben aus dem Pazifischen Meer.“ „Das hört sich ganz gut an“, gab Brighton zu. „Aber deswegen muß es noch lange nicht stimmen. Ich sage dir, daß wir in ein paar Tagen wieder irgendwo festsitzen und lange Gesichter ziehen. Was ist deine Meinung, Dan?“ wandte er sich an O'Flynn. „Niemand kennt die Route, und was wir darüber gehört haben, kann alles erfunden
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sein. Hasard kann recht haben, du kannst recht haben, niemand weiß es.“ „Deine Ansicht!“ sagte Ben ungeduldig. „Nun, das Land tritt immer weiter zurück, je weiter südwärts wir segeln, und das Eis nimmt ab. Wir laufen nur ganz langsam, und dennoch wird der Seeweg immer breiter. Ich nehme an, daß wir in ein wärmeres Gewässer gelangen, aber es muß nicht das Pazifische Meer sein. Vielleicht existiert noch ein anderes.“ „Und du glaubst, wir laufen in dieses andere?“ „Ja, allerdings rein gefühlsmäßig. Mag sein, daß wir früher oder später eine Verbindung finden - oder niemals eine. Dann können wir die ganze Strecke wieder zurücksegeln.“ Hasard sah den jungen O'Flynn nachdenklich an. Der Seewolf war sich seiner Sache sehr sicher, er hatte ja auch gesagt, daß er sich dafür hängen ließe. Aber was, wenn Dan recht hatte? Immerhin war diese Möglichkeit nicht total auszuschließen. Nein, er glaubte es nicht, er war aber auch nicht so verbohrt, die Argumente der anderen einfach abzutun. Noch kannten sie die ganze Welt nicht, es gab noch unzählige Länder, die sie nicht gesehen hatten, die sie nicht kannten, und es gab mit Sicherheit auch noch Meere, in denen sie nicht gesegelt waren. Wie sollten sie auch! Um diesen gewaltigen Planeten genau kennen zu lernen, war ein ganzes Leben erforderlich. In ihre Diskussion ertönte ein Ruf aus dem Großmars. „Land! Land voraus!“ Der Seewolf sah seinen Bootsmann an, auf dessen Lippen ein kaum merkliches Grinsen lag. Dan O'Flynn kratzte sich ausgiebig das Kinn. „Das ist beileibe keine Schadenfreude oder Rechthaberei“, sagte er entschuldigend. „Aber immer hat der Kapitän auch nicht recht, Sir!“ „Scheiß auf den Sir“, erwiderte Hasard mißmutig. Bens Grinsen wurde breiter. „Na, wenn du erst an der Rah baumelst, Sir, das wird vielleicht einen Aufruhr an
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Bord geben!“ Hasard konnte trotz der leichten Enttäuschung schon wieder lachen. Seine weißen Zähne blitzten. „Korsaren hängt man erst, wenn man sie hat, Bootsmann!“ „Soll das heißen, du glaubst immer noch an — an ...“ „Es hofft der Mensch, solange er lebt. Aber dieses Land will ich mir zuerst genauer ansehen. Über alles Weitere reden wir, wenn der Beweis erbracht ist.“ Als der Seewolf das Ruderhaus verließ, wandte sich Dan O'Flynn an Ben Brighton. „Wie ich ihn kenne, läßt er sich wirklich hängen, wenn es jetzt nicht in den Pazifischen Ozean geht. Mitunter kann der Seewolf sehr stur sein ...“ Sie traten ebenfalls hinaus, aber das Land sahen sie noch nicht. Über ihnen waren dunkelgrauer Himmel ohne Sonne und ringsum die öde Wüste einer ebenfalls graugetönten See mit hoher Dünung und Gischt. Und dagegen knüppelten sie an und gelangten kaum von der Stelle. Ab und zu schwamm in dieser Einöde ein Eisberg. Schon etliche Male hatten sie diese treibenden Brocken beobachtet und versucht, ihren Weg zu verfolgen. Fest stand, daß sie unwahrscheinlich langsam nach Süden drifteten, dabei abtauten und immer kleiner wurden. Auch der permanent wehende Gegenwind hielt sie nicht auf. Folglich drifteten sie in einer langsamen Strömung, und davon konnte es hier genügend geben, denn wo warmes und kaltes Wasser zusammentrafen, entstanden starke Driften, Wirbel und Soge. Der Seewolf hatte das Spektiv mitgenommen und enterte ein Stück die Wanten auf. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Weit voraus lag Land, hügelig, kahl, mitunter von hohen Bergen begrenzt. Und dieses Land lief in einem endlos langen Bogen scheinbar zusammen, als würde es eine gigantische Bucht bilden, die kein Ende hatte. Als er enttäuscht zurückkehrte, sah ihn Pete Ballie, der das Ruder wieder übernommen hatte, fragend an.
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„Bleiben wir auf dem Kurs, Sir?“ fragte er. Hasard nickte verbissen. Auf seiner¬ Stirn stand wie eingekerbt eine steile Falte, und die Narbe in seinem Gesicht war jetzt deutlich zu sehen. „Ja, Pete, wir bleiben auf Kurs. Wir segeln so lange auf diesem Kurs weiter, bis ich das verdammte Land aus der Nähe sehe.“ „Glaubst du, es gibt da eine Passage oder ein Teil des Landes könnte eine Insel sein?“ „Ich hoffe es jedenfalls, mein Glaube selbst ist soeben leicht erschüttert worden.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick erschien der Profos auf dem Achterkastell. Er blickte in die angelehnte Tür des Ruderhauses. Sein Gesicht war fast böse, seine Augen hatten sich drohend zusammengezogen. Er stand da, sagte kein Wort, hatte nur die mächtigen Arme in die Hüften gestemmt wie immer, wenn ihn etwas bewegte. Hasard begegnete seinem Blick und sah dem Profos in die Augen, bis Ed sich endlich räusperte. „Sieht nach einer verdammten Enttäuschung aus, Sir“, sagte er nach einer Weile und deutete mit dem Kopf auf das ferne Land, das auf Backbord zu einer festen Masse heranwuchs. Hasard sagte immer noch nichts. Nur seine Lippen verzogen sich ein wenig, als er knapp lächelte. „Wir laufen bis auf den Strand, Ed. Und wenn wir dann immer noch keine Passage finden, was tun wir dann?“ Endlich erhellte sich auch das narbige Gesicht des Profos' etwas, und er begann zu grinsen. Dieses Grinsen wirkte auf die anderen, als sei soeben strahlend die Sonne aufgegangen, denn in den letzten Tagen hatte der Profos nur düster geblickt. „Dann, Sir“, sagte er grollend, „gehen wir an Land, nehmen Äxte und Hauer mit und hacken uns einen Weg in den anderen Ozean. Habe ich recht, Sir?“ Pete Ballie grinste über beide Wangen, auch Ben Brighton zeigte sich belustigt. Dan O'Flynn sah den Profos grinsend an. „Richtig“, sagte er. „Oder Ferris baut ein paar Räder unter den Kahn, und dann
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schieben wir die Tante so lange, bis wir wieder in einem anderen Gewässer sind.“ Das lockerte die bedrückte Stimmung etwas auf, und es dauerte nicht lange, dann hatte jeder einen anderen Vorschlag, wie sie sich über das Land fortbewegen konnten. „Nun mal ernsthaft“, sagte der Seewolf. „Sollte es dort wirklich keine Passage geben, dann segeln wir eben auf Ostkurs unter Land weiter, bis wir sie finden. SiriTong ist übrigens der Ansicht, wir würden auf Ostkurs früher oder später das Land des Großen Chan hoch oben im Norden erreichen.“ „Sie ist die Strecke aber auch noch nie gesegelt“, wandte Ben ein. „Nein, natürlich nicht. Sie stützt sich ebenfalls auf Vermutungen, genau wie wir alle.“ Das ferne Land schien wie festgeleimt am Horizont zu kleben. Noch immer hatte sich nichts verändert, und es rückte dem Anschein nach auch nicht näher. Dennoch gaben sie die Hoffnung nicht auf. Niemand wollte es wahrhaben, daß sie sich in einer Riesenbucht ohne Ausgang befanden, die Wochen später vielleicht wieder auf Nordkurs führte. Die Stimmung an Bord stieg wieder, je härter der Seewolf seine Meinung vertrat. Und sie wurde noch besser, als der Wind unmerklich anfangs - seine Richtung zu ändern begann. * Zunächst einmal ließ Arie Vermeulen den Toten bestatten, den Jungmann, der immer noch hinter den kleinen Felsen lag. Werkzeug, um den Boden aufzugraben, hatten sie nicht. Außerdem war der Untergrund steinhart gefroren. Also begruben sie den Jungmann, indem sie Steine auf ihn häuften, bis er nicht mehr zu sehen war. Steine zum Bau eines Unterschlupfes fanden sich genug. Es gab mehr Steine als alles andere. Sie häuften sie aufeinander, bis sie Mannshöhe erreichten. Dann wurde die
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Segelplane darüber gelegt und wiederum mit Steinen beschwert, damit der eiskalte Wind sie nicht wegwehte. Der Bau ging rasch vonstatten, denn jeder wollte so schnell wie möglich ein Dach über dem Kopf haben, wenn es schneite oder regnete. Innerhalb von wenigen Stunden hockten sie darin, und Vermeulen teilte den Männern Zwieback aus. Te Poel zerbrach den ersten und wandte sich angeekelt ab. In dem harten Zwieback hatten sich unliebsame Gäste eingenistet, und die hatten ihn von innen her schon fast gefressen. Wütend starrte er die kleinen schwarzköpfigen Maden an und brachte es nicht fertig, den Zwieback auch nur zum Mund zu führen. „Der Hunger wird es schon reintreiben“, sagte der Cap. „Wenn du ihn erst einmal richtig spürst, dann sind dir die Kameraden restlos gleichgültig.“ „Die Mistviecher müßten längst erfroren sein“, sagte te Poel. „Also ich bringe es noch nicht fertig.“ „Dann iß das Zeug eben, wenn es dunkel ist“, riet Vermeulen trocken. „Deshalb verschwinden sie auch nicht.“ „Aber du siehst sie nicht.“ Te Poel überwand seinen Hunger und verzichtete auf seine Ration. Den anderen war es ziemlich gleichgültig, sie verzogen keine Miene, wenn sie krachend hineinbissen. Ein Mann blieb jeweils draußen, um das umliegende Land und die andere Insel im Auge zu behalten. Diesmal war der Decksmann Breukel an der Reihe, ein kleiner, gedrungener Bursche mit kräftigen Armen und breiten Schultern. Jedesmal, wenn er zu der ehemaligen „Godewind“ hinüberblickte, gab es ihm einen Stich ins Herz, und er knirschte vor Wut mit den Zähnen. Die Nordmänner hackten, klopften und sägten an dem Wrack herum, fischten die Trümmer aus dem Wasser und schafften alles an Land. Nach und nach verschwand das aufgelaufene Schiff, bis nur noch die
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Reste eines spärlichen Gerippes aus den Klippen ragten. Ohnmächtig vor Wut sah er zu, murmelte dumpfe Flüche in seinen Bart, und es wurmte ihn, daß er nichts unternehmen konnte. Ihm fiel beileibe keine List ein, wie man diese Kerle angreifen oder ihnen zumindest die Beute wieder abjagen konnte. Er setzte seine ganzen Hoffnungen auf den Cap, aber dem fiel anscheinend auch nichts ein, weil sie keine einzige Waffe hatten. Etwas später entdeckte er ein Stück Holz, das der Wind angetrieben hatte, fischte es aus dem Wasser und brachte es in den Steinbau. „Na, wenigstens etwas“, sagte der Cap ironisch und betrachtete das nasse Stück, an dem sich Eiskristalle gebildet hatten. „Ein Teil vom Rumpf“, sagte Visser und schüttelte sich, weil ihn ganz erbärmlich fror. Breukel ging wieder hinaus, während die Männer im Innern der Steinhöhle die ersten Splitter abschlugen, damit sie ein kleines Feuer entzünden konnten. Es dauerte Ewigkeiten, bis die Splitter endlich brannten, aber das äußere Holz war noch naß und qualmte. Vermeulen schaffte es trotzdem, in dem Faß mit Pökelfleisch etwas Eis aufzutauen, das Pökelfleisch wieder hineinzutun und daraus eine lauwarme, salzige Suppe zu bereiten. Das kleine Faß war danach allerdings total verkohlt und glimmte noch. Er sah, wie seine Männer mit dem allergrößten Behagen aßen und auch te Poel jetzt zugriff. „Das schmeckt einfach köstlich“, lobte te Poel überschwenglich. „Nach Salz, Fleisch, Wasser und Holzkohle.“ Er meinte es trotzdem ernst, und die anderen gaben ihm recht. Wen scherte es, daß jetzt das Faß auch noch zum Teufel war. Später konnten sie damit das nächste Feuer entzünden und sich wenigstens die kalten Knochen erwärmen. Als der Rest der Rumpfplanke heruntergebrannt war, wurde die Holzkohle fein säuberlich eingesammelt,
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weil man die Reste später noch einmal verwerten konnte. Holz, dachte Vermeulen, das war hier kostbarer als alle Schätze der Welt, das war mit nichts aufzuwiegen. Sie hatten auch Breukel nicht vergessen, der draußen Wache ging und von de Jong abgelöst wurde. Danach gingen sie alle hinaus und sahen zu den Nordmännern hinüber. „Die haben nicht einmal bemerkt, daß wir uns so etwas Ähnliches wie eine Hütte gebaut haben“, sagte Visser. „So was von hundsgemeinen Plünderern habe ich noch nie gesehen.“ Immer wieder fuhren Kajaks zum Strand, wo sie schon erwartet wurden, und entluden ihre Beute. „Das sind Frauen“, sagte Visser und deutete auf ein paar Gestalten, die sich zwar kaum von den Männern unterschieden, aber bei genauem Hinsehen doch andere Merkmale aufwiesen. Sie bewegten sich auch anders, ihr Gebaren unterschied sich von dem der Kerle, und sie waren etwas zierlicher. Visser empfand Haß auf alle, egal ob es Männer oder Frauen waren, und den anderen erging es genauso. Aber sie mußten tatenlos mit ansehen, wie ihr Schiff immer weiter verschwand, bis gegen Abend nur noch ein paar bizarre Planken herausragten. Auch die wurden abgewrackt. Die Nordmänner arbeiteten ohne Unterbrechung und schafften alles an Land, was zu gebrauchen war. Und sie brauchten alles, das ganze Schiff bis auf den letzten Nagel. An diesem Abend wurden zwei Wachen aufgestellt, denn Vermeulen befürchtete einen Angriff. Jetzt, nachdem die „Godewind“ so gut wie verschwunden war, würden die wilden Kerle sich um sie kümmern und sie kurzerhand umbringen. De Jong und Breukel umrundeten immer wieder den Steinbau, gingen dicht zum Wasser hinunter und lauschten auf fremde Geräusche. Doch sie hörten nur den Wind pfeifen und das Brausen der See.
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Die Nacht war so finster wie die vorangegangene. Man sah die Hand vor Augen nicht. „Die kümmern sich erst in der nächsten Nacht um uns“, sagte Breukel. „Die sind heute von der Arbeit erledigt, ich glaube nicht, daß wir etwas zu befürchten haben.“ Etwas später, alle beide waren bis auf die Knochen durchgefroren, wurden sie von Visser und te Poel abgelöst. „Da drin ist es lausig kalt“, sagte te Poel. „Man kann vor Kälte kaum schlafen, weil der Frost aus dem Boden dringt. Haut euch hin, wir passen jetzt auf!“ Steifgefroren, klamm und mit den Zähnen klappernd, kauerten sie sich im Innern zusammen und hüllten sich in die feuchten Decken. Breukel schlief erstaunlicherweise sofort ein, während de Jong sich immer wieder vor Kälte schüttelte. Nein, überlegte er, das hier hielten sie nicht lange durch, trotz aller optimistischen Voraussagen nicht. Wenn man kein Feuer entzünden konnte, dann holte man sich hier den Tod, und der wartete nicht lange, der kam schnell. Eisige Kälte entströmte dem Boden, kroch in alle Glieder und ließ sie dumpf und taub werden, bis kein Gefühl mehr in ihnen war. Und doch gab dieser Steinbau noch etwas Wärme. Draußen zu schlafen, hätte den schnellen Tod mit sich gebracht. Aber hier wurde wenigstens der eisige Wind etwas abgehalten, obwohl er durch alle Ritzen pfiff und heulte. Lange lehnte de Jong an der kalten Steinwand, unter sich den noch kälteren Boden, lauschte dem rauhen Wind, hörte das Brausen der Brandung und ab und zu ein geflüstertes Wort ganz in seiner Nähe, wenn die beiden Wachen vorübergingen. Die Kälte bohrte und fraß in ihm, und als er einmal aufstand, um sich zu strecken, kam er kaum vom Boden hoch. Er beneidete die anderen, die schliefen und sich jetzt, wenigstens in ihren Träumen, in einer besseren Welt befanden. Sein weiteres Schicksal stand ihm erschreckend klar vor Augen.
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Diese kalte, neblige Insel war sein letzter Ort. Weiter ging es nicht mehr, auch wenn sie noch das Boot hatten, denn eine Fahrt damit würden sie bei Nacht kaum noch überleben. Vielleicht schaffte es der eine oder andere, aber er selbst nicht mehr. Er fühlte sich leer und ausgebrannt, kund eine tiefe Gleichgültigkeit überfiel ihn. Irgendwann schlief er dann doch noch ein. 6. Der nächste Morgen, der auf der Insel anbrach, ließ die Lebensgeister wieder aufflackern. Am Strand, nicht weit von ihnen, befand sich Treibgut, das von ihrem Schiff stammte. Durchgefroren, übermüdet und von der eisigen Kälte kreuzlahm, standen sie mit grauen Gesichtern am Strand und blickten auf das, was das Meer ihnen beschert hatte. Viel war es nicht, aber es bedeutete ein klein wenig Hoffnung. Zwei zerborstene Schiffsplanken lagen auf den Steinen, ein kleines Faß war angeschwemmt worden, und dann lag eins der eigenartigen Fellboote am Strand. „Das Ding haben wir gestern zertrümmert“, sagte Visser, aber der Cap schüttelte den Kopf. „Nein, das haben wir nicht. Dieses Boot ist unbeschädigt, sie müssen es verloren haben, oder ...“ Visser sah seinen Irrtum ein. „Vielleicht saß darin der Kerl, der unsere Ankertrosse gekappt hat“, sagte er. „Ja, das ist möglich. Vielleicht ist er ersoffen, das wäre dann ausgleichende Gerechtigkeit. Holt jetzt aber erst mal das Faß an Land, vielleicht können wir mit dem Inhalt noch etwas anfangen.“ „Es scheint eins der kleinen Schmalzfässer zu sein, die der Koch in der Vorratskammer hatte.“ Das Faß wurde höher hinaufgezogen und untersucht. Die abgezehrten und enttäuschten Männer stießen einen Freudenschrei aus. Das Fäßchen enthielt tatsächlich Schmalz. Es war vermutlich erst auf See
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hinausgeschwommen und später wieder angetrieben worden, als der Wind drehte. Sie aßen es so, wie es war, mit den Fingern, langten immer wieder hinein, bis der Cap Halt gebot. Dann wurde das andere Treibgut geborgen. Ein armlanges dickes Stück Holz stammte aus dem Kielschwein. Es würde sehr lange brennen, denn es war hartes, gutes Holz. Auch die beiden zersplitterten Planken würden zwei oder drei Tage lang reichen. Weiter fanden sich kleineres Holz, Splitter, Späne und zwei Faßdauben. Vermeulen sah zu der anderen Seite hinüber. Das Wrack der „Godewind“ war verschwunden. Dort, wo es auf den Klippen gelegen hatte, fand sich nichts mehr. Kein Stück Holz, keine Planke. Es war so, als hätte das Schiff nie existiert. Visser ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie drohend. „Diese gottverdammten Halunken!“ schrie er. „Der Teufel soll sie alle holen!“ Vermeulen stand da und blickte auf den steinigen Strand. In seinen Augen war aller Glanz erloschen, sie blickten fast leblos. „Ich überlege mir gerade, ob ich nicht hinüberfahren und mit ihnen verhandeln soll“, sagte er. „Sie wissen, daß wir hier erbärmlich krepieren, und sie wissen, daß es unser Schiff war. Vielleicht kann man sie überzeugen.“ Visser begann zu lachen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Cap!“ rief er. „Und ich sage dir gleich, daß wir dich notfalls mit Gewalt daran hindern werden, zu diesen lausigen Kerlen zu pullen. Die knallen dich ab, noch bevor du den Strand erreichst. Du verstehst kein einziges Wort ihrer Sprache, und dann ist da noch etwas: Sie haben unser Schiff angegriffen, um in den Besitz von Holz und anderem Kram zu gelangen. Glaubst du wirklich, die werden uns die Hälfte abgeben, weil wir so nette Bärte haben? Da kann ich nur lachen, Cap!“ Vermeulen ließ die Schultern hängen. Er starrte immer noch auf den grauen Strand, während er sprach.
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„Ja, du hast recht, Visser! Es wäre idiotisch. So geht es also auch nicht, aber etwas anderes fällt mir ebenfalls nicht ein.“ „Dann denken wir nicht mehr daran, Cap. Laß es bleiben, die Kerle verhandeln nicht, das ist sicher. Fischen wir alles an Treibholz aus dem Wasser, was wir finden. Vielleicht ist auf der anderen Seite auch noch etwas angetrieben.“ Von den Nordmännern ließ sich keiner blicken. Es war auch kein einziges Boot zu sehen. Sie hatten sie wahrscheinlich an Land gezogen und zu ihren höhlenartigen Behausungen getragen. „Jetzt hocken sie in ihren Höhlen“, sagte Visser verbiestert, „wärmen sich den Hintern und fressen unseren Proviant. Ich darf gar nicht daran denken, daß sie unser Schiff Stück um Stück verfeuern.“ „Hör auf damit!“ schrie Vermeulen. „Ich kann das nicht mehr hören! Suchen wir lieber nach weiterem Treibholz!“ Das, was sie am Strand gefunden hatten, wurde in den Steinbau getragen und aufgeschichtet. Dann zogen sie los, den größten Teil der Insel umrundend. Es gab keine Stellen, die man als angenehm bezeichnen konnte. Überall waren der stille, bedrückend wirkende Nebel, der Wind und die Kälte. Es war wirklich die trostloseste Ecke der Welt. Auf der Ostseite fanden sie wiederum Holzsplitter von Planken und zwei Belegnägel aus der Nagelbank. Die kleinen trockenen Büsche, die nur handhoch waren, rissen sie aus dem felsigen Boden und nahmen sie ebenfalls mit, um sie zu verbrennen. Sonst gab es nur Steine, groben Sand, Felsen und auf der einen Inselseite Eis, das in Schollen am Ufer lag. „Es scheint eine der kleinsten Inseln zu sein, auf der wir uns jetzt befinden“, sagte de Jong. „Wollen wir nicht einmal versuchen, eine weiter entfernt gelegene zu erreichen? Schlimmer als hier kann es auf keinen Fall sein, denn etwas Schlimmeres gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr.“ Vermeulen nickte.
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„Eigentlich ist es jetzt egal“, sagte er, „da unsere ,Godewind` ohnehin beim Teufel ist. Was meint ihr dazu?“ Visser scharrte mit den Füßen im Sand. „Wir sollten wirklich so schnell wie möglich etwas unternehmen, Cap. Wenigstens sollten wir für Proviant sorgen, aber sieh dir deine Männer mal genau an. Keiner hat mehr Lust, ich wette, die haben inzwischen alle mit dem Leben abgeschlossen.“ „He, he!“ protestierte te Poel. „So ist es nun auch wieder nicht. Ein paar Tage können wir schon noch überleben, jedenfalls haben wir die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.“ Sie standen herum und froren, und sie wagten kaum, sich in die Augen zu sehen. Einige waren bereits so apathisch, daß ihnen alles gleichgültig zu werden begann. Jeder tat sich zwar mit Worten hervor, doch unternehmen wollten sie nichts. Sie schoben es immer wieder hinaus. Sie gingen zurück, bedrückt, durchfroren, erledigt. Später, in dem Steinbau, wurde wieder ein Feuer entzündet, und sobald sie ihre klammen Glieder ein wenig erwärmt hatten, sprachen sie von großen Taten und was sie alles unternehmen würden. Dann brach die Dämmerung herein, und es hatte sich immer noch nichts geändert. Selbst Vermeulen war zu bequem geworden, an ihrer Lage etwas zu verbessern. Als er die erste Wache übernahm, stand er frierend im Windschatten des primitiven Steinhaufens und starrte aus düsteren Augen zu der anderen Insel hinüber. Merkwürdig, daß sich da nichts rührte, dachte er immer wieder. Keiner ließ sich blicken. Fast hatte es den Anschein, als seien die Nordmänner weitergezogen und hatten ihre Höhlen verlassen. Er teilte de Jong seine Beobachtungen mit, als der ihn bei Dunkelwerden ablöste. „Das kann ich mir nicht vorstellen, Cap. Aus welchem Grund sollen sie ihre Höhlen verlassen haben? Nein, die hausen hier, und sie werden auch in nächster Zukunft immer noch hier hausen.“
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„Aber es läßt sich niemand blicken. Das ist es, was mir zu denken gibt. Wenigstens einen von diesen lausigen Kerlen müßte man doch zu Gesicht kriegen. Oder man müßte bei Nacht einen winzigen Feuerschein aus ihren Höhlen sehen.“ „Ich werde jedenfalls aufpassen“, versprach de Jong, als Vermeulen in den Steinbau ging. Frierend stand er in der Hundekälte. Jedesmal, wenn er ausatmete, erschien eine dichte Wolke vor seinem Gesicht. Nach einer Weile begann er am Strand entlangzulaufen, und dabei erkannte er die Umrisse ihres Bootes. Lange überlegte er, dann war sein Entschluß gefaßt. Er würde erkunden. Die See ging nicht mehr so hoch, es war fast pechschwarz, und wenn er vor die andere Insel fuhr, konnten ihn die Nordmänner ebenfalls nicht sehen. Er versuchte, das Beiboot zu bewegen. Es war schwer, und es knirschte leise unter dem Kiel, als er sich gegen den Rumpf stemmte. Er schob kräftiger, drückte, und plötzlich griff jemand nach seinem Arm und hielt ihn fest. De Jong erschrak, aber das dauerte nur eine Sekunde, dann hatte er sich wieder gefangen, stieß den Arm von sich und schlug mit aller Kraft zu. Er erwischte seinen unsichtbaren Gegner leicht an der Schulter und hörte dessen unterdrückten Fluch. „Bist du verrückt, Mann? Was soll das?“ De Jong war so erleichtert, daß er tief ausatmete. „Mann, te Poel“, sagte er, „ich dachte, das sei einer von diesen Nordmännern, die sich angeschlichen haben.“ „Quatsch, ich konnte nicht schlafen. Die Kälte bringt einen ja fast um, und deshalb ging ich nach draußen. Was willst du mit dem Boot?“ „Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, ich wollte es ins Wasser schieben.“ „Und dann?“ „Nachsehen, ob die Kerle noch auf der Insel sind. Vielleicht sind sie tatsächlich
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verschwunden, denn dort rührt sich nichts mehr.“ „Du bist ja verrückt!“ sagte te Poel. „Mag sein, aber diese Ungewißheit halte ich nicht aus. Was ist schon dabei, wenn wir einmal dicht an der Küste entlang rudern, um nachzusehen?“ „Eigentlich ist nichts dabei, mir läßt es auch keine Ruhe. Aber der Cap würde es nicht erlauben.“ „Wir brauchen es ihm ja nicht auf die Nase binden. In einer halben Stunde sind wir wieder zurück.“ Te Poel rang mit einem Entschluß. Dann schlug er seinem Kameraden mit der Hand auf die Schulter. „Gut, fahren wir“, sagte er. „Wenn sie noch da sind, dann muß Lichtschein aus den Höhlen dringen. Aber leise, damit der Cap uns nicht hört.“ Mit vereinten Kräften schoben sie das Boot ins Wasser. Das knirschende Geräusch ließ sich nicht vermeiden, aber in dem Steinbau rührte sich nichts. Also hatte auch keiner etwas gehört. „Wir haben fast ablandigen Wind“, sagte te Poel. „Wenn wir abtreiben, sind wir erledigt.“ „Keine Sorge, zu zweit schaffen wir das. Wir müssen uns nur kräftig in die Riemen legen.“ Te Poel hatte immer noch Bedenken, aber de Jong verstand es, ihn zu beruhigen, bis te Poel schließlich den Riemen ergriff und sich zurücklehnte. Die ersten kleinen Wellen hoben das Boot hoch und ließen es wieder eintauchen. Sie kamen gut voran, doch alle beide merkten, daß der Wind sie auf See hinaustrieb. In ihrer heimlichen Angst begannen sie, schneller zu pullen, lagen dann dwars zu den Wellen und ruderten schweigend und verbissen. Von der Kälte war jetzt nichts mehr zu spüren. Es dauerte nicht lange, dann standen ihnen die ersten Schweißperlen auf der Stirn. „Verdammt“, sagte te Poel keuchend. „Das strengt mächtig an, wenn man nichts Richtiges im Magen hat. Siehst du eigentlich schon die Umrisse der Insel?“
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„Nein, zu dunkel. Aber wir müssen uns bald auf gleicher Höhe befinden.“ „Wir treiben ab, Mensch!“ „Quatsch, das meinst du nur!“ Wieder schwiegen sie eine Weile, aber alle beide wurden das unheimliche Gefühl nicht los, schon weit aufs Meer getrieben zu sein. Aber noch wollten sie es voreinander nicht zugeben. Schweigend und voller Zorn pullten sie weiter. Alle beide fühlten deutlich, daß sie sich auf etwas eingelassen hatten, das ihre Kräfte überstieg. Te Poel war dauernd versucht zu fragen, ob sie nicht doch lieber umkehren sollten. Aber er sprach es nicht aus. De Jong hatte die gleiche Frage ebenfalls auf der Zunge, doch auch er sagte kein Wort, sondern ruderte verbissen weiter. Als ihnen der Schweiß schließlich in Strömen über die Gesichter lief, ließ te Poel kraftlos den Riemen sinken. „Verdammt, ich kann nicht mehr.“ „Pull weiter, Mensch, sonst erfrieren wir noch.“ De Jong spürte, daß seine Schweißtropfen abkühlten und sich in Eiskristalle verwandelten. Sobald er mit dem Pullen aufhörte, fror ihn entsetzlich. Immer noch war nichts zu sehen, kein Land, kein Felsen, kein einziges Stück von der Insel, die da in der nächtlichen Schwärze ganz dicht vor ihnen liegen mußte. Nach fast einer weiteren halben Stunde sagte de Jong: „Wir sind dran vorbei, Conny, oder ich will verdammt sein. Und die Nordmänner kriegen wir auch nicht mehr zu Gesicht. Nicht der geringste Feuerschein verrät sie.“ „Ich – ich glaube, wir sollten doch besser wieder zurückrudern.“ Das sagte sich zwar so leicht dahin, aber keiner von beiden wußte jetzt genau, wo „ihre“ Insel lag. Sie orientierten sich nach den Wellen, drehten das Boot um und pullten auf der Dwarslinie wieder in die Richtung zurück, in der sie die Insel vermuteten. Lange herrschte fast peinliches Schweigen zwischen ihnen. Dann, nach einer weiteren Ewigkeit, gab te Poel seinen Stolz auf.
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„Wir sind abgetrieben, wir finden den Weg nicht mehr.“ „Wir werden ihn schon finden. Die Passage zwischen den Inseln ist so schmal, daß wir garantiert von allein auf Land laufen. Das müßte sonst mit dem Teufel zugehen.“ Es ging mit dem Teufel zu. Während sie verbittert und enttäuscht weiterpullten, fanden sie kein Land. Panik überfiel die beiden Männer, und wieder versuchten sie nach einer Weile, sich gegenseitig Mut zuzusprechen. „Mann, wir sind doch nicht den ersten Tag auf See“, sagte de Jong schließlich mit ärgerlicher Stimme. „Wir werden doch die lausige Dreckinsel wiederfinden. Gut, der Wind hat uns abgetrieben, aber wir können nicht weit draußen sein.“ „Eigentlich nicht, wir schaffen es schon noch. Wir haben uns bloß in der Zeit verrechnet.“ Mit wachen Augen spähten sie in die Finsternis, ob es da nicht irgendwo die Andeutung eines Schattens gab, ob nicht ein Licht schien oder sich irgendwo Konturen abzeichneten. Doch die Nacht war so dunkel wie ein Kohlensack. Kein Stern schien am Himmel, kein Mondstrahl spendete etwas Helligkeit. Es war, als wären sie beide blind. Immer schneller begannen sie zu pullen, dabei schnürte die Angst ihnen die Kehle zu. Mit Schaudern dachten sie daran, wie es war, wenn sie eine Nacht im Boot draußen auf der eisigen See verbringen mußten. Sie hatten keine Decke, keine Plane, sie hatten nichts als das, was sie auf dem Leib trugen. Ganz zu schweigen von Trinkwasser oder Proviant. Stunde um Stunde pullten sie, und doch stießen sie nicht auf Land. Da wußten sie, daß jetzt ihre letzte Fahrt begann und sie zur ganz großen Reise gemustert wurden. 7. Vermeulen hatte merkwürdigen Traum.
wieder
seinen
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Er schwebte in seligen Gefilden, die Sonne brannte heiß herab, aber irgendetwas lastete auf ihm, und er kriegte kaum Luft. Dann erwachte er und fühlte schmerzhaft den Übergang von brennender Sonne zu eisiger Kälte. Mühsam stand er aufstöhnte leise und stützte sich an die eiskalten Steine. Seine Hüften waren taub, und er glaubte, sie bestünden aus reinem Eis. Der Schmerz durchzog seinen ganzen Körper bis in die Schultern hinauf. In der Steinhütte glomm kein Feuer mehr. Es schwelte nur noch etwas, und der beizende Rauch erfüllte alles. Er ging zu der Feuerstelle, blies in den Qualm und war erleichtert, als es darunter ganz schwach zu glühen begann. Er blies stärker und legte ein dünnes Stückchen Holz nach, das nach einer Weile auch Feuer fing. Mit dem Oberkörper auf Händen und Knien liegend, schob er sich über die winzige Flamme, bis sie seine Kleider versengte. Dann erst sah er sich um. Seine Kameraden lagen wie tot auf dem Boden. Sie waren eng zusammengerückt, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten. Nur Visser lehnte mit geschlossenen Augen und faltigem Gesicht an der Wand. De Jong und te Poel fehlten, sie waren vermutlich ganz in der Nähe der Hütte und gingen ihre Wache. Vissers Anblick erschreckte ihn. Er hockte sich dicht vor ihn hin und starrte in das eingefallene, bärtige Gesicht. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, daß Visser längst tot sei. Er sah auf seine Brust, konnte in dem schwach flackernden Schein aber nicht sehen, ob sie sich bewegte. Dann stieß er Visser entsetzt mit dem Finger an und wartete auf eine Reaktion. Erst als Visser ganz leicht die Au- gen öffnete und ihn ansah, ohne ihn zu bemerken, atmete Vermeulen beruhigt auf. „Alles in Ordnung“, sagte er leise. „Wir sollten aber mal die beiden Wachen ablösen.“
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„Ist nur einer draußen“, sagte Visser schläfrig. „Nein, zwei sind draußen.“ Visser erhob sich widerwillig, knurrend und gereizt. Die Kälte setzte ihm genauso hart zu wie den anderen auch. Als er aufstand, mußte Vermeulen ihn stützen, so gebrechlich wirkte er. „Ich bin halb erfroren, Cap“, sagte Visser stöhnend. „Ich auch. Gehen wir mal nachsehen.“ „Die werden sich schon melden.“ „Haben sie aber nicht.“ „Wie lange sind sie denn draußen?“ „Keine Ahnung.“ Sie quälten sich durch die „Tür“, die nur aus einem mit einem Stein beschwerten Lappen bestand, und standen im Freien. Jetzt erst merkte man den Unterschied. Im Steinbau war es direkt warm. Hier draußen pfiff einem der kalte Wind ins Gesicht. Vom Meer drang eisige Kühle herüber, und der steinharte Untergrund schien aus einem einzigen Eisblock zu bestehen. „De Jong!“ rief Vermeulen in die Dunkelheit. Keine Antwort. Vom Innern der Insel pfiff ein scharfer Wind heran und riß ihm die Worte von den Lippen. „Te Poel!“ schrie Visser. Nur das leichte Tosen der Brandung war zu hören. Ein zweiter Windstoß fuhr kalt über sie weg. Vermeulen stieß einen Fluch aus und umrundete die Hütte. Auf der anderen Seite traf er wieder mit Visser zusammen. „Verdammt! Wo sind die Kerle denn?“ „Hoffentlich nicht irgendwo zusammengebrochen und erfroren“, sagte Visser. „Bei der Kälte ist alles möglich.“ Vermeulen lief in die Hütte zurück und weckte die anderen. Gleichzeitig riß er einen glimmenden Span aus dem Feuer und blies ihn zu heller Glut an. Die anderen sahen ihn ausdruckslos an. „Zwei Männer sind fort!“ schrie Vermeulen. „De Jong und te Poel fehlen, sie sind nirgends zu sehen.“ Das riß auch die anderen aus ihrer Lethargie. Schwerfällig und leise Flüche
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murmelnd standen sie auf und gingen hinaus. Vermeulen lief mit dem glimmenden Span zum Wasser hinunter. Er schwenkte ihn hin und her, und der Wind entfachte eine kleine Flamme, die aber immer wieder erlosch. Viel sah er nicht, aber dann stand er an der Stelle, wo sich das Boot befunden hatte. Er stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Das Boot ist weg!“ Sie konnten es nicht so recht glauben und hasteten weiter am Strand entlang, aber es war verschwunden und mit dem Boot auch die beiden Kameraden. „Was, zum Teufel, ist denn hier passiert?“ rief Visser. „Vielleicht ist das Boot abgetrieben“, sprach Breukel seine Vermutung aus. „Und die beiden haben versucht, es zu retten.“ „Dann müßten sie ja irgendwo sein. Los, Leute, sucht den Strand ab, wir gehen auf die andere Seite. An der Hütte treffen wir uns wieder.“ Aufgescheucht durch das ungewisse Schicksal ihrer Kameraden, liefen sie am Strand entlang. Immer wieder riefen sie die Namen, doch es erfolgte keine Antwort. Erst viel später trafen sie wieder zusammen. „Nichts, keine Spur!“ „Die sind nicht auf der Insel.“ Vermutungen wurden laut. „Ob die Nordmänner sie geschnappt haben?“ „Dann hätten sie sich bestimmt gewehrt oder geschrien.“ „Vorausgesetzt, sie haben sie überhaupt bemerkt.“ Vermeulen lief hin und her, rief, schrie, flehte und drohte. Auf die Idee, daß die beiden mit dem Boot losgepullt waren, um mal auf der Nachbarinsel nachzusehen, kam er nicht. Niemand dachte daran, auch die anderen nicht. Das Verschwinden der beiden löste bei den anderen Angst und Schrecken aus. Immer wieder sahen sie sich nach unsichtbaren Gegnern um, die .irgendwo in der
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Finsternis lauern konnten und ihnen haushoch überlegen waren. „Vielleicht haben die Nordmänner die Insel angelaufen“, sagte Visser, „und die beiden sind mit dem Boot geflüchtet.“ „Du spinnst ja, das würden sie nie tun, ohne uns zu warnen.“ Nein, das glaubte er auch nicht, aber irgendein geheimnisvoller Vorfall war passiert. Es ging jedenfalls nicht mit rechten Dingen zu, und das war das Schlimme: die Ungewißheit. Ihre Müdigkeit war jetzt verflogen, ihre einzige Sorge galt den Kameraden, und so irrten sie immer wieder am Strand entlang in der Hoffnung, sie würden sie doch noch finden. Viel später, es mußte schon weit nach Mitternacht sein, standen sie vor der Hütte auf der windabgewandten Seite und beratschlagten, was zu tun sei. Da war in dem Rauschen der Brandung plötzlich ein anderes Geräusch. Als seebefahrene Leute konnten sie das aus Wind und Wellen heraushören. Ein Boot schabte fast lautlos auf den Kies, und dann stieg jemand ins Wasser. Visser und Vermeulen tasteten nach ihren Messern. Niemand sprach ein Wort. Es konnten genauso gut Nordmänner sein, es konnten aber auch ihre Kameraden sein. Wenn es te Poel und de Jong waren, würden sie es gleich wissen. Steine und grober Kies knirschten leise, Männer näherten sich. Vissers Herz schlug bis zum Hals, Vermeulen stand in total verkrampfter Haltung da, und Breukel und die anderen hielten ihre Messer stoßbereit in den Fäusten. Mit angespannten Sinnen lauerten sie in die Dunkelheit. Nein, das waren nicht ihre Kameraden, soviel stand fest. Es waren leise, aber für ihre geschulten Ohren dennoch unüberhörbare Schritte von mehreren Männern, die sich der Hütte näherten. Sie bewegten sich in der Dunkelheit so sicher, als wäre es heller Tag. Dicht vor der Hütte blieben sie stehen. Ein knapper Laut in einer völlig fremden
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Sprache folgte. Anschließend stießen die Fremden ein wildes Gebrüll aus und drangen in die Hütte ein: „Auf sie!“ schrie Vermeulen wild. Sie griffen die Gestalten an, die sie nicht sahen, sie hieben mit Messern und Fäusten zu, und in diesem Kampf auf Leben und Tod nahm keiner auf den anderen Rücksicht. Die Hütte war vom Geschrei kämpfender Männer erfüllt. Ein Todesschrei erklang, niemand wußte, wer ihn ausgestoßen hatte. Dann fühlte Breukel, wie ihm etwas Heißes durch die Schulter fuhr und seinen Körper lähmte. Noch im Fallen stach er in ohnmächtiger Wut und grenzenlosem Haß zu. Und bevor er zu Boden sank, ahnte er, daß die Nordmänner ihre Kameraden ebenso heimtückisch überfallen hatten. Die Handvoll Holländer wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen einen Gegner, der ihnen zahlenmäßig überlegen war, und sie errangen auch einen Erfolg. Die Nordmänner, durch den unvermuteten Angriff noch mehr überrascht als Vermeulens Gruppe, ergriffen die Flucht. Sie hasteten brüllend zum Wasser, bestiegen ihr Boot und verschwanden in der Dunkelheit. Der Rest der Nacht verlief ruhig. Sie kehrten nicht mehr zurück. Aber Vermeulen hatte einen weiteren Mann verloren, und Breukel war schwer verletzt. Dafür hatten sie drei Nordmänner getötet, die am anderen Morgen dicht vor der Hütte lagen. Sie sahen sie erst, als es langsam zu dämmern begann. * Immer wieder drang Wasser ins Boot, aber sie konnten es nicht ausösen, weil sie nichts zum Ausösen hatten. An Schlaf war nicht zu denken. Die Kälte hielt sie wach, sie trauten sich auch nicht, zu schlafen, obwohl sie sich abgeschlafft und müde fühlten. Nickte einer mal kurz ein, weckte ihn sofort der andere. „Wenn wir einschlafen, sind wir erledigt“, sagte te Poel. In seinen Augenbrauen
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hatten sich Eiskristalle gebildet. Seine Stirn fühlte sich wie ein Eiszapfen an, und seine Augen brannten höllisch. De Jong erging es nicht anders. Er spürte, wie er fast auf der nassen Ducht im Boot anfror, wie seine Hände kaum noch in der Lage waren, etwas zu halten, und wie sein geschundener Körper allmählich erstarrte. Er wußte, daß er den sicheren Tod vor Augen hatte, sobald er einschlief, aber andererseits wußte er auch, daß er den Tod vor Augen hatte, wenn er nicht einschlief. Diese Strapaze und das Bewußtsein, sich jetzt vermutlich irgendwo auf hoher See zu befinden, waren zuviel. Das hielt man nicht lange durch. Der einzige Lichtblick war der, daß sie im Morgengrauen vielleicht doch noch Land sichteten, aber selbst daran glaubte er kaum noch. Der Wind blies sie immer weiter hinaus, immer höher nach Norden, auch wenn sie hundertmal gegen ihn anpullten. Ihre Kräfte reichten nicht, sie waren zu schwach. Nach einer Weile stellten sie das Rudern ein. De Jong konnte seine Arme nicht mehr bewegen. Er zog den Riemen ins Boot und rutschte von der Ducht. Aber die Gräting schwamm im Wasser, und das war eiskalt. An einigen Stellen begann sich bereits Eis zu bilden. Te Poel beugte sich über seinen Kameraden, und in diesem Augenblick schwappte eine Welle über Bord und durchnäßte ihn erneut. „Was ist mit dir?“ schrie te Poel. „Du darfst jetzt nicht einschlafen, verdammt!“ De Jongs Stimme war nur noch ein klägliches Winseln. „Ich kann nicht mehr, ich bin fertig. Wir lassen uns treiben, Conny, wir verrecken sowieso.“ „Ja, wir verrecken!“ schrie te Poel. „Aber ich will trotzdem nicht krepieren wie eine alte Ratte. Reiß dich zusammen!“ Er versuchte, seinen Kameraden hochzureißen, aber in dem schwankenden Boot gelang ihm das nicht. Er verlor die Balance und stürzte der Länge nach ins Boot.
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Der Wind .trieb sie weiter einem unbekannten Ziel entgegen, und mit jeder Stunde, die verrann, schien auch das Leben der beiden Männer zu verrinnen. De Jong schlief tief und erschöpft, aber jeder Brecher, der ins Boot klatschte, ließ ihn hochschrecken. Noch bevor der Morgen graute, begann er zu husten, immer stärker, bis er kaum noch Luft kriegte. Dann breiteten sich rote Flecken auf seinem Gesicht aus, und seine Augen wurden glasig. Er begann im Fieberwahn zu phantasieren und redete wirres Zeug. Mitunter versuchte er, im Boot aufzustehen und etwas zu erklären. Te Poel, dem es nicht viel besser ging, redete beruhigend auf ihn ein, legte ihn wieder auf die Ducht zurück und bewahrte ihn davor, in das eisige Wasser über der Gräting abzurutschen. Einsam und verlassen kauerte te Poel auf der Ducht. Ab und zu stand er auf, riß und zerrte an dem Stoff seiner Hose, die auf der Ducht angefroren war und stieß ellenlange Flüche aus. De Jong rührte sich nicht mehr, wahrscheinlich war er doch eingeschlafen und dämmerte jetzt in die Ewigkeit hinüber. Te Poel konnte ihm nicht mehr helfen, er war selbst zu keiner Bewegung mehr fähig, und nach einer Weile war ihm alles egal. Er nickte ein, erwachte wieder, sah sich um und starrte in die Finsternis. Dann begann es endlich zu dämmern. Er spürte keinen Hunger und auch keinen Durst, er war apathisch und halbtot. Erst als er den grauen Horizont sah, kam er wieder zu sich. Schwerfällig kroch er zu de Jong und rüttelte ihn. Zu seinem allergrößten Erstaunen schlug de Jong die Augen auf. Er sah ihn an, aber sein Blick war in weite Fernen gerichtet und ging durch ihn hindurch. „Steh auf!“ sagte te Poel. De Jong grinste. Sein Gesicht war aufgedunsen, und er ähnelte mehr einem Toten, denn einem Lebenden. Dann schlossen sich seine Augen wieder, aber das Grinsen auf seinem Gesicht blieb wie eine Maske.
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Te Poel blickte zum grauen Horizont. Er sah nur einen verwaschenen Streifen in weiter Ferne. Das Meer war dunkelgrau, der Himmel hatte die gleiche Farbe, und eine unangenehm hohe Dünung ging. Immer wieder klatschte Wasser herein. Müde blickte er zur anderen Seite, und es erstaunte ihn nicht einmal, daß er kein Land mehr sah. Die Inseln waren verschwunden. Die Richtung, in die er blickte, war von kaltem Nebel verhüllt. Vielleicht lag dahinter das Land, dachte er. Vermutlich waren sie von jener Nebelbank hier hergetrieben, aber das Land konnte auch woanders liegen. Er wußte es nicht. Wieder stieß er de Jong an. „Wach auf, Junge!“ schrie er ihn an. „Wir pullen zurück in den Nebel am Horizont. Ganz sicher liegt dahinter das Land. Steh endlich auf und sieh dich um!“ De Jong rührte sich nicht. Nur sein Grinsen blieb. Er sprach weiter auf ihn ein, nannte ihn einen gottverdammten Schuft, weil er nicht weiterrudern wollte, und beschimpfte ihn. Dann riß er ihn am Arm hoch. Aber der Arm war mit der Jacke am Holz festgefroren und unter seinem Körper hatte sich ebenfalls Eis gebildet. Entsetzt erkannte er, daß de Jong tot war. Still und leise war er gestorben, nachdem er noch einmal die Augen geöffnet hatte. Te Poel brauchte eine ganze Weile, um sein Entsetzen zu überwinden. Immer wieder blickte er zu dem Toten. Dann lehnte er sich mit einem lauten Schrei über das Dollbord und erbrach sich vor Verzweiflung. Doch sein Magen gab nichts mehr her, er war leer und ausgepumpt, und so wurde die Übelkeit nur noch schlimmer für ihn. Jetzt war er allein, endgültig und unwiderruflich. Außer ihm gab es nur noch das Meer, den Himmel — und den Toten. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so elend und verlassen gefühlt wie in diesem Moment. Nicht mehr lange, so überlegte er, dann würde er genauso daliegen wie de Jong. Erfroren, verhungert oder verdurstet, das
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kam auf dasselbe hinaus, der Tod war unausbleiblich, wenn er nicht doch noch irgendwo Land erreichte. Die überkommende See deckte den Toten zu, bis sich über seinem Körper eine leichte Eisschicht bildete. Als es dann hell wurde, war der Nebel achteraus noch dichter geworden, und der Horizont vor ihm war kaum noch zu sehen. Wasser und Himmel gingen ineinander über. Te Poel griff zu den eisbedeckten Riemen und begann zu pullen. Monoton zog er durch, wartete den nächsten Brecher ab und pullte weiter. Er merkte nicht, wohin er pullte, er kannte die Richtung nicht, in der das Land lag, aber er pullte weiter, und dabei blickte er immer wieder auf den Toten. „Du hast es gut“, murmelte er, „du bist aus allem 'raus. Hast dich einfach davongeschlichen und mich allein gelassen. Das ist hundsgemein von dir, mein Junge, und das wird der alte Conny dir auch nicht vergessen.“ Ein Hustenanfall lähmte ihm vorübergehend die Stimme. Erst danach konnte er wieder sprechen. „Ein Schuft bist du“, sagte er weinerlich. „Einer, der seinen Kumpel im Stich läßt. Ah, das paßt dir nicht, ich sehe es dir doch an. Nein, nein, mir brauchst du nichts zu erzählen, mein Verstand funktioniert noch einwandfrei.“ Jetzt tauchte am Horizont blutig-roter Nebel auf, in dem pechschwarze Wolkenfetzen wirbelten. Weiter hinten war die See ganz glatt, und er glaubte, die Sonne scheinen zu sehen. „Es wird wärmer, de Jong“, sagte er. „Spürst du es nicht? Los, pack endlich den Riemen! Da müssen wir hin!“ Wie ein Irrer begann er zu pullen, drehte sich immer wieder um und erwartete, daß der blutrote Nebel verschwände. Aber er blieb, er konzentrierte sich nur noch dichter, und nach einer Weile glaubte er, Palmen in dem Nebel zu erkennen. Sein Unterbewußtsein sagte ihm, daß das alles nur Trugbilder waren, hervorgerufen durch sein Fieber, und daß die See
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dahinten genauso aussah wie hier auch und sich nichts geändert hatte. Doch te Poel wollte es nicht glauben, außerdem begann sein Geist, sich immer mehr zu verwirren, und seine Gedanken wurden krauser. Er sah den Toten an, stand auf und ging zu ihm hin. Sekundenlang sah er seine eigene Situation in aller Deutlichkeit vor Augen. Er wußte, daß de Jong tot war, und so versuchte er, ihm wenigstens die Jacke auszuziehen, denn de Jong nutzte das Kleidungsstück nichts mehr. Es war eine mühselige Arbeit, den angefrorenen Toten zu lösen und ihm die Jacke über den Oberkörper zu streifen. Als er sie schließlich in den Händen hielt, war sie steif wie ein Brett, und er konnte sie nicht einmal anziehen. Danach versank er zeitweilig wieder in eine friedvolle Welt, in der es keine eisige Kälte gab und nur die Sonne schien. Erst viel später, als er immer noch seinem geisterhaften Ziel entgegenpullte, wurde sein Verstand wieder klar. Er zog die Riemen ein und blickte auf den Eisklumpen, der vormals sein Kamerad gewesen war. Nein, er vermochte diesen Anblick nicht länger zu ertragen. De Jong mußte über Bord, wie es altem Seemannsbrauch entsprach. Man ließ Tote nicht herumliegen, sie gehörten der See. Es war ein schweres Stück Arbeit, und es erforderte fast seine letzten Kräfte, de Jong über den Rand des Dollbords zu heben. Der Körper fühlte sich wie ein Eisklotz an, und er war auch unheimlich schwer. Te Poel murmelte ein Gebet und gab der Leiche einen leichten Stoß. Weil das Boot gerade überholte, fiel de Jong sofort in die See. Er verschwand so schnell, daß te Poel ihn nicht mehr sah. Eine Welle begrub ihn unter sich und zog ihn in die Tiefe. Dann war er auch schon verschwunden. Te Poel sah auf seine Hände. Sie zitterten stark, waren verkrümmt, als hätte er die Gicht, und bluteten. Aber er spürte keine Schmerzen, genau genommen spürte er in diesem Augenblick gar nichts.
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Er blieb eine Weile aufrecht im Boot stehen, starrte auf die Stelle, wo sein toter Gefährte verschwunden war, und setzte sich dann. Erneut griff er zu den Riemen und begann zu pullen. Sein Blick war starr und glanzlos auf die Nebelbank gerichtet. 8. Auf den windigen Gesellen war einfach kein Verlaß. Immer wieder änderte er die Richtung und ließ die „Isabella“ auf der Stelle verharren. Jetzt blies er genau aus Süd, und die Hoffnung, dem Land näher zu kommen, schwand langsam. „Wenn der so weiterbläst, geht es uns ähnlich wie tief unten im Süden Amerikas“, sagte Ben Brighton zu Dan. „Da sind wir auch tagelang auf der Stelle gesegelt und schließlich zurückgetrieben worden.“ Der Seewolf befand sich unter Deck in seiner Kammer. Er hatte die halbe Nacht und den ganzen Tag auf dem Achterkastell gestanden, und jetzt wollte er ein wenig ausruhen. Ben Brighton hatte daher seit einer Stunde das Kommando. Sie gelangten nicht von der Stelle. Anfangs hatte es so ausgesehen, als könnten sie schneller segeln, aber danach war es ziemlich schnell vorbei gewesen. Am Ruder stand Bob Grey, der Pete Ballie abgelöst hatte. „Gleich bricht die Nacht herein“, sagte Dan O'Flynn. „Wenn wieder der Morgen graut, stehen wir immer noch an derselben Stelle wie jetzt. Zum Kotzen ist das, und dabei platzen wir alle fast vor Neugier, wie es weitergeht.“ Neue Erkenntnisse hatten sie nicht gewonnen, und so blieben die alten Vermutungen weiter bestehen. Aber jetzt war auch das Land nicht mehr zu sehen. Die riesengroße Bucht am fernen Horizont hatte sich in Nebelbänke gehüllt. Dafür, daß der Sturm so hart blies, war die See verhältnismäßig ruhig. In anderen Breiten war bei noch weniger Wind das Wasser viel wilder gewesen. Aber
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anscheinend galten in diesen nördlichen Gefilden auch andere Gesetze. Es begann zu dämmern. Bleigrau und trostlos sah der Himmel aus, wie mit häßlicher, dunkelgrauer Farbe gestrichen. Kein Vogel ließ sich blicken, es war, als befänden sie sich ganz allein auf der Welt. O'Flynn blickte in das Wasser, das sich am Rumpf der „Isabella“ immer wieder wild aufbäumte und kleine Spritzer nach oben warf. Wie immer, so suchte er auch diesmal automatisch die See ab, obwohl der Ausguck im Großmars ein weitaus besseres Sichtfeld hatte. Dafür hatte Dan O'Flynn aber ganz besonders scharfe Augen, die Ferris Tucker einmal mit einem Spektiv verglichen hatte. Sein Blick konzentrierte sich Steuerbord voraus auf einen Punkt in der See, der sich sehr schwach von den Wellen abhob. Es war nur ein winziger, kaum sichtbarer Unterschied, den Dan feststellte, aber sein Blick hielt ihn fest und ließ ihn nicht mehr los. Ben Brighton fiel es schließlich auf. „Siehst du etwas?“ fragte er. Dan nickte und deutete mit der Hand in die Richtung. „Steuerbord voraus scheint etwas im Wasser zutreiben. Sieh mal dicht am Großsegel vorbei. Kannst du es erkennen?“ „Mann“, sagte Ben. „Wenn du es nicht erkennen kannst, wie soll ich es denn sehen? Gegen dich sind wir doch alle blind!“ „Versuch's doch mit dem Spektiv!“ sagte Dan. „Das ist auch nicht besser als deine Adleraugen.“ Brighton griff aber doch zum Spektiv und zog es auseinander. Dabei lehnte er sich an die Schmuckbalustrade des Achterkastells und stützte sich auf, um das Gerät besser handhaben zu können. Sehr lange sah er hindurch, dann gab er es Dan. „Was ist es?“ fragte O'Flynn. „Keine Ahnung, es ist schon zu dämmerig, um es erkennen zu können. Aber der Punkt ist
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dunkler als das Wasser. Irgendetwas treibt dort, da bin ich ganz sicher.“ „Was kann hier schon in der See treiben?“ fragte der Profos, der zusammen mit Bill das Achterdeck betreten hatte. Bill war damit beschäftigt, die große Hecklaterne zu entzünden. „Für einen Eisklumpen ist es jedenfalls zu dunkel“, sagte Dan. „Aber den Umrissen nach könnte es fast ein Boot sein.“ Edwin Carberry wollte gerade eine ironische Erwiderung geben, doch Dans spöttisches Grinsen hinderte ihn daran. Klar, dachte er, wenn Dan es sagte, dann konnte es stimmen. Der irrte sich so gut wie nie, und wenn er behauptete, das Ding da im Wasser hätte die Umrisse eines Bootes, dann hatte es die Umrisse eines Bootes und war keine Eisscholle oder ein abgetauter Eisberg. „Aber wie sollte hier ein Boot auftauchen?“ fragte er erstaunt. „Für Geheimnisse ist mein Alter zuständig, nicht ich“, sagte Dan. „Wenn du Dad fragst, erhältst du ganz sicher eine Antwort.“ „Darauf möchte ich lieber verzichten, ich habe keine Lust, mir Schauermärchen anzuhören.“ Dan fixierte den Punkt noch einmal, und erst jetzt kam vom Ausguck die Meldung, daß irgend etwas in der See triebe. „Junge, Junge“, sagte Bill, „der Ausguck hat doch wirklich nicht gepennt. Und du hast es schon lange vorher gesehen.“ „Es scheint tatsächlich ein Boot zu sein“, sagte Dan. „Gehen wir vom Kurs, Ben?“ Für Ben Brighton war das Erscheinen eines Bootes Grund genug, den Kurs zu wechseln. In dieser trostlosen Einöde bedeutete schon ein Stück Treibholz eine Sensation. „Ja, wir halten darauf zu“, sagte er. Und an Bill gewandt: „Geh nach unten, Bill, und weck Hasard!“ Bill verschwand. Während die Männer auf dem Achterdeck noch über den seltsamen Gegenstand diskutierten, erschien der Seewolf.
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Er hatte nicht lange geschlafen, aber er sah ausgeruht und frisch aus, und er nickte den anderen zu. „Ein Boot?“ fragte er. „Ja, allem Anschein nach“, erwiderte Ben. „Wir halten darauf zu, ich habe es eben angeordnet.“ „Gut. Bill, laß weitere Lampen entzünden, es wird bald ganz dunkel sein.“ „Aye, aye, Sir.“ Die „Isabella“ hatte ihren Kurs verlassen und segelte dem vermeintlichen Boot entgegen. An Bord hatte sich mittlerweile herumgesprochen, was dort gesichtet worden war. Jetzt trieb die Neugier auch die Männer von der Freiwache an Deck, und alle lungerten auf der Kuhl herum. Es dauerte endlos lange, bis sie sich dem Boot näherten. Inzwischen war es so dunkel geworden, daß man die Umrisse des fremden Bootes nur noch ganz undeutlich sah. „Ich wette, in dem Boot sitzt einer“, sagte der Decksälteste Smoky gerade. „Seht doch nur mal hin, da hockt doch eine Gestalt in dem Boot.“ „Glaube ich nicht“, sagte Big Old Shane, der ebenfalls auf der Kuhl erschienen war und sich gegen das Schanzkleid lehnte. Überall auf der „Isabella“ brannten Lampen, die die Decks spärlich erhellten. Sie warfen auch ihren Lichtschein auf das schwarze Wasser, doch sie waren nicht in der Lage, es auszuleuchten. Ihr Schimmer drang nur ganz schwach auf die See hinaus. „Wer wettet mit mir, daß da einer im Boot sitzt?“ fragte Smoky. Niemand hatte Lust, eine Wette einzugehen, zumal jetzt auch noch der alte O'Flynn wie ein Geist heranhumpelte. „Wenn dort einer drinsitzt“, sagte Donegal, „dann lebt er ganz bestimmt nicht mehr. Oder glaubt ihr, in dieser eisigen See pullt einer aus lauter Freude herum?“ Die Stimmung wurde drückend. Bange Erwartung stand in einigen Gesichtern. Die meisten hatten sich mit Haken bewaffnet, um das später vorbeitreibende Boot festhalten zu können.
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Batuti, Blacky und Matt Davies hatten ihre Laternen an lange Holzstücke gehängt und hielten sie über Bord, damit man mehr sah. Den hartgesottenen Seewölfen kroch ein Schauer über den Rücken, als der Gegenstand langsam in ihr Blickfeld geriet. Kein Zweifel, es war ein Boot, das in der nächtlichen Einsamkeit über das Meer trieb und von den Wellen auf und ab bewegt wurde. Und es gab auch keinen Zweifel, daß in dem Boot auf der mittleren Ducht eine breitschultrige Gestalt saß. Old O'Flynn bekreuzigte sich. „Der Leibhaftige“, murmelte er und wich vom Schanzkleid zurück. Niemand widersprach ihm diesmal. Niemand sagte auch nur ein Wort. Die Begegnung sprach für sich, und sie fuhr allen Männern hart in die Knochen, als das Boot vorbeizog. Sogar die Haken vergaßen sie auszustrecken und damit zuzupacken. Das Boot war über und über mit einer dicken Eisschicht bezogen. Die Gestalt, die auf der Ducht saß, wandte ihnen den Rücken zu. Sie bewegte sich nicht. Aber in dem schwachen Licht der Lampen war deutlich zu sehen, daß der Unheimliche beide Riemen in der Hand hielt und starr in die entgegengesetzte Richtung blickte, als suche er dort etwas. Einer der ersten, der sich bei diesem schaurigen Anblick schnell wieder fing, war der Profos Carberry. Er schluckte hart, holte dann mit der Hand aus und warf die Leine mit dem großen Auge darin geschickt über den herausstehenden kleinen Steven des Bootes. Er hielt sie fest in der Hand, stemmte sich mit den Beinen gegen das Schanzkleid und fierte ein paar Yards nach. Die „Isabella“ segelte nur langsam, und so konnte er das Boot halten und die Leine schließlich am Poller belegen. Von den anderen rührte sich immer noch keiner, sie standen da, als wären sie zu Stein erstarrt, als der Bug des Bootes jetzt immer weiter herumschwang.
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Als sie den Mann dann sahen, zuckten sie alle zusammen und wichen, wie schon der alte O'Flynn, entsetzt vom Schanzkleid zurück. Der Anblick prägte sich allen unauslöschlich ein. Der Mann im Boot hatte ein ernstes, fast trauriges Gesicht, wenn man seine Züge so deuten wollte. Ein etwas struppiger Bart bedeckte seine untere Gesichtspartie. Aber dieser Bart war aus Eis, Eiszapfen hatten sich in den Barthaaren gebildet und hingen weit über das Kinn hinab. Seine Augen blickten die Seewölfe direkt an. Jeder fühlte diesen fast durchdringenden Blick der längst toten Augen. Seine Brauen waren Wülste aus Eis, und wo sich kein Eis in diesem traurig-ernsten Gesicht befand, war alles mit einer Reifschicht überzogen. Auch sein Haupthaar ähnelte einer Eiskappe. So saß er kerzengerade im Boot und strahlte etwas aus, das sie alle schaudern ließ. Ein ganz besonderer Effekt trat noch zutage, der den Seewölfen eine Gänsehaut auf den Rücken zauberte. Da die Augen starr geradeaus blickten, konnte man sich nach links oder rechts bewegen, und hatte doch ständig das unangenehme Gefühl, die Augen würden jeder Bewegung folgen. Aber es kam noch schlimmer. Deutlich war jetzt zu sehen, wie die Hände des Mannes die Riemen umkrampft hielten. Seine Hände waren an den Riemen angefroren, und die wiederum am Boot. Von den Knien abwärts saß der Mann in einem kompakten Block aus Eis. Als das Boot fest war und neben der „Isabella“ auf dem Wasser auf und ab tanzte, wandte ihnen der Mann das Profil zu. Ein scharfgeschnittenes, von Eis überzogenes Profil, das total erstarrt war. Nur zögernd traten die Seewölfe wieder ans Schanzkleid, den eiserstarrten Toten anblickend, der festgefroren auf der Ducht saß und jetzt in die Nacht zu blicken schien. Er war ein unheimlicher Begleiter, er, der Fremde, der jetzt neben dem Rahsegler herfuhr. Und wieder sah es so
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aus, als würde er jeden Moment die Hände entkrampfen und die Riemen durch das Wasser ziehen. Ja, es hatte den Anschein, als würde er jeden Augenblick wieder zum Leben erwachen. Der Seewolf war in der Kuhl erschienen und genauso erschüttert von dem Anblick wie die anderen. Lange Zeit sagte er kein Wort, sondern blickte nur auf den seltsamen Toten. „Wo mag der her sein?“ fragte Smoky schließlich und durchbrach damit die fast geisterhafte Stille an Bord. „Da bin ich überfragt, Smoky. Ich ahne es nicht einmal.“ Hasard wandte sich um und sah Carberry an. „Wir gehen auf den alten Kurs zurück, Ed. Holt das Boot ein wenig näher heran und vertäut es gut.“ Die erforderlichen Manöver wurden wie im Traum ausgeführt. Jeder Handgriff geschah automatisch, und bei der Arbeit dachten sie alle nur an den Toten. Erst als die „Isabella“ auf fast südlichem Kurs lag, konnten sie sich wieder um das unheimliche Boot kümmern. Der Kutscher und Feldscher, der den Kombüsendienst versah, stand schon seit einer ganzen Weile am Schanzkleid neben dem Boot und zuckte zusammen, als der Seewolf neben ihm auftauchte und einer nach dem anderen erschien. „Himmel, ist das ein unheimlicher Anblick“, sagte der Kutscher. „Wer weiß, wie lange dieser Mann schon im Eis treibt. Das läßt sich nicht einmal annähernd bestimmen.“ „Es könnten Jahre sein“, sagte Hasard, „aber das glaube ich nicht. Er ist sicher noch nicht lange tot, obwohl wir das kaum feststellen werden. Jedenfalls trieb er nicht im Eis, wie du das ausdrückst, Kutscher.“ „Aber das Eis im Boot, ach ja, richtig“, unterbrach sich der Kutscher selbst. „Wir haben es ja auch an Bord, wenn Seen überkommen. Genauso war es bei ihm.“ „Ein Schiffbrüchiger wahrscheinlich“, gab Hasard seiner Vermutung Ausdruck. „Und ich bin mir ziemlich sicher, daß er von
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jenem Land stammt, das wir später anlaufen werden. Die große Bucht vor uns.“ Hasard traf Anstalten, über das Schanzkleid der Kuhl zu klettern. „Du willst doch nicht in das Boot, Sir?“ fragte der Profos. „Warum nicht! Wenigstens einmal nachsehen. Vielleicht finden wir etwas, das uns Aufschluß über diesen Seemann gibt.“ Hasard kletterte über die schnell ausgeworfene Jakobsleiter in das Boot. Der Kutscher folgte ihm. „Hängt die Laternen weiter heraus!“ rief Hasard. Er stand im Boot und sah sich um. Der Kutscher nahm eine der Lampen entgegen und leuchtete. Außer einer dicken Eisschicht enthielt das Boot nichts. Weder ein Wasserfaß noch Proviant, nicht einmal eine Decke. Es gab keinerlei Hinweise auf den Unbekannten. Hasard leuchtete das Eis ab, aber darunter war ebenfalls nichts zu sehen als der blanke Boden. Hinter dem Toten blieb er stehen. „Merkwürdig“, sagte er zum Kutscher. „Es kann natürlich sein, dass alles über Bord gegangen ist bei dem Sturm, aber irgendetwas hätte er doch sicher angebunden, damit die See es nicht holt.“ „Was schließt du daraus, Sir?“ fragte der Kutscher. „Nicht viel. Vielleicht ist sein Schiff untergegangen, und er hat sich als einziger retten können. Das geschah so schnell, daß er nichts mehr mitnehmen konnte. Oder aber er ist vor etwas geflüchtet, und zwar Hals über Kopf.“ „Piraten etwa?“ fragte der Kutscher, und seine Stimme klang voller Zweifel. „Nein, hier gibt es ganz sicher keine. Wen sollen sie überfallen? Das lohnt sich in dieser Gegend doch nicht.“ „Vielleicht hat er seinen Proviant längst gegessen und ist anschließend verhungert“ „So verhungert sieht er aber nicht aus. Nein, nein, er ist mit Sicherheit erfroren. Und wenn er Proviant gehabt hätte, dann würde man zumindest noch ein Faß finden
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oder etwas anderes, worin es aufbewahrt wurde.“ „Der Tote hat zwei Jacken übereinander an“, sagte der Kutscher. „Klar, gegen die Kälte. Das hat nichts zu sagen.“ Hasard sah wieder auf die bedauernswerte Gestalt, dann blickte er in die Richtung, wo das ferne Land lag. „Vielleicht braucht jemand Hilfe“, hörte der Kutscher ihn leise murmeln. „Das alles ist sehr eigenartig. Ein Schiff könnte gestrandet oder untergegangen sein. Das werden wir aber sehr bald feststellen.“ Der Tote saß unverändert starr und steif auf seiner Ducht. Ab und zu scheuerte das Boot an die Bordwand der „Isabella“, obwohl es jetzt so vertäut war, daß es in geringem Abstand parallel zu dem Rahsegler lief. „Was tun wir mit ihm, Sir, da wir ihm ja nicht mehr helfen können?“ erkundigte sich der Kutscher. „Wir können ihm kein Begräbnis geben, denn dazu müßten wir ihn erst aus dem Eis heraushacken. Ich denke, wir nehmen das Boot mit zum Land. Alles weitere wird sich dort finden.“ Es gab nichts zu tun, der Mann war tot, vielleicht schon seit Ewigkeiten, und der See übergeben konnten sie ihn auch nicht. Jedenfalls nicht in dieser Nacht. Daher stieg Hasard wieder nach oben an Deck, dicht gefolgt von dem Kutscher, der ein betrübtes Gesicht zog, weil er nicht in der Lage war, zu helfen. Auf der Kuhl wurden ebenfalls Vermutungen laut, wer der Tote sein könnte, ob es ein Unglück gegeben habe und was der Dinge mehr waren. „Ein Spanier ist es jedenfalls nicht“, behauptete Jeff Bowie. „Der Mann hat dunkelblonde Haare. Ich tippe eher auf einen Engländer oder Holländer, der sich mit seinem Schiff im Sturm verirrt hat und dann irgendwo gestrandet ist.“ Noch einmal wurde der Seewolf gefragt, was denn jetzt mit dem Mann und dem Boot geschehen solle. „Hängt das Boot mit dem bedauernswerten Mann nach achtern, damit ihr den Anblick nicht ständig vor Augen habt. Wir nehmen
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ihn mit an Land, und dort sehen wir weiter. Wenn das getan ist, ändern wir den Kurs um zwei Strich, damit wir das Land schneller erreichen.“ „Dann landen wir aber an der östlichen Ecke der Bucht“, sagte Ben Brighton. „Was ist schon dabei? Auf ein paar Meilen mehr oder weniger kommt es ohnehin nicht an, wenn dies wirklich eine Bucht ist. Ich möchte jedenfalls Gewißheit haben, ob hier ein Unglück passierte, und wenn das der Fall war, ob wir vielleicht noch helfen können.“ Ja, das wollten sie: Helfen, wenn es ging und sich dazu noch eine Gelegenheit bot. Wer in dieser trostlosen Ecke strandete oder mit dem Schiff unterging, der hatte keine großen Lebenserwartungen mehr in dieser feindlichen Umwelt. Etwas unbehaglich war den meisten allerdings der Gedanke, daß das Boot mit dem Toten jetzt hinter ihnen herfuhr. Es war ein eigentümliches Gefühl, aber niemand hatte einen offiziellen Einwand, bis auf den alten Donegal, der die Hände über dem Kopf zusammenschlug. „Bis wir das Land erreichen, können noch zwei Tage vergehen“, sagte er. „Und dauernd sitzt uns dieser Tote im Kielwasser und starrt unser Schiff an. Das gibt ein Unglück, sage ich euch. Die Nachtwache wird noch das Fürchten lernen mit dem Toten im Rücken.“ „Bist du zur Nachtwache eingeteilt, Donegal?“ fragte der Seewolf den Alten, der mit seinem Holzbein auf die Planken pochte. „Nein, ich nicht.“ „Dann brauchst du dich ja auch nicht darum zu sorgen. Du kannst beruhigt in deine Koje steigen und alles den Männern überlassen, die heute nacht auf Wache sind.“ „Aber es bringt Unglück, Hasard“, beharrte der Alte. „Aus welchem Grund?“ „Tote gehören nicht in die Gesellschaft der Lebenden. Das paßt nicht zusammen, das sind zwei verschiedene Dinge.“ „Deshalb hängen wir das Boot auch achtern an.“
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„Aber ein Totenschiff im Schlepp führen, bringt ebenfalls Unglück.“ Warum, das wußte Donegal diesmal nicht ganz genau, er hatte einfach keine Erklärung dafür, und der Seewolf sagte, wenn er es nicht begründen könne, dann möge er doch bitte sehr seinen Schnabel halten. Daraufhin zog O'Flynn das Genick ein, warf noch einen scheelen Blick auf die reglose, unheimliche und eisbedeckte Gestalt und verzog sich beleidigt. Carberry ließ das Boot inzwischen nach achtern hängen und fierte die Leine nach, bis es in gut zwanzig Yards hinter der „Isabella“ lag. Anschließend wurde der Kurs geändert, und die Wachen lösten einander ab. Aber derjenige, der gerade auf dem Achterkastell stand, warf doch immer wieder einen scheuen und besorgten Blick nach dem Boot, das im Kielwasser dahinzog. Diesmal waren es Stenmark und Big Old Shane, der unerschütterliche, graubärtige ehemalige Waffenschmied der Feste Arwenack. Hinter ihnen brannte die große Hecklampe. Ihr milchiger Schein erhellte auch das Kielwasser und warf einen Abglanz auf das Boot mit dem Toten. In Stenmark krampfte sich etwas zusammen, wenn er zurückblickte. Der blonde Schwede war ganz sicher keine ängstliche Natur, doch der Anblick des Mannes ging ihm mächtig auf die Nerven. Wie ein stolzer Herr, mit hocherhobenem Kopf, saß der Fremde auf der Ducht in seinem Boot, in den Händen immer noch die Riemen haltend, deren Blätter abgebrochen waren. Fiel durch eine Wellenbewegung ein Lichtreflex auf ihn, dann glitzerten seine Augen, und die Eiszapfen in seinem Bart gleißten auf. „Du mußt einfach nicht nach achtern sehen, Sten“, sagte Shane zu ihm. „Dann vergißt du es mit der Zeit.“ „Das sagt sich so leicht. Aber ich muß immer daran denken, was der arme Kerl alles durchgestanden hat. Ich versuche, in Gedanken seinen Leidensweg zu
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erforschen. Dabei stelle ich mir immer vor, einem von uns würde das mal passieren. Verdammt, so ein Mann muß einem einfach leid tun.“ „Sicherlich hat er nicht viel gelitten, und wahrscheinlich ist er schon in der ersten Nacht auf See erfroren“, meinte Shane. „Wenn du in einem solchen Boot sitzt und die ersten Brecher kommen über, dann bist du erledigt und spürst deine eigenen Knochen nicht mehr.“ Big Old Shane schwieg, und auch Stenmark sagte nichts mehr. Aber in Gedanken war er immer noch bei dem bedauernswerten Mann, dem das Schicksal so hart zugesetzt hatte. Immer wieder drehte er sich wie unter einem Zwang um, und er sah, daß auch Shane unmerklich den Kopf wandte. Nein, an diese Nacht würde er noch lange denken, das konnte man nicht einfach so gelassen hinnehmen. Er übernahm von Shane das Ruder, der es ihm auch bereitwillig überließ, und versuchte den Toten aus seinen Gedanken auszuklammern. Die „Isabella“ segelte weiter, dem jetzt unsichtbaren Landstrich entgegen, und auf diesem Kurs würde sie ihn vermutlich morgen kurz nach Tagesanbruch erreichen. Stenmark war höchst gespannt, was sie dann vorfanden. 9. Als der Morgen endlich graute, blickte jeder achteraus. Der eiserstarrte Mann begleitete sie immer noch, nichts hatte sich verändert. Etwas später erschien auch Hasard an Deck, gefolgt von Siri-Tong, der Roten Korsarin, die stehen blieb und ebenfalls nach dem Boot mit der Leiche sah. Schon gestern abend hatte sie einen Blick darauf geworfen, und die Zwillinge waren ebenfalls neugierig erschienen und höchst sauer gewesen, als der alte O'Flynn sie wieder unter Deck gescheucht hatte. Siri-Tong ging über die Decks bis zum Vorschiff, wo sie dem Kutscher beim Zubereiten des Frühstücks half.
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Hasard stieg auf das Achterkastell. Sein Blick fiel auf das Land, das jetzt zum Greifen nahe schien. Der Himmel war wie immer, Dunst und kalter Nebel hingen in der Luft, die Sonne ließ sich nicht blicken. Die Wellen gingen noch so hoch wie gestern und ließen den einsamen Mann in seinem Boot auf und nieder tanzen. Brighton und Matt Davies standen auf dem Achterkastell, in Pelze gehüllt und froren. „Das ist ja fast so trostlos wie in der Eiswüste des Nordens“, sagte der Seewolf nach der Begrüßung. „Mein Gott, auf diesem Land scheint überhaupt nichts zu wachsen.“ Er sah das breite Grinsen von Ben und blickte ihn fragend an. „Eine Überraschung, Sir“, sagte Ben und deutete nach vorn. „Na, so überrascht bin ich wirklich nicht. So ähnlich habe ich mir das Land hier vorgestellt.“ „Das schon“, gab Ben zu. „Aber die Bucht geht weiter ins Land hinein, als wir vermuteten. Und d a gibt es...“ Der Seewolf blieb ruckartig stehen und drehte sich um. Auf seinem Gesicht lag Unglauben, als er Ben musterte. „Eine Durchfahrt?“ fragte er leise. „Scheint so, wir sind uns noch nicht sicher. Es könnte sein, daß es hier eine Inselkette gibt, aber das können wir im Augenblick noch nicht genau feststellen.“ Das war eine der besten Nachrichten, die der Seewolf seit langem vernommen hatte. Er grinste jetzt genauso wie Ben, denn ihm war ein beängstigender Druck von der Seele genommen. „Das muß ich mir ansehen“, sagte er kurz. In kurzer Zeit war er in die Wanten des Großmars aufgestiegen, wo Bill frierend hinter der Verkleidung hockte. „Guten Morgen, Sir“, sagte der Moses. „Hat Mister Brighton es Ihnen schon mitgeteilt? Die Bucht hat einen riesigen Einschnitt, aber ich kann es noch nicht genau erkennen.“ „Guten Morgen, Bill!“ Hasard schlug dem Jungen auf die Schulter.
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„Laß dir nachher eine Extraration Rum vom Kutscher geben, Bill. Und nun wollen wir mal sehen, was uns erwartet.“ Er sah sich sorgfältig nach allen Seiten um, nahm dem Jungen das Spektiv ab und blickte in die Runde. Tatsächlich, die riesige Bucht hatte einen Einschnitt, und wenn ihn nicht alles täuschte, war das hier eine schmale, aber sehr lang gezogene Insel, der sie sich näherten. Das besagte zwar noch lange nicht, daß hinter dieser vermeintlichen Inselkette der Pazifische Ozean begann, aber es war jedenfalls nicht auszuschließen. Der Nebel entzog ihm das meiste, aber ein Einschnitt war deutlich zu erkennen, und er zog sich meilenweit in die Länge. Es sah nicht so aus, als wären diese Inseln einem Festland vorgelagert. Das merkte er auch an dem Wind, der von Land blies. Dahinter mußte sich einfach Wasser befinden. Später, wenn der Nebel sich auflöste, würden sie es ganz genau wissen. Der Anblick war zwar mehr als trostlos, denn nirgendwo war Vegetation zu entdecken. Es gab Hügel, Felsen, Eis und Berge, deren Gipfel sich ebenfalls im Nebel verloren. Sein Blick fiel auch auf das Boot, das sie hinter sich herzogen und in dem immer noch, diesmal klein und zerbrechlich, der Unbekannte auf er Ducht saß und starr geradeaus blickte. „Wenn du hinter dem Nebel Wasser entdeckst, sagst du mir sofort Bescheid“, schärfte Hasard dem Jungen ein. „Wir werden erst einmal dort vor Anker gehen.“ „In Ordnung, Sir!“ Hasard enterte wieder ab. Die Bucht, in der sie vor Anker gehen wollten, war ebenfalls in Nebel gehüllt. Über dem steinigen Strand hing er stellenweise wie eine Glocke. Was darunter war, ließ sich nicht erkennen, aber vermutlich nichts anderes als an den anderen Stellen auch. „Es sind noch keine genauen Einzelheiten zu erkennen“, sagte der Seewolf, als er wieder auf dem Achterdeck stand.
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„Jedenfalls erhält jeder Mann eine Extraration Rum, jetzt sofort auf der Stelle. Ich bin sicher, daß wir eine Durchfahrt finden.“ Die frohe Kunde sprach sich schnell herum, und noch bevor die „Isabella“ dem Strand entgegensegelte, hatte jeder seinen Rum im Magen und spürte, wie die Wärme ihn durchströmte. „Hier scheint kein Unglück passiert zu sein“, sagte Ben. „Sonst müßten wir irgendwo Wrackteile sehen.“ „Der Nebel verbirgt fast alles, Ben. In der Bucht ist mitunter nicht einmal das Wasser zu sehen, und der Strand liegt unter einer langgestreckten Dunstglocke. Wir ankern gleich, sage dem Profos Bescheid und laß die Segel ins Gei hängen. Wenn das hier eine Insel ist, woran ich nicht mehr zweifele, dann sehen wir uns um und unternehmen mit dem Boot eine kurze Exkursion, denn die Insel kann nicht sehr breit sein, und mit dem Boot sind wir schneller als mit der ,Isabella`. Tiefe ausloten!“ rief er im selben Augenblick. Der Decksälteste war schon dabei. „Acht Faden“, sang er aus, „felsiger Grund.“ Die Segel wurden aufgegeit, und der Profos rieb sich die Hände. Jetzt konnte er endlich wieder einmal brüllen, und das tat er dann auch ausgiebig. „Euch lahmarschige Kakerlaken holt gleich der Teufel, wenn das nicht ein bißchen schneller geht. Auf, auf, ihr abgewrackten Plattfische, laßt euch nicht ...“ Er unterbrach sich mitten im Satz, als sein Blick auf das nachgeschleppte Boot fiel, und schwieg. Der Fremde schien ihn genau anzublicken, und das ließ Carberry augenblicklich verstummen. Der Anker rauschte aus, als Smoky noch sechs Faden Tiefe meldete. Die „Isabella“ stoppte. Langgezogene Nebelschwaden schlichen um ihren Bug und hüllten ihn ein. Zuerst wurde gefrühstückt, und diesmal ließ sich keiner Zeit. Alle legten eine geradezu beängstigende Eile an den Tag, als würden sie etwas versäumen.
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„Die fressen heute im Stehen, die Kerle“, sagte Carberry zu seinem rothaarigen Freund Ferris Tucker. „Sieh nur, wie sie alles in sich hineinschlingen. Was erwarten die denn an Land? Daß ihnen scharenweise halbnackte Weiber entgegenlaufen? Das verstehe ich nicht.“ Tucker nahm seine Pelzmütze ab, die der alte Segelmacher Will Thorne ihm genäht hatte, und kratzte sich den Schädel. Dann setzte er sie wieder auf und zeigte mit der Hand auf das Boot. „Sie können es nicht erwarten, den Toten an Land zu bringen. Seine Anwesenheit beunruhigt sie doch alle etwas, das merkt man ganz deutlich, Ed.“ „Mir ist, äffen gestanden, auch nicht so wohl dabei. Der Mann hat einen fast vorwurfsvollen Blick, als würde er uns beneiden. Lach nicht, aber so ist es.“ „Streite ich auch gar nicht ab.“ Tucker versuchte, das Land zu erkennen, doch der Nebel wurde immer dichter. Ab und zu ließen sich winzige Eisschollen am Strand erkennen, auch Felsen, die aus dem Nebel ragten und ebenfalls von allen Seiten mit blankem Eis bedeckt waren. „Eine Scheißlandschaft“, sagte Ed, der dem Blick des Freundes folgte. „Wenn hier wirklich Leute gestrandet sind, dann möchte ich nicht in ihrer Haut stecken. Wie wollen die hier überleben? Bei der ewigen Kälte und der Eintönigkeit.“ „Vielleicht gibt es hier Eingeborene, wer weiß! In der Eiswüste haben schließlich auch Menschen gelebt.“ Ihr Gespräch wurde unterbrochen; denn Hasard erschien auf dem Vordeck. Als Carberry sich umsah, da sah er auch die anderen. Sie waren mit dem Frühstück fertig und lauerten auf irgendetwas, und zwar auf das, was Ferris Tucker schon gesagt hatte, daß sie endlich den Toten an Land bringen würden. „Wir fieren das Boot ab, Ed“, sagte der Seewolf, „und nehmen das andere mit dem Toten in Schlepp. Such dir ein paar Männer aus, ich selbst gehe ebenfalls mit an Land. Nehmt auch Werkzeug mit, damit wir ihn begraben können.“ „Aye, aye, Sir.“
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Das Beiboot wurde abgefiert und von Ferris Tucker mit dem erforderlichen Werkzeug ausgerüstet. Hasard sprang ins Boot, ihm folgten Ferris Tucker, der Profos, Dan, Matt Davies und der Moses Bill. Dann nahmen sie das andere Boot in Schlepp und pullten auf die nahe Küste zu, dem Strand entgegen. * „Nebel, nichts als lausiger, kalter Nebel“, schimpfte der Profos. „Der dringt selbst durch die Fellkleidung. Man fühlt sich ständig wie mit Wasser übergossen.“ Die „Isabella” lag jetzt hinter ihnen und verschwand in einer wabernden Dunstwolke, die sie wie ein Geisterschiff erscheinen ließ. Das Boot knirschte auf groben Kies, es gab einen Ruck, dann lag es still. Carberry sprang als erster an Land, wartete, bis die anderen ausgestiegen waren, und zog das Boot höher auf die Steine hinauf. Dann holten sie das Boot mit dem Toten ein, bis es ebenfalls auf dem Strand lag, wenn man die steinige Küste als Strand bezeichnen wollte. Sie fühlten sich nicht wohl an dieser Küste, an der nur Einsamkeit und Schweigen war, an der es kein Leben gab, wo kein Vogel über sie hinwegflog und anscheinend nie die Sonne schien. „Erst bringen wir ihn an Land“, sagte Hasard, auf den Toten zeigend, der in unveränderter Haltung starr in dem Boot saß. Tucker und der Profos gingen schweigend an die Arbeit. Zunächst hackten sie das Eis im Boot auf und warfen die Stücke über Bord. Dann, als das Eis um die Beine des Mannes zerschlagen war, sägte der Schiffszimmermann die Ducht durch. Es war ein unangenehmes Gefühl, immer in der Nähe des Fremden zu arbeiten, der seine Augen unentwegt auf sie gerichtet hielt. Daher brachte Ferris die Arbeit so schnell wie möglich hinter sich.
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Die verkrampften Hände des Mannes lösten sich fast von allein von den Riemen, und endlich konnten sie ihn hinausheben und auf den steinigen Boden legen. Sein Körper blieb jedoch in derselben Haltung, die er auch im Boot innegehabt hatte. In hockender Stellung lag er auf der Seite. Unterdessen waren die anderen damit beschäftigt, eine Grube in den steinigen Untergrund zu hacken. Es war eine mühselige Schinderei. Ein paar Zoll tief ließ sich der steinige Boden bearbeiten, dann folgte eine sandige Eisschicht, die nur mit Mühe und viel Schweiß aufzuhacken war. Sie lösten einander ab, und es dauerte eine ganze Weile, ehe die Grube tief genug war, um den Fremden hineinzulegen. Ferris Tucker legte ein Stück Segeltuch über ihn, und der Seewolf sprach ein Gebet. Dann wurde der Fremde begraben, bis ihn ein Hügel bedeckte. Ferris Tucker steckte ein Kreuz aus Schiffsplanken auf das Grab. Als alles vorüber war, sahen sie sich auf der vermeintlichen Insel etwas genauer um. Teilweise hatte sich der Nebel gelichtet, teilweise lag er wie dicke Suppe über dem Land oder zog in langen Schwaden um die Felsen, Hügel und Berge. Sie gingen ein Stück am Strand entlang. Steine, kleine Eisbrocken und Findlinge behinderten sie, und einmal rutschte Matt Davies auf den schlierigen Steinen fluchend aus. Dan war es, der schon wieder etwas entdeckte. Seine scharfen Augen erspähten einen länglichen Gegenstand, und er lief darauf zu. Er bückte sich und hob seinen Fund hoch, den er Ferris Tucker zeigte. „Ein Stück von einer Schiffsplanke“, sagte der Zimmermann der „Isabella“ fachmännisch. Das Stück wog etwa zwanzig Pfund, war zersplittert und sah noch reichlich frisch aus. Hasard begutachtete es ebenfalls.
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„Damit dürfte wohl feststehen, daß sich hier etwas ereignet hat, das mit dem Fremden in Zusammenhang steht“, sagte er. „Aber hier gibt es keine Klippen, an denen ein Schiff zerschellen könnte. Daß hier ein Gefecht stattgefunden hat, glaube ich ebenfalls nicht.“ „Es kann auch von einem untergegangenen Schiff stammen, das auf See Schiffbruch erlitten hat“, meinte Ferris Tucker. „Ein Unwetter kann das Schiff kurz und klein geschlagen haben.“ Während sie noch über das Treibholz sprachen, hatte sich der Moses Bill von den Männern entfernt. Er erklomm eine aus Findlingen bestehende Barriere, fand wieder ein Stück einer Planke, ein kleines diesmal, und blieb wie gelähmt stehen, als er zwischen den Steinen hervortrat. Er wollte rufen, doch die Stimme versagte ihm den Dienst. Zwischen Felsen, eisbedeckten Steinen und einem anscheinend künstlich aufgeworfenen Steinwall sah er sie sitzen. Vier Männer hockten und lagen um eine schwarz verbrannte Stelle im Boden. Einer lehnte gegen einen Findling, ein anderer saß in fast der gleichen Haltung am Boden wie der Mann im Boot, und ein anderer lag halb auf der verbrannten Stelle, die ehemals aus einem Lagerfeuer bestanden hatte. Die Männer waren seit langer Zeit tot. An manchen Stellen ihres Körpers schimmerten Knochen durch, aber die Kälte hatte ihre Körper größtenteils konserviert und sie in der Haltung bewahrt, in der sie vermutlich erfroren waren. Ihre Kleidung war allerdings mehr als spärlich. Sie trugen nur dünnes, grobes Leinenzeug, das teilweise zerfallen war. Bill stieß einen Schrei aus und drehte sich um. Der Schrei alarmierte die anderen, und er hörte ihre Stiefel über die Steine poltern und knirschen. Dann waren sie heran, schoben sich an den Findlingen vorbei und blieben genauso ruckartig stehen wie der Moses zuvor auch.
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Sie starrten auf die Toten, die um das längst erloschene Feuer immer noch einen Halbkreis bildeten und sahen sich dann an. „Lieber Himmel“, sagte Dan, „das wird ja immer rätselhafter. Was mag hier nur passiert sein? Ob das die Gefährten des anderen Mannes waren?“ „Vermutlich besteht auch hier ein Zusammenhang, aber das werden wir wohl kaum erfahren, wenn es keine Überlebenden mehr gibt. Das was hier passierte, müssen wir uns selbst zusammenreimen. Diese Männer haben sich an Land retten können, und hier hat es sie erwischt, als sie klatschnaß um das Feuer saßen.“ Er trat näher an den schwarzverbrannten Fleck heran. Die Bußspuren waren erhalten geblieben, und neben einem der Knochenmänner lag noch ein längliches Eisenstück zum Feuerschlagen. Wie lange mochten sie sich schon hier auf der Insel befinden? Gab es wirklich einen Zusammenhang zwischen dem Mann im Boot und diesen bedauernswerten Männern? Auf alle Fragen fand er vorerst keine Antwort, aber etwas gab ihm doch zu
Im Land der Nordmänner
denken. Weshalb sah der Tote im Boot so frisch aus, und aus welchem Grund waren diese Männer hier bereits skelettiert? Das paßte nicht richtig zusammen. Die anderen mochten das gleiche denken, der Seewolf sah es an ihren Gesichtern. „Hier stimmt etwas nicht“, sagte Carberry dann auch prompt. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Wenn dies eine Insel ist, dann glaube ich fast, daß es hier auch Eingeborene gibt. Vielleicht eine Gruppe wie die Männer in Grönland, den Inuits verwandt. Ich habe jedenfalls das Gefühl, daß wir in weitem Umkreis nicht mehr allein sind.“ „Dafür haben wir keinerlei Beweise“, sagte Hasard. „Aber ich bin sicher, daß wir hier noch ein paar Überraschungen erleben werden. Sehen wir uns das Land also ein wenig näher an.“ Leise, wie um die Toten nicht zu stören, die um ein längst erloschenes Feuer herumhockten, gingen sie weiter. Hasard wollte das Geheimnis enträtseln. Vielleicht gab es doch noch irgendwo Überlebende, obwohl das höchst unwahrscheinlich war. Aber man konnte nie wissen...
ENDE