Mac Kinsey � Band 13 �
Bryan Danger �
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Jahrhundertelang ruhten sie in der Gruft des Zuchth...
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Mac Kinsey � Band 13 �
Bryan Danger �
Im Kerker der � Zombies �
Jahrhundertelang ruhten sie in der Gruft des Zuchthauses – all die Mörder, Giftmischer, Straßenräuber und Piraten, die am Galgen oder unter dem Beil des Scharfrichters geendet hatten. Dann kam der Tag, der eine blutige Zuchthausrevolte brachte. Und von nun an war alles anders. Das Grauen hielt Einzug hinter den uralten Mauern. Der Tod ging leibhaftig um. Als man die Gruft öffnete, waren die einst Hingerichteten entwichen. Als Zombies brachten sie Grauen und Terror über das Land. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gebunden, als er die knarrenden Stufen zum Podest hinaufwankte. Malcolm Davies spürte die scheuernden Stricke kaum. Unentwegt murmelte er Worte und übersah, daß der Geistliche ihn wohlwollend betrachtete. Ein frommer Mann, dachte der Pfarrer. Sooft ich ihn sah, hat er gebetet. Unfaßbar, daß ein Mensch wie er zum Mörder werden konnte. Der Herr wird seine reuige Seele gnädig aufnehmen. Was er nicht wußte, war, daß der zum Tode Verurteilte keinen Gedanken an die himmlischen Mächte verschwendete. Sein Sinnen galt dem Satan. Ihn rief er an in der Hoffnung, daß der Höllenfürst ein Einsehen mit ihm habe und den Henkersstrick reißen ließ. Malcolm Davies war voller Verachtung und Abscheu für die, die das Urteil über ihn gesprochen hatten und es jetzt in die Tat umsetzten. Tod durch Erhängen! Ein grausames Ende. »Hilf mir, Rache zu nehmen«, murmelte er. »Gib mir ein Zeichen, an dem ich dein Einverständnis erkenne.« Daß er keine Antwort des Finsteren erhielt, beunruhigte ihn zwar, aber er wußte, daß Satan oft in allerletzter Sekunde wirkte. In winzigen Zeitspannen vermochte er Dinge zu tun, deren die Menschen in Jahrhunderten nicht fähig waren. Malcolm Davies hatte die oberste Stufe erreicht. Ein grobschlächtiger Kerl nahm ihn im Empfang. Es war der Henker. Sein Gesicht 3
zeigte an den Delinquenten soviel Interesse wie an ein paar abgelegten Beinkleidern. Davies wurde zum Strick geführt, der in einer großen Schlinge vom Balken baumelte. Der Balken hielt die Last eines Elefanten aus. Und auch der Strick war stark und neu. Ohne die Hilfe des Satans war mit keiner Rettung zu rechnen. Es gab nicht viele Zuschauer. Außer dem Henker und dem Pfarrer war nur noch ein Regierungsbeamter anwesend, der sich von der ordnungsgemäßen Erfüllung des Gerichtsurteils zu überzeugen hatte. Und natürlich der Direktor des Zuchthauses. Für sie alle war das Ereignis nichts Ungewöhnliches. Sie hatten es schon oft erlebt. Für Malcolm Davies war es das erstemal. Natürlich! Wer wurde schon zweimal gehenkt? Er spürte die Schlinge an seinem Hals. Er bemühte sich, nicht an sie zu denken. Gleich mußte das Zeichen kommen. Dann triumphierte er und war wieder frei. Hinter den dicken, grauen Mauern, dort, wo sich die Reihen winziger Öffnungen mit den starken Eisenstäben befanden, hielten jetzt ein paar hundert Häftlinge den Atem an. So war es jeden dritten Freitag im Monat. Dann war Henkerstag. Das wußten sie alle. Auch die, die die Chance besaßen, hier jemals wieder lebend herauszukommen. Malcolm Davies richtete sich am Bewußtsein dieses Mitgefühls auf. Aber er wußte, daß ihm keiner seiner ehemaligen Freunde helfen konnte. Das vermochte nur einer, und der hüllte sich noch immer in Schweigen. Der Henker trat drei Schritte zurück. Mit seinen behaarten Fäusten packte er einen Hebel und wartete auf sein Zeichen. Der Geistliche näherte sich dem Todgeweihten. Er richtete den Blick zum Himmel und öffnete die Lippen für ein paar letzte tröstende Worte. Da spie ihm Malcolm Davies mitten ins Gesicht. »Ich brauche dich nicht, Pfaffe«, schrie er. »Verschwinde und paß auf deinen eigenen Hals auf.« 4
Der Pfarrer zuckte zurück. Beleidigt schlich er davon und beschwerte sich bei dem Gefängnisdirektor. Der wechselte mit dem Regierungsbeamten einen raschen Blick. Dessen Kopfnicken löste ein Handzeichen bei ihm aus. Der Henker riß den Hebel herunter. Unter Malcolm Davies sackte der Boden weg. Der Strick straffte sich mit einem Ruck. Zur gleichen Zeit zuckte ein greller Blitz über den düsteren Platz. Eine undurchdringliche, bestialisch stinkende Rauchwolke fegte zur Richtstätte und hüllte sie ein. Eine gräßliche Fratze löste sich daraus und lachte wild auf, als die vier Anwesenden entsetzt zurückwichen oder sich gar zu Boden warfen. »Ich lasse meine Getreuen nicht im Stich«, brüllte die Fratze. Gelbglühende Augen brannten wie zwei Scheiterhaufen in dem Phantom. Ein verzerrter Mund drohte den Henker zu verschlingen, der schreiend vom Podest sprang und so unglücklich auftraf, daß er sich das Genick brach. Ein Sturm peitschte durch das Geviert. Der Regierungsbeamte klammerte sich an den Gefängnisdirektor, einen schwergewichtigen Mann, den so leicht nichts umwerfen konnte. Diesem Orkan war aber auch er nicht gewachsen. Er wirbelte über den staubigen Platz und zerrte den Beamten, der wie der Schweif eines Papierdrachens an ihm hing, hinter sich her. Er prallte gegen die Mauer und rutschte daran entlang zu Boden. Aus seinem gespaltenen Schädel sickerte es breiig. Der Beamte riß die Augen auf und kreischte. Wie von Sinnen klammerte er sich an den Toten und wimmerte kläglich vor sich hin. Mit irren Blicken stierte er um sich. Er entdeckte die Steinschloßpistole im Gürtel des Direktors. Aufjammernd zerrte er sie heraus. Er riß den Hahn in den Spannrast und richtete fast verzückt den Lauf auf seine Brust. Als er den Abzug betätigte, lachte er, und dieses Lachen wurde von der scharfen Detonation der Pulverladung zu der Teufelsfratze hinübergeweht. Blutüberströmt brach er zusammen. 5
Der Geistliche war der einzige Überlebende. Fassungslos sah er mit an, wie binnen weniger Augenblicke vier Menschen zu Tode gekommen waren. Und nun löste sich die schwarze Rauchwolke auf und kam auf ihn zu. Die Fratze schwamm förmlich darin und drohte, ihn zu verschlingen. »Hebe dich weg von mir, Satan!« murmelte der Pfarrer bebend. Hastig schlug er das Kreuz und warf sich zu Boden. Er fühlte, wie etwas Furchtbares, Zerstörerisches an ihm zerrte, ihm das Rückgrat brechen und sämtliche Glieder ausreißen wollte. In sinnloser Panik schrie er ein Gebet hinaus, das ihm gerade einfiel. Unaufhörlich bewegten sich seine heißen Lippen. Um ihn war unerträgliche Hitze. Das mußte das höllische Feuer sein. »Hilf mir, o du mein Gott!« flehte er. Ihm wurde schwarz vor Augen. In seinen Ohren war ein Brüllen, das unerträglich wurde und an die Schmerzgrenze heranreichte. Schlagartig verstummte es. Grabesstille breitete sich aus. Der Sturm legte sich. Die Luft reinigte sich allmählich. man konnte sie wieder atmen. Der Pfarrer richtete sich zögernd auf. Seine anfängliche Hoffnung, alles lediglich geträumt zu haben, erfüllte sich nicht. Er sah die Toten in seltsam verrenkter Haltung liegen. Er sah den vom Sturm gebrochenen Galgen, an dem der Abgeurteilte baumelte, und er sah die schreckensbleichen Gesichter der Aufseher, die in den Hof strömten und sich fragend an ihn wandten. Sie bewegten ihre Lippen und gestikulierten mit den Armen, aber er hörte keinen Laut. Da begriff er, daß er taub geworden war. Der Höllenlärm hatte seine Trommelfelle zerfetzt. Er versuchte, ob er noch sprechen konnte. Er schrie jedes seiner Worte, das er selbst nicht hören konnte. Aber die Aufseher blickten ihn aufmerksam an. Offenbar verstanden sie, was er zu ihnen sprach: »Jener dort hat den Teufel gerufen. Baut ihm eine Gruft, aus der er auch mit Satans Hilfe niemals entweichen kann, damit sich die6
ses grauenvolle Unglück nicht wiederhole.« Dann taumelte er davon. Er wankte zu seiner kleinen Kapelle, die ihm schon oft Trost in seinem schweren Amt gespendet hatte. Vor dem Altar fiel er auf die Knie und weinte. Doch schon bald klärte sich sein Gesicht auf. Er war zwar taub, doch die Stimme des Herrn konnte er auch jetzt noch hören. Nach inbrünstigem Gebet zog er sich in seine Kammer zurück, setzte sich an das Pult und begann zu schreiben. Er wollte, daß alle Welt erfuhr, was im Gefängnis von Forthby geschehen war. * Gegen den ursprünglichen Willen des Geistlichen, der bereits einige Monate später das Zeitliche segnete, wurden seine Aufzeichnungen nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der neue Gefängnisdirektor war der Meinung, daß diese ungeklärten Ereignisse besser geheim blieben. Und die Räte der Stadt Forthby gaben ihm recht. In der Bevölkerung gärte es ohnehin genug. Es war nicht nötig, daß man Angst und Unzufriedenheit zusätzlich schürte. Außerdem war wohl nicht ganz ernstzunehmen, was der Pfarrer da niedergeschrieben hatte. Wen man auch in der Umgebung fragte, keinem war bisher der Teufel erschienen. Das Beste und Klügste war, man schwieg die Sache tot. Die Gruft wurde allerdings gebaut. Es dauerte fast ein ganzes Jahr, bis das unterirdische Gewölbe fertiggestellt worden war. Danach wurden Malcolm Davies und zehn andere seitdem Hingerichtete aus ihren provisorischen Gräbern gehoben und in der Gruft neu bestattet. Fünf Fuß dicke Mauern waren der Garant, daß kein Unbefugter eindringen konnte, und die schweren, eisernen Türen hatte man gleich in dreifacher Ausführung hintereinander angeordnet und mit den modernsten Schlössern gesichert. Es war kein Wunder, daß schon bald das geflügelte Wort unter den Gefangenen umging – so sicher wie in der Gruft von Forthby. 7
Aber auch das Zuchthaus selbst, das am Rande des Moores errichtet worden war, galt als sicher. Trotzdem versuchten es immer wieder ein paar Unbelehrbare. Sie waren der Auffassung, daß jede Mauer eine Fuge besaß, durch die man schlüpfen konnte, sofern man sich nur dünn genug machte. Schon viele hatten diesen Irrglauben mit dem Tod oder zumindest mit verschärften Strafen bezahlen müssen. Aber solange es Gefängnisse gibt, wird man das Verlangen nach Freiheit nicht unterdrücken können. Deshalb nannte auch die Chronik von Forthby über die Jahrhunderte hinweg immer wieder Ausbruchsversuche, die ausnahmslos gescheitert waren. Roger Cummage trug sich als vorläufig Letzter in diese Chronik ein. Ihn hätte nicht die Angst vor dem Galgen zu der Verzweiflungstat getrieben. Die Todesstrafe war in England längst abgeschafft worden, woran auch jüngste Bestrebungen der Ministerpräsidentin nichts hatten ändern können. Cummage fühlte sich unschuldig, und er hatte den Gedanken nicht ertragen, den Rest seines Lebens für eine Tat, die er angeblich nicht begangen hatte, hinter Gittern zu verbringen. Als er mit einer Kolonne von Leidensgefährten zum Torfstechen abkommandiert wurde, hatte er einen günstigen Moment abgepaßt und war in Richtung des nahen Waldes geflohen. Es wurde gemunkelt, daß dreizehn Geschosse seinen Rücken durchbohrt hatten. So war er im flüchtigen Gefühl seiner nahen Freiheit gestorben. Der Strafvollzug war während der letzten dreihundert Jahre menschlicher geworden. Es wurde den Gefangenen gestattet, an den Begräbnisfeierlichkeiten teilzunehmen. Unter strenger Aufsicht selbstverständlich. In Reih und Glied hatten sie Aufstellung genommen. Nicht alle. Manche hatten es vorgezogen, in ihren Zellen zu bleiben. Zum Teil, weil sie Beerdigungen verabscheuten und nicht an ihren eigenen trostlosen Tod erinnert werden wollten, zum Teil, weil sie Roger Cummage zu dessen Lebzeiten nicht hatten leiden können, zum Teil aber auch aus Protest. 8
Cedric Chiles gehörte zu der letzten Gruppe. Er war noch nicht dreißig, und doch war sein Leben schon vorbei. Er würde hier nicht wieder herauskommen. Der Richterspruch wollte es so. Dabei fühlte er sich genauso unschuldig wie jener Mann, den sie ermordet hatten und nun unter heuchlerischen Gesängen zu Grabe trugen. Cedric Chiles ballte die Fäuste und preßte sie gegen die Ohren. Der disharmonische Choral quoll durch die Gitterstäbe bis in seine Zelle. Und selbst die verkrampften Finger vermochten die Töne aus hoffnungslosen Männerkehlen nicht aufzuhalten. »In seine Augen traten Tränen. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er zum letztenmal geweint hatte. War es, als Verena ihn besuchte und mit verlegenem Lächeln gestand, daß sie einen anderen Mann kennengelernt hatte und in Zukunft wohl nicht mehr kommen würde? War es, als sich seine Mutter von ihm abwandte und den Polizisten nicht entgegentrat, die ihn abholten. Oder war es, als sich der brutale Kid Mungo, dem man neunzehn Bluttaten nachgewiesen hatte, weigerte, mit ihm die Zelle zu teilen? Ganz sicher hatte er nicht bei der Urteilsverkündung geweint. Damals hatte er nur seine Verzweiflung hinausgeschrien. Und er hatte sich vorgenommen, ihnen nie seinen Schmerz zu zeigen, der in seinem Innersten tobte und immer lebendig sein würde. Die Glocke der Kapelle ließ ihre Stimme hören. Früher hatte sie nicht nur zum Gebet gerufen, sondern vor allem auch ihren Dienst als Armesünderglocke erfüllt. Ihr Klang hatte viele Häftlinge in den Tod geschickt. Für Cedric Chiles hatte ihr Ton nichts Beruhigendes. Er wußte, daß jetzt der Sarg in das ausgehobene Grab gesenkt wurde. Irgendwann würde es ein anderer versuchen, und auch für ihn würde die Glocke läuten. Forthby gab keinen frei. Er nahm die Fäuste von den Ohren und erhob sich von seiner Pritsche. Das vergitterte Viereck befand sich hoch über ihm. Es gab modernere Gefängnisse in England, aber kaum ein sichereres. Und auch kein trostloseres. Cedric Chiles besaß eine Uhr, aber die befand sich bei seinen übri9
gen Habseligkeiten, die man ihm beim Empfang vor vier Jahren abgenommen hatte. Trotzdem konnte er die Zeit gut abschätzen. Das lernte man hier automatisch. In drei Minuten würden draußen scharfe Kommandos ertönen. Weitere vier Minuten später würden die Gefangenen über Treppen und durch Gänge marschieren und in ihre Zellen zurückkehren. Heute wurde nicht gearbeitet. Es war schließlich Sonntag. Cedric Chiles lauschte. Er zog seine gestreifte Kluft enger um die Schultern. Ihm war plötzlich kalt. Dabei schien draußen die Sonne. Wer ihn genießen konnte, für den war es ein herrlicher Sommertag. Chiles hatte eher das Gefühl, am Südpol zu hocken. Eine kernige Stimme plärrte. Eine andere echote dasselbe Kommando. Stiefel scharrten auf dem Boden. Jetzt würde sich der Zug in Bewegung setzen. Da riß Cedric Chiles ein Aufschrei aus seiner Lethargie. Stimmen brüllten. Er glaubte sogar, Kid Mungo zu erkennen. Dann fielen die ersten Schüsse. * Dub Elam schnaufte asthmatisch. Die Hitze machte ihm zu schaffen. Er ärgerte sich, daß so ein Theater wegen dieses Halunken gemacht wurde. Er hatte sich seinen Tod selbst zuzuschreiben. Warum war er auch auf die verrückte Idee verfallen auszureißen. Damit hatte noch keiner Glück gehabt. Jedesmal wenn der bullige Aufseher die Häftlinge in so massiver Form aufmarschieren sah, war ihm ein wenig unbehaglich zumute. In deren Köpfen ging doch nur verrücktes Zeug vor. Man sollte sie in ihren Zellen lassen. Dann hatte man wenigstens keinen Ärger. Dub Elam hielt sich an seinem Gewehr fest. Das war ein beruhigendes Gefühl. Das Metall war kühl in seiner schwitzenden Faust. Mit der Knarre war man diesem Gesindel überlegen. Und das wußten sie zum Glück. Der Aufseher freute sich schon auf den ruhigen Nachmittag. Er 10
hatte frei und wollte zu Prosper fahren. Sie hatten sich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Der Sarg verschwand in der Grube. Graham Stanlay, der Gefängnisgeistliche, sprach noch ein kurzes Gebet, dann war die Feier vorüber. Die Totengräber traten in Aktion. Die ersten Kommandos dröhnten. »Bewegt euch, ihr Lahmärsche!« brüllte Dub Elam und trat einen drohenden Schritt vor. Die Gefangenen duckten sich unwillkürlich und warfen ihm haßerfüllte Blicke zu. Beliebt war keiner der Aufseher, aber Elam wurde regelrecht gehaßt. Er ließ keine Gelegenheit aus, sie zu schikanieren. Der Zug setzte sich in Bewegung. Abteilungsweise verschwanden die Männer in der gestreiften Kleidung und den unübersehbaren Nummern auf den Rücken in dem Tor, das von zwei bewaffneten Aufsehern flankiert wurde. Die Andacht war vorüber. Jetzt nahm der Zuchthausalltag seinen Fortgang. Dub Elam grinste zufrieden. Das war überstanden. Nun war ihm wohler. Ein letztes Häuflein drängte sich noch durch das Tor. Einer von denen blickte sich nach ihm um. In seinen Augen brannte Haß. Gnadenloser, unversöhnlicher Haß. Der Aufseher hob den Lauf der Waffe geringfügig, doch da sprang ihn der Sträfling schon an. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf ihn, bevor er schießen konnte. Der Aufprall ließ ihn wanken, aber er fiel nicht. Er drehte das Gewehr herum und schlug mit dem Kolben zu. Der Häftling ließ mit einem Wimmern von ihm ab. Die ersten Schüsse peitschten auf. Dub Elam sah, daß andere Gefangene dem Beispiel des ersten folgten und kehrtmachten. Sie fielen über die Aufseher an der Tür her und entwaffneten sie blitzartig. Hinterm Tor war man auf die unvorhergesehenen Geschehnisse aufmerksam geworden. Die Aufseher versuchten, Ruhe zu bewahren. Der Direktor persönlich rief über eine Lautsprecheranlage zur 11
Besonnenheit auf. Unterdessen entbrannte ein heftiger Kampf zwischen beiden Seiten. An verschiedenen Stellen blitzten Messer und kräftige Schraubenzieher auf. Das Gedränge war groß. Die Aufseher hatten keine Möglichkeit, gezielt zu schießen. Sie mußten sich vorläufig auf Warnschüsse beschränken. Dub Elam wurde nun doch von den Füßen gerissen. Insgesamt hingen jetzt vier Gefangene an ihm und schlugen mit Fäusten auf ihn ein. Noch hatte er sein Gewehr nicht verloren, und ihm war egal, ob er einen von den eigenen Leuten traf. Es gab mehr Sträflinge als Wachhabende, also war die Chance, einen Verbrecher zu treffen, größer. Das war Dub Elams Mathematik. Während die Aufsässigen auf ihn einschlugen, tastete er nach dem Abzugsbügel und jagte einen Schuß in die Menge. Jemand brüllte auf. Das Knäuel löste sich in Panik auf. Die Gefangenen rannten davon, die Aufseher hinter ihnen her. An verschiedenen Stellen bildeten sich Gruppen, die gegeneinander kämpften. Dub Elam packte das Gewehr und rammte es dem Nächsten in den Unterleib. Dadurch verschaffte er sich ein bißchen Luft. Er kroch schleunigst weiter und stellte grinsend fest, daß die Sträflinge blind drauflosschlugen und gar nicht merkten, daß sie nicht ihn, sondern Ihresgleichen trafen. Fast hatte er es geschafft. Er zog das zweite Bein aus dem Durcheinander. Vorsichtig richtete er sich auf und rannte los. Er wollte einen gewissen Abstand zwischen sich und die Entfesselten bringen. Dann konnte er ungefährdet auf sie schießen. Er prallte gegen einen Kerl, den er vorher nicht gesehen hatte. Er kannte seinen Namen. Es war Luke Walden, ein heimtückischer Bursche, dem er zutraute, die Revolte angezettelt zu haben. Er zögerte nicht, sondern feuerte. Aber Walden war kein Narr. Er warf sich zur Seite und wirbelte im nächsten Moment herum. In seiner derben Faust blitzte ein Messer. 12
Dub Elam brüllte vor Entsetzen, als die Klinge hinter seinem Ohr in den Schädel eindrang. Er versuchte, die Waffe erneut in Anschlag zu bringen, doch er hatte nicht mehr die Kraft dafür. Zum Glück kam endlich Hilfe. Die Aufseher setzten sich durch und schlugen die Aufständischen zurück. Der Widerstand zerbröckelte. Selbst Luke Walden ließ sich überwältigen. Sein stierer Blick drückte aus, daß er nicht begriff, was er getan hatte. Er wurde von drei Uniformierten abgeführt. Dub Elam blieb in seinem Blut liegen. Seinen Leichnam schaffte man erst später weg, als wieder Ruhe eingekehrt war. * Roderic Jarrett trank seinen Beruhigungstee. Er braute ihn selbst nach einem Spezialrezept. Die Wirkung war erstaunlich. Selbst ein Weltuntergang verlor bei einer Tasse Jarrett-Mix seinen Schrecken. Diesmal aber war viel Schlimmeres passiert als nur ein Weltuntergang, der schließlich alle zwei Jahre von irgendeinem Astrologen avisiert wurde. Eine Revolte in Forthby hatte es während der letzten einhundertunddreiundvierzig Jahre nicht mehr gegeben. Und ausgerechnet jetzt mußten die Gefangenen verrücktspielen, dabei hatte er sie als Direktor dieses Gefängnisses immer erstaunlich mild behandelt. In anderen Strafanstalten war es zum Beispiel nicht üblich, daß jeder Gelegenheit erhielt, an einer Beerdigung teilzunehmen. Er war wegen seiner humanen Einstellung schon oft angefeindet worden. Drei Tote gaben seinen Gegnern recht. Zwei Gefangene und einer der Aufseher hatten das blutige Gemetzel nicht überlebt. Dieser Vorfall ließ sich nicht vertuschen. Er war gezwungen, einen Bericht an den Justizminister zu verfassen. Ob er bei dieser Gelegenheit auch gleich das Verschwinden der sorgsam behüteten Schlüssel erwähnte? Roderic Jarrett verwarf diesen Gedanken. Wozu? Das würde den 13
Minister nur noch mehr gegen ihn aufbringen, obwohl dadurch nicht der geringste Schaden entstanden war. Kein Mensch benutzte diese verdammten Schlüssel. Sie machten nur Umstände. Ihr Verschwinden hatte auch nichts mit der Revolte zu tun. Allenfalls hatte jemand geglaubt, sie würden zu dem riesigen Gefängnistor passen und damit den Weg in die Freiheit öffnen. Das war aber ein Irrtum. Der Direktor setzte sich an die klapprige Schreibmaschine und spannte einen Bogen ein. Er überlegte minutenlang, dann begann er zu tippen. Schon nach wenigen Zeilen riß er das Papier heraus, zerknüllte es und feuerte es in die nächste Ecke. So konnte man das nicht schreiben. Auch die folgenden drei Versuche schlugen fehl. Roderic Jarrett nahm zur nächsten Tasse Tee Zuflucht. Sein Kragen wurde immer enger. Vermutlich waren seine Tage als Direktor dieses Gefängnisses gezählt. Daß es ausgerechnet Dub Elam erwischt hatte, wunderte ihn nicht. Dieser Mann war alles andere als beliebt bei den Inhaftierten gewesen. Sie hatten Angst vor ihm gehabt, sich aber nie zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen. Was war nur in sie gefahren? Der Mann seufzte gequält auf. Er war beliebt und besaß kleine Schweinsäuglein, die momentan matt wirkten. Seine Wurstfinger mußten schon sehr genau zielen, um jeweils nicht mehr als eine Schreibmaschinentaste zu treffen. Doch daran lag es nicht, daß er mit dem schicksalsschweren Brief nicht zu Rande kam. In ihm war eine Unruhe, für die er keine Erklärung fand. Ihm war, als hätte die Katastrophe noch gar nicht richtig begonnen, als wäre die Revolte nur das Signal für etwas noch viel Schrecklicheres gewesen. Jarrett erhob sich und trat ans Fenster. Von hier aus konnte er auf den Gefängnishof sehen. Kein besonders erheiternder Ausblick, zumal die Blutflecken noch immer nicht restlos entfernt werden konnten. 14
Er wandte sich um und starrte das kitschige Gemälde mit der Kreuzweglandschaft an. Es zeigte eine nächtliche Stimmung. Düster verhangener Wolkenhimmel, ein zerbrochener Wegweiser, eine knorrige Ulme, auf deren unterstem Ast eine Eule hockte, darunter ein Landstreicher, der sich zur Ruhe gelegt und mit einer Zeitung zugedeckt hatte. Hinter diesem Bild befand sich der Wandsafe, in dem er neben wichtigen Dokumenten und einigen Bargeldbeträgen jene Schlüssel aufbewahrt hatte, die spurlos verschwunden waren. Das Geld war noch da. Welcher Verbrecher hätte wohl über zweitausend Pfund liegenlassen? Das war ausgeschlossen. Doch wer sonst hatte Interesse an ein paar uralten Schlüsseln, an denen längst der Rost nagte? Es gab ja Sonderlinge, die auf Speichern und in Abbruchhäusern nach alten Sachen wühlten, aber wer kam auf die Idee, deswegen den Safe eines Gefängnisdirektors heimlich zu öffnen und nach dem fragwürdigen Diebstahl wieder ordnungsgemäß zu verschließen? Roderic Jarrett zuckte zusammen. Was war das? Er hatte doch seinen Tee ohne Scotch getrunken. War er übermüdet, daß er schon Dinge sah, die es gar nicht gab? Die Eule auf dem Bild zwinkerte ihm höhnisch zu und saß gleich darauf wieder starr auf ihrem Ast. Blödsinn! Ein Sonnenreflex, nichts weiter. Der dicken Mann kniff die Augen zusammen. Fast schämte er sich seines Gedankens. Man sprach immer von diebischen Elstern, die hinter allem möglichen blanken Zeug her waren. Vielleicht gab es auch diebische Eulen, die sich mit rostigen Schlüsseln zufriedengaben. Er atmete tief durch und schielte nach der Teekanne, aus der es noch dampfte. Die Wirkung seiner Wundermischung stimmte ihn bedenklich. Er kam auf die absonderlichsten Ideen. Es war schlichtweg unmöglich, daß eine Eule, die nur aus einem Klecks Ölfarbe bestand, einen Safe öffnete und nach Schätzen Ausschau hielt. Nur gut, daß niemand seiner Angestellten ahnte, welch absurde Einfälle ihn bewegten. Die ganze Autorität wäre beim Teufel. 15
Der Gedanke an den Teufel ließ ihn zusammenfahren. Ihm war, als hätte er ein leises Kichern gehört. Ganz in der Nähe. Direkt hinter ihm. Schaudernd blickte er sich um, aber natürlich war da niemand. Er befand sich allein in seinem Büro. Allein mit seinen Sorgen und Nöten. Die beiden Gefangenen, die bei dem Aufstand erschossen worden waren, waren eiligst auf dem Gefängnisfriedhof beigesetzt worden. Diesmal ohne Beteiligung der Gefangenen. Dub Elam war in der kleinen Totenhalle aufgebahrt. Seine Angehörigen waren verständigt worden. Vermutlich wollten sie nicht, daß er hier seine letzte Ruhe fand. Jarrett fuhr zusammen, als sich das Büro schlagartig verfinsterte. Er starrte zum Fenster. Ihm war, als entfernte sich ein riesiger Schatten. Flügelschlagen war in der Luft. Seine Kehle wurde eng. Schwindel ergriff ihn. Er wankte zum Schreibtisch und mußte sich auf ihn stutzen. Nur allmählich kehrte seine Fassung zurück. Was war nur mit ihm los? Er hatte doch bei dem Kampf keinen Schlag auf den Kopf erhalten. Er ließ sich auf seinen Sessel fallen, daß dieser knarrend ächzte. Er bohrte seine Fäuste gegen die Schläfen, doch das unheimliche Gefühl ließ nicht nach. Als er an seiner Tür klopfte, erschrak er so heftig, daß er zitterte. Er war nicht fähig, sein »Herein!« zu rufen. Er rang nach Fassung und brauchte bis zum nächsten, nachdrücklicheren Pochen. »Ja, bitte?« rief er fast kläglich. Er stützte seinen Kopf auf eine Hand. Das sah sehr grüblerisch aus und verdeckte vor allem sein Gesicht, dessen grünbleiche Farbe ihn verraten hätte. Einer der Aufseher trat ein. »Was gibt es?« erkundigte sich Roderic Jarrett, ohne aufzublicken. »Besuch für Sie, Sir. Ein gewisser Prosper Elam.« Der Direktor nickte. »Ich lasse bitten!« »Mister Elam hat nur wenig Zeit«, widersprach der Uniformierte 16
zögernd. »Er ist gekommen, um seinen Bruder mitzunehmen.« Jarrett nickte wieder. »Ich habe nichts dagegen. Wo wartet Mr. Elam?« »Vor der Totenhalle. Sie ist verschlossen.« »Natürlich ist sie verschlossen«, brauste der Beleibte auf. Der Aufseher sah ihn irritiert und beleidigt an. Jarrett tat es leid, daß er den Mann angefahren hatte, aber mit einer Entschuldigung hätte er alles nur noch schlimmer gemacht. Er erhob sich aus seinem Sessel und kippte den letzten Rest Beruhigungstee hinunter. Dann folgte er dem Aufseher. Vor der Halle, durch deren bunte Glastür man die beiden Kerzen flackern sehen konnte, erwartete ihn ein hochaufgeschossener Mann in zu weitem Anzug. Er strich sich ständig nervös über das fettige Haar. Das linke Auge zuckte von Zeit zu Zeit. Der Direktor ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Darf ich Sie meines zutiefst empfundenen Beileids versichern, Mr. Elam«, schnarrte er. Hier draußen fühlte er sich gleich wohler, wenn er sich auch dabei ertappte, daß er nach dem rätselhaften Schatten Ausschau hielt. »Der plötzliche Tod Ihres von uns allen hochgeschätzten Bruders hat uns sehr getroffen. Wir werden ihm stets ein ehrendes…« »Das war kein plötzlicher Tod, Mr. Jarrett«, unterbrach ihn der Hagere wütend. »Das war Mord. Und Sie haben ihn zu verantworten. Daß ich den Fall untersuchen lasse, dürfen Sie schon jetzt als sicher annehmen.« »Das ist doch selbstverständlich, daß die Umstände des Ablebens unseres pflichtgetreuen Kollegen genauestens geklärt werden«, konterte Jarrett und zog seine schwammige Hand zurück. »Ich habe bereits meinen Bericht an den Minister abgeschickt. Wir haben nichts zu verheimlichen.« Das war zwar eine Lüge, aber sie griff der Wahrheit nur um ein paar Stunden vor. Das war verzeihlich. »Ich verlange, daß der Mörder zur Rechenschaft gezogen wird. Leider gibt es keine Todesstrafe mehr. Aber jedenfalls darf der 17
Schuldige dieses Zuchthaus nie mehr verlassen.« Roderic Jarrett lächelte spöttisch. »Luke Walden ist bereits für die nächsten hundertundzwölf Jahre versorgt. Dreißig weitere werden ihn kaum außer Fassung bringen.« Prosper Elam schäumte vor Wut. »Sie scheinen diese Bluttat als Anlaß für reichlich müde Späße zu nehmen«, fauchte er. »Ich will jetzt meinen Bruder sehen. Alles weitere erledigt mein Anwalt.« Jarrett kniff die Lippen zusammen. Die Elams waren harte Burschen. Unumgänglich, rechthaberisch und unbequem. Aber unbequemer als der Justizminister konnten auch sie nicht sein. Er holte ein Schlüsselbund aus der Tasche, suchte eine Weile und sperrte schließlich die Tür auf. Eiseskälte schlug ihnen entgegen, als sie den kahlen Raum mit dem sparsamen Blumenschmuck betraten. »Ihre Sparmaßnahmen machen wohl nicht mal vor den Toten Halt«, zürnte Elam. »Geben Sie lieber den Zuchthäuslern weniger zu fressen. Dann werden sie auch nicht wieder übermütig.« Roderic Jarrett verzichtete auf eine Antwort. Vor allem gab er nicht zu, daß auch er sich über die niedrige Temperatur wunderte. Der Sarg stand auf einem Podest. Am Kopfende waren zu beiden Seiten zwei Leuchter mit gelblichen Kerzen angeordnet. Der Deckel des Sargs war noch geöffnet. Man hatte damit gerechnet, daß die Angehörigen den Toten ein letztes Mal sehen wollten, wenn er auch alles andere als friedlich aussah. Eigentlich hätte Jarrett den Mann vor dem gräßlichen Anblick warnen müssen, doch er war so wütend auf ihn, daß er es absichtlich unterließ. Deshalb wunderte er sich auch nicht, als Prosper Elam mit einem Gurgellaut zurückprallte. »D – das ist doch – also, ich muß schon sagen – ich verlange eine Erklärung.« Der Direktor blieb ungerührt abseits stehen. »Wir hatten keine Zeit, ihn besser herzurichten«, sagte er achselzuckend. »Es bleibt Ihnen unbenommen, in dieser Richtung alles Erforderliche zu ver18
anlassen. Ich gebe zu, er sieht ziemlich scheußlich aus. Das liegt vor allem an dem Messer in seinem Schädel, das zu entfernen uns trotz aller Bemühungen nicht gelungen ist.« »Was faseln Sie da für ein Zeug?« schrie Elam außer sich. »Was für ein Schädel? Was für ein Messer?« Er hob den Fuß und trat mit voller Wucht gegen den Sarg, bevor Jarrett ihn daran hindern konnte. Der Holzkasten kippte seitlich vom Podest. Er überschlug sich ein paarmal und blieb schließlich unmittelbar vor Jarretts Füßen liegen. Die Augen des Dicken weiteten sich ungläubig. Wieder spürte er das Würgen in seiner Kehle. Die Angst nahm erneut von ihm Besitz. Er fürchtete sich nicht vor dem Zorn des Hageren, sondern vor dem Toten, der seine letzte Ruhestätte verlassen hatte. Der Sarg war leer. * In seiner Zelle kauerte Ken Harris. Er war allein. Alle in diesem Trakt waren dazu verdammt, ohne Zellengenossen auszukommen. Kein Wunder, daß sie immer wunderlicher und grüblerischer wurden. Auch Ken Harris. Er hatte vor elf Jahren seine Frau umgebracht und deren Liebhaber gleich hinterhergeschickt. Inzwischen tat ihm das längst leid, denn beide waren es nicht wert gewesen, daß er sein Leben damit verpfuscht hatte. Aber das ließ sich nun nicht mehr rückgängig machen. Ken Harris war schon weit über sechzig. In seinen Knochen steckte die Gicht. Die muffige Zelle trug nicht zu seiner Gesundung bei. In elf Jahren hatte er sich an Forthby gewöhnt, nicht aber an das Alleinsein. Er vermißte einen Gesprächspartner, Deshalb redete er hin und wieder mit sich selbst. »Verdammt!« murmelte er. »Ich hätte euch nicht erschlagen sollen. Ich hätte euch zwingen müssen, mir Gesellschaft zu leisten, 19
Tag für Tag. Auf die Nächte hätte ich verzichtet. Da will ich meine Ruhe.« Er kicherte vor sich hin. Er dachte daran, daß Dub Elam tot war. Dieser sadistische Schuft hatte sein Ende verdient. Er hatte ihn oft rücksichtslos behandelt. Besonders seine Selbstgespräche hatte Elam unterbunden, dieser hartherzige Lump! Es wurde gemunkelt, daß Luke Walden ihn erstochen hätte. Eigentlich schade, daß er selbst nicht den Mut dazu aufgebracht hatte. Gelegenheiten hätten sich im Laufe der Jahre ergeben. Damals zum Beispiel, als er schon den Hals des Verhaßten zwischen seinen Fäusten gehabt hatte, dann aber solange zögerte, bis er von den anderen Aufsehern zurückgerissen wurde. Außer der Einzelhaft hatte ihm das nichts eingebracht. Und nun war Elam trotzdem tot, und er würde alleine in dieser entsetzlichen Zelle bleiben müssen. Wer würde jetzt Elams Posten übernehmen? Er würde es gleich wissen, denn vom hintersten Ende des Ganges her näherten sich Schritte. Langsam, behäbig. So war auch Elam gegangen. Wahrscheinlich gingen sie alle so in Forthby. Im Zuchthaus hatte man Zeit. Die Uhren tickten nur außerhalb der grauen Mauern. Hier drinnen waren sie schon vor Hunderten von Jahren stehengeblieben. Seine Nachbarzelle war leer. Murphy hatte es erwischt. Dieser Narr! Wieso konnte er sich einbilden, mit einer Revolte sein Ziel zu erreichen? Aber er war immer etwas sonderbar gewesen. Richtig unheimlich. Nachts war oft beschwörendes Gemurmel aus seiner Zelle gedrungen. Und einmal hatte es so bestialisch gestunken, als hätte jemand eine ganze Schachtel Stinkbomben fallenlassen. Nach Schwefel und verbrannten Haaren. Ihm hatte sich der Magen umgedreht, aber am nächsten Morgen war wieder alles normal gewesen. Wenn er Glück hatte, kam Cedric in die freie Zelle. Er lag gleich daneben. Mit ihm könnte er sich ein wenig durch die Wand unterhalten. Cedric war vernünftiger als die meisten. Auch wenn er be20
hauptete, unschuldig verurteilt worden zu sein. Na ja, von der Sorte gab es mehr. Zum Schluß glaubten sie selbst daran. Die Schritte kamen näher. Ganz bedächtig. Eigenartig! Auch Elam hatte die Angewohnheit gehabt, mit dem Schlüssel an den vergitterten Türen entlangzufahren, daß es durch den ganzen Trakt hallte. Sogar nachts, damit alle Schlafenden aufwachten. Dieses Schwein! Die anderen Gefangenen wurden unruhig. Ken Harris hörte, wie sie stöhnten. Einer schrie sogar, als drehte er durch. Dabei tat ihm keiner etwas. Es wurde kalt. Eine regelrechte Welle schwabbte durch die Zellentür. Der Sträfling zog seine Schultern hoch und griff nach der Decke, die auf der Pritsche lag. Und das mitten im Sommer. Durch das vergitterte Fenster konnte er einen Zipfel des strahlendblauen Himmels sehen. Aber die Kälte blieb. Sie wurde sogar immer stärker, und die Schritte wurden immer lauter. Es war, als käme das Schicksal persönlich den Gang herauf. Der da einen gurgelnden Schrei ausstieß, war Cedric. »Nein!« hörte er ihn rufen. Auch die übrigen Gefangenen auf dieser Seite waren rebellisch geworden. Einige rüttelten an den Gitterstäben und verlangten heulend, herausgelassen zu werden. »Haltet das Maul!« krächzte Ken Harris wütend. »Es hat schon genug Stunk gegeben. Wir müssen das wieder büßen.« »Du mußt das büßen, Harris«, antwortete eine kalte Stimme. Eine Stimme, die er nur zu gut kannte und die es doch nicht sein konnte, denn der Inhaber der Stimme lebte nicht mehr Luke Walden hatte ihn getötet, und Tote redeten nicht. »Mit dir hatte ich immer Ärger, Harris«, fuhr die Stimme fort. Sie war jetzt ganz nahe. »Du wolltest mich sogar ermorden. Das ist zwar schon mehr als zwei Jahre her, aber ich vergesse nichts. Ich verzichte nicht auf meine Rache.« Der alte Mann fühlte, wie die Beine unter ihm nachgaben. Man hatte sie angelogen. Dub Elam war gar nicht tot. Das Messer konnte ihn nur verletzt haben. »O Luke!« rief er enttäuscht. »Ich hatte ge21
hofft, du würdest Nägel mit Köpfen machen.« »Luke Walden kommt auch noch dran«, antwortete der andere frostig. »Sagt es ihm. Euer Nachrichtensystem funktioniert doch so gut. Ich bin nie dahinter gekommen, wie ihr es schafft, schneller zu sein als ein Telefon.« Aus Cedric Chiles Zelle drang irres Gelächter. Schauer liefen über Ken Harris' Rücken. Er verkroch sich in die äußerste Ecke seiner Zelle, aber er wußte nicht, wovor er floh. Ein Schatten fiel durch seine Tür. Ein wuchtiger, unförmiger Schatten. Der Aufseher war stehengeblieben. Ken Harris hob den Kopf. Seine blassen Augen weiteten sich unnatürlich. Er zitterte heftig. Plötzlich begriff er die Unruhe und das Entsetzen der anderen. Ja, es war Dub Elam, der dort in seiner Aufseheruniform vor ihm stand und ihn gnadenlos anstarrte. Aber wie sah er aus! In seinem Schädel steckte noch immer das Messer, das Luke Walden ihm hineingejagt hatte. Auf der Wange klebte verkrustetes Blut. An mehreren Stellen schauten die blanken Knochen unter der aufgerissen Haut heraus. Adern waren freigelegt und boten das Bild eines Kabelbaums in einem elektrischen Gerät. Die Lippen waren weit zurückgezogen. Dadurch wirkten die Zähne nackt und unnatürlich groß. Das Schrecklichste aber waren die Augen. Sie waren milchig und ohne Leben. Reflexe tanzten darin. Von weitem sahen sie wie Bilder aus. Als würde ein Film in ihnen ablaufen. »Komm her, Harris!« schnarrte der Tote. »Wir haben eine Rechnung zu begleichen. Dub Elam bleibt nichts schuldig. Daran hindert ihn auch der Tod nicht.« Er hielt ein Gewehr zwischen den Fäusten. Die Fäuste waren knochig mit grauenvoll langen, dürren Fingern. Er hob das Gewehr, bis der Lauf auf den Sträfling zeigte. Ken Harris hob die Hände zur Abwehr. Er stand kurz davor durchzudrehen. Er war doch noch nicht total verkalkt, daß er Geister sah. Der Kerl dort war Elam, aber das Messer mußte ihn umge22
bracht haben. Genauso, wie behauptet worden war. Er müßte in der Totenhalle liegen, aber er stand hier vor seiner Zelle und hatte den Knochenfinger am Abzug. »Nicht!« flehte der Alte. »Was haben Sie vor, Mr. Elam?« Der Grauenvolle lachte schaurig. »Ich bin kein Mister mehr, Harris. Ich bin tot. Du kannst auf Förmlichkeiten verzichten. Als du mich erwürgen wolltest, warst du auch nicht gerade sehr förmlich. Du wolltest, daß ich sterbe. Jetzt zahle ich dir diesen Wunsch zurück.« Ken Harris klammerte sich an die kühle Mauer hinter ihm. Ein schlechter Scherz! Etwas anderes konte es nicht sein. Das, was er mit seinen eigenen Augen sah, gab es in Wirklichkeit nicht. Höchstens im Traum, aber er träumte nicht. Der Schweiß auf seiner Stirn und im Nacken war echt. Und seine panische Angst erst recht. Er starrte in die todverheißende Mündung des automatischen Gewehrs. Und dann wieder auf die Augen des Unheimlichen. Jetzt konnte er die Bilder darin erkennen. Sie zeigten einen Mann in Sträflingskleidung. Das war er selbst. Die Nummer stimmte mit der seinen überein. Dieser Mann zuckte zusammen. Er stürzte. Die milchigen Augen Dub Elams färbten sich blutrot. Sein Mund verzerrte sich. Ken Harris war Zeuge seines eigenen Schicksals geworden, das der Tote ihm zugedacht hatte. Er flehte um Gnade. Ihm wurde gar nicht bewußt, wie oft er sich in den letzten Jahren den Tod gewünscht hatte. Als er nun vor ihm stand, graute ihm davor. Der tote Aufseher stieß ein wildes Lachen aus, das durch den ganzen Gang bis zum Gitter hallte, das den Trakt von der Treppe abgrenzte. Irgendwo verlor sich das Gelächter. Dann schoß er. Er feuerte nur eine einzige Kugel ab und senkte danach den Lauf. Ken Harris wurde durch den Schlag gegen die Mauer getrieben. Er sah, daß sich der Untote umdrehte und ungerührt weitermarschierte. Er wollte schreien, doch statt Worte quoll nur Blut aus einem Mund. Es pulste heftig aus seinem Körper und pumpte das 23
Leben aus seiner Brust. Langsam rutschte er an der Mauer entlang zu Boden. Als er aufprallte, waren seine Augen bereits gebrochen. * Die Schreckensnachricht erreichte Roderic Jarrett, als er sich die heftigsten Vorwürfe von Prosper Elam anhören mußte. Die beiden Männer blickten den meldenden Aufseher wie ein Gespenst an. Der Hagere faßte sich als erster und tippte sich gegen die Stirn. »Blödsinn!« war sein Kommentar. »War es wirklich Elam?« erkundigte sich der Direktor tonlos. Der Aufseher nickte. »Die anderen Gefangenen haben es übereinstimmend erklärt. Er soll noch das Messer im Kopf gehabt haben. Ich begreife nur nicht, wie ein Mensch gleichzeitig in Trakt sieben einen Gefangenen ermorden und in der Totenhalle im Sarg liegen kann.« »Er liegt nicht mehr im Sarg«, stellte Jarrett richtig. Sein Gesicht war so grau wie die Gefängnismauern. »Begreifen kann ich es allerdings auch nicht. Ich habe den Eindruck, daß ich demnächst verrückt werde.« »Das scheinen Sie mir schon zu sein«, fand Prosper Elam anzüglich. »Und nicht nur Sie. Ist das hier ein Zuchthaus oder ein Irrenhaus? Haben Sie schon mal eine Leiche gesehen, die Menschen umbringt?« »Nein«, gab Roderic Jarrett zu, »aber auch noch keine, die aus ihrem Sarg verschwindet. Haben Sie dafür vielleicht eine Erklärung?« »Und ob! Einer Ihrer Aufseher hatte mit dem Erschossenen ein Hühnchen zu rupfen. Er ließ sich etwas ganz Originelles einfallen. Er schaffte den Leichnam meines Bruders beiseite, klebte sich einen Messergriff an den Kopf und erschoß den Kerl in der Zelle. Seine Rechnung scheint aufzugehen, denn hier gibt es offenbar nur Schwachköpfe, die bereit sind, an Unmögliches zu glauben. Oder 24
Sie stecken alle unter einer Decke.« »Na, hören Sie mal!« empörte sich der Direktor. »Die Trauer über den Verlust Ihres Bruders berechtigt Sie nicht, derartige Verdächtigungen auszusprechen.« »Sie werden sich wundern, wozu ich noch berechtigt bin«, keifte der Hagere. »Ich lasse diesen Laden hier hochgehen. Lauter Korruption. Ich sorge dafür, daß eine Kommission den Zuständen in Forthby auf den Grund geht. Ihr Stuhl wackelt, Jarrett.« Tatsächlich wackelte etwas. Nämlich der Boden unter ihren Füßen. Die drei Männer erschraken. Von Erdbeben hatten sie in den Zeitungen gelesen, aber noch nie selbst eins erlebt. Doch der Erdstoß dauerte nur Sekunden. Dann war alles wieder ruhig. »Was – was war das?« fragte Prosper Elam beklommen. Seine Selbstsicherheit war mit einem Schlag verflogen. Roderic Jarrett war auch nicht wohl zumute. Aber er sah eine gute Gelegenheit, dem anmaßenden Kerl seine Grobheiten heimzuzahlen. »Das haben meine Leute absichtlich inszeniert, um Sie zu erschrecken, Mr. Elam. Wir tun überhaupt den ganzen Tag hier nichts anderes, als uns den Kopf zu zerbrechen, auf welche Weise wir diesmal die Gesetze übertreten könnten.« »Äh hm…« Elam kniff die Augen zusammen. Er sah ratlos und beleidigt aus. Roderic Jarrett war so richtig in Fahrt. Die Erlebnisse der letzten Stunden hatten ihn verunsichert, und dieser Bursche war der letzte Tropfen im Faß gewesen. Jetzt lief es über. Vielleicht war es auch kein Faß, sondern seine Galle. Der Erdstoß beunruhigte ihn. Er glaubte nicht an Verschiebungen der Erdkruste. Da war etwas im Gange. Etwas Schreckliches. Etwas, für das es keine Erklärung gab. Jedenfalls keine vernünftige. Ob die Polizei die Vorgänge aufklären konnte? Er wagte einen Zweifel. Jedenfalls mußte er sich schleunigst ans Telefon hängen. Die Er25
eignisse wuchsen ihm über den Kopf. Er war ihnen nicht mehr gewachsen. Vorher aber mußte er diesen lästigen Burschen mitnehmen. Die Leiche seines Bruders war verschwunden. Ob sie nun mordend durch das Gefängnis schritt oder nicht. Elam mußte ohne sie abziehen. »Ich muß Sie nun leider bitten, uns zu verlassen«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir die Lei–, äh, Ihren Bruder gefunden haben.« »Und wenn ich nicht gehe?« fragte Prosper Elam angriffslustig. Er begriff, daß er abgeschoben werden sollte. Roderic Jarrett räusperte sich und wuchs um einen halben Zoll. Trotzdem mußte er zu dem Hageren aufblicken, was ihn ärgerte. »Dann«, begann er, »dann sehe ich mich gezwungen…« »… mich von Ihren Leichen vertreiben zu lassen, nicht wahr?« höhnte Elam. Der Direktor wurde zunächst einer Antwort enthoben. Zwei weitere Aufseher kamen auf ihn zugerannt. Sie befanden sich in höchster Aufregung. Jarrett ahnte nichts Gutes. Sicher hatte das etwas mit dem Erdstoß zu tun. Ein paar Gefangene hatten sich Sprengstoff beschafft und sich mit seiner Hilfe einen Weg in die Freiheit gebahnt. Vielleicht gab es sogar wieder ein Todesopfer. »Was ist denn nun schon wieder los?« erkundigte er sich ahnungsvoll. Aber es kam noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. »Die Gruft«, stieß der Jüngere der beiden Aufseher mühsam hervor. »Jemand muß die Türen aufgeschlossen haben. Sämtliche Toten sind daraus entwichen. Und sie haben Lockhard umgebracht Mit seiner eigenen Jacke haben sie ihn erdrosselt.« Der Direktor erbleichte. Er suchte einen Halt, und da nichts anderes greifbar war, stützte er sich auf Prosper Elam. Der stieß ihn wütend zurück. »Was fällt Ihnen ein?« Roderic Jarrett fiel eine Menge ein. Vor allem dachte er an die 26
Schlüssel, die jemand aus seinem Safe entwendet hatte. Die uralten Schlüssel zur Gruft. Und er dachte an Dub Elam, den toten Aufseher, der angeblich einen Mord begangen hatte. Wenn die Toten aus der Gruft es ihm gleich taten, dann konnte keiner mehr den Insassen des Gefängnisses von Forthby helfen. * Man sah dem düstergrauen Gebäudekomplex an, daß er nicht aus unserem Jahrhundert stammte. Ich hatte schon viele deprimierende Zeugen vergangener Architektur gesehen, das Zuchthaus von Forthby stellte alle in den Schatten. Wenn ich mir vorstellte, daß ich die nächsten Tage hinter diesen Mauern leben sollte, überfiel mich ein unbehagliches Frösteln. Wieviel angenehmer wäre es in Kathleens zärtlichen Armen. Nach meinen Informationen gab es überhaupt keine Frauen in der Strafanstalt. Nicht mal solche wie Barbara Hicks, die Sekretärin meines Chefs. Nun ja, die hob man sich wohl für den Fall auf, falls einer der Häftlinge Strafverschärfung brauchte. Mich wunderte, daß mein MG nicht streikte, als er das letzte Stück bis zu dem trostlosen Gemäuer zurücklegen mußte. Trotz der aufopfernden Pflege, die ich dem Veteran angedeihen ließ, zeigte er sich in manchen Situationen ausgesprochen sensibel, und ich fand, dies war eine solche Situation. Am liebsten wäre ich selbst umgekehrt. Aber das ging leider nicht. Ich hatte einen klaren Auftrag. Sir Horatio hatte keinen Zweifel daran gelassen, was er von mir, seinem angeblich besten Pferd im Stall, erwartete. Nun, genau genommen, war ich das einzige Pferd in dem Stall, den meine Spezialabteilung beim Secret Service bildete. Ein EinMann-Betrieb sozusagen. Das hatte Vorteile. Aber auch Nachteile. Einer dieser Nachteile war, daß immer ich geschickt wurde, wenn die klugen Herren nicht mehr weiterwußten. Ich konnte die 27
Drecksarbeit auf keinen anderen abwälzen, weil kein anderer da war. »Mac«, hatte Sir Horatio Merriman zu mir gesagt. »In Yorkshire stinkt's. Fahren Sie hin und sorgen Sie für bessere Luft.« Dieser Einleitung war eine kurze Schilderung der jüngsten Vorkommnisse im Forthby-Gefängnis gefolgt. Alles unter dem Vorbehalt, daß das meiste nur auf fragwürdigen Aussagen der Gefangenen beruhte. Die faselten eine ganze Menge wirres Zeug, und der Polizei gegenüber hatten sie sich in Widersprüche verwickelt und von ihrer Abneigung gegen die Gesetzeshüter leiten lassen. Aus denen war nichts Konkretes herauszuholen. Tatsache war jedoch, daß es Tote gegeben hatte. Eine ganze Menge sogar. Und es waren Leichen verschwunden. Einen kleinen Aufstand hatte es auch gegeben. Der war aber niedergeschlagen worden. Alles in allem war es kein Wunder, daß dem Direktor die Fäden aus den Händen liefen, zumal der Bruder eines der toten Aufseher ihm gewaltig Feuer unterm Hintern gemacht haben mußte. Mißtrauisch betrachtete ich die hohe Gefängnismauer. Eine Mauer des Schweigens. Wer wollte sagen, was sich wirklich dahinter zutrug? Wer hinter diesem Steinwall verschwand, existierte für die Welt draußen nicht mehr. Ein plötzlicher Verdacht beschlich mich. Hinein kam man in so ein Gefängnis ja ziemlich schnell. Aber auch wieder heraus? Vielleicht hatte jemand beim Service gegen mich intrigiert. Vielen stach mein Erfolg in die Nase. Warum sollte nicht einer auf den Gedanken kommen, mich abzusägen. Da er mit Beschuldigungen gegen mich bei Sir Horatio kaum Glück haben würde, könnte er eine Story erfunden haben, um mich nach Forthby zu locken. Mit Gefängnissen war es wie mit Nervenheilanstalten. Je lauter man beteuerte, unschuldig oder normal zu sein, um so weniger Glauben wurde einem geschenkt. Mein einziger Trost war, daß Sir Horatio zumindest wußte, wo ich abgeblieben war, falls ich nicht mehr bei ihm auftauchte. Er 28
würde mich wohl wieder rausholen. Auch gegen den Widerstand von Barbara Hicks. Ich parkte den MG auf dem kleinen Parkplatz, der für Besucher des Gefängnisses vorgesehen war. Ich war kein Besucher. Ich sollte hier arbeiten und als Aufseher versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Der Gedanke war nicht schlecht, aber ich bezweifelte, daß Gefangene, die gegen ihre Wachmannschaft revoltierten, einem neuen Mann Vertrauen entgegenbringen würden. Die Gegend war unheimlich. Daß das Gefängnis seinerzeit in so unmittelbarer Nähe des weitflächigen Yorkshire Moors errichtet worden war, hatte zweifellos den einfachen Grund gehabt, eventuelle Fluchtversuche zu erschweren. Das Moor war tückisch. Nachts hätte ich dort nicht herumstreifen wollen. Aber vielleicht blieb mir selbst das nicht erspart. Während der ganzen Fahrt von London hierher hatte die Sonne geschienen. Jetzt schien von einer Minute zur anderen der Herbst hereingebrochen zu sein. Ein eisiger Wind strich vom Moor herüber und trug modrigen Geruch zu mir. Ich bildete mir ein, daß ein Hauch von Verwesung und Tod dabei war. Sicher hatte man meinen Wagen gehört, doch man wartete, bis ich mich am Tor durch mein Läuten bemerkbar machte. Auch dann passierte eine Weile nichts. Ich hatte Gelegenheit, mich genauer umzusehen. Unmittelbar am Gefängnis führte die Straße vorbei, die aber wohl kaum sehr stark befahren wurde. Die meist benutzte Schnellstraße, die Pickering und Scarborough verband, verlief weiter südlich. Dazwischen erstreckte sich ein breitflächiger Wald. Er wirkte fast schwarz. Sogar jetzt am frühen Nachmittag. Es sah aus, als wollte er den finsteren Mauern etwas ähnlich Bedrohliches entgegensetzen. Endlich hörte ich Schritte, doch das Tor öffnete sich noch immer nicht. Das Scharnier einer eisernen Klappe quietschte. Ich schnitt eine Grimasse. Jetzt mußte ich die Gesichtskontrolle über mich er29
gehen lassen. Dabei hatte ich mich wirklich nicht aufgedrängt. Forthby konnte mir gestohlen bleiben. Vermutlich hatte dieser Prosper Elam recht, der behauptete, Mr. Jarrett stecke hinter dem ganzen Spuk. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Unfreundlich waren die Fragen nicht. Ich hörte Angst heraus. So, als wollte man keinen Fremden einlassen. Er könnte eine Mordwaffe bei sich tragen. Welcher Mörder ging schon freiwillig nach Forthby? Jeder drehte spätestens um, wenn er das Gefängnis von weitem sah. »Kinsey«, antwortete ich genauso knapp. »Mr. Jarrett erwartet mich.« Eine nochmalige Rückfrage beim Direktor hielt der Mann nicht für erforderlich. Er war informiert. Das Tor wurde gerade so weit geöffnet, daß ich mich hindurchzwängen konnte. Ein mißtrauischer Blick nach beiden Seiten, dann schlug das Tor wieder ins Schloß. Ein Schlüssel wurde herumgedreht und abgezogen, zwei schwere Riegel vorgeschoben und gesichert. Ich fragte mich, wann ich wieder die Außenseite der entsetzlich hohen Mauer sehen würde. Der Auftrag schmeckte mir ganz und gar nicht. * Kaum saß ich Roderic Jarrett gegenüber, schwand mein Mißtrauen ihm gegenüber. Dieser Mann war die personifizierte Panik. Er wußte nicht mehr ein noch aus. Er schlotterte vor Angst und brachte kaum eine leidliche Begrüßung zustande. »Hat man Sie informiert, Mr. Kinsey?« fragte er hoffnungsvoll. Es war ihm wohl unangenehm, über gewisse Vorkommnisse sprechen zu müssen. Ich konnte ihn nicht schonen. Ich wollte alles noch einmal aus seinem Mund hören. Sir Horatio hatte seine Informationen über mehrere Ecken erhalten. Dabei wurde manches verfälscht. 30
Jarrett griff zu einer Teetasse. »Wollen Sie auch einen?« erkundigte er sich. »Beruhigungstee. Ich stelle ihn selbst zusammen.« Ich musterte den Beleibten und nahm mir vor, mich niemals auf die beruhigende Wirkung dieses Gebräus zu verlassen. Jarrett hätte einen hervorragenden Plumpudding abgegeben. Den wollte ich gerne einmal nervös sehen. Zu meiner Enttäuschung erfuhr ich von ihm kaum etwas Neues. Da war das Begräbnis des bei seiner versuchten Flucht erschossenen Häftlings Roger Cummage. Dann die plötzlich aufflammende Revolte, die zwar im Keim erstickt werden konnte, aber dennoch drei Todesopfer kostete. Zwei Gefangene und den allseits unbeliebten Wachmann Dub Elam. Letzterer war aus seinem Sarg verschwunden und angeblich in Trakt sieben aufgetaucht, um einen Gefangenen abzuknallen. Schließlich gab es noch die drei Schlüssel, die zu den Türen der alten Gruft paßten. Sie waren aus Jarretts Wandsafe verschwunden, ebenso wie sämtliche Gerippe aus der Gruft, die schon seit langem nicht mehr benutzt worden war, weil sie für weitere Tote keinen Platz mehr bot. Ich musterte mein zitterndes Gegenüber aufmerksam und wurde das Gefühl nicht los, daß Jarrett mir noch etwas verschwieg. Ich sagte es ihm auf den Kopf zu. Er druckste herum, bevor er sagte: »Sie müssen mich für verrückt halten, Mr. Kinsey. Ich tue es ja schon selbst fast. Aber was hier geschieht, übersteigt mein Begriffsvermögen. Ich komme mir vor wie ein Idiot. Haben Sie etwa schon mal beobachtet, daß sich Dinge, die nur auf Leinwand gemalt waren, bewegt haben?« »Ja.« »Na sehen Sie, aber ich…« Er brach mitten im Satz und starrte mich zweifelnd an. »Was haben Sie eben gesagt?« Ich lächelte mein berühmtes beruhigendes Lächeln. »Ich sagte, daß mir Ähnliches schon verschiedene Male passiert ist, Mr. Jarrett. Anfangs ging es mir ähnlich wie Ihnen. Ich zweifelte zuerst an meiner Nüchternheit und dann an meinem Verstand. Doch inzwischen weiß ich, daß es diese Dinge gibt. Natürlich handelt es sich nicht 31
immer um Spuk, aber man kann ihn nicht von vornherein ausschließen. Worum geht es in Ihrem Fall?« Er erzählte mir, daß er den Eindruck gehabt hatte, eine kleine, in Öl gemalte Eule habe ihm höhnisch zugezwinkert. Und er erwähnte, daß sich ausgerechnet hinter dem Bild der ominöse Wandsafe befand, aus dem die Schlüssel, nicht aber zweitausend Pfund verschwunden waren. Der Safe war ordnungsgemäß verschlossen gewesen. »Ist das alles?« wollte ich wissen. Eine zwinkernde Eule hielt ich in einem Gefängnis, in dem nur so gemordet und spurlos verschwunden wurde, für nicht sehr problematisch. Roderic Jarrett gab sich einen Ruck. Meine Ruhe griff ein wenig auf ihn über. Er hatte jetzt jemand, auf den er die Verantwortung abschieben konnte. Schließlich kam ich aus London und dazu noch vom Sicherheitsdienst. Außerdem hatte ich ihn nicht einfach ausgelacht. »Kommen Sie mit, Mr. Kinsey«, forderte er mich auf. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es wurde absichtlich noch nicht verändert.« Ich war gespannt, was er noch für Überraschungen parat hatte. Schon jetzt sah ich ein weites Feld vor mir, das ich beackern mußte. Wir verließen sein Büro, und der Direktor führte mich über Gänge und Treppen ins Freie. Dabei mußten wir, wie schon auf dem Hinweg, viele verschlossene Tore und Schleusen passieren. Nachlässigkeit konnte man den Leuten von Forthby nicht vorwerfen. Ich merkte bald, daß er der rätselhaften Gruft zustrebte, aus der die Hingerichteten früherer Jahrhunderte verschwunden waren. Es handelte sich nach außen hin um einen flachen, runden Bau von nur zwanzig Fuß Durchmesser. An einer Seite befand sich eine eiserne Tür. Sie war, nur angelehnt. Jarrett zögerte. Ihm war unheimlich. Das sah ich ihm an. Ich ging voraus, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als mir zu folgen. Es gab noch zwei weitere Türen, die der ersten glichen. Sie ließen sich nur schwer in den Angeln bewegen. Die Schlösser waren nicht 32
gesprengt, sondern ordnungsgemäß geöffnet worden. Von den Schlüsseln aber gab es keine Spur. Ich merkte nun, daß der sichtbare Rundbau lediglich den Eingang zur Gruft darstellte. Wir erreichten einen Raum von höchstens zehn Fuß Durchmesser. Fünf Fuß dick mußten also die Mauern sein. Eine wuchtige Steintreppe führte in die Tiefe. Ich wollte hinuntersteigen, aber Roderic Jarrett hielt mich am Arm zurück. »Die eigentliche Gruft können Sie später alleine besichtigen«, sagte er heiser. »Sie ist leer. Das kann ich Ihnen versichern. Aber hier oben gibt es etwas zu sehen. Schauen Sie!« Er deutete auf den steinernen Boden, und nun sah auch ich die Lehmbrocken, denen ich zuvor keine Beachtung geschenkt hatte. »Das ist Graberde«, flüsterte er. »Unser Friedhof besteht zum Leidwesen des Totengräbers aus lehmigem Boden. Sie werden jetzt etwas sehen, dessen Schlußfolgerung ich Ihnen überlasse.« Überstürzt verließ er den muffigen Bau und knipste draußen seine Stablampe aus. Er eilte fort, ohne sich nach mir umzusehen. Von Zeit zu Zeit streckte er den Arm aus und wies auf weitere Lehmbrocken. Sie bildeten eine Spur, die bis zum Friedhof führte. Genauer gesagt zu zwei frischen Gräbern, die noch offen waren. Bei genauerem Hinsehen stellte ich allerdings fest, daß die Särge bereits hinuntergelassen worden waren. Doch die Deckel waren zertrümmert. Deshalb konnte ich sehen, daß sie leer waren. Ich ahnte etwas. Vor allem deshalb, weil sich in der Nähe der Gräber ein Gefühl meiner bemächtigte, das ich in letzter Zeit immer häufiger erlebte. Es zeigte Dämonennähe an. Zumindest hatte sich noch vor kurzem ein Wesen der finsteren Mächte hier aufgehalten. »Wer lag in den Gräbern«, fragte ich, um meinen Verdacht bestätigt zu bekommen. »Murphy Choice und Hank Porter. Es waren die beiden Anführer der Revolte, und sie wurden erschossen. Ich schwöre Ihnen, daß sie beide tot waren, Mr. Kinsey. Unsere Ärzte sind schließlich keine Dummköpfe. Choice war regelrecht durchsiebt, und das Blei, das 33
Porter in der Brust hatte, reichte ebenfalls für einen Schlaf bis zum Jüngsten Tag.« »So müde scheinen die Halunken aber nicht gewesen zu sein, sonst hätten sie sich nicht so Schnell auf die Wanderschaft begeben.« »Sie glauben also auch, daß sie von selbst…?« Ich nickte. »Ich bin kein Freund voreiliger Schlüsse«, sagte ich. »Hier scheint mir aber festzustehen, daß Choice und Porter, ihren Gräbern entstiegen sind und die Toten aus der Gruft befreit haben. Was sie damit bezwecken, werden wir schon bald erfahren. Wurde einer der Toten gesichtet?« Er verneinte. »Nur Dub Elam. Aber auch das glauben die wenigsten meiner Männer. Die meisten sind der Meinung, daß ein anderer Harris erschossen hat. Und den erdrosselten Lockhard lasten sie ein paar Gefangenen an, denen sie auch den makabren Streich mit den verschwundenen Toten zutrauen.« Ich antwortete nicht. Ich ließ meinen Blick über den Friedhof schweifen. Ich war sicher, daß hier bald keiner mehr an einen Scherz glauben würde. * Ich bekam die Uniform eines Aufsehers ausgehändigt und zog mich um. Ab sofort gehörte ich zur Wachmannschaft. Ich durfte mich überall frei bewegen, nur zum Verlassen des Geländes benötigte ich die Genehmigung Jarretts. Das paßte mir nicht. Es war durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, daß ich meine Nachforschungen auch außerhalb des Gefängnisses betreiben mußte. Da konnte ich nicht jedesmal um Erlaubnis fragen. Ich hielt das dem Direktor vor, und dieser akzeptierte nach einigem Zögern meinen Einwand. Er stellte mir eine schriftliche Sondergenehmigung aus, die ich am Tor nur vorzuzeigen brauchte. 34
Unterschrift und Siegel würden auch den Wachhabenden überzeugen, der mich noch nicht kannte. Jetzt konnte ich meinen Dienst antreten. Ich bedauerte nur, daß ich den Krif nicht dabei hatte, das DreiKlingen-Beil. Es wäre mir bestimmt sehr nützlich gewesen. Auch hätte ich mich wohler gefühlt. Aber Sir Horatio hatte mir die Waffe doch noch abgeschwatzt. Nur zu einer labortechnischen Untersuchung, ich bekam sie ja wieder. Und jetzt saß ich da ohne den Krif. Ich mußte zusehen, wie ich ohne ihn zurechtkam. Ich war zum Schein für Trakt sieben eingeteilt. Das bedurfte keiner Begründung, denn schließlich war ja Elam ausgefallen und mußte ersetzt werden. Bevor ich meinen Posten aufsuchte, lief mir ein dürres Männchen über den Weg, an dem lediglich die Hände groß waren. Es musterte mich aus scharfen, wachen Augen und sprach mich endlich an. »Sie sind der Neue, nicht wahr? Sie haben sich einen schweren Job ausgesucht. Schon viele sind daran zerbrochen.« Ich versicherte, nicht übermäßig zerbrechlich zu sein, und stellte mich vor. Auch er nannte seinen Namen. Es war Peter Graham Stanley, der Gefängnisgeistliche. Ich war erfreut. Im Kampf gegen die bösen Mächte konnte ein Pfarrer von unschätzbarem Wert sein. Ich verschwieg aber lieber, daß ich ein Geisterjäger war, denn mit solchen Leuten hat die Kirche in der Regel nichts im Sinn. Sie steht auf dem Standpunkt, es sei die Aufgabe des Allmächtigen, den Kampf gegen Satan und seine dämonischen Heerscharen zu führen, übersieht aber dabei, daß sich die Vampire und Werwölfe, die Ghouls und andere Schreckgestalten nur ins Fäustchen lachen, wenn sich die Menschen nicht selbst zur Wehr setzen. Schon als Junge habe ich mich bei einer Rauferei nicht darauf verlassen, daß mein Vater den Streit schon schlichten würde. Ich zog es vor, meinen Gegnern vorsichtshalber ein paar schillernde Augen zu verpassen, bevor das Familienoberhaupt überhaupt etwas von unserer Auseinandersetzung erfuhr. 35
Mit dieser Methode war ich nicht schlecht gefahren und habe mich trotzdem nicht zum notorischen Raufbold entwickelt. Ähnlich hielt ich es auch bei meinem Kampf gegen die Dämonen, dem ich mich verschworen hatte. Hier brachte es nichts ein, wenn man ihnen auch noch die andere Backe hinhielt. Die Fürchterlichen kannten die Begriffe Fairness, Einsicht und Großherzigkeit nicht. Sie schlugen zu, wann immer sich ihnen eine Möglichkeit bot. Und wenn sich keine bot, dann schufen sie eine. So wie hier in Forthby. Pater Stanley gab mir noch ein paar gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg. Ob sie mir helfen würden, eine Schar entfesselter Toter zur Vernunft zu bringen, wagte ich zu bezweifeln. Ich ging zum Trakt sieben. Dort sprach ich den ersten Aufseher an, der mir begegnete. Er musterte mich argwöhnisch. Ich kam von draußen. Ich war ihm nicht geheuer. Als ich das Gespräch auf die jüngsten Ereignisse lenkte und ihn nach seinen eigenen Beobachtungen und seiner Meinung fragte, sagte er nur: »Alles Quatsch!« und war nicht dazu zu bewegen, sich näher dazu zu äußern. Er zeigte keine Angst. Das war kein Wunder. Er war ein Hüne und überragte mich fast um einen Kopf. Durch normal breite Türen mußte er sich schräg bewegen. Seine Muskelpakete ließen manche Frauen vermutlich in Entzückensschreie ausbrechen. Sein Gesicht war zwar nicht schön, aber darauf wurde in Forthby auch kein Wert gelegt. Ich ließ ihn achselzuckend stehen und wandte mich den Zellen zu. Die Gefangenen waren verstört. Sobald ich an ihre Gittertür trat, wichen sie entsetzt vor mir zurück. Sie schielten auf meine Pistole, die ich in einer geschlossenen Ledertasche am Gürtel trug. Ich hatte sie umschnallen müssen, denn sie gehörte zur Ausrüstung. Ich sprach einen vierschrötigen Kerl an, von dem ich mir hatte berichten lassen, daß er in einer Nacht Amok gefahren war und dabei drei Menschen getötet hatte. Bei seiner Festnahme hatte er auch 36
noch einen Polizisten schwer verletzt, der seitdem seine Pension bezog, obwohl er erst fünfunddreißig war. Ein gewalttätiger Mensch also, und ein unberechenbarer. Aber vor mir hatte er Angst, obwohl uns das Gitter trennte. »Ich möchte von Ihnen wissen, Baker, wie das war, als Ken Harris erschossen wurde. Sie haben doch auch den Täter gesehen, oder?« Seine Augen flackerten. Sie starrten über meine Schulter hinweg, doch da war niemand, wie ich mich vergewisserte. »Ich sage nichts«, keuchte er. »Ich bin doch nicht lebensmüde. Nachher legt ihr mich auch noch um. Von mir erfährst du nichts.« Ich probierte mit aller Sanftmut weiter mein Glück, aber es ließ mich im Stich. Baker war ein harter Brocken. Ich besann mich auf meine ›Gabe‹. Schon oft war es mir gelungen, die Gedanken meines Gegenübers zu erkennen. Das kam ganz plötzlich. Ein besonderes System schien es dabei nicht zu geben. Nur waren es in der Regel keine gewöhnlichen Gedanken. Sie waren fremdartig oder böse. Dies war hier anscheinend nicht der Fall, denn es gelang mir nicht, in Bakers Gedanken einzudringen, so sehr ich mich auch konzentrierte. Ich ging zur nächsten Zelle, aber auch hier biß ich auf Granit. Dabei spürte ich, daß diese Burschen sich danach sehnten, sich jemandem mitzuteilen. Nur schenkten sie mir kein Vertrauen. Ich gehörte zur anderen Seite. Die Idee, den Aufseher zu spielen, war wohl doch nicht so gut. Das ließ sich jetzt auch nicht mehr ändern, denn sonst hätten sie sich erst recht hereingelegt gefühlt. Der siebente Häftling war Cedric Chiles. Seine Reaktion war tastend. Bei ihm spürte ich nicht nur offene, kompromißlose Ablehnung. Ich schnallte meine Waffe ab und legte sie demonstrativ auf den Boden. Dann sperrte ich die Zellentür auf und ging zu ihm hinein. Er sah mitgenommen aus. Seine Augen waren geschwollen. Anscheinend hatte er geweint. Ich kannte seine Geschichte in groben Zügen. Der Sexualmord an einer Vierzehnjährigen war ihm zur Last gelegt worden. Bis zur Ur37
teilsverkündung hatte er immer nur drei Worte gesagt: Ich bin unschuldig. Bei dieser Behauptung blieb er auch jetzt noch, obwohl er schon vier Jahre in Forthby war. Er sah nicht gewalttätig aus, aber den wenigsten Verbrechern sah man ihre Untaten an. Sonst hätte es ja die Polizei zu leicht. »Jedesmal, wenn sich die Zellentür öffnet«, hauchte er, »hoffe ich, daß jemand kommt, um mich hier herauszuholen. Ich bin unschuldig, Mr. Kinsey. Ich habe das Mädchen nicht umgebracht. Ich habe es auch nicht angefaßt. Das hätte ich gar nicht nötig gehabt. Damals hatte ich ja noch Verena. Wir hatten uns geschworen, miteinander durch dick und dünn zu gehen. Nun ist es zu dick gekommen. Ich kann sie verstehen. Es hat wenig Sinn, auf einen Lebenslänglichen zu warten.« Wie oft hatte er wohl diese Story schon erzählt? Jeder Fremde mußte sie vermutlich über sich ergehen lassen. Ich war nicht hier, um seinen Fall neu aufzurollen und eventuell einen Formfehler bei seiner Verhandlung nachzuweisen. In Forthby ging das Grauen um. Nur zwei Zellen von ihm entfernt war ein Häftling abgeknallt worden. Cedric Chiles mußte den Mörder gesehen haben. Er senkte seine Stimme. Jetzt war sie kaum noch zu verstehen. »Ja, ich habe ihn gesehen. Ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Es war grauenvoll.« Er berichtete stockend, was sich zugetragen hatte. Er konnte sich genau an jede Einzelheit erinnern, vor allem aber an das scheußliche Aussehen des Toten. »Das Messer steckte noch in seinem Kopf«, erzählte er mit Entsetzen in der Stimme. »Als er an meiner Zelle vorbeikam, starrte er mich an, als wollte er sagen: Du kommst auch noch dran. Ich glaube, ich habe vor Angst geschrien.« »Und er sprach mit Harris, bevor er ihn erschoß?« forschte ich. Cedric Chiles nickte schwach. »Diese Stimme vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht. Sie war so voller Haß, wie ich noch keine zuvor gehört habe. Er sprach davon, sich an Harris zu rächen, weil 38
dieser ihn vor Jahren einmal zu erwürgen versucht habe.« »Rache also. Hatten Sie ebenfalls Schwierigkeiten mit Dub Elam, als er noch lebte?« »Die hatte wohl jeder in diesem Trakt. Elam war ein mieser Bursche. Ein Sadist. Aber tätlich angegriffen habe ich ihn nie. Ich versuche mit allen Mitteln, hier herauszukommen, denn ich gehöre nicht nach Forthby.« »Haben Sie sich an der Revolte beteiligt?« Chiles schüttelte abwehrend den Kopf. »Wo denken Sie hin. So etwas ist sinnlos. Das hätte auch meine ganzen Bemühungen um gute Führung zunichte gemacht. Ich war überhaupt nicht bei der Beerdigung, denn ich ahnte schon, daß es Stunk geben würde.« »Wie konnten Sie das ahnen? Alle Gefangenen, die von der Polizei befragt wurden, erklärten überzeugend, sie hätten ganz spontan und ohne vorherige Absprache gehandelt.« Der Sträfling lachte freudlos. »Und die Waffen?« erinnerte er. »Haben sie die zufällig getragen? Ich wette, daß Murphy und Hank sie aufgehetzt haben. Es wird so manches über die beiden gemunkelt. Von Hank weiß ich es ja nicht. Der lag im anderen Trakt. Aber Murphy war mein Zellennachbar, und ich habe nachts oft nicht schlafen können, weil mich sein halblautes Gemurmel gestört hat. Er hat den Teufel beschworen. Das lasse ich mir nicht ausreden. Satan sollte ihm helfen, aus dem Gefängnis zu entweichen. Und nun ist er ja tatsächlich fort.« »Ja«, gab ich nachdenklich zu. »Allerdings auf andere Weise, als er sich das wohl vorgestellt hatte.« Ich überlegte. Wenn die beiden tatsächlich einen Pakt mit dem Höllenfürsten geschlossen hatten, besaßen sie einen übermächtigen Verbündeten, gegen den ich nichts ausrichten konnte. Und selbst wenn er nicht persönlich in das Geschehen eingriff, so würde er doch für entsprechende Unterstützung sorgen. Die Karten waren ziemlich ungleich verteilt. Warum die beiden erschossenen Gefangenen also zu untotem Leben erwacht waren, schien geklärt zu sein, obwohl natürlich noch 39
jeglicher Beweis fehlte. Aber wie verhielt es sich mit Dub Elam. War er ebenfalls ein Satansjäger? Cedric Chiles schien auch auf diese Frage eine Antwort zu wissen. Er kam aber nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Vom Ende des Ganges, dort, wo sich die Treppe befand, ertönte ein Höllenlärm. Grelles Pfeifen schwirrte durch die Luft. Höhnisches Gekicher ertönte. Das ganze gewaltige Gebäude erbebte in seinen Grundfesten. Ein Windstoß fegte durch den Gang und quoll bis in die Zelle. Ich wurde gegen den Gefangenen geschleudert, der die günstige Gelegenheit, mich anzugreifen, jedoch nicht wahrnahm. Auch Cedric Chiles war völlig durcheinander, Seine Augen waren schreckgeweitet. Er klammerte sich an mich. Er hatte Angst. »Er kommt«, flüsterte er zitternd. »Er will mich holen. Helfen Sie mir, Mr. Kinsey. Bitte! Ich habe nichts Schlechtes getan.« Ich kroch über den Boden zur Tür, um auf diese Weise dem Sturm weniger Angriffsfläche zu bieten. Aber der Luftdruck war bereits in sich zusammengebrochen. Doch der Lärm hielt noch immer an. Ich schloß eilig die Tür auf und versperrte sie hinter mir wieder, auch wenn der Gefangene mich anflehte, ihn herauszulassen. Das konnte ich nicht tun. Ich bückte mich nach dem Waffengurt und schnallte ihn in Sekundenschnelle wieder um. Meine Augen suchten die Ursache des Spektakels. Was sie sahen, ließ mich erschauern. * Der Wachmann starrte hinter Mac Kinsey her und schüttelte ärgerlich den wuchtigen Kopf. Seine Augen wurden eng. Der Neue gefiel ihm nicht. Dem würde er noch den Schneid abkaufen. War es ein Zufall, daß er gerade zu einem Zeitpunkt auftauchte, an dem in Forthby alles drunter und drüber ging? Niemand drängte sich nach dem Dienst in diesem Gefängnis, und kaum war Elam 40
tot, schon war Ersatz für ihn da. Das war merkwürdig und sah ganz so aus, als hätte Kinsey etwas mit den grauenvollen Ereignissen zu tun. Er würde ihn im Auge behalten müssen und gegebenenfalls bei Jarrett Meldung über ihn machen. Jetzt sprach er auch noch die Gefangenen an. Das war unüblich. Besonders in Trakt sieben, also in der Abteilung für die Unbelehrbaren war ein zu enger Kontakt von Nachteil. Der Wachmann grinste spöttisch. Das war interessant. Sogar die Sträflinge ließen den Halunken abblitzen. Auch sie brachten ihm Mißtrauen entgegen. So wie allen Aufsehern. So mußte es auch sein. Respekt, Distanz und eine gesunde Portion Angst. Das verhinderte, daß die Kerle allzu oft rebellierten. Nicht zu fassen! Jetzt ging Kinsey tatsächlich in eine der Zellen hinein. Noch dazu unbewaffnet. Ein Skandal! Dieser Chiles war besonders raffiniert. Er spielte den Unschuldigen, den Harmlosen. Dabei wartete er todsicher nur auf seine Chance, um auszubrechen. Sich ohne Schußwaffe in die Zelle eines Mörders aus Trakt sieben zu wagen, war übelster Leichtsinn, der zweifellos bestraft wurde. Der Wachmann kontrollierte seine Pistole und behielt sie in der Hand. Wahrscheinlich würde er gleich eingreifen müssen. Er arbeitete schon sechs Jahre in Forthby. Er kannte sich aus. Vor allem hatte er die Einlieferung von Chiles miterlebt. Einer der ewig Unschuldigen. Diese Heuchler kotzten ihn an. Was war denn das für ein merkwürdig singender Ton in der Luft? Er kam von der Treppe. Irgendein Aggregat schien nicht richtig zu arbeiten. Entsetzlich! Das ging durch Mark und Bein. Nein, das war kein Aggregat. Da kicherte jemand. Viele Stimmen. Sie kamen die Treppe herauf. Was gab es in Forthby zu kichern? Er trat an das verschlossene Gitter und äugte um die Ecke. Mit einem Gurgellaut prallte er zurück. Das gab es nicht. Das war unmöglich. Grauenvolle Gestalten geisterten die Stufen empor. Zum Teil waren es Gerippe mit grinsenden Totenschädeln und klappernden Gebeinen, zum Teil stark ver41
weste Leichen, die entsetzlich stanken, die von Würmern zerfressene Fleischbrocken hinter sich herschleiften und ihn mit ihren blicklosen Augen anglotzten. Wieder andere waren mumifiziert. Ihre Haut knisterte wie Pergament. Sie sahen aus, als hätte ein Feuer sie ausgedörrt, aber nicht verbrannt. Nackt waren sie alle. »N'nein!« wimmerte er. Er wußte natürlich, was unten in der Gruft geschehen war. Jeder im Gefängnis hatte davon gehört. Die Leichen waren verschwunden. Zum Teil waren sie dreihundert Jahre alt. Jemand hatte sie herausgeholt. Vielleicht dieser Kinsey? Aber sie waren nicht tot. Sie lebten. Sie kamen immer näher heran, und es hatte den Anschein, als wollten sie zu ihm. Das Herz drohte auszusetzen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur gut, daß ihn das starke Eisengitter von diesen Schreckgestalten trennte. Sie wurden immer lauter und drohender. Hörte denn niemand diesen furchtbaren Lärm? Er mußte Alarm geben. Der Wachmann taumelte zu dem Knopf, den er nur zu drücken brauchte. Dann würden im ganzen Komplex die Sirenen heulen. Neben dem Knopf hing der Telefonhörer. Jarrett würde wissen wollen, was nun schon wieder los war. Er mußte eine bewaffnete Truppe herschicken. Seine Hand langte nach dem Alarmknopf. Da riß ihn eine Sturmbö zu Boden. Das Gebäude erzitterte unter einem Donnerschlag. Die Toten hatten das Gitter gesprengt und drangen nun ungehindert auf ihn ein. Der Wachmann schrie auf und wich weiter in den Gang zurück. Er erinnerte sich an die Pistole, die er noch immer in der Faust hielt. Er hob den Arm und schoß. Er konnte vor Angst nicht zielen, aber es waren so viele, daß er sie unmöglich verfehlen konnte. Er traf auch. Sechs oder siebenmal. Aber die Geschosse hielten die Grausigen nicht auf. Hohnlachend stürmten sie weiter und fielen über ihr Opfer her. 42
* � Ich war entsetzt. Was sollte ich gegen diese Übermacht tun? Ich sah, wie der Aufseher das Magazin seiner Pistole leerschoß, ohne irgendeine Wirkung zu erzielen. Auch meine Waffe war nur mit gewöhnlichen Patronen geladen. Sie konnten den Kindern des Satans nichts anhaben. Trotzdem mußte ich eingreifen. Deswegen war ich ja hier. Ich stürmte los, während die Gefangenen in ihren Zellen schrien. Die Meute war grauenerregend. Und sie stank bestialisch. Allein dieser Geruch konnte einen umbringen. Der Aufseher stürzte. Die Entfesselten warfen sich brüllend über ihn. Ich zerrte die Pistole aus der Tasche und schoß. Einfach in die Luft. Ich wollte die Unheimlichen nur von ihrem Opfer ablenken. Töten konnte ich sie ohnehin nicht. Aber den Wachmann hätte ich mit einer Kugel verletzen können. Tatsächlich nahmen mich die Untoten an. Sie ließen von dem Mann ab und machten nun Front gegen mich. Eine heikle Situation. Sie füllten den Gang in seiner ganzen Breite und kamen in mehreren Reihen langsam auf mich zu. Ich schluckte krampfhaft. Ich hatte wenigstens gehofft, der Aufseher würde aufspringen und Hilfe holen. Aber er dachte gar nicht daran. Vor allem durfte ich keine Furcht zeigen. Hatte ich denn gar nichts bei mir, was mir helfen konnte? Ich schoß erneut. Diesmal nahm ich mir einen der Vordersten aufs Korn und versuchte, seinen Schädel zu durchlöchern. Die Kugel bohrte sich in die grinsende Fratze einer Mumie, die ungerührt weiterging. Es war aussichtslos. Uns trennten nur noch fünf Schritte voneinander. Ich hatte Gelegenheit, sie zu zählen. Es waren mehr als dreißig. Noch griffen sie nicht an, aber ihre haßerfüllten Gedanken prall43
ten schmerzhaft gegen mich. Plötzlich war sie wieder da, meine ›Gabe‹. Ich konnte erfassen, was sie in ihren grausigen Schädeln dachten. Ihr Haß galt denen, die sie seinerzeit in diesem Gefängnis festgehalten hatten. Der Wachmannschaft, aber auch der Polizei, den Richtern und nicht zuletzt den Henkern. Ich gehörte nicht dazu, aber wegen meiner Uniform hielten sie mich für einen der Aufseher, und selbst wenn ich mir die Kleidung vom Leib riß, würden sie das nicht mehr akzeptieren. Für sie blieb ich für alle Zeiten ein Feind. Sie hatten das mächtige Sperrgitter durchbrochen. Sie waren folglich auch in der Lage, in jede Zelle einzudringen. Doch ich las in ihren Gedanken, daß sie das nicht beabsichtigten. Die Gefangenen waren nicht ihre Gegner. Denen wollten sie nichts tun. Aber sie würden zum Beispiel sämtliche Türen öffnen und die Sträflinge befreien können. Waren sie aus diesem Grund hier? Waren sie deshalb von Murphy Choice und Hank Porter aus ihrer Gruft befreit worden? Ich knallte ihnen noch ein paar Kugeln vor die Füße und versuchte gleichzeitig, eine Schwachstelle bei ihnen zu entdecken. Es gab keine. Sie waren gut gestaffelt. Und sie streckten bereits ihre gierigen Arme nach mir aus. Ich schlug ihnen auf die knöchernen Pfoten, spürte dabei aber zweifellos größere Schmerzen als sie. Etwas schlitterte über den Steinfußboden. Etwas Glitzerndes. Cedric Chiles hatte es durch das Zellengitter geworfen. Die Spukgestalten heulten auf und wichen ein wenig zurück. Aber sie flohen nicht. Ich bückte mich blitzschnell und nahm den glänzenden Gegenstand auf, der für diese Verwirrung gesorgt hatte. Ich spürte ein metallenes Kreuz zwischen den Fingern. Es hing an einer dünnen Kette. Der Lebenslängliche hatte es getragen. War es geweiht? Ich reckte es den Untoten entgegen, und sie begannen zu jammern und schneller zurückzuweichen. Ein paar versuchten zwar, mir das Kreuz aus der Hand zu reißen, 44
aber ich war auf der Hut. Eine solche Chance kam so schnell nicht wieder. Entschlossen rückte ich gegen sie vor. Dieses Kruzifix aus Silber strahlte ein beruhigendes Gefühl aus. Es gab mir Kraft. Ich trieb sie vor mir her. Meine Bemühungen, einen der Untoten mit dem Kreuz zu berühren, schlugen jedoch fehl. Sie paßten auf und wichen mir immer wieder aus. Schließlich rannten sie vor mir davon. Zwar stießen sie wilde Flüche und Drohungen aus. die sich auf mein baldiges Ableben bezogen, doch das erschütterte mich nicht. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, daß sie den Kampf für diesmal aufgegeben hatten. Ich jagte sie durch den ganzen Gang, durch das zerborstene Sperrgitter hindurch und die Treppe hinunter. Der Lärm war nicht ungehört geblieben. Von unten eilten ein paar Aufseher herauf Sie waren bis zu den Zähnen bewaffnet Als sie die Untoten gewahrten. reagierten sie, wie erwartet. Einige schleuderten die Waffen weg und wandten sich zur Flucht. Manche behielten die Nerven und schossen wahllos auf die heranstürmende Meute aus Mumien und Skeletten. Dadurch gefährdeten sie mich, denn die Geschosse durchdrangen die Mauer der Leblosen und suchten mich als Ziel. Ich warf mich auf den Boden und überschlug mich. Die Kugeln pfiffen über mich hinweg. Das fehlte mir noch, von den eigenen Leuten umgebracht zu werden. Forthby hatte mir gleich nicht gefallen. Das Kreuz behielt ich krampfhaft in der Hand, während ich die Treppe hinunterstürzte und zwischen verwesten Beinen aufprallte. Ich preßte das Kruzifix schleunigst gegen einen der modernden Knochen. Ein Schrei übertönte den bisherigen Lärm. Er klang schauerlich. Stinkender Rauch schlug mir entgegen und nahm mir den Atem. Etwas Schweres stürzte auf mich und begrub mich unter sich. Es war einer der Untoten. Ich starrte genau in sein verzerrtes Gesicht, das nur ein von ledriger Haut überzogener Totenschädel war. 45
Haare wuchsen aus seinen Augenhöhlen. Ich stemmte mich gegen ihn, um ihn abzuschütteln, doch ich griff ins Leere. Der knöcherne Körper löste sich auf und zerbröckelte unter Stöhnen. Das Kreuz hatte ihn vernichtet. Inzwischen war die wilde Jagd weitergegangen. Ich raffte mich auf und suchte meinen nächsten Gegner. Der Erfolg mit dem Kreuz machte mir Hoffnung. Doch da war niemand mehr. Jedenfalls keiner der Untoten. Sie hatten die Wachmannschaft förmlich überrannt. Die Männer kamen gerade wieder in die Höhe. Ihre Gesichter wirkten alt und grau. Zum Glück war keiner ernstlich verletzt. Einer sah mich entgeistert an. »Wie haben Sie das gemacht, Kinsey? Ich habe genau gesehen, wie Sie den Kerl angefaßt haben. Da hat er geschrien und ist zu Staub zerfallen. Sind Sie so etwas wie ein Magier?« Ich verneinte. Zu meinem eigenen Leidwesen sind meine magischen Kenntnisse äußerst bescheiden. Daß ich hin und wieder um die Ecke gucken und Dinge sehen kann, die anderen verborgen bleiben, war schon fast meine ganze Stärke. Ohne das Kreuz wäre ich diesmal aufgeschmissen gewesen. »Wo sind sie hin?« erkundigte ich mich, ohne auf die Frage näher einzugehen. Niemand konnte es sagen. Es war plötzlich sehr still im Gefängnis, sah man einmal davon ab, daß sich noch weitere Aufseher zögernd näherten und auch Roderic Jarrett herangeschnauft kam. Seine Miene drückte Entsetzen aus. Er nahm mich zur Seite und ließ sich den Hergang schildern. Viel gab es da nicht zu erzählen. Es war alles sehr schnell gegangen. Ich ärgerte mich vor allem, weil ich nicht wußte, wohin sich die untoten Killer zurückgezogen hatten. Wenn ich sie vernichten wollte, mußte ich sie in ihrem Unterschlupf aufspüren. Ich mußte sie erwischen, wenn sie möglichst schwach waren. Normalerweise war das bei Tage, aber diese Schreckensverbreiter 46
waren anscheinend tagsüber sehr aktiv. Zogen sie sich vielleicht erst nachts zurück? Ich zeigte Jarrett das Kruzifix. »Veranlassen Sie, daß jeder in diesem Gefängnis ein solches Kreuz trägt«, verlangte ich. »Es sollte geweiht sein. Es ist sicher kein Allheilmittel, aber mir hat es sehr geholfen.« Jarrett sah mich bekümmert an. »Sie meinen alle? Auch die Häftlinge?« »Was dachten denn Sie?« »Wissen Sie, was Sie da fordern, Mr. Kinsey? Woher soll ich annähernd sechshundert geweihte Silberkreuze nehmen?« »Wie wollen Sie sechshundert Leichen auf Ihrem kleinen Friedhof unterbringen?« konterte ich grob. »Verständigen Sie sich mit Pater Stanley. Rufen Sie in Scarborough an und lassen Sie die Kreuze schnellstens herschaffen. Es ist äußerst dringend. Die Toten aus der Gruft haben das stabile Sperrgitter zerstört. Sie haben…« ich sprach nicht weiter. Mir fiel der Wachmann ein, über den sie hergefallen waren. Ich sah ihn nirgends. Ohne ein weiteres Wort ließ ich ihn stehen und stürmte die Treppe hinauf. Ich hörte, wie die Häftlinge an ihren Gittern rüttelten. Sie brüllten und verlangten, in ein anderes Gefängnis geschafft zu werden. Manche forderten auch, man solle sie der Einfachheit halber einfach laufen lassen. Ich kümmerte mich nicht um das Geschrei. Ich sah den Wachmann. Er lag noch in derselben Haltung am Boden wie vor wenigen Minuten. Seine Stiefelspitzen und sein Gesicht schauten in entgegengesetzte Richtungen. Da wußte ich, daß die Schrecklichen doch ein Opfer gefunden hatten. * Während der Aufseher fortgetragen wurde, kehrte ich zu Cedric Chiles zurück. Ich gab ihm das Kreuz zurück und bedankte mich dafür. »Sie haben dieses Kreuz weihen lassen?« erkundigte ich mich. 47
Er schüttelte den Kopf, und sein Blick nahm einen verträumten Ausdruck an, »Vermutlich hat es Verena getan, bevor sie es mir schenkte. Mir hat es trotzdem kein Glück gebracht. Ich wurde in dieses Loch gesteckt. Unschuldig! Eigentlich trage ich das Ding nur noch, weil es mich an das wunderschönste Mädchen erinnert, das ich gekannt hatte, als ich noch lebte.« Als er mein Stutzen merkte, lächelte er schmerzlich und fuhr fort: »Oder nennen Sie das hier ein Leben?« Ich war voller Unruhe. Über dreißig untote Mörder, die Rache nehmen wollten. Ein Aufseher, der ebenfalls Grauen und Tod verbreitete. Und zwei Erschossene, die sich mit dem Öffnen der Gruft bestimmt noch nicht zufriedengaben. Wie sollte ich dieser dämonischen Übermacht Herr werden? Die Untoten konnten zwar Eisengitter sprengen, doch die Türen zu ihrer Gruft hatten ihnen über Jahrhunderte hinweg widerstanden. Wie war das möglich? Ich konnte mir nur denken, daß Choice und Porter mit ihrem Teufelspakt dafür gesorgt hatten, daß die Lawine in Gang kam. Nur Dub Elam paßte nicht in dieses Konzept. Daß er gemeinsame Sache mit den untoten Gefangenen machte, war mehr als zweifelhaft. Ich erinnerte Cedric Chiles, daß er mir auf diese Frage noch eine Antwort schuldig war. Der junge Mann, der in den vier Jahren seiner Gefangenschaft stark gealtert war, zögerte, bevor er sagte: »Ich kann Ihnen auch nur sagen, was man so hört. Es sind alles nur Gerüchte, verstehen Sie?« »Was für Gerüchte?« »Ein Fluch. Angeblich hat jemand vor einiger Zeit Dub Elam verflucht. Offenbar wirkt sich der Fluch nun auf diese Weise aus, daß er auch nach seinem Tod keine Ruhe findet.« »Weiß man nicht, wer ihn verflucht hat?« Chiles schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich weiß ja nicht mal, ob dieses Gerücht auf Wahrheit beruht.« 48
»Sein Bruder. Könnte er etwas Genaueres darüber wissen?« »Prosper Elam? Das kann ich nicht sagen. Da müßten Sie ihn schon selbst fragen.« Das nahm ich mir auch vor. Ich bedauerte, daß der Mann schon wieder fortgefahren war. »Aber man wird sich sicher erzählen, wie es zu dem Fluch kam«, vermutete ich. »Das schon, aber es gibt so viele Versionen, daß ich wirklich nicht sagen kann, welches die richtige ist. Der eine sagt, eine Frau stecke dahinter. Der andere behauptet, ein Freund habe den Fluch ausgesprochen, als er von Elam hintergangen wurde. Wieder andere vertreten die Ansicht, einer der Gefangenen habe auf diese Weise seinem Groll gegen den Peiniger Luft machen wollen. Suchen Sie sich die schönste Geschichte aus. Sie hilft Ihnen trotzdem nicht weiter.« Das befürchtete ich auch. Immerhin hatte ich nun wenigstens ein paar Anhaltspunkte. Cedric Chiles war ruhiger geworden. Er faßte sichtlich Vertrauen zu mir. »Werden Sie ständig auf sieben bleiben, Mr. Kinsey?« fragte er mich. Ich durfte ihm nicht die Wahrheit sagen. Deshalb wich ich aus. »Vorläufig ist an keine Versetzung gedacht.« Ich unterhielt mich noch einige Zeit mit ihm. Wir sprachen über allgemeine Dinge. Er erzählte von Verena, von seiner Mutter und von dem Mädchen, das er umgebracht haben sollte. Er war den Tränen nahe. Draußen auf dem Gang klapperte Blech. Das Abendessen wurde verteilt. Ich blickte auf die Uhr und war Überrascht, wie spät es schon geworden war. Cedric Chiles zeigte sich enttäuscht, daß ich gehen wollte. Er nahm mir das Versprechen ab, das Gespräch möglichst bald fortzusetzen. »Irgendwann wird mich Dub Elam holen«, sagte er rauh. »Ich 49
möchte die kurze Zeit nutzen.« Diese Worte klangen lange in mir nach. Befand er sich wirklich in Gefahr? Er trug das Kreuz. Ob es gegen Elam half, ließ sich allerdings noch nicht sagen. Doch der untote Aufseher war an ihm uninteressiert vorbeigegangen, bevor er Ken Harris umbrachte. An Harris wollte er sich rächen, an Chiles nicht. Bevor er sich den Jungen vornahm, rechnete er zweifellos noch mit anderen Häftlingen ab. Vor allem doch wohl mit seinem Mörder. Luke Walden hatte das Messer gestoßen. Warum war ich nicht längst auf den Gedanken gekommen, daß er in Gefahr schwebte? Außerdem hatte Elam ihn ausdrücklich bedroht. Walden hatte seine Zelle in Trakt vier. Der lag im Westflügel. Auch hier gab es Einzelzellen. Aber nicht ausschließlich. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich stürmte los. Hoffentlich kam ich nicht wieder zu spät. * Luke Walden lachte mich aus. Er hatte bereits von der Drohung gehört, die Dub Elam gegen ihn ausgesprochen hatte, doch er fürchtete sich nicht. »Er soll nur kommen«, sagte er wild. »Ich weiß genau, was ich mit ihm mache. Ich jage ihm das Messer einfach ein zweites Mal in seinen verdammten Schädel. Das wirkt bestimmt.« Ich erinnerte ihn an die vergeblichen Bemühungen der Ärzte, die Stichwaffe aus dem Leichnam zu entfernen, aber das ließ er nicht gelten. Er zeigte mir stolz seine Muskeln und hielt das für ein bombensicheres Argument. Natürlich wußte er auch schon, was mit dem Aufseher passiert war. Ich kündigte ihm an, daß er ein geweihtes Silberkreuz bekommen würde, doch er sprang mir vor Wut fast an die Kehle. »Laßt euch das nicht einfallen. Diesen Pfaffenkram kann ich nicht ausstehen. Ich kann mir selbst helfen. Zu hundertzwölf Jahren ha50
ben sie mich verdonnert. Diese Hände können töten, Mister.« Er hielt mir zwei fünffingrige Schaufeln unter die Nase, und ich hätte ihm seine Zuversicht abgenommen, wenn es sich um normale Gegner gehandelt hätte. Einen Toten konnte man aber nicht mit den bloßen Fäusten zur Raison bringen. »Er kommt nicht«, fuhr Luke Walden überheblich fort. »Er hat Angst vor mir, weil ich ihn umgebracht habe. Ich mache euch einen Vorschlag. Ich werde mit Elam kämpfen und ihn endgültig in die Grube schicken. Dann seid ihr ihn los.« »Und was erwarten Sie dafür?« Er lachte krächzend. »Na was schon? Daß ihr mich laufen laßt natürlich.« »Vielleicht werden Ihnen zwölf Jahre erlassen«, meinte ich. Dieser Bursche war unbelehrbar. Er würde erst durch Schaden klug werden. Dann war es allerdings für ihn zu spät. »Armleuchter!« fauchte er und wandte sich entrüstet ab. »Wie ist es eigentlich zu der Revolte gekommen?« wollte ich wissen. »Haben Choice und Porter euch aufgehetzt?« Er wandte seinen Kopf und blickte mich neugierig an. »Ich lasse mir von keinem etwas sagen«, erklärte er stolz. »Von den beiden schon gar nicht. Die waren doch nicht ganz dicht. Quatschten immer so'n verrücktes Zeug von höllischen Geistern und solchem Kram. Das wären gerade die Richtigen gewesen, um mir etwas anzuschaffen. Das kam ganz spontan. Ich habe Elams miese Visage gesehen. Da mußte ich einfach zustechen.« »Und das Messer kam wie durch Zauberei durch die Luft geflogen«, spottete ich. Er überlegte. Woher er das Messer hatte, konnte er nicht sagen. Oder er wollte es nicht. Das war auch denkbar. Eher glaubte ich aber, daß er und die anderen Aufsässigen tatsächlich unter dem Zwang der Aufrührer gehandelt hatten, der ihnen überhaupt nicht bewußt geworden war. Sie waren als dämonische Werkzeuge mißbraucht worden. Es hatte keinen Sinn, hier noch mehr Zeit zu verlieren. Ich mußte 51
versuchen, wenigstens ein paar Gegner unschädlich zu machen, bevor sie erneut zuschlugen. In dieser Nacht würde ich jedenfalls nicht zum Schlafen kommen. * Ich hegte die Hoffnung, die drei Schlüssel zur Gruft zu finden, und die Untoten mit etwas Glück wieder in ihrem Gefängnis einsperren zu können. Damit hätte ich sie zwar noch nicht besiegt, aber mir blieb Zeit, einen entsprechenden Plan zu schmieden. Ich holte mir aus der Gefängnisküche etwas zu essen und schlang es hastig herunter. Dann suchte ich die Kapelle auf in der Hoffnung, den Geistlichen dort zu treffen. Ich wollte ihn um ein geweihtes Kreuz bitten. Bis die Lieferung aus Scarborough eintraf, konnte ich unmöglich warten. Doch Peter Graham Stanley war unauffindbar. Er hatte die Kapelle abgeschlossen, und in seiner bescheidenen Wohnung war er auch nicht. Da half alles nichts. Dann würde ich eben morgen mit meinem Wunsch an ihn herantreten. Es war inzwischen dunkel geworden, und meine Hoffnung ging dahin, daß sich die Untoten des Nachts zurückzogen. Natürlich konnte ich damit auch völlig danebenliegen. Als ich mich dem Eingang der Gruft näherte, war ich mit nichts als einer Taschenlampe und der nutzlosen Pistole bewaffnet. Allerdings hatte ich mir für die Lampe eine Blende aus schwarzem Karton gebastelt. Ich hatte eine kleine, kreuzförmige Öffnung hineingeschnitten. Es war gut möglich, daß das Kreuzzeichen meine mörderischen Gegner auf Distanz hielt. Vorläufig aber benutzte ich die Blende nicht. Ich wollte möglichst viel erkennen. Ich mußte die Schlüssel finden. Ich schritt durch die drei eisernen Türen, wobei ich den Fußboden bis in die äußersten Ecken Zoll für Zoll absuchte. Doch außer den Lehmklumpen entdeckte ich nichts. 52
Der kleine Raum, von dem aus die Treppe in die Tiefe führte, war ebenfalls leer. Der Lichtfinger meiner Lampe tastete weiter. Er kroch die ersten Stufen hinunter. Von unten drang ein ekelerregender Geruch. Ich begann meinen Weg. Ganz wohl war mir nicht dabei. Was geschah, wenn ein Witzbold hinter mir die Türen versperrte? Ich wußte noch immer nicht, wo Murphy Choice mit seinem Kumpan umging. Vielleicht hatten die beiden nur darauf gelauert, bis ich ihnen in diese Falle ging. Mein Zögern war nur von kurzer Dauer. Ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte weiter. Dort unten fand ich vielleicht des Rätsels Lösung. Möglicherweise sogar eine Waffe, mit der ich die Brut vernichten konnte. Ich suchte die Stufen sorgfältig ab, doch von den Schlüsseln entdeckte ich keine Spur. Endlich langte ich unten an. Von Luft konnte keine Rede sein. Hier würde ich es nur kurze Zeit aushalten. Dann mußte ich immer wieder nach oben, um mich zu erholen. Ich zuckte zusammen. Unbewußt hatte ich eine Bewegung wahrgenommen. War ich nicht allein? Meine Haut wurde picklig. Verdammt! Das fing ja verheißungsvoll an. Obwohl niemand zu sehen war, hatte ich das sichere Gefühl, gleich eine unangenehme Überraschung zu erleben. Suchend blickte ich mich um. Es war stockfinster. Lediglich den dünnen Streifen, den meine Lampe erhellte, konnte ich erkennen. Ich sah, daß hier Särge standen. Wegen des Luftabschlusses waren sie zum Teil noch erstaunlich gut erhalten. Manche, die ältesten, waren natürlich restlos zerfallen, aber es gab auch zwei, an denen kaum ein Schaden festzustellen war. Sie mußten aus einem besonderen Holz bestehen. Ein Sarg von heute überlebte keine Jahrhunderte mehr. Der Boden war ebenfalls aus Stein, jedoch knöcheltief mit einer flockigen Schicht bedeckt. Es handelte sich um verwitterten Gesteinsstaub, um die Überreste der Särge, vor allem aber um Spinn53
gewebe und deren Bewohner. Für mich war es unverständlich, daß diese Lebewesen ohne Luft, Licht und Nahrung so erstaunlich gut gediehen waren. Es krabbelte nur so, und schon bei meiner ersten Berührung mit einer Vertreterin dieser Gruftbewohner, erfuhr ich, daß sie tüchtig zuzubeißen verstanden. Ein schrecklicher Gedanke schoß mir durch den Kopf. Wenn sie nun giftig waren? Sie hatten sich von Leichen ernährt, und nun fielen sie über mein Blut her. Hastig saugte ich die Bißstelle an meiner Hand aus und spie das Ergebnis auf den Boden. Das war aber ein nutzloses Bemühen. Ich fühlte, wie sie träge in meine Hosenbeine krochen und ihre Mahlzeit fortsetzten. Binnen weniger Augenblicke schwollen meine Waden an und begannen fürchterlich zu schmerzen. Kathleen hatte also wohl doch recht, wenn sie mich hin und wieder süß fand. Wenn sie an meinen Ohrläppchen knabberte, fand ich das aber wesentlich angenehmer als das Zwicken dieser achtbeinigen Quälgeister. Ich bemühte mich, nicht auf sie zu achten. Das war leicht, denn meine Beine wurden taub und schmerzunempfindlich. Ich hätte mir lederne Handschuhe mitnehmen sollen, um den Bodenschlamm gefahrlos durchwühlen zu können. Wie sollte ich hier jemals die Schlüssel finden? Das war so gut wie ausgeschlossen. Allmählich konnte ich mich einigermaßen orientieren. Ich überzeugte mich, daß keineswegs alle Toten verschwunden waren. Ich fand genügend Knochen und auch Schädel, in die offensichtlich kein untotes Leben gefahren war. Die Gebeine lagen in der Staub- und Spinnenschicht, manche aber auch noch in dem, was von ihren Särgen übriggeblieben war. Wie kam es, daß sich nur ein Teil, und zwar zum Glück der kleinere, an diesem Feldzug beteiligte? Das mußte einen Grund haben. Wahrscheinlich war es das Beste, die verbliebenen Gebeine schleunigst zu verbrennen. Ich suchte weiter. Da erstarrte ich. Ganz in der Nähe hatte ich ein kratzendes Geräusch gehört. Ich irrte mich bestimmt nicht. In die54
ser Grabesstille war jeder Laut wie ein Kanonenschuß. Ich wirbelte herum und ging in Abwehrstellung. Dabei schlug ich mit der rechten Hand gegen einen der gut erhaltenen Särge. Meine Taschenlampe fiel zu Boden und verlöschte. Ein abgrundtiefer Seufzer drang an mein Ohr. Es ging los. Da war jemand, den ich übersehen hatte. Ein Untoter. Wahrscheinlich hatte ich seine Knochen für ungefährlich angesehen. Ich bückte mich nach der Lampe und hob sie auf. Unverzüglich fielen die gefräßigen Spinnen über meine ungeschützte Hand her. Es war, als hätte ich in offenes Feuer gelangt. Ich biß die Zähne zusammen und knipste die Lampe erneut an. Sie streikte. Der Sturz war ihr nicht bekommen. Ich schob sie unter meinen Gürtel und zog das Gasfeuerzeug aus meiner Jackentasche. Die bläuliche Flamme flackerte wie ein Irrlicht über dem Moor. Da war nichts. Die verstreuten Knochen bildeten keinen vollständigen Toten. Darin konnte kein Leben mehr sein. Und sonst stand da nur noch der fast schwarze Sarg. Ich überlegte. Hatte ich vorhin in ihn hineingeschaut, oder war ich durch die Spinnen abgelenkt worden? Ich war mir nicht sicher. Na, Versäumtes ließ sich ja nachholen. Ich hielt das Feuerzeug mit der Linken und zerrte mit der Rechten an dem Deckel. Er war höllisch schwer. Mit einer Hand schaffte ich es kaum, ihn anzuheben. Endlich gelang es mir. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich hatte einiges erwartet, doch nicht das. Eine bleiche Hand, unwahrscheinlich groß und mit dicken, blauen Adern, schob sich über den Rand des Sarges und griff nach mir. Sie packte mich am Arm. Der Sargdeckel flog nach oben und knallte mir gegen das Kinn. Ich sah Sterne und kämpfte gegen meine Benommenheit. Ich durfte nicht schlappmachen, sonst war es um mich geschehen. * 55
Brenda Frawley starrte verzweifelt auf den winzigen Papierfetzen in ihrer Hand. Ein paar Buchstaben waren draufgekritzelt. Nur drei Worte: Hilf mir raus! Einen Kassiber nannte man das. Perc hatte während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal versucht, eine derartige Nachricht aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Wenn er es diesmal getan hatte, mußte er keinen anderen Ausweg gesehen haben. Brenda wußte, daß Perc Angst hatte. Entsetzliche Angst. Viel sickerte ja nicht durch. Die Geschehnisse in Forthby wurden vor der Öffentlichkeit geheimgehalten. Aber sie wußte trotzdem Bescheid. In Forthby ging das Grauen um. Tote waren aus ihren Gräbern aufgestanden und hatten einen Aufseher erdrosselt. Einen Aufstand hatte es gegeben. bei dem einer von der Wachmannschaft umgebracht worden war. Aber auch er schien nicht wirklich tot zu sein. denn er hatte inzwischen einen Gefangenen erschossen. Und Perc hatte nun Angst, daß der Tod auch vor ihm nicht haltmachte. Er hatte nur noch anderthalb Jahre abzusitzen. Dann war er wieder ein freier Mann. Nur wollte er bis dahin kein toter Mann sein, und sie wollte das auch nicht. So alt waren sie beide noch nicht. Dafür hatte sie nicht auf ihn gewartet. Hilf mir raus? Ja, sie würde ihm helfen. Sie ließ ihn nicht im Stich. Sie wollte dafür sorgen, daß er ein paar Dinge erhielt, die er für seine Flucht benötigte. Früher hatten sie manchmal zum Spaß darüber gesprochen, was zu tun wäre. um aus dem Knast herauszukommen. Als sie ihn dann tatsächlich erwischt hatten, hatte keiner mehr an diese Möglichkeit gedacht. Fünf Jahre gingen vorbei. Mit einer Flucht fing alles nur wieder von vorne an. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Der Tod lauerte auf ihren Perc. Niemand konnte ernstlich von ihm erwarten, daß er sich damit ab56
fand. Schließlich hatte der Richter ihn nicht zum Tode verurteilt. Brenda zerknüllte den Zettel, der keine weiteren Anweisungen erhielt. Die waren auch nicht nötig. Sie wußte Bescheid. Sie packte ein paar Sachen zusammen und umwickelte alles mit einer langen Schnur. Dieses Seil war das Wichtigste. Von dem hing alles ab. Dann warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Sie sah blaß aus, aber das war auch kein Wunder. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so schlecht gefühlt. Aber auch nicht so entschlossen. Es mußte gelingen. Sie durfte keine Angst haben. Überstürzt verließ sie das Haus. Aus der Garage holte sie den Wagen. Es war ein Cabrio. In einer Limousine glaubte sie immer zu ersticken. Sie brauchte Luft. Perc auch. Aber ihn hatten sie eingesperrt. Sie warf das Päckchen auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Ihre Hände waren feucht. Sie wußte, was davon abhing, daß sie keinen Fehler beging. Sie fuhr los. Je länger die Fahrt dauerte, um so ruhiger wurde sie. Sie redete sich ein, daß nichts schiefgehen konnte. Perc rechnete damit, daß sie sofort reagierte. Also würde er dafür gesorgt haben, daß auf seiner Seite der Mauer alles klappte. Nach zweieinhalb Stunden erreichte sie das Moor. Die Straße führte dicht daran vorbei. Eine unheimliche Gegend. Besonders nachts. Aber daran durfte sie nicht denken. Auch nicht daran, daß es in der Gegend von Forthby nicht geheuer war. Sie zwang sich, an nichts anderes zu denken als an Perc. Das half. Es war keine besonders helle Nacht. Wie geschaffen für ihr Unternehmen. Immerhin war es hell genug, daß sie die drohende Silhouette des Gefängnisses vor sich liegen sah. Wie konnten Menschen dort leben? Brenda fuhr jetzt langsamer. Bei Nacht sah alles ein bißchen anders aus als tagsüber. Sie mußte sich erst orientieren, damit sie die 57
richtige Stelle erwischte, an der sie das Päckchen über die Mauer werfen mußte. Anhalten durfte sie nicht. Das wäre aufgefallen, und die Wachhabenden hätten sofort Verdacht geschöpft. Sie starrte zum Gefängnis hinüber. Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen. Was war das? Dort wurde etwas über die Mauer geworfen. Von innen nach außen. Das konnte nur von Perc stammen? Damit hatte sie nicht gerechnet. Hatte er seine Meinung geändert? Jedenfalls mußte sie den Gegenstand holen. Brenda Frawley war beunruhigt. Es lag ihr nicht zu improvisieren. Gleich darauf lachte sie leise auf. Sie war eine Närrin. Sie hatte sich durch einen Vogel ins Bockshorn jagen lassen. Ein kleiner, schwarzer Vogel war es, der über die hohe Mauer geflogen war. Er war nicht zu Boden gefallen, sondern hielt genau auf sie zu. Sicher wollte er zum Wald, wo sein Zuhause war. Warum wurde ihr plötzlich so merkwürdig zumute? Sie konnte den Blick nicht von dem Vogel nehmen. So klein, wie es anfangs den Anschein gehabt hatte, war er gar nicht. Er hatte im Gegenteil beachtliche Ausmaße. Es sah aus, als würde er ständig wachsen, aber das war natürlich unmöglich. Unmöglich? War in Forthby tatsächlich etwas unmöglich? Gingen hier nicht auch die Toten um? Sagte Peres Hilferuf nicht genug? Die Frau schluckte krampfhaft. Sie erkannte jetzt, daß es sich bei dem Vogel um eine Eule handelte. Um eine riesige Eule, die schon eher ein ausgewachsener Adler hätte sein können. Ihre Augen glühten in der Nacht. Es sah gespenstisch aus. Hoffentlich war sie bald vorbei. Nein, die Eule hatte gar nicht die Absicht vorbeizufliegen. Sie wollte nicht zum Wald. Sie hatte längst das Fahrzeug entdeckt. Und vor allem die Frau, die darin saß und deren Angst wuchs. Die Eule wuchs noch immer. Mit weiten Schwingen schwebte sie heran. Lautlos. Ihre Krallen reckte sie vor. Ihr Schnabel zwischen 58
den tückischen Augen wirkte wie eine alles vernichtende Waffe. Brenda Frawley erinnerte sich an den Hitchcock-Film, in dem die Menschen von Vögeln gejagt wurden. Ihr hatte der Streifen so gut gefallen, daß sie ihn sich dreimal hintereinander angesehen hatte. Nie hatte sie geglaubt, daß sie selbst einmal vor einem Vogel fliehen würde. Vor einer einzigen Eule, die Jagd auf sie machte. Sie trat so unvermittelt aufs Gaspedal, daß der Wagen einen aufgeregten Satz nach vorn machte. Sie mußte die gefiederte Bestie abschütteln. Erst dann konnte sie umkehren, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Das Cabrio raste davon. Doch der Nachtvogel war schneller. Seine Flügel bewegten sich kaum, aber er kam wie eine Gewehrkugel auf sie zu geschossen. Brenda duckte sich. Eine Hand ließ das Lenkrad los, um ihren Kopf zu schützen. Der mächtige Schnabel war nun direkt über ihr. Gleich würde er zustoßen. Anders als bei Hitchcock war diese Eule in der Lage, sie mit einem einzigen Biß zu töten. * Ich drosch zu. Meine Faust knallte gegen den Sargdeckel, was mir einen Fluch entlockte. Immerhin hatte der Schmerz zur Folge, daß meine Benommenheit verflog. Ich war wieder voll da. Sehen konnte ich nichts. Das Feuerzeug war erloschen und lag irgendwo zwischen den Spinnen. Aber ich spürte, wie jemand aus dem Sarg huschte und an mir vorbeisprang. Das war der Halunke, der mich fast auf den unappetitlichen Boden geschickt hätte. Er wollte fliehen und mich vermutlich in der Gruft einsperren. Wenn ihm das gelang, waren meine Stunden gezählt. Ich hechtete blind hinterher und versuchte, ihn zurückzureißen. Ich erwischte nur einen Stoffetzen. Es gab ein häßliches Geräusch. Der Lappen blieb in meiner Hand. Der Untote, oder was immer er 59
war, hastete weiter. Wo sich die Treppe befand, konnte ich auch ohne Lampe erkennen. Von oben drang ein ganz schwacher Lichtschimmer herunter. Ich warf mich vor, und diesmal bekam ich den Halunken besser zu fassen. Er schlug wild um sich, aber er verfügte zu meiner Überraschung über keine besonders großen Kräfte. Anscheinend bestätigte sich meine Vermutung, daß diese Untoten des Nachts nicht so gefährlich waren wie bei Tage. Ich ließ ihn nicht mehr los, obwohl er heftig strampelte und Worte ausstieß, die ich aber nicht verstand. Nur ein paar Brocken kriegte ich mit. Von Seele war da die Rede und von Allmacht. Für einen bösen Dämon recht ungewöhnliche Vokabeln. Ich zerrte den sich nur noch schwach Wehrenden die Treppe hinauf ans Licht. Mich traf fast der Schlag, als ich ihn erkannte. »Pater Stanley! Was, bei allen guten Geistern, treiben Sie denn in der Gruft? Schlafen Sie immer in Särgen?« Der kleine Mann mit den großen Händen sah mich angstvoll an. Erst, als auch er mich erkannte, kehrte in sein kreidebleiches Gesicht die Farbe zurück. »Sie haben mich vielleicht erschreckt«, sagte er japsend. »Als ich die unheimlichen Geräusche hörte, glaubte ich, die Untoten kehrten in ihre Gruft zurück. Ich verbarg mich in dem erstbesten Versteck, in dem Sarg. Wissen Sie, was ich während dieser Minuten durchgemacht habe, Mr. Kinsey? In dem Sarg liegt noch ein Skelett. Aus diesem Grund glaubte ich, sicher zu sein, daß ich nicht die Ruhestätte eines Untoten erwischt hatte.« »Sie sind ein mutiger Mann, Peter«, lobte ich. »Ich hielt Sie für einen der Killer.« »Das habe ich gemerkt. Ich wollte Ihnen entwischen, aber ich bin alt und Ihnen nicht gewachsen.« Er musterte mich lächelnd. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie als Aufseher hier sind. Sie kommen von der Polizei, nicht wahr?« 60
»So ähnlich«, gab ich zu. »Aber nun interessiert mich, was Sie in der Gruft zu suchen hatten.« Er war erstaunt. »Die Schlüssel natürlich.« »Die Schlüssel?« »Ich dachte mir, daß man die Brut wieder einsperren müsse. Alleine können Sie sich anscheinend nicht befreien. Dafür brauchen sie Hilfe. Es ist aber leichter, zwei Gegner zu bekämpfen als dreißig.« Er war nicht nur mutig, sondern auch klug. »Ich hatte den gleichen Gedanken«, bekannte ich. »Leider habe ich die Schlüssel nicht gefunden.« »Das können Sie auch nicht.« »Und warum nicht?« »Weil ich sie habe.« Er griff in seine Hosentasche und brachte drei klobige, vom Rost zerfressene Schließwerkzeuge zum Vorschein. Ich war perplex. »Wo haben Sie sie entdeckt?« wollte ich wissen. »Zwischen den Sargresten. Sie lagen auf dem Boden.« »Unmöglich!« entfuhr es mir. »Wie kommen Sie darauf?« »Ihre Hände, Pater. Meine sind von den Spinnen total zerbissen. Ihre aber sind unversehrt.« Er lächelte wissend. »Ich muß bekennen, daß ich sie in Weihwasser wusch, bevor ich mich an dieses Unternehmen wagte. Soviel ich weiß, reagieren Untote allergisch darauf. Und eine gewisse Spinnenart offenbar auch.« Ich war sprachlos. Dieser Gottesmann hatte ganz schön was auf dem Kasten. Er mußte sich mit den Fragen der Dämonie schon länger beschäftigt haben. Er händigte mir die Schlüssel aus, und ich steckte sie zu mir. Dabei fiel mir die Kartonblende mit dem ausgeschnittenen Kreuz aus der Tasche. Rasch hob ich sie auf. Der Geistliche nickte zustimmend. »Ich habe von Ihrer geplanten Aktion mit den geweihten Silberkreuzen gehört«, sagte er. »Sechshundert Kreuze werden nicht leicht zu beschaffen sein. Auch in 61
Scarborough nicht. Es wird dauern, bis wir sie haben. Ich werde Ihnen eines meiner Kruzifixe überlassen. Aber das genügt nicht. Besitzen Sie keine Silberkugeln?« Ich verneinte. »Außerdem ist auch meine Pistole für Selbstgefertigte Munition nicht geeignet. Die würde mir bei dem ersten Schußversuch um die Ohren fliegen.« »Da haben Sie recht. Aber ich denke, daß ich Ihnen helfen kann. In meinem Besitz befinden sich noch ein paar Dinge, die ich vor Jahren in einem Hohlraum der Kapelle entdeckt habe. Zum größten Teil handelt es sich um uralte Schriften, die wohl einer meiner Vorgänger verfaßt hat. Sie sind nicht gut erhalten und nur sehr schwer zu entziffern. Ich habe mal damit angefangen, es aus Zeitmangel aber aufgegeben. Es ist auch eine handgeschriebene Bibel dabei und, was mich sehr gewundert hat, eine Steinschloßpistole. Kennen Sie sich mit einer solchen Waffe aus?« »Ich denke schon. Natürlich nur, wenn sie noch funktioniert und nicht inzwischen ein Opfer des Rostes geworden ist.« »Ich habe sie restauriert. Der Mechanismus arbeitet wieder perfekt. Wir brauchten nur Pulver und die dazugehörige Munition.« Ich konnte diesen unscheinbaren Mann nur bewundern. Geradlinig packte er ein Problem an und ließ sich anscheinend von keiner Schwierigkeit aufhalten. Ich traute ihm zu, daß er die Kugeln selbst gießen würde, falls ich mich nach seiner Meinung zu dumm anstellte. Ich wußte, daß Silberkugel nicht gleich Silberkugel war. Von den alten Magiern hatte fast jeder sein eigenes Rezept besessen, das er in der Regel mit ins Grab genommen hatte. Mir war aber bekannt, daß die Dämonen unterschiedlich auf die geweihten Geschosse ansprachen. Deshalb war es zweckmäßig, verschiedene Beimengungen zu erproben. Es boten sich verschiedene Metalle an, die lediglich in Spuren verwendet werden durften. Vor allem Gold, Zinn und Quecksilber. Auch für das Pulver gab es bestimmte Regeln. Als besonders wirksam hatte sich eine Prise Galbanum erwiesen. 62
Auf den harzigen Saft dieser in Persien beheimateten Pflanzen würde ich verzichten müssen. Er ließ sich nicht schnell genug auftreiben. Aber die übrigen Zutaten stellten keine unüberwindlichen Probleme dar. Ich blickte den Geistlichen ernst an. »Werden Sie mir helfen, Pater?« bat ich. Er atmete ruhig. In ihm war keine Angst mehr. »Ich habe wie Sie den Auftrag, das Böse zu bekämpfen«, erklärte er. »Vielleicht heißt meine Kirche die Mittel nicht gut, die wir einsetzen wollen, doch das Ergebnis wird ihr gefallen.« Er war optimistischer als ich. Ihn leitete sein unerschütterlicher Glaube, mich das Wissen um die Unberechenbarkeit der finsteren Mächte. Ich hatte nichts dagegen, falls er Recht behalten sollte. Was in der nächsten Sekunde geschah, dämpfte aber auch seine Zuversicht. Ein Schrei gellte durch die Nacht. Ein Schrei, langgezogen und in höchster Not ausgestoßen. Der Schrei einer Frau. Graham Stanley krallte sich an meinem Arm fest. »Haben Sie das gehört?« Die Antwort konnte ich mir sparen. Es gab in dem Gefängnis keine weiblichen Insassen. Der Schrei mußte von draußen gekommen sein. Ich rannte los, ohne mich weiter um den Pater zu kümmern. Die Wachen am Tor waren aufgeregt. Als sie mich kommen sahen, beeilten sie sich, die Riegel zurückzustoßen und das Schloß aufzusperren. Roderic Jarrett hatte sie bestens instruiert. Ich drückte mich durch den engen Spalt und hielt Ausschau. Was ich entdeckte, ließ das Blut in meinen Adern gerinnen. Es war zu grauenvoll. * Brenda Frawley erwartete bebend den Todeshieb. Sie wußte nicht, � was das für eine schreckliche Kreatur war, sie wußte nur, daß sie � 63
sterben mußte. Dicht über ihr hingen die glühenden, kreisrunden Eulenaugen. Sie waren wie feurige Räder. Die Krallen packten sie bei den Schultern und rissen sie aus dem Wagen. Sie zerfetzte die Strumpfhose und schürfte die Knie auf. Aber das war nicht wichtig. Sie würde viel Schlimmeres erleben. Warum stieß die Bestie nicht mit ihrem mörderischen Schnabel zu? Worauf wartete sie noch? Brenda spürte, wie der Erdboden unter ihr wegsackte. Sie schrie gellend, doch niemand war hier draußen, um ihr zu helfen. Die Killereule trug sie mit sich fort. Unter ihr raste das Cabrio noch ein Stück weiter, krachte dann gegen den nächsten Baum und ging in Flammen auf. Eine grellgelbe Lohe schoß in den nachtschwarzen Himmel und erfaßte sie um ein Haar. Sie spürte noch die Hitze. Beiderseits ihres Kopfes sah sie die fürchterlichen Krallen, die nicht losließen. Zum Glück, denn sie befand sich schon mindestens dreißig Fuß über dem Boden. Sie hätte sich das Genick gebrochen. Was hatte der unheimliche Vogel vor? Wohin brachte er sie? Er flog an dem Gefängnis vorbei direkt auf das Moor zu. Es gurgelte und schmatzte. Die Frau schrie noch immer. Jetzt war ihr klar, daß sie einen qualvollen Tod sterben sollte. Sie würde langsam im Sumpf versinken. Unter ihr wurde es jetzt lebendig. Das große Tor zum Gefängnisvorhof wurde geöffnet. Sie erkannte einen Mann. Er riß eine Pistole aus der Tasche, aber er schoß nicht. Der wilde Flug ging weiter. Sie befanden sich schon über dem Moor. Gleich würden sich die Krallen öffnen. Dann stürzte sie in ein bodenloses Nichts. Nur vorübergehend gebremst durch einen zähen Brei, der sie nicht mehr losließ. Aber es kam ganz anders. Viel furchtbarer. Auf Brenda Frawley wartete das Grauen. Sie wurde von der riesigen Eule zu einer Buschgruppe mitten im Moor geschleppt. Dort stieß der Vogel steil hinab und ließ sie fal64
len. Sie spürte festen Boden unter sich und schöpfte neue Hoffnung. Es war nicht gerade gemütlich mitten im Moor. Aber sie konnte sich unter den Büschen verstecken, falls es sich die Eule noch anders überlegen und zurückkehren sollte. Morgen früh würde sie auf sich aufmerksam machen. Man würde sie herausholen. Mit einem Hubschrauber vielleicht. Sie konnte es nicht wagen, mitten in der Nacht durch das Moor zurückzugehen. Damit würde sie ihren Tod geradezu erzwingen. Das einzige Problem war, daß sie nun Perc doch nicht helfen konnte. Jedenfalls nicht in dieser Nacht. Darüber war sie sehr bekümmert. Hoffentlich ergab sich eine neue Gelegenheit, und hoffentlich war es dann noch nicht zu spät. Mit zerschundenen Gliedern kroch sie auf das Buschwerk zu. Sie bewegte sich nur behutsam, um nicht unversehens der gurgelnden Tiefe anheimzufallen. Drüben beim Gefängnis bellten Schüsse auf. Einer klang dumpf, die anderen hart und giftig. Flügelschlag wehte herüber. Aufgeregte Stimmen. Ob sie rufen sollte? Vielleicht hörte sie jemand. Doch sie hatte Angst, lediglich die Aufmerksamkeit der Killereule erneut auf sich zu lenken. Deshalb gab sie keinen Laut von sich und kroch weiter. Da teilten sich die Büsche, und eine Gestalt trat ihr entgegen. Es war ein Mann mit bleichem Gesicht und starren, unbeweglichen Augen. Er streckte seine Hände nach ihr aus, und Brenda erschauerte unter der Berührung. Die Finger waren wie Eiszapfen. In ihnen war kein Hauch von Leben. Die Frau wollte Schreien, aber die Stimme versagte ihr. Sie spürte die Gefahr, die von diesem Unheimlichen ausging. Ihr war auch klar, daß die Eule sie nicht zufällig ausgerechnet hier abgeworfen hatte. »Komm!« sagte der Mann lockend. »Wir haben schon sehr lange auf dich gewartet. Fast hätten wir es nicht mehr ertragen. Aber zum Glück kam die Lieferung noch rechtzeitig.« Die Stimme klang 65
wie die eines Greises. Schwach und brüchig. Dabei sah der Kerl kräftig aus und war nicht älter als vierzig. Sie wich vor ihm zurück. Ihr war egal, von welcher Lieferung er sprach, Sie hatte ihm nichts mitgebracht. »Ich meine dich«, präzisierte die Gestalt. Sie trug einen dünnen, gestreiften Anzug. Sträflingskleidung. Der Bursche, mußte da drüben ausgebrochen sein. War etwa Perc bei ihm? Hatten sie gemeinsam das Unmögliche gewagt, weil sie nicht länger warten wollten, bis sie das Notwendige brachte? »Wir brauchen dich«, sagte der Mann hohl. »Du bringst uns das Leben. Dein Blut wird uns köstlich munden. Warum hast du Angst vor mir? Du kannst mir ja doch nicht entrinnen. Heute bist du es. Morgen bringt uns die Eule neue Nahrung. Der Höllische läßt uns nicht im Stich. Wir haben einen Pakt mit ihm geschlossen. Das sollte jeder tun, der stärker sein will als die anderen.« Grauen kroch in sie hinein. Sie ahnte die Wahrheit. Das mußte einer der erschossenen und aus ihren Gräbern verschwundenen Häftlinge sein. Er war tot, und jetzt wollte er ihr Leben, ihr Blut. Nein! Lieber wollte sie im Moor untergehen. Das Ungeheuer war schwach. Es konnte ihr nicht mehr folgen. Das war ihre Chance. Wenn sie nur vorsichtig genug war, konnte sie es schaffen. Da drüben sah sie noch mehr Büsche. Auch dort war es sicher trocken, und der Boden würde sie tragen. Es war nicht weit. Irgendwie kam sie da schon hin. Der Tote griff erneut nach ihr. Sein Unterkiefer klappte gierig nach unten. Sie erschrak vor seinem Gebiß. Brenda Frawley entwand sich ihm. Nur nicht die Nerven verlieren. Diese Zähne sind nur gefährlich, wenn sie dich beißen. Dazu darfst du es nicht kommen lassen. Sie hetzte los. Vor ihren Füßen blubberte es. Blasen stiegen auf und zerplatzten. Stinkende Gase drangen ins Freie. Sie stoppte rechtzeitig und wechselte die Richtung. Hier kam sie nicht weiter. 66
Aber auch an der anderen Stelle kochte der Sumpf. Wieder warf sich die Frau herum. Doch sie kam nicht mehr vom Fleck. Ihr Fuß wurde festgehalten, und als sie auf den Boden blickte, sah sie die Hand, die sich aus dem Sumpf reckte und ihre Fessel umklammerte. Der Ärmsten versagte die Stimme. Wahnsinn schlich sich in ihre Augen, als nun ein Monstrum aus dem Moor stieg. Es war mit Schlamm, mit Pflanzenresten und Holzstückchen behangen. Nur die Augen glotzten gierig und verlangend aus der Dreckmasse hervor. »Das ist Hank«, hörte sie den Mann in ihrer Nähe krächzen. »Er hat genauso Appetit auf dich wie ich. Wir werden dich teilen. Du bist noch jung. In dir steckt Leben für uns beide.« Er kicherte erwartungsvoll und kam näher heran, während die Gestalt aus dem Moor sie festhielt. Es gab kein Entrinnen. Das Licht von Scheinwerfern glitt über den Sumpf. Kein Zweifel, man suchte nach ihr. Man ahnte zwar sicher nicht die grausige Wahrheit, aber der Mann am Gefängnistor mußte gesehen haben, wie die Eule sie wegschleppte. Zu spät! Ihr konnte keiner mehr helfen. Sie spürte den lüsternen Biß an ihrer Kehle. Alles andere bekam sie nicht mehr mit. Sie glitt in eine erlösende Ohnmacht, aus der sie nicht mehr erwachte. Als die beiden Schrecklichen nach Minuten von ihr abließen, hechelten sie zufrieden. Dann versenkten sie den leblosen Körper im Sumpf. Kein Mensch würde ihn je finden. * Unwillkürlich riß ich die Pistole aus der Ledertasche. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht mit einem überdimensionalen Vogel, der in einiger Entfernung davonsegelte und in seinen Krallen einen schlaffen Frauenkörper hielt. Es war eine Eule, und automatisch kam mir die von Jarrett er67
wähnte Eule auf dem Gemälde in den Sinn. Ich zielte sorgfältig, denn ich durfte keinesfalls das hilflose Opfer treffen. Doch dann fiel mir ein, daß sich die Frau zu Tode stürzen mußte, wenn sie aus dieser Höhe losgelassen wurde. Außerdem vermutete ich, daß meine Patronen auch gegen dieses Höllenwesen nichts ausrichten würden. Was sollte ich tun? Ich schrie den Wachleuten zu, daß ich starke Scheinwerfer brauche. Sie flitzten davon. Dafür tauchte der Pater hinter mir auf. Er schlug das Kreuz und murmelte ein Gebet. Drüben sah ich einen Wagen brennen. Er war gegen einen Baum geprallt und hatte nur noch Schrottwert. Ich vermutete, daß die Unglückliche darin gesessen hatte. Warum sie um diese Zeit die einsame Straße in der Nähe des Gefängnisses benutzt hatte, war jetzt nicht wichtig. Was zählte, war ihr Leben. Oder war sie schon tot? Ich hörte keine Schreie mehr. Ich konnte auch nichts mehr erkennen. Die Eule war in die Dunkelheit eingetaucht. Hoffentlich waren bald die Scheinwerfer in Position. Da schoß der erste Blitzkeil durch die Nacht. Ein paar andere folgten. Sie wanderten langsam hin und her. Einer von ihnen erfaßte das schwarze Etwas, das wie eine Fledermaus heransegelte. Es war die Eule. Sie kam zurück, und zu meinem Entsetzen stellte ich fest, daß sie die Frau nicht mehr in den Krallen hielt. Sie mußte die Ärmste über dem Moor abgeworfen haben. Dann war sie jetzt wahrscheinlich tot. Voller Zorn feuerte ich auf die geflügelte Bestie. Beim erstenmal verfehlte ich das Ziel, doch als die Eule nur Knapp über die Mauer strich, schlugen zwei Projektile in ihren Körper. Sie schlug kräftig mit den Flügeln und erzeugte damit einen derartigen Luftdruck, daß ich zur Seite geschleudert wurde. Aus die68
sem Grund belferten die folgenden Schüsse ins Leere. Mir war, als wäre auch von einer anderen Seite her geschossen worden. Es hatte wie ein gedämpfter Gewehrschuß geklungen. Aber nur einer. Der Schütze hatte aufgegeben. Die Eule war zwar getroffen, doch das machte ihr nichts aus. Sie verschwand. Ich kehrte zwar schleunigst in den Gefängnishof zurück, aber ich entdeckte sie nirgends. Sie mußte sich in Luft aufgelöst haben. Im Gefängnis war man längst aufmerksam geworden. Männer eilten herbei. Sie riefen aufgeregt durcheinander. Was sie anscheinend am meisten erregte, war das offene Tor, vor dem ich stand. Roderic Jarrett lief auf mich zu. Er war kreidebleich. Er wollte mir etwas sagen, aber ich ließ ihn nicht zu Worte kommen. Ich forderte, daß sofort das Moor in der näheren Umgebung abgesucht wurde. Sehr weit konnte die Eule nicht geflogen sein. Vielleicht war es der Frau gelungen, sich an einer Wurzel oder etwas Ähnlichem festzuklammern. Dann mußten wir sie finden, bevor ihre Kräfte erlahmten. Jarrett lief ins Büro zurück und forderte einen Hubschrauber an. Danach ließ er breite Bretter herbeischaffen. Mit ihnen baute ein rasch organisierter Suchtrupp brückenartige Stege, die sie über das Moor legten und sich auf diese Weise vorwärts arbeiteten. Auch ich wollte mich daran beteiligen, doch der Direktor hielt mich zurück. Gerade hatte er erfahren, daß die Häftlinge von Trakt vier rebellisch geworden waren. Angeblich schrien und hämmerten sie und drohten mit einer neuen, diesmal aber großangelegten Revolte. »Sie müssen mitkommen«, bat er eindringlich. Die Ereignisse wuchsen ihm längst über den Kopf. »Wir haben zu wenig Leute. Ich habe mehr Personal angefordert, aber alle weigern sich, nach Forthby zu kommen.« Ich folgte ihm und hörte schon von weitem den Lärm und das Toben. Hier war echt die Hölle los. Die Gefangenen brüllten ihre Angst heraus. Dabei konnten sie doch noch gar nicht wissen, was 69
sich draußen ereignet hatte. Aber wahrscheinlich hatten sie meine Schüsse gehört. Nur seltsam, daß sich die Panik auf Trakt vier beschränkte. Zwei Aufseher kamen uns entgegen. Sie wußten inzwischen, was die Häftlinge so außer sich brachte. Sie führten uns zu einer Zelle. Ich war erst vor ein paar Stunden dort gewesen. Luke Walden bewohnte sie. War er wieder mal der Motor dieser Empörung? Er war es tatsächlich, jedoch anders, als wir annahmen. Er lag im äußersten Winkel seiner Zelle auf dem Rücken. Seine Augen starrten uns feindselig an. In der Stirn, genau über der Nasenwurzel, hatte er ein kleines, schwärzliches Loch. Daß er tot war, sahen wir auch auf diese Entfernung. Ich mußte Roderic Jarrett stützen, sonst wäre er gefallen. Seine Gesichtszüge waren schlaff, als er nur ein Wort murmelte: »Elam!« * Innerlich raufte ich mir die Haare. Natürlich gab ich dem Gefängnisdirektor recht. Kein anderer als der tote Aufseher hatte Luke Walden erschossen. Walden, der vor kurzem noch so große Töne gespuckt hatte. Dem Schwerverbrecher waren viele Jahre hinter Gittern erspart geblieben, doch ich hatte längst gelernt, daß auch die Menschen ohne Hoffnung an ihrem bißchen Leben hingen. Vor allem bestürzte mich, daß Dub Elam erneut zugeschlagen hatte, ohne daß er mir bisher begegnet war. Ich schaffte es nicht, seine Haßstrahlen aufzufangen. Das ganze Gefängnis war voll davon. Ob sie von ihm herrührten oder von den Untoten aus der Gruft, ließ sich nicht unterscheiden. Ich erinnerte mich an den dumpfen Schlag, den ich gehört hatte. Es mußte Elams Schuß gewesen sein. Wann würden wir den nächsten Toten finden? Einen Toten fanden wir während der folgenden Stunden zwar nicht, dafür brachte der Suchtrupp vom Moor einen Damenschuh mit. Er war voller Blut. Von der Trägerin hatten die Männer trotz 70
intensiver Bemühungen und der Unterstützung durch zwei Hubschrauber nichts mehr entdecken können. Ihr Schicksal mußte als besiegelt angesehen werden. Der ausgebrannte Wagen konnte anhand der Zulassungsnummer identifiziert werden. Er hatte einer gewissen Brenda Frawley aus Newcastle gehört. Vermutlich war sie die Frau, die ich gesehen hatte. Roderic Jarrett kam mit einer Überraschung. »Perc Frawley, ihr Mann, sitzt bei uns ein. Er ist einer von den leichten Fällen. Er hat nur fünf Jahre.« Da man im Wageninneren eine verschmorte Perlonschnur, allerhand Werkzeug und sogar einen Revolver zusammengepackt gefunden hatte, wurde der leichte Fall zur Rede gestellt. Anfangs leugnete er, aber er tat das nicht sehr geschickt. Als er vom Schicksal seiner Frau erfuhr, brach er zusammen. Später gestand er, einen Hilferuf nach draußen geschickt zu haben. »Ich wollte raus«, wimmerte er. »Ich hatte entsetzliche Angst vor Elam. Er holt uns alle. Und nun ist Brenda tot. Es ist meine Schuld.« Er erlitt einen Nervenzusammenbruch. Ein Arzt mußte sich um ihn kümmern. Ich fühlte mich ohnmächtig. Es mußte etwas geschehen. Ich brauchte die Silberkugeln. Pater Stanley mußte mir dabei helfen. Der Geistliche war trotz des Entsetzens, das ihn gepackt hatte, nicht untätig gewesen. Er hatte nicht nur eine ansehnliche Menge Silber bereitgestellt, sondern auch noch etwas Zinn und Gold beschafft. »Korrekterweise müßte der Kugelguß in einer ganz bestimmten Nacht stattfinden«, sagte er mit der Stimme eines Verschwörers. »Auch für das Feuer brauchten wir ein paar Stoffe, die das Gelingen garantieren. Aber die sind nicht so leicht zu besorgen. Und wir können auch nicht neun Tage warten, bis die Mondkonstellation ideal ist.« Da hatte er recht. Wir mußten sofort handeln. Nicht erst in einer 71
Stunde, morgen oder gar in neun Tagen. Pater Stanley gab mir ein silbernes Kreuz. Es hing an keiner Kette. Ich steckte es in die Innentasche meines Jacketts. Ich hatte mir die Pistole zeigen lassen, von der er gesprochen hatte. Wir mußten versuchen, das Kaliber möglichst genau hinzukriegen. Das würde nicht leicht sein. Ich hatte meine Bedenken. Aber ich mußte es wenigstens versuchen. Ich fertigte aus Holz eine zweiteilige Form. Sie würde nicht lange halten. Darüber war ich mir im klaren. Außerdem mußten die Kugeln hinterher noch bearbeitet werden. Pulver stellte mir Roderic Jarrett zur Verfügung, als ich ihm erklärte, was ich damit wollte. Dabei sah er mich allerdings an wie einen, der angesichts eines Atomangriffs seine Zündplättchenpistole hervorholt, um sich damit zu verteidigen. Die Aufseher hatten alle Hände voll zu tun, die Gefangenen zu beruhigen. Das war um so schwieriger, als in ihnen ebenfalls die Angst steckte. Sie hatten noch nicht vergessen, daß zwei der Ihren auf brutale Weise umgebracht worden waren. Während ich an einer zweiten Form bastelte, um bei Bedarf schnellen Ersatz zu haben, grübelte ich über die Zusammenhänge nach. Besonders die Eule bereitete mir Kopfschmerzen. Sie paßte nicht in das Gesamtbild der untoten Killer. Es war auch seltsam, daß sie sich ausgerechnet eines der seltenen Opfer außerhalb des Gefängnisses geholt hatte, wo sie doch nur auf einen der Wachleute hätte herabzustürzen brauchen. Hatte sie noch etwas anderes damit bezweckt als nur das Töten? Gleichzeitig fiel mir ein, daß Murphy Choice und Hank Porter noch nicht wieder in Erscheinung getreten waren. Sie waren nicht in ihre Gräber zurückgekehrt, und die Gruft ließ ich ständig beobachten. Natürlich aus angemessener Distanz. Ich wollte keinen unnötig gefährden. Wo waren die beiden? Hatte der Höllenfürst sie zu sich geholt? Oder befanden sie sich außerhalb der Gefängnismauern? Angeblich hatten sie ausdrücklich den Satanspakt geschlossen, um aus 72
dem Gefängnis entweichen zu können. Mir wurde einiges klar, obwohl es bisher nur Vermutungen waren. Sie paßten aber recht gut zusammen. Wenn Choice und Porter sich irgendwo draußen im Moor herumtrieben, dann war es denkbar, daß die Eule ihnen ihre Opfer zutrug. Sie selbst waren dazu nicht in der Lage. Waren sie Blutsauger geworden? Der Schuh von Brenda Frawley war voller Blut gewesen. Wenn meine Theorie stimmte, dann würden sie schon bald neue Nahrung brauchen. Die riesige Eule, die ebenfalls verschwunden war, würde wieder dafür sorgen. An die Blutsauger kam ich nicht heran. Die Eule war gegen meine Patronen immun. Ich setzte meine Hoffnung auf die Silberkugeln und darauf, daß ich rechtzeitig zur Stelle sein würde. Pater Stanley bereitete alles für den Kugelguß vor. Er war mit Eifer bei der Sache und sprach unablässig Gebete. Wie mußte sich ein Kirchenmann fühlen, der magische Praktiken anwandte? Ich nutzte die Zeit, um mich mit den von ihm erwähnten Aufzeichnungen zu beschäftigen. Der Geistliche hatte nicht übertrieben. Sie befänden sich wirklich in einem miserablen Zustand. Fast alle Blätter waren von Ratten angefressen, viele fehlten ganz, und das, was übrig geblieben war, war nur schlecht lesbar. Dazu kam noch die ungewohnte Sprache aus der Zeit vor dreihundert Jahren. Ich baute auf dem auf, was der Pater bereits herausgefunden und in klaren Worten niedergeschrieben hatte. Es ging in erster Linie um eine Hinrichtung, der der damalige Gefängnisgeistliche beigewohnt hatte. Ein gewisser Malcolm Davies war gehenkt worden. Doch gleichzeitig mit seinem Ableben geschahen furchtbare Dinge. Der Pfarrer behauptete, der Teufel selbst sei auf der Richtstätte erschienen. Er habe alle Beteiligten umgebracht und ihn selbst seines Gehörs beraubt. Furchtbare Drohungen habe Satan ausgestoßen. Deshalb hatte der Pfarrer dafür gesorgt, daß Davies, der Satansjünger, in einer sicheren Gruft beigesetzt wurde, die unverzüglich in Angriff genommen wurde. Die Aufzeichnungen gingen noch weiter. Sie erwähnten vier wei73
tere Hinrichtungen. Jeden Monat eine. Fast alle verliefen normal. Nur bei der letzten geschahen ähnliche Dinge. Der Verurteilte starb zwar am Galgen, aber alle anderen Anwesenden mußten ebenfalls dran glauben. Auch der Pfarrer. Seine Schriften wurden von seinem Nachfolger fortgeführt. Es war damals eine unruhige Zeit Jeder hütete sich, etwas über Hexen oder Teufel zu publizieren aus Furcht, er könnte sich plötzlich auf einem Scheiterhaufen wiederfinden. Deshalb blieben die Aufzeichnungen geheim. Die Gefängnisgeistlichen sorgten jedoch dafür, daß sie fortgeschrieben wurden, bis irgendwann das Dokument abbrach. Sein damaliger Besitzer mauerte es in der Kapelle ein und rechnete wohl nicht damit, daß es viele Jahre später furchtbare Aktualität erlangen sollte. Immer wieder las ich von ordnungsgemäßen Hinrichtungen und verheerenden Katastrophen. Das ließ den Schluß zu, daß sich trotz aller Geheimhaltung herumgesprochen haben mußte, auf welche Weise ein zum Tode Verurteilter unverzüglich Rache an seinen Richtern nehmen konnte. Er verbündete sich mit der Hölle. Das taten bei weitem nicht alle, aber die, die sich zu diesem Schritt entschlossen, waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Untoten, die mir jetzt das Leben sauer machten und zum Angriff auf die Aufseher geblasen hatten. Nun gut, dieses Wissen half mir nicht weiter, solange ich kein Mittel besaß, die damaligen Satansverträge aufzulösen. Hoffentlich kamen die Kreuze bald. Das Beispiel Luke Waldens würde hoffentlich alle anderen von der Notwendigkeit überzeugen, diesen Schutz zu tragen. Mit Körperkraft und Überheblichkeit waren weder die Toten aus der Gruft noch Dub Elam zu besiegen. Und außerdem waren da auch noch die beiden erschossenen Gefangenen mit ihrer Killereule. Ich wußte wirklich nicht, wo ich zuerst anfangen sollte. Sir Horatio in Whitehall wartete sicher schon auf eine Erfolgsmeldung von mir. Ich ging zu Roderic Jarrett, um in seinem Büro zu telefonieren. 74
Jarrett hockte hinter seinem Schreibtisch und starrte das Bild an, auf dem die Eule abgebildet war, die angeblich gezwinkert hatte. Er schüttelte immer wieder den Kopf und seufzte. Ich erkundigte mich nach seinen Sorgen, aber er winkte ab. Da gab es etwas, was er mir nicht erzählen wollte. Vermutlich fürchtete er, ich würde ihn für verrückt halten. Vertrauen war nicht jedermanns Sache. Sir Horatio war über meine Meldung nicht sehr erfreut. Er hatte mehr Erfolg und weniger Tote erwartet. Ich setzte gerade an, um mich über die Vielzahl meiner Gegner auszulassen, als die Alarmsirenen anfingen zu heulen. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung knallte ich den Hörer auf die Gabel und flitzte los. Ich hoffte, daß auch Jarrett seinen verträumten Hintern von seinem Sessel hochbekam, aber darum konnte ich mich nicht auch noch kümmern. Ich hatte mich genau über das Alarmsystem informieren lassen und wußte daher, daß wieder mal in Trakt sieben etwas los war. Wegen Dub Elam hatte ich hier die Wachen verstärken lassen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Zum erstenmal sah ich ihn. Die Beschreibungen, die ich von ihm erhalten hatte, waren nicht übertrieben. Er sah scheußlich aus. Schon sein Anblick allein konnte einen Mann um den Verstand bringen. Ähnlich benahmen sich die Wachleute auch. Sie trafen keine Anstalten, den Furchtbaren, der vor Cedric Chiles Zelle stand, anzugreifen oder wenigstens von seinem Opfer abzulenken. Ein Wunder, daß einer soviel Courage gehabt hatte, den Alarm auszulösen. Ich rechnete zwar mit keinem Erfolg, aber ich gab zwei Schüsse aus der Automatic auf ihn ab. Wie befürchtet, ließ er sich dadurch nicht beeindrucken. Er wandte sich zwar nach mir um, und sein zerfetztes Gesicht ließ mich erschauern. Das Messer in seinem Schädel war grauenvoll. Hastig steckte ich die Pistole zurück und nahm das Silberkreuz, das ich von Graham Stanley erhalten hatte, aus der Tasche. Ich 75
mußte es schaffen, ihn damit zu berühren, ohne vorher von ihm erschossen zu werden. Langsam, lauernd ging ich auf ihn zu. Er richtete das Gewehr auf mich, aber er schoß nicht. Wütende Gedanken prallten gegen mich. Sie waren voller Haß und Tötungswillen. Ich konnte sie empfangen und deuten. Sie gaben mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Dub Elam war hinter den Gefangenen her. Gegen mich hatte er nichts, weil ich ihm nichts getan hatte. Aber die Gefangenen hatten ihn erschlagen. An ihnen wollte er Rache nehmen. Durfte ich mich darauf verlassen, daß er nicht abdrückte? Das war ein gewagtes Spiel. Einer Kugel, die den Lauf bereits verlassen hatte, konnte ich nicht mehr ausweichen. Die nächste Gedankenwelle, die mich traf, war voller Hohn und Verachtung. Er nahm mich nicht für Voll. Meine Kugeln hatten ihm nichts anhaben können. Für ihn war ich kein Gegner. Das stachelte meinen Ehrgeiz an. Schließlich ging es hier nicht um mich. Ungefähr fünfhundert Häftlinge beherbergte das Gefängnis. Auch sie waren für Dub Elam keine Gegner, aber er wollte sie trotzdem töten. Das konnte ich nicht zulassen. Ich wollte keinen einzigen Toten mehr. Er kam auf mich zu. Ich war froh, daß ich ihn von Chiles abgelenkt hatte. Es war ohnehin ein Wunder, daß er den Jungen nicht längst abgeknallt hatte. Die Aufseher hinter mir wichen bis zur Treppe zurück. Ich konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Sie konnten dem Untoten nichts entgegensetzen. Jetzt stand der Kerl vor der Zelle Kid Mungos. Der Schwerverbrecher, der neunzehn Menschenleben auf sein Gewissen geladen hatte, heulte vor Angst wie ein Kind, als sich Dub Elam ihm zuwandte. »Du bist dran, Mungo«, sagte der tote Aufseher mit grauenerregender Stimme. Sie klang asthmatisch wie zu Lebzeiten. Das war doch die Höhe! Der Halunke ließ sich durch mich über76
haupt nicht beirren. Ich existierte für ihn nicht. Ich wartete nicht, bis er sein Gewehr in Stellung gebracht hatte, sondern rannte los. Ich erreichte ihn genau in dem Augenblick, als er schoß. Voller Wut drückte ich ihm das geweihte Kreuz auf die Brust. Er wippte leicht zu mir herum. Deshalb streifte seine Kugel den Gefangenen nur. Ich wartete, daß Elam aufbrüllen und sich auflösen würde, so wie ich es bei dem Untoten aus der Gruft beobachtet hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Das Kruzifix verfehlte seine Wirkung. Dub Elam widerstand ihm. Offenbar spürte er nicht einmal Schmerzen oder sonst welche Pein. »Versuch das kein zweites Mal«, krächzte er drohend. »Verschwinde von hier! Mach dich nicht zu meinem Gegner.« Er stieß mich mit einer lässigen Handbewegung zur Seite, die mich gleich drei Zellen weiter beförderte. In seinen Armen steckte dämonische Kraft. Dann ging er seelenruhig den Gang hinunter und verschwand unangefochten. * Kid Mungo war nicht schwer verletzt, aber er mußte ärztlich versorgt werden. Er heulte und bat den Pfarrer zu sich. Er wolle sein Gewissen über weitere Bluttaten erleichtern. Ich ging zu Cedric Chiles, der sich freute, als er mich sah. Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, daß er mich akzeptierte und nicht den Schinder in mir sah. Er hatte sonst keinen Menschen, mit dem er offen sprechen konnte. Die ihm nahegestanden hatten, hatten sich von ihm abgewandt. Sogar von den Gefangenen wurde er weitgehend gemieden. Wer ein vierzehnjähriges Mädchen mißbrauchte und hinterher kaltblütig umbrachte, stand auch auf der Ehrenleiter der Halunken ganz weit unten. Da nützten auch noch so eifrige Unschuldsbeteuerungen nichts. 77
Ich hätte was dafür gegeben, wenn es mir gelungen wäre, die Wahrheit in seinen Gedanken zu lesen, doch sie blieben mir auch diesmal verschlossen. »Sie haben Glück gehabt«, sagte ich. »Elam hat zu lange gezögert. Sonst wären Sie jetzt tot.« »Ja, das hat er wohl«, antwortete der Achtundzwanzigjährige ohne Begeisterung. »Vielleicht hat mich auch mein Kreuz geschützt.« Möglich war es, obwohl mich die Wirkung des Kreuzes nicht zufriedengestellt hatte. »Er ist stärker als die Untoten aus der Gruft«, stellte ich verbittert fest. »Es muß an dem Fluch liegen. Wenn ich nur wüßte, wer ihn ausgesprochen hat. Wenn derjenige noch lebte, würde ich ihn zwingen, den Fluch von dem Verdammten zu nehmen. Ich glaube, das würde helfen.« Cedric Chiles enthielt sich jeder Antwort. Was sollte er auch dazu sagen? Ich bat ihn eindringlich, auf alle Fälle stets sein Kreuz zu tragen, was er mir versprach. »Um Sie mache ich mir Sorgen«, sagte er leise. »Nicht um mich. Mein Leben hat schon vor vier Jahren geendet. Niemand glaubt mir, daß ich unschuldig bin. Aussage steht gegen Aussage, und mein Wort hat kein Gewicht.« Irgendwie tat er mir leid. Natürlich war es möglich, daß er mir eine der üblichen Komödien vorspielte, aber er war so ganz anders als Kid Mungo, Luke Walden und die anderen Killer, die ich in Forthby getroffen hatte. Von ihm ging kein Hauch der Gewalt und Brutalität aus. Als ich zu Pater Graham Stanley zurückkehrte, waren meine Sorgen größer als zuvor. Die Tatsache, daß Dub Elam sich durch ein geweihtes Silberkreuz nicht einschüchtern ließ, machte mich nicht eben fröhlich. Es war höchste Zeit, daß ich in den Besitz der Kugeln gelangte. Und noch etwas wurde mir jetzt klar: Nie wieder würde ich den Krif aus der Hand geben. Ich zeigte Stanley meine beiden Kugelformen, und er war beein78
druckt. »Fangen wir an!« sagte er. Seine Stimme vibrierte leicht. Er war im höchsten Grade erregt. Um durch nichts gestört zu werden, zogen wir uns in den Eingang der Gruft zurück. Hier hatte der Pater die Brennstelle angelegt. Sie mußte nur noch entzündet werden. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich ertappte mich dabei, daß ich ständig auf einen neuerlichen Schrei oder den Ton der Sirene lauschte. Über dreißig gnadenlose Killer waren unterwegs. Einer von ihnen konnte schon im nächsten Augenblick wieder zuschlagen. Wir mußten sehr lange warten, bis das Silber endlich zu schmelzen begann. Die Flammen nahmen sämtliche Farben an. Zum Schluß waren sie blutigrot und äußerst aggressiv. Ich hatte die beiden Hälften der Holzformen jeweils mit Klammern zusammengespannt. Als ich die erste Form mit dem flüssigen Metall füllte, ging sie durch die mörderische Hitze sofort in Flammen auf. Ich warf sie in einen bereitstehenden Wasserkübel und verhinderte damit, daß sie vollständig zerstört wurde. Dann machten wir uns an den nächsten Guß. Während ich mich um das Handwerkliche kümmerte, sprach der Pater mit geschlossenen Augen Gebete. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Dieser Mann war ein Muster an Mut, doch er stand am Ende seiner Kraft. Der zweite Guß. Wieder versuchten die Flammen, meine Form zu fressen. Ich war darauf vorbereitet und überantwortete sie dem Wasser. Ich hoffte, daß dadurch die Qualität der Kugel nicht litt. Während die eiserne Kelle wieder über dem Feuer hing, öffnete ich die erste Form. Eine innere Erregung ergriff mich, als die Kugel, die noch Grat und Einfüllstutzen trug, auf den Boden rollte. Ihr Klang hatte etwas Beruhigendes: Der Anblick der Form beruhigte mich dagegen keineswegs. Sie befand sich in schlimmem Zustand. Ich glaubte nicht, daß sie noch 79
mehr als einen Versuch durchstand. Ich täuschte mich nicht. Insgesamt brachten wir vier Kugeln zustande, dann waren die beiden Formen im Eimer. Vier Geschosse für eine Überzahl an Gegnern. Das war wenig verheißungsvoll. »Es ist noch Silber vorhanden«, erklärte Stanley mühsam. »Wenn wir neue Formen herstellen, kommen wir auf die doppelte Anzahl.« »Später vielleicht«, widersprach ich. »Jetzt müssen wir unseren Vorrat gebrauchsfertig machen.« Es war nötig, die Kugeln zu befeilen und in den Pistolenlauf einzupassen. Das war eine Heidenarbeit, zumal uns das geeignete Werkzeug dafür fehlte. Roderic Jarrett stellte uns zwar die Gefängniswerkstatt zur Verfügung, aber auch die war nicht auf die Bearbeitung von Silberkugeln eingerichtet. Wir brauchten Stunden. Immer wieder schielte ich zu der Steinschloßpistole hinüber. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, einen Probeschuß abzufeuern. Die Munition war zu kostbar. Pater Stanley nahm die Kugeln, nachdem ich mit ihrer Form zufrieden war, um sie in der Kapelle zu weihen. Ich füllte inzwischen eine flache Plastikflasche mit Pulver. Dann ging ich zu Jarrett und traf ihn bei seinem Beruhigungstee, den er anscheinend literweise in sich hineinkippte. »Wann kommen die Kreuze?« wollte ich wissen. »Sie müßten eigentlich schon hier sein.« »Das weiß ich selbst. Ich will wissen, wann sie kommen. Ich kann die Untoten schlecht bitten, noch ein bißchen zu warten, weil wir Lieferschwierigkeiten haben.« Jarrett wollte sich diesen Ton verbitten, aber er sank hilflos in seinen Sessel zurück Vor ihm lag ein beschriebenes Blatt Papier. Es war sein Gesuch um Versetzung an eine andere Strafanstalt. »Ich rufe noch einmal an«, versprach er kläglich, aber er traf keine 80
Anstalten. Ich nahm den Hörer von der Gabel und hielt ihn ihm hin. Er nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen und wählte. Nach einem kurzen Gespräch verkündete er erleichtert. »Sie sind schon unterwegs. Aber es sind nicht sechshundert, sondern nur einhundertzwanzig. Mehr waren auf die Schnelle nicht zu beschaffen.« »Dann sollen sich die Armleuchter gefälligst etwas einfallen lassen«, fauchte ich. Dieses Phlegma brachte mich zur Raserei. »Die Knochen in der Gruft sind auch noch nicht verbrannt worden«, erinnerte ich. »Wollen Sie, daß die auch noch zu untotem Leben erwachen?« »Um Gottes willen!« stammelte der Direktor. »Dann tun Sie gefälligst was dagegen! Ich habe Sie schon heute früh dazu aufgefordert. Jetzt ist der Tag fast vorbei, und nichts ist geschehen.« Fast wäre Roderic Jarrett in Tränen ausgebrochen. Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. »Ich bringe keinen meiner Männer dazu, in die Gruft zu gehen«, bekannte er. »Sie haben inzwischen begriffen, daß die Untoten es auf die Wachmannschaft abgesehen haben. Um die Gruft machen sie einen weiten Bogen.« Ich donnerte meine Faust auf den Schreibtisch. »Natürlich!« sagte ich wütend, »Es ist ja auch einfacher, ein paar Gefangene zu schikanieren. Ich habe nicht übel Lust, Sie mit Ihren ganzen Problemen alleinzulassen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an dem Pater. Dieser Mann zeigt Ihnen, was Mut ist.« Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Wie zur Antwort erscholl von draußen ein vielstimmiger Schrei. Ich rannte zum Fenster und rechnete mit dem Schlimmsten. Trotzdem war ich geschockt. In der beginnenden Abenddämmerung erkannte ich eine Vielzahl grauenhafter Gestalten. Skelette, Mumien, in Verwesung übergegangene Monster mit ekelerregenden Gesichtern. Sie rückten gegen eine Gruppe von Aufsehern vor, die Pater Stanley umringt hatten und auf ihn einredeten. Jetzt rann81
ten sie kopflos davon und ließen den Geistlichen im Stich. Graham Stanley war ein alter Mann. Er war nicht schnell genug, um zu fliehen. Er starrte den Unseligen entgegen, die Front gegen ihn machten. Ich zögerte keine Sekunde. Am liebsten wäre ich zum Fenster hinausgesprungen, aber Jarretts Büro befand sich in der zweiten Etage. Mein Genickbruch hätte dem Pater nichts genützt. Deshalb jagte ich aus dem Raum, stieß ein paar Uniformierte, die sich neugierig nach der Ursache des Lärms erkundigten, beiseite und erreichte die Treppe. Irgendwie brachte ich die achtundvierzig Stufen hinter mich. Ich mußte mir den Weg zwischen weiteren Aufsehern hindurch bahnen, die in das Gebäude strömten. Zwei Untote waren hinter ihnen her. Den Vordersten rammte ich in vollem Lauf und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Dem anderen drückte ich das Kreuz auf den Schädel und wartete nicht das Ergebnis ab, sondern stürmte weiter. Graham Stanley wurde von allen Seiten bedrängt. Er hielt ein Kruzifix hocherhoben in den Händen und wehrte damit die Angreifer ab. Seine Reaktionen waren lahm. Die Untoten sprangen ihn immer wieder aus einer anderen Richtung an und versuchten, ihm den Garaus zu machen. Ich rannte zu ihm hinüber. In diesem Moment brach er zusammen. * Ohnmächtiger Zorn packte mich. Der einzige Mensch, der Mut bewiesen hatte, sollte von diesen Scheusalen vernichtet werden? Ich sprang zwischen die hechelnde Meute und schlug mit dem Silberkreuz wild um mich. Die Getroffenen schrien vor Entsetzen und Qualen. Sie taumelten zurück und versuchten, mir auszuweichen. Ich achtete nicht auf sie. Ich sah nur Graham Stanley, der am Bo82
den lag, und dessen Augen schreckensstarr waren. Hatten sie ihn bereits getötet? Ohne darauf zu achten, daß nun auch ich von hinten angegriffen wurde, kämpfte ich mich bis zu ihm durch und hielt mit meinem Kreuz schaurige Ernte. Der Krif wäre jetzt besser gewesen. »Die Kugeln, Pater!« schrie ich. »Ich brauche die Kugeln.« Er öffnete den Mund und stöhnte. Offenbar hatten die Gnadenlosen ihm ein paar Rippen gebrochen, und sie ließen noch immer nicht von ihm ab. Jetzt schlugen sie ihm sogar das Kruzifix aus der schlaffen Faust. Er war ohne jeden Schutz. Ich hechtete hin, packte sein Kreuz und schlug nun beidhändig nach unseren Gegnern. »In meiner Tasche«, hörte ich den Pater flüstern. Er mußte die Kugeln meinen. Ich hätte zufrieden sein können. Vorläufig hatte ich eine stattliche Zahl von Untoten ausgeschaltet. Sie kreischten und lösten sich auf. Ihre ohnehin gräßlichen Fratzen verzerrten sich noch mehr. Sie boten ein Bild des absoluten Grauens, das einen Mann mit schwachen Nerven durchaus lähmen konnte. Wir erhielten keine Hilfe. Weder Roderic Jarrett noch einer der Aufseher ließ sich blicken. Sie hatten sich alle hinter den vergleichsweise sicheren Mauern verschanzt und überließen dem Geistlichen und mir die Arbeit. Ich zerrte Graham Stanley in die Höhe, obwohl er aufschrie und drückte ihm sein Kruzifix in die Hand. Er war aber nicht in der Lage, es festzuhalten. Da schob ich es ihm in die Jacke und hoffte, ihn damit wenigstens von einer Seite geschützt zu haben. Nun hatte ich eine Hand frei. Damit fuhr ich in seine Jackentasche und hatte Glück, daß ich die richtige Seite erwischte. Ich fühlte die silbernen Kugeln zwischen meinen Fingern. Ich boxte mich durch die Untoten hindurch, die zwar etwas mehr Respekt zeigten, aber keine Anstalten trafen, sich zurückzuziehen. Pater Stanley legte ich so behutsam wie möglich auf den Boden 83
und hielt mir die Angreifer mühsam mit meinem Kreuz vom Leib. Lange würde mir das nicht gelingen. Mit fliegender Hast zog ich die Steinschloßpistole aus dem Gürtel. Ich hatte das Laden in Gedanken geübt. Jetzt mußte es sich zeigen, ob unsere Anstrengungen nutzlos waren. Drei der Kugeln ließ ich in meiner Hosentasche verschwinden. Die vierte preßte ich in den Lauf der Pistole, nachdem ich nach Gutdünken Pulver hineingeschüttet hatte. Wenn ich des Guten zuviel genommen hatte, würde ich mir vermutlich die Hand aus dem Gelenk reißen. Bei einer zu geringen Menge kam es zu einem armlosen Flopp. Weiter kam ich mit dem Ladevorgang nicht. Sie griffen wieder an. Es war, als würden sie das Verhängnis ahnen. Pater Stanley ließen sie jetzt zum Glück in Ruhe. Sie sahen in mir nicht nur ein Opfer, sondern einen wirklichen Gegner. Das war eine neue Erfahrung für sie, die sie zwar beunruhigte, auf der anderen Seite aber noch gefährlicher machte. Ich empfing ihre Gedanken, und sie verhießen mir nichts Gutes. Sie waren entschlossen, mich zu töten. Ich lockte sie von dem Pater weiter weg. Sie folgten mir wütend und lauernd. Sobald ich zur Pistole griff, um sie fertigzuladen, schossen sie mit schaurigem Geheul auf mich zu und schlugen nach der Waffe. Es gelang mir, wieder zwei mit dem Kreuz zu vernichten. Gleichzeitig aber stellte ich fest, daß die Kraft des Kruzifixes abnahm. Durch die häufige Berührung mit den Unseligen ging der Schutz der Weihe allmählich verloren. Ich hatte eine andere Idee. Sie war riskant, aber ich durfte nicht wählerisch sein. Ich rannte los. So schnell ich konnte, bewegte ich mich von ihnen weg. Damit hatten sie anscheinend nicht gerechnet, denn es dauerte Sekunden, ehe sie die Verfolgung aufnahmen. Ihr Schreien gellte mir in den Ohren. Ich hatte ihre Zahl zwar dezimiert, ich schätzte sie aber immer noch auf zwanzig. Sobald die Kraft des Kreuzes voll84
ständig erloschen war, hatten sie leichtes Spiel mit mir. Während des Laufens schüttete ich Pulver in die Pfanne der altmodischen Pistole. Ich verschüttete die Hälfte, doch es mußte reichen. Hastig schloß ich den Pfannendeckel und spannte den Hahn. Jetzt hatte ich es endlich geschafft. Ich konnte schießen. Ein einziges Mal, dann mußte ich den zeitraubenden Ladevorgang wiederholen. Falls ich dann überhaupt noch dazu in der Lage war. Ich sah den Eingang der Gruft vor mir. Es wurde schon dunkel, aber noch ließ sich alles deutlich erkennen. Sie holten auf. Ich blickte mich aus Zeitgründen nicht um, doch ich spürte sie dicht hinter mir. Die Türen zur Gruft standen offen. Ich hechtete förmlich hindurch, lief aber nicht die Treppe hinunter, sondern stellte mich dahinter auf. Die Untoten quollen in die Gruft. Jeder wollte der erste sein. Sie behinderten sich und drängten sich gegenseitig zurück. Ihre Wut auf mich war so groß, daß mich keiner dem anderen überlassen wollte. Ich hob die Pistole mit beiden Händen und zielte genau. Ich wartete, bis der Eingang total verstopft war. Dann riß ich den Abzug zurück. Es war, als hätte mich ein Pferd getreten. Die Waffe wurde aus meinen Fäusten geprellt. Tückische Schmerzen durchfluteten meinen Körper. Ich wagte nicht nachzusehen, ob ich noch meine Hände besaß. Fühlen konnte ich sie jedenfalls nicht. Aber den Untoten erging es noch schlimmer als mir. Die geweihte Silberkugel war mitten in sie gefahren und hatte dort verheerend gewütet. Stinkender Qualm schlug mir entgegen und kitzelte meine Kehle. Gegen meinen Willen mußte ich mich erbrechen. Dabei entdeckte ich die Steinschloßpistole und hob sie schleunigst auf. Ganz nebenbei wurde mir bewußt, daß meine Finger heil geblieben waren. Ich war erleichtert. Doch bestand dafür ein Grund? Zweifellos hatte ich einige der 85
Skelette und Mumien mit dem einen Schuß endgültig getötet. Ich sah, wie ihre Reste vergingen, aber auch, wie die Überlebenden über sie hinwegsprangen und mich von beiden Seiten angriffen. Ich kam nicht dazu nachzuladen. Ich zählte sie in fliegender Hast. Vierzehn waren es noch, auf jeder Seite sieben. Sie befanden sich jetzt alle im Vorraum der Gruft. Gleich würden sie mich haben. Ich stieß mich von der Mauer ab und setzte mit gewaltigem Sprung über die Öffnung hinweg, in die die Treppe nach unten führte. Fast wäre ich rückwärts in die Tiefe gestürzt, doch ich fing mich im letzten Moment und warf mich mit meinem ganzen Gewicht nach vorn. Ich jagte durch die erste Tür und warf sie hinter mir ins Schloß. Drinnen vernahm ich einen höllischen Tumult. Sie wollten mir nach. Ich mußte schneller sein als sie. Rasch suchte ich den richtigen der drei Schlüssel, hieb ihn ins Schloß und drehte ihn herum. Dann schleuderte ich ihn weit weg. Mit der zweiten und dritten Tür verfuhr ich ebenso. Ich baute darauf, daß sich die Untoten nicht aus eigener Kraft befreien konnten. Ich hatte Zeit, neue Vorbereitungen zu treffen. Vor allem mußte ich die Pistole neu laden, wenn mir auch schon jetzt vor einem weiteren Schuß graute. Ich lief zu Pater Stanley, der die Kraft gefunden hatte, sich bis zur Kapelle zu schleppen. Wenigstens lebte er, wenn er auch wie sein eigener Geist aussah. Er verzog sein Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. »Der Streiter des Herrn ist ein bißchen ramponiert«, meinte er mühsam, »aber er ist froh, Sie lebend zu sehen.« »Ich auch«, gab ich ehrlich zurück. »Leider ist noch längst nicht alles überstanden. Ich werde Sie jetzt erst mal zum Doc schaffen. Der soll sich Ihre Knochen anschauen.« Doch dazu kam ich nicht. Mit ohrenbetäubendem Krachen machten die Toten in der Gruft auf sich aufmerksam. Ich ballte vor Wut die Fäuste. Einmal zu untotem Leben erwacht, 86
ließen sie sich durch nichts mehr aufhalten. Auch über früher unüberwindliche Schranken setzten sie sich hinweg. »Geben Sie mir die Pistole«, bat Graham Stanley. »Das Laden bringe ich auch noch fertig.« Ich warf ihm Waffe, Pulverflasche und eine Kugel zu. Dann flitzte ich los. Am Tor machte sich jemand bemerkbar und wollte eingelassen werden. Ich hegte die Hoffnung, daß es der Bote aus Scarborough mit den geweihten Kreuzen war. Da die beiden Wachen ihren Posten fluchtartig im Stich gelassen hatten, als die Untoten wie eine alles vernichtende Woge anrückten, mußte ich das Tor selbst öffnen. Ich konnte dabei nicht viel falsch machen. Hinter mir krachte es zum zweitenmal. Die zweite Tür. Gleich waren die Fürchterlichen wieder frei, Sie würden sich nicht wieder in die Falle locken lassen. Die Pistole war noch nicht geladen. Mein Kreuz besaß nur noch klägliche Kraft. Ich wuchtete die Riegel zurück und öffnete das Tor. Ein dürrer Bursche mit einer Leichenmiene und verschwitztem Gesicht starrte mich entgeistert an. Trotz meiner Aufseheruniform hielt er mich anscheint für einen Sträfling, der gerade ausbrechen wollte. Ich befand mich in keiner salonfähigen Verfassung. In der linken Hand hielt er einen flachen, schwarzen Koffer, die rechte reckte mir einen Papierwust entgegen. Anscheinend erwartete er, daß ich ihm die Lieferung quittierte oder gar bezahlte. Ich entriß ihm wortlos den Koffer und ließ den Verblüfften einfach stehen. Ich jagte zur Gruft zurück und öffnete den Koffer unterwegs. Ja, da lagen sie. Hundertzwanzig blitzende Kreuze, die hoffentlich auch geweiht waren. Darauf mußte ich mich verlassen. Ich verteilte ungefähr die Hälfte des Inhalts vor dem Eingang der Gruft. Die übrigen ordnete ich in gleichmäßigen Abständen rund um den Bau an. Kaum war ich fertig, als die Untoten die letzte Tür sprengten. In wildem Haß drängten sie ins Freie und suchten ihren Widersacher, 87
also mich. Ihr Schreien war gräßlich. Sie stürzten über die ausgelegten Silberkreuze und verpufften regelrecht. Bei den Gerippen ging es am schnellsten. Am zähesten waren die Mumien. Ihre vertrocknete Haut blähte sich an verschiedenen Körperpartien ballonartig, bevor sie platzte und die darunterliegenden Knochen zu Pulver wurden. Die verzerrten Münder brüllten und heulten, bis der letzte Untote vernichtet war. Danach trat gespenstische Ruhe ein. Ich blieb mißtrauisch. Ich hatte unmöglich zählen können, wie viele Untote besiegt worden waren. Ich hielt es für nicht ausgeschlossen, daß sich einige rechtzeitig tiefer in die Gruft zurückgezogen hatten. Ich wollte sichergehen. Da sich jetzt endlich Roderic Jarrett mit ein paar seiner Leute blicken ließ, befahl ich ihnen, Brennmaterial herbeizuschaffen. Sie gehorchten, ohne zu murren. Jarrett gab widerstandslos die Befehlsgewalt aus der Hand und half sogar mit. Unter anderen Vorzeichen hätte mich sein mühsames Watscheln zum Lachen gereizt, doch momentan hatte ich jeglichen Humor verloren. Ich fühlte mich wie gerädert. Viel mehr stand ich nicht mehr durch. Doch die Höllenbrut scherte sich den Teufel um meinen Zustand. Sie gestand mir keine Verschnaufpause zu. Schon brach im Gefängnis wieder ein Lärm los, und ich ahnte, daß Dub Elam der Verursacher war. * Ich rannte an Graham Stanley vorbei und ließ mir die nunmehr geladene Pistole zuwerfen. Er schickte auch die Pulverflasche hinterher, doch sie verfehlte mich, und ich nahm mir nicht die Zeit, mich danach zu bücken. Natürlich wieder Trakt sieben. Hier hatte Elam seine Aufsicht ge88
habt. Hier saßen die, die ihn am meisten gehaßt hatten. Von diesem Trakt war die Revolte gegen ihn ausgegangen. Während ich die Treppen hochraste, fühlte ich mich wie aus Gummi. Ich hatte schon die letzte Nacht nicht geschlafen, und es war immer noch keine Atempause in Sicht. Das waren keine günstigen Voraussetzungen, um einen Kerl wie Dub Elam auszuschalten. Diesen fürchterlichen Burschen, der über geweihte Kruzifixe lachte. Der Mittelgang von Trakt sieben war wie leergefegt. Nur ein einziger Aufseher befand sich dort, aber dieser Mann stand nicht auf meiner Seite. Ein Messer durchbohrte seinen Schädel. Seine Augen glühten vor Haß. Wieder stand er vor Kid Mungos Zelle. Entgegen meiner ausdrücklichen Anordnung war der Verbrecher offenbar wieder dort untergebracht worden, nachdem seine harmlose Streifschußwunde verarztet worden war. Fairerweise mußte ich allerdings zugeben, daß es auf dem ganzen Zuchthausgelände kaum ein Versteck vor dem rachsüchtigen Dub Elam gab. Der untote Aufseher hob sein Gewehr. Kid Mungo heulte vor Entsetzen. Ich konnte nicht sehen, was er tat, aber ich vermutete, daß er versuchte, sich hinter seiner Pritsche zu verstecken. Das würde ihm nichts nützen. »Elam!« schrie ich. Es hallte eindrucksvoll durch den Gang. »Elam, gib deine Rache auf. Ich bin hier, um dir deine Ruhe zu geben. Über dreißig Untote sind vernichtet. Auch du besitzt keine Chance.« Er hielt es nicht für der Mühe wert, sich nach mir umzudrehen. Er lachte nur geringschätzig. Sein asthmatischer Atem pfiff zu mir herüber. »Du bist ein Narr, Mac Kinsey. Du hast noch immer nicht begriffen, daß ich stärker bin als sie alle. Vor allem aber stärker als du. Geh mir aus dem Weg, sonst setze ich dich auf meine Liste, und du stirbst auch.« »Du änderst nichts, indem du sie alle umbringst«, mahnte ich und 89
hob unauffällig die Steinschloßpistole. Hoffentlich hatte der Pater nicht das Pulver in der Pfanne vergessen. »Du bleibst trotzdem tot. Deine Rache ist sinnlos.« Er kicherte. »Sinnlos vielleicht, aber sehr befriedigend, Kinsey. Ich hasse diese Brut. Ich habe sie immer gehaßt, aber sie nie töten dürfen. Hätte ich früher gelebt, wäre ich Henker geworden. Das blieb mir versagt. Jedenfalls im Leben. Im Tod kann ich endlich tun, was ich schon immer wollte. Ich bringe sie alle um. Alle. Bis auf den letzten Mann. Und wenn du unbedingt willst, auch dich.« Da drückte ich ab. Dieser Mann war nicht erst nach seinem Tod ein Dämon geworden. Er mußte es schon vorher gewesen sein. Durch Reden konnte ich ihn nicht überzeugen. Diesmal hielt ich die Waffe besser fest, und die Ladung war wohl auch schwächer. Jedenfalls ließ ich sie nicht wieder fallen. Erleichtert sah ich, wie die geweihte Kugel in seinen Körper einschlug. Er schien sekundenlang zu glühen. Besonders das Messer verfärbte sich und sprühte grelle Funken. Einen Augenblick lang stand Dub Elam wie vom Donner gerührt. Er zitterte, aber er fiel nicht. Haßwellen schlugen mir entgegen. Sie trafen mich mit solcher Wucht, daß ich zur Treppe taumelte und mich am Geländer festklammern mußte. Fieberhaft wollte ich die Pistole neu laden, doch ich hatte kein Pulver. Ich hoffte, daß die eine Kugel reichte. Ich irrte mich. Dub Elam hatte sich wieder gefangen. Er wuchs ein Stück und brüllte vor Zorn. Dann feuerte er den Lauf seines Gewehrs ab, und an dem gurgelnden Schrei Kid Mungos erkannte ich, daß diese Kugel ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Dub Elam ließ das Gewehr sinken. Er schleuderte mir noch einen drohenden Blick entgegen. »Hüte dich vor mir!« zischte er. Dann stampfte er davon. * Kid Mungo war nicht mehr zu retten. Die Kugel hatte sich in seinen � 90
Schädel gebohrt. Wer würde das nächste Opfer sein? Ich fühlte mich unendlich müde. Sogar die Silberkugel hatte versagt. Sie war meine ganze Hoffnung gewesen. Jetzt sah ich nur noch einen möglichen Weg. Ich mußte denjenigen aufspüren, der Dub Elam mit dem Fluch belegt hatte. Aber wie sollte ich ihn finden? Ich wußte so gut wie nichts über den ehemaligen Aufseher. Nur soviel, daß ihn viele gehaßt hatten. Ich mußte mit seinem Bruder sprechen. Vielleicht konnte er mir weiterhelfen. Von Roderic Jarrett wußte ich zwar, daß die Elams nur in sehr losem Kontakt gestanden hatten, aber vielleicht hatte ich Glück. Ich war entschlossen, Prosper Elam noch heute aufzusuchen, obwohl die Nacht nicht mehr fern war. Vor dem Gefängnis stand noch immer mein MG. Mit ihm würde ich zu dem Mann fahren. Nach meiner Information hatte er sich in der Nähe ein Hotelzimmer genommen, um über die Geschehnisse in Forthby auf dem laufenden zu bleiben. Ich wankte die Treppe hinunter und verarbeitete das Erlebte. Ich hatte diesen Mord nicht verhindern können. Wie oft würde ich das noch sagen müssen? Draußen war es jetzt völlig dunkel. Nur von der Gruft her schlugen helle Flammen. Roderic Jarrett und seine Mannen hatten meine Anweisungen befolgt und ein kräftiges Feuer geschürt. Es bildete einen Kranz um das steinerne Gewölbe. Aus dem Inneren drang Rauch. Pater Stanley hatte empfohlen, auch in die Gruft Holz zu schaffen und dort anzuzünden. Obwohl er sich kaum auf den Beinen halten konnte, stand er davor und sprengte von Zeit zu Zeit Weihwasser in die Glut. Falls wirklich noch einer der Untoten das Glück gehabt hatte, den Silberkreuzen auszuweichen, durch das Feuer wurde auch er vernichtet. Wenigstens diese Sorge war ich los. Ich ging zu Jarrett hinüber, der dabei war, den Lieferanten der Silberkreuze zu beschwichtigen. Als der dürre Mann mich sichtete, nahm er unwillkürlich eine Abwehrhaltung ein. Er schimpfte los 91
und deutete auf mich. Offensichtlich hielt er mich für den Übeltäter, der für die ganze Verwirrung zuständig war und ihm seine Kreuze gestohlen hatte. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern meldete dem Direktor, daß Kid Mungo tot war. Jarrett stieß einen verzweifelten Krächzlaut aus und griff sich ans Herz. Er lief blau an und verwickelte sich in einen Hustenkrampf. Er stürzte davon. Ich vermutete, daß er zu seinem Beruhigungstee Zuflucht nahm. Der Dürre aus der Stadt funkelte mich wütend, aber aus sicherem Abstand an. Verstanden hatte er von alledem nichts, was ihm Jarrett erklärt hatte. Er begriff nur, daß hier einiges nicht so war, wie es hätte sein sollen. Aufgrund des erfreulichen Bedarfes an geweihten Kreuzen hatte er eine demütige Schar erwartet und einen Hexenkessel vorgefunden. Kopfschüttelnd zog er sich zurück, und ich hielt ihn nicht auf. Ich sah ihn zu seinem wartenden Wagen gehen und wußte, daß ich selbst noch eine kurze Fahrt vor mir hatte. Vielleicht schlug Dub Elam während meiner Abwesenheit wieder zu, doch das tat er auch, wenn ich hierblieb. Durch mich und meine kläglichen Waffen ließ er sich nicht abschrecken. Ich holte die Pulverflasche, um meine Pistole mit der vorletzten Kugel zu laden. Meine Hoffnung war, daß ich Elam wenigstens mit dem einen Treffer geschwächt hatte. Wenn ich ihm wieder begegnete, wollte ich nicht waffenlos sein. Gerne hätte ich das Pulver und auch die Pistole selbst weihen lassen, weil ich mir davon eine höhere Wirkung versprach, doch erstens hätte das wertvolle Zeit gekostet, und zweitens konnte ich Pater Stanley momentan nichts mehr zumuten. Der Mann war fix und fertig. So meldete ich mich bei einem der Wachhabenden, die wieder ihre Plätze eingenommen hatten, ab und ging zu meinem Wagen. Kaum hatte ich das Tor hinter mich gebracht, als ich die Augen weit aufriß. Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Diesmal sollte 92
ich wohl fertiggemacht werden. Die dämonischen Mächte hatten sich anscheinend zum Ziel gesetzt, mir meine Grenzen aufzuzeigen. Ein schwarzer Schatten glitt in einiger Entfernung an mir vorbei. Ein mächtiger Vogel. Eine Eule, wie ich inzwischen wußte. Die Killereule, die Brenda Frawley auf dem Gewissen oder, wie ich eher vermutete, zu den blutsaugenden Murphy Choice und Hank Porter geschleppt hatte. Sie zog aus, um ein neues Opfer zu suchen. Wieder außerhalb der Gefängnismauern. Aber dort befand nur ich mich. Nein, ich hatte nicht an den Dürren aus Scarborough gedacht. Er hatte gerade seinen Wagen erreicht und fummelte nun an dem Schloß herum. Er war noch sichtlich erregt und hatte sich bestimmt vorgenommen, über die haarsträubenden Zustände in Forthby Meldung zu erstatten. Die Killereule beschrieb in der Luft einen weiten, lautlosen Bogen und näherte sich ihm nun von der Waldseite. Er sah sie nicht, denn er wandte ihr den Rücken zu. Ich brüllte einen Warnruf und rannte los. Das legte der Mann völlig falsch aus. Er sah sich bedroht, allerdings durch mich, zumal ich die gewaltige Pistole in der Hand hielt. Er begann zu zittern, und nun fand er mit dem Schlüssel sein Ziel erst recht nicht. »Fahren Sie los!« schrie ich. Ich wollte ihm beweisen, daß ich keinen Appetit auf ihn hatte. Sein Denkapparat funktionierte nicht mehr. Er hatte nur noch Angst. Erst als er den eisigen Windhauch in seinem Nacken spürte, drehte er sich um. Sein Wahnsinnsschrei gellte durch die beginnende Nacht. Die Eule hatte ihn fast erreicht. Sie war riesig. So groß war sie mir in der Vornacht nicht erschienen, aber da hatte ich sie auch nur aus größerer Entfernung gesehen. Ich wollte schießen, doch der Wagen des Dürren stand genau in 93
der Schußlinie. Außerdem natürlich der Mann selbst. Mit meiner Automatic und üblicher Munition hätte ich mir auch bei diesem unsicheren Licht einen Treffer zugetraut, ohne den Bedrohten zu gefährden. Doch die Steinschloßpistolen vor dreihundert Jahren sind mit keiner modernen Waffe, was die Treffsicherheit betrifft, zu vergleichen. Nur auf kurze Distanzen konnte man sich auf sie verlassen. Hinzu kam der mörderische Rückstoß, der mir auch diesmal wieder die Silberschleuder verreißen würde. Trotzdem durfte ich nicht untätig zusehen, wie die Killereule ihr zweites Opfer verschleppte. Auch diesen Mann würde man nicht wiederfinden. Vielleicht den von Jarrett unterschriebenen Lieferschein über hundertzwanzig geweihte Kreuze. Papier brauchte lange, ehe es im Moor versank. Ich lief noch dichter heran. Dann blieb ich stehen, stemmte beide Füße fest gegen den Boden und die Ellbogen gegen die Brust. Mit den Fäusten hielt ich die Pistole umklammert. Mein rechter Zeigefinger lag am Abzug. Ich hielt den Atem an. Der Mann brüllte, als der Vogel ihn mit seinen scharfen Krallen packte, ein Stück über den Boden schleifte und dann höherstieg. Ich ballerte los. Natürlich hatte ich wieder zuviel Pulver in der Eile erwischt und fand mich im Dreck wieder. Aber ich raffte mich sofort auf und hielt nach dem Dämonenbiest Ausschau. Ich sah es entschwinden, aber es lag schräg und kläglich in der Luft. Erwischt hatte ich es, nur nicht getötet. Was aber momentan das Wichtigste war, die Eule hatte ihren Raub freigegeben und einfach fallenlassen. Dem Mann war nichts Ernstliches passiert. Ein paar Rißwunden, eine leichte Prellung und ein Schock, der ihn außerstande setzte, ein vernünftiges Wort herauszuwürgen. Widerstandslos ließ er geschehen, daß ich ihn vom Boden aufhob und zum Tor zurücktrug. Die Gefängnisärzte sollten sich um ihn kümmern. 94
Noch bevor ich am Tor ankam, hörte ich vom Moor her wütendes Geheul und klagende Laute. Wölfe waren das nicht, obwohl ich es für Hungergeschrei hielt. Choice und Porter hatten wohl von ihrem Versteck aus die mißlungene Aktion der Eule verfolgt. Sie sahen sich um ihre Nahrung betrogen. Ob sie das vor ernsthafte Probleme stellte, konnte ich noch nicht sagen. Die Eule war zwar angeschlagen, aber so ein Höllenbiest brauchte vielleicht nur Minuten, um sich zu regenerieren. Irgendwo fand es vielleicht ein neues Opfer, und ich besaß nur noch einen einzigen Schuß. Das schauerliche Geheul ließ mich frösteln. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag das Moor selbst in einem Hubschrauber nach den beiden abzusuchen, falls ich dann noch am Leben war. * Roderic Jarrett bekam fast einen Schreikrampf, als er mich mit dem Dürren über der Schulter über den Gefängnisvorhof marschieren sah. Er sah gerade aus dem Fenster. Die heftige Detonation meines Schusses ließ ihn das Schlimmste befürchten. Diesmal aber konnte ich ihn beruhigen. Es nützte nichts. »Sie ist weg«, kreischte er. »Die verfluchte Eule ist nicht mehr da. Ich bin nicht verrückt. Meine Augen sind noch in Ordnung.« »Seien Sie froh, daß sie weg ist«, sagte ich. »Haben Sie gesehen, wohin sie geflogen ist?« Jetzt glaubte er, daß es bei mir nicht mehr ganz stimmte. »Geflogen? Die Eule?« Er kicherte glucksend. »Sie wollen mich wohl verscheißern. Sie ist einfach verschwunden. Wutsch! Und fort war sie. Ich schwöre, ich habe das Bild die ganze Zeit angestarrt, aber plötzlich saß sie nicht mehr auf ihrem Ast. Wenn Prosper Elam davon erfährt, bewirkt er meine Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Aber Sie können sich selbst davon überzeugen, Mister Kinsey. Kommen Sie herauf. Ich beweise es Ihnen.« Erst jetzt begriff ich, daß er von der Eule auf seinem Gemälde 95
sprach. Daß sie ausgerechnet zu dem Zeitpunkt verschwunden war – falls das überhaupt stimmte – als die Killereule auftauchte, stimmte mich nachdenklich. Aber nachdenken konnte ich auch unterwegs. Also hastete ich wieder einmal die Treppen hoch. Was konnte mich jetzt schon noch erschüttern?« Roderic Jarrett war mehr als erschüttert. Bei meinem Eintreten hockte er auf seinem Sessel und schluchzte. Er lallte unverständliches Zeug. Ich machte mir Sorgen um seinen Geisteszustand. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, wurde aber von ihm zurückgestoßen. »Wer bin ich eigentlich?« kreischte er. »Bin ich Churchill? Oder bin ich die Thatcher? Vielleicht bin ich auch die Queen. Machen Sie gefälligst eine Verbeugung, Mann. Verrückten darf man nicht widersprechen, sonst werden sie gewalttätig.« Er sank wieder zurück und zeigte mir sein tränenüberströmtes Gesicht. Was ihn so außer Fassung gebracht hatte, begriff ich erst, als ich einen Blick auf das Bild warf. Die Eule war nicht verschwunden. Sie kauerte auf ihrem Ast. Hatte er sich wirklich alles nur eingebildet?« Ich besah mir die Szene genauer. Meine Augen wurden eng. Fast hatte ich es geahnt. Die Eule hatte einen verletzten Flügel. Blut quoll in dicken Tropfen aus der Leinwand. Ich hatte die Killereule vor mir. Jetzt war klar, daß sie die Schlüssel aus dem Safe geraubt hatte. Sie hatte vor kurzem ihren Ast verlassen, um nach Satans Willen seinen Jüngern Hilfe zu bringen. Hilfe in Form eines lebenden Menschen. Wegen ihrer Verletzung, die ich ihr beigebracht hatte, mußte sie unverrichteter Dinge zurückkehren. Ich ignorierte das heftige Schniefen hinter mir. Jarrett würde sich wieder beruhigen, sobald er erkannte, daß sein Geisteszustand noch völlig intakt war. Aus der Tasche zog ich ein neues Gasfeuerzeug. Das alte, das mir Pater Stanley aus der Hand geschlagen hatte, lag noch irgendwo in 96
der Gruft und war in der Zwischenzeit verbrannt. Ich ließ die Flamme aufzucken und hielt sie an das Gemälde. Da biß die Eule zu. Sie zuckte aus dem Bild heraus und hieb ihren Schnabel in meine Hand, die sofort zu bluten anfing. Gerne hätte ich dem Schmerz nachgegeben, aber ich bezwang mich. Ich ließ das Feuerzeug nicht los, sondern führte die Flamme direkt zu der Eule. Sie fing sofort Feuer. Ihre winzigen Augen glühten. Aus ihrem Schnabel quoll schwarzer, fetter Qualm, der im Nu das ganze Büro mit einem Pestgestank füllte. Ich hatte den Eindruck, als wollte sich das gefiederte Bild aus der Leinwand lösen, doch es gelang ihm nicht. Die Flammen bannten es an seinen Platz. Langsam, aber sicher wurde es eingeäschert. Ich überstand auch noch die letzten verzweifelten Schnabelhiebe. Dann war dieser Spuk vorbei. Sicherheitshalber ließ ich das ganze Bild verbrennen und kehrte die Asche in einen großen Briefumschlag, den ich mir von Jarretts Schreibtisch nahm. Pater Stanley sollte die Überreste noch mit Weihwasser in Berührung bringen. Doppelt genäht, hielt besser. Roderic Jarrett starrte mich mit glanzlosen Augen an. Er hatte es längst aufgegeben, irgend etwas verstehen zu wollen. »Murphy Choice und Hank Porter halten sich irgendwo im Moor als Zombies auf«, erklärte ich. »Die Eule hat sie mit Nahrung versorgt. Anscheinend brauchten sie die jede Nacht. Was jetzt geschieht, müssen wir erst abwarten. Vielleicht haben die beiden noch andere höllische Helfer. Es kann aber auch sein, daß sie jetzt selbst aktiv werden. Wir müssen auf alles gefaßt sein. Ich glaube, daß in erster Linie Ihre Aufseher gefährdet sind. Und natürlich Sie selbst, Mr. Jarrett. Lassen Sie die Silberkreuze von der Gruft verteilen. Für die Mannschaft werden sie gerade reichen. Ob sie auch helfen, weiß ich allerdings nicht.« Langsam fing er sich wieder. Deshalb konnte ich ihm eine Frage stellen. Sie bezog sich auf den Fluch, der angeblich über Dub Elam ausgesprochen worden war. 97
»Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?« Er hob hilflos die Schultern, was bei seinem Speckhals immerhin ein kleines Kunststück war. »Ich habe nie etwas auf dieses Gerede gegeben«, bekannte er. »Hätte ich geahnt, was alles möglich ist, wäre ich der Frage wahrscheinlich nachgegangen.« So ähnlich hatte ich mir das vorgestellt. Das half mir aber nicht weiter. Ich brachte das Gespräch auf Prosper Elam, und Roderic Jarrett nickte heftig. »Dieser Kerl war mir von Anfang an unsympathisch. Er will mir unbedingt etwas am Zeuge flicken. Dem würde ich den Fluch ohne weiteres zutrauen Warum hält er sich noch in der Nähe auf? Doch nur, um die Wirkung seiner Verwünschung zu beobachten. Dem traue ich alles Schlechte zu.« »Das scheint in der Familie Elam zu liegen«, sagte ich. »Immerhin verflucht man keinen Menschen ohne schwerwiegenden Grund.« Ich hielt mich nicht länger auf, sondern fuhr nun endlich zu dem nahegelegenen Hotel, in dem Prosper Elam abgestiegen war. Noch lange lag mir das langgezogene Klagen in den Ohren, das vom Moor herüberwehte. * Prosper Elam war in der Tat ein unangenehmer Bursche. Schon rein äußerlich machte er einen miesen Eindruck auf mich. Kaum hatte er den Mund geöffnet, verstärkte sich die Überzeugung. Roderic Jarrett hatte nicht übertrieben. Ich wollte schnell wieder in Forthby sein, deshalb hielt ich mich nicht lange bei der Vorrede auf. »Sie können sich denken, daß ich wegen Ihres Bruders hier bin«, begann ich. »Ich hoffe, daß Sie mir in einer wichtigen Frage weiterhelfen werden.« »Vergessen Sie's, Kinsey. Leuten, die mit diesem Jarrett zusammenarbeiten, helfe ich bestimmt nicht. Dieser Halunke ist ein 98
Gangster. Erst läßt er die Leiche meines Bruders verschwinden, und dann verunglimpft er ihn auch noch. Er setzt Gerüchte in die Welt, nachdem Dub ein Monster ist. Perfekter Schwachsinn! Aber das wird für ihn Folgen haben.« »Ihr Bruder ist ein Monster. Ein Untoter oder Zombie, wie immer Sie wollen. Ich war Zeuge, wie er einen wehrlosen Gefangenen umgebracht hat, obwohl er tot ist. Er bedeutet eine große Gefahr, solange der Fluch auf ihm liegt, mit dem ihn jemand belegt hat. Ich glaube, daß Sie dieser Jemand sind.« Prosper Elam sah mich verblüfft an. Dann lachte er schallend. »Sie sind verrückt, Kinsey«, platzte er heraus. »Total meschugge. Schade um Sie. Sie sehen gar nicht übel aus. Aber leider plemplem. Da kann man wohl nichts machen.« Ich ging auf die Schmähungen nicht ein. In mir war ein sicheres Gefühl, daß ich ihn im Laufe unserer Unterhaltung noch niederschlagen würde. Vorher gab der Bursche sowieso keine Ruhe. »Ich habe keine Ahnung, was Ihnen Ihr Bruder angetan hat«, gab ich zu. »Aber irgend etwas muß es gewesen sein, warum Sie ihn gehaßt haben.« »Geben Sie's auf, Kinsey. Dub und ich waren ein Herz und eine Seele. Einer wäre für den anderen durchs Feuer gegangen. Deshalb will ich auch jetzt verhindern, daß sein Andenken in den Dreck gezogen wird. Welcher Tölpel hat mich ins Gerede gebracht?« Ich wollte antworten, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich starrte ihn nur an und merkte gar nicht, daß er mich mißtrauisch musterte. Da lagen plötzlich Dinge vor mir, über die wir gar nicht gesprochen hatten. Er mußte sich mit ihnen beschäftigen. Ich las seine Gedanken. Böse Gedanken. Schreckliche Gedanken. Ich sah in einen Kellerraum. Und ich hörte verzweifelte Schreie. Dann hilfloses Weinen und schließlich ein Aufstöhnen. Dann erkannte ich Prosper Elam, der sich aufrichtete und seine Hände an einem Tuch abwischte. Das Tuch färbte sich an einigen Stellen rot. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich wußte jetzt, daß ich 99
die entsetzliche Wahrheit herausgefunden hatte. Mein Gegenüber rückte etwas von mir ab. Anscheinend wurde ihm unheimlich. . »Sie sollten sich mal untersuchen lassen«, empfahl er. »Bei Ihnen scheint es weiter zu fehlen, als ich dachte.« »Mörder!« stieß ich hervor. »Sie haben die kleine Eliza vergewaltigt und hinterher erschlagen. Ihr Bruder hat die grausige Wahrheit gekannt, Sie aber gedeckt. Er sagte gegen Cedric Chiles aus. Er schwor einen Meineid, um Sie zu retten. Dabei war es ihm egal, daß er das Leben eines Unschuldigen vernichtete.« Prosper Elams Augen weiteten sich. Er konnte nicht begreifen, wieso ich plötzlich das ängstlich gehütete Geheimnis entschleiert hatte, das doch Dub, der einzige Zeuge, mit ins Grab genommen hatte. Er entschloß sich, alles abzustreiten. Er war sicher, daß ich nicht den geringsten Beweis in der Hand hatte. Ich kam ihm zuvor. »Ich werde die Polizei an den Tatort führen«, erklärte ich. »Ich werde das Verbrechen genau rekonstruieren, und ich werde zeigen, auf welche Weise Sie und Ihr Bruder einen Unbeteiligten hereingelegt haben. Jetzt wird mir auch klar, woher Chiles Ihren Vornamen kannte. Sie haben keine Chance. Sie können nur noch alles zugeben. Ein Platz in Forthby ist Ihnen gewiß.« Prosper Elam heulte auf. »Dub, dieser Narr, muß gequatscht haben. Dabei hatte er versprochen, das Maul zu halten. Keiner hat Chiles geglaubt. Was lag schon an ihm? Warum hat Dub ihn nicht schon längst umgelegt? Hoffentlich tut er das bald.« Ich schüttelte den Kopf. »Das wird ihm nicht gelingen«, vermutete ich. »Er kann nicht den vernichten, der ihn verflucht hat. Alle anderen, aber nicht Cedric Chiles.« Ich näherte mich dem Telefon, um den Hörer abzuheben. Da hielt Prosper Elam auf einmal ein Messer in der Hand. »Du kommst hier nicht lebend heraus«, versprach er. »Du wirst keinem die Wahrheit verraten. In dieser Gegend geschehen ja seltsame Dinge. Alle werden mir glauben, wenn ich versichere, ein 100
paar Zombies hätten dich umgelegt.« Ihm war ernst. Das sah ich seinen haßfunkelnden Augen an, und das las ich in seinen bösartigen Gedanken. Ich hatte mich ahnungslos in die Höhle des Löwen gewagt. Mir war schleierhaft, wie ich mich gegen ihn wehren sollte. Ich schlief schon fast im Stehen ein. Aber das Bewußtsein, kurz vor dem Ziel zu stehen, Chiles Unschuld beweisen zu können, stärkte mich. Er sollte nur kommen. Beim Secret Service brachten sie einem bei, wie man sich verteidigte, auch wenn man eigentlich schon tot war. Er schleuderte erst einen Stuhl nach mir und sprang dann genau in die Richtung, nach der ich auswich. Mit dem Messer voraus. Ich zog meinen Bauch ein und machte mich so dünn wie eine Spielkarte. Dann ließ ich mich rückwärts fallen und schleuderte meinen linken Fuß hoch. Ich traf seine Faust. Das Messer flog in hohem Bogen davon. Es landete so unglücklich, daß es daß Kabel einer Tischlampe durchtrennte. Die Folge waren ein Funkenregen, ein Knall und ein Kurzschluß. Wir saßen im Finstern. Sofort hechtete ich hoch. Wo sich die Tür seines Hotelzimmers befand, wußte ich noch genau, und daß er dorthin wollte, war nicht schwer zu erraten. Wir prallten zusammen, aber ich schlug zuerst zu. Prosper Elam stöhnte dumpf auf. Dann streckte er sich aus. Das Telefon funktionierte noch. Ich verständigte die Hotelleitung und anschließend die Polizei. Dort hinterließ ich, daß ich keine Zeit hatte, auf das Eintreffen der Beamten zu warten. Sie würden den Mörder im Gefängnis von Forthby finden. Ich nahm ihn kurzerhand mit. Dann konnte er wenigstens nicht entwischen. * Die Wahrheit lag nun wie ein offenes Buch vor mir. Ich ging zu Cedric Chiles und überraschte ihn mit der Nachricht, daß seine Unschuld bewiesen sei. 101
»Tatsächlich?« Das war sein ganzer freudloser Kommentar. Ich drang in ihn. »Ihnen wurde großes Unrecht zugefügt. Sicher wußten Sie nicht, wer die kleine Eliza tatsächlich umgebracht hat. Aber Sie wußten, daß Dub Elam Sie in voller Absicht ins Zuchthaus brachte. Sie konnten sich gegen seinen Einfluß bei Gericht nicht wehren. Da haben Sie ihn verflucht. Sie werden rehabilitiert. Jetzt können Sie den Fluch wieder von ihm nehmen. Es ist genug Blut geflossen.« Er leugnete nicht. Er starrte vor sich hin und sagte dumpf: »Ja, mein Fluch hat schrecklich gewirkt. Ich habe mich in tiefe Schuld verstrickt und sitze jetzt zu Recht hier. Ich kann nicht mehr zurück, und ich will es auch nicht. Vier Jahre meines Lebens hat er mir gestohlen, und selbst in der Freiheit würde ich meine Mutter und Verena und meine früheren Freunde nicht zurückgewinnen.« »Sie besitzen einen Freund, Chiles«, sagte ich ernst. »Das ist doch ein Anfang.« Ein schmerzliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Ja, Sie haben mich als einziger fair behandelt. Aber wenn Sie ein Freund sind, werden Sie mich auch verstehen. Durch meinen Fluch mußten Luke und Kid sterben.« »Sollen es noch mehr werden.« »Dub Elam wird nicht mehr töten«, versicherte Cedric Chiles. »Er weiß jetzt, daß die Wahrheit bekannt ist.« »Aber der Fluch bleibt.« »Ich war frei, als ich ihn verfluchte.« Seine Augen blitzten stolz. »Sie werden wieder frei sein. Ich habe die Genehmigung, Sie zu Direktor Jarrett zu bringen. Dort wird gleich die Polizei eintreffen, um Prosper Elam in Empfang zu nehmen. Man braucht auch Ihre Aussage.« »Frei?« Er ließ dieses Wort auf der Zunge zergehen. »Endlich wieder frei sein? Bringen Sie mich zu Jarrett.« Ich verließ mit ihm die Zelle. Er schritt neben mir her und schwieg. Er mußte die plötzliche Veränderung erst verarbeiten. Aber er verarbeitete sie anders, als ich gehofft hatte. Als wir die 102
Treppe erreichten, versetzte er mir einen plötzlichen Stoß und rannte davon. »Sie können mich nicht zwingen, Mr. Kinsey«, schrie er wild. »Wie könnte ich mit dieser Schuld weiterleben? Mir bleibt nur der Tod. Die Wachen werden mich abknallen. Dann ist wenigstens alles überstanden.« Tatsächlich rannten ein paar Aufseher herbei und rissen ihre Pistolen aus den Taschen. »Nicht schießen!« brüllte ich entsetzt. Wenn Cedric Chiles starb, würde sein Fluch ewig fortbestehen. Nichts konnte Dub Elam dann noch erlösen. Er würde bis in alle Ewigkeit als mordender Zombie umgehen. Die Aufseher zögerten. Während der letzten Stunden hatten sie gelernt, meine Befehle zu akzeptieren. Doch Chiles rannte weiter. Er lief die Treppe hinauf, und dort würde er auf Männer der Wachmannschaft stoßen, die ihn für einen Ausbrecher hielten und die Wahrheit nicht kannten. Ein einziger Schuß besiegelte die Katastrophe. Ich mußte zu Roderic Jarrett. Von seinem Büro aus konnte der Direktor über die Lautsprecheranlage verhindern, daß auf den Verzweifelten geschossen wurde. Während ich mich schleunigst auf den Weg machte, brüllte ich unentwegt, daß keiner auf Chiles schießen dürfe. Ich bezweifelte aber den Erfolg dieser Warnung. Zum Glück war Chiles nicht nach unten geflohen. Wir würden ihn wieder einfangen. Dann mußten wir ihn nur davon überzeugen, daß er mit keiner weiteren Strafe zu rechnen hatte. Außer Atem erreichte ich die zweite Etage, in der ich Jarretts Büro wußte. Doch weiter kam ich nicht. Ich sah mich plötzlich einer Gestalt gegenüber, die mich aus milchigen Augen feindselig anstarrte. Dub Elam. Es sah nicht so aus, als behielte Cedric Chiles Recht. Der Untote war gekommen, um weiter zu töten, und er wollte sich auch durch mich nicht aufhalten lassen. 103
»Aus dem Weg, Mac Kinsey!« forderte er. »Nur über meine Leiche.« »Ein guter Vorschlag. Du ärgerst mich ohnehin schon zu lange. Ich hatte dich gewarnt. Jetzt bist du an der Reihe.« Ich glaubte es ihm. Ich blickte in seine gräßlichen Augen und erkannte dort das mir zugedachte Schicksal. Ich sah, wie ich blutüberströmt zusammenbrach, wie er mich anschließend packte und über das Treppengeländer in die Tiefe schleuderte. Danach rührte ich mich nicht mehr. Dub Elam lachte asthmatisch. »Du weißt jetzt, was Dir blüht. Du hast die Partie verloren.« Er richtete das Gewehr auf mich. Doch bevor ich direkt in die tödliche Mündung blickte, sprang ich ihn an und drosch ihm auf die Pfoten. Dabei schloß ich sekundenlang die Augen, denn ich konnte seinen furchtbaren Anblick kaum noch ertragen. Der Lauf sackte nach unten. Die abgefeuerte Kugel jaulte gegen das eiserne Treppengeländer. Dort prallte sie ab und kehrte als Querschläger zurück. Ich warf mich blitzschnell auf den Boden. Dadurch entging ich dem Geschoß und gleichzeitig dem Hieb mit dem Gewehrkolben. Dub Elam hatte nämlich die Waffe umgedreht und benutzte sie nun als Keule. Er war stärker als ich, das wußte ich. Ich durfte mich auf keinen Clinch mit ihm einlassen. Dann nahm er mich auseinander, wie seine Augen es versprochen hatten. Der Fluch. Jetzt konnte ich Chiles nicht mehr dazu bringen, ihn zu lösen. Der Flüchtende hatte das Ende der Treppe erreicht. Ich konnte sehen, wie er zu uns herunterstarrte. Ein paar Aufseher machten Jagd auf ihn. »Ihr dürft ihm nichts tun«, brüllte ich. »Er ist unschuldig.« Dann hatte ich wieder mit mir selbst genug zu tun. Ich mußte dem nächsten Hieb ausweichen, der im Falle eines Treffers mich zweifellos in zwei Hälften zerteilt hätte. 104
Der Gewehrkolben donnerte mit unvorstellbarer Wucht auf den Steinfußboden, aber er zerbrach nicht. Er war unverletzbar wie Dub Elam. Ich brachte mich durch ein paar schnelle Rückwärtsschritte in vorübergehende Sicherheit. Ich hatte noch einen Schuß. Damit konnte ich den Verfluchten zwar auch nicht töten, aber hoffentlich so verwirren, daß es mir gelang, ihn die Treppe hinunterzuwerfen. Wie es dann weiterging, wußte ich allerdings auch nicht. Aus den überall installierten Lautsprechern ertönte Roderic Jarretts mühsame Stimme. Er forderte die Aufseher auf, nicht auf Cedric Chiles zu schießen. »Chiles!« krächzte er. »Wir wissen jetzt, daß Sie das Mädchen nicht getötet haben. Alles war ein schrecklicher Irrtum. Kommen Sie herunter. Wir wollen über alles reden. Sie werden eine Entschädigung erhalten.« »Entschädigung?« kreischte Chiles. »Dafür, daß ich schuld bin an dem, was Elam getan hat? Für mich gibt es kein Zurück mehr. Ich will sterben. Ich habe den Tod verdient.« Er schwang sich über das Treppengeländer und stierte in die Tiefe. Einen Sturz aus dem sechsten Stockwerk würde er nicht überleben. Das wäre das Ende. Auch für mich. »Seien Sie vorsichtig, Chiles!« Ich fürchtete mich vor den nächsten Sekunden. Dub Elam ließ mir keine Zeit, mich um Cedric Chiles zu kümmern. Er griff an. Ich riß die Steinschloßpistole aus dem Gürtel. Sie war meine letzte Hoffnung. Meine einzige Silberkugel steckte in ihrem Lauf. Ich wich aus, um mich in eine bessere Position zu bringen. Dub Elam verfolgte mich. Hinter mir hieb er mit dem Gewehrkolben durch die Luft. Er zerteilte den Stoff meiner Jacke. Das war knapp gewesen. Jetzt stand ich wieder am Treppengeländer. Ich hoffte, daß er sprang. Dann würde ich ihn über die Reling gehen lassen. Doch den Gefallen tat er mir nicht. Er wälzte wie ein Rammbock 105
auf mich zu. Nicht sehr schnell, aber sehr gefährlich. Da drückte ich ab. Ich schrie vor Schmerzen auf. Die Pistole flog mir um die Ohren. Meine Hände bluteten. Diesmal hatte ich eindeutig zuviel Pulver genommen. Die kostbare, alte Waffe war zerfetzt. Aber die Kugel hatte doch noch ihr Ziel gefunden, wenn auch mit wenig Explosivkraft. Die war nach hinten losgegangen. Dub Elam wurde durch den Treffer gebremst. Er grinste teuflisch, während sein ganzer Körper zu glühen begann. Das hatte ich schon einmal erlebt. Ich wußte, daß das die einzige Wirkung war. Ich hatte meinen letzten Trumpf ausgespielt und damit verloren. Ich war mit voller Wucht gegen das Geländer geknallt. Mein Schädel brummte. Ich versuchte zwar, mich schleunigst wieder aufzurichten, doch der Zombie kam mir zuvor. Er hob das Gewehr und schlug erbarmungslos zu. Ich rollte mich zur Seite. Nicht weit genug. Der Kolben traf meine Schulter und lähmte den rechten Arm. Damit war ich hilflos. Ich konnte mich gegen den Mörderischen nicht mehr zur Wehr setzen. Dub Elam wußte das. Gehässig grinsend drehte er das Gewehr wieder um und richtete den Lauf auf mich. »Aus, Mac Kinsey!« schnarrte er. »Hier ist dein Weg zu Ende. Du wolltest mich stoppen, aber das kann keiner. Hörst du? Keiner!« Ich mobilisierte sämtliche Energien. Es klappte auch nicht. Ich war bewegungsunfähig. Er hatte mich geschafft. »Nein!« brüllte hoch über mir eine Stimme. »Ich will nicht, daß du ihn tötest, Dub Elam. Er war mein einziger Freund. Nur er hat mir geglaubt. Er darf nicht meinetwegen sterben. Ich nehme den Fluch von dir. Finde den Frieden, um den ich mich selbst gebracht habe.« Cedric Chiles ließ sich fallen. Es dauerte nur Augenblicke, bis er dicht an mir vorbeistürzte. Ich 106
sah seine Augen, die seltsam verklärt aussahen. Seine Rechte umklammerte das Kreuz, das er um den Hals trug. Dann erfolgte der Aufprall. Ich hatte ganz vergessen, auf Dub Elam zu achten. Mit ihm ging eine Veränderung vor. Die Wunde, die das Messer in seinem Schädel hinterlassen hatte, begann zu bluten. Seine milchigen Augen färbten sich dunkel. Sogar die Pupillen wurden wieder sichtbar, wenn sie auch starr waren. Das Gewehr entglitt seinen kraftlosen Händen. Er taumelte und stöhnte. Knapp vor mir brach er zusammen, bäumte sich ein letztes Mal auf und blieb danach ruhig liegen. Ich atmete auf. Ich hatte nicht mehr mit einer glücklichen Wende gerechnet. Glücklich? Cedric Chiles war tot. Sein zerschmetterter Leichnam wurde am Fuße des Treppenhauses geborgen. Er lächelte friedlich. Er hatte nur diesen Weg gesehen, sich von der Schuld zu befreien. Damit hatte er wohl recht gehabt. Er hatte mich seinen Freund genannt. Nur diesem Umstand hatte ich mein Leben zu verdanken. Ich erhob mich mühsam. Ich kann nicht sagen, daß ich mich gut fühlte. Die letzten Tage und Nächte und vor allem dieser Kampf hatten mich fertiggemacht, aber Kathleen würde mich mit ihren zärtlichen Händen schon wieder hinkriegen. Ich wollte nichts als schlafen. Doch zunächst mußte ich noch die Neugier der angerückten Polizei befriedigen. Immerhin erfuhr ich auch von ihr etwas Beruhigendes. Ein Suchhubschrauber hatte vor wenigen Minuten die Leichen von Murphy Choice und Hank Porter in einem Gebüsch mitten im Moor gefunden. Sie sahen aus, als wären sie an Unterernährung gestorben. Der Inspektor sah mich kopfschüttelnd an. »Mr. Jarrett hat mir ein paar verrückte Dinge über Sie erzählt«, sagte er gedehnt. »Ich hoffe, daß ich die sehr schnell wieder vergesse. Es könnte sonst passieren, daß ich auch noch anfange, an Geister und Vampire zu glauben. Mich interessiert nur, daß Sie den wahren Mörder der kleinen Eliza 107
zur Strecke gebracht haben. Dafür möchte ich Ihnen danken.« Auch Pater Graham Stanley ließ es sich nicht nehmen, mich zu beglückwünschen. Er sah kaum besser aus als ich, aber immer noch besser als die ganze Aufseherschar, die noch immer im Zweifel blieb, ob wirklich alles überstanden war. Roderic Jarrett blinzelte mir zu und deutete auf seine Teekanne. »Ob Sie wollen oder nicht, mein lieber Kinsey, diesmal haben Sie sich einen Beruhigungstee verdient. Ich habe ihn extra für Sie zusammengemixt.« Ohne meinen Einspruch abzuwarten, goß er eine Tasse voll und drückte sie mir in die Hand. Schlafen! dachte ich. Mit einem einzigen Zug leerte ich die Tasse und sah das grinsende Fettgesicht des Gefängnisdirektors nur noch verschwommen. Ich versteifte mich. Dann fiel ich der Länge nach um. Der Halunke hatte mir besten schottischen Whisky untergejubelt. Den war er mir auch schuldig. ENDE
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In vierzehn Tagen erhalten Sie den packenden Mc KinseyGruselthriller Nr. 14. Norman Thackery hat ihn geschrieben. Er heißt:
Ich stürmte die Dämonenburg � Hier eine kleine Kostprobe: Guinn Rankin fühlte kein Grauen vor dem, was er getan hatte. Es war die Schuld der anderen. Sie hatten ihn zu diesem Mord getrieben. Er hatte diesen ekelhaften, kalten Leichnam nicht gewollt. Er wollte nur das Geld. Aber der andere trug eine Waffe. Da hatte er ihn erschlagen. Der kleine, etwas gedrungene Mann mit dem blassen Gesicht sah den Toten teilnahmslos an. Er lag in einem Meer bunter Geldscheine. Die Tasche war aufgesprungen, als er sie ihm entreißen wollte. Das Schloß hatte nicht gehalten. »Warum hast du mir den Dreck nicht freiwillig gegeben?« murmelte er. »Nun hat keiner von uns was davon. Dich werden sie in eine Grube schmeißen und mich in ein Loch, das auch nicht gemütlicher ist als ein Grab.« Guinn Rankin richtete sich auf. Er wischte seine Hände an der Cordhose ab. Er tat das automatisch. Er wußte, daß er sich dadurch nicht reinwaschen konnte. Und er wollte es auch gar nicht. Wieso er? Schuld waren die anderen. Sie waren es, die Strafe verdienten. Das war seine Meinung. Guinn Rankin hörte die Polizeiklingel erst, als sie schon gefährlich nahe war. Er riß sich gewaltsam von seinen Gedanken los und sprang auf die Füße. Wild und entschlossen blickte er sich um. Nein! Sie sollten ihn nicht erwischen. Sie sollten sich an ihm die Zähne ausbeißen. Er würde zu Judge gehen. Jugde war sein Freund. Der würde ihm 109
helfen. Schließlich hatte auch er ihm oft unter die Arme gegriffen, wenn er in der Klemme saß. Das schrille Klingeln kam näher. Guinn Rankin griff mit beiden Händen mitten hinein in die Hundertpfundnoten. Er stopfte davon so viel in seine Taschen, wie Platz hatte. Dann schwang er sich aus dem Fenster und sprang auf der anderen Seite in die Tiefe. Judge Warner starrte ihn wie einen Geist an. »Ermordet?« keuchte er. Guinn Rankin nickte. »Du mußt mir helfen, Judge«, stieß er atemlos hervor. Judge sah den anderen an, als begriffe er ihn nicht. »Du hast einen Mann erschlagen?« Soweit die Leseprobe aus dem neuen Mac Kinsey-Gruselthriller, den Sie in 14 Tagen erhalten. Dann ist wahrlich wieder Kinsey-Time!
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