Nr. 147
Im Bann der Hohlwelt Sie haben den Weltraum vergessen - eine fremde Macht zwingt sie dazu von Ernst Vlcek
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Nr. 147
Im Bann der Hohlwelt Sie haben den Weltraum vergessen - eine fremde Macht zwingt sie dazu von Ernst Vlcek
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Anfang Mai des Jahres 2843. Lordadmiral Atlan hat bei seinem Einsatz auf dem Planeten Karagam den geraubten Zellaktivator noch gerade rechtzeitig zurückgewonnen. Der kopierte Bewußtseinsinhalt des jungen Kristallprinzen Atlan, der Körper und Geist des Springers Curs Broomer übernommen und quasi vergewaltigt hatte, existiert nicht mehr. Auch der Körper Broomers ist tot – und damit ist eine Episode beendet, die nicht nur in Kreisen der USO beträchtliche Unruhe und Aufregung verursacht hatte. Doch schon vor diesem Zeitpunkt hat sich eine neue Krise angebahnt, die Lordadmiral Atlans Organisation zum sofortigen Eingreifen veranlaßt. Ausgangspunkt dieser Krise ist das Tiffak-System, ein Sonnensystem in der Eastside der Galaxis. Hier, und zwar auf der Welt Komouir, sind wertvolle Schwingkristalle entdeckt worden. Die Entdeckung hat sofort bei allen Prospektoren und Glücksrittern in der Nähe einen wahren Run ausgelöst. Die USO und das Solare Imperium haben dabei das Nachsehen, denn sie sind nicht frühzeitig genug informiert worden. Auch Froom Wirtz, der in der Nähe von Komouir tätige Instinkt-Spezialist der USO, hat nicht auf seinen Aktivierungsbefehl reagiert. Er kann es gar nicht, denn er lebt IM BANN DER HOHLWELT …
Im Bann der Hohlwelt
3
Die Hautpersonen des Romans: Froom Wirtz - Ein Instinkt-Spezialist unter Besessenen. Helvin Proterrand - Wirtz' Fluchtgefährte. Vianna, Gombard und Spindel - Bewohner von Menschende. Dr. Algiaro - Ein Galaktischer Mediziner. Dr. Arlon Petheys - Chef einer Dschungelstation. Gragmor Teiger - Ein exzentrischer Jäger.
1. Froom Wirtz wollte gerade seine Runde um das Ausgrabungsgelände machen und dabei die drei Wachposten kontrollieren, als sein Sprechfunkgerät anschlug. Er schaltete auf Empfang, und sofort hörte er Spindels aufgeregte Fistelstimme aus dem Lautsprecher: »Wir haben es geschafft! Wir sind bis zur Stadtmauer vorgedrungen!« »Was seid ihr?« fragte Wirtz, weil er glaubte, sich verhört zu haben. »Wir sind an der Stadtmauer. Keine hundert Meter unter Tag. Sie ist glatt und fugenlos!« Wirtz runzelte die Stirn. Spindel war nicht gerade ein großes Gaslicht, aber er mußte doch wissen, daß sie nach einem abgestürzten Raumschiff gruben. Was sollte also der Blödsinn mit der Stadtmauer? Wirtz hatte die seltsame Nachricht noch nicht verarbeitet, als eine zweite Meldung über Sprechfunk kam. Diesmal aber nicht von Spindel. »Tunnel drei stürzt ein! Zwei der Antigravprojektoren sind ausgefallen … Die anderen sind der steigenden Belastung nicht gewachsen … Rette sich, wer kann!« Gleich darauf begann die Alarmsirene zu heulen. Ihr durchdringender Ton gellte über die Lichtung und war selbst noch in der einen Kilometer entfernten Siedlung zu hören. Ohne lange zu überlegen, rannte Wirtz los. Dabei entledigte er sich des Impulsstrahlers, der ihm beim Laufen hinderlich war. Er erreichte den nächstliegenden Tunnel und stieß zwei Schatzgräber beiseite, die
wie versteinert dastanden und den Weg zum Förderwagen verstellten. Wirtz sprang auf den Zugwagen und fuhr los. Der starke Lichtstrahl der Scheinwerfer teilte das Dunkel des Tunneleingangs. Einige Gestalten tauchten darin auf. »Zurück!« schrie jemand aus dem schräg in die Tiefe führenden Tunnel, aber Wirtz ließ sich nicht davon beirren. Im Licht des Scheinwerfers sah er, wie drei Gestalten von den Schienen sprangen, als der Förderwagen auf sie zugeschossen kam. Dann war Wirtz vorbei. Aus der Tiefe des Stollens kamen aufgeregte Stimmen und ein tiefes Grollen. Der Wagen stieß in eine Staubwand, und Wirtz sah nun überall Sprünge an den Wänden, die sich wie Blitze verästelten und ausbreiteten. Von der Decke rieselte der Sand. Drei verschmutzte Schatzgräber kamen ihm entgegen. Zwei von ihnen konnten sich selbst auf den Beinen halten, den dritten mußten sie stützen. Einer gab Wirtz durch Handzeichen zu verstehen, daß er den Wagen stoppen sollte. Doch davon wollte Wirtz immer noch nichts wissen. Der Wagen raste in halsbrecherischem Tempo an den dreien vorbei. Als der Tunnel eine leichte Kurve beschrieb und Wirtz die Fahrt abbremsen mußte, kam von den Plastikträgern, die die Decke und die Wände abstützten, ganz plötzlich ein furchterregendes Geräusch. Wirtz sah, wie sich eine der Plastikstützen durchbog. Er bremste den Förderwagen ab. Da er ihn jedoch wegen der hohen Geschwindigkeit nicht mehr zum Stillstand bringen konnte, sprang er einfach ab. Das rettete ihm das Leben. Einige Plastikstützen brachen fast gleich-
4 zeitig, der Boden senkte sich an verschiedenen Stellen, und die Decke stürzte ein. Der Wagen wurde unter den Gesteinsmassen begraben. Um Wirtz wurde es dunkel. Er kroch auf allen vieren den Stollen zurück und schlug sich nach etwa vier Metern in einen Seitentunnel. Hier schienen die Stützen noch zu halten, und die Luft war relativ staubfrei und atembar. Er sah vor sich ein Licht aufblitzen und rief seinen Namen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Strahl eines Scheinwerfers richtete sich auf ihn und die Fistelstimme Spindels, des dünnsten Ertrusers im Universum ertönte: »Was machst du hier unten, Goldjunge? Warst du nicht …?« »Das ist jetzt unwichtig«, unterbrach ihn Wirtz. Er erreichte den Ertruser, der 2,50 Meter groß, aber so dürr wie ein Ara war – deshalb auch der Spitzname »Spindel«. Wirtz nahm ihm die Taschenlampe ab und leuchtete in den in die Tiefe führenden Stollen hinunter. Eine dichte Staubwand verdeckte die Sicht. Verschmutzte, verwundete und fluchende Männer tauchten daraus auf. »Was ist die Ursache für den Einsturz?« fragte Wirtz. Ein kleiner Schatzgräber mit einem roten, zottigen Bart gab ihm die Antwort. »Wir waren gerade dabei, die Stadtmauer freizulegen, als plötzlich überall der Boden einstürzte. Wohlgemerkt, nicht die Decke kam auf uns herab, sondern der Boden sank unter unseren Füßen ein. Dafür gibt es nur eine Erklärung …« Aus der Tiefe des Stollens drang ein markerschütternder Schrei zu ihnen herauf. Die um ihr Leben laufenden Schatzgräber wurden noch schneller. Wirtz sah sie der Reihe nach an. Als sein Blick auf einen Strahler fiel, den ein Schatzgräber im Gürtel stecken hatte, nahm er ihn ihm einfach ab und stürzte sich unerschrocken in die näherrückende Staubwand.
Ernst Vlcek »Goldjunge, das ist Selbstmord!« rief Spindel ihm nach. Wirtz folgte den Schreien; sie kamen von ganz nahe. Als sich der Staub etwas lichtete, fiel der Strahl der Taschenlampe auf zwei Wesen, die miteinander auf Leben und Tod rangen. Das eine war ein Schatzgräber namens Helvin Proterrand. Das andere war ein Wühltiger. Diese Wildkatzen, einen Meter lang, mit sechs sehnigen Beinen, scharfen Krallen und einem langgezogenen Schädel, der vorne in drei mächtigen Hörnern endete, hatten ihren Namen einesteils ihren Körperstreifen zu verdanken, die an irdische Tiger erinnerten; andererseits konnten sie mit ihren drei Kopfhörnern schnell und mühelos Stollen durch den Planetenboden treiben. Sie lebten, wenn sie sich nicht gerade auf Raubzug begaben, in weitverzweigten Höhlensystemen. Den Schatzgräbern waren sie schon oft gefährlich geworden, wenn sie beim Graben der Stollen den Unterschlupf einer dieser Raubkatzen kreuzten. Jetzt war Wirtz auch klar, warum es zum Einsturz von Stollen drei gekommen war. Dafür konnte nur die Wühlarbeit dieser Raubkatzen verantwortlich sein. Doch Wirtz hatte keine Zeit, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Er sprang dem Wühltiger auf den Rücken, der Helvin Proterrand unter sich begraben hatte und mit den scharfen Krallen gerade nach der Kehle des Schatzgräbers schlagen wollte. Der Wühltiger versuchte, sich von dem Gewicht des neuen Angreifers zu befreien. Es gelang ihm auch durch einige schlangenartige Körperbewegungen. Doch als er sich dem neuen Feind zuwenden wollte, traf ihn der tödliche Energiestrahl aus Wirtz' Waffe und trennte ihm den Schädel vom Rumpf. Helvin Proterrand richtete sich stöhnend auf. Im Licht der Taschenlampe sah Wirtz, daß er aus unzähligen Körperwunden blutete. Helvins hübsches Gesicht war furchtbar zugerichtet. Er versuchte ein Grinsen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch noch
Im Bann der Hohlwelt bevor ein Ton über seine Lippen kam, verlor er das Bewußtsein. Wirtz lud ihn sich auf die Schulter und stieg mit seiner Last den steilen Stollen hinauf. Nach wenigen Metern kam ihm Spindel entgegen und nahm ihm den Bewußtlosen ab. »Er lebt noch«, sagte Wirtz keuchend. »Es hätte aber nicht viel gefehlt, und die Wühltiger hätten mit euch beiden fröhliche Mahlzeit gehalten«, sagte Spindel. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, kamen sie ins Freie. Die Schätzgräber umstanden den Stolleneingang und diskutierten das Ereignis. Die Stimmung reichte von Erleichterung darüber, daß man mit dem Leben davongekommen war, bis zu bitterer Enttäuschung, weil nun die Arbeit vieler Tage auf einen Schlag zunichte gemacht worden war. Helvin Proterrand wurde auf eine primitive Trage gelegt und auf einen Geländewagen geladen. »Ich fahre den Wagen selbst«, beschloß Wirtz. »Ihr könnt für heute auch Schluß machen. Bis auf die Wachen könnt ihr alle zu euren Familien zurückkehren. Morgen sehen wir dann weiter.« In Wirtz' Geländewagen stiegen noch Spindel und zwei weitere Schatzgräber zu. Die anderen machten sich zu Fuß auf den Weg in die tausend Meter entfernte Siedlung. In Menschende angekommen, wie diese kleine Kolonie aus dreihundert Menschenseelen inmitten des Dschungels von WigaWigo hieß, steuerte Wirtz den Wagen zum Hause von Dr. Algiaro. Er bat seine Begleiter, den Verwundeten zum Arzt zu bringen, weil er keine Zeit hatte, dies selbst zu übernehmen. Noch bevor sich eine größere Menge Schaulustiger angesammelt hatte, fuhr Wirtz davon, um nicht den bohrenden Fragen der Neugierigen ausgeliefert zu sein. Er fuhr zu seinem Blockhaus, das im Süden lag und das letzte auf der Hauptstraße von Menschende war.
5 Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß ihm nur noch eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit Vianna blieb. Er mußte sich beeilen, wenn er sich den Dreck der Stollen abwaschen und rechtzeitig zu seinem Rendezvous kommen wollte.
2. Froom Wirtz war nicht gerade das, was man eine stattliche Erscheinung nennen konnte, und er sah auch nicht aus wie ein Abenteurer und Draufgänger. Aber er besaß das »gewisse Etwas«. Es störte ihn nicht, daß er nur 1,70 Meter groß war. Sein kleiner Wuchs und sein schlanker Körperbau, der ihn fast zerbrechlich wirken ließ, hatten ihm bisher noch keine Nachteile beschert. Seine Gesichtshaut war beinahe so glatt wie die eines Kindes, so daß es einen Beobachter verwundern mochte, wie in diesem glatten Gesicht ein Schnurrbart wachsen konnte. Wenn Wirtz lächelte, dann zeigte er etwas hervorstehende, breite Schneidezähne, dann erschienen überall in der Glätter seines Gesichtes kleine Fältchen, die eigentlich die einzigen Zeugnisse für ein wild bewegtes, abenteuerliches Leben waren. Aber in bestimmten Situationen, wenn es hart auf hart ging, dann zeigte er, was in ihm steckte. Neben seiner überragenden Intelligenz besaß er Zähigkeit und Ausdauer. Wenn er etwas in die Hand nahm, dann vollendete er es auch. Er ging stets auf dem geradesten Weg und ohne Rücksicht gegen sich selbst auf sein Ziel los. Bisher hatte er es immer erreicht. Und so würde es auch mit dem fremden Raumschiff sein. Er würde es bergen! Er erinnerte sich wieder an den Tag vor einem Monat, als alles begonnen hatte. Er hatte damals die Nase voll vom Deylight-System und vor allem vom Planeten Wiga-Wigo gehabt, auf dem er nun schon seit fünf Jahren festsaß. Sein Entschluß, das nächstbeste Raumschiff zu besteigen und ei-
6 ne möglichst große Strecke zwischen sich und Wiga-Wigo zu bringen, stand fest. Das einzige, was ihm zur Durchführung seines Planes fehlte, war ein Raumschiff, das auf dieser entlegenen Pionierwelt landete. Und da auch keines der auf Wiga-Wigo liegenden Raumschiffe für die nächste Zeit einen Start vorsah, blieb Wirtz nichts anderes übrig, als sich in Brantonfeyn, der Hauptstadt von Wiga-Wigo zu langweilen. Der Zufall wollte es, daß ihm Spindel über den Weg lief. Wirtz lernte den Ertruser in einer Bar kennen, und nach einigen Gläsern Schnaps hörte Wirtz von dem aus der Art geschlagenen Umweltangepaßten eine interessante Geschichte. Er lebe mit etwa dreihundert Menschen in der Urwaldsiedlung Menschende, die sich bisher von dem Erlös aus Tierfellen und dem Ertrag aus kleinen Plantagen ernährt hatten, sagte Spindel. Jetzt würde sich das aber alles ändern, denn man habe tief unter der Oberfläche ein Ding geortet, das nur ein Raumschiff sein konnte. Es mußte schon vor Jahrhunderten hier gestrandet sein und von einer unbekannten Fremdrasse stammen. Spindel hatte mit einigen anderen Siedlern die 12.000 Kilometer zur Hauptstadt nur zurückgelegt, um all die Geräte einzukaufen, die man für die Bergung des Raumschiffs brauchte. Als Wirtz sich ungläubig stellte, legte der spindeldürre Ertruser eine Liste vor, auf der tatsächlich eine umfangreiche Schürfausrüstung verzeichnet war. Und Spindel konnte auch eine Kreditkarte vorweisen, die einen Wert von 100.000 Solar repräsentierte. Damit konnte man ein kleineres Bergwerk ausrüsten. Wirtz begann sich für die Sache zu interessieren. Zuerst stieß er bei Spindel und dessen Begleitern jedoch auf Ablehnung. Erst als er ihnen klarmachen konnte, daß er ein erfahrener Schatzsucher, ja, ein Experte auf diesem Gebiet war und ihnen obendrein einzureden verstand, daß sie ohne ihn überhaupt nicht auskommen konnten, nahmen sie ihn nach Menschende mit. Die Siedler empfingen den Fremden nicht
Ernst Vlcek gerade freundlich. Es waren mißtrauische Pioniere, Fallensteller, Jäger und Waldläufer, denen Wirtz erst versichern mußte, daß er sich nicht an der zu erwartenden Beute beteiligen wolle, sondern daß er für seine Unterstützung keine Gegenleistung erwarte. Es fiel dann Wirtz nicht mehr schwer, das Vertrauen der Siedler zu gewinnen, denn er sprach ihre Sprache. Und unter seiner Leitung gingen die Bergungsarbeiten rasch voran. Zwar gab es immer wieder Rückschläge, aber Wirtz hoffte, daß sie in einigen Tagen in das fremde Raumschiff eindringen konnten. Es war ein Riesending und barg sicherlich ungeheure Kulturschätze einer unbekannten Rasse, die alle Bewohner von Menschende reich machen würden. Inzwischen hatte man Wirtz eine Beteiligung angetragen. Aber daran war er nicht interessiert. Wenn er seine Aufgabe erfüllt hatte, wollte er nach Brantonfeyn zurückkehren und mit dem nächsten Raumschiff Wiga-Wigo verlassen. Er würde keine Sekunde länger als nötig in dieser Dschungelsiedlung aushalten. In dem einen Monat seines Aufenthalts hatte er jeden der Siedler kennengelernt. Er kannte jede Hütte in und auswendig und jeden Stein innerhalb der Dschungellichtung. Nein, das hier war kein Leben für ihn. Vielleicht würde Menschende durch den Fund des fremden Raumschiffs noch berühmt werden. Vielleicht war in einigen Jahren der Dschungel bis zum Horizont zurückgedrängt, und an dieser Stelle stand eine moderne Metropole. Abgesehen davon, daß diese Aussichten für Wirtz eher erschreckend als verlockend waren, würde er in diesem Fall hierher zurückkehren können. Wirtz fiel der Abschied nicht schwer. Er wäre ihm aber noch leichter gefallen, wenn Vianna nicht gewesen wäre. Er wußte nicht genau, wie er es ihr beibringen sollte, daß er sie verlassen wollte.
* Nachdem Wirtz gebadet und sich umge-
Im Bann der Hohlwelt zogen hatte, verließ er sein Haus, daß man ihm für die Dauer seines Aufenthalts kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Um zum Anwesen von Viannas Bruder zu gelangen, hätte Wirtz nur die Hauptstraße ein Stück hinuntergehen zu brauchen und wäre nach zweihundert Metern am Ziel gewesen. Aber er mied die Hauptstraße und ging um die Siedlung herum. Er wollte den Menschen aus dem Weg gehen, um nicht in Unterhaltungen verstrickt zu werden. Sicherlich würden sie ihn über die Ereignisse im Stollen ausfragen, und das behagte ihm nicht. Aber es spielte noch etwas anderes mit, warum er den Menschen auswich. Es war eine nicht erklärbare Ahnung, die ihm sagte, daß es besser war, wenn er sich heute auf keine Gespräche mehr einließ. Als er zu dem fast luxuriös zu nennenden Fertighaus am Rande der Siedlung kam, das Vianna mit ihrem Bruder bewohnte, war die Dämmerung bereits hereingebrochen. Im Haus brannten die Lichter. Durch eines der Fenster sah er Gombard Moriod, wie er sich mit jemandem unterhielt, den Wirtz aber nicht erkennen konnte. Gombard war etwa 35 Jahre alt und Jurist. Er hatte in Menschende das Amt des Richters inne und war bei allen Pionieren beliebt. Wirtz war froh, ihn zum Freund zu haben, denn bei seiner abenteuerlichen Lebensweise konnte er nie wissen, ob er nicht einmal die Freundschaft eines Richters brauchen würde. »Froomy!« An der Eingangstür war eine Bewegung, und dann kam ein Mädchen in einem hüftlangen Seidenumhang und ausgestellten Kniehosen die Treppe herunter und auf ihn zugelaufen. Er breitete die Arme aus und fing Vianna auf. Sie war schlank, gut proportioniert und hatte rotblondes Haar, das sie meist zu kunstvollen Frisuren aufgetürmt trug. Jetzt hing es ihr aber lose über die Schultern. Sie küßte Wirtz und blickte ihn dann überglücklich an.
7 »Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß dir nichts zugestoßen ist«, sagte sie, und ein Schatten huschte über ihr hübsches Gesicht. »Wie leicht hättest du in einem der Stollen verschüttet werden können. Alle sprechen nur davon, wie heldenhaft du dich benommen hast, als du Helvin rettetest. Aber es war leichtsinnig von dir …« »Ich konnte Helvin doch nicht im Stich lassen«, erwiderte er und wechselte dann schnell das Thema. Er deutete zum Haus hinüber. »Was ist heute bei euch los? Gibt Gomb ein Fest?« »Er hat einige von den einflußreichen Siedlern eingeladen«, antwortete Vianna, »die die Hauptfinanzierung der Ausgrabungsarbeiten übernommen haben. Sie sprechen die ganze Zeit über nichts anderes als von den Schätzen, die ihr heben werdet. Bis du kamst, habe ich mich furchtbar gelangweilt. Ich bin froh, daß du endlich da bist und ich das Haus verlassen konnte. Oder willst du hinein?« »Nein«, wehrte Wirtz ab. »Ich möchte mit dir allein sein. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.« »Warum denn auf einmal so feierlich?« »Komm. Gehen wir ein Stück.« Sie schlenderten über den gepflegten und mit exotischen Blumen übersäten Rasen. Am Rande des Dschungels kletterten sie auf einen der knorrigen Urwaldriesen. Vianna kuschelte sich in eine starke Astgabel. Wirtz setzte sich vor sie hin. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, obwohl er ihre erwartungsvollen Blicke auf sich gerichtet fühlte. »Küß mich. Froomy, das befreit dich von deinen Hemmungen.« Er tat es. »Via«, begann er, nachdem er sich von ihr gelöst hatte, »du kennst mich erst seit vier Wochen und weißt überhaupt nichts über mich.« »Mir genügt, was ich weiß.« »Nein. Um zu verstehen, was ich dir zu sagen habe, muß ich dir erst einiges über mein Vorleben erzählen.« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen
8 und lächelte schalkhaft. »Sage nichts, was du später bereuen könntest. Vergiß nicht, ich bin die Tochter eines Gesetzeshüters, und alles, was du aussagst, könnte gegen dich verwendet werden.« »Ich habe schon oft mit einem Bein im Gefängnis gestanden, aber etwas wirklich Ehrenrühriges habe ich nie getan. Ich bin ein Abenteurer, überschreite aber nie die Grenze der Legalität.« »Etwas anderes habe ich von dir auch nie angenommen. Ist das alles was du mir erzählen wolltest?« »Es war nur die Einleitung. Ich möchte dir etwas anderes verständlich machen. Ich … bin kein Mann, den es lange an einem Ort hält. Ich habe kein Sitzfleisch. Wenn ich zu den Sternen aufsehe, dann packt mich das Fernweh. Das hört sich geschwollen an, ich weiß, aber irgendwie trifft es zu. Ich kann nicht lange auf einer Welt bleiben, einige Jahre vielleicht, aber dann muß ich wieder weiter, neue Planeten erforschen … Jeder Planet ist für mich ein neues Abenteuer. Auf Wiga-Wigo war ich schon viel zu lange. Ich wäre schon längst fort, wenn ich nicht nach Menschende gekommen wäre und dich getroffen hätte. Ich glaubte, du … Via, kannst du mich verstehen? Ich kann einfach nicht mehr länger auf Wiga-Wigo bleiben. Ich werde mit dem nächsten Raumschiff von hier fortfliegen.« Er atmete auf. Jetzt hatte er es hinter sich, und ihm war wohler. Als Vianna schwieg, griff er nach ihrer Hand und sagte: »Sei mir nicht böse, liebe Via. Aber – kannst du mich wenigstens ein bißchen verstehen?« Er rechnete mit Tränen, mit einem Wutausbruch oder mit einer ähnlichen Reaktion. Aber statt dessen lachte sie. »Froomy – was bist du nur für ein verrückter Kerl.« »Wie meinst du das?« fragte er irritiert. »Ich habe fast den Verdacht, daß du mich nicht ernst nimmst.« »Wie sollte ich auch«, meinte sie immer
Ernst Vlcek noch lachend. »Ich verstehe nicht einmal ein Wort von dem, was du sagst. Ach, was bist du verrückt!« »Via, ich habe gesagt, daß ich von WigaWigo fortfliegen werde. Begreifst du denn nicht?« Sie nickte. »Ich habe es gehört – aber begreifen?« Sie blickte zu den Sternen des Nachthimmels hinauf. »Dort willst du hin? Wie denn – und was willst du tun, wenn du bei den winzigen Lichtern bist? Froomy, das sind doch nur Träumereien. Verlange nicht, daß ich sie ernst nehmen soll. Du willst mich zum Narren halten.« »Keineswegs, Via, ich …« »Weißt du, was ich mich frage, wenn ich zum Himmel aufblicke? Ich wundere mich, warum man die andere Seite der Welt nicht sehen kann.« »Die andere Seite der Welt?« fragte er schmunzelnd. »Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Wiga-Wigo ist rund.« »Eben«, sagte sie und nickte bekräftigend. »Da unsere Welt rund ist, müßte man am Himmel die andere Seite sehen. Aber die Wissenschaftler haben bestimmt eine Menge Erklärungen dafür, warum man statt dessen nur Schwärze sieht. Ebenso wie sie sich die Sonnenfinsternis der Nächte so erklären, daß ein größerer Himmelskörper die Sonne umkreist und sie in regelmäßigen Zeitabständen abdeckt. So einfach ist das.« »Ich muß gestehen, ich finde es sehr kompliziert«, sagte Wirtz. »Jetzt ist die Reihe an mir, zu sagen, daß ich kein Wort verstehe. Aber das ist auch gar nicht nötig. Mein Entschluß steht fest. Wenn wir in das abgestürzte Raumschiff eingedrungen sind, fliege ich zum Raumhafen von Brantonfeyn und verlasse Wiga-Wigo mit dem nächsten Schiff.« Jetzt wurde Vianna ungehalten. »Ich höre immer Raumschiff. Wonach ihr grabt, Froomy, das ist eine versunkene Stadt! Ihr wollt die Kulturschätze einer versunkenen Stadt bergen.« Wirtz sah sie mit großen Augen an. »Wieso kommst du darauf, daß es sich um
Im Bann der Hohlwelt eine versunkene Stadt handelt?« wollte er wissen. »Es ist eben eine versunkene Stadt. Was sollte es sonst sein? Ein Raumschiff? Was stellst du dir denn darunter vor?« »Unter einem Raumschiff stelle ich mir einen Flugkörper vor«, sagte er langsam, »mit dessen Hilfe man die Leere des Raumes und die Entfernungen zu anderen Planeten überbrücken kann.« »Was für ein Unsinn, Froomy«, sagte sie ungehalten. »So etwas kann es nicht geben. Weder Raumschiffe, noch andere Planeten, die man anfliegen könnte. Es gibt nur unsere Welt, an der Innenseite der Kugel, in deren Mitte unsere Sonne steht, die von dem schwarzen Trabanten und unzähligen kleinen Leuchtkörpern umkreist wird. Ich verstehe nicht, warum du mir etwas anderes einreden willst.« »Glaubst du wirklich an das, was du sagst, Via?« »Ich muß es wohl, denn ich habe es in der Schule gelernt«, antwortete sie schnippisch. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was soll das alles. Ich habe mir eigentlich ein romantischeres Gesprächsthema erwartet, wenn wir schon einmal allein sind.« Froom Wirtz war aber nicht bereit, das Thema zu wechseln. Er wollte herausfinden, ob sie ihn nur zu narren beabsichtigte, oder ob sie wirklich an die Hohlwelttheorie glaubte. Er fragte sie, ob ihr vielleicht Spindel eingeredet hätte, daß es sich bei dem abgestürzten Raumschiff um eine versunkene Stadt handle, worauf sie antwortete, daß er es heute bestimmt nicht getan hätte und sie von Anfang an gewußt habe, daß es sich um eine versunkene Stadt handle. Nach und nach fand Wirtz heraus, daß Vianna fest an das glaubte, was sie sagte. Sie war überzeugt, daß Wiga-Wigo eine Hohlwelt sei und daß deshalb keine anderen Welten existierten und es keine Raumfahrt geben könne. Da Wirtz mit ihr auf keinen befriedigenden Nenner kam, bat er sie:
9 »Würdest du das alles in Gegenwart einer dritten Person wiederholen, Via?« »Ich weiß nicht, was dieses Theater soll. Aber meinetwegen, wir können zu Gombard gehen und ihn damit belästigen.« »Nein, für heute ist genug damit. Wir wollen ja wirklich keine Staatsaffäre daraus machen. Aber gleich morgen früh gehen wir zu Dr. Algiaro. Er wird bestimmt eine Möglichkeit sehen, dir deine echte Erinnerung zurückzugeben. Es wäre aber besser, wenn du mit Gombard darüber nicht sprichst. Er würde sich nur unnötige Sorgen machen.«
3. Froom Wirtz hatte sich um zehn Uhr vormittag mit Vianna bei Dr. Algiaro verabredet. Da er aber schon um neun fertig war, beschloß er, zum Lagerhaus der Bergungsgesellschaft zu gehen und nach dem Rechten zu sehen. Er wollte im Büro die Nachricht hinterlassen, daß er heute etwas später zur Ausgrabungsstelle hinauskommen würde. Die Bergungsgesellschaft war nach der Entdeckung des vermeintlichen Raumschiffswracks in aller Eile gegründet worden. Ihr standen jene Bürger von Menschende vor, die die Bergung des Raumschiffs finanzierten. Gombard, Viannas Bruder, war ihr Präsident. Wirtz hätte sich diesen Weg gerne erspart, aber die Vorfälle des gestrigen Tages machten es notwendig, daß er sich zumindest kurz im Büro blicken ließ. Menschende war nicht so groß, daß er sich wenigstens für einige Stunden hatten verkriechen können. Er hatte noch immer, wie schon gestern, eine unerklärliche Scheu davor, sich auf Gespräche einzulassen. Er befürchtete, sich dabei auf Glatteis zu begeben. Sein Instinkt trog ihn nicht, denn hatte nicht auch der Dialog mit Vianna einen seltsamen Verlauf genommen? Was war nur in das Mädchen gefahren? Wie war es möglich, daß sie plötzlich alles über die Raumfahrt und die Sterne vergaß und zu einer Verfechterin der Hohlwelttheo-
10 rie wurde? Wiga-Wigo eine Hohlwelt – was für eine Schnapsidee! Wirtz hatte das Lagerhaus fast erreicht, als Spindel aus dem Büro ins Freie kam. Der spindeldürre Ertruser wollte sich einem Geländewagen zuwenden, als er Wirtz erblickte. »Da bist du ja, Goldjunge!« rief er mit seiner Fistelstimme. »Ich wollte gerade bei dir vorbeischauen und dich mit zur versunkenen Stadt nehmen. Vor uns liegt heute noch eine Menge Arbeit.« »Ich kann nicht mitkommen«, sagte Wirtz mit belegter Stimme. Es hatte ihm einen Stich versetzt, als Spindel schon wieder das Raumschiff eine versunkene Stadt nannte. »Ihr müßt einige Stunden ohne mich auskommen«, fuhr Wirtz fort. »Ich habe hier noch etwas Wichtiges zu erledigen. Du wirst den Laden solange ohne mich schaukeln müssen, Spindel.« Der entartete Ertruser nickte. »Wir werden eben mit der Freilegung der verschütteten Stollen warten, bis du zurück bist. Was hast du hier so Dringendes zu tun? Ist es wegen Helvin?« »Wieso wegen Helvin?« fragte Wirtz argwöhnisch. »Hat sich sein Zustand verschlechtert?« »Nein, Dr. Algiaro sagte, daß er gesundheitlich bald wieder hergestellt sein werde. Aber er machte ein so seltsames Gesicht dabei, daß ich mir dachte, er wolle mir etwas verheimlichen. Es könnte ja sein, daß mit Helvin was ist, das er nur dir sagen möchte. Hat er dich denn nicht benachrichtigt?« »Nein.« »Dann ist es ja gut.« Spindel machte eine schlenkernde Armbewegung. »Ich werde also hinausfahren.« »Einen Moment noch, Spindel«, sagte Wirtz. Er spürte plötzlich eine seltsame Beklemmung. Bevor er weitersprechen konnte, mußte er erst einmal schlucken. Spindel sah ihm erwartungsvoll entgegen. »Ja?« »Wieso sprichst du seit gestern abend
Ernst Vlcek dauernd von einer versunkenen Stadt?« fragte Wirtz schließlich. »Du weißt so gut wie ich, daß es sich um ein Raumschiff handelt. Oder hat man Funde gemacht, aus denen sich schließen läßt, daß es sich um eine Stadt handelt? Ich weiß davon jedenfalls nichts.« Spindel wurde unsicher. »Nein, über irgendwelche Funde ist mir auch nichts bekannt.« »Wieso sprichst du dann ständig von einer versunkenen Stadt? Du erinnerst dich doch daran, daß du es auch schon gestern getan hast.« »Klar.« Spindel lachte zaghaft. »Ich rede doch von nichts anderem als von der versunkenen Stadt, weil wir alle danach graben. Worum sollte es sich denn handeln?« »Um ein abgestürztes Raumschiff.« »Ach so – ja, du sagtest es schon einmal. Um ein Raumschiff.« Spindel verzog sein Gesicht und seufzte. »Ich will mich ja gar nicht mit dir streiten, Goldjunge. Verstehe mich richtig. Aber – was, zum Henker, stellst du dir unter einem Raumschiff vor?« Zuerst war Wirtz sprachlos, dann wurde er wütend. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Spindel«, sagte er verärgert. Als er jedoch in das Gesicht des Ertrusers blickte, kamen ihm Zweifel. Langsam sagte er: »Willst du vielleicht behaupten, daß du wirklich nicht weißt, was ein Raumschiff ist?« »Sollte ich es wissen?« fragte Spindel. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht – bin ich verrückt geworden, oder bist du es?« Wirtz machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vergiß es, Spindel. Sage den Jungs, daß ich bald nachkomme.« Er wandte sich dem Haus des Arztes zu.
* Die dreihundert Bewohner von Menschende waren stolz darauf, daß ihr Arzt ein Ara war. Die Verdienste der Aras auf dem
Im Bann der Hohlwelt Gebiete der Medizin waren unbestritten, und es sprach wohl auch für sich, daß das MedoCenter der USO auf Tahun in der Hauptsache von Aras geleitet wurde. Aber so tüchtige Ärzte die Aras in der Mehrzahl waren, es gab auch unter ihnen Ausnahmen. Und eine dieser Ausnahmen war Dr. Algiaro. Wirtz kannte ihn von früher, als er noch in Brantonfeyn praktiziert hatte und er wußte auch, warum Dr. Algiaro die Annehmlichkeiten der Zivilisation mit einer Praxis in dieser Dschungelsiedlung vertauscht hatte. Doch das gehörte nicht hierher. Wahrscheinlich befürchtete Dr. Algiaro, daß Wirtz sein Vorleben aufdecken könnte. Das lag Wirtz jedoch fern. Abgesehen davon, daß die Bewohner von Menschende froh sein mußten, überhaupt einen Arzt zu haben, war Wirtz davon überzeugt, daß Algiaro zumindest als Psychologe den Vergleich mit seinen Kollegen nicht zu scheuen brauchte. Deshalb hatte er auch nicht gezögert, ihm Vianna anzuvertrauen. Dr. Algiaro öffnete ihm selbst die Tür, verlor jedoch kein Wort der Begrüßung an ihn. Er blickte aus seinen kalten, gefühllos scheinenden Augen auf Wirtz herab und deutete mit seiner schmalen, feingliedrigen Hand ins Haus. »Ich nehme an, Sie sind wegen Helvin Proterrand gekommen«, sagte der Ara, der um einen Kopf größer war als Wirtz, mit seiner leisen, kultivierten Stimme. »Eigentlich komme ich aus einem anderen Grund zu Ihnen, Algiaro«, sagte Wirtz, den akademischen Grad absichtlich weglassend. »Es geht um Vianna Moriod. Es scheint, daß sie einen Teil ihres Gedächtnisses verloren hat. Eine partielle Amnesie würden Sie es nennen. Sie hat verschiedene Dinge einfach vergessen und die Lücken ihrer Erinnerung mit falschen und kuriosen Angaben gefüllt. Ich möchte, daß Sie sich einmal mit ihr unterhalten.« »Wo ist sie denn?« »Sie hat versprochen, um zehn hier zu
11 sein. Sie müssen ihr helfen, Algiaro.« »Seit wann vertrauen Sie denn meinen Fähigkeiten als Arzt?« meinte der Ara spitz. Als Wirtz schwieg, fuhr Dr. Algiaro fort: »Sie sind jedenfalls etwas zu früh dran. Vianna ist noch nicht hier.« »Das macht nichts. Ich könnte Helvin einen Besuch abstatten.« »Ich weiß nicht, ob das ratsam wäre.« »Wieso? Spindel sagte mir, daß Helvins Verletzungen keineswegs gefährlich seien und er sich wohlauf befände.« »Körperlich ja. Aber als der Stollen einstürzte und er dann noch von einem Wühltiger angefallen wurde, muß er einen Schock erlitten haben. Er phantasiert und spricht ganz irr. Wenn ich einen Vergleich gebrauchen darf: Er sieht die Realität wie durch ein alles verzerrendes Fenster. Wenn ich Sie zu ihm lasse, müssen Sie mir versprechen, daß Sie ihm seine Wahnvorstellungen nicht auszureden versuchen. Und bewahren Sie über seinen Fall bitte Stillschweigen. Ich möchte zuerst Richter Moriod verständigen, bevor die anderen es erfahren.« »Was hat denn Gombard damit zu tun?« wunderte sich Wirtz. »Sprechen Sie zuerst mit Proterrand, dann urteilen Sie.« Der Ara führte Wirtz in ein Krankenzimmer, blieb selbst draußen und schloß hinter ihm die Tür. Helvin Proterrand war bis zum Hals zugedeckt, nur sein halb von Biomolplast verdecktes Gesicht war zu sehen. Er starrte Wirtz aus großen Augen entgegen. Als sich die Tür geschlossen hatte, und die beiden allein waren, sagte Helvin mit keuchender Stimme: »Du mußt mir helfen, Froom. Dieser Eierkopf von einem Ara behauptet, ich sei verrückt. Er hat mich ans Bett gefesselt – wie einen Amokläufer. Dabei bin ich ganz normal. Wenn einer von uns beiden verrückt ist, dann Dr. Algiaro.« »Beruhige dich, Helvin«, sprach Wirtz ihm zu. »Sei froh, daß du den Krallen des Wühltigers entkommen bist.« »Ich soll ruhig bleiben, wo man mir einre-
12 den will, daß ich verrückt bin?« Helvin versuchte sich aufzubäumen, aber das gelang ihm nicht. »Nimm einmal die Decke weg!« forderte er Wirtz auf. Dieser tat, wie ihm geheißen. Als er die Decke zurückgeschlagen hatte, sah er, daß Helvin an Armen und Beinen mit starken Riemen an den Bettrahmen geschnallt war. Die Riemen schnitten ihm tief ins Fleisch, und Blut war durch die Hautabschürfungen gesickert. »Sieh dir das an«, sprach Helvin weiter. »Was habe ich denn getan, was dem Ara das Recht geben könnte, mich so zu behandeln!« »Ja, was hast du getan, Helvin?« sagte Wirtz mit gepreßter Stimme. Beim Anblick des Gefesselten krampfte es ihm den Magen zusammen. Einem ersten Impuls zufolge wollte er Helvin befreien, doch dann entsann er sich der Warnung Dr. Algiaros. »Ich sage dir, der Ara treibt falsches Spiel mit uns«, sagte Helvin plötzlich mit gesenkter Stimme. »Er ist hinter den Schätzen aus dem abgestürzten Raumschiff her. Ich habe mit ihm darüber gesprochen – und daraufhin hat er mich sofort gefesselt.« »Ich glaube nicht, daß dies der einzige Grund ist«, meinte Wirtz. »Dr. Algiaro ist ein guter Psychologe. Natürlich kann auch er sich irren, aber irgend etwas an deinem Verhalten muß ihn argwöhnisch gemacht haben.« »Ich schwöre dir, Froom, daß ich nichts getan habe«, beteuerte Helvin. »Er wollte von mir wissen, was eigentlich passiert sei. Da sagte ich ihm, daß ich mich gerade in Stollen drei befand, als der Boden einbrach und die Wühltiger aus ihrem Höhlenlabyrinth hervorstießen. Ich versuche mich krampfhaft zu erinnern, welchen Anlaß ich dem Ara gegeben haben könnte, daß er mich wie einen Amokläufer behandelte. Ich ärgerte mich nur darüber, daß der Stollen gerade einbrechen mußte, als wir dem Raumschiff zum Greifen nahe waren. Daraufhin begann er mich auszufragen, und alle Fragen drehten sich nur um das abgestürzte Raumschiff.
Ernst Vlcek Meine Antworten schienen ihm nicht zu behagen. Plötzlich faselte er davon, daß alle Symptome auf eine bevorstehende Psychose hinweisen und schnürte mich wie ein Paket zusammen. Hilf mir, Froom! Wenn ich noch lange ans Bett gefesselt bin, werde ich tatsächlich verrückt!« »Ich werde mit Algiaro reden«, versprach Wirtz. Da klopfte es an der Tür. Der Ara steckte den Kopf ins Krankenzimmer und sagte: »Vianna ist eingetroffen. Kommen Sie jetzt, Wirtz?« Wirtz nickte dem Schatzsucher aufmunternd zu und verließ den Raum. Auf dem Weg zur Ordination fragte der Ara: »Na, was sagen Sie nun, Wirtz? Selbst einem Laien muß auffallen, in welch bedenklichem Geisteszustand sich Proterrand befindet.« »Mir erschien er ganz normal«, entgegnete Wirtz. »Aber vielleicht sagen Sie mir, welche Symptome Ihnen an Helvin bedenklich erscheinen.« Der Ara warf ihm einen undeutbaren Blick zu und sagte nur: »Vianna wartet.«
4. Vianna blickte Wirtz bei seinem Eintreten nur kurz an. Sie blieb sitzen, und als er zu ihr ging, um ihr einen Kuß auf die Lippen zu drücken, wandte sie den Kopf ab. »Setzen Sie sich, Wirtz«, sagte Dr. Algiaro und nahm hinter seinem Arbeitstisch Platz. Nachdem sie alle saßen, wartete er noch einige Sekunden, dann fuhr er mit einem gewinnenden Lächeln fort: »So, nun sagen Sie mir erst einmal, warum Sie mich aufgesucht haben. Sie, Wirtz, erklärten mir, daß Sie an Vianna Anzeichen für eine partielle Amnesie bemerkt hätten. Vianna hingegen sagte mir, kaum daß sie im Haus war, daß sie sich um Sie Sorgen machte, Wirtz. Vielleicht können wir klären, wen von Ihnen beiden ich als Patienten ansehen soll, wenn Sie mir einer nach dem anderen
Im Bann der Hohlwelt alles der Reihe nach erzählen.« »Via!« rief Wirtz bestürzt aus. »Warum tust du plötzlich so, als hätte ich Gedächtnislücken?« Vianna fingerte nervös an ihrem Kleid herum, während sie stockend sagte: »Ich wollte dir gestern abend nicht widersprechen um nicht … Ich wollte, daß du dich einem Arzt anvertraust. Deshalb sagte ich zu allem ja und verabredete mich hier mit dir. Ich will, daß du dich Dr. Algiaro anvertraust.« Wirtz wollte aufbrausen, doch er beruhigte sich sofort wieder. »Ich verstehe dich, Via«, sagte er. Er konnte ihr nicht böse sein, weil sie ihn für verrückt hielt. Es war bei fast allen Geistesgestörten so, daß sie sich selbst für normal hielten. Dabei war Vianna keineswegs verrückt, das mußte sich Wirtz immer vor Augen halten. Sie besaß ihre frühere Intelligenz und verhielt sich auch so wie immer – sie hatte eben nur die fixe Idee, daß es keine Raumfahrt geben könne, weil Wiga-Wigo eine Hohlwelt sei. Nun, Algiaro würde rasch erkennen, wer von ihnen beiden ein potentieller Patient für ihn war. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir gleich zur Sache kommen, Algiaro?« fragte Wirtz. »Keineswegs. Wollen zuerst Sie Ihren Standpunkt darlegen, Wirtz?« »Ja, erzähle, Froomy«, sagte Vianna. »Warum nicht.« Wirtz holte Atem. »Es begann gestern abend damit, daß ich Via beizubringen versuchte, daß ich Menschende verlassen möchte. Eines ergab das andere, und plötzlich waren wir in das schönste Streitgespräch darüber verwickelt, ob eine Raumfahrt möglich sei oder nicht. Zuerst erschien mir alles nur wie ein Spaß, aber Via vertrat ihren Standpunkt so hartnäckig, daß es mir nicht möglich war, sie von der Wahrheit zu überzeugen.« »Das ist interessant«, murmelte Algiaro. Er sah die beiden nacheinander an, dann blieb sein Blick auf Wirtz haften. »Wenn ich
13 richtig verstehe, so vertrat Vianna die Ansicht, daß eine Raumfahrt möglich sei.« Er wandte sich Vianna zu. »Ist es so, daß Sie glauben, man könne Wiga-Wigo mittels eines Fluggeräts verlassen?« »Nein, es ist gerade umgekehrt«, antwortete Vianna. »Jawohl«, bestätigte Wirtz. »Vianna will mir nicht glauben, daß es eine Raumfahrt gibt. Sie ist davon überzeugt, daß Wiga-Wigo eine Hohlwelt ist, in deren Mittelpunkt sich unsere Sonne befindet. Und die Sterne sind ihrer Ansicht nach nur winzige Lichtpunkte.« »Ach, so ist das also«, meinte Algiaro und machte ein bedenkliches Gesicht. Vianna wandte sich an ihn: »Froomy wollte mir einreden, daß all die vielen Sterne Sonnen wie die unsere sind und diese selbst Planeten wie unsere Welt haben und daß man mit Raumschiffen zu diesen Welten fliegen könne.« »Und Vianna behauptete, noch nie etwas von Raumschiffen gehört zu haben«, fügte Wirtz hinzu. »Darum stritten wir uns. Es mag für einen Außenstehenden ein recht komischer Grund für einen Streit sein. Aber Vianna war durch vernünftige Argumente nicht von ihrem Standpunkt abzubringen. Deshalb sah ich keine andere Möglichkeit, als sie aufzusuchen, Algiaro.« »Daran haben Sie gut getan, Wirtz«, sagte der Ara. »Zufällig habe ich einen ähnlichen Fall gerade in Behandlung. Der Patient zeigt die gleichen Symptome. Auch er ist von der fixen Idee besessen, daß …« »Sie meinen Helvin Proterrand?« unterbrach Wirtz den Ara. »Aber das gibt es nicht, Algiaro. Als ich mit ihm sprach, hat er zu erkennen gegeben, daß er über die Existenz von Raumschiffen Bescheid weiß.« Der Ara sah ihn lange an und sagte dann: »Eben.«
* Wirtz glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Doch ließ ihm Algiaro keine Gelegen-
14 heit, das Gehörte richtig zu verarbeiten, denn er sagte: »Wie sind Sie zu der Überzeugung gekommen, daß es die Raumfahrt gibt, Wirtz? Haben Sie diese Information von jemandem bekommen, oder haben Sie die Raumfahrttheorie selbst entwickelt?« »Algiaro«, sagte Wirtz mit belegter Stimme; er mußte sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte. »Jedes Kind weiß, daß viele tausend Planeten in der Galaxis von Menschen bevölkert sind. Und diese Menschen pflegen miteinander Kontakt. Wie sollten sie dies aber ohne die Raumfahrt tun können? Herrgott, ich bin einfach nicht in der Lage, etwas zu erklären, was ohnehin eine Selbstverständlichkeit ist. Darum bin ich doch zu Ihnen gekommen, damit Sie Via ihre fixe Idee ausreden.« »Sie glauben also, daß es schon immer eine Raumfahrt gegeben hat?« fragte Algiaro. Was bezweckte der Ara mit dieser Fragestellung? Wollte er durch ein zwangloses Gespräch über die Raumfahrt Vianna Informationen zuspielen, ihr so die verlorene Erinnerung zurückgeben und ihr den Hohlweltspleen ausreden? Wirtz fand, daß dies eine untaugliche Therapie für die Heilung einer Amnesie war; er hatte das gestern schon erfolglos versucht. Wirtz fühlte sich jedenfalls unbehaglich in seiner Haut, doch er machte das Spiel mit. Er beantwortete alle Fragen von Algiaro nach bestem Wissen – so naiv sie auch klangen. Wirtz zerpflückte die Hohlwelttheorie, nannte als eindeutigsten Beweis dafür, daß die Raumfahrt betrieben wurde, den Raumhafen von Brantonfeyn und erwähnte auch das abgestürzte Raumschiff, nach dem sie gruben. Nach einer halben Stunde brach Algiaro das Frage- und Antwortspiel ab. Er bat Vianna, den Raum zu verlassen, und als sie allein waren, sagte er zu Wirtz: »Ich bin sehr in Sorge um Sie.« Wirtz sprang von seinem Sitz hoch. »Heißt das, daß Sie mich für verrückt hal-
Ernst Vlcek ten?« Algiaro machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Wollen wir es doch nicht gleich so drastisch ausdrücken«, sagte er. »Es muß sich nicht unbedingt um eine Geisteskrankheit handeln. Sie selbst haben es eine partielle Amnesie genannt – und das nicht untreffend. Sie haben nichts von Ihrer Intelligenz eingebüßt, aber wenn die Sprache auf die Raumfahrt und die Beschaffenheit unserer Welt kommt, sind Sie vernünftigen Argumenten nicht zugänglich. Ich habe keine Erklärung für dieses Phänomen, aber ich werde bestimmt noch einen Weg finden, Sie zu heilen.« »Sie glauben mir nicht«, sagte Wirtz entgeistert. »Sie sind derselben Meinung wie Vianna, daß wir in einer Hohlwelt leben. Und das abgestürzte Raumschiff, nach dem wir graben, halten Sie für eine versunkene Stadt. Ist es so?« Statt einer direkten Antwort sagte der Psychologe: »Ich bin ehrlich daran interessiert, Ihnen zu helfen, Wirtz. Deshalb schlage ich Ihnen vor, sich von mir behandeln zu lassen. Vielleicht wird es aber auch nötig sein, Sie nach Brantonfeyn in eine Klinik zu bringen. Ich weiß, daß Sie mich nicht sehr schätzen. Dennoch bitte ich Sie, mir zu vertrauen.« Wirtz straffte sich. »Ich rate eher Ihnen, sich in Behandlung zu begeben, Algiaro.« »So seien Sie doch vernünftig, Wirtz. Sie müssen doch einsehen, daß Sie nicht als einziger alle Naturgesetze über den Haufen werfen können. Unsere Astronomen haben schon vor Jahrhunderten entdeckt, daß wir in einer Hohlwelt leben, und fast ebenso lange liegt es zurück, daß man eine Rakete in den Himmel geschickt hat, um den Sternenraum innerhalb unserer Welt zu erforschen. Es hat sich nicht gelohnt – und es ist erwiesen, daß Menschen im Weltraum mit den Milliarden von winzigen Sternen und der Sonne im Mittelpunkt nicht leben können. Erkennen Sie nicht, wie unsinnig Ihre Theo-
Im Bann der Hohlwelt rie vom grenzenlosen Raum angesichts dieser wissenschaftlichen Fakten ist?« »Diese wissenschaftlichen Fakten existieren nur in Ihrem kranken Geist«, erwiderte Wirtz heftig. »Ich weiß nicht, warum Sie mir diesen Blödsinn einzureden versuchen. Vielleicht wollen Sie mich auf diese billige Art loswerden, oder aber Sie glauben wirklich an die Hohlwelttheorie – in diesem Fall werde ich dafür sorgen, daß Sie Ihren Platz in der Klapsmühle erhalten.« Wirtz wandte sich der Tür zu. Er hielt aber plötzlich mitten im Schritt inne, als er Algiaros schneidende Stimme in seinem Rücken sagen hörte: »Halt, keinen Schritt weiter, Wirtz, oder ich muß Sie paralysieren.« Wirtz drehte sich langsam um. Algiaro hielt tatsächlich einen Paralysator in der Hand. »Ich kann es nicht verantworten, Sie auf die Allgemeinheit loszulassen«, sagte der Psychiater und kam auf Wirtz zu. »Fast glaube ich, daß bei den Ausgrabungsarbeiten in der versunkenen Stadt ein Dämon in Sie gefahren ist. Sie waren auch so schon immer leicht psychopathisch und hatten eine gemeingefährliche Veranlagung. Ich fürchte, daß Ihre Aggressionen jetzt zum Durchbruch kommen, deshalb werde ich Sie auch gegen Ihren Willen festhalten.« »Damit kommen Sie nicht durch, Algiaro«, preßte Wirtz wütend hervor. »Ich glaube nicht, daß außer Helvin Proterrand jemand auf Ihrer Seite sein wird«, erwiderte der Ara. »Man wird Verständnis dafür haben, daß ich in Ihrem Fall Gewalt angewandt habe.« »Halten Sie Helvin etwa auch nur fest, weil er an Ihrer Hohlwelttheorie zweifelte?« »Er hat die gleichen Krankheitserscheinungen wie Sie und lebt ebenfalls in dem Wahn, daß es die Raumfahrt und den endlosen Raum gebe …« Mehr wollte Wirtz nicht hören. Als Algiaro für einen Moment unaufmerksam war, nutzte er die Gelegenheit, um ihm den Lähmstrahler zu entwinden. Dabei löste sich
15 ein Strahl, der den Ara voll ins Gesicht traf und ihn auf der Stelle paralysierte. Wirtz schleppte den vorübergehend Gelähmten in das Krankenzimmer, in dem Helvin lag. »Was hast du denn mit Algiaro getan?« erkundigte sich Helvin mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen. »Es gab keine andere Möglichkeit, deine Entlassung zu erreichen«, antwortete Wirtz. »Algiaro muß wahnsinnig geworden sein. Er will alle, die nicht an seine Hohlwelttheorie glauben, in die Zwangsjacke stecken. Aber darin werde ich ihn vorerst selbst einmal verpacken.« Wirtz befreite Helvin von den Riemen und schnallte dann den Ara ans Bett. »Was hast du mit ihm vor?« erkundigte sich Helvin, während er sich die Handgelenke massierte. »Er wird bis zum Einbruch der Nacht ohne Bewußtsein bleiben«, antwortete Wirtz. »Bis dahin werde ich mir Klarheit verschafft haben.« »Worüber?« »Algiaro ist nicht der einzige, der an die Hohlwelttheorie glaubt«, sagte Wirtz und dachte an Vianna. Vielleicht hatte Algiaro in einem Punkt sogar recht, und eine unbekannte Macht in dem abgestürzten Raumschiff war erwacht, die einige Bewohner von Menschende geistig beeinflußt hatte. Eine andere Möglichkeit fand Wirtz im Augenblick jedenfalls noch nicht dafür, daß Vianna und der Ara von der gleichen fixen Idee besessen waren. Spindel kam ihm wieder in den Sinn. Auch der Ertruser hatte das abgestürzte Raumschiff als eine versunkene Stadt bezeichnet. War auch er von dem Wahn besessen, daß Wiga-Wigo eine Hohlwelt war? Wirtz wollte sich Klarheit verschaffen. »Für dich ist es besser, wenn du dich vorerst nicht in der Öffentlichkeit blicken läßt«, sagte Wirtz zu Helvin. »Warum?« »Ich weiß es selbst nicht genau aber, ich habe so eine Ahnung, daß es besser wäre,
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wenn du dich erst einmal versteckt hältst. Geh nicht nach Hause, sondern komm zu mir. Aber paß auf, daß dich niemand sieht. Ich möchte, daß niemand weiß, wo du dich aufhältst.« »Kommst du nicht mit?« »Ich habe noch einiges zu erledigen. Vor allem möchte ich herausfinden, ob noch mehr an die Hohlwelttheorie glauben.«
5. Wirtz' erster Weg führte ihn zur Funkstation. Die Station war für das Dschungeldorf die einzige Verbindung mit der Zivilisation. Der Sender, ein veraltetes Modell, reichte gerade bis zur zwölftausend Kilometer entfernten Hauptstadt Brantonfeyn. Er hatte aber nicht die Kapazität, um Radio- oder Televisionssendungen zu empfangen. So mußte man sich damit begnügen, Neuigkeiten und Meldungen von allgemeinem Interesse auf dem privaten Funkweg einzuholen. Manchmal kamen auch interessante Meldungen von anderen Dschungelstationen und von einem 200 Kilometer entfernten Forschungsstützpunkt durch. »Hallo, Sparks«, grüßte Wirtz, als er an den Schalter der Funkstation trat. »Morgen, Froom«, grüßte der alte Funker zurück. Er hieß Orginta Dembwa, war Afroterraner und nur 1,50 Meter groß. Da er weit nach vorne gebeugt ging, wirkte er noch kleiner. Orginta Dembwas Traum war es, vor seinem Tode noch einmal Terra, der Heimat seiner Väter, einen Besuch abzustatten. Dafür sparte er. »Ist dein Sparstrumpf noch nicht voll, Orginta?« fragte Wirtz. Der Afroterraner zeigte seine Zähne, die trotz seines hohen Alters von mehr als 150 Jahren noch blendend weiß waren. »Mit meinem Anteil aus den Schätzen der versunkenen Stadt werde ich mir eine Passage auf einem Schiff leisten können.« »Dann studierst du wohl schon die Startlisten vom Brantonfeyner Hafen«, meinte
Wirtz. Der Afroterraner lachte wieder, daß seine weißen Zähne zu sehen waren. »Was redest du da, Wirtz, Brantonfeyn hat doch keinen Hafen. Wenn du solange in der Hauptstadt gelebt hast, müßtest du doch am besten wissen, daß sie nicht am Meer liegt.« Wirtz beobachtete den Afroterraner scharf, als er sagte: »Ich redete auch nicht von einer Startliste für Hochseeschiffe, sondern von Raumschiffen.« Orginta Dembwa erwiderte seinen Blick schweigend. Schließlich sagte er: »Heute sprichst du wieder in Rätseln, Froom. Aber ich weiß schon, du meinst sicher, ich solle mit einem Flugzeug in meine Heimat fliegen. Aber das ist mir zu teuer.« »Das kann ich verstehen«, sagte Wirtz mit belegter Stimme. »Du bist sicher nicht gekommen, um dir das Geschwätz eines alten Mannes anzuhören, Froom. Was kann ich für dich tun?« »Ich wollte mich nur erkundigen, ob die Antwort auf meine Anfrage bekommen hast«, sagte Wirtz. »Ich war gestern hier und bat dich, in Brantonfeyn Erkundigungen einzuziehen, wann das nächste Raumschiff von Wiga-Wigo in den Weltraum starten würde. Hast du nun Anwort bekommen?« »Bei uns herrscht schon seit drei Tagen Funkstille«, sagte Dembwa und kratzte sich sein kraushaariges Haupt. »Kannst du noch einmal wiederholen, was ich für dich tun sollte?« Wirtz machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es hat sich erübrigt«, sagte er und verließ die Funkstation. Auf der Hauptstraße angekommen, blieb er stehen und blickte sich um, als sähe er seine Umgebung zum erstenmal. Nichts schien sich verändert zu haben. Die Jäger verluden vor dem Lagerhaus der Spedition ihre Felle auf einen Lastengleiter, vor Ben Sakjos Warenhaus standen einige Frauen von Schätzgräbern beisammen und
Im Bann der Hohlwelt unterhielten sich, aus der Reparaturwerkstatt klangen die Arbeitsgeräusche von Steam Styror heraus, der einen Geländewagen fahrbereit zu machen versuchte. Plötzlich aber wurde das vertraute Bild gestört. Die Frauen vor dem Warenhaus trennten sich und gingen schnell auseinander. Wirtz schien es fast, als hätten sie ihm scheue Blicke zugeworfen. Die Arbeitsgeräusche von Styror verstummten für einen Moment, und sein gelbhäutiges Gesicht erschien kurz im Garagentor. Einige Atemzüge lang waren nur die Geräusche des nahen Dschungels zu hören, dann setzte Styror seine Arbeit fort. Einige spielende Kinder nahmen Reißaus. Rennen sie vor mir davon? fragte sich Wirtz unwillkürlich. Als Ben Sakjos weißes Gesicht für einen Moment hinter der Kunstglasfront seines Warenhauses auftauchte, kam Wirtz eine Idee. Inzwischen war er überzeugt, daß mehr Leute aus Menschende von dem Hohlweltwahn betroffen waren, als er ursprünglich vermutete. Sie von ihrem Irrglauben abzubringen, würde nicht leicht sein, da sie überzeugt waren, daß ihnen ihr Wissen schon in die Wiege gegeben worden war. Es bedurfte also schon schlagkräftiger Beweise, um sie von ihrer fixen Idee zu kurieren. Und einen solchen Beweis hoffte Wirtz von Ben Sakjos zu erhalten. Er hatte vor einer Woche zufällig in seinem Lager einen uralten Sternenkatalog gefunden und sich noch darüber lustig gemacht, daß Sakjos ihn als »aktuell« anpries. Jetzt aber konnte er diesen Sternenkatalog als Anschauungsmaterial gegen die Hohlweltgläubigen verwenden. Während er diesen Gedanken noch nachhing, hatte er das Warenhaus erreicht. Bevor er jedoch die Eingangstür öffnen konnte, erschien auf der anderen Seite Ben Sakjos, sperrte die Tür ab und hing das Schild »Geschlossen« an die Scheibe. Ohne Wirtz Gelegenheit zu geben, seine Wünsche vorzutragen, wandte er ihm den Rücken und
17 verschwand im Laden. Wirtz blickte sich im. Die Straße war fast menschenleer. Nur die Pelzjäger waren noch bei der Arbeit aber die kümmerten sich überhaupt nicht um ihn. Jetzt war ihm klar, daß man ihm aus dem Weg ging. Die Menschen, die er in den Wochen lieben gelernt hatte, erschienen ihm plötzlich feindselig. Vielleicht bildete er sich alles nur ein. Er durfte nicht alle dreihundert Bewohner von Menschende verdammen, nur weil er von einigen wußte, daß mit ihnen eine Veränderung vor sich gegangen war. Überhaupt war er sich nur bei Dr. Algiaro und Vianna sicher. Aber war es nicht schlimm genug, daß auch Orginta Dembwa und Spindel ähnliche Symptome zeigten? Und warum hatte ihm Ben Sakjos die Tür seines Ladens vor der Nase zugeschlagen? Irgend etwas braute sich zusammen, dessen war sich Wirtz sicher. Gefahr war ihm Anzug – er hatte dafür ein sicheres Gespür. Er mußte etwas unternehmen, bevor es zu spät war. Er hatte in Menschende außer Vianna eigentlich nur einen Menschen, dem er sich anvertrauen konnte, das war ihr Bruder Gombard. Er war sein bester Freund. Konnte er aber sicher sein, daß Gombard nicht besessen war? Das konnte er natürlich nicht, aber er mußte mit ihm reden. Gombard war seine einzige Hoffnung. Wirtz wollte gerade in Richtung des Hauses der Moriods gehen, als die Alarmsirene ertönte. Obwohl die Lichtung mit den Bergwerksstollen einen Kilometer von der Siedlung entfernt lag, war der durchdringende Klang der Sirene ganz deutlich zu hören. Ohne lange zu überlegen, rannte Wirtz los.
* Er war völlig außer Atem, als er die Lichtung erreichte. Inzwischen war das Geheul der Sirene verklungen. Aus den Tunnelzugängen wehten hohe
18 Staubfahnen. Die meisten der Schatzgräber hockten verschmutzt und niedergeschlagen herum, aber keiner von ihnen schien verletzt. Ein Förderwagen war aus den Schienen gekippt. Auf einem Haufen lagen Dutzende von Plastikstützen beisammen. Unweit davon standen die vier Antigravprojektoren, die für die Entlastung der neugegrabenen Stollen eingesetzt worden waren. »Da kommt Wirtz!« sagte einer der Schatzgräber. Die anderen blickten ihm neugierig, aber ohne besondere Aufregung entgegen. Keiner richtete das Wort an ihn. »Will mir denn niemand sagen, was der Alarm zu bedeuten hatte?« herrschte Wirtz die Umstehenden an. »Was ist passiert? Hat es Verletzte gegeben?« »Nein, keine Verletzten«, sagte einer einsilbig. »Was ist also los?« fragte Wirtz. Die Männer wichen seinem Blick aus. Wirtz packte den nächsten am Kragen und schüttelte ihn. »Los, heraus mit der Sprache. Was geht hier vor?« Der Mann war ein zwei Meter großer Hüne. Er schüttelte Wirtz ab und gab ihm einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. »Vergreif dich nicht noch einmal an mir«, sagte der Schatzgräber drohend. »Ich lasse mich nicht von Verrückten herumschubsen.« Wirtz bemerkte das gefährliche Flackern in den Augen der anderen und wußte, daß es in dieser Situation nur eine Möglichkeit gab, sich durchzusetzen. Deshalb zog er kurz entschlossen den Paralysator, den er Dr. Algiaro abgenommen hatte, und lähmte die Beine des widerspenstigen Schatzgräbers. Während sich der Mann wimmernd am Boden wälzte, sagte Wirtz zu den anderen: »Noch jemand da, der den Staub von Wiga-Wigo schmecken möchte? Wenn nicht, dann möchte ich endlich erfahren, was das alles zu bedeuten hat. Warum wurde die Sirene eingeschaltet?« In den Reihen der Schatzgräber entstand
Ernst Vlcek Bewegung, als Spindel im Hintergrund auftauchte und sich einen Weg nach vorne bahnte. Fünf Schritte vor Wirtz blieb er stehen. »Die Alarmsirene sollte sozusagen die Beendigung der Ausgrabungsarbeiten einläuten«, sagte er mit seiner Fistelstimme. »Wir machen nicht mehr weiter.« »Was soll das heißen? Willst du sagen, daß ihr die Arbeit niederlegt? Wollt ihr nicht mehr weitergraben?« »Genau das.« »Das wird aber Richter Moriod und den anderen nicht gefallen«, sagte Wirtz. Spindel grinste. »Es war Richter Moriod, der uns befahl, die Arbeiten einzustellen. Er sagte, wir sollten die Antigravprojektoren und das übrige Material in Sicherheit bringen und dann die Stollen einstürzen lassen.« »Das kann ich nicht glauben«, sagte Wirtz entgeistert. »Das ist Wahnsinn. So nahe vor dem Ziel …« »Eben deshalb«, sagte Spindel. »Richter Moriod meinte, daß über der versunkenen Stadt ein Fluch laste. Es sei besser, wenn wir nicht weiterarbeiten, sagte er, sonst wird uns noch alle dieser Fluch treffen. Einige von uns hat es ja schon erwischt.« »War das die Meinung des Richters?« wollte Wirtz wissen. »Nein«, erwiderte Spindel und sah seine Kameraden bezeichnend an. »Es ist nur unsere eigene bescheidene Meinung. Wir wissen inzwischen, warum sich Helvin bei Dr. Algiaro in Quarantäne befindet. Er hat dort unten etwas abbekommen. Und er ist sicher nicht der einzige.« »Worauf spielst du an, Spindel?« »Du weißt schon, was ich meine, Goldjunge. Findest du nicht auch, daß es besser wäre, dich in ärztliche Behandlung zu begeben?« »Du bist nicht bei Trost, Spindel.« Wirtz sah aus den Augenwinkeln, wie sich die Männer drohend näherten. »Ich soll nicht bei Trost sein?« rief Spindel erregt. »Wer von uns beiden zweifelt
Im Bann der Hohlwelt denn daran, daß da unten eine versunkene Stadt liegt? Bist nicht du es, der behauptet, daß es sich um ein Raumschiff handelt – was immer das auch sein mag! Frag die Männer, was sie davon halten!« Wirtz brauchte keine Antwort. Das Verhalten der Schatzgräber zeigte ihm deutlich, daß sie alle Besessene waren. Sie mußten alles über die Raumfahrt vergessen haben und der Überzeugung sein, daß sie in einer Hohlwelt lebten. Zudem hielten sie ihn für einen Wahnsinnigen und ihre drohende Haltung ließ unmißverständlich erkennen, daß sie bereit waren, gewaltsam gegen ihn vorzugehen. »Unternehmt nichts, was ihr später bereuen könntet«, warnte Wirtz die Männer. »Bleibt, wo ihr seid. Ich nehme euch eure Haltung nicht übel, denn ihr wißt nicht, was ihr tut. Aber wer mir zu nahe kommt, den werde ich lähmen.« Spindel hielt die Schatzgräber mit einer Handbewegung zurück. »Laßt ihn in Ruhe«, sagte er in befehlendem Ton. Und an Wirtz gewandt, fuhr er fort: »Niemand von uns hat persönlich etwas gegen dich. Wir glauben nur, daß etwas mit dir nicht stimmt. Es ist also ein wohlgemeinter Rat von uns, daß du dich in Dr. Algiaros Behandlung begeben sollst. Wenn du es nicht tust, dann kann ich für nichts garantieren. Der Gedanke, daß einer unter uns ist, auf dem der Fluch eines verschollenen Volkes lastet, flößt unseren Männern Furcht ein.« Er erkannte Spindel nicht wieder. Was mochte in den Ertruser gefahren sein, das ihn derart verändert hatte? Und die anderen Männer welche unheimliche Macht mußte von ihnen Besitz ergriffen haben, daß sie eine solche Wandlung durchgemacht hatten! Wirtz erschienen sie in diesem Augenblick wie die Hexenjäger und Teufelsaustreiber des terranischen Mittelalters. Er war sicher, daß sie nicht einmal vor einer Lynchjustiz zurückgeschreckt wären, fiele er ihnen in die Hände. Deshalb ließ er sie keine Sekunde aus den
19 Augen, während er sich rückwärts gehend einem Geländewagen näherte. Er hielt den Paralysator auch im Anschlag, als er sich in den Fahrersitz schwang und den Motor anließ. Er fühlte sich erst erleichtert, als der Wagen sich mit einem Ruck in Bewegung setzte und über das unwegsame Gelände auf die Schneise losbrauste, die sich von der Lichtung bis Menschende zog. Es wurde Zeit, daß er sich mit Gombard in Verbindung setzte und diesem Wahnsinn ein Ende machte.
6. Gombard Moriod war nicht allein. Wirtz sah schon durch die Fenster, daß er Besuch hatte. Doch davon ließ er sich nicht abhalten. Er konnte seinen Besuch nicht länger hinausschieben. Als er das Haus betrat, zuckten die vier Besucher Gombards bei seinem Anblick zusammen. Es handelte sich um die einflußreichsten Männer von Menschende. George Seymour, der Besitzer der Funkstation, und Ben Sakjos, der das einzige Warenhaus von Menschende führte, waren dabei. »Ich hätte dich gerne unter vier Augen gesprochen, Gombard«, sagte Wirtz. »Wir wollten ohnehin gerade gehen«, meinte George Seymour herablassend und wandte sich der Tür zu. »Ach«, sagte er dann, als sei ihm gerade etwas eingefallen, »wußten Sie, daß Helvin Proterrand entflohen ist?« »Ich wußte gar nicht, daß er etwas ausgefressen hat«, erwiderte Wirtz. »Als ich heute morgen bei Dr. Algiaro war, war Helvin noch dessen Patient.« »Als solchen kann man ihn jetzt wohl nicht mehr bezeichnen, nachdem er Dr. Algiaro paralysiert hat und geflüchtet ist«, sagte Seymour. »Helvin ist gemeingefährlich. Wir müssen ihn zur Strecke bringen, bevor er noch mehr Unheil anrichtet. Vielleicht hat Helvin aber auch einen Komplizen …« »Wovon redet ihr eigentlich?« erkundigte sich Wirtz an Gombard gewandt.
20 »Lassen Sie uns bitte allein, meine Herren«, sagte Gombard Moriod zu seinen Gästen. »Ich bin sicher, daß ein Gespräch mit Wirtz unter vier Augen am ehesten zur Klärung der Situation beitragen wird.« Nachdem die vier Männer gegangen waren, sagte Wirtz: »Ein Beitrag zur Klärung der Situation wäre es, wenn du mir sagst, warum du die Ausgrabungsarbeiten einstellen ließest.« »Das habe ich nicht allein entschieden, sondern es wurde einstimmig vom Vorstand unserer Gesellschaft beschlossen«, antwortete Gombard Moriod. »Den Grund dafür müßtest du eigentlich wissen. Oder hat dir Dr. Algiaro nichts gesagt?« Wirtz zögerte einen Moment. Aus Gombards Äußerungen war bisher nicht hervorgegangen, ob er zu den Besessenen gehörte oder nicht. Deshalb beschloß Wirtz, vorsichtig zu sein. Außerdem wußte er noch nicht einmal, inwieweit sich der Ara ihm gegenüber über Helvins angebliche Besessenheit geäußert hatte. »Doch«, sagte Wirtz gedehnt. »Als ich mich nach Helvin erkundigte, tat Dr. Algiaro sehr geheimnisvoll und besorgt. Aber etwas Konkretes erfuhr ich von ihm nicht.« Gombard seufzte. »Das ist schade, denn du warst meine letzte Hoffnung. Dr. Algiaro hat auch George Seymour gegenüber nur einige vage Andeutungen gemacht. Er sagte nur, daß Helvin Proterrand an Wahnvorstellungen leide und er dafür eine fremde Macht verantwortlich mache, die der versunkenen Stadt entstamme. Jawohl, er sagte versunkene Stadt! Aber er wollte uns erst zu Mittag, bei einem gemeinsamen Essen, Genaueres sagen. Dazu kam es aber nicht.« »Glaubst du denn nicht, daß es sich um eine versunkene Stadt handelt, Gombard?« erkundigte sich Wirtz lauernd. Der Freund kehrte ihm den Rücken zu und marschierte im Zimmer auf und ab. »Was ich glaube, ist im Augenblick nicht maßgebend, Froom«, sagte er dabei. »Ich bin in großer Sorge um die Menschen in un-
Ernst Vlcek serer Siedlung. Mit Helvin ist irgend etwas Unerklärliches passiert – und ich fürchte, daß es auch noch anderen so ergehen könnte. Deshalb habe ich die Ausgrabungsarbeiten einstellen und die Stollen zuschütten lassen. Denn obwohl wir noch nichts über die fremde Macht wissen, die von Helvin Besitz ergriffen hat, kann mit Sicherheit angenommen werden, daß sie aus jener Tiefe kommt, wo wir nach Schätzen gegraben haben.« »Wieso kannst du so sicher sein, daß Helvin der Besessene ist«, entgegnete Wirtz. »Es könnte genauso umgekehrt gewesen sein.« »Dr. Algiaro hat auf George Seymour einen durchaus normalen Eindruck gemacht«, sagte Gombard. »Und was hältst du von ihm? Du warst doch mit Via bei ihm und hast dich mit ihm unterhalten, bevor Helvin ihn niederschoß und flüchtete.« »Du weißt, wie ich zu Algiaro stehe«, sagte Wirtz ausweichend. »Ich kann ihn nicht leiden und bin nicht in der Lage, ein objektives Urteil über ihn abzugeben.« Gombard wirkte enttäuscht. Er sah Wirtz nicht an, als er fragte: »Würdest du mir dann wenigstens sagen, warum du mit Via Dr. Algiaro aufgesucht hast?« »Hat sie es dir nicht gesagt?« »Nein, aus ihr war kein vernünftiges Wort herauszubekommen. Sie hatte ganz verweinte Augen, als sie kam und zog sich sofort auf ihr Zimmer zurück. Dort ist sie auch jetzt noch. Hast du ihr etwas angetan, Froom?« Wirtz schüttelte den Kopf. »Es ist nicht, was du denkst. Aber mir wäre es lieber, wenn Via selbst mit dir darüber spricht.« Gombard sah ihn prüfend an. »Warum weichst du mir bei allen meinen Fragen aus, die sich um ein bestimmtes Thema drehen. Du hast mir bisher noch keine klare Antwort gegeben.« Wirtz lächelte spöttisch. »Du hast auch noch keine klare Frage gestellt. Mir scheint fast, daß du etwas Bestimmtes von mir hören willst, aber nicht die Courage hast, es auszusprechen. Du redest
Im Bann der Hohlwelt nur um die Sache herum. Willst du nicht endlich Farbe bekennen? Wir sind doch Freunde, oder?« »Eben darum fällt es mir auch schwer«, sagte Gombard. »Aber du hast recht, das Drumherumreden hat keinen Sinn. Hör zu, Froom. Mir ist zugetragen worden, du hättest einige seltsame Äußerungen von dir gegeben. Verschiedene Leute haben es übereinstimmend bestätigt. Aber bevor ich darüber urteilen möchte, sollst du mir selbst eine Frage beantworten. Was hältst du davon, daß unsere Welt eine Kugel, ein Planet in einem endlosen Weltall sein soll – ein Planet unter vielen, die alle von Menschen bevölkert sind, und diese Menschen durchfliegen den endlosen Raum mit Raumschiffen. Was sagst du dazu?« »Ähnliche Fragen habe ich an Spindel, an Sparks und Via gestellt«, antwortete Wirtz, um Zeit zu gewinnen. »Unsere Abmachung war, klare Fragen und klare Antworten«, erinnerte Gombard. »Okay«, stimmte Wirtz zu und faßte den Entschluß, den Freund anzulügen. »Gestern, während des Transportes hat Helvin phantasiert. Er sprach von einem endlosen Raum, von vielen bevölkerten Planeten und von der Raumschiffahrt. Mir war sofort klar, daß er im Stollen etwas abbekommen hatte. Als wir zur versunkenen Stadt vorstießen, da mußte eine unsichtbare Macht freigeworden sein, die von Helvin Besitz ergriff. Ich fragte mich, warum gerade Helvin – und vor allem – warum er allein? Deshalb hörte ich mich heute um. Ich wollte auf diese Weise herausfinden, ob noch jemand außer Helvin besessen ist. Das brachte mich in falschen Verdacht.« Wirtz sah, wie sein Freund aufatmete. Ganz war sein Mißtrauen aber noch nicht verschwunden. »Warum hast du dann vorher in Zweifel gestellt, daß Helvin besessen ist?« wollte Gombard wissen. »Ja, du hast sogar Dr. Algiaro beschuldigt.« »Denselben Vorwurf könnte ich dir machen, Gombard«, sagte Wirtz. »Du hast es
21 nicht gewagt, mich geradeheraus zu fragen, weil du befürchten mußtest, daß ich besessen sei. Ebensowenig war ich mir über dich klar. Ich wollte dich auf die Probe stellen, um herauszufinden, ob du noch du selbst bist.« Du bist es leider nicht, fügte Wirtz in Gedanken hinzu. »Was für eine teuflische Situation, daß Freunde einander nicht mehr trauen können«, sagte Gombard bitter. Dann lachte er befreit auf. »Aber jetzt sind zwischen uns alle Zweifel beseitigt.« »Restlos!« stimmte Wirtz zu. Er blieb noch einige Minuten bei seinem Freund, der ebenfalls dem Hohlweltwahn verfallen war. Er nahm einen Drink an, lehnte aber den zweiten ab und entschuldigte sich mit einer fadenscheinigen Ausrede. Draußen dämmerte es bereits, und Dr. Algiaro konnte jeden Augenblick aus der Paralyse erwachen. Durch die Aussage des Aras wäre er, Wirtz, sofort überführt. Solange durfte er aber nicht warten, er mußte vorher handeln. Es gab nur eine Möglichkeit für ihn, sich vor der Rache der Besessenen zu retten. Er mußte zusammen mit Helvin flüchten. Wirtz verabschiedete sich ziemlich hastig von Gombard, verließ das Haus und brauste mit dem Geländewagen in halsbrecherischem Tempo davon. Gombard blickte ihm durch das offene Fenster nach und wunderte sich darüber, daß der Freund so plötzlich aufgebrochen war. Als er hinter sich ein Geräusch vernahm, wirbelte er erschrocken herum. Er entspannte sich, als er seine Schwester auf der Treppe zum Obergeschoß erblickte. Ihr Gesicht war blaß, und um ihren Mund lag ein harter Zug. »Via!« rief Gombard aus. »Es wurde auch schon Zeit, daß du aus deinem Zimmer kamst. Froom war gerade hier.« »Ich habe euer Gespräch belauscht.« »Warum bist du dann nicht heruntergekommen? Froom hätte sich bestimmt gefreut.«
22
Ernst Vlcek
»Das glaube ich nicht. Er hat gelogen. In Wirklichkeit ist er es, der an die Raumfahrt und die Unendlichkeit des Weltalls glaubt.«
7. »Wir müssen schleunigst aus Menschende verschwinden, Helvin!« »He!« rief Helvin überrascht, als Wirtz wie ein Wirbelwind ins Haus stürmte. »Zuerst läßt du mich einen ganzen Tag hier schmoren, ohne dich um mich zu kümmern. Und jetzt hetzt du dich, als seien tausend Teufel hinter dir her.« »Sind sie auch«, erklärte Wirtz, ohne Helvin anzusehen. Er ging geradewegs zu dem Geräteschrank im Wohnzimmer und riß die beiden Türen auf. Während er auf die Waffen und Ausrüstungsgegenstände starrte und sich fieberhaft überlegte, was er alles auf die Flucht mitnehmen würde, fuhr er fort: »Es sind zwar nur dreihundert, aber das genügt. Hier kann jeden Augenblick die Hölle los sein. Algiaro wird aus der Paralyse erwachen und Alarm schlagen. Wann wird die Jagd auf uns beginnen.« »Übertreibst du nicht?« meinte Helvin. Er ergriff die schwere Saurierbüchse, die Wirtz ihm reichte, und hielt sie unschlüssig in der Hand. »Hast du nicht versucht, den andern alles zu erklären, Froom?« »Habe ich«, bestätigte Wirtz. Er nahm das tragbare Funksprechgerät aus dem Schrank, das er ebenso wie die übrige Ausrüstung aus den Beständen der Bergungsgesellschaft abgezweigt hatte. Er hatte schon bei seiner Ankunft in Menschende an alles gedacht, natürlich auch an eine überstürzte Flucht. Mit dieser Entwicklung konnte er zwar nicht rechnen, doch aus Erfahrung wußte er, wie rasch die Sympathie der Leute in Haß umschlagen konnte. Er hatte nicht erst einmal um sein Leben laufen müssen. »Nun«, meinte Helvin, »wenn du dich mit deinem Freund, dem Richter, ausgesprochen hast, müßte doch alles in Ordnung sein. Er hat dir doch geglaubt, daß Algiaro der Besessene ist und nicht ich?«
Wirtz drehte sich um und sah ihn an. »In Menschende glaubt mir überhaupt niemand. Wir zwei sind die einzigen, die noch normal sind. Alle anderen sind dem Hohlweltwahn verfallen. Frage mich nicht wieso, aber es ist so.« »Im Ernst?« Helvin konnte es nicht recht glauben, aber er stellte keine weiteren Fragen mehr. Er nahm das Material, das ihm Wirtz reichte, entgegen und stapelte es vor dem Eingang. »Wie fühlst du dich, Helvin?« erkundigte sich Wirtz zwischendurch. »Meinst du körperlich oder geistig?« »Ich nehme doch an, daß sich an deiner Einstellung zum Weltall und zur Raumfahrt inzwischen nichts geändert hat. Also wie ist deine körperliche Verfassung?« »Ich bin fit und könnte tausend Meilen humpeln.« »Machen dir die Beinwunden große Schwierigkeiten?« »Es geht … Aber warum fragst du? Du hast doch einen Geländewagen. Damit kommen wir weit genug, um die Verfolger abschütteln zu können.« »Es könnte sein, daß wir den Geländewagen nach einer gewissen Strecke zurücklassen müssen«, sagte Wirtz. »Ich möchte versuchen, die zoologische Forschungsstation im Norden zu erreichen. Aber das Gelände dort ist so unwegsam, daß wir mit dem Wagen nicht durchkommen.« »Warum willst du ausgerechnet zur Forschungsstation?« »Weil wir dort am ehesten Hilfe erwarten können – auch für die Bewohner von Menschende. Die Station ist nur zweihundert Kilometer entfernt und zudem noch bestens ausgerüstet. Und jetzt steh nicht so 'rum und verlade die Ausrüstung auf den Wagen. Er steht vor der Hintertür.« Wirtz überlegte sich, ob er nicht noch etwas vergessen hatte. Er hatte für jeden eine Saurierbüchse und genügend Munition hergerichtet – von Patronen mit Atomsprengköpfen bis zu Leuchtraketen. Das Funkgerät zwei Kisten mit Konserven und Vitaminta-
Im Bann der Hohlwelt bletten, eine Kiste mit Medikamenten, Ortungsgeräte, Atemmasken, falls sie durch giftgasträchtige Sümpfe mußten, Tierfallen und einige persönliche Gegenstände vervollständigten die Ausrüstung. Es war alles leicht auf dem Geländewagen unterzubringen. Nachdem Wirtz nichts mehr in seinem Haus fand, das sich mitzunehmen lohnte, war er Helvin beim Verladen behilflich. Als sie alles auf dem Wagen verstaut hatten, entschloß sich Wirtz, noch zusätzlich eine Tragtasche, wie sie die Großwildjäger auf Wiga-Wigo verwendeten, mitzunehmen. Er packte Lebensmittel und Medikamente und Munition hinein für den Fall, daß der Wagen mit der Ausrüstung verloren ging. Den Paralysator steckte er sich in den Gürtel. Nachdem er sich die prall gefüllte Tragtasche geschultert hatte, ergriff er die schwere Saurierbüchse und wollte das Haus verlassen. Da sah er sie die Hauptstraße herunterkommen.
* Wirtz sah viele bekannte Gesichter. Aber irgendwie kamen ihm die früheren Freunde und Bekannten fremd vor. Auf ihren Mienen spiegelte sich Fanatismus. Sie waren zu allem entschlossen. Sie trugen Fackeln, die sie über den Köpfen schwangen, und machten einen Höllenlärm. Allen voran schritt Dr. Algiaro. Der Ara machte ein verkniffenes Gesicht. In der Rechten hielt er seinen Medo-Koffer fest umklammert. Die Ausrüstung der anderen war weniger harmlos, sie trugen fast alle Waffen. An der Spitze der Meute, gleich hinter Dr. Algiaro, befanden sich auch George Seymour, der Besitzer der Funkstation, und der Krämer Ben Sakjos. In ihrem Fahrwasser schritt auch der Mechaniker Steam Styror und gab Hetzparolen von sich. »Lyncht die Amokläufer, bevor sie uns
23 anstecken!« Solche und ähnliche Rufe wurden ständig laut. Wirtz suchte aber vergeblich nach Gombard, Vianna oder Spindel. Warum hatten sie sich nicht an der Menschenjagd beteiligt? Sicher hatte Gombard in der allgemeinen Hysterie seinen kühlen Verstand bewahrt, aber auch er würde ihn, Wirtz, für besessen halten müssen, weil auch er dem Hohlweltwahn verfallen war. »Der Wagen ist startbereit«, hörte Wirtz Helvin hinter sich sagen. »Sieh dir das an, Helvin. Hier kannst du sehen, wie schnell Menschen, die sonst harmlos und friedlich sind, zu blutrünstigen Bestien werden können.« Helvins Atem ging schneller, als er durch das Fenster blickte und sah, wie sich die fackelschwingende Menge auf das Haus zubewegte. »Nichts wie weg von hier«, sagte Helvin und packte Wirtz an der Schulter. »Ich habe keine Lust, die Freundschaft meiner früheren Kameraden auf die Probe zu stellen.« »Gehen wir!« sagte Wirtz. Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, begaben sie sich im Laufschritt zum Hinterausgang. Sie waren kaum im Freien, als es beim Dschungelrand aufblitzte. Im nächsten Augenblick bohrte sich ein gebündelter Energiestrahl in die Hauswand – keine Armlänge von Wirtz entfernt. »Du hast doch nicht geglaubt, daß ich dich so leicht entkommen lassen würde, Goldjunge!« ertönte Spindels schrille Fistelstimme. »Kommt raus, ihr beiden, und ergebt euch.« Wirtz hob die Saurierbüchse und drückte ab, ohne zu wissen, mit welcher Munition sie geladen war. Die Detonation des Schusses klang noch nach, als am Dschungelrand eine kleine Atomexplosion stattfand. Die Antwort kam prompt. »In Deckung, Goldjunge!« rief Spindel. »Ich habe mit deinem Fluchtwagen ein kleines Feuerwerk vor.« Wirtz rettete sich durch einen mächtigen
24 Satz ins Haus zurück. Kaum war er in Deckung gegangen, als eine Reihe von Energieblitzen in den Geländewagen einschlug und ihn zur Explosion brachten. Die folgende Druckwelle war so stark, daß sie die eine Seite des Hauses eindrückte und an einer Stelle ein mannsgroßes Loch riß. Wirtz und Helvin krochen durch die Trümmer zur Vorderseite des Hauses. Dort war die Meute zum Stillstand gekommen. Wirtz sah durch das Fenster, daß ein Mann mit dem Gesicht zur Menge stand und sie mit gestikulierenden Armbewegungen zu beruhigen versuchte. Es war Gombard, aber Wirtz konnte seine Worte nicht verstehen, weil sie in dem allgemeinen Geschrei untergingen. Die Bewohner von Menschende schienen mit dem, was Gombard ihnen zu sagen hatte, nicht einverstanden zu sein. Jetzt kam Dr. Algiaro auf Gombard zu, doch dieser stieß den Ara zurück. Als der Lärm etwas nachließ, hörte Wirtz seinen ehemaligen Freund zu Dr. Algiaro sagen: »Sie sind für diesen Wahnsinn verantwortlich. Sie allein waren es, der die Leute zur Lynchjustiz aufgefordert hat.« »Das ist keine Lynchjustiz«, erwiderte Algiaro. »Diese beiden Männer sind keine Menschen mehr. Sie stehen unter dem Einfluß einer parapsychischen Macht! Wenn wir sie nicht töten, werden sie Menschende den Untergang bringen.« Der Ara wandte sich der Menge zu und rief: »Bringt Holz und zündet ein Feuer an. Wir müssen die Teufelsbrut verbrennen, um unser Leben zu retten.« Die Männer und Frauen folgten seinem Aufruf. Sie schleppten von allen Seiten Reisig, Äste und ganze Baumstämme junger Bäume heran und errichteten vor dem Haus zwei Scheiterhaufen. Einige konnten das kommende Schauspiel nicht mehr erwarten und schleuderten ihre Fackeln gegen das Haus. Die Fackeln blieben auf dem Holzdach liegen, prallten von der Hauswand ab, und einige durchschlugen
Ernst Vlcek Fensterscheiben und fielen in die Räume. Wirtz konnte zwei Fackeln auslöschen, bevor das Feuer um sich griff. Doch es dauerte nicht lange, bis der Brandgeruch Wirtz in die Nase stach und sich in der Luft Rauchschwaden ausbreiteten. »Das Dach steht in Flammen«, erklärte Helvin entsetzt. »Verdammt Froom, die wollen uns bei lebendigem Leibe schmoren lassen!« »Wozu sonst, glaubst du, errichten sie die beiden Scheiterhaufen?« »Aber was sollen wir nur tun?« »Abwarten – und auf unsere Chance warten.« So ruhig und zuversichtlich, wie Wirtz sich gab, war er lange nicht. Aber er erreichte damit zumindest, daß Helvin nicht die Nerven verlor. Wirtz wußte, daß ihre Chancen gering waren, lebend von hier fortzukommen. Wenn sie der Meute in die Hände fielen, konnte keine Macht des Universums sie retten. Da halfen auch Gombards Appelle an die Vernunft nichts. Da ihr Fluchtwagen von Spindel in die Luft gejagt worden war, waren ihre Chancen noch weiter gesunken. Und durch den Hinterausgang einen Ausbruchsversuch zu unternehmen, wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Spindel und seine Heckenschützen warteten nur darauf. Da war es noch erfolgversprechender, die Flucht an der Vorderseite und mitten durch die Menge hindurch zu versuchen. Wirtz wartete auf eine günstige Gelegenheit. Gombard hatte es noch nicht aufgegeben, die entfesselte Meute zur Vernunft zu bringen. »Wirtz und Proterrand sind Kranke«, rief er der Menge zu. »Ihr könnt sie nicht töten, nur weil ihr Geist gestört wurde. Sie sind trotz allem noch Menschen. Sie brauchen unser Mitleid und verdienen euren Haß nicht. Es sind doch eure Freunde, die ihr da richten wollt. Das, was ihr vorhabt, ist Mord.«
Im Bann der Hohlwelt »Es ist Selbstschutz!« wetterte Algiaro dagegen. »Dieser Hund, ich werde ihn …«, rief Helvin haßerfüllt. Er hatte die schwere Saurierbüchse hochgerissen und nahm Ziel. Wirtz schlug ihm jedoch den Lauf nach unten. »Laß den Blödsinn«, herrschte Wirtz ihn an. »Dadurch würdest du unser Todesurteil nur beschleunigen. Außerdem ist die Waffe nur mit Nebelpatronen geladen …« Wirtz verstummte abrupt. Rauch legte sich ihm auf die Atemwege und er mußte husten. »Was ist?« erkundigte sich Helvin besorgt. Wirtz winkte ab. »Es ist schon wieder vorbei.« »Irrtum, jetzt beginnt es erst. Wenn wir noch länger im Haus bleiben, fällt uns der Dachstuhl auf den Kopf, Froom. Wir müssen hier raus!« Wirtz nickte. »Ich weiß auch schon wie. Du hast mich auf eine Idee gebracht. Die Nebelpatronen werden uns helfen. Wenn ich dir das Zeichen gebe, feuerst du in die Menge vor dem Haus.« »Du willst mitten durch die Leute hindurch?« Helvin wurde blaß. »Aber dann laufen wir ihnen direkt in die Hände.« »Der Nebel wird unsere Flucht begünstigen«, versicherte Wirtz. »Einer wird dann den anderen nicht sehen und Freund von Feind nicht unterscheiden können. Das ist unsere einzige Chance.« Das leuchtete auch Helvin ein. »Wie lange willst du dann noch warten, Froom?« »Keine einzige Sekunde mehr. Los, feuere dein Magazin leer, Helvin.« Wirtz brauchte das nicht zweimal zu sagen. Helvin hob die schwere Waffe und drückte ab. Die erste Nebelpatrone schlug dicht vor Dr. Algiaros Füßen ein. Helvin schwenkte die Waffe, so daß die Nebelpatronen über die Menge verteilt wurden. Zwölfmal schoß er, dann war das Magazin
25 leer. Helvin wollte nachladen, aber Wirtz ließ ihm keine Zeit. »Jetzt weg von hier, bevor sie unsere Absicht durchschauen und das Haus stürmen!« Inzwischen war die Hauptstraße vor dem Haus in dichten Nebel gehüllt. Der Rauch des brennenden Hauses verstärkte die Wirkung der Nebelpatronen noch mehr, so daß ein dichter, undurchdringlicher Qualm entstand, in dem man nicht einmal die Hand vor dem Gesicht sehen konnte. Der Nebel breitete sich immer mehr aus und trieb in dichten Schwaden zum Dschungelrand hinüber. »Bleib dicht bei mir, Helvin«, riet Wirtz seinem Kameraden. »Am besten, du hältst dich am Lauf meiner Waffe fest.« Wirtz sprang durch ein eingeschlagenes Fenster ins Freie. Helvin folgte sofort und sprang ihm halb auf den Rücken, weil er nichts mehr sehen konnte. »Da, halte dich an meiner Büchse fest«, raunte Wirtz. »Und jetzt kein einziges Wort mehr. Wenn sich dir jemand in den Weg stellt, dann schlage ihn nieder.« Rings um sie ertönte wüstes Geschrei. Schemen tauchten auf und verschwanden wieder. »Umstellt das Haus, damit sie nicht entkommen können!« Wirtz erkannte Algiaros Stimme, aber er bezweifelte, daß alle ihn in dem Lärm so gut verstehen konnten. Wirtz stieß gegen jemand. Eine derbe Hand packte ihn am Oberarm und eine rauhe Stimme fragte: »Wer bist du, Freundchen?« »Derjenige«, antwortete Wirtz und paralysierte den Mann. Immer wieder stießen sie gegen Leute, die durch den Nebel irrten. Wirtz bahnte sich rücksichtslos seinen Weg. Zweimal noch mußte sein Paralysator in Aktion treten, weil zu Hartnäckige sich an ihn klammerten. Dann hatten sie sich durch die Meute geboxt. Der Nebel war zwar immer noch so dicht,
26 daß man überhaupt nichts erkennen konnte, aber jetzt tauchten darin zumindest keine Leute mehr auf. Wirtz beschleunigte seinen Schritt und blieb beharrlich auf der Hauptstraße. »Warum schlagen wir uns nicht in den Dschungel? Wenn sich der Nebel lichtet und wir immer noch in der Siedlung sind …« »Mund halten, Helvin«, sagte Wirtz unbeherrscht. »Glaubst du, ich weiß nicht, was ich will?« Wirtz verfiel in Laufschritt. Als sie die Randzone des Nebels erreicht hatten, schälten sich die Umrisse der Häuser heraus. In einigen brannte noch Licht, Wirtz war aber sicher, daß sich alle Bewohner an dem Spektakel beteiligten, das ihm fast den Tod gebracht hätte. Sie erreichten das Lagerhaus der Bergungsgesellschaft. »Ah, jetzt verstehe ich«, sagte Helvin und lachte. »Du willst einen der Geländewagen klauen.« »Gut kombiniert.« Wirtz rüttelte an dem schweren Tor, aber es war verschlossen. Er fluchte. »Bleibt uns nur noch das Vehikel, das Styror in Reparatur hat. Hoffentlich ist es fahrbereit.« Wenig später erreichten sie die Reparaturwerkstätte. Auch hier brannte Licht, aber keine Menschenseele war zu sehen. Der Geländewagen stand als einziges Gefährt inmitten der Halle. Die Motorhaube war abgenommen, Werkzeug lag überall herum. Als Wirtz das Fahrzeug mit fachkundigem Blick in Augenschein nahm, konnte er jedoch keine Mängel mehr feststellen. Styror hatte alle Teile wieder zusammengebaut. Es war nur zu hoffen, daß er auch die schadhaften gegen neue ausgetauscht hatte. Wirtz schwang sich in den Wagen und ließ den Motor an. Der Geländewagen setzte sich ohne weiteres in Bewegung. Helvin hieb Wirtz überschwenglich die Hand auf die Schulter, daß der kleine Schatzgräber meinte, das Schlüsselbein bre-
Ernst Vlcek che ihm. »Gerettet!« Sie fuhren die Hauptstraße in entgegengesetzter Richtung davon und bogen dann in die Dschungelschneise ein, die zur Ausgrabungsstelle führte. Als Wirtz sich noch einmal umdrehte, sah er einen hohen Nebelpilz über der Siedlung schweben, der von unzähligen Fackeln und dem Feuer seines brennenden Hauses erhellt wurde. Das Geschrei der Meute war noch lange zu hören.
8. Der Wagen blieb im schlammigen Boden stecken. Der Motor erstarb und sprang nicht wieder an. Wirtz besah sich die Bescherung im Licht einer Taschenlampe, die er unter dem Werkzeug fand. »Styror hat Pfuscharbeit geleistet«, stellte Wirtz fest. »Da ist nichts mehr zu wollen. Selbst wenn wir den Wagen aus dem Morast bekämen, könnten wir ihn nicht wieder fahrbereit machen.« Helvin drückte mit einem herzhaften Fluch aus, was er von der Angelegenheit hielt. Wirtz ließ den Schein der Taschenlampe über den Dschungel ringsum wandern. Sie waren von undurchdringlichem Dickicht umgeben. Nur vor ihnen schlängelte sich ein schmaler Pfad dahin, der zur Not mit einem Geländewagen befahrbar war. Aber daraus wurde nun nichts mehr. Einige Nachttiere zogen sich kreischend zurück, als das Licht der Taschenlampe sie traf. »Es hätte keinen Sinn, sich den Gefahren des Dschungels auszusetzen«, stellte Wirtz fest. »Deshalb ist es besser, wenn wir im Wagen übernachten. In der Dämmerung setzen wir den Weg dann fort.« Helvin nickte mit verzerrtem Gesicht. »Ich glaube auch nicht, daß man die Verfolgung in der Nacht aufnimmt«, sagte er
Im Bann der Hohlwelt mit seltsamer Stimme. »Und immerhin haben wir einige Kilometer Vorsprung herausgeholt. Etwas Entspannung wird uns nach diesen Strapazen nicht schaden.« Wirtz hatte sofort gemerkt, daß mit Helvin etwas nicht stimmte. Er beleuchtete sein Gesicht mit der Taschenlampe und ließ den Lichtstrahl an ihm hinunterwandern. Helvin hielt sich mit beiden Händen den Oberschenkel des rechten Beines. »Was ist?« fragte Wirtz. »Kaum der Rede wert«, antwortete Helvin gepreßt. »Während der Flucht hat sich nur das Biomolplast von einer der Bißwunden gelöst.« Wirtz besah sich die Wunde. Sie sah böse aus und mußte höllisch schmerzen. Was Helvin gesagt hatte, stimmte nicht. Es hatte sich nicht nur das Biomolplast gelöst, sondern ein Metallsplitter ragte aus der Wunde heraus. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« meinte Wirtz vorwurfsvoll. »Das muß schon bei der Explosion des Geländewagens passiert sein.« »Ich schwieg, weil ich befürchtete, daß du mich zurücklassen würdest, wenn ich verwundet bin.« »Idiot.« Wirtz behandelte die Verletzung. Er vereiste die Stelle, zog den Splitter heraus, desinfizierte die Wunde und verschloß sie mit Biomolplast. »Und jetzt versuch ein wenig zu schlafen, Helvin.« Aber Helvin konnte nicht schlafen. »Ich verstehe das alles immer noch nicht«, sagte er. »Was ist nur in die Leute gefahren, daß sie sich plötzlich wie die wilden Tiere benehmen?« »Ich weiß es auch nicht, Helvin, ich kann es nur vermuten«, antwortete Wirtz. Er hatte eine Anti-Schlaftablette genommen und war hellwach, seine Sinne geschärft und angespannt. Er kannte den Dschungel von WigaWigo inzwischen gut genug, um allein an den Geräuschen eventuelle Gefahren abschätzen zu können.
27 Wirtz fuhr fort: »Es muß mit dem abgestürzten Raumschiff zusammenhängen. Wir wissen überhaupt nichts darüber und kennen nur seine ungefähre Form. Es ist riesengroß und scheint relativ intakt zu sein. Vielleicht lebt noch jemand von der Besatzung und hat Gegenmaßnahmen ergriffen, als er sich durch uns bedroht sah.« »Und du meinst, dieser Jemand hat mit Hilfe einer uns unbekannten Technik – oder auch mittels parapsychischer Fähigkeiten die Bewohner von Menschende beeinflußt?« »So könnte es gewesen sein«, meinte Wirtz. »Wenn er damit erreichen wollte, daß man die Finger von seinem Raumschiff läßt, dann hat er Erfolg gehabt. Gombard ließ die Stollen bereits zuschütten.« »Schön und gut, aber warum sind wir beide von der Beeinflussung nicht betroffen? Was haben wir an uns, das uns immun macht?« »Ich weiß es nicht, und es interessiert mich im Moment auch nicht«, sagte Wirtz. »Der fremden Macht scheint unsere Immunität jedenfalls nicht zu behagen, denn warum sonst hätte sie die Besessenen dazu getrieben, uns zu lynchen. Begreifst du, Helvin? Wir beide sind die einzigen auf WigaWigo, die über die Vorfälle in Menschende Bescheid wissen. Wir müssen die Forschungsstation erreichen und einen Funkspruch nach Brantonfeyn abschicken. Man wird eine Expedition zusammenstellen und nach Menschende entsenden. Nur so können wir unseren Freunden helfen.« »Ich weiß nicht, ob ich in ihnen jemals wieder Freunde sehen kann. Wie soll ich vergessen, daß sie mich verbrennen wollten.« »Wenn wir erst diesem Spuk ein Ende gemacht haben, werden auch sie wieder normal. Du wirst sehen, es wird alles wieder wie früher. Aber um das zu erwirken, müssen wir erst einmal die Forschungsstation erreichen.«
*
28 Mit der einsetzenden Dämmerung machten sie sich auf den Weg. Wirtz hing sich die Tragtasche um, in der sich die gesamte Ausrüstung befand, die ihnen nach der Vernichtung ihres Geländewagens geblieben war. Die schwere Saurierbüchse trug er ebenfalls um die Schulter gehängt, weil er hier im dichten Dschungel mit ihr nicht viel ausrichten konnte. Für den Nahkampf mit Dschungeltieren war der Paralysator immer noch besser. Wirtz schaltete ihn jedenfalls auf maximale Leistung. In der ersten Hälfte des Tages kamen sie ziemlich rasch voran. Der Jägerpfad war erst vor kurzem behauen worden, so daß ihnen kaum Hindernisse im Weg lagen. Dennoch bereute Wirtz, nicht auch ein Buschmesser an sich genommen zu haben. Nach zwei Stunden legten sie die erste Rast ein. Sie tranken ein paar Schluck Wasser, aßen eine Konserve und schluckten Antibiotika. Eine Viertelstunde später brachen sie wieder auf. Als sich Wirtz nach einer Weile nach Helvin umsah, war dieser an die dreißig Meter zurückgefallen. Er hinkte auf dem rechten Bein. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, schaltete Wirtz eine langsamere Gangart ein. Aber nach einer halben Stunde war Helvin wiederum zurückgefallen; sosehr er sich auch abmühte, er war nicht kräftig genug, um mit Wirtz Schritt halten zu können. »Komm, ich trage deine Saurierbüchse«, bot sich Wirtz an. »Nicht nötig«, lehnte Helvin kategorisch ab. »Ich bin doch kein Invalide, daß ich meine Waffe nicht selbst tragen könnte. Kümmere du dich nur nicht um mich.« Wirtz sagte nichts darauf, sondern wurde noch langsamer. Es wurde immer heißer. Das Blätterdach hoch über den Männern förderte die Treibhausatmosphäre. Es war schwül, den Männern trieb es den Schweiß in Strömen aus den Poren. Es wurde immer dunstiger. Die Luftfeuchtigkeit bereitete den beiden Schatzsu-
Ernst Vlcek chern Atembeschwerden. Dazu kam noch, daß die Mücken immer lästiger wurden. Viele der Mückenarten waren harmlos, anderen wieder waren gefährliche Krankheitserreger, die durch ihren Stich bösartige Infektionen übertrugen. Zwar besaßen die Antibiotika-Tabletten eine große Breitenwirkung und waren gegen die meisten Infektionen von Wiga-Wigo wirksam, doch führten die Insektenstiche zu unangenehmen Nebenwirkungen. Wirtz Gesicht war bald völlig verquollen, aus seinen Handrücken zeigten sich Beulen, die unerträglich juckten. Seine Augen lagen hinter unförmigen Wülsten halb verborgen und er sah nur noch durch schmale Schlitze. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, machten sie unter einem Mammutbaum nahe einem Tümpel Rast. Helvin ließ sich erschöpft ins Unterholz fallen, sprang aber sofort wieder mit einem Schrei hoch. Wirtz sah, daß an seinem Rücken ein zerquetschtes Weichtier klebte. »Verdammt, wird mir übel«, schrie Helvin. »Was habe ich im Rücken? Bin ich gebissen worden?« »Du verbreitest nur einen Übelkeit erregenden Gestank«, meinte Wirtz grinsend. »Aber sonst bist du in Ordnung.« Helvin riß sich die Bluse vom Leib und betrachtete den Kadaver angeekelt. Er deutete zu dem Tümpel. »Ich werde ein Bad nehmen müssen, sonst wird mir noch schlecht«, sagte er. »Tu es besser nicht«, riet Wirtz. »Ich habe festgestellt, daß dich die Mücken in Ruhe lassen, seit du so gotterbärmlich stinkst.« »Lieber von Insekten zerstochen werden, als den Geruch noch länger ertragen zu müssen«, sagte Helvin und humpelte zum Tümpel. Er kann sein rechtes Bein kaum noch gebrauchen, dachte Wirtz. »Schau sich einer das einmal an«, rief Helvin, als er den Tümpelrand erreicht hatte. »Ringsum nichts als fein säuberlich abgenagte Knochen …« Er ließ seinen Worten einen Schrei des
Im Bann der Hohlwelt Entsetzens folgen. Wirtz sah, wie sich aus der schlammigen Brühe ein mit Stacheln bewehrter Tentakel erhob und auf Helvin zuschnellte. Helvin drückte instinktiv seine mit Sprenggeschoßen geladene Saurierbüchse ab, und der Tentakel wurde in tausend Stücke gerissen. Aber damit war Helvin noch nicht gerettet. Dem einen Tentakel folgten weitere, und dann tauchte der unförmige Körper eines unbeschreiblichen Monstrums auf. Es schien, als hätte dieses Ungeheuer die Ausmaße des Tümpels – und wahrscheinlich war dieses Wasserloch auch seine Behausung, in der es ahnungslosen Dschungelbewohnern auflauerte, die hierher zur Tränke kamen. Das wäre eine Erklärung für die vielen Skelette gewesen. Helvin stolperte rückwärts, verstrickte sich mit einem Bein in einer Liane und flog hin. Er wäre dem Monstrum zum Opfer gefallen, wenn Wirtz nicht eingegriffen hätte. Er wollte einen Schuß mit der Saurierbüchse nicht riskieren, um nicht vielleicht auch Helvin zu verletzen, deshalb setzte er den Paralysator ein. Aber es bedurfte eines zwanzig Sekunden währenden Lähmstrahls höchster Intensität, um die Bestie auszuschalten. Dann erst brach sie konvulsivisch zuckend zusammen und kam halb aus dem Tümpel zu liegen. »Mir ist der Appetit auf Körperpflege vergangen«, sagte Helvin schaudernd. Er schlüpfte wieder in die Bluse. »Wenn mir mein Gestank selbst zu unerträglich wird, kann ich mir ja immer noch die Nase zuklemmen.«
* Sie gönnten sich für die Mittagsrast etwa eine Stunde, dann brachen sie wieder auf. Der Jägerpfad führte aber nur noch an die drei Kilometer weit, dann verlor er sich in undurchdringlichem Dschungel. Wieder schalt Wirtz mit sich, daß er kein Buschmesser mitgenommen hatte. Aber immerhin hatte er einen primitiven Ersatz ge-
29 funden. Unter den Skeletten beim Tümpel waren auch einige Knochen gewesen, die in etwa die Form eines Schwertblatts besaßen. Wirtz hatte die Schneiden mit Steinen bearbeitet, so daß sie messerscharf geworden waren. Dieser Buschmesserersatz bewährte sich bei seinem ersten Einsatz recht gut. Wirtz konnte damit das Blätterwerk teilen, Lianen zerschneiden und sogar Äste von Büschen und Bäumen abhacken. Einmal hatte er damit sogar eine Echse geköpft, die mit ihren scharfen Zähnen nach ihm schnappte. Ein andermal zweiteilte er eine fette, grünschillernde Spinne damit, die sich an ihrem silbernen Faden blitzschnell auf ihn herunterließ. Danach mußten Wirtz und Helvin allerdings um ihr Leben laufen, denn als sei dies das Zeichen zum Angriff senkten sich nun von allen Ästen im Umkreis von fünfzig Metern Dutzende von gleichartigen Spinnen aus den Baumkronen. Wirtz atmete erst auf, als sie auf eine kleine Lichtung kamen und über ihnen freier Himmel war. Ihnen war aber nur eine kurze Verschnaufpause gegönnt. Helvin kam gerade keuchend auf die Lichtung gehumpelt, als dicht vor ihnen ein furchterregendes Gebrüll ertönte. Die Büsche teilten sich, und ein schlanker, langgestreckter Körper mit einem halben Dutzend Beinpaaren kam auf die Lichtung geschnellt. Wirtz duckte ab und riß gleichzeitig die Saurierbüchse von der Schulter. Doch bevor er sie in Anschlag bringen konnte, wurde er zu Boden gerissen. Ein höllischer Schmerz durchraste seine Körperseite. Hinter ihm schrie Helvin auf. Wirtz konnte sich abrollen und kam wieder auf die Beine. Da sah er, wie die gut drei Meter lange Raubkatze mit ihrem ganzen Körpergewicht auf Helvin lastete. Nur sein Kopf und die Schulterpartie ragte darunter hervor. Er konnte sich überhaupt nicht bewegen. Die Raubkatze hatte ihr riesiges Maul aufgerissen, und messerscharfe Fänge
30 ragten daraus hervor. Ohne lange zu überlegen, sprang Wirtz der Bestie auf den Rücken und hieb mit dem Tierknochen auf ihr Genick ein. Die zwölfbeinige Raubkatze wand sich unter den Schlägen. Sie ließ von Helvin ab und wandte sich dem neuen Gegner zu, der ihr nicht unerheblichen Schmerz zufügte. Wirtz merkte, wie sich das Raubtier unter ihm wegdrehte, er versuchte sich im Rückenfell festzukrallen, doch da traf ihn ein Prankenhieb in die Seite und schleuderte ihn in hohem Bogen fort. Er hatte kaum den Boden erreicht als die Bestie mit einem gewaltigen Satz nachsprang. Er sah das Untier über sich und schloß mit dem Leben ab. Plötzlich gab es einen furchtbaren Knall, der Wirtz Trommelfell zu zerreißen schien. In seinen Ohren war ein Brausen, als hielte er sich eine Muschel daran. Dann war absolute Stille, und Wirtz sah das folgende Geschehnis nur noch wie in einem Stummfilm. Gleichzeitig mit dem Knall bekam das Raubtier einen Schlag gegen die Seite. Eine tiefe Wunde tat sich in seinem Körper auf, Blut spritzte … Die Bestie wurde von der Wucht des Schlages einige Meter durch die Luft geschleudert, fiel auf den Boden auf und wurde von dem Aufprall noch einmal durchgeschüttelt. Dann blieb sie reglos liegen. Wirtz blickte zur anderen Seite. Keinen Meter von ihm entfernt war die noch rauchende Mündung von Helvins Saurierbüchse. Helvin hatte sie so nahe an Wirtz abgefeuert, daß ihn die Schußdetonation taub machte. Helvin war blutüberströmt. Aber er grinste, und seine Lippen bewegten sich. Wirtz konnte kein Wort verstehen. Auch als er antwortete, war seine Stimme unhörbar. Er wußte nur, daß er zu Helvin sagte: »Danke, du hast mir das Leben gerettet.« Aber er hörte es nicht. Helvin grinste noch immer, aber das Grinsen wurde verzerrter, dann verdrehte er die Augen und kippte um.
Ernst Vlcek
* Wirtz hatte Helvin verarztet. Er hatte alles Biomolplast aufgebraucht, um seine Wunden zu schließen. Helvin hatte viel Blut verloren und war auch noch drei Stunden nach dem Kampf gegen die Raubkatze ohne Bewußtsein. Wirtz bastelte aus einigen hohlen Ästen, Lianen und Blätterwerk eine Bahre, auf die er Helvin legte und die er hinter sich nachschleifte. So kämpfte er sich bis zur Abenddämmerung durch den Dschungel, bis er zum schlammigen Ufer eines breiten, aber seichten Stromes kam. Hier suhlten sich riesige Saurier im Schlamm. Sie waren die Beherrscher des Stromes und würden alles niederwalzen, was ihren Weg kreuzte. Wirtz suchte sich einen Baumriesen aus, dessen Stamm so dick war, daß wahrscheinlich zehn Ertruser ihn nicht umfassen konnten, und sprengte mit einer Explosivpatrone eine Aushöhlung hinein, die groß genug war, um ihnen beiden Schutz zu bieten. Der Knall der Explosion scheuchte zwar die Saurier auf, aber zum Glück flüchteten sie in das savannenartige Gebiet auf der anderen Seite des Flusses. Nachdem Wirtz die Öffnung im Baum mit dicken Ästen so weit verschlossen hatte, daß nur noch eine kleine Öffnung frei blieb, verfrachtete er Helvin mitsamt der Bahre hinein. Inzwischen kamen die Saurier nach und nach wieder zu ihrer Suhle zurück. Wirtz schickte sich gerade an, ebenfalls Schutz für die Nacht in der Baumhöhle zu suchen, als er ein gleichförmiges Geräusch am Himmel hörte. Es war für ihn kaum vernehmbar, weil er immer noch fast taub war. Er blickte zum Himmel und entdeckte nach einigem Suchen einen langsam dahinschwebenden Punkt, der bald darauf hinter den Baumkronen verschwand. Kein Zweifel, daß es sich dabei um einen der Gleiter aus Menschende handelte, der nach ihnen suchte.
Im Bann der Hohlwelt Wirtz blickte über den Strom zu der Savanne, die sich hinter dem anderen Ufer tief ins Land hinein erstreckte. Dort drüben würden sie praktisch ohne Deckung und aus der Luft leicht auszumachen sein. Wirtz suchte die Baumhöhle auf. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen. Morgen würden sie weitersehen.
9. Wirtz leistete sich in dieser Nacht sogar einige Stunden Schlaf, denn die Baumhöhle bot vor gefräßigen Nachtschwärmern einigen Schutz. Jetzt saß er auf einer dicken Baumwurzel im Uferschlamm und starrte zu den Sauriern hinüber, die nichts anderes zu tun hatten, als sich im Schlamm zu wälzen, oder Wasser in ihre Borstenmäuler fließen zu lassen, die ihrer Größe wegen Wirtz an Baggerschaufeln erinnerten. Er dachte nur kurz an die Vorkommnisse in Menschende. Sie waren im Augenblick gegenstandslos, denn für ihn und Helvin ging es in erster Linie ums Überleben. Wenn sie die Forschungsstation nicht erreichten, dann war alles andere sowieso unwichtig. »Froom!« Wirtz sprang auf und begab sich zur Baumhöhle. Er lächelte aufmunternd in die Dunkelheit hinein und sagte: »Na, gut geschlafen, Helvin?« »Hast du mir irgendein Mittel gegeben?« fragte Helvin zurück. »Du brauchtest Ruhe.« »Aber ich habe dich am Weiterkommen gehindert, Froom … Ich möchte nicht, daß ich dir weiter zur Last falle.« »Dann steh auf und komm heraus!« »Ich kann nicht! Meine Beine … sie lassen sich nicht bewegen.« »Na, siehst du.« »Laß mich hier zurück, Froom.« Wirtz holte die Bahre mitsamt Helvin aus der Baumhöhle und bettete ihn in den Schatten des Baumes.
31 »Die Saurier erinnern mich an die Geschichte von einem Jäger, die man mir in Menschende erzählt hat. Kennst du sie auch, Helvin?« »Wenn du die Geschichte von Gragmor Teiger meinst, der Saurier wie Pferde reitet – ja.« »Jawohl, ich rede von Gragmor Teiger. Glaubst du, daß es wahr ist, was man sich über ihn erzählt?« »Es könnte alles wahr sein, was man sich über Teiger erzählt«, sagte Helvin. »Er kommt nur selten nach Menschende, er treibt sich mehr im Gebiet der Meeresküste herum. Ich selbst habe ihn vor fünf Monaten kennengelernt. Ein schrulliger Kauz. Er ist steinreich und könnte sich seinen eigenen Kleinplaneten kaufen, um dort ein geruhsames Leben zu verbringen. Aber nein, er durchstreift als Pelztierjäger die Wildnis von Wiga-Wigo. Ich traue ihm alles zu. Und was das Reiten von Sauriern betrifft, ist er nicht der einzige, der diesen Sport betrieben hat. Aber – du hast doch nicht so etwas vor?« »Warum nicht? Was andere können, das kann ich schon lange.« »An Selbstvertrauen mangelt es dir jedenfalls nicht. Aber das allein genügt nicht, um einen Saurier zu reiten.« »Ich habe mir bis ins kleinste Detail erzählen lassen, wie Teiger es gemacht hat. Warum sollte ich es dann nicht schaffen?« »Froom, das tust du doch nur wegen mir. Ich will nicht …« »Blödsinn!« war alles, was Wirtz noch zu diesem Thema zu sagen hatte. Er suchte wieder den Himmel mit den Augen ab, wie er es schon den ganzen Morgen getan hatte. Aber der Gleiter war nicht wieder aufgetaucht.
* Es war Wirtz nicht schwergefallen, das Leittier der Saurierherde herauszufinden. Es war ein nicht überaus großes, aber kraftvolles Exemplar. An seinen vier Säulenbeinen traten bei je-
32 dem Schritt die Muskeln und Sehnen unter der Schuppenhaut hervor. Er hielt den flachgedrückten, breiten Schädel stets gesenkt und blickte von unten mißtrauisch in die Welt. Auf seinem wulstigen Nacken türmten sich geschwulstartig ein halbes Dutzend behaarter Höcker, die man in eingeweihten Kreisen als »Sättel« pries. Diese Buckel besaßen keine Nerven und waren völlig gefühllos, weswegen sich in ihnen auch gerne parasitäre Tiere aller Gattungen einnisteten. Die oft meterlangen Haarbüschel boten einem Reiter noch zusätzlich Halt. Wenn man einen Saurier besteigen wollte, mußte man nur darauf achten, daß man nicht in sein Blickfeld geriet. Eine Witterung des Tieres brauchte man nicht zu befürchten, weil die Saurier dieser Spezies einen nur schwach entwickelten Geruchsinn besaßen. Beim Besteigen eines dieser Höckersaurier konnte man leicht die hornigen Auswüchse an den Flanken der Tiere als Steigleiter benutzen. Allerdings ging das nur, wenn das urweltliche Ungetüm auf dem Bauch ruhte; wenn es stand, boten die drei Meter hohen Säulenbeine ein unüberwindliches Hindernis. Fatal konnte es auch enden, wenn man einen Saurier bestieg, der gerade zu suhlen beabsichtigte, denn wenn sich das Tier auf dem Rücken wälzte, konnte es leicht passieren, daß man zwischen den Höckern zermalmt wurde. Das alles wußte Wirtz. Er hatte zwar keine Ahnung, wie man einen Höckersaurier »lenken« konnte, denn das war ein streng gehütetes Geheimnis der Saurierreiter, doch hatte er Zeit genug gehabt, einen Trick auszuknobeln, um das Tier zumindest in Gang zu bringen. Wollte er den Saurier gegen seinen Willen anhalten, so konnte er zur Not auch die Saurierbüchse einsetzen. Wirtz beobachtete die Herde, vor allem das Leittier. Nach einer halben Stunde stellte er zufrieden fest, daß der Bulle genug von den Schlammspielen hatte und sich am diesseitigen Ufer zur Ruhe begab. Er buddelte sich halb in Schlamm ein und ließ seinen
Ernst Vlcek Schädel, von dem nur Augen und Nüstern herausschauten, vom seichten Wasser umspülen. Dabei kehrte der Bulle Wirtz den Rü cken zu. »Einen besseren Gefallen konntest du mir gar nicht machen«, sagte Wirtz zu sich selbst. Er ging zu Helvin zurück und meinte gutgelaunt: »Es ist soweit mein Freund. Leider läßt es sich nicht umgehen, daß du das letzte Stück aus eigener Kraft zurücklegen mußt. Selbstverständlich werde ich dir behilflich sein.« »Froom«, sagte Helvin eindringlich. »Was du vorhast, ist Selbstmord. Laß mich hier mit etwas Proviant zurück. Wenn du die Forschungsstation erreichst, kannst du jemanden schicken, der mich abholt.« »Tut mir leid, aber die Baumhöhle wird gesprengt.« Wirtz legte die selbstgebastelte Zeitbombe in den ausgehöhlten Baumstamm und wandte sich dann wieder Helvin zu. »In einer halben Stunde findet hier ein Feuerwerk statt. Wenn ich dich hier ließe, würdest du in Stücke gerissen werden.« Wirtz nahm die Bahre an den beiden Tragegriffen und zog sie hinter sich nach durch den Schlamm. Nach fünf Minuten war er auf gleicher Höhe mit dem Leitbullen. Das Tier kehrte ihnen jetzt den Rücken zu; es war nur noch siebzig Meter entfernt. Es waren keine anderen Saurier in der Nähe, so daß sich Wirtz gefahrlos in das schlammige Flußbett wagen konnte. Als Helvin wieder aufbegehren wollte, raunte ihm Wirtz wütend zu: »Jetzt halt endlich den Mund. Oder willst du den Bullen aufscheuchen?« Eine Viertelstunde war vergangen als Wirtz die Flanke des Sauriers erreichte. Sie hatten noch einmal eine Viertelstunde Zeit, um das Tier zu besteigen. Wirtz half Helvin von der Bahre und hob ihn hoch, Helvin klammerte sich mit beiden Händen an die Auswüchse an der Flanke des Tieres. Als er mit den Beinen ebenfalls Halt suchen wollte, knickten sie jedoch ein. Wirtz hob Helvin höher hinauf, damit er sich an die oberen Hornauswüchse klammern konn-
Im Bann der Hohlwelt te. »Halte eine Minute so aus«, raunte ihm Wirtz zu und kletterte an der Flanke des Sauriers hoch; vorher hatte er Helvin eine Liane um die Körpermitte geschlungen, das andere hielt er in der Hand. Nachdem Wirtz den Rücken des Sauriers erreicht hatte, hievte er Helvin am Seil hoch. Helvin half mit, so gut er konnte, indem er sich mit den Armen an den Auswüchsen hochzog. Das ging besser, als Wirtz geglaubt hatte. Als Helvin auf dem Rücken des Sauriers lag, klopfte ihm Wirtz zuversichtlich auf den Rücken. Helvin kroch auf allen vieren zu den kaum zwei Meter entfernten Höckern. Dort angekommen, wurde er von Wirtz so gebettet, daß er es bequem hatte. Dann band Wirtz die Liane an einem Höcker fest, damit Helvin nicht hinunterfallen konnte. Wirtz blickte auf die Uhr. »Noch drei Minuten, dann wird das Vormittagsschläfchen unseres Bullen unsanft gestört werden.« »Hoffentlich bringt er uns nicht in die falsche Richtung«, sagte Helvin. Wirtz schüttelte den Kopf. »Diese schweren Brocken haben im Dschungel keine Chance. Deshalb wenden sie sich bei Gefahr dem offenen Gelände zu, denn dort sind sie zu Hause. Sie können nur in die Savanne flüchten – und in dieser Richtung liegt die Forschungsstation … Noch zehn Sekunden.« Helvin zählte im Geiste mit. Als er bei Null angekommen war, gab es eine urgewaltige Explosion. Der Baum, der ihnen für die Nacht Unterschlupf geboten hatte, wurde förmlich zerrissen und die Trümmerstücke bis zu vierzig Meter hoch in die Luft geschleudert. Die folgende Detonation ließ die Luft erzittern und ein Donnergrollen fegte über das Land. Unter den Sauriern brach eine Panik aus. Wirtz verspürte eine Erschütterung, als sich ihr Bulle ruckartig auf seine Säulenbeine erhob. Er gab ein schauriges Trompeten
33 von sich und setzte sich in Richtung des gegenüberliegenden Ufers in Trab. Dabei entwickelte er eine erstaunliche Geschwindigkeit. »Es funktioniert!« rief Helvin. Wirtz grinste nur. Er wußte, daß die Saurierherde diese Richtung einschlagen würde, denn das tat sie auch gestern schon, als Wirtz die Höhle in den Baum gesprengt hatte. Ihr Bulle erreichte das andere Ufer, die Herde schloß sich ihm an. Der Urweltriese hetzte die Uferböschung hinauf, und dann trommelten seine Beine über den Boden der Savanne. Die Ebene vor ihnen erstreckte sich bis zum Horizont, wo sich ein schmaler, dunkler Streifen abzeichnete. Der Dschungel, in dessen Randzone die Forschungsstation lag. In der Ebene gab es kleinere und größere Inseln aus meterhohem Gras. Dazwischen wuchsen vereinzelt knorrige, niedrige Bäume. Die Saurier durchpflügten die Gräser, trampelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Die tierischen Bewohner der Savanne flohen in wilder Panik vor der sich heranwälzenden Flut aus grauen Leibern. Was vor Schreck erstarrte oder nicht schnell genug laufen konnte, wurde erbarmungslos überrannt. Die Saurierherde preschte in gerader Linie über die Ebene, immer dem Leitbullen nach, den Wirtz und Helvin ritten. Wirtz warf dem Kameraden gelegentlich einen Blick zu. Helvin hielt die Augen geschlossen und biß die Zähne zusammen. Die Erschütterungen mußten ihm arge Schmerzen verursachen, aber er gab keinen Laut von sich. Wenn er Wirtz Blick begegnete, versuchte er ein Lächeln. Wenn Wirtz nicht das vor ihnen liegende Gelände betrachtete, hielt er am Himmel Ausschau nach dem Gleiter. Er war fast sicher, daß er irgendwann auftauchen würde, denn die Explosion mußte meilenweit gehört worden sein. Und sicher würde man nach der Ursache sehen.
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»Wenn die Saurier noch eine Stunde durchhalten, dann sind wir unserem Ziel ein schönes Stück nähergekommen«, hörte Wirtz Helvin über das Donnern der Säulenbeine sagen. Wirtz wollte eben etwas antworten, aber da erblickte er hinter ihnen den Gleiter. Er war noch ziemlich weit weg; wahrscheinlich flog er gerade über die Explosionsstelle. Doch als sich Wirtz kurz darauf noch einmal umdrehte, war der Gleiter größer geworden. Der Gleiter kam rasch näher und würde die Saurierherde in wenigen Minuten erreicht haben. Das konnte das Ende ihrer Flucht sein.
10. »Was soll das?« begehrte Helvin auf, als Wirtz versuchte, ihn unter den Haaren der Höcker zu verstecken. »Wir werden aus der Luft beobachtet«, erklärte Wirtz. »Ein Gleiter kreist schon seit gestern abend in der Gegend. Ich habe es dir nur nicht gesagt, um dich nicht zu beunruhigen.« »Wieso willst du wissen, daß es ein Gleiter aus Menschende ist?« wandte Helvin ein. »Es könnte sich auch um Jäger oder Forstverwalter handeln. Froom, das könnte unsere Rettung sein!« »Oder unser Tod«, erwiderte Wirtz lakonisch. »Besser, wir geben uns nicht zu erkennen. Vielleicht haben wir Glück und werden nicht entdeckt.« Nachdem Wirtz den Kameraden mit den flatternden Haarbüscheln getarnt hatte, kroch er selbst tiefer unter das langhaarige Nackenfell. Er wußte selbst, daß diese Tarnung mehr als lückenhaft war, aber wenn der Gleiter hoch genug flog und man den Leitbullen nicht genau unter die Lupe nahm, konnten sie unentdeckt bleiben. »Siehst du schon etwas?« fragte Helvin nach einer Weile. »Noch nicht«, sagte Wirtz. Er drückte sich fest gegen das Tier, wäh-
rend er sich mit beiden Händen in den Haarbüscheln verkrallte. Er lag auf der Seite, Helvin auf dem Rücken. Lange konnten sie es in dieser Stellung nicht aushalten, denn sie war ungemein kräfteraubend. »Da ist er!« rief Helvin aus. »Er fliegt jetzt genau über uns.« Wirtz hob den Kopf und sah etwa dreißig Meter über sich die Unterseite eines Gleiters, der seine Fluggeschwindigkeit zwar auf ein Minimum gedrosselt haben dürfte, aber trotzdem ziemlich schnell über sie hinwegglitt. »Glaubst du, daß wir entdeckt wurden?« fragte Helvin. »Wenn nicht, werden sie bestimmt noch einmal zurückkommen.« Wirtz hob nach einer Weile den Kopf und sah über die Höcker hinweg. Der Gleiter war ihnen einen Kilometer vorausgeeilt und drehte gerade eine Schleife. »Achtung, sie kommen wieder!« Wenig später kreuzte der Gleiter ein zweites Mal über der Saurierherde. Diesmal kam er jedoch von links und neigte sich zur Seite, gerade als er über dem Leitbullen war. Er rotierte einmal um seine Achse und schoß dann schräg in die Höhe davon. Wirtz hatte einen Blick in die Pilotenkanzel bekommen. »Ich bin nicht hundertprozentig sicher«, sagte er zu Helvin, »aber ich glaube, Spindel im Gleiter erkannt zu haben.« Helvin kam keuchend hoch und blickte in die Richtung, in die der Gleiter verschwunden war. »Das bildest du dir sicher nur ein Froom«, behauptete Helvin. »Wenn der Gleiter aus Menschende gekommen wäre und nach uns suchen würde, wäre er noch einmal zurückgekommen. Aber er dreht ab und fliegt in die Richtung davon, in der die Forschungsstation liegt. Vielleicht gehört er sogar dazu. Froom, wir sollten eine Leuchtrakete abschließen!« »Auf keinen Fall!« entschied Wirtz. Er hatte den Gleiter auch beobachtet, bis er sich seinem Blick entzog. Er verschwand
Im Bann der Hohlwelt hinter einer Reihe hoher Bäume, die sich aus der Ebene erhoben. Wirtz glaubte schon, daß der Gleiter gelandet sei, doch sofort darauf erschien er wieder hinter den Bäumen. Wieder machte er eine Schleife näherte sich diesmal aber nicht der Saurierherde, sondern flog in einiger Entfernung an ihr vorbei. »Da vorne!« rief Helvin plötzlich. »Rauch!« Wirtz kniff die Augen zusammen. Weit vor ihnen züngelten Flammen aus dem Gras, die rasch um sich griffen. Und dann hatte sich eine flammende Wand gebildet, die sich in einem weiten Halbkreis schneller als anderswo weiterfraß. Das Lauffeuer folgte dabei der Route des Gleiters. »Der Buschbrand ist nicht zufällig entstanden«, stellte Wirtz verbittert fest. »Die Besatzung des Gleiters hat ihn gelegt. Man will hier nachholen, was in Menschende nicht gelungen ist.« »Jetzt ist alles aus, Froom«, sagte Helvin. »Du hättest mich zurücklassen sollen. Ohne mich wärest du nicht in diese Lage gekommen.« »Jammern hat keinen Sinn«, herrschte Wirtz ihn an. »Überlegen wir uns besser, wie wir unserem Schicksal entgehen könnten.« »Was sollte uns denn jetzt noch helfen?« Wirtz blickte zurück. Das Feuer hatte inzwischen auch schon in ihrem Rücken um sich gegriffen. Und vor ihnen kam die Flammenwand unheimlich rasch näher, weil der Wind aus dieser Richtung wehte. Der Leitbulle raste immer noch auf die Flammenwand zu. Wirtz glaubte schon, daß er ungeachtet der Hitze und des Qualms seinen Weg unbeirrbar fortsetzen würde und entsicherte die Saurierbüchse bereits für den Gnadenschuß. Aber dann wurde der Bulle etwas langsamer und schwenkte nach rechts ab, wo er noch eine schmale Lücke im Flammenkreis entdeckt hatte. Ein Teil der Herde folgte im stur, die anderen rannten völlig konfus umher.
35 Bevor der Bulle jedoch die Lücke erreicht hatte, schloß sie sich endgültig. »Wir sind in den Flammen eingeschlossen!« rief Helvin entsetzt. Der Leitbulle wechselte erneut die Richtung, aber nur noch ein Dutzend Saurier folgte ihm. Manche Tiere versuchten den Durchbruch durch die Flammen und kamen darin wahrscheinlich um. Jetzt begann auch der Leitbulle sich wie verrückt zu gebärden. Er stürmte auf die Flammen zu, stoppte knapp davor abrupt, indem er die Vorderbeine in den Boden stemmte und hetzte dann in die entgegengesetzte Richtung davon. Das wiederholte sich einige Male. Und bei einem solchen Manöver riß die Liane, mit der Helvin an einen der Höcker gebunden war. Wirtz hörte seinen Verzweiflungsschrei. Doch bevor er ihm zu Hilfe kommen konnte, wurde Helvin hochgeschleudert. Er flog einige Meter durch die Luft, prallte auf dem Rücken des Sauriers auf und schlitterte dann an seiner Flanke herunter. Er geriet in den Wirbel der stampfenden Hinterbeine und wurde von ihnen zermalmt. Wirtz mußte wegblicken. Der Freund tat ihm leid, aber er hatte keine Zeit für Trauer. Der Ritt auf dem Bullen wurde immer gefährlicher, und Wirtz kostete es alle Mühe, sich an den Haarbüscheln der Höcker festzuklammern, damit er nicht Helvins Schicksal teilte. Als der Bulle wieder einmal abrupt stehen blieb, zögerte Wirtz nicht mehr länger. Er setzte dem Bullen die Saurierbüchse im Genick an und drückte ab. Den riesigen Körper des Ungetüms durchlief ein Zittern, als das Geschoß in seinem Gehirn explodierte. Er gab keinen Laut von sich, seine Beine knickten einfach ein, und er plumpste zur Seite. Als er ausgestreckt dalag, zuckten seine Beine noch einmal in einem letzten Reflex. Wirtz hatte sich beim Sturz des Sauriers durch einen Sprung in Sicherheit gebracht. Jetzt erhob er sich aus dem niedergewalzten
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Gras, das seinen Aufprall gedämpft hatte, und blickte sich um. Das Feuer war keine fünfzig Meter mehr von ihm entfernt. Die Luft flimmerte unter der Hitze, der Wind trieb ihm den Rauch ins Gesicht; Funken prasselten auf ihn nieder. In wenigen Minuten würden ihn die Flammen erreicht haben.
* Die beiden Männer in dem Gleiter blickten aus einer Höhe von hundert Metern auf das verbrannte Land hinunter. »Es ist mir ein Rätsel, wie es zu diesem Buschbrand kommen konnte«, sagte der eine von ihnen. Er saß im Kopilotensitz, war schlank und hatte einen gut durchtrainierten Körper. Das kam von den langen Dschungelmärschen, die er täglich im Dienste der Wissenschaft auf sich nahm. Sein Gesicht war wettergegerbt. Er hieß Arlon Petheys und war Doktor der Xenozoologie. »Ich verstehe das auch nicht«, sagte der Mann, der den Gleiter steuerte. »Die Trockenperiode dauert noch nicht lange und das Gras kann nicht so ausgedörrt sein, daß es sich selbst entzündet. Vielleicht liegt ein Fremdverschulden vor.« »Wenn es so ist, dann werden wir sicherlich die verkohlten Reste des Brandstifters finden«, sagte Dr. Arlon Petheys. »Es ging ein starker Wind, der das Ausbreiten des Feuers begünstigte – es muß sich schneller ausgebreitet haben, als ein Mann laufen kann. Wenn wir nicht rechtzeitig eingetroffen wären und das Feuer eingedämmt hätten, wäre die gesamte Savanne draufgegangen.« »Es ist auch so genug Schaden angerichtet worden«, sagte der Pilot. Er deutete nach unten. »Da! Es hat eine ganze Höckersaurierherde erwischt. Das sind mindestens fünfzig verkohlte Kadaver. Landen wir einmal.« Der Pilot war etwas kleiner als sein Begleiter und sah auch nicht so gut wie dieser aus. Er hatte eine Glatze, die er unter einem
breitkrempigen Hut verbarg. Er hatte die derben Hände eines Pioniers, war aber ein Xenobiologe. Er hieß Kliev Spica. Spica ging mit dem Gleiter tiefer und landete ihn schließlich inmitten der verkohlten Saurierkadaver. Die beiden Wissenschaftler stiegen aus. Sie ließen die Waffen im Gleiter. Hier drohte ihnen keine Gefahr, denn in dieser Hölle hatte nichts überleben können, und die geflüchteten Tiere würden nicht so rasch wieder zurückkommen. »Sieh du dort drüben nach«, sagte Petheys, der Xenozoologe. »Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung.« Sie trennten sich. Spica schlurfte mit verkniffenem Gesicht über den ausgebrannten Boden. Er schritt der Sonne entgegen und mußte sich den Hut tiefer ins Gesicht ziehen, um nicht geblendet zu werden. Die rote Scheibe der Sonne stand schon tief, nur wenige Fingerbreit über dem Horizont. Spica erreichte den ersten Kadaver. Es handelte sich um ein trächtiges Saurierweibchen. Es lag zusammengerollt da, so als hätte es noch im Tode die Frucht in ihrem Leibe auf diese Weise vor den Flammen schützen wollen. Der Biologe holte ein kleines Diagnosegerät mit starker Kapazität heraus und fuhr damit über den prallen Bauch des Saurierweibchens. Ein Blick auf die Meßskala genügte, um ihm zu zeigen, daß er richtig vermutet hatte. Er wandte sich um und rief: »Arlon, komm einmal hierher. Ich habe eine interessante Entdeckung gemacht. Schnell.« Minuten später kam Arlon Petheys im Laufschritt heran. »Diese Sauerierkuh ist trächtig«, erklärte ihm Spica. »Und die Jungen in ihrem Leib sind noch am Leben. Außen ist die Haut zwar völlig verkohlt, aber sie war dick genug, um die Jungen vor der Hitze zu schützen. Wenn wir den Bauch aufschneiden,
Im Bann der Hohlwelt können die Jungen noch gerettet werden.« »Dann los. Ich hole die Instrumente aus dem Schweber.« Petheys rannte los und kam kurz darauf mit einem schweren Medo-Koffer zurück. Die beiden Wissenschaftler arbeiteten schnell und präzise. Sie kannten sich aus, denn sie spielten nicht zum erstenmal Geburtshelfer bei einem Saurier. Sie benötigten nur wenige Minuten für den »Kaiserschnitt«, dann plumpsten zwei runzelige, unförmig scheinende Klumpen ins Freie: zwei gesunde Saurierbabys. »Wenn wir sie hierlassen, verhungern sie«, sagte Petheys. »Wir müssen sie zum Fluß hinunterbringen und sie durchfüttern, bis sich ein anderes Weibchen ihrer annimmt.« »Das hat Zeit bis morgen früh«, erwiderte Spica. »Beenden wir noch unseren Rundgang und kehren wir dann in den Stützpunkt zurück.« Sie ließen die beiden Saurierjungen zurück, die kläglich und in schrillsten Tönen trompeteten, und gingen jeder in eine andere Richtung davon. Petheys schritt von einem Kadaver zum anderen. Er konnte sich bei allen Tieren eine Untersuchung ersparen, denn ein einziger oberflächlicher Blick genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß hier jede Hilfe zu spät kam. Plötzlich stutzte der Xenozoologe. Zwanzig Meter vor sich sah er einen dunklen Fleck in der Asche liegen, der annähernd humanoide Formen aufwies. Das konnte natürlich auch eine Täuschung sein. Trotzdem ging Petheys hin. Als er auf das verkohlte Etwas hinunterblickte, krampfte es ihm fast den Magen zusammen. Kein Zweifel, das waren die Überreste eines Menschen männlichen Geschlechts. Petheys wollte gerade nach seinem Kollegen rufen, als er links von sich ein Geräusch hörte. Das handliche Funksprechgerät an die Lippen erhoben, näherte er sich dem Ursprung des Geräusches.
37 Petheys war sicher, daß es von einem stattlichen Bullen gekommen war, der seitlich hingestreckt dalag. Der Zoologe besah sich den Rücken des Bullen und umrundete ihn dann. Als er zu seiner Bauchseite kam, traute er seinen Augen nicht. Die dicke Haut wies einen klaffenden Schnitt auf – es sah fast so aus, als hätte jemand Geburtshelfer gespielt, wie sie vorhin bei der Saurierkuh. Doch hier handelte es sich um einen Bullen. Petheys' Verblüffung wurde noch größer, als aus dem Schnitt eine menschliche Hand zum Vorschein kam und gleichzeitig ein Stöhnen aus der Körperöffnung des Sauriers drang. Er rief über das eingeschaltete Sprechfunkgerät seinen Kollegen herbei und trug ihm auf, den Medo-Koffer nicht zu vergessen. Dann kümmerte er sich um den Fremden, der im Körper des Sauriers eingeschlossen war. Er ergriff die verkrampfte Hand und zog daran. Nach dem zweiten Versuch hatte er den Fremden bis zur Körpermitte aus der Öffnung gezogen. Danach brauchte er sich kaum mehr anzustrengen, um ihn vollends herauszubekommen. »Ich …«, sagte der Fremde mit schwacher Stimme, »glaubte schon, Sie seien Spindel. Er trachtet mir nach dem Leben und hat den Buschbrand gelegt.« »Beruhigen Sie sich, wir wollen Ihnen helfen«, sprach ihm Petheys zu. »Sind Sie … nicht allein?« fragte der Fremde, und seine Augen wurden groß. In diesem Moment tauchte Spica mit dem Medo-Koffer auf. »Wo hast du den Mann gefunden?« fragte der Xenobiologe erstaunt. »Und wie ist es möglich, daß er noch lebt?« »Aus demselben Grund wie die beiden Saurierbabys«, antwortete Petheys. »Er hat den Bauch eines Bullen aufgeschlitzt und darin vor den Flammen Schutz gesucht. Das hat ihm das Leben gerettet. Aber wenn ihm nicht rasch geholfen wird, verliert er es trotzdem.«
38 Petheys holte eine Atemmaske aus dem Koffer und preßte sie dem Fremden an den Mund. »Durchatmen, tief durchatmen«, sagte er dabei. Die schmale Brust des Fremden begann sich merklich zu heben und zu senken. Dann tat er aber etwas Seltsames: er riß sich die Atemmaske vom Gesicht. »He, nicht so stürmisch, Mann«, ermahnte ihn Petheys mit leichtem Vorwurf. »Wir wollen Ihnen doch nur helfen.« »Ich weiß, aber«, sagte der Fremde krächzend. »ich muß Ihnen vorher etwas Wichtiges sagen. Gehören Sie zu der Zoologischen Forschungsstation?« »Ich bin Dr. Petheys, Leiter der Station.« »Das ist gut. Ich war … auf dem Weg zu Ihnen, als mich die Flammen überraschten. Mein Freund …« »Wir haben ihn gefunden.« Der Fremde schloß die Augen und schwieg einige Sekunden. Petheys nahm die Gelegenheit wahr und holte ein Injektionspflaster mit einem Beruhigungsmittel aus dem Koffer. »Was tun Sie da?« rief der Fremde mißtrauisch und versuchte sich aufzubäumen, doch er war nicht kräftig genug und sank wieder zurück. »Seien Sie nicht albern«, sagte Petheys. »Sie können uns ruhig glauben, daß wir nur das Beste für Sie wollen.« »Ich weiß«, murmelte der Fremde. »Aber vorher muß ich Ihnen etwas Wichtiges sagen. Das Schicksal von dreihundert Menschen kann davon abhängen … Sie müssen mir glauben.« »Wir glauben Ihnen ja«, versicherte Petheys. »Aber jetzt …« »Nein, hören Sie mich zuerst an. Wer weiß, ob ich überlebe, dann erfahren Sie nie, welche Gefahr droht. Es betrifft alle Menschen von Wiga-Wigo.« »Sie werden bestimmt durchkommen!« »Trotzdem, ich möchte es jetzt loswerden. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Natürlich nicht«, sagte Petheys beruhi-
Ernst Vlcek gend. »Im Augenblick ist es jedoch wichtiger, daß Sie Ihre Ruhe haben.« Mit diesen Worten preßte er dem Fremden das Injektionspflaster in den Nacken. Der Fremde versuchte sich vergeblich dagegen zu wehren. »Das hätten Sie nicht tun dürfen … Die Besessenen werden … Sie werden … Ich muß alle warnen … auch die Forschungsstation … gefährdet … Mein Name … Froom Wirtz …« Petheys erhob sich seufzend. »Ich habe selten jemand getroffen, der sich so hartnäckig dagegen wehrte, sich helfen zu lassen.« »Vielleicht war es wirklich wichtig, was er uns zu sagen hatte«, gab Spica zu bedenken. »Er war schließlich bereit, sein Leben für diese Sache zu opfern.« »Wir werden früh genug erfahren, was er uns zu sagen hat«, erwiderte Petheys. »Hol jetzt den Gleiter, Kliev, damit wir ihn in den Stützpunkt fliegen können.« Kliev Spica zögerte einen Moment. »Du hast von seinem Freund gesprochen. Wo ist er?« Petheys deutete vage hinter sich. »Wir werden ihn morgen begraben, wenn wir nach den Saurierbabys sehen.« Spica ging und landete bald darauf den Gleiter neben Froom Wirtz. Die beiden Wissenschaftler brachten ihn vorsichtig an Bord und flogen dann in Richtung der untergehenden Sonne davon.
11. Wohin er sich auch wandte – überall waren Flammen. Er wollte sich zu Vianna retten, aber da stellte sich Spindel vor sie. Der dürre Ertruser grinste satanisch und holte hinter seinem Rücken eine Fackel hervor, die er nach ihm stieß. Wirtz wich zurück. Er flüchtete zu seinem Haus. Aber es brannte. Er rannte weiter und suchte in den Stollen Zuflucht, die zu dem abgestürzten Raumschiff in die Tiefe führ-
Im Bann der Hohlwelt ten. Es ist eine versunkene Stadt! gellte eine Stimme durch den Dschungel. Was für ein Wahnsinn! Es gibt keine Raumfahrt, wir leben in einer Hohlwelt! Nein, das war nicht wahr! Froomy – Froomy! Vianna rief ihn. Froomy, du bist ein Besessener. Die böse Macht aus der versunkenen Stadt beherrscht dich. Deshalb mußt du brennen. Er flüchtete erneut und fand sich auf dem schaukelnden Rücken eines Sauriers wieder. Überall um ihn Flammen. Jemand schrie. Es war Helvin. Er schwebte als lebende Fackel über dem Rücken des Sauriers. Die Flammen griffen auf den Urweltkoloß über. Wirtz verbiß sich in den Körper des Sauriers. Er grub einen Stollen in ihn und suchte in der Nässe des zuckenden Körpers Schutz vor der Hitze. Aber dann wurde er brutal aus seinem Versteck gerissen. Es war als würde ein Kind dem schützenden Mutterleib entrissen. Wirtz war nicht stark genug, sich dagegen zu wehren. Die Sonne blendete ihn. Dann wurde die blutrote Scheibe des Himmelskörpers zu einem Gesicht. Es hatte für den Bruchteil einer Sekunde die Züge von Spindel – aber dann wurde es zum Gesicht eines Fremden. Helfen! Helfen! echote es in Wirtz' Gehirn. Er wollte sich dagegen wehren, denn er hatte eine lebenswichtige Botschaft zu überbringen. Aber er kam nicht zum Sprechen. Ihm wurde gewaltsam geholfen, und so versank er wieder in einem Meer von Flammen. Aber diesmal strahlten die Flammen keine Hitze aus. Sie waren kühl, schmerzhaft kühl. Es war das Fegefeuer des Schmerzes. Wirtz schrie. Jemand sagte, und er hörte es ganz deutlich: »Diese Krise muß er noch überstehen, dann ist er über den Berg.« Obwohl Wirtz Sinne für einen Moment so
39 geschärft waren, daß er selbst das Kratzen von Metall auf Metall hören konnte, war er nicht in der Lage, sich den Leuten bemerkbar zu machen. Er konnte die Augen nicht öffnen und sehen, konnte nur hören. Und als er den Mund öffnete, kam über seine Lippen nur ein unartikulierter Schrei. Dann überfiel ihn wieder unheimliche Stille, und er ritt auf einem brennenden Höckersaurier …
* Der Alptraum war vorbei. Wirtz hatte mit seinem Unterbewußtsein und der Welt Frieden geschlossen. Er fühlte sich angenehm entspannt. Eine wohlige Müdigkeit lastete auf ihm. Nicht einmal der Gedanke daran, daß alle Menschen der Schatzgräbersiedlung von einer fremden Macht besessen waren, versetzte ihn in Panik. Er war gerettet – und jetzt würde alles gut werden. Er schlug die Augen auf. Er befand sich in einem Raum, der von einer einzigen Deckenlampe erhellt wurde. Die Lampe spendete ein angenehmes Dämmerlicht, das seinen Augen guttat. Der Raum selbst hatte etwas von klinischer Sterilität an sich. Die Wände waren glatt, schmucklos und weiß. Das Bett, in dem er lag, erstrahlte ebenfalls in desinfizierter Weiße. Alles war sauber, entkeimt. Natürlich, er befand sich in ärztlicher Pflege. Die beiden Fremden, die ihn gerettet hatten, stammten von der Zoologischen Forschungsstation, zu der er wollte. Besser hätte er es gar nicht treffen können. Wirtz betastete seinen Körper. An einigen Stellen waren Brandwunden mit Biomolplast verklebt, aber wenn er dagegen drückte, verspürte er keinen Schmerz. Er hob das Biomolplast an einer Stelle hoch. Die Haut darunter war rosig – künstlich eingepflanztes Hautplasma.
40 Wirtz nickte anerkennend. Die Ärzte der Forschungsstation hatten gute Arbeit geleistet. Als er sich aufsetzte, fühlte er sich noch etwas schwindelig. Doch der Schwindel legte sich schnell wieder. Er blickte zur Seite und sah auf dem Nachtkästchen eine Klingel. Daneben stand eine Blumenvase mit exotischen Blüten. Wirtz lächelte; also gab es auch Frauen in der Station. Er wollte nach der Klingel greifen, um jemand herbeizurufen und ihm zu erzählen, was sich in Menschende zugetragen hatte. Doch da hörte er hinter der Tür Schritte und zuckte zurück. Wirtz sah durch die Glastür einen Schatten, der stehengeblieben war. Wenn er sich nicht täuschte, dann hatte der Schatten weibliche Proportionen. Wirtz legte sich schnell ins Bett zurück und stellte sich schlafend. Er hörte das Geräusch der sich öffnenden Tür und sah durch die Augenschlitze zwei weibliche Wesen in weißen Kombinationen. »Er schläft noch«, sagte das eine Mädchen. »Besser wir wecken ihn nicht. Dr. Petheys sagte, daß Ruhe für ihn das Wichtigste ist.« Das andere Mädchen drängte sich vorsichtig ins Zimmer und betrachtete Wirtz neugierig. »Eigentlich sieht er gar nicht wie ein Verrückter aus«, meinte sie. »Aber ganz bei Verstand kann er auch nicht sein«, erklärte die erste. »Ich habe ihn schließlich phantasieren gehört.« »Das war im Fieber.« »Trotzdem – auf solche Gedanken kommt ein normaler Mensch nicht einmal im Fieber.« »Warum hast du Dr. Petheys keine Meldung gemacht?« Wirtz sah, wie sich das Mädchen auf die Lippen biß. »Du hast recht«, sagte sie dann schuldbewußt. »Ich werde sofort mit ihm reden. Bevor der Patient aufwacht.«
Ernst Vlcek Kaum waren sie draußen, da sprang Wirtz aus dem Bett. Warum hielt ihn das Mädchen für verrückt? Und was hatte er im Fieber gesagt? Er ging zu dem in der Wand eingebauten Kleiderschrank und mußte sich kurz daran stützen, bevor er ihn öffnen konnte. Er hatte gehofft, daß seine Kleider darin seien. Aber wahrscheinlich waren sie so in Fetzen gerissen, daß man sie weggeworfen hatte. Im Schrank hing nur eine der weißen Kombinationen, wie sie die Mädchen getragen hatten. Wirtz schlüpfte hinein. In einem Fach entdeckte er seinen Paralysator und nahm ihn an sich. Dann huschte er zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Als er hinausblickte, sah er am Ende eines zehn Meter langen Korridors das Mädchen, das ihn wegen seiner Äußerungen, die er im Fieber getan hatte, für verrückt hielt. Sie stand vor einer Tür und öffnete sie. Wirtz rannte auf den Korridor hinaus und blieb vor der Tür stehen, hinter der das Mädchen verschwunden war. Ein Schild verkündete, daß hier Dr. Petheys, der Leiter der Forschungsstation, sein Büro hatte. Ein leises Geräusch ließ Wirtz ahnen, daß das Mädchen gerade durch eine weitere Tür ging. Ohne zu zögern, betrat er das Büro. Er kam in einen Vorraum mit einem Schreibtisch, der jedoch nicht besetzt war. Ein Sprechgerät fiel Wirtz ins Auge, und er schaltete es ein. Aus dem Lautsprecher ertönte die wohlklingende Stimme eines Mannes, die Wirtz irgendwie bekannt vorkam. Sie mußte Dr. Petheys gehören. »Warst du bei unserem Patienten Cera?« »Ja«, antwortete das Mädchen. »Aber er schläft noch.« »Das ist gut für ihn. Komm her Cera, und gib mir einen Kuß. Wer weiß, wann wir wieder Gelegenheit haben, ungestört …« »Nicht, Arlon. Ich bin jetzt nicht in der Verfassung. Ich möchte etwas mit dir bereden.« »Nanu? Geht es wieder um deine Versetzung? Hast du dir das noch immer nicht aus
Im Bann der Hohlwelt dem Kopf geschlagen?« »Es ist etwas anderes, Arlon. Es geht um den Patienten.« »Komplikationen?« »Nein, zumindest nicht, wie du es meinst. Er ist wohlauf, aber … ich habe dir etwas verschwiegen, Arlon.« »Na, dann schieß los.« »Es geht um einige Äußerungen, die er im Fieber getan hat. Ich wollte dir nichts davon sagen, weil ich es anfangs nicht für wichtig genug hielt, dich damit zu belästigen. Aber inzwischen bin ich der Meinung, daß ich mit dir darüber reden muß.« »Mach es nicht so spannend, Mädchen.« »Als es schlecht um ihn stand und ich ständig an seinem Bett saß, da begann er plötzlich über Astronomie zu reden. Zumindest glaubte ich das zuerst, aber dann merkte ich, daß er alle astronomischen Gesetze in Frage stellte. Er sagte, daß die Hohlwelttheorie ein völliger Unsinn sei. Jawohl, Arlon, er sprach von der Hohlwelt als Theorie und davon, daß Wiga-Wigo in Wirklichkeit eine Kugel sei, auf deren Außenseite wir leben.« »Erzähl weiter, Cera.« »Das alles war noch nicht so schlimm, aber es kam noch bunter und von da an war er mir nicht mehr ganz geheuer. Er muß den Verstand verloren haben. Das weiß ich jetzt sicher. Er sagte, daß es unzählige solcher Welten wie Wiga-Wigo gäbe. Er nannte sie Planeten, auf denen Menschen wie wir leben. Diese Planeten sind durch große Entfernungen voneinander getrennt, doch könne man diese Kluft zwischen den Planeten ganz leicht in Raumschiffen überbrücken. Diese Raumschiffe sind imstande, selbst lichtjahreweite Strecken zurückzulegen – so weit können nach seinen Angaben Planeten voneinander entfernt sein.« Als das Mädchen geendet hatte, entstand eine kurze Pause. Dann sagte Petheys: »Das alles ist in der Tat sehr seltsam. Es würde mich interessieren, wie dieser Wirtz auf solche Gedanken kommt. Sie müssen ei-
41 nem perversen Gehirn entsprungen sein. Sprich noch nicht mit den anderen darüber. Ich will mir Wirtz zuvor noch vornehmen.« Wirtz hatte genug gehört. Er schaltete die Gegensprechanlage aus und kehrte in sein Zimmer zurück. Als er sich auf sein Krankenbett sinken ließ, zitterten ihm die Knie. Er hatte nicht erwartet, daß auch die Besatzung dieser Station vom Hohlweltwahn besessen war. Nun mußte er damit rechnen, daß alle Menschen im Umkreis von mindestens 200 Kilometern unter dem Einfluß der fremden Macht standen, vielleicht reichte er aber auch noch weiter. Die Gefahr war jedenfalls viel größer, als er befürchtet hatte. Ihm blieb nun keine andere Möglichkeit, als sich bis zu der tausend Kilometer entfernten Hauptstadt durchzuschlagen – falls ihm die Wissenschaftler der Forschungsstation keinen Strich durch die Rechnung machten.
12. »Nanu?« staunte Dr. Petheys, als er ins Krankenzimmer kam. »Sie sind angekleidet?« Wirtz erhob sich vom Bett, als der Xenozoologe hereinkam. Er hatte die Klingel betätigt und war nicht erstaunt darüber, daß der Leiter der Station persönlich kam. »Ich fühle mich ausgezeichnet«, sagte Wirtz. »Ich sehe keinen Grund, warum ich im Bett bleiben sollte.« »Einige Tage Ruhe würden Ihnen nicht schaden«, sagte Petheys. Seine Augen wanderten zu Wirtz' Taille, wo er in einer Schlaufe den Paralysator stecken hatte. Das schien dem Wissenschaftler gar nicht zu behagen, zumal er annehmen mußte, daß sein Patient nicht zurechnungsfähig war. Wirtz sagte schnell: »Ich erinnere mich dunkel an Sie. Waren Sie es, der mich in der niedergebrannten Savanne aufgelesen hat?« »Ja«, bestätigte Petheys. »Ich flog mit einem meiner Kollegen im Gleiter hinaus, als uns der Buschbrand gemeldet wurde. Aber
42 wir konnten nur noch eine Ausweitung des Feuers verhindern. Und dann fanden wir Sie. Nach der Art zu schließen, wie Sie sich vor den Flammen schützten, scheinen Sie ein Jäger zu sein.« »Eigentlich bin ich Schatzgräber. Mein Name ist Froom Wirtz.« »Das konnten Sie mir noch sagen, bevor Sie das Bewußtsein verloren.« Petheys stellte sich ebenfalls vor und machte einen kleinen Scherz darüber, daß er als Veterinär gelegentlich auch Menschen verarztete, weil der Unterschied zwischen Mensch und Tier kaum ins Gewicht falle. Dann wurde er ernst und sagte: »Sie wollten mir noch etwas sagen, Wirtz. Sie sprachen von einer wichtigen Meldung und hätten lieber ihr Leben geopfert, als sie mir vorzuenthalten.« »Im Angesicht des Todes benahm ich mich wohl etwas zu theatralisch«, bagatellisierte Wirtz. »Was aber nicht heißen soll, daß das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht wichtig ist.« »Ich bin gespannt. Doch gehen wir vielleicht lieber in mein Büro. Sie fühlen sich doch stark genug?« Als Wirtz nickte, deutete der Wissenschaftler auf den Paralysator und zwang sich ein Lächeln ab. »Die Waffe können Sie hier lassen. Ich versichere Ihnen, daß es in unserer Station keine wilden Tiere gibt.« »Ich würde den Paralysator dennoch gerne behalten«, erwiderte Wirtz ebenfalls lächelnd. »Ohne ihn fühle ich mich irgendwie nackt. Durch das Leben in der Wildnis habe ich mich so an ihn gewöhnt, daß ich nicht einmal ohne ihn schlafen gehe.« Dr. Petheys zuckte nur die Achseln und wandte sich der Türe zu. Als sie auf den Korridor kamen, stellte Wirtz fest, daß dort ein Wachtposten stand. Auch vor Dr. Petheys Büro war ein bewaffneter Mann postiert. »So ungefährlich, wie Sie sagen, scheint das Leben in Ihrer Station doch nicht zu sein, Dr. Petheys«, sagte Wirtz. Darauf gab der Wissenschaftler keine
Ernst Vlcek Antwort. Er ließ Wirtz den Vortritt in sein Büro. Hinter dem Schreibtisch im Vorzimmer saß jetzt das Mädchen, das seine Äußerungen im Fieberwahn mitgehört hatte und das von Dr. Petheys vertraulich »Cera« genannt worden war. Offenbar wollten sie ihr Verhältnis vor den anderen aber geheimhalten, denn als sie den Leiter der Forschungsstation jetzt ansprach, klang es viel förmlicher. »Die Herren sind ebenfalls eingetroffen und warten in Ihrem Büro, Dr. Petheys.« Es handelte sich um drei Männer. Den kleinsten von ihnen stellte Dr. Petheys als den Xenobiologen Dr. Spica vor, die anderen beiden nannte er nicht beim Namen, sondern gab sie als Assistenten aus. Aus ihrer Haltung und der Tatsache, daß sie Waffengürtel mit Lähmstrahlern trugen, schloß Wirtz allerdings, daß sie eine solide militärische Ausbildung genossen hatten und kampferfahren waren. Dr. Spica war Dr. Petheys Begleiter beim Erkundungsflug in das Brandgebiet gewesen. »Ich bin auch Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagte Wirtz. »Aber war es nicht ein Fehler, nur mit einem einzelnen Gleiter loszufliegen? Wenn Sie mehr eingesetzt hätten, wären Sie vielleicht in der Lage gewesen, einen größeren Erfolg zu erzielen.« »Wir besitzen nur zwei Gleiter«, antwortete Petheys etwas ungehalten. »Und ich glaube, wir haben auch so alles Menschenmögliche getan.« »Das sollte keine Kritik sein«, sagte Wirtz wahrheitsgetreu; er wollte nur herausfinden, wie viele Gleiter den Wissenschaftern zur Verfügung standen – und das war ihm auch gelungen. »Wir vergehen alle vor Neugierde, welche wichtige Meldung Sie für uns haben, Wirtz«, ergriff Spica das Wort. »Seit wir Sie gefunden haben, sind zwei Tage vergangen. Hoffentlich kommt Ihre Nachricht nicht zu spät.« Wirtz schüttelte den Kopf. »Ich sagte Dr. Petheys bereits, daß ich et-
Im Bann der Hohlwelt was übertrieben habe. Wenn den Bewohnern von Menschende geholfen werden kann, dann ist es auch jetzt noch nicht zu spät.« »Sie stammen also aus dieser Dschungelsiedlung?« sagte Dr. Petheys. »Was hat ein Schatzgräber dort zu suchen?« Wirtz erklärte es ihm, nur sagte er nicht, daß sie nach einem Raumschiff gegraben hatten, sondern nach einer versunkenen Stadt. »Die Tiefenmessungen hatten ergeben, daß es sich um eine ganz und gar fremdartige Stadt handeln muß«, fuhr er fort und erfand eine recht plausible Geschichte über eine Theorie, wonach es in diesem Gebiet schon vor Jahrtausenden ein Volk mit einer hochstehenden Zivilisation gegeben haben mußte. »Es ist denkbar, daß dieses Volk eine Technik besessen hat, die die unsere übertrifft«, erklärte Wirtz seinen Zuhörern. »Und nach dem, was passiert ist, gibt es für mich keine Zweifel mehr. Durch unsere Bergungsarbeiten muß eine unbekannte Maschinerie in Gang gesetzt worden sein – ich möchte es eine Verteidigungsanlage nennen –, die uns für Angreifer hielt und Gegenmaßnahmen einleitete. Dabei kann es sich nur um eine paramechanische Strahlung mit suggestiver Wirkung handeln, die alle Bewohner von Menschende beeinflußte.« »Und wieso Sie nicht?« fragte Dr. Spica. »Ich weiß es nicht«, antwortete Wirtz wieder wahrheitsgetreu. »Ich war allerdings nicht der einzige Immune. Den anderen haben Sie im Brandgebiet gefunden …« Wirtz brach ab. »Und wie äußerte sich diese Wahnsinnsstrahlung bei den Bewohnern der Dschungelsiedlung?« wollte Dr. Petheys wissen. »Zuerst erschien mir die in ihnen vorgegangene Veränderung harmlos«, berichtete Wirtz weiter. »Sie sagten, bei der versunkenen Stadt handle es sich in Wirklichkeit um einen gigantischen Flugkörper, der von den Sternen gekommen sei. Sie nannten den Flugkörper Raumschiff. Ich versuchte, sie von dieser fixen Idee abzubringen, doch als
43 sie merkten, daß mein Freund und ich nicht an die Raumschiff-Version glaubten, veranstalteten sie eine regelrechte Hetzjagd auf uns. Wenn es uns nicht gelungen wäre, in den Dschungel zu flüchten, hätten sie uns auf dem Scheiterhaufen verbrannt.« Die Lügen gingen glatt über Wirtz Lippen. Es war auch relativ einfach, denn er konnte sich an die tatsächlichen Ereignisse halten und brauchte nur die Symptome umzukehren. »Äußerte sich die Entartung der Leute nicht auch noch auf andere Weise?« fragte Dr. Petheys lauernd. »Glaubten sie vielleicht auf einmal auch nicht mehr daran, daß Wiga-Wigo eine Hohlwelt ist?« Diese Frage kam für Wirtz ebenfalls nicht überraschend, deshalb konnte er seine Rolle glaubhaft spielen. »Woher wissen Sie …?« begann Wirtz und unterbrach sich. Er tat, als wolle er zum Paralysator greifen, ließ sich aber widerstandslos von den beiden Wachtposten daran hindern. Er fragte bestürzt: »Hat die Wahnsinnsstrahlung etwa auch auf diesen Stützpunkt übergegriffen?« »Nein, Sie können beruhigt sein«, meinte Dr. Petheys lachend und gab den beiden Posten einen Wink, von Wirtz abzulassen. »Des Rätsels Lösung ist ganz einfach. Sie haben im Fieber gesprochen.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« rief Wirtz wütend. »Warum machen Sie mir dieses Theater vor, wenn Sie ohnehin Bescheid wissen?« »Weil ich mir nicht sicher war, ob nicht etwa Sie selbst an diese Wahnidee glauben«, antwortete Dr. Petheys. »Aber jetzt habe ich Gewißheit und bin ehrlich erleichtert. Sie sehen doch ein, daß ich Sie auf die Probe stellen mußte?« »Nachdem dies geschehen ist, können wir daran gehen, Maßnahmen zu ergreifen, um den Bewohnern von Menschende zu helfen«, sagte Wirtz. »Wir müssen die zuständigen Stellen in Brantonfeyn von den Vorkommnissen in der
44 Dschungelsiedlung unterrichten.« »Sie wollen diese phantastische und unglaubliche Geschichte zur Hauptstadt funken?« Dr. Petheys verzog das Gesicht. »Das würde uns niemand glauben und wir kämen in den Verdacht, selbst den Verstand verloren zu haben.« Dr. Spica warf Wirtz einen spöttischen Blick zu und meinte abfällig: »Ich kann die Geschichte selbst nicht glauben.« »Sie wollen doch nicht andeuten, daß ich mir alles aus den Fingern gesogen habe. Diese Geschehnisse sind schon wieder so phantastisch, daß man sie überhaupt nicht erfinden kann«, sagte Wirtz erregt. »Dr. Spica wollte Sie sicherlich nicht als Lügner hinstellen«, griff Dr. Petheys ein. Er runzelte die Stirn. »Obwohl ich nicht daran zweifle, daß Sie die Wahrheit sagen, möchte ich einen Funkspruch in die Hauptstadt nicht riskieren.« »Da bin ich Ihrer Meinung«, stimme Wirtz zu. »Deshalb möchte ich persönlich Bericht erstatten, dann hört sich alles gleich anders an. Wenn ich wenigstens erreiche, daß die Zustände in Menschende an Ort und Stelle untersucht werden, dann ergibt sich alles Weitere von selbst.« »Ich wäre eher dafür, erst einmal in Menschende Erkundigungen einzuziehen«, warf Dr. Spica ein. »Damit würden Sie die Besessenen – und vor allem die fremde Macht nur warnen«, sagte Wirtz. Langsam begann er zu schwitzen, denn wenn die Wissenschaftler tatsächlich eine Anfrage in Menschende riskierten, dann war er verloren. Er mußte den Wissenschaftlern einen Gleiter wegnehmen, das war seine einzige Chance. Wenn er erst einmal im Besitz eines Gleiters war, dann konnten sie ruhig die Wahrheit über ihn erfahren – oder was sie für die Wahrheit hielten. »Dr. Petheys!« ertönte die Stimme des Vorzimmermädchens aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. »Bei mir ist ein Funker, der eine wichtige Nachricht für Sie
Ernst Vlcek hat.« »Soll 'reinkommen«, sagte der Leiter der Forschungsstation knapp. Kurz darauf betrat ein Funker den Raum, der Dr. Petheys eine Folie übergab. Während der Wissenschaftler las, was darauf geschrieben stand, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er blickte hoch und sagte: »Jetzt werden wir gleich Gewißheit haben. Aus Menschende ist ein Funkspruch eingetroffen. Man will wissen, ob wir einen gewissen Froom Wirtz Unterschlupf gewährt haben.« »Sieh an«, sagte Wirtz und schluckte. »Das gibt uns Gelegenheit, die Leute auszuhorchen, ohne Verdacht zu erregen«, fuhr Dr. Petheys fort. Er blickte Wirtz prüfend an und fragte: »Möchten Sie bei dem Funkgespräch dabei sein?« »Nicht unbedingt«, antwortete Wirtz. »Ich kann mir auch so ausmalen, worauf alles hinausläuft.« Petheys nickte zufrieden. »Ich wollte Sie ohnehin bitten, auf Ihrem Zimmer zu warten und sich zu schonen. In Ihrem Zustand müssen Sie allen Aufregungen aus dem Weg gehen.« »Wäre es nicht möglich, daß ich in Ihrem Büro auf Ihre Rückkehr warte?« bat Wirtz. »Warum nicht«, stimmte Dr. Petheys ohne zu zögern zu und sagte anschließend zu einem Wachtposten: »Sie bleiben hier, Weyer. Zur Betreuung des Patienten sozusagen.« Wirtz wagte es nicht, dagegen aufzubegehren. Wirtz sah keinen anderen Ausweg mehr als Flucht. Er war so überzeugt, daß man ihn in Menschende für tot hielt, daß ihn der Funkspruch völlig überraschte. Er konnte es sich nur so erklären daß Spindel mit dem Gleiter im Brandgebiet gelandet war und nur Helvins Leiche fand. Als er dann den aufgeschlitzten Saurierbullen entdeckte, mußte er annehmen, daß er Wirtz, in diesem Unterschlupf den Buschbrand überlebt hatte: Es ergab sich daraufhin von selbst, daß man in dieser
Im Bann der Hohlwelt Forschungsstation anfragte. Das Ergebnis davon stand für Wirtz fest. Selbst wenn Dr. Petheys nicht alles glaubte, was man in Menschende über ihn, Wirtz, sagte, so mußte er zumindest Zweifel bekommen. Jedenfalls würde er ihn bis zur Klärung des Falles in der Station festhalten. Wirtz war sich klar, daß dies einem Todesurteil für ihn gleichkam. Ergo durfte er keine Sekunde länger als nötig hierbleiben. Der zurückgelassene Wachtposten ließ Wirtz nicht aus den Augen. Wirtz versuchte ein Gespräch anzubahnen, um ihn einzulullen. »Machen euch die Dschungeltiere hier viel zu schaffen?« fragte er. »Wir kommen mit ihnen zurecht.« »Welche Art von Forschungen werden hier eigentlich betrieben?« »Darum kümmere ich mich nicht. Ich bin kein Wissenschaftler.« »Welche Funktion haben Sie dann zu erfüllen, Weyer?« Der Wachtposten lächelte und klopfte auf sein Waffenhalfter. »Stammen Sie eigentlich von hier?« »Was?« »Na, ich meine, wurden Sie auf Wiga-Wigo geboren, oder auf einem anderen Planeten? Sie sehen mir eigentlich mehr wie ein Terraner aus. Sicher sind Sie ein terranischer Auswanderer. Irgendwie drängt sich mir auch die Vermutung auf, daß Sie einige Jahre als Raumfahrer durch die Galaxis gekreuzt sind …« Den Rest konnte sich Wirtz schenken. Der Wachtposten wurde von seinem Redeschwall so verblüfft, daß er mit offenem Mund dastand und überhaupt nicht merkte, wie Wirtz den Paralysator zog. Als er das Ablenkungsmanöver durchschaute, war es zu spät für ihn – der gebündelte Lähmstrahl traf ihn mitten ins Gesicht. Er brach ohne einen Laut zusammen. Nur als sein Körper auf dem Boden aufschlug, gab es ein ziemlich lautes Geräusch. Sofort ertönte die Stimme des Mädchens aus der Gegensprechanlage:
45 »Ist etwas passiert, Weyer?« Wirtz hatte inzwischen die Verbindungstür geöffnet und antwortete: »Weyer hat sich entschlossen, ein kleines Nickerchen zu machen.« Das Mädchen fuhr mit einem leisen Aufschrei herum. Wirtz sprang zu ihr, hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, daß sie nicht schreien konnte, und preßte ihr gleichzeitig den Lauf des Lähmstrahlers gegen die Stirn. »Das ist zwar nur ein Paralysator«, sagte er drohend. »Aber wenn ich aus dieser Distanz und bei maximaler Leistung abdrücke, wären Sie ihr Leben lang ein Krüppel, Cera. Verhalten Sie sich also ruhig.« Wirtz hatte nicht vor, diese Drohung wahr zu machen, außerdem hatte er den Paralysator auf Minimalleistung geschaltet. Aber es gelang ihm so, das Mädchen einzuschüchtern. Als er die Hand von ihrem Mund nahm, gab sie keinen Laut von sich. »Wir beide machen jetzt einen kleinen Ausflug zum Gleiterhangar, Cera«, fuhr Wirtz fort. »Wenn Sie nicht tun, was ich verlange, werden Sie nie mehr Arlons Umarmung spüren. Stehen Sie jetzt auf und gehen Sie voran. Aber wählen Sie den kürzesten Weg zum Hangar.« Das Mädchen hatte sich inzwischen einigermaßen beruhigt. »Sie sind doch verrückt«, stellte sie nüchtern fest. »Darüber zu diskutieren, hat keinen Sinn, denn es würde zu nichts führen. Gehen Sie schon.« Das Mädchen trat auf den Korridor. Der Wachtposten vor der Tür schöpfte keinen Verdacht, als er sie sah, und als er darauf Wirtz erblickte, war es zu spät. Der Paralysestrahl streckte ihn nieder. »Sie sehen, wie ernst es mir ist, Cera«, sagte Wirtz. »Ich hoffe, Sie tun, was ich von Ihnen verlange.« »Nennen Sie mich nicht immer beim Vornamen, Sie – Sie Besessener!« »Leider kenne ich nur diesen.« Sie erreichten das Ende des Korridors,
46 und das Mädchen wollte eine Tür öffnen. Wirtz hinderte sie daran und fragte: »Was liegt hinter dieser Tür?« »Das Tiergehege«, sagte sie. »Hält sich um diese Zeit jemand darin auf?« »Jawohl.« »Ich muß Sie dringend vor irgendwelchen Dummheiten warnen, Cera«, sagte Wirtz. »Sie werden so tun, als hätten Sie die Aufgabe, mich durch die Station zu führen. Weichen Sie mir nicht von der Seite – meine Waffe ist stets auf Sie gerichtet.« Wirtz verschränkte die Arme vor der Brust und hielt den Paralysator unter der Achsel versteckt. Der Lauf schaute ein Stück hervor und zielte auf das Mädchen. Sie öffnete die Tür, und Lärm brandete ihnen entgegen. Hunderte verschiedener Tierstimmen kreischten, zirpten, trällerten, fauchten und brüllten durcheinander. Männer und Frauen in weißen Kombinationen, wie er eine trug, waren an Käfigen mit Vögeln, Gehegen mit Raubtieren und Terrarien mit Reptilien und kleineren Säugetieren in die verschiedensten Arbeiten vertieft. »Erklären Sie mir, was hier vorgeht«, raunte Wirtz dem Mädchen zu. Sie schilderte ihm in der Art eines Fremdenführers, zu welchen Zwecken die Tiere hier gehalten wurden und welchen Tätigkeiten die Männer und Frauen gerade nachgingen. Sie unterbrach sich nur, um Grüße zu erwidern. Als sie die Versuchsstation verlassen hatten und in einen Hof kamen, lobte Wirtz: »Das haben Sie ganz ausgezeichnet gemacht, Cera. Wo ist der Hangar?« Sie deutete zu einem Tor auf der gegenüberliegenden Seite. »Warum tun Sie das eigentlich?« fragte sie ihn, während sie den Hof überquerten. »Bleiben Sie hier und vertrauen Sie sich Arlon … Dr. Petheys an. Er kann Ihnen bestimmt helfen.« »Er wird mich den Leuten von Menschende ausliefern, oder mich gleich hier verbren-
Ernst Vlcek nen lassen«, sagte Wirtz bitter. »Wie können Sie nur …« »Eine Frage, Cera. Glauben Sie an die Raumfahrt und an die Unendlichkeit des Weltalls?« »Nein, natürlich nicht. Aber …« »Ich schon, und dieser kleine Unterschied macht Sie zu meinem Feind. Ich bin sicher, daß Sie im entscheidenden Augenblick den Scheiterhaufen unter mir anzünden würden – wenn gleich Ihnen dieser Gedanke im Moment vielleicht noch schrecklich erscheint. Ich jedoch will Ihnen nichts Böses. Ich möchte nur Brantonfeyn erreichen und Hilfe für Sie und die anderen holen.« Sie hatten das Tor erreicht. Wirtz hielt das Mädchen in Schach, während er mit einer Hand den Riegel zurückschob. Als das Tor aufschwang, schob er sie wieder wie einen lebenden Schild vor sich her. Diese Vorsichtsmaßnahme rettete ihn vor einem schlimmen Schicksal. Denn im Hangar erwartete ihn bereits Dr. Petheys mit einem halben Dutzend bewaffneter Männer. Wirtz ergriff sofort die Initiative. »Ich warne Sie!« rief er. »Wenn Sie irgend etwas gegen mich unternehmen, wird Cera es büßen müssen. Sie wissen sicher, welche schädliche Wirkung ein aus nächster Nähe abgefeuerter Paralysestrahl auf das menschliche Nervensystem haben kann, Dr. Petheys.« Der Wissenschaftler zuckte zusammen. Er feuchtete sich die Lippen und sagte: »Ihr Ausbruchsversuch ist sinnlos, Wirtz. Sie machen dadurch für sich alles noch schlimmer. Ergeben Sie sich, und ich werde Ihnen helfen. Was sich in Menschende abgespielt hat, wird sich nicht noch einmal wiederholen. Ich werde Sie heilen, Wirtz.« »Sie meinen damit wohl, daß Sie mir Ihre Hohlwelttheorie aufzwingen werden«, sagte Wirtz sarkastisch. »Aber daraus wird nichts. Ich werde mit einem dieser beiden Gleiter nach Brantonfeyn fliegen und diesem Spuk ein Ende bereiten. Das können Sie der fremden Macht ausrichten, falls Sie mit ihr in
Im Bann der Hohlwelt Kontakt stehen. Werfen Sie jetzt die Waffen weg. Alle!« Die Männer zögerten. Erst als Dr. Petheys langsam mit dem Kopf nickte, kamen sie Wirtz Aufforderung nach. »Und jetzt öffnet das Hangartor.« Nachdem auch dies geschehen war, verlangte Wirtz: »Stellt euch mit dem Gesicht zur Wand und stützt euch mit den Händen ab.« Dr. Petheys wollte aufbegehren, aber als Wirtz seiner Geliebten den Paralysator an die Schläfe hielt, gehorchte auch er so wie die anderen. Wirtz schob das Mädchen vor sich her zum nächsten Gleiter. Als er ihn erreichte, sprang er behende durch den Einstieg. Auch als er schon im Pilotensitz saß, bedrohte er das Mädchen noch durch den offenen Einstieg mit der Waffe. Es hätte ja sein können, daß irgend jemand an dem Gleiter Manipulationen vorgenommen hatte. Doch diese Befürchtung traf nicht zu. Der Gleiter ließ sich mühelos starten, und Wirtz schoß mit ihm wie vom Katapult geschnellt durch das offenstehende Hangartor. Obwohl vor ihm ein weites Startfeld war, zog er den Gleiter sofort steil in die Höhe. Als er aus der Kanzel zurückblickte, sah er die Männer mit den Strahlenwaffen aus dem Hangar rennen und ihm nachfeuern. Das kostete ihm ein mildes Lächeln, denn auf diese Entfernung konnten sie mit einfachen Handstrahlern keinen Schaden mehr anrichten. Das Lächeln verging ihm aber schnell, als sich in der Wandung der Kuppelstation Schleusen öffneten und schwere Desintegrationsgeschütze darin sichtbar wurden. Wirtz holte das letzte aus dem Gleiter heraus und flog im Zickzack-Kurs dahin, um kein sicheres Ziel zu bieten. Plötzlich ging aber ein Ruck durch den Flugkörper, das Antriebsgeräusch wurde unregelmäßig – und der Gleiter begann abzutrudeln. Es gelang Wirtz, ihn knapp über dem Dschungeldach abzufangen und ihn in die Höhe zu steuern. Aber der Antrieb mußte
47 bei dem Desintegratortreffer etwas abbekommen haben. Unter den gegebenen Umständen war es zweifelhaft, ob er mit dem Gleiter überhaupt bis Brantonfeyn kommen würde. Wirtz wäre schon zufrieden gewesen, wenn er es wenigstens bis zur Küste schaffte. Aber nicht einmal das wagte er zu hoffen.
13. Es hatte sein ganzes Geschick abverlangt, den Gleiter in der Luft zu halten. Ein paarmal, wenn Wirtz schon glaubte, der Antrieb würde nun wieder anstandslos laufen, sackte die Maschine plötzlich durch und war nur schwer wieder abzufangen. Irgendwie hatte es Wirtz aber stets wieder geschafft, an Höhe zu gewinnen. Wirtz war keine Atempause gegönnt. Doch er klagte nicht, sondern war froh, daß er nicht abstürzte oder notlanden mußte. Noch einmal hätte er einen Marsch durch den Dschungel nicht durchstehen können, zumal er außer dem Paralysator keine Ausrüstung mehr besaß. Der Vorratsraum des Gleiters war ebenfalls leer, davon hatte sich Wirtz überzeugen können. Das hätte allerdings fast zum Absturz der Maschine geführt. Er hatte die Kontrollen nur wenige Sekunden aus den Augen gelassen – und gerade da setzte der Motor für Augenblicke aus, und der Gleiter trudelte ab. Es war Wirtz Glück, daß er sich eines alten Tricks erinnerte, den er in einer ähnlichen Situation schon einmal praktiziert hatte. Er flog mit dem Gleiter einen Looping und konnte so wenigstens das Ärgste verhindern. Es war ein Wunder, daß der Antrieb bis jetzt durchgehalten hatte. Wirtz sah am Horizont bereits das leuchtende Blau des Meeres, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte. Er wollte aber immer noch nicht so recht daran glauben, daß er es bis dorthin schaffen würde. Der Gleiter verlor wieder an Höhe. Der
48 Antrieb begann zu stottern. Wirtz versuchte alle Tricks, die er jemals auf diesem Gebiet gelernt hatte, doch es half alles nichts. Der Gleiter sank langsam, aber unaufhaltsam tiefer. Wirtz hatte schon soviel an Höhe verloren, daß er einigen aus dem Dschungeldach ragenden Wipfeln gefährlich nahe kam. Bis zur Küste waren es vielleicht noch fünf Kilometer. Da sah Wirtz aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er drehte den Kopf und erstarrte. Links von ihm war ein anderer Gleiter aufgetaucht, der sich seiner Höhe und Geschwindigkeit anpaßte. Da der Gleiter nur fünfzig Meter entfernt war und während des Fluges weiterhin näherkam, fiel es Wirtz nicht schwer, zu erkennen, wer darin saß. Es handelte sich um zwei Personen. Die eine war Spindel und die andere Steam Styror. Styror war der Pilot. Wirtz sah, wie Spindel eine Bewegung zum Armaturenbrett machte, und dann schlug sein Funksprechgerät an. Wirtz nahm den Anruf jedoch nicht entgegen, denn er war nicht darauf erpicht, sich vor seinem Ende noch verhöhnen zu lassen. Außerdem mußte er sich wieder auf den Flug konzentrieren. Der Gleiter befand sich nur noch zehn Meter über dem Dschungeldach, und manche der Baumriesen überragten sogar seine Flughöhe. Wirtz sah, wie er genau auf einen dieser Baumriesen zuflog. Er begann zu schwitzen, als er das Steuer herumzureißen versuchte, der Gleiter den Kurs aber nur zaghaft änderte. Da hatte er den Baum auch schon erreicht. Er schloß die Augen unwillkürlich, als das kratzende Geräusch der gegen die Hülle schlagenden Äste ertönte. Dann war es vorbei. Aber nun betrug die Entfernung zu der grünen Fläche unter ihm nur noch drei bis vier Meter. Dennoch rechnete sich Wirtz noch Chancen aus, denn dreihundert Meter vor ihm fiel das Gelände steil zur Küste ab und die Bäume lichteten sich.
Ernst Vlcek Wenn der Gleiter nicht abrupt absackte, dann konnte er es schaffen … Wirtz hielt den Atem an, als er sich den letzten Bäumen näherte. Er entdeckte eine Lücke zwischen zwei Baumriesen und steuerte darauf zu. Er schaffte es. Jetzt lag die Küste vor ihm, und er konnte eine Notlandung auf dem Wasser riskieren. Plötzlich sah er jedoch, wie der andere Gleiter seinen Kurs änderte und mit höchster Beschleunigung in die Höhe stieß. Wirtz blickte ihm nach. Hoch über ihm machte der Gleiter eine Kehre und stürzte sich wie ein Raubvogel in die Tiefe. Wirtz hatte keine Ahnung, was dieses Manöver zu bedeuten hatte, bis es bei dem anderen Gleiter aufblitzte. Gleich darauf zuckten Strahlenbahnen links und rechts seines Gleiters vorbei. Wirtz zögerte keine Sekunde mehr und betätigte den Schleudersitz. Es raubte ihm fast den Atem, als er in hohem Bogen mitsamt der Kanzel aus dem Gleiter geschleudert wurde, und der Ruck, als sich der Fallschirm öffnete, machte ihn nahezu bewußtlos. Aber wenigstens war er aus dem Gleiter und schwebte der wildbewegten Wasseroberfläche zu. Das Ufer war weit entfernt, aber er vertraute seinem Können als Schwimmer. Er suchte nach dem Gleiter mit Spindel und Styror und entdeckte ihn sofort. Er flog immer noch fast senkrecht in die Tiefe, bremste aber. Auf einmal setzten die Bremsdüsen aus. Wirtz dachte, daß Styror nun abdrehen würde, doch der Gleiter mit den beiden Besessenen blieb auf seinem Kurs und stieß mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Meer hinunter. In diesem Augenblick tauchte Wirtz ins Wasser ein. Noch während die Wellen über ihm zusammenschlugen, hatte er sich des Schleudersitzes entledigt und tauchte kurz darauf wieder auf. Er suchte den Gleiter mit Spindel und Styror vergebens. Nur noch eine hohe Wasserfontäne zeigte an, wo er ins Meer gestürzt
Im Bann der Hohlwelt war. Wirtz schwamm auf das ferne Ufer zu. Er schien schon eine Ewigkeit dahingeschwommen zu sein, ohne daß es den Anschein hatte, daß er dem Ufer nähergekommen war. Rings um ihn türmten sich wahre Wellenberge. Seine Kräfte begannen langsam zu erlahmen. Die Arme und Beine wurden gefühllos. Aber er schwamm unverdrossen weiter. Und dann kam der Zeitpunkt, wo ihm die Glieder zu schwer zu werden begannen und er auch nicht mehr den Willen aufbrachte, sie in Bewegung zu halten. Als er von einer Welle hochgehoben wurde, glaubte er, irgendwo vor sich eine Bewegung zu sehen. Aber er sah alles nur noch verschwommen, seine Augen schmerzten ihm, und er hätte sich am liebsten die Haftschalen herausgenommen. Wozu brauchte er sie jetzt noch? Die Wellen schlugen über ihm zusammen. Er schluckte Wasser, gurgelte, rang nach Atem, aber er bekam keine Luft. Sein letzter Gedanke war, daß nun doch alles vergebens gewesen war. Dann wurde es schwarz um ihn. Die Strömung trieb ihn weiter aufs offene Meer hinaus.
* Wirtz war in ein warmes Fell gehüllt. Als er die Augen aufschlug, sah er unweit von sich im flackernden Licht eines Lagerfeuers eine weiße Gestalt. Er sprang alarmiert auf die Beine, bereit, den Kampf gegen unbekannte Feinde aufzunehmen. »Sie sind mit den Nerven ganz schön herunter«, sagte eine tiefe Männerstimme. »Erschrecken vor Ihrem eigenen Anzug, den ich zum Trocknen aufgehängt habe.« Wirtz entspannte sich, und während er zu der weißen Kombination ging, die an einer Leine baumelte, und sich dann ankleidete, betrachtete er den Mann am Lagerfeuer. Er mochte fünfzig oder hundert Jahre alt sein, so genau konnte man das nicht sagen, und
49 der dichte Rotbart, der ihm bis zur Körpermitte hinunterreichte, gab ihm ein verwildertes Aussehen. Seine Kleidung wirkte, wenn man bedachte, daß man sich hier in der Wildnis befand, dagegen recht ordentlich, und modisch, fast zu luxuriös. So würde sich ein Artist kleiden, der im Zirkus als Pelztierjäger seine Kunsttücke zeigte. »Sie müssen Gragmor Teiger sein«, sagte Wirtz, der die Personenbeschreibung dieses schrulligen und exzentrischen Waldläufers kannte. »Mein Name ist Froom Wirtz, ich war auf der Flucht …« »Das interessiert mich nicht, junger Mann«, schnitt ihm Teiger das Wort ab. »Ich habe beobachtet, wie Sie beschossen wurden, obwohl Ihr Gleiter ein halbes Wrack war. Das brachte mich in Rage. Ich gönne den anderen den Absturz. Als Sie sich dann mit dem Schleudersitz retteten, fuhr ich mit meinem Luftkissenfahrzeug aufs Meer hinaus. Sie wären verloren gewesen, denn die Strömung hätte Sie aufs Meer hinausgetragen.« »Danke, daß Sie mir das Leben gerettet haben, Teiger.« »Nicht der Rede wert.« Teiger stocherte im Lagerfeuer herum und holte einige verkohlte Knollen aus der Glut. »Setzen Sie sich zu mir und essen Sie einen Happen. Sie glaubt doch nicht, daß ich Ihnen das alles erzähle, um mir Ihre Dankbarkeit zu sichern. Ich habe Ihnen gern geholfen. Und warum ich darüber rede? Ich rede eben gerne. Viele Jäger, die wochen- und monatelang allein durch die Wildnis streifen, haben das Sprechen verlernt. Das Schweigen ist sozusagen ihr Image, sie brauchen keinen Gesprächspartner. Mit mir ist das anders. Wenn ich niemanden habe, mit dem ich reden kann, führe ich Selbstgespräche oder ich unterhalte mich mit den erlegten Tieren. Eigentlich hasse ich die Einsamkeit. Aber wenn ich dann mit Menschen zusammen bin, erkenne ich meistens, daß ich sie nicht leiden kann.« Wirtz lächelte, während er die verkohlte Rinde von den brennheißen Knollen schälte. »Sie haben mir schon zum zweitenmal
50 das Leben gerettet, Teiger«, sagte er dann. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals zuvor schon einmal gesehen zu haben. Und ich habe ein gutes Gedächtnis.« »In Menschende hat man mir erzählt daß Sie einer der ersten waren die einen Höckersaurier geritten haben …« »Ich war der erste!« behauptete Teiger leicht empört. »Und als ich in Bedrängnis war, habe ich mich daran erinnert«, fuhr Wirtz fort. Er schilderte seinen Ritt auf dem Saurierbullen und wie der Körper des toten Kolosses ihm dann als Schutz vor den Flammen diente. »Das weiß ich von Ihnen, Teiger, und deshalb waren Sie schon damals mein Lebensretter.« Der Jäger lachte. »Sie gefallen mir, Wirtz. Sie dürfen mich Grag nennen. Was wollen Sie als nächstes tun?« »Ich muß nach Brantonfeyn.« Es entstand eine kurze Pause, dann sagte Teiger: »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was Sie in der Hauptstadt wollen, Froom. Ich bringe Sie auch so hin.« Wirtz kam sich schuldbewußt vor, weil er Teiger gegenüber schwieg. Aber er wagte es nicht, dem Jäger über die Geschehnisse in Menschende zu berichten. Er mußte sich zuerst Gewißheit darüber verschaffen, daß Teiger nicht zu den Besessenen gehörte. Diese Vorsichtsmaßnahme war sicherlich übertrieben, aber Wirtz wollte kein Risiko eingehen. Bisher hatte er noch keinen Beweis dafür, daß die Wahnsinnsstrahlung nicht auch über 12.000 Kilometer wirksam war. »Wollen Sie mich wirklich nach Brantonfeyn bringen, Grag?« »Ich sage es doch. Aber nicht gerade bis zur City. Ich begleite Sie bis zum Schrottpark, von dort kommen Sie ungefährdet auch allein weiter. Wenn Sie es besonders eilig haben, können wir versuchen, uns mit dem Luftkissenfahrzeug durch den Dschungel zu schlagen. Ich kenne eine Route, auf der wir es schaffen könnten.«
Ernst Vlcek »Ich nehme das Angebot an.« Obwohl Teiger bisher überhaupt keine Symptome einer Besessenheit gezeigt hatte, war Wirtz nachdenklich geworden. Er hatte immer geglaubt, Brantonfeyn wie kein anderer zu kennen, aber unter einem »Schrottpark«, konnte er sich überhaupt nichts vorstellen. Er hatte von einem solchen Park bisher noch nie gehört.
* Die Fahrt durch den Dschungel verlief ziemlich komplikationslos, wenn man davon absah, daß sie sich gelegentlich mit wilden Tieren herumschlagen mußten. Aber das gehörte für Gragmor Teiger zum Alltag, und auch Wirtz hatte sich inzwischen an solche Zwischenfälle gewöhnt. Die Situationen waren zwar nicht ungefährlich, aber sie kamen nie ernsthaft in Bedrängnis; Teiger war ein zu erfahrener Jäger, und er witterte eine kommende Gefahr schon auf viele Meter. Im Laufe der drei Tage, die sie sich gemeinsam durch den Dschungel schlugen, lernte Wirtz den Jäger ziemlich gut kennen. Er war eine faszinierende, ja, sicherlich die schillerndste Erscheinung auf Wiga-Wigo, und Wirtz fand, daß die unglaublichen Geschichten, die man sich überall über ihn erzählte, eher noch untertrieben waren. Teigers Mundwerk war ständig in Bewegung. Ungeachtet der Tatsache daß er einen Begleiter hatte, hielt er endlos lange Monologe. Es waren nicht eigentlich Selbstgespräche denn Teiger unterhielt sich nicht nur mit sich selbst, sondern sprach zu den Pflanzen und Tieren, als könnten sie ihn verstehen. Er pries eine besonders schöne Blume oder eine besonders üppige und duftende Fleischfresserpflanze, verhöhnte sie aber gleichzeitig, wenn es ihr mißlang, ihn in ihren Schlund zu ziehen. Und dann vernichtete er sie. Teiger tötete nicht aus Sport. Er war reich genug, um ein geruhsames Leben zu führen, und hatte es nicht nötig, zu jagen. Wirtz hatte irgendwie das Gefühl, daß Teiger sich als
Im Bann der Hohlwelt Teil der Ökologie dieses Planeten verstand. Töten oder getötet werden das war das gnadenlose Gesetz des Dschungels – und Teiger fügte sich darin harmonisch ein. Er und der Dschungel waren eine homogene Einheit. Wenn Teiger tötete, dann wandte er das Dschungelgesetz an. Obwohl Teiger ständig redete – und Wirtz hielt da tüchtig mit und blieb weder Antworten noch Gesprächsthemen schuldig –, wurde nichts von Bedeutung erörtert. Sie philosophierten, tauschten Erinnerungen und Erlebnisse aus und kamen in ihren Diskussionen vom Hundertsten ins Tausendste – aber das, was Wirtz interessierte, kam nie zur Sprache. Mit keinem Wort wurde auf das Weltall, die Sterne und die Raumfahrt – oder auf die Hohlwelttheorie eingegangen. Und Wirtz hütete sich nach wie vor, dieses Thema anzuschneiden. Erstens, um die Begegnung mit diesem faszinierenden Mann genießen zu können und den eigenartigen Zauber ihrer Freundschaft nicht zu zerstören. Zweitens, weil Wirtz befürchtete, daß Teiger ein Besessener sein könnte. Er hätte dies natürlich gerne herausgefunden, andererseits wollte er ihn so in Erinnerung behalten, wie er war: ein kosmisches Original, wie man selten eines fand. Manchmal wurde das Gelände so uneben und unwegsam, daß das Luftkissenfahrzeug nicht mehr aus eigener Kraft weiterkam, dann mußten sie es ziehen und schieben. Aber dieser Zeitverlust wurde schnell wieder wettgemacht, wenn das Gelände ebener wurde und sie mit Höchstgeschwindigkeit dahinbrausen konnten. Dagegen konnten sie die oft Stunden dauernden Aufenthalte wieder gutmachen. Teiger ließ es sich, obwohl er wußte, daß Wirtz in Eile war, auch nicht nehmen, die Natur zu beobachten. Er konnte die Raubtiere beim Fressen oder bei der Tränke endlos beobachten und konnte sich auch nicht sattsehen, wenn die Blumen im Morgentau ihre Blüten langsam öffneten. Das war das Leben, sagte Teiger, und er hatte recht. »Willst du Sheila kennenlernen?« fragte
51 der Jäger einmal den verblüfften Wirtz. »Sheila war meine erste Frau. Ein raffiniertes Luder. Sie setzte eine versteckte Klausel unter den Ehevertrag, der es ihr erlaubte, mir förmlich das Blut auszusaugen. Vielleicht erzähle ich dir einmal, wie es mir gelang, sie doch noch zu überlisten. Das brachte mich zwar an den Rand des finanziellen Ruins, aber es brachte mir auch die Freiheit.« Sie bezogen am Rande einer Lichtung Posten, in deren Mitte eine wunderschöne Supercarnivora blühte. Die Blüte der Fleischfresserpflanze durchmaß einen Meter, ihre dornenbewehrten Blätter einen Radius von sieben Metern. »Sie ist so schön wie meine erste Frau, deshalb habe ich sie Sheila genannt«, erklärte Teiger. »Und sie kann ebenso zärtlich sein und ebenso raffiniert und blutrünstig.« Sie harrten zwei Stunden aus, bis der erste Vogel angeflogen kam und sich auf die Blüte niederließ, um sich an Blütennektar und Blütenstaub gütlich zu tun. Dem ersten Vogel folgten andere, als sie sahen, daß ihr Artgenosse das Wagnis überlebte. Als dann zwei Dutzend Vögel in der Blüte waren, schnappte die Falle der Dornenblätter zu. »Das ist Sheila, wie sie leibt und lebt.« Wirtz täuschte sich, als er glaubte, daß sie nun ihren Beobachtungsposten verlassen würden. Sie blieben bis zum Abend und schlugen hier ihr Lager auf. In der Nacht weckte Teiger Wirtz und drückte ihm ein Infrarotfernglas in die Hand. Wirtz beobachtete damit, wie die Supercarnivora einen Knochenhaufen nach dem anderen absonderte und mit ihren Fangarmen in der Erde vergrub. »Sheila verwischte alle Spuren.« Wirtz wurde klar, daß sich Teiger der Faszination von Sheila nicht entziehen konnte. Diese Haßliebe war seine stärkste Leidenschaft. In der Mitte des nächsten Tages kam dann der Abschied. Wirtz war es nicht schwergefallen, seine Mission zu vergessen oder zumindest zu verdrängen. Er hätte noch tageund wochenlang an Teigers Seite durch den
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Dschungel ziehen können. Aber er wußte auch, daß Teiger ihn nicht brauchte. Obwohl der Jäger Kontakt zu den Menschen suchte, mied er sie gleichzeitig. Er hegte zu seinen Mitmenschen eine ähnliche Haßliebe wie zu seiner Sheila. »So, da sind wir«, sagte Teiger und hielt das Luftkissenfahrzeug an. »Von hier aus findest du dich leicht alleine zurecht. Da vorne ist der Schrottpark.« Vor ihnen lag der Raumhafen von Brantonfeyn, der der City hundert Kilometer vorgelagert war. Wirtz sah einige Kugelraumer, den langgestreckten Zylinder eines Springerschiffes und eine Reihe kleinerer Privatjachten. Er wollte nicht glauben, was Teiger gesagt hatte, deshalb fragte er mit belegter Stimme: »Was ist das da vorne, ich meine die bizarren Gebilde?« »Schrott«, sagte Teiger. »Alles irgendwelche unbrauchbar gewordene Maschinen. So, und jetzt lasse ich dich allein.« Ohne ein Wort des Abschieds wendete Teiger das Luftkissenfahrzeug und verschwand damit im Dschungel. Wirtz hätte von diesem schrulligen Pelztierjäger nichts anderes erwartet. Teiger war sicher froh, daß er seinen Begleiter losgeworden war, so gut
er sich auch mit ihm verstanden hatte. Wirtz war ebenfalls erleichtert. Er hätte es nicht mehr länger an Teigers Seite ertragen – mit dem Bewußtsein, daß dieser ein Besessener war. Teiger wußte nicht mehr, daß es sich bei dem Gebilde im »Schrottpark« um Raumschiffe handelte, ein untrügliches Anzeichen dafür, daß er unter dem Einfluß der Wahnsinnstrahlung stand. Wirtz fröstelte. Wenn Teiger besessen war, dann mußten es auch die Bewohner von Brantonfeyn sein. Und vielleicht standen sogar alle Bewohner von Wiga-Wigo im Banne der Wahnsinnstrahlung. Zum erstenmal überlegte Wirtz ernsthaft, ob nicht doch vielleicht er wahnsinnig geworden war. Er schüttelte diesen Gedanken aber sofort wieder ab. Er würde sich nicht den Hohlweltjüngern unterordnen, sondern weiterhin gegen ihre Wahnsinnsideen ankämpfen. Und vielleicht würde er unter den Menschen von Brantonfeyn Gleichgesinnte treffen, die ihn im Kampf gegen die fremde Macht unterstützten.
ENDE
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