Sara Paretsky
Ihr wahrer Name Ein Vic Warshawski Roman Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser Die amerikanische Origi...
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Sara Paretsky
Ihr wahrer Name Ein Vic Warshawski Roman Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Total Recall bei Delacorte Press, New York Von Sara Paretsky liegen auf deutsch bereits vor: »Blood Shot« »Brandstifter« »Deadlock« »Eine für alle« »Engel im Schacht« »Fromme Wünsche« »Geisterland« »Schadenersatz« »Tödliche Therapie« »Die verschwundene Frau« »Windy City Blues« Für Sara Krupnik und Hannah Paretsky, deren Namen ich trage. Möge derjenige, der dort oben für Frieden sorgt, uns allen Frieden gewähren.
Inhalt
Lotty Herschels Geschichte: Arbeitsmoral
9
1
Babysitter
14
2 3
Bares für den Sarg Was sagt ein Name schon?
24 29
4
Gelenkte Erinnerung
38
5
Erste Spuren
46
6 7
Ansprüche Vertreterbesuch
54 63
8
Hoffmans Erzählungen
69
9
Die Prinzessin von Osterreich
81
Lotty Herschels Geschichte: Vier Goldmünzen
86
1 0 In der Höhle der Gedankenleserin
93
11
104
Tempowechsel
1 2 Flipperkugel
110
1 3 Geheimagent 1 4 Video
120 130
l6
Lotty Herschels Geschichte: Englischunterricht
139
Ein ungebetener Gast
145
Kontaktschwierigkeiten
155
1 7 Spuren der Vergangenheit
164
1 8 Alte Liebe
176
Lotty Herschels Geschichte: V-E-Day
184
1 9 Ende der Durchsage
188
2 0 Jäger in der Mitte
194
2 1 Belästigung im Park
204
2 2 Die trauernde Mutter
211
2 3 Im Dunkeln ist gut munkeln
218
2 4 Ein Walroß tut Dienst
227
Lotty Herschels Geschichte: Quarantäne 2 3 5 2 5 Papier ist geduldig 2 4 0 2 6 Hypnotische Suggestion 2 5 0 2 7 Frisch rekrutiert 2 5 7 2 8 Alte Liebe streitet auch 2 6 7 2 9 Ein merkwürdiges Gespann 2 7 6 3 0 Party Time? 2 8 6 3 1 In der besseren Gesellschaft 2 9 2 3 2 Klient in der Klemme 3 0 1 3 3 Chaos 3 1 1 3 4 Wut, Wut, nichts als Wut 3 1 9 3 5 Privatgespräch 3 2 6 3 6 Ein neues Wort für die gleiche alte Geschichte 3 3 5 3 7 Mein Königreich für eine Adresse 3 4 7 3 8 Heartbreak House 3 5 2 3 9 Paul Radbuka und die Kammer der Geheimnisse 3 6 0 4 0 Geständnis 3 7 0 4 1 Familienfest 3 7 6 4 2 Lottys großer Auftritt 3 8 5 4 3 Am Krankenbett 3 9 3 4 4 Eine Dame verschwindet 4 0 1 4 5 Gerüchte 4 1 0 4 6 Uralte Geschichten 4 1 7 4 7 Bourbon und ein bißchen mehr 4 2 6 f 437 4 8 Noch mehr Leichen 4 9 Büroarbeit 4 4 5 5 0 Luftsprünge 4 5 6 5 1 Ein gerissener Kojote 4 6 6 5 2 Das Gesicht auf dem Foto 4 7 3 Lotty Herschels Geschichte: Der lange Weg zurück 478 Dank 4 9 1
Lotty Herschels Geschichte: Arbeitsmoral Die Kälte in jenem Winter fraß sich in unsere Knochen. Das kannst du dir nicht vorstellen, denn du lebst in einer Zeit, in der du nur die Heizung aufzudrehen brauchst, um es so warm zu haben, wie du möchtest, aber damals in England war der einzige Brennstoff Kohle, und in jenem zweiten Winter nach dem Krieg herrschte schrecklicher Mangel. Wie alle hatte ich Six-penny-Münzen für die elektrische Heizung in meinem Zimmer gesammelt, aber selbst wenn ich es mir hätte leisten können, sie die ganze Nacht laufen zu lassen, hätte sie nicht viel Wärme gespendet. Eine der Frauen in meiner Unterkunft bekam eine Bahn Fallschirmseide von ihrem Bruder, der bei der britischen Luftwaffe gewesen war, und wir machten uns daran, Mieder und Schlüpfer daraus zu schneidern. Damals konnten wir alle noch stricken; ich trennte alte Pullover auf, um Schals und Westen zu machen - neue Wolle kostete seinerzeit ein Vermögen. In der Wochenschau sahen wir, daß amerikanische Schiffe und Flugzeuge den Deutschen alles brachten, was sie brauchten. Während wir uns in Decken und Pullover wickelten und Graubrot mit Butterersatz aßen, machten wir bittere Scherze darüber, daß es falsch gewesen war, die Amerikaner zum Kriegseintritt zu bewegen, um den Ausgang der Auseinandersetzungen für uns zu entscheiden - wären wir die Verlierer gewesen, hätten sie uns besser behandelt, sagte die Frau, die die Fallschirmseide von ihrem Bruder bekommen hatte.
Ich hatte meine Ausbildung zur Ärztin begonnen und konnte deshalb nicht viel Zeit im warmen Bett verbringen. Außerdem war ich froh, daß ich jeden Tag ins Krankenhaus gehen konnte, obwohl es dort auch nicht warm war: Patienten und Schwestern drängten sich um den großen Ofen in der Mitte der Station, tranken Tee und erzählten Geschichten. Wir Studenten beneideten sie um ihre Kameradschaft. Die Schwestern erwarteten professionelles Verhalten von uns Medizinstudenten oder besser gesagt: Sie hatten Freude daran, uns herumzukommandie 4
ren. Wir machten unsere Runden mit zwei Paar Strumpfhosen übereinander und hofften, daß die Fachärzte unsere Handschuhe nicht bemerkten, wenn wir ihnen von Bett zu Bett folgten und über Symptome aufgeklärt wurden, die in vielen Fällen Mangelerscheinungen waren. Sechzehn bis achtzehn Stunden Arbeit am Tag ohne richtiges Essen forderten ihren Tribut von uns allen. Viele meiner Mitstudenten erkrankten an Tuberkulose und bekamen deshalb frei - nur bei einer solchen Erkrankung erlaubte es das Krankenhaus, daß wir die Ausbildung unterbrachen und hinterher wieder aufnahmen, auch wenn bei manchen die Genesung länger als ein Jahr dauerte. Allmählich begannen sich die neuen Antibiotika durchzusetzen, aber sie kosteten ein Vermögen und waren noch nicht überall erhältlich. Als es auch mich erwischte und ich zu meiner Vorgesetzten gehen und ihr erklären mußte, daß ein Freund meiner Familie ein Cottage in Somerset habe, wo ich mich erholen könne, nickte sie nur düster, denn in meinem Kurs waren bereits fünf Studenten erkrankt. Trotzdem erledigte sie die nötigen Formalitäten für mich und trug mir auf, ihr einmal monatlich zu schreiben. Gleichzeitig drückte sie ihre Hoffnung aus, mich vor Ablauf eines Jahres wiederzusehen. Ich blieb acht Monate weg. Eigentlich hatte ich früher zurückkehren wollen - ich sehnte mich danach, endlich wieder dazusein -, aber Ciaire - Ciaire Tallmadge, die seinerzeit bereits Medizinalassistentin war und eine Stelle als Fachärztin so gut wie sicher in der Tasche hatte überzeugte mich, daß ich noch zu schwach sei. Meine Rückkehr ins Royal Free empfand ich als höchste Freude. Die Routine im Krankenhaus, meine Studien - all das war wie Balsam für mich, es trug zu meiner Heilung bei. Eines Tages rief meine Vorgesetzte mich sogar zu sich ins Büro, um mir zu sagen, daß ich mich nicht überanstrengen solle; es sei nicht im Interesse der Klinik, wenn ich einen Rückfall erlitte. Sie begriff nicht, daß die Arbeit meine einzige Rettung war, ja, vielleicht schon so etwas wie eine zweite Haut. Das Vergessen, das einem harte Arbeit schenken kann, ist ein Rauschmittel. »Arbeit macht frei«, so lautete eine jener fast schon obszönen Parolen, die die Nazis sich ausdachten, aber kann sie einen möglicherweise sogar betäuben? Über dem Eingang all 4 ihrer Lager befanden sich solche und ähnliche Slogans wie aus Orwells 1984; über dem von Auschwitz hing der obenerwähnte. Natürlich handelte es sich dabei um eine diabolische Parodie, aber ich bin der Meinung, daß Arbeit tatsächlich betäuben kann. Wenn man auch nur einen Augenblick zu arbeiten aufhört, beginnt das Innere des Menschen sich aufzulösen; schon bald ist er so formlos, daß er sich überhaupt nicht mehr bewegen kann. Das jedenfalls war meine Angst. Als ich erfuhr, was mit meiner Familie passiert war, verlor ich völlig den Boden unter den Füßen. Eigentlich hätte ich mich auf den Schulabschluß vorbereiten sollen, denn das Ergebnis war wesentlich für die Einschreibung in die Universität, aber plötzlich besaßen die Prüfungen nicht mehr die Bedeutung, die sie den ganzen Krieg über für mich gehabt hatten. Jedesmal wenn ich mich zum Lernen hinsetzte, hatte ich das Gefühl, als würden mir die Eingeweide mit einem riesigen Staubsauger weggesaugt. Daß ausgerechnet meine Cousine Minna mir zu Hilfe kam, war Ironie des Schicksals. Seit ich zu ihr gekommen war, hatte sie nichts als Kritik für meine Mutter übrig gehabt. Die Nachricht vom Tod meiner Mutter hatte kein respektvolles Schweigen zur Folge, sondern eine noch heftigere Schimpftirade. Heute weiß ich aufgrund meiner Lebenserfahrung, daß das hauptsächlich auf ihre Schuldgefühle zurückzuführen war: Sie hatte meine Mutter gehaßt und war so viele Jahre auf sie eifersüchtig gewesen, daß sie jetzt ihre Gefühllosigkeit, ja sogar Grausamkeit nicht zugeben konnte. Wahrscheinlich trauerte sie selbst, weil auch ihre eigene Mutter verschwunden war und die ganze Familie, die den Sommer stets mit Schwimmen und Reden am Kleinsee verbracht hatte, aber egal. Das ist alles längst vorbei. Wenn ich nach Hause ging, streifte ich so lange durch die Straßen, bis ich erschöpft genug war, daß ich nichts mehr empfand, wenn Minna mich fragte: »Du findest also, daß du ein schlimmes Schicksal erleidest? Daß du die einzige Waise in einem fremden Land bist? Hättest du nicht Victor
seinen Tee geben sollen? Er sagt, er hat über eine Stunde auf dich gewartet und ihn sich dann selbst gemacht, weil du dir zu gut dazu bist, dich wohl für eine von den >gnädigen Frauen< hältst.« Dabei 5 machte Minna, die zu Hause nur Deutsch sprach, weil sie Englisch nie richtig gelernt hatte - wofür sie sich schämte, was sie aber auch wütend machte -, einen Knicks vor mir. »Willst dir wohl die Hände nicht schmutzig machen mit richtiger Arbeit oder dem Haushalt. Du bist genau wie Lingerl. Ich frage mich wirklich, wie eine solche Prinzessin dort so alt werden konnte, so ganz, ohne verwöhnt zu werden. Hat sie den Kopf schräg gelegt und mit den Wimpern geklimpert, bis die Aufseher oder die anderen Gefangenen ihr das eigene Brot gegeben haben? Madame Butterfly ist tot. Es wird Zeit, daß du lernst, was richtige Arbeit ist.« Da stieg die größte Wut in mir auf, die ich in meinem Leben je empfunden habe. Ich gab ihr eine Ohrfeige und schrie sie an: »Wenn die Leute sich um meine Mutter gekümmert haben, dann deshalb, weil sie sie mit Liebe belohnte. Und aus dir machen sie sich nichts, weil du einfach abscheulich bist.« Sie starrte mich einen Augenblick mit offenem Mund an. Allerdings fing sie sich schnell wieder und versetzte mir ihrerseits einen so heftigen Schlag, daß meine Lippe von ihrem großen Ring aufplatzte. Und dann fauchte sie mich an: »Ich hab' dich das Stipendium für die Schule nur annehmen lassen, weil ich davon ausgegangen bin, daß du dich für meine Großzügigkeit revanchierst, indem du dich um Victor kümmerst. Und ich muß dir wohl nicht sagen, daß du das nicht getan hast. Statt ihm seinen Tee zu machen, treibst du dich in den Kneipen und Tanzsälen herum wie deine Mutter. Max oder Carl oder einer von den anderen Einwandererjungen wird dir irgendwann noch das gleiche schenken wie Martin - so hat er sich jedenfalls selbst genannt damals Madame Butterfly. Gleich morgen früh gehe ich zu deiner Schulleiterin, deiner geliebten Miss Skeffing, und sage ihr, daß du deine Ausbildung nicht fortsetzen kannst. Es wird allmählich Zeit, daß du dich hier nützlich machst.« Mit blutigem Gesicht rannte ich völlig durcheinander durch halb London zu der Jugendherberge, in der meine Freunde wohnten - du weißt schon, Max und Carl und die anderen. Sie waren im Jahr zuvor sechzehn geworden und hatten nicht mehr in ihren Pflegefamilien bleiben können. Ich flehte sie an, mir für die Nacht irgendein Bett zu besorgen. Am nächsten Morgen, I 2 als Minna in ihrer geliebten Handschuhfabrik war, schlich ich mich zurück, um meine Bücher und meine Kleidung zu holen, die ohnehin nur aus zwei Sets Unterwäsche und einem Kleid zum Wechseln bestand. Victor döste im Wohnzimmer und bekam gar nicht richtig mit, daß ich da war. Miss Skeffing machte eine Familie in North London für mich ausfindig, die mir ein Zimmer zur Verfügung stellte, wenn ich das Kochen für sie übernahm. Und ich begann zu lernen, als könnte ich meine Mutter durch meine Arbeit wieder ins Leben zurückholen. Sobald ich am Abend mit dem Abspülen fertig war, beschäftigte ich mich mit chemischen und mathematischen Problemen und schlief manchmal nur vier Stunden, bevor ich aufstand, um das Frühstück für die Familie zuzubereiten. Und seitdem habe ich eigentlich nie mehr mit dem Arbeiten aufgehört. So endete die Geschichte, die Lotty mir an einem trüben Oktobertag auf einem Hügel über einer trostlosen Landschaft erzählte, bis sie zu erschöpft war, um noch weiterzureden. Schwerer fällt es mir festzustellen, wo die Geschichte begann. Selbst jetzt noch, da ich ruhig bin und wieder denken kann, ist es schwierig zu sagen, ja, genau, deswegen war's oder deswegen. In jener Zeit hatte ich tausend andere Dinge im Kopf. Tum Beispiel Morrell, der gerade die letzten Vorbereitungen für seine Reise nach Afghanistan traf. Darüber machte ich mir die meisten Gedanken, aber natürlich versuchte ich gleichzeitig, meine Arbeit zu erledigen, meine ehrenamtlichen Tätigkeiten zu bewältigen und meine Rechnungen zu bezahlen. Vermutlich begann meine eigene Verwicklung in die Geschichte mit Isaiah Sommers, vielleicht aber auch mit der Konferenz der Birnbaum Foundation - mit beiden hatte ich es am selben Lagzu tun.
5
1
Babysitter
»Sie wollten nicht mal die Beisetzungsfeier machen. Die Kirche war voll, die Frauen haben geweint. Mein Onkel war Diakon und ein rechtschaffener Mann. Als er gestorben ist, war er siebenundvierzig Jahre in der Kirche. Meine Tante ist völlig zusammengebrochen, das können Sie
sich ja wahrscheinlich vorstellen. Die hatten doch tatsächlich den Nerv zu sagen, daß die Police bereits ausbezahlt worden ist. Aber wann? Das würde ich gern wissen, Ms. Warshawski, oder ob überhaupt. Mein Onkel hat fünfzehn Jahre lang seine fünf Dollar in der Woche eingezahlt, und meine Tante hat kein Wort davon gehört, daß er die Versicherung jemals beliehen oder sie sich auszahlen hätte lassen.« Isaiah Sommers war klein und stämmig und sprach langsam und gesetzt, als wäre er selbst Diakon. Ich hatte Mühe, während der Pausen, die er zwischen den Sätzen machte, nicht einzuschlafen. Wir saßen im Wohnzimmer seines Bungalows in der South Side. Es war kurz nach sechs, und der Tag hatte sich für meinen Geschmack schon viel zu lange hingezogen. Ich war bereits morgens um halb neun im Büro gewesen, um jene routinemäßigen Nachforschungen zu erledigen, aus denen meine Arbeit zum größten Teil besteht, als Lotty Herschel mich mit einer dringenden Bitte anrief. »Du weißt doch, daß der Sohn von Max Calia und Agnes aus London mitgebracht hat, oder? Und jetzt hat sich für Agnes plötzlich die Gelegenheit ergeben, ihre Dias in einer Galerie in der Huron Street zu zeigen, aber sie braucht einen Babysitter für Calia.« »Ich bin kein Babysitter, Lotty«, sagte ich ungeduldig. Calia ist die fünfjährige Enkelin von Max Loewenthal. Aber Lotty schenkte meinem Einwand keinerlei Beachtung. »Max hätte mich nicht angerufen, wenn jemand anders dagewesen wäre. Seine Haushälterin hat heute ihren freien Tag, und er muß zu dieser Konferenz im Hotel Pleiades, obwohl ich ihm tausendmal gesagt habe, daß er sich dort nur unnötig selbst zur Schau stellt - doch das spielt jetzt keine Rolle. Jedenfalls ist er mit seiner Diskussion um zehn dran - sonst hätte er selbst auf Calia aufgepaßt. Ich hab' Mrs. Coltrain bei mir in der Klinik gefragt, aber die haben alle zu viel zu tun. Michael probt den ganzen Nachmittag mit dem Orchester, und die Sache mit der 6 Galerie könnte eine wichtige Chance für Agnes sein. Vic, ich weiß, daß ich dich überrumple, aber es wäre ja auch nur für ein paar Stunden.« »Warum fragst du nicht Carl Tisov?« erkundigte ich mich. »Der ist doch auch bei Max, oder?« »Carl und Babysitten? Wenn der seine Klarinette in der Hand hat, merkt er nicht mal mehr, wenn's das Dach über seinem Kopf vom Haus fegt. Das hab' ich selbst mal erlebt, bei den V- i -Angriffen. Kannst du mir sagen, ob du's machst oder nicht? Ich bin gerade bei meiner Runde in der Klinik und habe auch ansonsten ein volles Programm.« Lotty ist Leiterin der Perinatologischen Abteilung im Beth Israel Hospital. Ich versuchte selbst noch jemanden aufzutreiben und fragte auch meine Teilzeitassistentin, die drei Pflegekinder hat, aber niemand konnte mir helfen. Schließlich sagte ich Lotty mürrisch zu. »Ich hab' um sechs einen Termin bei einem Klienten ganz draußen in der South Side, also muß mich jemand bis spätestens fünf ablösen.« Als ich zu Max nach Evanston fuhr, um Calia abzuholen, war Agnes ziemlich hektisch, aber auch sehr dankbar. »Jetzt finde ich nicht mal mehr meine Dias. Calia hat mit ihnen gespielt und sie in Michaels Cello gesteckt, worüber er sich furchtbar aufgeregt hat. Und nun weiß er nicht mehr, wo er sie in seinem Zorn hingeschmissen hat.« Michael gesellte sich, mit einem T-Shirt bekleidet, den Cello-Bogen in der Hand, zu uns. »Tut mir leid, Schatz. Sie müssen im Wohnzimmer sein - da habe ich geübt. Vic, ganz herzlichen Dank, daß du uns hilfst. Dürfen wir dich und Morrell nach unserem Konzert am Sonntag nachmittag zum Abendessen einladen?« »Das geht nicht, Michael!« fuhr Agnes hastig dazwischen. »Da gibt doch Max die Dinnerparty für dich und Carl.« Michael spielt Cello im Cellini Chamber Ensemble, jenem Kammerorchester, das in den vierziger Jahren von Max und Lottys Freund Carl Tisov in London gegründet worden war. Der Auftakt der im Zweijahresturnus stattfindenden internationalen Tournee des Ensembles fand in Chicago statt. Außerdem sollte Michael ein paar Konzerte zusammen mit dem Chicago Symphony Orchestra geben. J6
Agnes nahm Calia kurz in den Arm, bevor sie sagte: »Victoria, vielen, vielen Dank. Aber bitte tu mir den Gefallen und setz sie nicht vor den Fernseher. Sie darf nur eine Stunde pro Woche schauen, und amerikanische Sendungen sind meiner Meinung nach sowieso nicht für sie geeignet.« Dann
hastete sie ins Wohnzimmer, und man konnte hören, wie sie auf der Suche nach den Dias wütend die Kissen vom Sofa riß. Calia verzog das Gesicht und nahm meine Hand. Schließlich zog Max ihr die Jacke an und sorgte dafür, daß ihr Hund, ihre Puppe und ihre »Allerlieblingsgeschichte« in ihrem kleinen Rucksack landeten. »Was für ein Durcheinander«, brummte er. »Man könnte meinen, die NASA startet ein Raumschiff. Lotty hat mir gesagt, daß du abends einen Termin in der South Side hast. Wir könnten uns um halb fünf im Foyer des Hotels Pleiades treffen. Bis dahin müßte ich eigentlich fertig sein und könnte dir diesen kleinen Wildfang wieder abnehmen. Wenn's irgendwelche Probleme gibt, kannst du mich über meine Sekretärin erreichen. Victoria, wir sind dir wirklich sehr dankbar.« Er begleitete uns nach draußen, wo er Calia auf die Stirn küßte und mich auf die Hand. »Ich hoffe, deine Diskussion wird nicht zu schmerzlich für dich«, sagte ich. Er lächelte. »Dann hat Lotty dir also von ihren Ängsten erzählt? Sie reagiert allergisch auf die Vergangenheit. Ich mag mich selbst auch nicht ständig damit auseinandersetzen, bin aber der Meinung, daß es gut ist, wenn andere Menschen sie verstehen.« Ich schnallte Calia auf dem Rücksitz meines Mustangs an. Die Birnbaum Foundation, die oft solche Veranstaltungen organisierte, hatte beschlossen, eine Konferenz zum Thema »Christen und Juden: ein neues Millennium, ein neuer Dialog« abzuhalten. Das Programm hatte die Stiftung veröffentlicht, nachdem eine Baptistengruppe aus den Südstaaten im gerade zu Ende gegangenen Sommer ihren Plan verkündet hatte, zur Bekehrung der Juden hunderttausend Missionare nach Chicago zu schicken. Diese Initiative der Baptisten war schließlich im Sande verlaufen, weil nur ungefähr eintausend hartgesottene Anhänger der Gruppe auftauchten. Ganz billig war die Sache für die Baptisten nicht, weil sie den Hotels Stornogebühren 7 für die reservierten Zimmer zahlen mußten. Zu dem Zeitpunkt jedoch waren die Planungen für die Konferenz der Birnbaum Foundation bereits in vollem Gange. Max nahm an der Finanzdiskussionsrunde teil, was Lotty wütend machte: Er würde dabei seine Nachkriegserfahrungen im Zusammenhang mit seinem Versuch beschreiben, seine Verwandten und ihr jeweiliges Vermögen aufzuspüren. Lotty meinte, er stelle so nur sein persönliches Elend zur Schau und trage zur Verstärkung des Klischees vom Juden als Opfer bei. Außerdem gebe die Beschäftigung mit verlorengegangenen Vermögenswerten einer zweiten beliebten Klischeevorstellung Nahrung, nämlich daß alle Juden geldgierig seien. Doch darauf antwortete Max jedesmal: Wen interessiert das Geld hier dertn wirklich? Die Juden? Oder nicht vielmehr die Schweizer, wenn sie sich weigern, es den Leuten zurückzugeben, die es verdient und auf Konten eingezahlt haben? Worauf stets eine heftige Auseinandersetzung folgte. In ihrer Gesellschaft zu sein, war in jenem Sommer ziemlich anstrengend gewesen. Auf dem Rücksitz hinter mir plapperte Calia fröhlich vor sich hin. Die Privatdetektivin als Babysitter: Dieses Bild kam einem nicht unbedingt als erstes in den Sinn, wenn man an Krimis dachte. Ich glaube nicht, daß Race Williams oder Philip Marlowe sich jemals als Babysitter betätigt haben. Am Ende jenes Vormittags kam ich zu dem Schluß, daß sie einfach nicht stark genug gewesen waren, um mit einem fünfjährigen Kind fertig zu werden. Als erstes ging ich mit Calia in den Zoo, weil ich dachte, das würde die Kleine so müde machen, daß sie sich hinterher ein bißchen ausruhen würde, während ich ein paar Arbeiten in meinem Büro erledigte, aber dieser Optimismus erwies sich als naiv. Sie malte ungefähr zehn Minuten lang mit ihren Buntstiften, dann mußte sie aufs Klo, wollte ihren Großvater anrufen, beschloß, mit mir in dem langen Flur des Lagerhauses, in dem sich mein Büro befindet, Fangen zu spielen, jammerte, sie sei trotz der Sandwiches, die wir im Zoo gegessen hatten, »schrecklich« hungrig, und verkeilte schließlich einen meiner Dietriche in der Rückseite des Fotokopierers. Da gab ich auf und fuhr mit ihr in meine Wohnung, wo mir die Hunde und mein Nachbar von unten Gott sei Dank zu ein 7 wenig Ruhe verhalfen. Mr. Contreras, früher Maschinenschlosser und jetzt im Ruhestand, freute sich, sie auf dem Rücken durch den Garten zu tragen; die Hunde begleiteten sie. Ich ging unterdessen hinauf, um am Küchentisch ein paar Anrufe zu erledigen; die hintere Tür ließ ich offen, damit ich hörte, wenn die Geduld von Mr. Contreras sich erschöpfte, doch ich schaffte tatsächlich eine ganze Stunde Arbeit. Danach erklärte Calia sich bereit, zusammen mit den beiden Hunden Peppy und Mitch im Wohnzimmer zu sitzen und sich ihre »Allerlieblingsgeschichte« Der treue Hund und die Prinzessin vorlesen zu lassen.
»Ich hab' auch einen Hund, Tante Vicory«, verkündete sie und holte ihren blauen Plüschhund aus dem Rucksack. »Er heißt Ninshubur, genau wie der in der Geschichte. In der Sprache des Volkes von der Prinzessin heißt Ninshubur >treuer FreundNinshubur, der treue Hund, sprang von Fels zu Fels, ohne auf die Gefahr zu achten.in gewisser Hinsicht