LATIF YAHIA und KARL WENDL
Ich war Saddams Sohn
Als Doppelgänger im Dienst des irakischen Diktators Hussein
Roman Al...
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LATIF YAHIA und KARL WENDL
Ich war Saddams Sohn
Als Doppelgänger im Dienst des irakischen Diktators Hussein
Roman Als Doppelgänger im Dienst des irakischen Diktators Hussein
Inhaltsverzeichnis 1. KAPITEL – An der Front 2. KAPITEL – Das Paradies 3. KAPITEL – Der Leibeigene 4. KAPITEL – Die Ausbildung 5. KAPITEL – Saddam Hussein 6. KAPITEL – Der erste Auftritt 7. KAPITEL – Die Attentatsangst 8. KAPITEL – Die Exzesse 9. KAPITEL – Das Morden beginnt 10. KAPITEL – Der Tod des Vorkosters 11. KAPITEL – Das stumme Mädchen 12. KAPITEL – Der Kuwait-Raubzug 13. KAPITEL – Jeder hat gestohlen 14. KAPITEL – Die Bomben fallen 15. KAPITEL – Die Folterqualen 16. KAPITEL – Die Flucht Über das Buch Über den Autor Copyright
1. KAPITEL An der Front 23. September 1987, vormittags. Ich sitze in einer schwarzen Mercedes-Limousine, mit verspiegelten Scheiben; mein Chauffeur sagt kein Wort. Der Wagen muss ganz neu sein, das dunkle Leder riecht herb, frisch. Kein Staub, keine Flecken, die Teppiche am Boden haben noch kräftige Farben. Das Armaturenbrett ist aus Edelholz, die Klimaanlage arbeitet völlig geräuschlos, der Motor läuft rund und ist kaum zu hören. Majestätisch gleiten wir durch das Areal des Republikpalastes in Bagdad. Ein Gebiet, so ausgedehnt wie das Zentrum einer normalen europäischen Großstadt. Ministerien, Ministerwohnungen, Sportanlagen, Theater, Kinos, Krankenhäuser, ein Flughafen. Dazwischen traumhafte Grünanlagen und verspielte Springbrunnen, türkisblaue Swimmingpools mit Marmoreinfassungen. Eine Stadt in der Stadt. Saddams geheimes Nervenzentrum. Beeindruckend. Ich habe keine Ahnung, wohin ich gebracht werde, und will auch nicht danach fragen. Ich habe Angst, denn direkt hinter uns fährt eine zweite schwarze Limousine. An der Front hatte ich nie Angst, jetzt bricht mir plötzlich der Schweiß aus den Poren. Ich wische mir die feuchten Hände an meiner grünen Uniform ab und denke: »Warum gerade ich?« Im Irak verschwinden ständig Menschen. Sie werden verhaftet, gefoltert, lebenslang eingesperrt oder sofort exekutiert. Keiner kennt die wahren Gründe dafür. Alles, was wir haben, sind Vermutungen, Gerüchte. Nur eines wissen wir genau: Ein falsches Wort, ein Witz, eine öbszöne Geste über den Präsidenten oder seine Familie genügt, kann dein Todesurteil sein. Ich bin zwar überzeugt, immer regimetreu und untadelig gehandelt zu haben, spüre aber dennoch ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit in mir. Es frisst sich in mir fest und steigert sich, je länger wir in dem Mercedes unterwegs sind: »Habe ich vielleicht doch Saddam irgendwann, irgendwo kritisiert?«, frage ich mich. »Vor Freunden, mehr im Spaß, vor Kollegen an der Front. Habe ich es mir etwa irgendwann anmerken lassen, dass mich dieser Krieg anwidert, dass er mir nach meiner Meinung nur meine Jugend und meine Zeit stiehlt? Vielleicht habe ich aber auch nur einen Befehl schlecht ausgeführt oder gar indirekt verweigert?«
Neun Monate früher, am 6. Januar 1987, war ich zur irakischen Armee eingezogen worden. Der irakisch-iranische Krieg war noch voll im Gang, und unsere Streitkräfte hatten 1800 Quadratkilometer iranischen Territoriums besetzt. Mehr als 40 Divisionen lagen im irakischiranischen Grenzgebiet, am Schatt-el-Arab, dem Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris im Süden unseres Landes. Abgesehen von den Raketen, die manchmal in Bagdad einschlugen und zuletzt zwei Geschäfte im Zentrum zerstört hatten, hatte ich wenig von diesem Krieg bemerkt, einfach weil ich mich nicht für ihn interessierte hatte. Wenige Wochen zuvor hatte ich mein Jura-Studium an der BagdadUniversität mit Ausgezeichnet bestanden. Ein Freudentag für mich und meine Familie. Eigentlich wollte ich sofort im Unternehmen meines Vaters mitarbeiten. Dem stand aber ein Gesetz im Wege, wonach jeder Student über 18, der seine Universitätsausbildung abgeschlossen oder abgebrochen hat, zur Armee eingezogen wird. Wer sein Studium nicht schafft oder aus anderen Gründen abbricht, muß für 36 Monate an die Front. Fertige Akademiker, der Stolz des Iraks, brauchen nur 21 Monate zu dienen. Ich hasste die Armee vom ersten Tag an, weil ich wusste, dass aus meinen 21 Monaten Militärdienst auch zehn Jahre werden könnten, denn im Irak sind Gesetze Schall und Rauch und können vom Präsidenten jederzeit willkürlich abgeändert werden: Fehlen Saddam Soldaten an der Front, wird die Dienstzeit einfach verlängert: »Das Vaterland braucht Dich.« Und ein Ende des irakisch-iranischen Grenzstreites war damals noch für niemanden abzusehen, schon gar nicht für normale Staatsbürger wie mich. Wir wussten nur, dass Saddam die Wasserstraße wollte, »weil sie für den Irak lebenswichtig« sei, und dass die Iraner sie auch wollten. Freunde meiner Familie standen schon seit Jahren im Krieg gegen den Iran. Es gab kaum eine Familie, die nicht wenigstens einen Sohn in diesem Kampf geopfert hatte. Überall in Bagdad waren die Kriegsinvaliden zu sehen. Junge Männer mit verbrannten Gesichtern, amputierten Beinen, amputierten Armen. Verzweifelte Menschen mit leeren Seelen und ausdruckslosen Augen. Daneben gesunde, junge Männer mit umgehängten Kalaschnikows, die auf Busse warteten, die sie zu ihren Einheiten zurückbringen sollten. Ich habe mit keinem von ihnen gesprochen, weil ihr Krieg mich nicht interessierte, wenn ich mit meinem Auto durch das herrliche Bagdad
fuhr, spürte aber, dass die meisten keine Lust mehr hatten zu kämpfen. Aber sie mussten, ob sie wollten oder nicht, denn auf Desertion oder Befehlsverweigerung stand die Todesstrafe. So hatte es Saddam Hussein für die Zeit des Krieges, der nun schon mehr als sieben Jahre dauerte, befohlen. Tausende von Deserteuren waren schon umgebracht worden, in den Lagern Al-Amerija, im Gefängnis Nummer 1, im Lager Al-Rasheed in Bagdad. Massenhinrichtungen, die nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinter Gefängnismauern oder in Tötungszellen durchgeführt wurden, sondern für alle Irakis mit vollziehbar und live im Fernsehen. Saddams Ziel war die Abschreckung und Einschüchterung, deshalb ordnete er diese öffentlichen Hinrichtungen an. Vor den Augen der verzweifelten Familien der jungen Soldaten. Mütter, Väter, Schwestern und Brüder mussten zusehen, als die Vaterlandsverräter gehängt wurden. Damit sie die Qualen ihrer Kinder und Brüder miterlebten, wie am eigenen Leibe fühlten. Damit Schmutz und Schande über sie kam. Doch nicht genug mit dieser grauenhaften Pein: Die Familien mussten auch noch eine Strafe bezahlen. An den Staat. Als Wiedergutmachung für die Schuld der Söhne. Außerdem wurde es den Trauernden nicht gestattet, ihre Toten ehrenvoll zu begraben. »Ein Deserteur hat vor dem Präsidenten und Allah versagt«, höhnten sie, »er hat seine Ehre verloren.« Saddam bezeichnete dieses grausame Vorgehen gegen die Jugend des Iraks nie als Abschreckung, was es war, sondern als »gerechte Strafe für gottlose Menschen.« Die Einheit, zu der ich kam, war eine Kommandotruppe, eine Spezialeinheit, für Universitätsabsolventen. Unsere Ausbilder hatten aus uns privilegierten Rekruten, den Ayad Saad, so rasch wie möglich Offiziere zu machen. Innerhalb von vier Monaten mussten wir soweit sein, dass wir Führungsaufgaben innerhalb der Armee übernehmen konnten. Ich hatte die Ausbildungsnummer 23. Unser Kurs hieß Saddam der Araber und begann am 16. Januar 1987 in der Kaserne Al-Rasheed am Stadtrand von Bagdad. Einen Monat lang gab es für uns nichts als Drill, bis zur Erschöpfung. 24 Stunden Gehirnwäsche, bis zum Exzess: Wecken vier Uhr früh, um fünf Appell, dann Befehlsausgabe. Körperertüchtigung, Exerzieren, Körperertüchtigung. Mit nacktem Oberkörper, nur mit der Uniformhose bekleidet, wurden wir von unseren Ausbildern
über den staubigen Kasernenhof gehetzt. Liegestütz, Laufschritt, Kniebeugen. Wir robbten über den Asphalt, jagten über die Hindernisbahn. Der schlimmste Ausbilder war Salem Al-Juburi, ein mächtiger, dunkelhäutiger Mann aus dem Südirak. Er beschimpfte uns, schlug mit einem Kabel auf uns ein, wenn wir die Übungen nicht ordnungsgemäß durchführten, behandelte uns wie Tiere. Wir hassten ihn dafür; aber er war gerecht und bevorzugte niemanden. Selbst 200 marokkanische Soldaten, unsere moslemischen Brüder, die in Bagdad ausgebildet wurden, drillte er, bis sie nicht mehr konnten. Um 14 Uhr war Mittagessen. Danach wieder das gleiche Spiel: Drill, Gymnastik, Exerzieren, politische Schulung. Keine Pause, kein Leerlauf, keine Sekunde Zeit, um an etwas anderes als an die Armee und die Pflichten eines Soldaten zu denken. Wer sich nicht unterordnen wollte, wurde so lange über den glutheißen Kasernenhof gehetzt, bis er nicht mehr konnte. Unsere Ausbilder hatten nur ein Ziel: unsere Persönlichkeit zu brechen, uns zu willenlosen Kampfmaschinen zu machen. Es war uns untersagt, während der Ausbildung mit unseren Verwandten und Freunden zu telefonieren; selbst Briefe waren strengstens verboten. Nichts durfte uns ablenken. Erst nach einem Monat bekamen wir zwei Tage Urlaub. 48 Stunden weg vom Terror, 48 Stunden Mensch sein. Dann der zweite, der eigentlich militärische Teil der Ausbildung. Wir kamen zur Al-Saeka-Kompanie, lernten den Umgang mit der leichten Waffe, dem Sturmgewehr. Wie zerlege ich eine Kalaschnikow, wie fülle ich das Magazin, wie putze ich das Gewehr, wie behebe ich eine Ladehemmung? Eintönig. Zerlegen, putzen, zusammenbauen. Zerlegen, putzen, zusammenbauen. Wir übten, bis wir die Waffen selbst im Schlaf zusammenbauen und handhaben hätten können. Danach ein Schnellkurs in Karate und Selbstverteidigung: Wie schalte ich mit dem Messer einen Gegner rasch und geräuschlos aus? Wir wurden geschult, wie wir uns im Nah- und Straßenkampf zu verhalten haben, wie man sich lautlos an einen Gegner heranmacht. Den Abschluss bildete ein Überlebenstraining: Stunden, Tage ohne Wasser und Nahrungsmittel. Sie steckten uns in einen riesigen Saal, in dem mehr als 1000 Personen Platz gehabt hätten. Der Gestank dort drin war fürchterlich, zum Kotzen: Ein beißender Geruch von Urin, Kot, Schweiß. Hier hatte man bereits Tausende derart fertiggemacht, dass sie Gott und die Welt vergaßen. Wir wurden in der Halle eingesperrt. 500 Mann. Unsere Ausbilder sa-
ßen auf einer Art Hochsitz, wie Schiedsrichter beim Tennisspiel. Der Boden der Halle war aus gestampfter Erde, darauf Wasserpfützen, in denen tote Hunde und Katzen lagen. Die Tiere waren halb verwest, teilweise schon fast skelettiert. Überall Kakerlaken, Käfer, Stechmücken. Selbst Schlangen hatten sie herangekarrt und in den Dreck gekippt. Eine Woche mussten wir in diesem Raum aushalten. Die Trainer zwangen uns, Kakerlaken zu essen, uns in die Pfützen mit den Tierkadavern zu werfen, darin auszuharren. Wer sich weigerte, wurde geschlagen und von den Kameraden »zur Übung« getreten. Solidarität, Freundschaft gab es nicht mehr. Er war ein Kampf ums Überleben, den einige von uns kaum durchhielten: Sattar, ein sensibler, schlanker, groß gewachsener Studienkollege, ekelte sich fast zu Tode, als der Ausbilder ihm von seinem Hochsitz zuschrie: »Sattar, friss die Biester. Fang sie, und friss sie.« Sattar hielt die zündholzschachtelgroßen Kakerlaken in der Hand. Er drückte sie zusammen, bis eine milchig-weiße Flüssigkeit aus dem harten Rücken der Tiere quoll. »Steck sie in den Mund, kau sie, bis es kracht«, schrie der Trainer. Aber Sattar konnte es nicht. Er musste würgen, wollte nicht kotzen, presste seine Lippen zusammen. Sein hageres Gesicht lief knallrot an, die Adern auf der Stirn traten hervor, als würden sie gleich platzen. Zwei-, dreimal konnte Sattar den Brechreiz unterdrücken; sein Körper zuckte zusammen, Tränen schossen ihm in die Augen. Dann brach es aus ihm heraus. Er ging langsam in die Knie, würgte, kotzte, würgte. »Hebt ihn auf«, schrie der Ausbilder, »hebt diesen Sack auf!«, und wir wussten, was zu tun war: Zwei Mann fassten Sattar unter den Armen, hoben den Kotzenden auf. Ein Dritter hielt seinen Kopf, und ein Vierter steckte ihm die Kakerlaken in den Mund, aus dem noch immer Erbrochenes quoll. »Zerbeiß sie, du bist ein irakischer Soldat, zerbeiß sie«, gellte es vom Hochsitz, und es klang, als hätte der Ausbilder seinen Spaß an dem entwürdigenden Schauspiel. Sattar kaute, erbrach, und wieder stopften sie ihm die Kakerlaken in den Mund. Es krachte, als er zubiss, und Sattar zitterte am ganzen Körper, als er die Biester hinunterwürgte. Obwohl mich dieser Kurs schwer mitgenommen hat, weiß ich heute, dass mich diese Ausbildung auch weitergebracht und zum Mann gemacht hat. Körperlich war ich danach topfit. Da man mein Hirn völlig ausgeschaltet hatte, folgte mein Körper einer kaum zu definierenden
Automatik: Befehl, Ausführung, keine Widerrede. Zuletzt schaffte ich selbst 60-Kilometer-Märsche mit vollem Marschgepäck fast problemlos, weil jeder Muskel, jede Faser meines Körpers völlig automatisch reagierte und sich in meinem Kopf kein Widerstand gegen diese Belastungen mehr aufbauen konnte. Wir waren Kämpfer, und die unmenschliche Ausbildung hatte unseren Kampfeswillen gestählt: »Das höchstes Ziel ist es«, schleuderten uns die Ausbilder entgegen, »dass ihr brutal und unmenschlich werdet. Wie Bestien. Selbst der israelische Geheimdienst fürchtet sich vor euch, und darauf könnt ihr stolz sein. Die Welt muss Angst vor euch haben, und ihr müsst eure Angst vergessen.« Wir fühlten uns als Elite, und das System impfte uns ständig neues Selbstvertrauen ein: »Ihr seid ein Team«, sagten sie uns, »ihr seid junge Männer, die studieren durften und deshalb auserwählt sind. Ihr habt alle Möglichkeiten, zu dem zu werden, was wir von euch wünschen. Ihr habt die einmalige Gelegenheit, eurem Land so zu dienen, wie es nur wenigen vergönnt ist. Bis jetzt seid ihr lediglich Rohmaterial für die hohen Aufgaben der Armee. Am Ende werdet ihr als die höchstqualifizierten Soldaten der Welt dastehen.« Am 5. April 1987 war die Grundausbildung abgeschlossen. Wir bekamen vier Tage frei, und ich fuhr nach Bagdad, um meine Familie zu sehen. Vater war stolz auf mich, weil ich zu Hause so tat, als würden mir die Strapazen nichts ausmachen, als hätte ich Spaß an der Sache. Aber ich war gespalten: In meinem Inneren spürte ich Widerwillen gegen den Kampf und war doch gleichzeitig vom Umgang mit den Waffen fasziniert. Waffen gehören in der arabischen Welt zu einem Mann; eine Waffe ist mehr als nur ein Tötungsinstrument, sie ist auch ein Ausdruck von Kraft und Entschlossenheit, Macht und Reichtum. Im Irak ist es üblich, dass jeder Mann eine Waffe trägt. Es gibt kein Haus und keine Familie ohne Waffe. Egal ob eine Pistole, ein Gewehr oder eine Kalaschnikow, eine Waffe ist ein Teil des Mannes, und wer keine besitzt, ist kein Mann. So hat es uns Saddam immer gelehrt. Ich sprach mit meinem Vater wenig über die vergangenen Wochen, diskutierte mehr über den nächsten Ausbildungsmonat. Auf dem Programm stand Fallschirmspringen. Innerhalb von 30 Tagen sollten wir aus Flugzeugen abspringen und hinter den feindlichen Linien GuerillaAnschläge verüben können. Unser Chefausbilder war grob und knallhart. Sehr ideologisch ge-
prägt, aber mít Leib und Seele Soldat. Er nahm uns die Angst vor dem ersten Sprung und suggerierte uns ständig, dass wir etwas Besonderes seien. Wir dürften nur an unseren Job und an sonst nichts anderes denken. »Ihr müßt die Angst kennen lernen«, philosophierte er väterlich, »wenn ihr die Angst nicht kennt, werdet ihr mit ihr auch nicht umgehen können.« In der Mitte der Kaserne stand der etwa 120, 130 Meter hohe Sprungturm. Die eisernen Stufen bis zu seiner Spitze schienen uns endlos, doch die Ausbilder hetzen uns rücksichtslos nach oben. Einmal stehen bleiben wurde mit zwei Kabelhieben bestraft. Als ich das erste Mal mit dem Übungsschirm auf dem Rücken ganz oben stand, zuckte ich zurück. Ich hatte Angst, aber keine Wahl: »Wer nicht springt«, war die Drohung, »wiederholt den ganzen Kurs.« Über Lautsprecher, die an der Spitze des Turmes angebracht waren, schrie mir der Springtrainer zu: »Habe keine Angst, sei stark, konzentriere dich.« Ich spannte meine Muskeln an, atmete tief durch, brüllte Al-Saeka und stürzte mich mit diesem Kampfschrei in die Tiefe. Geschafft. Ich hatte mich überwunden.
erstellt von ciando
Am 9. Mai 1987 ging der Kurs Saddam der Araber zu Ende. Von den 500 Mann, die mit mir zusammen begonnen hatten, hatten 60 aufgegeben. Sie schieden als Offiziersanwärter aus oder mussten den Kurs wiederholen. In unseren stolzen Galauniformen durften wir unsere Auszeichnungen entgegennehmen. In Blöcken zu 200 Mann waren wir auf dem Kasernenhof angetreten, eine Musikkapelle der Armee intonierte die irakische Hymne, und sogar Armeekommandant Abd-Al-Jadbar Shanshal war angereist, um uns unsere Ernennungsurkunde zu überreichen und uns zu verkünden, dass wir nun vollwertige Mitglieder der irakischen Armee waren. Ein stolzer Tag. Ich war erst 23 und bereits Offizier. Die erste Karrierestufe innerhalb der Gesellschaft des Iraks, in der neben Geld militärische Leistungen mehr zählen als alles andere sonst, hatte ich nun genommen. Ich freute mich, fühlte mich stolz und befreit, und außerdem bekam ich wieder vier Tage frei. Wieder fuhr ich zu meinen Eltern, aber die Tage zu Hause waren diesmal nicht so unbeschwert wie beim vorigen Mal: Ich wusste, dass ich nach diesem Kurzurlaub an die Front musste. Meinen Marschbefehl hatte ich gleichzeitig mit der Auszeichnung für den erfolgreichen Abschluss der Offi-
ziersausbildung erhalten. Am 13. Mai 1987, einem glutheißen Tag, wurden wir von Bagdad mit Militärbussen zur Moussa Ibn Nassir, der 35. Division, gebracht. Die 35. Division lag östlich von Basra im Südirak. Kommandant der Gruppe war Mohammed Taher Tawfik, ein umgänglicher Mann, den ich kannte, weil er aus dem gleichen Bagdader Bezirk wie ich stammte. Ich war nervös, erschöpft, wusste nicht so recht, was mich hier erwartete. Mohammed Taher Tawfik spürte das, doch die Zeit der aufmunternden Worte war vorbei: »Ihr habt 24 Stunden Zeit, um euch von der Anreise auszuruhen, danach werdet ihr verlegt. An die Front«, donnerte er und verzichtete auf jeden weiteren Kommentar. Die Kaserne war eine tiefgaragenartige Anlage, lag mehrere Stockwerke unter der Erde. Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Die Hitze, die Moskitos, die dumpfen Einschläge von Granaten, die auch hier unten noch zu hören waren, machten mir zu schaffen. Das erste Mal in meinem Leben hörte ich den Krieg. Ich spürte das Vibrieren, wenn das Feuer des Gegners beantwortet wurde, bildete mir sogar ein, dass ich den Krieg riechen konnte. Ich war dabei, es gab kein Zurück mehr. Am nächsten Tag wurde ich in die Beobachtungsstation Nummer 5-2 in Al-Aazir verlegt. Der Posten lag in einem sumpfigen Gebiet, unsere iranischen Feinde, die Khomeinis, wie wir sie nannten, waren kaum mehr als drei Kilometer entfernt. Bei günstigem Wind konnte man sogar hören, wie sie sich in ihren Stellungen unterhielten. Wie sie davon sprachen, dass sie uns den Hals durchschneiden würden, wenn sie uns erst einmal überrennen würden. Manchmal riefen sie uns Jaysch May-Akram zu. May Akram war eine schmuddelige irakische Barsängerin, die in den schlechtesten Etablissements in Bagdad auftrat und selbst im zügellosen Irak, wo Alkohol und Bars und Nachtclubs genauso gang und gäbe sind wie in den USA oder in Europa, einen üblen Ruf hatte. May Akram war eine Hure. Die höhnischen Rufe der Iraner bedeuteten also: »Ihr seid eine gottlose Hurenarmee.« Mein Job hatte ganz und gar nichts von jener während unserer Ausbildung immer wieder beschriebenen Kriegsromantik: »Beobachtung der feindlichen Truppen und Funkübermittlung der verschlüsselten Beobachtungsergebnisse an die Einheit«, lautete der Befehl, den mein
Vorgesetzter mir gegeben hatte. Meine Stellung war eine Art Hochstand, der auf sechs Eisenpiloten angebracht war. Vor und hinter der Stellung: Sumpf. Zu erreichen war der Stand nur mit einem kleinen Boot. Im Innenraum befanden sich zwei winzige Bänke, die auch als Betten dienten, ein Tisch, auf dem unser Funkgerät stand, und eine kleine Kochstelle. Der ganze Stand war nicht größer als drei Quadratmeter. Hier sollte ich ausharren, das war also der glorreiche Krieg gegen den Teufel Khomeini. Mein Team bestand aus dem Funkoffizier Ismail Taha, einem hartgesottenen Kämpfer, der kaum älter war als ich, aber schon mehrere Jahre an der Front verbracht hatte, aus Mohammed Mottasher, einem einfachen Soldaten aus einem Vorort von Bagdad, und einem Koch. 22 Tage mußte ich diese Position halten. Beobachten, beobachten, beobachten. Eintönig, langweilig. Es war schwer, sich ständig zu konzentrieren. Bemerkte ich die geringfügigste Veränderung in den Stellungen des Gegners, hatte ich dies unverzüglich an meine Einheit weiterzugeben. Diese reagierte mit dem Feuer schwerer Artillerie. Wir selbst hatten nur leichte Waffen, hätten also keine Chance gehabt, einem Angriff des Gegners etwas entgegenzusetzen. »Ruhig und schnell zurückziehen«, war die Anweisung, sollte dieser Angriff tatsächlich kommen. Wochenlang geschah nichts. Meine Arbeit bestand aus Warten, Beobachten, Warten. Stundenlang, tagelang. Dann wieder kurze, intensive Artilleriegefechte. Dann wieder angespanntes, nervenaufreibendes Warten. Ich sah meist nicht mehr als die kleinen Lastwagen, die den Frontsoldaten die Essensrationen brachten. Meistens sahen wir überhaupt nur den Staub, den die Fahrzeuge aufwirbelten. Manchmal, vor allem in der Nacht, glaubten wir den Feind atmen zu hören, so nah schien er uns. Dann wieder sahen und hörten wir tagelang nichts von ihm, obwohl wir genau wussten, dass sie da waren. Es war gespenstisch und unendlich langweilig zugleich. Die Front hatte sich festgefressen, es war ein Stellungskrieg, der ewig so andauern hätte können. Obwohl ich erst ganz kurz dabei war, hatte ich den Job mehr als satt: Sitzen und Warten. Über dir der tiefblaue Himmel, um dich die mörderische Hitze, vor dir das endlose Wasser, die Sümpfe des Schatt elArab. Ich war zwar Offizier und somit besser gestellt als die normalen Soldaten; aber was half mir das schon? Nichts. Ich aß das Gleiche wie die anderen, schlief auf derselben Holzpritsche, war wie sie ein unbe-
deutendes Rädchen in diesem unüberschaubaren Krieg, für den ich eigentlich keinen Grund sah: Ich hasste meinen Gegner nicht, ja, ich konnte ihn gar nicht hassen, weil ich ihn gar nicht kannte. Hätte der Krieg eine mörderische Dynamik gezeigt, wäre es es leichter gewesen, unseren Gegner zu hassen. Doch so? Wir hatten einfach zuviel Zeit, um nachzudenken, unser Dienst bestand doch zu 95 Prozent aus Warten. Absurd. Der einzige Vorteil, den ich aus meiner Offiziersstellung zog, war, dass ich alle drei Wochen sieben Tage Heimaturlaub bekam. Nach 22 Tagen durfte ich also erstmals meine Stellung verlassen. Ich fuhr nach Hause. Bagdad. Die Stadt meiner Träume. Meine Familie lebte im Stadtteil Al-Aasamije, einem guten Distrikt. Unser Haus war großzügig, und mein Vater war angetan, als ich ihm von der Front erzählte. Dennoch merkte er rasch, dass ich im Gespräch ständig zu begründen versuchte, weshalb dieser Krieg überhaupt geführt wurde: »Schau' unser Haus an, Vater. Wir haben doch alles. Den Menschen im Irak geht es gut. Wozu müssen wir an der Front sterben, weshalb? Gib' mir eine Antwort!« Er wich meinen Fragen aus und begegnete jedem meiner Argumente gegen den Krieg mit dem Hinweis: »Militärdienst ist Dienst für das Vaterland, und Desertion wird mit dem Tod bestraft.« Es gab keinen anderen Ausweg, ich musste zurück. Meine Angst um meine Familie zwang mich zur Pflichterfüllung. Zwei Tage später, es war der 10. Juni 1987, griffen uns die Khomeinis von allen Seiten an. Die Feuertaufe. Sie wollten die 35. Division überrollen, aufreiben. Ich befahl meinem Funkoffizier, Kontakt mit dem Hauptquartier aufzunehmen. Er schrie den Alarm in den Äther, und die Anweisung, die vom Führungsoffizier, zurückkam, war knapp: »Position aufgeben, zurückziehen.« Doch es war bereits zu spät: Als wir aus dem Hochstand in unser Boot kletterten, sahen wir die ersten iranischen Hubschrauber auftauchen. Zuerst zwei, dann ein ganzes Geschwader. Sie veranstalteten einen wilden Feuerzauber. Eine Granate schlug in unserem Beobachtungsposten ein, zerfetzte die primitive Eisenkonstruktion. Minuten früher - und wir wären erledigt gewesen, doch die Gefahr war noch nicht vorbei: Obwohl unsere ArtillerieEinheiten den Gegner mit ihrem Feuer zudeckten, rückte er immer weiter vor. Wir waren wie eingekesselt, hatten keine Chance mehr, irgendwohin durchzustoßen. Zwar konnten wir uns noch bis zu einem anderen Stützpunkt durchschlagen, aber es war vergebens: Der Kom-
mandant dieses Stützpunktes musste kapitulieren. Die gesamte Kompanie geriet in Gefangenschaft. Offiziere und normale Soldaten wurden getrennt. Sie fesselten uns an den Händen, trieben uns in einen primitiven Keller, schlugen uns. Nur sechs Mann waren zu unserer Bewachung abgestellt, denn die Schlacht ging unvermindert weiter. Ghassan Hamud, Kommandant der 10. Panzerkompanie und mehrfach ausgezeichneter Kriegsheld, hatte mit dem Gegenangriff begonnen. Sein Auftrag war offensichtlich, uns da herauszuholen, die Iraner zurückzudrängen. Und er schaffte es tatsächlich: Zwei Stunden später waren die Khomeinis wieder dort, wo sie vor dem Angriff gestanden hatten. Sie ließen ihr gesamtes Gerät zurück, flüchteten zu Fuß, wateten durch die Sümpfe. Auch unsere Bewacher. Ein verrückter Krieg. Hunderte iranischer Soldaten wurden bei diesem Gegenangriff von den Männern der 10. Panzerkompanie gefangengenommen. Ein Tag des Triumphes für die irakische Armee, und Saddam Hussein ließ seine gesamte Propagandatruppe aufmarschieren: Fernsehen, Zeitungsreporter, Fotografen. Wir wurden gefeiert, als ob wir den Krieg gewonnen hätten. Unsere gesamte Einheit erhielt besondere Auszeichnungen, ich wurde zum Oberleutnant befördert. Eigentlich hätte auch ich diesen Tag feiern sollen, doch mir war elend zumute: Oberleutnant Nassem Tibn, ein junger Soldat aus dem Anbar-Bezirk in Bagdad, der gemeinsam mit mir die Ausbildung absolviert hatte, war bei dem Gegenangriff schwer verletzt worden. Nicht im Kampf durch eine Kugel, sondern durch einen gefangen genommen iranischen Soldaten: Dieser Rekrut lag bereits mit den Händen im Nacken auf dem Boden, und Nassem Tibn hatte ihn zu bewachen. Plötzlich schnellte der Iraner wie eine Stahlfeder hoch. Er hatte einen Stein in der Hand und schlug ihn Nassem Tibn wuchtig ins Gesicht. Mein Freund schrie auf, brach blutend zusammen, eine große Wunde klaffte an seinem Kopf. Es sah grässlich aus, und viel Blut floss aus der Wunde in den Sand. Einer meiner Männer reagierte prompt, lud durch und erschoß den iranischen Soldaten, der meinen Freund so fürchterlich zugerichtet hatte. Zum ersten Mal sah ich nun einen Menschen sterben: Der Iraner wurde in die Brust getroffen, kippte nach vorne über, kroch noch einige Meter, fiel auf sein Gesicht. Er röchelte, ein Zucken, dann lag er re-
gungslos da in seiner zerschlissenen, ausgebleichten Uniform. Es war irgendwie unwürdig, unmenschlich, diesen jungen Burschen so sterben zu sehen, aber ich fühlte eine tiefe innere Genugtuung, er hatte diese Strafe verdient. Wenige Tage später, am 25. Juli 1987, verlegten sie mich zu einer Artillerie-Truppe, zur Einheit 954, die ebenfalls an der vordersten Front lag. Unser gesamtes Equipment stammte aus der Sowjetunion. Hochmoderne 85-mm-Granatwerfer mit drei, vier Kilometer Reichweite. Ich war froh, dass ich erfahrenen Offizieren zugeteilt wurde: Truppenführer Mohammed Ghaleb, ein netter Kerl, der schon Hunderte von Angriffen in diesem Krieg durchgeführt hatte. Oberleutnant Nassir Baker und Oberleutnant Saad Ahmad, die beide aus Bagdad kamen, aus guten Familien stammten und in ihrer Denkweise westlicher ausgerichtet waren als alle Absolventen eines MBA-Studiums in Harvard. Groß, schlank, durchtrainiert, obligatorischer Oberlippenbart. Ich wurde bald ihr Freund, obwohl ich anfänglich keinen Grund erkennen konnte, warum sie mich so rasch und freundlich in ihre Gruppe aufgenommen hatten. Ich war dabei, wenn Lagebesprechungen durchgeführt wurden, aß mit den anderen Offizieren im Kommandoraum. Unsere Stellung bestand aus einem unterirdischen Stollensystem, mit Holzbalken abgestützt und mit Sandsäcken verstärkt. Der Kommandoraum war zwar eng und stickig, strahlte aber eine gewisse Atmosphäre aus. Wir nannten ihn Restaurant. Einige kleine Tische, Stühle, in der Ecke eine Kochnische. Obwohl alles spartanisch war, fühlte ich mich wohl in diesem Bunker. Plötzlich hatte ich Zugang zu diesen glorifizierten höheren Militärkreisen. Eine Welt, die von sich selbst so überzeugt ist, dass die Realität, das Grauen des Krieges, weit weg zu sein scheint und fast spurlos an ihr vorübergeht. Erstmals hatte ich Einfluss, spürte Macht, gehörte zu denen, die diktieren. Gnadenlos diktieren und dabei peinlich genau darauf achten, nie die unsichtbaren Grenzen zu übertreten. Nie einen Fehler zu machen, nie anzuecken bei denen, die das wirkliche Sagen im Irak haben: die Angehörigen des Saddam-Clans. Kein Späßchen, keine unbedachte Bemerkung über den Präsidenten, kein Wort über seine Familie und deren Speichellecker und Lakaien. Wie gesagt, ich konnte es mir lange nicht erklären, warum sie mich so rasch in ihren Kreis aufgenommen hatten, weshalb sie mir das Gefühl gaben, etwas Besonderes zu sein. Bis es Mohammed Ghaleb ein-
mal herausrutschte, bei einem Glas Tee beim Small Talk. Ghaleb zog mich väterlich an sich, nahm meine rechte Hand, trank mir freundlich lächelnd zu und sagte fast flüsternd: »Du hast doch gute Beziehungen zu einflussreichen Kreisen in Bagdad. Du gehörst doch dazu ...« Ich sagte nichts, lächelte zurück, nahm auch einen Schluck, wischte mir mit dem Handrücken meinen Oberlippenbart trocken, nickte. In diesem Moment wurde mir klar, was hier gespielt wurde: Sie hatten die ganze Zeit über geglaubt, ich sei ein Familienangehöriger Saddam Husseins, da ich seinem Sohn Odai wie aus dem Gesicht geschnitten war. Wie Odai wirklich aussah, wusste natürlich keiner der Männer. Sie kannten ihn nur aus den Zeitungen und dem Fernsehen, und diese Aufnahmen waren nicht die besten. Direkten Zugang zur Präsidentenfamilie hatte aber keiner von ihnen, und so konnte keiner Rückfrage halten. Es war meine große Ähnlichkeit mit Odai und mein gepflegtes Auftreten, das sie zu ihrem Fehlschluss führte. Ghaleb war so überzeugt, dass ich aus dem Clan stamme, dass er mir sogar vorschlug, der politische Führer der Einheit zu werden. Eine besondere Auszeichnung für einen jungen Offizier, die ich aber ablehnen musste, da ich nicht der Baath-Partei angehörte, deren Mitglieder in der Hierachie höher stehen als reine Militärs. Den Job bekam dann ein junger Leutnant, den uns die Partei aus Bagdad geschickt hatte. Mir war das egal, zumal mir keine Zeit blieb, mich zu ärgern: Am 20. September 1987 herrschte plötzlich helle Aufruhr in den Offizierskreisen meiner Einheit. Eine geheime Eildepesche aus dem Büro des Präsidenten war eingetroffen. Ein außergewöhnliches Ereignis. Außerdem betraf die Depesche mich, Latif Yahia, jenen Oberleutnant, der Odai Saddam Hussein wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Gahleb rief mich zu sich, fragte mich aufgeregt: »Yahia, hast du etwas angestellt, hast du gegen die Gesetze verstoßen?« Ich war überrascht: »Nein, nie, warum?« Ghaled grinste überlegen und sagte dann mit väterlich warmen Blick: »Yahia, Sie sollen auf schnellstem Weg nach Bagdad reisen. Es geht um eine geheime, wichtige Mission.« Ich wollte Ghaleb etwas fragen, doch er winkte mit einer eleganten, wichtigtuerischen Handbewegung ab: »Keine Fragen, Yahia, mein Freund, fahren Sie«, grinste er breit, als ob er wüsste, worum es ging. Doch er hatte keine Ahnung, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
24 Stunden später war ich im Hauptquartier in Bagdad. Es war 18 Uhr abends, ich hatte noch immer meine Frontuniform an, war staubbedeckt und verschwitzt. An der Rezeption des Hauptquartiers stand das Parteimitglied Kaiser Harb Al-Takriti. Er schien auf mich zu warten, sagte, ich solle mich kurz hinsetzen, denn mein Auto komme gleich. Zehn Minuten schwiegen wir uns an, und nur einmal fragte er mich, wie es so sei an der Front, und ich sagte: »Toll, faszinierend, ich bin stolz, dabei sein zu dürfen.« Ich log, weil die Lüge ein notwendiger Selbstschutz ist im Irak und weil alle lügen und weil die Lüge ein Teil unserer Gesellschaft geworden ist. Nach zehn weiteren Minuten stand der schwarze Mercedes mit Chauffeur vor der Tür. Ich stieg ein, der Fahrer gab Gas, und wir fuhren in Richtung Palastgelände, das nur wenige Straßen entfernt lag. Bereits beim Einsteigen hatte ich die zweite Mercedes-Limousine bemerkt, die hinter meinem Wagen angehalten hatte. Als wir wegfuhren, drehte ich mich kurz um und sah, wie sie uns folgte. Drei Männer saßen in diesem Wagen, ihre Blicke waren ernst, und ich wusste, dass hier etwas Schwerwiegendes im Gange war, denn normale Verhaftungen laufen im Irak anders ab. Was habe ich also falsch gemacht? Seit fünf Minuten gleiten wir nun dahin, eine endlose Zeit. Ich bitte den Chauffeur um eine Zigarette, doch er hat keine. Meine gesamte Dienstzeit beim Militär läuft wie ein Film vor mir ab. Fragen über Fragen: »Wann habe ich über den Krieg gelästert? Mit wem habe ich über den Präsidenten gesprochen? Es wird doch nicht mein Vater, dem ich meine Probleme bei meinem Heimaturlaub erzählt habe, etwas Falsches gesagt haben? Irgendwann, irgendwo? Nein, nein, das kann nicht sein. Nicht mein Vater, nein, der ganz sicher nicht. Aus meiner Familie kann das ganz bestimmt niemand gewesen sein. Zumindest nicht absichtlich. Aber die Augen und Ohren des Clans sind überall. Außerdem: Warum hat mich mein Kommandant Ghaleb immer wieder auf die Präsidentenfamilie angesprochen? Haben die mich nur getestet, meine Loyalität überprüft? Und waren die Hinweise auf meine Ähnlichkeit mit Odai nur ein Trick, um mich zu täuschen? Wollten die meine Standfestigkeit testen?« Ich finde keine Antwort, will meinen Chauffeur fragen, ob er eine Ahnung habe, wohin es geht, doch der starrt konzentriert auf die breite asphaltierte Straße. Ich sitze schräg hinter ihm auf dem Rücksitz,
drücke mich ganz nach rechts an die Türe, fixiere ihn mit meinem Blick. Er zeigt keine Reaktion, nur einmal streicht er sich kurz über seinen dichten Oberlippenbart, schaut in den Rückspiegel. Unsere Blicke treffen sich, ich will zu einer Frage ansetzen, halte sie dann aber zurück: »Vielleicht ist alles nur ein Irrtum«, beruhige ich mich selbst. Wäre es anders, hätte der Chauffeur schon etwas angedeutet. Sicher kennt auch er die tausend Gerüchte und Anschuldigungen, die hier im Umlauf sind. Jeder in Bagdad weiß von diesen Geschichten, also muss auch er sie kennen. Es ist doch kein Geheimnis, empöre ich mich innerlich, dass für die Fehler und Grausamkeiten der Präsidentenfamilie immer wieder andere, Unschuldige, angeklagt und hingerichtet werden. Erst kürzlich, vor wenigen Wochen, hatten sich auf der Rasheed-Straße, der Flanier- und Einkaufsstraße Bagdads, noch geifernd die Neugierigen gedrängt. Zu bestaunen gab es vier Männer, die, an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt und von schwer bewaffneten Soldaten flankiert, dem Volkszorn ausgeliefert waren. Eine knappe Stunde lang schrien hysterische Frauen auf sie ein, zogen sie an den Haaren, spuckten in die verzerrten Gesichter. Dann wurden die Unglücklichen abgeführt - direkt zum Galgen. Die Delinquenten waren Bagdader Kaufleute, die auf Befehl Saddam Husseins zum Tode verurteilt worden waren. Saddam sagte damals im Fernsehen, das auch wir Frontsoldaten empfangen konnten, »diese niedrigen Kreaturen hätten in gemeiner Raffgier das Volk geschädigt und Waren zu Wucherpreisen verkauft «, und jeder wusste, dass das eine Lüge war. Saddams Clan wollte hier nur seine Widersacher loswerden, die seine geschäftlichen Kreise störten und sich darüber ausgelassen hatten, dass der Clan mafiaartig das ganze Land im Würgegriff hat. Ein Aufschrei, nicht mehr. Diese Hinrichtungen zeigen nur zu klar, wie sehr sich Saddam vor seinem Volk fürchtet. Aber das Volk fürchtet sich auch vor Hussein. Wir alle fürchten einander, und ich Idiot hatte geglaubt, damit leben gelernt zu haben. Ich habe es nicht. Jetzt ist plötzlich alles anders. Mit einem Schlag bin ich mittendrin in dieser Spirale, die alles nach unten zieht. Ich bin Hauptdarsteller in einem blutigen Theaterstück namens Irak, meiner Heimat. »Man muss mich mit jemandem verwechseln«, spreche ich mir selbst Mut zu und ertappe mich dabei, dass ich sogar meine Lippen bewege. Auf meiner Stirn stehen Schweißperlen, meine kurzgeschore-
nen Haare sind nass, mein Uniformhemd klebt mir auf der Haut. »Jetzt muss also ich für das Verbrechen eines anderen büßen. Ist das mein Ende?« Es ist der Anfang. Mein Mercedes stoppt vor dem Nissr-Bagdad-Palast, dem Amtsgebäude von Odai Saddam Hussein, Saddams berüchtigtem Sohn. Ich kenne das Gebäude, obwohl weder ich noch irgendjemand aus meiner Familie je zuvor hier gewesen ist: Ich habe es hunderte Male im Fernsehen, in den Zeitungen gesehen. Ja, das ist der Palast von Odai. Das muss er sein. Was will Odai von mir? Mein Chauffeur steigt aus, öffnet mir die Tür. Er sagt wieder kein Wort, weicht meinen Blicken aus, verzieht keine Miene. Zwei Männer in Uniform holen mich ab, bringen mich hinein. Fünf, sechs Minuten muss ich warten. Stehend. In einer Art Vorhalle. An der Wand ein großer Spiegel, daneben weiße Ledermöbel, mit Gold verziert. Plötzlich geht die Tür auf, und er steht vor mir. Grinsend, mit einer dicken Havanna zwischen Zeige- und Mittelfinger: Odai Saddam Hussein. Das Erste, was ich denke: »Er hat sich kaum verändert, wir sind noch immer wie Zwillinge.«
2. KAPITEL Das Paradies Ich kenne Odai seit Jahren. Wir waren Schulkameraden, gingen schon in der Bagdad High School für Jungen in dieselbe Klasse. Odai, dessen Vater damals noch Vizepräsident des Iraks war, ist nur vier Tage jünger als ich. Er kam am 18. Juni 1964 zur Welt, ich wurde am 14. Juni geboren. In meiner Kindheit war mir der Politikersohn eigentlich egal. Bei meinen Eltern hatte ich ein hervorragendes Zuhause. Wir bewohnten ein großes, repräsentatives Haus im Al-Aasamije-Distrikt, einer der besten Wohngegenden Bagdads. Außerdem waren meine Eltern wohlhabend. Mein Vater, Yahia Al-Salihi, war Fabrikbesitzer, hatte drei gut gehende Geschäfte in Bagdad, in denen Elektrogeräte und Herde verkauft wurden. Außerdem handelte er mit Marmor und anderem Naturstein. Wir gehörten zur Oberklasse, doch das konnte ich im Gymnasium noch nicht so schätzen wie später. Ich wusste nur, ich bin der älteste Sohn und der ganze Stolz meiner Mutter, Bahar Al-Midjadi, und ein guter Moslem. Ich konnte alles haben, was ich wollte. Genauso wie meine Brüder Jotie, Robie und Omeed und meine Schwestern Galalha und Juan. Es fehlte uns an nichts. Wir lebten wie im Paradies, und Bagdad war damals noch das Paradies. Ich ging gern in die Schule, und mein Vater arbeitete mit und an mir: Er belehrte mich, unterstützte mich, förderte meine Talente. Ich glaube, mein Vater hat mich am meisten von all seinen Kindern geliebt, aber das kann auch ein subjektiver Eindruck gewesen sein: Ich bin der älteste Sohn. In den Sommerferien nahm er mich mit in seine Geschäfte und zeigte mir, wie man handelt und verkauft. Er sagte immer: »Du musst werden wie ich, ein guter Kaufmann«, und ich enttäuschte ihn nicht. Die sechs Jahre Grundschule absolvierte ich mit ausgezeichnetem Erfolg, ich war sogar Klassenbester, und meine Lehrerin, Madame Fauzya, sagte zu meinem Vater: »Ihr Sohn ist sehr begabt, er wird seinen Weg machen.« Damals bestand meine größte Leidenschaft darin, in den Geschäften meines Vaters zuzusehen, wie man Elektrogeräte zerlegt, repariert und wieder zusammenbaut: Tonbandgeräte, Fernseher, Videorecorder. Ich war ganz süchtig danach, etwas zu lernen. Ich wollte alles wissen. Jede Einzelheit. Außerdem hatte ich ein Talent für die Malerei. Ich
malte große, realistisch-kitschige Bilder mit kräftigen hellen Farben. Moscheen, Häuser, Bäume. Den Tigris, meine Lehrerin, meine Geschwister. Ich kann es nicht erklären warum, aber es fiel mir leicht, aus dem Gedächtnis irgendwelche Szenen nachzuzeichnen. Die Bagdad College High School für Jungen war damals die absolute Eliteschule im Irak, und sie ist es bis heute geblieben. Keine Kinder aus normalen Familien durften in diese Schule. Sie war den Kindern aus reichen, vornehmen Familien vorbehalten, den Sprösslingen von Politikern, Militärs, einflussreichen Personen. Hier war die junge Elite des Iraks unter sich, und wer nicht aus einer reichen Familie stammte, wurde nur zugelassen, wenn er hervorragende Zeugnisse und Empfehlungen der Lehrer der Primary School oder bestimmte, förderwürdige Talente vorweisen konnte. Hier sollten die urbanen jungen Männer herangezogen werden, die das führende Volk des arabischen Lagers in seiner Position in der Welt noch weiter nach vorne bringen sollten. Die Schule bestand aus einem Haupt- und zwei Nebengebäuden und erstreckte sich über ein Areal von knapp einem Quadratkilometer. Unter der Schule gab es ein ausgeklügeltes Bunkersystem. Die Amerikaner hatten es errichtet, und es war von den Dimensionen her sogar nuklearsicher. Es gab atombombensichere Zimmer, endlose Gänge mit Kegelbahnen, Tischtennisplatten und Schutzräume mit Lebensmittelvorräten. Die Schule war gleichzeitig Elitezentrum und militärisches Objekt. Ebenso auserwählt wie die Schüler, die die Bagdad High School besuchen durften, waren die Professoren, die hier unterrichteten. Saddam achtete persönlich darauf, dass wirklich nur die besten Lehrer an diese Schule kamen. Wir waren das Aushängeschild des Iraks, die junge Spitze eines Systems, in dem die Privilegierten jeden nur erdenklichen Vorteil genossen und die sozial schwächer Gestellten im Grunde keine Chance hatten, nach oben zu kommen. Ein völlig verkehrter Sozialismus. Es war eher ein Ausbildungskapitalismus. Wir waren abgeschirmt, behütet, beschützt. Das einfache Volk, der Plebs, sollte keine Gelegenheit haben, uns von den hohen Zielen der Ausbildung abzulenken. So stand die Schule mehr oder weniger ständig unter dem Schutz des Geheimdienstes Jehaaz Al-Amen Al-Khass, denn alle Kinder der wichtigsten Männer des Irak besuchten diese Schule. Der Jehaaz Al-Amen Al-Khass ist das irakische Heilig-
tum, der höchste der vier Geheimdienste des Irak. Gärtner, Schulwarte, Hauspersonal, alle waren sie Mitarbeiter dieses Geheimdienstes. Rund um die Schule im Distrikt Al-Aasamije, nur wenige hundert Meter von meinem Zuhause entfernt, hatten sie Kontrollstellen aufgebaut, in denen ständig ein Wachmann saß, der alles observierte, kontrollierte. Es war für Außenstehende unmöglich, das Schulareal auch nur zu betreten. Wir lebten wie in einem Erziehungsglaskasten. Versuchte jemand, diese strenge Regelung zu umgehen und auf das Gebiet der Schule vorzudringen, wurde er festgenommen. Ebenso erging es jenen, die Anstaltsfremde mitbringen wollten. Der unbefugte Begleiter wurde festgenommen; der, der ihn einzuschmuggeln versucht hatte, flog unweigerlich von der Schule. Wir waren ständig bewacht, unter Kontrolle, Gefangene eines Schulsystems, das nur zwei Ziele hatte: den jungen Männern die beste Ausbildung zu vermitteln und sie gleichzeitig von frühester Kindheit an zu perfekten Parteisoldaten zu erziehen. Ein eigener Wille war nicht gefragt, wichtig war, dass man die Spielregeln »tausendprozentig« einhielt. Eine eigens bestellte Lehrerkommission hatte darauf zu achten, dass die Professoren ideologisch einwandfrei waren und in der Baath-Partei an führender Stelle mitarbeiteten. Vorstand dieser Kommission war unser Direktor Fasaa, ein mächtiger Mann, der grausam, Furcht erregend aussah. Fasaa wog sicher hundert Kilo, war rund 45 Jahre alt und hatte, was jedem sofort auffiel, einen großen Kopf und einen durchtrainierten Körper. Fasaa war früher Boxer gewesen und hatte es sogar zum nationalen Champion gebracht. Alle litten unter ihm. Er war brutal, ein Tier, aber mächtig, und deshalb mussten wir und die Lehrer diesen üblen Menschen ertragen. Wahrscheinlich war er ein braver Parteisoldat und hatte diesen Job durch Protektion erhalten. Die Professoren gaben den Druck, den Fasaa auf sie ausübte, direkt an die Schüler weiter: Ab dem 12. Lebensjahr musste jeder von uns Mitglied der Partei sein. Eine Umgehung dieser Regelung war unmöglich. Die erste Parteistufe hieß Majeed. Die erste Klasse fiel mir schwer, weil alles neu für mich war; aber ich lernte hart und wollte unbedingt der Beste sein. Wichtiger als alles andere war die Partei. Wie ist die Hierarchie aufgebaut, welche Grundzüge gibt es, was sind die Ziele, die Programme, die Strukturen? Die Partei ist das Höchste, und ohne Partei bist du nichts. Das wichtigste Buch war somit das Programm der Partei, »Der Zentral-Report der
Neunten Landeskonferenz der Baath-Partei«, die Geschichte der Partei von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Jeder im Irak musste dieses Buch kennen, jede Zeile, jedes Wort. Das Parteiprogramm stand sogar über dem Koran. Für mich war das damals normal, ich war zwölf, kannte nichts anderes. Weil es alle mussten, empfand ich es nicht als Schikane, dass wir wöchentlich zwei Stunden bei den Parteitreffen gedrillt wurden. Unsere Lehrer achteten streng darauf, dass wir unsere Parteiaufgaben hundertprozentig erfüllten. Wir wurden in der Schule daraufhin geprüft, und wer nicht mitarbeitete, bekam Strafaufgaben. Wer sich danach erneut nicht vorbereitete, wurde von der Schule gefeuert. Sofort. Wir verbissen uns deshalb in die Programme, als ob sie das Allerheiligste seien, und im Grunde war das auch so. Die erste Stufe der Partei-Hierarchie ist die eines Sympathisanten. Vom gewöhnlichen Sympathisanten wirst du zum aktiven Sympathisanten, dann zum Vorkämpfer und schließlich zum aktiven Mitglied. Bist du dann aktives Mitglied, kannst du zum Kompanieführer, Abteilungsführer und schließlich zum Führungsmitglied auf kommunaler und überregionaler Ebene aufsteigen. Ich empfand die Parteiarbeit als nicht weiter belastend, weil wir alle in dieser Knochenmühle steckten. Weitaus interessanter war es für mich, dass ich in der High School andere, wichtige junge Burschen kennenlernte: Ali Mohammed Saleh zum Beispiel, dessen Vater Parteiführer war, ein wichtiger Mann im Irak. Oder Wamied Al-Saadoun: Sein Vater war Offizier innerhalb der Al Khass. Oussama Kahtan wiederum stammte aus der Familie des Direktors der irakischen Zentralbank. Und vor allem Siad Meeshel Aflak. Sein Vater war jener Mann, der die arabisch-sozialistische Baath-Partei im Irak mit einführte, verbreitete, erfolgreich machte. Er war einer der Vordenker und Saddams wichtigster politischer Berater. Siad war ein netter Bursche mit einer perfekten Erziehung. Er war etwas Besonderes, und das merkte man sofort: an seinem geraden, eleganten Gang, an seinen Umgangsformen, an seiner Art zu sprechen und sich zu benehmen. Er war mit 14 schon so wie andere mit 30. Eine fast fertige Persönlichkeit. Ich hielt es für besonders wichtig, seine Freundschaft zu erlangen, und arbeitete zielstrebig daran. Langsam, vorsichtig, weil ich nichts überstürzen wollte und niemand merken sollte, dass ich unter allen Umständen sein Freund werden wollte.
In den Pausen suchte ich das Gespräch mit ihm, während der Unterrichtsstunden lachte ich ihm manchmal zu, und im November 1978, es war ein Montag und wir hatten gerade eine schwere Schularbeit hinter uns, kam er plötzlich auf mich zu und schlug mir ein Treffen außerhalb der Schule vor. Im Al-Alwia-Club. Al-Alwia-Club, ein Traum, eine Welt, die mir zu einem anderen Stern zu gehören schien. Der Al-Alwia-Club lag direkt hinter dem Sheraton Hotel und spiegelte das andere Bagdad wider. Das exklusive, das reiche, das mondäne Bagdad. Der Irak war damals noch der Liebling des Westens. Hier wurde investiert, gehandelt, Milliarden Dollar wurden umgesetzt. Kaum ein westlicher Großkonzern, der keine Filiale im Irak hatte; internationale Hotels schossen aus dem Boden: Sheraton, Hilton und wie sie alle hießen. Bagdad war das Zentrum, in das alle drängten. Geschäftsleute und Waffenhändler, Glücksritter und Vergnügungssüchtige aus unseren arabischen Bruderländern, denn Bagdad war westlich, und hier gab es alles: Nachtclubs, Bars, Alkohol und Frauen. Schöne Frauen für wenig Geld. Öl- und Waffenhändler aller Nationen und Hautfarben lebten hier und warfen mit Geld um sich, als wäre Geld nur bedrucktes Papier. Ich wagte erst gar nicht, Siad zu fragen, was eine Mitgliedschaft in diesem Club koste, denn die Summen, von denen ich gehört hatte, waren so gigantisch, dass ich es für unmöglich hielt, dass irgendjemand sie bezahlen könnte: angeblich 2000 bis 3000 Dollar, hieß es. Pro Monat. Siad holte mich ab, an einem Freitagvormittag. Mit einem Mercedes, den er selber fuhr, obwohl er wie ich erst 14 war. Aber für die Oberklasse gibt es im Irak keine Verbote und keine Regeln. Kinder aus reichem und mächtigem Haus haben Narrenfreiheit, denn niemand, kein einziger Polizist, wagt es, Mitglieder dieser Schicht zu überprüfen oder gar anzuhalten und nach einem Führerschein zu fragen. Das absurde System war so feudal organisiert, dass es sich die Obersten einrichten konnten, wie sie es wollten. Ich hatte meinen feinsten Anzug angezogen. Siad trug einen hellen Armani-Leinenanzug, Yves-Saint-Laurent-Krawatte, die Schuhe waren von Gucci. Und er roch nach einem schweren, süßen, teuren Parfüm. Schon die Einfahrt zu dem Club ist imponierend: ein großes Tor, da-
vor zwei Bodyguards, die jeden, der hineinfuhr, kontrollierten. Siad hatte an der Frontscheibe einen Aufkleber, der den Bodyguards signalisierte, dass er dazu gehörte. Gleich nach dem Eingang der Parkplatz mit seiner Autoarmada. Kein Wagen billiger als ein Mercedes. Kein Auto schmutzig oder gar verbeult. Hier blitzte alles, hier leuchtete das blanke Chrom der Stoßstangen wie Silber in der grellen Sonne. Vor dem Parkplatz wieder Security. Siad zeigte lässig seine Mitgliedskarte, ein Plastikding mit seinem Namen und seiner Adresse und eingeschweißten Foto von Siad. Ich war nervös, als die Security uns nach unseren Mitgliedskarten fragte. Doch Siad löste mein Problem auf elegante Weise, wie es eben seine Art war. Er ergriff einfach meinen Arm, sagte den Wärtern, dass ich sein Freund sei, und das reichte. Dann der Club selbst - ein Paradies, das es in dieser Form im Westen wohl kaum gibt: Restaurants, riesige Säle mit Computerspielen, Videos, Billardtischen. Alles. Partyräume, so groß wie der Petersplatz in Rom oder der Stephansplatz in Wien. Diese Partyräume sind zu mieten. Für rauschende Feste mit üppiger Dekoration, für Hochzeiten und Geburtstagsfeiern. Weniger reiche Leute mieteten sich für solche Anlässe einen der Festsäle im Hotel Al-Rasheed, dem Sheraton oder dem Al-Mansur. Wer aber wirklich etwas darstellen wollte in der Gesellschaft Bagdads, kam hierher. Raffiniert eingebaut in dieses System aus Spielräumen und Restaurants: terrassenförmig angelegte Swimmingpools. Daneben ein Poloplatz, ein Kricket-Feld und zwei Basketball-Plätze. Siad kannte fast alle junge Männer in dem Club. Ich hielt mich an diesem Tag zurück, versuchte, mich aus dem Small Talk herauszuhalten, suchte Schutz hinter dem perfekten Auftreten Siads. Hörte interessiert zu, wenn er sich mit Freunden seines Vaters unterhielt, wenn über die neuesten Autos diskutiert wurde und die Rede auf das absolute Nonplusultra der irakischen Gesellschaft kam: auf den Al-Said-Club. Der Al-Said-Club ist um noch eine Stufe eleganter, mondäner und perfekter als der Al-Alwia, auch wenn mir das unmöglich schien. Dort haben nur Mitglieder der Familie Saddam Husseins, die Familien der Berater und Freunde des Präsidenten sowie die Familien der Minister Zutritt. Der Club liegt im Bezirk Al-Mansour. Siad kam ins Schwärmen, als er davon erzählte, wie er das erste Mal an der Seite seines Vaters im Al-Said-Club war: »Es ist das Paradies,
ja es ist das Paradies«, sagte er, und wir standen daneben und hörten ihm zu, als ob er ein Prophet wäre. »Al-Said ist nicht der Sunset Boulevard und nicht der Ocean Drive in Miami Beach. Das ist mehr«, parlierte er und hielt dabei lässig sein Glas mit Gin und Tonic und Eis und einer Zitrone drin. »Der Rasen ist grün. Kein normales Grün«, fuhr er fort, und uns blieb der Mund offen. »Wenn du diesen Rasen anschaust, denkst du an die besten Golfplätze in England und würdest am liebsten weinen. Dunkler, dichter, saftiger Rasen. Das Leben, die Sonne, die Sterne, das Universum. Das alles ist Al-Said.« Siad vollführte Gesten wie Bing Crosby, als der in der High Society um die Gunst von Grace Kelly warb. »Und dann die Swimmingpools. Es gibt Winter-Pools, SommerPools. Die Pools sind mit Mosaiken ausgelegt, und das Wasser ist so blau wie ein Saphir, great.« Aus dem Gespräch wurde ein Monolog, und schließlich redete Siad fast ohne Unterbrechung: »Nur Minister verkehren dort, die Security kennt jede Identity-Card, jeden Namen, jedes Detail.« Und dann holte er zu einer Geschichte aus, die gänzlich unglaublich klang: »Einmal fuhr dort ein Mercedes 500 SEL vor. Ich konnte zuerst keinen Fahrer erkennen, aber es musste ja einer am Steuer sitzen, denn ein Mercedes fährt doch nicht von selbst. Dann stieg er aus, der Fahrer.« Keiner von uns wagte, Siad zu unterbrechen, wir warteten gespannt, wie die Geschichte weiterging. »Und dann stieg er aus, der Fahrer. Es war ein zwölfjähriger Junge im weißen Smoking. An der Hüfte hatte er eine Pistole, und vier Body-Guards begleiteten das Kind. Es war der Sohn eines Ministers.« Ich konnte Siad endlos zuhören, und er erzählte auch endlos: »Wenn du in diesem Club das kleinste Problem machst, wirst du sofort rausgeschmissen. Egal, wer dein Vater ist, egal, welchen Einfluss deine Familie hat. Wenn du das kleinste Problem machst, wird dein Vater dein Gesicht nicht mehr sehen, denn dann machen sie dich fertig. Völlig fertig.« Einer von uns unterbrach Siad, stellte eine zwar logische, gleichzeitig aber auch absurde Frage: »Wie ist es mit Mädchen?« Siad empörte sich, holte tief Luft, griff sich theatralisch an den Kopf und sprudelte heraus: »Was bist du für ein Idiot. Die sind absolut tabu.
Wenn sie dich kennen lernen wollen und dich anlachen, schau weg. Schau zu Boden, auf die Seite, zum Himmel. Mach irgendetwas. Geh schneller, pfeife, aber sprich sie um Gottes Willen nicht an. Diese Mädchen sind unantastbar, unerreichbar, aus einer anderen Welt. Selbst für mich.« Er holte tief Luft, presste kurz die Lippen zusammen und sagte belehrend wie ein Überlebenstrainer: »Amüsiere dich, spiele Billard oder Basketball, aber lasse deine Finger von den Mädchen aus diesen Kreisen. Sie werden ständig überwacht, und wenn du sie siehst und mit ihnen sprichst, wirst auch du überwacht, und damit bist du in den Mühlen des Geheimdienstes, und diese Mühlen zerreiben dich irgendwann. Du verlierst deine Zukunft, deine Hoffnung, dein Leben. Du verlierst alles. Die bösen Geister lassen dich nicht mehr los, vor allem dann nicht, wenn eines dieser Mädchen die Freundin von Odai ist.« Am Ende dieses Tages war ich tief beeindruckt, verwirrt und aufgebracht zugleich. Der Club, die Erzählungen, der Lunch mit Siad, diesem feinen jungen Herrn. Ich fühlte mich groß und war mir völlig sicher, dass man im Irak nur dann etwas erreichen kann, wenn man hier Mitglied ist. Als Siad mich mit seinem Mercedes zu Hause abliefern wollte, bat ich ihn, in einer Seitenstraße anzuhalten und mich aussteigen zu lassen. Ich wollte nicht, dass er direkt vor unserem Haus parkte, denn obwohl unser Haus groß und repräsentativ war, fühlte ich mich plötzlich minder und klein. Als ich ausstieg, rief er mir nach: »Latif, ich würde mich freuen, wenn auch du Mitglied werden könntest.« Zwei Tage später war ich stolzes Mitglied im Al-Alwia-Club. Siad hatte mir die Karte organisiert. Gratis. Ich habe ihn nie gefragt, wie er das gemacht hatte, aber wahrscheinlich hatte sein Vater dabei die Finger im Spiel. Siad akzeptierte mich als seinen Freund, und wir verbrachten fortan jede freie Minute im Club. Einmal, es war ein Freitagnachmittag und wir spielten gerade Basketball, fünf gegen fünf, hörten wir plötzlich peitschende Schüsse. Salven aus einer Maschinenpistole. Die Schüsse kamen vom Terrassenswimmingpool. Wir rannten dorthin, sahen mehrere Burschen in dunklen, braunen Dschellabas, den traditionellen Umhängen. Einer stand direkt vor der Kasse, in der einen Hand eine Maschinenpistole, in der anderen einen Kassenzettel. Neben ihm mehrere ältere Kerle. Auch sie trugen braune Dschellabas. Die Männer verhandelten, stritten, der Bursche mit der Maschinenpistole schrie, feuerte abermals mehrere Salven in die Luft.
Ich fragte einen der Ober, wer der Typ an der Kasse sei, und der fauchte mich an: »Psssssst, das ist Odai Saddam.« Das ist also der berüchtigte Sohn von Saddam Hussein, sagte ich mir, und obwohl ich ihn nur von der Seite sah, fiel mir auf, dass wir uns täuschend ähnlich waren. Die Augen, die Nase, die Haare. Er war wie ich. Ich verdrängte diesen Vorfall, sprach weder mit meinem Vater noch mit meinen Brüdern darüber. Ich versuchte auch nicht herauszufinden, warum Odai geschossen hatte. Ich dachte an die Worte Siads an unserem ersten Tag im Club: »Wenn du etwas bemerkst, schau weg, überhöre alles, zeige dich desinteressiert. Versuche nie, mit denen in Kontakt zu kommen oder etwas über die herauszufinden, denn sie sind stärker und mächtiger als du und deine Eltern. Sie sind der Irak.« Es war ein Jahr später, 1979, etwa in der Mitte des Schuljahres, als uns unser Klassenlehrer einen neuen Mitschüler ankündigte: »Der junge Herr«, sagte er, »kommt von der Al-Mansur High School und wird künftig euer neuer Klassenkamerad sein.« Es war Odai Saddam Hussein. Odais Vater hatte unsere Klasse für ihn gewählt, weil wir die beste und aktivste unseres Jahrgangs waren. Keiner von uns hatte schlechte Noten, in der politischen Schulung gab es nie Probleme bei uns. Sein erster Auftritt in der Schule war wie eine Szene aus einem schlechten Film: Die Tür flog auf, Odai, der wie wir 15 Jahre alt war, schritt mit erhobenem Kopf herein. Grußlos. Zwei kräftige Bodyguards stellten sich neben die Türe, zwei ans andere Ende des Klassenzimmers, und ein fünfter setzte sich neben Odai und führte für ihn das Schulheft. Es war eine riesige Aufregung, keiner von uns konnte sich konzentrieren, und auch die Lehrerin war überfordert. Dieses Schauspiel wiederholte sich von nun an jeden Tag. Zuerst kamen die Leibwächter, dann erschien er. Meistens in Jeans und Hemd, wie ein Cowboy. Odai trug die Haare länger als wir, hatte einen Wuschelkopf wie Jimmy Hendrix. Nach einigen Wochen hatten wir uns an den täglichen Auftritt Odais gewöhnt. Nichts an ihm war freundlich, nichts normal, nichts gewöhnlich, und eigentlich war er mir vom ersten Tag an zuwider. Er respektierte keinen Lehrer und niemanden, der ihm irgendetwas befehlen oder sagen wollte. Ihm waren die Prüfungen egal, die Schularbeiten
ebenso. Alles. Wir waren 24 Jungen in der Klasse, und während alle anderen sich bemühten, erfolgreich zu sein, interessierte Odai sich für nichts. Wagte es einmal ein Lehrer, ihn an die Tafel zu holen, warf er mit Kreide nach ihm, befahl ihm, das Thema zu wechseln oder ihn einfach in Ruhe zu lassen. Odai kam, wann er wollte, ging, wann er wollte, machte überhaupt, was er wollte. Außerdem brachte er nie Bücher mit - und wurde trotzdem am Schulende der Erste, der Klassenbeste. Odai hielt sich an keine Regel. Er fuhr mit seinem Porsche bis in den Schulhof und ging sogar soweit, dass er das strengste Tabu der High School brach: Mädchen. Eines Tages brachte er seine Freundin mit in die Klasse. Salwa Ahmad Al-Sabty hatte dichtes schwarzes Haar, eine helle Haut, grüne Augen. Sie sah wunderbar aus in ihrem Kostüm. Keiner von uns sagte etwas, betretenes Schweigen herrschte. Er setzte sich auf seinen Platz, Salwa saß neben ihm. Sie wirkte verstört, als ob Odai sie gezwungen hätte mitzukommen. Als unser Professor hereinkam, war es so still, dass man eine Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören können. Gespannt warteten wir auf seine Reaktion. Auf ein Donnerwetter, auf ein Schreiduell, doch er ging nur auf Odai zu, verneigte sich und sagte halblaut: »Herr Odai, das geht doch nicht ...« Wir spürten, wie demütigend dieses Schauspiel für unseren Professor sein musste, wie er innerlich kochte und sich anstrengte, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Odai genoss seine Ohnmacht, schnitt dem Mann das Wort ab und fauchte völlig respektlos, im Befehlston: »Sie machen Ihre Arbeit, ich meine. Setzen Sie den Unterricht fort.« Dann ein kurzer Blickkontakt zwischen ihm und dem Professor. Odai lümmelte auf seinem Platz, spielte mit einer goldenen Füllfeder, lachte, grinste, hielt die Hand seiner Freundin, die still und zusammengesunken neben ihm hockte. Odai wusste, dass der Professor keine Macht hatte, irgendetwas zu tun, und der Professor wusste das ebenso. Er begann mit seinem Vortrag, als ob nichts passiert wäre. Nach etwas mehr als einer halben Stunde sprang Odai auf, nahm sein verstört lächelndes Mädchen beim Arm und verschwand grußlos aus der Klasse. Er stand einfach auf und ging. Wir konnten das kaum glauben, aber es war so, und wir hatten zum ersten Mal erlebt, welche Macht Odai wirklich hatte. Er war der Sohn Saddam Husseins, der inzwischen Präsident der Republik Irak geworden war.
Der Professor, der es gewagt hatte, Odai auf seine Freundin anzusprechen, war vom nächsten Tag an verschwunden. Keiner von uns hat ihn jemals wieder gesehen oder erfahren, was mit ihm passiert ist. Ein Raum in der Schule war für den Zeichenunterricht reserviert. Zwei Stunden pro Woche arbeiteten wir dort, und es waren die schönsten Unterrichtsstunden für mich, denn Zeichnen war meine Leidenschaft. Meine ersten Bilder waren Naturdarstellungen, ich zeichnete Szenen aus Kurdistan. In den Sommerferien war ich mit meinem Vater in dessen weißem Volvo nach Kurdistan gefahren. Nach Sersenk und Shaklawa. Meine Großeltern stammen aus dieser wunderschönen Gegend im Norden des Iraks. Mein Großvater hatte Kurdistan vor der Geburt meines Vaters verlassen und in Bagdad ein Geschäft gegründet. Dennoch hatten wir noch immer zahlreiche Verwandte im Nordirak, und ich fühlte mich wohl in diesen Sommerferien. Und diese Stimmung brachte ich in meine großflächigen, farbkräftigen Bilder ein. Mein Zeichenlehrer war so begeistert von den Ergebnissen, dass er uns einen Sonderraum für eine eigene Ausstellung zur Verfügung stellte. Die Vernissage war ein voller Erfolg, meine Bilder fielen von allen am meisten auf, und ich erhielt sogar einen Preis für das beste Bild. Es war mein Bild von Kurdistan. Alle Freunde gratulierten mir. Auch Odai. Er kam nach der Ausstellung zu mir, umarmte mich, klopfte mir auf die Schultern und sagte: »Ich will, dass du ein Bild für mich malst. Ein Porträt meines Vaters, des Präsidenten. Ich will es ihm schenken.« Das war 1980, Saddam Hussein hatte am 16. Mai 1979 formell das Amt des Staats- und Regierungschefs übernommen. Gleichzeitig wurde er auch Generalsekretär der Baath-Partei und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er folgte Präsident Ahmed Hassan Al-Bakr, der an einem Herzinfarkt gestorben war. Das war zumindest die offizielle Version. Hinter vorgehaltener Hand erzählte aber jeder, dass Saddam ihn habe ausschalten lassen. Mit Gift. Auch Al-Bakrs Frau und sein ältestes Kind sollen liquidiert worden sein: Sie waren kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein LKW hatte ihr Auto gerammt. Saddam Hussein hatte die Ablösung Al-Bakrs lange geplant und war im Grunde schon viele Jahre lang der geheime Präsident des Iraks gewesen. Er trat ständig im Fernsehen auf, und die Menschen im Irak sahen in ihm den Erlöser, den direkten Abkömmling des Propheten, den
Gott, der den Irak groß und stark und mächtig machen konnte. Zu einem neuen Babylon. Der Irak sei ein moderner Nachfahre des Neubabylonischen Reiches der Antike, impfte Saddam uns ein. Zwar ließ der neue Präsident reihenweise Menschen hinrichten, Putschisten, wie mein Vater immer sagte; aber das wurde von uns fast nicht registriert. Wichtiger war, dass Saddam dem Analphabetismus in meinem Land den Kampf ansagte und den Frauen alle Rechte einräumte, die ihnen der Islam in anderen Ländern vorenthält. Außerdem forcierte er die Erdölproduktion, und die Gewinne der Ölwirtschaft kamen uns, dem Volk, zugute. Als Odai mich ansprach und fragte, ob ich seinen Vater malen könne, erfüllte mich das mit Stolz, denn ich dachte an jenen Tag, als Saddam an die Macht gekommen war: Ganz Bagdad, der ganze Irak war damals auf den Beinen. Ich rannte genauso wie meine Freunde durch die Straßen Bagdads, schrie »Saddam, Saddam.« Und mit mir schrien Millionen. Die Menschen umarmten sich, waren glücklich, und selbst mein Vater, sonst ein besonnener Mann, war völlig aus dem Häuschen: »Jetzt wird alles besser, und der Irak wird die führende arabische Nation,« Alle haben wir uns getäuscht, doch das ahnte damals keiner von uns. Ich wusste nur, dass mich der Sohn dieses großartigen Mannes darum bat, seinen Vater zu malen. Eine große Ehre. Saddam Hussein hatte damals Dutzende von Hausmalern. Jeder Künstler im Irak brannte darauf, an diesem bizarren und maßlosen Personenkult mitzuverdienen. Überall im Irak, an jeder Straßenecke, an jeder Kaserne, an jedem öffentlichen Gebäude waren plötzlich großflächige, kitschige Bilder von Saddam Hussein zu sehen. Saddam als Soldat, Saddam als Bauer, als Präsident, als mächtiger, starker Mann. Saddam überall. Ich war überrascht, dass Odai mir diese Ehre zukommen ließ, spielte aber das Ganze eher herunter: »Okay«, sagte ich, »ich mach's.« Odai brachte mir aus seinem Auto, das er wie immer im Schulhof geparkt hatte, einige Fotografien von seinem Vater. Porträts. »Vier Tage brauche ich dafür«, sagte ich, und Odai nickte nur. Ich war drei Tage später fertig, und das Porträt war mir wirklich gut gelungen. Ich nahm das Bild in die Schule mit, gab es Odai nach dem Unterricht, und er überschüttete mich mit Komplimenten: »Perfffffekt, perfffffekt«, lispelte er, denn er hatte leicht vorstehende Zähne und da-
durch einen Sprachfehler, auf den ihn aber niemand anzusprechen wagte. Den Lohn für meine Arbeit bekam ich einige Tage später. Odai hatte mit Saleh Al-Juburi, einem Parteibonzen, Kontakt aufgenommen und ihm befohlen, mich auf die nächste Stufe der Parteihierarchie zu befördern. Ich war damals in der Majeed-Stufe. Nun kam ich in die der Nassir. Doch das war nicht alles: Odai suchte plötzlich meine Nähe, sprach mich jeden Tag an, wollte sich mit mir treffen, versprach sogar, dass ich alles von ihm habe könne, was ich wollte, er werde das schon arrangieren. Instinktiv ging ich aber auf Distanz. Erstens war mir die äußerliche Ähnlichkeit mit ihm so unangenehm, dass ich jedes Mal aggressiv reagierte, wenn meine Klassenkollegen mich darauf ansprachen: »Schau, da kommt Odai«, spotteten sie, und aus diesen Worten sprach meist der Neid, denn viele suchten Odais Nähe, weil sie sich von ihm etwas erhofften. Zweitens rieten mir meine Eltern, Abstand von ihm zu halten, denn seine Eskapaden wurden nach und nach zum Gesprächsthema in Bagdads Gesellschaft: »Sei freundlich«, warnte mich mein Vater, »aber distanziert.« Nach dem Abitur schrieb ich mich zuerst an der Technischen Universität ein, denn mein Ziel war es immer gewesen, Ingenieur zu werden. Als Odai ebenfalls Technik wählte, zog ich zurück, begann mit dem Jurastudium. Danach verlor ich Odai aus den Augen, hörte nur noch ab und zu von ihm, 1986 schloss ich mein Studium mit gutem Erfolg ab.
3. KAPITEL Der Leibeigene Jetzt stehe ich also wieder vor ihm, und er wirkt kaum anders als damals, als er mich um das Bild für seinen Vater bat: seine großen braunen Augen, die ausgeprägten Augenbrauen, die gerade Nase, der Zwei-Tage-Bart. Nur seine Haare sind kürzer. Nicht mehr die JimmyHendrix-Frisur von früher, sondern kurz geschnittenes Haar mit glänzender, aber nicht klebrig fettender Pomade. Odai, mit seiner dicken Havanna in der rechten Hand, lacht demonstrativ, bietet mir einen Platz auf einer grün gemusterten Couch an. Er selbst setzt sich auf einen weißen, thronartigen Lederfauteuil. Über ihm ein riesiger Spiegel, goldumrandet. Odai ist freundlich, fragt mich im Plauderton, wie es mir gehe, und langsam legt sich meine Nervosität, obwohl ich immer noch nicht erkennen kann, was hier passiert, warum ich hier sitze, weshalb sie mich unter derart geheimnisvollen Umständen von der Front weggeholt haben. »Wie gefällt es dir an der Front?«, fragt er, anscheinend interessiert, und ergänzt: »Ich habe gehört, dass du ein guter Soldat geworden bist!« Ich antworte kurz und achte peinlich darauf, kein falsches Wort, keine unbedachte Bemerkung zu machen, denn ich kenne Odais cholerische Anfälle noch von der Schule her. Ich weiß, er ist ein mächtiger Mann, er kann mich zerdrücken, mich zerstören, mich vernichten, und nichts und niemand kann ihn daran hindern: »Was ich mache, ist in Ordnung«, antworte ich bescheiden. »Zwei, drei Jahre noch, dann gehe ich zurück in die Firma meines Vaters. Import, Export. Ja, mein Vater importiert Maschinen zum Bau von Gasherden, aus Europa. Das ist ein gutes Geschäft.« Kein Wort davon, dass ich am Sinn dieses Krieges, in dem bis jetzt wohl schon mehr als eine halbe Million Männer gefallen sind, zweifle, keine Silbe von den Toten und Verletzten, die ich gesehen habe. Der Irak ist groß, Saddam ist groß und seine Familie ebenso. Was meine Berufspläne angeht, so deute ich an, zumal die Stimmung in diesen ersten Minuten freundschaftlich und angenehm ist, dass völlige Offenheit das Beste ist. Warum soll ich ihm nicht die
Wahrheit sagen, ihm vorlügen, dass ich mich für eine Karriere in der Armee interessiere? Odai akzeptierte das, es scheint ihm sogar zu gefallen: »Schön, bestens, ich bin auch Geschäftsmann, was du wahrscheinlich nicht weißt, nicht wissen kannst. Ich schätze selbstständige Unternehmer.« Er lehnt sich zurück, zieht genüsslich an seiner Havanna. Er macht keine Lungenzüge, sondern bläst den bläulichen Rauch gleich wieder aus, schaut mir tief in die Augen und sagt plötzlich mit einer Überlegenheit, die keinen Zweifel an der Rollenverteilung bei diesem Gespräch aufkommen läßt: »Versuche nichts zu beschönigen, nichts zu vertuschen, ich weiß ohnehin alles über dich. Verstehst du, alles.« Er sagt das mit messerscharfer Stimme, und ich muss an Mohamad Ghaleb denken, meinen Truppenführer bei der Artillerieeinheit, bei der ich zuletzt eingesetzt war. Und an die eleganten Offiziere Nassir Baker und Saad Ahmad, die beiden perfekten Parteisoldaten. Sie haben mich ja immer wieder auf meine Ähnlichkeit mit Odai angesprochen, immer wieder von mir wissen wollen, ob ich aus der Familie komme. Sie haben mich ausspioniert, mich ausgehorcht, mich getestet. Sie waren Handlanger Odais, Geheimdienstmänner im Dienste der Bosse von Bagdad. »Willst du einen Organgensaft?«, holt mich Odai aus meinen Gedanken. »Ja, ja, bitte«, gebe ich zurück, und was nun folgt, ist kurios. Odai sagt kein Wort, betätigt keine Klingel, kein Telefon, nichts, und trotzdem geht plötzlich eine Tür auf, und ein Diener mit schwarzer Hose, weißem Jackett und weißen Handschuhen bringt Orangensaft herein. Frisch gepressten, ungesüßten Orangensaft. Er sagt auch nichts, stellt das Glas mit dem Saft ab und verschwindet wieder. Leise, wortlos, den Kopf demütig gesenkt. Und wieder fällt mir auf, dass keiner der Angestellten Odais es wagt, dem Boss, oder dessen Gast in die Augen zu sehen. Treffen ihre Blicke sich einmal zufällig, weichen sie einander sofort wieder aus. Das Besprechungszimmer, in dem wir sitzen, hat herrliche, pastellfarbene Tapeten. Kein Kitsch in grellen Farben, kein überladenes Zimmer mit Herzeigereichtum. Zurückhaltend, dezent und dennoch elegant. Die Teppiche sind dick und teuer, die Möbel aus Europa, die Blumen raffiniert und mit zurückhaltendem Geschmack ausgesucht. Ich nehme einen Schluck von dem Orangensaft, behalte das Glas in der Hand. Odai sagt noch immer nichts. Ich schaue ihn an, und er er-
widert meinen Blick. Ich habe das Gefühl, dass er in diesem Moment dieselben Gedanken hat wie ich: Beide haben wir diese leicht gekrausten, kräftigen, schwarzen Haare, ausdrucksstarke braune Augen mit langen Wimpern und dunklen, dichten Brauen, die halbmondartig bis weit in die Stirn reichen. Dann die geradlinige Kopfform: leicht oval, keine markanten Kieferknochen, keine auffälligen Merkmale. Wieder zieht Odai an der Havanna. Seine Oberlippe ist kaum zu sehen, denn er trägt wie ich diesen dichten, breiten Oberlippenbart, den alle Moslems sich ab dem 16. Lebensjahr wachsen lassen. Der Bart ist das Symbol unserer Würde, unser zweites Ich. Normalerweise trage ich meist einen Vollbart. Keinen Rauschebart, sondern einen gepflegten, gestutzten Vollbart, was beim Militär aber verboten ist, denn mit Vollbart ist es unmöglich, eine Gasmaske so aufzusetzen, dass sie wirklich dicht abschließt - und ein Gaskrieg ist jederzeit denkbar, denn unsere und die Arsenale der Iraner sind voll mit Senfgas und anderen chemischen Waffen. Während der Schulzeit waren seine leicht nach vorne stehenden Zähne auffälliger. Mit dem Bart und der Havanna im Mund sind sie kaum zu bemerken. Ein bisschen größer ist er als ich, denke ich. Das war mir gleich aufgefallen, als ich in den Raum kam und er mich begrüßte. Hat er mir überhaupt die Hand gegeben?, frage ich mich. Ich weiß es nicht mehr. Eigentlich würde ich ihn gerne fragen, wie es ihm bei seinem Architekturstudium an der Technischen Universität ergangen ist. Nach dem Abitur habe ich ihn ja aus den Augen verloren. Ich sah ihn nur manchmal noch, wenn er mit seinen Ferraris, Porsches, Maseratis oder Lamborghinis demonstrativ vor der Uni vorfuhr und nach Mädchen Ausschau hielt. Wenn ihm eines gefiel, ließ er es von seinen Leibwächtern ansprechen und mitnehmen. Wer sich weigerte, wurde einfach entführt, verschleppt. Sein Ruf war an der Universität noch schlechter als in der Schule. Aber das störte mich nicht, denn ich hatte mich innerlich von ihm gelöst, auch wenn mir dies schwer fiel, weil mich ständig jemand auf meine Göttergnade, meine Ähnlichkeit mit ihm, ansprach. Ich verzichte auf meine Frage. Die Stimmung ist zwar freundlich an diesem späten Septembertag in dem abgeschirmten Zimmer, aber ich fühle mich noch immer unbehaglich. »Latif«, beginnt Odai, und seine Mundwinkel verziehen sich wieder zu diesem Grinsen. »Ich bin ein direkter Mensch und möchte nicht
lang um die Sache herumreden.« Dabei springt er auf, geht einige Schritte, stützt sich dann mit der Linken an der Lehne des Fauteuils ab: »Ich will, dass du mit mir zusammenarbeitest.« »Zusammenarbeit?« antworte ich. Das Wort irritiert und erschreckt mich, aber ich bleibe ruhig und beherrscht und sage: »Ich spreche hier doch nicht mit dem Sohn des Präsidenten, oder? Ich rede mit meinem Schulfreund, dem Mann, der von meinem Bild so begeistert war. Erinnerst du dich noch?« Mein Ausweichversuch stört ihn; er zischt ein »Ja, ja« und fragt mich abermals: »Willst du mit mir zusammenarbeiten?« »Wir können doch offen reden«, sage ich und mache eine kurze Pause, um danach auf den Punkt zu kommen: »Was willst du von mir?« »Ich will, dass du mein Fidai wirst!« »Fidai??????« Das Wort trifft mich wie ein Hammerschlag. Den ganzen Tag über grüble und überlege ich schon. Alles lief nur mehr knapp über dem Horizont, und ich habe ständig das beklemmende Gefühl gehabt, dass etwas Schlimmes auf mich zukommen würde. Und alles, was ich sah, hörte und fühlte, hat mich in Unruhe versetzt: der Mann in der Parteizentrale, der Mercedes, der schweigende Chauffeur, die Eleganz auf dem Palastgelände, das leise Surren des Motors. Ich hätte rennen, schwimmen, die dahinziehenden Wolkenschatten beobachten wollen, meine Unsicherheit aus mir herausschwitzen, bis ich den nassen Schweiß auf meinem klebrigen Uniformhemd nicht mehr spürte. Und jetzt das: Fidai - das Wort dröhnt in meinem Schädel. Ein Fidai ist mehr als nur ein Doppelgänger. Ein Fidai ist alles. In der arabischen Kultur bezeichnet man mit Fidai einen Gefolgsmann, einen Kämpfer und Partisanen. Einen Leibeigenen, der immer und überall bereit sein muss, für seinen Herrn sein Leben zu geben. Saddam Hussein hat zwei Doppelgänger, zwei Fidais, das weiß jeder im Irak, und vermutlich wissen es auch die westlichen Geheimdienste. Das ist auch beileibe keine Sensation, denn dass sich Diktatoren Doubles halten, ist eine uralte Tatsache. Saddam in seinem Verfolgungswahn hat den Fidai-Einsatz jedoch bis zur Perfektion ausgebaut und weiterentwickelt. Wo immer Attentate drohen, lässt er seine Doubles auftreten. Prompt ist auch ein Saddam-
Doppelgänger bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Das war 1984. Jetzt hat er nur mehr einen, Faoaz Al-Emari, wie man sich im Irak erzählt, wo man um die Rolle der Fidais sehr wohl weiß, auch wenn man die generalstabsmäßig geplanten Auftritte im Einzelnen nicht durchschaut. Ich erinnere mich, dass mein Kommandant mich einmal auch auf Faoaz Al-Emari angesprochen hatte. »Kennst du Faoaz?«, fragte er mich damals; ich schüttelte den Kopf und hielt Ghaleb für verrückt, weil ich seine Frage in keiner Weise einordnen konnte. Ich zögere kurz, als Odai mich fragt, ob ich sein Fidai werden wolle. Ich versuche, Zeit zu gewinnen, um endlich einen klaren Gedanken fassen zu können; aber es gelingt mir nicht, und ich zittere am ganzen Körper wie ein Terrier: »Ich versteh' deine Frage nicht? Soll ich dich beschützen, oder was meinst du?« Odai hebt den Kopf, atmet tief durch die Nase ein, legt seine Havanna in den Aschenbecher und breitet die Arme weit und theatralisch aus, wie ein Schauspieler, der seiner Stimme keine Dramatik verleihen kann und deshalb ständig wild mit den Armen gestikuliert: »Es muss dir eine Ehre bedeuten, unter meinen Anweisungen der Sohn des Präsidenten zu sein«, sagt er pathetisch. Er nimmt die Havanna aus dem Aschenbecher und zieht wieder tief am nassen, zerfransten, weil schlecht abgeschnittenen Mundstück. »Aber wir sind doch alle Söhne des Präsidenten«, antworte ich mit einer abgedroschenen Phrase aus der politischen Schulung. »Das nützt dir nichts. Wir haben dich schon lange beobachten lassen, wir wissen alles. Ich weiß, wohin du gehst, mit wem du sprichst, was deine Eltern machen. Ich kenne die Bankkonten deines Vaters, deiner Mutter und auch dein Konto. Alles, verstehst du, alles. Ich will dich, weil du der Richtige bist.« »Ich könnte dich beschützen, ich bin ...«, sage ich. Aber er fällt mir ins Wort. »... du brauchst mich nicht zu beschützen, ich will, dass du mich lebst. Überall, immer.« Als ich wieder zögere, verändern sich Odais Gesichtszüge schlagartig. Er kann sich nur mit Mühe beherrschen, schreit mich an: »Was, du willst nicht der Sohn Saddam Husseins sein?« Diese Frage ist eine Drohung, sie geht mir mitten ins Herz. Bisher sind Double-Aufträge immer nur an Mitglieder der Präsidentenfamilie ergangen. Gewöhnlich wird ein Verwandter, bei dem die Ähnlichkeit schon durch die Blutbande gegeben ist, für diesen Job engagiert. Der
zweite, jüngere Sohn Saddam Husseins, Kussei, beschäftigt einen entfernten Cousin als Fidai. Nur für Odai haben sie offenbar keinen passenden gefunden, und deshalb ist die Wahl auf seinen Schulkollegen, auf mich, gefallen. Auf Latif Yahia, den ältesten Sohn einer angesehenen Bagdader Familie. Ich bin der Auserwählte. Für Odai ist dieser Antrag eine Auszeichnung, eine Ehre, die er mir zuteil werden lässt. Denn jeder im Irak will ein Mitglied der Issaba, der Bande, der Gruppe, die den Präsidenten umgibt, werden. Ich aber fühle mich als Opfer, denn ich weiß, dass ich keine Chance habe und dass an diesem 23. September 1987 mein Schicksal besiegelt wird. Es hilft nichts, sich zu wehren, denn Odai lässt keinen Widerspruch zu, seine Wünsche sind die Wünsche Allahs, und schon allein dieser Gedanke schmerzt mich, denn ich bin ein gläubiger Mensch. Ich ringe nach Worten, fühle mich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Odai ist der Exekutor, der Herr über Sein oder Nichtsein, der Prophet: »Du erwartest, dass ich meinen Namen, meine Persönlichkeit auslösche, um Odai Saddam Hussein zu sein?« Odais Antwort klingt wie das Rien ne va plus eines Croupiers: »Genau das!« sagt er und deutet mit dem Kinn auf mich. Da hätten wir's. Mein Schicksal scheint beschlossen, aber trotzdem wage ich es, dem Sohn des großen Präsidenten zu widersprechen und an den Schulfreund in ihm zu appellieren: »Es ehrt mich, dass du mich für eine Zusammenarbeit ausgesucht hast, aber ich kann unmöglich eine andere Person sein als ich selbst.« »Lass dir Zeit«, antwortet er großmütig, »du musst dich nicht gleich entscheiden.« Zwei, drei Sekunden sagt Odai nichts, dann setzt er nach: »Ich lass dich jetzt zum Nachdenken allein. Wenn ich wiederkomme, will ich ein klares Ja oder Nein.« Obwohl Odais Forderung direkt genug war, legt sich nun meine Angst. Es ist wie an einem Morgen, an dem man völlig verändert aufwacht. Odais Worte, die ganze Situation, sein Vorschlag haben wie ein tektonisches Beben mein Inneres erschüttert. Einerseits ist mir klar, dass sein Vorschlag für mich unannehmbar ist. Andererseits hat sich dieses anfängliche, beklemmende Gefühl in mir so weit verflüchtigt, dass es mich plötzlich interessiert zu erfahren, was passieren würde, wenn ich ablehnte. Wie geht er damit um?
Er kann doch alles arrangieren. Er hat die Schule erfolgreich abgeschlossen, obwohl er kaum schreiben konnte, nur Buchstaben malte, die aussahen, als ob er halbseitig gelähmt wäre. Er kann kein literarisches Arabisch lesen, keinen Satz fehlerlos schreiben und hat vermutlich noch nie ein Buch geöffnet, geschweige denn zu Ende gelesen. »Was passiert, wenn ich ablehne?« frage ich. Er reagiert kaum, wirft mir ein »Das werde ich dir nachher sagen« zu, verschwindet in einem Nebenraum und lässt mich völlig verwirrt zurück. Endlose zehn Minuten lang passiert überhaupt nichts. Ich sitze wie gelähmt auf der gemusterten Couch, starre vor mich hin, streiche mir mit der Hand mehrmals über den Bart und denke an Odais Gesicht. Er sieht irgendwie nett aus. Aber der Schein kann trügen. Ich habe ja schon erlebt, wie Menschen anderen Menschen abscheuliche Dinge antaten, an denen sie zerbrachen. Ich denke an Sattar und die Kakerlaken. Wie wir sie ihm in den Mund gedrückt haben, bis er kotzte, und wir dennoch nicht damit aufhörten, weil man es uns befohlen hatte und niemand sich einem Befehl widersetzen darf. Oder doch? Manchmal erzeugt die Menschenfamilie hinter einem menschlichen Gesicht ein Gehirn, das schlimmer ist als alles, was ein Pathologe täglich auf seinen Operationstisch bekommt. Ich brauche eine dickere Haut, eine Hornhaut für meine Seele. Ich kann nicht mehr ruhig sitzen, lege das linke über das rechte Bein, dann wieder das rechte über das linke. Ich würde gern eine Zigarette rauchen, verzichte aber aus Wohlerzogenheit darauf, obwohl es im Zimmer ja schon stark genug nach dem Rauch der dicken Havanna riecht. Ich stehe auf, reibe mir die Hände und will ein paar Schritte machen. Fast gleichzeitig geht die Tür auf, durch die Odai verschwunden ist. Ein Diener erscheint in der Tür und fragt mich nach meinen Wünschen. »Ein Glas Wasser bitte«, sage ich. Der Diener bringt es mir unverzüglich, ich trinke das Glas aus, stelle es weg und durchmesse mit meinen Schritten das Zimmer. Eins, zwei, drei ... Ich gehe auf und ab, verschränke meine Arme, strecke mich vor dem Spiegel, gähne, betrachte meine unreine Haut und denke, dass ich etwas für meinen Teint tun sollte. Odai hat eine glatte Haut. Ich schaue nochmals in den Spiegel, komme aber nicht auf die Idee, dass dahinter jemand stehen könnte.
Obwohl Odai gesagt hat, er sei in zehn Minuten zurück, vergeht eine Stunde, ohne dass er sich zeigt. Warten ist vermutlich ein Teil des Systems. Menschen, die warten, verlieren nach einer bestimmten Zeit ihre Selbstachtung, vor allem wenn sie wissen, dass sie warten müssen, weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Warten lassen bedeutet Macht. Nach einer weiteren halben Stunde kommt Odai endlich zurück. Grinsend, mit großen, entschlossenen Schritten: »Warum bist du so unruhig, mein Freund?« Jetzt realisiere ich zum ersten Mal, dass er mein Auf- und Abgehen, mein Hin- und Herrennen beobachtet haben muss. Durch eine Kamera, durch den Spiegel oder wie auch immer. »Was ist, wenn ich ja sage?« »Dann bist du mein Bruder und bekommst alles, was du willst. Das gebe ich dir schriftlich. Du wirst das schönste Leben auf Erden haben, jeder Wunsch wird dir erfüllt, alles was mir gehört, wird auch dir gehören. Verstehst du, du wirst mein Bruder sein.« »Mein Herr, das ist sicher sehr schön, aber ich kann das nicht. Ich bin Offizier der Armee und werde der Armee noch auf Monate und Jahre dienen. Aber dann will ich Kaufmann werden, ich kann diese Aufgabe nicht übernehmen, sie ist zu groß für mich. Mein Herr, versteh ... ich kann das nicht.« Als ich ablehne, stürmt Odai zur Tür, reißt sie auf, bleibt kurz stehen, dreht sich um und zischt mit hartem, entschlossenem Gesicht: »Das ist auch kein Problem, wir bleiben in jedem Fall Freunde.« Wuchtig schlägt er die Tür zu. Es dauert nur wenige Augenblicke, da kommen zwei Leibwächter herein, Azzam Al-Takriti und Salam AlAoussi. Sie gehen schnurstracks auf mich zu, packen mich an den Armen und reißen mir meine Zwei-Stern-Epauletten ab, verbinden mir die Augen, führen mich hinaus, stoßen mich in ein Auto. Ich weiß nicht, von welcher Marke, aber es ist vermutlich wieder der Mercedes, mit dem ich gekommen bin. Im Inneren des Wagen riecht es genauso wie zuvor, die Ledersitze sind weich und glatt. Der Fahrer startet den Motor, und erst der Ruck, mit dem wir anfahren, lässt meine Tür dumpf ins Schloss fallen. Dieses satte Wumm das kann nur eine Mercedestür sein. Wir fahren lange, vielleicht eine halbe oder dreiviertel Stunde, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir im Kreis herumfahren. Keine
anderen Autos sind zu vernehmen und auch nicht die Geräusche, die zu hören sind, wenn man in schneller Fahrt einen Häuserblock passiert. Es ist, als ob wir nur immer auf dem Palastgelände herumfahren würden. Wir halten auch kein einziges Mal an, was wir beim Verlassen des Palastgeländes an einem der Tore hätten tun müssen, denn Saddams Machtzentrum ist von einer Mauer, mit einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun davor, umgeben. Der Palast liegt im Bezirk Karrade Mariam, in der Nähe von Al-Karch, am Ufer des Tigris-Flusses. Die Fläche, über die sich der Präsidentenpalast erstreckt, beträgt mehrere Quadratkilometer. Östlich und südlich bildet der Tigris die natürliche Grenze zwischen dem Palast und der Stadt. Dort können wir jetzt aber unmöglich sein, denn sonst würde ich das Geräusch des fließenden Wassers hören. Manchmal werden die Reifengeräusche seitlich in kurzer Abfolge reflektiert. Jetzt gleiten wir an den großen Häusern der Präsidentenfamilie vorbei, schließe ich daraus. Die Architektur dieser Häuser ist erstklassig, das habe ich bei der Herfahrt gesehen. Während Millionen von uns an der Front gegen die Khomeinis kämpften, ließ sich Saddam von einer französischen Firma sein Schloß von Grund auf renovieren, neu möblieren und mit allen nur erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen ausstatten (denn die Raketen der Iraner erreichten auch vereinzelt Bagdad, und das oberste Ziel von Khomeini war die Ermordung unseres gottlosen Präsidenten.) Der Palast hat vier Haupteingänge. Der erste ist auf der Westseite, bei der Hängebrücke. Sie nennen es Familientor, weil es das Privattor von Saddam und seiner Familie, für seine Minister und deren Familien ist. Durch diese Einfahrt bin ich hereingebracht worden. Der zweite Eingang liegt bei der Republikanischen Brücke auf der nördlichen Seite des Palastes. Das Bagdad-Tor ist für die Mitglieder des revolutionären Führungskomitees und des Nationalkomitees bestimmt. Ein drittes Tor, das den östlichen Flügel mit dem nördlichen verbindet, ist für die Angehörigen des Präsidentenpalastes reserviert und die vierte Einfahrt, das Löwentor, für den Direktor des Geheimdienstes und die Angehörigen der Geheimdienste Jehaaz Al-Amen Al-Khas und Jehaaz Al-Mukhabarat Al-Amen. Diese Tore sind rund 1500 Meter von Saddams Schloss entfernt und
so gepanzert, dass sie selbst von einem Panzerfahrzeug nicht leicht durchbrochen werden können. 900 Meter hinter diesen Einfahrten entfernt liegen im Asphalt versenkte Metallschienen. Sie sind rund 30 Zentimeter breit. Wenn man mit dem Auto drüberfährt, spürt man einen leichten Schlag, hört man ein kurzes Tak, Tak. In diesen Metallschienen sind vermutlich Bänder mit Stahlnägeln verborgen, die blitzartig nach oben schießen, wenn ein Wachposten auf einen Knopf drückt. Keine Chance also für einen Kamikazefahrer, der sich mit einem sprengstoffbeladenen Fahrzeug dem Palast nähern wollte! (Diese Nägelketten werden auch von unseren Pionieren an der Front verwendet.) Wir haben diese Sicherheitsstellen auch noch nicht passiert; ich hätte das hören und spüren müssen. Wir sind also weit weg von den Haupteingängen, an denen abwechselnd die dritte, fünfte, siebte und neunte Einheit der republikanischen Schutztruppe Wachdienst versieht. Die ersten beiden Haupteingänge stellen aber noch nicht den Beginn des eigentlichen Palastareals dar, sondern sind rund drei Kilometer von jener Straße entfernt, die dem normalen Auto- und Fußgängerverkehr dient. Zwischen der Straße und dem Palast liegt eine Pufferzone, eine Art Niemandsland. Alle Gebäude in Palastnähe sind vom Geheimdienst übernommen worden. Früher gab es hier ausländische Botschaften, die aber umgesiedelt wurden, als Saddam Hussein an die Macht kam. Selbst das Ibn Sina, ein Krankenhaus, haben sie übernommen. Es war früher ein Privatspital von mäßiger Qualität, das Saddam Hussein von europäischen und amerikanischen Firmen sanieren und auf den neuesten Stand der Technik bringen ließ. Alle Ärzte und Pfleger, die hier gearbeitet hatten, wurden entlassen und durch entsprechend ideologisch geschultes Personal ersetzt. Seither dient das Krankenhaus als Saddams Privatklinik. Nach rund einer halben Stunde Autofahrt habe ich gänzlich die Orientierung verloren. Plötzlich stoppt mein Fahrer abrupt. Ich weiß nicht, wo wir sind. Azzam Al-Takriti und Salam Al-Aoussi, die Bodyguards, die mir die Augen verbunden haben, befehlen mir auszusteigen, packen mich an den Armen und führen mich zuerst einige Stufen hinauf, dann durch mehrere Räume und Türen und schließlich wieder einige Stufen hinab und durch zwei Türen.
Als sie mir die Augenbinde abnehmen, finde ich mich in einer kleinen Kammer wieder, die kaum größer als eine Duschkabine ist. Höchstens 1 mal 1,5 Meter groß. Kein Fenster, kein Bett, keine Latrine. Nicht einmal ein Kübel steht da. Dafür ist alles im Raum rot: rote Wände, eine gleißende Lampe mit grellrotem Licht, roter Betonboden und auf dem Boden eine tiefrote Wolldecke. Alles in dem Raum ist rot. Er hat eine hohe schier unendlich hohe Decke. Kommentarlos schließen die beiden Bodyguards die rote Eisentür hinter sich ab. Ich bin gefangen. Eine Stunde, zwei Stunden. »Die wollen dich farbenblind machen, ja, farbenblind.« Ich schließe die schmerzenden Augen. Ich reiße sie wieder auf, weiter auf als je zuvor, und das schmerzt noch mehr. Ich ziehe die Decke über den Kopf, spüre aber, dass die Decke rot ist und der Boden auch. Rot, rot, rot. Alles ist rot. Ich drücke meine Handballen gegen die geschlossenen Augen, lange, lange. Ich sehe Sterne, Blitze, grobe, feine Lichtraster. Als ich die Hände wieder wegnehme, sehe ich zuerst nichts als Schwarz und dann wieder dieses fürchterliche Rot. Nichts zeigt mir die Zeit an, ich bin allein im zeitlosen Raum. Wo bin ich? Ich weiß nicht, ob es Tag noch Nacht ist. Es gibt keine Kloschüssel und kein Wasser, es gibt nichts, nur dieses Rot. Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon hocke. Einen halben Tag, länger? Ich weiß es nicht, ich habe das Gefühl für die Zeit verloren. Ich denke an meine Kameraden an der Front, an meine Eltern. Aber was hilft das schon? Sie wissen ja nicht, wo ich bin, was ich mache, was hier vor sich geht. Plötzlich höre ich Schritte, dann Stimmen und dann das Klirren von Schlüsseln. Verdammt, vom Türrahmen weg! Ich kaure mich ins Eck, mein Herz klopft bis zum Hals. Wenn ich jetzt einen Revolver hätte, läge mein Finger am Abzug. Den Hahn gespannt, Kopf und Revolver in derselben Richtung, wie sie es uns beigebracht haben. Die Tür wird aufgesperrt. Ich kann im roten Licht schemenhaft Azzam erkennen. Er hat ein Tablett in der Hand, gibt es mir und sagt nur: »Iss etwas.« Dann dreht er sich wieder um, schließt die Tür. Ich hocke mich hin und stopfe das Essen in mich hinein. Tagelang geht das so. Ich kann mich nicht ausstrecken und hinlegen.
Meine Beine schmerzen. Ich hocke in der Ecke und vegetiere vor mich hin, denke ständig nach. Irgendwann beginne ich, Selbstgespräche zu führen. Nicht in Form von richtigen Sätzen, sondern in bloßem Gemurmel. Wie ein Kleinkind, ein Säugling. Ich bewege meine Lippen, gebe Laute von mir, bis die Wärter wieder Essen und Wasser bringen. Dann weiß ich, ob es mittags oder abends ist. Zu Mittag gibt es weißes Brot und Wasser. Abends warmen, klebrigen Reis und Wasser. Während der ersten 48 Stunden versuche ich, mich zu beherrschen, uriniere nur einmal kurz. Als ich sehe, wie der Urin auf meine Decke zufließt, reiße ich mich zusammen. Ich halte meinen Kot zurück, bis mir fast der Darm platzt. Ich schreie, tobe, schlage mit den Fäusten an die Wände und bitte und flehe, mich nicht derart zu entwürdigen. Doch niemand reagiert, und irgendwann ist mir meine Ehre, mein Ich, meine Erziehung egal. Ich entleere mich in eine Ecke, so dass ich nicht auf meinen Exkrementen liegen muß. Es stinkt so höllisch, dass mir die Augen brennen. An den Wänden entdecke ich verkrustetes Blut, es kann nicht von mir sein, denn soweit bin ich noch nicht. Die Blutflecken stammen von einem anderen. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich jeder zu verstümmeln beginnt, sage ich mir. Aber ich schwöre bei Allah und meinem Vater, dass Odai mich nicht so weit kriegen wird. Ein halbes Glas Wasser hebe ich mir immer auf, um zumindest eine Spur von Hygiene aufrechterhalten zu können. Zuletzt hocke ich nur mehr in meiner Ecke. In der anderen mein Kot, über den ich die Decke gelegt habe, die ohnehin völlig durchnässt war von meinem Urin, die ich also unmöglich noch über mich legen konnte. So musste ich wenigstens meine Fäkalien nicht sehen. Sie haben mir siebenmal Brot und siebenmal Reis gebracht. Deshalb weiß ich, dass ich seit einer Woche in diesem Zwinger hocke, als Odai selbst in der Tür erscheint. Ich sehe ihn nicht, höre nur sein spöttisches »Hallo Latif, wie geht's dir hier?« Seine Bodyguards verbinden mir die Augen, dann geht es über mehrere Stufen hinauf, durch zwei Türen, durch etliche Räume und dann die Stufen hinab ins Freie. Ich spüre die Septembersonne, unter den Füßen fühle ich Gras. Ruckartig reißen sie mir die Binde von den Augen. Es ist, als ob ein Blitz direkt in meine Augen führe. Ich kann nichts sehen, halte mir die Hände vors Gesicht, presse die Handballen gegen meine geschlossenen Augen, wie ich es schon in der Zelle gemacht habe. Zehn, zwan-
zig Sekunden stehe ich so da, dann nehme ich vorsichtig die Handballen weg, blinzle, versuche, die Augen kurz zu öffnen. Alles ist rot. Das Gras, die Bäume, der ganze Garten. Auch Odai, der vor mir steht, ist rot. Sein Hemd, seine Hose, sein Gesicht, seine vorstehenden Zähne sind rot. »Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«, fragt er. Ich sehe undeutlich, dass auch er nicht rasiert ist. Er hat sich einen Bart stehenlassen. Um mir noch ähnlicher zu sein? »Du hast doch deine Meinung geändert, oder?« Er weiß, was ich durchgemacht habe. Sicher kennt er diese Zelle; wahrscheinlich haben sie dort schon Hunderte fertig gemacht und sich dabei sadistisch darüber amüsiert, dass sie den Stolz der Menschen brechen konnten. Dass stolze Männer so weit herunterkommen, dass sie in ihrem eigenen Kot liegen, sich sogar darin wälzen, weil es nicht anders geht, weil die Zelle so klein ist. Ich kann noch immer nicht richtig sehen, meine Augen tränen. Aber meine Wut ist größer als meine Vernunft: »Offiziere der irakischen Armee dürfen nicht ohne Wissen des Verteidigungsministeriums festgehalten werden. Das ist Gesetz. Ich habe niemanden ermordet, habe deine Familie nicht in den Schmutz gezogen ... das Ministerium muss ...« »Muss was? Tausend Offiziere wie du sind nicht einmal meine Schuhe wert.« Ein lächerlicher Hurensohn, denke ich und antworte nicht. Langsam kommt meine Sehkraft wieder zurück, ich blinzle, erkenne schemenhaft die Bäume, die Wiese. Ich sehe meine Uniform an. Ich bin voller Kot, voll mit verkrustetem, eingetrocknetem Kot. Ich muß jämmerlich aussehen. »Ich hetze meine Hunde auf dich und deine Schwestern, wenn du nochmals nein sagst«, schreit Odai mich an. In diesem Moment wird mir klar, dass weiterer Widerstand zwecklos ist; Odai ist ein Mensch, der zu allem fähig ist. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er seine Killerhunde auf jemanden losgejagt hätte. Mir fiel ein Vorfall aus meiner Studienzeit ein: Eines Tages war Nahle Sabet, ein hübsches Mädchen, das wie Odai Architektur studierte, verschwunden. Odai hatte sie vom Universitätsgelände entführen und auf sein Anwesen nördlich von Bagdad bringen lassen. Das war als landwirtschaftliches Gut getarnt, diente in Wirklichkeit aber als Abrichteplatz für Odais Kampfhunde. Bullige Rottweiler, mächtige Doggen, schlanke, musku-
löse Dobermänner, mit Schlägen und rohem Fleisch scharf gemachte Terrier. Wochenlang wurde Nahle Sabet festgehalten, geschlagen, geschunden, vergewaltigt, willenlos gemacht. Als Odai keinen Spaß mehr an ihr hatte, sperrte er sie in den Zwinger zu den ausgehungerten Hunden.
4. KAPITEL Die Ausbildung Unsere Autofahrt dauert nur knapp 15 Minuten. Meine Augen gewöhnen sich langsam wieder an das Sonnenlicht. Als wir den Palast durch das Familientor verlassen, wird unser aus vier Wagen bestehender Kleinkonvoi von den Wachen nicht angehalten. Die Fahrer haben nur kurz ihr Tempo verlangsamt, als wir über die Tak-takSicherheitsschiene rumpelten, und als die Wächter mit ihren Kalaschnikows erkennen, dass es Odais Wagen sind, winken sie uns durch. Dann fahren wir nach links, durch eine Allee, und biegen nach rund einem Kilometer zum Projekt Nr. 7 ab. Das ist eine der zahlreichen Privatresidenzen Odais. Mit im Auto sind wieder meine beiden Wächter und jener Chauffeur, der mich vor einer Woche aus dem Hauptquartier abholte. Ich fühle mich leer und ausgebrannt, verraten und verkauft. Noch immer habe ich meine dreckige Uniform an, noch immer kommt mir alles wie ein böser Traum, wie ein Film vor, in den ich durch Zufall geraten bin. Ich kann nicht rationell nachvollziehen, was hier wirklich geschieht. Aber ich weiß, dass ich zugesagt habe, Odais Fidai zu sein, und mich und meine Seele damit an einen Menschen verkauft habe, der mir widerlich und unheimlich ist. Odai hat dreckig, überlegen gegrinst, als ich vorhin nachgab, und großzügig gemeint: »Siehst du, von nun an bist du nicht nur mein Freund, sondern mein Bruder.« Sein Bruder, was bedeutet das? Hätte ich mich nicht doch weiter wehren können? Nein, nein. Ich verdränge diese Frage. Sie ist sinnlos, denn hätte ich nein gesagt, hätte Odai mich und meine ganze Familie ausschalten können. Der Saddam-Clan hat schon Tausende umbringen lassen. Sie sind von heute auf morgen verschwunden. Niemand im Irak weiß wohin, aber es ist sicher, dass sie liquidiert wurden. Mein Wagen hält vor der Einfahrt zum Projekt Nr. 7. Vor dem Haus mehrere Parkplätze, die von der Straße aus nicht einsehbar sind. Daneben eine gepflegte Grünfläche mit kurzgeschnittenem, saftigem Rasen und dahinter ein wuchtiges, hölzernes Eingangstor mit mächtigen Doppelflügeltüren, auf denen ein überdimensionaler, grünschwarz-weißer irakischer Adler prangt, unser Wappentier. Über dem
Adler drei schwarze Sterne, eine Einlegearbeit aus Keramik-Mosaiken. Links und rechts neben der Tür automatische Kameras, deren Surren ich höre; wir werden also erwartet, beobachtet. Auf der Tür kein Namensschild, nur eine Gegensprechanlage in einer Mauernische, abgeschirmt durch Spiegelglasscheiben. Die Doppelflügeltür geht automatisch und geräuschlos auf, und meine beiden Bewacher bringen mich ins Innere des zweistöckigen Gebäudes, das von außen eher unscheinbar aussieht, zumindest nicht allzu auffällig. Häuser wie diese gibt es Tausende in Bagdad, denn Bagdad ist reich, und die Oberklasse lebt feudal und üppig und liebt es, ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Aber der äußere Eindruck täuscht. Ein großräumiger, repräsentativer ovaler Innenhof, der von einem imposanten Swimmingpool dominiert wird. Sechs breite, geschwungene Treppen führen zu dem Pool, der mit schwarzem Marmor eingefasst ist. Rechts neben dem Pool eine gemauerte, sichelartige Bar, ebenfalls aus diesem glänzend schwarzen, zartweiß geäderten Marmor, der vermutlich aus dem Ausland, aus Italien importiert wurde. Wahrscheinlich Carrara. Daneben Sonnenliegen aus weißem, kräftigen Bambus mit weißen Polstern darauf, deren Ränder mit Goldfäden gesäumt sind. Vom Swimmingpool gehen sternförmig die Nebenräume ab. Sie bringen mich zuerst in den Raum ganz rechts vom Pool, in Odais Arbeitszimmer. Und wieder beeindruckt mich sein Geschmack: Das Zimmer ist großzügig gestaltet, in keiner Weise kitschig orientalisch überladen. Kein plüschig weicher Samt, kein Gold, keine verspielten Verzierungen, keine Kapitälchen, keine geschwungenen und gezackten Stukkaturarbeiten. Der Raum ist geradlinig, klar, hell. In einer Ecke steht ein wuchtiger Schreibtisch mit dunkler, glänzender Arbeitsplatte, daneben stehen zwei hell überzogene, fauteuilartige Stühle. Hinter dem Schreibtisch ein Bücherregal, voll mit arabischer Literatur. Reine Dekoration, denke ich, mich amüsiert diese Wichtigtuerei. Odai hat all diese Bücher sicher noch nie angerührt. Auf seinem Schreibtisch liegen einige Akten, ein Füllfederhalter von Cartier, ein Dupont-Feuerzeug und ein schwarzes Elektrokabel. Das Kabel ist dick und rund, einen dreiviertel Meter lang. Am meisten fällt in diesem Raum mit den pastellfarbenen Tapeten eine zartgelbe Sitzgarnitur ins Auge, die sicher zwanzig Leuten Platz bietet. Davor ein Couchtisch mit einer schwarzen, geäderten Natursteinplatte. Überall stehen silberne Schalen mit Erdnüssen, Süßigkei-
ten, Zigaretten und Blumenarrangements. Ich werde von drei Männern erwartet, die offensichtlich voll informiert sind und die gesamte Aktion mitvorbereitet haben: Der erste ist Munem Hamad Al-Takriti, er ist der Direktor des Geheimdienstes AlKhass. Munem Hamad wirkt elegant und zurückhaltend. Er ist schlank, etwas größer als ich und hat graue Schläfen. Er begrüßt mich überaus freundlich. Ihn sehe ich an diesem Tag zum ersten Mal. Den zweiten Mann kenne ich dem Namen nach, jeder im Irak kennt ihn: Kapitän Siad Hassan Haschem Al-Nassiri, ein Freund Saddam Husseins und der Schwager von Rokan, dem persönlichen Leibwächter des Präsidenten. Siad Hassan Haschem Al-Nassiri ist einer der schlimmsten Verbrecher des Irak, ein Massenmörder, ein kräftiger, gefährlicher Mann mit grauen Augen, scharfem, markantem Gesicht und einer extrem gebogenen Adlernase. Eiskalt, sadistisch, eine Bestie. Er überwacht sämtliche Hinrichtungen und alle Verbrechen, die Saddam Hussein ausführen lässt. Als ich ihm die Hand schüttle, verzieht er keine Miene, sein totes Gesicht bleibt kalt. Der dritte ist Kapitän Saadi Daham Hasaa Al-Nassiri, ein Cousin von Saddam Hussein. Klein, bullig, unsympathisch. Azzam, Odais Bodyguard, stellt mich den drei Offizieren vor. Munem Hamad Al-Takriti beginnt das Gespräch mit einfühlsamen Worten: »Setz' dich, entspanne dich, Odai hat uns bereits von dir erzählt und uns gesagt, dass du ein mutiger, entschlossener Kämpfer bist. Ich freue mich, dass du freiwillig zu uns gekommen bist.« Freiwillig? Was für ein Hohn! Aber in seiner Stimme liegt etwas Beruhigendes. Munem Hamad spricht so zu mir, als ob ich nicht sein »Leibeigener« wäre, sondern ein akzeptierter Partner bei einer komplizierten Mission. Ich weiß nicht warum, aber in diesem Moment denke ich: Dieser Mann ist der erste irakische Offizier, der nicht völlig verrückt und eingebildet und menschenverachtend ist. Munem Hamad scheint meine Sympathien für ihn zu bemerken. Er spricht leise, aber in einem vorzüglichen Arabisch, deutlich, klar. Seine freundliche Stimme rutscht nie in diesen verächtlichen, schneidenden Befehlston ab, nicht ein einziges Wort. »Du musst dich eingewöhnen, Latif«, sagt er, während er seinen Arm um meine Schulter legt: »Am besten schauen wir uns einmal das Haus an, und danach machst du dich frisch.« Die beiden anderen nickend
zustimmend. Wie ein Chefarzt bei der Visite verlässt Munem Hamad den Raum, und wir folgen ihm. »Das war übrigens Odais Arbeitszimmer«, erklärt er und fragt dann: »Ihr kennt einander doch von der Studienzeit, oder?« Ich nicke, »Ja, ja, aus der Studienzeit«, und er zeigt auf den türkisblauen Pool mit dem schwarzen Marmorrand und sagt, ich könne ihn jederzeit, wann immer ich Lust hätte, benützen. »Die Umkleidekabinen und die Handtücher«, sagt er und zeigt dabei auf einen Nebenraum, »sind hier.« In einem offenen Raum direkt hinter der Bar sehe ich mit mehrere Umkleidekabinen mit Körben voller frischer, dicker Handtücher, einer Dusche, einer Toilette, Handwaschbecken und Spiegel. Ich wage nicht zu fragen, ob ich mich endlich waschen dürfe, denn Munem Hamad geht bereits in den nächsten Raum. Sie sind alle vom Pool aus zu erreichen. »Das ist das Gästeschlafzimmer«, erklärt mein Führer. In dem großzügigen Raum sehe ich ein französisches Doppelbett mit gestickter, beiger Decke und passenden Vorhängen. Neben dem Bett ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch, eine kleine Couch und ein Fernseher. Sony. Unmittelbar neben dem Gästeschlafzimmer die Treppe, die in den ersten Stock führt. Wir schauen uns aber zuerst Odais Schlafzimmer an: Es sieht eigentlich aus wie das Gästezimmer, hat aber ein größeres Bett. Anstatt eines Schreibtischs stehen ein runder Tisch mit schwarzer Tischplatte und mehrere Stühle im Raum. Direkt vor dem Bett ein überdimensional großer Fernseher, an dem ein Videorecorder angeschlossen ist. »Dieses Zimmer«, lacht Munem, »gehört ab jetzt dir. Odai will es so. Du bist sein Bruder, und deshalb möchte er, dass du in seinem Zimmer lebst.« Neben dem Tisch steht ein Telefon, versteckte Videokameras entdecke ich auf den ersten Blick nicht. Danach zeigen sie mir noch den Salon, einen hallenartigen Raum mit vier verschiedenen Einrichtungen sowie den Partysaal im ersten Stock des Hauses, der wie eine Diskothek aussieht: eine alles dominierende Bühne mit einer Tonanlage, davor zahlreiche gemütliche Sitzgruppen in kräftigem Rot. Wieder dieses Rot. Immer dieses Rot. Munem Hamad beendet diesen ersten Rundgang mit den Worten:
»So, Latif, du wirst dich sicher etwas ausruhen und vor allem duschen wollen.« Alle lachen. Ich auch. Sie bringen mich in Odais Schlafzimmer, das nun mein Zimmer ist, lassen die Tür zum Pool offen. Ein kühler Wind bewegt die weißen Gardinen. Ich setze mich aufs Bett, schüttle den Kopf, lache und schüttle wieder den Kopf: »Was soll das?« Ich stehe auf, gehe zur Tür, ziehe die Gardinen zur Seite. Am Pool ist niemand zu sehen. Doch ich spüre, dass sie da sind. Sie sind sicher überall, und wahrscheinlich sitzt irgendwo Odai und beobachtet mich durch eine Videokamera, genauso wie damals, als ich in seinem Büro saß. Das Telefon. Ich sehe das große, viereckige Telefon, ein amerikanisches Fabrikat. Ich weiß, dass es eine Idiotie wäre, jetzt den Hörer abzunehmen und einfach die Nummer meiner Familie in Bagdad zu wählen. Das funktioniert doch nie, sage ich mir, das wäre extrem unvorsichtig von ihnen, würde dieses Telefon tatsächlich funktionieren. Als ich trotzdem abhebe, höre ich das Besetzt-Zeichen. Ich drücke einige Knöpfe, die Neun, die Null, die Doppelnull - immer das Besetzt-Zeichen. Ist doch logisch, dass es nicht funktioniert. Dann fällt mir der Spiegel ins Auge. Ich hatte bereits im Auto versucht, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, um mich mit Vollbart zu sehen. Ich stehe auf, trete vor den Spiegel und sage zu mir selbst: »Das ist also Latif Yahia, Offizier der stolzen irakischen Armee?« Ich dusche lang und heiß. In diesem Badezimmer, das ebenfalls mit schwarzem Marmor ausgelegt ist, ist für alles gesorgt, wie in einem Fünf-Sterne-Hotel: Einwegrasierer, Badegel, Rasierschaum, Shampoo, Zahnpasta, Zahnbürste, Haarcreme, Haarbürste. Alles, ein Bademantel, dicke, große Handtücher, Körpercreme. Ich schrubbe mir den Dreck der vergangenen Woche ab und merke, dass ich müde werde. Ich schlafe tief und fest in dieser Nacht. Am nächsten Morgen wache ich früh auf. Wir haben Anfang Oktober 1987, und in Bagdad ist es noch immer schwül und heiß. Meine verdreckte Uniform, die ich am Abend zuvor über einen Hocker geworfen habe, ist weg. Ebenso meine Schuhe, meine Unterwäsche. Dafür liegen frische Kleider auf dem Stuhl vor dem Kleiderkasten. Heller An-
zug, weißes Hemd, Schlüpfer. Daneben frische Handtücher, ein neuer Bademantel. Auf dem Tisch ein Frühstück. Tee, Süßigkeiten, frisches Obst. Ich nehme nur einen Schluck aus der Thermoskanne, esse eine Orange. Wieso habe ich es nicht bemerkt, wann wer diese Sachen in mein Zimmer gebracht hat? Ich dusche, ziehe mich an und warte. Es ist knapp nach neun, und die Offiziere vom Tag zuvor holen mich ab. Sie bringen mich wieder in Odais Arbeitszimmer. Dort legt Munem Hamad mir ein zweiseitiges Schriftstück vor: »Lies das genau durch und unterschreibe es dann«, fordert er mich auf und bietet mir einen Platz auf der gelben Couch an. Es ist ein Vertrag. Ein Vertrag wischen mir und der Republik Irak: Ich, Latif Yahia, 1. Leutnant, schwöre, nichts aus dem Leben Odai Saddams an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Alles, was ich während der Zusammenarbeit mit ihm höre, sehe und gemeinsam mit ihm erlebe, unterliegt der Schweigepflicht. Es ist mir verboten, Akten, Fotos, Videos oder sonstige Aufzeichnungen an Dritte weiterzugeben. Jedes Zuwiderhandeln gegen diesen Vertrag wird mit dem Tod durch den Strang bestraft. Latif Yahia, Bagdad, 2. 10. 1987. Ich unterschreibe. Die nächsten zehn Tage passiert absolut nichts. Munem Hamad hatte mir noch eingetrichtert: »Du bist jetzt Odai Saddam Hussein, der Sohn des Präsidenten. Sprich mit keinem der Hausangestellten, versuche auch nicht, mit ihnen in Kontakt zu treten.« Den Hausangestellten, es gibt einen Koch, vier Zimmermädchen und eine Art Butler, ist ihrerseits streng verboten worden, auch nur ein Wort mit mir zu sprechen. Sie haben mich so zu behandeln, als ob ich Odai Saddam wäre, und sie halten sich eisern daran. Sie weichen meinen Blicken aus, bringen mir täglich frische Wäsche, und das beste Essen, das mir jemals serviert wurde. Täglich Fleisch, europäisch zubereitet, mit frischem Gemüse und viel Obst. Selbst an der Bar neben
dem Pool darf ich mich bedienen. Niemand ist da, der mir vorschreibt, was ich zu tun hätte. Ich lebe wie im Paradies, doch mein Paradies ist ein goldener Käfig. Das ist mir wohl bewusst, doch was mich wirklich bedrückt, ist der Umstand, dass ich niemandem, schon gar nicht meinen Eltern, mitteilen darf, wo ich bin und wie es mir geht. Meine Eltern haben schon seit drei Wochen nichts mehr von mir gehört. Gut, das kommt öfter vor; es ist Krieg und sie glauben mich an der Front. Es kam ja auch früher öfter vor, dass ich mich wochenlang nicht bei ihnen gemeldet habe. Kurioserweise sind es aber nicht nur meine Sorgen wegen meines neuen Jobs, die ich meinen Eltern mitteilen möchte. Ich würde sie vor allem gern an meinem paradiesischem Zustand teilhaben lassen, ihnen sagen, wo ich wohne, wie ich lebe, was hier mit mir passiert. Ich erhole mich ausgezeichnet. Tagsüber liege ich am Pool, am Abend sehe ich mir die Nachrichten im Fernsehen an und verschaffe mir dabei mit einigen Gin-Tonics die nötige Bettschwere. Zwar quälen mich manchmal die Gedanken an die Zukunft, aber irgendwie beginne ich, Odai innerlich immer näher zu kommen. Es hat schon seinen Reiz, über devote Angestellte zu verfügen, die auf jede Handbewegung reagieren. Ich liege am Pool in der Herbstsonne, hebe die Hand - und schon ist jemand da, dem ich einen Befehl erteilen kann: »Ein Sandwich.« Ich bemerke, dass ich mir das Bitte und Danke abgewöhne und mir Stück für Stück jene Überheblichkeit aneigne, die ich anderen immer vorgeworfen habe: »Nicht so viel Eis«, schreie ich das Mädchen an, »das habe ich dir schon hundertmal gesagt.« Und sie entschuldigt sich höflich und bringt mir ein neues Glas mit weniger Eis. Sie behandeln mich, als ob ich der Sohn des Präsidenten wäre. Niemand ist da, der mir widerspricht, es ist, als ob ich in Watte gepackt wäre. Keine Ecken, keine Kanten, keine Probleme, nur Luxus, wenngleich dieser Luxus nur auf das Areal der Villa beschränkt ist. Ich durchmesse alle Räume, wechsle mehrmals täglich meine Handtücher und verwende sogar teures, schweres, süßes Parfüm, obwohl niemand da ist, den ich damit beeindrucken könnte. Ich tue es, weil ich es tun kann und mich niemand daran hindert, zügellos zu sein. Bin ich Odai? Es ist der 12. Oktober, später Nachmittag. Ich liege auf dem Bett, und plötzlich läutet das Telefon. »Kommen Sie ins Büro«, sagt eine Männerstimme. Ich ziehe mich an und gehe die wenigen Schritte am Pool
vorbei zu Odais Büro. Dort steht Odai mit Munem Hamad und zwei Männern, die ganz sicher keine Araber sind. Der eine ist etwas größer als ich, brünett, mit einem rundlichen Gesicht. Er ist blass. Der zweite ist kleiner, stämmig, aber nicht dick. Odai begrüßt mich überschwänglich, küsst mich auf die Wangen wie einen Bruder und stellt mich den Männern vor, die mir zwar die Hand geben, aber kein Wort sagen: »Das sind Ärzte, Spezialisten, die dich untersuchen werden.« Ich bin überrascht, denn ich bin gesund, aber ich will nicht weiter fragen. »Gut, wo wollen sie mich untersuchen, hier? Sofort?« Odai bejaht, die Männer nicken, und Munem Hamad sagt: »Eine reine Routineuntersuchung, nichts Besonderes, du kannst absolut entspannt sein.« Dann sagt einer der Ärzte etwas zu Munem Hamad, und zwar in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Aber es ist kein Englisch, Französisch, Italienisch oder Deutsch, es klingt eher nach Russisch oder Polnisch. Wahrscheinlich eine slawische Sprache. Hamad übersetzt: »Zieh dich bitte aus.« Ich muss mich ganz nackt ausziehen. Es ist mir unangenehm, aber es muss sein. Ich werde gewogen und gemessen. Sie schauen mir in den Mund, in die Ohren, leuchten mir in die Augen. Tasten mich ab, prüfen, ob ich einen Leistenbruch habe, fahren mir in den After, hören mich ab, messen meinen Blutdruck, nehmen mir Blut ab, wollen eine Urinprobe. Der Testbogen, den sie Punkt für Punkt durchgehen, ist mehrere Seiten lang. Die Untersuchung dauert fast zwei Stunden. Danach betrachten sie mit einem Spezialgerät meine Haut. Ich muss Sprechübungen machen. Jaulen wie ein Hund, deklamieren wie ein Festredner, hysterisch lachen. Alles wird auf Tonband mitgeschnitten, alles notiert. Mehrmals diskutieren die beiden Ärzte in dieser Sprache, die fast wie eine Codesprache klingt. Odai scheint das Ganze nicht sehr zu interessieren, er geht bereits nach zehn Minuten: »Ich schaue mir dann die Ergebnisse an, meine Herren«, sagt er und verschwindet. Den Bericht über die Tests bekommt Odai am nächsten Tag. Er lässt mich rufen, strahlt, scheint begeistert. Hamad liest den Bericht vor: Meine Hautfarbe stimmt demnach zu 99
Prozent mit der Odais überein. Gesichtsform, Haare, Ohren, Nase, Körperbau sind fast identisch. Ich bin lediglich um drei Zentimeter kleiner als Odai und um zwei Kilogramm leichter. Odai wiegt 83 Kilo, ich 81. »Das Gewicht«, argumentiert Hamad, »ist kein Problem, die Größe auch nicht. Das kann durch Spezialschuhe mit Plateausohlen leicht ausgeglichen werden.« Eine fast hundertprozentige Übereinstimmung gibt es auch bei der Stimme. Odai hat nur Probleme bei der Aussprache des R, aufgrund seiner leicht vorstehenden Zähne, der Ursache seines Sprachfehlers, des Lispelns, das Munem Hamad aber nicht anspricht. »Sind die Zähne korrigierbar?«, fragt Odai, Hamad nickt. Wir haben auch unterschiedliche Augen: Meine sind etwas größer als Odais; aber das ließe sich sehr leicht mit Make-Up lösen, erklärt Munem Hamad. »Nur deine Zähne«, entschuldigt sich Munem Hamad fast bei mir, »müssen wir operativ verändern. Bist du einverstanden?« Welche Frage?, denke ich, es bleibt mir ja keine andere Wahl. Trotzdem spüre ich, dass mein innerer Widerstand fast ganz erloschen ist. Langsam finde ich Gefallen an diesem Spiel im Paradies: »Sicher, ich bin einverstanden«, sage ich. 24 Stunden später werde ich abgeholt und in das IbnSina-Krankenhaus am Palastgelände gebracht. Wir gehen ins Büro von Doktor Ahmed Al-Samrai. Er ist der private Zahnarzt der Familie Saddam Husseins, hat in den USA studiert. Er weiß bereits, was er zu tun hat. Ich muss mich auf den weißen Behandlungsstuhl, der eigentlich ein hydraulisch verstellbares Bett ist, legen. Ahmed Al-Samrai leuchtet mir in den Mund und untersucht mein Gebiss Zahn für Zahn. Danach schickt er mich zum Röntgen und sagt schließlich, dass sie mich am nächsten Tag wieder bringen sollen. Bei der zweiten Untersuchung drückt er mir eine rosarote Masse in den Mund, die langsam aufquillt. Sie bleibt zehn Minuten in meinem Mund, dann zieht er sie heraus, bläst mit der Pressluft meine Speichelreste weg. Aber das Ergebnis stellt ihn nicht zufrieden. Er wiederholt die Prozedur. Von diesem zweiten Abdruck werden Gipsmodelle angefertigt, doch das erfahre ich erst später. Dann wird mein Gipsmodell mit dem Odais verglichen, und daraufhin entscheidet Doktor Ahmed, welche Zahnkor-
rekturen er bei mir vornehmen wird. Die Operation findet vier Tage später statt. Unter örtlicher Betäubung werden mir mit einem speziellen Schleifgerät die Schneidezähne und die beiden Zähne daneben bis an die Wurzeln abgeschliffen. Danach wieder ein Abdruck. Das einzig Unangenehme dabei ist die kalte Luft, die mir der Arzt vorher in den Mund bläst. Bis meine Kronen fertig sind, vergehen noch zwei Tage. In dieser Zeit kann ich kaum etwas essen, weil das Provisorium schlecht hält und außerdem Schmerzen bereitet, wenn ich etwa zu kalt trinke. Das Einsetzen der vier neuen Zähne dauert nur wenige Minuten. Doktor Ahmed wird dabei von seinen beiden ausländischen Kollegen beobachtet, doch die Männer sprechen nicht miteinander. Die Operation scheint gelungen. Zumindest behauptet das Doktor Ahmed, als er mein Gebiss nochmals genau anschaut und mich mehrmals zum Zubeißen auffordert. Er schleift die Schneidezähne noch etwas zurecht, dann bin ich fertig. Mit der Zunge betaste ich die neuen, eigenartig glatten, schief zueinander stehenden Zähne. Sie bitten mich, etwas zu sagen. Ein völlig ungewohntes Gefühl: Ich lisple. Nicht stark, aber ich stoße mit der Zunge anders an. Auch mein Spiegelbild ist mir fremd: Meine volle Oberlippe erscheint mir plötzlich noch größer. Wenn ich zubeiße, beiße ich nicht auf die Schneidezähne, sondern auf die Backenzähne. Es kommt mir so vor, als ob meine gesamte Zahnstellung verändert worden wäre und mein Kiefer sich erst daran gewöhnen müsste. Ich beiße mehrmals zu, spreche ein paar Sätze und kann nicht umhin zu sagen: »Es ist ungewohnt, aber sensationell!« Ich freue mich, obwohl ja ich meine gesunden Zähne opfern musste, und auch Odai ist mit dem Resultat der Operation sehr zufrieden. Er ist begeistert. Ich gleiche ihm nun tatsächlich wie ein Ei dem anderen. »Jetzt müssen wir sofort mit dem Training beginnen«, drängt Odai, und ich achte plötzlich intensiv darauf, wie er spricht. Er sagt: »Wi müsssssen mit dem Taining beginnen«, und ich mache ihn lautlos nach: »Wi müssssen mit dem Taining beginnen.« Am nächsten Tag kommen sie mit einem Friseur, der mir in akribischer Kleinarbeit genau die Frisur verpasst, die auch Odai hat. Haar für Haar, sozusagen. Dann der Bart: Auch den bringt er in die Form, die ich bei Odai sehe. Die Behandlung durch den Friseur dauert fast genauso lang wie die Untersuchung durch die Ärzte.
Erst jetzt beginnt meine eigentliche Schulung. Sie holen mich ab, bringen mich zum Hauptquartier des Geheimdienstes und führen mich dort in den zweiten Stock. Sie zeigen mir den Raum, in dem ich geschult werden soll, ein größeres Büro mit zwei Schreibtischen und einer Regalwand. In den Regalen stehen keine Aktenordner oder Bücher, sondern Fernsehgeräte. Panasonic. Sie sind größer als normal, etwa einen Meter breit, 80 Zentimeter hoch. Daneben stehen Videorecorder, auf einem Tisch davor liegen Dutzende von Videokassetten, alle beschriftet. Vor der Videowand drei Mikrophonständer, ohne Mikrophone. Davor, wie in einem Privatkino, ganze Stuhlreihen. Die Fenster sind mit schweren, langen, plastifizierten Vorhängen versehen, in den Ecken sind Lautsprecher zu Türmen angeordnet. Die großen runden Lautsprecher für die Baßtöne unten, die kleineren für die hellen Töne und die Nebengeräusche oben. Dazwischen ein Mischpult mit Hunderten von roten, gelben und weißen Knöpfen und Reglern, die nach oben und unten verschoben werden können. »Ein Tonstudio«, denke ich mir. Ich kann das Ganze nicht einordnen. Ich weiß nicht, was hier vor sich gehen soll. Munem Hamad fasst mich am Arm, zeigt auf die Videowand und sagt: »Hier in diesem Raum werden wir die nächsten Wochen verbringen.« Zehn Minuten lang passiert gar nichts. Munem Hamad unterhält sich mit einigen Offizieren, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Dann verlassen sie zusammen den Raum. Ich setze mich auf einen Stuhl, nehme mir eine Kassette und lese die Aufschrift: »26. Mai 1987, Herr Odai Saddam Hussein bei der Hauptversammlung des irakischen Sportverbandes. Nahaufnahmen, Hände, Gesicht, Gang.« Munem Hamad kommt mit den Offizieren zurück, stellt mich einem von ihnen vor. Ich kann mir seinen Namen nicht merken, denn Munem Hamad spricht schnell und undeutlich. Ich interessiere mich auch nicht weiter für den Namen - ich habe in den vergangenen Wochen zu viele Menschen, die alle wichtig zu sein schienen, kennen gelernt. Der groß gewachsene Offizier hat eine dunkle Haut, einen dichten Oberlippenbart, ausdrucksstarke braune Augen, wobei das linke größer zu sein scheint als das rechte. Er wirkt freundlich, gibt mir die Hand. Aber sein Händedruck ist schlaff und passt nicht zu diesem kräftigen Mann. Er bittet mich, ihm zu folgen: »Wir müssen in ein anderes Zimmer.« Wir gehen über die Haupttreppe in den ersten Stock. Munem Hamad bleibt zurück. Ich wundere mich darüber. Bisher war er mein Schatten,
mein Vater, meine Mutter, mein Beschützer - mein Alles. Durch eine gepolsterte Doppeltüre betreten wir einen Raum, der dem im zweiten Stock ähnelt, auch wenn er kleiner ist und die Videowand hier nur aus drei Fernsehern besteht; kein Mischpult und keine kinoartig angelegten Stuhlreihen. Der Offizier fordert mich auf, Platz zu nehmen, und erklärt, dass das, was ich jetzt zu sehen bekomme, ein kleiner Auszug aus Saddams Spezialbehandlungsabteilung sei. Jetzt ist es mir klar. Ich bin im Gruselkabinett, im Archiv des Grauens. Im Zentrum der absoluten Menschenverachtung. Der Offizier legt eine Videokassette ein. Sie ist ohne Ton. Auf dem Bildschirm zuckende schwarze Punkte, der Vorlauf, der einige Sekunden dauert, und dann das erste Bild. Ich sehe einen Mann um die dreißig, sein Schädel ist kahl geschoren, sein Gesicht glatt rasiert, sein Körper geschunden, ausgemergelt, gekrümmt. Sie haben ihn an einen Stuhl gefesselt. Ein wuchtiger schwerer Holzstuhl, der mit Schrauben am Boden befestigt ist. Der Mann röchelt, seine Wangen sind eingefallen, seine Augen geschlossen; sie liegen tief in den Augenhöhlen. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ihm sogar die Augenbrauen abgeschoren haben. Ich will den Offizier fragen, was mit dem Mann passiert, doch der zieht nur seine Mundwinkel nach oben, grinst mich an, deutet mit dem Kopf in Richtung Fernseher. Das heißt wohl, dass ich mir das ansehen, mich darauf konzentrieren soll. Der Mann krallt sich mit den Händen an den Stuhllehnen fest. Die Adern auf seinen Handrücken und Unterarmen treten hervor, scheinen fast zu platzen. Sein Oberkörper ist nackt, ich sehe seine Rippen, sein Brustbein, sein Schlüsselbein, das hervorsteht, als ob es nicht zu ihm gehörte. Der Mann wiegt kaum mehr als 50 Kilo. Und dabei muss er ziemlich groß sein, aber das kann ich nicht genau feststellen, weil er gekrümmt auf dem Stuhl hängt. An seinen Brustwarzen, die so lang sind wie die Warzen einer Frau, hängen Krokodilklemmen. Die gezackten Klemmen sind aus blankem Stahl, zirka zwei Zentimeter lang, und schneiden tief in das dunkle Fleisch seiner Warzen ein. Weitere dieser Krokodilklemmen sind an den Augenlidern, Ohren und im Genitalbereich des Mannes befestigt. An den Griffen der Klemmen hellblaue, halbrunde Plastikisolationen.
Sie haben Ausgänge mit Schraubsteckern, an denen Kabel befestigt sind. Auf der linken Seite ein rotes, etwa drei Millimeter dickes Kabel, auf der rechten Seite ein schwarzes, das ebenso dick ist. Die Kabel führen zu einer riesigen Batterie. Gesteuert wird die Vorrichtung über ein Schaltpult, das direkt neben dem Stuhl aufgebaut ist. Hinter diesem Pult sitzt ein Mann in Uniform, von dem man nur die Hände sieht, große ungepflegte, behaarte Hände. Ich sehe, wie diese Hände einen Knopf drücken. Dann schwenkt die Kamera auf den ausgemergelten Mann auf dem Stuhl. Sein Körper beginnt zu zucken, er zittert am ganzen Leib wie ein aggressiver Terrier, sein Gesicht verzerrt sich zur Fratze, er schüttelt vibrierend den Kopf, seine Mundwinkel ziehen sich verkrampft nach unten, die Adern auf seiner Stirn treten hervor, seine Lippen sind weiß angelaufen und extrem zusammengepresst. Die Kamera zoomt näher auf sein Gesicht, die tief liegenden Augen sind noch immer geschlossen, und es kommt mir so vor, als ob sie jeden Moment wie Glaskugeln herausspringen könnten. Der Mann versucht, sich zu beherrschen, er kämpft gegen den Schmerz und die Ohnmacht an, er will sich nicht beugen, zeigen, dass er stark ist, aber er schafft es nicht. Die Stromschläge sind stärker als sein Wille, aus seinen zusammengepressten Lippen fließt schaumiger Speichel; er öffnet sie leicht, ich sehe seine zusammengebissenen Zähne, die gelblich und vermutlich von Kautabak an den Rändern schwarzbraun sind. Er schüttelt den Kopf, als ob sein Hirn platzen würde, sekundenlang eine halbe Ewigkeit. Plötzlich reißt er den Mund auf und schreit. Ich kann den Schrei nicht hören, denn es gibt keinen Ton, aber ich höre ihn trotzdem, fühle ihn, spüre ihn, empfinde den Schmerz wie er. Diese Tortur wird mehrmals wiederholt. Aber ich erfahre nicht, ob der Mann sie überlebt. Denn plötzlich ist nur wieder dieses Flimmern zu sehen, und mein Offizier sieht mich an, als ob erfragen wolle, wie mir dieser Einstieg gefallen habe. Ich beherrsche mich, halte meine Gefühle zurück, denn es wäre glatter Selbstmord, mein Denken und Fühlen denen mitzuteilen und zu zeigen, die die Macht haben. Der Offizier erklärt mir, dass sie die meisten Foltermethoden vom sowjetischen Geheimdienst übernommen hätten. Einiges stammte auch aus Ostdeutschland. Im Irak hielten sich derzeit mehr als zehntausend sowjetische Militärexperten auf. Sie besetzten die Computerstationen in den Raketenbasen, warteten die MIG-Kampfbomberflotte, kontrollierten die gesamte Militärtechnik, die zu fast siebzig Prozent aus der
Sowjetunion komme. Unterstützt würden sie dabei von Experten des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes, die im Irak ihr Wissen gegen konvertierbare Währung verkaufen. Niemand weiß genau, wie viele von ihnen sich in Bagdad aufhalten, aber es ist kein Geheimnis, dass die Männer des Staatssicherheitsdienstes vor allem im Bereich der Nachrichtentechnik, des Abhördienstes und beim Aufbau sich selbständig kontrollierender Sicherheitsdienste absolute Spezialisten sind. Weiteres Fachpersonal zur Unterstützung von Saddams Terrorregime komme aus Angola und Kuba. Das nächste Video beginnt. Zu sehen ist wieder ein kahlgeschorener Mann. Er ist jünger, sein Körper ist nicht ausgemergelt, sondern gut trainiert, seine Muskeln sind rund und glatt, sein Oberkörper ist ebenfalls nackt. Er trägt eine grüne Uniformhose, ausgewaschen, aber nicht zerfetzt. Seine Hände sind gefesselt, seine Schultern hängend, sein Blick ist gesenkt, offensichtlich will er nicht in die Kamera sehen. Plötzlich hebt er ruckartig den Kopf, blickt mit weit aufgerissenen Augen in die Kamera; er dürfte einen Befehl dazu erhalten haben. Fünf, sechs Minuten starrt der Mann in die Kamera, seine Augen sind leer, der junge Mann scheint gebrochen. »Das war ein Polizist«, erklärt mein Offizier drohend, »der sich Befehlen widersetzt hat.« Er sagt nicht, welche Befehle er verweigert habe, geht nicht näher darauf ein, und wahrscheinlich kennt er die Geschichte dieses Mannes auch nicht. Schicksale sind im Irak kein Thema. Überall herrscht Gewalt, der Einzelne ist nichts, Tausende sterben für Saddam, und weil es Massen sind, die hingerichtet werden, ist Sterben längst zur Normalität geworden. Zur Routine. Der Mann dreht sich langsam um und hält seinen Rücken in die Kamera. Sein breiter Rücken ist ein Schlachtfeld. Tiefe, längliche Wunden. Dutzende blauer Striemen, durch mächtige Schläge aufgeplatze Haut. Die Platzwunden sind an den Rändern ausgefranst, bräunlich rot. Verkrustetes Blut, an manchen Stellen gelblich. Eiter. Ein Mann tritt hinter den erbarmungswürdig zugerichteten Polizisten, er hat ein schwarzes, rund einen dreiviertel Meter langes Elektrokabel in seiner Hand. Genauso ein Elektrokabel lag doch ..., überlege ich. Aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich das bereits gesehen habe. Der Mann holt
aus, und das Kabel klatscht auf den Rücken des Polizisten. Der zuckt zusammen, verkrampft seine Muskeln. Ich schließe meine Augen. Ich will nicht sehen, wie die eitrige Masse wegspritzt. Ich höre nur dieses imaginäre Zischen, wenn das Kabel die Luft durchschneidet und auf den Rücken des Mannes klatscht. Genau so ein Kabel lag auf dem Schreibtisch Odais. Der Schläger in dem Video ist doch nicht Odai? Nein, er ist es nicht, es ist ein anderer, offensichtlich verwenden alle diese schwarzen Kabel als Folterinstrumente. Mich haben sie bisher noch nicht geschlagen. Bei mir reichte psychische Gewalt. Das rote Zimmer, die roten Wände, die rote Decke, die Woche in der kabinenartigen Zelle. Wo sich viele vor mir selbst verstümmelt haben, wo ich das verkrustete Blut an der Wand gesehen habe. Mich haben sie eigentlich mit Samthandschuhen angefasst. Ich bin wertvoll. Sie brauchen mich. Meine Ähnlichkeit mit Odai ist ein Kapital, das ich einsetzen, auf der Haben-Seite meines Kontos verbuchen kann. Ich brauche nur mitzuspielen. Das tun, was sie sagen, meine Persönlichkeit in die Schublade legen, doch wie wird das Ende sein? Wann kann das aufhören? Es kann auch nie aufhören. Ich verdränge meine Gedanken, konzentriere mich auf das Positive. Das Haus, das Leben mit Odai. Der Zugang zum Clan. Ich gehöre dazu, ich bin oben und gleichzeitig ein Gefangener. Aber ich lebe, und ich lebe besser als früher an der Front. Das nächste Video beginnt. Diesmal sind es zwei Männer. Sie tragen Handschellen und sind auch an den Beinen mit schweren, dicken Ketten gefesselt. Die Ketten sind miteinander verbunden, und die Männer können nur kleine Schritte machen. Sie befinden sich im Innenhof eines kasernenartigen Gebäudes; ich erkenne nicht genau wo, vermute aber im Lager Al-Rasheed, dem größten Vernichtungslager am Stadtrand von Bagdad. Die Männer werden zur Exekution geführt. Tod durch den Strang. Der Henker stellt sie auf eine hölzerne Plattform, legt ihnen den Strick um den Hals, zieht die Schlinge zu, schlagartig gehen unter den Beinen der Delinquenten Falltüren auf, die Körper bleiben kerzengerade, fallen einige Zentimeter, ruckartig ziehen sich die Schlingen zu, der Kopf kippt lose nach rechts - Genickbruch. Diese Videos sind nur das Vorspiel. Sie zeigen mir noch eine ganze
Reihe von ekelhaften Lehrbeispielen, wie in Saddams Regime mit Gegnern umgegangen wird. Eine Lektion des Grauens. Video 4: Ein nackter Mann steht mit gespreizten Beinen über einer dunkelgrünen Weinflasche mit länglichem Hals. Der Gefangene ist an den Armen gefesselt und wird gezwungen, sich auf die Flasche zu setzen, bis sie in seinem After verschwindet. Der Mann schreit, fleht um Hilfe, doch die Folterer lachen und grinsen und machen Witze: »Gefällt es dir nicht?« Saddam Hussein ist stolz auf seine Folterknechte, er nennt sie die scharfen Schwerter der Regierung. Durch die Flasche im Analbereich dürfte der Mann schwerste innere Verletzungen erlitten haben. Ich sehe Blut, der Mann kippt ohnmächtig um. Video 5: Das Schauspiel heißt: Sitzen auf der Gasheizung. Der Delinquent wird nackt an eine Gasheizung gefesselt. Sie wird aufgedreht, die bläulichen Flammen verbrennen die Haut des Häftlings. Video 6: Sie befestigen den Gefangenen mit den Beinen an einem ventilatorartigen Gestell, das an der Decke angeschraubt ist. Der Kopf des Gefangenen zeigt nach unten. Der Ventilator wird eingeschaltet, der Körper des Mannes rotiert wie bei einer Pirouette. Die Folterknechte schlagen mit Holzknüppeln auf den Kopf des Rotierenden ein. Mehr als eine Stunde bleibt der Geschundene an dem Ventilator hängen - es scheint fast unmöglich, diese Tortur zu überleben. Video 7: Abbrennen des Bartes, Schnurrbartes, der Augenbrauen und Haare. Diese Foltermethode wird ausschließlich bei islamischen Fundamentalisten wie den Mitgliedern der Al-Daawa Partei angewendet. Video 8: Verbrennen der Hände, Anbinden der Arme des Gefangenen an einem elektrischen Heizstrahler. Der Strahler wird eingeschaltet, die glühenden Drähte fressen sich in die Haut. Video 9: Das Bügeleisen. Ein Bratspieß wird erhitzt, bis er rot glüht, und dann auf Hände, Beine und Rücken des Häftlings gedrückt. Wie beim Brandmarken von Tieren. Video 10: Durchbohren der Hände und Füße mit einem elektrischen Handbohrer. Video 11: Mit einem schweren, eisernen Hammer wird das Nasenbein gebrochen. Video 12: Auseinanderreißen des Mundes, bis der Kiefer bricht. Eine
Foltermethode, die bei jenen angewendet wird, die Saddam Hussein beschimpfen. Video 13: Der Gefangene wird auf einen metallenen Stuhl gesetzt, festgeschnallt, die Folterknechte reißen ihm mit einer Zange die Fingernägel aus. Video 14: Abtrennen von Armen und Beinen mit einer Elektrosäge. Manchmal wird das schlicht mit einer Axt durchgeführt. Video 15: Einführen einer Luftpumpe in den After. Es wird so lange Luft eingepumpt, bis das Gewebe reißt. Video 16: Der Gefangene wird mit den Händen nach hinten an einer Hobelbank festgebunden. Durch Auf- und Abbewegen werden die Schultern gebrochen. Video 17: Wassermethode. Der Gefangene wird direkt unter einem Wasserhahn festgebunden. Der Wasserhahn wird aufgedreht, stundenlang. Es dauert in der Regel nicht länger als eine halbe Stunde, bis der Gefangene die Kontrolle über seinen Körper und seinen Ausscheidungen verliert. Video 18: Der Brunnen. Er ist rund 60 Zentimeter hoch mit brackigem Wasser gefüllt, der Häftling wird tagelang darin festgehalten. Video 19: Schläge mit einem Stock auf den Kopf und zwischen die Beine. Video 20: Psychoterror. Mit verbundenen Augen wird der Gefangene in einen leeren Raum gestoßen. Sobald er schlafen will, schaltet sich eine Lautsprecheranlage mit schrillen Tönen ein. Video 21: Der Häftling steht an einer Wand, den Kopf zwischen Holzpflöcken eingeklemmt. Seine Ohren werden mit Eisenstiften angenagelt. Kann der Delinquent nicht mehr stehen, reißt er sich selbst die Ohren ab. Video 22: Die Gefangenen werden gefesselt und wochenlang in einem Raum ohne Lüftung festgehalten. Im Hochsommer steigt die Temperatur in diesen Zellen auf über 50 Grad. Video 23: Durchbohren oder Herausreißen von Zähnen. Video 24: Nadeln werden unter die Fingernägel gesteckt. Video 25: Versprühen von Säure auf den Körper. Video 26: Ermordete werden in die Zellen anderer Gefangener geworfen. Video 27: Kampfhunde werden in Einzelzellen zum Häftling gelassen. Video 28: Man verstopft dem Häftling die Nase so, dass er wochen-
lang nur durch den Mund atmen kann. Video 29: Durchstechen der Zunge mit Nadeln. Video 30: Füße und Hände in kochendes Öl. Video 31: Insektenspray in die Augen. Die nächsten Videos zeigen, wie Frauen und Kinder gefoltert werden: Video 32: Die Frauen werden an Händen und Beinen gefesselt und an den Haaren aufgehängt. Ehemann und Kinder müssen zusehen. Video 33: Frauen werden vor ihren Männern vergewaltigt. Video 34: Die Frau wird während der Periode an den Beinen aufgehängt und bleibt während der gesamten Zeit ihrer Monatsblutung so hängen. Video 35: Kinder werden in einem Raum festgehalten, in dem sich ein Bienenstock befindet. Die Eltern müssen zusehen, wie sie nackt in dem Raum ausharren müssen und Hunderte von Malen gestochen werden. Diese Horrorvorstellung dauert schier endlos. Ich habe mehr als genug. Ich weiß, was sie mir damit sagen wollen, aber sie haben mich nicht sehr beindruckt. Diese Foltermethoden sind nichts Neues für mich. Ich kenne das System, bin Offizier der irakischen Armee, Oberleutnant. Den Rang verliehen sie mir wegen Tapferkeit vor dem Feind. Wir haben diese Grausamkeiten an der Front in Gedanken Hunderte von Malen durchgespielt. Allerdings habe ich es mir bisher nicht vorstellen können, dass Menschen in der Lage sind, dies auch zu tun. Dass Menschen fähig sind, solche Befehle auszuführen. Aber die Szenen in den Videos waren echt. Keine Show, keine Täuschung, diese Menschen starben wirklich. Und die Kamera lief mit. Der Offizier grinst mich überlegen an. Aber ich empfinde nur noch Abscheu für ihn. Eine Bestie, ein Schreibtischtäter, der sich über diesen Wahnwitz auch noch amüsieren kann. Was hat Odai sich gedacht, als er befahl, mir diese Videos zu zeigen? Ich komme nicht dazu, weiter zu überlegen. Er zeigt mir das nächste Video. Darin bearbeiten sie einen Mann mit einer Elektrosäge, trennen ihm die Genitalien ab. Das Blut spritzt, es ist grauenhaft, aber es trifft mich nicht. Zwei weitere Männer werfen sie
gefesselt in einen See; einem anderen brechen sie durch Hiebe mit Eisenstangen die Arme, zerquetschen seinen Kopf zwischen Stahlplatten, die durch manuell zu bedienende Vorrichtungen immer weiter zugeschraubt werden. Ruckartig werden die Stahlplatten zusammengepresst, bis der Schädelknochen bricht und die Gehirnmasse austritt. Sie bringen mich zurück in den Videoraum. Munem Hamad fragt, ob ich in Ordnung sei. Ich nicke und lüge: »Ja, warum nicht? Mir geht es wirklich gut. Viel mehr als diese Foltervideos interessiert mich aber, was jetzt passieren wird.« Munem Hamad erklärt in seiner ruhigen, überlegenen und eleganten Art, wie wir weiter vorgehen werden. Mich fasziniert an Munem Hamad, dass er bei seinen Erklärungen nie herumgestikuliert, dass er nicht lange ausholt, dass er in seinen Aussagen direkt ist und jedes Thema sofort auf den Punkt bringt. Nichts an ihm ist blumig, schwammig oder überschwänglich. Munem Hamad hat nichts Orientalisches. Er ist eher britisch. Wie ein Relikt aus der Zeit, als der Irak noch britische Kronkolonie war. »Hier siehst du Videos über Odai Saddam Hussein«, erklärt er mir und deutet dabei auf die Kassetten, die säuberlich aneinander gereiht auf einem Tisch vor der Videowand stehen. »Sieh sie dir genau an, achte auf jede Einzelheit, und spiele Odai nach, als ob du ein Affe wärst.« Munem Hamad legt das erste Video ein. Es ist jenes vom 26. Mai 1987, das Odai bei einer Versammlung des Sportverbandes, Sektion Fußball, zeigt. Odai sitzt mit einem halben Dutzend eleganter Herren an einem Verhandlungstisch. Es sind Vertreter des irakischen Fußballverbandes, dessen Präsident Odai ist. Weiß der Teufel, weshalb gerade Odai Präsident dieses Verbandes ist, er ist eher unsportlich. Das Präsidentenamt ist eben ein Ehrenamt, eine Funktion, die man ihm gab, weil Saddam alle wichtigen Funktionen mit Familienmitgliedern besetzt und der Saddam-Clan derartige Funktionen braucht, um sich ab und zu selbstgefällig dem Fußvolk präsentieren zu können. Der Kontakt zwischen der Familie des Präsidenten, dem Clan, und der Masse muss gepflegt werden. Funktionen wie die des Fußballverbandspräsidenten eignen sich dazu vorzüglich. Erstens sitzt der Präsident immer in der Ehrenloge und ist dadurch genügend weit vom Mob entfernt. Zweitens finden Fußballspiele regelmäßig statt. Die regelmäßige, unaufdringliche Präsenz ist so gesichert.
Auf dem länglichen, podiumartigen Tisch mit dem weißen Tischtuch stehen Getränke und Aschenbecher. Odai sitzt in der Mitte. Was heißt »er sitzt« - er hängt lässig in seinem Stuhl. Odai ist mit Abstand der Jüngste in der Runde. Er sagt kein Wort. Einer der Herren hält einen Monolog über die Finanzierung eines Fußballclubs. Odai trägt einen hellen Baumwollanzug, ein weißes Button-Down-Hemd, eine bunte Krawatte mit dazu passendem Einstecktuch. In der linken Hand hält er zwischen Zeigeund Mittelfinger seine obligate Zigarre, eine Havanna, Monte Christo Nr. 6, ein Direkt-Import aus Kuba. Ich sehe es zwar nicht, aber wahrscheinlich hat er die Beine übereinander geschlagen. Munem Hamad befiehlt mir, mich genauso hinzulümmeln wie Odai. Es fällt mir leicht, weil Odai schon in der Schule so dasaß und wir ihn öfters nachgemacht haben. Ich setze mich auf einen Stuhl, lasse meinen rechten Arm über die Lehne hängen; meine linke Schulter liegt deutlich tiefer als die rechte. Ich winkle mit einer dramatischen Bewegung meinen linken Arm an und halte meine Finger, als hätte ich eine Zigarre in der Hand. Munem Hamad lacht und sagt: »Latif, die Zigarre, wir Idioten haben die Zigarre vergessen«, und schreit: »Bringt uns die Zigarren.« Sie bringen eine Schachtel Monte Christo Nr. 6. Munem Hamad gibt mir eine, und ich nehme sie, zünde sie aber nicht an. Nochmals dasselbe Spiel von vorne: Lümmelnd hinsetzen, die Rechte lässig über die Stuhllehne, die linke Schulter gesenkt, linker Arm leicht angewinkelt und zwischen Zeige-und Mittelfinger die dicke Zigarre. Ich halte meine Finger zu steif, zu gerade. »Winkle sie leicht an«, sagt Munem Hamad und macht es mir vor. »Halte die Zigarre so.« Ich halte die Zigarre so, wie Munem Hamad es mir zeigt. Abwechselnd schaue ich auf ihn und das Video, und es dauert keine zehn Minuten, bis ich die Handhaltung gelernt habe. Ich lache, klopfe mir mit der Rechten auf den Oberschenkel, Munem Hamad lacht ebenso laut auf. Dann die nächste Sequenz: Im Video ist zu sehen, wie Odai genüsslich die Zigarre zum Mund führt, einen tiefen langen Zug nimmt. Er inhaliert den Rauch nicht, macht keinen Lungenzug, sondern behält den Qualm nur für einige Sekunden im Mund. Er legt dabei seinen Kopf theatralisch zurück, kippt ihn gelangweilt zur rechten Seite, zieht seine Lippen zusammen. Es sieht komisch aus. Odais vorstehende Zähne, die zusammenge-
zogenen wulstigen Lippen - das Ganze erinnert mich an eine Szene aus dem Tierreich. Irgendwie sehen Menschen in bestimmten Situationen Tieren ähnlich. Ja, Odai zieht markant seine Unterlippe nach oben, genau wie Schimpansen, wenn sie an etwas kauen. Ich amüsiere mich, und es fällt mir nicht auf, dass ich mich eigentlich über mich selbst amüsiere. Durch die Operation habe ich ebenfalls vorstehende Zähne, einen Überbiss. Ich habe das schon gänzlich vergessen, da ich die Schmerzen nicht mehr spüre und die vier Zähne aus Porzellan sich bereits so anfühlen, als ob sie meine eigenen wären. Ich nehme die Zigarre, führe sie zum Mund und stoße mit dem spitzen Ende der Zigarre an meine künstlichen Zähne. Das erinnert mich an die Operation und zeigt, dass ich noch immer Latif Yahia bin und nicht Odai Saddam Hussein. Die Bewegungsabläufe sind noch immer meine und nicht seine. Meine Motorik wird noch von Latif Yahia gesteuert, nicht von Odai Saddam Hussein. Ich denke daran, wie er, Odai, sich bewegen würde, und das ist schlecht. Die Bruchteile von Sekunden, die mein Hirn braucht, um die Kommandos an meine Gliedmaßen weiterzugeben, machen meine Bewegungen gekünstelt. »Du wirst dich nur dann völlig synchron verhalten können«, erklärt Munem Hamad, und das dokumentiert, dass er dies schon öfter gemacht hat, »wenn du dich nicht mehr darauf zu konzentrieren brauchst. Das ist genau wie bei Fremdsprachen. Englisch wirst du nur dann perfekt sprechen können, wenn du auch englisch denkst. Solange du in deiner Muttersprache denkst und dich ständig auf die Vokabeln und die Betonung konzentrieren musst, wirst du nie akzentfreies Englisch sprechen können.« Ich sitze noch vier weitere Stunden in dem Videozimmer und schaue mir Odai-Filme an. Ich mache ihn nicht nach, ich konzentriere mich nur. Auf seine Bewegungen, seine Mimik, seine Gestik. Er geht aufrecht, die Brust nach vorn gestreckt, bemüht, die Schultern gerade zu halten. Eigentlich schreitet er. Er schreitet federnd. Er sitzt auch nicht. Er hängt immer im Stuhl. Dabei hat er seine Beine nie nebeneinander, er schlägt sie immer übereinander. Er schlägt immer zuerst das linke Bein über das rechte, verharrt so einige Minuten, wippt manchmal mit dem Fuß, und kurz danach schlägt er dann das rechte über das linke Bein. Wenn er lacht, lacht er nicht laut, tief und brüllend. Er kichert stakkatoartig: Hihihihi ... Dann setzt er kurz ab, dann kichert er wieder: Mihi-
hihi. Dabei schüttelt er seinen ganzen Oberkörper und zieht seinen Körper leicht nach vorn und die Mundwinkel nach unten: Hihihihihi. Drei Tage mache ich nichts anderes als dieses Videostudium. Von morgens um neun bis zum moslemischen Abendgebet. Obwohl niemand im Umkreis von Odai regelmäßig betet, versuche ich meine fünf Gebete pro Tag zu sprechen, und sie akzeptieren das, obwohl sie mich belächeln. Für sie sind die fundamentalen Regeln des moslemischen Glaubens ein Relikt; sie sind moderne Moslems, und moderne Moslems sind westlich. Glaube ist verpönt, Glaube mindert den Menschen, vor allem dann, wenn er ihn so lebt, wie der Koran es vorschreibt. Der Irak unter Saddam Hussein ist weit entfernt von den fundamentalistisch regierten Staaten wie Saudi-Arabien, Kuwait oder gar dem Iran. Mit der Baath-Partei und Saddam Hussein kamen sozialistisch und westlich orientierte Araber an die Spitze des Staates, für die die Religion etwas Zweitrangiges ist. Was zählt, ist der Sozialismus als Gesellschaftsform, nicht der Koran. Nicht Mohammed ist unser Prophet, sondern Saddam Hussein mit seinem Glauben an die heroischen Ziele der Partei. Unsere Frauen sind völlig gleichberechtigt, sie brauchen keinen Tschador zu tragen, wenn sie es nicht wollen oder ihr Mann es nicht ausdrücklich von ihnen verlangt. Sie brauchen ihr Gesicht nicht zu verhüllen, und die Moscheen sind zu touristischen Zielen degradiert. Es gibt Alkohol und Betrunkene, Prostitution und Nachtclubs. Bagdad ist Babylon. Nach dem dritten Tag glaube ich, Odai so gut zu kennen, dass ich weiß, wie er fühlt, denkt und handelt. Seine Bewegungsabläufe habe ich so in mir, dass ich stehen kann wie er, sitzen kann wie er, mich verhalten kann wie er. Wir beginnen mit der Sprachausbildung, und das ist das Komplizierteste von allem. Durch seinen Überbiss, der in der Schule noch weitaus extremer war als jetzt, hat er Probleme mit dem R. Seit meiner Operation habe ich diese Probleme zwar auch, aber nicht so ausgeprägt, denn ich versuche noch immer, deutlich zu sprechen. Dadurch öffne ich meinen Mund weiter, verziehe meine Mundwinkel extremer als Odai. Munem Hamad kritisiert mich ständig, mahnt mich wie eine Gebetsmühle: »Sei ein Papagei. Latif. Ein Papagei.« Hunderte Male exerzieren wir durch, wie Odai eine Konferenz eröff-
nen würde, wie er sich bei Freunden verhält, wie er eine Parade abnimmt. Munem Hamad hämmert mir ein, dass Odai prinzipiell niemandem in die Augen sieht, niemandem die Hand schüttelt und ständig von Leibwächtern umgeben ist. Odai empfängt alle Leute hochnäsig, ohne die Spur eines Lächelns, ohne viel zu sprechen. Er ist der Sohn des Präsidenten, die Autorität, die Macht. Alles, was er tut, muss also staatstragend sein oder zumindest so wirken. Auch der Umgang mit den Leibwächtern muss absolut distanziert sein; sie sind nicht Soldaten wie ich, sie sind meine Untergebenen, haben widerspruchslos das zu tun, was ich ihnen befehle. Es gibt kein Schulterklopfen, kein freundliches Anlachen, keine freundschaftliche Annäherung, kein brüderliches Küssen. Es gibt nur diktatorische Distanz. Odai trägt meist dunkle Sonnenbrillen, Ray Ban, schaut immer an seinem Partner vorbei, um so die Distanz zwischen sich und der übrigen Welt deutlich zu machen. Ähnlich ausführlich üben wir, wie Odai einen Raum verlassen und ins Freie treten würde. Dieser Moment gilt als einer der gefährlichsten, denn Attentäter haben hier die größte Chance, erfolgreich zu sein. Der Weg zwischen einem geschlossenen Raum und der wartenden Autokolonne ist am schlechtesten abzusichern. Ist eine Konferenz beendet, steht Odai auf, verabschiedet sich durch Kopfnicken von den übrigen Teilnehmern. Seine Leibwächter scharen sich um ihn, und er verlässt schnellen Schrittes den Raum. Stürmt regelrecht ins Freie und läuft auf seinen Wagen zu, der mit offener Tür wartet. Der Weg vom Gebäude zum Auto muss so schnell wie möglich zurückgelegt werden, um Heckenschützen keine Chance zu geben. Odai lässt sich nie chauffieren, er fährt seine Wagen, genau wie sein Vater, prinzipiell selbst. Auch dieses Autofahren üben wir. Lässiges Sitzen am Volant, nie beide Hände am Lenkrad, die Linke immer angewinkelt an die Türe gelehnt. Er sitzt salopp und schräg und peitscht seine Autos durch Bagdad. 200 km/h ist sein Tempo. Beim Schalten ständig Zwischengas und immer Höchstgeschwindigkeit. Über Funk ist Odai mit seinen Leibwächtern verbunden, die in identischen Autos vor und hinter seinem Fahrzeug fahren. Meist besteht ein Konvoi aus vier Wagen. Sie fahren dicht hintereinander, und auf Odais Kommando überholen sie sich ständig gegenseitig. Die Kommandos lauten: »Drei überholt Zwei, Eins lässt sich zurückfallen. Nimmt Position drei ein.« Durch dieses ständige Überholen und Zurückfallenlassen sollen Attentäter abgelenkt werden. Sie sollen nie wissen, in welchem Wagen wer
sitzt. Würde die Reihenfolge der Kolonne beibehalten werden, könnten sich Attentäter auf ein Fahrzeug konzentrieren. So müsste der gesamte Konvoi in die Luft gesprengt werden, ein eher schwieriges Unterfangen. Ich lerne in einem Mercedes métallisé und einem hellblauen Porsche. Odai hat in seinen Garagen über 100 Wagen: Ferraris, Maseratis, Porsches, Jaguars; ich habe diese Autos bisher noch nicht gesehen, man hat mir nur gesagt, dass die Farbe des Autos für Odai eine große Rolle spielt. Sie muss zu seinem Anzug passen. Trägt er Grau, muss das Auto auch grau sein. Mir erscheint diese Erzählung lächerlich überzogen, aber es ist die Wahrheit. In diesem Moment konzentriere ich mich aber nicht weiter darauf, versuche meine Ausbildung, die eigentlich eine Abrichtung ist, perfekt durchzuführen. Alle Ausbildungssequenzen werden auf Video mitgeschnitten, und täglich Odai vorgeführt. Ich bekomme Odai in diesen Tagen aber nie zu Gesicht, er wohnt auch nicht im Projekt Nr. 7. Am 15. Oktober 1987 ruft mich Munem Hamad in Odais Büro. Er teilt mir mit, dass er mit meinen Fortschritten einigermaßen zufrieden sei. Ich bin enttäuscht. Ich halte mich für gut, habe selbst den Sprachfehler im Griff und bewege mich fast fehlerfrei. Sie müssten eigentlich begeistert sein, und ich denke deshalb: »Das ist doch nur ein Ablenkungsmanöver.« Munem Hamad hat einen Brief vor sich liegen, auf dem Briefkopf der irakische Adler. Ein offizielles Schreiben. Munem Hamad sagt:»Wir werden jetzt den Präsidenten informieren. Generalleutnant Al Nassiri hat es verfasst und mir zum Gegenzeichnen vorgelegt.« Das trifft mich wie ein Schlag: »Sie haben ihn nicht informiert. Das Kidnapping, den Psychoterror in der Zelle, die gesamte bisherige Ausbildung - das alles haben sie ohne sein Wissen gemacht.« Es ist eine Einzelaktion Odais und seiner Offiziere. Der Versuch eines domestizierten Muttersöhnchens, sich zu emanzipieren. Wahrscheinlich will er seinem Vater imponieren und beweisen, dass er in der Lage ist, selbst für seinen Schutz zu sorgen. Er hat einen Fidai gefunden, der erstmals nicht aus der Familie kommt und trotzdem gut und überzeugend ist. Munem Hamad zeigt mir den Brief, den sie noch an diesem Tag an
den Präsidenten abschicken werden.
Irakische Republik
Kanzleidirektion der Republik Geheimdienstapparat Im Namen des gnädigen Gottes Herr, ehrenwerter Präsident der Irakischen Republik, Gott bewahre und beschütze Ihre Herrschaft ... Herr Präsident, ich möchte Ihrer Herrschaft mitteilen, dass unser Geheimdienstapparat, Sicherheitsabteilung, unter der Führung folgender Offiziere 1) Major Munem Schabib Munem Hamad Al-Takriti 2) Kapitän Siad Hassan Haschem Al-Nassiri 3) Kapitän Saadi Daham Hasaa Al-Nassiri Herrn Oberleutnant Latif Yahia Latif Al-Salihi, der dem Herrn Odai Saddam Hussein sehr ähnlich sieht, mit Erfolg für unseren Apparat angeworben hat. Nach Untersuchungen und Nachforschungen über ihn und seine Familie konnten wir folgendes feststellen: 1) Sein Name ist Latif Yahia Latif Al-Salihi, Kurde, geboren am 14. Juni 1964 in Bagdad, Moslem, Sunnit. 2) Studierte Staatswissenschaft und Jura, machte seinen Abschluß im Jahre 1986. 3) Seine Karriere und seinen Dienst bei der Armee begann er als Leutnant bei der Spezialkommandoeinheit. Nach sechs Monaten wurde er wegen seines Einsatzes und seiner Tapferkeit zum »Oberleutnant« befördert. 4) Er wurde niemals wegen politischer oder anderer Fehlleistungen vorgemerkt oder bestraft. 5) Er besitzt ein Import-Export-Büro, »Achawain-Import-Export« im »Mansour-Bezirk«, Daudi-Straße. Er besitzt auch eine Marmorfabrik
im »Bob Al Scham-Bezirk«, Diali-Straße. Er hat zwei Autos der Marke Mercedes. Er verfügt über ein Konto bei der Irakischen Zentralbank. Nachdem wir diese Einzelheiten erfahren hatten, und wegen seiner Ähnlichkeit mit Herrn Odai Saddam Hussein beschlossen wir mit der schriftlichen Einwilligung des Herrn Odai Saddam Hussein, ihn als Leibeigenen und Fidai für den Herrn Odai Saddam Hussein bei schwierigen, wichtigen, gefährlichen Operationen und Aufgaben zu benützen. Wir haben mit seiner Ausbildung begonnen und stellen fest, dass er ein kluger Mensch ist und zum Dienst für sein Vaterland IRAK bereit ist. Alles Weitere ist Ihnen überlassen, und Sie haben das letzte Wort, mein Herr. Die Irakische Fahne unter Ihrer Herrschaft soll in unserem teuren Irak hoch schweben. Gezeichnet: Generalleutnant Fanar Zibn Al-Nassiri Direktor des Geheimdienstapparates 15. Oktober 1987 Ich zittere, als ich den Brief lese. Langsam wird mir klar, dass ich bisher nur ein Spielzeug war. Ein Spielzeug Odais und seiner Offiziere. Sie haben mich ausgesucht, mit meiner Schulung begonnen und bemerkt, dass ich talentiert und ideologisch gefestigt bin. Dass ich ein Interesse am Leben Odais habe, dass mich die paradiesischen Umstände faszinieren. Doch was habe ich jetzt davon? Nichts. Alles war nur ein Vorspiel. Die Entscheidung liegt beim Präsidenten, und wenn er nein sagt ... was dann? »Munem Hamad, Herr, was passiert, wenn Seine Herrschaft Saddam Hussein mich als Fidai für seinen Sohn ablehnt? Was werdet ihr mit mir machen?«, frage ich. Munem Hamad weicht meinem Blick aus, schweigt, steht auf und geht.
Ich weiß, was das bedeutet. Ich bin ein toter Mann, verschwinde, als hätte es mich nie gegeben, wenn der Präsident mich nicht akzeptiert. Wieder fallen mir die Blutflecken in der Folterzelle ein, und ich denke an das Video im Büro der Zivilpolizei und die Männer, die im Lager AlRasheed mit gefesselten Händen und Ketten an den Knöcheln mit kleinen Schritten zum Galgen geführt wurden. Geräuschlos klappt unter ihren Beinen die Falltür weg, ein kurzer Ruck, die Schlinge geht zu, der Kopf kippt zur Seite. Genickbruch. Vielleicht werden sie mich auch nur erschießen ...
5. KAPITEL Saddam Hussein Munem Hamad Al-Takriti ist aufgeregt an diesem Tag. So habe ich ihn in den vergangen Wochen noch nie erlebt. Bisher war er immer distanziert, zurückhaltend, überlegen, ausgeglichen. Ein eleganter Mann, den ich bewundere, obwohl das Gefühl, dass er mich nur als Objekt betrachtet, in mir immer stärker wird. Es ist der 23. Oktober 1987, kurz nach acht Uhr früh, und es ist heiß in Bagdad. »Heute ist es soweit«, sagt Munem Hamad, und ich weiß, was er damit meint. Gestern ist die Antwort aus dem Palast gekommen: Der Präsident möchte mich sehen. Jetzt will er mich persönlich kennen lernen, sage ich mir und fühle mich stolz, obwohl es eigentlich nichts gibt, worauf ich stolz sein könnte. Ich bin ein toter Mann, wenn seine Herrschaft mich ablehnt, wenn Saddam Hussein mich nicht will oder sich von seinem Sohn und seinen »Offizieren« übergangen fühlt. Hamad hat vermutlich ähnliche Gefühle, sonst wäre er nicht so aufgekratzt. Möglich, dass sein Schicksal an demselben Faden hängt. Trotzdem fühle ich mich weder nervös, noch habe ich Angst wie damals, als sie mich von der Front geholt haben. Ich weiß, worum es geht, und mir ist klar, dass es jetzt auch von mir abhängt. Ich kann mich bewähren, und ich will mich bewähren. Sie haben mich geholt, und ich bin gut, und ich weiß das. »Unser Termin ist um sechzehn Uhr im Palast, stelle dich darauf ein«, wirft mir Munem Hamad in einem Befehlston zu, den ich von ihm noch nicht kenne. Die Wunden meiner Gebissoperation sind verheilt, und das Training war so intensiv, dass ich Odais Sprachfehler nicht nur imitiere; ich mache es intuitiv, automatisch, ohne daran zu denken. »Du darfst dich nicht darauf konzentrieren«, haben sie mir tausendmal eingeimpft, »es muss rausfließen aus dir.« Ich bewege mich wie Odai, halte die Hand wie er, habe sein Grinsen, sein Zwinkern, sein hysterisches Lachen. Saddam schickt mir einen eigenen Wagen mit den Offizieren Abed Hamid, Arshad Al-Yasin und Fehan Al-Takriti. Saddam Hussein umgibt sich immer mit einem ganzen Stab von persönlichen Vertrauensmännern, die ich im Laufe der Zeit alle kennen lernen werde:
- Oberst Arschad Jassien ist verantwortlich für die Sicherheit Saddam Husseins und dirigiert einen ganzen Stab von Bewachern. - Oberst Abd Hamid Al-Takriti ist ein alter Freund des Präsidenten, kennt Saddam aus seiner Schulzeit. - Major Rokan Al-Takriti dient auch schon jahrzehntelang an der Seite Saddams. Er ist zuständig für die Schießausbildung sämtlicher Leibwächter und der Wachen im Präsidentenpalast. - Saddam Kamel ist der älteste Freund Saddam Husseins und Offizier des Informationsbüros im Konferenzpalast. - Kapitän Jamal Saad Dahham, zweiter Begleiter Saddams, verantwortlich für das Informationsbüro im Konferenzpalast. - Oberleutnant Addi Omar, Leibwächter. - Oberleutnant Mohammed Fadel, Leibwächter, der später ins Gefängnis musste, weil er bei einer Privatparty Saddam Husseins zwei Tänzerinnen, die nichts von ihm wissen wollten, ermordet hatte. - Oberleutnant Rafed Al-Abed, Leibwächter und Neffe des Obersten Abd Hamid Al-Takriti. - Leutnant Hakim Kamel, Leibwächter, Bruder von Hussein Kamel, dem Ehemann von Saddams jüngster Tochter Hala. - Leutnant Nazem Ahmad Al-Takriti, Leibwächter. - Leutnant Mohammed Kamal Douri, Leibwächter. - Leutnant Saadi Nahi Al-Takriti, Leibwächter. - Leutnant Jassem Salam Al-Takriti, Leibwächter. - Leutnant Rafed Al-Takriti, Leibwächter. - Leutnant Riad Mohammed Al-Takriti, Leibwächter. Diese Männer bilden den engsten Kreis um den Präsidenten. Um Punkt fünfzehn Uhr kommen sie, holen mich ab. Wir hasten durch das Foyer ins Freie, laufen auf den Mercedes zu, ein Mann öffnet mir die Türe, ich springe auf den Rücksitz, und mit offenen Türen rauscht die Kolonne ab. Die Türen fliegen zu, vor uns zwei Mercedes, hinter uns ebenso. Die Standardgeschwindigkeit auf der kurzen Strecke vom Projekt Nummer 7 bis zum Familientor bei der Einfahrt zum Palast, beträgt mehr als 100 km/h. Diese Raserei ist Teil der Sicherheitsvorkehrungen. Ebenso das ständige gegenseitige Überholen. Attentäter sollen nie wissen, wo der Wagen mit dem eigentlichen Ziel ist. Bei der Einfahrt verlangsamen wir unsere Geschwindigkeit, die Tor-
wachen winken uns durch, wir passieren die Panzersperren, das Krankenhaus und die Ministerwohnungen und halten zwanzig Minuten später vor dem Informationsgebäude, dem östlichen Trakt von Saddams Palast. Meine Leibwächter springen aus dem Auto, sichern meinen Wagen, und erst als sie in Position sind, steige ich aus. Alles soll echt wirken, wie im Training, nur jetzt keine Panne. Ich springe aus dem Wagen, neben mir Saddams Männer, und im Laufschritt eilen wir zu den breiten, ausladenden Treppen vor dem Informationsgebäude. Wir werden dort von vier Offizieren erwartet, einer ist Rokan. Hastig eilen wir ins Foyer, Rokan verschwindet in einem Nebenzimmer, alles ist für meinen Besuch vorbereitet. Zehn Minuten lang passiert nichts. Wir stehen im Foyer, warten, keiner spricht, keiner raucht. Dann kommt ein hoher Offizier. Ein athletischer Mann mit breiten Schultern, Stiernacken, kräftigen Händen; seine grüne Uniformjacke spannt über der Brust, alles an ihm scheint zu groß, zu wuchtig, zu kräftig. Der Offizier kennt mich, obwohl er mich nie zuvor gesehen hat: »Du bist also Latif. Du kennst die Spielregeln?« »Ich kenne sie.« Ich weiß um Saddams Gift-Phobie, seine fixe Idee, seine Faszination. Sie haben mir während der Ausbildung die Geschichte von Innenminister Ezzat Ibrahim erzählt. Ibrahim, dem nichts heilig war, der zum Töten schon alles angewandt hat, was verwendbar ist, wurde zum Präsidenten vorgeladen. Bevor Saddam ihn empfing, entkleideten sie Ibrahim, warfen ihn in den Pool und schmierten danach seinen Körper mit Detol, einem scharfen Desinfektionsmittel, ein. Saddam verdächtigte Ibrahim, Träger von geheimnisvollen Mikroben oder Haftgift zu sei. Haftgift kann per Handschlag übertragen werden. Jeder, nicht nur ich, muss eine akribische Untersuchung über sich ergehen lassen, bevor er zur Audienz beim Präsidenten vorgelassen wird. Zuerst beginnt der Offizier mit einer eingehenden Leibesvisitation. Er durchsucht alles. Meine Taschen, die Falten in meiner Uniformjacke; er greift unter meine Achseln, tastet mein Gesäß, meinen Schritt und meine Beine ab und befiehlt mir, meine Schuhe und Socken auszuziehen. Saddam hasst es, wenn ihm Untertanen mit getragenen Socken gegenüberstehen, selbst wenn sie Schuhe anhaben. Er verabscheut getragene Socken. Der Offizier gibt mir deshalb frische Socken. Baumwolle, weiß,
Größe dreiundvierzig. Ich ziehe die Socken an, und der Offizier ruft den Arzt. Wie jene beiden Ärzte, die mich vor Wochen untersucht haben, scheint auch dieser Arzt kein Araber zu sein. Er spricht kein Wort, stellt seinen braunen, ledernen Arztkoffer auf den Tisch, öffnet ihn. Der Arzt hat rote Haare, sein scharfkantiges Gesicht ist mit Sommersprossen übersät, und seine Augen liegen auffällig dicht beieinander. Der Mann sieht geheimnisvoll aus, listig. Dann beginnt er mit seiner Untersuchung, die lächerlich übertrieben wirkt, da ich ja doch keine Chance gehabt hätte, irgendetwas an mir zu verstecken. Ich stehe doch ständig unter Kontrolle, bin ein Gefangener, Odais Ärzte haben mich mehrmals untersucht. Oder misstraut Saddam Hussein gar seinem eigenen Sohn?, frage ich mich, und die Frage amüsiert mich. Der Arzt betastet meine Haut, wischt mit einem Wattebausch, den er zuvor in eine Tinktur taucht, über mein Gesicht, meine Ohren, meinen Hals. Er wechselt den Wattebausch mehrmals, taucht die gebrauchten Stücke in eine blaue Lösung. Die Indikator-Lösung verfärbt sich nicht. Wahrscheinlich hätte sie das getan, wäre an meinem Körper irgendein Spezialgift. Er inspiziert meine Augen, zieht die Lider herab, kontrolliert die Schleimhäute. Meine Augen tränen, aber das scheint normal, denn der Arzt reagiert nicht darauf. Der Offizier befiehlt mir, meinen Mund weit zu öffnen. Der Arzt macht einen Abstrich von meiner Zunge, leuchtet mit einer kleinen, verchromten Speziallampe meinen Rachen aus, untersucht meine Zähne und fährt zuletzt mit dem Zeigefinger über mein Zahnfleisch. Oben und unten, innen und außen. Ein lächerliches Zeremoniell, ein Ritual, ein schizoid-paranoides Schauspiel. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Untersuchung etwas bewirken oder verhindern hätte können. Obwohl ich kein Mediziner bin, scheint mir jedenfalls der letzte Punkt dieser Untersuchung der sinnvollste: Der Arzt gibt mir ein Plastikfläschchen mit Detol und deutet mir, damit meine Hände einzureiben. Ich spritze die Lösung auf meine Handflächen und verreibe sie sorgfältig und so lange, bis meine Hände wieder trocken sind. Damit ist die Untersuchung abgeschlossen, der Arzt packt seine Sachen weg, verschwindet. Und der Offizier sagt väterlich zu mir: »Latif, denk daran, küss' Saddam nicht.«
Jetzt bin ich also fertig zum letzten Gang. Vorbereitet wie ein Moslem beim heiligen Hadsch in Mekka, bevor er die Kaaba küsst. Der gravierendste Unterschied: Der Hadsch ist die höchste Erfüllung, das absolute Muss eines Moslems. Jeder Moslem muss einmal in Mekka gewesen sein, so schreibt es der Koran vor. Mein Gang zu Präsident Saddam Hussein entscheidet aber über Leben und Tod. Lehnt er mich ab, ist mein Schicksal besiegelt. Ich wundere mich über meine Ruhe, meine Gelassenheit. Saddam ist der Prophet, die Inkarnation der Macht, Richter über Gut und Böse. Millionen Menschen im Irak würden für diesen Moment alles geben, auch sich selbst. Aber ich bin nicht nervöser, als ich es wäre, wenn ich mit meinem Vater in dessen weißem Volvo zum Fischen an den Tigris fahren würde. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Die Tür öffnet sich. Der Offizier geht vor und bittet mich nachzukommen. Ich stehe im Büro des Präsidenten. Der Raum sieht aus wie eine Kopie des Odai-Büros im Projekt Nummer 7, und ich bin sicher, dass Odai sein Büro nach dem seines Vaters gestalten ließ. Dieselben pastellfarbenen Tapeten, die dominierende zartgelbe Couch, der wuchtige englische Schreibtisch. Die Bücherregale mit arabischer Literatur. Saddam sitzt hinter seinem Schreibtisch, er telefoniert und beachtet mich demonstrativ nicht. Wieder eine Parallele mit Odai. Odai würde nie einen Menschen sofort begrüßen. Seine Manie ist es, Menschen warten zu lassen, denn Wartenlassen bedeutet Macht ausüben. Das hat Odai offensichtlich von seinem Vater gelernt. Saddam, der Präsident, trägt einen dunklen Zweireiher, eine bunte Blumenkrawatte ohne Krawattennadel. Mit der linken Hand hält er den Telefonhörer, Siemens, die Rechte hat er auf dem Schreibtisch. Mit dem Mittelfinger klopft er rhythmisch auf die Tischplatte. Er lacht in kurzen Abständen. Seine Stimme klingt weich und warm, fast weinerlich. In seiner Stimme liegt keine Kraft, keine Gewalt, kein Herrscherton. Er spricht ohne Interpunktion, ohne Höhepunkte, ohne bestimmte Betonung. Nichts Markantes oder Dominantes, kein Wort, an dem man hängen bleiben könnte; Saddam unterhält sich mit einem Berater über eine Rede, die er demnächst halten wird. Auf dem Rücken seiner rechten Hand sind die Reste einer Tätowierung erkennbar, die er sich vor Jahren in die Haut hat stechen lassen. Zuerst glaube ich, es seien Pig-
mentflecken, wie sie bei älteren Menschen des Öfteren vorkommen. Es sind aber Reste einer Tätowierung, die schlecht entfernt wurde. Seine Fingernägel sind sorgfältig manikürt und lackiert. Der Haarschnitt ist perfekt, der Bart ebenso. Wenn er lacht, sieht man seine makellosen Zähne. Seine Augen sind braun und ausdrucksstark, und das einzige, was daran erinnert, dass dieser Mann bereits fünfzig ist, sind seine bei genauem Hinsehen erkennbaren Ansätze von Tränensäcken und die tiefen Furchen über seinem Mund. Er sieht aus wie eine Mischung aus jungem Jean Gabin und Sultan Saladin. Saddam ist ein schöner, großer, schlanker, gepflegter, imponierender Mann. Er legt den Hörer auf, steht federnd auf, tritt hinter dem Schreibtisch hervor und lacht schallend, aus voller Kehle, als er mich ansieht. Sein Lachen ist nicht gekünstelt, es ist echt und kraftvoll. Saddam macht zwei Schritte auf mich zu und beginnt mit belanglosen Floskeln. Er befragt mich über meine Zeit an der Front, über meine Eltern, über meine Geschwister. Er lässt mir keine Zeit zu antworten, sondern gibt sich seine Antworten selbst, und ich nicke immer zustimmend. Saddam mustert mich von oben bis unten, betrachtet meine Hände, meine Lippen, meine Augen, meine Mimik und Gestik. Er sagt es nicht, aber ich glaube seine Gedanken zu kennen: »Er sieht meinem Sohn wirklich sehr ähnlich. Hier wurde perfekte Arbeit geleistet.« Völlig überraschend breitet er plötzlich seine Arme aus und sagt: »Ja, du bist es. Allah hat mir zwei Söhne geschenkt, mit dir sind es drei.« Ich bin verwirrt. Das ganze Zeremoniell zuvor, die Untersuchungen, das offensichtliche Misstrauen, der physische und psychische Druck, der auf mich ausgeübt wurde, dieses Wechselbad aus eiskalter Gewalt und berechnender Anerkennung für das, was ich geleistet habe, scheint weg zu sein. Ich lebe, habe überlebt und die erste und wichtigste Prüfung bestanden. Die Aussage Saddams freut und beängstigt mich in gleichem Maße. Er hat mich als Fidai akzeptiert, als Doppelgänger seines Sohnes. Jetzt bin ich also Mitglied im Clan, gehöre dazu - und gehöre doch nicht dazu. Ich bin nicht mehr als ein Instrument, ein nützliches Objekt. Ein Spielzeug, das man wegwirft, wenn man es nicht mehr braucht. Wann werde ich aufhören, Odais Fidai zu sein? Wird es jemals ein Ende geben? Kann es überhaupt ein positives Ende geben? Mehr als meine Selbstzweifel berührt mich aber das Wesen Saddam
Husseins, den ich mir ganz anders vorgestellt habe: herrischer, kälter, arroganter, brutaler, grausamer. Er muss anders sein, als er sich gibt, denke ich, er hat Hunderttausende auf dem Gewissen. Aber hat er überhaupt ein Gewissen? Wahrscheinlich nicht. Vermutlich wird Grausamkeit anonym, wenn sie im öffentlichen Interesse geschieht. Einen Menschen zu ermorden ist ein Verbrechen; töte ich Tausende, ist das ein Akt der Staatsraison. Anders kann Saddam nicht denken und fühlen. Nichts an dem Präsidenten wirkt grausam, kalt, abstoßend. Er ist ein Mann mit starkem Charisma, hat eine Ausstrahlung, die einen gefangen nimmt. Das ist also der Mann, der ein ganzes Land fest im Würgegriff hat, von Millionen von Menschen regelrecht verklärt wird und die Menge in eine fanatisch-euphorische Masse verwandelt, die sich bedingungslos für ihn aufopfert. Saddam Hussein ist aus einer Kultur hervorgegangen, der abendländische Wertvorstellungen ebenso fremd sind wie dem Westen die humanitären Werte des Islam. Am 28. April 1937 wird er in Al-Ouja bei Takrit, dem Geburtsort des legendären Sultan Saladin, als Kind einer Kleinbauernfamilie geboren. Sein Geburtsort ist ein kleines Nest, hundertzwanzig Kilometer nördlich von Bagdad. Sie nennen ihn Hussein Saddam Al-Takriti. Den Beinamen Saddam, der Standhafte, erhält er, weil es seiner Mutter nicht gelang, ihn zu »verlieren«. Subha Tulfah war außerehelich mit Saddam schwanger geworden. Sie versuchte, das unerwünschte Kind durch extrem harte körperliche Arbeit abzutreiben. Der Kindesvater starb, noch bevor Saddam zur Welt kam. Subha Tulfah heiratet dann Ibrahim Al-Hassan. Der will aber von dem fremden Kind nichts wissen. Saddam wird zu seinem Onkel, Khairallah Tulfah, abgeschoben. Der ist Offizier in jener irakischen Einheit, die sich 1941 an einem Aufstand gegen den Haschemitenkönig Feisal II. beteiligt. Dafür muss er mehrere Jahre ins Gefängnis. Zwischen 1936 und 1941 verzeichnet der Irak insgesamt sechs Umsturzversuche. Der junge Saddam wächst also in eine aufrührerische Zeit hinein. Nach der Haftentlassung des Familienchefs hält sich der Clan des Onkels mit Handelsgeschäften, aber auch mit Straßenraub und Betrügereien über Wasser. Die Dorfgemeinschaft weiß um die uneheliche Geburt Saddam Huss-
eins, stößt ihn aus. Er ist zäh wie Unkraut, schwänzt die Schule, seine Schulleiterin in Takrit verzweifelt an ihm: Als Zehnjähriger zeigt er bereits Ansätze jener Gewalttätigkeit, die ihn später an die Spitze eines totalitären Systems katapultieren wird. Er trennt sich nie von seinem Eisenknüppel, mit dem er seine Schulkameraden und die streunenden Hunde im Dorf auf Distanz hält. In der Schule versteckt er ihn unter seiner Dschellaba, manchmal erhitzt er ihn im Feuer bis zur Rotglut und drückt ihn, von den Kameraden umringt, in die Augen und in den After eingefangener Katzen und Hunde. Dieser Knüppel ist sein Fetisch, sein Vater, seine Macht, sein einziger Freund und sein Schutz gegenüber einer harten Gesellschaft, die ihn von sich stößt, weil sein Vater tot und seine Mutter mit einem anderen verheiratet ist und keiner weiß, wo sie lebt. Vermutlich hasst er die Gesellschaft, weil die Gesellschaft ihn hasst, und das Einzige, woran er sich klammern kann, ist der rotglühende Eisenknüppel, mit dem er die zu Tode quält, denen er überlegen ist: Tiere. 1955 übersiedelt sein Onkel nach Bagdad, und Saddam kommt auf die El-Karkh-Schule. Er wächst im Tekarte-Bezirk auf. Zahlreiche Mitglieder des Takrit-Clans verdienen durch Straßenräuberei ihren Lebensunterhalt und erobern mafiaartig die Gesellschaft Bagdads. Der Takrit-Clan gewinnt nach und nach an Einfluss. Familienfehden werden blutig geregelt. Hier begeht Saddam seinen ersten Mord. Als Neunzehnjähriger erschießt er, auf Geheiß seines Onkels, einen rivalisierenden Banditen, den entfernten Onkel Saadi, und unterstreicht damit seine enge Bindung an den Takrit-Clan. Ein erster Schritt, die eigene Existenz mit skrupelloser Gewalt zu sichern. Trotz dieser Neigung zur Gewalt entwickelt Saddam eine eigene Persönlichkeit und einen unglaublichen Drang, sich Wissen anzueignen. Er schließt das Gymnasium in Bagdad mit gutem Erfolg ab. Politisch begeistert sich Hussein schon als Schüler für die nationalistischen und revolutionären Ziele der irakischen Baath-Partei, der Partei der arabischen Erneuerung, die damals noch im Untergrund operierte. 1957 wird er Mitglied dieser verbotenen Baath-Partei und damit aktiver Gegner des irakischen Diktators General Kassem. Am 17. Oktober 1959 wird er dazu auserwählt, bei einem Attentat auf den Diktator mitzuwirken. Kein Wunder, denn die Partei hat überkommene europäische Ideologien, wie den Nationalismus und den Sozialismus, auf ihr
Panier geschrieben und will diese, den Regeln der Region entsprechend, mit Gewalt verwirklichen. General Kassem führt die entsprechenden Schlagworte zwar auch im Mund, hat aber den Fehler, nicht zu den Takritis und nicht zur Baath zu gehören. Er ist nicht Mitglied der Sippe und somit ein Feind, der eliminiert gehört. Die Baath findet breite Unterstützung bei der irakischen Bevölkerung, weil Kassem die Menschen brutal unterdrückt und ausnutzt. Das Attentat scheitert, und Hussein wird am Bein leicht verletzt. Saddam muss flüchten. Er schneidet sich die Kugel aus dem Bein, setzt sich nach Syrien ab, bleibt dort sechs Monate; der Rechtsanwalt Michel Aflaq, der Gründer der Baath-Partei, wird sein politischer Mentor. 1962 geht er nach Ägypten und beginnt ein Studium der Rechtswissenschaften. Außerdem wird er führendes Mitglied des Baath-Büros in Kairo. Obwohl er bei dem Attentat gegen General Kassem eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, wird seine Teilnahme an dem Putschversuch zum Grundstein jenes Heldenmythos, der sich später um seine Person ranken sollte. Während er in Kairo studiert, wird in Bagdad Kassem von der BaathPartei unter der Führung von Hassan Al-Bakr Al-Takriti gestürzt und öffentlich hingerichtet. Hussein kehrt nach Hause zurück und bittet seinen Onkel um die Hand seiner Cousine Sajida. Diese Hochzeit ist eine programmierte Verbindung, die schon in früher Jugend arrangiert worden ist. Das entspricht den Regeln des AlTakriti-Clans. Man heiratet tunlichst nicht außerhalb der eigenen Großfamilie. Das junge Paar findet aber keine Ruhe: Hassan Al-Bakr wird wenige Monate später von Marschall Aref und seinen Leuten, erbitterten Baath-Gegnern, aus seinem Amt vertrieben. Hussein sieht sich als Mitglied der Parteiführung erneut Verfolgungen ausgesetzt, wird in Haft genommen. Noch in der Haft wird er vom achten Nationalkongress der Baath zum stellvertretenden Führer der Partei gewählt. Hussein gelingt kurze Zeit später die Flucht. Erst 1968, nach mehrjährigen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, gelingt es der Baath, an die Macht zurückzukehren und Marschall Aref abzusetzen. An die Spitze des Staates gelangt abermals Hassan Al-Bakr, zweiter und stärkster Mann des Regimes ist Saddam Hussein Al-Takriti. Saddam übernimmt die Leitung des Untersuchungskomitees, das im berüchtigten Gefängnis Kasr nihaja untergebracht ist.
Kasr nihaja bedeutet Palast des Endes. Innerhalb weniger Wochen werden Hunderte politischer Gegner gefoltert und getötet. Außerdem lässt Saddam mehr als 100 Männer als Agenten Israels und der USA auf dem Bagdader Platz der Republik vor fanatischen Zuschauern hängen. Hussein leistet als stellvertretender Generalsekretär die eigentliche Parteiarbeit und erweist sich als fähiger Planer und Organisator. 1972 verstaatlicht er die bis zu diesem Zeitpunkt westlich dominierte Erdölindustrie und schließt einen Freundschaftsvertrag mit der UdSSR. Der Kooperationsvertrag bringt die militärische Aufrüstung des Iraks. Präsident Al-Bakr hat sich lange gegen diesen Freundschaftsvertrag gewehrt. Er lässt sich erst umstimmen, als Saddam ihm in seinem Büro mit der Pistole in den Unterarm schießt. Trotz dieses Freundschaftsvertrages mit der UdSSR läßt Saddam reihenweise Kommunisten und Oppositionelle aller Richtungen umbringen. Präsident Al-Bakr steigt immer mehr zur bloßen Repräsentationsfigur ab. Am 16. Mai 1979 stirbt er an Herzversagen. Das ist die offizielle Version. In Wahrheit ist er aber vergiftet worden. Saddam Hussein ist erst dreiundvierzig Jahre alt, als er die Macht übernimmt. Er ist nun der erste Mann im Irak und macht von seiner Stellung gnadenlos Gebrauch: Er lässt hochrangige Beamte exekutieren, darunter auch den Bürgermeister von Bagdad. Der Präsident stellt die Kritik an seiner Person unter Todesstrafe und entwickelt einen Personenkult, der sich nur mehr mit dem eines Nicolaie Ceausescu vergleichen lässt. Saddam überträgt, wie Ceausescu, die wichtigsten und einflussreichsten Posten an Verwandte. Mit Saddam kommt die gesamte Sippe der Al-Takriti an die Macht. Sie machen den Irak quasi zu ihrem Privatbesitz, so wie es die Regeln der orientalischen Clan-Gesellschaft vorschreiben. Wie aus Arabien Saudi-Arabien wurde, so sollte aus dem Irak, wenn auch weniger sichtbar, ein Takriti-Irak werden. Offiziell wird das Land von einem fünfzehn Mann starken revolutionären Kommandorat regiert. An dessen Spitze steht Saddam Hussein. Doch daneben existiert ein Spezialbüro, das nichts als ein das ganze Land beherrschender Familienrat ist. Und noch ein weiterer Vergleich Ceausescu - Saddam Hussein drängt sich auf: Beide Herrscher haben missratene Söhne. Nicu Ceausescu, den Odai Saddam Hussein persönlich kennt, machte mit wilden Saufgelagen und Vergewaltigungen Schlagzeilen. Einmal überfuhr er völlig betrunken zwei Fußgänger und
verletzte sie tödlich. Der Geheimdienst vertuschte den Vorfall. Genauso wie der irakische Geheimdienst die Verbrechen Odais verschleiert. Jetzt gehöre also auch ich dazu, Latif Yahia. Zwar nicht als vollwertiges Mitglied des Clans; aber ich bin als Fidai direkt am Puls der Macht, lerne Befehlsstrukturen und Einzelheiten kennen, die Millionen anderen verborgen bleiben. Ich kann an ihrem Leben teilhaben. Ich bin Odai und der »dritte Sohn Saddam Husseins«, wie der Präsident gerade gesagt hat. Erstmals spüre ich Nervosität, zeige sie aber nicht. Der Präsident sagt: »Was ich von dir verlange, ist, dass du deinen Dienst gut machst.« »Jawohl, mein Herr«, unterbreche ich ihn, und Saddam fährt fort: »Wenn du deinen Dienst gut machst, werde ich zufrieden sein mit dir. Wenn du deine Aufgaben hundertprozentig erfüllst, bin ich immer für dich da, für all deine Probleme ...« Er macht eine kurze Pause, atmet tief durch die Nase ein und sagt: »... auch für Probleme mit Odai. Sieh zu, dass ich keinen Grund habe, mit dir böse zu sein.« Ich warte kurz und antworte dann förmlich: »Ich hoffe, ich werde alles gut und richtig machen, mein Herr.« Saddam Hussein sagt nichts mehr; er dreht sich um, geht zu seinem Schreibtisch, ohne mir die Hand geschüttelt zu haben. Er greift zum Telefon, drückt auf einen roten Knopf, und kurz darauf werde ich von den Offizieren abgeholt und aus dem Raum gebracht. Im Foyer klopfen sie mir auf die Schulter, und einer fragt mich, wie ich mich fühle. Ich nicke nur kurz und sage fast beiläufig: »Ich bin okay.«
6. KAPITEL Der erste Auftritt Ich liege ausgestreckt auf meinem breiten Bett in Odais Schlafzimmer im Projekt Nummer 7 und atme tief die saubere Herbstluft ein. Es ist Ende Oktober und nicht mehr so heiß in Bagdad. Seit meinem Besuch beim Präsidenten haben sie mein Training verschärft. Immer wieder holen sie mich ab, bringen mich in das Videozimmer, zwingen mich, die Filme Odais anzusehen, die ich inzwischen schon fast alle auswendig kenne. Der Rhythmus ändert sich kaum: Zwei Tage Videostudium, danach zwei Tage die Papageienübung: nachsprechen, nachmachen, Dialoge trainieren. Munem Hamad ist fast immer mein Gesprächspartner. Er spielt seine Rollen perfekt, wenngleich es ihn stört, dass uns ständig die Bulldogge Siad Hassan Haschern Al-Nassiri, der Massenmörder, Saddams Exekutionsmeister, im Nacken sitzt. Die Bulldogge treibt uns an, und vor der Bulldogge hat sogar Odai einen Funken Respekt, zumal die einen direkten Draht zu Saddam Hussein zu haben scheint. An einem Tag üben wir die Rolle Odai als Präsident eines Sportclubs, am nächsten ist er wieder der Sohn des Präsidenten, der eine Spezialtruppe zu inspizieren hat. Munem Hamad trichtert mir ein, schlampig wie Odai zu salutieren, ständig auf perfekte Kleidung zu achten und das Spiel mit der Brille wie im Schlaf zu beherrschen, das heißt Ray Ban, diese amerikanische Fliegerbrille mit den dunkelgrünen Gläsern und den goldenen Bügeln, langsam aus dem Etui nehmen, lässig aufklappen, aufsetzen und dann hochnäsig an den Menschen vorbeiblicken. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Brillen, und ich trage sie wie Odai ständig, selbst in geschlossenen Räumen. Die Brillen ersparen mir das tägliche Make-up; meine Augen sind ja größer als die Odais. Während der gesamten Trainingswochen gibt es eigentlich keinen Tag, an dem ich die Zeit fände, Latif Yahia zu sein. Selbst in meinem goldenen Gefängnis, dem Projekt Nummer 7, habe ich ständig Odai zu spielen, und die Hausangestellten haben mich ohne Wenn und Aber als Sohn des Präsidenten zu behandeln. Ein Zuwiderhandeln hat eine
Spezialbehandlung durch die Männer der Bulldogge zur Folge, und was das bedeutet, weiß in diesem Haus jeder. Sie halten sich also alle an die absurden Spielregeln. Nur in einem einzigen Punkt hat sich mein Leben seit dem Besuch beim Präsidenten entscheidend geändert: Zuvor hatte sich Odai selten im Projekt Nummer 7 aufgehalten. Jetzt ist er ständig da, wohnt sogar hier, überwacht höchstpersönlich meine Ausbildung und beschränkt sich nicht nur auf das Studium der Videos, die sie von mir machen. Er sucht meine Nähe, vermeidet es aber vorerst peinlichst, eine Art Freundschaft aufkommen zu lassen. Es ist eher umgekehrt: Je länger mein Training dauert, um so extremer werden seine cholerischen Ausbrüche. Ich bemühe mich, engagiere mich, aber er missachtet mich phasenweise, als wäre ich sein größter Feind. Es ist jetzt Anfang November 1987, und Odai wird von seinem Vater zum Präsidenten des Irakischen Olympischen Komitees bestellt. Ich habe keine Ahnung, ob jemals ein irakischer Sportler in irgendeiner Disziplin eine Medaille erobert hat oder in Medaillennähe vorgestoßen ist. Der Job als Vorsitzender ist somit wieder nur ein Alibiposten für Saddams Sprössling. Meine Aufgabe ändert das dahingehend, dass ich jetzt nicht nur Doppelgänger für den Chef der nationalen Sportverbände bin, sondern auch Fidai für den Vorsitzenden des nationalen olympischen Komitees, und das bedeutet, dass ich auch internationale Gäste als Odai Saddam Hussein empfangen muß. Die Ernennung Odais findet an einem Dienstag statt, wird am gleichen Tag im irakischen Fernsehen übertragen. In den Hauptnachrichten. Die irakischen Zeitungen berichten ebenfalls groß darüber, und selbst dem Bagdad Observer, der einzigen englischsprachigen Zeitung im Irak, ist die Ernennung meines Chefs einen großen Bericht wert. Am nächsten Tag sitzen wir wieder in unserem Video-Theater, und Munem Hamad spielt mit mir die Szene: »Der Vorsitzende des Irakischen Olympischen Komitees empfängt eine olympische Delegation auf dem Flughafen.« Odai ist an diesem Tag erstmals im Videoraum mit dabei. Er sitzt auf einem Stuhl im rückwärtigen Teil des Raumes, beobachtet alles ganz genau. Ich stehe vor einem Pult mit Mikrophonen, neben mir meine Leibwächter, die alle ihre dunklen Brillen aufhaben.
Roter Teppich, Blumenarrangements. Das Videozimmer wurde, soweit das möglich war, genauso ausgestattet wie der Empfangsraum im Privatflughafen Saddam Husseins. Diesen Flughafen haben wir am Morgen besucht, damit ich mir die Örtlichkeiten genau vorstellen kann. Er liegt etwa zehn Kilometer vom Palast entfernt, besteht aus zwei Rollbahnen, die so ausgebaut sind, dass auch Jumbo-Jets landen können. Die Strecke Palast - Flughafen ist durch eine gut ausgebaute Straße verbunden, die ständig von Polizisten überwacht wird. Sie gehören dem Geheimdienst an, tragen lediglich zur Tarnung Polizeiuniformen und werden alle vier Stunden abgelöst. In Bagdad werden diese Bewachungsoffiziere, die wie Bäume am Straßenrand stehen, Ba Murur genannt. Ihre eigentliche Aufgabe ist aber nicht die Überwachung der Flughafenstraße, denn Saddam Hussein verlässt den Irak nicht oft. Er benützt diese Straße aber täglich, um in ein anderes Privatdomizil, in sein Schloß in Al-A'mrija, zu gelangen. Es liegt westlich der Flughafenstraße, und auf halber Strecke gibt es eine Abzweigung zu diesem Privatdomizil, das Saddam Mujamaa Al-Riasi, das Hauptquartier, nennt. Schon als Schulkinder wussten wir, dass Normalsterblichen die Benutzung der Straße bei Strafe verboten ist. Wer hier mit seinem Auto irrtümlich vorbeikommt, wird verhaftet und eingesperrt. Möglicherweise sogar exekutiert, denn die Offiziere sind allmächtig und können tun, was sie wollen. Das eigentliche Flughafengebäude ist nicht sehr groß, erinnert eher an den Verwaltungstrakt eines mittelgroßen Unternehmens. Vor dem Flughafen ein großräumiger Parkplatz, damit die Präsidentenkonvois bequem vorfahren können. Der Hauptraum des Flughafens ist eine große Empfangslounge mit Sitzgarnituren, die zu geschlossen Sitzeinheiten aneinandergereiht und durch Pflanzen in Hydrokulturkästen abgetrennt sind. Der Raum wird von einem überdimensionalen Saddam-Hussein-Porträt beherrscht, darunter der irakische Adler und die rotweiß-schwarze Flagge mit den drei grünen Sternen. Unter dem Bild Saddams ein Pult mit Mikrophonen, das auf einer Art Bühne steht. Überall tiefe Teppiche. Hier werden bei Staatsbesuchen die ersten Ansprachen gehalten, Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht. In den Flughallen mit hydraulisch versenkbaren Toren stehen ständig zwei Boeing-Langstreckenflugzeuge, fünf Hubschrauber, zwei MIG-
Kampfbomber. Diese Fluggeräte sind immer aufgetankt, jederzeit startbereit. Die Mannschaften haben dem Prä-sidenten Tag und Nacht zur Verfügung zu stehen. Einer der Piloten ist mein Freund, Kapitän Mazhar Al-Takriti. Er ist Hubschrauberpilot und fliegt die meisten Einsätze für den Präsidenten. Saddam Hussein nennt seine Flugzeugcrews liebevoll Die Adler des irakischen Luftraums. Ich präge mir die Örtlichkeiten nicht so genau ein, das ist eher nebensächlich, sondern ich konzentriere mich darauf, wie Odai sich beim Begrüßen der ausländischen Delegation verhalten würde. Wieder im Videoraum zurück, habe ich mich auf den roten Teppich vor dem Podest zu stellen. Mein Ausbildungsoffizier sagt: »Die Delegation ist gerade gelandet, und du empfängst freundlich den Delegationsleiter, um danach die Ehrenformation abzuschreiten.« Ich versuche, ernst zu bleiben, gehe auf den imaginären Delegationsleiter zu, schüttle ihm die Hand. Plötzlich kommt mir das alles zu komisch vor. Ich schaffe es nicht, die imaginäre Ehrenformation mit dem nötigen Ernst abzuschreiten. Ich fühle mich wie in einem ComicStrip, lache hell und schallend auf, entschuldige mich zwar sofort, doch es ist bereits zu spät: Odai springt auf, stürmt auf mich zu. In der rechten Hand hat er sein Elektrokabel, sein Gesicht ist versteinert, die Augen sehe ich nicht, er hat seine Ray Ban auf. Er schreit mich an, ich solle mich umdrehen. Ich gehorche und weiß wohl, was passieren wird: Er schlägt mit seinem Elektrokabel auf mich ein. Wie verrückt zieht er durch und lässt das Kabel auf meinen Rücken klatschen. Odai ist wie in Trance, er stöhnt, presst bei jedem Schlag laut die Atemluft durch die Nase. Keiner der Offiziere wagt es, ihn zu bremsen. Ich spüre den brennenden Schmerz, aber ich erdulde die Erziehung kommentarlos. Schlimmer als der Schmerz trifft mich die Demütigung. Odai hat fast grundlos losgeschlagen. Was habe ich gemacht? Ich habe beim Training gelacht. Das hat gereicht, um ihn aus der Fassung zu bringen. Ich zähle jeden Schlag. Dreiunddreißig, dann hört er auf. Er atmet schwer, sein Haaransatz ist verschwitzt, und plötzlich lacht er hysterisch. Dieses stakkatoartige Hihihihihi. Er scheint befriedigt, befreit. Als hätte ihm der spontane Gewaltausbruch eine sexuelle Befriedigung verschafft. Ist Odai ein Sadist? Ein Mensch, der seine sexuellen und geistigen
Verklemmungen nur durch das Ausleben bestialischer Gewalt befriedigen kann? Unreife, unfertige Persönlichkeiten hassen grundlos, haben einen Hang zur Aggressivität, die sie auf wehrlose Objekte ablenken, um sich abzureagieren. Nur unreife Personen sind Sadisten. In seiner Jugend hat Saddam Hussein seine Aggression auch mit einem rotglühenden Eisenstab an Tieren ausgelassen. Was hat Odai von seinem Vater mitbekommen? Ist er gar schlimmer als Saddam? Dieser sinnlose Ausbruch von Gewalt ist nicht mehr als eine Ausrede vor sich selbst, eine Legitimation - wahrscheinlich hasst Odai sich selbst. »Macht weiter«, befiehlt Odai, als er sich abreagiert hat und schwer atmend den Raum verlässt. Wir setzen die Übung fort, als wäre nichts geschehen. Konzentriert, akribisch genau, ausgefeilt bis ins letzte Detail. Bis zum 27. Dezember üben wir vor der Videowand. Abends gehen wir die Videos durch, analysieren die Fehler, um sie am nächsten Tag auszumerzen. Ich lerne Odai in diesen Wochen näher kennen. Beobachte ihn, achte auf jedes Wort von ihm, versuche mir alle Einzelheiten seines Verhaltens zu merken. Ich würde mir gern alles notieren, doch ich wage es vorerst nicht, weil ich vor den Folgen einer Entdeckung dieser Unterlagen durch einen der Leibwächter Angst habe. Außerdem ist meine Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Die nächsten Wochen verbringen wir mit der Nahkampf- und Schießausbildung. An sich ein interessantes Zusatztraining, aber für mich ein alter Hut - ich habe das schon alles bei der Armee gelernt. Diese Ausbildung ist also fast identisch mit den Offizierskursen. Sie bringen mir bei, wie Odai, der schon als Kind ständig eine Magnum bei sich trug, seine Waffe zieht und gebraucht. Wie er, einfach so aus Spaß, eine Maschinenpistole in Anschlag bringt und losballert. In die Luft. Als Ausdruck kindlicher Freude. Man drillt mich, wie Odai mit dem Revolver zu spielen. Wie ein Westernheld. Völlig unmotiviert zieht er manchmal während des Gespräches den Revolver aus dem Halfter, spielt damit, zielt auf sein Gegenüber, legt den Zeigefinger an den Abzug, lacht, nimmt den Revolver in die andere Hand und lässt die Waffe rotieren wie ein Cowboy nach dem Duell. Eine eigenartige Übung, aber ich muss das trainieren. Odai liebt die-
ses Spiel mit der Waffe, es fasziniert ihn, seinen Revolver zu spannen, ihn auf jemanden zu richten und einen Schuss anzudeuten. Ich mache mir keine Gedanken mehr darüber, ob meine Ausbildung etwas bringt oder nicht. Je länger ich im Dienst des Sohnes des Diktators stehe, um so mehr entferne ich mich von der Realität. Das gesamte Leben an der Seite Odais ist so überzogen und irreal, dass Diskussionen oder Gedanken über tiefer gehende Fragen sinnlos sind. Er ist ein Mensch, der völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das System, in dem er lebt, ist wiederum so absurd, dass derartige Auswucherungen nichts Besonderes, sondern die Normalität darstellen. Ich bin für Odai Doppelgänger, Leibeigener, Bruder und Objekt, an dem er seine Aggressionen austoben kann. Ich bin der, den er erziehen kann. Am 29. Februar 1988 ist meine Ausbildung zum Fidai endlich abgeschlossen. Am folgenden Tag, dem 1. März 1988, diktiert Munem Hamad Al-Takriti einen kurzen Brief an den Direktor des Geheimdienstes: Irakische Republik Kanzleidirektion der Republik Geheimdienstapparat Abteilung der Geheimverfolgung Im Namen des gnädigen Gottes Geheim und streng vertraulich An den ehrenwerten Direktor des Geheimdienstes Mein Herr, ich möchte Ihre Herrschaft davon in Kenntnis setzen, dass ich und meine Gruppe von Offizieren, die für die spezielle Ausbildung des Oberleutnants Latif Yahia Latif Al-Salihi zuständig waren, diese geheime Ausbildung beendet haben. Oberleutnant Latif Yahia Latif Al-Sahili erlernte den Umgang mit allen Arten von Waffen, um als Repräsentant des Herrn Odai Saddam Hussein zu dienen. Er hat die Übungsperiode mit Erfolg bestanden. Alles Weitere ist Ihnen überlassen, mein Herr.
Major Munem Schabib Hamad Al-Takriti Direktor der Abteilung Geheimverfolgung 1. März 1988 Der Brief ist reine Formsache. Meine Ausbildung ist abgeschlossen, ich werde von Odai akzeptiert und vermutlich von seinem Vater auch. Zumindest kam aus dem Palast bisher keine Reaktion, was bedeutet, dass alles in Ordnung sein muss. Nachdem Munem Hamad den Brief abgeschickt hat, erhalte ich dutzendweise Uniformen: eine Leibwächteruniform, eine Fliegeruniform, eine schwarze Uniform mit dem Namensschild Odai Saddam Husseins. Außerdem bekomme ich neue Papiere mit falschem Namen. Einmal bin ich Kapitän Ahib Al-Hadisi, ein Geheimdienstoffizier vom Al-Khass, dann Mohammed Sami Ahmed vom Sozialministerium oder Muteb AlKamali, ein Angestellter des Wirtschaftsministeriums. Sollte irgendwann etwas schief laufen und ich bei einem Attentat ums Leben kommen, herrscht somit kein Argumentationsmangel: Erschossen wurde nicht Odai Saddam Hussein oder Latif Yahia, den es offiziell ja nicht mehr gibt, sondern Kapitän Ahib Al-Hadisi, ein Geheimdienstmann. Alle gratulieren mir an diesem Tag, und selbst Odai zeigt sich freundlich, trinkt mit mir einen Cognac. Hennessy, ohne Eis. Serviert im Kristallschwenker. Fünf Tage lang geschieht nichts. Odai ordnet mir Entspannung an. Keine Videos, keine Sprachübungen, abschalten. Ich hänge am Swimmingpool, liege in der Frühlingssonne, lasse mich vom Personal verwöhnen. Durchforste die Kleiderschränke mit den vielen hundert Anzügen, der Seidenunterwäsche, den Socken aus Paris und den Maßschuhen aus Rom. Ich lebe in einer Scheinwelt, fühle mich exklusiv, und das Essen, das sie mir bringen, ist vom Feinsten. Jeden Tag Fleisch, frisches Gemüse, frischer Salat. Europäisch zubereitet, denn Odai schätzt die arabische Küche nicht sehr. Vier Tage dauert diese Siesta, und ich denke in dieser Zeit eigentlich an nichts. Ich will mich nicht ständig mit Selbstzweifeln quälen, ich nehme mein Schicksal, wie es ist, und diese innere Distanz tut gut. Ständiges Nachdenken und Überlegen ist auch sinnlos, da die Situation ohnehin nicht zu ändern ist.
Am Abend des 4. März 1988 kommt Odai mit der Bulldogge zu mir ins Zimmer. Ich bemerke die beiden zuerst gar nicht, weil die Tür zu meinem Zimmer offen ist und ich mir gerade ein Video ansehe. Japanische Nahkampftechniken. Samurais im Umgang mit ihrem Schwert, Kung Fu-Kämpfer beim Schattenboxen. Odai liebt diese Videos, und mir gefallen sie auch; sie haben keine richtige Handlung, und dennoch passiert ständig etwas. Eigentlich ein Spiegelbild meines jetzigen Lebens. Odai setzt sich auf einen Stuhl, die Bulldogge bleibt stehen und sagt in seinem hektischen, hysterischen Stil: »Latif, die Gelegenheit ist perfekt. Wir werden dich testen.« »Wann?« »Übermorgen, am späten Nachmittag, im Volksstadion.« Dann wird dort ein Fußballspiel zwischen zwei irakischen Mannschaften stattfinden. Ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem sicher mehr als fünfzigtausend Zuschauer zu erwarten sind. Die Präsidentenfamilie hat im Volksstadion eine eigene Loge. Sie ist weit weg vom Fußvolk, normale Zuschauer würden mich nur aus großer Entfernung sehen. Eventuelle Fehler meinerseits fielen also nicht sehr ins Gewicht. »Latif, das ist dein erster großer Auftritt, konzentriere dich darauf; alles, was an diesem Tag passiert, ist entscheidend für das weitere Vorgehen«. Versage ich, bin ich vermutlich tot. Läuft alles reibungslos, kann mein Fidai-Dasein richtig losgehen. Odai geht, nachdem er das gesagt hat, und ich sehe ihn bis zum 6. März nicht mehr. Am Nachmittag dieses Tages ist es dann soweit. Ich bin völlig ruhig, genauso ruhig, wie ich es war, als sie mich zu seiner Herrschaft Saddam Hussein brachten. Yassem Al-Helou, Odais persönlicher Berater in Sachen Kleidung, bringt mir einen hellen Anzug. Yassem gehört seit Jahren zum Clan. Er stammt aus einer armen Familie in Bagdad, ist gelernter Schneider und wahrscheinlich homosexuell. Zumindest habe ich ihn noch nie mit einer Frau gesehen. Seine Bewegungen sind beinahe feminin zu nennen, sein Tonfall ist sanft und gewählt, und er riecht immer hervorragend nach diesen tiefen, schweren orientalischen Parfums. Odai hatte nie einen guten Geschmack in Sachen Kleidung. »Er lief herum wie ein ordinärer kleiner Bauernbub«, empört sich Yassem. »Er wählte ständig Farben, die nicht zueinander passen.« Ich amüsiere mich über Yassem, besonders über seine Handhaltung. Jedesmal,
wenn er in seiner leicht feminin-kreischenden Art die Kleidungsprobleme Odais anspricht, huscht er mit zappelnden kleinen Schritten zum Kleiderschrank, öffnet ihn, starrt entsetzt auf die dutzende von Anzügen und haucht: »Was soll ich dem jungen Herrn bloß wieder anziehen?« Yassem entscheidet, und Odai gehorcht. Alles, was Odai an Geschmack und Stil hat, hat er von ihm. Yassem fliegt mit, wenn Odai nach London, Paris, Rom oder Mailand reist, um dort ein vergnügliches Wochenende zu verbringen. Yassem ist immer dabei und besorgt alles, was Odai braucht und wünscht. Schuhe, Unterwäsche, Hemden, Anzüge. Normalerweise wechselt Odai seine Anzüge viermal am Tag. Für Konferenzen oder Gespräche im Club nimmt er Yassem als seinen persönlichen Umkleider mit ins Büro. Yassem reicht mir einen hellen Anzug, ein gestreiftes Hemd und eine weinrote Krawatte und fragt mich dabei aufgeregt, warum Ismail nicht hier dabei sei. Ismail Al-Azami ist der Privatfriseur Odais. Er ist ein Hausfaktotum wie Yassem und schneidet Odai in Abständen von zehn Tagen die Haare. Odai hat ihm als Belohnung für seine treuen Dienste drei Frisiersalons geschenkt. Er gilt als der Friseur der irakischen Hauptstadt. Ismail war es auch, der mir die Haare und den Bart stutzte, bevor ich zum Präsidenten ging. Ich kleide mich sorgfältig an, Yassem richtet meine Krawatte. Ich setze meine Brille auf, sie ist schmutzig, ich wische sie mit einem Handtuch ab, das auf dem Bett liegt. Ich fühle mich wie ein Schauspieler, der seine Rolle bis zum Erbrechen gelernt hat - nur habe ich kein Lampenfieber, kein Kribbeln im Bauch. Die Spannung steigt erst, als mich Azzam und die anderen Leibwächter abholen. Unser Konvoi besteht aus mehr als zehn Autos; ich fahre meinen Mercedes diesmal selbst. Wir rasen quer durch Bagdad zum Stadion an der Straße der Palästinenser. Sie ist eine der Prachtstraßen Bagdads. Kerzengerade, zweispurig in beiden Richtungen, mit Tribünen auf der linken und der rechten Seite. Hier finden die Huldigungsveranstaltungen der Partei statt. Für uns gelten keine Verkehrsregeln; der normale Verkehrsteilnehmer muss zur Seite weichen, devot am Straßenrand halten, ein Konvoi aus dem Präsidentenpalast hat immer Vorrang. Neben mir sitzt Munem Hamad. Er fragt mich mehrmals, wie es mir gehe, und je mehr wir
uns dem Stadion nähern, desto stärker fühle ich dieses kaum beschreibbare Gefühl in meiner Magengegend, ein Kribbeln. Als ob ich Schmetterlinge im Bauch hätte. »Du bist also doch nervös, Latif«, wirft mir Munem Hamad zu, als wir auf den Parkplatz beim Eingang zur Ehrenloge vorfahren. »Es kann nichts passieren«, beruhigt er mich. Ich öffne die Tür, Munem Hamad erinnert mich: »Odai, die Zigarren« und grinst. Ich grinse zurück, nehme das silberne Etui mit den Monte Christo Nr. 6, stecke es in meine Sakkoinnentasche und steige aus. Während meine Leibwächter den Weg zum Aufgang absichern, richte ich mein Sakko, meine Krawatte, setze meine dunkle Ray Ban auf. Hastigen Schrittes eilen wir zum Aufgang. Es sind kaum Menschen auf dem Parkplatz, das Spiel beginnt erst in wenigen Minuten, trotzdem beginnt mein Herz jetzt zu rasen. Ich spüre, wie es pumpt, ich fühle es in jeder Faser meines Körpers. Mein Puls ist sicher höher als einhundertdreißig, aber ich versuche, mir nichts von meiner Aufregung anmerken zu lassen. Meine Leibwächter hetzen mich in die Ehrenloge. Sie befindet sich im Sektor A an der Längsseite des Stadions. Gepolsterte Stühle, künstlicher Rasen auf den Böden, irakische Flaggen und das obligatorische, überdimensionale Bild des Präsidenten. Ich nehme in der ersten Reihe Platz, neben mir sitzen meine Leibwächter. Die Fünfzigtausend im Stadion quittieren mein Erscheinen mit Applaus. Keine euphorischen Sympathieausbrüche - sie applaudieren, weil Applaudieren Pflicht ist, wenn ein Mitglied der Präsidentenfamilie die Ehrenloge betritt. Das Spiel beginnt, ich zünde mir meine erste Monte Christo an und rauche, wie es mir im Training beigebracht wurde. Ich achte auf jede Kleinigkeit, bewege meine Hand wie Odai Hussein und habe selbst die Zigarre mit meinen silbernen Zigarrenbesteck so abgeschnitten, wie er es immer tut. Eine sinnlose Handlung, denn der Plebs ist viel zu weit weg, um solche Einzelheiten zu erkennen. Für die Menschen im Stadion bin ich Odai Saddam Hussein, der Sohn des Präsidenten. Ich bin so auf meine Aufgabe konzentriert, dass das Spiel völlig an mir vorübergeht. Es verläuft ohne Höhepunkte, und zur Pause steht es 0:0. Mehrmals schwenkt die Kamera des irakischen Staatsfunks, der das Spiel aufzeichnet, über die Ehrenloge. Nie werde ich so aufgenommen, dass ich frontal oder im Profil in einer Nahaufnahme erscheine. Odais Medienexperten haben die Kameramänner entsprechend instruiert, und Odai machte mich mehrmals darauf aufmerksam,
dass es keine Nahaufnahmen geben wird und ich mir deshalb keine Sorgen machen müsse. Die Mannschaft des Fliegerclubs gewinnt ganz klar. Die Tore fallen in der zweiten Halbzeit, aber ich würde lügen, wenn ich zu wissen behauptete, wer diese Tore geschossen hat. Nach dem Spiel drückt mir Munem Hamad elf weinrote Samtkassetten in die Hand. »Gib dein Bestes, Latif, denk an die Hilfe Gottes«, ermutigt er mich. Ich muss die Kassetten den siegreichen Spielern der Fliegerclubs überreichen. Staatstragend stehe ich auf, winke dem Publikum zweimal zu. Meine Leibwächter bringen mich zu der siegreichen Mannschaft aufs Spielfeld. Die Leibwächtereskorte ist derart dicht, dass ich kaum mitbekomme, was um mich geschieht. Ich bin auch zu aufgeregt, um auf irgendwelche Einzelheiten zu achten. Für mich gibt es nur eines: die Übergabe der Kassetten, Händeschütteln, anerkennendes Kopfnicken. Kein Wort, keine Silbe, so wie es mir aufgetragen wurde. Ein Leibwächter reicht mir eine Kassette, ich nehme sie, gebe sie an den Spieler weiter. Kräftiger Händedruck, dann der nächste. Keiner der Spieler wagt es, mir eine Frage zu stellen, und ich achte darauf, keinem der Spieler in die Augen zu sehen, auch wenn das ein sinnloses Unterfangen wäre, weil ich die Sonnenbrille aufhabe und sie meine Augen ohnehin nicht sehen könnten. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich die Spielerformation abgeschritten habe. Danach drehe ich mich noch einmal kurz um und winke dem kleinen Rest des noch im Stadion verbliebenen Publikums zu. Wir eilen wieder zurück zu den Autos, in rasender Fahrt geht es ins Projekt Nummer 7. Munem Hamad, sagt, dass ich sehr, sehr gut war, und das lockert mich auf. Ich habe keine Ahnung, ob ich wirklich überzeugend war. Ich fühle mich unsicher, habe keine Vorstellung von der Qualität meines Auftritts. Es ist wie bei der Begegnung mit einer Frau. Du siehst sie an, sie erwidert deinen Blick, und du weißt nicht, ob ihr Blick nur freundlich war oder mehr bedeutet. Unsicherheit. Ich muss diese Unsicherheit überwinden, sage ich mir. Es ist völlig egal, ob meine Leibwächter mich gut finden oder nicht. Was ich mir zulegen muss, ist diese überhebliche, diktatorische Arroganz. Ich muss überzeugend arrogant sein, dann bin ich echt. Alles Übrige ist sekundär: Wichtig ist, dass ich fokussiert auf das Endziel zustrebe. Das Endziel heißt: Ich bin Odai Saddam Hussein.
Odai wartet bereits am Swimmingpool auf mich. Er hat zwei Cognacschwenker in der Hand, fliegt auf mich zu und küsst mich auf den Mund. »Ich habe dich im Fernsehen gesehen«, sprudelt es aus ihm heraus, »du hast deine Aufgabe zu hundert Prozent erfüllt. Es war perfekt. Niemand hat etwas bemerkt, die Leute haben dich für mich gehalten. Alle. Auch die Spieler.« Er fasst mich am Arm, drückt mir einen Cognacschwenker in die Hand und sagt: »Trink' etwas, morgen gehen wir die Videoaufzeichnungen durch.« Am nächsten Tag wecken sie mich bereits um acht. Ich nehme nur einen Kaffee ohne Milch. Dann bittet Munem Hamad mich in Odais Büro. Erstmals fahren wir nicht ins Video-Zimmer, sondern sehen uns hier die Aufzeichnungen vom Vortag an. Und tatsächlich: Es sieht alles makellos aus. Ich in der Ehrenloge, ich beim Winken, ich bei der Übergabe der Geschenke. Odai wiederholt das Wort perfekt sicher dreißigmal. Er ist stolz auf mich, und ich fühle mich befreit, erleichtert. Das monatelange Training, die ständigen Selbstzweifel und dazu die permanenten cholerischen Ausbrüche Odais, all das ist plötzlich wie weggewischt, nur ein Gedanke bleibt: Latif Yahia gibt es nicht mehr. Ich muss an meine Eltern denken. Sie haben seit mehr als sechs Monaten nichts mehr von mir gehört, wissen nicht, wo ich bin, was ich tue, wie es mir geht. Sie wissen nicht einmal, ob ich überhaupt noch lebe. Ich könnte gefallen oder in iranische Gefangenschaft geraten sein. Sie wissen es nicht. Früher habe ich meinen Eltern jede Woche zumindest einen kurzen Brief geschrieben, mich telefonisch über das Hauptquartier gemeldet, wenn ich die Möglichkeit dazu hatte. Doch jetzt? Kein Brief, kein Anruf, nichts. Wie es wohl meiner Mutter geht? Diese Frage beschäftigt mich. Ich bin zwar bereits vierundzwanzig Jahre alt und Offizier der irakischen Armee, doch meine Eltern waren bisher immer etwas Heiliges für mich, meine Mutter eine Göttin. Sie liebt mich und ich liebe sie, und sie hat ein Anrecht darauf zu wissen, was ihr Ältester tut, wie es ihm geht. Ich werde Odai darauf ansprechen, aber nicht jetzt, dafür ist es noch zu früh. Andererseits wäre der Zeitpunkt wiederum hervorragend, denn
Odai ist wirklich euphorisch über meinen Auftritt im Stadion. Ich erachte es aber für sinnvoller, momentan keine Forderungen zu stellen, will meinen ersten Sieg genießen und ihn nicht vor den Kopf stoßen. Odai ist ein Genussmensch. Normalerweise schläft er bis halb elf Uhr vormittags. Seine Leibwächter haben die ganze Nacht aufzubleiben und ihn zu bewachen. Meist sitzen sie dann am Pool neben der Bar, reinigen ihre Waffen, reden Belangloses. Nach und nach lerne ich sie alle kennen. Ihr Chef ist Azzam Al-Takriti. Azzam ist nur zwei Jahre älter als Odai. Ich kenne ihn noch von der Schule her, er war immer ein schlechter Schüler. Einmal - nach meinem Auftritt im Volksstadion - sitzen wir zusammen am Pool und trinken. Nach ein paar Gläsern vertraut er mir an, dass er in der Schule seine Dokumente gefälscht habe. Als der Direktor dahinterkam, zeigte er Azzam bei der Lehrerkommission an. Sie kannten kein Pardon und warfen den damals Sechzehnjährigen für sechs Monate ins Gefängnis. Er ging ohne Schulabschluss ab. Zu Odai kam er durch Dabi Al-Masihi. Dabi war ein richtiger Gesellschaftslöwe. Wenn er im Al-Alwia-Club auftauchte, sorgte er immer für Stimmung. Er hatte eine überzeugende, gewinnende Art. War gebildet, feinfühlig und lustig und ein schöner junger Mann mit einem faszinierenden, makellosen Gesicht. Dabi hatte die reinste und hellste Haut, die ich jemals bei einem Mann gesehen habe. Er war Odais Freund und kannte auch Azzam. Er machte die beiden miteinander bekannt, und Odai erklärte Azzam spontan zu seinem ersten Freund und Begleiter. Dabi verschwand wenige Monate später spurlos, nachdem er versucht hatte, bei einem Fest ein Mädchen Odais anzusprechen. Odai sorgte dafür, dass er aus dem Al-Alwia-Club ausgeschlossen und fortan von der Bagdader Gesellschaft regelrecht geächtet wurde. Ich frage Azzam, als wir am Pool sitzen, was wohl aus Dabi geworden sei. Er senkt den Kopf, weicht meinem Blick aus und sagt nur: »Ich habe Dabi kürzlich einmal gesehen, er sieht schrecklich aus. Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben.« Die zweite absolute Vertrauensperson Odais innerhalb seiner Leibwächtergarde ist Ahmad Souleiman, ein mittelgroßer, sehniger Mann.
Er hat einen Collegeabschluß, ist ausgebildeter Karate-Lehrer und eine Charmekanone, die mit Menschen, vor allem mit Mädchen, perfekt umgehen kann. Er hat absolut keine Hemmungen, jemanden anzusprechen. Wenn Odai mit einem Mädchen in Kontakt treten will, schickt er Ahmad. Ahmad ist nicht nur Leibwächter Odais, er ist auch sein Chef-Mädchen-Besorger und ein Trittbrett-Fahrer. Er nützt seine Position gnadenlos aus, ist ein brutaler Vergewaltiger und Mörder, doch davon sollte ich erst später erfahren. Der Spitzel ist Salam Al-Aoussi, ein wandelnder Notizblock. Er spioniert hinter Odais Freunden her und berichtet ihm über deren Aktivitäten. Ein falsches Wort, eine unbedachte Bemerkung, und schon steht man in Salams Notizblock. Ein Notizblock, der einer Anklageschrift gleichkommt. Salam ist ein schleimiger Mensch, obwohl man ihm dies nicht ansieht, denn er wirkt wie ein durchtrainierter Mann. Das Tier ist Muajed Fadel. Er hat einen Universitätsabschluss, ist aber skrupellos und findet Spaß daran, auf Befehl Odais Vergewaltigungen auszuführen. Der Folterspezialist ist Saadoun Al-Takriti. Auch er hat einen Hochschulabschluss. Die Frage ist nur, von welcher Fakultät. Saadoun ist völlig gefühlskalt und schreckt vor keinem Verbrechen zurück. Namir Al-Takriti ist für die Organisation von Festen verantwortlich. Er ist mit Odai direkt verwandt und ein Fachmann auf seinem Gebiet, der aus jeder Party ein Gelage macht; ein Zeremonienmeister mit viel Sinn für Dekorationen und Musik. Maksud Al-Takriti verwaltet Odais Telefonbuch, organisiert die Termine des Meisters und entscheidet, welches Mädchen Odais geheime Telefonnummern erhält und welches nicht. Mohammed Al-Duri ist der Chauffeur. Er holt Odais Freundinnen ab, gilt als der große Schweiger und ist eine Art Kofferträger. Chauffeur und Mädchen für alles. Die Liste der Freunde Odais ist aber noch weit länger, sie liest sich wie ein Auszug aus einem Verzeichnis der Bagdader Halbwelt. Odai liebt diese finsteren, undurchsichtigen Typen. Er wird förmlich angezogen von dieser Halbwelt, die es in Bagdad in allen Schattierungen gibt. Schlimmer, extremer, perverser, das ist sein Motto, und nach den ersten Monaten an seiner Seite bin ich mir ziemlich sicher, dass er auch
dann nicht in der Lage wäre, ein halbwegs normales Leben zu führen, wenn er nicht ständig in Gefahr schwebte, einem Attentat zum Opfer zu fallen. Und diese Gefahr besteht ständig, denn die Zahl seiner Feinde ist Legion. Langsam wird mir nämlich klar, warum sie mich gerade jetzt rekrutiert haben. Weshalb sie ganz gierig darauf waren, so rasch wie möglich und vor allem noch vor dem Frühjahr 1988 einen Doppelgänger für Odai zu finden und auszubilden. Dem Clan war bereits Monate vorher bekannt, dass im Frühjahr 1988 ein Verbrechen stattfinden würde, das es in dieser Dimension in der Geschichte der Menschheit erst einmal gegeben hatte: im II. Weltkrieg. Damals war es die Massenvergasung der Juden. Saddam plante Ähnliches: den Einsatz von Senfgas. Gegen seine eigenen Leute.
7. KAPITEL Die Attentatsangst Ali Hassan Al-Majid sieht aus wie eine Kopie von Saddam Hussein. Er hat etwa dieselbe Größe, Statur, lediglich einen stärkeren Bauchansatz, auch denselben Bart und dieselbe Frisur wie Saddam Hussein. Einziger gravierender Unterschied: Er tritt immer in Uniform auf. Al-Majid stammt ebenfalls aus der Gegend um Takrit und ist der Vetter Saddam Husseins. In den siebziger Jahren diente er als OffizierStellvertreter in der Armee Präsident Ahmad Hassan Al-Bakrs. Besonderes Merkmal dieses Unteroffiziers: seine kaum beschreibbare Brutalität. Vor allem gegen die Kurden geht dieser Schlächter skrupellos vor. Der Freiheitskampf der Kurden dauert schon Jahrzehnte. Er beschränkt sich nicht auf den Irak, denn das kurdische Volk ist auf fünf Länder verstreut: auf die Türkei, den Iran, Syrien, die Staaten der früheren Sowjetunion und den Irak. Bereits unter Präsident Ahmad Hassan Al-Bakr führen die kurdischen Pesh Mergas einen erbitterten Kampf gegen das Regime in Bagdad. Sie sind ausgezeichnete Kämpfer. »Pesh Merga« bedeutet: Die dem Tod ins Auge blicken. Die Pesh-Merga-Bataillone verbergen sich in den Höhlen des MakokGebirges im Nordirak. Von dort aus starten sie ihre Angriffe auf Erdölfelder im Irak, Iran, in Syrien und der Türkei. Die Einheiten der Pesh Mergas werden größtenteils aus dem Iran versorgt, ihre Waffen stammen fast ausschließlich aus den Arsenalen der iranischen Armee. Die Regierung in Bagdad versucht mit allen Mitteln, gegen die Rebellen vorzugehen: Sie setzt MIG-Kampfbomber ein, Kampfhubschrauber und mehrere Divisionen an Bodentruppen. Den Pesh Mergas ist aber trotzdem kaum beizukommen. Ali Hassan Al-Majid nimmt in den siebziger Jahren an diesem Krieg teil. Bei einem Vorstoß der irakischen Bodentruppen wird er von den Pesh Mergas gefangengenommen. Eigentlich hätte er sofort hingerichtet werden sollen, doch die kurdische Führung zögert zu lange. Er besticht einen Gefängniswärter und verspricht ihm eine Traumkarriere in Bagdad. Al-Majid prahlt mit seinen Kontakten zu Saddam Hussein.
Tatsächlich befreit ihn der korrupte Gefängniswärter und bringt ihn nach Bagdad. Aber anstatt sich bei ihm zu revanchieren, bringt er ihn um. Die Flucht und der Mord machen Schlagzeilen im Irak. Ali Hassan AlMajid wird zum Offizier befördert, steigt auch in der Parteihierachie ganz weit nach oben. Saddam Hussein unterstützt diesen rasanten Aufstieg seines Vetters, er schätzt die Skrupellosigkeit des Mannes. Das war 1972, als sich der Machtkampf zwischen dem Staatspräsidenten Al-Bakr und dem nach oben drängenden Volkshelden Saddam Hussein erstmals abzuzeichnen begann. Al-Bakr ist zuletzt nur noch eine Repräsentationsfigur. Die Verträge macht Saddam Hussein. So unterzeichnet er 1975 einen Vertrag mit dem persischen Schah Reza Pahlevi, der die umstrittenen Schifffahrtsrechte auf dem Schatt el-Arab vorläufig regelt. Bagdad verzichtet auf seine Ansprüche auf dessen linkes Ufer; dafür verspricht der Teheraner Herrscher, künftig kurdische Separatisten, die die Loslösung ihres Gebiets von Bagdad betreiben, nicht mehr zu unterstützen. Durch den Deal erhält Saddam freie Hand, um gegen die Kurden loszuschlagen, die im Irak rund 20 Prozent der Bevölkerung stellen. Das ist die große Stunde Al-Majids: Seine Truppen töten Tausende von Kurden, Hunderttausende werden umgesiedelt. Endgültig befrieden kann Saddam Hussein Kurdistan aber nicht. Der Konflikt schwelt weiter. Nachdem diese erste Tötungswelle im Nordirak vorüber ist, schickt Saddam Hussein seinen Bluthund Al-Majid in den Süden. Saddam Hussein macht dem Schah von Persien später noch ein Zugeständnis: Ab 1978 gewährt der Irak oppositionellen Iranern kein politisches Asyl mehr. Die oppostionellen Iraner leben im Süden des Iraks, der vorwiegend von Schiiten bewohnt ist. Die Schiiten haben immer wieder gegen die gottlose Gesellschaft der Baath-Partei in Bagdad protestiert. Angeführt wird diese Protestbewegung von Ayatollah Bakr-el-Sadr. Einer seiner Gäste ist Ayatollah Khomeini. Er wurde unter Schah Reza Pahlevi aus dem Iran ausgewiesen und erhielt im Irak Exil. Er lebt schon seit 14 Jahren in der heiligen Stadt Najef, unter ständiger Aufsicht des Geheimdienstes und dem Verbot, seine fundamentalistischen Theorien zu verbreiten.
1978, als die schiitischen Unruhen zunehmen, schließt Saddam den erwähnten zweiten Vertrag mit dem Schah und lässt alle Iraner, inklusive Ayatollah Khomeini, von einem Tag zum anderen ausweisen. Der Ayatollah wird regelrecht aus dem Irak hinausgeprügelt. Diese Demütigung bildet die Grundlage für den glühenden Hass, mit dem Khomeini fortan Saddam Hussein verfolgt. Khomeini geht nach Paris und beginnt dort, den Sturz des SchahRegimes vorzubereiten. In Najef wütet Al-Majid im Auftrag Saddam Husseins (Saddam ist ein Sunnit): Er wirft den Führer der Schiiten-Organisation Daawa, Bakrel-Sadr, ins Gefängnis. Ebenso dessen zwei Schwestern. Im Gefängnis erwürgt Al-Majid den Ayatollah, die Frauen werden gehängt. Die offizielle Anklage gegen Bakr-el-Sadr lautet: Aufwiegelung und Versuch eines Attentats auf Saddam Hussein. Die Daawa-Partei wird verboten, sogar ihren Sympathisanten droht die Todesstrafe. Al-Majid lässt reihenweise Schiiten exekutieren. 20000 Schiiten flüchten in den Iran. 1979 kehrt Ayatollah Khomeini in den Iran zurück, stürzt den Saddam-Verbündeten Schah Reza Pahlevi und verwandelt den Iran in eine islamisch-religiöse Diktatur. Parallel dazu entfacht Saddam Hussein eine politische und psychologische Offensive mit dem Ziel, die arabische Welt gegen den Iran aufzuhetzen. Er warnt bei allen Gipfelkonferenzen davor, dass die Sunniten, denen er angehört, von den fanatischen Schiiten überrollt werden könnten. »Der Iran unter Ayatollah Khomeini ist eine Geisel der Menschheit«, wiederholt Saddam immer wieder, und viele westliche Staatsmänner glauben ihm und unterstützen ihn. Am 22. September 1980 beginnt Saddam Hussein den Krieg gegen seinen Todfeind Khomeini. Sechs irakische Divisionen mit 400000 Mann marschieren in den Iran ein. Es sollte ein Blitzkrieg werden; aber das ist eine fatale Fehlentscheidung. Acht Jahre dauert dieser Krieg nun schon, und obwohl Saddam Hussein immer wieder versichert, dass wir ihn gewinnen würden, glaubt im Land niemand mehr daran, zumal auch im Norden die Kämpfe immer wieder aufflackern. Irakische Kurden, die im Iran untergetaucht sind, starten von dort aus ständig Angriffe gegen den Irak.
Am 16. März 1988, also knapp zwei Wochen nach meinem ersten Auftritt als Doppelgänger, schickt Saddam Hussein Al-Majid mit einem teuflischen Plan nach Kurdistan. Al-Majid ist inzwischen irakischer Innenminister und ein mächtiger, einflussreicher Mann. Um den Kurdenaufstand mit einem Schlag beenden, hat Al-Majid Saddam vorgeschlagen, Giftgas einzusetzen. Und Al-Majid liefert sein Meisterstück an Grausamkeit: Aus Hubschraubern, die kaum zehn Meter hoch dahinfliegen, lässt er Senfgas versprühen. Allein in der Ortschaft Halabja sterben bei diesem Angriff 5000 Menschen. Frauen, Kinder, Alte - keiner hat eine Chance zu entkommen. Sie sterben qualvoll. In einem Umkreis von mehreren Kilometern ist alles tot. Bäume, Pflanzen, Tiere, Menschen. Al-Majid verdankt diesem Einsatz seinen makabren Beinamen der Chemiker. Im Projekt Nummer 7 ist der Giftgasangriff kein Gesprächsstoff, obwohl jeder im Irak davon weiß, denn die Bilder von dessen fürchterlichen Auswirkungen werden mehrmals in den Hauptnachrichten gezeigt. Auch ich schweige, denn meine Großeltern stammen aus Kurdistan. Odai weiß das. Er hasst die Pesh Mergas: »Ein wildes, mordendes Bergvolk, das von Israel und dem Iran aufgehetzt wird. Verblendete Mörder sind das«, ist sein Standardargument. »Man sollte sie alle ausrotten.« Aber mich akzeptiert Odai, trotz meiner Großeltern. Ich bin in Bagdad geboren, wie hundertausend andere Kurden auch. Wir Bagdad-Kurden sind voll integrierte Iraker, stehen loyal zur Regierung Saddam Hussein. Einige Kurden sitzen sogar in der Regierung. Die ganze Welt empört sich über den Giftgaseinsatz, und selbst im engsten Umkreis des Präsidenten werden Stimmen laut, die ihn einen Verbrecher nennen. Am heftigsten wird diese verbrecherische Vorgehensweise vom Polizeichef Feisal Barat kritisiert. Er beklagt sich öffentlich über Innenminister Al-Majid. Der Polizeichef wird liquidiert, genauso 28 seiner Mitarbeiter. Einen anderen Kritiker exekutiert Saddam Hussein persönlich: Gesundheitsminister Rijad Ibrahim, der den Giftgaseinsatz gegen die Kurden ebenso verurteilt wie die Giftgaseinsätze im irakisch-iranischen
Krieg. Ibrahim fordert Saddam im Parlament sogar zum Rücktritt auf. Der reagiert auf seine Art: Er zieht seine Pistole, reißt Ibrahims Kopf an den Haaren zurück und tötet ihn mit einem Schuss in den Mund. Damit ist die Ministerratssitzung zu Ende - und die Diskussion um Saddam auch. Trotzdem formiert sich landesweit eine Widerstandsbewegung. Sowohl die Kurden im Norden als auch die Untergrundkämpfer der schiitischen Daawa erklären dem Regime den Krieg. Es folgen Dutzende von Attentatsversuchen, doch Saddam entkommt ihnen allen. In der Öffentlichkeit erfährt man nichts davon. Auffallend ist nur eines: Früher hatte Saddam Hussein die Nähe des Volkes gesucht. Er fuhr in die kleinsten Dörfer, besuchte normale Einfamilienhäuser, sprach den Menschen Mut und Kraft zu. Saddam kam zwar immer mit einer Hundertschaft von Leibwächtern, die schon Stunden vor seinem Eintreffen ganze Stadtviertel abriegelten und den Verkehr lahm legten. Aber er zeigte sich dem Volk. Solche spontanen Begegnungen mit dem Volke wurden dann immer seltener und hörten schließlich ganz auf. In den letzten Jahren hatte Saddam immer seine Fidais geschickt. Eine berechtigte Vorsicht: Kurz bevor man mich als Fidai für Odai engagierte, wurde Saddams erster Fidai bei einem Anschlag von DaawaTerroristen ermordet. Der Einsatz eines Fidais ist also alles andere als nur eine private Spielerei Odais. Es ist eine Überlebensfrage für den Präsidentensohn, denn ein Anschlag kann immer und überall erfolgen. Odai weiß das, und seit dem Giftgasangriff auf Halabja wird auch mir dies klarer. Bisher ließ ich mich vom Playboy-Leben mitreißen, die Ereignisse der vergangenen Tage lassen aber schlagartig alles in einem anderen, dunkleren Licht erscheinen. Mir bleibt nicht lange Zeit zum Überlegen. Die Saddam-Familie braucht öffentliche Auftritte. Das zweite Double von Saddam Hussein, Faoaz Al-Emari, absolviert einen Auftritt nach dem anderen. Ich sehe seine Einsätze im Fernsehen, und Munem Hamad schmunzelt immer, wenn er Faoaz sieht. Faoaz sieht dem Präsidenten zwar täuschend ähnlich, doch Eingeweihte erkennen ihn sofort. Mein nächster Auftritt ist bereits vorbereitet. Er soll am 28. April stattfinden. Eine weitaus schwierigere Aufgabe als der Besuch des Fußballspieles.
Munem Hamad und Odai schicken mich an die Front. In den Süden. Zur 4. Division. Der 28. April ist Saddams Geburtstag, und im ganzen Land werden Feiern abgehalten. Die 4. Division liegt südlich von Basra, dem Zentrum der schiitischen Untergrundbewegung Daawa. Geplant ist, dass ich mit meinen Leibwächtern im Hubschrauber hingeflogen werde, direkt im Hauptkommando lande, aussteige, dem Kommandanten und den Offizieren die Hand schüttle und mit dem Kommandanten ein kurzes Gespräch über die Lage führe. Yassem, der Hausschneider, bringt mir den schwarzen Offiziersanzug Odais, die Pistole, den Gurt. Unser Abflug ist für zehn Uhr vormittags geplant, und alles läuft wie am Schnürchen: Zwei Stunden dauert der Flug in dem Helikopter vom Privatflughafen Saddams bis zum Hauptquartier der 4. Division. Wir landen auf dem Exerzierplatz. Mehrere Kompanien sind angetreten. Stehen in Reih und Glied. Davor der Kommandant und einige seiner Offiziere. Zuerst klettern Munem Hamad, Kapitän Siad Hassan Haschem Al-Nassiri und Kapitän Saadi Daham Hasaa Al-Nassiri aus dem Helikopter. Dann meine Leibwächter, zuletzt ich. Ich eile auf den Kommandanten zu, Munem Hamad stellt mich vor, und wir schreiten würdevoll die Ehrenformation ab. Danach kommen erstmals Fotografen. Der Kameramann, der die Szene für das Fernsehen aufnehmen soll, ist einer aus der Crew Munem Hamads. Wir werden mehr als zehn Minuten lang fotografiert, und das Gespräch zwischen dem Kommandanten und mir ist völlig belanglos: Ich frage, wie es an der Front stehe, der Kommandant leiert in seiner Kommandosprache den Lagebericht herunter und beteuert, wie sehr es ihn freue, dass ich hier sei und er auf diese Art dem großen Führer Saddam Hussein zum Geburtstag gratulieren könne. Ich bin sicher, dass der Kommandant weder Saddam Hussein noch Odai jemals vorher persönlich zu Gesicht bekommen hat. Ich konzentriere mich darauf, jeden Versprecher zu vermeiden; politische und militärstrategische Fragen beantwortet Saadi Daham Hasaa Al-Nassiri. Zwei Stunden bleiben wir in der Militärbasis, trinken auf das Glück unseres Führers, und um 14.30 Uhr hebt der Hubschrauber wieder ab. Wir fliegen zurück nach Bagdad. Odais Reaktion ist genauso eupho-
risch wie nach dem ersten Mal: »Großartig.« Er überschüttet mich mit Dankesreden, nachdem er sich das Video über meinen Auftritt angesehen hat. »Wieder hundertprozentig«, lobt er mich. Nach diesem Auftritt überschlagen sich die Ereignisse: Für den 7. Mai sind Delegationen aus verschiedenen arabischen Staaten in Bagdad angekündigt. Es sind Vertreter von diversen Sportvereinen. Sie wollen einige Tage in Bagdad bleiben. Odai hat aber einen Europatrip vor, den er unter keinen Umständen verschieben will. Der Plan, den er ausarbeitet, ist riskant: Ich soll die Delegation am Flughafen abholen, begrüßen und in das Hotel bringen, in dem die Tagung stattfindet. Die Tagung selbst eröffnet Odai. Er nimmt zwei Tage lang an den Unterredungen teil. Die Verabschiedung der Delegation am nächsten Tag soll wieder ich durchführen. 7. Mai 1988, vormittags. Ich warte mit meinen Leibwächtern im Empfangsraum des Flughafens, bis die Maschine mit der Delegation landet, ausnahmslos Direktoren von Sportverbänden aus Saudi Arabien, Kuwait, Bahrain. Bei der Begrüßung fällt keinem von ihnen etwas auf, nur der kuwaitische Vertreter bringt mich kurz in Verlegenheit. Nachdem ich ihm die Hand geschüttelt und ihn begrüßt habe, bestellt er mir schöne Grüße von meinem Freund Fahd und fragt, ob er die Grüße erwidern soll. Ich habe keine Ahnung, wer Fahd ist, weiß auch nicht, dass Odai einen engen kuwaitischen Freund hat. Erst im Auto klärt mich Munem Hamad über Fahd auf: »Odai kennt ihn schon lange«, sagt Munem, »Fahd Al-Ahmed Al-Sabah ist der Bruder des kuwaitischen Emirs.« Außerdem ist Fahd Vizepräsident des internationalen Fußballverbandes FIFA, Vorsitzender des Kuwaitischen Olympischen Komitees und somit Amtskollege von Odai, sowie Präsident des kuwaitischen Fußballverbandes. Nach dem Empfang am Flughafen bringe ich die Gruppe zum Quartier des Olympischen Clubs. Dort verschwinde ich durch eine Hintertüre, und Odai übernimmt die Delegierten. Keinem fällt etwas auf. Nach dem Mittagessen setzt Odai sich wieder ab, ich treffe ihn in einem Nebenraum für einige Augenblicke, er wirft mir zu, »dass die Leute ihn langweilen«, und ich bringe die Gruppe zum Tagungsort,
dem Ashtar Sheraton Hotel in Bagdad. Am Abend betreut Odai wieder die Gruppe, aber am nächsten Morgen, es ist der 8. Mai, will er früher als geplant nach Europa abfliegen. Katastrophenstimmung. Munem Hamad versucht, ihn zu überzeugen, dass dies Wahnsinn sei, doch Odai hat sich entschlossen, und sein Kommentar ist deutlich genug: »Latif soll das machen, und wenn etwas schief geht, wirf ihn den Hunden vor.« Zusätzlich zu der Tagung ist ein weiteres Großereignis geplant, an dem Odai teilnehmen soll. Das irakische Fußballnationalteam trägt am 9. Mai ein Freundschaftsspiel gegen eine europäische Klubmannschaft aus. Die kommt am Nachmittag des 8. Mai in Bagdad an. Das Chaos ist perfekt. Die Einzigen, die den Überblick nicht verlieren, sind meine Offiziere. Odai wird bei der Tagung entschuldigt, unter einem Vorwand, der mir nicht mitgeteilt wird. Ich muss abermals zum Flughafen, um die Europäer zu empfangen - ein Heimspiel für mich, denn die Sportler haben natürlich keine Ahnung, wie Odai Saddam Hussein aussieht. Sie werden ebenfalls im Sheraton untergebracht. Erstmals Hektik und Stress, doch vorerst läuft alles nach Plan. Niemandem fällt etwas auf, die Journalisten berichten hervorragend über Odai und seine Auftritte. Die ausführlichsten Artikel erscheinen in der Al-Baas-Al-Rijadi und in der Babel. Diese Zeitungen gehören Odai, werden von ihm verwaltet. Sein Vater hat sie ihm geschenkt, und sie sind die einzigen Medien, die nicht direkt dem Informationsminister unterstellt sind. Direktor der Zeitungen ist Abbas Al-Janabi, dem dieser Posten von Odai zugeschanzt wurde; als Wiedergutmachung, weil Odai einmal dessen Nichte vergewaltigt hatte. Das Freundschaftsspiel wird am 9. Mai um 16 Uhr im Volksstadion ausgetragen. In meiner Loge sitzen auch die Tagungsteilnehmer. Im Stadion feuern die Zuschauer frenetisch unser Team an. Aber die irakische Mannschaft verliert. Eine Schande! Wie kann das passieren? Irakische Mannschaften haben nicht zu verlieren. Trotzdem verteile ich wieder meine Geschenke an die Spieler, lade die Sportler beider Mannschaften auch zu einem Abendessen im Sheraton ein. Handle so, wie es mir aufgetragen wurde. Das Abendessen ist förmlich. Ich bleibe mit meinem Tross nur für kurze Zeit. Es kommt zu keinen besonderen Vorfällen oder Missgeschicken, die meine Begleiter in den Überwachungsprotokollen hätten
festhalten können. Die ausländischen Spieler und die Delegationen bleiben noch bis zum nächsten Tag, ich verabschiede die Teams am Flughafen und fühle mich eigentlich ganz gut. Denke mir, dass Odai zufrieden sein wird mit mir, wenn er aus seinem Urlaub zurückkommt. Odai ist in der Schweiz. In Genf. Genf ist sein Lieblingsort. Er fliegt regelmäßig dorthin, wie die gesamte Familie des Diktators. Nur Saddam Hussein meidet diese gesellschaftlichen Ausflüge, die in seinem Fall auch viel zu kompliziert wären. Ihn kennt man auch in Europa, während seine Familie einer breiteren Öffentlichkeit gänzlich unbekannt ist. Odai wohnt in Genf immer bei seinem Onkel Barzan Al-Takriti. Barzan Al-Takriti ist ein Halbbruder Saddam Husseins und hat eine Traumkarriere hinter sich. Er begann als Offizier, wurde Chef des Geheimdienstes und hat damals den PLO-Terroristen Abu Nidal mehrmals in den Irak eingeladen und sich mit ihm in der Öffentlichkeit gezeigt. Seine wahre Aufgabe besteht aber in der Verwaltung des unglaublichen Reichtums des Saddam-Clans. Im Irak nennt man ihn deshalb den geheimen Finanzminister. Nach seiner Ablösung als Geheimdienstchef ging Barzan Al-Takriti als ständiger irakischer Vertreter bei der UNO nach Genf. Seine eigentliche Aufgabe ist aber eine andere: Transfer der Saddam-Gelder aus dem Irak in die Schweiz sowie Beschaffung sämtlicher Waffensysteme. Barzan ist die Schlüsselfigur bei der Beschaffung atomarer Ausstattungen. »Internationale Konzerne rennen ihm regelrecht die Türen ein«, betonte Odai mehrmals, bevor er abflog. Odai kehrt am 18. Mai aus Genf zurück. Er ist schlecht gelaunt. Mit ihm kommt Milad ins Projekt Nummer 7. Milad ist eine Stewardess. Nicht lange, und ich weiß von seinen Leibwächtern, warum Odai derart wütend ist. Er hat im Spielkasino verloren. Da es in der Schweiz keine Spielkasinos gibt, machte er einen Ausflug in ein Nachbarland. Mit dabei waren seine Leibwächter und Freunde Muajed, Said Kammuneh, Ahmad Kola und Dureid Ghannaoui sowie der Pilot, der CoPilot, die Flugzeugtechniker seines Privatjets und die Stewardessen, deren Chefin Milad ist. Odai hat mit Milad mehrmals geschlafen und nimmt sie seither auf all seinen Europatrips als Chefstewardess mit. Milad ist groß, hat langes, braunes Haar, einen großen Mund mit großen Lippen und eine so
helle, zarte Haut, dass man sogar ihre Adern durchschimmern sieht. Auch Onkel Barzan Al-Takriti hat den Kasino-Trip mitgemacht. Odai hatte die Taschen voller Dollars, sicher über eine Million, denn er liebt das riskante Spiel: »Nur mit hohen Einsätzen kannst du auch hoch gewinnen«, philosophiert er immer. Manchmal gewinnt er auch, doch diesmal nicht. Egal auf welche Zahlenkombination er auch setzte, es kamen immer andere Zahlen. Odai ließ die Croupiers reihenweise auswechseln und sogar einen ganzen Tisch für sich reservieren. Auch die Höchstsatzregel wurde für ihn aufgehoben, was bedeutete, dass Odai mehr Geld setzen konnte als die anderen Spieler. Je höher die Summen waren, um so tranceartiger spielte Odai. Ich kenne diesen Zustand an ihm. Er bekommt hektische rote Flecken, sein Blick wird starr, jede Kleinigkeit macht ihn wütend, rasend. Er kann es einfach nicht ertragen, wenn etwas gegen seinen Willen läuft. Er kann es nicht ausstehen, wenn ihm jemand widerspricht, wenn sein Wille nicht oberstes Gesetz ist. Roulettekugeln lassen sich nicht davon beeindrucken. Und die wie Automaten lächelnden Croupiers ebenso wenig. Sie zogen ihm elegant die Jetons vom Tisch, und zuletzt begann Odai mit dem Ausstellen von Schecks. Barzan Al-Takriti wollte ihn daran hindern, doch Odai hörte nicht auf ihn, denn er war überzeugt, dass er das verlorene Geld wieder zurückgewinnen würde. Er war wie berauscht, trank einen Cognac nach dem anderen, und schließlich hatte er mehr als vier Millionen Dollar verloren. Ich wollte das nicht glauben, doch alle, die dabei waren, verbürgten sich dafür. Odai war wie hypnotisiert. Onkel Barzan stellte keine weiteren Schecks aus, verließ den Spielsalon vorzeitig, was Odai noch rasender machte. Ein anderer Spieler, ebenfalls aus dem Irak, schlug ihm darauf einen Deal vor. Der Mann hatte ein Depot im Kasino. Sein Angebot: »Ich borge dir eine weitere Million, dafür gehört Milad diese Nacht mir.« Odai schaute Milad nur kurz an, nickte, und Milad wusste, was sie zu tun hatte. Das war das erste Mal, dass Odai wie ein Zuhälter agierte. Der Sohn des Präsidenten und Präsident des Irakischen Olympischen Komitees verkaufte eine Frau, damit ihm sein Freund Spielgeld borgt.
Eine Schande. Er verlor auch diese Million. Bei der Rückkehr von seinem Europatrip schleift er Milad regelrecht hinter sich her. Er bringt sie in sein Büro. Die Tür bleibt offen, so dass alle hören, wie er Milad hysterisch anschreit: »Was hat mein Freund mit dir gemacht. Sage mir, was?????« Milad sagt nichts. Odai schlägt sie. Wir hören das Klatschen der Schläge bis an den Pool. »Was, sag' mir, was?« Milad weint, Odai schlägt sie wieder, und sie schreit ihn an: »Er hat gesagt, dass du eingebildet und arrogant bist. Er hat mich gekauft, um dir eine Lektion zu erteilen. Ja, das hat er gesagt. Das soll ich dir ausrichten.« Odai lässt Milad wegbringen, und alle wissen wir, dass wir sie nie wiedersehen werden. Danach kommt Odai zu mir. Er tobt, ist wütend, und als er dann noch erfährt, dass die irakische Mannschaft verloren hat, gerät er vollends außer sich. Er schlägt mich, überhört meine Bemerkung, dass es immer Gewinner und Verlierer gibt. Er hat keine Lust, mir zuzuhören, befiehlt Azzam, mich abzuführen. Sie bringen mich in eine Zelle im Hauptquartier, und dort bleibe ich fast zwei Wochen. Sie ist größer als die Horrorzelle, in die sie mich steckten, bevor ich zum Fidai ausgebildet wurde. Das Essen ist normal, und die Wärter behandeln mich gut. Am 15. Tag holen sie mich wieder ab, bringen mich aber nicht ins Projekt Nummer 7, sondern auf das Palastgelände ins Al-Hayat, ein neun Stockwerke hohes, modernes Gebäude. Es wird vom Geheimdienst verwaltet, und ich erhalte dort eine Art Wohnbüro: einen Salon mit Schreibtisch, einen Nebenraum mit Toilette, ein Badezimmer. Im Salon steht auch mein Bett. Odai besucht mich im Al-Hayat. Er ist freundlich, ruhig, überlegen wie immer. Er tritt ganz nah vor mich hin, so dass ich seinen heißen Atem spüren kann. Er nimmt seine Brille ab, starrt mich an und faucht: »Mische dich nie mehr in meine Angelegenheiten ein. Du hast mir zu gehorchen und nicht mit mir zu diskutieren.«
8. KAPITEL Die Exzesse 18. Juni 1988, ein Montag. Odai hat mich am späten Vormittag angerufen und mir mitgeteilt, dass er mich am Abend abholen lassen wird. Ich soll meinen Kinnbart abrasieren, nur den Oberlippenbart stehen lassen und eine normale Leibwächteruniform anziehen. Kurz angebunden, klingt seine Stimme noch freundlich. Unsere Meinungsverschiedenheiten sind vergessen, Odai hat mir sogar eine neue Wohnung zukommen lassen: Dieses Appartement liegt auch auf dem Palastgelände; im Mujamaa Al-Kadesija, einem Haus, das ebenfalls vom Geheimdienst genutzt wird. Die Wohnung ist repräsentativ, mit einem großen Wohnsalon, einem Büro, einem Empfangszimmer und sämtlichen Nebenräumen. Ich habe auch Personal. Vier Tage zuvor, am 14. Juni, war mein 24. Geburtstag. Ich habe diesen Geburtstag nicht gefeiert. Was hätte ich auch feiern sollen? Ich war allein in meinem Appartement, das Personal war weg, und ich durchmaß die Wohnung mit langen Schritten, überlegte, wie es wohl meinen Eltern ging, für die mein Geburtstag immer ein Festtag war. Dieser 24. Geburtstag hätte ein tolles Fest werden können, dachte ich und malte mir aus, was wir hätten machen können: einen Saal in einem Hotel mieten, mit Musik, Sängern, Tänze-rinnen. Es wäre perfekt gewesen. Der 14. Juni 1988 war ein Donnerstag, und das ist ein ganz besonderer Tag im Irak. An Donnerstagen haben die meisten Hotels und Cabarets die ganze Nacht über offen, denn Freitag ist Feiertag, der islamische Sonntag. In allen Hotels gibt es wiederum Bars und Nachtclubs mit Sängern, Tänzern, Tänzerinnen. Meine Freunde wären sicher alle gekommen, setzte ich mein Selbstgespräch fort. Im gleichen Moment kamen mir aber wieder diese Selbstzweifel, begann dieses sinnlose Hinterfragen meiner jetzigen Situation: Wären sie wirklich gekommen? Sie haben seit Monaten nichts mehr von mir gehört, denken sie überhaupt noch an mich? Ich ertränkte dieses aufkeimende Selbstmitleid in Whisky, und das machte meinen Kopf wieder frei: Sicher denken sie an mich und haben meine Eltern angerufen und gefragt, ob ich mich bei ihnen gemeldet
habe. Es wissen sicher alle bereits, dass ich verschollen bin. Jetzt hat mich Odai also doch eingeladen, und das freut mich. Er hat am Telefon zwar nicht gesagt, was an diesem Abend im Projekt Nummer 7 stattfinden wird, aber ich ahne es. Nein, ich ahne es nicht nur, ich weiß es. Inzwischen kenne ich Odai, weiß um seinen Hang zur Exzentrik. Außerdem waren die Vorbereitungen der vergangenen Tage nicht zu übersehen. Namir Al-Takriti, Odais Zeremonienmeister, hat seit einer Woche nichts anderes getan, als das Projekt Nummer 7 umzugestalten. Er ließ kistenweise Champagner anliefern, vergatterte den Koch zu Sondereinsätzen, und Hilal Al-Aki, ein Verwandter von Odai, der Namir AlTakriti immer zur Hand geht, wenn Großereignisse ins Haus stehen, pendelte ständig zwischen Palast und Projekt Nummer 7, um Dekorationsmaterial heranzuschaffen. Im Gegensatz zu mir hat Odai alle Möglichkeiten, seinen 24. Geburtstag zu feiern. Er hat diesen 18. Juni seit Jahren zum Festtag werden lassen, und seine Geburtstagspartys waren immer ein Gesprächsthema in Bagdad, weil sie meistens mit Exzessen verbunden waren, die der Öffentlichkeit auch nicht verborgen blieben, weil Odai ja immer in einem der Clubs feierte. Doch nicht nur seine Geburtstagsfeste eskalierten immer mehr - eigentlich war Odais ganzes bisheriges Leben ein einziger Exzess, eine ständige Ausschweifung bei der Suche nach dem eigenen Ich, ermöglicht mit den größten finanziellen Möglichkeiten, die ein Mensch nur haben kann. Odai verfügt über alles: über Geld, Macht, Einfluss. Seine Welt ist die der Dekadenz, Sorglosigkeit und Sünde. Es gibt keine sexuelle Moral, es gibt nur die Jagd nach der Lust. Geht Odai dabei einen Schritt zu weit, decken ihn seine Mitarbeiter. Lassen sich die Fehltritte nicht mehr verheimlichen, schützt ihn die mächtige Hand seines Vaters oder seiner einflussreichen Mutter. Ich habe in den vergangenen Tagen immer wieder darüber nachgedacht, weshalb er zum missratenen Sohn geworden ist, warum er das Leben wie eine Droge in sich hineinsaugen will und dabei einfach nicht bemerkt, dass ihn seine eigenen Möglichkeiten überrollen. In der Schule war er eine Doppelnull, und er wusste das. Er wusste, dass ihn die Lehrer nicht akzeptierten und er seine guten Noten nur deshalb bekam, weil er der Sohn Saddam Husseins war. Die Trag-
weite seines Verhaltens hat er damals wahrscheinlich noch nicht begriffen. Er war noch ein Kind, und Kinder neigen dazu, ihre Eltern zu glorifizieren. Odai glorifizierte seinen Vater, indem er im Stil seines Vaters agierte und seine Untertanen, die Professoren, herumkommandierte. Er machte keine Schularbeiten, kam, wann er wollte, ging, wann es ihm passte. Er brachte seine Freundinnen mit, seine Leibwächter schrieben für ihn die Diktate, seine Privatlehrer die Hausaufgaben. Immer und unter allen Umständen wollte er beweisen, dass er auf die Lehrer Druck ausüben konnte und durfte. Als 14-jähriger düste er mit dem Porsche in den Schulhof, als 15-jähriger hatte er seinen ersten Mitarbeiter, der ihm Mädchen besorgte. Als 16-jähriger schoss er im Al-Alwia-Club mit der Kalaschnikow wild in die Luft, und alle klatschten Beifall, wahrscheinlich auch sein Vater. Ich rasiere mir meinen perfekt gestutzten Kinnbart sorgfältig ab und betrachte mich lange im Spiegel. Reiße meinen Mund weit auf, inspiziere meine neuen Zähne, die sehr gut angepasst sind und mich eigentlich nicht mehr stören. Sie gehören zu mir, mein Kiefer hat sich inzwischen auch an diesen leichten Überbiss gewöhnt. Obwohl ich mich durch das Rasieren ablenke, lässt mich der Gedanken an Odais tierischen Drang zum überzogenen Leben, an seine Genusssucht nicht mehr los. Er hat seinen Lebenstil seit Jahren kaum verändert. Täglich gegen 14 Uhr, nach dem Mittagessen, das er entweder im Projekt Nummer 7 oder in einem der Clubs von Bagdad einnimmt, macht er sich mit seiner Leibgarde auf die große Tour. Im Konvoi werden alle Caféhäuser Bagdads abgeklappert. Danach geht es zu den Mädchenschulen und Universitäten. Odai patroulliert dort wie ein Streifenpolizist auf und ab. Wenn ihm ein Mädchen gefällt, hupt er, bleibt stehen, fährt auf den Gehsteig und folgt dem Mädchen so lange im Schrittempo, bis es sich ansprechen lässt. Weigert sie sich, schickt er seine eigens angestellten Mädchenaufreißer. Bleiben auch die erfolglos, lässt er sein Opfer einfach entführen. Er braucht beinahe jeden Nachmittag Sex. Manchmal bringen sie ihm gleich drei oder vier Mädchen in eines seiner Häuser. Entweder sucht er sich eine aus, geht mit der ins Bett und wirft die anderen wieder hinaus. Oder er behält alle und zwingt sie zum Gruppensex. Am frühen Abend beginnt Odai zu trinken. Meistens Bier, Cognac
und Whisky. Odai ist kein Mensch, der den Alkohol gierig in sich hineinschüttet, er trinkt genussvoll. Trotzdem gibt es fast keinen Abend, an dem er nüchtern ins Bett kommt. Bevor er sich zum Weggehen bereitmacht, führt er Dutzende von Telefonaten mit diversen Mädchen. Danach überlegt er sich eine Ewigkeit, was er anziehen soll. Meistens nimmt er am Ende sowieso, was sein Hausschneider Yassem für ihn ausgewählt hat. Aber vorher gibt es immer heftige Diskussionen zwischen den beiden. Ähnlich lange dauert das Anlegen der Accessoires. Odai besitzt weit über hundert Uhren, unzählige Ringe und Goldketten. Seine Schmuckschatullen übersteigen jedes Vorstellungsvermögen. Obwohl Odai alles besitzt, was sich ein Mensch wünschen kann, ist er auf fast alles neidisch, was andere haben. Ist jemand besser und extravaganter gekleidet, lässt Odai ihn von seinen Leibwächtern entfernen. Hat jemand eine exklusivere Rolex, will Odai sie auch haben. Fährt jemand ein besseres Auto, verliert Odai die Kontrolle über sich. In den Clubs Takiyat Al-Darawich, Al-Said, Al-Sawarek und Al-Alwia achtet somit jeder strengstens darauf, nicht mit Odai aneinander zu geraten. Wer ihm nicht aus dem Weg gehen kann, tut gut, sich devot zu verhalten Ähnlich ist es in den Hotels in Bagdad. Es gibt keinen Hotelportier, keinen Bar- oder Nachtclub-Geschäftsführer, der Odai nicht kennt. Wenn Odais Horde wie ein gieriger Heuschreckenschwarm einfällt, gelten keine Regeln mehr. Meistens erscheint Odai mit acht bis zehn Frauen, die alle hinter ihm gehen müssen, wenn er das Hotel betritt. Seine Lieblingshotels sind das Babel Obri, das Al-Rasheed und das Al-Meridian. Betritt Odai Foyers, Restaurants, Bars oder Tanzsäle, haben alle Anwesenden aufzustehen und ihn zu begrüßen. Sollten andere Männer in seiner Anwesenheit einen Tanz wagen, betrachtet Odai dies als Affront und lässt den Tänzer von seinen Leibwächtern abführen, verprügeln, im schlimmsten Fall wegen Präsidentenbeleidigung sogar ins Gefängnis werfen. Odai will die Tanzfläche für sich und seine Mädchen. Meistens schickt er die Mädchen alleine auf die Tanzfläche. Er beobachtet sie nur gierig und schreit ihnen zwischendurch ordinäre Worte zu. Ist er dann in Stimmung, greift er zu seinem Revolver und schießt im Takt der Musik gegen die Decke, auf den Lüster, die Wandverkleidung.
Manchmal feuert er sogar auf das Personal, speziell dann, wenn es ägyptische Kellner sind, deren es Tausende in Bagdad gibt. Odai hasst die ägyptischen Gastarbeiter. Für ihn sind sie wie die Pest. Odai fühlt sich bei diesen Sauftouren groß und stark und mächtig. Er wirkt, als ob er sich ständig etwas beweisen müsste. Doch wem muss Odai durch seinen selbstzerstörerischen Lebensstil etwas beweisen? Seinem übermächtigen Vater, der sich wie ein Gott feiern lässt und sich im ganzen Land 83 Schlösser bauen ließ? Odai muss schier verrückt werden, wenn er in seinem Ferrari durch das Land donnert und an jeder Ecke ein Bild, eine Statue, eine heldenhafte Darstellung seines Vaters sieht. Oder wenn er den Fernseher anstellt und der Sprecher sich förmlich überschlägt: »Saddam, der Präsident, der Oberste Befehlshaber, der Führer des Nationalen Kommandorates, der Held von Kaddissiyeh, der Ritter der arabischen Nation, alfaris Al-Mighwar - der tollkühne und angriffslustige Ritter. Saddam, der direkte Nachkomme des Propheten. Saddam, der edle Kämpfer, der von einer Familie abstammt, zu der auch der Imam Al-Hussein, der Ahnherr, der Sohn des Imam Ali ibn abi Talib, gehörte.« Odai ist der erste Sohn des Präsidenten. Er wurde in eine Welt hineingeboren, die so absurd und irreal ist, dass ein Kind kaum verstehen kann, was dort um es herum und mit ihm passiert. Die Schule war ein Spaß, das Architekturstudium ein Scherz. Blitzschnell durchlief er Lebensphasen, die andere Kinder prägen. Er hielt sich nicht damit auf, sich prägen zu lassen. Sein Architekturstudium absolvierte er in Rekordzeit, mit hervorragendem Abgangszeugnis, obwohl er zu keiner einzigen Prüfung angetreten war. Auch wenn er nicht einen einzigen Entwurf eines Hauses abgegeben hat. Vermutlich weiß er gar nicht, dass ein Haus ein Fundament haben muss. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem alle wichtigen Professoren der Bagdader Universitäten zu einem Festakt in das Auditorium Maximum gebeten waren. Wir Studenten waren nicht zugelassen, aus Angst vor einem möglichen Eklat. Odai wurde nämlich zum Ehrendirektor der Universität ernannt. Mit 23 Jahren. Der Präsidentensohn hatte den Bau der Technischen Universität Saddam finanziert. Selbstverständlich hat den Bau nicht er, Odai, aus seiner Privatschatulle bezahlt, sondern das irakische Volk.
Offiziell wurde aber verlautbart, dass »Herr Odai Saddam Hussein« die Millionen zur Verfügung gestellt habe. Er wurde nicht nur zum Ehrendirektor der Technischen Universität Saddam ernannt. Einer der Universitäts-Professoren, Mazen Abd AlHamid, schlug vor, Odai Saddam auch zum Vorsitzenden der Universität zu wählen. Der Vorschlag wurde ohne Gegenstimme angenommen. Ein Student, der keinen richtigen Satz zustande bringt, wurde also Vorsitzender der Universität. Für uns normale Studenten war das damals ein Schlag ins Gesicht, wahrscheinlich für die Professoren auch, aber keiner hatte den Mut, sich darüber zu beschweren. Ein falsches Wort in diesem Zusammenhang, und man wäre blitzartig von der Universität entfernt, vielleicht sogar getötet worden. Jede Kritik an der Familie des Präsidenten ist bei Strafe verboten. Nicht weniger grotesk als seine Ernennung zum Vorsitzenden der Universität war Odais Wahl zum Präsidenten des Nationalen Olympischen Verbandes. Er weiß bis heute nicht, wie viele Spieler ein Fußballteam bilden, aus welchen Disziplinen der Zehnkampf besteht, wann überhaupt die Olympischen Spiele stattfinden. Während ich mich abtrockne und Odais Lebensgeschichte im Zeitraffer in meinem Kopf ablaufen lasse, gehe ich in den Salon, mache mir einen Drink. Es ist jetzt kurz nach Mittag, ich habe aber keinen Hunger. Ich setze mich auf die bequeme Couch und mache erstmals stichwortartige Notizen über Odai. Versuche mich an Gespräche und Einzelheiten zu erinnern, an Personen, die ich von der Universität her kenne, und an Männer, die ich seit meiner Ausbildung kennen gelernt habe. »Munem Hamad«, überlege ich, »ihm kann man vertrauen. Er ist korrekt, der einzige Offizier, der diesen ganzen Scheiß durchschaut und zumindest halbwegs normal vorgeht. Er macht bei diesem schmutzigen Spiel zwar mit, aber er leidet darunter, und das macht ihn sympathisch.« Ich beginne aber nicht mit Munem Hamad, sondern mit Abbas AlJanabi. Zu ihm vermerke ich: »Direktor der Zeitungen Odais.« Ich muss lachen, als ich Al-Janabis Namen notiere. Al-Janabi ist ein Waschlappen, ich habe ihn einmal im Olympischen Club getroffen. Sie haben ihn zum Direktor der Zeitungen Odais gemacht, nachdem Odai im Frühjahr des vorhergehenden Jahres die Nichte Al-Janabis vergewaltigt hatte.
Die Zeitungen Babel und Al-Rachid wurden unter Odais Obhut gestellt, weil sein Vater die Kontrolle über die Medien haben wollte und Odai sich plötzlich einbildete, ein großer Schriftsteller zu sein. In einer regelrechten Zeremonie ließ er sich zum Präsidenten der Zeitungen ernennen. In einem der ersten Editorials, die er sicher nicht selber schrieb, die aber seinen Namen trugen, verglich er sich sogar mit dem bekannten Autor Al-Jawahiri, von dem ihn Welten trennen. Um das intellektuelle Niveau zu heben, ließ Odai gleich ein so bedeutendes Werk wie das Buch seines Großvaters Khairallah Tulfah veröffentlichen. Der Titel des baathistischen Pamphlets: Drei Dinge, die Gott nicht hätte erschaffen sollen: Perser, Juden und Schmeißfliegen. Khairallah Tulfah ist ein Fixpunkt im Leben der Husseins. Die graue Eminenz, um die sich alles dreht. Er hat alle geprägt, sowohl Saddam Hussein als auch Odai. Ich nehme einen neuen Zettel. Ganz oben auf notiere ich den Namen Khairallah Tulfahs. Dann überlege ich: »Wer ist Khairallah Tulfah, der die Perser, Juden und Schmeißfliegen hasst wie die Pest?« Ich erinnere mich: Khairallah Tulfah stammt aus Takrit. Er war ein Offizier, der sich 1941 an dem Aufstand gegen den Haschemitenkönig Feisal II. beteiligte. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee hielt er seinen Clan mit Straßenraub und Handelsgeschäften über Wasser. Er begann also als kleiner Straßendieb. Ich notiere diesen Gedankengang: »Khairallah, zuerst Offizier, danach Straßendieb!« Dann der nächste Schritt: Saddam Husseins leiblicher Vater starb, als der noch nicht geboren war. Nach seiner Geburt heiratete seine Mutter Ibrahim Al-Hassan, der aber von ihm nichts wissen wollte. Als Neunjähriger wurde Saddam zu seinem Onkel, eben zu Khairallah Tulfah, abgeschoben. Ich notiere deshalb: »Saddam wird zu Khairallah Tulfah abgeschoben.« Plötzlich fallen mir Einzelheiten ein, die mir Odai schon in der Schule erzählt hatte. Ich schiebe sie aber beiseite, um den roten Faden nicht zu verlieren, und spinne den Gedanken weiter: Khairallah hatte einen Sohn, Adnan Khairallah. Er war der einzige Freund, den Saddam in Takrit hatte. Als Khairallah Tulfah 1955 Takrit verließ und nach Bagdad
ging, nahm er Saddam, Adnan und seine Töchter mit. Sajida ist die Älteste. Nach moslemischen Ritus wurden Saddam und Sajida schon als Kinder füreinander bestimmt. Auf meinen Notizzettel schreibe ich deshalb: »Saddams spätere Ehefrau Sajida ist die Tochter von Onkel Khairallah.« Weiter: Die Familie Tulfah kommt in Bagdad zu Reichtum und Macht. 1963, nach der ersten Machtübernahme der Baath-Partei, heiratet Saddam Hussein Sajida Tulfah, seine Cousine. 1964 wird der erste Sohn namens Odai geboren. Saddam Hussein hat keine Zeit, sich um den Sohn zu kümmern. Politik geht vor. 1966 kommt sein zweiter Sohn zur Welt. Kusai. Ich lehne mich zurück und erinnere mich an das Verhältnis Odai - Kusai: Schon in der Schule machte Odai öfters abfällige Bemerkungen über seinen jüngeren Bruder. Kusai werde von seinem Vater bevorzugt, verhätschelt, abgeschirmt. Und tatsächlich: Kusai sorgte im Gegensatz zu Odai während seiner Schulzeit nie für Aufsehen erregende Skandale. Er galt immer als der Ruhigere, der Ausgeglichenere, der Lieblingssohn, um den sich der Vater weitaus mehr gekümmert hat. Odai wuchs hingegen bei seinem Großvater Khairallah auf. Er wurde also auch zu Onkel Khairallah Tulfah abgeschoben - genauso wie damals sein Vater in Takrit. Und diese enge Bindung Großvater-Enkel betonte Odai ständig, zum Beispiel wenn er in der Schule vor uns auftrumpfte und donnerte: »Mein Großvater hat meinem Vater beigebracht, jeden Feind zu töten.« Und dann sagte er noch drohend: »Wartet nur, bis ich Präsident bin. Ich werde grausamer sein als mein Vater. Ihr werdet noch oft an diese Worte denken, ihr werdet euch nach Saddam Hussein zurücksehnen.« Die Erinnerung weckt wieder dieses beklemmende Gefühl in mir. Ich bin doch Odais Fidai, sein Leibeigener. Ich springe hastig auf, mache einige Schritte, starre in den Spiegel, der neben der Couch an der Wand hängt. Ich sehe Latif Yahia, der seit zehn Monaten nicht mehr Latif Yahia ist, sondern Odai Saddam Hussein. Der Doppelgänger. Sollte Odai jemals an die Macht kommen, ist mein Schicksal besiegelt. Die Menschen im Irak hassen ihn schon jetzt wie die Pest; wie werden sie ihn erst hassen, wenn er der erste Mann ist?
Eigentlich ist alles schon entschieden, der Clan dominiert sowieso alles: Nach der Machtübernahme durch Saddam Hussein 1979 wurde Adnan Khairallah zum Verteidigungsminister ernannt, Onkel Tulfah zum Gouverneur von Bagdad. Saddam hat also sofort all seine Freunde um sich geschart, an der Spitze der Macht. Auf meinen Zettel schreibe ich: »Saddam Präsident, Adnan Minister, Onkel Khairallah Gouverneur von Bagdad.« Ich schwitze. Ist der Ventilator ausgefallen? Oder ist es Angstschweiß? Das Nachdenken strengt mich an, ich nehme noch einen Schluck, lege das Blatt Papier zur Seite, will mich kurz ablenken. Gehe ins Badezimmer, drehe das kalte Wasser auf. Zweimal, dreimal schütte ich mir mit hohlen Händen Wasser ins Gesicht. Das tut gut. Ein kühler Kopf ist wichtig in deiner Situation, Latif, ermahne ich mich. Wo kommt dieser Wahnsinn her? Warum ist Odai, wie er ist? Seit unserer Schulzeit hat sich Odai kaum verändert. Das Wichtigste in seinem Leben waren schon damals Frauen und Autos. Um sich selbst zu bestätigen, musste er schon immer andere unterdrücken. Kein Wunder, wenn man daran denkt, wie sein Großvater war. Von ihm hat Saddam seinen Hang zur Gewalt, den er in der Politik auslebt. Genau wie Odai, doch der findet sein Ventil in der High Society von Bagdad. Die Schlüsselfigur aber ist Großvater Khairallah. Als Odai 13 war, erzählte er uns immer von seinem Großvater. Wie er als Offizier kompromisslos gegen die Engländer vorging; wie er in Bagdad den Mafia-Clan der Takritis aufbaute. Mit welchen Methoden er, der eigentlich nicht mehr war als ein kleiner Straßendieb in Bagdad, das Netz aus Gewalt und Macht immer enger spannte. Der Straßendieb von Bagdad - er wurde für Odai zum Mythos, zur Bezugsperson, zum geistigen Vater, so wie er für Saddam Hussein der Gewalt-Mentor gewesen war. Er lehrte beide das Gesetz des Mordens. Die Anwendung dieser Lehre hat Saddam Hussein an die Spitze der Macht gebracht, und Odai war sich dessen bewusst. Es wurde ihm ja förmlich eingetrichtert. Nur konnte Odai dieses Wissen nie in die Tat umsetzen. Wie hätte Odai von frühester Kindheit an besser sein können als sein Vater, der Präsident, der Gott, der direkte Nachkomme des Propheten?
Machte Odai als Kind etwas falsch, wurde er von seinem Vater mit einem Eisenrohr geschlagen. Zeigte er sich ängstlich, zwang Saddam ihn, Videos über Hinrichtungen und Folterungen anzusehen. Saddam begeisterte sich an diesen Videos, und Odai wagte es nicht, sich dagegen aufzulehnen, denn Grausamkeit ist in der Vorstellung von Saddam Hussein kein verwerflicher Charakterzug, sondern etwas Positives. Wurde es Odai zu arg, flüchtete er zu Großvater Khairallah. »Er versteht mich, er hört mir zu, er interessiert sich für mich«, hatte uns Odai in der Schule immer erzählt. Es ist jetzt kurz nach 15 Uhr. Ich habe noch knapp zwei Stunden Zeit, bis ich abgeholt werde, um ins Projekt Nummer 7 zu fahren. Ich sortiere meine Notizen, gehe alles Punkt für Punkt durch, da fällt mir noch etwas ein. Odai erzählte in der Schule und auch später an der Universität oft und schwärmerisch von seiner Mutter. Er sprach von ihr wie von einer Göttin, einem Fabelwesen, einer Statute aus Elfenbein. Odais Mutter, Sajida, zeigte sich nie in der Öffentlichkeit an der Seite Saddam Husseins. Sie hatte im Hintergrund zu stehen und ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter zu erfüllen. Es war in Bagdad ein offenes Geheimnis, dass Saddam ständig irgendwelche Verhältnisse hatte. Die Frauen wurden immer von Kamel Hannah, Saddams treuem Diener und Vorkoster, in den Palast geschmuggelt. Lange Zeit konnte Saddam Hussein das verheimlichen, doch als er ein Verhältnis mit der Tennisspielerin Najida hatte, kam alles ans Tageslicht. Najida war die Ehefrau des Kultur- und Medienministers Hamad Yusef Hamadi. Angeblich wollte Saddam Hussein wegen ihr sogar seine Familie verlassen, verstoßen. Tatsache ist jedenfalls, und das habe ich als Fidai aus vielen Bemerkungen Odais entnommen, dass er, Odai, Kamel Hannah, den Vorkoster seines Vaters, abgrundtief hasste: »Er bringt meinem Vater die Frauen und zerstört damit meine Mutter«, schrie er immer wieder, wenn er betrunken um drei Uhr früh am Pool im Projekt Nummer 7 lag. Er hat auch gesagt, dass sein Großvater Khairallah den Vorkoster am liebsten umbringen würde. Ich überlege lange, wer zu Odais Fest wohl kommen wird. Sein Vater
und seine Mutter kommen nicht. Ebenso wird sein Bruder nicht erscheinen; da bin ich mir ganz sicher. Erstens wäre ein Auftreten der gesamten Familie außerhalb des Palastes zu gefährlich, denn das Projekt Nummer 7 kann nicht so abgesichert werden wie der Palast. Und zweitens hat es in den vergangenen Tagen zuvor sicher schon ein Geburtstagsessen im kleinen Kreis gegeben. Allzu viele Politiker werden natürlich auch nicht kommen. Odais Ruf ist schlecht, die gute Gesellschaft Bagdads meidet den Präsidentensohn, geht schon seit Jahren auf Distanz zu ihm, weil sie seine Unberechenbarkeit kennt und alles, absolut alles tut, um nicht in eine peinliche, folgenschwere Situation hineingezogen zu werden. Außerdem hätte Odai dann ganz sicher mich, seinen Doppelgänger, nicht eingeladen. Oder ist Odai so selbstbewusst, dass es ihm egal ist, wenn die Leute erfahren, dass er einen Fidai hat?, überlege ich. Andererseits ist es im Irak auch kein Geheimnis, dass alle in der Präsidentenfamilie einen Fidai haben, und das normale Volk, das durch die Fidais getäuscht werden soll, hat sowieso nie die Chance, nahe genug an uns heranzukommen, um vorhandene kleine Unterschiede festzustellen. Die öffentlichen Auftritte sind jeweils ein derartiges Schauspiel, dass man sich mehr auf das Spektakel selbst als auf die handelnden Personen konzentriert. Die privaten Freunde Odais haben mich in den vergangenen Monaten wiederum fast alle im Projekt Nummer 7 kennen gelernt. Sie unterliegen der gleichen Schweigepflicht wie wir alle. Für sie gelten die gleichen Spielregeln wie für mich: Wer etwas über die Präsidentenfamilie nach außen trägt, ist ein toter Mann. Gegen 20 Uhr holen sie mich ab. Wir fahren in Odais Haus. Die Zeremonienmeister haben ganze Arbeit geleistet. Überall aufwändige Blumenarrangements, neben dem Pool steht eine kleine Bühne mit einer Ton- und Lichtanlage. Der Partyraum im ersten Stock ist ein einziger Glitzerkasten. Die Hausangestellten tragen strahlend weiße, frisch gestärkte Uniformen mit goldenen Knöpfen und die obligaten weißen Handschuhe. Odai begrüßt mich nur flüchtig, wirft mir ein »Amüsier' dich« zu. Seine distanzierte Haltung soll wohl signalisieren, dass ich mich eher im Hintergrund halten und mit den Leuten nicht sprechen soll. Nach und nach kommen sie alle: Dafer Aref. Er ist der Direktor des
Olympischen Clubs. Dafer ist ein Speichellecker Odais und mit der Schauspielerin Hanan Abdul-Latif verheiratet. Odai hatte Hanan AbdulLatif während seiner Studienzeit immer wieder von seinen Leibwächtern abholen und auf eine seiner Farmen außerhalb von Bagdad bringen lassen. Sie konnte Odai nie ausstehen, hat sich ihm aber hingegeben, weil sie keine andere Wahl hatte. Jeder wusste damals, was Odai mit der Architekturstudentin Nahle Sabet gemacht hatte. Nahle Sabet hatte sich ihm verweigert; Odai vergewaltigte sie und warf sie seinen ausgehungerten Dobermännern und Rottweilern zum Fraß vor. Hanan Abdel-Latif begrüßt Odai trotzdem freundlich, aber er schenkt ihr nicht einen Blick. Sie übergeht das, wendet sich Abdel Akle zu. Abdel Akle ist ein kleiner, eigenartig verbauter Mann mit schiefen Schultern und einem schlaffen Händedruck. Aber Abdel Akle ist im Irak ein Star. Er ist der Lieblingssänger Odais, hat unzählige Schallplatten aufgenommen, ist ständig im Radio zuhören, tritt auch im Fernsehen auf und ist bei allen Partys Odais dabei. Abdel hat mit seiner Musik noch nicht begonnen, seine Kapelle spielt angenehme instrumentale Hintergrundmusik. Hanan Abdel-Latif setzt sich mit ihrem Mann und dem Sänger Abdel Akle an einen Tisch. Ich verstehe nicht, was sie sagen, beobachte nur, dass sie sich prächtig unterhalten und mehrmals schallend lachen. Der Nächste, der kommt, ist Mohamad Al-Bahodadi, ein Freund Odais und in Bagdad als unersättlicher Hurenbock verschrieen. Zum Einstand und zum Beweis seiner Freundschaft machte er Odai seine Schwester zum Geschenk. Mit ihm erscheint Dureid Ghannaoui, der Autohändler, den Odai durch seinen Autowahn reich gemacht hat. Ich habe sie nicht gezählt, aber Odai besitzt sicher mehr als hundert Autos: Maseratis, Ferraris, Porsches, Jaguars, Mercedes in allen Ausführungen und Farben. Autos sind für Odai wie Waffen: Kultgegenstände, mobile Herzeigestücke, die sein Selbstbewusstsein stärken und ihn zu etwas Besonderem machen sollen. Um sicher zu gehen, dass er als einziger im Irak einen Ferrari fährt, setzte Odai sogar ein Gesetz durch, das die Einfuhr von Ferraris untersagt. Diese Autos sind in zwei Garagen neben dem Al-Hayat-Hochhaus auf dem Palastgelände abgestellt. Während meiner Ausbildungszeit als Fidai bin ich mehrmals dort gewesen - kann aber heute noch nicht
glauben, was ich sah! Dutzende von Mechanikern haben diese Autoflotte zu pflegen und instand zu halten. Chefmechaniker ist Tamal Al-Takriti. Die Autos sind in Blöcken zusammengefaßt: Block eins ist die Mercedesflotte. Da steht Mercedes neben Mercedes, in allen Farben, mit den raffiniertesten Ausstattungen wie ABS und Lautsprecheranlagen, mit einer Tonqualität, dass man sich wie in einem rollenden Walkman fühlt, und mit eingebauter Bar aus edlem Holz, mit Fernseher, Telefon. Kein einziger Mercedes liegt unter der 300er-Klasse. Es sind fast ausschließlich auffrisierte 500er. 500 SEL, die lange Version, sechs Stück. 500 SE, das Stärkste, was Mercedes anzubieten hat, zehn Stück. SL-Cabrios in Schwarz, Dunkelblau, Knallrot. Sechzehn Stück. Keines dieser Autos ist billiger als hunderttausend Dollar. Daneben die Ferrari-Flotte: Mehrere knallrote Testarossa, ein alter Dino, vier 348er. Die Autos funkeln und blitzen, und nirgendwo ist auch nur ein Staubkrümelchen zu sehen. Hier ist alles klinisch sauber, steril wie in einer Intensivstation, aber ich wage zu bezweifeln, ob eine Intensivstation so hervorragend ausgestattet ist. Die Wände der Garage sind mit Fliesen verkleidet, der Boden hat einen Spezialbelag. Hinter der Ferrari-Flotte stehen die Lamborghini-Countouch. Autos wie Flugzeuge mit Höchstgeschwindigkeiten von über 300 km/h. Odai peitscht diese Autos durch Bagdad, knallt mit 240 km/h durch die Straße der Palästinenser. Schon in der Schule war er mit diesen Luxusschlitten der Star unter seinen Klassenkameraden, wenngleich ich diesen Reichtums-Herzeige-Wahn nie goutierte. Faszinierend war es dennoch. Den Autowahn dürfte Odai von seinem Vater haben. Auch Saddam Hussein besitzt eine fast unüberschaubare Autoflotte, die aber in anderen Garagen untergebracht ist. Wie sein Vater lenkt auch Odai seine Autos immer selbst; er fährt nie mit einem Chauffeur. Wie bei seinem Vater, so müssen auch bei ihm beim Anfahren die Reifen immer quietschen. »Autofahren«, sagte mir Munem Hamad bei meiner Fahrausbildung immer wieder, »ist etwas Heiliges, Wertvolles, Besonderes. Denke immer daran.« Neben den sportlichen Lamborghinis stehen die silbergrauen Maseratis. Die Bi-Turbos. Pfeilschnelle Autos, die aber nicht danach aussehen. Klassische Sportwagen, aber keine Turbo-Monster. Die beeindruckendste Flotte ist aber die Jaguar- und Porsche-Gale-
rie. Odai hat alle 911er-Porsche. In allen Ausführungen und in allen Farben. Er hat Cabriolets, Targas, Turbo-Porsches. Er hat alles. Ebenso die Jaguar-Abteilung: Vier E-Modelle, diese zigarrenartigen Sportklassiker, ein Auto wie ein Phallus. Zwei davon in CabrioAusführung. Die weinroten Schweinsledersitze sind weich und glatt wie die Innenseiten der Schenkel einer Frau. Die Speichenräder sind vergoldet. Die Armaturen sind aus feinstem Chrom, der Klang des Motors gleicht einer Scud-Rakete vor dem Abflug. Ein paar Meter weiter achtundzwanzig 12-Zylinder. Neueste Modelle, dazu dezent-britische Jaguar-Oldtimer. Ein Vermögen. Autofanatiker sollte man hier nicht herlassen. Alle Luxuskarossen müssen ständig peinlich genau geputzt werden. Selbst die Motoren kontrolliert Odai. Er hat keine Ahnung, was die Technik betrifft, verliert aber die Selbstkontrolle, wenn nur ein fettiger Fingerabdruck eines Mechanikers auf den verchromten Zylinderköpfen zu sehen ist. Nach einem Unfall wird das Fahrzeug nicht repariert, sondern verschrottet. Odai testet alle Neuerwerbungen auf Geschwindigkeit und Fahrverhalten immer selbst. Bevor er diese Tests durchführt, lässt er von seinen Leibwächtern Teilstücke der gut ausgebauten Al-Kadisja-Autobahn sperren, die Bagdad mit Kuwait verbindet. Der Test selbst ist ein absurdes Zeremoniell. Um sicherzugehen, dass sein neuestes Lieblingsspielzeug hält, was es verspricht, veranstaltet er Autorennen. Vierundzwanzig Stunden vor dem Test instruiert der Meister den Chef der Werkstätte, Tamal AlTakriti. Am Testwagen müssen neue Reifen aufgezogen werden, klebrige Goodyear-Slicks, Pneus, wie sie bei Formel-I-Rennwagen verwendet werden. Zusätzlich muss aller unnötige Ballast wie Beifahrersitz und Rückbank so vorhanden, aus der Karosse entfernt werden. Am Testtag selbst erscheint Meister Odai in der Garage, lässt seine Leibwächter antreten und weist ihnen andere Autos zu. Die Leibwächter sind seine Kontrahenten, seine imaginären Gegner. Im Konvoi düst das Testteam auf die gesperrte Autobahn. Jeweils zwei Autos treten gegeneinander an. In einem LamborghiniCountouch sitzt Odai, festgegurtet im Schalensitz. Daneben steht ein Ferrari Testarossa, am Steuer ein Leibwächter mit ernstem Blick. Ein Schiedsrichter zählt: »... fünf ... vier ... drei ... zwei ... eins!« Mit quietschenden Reifen starten die Geschosse, donnern über die Autobahn,
und wer gewinnt? Selbstverständlich Odai! Immer. Wehe dem, der den Meister besiegen wollte! Niemand fährt schneller als Odai. Die Leistung des Autos ist sekundär, wichtig ist das extreme fahrerische Können und der grenzenlose Mut des Präsidentensohnes. Den Tests folgen endlose Diskussionen über Fahrverhalten, Beschleunigung, Straßenlage, technische Details. Odai liebt es, sich in technischen Details zu verlieren, obwohl er keine Ahnung davon hat. Er spricht von Übersteuern und Untersteuern, von Aerodynamik und Anpressdruck. Hinter der Garage hat Odai eine Autolackiererei errichten lassen. Eines von Odais Lieblingsspielen ist es nämlich, sein Auto nach der Farbe seines Anzuges oder seiner Krawatte auszuwählen. Trägt er einen grauen Anzug, muss das Auto auch grau sein. Gibt es gerade keinen grauen Mercedes, lässt er das Auto einfach umspritzen. Außer der Autoflotte besitzt Odai noch vier Hubschrauber. Und selbst die lässt er in seiner Lackiererei ständig nach seinen extravaganten Vorstellungen gestalten. Odai verabscheut Militärfarben. Seine Hubschrauber müssen aussehen wie die der saudischen und kuwaitischen Prinzen. Innen wie ein Salon, außen wie ein elegant-sportliches Fluggerät. Meistens lässt er sie in seiner Lieblingsfarbe spritzen, WeißBlau, mit so genannten Rallye-Streifen. Der Höhepunkt, die absolute Inkarnation der Dekadenz, ist jedoch eine Sonderanfertigung, ein Einzelstück, das es nur in der gefliesten Garage des irakischen Präsidentensohnes gibt: ein 500er-Mercedes mit einer Rolls-Royce-Maschine. Ein italienischer Autofabrikant wurde extra nach Bagdad eingeflogen, um dieses Wunderding zu entwerfen und dessen Herstellung zu überwachen. Zwei Monate dauerte es, bis Odais Mechaniker diese Luxuskarosse mit der teuflisch starken Maschine so hingebracht hatten, dass alles funktionierte. Der Motor hat einen Sound wie die raketengetriebenen Speed-Cars bei den Weltrekordversuchsfahrten auf den Salzseen im US-Bundesstaat Utah. Die meisten dieser Luxuskarossen erwirbt Odai direkt bei den europäischen Händlern, Dureid übernimmt lediglich die Abwicklung des Transports. Trotzdem verdient Dureid bei je-der Anschaffung. Geld spielt im Leben Odais keine Rolle. Keiner seiner Mitarbeiter erhält einen geregelten Lohn. Auch ich nicht. Am Ende meiner Ausbildung habe ich Munem Hamad auf das Thema Geld angesprochen. Als Soldat erhielt ich 22 Dinar monatlich. Ein lächerlicher Betrag, 22 Dinar
sind kaum mehr als 25 Dollar. Munem Hamad gab mir damals den Tip: »Wenn du Geld brauchst, wende dich direkt an Odai, und der wird seinem Zahlmeister die Anweisung geben, dir soviel zu geben, wie du brauchst.« Bisher bin ich Munem Hamads Rat noch nicht gefolgt. Ich brauchte kein Geld. Für Essen und Trinken sorgen meine Hausangestellten, Kleidung ist immer vorhanden und wird täglich frisch gewaschen und gebügelt. Toilettenartikel wie Zahnpasta, Rasierwasser, Seife, Shampoos werden automatisch erneuert, wie in einem FünfSterne-Hotel. Odai begrüßt den Autohändler stürmisch. Er umarmt ihn, küsst ihn, und Dureid grinst ergeben. Nach Dureid kommen in Minutenabständen Ali Asuad, Zaid Kammunah, Muand Aani und Amer Aasami. Diese Männer spielen eine besondere Rolle in Odais Leben. Alle sind sie direkt oder indirekt damit beschäftigt, für Odai Frauen und Mädchen zu beschaffen. Ali Asuad ist sogar Odais Angestellter und besorgt die frischen, jungen Mädchen an den Universitäten und Schulen, wenn Odai bei seinen Streifzügen erfolglos geblieben ist. Odai verheiratete ihn mit einem Mädchen, das er früher vergewaltigt hatte. Zaid Kammunah ist einer der Chefzuhälter Bagdads, eine üble Figur. Er hat die diversen Bars und Nachtclubs unter Kontrolle, dirigiert die Prostitution in Bagdad, ist der Sex-Pate. Offiziell besitzt Zaid einen Export-Import-Handel. Dieses Geschäft scheint aber nur eine Tarnung zu sein, seine Hauptimportware dürften Mädchen sein. Er importiert sie aus Asien. In den meisten Bars Bagdads arbeiten Asiatinnen. Zaid hat diese Frauen unter Kontrolle, und Odai ist an diesem Frauenhandel beteiligt. Die Gewinne daraus investiert Odai in Hotels, Bars, seine privaten Spielereien. Über Zaid sagt man, dass ihm halb Bagdad gehört. Auch Muand Aani ist ein Frauenhändler. Mit den Männern kommt ein ganzer Schwung junger Damen. Alle tragen sie tolle, eng anliegende Kostüme, einige sogar knappe Miniröcke, wie sie in anderen arabischen Ländern undenkbar sind. Odai ist die Religion aber völlig egal. Gebete verrichtet er nie, und sein Leitspruch ist: »Was habe ich von Allah? Nichts. Gibt mir Allah einen einzigen Dinar? Nein, Allah gibt mir keinen. Haltet euch also lie-
ber an Odai, der hat Dinare, und deshalb ist er größer als Allah.« Ich habe ihn seit September 1987 erst ein einziges Mal beten gesehen, als er die heilige Stätte Al-Tekiia Al-Sufia besuchte. Selbstverständlich wurde das Ereignis von Kameramännern aufgezeichnet und von Fotografen festgehalten. An nächsten Tag wurde groß berichtet, dass »Herr Odai Saddam Hussein, der große Sohn des Präsidenten, die heilige Stätte besucht« habe. In der Zwischenzeit hat Sänger Abdel Akle seinen Platz auf der Bühne eingenommen. Er wird ihn in den nächsten Stunden auch nicht mehr verlassen. Odai will keinen anderen Sänger, und Abdel Akle schafft es, Auftritte von sechs bis acht Stunden durchzuhalten. Um die Stimmung anzuheizen, beginnt Abdel Akle mit Odais Lieblingslied: Saddam, oh Saddam, du großer Mächtiger. Es ist eine klebrig-heuchlerische Hussein-Lobeshymne, die ständig und überall gespielt wird, doch Odai bringt dieser weiche Rhythmus mit den schier endlos hinausgezogenen Gesangspassagen, in denen immer und immer wieder beteuert wird, wie groß und mächtig Saddam ist, in Fahrt. Alle singen mit, und Odai schwenkt dabei sein Cognac-Glas im Takt. Er sitzt mit drei Frauen, die ich nicht kenne, neben der Bühne. Gröhlt, trinkt, gröhlt. Ist bereits jetzt leicht betrunken. Als Abdel das nächste Lied anstimmt, springt Odai auf und zieht das Mädchen in dem dunkelblauen, engen Seidenkostüm hoch. Sie ist mit ihren schwarzen Glanzlackschuhen mit den hohen, Bleistiftabsätzen größer als er. Sie hat ihre Haare blond gefärbt, trägt viel Make-up, wie Odai es liebt. Ihre Lippen sind dunkelrot und glänzen, auf den Wangen hat sie bläuliches Rouge. Sie hat es raffiniert aufgetragen. Nicht kreisrund wie viele andere, die damit aussehen, als wären sie gerade verprügelt worden, sondern zarter, nicht so gleichmäßig. Sie hat große Brüste, die, wenn sie sich rhythmisch bewegt, fast aus ihrem Dekolleté hüpfen. Der Ausschnitt ihres Kostümes ist tief und presst die glatten weißen Brüste ordinär zusammen. »Tanzen ist wie ficken«, lacht Odai. Odai nimmt die Blonde in die Arme, sie schließt die Augen und überlässt sich wollüstig dem Rhythmus. Sie windet sich wie eine Schlange, lässt ihr Becken kreisen, den Bauch zittern und stößt mit ihrem Becken, als würde sie Odai schon in sich spüren. Rhythmus und Schweiß. Odai tanzt zwei Tänze mit ihr, lässt sie stehen, nimmt eine andere, die ebenfalls eine fabelhafte Tänzerin ist.
Odais Bewegungen haben keine Eleganz und Grazie, er ist kein stromlinienförmiger Jaguar auf dem schwarzen Marmor neben dem Pool, sondern ein ungeschickter Caterpillar, der die anderen anrempelt. Aber keiner sagt etwas, denn Odai macht es offensichtlich Spaß, und das ist der Sinn der Sache. Er packt die Frau, drückt seinen Mund auf den ihren, seinen Leib gegen den ihren. Er schleckt ihr Gesicht ab, seine Zunge ist überall, und ihr ist das unangenehm. Sie kichert aber nur, und alle schauen zu und lachen ebenfalls. Dann streicht sie an ihm entlang, windet sich, Odai stöhnt theatralisch laut und schreit: »Ich liebe deinen Mund. Ich liebe dein Haar, ich liebe deine Nase - ich muss dich haben.« Dabei packt er sie an den Hüften, greift sich ihren festen Hintern, zieht sie an sich und zuckt mit dem Becken wie ein läufiger Hund. Er lacht schallend und sagt: »Ich kenne keinen Arsch wie deinen.« Das Buffet ist eröffnet. Zum Essen werden die Gäste in den Partyraum im ersten Stock gebeten. Die Zeremonienmeister haben auch hier perfekte Arbeit geleistet und gemeinsam mit Jakob Al-Masihi und Said Al-Masihi ein Buffet hingezaubert, wie es im Rasheed Hotel nicht besser sein könnte. Jakob Al-Masihi ist der Privatkoch und Vorkoster Odais, Said Al-Masihi begleitet Odai immer auf dessen Auslandsreisen. Auf einer Tafel, die sicher zwanzig Meter lang ist, sind hunderterlei verschiedene Gerichte raffiniert aufgebaut. In der Mitte ein irakischer Adler aus Butter, drum herum Melonen, Pfirsiche, Nektarinen, Äpfel, Orangen, Grapefruits, Erdbeeren, Ananasfrüchte. Dazwischen exotische Früchte, die ich nicht kenne, nie zuvor gesehen habe. Sie wurden wahrscheinlich aus Kuwait importiert, extra für diesen Abend. Auf der linken Seite der Tafel stehen die Köche, aufgereiht wie Zinnsoldaten. Vor ihnen blitzen die silbernen, spiegelblanken Rechauds mit den goldenen Griffen und eingraviertem irakischem Adler. Es gibt wirklich alles, arabische, chinesische und europäische Speisen. Rosa gebratene Entenbrust auf rotem Paprika, Putenbrustroulade mit Geflügellebersauce, Hasenrücken mit einer Pfeffersauce. Die Köche bieten ihre Köstlichkeiten freundlich an, fragen, ob sie ein Menü zusammenstellen dürfen oder ob man selber wählen möchte. Kunstvoll gestaltet ist auch das kalte Buffet: Lachs auf silbernen Tabletts, drei verschiedene Sorten Kaviar in silbernen Schalen. Roter, durchsichtiger Lachskaviar. Silbergrauer Beluga, fein säuberlich arran-
giert auf zerschlagenem Eis. Ausgelöster Hummer, geöffnete Austern. Helle französische Gänseleber, italienischer Parmaschinken, italienisches Rinderfilet alla Carpaccio, zartrosa Roastbeef mit diversen Saucen, Barbarie-Ente mit Pflaumen und Kiwis, ausgelöstes Hühnerfleisch und Blinis mit Zarenkaviar. Lachstartar, Mousse von Räucherforelle, Spargelsalat mit gezupften Kräutern und Shrimps. Zwischen den Speisen kunstvoll angeordnetes Gemüse und wie Rosenblüten zurechtgeschnittene Karotten, zu Spiralen geformte Zitronen und Radieschen sowie die gesamte Palette arabischer Köstlichkeiten. Wie mir aufgetragen, halte ich mich im Hintergrund, gehe ich jedem Gespräch aus dem Weg, versuche ich, an den Leuten desinteressiert vorbeizublicken. Ich schiebe mich durch die Menge, wandere ziellos umher. Jedesmal, wenn mir ein Kellner zuvorkommend sein Tablett mit Champagnergläsern hinhält, nehme ich eines. Ich trinke ruhig, nicht hastig. Ich will einen klaren Kopf behalten. Abdel Akle singt ununterbrochen, und das Loblieb auf Saddam Hussein hat er sicher schon zehnmal vorgetragen. Odai ist inzwischen hemmungslos betrunken, er torkelt durch die Menge, sieht alles wahrscheinlich nur mehr durch einen purpurnen Nebel. Die Mädchen hängen förmlich an ihm. Wenn ein anderer Mann eines von ihnen zum Tanzen auffordern will, betrachtet er das als Frechheit, obwohl er unmöglich mit zehn Mädchen zugleich tanzen kann. Bei meinen Rundgängen entdecke ich Ahmad Fadel. Ahmad ist Oberleutnant in Odais Leibwächter-Truppe und ein gefährlicher Mann. Läuft etwas gegen seinen Willen, greift er zur Waffe und schießt. Egal ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Prostituierte behandelt er wie den letzten Dreck: »Sie sind der Abschaum.« Mit Ahmad ins Gespräch vertieft ist Hassan Sabti. Hassan ist Goldschmied und Golddesigner. Ob er wirklich etwas kann, weiß keiner in der Runde, aber Hassan ist Odais Freund, und deshalb kauft man bei ihm. Hassan hat eine große, schlanke Frau an seiner Seite. Sie trägt einen rosafarbenen, perlenbestickten Abendpulli und einen rosa Seidenrock. Eine schöne Frau. Es ist bereits weit nach Mitternacht, die Party wird zu einem zügellosen Fest. Odai liegt förmlich auf den Frauen, neben ihm Amer Aasamir. Er ist der Sohn eines Zuhälters, ein Transvestit. Amer hat Brüste
wie eine Frau, bewegt sich wie eine Frau, kleidet sich wie eine Frau. Er ist lasziv, schreiend ordinär, grell wie ein bunter Vogel. Odai ist fasziniert von ihm, denn Amer hat etwas Tierisches an sich. Seine Person, sein gesamtes Erscheinungsbild schreit förmlich nach offenem, kompromisslosem Sex. Odai liebt es, Amer neben sich zu haben, ihn zu berühren. Amer ist für ihn die personalisierte Unanständigkeit. Odai ließ ihn sogar vom Armeedienst befreien, damit er ständig bei ihm sein konnte. Amer ist nicht der einzige Paradiesvogel, den Odai an sich band. Auch der Transvestit Issam Malla gehört zu seinem engsten Freundeskreis. Issam Malla ist der einzige, der Odai offen zu brüskieren gewagt hat. Jeder weiß, dass er nicht nur ein Verhältnis mit Odai hat, sondern auch mit Sabaani, einem jungen, durchtrainierten Geheimdienst-Karrieristen. Issam Malla liebt den Geheimdienst-Mann, will aber Odai nicht aufgeben, denn der ist seine Lebensversicherung. »Fetzt den Huren die Kleider vom Leib«, schreit Odai. Für Odais Freunde ist das ein Befehl; sie hetzen die Frauen, die größtenteils auch betrunken sind, durch das Haus, reißen den kichernden und kreischenden Huren die Kleider herunter, werfen sie in den Pool. Odai verschwindet mit zwei Frauen in seinem Zimmer, in dem ich monatelang gewohnt hatte. Er lässt die Tür offen, zieht auch die Vorhänge nicht zu, und so können alle, die am Pool sind, zusehen, wie er die Frauen fesselt, wie er mit seinem Elektrokabel auf sie einschlägt und zwischendurch immer wieder auf den Fernseher schaut. Er hatte nämlich zuvor eine Porno-Kassette in den Recorder geschoben, so dass jetzt sadistische Pornoszenen zu sehen sind, Männer, die sich mit europäischen Frauen in Lack und Leder vergnügen, Frauen, die vor ihren Dompteuren kriechen und es genießen, gequält zu werden. Odai liebt diese Video-Kassetten, er hat Hunderte davon. Während Odai sich in seinem Zimmer auf dem schwarzen Seidenlaken amüsiert, gerät das Geburtstagsfest zu einer wilden Orgie. Die einzigen, die noch nicht nackt sind, sind die Kellner in ihren weißen Uniformen mit den gestärkten Kragen. Die Gäste treiben es sogar in den Toiletten, im Stehen, und betrachten sich dabei in der barocken Spiegelgalerie.
9. KAPITEL Das Morden beginnt Nach diesem Fest höre ich tagelang nichts von Odai. Kein Auftrag, keine Schulung, Nichts. Nur Warten. Ich weiß nicht einmal, ob er noch im Irak weilt oder, zur Erholung von seinem Geburtstagsfest, nach Europa geflogen ist. Nur Munem Hamad ruft ab und zu an. Um die Zeit totzuschlagen, spiele ich um wenig Geld mit den Geheimdienstoffizieren Poker. Ich kann mir zwar nicht erklären warum, aber ich gewinne meistens. Im Gespräch mit ihnen lerne ich auch die Organisation der Schutztruppen Saddam Husseins kennen. Saddam ließ diese Schutztruppen in drei Einheiten aufteilen. Jeder Truppenteil hat seine eigenen Aufgaben und Missionen auszuführen, wobei die erste Truppe immer die zweite kontrolliert, die zweite die dritte. Das ganze System soll sich ständig selbst überprüfen und überwachen. Damit ist die Einschleusung von potentiellen Attentätern in diese Gruppe unmöglich, da keiner dem anderen traut und alle Veränderungen umgehend gemeldet werden müssen. Die erste Schutztruppe besteht aus Offizieren, die Saddam Hussein schon seit Jahren kennt und selbst beobachtet hat oder durch Männer seines Vertrauens beobachten ließ. Diese Offiziere begleiten Saddam überall hin, sind ständig in seiner Nähe, wachen sogar vor seiner Tür, wenn er die Toilette besucht. Sie gehören entweder zur Familie der Takritis oder kommen aus der Gegend um das Dorf Takrit. 1000 bis 1200 Mann stark ist diese Gruppe. Jeder beherrscht den Nahkampf, hat eine Spezialausbildung durchlaufen müssen. Ihre Bewaffnung ist ebenfalls perfekt: Offiziere niedrigeren Ranges tragen einen großkalibrigen Revolver, eine Maschinenpistole mit zwei Magazinen sowie drei bis vier Handgranaten am Gürtel. Sie haben Zugang zu allen nachrichtendienstlichen Einrichtungen, verfügen über eine hochtechnische Funkausrüstung mit eigenen Frequenzen, tragen unter der Uniform kugelsichere Westen. Keine schweren Westen aus Porzellan, sondern leichte aus Kohlefaser, die aber
einen weitaus größeren Schutz bieten als die konventionellen. Die höheren Offiziere brauchen im normalen Dienst nur einen Revolver oder eine Pistole zu tragen. Sie sind die so genannten Privilegierten und haben ausgesorgt, solange Saddam Hussein an der Macht ist und sie ihm treu und aufopfernd dienen. Ihre Besoldung ist astronomisch hoch, alle sechs Monate erhalten sie ein neues Auto. Wenn sie kein Auto haben wollen, erhalten sie entweder zusätzliche Prämien oder werden mit Grundstücken und Häusern beschenkt. Eine eigene Verwaltungsabteilung beschäftigt sich ausschließlich mit der Vergabe von Geschenken und Prämien an diese Männer und deren Familien. Wer in diese erste Gruppe aufsteigen will, muss eine makellose Geheimdienstkarriere hinter sich haben. Kommandant der ersten Schutztruppe ist der Präsident selbst. Die zweite Schutztruppe ist im Grunde ähnlich strukturiert. Auch hier dienen vor allem Männer aus der Gegend um Takrit, haben die niedrigeren Offiziersdienstgrade Maschinenpistolen und Handgranaten zu tragen und die höheren Offiziere Handfeuerwaffen. Es ist eine Art Bereitschaftstruppe. Sollten Männer aus der ersten Abteilung bei Einsätzen verletzt oder getötet werden, rückt automatisch eine Gruppe aus dem zweiten Einsatzkontingent nach. Eine andere Aufstiegsmöglichkeit in die erste Gruppe gibt es nicht. Erst wenn dort ein Platz frei geworden ist, steigt man in die höhere, attraktivere Schutztruppe auf. Ein knallhartes System, das dazu führt , dass die Männer aus der zweiten Reihe wie Aasgeier darauf warten, dass sie ihre Chance bekommen. Sie bespitzeln, bewachen, registrieren. Selbstverständlich führen auch Verstöße gegen die Disziplin zu einem sofortigen Ausscheiden aus der ersten Gruppe. Das wirkt wie ein Selbstregulativ. Fast jeder führt Geheimarchive über die Aktivitäten seiner Kameraden. Jeder Alkoholexzess, jeder Bordellbesuch - alles wird registriert und überwacht und beim Ausmanövrieren des Karrieregegners eingesetzt. Saddam Hussein forciert dieses System aus Falschheit und Denunziantentum, wo er nur kann. Er ist ständig bestrebt, seine Leute gegeneinander auszuspielen und selbst seine Feinde mit Lob zu überschütten. Je bekannter sein Opfer ist, um so größere Ehren erweist er ihm. So war es zum Beispiel bei General Salah Al-Kadi. Salah Al-Kadi hatte 1982 in Bassorah seinen Truppen den Rückzug befohlen. Saddam, der diese Stellung für haltbar erachtete, ließ ihn tags darauf dis-
kret umbringen und verlieh ihm anschließend den Titel eines Märtyrers. Seine Familie, der er persönlich sein Beileid aussprach, erhielt alle mit diesem Titel verbundenen Vergünstigungen: einen Wagen, ein Grundstück und einen langfristigen zinslosen Bankkredit. »Einmal«, erzählen mir meine Pokerpartner, »ließ der Präsident 21 hohe Parteifunktionäre und 180 Offiziere exekutieren.« Sie hatten sich angeblich der Verschwörung schuldig gemacht. Der Kameramann Chaker Yassine hat das Gemetzel mitgeschnitten; seine Filme werden zu Schulungszwecken bei der psychologischen Ausbildung der Schutztruppen verwendet. Zu sehen sind folgende Szenen: Im großen Khulde-Saal (Saal der Ewigkeit) der Parteileitung sitzen Hunderte von Funktionären. Alle sind sie da. Plötzlich tritt Saddam Hussein in den Saal. Elegant wie immer, in der rechten Hand eine dicke Zigarre. Er befiehlt dem Sekretär des Kommandorates, Abdul Hussein Machadi, ans Mikrofon zu kommen. Der Sekretär ist schrecklich zugerichtet, als ob er gerade gefoltert worden wäre. Saddam schreit ihn an: »Sprechen Sie, enthüllen Sie die Schandtat.« Abdul Hussein Machadi nennt eine Reihe von Namen, und nach jeder Namensnennung ruft Saddam: »Hinaus! Gehen Sie!« Man sieht, wie Leibwächter die Männer abführen. Die Männer werden in die Gärten des Präsidentenpalastes gebracht und mit verbundenen Augen vor eine Mauer gestellt. Vor laufender Kamera dirigiert Barzan Al-Takriti, Saddams Bruder und jetziger UNBotschafter in Genf, die Hinrichtung. Zuvor werden den Verurteilten noch rote Fußballtrikots übergestreift. Barzan Al-Takriti hatte die geniale Idee, die Delinquenten nach alter ottomanischer Tradition rot zu kleiden. Die Verurteilten werden nicht von Leibwächtern erschossen, sondern von deren Familienangehörigen. Auf dem Video sind neben Barzan Al-Takrti auch zwei Kinder zu sehen: der achtjährige Sohn Barzans, Mohammed, und Odai, damals knapp fünfzehn. Barzan sagt zu seinem achtjährigen Sohn: »Nimm die Pistole hier und such dir den aus, den du töten willst.« Und der kleine Junge feuert. Meine Pokerpartner schildern diese Videoszenen bis ins letzte Detail. Als wollten sie sagen: »Mit der Issaba, der Bande, ist nicht zu spaßen. Sie machen kurzen Prozeß mit dir. Alle Mit-glieder der Schutztruppen sind potentielle Killer.«
Mit Abstand am größten ist die dritte Schutztruppe: die Republikanischen Garden. Rekrutiert werden die Republikanischen Garden aus den Bezirken Takrit, Bagdad und Ninana. Aufgenommen werden nur diejenigen, die vom Geheimdienst oder der Baath-Partei empfohlen worden sind. Sie müssen aus guten, linientreuen Familien stammen; kein Familienangehöriger darf jemals straffällig geworden sein. Die Republikanischen Garden umfassen mehr als zehn Bataillone; jede Einheit beherrscht den Umgang mit sämtlichen Waffen. Sie sind die Speerspitze des Saddam-Regimes. Die Hauptaufgabe dieser Garden besteht in der Sicherung der Orte, die Saddam besucht. 48 Stunden im voraus werden dem Kommandanten der ersten Schutztruppe drei Besuchsziele mitgeteilt. Der gibt diese Information an den Chef der Republikanischen Garden weiter, worauf sich so genannte Kontrolltrupps sofort in Marsch setzen. Dann werden ganze Stadtteile abgeriegelt, durchsucht, nimmt an jeder Ecke ein Gardist Aufstellung. Erst im letzten Moment entscheidet Saddam, welches Ziel er ansteuert. Liegt es in der Nähe von Bagdad, reist er im Auto an. Seine Kolonne besteht meist aus mehr als 30 Mercedes-Limousinen. Zehn davon sehen völlig gleich aus. Welche Karosse der Präsident selbst fährt, entscheidet er spontan im letzten Moment. In kurzem Abstand folgen Sanitätswagen mit mobilen OPEinrichtungen und Blutkonserven der Kolonne. Bei Frontbesuchen wählt Saddam den Hubschrauber oder eine Boeing. Welches Fluggerät es sein wird, entscheidet er ebenfalls im letzten Moment. Um seine Piloten und Begleiter auf Flügen zu testen, lässt Saddam sich immer neue, raffinierte Tricks einfallen. Vor einer Dienstreise befahl er einmal seinen Begleitern, in schwerer Winterkleidung auf dem Flughafen zu erscheinen. Alle kamen in dicken Schuhen und Pelzmänteln und Pelzkappen. Nur Saddam erschien im hellen Sommeranzug. »Warum?«, wurde er gefragt, »Geht es nicht nach Moskau?« Saddam darauf: »Nein, es geht in den Süden.« Bei den spärlichen Frontbesuchen sorgen die Republikanischen Garden jeweils dafür, dass vor der Ankunft des Präsidenten allen Soldaten und Offizieren die Munition abgenommen wird. Die Republikanischen Garden verfügen über alle Waffen, die auch in
der regulären irakischen Armee verwendet werden. Ihr Sold ist sechsmal höher als der eines normalen Soldaten. Außerdem werden auch sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie zum Beispiel dem Geburtstag des Präsidenten, mit Geschenken überhäuft. Während die Republikanischen Garden eigene Kasernen haben, leben und trainieren die ersten beiden Gruppen auf dem Palastgelände. Sie haben eigene Turnsäle, um ihre Übungen durchzuführen, eigene Schießclubs, in denen auch ich ausgebildet wurde, eigene Kantinen und Freizeiträume mit Billardtischen, Kegelbahnen, Kinos und Tischtennisanlagen. Alle diese Einrichtungen sind auch mir zugänglich, vorausgesetzt, ich informiere die Leibwächter Odais ständig über meinen Aufenthaltsort. Auf diese Art ist meine Isolation leichter zu ertragen. Außerdem schnappe ich dabei immer wieder Neuigkeiten auf. So erfahre ich durch einen Leibwächter, dass Odai nach seinem Geburtstagsfest zu seinem Onkel Barzan Al-Takriti nach Genf geflogen und gestern mit einer sensationellen Meldung nach Bagdad zurückgekehrt ist: Barzan Al-Takriti hat in Genf vor den Vereinten Nationen die Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit dem Iran in eine entscheidende Phase gelenkt. Im Fernsehen zeigen sie zwar noch immer die glorreichen Einsätze unserer Armee an der Front, doch in Wahrheit wissen wir alle, dass Saddam sein Kriegsziel, trotz des Einsatzes von Giftgas, nicht erreicht hat. Unsere Truppen sind zu Beginn zwar weit in den Iran vorgedrungen, konnten diese Stellungen aber nicht halten. Unsere Männer sind schon froh, wenn die Iraner nicht auf unser Gebiet vordringen. Was bedeuten diese Verhandlungen, überlege ich, ist der Krieg nun aus? Er ist nicht aus, aber unterbrochen. Am 18. Juli 1988 werde ich bereits in der Frühe ins Projekt Nummer 7 bestellt. Das ist absolut ungewöhnlich und einmalig. Nie zuvor wurde ich um diese Zeit hinbefohlen. Ich beeile mich, mein Chauffeur rast mit mir zu Odai. Ich werde dort bereits von Bakr Al-Nassiri, dem Hausverwalter, erwartet. Er ist aufgeregt, alle dort sind aufgeregt. Am allermeisten Odai: »Wir haben den Krieg gewonnen, sie haben unterzeichnet.« Was Odai damit meint, hören wir später in den Nachrichten. Nach
langen und zähen Verhandlungen hat Barzan Al-Takriti in Genf der UNO-Resolution 598 zugestimmt und den Waffenstillstandsvertrag mit dem Iran unterzeichnet. Damit ist der längste konventionelle Krieg, den zwei souveräne Staaten im zwanzigsten Jahrhundert führten, vorbei. Odai ist fast außer sich vor Freude. Er lässt die Kassette mit dem Abdel-Akle-Song über seinen Vater einlegen und die Hi-Fi-Anlage auf volle Lautstärke drehen. Er fällt uns um den Hals, umarmt uns, küsst jeden. Odai erklärt sich, seinen Vater und den Irak zu Siegern, und wir stimmen ihm zu. »Der Irak hat die Fundamentalisten in Teheran vernichtend geschlagen.« In Wirklichkeit hat der Krieg mit ein Patt geendet. Unsere Streitkräfte stehen praktisch dort, von wo sie im September 1980 losgezogen waren. Saddam hatte den Krieg vom Zaun gebrochen, weil er die Kontrolle über den Schatt Al-Arab anstrebte und in seinem grenzenlosen Größenwahn beweisen wollte, dass er der größte arabische Führer aller Zeiten sei. Den Sturz Schah Reza Pahlevis und die Machtübernahme durch Saddams Todfeind Ayatollah Khomeini in Teheran 1979 hatte Saddam für die einmalige Chance gehalten, den Irak zur vorherrschenden Macht am Golf und sich selbst unsterblich zu machen. Im Projekt Nummer 7 sind meine Zweifel selbstverständlich kein Thema, und ich hüte mich, auch nur eine Andeutung zu machen, die den Glanz unseres »Sieges« trüben könnte. Odai lässt Champagner bringen. Kalten, sprudelnden Champagner. Wir stoßen an, umarmen uns, trinken, stoßen wieder an. Nach und nach kommen zahlreiche Freunde Odais. Darunter Dr. Mahmoud Samrani. Er ist verantwortlich für die Vorbereitung von Interviews und Zeitungsprotokollen, dirigiert alle Gespräche und Konferenzen, die Odai führt. Odai zieht sich mit Dr. Samrani zu einer Besprechung zurück, dann verlassen die beiden für drei Stunden das Projekt Nummer 7. Wahrscheinlich, um Interviews zu geben. Die folgenden Tage und Wochen sind ein einziges Feiern und Trinken und Feiern. Ganz Bagdad ist auf den Beinen. Millionen sind auf den Straßen, niemand hält es zu Hause aus. Es ist wie damals, als Saddam Hussein an die Macht kam. Unbekannte fallen einander um den Hals, küssen und freuen sich. Der absolute Höhepunkt ist der 8. August. Um null Uhr wird auch offiziell das Kriegsende verkündet. Alle Fabriken stehen still. Eine sinn-
lose Verordnung - es würde an diesem Tag sowieso niemand zur Arbeit kommen. Die vergangenen Tage haben Saddams Hofmaler und Propagandaspezialisten dazu genutzt, das angeschlagene Image des großen Feldherrn Saddam Hussein wieder aufzupolieren. Ganze Heerscharen von Mitarbeitern sind damit beschäftigt, neue Saddambilder anzufertigen und über das Land zu verteilen. Zu Beginn des Krieges gegen den Iran hatte Saddam sich plötzlich als militärische Führungspersönlichkeit präsentieren lassen. Er ließ sich Hunderte verschiedener Uniformen schneidern und ernannte sich selbst zum Feldmarschall der Armee. Überall im Land sah man überdimensionale Bilder Saddams. Einmal als Kämpfer im Schützengraben, einmal als Pilot, ein anderes Mal als kämpfender Saladin. Er ließ überall den Mythos vom erfolgreichen Kriegsherrn Saddam verbreiten. So lange, bis er für jeden im Irak die Personifizierung des Krieges war. Als aber die Kriegsopfer immer zahlreicher wurden und die irakischen Truppen die eroberten iranischen Stützpunkte nicht mehr halten konnten, wurden die Kriegsbilder wieder gegen normale Saddambilder ausgetauscht. Saddam im Anzug, Saddam mit Kindern, Saddam als gläubiger Moslem mit dem traditionellen Kopftuch der Araber des Südens, Saddam in kurdischer Nationaltracht. Jetzt, da alles vorbei ist, kann die Strategie wieder geändert werden. Und wieder setzen die Werbespezialisten den Präsidenten als militärisches Genie in Szene. In den vergangenen Tagen tauchten überall Plakate auf, die Saddam als tapferen Kämpfer und strahlenden Sieger zeigen. In allen Zeitungen erscheinen Hunderte solcher Abbildungen. In manchen Ausgaben ist sein Bild auf fast jeder Seite zu finden. Genauso im Fernsehen: Saddam hier, Saddam da. Der Personenkult kennt keine Grenzen mehr. Teilweise entsteht fast der Eindruck, als ob der Präsident seiner eigenen Propaganda aufgesessen wäre. Odai befiehlt mir, am 8. August nach Basra, in den Süden, zu fliegen. Ich soll die 3. und die 7. Einheit besuchen, den Soldaten zu ihrem glorreichen Sieg gratulieren. Wieder nehmen wir die Hubschrauber. Ich trage keine Zivilkleidung, sondern die schwarze Uniform mit dem goldenen Namenszug Odai Saddam Husseins. Einige meiner Leibwächter sind schon am Vortag nach Basra gefah-
ren. Mit mehreren Lastwagen, voll beladen mit Kinderspielzeug und Geschenken. Als unser Hubschrauber landet, haben die Kompanien bereits Aufstellung genommen. Mit dem Kommandanten schreiten wir die Ehrenformationen ab; ich halte keine Ansprache, übermittle aber den Offizieren die Grüße des Präsidenten und überreiche ihnen Dekrete, die Munem Hamad mir mitgegeben hat. Dem offiziellen Besuch bei den Soldaten folgt der inoffizielle Teil. Ich soll das Kasernengelände verlassen und mit dem normalen Volk Kontakt aufnehmen. Das normale Volk wurde bereits von meiner Vorhut zusammengetrommelt. Es sind vielleicht dreitausend bis viertausend Menschen. Kinder, Frauen, Alte, kaum Männer. Sie schreien: »Hoch lebe Saddam Hussein, hoch lebe Saddam Hussein.« Die Frauen singen, kreischen und brechen immer wieder in dieses »Hoch lebe Saddam Hussein« aus. Meine Leibwächter umringen mich, und im Pulk marschieren wir auf die Kinder zu, die mit irakischen Fahnen in der ersten Reihe stehen. Inzwischen sind auch die Lastwagen vorgefahren. Meine Leibwächter überreichen mir drei Pakete, die ich den kleinen Kindern mit den großen dunklen Augen in die schmutzigen Hände drücke. Ich frage sie, wie es ihnen geht. Die Soldaten haben währenddessen damit begonnen, die Geschenke von den Lastwagen aus an die Menge zu verteilen. Sie werfen die Pakete einfach den Leuten zu. Plötzlich peitscht ein Schuss. Ich habe keine Ahnung, woher der Schuss kam, wer ihn abgefeuert, wem er gegolten hat. Meine Leibwächter stürzen sich auf mich, bilden einen lebenden Schutzschild, drängen mich zum Auto, stoßen mich in den Wagen. Wir rasen zurück zur 7. Einheit. Dort besteigen wir den Hubschrauber, fliegen so rasch wie möglich zurück nach Bagdad. Erst während des Fluges erfahre ich über Funk, was überhaupt passiert ist. Es war ein Attentatsversuch. Ich atme mehrmals tief durch, schwitze, und erst jetzt wird mir klar, in welcher Gefahr ich mich befunden habe. Die Kugel hätte mich treffen, verletzen, töten können. Ich lehne mich zurück, starre auf den Rücken der Piloten vor mir, lasse mich durch das Knattern der Rotorblätter ablenken. Dann ein zweiter Funkspruch, der Co-Pilot schreibt mit und ruft mir
auch diese Mitteilung zu. »Es hat Abdullah Al-Dalimi schwer erwischt. Ein Brustschuss.« Abdullah Al-Dalimi ist einer der jüngsten Leibwächter, vielleicht 19 oder 20 Jahre alt. Er stand direkt neben mir, fing die Kugel ab, die mich treffen hätte sollen. »Wird er durchkommen?« schreie ich zurück. Der Co-Pilot zuckt mit den Schultern, ruft: »Ich weiß es nicht!« Durch einen dritten Funkspruch erfahren wir, dass sie den Täter überwältigt und festgenommen haben. Es ist ein junger irakischer Deserteur, 23 Jahre alt. Zwei seiner Brüder sind im Krieg ums Leben gekommen. In Bagdad verfasse ich einen ausführlichen Bericht über diesen Anschlag, lege die Sachverhaltsdarstellung Odai vor. Odai interessiert sich aber nicht für diesen Bericht. Ich übergebe die Protokolle deshalb an Munem Hamad, und der reagiert nach kurzer Rücksprache mit seinem Vorgesetzten eiskalt: Er ordnet die sofortige Erschießung des Attentäters an. Es gibt keine Gerichtsverhandlung, keine Anhörung des Verhafteten. Die Exekution wird am nächsten Tag durchgeführt. Damit ist die Sache erledigt, und Munem Hamad bittet mich, den Attentatsversuch nicht weiter zu erwähnen, keine große Geschichte daraus zu machen, und ich halte mich daran. Für Odai ist der Attentatsversuch von Basra demonstrativ kein Thema, er überspielt das Ganze, als hätte es den Schuss nicht gegeben. Ihn interessieren nur die Feiern in Bagdad, die Triumphzüge zur Huldigung des großen Siegers Saddam Hussein. Trotz aller Sicherheitsbedenken will Odai bei diesen überschäumenden Feierlichkeiten dabei sein. Er möchte den Triumph in vollen Zügen auskosten. Im Konvoi fahren wir in den Stadtteil Al-Mansour. In der Straße der Palästinenser sind noch immer Tausende von Menschen. Es herrscht ein Gewühl, ein Gedränge, alle sind ausgelassen, ganz Bagdad wirkt erlöst, befreit und glücklich. Odai sitzt in einem gepanzerten Mercedes mit Schiebedach, und diesmal lässt er sich chauffieren. Er hat eine Kalaschnikow in der linken Hand, in der rechten seinen Revolver. Als wir in die von Menschen schwarze Straße der Palästinenser einbiegen, steht Odai in seinem Mercedes auf, streckt seinen Oberkörper durch das Schiebedach, richtet beide Waffen gegen den Himmel und feuert eine Salve nach der anderen in die Luft. Seine Leibwächter halten ihre Kalaschnikows durch die geöffneten
Wagenfenster und schießen, bis die Magazine leer sind. Vom Sicherheitsstandpunkt aus war Odais Aktion der nackte Wahnsinn. Hunderte, Tausende von Menschen auf dieser Straße hatten Waffen, Odai war eine perfekte Zielscheibe, als er in seinem Wagen aufstand und losfeuerte. Da alle vor Freude in die Luft schossen, ging sein Geballer in dem allgemeinen Krachen und Knattern außerdem völlig unter. In Europa schießt man vielleicht Feuerwerkskörper in die Luft, um überschäumende Ausgelassenheit und taumelnde Freude kundzutun. Dafür nimmt der Araber lieber seine Waffe. Für uns ist es normal, Freudensalven in die Luft abzufeuern. Auch ich halte meine Waffe aus dem Wagenfenster und schieße so lange, bis ich nachladen muss. Drei, vier Stunden fahren wir durch Bagdad und schießen aus unseren Autos und jubeln. Selbst Saddam Hussein lässt es sich in dieser Nacht nicht nehmen, mit einem Konvoi durch Bagdad zu fahren und sich an dieser Schießorgie zu beteiligen. Tagelang geht das Spektakel weiter: Autokolonnen schieben sich durch die Stadt, und die Fahrer und Beifahrer halten ihre Waffen aus den Autos und feuern. Manchmal arten diese Schießorgien völlig aus. Via Fernsehen wird deshalb mehrmals zu größerer Vorsicht aufgerufen. Durch Querschläger seien bereits mehrere Personen verletzt und getötet worden. Die Menschen ignorieren diese Durchsagen, das Schießen ist für sie wie eine Droge, ein Ausdruck der maßlosen Siegesfreude. Warum soll sich das Volk auch anders verhalten als seine Führer? Odai verschießt bei seinen Triumphfahrten durch die Stadt sicher mehr als 10000 Patronen. Mehrmals passiert unser Konvoi auch die Straße, in der das Haus meiner Eltern steht. Ich sehe die Eingangstür, den weißen Volvo meines Vaters, die Autos meiner Brüder. Nur wenige Meter bin ich von denen entfernt, die ich seit September des Vorjahres nicht mehr gesehen habe. Ich hoffe, einem meiner Brüder, meiner Mutter oder meinem Vater zufällig zu begegnen. Sie könnten doch gerade das Haus verlassen oder nach Hause kommen, überlege ich. Dann würde ich sie wenigstens sehen, denn eine Kontaktaufnahme wäre unmöglich. Es ist strikt
untersagt, dass ein Auto aus dem Konvoi ausschert oder gar stehen bleibt, wenn Odai es nicht befiehlt. Ich könnte also höchsten winken und hoffen, dass mich jemand erkennt. Die Straße ist aber jedes Mal menschenleer, wenn wir durchkommen. Trotzdem reift an diesem Tag in mir der Entschluss, Odai anzusprechen und ihn zu fragen, ob ich meine Eltern besuchen darf. Ich spreche Odai am 14. August am frühen Nachmittag an. Er reagiert ganz anders, als ich es erwartet habe: »Latif«, sagt er, »du bist jetzt seit elf Monaten bei mir, hast deine Aufgabe hundertprozentig erfüllt. Du bist ein guter Mann.« Er offenbart mir dann noch, dass ich in diesen elf Monaten ständig überwacht worden bin, obwohl ich das nie bemerkt habe. »Du hast keinen Fehler gemacht, deshalb ...«, Odai gibt sich fürsorglich, »darfst du deine Eltern sehen.« »Wann?« »Heute abend, wenn du willst«, antwortet er, »sprich aber vorher noch mit Munem Hamad.« Munem Hamad gibt mir ganz klare Instruktionen für den Besuch: »Kein Wort über deine Aufgabe, keine Silbe über Odai, keine Andeutungen, keine versteckten Hinweise, nichts. Ist das klar, Latif?« Ich nicke. Der Besuch ist für 23 Uhr geplant. Ich darf meine Eltern vorher nicht anrufen, die Männer vom Geheimdienst teilen mir aber mit, dass meine Eltern, meine Schwestern Gullalaa und Juan, sowie meine Brüder Jotie, Robie und Omeed zu Hause sind. Aus der Mitteilung sehe ich, dass mein Elternhaus auch überwacht wird. Um Punkt 23 Uhr fahren wird vor unserem Haus in Al-Aadameed vor. Ich läute, und meine Mutter öffnet die Tür. Das Licht der Hoflaterne ist so schwach, dass sie mich zuerst gar nicht erkennt. Außerdem trage ich eine dunkle Dschellaba, ein Kleidungsstück, das ich früher nicht anziehen mochte, weil mir die westliche Kleidung besser gefiel. »Ich bin es, dein Latif«, sage ich und falle meiner Mutter um den Hals. Ich spüre, wie sie zusammenzuckt, wie sie mit beiden Händen meinen Kopf nimmt, mich fast an den Haaren reißt. Sie will etwas sagen, doch ihre Stimme bricht. Sie heult, küsst mich, und ich spüre ihre Tränen. Ich habe Mühe, mich zu beherrschen, dränge sie ins Haus. Mein Vater und meine Geschwister stürmen aus dem Salon auf mich zu,
nachdem sie meine Mutter laut schluchzen gehört haben. Es ist ein kaum zu beschreibendes Gefühl, meine Familie wieder um mich zu haben. Lange umarmen wir uns. Ich küsse Vater, Juan, Gullalaa, Jotie, Robie und Omeed. Minutenlang sagen wir nichts, wir küssen uns nur und starren uns an, und zum ersten Mal nach vielen Monaten kommen auch mir die Tränen. Ich kann weinen. Es dauert 20 Minuten, bis wir uns soweit beruhigt haben, dass wir uns in den Salon setzen können. Meine Mutter überhäuft mich mit Vorwürfen. Sie erzählt mir, wie sie wochenlang verzweifelt telefoniert und herauszufinden versucht habe, ob ich gefallen oder in iranische Kriegsgefangenschaft geraten sei. »Sie haben uns keine Auskunft gegeben, immer nur gesagt, dass du vor knapp einem Jahr abgeholt und weggebracht worden bist. Latif, mein Sohn, wir haben für dich gebetet, weil wir nicht mehr damit rechneten, dass du lebst.« Und wieder weint meine Mutter. Meine Schwestern umarmen sie, versuchen sie zu trösten, aber sie ist einfach nicht zu beruhigen. Erst jetzt sagt auch mein Vater etwas. Ihm ist die Veränderung an meinen Zähnen aufgefallen: »Was haben sie mit dir gemacht, Sohn?« fragt er mich. Aber ich schüttle den Kopf und antworte: »Frage mich nicht, ich kann es dir nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass es mir gut geht und ich eine interessante Aufgabe übernommen habe.« »Welche Aufgabe, Latif?«, wirft mein kleiner Bruder Robie ein, »bist du Spion?« Ich muss lachen, alle lachen wir, und ich wiederhole mein Sprüchlein: »Ich kann es nicht sagen, also fragt mich auch nicht mehr danach. Sprecht auch mit niemanden darüber, sagt meinen Freunden nur, dass es mir gut geht.« Zwei Stunden darf ich bei meiner Familie bleiben. Um ein Uhr muss ich wieder gehen, so ist es ausgemacht. Meine Familie begleitet mich noch zur Tür; sie sehen, wie mich meine Leibwächter abholen, zum Mercedes bringen, und wie wir in der Nacht verschwinden. Ich fühle mich gut, befreit und rufe mir jede Einzelheit, jedes Wort, jedes Lachen meiner Schwestern und Brüder, meiner Mutter und meines Vaters in Erinnerung. Es war ein schöner Abend. Ich habe nie die Kontrolle verloren, kein einziges falsches Wort gesagt, keine Andeutungen gemacht, niemand weiß, was ich tue. Vielleicht ahnt mein Vater etwas, denke ich, weil er mich auf meinen Überbiss angesprochen hat. Er hat den Namen Odai aber nie erwähnt. Auch er kennt die Spielregeln.
Vier Tage später brechen wir mit Odai nach Al-Habanija auf. AlHabanija liegt rund 75 Kilometer westlich von Bagdad und ist ein beliebtes Ausflugsziel der feinen irakischen Gesellschaft. Ein Touristenort, ein Liebesnest für Hochzeitsreisende. Hier gibt es diskrete Hotels, einen See mit sämtlichen Wassersportmöglichkeiten, Restaurants. Odai hat hier zwar keine Villa, er kennt die Gegend aber wie seine Westentasche. Sein Vater ist leidenschaftlicher Jäger und nahm Odai früher immer zur Hirschjagd hierher mit. Saddam lehrte Odai, wie man einen Hirsch erlegt, wie man das tote Tier aufzubrechen hat. »An manchen Tagen«, erzählt Odai mir während der Fahrt, »schossen wir bis zu zwanzig Hirsche. Mein Vater liebt das Töten.« Odai hat in den Tagen vor diesem Kurzurlaub die Kontrolle über sich völlig verloren. Sein Tagesablauf war fast nur mehr darauf ausgerichtet, sich maßlos zu amüsieren: Er schlief bis gegen Mittag, um sich von den Alkoholexzessen des Vortages einigermaßen zu erholen. Danach Frühstück, dann Besprechung mit Yassem, dem Hausmodemacher. Es wird diskutiert, was Odai anziehen, welche der über hundert Rolex-, Breitling-, Patek-Phillipe- oder Cartier-Uhren er anlegen solle. Das teuerste Stück in Odais Uhrensammlung ist eine IWC Grande Complication aus Schaffhausen in der Schweiz. Die Uhr ist aus Platin, ein kompliziertes System aus 659 Einzelteilen und neun Zeigern. Der Klassiker, der mehr wert ist als ein Ferrari Testarossa. Nach dem Anziehen fuhr er dann jedesmal in den Olympischen Club, in ein Hochhaus in der Nähe des Volksstadions. Odai hat dort sicher keine Sportveranstaltungen vorbereitet. Unter seiner Führung ist der Club zu einer Mischung aus Büro, Bar und Amüsiertempel verkommen. Odais Zuhälterfreunde gehen dort ein und aus, haben dort teilweise ihre eigenen Büros eingerichtet. Die Sekretärinnen sehen wie Barfrauen aus, und die meisten sind es auch. Odai blieb meistens bis 13 Uhr im Club, fuhr dann nach Hause, ließ sich als Mittagessen Gebratenes, sehr scharf servieren. Danach begann er mit dem Trinken. Cognac, Whisky, Bier. Dann dirigierte er seine Freundinnen in die jeweiligen Häuser, die er besitzt. Entweder in seine Traumvilla gleich neben dem Olympischen Club oder ins Haus in Habbanije oder in einen seiner Paläste in Mansour bzw. in Al-Azmije. Manchmal zog er sich mit den Frauen auch auf seine Farm in Al-Rashdija zurück. Die Abende endeten jedesmal in einem der Clubs in Bagdad oder an
den Bars der diversen Hotels. Es war, als ob Odai seit dem Ende des Krieges sich zu Tode trinken und lieben wollte. In Al-Habanija beziehen wir mehrere Suiten im Hotel Al-Medina, in dem vorwiegend Hochzeitsreisende absteigen. Das Hotel hat einen herrlichen Swimmingpool und raffiniert angelegte, bestens gepflegte Gärten mit saftig grünen Pflanzen. Wenn Odai nach Al-Habanija reist, karren ihm seine Leibwächter mit dem Lastwagen seine Spielzeuge nach: Eine schwarze 750er Honda mit herrlich verchromtem Rahmen und Motor. Mehrere BMWs. Die Autos von BMW mochte Odai nicht, das 1000er Motorrad faszinierte ihn aber. Zwei Harley Davidsons. Chopper. Odai sprach immer davon, dass er auf die Jagd gehen wolle. Seine Art von Jagen sieht aber so aus, dass er mit dem Motorrad durch die wunderschöne Landschaft donnert und, sobald er Spaziergänger sieht, anhält, seinen Revolver zieht und den Leuten vor die Füße schießt. Wenn die in Panik flüchten und Odai ihnen hinterherschießen kann, ist das für ihn die größte Befriedigung. Nicht anders funktioniert das Fischen: Odai besitzt mehrere WaterScooter. Pfeilschnelle japanische Mini-Motorboote von Yamaha und Kawasaki, die einen Höllenlärm machen. Stundenlang jagen wir mit den Scootern über den See. Mehrmals gibt uns Odai mitten auf dem See ein Zeichen anzuhalten. Die ganze Horde hält an, stellt die Motoren ab und hat sich von da an ruhig zu verhalten. Hat sich das Wasser einigermaßen geglättet, versucht Odai Fische auszumachen. Natürlich hat der Motorenlärm alle Fische vertrieben, doch das ist ihm egal: Wie von Sinnen ballert er mit seinem Revolver plötzlich ins Wasser und schreit: »Ich erwische euch schon, ich erwische euch Biester.« Aus Wut darüber, dass er keinen Fisch getroffen hat, befiehlt er uns, ins Wasser zu springen und ans Ufer zurückzuschwimmen. Keiner von uns wagt es, ihm zu widersprechen. Wir springen in unseren Leibwächteruniformen in das klare Wasser, schwimmen zurück, und die Water-Scooter werden später wieder eingesammelt. »Ich muss euch erziehen«, erklärt uns Odai, als wir erschöpft das Ufer erreichen. Zwei, drei Tage betreiben wir diesen Freizeitschwachsinn, gehen zwischendurch auf Entenjagd, und jeder von uns muss zumindest eine Ente abknallen. Auch Saddam Hussein liebt die Entenjagd. Er ist ein
Eliteschütze, trainiert häufig in seinem privaten Schießclub. »Einmal«, erinnert sich einer unserer Leibwächter, »war Saddam mit seinem politischen Berater auf der Entenjagd. Er gab sein Gewehr an den Sekretär weiter und sagte: »Siehst du den Vogel dort auf dem Baum. Töte ihn.« Als er sich weigerte, schrie Saddam ihn an: »Was? Du bist seit zwanzig Jahren Baathist, und du kannst nicht töten?« Die Enten, die wir erlegen, bekommen Odais Kampfhunde als Futter. Auf dem Rückweg von der Entenjagd sieht Odai im Park vor dem Haus ein junges Pärchen. Das Paar ist offensichtlich frisch verheiratet, spaziert Händchen haltend durch die Gärten. Die junge Frau gefällt Odai. Er hält kurz an, ruft dem Pärchen etwas zu, doch die beiden schlendern weiter, als hätten sie Odais Ruf nicht gehört. Ein Affront für den Präsidentensohn. Odai steigt ab, mit einem Kopfnicken signalisiert er seinen Leibwächtern, dass sie mitkommen sollen. Ich weiß, was jetzt geschehen wird. Odai will die Frau um jeden Preis haben. Es ist egal, ob sie hübsch ist oder hässlich, er will sie haben. Er ist gierig, und wahrscheinlich ist er jetzt noch gieriger, weil das Paar auf seinen Ruf nicht reagiert hat. Er hasst es, wenn jemand sich ihm widersetzen will. Das Paar bemerkt uns, geht schneller, und Odai beginnt zu laufen. Seine Eskorte läuft ebenfalls. Odai überholt das Pärchen, nimmt das Mädchen am Oberarm und sagt: »Du bist doch viel zu gut für diesen einfachen Mann.« Der Mann trägt eine Uniform, ist Offizier im Rang eines Kapitäns. »Komm, lass ihn stehen, ich passe besser zu dir. Komm mit in meine Suite.« Bis zu diesem Moment steht der Offizier wie versteinert neben seiner Frau. Doch jetzt schreit er Odai an, will sich auf ihn stürzen. Die Leibwächter halten ihn zurück, schlagen ihn brutal zusammen, zerren ihn weg. Er schreit, wehrt sich verzweifelt, doch er hat keine Chance gegen die sechs Leibwächter. Sie schleppen die beiden ins Foyer des Hotels Al-Medina. Der Mann schreit, tobt, aber bei jedem seiner Versuche, sich loszureißen, schlägt einer der Leibwächter auf ihn ein. Ins Gesicht, in den Magen, in die Nieren. Sie kümmern sich nicht darum, dass das Schauspiel vor dem gesamten Hotelpersonal und den anderen Gästen stattfindet. Alle bekommen mit, was hier vor sich geht. Ich schäme mich, habe Mitleid mit
dem Mann, aber was soll ich tun? Odai lässt die junge Frau in seine Suite bringen, und wir folgen ihm. Im Salon versucht er, die Frau, die vor Angst und Schreck fast kein Wort herausbringt und immer nur stammelt, dass sie erst gestern geheiratet haben, zu beruhigen. Er bietet ihr einen Whisky an, sie lehnt ab, und er fragt sie, ob sie Champagner haben wolle. Sie schüttelt wieder den Kopf, kämpft mit den Tränen, kauert sich auf die Couch. Mit einem Schlag verändert sich die Stimme Odais. Plötzlich hat er wieder dieses hysterische Kreischen. Dieses Kreischen ist genauso markant wie sein Hihihihihi-Stakkato-Lachen. Er schreit die Frau an, sich auszuziehen. Sie bittet »Nein, oh Herr, nein«, doch Odai macht dieses verzweifelte Bitten nur noch rasender. Vor unseren Augen zieht er seinen Hosengurt heraus, rollt das Ende mit der Schnalle um seine rechte Hand und schlägt der Frau klatschend den Gürtel ins Gesicht. Die Frau schreit auf, versucht davonzulaufen, doch Odai setzt ihr nach, bekommt sie zu fassen, legt ihr den Gürtel um den Hals und zieht zu, bis sie röchelt. Dann lockert er ihn wieder. Sie stürzt auf den Boden, jammert, sie doch in Frieden zu lassen und nicht zu entehren. Er packt sie aber an den Haaren, schleift sie hin-ter sich her in den Schlafraum, wirft sie wie einen Sack auf das Bett. Odai schlägt sie weiter, bis sie blutet; er atmet schwer, steigert sich in einen Rausch. Das Blut, die Striemen, die Schmerzen, die sein Opfer empfindet - das Quälen erregt ihn noch mehr, treibt ihn fast zum Wahnsinn. Er wirft sich auf sie, versucht, sie zu küssen, seine Zunge in ihren Mund zu schieben. Sie weicht ihm immer aus, versucht sich zu wehren, doch sie hat keine Kraft mehr. Ihr Weinen ist ein leises, verzweifeltes Jammern. Er drückt ihre Schenkel auseinander. Zweimal, dreimal kann sie sich noch wegdrehen. Odai schlägt ihr mit dem Handrücken ins Gesicht, aus ihrer Nase fließt Blut, er dringt in sie ein. Wir hören keine Schreie mehr, nur sein gieriges, hechelndes Stöhnen. Es ist das Entwürdigendste, was ich bisher erlebt habe. Nachdem Odai seine Lust befriedigt hat, kommt er grinsend aus dem Schlafzimmer, schenkt sich einen Cognac ein, spricht in einem Plauderton, als ob nichts geschehen wäre. Als ob er gerade mit einem guten Freund zu Abend gegessen hätte. Plötzlich hören wir einen lang gezogenen grellen Schrei, der schier endlos dauert. Dann schlagartig völlige Ruhe. Ich stürze ins Schlafzimmer, sehe die offene Tür zum Balkon, eile hinaus, schaue hinunter. Sie
liegt direkt vor dem Hoteleingang auf den Waschbetonplatten, bewegt sich nicht. Sie ist halbnackt. Odai kommt ebenfalls auf den Balkon, ich starre ihn an, doch er weicht meinem Blick aus und fragt nur: »Ist sie tot?« Sie ist tot. Sie sprang aus dem sechsten Stock, weil sie die Schande nicht ertragen konnte. Ich hetze mit einigen anderen Leibwächtern ins Foyer. An der Rezeption weiß man bereits von dem Todessprung. Die Menschen starren uns an, aus ihren Augen schreit das blanke Entsetzten. Sie sagen nichts, doch an ihrem Gesichtsausdruck merke ich, wie abgrundtief sie uns hassen. Odai, die Leibwächter, mich, den sie nicht genau zuordnen können. Bin ich Odais Bruder? Der Offizier und Ehemann des Opfers schreit »Ihr Mörder. Ihr Bestien.« Wir rufen Odai im Zimmer an, und er befiehlt, den Mann nach Bagdad bringen zu lassen. Ins Gefängnis. Ins Kasr Al-Nihaya, den Palast ohne Wiederkehr. Kurze Zeit später wird der Offizier, er heißt Saad Abd Al-Razzek, vor einem Militärgericht in Bagdad verurteilt. Urteilsbegründung: Präsidentenbeleidigung. Nach Paragraph 225 steht darauf die Todesstrafe. Saad Abd AlRazzek wird hingerichtet. Der Kapitän, der zehn Jahre in der irakischen Armee gedient und mehrere Jahre davon an der Front für sein Land gekämpft hatte, wird durch ein Erschießungskommando exekutiert.
10. KAPITEL Der Tod des Vorkosters Ich schäme mich dafür, dass ich zu schwach war, etwas zu tun. Wie aber hätte ich handeln sollen? Ich wäre chancenlos gewesen. Odais Leibwächter, die an den Grausamkeiten ihres Chefs fast mehr Spaß haben als Odai selbst, hätten mich umgebracht. Sie hätten mich sofort hingerichtet. Im Palast ist die Verzweiflungstat der jungen Frau kein Thema. Die Hinrichtung des Offiziers ebenso wenig. Es wird nicht darüber gesprochen, die Vorgänge werden nicht erwähnt, nur die Leibwächter machen manchmal üble Scherze über den Kapitän: »Weshalb ließ er sich zu den Präsidentenbeschimpfungen hinreißen, die Frau war es doch nicht wert?« Diese Bemerkungen treffen mich mitten ins Herz. Ich stelle mir vor, dass es auch mir jederzeit so gehen kann. Was ist ein Menschenleben in diesen Kreisen wert? Nichts. Was passiert, wenn ich einmal eine Frau habe, die Odai gefällt? Würde ich für sie sterben wollen, genauso wie der junge Kapitän sterben musste? Odai hält sich in den Wochen nach der Rückkehr aus Al-Habanija auffallend zurück. Seine Streifzüge durch Bagdad reduzieren sich auf zwei bis drei pro Woche, es sieht fast so aus, als ob er sich instinktiv aus der Schusslinie ziehen will. Zu viele Menschen haben die Vorfälle im Hotel Al-Madina gesehen. Es ist unmöglich, sie alle so unter Druck zu setzen, dass sie selbst im engsten Familienkreis nicht darüber sprechen. Und Erzählungen dieser Art sind wie Dominosteine. Reiht man sie aneinander, genügt ein kleiner Luftzug, um alles zu Fall zu bringen. Ich bin mir sicher, dass Saddam Hussein von den Ereignissen in dem Touristenort trotzdem nichts erfahren hat. In den Zeitungen stand nur eine kleine Notiz, dass ein junger Offizier wegen Präsidentenbeleidigung hingerichtet worden sei. Odai konzentriert sich in diesen Tagen verstärkt auf seine Zeitungen und seine zahlreichen Geschäftsbeziehungen in Bagdad. Er hat mehrere Meetings mit Al-Haj Khaled Al-Kabisi. Al-Kabisi ist ein enger Freund Odais und dirigiert sämtliche Importe aus Jordanien. Sein Management-Büro hat er in der Nähe des Restaurants Al-Saat.
Odai vermeidet es aber, in Büros von Geschäftspartnern Besprechungen und Verhandlungen durchzuführen. Er hat Angst vor Wanzen und versteckten Videokameras. Sein Leitspruch ist: »Verhandle nie an Orten, die deine Geschäftspartner ausgesucht haben. Misstraue allen, hinterfrage alles. Selbst Freunde können Betrüger und Erpresser sein.« Die meisten Geschäfte schließt Odai deshalb in seinem Büro im Olympischen Club ab. Hier kann er seine geheimen Mikrofone verwenden, und die Geschäftspartner haben sich bedingungslos nach seinen Vorstellungen zu richten. Odai verfügt über Beteiligungen an fast allen internationalen Hotels in Bagdad und kontrolliert sämtliche Importe aus dem Ausland. Sein größtes Geschäft ist aber seine Nahrungsmittelproduktion. Er verfügt über Farmen in allen fruchtbaren Regionen im Irak. Diese landwirtschaftlichen Industrieanlagen, in denen mit neuesten technischen Mitteln und Maschinen gearbeitet wird, wurden nach amerikanischem Vorbild errichtet. Verwendet werden ausschließlich Hochleistungprodukte wie eine spezielle Getreidesorte, die dreimal mehr Ertrag abwirft als Getreidesorten, die den normalen irakischen Bauern zur Verfügung stehen. Verwaltet werden Odais Farmen von Afif und Jaudant, zwei Spezialisten, die in den Vereinigten Staaten Landwirtschaft studiert haben. Für die riesigen Rinder- und Schafherden ist Bachar Al-Abdullah verantwortlich. Die Farmen sind in einer Art Genossenschaft zusammengeschlossen. Normale Bauern müssen an Odais Farmen ihre Produkte abliefern. Sie erzielen für ihre Waren einen lächerlichen Preis. Umgekehrt müssen sie bei Odai sämtliches Saatgut, Düngemittel und Maschinen ankaufen. Odais Landwirtschafts-Mafia kontrolliert somit alles. Die Waren werden in Bagdad um einen zehnfach höheren Preis weiterverkauft. Die Geschäftsleute wiederum sind verpflichtet, von den Farmen des Präsidentensohnes bestimmte Mengen abzunehmen. Odai kassiert bei jedem Ei, jedem Stück Fleisch und bei jedem Getreidekorn mehrfach mit. Eine perfekte Geldmaschine. Die Einnahmen aus diesen Geschäften werden von Odais Finanzberatern Madhat und Salhan Al-Chahbandar verwaltet. Sämtliche Reingewinne transferieren sie in die Schweiz. Zugriff zu Odais Konten in der Schweiz haben nur er und sein Onkel Barzan Al-Takriti, der auch Saddam Husseins Vermögen im Ausland verwaltet.
Ein engmaschiges Netz, ein korruptes System, in dem jeder seinen festen Platz hat. Das Finanzgebaren dieses Imperiums dirigiert Finanzberater Salhan Al-Chahbandar. Er war mit einer Augenärztin namens Samira verheiratet. Einer attraktiven, erfolgreichen, westlich orientierten jungen Frau. Sie sorgte für einen Skandal, der selbst im Palast niemandem verborgen blieb: Samira wurde dem Präsidenten vorgestellt. Das Gespräch, so die Gerüchte, war die Initialzündung für eine Liaison, die sich zu einer handfesten Familienkrise ausweitete. Der Präsident ließ der Augenärztin wochenlang Aufmerksamkeiten zukommen. Er schickte ihr Schmuck, Autos, Kleider und teure Parfums. Er war verrückt nach ihr. Saddam Hussein gilt in der Damenwelt des Irak als schöner, attraktiver, faszinierender Mann. Er ist kraftvoll, mächtig, gefährlich. Brutal und skrupellos - Attribute, die im Normalfall abstoßen, bei Saddam wirken sie aber magisch anziehend. Die Damen der feinen Gesellschaft Bagdads reißen sich förmlich um Privataudienzen bei ihm. Es gibt endlose Listen mit Ansuchen, ihm einmal gegenüberstehen zu dürfen. Ein Foto zusammen mit Saddam Hussein gilt mehr als jeder Reichtum. Während des Krieges mit dem Iran stellte sich Saddam Hussein sogar an die Spitze einer Kampagne, bei der die Bevölkerung überredet werden sollte, ihre Wertsachen abzugeben, um die schrumpfenden Finanzreserven des Irak aufzupäppeln. Abend für Abend zeigte das irakische Fernsehen elegant gekleidete Damen der besten Gesellschaft, die im Palast vorsprachen, um Ringe, Colliers, Juwelen und Familienerbstücke abzuliefern. Natürlich wurde so auch Druck erzeugt, entstand Angst vor der Schande, die zumindest die reichen Familien auf sich laden würden, wenn sie sich dem Appell des Präsidenten verweigerten. Meistens war es aber die narzistische Gier der Damen, die darauf brannten, den Führer zu treffen, mit ihm im Fernsehen aufzutreten, dem Irak ihre Huldigung darzubringen und die Politik Saddam Husseins zu preisen. Saddam Hussein küsste den Damen vor laufender Kamera die Hand, umschmeichelte sie mit beträchtlichem Charme und legte sein ganzes persönliches Charisma in die Waagschale. Dr. Samira reagierte anders. Sie zierte sich, drängte sich nicht auf. Sie verweigerte sich Saddam erst einmal, und der schickte seinen engsten Leibwächter, Freund und Vorkoster, Kamel Hannah, beinahe täglich mit Geschenken in ihre Praxis. Er bestürmte sie, schmeichelte
ihr - ein Gegensatz, der krasser nicht sein konnte: auf der einen Seite der mordende Despot, auf der anderen der raffinierte Charmeur. Ein Kontrast, der seine Wirkung nicht verfehlte. Nach Wochen des Werbens nahm Samira eine Einladung Saddams an. Sie trafen sich in einem seiner 83 Schlösser. Mehr als ein halbes Jahr konnte der Präsident diese Beziehung geheim halten. Kamel Hannah war perfekt, er hielt alles vor Saddams Ehefrau Sajida geheim. Genauso wie damals, als Saddam ein Verhältnis mit der Tennisspielerin Najida, der Frau des Kultur- und Medienministers Hamed Yusef Hamadi, hatte. Schon wegen Najida hatte Saddam seine Frau verlassen wollen, dann aber, aus Staatsräson, darauf verzichtet und das leidenschaftliche, stürmische Verhältnis beendet. Diesmal handelte Saddam anders. Er heiratete heimlich Samira, nahm sie zur Zweitfrau. Nur Kamel Hannah und Samiras Ehemann, der zwangsläufig eingeweiht werden musste, wussten davon. Erst als Samira schwanger wurde und einen Sohn zur Welt brachte, sickerten erste Gerüchte durch. Gerüchte, die auch Saddams Erstfrau Sajida nicht verborgen blieben. Sajida war bisher immer der ruhende Pol gewesen, obwohl auch sie einen Hang zur Exzentrik hat. Wie für Imelda Marcos, die Frau des philippinischen Diktators, so ist auch für sie Shopping die Lieblingsbeschäftigung. Sie hat einen suchtartigen Konsumwahn, jettet monatlich mit ihren Modeberaterinnen durch Europa, ist Stammgast bei Dior, Yves Saint Laurent, Chanel. Sie besucht die großen Modemacher nicht in deren Salons, sondern lässt sie samt Kollektion und Mannequins nach Genf einfliegen. In einem übertrifft Sajida sogar die Kleidungsfetischisten Odai und Saddam Hussein: Sie zieht sich fast jede Stunde um. Langweilt sie sich, lässt sie sich von ihren Ankleidedamen Juwelen umhängen, durchstreift den Palast. Dreht sich vor den langen, barocken Spiegelgalerien. Diese Frau hat nur eine Sorge: wie sie zu noch mehr und noch exklusiverem Schmuck kommen kann. Auf den seltenen Partys, auf denen sie zu sehen ist, ist ihr Schmuck einziges Gesprächsthema. Sie erzählt euphorisch, wo sie welchen Ring und in welcher Stadt sie dieses oder jenes Ohrgehänge erstanden hat. Wie der Präsident, so verfügt auch sie über eigene Leibgarden, Geheimpolizisten, die zu ihrem Schutz abgestellt sind. Und wie ihr Sohn
Odai behandelt auch Sajida die Gardisten wie Leibeigene. Einmal pflanzte sie in ihrem Palastgarten Tomaten. In der prallen Sonne. Sie wollte eine schlichte Hausfrau sein. Als die Tomatensetzlinge nach ein paar Tagen jämmerlich aussahen, ließ sie sechs ihrer Leibwächter, die zum Gießen abkommandiert waren, auspeitschen und für zehn Tage ins Gefängnis werfen. Sajida erfuhr von der geheimen Heirat ihres Mannes und wandte sich an ihren Vater Khairallah Tulfah, den Saddam zum Gouverneur von Bagdad gemacht hatte. Damit kam ein Stein ins Rollen, der selbst den engmaschigen Saddam-Clan schwer erschütterte: Khairallah beschwerte sich öffentlich über das Verhalten seines Schwieger- und Ziehsohnes. Er empfahl seiner Tochter, aus dem gemeinsamen Palast auszuziehen. Sie bezog eine feudale Villa auf dem Präsidentengelände, in unmittelbarer Nähe der Villen ihrer Töchter Rena, Ragdh und Hala. Odai ist außer sich, als man ihm vom Umzug erzählt und er erfährt, was sein Vater seiner geliebten, verehrten Mutter angetan hat. Odai war immer das Lieblingskind Sajidas. Sie deckte seine Skandale, beschützte ihn vor dem Zorn seines Vaters, verzieh ihm alles. Und jetzt das. Odais Hass richtet sich aber nicht so sehr gegen seinen Vater, sondern gegen den Leibwächter und Vorkoster Kamel Hannah: »Er ist es, der meinem Vater immer Frauen und Mädchen besorgt. Hätte er nur diese Hure nicht herbeigeschleppt. Hätte er sie doch kaltgemacht wie all die anderen«, schimpft er bei jeder Gelegenheit. Bis dahin hatte Saddam Hussein die meisten seiner Gespielinnen durch Kamel Hannah und seine Männer beseitigen lassen, wenn er sie nicht mehr wollte. Sie wurden überfahren, in Beton gegossen und östlich des Palastes im Dajla-Fluß versenkt. Einmal wurde ich durch Zufall Augenzeuge solcher Morde. Unser Konvoi mit Odai war gerade auf dem Weg zum Projekt Nummer 7, als Kamel Hannahs Männer mit schwarzen Mercedes-Limousinen zwei Frauen jagten und sie überfuhren. Sie stießen mehrfach zurück, um die leblosen Körper erneut zu überrollen. Danach schleppten sie die Leichen zu einem der Fluchtwege, die Saddams Palast mit den Dampfschiffen auf dem Dajla-Fluß verbinden. Odai ließ damals anhalten, stieg aus und sprach mit Kamel Hannah. »Huren meines Vaters«, sagte er danach zu mir.
Nach der theatralischen Übersiedlung Sajidas zieht Samira mit dem gemeinsamen Kind in einen Nebentrakt des Palastes. Saddam nennt diesen Hauptpalast Projekt 2000. Geplant wurde das Schloss von einem österreichischen Architekten, ausgeführt wurden die Bauarbeiten, die mehr als fünfhundert Millionen Dollar verschlungen haben, von französischen Firmen. Dass Saddam Samira zu sich holt, ist ein Eklat, eine Demütigung für die gesamte Familie. Am allermeisten trifft diese Demütigung aber Odai. Ich kenne Odai inzwischen. Ich muss mich täglich anziehen wie er, muss mich umziehen, wenn er sich umzieht, mir die Haare schneiden lassen, wenn er sich seine Haare schneiden lässt. Durch diese Äußerlichkeiten lerne ich auch sein Inneres kennen. Ich merke, wenn es ihm gut geht, spüre, wenn er leidet - außerdem macht Odai aus seinen Gedanken und Gefühlen meist kein Geheimnis: Er prahlt mit seinen Frauengeschichten, erzählt Dutzende von Malen von seinen Schießereien in den Clubs, feiert sich selbst, wenn er wieder einmal einen Hotelgast durch seine Leibwächter hat verprügeln lassen. Odai ist ein offenes Buch für mich, selbst dann, wenn er versucht, so diskret wie möglich zu sein. Wie jetzt. Wir bekommen mit, dass der Familienrat auffallend oft einberufen wird. Normalerweise finden diese Treffen, die jeweils in einem anderen Schloss abgehalten werden, kaum öfter als einmal pro Woche statt. Jetzt treffen sie einander fast täglich. Diese Treffen werden kurz zuvor per Telefon arrangiert. Aus Sicherheitsgründen. Jedesmal, wenn Odai von diesem Familienrat zurückkommt, wirkt er frustriert, wütend. Er lässt sich abfällig über Kamel Hannah aus, er nennt ihn nur noch den »rückgratlosen Speichellecker, der meine Mutter zerstört hat«. Odais Wut richtet sich auch gegen Farouk Abu-Omar. Farouk gilt als privater Zuhälter Saddam Husseins. Er besorgt immer die Frauen, die er an Kamel Hannah weitergibt. Über seinen Vater äußert er sich nie abfällig. Mir fällt nur auf, dass Odai seine Lieblingsuhr, eine Spezialanfertigung aus Gold, die das Bild Saddam Husseins auf dem Ziffernblatt hat, nicht mehr trägt. Ebenso unterlässt er neuerdings die Schwärmereien, die früher zu einer wahren Vergötterung Saddams ausarteten. Ich erinnere mich an eine Szene während der Geburtstagsparty Odais. Als die Party zur Orgie wurde, nahm Odai einen Fünf-
undzwanzig-Dinar-Schein, zündete ihn an und schrie den nackten Frauen und Männern, die sich neben dem und im Pool vergnügten, zu: »Macht, was ihr wollt, aber merkt euch für immer und ewig eines sollte einer von euch schlecht über meinen Vater sprechen, wird er von mir, wie dieser Geldschein, verbrannt.« Und Odai schreckt vor nichts zurück. Wieso auch? Von klein an hatte ihm sein Vater beigebracht, dass Rivalen ausgeschaltet werden müssen. Odai sieht in Samira eine Rivalin seiner Mutter. Samira kann er unmöglich ausschalten, doch Kamel Hannah ... Wochenlang hat Odai keine neuen Aufgaben für mich. Mein Job ist eintönig, wenig abwechslungsreich, manchmal sogar gähnend langweilig. Obwohl Odai keine öffentlichen Auftritte absolviert, erhalte ich ständig meine speziellen Anweisungen. Schon am Vorabend erteilen mir meine drei ständigen Bewacher Anweisung, welchen Anzug ich am nächsten Tag zu tragen habe. Diese Bekleidungsvorschrift gilt übrigens für die gesamte Leibwächtertruppe. Odai liebt es, wenn alle zueinander passend gekleidet sind. Das An- und Umziehen ist somit ein tägliches Ritual, denn Odai besitzt nicht nur Anzüge in allen Farben, sondern auch Anzüge mit allen Schattierungen dieser Farben. Unser absurder Alltag verdrängt die Spannungen innerhalb des SaddamClans. Alles scheint wieder seine Ordnung zu haben - bis zu jenem Tag, an dem bekannt wird, dass Kamel Hannah von Saddam Hussein den Auftrag erhalten hat, im Garten des so genannten Ministertreffs eine Party zu organisieren. Das ist Anfang November 1988. Einladungen zu diesem Fest gehen an sämtliche Minister, führende Parteimitglieder, die gesamte Bagdader Gesellschaft. Auch Suzanne Mubarak, die Ehefrau des ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak, wird bei diesem Galadiner erwartet. Kamel Hannah hat auch Kusei, Odais jüngerem Bruder, eine Einladung zugeschickt - nicht aber Odai. Odai tobt, als er davon erfährt, sieht es als absolute Provokation und totale Respektlosigkeit an, dass er zu diesem Fest nicht geladen und somit unerwünscht ist. Tagelang wälzt Odai Schlachtpläne, wie er diese Schmach von sich abwenden kann. Er informiert Namir AlTakriti, seinen Zeremonienmeister, und gemeinsam entwerfen sie eine lächerliche kindische Strategie: Odai will zur gleichen Zeit im angrenzenden Teil des Gartens eine Gegenparty veranstalten. Er lässt dort Tonanlagen aufbauen, von seinen Köchen ein Riesen-
buffet kreieren, das raffinierter und üppiger sein muss als das Kamel Hannahs. Die Einladungen für dieses Gegenfest ergehen an alle Freunde Odais, selbst die Halbwelt Bagdads will er bei diesem Fest dabeihaben. »Wir brauchen die schönsten, attraktivsten und interessantesten Frauen Bagdads«, weist Odai Ali Asuad, seinen Frauenbeschaffer, an. Selbst mich lädt Odai zu diesem Fest ein. Es ist eine laue, warme Nacht, die livrierten Diener servieren kalten Champagner und Canapés. Die Musik von Kamel Hannahs Fest ist kaum zu hören, obwohl die beiden Partys nur durch niedrige Hecken voneinander getrennt sind. Odai hat Abdel Akle und dessen Musiker angewiesen, lediglich dezente Hintergrundmusik zu spielen. Odai sucht förmlich nach einem Grund für einen Eklat, alle auf dem Fest spüren es. Er ist aber beherrscht genug, nicht den ersten Schritt zu tun. Wir essen, üben uns im Smalltalk, die Stimmung ist verkrampft, zurückhaltend und weit davon entfernt, so ausgelassen und vulgär zu sein, wie es sonst auf Odais Partys die Regel ist. Nur, Odai beginnt bereits am frühen Abend mit harten Getränken. Bereits vor dem Essen trank er einige Gläser Whisky, ohne Eis und Wasser. Zum Essen hatte er nicht Wein wie wir, sondern Cognac. Er trinkt nicht genussvoll, er schüttet die hochprozentigen Drinks in sich hinein. Anders die Party Kamel Hannahs. Obwohl fast die gesamte hohe Politik versammelt ist, ist sein Fest ausgelassen, stimmungsvoll, und die Gäste amüsieren sich prächtig. Selbst Suzanne Mubarak ist gekommen. Ebenso Kusei Saddam Hussein mit seiner Frau Zainab, der Tochter eines Generals. Man hört Kusei manchmal laut lachen. Er hat nicht dieses Hihihihi wie sein Bruder Odai, Kusei lacht laut und herzlich. Kusei ist der Zweitgeborene, ist um zwei Jahre jünger als Odai und ich. Er kam 1966 zur Welt. Im Gegensatz zu Odai sorgte Kusei während der Schulzeit für keinerlei Skandale. Sicher, sein täglicher Auftritt im Bagdad-College war nicht anders als der Odais. Auch Kusei kam mit seinen Leibwächtern zur Schule, die dann während der Unterrichtsstunden im und vor dem Klassenzimmer saßen. In den Pausen verhielt sich Kusei aber immer sehr zurückhaltend. Er hasste das laute, schreierische, plakative Gehabe seines älteren Bruders. Zwar kam auch Kusei ständig mit einem Konvoi, der ihn bis zum Haupteingang zur Schule brachte; er donnerte aber nicht, wie Odai, im offenen
Sportcabriolet mit dröhnender Musik durch den Schulhof. Kusei wirkte immer introvertiert, intellektuell, feinfühlend. Auf den ersten Blick ein friedlicher junger Herr. In seinen britischen Maßanzügen war er das genaue Gegenteil von seinem Bruder: Odai war immer der junge Wilde. Wir trugen unsere Haare korrekt kurz, Odai hatte einen Wuschelkopf wie Jimmy Hendrix. Unsere Schulkleidung war eine dunkle Hose und ein weißes Kurzarmhemd. Odai trug Jeans und T-Shirts mit Aufdrucken nach amerikanischem Vorbild. Er wollte immer anders sein. Kusei absolvierte seine Schulzeit mit besten Noten und schrieb sich 1984 für Jura und Staatswissenschaften an der Universität Bagdad ein. Er war, wie Odai, kein guter Student, besuchte kaum mehr als fünfzehn bis zwanzig Vorlesungen im Semester, verließ diese Vorlesungen manchmal schon nach einer halben Stunde. Diese Extravaganzen wirkten aber nicht so provokativ wie bei Odai. Er stand einfach auf und ging. Ruhig, mit erhobenem Kopf, gerader Haltung. Kusei war immer schon eine Persönlichkeit, hatte eine eigene Ausstrahlung. Er wusste, dass er etwas Besonderes ist, musste das aber niemandem beweisen, man spürte es. An seiner Mimik und Gestik, an seiner Art zu sprechen. Kein lautes Wort, kein Gekreische, keine spätpubertären Angebereien. Ein Sir, dem trotzdem niemand zu nahe kommen wollte und auch nicht durfte. Weil er es in den Vorlesungsälen neben den schwitzenden Mitstudenten nicht aushalten konnte, setzte er sich immer in das Büro des Dekans Dr. Mohammad Al-Douri. Al-Douri war ein schleimiger, niederträchtiger, karrieresüchtiger Mensch. Jedesmal, wenn er Kusei in der Frühe auf dem Weg zur Universität traf, verneigte er sich untertänigst. Kusei nickte immer kurz, ging geraden Blickes und schnellen Schrittes weiter, gefolgt von seiner Leibwächterhorde, die zumeist aus zwanzig bis fünfundzwanzig Leuten bestand. Wie ein devotes Schoßhündchen bemühte sich Al-Douri, mit Kusei Schritt zu halten. Der Dekan öffnete sogar höchstpersönlich die Tür zu seinem Büro, wenn Kusei es vorzog, in der Universitätsdirektion zu studieren. Es war an der Universität Gesprächsthema Nummer eins, dass Kusei sich immer an den Schreibtisch Al-Douris setzte und der Direktor während des Studiums des Präsidentensohnes vor Kusei stehen musste. Selbst die Abschlussprüfungen legte Kusei nicht im Prüfungssaal, gemeinsam mit den anderen Studenten, sondern im Büro des Dekans ab. Wie Odai, so hatte auch Kusei seine eigene Clique. Diese bestand
ausschließlich aus Söhnen und Töchtern von Ministern und höchsten Parteimitgliedern. Jugendliche aus niedrigeren Gesellschaftsschichten hatten keine Chance, in diese Clique aufgenommen zu werden, geschweige denn, in deren Nähe zu kommen. Die engsten Freunde Kuseis sind: - Bassem Latif Nassif Jassem, Sohn des Medien- und Kulturministers - Sael Souheil, Sohn eines Generals - Marwan Adnan Scharif, Ministersohn - Aiad Saadam Ghaidan, Ministersohn - Ali Ghateb, Sohn eines Parteioffiziers. Keiner der Freunde Kuseis hatte auf dem Gymnasium jene Punktezahl erreicht (85 Prozent), die für den Besuch einer Universität im Irak vorgeschrieben ist. Kusei regelte das trotzdem für seine Freunde. 1988 schloss Kusei sein Studium mit ausgezeichnetem Erfolg ab. Sein Ergebnis wurde an der Universität sogar veröffentlicht: Kusei Saddam Hussein, der beste Absolvent des Jahrganges 1988, erreichte bei seinen Prüfungen 99,9 der möglichen 100 Punkte. Saddam Hussein kümmerte sich um Kusei deutlich mehr als um Odai. Bereits während der Studienzeit versuchte er, ihn zu formen, zu höheren Aufgaben hinzuleiten. Unter allen Umständen sollte verhindert werden, dass Kusei ebenso wie Odai in die Halbwelt abglitt. Saddam verheiratete Kusei mit Zainab, einer Tochter des ausgezeichneten Generals Maher Abd Al-Raschid. General Maher Abd Al-Raschid hatte während des irakisch-iranischen Krieges zahlreiche große Siege für den Irak errungen. Unter anderem gewann er die Schlacht Tahrir Alfan. Nach dem Krieg wurde der General als glorreicher Held gefeiert. Saddam Hussein schätzt den General, er braucht ihn, er weiß um seine Fähigkeiten Bescheid. Die wohlkalkulierte Überlegung des Präsidenten: Er braucht die Loyalität des Generals, und die angesehene, skandalfreie Familie Al-Rashid ist für Kusei wertvoller als jede Ausbildung. Neun Monate nach Kuseis und Zainabs Hochzeit kommt Tochter Zaina zu Welt. Kusei wird nach seinem Studium zum Präsidenten des irakischen Reitclubs ernannt. Gleichzeitig stellt ihn Saddam Hussein auch an die Spitze des Geheimdienstes: Kusei wird stellvertretender Direktor des Al-Khass.
Seit meiner Ausbildung zum Fidai Odais habe ich Kusei erst einmal gesehen. Auch Kusei hat einen Fidai. Im Gegensatz zu mir kommt Kuseis Doppelgänger direkt aus der Familie. Es ist ein entfernter Cousin, der Kusei täuschend ähnlich sieht. Ich habe keine Ahnung, ob dieser entfernte Cousin die gleiche Ausbildung durchlaufen musste wie ich. Kusei verlässt mit seiner Frau kurz vor Mitternacht das Fest Kamel Hannahs. Odais Leibwächter haben beobachtet, wie er weggefahren ist. Odai selbst ist inzwischen völlig betrunken. Er kümmert sich nicht mehr darum, ob er das Fest des Vorkosters stört oder nicht, und weist Abdel Akle an, die Musik lauter zu drehen. Wie ein Tiger geht Odai von Tisch zu Tisch. Er unterhält sich mit niemandem. In der rechten Hand hält er krampfhaft seinen Zauberstab. Der Zauberstab ist eine Spezialanfertigung, mit der Odai immer seine Rosen schneidet; es ist eine Art elektrisches Messer, batteriebetrieben. Die Klinge ist so scharf wie ein Skalpell. Den ganzen Abend über hat Odai das Instrument bereits in der Hand. Er schaltet es ein, aus und wieder ein. Durchschneidet die Stoffservietten, Früchte vom Buffet, selbst seine Zigarren. Kurz vor Mitternacht, Odais Gesellschaft ist inzwischen völlig betrunken, hören wir Schüsse von nebenan. Mehrere Salven hintereinander. Danach lautes Gelächter und wieder Salven aus einer Kalaschnikow. Odai schickt sofort mehrere Leibwächter zu Kamel Hannahs Fest, einer davon ist Saddam Al-Takriti. Wenige Augenblicke später kommt Saddam Al-Takriti lachend mit seinen Leuten zurück. »Was ist passiert?«, faucht Odai Saddam Al-Takriti an. Der antwortet grinsend, mit weit ausgebreiteten Armen: »Kamel Hannah steht auf der Tafel und feuert Freudensalven in die Luft.« Als er das sagt, hören wir es wieder: Ratatatata. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass bei Festen dieser Art in die Luft geschossen wird. Odai macht das fast jedesmal bei seinen Streifzügen durch Bagdad. Diesmal ist es aber anders. Nicht Odai ist es, der sich hier gehen lässt, sondern Kamel Hannah, der Vorkoster, der treue Hund Saddam Husseins. Odai schreit Saddam Al-Takriti an: »Geh zurück, befiehl dem Hurensohn aufzuhören. Sag ihm, der Sohn des Präsidenten wünscht das nicht.« Es dauert keine zwei Minuten, bis Al-Takriti wieder zurückkommt. Seine Miene ist versteinert, man spürt, dass die Mel-
dung, die er jetzt erstatten wird, zum Eklat führen wird. Odai schreit: »Was sagt er?« In diesem Moment hören wir wieder Salven. Al-Takriti: »Herr, Kamel Hannah lässt ausrichten, er höre nur auf Befehle des Präsidenten.« Wie ein Wahnsinniger stürmt daraufhin Odai auf die Hecke zu, die die beiden Partys voneinander trennt. Er zwängt sich durch die Hecke und läuft zornig und trotzig auf den Tisch Kamel Hannahs zu. Der steht breitbeinig auf der Tafel, in der Rechten eine Kalaschnikow, in der linken ein Reservemagazin. Als er Odai sieht, feuert er noch eine Salve ab. Er hält das Gewehr lässig mit einer Hand, der Rückstoß lässt seinen Körper beben. Hannah lacht schallend und laut. Odai schreit ihn an: »Ich befehle dir aufzuhören.« Blitzartig verstummt das Stimmengewirr an der Tafel, die Musiker hören auf zu spielen, und Odai tobt wieder: »Komm herunter.« Kamel Hannah steigt vom Tisch. Langsam. Alle starren ihn an, seine Miene ist ernst. Er baut sich vor Odai auf, kommt ihm ganz nahe. »Ich höre nur auf Befehle des Präsidenten«, sagt Hannah, der offensichtlich auch betrunken ist. Odai vibriert vor Wut. Zum ersten Mal in seinem Leben widerspricht ihm jemand offen. Ein Vorkoster, ein Günstling seines Vaters, eine schleimige Kreatur wagt es, ihn, den erstgeborenen Sohn des direkten Nachkommen des Propheten, zu brüskieren. Offen. Vor der Gesellschaft Bagdads. Vor den Augen Suzanne Mubaraks. Odai findet keine Worte mehr. Er fühlt sich überfahren und ist zu aufgebracht, um sich noch irgendwie beherrschen zu können. Schlagartig bricht alles durch, was Odai an Zügellosigkeit und Gewalttätigkeit erlebt hat. Niemand weiß, was in seinem Kopf in diesen Sekunden vorgeht - die Demütigung hat aber den letzten Funken Rationalität in seinem Hirn ausgeschaltet. Es gibt keine Moral mehr, es hat noch nie in seinem Leben eine Moral gegeben. Als Fünfjähriger nahm ihn sein Vater zu Hinrichtungen von Oppositionellen mit, als Zehnjähriger sah er Folterungen und Quälereien. Alles das bricht jetzt durch. Odai reißt seinen elektrischen Stab hoch, schlägt ihn Kamel Hannah wuchtig auf den Kopf. Einmal, zweimal. Kamel Hannah hat mit der Attacke nicht gerechnet. Er torkelt zwei Schritte zurück, und Odai setzt wie eine Raubkatze nach. Wie ein Degenfechter schnellt er auf ihn zu und schlitzt dem Vorkoster des Präsidenten mit einem gezielten, kraft-
vollen Stoß die Kehle auf. Kamel Hannah röchelt, stoßweise quillt Blut aus seiner klaffenden Halswunde. Er reißt die Augen weit auf, kippt seitlich auf die Tafel, das Geschirr fällt zu Boden, Frauen schreien geschockt auf, Suzanne Mubarak wird von ihren Leibwächtern regelrecht von der Tafel weggezogen und abgeführt. Die Präsidentengattin ist so verstört, dass sie nicht einmal in der Lage ist, ihre Hände vor das Gesicht zu reißen. Kamel Hannah rollt seitlich von der Tafel, fällt auf den Boden. Überall Blut. Odai stürzt sich abermals auf ihn, schlägt, total von Sinnen, weiter auf den Wehrlosen ein. Kamel Hannah versucht Odai noch abzuwehren, will die Kalaschnikow, die er noch immer fest umklammert hält, hochheben, doch Odai presst die Waffe zur Seite. Prügelt, tritt so lange, bis Kamel Hannah sich nicht mehr rührt. Kamel Hannahs Bruder, ein hoher Geheimdienstoffizier, versucht, sich auf Odai zu stürzen, schreit immer wieder: »Ich bring ihn um, ich bring ihn um.« Odais Offiziere halten ihn aber zurück, drücken ihn zu Boden, versuchen, ihm Handschellen anzu-legen. Odai ist wie in Trance, er hört die Schreie dieses Mannes nicht. Er atmet schwer, spreizt seine Beine, stellt sich direkt über den sterbenden Kamel Hannah, zieht seinen Revolver und drückt ab. Das erste NeunMillimeter-Projektil zerfetzt Kamel Hannah die Bauchdecke, der zweite Schuß trifft ihn in die Brust. Plötzlich ist es absolut still in dem Garten. Geschockt starren die Menschen auf Odai und den Toten, und niemand wagt etwas zu sagen. Nur einige Offiziere Odais verlassen die Tafel, laufen zum Telefon, informieren Saddam Hussein. Minutenlang starrt Odai auf den Sterbenden Er steht regungslos vor seinem Opfer, das er so gehasst hat. Dann hebt er seinen Kopf, schaut mit leerem Blick in die Gesichter der Partygäste. Er sieht die Menschen um sich nicht mehr. Odai ist in diesem Moment ganz weit weg, wahrscheinlich hat er es noch nicht realisiert, was hier geschehen ist. Plötzlich grinst er, lässt die Waffe fallen und hetzt durch die Hecke in den anderen Garten, läuft in eines der oberen Stockwerke des Ministergebäudes, sperrt sich in ein Büro ein. Seine Leibwächter folgen ihm. Wenige Augenblicke später kommt Saddam. Er hat eine Hose an, sein Hemd ist offen. Er trägt Schuhe ohne Socken. Er sieht aus, als
hätte er sich nur ein paar Sekunden Zeit genommen, um sich anzuziehen. Saddam ist geschockt. Er läuft zu Kamel Hannah, beugt sich über seinen Freund, schreit: »Wo ist der Arzt?« Es vergehen kaum zwei Minuten, bis die Ambulanz vorfährt. Sie betten Kamel Hannah auf eine Bahre, doch es ist zu spät. Man kann ihn nicht mehr retten. Saddam will das nicht wahrhaben. Er treibt die Ärzte an, steigt mit in den Krankenwagen und rast mit seinem Freund ins Ibn-Sina, das Privatspital der Husseins. Kamel Hannah ist bereits tot, als er in den Kranken-wagen eingeladen wird. Was in dieser Nacht noch passiert, erfahre ich erst am nächsten Tag von Azzam, dem ersten Leibwächter Odais. Odai, der nun auch offiziell zum Mörder geworden ist, versuchte, sich mit Tabletten, die er sich von seinen Leibwächtern bringen ließ, das Leben zu nehmen. »Er hat ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten geschluckt«, sagt Azzam. Als er röchelnd auf den Boden kippt, bringen ihn Azzam und seine Leute ebenfalls ins Ibn-Sina-Krankenhaus. »Die Ärzte informierten Saddam, dass auch sein Sohn eingeliefert wurde.« Azzam schüttelt den Kopf und erzählt weiter: »Odai stammelte - sagt es nicht meinem Vater, ich will sterben.« Als Saddam davon erfährt, stürmt er rasend vor Wut in das Krankenzimmer seines Sohnes. Die Ärzte sind gerade dabei, dem vermeintlichen Selbstmörder einen Plastikschlauch in den Hals zu stecken, um ihm den Magen auszupumpen. Odai erbricht sich, würgt, ein Bild des Elends. Saddam entreißt den Ärzten den Plastikschlauch, drückt die Mediziner zur Seite und schlägt Odai ins Gesicht. Zweimal. Dabei brüllt er: »Dein Blut wird fließen, wie das meines Freundes.« Der bestialische Mord an seinem Freund ist also sogar Saddam Hussein zuviel. Es dauert Tage, bis Odai wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Aus dem Präsidentenpalast wird absolut nichts verlautbart, in den Zeitungen steht keine Zeile. Innerhalb des Palastes wird damit argumentiert, dass die Bluttat eben die Tat eines »ganz normalen, labilen, jähzornigen und unbeherrschten Mannes gewesen sei. Odai ließ sich eben immer schon von seinen aggressiven Gefühlen leiten.« Wir wissen, dass diese Verharmlosung nichts anderes ist als vorauseilender Gehorsam. Jeder im Palast weiß es. Odai war immer schon eine Bestie, ein Sadist, der Lust an der Gewalt und am Töten
hatte. Dieser Mord, dieses Zerfleischen eines Gegners, war aber mehr als nur das Abreagieren seines Jähzorns. Odai führte damit einen indirekten Auftrag seiner Mutter aus: »Ich will, dass Kamel Hannah, dieser Frauenmakler, vernichtet wird«, hatte Sajida mehrmals gesagt. Sicher wollte sie nicht, dass Odai dies als Befehl auffasste. Sie hat damit aber ihren Sohn, der seine Mutter abgöttisch liebt und verehrt, zu noch größerer Wut angestachelt. Odai ist gerade zwei Tage aus dem Krankenhaus, da fliegt er mit Yassem, seinem Kleidungsberater, nach Genf. Saddam Hussein schickt ihn zur Strafe zu Onkel Barzan Al-Takriti. Saddam verkündet zwar, dass Odai sich einer Gerichtsverhandlung stellen und für seine Missetat bezahlen müsse - übt aber gleichzeitig Druck auf die Familie Kamel Hannahs aus. Mit dem Ergebnis, dass der Bruder Kamel Hannahs, der Odai während des Festes noch erschießen wollte, plötzlich öffentlich inständig darum bittet, doch Gnade mit dem Täter walten zu lassen. Die Anklage gegen Odai wird deshalb fallen gelassen. Trotzdem kommt es durch die Diskussionen um diesen Mord zu einer neuen, bisher nicht gekannten Dynamik in der Familienpolitik. Bis dahin spielte das Instrumentarium der Familienpolitik die wichtigste Rolle bei der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die staatlichen Institutionen. Manchmal war es Saddam Hussein sogar wichtiger, obskure Streitpunkte bei den Heiratsverhandlungen zwischen zwei Clans zu klären, als ernsthafte Wirtschaftspolitik zu betreiben. Saddam hat die Familienpolitik, die das gesellschaftliche Leben im arabischen Raum schon seit Jahrhunderten prägt, bis zum Exzess kultiviert. Politische Bündnisse werden durch Heirat vertieft, die wichtigsten Mitglieder des Regimes sind zwangsläufig mit Saddam persönlich verbunden. Das ist bisher von Vorteil gewesen. Nach dem Mord an Kamel Hannah und dem Abflug Odais nach Genf bricht die Kabale innerhalb des Saddam-Clans aber offen aus. Was mit dem Einzug von Samira in den Palast begann, entwickelt sich zu einer Tragödie im Stil von Shakespeares Macbeth. Sowohl Sajida als auch ihr Vater Khairallah Tulfah und ihr Bruder Adnan Khairallah machen Saddam Hussein wegen des Mordes an Kamel Hannah schwere Vorwürfe. Am heftigsten reagiert aber Adnan Khairallah.
Adnan Khairallah ist seit seiner Kindheit eng mit Saddam Hussein befreundet. Soweit Saddam Hussein überhaupt so etwas wie einen Freund hatte, war das sein Vetter Adnan Khairallah. Als Saddam Hussein Präsident wurde, machte er Adnan zum Verteidigungsminister. Am Ende des Krieges gegen den Iran ernannte ihn Saddam auch zum Generalstabschef. Adnan ist beliebt im Irak. Die Leute verehren ihn als Kriegshelden einen großen Feldherrn, der auch um das Wohl seiner Soldaten besorgt ist. Nach dem Krieg entwirft er zahlreiche Pläne, um Invaliden in die Gesellschaft wieder einzugliedern. Soldaten, die im Kampf besonders mutig und erfolgreich waren, erhalten Prämien in Form von Grundstücken, Wohnungen und Steuervergünstigungen. Adnan Khairallah avanciert mit diesen Sozialprogrammen zum Star, zum Liebling der Massen. Er lässt sich in Bagdad als zweiter Mann hinter Saddam Hussein feiern. Das ist sein erster Fehler. Die Verehrung für ihn ist aber so groß, dass diese egozentrische Selbstdarstellung vorerst noch ohne Folgen bleibt. Saddams Chefberater haben diese Sympathie-Strömungen genau registriert. Aber bis zum Mord an Kamel Hannah hat der Präsident auf diese Entwicklung nicht reagiert, was ungewöhnlich ist, denn sonst kennt Saddam keine Skrupel und lässt selbst engste Verwandte ausschalten, wenn er sie als Konkurrenten betrachtet. Der zweite schwere Fehler Adnans ist, dass er die Familienzwistigkeiten so hochstilisiert, als ob er Saddam Hussein persönlich diskreditieren oder gar stürzen wollte. Adnan weist unaufhörlich auf die Schande hin, die Saddam Hussein seiner Schwester Sajida antue. Er findet es empörend, dass Samira im Palast wohnt und Sajida ausziehen musste. Er wirft dem Präsidenten offen vor, seiner Mätresse Samira zuliebe den Familienfrieden zu zerstören. Der Streit ist so heftig, dass er selbst den Leibwächtern und dem Personal im Palast nicht verborgen bleiben kann. Weder Sajida noch ihr Vater Khairallah Tulfah erscheinen bei den wöchentlichen Familientreffen. Sajida weist ihre Leibwächter sogar an, Samira von ihrer Villa innerhalb des Palastgeländes fern zu halten. Demonstrativ fährt Adnan beinahe täglich dorthin, um seine Schwester zu besuchen. Saddam Hussein reagiert auf seine Art. Zuerst schickt er Samira und ihrer beider Sohn Ali nach Europa. Dann holt er zum ersten Schlag gegen die Familie aus. Die Geheimpolizei führt in allen Geschäften sei-
nes Ziehvaters Khairallah Tulfah Razzien durch. Siebzehn seiner Geschäftsführer werden festgenommen und an den Pranger gestellt. Sie werden beschuldigt, durch verbrecherische Machenschaften das Volk um Millionen betrogen zu haben. Obwohl jeder in Bagdad weiß, dass Saddam Hussein hinter dieser Aktion steckt, hat der die Stirn, am Tag nach der Razzia Khairallah Tulfah bei einer Fernsehansprache als hervorragenden Geschäftsmann und Politiker zu rühmen. Zu einem wirklich vernichtenden Schlag holt Saddam einige Monate später aus, als er seine gesamte Familie zu einem Ausflug in den Nordirak einlädt. Sajida, Kusei, die drei Töchter Ragdh, Hala und Rena sowie Odai, der inzwischen aus Genf zurückgekehrt ist, dazu die Ehemänner der Töchter und Kuseis Frau Zainab, auch Adnan Khairallah und Ali Hassan Al-Majid, der Mann, der für den Giftgaseinsatz gegen die Kurden verantwortlich ist. Sie fliegen in mehreren Hubschraubern. Im einen sitzt Saddam Hussein, im anderen Sajida mit den Töchtern, Odai und Kusei nehmen ihre Privathubschrauber. Ali Hassan Al-Majid hat ebenfalls einen eigenen Helikopter, ebenso Adnan Khairallah. Der gemeinsame Abflug ist ein Spektakel, wird sogar vom Fernsehen aufgezeichnet. Vierundzwanzig Stunden später, Saddam und seine engere Familie sind noch im Nordirak, wird im irakischen Fernsehen in den Hauptnachrichten verkündet, Verteidigungsminister Adnan Khairallah, der wegen eines dringenden Auftrags früher nach Bagdad zurückkehren habe müssen, sei mit seinem Hubschrauber in einen Sandsturm geraten und abgestürzt. Er sei dabei samt seinen Leibwächtern ums Leben gekommen. Beim Begräbnis Adnan Khairallahs ist die gesamte Familie Saddam Husseins anwesend. Sajida wird von ihrem Vater Khairallah Tulfah gestützt. Alle weinen, selbst Saddam Hussein gibt sich bedrückt. Das Begräbnis endet mit einem Affront: Khairallah Tulfah schreit Saddam Hussein an: »Du hast das Leben meiner Tochter zerstört und meinen Sohn ermorden lassen. Dafür schwöre ich dir ewige Rache.« In den Tagen darauf lanciert Khairallah Tulfah in der Bagdader Gesellschaft eine Erklärung zum Hubschrauberabsturz seines Sohnes: kein Unfall, sondern Mord. Erstens: Als Adnan Khairallah nach Bagdad zurückflog, habe es im
gesamten Irak keinen Sandsturm gegeben. Zweitens: Adnan habe keinen Anlass gehabt, vorzeitig nach Bagdad zurückzukehren. Drittens: Er, Khairallah Tulfah, habe Hinweise darauf, dass am Hubschrauber seines Sohnes vier Sprengladungen angebracht worden seien. Viertens: Diese Sprengladungen habe ein Geheimagent mit dem Decknamen Karim angebracht. Fünftens: Karim habe seine Anweisungen für das Attentat von Hussein Kamel, der mit Saddams ältester Tochter Ragdh verheiratet ist, erhalten. Sechstens: Die Leitung der Operation habe Ali Hassan Al-Majid gehabt. Siebtens: Karim habe sich noch am Tag des Attentats mit einem Flug der Irak-Airways nach Paris abgesetzt. Saddam Hussein schweigt zu all diesen Vorwürfen. Er fährt mit seinen Leibwächtern zur Vogeljagd.
11. KAPITEL Das stumme Mädchen August 1989. Odai ist aufgebracht. Gerade hat ihm Azzam die Meldung überbracht, dass beim Busbahnhof im Zentrum Bagdads ein Feuergefecht tobe, in das fünfzig kürzlich aus den Grenztruppen entlassene Soldaten verwickelt seien. Dutzende von Zivilisten seien dabei getötet worden, keucht Azzam, und die Republikanischen Garden versuchten gerade mit Hilfe des Geheimdienstes, die sich gegenseitig bekämpfenden Soldaten unter Kontrolle zu bringen. Die Kämpfe dauern die ganze Nacht an. Odai schickt mich am nächsten Morgen mit meinen Leibwächtern zum Busbahnhof. Meine Aufgabe ist leicht, aber zugleich auch gefährlich: Ich soll mich nur kurz, durch persönlichen Augenschein, über die Lage informieren und dann sofort ins Projekt Nummer 7 zurückkehren, um Bericht zu erstatten. Yassem bringt mir die schwarze Uniform Odais, ich ziehe mich um, kaum zwanzig Minuten später fährt unser Konvoi ab. Es sind zehn völlig identische, schwarze Mercedes-Limousinen. Am Busbahnhof hat sich die Situation wieder beruhigt. Er ist von Spezialeinheiten abgeriegelt. Auf dem Platz davor Panzerwagen, Soldaten. Dazwischen Hunderte von Menschen, die auf ihren Bus warten. Ein trostloses Bild. Als unser Konvoi vorfährt, weicht die Menge zurück. Ich steige aus, meine zwölf Leibwächter ebenso, es herrscht eine gespenstische Ruhe. Ich gehe auf die Menschen zu. Sie starren mich an, ihre Gesichter sind leer. Sie schweigen mich an. Misstrauen. Vor genau einem Jahr war ich zum letzten Mal hier. Damals war der Krieg gegen den Iran gerade zu Ende gegangen und tausende von Menschen feierten euphorisch und ausgelassen in den Straßen Bagdads. Es herrschte Aufbruchsstimmung, grenzenlose Freude. Doch jetzt? Der achtjährige Konflikt mit dem Iran hat unser Land bankrott gemacht. Unsere Armee, die noch immer knapp eine Million Mann zählt, ist heruntergekommen. Unter den demobilisierten und arbeitslosen Soldaten sind Unruhen und Kriminalität an der Tagesordnung. Ständig verüben marodierende Soldaten irgendwo Raubüberfälle. Wir haben im Palast von der Existenz dieser schrecklichen Zustände gehört, wollten aber
nie so recht daran glauben. Jetzt sehe ich sie mit eigenen Augen. Die Toten sind zwar schon weggeräumt, doch auf dem glühenden Asphalt ist eingetrocknetes Blut zu sehen. Der Krieg gegen den Iran hat das Land arm gemacht. Ich gehe auf vier Frauen, die mit ihren Kindern auf einen Bus warten, zu, frage, wie es ihnen gehe. Ehrfürchtig sinken sie vor mir zu Boden, ich habe nichts, was ich ihnen geben könnte, deshalb frage ich sie, was sie bedrücke. »O Herr, wir wissen nicht, wie wir unsere Kinder durchbringen sollen. Alles ist so teuer.« Ich sage ihnen, dass ich mich um sie kümmern werde, lasse von einem meiner Leibwächter die Adresse der Frau aufschreiben. Danach drängen mich meine Bodyguards wieder ins Auto. Unser Konvoi fährt zurück zum Projekt Nummer 7. Ich schreibe für Odai einen Report, melde, was die Frau mir gesagt hat. Dass sie kein Geld haben, um ihre Kinder durchzubringen, und dass ich glaube, dass es den Soldaten, die diese Schießereien auslösten, nicht anders gehe. Schließlich verdient ein normaler Soldat nur zweiundzwanzig Dinar pro Monat. Das reicht gerade aus, um nicht zu verhungern. Odai ist empört über mein Verhalten. Er schlägt mich mit seinem Elektrokabel ins Gesicht, schreit: »Das ist nicht wahr, sag', dass das nicht wahr ist!« Wieder schlägt er auf mich ein, tobt: »Warum hast du dich nicht an meine Anweisungen gehalten, warum hast du mit den Leuten gesprochen? Das hat dir niemand befohlen. Du bist mein Fidai, vergiss das nie.« Am nächsten Tag erscheinen in Odais Zeitungen riesige Berichte über die Zwischenfälle am Busbahnhof: »Polizei nimmt Autodiebe fest«, lautet die Schlagzeile. Dann ist von einem Schusswechsel zwischen der Bagdader Polizei und einer Gruppe von Autodieben die Rede, bei dem es leider Tote und Verletzte gegeben habe. Identische Verlautbarungen im Fernsehen und im Radio. Mit diesen Falschmeldungen soll die Fiktion eines ruhigen Nachkriegslebens aufrechterhalten werden. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Saddam hat größte Probleme, seine umfangreiche und hochentwickelte militärisch-industrielle Infrastruktur aufrechtzuerhalten und eine Armee mit einer Million Mann in Friedenszeiten zu versorgen.
Der Irak ist bankrott, aber das interessiert Odai nicht. Ihm geht es darum, nach dem Wirbel um den Mord an Kamel Hannah der Bagdader Gesellschaft zu zeigen, dass er wieder ganz der Alte ist. Odai Saddam Hussein, der mächtige Präsidentensohn. Verantwortungsgefühl ist ihm völlig fremd, er hält sich an die Regel: »Wenn das Volk kein Brot mehr hat, dann soll es eben Torten essen.« Demonstrativer als je zuvor stellt er nun seinen Reichtum zur Schau. Er erzählt uns sogar, dass er während seines Aufenthalts in der Schweiz, bei Onkel Barzan Al-Takriti, seine Uhrensammlung komplettiert hat. Er habe nun bereits mehr als tausend Uhren, prahlt er. Und zählt dabei auf unseren Beifall. Der Tagesablauf Odais ist wieder wie früher. Streifzüge durch die Bagdader Clubs und Hotels, Alkoholexzesse, wilde Auftritte mit zwanzig und mehr Frauen im Schlepptau. Odai entwickelt bei diesen Ausflügen ein neues Feindbild. Früher waren es nur Perser, Juden, Ägypter und Schmeißfliegen, die er hasste. Jetzt kommen die Kuwaitis dazu. Bagdad ist zu dieser Zeit überschwemmt von Kuwaitis. An Donnerstagen fliegen sie zu Tausenden aus Kuwait-City ein, um sich in Bagdad zu vergnügen. In Kuwait sind Alkohol und Prostitution verboten. In Saudi-Arabien ebenso. Die Wüstensöhne nützen die Freizügigkeit Bagdads, um sich zu amüsieren und abzulenken. »Wie Heuschreckenschwärme fallen sie in die Hotels ein«, flucht Odai. »Sie prahlen mit ihren Petro-Dollars und leben nur, weil sie uns bestehlen.« Die Wahrheit sieht natürlich anders aus. Der Irak konnte während des Krieges nur überleben, weil Kuwait Saddams Regime in all den Jahren mit Milliarden-Dollar-Krediten unterstützte. Bei einem seiner Streifzüge trifft Odai im Hotel Rasheed seinen alten Freund Fahd Al-Achmed Al-Sabah, den Bruder des kuwaitischen Emirs. Odai kennt ihn seit Jahren und hat immer von Fahd geschwärmt: »Er ist mein Bruder«. Als Vorsitzender der Olympischen Komitees bzw. Präsident der nationalen Fußballverbände haben die beiden immer Kontakt miteinander. Ich bin bei diesem Treffen natürlich nicht dabei, erfahre erst am nächsten Tag davon: Odai begrüßte Fahd stürmisch, küsste ihn wie einen Bruder. Die überschwängliche Freude über dieses zufällige Zusammentreffen dauerte aber nur kurze Zeit. Fahd, so erzählen mir die Leibwächter Odais, sprach nämlich Odai direkt auf die irakischen Staatsschulden an. »Elf Milliarden Dollar schuldet uns der Irak. Wann
werdet ihr das bezahlen?«, schleuderte er Odai ins Gesicht. Odai tobte noch am nächsten Tag über diese unglaubliche Entgleisung seines kuwaitischen Freundes: »Diebe sind das, gemeine, hinterhältige Diebe. Sie bestehlen uns seit Jahren.« Odai geht wie ein Tiger in seinem Büro auf und ab. Munem Hamad kommt in sein Büro, übergibt ihm eine Mappe mit umfangreichen Unterlagen über die Beziehungen Irak - Kuwait. Odai setzt sich an seinen Schreibtisch, liest ungeduldig, überfliegt die Unterlagen, nickt dabei immer wieder zustimmend mit dem Kopf. Plötzlich springt er auf und überschüttet Munem Hamad mit einem Wortschwall: »Du weißt genauso gut wie ich, dass sie unser Öl stehlen. In Rumaila pumpen sie unser Öl ab. Rumaila gehört uns«, schäumt er, »Munem, sag' es, du weißt es doch.« Das Rumaila-Ölfeld wird von der irakisch-kuwaitischen Grenze durchschnitten. Der größere Teil liegt auf irakischem Gebiet, der kleinere auf kuwaitischem. Es wird von beiden Seiten ausgebeutet. Durch effizientere Technik sind die Förderquoten Kuwaits aber deutlich höher als die des Irak. »Ja, das stimmt. Sie stehlen unser Erdöl aus Rumaila und wagen es, sich als Gläubiger des Irak aufzuspielen«, sagt ein ungewöhnlich devoter Munem Hammad und schiebt nach: »Herr, sie fördern aus einem Ölfeld, das eigentlich zur Gänze auf unserem Staatsgebiet liegt. Die Grenzziehung ist völlig falsch, Rumaila gehört dem Irak.« Odai nickt und sagt: »Es wird der Tag kommen, an dem wir es ihnen beweisen werden. Vater hat schon mehrmals davon gesprochen.« Odai zieht eine Landkarte hervor, auf der Kuwait als einer von drei Regierungsbezirken des Osmanischen Reiches im späteren Irak eingezeichnet ist. Er starrt lange auf die Karte, dann zitiert er eine dort befindliche Eintragung: »Wir werden die Grenzen des Irak bis zum Süden Kuwaits ausdehnen. Der Irak und niemand anders schließt Verträge über Kuwait, daher betrachten wir den Vertrag zwischen Kuwait und Großbritannien, vom Tage seines Inkrafttretens an, als unrechtmäßig. Niemand, weder in Kuwait noch außerhalb, hat das Recht, das kuwaitische Volk zu beherrschen, denn es ist das Volk des Irak. Die Zeit der Scheichtümer ist vorbei.« Diesen Text schrieb General Karim Kassem, der spätere irakische Präsident, sechs Tage nach der Unabhängigkeitserklärung Kuwaits. Odai interessiert es nicht, dass Kassem ein Todfeind seines Vaters war und Saddam Hussein ein Attentat auf Kassem verübte. Für ihn
zählt nur, dass Kassems Worte seine momentanen Überlegungen stützen und dokumentieren, dass der Anspruch des Iraks auf Kuwait nicht neu ist. Kuwait erhielt am 19. Juni 1961 unter der Regierung von Abd Allah alSalim al-Sabah die Unabhängigkeit. In den Jahren zuvor hatte es immer wieder Grenzstreitigkeiten zwischen Kuwait und dem Irak gegeben. Der Irak, der 1932 als formal unabhängiger Staat dem Völkerbund beigetreten war, begründete seine Ansprüche auf Kuwait mit dessen Zugehörigkeit zum einstigen osmanischen Verwaltungsgebiet Basra. Und da der Irak der legitime Nachfolger des Osmanischen Reiches sei ... Odai fuchtelt wild mit der Karte herum und tönt, dass damals, 1961, irakische Truppen die Grenze nach Kuwait überschritten hätten und bis Mutla, 40 Kilometer vor Kuwait City, marschiert seien. 6000 eiligst nach Kuwait entsandte britische Soldaten warfen die Iraker zurück. Dieser Invasionsversuch änderte nichts an der ungenauen Definition der Grenzen Kuwaits, die auf Sir Percy Cox zurückgeht. Sir Percy Cox war der britische Hochkommissar für dieses Gebiet. 1922 berief er eine Konferenz in Bagdad ein, weil er es satt hatte, sich ständig mit marodierenden Beduinen und selbstsüchtigen Herrschern über angebliche Grenzen zu streiten. Er zwang also die Parteien an einen Tisch, nahm einen Rotstift und zog eine Linie von der Spitze des Golfs bis zur transjordanischen Grenze. Dann zwei weitere Linien, um neutrale Zonen zu schaffen, die sich Saudi-Arabien, der Irak und Kuwait teilen sollten. Diese schematischen Grenzverläufe mit ihren willkürlich festgelegten, geographisch nicht identifizierbaren Ausgangspunkten stellten niemanden zufrieden. Sie schlugen ein Stück kuwaitisches Gebiet SaudiArabien und saudisches Land dem Irak zu und schufen zwei neutrale Zonen, die zur Quelle unendlicher Querelen und Fehden werden sollten. Und doch haben diese Entscheidungen von 1922 bis heute Bestand gehabt. Inzwischen ist allerdings das Öl ins Spiel gekommen! 1963, nach dem Sturz Kassems, hat der Irak Kuwait als Staat offiziell anerkannt. Nicht aber seine Grenzen: »Es stimmt«, zeigt sich Odai plötzlich als Weltpolitiker, »dass wir seither mit den Kuwaitis zusammen in der UNO und in der arabischen Liga sitzen. Die Grenzen sind aber falsch, und es wäre am besten, die beiden Länder miteinander zu
verschmelzen.« Was er verschweigt: Durch diese »Heimholung Kuwaits« wäre der Irak mit einem Schlag seiner Sorgen entledigt. Die marodierenden Soldaten hätten wieder eine Aufgabe. Mit den Schätzen aus den Banken Kuwaits könnte der Irak sein Volk zufrieden stellen. Ich verhalte mich während der Besprechung zwischen Odai und Munem Hamad ruhig, rekle mich auf der Couch, höre zu, versuche, nicht zu stören. Ich weiß, dass Odai nur die Worte seines Vaters nachplappert. Abschließend sagt er: »Hätte mein Vater schon 1961 regiert, würde es Kuwait sowieso nicht geben.« Das ist das erste Mal, dass im Projekt Nummer 7 offen über eine Invasion in Kuwait gesprochen wird, aber nicht das letzte Mal. Aber fürs Erste ist jetzt Schluss mit Odais staatsmännischen Anwandlungen. Er wendet sich wieder seinen Vergnügen zu. Ich notiere mir die wichtigsten Punkte aus dieser Unterhaltung, ergänze sie durch Auszüge aus irakischen Zeitungsartikeln über den Kuwait und dieses Grenzproblem. Ihr Tenor: »Es hat nie eine Einigung hinsichtlich der Grenzen zwischen den beiden Ländern gegeben. Bagdad würde die Grenze nur akzeptieren, wenn Kuwait bereit wäre, die Inseln Warba und Bubiyan an den Irak abzutreten, was Kuwait bisher immer abgelehnt hat.« In anderen Artikeln wird der unermessliche Reichtum der Kuwaitis angeprangert: »Der Fuhrpark des Emir Jaber al-Ahmad al-Sabah besteht aus 40 Luxuslimousinen. Als privates Hobby hält er sich Jagdfalken im Wert von fünf Millionen Dollar. In seinem Palast stehen Springbrunnen aus Gold, der Dasman-Palast ist ein einziger Vergnügungstempel mit 200 Zimmern, in denen die Ungläubigen Orgien feiern.« Ich muss schmunzeln, als ich das eintrage. Allein der Fuhrpark Odais ist größer als der des kuwaitischen Emirs, und Odai feiert beinahe täglich orgiastische Feste, bei denen seine Transvestitenfreunde immer dabei sind. Die Zeitungsarktikel sind die reine Hetze, mit der von der schlechten Wirtschaftslage im Irak und den Ausschweifungen der Familie Saddams abgelenkt werden soll. Trotzdem kann nicht alles vertuscht werden. Schuld daran ist Odai. Herbst 1989, Hotel Rasheed. Odai ist sehr betrunken. Seine Leibwächter ebenso. Plötzlich taucht ein kleines Mädchen auf. Sie heißt
Linda, ihre Eltern stammen aus dem Libanon. Palästinenser. Linda verkauft frische Blumen, ihre Mutter steht neben ihr. Odai sieht das Mädchen, sie gefällt ihm, und er befiehlt seinen Leibwächtern, Linda mitzunehmen. Alle im Hotel sehen, wie sie und ihre Mutter abgeführt werden. Eine Woche später werden die Leichen von Linda und ihrer Mutter in der Nähe der Al-Maghreb-Straße in Bagdad aufgefunden. Odai hatte sich an Linda vergangen und ihre Mutter seinen Leibwächtern überlassen. Kurze Zeit später gibt Odai eine Party im Said-Club, mit Abdel Akle. Wie immer befiehlt er Abdel Akle, das Lied über seinen Vater zu singen: »Saddam, Du Großer, Mächtiger, Gott bewahre Dich für uns, Gott bewahre Deine Jugend.« Odai summt andächtig mit, seine Leibwächter ebenso, nur Asra Hafez, ein junges, hübsches Mädchen, lacht plötzlich schallend auf. Sie ist betrunken, weiß nicht, was sie tut. Der Präsidentensohn springt auf, reißt sie an den Haaren, schreit sie an: »Warum lachst du?« Asra lässt sich durch die Misshandlung nicht einschüchtern. Sie lacht, schreit, kichert dann spötisch: »Wie alt ist denn der junge Präsident, von dem Abdel singt?« Dabei versucht sie, Odai wegzustoßen. Er lässt sie los, sie richtet ihre Haare. Keck wirft sie ihre Mähne zurück, schaut Odai an, der zitternd vor Wut vor ihr steht. Sie sieht ihm in die Augen. Ein paar Sekunden lang geschieht nichts. Plötzlich bricht es aus Asra wieder heraus. Sie lacht schallend los, krümmt sich fast vor Lachen, und versucht, ihr Lachen dann wieder zu unterdrücken, indem sie die Hände vor den Mund presst. Sie lacht so herzlich, dass einige schmunzeln müssen. Nicht so Odai: Er packt Asra, schleppt sie aus dem Club, zieht seine Pistole und feuert ihr vor den geschockten Gästen des Clubs drei Kugeln in die Brust. Asra ist sofort tot. Obwohl alle gesehen haben, dass Odai geschossen hat, wird sein Freund Sirwan Al-Jaf, der für ihn Autos aus dem Ausland importierte, angeklagt. Sirwan Al-Jaf wird zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ich halte noch sechs weitere Verbrechen Odais in meinen Unterlagen fest: Verbrechen Nummer 1: An einem herrlichen Spätherbsttag beschließt Odai, mit seinen Freunden in den Bezirk Mansul zu fahren. Saddam Hussein hat dort ein prachtvolles Schloss, in der Nähe des Touristen-
hotels Nenaua Obri. Als Odais Konvoi an dem Hotel vorbeifährt, befiehlt er kurz anzuhalten, um sich in dem Hotel umzusehen. Im Foyer entdeckt er eine Familie mit einer hübschen Tochter. Das Mädchen ist kaum älter als 15, höchstens 16. Sie gefällt Odai. Und wieder beginnt das grausame Werk des Sadisten: Er befiehlt seinem Leibwächter - diesmal ist es Ahmad Souleiman -, das Mädchen zu entführen und es zu ihm zu bringen. Das Mädchen wird in das Schloss Mansul gebracht. Odai vergewaltigt es, wirft es wieder hinaus: »Und wehe, du sagst ein Wort!« Sie schleppt sich ins Hotel zurück. Dort wird erst das wahre Ausmaß der Tragödie offenbar: Verzweifelt versucht das Mädchen, mit Händen und Füßen zu erklären, was passiert ist. Sie ist seit ihrer Geburt taubstumm. Sie bringt nur einige krächzende, unverständliche Worte heraus. Kann keinen Satz formulieren. Odais Männer beobachten das Kind, wie es sich im Foyer verzweifelt an alle Hotelgäste wendet, gestikuliert, lautlos weint. Niemand kann sie verstehen. Die Leibwächter bringen sie in einen nahe gelegenen Wald, vergehen sich an ihr. Danach berichten sie Odai, dass das Mädchen im Hotel versucht habe, von der Vergewaltigung zu erzählen. Odai ordnet an, das Mädchen zu exekutieren und im Wald zu verscharren. Der Befehl wird ausgeführt. Verbrechen Nummer 2: In unregelmäßigen Abständen lädt Odai Beida Abd Al-Rahman ins Projekt Nummer 7 ein. Beida Abd Al-Rahman ist eine erfolgreiche Sängerin und Fernsehmoderatorin, mit einer eigenen Kindersendung. Odai unterstützt und fördert sie. Beida Abd AlRahman bezeichnete sich sogar öffentlich als Freundin Odais. Eines Tages kommt sie ins Projekt Nummer 7 und beschwert sich fürchterlich, dass Sana Al-Haidari, eine junge Studentin, ebenfalls behauptete, mit Odai liiert zu sein. Odai spielt den Wütenden, lässt Sana durch seine Leibwächter von der Universität holen und stellt das Mädchen zur Rede: »Stimmt es, was Beida mir erzählt hat? Du gibst dich als meine Freundin aus?« Sana bittet und bettelt und fleht: »Herr, ich habe das nie behauptet, das ist eine Lüge. Ich schwöre, dass ich nie gesagt habe, Ihre Freundin zu sein.« Odai hört dem Flehen der jungen Frau ruhig zu. Er sieht sie nur an,
regungslos. Dann befiehlt er: »Zieh' dich aus, leg dich aufs Bett und verlange nach mir!« Sana zieht sich hastig aus, macht, was Odai ihr befohlen hat. Odai lässt sein Elektrokabel mehrmals auf die nackte Haut der Studentin niedersausen. Sie stöhnt bei jedem Schlag laut auf, und genau das ist es, was Odai will: Lustschreie, wenn er jemanden schlägt. Das versetzt ihn in einen Rausch, der ihn erregt und befriedigt. Odai schlägt, so fest er kann, das Kabel klatscht auf die Haut, die zarte Haut reißt, Blut rinnt. Dann dringt er in sie ein. Danach schreit er: »Bringt mir eine Rasierklinge!« Zwei Bodyguards müssen Sana halten, ein dritter presst ihr mit kräftigem Druck die Kiefer auseinander. Odai nimmt die Rasierklinge, zieht Sana die Zunge heraus und schlitzt sie ihr mit einem Ruck auf. »Damit du besser erzählen kannst.« Doch damit nicht genug. Die Bodyguards nehmen sie mit, laden sie in einen Hubschrauber Odais und werfen sie in den Al-Sarsar-See in der Nähe des Anbar-Bezirks. Verbrechen Nummer 3: Al-Zanarek-Club in Bagdad. Odai gibt eine Party. Wieder sind alle Halbwelt-Freunde des Präsidentensohnes eingeladen. Diesmal beauftragt Odai seine Leibwächter Numair Al-Takriti, Hilal, Muaed Alaani und Ali Asuad, »so viele hübsche Mädchen wie irgend möglich aufzutreiben.« Es kommen rund einhundert Mädchen, darunter auch Weam Tabet Al-Kabisi. Sie ist die Tochter eines der reichsten Geschäftsmänner Bagdads. Ihr Vater berät auch Odais Mutter Sajida in Vermögensangelegenheiten. Weam kommt nicht allein: Sie wird von Odais Onkeln Maan und Luai Khairallah begleitet. Weam ist die Freundin von Luai Khairallah. Die Party beginnt, wie immer singt Abdel Akle stundenlang. Odai tanzt mit zahlreichen Frauen, benimmt sich wie immer: Er greift den Frauen an die Brüste, imitiert beim Tanzen den Geschlechtsverkehr, ist vulgär, ausschweifend und laut. Er könnte alle Frauen haben an diesem Abend, nur eine nicht: Weam. Und gerade sie sucht er sich aus. Er sagt ihr ganz direkt: »Ich will dich, und du willst mich auch.« Dabei packt er sie an den Hüften, zieht sie an sich, will seinen halb geöffneten Mund auf den ihren drücken. Weam weicht zurück, versucht, sich aus Odais Umklammerung loszureißen. Als der sie nicht losläßt, ruft sie ihren Freund.
Luai stürzt sich auf Odai, drängt ihn von der Tanzfläche, und plötzlich knallen drei Schüsse. Es ist nicht zu erkennen, wer auf wen geschossen hat, denn Odais Bodyguards drängen Luai ab. Verschwinden mit ihm in dem weitläufigen Park des Clubs. Der Präsidentensohn verlässt darauf das Fest, Weam wird ihm nachgeliefert. Sie verbringt die Nacht mit Odai. Ob gezwungenermaßen, weiß ich nicht. Ich sehe sie nur am nächsten Morgen diskutieren und höre Odai theatralisch schreien: »Ich liebe die Frauen mehr als meinen Vater, ich liebe sie mehr als Gott.« Tage später wird Weam erschossen aufgefunden. Luai hat sie getötet. Er konnte es nicht ertragen, dass sie eine Nacht mit Odai verbracht hatte. Weil er sich an Odai nicht rächen konnte, rächte er sich an dem Mädchen. Verbrechen Nummer 4: Bagdad, Stadtteil Mansour. Es ist zwischen 18 und 19 Uhr abends. Wir sind mit Odai unterwegs in Richtung Olympischer Club. Plötzlich überholt ein Auto unsere langsam fahrende Wagenkolonne. Im Auto sitzt ein Ehepaar. Odai tobt, denn keiner darf seine Kolonne überholen. Er befiehlt Namir Al-Takriti, Salam Aousi und Saadam Al-Takriti über Funk, das Ehepaar anzuhalten und ihm, Odai, die Frau - was immer auch geschehen sollte - zu bringen. Sie zerren die Frau aus dem Auto, zwingen sie, in einen unserer Wagen einzusteigen. Während der Mann von Namir Al-Takriti auf ein Polizeirevier gebracht wird, fahren wir mit der Frau auf eine der Farmen Odais am Stadtrand von Bagdad. Namir Al-Takriti zeigt den Mann an, »weil er den Präsidenten des Olympischen Clubs belästigen wollte«. Der Unschuldige, sein Name ist Hassan Abd Al-Amir Janabi, wird sechs Monate lang eingesperrt und gefoltert, die Frau nach einer Woche laufen gelassen. Bei seiner Entlassung wird Hassan Abd Al-Amir Janabi gewarnt: »Halt den Mund, sonst schneiden dir die Männer Odais die Zunge ab!« Der Ehemann schlägt die Warnung in den Wind, versucht, Kontakt mit Präsident Saddam Hussein aufzunehmen und geht dabei völlig naiv vor: Er meldet sich am Eingang des Präsidentenpalastes und sagt den Wachen, was er will. Die rufen selbstverständlich Odai an; er lässt Hassan Abd Al-Amir Janabi abholen. Drei Tage später finden Passanten die Leiche des Mannes im Park Al-Umma. Er hatte seine Ehre retten wollen und bei den vermeintlichen Gesetzeshütern Hilfe gesucht. Das war sein entscheidender Fehler.
Verbrechen Nummer 5: Jedes Jahr wird die Miss Irak gewählt. Ein Großereignis und für Odai ein besonderer Lustgewinn. Die Initiatoren sind Handlanger Odais, seine Geschäftspartner. Bisher hat Odai noch jede Miss Irak zu sich eingeladen und bekommen, was er wollte. Anders ist es, als Ilham Ali Al-Aaazami, eine Studentin, die Wahl gewinnt. Sie weigert sich, ihm zu gehorchen. Odai reagiert wie immer: Ein Kopfnicken genügt, und Ahmad Souleiman, der Karate-Kämpfer, Muid Fadel und Mohamad Baghdadi wissen, was zu tun ist. Sie bringen das Mädchen ins Projekt Nummer 7. Eine Woche lang wird die Miss Irak festgehalten und von Odai und allen Leibwächtern vergewaltigt. Er bietet die Frau auch mir an: »Nimm sie, sie ist gut.« Ich lehne ab, die anderen greifen gierig zu. Tag für Tag wird die Studentin von einem schmutzigen Mann zum anderen weitergereicht. Danach wird sie hinausgeworfen, und Odai lässt Gerüchte lancieren, wonach die Miss Irak eine Prostituierte sei, die es mit jedem »dahergelaufenen Soldaten« treiben würde. Ali Al-Aaazami ist ein Einzelkind. Die einzige Tochter eines angesehenen Geschäftsmannes, den die Gerüchte um seine Tochter fast um den Verstand bringen. Er bringt zuerst seine Tochter um und will dann Odai im Olympischen Club zur Rede stellen. Odai lässt den Mann sogar in sein Büro, spricht mit dem Verzweifelten. Er bietet ihm Geld an, empfiehlt ihm, »die kleine tote Hure einfach zu vergessen«. Odai lehnt dabei lässig in seinem Präsidentensessel, raucht seine Havanna, grinst überheblich und sagt: »Gott hat ihr so viel Schönheit geschenkt, aber leider keine Moral. Ihr hat es Spaß gemacht.« Das ist zuviel. Ali Al-Aaazamis Vater, der bisher nicht den Mut hatte, Odai anzuschreien, beginnt zu toben. Odai blickt Dafer Aref an, und der weiß, was zu tun ist. Der Leibwächter packt den alten Mann, zerrt ihn in ein Zimmer. Ich höre zwei Schüsse. Am Abend wird die Leiche abtransportiert. Ich muss mehrere Pausen einlegen, als ich diese Liste anfertige. Odai, die Verbrechen, mein Job als Doppelgänger, den ich eigentlich fast nie ausübe. Was habe ich bisher schon gemacht? Ich war einige Male im Fußballstadion, habe zwei Truppenbesuche gemacht - doch der Rest? Ich bin nichts anderes als ein schweigender Augenzeuge grauenhafter Verbrechen. Ich sehe Morde und Intrigen, bin Mitläufer des Grauens.
Jetzt, da ich das aufschreibe, bin ich sogar der Buchhalter des Grauens. »Latif«, schreie ich mich an, »du musst hier raus. Du bist 25, willst eine Familie gründen, in der Firma deines Vaters arbeiten, seine Fabrik, seine Ex- und Importgeschäfte übernehmen. Was aber tust du? Du lebst an der Seite eines wahnsinnigen Verbrechers, vergeudest deine Zeit am Swimming-Pool oder bei blödsinnigen Video-Filmen.« Den Paten habe ich inzwischen sicher 30mal gesehen, ebenso oft alle Porno-Filme aus Odais Video-Archiv. Doch wie komme ich hier raus? An wen soll ich mich wenden? An Odai? Nein, nein, das ist absolut unmöglich. Flucht? Wohin? Erstmals beginne ich, Odai zu hassen. Ich hasse ihn, weil er ein gnadenloser Verbrecher ist und dennoch niemand etwas gegen ihn unternehmen kann. Ich hasse ihn aber noch mehr, weil er mich in diesen goldenen Käfig gesetzt hat, aus dem ich nicht mehr heraus kann. Es ist mir egal, dass er mich ab und zu mit seinem Elektrokabel oder mit einer Eisenstange schlägt, weil er glaubt, mich in regelmäßigen Abständen erziehen zu müssen. Der körperliche Schmerz ist ertragbar. Ein Brennen, ein Stechen, eine Wunde, die wieder verheilt. Doch was ist mit meiner Seele? Bin ich Odai nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich völlig ähnlich geworden? Nein, innerlich bin ich ganz anders, das genaue Gegenteil. Meine Eltern haben mich mit warmer Herzlichkeit und Güte aufgezogen, von meinen Geschwistern wurde ich als Ältester so sehr geachtet wie mein Vater. War mein Vater beschäftigt, half ich meinen Geschwistern bei deren Aufgaben und Problemen. Alle waren wir gut zueinander, und die Religion war ein fester Bestandteil unseres Lebens. Ich bin regelmäßig in die Moschee gegangen, um zu beten. Doch jetzt? Wir halten nicht einmal die Fastenzeit ein. Ich zünde mir eine Zigarette an, sauge den Rauch tief in mich hinein. Früher habe ich nie geraucht. Vater hat es nicht gewollt. Doch jetzt? Ich rauche zwei Packungen Marlboro pro Tag, trinke. Manchmal bis zur Besinnungslosigkeit. Trinken macht dieses Leben einigermaßen erträglich. Was soll ich auch anderes tun als trinken. Mein Leben besteht nur aus eintönigem Warten und Beobachten. Ich fahre in Prachtlimousinen zu diversen Terminen, diene als Lockvogel für Attentäter. Warum hat
es in Basra nicht mich, sondern den jungen Offizier getroffen? Es ist der 26. Dezember 1989, kurz vor vier Uhr früh. Ich verstecke meine Zettel mit den Notizen in einer Mauernische hinter dem Einbauschrank in meinem Schlafzimmer. Danach gehe ich ins Badezimmer, nehme eine Rasierklinge, starre sie lange an. Ich muss daran denken, wie Odai mit so einer Klinge Sana die Zunge zerschnitten hat. Ich sehe das Blut, wie es aus ihrem Mund quoll, auf ihre Kleider tropfte. Langsam schneide ich mit der Klinge die Pulsader meiner rechten Hand auf. Zuerst kommt kein Blut. Ich schneide tiefer, dann schlitzte ich die Pulsader der anderen Hand auf. Spüre, wie das warme Blut über meine Handfläche rinnt, höre, wie es auf den Boden tropft. Ich lege mich ins Bett, will mir die Kehle durchschneiden, doch ich habe nicht den Mut und die Kraft, wirklich kräftig durchzuziehen. Mehrmals setze ich an, aber es sind nur kleine Schnitte, die zwar meine Haut ritzen, nicht aber die Halsschlagader treffen. Ich weine, nochmals versuche ich es, aber ich kann es nicht. Langsam lasse ich meinen Kopf auf das Kissen fallen. Ich atme schwer - plötzlich schrillt das Telefon neben meinem Bett. Es klingt ganz weit weg.
12. KAPITEL Der Kuwait-Raubzug Azzam muß sich nackt ausziehen. Ebenso meine vier Leibwächter. Sie tun es widerspruchslos, stellen sich vor den großen barocken Schreibtisch Odais und bedecken mit ihren Händen ihre Scham. Sie stehen leicht gekrümmt, die Schultern nach vorne hängend, den Kopf und den Blick gesenkt. Odai kommt wortlos hinter dem Schreibtisch hervor, nimmt sein Elektrokabel, zieht es mehrmals durch seine Hand, als ob er es abwischen wolle, dann holt er weit aus. Sein Körper spannt sich wie eine Feder, er zieht durch wie ein Tennisspieler beim Aufschlag. Ein Zischen, dann klatscht das Elektrokabel auf den nackten Rücken Azzams. Odai züchtigt ihn, bis er blutet. Dann schlägt er meine Leibwächter. Wieder lässt er sein Foltergerät niedersausen. Zehnmal, zwanzigmal. Ohne zu stöhnen, wie er es sonst immer tut. Odai bestraft die Männer, demütigt sie, weil sie es nicht verhindert haben, dass ich mir die Pulsadern aufschnitt. Hätte Azzam nicht bei mir angerufen, um mir mitzuteilen wollen, dass Odai in den nächsten Tagen nach Genf verreisen würde, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Verblutet. Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf meinem Bett gelegen hatte, als das Telefon läutete. Ich weiß nur, dass ich das Läuten nur mehr schwach hörte. So schwach, als ob es aus einer anderen Wohnung käme. Azzam ließ meine Wohnung stürmen, weil ich nicht abhob. Sie brachen die Türe zu meinem Appartement im Al-Hayat-Haus auf, sahen mich in dem blutverschmierten Bett liegen und ließen mich ins IbnSina-Hospital bringen. Die Ärzte nähten die Wunden an meinen Armen mit jeweils sechs Stichen. Zwei Tage später war ich wieder einigermaßen fit. Jetzt stehe ich in Odais Büro, sehe zu, wie er meine Leibwächter züchtigt. Am liebsten würde er auch mich bestrafen. Wahrscheinlich wäre es ihm am liebsten, wenn ich tot wäre, aber er braucht mich. Seine Sorge in den vergangenen Tagen galt also nicht mir, Odai sorgt sich ausschließlich um sich selbst. Ich bin sein wichtigster Sicherheitsfaktor. Ohne mich als sein Double müsste er sich selbst in sämtliche riskanten Situationen begeben, und Odai hat allen Grund zu fürchten,
dass diese riskanten Situationen sich bald noch vermehren werden. Seit Wochen ist es im Palast ein offenes Geheimnis, dass »demnächst etwas passieren wird«. Die Stimmung ist angespannt. Das zeigt auch die Tatsache, dass Munem Hamad kaum mehr Zeit für mich hat. Der Chef-Ausbilder hat einen neuen Fidai-Schüler: Nun wird auch für Kusei, Odais jüngeren Bruder, ein Doppelgänger ausgebildet. Dieses Double stammt aus der Familie Saddam Husseins. Es ist ein entfernter Cousin. Außerdem tauchen im Palast weitere Gerüchte über die Ermordung Adnan Khairallahs auf. Plötzlich heißt es, der Mord habe nicht nur persönliche Hintergründe gehabt (Adnans Kritik an Saddam Husseins Mätresse), sondern auch politische. Verteidigungsminister Adnan Khairallah soll den Präsidenten eingehend vor einer Invasion des Irak in Kuwait gewarnt haben: »Das würde den Westen allzusehr herausfordern. Eine Invasion in Kuwait kann nicht mehr als eine Schutzmaßnahme gegen den amerikanischen Imperialismus in der Golfregion hingestellt werden.« Saddam hat aber schon längst beschlossen, Kuwait heimzuholen. Seine entsprechenden Drohungen sind zwar verschleiert, aber wir im Palast bekommen aus Gesprächsfetzen mit, dass seine Annexionspläne bereits Anfang 1990 fertig waren. Öffentlich versucht er, dies zwar zu verschleiern. Er macht Stimmung gegen Israel, um von seinem Vorhaben abzulenken, um die arabische Welt hinter sich zu ziehen. Ein raffiniertes Ablenkungsmanöver, das außerhalb des Palastes kaum jemand durchschaut. In den Zeitungen Odais und in allen anderen irakischen Medien lässt er massive Drohungen gegen Israel ausstoßen. Er erinnert immer wieder daran, dass das jüdische Volk bereits 1981 militärisch gegen den Irak vorgegangen ist. Damals zerstörten israelische Kampfbomber in einer Blitzaktion den Atomreaktor in Osirak. Jetzt erklärt Saddam, dass Israel und Amerika neuerlich einen Angriff gegen den Irak planten: »Sollte es dazu kommen, werden wir das gesamte jüdische Volk mit Giftgas vernichten.« Odais Zeitung Babel hat die Schlagzeile: »Unsere Raketen sind stark genug, um Israel zu erreichen.« Odai lässt sich in seiner naiv-selbstsüchtigen Art immer öfter zu unbedachten Äußerungen hinreißen. Einmal erklärt er, staatstragend und mit einem Whisky-Glas in der Hand, seinen staunenden Freunden: »Alle wissen es, dass die Aggression des Iran gegen unser Volk einen
Krieg zur Folge hatte, der sehr viel Geld gekostet hat. Sie haben uns diesen Krieg aufgezwungen, konnten den Irak aber nicht besiegen. Jetzt wollen andere das stolze irakische Volk aushungern. Es ist eine schwarze Verschwörung gegen unser Land. Eine Verschwörung unter der Führung der Herrscher in Kuwait.« Odai macht eine kurze Pause, nimmt eine seiner Zeitungen zur Hand und zitiert aus einer Ansprache seines Vaters: »Manchmal findet Krieg durch den Einsatz von Soldaten statt, man fügt einander mit Sprengstoff, Stahl und Putschversuchen Schaden zu. Zu anderen Zeiten wird der Krieg mit ökonomischen Mitteln geführt.« Was Odai mit diesem Zitat sagen will, weiß in diesem Raum ohnehin jeder. Unser Staat ist bankrott, wir können unsere Schulden bei unseren Hauptkreditgebern Kuwait und den Emiraten nicht mehr bezahlen. Entweder bringen wir unsere Gläubiger dazu, auf ihre Ansprüche zu verzichten, oder wir verlangen von Kuwait weitere Hilfe, die man als Kompensation für das aus dem Ölfeld von Rumaila gestohlene Öl deklarieren kann. »Wie wir alle wissen«, wiederholt Odai seine Standardfloskel, zu diesem Thema, »hat Kuwait aus Rumaila Öl im Wert von 28,8 Milliarden Dollar gestohlen. Die Südspitze des Ölfeldes liegt nur fünf Kilometer jenseits der kuwaitisch-irakischen Grenze. Wir bräuchten die Grenze also nur um wenige Kilometer zu verschieben und wären aller Sorgen entledigt.« Diese Aussage bestätigt mir abermals, dass im Palast ernsthaft an einen Krieg gegen Kuwait gedacht wird. Denn selbst für mich ist schwer vorstellbar, dass Kuwait freiwillig eine Grenzkorrektur zulassen wird. Außerdem erklärt uns Saddam via Fernsehen jeden Tag, dass Kuwait nicht nur Öl stehle, sondern auch durch chronische Ölüberproduktion einen versteckten Angriff gegen den Irak führe. Durch das daraus resultierende Überangebot sinke der Ölpreis pro Barrel von zwanzig auf vierzehn Dollar. »Unser Land verliert durch diese Aggression Kuwaits mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr«, erklärt Odai und setzt nach: »Das ist wie ein Stoß mit einem vergifteten Dolch in den Rücken und ein direkter Angriff auf meinen Vater.« So habe ich Odai noch nie erlebt. Plötzlich zeigt er sich politisch engagiert, versucht sogar, einiges an Wissen über die aktuelle Situation zu erlangen. Zwei Tage nach diesen Erklärungen ist sein politisches Engagement wieder erloschen. Er teilt uns mit, dass er mit Waadallah Abu-Sakr
nach Genf fliegen wird. Mich wundert, dass Odai gerade Abu-Sakr auf diese Reise mitnimmt. Abu-Sakr ist der oberste Sicherheitschef des Präsidentenpalastes. Ein mächtiger Mann. Er dirigiert sämtliche Schutzgarden Saddam Husseins, ist für die persönliche Ausbildung der Bodyguards zuständig. Zehn Tage bleiben die beiden, in geheimer Mission, in Genf. Was sie dort taten, spricht sich aber nach ihrer Rückkehr im Nu im Palast herum: Abu-Sakr hat in Genf Kubaner engagiert. Elitesoldaten, die als zusätzliche Leibwächter für die Minister und führende Parteimitglieder eingesetzt werden sollen. Die geheimnisvollen Männer beziehen vier Stockwerke im Al-Hayat-Hochhaus auf dem Palastgelände. Wenn sie zu Schießübungen antreten, sind die Schießplätze für uns gesperrt. Jede Kontaktaufnahme mit ihnen ist striktest untersagt. Es sickert durch, dass die Kubaner in US-Dollar und nicht in Dinar bezahlt werden. Sie sollen Millionen bekommen, genaue Zahlen werden aber nicht genannt, und ich versuche auch gar nicht, Näheres zu erfragen. Mir scheint das zu gefährlich zu sein. Die Kubaner sind ein weiterer, undurchschaubarer Bespitzelungsfaktor im ohnehin schon überzogenen Überwachungssystem des Präsidentenpalastes. Juni 1990. Wieder ruft Präsident Saddam Hussein auffallend oft seine Familie zusammen. Früher plauderte Odai nach diesen Treffen im Rausch öfters Einzelheiten über die Gespräche aus. Jetzt macht er nur mehr abfällige Andeutungen wie: »Der Irak hat eine Million Soldaten, Kuwait nur 17000 Mann, eine lächerliche Luftwaffe und eine PseudoMarine mit zwanzig Patrouillenbooten. Die Marine dient nur dazu, irgendwelchen Prinzen dabei zu helfen, Alkohol ins Land zu schmuggeln. Die Hurensöhne der Familie Al-Sabah verbieten ihrem Volk den Alkohol, feiern aber selbst ihre Orgien und haben ein Schmuggelmonopol für Alkohol.« In jedem zweiten Satz versucht Odai, die militärische Überlegenheit des Irak hervorzuheben und das kuwaitische Herrscherhaus zu beschimpfen. Kuwait wird von der Familie der Al-Sabah regiert. Am 31. Dezember 1977 wurde Scheich Jabir Al-Achmad Al-Jabir Al-Sabah der 13. Emir von Kuwait. Kronprinz und Regierungschef ist Scheich Saad AlAbdallah Al-Salem Al-Sabah. Finanzminister ist Scheich Ali Al-Khalifa Al-Sabah, Außenminister Scheich Sabah Al-Achmad Al-Jabir AlSabah, Innenminister Scheich Salim Al-Sabah Al-Salim und Verteidi-
gungsminister Scheich Nawwaf Al-Achmad Al-Jabir Al-Sabah. Alle wichtigen Positionen sind somit an Mitglieder der Familie des Emirs vergeben. Odai empört sich darüber, doch seine Empörung wirkt lächerlich, denn im Irak ist es nicht anders. Saddam umgibt sich ausschließlich mit Familienmitgliedern. Aber selbst diese Familienbande sind keine Überlebensgarantie, wie das Beispiel Adnan Khairallah zeigte. Außerdem wird, im Gegensatz zum Irak, in Kuwait eine starke Opposition zugelassen. Selbst offene Kritik am Emir ist gestattet. Im Irak kann ein falsches Wort gegen den Präsidenten den Tod bedeuten. An arabischen Maßstäben gemessen, ist Kuwait also eines der offensten und tolerantesten Länder der Region. Was ihm fehlt, ist die Nationalversammlung, die den Bürgern Kuwaits ein Mitspracherecht in Staatsangelegenheiten gäbe. Es gab diese Nationalversammlung schon einmal, sie ist aber wegen der Offenheit, mit der viele Abgeordnete die Familie des Herrschers kritisierten, vom Emir aufgelöst worden. Aber Anfang 1990 beginnen viele ehemalige kuwaitische Abgeordnete eine massive Kampagne, um Neuwahlen für eine neu zu bildende Nationalversammlung (mit erweiterten Machtbefugnissen) durchzusetzen. Im Irak wird darüber sehr ausführlich berichtet. Man spricht von Massendemonstrationen gegen den Emir, von Aufständen und radikalen Unterdrückungsmaßnahmen der kuwaitischen Polizei. Die Familie Sabah muss dem Druck nachgeben, und im Juni 1990 werden Wahlen für eine 75köpfige Nationalversammlung zugelassen. »Eine Farce«, schimpft Odai, »denn ein Drittel davon soll vom Emir ernannt werden. Außerdem wird diese Farce von der Opposition boykottiert. Wir, der Irak, müssen diese Opposition mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen.« Odai erklärt auch näher, wie er sich das vorstellt: »Die Menschen müssen auf die Straße, denn je größer die Versammlungen werden, desto größer ist der Druck auf die Regierung. Wenn Tausende auf die Straße gehen, verlieren sie die Nerven und lassen die Polizei schießen.« Odai spricht es nicht aus. Ich kenne aber seine Überlegung: Kuwait ist im Verhältnis zum Irak ein Zwergstaat (17818 Quadratkilometer). Nur 800000 seiner knapp zwei Millionen Einwohner sind kuwaitische Staatsbürger, davon wiederum nur 100000 echte Kuwaitis, also Angehörige des alteingesessenen Beduinenadels. Die Familie der Al-
Sabahs umfasst knapp 1000 Mitglieder. Den Hauptanteil der Bevölkerung Kuwaits stellen die ausländischen Arbeitskräfte (1,2 Millionen). Gut ein Drittel davon (460000) sind Palästinenser. Der Rest sind Araber aus der gesamten Region sowie Asiaten, Europäer, Amerikaner. Durch diese Bevölkerungsstruktur entstehen große soziale Unterschiede, denn nur Kuwaitis besitzen volle Bürgerrechte. Im Fall einer Invasion ist eine massive Gegenwehr von diesen Ausländern in Kuwait also kaum zu erwarten. Schon gar nicht von den Palästinensern, die erfahrungsgemäß gute Kontakte zum Irak haben, Israel hassen und im Irak die einzige Macht sehen, die die Kraft und den Willen hat, Israel auszulöschen. »Wir müssen unsere palästinensischen Brüder in Kuwait in allen Belangen unterstützen, denn sie sind die wahren Kuwaitis. Ohne sie könnte das Land nicht ökonomisch überleben«, philosophiert Odai und ergänzt: »Sie müssten sich offen gegen die ausbeuterische Regierung der Al-Sabahs stellen.« Odai nennt dabei auch Namen, bestätigt, dass irakische Geheimdienstleute seit Wochen versuchen, kuwaitische Politiker und Oppositionelle sowie die Palästinenser zum offenen Kampf gegen die korrupte Regierung zu bewegen. »Wir sprachen auch mit Ahmed AlSadoun«, sagt Odai. Ahmed Al-Sadoun ist einer der bekanntesten Oppositionellen Kuwaits. Ein weiterer Gesprächspartner ist Mohammed Al-Quadri vom Demokratischen Forum. »Beide sind unserer Meinung«, lügt Odai, »beide fordern offen eine Invasion des Iraks, um das teuflische System in Kuwait zu stürzen.« Odai verschweigt uns, dass beide Politiker eine Zusammenarbeit mit dem Irak strikt abgelehnt haben, sich nicht an diesem durchsichtigen Spiel beteiligen wollten. Odai betont nochmals: »Wir werden unseren Brüdern zu Hilfe eilen und die korrupte Regierung, die sich in London mit Homosexuellen und Huren vergnügt, vertreiben.« Odai interpretiert Saddam Husseins Kuwait-Plan so: Blitzinvasion in Kuwait zur Unterstützung einer revolutionären oppositionellen Gruppe, die Bagdad um Hilfe gerufen hat. Ausschalten des Emirs und der gesamten Regierung. Die Republikanischen Truppen sollen so rasch wie möglich den Dasman-Palast stürmen, um sich des kuwaitischen Herrschers zu bemächtigen. Wenn er sich bereit erklärt, zu kooperieren und als Haupt einer Marionettenregierung, die ihre Befehle aus Bagdad empfängt, im
Amt zu bleiben, soll sein Leben verschont werden. Lehnt er aber ab, was zu erwarten ist, wird er wegen Widerstandes gegen die befreundeten irakischen Streitkräfte an Ort und Stelle erschossen. Ebenso sein ganzer Clan. Saddam Hussein ist schon längst einen Schritt weiter, hat mit diesem Zuhilfeeilen bereits begonnen: Ende Juni 1990 wissen im Palast alle, dass erste Truppen in Richtung Kuwait unterwegs sind. 30000 Mann werden an die kuwaitische Grenze verlegt. Im Al-Zaid-Club erzählen Geschäftsmänner, die gerade aus Basra im Südirak zurückgekehrt sind, bei Gin and Tonic offen, dass sie während der Fahrt auf der AlKadisja-Autobahn, die Bagdad mit Kuwait verbindet, ständig in endlosen Staus stecken geblieben sind, die durch Panzer- und Artilleriekolonnen verursacht wurden, die in Richtung Süden rollten. Neben den Straßen sollen riesige Zeltlager errichtet worden sein. Ich spreche Odai darauf an, und er bestätigt mir, dass Truppen in den Süden verlegt worden sind. »Als reine Vorsichtsmaßnahme«, argumentiert er, »sollten die kuwaitischen Brüder in ihrem Kampf gegen die korrupte Regierung der Al-Sabahs unsere Hilfe brauchen.« »Wieviele Einheiten wurden verlegt?«, frage ich weiter, und Odai sagt: »Mehr als 100000 Mann.« Damit ist für mich klar, dass die Stunde X unmittelbar bevorstehen muss. Der Countdown läuft. 1. August 1990. Odai ist am Morgen dieses Tages ungewöhnlich früh weggefahren. Angeblich in den Olympischen Club. Er ruft mich gegen neun an und teilt mir mit, dass ich mich während der nächsten Stunden bereithalten soll. Da in der Telefonleitung ein Krachen ist, nehme ich an, dass Odai nicht im Olympischen Club ist, denn dort sind die Leitungen immer einwandfrei. Es klingt eher, als ob er weiter weg wäre, oder in irgendwelchen Bunkeranlagen. Ich mache mir weiter keine Gedanken darüber. Aber als ich am frühen Nachmittag im Radio die Nachrichten höre, wird meine Vermutung bestätigt: Odai und die gesamte Führungsspitze des Iraks haben sich in Sicherheitszonen zurückgezogen. Der Nachrichtensprecher teilt mit: »Die Gespräche in Dschidda, in Saudi-Arabien, zwischen einer irakischen Delegation unter der Führung des stellvertretenden Präsidenten des irakischen Revolutionsrates, Izzat Ibrahim, und dem kuwaitischen Premierminister Kronprinz Saad Al-Abdallah Salem Al-Sabah endeten mit einer offenen
Provokation und Aggression gegen den Irak.« Der Sprecher macht eine kurze Pause, dann heißt es weiter: »Kuwait stimmte den irakischen Vorschlägen über Gebietsabtretungen im Grenzbereich des Rumaila-Ölfeldes nicht zu. Außerdem weigerte sich Kuwait, Wiedergutmachung für den Schaden zu zahlen, der dem Irak durch seine erhöhte Erdölproduktion entsteht, sowie der Streichung der Kredite aus der Zeit des Krieges gegen den Iran zuzustimmen. Die Gespräche wurden nach zwei Stunden abgebrochen.« Izzat Ibrahim fliegt sofort nach dem Abbruch der Gespräche in den Irak zurück. Als er in Bagdad landet, werden die Grenzen zwischen Kuwait und dem Irak geschlossen. Auf dem Palastgelände ist inzwischen die Hölle los. Minütlich treffen Konvois mit Ministern, Parteifunktionären und deren Leibwächtern ein. Hubschrauber landen, fliegen wieder ab. Die Schutztruppen sind in höchster Alarmbereitschaft, die Torwachen zum Palast sind verdreifacht worden. Es herrscht absolute Ausgangssperre für alle Soldaten, die Telefonleitungen aus dem Al-Hayat-Hochhaus sind blockiert, Gespräche nach draußen sind nur noch über die Vermittlung möglich. Alle sind angespannt, hektisch, aber nicht nervös. Alles läuft nach einem Schema, das hunderte von Malen eingeübt und trainiert wurde. Am Abend gehe ich in den Schießclub. Zwei meiner Leibwächter begleiten mich. Der Schießclub ist fast leer, nur einige Angehörige des Geheimdienstes sind anwesend. Ich mache Pistolenschießübungen. Treffe gut an diesem Abend. Kurz nach zwölf Uhr stürzt plötzlich ein weiterer meiner Leibwächter in den Schießclub. Er ist aufgeregt, befiehlt mir, sofort in mein Appartement zu kommen. Auf dem Weg dorthin sagt er: »Saddam geht nach Kuwait. In den nächsten Stunden.« »Woher weißt du das?«, frage ich. Er keucht: »Wir haben das gerade aus dem Projekt Nummer 7 erfahren.« Am 2. August um zwei Uhr morgens überqueren unsere Panzer bei Al-Abdali die kuwaitische Grenze. Mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h bewegen sich 350 Panzer auf Kuwait-City zu. Wie von Odai angekündigt und von allen im Irak erwartet, gibt es kaum kuwaitischen Widerstand. Das erfahre ich allerdings erst am nächsten Tag. Die kuwaitischen Grenztruppen sind in panischer Angst davongelaufen. Lediglich am Stadtrand von Kuwait-City kam es zu Feuergefechten. Vereinzelte Ver-
teidiger versuchten, unsere Panzerkolonnen aufzuhalten, sie wurden aber niedergerollt. Selbst die kuwaitische Luftwaffe hat keinen Widerstand geleistet: Ihre besten Piloten fuhren zu ihren Stützpunkten, starteten die 36 Mirage-Kampfflugzeuge und flogen geschlossen nach Saudi-Arabien. Ich schlafe keine Sekunde in dieser Nacht. Ich würde gern mit meinen Leibwächtern feiern, doch wir halten uns zurück, warten angespannt auf Neuigkeiten und Befehle von Odai. Aber er ruft nicht an. Erst am Abend des 3. August bestellt er mich ins Projekt Nummer 7. Die Villa ist brechend voll. Alle Freunde Odais sind da. Vor dem Haus stehen Hunderte von Fahrzeugen. Azzam sagt mir, dass Odai eine große Siegesfeier im Al-Said-Club geplant hat und die Zeremonienmeister bereits alles vorbereitet haben. In einem riesigen Konvoi fahren wir in den Club. Schon während der Fahrt feuern einige mit ihren Kalaschnikows durch die geöffneten Wagenfenster wild in die Luft. Der Al-Said-Club ist an diesem Abend das Bizzarste, was ich je gesehen habe. Vor dem Eingang eine Wagenparade wie auf einem Automobilsalon für Luxuskarrossen. Im Club selbst Menschenmassen. Die gesamte vornehme Gesellschaft Bagdads ist anwesend. Alles ist raffiniert beleuchtet, die Sommer- und Winterpools schimmern in allen Farben. An jeder Ecke Buffets, livrierte Diener balancieren ihre mit Champagnergläsern beladenen Tabletts durch die Menge. Ausgelassene Stimmung. Als Odai mit seiner Leibwächtergarde, die an diesem Abend fast hundert Mann stark ist, in den Club kommt, tritt schlagartig Stille ein. Dann brandet lauter Beifall auf. Alle klatschen, verneigen sich vor Odai, manche küssen ihm sogar die Hand. Odai schwimmt auf einer Welle der Begeisterung. Er hat seine Ray-Ban-Brille auf, trägt seine schwarze Uniform mit dem goldenen Schriftzug »Odai Saddam Hussein«. Er geht nicht, er schreitet. In der linken Hand hält er die Havanna, mit der rechten winkt er, wie in Zeitlupe, seinen Untertanen zu. Manchmal bleibt er kurz stehen, geht auf ein Mädchen zu, streicht ihm über das Haar und schreitet danach weiter, und Hunderte von Blicken folgen ihm. Ich halte mich im Hintergrund, habe die normale Leibwächteruniform an. Es ist kurios, und obwohl ich Odai auch heute abend täuschend ähnlich sehe, beachtet mich in meiner Leibwächteruniform kaum jemand. Alles ist auf den strahlenden Helden, den großen Sohn des Präsidenten konzentriert.
Nach dem Bad in der Menge greift Odai zu einem Mikrofon. Mit einem Pathos, als müsste er die Olympischen Spiele für eröffnet erklären, schreit er in das Mikro: »Wir haben unser Ziel erreicht.« Dann legt er das Mikrofon wieder weg, schnappt sich die Kalaschnikow eines Leibwächters und feuert so lange in die Luft, bis das Magazin leer ist. Dabei schreit und johlt er und fordert mit Kopfbewegungen alle Männer auf, es ihm nachzutun. Schlagartig haben sie alle Waffen in der Hand und ballern in den sternenklaren Nachthimmel über Bagdad. Es kracht und knattert wie an der Front, und ich glaube fast, dass an diesem Abend im Al-Said Club mehr Schüsse abgefeuert wurden als während der gesamten Kuwait-Invasion. Die Invasion ist natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Aus Gesprächsfetzen erfahre ich nach und nach, wie die Lage aussieht: Unsere Truppen haben bereits vier Stunden nach dem Einmarsch alle Schlüsselstellen in Kuwait besetzt. Neun Stunden nach Beginn des Angriffs können unsere Soldaten in den Straßen von Kuwait-City bereits ihren Sieg feiern. Sie haben alles im Griff: Der Dasman-Palast ist besetzt. Radio- und Fernsehstationen sind von unseren Leuten übernommen worden. Heftigeren Widerstand gab es nur vor dem DasmanPalast an der Nordspitze der Halbinsel, auf der Kuwait-City errichtet worden ist. Hier hatte sich der kuwaitische Widerstand formiert. Angeführt wurden diese tapferen Kämpfer von Odais Freund Fahd Al-Ahmed AlSabah, dem Bruder des Emirs. Fahd war noch vor Wochen in Bagdad gewesen. Als Odai erfährt, dass Fahd bei den Kämpfen um den Dasman-Palast ums Leben gekommen ist, sagt er zynisch: »So ein Idiot. Er war wie mein Bruder. Er war, wie ich, Präsident des Olympischen Komitees seines Landes und Präsident des Fußballverbandes. Warum hat er sich unserem Willen nicht gebeugt? Er hätte mein Stellvertreter werden können. Was wollte er mit seiner Dummheit beweisen?« Fahd Al-Ahmed Al-Sabah hatte versucht, mit der Garde des Emirs die anstürmenden irakischen Soldaten zurückzudrängen. Aber er hatte keine Chance. Als er auf der obersten Stufe der Palasttreppe mit gezogener Pistole den Angreifern entgegentrat, tötete ihn ein 21-jähriger Iraki mit einer Salve aus einer Kalaschnikow. Als Fahd fiel, brach der kuwaitische Widerstand völlig zusammen. Man schleppte die Leiche des Scheichs auf die Straße, ließ sie durch einen Panzer überrollen. Dann warfen drei Soldaten seine Überreste einfach an den Straßen-
rand. Odai berührt das überhaupt nicht. »Das ist der Krieg«, so seine überhebliche Rechtfertigung. »Wir wollten niemanden töten, wir wollten nur die revolutionären Kräfte in Kuwait unterstützen.« Eines verschweigt Odai an diesem Abend: Dass der Emir und alle seine Minister flüchten konnten. Noch bevor unsere Truppen KuwaitCity erreichten, hatten die wachhabenden kuwaitischen Offiziere nämlich die gesamte Regierung warnen können. Als dann die Republikanischen Garden den Palast stürmten, waren der Emir und seine Minister bereits auf dem Weg zur saudiarabischen Grenze. Von der zweiten Panne erfahre ich am nächsten Tag, dem 4. August. Keiner der von unserem Geheimdienst kontaktierten kuwaitischen Oppositionellen will sich bereit erklären, einer neuen irakischen Regierung beizutreten. Alle im Palast wissen, was das bedeutet: Die großen Erklärungen vor der Weltpresse, der Irak habe lediglich eine nationale Revolution in Kuwait gegen ein korruptes Regime unterstützt, werden damit Lügen gestraft. Saddam Hussein kümmert das aber wenig. Er lässt in Kuwait am 4. August eine Übergangsregierung installieren. Gleichzeitig wird Kuwait zur Republik erklärt. In einer Pressekonferenz in Bagdad wird der Welt mitgeteilt, der Chef dieser Regierung sei ein gewisser Oberst Alaa Hussein Ali, Offizier der kuwaitischen Streitkräfte. Ein Bild dieses geheimnisvollen Offiziers wird aber nicht veröffentlicht. Wir wissen auch warum: Einen kuwaitischen Offizier dieses Namens gibt es überhaupt nicht. Dieser Offizier ist in Wahrheit Hussein Kamel Hassan, der mit Saddams ältester Tochter Raghd verheiratet ist. Ich kann es kaum glauben! Hussein Kamel Hassan, den sie in Bagdad nur Saddams treuen Hund nennen, begann als normaler Wachtmeister bei der Polizei. Später wurde er Chauffeur des früheren irakischen Präsidenten Hassan Al-Bakr. Diesen Job behielt er, bis Saddam Hussein 1979 Al-Bakr als Präsident »ablöste«. (Wie schon früher erwähnt: Offiziell starb Al-Bakr damals an einem Herzversagen. In Wahrheit wurde er aber von Saddam Husseins Männern vergiftet, wobei jeder in Bagdad vermutete, dass Hussein Kamel Hassan seinem Herrn das Gift ins Essen gemischt hat.) Hussein Kamel Hassan kommt, wie Saddam Hussein, aus Takrit, er ist auch weitläufig mit Saddam verwandt. Nach dem Tod von Al-Bakr machte Kamel Hassan unter Präsident Saddam eine Blitzkarriere, was
die erwähnte Vermutung verstärkte. Saddam ernannte ihn zum ersten Leibwächter, eine Stellung, die mehr zählte als jeder Ministerposten. Kamel Hassan erhielt den Titel Oberleutnant, obwohl er nie einen Offizierskurs besucht hatte. Aber darauf kam es auch nicht an, wichtig war nur die totale Loyalität. Um Kamel Hassan noch näher an sich zu binden, verheiratete Saddam ihn mit seiner ältesten Tochter Raghd. Kamel Hassan hat zwei Brüder: Saddam Kamel und Hakim Kamel Hassan. Damit alles seine Ordnung hatte und man unter sich blieb, mussten auch diese beiden in Saddams Clan einheiraten. Saddam Kamel bekam Saddams Tochter Rena, Hakim Kamel Hassan, der jüngste, wurde mit dem Saddam-Nesthäkchen Halla verehelicht. Die drei Brüder erhielten innerhalb des Palastgeländes Traumvillen. Doch zurück zu Kamel Hassan: Nach der Hochzeit mit Raghd bekam er die volle Verantwortung für das gesamte Rüstungsprogramm des Iraks. Dazu wurde ein eigenes Rüstungsministerium gegründet. Kamel Hassan, der Ex-Chauffeur, wurde Minister und zog gleich auch noch das Industrieministerium an sich, dem bis zu diesem Zeitpunkt die Waffenproduktion unterstellt war. Das war dem Machtgierigen aber nicht genug: Er schielte auch nach dem Ölministerium. Ihm zuliebe zwang Saddam Hussein seinen Ölminister zur öffentlichen Selbstanklage. Der musste während der Fernsehhauptnachrichten erklären, dass er gegen die Gesetze des Iraks verstoßen und selbst Öl verkauft habe, um sich zu bereichern. Dabei zitterte er so am ganzen Körper, dass für jedermann im Irak klar war, dass auf diesen Mann Druck ausgeübt wurde. Wenig später starb er in einem Krankenhaus in Bagdad. Herzversagen war die offizielle Todesursache. Hassan Kamel übernahm am Tag darauf auch das Ölministerium. Zusätzlich bekam er auch noch das Verteidigungsministerium, das nach dem Hubschrauberabsturz von Adnan Khairallah verwaist war, sowie das Verkehrsministerium. Hassan Kamel, der Mann ohne Hochschulabschluss oder sonstige Qualifikationen, war somit vierfacher Minister geworden - und nun plötzlich auch noch Regierungschef von Kuwait.
13. KAPITEL Jeder hat gestohlen Noch Tage nach der Invasion gleicht Kuwait-City einer Geisterstadt. Unsere Truppen kontrollieren das gesamte Gebiet, die Ölhäfen Shuaiba und Ahmadi sowie den Flughafen. In den menschenleeren Straßen stehen Tausende verlassener Autos. Sie wurden nicht einmal geparkt, sondern einfach stehen gelassen. Alle Geschäfte sind geschlossen, ihre Besitzer meist geflohen. Unsere Soldaten fahren mit den Luxusautos der Kuwaitis, vornehmlich Mercedes, im Triumph durch Kuwait-City. Die Straßen und Gehsteige in einigen Teilen der Stadt sind von den Ketten der Panzer aufgerissen. Radio, Fernsehen und alle übrigen Kommunikationseinrichtungen sind unter irakischer Kontrolle. Nur vereinzelt flackern noch Gefechte auf, wenn kuwaitische Heckenschützen auf unsere patrouillierenden Soldaten das Feuer eröffnen. Der neuen Regierung gehören, nachdem kein kuwaitischer Oppositioneller zur Mitarbeit bewogen werden konnte, ausschließlich irakische Militärs mittleren Ranges an. Dennoch meldet das Bagdader Fernsehen stolz, dass der neue kuwaitische Regierungschef Alaa Hussein Ali alias Hussein Kamel Hassan in einem offiziellen Schreiben an den irakischen Staatschef die Bereitschaft der provisorischen kuwaitischen Regierung erklärt habe, mit dem Irak in Verhandlungen über den Verlauf der gemeinsamen Grenze einzutreten - eine reine Augenauswischerei, denn der neue kuwaitische Regierungschef ist ja Saddams Schwiegersohn, ein Günstling, der Saddam nie widersprechen würde. Jetzt kann man die Grenzprobleme sozusagen im Familienrat lösen. Izzat Ibrahim, auch eine Marionette Saddams, wird zum Leiter der irakischen Verhandlungsdelegation ernannt. Gleichzeitig werden alle hohen Offiziere der kuwaitischen Armee und Polizei mit Wirkung vom 4. August in den Ruhestand geschickt. Während diese durchsichtige Politshow abgezogen wird, beginnen hinter den Kulissen in Bagdad die Planungen für einen der größten privaten Raubzüge, den es in der Neuzeit gegeben hat. Es ist der 8. August 1990. Ein denkwürdiger Tag. Erstens zeigt US-
Präsident George Bush Stärke und Entschlossenheit, in dem er die ersten Truppenkontingente in den Golf schickt: Luftlandetruppen vom 18. Luftlandecorps. Die Flugzeugträger Independence, Saratoga und Eisenhower nehmen mit 50 Begleitschiffen Kurs auf den Persischen Golf. US-Kampfflugzeuge vom Typ F-111 werden aus Großbritannien auf türkische Nato-Flughäfen verlegt, B-52-Bomber von ihren Basen im Indischen Ozean nach Dahran in Ost-Saudi-Arabien. Das große Aufrüsten der Alliierten am Golf beginnt. Zweitens wird an diesem Tag in Kuwait-City der selbständige Staat Kuwait offiziell aufgelöst. Saddam Hussein gibt in einer Fernsehansprache die Union des Irak mit dem ehemaligen Emirat bekannt: »Dank Gottes Hilfe sind wir nun ein Volk, ein Staat, der der Stolz der Araber sein wird. Der neue Irak reicht von Zacho (Nordirak) bis Ahmadi (Kuwaits Ölhafen am Golf).« In Bagdad löst die Ansprache frenetischen Jubel aus, die Partei holt Hundertausende in die Straße der Palästinenser, um Freudenkundgebungen abzuhalten. Die Massen haben keine Ahnung, dass zur gleichen Zeit die ersten US-Truppen in der Wüste Saudi-Arabiens eintreffen. Darüber schweigen die irakischen Medien. Die Menschen sind berauscht, fühlen sich als Sieger, und niemand denkt ernsthaft daran, dass die westliche Welt jemals zum Gegenschlag ausholen könnte. Das für uns wichtigste Ereignis findet an diesem Tag aber im Projekt Nummer 7 statt: Odai Saddam Hussein hat alle seine Leibwächter und Mitarbeiter zitiert, um seine Operation Kuwait zu erklären. Er bringt unsere schriftlich fixierten Einsatzpläne für die kommenden Tage mit, legt seine Unterlagen bedeutungsvoll auf seinen Schreibtisch, stellt sich vor uns hin und beginnt: »Kuwait gehört jetzt uns. Sein Besitz ist auch der unsere.« Dabei nimmt er seine Listen wieder in die Hand und geht mit großen Schritten vor dem Schreibtisch hin und her. Bleibt wieder stehen, dreht sich zu uns, zieht an seiner Zigarre, blickt über uns hinweg, sagt mit dramatischem Unterton: »Morgen beginnen wir mit der Operation Kuwait.« Odai macht eine lange Pause, um die Bedeutung dieses Moments zu unterstreichen. Dann erläutert er, wie ein Manager bei einer Geschäftsführerversammlung, was er sich unter der Operation Kuwait vorstellt: »Azzam wird unverzüglich Teams à zwanzig Mann zu-
sammenstellen«, geht er ins Detail und erklärt dann die Aufgaben dieser Teams. Erstens: Das »Team Auto«. Es hat jeden in Kuwait zurückgelassenen Mercedes und BMW zu beschlagnahmen und mit Tiefladern nach Bagdad zu bringen. Odai betont, dass er vorerst keine Cadillacs, keinen Rolls Royce, sondern nur deutsche Qualitätsautos haben will. Jene Wagen, für die keine Schlüssel aufzutreiben sind, sollen einfach kurzgeschlossen oder mit Kranwagen auf die Tieflader gehoben werden. Sollten kuwaitische Händler oder Autobesitzer Probleme machen, seien sie wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt« sofort zu exekutieren. Zweitens: Das »Team Immobilien« beschlagnahmt alle verlassenen Villen und unterstellt sie der Verwaltung von Odais Gesellschaften. Das Mobiliar, die Haushaltsgeräte und Klimaanlagen, Marmorböden und Wertgegenstände sind zu verladen und nach Bagdad zu bringen. Eine Unterabteilung des »Teams Immobilien« übernimmt den Abbau und Abtransport von Großklimaanlagen und Großküchen aus Hotels, von wertvollen Krankenhauseinrichtungen, Maschinen, Büroausstattungen, Computern, Telekommunikationsanlagen. Drittens: Das »Team Hi-Fi« hat alle Geschäfte und Supermärkte in Kuwait zu durchforsten und vornehmlich japanische Elektrogeräte abzutransportieren, und zwar ausschließlich wertvolle Geräte, keine Billigware. Juwelierläden erwähnt Odai bei dieser Gelegenheit noch mit keinem Wort, was mich wundert, denn Juwelen und Uhren ließen sich leicht und problemlos abtransportieren. Dann stellen Odai und Azzam die drei Zwanziger-Teams zusammen. 24 Stunden später geht es los. Ich fahre mit meinem Team über die AlKadisja-Autobahn in Richtung Süden. Sie ist mit Armeefahrzeugen, die Soldaten und militärisches Material in Richtung Kuwait transportieren, verstopft. Wir können die Autobahn problemlos passieren. Meistens reicht es schon, wenn meine Leibwächter bei den Checkpoints angeben, dass unser Konvoi im Auftrag Odais unterwegs ist, wenn nicht, haben wir ja noch unsere Bescheinigungen von den höchsten Geheimdienststellen, dass wir »eine spezielle Mission« durchzuführen haben. Untertänigst bietet man uns sogar eine Polizeieskorte an, die ich aber mit dem Hinweis, dass meine eigene genügt, ablehne. Unser Konvoi besteht aus vier identischen Mercedes-Limousinen und sechs
Autotransportern, die doppelstöckig beladen werden können, sowie fünf normalen Sattelschleppern. Unser erstes Ziel an diesem Tag ist nur 25 Kilometer von der Grenze entfernt. Wir parken unsere Tieflader vor dem Autohaus Gahnem, der größten Autohandlung der Stadt. Der Parkplatz ist voll mit europäischen und amerikanischen Wagen. Vor der Invasion prägten vor allem große Straßenkreuzer das Straßenbild Kuwaits, denn Benzin war spottbillig. Eine Kraftfahrzeugsteuer gab es nicht. Jeder Haushalt hatte zumindest zwei, drei Autos. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich europäische Luxuskarossen von Mercedes, BMW, Porsche, Jaguar oder Rolls Royce und schwere USWagen. Insgesamt waren vor dem Einmarsch 700000 Autos in Kuwait angemeldet. Als unser Konvoi hält, kommt ein Offizier, der das Autohaus zu bewachen hat, auf uns zu. Ich schwinge mich aus meinem Wagen, meine Leibwächter folgen. Meine schwarze Uniform mit dem Namenszug des Präsidentensohnes ist Ausweis genug. Der Offizier, ein schlanker Mann mit dunkler Haut, salutiert, stottert seine Meldung. Ich teile ihm mit, dass ich, Odai Saddam Hussein, mit meinen Männern alle Mercedes- und BMW-Autos abtransportieren werde. Der Offizier salutiert wieder, küsst mir die Hand, verneigt sich mehrmals. Dabei sehe ich, dass auf dem Parkplatz einige Soldaten aus herrenlosen Autos, die von Granatsplittern durchlöchert sind, alles ausbauen, was auszubauen ist. Radios, Antennen, Scheinwerfer, Räder, Spiegel - alles. Die reinsten Hyänen. Als sie uns sehen, lassen sie alles stehen und liegen und verschwinden hinter der großen Halle der Autohandlung. Der Offizier weiß, dass ich die Soldaten bemerkt habe. An seiner verlegenen Mimik ist zu erkennen, dass er mit ihnen unter einer Decke steckt. Ich verziehe meine Mundwinkel zu einem gespielt freundlichen Lächeln, befehle ihm, sofort zu verschwinden, anderenfalls müsste ich ihn und seine Männer bestrafen lassen. Der schlanke Offizier verzieht sich genauso schnell wie seine Leute. Auf der Fahrt hierher waren mir Hunderte entgegenkommender Kleinlaster und Busse aufgefallen, die alle mit Auto-Ersatzteilen vollgestopft waren: Anscheinend hatte jeder irakische Besatzungssoldat seine Verwandten zum Abtransport von Diebesgut nach Kuwait gerufen. Kuwait ist ein einziger großer Selbstbedienungsladen für die Soldaten, und offensichtlich hat bisher noch kein Offizier dagegen etwas un-
ternommen. Es ist so, als ob sie alle unter einer Decke steckten. Jeder weiß, dass alle stehlen, aber keiner macht eine Meldung. Wem auch? Alle rauben, als ob das der eigentliche Zweck dieses Krieges sei. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir Kuwait behalten wollten. Würden wir es sonst derart unverschämt ausrauben? Außerdem scheint es keinen Soldaten zu kümmern, dass sich wenige Kilometer weiter, in der Wüste Saudi-Arabiens, eine gewaltige Streitmacht darauf vorbereitet, gegen unsere Truppen loszuschlagen. Niemand macht sich darüber ernsthafte Gedanken, jeder ist nur darauf bedacht, so viel wie möglich aus Kuwait wegzuschleppen. Ich habe Verständnis für die Soldaten: Normalerweise verdienen die Männer an der Front zweiundzwanzig Dinar pro Monat. Das sind knapp zwanzig Dollar. Zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben. Hier können sie ihren mageren Sold vertausendfachen, wenn sie es schaffen, die Waren irgendwie aus Kuwait hinaus und in den Irak zu bringen. Die Straßen in Richtung Grenze sind voll mit Soldaten und Flüchtlingen. In riesigen Kolonnen verlassen die asiatischen und arabischen Gastarbeiter, die in Kuwait ihr Geld verdient haben, das Land. Endlose Trecks in Richtung Norden. Mehr als eine Million Menschen versuchten, die jordanische Grenze im Westen oder die türkische Grenze im Norden des Iraks zu erreichen. Unter die Flüchtlinge mischen sich irakische Soldaten, die ihr Diebesgut abtransportieren. Tausende Kuwaitis versuchen wiederum, ihr Land in Richtung SaudiArabien zu verlassen. Die irakischen Soldaten hindern sie nicht daran, sie verlangen aber von jedem Kuwati die Papiere und eine Art Wegzoll und profitieren auch auf diese Weise von der Not der Menschen. Der ganze Feldzug ist ein unglaubliches, schamloses Rauben. Die einzigen, die als Geiseln im Irak zurückbleiben müssen, sind rund 6000 Gäste. Europäer und Amerikaner. Vertreter jener Länder, deren Regierungen Truppen in den Golf schickten. Sie müssen sich in diversen Hotels in Kuwait melden und werden dann in Gruppen von dort nach Bagdad gebracht. Wir laden 42 Mercedes 500 und große BMWs auf. Meine Leibwächter amüsieren sich auf ihre Art. Sie schließen Luxuskarossen kurz, drehen mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz vor dem Autohaus einige Runden. Haben einen tierischen Spaß, wenn dabei ein Auto zu Schrott gefahren wird. Zwei Stunden brauchen wir, bis wir alle Autos verladen haben. Während dieser Zeit fühle ich mich ständig beobachtet, ich sehe aber nicht
einen einzigen Kuwaiti. Die ganze Gegend wirkt wie ausgestorben. Am nächsten Tag bringen wir unsere erste Ladung zu Odais Farm Al-Rashdija im Stadtteil Al-Jasira Al-Siahia. Auf dieser Farm züchtet Odai seine Kampfhunde. Rottweiler, Doggen und deutsche Schäferhunde. Selbst einen jungen Tiger und zwei schwarze Pumas hält er dort in Käfigen. Unser Transport ist nicht der erste. Azzam und seine Männer waren schneller als wir, ebenso Kapitän Ziad. Die Ausbeute kann sich sehen lassen: Allein auf der Farm stehen nun bereits mehr als 100 deutsche Luxuskarossen. Odai ist zufrieden mit uns und den anderen Trupps. Es gab keine Probleme, niemand musste von der Schusswaffe Gebrauch machen. Stolz sagt er uns, dass weitere Transporte noch im Lauf dieser Nacht eintreffen werden und wir am nächsten Tag gleich wieder starten sollen. Am 11. August fahre ich mit meinen Männern nach Kuwait-City in die Bezirke Shuwaikh und Hawalli. Hier seien die meisten Autohändler angesiedelt, wird uns gesagt. Die Information stimmt. Trotzdem gibt es Probleme: In Hawalli treffen wir auf eine Gruppe anderer irakischer Offiziere, die ebenfalls Autos verladen. Es sind Männer von Hussein Kamel Hassan. »Was geht hier vor?«, stelle ich den Kommandanten zur Rede, und der meldet: »Herr, wir haben den Auftrag, europäische Autos auf die Farmen von Hussein Kamel Hassan nach Takrit zu bringen.« Ich sage nichts, drehe mich weg, denke mir: »Auch Hussein Kamel Hassan gehört zu diesen Hyänen.« Es sind aber genug Autos für beide Teams vorhanden. Wir laden auf, beobachten, wie ein Offizier aus der anderen Gruppe einen Kuwaiti, der zufällig mit seinem PKW vorbeikommt, anhält, ihn auffordert auszusteigen und ihn dann davonjagt. Er verschwindet widerspruchslos und ist vermutlich froh, dass er nicht erschossen wurde. Wir brauchen deutlich weniger Zeit als beim ersten Mal, um die Autos zu verladen. Inzwischen haben meine Männer eine gewisse Übung beim Aufbrechen und Kurzschließen der Fahrzeuge. Bei meiner Rückkehr nach Bagdad melde ich Odai den Zwischenfall mit den Männern Hussein Kamel Hassans. Er bekommt einen seiner cholerischen Wutausbrüche, schreit und verrät dabei ein wichtiges De-
tail: »Es war genau abgemacht, wer welche Fahrzeuge zu beschlagnahmen hat.« Damit ist klar, was hier gespielt wird: Der gesamte Hussein-Clan beteiligt sich an der Plünderung Kuwaits. Dabei sind sie so gierig, dass sie sich noch gegenseitig ins Gehege geraten. Wie wilde Tiere, die sich um die Beute streiten. Aber eine gewisse Rangfolge gibt es auch hier: Zuerst fressen die Hyänen (der Hussein-Clan), dann kommen die Aasgeier (die normalen Soldaten) und holen, was übrig bleibt. Den allergrößten Coup landet Saddam Hussein selbst: Er läßt aus den Tresoren der kuwaitischen Nationalbank 3216 Goldbarren sowie 63 Tonnen Goldmünzen und ganze Hubschrauberladungen an ausländischen Banknoten abtransportieren, ebenso sämtliche Kunstschätze aus dem Nationalmuseum. Auch das normale irakische Volk profitiert von diesen Raubzügen. Obwohl die Vereinten Nationen ein Embargo verhängt haben, gibt es im Irak alles. Bagdad wird, wie alle anderen irakischen Städte auch, in diesen Tagen mit Gütern aus Kuwait regelrecht überschwemmt. Plötzlich sind die Geschäfte voll mit den feinsten Waren, auf denen meistens noch die kuwaitischen Preisschilder kleben. Es gibt Hühnerleberpastete und norwegischen Lachs, alkoholfreies Bier, das früher in Bagdad nie zu haben war, und Fleischkonserven aus aller Welt. Es gibt Videokameras, Videorecorder, Fotoapparate und sämtliche Elektroartikel. Vom Mixer bis zum Haartrockner, von der Waschmaschine bis zum normalen Lichtschalter. Es gibt einfach alles, und sämtliche Waren werden zu Schleuderpreisen angeboten. Das UN-Embargo ist somit völlig wirkungslos, in den kuwaitischen Supermärkten lagern genug Lebensmittel, um den ganzen Irak monatelang zu versorgen. Die meisten dieser Geschäfte werden von den Männern Hussein Kamel Hassans beliefert, der eigene Kompanien abgestellt hat, die nichts anderes zu tun haben, als die Waren aus den Supermärkten in Kuwait zu rauben und in den Irak zu liefern. Ein Milliardengeschäft. Unsere Trupps operieren zwar diskreter, sind aber ebenso effizient: Bis zum 10. September schaffen sie es, mehr als 10000 Luxuskarossen von Kuwait nach Bagdad zu bringen. Es gibt keine freie Stelle mehr auf Odais Farmen, wo wir weitere Autos hätten unterbringen können. Selbst die Parkplätze und Garagen beim Olympischen Club sind voll gestopft mit Luxuskarossen. Die restlichen gestohlenen Waren, wie Elektrogeräte, Kosmetikartikel und Möbel, werden von Odais
Geschäftspartnern, den Händlern Mohamad Kora Ghauli, Khaled AlKabisi, Zaid Kammuneh und Dored Ghannani teilweise im Irak verkauft oder nach Jordanien geschmuggelt. Nun erfolgt der nächste Schritt. Die gestohlenen Autos müssen auch weiterverkauft werden. Also erscheinen in den Zeitungen in Bagdad täglich ganzseitige Inserate: »Versteigerungen von Mercedes- und BMW-Limousinen«, dann und dort. Die gestohlenen Fahrzeuge werden zu Schleuderpreisen angeboten. Verkauft werden sie auf den Parkplätzen vor dem Hochhaus des Olympischen Clubs. Zu bezahlen ist in US-Dollar. Die Versteigerungen werden abwechselnd von Azzam und von mir durchgeführt. Odai hält sich diskret im Hintergrund, beobachtet die Szenerie von seinem Büro im Olympischen Club aus. Im Schnitt verkaufen wir sechzig bis siebzig Autos pro Tag. Die Käufer scheren sich nicht darum, dass wir für die Wagen keine Zündschlüssel haben. Wir bieten ihnen an, die Autos einfach kurzzuschließen, damit sie zur nächsten Werkstätte fahren und sich dort einen Zündschlüssel besorgen können. Auch mit den neuen Papieren und Autokennzeichen gibt es keine Probleme: Für 100 Dinar erhält jeder ein neues Kennzeichen. Bei der ersten Massenversteigerung erzielen wir einen Gewinn von acht Millionen Dollar. Wir werfen Odai das Geld in seinem Büro im Olympischen Club bündelweise auf den Tisch. Der gesamte Club ist wie ein einziger großer Banksafe, und jeder bedient sich hier, denn Odai und seine Finanzmanager haben längst die Kontrolle über diesen Geldsegen verloren. Im Club tauchen ständig neue Mädchen auf, täglich wird getrunken und gefeiert. Die Büros verkommen zu Absteigen, die für wilde Orgien genützt werden. Das Leben Odais und seiner Männer war schon bisher ohne jedes Maß. Doch was jetzt passiert, übertrifft alles Bisherige. Nackte Mädchen wälzen sich kreischend mit Leibwächtern auf dem Boden. Einmal lässt Odai ein Mädchen auf einen Tisch springen, auf dem verschiedene Lammgerichte für ein warmes Büfett aufgebaut sind. Das Mädchen wälzt sich im Rosinenreis, schmiert sich Curry und alle möglichen Soßen auf ihre Brüste, verlangt von uns lüstern, dass wir sie ablecken. Manche tun es. Bis zum 10. September erzielt Odai aus den Autoverkäufen den sagenhaften Gewinn von 125 Millionen Dollar. In den Straßen Bagdads, in denen früher ein Mercedes oder ein BMW eine Rarität war, sind
diese Luxuskarossen inzwischen ein gewohnter Anblick. Und dabei hatte Odai früher jeden bestraft, der ein repräsentativeres Auto fuhr als er. Jetzt überschwemmt er Bagdad mit solchen Fahrzeugen. Auch ein Jaguar, Rolls Royce oder ein großer amerikanischer Straßenkreuzer oder Geländewagen fällt hier inzwischen kaum mehr auf. Leider führt das Überangebot zu einem drastischen Preisverfall. Vor allem Hussein Kamel Hassans Männer verkaufen die Autos zu Diskontpreisen: Chevrolets um 5000 Dollar, Cadillacs um 4000, BMWs um 8000 Dollar. Ihr besonderes Lockmittel: kostenlose Nummernschilder, die die Käufer direkt im Innenministerium abholen können. Hussein Kamel Hassans Auto-Verkaufsstände in Alnahda und im AlgayaBezirk in Bagdad werden dadurch zu richtigen Automessen, zu denen Tausende kommen. Eine massive Konkurrenz für Odai. Er lässt Hussein Kamel Hassans Gefolgsleute beschatten und deckt damit einen Skandal auf: Die enormen Einnahmen aus dem Verkauf der Autos, Elektrogeräte und Kosmetikartikel sind Hussein Kamel Hassan nämlich nicht genug. In der Annahme, dass in Zeiten wie diesen alles möglich zu sei, hat er auf seinen Farmen in Takrit Druckmaschinen aufstellen lassen, mit denen er 25-Dinar-, 50-Dinar- und 100-Dinar-Scheine drucken ließ. Etwa 80 Millionen gefälschte Dinar aus der Werkstatt Hussein Kamel Hassans tauchen allein in Bagdad auf. Noch ohne von der Verwicklung Hassans zu wissen, hatte Saddam Hussein im irakischen Fernsehen ein radikales Vorgehen gegen die Geldfälscher angekündigt. Zuerst werden zwei Bagdader Geschäftsleute, Maker Al-Dlimi und Naser Al-Basrani, festgenommen und angeklagt. Als Saddam kurz danach erfährt, dass sein Schwiegersohn dahinter steckt, fährt er nach Takrit auf dessen Farm. Sieben Fälscher, alle Mitglieder des Geheimdienstes, werden verhaftet und in den Abendnachrichten vorgeführt. Eine Woche später werden sie hingerichtet. Der Präsident erschießt sie persönlich, mit dem Revolver seines Leibwächters Abed Hamid. Parallel dazu wird der vierfache Minister aller seiner Ämter enthoben. Das irakische Fernsehen teilt mit, dass Hussein Kamel Hassan keine Handlungsvollmacht mehr habe. Außerdem wird sein ganzes Vermögen beschlagnahmt, wird er von Saddam zur Scheidung von Raghd, der ältesten Tochter des Präsidenten, gezwungen. Nach kurzer Zeit und einigen internen Dikussionen werden diese Ra-
dikalmaßnahmen aber wieder zurückgenommen. Angeblich, weil sich alle Minister für Saddams Schwiegersohn eingesetzt und sich für dessen Unschuld verbürgt hatten. Wieder wird eine der üblichen Fernsehshows angesetzt und verkündet, dass Hussein Kamel Hassan seine Ämter wieder innehabe. Auch die Scheidung wird rückgängig gemacht, und der Präsident spricht seinem Schwiegersohn demonstrativ sein volles Vertrauen aus. Doch zurück nach Kuwait: Am 28. August 1990 erklärt Saddam Hussein Kuwait zur 19. Provinz des Iraks. Zwei Wochen später, am 15. September 1990, wird Ali Hassan Al-Majid neuer Gouverneur der Provinz Kuwait. Ein Übeltäter folgt also dem anderen. Und Ali Hassan Al-Majid, der Chemiker, der 1988 die Giftgasangriffe auf die Kurden angeordnet hatte, wütet in Kuwait noch verbrecherischer als sein Vorgänger. Er ordnet rigorose Strafaktionen gegen mutmaßliche Widerstandskämpfer an. Saddam Hussein hatte dem Chemiker volle Handlungsfreiheit gegeben. Und der nützte das Kriegsrecht rücksichtslos aus. Als einmal in einem Wohnviertel eine irakische Patrouille beschossen wurde, holte man dort alle Bewohner aus den Häusern. Männer und Frauen mussten sich getrennt aufstellen. An den Hauswänden. Ein Offizier zählte die Frauen ab und ließ jede Zehnte vortreten. Ein anderer zählte die Männer ab und ließ jeden Fünften vortreten. Sie mussten sich vor einer anderen Wand aufstellen. Dann fuhr ein Jeep mit aufgebautem Maschinengewehr vor. Einige Feuerstöße, und die Sache war vorbei. Ein Offizier befahl den Überlebenden, ihre Toten wegzubringen. Bei einer anderen Strafaktion wurden 15 Kuwaitis regelrecht abgeschlachtet. Die Überlebenden schlug man so lange auf die Fußsohlen, bis die Knochen bloß lagen, und drückte sie dann mit dem Kopf in eine mit Wasser und menschlichen Exkrementen gefüllte Badewanne - bis sie die Brühe tranken, um nicht zu ersticken. Außerdem lässt Al-Majid alle Kuwaitis foltern, die sich weigern, sich als irakische Staatsbürger zu bezeichnen. Um als Verräter oder Aufrührer zu gelten, genügt es aber schon, Münzen oder Geldscheine in der abgeschafften kuwaitischen Währung bei sich haben. Al-Majids Leute haben völlige Narrenfreiheit. Für sie gelten die strengen Disziplinarvorschriften der Armee nicht. Sie morden, vergewaltigen, brandschatzen. Al-Majid ist in seinem Element.
Von diesen Strafaktionen hören wir in Bagdad fast nichts. Wir sind zu sehr auf unsere Raubzüge konzentriert. Inzwischen nehmen wir Autos aller Marken, die uns einigermaßen wertvoll erscheinen. Wir haben auch unsere frühere Zurückhaltung aufgegeben und agieren jetzt genauso wie die Männer Hussein Kamel Hassans. Wir stoppen die Wagen auf offener Straße, werfen die Fahrer raus, und die Sache ist erledigt. Oder dringen in Geschäfte ein und beschlagnahmen alles. Natürlich weiß ich, dass wir damit Verbrechen begehen. Doch ich muß Odais Befehle ausführen. Bald beschränken wir uns nicht mehr auf Autodiebstähle. Eines Tages befiehlt mir Odai, die Privatvilla eines Juweliers im Stadtteil Shamiya in Kuwait-City zu plündern. Dort seien große Mengen an Gold versteckt, 600 Kilo Gold, dazu ungefasste Diamanten, Schmuck und Uhren. Als wir das Haus stürmen, ist dort schon eine andere Gruppe von Plünderern am Werk. Der Juwelier ist bereits umgebracht, liegt in einer Blutlache. In der Mitte des Raumes steht ein Sarg, in dem die Männer allen Schmuck verstauen. Sie werden von Ali Hassan Al-Majid angeführt, dem Statthalter der Provinz 19. Während mich seine Soldaten für Odai Saddam Hussein halten, weiß er sofort, dass ich nur das Double bin. Ali-Majid schreit uns an, jagt uns weg. Ich sehe noch, wie seine Männer eine irakische Flagge über den inzwischen randvollen Sarg breiten. Offiziell wird der Sarg am nächsten Tag in Begleitung eines Offiziers nach Bagdad gebracht. Die Heimkehr des Helden nennen sie es. In Wirklichkeit landet er aber auf der Farm Ali Hassan Al-Majids, außerhalb von Bagdad. Der Offizier und die drei Soldaten, die den Sarg offiziell zu überstellen hatten, werden zwei Tage später gehängt. Al-Majid hat sie angeklagt, einen Juwelier in Kuwait bestohlen zu haben. Ihre Leichen hängen sieben Tage lang an den Straßen Bagdads, zur Abschreckung. Die Bilder der Toten gehen um die Welt. Al-Majid erklärt doppelzüngig, dass jeder Soldat, der beim Plündern ertappt wird, sofort und ohne Prozess hingerichtet werden kann. Odai beeindruckt das überhaupt nicht. Er weiß genauso gut wie wir, dass dies nur für normale Soldaten und Offiziere, nicht aber für die Mitglieder des Präsidentenclans und deren Mitarbeiter gilt. Inzwischen beteiligen sich nämlich auch die Leibwächter von Odais
Mutter Sajida an den Diebestouren in Kuwait. Sajida, die schon bisher als eine der reichsten Frauen der Welt galt, lässt Lastwagen um Lastwagen mit Marmor nach Bagdad bringen. Sie hatte kurz vor der Invasion in der Nähe des Hotels Babel Aubouri ein Hochhaus errichten lassen und lässt nun mit dem Marmor aus Kuwait Wände verkleiden und Böden auslegen. In dem Hochhaus entstehen exklusive Geschäfte und Büros, die über Makler ab 300000 Dinar pro Einheit vermietet werden. Von den Entwicklungen in Saudi-Arabien und dem Großaufmarsch der alliierten Truppen bekomme ich kaum etwas mit. Zwar sind uns allen Schlagworte wie Desert Shield ein Begriff, und wir wissen natürlich, dass ständig neue Truppen im Golf ankommen. Keiner von uns glaubt aber ernsthaft daran, dass es wirklich zu einem massiven Schlag gegen den Irak kommen wird. Ich registriere zwar, dass Saddam Hussein ständig zum Heiligen Krieg gegen den Westen aufruft und mit seinen Drohungen, auch auf Israel Giftgasraketen abzufeuern, die Israelis in den Konflikt zwingen will, doch ich nehme diese Drohungen nicht ernst, halte sie für reine Ablenkungsmanöver. Außerdem haben wir noch immer die 6000 westlichen Geiseln. Ein Faustpfand dafür, dass nichts passieren wird. Die meisten dieser speziellen Gäste, wie Saddam sie nennt, stehen in den Bars der großen Hotels herum, vertreiben sich ihre Zeit mit Kartenspielen, und nach einigen Wochen achtet kaum noch jemand auf sie. Wenn ich mit meinem Team nicht in Kuwait bin, bin ich entweder im Olympischen Club oder auf Versteigerungen. Der Handel mit dem Diebesgut hat inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass er auch den ausländischen Journalisten, die sich in Bagdad aufhalten, nicht verborgen bleibt. Es gibt zwar nur noch wenige ausländische Medienvertreter hier, und ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt aber die vielen Rolls Royce und Mercedes, Jaguars und Cadillacs in den Straßen von Bagdad sprechen ja eine deutliche Sprache! Bald tauchen entsprechende Berichte in den westlichen Medien auf. Und in Bagdad beginnen alle, die sich noch einen Funken Anstand und Selbstachtung bewahrt haben, darüber aufzuregen, dass der Präsidentensohn sich in so verachtenswerter Weise bereichert. Für Odai eine prekäre Situation. Einerseits haben wir noch viele hundert Autos zu verkaufen, andererseits verstärkt sich der Druck der öf-
fentlichen Meinung von Tag zu Tag. Selbst westliche Politiker, die in wahren Bittkolonnen nach Bagdad angereist kommen, um die Geiseln frei zu bekommen, erfahren von den Machenschaften des Präsidentensohnes. Das Informationsministerium hat alle Hände voll zu tun, um mit Lügen (»Die Waren wurden von den Flüchtlingen in den Irak mitgebracht«) zu vertuschen, was hier gespielt wird. Saddam Hussein ärgern diese Berichte. Da steht die gesamte Golfregion vor einem Krieg mit unabsehbaren Folgen - und nun soll er sich noch damit auseinander setzen, dass sein eigener Sohn und seine engsten Mitarbeiter des Raubes beschuldigt werden. Außerdem hat in der Armee eine kritische Diskussion über die Tatsache begonnen, dass normale Soldaten sofort gehängt oder erschossen werden, wenn man sie beim Plündern erwischt, Saddams Sohn aber ungestraft plündern darf. Odai war immer schon verhasst, jetzt aber sinkt sein Ruf ins Bodenlose. Zudem wissen inzwischen Hunderte von Menschen in Bagdad, dass Odai Saddam Hussein einen Doppelgänger hat. Schließlich verwendet er mich, wie er es gerade braucht. Einmal als Odai, dann wieder als Latif Yahia, seinen Leibwächter. Er nimmt mich ständig zu seinen Festen mit, ich darf ihn sogar bei seinen Streifzügen durch die Bagdader Hotels begleiten. Ich bin also nicht mehr nur sein Fidai, sondern auch sein Saufkumpan und Freund. Das konnte ja nicht lange gut gehen! Odai erkennt das. Ende September 1990 spricht er deshalb offen darüber, mich verschwinden zu lassen. »Das Einfachste wäre«, sagt er einmal in einem Gespräch mit Azzam, »ihr würdet Latif ermorden und seine Leiche versenken.« Mein Todesurteil? Nein, mein stiller Tod würde ihm nichts nützen. Azzam entgegnet deshalb: »Damit wäre nichts erreicht, die Leute würden weiter reden, Ihr Ruf wäre dadurch nicht gerettet, Herr.« Die Hauptschuld an den Raubzügen würde dennoch Odai angelastet werden. Im Irak wie im Westen. Er muss also eine andere Lösung finden. Am Tag nach seinem Gespräch mit Azzam, das ich vom Nebenzimmer aus belauscht habe, lässt Odai deshalb Munem Hamad und alle anderen Offiziere, die mich ausgebildet haben, zu sich kommen, um darüber zu beraten, wie das Gerede um seine Person und seine Kuwait-Raubzüge gestoppt werden könne. Shukr Al-Takriti, ein Geheimdienstoffizier, hat den »rettenden« Einfall: »Mit dieser Idee können wir alle täuschen ...«
Shukr Al-Takritis Idee ist bizarr und genial zugleich. Seine Überlegung: Odai hat Zugriff auf alle irakischen Medien, auch aufs Staatsfernsehen. »Mit diesen Medien müsste es gelingen«, erläutert Shukr AlTakriti, »dich aus der Affäre herauszuboxen.« Odai ist skeptisch, will Al-Takriti unterbrechen, lässt ihn aber dann doch fortfahren, und sein Freund führt weiter aus: »Du bist doch nirgendwo persönlich in Erscheinung getreten, oder?« Odai schüttelt den Kopf und fragt naiv: »Was hat das mit der ganzen Geschichte zu tun?« Al-Takriti: »Warte, ich erkläre es dir gleich. Du warst weder in Kuwait, noch hast du irgendwo Autos gestohlen und versteigert. Niemand kann also dich, Odai Saddam Hussein, bei irgendeiner kriminellen Tat beobachtet und gesehen haben.« Takriti macht eine kurze Pause, streicht sich mit der linken Hand über seinen Oberlippenbart und fährt dann fort: »Wenn du es also nicht warst, der in Kuwait Raubzüge durchgeführt hat, so kannst du dich auch nicht persönlich bereichert haben klar?« Odai und die anderen Offiziere verstehen noch immer nicht, was er damit sagen will. Al-Takriti erklärt seinen Plan noch genauer, und dieser Plan lässt das Blut in meinen Adern gefrieren: Ich, Latif Yahia, soll im irakischen Fernsehen in den Hauptnachrichten auftreten und erklären, dass nicht Odai Saddam Hussein die Raubzüge in Kuwait unternommen habe, sondern ich. Ich, Latif Yahia, habe meine Ähnlichkeit mit dem Sohn des Präsidenten ausgenützt, um ehrliche Offiziere zu täuschen und Tausende von Autos nach Bagdad zu bringen. Odai ist sprachlos. Ebenso Munem Hammad und die anderen Offiziere. Sie überhäufen Shukr Al-Takriti mit Komplimenten, lachen. Odai: »Genial!« Er steht auf, stellt sich vor Al-Takriti hin, fasst ihn mit beiden Händen an den Schultern, drückt ihn heftig an sich, küsst ihn dreimal und frohlockt: »Mein Bruder, das ist genial, einfach genial ... wir werden die Erklärungen des üblen Schurken Latif Yahia auch in allen Zeitungen abdrucken und ein Foto von ihm veröffentlichen lassen. Die ganze Welt muss wissen, dass ich von einem hinterhältigen Betrüger um meine Ehre gebracht worden bin.« Ich bin sprachlos. Sie haben mich vollkommen in der Hand. Odai grinst mich an, klopft mir auf die Schulter, zischt: »Wir werden dich zum Tode verurteilen lassen, Latif, und du wirst mitspielen.« Alle star-
ren mich an, lachen schallend. Ich grinse verlegen. Bereits am nächsten Tag beginnen die Vorbereitungen für meinen Fernsehauftritt. Mein Appartement im Al-Hayat-Hochhaus wird in ein Fernsehstudio umgebaut. Shukr Al-Takriti entwirft den Text, den ich einzuüben habe: »Ich, Latif Yahia Latif, geboren am 14. Juni 1964, habe meine Ähnlichkeit mit Odai Saddam Hussein dazu ausgenützt, um Waren aus Kuwait in seinem Namen zu stehlen und in Bagdad zu verkaufen. Ich habe dies in Wirklichkeit alles für mich persönlich gemacht. Ich habe mich bereichert, nicht Odai Saddam Hussein. Odai ist völlig unschuldig. Er ist der ehrlichste Mensch der Welt.« Zwölf Tage lang muss ich diesen Text immer wieder vortragen. Wir machen Hunderte von Aufzeichnungen. Ich habe mich jeweils auf einen Moderatorenstuhl, der vor einer grauen Leinwand steht, zu setzen. Selbstverständlich in Odais Uniform. Bei meinem Vortrag habe ich das Wort ICH besonders stark zu betonen. Zuerst üben wir ohne Accessoires. Ich sitze nur aufrecht auf meinem Stuhl, sage mein Sprüchlein. Odai findet aber, dass es echter wirken würde, wenn ich eine Havanna in der Hand halten und mit übereinander geschlagenen Beinen in einem Fauteuil sitzen würde. Dann sähe jeder auf dem ersten Blick, wie sehr ich dem Präsidentensohn ähnle und dass ich mir sogar seine Gewohnheiten angeeignet habe, um ihn zu betrügen. Wir proben die Szene einige Male. Ich muss die Zigarre demonstrativ in der linken Hand halten, mich in den Fauteuil lümmeln, immer wieder einen Zug nehmen und dann mein Sprüchlein aufsagen. Alles wird auf Video aufgezeichnet, Odai hat immer etwas auszusetzen. Entweder rauche ich zu demonstrativ, oder ich sitze zu schief. Zuletzt einigen sie sich darauf, dass ich die Zigarre, genau wie Odai, nur in der Hand halten soll, wenn ich meinen Text vortrage. Am 9. November 1990 werde ich geschminkt, von Ismail Aasami, Odais Privatfriseur. Er stutzt auch in akribischer Kleinarbeit meinen Bart, meine Haare, jedes Haar einzeln. Danach ist Jassem Helou, der Ankleider, an der Reihe. Er kommt mit einer nagelneuen Uniform mit dem irakischen Adler und dem Namenszug Odai Saddam Husseins auf der Brust. Es dauert knapp eine Stunde, bis sie mich hergerichtet haben. Dann ist es soweit. Ich setze mich auf den Moderatorensessel. Vor
mir der Kameramann. Er gibt mir ein Zeichen, ich beginne: Demonstrativ halte ich die Zigarre, meine Beine sind gekreuzt, mein Blick ist gerade in die Kamera gerichtet. Obwohl ich ganz ruhig bin, verspreche ich mich bei der ersten Aufnahme: »Ich, Latif Yahia Latif, geboren am 18. Juni 1964 in Bagdad ...« Al-Takriti unterbricht mich: »Idiot, am 18. Juni 1964 bist nicht du geboren, sondern Odai.« Wir lachen, starten einen neuen Versuch, und jetzt läuft es. Ich verspreche mich kein einziges Mal. Nichts an mir ist gekünstelt oder verkrampft. Ich wirke locker, entspannt und in keiner Weise so, als ob mich irgendjemand zu dieser Aussage zwingen würde. Es ist absurd: Ich erkläre mich selbst für schuldig und bin dabei auch noch stolz, dass ich diese Selbstanklage fehlerfrei und perfekt durchziehe. Ich bemühe mich, arbeite mit, mache alles für meinen Herrn. Ein echter Fidai, sage ich gequält zu mir selbst. 11. November 1990, Abendnachrichten. Der Sprecher verkündet mit staatstragender Stimme: »In den vergangenen Tagen konnte in Bagdad ein Verbrecher names Latif Yahia Latif, Sohn eines reichen Bagdader Kaufmanns, festgenommen werden. Latif Yahia Latif ist für den Schmuggel von gestohlenen Gütern aus Kuwait verantwortlich. Der Sohn aus reicher Familie hat die Waren in Bagdad verkauft und seine Ähnlichkeit mit dem Präsidentensohn ausgenützt, um diese verbrecherischen Handlungen durchzuführen. Er hat den Namen seiner Familie und den Namen des großen Sohnes des Präsidenten beschmutzt.« Danach wird das Video eingeblendet, das wir am Tag zuvor aufgenommen haben. Ich sitze mit Odai, den Leibwächtern und Sukr Al-Takriti im Projekt Nummer 7, als es gesendet wird. Die Leibwächter lachen sich krumm, als sie das Video sehen, ebenso Odai. Nach meiner Selbstanklage, erklärt der Sprecher mit Grabesstimme: »Latif Yahia Latif hat mit diesem Verbrechen den Ruf Odai Saddam Husseins untergraben. Er wurde zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Exekution wird in den nächsten Tagen vollzogen.« Aus. Das war es. Odai und die Leibwächter johlen, klatschen, beglückwünschen sich gegenseitig zu dieser tollen Show. Mir ist jämmerlich zumute, denn seit dieser Durchsage ist Latif Yahia tot. Endgültig. Mich gibt es nicht mehr. Bisher war ich für meine Freunde nur ein Verschwundener, jetzt bin ich für sie zu einem mit Schande bedeckten Gehenkten geworden. Und meine Schande
kommt auch über meine Familie, über meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern. Ob meine Familie das wohl gesehen hat? Was wird meine Mutter denken? Wenn sie es nicht selbst gesehen hat, so werden es ihr Freunde und Nachbarn zutragen. Man wird sie anrufen, ihr mitteilen, dass ihr Sohn gerade im Fernsehen erklärt hat, er sei ein Verbrecher. Ich will mich nicht besser hinstellen, als ich bin. Sicher war auch ich verrückt nach den Waren in Kuwait. Ich gebe auch zu, dass ich einige Autos für mich selbst abgezweigt habe. Odai hat das aber nie erfahren, und ich hatte auch keine Skrupel dabei, denn der wahre Verbrecher ist Odai. Von ihm kam die Idee, er befahl uns, es durchzuführen. »Was passiert jetzt?«, frage ich Odai, »wie soll es nach dieser Fernsehshow weitergehen?«. »Das wird man dir mitteilen«, lacht Odai. Bevor er den Raum verlässt, frage ich ihn noch, ob ich meine Eltern informieren und ihnen mitteilen darf, dass ich noch lebe. Odai antwortet mit einem scharfen »Nein. Du wirst ab nun den Palast und das Areal um das Al-Hayat-Hochhaus nicht mehr verlassen.« In diesem Moment wird mir klar, dass ich, sollte ich Saddams Clan jemals lebend entkommen, auf keinen Fall im Irak bleiben kann. Meine bürgerliche Existenz ist vernichtet, und das ist schlimmer als der Tod. Ich denke daran, dass es im Irak Hunderte unglaubwürdiger Schauprozesse gegeben hat, klammere mich an die Intelligenz des irakischen Volkes: »Die Menschen müssen doch erkannt haben, dass auch das nur eine üble Inszenierung war, um die Familie des Präsidenten reinzuwaschen. Nein, nein, die Menschen haben diese Geschichte nicht geglaubt. Jeder in Bagdad weiß, dass Odai sich bereichert hat. Er hat es doch monatelang durchgezogen. Wie hätte ich das ohne sein Wissen machen können? Es ist unmöglich, dass meine Eltern, meine Freunde sich von dieser Fernseherklärung täuschen lassen!« Erstmals denke ich an Flucht, doch es kommt ganz anders.
14. KAPITEL Die Bomben fallen Seit meiner öffentlichen Schulderklärung stehe ich mehr oder weniger unter Hausarrest. Ich habe ständig Leibwächter um mich. Darf zwar zum Pool und in den Schießclub. Erhalte aber keine Informationen über das, was draußen passiert. Ich erfahre nicht, dass sich die Lage am Golf immer mehr zuspitzt, obwohl Saddam inzwischen alle westlichen Geiseln freigelassen hat. Meine Leibwächter erzählen mir nur, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, ein von den Amerikanern erpresster Pseudorat, dem Irak ein Ultimatum gesetzt hat: Bis zum 15. Januar 1991 müssen sich unsere Truppen aus Kuwait zurückziehen, sonst schlagen die alliierten Truppen gegen den Irak los, um Kuwait mit Gewalt zu befreien. Meine Leibwächter plappern in ihrer blinden Überheblichkeit alles nach, was ihnen vorgesagt wird. Genau wie Saddam Hussein sprechen sie vom Dschihad, dem Heiligen Krieg, obwohl sie gar nicht wissen, was das überhaupt bedeutet. Lachend und ihre Kalaschnikows schwingend, drohen sie damit, »jeden amerikanischen Soldaten, der ihnen in die Hände fallen sollte, zu erwürgen«. Oder: »Wenn Bush uns angreift, werden wir dem Aggressor eine Lektion erteilen. Wir werden die Mutter aller Schlachten gewinnen.« Leere Worte. Ich halte nichts von diesen Sprüchen, zumal ich weiß, dass die Männer in Wirklichkeit anders denken: »Nichts, als leere Worte. Wie sollen wir gegen den Rest der Welt bestehen können?« Fast alle im Irak denken so. Jeder hat Angst vor einem Krieg, keiner will dem da oben folgen. Und weil ich weiß, dass Saddam die Stimmung im Volk genau kennt, vermute ich eher, dass unser Präsident sich im letzten Moment aus Kuwait zurückziehen wird, weil er sich seines Volkes nicht mehr sicher sein kann. Wie ein Pokerspieler, der zwar bis zur letzten Sekunde mit eiserner Miene blufft, aber dann doch zurücksteckt, weil er die schlechteren Karten hat. Es kann Saddam nicht verborgen geblieben sein, dass sich immer mehr Menschen aus Bagdad in ihre Sommerhäuser auf dem Land zurückziehen, weil sie Angst haben und glauben, dass sie im Fall eines Angriffs dort eine größere, eine Überlebenschance haben.
Ab und zu höre ich von meinen Leibwächtern auch, dass im Westen unglaubliche Zahlen zu unserer Kampfstärke im Umlauf sind: »Amerikanische Medien«, sagen meine Leibwächter, »verkünden, dass mehr als eine halbe Million irakische Soldaten in Kuwait sitzen. Mit Tausenden von Panzern und neuestem Kriegsmaterial. Du warst in Kuwait, wie sieht es wirklich aus?« Meine Antwort enttäuscht sie: »Ich war in Kuwait, und ich kann nur sagen, dass es kaum mehr als eine Viertelmillion irakische Soldaten sein dürften, die sich in Kuwait eingegraben haben. Wahrscheinlich sogar weniger. Ihre Stellungen sind primitiv, und keiner von denen will kämpfen. Die würden am liebsten ihre Waffen wegwerfen und nach Hause abhauen.« Diese Aussage könnte meinen Tod bedeuten, wenn vorgesetzte Stellen davon erfahren würden. Meine Leibwächter behalten meinen einmaligen Frustrationsanfall aber für sich. Wahrscheinlich denken sie genauso wie ich. Januar 1991. Durch Zufall begegne ich vor dem Al-Hayat-Hochhaus Munem Hamad. Er fragt mich, wie es mir gehe, und ich antworte, dass ich einigermaßen okay sei, aber gerne neue Aufträge erhalten würde: »Seit Wochen tue ich nichts. Absolut nichts«, klage ich. Munem Hamad nickt verständnisvoll, antwortet kryptisch: »Du wirst früher und öfter zum Einsatz kommen, als es uns allen recht ist.« Dann geht er weiter. Ich kann mit Munem Hamads Antwort nichts anfangen. Was hat er gemeint? Welche Informationen hat Munem Hamad? Erst Tage später erfahre ich, was Munem Hamad zu diesem Zeitpunkt bereits wusste: Fast die gesamte Familie Saddam Husseins hat von einem Tag zum andern, in mehreren Autokonvois, über Jordanien den Irak verlassen. In einem Konvoi fuhren Odai und seine Leibwächter. In einem anderen seine Mutter Sajida und die Töchter Raghd und Rena. In einem dritten die jüngste Tochter Halla mit ihrem Mann Hakim. Auch die Familien zahlreicher Minister sind geflüchtet. Der gesamte Clan reiste von Jordanien weiter nach Algerien und von dort nach Brasilien. Odai flog von Brasilien zurück nach Genf, zu seinem Onkel Barzan Al-Takriti. Die Familien der Minister flüchten nach Mauretanien. Lediglich Saddam Hussein und sein Sohn Kusei bleiben im Irak. Diese Information wird durch die Aussagen mehrer Leibwächter im
Prinzip bestätigt, wenn auch nicht in allen Details. So heißt es einmal, Odai sei direkt von Amman in Jordanien in die Schweiz geflogen, und ein anderes Mal, er sei zuerst mit seiner Familie nach Brasilien, und von dort nach Genf. Diese Details sind in meiner jetzigen Situation nebensächlich. Wichtig ist nur, dass die Familien weg sind. Das bestätigt nämlich, dass die irakische Führungsspitze nun fest mit einem Krieg rechnet und die Verhandlungen, die Außenminister Tareq Aziz in Genf sowie der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Perez De Cuellar, in Bagdad führen, bereits bedeutungslos geworden sind. Saddam Hussein will sich nicht aus Kuwait zurückziehen. Er will den Krieg und droht abermals, dass er im Falle eines Angriffs der Alliierten Israel mit seinen Raketen beschießen lassen werde. In dieser Situation denke ich an meine Eltern: »Wohin werden sie gehen? Es gibt doch kaum Bunkeranlagen in Bagdad, und die wenigen sind für die Parteimitglieder reserviert. Hoffentlich fahren sie zu Verwandten in den Nordirak oder buchen für die nächsten Tage ein Zimmer in einem der Touristenhotels um Bagdad.« Abermals spreche ich meine Leibwächter auf die drohende Kriegsgefahr an. Ich will wissen, was im Land passiert. Sie bestätigen mir, dass im Fernsehen seit Tagen Instruktionsfilme über den Ablauf von Massenevakuierungen gezeigt werden, und plötzlich sind die Bodyguards nicht mehr so selbstsicher wie noch vor wenigen Tagen: »Mein Vater«, sagt einer, dessen Namen ich nicht nennen will, weil er mich immer anständig behandelt hat, »hat gesagt, dass der Irak einen zweiten Krieg nicht durchstehen kann. Dass der Irak überhaupt keine Überlebenschance hat. Die Amerikaner und Europäer werden uns vernichten.« In diesem Gespräch gibt er sogar zu, dass Teile seiner Familie zu Verwandten nach Amman ausreisen wollten. Sie erhielten aber keine Papiere für diese Ausreise. Erstmals bemerke ich, dass Angst aufkommt. 16. Januar 1991. Ein Schicksalstag. Der Countdown beginnt. Das Ultimatum der Alliierten ist abgelaufen. Es kann jede Minute losgehen. Meine Leibwächter bringen mir den Fernseher wieder, den sie mir Wochen zuvor abgenommen haben. Einer meiner Bewacher hat sogar ein Kurzwellenradio. Wir schalten es ein, wollen hören, was die Welt denkt, können aber nur einmal kurz Radio Monte Carlo hören. Die BBC-Weltnachrichten finden wir nicht.
Wir stellen den Fernseher an. CNN können wir natürlich nicht empfangen. Wir sind auf die irakischen Nachrichten angewiesen. Der Nachrichtensprecher sagt, dass Präsident Saddam Hussein sich in seinem Bunker im Hauptquartier aufhalte, und das irakische Volk den »Aggressoren tödliche Schläge« versetzen werde. Ich kann diese üble Propaganda nicht mehr hören. Aber klingt nicht auch aus der Stimme des Nachrichtensprechers die Angst heraus? Sicher, unser Volk kennt den Krieg, weiß, wie fürchterlich es zugeht, wenn Raketen einschlagen und Bomben explodieren. Aber jetzt? Wir gegen die ganze Welt? Wo zum Teufel ist mein Führerbunker? Meine Leibwächter beruhigen mich, sagen mir, dass wir sicher nicht im Al-Hayat-Hochhaus bleiben werden, wenn es wirklich zu einem Angriff kommen sollte. Wir konzentrieren uns wieder auf die Fernsehbilder. Sie zeigen Tausende von Demonstranten, die durch die Straße der Palästinenser ziehen. Sie schwingen Bilder Saddam Husseins, schreien »Down Bush, down Bush«. Dazwischen Jugendliche, die ihre Kalaschnikows gen Himmel strecken, als ob sie damit Kampfbomber vom Himmel holen könnten. Zwischen den Demonstranten sind Parteimitglieder auszumachen, die die Leute immer wieder anfeuern. Mich kotzen diese Anheizer an den Leuten steht doch die Angst ins Gesicht geschrieben! Und dabei wissen sie noch nicht einmal, dass die gesamte Familie Husseins längst über alle Berge ist. Sie haben keine Ahnung, dass seit Tagen aus dem Palastgelände alle wichtigen Einheiten abgezogen werden. Das Projekt 2000, der Hauptsitz Saddams, ist leer. Ständig werden von Sondereinheiten Akten abtransportiert. Es herrscht eine angespannte Ruhe. Jeder ist nervös, doch keiner will zugeben, dass er sich vor dem, was kommen wird, fürchtet. Meine Hauptangst ist: Wie wird Israel reagieren, wenn wir unsere Scud-Raketen auf Tel Aviv abfeuern? Werden die Israelis die Atombombe einsetzen, wenn Saddam Giftgas schickt? Kurz vor 19 Uhr läutet das Telefon. Einer meiner Bewacher hebt ab. Er wird kreidebleich, springt auf, schreit: »Wir müssen sofort in die Bunkeranlagen unter dem Nebenhaus!« Ich frage: »Warum?« Er: »Geheimdienstleute in Saudi-Arabien haben Informationen über verstärkte Aktivitäten auf den Flughäfen in Dahran. Es kann sein, dass sie heute Nacht Bagdad bombardieren.«
Auf dem Weg vom Al-Hayat zum Bunker sehe ich, dass Bagdad und das Palastgelände hell erleuchtet sind. Warum beleuchten sie alles, wenn sie mit einem Angriff rechnen? Das ist doch gegen jede Logik. Nehmen sie die Informationen aus Saudi-Arabien nicht ernst? Wieder kommen Zweifel in mir auf: Werden sie es wirklich tun? Sie tun es: Wir sind sechzehn Mann im Bunker. Die Stimmung ist nicht schlecht, obwohl wir alle wissen, dass das Palastgelände das Hauptziel eines Angriffes sein wird. Diesen Teil Bagdads werden sie bombardieren, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht. Wir sind das Hauptziel, hier ist der Sitz des Teufels. Quälend lange Stunden des Wartens. Um 2 Uhr 40 erschüttert die erste Explosion das Palastgelände. Es muss ein gewaltiger Einschlag gewesen sein, denn unser Bunker zittert, ächzt, es riecht nach Benzin. Hier kommen wir nicht mehr lebend raus, denke ich. Dann ein zweiter Einschlag, ein dritter, ein vierter. Die Bomben müssen in unmittelbarer Nähe runtergekommen sein. Wahrscheinlich im Projekt 2000. Was über uns passiert, können wir nur erahnen. Wir sitzen unter einer sechs Meter dicken Stahlbetondecke in einem atomsicheren Bunker. Spüren lediglich ein Vibrieren, nach dessen Stärke wir in etwa abschätzen können, ob die Raketen in unmittelbarer Nähe oder etwas weiter weg eingeschlagen haben. Die Angriffe kommen in Wellen. Fünf Minuten lang, jede Sekunde ein Einschlag, dann eine kurze Pause, dann wieder jede Sekunde dieses Vibrieren. Keiner von uns wagt es zuzugeben, aber wir haben alle Angst. Eine Angst, die überspielt wird. Wir lachen, scherzen, manche spielen demonstrativ Billard, obwohl inzwischen der Strom ausgefallen ist und wir nur mehr eine Notbeleuchtung haben. Einer sagt sarkastisch: »Hoffentlich haben die Franzosen, die diesen Bunker gebaut haben, nicht mit Stahlbeton gespart.« Dann wieder ein dumpfes Grollen, ein Zittern. Es ist, als ob die Betonwände das Grollen verstärkten und noch dumpfer und grauenvoller machten. Bis nach fünf Uhr früh rollt eine Welle nach der anderen über uns hinweg. Dann ist plötzlich Ruhe. Totenstille. Ein Offizier kommt in den Bunker. Er befiehlt uns, so rasch wie möglich unsere Uniformen aus- und braune Dschellabas anzuziehen, die uns von anderen Soldaten gebracht werden. Es dauert keine fünf Minuten, und wir sind fertig. Sie bringen uns nach oben. Über dem Palastgelände liegt eine dichte Rauchwolke. Es riecht verbrannt. Die Zer-
störungen sind erstaunlich gering. Dem Lärm im Bunker nach zu schließen, müsste hier alles bis auf die Grundmauern niedergebombt sein. Das ist aber nicht der Fall. Lediglich das Projekt 2000 ist völlig zerstört. Ein Offizier sagt mir, dass die erste Bombe Saddams Palast getroffen hat. Hektisch werden wir auf Militärtransporter verladen. Wir verlassen das Palastgelände. Es ist gespenstisch ruhig. Wir fahren in Richtung Al-Degel (ein kleiner Ort rund 60 Kilometer von Bagdad). Immer noch kaum Zerstörungen. »Was war hier los, was haben die bombardiert?«, frage ich den Offizier, doch der gibt keine Antwort. In Al-Degel werden wir in einer kleinen Reihenhaussiedlung untergebracht. Nichts deutet darauf hin, dass es sich dabei um eine militärische Anlage handelt. Die Häuser sehen aus wie Privathäuser, sind eingerichtet wie Privathäuser. Unter den einstöckigen Gebäuden befinden sich Bunkeranlagen. Ihre Zugänge liegen etwas außerhalb der Siedlung und sind durch Bäume so geschickt getarnt, dass man sie aus der Luft nicht ausmachen kann, obwohl sie so groß sind, dass selbst Sattelschlepper dort einfahren können. Bis Anfang Februar bleiben wir in Al-Degel. Vier Tage nach unserer Ankunft heißt es plötzlich, auch Saddam Hussein halte sich in dieser Anlage auf. Saddam Hussein war wirklich in Al-Degel. Er trägt wie wir keine Uniform, sein Konvoi besteht nur aus vier normalen Kleinwagen. Keine Mercedes-Limousinen, keine Aufsehen erregende Eskorte. Nur vier Kleinwagen. Ich bin auch ganz sicher, dass es Saddam Hussein selbst war und nicht sein Fidai Faoaz Al-Emari. Saddam bleibt drei Tage in Al-Degel. Dann bricht er plötzlich auf. Wir erfahren nicht wohin. Ende Januar 1991. Der Luftkrieg ist in vollem Gang. Wir haben uns längst an die Angriffswellen gewöhnt. Aus Angst ist eine Art Apathie geworden. Vor ein paar Tagen hörten wir Meldungen, dass Saddam Hussein seine Truppen in Kuwait besucht habe. Trotz der ständigen Angriffe der Alliierten, die den gesamten irakischen Luftraum kontrollieren. Jeder weiß das. Seit dem Tag donnern die Kampfbomber der Amerikaner im extremen Tieflug über unser Gebiet, und unsere Luftabwehr sieht fast machtlos zu. Das Wetter scheint unser einziger Verbündeter zu sein. Lediglich an Tagen mit schlechterem Wetter lässt die Flugaktivität etwas nach. Die einzigen Jubeltage sind für die Soldaten die, an denen Scud-
Raketen in Saudi-Arabien und in Israel einschlagen. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass diese Scud-Angriffe militärisch bedeutungslos sind. Uns wird nur mitgeteilt, dass wieder ein entscheidender Schlag gegen den zionistischen Feind gelungen sei und dass jeder Treffer von unseren palästinensischen Freunden frenetisch gefeiert werde. Die Berichte über die feiernden Palästinenser sollen den Menschen im Irak suggerieren, dass wir Freunde haben. Trotzdem sinkt die Moral der irakischen Armee von Tag zu Tag. Es ist einfach frustrierend, zusehen zu müssen, wie Tausende hilflos sterben, weil sie den Luftangriffen fast nichts entgegenzusetzen haben. Es sickern Gerüchte durch, wonach die Moral unserer Truppen in Kuwait nahe dem Nullpunkt sei. Sie bekämen keine Verpflegung, weil alle Nachschubrouten ständig bombardiert würden. Einige unserer Männer sollen sogar desertiert sein. Ich erfahre nichts Genaues. Tatsache ist aber, dass die Moral denkbar schlecht ist. Nicht nur in Kuwait, sondern auch im Irak. Dies auch, weil inzwischen immer mehr bekannt wird, dass sich fast die gesamte Familie Saddam Husseins im Ausland befindet. In den Kurzwellensendungen westlicher Radiostationen wird mehrmals berichtet, dass sich Odai in Nachtlokalen in Genf vergnügte, während im Irak die Menschen sterben müssen. Das irakische Radio kontert: Reine Propaganda westlicher Nachrichtendienste und ihrer Sender in Saudi-Arabien. Tatsächlich gibt es diese Radiosender, und sie sind auch im Irak zu empfangen. Sie rufen ständig dazu auf, die Waffen niederzulegen, aufzugegeben, sich offen gegen Saddam Hussein zu stellen. 28. Januar 1991. Rokan Al-Takriti, einer der engsten Vertrauten Saddam Husseins, holt mich höchstpersönlich ab. Er bringt mich in einen unterirdischen Bunker, rund 20 Kilometer vom internationalen Flughafen in Bagdad entfernt. Die Einfahrt zu dem Bunker liegt geschickt getarnt neben Privathäusern. Davor einige Bäume. Obwohl wir uns mitten im Krieg befinden, strahlt der Ort eine unglaubliche Ruhe aus. Kein einziges Gebäude ist beschädigt, kein Bombenkrater ist zu sehen. Rokan Al-Takriti bringt mich ins Innere des Bunkers. Zuerst eine Halle. Dort stehen zwei MiG-29-Kampfbomber. Daneben einige Militärfahrzeuge. Mannschaftstransporter. Wir durchqueren vier Zimmer. Sie haben Stahltüren, rotbraun gestrichen. Danach geht es über eine Art Wendeltreppe einen Stock tiefer.
Ein Checkpoint, wie ich ihn gesehen habe, als ich Saddam Hussein vorgestellt wurde. Ich werde kurz durchsucht, dann bringen sie mich in eine Art Konferenzzimmer. Ein langer Tisch, zwei Dutzend Stühle aus Holz mit dunkelgrüner Polsterung. Die Tür zu einem Nebenraum steht offen. Ich sehe elektronische Anlagen, Telefone, Computerbildschirme. Rokan schließt die Tür, ich warte. Plötzlich geht die Tür zum Nebenraum wieder auf. Kusei Saddam Hussein kommt herein. Kurz nach ihm betreten Hussein Kamel Hassan und der Präsident selbst den Raum. Alle nehmen Platz. Hussein Kamel sitzt links von Saddam Hussein, Kusei rechts. Ich stehe neben Rokan, bin rund fünf Meter von Saddam Hussein entfernt. Er blickt mich an, und ich bin erschrocken über sein katastrophales Aussehen: eingefallene Augen, aufgeschwemmtes Gesicht, die Hände zittern leicht. Der Präsident sagt nur: »Ich will, dass du mit Hussein Kamel nach Kuwait zu unseren Truppen fährst. Mache deine Sache gut, mein Sohn.« Saddams ohnehin schon leise, weinerliche Stimme klingt wie die eines alten, kranken Mannes. Er spricht zitternd, erschöpft. Als ob er um Atem ränge. Danach werde ich von Rokan wieder hinausgeführt. Saddam bleibt zurück, ich sehe noch, wie er sich zu seinem Sohn beugt und Kusei etwas erklärt. 29. Januar, kurz nach 21 Uhr. Unsere Fahrt nach Kuwait beginnt. Wir fahren im Konvoi. Gefechtsmäßig. Das bedeutet: ohne Licht. Lediglich der Fahrer des ersten Wagens schaltet mit der Lichthupe immer wieder seine bis auf einen kleinen Schlitz verklebten Scheinwerfer ein. Die übrigen Fahrzeuge orientieren sich an den Bremslichtern der vorausfahrenden Autos. Verliert ein Lenker die Orientierung, darf er kurz mit der Lichthupe aufblinken. Unsere Chauffeure beherrschen das gefechtsmäßige Autofahren so perfekt, dass ihnen das Mondlicht fast Licht genug ist, um jede Karambolage zu vermeiden. Begleitet werden Hussein Kamel und ich von 75 Leibwächtern. Die Fahrt verläuft ruhig. Nur manchmal sehen wir am Horizont einen organgeroten Feuerschein. Es ist, als ob der Horizont brennen würde. Bombenangriffe gegen die Republikanischen Garden, die sich aus Kuwait in den Irak zurückgezogen haben. In den frühen Morgenstunden erreichen wir Basra. Die Stadt ist
schwer zerstört. Von dort geht es weiter nach Safwan, dem großen irakischen Luftwaffenstützpunkt an der Grenze zu Kuwait. Wir fahren aber zu einem Lager außerhalb. Ich trage die schwarze Uniform des Präsidentensohnes, habe die Ray-Ban-Brille auf, nur die Havanna fehlt. Die ranghöchsten Lagerkommandanten empfangen uns. Ich habe mich eher im Hintergrund zu halten. Wir werden in die unterirdischen Gefechtsstände gebracht, die einigermaßen intakt wirken, obwohl seit mehr als zwei Wochen Tag für Tag Angriffe gegen diese Stellungen geflogen werden. Hussein Kamel informiert sich über den Zustand der Truppen und erhält von den Kommandanten einige Pläne und Unterlagen. Die Pläne sind in einer brauen Aktentasche. Hussein Kamel sieht sie kurz durch. Keiner der Kommandanten erwähnt, dass die Moral der Männer denkbar schlecht und die Versorgung mit Lebensmitteln katastrophal ist. Verschwiegen werden auch die Terrorakte, die schiitische Deserteure gegen die eigenen Truppen durchführen. Wir bekommen Tee serviert, man zeigt uns die Essensrationen, die Waffen, über die die Truppe verfügt. Die Kommandanten erwähnen auch Tabun und Sarin. Chemische Kampfstoffe, mit denen jede Waffe, vom Granatwerfer bis zur SAM-Rakete, bestückt werden kann. Aber kein Wort darüber, dass keiner der normalen Soldaten mit Gasmasken ausgestattet ist. Bevor wir die Stellungen verlassen, haben unsere Propaganda-Männer ihre Arbeit zu leisten. Wir werden von zwei Kameraleuten gefilmt, vier Fotografen halten den gesamten Besuch fest: Odai im Gespräch mit den Soldaten, Odai auf einer Luftabwehrbatterie, Odai am Funkgerät, Odai beim Essen mit den Soldaten. Meine Kameramänner haben dazu die Soldaten ausgewählt, deren Uniformen halbwegs sauber sind und die nicht allzu abgekämpft aussehen. Sie schreien »Saddam Hussein, Saddam Hussein« in die Kamera und »Down Bush, down Bush«. Ich halte vor den Soldaten eine kurze, vorbereitete Rede, gebe Durchhalteparolen aus. Als ich zur Kompanie 11 Magawir spreche, entdecke ich in der ersten Reihe einen ehemaligen Kameraden, mit dem ich 1987 im Iran-Irak-Krieg gekämpft habe. Er war mit mir auf dem Beobachtungsposten in den Sümpfen von Basra. Mein Freund starrt mich lange an. Er fixiert mich regelrecht und macht ein Gesicht, als ob er mich wiedererkennen würde. Ich erwidere seinen Blick, verziehe meine Mundwinkel zu einem Lächeln, und er lächelt zurück. Für Sekundenbruchteile denke ich daran, ihn zu
umarmen. Ich tue es nicht. Die Bilder von meinem Frontbesuch erscheinen in allen irakischen Zeitungen. Am umfangreichsten berichten al-Iraq und al-Thawara. In großer Aufmachung schreiben sie über den Besuch des Präsidentensohnes bei den tapferen Truppen an der Front. Der Mut Odais wird gewürdigt, überall wird erwähnt, wie unerschrocken er während der teuflischen Luftangriffe, die ein Verbrechen gegen das irakische Volk darstellen, mit den Truppen zusammengegessen habe. Damit soll wohl suggeriert werden, dass die Männer genügend Verpflegung hätten. »Seht her«, titelt eine Zeitung, »Odai, der große Sohn des Volkes, kämpft mit den tapferen Truppen gegen den imperialistischen amerikanischen Feind.« Miese, einfallslose Propaganda. Die folgende Nacht verbringen wir in einer Schule, wenige Kilometer vor Basra. Hussein Kamel Hassan meidet diese Stadt, in der es seit Tagen brodelt. Immer wieder kommt es dort zu Anschlägen fundamentalistischer Schiiten gegen die Republikanischen Garden. Reihenweise werden angebliche Attentäter festgenommen und entweder sofort getötet oder in die Gefängnisse Bagdads gebracht. Geleitet werden die schiitischen Aufständischen von dem im Iran residierenden Mohammad Bakr al-Hakim. In den irakischen Zeitungen steht kein Wort über die Probleme mit den Schiiten im Süden. Die Nacht ist ruhig. Hussein Kamel Hassan bricht noch während der Nacht auf, er will so rasch wie möglich zurück nach Bagdad, um dem Präsidenten Bericht zu erstatten. Ich bleibe mit 17 Leibwächtern zurück. Am nächsten Tag fahren wir nach Basra. Ein Himmelfahrtskommando. Bei einem Checkpoint werden wir informiert, dass sich in der Stadt mehrere Widerstandsgruppen gebildet haben. Es soll auch Demonstrationen geben. Dennoch wollen wir in die Stadt. Da passiert es: Schüsse von den Sandhügeln neben der Straße, Maschinenpistolen rattern, Handgranaten explodieren. Wir stoppen, erwidern das Feuer. Das Fahrzeug, das meine linke Flanke absichern sollte, wird von einer Handgranate getroffen, geht in Flammen auf. Dann ein fürchterlicher Knall, die gepanzerte Frontscheibe meines Wagens birst in tausend Stücke. Ich, Odai Saddam Hussein, der verhasste Präsidentensohn, das Ziel des Anschlags, werde von Granatsplittern getroffen. An der Schulter, an der rechten Hand. Zwei Finger meiner rechten Hand hängen nur mehr an einigen Gewebefetzen. Überall Blut. Ich spüre keine Schmerzen, höre das Krachen und Knattern der Kalaschnikows
meiner Leibwächter. Längst haben meine Männer das Feuer erwidert. Ich sacke unter das Lenkrad. Wie durch einen grauen Schleier sehe ich, dass jemand meine Wagentür aufreißt. Leibwächter zerren mich aus dem Mercedes in ihr Auto, wir brausen davon. Richtung Bagdad. Erst jetzt spüre ich das Brennen in meiner Schulter, an meinem Kopf, an der Hüfte, an der rechten Hand. Nach zwanzig, dreißig Kilometern rasender Fahrt halten meine Leibwächter an. Notdürftig werde ich verbunden. Am schlimmsten ist meine Verletzung an der Hand. Sie binden mir den Arm ab, damit ich nicht zuviel Blut verliere. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Fahrt zurück nach Bagdad dauert. Sie bringen mich in ein normales Krankenhaus, ich werde operiert. Als ich aus der Narkose aufwache, teilen mir die Ärzte mit, dass mein rechter kleiner Finger wahrscheinlich amputiert werden muss. Eine Katastrophe. Nicht für mich, sondern für Odai Saddam Hussein, der sich noch immer in Genf amüsiert. In den folgenden Tagen werde ich drei weitere Male operiert. Mit allen Mitteln versuchen die Chirurgen, meinen Finger zu retten. Die Operationen, das behaupten zumindest die Ärzte, sind zwar gut verlaufen, aber aufgrund der schlechten hygienischen Zustände in dem Krankenhaus bekomme ich eine schwere Entzündung an der rechten Hand. Was aber noch weitaus schlimmer ist: Der Feuerüberfall auf den Konvoi des Präsidentensohnes wird bekannt. Vermutlich haben die schiitischen Rebellen ihren Erfolg ihrer Zentrale im Iran gemeldet oder den Amerikanern selbst. Rund zehn Tage nach dem Attentat berichten jedenfalls der USNachrichtensender Voice of America und Radio Monte Carlo, die über Kurzwelle auch im Irak zu empfangen sind, »dass der irakische Präsidentensohn Odai Saddam Hussein bei einem Feuerüberfall schiitischer Rebellen in Basra getötet worden ist«. Diese Meldungen werden von allen großen internationalen Nachrichtenagenturen übernommen und lösen in der Propagandaabteilung des Präsidentenclans Panikstimmung aus. Erstens, weil sie den Aufständischen Aufwind geben. Zweitens, weil sie bestätigen, dass es im Irak einen offenen Widerstand gegen den Präsidenten gibt, was bisher immer geleugnet wurde. Drittens, weil eine Bodenoffensive gegen unsere Truppen in Kuwait unmittelbar bevorsteht und Saddam in dieser Situation nichts weniger brauchen kann als solche Meldungen, die den Mythos von der Unbesiegbarkeit des Präsidentenclans erschüttern könnten.
15. KAPITEL Die Folterqualen Kapitän Sabri Kamel Matar war ein guter Mann. Jetzt ist er tot. Ebenso der Erste Leutnant Hussein Fath-Allah Mohammed, Leutnant Basehir Yunes Al-Takriti und Leutnant Nazem Hilal-Al-Douri. Seit meiner Femseh-Selbstanklage im November 1990 haben mich diese vier Männer bewacht. Bewacht ist möglicherweise nicht der richtige Ausdruck. Sie haben mit mir gelebt, waren meine Bodyguards und meine Aufpasser, meine Freunde und Feinde zugleich. Wir waren zusammen im Bunker, als das Bombardement Bagdads begann, flüchteten gemeinsam nach Al-Degel, sie waren dabei, als ich unsere Truppen in Safwan besuchte, und sie waren es, die das Feuer eröffneten, als wir in Basra aus dem Hinterhalt von schiitischen Rebellen angegriffen wurden. Die vier Offiziere starben, weil sie mich beschützen wollten. Sie sprangen aus ihren Autos, versuchten die Hügel, hinter denen die Rebellen sich verschanzt hatten, zu stürmen. Als erster fiel Sabri Kamel Matar. Ihn erwischte eine Salve aus einer Kalaschnikow. Die drei anderen wurden durch Granatsplitter so schwer verletzt, dass ihnen nicht mehr geholfen werden konnte. Wie viele Rebellen durch meine Leibwächter getötet wurden, weiß ich bis heute nicht. Und hätten mich nicht zwei meiner Leibwächter besucht und mir die ganze Geschichte von Basra noch einmal erzählt, würde ich nicht einmal wissen, dass diese vier Offiziere ums Leben gekommen sind. Ich liege noch immer im Krankenhaus. Meine Entzündung in der rechten Hand hat sich noch nicht gebessert. Die Wunden am Kopf und an der Hüfte sind aber einigermaßen verheilt. Rokan Al-Takriti drängt die Ärzte. »Latif muss so rasch wie möglich wieder einsatzbereit sein.« Wenn es nicht anders gehe, müsse ich eben mit eingegipster Hand an die Front fahren. Saddam braucht Erfolge, positive Medienberichte, und da gehört es eben dazu, dass der Präsidentensohn sich mit den Soldaten zeigt. Aber Odai ist noch immer in Genf, obwohl ihn die Eildepesche mit der Aufforderung, so rasch wie möglich nach Bagdad zurückzukommen, längst erreicht haben muss. Im Krankenhaus, in ganz Bagdad, überall im Land wird bereits darüber gesprochen, dass täglich Soldaten desertieren und überlaufen.
Die Meldungen, die wir von der Front bekommen, sind der blanke Horror. Die Alliierten fliegen teilweise bis zu achthundert Angriffe pro Tag gegen die Republikanischen Garden und die Frontstellungen der normalen Armee. Die Soldaten kommen tagelang überhaupt nicht mehr aus ihren Bunkeranlagen heraus. Sie haben sich samt ihren Panzern eingegraben, genauso wie jene Einheiten, die ich in Safwan besucht habe. Alle Geschütze, alle Panzer - alles war tief im Sand eingegraben. Im Krankenhaus erfahre ich noch ein weiteres Detail: Als ich am 29. Januar in Safwan war, führte die 5. motorisierte Division an der kuwaitisch-saudischen Grenze an drei Stellen Panzerangriffe gegen die alliierten Stellungen durch. Eine Panzerkolonne wurde relativ rasch zurückgeschlagen, den beiden anderen gelang es aber, bis nach Al Khafji, einem Ölverarbeitungszentrum an der saudischen Küste, dreizehn Kilometer südlich der kuwaitischen Grenze, vorzudringen. Erstmals hatten also irakische Einheiten saudischen Boden besetzt. Und unsere Truppen konnten die Stadt Khafji auch einige Tage lang halten. Trotzten der ganzen Welt. Fast vierhundert Panzer und gepanzerte Truppentransporter schickte Saddam in diesen Kessel. Eine militärisch völlig sinnlose Aktion, aber publizistisch perfekt ausschlacht-bar. Zuerst die Bilder mit dem Präsidentensohn bei den Truppen an der Front, dann die Meldung: Irakische Truppen haben saudisches Gebiet, sogar eine ganze Stadt eingenommen. Kein Mensch im Irak wusste zu diesem Zeitpunkt, dass Al Khafji eine Geisterstadt war, deren 20000 Einwohner geflohen waren. Saddams Medienmaschine arbeitet also noch immer perfekt - nur der Feuerüberfall auf mich bringt die gesamte Propagandastrategie etwas durcheinander. 16. Februar 1991. Odai wird aus Genf nach Bagdad zurückbeordert. Er fliegt über Rom nach Amman in Jordanien. Dort wird er von irakischen Geheimdienstleuten abgeholt. Sie bringen ihn in einem normalen Wagen über die Autobahn, die den Irak mit Jordanien verbindet, nach Bagdad. Sie ist durch die zahlreichen Bombenangriffe zwar schwer beschädigt, aber noch immer befahrbar, wenn auch, wegen der ständigen Luftangriffe, unter Lebensgefahr. Odai kommt nach einem Gespräch mit seinem Vater unverzüglich ins Krankenhaus. Aber sein Interesse gilt nicht mir oder den zahlreichen anderen Verwunde-
ten, sondern meinem kleinen Finger. Er besucht meine behandelnden Ärzte. Sie haben einen wochenlangen Dauereinsatz hinter sich, haben Tausende operiert und versorgt. Das kümmert ihn einen Dreck. Er lässt sich von ihnen lange und ganz genau erklären, wo das Problem bei der Behandlung meines Finger liege. Die Ärzte weisen Odai mehrmals darauf hin, dass der kleine Finger meiner rechten Hand nur durch eine aufwändige plastische Operation zu retten sei. Sie sprechen es zwar nicht aus, aber es ist nicht schwer zu erraten, was sie denken: »Hier sterben Kinder, Frauen, Soldaten, und wir sollen einen kleinen Finger retten?« Odai bleibt während des gesamten Gespräches völlig ruhig. Er heuchelt Interesse. Dann steht er auf und erklärt mit der ihm eigenen hochfahrenden Art: »Wenn Sie diesen kleinen Finger nicht retten können, bringe ich sie alle um. Eigenhändig.« Dann verschwindet er. Nicht die Sorge um mich spricht aus dieser Drohung. Es geht ihm einzig und allein um sich. Wenn sein Double einen Finger verliert müsste man ihm dann nicht auch einen amputieren? Vier Tage später, es ist der 20. Februar 1991, holen sie mich in den frühen Morgenstunden aus dem Krankenhaus ab. Ich bin noch immer schwach auf den Beinen, trotzdem befehlen sie mir, die schwarze Uniform des Präsidentensohnes anzuziehen. Wir müssen wieder nach Basra. Sollte es die Situation zulassen, ist sogar ein Besuch der Stellungen der Republikanischen Garden in Nordkuwait geplant. Die Panzerdivisionen Tawakalna, Hammurabi und Medina liegen seit mehr als einem Monat unter schwerstem Beschuss. Ein Besuch dieser Einheiten, der Speerspitze der irakischen Armee, wäre von größter Bedeutung, betonen meine Kommandanten. Es kommt ganz anders: Wir brauchen bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages, um überhaupt in die Nähe von Basra zu gelangen. Immer wieder müssen wir die Straße verlassen, die Alliierten fliegen einen Angriff nach dem anderen. Es herrscht ein völliges Chaos. Ständig treffen wir auf Einheiten, die sich aus den Stellungen an der irakisch-kuwaitischen Grenze zurückziehen. Der Rückzug erfolgt nicht geordnet, sondern planlos, überstürzt. Es sieht eher nach einer Flucht als nach einem Rückzug aus. Niemand kann uns genau sagen, welche Brücken noch intakt sind, ob es überhaupt eine Chance gibt, die Republikanischen
zu erreichen. In unserem Autoradio hören wir, dass Außenminister Tareq Aziz aus Moskau nach Bagdad zurückgekehrt ist und erklärt hat, Irak sei bereit, sich aus Kuwait zurückzuziehen. In den gleichen Nachrichten hören wir aber auch, dass die Amerikaner die bedingungslose Kapitulation des Iraks fordern. Einer der Kameramänner, ein ernster Mann, der schon die Giftgasangriffe im Iran-Irak-Krieg gefilmt hatte, kommentiert: »Wir Araber akzeptieren kein Ultimatum. Lieber sterben wir.« Der Kameramann hat recht: Unser Präsident lehnt eine Kapitulation ab. Damit ist klar, dass die Bodenoffensive gegen unsere Truppen unmittelbar bevorsteht. Weitere Indizien für einen baldigen Angriff der Amerikaner sind die Flugblätter, die überall entlang der Straße vom Himmel flattern. Sie erklären genau, wie sich die irakischen Soldaten zu ergeben hätten. Dass ihnen in der Kriegsgefangenschaft nichts passieren werde, und dass bereits Tausende unserer Soldaten zu den Amerikanern und Saudis übergelaufen seien. Auf einem Flugzettel sind sogar Abbildungen, die veranschaulichen, wie man sich zu ergeben habe. Wir erreichen die Republikanischen Garden nicht. Bleiben nur rund zwei Stunden bei einem Stützpunkt auf einem kleinen Hügel in der Nähe von Safwan. Wir haben kaum Zeit, unsere Foto- und Filmaufnahmen durchzuziehen, da ständig Angriffe gegen dieses Gebiet geflogen werden. Die Männer sagen uns nur, dass die Amerikaner mit B52-Bombern sogar Flächenbombardements durchführen, weil sich in der Nähe dieses Hügel stationäre Scud-Abschussbasen befinden. Von hier werden die irakischen Raketen in Richtung Ost-Saudi-Arabien abgefeuert. Der Weg zurück nach Bagdad ist weniger beschwerlich. Mich schmerzt nur mein Arm, ich bin erschöpft, müde. Bereits zwei Stunden nach unserer Rückkehr werden die Aufnahmen, die unsere Kameramänner gemacht haben, gesendet. Zuerst bin ich bei den Truppen zu sehen. Der Sprecher erklärt, dass ich die tapferen Soldaten zum Durchhalten aufgefordert habe. Man sieht keine Nahaufnahme von mir; die verbundene rechte Hand, die ich in einer Schlinge tragen muss, kommt nur einmal kurz ins Bild. Ich wundere mich darüber, dass dieser Bericht nicht ausführlicher ist, schließlich haben wir uns für diese Aufnahmen in Lebensgefahr begeben. Kurz danach weiß ich, warum das Material über meinen Einsatz nicht so staatstragend aufbereitet wurde wie sonst: Während unserer
Fahrt in den Süden sind im Studio Aufnahmen vom richtigen Odai gemacht worden, der dabei auch seinen Arm in der Schlinge trug, einen Verband am Kopf hatte und mit fester Stimme erklärte: »Die Schüsse der Rebellen haben mich zwar getroffen, aber nur leicht verletzt. Wie alle sehen können, bin ich nicht tot.« Ich sehe diese miese Inszenierung im Krankenhaus. Die Zeitungen kauen die Wiederauferstehung Odais bis zum Erbrechen wieder. Ein sinnloses Unterfangen. Erstens, weil es kaum irgendwo im Land Strom gibt und die Menschen diese Fernsehansprache daher sowieso nicht sehen können. Und zweitens, weil am 24. Februar 1991, um vier Uhr früh, die Bodenoffensive gegen unsere Truppen in Kuwait beginnt. Die alliierte Militärmaschinerie überrollt unsere stolze Armee mit atemberaubender Geschwindigkeit. Bereits am ersten Tag ergeben sich fast zwanzigtausend irakische Soldaten dem Feind. Davon hören wir nichts in unseren Nachrichten. Es gibt fast überhaupt keine Information aus Kuwait; offensichtlich ist die Kommunikation zwischen Bagdad und Basra unterbrochen. In Bagdad selbst kommt es zu keinen Bombenangriffen mehr, obwohl US-Kampfbomber Tag und Nacht die Hauptstadt überfliegen. Im extremen Tieflug. Sie fliegen mit Unterschallgeschwindigkeit ein und durchbrechen direkt über der Stadt die Schallmauer. Ein höllisches Spektakel - der Überschallknall klingt wie einschlagende Bomben. Die Amerikaner spielen mit uns regelrecht Katz und Maus. Im Staatsfunk wird stündlich eine Rede Saddam Husseins übertragen. Er spricht mit seiner weinerlichen Stimme: »Der verachtungswürdige Bush und der verräterische Fahd haben an diesem Morgen ihre Landoffensive begonnen. Auf der ganzen Front greifen sie unser Land und unser Volk an. Schande über sie. Aber sie werden entdecken, dass das große, heldenhafte Volk des Iraks ihnen überlegen ist. Kämpfe, oh tapferes Volk des Iraks. Oh, ihr Söhne der Mutter aller Schlachten, kämpft zum Schutze eurer Frauen und Kinder, denn ihr steht an der Schwelle zum allerhöchsten Ruhm, zur Ehre Gottes. Die Waffen, die sie gebaut haben, um gegen uns zu kämpfen, werden ihnen aus den Händen gleiten, und dann wird es nur mehr ein Kampf zwischen Gläubigen und Ungläubigen sein. Kämpft gegen sie. Seid gnadenlos gegen sie. Habt kein Mitleid mit ihnen. Denn Gott will, dass der Gläubige den Ungläubigen überwindet.« Mir läuft der kalte Schauer über den Rücken, als ich das höre. Die Ärzte, die, wie ich, gebannt vor den Radiogeräten gewartet hatten (die
Ansprache war angekündigt), schweigen, als Saddam verstummt und Militärmusik und patriotische Lieder erklingen. Saddams ergreifende Worte nützen nun auch nichts mehr. Vier Tage später ist der Golfkrieg, der unser Land zerstört hat, zu Ende. 60000 unserer Männer ergeben sich kampflos; in Safwan, in jenen Stellungen an der kuwaitisch-irakischen Grenze, denen ich meinen ersten Frontbesuch während des Krieges abgestattet hatte, beginnen am 3. März 1991 die Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Saddam hat die völlig unbekannten Dreisternegeneräle Sultan Hashim Ahmad, stellvertretender Stabschef im Verteidigungsministerium, und Salah Abud Mahmud, Kommandeur des III. Korps, dorthin geschickt. Unterdessen beginnt in Bagdad ein anderes Unternehmen: Saddam will aufräumen. Unter seinen Gegnern. Unsere im Südirak stationierte Armee scheint sich plötzlich aufzulösen. Es gibt keine Befehlsstrukturen mehr, früher loyale Offiziere meutern, und im Kessel von Basra, wo es schon während der Luftangriffe heftigen Widerstand gegen Saddam gab und die Armee einige ihrer schwersten Niederlagen erlitt, reißen aufgebrachte Soldaten die Riesenportraits Saddam Husseins von den Hauswänden. Überall werden die Hauptquartiere der Baath-Partei gestürmt, und die meuternden Soldaten machen Jagd auf Funktionäre und Geheimpolizisten. Einige Tage sieht es so aus, als ob diese Aufstände sich zu einer gewaltigen Revolution entwickeln könnten, die das verhasste Saddam-Regime hinwegfegen würde. In Basra gelingt es den Meuternden sogar, sämtliche Gefängnisse zu stürmen und die Straflager zu öffnen. Es bildet sich eine Art Befreiungsbewegung, und die Unruhen breiten sich rasch aus. Völlig überraschend wird der ganze Süden und Südosten des Landes zum Schauplatz einer sich langsam ausdehnenden Revolution. Der Aufstand im Süden wird von der Obersten Versammlung der islamischen Revolution im Irak geleitet. Führer dieser Bewegung ist das Oberhaupt der irakischen Schiiten, Mohammad Bakr Al-Hakim. Im Nordirak versuchen die kurdischen Pesh-Mergas unter der Führung von Massoud Barsani und Jalal Talabani, Irakisch-Kurdistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Lage ist aber so unübersichtlich, dass kaum jemand sagen kann, welche Gebiete Saddam Hussein und seine Republikanischen Garden noch kontrollieren und welche Gebiete von den Aufständi-
schen und Meuterern beherrscht werden. Nur eines scheint sicher: Wirklich loyal hinter dem Präsidenten stehen lediglich jene Garnisonen, die während des gesamten Krieges im Raum Bagdad stationiert waren, sowie das Gros der Republikanischen Garden. Als die Unruhen sogar auf das Gebiet um Kerbala übergreifen, ruft Saddam Hussein in Bagdad jene Männer zusammen, auf die er selbst in dieser Situation noch blind vertrauen kann: seine Söhne Odai und Kusei, seine Schwiegersöhne Hussein Kamel Hassan und Saddam Kamel Hassan und Ali Hassan Al-Majid, den Chemiker, sowie General Bashar AlSabani, Direktor des obersten Geheimdienstes. Diese sechs Männer und Saddam Hussein selbst bilden das Oberkommando im Kampf gegen die Rebellen. Mit allen Mitteln soll versucht werden, den Aufstand niederzuschlagen. Kusei Saddam Hussein und Bashar Al-Sabani übernehmen das Kommando über alle Geheimdienste. Odai wird von seinem Vater zum Vorsitzenden des Journalistenverbandes befördert. Damit ist er Chef aller Medien im Irak. Seine erste Amtshandlung ist die Erhöhung aller Journalistengehälter um 25 Prozent. Außerdem stellt er allen Journalisten Grund und Boden für den Hausbau zur Verfügung und erklärt: »Mein Ziel ist die Erhaltung und der Schutz der Redefreiheit sowie die Beobachtung ungesunder Erscheinungen.« Jedem im Irak ist klar, was Odai mit ungesunden Erscheinungen meint. Wer sich nicht an die vom Palast vorgegebenen Regeln hält und nicht bedingungslos Propagandaschriften für Saddam Hussein abfasst, wird liquidiert. Hussein Kamel Hassan und Saddam Kamel Hassan kontrollieren je zehn intakte Divisionen, die nicht in den Golfkrieg involviert waren. Ali Hassan Al-Majid sind die acht Regimenter der Republikanischen Garden unterstellt. Diese Armee reicht aus, um gegen die Schiiten im Süden und die Kurden im Norden erfolgreich vorzugehen. Die Mittel, zu denen gegriffen wird, sind von kaum beschreibbarer Brutalität. Zuerst erscheinen in der Regierungszeitung al-Iraq und in al-Thawra Kommuniqués, deren Deutlichkeit durch nichts unterstrichen werden muss: »Warnung an alle, die glauben, sie könnten die nationale Einheit des Iraks in Frage stellen. Die Staatsmacht und das Volk werden euch zermalmen! Jeder, der versucht, die Sicherheit der irakischen Revolution zu untergraben, ist ein Verräter und ein Landsknecht der Feinde. Alle Verräter werden bezahlen, die Strafe wird sie ereilen, wo immer sie sich verstecken.«
Trotz dieses Aufrufs gehen die Unruhen weiter, sie greifen teilweise sogar auf Bagdad über. Straßensperren werden errichtet, Häuser mit Anti-Saddam-Parolen beschmiert. Die Konter-Revolution will unbedingt Bagdad mobilisieren, um Saddam endlich vom Thron zu stoßen. Doch Saddam schlägt zurück. Einheiten der Republikanischen Garden unter Ali Hassan Al-Majid wüten in Basra und in Kerbala. Meuternde Soldaten niedrigen Dienstranges werden sofort erschossen, die Anführer entweder in den Straßen aufgehängt oder in die Gefängnisse Bagdads gebracht. 106 schiitische Führer, darunter Abu Al-Kassem Al-Khawai, werden von Ali Hassan Al-Majid und Kusei Saddam Hussein einer Spezialbehandlung unterzogen. Vor allem auf Al-Khawai haben sie es abgesehen. Er gilt als religiöses Oberhaupt der Schiiten im Irak. Man befiehlt ihm, den schiitischen Rebellen mitzuteilen, sich sofort dem Regime Saddam Husseins zu unterstellen und alle erbeuteten Waffen abzugeben. Der fünfundneunzigjährige Mann weigert sich, kontert: »Ich sage meinen Männern, zerreißt die Bilder des Tyrannen. Zerbrecht seine Statuen. Sperrt den Gottlosen aus den Moscheen.« Das ist sein Todesurteil. Sie überschütten ihn mit Benzin und zünden ihn an. Von den anderen Verhafteten wollen sie die Namen und Befehlsstrukturen der schiitischen Revolutionäre erfahren. Sie stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Kusei Saddam Hussein lässt jeden Zehnten von ihnen vortreten, sprüht ihnen mit einer Spraydose Nervengift ins Gesicht, das die Atemorgane lähmt - ein grauenhafter Tod. Anderen werden die Augäpfel herausgerissen, Ohren und Nasen abgeschnitten, Arme und Beine abgeschlagen. Für die Gefängnisse Al-Daghil und Al-Raduanie ist wiederum Saddam Kamel zuständig, der mit der zweitältesten Tochter des Präsidenten, Rena, verheiratet ist. Am 1. April, die Angst vor Attentaten hat sich in der Präsidentenfamilie bereits zur Paranoia gesteigert, lässt mich Odais Bruder Kusei holen. Im Gegensatz zu Odai, der sich in diesen Tagen völlig zurückgezogen hat, nimmt Kusei aktiv am Kampf gegen die Aufständischen teil. Gemeinsam fahren wir nach Al-Radwania, jenen Bezirk in Bagdad, in dem sich eine der berüchtigsten Kasernen der Geheimpolizei befindet. Die Zustände in dem Gefängnis dort sind katastrophal. Die Zellen sind vollgestopft mit schiitischen und kurdischen Rebellen. Die Männer sind abgemagert bis auf die Knochen, völlig verlaust, die meisten können sich kaum mehr auf den Beinen halten. Es ist stickig, unerträglich
heiß. Ich kann nicht einmal schätzen, wie viele Menschen hier wie Schlachtvieh festgehalten werden. Überall riecht es nach Urin, Kot. Aus manchen Zellen dringt süßlicher Verwesungsgeruch. Über all dem das Stöhnen der Sterbenden und die Schreie von Männern, die gerade gefoltert werden. Kusei schwitzt, und ich merke, dass auch er den Gestank in dem Gebäude kaum ertragen kann. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, sein Blick geht stur geradeaus. Wir marschieren in das Büro des Direktors. Dort sitzt Saddam Kamel. Er wirkt aufgedunsen und atmet schwer. Als wir den Raum betreten, steht er auf; ich sehe die Schweißränder unter seinen Achseln. Saddam Kamel schüttelt Kusei kurz die Hand, umarmt ihn; wir gehen in den Innenhof des Gefängnisses. Der Direktor weiß, was zu tun ist. Er lässt zwei gepolsterte Stühle bringen, stellt sie in die Mitte des staubigen Gefängnishofes. Saddam Kamel setzt sich, Kusei nimmt rechts neben ihm Platz. Dann lässt der Direktor eine Gruppe Gefangener vorführen. Es sind Schiiten aus Kerbala. Angeblich Anführer der Revolution gegen den Präsidenten. Angeblich haben sie Anti-Saddam-Parolen auf Hauswände schmieren lassen. In der rechten Hand hat Saddam Kamel eine Pistole, in der linken Unterlagen über die Verräter, die hier, in der prallen Vormittagssonne, verhört werden sollen. Das Verhör ist eine Farce: »Sage, dass Saddam der Größte ist«, zischt er die Gefangenen an. Keiner der Männer kriecht vor Kamel. »Ihr seid jämmerliche Feiglinge, fleht um Gnade, dann lassen wir euch frei!« Jene, die um Gnade flehen, erschießt Saddam Kamel sofort. Sein Kommentar: »Der Präsident mag keine Feiglinge.« Er erschießt an diesem Tag 15 Häftlinge. Im Sitzen. An einem anderen Tag sollen es fast 100 gewesen sein. Vier Stunden dauert diese widerliche Prozedur, bei der Kamel seinen aufgestauten Hass austoben kann. Seine dumpfe Lust am Töten. Für mich ein paralysierender Schock. Die Leichen lässt er in die Massenzellen zu den anderen Gefangenen werfen. Die Toten werden erst weggeräumt, wenn die Verwesung einsetzt und der Gestank so penetrant wird, dass selbst die Wärter es nicht mehr aushalten. Für jeden Ermordeten kassiert Saddam Kamel 20000 Dinar Belohung von Ali Hassan Al-Majid. Für die treuen Dienste schenkt ihm Saddam Hussein außerdem einen Mercedes und mehrere Bürogebäude in Bagdad.
Mitte April 1991 gerät Saddam Kamel, den sie inzwischen den Schlächter von Bagdad nennen, auf der Rückfahrt von einer Massenerschießung im Al-Karada-Bezirk in einen Hinterhalt. Jugendliche versuchen, ihn mit normalen Handfeuerwaffen zu töten. Saddam Kamel bleibt unverletzt, seine Leibwächter können drei junge Männer verhaften. Saddam Kamel bringt sie noch während des Verhörs im Haus des Geheimdienstes um, durch Elektroschocks. Auch Saddam Hussein selbst beteiligt sich an den Tötungsorgien. Einmal bin ich Augenzeuge. Odai hat mich gerade aus dem Al-Hayat-Hochhaus, das während des Krieges unbeschädigt blieb, abholen lassen. Wir fahren zum Projekt 2000, dem einstigen Prunkpalast Saddams, der jetzt nur mehr eine Ruine ist. Vor der Ruine steht ein Mercedes-Konvoi. Die Wagen des Präsidenten. Saddam Hussein besichtigt mit seinen Sicherheitsoffizieren Rokan Al-Takriti, Chabib Al-Takriti, Abd Hamid und Saddam Kamel den zerstörten Palast. Kusei ist ebenfalls anwesend. Der Präsident ist wütend. Minutenlang steht er wortlos vor den Trümmern, dann befiehlt er Rokan Al-Takriti, Gefangene zu holen. In den Gefängnissen auf dem Palastgelände werden mehr als 5000 Menschen festgehalten. Sie stellen eine Art Schutzschild gegenüber den Aufständischen dar. Es dauert nicht allzu lange, bis Rokan mit 30 Häftlingen zurückkommt. Es sind Kurden. Saddam erschießt einen nach dem anderen, aus nächster Nähe. Odai, Kusei, Archad Al-Jassin, Abd Hamid, Chabib, Saddam Kamel und Rokan treten die Leichen mit Füßen. Sie waten im Blut. Alles ist rot. Die, die nicht sofort tot sind, werden von den Sicherheitsoffizieren mit aufgesetztem Kopfschuss erledigt. Dieses Massaker ist Saddam aber noch nicht genug. Er lässt 30 weitere Häftlinge bringen, ermordet auch diese. Jedes Mal, wenn sein Magazin leer geschossen ist, lässt er sich von Rokan eine neue Waffe reichen. Dieser Blutrausch scheint ihn zu befriedigen. Er lacht schallend, das Lachen eines Wahnsinnigen. »Jetzt geht es mir besser«, schreit er. Mir geht es schlecht. Obwohl mir Saddam wenige Tage nach diesem Gemetzel als Belohnung für meine Heldentaten während des Krieges einen 500er Mercedes, dunkelblau, sowie 200000 Dinar in bar und ein Haus, das Saddam Heldenhaus nennt, schenkt, fühle ich mich elend. Ich hasse Odai, ich hasse Saddam Hussein, ich verachte mein Leben,
mich selbst. Ich will weg aus diesem Wahnsinn. Ich kann nicht sagen, wie viele Menschen nach dem Golfkrieg von Saddams Schergen ermordet, zu Tode gefoltert wurden. Es sind Tausende, und kaum eine Familie im Irak blieb verschont. Dieses gezielte Morden führt dazu, dass Saddam bereits im Juni 1991 den Irak wieder weitgehend kontrolliert. Odai kehrt zu seinem alten Lebensrhythmus zurück. Obwohl er jetzt oberster Chef der Journalisten ist, betreibt er all seine anderen Geschäfte weiter. Über seine Gesellschaften kontrolliert er fast das gesamte Immobiliengeschäft in Bagdad. Ebenso die Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern, die wegen des Embargos aus Jordanien in den Irak geschmuggelt werden. In den Kliniken sterben Kinder, weil nicht genügend Medikamente vorhanden sind, Hunderttausende von Soldaten und Kriegsinvaliden wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Odai ist das egal, er feiert weiterhin. Offen, schamlos, für jedermann sichtbar. 18. Juni 1991. Odais 27. Geburtstag. Die Aufräumungsarbeiten auf dem Palastgelände sind noch im Gange. Die feudalen Schwimmbäder des Präsidentenpalastes sehen so aus, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Luxuriös, exklusiv, paradiesisch. Odai hat mehr als dreihundert junge Mädchen und Frauen zu diesem Fest eingeladen. Und alle Halbwelt-Freunde Odais sind auch wieder da. Seine Autohändler, seine Zuhälter und natürlich Abdel Akle, der Sänger. Es ist, als ob es nie einen Krieg gegeben hätte. Odai und sein Clan feiern zügellos. Es gibt Champagner, Whisky, französische Weine, sogar deutsches Bier; ein fantastisches Buffet mit allen Köstlichkeiten, die man sich nur wünschen kann. Eine Traumwelt, eine verzerrte Realität - vor dem Palast verhungern die Menschen, im Palast vergnügen sich die Kriegsgewinnler. Die Betrüger, die Mörder, die skrupellosen Ausbeuter. Alkohol fließt in Strömen, das Fest ist laut, vulgär. Alle sind betrunken, hemmungslos. Am schlimmsten benimmt sich Odai. Er springt auf die Bühne, reißt Abdel Akle das Mikrofon aus der Hand und befiehlt mit einem dreckigen Kichern: »Hihihihihi, alle Frauen müssen sich ausziehen. Ich will die Weiber nackt sehen. Ganz nackt.« Einige folgen Odai aufs Wort, andere zieren sich. Der entfesselte Journalistenchef, der das bizarre Geschehen von der Bühne aus beobachtet, nimmt wieder das Mikrofon. Diesmal grinst er nicht: »Ich habe gesagt, alle. Ausnahmslos. Wer sich weigert, verbringt den Abend mit
meinen Leibwächtern.« Wie die Schafe folgen sie seinem Befehl. Schälen sich aus ihren Kostümen. Odai amüsiert sich königlich, als alle nackt sind. Er zündet sich eine Havanna an, nimmt zwei Züge; dann setzt er nach: »Jetzt die Männer. Zieht euch aus, ihr Hurenböcke.« Auch sie tun es. Der Rest des Festes ist eine einzige riesige Orgie. Zuckende Leiber, kreischende Frauen. Sie treiben es schamlos und überall. In den mit Mosaiken ausgelegten Pools, auf dem saftigen Rasen, in den Liegestühlen. Abdel Akles Musik übertönt das Stöhnen. Am nächsten Tag lässt mich Odai rufen. Er wirft mir vor, bei seinem Geburtstagsfest Beida Abd Al-Rahman belästigt zu haben. Beida ist Moderatorin im irakischen Fernsehen, eine von Odais Langzeitfreundinnen. Ein Star und ein wichtiges Rad in der verrückten Massenmanipulations-Maschinerie des Saddam-Clans, in der jeder die Lügen kennt und dennoch jeder schweigt - aus Angst und purer Machtgier. Es stimmt, dass Beida mich angesprochen hat. Sie weiß, dass ich Odais Double bin, und sie weiß ebenso, dass es mir strengstens verboten ist, mich mit Odais Freundinnen auch nur zu unterhalten. Sie fragte mich sogar kichernd, ob ich mit ihr und ihrer Freundin ausgehen wolle. Eine absurde Frage. »Nein, ich will keine Probleme mit Odai«, entgegnete ich. Odai will mir gar nicht zuhören. Ich bin mir nicht sicher, vermute aber, dass er Beida sogar auf mich angesetzt hat, um mich zu provozieren. Er weiß, dass ich ihn hasse. Es ist nicht zu übersehen, dass ich meinen Job nur deshalb mache, weil ich keine andere Wahl habe. »Warum belästigst du meine Freundin, weshalb stellst du ihr nach?«, tobt Odai. Seine Hände zittern vor Wut, er schnappt nach Luft, schreit: »Ich spüre, dass du mich verachtest, weg willst. Du bist aber in meiner Hand, mein Fidai, mein Leibeigener. Vergiß das nie. Ich muss dich wieder erziehen lassen.« Erziehen bedeutet Folter, Angst, Psychoterror. Odai hat längst herausgefunden, dass auch ich ein Abtrünniger bin. Ich kann meine Verachtung für ihn immer schlechter verbergen, stehe ihm immer deutlicher in offener Feindschaft gegenüber. Es ist nicht mehr zu verheimlichen, dass ich ihn verachte und er mich. Ich bin sicher, dass er insgeheim schon meine Vernichtung plant. Denn einfach gehen lassen kann er mich nicht. Ich weiß zuviel über ihn, außerdem braucht er mich immer noch. Da er aber weiß, dass ich sein Feind bin, kann er mich nur ent-
weder töten - oder endgültig gefügig machen. Meinen Ungehorsam und Widerstand gegen ihn brechen, das kann er nicht. Der Vorfall mit Beida war also nur ein Vorwand. Er will mich demütigen, mir und sich beweisen, dass er mich in der Hand hat. Noch am selben Tag werde ich abgeführt. Zum Erziehen gibt es eine Spezialeinrichtung, ein Lager der Geheimpolizei, das Wüstencamp AlRachid außerhalb Bagdads. Mehr als 5000 politische Gefangene sind hier untergebracht. Ein Alptraum. Der gesamte Komplex liegt ungeschützt in glühender Sonne, die Temperaturen in diesem Gebiet steigen im Sommer bis über 50 Grad. Die Zellen sind klein, haben keine Fenster, sondern nur kleine, vergitterte Schlitze. Sanitäre Anlagen gibt es fast nicht, die Toiletten sind Latrinen ohne Spülung. Meine Spezialbetreuer sind drei Schwerverbrecher, die schon zum Tode verurteilt waren, von Saddam Hussein aber begnadigt wurden, um in diesem Lager als Folterknechte zu dienen. Sie haben nur einem Befehl zu gehorchen, und nur ihr Gehorsam schützt sie vor dem Galgen: »Wer zu euch geschickt wird, den müsst ihr foltern. Selbst wenn der Delinquent der Sohn des Präsidenten ist.« Nun bin ich es, der zu ihnen gebracht wird. Alles hat seine präzise Ordnung in diesem Horror-Camp. Vier Uhr früh aufstehen, fünf Uhr mit nacktem Oberkörper zum Rapport. Danach Züchtigung. Von sechs bis zehn Uhr am Vormittag. Sie schlagen mich mit Elektrokabeln und Lederpeitschen. Jeweils zwanzig Hiebe auf den Rücken. Dann eine Pause. Wieder Peitschenhiebe, wieder Pause. Hinknieen. Meine Nasenlöcher werden verstopft, ich kann nur mehr durch den Mund atmen. Sie zwingen mich, Liegestütze zu machen, bis ich nicht mehr kann. Breche ich zusammen, stecken sie mir Nadeln unter die Fingernägel, zwingen mich, weitere zehn Liegestütze zu machen. Von 10 Uhr bis 11 Uhr Pause. Von 11 bis 14 Uhr wieder Erziehung. Pause. Von 15 bis 18 Uhr wieder diese Tortur. Der Gefangene hat sich mit dem Bauch auf den Boden zu legen, dann wird er von den Folterknechten bearbeitet. Schon bald platzt die Haut auf meinem Rücken. Die Knechte haben aber den strikten Befehl, sich weder von Schmerzen noch von Infektionen bremsen zu lassen. Die offenen Wunden werden mit Dreck verschmiert. Wenn ich das Bewusstsein verliere, werde ich in eine Wanne mit brackigem Kanalwasser gekippt, meist urinieren meine Folterer in diese Wanne. Die ersten zwei Tage versuche ich, mich gegen meine Folterer aufzulehnen. Ich will Mann sein, versuche, die Schmerzen zu
verdrängen, ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass sie mich brechen könnten. Sie erhöhen die Dosis. Ich werde nicht nur geschlagen, sie binden mich an ein ventilatorartiges Gerät, das an der Decke befestigt ist. Ich hänge mit dem Kopf nach unten, der Ventilator wird eingeschaltet, dreht sich. Zuerst langsam, dann schneller. Dann schlagen sie mit ihren Elektrokabeln auf mich ein. Ich bekomme einen fürchterlichen Schlag auf die Nase, werde ohnmächtig. Mein Nasenbein ist gebrochen. Ein anderes Mal sperren sie mich in eine Art Mauernische. Die Nische hat kein Fenster. Die Temperatur in dem engen Loch ist mörderisch, ich kann mich nicht hinsetzen, es ist zu eng. Zwei Tage muss ich in dem Loch aushalten. Meine normale Zelle teile ich mit Sabah Merze Mahmud. Der Mann sitzt schon seit sieben Monaten hier, ist völlig gebrochen. Es dauert vier Tage, bis Mahmud einigermaßen Vertrauen zu mir gefunden hat. Zuerst hat er überhaupt nicht mit mir gesprochen. Jetzt schüttet er mir sein Herz aus: »Ich war mit Saddam in Samarra, als Sechzehnjähriger. War sein Freund«, jammert er. Später stieg Mahmud bis an die Spitze der Baath-Partei im Irak auf, wurde sogar erster Leibwächter Saddam Husseins. In Ungnade fiel er nach einem Streit im exklusiven Al-Said-Club in Bagdad. Mahmud war auf einer Party für führende Partei- und Regierungsmitglieder. Höhepunkt des Festes war ein Auftritt des irakischen Sängers Mahmud Anwar. Mahmud Anwar schmetterte gerade eine Hymne auf Saddam Hussein, als der damalige Chef der Präsidentschaftskanzlei, Ahmad Hussein, plötzlich aufsprang und dem Sänger ganze Bündel von Dinar-Scheinen zuwarf. Mahmud empörte das; er rief Ahmad Hussein zu: »Ihr könnt nur deshalb mit dem Geld so um euch werfen, weil ihr es gestohlen habt!« Schlagartig hörte die Musik auf zu spielen, der ältere Sohn Ahmad Husseins stürzte sich auf Mahmud. Der zog seinen Revolver und feuerte mehrere Schüsse in die Luft, als Warnung für Ahmad Husseins Sohn. Ahmad Hussein beschwerte sich am nächsten Tag beim Präsidenten über diesen Vorfall. Mahmud wurde zum Rapport zitiert, Saddam befahl ihm, sich bei seinem Kontrahenten zu entschuldigen. »Ich weigerte mich«, sagt mir Mahmud in unserer kleinen Zelle. Das reichte. Saddam ließ ihn ins Erziehungslager Al-Rashid bringen. »Du bleibst so lange dort, bis du dich entschuldigst.« Ich frage Mahmud, warum er das nicht schon längst getan habe. Mahmud: »Weil ich lieber sterbe, als dieser Bestie weiter zu dienen.«
21 Tage lang hocke ich mit Sabah Merze Mahmud in diesem elenden Loch. Er erzählt mir, wie er einst gemeinsam mit Saddam als Straßenräuber durch Bagdad zog. Wie sie Fußgänger bestahlen und mit dem Geld ein Bordell im Al-Rahmange-Bezirk in Bagdad besuchten, das von Amira Al-Maslani und Manal Junes geführt wurde. Dieses Freudenhaus war ein beliebter Treffpunkt aller Führer der Baath-Partei. Als Saddam Hussein an die Macht kam, machte er die Bordellchefin zur Vorsitzenden des irakischen Frauenverbandes. Am einundzwanzigsten Tag betreten unsere Folterer unsere Zelle. Einer packt Mahmud, der am Ende seiner Kräfte ist; der andere drückt ihm eine Spritze in die Vene seines ausgemergelten rechten Armes. Sie schleifen Mahmud aus der Zelle. Ich muss an seine zornigen Worte denken: »Wieso arbeitest du mit diesen Verbrechern zusammen? Hast du keine Ehre? Sie werden mit dir das Gleiche machen, was sie mit mir gemacht haben. Sie werden dich wegwerfen, wenn sie dich nicht mehr brauchen.« Es waren die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe.
16. KAPITEL Die Flucht Seit mehr als drei Wochen sitze ich jetzt in dieser Zelle im Lager AlRaschid. Ich warte eigentlich nur noch darauf, dass meine Folterknechte mich abholen und so lange bearbeiten, bis ich mich selbst aufgebe. Ich bin am Ende. Abgemagert, zerschunden, ausgemergelt, ein Wrack. Physisch und psychisch. Mein Rücken brennt höllisch, die Platzwunden verheilen nicht, werden eitrig. Meine Schultergelenke schmerzen bei jeder Bewegung, die Hitze in der Zelle ist kaum auszuhalten, und Trinkwasser gibt es nur einmal pro Tag. Ich fühle mich wie ausge- trocknet. Ich bin willenlos. Wenn sie mich in der Frühe zum Erziehen abholen, verspüre ich keine Wut und keine Abscheu mehr. Ich bin apathisch, kann mich kaum auf den Beinen halten, und sie müssen mich an meinen Armen in ihre Folterkammer schleppen. Ich ertrage die Schmerzen, die sie mir zufügen, wie in Trance. Nachts kann ich kaum schlafen; weil meine Rückenwunden völlig entzündet sind, liege ich auf dem Bauch oder kauere mich zusammengekrümmt, wie ein Embryo, auf meine Holzpritsche. Vielleicht machen sie es mit mir genauso, wie sie es mit Mahmud gemacht haben, denke ich manchmal. Sie werden mich festhalten, eine Spritze in meine Armvene stechen, und ich werde langsam einschlafen. Aus, vorbei. Einfach einschlafen ... Vielleicht werden sie mich auch erschießen. Werden vor mich hintreten, mir die Augen verbinden, ihre Waffen anlegen, abdrücken. Sie werden meine Leiche, gemeinsam mit anderen, in ein Massengrab werfen, mich wie einen toten Hund verscharren. Wahrscheinlich werden sie es nicht einmal meinen Eltern sagen, dass ich erst jetzt und nicht schon im November hingerichtet worden bin. Wie viele Menschen sind im Irak in den vergangenen Jahren einfach verschwunden? Tausende? Zehntausende? Wahrscheinlich sogar Hunderttausende? Niemand kennt die genaue Zahl. Allein die Liste jener Opfer, über deren Schicksale ich Aufzeichnungen machte, ist schon ellenlang: Ali Jaafar, vergiftet, Mohsen Al-
Sahab, vergiftet, Munem-Hadi, ihn ließ man verhungern. Ahmad Saleh, er wurde erschlagen. Hamed Al-Dalimi, ihm brachen sie zuerst die Beine, dann schnitten sie sein Glied ab. Saleh Al-Saaidi wurden die Augen herausgerissen, und danach prügelte man ihn zu Tode. Sabri Al-Hadisi ließen sie verhungern. Bevor seine Verwandten ihn begraben durften, musste sein Bruder auf seiner Leiche tanzen. Auch unter seinen führenden Politikern hat Saddam aufgeräumt. Wurde ihm ein Minister zu mächtig, ließ er ihn liquidieren: Drei Wirtschaftsminister wurden ermordet, zwei Industrieminister, drei Außenminister, drei Verteidigungsminister. Saddams Stellvertreter Hardan Al-Takriti haben sie erschossen, 59 Mitglieder der Regierung ebenso. Das Grauen geht auch nach dem Golfkrieg weiter. Seit der Operation Wüstensturm hat Saddam weitaus mehr Menschen getötet, als in den Wochen des Krieges umgekommen sind. Einmal säuberten die Schergen des Präsidenten ein so genanntes Führerdorf nördlich des Al-Furat-Flusses. In den Führerdörfern wohnen ausschließlich Partei- und Regierungsmitglieder. Selbstverständlich ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Im Dorf Kabise ermordeten sie folgende Saddam-Gegner: - Khaled Abd Osman Al-Kabisi, ehemaliger Minister. - Rahim Al-Sattar Sulaiman Al-Kabisi, Regierungsangestellter. - Abd Al-Hanan Al-Kabisi, Architekt. - Nafel Hussein Al-Kabisi, Offizier. In Hadisa wurde ähnlich gemetzelt. Auf dem Dorffriedhof liegen: - Kordi Said Abd Al-Baki Al-Hadisi, Baath-Parteimitglied, erhängt. - Abd Al-Asis Al-Hadisi, Armee-General, erschossen. - Shokat Dakom Al-Hadisi, Regierungsangestellter, erschossen. - Murtoda Said Abd Al-Baki Al-Hadisi, ehemaliger Minister, erschossen. - Mhamad Sabri, Minister-Stellvertreter, erschossen. - Nisan Al-Hadisi, Offizier, erschossen. - Kaschee Al-Hadisi, Pilot, erschossen. Weshalb haben sich diese Menschen abschlachten lassen wie Vieh,
überlege ich und setze mich auf die Holzpritsche in meiner Zelle. Gibt es in diesem Land keinen intelligenten Menschen, der in der Lage ist, Saddam umzubringen? Ich verdränge diese Gedanken wieder, denn diese Frage müsste ich eigentlich mir selbst stellen. Nur wenige andere waren näher am Saddam-Clan als ich. Ich habe gesehen, wie sie leben und mit anderen Menschen umgehen. Wie sie Leute blitzschnell nach oben bringen und ebenso schnell wieder vernichten. Zu mir hat Odai einmal gesagt: »Warte nur, bis ich an der Macht bin. Die Leute werden sich nach meinem Vater zurücksehnen, denn ich werde noch grausamer sein als er.« Warum habe ich Odai nicht umgebracht, um mein Land von diesem Tyrannen zu befreien? Odai lag betrunken vor mir, zwang mich zuzusehen, wenn er seine Frauen schlug, nahm mich mit, wenn er seine Autos testete. Ich hätte nur abzudrücken brauchen, habe es aber nicht getan. Warum? Aus Angst vor den Konsquenzen? Weil ich kein Märtyrer sein will? Oder weil ich, schweigend wie alle anderen auch, mit verordneter Führerbegeisterung dem blutigen Terror, der das Volk im Würgegriff hält, zusah, um selbst am Futtertrog mitnaschen zu können? Tatsache ist, dass Saddam das Volk fürchtet, aber das Volk auch Saddam. Wer nicht lebensmüde ist, spielt besser mit. Selbst dann noch, wenn ein ganzes Volk durch dieses absurde Theater seiner Macht und Herrlichkeit ins Elend stürzt. Jeder im Irak durchschaut diese miese Saddam-Show, der Jubel ist längst zur Pose erstarrt, aber keiner will oder kann sich aus diesem Apparat ausklinken. Nach wie vor funktioniert die Bespitzelungsmaschinerie perfekt. Und Kusei, den Saddam Hussein am 2. März 1991 zum obersten Geheimdienstdirektor ernannt hat, hat den Apparat sogar noch weiter aufgebaut! Als erste Amtshandlung erschoss Kusei, zwei Tage nach seiner Bestellung, den Oberleutnant Solman Harb Al-Takriti. Offiziell wurde bekannt gegeben, er sei ein Spion der Opposition gewesen. In Wahrheit wollte Kusei sich sofort Autorität verschaffen - und überzeugend ist jemand im Irak nur dann, wenn er skrupellos Gewalt anwenden kann. Schon vor Kusei war der Sicherheitsapparat, der aus vier verschiedenen Abteilungen (Geheimdienst, Nachrichtendienst, militärischer Nachrichtendienst, nationaler Sicherheitsdienst) besteht, eine riesige
Krake gewesen, die mit ihren schleimigen Fangarmen das Land bis in die letzten Winkel umfasste. Kusei machte die Krake noch größer, noch mächtiger: Tausende neuer Mitarbeiter wurden rekrutiert, die Gehälter angehoben, die soziale Absicherung verstärkt. Außerdem sind seit dem 2. März alle Abteilungen direkt dem Geheimdienstdirektor Kusei unterstellt. Bis dahin hatten sie unabhängig voneinander operiert, wobei allerdings jede jede überwachte, denunzierte, ausspionierte. Nun müssen alle Direktoren ihre Protokolle und Berichte an Kusei weitergeben. Ein unglaublicher bürokratischer Aufwand! Alle sind voneinander abhängig. Jeder misstraut jedem, jeder hat panische Angst davor, dass das System ihn überrollt. 23. Tag im Al-Raschid. Meine Folterknechte wecken mich, wie immer, um vier Uhr früh. Um fünf schleifen sie mich mit nacktem Oberkörper zum Rapport. Alles ist wie immer. Nur bringen sie mich diesmal nicht in die Folterkammer, sondern in ein Extrazimmer. Sie schnallen mich auf einen Stuhl, der am Boden festgeschraubt ist. Ich frage nicht, was jetzt passieren wird, weiche den Blicken der Männer aus, starre auf die Wand vor mir. Es ist absolut still in dem Raum. Plötzlich sagt einer der Folterknechte: »Willst du wissen, was wir Sabah Merze Mahmud gespritzt haben?« Ich nicke. Der Mann lacht, zeigt seine halbverfaulten Zähne, steht auf, kommt auf mich zu, presst seine mächtige Hand auf meinen rechten Unterarm. Mit der anderen zieht er einen Bleistift aus seiner Brusttasche, drückt die Spitze des Bleistifts in meine Armbeuge. Er fährt hin und her, als ob er meine Vene suche. Dabei verzieht er seinen breiten Mund wieder zu diesem dreckigen Grinsen: »Thallium. Es war Thallium. Du weißt, was das ist?« Ich weiß, was Thallium ist. Thallium ist schlimmer als der Tod. Dieses Mittel frisst dich von innen her auf. Zuerst gehen dir die Haare aus, deine Hände beginnen nervös zu zittern, dein gesamter Bewegungsablauf ist gestört. Wie Parkinson im Endstadium. Das Gift wirkt nicht tödlich, es zerstört einen langsam, mit Fieberanfällen, Lähmungserscheinungen und Sprach-und Sehstörungen. Man kann kaum noch Nahrung aufnehmen, verliert völlig die Kontrolle über sich selbst, man wird zum Zombie - zum lebenden Toten. Zahlreiche hohe Offiziere, die sich während und nach dem Golfkrieg als zu wenig regimetreu und tatkräftig erwiesen haben, wurden mit Thallium spezialbehandelt. Auf diese Art konnte man sie relativ einfach
und ohne großes Aufsehen unschädlich machen. Sie bekamen das Mittel ins Essen gemischt, erkrankten plötzlich, mussten aus der Armee entlassen werden. Selbstverständlich wurden sie vor ihrer krankheitsbedingten Pensionierung noch für ihre grandiosen Leistungen für das irakische Volk geehrt und mit Prämien überschüttet. Der bullige Scherge drückt den Bleistift zehn, fünfzehn Sekunden lang gegen meine Armvene. Er sticht so fest zu, als ob er meinen Arm durchbohren wollte. Dabei atmet er tief durch die Nase und zischt wie ein Geistesgestörter: »Thallium, Thallium.« Ich drehe meinen Kopf zur Seite, kann seinen stinkenden Atem nicht mehr ertragen. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht spucken, ihm mein Knie in die Hoden rammen (meine Beine sind nicht gefesselt). Was aber würde mir das bringen? Nichts. Er lässt erst von mir ab, als vom Gang Stimmen und Schritte zu hören sind. »Hör' auf, sie kommen«, sagt der andere. Die Tür wird aufgerissen, zuerst sehe ich Azzam, dann kommt Odai. Er ist in Uniform, hat sein dickes, schwarzes Elektrokabel in der Hand, wird von rund einem Dutzend Leibwächter begleitet. Die Männer, die ebenfalls schwarze Uniformen und Ray-Ban-Brillen tragen, schieben sich in den Raum, postieren sich um Odai, als ob ich ihrem Meister noch gefährlich werden könnte. Odai lacht mich an, tritt vor mich hin, fragt: »Wie hat dir meine Erziehung gefallen? Reicht es, oder sollen wir dich noch einige Wochen hier lassen?« Dabei starrt er mich an, holt mit seinem Elektrokabel aus. Er zieht den Schlag voll durch - aber er schlägt knapp an meinem Gesicht vorbei. Dann dreht er sich auf den Absätzen um, macht zwei Schritte, bleibt mit dem Rücken zu mir stehen und fragt: »Hast du genug?« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, er weiß doch, wie ich aussehe. Ich wiege kaum mehr als 50 Kilo, meine Rippen stehen hervor, meine Lippen sind aufgeplatzt, vereitert wie mein Rücken. Odai wartet nicht auf meine Antwort. Er dreht sich zu mir um und schlägt mich auf die nackte Brust. »Sag' es«, kreischt er wieder. »Herr, ich kann nicht mehr. Herr, oh Herr, ich bin Ihr Fidai, werde es immer sein. Sie können über mich verfügen, und ich werde immer tun, was Sie mir befehlen. Allah möge den mächtigen Sohn des Präsidenten beschützen und bewahren«, flehe ich. Ich habe nicht den Mut, Odai anzuschreien und ihm zu trotzen, obwohl ich nichts mehr zu verlieren habe. Ich bin sicher, dass er mich gleich selbst töten oder von
einem seiner Leibwächter umbringen lassen wird. Es kommt anders. Odai ruft einen Leibwächter zu sich, befiehlt ihm, mich so zu behandeln wie die Affengesichter: »Rasiere ihn wie die afrikanischen Sklavensöhne.« Als Affengesichter und afrikanische Sklavensöhne werden die schiitischen Aufständischen im Südirak bezeichnet. Die Anhänger der radikal-islamischen Al-Daawa Partei, die sich nach dem Krieg zu Tausenden in die Sümpfe zwischen Euphrat und Tigris zurückgezogen haben und von dort aus Saddams Sicherheitskräften schmerzende Nadelstiche zufügen. Um die Affengesichter leichter bekämpfen zu können, wurden Schilfdschungel niedergebrannt, ganze Sümpfe trockengelegt. Rebellen, derer man habhaft werden konnte, wurden aufgehängt oder erschossen. Sympathisanten bestraft man anders: Man verbrennt ihren ganzen Stolz. Den Bart, die Augenbrauen, das Kopfhaar. Mir tun sie etwas anderes an. Zuerst schneidet ein Leibwächter Odais mit einer Schere mein Kopfhaar ganz kurz und stutzt meinen Bart. Dann seifen sie mich ein. Sie klatschen mir den Schaum ins Gesicht, auf den Kopf, beschimpfen mich, einen Sunniten, als »schiitisches Affengesicht«. Odai und seine Leibwächter biegen sich vor Lachen. Brüllen, schneiden Grimassen und klopfen sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Es ist so demütigend und entwürdigend. Den Höhepunkt zelebriert dann Odai. Er lässt sich ein Rasiermesser geben, setzt die Klinge an meinen Hals, und alle johlen. Dann schwingt er das Messer wie einen Dirigentenstab durch die Luft. Wieder johlen alle. Dann setzt er die Klinge an meinen Schädel und beginnt, meinen Kopf zu rasieren. Wie ein Schauspieler, der einen hysterischen Friseur imitiert, rasiert er mir die Haare ab. Den Schaum wischt er jeweils an der Uniform eines Leibwächters ab. Dann rasiert er mir die Augenbrauen und den Bart ab. Als er fertig ist, schlägt er mir mit der hohlen Hand auf den Kopf. Diese Entwürdigung ist schlimmer als der Tod. Es ist, als würde ich entmannt, entehrt. »Bitte, Herr, bringt mich um«, flüstere ich. Odai tut es nicht. Ich weiß bis heute nicht, warum er es nicht getan hat. Weil er glaubte, dass ihm dieses gedemütigte, entstellte Skelett, diese kriechende, halbtote Kreatur nie mehr würde schaden können? Odai wirft das Rasiermesser auf den Boden, dreht sich um, verlässt den Raum. Zwei seiner Leibwächter binden mich los, fassen mich unter den Armen, zerren mich ruckartig vom Stuhl hoch. Ich bin zu schwach, um
mich auf den Beinen zu halten. Sie schleppen mich ins Freie, heben mich auf den Rücksitz ihres Autos. Wir rasen nicht zum Palast, sondern in den Al-Aadameea-Bezirk in Bagdad. Vor dem Haus meiner Eltern verlangsamt der Fahrer das Tempo, der Bodyguard neben mir öffnet die Tür und stößt mich aus dem fahrenden Auto. Mit quietschenden Reifen rast die dunkle Limousine weiter. Ich schlage hart mit dem Kopf und der Schulter auf dem Asphalt auf. Bin benommen, verliere aber nicht das Bewusstsein. Einige Augenblicke lang bleibe ich auf der Straße liegen. Dann schleppe ich mich zum Hauseingang, läute, klopfe, läute. Es ist so unglaublich, so irreal. Odai ließ mich am Leben. Er warf mich nur weg, wie ein jämmerliches Stück Dreck. Wie ein zerbrochenes Spielzeug. Ich will mich beherrschen, presse meine Lippen zusammen, aber es bricht aus mir heraus. Ich weine aus Wut, Scham, totaler Erschöpfung. Ich spüre nicht, dass ich blute. Das Blut vermischt sich mit den Tränen. Verschwommen sehe ich, wie die Tür aufgemacht wird. Es ist meine Mutter. Seit Sommer 1988 hat sie mich nicht mehr gesehen. Sie erkennt mich nicht. Wie sollte sie auch? Ich sehe aus wie ein Gespenst. Das Gesicht ist blutverschmiert, der Schädel kahl. Sie schreckt zurück, will die Tür schon zuschlagen, weil sie mich für einen Bettler hält, von denen es nach dem Golfkrieg Tausende in Bagdad gibt. »Mutter.« Als sie mich hört und meine Stimme erkennt, beginnt sie, zu schreien und zu weinen. Sie zittert am ganzen Körper, als ich sie umarmen will. Sie läuft schreiend ins Haus, ruft nach meinen Geschwistern. Jotie, Robie und Omeed! Meine Brüder holen mich ins Haus, bringen mich in den Salon. Jotie kümmert sich um meine Mutter. Der Schock ist zu groß für sie. Sie wimmert, schnappt nach Luft, und Jotie muss sie auf die Couch legen und ihr ein Glas Wasser bringen, denn ihr Kreislauf droht zusammenzubrechen. »Wir brauchen einen Arzt«, schreit mein jüngerer Bruder, »für Mutter und Latif. Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.« Der Arzt kommt nach einer halben Stunde. Es ist ein Freund von mir. Auch er erkennt mich zuerst nicht wieder. Meiner Mutter spritzt er ein kreislaufstärkendes Mittel. Nachdem er mich untersucht hat, sagt er: »Was haben sie mit dir gemacht, Latif? Du musst dringend in ein Krankenhaus.« »Das ist unmöglich«, entgegne ich.
»Warum?« »Frage mich bitte nicht, hilf mir.« »Ich kann dir nur helfen, wenn ich die Mittel dazu habe.« Zuerst versorgt mein Freund die blutenden Wunden, die ich mir beim Sturz aus dem Auto zugezogen habe. Dann untersucht er meinen Rücken. Und wieder sagt er: »Es ist sinnlos, du musst in ein Krankenhaus.« Sie bringen mich in eine Privatklinik, melden mich unter einem falschen Namen an. Bis Oktober bleibe ich dort. Mein Schlüsselbein ist gebrochen, das linke Fußgelenk ebenso. Durch die wuchtigen Schläge sind Rückenwirbel verschoben worden, ich habe einen Bandscheibenvorfall. Die Schmerzen sind höllisch. Am schlimmsten sind aber die vereiterten Fleischwunden am Rücken. Mein Allgemeinzustand ist dramatisch. Mit Infusionen werde ich aufgepäppelt. Es dauert Wochen, bis ich mich halbwegs gefangen habe. Meine Familie besucht mich in dieser Zeit selten - und wenn, dann nur nachts. Ich bin zwar sicher, dass Odai meine Familie überwachen lässt und längst weiß, in welcher Klinik ich mich befinde. Wäre es anders, würde er sie einfach festnehmen und so lange foltern lassen, bis sie mein Versteck verraten. Trotzdem versuchen wir, so diskret wie irgendwie möglich vorzugehen. Unter allen Umständen will ich verhindern, Odai und seine Schergen mit irgendwelchen unbedachten Handlungen zu verärgern. Ich schweige wie ein Grab, wenn mich meine Eltern und meine Brüder auf meine Verletzungen ansprechen, gebe keine Antwort, wenn sie mich nach dem im Fernsehen verkündeten Todesurteil fragen; deute mit keiner Silbe an, was in den vergangenen Jahren mit mir geschehen ist. Ebenso behalte ich meine Fluchtpläne für mich. Ich weihe niemanden ein, informiere keinen, wann und wie ich den Irak verlassen will. Mir ist auch klar, dass ich nur eine Chance habe: Nur wenn es mir gelingt, mit Sympathisanten der Demokratischen Nationalpartei Kurdistans Kontakt aufzunehmen, kann ich es schaffen. Ich kenne den Vorsitzenden der Partei, Mussad Al-Barzani von früher. Ebenso hatte ich während meiner Studienzeit Kontakt zu Freunden und Bekannten von Jalal Talabani, dem Chef der Patriotischen Union Kurdistans. Mit geheimen Dossiers, die ich aus dem Krankenhaus verschicke, gelingt es mir, ein Fluchtauto zu organisieren. Danach heißt es nur mehr auf den günstigsten Zeitpunkt zu warten.
Am 9. Dezember 1991 ist es soweit. Um bei möglichen Kontrollen nicht aufzufallen, nehme ich fast nichts mit. Kein Gepäck, keine Unterlagen, wenig Geld. Ich verlasse Bagdad mitten in der Nacht. Das erste Ziel ist ein kleiner Ort bei Mosul, 360 Kilometer nördlich von Bagdad. Von dort will ich weiter nach Dohuk, in die Schutzzone der Alliierten im Nordirak. Ich weiß von kurdischen Freunden, dass sich in Zakhu, einer kurdischen Stadt an der türkisch-kurdischen Grenze, ein Stützpunkt der Amerikaner befindet. Das Wichtigste für mich ist aber vorerst, das Gebiet von Mosul zu erreichen. »Dort wirst du von kurdischen Freunden erwartet«, haben sie mir in Bagdad versprochen. Von Schleppern, die schon zahlreiche kurdische Flüchtlinge über die Demarkationslinie gebracht haben. Ich erreiche den Treffpunkt, ohne ein einziges Mal kontrolliert zu werden. Ein kleines Wunder. Mein Auto stelle ich, wie ausgemacht, in einem Waldstück ab. Warten. Zwei Stunden dauert es, bis meine Schlepper auftauchen. Wir marschieren acht Stunden ohne längere Unterbrechung. Über Eselspfade durch extremes, verschneites, gebirgiges Gebiet. Nach acht Stunden machen wir eine längere Pause. Dann geht es weiter. Zuerst wieder zu Fuß, schließlich erreichen wir eine Pesh-Merga-Stellung. Die Kämpfer überlassen uns einen klapprigen Kastenwagen. Damit bringen sie mich zuerst nach Dohuk, von dort geht es weiter ins tief verschneite Zahku. Erstmals bin ich in Sicherheit. Mehr als 1000 Flüchtlinge warten in der Grenzstadt auf ihre Ausreise in den Westen. Kaum einer erhält ein Transitvisum für die Türkei. Bei mir verläuft es anders: Nachdem ich dem Posten meine Geschichte erzählt habe, werde ich sofort vorgelassen. Ein amerikanischer Soldat, der gebürtige Palästinenser Saad Adin Halim, bringt mich zu seinem Vorgesetzten, zu Colonel John Nab. Plötzlich geht alles rasend schnell: Ich bin spezieller Gast der Amerikaner. Bekomme eine kleine Wohnung, frische Wäsche, T-Shirts, Schuhe. Täglich werde ich von John Nab abgeholt, in die Kommandantur gebracht. Wir führen stundenlange Gespräche, Saad Adin Halim übersetzt. Alles wird protokolliert, an höhere Stellen weitergeleitet. Nach jeder Gesprächsrunde hält Nab über Satellitentelefon Rücksprache mit seinen Vorgesetzten. Angeblich in Washington. Nach mehr als einer Woche teilt Nab mir mit: »Wir kannten dich ohnehin.« Zu den weiteren Interviews werden Spezialisten hinzugezogen. Es sind Männer in Zivil. Wieder tagelange Gespräche, wieder wird alles
genau protokolliert. John Nab drängt mich, nach Amerika auszureisen. Ich lehne aber ab und nenne Österreich als mein Wunschland, obwohl ich nicht einmal genau weiß, wo in Europa Österreich liegt. Der Hauptgrund, warum ich nach Österreich will: Mein Cousin lebt in Wien, arbeitet als angesehener Arzt in einer der führenden Kliniken der österreichischen Hauptstadt. Ende Februar 1992 erklärt mir Colonel Nab, dass Österreich zugesagt hat, mir politisches Asyl zu gewähren. Die Hintergründe für die Blitzaufnahme in dieses Land sind: Auf Drängen der Amerikaner kommt es zu einem diplomatischen Tauschgeschäft zwischen dem österreichischen Innenministerium und den USA. Österreich garantiert meine Aufnahme, dafür darf eine irakische Christenfamilie, die sich bereits seit Monaten in Wien aufhält, in die USA einreisen. 1. März 1992. Der positive Bescheid aus Wien liegt bei den USTruppen in Zahku vor. Bereits am nächsten Tag werde ich zu einem provisorischen Flugplatz gebracht. Ein US-Hubschrauber fliegt mich in die türkische Stadt Diyarbakir. Ein zweiter Hubschrauber bildet den Begleitschutz. Tausende anderer irakischer Flüchtlinge bleiben zurück. In Diyarbakir werde ich zuerst ins UNO-Hauptquartier gebracht, danach unter stärkster Bewachung, durch UN-Soldaten und türkisches Militär, in einem Fünf-Sterne-Hotel einquartiert. 24 Stunden später, es ist der 3. März 1992, chauffiert mich ein hoher Militär der UNO zum Flughafen, ich fliege weiter nach Ankara. Dort erhalte ich vom UNOHochkommissar Brain einen UNO-Pass mit dem Visum für Österreich und werde im Hotel Conac untergebracht. Am 9. März 1992 lande ich um halb zwei Uhr nachmittags am Flughafen Wien-Schwechat. Meine Abrechnung mit dem Regime in Bagdad beginnt. Zur gleichen Zeit, als Latif Yahia in Wien landet, melden türkische Radiosender: »Der Doppelgänger des Sohnes des irakischen Diktators Saddam Hussein hat sich in den Westen abgesetzt.« Diese Schlagzeile wird auch von der größten türkischen Tageszeitung, Milliyet, veröffentlicht. Renommierte internationale Nachrichtenagenturen wie Reuters ziehen nach, melden: »Das Double von Odai Saddam Hussein, dem verhassten Sohn des irakischen Diktators, konnte nach Europa flüchten.« Die Austria Presseagentur ließ die Story über den abgesprungenen Doppelgänger am 11. März 1992 über die Fern-
schreiber rattern. Latif Yahia lebt heute in Europa. Zurzeit schreibt er an seinem nächsten Buch, in dem er seine Erlebnisse nach Verlassen des Irak schildert: seine Flucht quer durch Europa, die Anschläge auf sein Leben, die Versuche verschiedener Geheimdienste, unter anderem der CIA, Yahias Wissen für ihre Zwecke zu nutzen, die Repressalien, die seine Familie im Irak erdulden musste - bis hin zur Ermordung seines Vaters.
Über das Buch »Fidai? Das Wort trifft mich wie ein Hammerschlag, denn ein Fidai ist mehr als nur ein Double. Ein Fidai ist alles: Doppelgänger, Kämpfer, Leibeigener. Ein Fidai muss bereit sein, für seinen Herrn zu sterben.« Latif Yahia erzählt die unglaubliche, aber wahre Geschichte seines Lebens: Der junge Mann aus Bagdad und Sohn einer wohlhabenden Familie wurde fünf Jahre lang gezwungen, Odai Hussein, den gefürchteten Sohn des Diktators zu ›doubeln‹. Yahia hatte engen Kontakt zur ganzen Familie Hussein und erlebte hautnah das absurde System von Mord, Folter, Korruption und exzessiv ausgelebtem Reichtum, auf das sich das Terrorregime von Saddam Hussein stützt. Ständig in Todesgefahr, vertrat Yahia Odai als Doppelgänger bei Geschäftsverhandlungen und offiziellen Terminen, nahm an ausschweifenden Partys in Bagdad teil und kämpfte an Odais Stelle im Golfkrieg. Er wurde Zeuge unfassbarer Verbrechen, und beging schließlich einen Selbstmordversuch, um seiner unerträglichen Situation ein Ende zu bereiten. Durch seine genauen Aufzeichnungen während dieser Zeit avancierte Latif Yahia zum »Buchhalter der irakischen Mafia«. Mit seinen schockierenden Enthüllungen aus erster Hand hofft Yahia, einmal mehr die Welt aufrütteln und über das wahre Wesen des irakischen Herrschaftsapparats aufklären zu können.
Über den Autor Latif Yahia wurde 1964 in Bagdad geboren. Als Angehöriger der wohlhabenden Oberschicht führte er ein erfolgreiches Leben, besuchte das Gymnasium und die Universität, absolvierte seinen Militärdienst, bis er 1987 wegen seiner großen Ähnlichkeit mit Odai Hussein als dessen Doppelgänger zwangsrekrutiert wurde. In den Wirren des letzten Golfkriegs konnte Yahia in den Westen fliehen. Er überlebte mehrere Attentatsversuche der Agenten Husseins. Karl Wendl, geboren 1958, ist Journalist und Chefredakteur des österreichischen Nachrichten-Magazins »News«. Als Irak-Experte war Wendl während des Golfkriegs in Bagdad, er interviewte Saddam Hussein kurz nach dem irakischen Überfall auf Kuwait. Wendl hat die Geschichte des Latif Yahia genau nachrecherchiert und die Identität des Doppelgängers überprüft
Copyright Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Ich war Saddams Sohn« im NORKA Verlag, Wien PeP eBooks erscheinen in der Verlagsgruppe Random House Copyright © der Originalausgabe 1994, 1997 by Latif Yahia, Karl Wendl Copyright © dieser Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH ISBN 3-89480-799-7 www.pep-ebooks.de