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A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins William Shakespeare Zu diesem Buch «Nichts ist unangenehmer als ein mystischer Revolutionär, der sich, legitimiert durch sein ‹historisches Opfer›, zum strengen Richter über andere Menschen aufwirft. Ein CIA-Agent dagegen ist ein Außenseiter, ein verkannter Poet der Konterrevolution. Aber glauben Sie mir – und darin werden Sie mir sicherlich recht geben –, ohne CIA gäbe es keine Weltgeschichte und keine Dialektik. Ein CIA-Agent ist nicht nur ein Poet der Revolution, er legitimiert sogar die Revolution!» «Und er wird besser bezahlt als ein Revolutionär.» «Wesentlich besser.» Ohne diesen philosophischen Diskurs wäre aus Pepe Carvalho, ehemals Mitglied der KP Spaniens, dann CIA-Agent, Leibwächter J. F. Kennedys und stadtbekannter Schnüffler auf den Ramblas Barcelonas, nicht das geworden, was er ist: Ein Gourmet höchsten Grades, ein bewunderungswürdiger Privatdetektiv und leidenschaftlicher Liebhaber, der das Geld zu schätzen weiß und manchmal die Literatur den Flammen übergibt. Aber bevor Pepe Carvalho sich in seinem geliebten Barcelona niederlassen kann, muß er noch die Intrigen am Hofstaat J. F. Kennedys ertragen, der in dem imaginären «Palast der Sieben Galaxien» residiert. Carvalho gehört zum Dienstpersonal, als Leibwächter galicischer Abstammung zur besonderen Bewachung J. F. Kennedys abgestellt. «Ich tötete Kennedy» war zu Beginn der siebziger Jahre auf dem Gebiet des spanischen Romans ein bahnbrechendes Werk, das die Diktatur des ästhetischen Formalismus zu bloßer Kunstfertigkeit degradierte. In der Form eines Kriminalromans rechnet Vázquez Montalbán mit allen Klischees ab, die die moralische, politische und gefühlsmäßige Entwicklung spanischer Literaten bestimmt haben. So entstand ein Roman, der der Freiheit des Lesens und Schreibens neue Perspektiven eröffnete. «Ich tötete Kennedy» ist der erste Roman der Serie um Pepe Carvalho und das Nonplusultra für den Carvalho-Kenner, hier erfahrt er alles über das Vorleben, die gescheiterte Ehe und die Grundmaximen seines Lebens! Der Lyriker, Romancier, Essayist und Journalist Vázquez Montalbán, Jahrgang 1939, gehört schon seit langer Zeit zu den profiliertesten spanischen Gegenwartsautoren. In der Reihe rororo-thriller liegen vor: Carvalho und der tote Manager (Nr. 2680), Tahiti liegt bei Barcelona (Nr. 2698), Carvalho und der Mord im Zentralkomitee (Nr. 2717), Carvalho und die tätowierte Leiche (Nr. 2732), Die Vögel von Bangkok (Nr. 2772), Die Rose von Alexandria (Nr. 2816), Manche gehen baden (Nr. 2834) und Lauras Asche (Nr. 2882).
Manuel Vázquez Montalbán
Ich tötete Kennedy Eindrücke, Beobachtungen und Erinnerungen eines Leibwächters
Deutsch von Bernhard Straub
Rowohlt
rororo-thriller Herausgegeben von Bernd Jost
Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, März 1989 Die Originalausgabe erschien in der Primera edición en Serie Carvalho 1986 unter dem Titel «Yo maté a Kennedy. Impressiones, observaciones y memorias de un guardaespaldas» bei Editorial Planeta, Barcelona Redaktion Peter M. Hetzel Umschlagfoto Thomas Henning / Bettina Scheffler Umschlagtypographie Peter Wippermann / Sebastian Raulf Copyright © Manuel Vázquez Montalbán, 1972 Satz Bembo (Linotron 202) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 780-ISBN 3 499 42893 8 digitalisiert von bookman
Im Palast der Sieben Galaxien existiert nur eine Hauptperson: J. F. Kennedy – dem Tod näher, als er denkt!
Die historischen Persönlichkeiten, die in diesem Roman auftauchen, sind absichtlich verfälscht und existieren nur in den Fotografien und Klischees der Massenkultur. Ihre Beziehungen sind weder menschlich noch wirklich. Denen, die sie programmiert haben, übertrage ich die Verantwortung für alle entstellenden Übertreibungen.
Die Mittelklasse war in Ungnade gefallen, Mireya verschwunden, Margot tot, und jener Junge aus der Aristokratie war feige geworden und verstummt. Er beweinte den Grund seines Abschieds, beweinte den Ursprung so großen Unglücks, während die elegante Clique aus der Florida ihren sentimentalen Refrain sang. Der Tänzer, Tango von Ríel und Linyera
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aß Jacqueline mit mir, was Europa betraf, ein komplizenhaftes Einverständnis suchte, schmeichelte mir. «Unser Palast der Sieben Galaxien ist gar nichts im Vergleich mit dem Petit Trianon.» Bis zur ersten Galaxis waren das klatschende Eintauchen der Turmspringer und das Gelächter von Monsignore Cushing zu hören. Hin und wieder huschte der Schatten eines nackten Kindes über die Jalousie. Jacqueline blätterte in einem Buch von Avedon und Baldwin. In zwei großen Gläsern sprudelte das blaue Getränk und nahm allmählich das Aroma der Pfefferminzblätter an. Ich schloß die Augen, um den sexuellen Reiz des Prickelns in der Kehle zu spüren. Die Kohlensäurebläschen schmerzten beinahe. Ich begann zu schwitzen. Jacqueline schwitzte nicht unter der wunderbaren Schminke ihrer wohlpräparierten Haut. Ich ließ meinen Blick über die durchgehende Wand des kreisförmigen Raumes schweifen und erinnerte mich an eine längst vergessene durchzechte Nacht. «Haben Sie einen Dollar? Können Sie mir einen Dollar leihen?» Hastig griff ich zur Brieftasche. Jacquelines Gelächter ließ meine bereitwillige Hand erstarren. «Wunderbar! Ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht. Sie sind ein echter spanischer Caballero!» Sie setzte die entspannte Betrachtung des Buches fort, dann hielt sie es mir plötzlich offen entgegen. «Scheußlich, nicht?» Ich nickte, und sie war zufrieden. Mein Jackett wollte ich nicht ablegen, damit sie das Pistolenholster nicht sah – nicht wegen der Pistole oder wegen der Bilder roher Gewalt, die sie ihr suggerieren könnte, sondern wegen der Häßlichkeit der Bänder, die das Holster wie ein unheimliches Invalidenkorsett hielten. Aber ich schwitzte. Außerdem war es wahrscheinlich heiß. Ich erhob mich und trat mit gespielter Gleichgültigkeit an die Jalousie. 9
Auf dem Rasen verzehrte die Kennedy-Familie belegte Brötchen. Es dämmerte. Das Wasser im Swimmingpool gewann durch die grauen Schatten eine trügerische Ruhe. Ein schwarzer Diener fischte welke Blätter heraus. Robert Kennedy machte einen Handstand, und seine beiden älteren Söhne taten es ihm nach. Ich schaute, traute meinen Augen nicht und schaute noch einmal hin: John F. Kennedy saß in der Krone einer Roßkastanie und rauchte eine ellenlange Friedenspfeife. Der Schatten einer Wolke vertiefte die Dämmerung, die Haut der Menschen und der Welt verdunkelte sich, und das jäh aufblitzende Weiß des Kennedyschen Familiengebisses kam noch besser zur Geltung. Jacquelines Stimme erreichte mich wie etwas Vertrautes, das ich bereits zu vermissen begann. «Glauben Sie, unser Überwachungssystem sei nicht in der Lage, Carvalho aufzuspüren?» «Sie kennen die Galicier nicht.» «Oh, doch! Ich kenne einen oder zwei, einen Grossisten aus Detroit und einen Koch aus Adlai. Ich habe an ihnen nichts Besonderes bemerkt, jedenfalls sind sie nicht unsichtbar.» «Sie sind so verbissen und gefährlich wie die Juden.» Jacqueline legte einen Finger an die Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen, und schaute argwöhnisch in alle nicht vorhandenen Ecken des runden Zimmers. «Bitte, seien Sie still!» Man hörte die üblichen Klänge eines Cellos:18.30 h Washingtoner Zeit. Jacqueline stand auf, ich ebenso. Sie drückte einen Knopf. Eine Feder ließ das Regal zur Seite gleiten. Ich öffnete die Fahrstuhltür und war fast augenblicklich mit Jacqueline in der siebten Galaxis. Der Saal, einen Quadratkilometer groß, war ganz in einem farblosen Ton gehalten. Ein schwarzlackiertes Podium schwebte in der Luft, darauf saß Pau* Casals. Er spielte die Sardana**, die 18.30 h Washingtoner Zeit anzeigte, die Sardana von St. Martí del Canigó. Nackte Damen standen an den Ecken des Podiums wie nachdenkliche Wasserspeier über der farblosen Leere. In den Pausen strich der Meister, wie auf der Suche nach dem richtigen Ton, mit seinem Bogen bald * Katalanisch für ‹Pablo› ** Katalanischer Nationaltanz
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über einen Rücken, bald über ein paar wächserne, durch die Beugung hervortretende Hinterbacken. Danach setzte er in wundervollen Miautönen sein Spiel fort – vorausgesetzt, daß es überhaupt wundervolle Miautöne gibt. In dem Raum war die Schwerkraft aufgehoben, und es dauerte lange, bis das Kissen, das mir Jacqueline zuwarf, in meiner Hand ankam. Ich setzte mich in der Luft darauf und riß den Mund weit auf, um das Glücksgas (Patent Westinghouse) einzuatmen. Das Gas strömte durch rhombische Löcher herein und schmeckte leicht nach Ginger Ale.
Jacqueline ist rundum glücklich, wenn sie irgendwelche Gespräche über den Palast der Sieben Galaxien führen kann. Sie zeigt ihn in seiner ganzen Komplexität und in vollem Umfang, mit der vertraulichen Begeisterung einer jungverheirateten Ehefrau, die ein ums andre Mal ihre 70 Quadratmeter große Sozialwohnung vorzeigt. «Diesmal werden wir 10 000 qm durchqueren, fast ohne es zu bemerken; denn ein Transportband sorgt für privilegierte, mühelose Fortbewegung!» Jacquelines verkümmerte Sprachentwicklung ist nicht zu überhören, wenn sie einen in der Sonne blitzenden, vier Meter hohen Menhir aus purem Stahl als ‹sehr niedlich› bezeichnet, auf dem wie auf einer kaiserlichen Stele der Stammbaum der Kennedys in seiner ganzen Länge vermerkt ist. Ebenso, wenn sie mit wohleinstudierter Beinahe-Hysterie ausruft: «Wie rührend!», während wir das Labyrinth betreten, das bis ins Detail genau den Hollywood-Kulissen der Technicolorversion von ‹Phantom der Oper› nachgebaut wurde. Sogar in den Bodenkammern, die von A bis Z nach den angeblichen Jugendromanen der Alcott eingerichtet sind, glaubte sich Jacqueline zu einem erläuternden Kommentar verpflichtet. Das Wort ‹hervorragend› quoll zwischen ihren hübschen Lippen hervor, als sei sie ein Vertreter von Nippes aus gefaltetem Papier, von hölzernen Kinderklappern schlechtester Qualität, bemalt mit gelber Anilinfarbe, oder von kleinen Windmühlen aus Papier und weichem Bambus, der beim Kauen noch nach Uferschlamm schmeckt. Jacqueline führte uns wie im Flug von den Bodenkammern bis in 11
die Keller, als säßen wir auffliegenden Teppichen – ein Eindruck, den uns das Genie Reagan mit unwiderstehlicher magnetischer Überzeugungskraft suggeriert. Jacqueline erzählte, wie sie gegen den Widerstand ihrer Schwiegermutter durchgesetzt hat, daß der Palast nach den Plänen Walter P. Reagans gebaut wurde. «Ich könnte Ihnen einiges erzählen! Wenn Sie wüßten, was ich weiß und was ich mir alles anhören mußte!» Aber heute ist sie glücklich, wenn sie den Raum der Winterfreuden betritt und plötzlich auf Skiern mit der Geschwindigkeit und dem Geschick eines Toni Sailer einen endlosen Abhang hinunterschießt. Selbst ich fuhr schnell und geschickt hinab – ich, der ich noch nie auf Skiern gestanden hatte, außer einmal, notgedrungen, bei der schon hinlänglich bekannten Verfolgung von James Bond auf dem literarisch verfälschten Höhepunkt von ‹Im Dienste Ihrer Majestät›. Wenn alle Verfolger Bonds wüßten, was ich weiß, könnten sie sich sein wunderbar anmutendes Entkommen leicht erklären. Jeder Erlebnisbereich des Palastes ist ein Wunder des überragenden Talents seines Architekten und Planers, des unvergleichlichen Walter P. Reagan. Schon im Alter von 18 Jahren überraschte er die Fachwelt mit seinem Palastentwurf für die Kennedys. Seine guten gesellschaftlichen Beziehungen hatten ihm schon in jungen Jahren die Türen zu dieser Familie geöffnet und das ermöglicht, was damals als das ehrgeizigste Projekt amerikanischer Architektur seit dem Bau der Rocky Mountains bezeichnet wurde. Ein Studium des Entwurfs und die Lektüre seines skandalösen Manifestes ‹Für ein vegetales Konzept der Architektur› zeigen den absoluten Maximalismus Reagans im Vergleich zu seinen zeitgenössischen Kollegen. Reagan reißt die Schranken zwischen Architektur, Kosmologie und Poesie nieder und versteht seine Tätigkeit als ‹poiésis›*, die alle Bereiche in sich vereinigt. Schon die Bezeichnung ‹Palast der Sieben Galaxien› ist reine Poesie; richtig wäre eigentlich ‹Palast der Sieben Planeten›. Sieben Sphären aus einer Metallegierung bewegen sich in Translation und Rotation um eine Antriebsachse. Röhrenförmige Verbindungsstücke verleihen ihm Ähnlichkeit mit einem Funktionsmodell des Planetensystems. Jede dieser sieben Sphären erfüllt * Altgriech. ‹Schöpfung›, ‹Poesie›
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eine Funktion innerhalb der vielfältigen Lebensbereiche der großen Kennedy-Familie. Als guter Kenner der Geschichte der psychologischen Architektur antizipierte Reagan den Wunsch nach Mimikry und schuf integrierende, mimetische Spannungsfelder, in denen die Inneneinrichtung den seelischen Habitus der Personen ‹übersetzt›. Nicht umsonst vernachlässigt er die Form und behauptet, sie sei ein Moment fast unmerklichen Übergangs, die feine Grenzlinie zwischen der Geschichte der großen Außenwelt und der Geschichte der Intimsphäre. «Es gibt eine Geschichte der Intimsphäre», sagt Reagan, «die man bei jeder Konzeption von Innenarchitektur berücksichtigen muß.» Die fundamentalen dialektischen Spannungen zwischen Tradition und Revolution implizieren eine große dialektische Spannung (‹dolein›), die die dialektischen Spannungen zwischen Sektor und Niveau (‹dolein alpha› und ‹dolein sub›) miteinander in Korrelation bringt. Daraus folgt, daß die Deduktion einer Planungslinie durch einen Komplex historischer Wahrnehmungen hindurchführt, die über das Strukturelle vom Allgemeinen zum Bekannten gehen. Nach Reagan wäre der vollkommene Architekt gottgleich oder gottähnlich: «Der perfekte Architekt wäre Gott, aber da es im Moment der Planung bewohnbarer Einheiten sehr schwierig ist, ihn zu konsultieren, muß man ihn ersetzen, egal, auf welche Weise.» Der Architekt, der sich einer quasi totalen Erkenntnis des historischen Merkmals (‹sadorein›) am weitesten annähert (die aber niemals absolute Erkenntnis sein kann), ist derjenige, der einer möglichst wenig unvollkommenen Lösung am nächsten kommt. Daher macht Reagan einige real nicht durchführbare Vorschläge zur beruflichen Ausbildung, die den Architekten zu einem Gelehrten im Sinne der humanistischen Renaissance machen würden, der das Niveau, die Vielfalt und die Tiefe des heutigen Wissens besitzt. «Sollte die Architektur nicht in der Lage sein, eine exakte Antwort auf die Bedürfnisse zu finden, die sich aus den verschiedenen Lebenskonzepten ergeben, wäre es besser, völlig auf sie zu verzichten. Der ‹cogitus interruptus›* ist dem Nachweis des Scheiterns an den eigenen Grenzen vorzuziehen. In diesem Fall ist es wirklich * Cogitus von lat. cogitare: denken
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besser, ein Wohnen unter Brücken oder unter freiem Himmel zu propagieren, in keinem anderen Ambiente als der Natur selbst.» Jacqueline, die Berge populärwissenschaftlicher Zeitschriften zu dieser Frage gelesen hat, kritisiert Reagans Maximalismus. Wallace Ivens selbst formulierte die Kritik in einer kürzlich publizierten Exegese von Reagans Lehre: «Reagan machte den Fehler, sich von einer kulturell korrekt begonnenen Logik mitreißen zu lassen, die an einem bestimmten Punkt den historischen Rahmen verläßt und sich in ein voluntaristisches, ethisch-ästhetisches Programm verwandelt. Es ist äußerst problematisch, der Menschheit nahezulegen, sich den Unbilden der Witterung auszusetzen, und zwar nicht wegen der mangelnden Befähigung 90 Prozent aller Architekten, sondern wegen ihrer mangelnden Eignung für das Wohnen in freier Natur. Es ist ebensowenig ratsam, wenn dies ökonomischen Bedingungen entspringt, die dem eigenen Unvermögen oder der mangelhaften gesellschaftlichen Organisation anzulasten sind.» Jacqueline ist sich der Übertreibung dieses höchst komplizierten ‹Enfant terrible› genau bewußt. «In der Zeitschrift der Harvard-Absolventen wurde behauptet, Walter und ich hätten am letzten Jahresende miteinander geflirtet. Halten Sie das für möglich? Nein, nein. Es war nichts. Wir sind einfach gute Freunde.» Walter P. Reagan ist ständig in Bewegung. Obwohl enttäuscht von der sofortigen und wenig reflektierten Übernahme seiner Theorien, spielte er doch nicht das Spiel aller Subkulturpropheten mit, die dieses Land in jeder Minute hervorbringt, um die Gesamtnachfrage der überflüssigen Bildungsbevölkerung nach Abwechslung zu befriedigen. Unter der Regierung Doktor Jagans leitete Reagan eine Zeitlang die Raumordnungsplanung in Guayana. Aber nach dem Sturz der ‹Roten Ehe› ging er auf Reisen. Seine abenteuerliche Route verliert sich in Thailand, um in Nepal oder Acapulco wieder aufzutauchen. Als Sohn einer der besten Familien Bostons, deren Stammbaum bis zur ‹Mayflower› zurückreicht, kann sich Reagan den Luxus leisten, konsequent und in der Konsequenz ausdauernd zu sein. Dennoch gibt es Leute, die ihn als ‹Salonarchitekten› bezeichnen, der ‹vom gefräßigen Appetit gebildeter und sensibler Minderheiten verbraucht› sei. Nicht, daß Reagan niemals über 14
den Horizont dieser Klientel hinausgesehen hätte; auf internationaler Ebene ist es möglich, daß er sie immer verachtet hat. «Die Welt – op. cit. – sollte durch die Architekten reorganisiert werden. Ihr Äußeres spricht die Sprache ihres eigenen Unvermögens und Tohuwabohus. Mit der Verbesserung ihres Äußeren würde sich vielleicht ihre Geschichte verbessern. Nein, nicht nur vielleicht: «Ich kann es sogar mit der Hand auf der Bibel beschwören.» Die Änderung des Äußeren (‹sundergrafus›) darf, so Reagan, nicht auf ein Gebiet beschränkt bleiben: «Genauso, wie der Klassenkampf nur ein internationales, kein partielles Happy-End haben kann, wird die kosmische Reorganisation widersprüchlich bleiben, solange sie nicht universell ist. Ich bestreite nicht, daß eine Konzeption wie die meine utopisches Niveau besitzt, soll sie doch nicht einfach über die Konstitution einer weltweiten Herrschaft der Architektur verwirklicht werden, sondern darüber hinaus zuerst den Nachweis der Notwendigkeit dieser Konstitution führen. Diese Notwendigkeit existiert, aber ihrer Bewußtmachung treten mächtige ökonomische und politische Interessen und Kräfte entgegen, die auf keinen Fall einen revolutionären Prozeß riskieren wollen. Trotzdem ist die Notwendigkeit der kosmologischen Reorganisation immer mehr eine unabwendbare Tatsache. Die menschliche Gemeinschaft wird der Sorge um die Ökologie immer größere Priorität einräumen. Ist diese Notwendigkeit einmal formuliert, wird nichts anderes übrigbleiben, als sie zu erfüllen, bevor es für das weltweite Bewußtsein allzu offensichtlich sein wird, daß die etablierte Repression die Bremse des Fortschritts ist. Die etablierten Mächte werden sich auf die kosmologisch-architektonische Revolution eher einlassen als auf die andere. Was sie in ihrer philisterhaften Beschränktheit nicht erkennen, ist die Tatsache, daß es zwischen den verschiedenen Sektoren und Ebenen ein einigendes Gummiband gibt, das sie in ein wechselseitiges Spiel von Kettenaktionen und Kettenreaktionen einschließt. In derselben Art, wie ein fauler Apfel alle anderen im Korb infiziert, führt die ökologische zur geschichtlichen Wahrheit.» Kennedy kannte Reagan seit seiner Jugend. Er hatte ihn in begründeter Hoffnung auf seine Genialität stets geschätzt. Jacqueline erzählt, daß Kennedy, als Walter ihm den Entwurf des Palastes ge15
zeigt hatte, die Bemerkung machte: «Wenn ich mir einen solchen Palast baue, wird es zum ersten Militärputsch in der Geschichte der Vereinigten Staaten kommen.» «Genau darum geht es», erwiderte Reagan, der in Politik, Religion und Mathematik dem Antipossibilismus huldigt. Dieser brutale Kommentar führte weder zu einer Abkühlung der Beziehung zwischen den beiden Männern, noch vereitelte er, trotz der Widerstände von Rose, das Projekt. «Das nenne ich, den Arm weiter auszustrecken als der Ärmel reicht! Das fehlende Geld wird der alte Joe schon zuschießen, und ich kann auf eine Menge Dinge verzichten, die ich seit der Großen Depression angeblich brauche.» Jacquelines Beharrlichkeit siegte über alle Schwierigkeiten, und der Palast wurde zwei Wochen nach der Amtsübernahme des Präsidenten eingeweiht. Um den Schein zu wahren, täuschen die Kennedys vor, daß sie im Weißen Haus wohnten. Die Existenz des Palastes ist unbemerkt geblieben, da Reagan ihn aus gutem Grund hoch oben in der Luft gebaut hat, den Blicken verborgen durch eine gasförmige, suprakalte Substanz, die die feste Materie der Konstruktion transparent macht. Ein Zeitvertreib, weshalb der kleine JohnJohn am häufigsten gescholten wird, besteht darin, schändliche, unbeschreibliche Flüssigkeiten auf das Weiße Haus hinunterzuschütten, das günstigerweise genau unter seinem Zimmer im Palast der Sieben Galaxien liegt.
Die Ausbildungskurse waren nicht schlecht. Allerdings war der Prozeß der ersten Metamorphose etwas lästig, aber mehr wegen mangelnder psychologischer Voraussetzungen als aufgrund von Handlungen und ihren Folgen. Die ersten Tage der Individuierungsbehandlung deprimierten mich. Meine eigene Schwerfälligkeit hielt mich trotz der vorsorglichen Ratschläge von Mr. Phileas Wonderful davon ab, den Arzt zu verständigen. Ich setzte den ständig wiederholten Worten des Lautsprechers in meiner engen Flasche weiterhin geistigen Widerstand entgegen. Ich wollte es einfach nicht glauben. «Jeder ist beim Erwachen genau 16
derselbe wie am Vortag», sagte die näselnde Stimme, und ich befürchtete eine globale Verschwörung, mich auszutauschen. 30 Tage lang blieb ich in dieser Flasche, eingetaucht in jene malvenfarbene Flüssigkeit. Alles lief wie vorgesehen. Am 20. Tag erlebte ich ein Gefühl der Verdinglichung, als enthalte die Flasche nichts anderes als Flüssigkeit, und ich selbst sei ein Teil davon. Zwei Tage darauf erfolgte die erwartete Reaktion: Ich hatte das Gefühl, als sei in mir ein fester Kern entstanden, der Wurzeln schlug; ein dreifaches Herz und ein dreifaches Gehirn, im Gleichklang gewachsen im Zentrum meiner Überlegenheit. Ich fühlte mich stark und einsam, wobei meine Stärke eine lineare Funktion meiner Einsamkeit war. Im theoretischen Unterricht hatte man uns bis zum Erbrechen die Geschichte des ersten Individuierungspioniers erzählt, eines japanischen Autodidakten, der sein Experiment zwar erfolglos abgebrochen, aber eine hochinteressante Tür aufgestoßen hatte. Eingeschlossen in eine leere Wohnung – absolut leer, mit dem Staubsauger waren auch die letzten Staubfasern entfernt worden –, gelang es ihm, nackt und reglos drei Monate ohne Nahrungsaufnahme zu überleben. Aber seine Schreie und ein ungewöhnlicher Oxidgestank erzwangen den Abbruch des Experiments. Der Lehrer zeigte mit einem langen Stock an der Tafel die drei grundlegenden Fehler unseres Vorläufers auf: A) Die Nichtidentität zwischen Umgebung und physischer Nahrung. Man überwindet sie in der Tat durch völliges Eintauchen in Embryonalflüssigkeit. B) Die fehlende psychologische Vorbereitung. Um das Herbeiströmen von ‹Gedanken› (im negativen Sinne) zu bekämpfen, hatte der Pionier ständig Abschnitte aus dem ‹Roten Buch› des Vorsitzenden Mao wiederholt. Dies hatte grundsätzlich das Erreichen einer willkürlichen, totalen Lethargie verhindert. C) Die Unbrauchbarkeit des ausgesuchten Raumes für den Einschluß und den Individuierungsprozeß. Chester B. Whole vervollkommnete das Verfahren. Sofort wurden Individuierungsklubs gegründet, zu denen nur Millionäre und hochrangige Militärs Zugang hatten. Glücklicherweise wurde in einer der Genfer Konventionen beschlossen, die Individuierung auf 17
nach Berufen ausgewählte Individuen zu beschränken: Geheimagenten, Politiker, Kardinale, Großstadtsoziologen, theoretische Mathematiker, Opernsänger, Akrobaten, Taubstumme und Mitglieder von Geheimbünden.
Warum erscheint mir die Musik von Casals immer wie ein Abschied? Wie der Abschied eines würdigen, aber listigen Rabbiners, der in die Diaspora gehen muß. Unter einem Zylinder erreicht der Gesang des Rabbiners ein gewichtiges Kolorit, falls es überhaupt so etwas wie ein gewichtiges Kolorit geben sollte. Jemand hatte mir einmal gesagt, in den Geräuschen von Bach manifestiere sich das Eindringen der Bourgeoisie in den Überbau. Im Zustand der Schwerelosigkeit ist es sehr viel leichter, linguistische Konventionen wie ‹Pathos› und ‹Größe› sinnlich zu erleben. Der Geist macht seine Zellen zur Vergewaltigung bereit. Eines Tages wird die Biologie sein Versteck in den zartesten Häuten des Körpers entdecken und diese wie japanische Perlen kultivieren. Oder sie wird sie endgültig vernichten, wie es die statistischen Voraussagen nahelegen. Man weiß nicht, aus welchen Kanälen jenes spezielle Blut stammt, das zur geistigen Vergewaltigung so notwendig ist. Man kennt die Symptome: Die Schließmuskeln ziehen sich zusammen, der Brustkorb platzt beinahe, und man wird von einem Gefühl überschwemmt, das vom Affen stammt. Es ist das Tremolo des Bittgebets, ohne Zweifel eines rabbinischen Bittgebets. Ich habe die Berge gesehen, die Berge, die englische Flugzeuge töten. Ich sah sie auftauchen jenseits der Abgründe von Sitjar, wo Kühe kostspieliger Herkunft fallen, sogar Kühe, die sich sehr gut eignen für das Einfrieren ‹sine qua non› im Rahmen des ‹Tiefkühlnetzes›. Aber ich könnte schwören, unter dem rabbinischen Bittgebet pulst der winzige Stolz des Pfadfinders. Selbst die Fugen, die flüchtigen Klangkadenzen stehen in enger Beziehung zu den Trainingsspielen der Pfadfinder. Und diese Grandezza! Oh, diese Grandezza, verschwendet in Adelstiteln. Die Legende der Jahrhunderte! Bei Gott, welche Schande! 18
Wie ein Cocktail Wodka und Gin, wie ein ‹White Angel›, den ein leicht glatzköpfiger, etwas schwuler Barmann namens Truman Capote serviert. Es ist eine Aufforderung zum Heldentum. Die ganze Kunst ist eine Aufforderung zum Heldentum. Sie stärkt Hände und Rückgrat und schwächt den Schwanz. Erhabener Schwindel, Kupplerin der angeblichen Menschenwürde! Aber ich trage ein Pistolenholster, ich werde es immer besitzen. Ich werde bis zur letzten Patrone auf jedes Schwein schießen, das bei der verfaulten kollektiven Würde der Gattung Zuflucht sucht. Welcher Blindheit entstammt diese verfaulte Würde? Wer mißt ihr Gewicht, wer ihre Qualität? Ich möchte gerne auf dieser Parzelle des Nichts verweilen. Es sollte immer diese Musik gespielt werden, immer von diesem Alten, den die Geschichte und seine eigene semantische Form zugrunde gerichtet haben. Es stimmt nicht, daß jede Landschaft für Abschiede geeignet, jede Melodie für die Erinnerung tauglich ist. Ich will diese Melodie bei meinem letzten Abschied hören. Wenn in unseren Adern Bacterioons U-Boote zirkulieren, wenn die Würfel gefallen sind und das ganze Heldentum endgültige Kontingenz erreicht hat. Ja, dann werde ich im Innern meines blutrünstigen Gehirns zwei Klappstühle aufstellen, mich aufs Geratewohl neben irgendeinen Priester der Menschenwürde setzen und ihm ins Gesicht schlagen, während eines perfekten Verhörs, das keine andere Beweiskraft hat, als die Tatsache des Vorgangs selbst, des Verhörs ohne mögliche Antworten. Trägheit und Hast werden sich abwechseln; Bacterioons U-Boote werden schon nahe sein. Er wird vergeblich versuchen, diesseits oder jenseits des Paradieses Stellung zu beziehen. Das Elfenbein und das zerfetzte Rot der Alveolen werden ihn zu Boden schleudern. Dann will ich diese Musik, genau diese, ganz, von Anfang bis Ende, und ich werde ihm ins Gesicht schreien: «Da hast du die kollektive Würde deiner verdammten Gattung: Ein Zusammenspiel von Geräuschen mit gesichertem Erfolg, das ohne die ganze Bildungswichserei gar nicht existieren würde.» Der Priester wird weinen, und furchtbarer gelber Rotz wird über seinen pazifistischen Schnurrbart fließen. Vergeblich wird er aufstehen wollen. 19
Meine Stühle gehorchen mir. Außerdem wird sowieso schon alles sinnlos sein, denn an den Grenzen des Blutes werden Bacterioons Buge auftauchen.
Die elektrischen Trompeten verkünden pünktlich die Zeit des Abendessens in der fünften Galaxis. Jacqueline verteilt wie üblich die olfaktorischen Speisekarten: Kohltorte, Schweinefilets in Senfsoße und ‹Mousse au chocolat›. Sie muß meine ärgerliche Grimasse bemerkt haben, als ich bei den Weinen angelangt war, denn sie fragte mich mit einer gewissen Besorgnis: «Sagen Ihnen die Weine aus Monterrey nicht zu?» «Der Rosé ist im Geschmack zu sauer, er harmoniert nicht gut mit den Filets.» Jacqueline brach in Tränen aus. «Es ist Ethels Schuld. Immer gibt sie dem ‹maître› absurde Anweisungen. Ich habe in diesem Hause nichts zu sagen!» Mir wurde bewußt, daß ich im Begriff war, einen Bruch zwischen den Schwägerinnen zu provozieren, und ich lobte die vortreffliche Harmonie des süffigen Monterrey mit der Torte, vor allem, wie es gelungen war, ihm ein altes Bouquet zu verleihen. Jacquelines Verstimmung ließ nach, aber sie verflog nicht gänzlich. Den ganzen Abend lang war sie darum bemüht, meine Meinung zu den Speisen und jeder einzelnen Zutat zu erfahren. «War die Soße gut? Meinen Sie nicht, daß zuviel Sahne verwendet und der Senfgeschmack verwässert wurde? Und die Äpfel? Ist das Kernhaus sauber entfernt?» Ich bestätigte es ihr mit wachsender Begeisterung, einerseits, weil ich mich mit Vergnügen in den Geschmack des Abendessens vertiefte, andererseits, weil ich den wachsenden Groll bemerkte, mit dem Robert Kennedy Jacquelines Bemühungen um mich verfolgte. Dazuhin begann der ‹maître› mich trotz meines Lächelns zu hassen, und die mörderischen Instinkte der ‹maîtres› sind bekannt, auch derjenigen in den besten Familien. Robert Kennedys gewohnte Abneigung vertiefte sich. Auf gepflegte Art ungekämmt, mit wohlgezogenen künstlichen Falten, 20
die seine politische Reife und sein Werbelächeln akzentuierten, plauderte er mit dem sowjetischen Botschafter, und manchmal betrachteten sie mich mit ironischer Einigkeit. Während des Essens las Robert Kennedys ältester Sohn Abschnitte aus dem Buch der Könige vor. Als er zur Krönung des sieben Jahre alten Joah kam, klatschte Caroline vergnügt Beifall. Der Botschafter nutzte das Ende des Essens, um zu mir zu kommen und mir ins Ohr zu flüstern: «Geben Sie gut auf den Präsidenten acht! Das Schicksal der Menschheit liegt in Ihren Händen!» Robert Kennedy muß es gehört haben, oder er wußte schon, worum es ging, denn er warf mir einen ernsten Blick zu. Ich setzte mich zu ihm an den Kamin (mitten im Sommer wird im Palast der Sieben Galaxien ein winterliches Innenklima erzeugt, um das brennende Kaminfeuer zu rechtfertigen). Der ehemalige Justizminister bedeutete mir mit einer Geste, seinen Bruder anzuschauen. J. F. Kennedy las in gewohntem Tempo. Eine Seite folgte der anderen, wie bewegt durch einen automatischen Mechanismus, der auf seine Augen abgestimmt war. Für eine Seite von Hemingway brauchte er eine halbe Sekunde, für eine aus der «Kritik der reinen Vernunft» zwei Sekunden. An Tagen besonderer geistiger Frische war er imstande, drei Bücher gleichzeitig zu lesen. «Wie der heilige Franziskus von Sales», bemerkte Robert, der niemals etwas las. Plötzlich erhob sich der Präsident und ging zur Tür. Ich folgte ihm, entschlossen, ihn nicht einen Moment allein zu lassen, den Blick des sowjetischen Botschafters im Nacken. Aber Robert und Edward stürzten sich auf mich, drehten mir die Arme auf den Rükken und warfen mich zu Boden. Sie schlugen wahllos auf mich ein, bis die Lichter ausgingen. Wieder hörte man das Cello von Casals, und eine Mauer wurde durchsichtig. Dahinter kam die Wasserfülle eines Luxusschwimmbeckens zum Vorschein. Ein Dutzend schöner, bunter Fische schwamm vorbei, gefolgt von John Steinbeck und Nelson Algren im Kostüm viktorianischer Froschmänner. Das ‹Magnificat› erklang. Ich befürchtete das Schlimmste. Mir schmerzten alle Knochen, Edward Kennedy saß immer noch auf meinem Rücken, und einer von Roberts Füßen drückte meinen Hintern gegen den Boden. 21
Aus den Kehlen drang ein allgemeines ‹Oh›. J. F. Kennedy durchquerte das Schaufenster mit perfekten Kraulstößen. Er trug den Anzug eines wohlhabenden Froschmanns. Edward Kennedy umarmte mich begeistert und drückte einen Kuß auf meine Schläfe.
Das Schwierigste war, das Töten zu lernen. «Das Zögern», sagte der Lehrer, «ist im allgemeinen nicht durch einen natürlichen, sondern einen anerzogenen Widerwillen bedingt.» Der Lehrer war kein Deutscher, wie Sie vielleicht vermutet haben. Er war Schweizer, ein früherer Uhrmacher, der sein Wissen in der direkten Betrachtung der Natur erworben hatte. «Der Akt des Tötens ist instinktiv und gehorcht einer vitalen Logik. Später wird er durch Hemmungen verfälscht. Die Hemmungen sind durch das moralische Mäntelchen getarnt. Aber in Wirklichkeit ist der Widerstand rein durch die Form bedingt, die während einer langen visuellen Erziehung in Mißkredit gebracht worden ist. Erinnern Sie sich an das erste Bild des Todes, das sich ihrem Gehirn eingeprägt hat? Kain, wahrscheinlich sehr häßlich, mit dem riesigen Kiefer eines Esels in der Hand. Abel, bartlos, bleich, am Boden liegend. Dann die Literatur, das Kino, alles tendiert dazu, den Tod zu diskriminieren, obwohl er in gewissen Grenzen akzeptiert wird, wenn der Held selbst ihn austeilt. Beachten Sie, daß der Schurke ohne Beherrschung und ohne Grenzen tötet. Die Gemetzel des Helden dagegen müssen immer ethisch und ästhetisch gerechtfertigt werden. Man hat den Tod ausgegrenzt: Er ist entweder heroisch oder peinlich. Im Laufe Ihres, wie ich Ihnen wünsche, langen Berufslebens werden Sie feststellen, daß der Tod nichts anderes ist als ein erfolgreicher Griff.» Die Theorie des erfolgreichen Griffs beherrschte die fünf Wochenstunden Unterricht in der Kunst des Tötens. Ebenso beherrschte sie meine unregelmäßigen Gespräche mit Wonderful, dem Direktor der Schule, der immer so freundlich zu mir war. Der praktische Unterricht war zu Beginn sehr nervenaufreibend. Wir begannen mit Feinden aus Lumpen und endeten mit echten menschlichen Versuchskaninchen 22
während der Abschlußübung des Kurses. Wir lernten zunächst schießen, das Töten mit dem Dolch und das Erdrosseln mit der indischen Schlinge. Nach den Übungen wurden Varianten zugelassen. Meine Version der Erdrosselung, bei der ich die indische Schlinge durch eine Kette der Toilettenspülung ersetzte, fand viel Beachtung. «Ein Mord ‹in situ› und mit Material, das gerade zur Hand ist», bemerkte der Lehrer, wie es der zu früh verstorbene Orestes Docali nicht besser ausgedrückt hätte. Aber das Töten mit bloßer Hand war am schwierigsten. Der menschliche Körper hat 22 tödliche Punkte. Man trifft sie durch einen gezielten Schlag oder mit entsprechendem Druck. Die Hand kann, wenn sie richtig ausgebildet ist, in das gegnerische Gewebe eindringen, den Lebensnerv packen und an ihm zerren, bis er reißt. Die Feinde sterben also mit perfekter Sauberkeit, die Augen geschlossen, die Lippen ebenfalls, ohne einen Ausdruck, der den Angreifer schuldig spricht. Seine Arme geben nach, die Hände werden abwehrend ausgestreckt, aber ohne den Gegner zu berühren. Das ist so ähnlich wie die Probe beim Multiplizieren: Hat man diese Gestik erreicht, ist die Hinrichtung perfekt durchgeführt worden. Es ist wichtig, den leblosen Körper zu verlassen, ohne ihn anzusehen. Man wird den Toten schnell vergessen haben, wenn man keine Schuldgefühle mehr kennt. Zuerst töteten wir Strohpuppen, perfekte Nachahmungen des Menschen. Wir gaben ihnen menschliche Namen, wir lebten mit ihnen zusammen. Man gab uns Zuneigungsdrogen, und wir hatten sie gern. Plötzlich bekamen wir dann in verschlüsselter Form den Tötungsbefehl: Jedes Zeichen bedeutete einen bestimmten Griff. Wirkliche menschliche Wesen zu töten erfordert mehr psychologisches als manuelles Geschick. Es waren Südländer aus aller Welt. Ich weiß nicht, ob dieser Begriff genügt. Die geringe objektive Wertschätzung seiner Bewohner ist fast überall charakteristisch für den Süden. Er ist als geographischer Bezug immer relativ, weil er dem Gebiet gegenüber, das noch weiter im Süden liegt, immer Norden ist. Aber jeder Süden, darauf wies mich Mister Phileas Wonderful hin, ist gegenüber seinem jeweiligen Norden menschlich deklassiert. Sie wußten, worum es ging. 23
Sie taten es als Gegenleistung für eine Lebensversicherung. Als nichtindividuierte Wesen waren sie irgend jemandem gegenüber gefühlsmäßig verpflichtet. Deshalb brachten sie dieses totale Opfer. Es waren alte Hunde ohne Rasse, mit feuchter Schnauze und leeren Augen. Trotz ihrer Nichtigkeit ließen sie sich ihre letzte Arbeit teuer bezahlen, so teuer, daß unser Schatzmeister laufend über die steigenden Preise klagte und uns dann auseinandersetzte, wie notwendig die Genehmigung eines Systems wie der früheren Sklavenjagden oder der wissenschaftlichen Liquidierung Gefangener sei. Später, als Profi, muß man ständig töten. Dann setzen sich die Opfer zur Wehr; einige können genausoviel wie man selbst. Als wir seine Pensionierung feierten, bemerkte der alte Wonderful treffend: «In unserem Metier lernt man jeden Tag etwas Neues.» Wonderful hatte es zu einer beträchtlichen Pension gebracht. Er war einer der bestbezahlten Geheimagenten, und das zu Recht. Er war ein Grandseigneur in diesem Beruf, in dem es so viele Nullen gibt. Er hatte es verstanden, sich etwas für das Alter zurückzulegen, und das ist die oberste Weisheit eines guten Agenten. Allerdings, das muß man wirklich sagen, werden in diesem Beruf alle möglichen Schweinereien geduldet, die Pension ist ziemlich gut und der Rabatt in den Einkaufszentren beträchtlich. Neulich kaufte ich mir eine Sprungfedermatratze für sage und schreibe fünf Dollar!
Am Hof der Kennedys leben dalmatinische Eunuchen, kastriert am Strand von Long Island, zusammen mit Chauffeuren aus Nanterre, hervorragenden Schweizer Köchen, einem sowjetischen Botschafter, ‹Pom Pom Girls› aus Kalifornien, Witwen aus fünf Weltkriegen, zwei australischen Wehrdienstverweigerern, einem Tischtennisweltmeister, der seine Lieblingsplatte mitgebracht hat, drei schwulen Hemdenschneidern, die in separaten Zimmern schlafen, einem Gaucho, den Ted nach allen Regeln der Kunst ausgestopft hat (er ist ein frühreifes Talent darin, Rose hat ihm zur Erstkommunion eine komplette Ausrüstung geschenkt), einem baskischen Pelotaspieler mit zusammengewachsenen Augenbrauen, einem halben Dutzend Sängern, soft wie Batida mit Vanille, zwei alten Seemän24
nern, die in zwei sehr dicke Sirenen aus Syrakus verliebt sind, zehn Zivilverteidigern mit ihren entsprechenden Mandanten, einem bösen Sheriff, zwei guten Sheriffs, einem tuberkulösen Jazz-Schlagzeuger, der in allen Klos von Boston masturbiert, einem TiefseeAgronom, der sich aufgepfropfte Rosalind-Algen spezialisiert hat, einem Mottenkastrierer, einem konkreten Poeten, der beim Gehen knirscht, einer samojedischen Jungfrau, die sich am Nordpol verlaufen hat, einer spanischen Fachärztin für erogene Zonen, zwei Jazz-Sängern mit Kehlkopfkrebs, einem Mittelverteidiger von ‹Manchester-United› und einem linken Innenverteidiger von ‹Manchester-City›, einem deutschen Philosophen, der sich auf sich selbst spezialisiert hat (auf den Fluren geht seine Frau vor ihm her und bittet alle, die ihnen begegnen, um Ruhe), zwei Stadtteilvereinspräsidenten aus Ankara, einem Vetter ersten Grades von Hitler, der beim Gehen und bei der Intonation des Wortes ‹Spachtel› sehr viel Ähnlichkeit mit ihm hat, einem Meteorologen, einem Hühnerdompteur, einem florentinischen Zahnarzt, in Mülleimern ausgesetzten Liliputanerfürsten, einem Simultan-Schachgroßmeister, dem ukrainischen Übersetzer von Oscar Wilde und der echten Zarentochter Anastasia, dem letzten legalen Trumpf, den der Westen im Ärmel hält, um, eine Sekunde vor dem Nuklearangriff, den Thron der Sowjetunion zu beanspruchen.
Das erste Mal sprach ich mit Kennedy unter der Lincoln-Statue. Der Präsident geht gewöhnlich um diese Statue herum spazieren, begleitet von seinen zwölf schwarzen Adjutanten, die sich mit der Perfektion der ‹Boys› von Ethel Merman bewegen. Dort wurde ich ihm von Allan Dulles vorgestellt, der unablässig Bananen aß. Er bekam sie von der ‹United Fruit Company› in besonderen Kisten aus Guatemala. Der Präsident lehnte die Banane ab, die ihm Dulles anbot, und zauberte dabei ein Lächeln wie für die Zeitschrift Life auf sein Gesicht – nicht für ein ganzseitiges Foto, auch nicht für ein zweispaltiges, eher für eins dieser kleinen Fotos ohne Untertitel, die gewöhnlich neben der Zweitüberschrift eines Kennedy-Artikels in kennedytreuen Frauenzeitschriften gebracht werden. Das Lächeln 25
von J. F. K. war das Lächeln jener kleiner Rasterfotografien in den Ecken der Artikel, freiwillig an den Rand gerückt, um seine ausdrückliche Bescheidenheit hervorzuheben und die bewußte Aufmerksamkeit der Leser zu erregen, die in den Ecken nach Informationen von wirklichem ‹human interest› suchen. Er lächelte wie ein Vater, der seinen Sohn auf der Schulter trägt, oder ein jung Verheirateter, der sich seiner jungen Frau zuwendet und in seine Augen das Leuchten des Sonnenuntergangs auf Mallorca legt. In nächster Nähe sind die gewohnt bescheidenen Bäume der bescheidenen Fotografie in der geeigneten Ecke zu sehen sowie ein Teich mit köstlichem, in seiner eigenen Bescheidenheit verfaultem Wasser, nach Kröten stinkenden Lotusblüten und einem herrenlosen Papierschiffchen, dessen kindlicher Besitzer eigens vom State Department dafür engagiert worden ist, Papierschiffchen auf Teichen mit faulem Wasser auszusetzen, und zwar in der Nähe von Präsidenten der Vereinigten Staaten, die sich bemühen, fotogen zu sein, vor allem für Fotos in den Ecken von Life-Artikeln mit Weichzeichner und Raster. J. F. K. lächelte Allan Dulles zu, sagte etwas, und Allan Dulles lächelte ebenfalls. Sein Lächeln war eines der gelungensten Molotow-Lächeln, das ich je gesehen habe, gelungener als das von Molotow selbst. Wenn Molotow lächelt, filmen die Kameraleute aus Hollywood mit Teleobjektiv, weil sie wissen, wie begehrt sein Lächeln bei der Zusammenstellung antikommunistischer Filme ist. Das Molotow-Lächeln von Dulles war so originalgetreu, daß es die sowjetischen Kameraleute niemals filmten, um keine Gegenpropaganda zu machen. Dulles aß mit irritierender Unhöflichkeit seine Bananen. Die Reaktion des Präsidenten ließ nicht auf sich warten. Kennedy schlug ihm die Banane aus der Hand, so daß sie, stark ramponiert, auf Lincolns Adlernase landete. Allan Dulles hielt seinen rechten Arm schützend vor sich und reizte mit der Linken seinen Rivalen. Umsonst. J. F. K. machte eine drohende Bewegung mit der rechten Faust, als wolle er ihm in die Leber schlagen, und als Dulles abwehrte, traf die Linke des Präsidenten krachend die gegnerische Nase. Der Alte setzte sich schluchzend auf die Freitreppe. Er stöhnte und schimpfte, daß der Präsident so etwas nie gewagt hätte, wenn 26
sein großer Bruder noch am Leben wäre. Kennedy zitierte zwei Verse von Tennyson, die so unpassend wirkten, als hätte er sie einem schlechten Drehbuch von Paramount aus den vierziger Jahren entnommen. Allan Dulles zog ein Brevier aus der Tasche und sang einige Psalmen von David. Zu diesem Zeitpunkt übernahm es Edgar Hoover, mich vorzustellen, und löste damit Dulles in der Rolle des Förderers ab. Kennedy drückte meine Hand. Als ich ihm erzählte, daß ich Spanier sei, rezitierte der Präsident anderthalb Verse aus dem ‹Libro de Buen Amor›. Dann wechselte er schnell das Thema und betonte, wie wenig er mit dem vernichtenden Angriff von Pérez de Ayala auf Cejador einverstanden sei. «Cejador ist ein anständiger Mann.» Mit allem Respekt wandte ich ein, daß der Literatur nicht gedient sei mit Kritikern, deren Anstand ihre einzige Qualifikation darstellte. «Der aufrechte Gang ist eine Sache von großer Bedeutung.» «Aber von geringer Bedeutung in der Literaturkritik.» Der Präsident beharrte darauf, daß es heute in der Literaturkritik auf kritischen Anstand einerseits und die akkumulative Intelligenz des Kritikers andererseits ankomme. Das Scheitern der kritischen Methode sei offensichtlich, betonte er. «Natürlich wäre es höchst interessant», fügte er hinzu, «wenn wir eine Synthese zwischen der ideologischen Kritik und den Abstraktionen und Generalisierungen, die die noch in den Kinderschuhen steckende Neostilistik formuliert hat, erreichen könnten, obwohl ...» Das Erbleichen des Präsidenten zeigte uns an, daß er peinlicherweise den Faden verloren hatte. Sofort half einer der schwarzen ‹Boys› mit geschlossenen Augen aus. «... obwohl die Errungenschaften von Leo Spitzer und seinen Jungs von zuviel Ängstlichkeit gegenüber der Vorherrschaft der ideologischen Kritik in der Zeit zwischen den Kriegen zeugen. Ich verfolge ...» Aber nun hatte der Präsident den Faden wiedergefunden und fuhr mit einer sympathischen, halb erstickten und deshalb etwas unsicheren Stimme fort: «... mit höchstem Interesse die vergeblichen Bemühungen des Strukturalismus um die Schaffung einer exakten 27
Literaturwissenschaft. Der Strukturalismus ist eine vergebliche neopositivistische Anstrengung, ein Versuch des imperialistischen Kapitalismus, einen ideologischen Keil in das marxistische Gedankengut zu treiben. Vor allem, um der Kommunistischen Partei Frankreichs Stimmen abzujagen, Stimmen, die von linksorientierten Normalverbrauchern kommen, aber auch aus dem ganzen intellektuellen Kleinbürgertum.» Die Beschlagenheit des Präsidenten machte mich stutzig. Ihren Ursprung sollte ich erst ein paar Tage später herausfinden. Eins der bestgehüteten Geheimnisse des CIA ist eine Akademie von Strukturalisten, die später an die europäischen Hochschulen eingeschleust werden. Einer der Haupterfolge dieser Agenten war die Herzattacke von Pierre Vilar, als ihm ein amerikanischer Schüler versicherte, Marx habe die konjekturale Möglichkeit eines anderen, intelligenteren und marxistischeren Marx usurpiert und daher verhindert. Dies war nicht die einzige Entdeckung, die mir die durchschlagende Effizienz des ‹Braintrusts› im Dienste der Kennedys bestätigte. Das Leben in nächster Nähe der Kennedys entsprach dem Leben am sizilianischen Hof von Friedrich II., dem ‹Araberfreund›. Hatte er einen Turban getragen und arabische Gewohnheiten angenommen, so war Kennedy ein leidenschaftlicher Sammler aller erdenklichen Informationen über die Persönlichkeit Fidel Castros. Chruschtschow interessierte ihn nicht in diesem Maße. Mit Castro konkurrierte er hinsichtlich Jugend und Sexappeal. Kennedy betrachtete sich in dem Spiegel, den ihm die Begum geschenkt hatte, und fragte jeden Abend: «Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Präsident im Land?» Und der Spiegel antwortete: «Mein Präsident, Ihr seid der Schönste hier, aber Fidel Castro in Südamerika ist noch tausendmal schöner als Ihr!» Kennedy, zeitgemäßer als Schneewittchens Stiefmutter, antwortete nicht mit wütendem Geheul. Er lächelte mit einem Tropfen Melancholie in den Mundwinkeln und legte die Hand auf sein bartloses Kinn wie auf den Umschlag seines Werkes ‹Zivilcourage›. Er träumte, Imperialisten aus Costa Rica würden die USA besetzen. Dann würde er mit zwölf Getreuen in die Rocky Mountains flüch28
ten und von dort aus den Volkskrieg zur Rückeroberung der Vereinigten Staaten organisieren. Er würde sich wie Castro einen Bart stehen lassen und genau wie dieser eine so flammende Rede halten wie ‹Die Geschichte wird mich freisprechen›. Wir werden noch sehen, wie der geniale Walter P. Reagan es schaffte, Kennedys Traum ab und zu zu erfüllen. Später, schon im Begriff, sich mit der Unerfüllbarkeit des Traums abzufinden, tröstete er sich mit der Erkenntnis, daß die Bartlosigkeit für ein demokratisches kapitalistisches System dieselbe Bedeutung hat wie das Stirnrunzeln für den Stalinismus. Er betete drei Vaterunser zum Bruder Junípero Serra und vertraute seine menschliche Hülle der klebrigen, dunstigen Dunkelheit der Nacht an.
«Champolión», sagte Lady Bird zu mir, «stimmt es, daß heimliches Lauschen no dispuye la trosta dura dar carnavaco cominodo? Do yon der tupe diarianai do poyo. Do yon dai dura trosta chita. Sai, sai, la sota direta!»* Jacqueline schreibt Gedichte auf französisch. Verschiedentlich war sie schon im Begriff, sie mir zum Lesen zu geben, aber es blieb bei der Absicht; vielleicht mache ich nicht den Eindruck eines geneigten Lesers. Ich fürchte, mein Gleichmut war nicht so umfassend, wie ich glaubte. Vielleicht entdeckte sie in meinen Augen die blitzende Stilettspitze des Skeptizismus. Jacqueline ist schüchtern und nicht sehr geistreich, obwohl sie Englisch mit einer Intonation spricht, die sich sehr gut dafür eignet, Geistreiches von sich zu geben. Sie ist eine ähnliche Enttäuschung wie Lady Churchill, die ich während ihres Aufenthaltes auf den Bermudas 1959 begleitete, als ich gerade meine berufliche Laufbahn begonnen hatte. Lady Churchills sicheres Auftreten war wie eine falsche Haut über dem Fleisch ihrer Unentschlossenheit. Die Sprache Jacquelines ist eine Enttäuschung, denn ihre Augenbrauen, ihre Intonation, ihr Lächeln, selbst die Bewegungen, mit denen sie zeigt, daß sie das Wort ergreifen will, versprechen abso* Phantasiesprache, die romanisch klingen soll
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lute Brillanz. Aber über ihre Lippen kommt zu 50 Prozent linguistischer Schrott, mittelmäßig, fade, obwohl es mit einer gewissen Anmut geschieht, die sie ihrer Sensibilität und einem guten Schuß pervertierter Sentimentalität verdankt. Ich bin ein guter Beobachter der Sprache als Gesamtbild eines menschlichen Wesens. Mehr als einmal hat mir die ungeheure Beredsamkeit dessen, was meine Feinde verschweigen wollten, das Leben gerettet. Bei Jacqueline blieben mir nur wenige Prozent zu entschlüsseln. Ich kannte die linguistischen Zutaten der Schickeria Neuenglands gut genug, ebenso die abgedroschene Sprache junger Amerikanerinnen mit bilderstürmerischer Vergangenheit und künstlerischen Ambitionen, die Konditioniertheit ihrer nicht sehr großen und zu weit auseinanderliegenden Augen (deshalb ist Jacquelines Lächeln sehr viel mehr von Mund und Lippen als von den Augen geprägt) sowie den Stanislavskismus der Wirbelsäule und der gestikulierenden Arme, mit denen Elia Kazan die gebildete Sprache der sensiblen Nordamerikaner imprägniert hat. Aber es blieb ein kleiner weißer Fleck, dessen Bedeutung mir unbekannt war: das Herunterziehen der Oberlippe über die untere, wobei sich der Mund auseinanderzieht wie bei einem Entenlächeln; Jacqueline benutzte diese Mimik, wenn sie sich über etwas lustig machte oder von großer darstellerischer Genauigkeit sein wollte, das heißt auf dem Gipfel brillanter Albernheit. Als sie mir heute sagte, sie schreibe Gedichte auf französisch, habe ich begriffen, daß sie ihre besten linguistischen Mittel dem Einfluß der laut vorgetragenen französischen Lyrik und der Achtung gebietenden Aussprache von Wörtern wie ‹Mallarmé› verdankt. Das nicht veröffentlichte Buch von Jacqueline nennt sich ‹Le jeu de vivre›. Sie gebar diesen Titel mit großen Schmerzen, nachdem sie lange zwischen anderen möglichen Titeln geschwankt hatte, wie ‹La douleur des jours›, ‹Mort à l’âme›, ‹Comme ci, comme ça ...›. Steinbeck war hingerissen von dem letzten Titel, aber Jacqueline nahm Abstand davon, weil Robert dagegen war, denn der Titel zeige einen Skeptizismus, eine Unsicherheit, die der politischen Karriere des Präsidenten überhaupt nicht zuträglich sei. John F. Kennedy spielte den Unbeteiligten, aber ich weiß, daß er während eines Wochenendes in den Appalachen Jacqueline tröstete und ihr versprach, den Titel ‹Comme ci, 30
comme ça› zu akzeptieren, wenn 1968 seine zweite Amtsperiode zu Ende sein würde. Nach langem, respektvollem Bitten trug mir Jacqueline eins ihrer neuesten Gedichte auf französisch vor. Le jour béni ton nom: amertume quand le baiser fleuri est mort prèt de la nuit ton ombre rappelle une tristesse d’adieu; le fleuve plus noir n’oublie pas les chants des jours méchants et moi, moi, je suis seule et parcour les lourdes routes des désirs, les lois, l’espoir d’antan. Der Tag segnet deinen Namen: Schmerz, wenn der blühende Kuß gestorben ist nahe der Nacht, erinnert dein Schatten an die Traurigkeit des Abschieds; Der schwärzeste Fluß vergißt nicht die Lieder der bösen Tage, und ich, ich bin allein und folge den schweren Straßen der Begierden, der Gesetze, der Hoffnungen von gestern. Sie wollte nicht weiterlesen. Errötend sah sie mir in die Augen. «Ich bin so dumm! Hundertmal habe ich mir vorgenommen, niemandem von meinen Versen zu erzählen, und hundertmal fange ich wieder davon an.» «Sie sind sehr lebendig, sehr bildhaft!» «Finden Sie? Meine Schwester, die Prinzessin, ermuntert mich zu schreiben. Sie schreibt mir lange, zärtliche Briefe ...» 31
Ich versuchte, sie zum Weiterlesen zu bewegen. «Lassen Sie mich vorlesen!» «Nein, nein. Erst wenn sie überarbeitet sind.» «Ich werde keinerlei Kommentar abgeben.» «Sie werden niemandem das Geheimnis verraten?» «Ich schwöre es.» Nach langem Beharren zeigte sie mir einige Protestsongs und intime Bekenntnisse. INTIMES BEKENNTNIS VON JACQUELINE DE BOUVIER Reiher kreuzen den leuchtenden Himmel auf dem alten Weg nach Kentucky, und mein Herz ist immer noch traurig. Unter dem Himmel, unter den Reihern, unter den Wolken, unter der Sonne, auf dem alten Weg nach Kentucky. Auf dem alten Weg nach Kentucky ist ein Mann auf der Flucht, und mein Herz ist traurig. Schwarz oder weiß, Regen oder Sonne, er flieht auf dem Weg nach Kentucky, und mein Herz ist traurig. Wenn niemand fliehen würde, würden Reiher vorbeiziehen, die Sonne würde scheinen, oder es würde regnen, in Hoffnung, mein Herz wäre nicht traurig. PROTESTSONG VON JACQUELINE DE BOUVIER Yankee, erwache! Es klingt die Münze. Kein Geld mehr, kein Schmerz mehr! Schmerz, Schmerz. 32
Dein altes Gold hat kein Gesetz. Seine Nacktheit hat kein Vaterland, Schmerz, Schmerz. Wirf dein Gold fort in ein menschliches Meer, dann werden wir alle Brüder sein. Schmerz, Schmerz. Völker von Kuba und Panama, kein Geld mehr – kein Schmerz mehr! Schmerz, Schmerz. Kennedy gibt sich seinen Domestiken gegenüber ungezwungen. Aber trotz der interessierten Blicke, die er mir zuwirft, ist mir klar, daß ich für ihn kaum mehr als ein Kammerdiener bin, dessen Aufgabe es ist, mit grimmigem Blick und lockerer Hand nach links und rechts zu sehen. Mir hätte es Spaß gemacht, diesen Mann kennenzulernen, bevor man ihm beigebracht hat, Präsident zu sein; bevor sich alle seine Organe den Aufgaben eines Präsidenten entsprechend verändert haben. Er schaut mit suchendem Adlerblick über Köpfe und Fluren hinweg, obwohl der demokratische Ursprung seiner Macht und die Ästhetik der Sansculotten ihn gezwungen haben, sich Tropfen in die Augen zu träufeln, um ihnen den Glanz und den Zauber eines Stausees zu verleihen, ohne seinem Adlerblick auch nur die Spur seiner Wachsamkeit zu nehmen. Er bewegt die Arme mit der einstudierten, scheinbar entspannten Lässigkeit eines Allmächtigen. Aber ich werde nie den Eindruck los, daß sie in der Lage wären, die ganzen Chips auf der Tischdecke auf einmal einzustreichen und mitzunehmen, vor den Augen des wirklich oder nur scheinbar ohnmächtigen neufranzösischen Croupiers. Er geht, als sei die ganze Welt sein Zuhause. Er lächelt, als könne sein Lächeln uns das Leben retten. Er lügt und ist vergeßlich, aber mit Charme. Seinen Achselhöhlen entströmt deodorierte Macht, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, und bei den seltenen Gele33
genheiten, wo er sich unbeobachtet glaubt, tritt plötzlich der fotografische Charakter dieser Intimität zutage, ähnlich der Veröffentlichung seines Pulsschlags, seiner Atmung oder seines Stuhlgangs. Diese aristokratische Ungezwungenheit ist wie ein widerlicher Sirup, mit der die Aristokratie dieses Landes ihr gutes, schlechtes oder falsches Bewußtsein überkleistert. Man braucht nur zu beobachten, wie sich Kennedy seinen Kindern gegenüber verhält. Würde ich jedesmal einen Dollar bekommen, wenn John-John zwischen den Beinen des Präsidenten durchrennt, ohne daß diesen das naheliegende Verlangen eines Tamerlan überfallt, sich auf ihn zu setzen und ihn zu zermalmen, hätte ich mich schon mit dem Vermögen eines englischen Geschäftsmannes aus viktorianischen Romanen zur Ruhe setzen können. Mir würde schon ein halber Dollar für jedes fotografierte Wangenstreicheln genügen, das der Präsident an seine Tochter verschwendet hat. Die despotische Mentalität Tamerlans ist mir lieber. Sich der Freuden der Allmacht zu enthalten, heißt, sie verwässern. Er könnte mit noch so viel Alkohol versuchen, seine Hände zu desinfizieren, mit denen er Anordnungen über Leben und Tod unterschreibt, und würde doch nicht aufhören, Tamerlan zu bleiben, Verteidiger eines Systems, das einen tödlichen Kampf ums Überleben führt. Daß er Katastrophen und Schmerzen bringt, kann er nicht vermeiden, indem er das Raubvogelprofil Henry Fords gegen das süßliche, keltische Lächeln eines wohlerzogenen Iren eintauscht, der Robert Frost liest. Mr. Phileas Wonderful betrachtete mich mit liebevollem Blick wie ein halbgeöffnetes Päckchen Zigaretten, das ihm angeboten wird, oder wie eine Sofadecke, die Gemütlichkeit verbreitet. Mr. Wonderful liebkoste mich mit dem Lächeln eines großzügigen Lebemannes, breit, groß; er war ein guterhaltener Siebziger. Sein volles graues Haar war etwas vergilbt dank der täglichen Anwendung tönender Wässerchen, ein beinahe störendes Detail angesichts der Regelmäßigkeit und des blendenden Weiß seines Cinerama-Gebisses. Er lobte meine Fortschritte während der Schulung und forderte mich ohne Umschweife auf, Profi zu werden. «Sie haben die kritische Bildung von Isaac Deutscher und den Sexappeal von John Gavin.» 34
«Stimmt. Dazu kommt noch die bezaubernde Brutalität eines Mitglieds der Hitlerjugend.» Mr. Phileas Wonderful war mit dieser Charakterisierung nicht einverstanden. Er hatte als militanter Sozialist an fast allen europäischen Auseinandersetzungen dieses Jahrhunderts teilgenommen und schließlich festgestellt, daß er ein Techniker der Destabilisierung geworden war. «Es geht darum, den Aktionismus der Amateure zu professionalisieren, zu kommerzialisieren. Der Sozialismus wird sich durchsetzen, auch ohne daß Sie oder ich im Guerillakrieg sterben; und wenn wir uns beizeiten besinnen, werden wir ein wesentlich besseres Leben führen, bevor diese vom heutigen Tag noch weit entfernte Epoche beginnt. Der CIA ist ein faszinierendes Experimentierfeld, vor allem, wenn man auf Direktionsposten vorstoßen kann. Normalerweise haben selbst wir eine falsche Vorstellung von dem, was wir sind. Unsere Arbeit hat das Niveau poetischer Geschichtsveränderung. Wir sind die einzigen, die sich dem Vordringen des Kommunismus frech entgegenstellen, genau deshalb, weil es uns egal ist, daß er auf lange Sicht gewinnt. Es handelt sich um eine rein technische Herausforderung: Wie lange sind wir imstande, diesen Vormarsch aufzuhalten? Das ist eine sehr viel schönere Tätigkeit, als zu seinem Fortschreiten beizutragen. Die moralische Plumpheit der Revolutionäre ist augenfällig. Ein Revolutionär ist, genau wie ein Heiliger, ein Märtyrer oder eine Jungfrau, ein widerlicher, skrupelloser Opportunist. Sie könnten das auch festgestellt haben.» Jede angewiderte Grimasse gestattete ihm, ein Stück seines eindrucksvollen, unwirklichen Gebisses aufblitzen zu lassen. «Nichts ist unangenehmer als ein mystischer Revolutionär, der sich, legitimiert durch sein vorbildliches ‹historisches Opfer›, zum strengen Richter über andere Menschen aufwirft. Ein CIA-Agent dagegen ist ein Außenseiter, ein verkannter Poet der Konterrevolution. Aber glauben Sie mir – und darin werden Sie mir sicherlich recht geben –, ohne CIA gäbe es keine Weltgeschichte und keine Dialektik. Ein CIA-Agent ist nicht nur ein Poet der Revolution, er legitimiert sogar die Revolution!» «Und er ist besser bezahlt als ein Revolutionär.» «Wesentlich besser.» 35
Während er mir noch eine Zigarette anbot, fragte mich Wonderful: «Was rauchten Sie, als Sie noch Revolutionär waren?» «‹Celtas›.» «Was ist das?» «Eine spanische Zigarettenmarke.» «Zu meiner Zeit hießen sie anders. Zurück zum Thema: Ein CIA-Agent führt eine unauffällige Existenz, obwohl er Dinge tun muß, die vermutlich widerlich sind. Er ist niemals das Opfer jener obszönen Solidarität mit irgend jemandem oder irgend etwas. Er ist ein aseptischer und totaler Held.» Mr. Phileas Wonderful ist heute Experte für nordamerikanische Propaganda. In Momenten, die für das Prestige der USA kritisch werden könnten, versteht er es, Niederlagen in Siege, Morde in Wohltätigkeit, Invasionen in Tourismus, Zwang in Schutz umzumünzen. Wonderful überwacht die Slogans, die die internationalen Agenten der USIS in der ganzen Welt bekommen, in bequemer, wenn auch nicht ungefährdeter Zurückgezogenheit. Ich habe Wonderful immer mit Muriel verglichen. Wonderful war der Antimuriel, deshalb wirkte er auf mich so beruhigend, deshalb absorbierte er mich so total. Muriel hatte mich immer mit ihrer abstoßenden, vorgetäuschten Offenheit in Atem gehalten, was ihr selbst verstandesmäßig nicht sehr klar war; dafür hatte sie es um so mehr im Blut und in ihren Zellen. Wonderful dagegen war auf so kontrollierte Art hinterhältig, daß er das Adjektiv ‹herrlich› verdient hatte. Ich stellte mir vor, wie er im Lauf seines Lebens Attentate vorbereitet, sich mit Delegierten der Internationale getroffen, mit berechneter Nervosität die Internationale gewechselt und auf revolutionäre und demokratische Trümpfe gesetzt hatte, bis ihm eines Tages ein Winter im Exil kaputtmachte, obwohl ihn möglicherweise der Reiz des heroischen Elends dorthin gebracht hatte. In schrecklicher Klarheit war ihm bewußt geworden, daß unser Leben nicht wiederholbar ist, daß man nur einmal lebt, daß man lernen muß, zu leben und zu lieben, und daß einem kaum Zeit bleibt, etwas für sich selbst zu tun. Das sind die Gespenster, die ich damals im Halbdunkel des Schlachtfeldes auftauchen sah, als sich der Dunst des Streites mit Muriel über Verdienst und Versäumnisse von Rousseau oder Voltaire gelichtet hatte. 36
Auch Wonderful hatte in heiligem liberalem Zorn auf den brutalen Stalinismus die Seite gewechselt, so wie ich gegen den schematischen Dogmatismus Muriels rebelliert hatte. Aber er war immer ehrlicher, sich seiner eigenen Motive immer bewußter geworden. Nicht einmal jetzt konnten sein künstliches Gebiß und seine getönten grauen Haare seine spanischen Gesichtszüge verbergen, die Gesichtszüge eines Insulaners der Weltgeschichte, verrückt und gebrochen. Wonderful wußte, daß ich seine Geschichte, seine Herkunft kannte. Als abgebrühter Schauspieler war er fest davon überzeugt, daß ich seine Archäologie verstehen würde, weil sie in vielen Punkten dem entsprach, was ich gerade hinter mir zu lassen begann. Mich faszinierten die Ausgrabungen in jenen so gut erhaltenen, so gut restaurierten und zum nationalen Monument erhobenen Ruinen. Ich liebte seine Freiheit und die Fähigkeit, seine Selbstverachtung zu überwinden, indem er eine totale Verachtung für die Außenwelt entwickelte. Das Leben ist eine Abfolge von Griffen, die auf Erfolg ausgerichtet sind; er und ich wußten, daß wir im äußersten Notfall die Möglichkeit besaßen, eine der großen Masse des Ameisenhaufens verbotene Bewegung auszuführen: die Bewegung der Hand zum Pistolenholster. Entsichern, zielen und sich einen Dreck darum scheren, was irgend jemand von uns denken wird. Die Gattin des Kulturattachés an der österreichischen Botschaft ist wohlgerundet. Wenn sie sich auszieht, scheint ihr Fleisch schon auf die Landung vorbereitet, und es wippt durch sein eigenes Gewicht. Es scheint zu fallen, bleibt aber in der Luft stehen, elastisch, etwas federnd, aber seiner selbst so sicher wie die Kugelstoßerinnen, wenn sie die Elastizität ihres Spielbeines überprüfen, das dem Stoß Nachdruck verleihen soll. Es ist zweifarbig, halb durchgebraten von der seltenen Sonne Washingtons und der häufigeren des Solariums. Der Brustumfang der Frau des österreichischen Kulturattachés beträgt 97, ihr Hüftumfang 90 Zentimeter. Wer sie noch nicht angefaßt hat, kann nicht behaupten, zu wissen, was eine Frau ist. Ihre kühlen Hinterbacken sind von außerordentlich fleischlicher Beschaffenheit, der Beschaffenheit einer Frucht, die es nicht gibt. Mit hohler Hand der Rundung ihres Beins nachzuspüren ist eine Reise, von der niemand zurückkehren möchte. 37
Die Frau des österreichischen Kulturattachés hat die Liebe an der Wiener Schule gelernt. Ihr Stil ist unverwechselbar. Ihr Stöhnen ist von perfekter Intonation, und ihr abschließendes Tremolo übertrifft in seiner Zartheit Margot Fonteyn bei ihrem Tod in ‹Schwanensee›. Sie ist von den Haaren bis zur Form der Zehen ein vollkommenes Tier. Wenn sich Frau Attaché in bekleidetem Zustand zeigt, verspüren nur 65 Prozent der männlichen und 44,3 Prozent der weiblichen Bevölkerung Washingtons Aggressionsgelüste; wenn sie sich aber entkleidet, steigt die Quote der Aggressoren auf 98 Prozent bzw. 76 Prozent (obwohl dies vom Gallup-Institut nicht bestätigt wurde). Die Lippen der Frau Attaché sind feinnervig und anschmiegsam. Sie machen die doppelte Bewegung der Herausforderung und des Rückzugs, in seiner Langsamkeit nur mit der Zeitlupenaufnahme eines springenden Pferdes zu vergleichen. Frau Attaché geht immer mit konzentriertem Gesichtsausdruck, genau wie Kopfgeldjäger. Der Tag gehört 24 Stunden lang ihrer Kunst. Sie denkt sich neue Techniken aus und trainiert ständig vor einem siebenteiligen Spiegel, den ihr Sukarno aus Dankbarkeit geschenkt hat. Nie war sie niedergeschlagen, nicht eine Stunde lang. Nie hatte sie auch nur für eine Minute Anwandlungen lächerlicher Weichheit. Ihre Bereitschaft für die Liebe ist vollkommen männlich, in ihren Handlungen zeigt sie weder den falschen Ernst der erfahrenen Schüchternen noch die brutale Sicherheit der Straßendirne. Es ist, als sei der Liebesakt zu einer olympischen Disziplin erhoben worden, und Frau Attaché gewinne ständig die Goldmedaille. Wenn sie erreicht hat, was sie wollte, verabschiedet sie sich niemals. Sie zieht sich schweigend an, dreht sich um und geht. Wenn du dich in sie verliebst, läßt sie dich sitzen, und solltest du dich ihretwegen umbringen: no comment. Auf Empfängen macht sie nie den Mund auf, nur einmal entkleidete sie sich in der Öffentlichkeit. Es soll angeblich in London geschehen sein, und eine furchtbare Beklemmung soll die Tischgenossen befallen haben. Aber es weinte nur einer, so als sei sein Lieblingssohn gestorben.
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Das Gerücht kursierte stundenlang und war nicht unter Kontrolle zu bringen. Das FBI hatte mitgeteilt, daß Pepe Carvalho vielleicht über die kanadische Grenze ins Land eingedrungen sei. Hoover informierte mich als ersten darüber, vertraulich lächelnd. Für ihn ist Pepe Carvalho ein Experte des Verbrechens, aber dafür hört er nicht auf, einem Puertorikaner zum Verwechseln zu ähneln. Für Hoover ist General de Gaulle der einzige Galicier von Bedeutung. Hoovers geschichtliche Kenntnisse stehen in reziproker Beziehung zu seinem geradezu unanständigen Selbstvertrauen. Er hat die Computer im Kellergeschoß des Weißen Hauses konsultiert. Der Eindringling wurde schon 50 Kilometer hinter der Grenze gestellt. Aber er war nicht Pepe Carvalho. Ein paar Minuten lang versuchte ich zu erfahren, wer er war. Hoovers Mißtrauen ist offensichtlich, und er verweigerte mir mit einer gewissen Eleganz die Auskunft. Ich wollte gerade insistieren, als Bob Kennedy plötzlich ins Zimmer stürmte und alles über den Haufen warf. Die Tür knallte gegen die Wand, ein Sonnenstrahl ließ seine flatternden Haare aufblitzen, mit drei Schritten durchquerte er den Raum, den ganzen Körper elektrisiert vor Wut, ein grimmiges und verächtliches Lächeln um die Lippen, die Hände in die Hüften gestemmt. Er verbreitete eine so tiefe Stille, wie ich sie nur auf Polizeiwachen in der Rolle des Opfers oder in frühester Kindheit erlebt hatte, als mein Vater oder irgendein Lehrer wie Vampire ihre Ohnmacht an dem Schrecken labten, der in meinen Augen stand. Es ist das schuldbewußte Schweigen des Entsetzens. Bobs Zeigefinger wies anklagend auf Hoover. «Warum haben Sie mir nicht Bescheid gegeben? Ein gefährlicher Krimineller dringt in die Vereinigten Staaten ein, um keinen Geringeren als den Präsidenten zu töten, und ich bin der letzte, der davon erfahrt.» Hoover hatte sich wieder erholt. Wortlos kehrte er dem ehemaligen Generalstaatsanwalt den Rücken, um mit den Händen in den Taschen das Studium der elektronischen Landkarte fortzusetzen. Kennedys Halsschlagadern waren kurz vor dem Platzen, die dünnen Lippen hatten sich geöffnet und gespitzt, um das Wort ‹Schwein!› auszuspucken. Hoover lachte leicht belustigt und entschuldigte die Beleidigung 39
mit einer herablassenden Kopfbewegung. Zwei FBI-Agenten hatten sich Bob von beiden Seiten genähert. Aber ihr Gleichgewicht war nicht gut, schon hatte Bob mit einem seitlichen Ellbogenstoß den zu seiner Rechten zu Boden geschleudert, während er mit der Linken einen Karateschlag auf dem Adamsapfel des anderen landete. Dann sah es so aus, als wolle er sich auf Hoover stürzen. Dieser hatte sich ihm schon mit lächelndem, ruhigem Gesicht zugewandt. In Hoovers Hand war unübersehbar seine schwarze Lieblingspistole, Marke Parabellum, aufgetaucht. Der Lauf bohrte sich in Bobs harten Bauch. Der Atem der beiden Männer verschmolz fast zu einem einzigen. Ganz langsam entspannten sich die Gesichtsmuskeln und nahmen ein zunächst schüchternes, dann aber entschlossenes Lächeln an. Dann trennte sie das Lachen, als hätte sie eine elektrische Entladung voneinander abgestoßen. Sie konnten kaum sprechen. «Edgar, Edgar, du bist großartig!» «Oh, Bob, Bob, was für ein Auftritt!» «Ich habe ihn unterwegs einstudiert.» «Du warst so gut wie James Cagney in seiner besten Zeit.» Das Lachen warf sie zu Boden. Jedesmal, wenn sie die Fassung wiedergewonnen hatten, reichte ein Blick des anderen, und die Lachsalven und die Tränen begannen von neuem. Hoover nahm ein paar Tabletten gegen Gefühlsregungen und blieb lachend am Boden sitzen. Ich verließ das Zimmer hinter Bob. Als wir den dunkelsten Teil des Korridors erreicht hatten, drehte sich Bob blitzschnell um und drückte mich gegen die Wand. «Lassen Sie kein Auge von Hoover! Ich traue ihm nicht über den Weg!» Ich hatte keine Zeit, um mein Ohr dem phonetischen Atem von Bob zu verschließen. Ein harter Faustschlag bester Kennedyscher Machart traf mich in den Unterleib und ließ mich zu Boden gehen. Kurz darauf, noch halb ohnmächtig, sah ich vor meiner Nase die zwei perfekten Bügelfalten von Hoovers grauer Hose vorbeigehen. «Also nein, dieser Bob!» sagte er und lachte.
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Manchmal erzählt mir Jacqueline aus ihrem Leben. Dann fühle ich mich zu einer Gegenleistung verpflichtet. Neulich sprach sie sich über ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerinnen aus. Ich versuchte ihr die Hintergründe und die Art meiner Beziehung zu Muriel deutlich zu machen und meine Verlegenheit meiner Tochter gegenüber. Aber zwischen mir und Jacqueline gab es eine unübersehbare Sprachbarriere. Ich sprach wie ein Playboy, der Sehnsucht nach seiner kleinbürgerlichen Romantik hat, und sie wie die Direktorin einer Beratungsstelle für Gefühlsangelegenheiten. Ich wich dann auf eine platte Berichterstattung von meiner Arbeit aus: manches aufregend, manches reine Routine. Ich unterlief Jacquelines Didaktik, und sie schien überrascht über die Brutalität einiger Situationen, die ich erlebt hatte, und über den exhibitionistischen Zynismus meiner Erzählung. «Das haben Sie wirklich getan?» «Möglich.» «Was heißt hier möglich? Sie haben es getan!» «Ich bestreite es nicht.» Jacqueline sagte mir sozusagen im Ernst, daß ich ein gefährlicher Typ sei und daß sie allmählich zu verstehen beginne, warum mich Frau und Tochter verlassen hatten. Es traf mich hart, zuzugeben, daß meine Tochter mich verlassen hatte. Aber wahrscheinlich stimmte es. Das Gespräch mit Jacqueline war die Initialzündung, die den Fernsehapparat der Erinnerung in Gang setzte. Da war Muriel, kurzsichtig, lächelnd, die personifizierte Ideologie. Sie bestand zum Beispiel hartnäckig darauf, ihre Beine nicht zu depilieren. Sie hielt das für ein unzulässiges Zugeständnis an Manipulationen, die Frauen zur Sache herabwürdigen und zum Sexualobjekt machen. Sie hatte ein Paar recht schöne Beine, die sie aber wegen der erschreckenden Dichte ihrer Behaarung nicht zeigen konnte. Schwarze Stacheln durchstießen gnadenlos die harte, schwarze Wolle der vorsintflutlichsten Strumpfhosen. Sprechen und Leben waren bei Muriel schwerste ideologische Gymnastik. Das ‹einszwei, eins-zwei› begleitete uns Tag und Nacht, und gelegentlich nötigte sie mich kurz vor dem Liebesakt, den neuesten politischen Text oder die neueste Polemik mit ihr zu erörtern, bei der es um die 41
aufregende Angelegenheit einer allzu modernisierungswilligen politischen Generallinie ging. «Wir sind gezwungen, die Widersprüche auf der Erscheinungsebene anzugehen, und vergessen tendenziell den Hauptwiderspruch», konnte Muriel beispielsweise flüstern, während ich versuchte, ihr um zwei Uhr morgens die Schlafanzugjacke aufzuknöpfen. Ich sah mich daher zu der Antwort gezwungen: «Es gibt keine einander nachgeordneten dialektischen Impulse. Das wäre eine Rückkehr zur linearen Hegelschen Dialektik. Der Angriff auf den vordergründigen Widerspruch impliziert den Angriff auf den Widerspruch.» «Wie brillant du bist ...» murmelte Muriel, schon am erhofften Grenzübergang vom Geist zum Fleisch. Ihr Fleisch war nicht üppig, das stimmt, aber trotz der Skepsis unbeteiligter Zeugen war es viel wohlgeformter, als ihre Art und Weise, sich zu kleiden, befürchten ließ. Und in den entscheidenden Augenblicken hat mich selten eine Frau besser belohnt als Muriel; sie steht der österreichischen Attachésfrau an Geschicklichkeit kaum nach, trotz deren Professionalität. Vielleicht ist der zeitliche Abstand schuld. Aber ich sehe unsere gemeinsame Jugend und das, was wir politisch und ökonomisch durchgemacht haben, nach wie vor in leuchtenden Farben. Die gemeinsam erlebten Schrecken. Unsere gegenseitige Unterstützung, als die schwarze Nacht der Weltgeschichte über uns hereinbrach. Vielleicht wäre mein Leben an ihrer Seite auch einer logischen Entwicklungslinie gefolgt, hätte nicht dieser unselige Biologe jenen Streit provoziert, mit der Absicht, wie ich später feststellen mußte, uns auseinanderzubringen und aus der Sache seinen Vorteil zu ziehen. Auch ich ging nicht unvorbelastet in den Disput über Voltaire und Rousseau. Es kam mir übertrieben vor, daß Muriel am Morgen desselben Tages destilliertes Wasser gekauft hatte, um Gesicht und Hintern der Kleinen zu säubern – und das alles nur, weil sie es in einem pädagogischen Handbuch aus der Sowjetunion gelesen hatte. Das Gewitter, das vormittags nicht ausgebrochen war, holte dies mit Blitz und Donner am Abend nach. Es war auch der nächtliche Engel zur Stelle, der die Gelegenheit nutzte, unser Leben kaputtzumachen und zum Erben meiner schicksalhaften nächtlichen 42
Funktionen zu werden (Muriel hatte eine Abneigung gegen den Liebesakt bei Tageslicht). Allerdings gibt es kein Übel, das nicht auch seine guten Seiten hätte, und seit ich von Muriel getrennt lebe und die Seite gewechselt habe, kann ich nicht über die Entwicklung der Ereignisse klagen. Aber ich sollte stärker sein und auf jegliche Literatur verzichten, um meinen ethischen, ästhetischen oder gefühlsbedingten Appetit zu stillen. Diese Schwäche ist eines Mannes wie mir nicht würdig, mit einer Schlagkraft wie Floyd Patterson und einer beneidenswerten, viel beneideten Potenz in der Liebe. «Spanier zu sein ist ein Problem.» Ich hatte laut gedacht, um das gefährliche Gespräch mit Jacqueline über Gefühlsdinge vollends auf ein anderes Thema zu bringen. Was Muriel oder meine Tochter wohl machen würden? Sicherlich ist das arme, kleine Mädchen einem rigorosen, anspruchsvollen Lektüreprogramm unterworfen. Ich verließ sie mit neun Monaten, und Muriel hatte schon ‹Wie der Stahl gehärtet wurde› von Ostrowskij gekauft, damit sie es so früh wie möglich lesen konnte. Ich liebte meine Kleine sehr, obwohl ich sie immer mit der Vorsicht betrachtete, wie sie jede Frau verdient, die in den Armen eines anderen Mannes landen wird.
Mr. Phileas Wonderful unterhielt sich häufiger mit mir als mit den anderen Kursteilnehmern. Er rechtfertigte es damit, daß wir Landsleute seien, aber ich wußte, daß ihn das trügerische Bild seiner selbst anzog, für das ich ihm der Spiegel war, der ihn stets von der Welt trennte. Während der ersten Gespräche behielt er die anfängliche ideologische Schamhaftigkeit bei und rechtfertigte damit eine Haltung, die schon längst die meine war. Der Stalinismus war unerträglich, er hatte die revolutionären Hoffnungen verraten – sollten wir unter diesen Umständen etwa weiterhin sein Spiel spielen? Aber eines Tages sagte er, als spreche er gar nicht mit mir, sondern stehe auf einer Tribüne und halte eine Rede in der Trance des Rampenlichts: «Alles beginnt mit der Entdeckung, daß du das überflüssigste Lebewesen der Welt bist. Daß du einen Krieg verloren hast, dein 43
Land, dein Gesicht, alle herkömmlichen Vaterländer. Du findest es heraus, wahrend dich die Skyline von Manhattan beinahe erdrückt, unter schwankenden Wolkenkratzern, die dein nicht vorhandenes Wurmskelett bedrohen. Dir ist kälter als kalt, die Angst hat schon den Magen verlassen und ist in deinen Füßen zu entsetzlichem Blei erstarrt. Das alles im Jahr 1940 in New York. Absurd. Ich ging von Tür zu Tür, von Umarmung zu Umarmung mit Veteranen der Lincoln-Brigade. Versprechungen über Versprechungen, bis jemand begann, zusammenhängende Dinge zu sagen. Da schwor ich mir, daß ich nie mehr frieren würde, weder körperlich noch anders, daß ich nie mehr etwas verlieren, nie mehr Angst haben, nie mehr die Weltkugel als Kloß in der Kehle spüren würde. Ich wollte wieder einen Vor- und Zunamen haben, die Lippen der Liftboys sollten lächeln und Polizisten mich mit Respekt behandeln.» Von nun an sprach Wonderful auf englisch weiter. Angewidert verzog er das Gesicht. Es war plötzlich gealtert, als hätte man die Sonnenbräune abgewischt und die unter der Schminke verborgenen Falten zum Vorschein gebracht. Seine Abscheu galt einem unbestimmten Etwas oder Jemand in einer Ecke des leeren Saales. Ich verließ den Kreis des Rampenlichts und näherte mich dem, was Mr. Phileas Wonderful mit so viel Abscheu und Entsetzen erfüllte. Es war ein alter Mann, ein gerupfter Vogel, mager, in einem zweifarbigen Anzug, zahnlos, stoppelbärtig, mit schwarzen Fingernägeln, glänzenden Schuhen und mit einem Pappkoffer in der Hand. In seinen Ohren gellte das Pfeifen der Züge, und in den gelben, wunden Augen stand ein panisches Lächeln, das nicht damit rechnete, daß irgendjemand an seiner Verstärkung interessiert sein könnte. Hinter dem Männchen, hinter dem Zugfenster raste eine graue Hügellandschaft vorbei, mit entwurzelten, unter der Sonne vertrockneten Dornbüschen, die der Wind vor sich her blies. «Möchten Sie?» Das Männchen bot ein Stück gefüllter Rinderzunge an. Braune Zwiebelsauce tropfte von der Messerklinge auf den Aluminiumdeckel seines Kochgeschirrs. «Möchten Sie?» Die Zunge quetschte Höflichkeiten durch die von Goldzähnen und rotweißem Zahnfleisch umgebenen Zahnlücken. 44
«Mr. Wonderful, Mr. Wonderful», sagte die Sekretärin. Das Glas in den Augen des alten Tobias zerbrach. «Mr. Wonderful», sagte die Sekretärin. Wonderful ging ein paar Schritte voraus, neigte sein Ohr zu den Lippen des Mädchens und nahm die vertrauliche Nachricht entgegen. Als er zurückkam, hatte er sein verheißungsvolles Lächeln wiedergefunden.
EPILSTULA URBI ET ORBI ‹Verlesen von Präsident Kennedy am ‹Thanksgiving Day› 1963 auf dem zentralen Platz des Palastes der Sieben Galaxien in Gegenwart von 60 Prozent der Exekutive der Nation und dem gesamten Diplomatischen Corps›. Meine Damen und Herren, an einem Tag wie dem heutigen liegt es nahe, niederzuknien, den Blick vertrauensvoll zum Frieden des Himmels zu erheben und zu sagen: Danke! Danke nicht so sehr für die empfangenen Wohltaten als für die erhaltenen Beweise. Sie sind das höchste Gut, das einem Volk geschenkt werden kann. Der herrlichste Beweis, den wir, das nordamerikanische Volk, empfangen haben, ist unübersehbar unsere Auserwähltheit zur führenden Nation auf dem Pfad der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit. Für diejenigen, die den Fortschritt der Geschichte nur auffassen als materielle Entwicklung, die jeglicher Transzendenz entbehrt, welche nicht als positive, immer positivere Resultate zu Buche schlägt, spreche ich heute mein Gebet, weil wir, das nordamerikanische Volk, wissen, daß es keine menschliche Bestimmung gibt ohne die Vorsehung, daß es keine großen geschichtlichen Vorbilder gibt ohne die Vorsehung. Gott führte sein Volk über den Nil und gab ihm einen Führer: Moses. Das ist der Ursprung der Geschichte des Westens unter der schützenden Hand der Vorsehung. In dieser schweren Stunde, in der es die Bestimmung des christlichen Menschen ist, den härtesten aller Überlebenskämpfe zuführen, sage ich noch einmal: Danke! Danke im Namen meines Volkes, das mich als seinen Führer und Leiter auserkoren und mir diese hohe Mission anvertraut hat, ohne daß ich andere Vorzüge hätte als den, daß seine Zweifel und Hoffnun45
gen meine eigenen sind. Als Nordamerikaner bin ich einer von euch, ich atme dieselbe Luft und fürchte mich vor denselben Dingen wie ihr. Meine Kräfte sind die euren, und genau wie ihr glaube ich an diese besondere Kraft, die Gott denen gewährt, die sich zu ihm bekennen. Mit dieser Hilfe müssen wir siegen! An einem Tag wie dem heutigen müssen wir verkünden, was das Werkzeug unseres Sieges ist: Es handelt sich nicht um irgendeine schreckliche Waffe, deren zerstörerische Kraft den Mut lähmt, nein, unsere Waffe wird niemanden töten, sie ist auch nicht geheim: unsere Waffe ist die Beweiskraft des siegreichen Vorbildes. Mögen unsere Feinde die Augen öffnen und im Wohlergehen unseres Volkes den Beweis unserer Auserwähltheit und im Gelingen unserer Werke die Wirksamkeit eines Verhaltens erblicken, das sich Gottes Willen fügt. Wir sind die reichste Nation der Erde. Aber wir wären ein Nichts ohne spirituellen Reichtum. Wenn mich jemand fragen würde, warum wir trotz dieser Überzeugtheit von unserer spirituellen Überlegenheit die Herstellung von ferngelenkten Projektilen nicht vernachlässigen, würde ich ihm zur Antwort geben, daß Gottes Wege unergründlich und unerforschlich sind und daß niemand weiß, welches sein Werkzeug sein wird. Wer kennt oder versteht die Sprache des Jenseits! In der Abschreckung von Gewalt ist nicht so sehr eine grundsätzliche Skepsis zu sehen als vielmehr ein Akt der Demut gegenüber Dingen, die unseren Verstand übersteigen. Der heilige Augustin ging einmal an einem Strand entlang. Er befand sich in einer Phase größter Unklarheit, größter Zweifel angesichts der Mysterien von Leben und Tod. Als liberaler und demokratischer Geist stellte der heilige Augustin alles in Frage, denn das ist die Haltung intellektueller Redlichkeit. Er ging also, wie ich schon sagte, an einem Strand entlang und erblickte ein Kind, das eine Sandgrube mit Wasser füllen wollte. Es ging hin und her mit seinem Plastikeimerchen. Ein ums andere Mal. Hin und her. «Was tust du da, mein Kind?» fragte der Heilige. «Ich will das ganze Meer in diese Grube füllen.» «Aber», sagte der Heilige, lächelnd über soviel wunderbare Reinheit und Treuherzigkeit, «das ist unmöglich.» Das Kind schaute ernst und erwiderte: «Unmöglicher ist es, Gottes Absichten zu enthüllen.» Enthüllen, enthüllen; in der Wurzel dieses Wortes liegt die Weisheit selbst. Den Schleier zerreißen, der uns von der Wahrheit trennt, das ist der Weg zur Weisheit. Aber jeder Weise weiß, daß es einen Schleier gibt, der 46
zu weit entfernt ist, und daß man ein Jenseits des Geheimnisvollen bewahren muß, welches uns verwehrt, den letzten Schleier zu zerreißen. Das ist die Demut, die unser Volk groß gemacht hat. Gott die letzte Erklärung unseres Verhaltens zu überlassen und nicht in die Sünde zu verfallen, genauso wissend sein zu wollen wie der Große Seher der Ewigkeit. Von diesem Augenblick der Ewigkeit aus, von diesem Moment, in dem die Weltgeschichte den Faden verloren hat und es unsere Aufgabe ist, sie zu führen: Danke, Herr, für die Früchte, zu denen du uns geführt, für die Ziele, die du uns gesetzt hast!
Die Sache mit Pepe Carvalho ist nicht einmal wert, Thema eines Reader’s Digest-Artikels zu sein. Bacterioon ist etwas anderes. Wie nimmt Pepe Carvalho mit Bacterioon Kontakt auf? Ich versuchte Hoover zu überzeugen, daß die Nachforschungen in diese Richtung laufen müssen. Morrison, mein direkter Vorgesetzter, ist derselben Meinung. Aber Hoover, der uns von dem CIA nicht ausstehen kann, besteht darauf, nach der Person zu suchen. Keine der sukzessiven Beschreibungen Carvalhos stimmt mit der vorhergehenden überein, und es besteht keine Hoffnung mehr, daß sie mit der folgenden übereinstimmen wird. In La Paz wurde Carvalho nach dem Attentat auf Paz Esténsoro als schlanker, großer Mann mit Adlernase beschrieben, sehr dunkelhäutig und mit magnetischen Augen. In Syrien, nach dem letzten Putschversuch der Baath-Partei, war Carvalho ein dunkler, kleiner Mann mit Glatze und bifokaler Brille. In Kenia soll er ein maisblonder Säbelschlukker gewesen sein. Wer ist Pepe Carvalho? Alle Berichte über ihn sind höchst geheim, aber auch höchst unbrauchbar. Mit ihm kommt der Tod, pfeift und zieht wie ein Magnet das Leben an. Seine Aktionen folgen keiner vorhersehbaren Linie. Sie sind nicht einmal fortlaufend, man könnte eher sagen, daß sich schnelle Aktionen mit langen Perioden des Nichtstuns abwechseln, die der Verbreitung seines Mythos dienen. Hoover glaubt weder an die Existenz Carvalhos noch an die Bacterioons, er sieht überall traditionelle Kräfte am Werk: die Internationalen der Freimaurer, der Kommunisten und der Sodomiten. 47
Aber die Existenz der beiden ist ebenso offenkundig wie ihre Beziehung mysteriös. Wie kann eine anorganische Substanz mit einem menschlichen Wesen intellektuell in Beziehung treten? Ich verstehe Hoovers blinde Wut. Es ist, als kämpfe man gegen die Luft, als sei jeder Atemzug ein Alarmsignal. Daß er das erstemal zu einer Zusammenarbeit mit dem CIA bereit ist, ist schon Beweis genug dafür, wie sehr ihn das Thema beunruhigt. Der Agent Sean Poverty, der für die öffentliche Ordnung in der Umgebung des Palastes der Sieben Galaxien verantwortlich ist, hält Carvalho für eine übernatürliche Macht, diabolisch wie die negativen Gottheiten seiner Heimat Irland. Khan hingegen, nachdem er Analogrechner der dritten Generation befragt hat, ist der Meinung, daß Carvalho mit siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit existiert und mit dreißigprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht existiert. Wer ist Pepe Carvalho? Bei dieser Frage werden Augenbrauen gehoben, Schultern eingezogen, Blicke erschrocken abgewendet. Normalerweise beurteilen wir Profis die Heldentaten unserer Kollegen mit ziemlicher Distanz. Uns begeistert nur – und das auch nur bis zu einem gewissen Punkt – die wirkliche Ausnahme. Wir fallen selten auf Mythen herein. Manchmal aber geben wir nach, und die Mystifikation ist so etwas wie eine freiwillige Schwäche, die uns lockert – als würden wir vorgeben, an die Heiligen Drei Könige zu glauben. Auf diese Weise belasten wir einen Kollegen, den wir mystifizieren, mit vielen Erwartungen, von denen wir im Grunde wissen, daß sie nicht übertragbar sind. Ein entsprechendes Spiel ist es, James Bond ernst zu nehmen. Ein Spiel, das mit außerordentlicher Häufigkeit bei uns praktiziert wird. Ich, der ich James Bond aus nächster Nähe kennengelernt habe, so nahe, daß ich ihn mit der Hand hätte berühren können, könnte viel über diesen Musterknaben erzählen. Aber wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Pepe Carvalho ist kein literarischer Mythos. Er ist ein reales Wesen, das zum Mythos erhoben wurde und als fast völlig Unbekannter der großen Mehrheit meiner Kollegen als Bezugspunkt dient. Ich weiß, daß Pepe Carvalho jeden Tag mit denselben Problemen wie fast jeder von uns erwacht. Daß sein Prestige ebensosehr Folge der Umstände ist wie seines verzweifelten Strebens, in seinem 48
Beruf Hervorragendes zu leisten. Er flucht über seine Arbeit und hat die Angewohnheit, sein Tun letzten Endes mit den Fakten zu rechtfertigen, die andere schon geschaffen haben. Im übrigen sind die biologischen Minimalprinzipien seine Hauptstütze bei der Aufgabe zu leben. Die kleinsten Überlebensanreize müssen ihm helfen, die Mußestunden hinter sich zu bringen und keinen Gedanken an den Verdacht zu verschwenden, daß nicht nur die Mußestunden müßig sind. Kurz und gut, Carvalho hat seine Probleme wie jeder andere auch.
Khan wohnt im oberen Teil der vierten Galaxis, genau über dem ‹Braintrust›, der sich normalerweise um Kennedy schart. Eine besondere Telefonleitung verbindet ihn mit der kalifornischen Insel, wo eine Gruppe von Wissenschaftlern anhand von Wahrscheinlichkeitsrechnungen die Gesamtentwicklung prognostiziert. Es gibt das Geheimprojekt, Khan und Walt Disney einzufrieren, um sie als außergewöhnliche Zeugen unserer Zeit für die Welt nach dem Jahr 2000 zu konservieren. Bei Khan wäre es der Lohn für seine Verdienste, denn es ist ihm gelungen, das zu dechiffrieren, was niemals eintreten wird. Aufgrund seiner Vorkehrungen hofft Khan, die Zukunft zu kontrollieren. Im Falle Walt Disneys geht es darum, daß die Technicolor-Brille der Rooseveltschen Kosmogonie den schonungslosen Realismus der Kontaktlinsen überlebt. Beide Poeten der Imagination (Väter der imaginären Zahl und Donald Ducks) haben den hochdotierten Ruhestand der Ewigkeit verdient. Khan ist, genau wie sein großer Freund und Rivale Sylvester, ein optimistischer Prophet. Seinen Vorhersagen zufolge wird der Atomkrieg niemals stattfinden, sondern endgültig durch eine Serie konventioneller Kriege in Randgebieten der Erde ersetzt werden (Bürgerkriege zwischen Gut und Böse). Der spanische Bürgerkrieg war, laut Khan, bereits eine Generalprobe der neuen Strategie. Natürlich war im damaligen Kontext die Gefahr einer atomaren Vernichtung noch nicht gegeben, wohl aber die Gefahr eines weltweiten Konflikts, der sich trotz der optimalen Resultate dieses Krieges schließlich nicht vermeiden ließ. 49
Die Hauptsache sei, so Khan und seine Berater, daß die großen Industrienationen gegenseitige Konfrontationen vermeiden. Verschiebungen im Machtgleichgewicht zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern sollen mittels marginaler Kriege in Gebieten ausgeglichen werden, die selbst marginal sind, in Ländern, die ein für allemal im Abseits der Weltgeschichte stehen. Das ganze Denkerteam steht stark unter dem Einfluß der Theorien von Professor Sylvester, dessen intellektuelle Führungsrolle keiner in Washington in Frage stellt. Professor Sylvester machte im Alter von 70 Jahren im Rahmen der Fernsehsendung ‹Sie wissen, wir belohnen› von sich reden. Als pensionierter Postbeamter, der einen Fernkurs in Philosophie absolviert hatte, profilierte er sich als Experte für das Sexualverhalten der Krätzmilbe. Zwei Wochen später war er im ganzen Land bekannt, und Bob Hope imitierte ihn in der Show von Ed Sullivan. Sylvesters Ansichten begannen, auf allen Gebieten menschlichen Wissens hoch im Kurs zu stehen. Es stellte sich bald heraus, daß Sylvester für Khan dieselbe Bedeutung hatte wie die Gegenwartsforschung für die Futurologie. Nach Sylvesters Ansicht sind die Würfel seit der industriellen Revolution gefallen. Die Länder, die heute an der Spitze stehen, bestimmen die Geschichte. Den höchsten Rang in der aktuellen Menschheitsepoche nimmt nicht die faktische Macht ein, denn faktische Macht impliziert das Risiko der Zerstörung. Die größte Bedeutung besitzt die potentielle Macht oder das Abschreckungspotential. Diese potentielle Macht als Resultat des industriellen Entwicklungsstandes und des technischen Niveaus setzt sich fort in der Kontrolle der nuklearen Abschrekkungs- und Vernichtungspotentiale der Massenmedien und der Eroberung des Weltalls. Die Kontrolle über das Leben und die RaumZeit-Relation bestimmt die Attribute der Macht, und diese liegen eindeutig in Händen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. In ihrem Gefolge spielt noch eine begrenzte Zahl von ‹privilegierten Handlangern› (sic transit *) eine gewisse Rolle, d.h. Mächte von gewissem industriellem und technologischem Niveau, die den Sprung auf den Triumphwagen des Atomzeitalters nicht geschafft * Sic transit gloria mundi – So vergeht der Ruhm der Welt
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haben. Und der Rest – der Rest der Welt ist Schweigen, und das Beste, was er tun kann, ist, in diesem Schweigen zu verharren. Die ideologischen, emotionalen und im nichtbiochemischen Sinn biologischen Wahrheiten sind kaum von entscheidender Bedeutung, ebensowenig die dialektischen Wahrheiten des Marxismus: Sie haben schon alles hergegeben, was in ihnen steckte, und zur Bildung einer antagonistischen Weltmacht geführt, der UdSSR. Die industrielle Zusammenarbeit auf supranationaler Ebene und die fortschreitende Rationalisierung des Weltmarktes haben die Dialektik in rationalisierte und rationalisierende Dynamik verwandelt. Khan ist weniger optimistisch als Sylvester. Der pensionierte Postbeamte glaubt, daß Geschichte und Geographie grundsätzlich von Statistik und Topographie abhängig sind. Sein Lieblingssatz lautet: «Die Menschheit wird erst dann vollkommen sein, wenn sie endgültig auf das idealistische Prinzip verzichten kann, der Mensch sei das Maß aller Dinge.» Khan, im Grunde derselben Meinung, behauptet, vor der allgemeinen Anerkennung dieser Philosophie liege eine sehr gefährliche historische Periode, während der die moralischen, ideologischen und emotionalen Grundwerte liquidiert würden. Aber beide Monster waren von Kennedys Machtantritt begeistert. «Kennedy wird», so erklärte Sylvester dem Redakteur des Christian Science Monitor, «diese Periode der Liquidierung entscheidend vorantreiben. Er wird gleichzeitig die amerikanische Rechte und die weltweite Linke entwaffnen.» Sylvester und Khan beurteilen den Fall Bacterioon höchst unterschiedlich. Sylvester ist der Meinung, es sei eine reaktionäre Macht und könne deshalb in revolutionärer oder extrem rechter Gestalt auftreten. Khan sieht in Bacterioon eine neuerliche Intrige des Weltkommunismus und seiner treibenden Kräfte: China, Kuba, Nordvietnam, Nordkorea, die Sorbonne, Berkeley, das Madrider Stadtviertel Argüelles und die katalanischen Benediktiner und Kapuziner von Montserrat und Sarriá. Sylvester schreibt mit noch spitzerer Feder: «Bacterioon ist die Essenz des Relativismus und des ‹Zweifels am eigenen Zweifel›, aber diese Essenz ist von einem fanatisch antihistorischen Gehirn manipuliert. Zur Zeit gibt er sich gegenüber Kennedys Strategie nur skeptisch, aber bald wird er zur Pistole greifen.» 51
Sylvester muß zugeben, daß es schwer ist, die Begeisterungsfähigkeit zu erhalten, wenn einmal die emotionalen und rationalen Organe der Individuen amputiert sind. Aber zu diesem Zweck gibt es mehr als vier verschiedene nichthalluzinogene Drogen, die zu Testzwecken ab 1964 an allen öffentlichen Schulen eines marginalen Landes (Österreich) gratis verteilt werden sollen. Wenn keine schädlichen Folgen auftreten, werden alle nordamerikanischen Kinder mit ihrem täglichen Glas Bundesmilch in Pulverform dieselben Tabletten bekommen. Khan, stets von allem unterrichtet und im Grunde ein begeisterter Gegner Sylvesters, ließ seine Computer einen Plan ausarbeiten, der die Verteilung von ‹Tabletten für die Integration (TFI)› im nationalen Maßstab vorsieht. Zur Zeit werden Tabletten gegen den Marxismus-Leninismus und gegen die weitverbreitete Meinung, einige Rassen besäßen einen größeren Penis als andere, an Jungaffen experimentell erprobt.
Der Kammerdiener der Kennedys machte mir ein großartiges Geschenk: drei Anzüge des Präsidenten, die nur zwei- oder dreimal getragen waren, und sechs Paar sehr abgenutzter Schuhe. Der Schneider des Präsidenten nahm Maß, und in 15 Tagen werde ich sie tragen können. Es kam mir sehr gelegen, denn ich war mit Kleidung allmählich schlecht ausgestattet, und diese Dinge sind in Washington teuer. Ich glaube, das Geschenk des Präsidenten wird mir auf irgendeine Art und Weise Ärger bringen. Der Botschafter einer Nation, mit der uns innige freundschaftliche Bande verbinden, war auch hinter den Anzügen her und hatte dies Jacqueline auch schon angedeutet. Diese, ein Prachtexemplar von Frau, wenn sie sich nicht gerade genötigt sieht, sich in Abstraktionen zu ergehen, antwortete ihm jedesmal: «Langsam, langsam, es ist genug für alle da.» Damit es ganz klar ist: Ich habe keinen Finger dafür krumm gemacht, daß ich dieses Geschenk bekam.
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Es gibt einen Typus von naivem Intellektuellen, der seit fast 30 Jahren die Kulturkritik beherrscht. Die Emotionen dieses Intellektuellen äußern sich vorzugsweise in der einsamen Empfindsamkeit seines Schließmuskels. Das Schließmuskelflattern geht einher mit seinem Hang zu sibyllinischen Äußerungen. Ist von der Möglichkeit der Existenz außerirdischer Wesen die Rede, erschauert der naive Intellektuelle. «Könnte nicht Atlantis eine Marskolonie gewesen sein?» «Linguistische Skepsis? Rimbaud!» Die Welt ist für ihn ein induktiver Kriminalroman. «Marcuse? Nietzsche und der ‹Nazarener› von Pérez Galdós!» Wenn der intellektuelle Schließmuskel einen Malaiendolch besitzt und einen mehr oder weniger japanischen Kimono trägt, sind seine Orakelsprüche fernöstlich geprägt, und zahlreiche chinesische Dynastien steuern unwahrscheinliche Persönlichkeiten bei, die historisch zu identifizieren sich keiner die Mühe machen wird. Obzwar kein Intellektueller, sondern Geheimagent mit autodidaktischer Bildung, spielte ich doch heute dieses Orakelspiel, als ich John F. Kennedy weinen sah. Er hatte soeben die Nachricht vom Tod zweier schwarzer Mädchen bekommen, die ein Jeep überfahren hatte. Also verfaßte ich eine chinesische Maxime in Versform aus dem 3. Jahrhundert vor Christus (etwa um die Jahrhundertmitte). Sie lautete: Die hohen blauen Berge spiegeln zuweilen Himmel vor. Nur die Stetigkeit des Flusses kennt den Schatten seiner Täler, die tödliche Starre der Steine, herabgestürzt von stummen Gipfeln.
Unser Stamm trug Federn im Herzen und Kriegsbemalung in der Seele. Bei den Sitzungen gelang es mir manchmal, mich zu absentieren, mich hinaus in die Nacht vor den Fenstern zu versetzen. Von dort aus sah ich die Schwäche meiner Leute in der feindlichen Uner53
meßlichkeit der Welt. Deshalb versöhnte ich mich sogar mit dem perversen Biologen, denn auch er war zum Tode verurteilt, wie jeder, außerdem würde er in der Zwischenzeit ein Hundeleben führen. Ich wußte schon, daß die heroische Einstellung, so unklar sie auch sein mochte, uns großen moralischen Mut und einen kleinen Platz in der Weltgeschichte verschafft, den man nicht ohne inneren Profit in Anspruch nimmt. Manchmal ließ mich das Bewußtsein dieser Belohnungen unser Engagement geringschätzen. Aber dann entfloh ich, versetzte mich hinaus vors Fenster und betrachtete von draußen die biologische Bedrohtheit meines Stammes. Wie verletzlich waren sie doch, wie ohnmächtig gegen starke Windstöße, jeder einzelne für sich; welch willkommene Opfer für jene, die von der Angst vor der Geschichte besessen sind; wie rührend waren ihre Federn und ihre Kriegsbemalung! Muriel trug immer die größten Federn, die wildeste Bemalung. Aggressiv wie ein Kampfhahn reckte sie den Hals über unsere Niedergeschlagenheit und suchte nach einem Kopf, der ihrem Schnabel als Ziel dienen konnte. Wenn sie in heroische Hysterie verfiel, versuchte ich zitternd, das Gespräch auf unverfängliche Themen zu lenken. Zum Beispiel auf den Wertbegriff bei Ricardo, Marx oder Keynes. Muriel hatte fünfzehnmal «Das Kapital» gelesen, drei oder vier Seminare über das Machwerk gehalten und es immer noch nicht verstanden. Einmal schrie sie bei der Lektüre eines Buches von Sweezy laut auf, wie ein Opfer wider Willen, und zeigte mir wild gestikulierend eine Seite voller Fußnoten. «Hier steht alles drin! Endlich hab ich es kapiert.» Seitdem war jene Seite von Sweezy für uns so etwas wie das Vaterunser für Ihre Großeltern, geneigter Leser, denn meine haben nicht gebetet. Muriel hatte auch ihre Tiefpunkte, fast immer hervorgerufen durch Apfelkuchen oder alte Leute. Die Alten machten ihr angst, und sie versuchte immer, ihnen über die Straße zu helfen, oft ohne sie vorher zu fragen. Sie hatte vor dem Alter fast ebenso große Angst wie vor dem Tod: Es war die Obszönität an sich, die absolute Obszönität, ein dunkelvioletter Arsch, nackt und runzlig vor einer Landschaft, die sich so als absurd erwies. Muriel haßte die Literatur über den Tod. Sie sagte, sie sei stets von der herrschenden Klasse 54
manipuliert, um zu verhindern, daß die Leute sich über das Leben und die Realität Gedanken machten. Selbst die mittelalterlichen Totentänze erschienen ihr als plumpe Ablenkmanöver, die den gerechten Bestrebungen des mittelalterlichen Proletariates eine Erfüllung im Jenseits vorgaukelten. Als ich ihr mit der Spitzfindigkeit widersprach, daß es problematisch sei, den Begriff Proletariat auf die Volksklassen des Mittelalters anzuwenden, wurde Muriel so wütend, daß sie sich vergaß. In Rage war sie ein anderer Mensch. Sie verrichtete ihre Notdurft auf meine unmittelbaren Vorfahren *, beschimpfte mich (– wie recht sie hatte! –) als Konterrevolutionär, brach schließlich, wenn sie meiner verbalen Überlegenheit nicht mehr gewachsen war, in Tränen aus und schloß sich in der Toilette ein. Mehr als einmal träumte ich davon, sie könnte für immer durch das Loch in der Kloschüssel verschwinden. Mit welchem Vergnügen hätte ich oftmals gerne die Kette der Gerechtigkeit gezogen! Aber sie war nicht nachtragend. Wenig später kam sie wieder heraus und suchte unverfänglichere Gesprächsebenen: Lefebvres mangelhafte Interpretation des Umschlags von Quantität in Qualität oder den impliziten Idealismus in der Position von Narville auf der einen und Jean-Paul Sartre auf der anderen Seite. Gewiß, sie konnte Sartre nicht ausstehen, und statt ‹Juan Pablo› nannte sie ihn ‹Juan Jacobo›, um klarzustellen, wo das Sartresche Denken tatsächlich zeitlich einzuordnen war. Das war ihr einziger Anflug von kultiviertem Humor. Im übrigen bin ich sicher, daß sie mich liebte und den schleichenden Haß nie verstanden hat noch je verstehen wird, der sich bei mir im Lauf unseres ‹Weges zur Vollendung› aufgestaut hatte. Dabei ist es mir in fünf Jahren täglichen Zusammenlebens nie gelungen, ihr einen ‹baiser fiorentin› zu geben. Ich habe den Fehler gemacht, ihr zu erzählen, daß ich diesen erotischen Fehltritt bei der Lektüre Apollinaires kennengelernt hatte. Muriel hatte seine Poesie schon immer für reaktionär gehalten.
* Umschreibung für die gängige Beschimpfung: Ich scheiße auf deine Mutter. (A. d. Ü.)
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Ich habe ein beunruhigendes Flugblatt gelesen. Herausgeber ist eine Vereinigung alter Bostoner ‹Beatniks›. Es ist eine Art von ideologischem und innerem Testament, aber, meiner Meinung nach, gespickt mit Drohungen. Für sie ist Kennedy der Staatsfeind Nummer eins. Bis Kennedy kam, haben die Vereinigten Staaten der Welt ihre Unfähigkeit demonstriert, sich der dialektischen Herausforderung der Revolution zu stellen. Nur der unselige Roosevelt – behauptet das Flugblatt – spielte den Trumpf der möglichen amerikanischen Fortschrittlichkeit im Weltmaßstab klug aus. Roosevelt versuchte, die Konfrontation durch Wettbewerb zu ersetzen: In Teheran, Jalta und Potsdam wurde der Grundstein für die alles lähmende friedliche Koexistenz gelegt. Das war nur ein Anfang. Zwischen Roosevelt und Kennedy fand eine Rückkehr zum amerikanischen Realismus, zum ‹Großen Knüppel› und zum ‹Großen Weltpolizisten› statt. Das waren noch Zeiten! Es gab keine Unterschiede zwischen Schaufenster und Hinterzimmer. Heute unter Kennedy dagegen geben sich die amerikanischen Faschisten (sic transit ...) als gute Jeffersonianer. Ich zeigte Kennedy das Flugblatt. Er fand es höchst amüsant. Er sagte, der Stil erinnere ihn sehr an einen seiner Freunde aus Harvard, heute leitender Angestellter bei der ‹Tidewater Oil Company›. «Die Passage gefallt mir besonders, wo er sagt, ich hätte Roosevelts Wettbewerbsgesetz zum Supergesetz der Integration weiterentwickelt.» Für alle Fälle stellte ich Nachforschungen über dieses Gesindel an, das das Flugblatt verfaßt, gedruckt und verbreitet hatte. Wie immer eine bunte Mischung von Wirrköpfen, die keine Unterwäsche tragen, wenig gepflegt sind und versuchen, vegetarisch zu leben, allerdings ohne die Ernährungsfrage zum Dogma zu erheben. Tatsächlich hat der Rädelsführer in Harvard studiert und war bis vor ganz kurzer Zeit ein hohes Tier bei der Firma von Paul Getty gewesen.
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Als ich bei der Agentur für Geheimdienstnachwuchs nach den Gründen für meine Entscheidung befragt wurde, stellte ich die Gegenfrage, ob sie heroische, ideologische, emotionale oder kriminelle Motive hören wollten. Der Supervisor, ein ausgezeichneter Kenner der archaischen griechischen Lyrik, war begeistert von der Geschliffenheit meiner Scheinfrage und akzeptierte mich ohne weiteres. Im Grunde weiß ich gar nicht, warum ich mir diesen Beruf ausgesucht habe, einen Beruf, der mich damals aus ideologischen Gründen abstieß. Es war an einem Septemberabend, es regnete, und um die Traurigkeit noch zu vergrößern, trug ich einen blaugrauen Trenchcoat. Mit den Händen zerdrückte ich die Wasserströme auf dem Stoff, und das Gefühl der Nässe brachte mich beinahe zum Weinen. Es war einer dieser fatalen Abende, an denen man zum Selbstmitleid neigt und sich an trügerischen Erinnerungen erregt. Vor einem starken Kaffee saß ich mitten unter jungen Studenten, die aus dem nahen ‹General Hospital› kamen; in der Luft lag der scharfe Dunst von Essig und gebratenem Fisch, und ich dachte über meine soziale Lage nach. In Gedanken ging ich noch einmal die Liste der Dinge durch, deren Bezahlung in den nächsten vierzehn Tagen fällig war. Ich suchte nach einem Schuldigen, aber es gab keinen. Es lag in der Mechanik des Lebens selbst. Zweihundert Stichwörter des ‹Illustrierten Lexikons› entsprachen drei Raten für den Fernseher, einer Monatsmiete, sechs Plastikunterhosen für die Kleine, drei Steaks à 120 Gramm, zwei Kilo Kartoffeln, zwei Kilo Orangen, einer Schachtel Muskatpulver, einer Illustrierten, einem Trinkgeld für die Hauswartsfrau, die täglich unseren Mülleimer leerte, zwei Kinobesuchen für zwei Personen, einem Flachmann mit Whiskey. Aber es reichte nicht für die Rate in der Buchhandlung und erst recht nicht für den Hausverkäufer von Büchern. Ich dachte mit Widerwillen an die vielen Bücher, die ich gekauft, aber nie gelesen hatte. Was für einen Leichengestank sie verbreiteten! Ich benutzte sie, um architektonische Gebilde zu errichten. Dicke Bücher als Fundamente: Marx / Engels, Ausgewählte Werke, in der Ausgabe der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Die Herausgeber hatten mir einen kleinen Streich gespielt, die Bücher waren nicht von derselben Dicke. Also mußte ich einen der beiden Büchergrundsteine mit Ràfols’ Abhandlung über die Malerei der 57
Renaissance erhöhen. Der Ràfols hatte den Vorteil, daß er einen festen Einband besaß. Auf dem soliden Fundament baute ich dann die Mauern aus kleinen, dicken Bücher auf, wie ‹Stürmische Gipfel›, ‹Krieg und Frieden› oder einen Band der ‹Gesammelten Werke› von Pérez Galdós. Das Dach muß dünn, aber hart sein (ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie ungeeignet moderne Ausgaben für dieses architektonische Spiel sind). Eine alte Ausgabe von ‹Robinson Crusoe› ergab ein gutes Dach. Die tragenden Wände müssen aus gebundenen Büchern bestehen, für Zwischenwände kann man Taschenbücher verwenden. Meine besten Zwischenwände bestanden aus ‹Staat und Revolution› von Wladimir, ‹Die Augen des ewigen Bruders› von Zweig, ‹Weiße Nächte›, einem Katechismus für die dritte Klasse, einem ersten Manuskript, verschiedenen Unterrichtsstunden usw. Blumenbeete, Gartenmauern, Zäune, Berge und Alleen baute ich aus tschechischen Kindergeschichten, die Muriel für den künftigen Vorleser unserer Tochter bestellt hatte. Eine andere Methode war das Kartenspiel mit Büchern. Man räumt die Regale leer und türmt die Bücher mitten im Zimmer zu einem großen Haufen auf. Die Mitspieler müssen Bücher aus dem Inneren des Haufens herausziehen. Ein Schiedsrichter bewertet die einzelnen Bände und bestimmt den Gewinner. Ich zog zum Beispiel ‹Känguruh› von Lawrence und Muriel ‹Amerikanismus und Fordismus› von Gramsci. War der Schiedsrichter ein normaler Mensch, so gab er Lawrence den Vorzug. War er aber ein progressives Ekel, siegte Gramsci. Es gab spektakuläre und schwierige Entscheidungen, unversöhnliche Brüche. Daß meine Frau Muriel und ich eines Tages mit blanken Messern aufeinander losgingen, war die Folge davon, daß ich ‹Candide› bevorzugte und sie ‹Emile›. Ich hatte Rousseau schon immer für einen ausgemachten Dummkopf gehalten, der zu seinem großen Glück in einer Zeit lebte, die die Gedanken vorschrieb. Voltaire dagegen war ein Pfundskerl. Bei Rousseau störten mich diese verantwortungslosen Zoten, diese Kinder, die ins Waisenhaus gebracht wurden. Außerdem sind Rousseaus Zoten die eines dickarschigen Schreibers, der den ganzen Tag an seinen Geschlechtsorganen herumfummelt und sie unter Strom setzt. Voltaire dagegen war ein Grandseigneur. 58
Kurz und gut, Schiedsrichter war der dünnwadige Biologe mit Brille, Pickeln und Krampfadern, Fistelstimme und fettigem Haar. Von seinen häßlichen Lippen kam der Spruch: «‹Emile› von Rousseau.» «Warum?» Muriel: «Warum? Na, weil es der Schiedsrichter so gesagt hat!» Schiedsrichter (grinsend): «Ich halte mich an das kritische Urteil der Sowjetenzyklopädie. Dort erfahrt ihr, wer für die Geschichte der Arbeiterbewegung wichtiger war, Voltaire oder Rousseau.» (Der Sbirre des Kremls schaute mich mit seinen Dioptrien und einem leicht flatterigen Zusammenziehen seines Schließmuskels triefäugig an.) Ich: «Rousseau war ein Hurensohn, ein obszönes Schwein, ein Bürokrat, ein Rattenzahn – und außerdem war er Schweizer!» Muriel: «Der wieder mit seinen geographischen Vorurteilen!» Schiedsrichter: «Das Schweizer Volk wird sich früher oder später dem friedlichen Kampf für eine nationale und soziale Demokratie anschließen! Wilhelm Teil und Rousseau sind Beweis genug für den Genius einer Rasse.» Ich: «Es ist ein Volk von Eskimos, von Deutschen, die sich als Schweizer verkleidet haben!» Schiedsrichter (ernst und betroffen): «Ich muß dich an die lange Liste der Opfer des deutschen Volkes im Kampf für den Sozialismus erinnern!» Muriel: «Außerdem habe ich gewonnen, und damit basta!» Ich: «Für jeden Deutschen, der für den Sozialismus gestorben ist, gibt es 5000000 Sozialisten, die die Deutschen auf dem Gewissen haben!» Muriel: «Da, schon kommt er heraus, der kleinbürgerliche Maximalismus!» Schiedsrichter: «Das erzähle ich den anderen, alles!» Ich: «Halt die Schnauze, Bürokrat!» Schiedsrichter: «Du bist ein objektiver Verbündeter der Feinde der Arbeiterklasse!» Ich: «Wichser! Deine Mutter war eine ganz große Puffnutte!» Muriel (kratzt mich). Ich (schlage ihr mit der Faust auf die Nase). 59
Schiedsrichter: «Faschist! Faschist!» Ich (bringe den Schiedsrichter mit einem Schlag ins Gesicht beinahe um). Muriel (hat das Fenster aufgerissen und schreit aus voller Kehle): «Hilfe! Hilfe!» Ich wende mich an das Publikum. Nur Muriels Geschrei stört die Stille. Ich rezitiere: Dies ist die Geschichte eines erbitterten Kampfes; ich liebte den Sieg und die Revolution, der Virus des Konsums war mein Verderben: neurotisch spielte ich das Spiel der Konterrevolution.
Aus den Kulissen tritt, als Metallarbeiter gekleidet, ein Genosse mit verschränkten Armen, die Baskenmütze zackig über einem Ohr. Über seinem blauen Unterhemd hängt das Schild: Positiver Held. Er sagt: «Exemplarische Bestrafung gebührt deiner Frechheit, mit dem Virus der Technokratie zu paktieren; weil du die Klassiker nicht studiertest, verlorst du die Gnade, die Sünde des Stolzes wird dein Verderben sein. Aber lange Zeiten des Überflusses werden kommen, wenn du in Liebe deiner Bürokratie vertraust, und das große Manna wird vom Himmel fallen, das deinen Hunger stillt.» (Ein Agent des internationalen Faschismus tritt auf, als Rotkreuzhelfer getarnt, und steckt mir heimlich einen Scheck über 3000 Dollar zu.) Ich schreie aufgeregt, zum Publikum gewandt: «3000 Dollar! 3000 Dollar!» (Ich falle mit hervorquellenden Augen auf die Knie und umklammere den Scheck.) «Danke, Rockefeller, danke!» (Der positive Held zieht eine Sprühdose aus der Tasche und vernichtet mich wie eine Fliege.) 60
In einem Nebengebäude des Weißen Hauses ist für die mehr oder weniger subalternen Bediensteten eine provisorische Bar eingerichtet worden. Es ist ein angenehmer Ort im Stil einer Schutzhütte im Gebirge. Jacqueline ließ für die Einrichtung einen Einrichtungsfachmann der Hotelkette Valley kommen. Im Sommer herrscht dort die kühle Frische und im Winter die gemütliche Wärme eines alten Steinhauses. Dort treffen wir uns manchmal, die Sonderagenten und Polizeichargen, die für die Sicherheit des Präsidenten verantwortlich sind. Mit ihnen war ich am letzten Jahreswechsel zusammen; ich sitze auch manchmal während des Nachtdienstes dort, wir spielen Poker, unterhalten uns über Frauen und hören Lieder aus der Heimat der verschiedenen Agenten. Die Nordamerikaner überwiegen, aber es gibt auch eine ganze Handvoll echter Iren, ein paar Skandinavier und Italiener, nur keine Engländer. Kennedy will keine Engländer, er sagt, sie reagieren nicht schnell genug. Sean Poverty ist der größte Schwätzer. Manchmal geht er mir auf die Nerven, wie es nur ein irischer oder galicischer Schwätzer tun kann. Ein keltischer Schwätzer ist um vieles lästiger als jeder Südamerikaner oder Südeuropäer. Die Kelten reden in einem monotonen Singsang, ihr Dialekt ist farblos, und es klingt, als erzählten sie immer dieselbe Geschichte. Aber zuweilen ist Sean Poverty wie von einem unsichtbaren Zauberstab berührt und erzählt hochinteressante Geschichten. Früher gehörte er zur Eskorte des Expräsidenten Horty. Er erzählt, daß der Präsident dauernd den Boden nach verlorenen Centstücken abgesucht habe. Egal, wo er war, Horty habe sich gebückt und die Münze aufgehoben. In seinen jungen Jahren habe er noch versucht, es zu verheimlichen, oder eine sarkastische Bemerkung gemacht, um sein Desinteresse an dem Fund zu demonstrieren. Aber später hob Horty das Geld ungehemmt auf und steckte es in die Westentasche. Er glaubte, laut Poverty, an Hexen und hatte einen sehr schlechten Ruf. Das Fleisch liebte er stark durchgebraten, fast schon zu Filz verbrannt. Er popelte in der Nase und stocherte mit den Fingernägeln in seinen Zahnlücken herum. Dagegen hielt er es nicht länger als vier Stunden in einem Hemd aus. Sean Poverty war früher Kabeljaufischer und kennt alle nördlichen Meere der Welt. Aber vor den südlichen fürchtet er sich und 61
glaubt an das Märchen vom Endlosen Wasserfall, wo sich die Wassermassen am Äquator in die Tiefe stürzen, ohne je irgendwo anzukommen: ein ewiger Wasserfall in die absolute Tiefe. Irgendwo, etwa auf halber Höhe, wohnt dort eine unsterbliche Jungfrau mit sieben Brüsten, vier Füßen und zwei rotglühenden Augen. Sie ist eine Jungfrau von dunkelvioletter Farbe, die sich von den Flossen durchsichtiger, blinder Fische ernährt. Ihr Name ist Maureen, und sie ist die Tochter von Sistorix dem Blauen, dem großen König der malvenfarbenen Winde der Dämmerung. Tragisch ist das Schicksal dieses Königs: Er wurde von einem perversen, geilen Jungwal entmannt, der dafür von den Hexen von Erin dazu verurteilt wurde, ewig im Kreis um sich selbst herumzuschwimmen. Deshalb sieht man wenige Meter vor der Stelle, wo das Wasser in die Tiefe stürzt, stets einen kleinen Strudel. Er verrät die Anwesenheit des verrückten Walfisches, der unaufhörlich, Jahrhundert um Jahrhundert, seine Kreise zieht. Sean Poverty heißt bei uns der ‹Viehdieb›, weil er früher in Irland Hühner gestohlen hat, um sie auf unanständige Weise zu mißbrauchen. Er wurde für diese so ‹beflügelnde› Gewohnheit eingesperrt und saß zwei Wochen in der Zelle, aber ein Wärter brachte ihm, da er aus derselben Gegend stammte, eines Tages eine Spezialmahlzeit auf der Basis von geschmortem Schweinefleisch mit Kohl. Jener Wärter spielte eine entscheidende Rolle in seinem Leben. Er zeigte seinen staunenden Augen die Perspektiven einer anständigen und nützlichen Existenz. Er vertraute ihm und bot ihm den Posten des Einkaufschefs an. Dort konnte Sean sich an Ölsardinen, Yorkschinken, Stockfisch und Tüpfelbohnen ergötzen. Er freundete sich mit dem dicken Koch an, einem Abtreiber, der einmal die Kontrolle über eine Punktiernadel verloren und dadurch das Leben eines Mädchens aus der Gegend von Dublin abgekürzt hatte. Der Koch war eine der Attraktionen der Wärter und ausgewählter Häftlinge. In der Nacht setzten ihn vier Männer auf einen Hocker, drapierten ihn mit einem Umhang aus Bettzeug, einer Papierkrone und einem Besenstiel als Zepter. Der dicke Koch verfiel bald in Trance und rezitierte die Litaneien von Enoch Conolly zur Beschwörung der Sieben Geflügelten Jungfrauen. Dann zogen sie als pittoresker Hofstaat hinter dem Koch her über die strahlenförmig angeordneten 62
Gänge des Gefängnisses zu den Zellen, wo die Neulinge schliefen, drangen ein und zwangen sie, im Schein tropfender Kerzen die Hosen herunterzulassen. Dann wog der Koch mit dem Löffel die Gehänge, und bei Mißfallen gab es einen Schlag auf jeden Hoden, was Geschrei, manchmal auch einen wütenden Vergeltungsversuch provozierte, den die Wärter aber verhinderten, um kein Aufsehen zu erregen. Eines Nachts schlief der Koch über den Litaneien von Enoch Conolly ein, und ein englischer, sodomitischer Seemann zündete seinen königlichen Umhang an. Der Koch erwachte durch die Hitze an seinem blassen, riesigen, erdigen Arsch; er rannte, was er konnte, vorne schreiend, hinten brennend. Gefallen, mit Füßen getreten und mit einer Decke emporgeschnellt, war er kein Koch in Flammen mehr, aber auch kein Mann. Wenigstens behauptete er dies am nächsten Tag schreiend und mit Tränen in den Augen. Sean war einer von denen, die meinten, das sei er sowieso nie gewesen. Seine Tochter sei nicht seine Tochter, und seine Frau, klein und gut gebaut wie sie war, sei im Bett ebensowenig seine Frau gewesen wie sie von Geburt an rote Haare gehabt hätte. Sean war ein Abgrund vieler Geschichten, so tief wie die Tiefe, in die die Wasser des Endlosen Wasserfalls stürzten. Manchmal wenn ich sehe, wie er mit der Rechten ein Transparent kaputtschlägt, mit der Linken die Mähne eines Fliehenden packt, ein Knie zwischen die Schenkel eines Gestürzten stößt und den Fuß des anderen Beins in einen überraschten Magen bohrt, bekreuzige ich mich und begreife nicht, wie eine derart hohe Effizienz zu einem Mann paßt, der so reich mit Erinnerungsvermögen und Phantasie begabt ist.
Lady Bird, es ist mir unangenehm, daß Sie in meinen Hemden schnüffeln, wenn ich nicht im Zimmer bin. Oft entdecke ich mit der Lupe die Spur Ihrer feuchten, roten Nasenspitze auf meiner sauberen, tadellosen Hemdbrust. Ebenso stelle ich fest, daß Sie meine Taschen durchwühlen, meine Schubladen, daß Sie meine Mottenkugeln lutschen und sich mit meiner Zahnbürste die Zähne putzen. 63
Wenn ich Sie noch einmal dabei ertappe, daß Sie dies tun oder daß Sie mir, als römische Plastikgottheit getarnt, die Walter P. Reagen entworfen hat, auf den Fluren des Palastes nachspüren, werde ich, das schwöre ich Ihnen, alles Ihrem Mann erzählen.
Morrison ist ein Kapitän. Ein Kapitän wie Errol Flynn: ‹der› Kapitän. Er inspiziert uns wie hochempfindliche Geräte, und oft habe ich das Gefühl, daß er uns dazuhin mit seinem energiegeladenen Blick führt, mit dem er uns den ganzen Tag begleitet. Hätte er nicht die Manie, sich ständig das Gesicht zu reiben, als wolle er die Millionen von Sommersprossen davon abwischen, wäre es völlig unverständlich, warum Morrison von den Talentsuchern der Filmindustrie so schnöde links liegengelassen wurde. Wenn er sich mit seinen Pranken das Gesicht reibt, verwischen sie mit ihrer Bewegung seine Gesichtszüge und verraten ihre gelatineartige Beschaffenheit. Er wirkt dann wie ein von entsetzlichen Verbrennungen entstelltes Monster. Die Gelatine des Gesichts läßt sich formen wie ein übriggebliebenes Stück weichen Teigs aus Mehl und Ei, in dem die eingeritzten Augen und der Mund schon dabei sind zu zerfließen. Morrison reibt sich, wo immer es auch sei, alle zwei oder drei Minuten das Gesicht, und hätte ich nicht den Verdacht, sein Gehirn und Herz seien aus Ziegelstein, würde ich sagen, daß sein Beruf ihn ängstigt, ihn belastet, und er seine schuldbeladene Identität auswischen möchte. Aber im übrigen ist er immer ein Kapitän. Er braucht ein Landungsboot, knatternde Fahnen im Hagel der Granaten und Pfeile, er hat immer Wasser in seiner Feldflasche, und sein Zwölffingerdarmgeschwür verbietet ihm, pro Jahr mehr als zehn Dosen weißer Bohnen im eigenen Saft zu verzehren und mehr als fünf, wenn die Bohnen mit Speck gebraten werden. Aber seine weit ausholenden Bewegungen befehlen uns, an Land zu springen und es Mann gegen Mann zu erobern, heldenhafte und verzweifelte Aktionen durchzuführen, die wir niemals zustande bringen. Nachdem er so das romanhafteste aller falschen Bilder aus dem Album der Kinderzeit vor unseren Augen heraufbeschworen 64
hat, entspannt sich Morrison schlagartig. Er zieht den nicht sehr kräftigen Hals zwischen die Schultern und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. Dann geht er und wechselt dabei Hacke und Spitze blitzschnell ab, was ihm erlaubt, sich zu entfernen, fast ohne daß der Zuschauer etwas bemerkt. Es sieht aus wie das Ende eines gelungenen Slapsticks, bei dem Jerry Lewis sich für Errol Flynn ausgegeben und ein paar Minuten lang seine Show abgezogen hat, dann aber erwischt wird und mit blitzschnellem Wechsel von Hacke und Spitze einen Wahnsinnsabgang macht, so daß der Saal unter dem donnernden Applaus in allen Fugen kracht. Morrison respektiert mich. Dank ihm ist es mir gelungen, zum Kern der Kennedys vorzudringen, und er hält mich selten mit anderen Aufträgen davon ab. Jackie und John schenken ihm viel weniger Beachtung als mir, sie laden ihn zum Beispiel nie zum Abendessen ein. Aber sie vertrauen ihm. Mehr als mir. Kennedy erklärte mir eines Tages, daß er die Manieren durchschnittlicher CIA-Agenten nicht ertragen könne. Morrison legt, wie der Präsident meint, niemals jene Agentennervosität ab, die ihm, auch wenn er nur ins Kino geht, dazu veranlaßt, ständig ohne ersichtlichen Grund den Hals zu recken und sich umzuschauen, als sei ihm diese angespannte Wachsamkeit in Fleisch und Blut übergegangen. Sooft ich versucht habe, zu seinem außerdienstlichen Leben vorzudringen, bin ich gescheitert. Er beantwortet nichts, was ihn außerhalb der Realität, in der wir miteinander zu tun haben, stellen könnte. Wenn man ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragt, zieht er den Kopf ein, und sein Gesicht erstarrt zu einer gleichgültigen Maske. Ich weiß nicht, ob ihm Boxkämpfe oder Mädchen gefallen. Einmal machte ich eine Bemerkung über die Ärsche einiger Mädchen, die auf der anderen Seite des Gitterzauns vor dem Weißen Haus vorübergingen. Ich sagte ihm irgend etwas in der Art, daß ich es ihnen gern mit meinem Knüppel besorgen würde, und Morrison erwiderte, dies sei Sache der uniformierten Polizei. Als ich ihm die Zweideutigkeit meiner Worte zu erklären versuchte, schien er nicht beeindruckt, er ließ sich noch nicht einmal dazu herab, mir mit einem verstehenden Lächeln entgegenzukommen. Er ließ mich einfach in der Luft hängen, frustriert, und die Bemerkung hing über 65
meinem Kopf wie eine unangenehme Wolke, die ich selbst hatte fahrenlassen. Er hatte keine sehr klar umrissenen politischen Ansichten, obwohl er sich manchmal in seinem Rechtsextremismus sehr radikal zeigt. Heute, als ich mein Gedächtnis durchforschte, fiel mir ein, daß er vor einigen Wochen schon bemerkte, Kennedy sei ebenso anständig wie naiv. «Er glaubt an die Möglichkeit der außen- und innenpolitischen Koexistenz.» «Du vielleicht nicht?» «Das spielt keine Rolle. Ich tue meine Arbeit. Möglich, daß ich mit ihm gleicher Meinung sein könnte, aber ich weiß, in welchem Land ich lebe, und er nicht. Ich fürchte, der Präsident weiß nicht, in welchem Land er lebt.» Zum Beweis zeigte er mir einen Artikel von Walter Lippman, den er ausgeschnitten und in seine Brieftasche gesteckt hatte. Darin wurde untersucht, wer von beiden der bessere Amerikaner sei, Kennedy oder Johnson. Nach Lippman ist Kennedy ein Luxuspräsident, überkultiviert und ohne Verbindung zum Durchschnittsniveau des Landes. Johnson hingegen sei ein weit besserer Amerikaner. Morrison gab ihm recht. Daß er liest, war für mich eine Neuentdeckung. Ein unveröffentlichter Morrison überraschte mich, der voller eigener oder mit Walter Lippman geteilter Ideen steckte. Ich deutete ihm meine Überraschung an. «Nein, das sind nicht meine Gedanken. Wir werden uns noch darüber unterhalten. Würde es dir gefallen, zu einem Treffen von Freunden mitzukommen? Nichts Subversives, es sind Leute von der John Birch Society›. Sehr fanatisch. Ich stimme ihnen nicht in allen Punkten zu, aber ich höre mir ihre Sachen gern an. Sie sind gesund.» Morrison spricht nie über seine Gefühle. Er ist noch nie in Begleitung einer Frau gesehen worden. Er scheint eine Ausgeburt der Pferdeställe der Macht zu sein. Was den Palast und die Kennedys betrifft, so wirkt er wie der Lehrling eines Kolonialwarenladens früherer Zeiten, der im Laden groß geworden ist und mit ihm sein blauer Kittel. Eine scheußliche Mischung aus Verwandtem und 66
Leibeigenem, der schließlich dank der Protektion des Ladenbesitzers eines Tages ein eigenes Feinkostgeschäft aufmacht oder eins pachtet. Morrison scheint im Schatten der Kennedys groß geworden zu sein, so sehr ist er ein im biologischen Mechanismus des Palastes perfekt funktionierender Appendix. Aber er wird niemals selbst in der Lage sein, die Macht zu ergreifen, weder als Pächter noch als Eigentümer. Ich glaube nicht, daß er irgendwelche Ambitionen besitzt, obwohl ich mich täuschen kann; er hat mich immer an die wilde Gestalt des Sergeants aus Norman Mailers ‹Die Nackten und die Toten› erinnert. Ich ging sogar so weit, ihn zu fragen, ob er irgendwann für den Roman von Mailer Modell gestanden hätte, und sein katastrophaler Sinn für Humor veranlaßte ihn zu der Antwort, er habe als Soldat in Europa gekämpft, und der einzige ihm nahestehende Literat sei ein Dichter aus Toledo (Ohio) gewesen. Sie hätten das Zelt miteinander geteilt, und er sei bei Dresden während einer absurden Schießerei zwischen englischen und amerikanischen Soldaten ums Leben gekommen. Ein paar Tage später brachte mir Morrison ein vergilbtes Papier mit einem Gedicht des toten Kameraden mit. «Den ganzen Tag erzählte er von dem Buch, an dem er schrieb. Er nannte es ‹Im Schatten der verblühten Mädchen›. Es sei ein obszönes Buch, gestand er uns.» Das Gedicht von Morrisons Freund war nicht schlecht. Es zeigte noch letzte Spuren des Postromantizismus der englischen Dichtergeneration der dreißiger Jahre, aber man ahnte schon den Tod von Zeit und Raum, das Begräbnis der persönlichen Erfahrung. Ich gehe durch eine Stadt ohne Ufer; es lügt der Nachmittag, Spiegel, Abschiede, Rauchfahnen, die Rückkehren verraten. Einsam macht mich das Vorübergehen ferner Mädchen; sie nennen meinen Namen nicht, verurteilen mich nicht zum Tode. Also kehre ich zurück 67
in die getäfelten Flure der Erinnerung. Haut, Fleisch, üppige Silhouetten nackt, das Geräusch sich schließender Lider, und vielleicht, vielleicht gab ein literarischer Schrei dem Augenblick einen Namen, in dem ich glücklich war im Schatten, immer im Schatten junger Mädchenblüte. Einen sehr flüchtigen Moment lang hielt ich Morrison selbst für den Verfasser des Gedichts. Aber dort stand er, wenige Meter von mir entfernt, und war dabei, eine Route für Kennedy auszuarbeiten – all seine Sommersprossen schauten auf eine beleuchtete Arbeitstafel, auf die sie unwirkliche kleine Schatten warfen, wie Maulwürfe, und er hatte die Stirn in Falten gelegt wie Errol Flynn kurz vor der Landung in irgendeiner Normandie. Es war völlig unmöglich.
Man ist in dieser Branche beschäftigt, um der Arbeitslosigkeit oder den verschiedenen Formen von Unterbeschäftigung zu entgehen, wie sie in Ländern herrschen, die weder entwickelt noch unterentwickelt sind, sondern ganz das Gegenteil davon. In diesen Ländern ist nichts und niemand zu irgend etwas nütze. Das Erleben der Geschichte beruht immer auf der Simulation von Wirklichkeit und einem Verhalten dazu. Diese Länder könnten von der Landkarte verschwinden, und es würde kaum auffallen; alles an ihnen ist klein und spärlich, und nur jene eigenartige Sentimentalität, die die Völker entwickeln, um nicht im kollektiven Selbstmord Zuflucht zu suchen, verhindert es, daß sich ihre Einwohner ins Meer stürzen wie Ratten, die vor einem Erdbeben fliehen. Es sind Länder, die weder eine Revolution durchführen noch einen richtigen Kapitalismus aufbauen können, und wegen dieser doppelt eingeschränkten Situation können die herrschenden Kasten weder liberal noch diktatorisch sein, aber auch nicht zu einer Synthese gelangen, die endlich definitiv ein liberales Zugeständnis wäre. So sind sie abwechselnd diktatorisch und weniger diktatorisch. Jeder fürchtet 68
sich vor jedem, denn es ist alles unsicher und provisorisch, für immer provisorisch, endgültig provisorisch. Die Minderheiten zählen nach Individuen und die Mehrheiten in Dreiergruppen (obwohl die Tendenz zur sexuellen Repression und zu übertünchten Fassaden verhindert, daß sich die Dreiergruppe als Keimzelle des kollektiven Lebens durchsetzt). Die Wirtschaft dieser Länder kann man in einem einzigen Buch von Soll und Haben zusammenfassen, und ein einhändiger Volkswirtschaftler würde für die nationale Buchführung ausreichen. Zur Kultur wäre es besser, gar nichts zu sagen, aber gut, sprechen wir darüber. Dort gelten Marktgesetze wie im Bilderbuch, und die Kulturschaffenden widmen sich mit Eifer der Aufgabe, Waren zu produzieren. Diese Waren bestehen grundsätzlich aus zwei Klassen in zwei verschiedenen Verpackungen: Artikel für Enzyklopädien und Nachhilfeunterricht für jugendliche Sitzenbleiber. Ausnahmsweise finden manche Intellektuelle mit langjähriger Berufserfahrung Spaß daran, Untertitel für Werke auf Glanzpapier zu verfassen, die Negerinnen mit nackten Titten und die Hängebrücke von Bilbao zeigen. Eine weitere Anzahl von Intellektuellen mit freien Stunden kann sieben oder acht Vorträge für reisende Kurse amerikanischer Studenten halten. Diese Vorträge werden in Dollars bezahlt. Der Rest ist ökonomisches und intellektuelles Elend oder, was noch schlimmer ist, Vorstufe oder Resultat des Elends und leeres faschistisches, liberales und marxistisches Geschwätz. Und man muß sehen, wieviel sie sich darauf einbilden, Dinge zu institutionalisieren, die nicht institutionalisierbar sind, oder zu liberalisieren, was nicht zu liberalisieren ist, und über welch vielversprechende objektive Bedingungen sie verfügen! Hurensöhne.
Heute fragte mich Jacqueline nach meiner Meinung zum Stierkampf und zur spanischen Poesie. Wer mutiger sei, ‹Él Litri› oder Dominguîn, Goytisolo oder Blas de Otero? Ich sagte, Goytisolos
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Stärke sei der ‹volapié› * und ‹Él Litri› sei mir immer wie ein Mönch und etwas reaktionär erschienen.
In der Tat, man ist entweder bei Muriel oder bei dem CIA. Neulich dachte ich daran um vier Uhr früh, als mich ein rasendes Klopfen an einer Tür, die nicht die meine war, aufschrecken ließ. Das Klopfen erinnerte mich daran, wie oft Muriel und ich es gefürchtet hatten, mit der Angst um den anderen in den zartesten Häuten des Körpers. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch das mit dem CIA ist eine Bagatelle.
Der Präsident ist heute formell eingeladen worden, Dallas zu besuchen. Der Gouverneur von Texas, Conally, hatte mit Argumenten darauf bestanden, die Kennedy sehr überzeugend fand. Man könne dem Erdöl des Landes nicht den Rücken kehren, vor allem nicht in einem Moment, in welchem die ‹Allianz für den Fortschritt› die Vorherrschaft einiger texanischer Ölmagnaten schwächen wird, um sich mit den Erdölproduzenten südlich des Rio Grande zu arrangieren. Kennedy sagte irgend etwas in der Art, die chemisch reine Demokratie bestehe nur noch darin, Ungleichgewichte auszugleichen, die die Spielregeln der Spontaneität hervorgebracht haben. Conally hat ihn nicht verstanden, ich glaube, Robert Kennedy ebensowenig, aber er nickte. Robert nickt nicht wie ein Streber, er nickt, weil dies eins der besten Instrumente politischer Stellungnahme ist. Der Präsident philosophierte beredt über die Zukunft der Demokratie. Der Liberalismus, behauptete er, ist mehr als eine politische, ökonomische und soziale Doktrin. Er ist ein Charakterzug im existentiellen Sinn. Etwas, das sehr an Bretons Thesen im Ersten Surrealistischen Manifest erinnert: ‹Einzig das Wort Freiheit * Todesstoß, den der Matador dem stehenden Stier aus dem Laufen heraus versetzt
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besitzt die Kraft, mich zu begeistern. Es erscheint mir gerecht und gut, diese alte menschliche Leidenschaft unbegrenzt aufrechtzuerhalten. Ohne jeglichen Zweifel gründet sie sich auf mein einziges legitimes Bestreben. Trotz des immensen Unglücks, das wir ererbt haben, muß man anerkennen, daß man uns höchste geistige Freiheit hinterlassen hat.› Lionel Trilling, der bei dem Gespräch zugegen war, bezweifelte die genaue Wiedergabe des Zitats von Breton. Er hielt es für zu dogmatisch und antiliberal. Für Trilling müßte das Ende des Zitats anders lauten: «... muß man anerkennen, daß uns die Möglichkeit höchster geistiger Freiheit hinterlassen wurde.» Kennedy holte eine Breton-Ausgabe zu Hilfe, und das Zitat war richtig gewesen. Aber Trilling insistierte: In den Aufzeichnungen Kennedyscher Erklärungen sollte das Zitat in abgewandelter Form erscheinen. Der Präsident griff entschlossen zum Telefon und verlangte eine direkte Verbindung mit Paris. De Gaulle befand sich in der Vendée, er war gerade dabei, Kindern in Trachten übers Haar zu streichen, und es dauerte einige Minuten, bis der Kontakt hergestellt war. Schließlich war er am Apparat. Er gab sein Plazet zu der Abänderung, aber unter der Bedingung, daß Breton konsultiert würde. In den FBI-Archiven wurde Andre Breton immer noch als Kommunist geführt. Kennedy bat Trilling, nach Paris zu reisen und über eine leichte Abänderung des Ersten Surrealistischen Manifests zu verhandeln. Trilling veranschlagte unmäßig hohe Reisespesen, wie Edward Kennedy meinte, der etwas geizig ist. Der Präsident schnitt eine köstliche Grimasse und machte eine weit ausholende, nichtssagende Geste, die genau das ‹laissez faire, laissez passer› ausdrückte.
Ich habe nur ein Galafest im Palast der Sieben Galaxien miterlebt, aber das werde ich nie vergessen. Die sieben gläsernen Sphären leuchteten bis zum Potomac, jede Sphäre in einem anderen Farbton, der nicht ihrer traditionellen Farbe entsprach. Jacqueline nannte mir die Namen der leuchtenden Farben: ‹indoor, kegisem, duluem, coris, salial, pauda, balisem›. ‹Kegisem› ist die Farbe für Empfänge im Palast und wird aus zerstoßenen Libellenflügeln und 71
dem Saft von befruchtetem Flieder zubereitet. Es ist unerläßlich, daß ein indischer Alchimist die Farben mischt, der nur nachts reist und sich von mehrmals gereinigtem Weihrauch ernährt. Der Alchimist muß das Meßgewand eines Bischofs und die Höschen einer fünfzehnjährigen Jungfrau tragen. Er muß siebenmal den Prüfstein des Bulu Domenian umkreisen und dabei die Worte sprechen: ‹Dolisa dalei dondia siminem dalei dosiá uliante cosima.› Die Farben des Palastes sind so zusammengesetzt, daß sie Bacterioons Eindringen erschweren. Die Teilchen von Bacterioon umgeben in Form einer Staubwolke die Sphären, sie wabern heftig unter der Linse eines großen, an einem künstlichen Satelliten angebrachten Mikroskops. Mit bloßem Auge sind sie nicht wahrnehmbar, aber die ortsansässigen Alten versichern, die Massen der Invasoren seien seit Beginn der Belagerung 1956 beachtlich zurückgegangen. Kennedy war damals erst Senator, aber schon verbreiteten die Hexen der Ägäis sibyllinische Gerüchte, und auch in der letzten Metzgerei der Mac Arthur Street wußte man schon, daß Kennedy früher oder später Präsident werden würde. Wenn die geladenen Gäste ankommen, betreten sie den großen Flur aus Glas, wo sie von der Kennedy-Familie unter einem künstlichen Regenbogen begrüßt werden. John Kennedy bewegt sich lebhaft und schüttelt Hände, aber alle wissen, daß seine leicht gebückte Haltung dem halb unsichtbaren Thron zuzuschreiben ist, den Charles Eames für ihn entworfen hat. Wenn Kennedy müde wird, nimmt er eine sitzende Haltung an, und der Thron erscheint unter seinen vier Buchstaben, besetzt mit den teuersten Plastikedelsteinen dieser Welt in Fassungen aus erlesenstem Blech. Wenn die Gäste sich verteilt haben, erblühen überall hängende, aufsteigende, rankende und ‹daniasische› Gärten. Erst dann sitzt Kennedy in ‹solirischer› Pose, und die ‹Kerosole› des ‹Pativien› lassen sich von glücklichem Wegerich umschmeicheln. Nun blasen die Herolde der Botschafter elektronische Fanfaren, und die Nuntien reiten ein. Feuerzungen in ihren Nationalfarben tanzen über ihren Köpfen, und eine Stimme weit aus dem Hintergrund, so weit wie 72
das Firmament, ruft ihre Namen aus und nennt die Art der Aufmerksamkeiten, die sie dem Präsidenten mitgebracht haben. Spanien: Honig und Traubensirup, ein Schäfchen aus Ocania und ein schwarzer Krug aus Cangas de Narcea. Portugal: Quark aus Évora, zubereitet von den zehn kürzesten Händen der schlankesten Jungfrauen des Ortes. UdSSR: eine metrische Tonne blauer Immortellen von einem namenlosen See im Ural. Frankreich: eine goldene Flasche Beaujolais Jahrgang 345 v. Chr. Großbritannien: eine Hirtenflöte, die nicht klingt, aus dem Besitz eines Marschalls, den es nie gegeben hat, Sieger in zehn Schlachten und entfernter Verwandter eines Wimbledon-Siegers. Siam: eine Jungfrau mit kleinen Brüsten und vorspringendem Hintern, die schon in der Pose einer Tänzerin geboren wurde, mit nach oben gerichteten Handflächen und einem leichten Perlmuttlächeln. Italien: ein synoptisches Bild, entworfen von einer Gruppe progressiver Priester, Experten für semitische Sprachen und CrossradWeltmeister. Grobheit ti voglio bene Atem Adriana Dioptrie Dolmen Ecke Tschechoslowakei: ein schlafendes Brot von gelber Farbe, gebacken von einer slowakischen Bäuerin, die beinahe Mutter eines sowjetischen Kosmonauten geworden wäre, aber sich für eine Abtreibung entschieden hatte. Deutschland: eine Schnecke aus nichtrostfreiem Stahl. Segovia: ein zimtfarbener Hund, fälschlicherweise ‹Der Blonde› genannt, der sich in eine alte romanische Kirche des Templer-Ordens geflüchtet hatte. Griechenland: eine tiefgefrorene Sirene mit Augen ohne Pupillen und Lackmusschuppen. 73
Kennedy nahm alle Geschenke mit einem Neigen des Kopfes entgegen, und Jacqueline streichelte den Kindern, die sie überreichten, liebevoll über das Köpfchen. Nachdem die Opfergaben überreicht waren, nahmen alle Platz, und über Lautsprecher wurde eine Vorlesung T. W. Adornos über den Twist angekündigt. In der Mitte des Salons tauchte ein großes Podium auf, darauf die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan. Adorno trat als Solist auf und sprach nur, wenn Karajan ihm den Einsatz gab. Er fällte ein strenges Urteil über den Twist und richtete eine Warnung an die Jugend der Welt. Da sie nicht damit aufhörten, kastrierende Rhythmen zu tanzen, würde er, Theodor W. Adorno, in Zukunft keine Radiovorträge mehr über die Korrespondenz von George und Hofmannsthal halten. Nach Abschluß der Vorlesung eilten verschiedene gebildete Jugendliche zu dem Meister, um ihn zu veranlassen, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Nach langem Ringen schafften sie es, und Adorno verschob seine Entscheidung auf das nächste Mondjahr. Toynbee lief durch die Räume und erklärte mit lauter Stimme jedem, der es hören wollte, daß die Historiker einmal sagen würden, unter Kennedys Herrschaft ‹standen die Künste und Wissenschaften in Blüte›. Kennedy (ich konnte es in seinen Augen lesen) schwankte, ob er ihn den Hunden zum Fraß vorwerfen oder bescheiden lächeln sollte. Dann warf er ihn den Hunden vor. Einige Stimmen des Protests übertönte Casals mit dem impertinenten Kreischen seines Bogens, mit dem er Ruhe zu schaffen versuchte. Danach wurde der Tanz eröffnet, und Jacqueline füllte sofort ihr Notizbuch mit den Namen jugendlicher Husaren der Zarin Alexandra. Im Zentrum des Raumes sprudelte ein Springbrunnen mit trockenem Martini, und mehrere jugendliche Diplomaten versuchten, sich bekleidet in das kleine Binnenmeer zu stürzen, das Kennedy in der zweiten Galaxis bereitgestellt hatte. Der alte Joe Kennedy trieb sie mit seinem Spazierstock hinaus.
Vor einigen Tagen war ich drauf und dran, mich mit Nancy Flower formell zu verloben, einer Kinderpflegerin der ‹Ann Mary Moix›74
Heime. Ich hatte sie acht Kilometer vor Washington aufgelesen, vom Regen durchnäßt; ihr Blondhaar hing ihr wild zerzaust über die Schultern. Nancy zog, kaum saß sie neben mir, ihre Strümpfe aus, und aus dem Augenwinkel konnte ich die exakte Wölbung ihrer Wade sehen, während der Strumpf langsam das Fleisch freigab, wie eine Haut, die sich der Einsamkeit widersetzt. Das Mädchen frottierte sich wiederholt die Beine und versuchte mit dem Mund an den Knien, sie mit ihrem Atem zu wärmen. Manchmal glitt ihr linkes Auge über meine Hände auf dem Lenkrad oder über mein Profil, das der Autobahn zugewandt war. Danach reckte sie sich ausgiebig auf ihrem Sitz, die Arme hinter dem Nacken gekreuzt. So konnte ich feststellen, daß ihr Busen klein war, ihre Taille hoch und sehr schlank, und daß die Linie vom Kinn über das Profil des sitzenden Körpers zu den Fußspitzen einen geometrisch offenen und perfekten Raum skizzierte, der die Bewunderung einer neugierigen und erfahrenen Hand erheischte. Nancy, eine Expertin der richtigen Gesten, ließ dann den Kopf auf die linke Schulter sinken, so daß ich ihr Gesicht von vorn sehen konnte, nur ein paar Sekunden lang, weil sie mit einem köstlichen Schwung des Halses eine Wendung um 180 Grad machte und ihr Gesicht der vorbeifliegenden, im Regen brodelnden Landschaft zuwandte. Von ihrem schwankenden Aussichtspunkt aus sprach sie mich mit belegter Stimme an, dick wie Himbeermarmelade. Ja, ich war Ausländer. Wie hatte sie das bemerkt? War das bißchen Amerikanisch so schlecht, das ich während unseres kurzen Dialoges gebraucht hatte? Mein Amerikanisch ist nicht sehr gut, aber auf der anderen Seite ist die Art, wie ich Auto fahre, entlarvend. Ein Amerikaner fährt nicht mit den Händen auf den Lenkradspeichen, er betrachtet auch nicht mit so viel Skepsis die Reklame am Straßenrand, und wenn er ein Mädchen mustert, beginnt er nicht bei ihren Waden. Drei unübersehbare Details, die ich natürlich gut fand, und ich schnitt mir selbst eine bewundernde Grimasse. Es war mein freier Tag. Wir aßen in Gilber’s House ein exzellentes Gulasch. Später ließ Nancy sich drei Straßenblöcke von ihrem Haus entfernt die Bluse aufknöpfen. Meine rechte Hand kannte schon die bemerkenswerte Festigkeit ihrer kleinen Brüste, als ich vor ihrem Haus parkte. Dann bewies Nancy den guten Ge75
schmack, mit ihrer Hand fest den Lichtschalter zu umklammern, während wir im euphemistisch sogenannten Abgrund der Lust versanken. Kurz darauf versanken wir zum zweitenmal, und Nancy umklammerte wieder den Schalter, ein Detail, das mir außerordentlich behagte. Am nächsten Tag trafen wir uns im Snack in der Monroe Street und gingen unter den Straßenlampen des Hudson Square spazieren. Plötzlich machte Nancy ein paar Ballettschritte, hielt sich mit einer Hand an einer Laterne fest und wirbelte um sie herum. Sie kam vor mir zum Stehen und sang, während sie mir in die Augen sah: Heute nacht scheinen mehr Sterne als sonst, selbst die Penthäuser scheinen in Reichweite meiner Hand. Mein Herz sagt, ich habe mich in einen fremden König verliebt, aber meine Lippen kennen die Sprache der Liebe nicht. Ich machte ein paar Stepschritte, klapperte mit den Absätzen und tanzte um Nancy herum, wobei ich die Arme vor der Brust kreuzte, manchmal auch die Hände im Schoß faltete. Nancy drehte sich dabei wieder um den Laternenmast. Ich sang auch ein Lied: Die Liebe braucht keine Worte, sie braucht Küsse, Liebkosungen und die nackte Berührung frischer Laken, nackt wie die Begierde, die den Liebenden die Worte erlaubt: Es erfüllt mich mit Glück, was ich sehe! Nancy erwiderte: Heute nacht scheinen mehr Sterne als sonst, ... 76
Ich gab nicht nach: Die Liebe braucht keine Worte, sie braucht Küsse, Liebkosungen und die nackte Berührung frischer Laken, nackt wie die Begierde ... Unser Gesangsduell dauerte eine Viertelstunde. Schließlich setzten wir uns ermüdet, streckten die Beine auf dem Rondell einer Korkeiche aus und wandten dem nächtlichen Verkehr den Rücken zu. Nancy sagte in leidenschaftslosem Ton: «I love you.» Ich dachte an Muriel. Ich erinnerte mich an jene kleine Wohnung mit dem Blick auf offenes Gelände, in der unser gemeinsames Leben begann und die bald von den ersten Objekten unseres Besitzes und den nie verstummenden lauten Stimmen unserer Diskussionen erfüllt war. Muriels Gesicht war klein. Manchmal, wenn sie schlief, reichte eine Kuhle im Kissen, und ihr Gesicht war meinem Blick entzogen. Sie hatte etwas runde, aber sehr eindringliche Augen, und wenn sie lächelte, hinterließ sie immer den Eindruck, daß dieses Lächeln eine Gegenleistung verdient hatte. Muriel und ich gingen unseren Weg Hand in Hand, bis zu der Minute vor unserer Trennung. Ich hielt den Blick fest auf ihren langen Hals gerichtet, für den Fall, daß sie sich umsehen würde. In Gedanken legte ich mir einen geistreichen Satz zurecht, um die Kette unserer Tage und unserer Begierden wieder zu reparieren. Vielleicht hatte ich einen schlechten Hintergrund für jenen Abschied gewählt: die belebteste Geschäftsstraße der Stadt mit den appetitlichsten, vielversprechendsten Schaufenstern. Das Problem war, daß sich Muriels Augen nicht nach mir und meinem unbeweglichen Warten umsahen. Vielleicht würde ich sie nie wieder sehen.
Zahnstein, Kopflaus, Eiterbeule, Schuppen, Nutte, Nachttopf, Scheiße, Wichser, Eier, verdammte Kacke, beschissen, Schleim, Ausfluß, Vater, Mutter, Rotz, Fick, lahm, einarmig, verkrüppelt, 77
schwachsinnig, Schwanzlutscher, Vorhaut, Dreck, Öde, Pipi, pissen, schiffen, Scheißhaufen, Floh, Krätzmilbe, Krätze, Flohstiche, Dreckschwein, Onanist, Eingeweide, Mastdarm, Pimmel, Arsch, Arschbacke, steif, Ständer, spritzen, Arschloch, verhurt, kastrieren, Kastrierer, organisch, Organe, Gehänge, Kutteln, Hühnermägen, Kloake ... auf diese Art reibt sich meine Zunge am Gaumen, das ‹ch› reißt mir die feine Haut meines Zäpfchens auf, und auch die letzten Reste der Muttermilch, die ich eingesogen habe, spucke ich mit diesen Wörtern aus. Manchmal muß man einfach diese Übungen machen, mit einer halb gerauchten Zigarette zwischen den Fingern. Das abendliche Washington versteckt sich hinter den Fensterscheiben im Nebel. Die Steinplatte der Welt lastet schwer auf dem Zentrum des eigenen Gehirns. Unsere Symphonie in ‹ch› kann den entspannten angelsächsischen Horizont kaum ankratzen, mit seinen immer nur halb ausgesprochenen, immer uneindeutigen Lauten, als nähme man die Wörter nicht ernst.
Ein Zeitvertreib von Lady Bird ist es, ihren Mann mit Punktiernadeln zu durchbohren. Es sind sehr dünne Nadeln aus versilbertem Metall. Das Ehepaar erklärt, es sei eine besondere Art der Akupunktur, wie sie die Kiowas aus anthropologisch ungeklärten Gründen praktizieren. Aber auch die Dümmsten bemerken, daß es sich als ununterbrochener Mordversuch durch ihre ganze Ehe zieht und heute an der Schwelle des Alters besonders erbittert tobt. Als Johnson ein Kind war, sagte der Hausarzt seinen Eltern, sein Herz befinde sich in der Nasenspitze, deshalb sei sie so dick. Keiner glaubte ihm. Sie hielten es für einen Witz, zu dem ihn das etwas dicknasige Kind inspiriert hatte. Aber es ist bekannt, daß Johnsons Herz nicht am rechten Fleck sitzt, und Lady Bird durchbohrt ihn mit Nadeln, um es irgendwann einmal zu finden. Mrs. Truman riet ihr, seine Nasenspitze zu durchbohren. Lady Bird fürchtet sich davor, daß es stimmt, daß er dort tatsächlich sein Herz hat und das Spiel schließlich von einem Erfolg ihrer Geduld gekrönt wäre, womit das Vergnügen ein Ende hätte. 78
Bacterioon ist nur unter der starken Linse des Davy-Crocket-Mikroskops sichtbar, das sich auf dem künstlichen Satelliten ‹Moonstan befindet. Trotz allem sieht man nicht genug, um alle Geheimnisse zu entschlüsseln, die diese bakterizide Substanz aufwirft. Sie erscheint nur als diffuse Staubwolke, die an immer mehr Orten auftaucht, in offener Konkurrenz mit der Luft selbst durch alle Fenster der lebenden und toten Materie eindringt, die Blutbahn des Menschen trübt und Schritt für Schritt, wie ein leichtes Gewebe, auch seine kleinsten Winkel überzieht. Man weiß nichts über die wirkliche Natur Bacterioons. Man hält ihn für zeitlos allgegenwärtig, autark und selbsterleuchtet. Noch geheimnisvoller ist die Mutation, die es ihm erlaubt, mit menschlichen Wesen in Kontakt zu treten und unter anderem die Vereinigung der Sondereinheiten von Geheimagenten zu bilden, die weltweit die langsame, aber sichere Eroberung durch Bacterioon vorwärtstreiben. Wer versucht hat, die Menschheit vor dieser Gefahr zu schützen, war nicht imstande, ihn mit mehr als unbestimmten Wörtern zu benennen, Wörtern, die kaum einige der Wirkungen Bacterioons annähernd beschreiben. Diese Wörter sind Relativismus, Asepsis, Skeptizismus ... aber sie wollen alles sagen und sagen nichts. Das Wort Destruktion gibt am besten den ganzen Komplex von Bedeutungen dieser geheimnisvollen Macht wieder. Der Astrologe Niemeyer behauptet, es handle sich um eine biochemische Substanz, die auf der Epidermis der Pariser Clochards entstanden sei und sich über die ganze Welt verbreitet hätte. Nosdratus dagegen, der große Alchimist und Zauberer der ‹Labour Party›, schwört Eide und Meineide, daß Bacterioon mit der Menschheit selbst entstehe und sich nur unter Bedingungen entwickle, die seinem Wachstum förderlich seien. Die Anhänger der menstruellen Schule unter den Historikern sagen, daß Bacterioon seine Aktivität zyklisch alle 300 Jahre neu beginne. Wie es scheint, begann ihrer Auffassung nach alles im irdischen Paradies. Es war reiner Bacterioonismus, der Eva dazu brachte, für einen Apfel das Glück der Menschheit zu verspielen. Das Auftreten der folgenden zyklischen Erscheinungen zu bestimmen ist sehr schwierig, bis zum Zerfall des römischen Reiches. Danach paßt alles vollkommen: die arabische Invasion, die einheitliche Gespaltenheit Europas in Politik und Religion, die moralische Zersetzung der 79
Renaissance, die todbringende liberale Revolution, die die Prinzipien der Familie, der Zünfte und der Stadt zerstörte. 300 Jahre später, d. h. am Ende des 20. Jahrhunderts, wird Bacterioon wieder unliebsames Aufsehen erregen. Man erwartet Anzeichen einer weltweiten Lockerung der Moral. Bacterioon nimmt die ausgefallensten Formen an und untergräbt normalerweise vor allem die Moral und die Sitten. So waren Defoe, Addison, Steele, Swift, Rousseau, Diderot, Voltaire – die großen intellektuellen Agenten Bacterioons im 18. Jahrhundert – vor allem bemüht, jegliche Art von Normen, jede Form der Beständigkeit von Verhaltensregeln im ‹ancien régime› zu zerstören. In der Gegenwart sind die Propheten des neuen Anarchismus und der Libertinage Bacterioons Agenten. Und wenn die UdSSR und die Vereinigten Staaten nicht schleunigst energische Schritte unternehmen, um das Pioniertum, das Pfadfindertum und schulische und olympische Wettkämpfe wieder zu neuem Leben zu erwecken, besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß die nächsten Generationen die Tore von Troja weit öffnen und daß die Chinesen sich eine Situation zunutze machen werden, in der sie überhaupt nichts zu suchen haben. Aber ich weiß besser als alle anderen, daß Bacterioon nichts dergleichen ist. Ich weiß, daß er nichts anderes ist als die historische Angst vor der Veränderung, aufmarschiert an ihren letzten Grenzen, um sich verzweifelt gegen den letzten Angriff der Vernunft, gegen die Geburt der Freiheit zur Wehr zu setzen und zum Kampf für das Alleroffensichtlichste zu zwingen. Wenn mich jemand fragen würde, warum Kennedy, der CIA, der Stalinismus, Bacterioon und der offene und versteckte Faschismus für dasselbe kämpfen und doch anscheinend Feinde sind, würde ich ihm entgegnen, daß sie sich im Ernstfall nie gegenseitig bekämpfen. Sie beschränken sich darauf, einander zu überwachen, als Sicherheitssysteme, die die Aufeinanderfolge von Irrtümern und Mißerfolgen garantieren, bis sie bei Bacterioon angelangt sind: der definitiven Nachhut der Nichtwahrheit.
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Kennedy legte Wert auf meine Anwesenheit bei der Audienz für eine Gruppe republikanischer Exilspanier. Vorher war ich bei der Einführung des neuen thailändischen Botschafters und bei einem kurzen Gespräch zwischen Kennedy und Johnson zugegen. Der Vizepräsident bat ihn um einen Botschafterposten für einen Texaner, mit dem er seit seiner Kindheit befreundet war. Kennedy erreichte dafür die Zustimmung des Kongresses zum Weltraumetat, den er in einer Woche vorlegen wollte. Johnson klagte über die Gerüchte über die bevorstehende Nationalisierung der Erdölindustrie in Brasilien, Argentinien und vielleicht Peru. Die Ölbarone seien sehr besorgt, daß das Beispiel Schule machen würde. Kennedy argumentierte damit, daß die Zustimmung zu diesen Maßnahmen für den guten Erfolg der ‹Allianz für den Fortschritt› unabdingbar sei und daß um den Preis des Verzichts auf bestimmte Ölinteressen ein interessantes politisches Bündnis gegen die revolutionäre Option des Castrismus zustande komme. Johnson sagte, daß diese Angelegenheit in Texas mit einem guten Knüppel geregelt worden wäre, und Kennedy versprach ihm beim Abschied schulterklopfend ein paar Eintrittskarten für das Spiel der ‹Yankees› gegen die ‹Giants›. Dann kam die spanische Gruppe herein. Das Betreten des Büros war ein mühevoller Akt. Einige der alten Politiker saßen im Rollstuhl, andere wurden auf Bahren hereingetragen; auch Fußgänger fehlten nicht, aber sie traten nacheinander ein, um ihrem Auftritt eine gewisse Feierlichkeit zu verleihen. Sie neigten den Kopf vor Kennedy und bildeten einen Kreis um ihn. Ihre Reise führte um die ganze Welt. Sie kamen direkt von Lourdes, wohin sie mit ihrem politischen Anliegen gepilgert waren. Einer der Greise, der hinfälligste, ließ nicht locker, bis Ruhe eintrat und wir ihm zuhören konnten. «Ich habe es schon 1940 zu Ihrem Vater gesagt, Exzellenz! Ich habe es ihm schon damals gesagt! Und Ihr Vater antwortete mir: Mestres, ich zähle auf Sie! Vergessen Sie es nicht, Exzellenz: Mestres, ich zähle auf Sie!» Kennedys Überraschung veranlaßte einen der Teilnehmer zu der Erklärung, Mestres halte Kennedy für den Sohn von Roosevelt, und alle Versuche, ihm seinen Irrtum auszureden, seien umsonst. Kennedy neigte das Haupt, synthetische Tränen glitzerten in seinen 81
Augen, und er sagte: «Wieviel Leiden bringt uns die Weltgeschichte! Wie sagte doch Dürrenmatt: Was sind das für Zeiten, in denen man für das Alleroffensichtlichste kämpfen muß!» Ein früherer Beamter der Stadtverwaltung von Burgos, ehemaliges Mitglied der Partei von Martínez Barrios, sprach im Namen der Gruppe ein paar Worte. «Exzellenz, seit 1939 hatten wir mehrmals die Ehre, mit einem nordamerikanischen Präsidenten zu sprechen. Einmal mehr erinnern wir Ihre Exzellenz an die Verpflichtung, die die Vereinigten Staaten gegenüber Spanien übernommen haben, seit dem Tag der Unabhängigkeit. Es ist klar, daß die staatliche Unterstützung damals den Revolutionären im Rahmen der antibritischen Strategie zugesagt wurde. Aber die aufgeklärten Klassen des Landes, die Spanier, die das Licht gegen die Dunkelheit verteidigt haben, waren die moralischen Urheber dieser staatlichen Haltung. Und, Exzellenz, genau diese Spanier stehen heute vor Ihnen! Uns hat der Fluch des Fliegenden Holländers getroffen. Wir liberalen Spanier kennen seit 1814 nur einen steten Wechsel unseres Verbannungsortes. Ein großer spanischer Dichter, Exzellenz, Antonio Machado, man könnte ihn San Antonio Machado nennen, hat einmal gesagt, daß in Spanien jede fortschrittliche Bewegung, die die politische Bühne betritt, hinter den Kulissen von einer anderen bekämpft und schließlich vernichtet wird. Aber eines Tages wird endlich jenes Spanien geboren werden, das ein ums andre Mal verhindert worden ist! In Ihren Händen liegt ein großer Teil der moralischen und materiellen Macht der freien Welt. Wir wollen keine Sklaven des Kreml sein, aber ebensowenig Sklaven des Rückschritts. Einmal mehr, Exzellenz, bitten wir um die Hilfe Ihres großen Volkes.» Kennedy antwortete ihm: «Meine Herren, jedesmal, wenn ich an Spanien denke, verspüre ich einen Stich im Herzen. Und ebenso jeder Amerikaner, der aus mehr oder weniger großer Entfernung die Ereignisse Ihres Bürgerkriegs mitverfolgt hat. Aber die Politik lebt von den Realitäten, und die aktuelle Realität ist die Stabilität des spanischen Regimes, das strategisch gesehen antikommunistische Interesse von Francos Spanien. Ich schlage Ihnen eine andere Audienz vor: Gehen Sie nach Madrid und verhandeln Sie! Viel Zeit ist vergangen, die Wunden müssen vernarben. Ich werde Ihnen ein 82
Empfehlungsschreiben mitgeben und die Garantie verschaffen, daß Sie Ihr Land unbehelligt betreten und verlassen können.» Mestres fiel dem Präsidenten ins Wort. «Ich habe es schon 1940 zu Ihrem Vater gesagt! Und Ihr Vater antwortete mir: ‹Mestres, ich zähle auf Sie!› Seither habe ich Ihren Vater nicht wiedergesehen ... Prieto war auch dabei. Er ging einfach in den Salon und sagte zu ihm: ‹Franklin, alter Junge, du hast dich prima gehalten!› Und Ihr Vater, Herr Präsident, nahm ihn in die Arme und drückte ihn, als wolle er die ganze Stierkampfarena von Barcelona umarmen. Ihr Vater sagte zu mir: ‹Mestres, ich zähle auf Sie!›... auch Churchill hatte es schon zu mir gesagt, Mestres, ich zähle auf Sie! Attlee ... Stalin ... Mestres, ich zähle auf Sie!»
Jacqueline liebt es, an den Ufern des künstlichen Flusses spazierenzugehen, der jeden Mittwoch in Mäandern um die Galaxien in ihrer magischen Schwerelosigkeit herumfließt, die sie dem Programmiergenie Walter P. Reagan verdanken. Sie liebt es, Blumen zu pflücken und in ihrem Rock zu sammeln, den sie gerafft hat, so daß ich sie ihr zuwerfen kann. Sie singt zarte Lieder voller Sehnsucht, bekränzt von einer Blumengirlande in den Farben von Caran d’Ache.
Ein Kreuz, die kalte Grabplatte, ein paar Blumen, schon verwelkt, das ist alles, was bleibt von unserer Lebenszeit. Erzähl der Welt von deinem Glück und verschweige ihr deinen Schmerz! Denn besser ist beneidet werden, als bei keinem Mitgefühl zu finden.
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Jacqueline hat, wenn sie sich mir auf spanisch anvertraut, dieselbe Stimme, die in spanischen Filmen Grace Kelly synchronisiert. «Sagen Sie, halten Sie mich für schön?» «Es ist mir untersagt, Komplimente zu machen.» «Untersagt, von wem?» «Von meiner Ehre, Señora.» Laut schreiend beginnt Jacqueline ihren gewohnten Mittwochswaldlauf. Während des Laufens verstreut sie die Blumen über das wilde Unkraut, die appetitlichen Pilze, die mir keiner zu pflücken gestattet, da niemand allzusehr meinen Kenntnissen vertraut und befürchtet wird, ich könnte eine Epidemie auslösen. Vergebens erzähle ich ihnen davon, wie herrlich die Reizker mit ‹botifarra› * in La Garriga schmecken. Reagan hatte die Sache nicht vorprogrammiert, Pilze waren nicht vorgesehen. Zum Glück genügt mir ein Buch, das mich unterhält, ein paar lächelnde Lippen und ein Kuß, der mich aufrechterhält. «Wissen Sie», sagte Jacqueline während des Laufens, wobei sie 53 Prozent ihrer kurzen Locken hinter sich zu lassen scheint, «ich bin nicht glücklich.» Mit gekonnter Verlangsamung ihrer Geschwindigkeit bis zum Ruhepunkt bleibt sie plötzlich stehen. «Ich habe alles versucht, alles! Meine Schwester, die Prinzessin, lädt mich manchmal zu Kreuzfahrten mit phantastischen Leuten ein, aber danach komme ich zurück, und die Traurigkeit beginnt von neuem.» «Kreuzfahrten sind sehr angenehm.» «Sie verstehen das nicht richtig. Es gibt faszinierende Menschen. Aristoteles.» «Onassis?» «Ein großartiger Mann, glauben Sie mir! Nicht nur eine großartige Persönlichkeit, sondern ein großartiger Mensch», versicherte mir Jacqueline leidenschaftlich mit geschlossenen Augen und nach vorn gezogenen Schultern und saugte dabei mit der Oberlippe ihre Unterlippe weit nach innen. * Katalanische Blutwurst
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«Aber hier in Washington fehlt es Ihnen doch nicht an Anregungen! Auch die Leute sind interessant. Vor allem der Präsident!» «John, interessant? Sie müssen es ja wissen. Aber das ist er überhaupt nicht. Ein richtiger Langweiler, das schwöre ich Ihnen. Wenn Sie wüßten! Eines Tages werde ich es Ihnen vielleicht erzählen. Und Sie haben keine Ahnung, wie langweilig die anderen sind! John ist bezaubernd dagegen, vor allem im Vergleich mit dieser Truppe von Superhirnen, mit der er sich umgibt. Von Hirn keine Spur, unter uns gesagt ... Aber man ist ja brav und schweigt schön still, weil man weiß, was seine Pflicht ist. Ich bin eben nicht wie die anderen, und das soll keine Anspielung auf eine bestimmte Person sein, nein, nein. Aber wenn Sie wüßten! Wetten, Sie kriegen mich nicht?» Damit rennen wir zum Palasteingang, wie jeden Mittwoch. Wenn ich mich dann wie Lots Frau umschaue, voller Sehnsucht nach verlorenen Horizonten, stelle ich wie immer fest, daß der Fluß verschwunden und nur noch die makellose Sternennacht in Technicolor zu sehen ist, wie in Columbia-Filmen der vierziger Jahre. Aber ich erstarre nicht zur Salzsäule.
Jedesmal, wenn ich mit Nancy Flower, Robert Kennedys Privatsekretärin, oder einem Zimmermädchen aus dem Stuart Hotel geschlafen habe, schwirrt mir hinterher der Kopf von Bildern und Erinnerungen. Dann setze ich die Einzelteile zusammen, und immer ergeben sie irreale Fotos von Erlebnissen mit Muriel. Manchmal spüre ich das warme Gewicht ihres Gesichts, das sich in meine Handfläche schmiegt. Manchmal belausche ich ihren Atem, oder ich sehe das Dickicht ihrer Haare auf einem Kissen oder einem Sandstrand; ein Lächeln; die verlegene Rührung eines Abschieds oder einer Ankunft. Nicht, daß Muriel besser oder schlechter als diese Mädchen gewesen wäre, ihr Körper war auch nicht schöner, vor allem nicht im Vergleich mit Robert Kennedys Privatsekretärin. Muriel, die unbequeme Muriel, war interessierte Augenzeugin meines Lebens, und obwohl jedes Interesse zweischneidig ist und Besitzansprüche den Keim der Zerstörung in sich tragen, verschafft das ‹Besessenwerden› eine gewisse Geborgenheit wie eine alte 85
Decke, die, von der Vitalität einer wohlbekannten Wolle erfüllt, die nackte Haut wie eine warme Heimat einhüllt. Es ist unnatürlich, die Einheit eines Paares aufrechtzuerhalten, aber ich kenne sehr wenige, im strengen Sinne natürliche Tätigkeiten: essen, pissen, kakken, schlafen und vielleicht bumsen, obwohl ich immer mehr dahinter komme, wie stark dieser Akt kulturell geprägt ist. Ja, es ist eine unnatürliche Sache, die ein ständiges Aufrechnen von Gewinn und Verlust erfordert. Dieses labile Gleichgewicht macht es möglich, ein gemeinsames Leben zu führen, und es kann sogar von Dauer sein. Aber manchmal, vor allem unter dem Druck äußerer Umstände, geht das Gleichgewicht verloren, und man fällt wie ein Radrennfahrer hinter denjenigen zurück, der das Feld führt und den anderen Windschatten gibt. Und es kommt so weit, daß man diesen Abstand nie aufholt, sondern sich von der Ausgangsposition immer weiter entfernt. Vielleicht komme ich deshalb immer wieder auf das zerbrochene Bild von Muriel zurück, weil mir die Angst des Radrennfahrers im Nacken sitzt, der allein in die Pedale tritt und fühlt, daß er dieses Rennen schon nicht mehr gewinnen kann und auch kein anderes mehr, aber daß er es trotz der Aussichtslosigkeit auch nicht aufgeben kann. Es wird immer kompliziert, wenn man bestimmte Lebensformen durch andere ersetzen will, und es erweist sich letzten Endes immer als absurd, denn das Leben, das habe ich genau studiert, ist eine Folge von Bewegungen ohne Erfolg.
Mehr als alle übrigen Bereiche des Palastes liebt Kennedy ein kleines Büro, das wie geschaffen ist für einen Expräsidenten im Exil. Er ließ es sich von dem Nachwuchstalent Alexander einrichten, Walter P. Reagans großem Rivalen. Es ist einer der Lieblingsträume des Präsidenten, nach seinem möglichen Sturz und einem gefährlichen, romantischen Exil in einer Hafenstadt im Triumph in die Heimat zurückzukehren und die Niederlage in einen Sieg zu verwandeln. Alexander hat diesen Raum im franziskanischen Stil der Inneneinrichtungen aus dem Film ‹Die Gerechten› von Camus gestaltet. 86
Die Garderobe des Expräsidenten in Amt und Würden entspricht ganz dem Anlaß: Es fehlen weder der grobmaschige Rollkragenpullover noch das Cordsamtjackett und die abgenutzte Pfeife. Auf ihr kaut Kennedy mit derselben Festigkeit, mit der er den historischen Heimsuchungen ins Auge blickt, mit dentaler Härte; eine sehr nützliche Tätigkeit, während er am Fenster steht und den imaginären Horizont nach der mächtigen Fregatte absucht, die ihm das Zeichen geben wird: ‹Es ist alles bereit!› Kennedy wird etwas älter, wenn er das Zimmer seiner Träume betritt, und er geht gebeugter, aber zum Ausgleich wird sein einäugiger Blick wilder, und ihm wächst ein Vollbart, ein technologisches Wunderwerk, an dem Reagan gescheitert ist, nicht jedoch Alexander, der Beherrscher der geheimen Triebfedern, die menschliche Architektur direkt in Natur selbst umsetzen. Mit der Gelassenheit eines Mannes, der warten kann, betritt der Präsident das unscheinbare Podest, auf dem sich ein alter Eichentisch erhebt. Dorthin zieht sich der gestürzte Expräsident zurück, um über einsame Entscheidungen zu brüten, weitab von den Ratschlägen seines ‹Braintrust›. Nur ganz wenige Auserwählte lernen diese letzte Bastion seiner Intimsphäre kennen. Dies war der Grund meines fatalen Zögerns, als der Präsident mich zu einem Imbiß in diesen so geheimen Raum einlud. Angesichts der ehrlichen Verwirrung seines gerührten Untergebenen lächelte der Präsident, wie es nur ein Präsident aus dem Klan der Kennedys kann und darf. Er ging auf mein Erröten, meine Respektsbezeugungen und meine Distanz ein und überrumpelte mich, indem er mir geistig ein Bein stellte, und dafür sollte ich ihm noch dankbar sein. Ich betrat seine Fluchtburg um vier Uhr nachmittags. Kennedy suchte den Horizont mit einem Fernglas ab. Mit einer unbestimmten, fast unwillkürlichen Geste bedeutete er mir, mich zu setzen und zu schweigen. Ich entschied mich für eine alte Truhe mit halb polierten, halb sorgfältig rostüberzogenen Beschlägen. Kennedy kehrte von seinem Ausguck zurück und wischte sich mit der Hand die Frustration und die Müdigkeit stundenlangen fernglasigen Wartens aus dem Auge. Er nahm einen langen Schluck Rum aus einem holländischen Fäßchen und rülpste pathetisch wie ein Verbannter. 87
Ich habe ganz vergessen, das ‹Semantema› seiner Einäugigkeit zu beschreiben, die ich nur andeutete, als ich seinen einäugigen Blick erwähnte. Kennedy ist unter den beschriebenen Umständen einäugig, richtig einäugig; er trägt ein unbezahlbares Modell von Peter Chermayeff als Augenklappe wie ein Pirat. Er stellte ein Buch zurück in das Wandregal aus altem, knotigem Holz und ließ sich fallen, ganz der literarischen Erschöpfung entsprechend, die Romangestalten in derartigen Situationen überfällt. Er fiel nach allen Regeln der Kunst in einen Schiffssessel, wie er in diesem Einrichtungskontext zu erwarten war, allerdings in einem speziellen Designstudio der Firma McGuire leicht abgewandelt. «Glaub mir, Salvador», sagte er zu mir, «die größte Geißel des menschlichen Lebens ist weder die Pest noch der Hunger, sondern die unvernünftige Leidenschaft. Deshalb sagte der heilige Johannes Chrysostomos: ‹Unter allen Übeln ist der Mensch der Übel größtes; jegliche Bestie besitzt ihr Übel, und das ist ihr eigentümlich. Der Mensch aber besitzt alle Übel. Nicht einmal der Teufel wagt es, einem Gerechten zu nahen, aber der Mensch scheut sich nicht, ihn zu verspotten.› Und an anderer Stelle sagt er aus demselben Anlaß: ‹Verglichen hat sich der Mensch mit den Eseln: Aber es ist schlimmer, sich mit einem Esel zu vergleichen denn durch Geburt einer zu sein; denn selbiger ist nicht schuldig, von Natur aus der Vernunft zu entbehren. Aber daß der Mensch, obwohl doch mit Vernunft begabt, sich mit dem Tier vergleiche, das ist das Verbrechen des Willens.› Und so bringen uns unsere Leidenschaften in die schlimmste Lage. Es ist nicht zu glauben, was der Mensch von dem Menschen selbst erdulden muß, sei er nun neidisch, cholerisch oder einer anderen Leidenschaft verfallen. Was mußte David durch den Neid von Saul nicht alles erdulden? Verbannung, Hunger, Gefahr und Krieg. Und Elia, wie übel hat ihm Isebels Rachedurst mitgespielt! Schlimmer als die Pest, denn er war seines Lebens selbst überdrüssig. Ahabs Habgier setzte Nabots Leben schneller ein Ende, als es die Pest vermocht hätte. Welche Seuche oder Plage käme der Machtgier von Herodes gleich, der so viele Tausende von Kindern ausgerottet hat? Welche tödliche Ansteckung wäre mehr zu fürchten als der Charakter von Nero und anderen, die, besessen von ihren Leidenschaften, vielen den Tod brachten, um sich ein Vergnü88
gen zu bereiten? Nein, Madariaga, bitte unterbrechen Sie mich nicht! Sie wissen, daß der große Tullius geschrieben hat: ‹Die Begierden sind unersättlich und zerstören nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Familien, ja sogar ganze Staatswesen. Aus den Begierden entspringen Haß, Streit, Zwietracht, Aufruhr und Krieg. Wie viele Foltermethoden und Todesarten haben nicht Haß und Grausamkeit der Menschen erfunden? Wie viele Arten von Gift? Orpheus, Horus, Medesius, Heliodor und viele andere Autoren fanden allein 500 Arten, heimlich Gift zu verabreichen, und viele andere vermehrten deren Zahl noch. Aber verglichen mit dem, was heute an manchen Orten vor sich geht, waren sie Ignoranten; denn nichts ist mehr sicher. Sie geben sich Gift, während sie sich die Hände zur Versöhnung, zur Freundschaft reichen; nur beim Gehör hat das Gift noch keinen Eingang gefunden, der übrigen Sinne hat es sich schon bemächtigt.» Ich hörte zu, und meine eigene Persönlichkeit war transmutiert. Das Wunder Alexanders, ganze Lebensprogramme vorzufertigen, hatte mich sogar die physische Gestalt von Don Salvador de Madariaga annehmen lassen. Jetzt betrachtete Kennedy bitter das Skelett eines Eisvogels, Direktimport aus den vier Quartetten von Eliot. Vor dem Auge des Präsidenten zog ein Totentanz von Shakespeare vorbei, während sich im Hintergrund Komparsen von Rang harte Schlachten lieferten. In einem Winkel seiner Pupille streute Jacqueline mit dem falschen Blondhaar einer wahnsinnigen Ophelia Blumen auf die Häupter der Senatoren. Ein Orchester intonierte einleitende Klänge, damit der Präsident seine Gedanken mit lauter Stimme fortsetzte. Kennedy folgte der Aufforderung und traf genau den Ton, den ihm das Ensemble vorgab. «Die größten aller Plagen sind diejenigen, die sich die Menschen in ihrer entfesselten Leidenschaft selbst zufügen. Genau dazu steht im Buch der Prediger jener bemerkenswerte Satz, der alles übertrifft, was die Philosophen je über das menschliche Elend gesagt haben: ‹Ich pries die Toten mehr als die Lebenden; ich schätzte den glücklicher als alle anderen, der noch nicht geboren war und nicht erblickt hatte die Übel unter der Sonne.› Denn nichts fügt dem menschlichen Leben größeren Schaden zu als die vernunftlosen Taten der Menschen, Haß, Frevel, Gewalt, Unmenschlichkeit, wel89
che der Leidenschaft entspringen. Deshalb gab es Philosophen, die das ganze Menschengeschlecht verabscheuten, da sie sahen, wie es sich von der Leidenschaft und nicht von der Vernunft leiten läßt. Timon, ein Philosoph aus Athen, war der Begründer und leidenschaftlichste Prediger dieser Schule. Er nannte sich nicht nur selbst einen Erzfeind der Menschen und sagte dies allen ins Gesicht, sondern er handelte auch auf eine Weise, die seine Worte bestätigte. So sprach er nicht und weilte nicht unter Menschen, sondern wohnte in der Wüste bei wilden Tieren und Bestien, weit entfernt von jeglicher Nachbarschaft oder bewohnten Gegend, damit ihn keiner besuchte. In jener Wüste wollte er von keinem Menschen besucht, angesprochen und gesehen werden, außer von einem athenischen Heerführer namens Alkibiades; mit diesem jedoch verkehrte er nicht aus Liebe oder Freundschaft, sondern weil er begriffen hatte, daß dieser dereinst eine Geißel der Menschheit sein würde, geboren zu ihrer Qual; und vor allem, weil er wußte, daß die Athener, seine Nachbarn, durch ihn viel Leid erfahren würden. Doch gab er sich mit diesem Abscheu vor den Menschen nicht zufrieden, auch nicht mit der Flucht vor ihrer Gesellschaft, als wären sie wütende und grausame Tiere; sondern er trug Sorge, soviel Schaden als möglich zu stiften, um die menschliche Gattung zu ruinieren und zu zerstören, indem er neue Methoden erfand, Menschen zu vernichten und auszurotten. So ließ er in seinem Garten unter den Bäumen viele Galgen errichten, damit alle Verzweifelten und Lebensmüden dorthin kämen und sich erhängten. Und als es ihm ein paar Jahre später, als er sein Haus vergrößern wollte, zu schwer war, jene Galgen abzureißen, ging er nach Athen und versammelte die Leute um sich, indem er ohne jede Scham laut auf den Straßen schrie wie ein Prediger, der etwas Neues verkünden will. Das Volk hörte die rauhe, barbarische Stimme jenes schrecklichen Ungeheuers. Es wußte schon lange, wessen Geistes Kind er war, und umringte ihn in Erwartung einer Neuigkeit. Als nun die Mehrzahl der Patrizier und Plebejer zusammen war, begann er laut zu verkünden: ‹Wisset, o Bürger von Athen, daß ich vor einer gewissen Notwendigkeit stehe, die Galgen in meinem Garten abreißen zu lassen. Wer also gewillt ist, sich aufzuhängen, der tue es bald!› Nachdem er dieses liebevolle Angebot gemacht hatte, kehrte er 90
ohne weitere Worte zu seinem Haus zurück, wo er den Rest seines Lebens in derselben Meinung verharrte und stets über das Elend des Menschen philosophierte. Als sein Tod nahte, befahl er, die Menschen bis zum letzten Atemzug verabscheuend, seinen Leichnam nicht in der Erde zu begraben, da die Menschen auf diesem Element gemeinhin lägen und ruhten und auch darin ihre Toten begrüben aus Furcht, daß ihre Gebeine von den Menschen gesehen und ihr Staub von diesen berührt würden. Ihn aber solle man am Ufer des Meeres begraben, wo die Wut der Wellen alle Kreaturen verjage und den Zugang zu seiner Grabstätte verwehre, auf welche er, wie uns Plutarch berichtet, folgendes Epitaph zu setzen befahl: ‹Nach meinem elenden Leben verscharrte man mich in diesen tiefen Wassern; sorge Dich nicht, meinen Namen zu erfahren, o Leser! Gott möge Dich zugrunde richten!› Kurz und gut, Madariaga, ich bin der Macht überdrüssig und gedenke, zugunsten meines Bruders Robert abzudanken, sobald es mir gelungen ist, die Usurpatoren aus dem Hause Orange vom Thron zu stoßen. Wir Stuarts sind unbesiegbar!» Mit hoch erhobenem Schwert, das auf Knopfdruck hell aufleuchtete, schien Kennedy entschlossen, sich mit einem vernichtenden Hieb auf mich zu stürzen. Aber er beruhigte sich langsam wieder, und wir blickten beide zum Fenster. Draußen fiel künstlicher Regen. Ein allzu paralleler, etwas langsamer und nicht gut koordinierter Regen, aber er fiel in großen Tropfen, unbestreitbar präsent. Kennedy wischte mit einem alten Federwisch den Staub von den Büchern auf dem Wandregal. Mit einem Finger fuhr er über die Buchrücken, bereit, wie ein Adler auf die ausgesuchte Beute herabzustoßen. Er zog zwei Bände heraus und reichte sie mir, mit jeder Hand einen. Die Entfernung hinderte mich, sie entgegenzunehmen, aber Kennedys Stimme stellte den informativen Nexus her: «Die Vergangenheit und die Zukunft meiner geistigen Entwicklung.» Die Vergangenheit war ‹Das Zeitliche und die Ewigkeit› von Johann Eusebius Nieremberg, S.J., und die Zukunft ‹Der Weg› von Pater Escrivá de Balaguer. «Ich habe dieses Buch kürzlich bekommen und in einer Nacht verschlungen. Es ist überwältigend. An Sie, Don Felix, wende ich 91
mich wegen der Landsmannschaft, die Sie mit dem Autor verbindet. Sie sind seinem vollen Verständnis wesentlich näher. Unter der Sonne dieses Buches soll der Same der neuen Vereinigten Staaten von Amerika aufgehen. Ich will diesen Samen in die Erde pflanzen, und der Sprößling wird bis in den Himmel wachsen. Der ‹American Way of Life› wird zur ‹New Frontier› führen, die uns die ‹Great Society› bringen wird. Ich will, daß Sie mir beratend zur Seite stehen, Felix! Genau Sie!» Er zwinkerte mir zu, komplizenhaft, aber ernst. «Ich bereite die geistige Wiedergeburt der Vereinigten Staaten vor, denn die jesuitische Dualität zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen hat bis heute meine Art bestimmt, die Dinge zu betrachten. Die Dualität zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen ist strategisch gesehen überwunden. Man muß das Zeitliche vergeistigen, es auf die Ewigkeit hin orientieren, indem man ihm eine Richtung gibt, kurz und gut, ihm den Weg weist. Schon der heilige Antonio Machado sagte: ‹Der Wanderer hat keinen Weg, er schafft sich Bahn beim Gehen.›» «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!» Mein Einwurf war so passend, daß der Präsident mir antwortete: «Friede sei mit dir!» Kennedy hatte sich wieder erhoben, mit seinem Holzbein hinkte er zum Fenster. Er umkrampfte das Fernglas, wandte sich, jetzt nicht mehr einäugig, nach mir um und schrie mit hochrotem Gesicht: «Endlich, Lequerica, endlich!»
Lady Bird steckt mir tote Katzen in den WC-Spülkasten. Ich weiß, daß sie schmutzige Dinge über meine Beziehung zu Jacqueline verbreitet. Als ich heute versuchte, die Sache dem Präsidenten gegenüber klarzustellen, ließ Kennedy mich gar nicht ausreden. Er rief den gesamten Hofstaat zusammen, Jacqueline, Lady Bird und meine Wenigkeit. Dann nahm er, ohne ein Wort der Erklärung, Jacquelines Kopf und meinen Kopf in die Hände und küßte uns mit der Reinheit eines blinden, lahmen und einarmigen Bischofs auf die Stirn. 92
Nancy Flower hat die Haut einer Irin, das rötlich-braune Haar einer Irin, die Hitze eines keltischen Mädchens, das zu Ausfluß neigt, etwas verdickte Knöchel, schmale, kalte Hände und einen hübschen, unersättlich runden Arsch. Sie wollte zum Theater, verlor aber den Mut, als sie auf der Bühne gestanden hatte. Während der Aufführung der ‹Glasmenagerie› von Tennessee Williams in einem Liebhabertheater beging sie einen so beklagenswerten ‹faux pas›, daß sie die Bretter niemals wieder betrat. Sie spielte die Rolle der Laura, der zerbrechlichen, zauberhaften Schwester-Tochter. In der zweiten Szene des zweiten Akts betritt sie aus dem Hintergrund die Bühne von links, offensichtlich nicht bei Sinnen, mit bebenden Lippen, weit aufgerissenen, starren Augen und geht mit ein paar unsicheren Schritten zum Tisch. «O Mama, es tut mir so wahnsinnig leid.» (Sie schwankt. Tom fängt sie auf und führt sie zur Chaiselongue.) Nancy war sich dessen bewußt, daß sie sehr schlecht gespielt hatte, und ihr fiel nichts Besseres ein, als zum Publikum gewandt die Entschuldigung zu stammeln: «Ich bin noch jung.» Ich weiß nicht, welche Berufe sie später ausgeübt hat, aber sie muß viel gereist sein, denn sie besitzt überraschende geographische Kenntnisse. Sie hat zum Beispiel verschiedentlich die Länder des sozialistischen Lagers bereist; einmal hatte sie sogar einen türkischen Verlobten, aber es kam nie zum Liebesakt.
Ein in der Geschichte der Analogrechner der dritten Generation außergewöhnliches Ereignis hat stattgefunden. Die Computer waren eine ganze Nacht lang unkontrolliert tätig und folgten einer informativen Spur, der Genealogie der Kennedys. Die Schlußfolgerungen dieser ‹jungen› Rechner sind sehr interessant: wie es scheint, gab es noch vor dem gemeinsamen Stamm des IE (Indo-Europäischen) einen linguistischen Urembryo: das ‹Kenedeset›, das in einer entlegenen Gegend Preußens, wo die edlen Rassen herstammen, gesprochen wurde. Das Wort ‹Kenedet› bedeutet ‹Wort›, und davon ist der Familienname Kennedy abgeleitet. Die ‹Kenedets› waren die regierende Kaste des Volkes der ‹Kenedem›: Priester, 93
Heerführer, Akrobaten und ständige Inhaberinnen des Titels ‹Miss Universum›. Ein Zweig der ‹Kenedets› kämpfte bei der Verteidigung Trojas mit, und es gibt einen bemerkenswerten historischen Fehler, der Vergil unterlaufen ist und jahrhundertelang das Aufspüren der Wahrheit verhindert hat: Jener trojanische Heerführer, der mit Dido, der Königin von Karthago, ein Verhältnis hatte, war nicht Äneas, sondern Keneas: ein echter ‹Kenedet›. Äneas wurde von den Göttern beauftragt, Rom zu gründen; so sagt Vergil, aber man darf nicht vergessen, daß er gewissermaßen ein bezahlter Autor im Solde von Octavius Augustus war. Am wahrscheinlichsten ist es – so die Rechner der dritten Generation –, daß der göttliche Auftrag gar nicht so eindeutig formuliert war und Vergil die Situation ausnutzte, um Wasser auf seine Mühle zu leiten. Hingegen findet die These einiger irischer Historiker von Tag zu Tag mehr Anklang, derzufolge Keneas nicht in Rom blieb, sondern durch das Mittelmeer weiterfuhr und sich auf die Suche nach den Bernsteinländern machte. Die Phönizier waren schon dort gelandet, und Dido kannte die geheime Route. Äneas oder Keneas füllte in Atlantis die Wasser- und Brennstoffvorräte auf und begann die Fahrt nach Norden. Schließlich erreichte er erschöpft die Gestade Irlands. Dort lebt sein Geschlecht in seinen Nachkommen fort. Die palatale Trägheit der Iren (unseren Lesern allzu wohlbekannt) führte dazu, daß sie nach der Hebung der Zunge zur Artikulation des ‹ne› von Ke-ne-as eine Ruhepause zur Erholung brauchten. Die Zunge war schon angehoben, und anstatt in neutrale Stellung zurückzukehren und das folgende ‹a› ungehindert ausströmen zu lassen, nutzte die Zunge der Iren die Möglichkeit, sich an den oberen Schneidezähnen abzustützen: ‹de›. Anfangs blieb die Aussprache mehr oder weniger an die historische Lautung gebunden. Auf diese Weise wurde Keneas zu Kenedas. Aber schließlich setzte sich die Endung ‹y› durch, und schon sind wir bei dem modernen, geschichtsträchtigen Familiennamen angelangt. Der Schluß liegt nahe, daß der Auftrag der Götter nicht Keneas selbst gegolten hat, sondern seinen Nachkommen. Dies wird vollends klar, wenn wir erfahren, daß schon im sechsten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung einige Männer des ‹Kenedas›-Klans im Zusammenhang mit Vorstößen der Wikinger ins Mittelmeer erwähnt werden. Ein Ke94
nedas ließ sich in Genua nieder, und seine Nachkommen begannen, Brieftauben zu züchten. Die Leute nannten sie die ‹Colombos› (Täuberiche), und mit der Zeit wurde der Beiname zum Familiennamen. Deshalb war es bis heute nicht bekannt, daß ein Kenedas fälschlicherweise Christoph Columbus genannt wurde und ein anderer Kenedas in den Vereinigten Staaten die katholische, soziale und konstitutionelle Monarchie errichtet hat. Das letzte Mal traf ich Wonderful in Madrid. Ich gehörte zum Gefolge Leonardis, und Wonderful hatte dort etwas zu erledigen und ließ genüßlich die Tage verstreichen, die ihn noch von der Pensionierung trennten. Eine Botschaftssekretärin und gemeinsame Freundin beabsichtigte, uns einander vorzustellen, war aber kaum überrascht, als sie sah, daß wir uns bereits kannten. Wonderful verbrachte seine Tage am Schreibtisch. Er schrieb seine Memoiren und gereimte Gedichte über Ereignisse aus der Geschichte Spaniens und der Vereinigten Staaten (die Anhänger der ‹Comunidades de Castilla›, das Attentat auf Lincoln, Pearl Harbour, die Kämpfe zwischen PSUC, CNT und POUM im Mai 1937 in Barcelona). Ein wohlgesetztes Gedicht hatte er dem katalanischen Banditen Serrallonga gewidmet, den er den Fidel Castro Kataloniens nannte. Als ich ihn fragte, ob er seine Meinung über Fidel Castro geändert habe, erwiderte er: «Eine Gefahr für die Welt!» «Also?» «Naja, die Literatur ist eins und die Realität etwas anderes, und der Beruf etwas ganz anderes. Ich bin nicht imstande, ein Gedicht über Foster Dulles zu schreiben, aber ich war sehr wohl imstande, ein ganzes Magazin auf den Kopf dessen abzufeuern, der ihm auch nur ein Haar gekrümmt hätte.» Wonderful ließ sich damals schon die grauen Haare aufdringlich färben und verlor oft die Beherrschung, die ihn so mächtig und berühmt gemacht hatte. Mit beklagenswerter Gefühlsduselei nahm er mich wie einen alten Tattergreis am Arm, der die unsicheren Schritte des jungen Adoptivsohns begleitet. Es war eine gefühlvolle Geste aus der Vorkriegszeit. Wonderful war in vieler Hinsicht zu seiner Jugend zurückgekehrt. «Irgendwann einmal war ich mit Companys zusammen in Ma95
drid, als er schon Marineminister war. Lluis war ein lockerer Vogel, immer gut für eine Orgie.» «Politisch?» «Ein Kerenskij, ein Kerenskij, wie er im Buch steht.» Er lachte und hielt sich das erst kürzlich zugelegte Bäuchlein. «Ein ganz gefährlicher Kerenskij!» Er lachte immer noch. Daß er aus dem Spiel war, nutzte ich, um mit der Botschaftssekretärin zu turteln. Sie erzählte mir wichtige Dinge über Wonderful. Er hatte zum Beispiel Sparbücher für seine kleinen Enkel angelegt, die Kinder seiner Kinder, die er seit 1939 nicht mehr gesehen hatte.
Kennedy brauchte sich nur ein wenig zu bücken, und der Stein streifte ihn nicht einmal. Einen Augenblick später hielt ich ein wirres Durcheinander von Haaren in meinen Händen und einen scharf vorspringenden Adamsapfel, unangenehm wie die tote Haut eines Huhnes. Im Bruchteil einer Sekunde schleuderte mein Judogriff den Mann über meinen Kopf. Seine Nieren knallten gegen die Bordsteinkante und sein Kopf gegen das Knie eines Polizisten. Meine Hände wühlten sich in seine Brust wie die Hände der Auguren in die Eingeweide des Sündenbocks. Ich zog sein negroides Gesicht ganz nah zu mir heran und sah die Tiefe der Angst in seinen Augen. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen in die dichten Brauen. Meine Knöchel trafen nicht das Jochbein, sondern knallten gegen eine Schläfe. Dann bohrte sich meine Faust tief hinein zwischen Ober- und Unterbauch, und an meinem Knie brach sein Schrei im Krachen von Zähnen und Kinnbacken. Ich hob ihn hoch wie einen kaputten Clown und beförderte ihn mit einem Schwung in die schwarze Öffnung des kleinen Transporters. Der Wechsel von sengender Sonne und kühler Dunkelheit im Lieferwagen war angenehm; ich setzte mich auf eine der Seitenbänke und genoß das intensive Gefühl der Entspannung. Der Mann kauerte in einer Ecke und betrachtete uns mit einer Mischung aus Furcht und Furchtlosigkeit, als wisse er nicht, woran er sei. Ein junger Agent trat ihm in die Rippen, aber Captain Morrison hielt ihn zurück. 96
Im Palast der Sieben Galaxien angekommen, stießen wir ihn bis zum Anfang der abschüssigen Rampe zum Kellergeschoß. Zunächst hielt er sich auf den Beinen, aber ein erneuter Stoß brachte ihn zu Fall, und er rollte bis zum Ende der Betonrampe. Er blieb liegen. Unter dem hellen Licht einer grünen Deckenlampe ließ ihn Morrison auf den Rücken drehen und setzte ihm den Fuß leicht auf die Genitalien. Morrisons Grinsen war nicht sadistisch. Bei ihm saß der Sadismus in der Fußsohle, die sich auf den heulenden Hoden des Gestürzten hob und senkte. Zehn Minuten später wußten wir bereits, daß er ein Spontantäter war. Er hatte an der Universität von Denver sein Staatsexamen als Biochemiker gemacht und war Mitglied einer Vereinigung gegen jegliche Form von Bürgerrechten, da er nicht an diese Fallstricke des Kapitalismus glaubte. Vielleicht war er homosexuell, denn ein anderer Agent, der seine Hinterbacken entblößte, um mit einer metallverstärkten Rute darauf einzudreschen, drehte sich lachend zu uns um und sagte, das stinke nach Vaseline.
Lady Bird kleidet sich wie die böse Stiefmutter, wirbelt den Staub der Korridore auf, durchbohrt Spinnweben mit dem Degen, lackiert ihre Fingernägel-Krallen lila, setzt gelbe Fangzähne ein, gießt die Petunien mit Urin blinder Katzen, atmet den malvenfarbenen Staub perverser Sterne, Agentur für Kinderleichen, steckt ihre Schandnase in Schlüssellöcher und in meine Hemden. Wenn sie lacht, splittern ihre Backenknochen wie Glas, und Blut überströmt ihre Augen, tropft zu Boden und versickert wie eine Vorahnung.
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Wenn die Kennedys am Tisch sitzen, zeigt sich, daß sie eine Art familiärer Galaxis mit ihren Sonnen und Translationsgesetzen bilden. Der alte Joe spielt den Moderator, tritt diese Rolle aber oft mit der huldvollen Herablassung des emanzipierten Amerikaners irischer Abstammung an Mutter Rose ab. John hat immer als erster das Wort, dann kommen Robert und Edward. Die Frauen dürfen sich zu Wort melden, wenn die Redelust der Männer erschöpft ist. Anläßlich des Namenstags des Präsidenten bekamen wir die Erlaubnis, am Essen im Familienkreis teilzunehmen. John hatte während des Essens auf jedem Knie einen seiner Söhne sitzen, aber trotzdem hielt er die Ellbogen stets eng am Körper und stützte sie nirgends auf. Rose, die Mutter, betrachtete ihn voller Stolz. Dagegen – vielleicht irre ich mich auch – glaubte ich eine Spur von Zurechtweisung in ihrem Blick zu entdecken, als Ethel sich erlaubte, einen Teller leer zu essen, ohne die Gabel zu benützen. Die Kameraleute von Life filmten fast ausschließlich die Dreiergruppe, den Präsidenten mit seinen beiden Söhnen. Als sie fertig waren, wurden die Kinder mit ihrer Erzieherin weggeschickt, und das hieratische Gesicht des speisenden Präsidenten entspannte sich, wie befreit von einem ungeheuren Druck. Er wurde von da an immer gesprächiger und machte ein halbes Dutzend relativ wohlgelungener historischer Scherze. Robert lachte nicht darüber, er grinste. Edwards Kinnbacken dagegen konnten die Lachsalven nicht zurückhalten. Rose verteilte zweierlei Blicke: der eine, bewundernde, galt ihrem Sohn, wenn er einen Scherz beendet hatte. Der andere, prüfende, galt der Gruppe von Zuschauern, die abwechselnd ihr Stück Eistorte lutschten oder der philo-präsidentiellen Heiterkeit lauschten. In der ersten Abendkühle lehnte sich John zurück, überließ seine Wirbelsäule der Lust und Laune der Schwerkraft und seines Stuhls und wandte sich an Robert. «Hör mal, Robert, wenn du Präsident wärst und dich mit Chruschtschow in, nehmen wir mal an, Kopenhagen treffen würdest ... noch genauer ... zu einer Gipfelkonferenz, was würdest du zu ihm sagen?» John schaute skeptisch auf die Zuschauer, die darauf gespannt waren, wie sein Gesicht Roberts Antwort kommentieren würde. 98
«Ich begrüße Sie im Namen des amerikanischen Volkes.» Prasselnder Beifall und von Edward ein montones ‹Sehr gut, sehr gut ...› Steinbeck sagte ihm etwas ins Ohr, und Edward verbesserte sich sofort: ‹Okay, okay, okay.› (Stunden später, als ihn Truman Capote nach dem Grund seiner sofortigen Korrektur fragte, antwortete Steinbeck, der Ausdruck ‹sehr gut ... sehr gut› sei wenig populär, und ein Kennedy III. müsse allmählich seine öffentliche Physiognomie schulen.) Das Fest endete mit einer Partie Basketball, Brüder und Schwestern Kennedy gegen Schwäger und Schwägerinnen. Peter Lawford kam genau in dem Moment, als das Match begann. Ein Sonderhubschrauber setzte ihn ab. Er trug bereits Basketballkleidung. Dann nahm er aber kaum am Spiel teil. Sergeant Shriver dagegen entpuppte sich trotz etlicher Kilo Übergewicht als ausgezeichneter Spieler. Die echten Kennedys siegten mit 173 :19 Punkten, aber alle mußten zugeben, daß weder Jacqueline noch Lawford in Hochform gewesen waren. Alle Hausangestellten des Palastes haben das Converty-College absolviert, die beste Zentrale für Hausangestellte in der westlichen Hemisphäre. Als ich nun sah, wie eine von ihnen in Tränen aufgelöst schluchzte und dabei eintönig stammelte: «Es gibt keine Gerechtigkeit mehr ... So etwas darf man dem Präsidenten nicht antun ...», befürchtete ich das Schlimmste. Gefühlsausbrüche von Hausangestellten im Palast der Sieben Galaxien gehören zu den am strengsten reglementiertesten Gefühlsausbrüchen der Welt. Vor allem, seit eine philippinische Kellnerin dem Generalstabschef eine Kanne kochenden Kaffees über den Hosenschlitz gegossen hat. Es war kurz nach Kennedys Amtseid, und nur die Invasion in der Schweinebucht konnte einen Militärputsch verhindern, der die amerikanische Demokratie vernichtet hätte. Ich eilte durch den Geheimgang. Im Vorzimmer des Präsidenten sah ich Hoover und Allan Dulles miteinander tuscheln. Morrison, der Chef der Agenten, hatte sich der Willkür eines enormen Sofas ausgeliefert, das ihn fast verschlang. Seine Augen waren gerötet, und er rieb sich einmal in der Minute die Hände. Der Bowles-Plan war durchgesickert. 99
Der sowjetische Botschafter in Wien hatte unserem Botschafter in dieser Hauptstadt die Möglichkeit angedeutet, daß die SU über den Bowles-Plan informiert sei. Der nordamerikanische Botschafter hatte sein Haupt geneigt, gelächelt und ihm herzlich gratuliert. Kennedy ist wütend. Er hat befohlen, Salinger auszupeitschen, um seinen Zorn zu besänftigen. Nicht, daß Salinger etwas mit dem Durchsickern des Plans zu tun gehabt hätte, nein, Salinger war der einzige Masochist im ganzen ‹Braintrust›. Das Schlimmste war der erneute Beweis sowjetischer Niedertracht, den die Agentur TASS mit der Veröffentlichung einer Zusammenfassung des Plans geliefert hatte. Am frühen Morgen rief Kennedy den sowjetischen Botschafter an und brüllte einen mehr als energischen Protest in den Hörer. Der Botschafter entgegnete, sein Land habe sich im Geiste wechselseitiger Zusammenarbeit verhalten und es aus dem Verständnis der Schwierigkeiten heraus, die eine Veröffentlichung durch die USA nach sich ziehen würde, vorgezogen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Kennedy nannte ihn einen Zyniker, und der Botschafter erwiderte, der Präsident verwechsle Zynismus und Dialektik. Tatsächlich erschien eine Zusammenfassung des Plans heute vormittag in der New York Times, und die Botschafter standen schon vor elf Uhr vor dem Palast Schlange und verlangten die Erläuterung der Auswirkungen des Plans auf ihre jeweiligen Länder. Der Bowles-Plan ist eine strategisch-politische Umsetzung der Philosophie Sylvesters. Es handelt sich um einen Versuch politökonomischer Rationalisierung im Weltmaßstab mit einer möglichen Laufzeit von hundert Jahren und einer ziemlich perfekten Kalkulation der möglichen politökonomischen Gesamtentwicklung der Erde. Vor allem sieht der Plan eine Aufteilung der Galaxis nach folgendem Schlüssel vor: USA 55 Prozent, SU 40 Prozent, Deutschland, England, Frankreich, Japan, VR China, Kanada und Australien 5 Prozent. Was die Erde angeht, so ist die Neustrukturierung der Einflußsphären diesmal nicht bei einer einfachen politischen Umverteilung stehengeblieben. Die USA schlagen zusätzlich eine Aufteilung der Funktionen im Rahmen der bestehenden ökonomischen Bipolarität des sozialistischen und des kapitalistischen Lagers vor. Innerhalb jedes einzelnen Lagers, vor allem aber im ka100
pitalistischen, sieht der Bowles-Plan eine rationelle Spezialisierung der einzelnen Volkswirtschaften vor, bezogen auf den gemeinsamen internationalen Markt innerhalb jeder Einflußzone. Nehmen wir Spanien als Beispiel. Nach dem Bowles-Plan wird es in zwei grundverschiedene Teile geteilt: 1. Spanien ohne Randgebiete: eine Art rundes Zentralgebiet, das der Produktion bestimmter Agrarerzeugnisse vorbehalten bleibt, nämlich Kohl, Kraut, Bataten, Bohnen, Kichererbsen, Hafer, Rettiche, grüner Salat, Blumenkohl und Tomaten (strengstens verboten ist beispielsweise die Produktion von Lorbeer, da Griechenland dafür das Monopol besitzt). 2. Randgebiete Spaniens: dem Tourismus, der Kunst und den Geisteswissenschaften vorbehalten. Praktisch die gesamte spanische Bevölkerung, die sich nicht zur Urbarmachung des Mondes* gemeldet hat, wird sich sehr strengen Studienplänen unterwerfen müssen, um die Arbeitsplätze einnehmen zu können, die der Aufteilung entsprechen. Nur ein Minimum ist für die Landwirtschaft bestimmt, da eine totale Mechanisierung vorgesehen ist. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung wird sich mit Kunst und Geisteswissenschaften beschäftigen, insofern und solange es sich um angewandte Kunst und Literatur handelt. Sie dürfen Spanisch schreiben, solange die Literatur zum inländischen Konsum bestimmt ist, Englisch wird jedoch obligatorisch, sobald es um den Konsum innerhalb der ganzen Einflußsphäre geht. Der dritte Sektor der Bevölkerung schließlich wird Berufe ausüben, die zum Hotelgewerbe gehören, vom Kellner bis zum Schuhputzer. Außerdem ist eine weibliche Spezialtruppe vorgesehen, die ‹Sexuelle Küstenpatrouille›, die ausschließlich den Tourismuskunden zur Verfügung steht. Derartige Pläne gibt es für alle Nationen der Welt, und die Botschafter strömten zum Palast herbei, um Punkt für Punkt alles zu diskutieren, was ihr jeweiliges Land betrifft. Manche Botschafter waren ausgesprochen glücklich: Der schwedische zum Beispiel erreichte eine Heraufsetzung der Produktionsquote für Gabeln aus rostfreiem Stahl und außerdem Kennedys Versprechen, den Vorschlag wohlwollend zu prüfen, daß Schweden die Produktion aller * Gemeint ist das dürre spanische Zentralgebiet, d. Ü.
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Salzfässer in der kapitalistischen Sphäre zugeteilt würde. Andere hatten großes Pech bei der Vertretung ihrer Sache. Der irische Botschafter war mit breitem Grinsen eingetreten und hatte Kennedy mit den Worten auf die Schulter geklopft: «John, stimmt es, daß du uns zu einem Volk von Katholiken und Hirten machen willst?» Als er die Audienz verließ, hatte er den Kopf so weit eingezogen, daß er beinahe zwischen den Schultern verschwand. Kennedy hatte nicht nur an der Irlandlösung des Bowles-Plans festgehalten, sondern auch noch erklärt, er werde zur Strafe für die Unverschämtheit des Botschafters den ‹Lake Shannon› trockenlegen. Mehr als ein Kommentator sagte einen bewaffneten Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Irland voraus. Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautete, hat Präsident de Valera bei einem spanischen Experten zehn historische Kernsätze in Auftrag gegeben. Dieser legte ihm eine Liste mit 318 Varianten vor, und de Valera wählte folgendes aus: 1. Gott schuf den letzten Iren, lange bevor es den ersten Amerikaner gab. 2. Wir werden kämpfen für ein intaktes, grünes und freies Irland. 3. Amerika den Vereinigten Staaten, aber Irland den Iren. 4. Die Größe eines Volkes bemißt sich nicht nach seinem Aggressionspotential, sondern nach seiner Fähigkeit zu moralischem Widerstand. 5. (Variante) Die Größe eines Volkes bemißt sich nicht nach seinem Pro-Kopf-Einkommen, sondern nach der Menge an Grundwerten pro Kopf. 6. Es gibt eine Barbarei, die schlimmer ist als die prähistorische: die Barbarei der Völker, die es nicht verstanden haben, ihre eigene Vergangenheit zu verarbeiten. 7. Irland wird seenreich sein, oder es wird nicht sein. 8. Möge jedes irische Kind Zeuge des Angriffs werden und ihn nie vergessen (dieser Satz ist sehr lobend kommentiert von dem chinesischen Poeten Has Hua-Pyu aus der Ming-Dynastie). 9. Mögen die Amerikaner kommen! Wir werden nicht weichen. 10. Gott schütze uns vor unseren Freunden, vor unseren Feinden schützen wir uns selbst (ein offensichtliches Plagiat; mit diesem Satz hat Che Guevara seine Polemik mit Bettelheim abgeschlossen). 102
Angesichts der Größe der irischen Herausforderung beeilte sich der Präsident, de Valera ein Geschenk zu schicken und ihm ausdrücklich zu versprechen, daß der Shannon nicht trockengelegt würde. De Valera bestellte unverzüglich bei François Mauriac einen Satz, der seinem Dank Ausdruck verleihen sollte. Er bekam ihn postwendend und schickte ihn unverzüglich an Kennedy weiter. Er lautete: Auch wenn du es aus Bescheidenheit nicht glaubst, die Blumen um dein Haupt erscheinen häßlich ...
Morrison nahm mich zu einem Treffen der ‹John Birch Society› mit. Er hatte mich darauf vorbereitet, daß es hoch hergehen würde, denn es sollte erörtert werden, ob Goldwater bei den Wahlen 1964 mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg gegen Kennedy antreten konnte. In einem kleinen, dunkelbraunen Salon mit schmutzigen Klappstühlen vor einem Podium, das eine grüne Lampe erhellte, tauschten die bewußtesten Leute Washingtons die letzten Worte und Gerüchte aus, bevor die Debatte begann. Ich hatte Taschen und Hände voller Broschüren: ‹The Blue Book›, ‹The Life of John Birch›, ‹Color, Communism and Common Sense›, ‹American Opinion›, ‹None are call it Treason›, ‹Towards a Socialist America›. Drei Redner erklärten langatmig ihren Antipazifismus und zitierten Lenin, um zu beweisen, daß Pazifismus und Subversion die Termiten des Westens seien. Dann öffnete sich die Tür, und ein riesiger Superman mit Stetson und der obligaten Zigarre trat ein, der Wirkung seines Auftritts voll bewußt. «Das ist Mister H.», raunte mir Morrison voller Erwartung und Respekt zu. Mister H. setzte sich neben uns und forderte die verstummten Redner mit einer Handbewegung auf, ihre Ausführungen fortzusetzen. Ich holte tief Luft und prüfte, ob vielleicht aus den Körperwinkeln von Mister H. ein leichter Erdölgeruch drang, aber er roch nach dem teuersten Lavendel, das auf dem Markt war. Er war deodoriert bis unter die Fingernägel. «Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften», sagte gerade einer der Redner, «machen die Liberalen eine jämmerliche Figur, egal ob 103
Männlein oder Weiblein. Sie geben sich gelangweilt, dogmatisch und borniert. Sie sind unfähig, locker zu sein und Interesse an einem lebhaften Dialog zu finden. Sobald das Gespräch auf Literatur oder eine andere Kunstgattung kommt, versuchen sie verzweifelt, zu Wort zu kommen, und schaffen es im allgemeinen auch. Sie sind lauter und intoleranter als normale Menschen. Der Autor eines antikommunistischen Buches darf nicht einmal diskutiert werden: Er ist keine ernst zu nehmende Person, sondern eine ‹faschistische Bestie› (Gelächter und Zischen). Ist der Autor aber ein Liberaler, so ist es kaum von Bedeutung, ob das Buch ein stinkender Haufen von Dummheiten ist oder nicht. Es ist ‹groooßartig›, und es ist noch viel besser, wenn es ein ‹Schwaaarzer› geschrieben hat. Aber über alles gehen ihnen die Pornoromane: Je schmutziger die Details, desto besser. Das ist ‹aaanständige› Literatur ...» Allgemeines Gelächter antwortete der verzerrten Phonetik des Redners, eines Predigers ich weiß nicht welcher religiösen Bürgerwehr von Oklahoma. Ich selbst lachte mehrmals, weil ich die Liberalen schon immer für Schwächlinge gehalten hatte, eher Frauen als Männer. Mister H. freute sich, wie sich nur ein schwachsinniger texanischer Millionär aus einem Hollywoodfilm freuen kann, den ein Liberaler gedreht hat. Das Gelächter von Mister H. schmeichelte dem Redner außerordentlich, und er steigerte das Crescendo seiner Inspiration zur Ekstase. Er begleitete die Verdammung des Liberalismus mit dem gesamten Repertoire der Schauspieler aus der Zeit vor Stanislawski. Ich würde sagen, es war der Stil des großen Talma in der Adaptation des Giganten Enrique Borrás. Als er bei der Behauptung angelangt war, alle Liberalen würden schnarchen, begann der Redner selbst zu schnarchen; sein eigenes Geräusch enthemmte ihn, und er ließ seinen unterdrückten Phantasien freien Lauf wie ein bis ins Mark verfaulter Lewis Carroll. Vom Schnarchen ging er zum Schweinegrunzen über, ahmte den Kuckucksruf nach und tat, als wolle er durchs Zimmer fliegen, um zu erreichen, daß wir uns richtig bedroht fühlten. Dann wandte er uns die Kehrseite zu und ließ einen unanständigen Wind fahren, den seine Lippen den Sitten und Gebräuchen der Liberalen zuschrieben. Er schlug seine Mitredner ins Gesicht und versuchte einer schreckensbleichen Schülerin die Höschen herunterzuziehen, die ihm bis jetzt hingerissen ge104
lauscht hatte. Besessen von dem Bösen, entfesselt, wälzte er sich auf dem Podium, eine Verkörperung von Geilheit und Verbrechen. Der verfluchte Geist von Jefferson war in ihn gefahren. Er verausgabte sich derart in dem Bestreben, uns die liberale Gefahr vor Augen zu führen, daß er sich mit übermenschlicher Konzentration in einen bedrohlichen, aggressiven Skorpion verwandelte, so daß Mister H. sich genötigt sah, ihn mit seinen texanischen Millionärsstiefeln zu zertreten. Wir waren alle in den Hintergrund des Salons geflüchtet. Vorn auf der Tribüne stampfte Mister H. wieder und wieder auf den Skorpion. Morrison hatte die Pistole gezückt. Ich hatte meine Hand in der Wärme der Achselhöhle verborgen, für den Fall des Falles. Mister H. versicherte uns, es würde nicht wieder vorkommen.
Präsident Kennedy besuchte heute die Nationale Weltraumakademie. Er interessierte sich für den Prozeß der Auswahl und des Trainings, das normale Menschen zu Übermenschen macht. In erster Linie, so wurde ihm gesagt, sollte ein Astronaut verheiratet sein, eine starke, aber normale Konstitution besitzen, etwas vulgär aussehen und mindestens zwei Kinder haben. Dies seien die wichtigsten Merkmale, damit der Durchschnittsamerikaner sich mit seinen Repräsentanten im Weltraum identifizieren könne. Kaum hatte der Präsident die Halle betreten, wo die Raumfahrer beim Essen saßen, begrüßte ihn ihr Sprecher mit den Worten: «Hallo, Präsident, Sie sehen besser aus als neulich, als ich Sie im Fernsehen sah!» Kennedy erbleichte, Wernher von Braun hustete und wand sich beinahe in Krämpfen. Tatsächlich hatte der Astronaut den Satz an der falschen Stelle losgelassen. Er sollte ihn Kennedy nach vollbrachter Landung der Raumkapsel sagen, nicht zum Zeitpunkt seines Besuchs. Einer seiner Weltraumkollegen gab dem Vergeßlichen einen Rippenstoß, und dieser korrigierte seinen Fehler. «Präsident, willkommen im Vorzimmer des Weltraums. Kommen Sie mit rauf?» Auf den kollektiven Seufzer der Erleichterung folgte eine Lach105
salve, die Kennedy drei Tage lang unter Lee Strafergs Anleitung tadellos einstudiert hatte. Der Applaus war ziemlich kräftig, und ein Astronaut überreichte Jacqueline einen Strauß Gladiolen. Ich glaubte zu bemerken, daß die Astronauten als Nebenwirkung ihrer Ausbildung im schwerelosen Raum einen hüpfenden Gang angenommen hatten. Im allgemeinen bilden sie Dreiergruppen, und einer der drei ist nach seinem Talent ausgewählt, die andern zum Lachen zu bringen. Ein weiteres selektorisches Kriterium ist die ethnische Reinheit und die Vielfalt der Ursprungsnationalitäten. Ohne direkt einen Ariernachweis zu verlangen, gibt es dennoch eine Diskriminierung nach dem Winkel der Kinnbacken und der Form der Nase. Die NASA-Techniker und insbesondere von Braun teilen die Bewunderung, die die Amerikaner der germanischen, skandinavischen und angelsächsischen Abstammung zollen. Böse Zungen behaupten, der ehemalige Deutsche halte bei sich zu Hause Martin Bormann und Adolf Hitler versteckt, als Chauffeur bzw. Gärtner getarnt. Er tue es jedoch, so behauptet man, nur aus sentimentalen Gründen, da an ein politisches Comeback Bormanns und Hitlers nicht zu denken sei. Eins der interessantesten Erlebnisse dieses Besuches war eine Unterrichtsstunde in Weltraumrhetorik. Mr. Ronald Samuelsson (Adlai Stevensson hatte ihn empfohlen) ließ alle Astronauten eine Reihe von Sätzen nachsprechen, die sie bei verschiedenen Anlässen verwenden sollten. Wenn es um die Erde ging, lautete der geprobte Satz: «Hallo Jungs, ich kann mir den Globus in die Tasche stecken!» Nach einem ersten Schweigen: «Wahrlich, ich sage euch, Gott ist genauso gegenwärtig auf dem Gipfel des Mount Everest wie im Tongagraben.» Wenn es um eine Erfahrung auf dem Mond geht, ist eine emphatischere Sprache zulässig. «Das Wunder vor meinen Augen ist wie das, das vielleicht ein Blinder erlebt, wenn er sein Augenlicht wiederbekommt. Ich danke dir, Gott!» Der Gebrauch des Wortes ‹Gott› bei diesen Sätzen ist umstritten. Kennedy war kein Befürworter seines Mißbrauchs; Robert dagegen insistierte: «Alles, was ein Astronaut dort oben sagt, ist eine sublimierte Form der nordamerikanischen Lebensphilosophie.» 106
Diese intellektuelle Entgleisung seines Bruders störte Kennedy, und er entgegnete säuerlich, es wäre dann ja am besten, einen Satz von Pearson oder Dewey zu zitieren. Da Robert nicht wußte, wer die beiden waren, versteckte er sich hinter der wirren Haartolle, die ihm in die Stirn fiel, und hielt für den Rest des Besuchs seinen Mund. Kennedy predigte daraufhin, man dürfe das Wort ‹Gott› nicht leichtfertig aussprechen. Der NASA-Präsident erklärte, er sei von der Christlichen Weltkonferenz unter Druck gesetzt worden, daß das Wort Gott in 65 Prozent der ersten Sätze der Astronauten vorkommen müsse. Die NASA habe ein Gegenangebot gemacht, und man sei im Begriff, eine Einigung auf folgender Grundlage zu erzielen: In den ersten Sätzen der Astronauten würde das Wort ‹Gott› bei allen Raumfahrten bis zum Jahr 2000 mit fünfundvierzigprozentiger Häufigkeit vorkommen und mit 32 Prozent während des restlichen Dialogs mit Houston. Kennedy meinte, er halte den Prozentsatz für übertrieben, stimme aber angesichts der offensichtlichen Opportunität zu. Dean Rusk, der dem Gespräch nicht genau gefolgt war, überraschte viele mit der Frage, was denn die Weltkonferenz dafür biete. Er überraschte viele, nicht aber den NASA-Direktor, der lächelnd antwortete: «Sie garantiert, daß der von ihr kontrollierte Klerus das gesamte Weltraumprogramm propagandistisch unterstützt. Lediglich 10 Prozent des von ihr kontrollierten Klerus werden für rückschrittliche Tiraden reserviert, also Dinge wie ‹Das ist gegen den Geist der Schöpfung ...› Weitere 10 Prozent des Klerus werden bevollmächtigt, jedesmal dann an die terrestrischen Offensiven des nordamerikanischen Imperialismus zu erinnern, wenn wir einen wichtigen Erfolg erzielt haben. Dann erlebten wir eine Trainingsstunde mit. Fast alle Astronauten sind ehemalige Flieger, manche von ihnen besitzen eine technische oder wissenschaftliche Vorbildung in diesem Fach. Sie sind alle Anhänger der Rechten, ohne Extremisten zu sein, und besitzen eine Allgemeinbildung, die es ihnen erlaubt, bei Rundreisen nach vollbrachter Tat die eine oder andere intelligente Bemerkung zu machen. So wissen sie z. B., daß sie bei der Ankunft in Paris dem offiziellen Führer sagen sollen: «Ich möchte eine Stunde Pause machen, um mir den Louvre anzusehen.»In Stockholm müssen sie sich nach 107
den Geburtshäusern von Greta Garbo und John Gilbert erkundigen. Bei einem Besuch in Madrid müssen sie sich unverzüglich für den Ausfall des ‹d› in intervokalischer Stellung interessieren, und in Rom sollen sie etwa bemerken: «Das Rom Cäsars wird immer das Rom Cäsars bleiben.» Ein Kapitel für sich ist die Auswahl der Ehefrauen, was zu mehr als einem Familiendrama geführt hat. Bei einem gewissen Anlaß, so munkeln die Klatschkolumnen, wurde ein Astronaut gezwungen, nach erfolgreicher Rückkehr für 20 Tage die Ehefrau auszutauschen, weil seine echte Gattin vorstehende Schneidezähne hatte und die Familienfotos ohne die Anwesenheit von Jerry Lewis unvollständig gewirkt hätten. In einem andern Fall mußten sich Frau und Schwiegermutter eines Astronauten einem schönheitschirurgischen Eingriff unterziehen, da sie alle unter einem Dach lebten und es grausam gewesen wäre, die Schwiegermutter zu den Fotos nicht zuzulassen. In den Anfangszeiten war das noch nicht so gewesen, und niemand hatte etwas dagegen gehabt, daß Glenns Ehefrau auf den Fotos zu sehen sein durfte, ohne vorher ihre Unterarme zu enthaaren. Aber seit Jacquelines Machtübernahme ist ein durchschnittlich fotogenes, anmutiges Äußeres der Astronautengattinnen eine ‹conditio sine qua non› für die Eroberung des Weltraums. Als wir gingen, nahm Kennedy einen Versuchsaffen auf den Arm und ließ sich mit ihm fotografieren. Der Affe gab ihm einen Kuß auf den Mund, und alle warfen unbewußt einen schnellen Seitenblick auf Jacqueline.
Ich wurde aufgefordert, zur spanischen Botschaft zu kommen. Eine Einladung zum Abendessen mit dem Kulturattache. Es gab Navarra-Bohnen mit Chorizo und gefüllte Paprika auf baskische Art. Der Kulturattache stammt aus Balmaseda. Er bat mich um vertrauliche Informationen über das Gespräch, das Kennedy neulich mit der spanischen Opposition geführt hat. Ich erzählte ihm alles von A bis Z. Er fragte mich mehrmals, ob Kommunisten dabeigewesen seien. Weder an der Farbe noch an Akzent, Atem oder Gang habe ich irgendeinen als Kommunisten erkannt. Einer 108
der Anwesenden war etwas ernster als die übrigen und legte sich, wenn jemand etwas sagte, die Hand ans Ohr und drehte es in Richtung des Sprechers. Und er machte ein paar Notizen. «Das ist der Kommunist», sagte der Attache. Ich glaube es nicht, weil er zu keinem Zeitpunkt versuchte, eine Rednerliste aufzustellen, trotz der vielen Zwischenrufe und rücksichtslosen Unterbrechungen.
Seltsamerweise war Morrison nicht ganz vollkommen: Ihm fehlte jene Mütze, die verschüchterte Subalterne in den Massenmedien immer in den Händen drehen. Seine ganze Person war eine unruhige, abgegriffene Mütze. Mister H. fixierte ihn im Bewußtsein seiner Faszinationskraft ab und zu wie eine Riesenschlange. Er ist auf Zack, dieser Texaner. Mich behandelte er wie einen Europäer. Er beschämte Morrison dadurch, daß er beim Gespräch eine Komplizenschaft zwischen ihm und mir herstellte. Der bedauernswerte Mittelsmann erlebte, eher bestürzt als überrascht, ein Feuerwerk an texanischem und europäischem Esprit. Mister H. bedankte sich für meinen Besuch und begründete dann seine offensichtliche Neugier auf meine Person. «Ich möchte feststellen, ob unser Präsident gut bewacht wird!» Kennen Sie Hollywoodfilme von mehr oder weniger erfolgreichen, hinterhältigen liberalen Produzenten und nicht weniger hinterhältigen, der Großen Säuberung entronnenen Regisseuren, die plumpe texanische Millionäre zeigen, faschistoid, blutrünstig, versoffen, verhurt und skrupellos? Dann kann ich mir die Beschreibung von Mister H. sparen und die Gelegenheit nutzen, um ein paar Worte über Literaturtheorie einzuflechten. Mag es auch nach Abschweifung aussehen, so ist doch der Moment gekommen, um die Verdienste der Massenkultur in bezug auf die Regeln der Kommunikation gebührend zu würdigen. Wenn ich Mister H. als eine Mischung aus Rod Steiger und King Kong bezeichne, erspare ich mir drei Kapitel aus irgendeinem Roman des bis heute nicht veröffentlichten Madrider Autoren Juan Benet * und fast einen ganzen Ro* Die vorliegenden Memoiren wurden 1963 geschrieben (Anm. d. Autors)
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man von Robbe-Grillet. Zurück zum Thema. Mister H. hat eine so gemeine Visage wie Rod Steiger beim Auspeitschen einer Waise, deren Mutter gelähmt und deren Vater soeben bei einem Schiffbruch ertrunken ist. Außerdem sieht er aus wie King Kong mit einem Cowboyhut aus dem Andenkenladen. Wir unterhielten uns von Mann zu Mann und von Zigarre zu Zigarre; unsere Lippen redeten oder zogen, und unsere Augen waren von Qualm getrübt. Als er zu mir sagte: «Das Leben eines Präsidenten hat einen sehr hohen Preis», beschränkte ich mich darauf zu fragen: «Wieviel?» «Eine Million Dollar.» Als ich diese Summe hörte, verwandelte sich Rod Steiger blitzschnell in den Orson Welles von Mr. Arkadin. Mister H. konsultierte Morrison mit einem Blick, aber ohne allzu große Erwartungen. Ohne eine Antwort abzuwarten, lächelte er mir zu, innerlich noch so mit seinen Kalkulationen beschäftigt, daß die Zigarre zwischen den speichelfeuchten Lippen kaum noch brannte. «Anderthalb. Aber ich führe es nicht aus; ich unternehme lediglich nichts dagegen.» «Dann ist es zu teuer.» «Wenn ich es selbst mache, zwei Millionen. Ende der Diskussion. » «Zu teuer.» «Zu billig. Ich mache Ihnen einen Sonderpreis, weil ich Kennedy nicht ausstehen kann.» «Unglaublich! Ein Europäer wie Sie! Ich dachte immer, nur wir Amerikaner könnten ihn nicht leiden.» «Er ist ein demokratischer Hanswurst, der sich für einen Augustus hält; dabei ist er derjenige, der die Tritte kassiert.» «So geht es letzten Endes uns allen», murmelte Morrison, aber so leise, daß ich beinahe dachte, ich hätte ihn in Anbetracht der unverkennbar tschechowschen Tiefe des Gesagten falsch verstanden. Mister H. versprach mir die Bestätigung der vereinbarten Einzahlung auf mein Konto eine Stunde vor Kennedys Tod. Morrison folgte mir über die Flure des Klubs zum Ausgang. Er trat mir beinahe physisch auf die Fersen. Ohne sein Gesicht zu sehen, wußte ich, daß er mich haßte. Deshalb blieb ich vor der Drehtür abrupt 110
stehen, den Ellbogen etwas nach hinten ausgestellt, damit er sich ihm in die Rippen bohrte. Ich entschuldigte mich mit wenig Überzeugungskraft.
Der Präsident ist den ganzen Tag schon sehr nervös. Eine ganze Woche lang hat er nichts anderes getan als Wildwestromane gelesen, vor allem solche, in denen Texaner die Helden sind. Er will bei den Texanern einen guten Eindruck machen, hat einen schleppenden Gang angenommen wie ein Romancowboy, nimmt weder bei Regen noch bei Sonnenschein den weißen, breitkrempigen Hut ab und zieht die Wörter in die Länge wie ein echter Texaner. Robert Kennedys Protokollchef hat versucht, ihn zu überreden, das Lassowerfen zu lernen, um sofort nach der Ankunft in Dallas Gouverneur Conally damit einzufangen und zu Boden zu werfen – ein Akt von doppeltem Symbolgehalt: die Macht des Bundes über jeden Einzelstaat und, auf einer anderen Ebene, die sexuelle Attraktivität, die die Bundesstaaten auf Washington ausüben. Nach einer Konsultation der bekanntesten Psychiater Washingtons wurde der Protokollchef in die ‹John Dewey Sr. Foundation› eingeliefert, wo er, wie Augenzeugen berichten, mit weißer Pomade geschminkt ankam und das wirre Zeug rezitierte, das Shakespeare (ein fruchtbarer und allzusehr mystifizierter Autor) die blasse Ophelia aussprechen läßt, nachdem ihr Vater peinlicherweise hinter einem Vorhang getötet wurde. Die Speisekarte des Präsidenten hat sich verändert. Trotz seiner gereizten Leber ißt er als Mittag- und Abendessen auf einmal ein 500 Gramm schweres Steak mit zwei Spiegeleiern. Innerhalb einer Woche hat er in den künstlichen Gärten der Fünften Galaxis zwei Barbecue-Empfänge mit niederschmetternden Soßen gegeben, die ihm unflätige Beschimpfungen aus dem Mund seiner gesamten Anhängerschaft einbrachten. Der Exbotschafter Joe Kennedy weigerte sich, an diesen Essen teilzunehmen, aber Robert zwang ihn dazu und steckte ihm fast mit Gewalt ein fünf Quadratzentimeter großes, blutendes Stück Fleisch in den Mund. Die reichlich darübergegossene Tabascosoße war so stark, daß es bei ihrem Auftreffen auf den Gaumen der Gäste beinahe krachte. Man darf nicht 111
vergessen, daß der Gaumen der edlen Rassen (und die Angelsachsen sind über die Sachsen ziemlich direkt mit den Ariern verwandt) nichts Pikantes verträgt. Zum Glück sind die Kennedys von trojano-keltischer Abstammung und physiologisch viel besser gerüstet. Ich nutzte den Vorteil, romanischer Herkunft zu sein, und verzehrte alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Jacqueline, die schließlich dumm erscheint, wenn sie ihre Liebenswürdigkeit übertreibt, pries vor dem Rest des Dienstpersonals mein gutes Beispiel.
Wir waren auf dem Gipfel verabredet. Muriel kam in einer Tunika aus Organdy, mit frischen Rosen in den Händen und schlaftrunkenen Beinen. Der Himmel umgab den roten Schlund der untergehenden Sonne mit kindlichen Limonadenfarben (Himbeer, Pfefferminz, Elixier d’Amour, Orange). Die pflanzliche Ausstattung stammte von einer in der Branche sehr renommierten Firma, und für die Hintergrundmusik sorgte der beste aller blinden Geiger, wahrscheinlich einer Miniaturausgabe von Korolenkos ‹Blindem Geiger› entsprungen. Zweitausend Olympiasportler stürmten in schwarzen Trikots über den bewegten Himmel und trugen Fackeln, die qualmten, aber nicht brannten. 5000 Jungfrauen zerrissen die Pullover aus reiner jungfräulicher Schafwolle, die sie ihren 5000 seefahrenden Verlobten gestrickt hatten. Diese waren bei dem Schiffbruch ertrunken, über den wir nun sprachen, während der beste literarische Sonnenuntergang seit Jahrhunderten über die Bühne ging. Muriel war sich der Bedeutung des Anlasses bewußt und hatte ein paar kurze zusammenfassende Zeilen, eine Tagesordnung und eine politische Analyse der Fakten parat: In mir existierte ein ‹Dollargeier› mit eindeutig kleinbürgerlichem Appetit, der mich zu einer egoistischen Haltung gegenüber meinesgleichen veranlaßte. Ich war als intellektueller Einzelproduzent mit Akkordlohn Sklave meiner Produktionsverhältnisse, die mir jegliches klassenbewußte Realitätsverständnis verwehrten. Daher konnte ich auch keine klassenbewußte Moral auf die Normen des korrekten Zusammenlebens anwenden. Andererseits hatte meine Situation als Einzelproduzent bei mir die geistige Struktur 112
eines kleinen Landbesitzers und Bauern hervorgebracht, eines unsolidarischen, individualistischen Freischärlers. Dies konnte zum Exzeß einer subjektiven Überbewertung der bürgerlichen Kultur führen, was sich klar in der suspekten Tatsache manifestierte, daß ich von Voltaire mehr hielt als von Rousseau. Angesichts solch gewichtiger Tatsachen war ihr nicht nur das ständige Zusammenleben mit mir erschwert, sondern sogar die sexuelle Intimität. Das tiefe Mißtrauen mir gegenüber blockierte für sie die letzten Gemeinsamkeiten, und sie hatte seit zwei Monaten und sieben Tagen keine befriedigende Orgasmusintensität mehr erreicht. Sie hatte während dieser ganzen Zeit nicht über ihre tiefe Unzufriedenheit und Unbefriedigtheit gesprochen, da sie gehofft hatte, eine angemessene Umerziehung, ein Programm gesunder Lektüre und gesunden Umgangs könnten mir helfen, meine Entfremdung im Mechanismus meiner Arbeit zu überwinden oder mir zumindest ihrer bewußt zu werden. Aber meine faschistoide Brutalität vom Vortag hatte ihr bewiesen, wie tief meine Konditionierungen saßen und daß es vielleicht letzten Endes unmöglich war, mein unwiderrufliches Absacken in die schrecklichsten Abgründe des theoretischen und praktischen Faschismus aufzuhalten. Sie fühlte sich ganz und gar nicht ermutigt, ihr ganzes Leben einer so unbefriedigenden Beziehung zu opfern, aber sie hätte eine so einschneidende Entscheidung noch aufgeschoben, wenn nicht unsere Tochter wäre, die durch die Erziehung eines Vaters, der Gut und Böse nicht zu unterscheiden vermag, schwersten Schaden nehmen konnte. Aus all diesen Gründen bat sie mich, vernünftig zu sein und keine schmutzigen rechtlichen Schwierigkeiten zu machen, da ja, wie jeder wisse, das Recht eine Struktur des Überbaus im Interesse der herrschenden Klasse sei. Ebenso seien alle Vorrechte des Vaters definitiv die Folge einer hinterhältigen Verschwörung zur Angleichung der innerfamiliären Hierarchie an die parafeudale Hierarchie eines faschistoiden Systems. Sie habe nichts dagegen, daß ich die Tochter in gewissen Abständen besuche, solange sie selbst oder eine ideologisch gefestigte Person anwesend sei, um meine Ausschreitungen zu bremsen. Sie dankte mir im voraus für meine zukünftigen Aufwendungen zum Wohle unserer Tochter, denn sie selbst 113
benötige von mir nichts, und ihre Freiheit habe eine unbezweifelbare ökonomische Basis. Ich gab ihr zur Antwort, sie könne mich am Arsch lecken.
Kennedy war heute in philosophischer Stimmung. Sein Hofstaat war vollzählig versammelt, einschließlich Königin Ginebra und Erec Kennedy. Auch Perceval Kennedy und Lanzarote Sinatra fehlten nicht. Kennedy leistete eine brillante Analyse amerikanischer Lebensphilosophie von Emerson bis zu den philosophierenden Schriftstellern der Beat-Generation. Er sprach von der unerfüllten Sehnsucht nach weitem Land und unbegrenzten Horizonten, vom schöpferischen und zerstörerischen Individualismus, vom Toast mit Melasse und Lewis Carroll, vom Starkult und Tennessee Williams. Der Präsident hatte einen Tag der Inspiration. Die Anwesenden verharrten in Schweigen und lauschten den Weisheiten Friedrichs II. Er verglich Nelson Algren mit Pi Baroja, und zwar auch hinsichtlich seiner ideologischen Mittelmäßigkeit. Das war zuviel für mich. Ich brach zum Entsetzen aller eine Lanze zur Verteidigung Barojas. Seine ideologische Mittelmäßigkeit ist ein winziges Minus, das nur in seinen essayistischen Werken zutage tritt, dafür aber vollkommen fehlt, sobald er auf die Form der einfachen Erzählung zurückgreift. Die Reportageromane von Baroja sind, diejenigen eingeschlossen, in denen es um den Sturz der Monarchie und den Aufbau der Republik geht, von genauso hervorragender Qualität wie die besten Reportageromane Hemingways. Robert Kennedy schrie, ich würde automatisch ans Schwarze Meer verbannt, aber Kennedy griff ein und interessierte sich sogar für die kritischen Quellen, auf die ich meine Argumentation stützte. Ich erwiderte ihm, es gebe weder kritische Quellen noch sonstige Vorgaben, außer einem diffusen kulturellen Bodensatz, der sich bei der Lektüre von zwei- oder dreitausend Büchern gebildet habe. Der Präsident, der selbst 33000 gelesen hat, nickte in voller Zustimmung, und alle stießen einen Seufzer der Erleichterung aus. Ungewollt war ich der zweite Mittelpunkt der Runde geworden, und obwohl ich mich in den hintersten Winkel des Zimmers verkroch, entgin114
gen mir doch die Blicke nicht, die auf mich gerichtet wurden. Es war der Fetischismus des Erfolgs, auch des allerkleinsten, der alle diese Amerikaner genauso heiß machte wie ein Paar makellose Brüste oder der vermutete Arsch der Freiheitsstatue. Der sowjetische Botschafter näherte sich mir in einer Pause und klatschte in sympathischer Ironie Beifall. Wir unterhielten uns kurz über das Wetter in Washington und die Seebäder an der Krim. Ich erhielt die inoffizielle Einladung, während meines ersten Urlaubs die Sowjetunion zu besuchen. Beim Abschied legte er mir noch einmal besonders ans Herz, gut auf den Präsidenten achtzugeben. Der Junge gefällt mir.
Eine herrliche Nacht war im Begriff, sich über die Lichter der Stadt zu legen. Dort auf der obersten Dachterrasse der Siebten Galaxis lähmte mich die Wiederentdeckung der frischen Luft wie eine Offenbarung oder die Überraschung einer guten Erinnerung. Dann drückte mein eigenes Gewicht auf meine Ellbogen, dazu eine gewisse Traurigkeit, die ich mir für geeignete Gelegenheiten vorbehalten habe. Und genau wie in den amerikanischen Filmen der vierziger Jahre legte sich mir eine weibliche Hand aus den vierziger Jahren auf die Schulter. Ich drehte mich um und rief in gespielter Überraschung: «Sie?» Aber schon hatte sich ein Lippenpaar auf die meinen gepreßt, und ich hielt den makellosen Körper mit meinen Armen umfangen. Wir begannen, die Stadt zu betrachten, die ihren Schlaf unter weißen und orangefarbenen Leuchtbuchstaben verbarg.
Dann versuchte ich, ihren Busen zu drücken. Sie an mich zu ziehen. Aber Muriel stieß mich entschlossen zurück und begann den Berg hinabzusteigen.
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Wieder einmal habe ich Lady Bird dabei erwischt, wie sie durchs Schlüsselloch in Robert Kennedys Privatgemächer spähte. Ich schüttelte sie, um mich bemerkbar zu machen. Sie versuchte, aus dem Flur zu entwischen, und ahmte dabei den Ruf des Kuckucks nach. «Ich bin ein Kuckuck, ich bin ein Kuckuck!» Meine skeptische Miene holte sie in die Realität zurück. Aber trotzdem versuchte sie noch zu flattern, um die Täuschung aufrechtzuerhalten. Zu meiner großen Überraschung schaffte sie es nach dem dritten Versuch tatsächlich und erhob sich in die Luft, wenn auch mit der einem Kuckuck ihres Alters entsprechenden Unsicherheit. Sie brach sich an der Stuckdecke einen Flügel und landete ziemlich ramponiert vor meinen Füßen, mit einem Lächeln, das um Solidarität flehte. Ich übergab sie ihrem Ehemann mit der Warnung, es sei das letzte Mal, daß sie sich einen derartigen Skandal erlauben könne.
Wegen der Vorbereitungen für die Dallas-Reise sehe ich Nancy Flower kaum. Daher glich unser heutiges Rendezvous einem Wiedersehen nach längerer Trennung. Sie war etwas niedergeschlagen, das Gespräch stockte, und wir schliefen nicht miteinander. Sie erzählte mir, an manchen Tagen überfalle sie ein seltsames Gefühl von Fremdheit. Ihr eigener Körper, der anderer Menschen, die Dinge, die Landschaft ... alles sei für sie ein einziger, nicht enden wollender Brei von widerlicher Materie. Es ist die Obszönität, ein Teil von etwas zu sein, die Obszönität, ungewollt in Biologie und Geographie eingebunden zu sein. Ich sagte ihr, daß die Amerikaner ihrer Generation das große Lebensziel der ‹New Frontier› hätten, und sie machte Anstalten zu kotzen. Dann wurde Nancy sogar pedantisch und sprach von dem Anreiz, zu leben und zu koexistieren, der genauso jämmerlich sei wie der Antrieb zu töten. Ich küßte sie, aber sie wandte ihr Gesicht ab. Ich begann, in einer alten Nummer von Life zu blättern, und sie versuchte, ein paar Zeilen eines Romans von Malcolm Lowry zu lesen. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß sie mich unverwandt betrachtete, und hielt den Moment für ge116
kommen. Ich legte die Zeitschrift weg, trat hinter sie und ließ meine Hände nach unten wandern, bis sie ihre Brüste umfaßten. «Oh, no! Heute nicht.» Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Sie begann zu weinen. Es sei nichts, antwortete sie auf meine Frage. «Noch einmal: Es ist nichts!» Ich holte eine Scheibe Schinkenwurst aus dem Kühlschrank und nahm einen Rest Kastenbrot aus einer Schublade. Nancy weinte weiter mit dem Kopf auf den Knien. Ich machte ihr ein gutes Glas Rum mit Zimt, wie sie es gern mag. Nein, auch keinen Rum mit Zimt. Mein eigener Solidaritätsmechanismus machte mich wütend. Was ging mich Nancy Flower mit ihren metaphysischen Ängsten an? Was ging mich Nancy Flower überhaupt an, abgesehen von dem konventionellen Rahmen einer Bettgeschichte? Nichts. Absolut nichts. Ihre Traurigkeit war ein störendes Hindernis, das den heutigen Tag verdarb. Der Form halber fragte ich sie, ob sie etwas brauche. Nein. Als ich mich zum Gehen wandte, umarmte sie mich und schwor mir, daß sich an unserer Beziehung nichts geändert habe. Sie habe manchmal eben solche Tage. Ich äußerte ein paar zustimmende Sätze, aber ohne große Begeisterung. Nancy sagte, wenn ich wollte, dann würden wir es tun. Nein. Jetzt war ich es, der Nein sagte, weil ich wirklich keine Lust hatte. Um sicherzugehen, musterte ich sie von oben bis unten. Aber mein Appetit kam nicht wieder. Ich komme morgen. Nein, lieber später. Morgen fahre ich nach Dallas. Später geht es nicht mehr. Nancy ist es egal, das habe ich vollkommen verstanden. Sie begann, noch mehr zu weinen, und brauchte sogar einen Stuhl, um ihre Weinkrämpfe zu überstehen. Durch den Floristen ließ ich ihr einen Blumenstrauß bringen.
Zuerst wollte ich ihr nachlaufen. Dann dachte ich, es sei viel besser, sie das Verbrechen begehen zu lassen. Sie würde schon wiederkommen, dachte ich. Nein, sie würde nicht wiederkommen. Das war offensichtlich. Nicht, daß es mir viel ausgemacht hätte. Ich war mir bewußt, daß der stechende Schmerz bei dem Gedanken, meine Kleine nicht wiederzusehen, ein kulturell erworbener Schmerz war, 117
ekelhaft konditioniert durch ein ganzes Erziehungssystem, das falsche Nabelschnüre zwischen Eltern und Kindern schafft, um die obszöne Kontinuität der Biologie zu garantieren. Aber das Resultat war eine Angst, die mich dazu trieb, Muriel nachzulaufen. Ich ging schneller und holte sie am Stadtrand ein. Schwarze Dunkelheit quoll schon aus den ersten Straßen des Außenbezirks. Wir gingen in ihrer Stille nebeneinander her, bis die ersten breiten und hellerleuchteten Gehwege begannen. «Kann sein, daß ich abhaue», sagte ich zu ihr. Keine Antwort. «Vielleicht können wir hier eine Abmachung treffen. Aber ich habe es satt, dauernd gegen eine Wand zu rennen.» Die Lichter der Geschäfte beleuchteten Muriels starren Gesichtsausdruck. Mit diesem Ausdruck mußte Mao Tse-tungs Frau zu dem Kessel geschritten sein, in dem sie von den Truppen Tschiang Kai-scheks gekocht wurde; Sacco und Vanzetti mußten mit eben dieser Festigkeit zur Verurteilung geschritten sein. Jenes Gesicht schien sich nicht sehr von dem Gesicht von Yves Montand zu unterscheiden, mit dem er im Olympia ‹Le chant des partisans› gesungen hatte. Mir schien sogar, als hörte ich die Passanten dieses Lied singen; sie gingen schneller, von dem Lied angefeuert; sie ruderten mit den Armen. Die Menge um uns herum erzeugte eine Hitze, die auf Muriels Wangen rote Flecke auftauchen ließ. Die Menschen umringten uns und sangen im Chor ‹Le chant des partisans›. Die Säuglinge wollten unbedingt die Gitterstäbe der Gefängnisse ihrer Brüder zerbrechen, die Straßenbahner legten den Statuen Dynamit an die Hoden, die Bergleute kamen mit ihren laternenbestückten Helmen aus den Kloaken und leuchteten voran auf dem rechten Weg. Muriel führte den Demonstrationszug an, als anständiges ‹Pom Pom Girl› gekleidet, ich schritt als zugehöriger ‹Pom Pom Boy› an ihrer Seite. Unser Töchterchen flatterte mit Lenin-Gesichtchen und Flügeln von Camilo Cienfuegos über unseren Köpfen. In diesem Moment krachten die Schüsse, und auf die Kugeln folgten Granaten. Die Atombombe fiel um 9 Uhr abends, pünktlich um 9 Uhr, als der Himmel von Mysterien erfüllt war und der Tintenfisch der Nacht das Kielwasser der Schiffe im Meer verwischte; als die Kälte alle Verästelungen im Köperinneren einfrieren ließ, Knochen und 118
Adern, das Eis mir Wasser in die Augen trieb und Bitterkeit zwischen Lungen und Herz keinen Platz finden ließ. «Adieu!» sagte Muriel. Sie ging schneller. Ich schaute ihr nach, falls sie sich umsehen sollte. Aber ich hatte bemerkt, daß sie ein Plastiknetz in der Tasche trug. Wahrscheinlich würde sie im ersten besten Geschäft verschwinden. Ich zuckte die Achseln und ging zum CIA. Lady Bird, welche Farbe hat der Grund der Welt, der Mittelpunkt der Erde, das linke Ende des Universums? Ich liebe die unverschämtesten Fragen, aber Ihren Ausländergestank halte ich nicht aus. Lady Bird, haben Sie das Négligé der ersten Nacht aufbewahrt, das fürstliche Höschen, den goldenen Nachttopf, den ausgestopften Vogel, der im Morgengrauen sang? Geben Sie mir einen Longdrink und verschwinden Sie langsam! Nehmen Sie die Dinge mit, die mir Angst eingejagt haben! Lady Bird, ist in Ihrem Weltbild Platz für Begierde, Schrecken, Erinnerung, Leidenschaft und Vergessen, kaputte Uhren und blutige Nadeln? Sie werden die Erde besitzen, aber ich werde es nicht erleben; ich bin alt geboren, um Ruinen zu lieben: Ich liebe meine Ranch, meine Macht und meinen Ruhm. Ich schoß als erster. Das werden wir noch sehen. Den Tag meiner Geburt beherrschte Saturn; mit beringtem Schlund, getaucht in makabren Purpur, täuschte er Huldigung vor. 119
Welch schmutziges Volk; Sie gingen vorbei und mit Ihnen der Tod. Sie wüßten ein Barbecue nicht zu schätzen. Ich liebe ländliche Parties. Ich werde es mir überlegen. Ich war 48 Stunden vor Kennedy in Dallas. Meine Begegnung mit der örtlichen Polizei verlief routinemäßig. Es war mir schon bekannt, wie wenig Sympathie Kennedy in Texas genießt; es ist vielleicht derjenige Bundesstaat, in dem der ideologische Überbau der Erdölbarone das Standardbewußtsein der Leute am stärksten geprägt hat. Selbst der kleinste Parkplatzaufseher hat die Moral eines Großfarmers mit weitreichenden Interessen in Venezuela oder Argentinien. Meiner Meinung nach hat dieses Land eine Sonderprägung des Dollars verdient, die denselben Wert besitzt, aber größer und plastischer ist: Texas-Dollars mit der Grandezza eines Tankers. Wie in einem aristotelischen Prozeß erlebte ich hier die tiefste Ursache von Wirkungen, deren Zeuge ich bei anderen Reisen und Sonderaufträgen geworden war. Ich denke an die kleinen Schuhputzer in Rio de Janeiro, an die aufgetriebenen Bäuche der Eingeborenen in Para und Manaus, an jenen bolivianischen Ketschua-Indianer, den Barrientos in meiner Gegenwart persönlich verhörte. Die Ordnung von Menschen und Dingen ist die erste Auswirkung dieser tiefsten Ursache. Das Zünglein an der Waage von Angebot und Nachfrage zwischen den Menschen und Völkern befindet sich hier in diesen Ländereien, diesen Büros mit ihren Ladenschildern, die die ganze Fassade einnehmen, bei diesen großen, rechtwinkligen Männern mit ihrer Zigarre und ihrem Stetson, die beim Sprechen ihrer Verachtung für alles Fremde Ausdruck verleihen: für Ameisen, mexikanische Landarbeiter, philippinische Zigarrenmädchen, Straßenarbeiter aus Jaén, die alten Boote, die die Fischer von Veracruz ein ums andre Mal teeren, oder die Zigarettenkippe, die die Gefangenen mit der Behutsamkeit dessen weiterreichen, für den die letzte Gelegenheit seines Lebens auf dem Spiel steht. Die Polizei beschränkte sich darauf, mir einen Sonderpassierschein auszustellen und mich 12 Stunden lang auf der Route von 120
Kennedys Rundfahrt zu begleiten. Ein einziger gefährlicher Punkt: Der Wagen würde einen weiten Platz überqueren, der von einer Brücke aus gut einzusehen war. Ich telegrafierte meine Schlußfolgerungen nach Washington, und Morrison ordnete normale Sicherheitsvorkehrungen an. Meine Mission ist mit dieser vorbereitenden Überprüfung praktisch beendet. Während Kennedys Rundfahrt muß ich ein wenig überall und nirgends sein, überwachen, observieren, d. h. letzten Endes nichts tun. Ich weiß, die Schwierigkeit besteht darin, an der Seite des ‹Pakets› zu bleiben. Ich weiß, daß sich das Verhalten eines ‹Pakets› während solcher Reisen sprunghaft ändern kann. Ich denke da an meine letzte Mission zum Schutz von Trujillo. Ich habe niemals einen argwöhnischeren Menschen getroffen, der mit größerem Stolz darauf bedacht gewesen wäre, seine Furcht und seinen Argwohn zu verbergen. «Sie, mein Alter, übernehmen den Norden. Überwachen Sie mir den Norden, mein Freund! Für den Osten, den Süden und den Westen bin ich selbst zuständig.» Diesen Satz hatte Trujillo zu allen seinen früheren Sonderagenten gesagt, aber er war vom Gebrauch nicht abgenutzt, denn der ‹Wohltäter› sprach mit größter Plastizität, und auch wenn er sich wiederholte, schien er doch jedesmal zu improvisieren. Vom Hof des Großen Tamerlan zum Hof Friedrichs II., des ‹Araberfreundes›, hatte ich im Lauf eines Jahres einen langen historischen und kulturellen Weg zurückgelegt. Die einzige ehrliche Schlußfolgerung, die ich gezogen habe, ist die, daß Samarkand und Sizilien von mir aus in die Luft fliegen können, mitsamt Trujillo, Kennedy und seiner ganzen fotogenen Familie. Während ich durch Dallas schlenderte, stellte ich fest, daß das, was Muriel meinen kleinbürgerlichen siebten Sinn genannt hatte, aus mir noch nicht verschwunden war: die Tendenz, Wurzeln zu schlagen, mich einer Lebensform anzupassen. Ich hatte Heimweh nach Washington, den bekannten Orten, meinen gewohnten Wegen. Ich wünschte mir, daß Kennedy so schnell wie möglich käme und ich ihn, meine Kollegen und Jacqueline wiedersehen würde. Nichts ist so trist, wie allein zu essen. Allein zu essen, umgeben von Texanern, die abgehärtet vor ihren zwei Kubikmeter großen Steaks sitzen. Der Verzehr eines texanischen Steaks kommt der Realisierung einer kubischen Antiskulptur gleich, der stückweisen Umfor121
mung eines Fleischquaders in einem Akt gastronomisch-surrealistischer Improvisation. Jedes Stück, das der Fleischmasse entrissen wird, gibt einen Ort im Raum frei, und die neue Form führt beinahe ein Eigenleben in Erwartung der nächsten Attacke. Das ist Krieg! Oder zumindest eine Schlacht im Rahmen des großen Krieges gegen das Goldene Kalb. Im postindustriellen Überfluß der ‹Great Society› wird man in den Restaurants das Goldene Kalb an einem Stück servieren, abgehäutet und roh, und man wird es in der Freizeit Stück für Stück aufessen. Ein Freizeitprogramm! Ich habe eine Freizeitbeschäftigung entdeckt: Das Verzehren gebratener texanischer Kühe mit einem leichten Erdölaroma; Viehzucht und Erdölindustrie, die alten Antagonisten des endlosen Romans von Erna Fober, friedlich vereint. Diese Texaner werden tiefgefrorene Kühe exportieren müssen, damit sie auch dem letzten Landarbeiter in Guatemala, dem letzten Kellner in Spanien in seiner Freizeit zur Verfügung stehen. Vielleicht werden wir Spanier dann, in 100 Jahren, den ehrfürchtigen Respekt vor einem 100 Gramm schweren Steak abgelegt haben, jenem weit entfernten Stern am dunklen Himmel unserer Nachkriegszeit. Das Auslöschen der Erinnerung an Bürgerkrieg und Nachkriegszeit ist eine ‹conditio sine qua non›, um uns Spanier für alle Zeiten in den Limbus der Substanzlosigkeit und Mittelmäßigkeit eingliedern zu können. Es war das letzte Mal, daß unsere Taten eines Platzes auf der ersten Seite der New York Times würdig waren.
Die Mülltonne war wie vereinbart mit Kette und Sicherheitsschloß versehen. Ich prüfte nach, ob das Gewehr mit dem Zielfernrohr darin war, und schloß schnell wieder ab, um jedem neugierigen Blick zuvorzukommen. Die Entfernung von der Tonne bis zum Anfang der Treppe zur Brücke war ideal. Ich brauchte nur das Gewehr zu nehmen und zwei oder drei Treppenabsätze hinaufzuspringen, schon hatte ich den richtigen Einschußwinkel. Ich dachte an meine ersten Erfahrungen mit Schüssen auf lebende Ziele in der Schule für Professionelle Umformung. Ich hatte schon drei Monate psychologischer Dressur hinter mir, bevor eine alte, 122
dicke Tunesierin für mich losgelassen wurde. Die Alte lief wie vereinbart im Kreis um einen bestimmten Punkt herum. Bei der dritten Runde sollte ich zielen, wenn sie in meinem Visier auftauchte. Aber die Alte verließ plötzlich den Kreis und rannte in gerader Linie auf die Tür der Umzäunung zu, dabei stolperte und fiel sie mehrmals mit der Schwerfälligkeit alter, dicker Frauen. Der Instrukteur verhinderte mein Vorhaben, sie bei ihrem Ausbruchsversuch zu erlegen. Auf seinem Gesicht stand deutlich die Beschimpfung, die er für mich parat hatte: Bluthund. Die Alte blieb erschöpft an der Mauer liegen. Der Instrukteur stieg in einen Jeep und fuhr zu ihr hin. Er stieg aus und zeigte ihr das Vertragsformular. Aus der Entfernung vermutete ich, daß er ihr das Kleingedruckte vorlas, alles voll reinster Liebenswürdigkeit. Mit einer Hand hielt er den Vertrag, mit der andern unterstrich er die Auslegung der entscheidenden Abschnitte. Die Alte bezweifelte irgend etwas, weshalb beide auf das Papier blickten und wieder diskutierten. Endlich schienen sie einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben. Der Instrukteur gab ihr einen Klaps auf die Schulter, half ihr in den Jeep und ließ sie im Schußkreis aussteigen. Diesmal ließ ich ihr nur eine Runde Zeit. Der Schuß verwandelte sie in einen Sack Gelatine, der umfiel und schließlich ohne den geringsten ästhetischen Reiz am Boden lag. Der Instrukteur mochte meine Eile nicht.
«Dieser Mann wird dort sein, weil er dort hingehört», versicherte mir Morrison, wobei seine Kinnbacken noch schärfer hervortraten als beim Befehl zur Landung. «Und er wird sich nicht vom Fleck rühren?» «Ich weiß nicht, ob Sie mich ganz verstanden haben. Ich glaube nicht. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Sie mit Ihrer Bildung könnten es vielleicht besser ausdrücken als ich. Ohne diese Brücke, dieses Wohnmobil und die städtische Genehmigung, die wir ihm verschafft haben, daß er mit seinem Wohnmobil dort stehen und sein Gewerbe treiben darf, ohne das alles ist dieser Mann ein Nichts. Jetzt aber ist er ein Globetrotter voller Dankbarkeit.» 123
«Nicht für lange.» «Er wird nie von seinem häßlichen Schicksal erfahren.» Morrison hat die Füße auf den Tisch gelegt, der ihm nicht gehört. Auf irrationale Art tut es mir leid um das Palisanderholz. Mit Vergnügen würde ich diesen Füßen einen Stoß geben, damit sie zu Boden fallen, wo sie hingehören. Aber Mister H. sagt kein Wort. Er beschränkt sich darauf, uns von seinem Bürosessel aus neugierig und verblüfft zu betrachten. Gedämpft bereitet das Radio die Bevölkerung von Dallas auf Kennedys Empfang vor. «Er setzt schon zur Landung an. Gehen Sie auf Ihren Posten!» Vielleicht bin ich selbst über einen seltsamen Himmel von Erinnerungen geflogen. Muriel geht an einem Herbstmorgen neben mir an einem Teich mit Lotusblüten oder vielleicht auch ohne Lotusblüten entlang. Ihre gewohnte geistige Heiserkeit ist etwas gemildert durch die willkommene Wärme des schönen Sonnentages. Eben diese Sonne überrascht mich am Ausgang und erschlägt mich mit der unausweichlichen Tatsache, daß ich in Dallas bin und mich dafür entschieden habe, Henker zu sein, nicht Opfer. So elementar sollten Titel auf Visitenkarten lauten: Opfer, Täter. Nichts weiter. Mit dem Geld, das ich kassieren werde, kann ich das alles hinter mir lassen. Ich suche mir ein nicht sehr schlaues Mädchen, frisch und menschenscheu. Ich nehme sie mit mir auf eine spärlich bevölkerte Insel. Ich werde die Schiffe hinter mir verbrennen. Nur ein paar Bücher und ein paar Schallplatten, nur die Schiffe der Erinnerung werde ich behalten. «Endlich habe ich genug Geld, um frei zu sein!» Ich schrie es eher, als ich es sagte, zum Erstaunen der Passanten. «Nicht nur meine Pistole ist auf euch gerichtet, ihr Dummköpfe. Ich kann euch außerdem noch etwas abkaufen, ich kann euch fast allen das Rotzgesicht abkaufen, das ihr habt!» Fast unbemerkt war die Brücke vor mir aufgetaucht. Sie war da.
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Das war also die Brücke. Ich ging darüber hinweg und unter ihr durch. Es gab keinen objektiven Grund zur Unzufriedenheit. Aber die Brücke ließ mir keine Ruhe, und ich schritt sie mehrmals ab, ohne zu wissen, weshalb. Am linken äußersten Ende stand ein verschlafenes Wohnmobil, davor ein paar Kinder, die riefen: «Komm raus! Komm doch raus!» Ein alter Mann erschien in der Blechtür. Er war ähnlich wie ein Clown geschminkt und legte eine Hand über die Augen, als suche er einen weiten Horizont ab. Die Kinder lachten auf und stießen sich begeistert die Ellbogen in die Seiten. Der Alte machte alte Clownswitze. Er stellte sich schlafend. Er tat, als falle er hin. Er fiel hin. Er tat so, als weinte er, aber er weinte nicht, denn die roten Ringe um die Augen lösten sich nicht auf, und hinter dem spinnenhaften schwarzen Lidstrich ahnte man seine trockenen Augen. An dem Auto hing ein Schild: Fred, der Kinderfreund. Fred verschwand dauernd im Wohnmobil und tauchte jedesmal mit etwas Neuem wieder auf: einem Papagei, einem Affen oder einem dreibeinigen Stuhl, auf dem er nicht richtig sitzen konnte. Schließlich schleppte er einen fliegenden Teppich an und setzte sich darauf. Der Teppich umkreiste den Wohnwagen vier- oder fünfmal in perfektem Flug. Die Kinder wollten mitfliegen, aber Fred verbot es mit einer komischen Grimasse und steckte den fliegenden Teppich in die Tasche. Dann sah ich, wie er Feuer schluckte, das aus einem Drahtende kam, und ein altes Badekostüm anzog, um mit einem Hechtsprung in einen großen Zuber ohne Wasser zu springen. Fred begann zu gestikulieren, als halte er eine Predigt oder einen Vortrag, aber er sagte kein Wort, und das machte den Kindern ungeheuren Spaß. Ich verließ die Brücke, und als ich unten war, schaute ich weiter Freds Possen zu, dort oben, von immer mehr Kindern umringt. Es war noch eine knappe Stunde bis zu Kennedys Ankunft. Ab und zu fuhren paarweise Motorradstreifen vorbei zum Flughafen, und langsam bezogen die Polizisten ihre Posten an der Strecke. Ich stand dicht neben einem Mädchen in Gelb. Auf dem schmutzigen Wasser einer rostigen Tonne schwammen Mandelschalen und eine leere Schachtel Lucky Strike. Ich versenkte die Schachtel mit dem Finger und behielt am ersten Fingerglied einen Ring aus schwarzem Fett zurück. Ich betrat eine Bar, um das Waschbecken zu benutzen. Vor 125
dem Spiegel imitierte ich ein paar von Freds Grimassen. Ich formte mit den Lippen Sätze von Kennedy, aber meine Stimme blieb tonlos. Ich sagte: «Die Eroberung des Weltraums ist das große Abenteuer unserer Generation! Wir sind Demokraten, weil wir gelernt haben, den Wert der Person zu achten! Die armen Völker der Erde blicken auf uns, grollend, aber voller Hoffnung...» Der dampfbeschlagene Spiegel gab meine Züge nur verschwommen wieder; von seinem Metallrahmen gingen Rostflecke aus. Ich zog das Handtuch mehrmals heraus, aber jedesmal war es zerrissen. Schließlich trocknete ich mir die Hände an meinem eigenen Taschentuch ab; dabei fielen die Autoschlüssel zu Boden. Jeder der drei Schlüssel flog in eine andere Ecke, der Schlüsselring war absurderweise aufgegangen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meinen Ärger wieder unter Kontrolle hatte und einsah, daß mir nichts anderes übrigblieb, als mich hinzuhocken und den Bezug zwischen Schlüsselring und Schlüsseln wiederherzustellen. Meine Finger waren von einer ungewohnten Schwerfälligkeit. Sie brauchten lange, um die drei Schlüssel in den Ring einzufügen, und dann lag das Ding in meiner Hand, und weder es noch ich wußten, was zu tun sei. Mit dem Schlüsselbund in der Tasche ging ich an die Bar und bestellte einen Wodka mit Ginger Ale. Der Barmann war Mexikaner, und ich sprach Spanisch. Aber er verstand kaum ein paar einzelne Worte. Mit dem Glas in der Hand trat ich in die Tür. Die Leute bildeten allmählich dichte Spaliere zu beiden Seiten der Straße. In diesem Abschnitt war kein einziges Transparent zu sehen. Ich trank schnell aus und meldete mich bei einer der Kontrollzentralen. Ich nannte mein Losungswort, und sie berichteten, es gebe keinerlei Unregelmäßigkeiten, bis auf irgendein aggressives Transparent, das aber schon von Zivilpolizisten eingekreist sei. Hubschrauber überflogen die Flachdächer, in einigen Fenstern entdeckte ich das unverwechselbare, von Koteletten eingerahmte Quadratgesicht, das 70 Prozent der US-Polizisten kennzeichnet. Ich machte mich auf den Weg zur Brücke. Die Leute, die umherschlenderten, waren zahlenmäßig denen überlegen, die am Straßenrand standen und auf Kennedy warteten. Mehrere Kleinlastwagen fuhren vorbei, aus deren Lautsprechern Werbeslogans dröhnten. In 126
der Ferne erspähte ich ein Spruchband, konnte aber die Aufschrift nicht lesen. Aus einem geparkten Streifenwagen tönte die erregte Stimme eines Sprechers. Ich zückte meine Dienstmarke und steckte den Kopf zum Seitenfenster hinein. «In diesem Moment beginnt Präsident Kennedy seine Fahrt durch die Stadt ...» «Er ist schon da», sagte ich laut. «Mal sehen, wann er wieder abhaut», antwortete mir einer der Polizisten im Wagen, ohne mich anzusehen. «Haben Sie etwas gegen Kennedy?» «Bob Hope wäre mir lieber.» Die drei anderen brachen in Gelächter aus. Einer lachte sogar Tränen und hielt sich den Bauch mit beiden Händen. An seinem Finger steckte ein riesiger Siegelring mit dem Kopf eines Komantschen, der wie ein Knopf das Geheimnis dieses ungeheuren Bauches verschloß. «Regen Sie sich nicht auf, FD! Sie sind doch ein FD? Hier in Texas lassen wir uns von Präsidenten aus Washington nicht beeindrucken. Deshalb besuchen sie uns auch so selten. Das gefällt den Herren aus dem Osten und den Weibern. Das muß man gesehen haben, wie John den Weibern aus dem Osten gefällt!» Ich zog meinen Kopf zurück und fand mich umringt von zwei- oder dreifarbigen Leuten, Staatsflaggen und getoasteten Maisröllchen. Manche sangen Lieder, Kondensstreifen durchfurchten den Himmel, das Sonnenlicht brach sich über den Köpfen, und darüber sah ich die Brücke. Ich ging immer schneller dorthin. Mein Kopf widmete sich einerseits der Betrachtung der Brücke, die schwankend immer näher kam, und andererseits dem Geheul der Sirenen, die hinter mir immer näher kamen. Nicht weit vom Fuß der Brücke blieb ich stehen, weil mir das Sirenengeheul fast das Trommelfell zerriß. Ich sah die motorisierten Insekten aus dem Korridor zwischen der Volksmenge hervorschießen. Im Hintergrund tauchten die toten Augen der ersten Wagen des Konvois auf. Die Motorräder zerschnitten mein unmittelbares Blickfeld, und über die Schnipsel fuhr ein Auto und noch eins und noch eins ... Ich sah John und Jacqueline; Conally fuhr etwas langsamer. Er hielt etwa 100 Meter Abstand. Da riß ich das Gewehr an die Wange und zielte mit der Sicherheit 127
eines Roboters. Aus meinem Auge wuchs ein Metallrohr, tausendmal heller als die Sonne. Der Knall erreichte mein Ohr viel später als die Schreie der Menge. Ich sah Jacqueline, die sich über den zusammengekrümmten Körper des Präsidenten geworfen hatte. Ein Agent sprang aus seinem Auto in das des Präsidenten, fast ohne anzuhalten. Aber ich war innerlich nicht ruhig. Nachdem der Knall verklungen war, lief ich schon zur Brücke hinauf, und erst, als ich die Hand auf das Geländer der Eisentreppe legte, um meinen Aufstieg zu beschleunigen, bemerkte ich am anderen Ende die Abgaswolke, die der Auspuff einer Limousine hinterließ.
«Sie haben wirklich sehr gute Arbeit geleistet, Morrison. Dabei war ich nicht einmal hundertprozentig von Ihrem Plan überzeugt. Aber die Sache ist sehr gut gelaufen. Pepe Carvalho hat im richtigen Moment zugeschlagen. Er war dort, wo Sie ihn haben wollten, und tat das, was wir beide wollten, Sie und ich ...» «Was er selbst wollte. Vergessen Sie das nicht!» «Stimmt! Sogar das! Was er selbst wollte. Das ist wirklich ein guter Abschluß.» Mister H. schaltet die Glühwürmchen in seinen Augen ein und läßt seine Zähne blitzen. Er wirft Pfeile mit teuren Federn in MusicHall-Grün auf eine Korkscheibe. Morrison bearbeitet seine Hände mit einem verchromten Nagelknipser. «Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, Morrison. Von dem Moment an, als Sie diesen Mann in unseren Plan einbezogen, bis zu dem Zeitpunkt, wo er wieder daraus verschwindet. Jemand wird heute nacht die schönsten Sterne von Texas mit dem Purpur des Triumphes färben. Der Tag der Befreiung und des Aufatmens ist gekommen. Stellen Sie sich das vor! Ich atme so tief ein, als sei ich fünfzehn Jahre alt und könne die ganze Luft der Welt in meine Lungen strömen lassen, um sie als gnadenlosen Hurrikan wieder auszustoßen!» Mister H. wirft riesige Briefbeschwerer und Aschenbecher um. Er braucht nur tief durchzuatmen, und das Wogen seines Körpers überträgt sich auf seinen Palisandertisch, die Opalleuchten schwan128
ken, und selbst die Fertighauswände blähen sich wie Segel eines imaginären Schiffes. «Ich könnte ein ganzes Rind verzehren!» «Tun Sie das!» Morrison reibt sich mit der Hand das Gesicht, aber seine Sommersprossen lassen sich nicht wegwischen. Er zittert in dem Wind, den Mister H. hervorgerufen hat, und sein Hals verschwindet beinahe zwischen den Aufschlägen seines karierten Jacketts. «Der Hundesohn ist tot.» «Ich will kassieren und verschwinden.» «Das wäre jetzt kontraproduktiv. Alle Welt würde Verdacht schöpfen.» «Mich bemerkt keiner. In meinem Beruf muß man vor allem tarnen und täuschen können. Ich will kassieren und verschwinden. Es ist nicht mehr viel zu tun. Keine Sorge, ich werde es erledigen, und dann ist Schluß. Dann verschwinde ich.» «Lassen Sie mich noch ein wenig mit Ihnen träumen, Morrison! Ohne Kennedy gehört die Welt mehr mir, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll.» «Ohne Mossadegh gehörte die Welt auch mehr Ihnen ...» «Danke, ich danke Ihnen, Morrison.» «Ohne Enrico Mattei war die Welt auch mehr die Ihre.» «Danke, ich danke Ihnen, Morrison.» «Aber Sie haben noch viel zu tun. Und diesmal wird es ein anderer tun müssen. Ich habe es satt. Nach dieser Kombination bin ich mit meiner Kraft am Ende. Ich führe sie vollends durch, und dann ist Schluß. Ich will kassieren und verschwinden. Es ist nicht mehr viel zu tun.» «Wollen Sie in Rente gehen?» «Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich will wieder imstande sein, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Ich will nie wieder mit Leuten wie Ihnen oder Pepe Carvalho zu tun haben. Ich möchte Apotheker oder Croupier werden, Familienvater oder ein wohlhabender Playboy.» «Und trotz allem besitzen Sie ein seltenes Talent, Intrigen zu dirigieren. Sie sind gefährlich!» «Ich bin ein Techniker, das ist alles.» 129
«Mit dem, was Sie kassieren, ist Ihre Zukunft gesichert.» «Wenn Sie meinen.» «Ich bezahle gut, Sie können sich nicht beklagen.» «Ich will Pepe Carvalhos Anteil.» «Warum?» «Es war nicht vorgesehen, daß ich ihn töte. Sein Tod kostet Sie seinen Anteil.» «Noch haben Sie es nicht getan!» «Das ist nur eine Frage von Minuten.» Morrison zieht den Ärmel zurück und schaut auf die Uhr. Man hört eine telefonische Zeitansage. Morrison bedankt sich, ohne überrascht zu sein, und reibt wieder seine Sommersprossen, ohne daß sie verschwinden. Er steht auf und geht zu einem kitschigen Bild mit Schwimmern, die im Licht eines südlichen Meeres über smaragdgrüne Wellen an einen heißen Strand springen. «Vielleicht fahre ich dorthin.» «Es ist nicht schlecht, aber ich rate Ihnen zu Acapulco.» «Besitzen Sie dort Hotels?» «Das eine oder andere Objekt.» Aus dem Bild ertönt mediterrane Musik. Eine Stimme im Hintergrund zählt die touristischen Vorzüge der italienischen Côte d’Azur auf. «Nehmen Sie Nancy Flower mit?» «Möglich. Vor allem, wenn es mir gelingt, ihr zu verheimlichen, daß ich es war, der Pepe Carvalho umgebracht hat.» «Mochte sie ihn?» «Das ist nicht ganz das richtige Wort. Wenn sie weiß, daß ich ihn töte, ist die Möglichkeit allzu offensichtlich, daß hier ein schmutziges Spiel gespielt wird.» «Schmutzig?» «Nennen Sie es, wie Sie wollen. Unsereins verteidigt weder Macht noch Ideologien, wie Sie. Wir kämpfen dafür, ein akzeptables Leben zu führen.» «Nancy Flower ... Nancy Flower ...» Mister H. hat die Haltung eines ‹lakistischen› Dichters und Beschwörers angenommen, und Nancy Flower steigt nackt wie die Venus von Botticelli aus einer Ölquelle. Ihre langen Haare bedek130
ken eine Brust, mit der Hand verbirgt sie ihr Geschlecht. Sie nimmt die Haare von der Brust weg, und ein Strahl dampferhitzter Milch schießt daraus hervor. Dann nimmt sie die Hand von ihrem Geschlecht, und eine Maschinengewehrsalve kracht. Im Hintergrund erklingt das Zweite Konzert für Klavier und Orchester von Rachmaninow. «Es gefallt mir gar nicht, daß Sie Nancy mit so großer Intimität beschwören.» «Sie reagieren wie ein Jugendlicher, Morrison.» «Ich werde nicht dafür bezahlt, daß ich meine Reaktionen beherrsche. Außerdem bin ich nicht an Ihren erotischen Phantasien interessiert. Ich will kassieren und verschwinden.» «Zuerst müssen Sie Pepe Carvalho töten.» «Zuerst muß Carvalho Carvalho umbringen.» Ein riesiger Fernsehapparat schaltet sich ein. Er ist als Fenster getarnt, hinter dem sich riesige Ölbohrtürme erheben. Auf dem Bildschirm fahrt ein Mann einen Wagen mit Polizeikennzeichen über eine ungeteerte Straße. Morrison nähert sich dem vergrößerten Bild und tut, als wolle er ins Lenkrad greifen. «Dieser Unglückliche weiß noch nicht, worauf er zusteuert.» «Manchmal dachte ich, er sei zu intelligent für Sie.» «Dieser Eindruck war von Vorteil für mich. Vor allem, weil er ihn teilte. Seine eingebildete Überlegenheit hat mir sehr geholfen. Sie hat meine Moral in unschätzbarer Weise angespornt.» Er steckt dem Fahrer einen Finger ins Auge. Aber dieser fährt weiter, als sei nichts geschehen. Man könnte meinen, er pfeife eine Melodie vor sich hin, aber das Bild ist ohne Ton. «Wie sind Sie ihm auf die Schliche gekommen?» «Durch eine Information von Phileas Wonderful. Sie kennen ihn nicht. Einer unserer ehemaligen Agenten, er lebt jetzt im Ruhestand in Spanien. Seine einzige Beschäftigung ist intellektueller Art. Er verteidigt die weltweite Strategie der USA mit der Feder. Wonderful war der Direktor der Schule, an der Pepe Carvalho ausgebildet wurde, bevor er ‹der› Pepe Carvalho wurde. Aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft verband sie eine gewisse Freundschaft. Unser Mann besaß den bezaubernden Charme eines jungen nihilistischen Intellektuellen, der seinen Pessimismus so sehr verinner131
licht hat, daß er seine Moral und sein Verhalten verändert. Der angehende Revolutionär konvertierte und wurde zum angehenden Konterrevolutionär. Nach seiner Ausbildung tauchte er in unregelmäßigen Abständen auf und verschwand wieder. Er führte in unserem Auftrag sehr effektive Aktionen in Santo Domingo und im Libanon durch. In der Zwischenzeit breitete sich die Legende von Pepe Carvalho aus. Seine großen Taten fallen zusammen mit den Urlaubsphasen unseres Mannes. Er erklärte, sein Verschwinden sei jedesmal eine notwendige Periode der Desintoxikation und der Rückkehr zu den Ursprüngen. Jedenfalls war sein Wiederauftauchen jedesmal ein sicherer Erfolg. Wir wußten, daß Carvalho für Bacterioon arbeitete, und das geheimnisvollste an seinem Verhalten war genau das Geheimnisvolle. Normalerweise besitzen wir über befreundete und feindliche Agenten eine komplette Akte. Ein Schachmatt ist nur eine Frage der Situation, die Dossiers kennen wir auswendig. Aber nicht das von Pepe Carvalho. Der erste Verdacht, daß er ein doppeltes Spiel spielt, kam uns, als Frondizi während seiner Europareise beinahe umgebracht worden wäre. Pepe Carvalho hatte den Auftrag, ihn zu töten, und unser Mann war Chef der Leibwache des Präsidenten. Wonderful traf seinen ehemaligen Schüler in Madrid und unterhielt sich mit ihm kurz, aber lange genug, um etwas Seltsames festzustellen: Er hatte sich eine Giftkapsel hinter den Schneidezähnen anbringen lassen.» Mister H. grinst wie eine boshafte Haushälterin und verkrampft Hand und Unterarm mit der unverkennbaren Starre, die dem Orgasmus vorausgeht. Auf seinem inneren Bildschirm tauscht Wonderful leidenschaftliche Küsse mit einem Geheimagenten und entdeckt dabei die Kapsel am Zahnfleisch. «Nein, nein, sie schliefen lediglich in aufeinanderfolgenden Nächten mit derselben Botschaftssekretärin. Trotz des Altersunterschieds hielt das Mädchen mehr zu Wonderful, einem alten Hengst mit ausdauerndem, sicherem Galopp. Aber wir haben noch eine andere Quelle, die uns das bestätigt: die Frau des Kulturattachés der österreichischen Botschaft. Sie nimmt die Männer auseinander, und wenn sie einen verläßt, gibt es keinen Winkel, weder des Körpers noch der Seele, den sie nicht kennt. Sie bestätigte das mit der Kapsel.» 132
«Aber ich nehme doch an, daß diese Kapseln bei unseren eigenen Geheimagenten sehr gebräuchlich sind.» «Nur bei Aktionen in Feindesland. Das war bei unserem Mann nicht der Fall. In Madrid befand er sich in einem befreundeten Land. Und hier? Es liegt auf der Hand, der Mann ist ein Doppelagent.» «Aber daraus zu schließen, daß er Pepe Carvalho sei ...» «Wir kommen ausgezeichnet voran, Mister H.! Wir führen den perfekten deduktiven Dialog von Sherlock Holmes und Dr. Watson. Ganz elementar, Mister H.! Unser Verdacht war geweckt, und ich übernahm den Fall persönlich. Seine praktische Verwendbarkeit hatte ich sofort erkannt. Ich erriet sofort, was uns ein Doppelagent nutzen konnte, der exponiert und ins Gefolge von Kennedy gesteckt wird. Ich überprüfte nur die Übereinstimmung der Abwesenheiten unseres Mannes mit den Aktionen von Carvalho. Die Übereinstimmung war vollständig. Zu diesem Zeitpunkt brachte ich das Gerücht in Umlauf, daß Carvalho Kennedy ermorden wolle, und bat Carvalho selbst, persönlich den Schutz des Präsidenten zu übernehmen. Er machte ein paar Schwierigkeiten.» «Aber ein Rest bleibt ungeklärt, Morrison: Er war vielleicht ein Doppelagent, aber nicht Carvalho!» «Seine Laschheit war nicht zu übersehen. Er verhielt sich wie ein Besiegter. Kein angenehmer Anblick. Carvalho war einer von ‹ihnen›, und Nancy Flower, Robert Kennedy und Edward Kennedy verschafften uns Daten über ihn.» «Auch die Kennedys!» Auf dem Bildschirm erscheint jetzt ein Familienfoto der Kennedys. An Johns Stelle gähnt ein leerer Umriß. Robert murmelt mit zusammengepreßten Zähnen: «Ich habe ihm nie über den Weg getraut.» «Die Kennedys konnten nicht herausfinden, ob er Carvalho war. Sie mißtrauten seiner Effizienz. Deshalb schlugen sie ihn ab und zu, und er schlug nie zurück. Ich weiß nicht, ob Sie sich der Bedeutung dieser Tatsache bewußt sind, Mister H. Sie haben vielleicht den Aufstieg aus tiefster Armut ins Nichts geschafft, aber Sie sind immer Amerikaner geblieben. Nie sind Sie jemand einen Schlag schuldig geblieben. Bei Carvalho paßte es genau ins Bild, daß er 133
nicht zurückschlug. Er mußte seinen Plan verfolgen, ohne Aufsehen zu erregen, und er erregte es genau durch seinen Hang zur Unterwürfigkeit. Unerklärlich. Es war unerklärlich, warum er alles hinnahm, ohne eine Reaktion zu zeigen. Der Präsident schlug Allan Dulles. Er zuckte mit keiner Wimper. Jackie zeigte ihm Protestsongs. Er zeigte keine Reaktion.» «Jackie schrieb Protestsongs?» «Sie waren von mir, Mister H.. Ich habe sie Jackie gegeben, damit sie sie Carvalho zeigte, um seine Identität herauszufinden. Er war groteskerweise unerschütterlich.» Auf dem Bildschirm taucht ein Männchen in einem zweifarbigen Anzug auf. Er sitzt auf einem Pappkoffer und stochert mit dem Taschenmesser in dem offenen Kochgeschirr, um etwas von seinem Inhalt herauszupicken. Als er Morrison und Mister H. zugrinst, sieht man die Lücken zwischen seinen wackligen, dünnen, nikotingelben Zähnen. «Möchten Sie?» Er bietet ihnen ein Stück gefüllte Zunge an. Kalte Soße tropft von der Messerklinge. «Nancy Flower ...» Morrison hält mitten im Satz inne und schaudert: Nancy Flower erscheint wieder, nackt, auf den Fersen hockend, die Arme halb dem Zuschauer entgegengereckt, wie in Erwartung eines Körpers, der sich mit ihr zum Koitus in der Schaukel der hinduistischen Ikonographie vereinigt. Morrison wirkt verängstigt und schluchzt in beherrschter, aber befreiender Hysterie. «Nancy Flower. Ich sagte, Nancy Flower sei eine Schlüsselfigur der Beweisführung. Wenn etwas den starken vom schwachen Mann unterscheidet, dann sein Verhalten im Bett.» «Sie müssen es wissen, Morrison.» Nancy Flower hat schon einen Partner. Mister H. selbst schaukelt sie. Morrison liegt schluchzend auf den Knien und versucht, das Paar auf dem Bildschirm zu trennen, ohne sie auch nur berühren zu können. Tote, in der Luft hängende Gesten, schwach wie die gescheiterten Versuche seiner Träume. «Es gibt keinen besseren Test für einen Mann, Morrison. Was sind Sie denn für einer?» 134
«Diskret.» «Ein Softie? Impotent? Sie sehen aus wie ein Perverser!» «Ich bin ganz normal, manchmal sogar besser als der Durchschnitt.» «Ich tue sehr viel für meinen Körper. Das war eins der Dinge, die mir immer mehr Kopfzerbrechen bereiteten, je reifer ich wurde. Glücklicherweise bin ich seit geraumer Zeit gewappnet. Das wichtigste ist, nicht in psychologische Fallen zu tappen. Das letzte Mal, daß ich mit Getöse versagte, war auch das letzte Mal, daß ich mich verliebte. Ich sagte es schon zu meinem ältesten Sohn, als er heiratete: Jetzt wird erst mal alles gutgehen, weil die Hormone ihre eigenen Motivationen nicht kennen. Aber wenn sie den Weg einmal von selbst finden ... Von einem gewissen Alter an muß man die Sache total mechanisch betreiben. Je mechanischer und physiologischer, desto sicherer der Erfolg.» Mister H. tanzt, als Südseemädchen verkleidet, und schwenkt seine Halsketten. Aus seinen Achselhöhlen sprießen violette Papierblumen hervor, und von seinen Händen tropft das Blut von Rubinen, die die Hitze eines nahen Vulkans zum Schmelzen bringt. «Ich habe es satt. Ich will die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich will kassieren und verschwinden.» «Sie sagten, daß die Kennedys Verdacht geschöpft hätten.» «Ich habe bereits alles erklärt. Sie bezahlen mich nicht dafür, daß ich Sie unterhalte oder mit Ihnen Konversation betreibe. Ich will das Geld innerhalb von 14 Tagen in der Schweiz haben. Sie wissen ja, wohin Sie es schicken müssen.» «Sie werden Nancy Flower mitnehmen, ich sehe es schon kommen.» «Und was interessiert Sie das noch? Nancy Flower hat für Sie alles getan, was sie konnte.» «Sie ist köstlich und etwas pathetisch. Aber es ist äußerst nachteilig, daß das alles mit der Verschwörung in Verbindung steht. Sie und Nancy arbeiten sehr gut, sehr koordiniert. Aber es quält Sie, daß Nancy so ist, wie sie ist. Es paßt nicht zusammen mit Ihren sonstigen Aktionen und Plänen.» «Dann wissen Sie mehr als ich. Ich weiß noch gar nicht, ob es mich quält oder nicht. Aber im Grunde ist es mir nicht wichtig 135
genug. Bis jetzt ging es uns gut damit, und Sie sind nicht der erste und nicht der letzte. Mein Platz dagegen ist immer derselbe. In gewisser Weise bin ich schließlich doch der Gewinner.» «Ich habe noch nie einen besseren Philosophen gehört!» Morrison wälzt sich auf dem Boden und beißt in die Metallteile des Tisches. Er schlägt sein Gesicht gegen die Stühle, bis er blutet. Nancy Flower wischt es ihm mit einem Leinentuch ab. «Der arme Idiot steuert auf seinen eigenen Tod zu. Er glaubt, der Kreis sei mit dem Tod des Alten geschlossen, aber er hat den letzten Schuß nicht in der Hand!» «Nancy!» «Seien Sie unbesorgt, Mr. H.. Ich werde nicht zögern und im richtigen Moment zur Stelle sein. Dann, ja, dann ist der Kreis geschlossen.» «Haben Sie bemerkt, daß Nancy sich am Rand des Schamdreiecks die Haare auszupft?» «Nancy bohrt sich dauernd in der Nase, und manchmal ist sie im Umgang mit ihren Tampons nicht sehr diskret. Mehr als einmal sah ich die Dinger im WC schwimmen. Einmal schwamm daneben eine Zigarre von Ihnen. Eine Fahrt umsonst!» «Nein, die Fahrt war nicht umsonst. Nancy ist ein Mädchen, das sich zu helfen weiß. Sie hat es verstanden, mich trotz ihres Zustands zufriedenzustellen.» «Sie werden nicht bestreiten, daß die Idee mit dem Alten genial war!» «Ich bin Ihnen als Dritter im Weg, und er?» «Das mit Ihnen ist unsittlich. Mit ihm dagegen war es technisch, professionell. Nancy holte ein fast komplettes Geständnis aus ihm heraus. Er ging nie so weit, ihr seine wahre Identität zu enthüllen, aber er deutete sein doppeltes Spiel an. Eines Tages sagte Nancy zu ihm, er solle sich doch um einen Auftrag in Europa bemühen.» ‹Ich habe mir immer gewünscht, nach Europa zu fahren. Du könntest dich um einen Auftrag in Europa bemühen. Nicht für lange Zeit. Ein Jahr reicht mir. In einem Land, wo es nicht allzusehr auffallt, daß ich Amerikanerin bin. Vielleicht England oder Deutschland. Dir kann es ja egal sein.› «Er wurde ernst. Es war ein geeigneter Anlaß, um ernst zu wer136
den. Er war körperlich und seelisch befriedigt und lag in der Dunkelheit neben einer Frau, die er gekonnt penetriert hatte.» ‹Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird. Ich bin nicht mein eigener Herr. Ich bin auch nicht von ‹ihnen› abhängig. Irgendwann einmal erzähle ich es dir. Bacterioon. Was sagt dir dieses Wort? Wahrscheinlich nichts. Mir würde es auch gefallen. Europa, ein Jahr oder zwei.› «Bacterioon.» «Bacterioon.» «Pepe Carvalho arbeitete für Bacterioon, und als wir ihn anheuerten, wußte er, daß er auch weiterhin für Bacterioon arbeiten würde. Er steuerte definitiv auf seinen ersten offenkundigen Mißerfolg zu, und Bacterioon wollte sich diesen Schachzug sichern.» «Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn Bacterioon unseren Kontakt hergestellt hätte.» «Um ihm seine Rolle als Täter und Opfer klarzumachen? Diesen Verdacht hätte er sofort geschöpft!» «Ich habe über Bacterioon manches gelesen. Es gibt nicht wenige, die an seine Existenz glauben. Daß er die allgegenwärtige und reine Energie des Bösen ist, die ganz verschiedene Gestalten annehmen kann.» «‹Bacterioon ist die Konterrevolution›, antwortete ihr Carvalho. ‹Er ist die Negation der Geschichte. Sein Zeitmaß ist verschieden,manchmal so schnell wie das Aufblitzen eines Schusses, manchmal so langsam wie die Verseuchung der Atmosphäre.›» «Kennedy mußte sterben.» Mr. H. bekreuzigt sich. Er ist für einen mittelalterlichen Kreuzzug gerüstet und geht mit gekreuzten Armen nach Jerusalem. Er bleibt vor der Stadtmauer stehen, und der Himmel öffnet sich. Posaunen ertönen, und die Mauern fallen. «Kennedy war gefährlich. Ein Notar des Kapitalismus, der Testamentsvollstrecker. So dumm, daß er sich nicht einmal bewußt war, wie viele Existenzen er vernichtete. Eingebildet wie ein ‹Eierkopf› und moralisch wie ein Priester. Derartige Leute ruinieren das beste Geschäft unter dem Vorwand, es auf den neusten Stand zu bringen. Ich habe einen Sohn, der genauso ist. Ich schickte ihn nach Maracaibo, damit er die Geschäfte der Company überwachen 137
sollte. Im ersten Monat führte er 515 Neuerungen ein. Seiner Meinung nach mußten wir unser Image verbessern und mit der Zeit gehen. Im nächsten Monat 410 Neuerungen. Drei Monate später hatten die venezolanischen Arbeiter fünf Vorarbeiter gelyncht. Ich ließ meinen Sohn nach Hause kommen und gründete für ihn eine philanthropische Gesellschaft mit der Aufgabe, tiefgefrorene Langusten an thailändische Kindergärten zu verschenken. Solche Dinge kommen in den besten Familien vor. Der alte Joe war nicht so. Ich kenne seine heimliche Verehrung für Hitler. Aber er war ein Ästhet und wollte, daß seine Söhne eine Mischung aus römischem Stoiker und Olympiasieger wurden. Er schwärmte für Intellektuelle und dekadente Künstler. Von solchen Leuten lernt man nichts Gutes. Seine Söhne erbten seinen Stolz und seine geistige Verwirrung. John war nicht so gefährlich wie sein Braintrust. Das ist alles fünfte Kolonne, eine Bande von Roten, von Aufwieglern!» «Bacterioon hat den richtigen Zeitpunkt gewählt.» «Entweder Kennedy oder ich! Seine Erdölpolitik war katastrophal für unsere Interessen. Was für eine Art, die Sache mit der ‹Steel› abzuwickeln! Was die ‹Allianz für den Fortschritt› betrifft, das war das Rauschen eines Wasserfalls, den wir alle hinabgestürzt wären.» «Johnson hat das Format eines Präsidenten, wie Sie ihn benötigen. Und vor allem Lady Bird. Schade, daß Sie den Tanz nicht miterlebt haben, den Lady Bird mit Carvalho aufführte! Die Alte hatte noch nie einen Spanier gesehen und hielt ihn für eine Art außerirdisches Wesen. Sie sprach mit ihm in einer besonderen Sprache. Carvalho antwortete ihr, als hätte er nichts bemerkt. Ein fürchterlicher Typ, Mr. H.. Ich versichere Ihnen, ich habe nie ein zartbesaiteteres Chamäleon gesehen!» Wieder Carvalho am Steuer seines Wagens. Er transmutiert nacheinander in einem Vertreter aus Cleveland, der den Mittleren Westen bereist, ein Revuegirl aus Las Vegas, Miss Universum, Lemmy Caution, Jefferson, einen Psychopathen aus dem Fernsehen, Joe Di Maggio und Mary Pickford. «Der Idiot. Er glaubt, das Blut dieses Alten wird alle seine Spuren tilgen. Sie haben die Idee mit dem Alten nicht gerade gelobt.» «Einfach genial! Wie alles von Ihnen, Morrison!» «Die logische Kombination stammt von ihm.» 138
‹Aber wenn ich auf Kennedy schieße, bin ich der materielle Täter; wir müssen Beweise gegen einen anderen materiellen Täter sammeln und ihn ebenfalls töten. Mit einem Wort, den Kreis schließen. Trujillo verfuhr so mit dem Basken Galindez. Er ließ ihn entführen und in ein Sportflugzeug setzen. Dann wurde er aus dem Flugzeug gestoßen, und es explodierte in der Luft. Der Kreis war geschlossen. Ich muß den sichtbaren Mörder von Kennedy umbringen.› «Ein Landstreicher.» «Wie bitte?» «Der ausgewählte Alte ist ein Landstreicher irischer Abstammung. Es gab kaum historische Spuren von ihm. Jetzt gibt es gar keine mehr. Keine einzige Spur fuhrt zu seinem Geburtsort Londonderry, nicht einmal die Geburtsregister seiner Stadt. Alle aktuellen Spuren sind gefälscht, sie führen nach Spanien zum Herkunftsort eines falschen Carvalho. Der echte wird ein paar Sekunden nach ihm sterben.» ‹Niemand kann etwas Schlechtes über mich sagen, Sir. Ich ziehe mit meinem Wohnmobil durch die Vereinigten Staaten und bleibe dort, wo ich weiß, daß die Stadtverwaltung mir die Genehmigung geben muß. Man nennt mich Freddy, den Kinderfreund. Ich will nicht behaupten, daß ich wirklich ein Kinderfreund bin, denn ich kann sie nicht ausstehen, nein, Sir, eher flößen sie mir einen gewissen Ekel ein und ärgern mich, ich will es nicht abstreiten, nein, wirklich nicht, aber ich habe ihnen nie im geringsten wehgetan; dafür bringe ich sie zum Lachen, unterhalte sie, und ihre Eltern sind mir dankbar dafür; in allen Staaten, in allen, habe ich dankbare Eltern, für die ich das Problem eines Nachmittags gelöst habe, als sie nicht wußten, womit sie diese Scheißkinder unterhalten sollten, entschuldigen Sie den harten Ausdruck, aber die Kinder werden doch tatsächlich von Tag zu Tag beschissener; wenn Sie welche haben, werden Sie mir recht geben, und wenn es so weitergeht, werden die Kinder in Zukunft auch keine Clowns mehr sehen wollen, ich meine nicht uns Wanderclowns, wir machen ja weniger Eindruck, weil man uns für eine Art Zigeuner hält, sondern die Clowns auf der Gehaltsliste der größten Zirkusunternehmen der Welt. Wenn sie mir die Genehmigung erteilen, an einem zentralen Ort in Dallas aufzutreten, verspreche ich Ihnen, daß ich an diesem 139
Tag viele Bürger glücklich machen werde. Meine Witze sind nicht unanständig. Ich arbeite kaum mit Worten. Ich würde nicht behaupten, meine Arbeit sei allzu fein, eher grober Stoff, würde ich sagen. Aber sie ist effektiv, und ich bin nicht so heruntergekommen wie manch einer, den ich kenne. Ich habe ein wenig Geld gespart. Ja, Sie haben richtig gehört! Machen Sie nicht den Fehler, mich für einen Landstreicher zu halten, der kein Dach über dem Kopf hat. Das Wohnmobil gehört mir, es ist fast neu. Ich habe etwas Geld auf der Bank von Los Angeles und eine Eigentumswohnung in San Francisco. Es gibt nichts Schöneres als Kalifornien!› «Scheißganove! Was soll denn in Kalifornien besser sein als in Texas? Verstehen Sie das, Morrison?» ‹Wenn ich einmal nicht mehr umherziehen kann, werde ich mich in mein Apartment zurückziehen. Kalifornien ist ein herrliches Land!› «Dieser Drecksack! Noch einer von diesen Schwulen, die meinen, die Vereinigten Staaten bestehen nur aus New York, Washington und San Francisco!» Mr. H. stürzt sich auf den Clown. Er krallt seine Hände um den Hals des Alten und gräbt ihm seine Fingernägel in die mit Aftershave malträtierte Haut. Morrison trennt die beiden. Der Alte keucht mit gespreizten Beinen und irrem Blick. «Es war keine allzu glückliche Begegnung.» «Sie müssen doch zugeben, daß es eine Beleidigung war. Kein Texaner läßt sich ungestraft sagen, Kalifornien sei ein herrliches Land. Sie haben es doch selbst festgestellt, nichts geht über Texas!» «Aber der Alte war ein ausgezeichneter Statist. Er ahnt nicht einmal, wie nützlich sein Leben war und wie nützlich sein Tod sein wird.» ‹Wenn Ihnen Kalifornien nicht gefallt, brauchen Sie es nur zu sagen, Sir, wir wollen uns doch darüber nicht streiten. Ich bin zu alt für Prügeleien, Sir, das werden Sie bemerkt haben. Aber es war nicht immer so. Schauen Sie her! Ein Klappmesser. Klick! Fertig! Was sagen Sie jetzt? Sssst! Und schon sind Sie ein toter Mann. Manchmal erwischte ich auch aus Versehen die Hoden. Aber Sie 140
sind ein dicker Fisch, und dicke Fische darf man nicht ärgern. Das ist etwas, was ich schon in frühester Kindheit gelernt habe. Trotzdem, lassen Sie Ihre Finger weg von mir!› «Ein gewisses Stehvermögen, der Bursche!» «Kein Zweifel, Mr. H., der Mann ist gut durchtrainiert.» «Ich hoffe, Carvalho erledigt die Sache schnell und gnädig.» «Er ist kein Sadist und ein ausgezeichneter Schütze. Ich bin sicher, daß seine Kugel besser getroffen hat als die des anderen.» Mr. H. erbebt wie ein Wolkenkratzer beim Erdbeben von San Francisco. Seine Zigarre fällt in Zeitlupe zu Boden, sein Stetson fliegt weg, und seine Augen sprühen konzentrische, malvenfarbene Kreise. «Was? An dem Attentat war noch ein anderer beteiligt? Warum weiß ich nichts davon?» «Befehl von Bacterioon.» «Aber dann ist der Kreis gar nicht geschlossen! Schließlich und endlich bin ich es, der bezahlt. Die Verbindung mit Bacterioon ist letztlich rein geistiger Natur, aber die Kohle kommt von mir, von uns Privatleuten, die wir auf die Karte Bacterioon gesetzt haben. Das ist nicht korrekt! Bei diesem zweiten Mann ist der Kreis noch offen. Sagen Sie doch selbst!» «Dieser Schuß wird nicht in die Geschichte eingehen, nur ein einziger, und es gibt eine Menge stummer Anwärter auf die Rolle des Mörders: Freddy, Carvalho selbst. Was den andern Schützen angeht, so muß er in diesen Minuten getötet worden sein. Der Agent Sean Poverty muß ihn erledigt haben. Er wußte nicht einmal die Hälfte von dem, was gespielt wird.» Sean Poverty bricht langsam zusammen. Vor ihm steht ein junger Mann, dessen Pistole panisch zittert wie eine Wetterfahne, die verrückt spielt und überall und nirgends hinzeigt. «Der Kreis wird nicht offenbleiben, Sean Poverty ...» «Da, schauen Sie her!» Morrison dreht sich um und sieht gerade noch, wie Poverty stirbt. Er rennt zum Telefon. Er gibt Anweisungen, wo der junge Killer zu finden sei. Dann telefoniert er noch einmal. Er gibt Order, ihn auf die Wache und zum Schweigen zu bringen. «Gut, der soll es tun. Er wird garantiert schweigen.» 141
«Das war’s.» «Ich verstehe nicht ganz.» «Sie haben lange genug Verschwörer gespielt. Ich bin der Profi. Sie sind Amateur. Ich rate Ihnen auch nicht zu einer bestimmten Investitionspolitik. Ich habe Sie genauso satt wie das ganze Spektakel hier.» «Sie mögen mich nicht. Sie haben mir das mit Nancy Flower übelgenommen.» «Wir werden nur noch wenige Minuten Zusammensein. Denken Sie an das Geld und überschreiten Sie Ihre Grenzen nicht.» «Wir wollen nicht streiten, Morrison. Sie sind einer der fähigsten Menschen, die mir je begegnet sind. Erstaunlich, wie Sie es geschafft haben, einen alten Hasen wie Carvalho auszutricksen.» «Meine Dynastie ernährt sich mindestens seit dem XV. Jahrhundert besser als die seine. Seit der Zeit meines Großvaters Edgar treibt man in unserer Familie Sport und nimmt wenigstens einmal pro Woche eine Dusche. Die Waage neigt sich fatal zu meinen Gunsten.» «Trotzdem hat Carvalho am Hof der Kennedys großes Vertrauen genossen. Jacqueline schätzte ihn sehr, und John selbst hat ihn öffentlich mit seinem Respekt ausgezeichnet.» «Es kam ihnen alles sehr stierkämpferisch vor. Carvalho war für sie wie ein Torero. In gewisser Weise besaß er die Gabe der Frechheit und eine gewisse Bildung. Diese Dinge beeindrucken die Jungs aus Harvard sehr, vor allem John. Robert hingegen war nicht so beeindruckt.» ‹Nicht so sehr, nein. Er hat mich überhaupt nicht beeindruckt. Es ging mir auf die Nerven, daß er immer auf dem Sprung war. Seine Allgegenwart, seine stille Ironie. Sooft ich konnte, schlug ich ihn, und entschuldigte es dann damit, ich hätte seine Reflexe prüfen wollen. Mehr als einmal sagte ich zu John, daß dieser Mann nicht der Richtige sei. Ein Leibwächter muß aus einem anderen Holz geschnitzt sein.› «Da sehen Sie, Robert war mißtrauisch, und nur John und Jacqueline sind dem Zauber des Leibwächters tatsächlich erlegen. Der alte Joe betrachtete den Gorilla mit Argwohn.» «Ich hielt die teilweise Enthüllung des Plans immer für die größte 142
Schwierigkeit. Verschiedentlich hatte ich ihm angedeutet, daß ich Mitglied extrem rechter Gruppierungen sei und daß meine Bewunderung für Kennedy mein Mißtrauen gegen seine übertrieben blauäugige Unterschätzung der kommunistischen Gefahr nicht ausräumen konnte. Schließlich nahm ich ihn eines Tages zu einer Versammlung der ‹John Birch Society› mit. Beim Hinausgehen sagte er mir, er halte unseren Faschismus für unterentwickelt.» ‹Euer offener Faschismus ist wie die fünfte Variante von Fingerhüten, die eure Industrie produzieren kann. Es ist genau wie eure Linke: der Luxus einer Überproduktionswirtschaft, in welcher der Abfall die «conditio sine qua non» bildet, um den Mechanismus der Überproduktion aufrechtzuerhalten. Ihr habt alles: vom aktiven Faschismus einiger Militärs, eines Foster Dulles oder eines Barry Goldwater bis zum poetischen Faschismus, der sich als Ku-KluxKlan vermummt, oder der «John Birch Society» angehört. Genau wie es bei euch spiritistische Marxisten und salonfähige Sozialdemokraten gibt. Das Ganze ist ein großer Supermarkt!› «Ich gab ihm zur Antwort, seine Meinung interessiere mich sehr und auch, wieweit ihn der Faschismus als Lebensstil abstoße.» ‹Es gibt wenige Dinge, die mich abstoßen. Fast nichts mehr. Wieviel bezahlen diese Faschisten? Ich habe einen Preis. Ich will mich mit 40 Jahren zur Ruhe setzen, und viel fehlt mir nicht mehr bis dahin. Ich will danach noch 30 Jahre im Koma liegen, ohne unvorhergesehene Schrecken, ein paar Dinge sammeln und angeln gehen.› «Ganz ähnlich wie Sie, Morrison.» «Wir haben denselben Beruf. Logisch, daß wir beide dieselben Fluchtgedanken haben. Jenes Gespräch trug sehr viel zur Klärung bei.» «Dann trafen wir uns zu dritt.» «Carvalho war von Ihnen sehr beeindruckt und voller Verachtung für mich. Er erzählte mir, er habe immer einen falschen Eindruck von Hemingway und Scott Fitzgerald gehabt. Irgendwann einmal sagte Scott Fitzgerald zu Hemingway: ‹Die Reichen sind anders›, und Hemingway antwortete: ‹Ja, sie haben mehr Geld.›» ‹Ich hatte mich immer geirrt. Ich hatte geglaubt, Hemingway sei der Schlauere, und Scott Fitzgerald ein Emporkömmling mit dem 143
schlechten Gewissen, daß er auf dieser Seite des Paradieses lebte. Aber der Weise war Scott Fitzgerald. Die Reichen sind anders. Man brauchte nur Mister H. im Gespräch mit dir und mir zu sehen. Er war anders. Er hatte mehr Geld. Alles Geld. Schon deshalb ist er anders. Das ist die einzige wirkliche Macht.› «Carvalhos Korruptheit nahm tagtäglich zu. Sein Mißvergnügen an der Arbeit, die er tat, bot die Gelegenheit, zum endgültigen Schlag auszuholen. Als wir ihm vorschlugen, Kennedy zu töten, sah er die Gelegenheit, mit einem einzigen Schuß zweifach zu kassieren, von Bacterioon und von Ihnen.» «Solche Gelegenheiten hat man nur einmal im Leben.» ‹Pepe, mein Sohn! Stimmt es, was dieser Herr sagt? Wir sind immer arm, aber ehrlich gewesen. Der Vater deines Vaters war Bauer, ich war schon mit zwölf Jahren Schneiderin, und als es mit der Schneiderei bergab ging, stieg ich um auf Herrenunterwäsche. Dein Vater war bei der UGT, während des Bürgerkrieges Geheimpolizist, politischer Gefangener, Emigrant und dann Lagerist bis zu seinem letzten Atemzug. Als du damals das illustrierte Universalwörterbuch «Spes» auswendig gelernt hast, wußten wir, daß du zu Großem berufen bist. Mit elf Jahren hast du «El Criterio» von Pater Balmes gelesen und die «Weltreise eines Schriftstellers» von Blasco Ibáñez. Mit fünfzehn hast du Kindergartenkinder unterrichtet und sonntags die Beiträge zur Begräbnisversicherung kassiert. Als du zu studieren anfingst, nähte ich dir selbst ein paar neue Hosen, du hast dir im teuersten Laden des Viertels einen Anorak besorgt, und dein Vater kam heimlich zu dir, als du vor dem Immatrikulationsbüro in der Schlange standest. Dann hat dich die Politik gepackt, und eines Nachts wurdest du abgeholt, weil du in der ganzen Stadt die Wände bemalt hattest. Dann kam eure Heirat, und fünf Monate später nahmen sie dich wieder mit und ließen dich erst eineinhalb Jahre später wieder frei. Du hast keine der Hoffnungen erfüllt, die dein Vater und ich in dich gesetzt hatten. Du hast uns keine Eigentumswohnung gekauft, nicht einmal auf Raten, und auch kein Auto, mit dem wir hätten ins Dorf fahren können, um es den Verwandten zu zeigen. Deine Frau rauchte und trug so kurze Röcke, wie ich es niemals gewagt hätte. Sie gab dir Widerworte in unserer Gegenwart. Wenn du zum Essen nach Hause kamst, dann eher, um 144
ein Essen zu sparen, als unseretwegen, und als dein Vater dir eine Arbeit bei der Bank verschaffen wollte, über den jungen Herrn Paco, den Sohn von Don Licinio Prat, wurdest du wie ein wildes Tier und sagtest, daß der arme Mann von nichts Ahnung hätte. Aber, Pepe, alles hätten wir ertragen, wenn du nicht zu Muriel so gemein gewesen wärst. Warum bist du plötzlich fortgegangen und hast sie mit dem Kind sitzenlassen? Seit du weg bist, haben wir die Kleine kaum gesehen; von dir erfahren wir nur alle Schaltjahre etwas, wenn du mal schreibst und etwas Geld schickst. Ich zahle es immer auf ein Sparbuch für deine Tochter ein. Und jetzt müssen wir hören, daß du den Präsidenten von Amerika umgebracht hast. Ich habe keine Tränen mehr für dich. Außerdem kann ich nicht verstehen, wie du mit deinen Ideen einen republikanischen Präsidenten umbringen konntest. Dein Vater ist immer Republikaner gewesen, und obwohl mein Vater ein Rechter war (er bekam Schwierigkeiten wegen einer CEDA-Aktion, ausgerechnet 1937 und auf rotem Territorium), fühlte ich mich politisch immer zur Republik hingezogen und gefühlsmäßig zur Monarchie. Die Republik ist mehr unsere Sache, aber die Monarchie ist, wie soll ich sagen, schöner. Was hatte dir der Präsident von Amerika denn getan, Pepe? Bist du dir denn nicht im klaren darüber, daß du eine Frau zur Witwe und zwei Kinder zu Waisen gemacht hast? Du weißt ja gar nicht, wie wichtig ein Vater im Haus ist. Ich mußte dich durchbringen, während dein Vater im Gefängnis saß, und ich weiß, wie schwer das ist. Natürlich weiß ich, daß die Familie des Präsidenten Geld hat, aber Geld ist nicht alles. Ich habe mich bis zum Schluß in dir getäuscht. Ich hätte es ja wissen müssen, daß einer, der Frau und Tochter verlassen kann, zu allem fähig ist. Trotzdem, es mag kommen, was will, du weißt, daß ich dich nicht im Stich lasse. Ich schicke dir eine Decke und eine Frühstücksdose mit paniertem Fleisch für den Fall, daß du verhaftet wirst. Sag mir, ob du eine Thermosflasche mitnehmen darfst, dann mache ich dir einen guten galicischen Eintopf. Muriel werde ich fragen, ob sie mir helfen will, einen Rechtsanwalt zu finden. Schreib mir bald und sag mir, ob dir Señor Ruiz Jiménez als Anwalt recht ist. Er war bei früheren Anlässen immer sehr sympathisch und verständnisvoll. Es küßt dich deine dich liebende Mutter.› «Diese Frau ist eine Heilige!» 145
«Wie rührend!» Mister H. schluchzt verstohlen, dabei tut er so, als ordne er die Papiere auf seinem Palisandertisch. Morrison betrachtet traurig das falsche Fenster, wo falsche Bohrtürme falsche Ströme schwarzen Goldes ausspucken. Ein Ritter des Malteserordens betritt den Raum, der für die Opfer der Kinderlähmung in Äquatorialguinea Spenden sammelt. Morrison gibt ihm 1000 Dollar, Mr. H. eine Million. «Was muß unser Mann tun?» Auf dem Bildschirm fahrt Carvalho immer noch entschlossen seinem Ziel entgegen. ‹Wahrscheinlich machen Sie sich ein falsches Bild von mir. In Wirklichkeit geht es mir um mehr als Geld, nämlich um die Verfolgung aller Erscheinungen des obszönen Sinnes für Solidarität. Das perfekte Verhalten ist völlig keimfrei, und ich gehe mit gutem Beispiel voraus. Es gibt keinen besseren Beweis für Keimfreiheit als einen Mord. Ich gehe mit gutem Beispiel voraus.› «Haben Sie diesen Zyniker gehört?» «Ja, das ist unerträglich.» «So eine Unverschämtheit!» ‹Wenn ich Bezahlung annehme, dann nur, weil ich mich auf diese Art der Möglichkeit beraube, mir irgendeine Hintertür der herrschenden Moral offenzuhalten. Wenn Sie eine fundierte religiöse und kulturelle Bildung besitzen, geneigter Leser, werden Sie mich verstehen. Ich werde diesen Alten umbringen. Daran wird mich niemand hindern, und danach lasse ich alles hinter mir. Mit dem Geld von Bacterioon und dem von Mr. H. habe ich ein herrliches Dasein und ein ruhiges Alter vor mir. Wie in schönen Filmen werde ich in meine Heimat zurückkehren, versuchen, Muriel und das Kind zurückzugewinnen, wir werden einen anderen Namen annehmen und ein neues Leben beginnen, in dem es uns an nichts fehlt. Entschuldigen Sie den häßlichen Brief meiner Mutter! Die Proletarier sind schamlos, sie wiederholen täglich den anstößigen Tatbestand ihres objektiven Elends, um es in Begriffen auszudrükken, die Sie mit der religiösen und kulturellen Bildung, die ich bei Ihnen voraussetze, mit verwöhntem Gaumen zu goutieren wissen werden.› 146
«Morrison! Bringen Sie ihn um! Auf der Stelle!» «Alles zu seiner Zeit. Noch ist mir die Ankunft des Hubschraubers nicht gemeldet worden. Ich werde in zehn Minuten dort sein, zwei Minuten nach dem Tod des alten Fred.» «Bitte, Morrison, ich werde Ihnen mehr bezahlen, aber nehmen Sie Nancy nicht mit! Ich habe das Mädchen liebgewonnen, Morrison, bitte! In meinem Alter ist man für solche Dinge so unendlich dankbar, daß es nicht einmal wichtig ist, ihre Wahrhaftigkeit nachzuprüfen. Verstehen Sie mich?» «Wieviel ist Ihnen Nancy Flower wert?» «Zwei Millionen.» «Gut. Aber ich will auch etwas für sie. Es wäre nicht fair, wenn sie leer ausgehen würde.» «Noch zwei.» «Der Vertrag gilt.» «Ich wußte nicht, wie ich damit anfangen sollte. Ich habe hin und her überlegt. Alles andere war zweitrangig. Nun gut, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt. Aber ich wollte Nancy Flower haben.» «Sie können Ihr Familienwappen mit einer Kaulquappe schmükken: Kennedy ist der Kopf, der Schwanz ist Nancy Flower.» Die Kaulquappe schwimmt in der Luft des Zimmers. Ihr großer Kopf ist massig und scharf profiliert wie die Köpfe auf Münzen; der Schwanz ist fleischig und beinahe durchsichtig, weich und rot wie Blut oder abgehäutetes Fleisch. Es riecht nach Haarshampoo und Ausfluß. Man könnte seine Stimmung für nachdenklich halten, würde er nicht so wild mit dem Schwanz schlagen und so viele Kaulquappensporen ausstoßen, die in der Wärme der Aschenbecher, Papierkörbe und leeren Schreibmaschinengehäuse keimen. «Nur eins ist noch zu klären, Morrison: Die Ermordung eines Präsidenten der Vereinigten Staaten wird einen ganzen Rattenschwanz von Schwierigkeiten nach sich ziehen. Es wird Nachforschungen geben. Wir werden der öffentlichen Meinung eine plausible Erklärung bieten müssen.» «Man kann doch von der Linie Carvalho – Fred aus argumentieren. Darauf läuft alles hinaus. Auf das Rätsel einer Abrechnung in einem Zigeunerkarren auf einem unbebauten Gelände. Poverty 147
hat zwar in seiner Tolpatschigkeit den Kreis nicht geschlossen, aber seitens der Staatsmacht wird jeder Gedanke an eine Verschwörung erstickt werden. In diesem Land werden bei Alarm automatisch die Atomsprengköpfe in Marsch gesetzt. Keiner hat Interesse daran, unseren Alarm auszulösen. Ein paar Moralisten werden protestieren und nach der Wahrheit schreien. Aber sie werden alt werden, und in 40 oder 50 Jahren ist der Fall Kennedy ein kurioses Thema für Reader's Digest oder so etwas. Ihrer oder Carvalhos Name werden keinem Menschen etwas sagen, und in der Erinnerung wird Kennedy eine Kaulquappe sein mit dem Kopf von König Midas und dem Schwanz von König Artus von Britannien.» «Sie sprechen wie ein perfekter Verkäufer, Morrison. Ich mache Ihnen ein Sonderangebot: Den Chefposten für die Westküste, Verkaufschef. Schlagen Sie ein!» «Tut mir leid. Ich kassiere und verschwinde.» ‹Warum verschwindest du und läßt mich allein mit diesem alten, reichen Ekel? Ich habe alles nur für dich getan! Seit fast zehn Jahren habe ich mein ganzes Leben in deinen Dienst gestellt. Deinetwegen habe ich mich in Gefahr begeben. Ich ging mit anderen Männern, wenn du es wolltest!› ‹Das ist nicht wahr. Niemand hat von dir verlangt, mit Mr. H. ins Bett zu gehen, und doch hast du es getan. Ich habe dir nie etwas davon gesagt, aber ich fühle mich sehr schlecht, Nancy. Alles, was zu unserer Arbeit gehörte, war eine Sache und Lust und Laune eine andere. Daß du mit Mr. H. geschlafen hast, hat mich sehr getroffen.› «Nancy und ich werden Ihnen schreiben.» «Ich habe nicht die Absicht, Ihnen meine Adresse zu geben.» «Na, na, aber Morrison, wer wird denn so empfindlich sein. Ich bin so glücklich, daß ich mein Glück mit der ganzen Welt teilen möchte!» ‹Ich hatte deine Spielchen satt. Ich hatte es satt, immer von dir benutzt zu werden ohne jede Hoffnung auf ein glückliches Ende, ohne jede Hoffnung, daß wir dadurch eines Tages wirklich vereint sein würden, endlich allein, du und ich.› ‹Du hast gewußt, daß danach Schluß sein würde mit diesen 148
Abenteuern. Ich habe zu dir gesagt: Nancy, ich habe einen dicken Fisch an Land gezogen. Wenn du mir hilfst, ist das endgültig die letzte Sache. Du hast es gewußt und bist trotzdem mit Mister H. ins Bett gestiegen.› ‹Seine Überlegenheit hat mich fasziniert. Er hat zu viel Geld, um ein Nein zu verdienen, Morrison, das mußt du verstehen! Laß mich nicht bei ihm! Nimm mich mit! Wenn du mich verläßt, werde ich ihm nichts abschlagen können.› ‹Tut mir leid. Ich habe mich schon entschieden. Er hat mir zu viel Geld geboten. Wenn ich nicht herausbekommen hätte, daß du ihm pathetische Orgasmen vorgespielt hast, hätte ich der Versuchung von zwei Millionen noch widerstehen können. Aber es war zuviel. Außerdem lasse ich dich gutsituiert zurück. Er wird dir weitere zwei Millionen geben.› ‹Zwei Millionen?› ‹Jawohl, zwei Millionen.› ‹Davon wußte ich nichts. Deine Haltung hat mich derart verwirrt, daß ich gar nicht hörte, was ich davon hätte. Das ändert natürlich die Sachlage.› ‹Beträchtlich.› ‹Aber es fällt mir schwer, auf dich zu verzichten. Wir könnten ein Jahr verstreichen lassen. Dann trenne ich mich von Mister H. und komme zu dir.› ‹Die Idee ist nicht schlecht.› ‹Warte auf mich!› ‹Ich will es versuchen.› Der spanische Fahrer eines Dodge betritt das Zimmer. Er hat die Baskenmütze respektvoll über den angewinkelten Arm gelegt. «Sir, der Hubschrauber ist da.» «Danke, Paco. Die Stunde der Wahrheit, Morrison!» «Jetzt ist es soweit.» «Enttäuschen Sie mich nicht!» «Nein, es wird nichts schiefgehen. Es wird fast im selben Augenblick, simultan, geschehen. Fred wird kaum tot sein, dann habe ich schon auf Pepe Carvalho geschossen. Adieu, Mister H., und vergessen Sie das mit dem Geld nicht!› Er fliegt hinaus durch das falsche Fenster, gefolgt von dem 149
Chauffeur, der ein poliertes metallenes Flügelpaar trägt. Dann entsteigt Nancy Flower nackt dem Tintenfaß und gibt Mister H. einen schmatzenden Kuß.
Das Wohnmobil stand auf einer kleinen Wiese an einer Pappelreihe, die ein trockenes Kanalbett säumte. Es war ein grünes Fahrzeug mit einer Werbeaufschrift für Schlangensalbe aus den Appalachen. Scharen von Mauerseglern verfolgten die Spur der anbrechenden Nacht, und auf dem nackten Gelände alterte die Erde, je tiefer die Sonne sich hinter die Hügel zurückzog. Als die Autotür ins Schloß fiel, bemerkte ich, daß das Geräusch demjenigen sehr ähnlich war, das in amerikanischen Filmen ertönt, wenn der Hauptdarsteller die Autotür schließt. Dieses Geräusch ist das Markenzeichen des amerikanischen Kinos. Das wird schon durch die Tatsache bewiesen, daß das Autotürenschließen ohne Maß und Ziel vervielfältigt wird, wenn irgendwo im restlichen Teil der Welt Filme mit dem Anspruch aufnordamerikanische Perfektion gedreht werden. Während ich über die Wiese auf das Wohnmobil zuging, teilte ich das Autotürenschließen in zwei Klassen ein, denen innerhalb des Handlungszusammenhangs zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen zukommen. Eins ist das Geräusch von aufeinanderfolgenden Szenen, allgemeinen Handlungsabfolgen: Doris Day fährt beispielsweise vor einem großen Supermarkt vor, parkt ein, steigt aus, beugt sich vor – wobei sie dem Zuschauer den Anblick ihres knackigen kleinen Hinterns bietet – und schließt die Wagentür. Klack. Ein Geräusch, das den Kauf von großen Steaks und Dosenbier verspricht. Eine andere Szene: wieder Doris Day, die fertig eingekauft hat und mit dem entsprechenden Geräusch wieder in ihren Wagen steigt. Sie fährt nach Hause und hält vor der Haustür. Ein offenes Fenster in Großaufnahme (bei ihrer Abfahrt war es geschlossen gewesen). Im Mittelgrund runzelt Doris Day am Steuer die Stirn. Jetzt bietet sie dem Publikum den Anblick ihres Busens, der auf die Vierzig zugeht, ihres besorgten Gesichts einer jugendlichen Vierzigjährigen und ihrer Sommersprossen, die die Vierzig schon überschritten 150
haben. Sie schließt die Wagentür. Klack. Dieses Geräusch verspricht den Fund einer Leiche in der Eingangshalle, der Leiche von Raymond Burr, nehmen wir mal an; Blut tropft in dünnen Fäden aus seinen Mundwinkeln, wie ein falsch angewachsenes Mongolenbärtchen. Der Dunstabzug des Wohnmobils begann Qualm auszustoßen. Ich nahm die Pistole aus dem Holster und entsicherte sie. Etwa fünf Meter vor dem Wagen überlegte ich, was ich sagen würde. ‹Widerstand ist zwecklos.› Oder vielleicht: ‹Achtung, Hände hoch!› Vielleicht sollte ich gar nichts sagen und ihm einfach nur den Lauf in die Nieren drücken. Aber irgend etwas würde ich doch sagen müssen, damit er aufhörte, meine Tat zu interpretieren. Ein Schlag mit dem Schaft? Vielleicht sollte ich auf das Kinderspiel zurückgreifen: ‹Hände.› Die Gangstersprache hat nie die expressive Sprachökonomie der Kinder erreicht, wenn sie Räuber und Gendarm spielen. Sie sagen nicht mehr ‹Hände hoch›, ‹Hände!› genügt. Wozu sollten Hände bei diesem Spiel dienen, wenn nicht dazu, erhoben zu werden? Als ich so mit der Pistole im Anschlag fünf Meter vor dem Fahrzeug stand, wurde mir bewußt, daß ich völlig ohne Deckung war; es hätte genügt, wenn der Alte den Lärm des Autos gehört hätte. Mit zwei lächerlichen Sätzen war ich hinter der fensterlosen Wand des Wohnmobils und setzte mich auf den Boden. Mit Steinchen blockierte ich eine Ameisenstraße. Wieder einmal fragte ich mich nach ihren Familienverhältnissen. Wenn man ihre Straße blockiert, kommt es zu Familientragödien: Ameisenmütter verlieren ihre Kinder, Ameisenväter kehren nie zu ihrer Familie zurück, jungverheiratete Ameisenpaare werden durch viele Ameisenkilometer voneinander getrennt. Die Ameisen haben mich von klein auf fasziniert. Mein Vater bewunderte sie. Er hockte sich vor dem wandernden Volk auf die Fersen und verschwendete ein paar lyrische Sprüche an sie, die der Ärmste bei derartigen Anlässen immer parat hatte. Er hatte eine gewisse (eher verbale als praktische) Abneigung gegen die Menschheit, und das führte dazu, daß er sich maßlos für Ameisen, Bienen und kleine Katzen begeisterte. Auch Alabasterstatuen liebte er, weit entfernte Städte und Spaziergänge durch Alleen in Gesellschaft von 250 000 ähnlich Gesinnten. Er war vernarrt in Bier mit Sprudelwasser, ‹caldo 151
gallego›*, und die seltenen kühlen Sommernächte unseres ärmlichen Viertels. Er liebte es, im ärmellosen Unterhemd seine Schuhe zu putzen, meine Schuhe zu putzen, für die Gäste Äpfel zu schälen, sein Taschentuch zum Schneuzen anzubieten, sich aus alten Schuhen Hauspantoffeln zu machen, Stalin zu verteidigen, die Lektüre von Pater Balmes und Baron von Holbach zu empfehlen, die Kinder zum Sparen anzuhalten, der ganzen Verwandtschaft Uhren zu schenken, schweigend mit aufgestützten Ellbogen auf einem engen Balkon zu stehen und den Leuten zuzusehen, die vertrauensvoll durch die Straße gingen, als sei sie eine Friedhofspromenade, links und rechts gesäumt von Begräbnisnischen alter, ausgestorbener Komantschenfamilien. Auf dem kühlen Rasen fror ich am Hintern. Ich stand auf, steckte die Pistole zurück ins Schulterholster und horchte am Blech des Wagens, ob irgendein Echo des spärlichen Lebens im Inneren zu hören sei. Ich nahm nichts wahr, was einer Zeile wert gewesen wäre. Geneigter Leser, Sie mit Ihrer angeborenen Intelligenz und der gewohnten literarischen Anteilnahme, die Sie sich unter dem Einfluß von Propheten der ‹Stunde des Lesers› zugelegt haben, werden sicher schon erraten haben, daß ich überhaupt keine Lust verspürte, mein Vorhaben auszuführen, und deshalb faul herumsaß und in den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses kramte. Wenn Sie, geneigter Leser, außerdem noch ein Freund der Literaturometrie oder der Wissenschaft vom rechten Maß in der Literatur sind, werden Sie schon bemerkt haben, daß sich der vorliegende Abschnitt länger hinzieht als die unmittelbar vorangegangenen, eben deshalb, weil ich die Begegnung mit dem Alten so lange wie möglich hinauszögern wollte. Die Nacht war von meinen Füßen zum mondbeschienenen Himmel aufgestiegen. Ich fror genügend, um die Arme vor der Brust zu kreuzen und meine eigene Wärme zu genießen. Ich näherte mich dem ersten Fenster. Aber die Vorhänge waren zugezogen, und ich sah nichts. Ein schwaches Geräusch; in der Pfanne brutzelte etwas. Ein Geruch. Oder vielleicht nahm ich den Geruch nur an, weil ich ihn nicht wahrnehmen konnte. Ich ging weiter bis zum Eingang. * Suppentopf mit Rindfleisch, Kohl und Kartoffeln
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Probierte den Türknauf. Er bewegte sich, und ich zog hastig meine Hand zurück. Ich überlegte mir, zurückzufahren und die Sache der Polizei oder Morrison und den anderen zu überlassen. In der Tat ging ich ein paar Schritte weg von dem Wohnmobil. Das schnelle Heranbrausen eines Autos auf der Straße ließ mich innehalten. Das war meine Sache. Eine Sache, an der ich in jeder Hinsicht interessiert war. Ich wandte mich entschlossen zu der blechernen Schuhschachtel um. Ich ging zurück, packte entschlossen den Türknauf, und mein Arm spannte sich, um die Tür zu öffnen, während meine Füße sich fest auf den Boden stellten, um sich dagegenzustemmen. Aus irgendeinem Grund entspannte sich meine ganze physische Struktur, und ich legte den Kopf wie schutzsuchend auf eine Schulter. Ich versuchte, etwas zu denken, aber es ging nicht. Vor meinem inneren Auge gähnte eine schwarze Lagune ohne Wasser, mein Denken war lahmgelegt, es gab weder Worte noch Geräusche in irgendeinem Winkel meines mehr als mittelmäßigen Gehirns. Ich steckte die Hände in die Taschen, nahm eine wieder heraus und legte sie schlaff auf den Türknauf. Sie erwachte zum Leben, betätigte ihn, und ich mußte zur Seite treten, um der Tür Platz zu machen. In dem erleuchteten Rechteck erschien ein Gaskocher mit der Gasflasche und der Pfanne, aus der ein wenig Rauch und der Geruch gebratenen Specks aufstieg. Ich steckte den Kopf in das Rechteck. Links von mir die geschlossenen Vorhänge vor dem großen Mittelfenster, rechts der Rücken eines sitzenden Mannes mit Jackett, aber ohne Hosen, der seine Füße in einer dampfenden Schüssel badete. Ich ging leise, aber ohne bestimmten Plan hinein. Die Decke zwang mich, den Kopf einzuziehen. Ich blieb stehen, mit dem Kopf an der Decke, zwischen Decke und Fußboden eingezwängt, und streckte die Hand halb nach dem Rücken oder dem kahlen Schädel des Mannes aus. Ich machte einen komplizierten Schritt vorwärts, ohne die fiktive Schiene zwischen Decke und Fußboden zu verlassen. Meine Finger berührten zuerst die alte linke Schulter, dann legten sie sich darauf. Der Mann schaute sich um. Seine Runzeln, seine von der superweitsichtigen Brille entstellten Augen sahen mir ins Gesicht. Er wandte sich wieder der Schüssel zu und plätscherte leicht mit den Füßen. Dann nahm er sie aus dem Wasser und betrachtete sie 153
eingehend. Es waren verbrauchte Füße, voller Beulen und Druckstellen, die Venen waren kurz vor dem Platzen. Die ersten beiden Schüsse trafen beinahe in dasselbe Loch, das plötzlich zwischen den schmutzigen Falten seines Nackens klaffte. Er brach fast im selben Moment zusammen, und das Seifenwasser ergoß sich ins Wohnmobil. Der dritte Schuß riß in Höhe des Herzens einen angesengten Kleidungsfetzen von seinem Rücken. Er zuckte nur ein einziges Mal. Barcelona, La Garriga, 1967–1971
Die ganze Kunst ist eine Aufforderung zum Heldentum. Sie stärkt Hände und Rückgrat und schwächt den Schwanz. Erhabener Schwindel, Kupplerin der angeblichen Menschenwürde! Aber ich trage ein Pistolenholster, ich werde es immer besitzen. Ich werde bis zur letzten Patrone auf jedes Schwein schießen, das bei der verfaulten kollektiven Würde der Gattung Zuflucht sucht.