KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
H E R B E R T L. S C H R ...
20 downloads
322 Views
546KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
H E R B E R T L. S C H R A D E R
HOFAPOTHEKER PETTENKOFER IM KAMPF GEGEN DIE CHOLERA
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN . I N N S B R U C K • BASEL
Gespräch in der Residenz J_Jie Stadt München in Feststimmung. Girlanden und Blumen auf den grauen steinernen Fassaden. Musikkapellen bahnen sich einen Weg durch die wogende Menschenmenge. Über der Stadt ein glasklarer Himmel, ein Wetter, wie es sich die Einheimischen und ihre Gäste für diese festlichen Tage nicht besser wünschen können. München steht im Zeichen der Industrie-Ausstellung des Jahres 1854. In der Bahnhofsgegend herrscht das größte Gedränge. Fernzüge bringen viele tausend in- und ausländische Besucher. Alle möglichen Dialekte und Sprachen schwirren durcheinander. Es dreht sich um Dampfturbinen, Lokomotiven, Maschinen, die hundert- und tausendmal so viel leisten wie ein Mensch, und um viele andere Wunderdinge, die in den Hallen gezeigt werden. Mitten in dem Menschenstrom kämpfen sich zwei Herren gesetzten Alters langsam vorwärts. Der schlanke, wendige, mit dem scharf profilierten Gesicht und dem angegrauten H a a r scheint sich als Gastgeber zu fühlen, obwohl er keinen bayerischen Dialekt spricht. „Hab schon die erste Industrie-Ausstellung vor drei Jahren im Londoner Glaspalast erlebt", bemerkt er, „aber die Atmosphäre ist hier mindestens ebenso weltstädtisch". „Alle Achtung, daß Sie München, Ihre neue Heimat, weltstädtisch nennen, Liebig!" erwidert der kleine behäbige Mann an seiner Seite. „Bei uns in Basel . . . " Bevor der Sprecher aber zum Loblied auf Basel richtig ansetzen kann, dröhnt von der Straße her eine Stimme: „Sieh da, die Herren Chemiker gehen zu Fuß." Der Ruf kommt aus einer hochrädrigen Kutsche, die im Gewühl steckengeblieben ist. Ein rundes Bauerngesicht mit üppigem Schnauz- und Kragenbart zeigt sich am Wagenfenster: „Steigen Sie nur ein, für Herrn Justus von Liebig und Herrn Christian Friedrich Schönbein habe ich immer noch Platz." Liebig winkt ab: „Wenn Sie es so eilig haben wie wir, Pettenkofer, dann steigen Sie lieber aus, per pedes geht's heute schneller!" „Sieh an, Herr Professor von Liebig hat's eilig", gibt Pettenkofer zur Antwort, „dabei hat er mir letzthin am Stammtisch erzählt, daß er die Eile in Gießen gelassen hätte. Warum drängt's nun schon wieder?" 2
„Weil es zum Essen geht, lieber Pettenkofer", schmunzelt Liebig. Mit einem Satz ist der noch jugendliche Pettenkofer aus dem Wagen gesprungen. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Kommen Sie mit zu mir. Köchin Resi hat Sauerbraten mit Knödeln bereitgestellt, die Gäste, für die der Braten bestimmt war, sind ausgeblieben. Und nun weiß sie nicht, wohin mit der Furage." Pettenkofer wartet gar nicht erst die Zustimmung der beiden Älteren ab. Er gibt dem Kutscher den Auftrag, die Karosse in die Residenz zu fahren, und bahnt ihr mit seinen derben Fäusten einen Weg durch das Menschengewimmel. Er, der Professor der Chemie, kennt die zwei Chemiker gut und darf sich das Verdienst zuschreiben, den großen Liebig im Auftrag seines Königs von Gießen weg an die Münchner Universität geholt zu haben. Durch die Kaufinger- und Theatinerstraße gelangen die drei Professoren zur Residenz. Pettenkofer bewohnt dort seit vier Jahren das oberste Stockwerk im Ostflügel. Als Königlichem Hofapotheker — eine Stellung, die er von seinem verstorbenen Onkel geerbt hat — steht ihm das Recht zu, mit seinem Fürsten unter einem Dache zu wohnen. Die Wohnung Max Pettenkofers ist geräumig und prunkvoll. Die Hofapotheke wirft gute Einnahmen ab. Das Tischgespräch bestreitet Liebig fast allein. Der Gelehrte ist von dem Trubel der internationalen Industrie-Ausstellung wie berauscht. In dem kleinbürgerlichen Gießen hat er sich oft isoliert und vom täglichen Kleinkram belastet gefühlt. Das großzügige München dagegen hat ihm vom ersten Augenblick an zugesagt. Als Liebig von der Ausstellung zu schwärmen beginnt, wird der ewig lebhafte und heitere Pettenkofer mit einem Male nachdenklich, und Liebig fragt ihn nach dem Grund der plötzlichen Verstimmung. „Ich will Ihnen nicht die Festfreude verderben", erwidert Pettenkofer. „Aber es ist etwas so Ernstes geschehen, daß ich mit meinen Gedanken nicht davon loskomme. Erschrecken Sie nicht — wir haben einen Cholerafall in der Stadt. Es soll möglichst lange geheim bleiben . . . wenn es sich überhaupt geheimhalten läßt." „Das ist freilich eine böse Nachricht", sagt Schönbein bestürzt, „jetzt, nachdem die Ausstellung eröffnet ist!" „Das ist ja das Fatale. Der Kranke ist Portier in der Ausstellung." 3
„Was haben Sie bisher unternommen?" „Der Patient ist isoliert worden. Ich habe den König um eine Audienz gebeten. Er wird mich heute nachmittag empfangen." Die Tochter des Hofapothekers, ein schmales, schüchternes Kind, bringt aus dem Nebenzimmer die Zigarren und bietet sie mit freundlichem Lächeln den Gästen an. „Und was soll nun werden?" fragt Liebig. Pettenkofer hebt die Schultern. „Wir müssen eine Panik vermeiden. Angst und Kopflosigkeit können schlimmer sein als die Seuche." „Da stimmt doch etwas nicht", dröhnt Schönbeins Stimme. „AltMünchen hat diese tödliche Krankheit nicht gekannt. Warum überfällt .sie gerade unsere Generation?" ; Pettenkofer stößt dichte Rauchwolken aus. „Es ist der Fluch unserer Zivilisation, nichts weiter. Sehen Sie sich unsere Städte an, wie sie aus dem Boden schießen, während in gesundheitlicher Hinsicht alles beim alten bleibt. Wir leben in unserem eigenen Dreck." „Ihre Liebüngsthese, Pettenkofer!" meint Liebig lächelnd. „Aber ich stimme Ihnen zu. Wo Unrat ist, muß sich ein chemischer Stoff entwickeln, der in die Luft entweicht —" „— und das Ozon zerstört", setzt Schönbein fort. Seitdem er diese Form des Sauerstoffs entdeckt hat, hängt für ihn alles damit zusammen. „Das könnte sein", räumt Pettenkofer ein, obwohl er im Grunde nicht daran glaubt. „Der Cholerastoff muß aus dem verunreinigten Boden ausdünsten und dringt in die Atemwege." „Ich kenne mich in der Medizin nicht aus", bemerkt Schönbein, „aber wenn ich nicht irre, wird von manchen Ärzten behauptet, daß der Choleraerreger ein lebendes Wesen ist, das von einem Menschen auf den anderen übertragen wird. Was halten Sie davon, Pettenkofer?" „Nach den Untersuchungen eines jungen preußischen Kollegen — Virchow heißt er — gibt es für diese Auffassung keine Beweise. Die Leute, die sie vertreten, sind Außenseiter, die man nicht ernst nehmen kann. Wenn sie glauben, die Seuche werde durch kleine Lebewesen übertragen, so ist das ein Rückfall in finstere Zeiten. .. . Die Urvölker haben sich einmal jede Quelle, jede Wolke und sogar den Wind belebt vorgestellt." 4
In der „Einöde" im Donaumoos wurde Max Pettenkofer als fünftes von acht Kindern geboren. „Und was hat dieser Preuße herausgefunden?" „Was wir eigentlich alle schon gewußt oder zum mindesten geahnt haben: daß durch Ausdünstungen die Luft verpestet wird. Virchow hat seine Untersuchungen am Hungertyphus gemacht. Aber bei der Cholera sind diese Zusammenhänge noch viel klarer. Bis 1817 gab es die Cholera nur in den Sumpflöchern von Indien. In jenem Jahre begann die Seuche zu wandern. Bedenken Sie, das ist erst siebenunddreißig Jahre her." „Und wer hat ihr die Straße nach Europa geöffnet?" fragt Schönbein. „Wir wissen es nicht. Sie ist von Osten her über die preußische Grenze vorgedrungen. — Aber, meine Herren, vergessen Sie das Trinken nicht!" Pettenkofer hebt sein Glas. Sein Temperament kommt wieder zum Durchbruch. Nun, da er das düstere Geheimnis nicht mehr allein zu tragen braucht, ist ihm um vieles leichter zumute. 5
Flutwelle der Cholera In jenem Jahre 1817 tastete sich die Seuche von Indien aus über den Vorderen Orient bis nach Südrußland vor. Es war ein zögernder Versuch, eine Art Generalprobe für das grausige Schauspiel, das dem Abendland bevorstand. In Astrachan am Kaspischen Meer, das 1823 erreicht wurde, fraß sich die Cholera fest. Es gelang ihr nicht, durch die Kalmückensteppe ins Innere Rußlands einzudringen. Aber 1828 folgte ein neuer Stoß aus Indien, diesmal auf einer nördlichen Route. Von Orenburg her, der Grenzstadt zwischen Europa und Asien am Uralfluß, lief die Angst der Krankheit voraus. Im nächsten Jahr wurde Moskau, im übernächsten Petersburg ergriffen. Die Schreckensnachrichten waren nicht übertrieben.
* Diese Seuche mordet schneller als die endlich überwundene Pest. Kerngesunde Menschen verfallen innerhalb weniger Stunden, bekommen heftigen Durchfall, übergeben sich und laufen blau an. Der große Wasserverlust läßt den Blutkreislauf versagen. Wadenkrämpfe und Gliederzittern quälen die Kranken. Bei vollem Bewußtsein gehen sie dem Tod entgegen. Keine Übelkeit, kein Unwohlsein, kein Fieber kündigt die Katastrophe an. Mit teuflischer Regelmäßigkeit stirbt jeder zweite Cholerakranke. Wem die Cholera auf den Fersen ist, den rafft sie dahin, ehe die Sonne sinkt. Familienväter, die morgens zur Arbeit gehen, wissen nicht, ob sie am Abend Frau und Kinder wiedersehen werden. Hausfrauen, die den Sonntagsbraten einkaufen, sind nicht sicher, ob sie ihn noch zubereiten können. Wer sich morgens eine Theaterkarte kauft, wird vielleicht den Beginn der Vorstellung nicht mehr erleben. In Petersburg brechen Unruhen aus, weil das Gerücht umgeht, die Regierung habe die Cholera verbreitet, um sich der hungernden Massen - zu entledigen. In Königsberg stürmt eine wütende Menge das Polizeipräsidium. • • Um diese Zeit erheben sich die Polen, die seit dem Wiener Kongreß unter russischer Herrschaft stehen, gegen das Zarenreich. Der Aufstand wird in wenigen Wochen niedergeschlagen, denn, die russischen Soldaten haben gegen ihren Willen den stärksten Verbündeten mit an die Front gebracht: die Cholera. 6
Die Krankheit dringt von Polen aus über die preußische Grenze in die Mark Brandenburg und nach Schlesien vor. Sie erreicht Berlin. Dort stirbt am 14. November 1831 als eines ihrer ersten Opfer der Philosoph Friedrich Hegel. Drei Tage später fühlt sich der in den Befreiungskriegen bekannt gewordene General Karl von Clausewitz nicht wohl. Morgens ist er noch wie immer in sein Amt als Artillerieinspekteur in Breslau gegangen. Gegen Mittag überfallen ihn Kopfschmerzen, er muß sich ins Bett legen. Am späten Abend ist er t o t . .. Schon einen Monat vorher hat die Flutwelle der Cholera die deutsche Nordseeküste erreicht. Am 5. Oktober erkrankt der erste Hamburger. Fast tausend Menschen werden in diesem Jahr in Hamburg von der Cholera befallen, fünfhundert gehen daran zugrunde. Schiffsbesatzungen verschleppen den „Krankheitsdunst" nach England, von dort nach Amerika. In New York und in mehreren H a fenstädten der Ostküste taucht die Seuche unversehens auf. Gleichzeitig verbreiten Mekkapilger sie über ganz Ägypten und die Mittelmeerländer. Die Ärzte stehen der neuen Krankheit einstweilen ratlos gegenüber. Sie machen sich ihre Gedanken, warum die Cholera, die bisher nur aus indischen Beschreibungen bekannt ist, mit einem Mal überall in der Welt ausbricht. Dem fortschrittlichen Denken der Zeit entsprechend, suchen sie den Ursprung der Seuche nicht mehr in den Sternen, sondern in der nächsten Umgebung des Menschen. Der alte Berliner Professor Christoph Wilhelm Hufeland macht sich zum Sprecher der in der Medizin vorherrschenden Auffassung über die Ursache der unerwartet hereingebrochenen Heimsuchung. Die Infektionskrankheiten, unter ihnen die Cholera, seien eine Form der Vergiftung; Luft, Boden und Wasser enthielten Verunreinigungen, die den Menschen unter bestimmten Umständen krank machen könnten. Die Gefahr einer Erkrankung sei besonders groß, wenn viele Menschen in ungesunder Luft zusammengedrängt lebten. Der Protest der Forscher richtet sich gegen die ungesunden Wohnverhältnisse und die verdorbene Luft in den immer größer werdenden Städten. Tatsächlich bricht die Seuche immer zuerst in dichtbesiedelten Wohnbezirken an den Brennpunkten des Verkehrs aus. 7
Besonders schlimm ist es in dieser Hinsicht in Hamburg bestellt. Die Altstadt ist ein Gewirr von ineinandergeschachtelten Häusern, so daß kaum Platz für winzige, muffige Hofschächte bleibt. Die krummen Gassen sind durch Quergänge miteinander verbunden, die so eng sind, daß man mit ausgestreckten Armen links und rechts die Hausmauern berührt. In den mit Müll und Unrat vollgestopften Höfen verpesten die „Hasenmoore", die offenen Abzugsgräben für die Abwässer, die Luft. Eine städtische Wasserleitung gibt es nicht. Während die Münchner gereinigtes Wasser aus zwölf öffentlichen und zweihundert privaten Brunnen schöpfen, sind fast alle Hamburger auf das ungefilterte Alster- oder Eibwasser angewiesen. Für die Häuser der Vornehmen schöpfen es die „Wasserkünste", bemooste Holzschöpfräder, aus den Flüssen, die ärmeren Einwohner gehen mit dem Joch über der Schulter und zwei Wassereimern ans Ufer und holen sich dort ihr Trinkwasser. Hamburg hat 1831 8500 Häuser, 11 380 „Säle" (Wohnungen in den oberen Stockwerken der Hintergebäude), 3380 „Buden" (Arbeiterwohnungen im Erdgeschoß der Hinterhäuser) und 1800 Wohnkeller, die drei- bis viermal im Jahr, bei Hochflut, unter Wasser stehen und immer feucht, dunkel und modrig sind. Die Cholera wird zum furchtbaren Feind dieser zusammengepferchten Massen, aber auch zu ihrem mächtigen Verbündeten im Kampf um bessere Lebensverhältnisse. 1832 sucht die Seuche Frankreich heim. In der aufgeklärten Stadt Paris werden die Ängstlichen, die insgeheim zur Vorsorge wohlriechende Kräuter und wollene Leibbinden einkaufen, verlacht. Die Angehörigen der oberen Gesellschaftsschichten lassen keine Festlichkeit aus, um ihren Mut zu beweisen. Auch der junge Dichter Heinrich Heine, der ein Jahr zuvor aus Deutschland eingewandert ist, fährt zu einem der Bälle. Er beobachtet das Leben und Treiben der Pariser, die sich mit einer beinahe hektischen Leidenschaft dem Maskentanz hingeben. Des Abends spät reißt sich einer der Tänzer die Maske herunter. Die Herumstehenden blicken voll Entsetzen in ein veilchenblaues Gesicht. Gleich darauf krümmen sich andere unter heftigen Leibschmerzen. Jäh ist der Festrausch verflogen. Mehrere Wagen voller 8
Menschen werden gleich aus dem Balkaal ins Hospital gefahren. Andere haben auch diesen Umweg nicht mehr nötig. Die Herrschaftskutscher schlagen gleich den Weg zum Friedhof ein . . . Heinrich Heine läßt sich ernüchtert in seinen Wagen fallen und weist den Kutscher an, ihn nach Hause zu fahren. Unterwegs, während der Dichter seinen Gedanken nachhängt, gibt es eine Stockung. Die Kutsche ist in der Nähe eines Kirchhofs in ein Gedränge von einigen Dutzend Leichenwagen geraten, die aus allen Stadtteilen zusammenströmen. Als Heine sich umsieht, erblickt er „nichts als Himmel und Särge". Sieben Jahre lang hält die hartnäckige Seuche Europa in Furcht und Schrecken. Sie zieht nach Westen weiter, befällt Spanien, kehrt dann nach Frankreich zurück, klettert in die Schweiz hinauf und
Von früh bis spät werden Cholerakranice in die Hospitäler gebracht. 9
bricht auf der anderen Seite der Alpen in Italien ein. Aber auch in den Städten, die sie bereits verheert hat, schwelt sie weiter. In der Hafenstadt Hamburg fordert sie 1832 fast viermal soviel Opfer wie im Vorjahr, und auch in den folgenden Jahren bis 1837 kehrt sie regelmäßig wieder. Frankfurt, Mannheim, Stuttgart und Berlin haben immer wieder unter ihr zu leiden. 1836 erkranken in München 2018 Menschen. Erst 1839 atmen die Europäer auf. Die Seuche scheint sich ausgetobt zu haben. Doch 1846 flutet aus dem Osten wieder eine neue Cholerawelle heran. Im Revolutionsjahr 1848 müssen in Deutschland mehr Gräber ausgehoben werden als je vorher seit dem Beginn des Jahrhunderts. Aber es werden nicht gefallene Barrikadenkämpfer hineingebettet, sondern zusammengekrümmte Leichen mit verfärbten Gesichtern. Wieder zieht die Seuche um die ganze Welt. Nord- und Südamerika werden heimgesucht. Nur Süddeutschland ist verschont geblieben. Bis zu diesem verhängnisvollen 23. Juli 1854, als der Portier der Münchner Industrie-Ausstellung erkrankte . . .
Audienz beim König Professor Max Pettenkofer hat an diesem Nachmittag auf lange hinaus seine letzte Erholungsstunde gehabt. Die Ereignisse überstürzen sich. Längst ist in der ganzen Stadt bekannt geworden, daß die Cholera ausgebrochen ist. Außer dem Portier der Ausstellung sind noch andere Patienten als choleraverdächtig in die Krankenhäuser eingeliefert worden. Viele auswärtige Gäste haben sofort ihr Hotelzimmer gekündigt und warten auf den nächsten Zug. König Maximilian zeigt sich gelassen, als er Pettenkofer nachmittags im Hofgarten empfängt. Er ist sieben Jahre älter als der Professor, aber das von schwarzen Koteletten eingerahmte zarte Gesicht wirkt noch jugendlich. „Aber, lieber Pettenkofer", unterbricht er den ernsten Bericht, „das alles ist doch kein Grund zur Aufregung. Wir haben die besten Ärzte hier, wir haben einen Forscher wie Professor Pettenkofer. Warum sollten die Fremden sich vor der Cholera fürchten und abreisen?" 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.14 11:20:43 +01'00'
„Majestät, diese Stadt i s t . . . ist ein . . . " „ . . . ein Misthaufen, Pettenkofer. Nicht wahr, das wollten Sie doch sagen? Sprechen Sie es ruhig aus. Erzählen Sie es überall damit jeder erfährt, daß Sauberkeit der beste Schutz gegen die Cholera ist. Ich werde sofort den Obermedizinalausschuß einberufen. Wir haben noch Hoffnung, daß wir die Ausstellung retten können." Des Königs Hoffnung erfüllt sich nicht. Am Abend gleicht München einem aufgestörten Ameisenhaufen. Von festlicher Stimmung ist nichts mehr zu spüren. Bedrückt rennen die Leute durch die Straßen. Der Bahnhof wird von dichten Menschenmengen belagert. Wer von den Gästen das Gedränge vermeiden will, fährt mit einer Mietskutsche nach Pasing, nach Dachau, nach Starnberg. Gleich wohin, nur aus der S t a d t . . . Der Obermedizinalausscbuß berät am nächsten Tag, wie die Seuche zu bekämpfen sei. Die -Patienten müssen bei den ersten Anzeichen der Krankheit unverzüglich in die Krankenhäuser überführt werden. Die Desinfektion mit Essig oder Säuren wird empfohlen. Mehr läßt sich kaum tun, denn ein Heilmittel gegen die Seuche gibt es nicht. Das Ausschußmitglied Pettenkofer weiß darüber am besten Bescheid. 1843 hat der jetzige Professor seine Dissertation über das angebliche Choleramittel „Mikania Guaco" geschrieben und herausgefunden, daß dieses Mittel die Dinge nur schlimmer macht. Krämer und Straßenhändler bieten überall „todsichere" Vorbeugungs- und Abwehrmittel an. Das Geschäft mit undefinierbaren Mixturen und Wässerchen blüht wie in den finstersten Pestzeiten. Wärmflaschen sollen den Leib warmhalten, Kupferplatten heilende Elektrizität erzeugen. Kurpfuscher verschreiben Kräuter, die auf „garantiert gesunden Böden nach Professor Pettenkofer" gewachsen seien.
Pettenkofer durchforscht die Stadt Max Pettenkofer hat keine Zeit, sich gegen diesen Unfug zu wehren. Er kriecht von morgens bis abends in den baufälligen Häusern in der Nähe des Sendlinger Tores und des Isartores herum. Wo ein Cholerafall gemeldet wird, sieht er sich die Wohnungen, die finsteren Flure, die Aborte und die Dunggruben an. In 11
fast allen diesen Häusern • sind die sanitären Einrichtungen völlig ungenügend. Alles Auffällige trägt der Professor in sein Skizzenbuch ein. Und überall findet er seine Vermutungen bestätigt: Wo der Untergrund am schlechtesten ist, breitet sich die Cholera aus. Nur wenige Tage lang kann Pettenkofer seine Studien betreiben. Dann spürt er, wie die Cholera nach ihm selber greift. Er schleppt sich nach Hause. Seine Lippen werden trocken und rissig, die Bauchdecke sinkt trichterförmig ein. Tagelang schwebt er zwischen Leben und Tod. Auch die Köchin Resi wird von der Krankheit erfaßt. Genauso ergeht es Pettenkofers Töchterchen. Überall in der Nachbarschaft hat das grausame Sterben eingesetzt. Resi erholt sich nicht mehr. „Sorgt nur, daß der Professor gerettet wird", mahnt sie, ehe sich ihr Geist zu umnachten beginnt. Stunden später wird sie auf den Friedhof getragen. Pettenkofers Töchterchen ist zum Glück recht schnell wiederhergestellt, aber der Professor ringt lange mit dem Tode. Er will, er muß durchkommen, denn er glaubt dem Geheimnis dieser Krankheit auf der Spur zu sein. Kaum kann er, auf einen Stock gestützt, die ersten Schritte machen, da taucht er wieder in den Gassen der Altstadt auf. Am Viktualienmarkt kauft er seine Brotzeit ein. Die Metzgersfrau strahlt alle Kunden an: „Nein, Cholera ham mer net im Haus. Alles is g'sund." Es muß ihr ja daran liegen, die Käufer nicht zu verscheuchen. „Ihnen tut die Cholera nichts. Ihr Haus steht auf gesundem Untergrund", bestätigt Pettenkofer, und die Kundinnen sperren Mund und Nase auf. „Das war der Königliche Hofapotheker. Der weiß Bescheid", raunt es hinter ihm her. Im Tal, am Isartor, am Sendlinger Tor, überall da, wo der Boden feucht ist und sich mit den Verunreinigungen vollgesogen hat, reißt die Cholera empfindliche Lücken. Das entspricht genau Pettenkofers Vorstellungen. Er findet noch einige Besonderheiten heraus: Wenn die Häuser sehr tief liegen, die Aborte aber auf einer kleinen Anhöhe, dann ist die Gefahr am größten; den Leuten muß das Choleragift direkt ins LIaus fließen. 12
Bei Nacht und Nebel, in Kisten aus rohen Brettern gepackt, werden die Opfer auf die Friedhöfe geschafft. In den höher gelegenen Vororten dagegen, die zum Teil felsigen Untergrund und einen tiefen Grundwasserspiegel haben, gibt es nur vereinzelt Erkrankungen. Pettenkofer hat bald so viele Erfahrungen gesammelt, daß er einem Haus schon von außen ansieht, ob die Cholera darin haust oder nicht. Er ist überzeugt: Dieses Gift ist nicht von einer unheimlichen Macht in die Luft geblasen worden, sondern die Menschen haben es selbst im Innern ihrer Städte großgezogen. Die Erde dünstet das Unheil aus. Pettenkofer gönnt sich keine Ruhe mehr. Er verfolgt die Cholera auf ihrem Weg durch die kleinen Landstädte, die Gefängnisse und Zuchthäuser. Er legt Tabellen über jeden einzelnen Krankheitsfall an, fragt die Genesenen und Hinterbliebenen aus. Jedes Körnchen Wissen braucht er, um sein Mosaikbild zusammenzusetzen: das Bild vom Ursprung der Cholera. 13
Jetzt hat er endlich ein Mittel gefunden, das vielleicht vor künftigen Epidemien schützen kann. Es ist eine gute Kanalisation für die Städte. Der Unrat muß fortgeschwemmt werden. Was er da vorschlägt, wird ihn manch harten Kampf kosten. Die Stadtväter werden überall zögern und gegen ihn angehtn, ehe sie so tief in ihre Taschen greifen. Die Dunghändler werden behaupten, daß die Landwirtschaft zugrunde gerichtet würde, wenn sie aus den Städten keinen Dung mehr erhielten. Sie werden nicht so schnell begreifen, daß der von Liebig erfundene künstliche Dünger ein vollwertiger und sauberer Ersatz ist. Doch die Münchner Stadtväter lassen sich überzeugen und beginnen mit der Kanalisation, die zum Vorbild für andere Städte wird. An der Münchner Universität macht sich Pettenkofer unbeliebt, weil er, der einstmals Vielseitige, nur noch ein einziges Thema kennt, dessen Grundzüge er seinen Studenten immer wieder einhämmert. Auf der Suche nach einem Ausdruck für seine Bemühungen erinnert er sich des griechischen Wortes hygieinos, das Gesundsein bedeutet, und so nennt er die Gesundheitslehre, die er in Schriften und Vorlesungen predigt, Hygiene — Hygiene durch Beseitigung der Abwässer, Reinheit des Trinkwassers, Modernisierung der Schlachthöfe, Schaffung von Grünanlagen, Verbesserung der Ernährung und eine alles überwachende Gesundheitspolizei. Hygiene ist sein Programm. Ein Programm, das auch dem Handwerker und dem Arbeiter eingehen muß. Wir wollen gesünder leben! Wir wollen sauberer leben! Wir wollen die Seuchen überwinden! Das zündet. Das rüttelt die Bürgermeister und Stadträte aus ihrer Trägheit auf. Der Name Max Pettenkofer wird in der ganzen Welt bekannt. Die Hygiene erscheint als der lang gesuchte Ausweg aus der Katastrophe der Seuchen.
Hilferuf aus Kairo Selbst im grellen Sonnenschein sieht der Hof der Ecole normale, Frankreichs berühmter Bildungsanstalt für den Forschernachwuchs, grau und häßlich aus. Der junge Mann, der sich auf eine Fensterbank im ersten Stock gesetzt hat und die langen Beine auf den Fußboden baumeln läßt, blickt mißmutig nach draußen. •*•• • • 14
„Ach, Roux, das ist schon ein Hundeleben in diesem Zwinger!" ruft er zu dem Kameraden hinüber, der in der anderen Ecke des Hauptlaboratoriums mit Präparaten beschäftigt ist. „Tollwut, dann mal Rinderpest, mal Milzbrand. Man schuftet und schuftet. Nicht mal den 14. Juli haben wir gefeiert, obwohl der ,Alte' zu Hause in Dole war. Ich habe das satt, möchte mal wieder raus nach Budapest oder nach Deutschland." „Kannst ja nach Ägypten mitkommen", antwortet Roux, Pasteurs Musterschüler, gleichgültig, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. „Daraus wird doch nichts, Roux. Die Ägypter wollen keinen von uns sehen, sonst hätten sie längst geantwortet. Unhöflich ist das auf jeden Fall. Wenn ein Mann wie Pasteur ein Angebot macht, dann legt man das nicht ohne weiteres zu den Akten." „Du hast die Abendzeitung noch, nicht gelesen, Thuillier!" „Und darin steht?" „Daß die Cholera von Damiette aus nach Kairo vorgedrungen ist. Am 14. Juli gab's die ersten Seuchenfälle in der ägyptischen Hauptstadt. Die werden froh sein, wenn wir jetzt noch kommen." Thuillier springt auf: „Roux, wenn das stimmt, dann nimmst du mich mit, ja? Dann mußt du mich mitnehmen!" Der junge Thuillier ist mit einemmal wie verwandelt. Die betonte Lässigkeit, die er eben noch herausgekehrt hat, ist glühender Begeisterung gewichen: „Das wäre endlich eine Aufgabe. Hier ersticke ich in all der Kleinkrämerei. Wenn euch Älteren etwas zu langweilig wird, dann schiebt ihr es auf mich ab. Den Erreger der Cholera aufspüren -— ja, das könnte mich verlocken." „Mein lieber Freund!" — Roux, der um vier Jahre Ältere, richtet sich würdevoll auf. — „Einem Pasteurschüler sollte es ganz gleich sein, welche Arbeit er übernimmt. Eine ist nicht schlechter als die andere. Auch die Suche nach dem Choleraerreger kann unter Umständen ein mühevolles Unternehmen werden. Gibt es ihn überhaupt? Du weißt so gut wie ich, daß noch immer die Ansicht des alten Pettenkofer gilt, die Cholera sei eine Folge von Verunreinigungen des Erdbodens." „Und du, Roux, weißt so gut wie ich, daß Pasteur der Meinung ist, daß alle übertragbaren Krankheiten das Produkt eines Erre15
gers sind. Greifen wir die Gelegenheit beim Schöpfe: Suchen wir der Wahrheit auf den Grund zu kommen." „Da mußt du den ,Alten' fragen."
* Pasteur ist schlechter Laune. Schuld daran sind die Behörden von Alexandria mit ihrem törichten, kurzsichtigen Vorgehen. Schon im Juni, als in der kleinen Stadt Damiette die Cholera ausgebrochen war, hatte er seine Hilfe angeboten. Die Behörden steckten den Kopf in den Sand. Jetzt ist die Julimitte überschritten, und es ist gekommen, wie es vorauszusehen war. Die Cholera mordet in Kario täglich fünfhundert Menschen. Jetzt soll in Eile eine Expedition entsandt werden. Assistent Roux und die Professoren Straus und Nocard haben sich zur Teilnahme bereit erklärt. Pasteur schlürft den Korridor entlang, das linke Bein zieht er etwas nach. Es ist infolge eines viele Jahre zurückliegenden Schlaganfalls teilweise gelähmt. „Thuillier, kommen Sie einen Augenblick zu mir", ruft er in das Hauptlaboratorium hinein. Er bleibt unter einem der Fenster stehen und sieht den jungen Mann fragend an. „Sie wollten mich sprechen, Thuillier. Was gibt es?" „Es ist wohl schon zu spät, Herr Professor. Ich wollte Ihnen nur meine Hilfe für Ägypten anbieten." „Sie auch, Thuillier?" „Ich weiß, daß sich außer Roux zwei Professoren gemeldet haben, Herr Professor. Als Jüngster trete ich natürlich zurück." „Samariter kann es nie genug geben, Thullier. Aber bedenken Sie, die Expedition wird gefährlich sein. In einem verseuchten Gebiet • wie Ägypten mit der denkbar schlechtesten Gesundheitsvorsorge gibt es keinen Schutz für die Mitglieder der Expedition. Die Cholera ist sehr bösartig. Denken Sie an Ihre Angehörigen!" „Herr Professor, lassen Sie mir vierundzwanzig Stunden Zeit, damit ich meine Angehörigen verständigen kann", erwidert Thuillier. „Ich werde Ihnen morgen meine endgültige Antwort geben." Pasteur ist einverstanden. 16
Die „Cholerastadt" von Eppendorf. — In den Lazarett-Zelten und -Baracken hielt der Tod reiche Ernte. In dieser Nacht findet der sechsundzwanzig Jahre alte Louis Thuillier keinen Schlaf. Niemals wird er seiner besorgten Mutter sagen können, daß er sich freiwillig für die gefährliche Expedition gemeldet hat. Jeder Franzose seufzt, wenn er die Zeitungen aus der Hand legt: „Gottlob, daß Ägypten so weit entfernt ist." Jeder wird Thuillier, der ohne Zwang in die Todeszone reisen will, für einen Narren halten. Thuillier fährt zu seinen Eltern nach Amiens und nimmt Abschied. Er habe in Rußland Milzbrandimpfungen zu machen, sagt er. Nur dem Vater vertraut er sein Geheimnis an. Am nächsten Morgen unterrichtet er den alten Pasteur, daß er für den Auftrag bereit sei. Pasteur reicht ihm die Hand: „Ich billige Ihren Entschluß. Ich weiß, daß Sie Frankreich gut vertreten werden. Treffen Sie Ihre Vorbereitungen!"
Tragisches Opfer In brütender Nachmittagshitze wirft der Dampfer am 15. August 1883 auf der Reede von Alexandria Anker. Die Stadt macht einen trostlosen Eindruck. „Wir haben immer noch täglich vierzig bis fünfzig Tote", berichtet Dr. Ardouin, der Chefarzt des europäischen Krankenhauses, den französischen Kollegen. Er weiß eine Neuigkeit für sie: Eine deutsche Expedition ist ebenfalls nach Alexandria unterwegs. Professor Robert Koch leitet 17
sie. Sie schifft sich morgen in Brindisi ein. Es wird einen Wettkampf zwischen den französischen und deutschen Forschern geben. Wenn Roux und Thuillier den Erreger der Cholera entdecken wollen, müssen sie ihren Vorsprung nützen. Für die Spaziergänge unter Palmen, von denen Thuillier geträumt hat, bleibt nicht eine Minute übrig. Gleich nach ihrer Ankunft packen Roux, Thuillier, Straus und Nocard in den Laboratorien des Krankenhauses ihre Mikroskope aus. Thuillier läßt sich gleich am andern Tag von den Wärtern die Ausscheidungen von Cholerakranken bringen und entnimmt ihnen Abstriche, die er färbt und unter das Mikroskop legt. „Schau dir das an, Emile", ruft er Roux zu, der sich ein paar Tropfen Blut von einem Patienten geholt hat. „Da schwimmt allerlei drin herum. Eines von diesen seltsamen Dingern müßte der Erreger der Cholera sein. Diese flachen Scheiben sehen mir verdächtig aus." •— Die Mitglieder der Abordnung arbeiten wie im Fieber. Noch weiß man überhaupt nicht, wo man den Erreger suchen soll: im Blut, in den Eingeweiden, in den Ausscheidungen... Deshalb wird alles gleichzeitig geprüft. Professor Nocard, der Tierarzt, gibt seinen Meerschweinchen, Hunden und Katzen Darmausscheidungen der Cholerakranken ein. Er läßt die Hunde vom Blut der Patienten lecken, anderen Tieren impft er das Blut in die Venen oder unter die Haut. Das Ergebnis gibt keinen Aufschluß. Manchmal bilden sich ein paar kleine Quaddeln, weil die Tiere das Menschenblut nicht vertragen. Aber Auffallendes gibt es nicht zu beobachten. Roux und Thuillier züchten Mikroben, die sie im Blut oder in den Ausscheidungen gefunden haben, auf Nährböden. Manche gedeihen recht gut. Als sie aber den Tieren eingespritzt werden, ist die Reaktion wiederum negativ. Unter diesen Mikroben kann der Cholerabazillus nicht sein. Wütend rennt Thuillier durch die Tierställe. „Tut mir nur den einen Gefallen und werdet krank! Ich will euch auch pflegen, bis ihr euch wieder erholt habt. Ihr bekommt Fleisch, soviel ihr wollt, und wenn es sein muß, auch ein Denkmal." Hcktor, der Schäferhund, springt herbei und legt seine Schnauze auf Thuilliers Stiefel. Thuillier beugt sich zu ihm nieder. 18
„Hat Nocard schon deine Scheibenbazillen verimpft?" fragt Roux, der ihm gefolgt ist. „Du weißt schon, ich meine die Scheiben, die du gleich am ersten Morgen gefunden hast." „Nein, noch nicht", entgegnet Thuillier. „Warum gerade die nicht?" Thuillier lehnt sich zerstreut an den Meerschweinchenkäfig. „Ich will es dir verraten, Roux. Diese Gebilde lassen sich nicht züchten oder zumindest so schwer, daß man kaum Fortschritte in den Kulturen erkennt." In dem Knabengesicht Emile Roux' spiegelt sich Überraschung. „Was würdest du daraus schließen, Roux?" „Daß diese Scheiben deine Nährböden nicht mögen, daß du deine Versuche anders anlegen mußt." „Die neue Versuchsreihe ist schon vorbereitet", erwiderte Thuillier nicht ohne Stolz. „Soviel weiß ich schon, daß die Scheiben im Blut von Kranken erheblich vermehrt sind." Roux hört aufmerksam zu. „Bleib auf dieser Spur, Louis!" ermuntert er den Freund. „Vielleicht kommt etwas dabei heraus." Am Nachmittag sind die deutschen Wissenschaftler angekommen. Sie quartieren sich im griechischen Hospital bei Dr. Kartulis ein. Auch sie haben viel Gepäck mitgebracht, darunter einen Käfig mit fünfzig Mäusen aus Deutschland. Es ist wie verhext. Am gleichen Tage, an dem die Deutschen angekommen sind, erlischt die Choleraepidemie. Zwölf Kranke liegen noch in den Betten der Hospitäler, zehn Tote in den Leichenhallen. Denen kann auch Meister Koch nichts mehr nützen, denkt Thuillier und beobachtet liebevoll die runden Scheiben unter dem Mikroskop. Er ist seiner Sache schon beinahe sicher. Ganz gleich, welchem Cholerakranken er Blut abzapft — er findet darin regelmäßig mehr dieser kleinen Gebilde als in gesundem Blut. Wenn Roux und Thuillier abends im Kasino mit den Stabsärzten Gaffky und Fischer von der deutschen Gruppe zusammentreffen, fühlen sie sich mit Recht als die Überlegenen. Keiner der beiden Rivalen deckt zwar seine Karten auf, aber man sieht den Deutschen ihre Mutlosigkeit an. Da sie erst so spät eingetroffen sind, können sie den Vorsprung der Franzosen kaum noch einholen. Thuillier ist 19
immer mehr davon überzeugt, daß die Blutscheibchen die gesuchten Cholerabazillen sind. An einem der Nachmittage gönnt Thuillier sich das Vergnügen, das ihm Paris und Amiens nie bieten konnten: er badet in den Brandungswellen des Mittelmeeres. Und dann läßt er sich von Roux zu einer kleinen Spazierfahrt in der Kutsche des Krankenhauses einladen. Er ißt gut zu Abend und übt sich, wie immer, in geistvollen Wortgefechten mit dem Freund. Gegen halb elf legt er sich schlafen. Aber nachts um drei weckt er Roux und klagt über einen schweren Anfall von Übelkeit. Gleich darauf bricht er vor Roux' Bett zusammen. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Gegen Morgen setzen Durchfall und Erbrechen ein. Es bleibt kein Zweifel mehr, daß Louis Thuillier als letzten die Cholera gepackt hat. Morgens um acht scheint der Tod nahe bevorzustehen. Krämpfe schütteln Beine und Zwerchfell, die Züge sind völlig verfallen. Seine Kollegen frottieren den Kranken, geben ihm Ätherinjektionen und lassen ihn eisgekühlten Champagner trinken. Gegen Mittag kehrt langsam die Atmung wieder, der Puls wird fühlbar. Der kleine zähe Emile Roux kämpft wie ein Löwe um das Leben seines Freundes. Doch die Cholera bleibt Sieger. Am nächsten Morgen ist Thuillier tot. Er stirbt in dem Bewußtsein, daß er den Erreger der mörderischen Seuche entdeckt habe. Es ist ein tragischer Irrtum. Die „Scheibenbakterien", die er unter dem Mikroskop gesehen hat, sind gewöhnliche Bestandteile des Blutes, die Blutplättchen. Sie pflegen sich im Blut der Kranken stark zu vermehren. Der junge Thuillier hat sein Leben umsonst geopfert. Noch im gleichen Jahre entdeckt Robert Koch die kommaförmigen Stäbchen, die die wirklichen Erreger der Cholera sind.
Schwarze Tage in Hamburg Es scheint, als ob die Seuche, nachdem ihr Geheimnis entschleiert ist, den Kampf aufgeben wolle. Sie kehrt in den nächsten Jahren nicht wieder. Deutschland durchlebt nach schweren Krisen eine Zeit des friedlichen Wohlstandes. Die hygienischen Verhältnisse sind, nicht zuletzt dank der unermüdlichen Hinweise Pettenkofers, vielerorts besser geworden. 20
Kaiser Wilhelm II. regiert schon vier Jahre, der alte Bismarck sitzt verbittert im Sachsenwald. Die ewig feuchte, ständig nebeldunstige deutsche Nordseeküste erlebt 1892 einen strahlenden Sommer, wie er seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Mitte August brennt die Sonne sengend auf das Land herab, sie hat' die Eibsümpfe ausgetrocknet und das Gras auf den Wiesen verbrannt. Das Thermometer zeigt schon morgens früh Temperaturen von mehr als 25 Grad im Schatten. Die Hamburger Schulen schließen wegen der Hitze bereits um zehn Uhr. Im „Anker" und den vielen anderen Schankwirtschaften am Hafen sitzen Schichtarbeiter und lassen kaltes Bier in ihre ausgedörrten Kehlen rinnen. Da bringen Schauerleute von der zweiten Schicht eine aufregende Nachricht mit: „Eben haben sie einen Steuermann weggetragen. Auf der Fahrt von Harburg nach Hamburg ist ihm schlecht geworden. Als das Boot am Baumwall anlegte, war er schon tot. Soll es die Cholera sein?" Ähnliche Berichte kommen aus Wilhelmsburg, vom Billhorner Deich und aus dem Hafenviertel. In der Mozartstraße 3 des nordöstlichen Vororts Barmbeck ist am Tage vorher, dem 19. August, eine Frau an Brechdurchfall erkrankt. Schon sechs Stunden später ist sie gestorben. Man erinnert sich nun auch wieder an den plötzlichen Tod des Kaiarbeiters Sahling. Ein Seemann hatte ihn am 14. August abends bewußtlos auf einer Laderampe im Hafen gefunden und auf eine Polizeiwache gebracht. Sahling war weder betrunken gewesen noch niedergeschlagen worden. Er hatte einen Schwächeanfall bekommen. Kurz darauf war er tot. Als diese Geschichte in den Zeitungen stand, hatte sich niemand dabei etwas gedacht. Aber jetzt munkelt man doch . . . Ein paar Ärzte sollen erzählt haben, daß ihnen in den letzten Tagen verschiedene Patienten unter den Händen an Brechreiz gestorben seien. „Da gibt es doch gar keinen Zweifel", lärmt ein angetrunkener Matrose, ^das ist die Cholera." „So sicher ist das nun auch wieder nicht", hält ihm ein Barkassenführer entgegen. „Im Hochsommer kommen solche Fälle immer mal vor. Die Frau in Barmbeck hat zum Beispiel rote Grütze mit 21
Milch und Gurkensalat gegessen und eine Flasche Bier hinterhergegossen. Das hielte nicht mal mein alter Seemannsmagen aus." „Möglich! Aber was ist mit den anderen los? Ich weiß genau, daß mindestens zwölf Mann ins Krankenhaus gebracht worden sind. Von denen ist keiner zurückgekommen. Was sagen denn die Leute von Eppendorf dazu? Die können uns doch nicht für dumm verkaufen . . . " Die beiden Männer im weißen Arztkittel kehren nachdenklich aus den Isolierbaracken in das Hauptgebäude des neuen Krankenhauses Hamburg-Eppendorf zurück. „Bei den anderen Fällen war ich noch im Zweifel, Rüder", bemerkt der Ältere. „Wir hoffen ja immer. Aber dieser Fall sieht doch ganz nach Cholera asiatica aus. Das ist bestimmt keine ,choleraähnliche Krankheit' mehr." „Und was sollen wir tun, Herr Professor?" „Infusionen von Kochsalzlösung in die Venen, damit wir den katastrophalen Wasserverlust ausgleichen. Und lassen Sie sofort das Blut mikroskopisch untersuchen. Schärfen Sie den Leuten im Labor ein, daß sie die Präparate mit Karbolfuchsin färben. Wir brauchen dringend den Nachweis des Erregers." „Ich werde es veranlassen, Herr Professor." Der Assistent Dr. Walther Rüder biegt ins bakteriologische Laboratorium ab, während Professor Theodor Rumpf, der Leiter des Eppendorfer Krankenhauses, in sein Dienstzimmer geht. „Lassen Sie einen Wagen anspannen", ruft er im Vorübergehen dem Hausmeister zu, „ich muß sofort in die Admiralitätsstraße." Die Admiralitätsstraße ist in Hamburg ein Begriff. Dort hat die Medizinalbehörde ihren Sitz^ Wenn Professor Rumpf so eilig dorthin fahren will, überlegt der Hausmeister, dann muß wirklich etwas Ernstes passiert sein. Medizinalrat Kraus, der Leiter der Behörde, läßt seinen unangemeldet kommenden Besucher nicht im Zweifel, daß er wenig Zeit für ihn habe. Etwas ungeduldig fordert er ihn zum Bericht auf. „Ich muß Sie bitten, Herr Medizinalrat, folgende Meldung des Krankenhauses Eppendorf zu Protokoll nehmen zu lassen: Wir haben einige unzweifelhafte Fälle echter Cholera festgestellt." „Und welchen Beweis haben Sie für diese Behauptung?" 22
„Unsere Untersuchungsprotokolle. Ein Zweifel ist nach unseren ärztlichen Erfahrungen nicht mehr möglich." „Zweifel sind immer möglich, Herr Professor. Und solange noch Zweifel bestehen, möchte ich Sie nochmals bitten, von Cholera asiatica nicht zu sprechen. Erst wenn.wir sichere Beweise haben, daß es sich um echte Cholera handelt, werden wir amtliche Mitteilungen herausgeben. Aber so? Irren ist menschlich, Herr Professor Rumpf. Alarm soll man erst schlagen, wenn ein Brand wirklich ausgebrochen ist." „Jetzt spreche ich als Arzt zu Ihnen, Herr Medizinalrat." Professor Rumpf läßt sich nicht abweisen. „Ich melde Ihnen dienstlich, daß in dem von mir geleiteten Krankenhaus Eppendorf Cholera asiatica festgestellt worden ist. Ich bitte Sie, Herr Medizinalrat, diese Meldung zu Protokoll zu nehmen, die Öffentlichkeit zu unterrichten und rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten." Kraus ist aufgestanden. Ein Zucken läuft über sein Gesicht. „Ich kann Ihre Mitteilung leider noch nicht zu Protokoll geben. Ich nehme sie als persönliche Information an und bitte Sie, mich weiterhin zu unterrichten. Ich danke Ihnen, Herr Professor." Rumpf greift erregt nach seinem Hut. „Ich werde nach Eppendorf zurückkehren und Ihnen meine dienstliche Meldung als Staatstelegramm schicken." Bleich vor Wut stürzt er hinaus.
Am Dienstag, dem 23. August 1892, berichten die Zeitungen zum erstenmal, daß nach den Feststellungen der Gesundheitsbehörde Cholera asiatica in Hamburg ausgebrochen sei. Es werde geraten, nur abgekochtes Wasser zu trinken. Im Stadtbild ändert diese Nachricht kaum etwas. Die amtliche Mitteilung schlägt keineswegs wie eine Bombe ein. Wer vor der Cholera Angst hat, ist schon am Sonntag oder Montag aus Hamburg geflüchtet. Alle Hotelzimmer sind noch belegt. Abends wird zu Ehren des Deutschen Apothekerbundes, der gerade in der Stadt tagt, ein Feuerwerk über der Alster abgebrannt. Die Behörden haben dieses Massenfest nicht verschoben, also kann die Gefahr nicht gar so groß sein! Die vielen Gerüchte aus den Vortagen haben abgestumpft... In der Admiralitätsstraße 3, dem Haus der Medizinalbehörde, 23
macht man endlich Ernst. Nach der öffentlichen Erklärung, daß die Cholera asiatica ausgebrochen sei, ist das Medizinalkollegium zusammengetreten. Das Kollegium beschließt, in den Schulen, in denen sofort der Unterricht eingestellt werden soll, Hilfskrankenhäuser einzurichten, außerdem werden Krankenbaracken und Krankenzelte aufgebaut. Ärzte sollen durch Inserate angeworben werden, ebenso Pfleger. Desinfektionsmittel sollen tonnenweise angekauft werden. Von Berlin ist die Ankunft Robert Kochs, des Direktors des nach Pettenkofers Vorschlag eingerichteten Hygienischen Instituts gemeldet. Professor Rumpf schiebt sich am nächsten Tag durch das Gedränge am Berliner Bahnhof bis zur Sperre vor. Dort wartet bereits eine kleine Abordnung der Medizinalbehörde. Der aus Berlin einlaufende Schnellzug ist fast leer. Wer will jetzt noch nach Hamburg? Alles drängt hinaus aus der Stadt. Dem Abteil 1. Klasse entsteigen zwei Herren im schlichten dunklen Anzug. Das Bild des mittelgroßen Mannes mit dem gestutzten dunklen Vollbart und dem "goldgefaßten Kneifer ist jedem Arzt längst bekannt. Das ist Geheimrat Koch, der erste Mann der Bakteriologie in Deutschland, Entdecker des Milzbrand-, des Tuberkelund des Cholerabazillus. Sein Begleiter ist Geheimrat Raths vom Gesundheitsministerium in Berlin. Zuerst ins Hotel? Nein, nicht gleich, bestimmt Kodi. Er möchte durch die Altstadt fahren, das Wasserwerk besichtigen und das Krankenhaus Eppendorf sehen. Schweigend sitzt Koch im Rücksitz der Kutsche und blickt durch das Fenster hinaus. Er hat viele Choleraepidemien erlebt, aber was er in den engen Gassen der Hamburger Altstadt sieht, erschüttert ihn doch. Auch Professor Rumpf ist erschrocken. Wie hat sich das Bild seit gestern gewandelt! Rumpfs Kutscher muß dicht am Rinnstein fahren, um dem Strom der entgegenkommenden Wagen Platz zu machen. Alle .verfügbaren Kutschen und Kastenwagen hat die Stadtverwaltung für die Krankentransporte gemietet. Der Kutscher und ein Träger sitzen auf dem Bock, der zweite Träger muß bei den Patienten im Wageninnern bleiben, aber er steckt den Kopf weit zum Fenster hinaus, um sich nicht zu infizieren. Geschlossene Gefährte vom Kastenwa24
Straßen, Plätze, Institute sind nach dem „Vater der Hygiene" benannt (Bild: Pettenkoierdenkimal von Ruemann und Mayer in München). gen kleiner Geschäftsleute bis zum Möbelwagen befördern die Toten. Die Menschen hasten durch die verwinkelten Gassen. Einzelne bleiben vor einer der vierzig Anschlagsäulen stehen und überfliegen die großen Plakate, auf denen genaue Verhaltungsmaßregeln angegeben sind. Hier und dort bricht einer der Straßenpassanten lautlos zusammen. Dichte Menschentrauben sammeln sich an, wenn die Kranken fortgetragen werden. Betrunkene schwanken vorbei und grölen den neuesten Gassenhauer: „Juppheidi, juppheida, Schnaps ist gut gegen Cholera." Nach diesem Wahlspruch leben viele. Die Krankenträger, die Lei25
chenfahrer, die Totengräber haben immer ihre Rumbuddel in der Tasche. Die Polizei hat Anweisung bekommen, gegen Schnapsschmuggler im Hafen nicht vorzugehen. ' „Das genügt", brummt Koch. „Jetzt möchte ich das Wasserwerk in Billwerder sehen." Koch kennt Pettenkofers Hygienelehre genau. Als er die Städtische Wasserkunst am oberen Teil der Elbe besichtigt hat, sagt er offen: „Das den Bewohnern Hamburgs gelieferte Wasser ist giftig und verpestet." Das Trinkwasser wird zu dieser Zeit immer noch aus der Elbe geschöpft und unfiltriert in die Leitung gepumpt. Bei Flut, wenn die Strömung flußaufwärts zieht, dringen die stinkenden Abwässer aus dem Boden wieder ins Trinkwasser ein. Weil der Druck der Leitung nicht immer groß genug ist, hat jeder Haushalt einen Wasserkasten als Speicher. Er ist so hoch unter der Decke angebracht, daß man ihn nicht säubern kann. So bildet sich auf dem Grund eine dicke Schlammschicht, der ideale Brutplatz für allerlei Wassertiere, die dann durch die Leitung ins Trinkglas rutschen. — „Wie ist eigentlich die Gesundheitslage in Altona?" fragt Koch, als der Kutscher gewendet hat und die Richtung zum Eppendorfer Krankenhaus einschlägt. „Altona ist so gut wie gar nicht betroffen, Herr Geheimrat." „Das habe ich mir gedacht. Altona hat ein ausgezeichnetes Wasserwerk und filtert sein Trinkwasser durch tiefe Bodenschichten. Wir sind also auf der Spur, die uns der Herr Hofapotheker in München gewiesen hat. Seine Forderung nach Verbesserung der hygienischen Verhältnisse ist der Ausgangspunkt gewesen. Pettenkofer hat nicht alle Probleme lösen können; er ist ein Menschenalter zu früh geboren. Von lebenden Erregern will er immer noch nichts wissen. Aber das schmälert nicht seine Verdienste um die Gesundung unserer Städte." Koch und Rumpf erfahren an diesem Nachmittag, daß sich ihre Ansichten in allen wesentlichen Punkten gleichen. Im Restaurant Weinschmidt sitzen sich die beiden Mediziner gegenüber. Sie sind fast die einzigen Gäste. Der Kellner eilt nur dann und wann auf leisen Sohlen herbei, um die Gläser zu füllen. Sie sprechen — wie könnte es anders sein — über die Abwehr- und Vorbeugungsmaßnahmen, bei denen die Einhaltung der hygienischen Vorschriften Pettenkofers eine entscheidende Rolle spielen. 26
Die Seuche erlischt Im Eppendorfer Krankenhaus gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht mehr. Zu jeder Stunde rumpeln die Wagen durch die enge Toreinfahrt. Dr. Walther Rüder, Assistent bei Professor Rumpf, versieht in dieser Nacht den Aufnahmedienst. Seit neun Uhr früh ist er auf den Beinen. Jetzt ist es kurz vor zwei Uhr nachts. Mit der Laterne leuchtet er in das Innere des soeben vorgefahrenen Wagens hinein. „Nun, Pfannschmidt, schon wieder mal da?" Der Träger zwängt sich schwankend aus dem Schlag. Schnapsdunst schlägt dem Arzt entgegen. „Ja, Herr Doktor. Wir waren in den Paradiesgang bestellt, aber am Gänsemarkt hatten wir den Wagen schon voll. Der da -vorn links ist am Dammtor auf der Straße umgefallen. Der kann gleich in die Anatomie. Die anderen leben noch." Der erste Kranke, den die Träger herausholen, ringt schwer nach Atem. Dr. Rüder fragt ihn nach Name und Adresse. Was der Patient flüstert, ist nicht mehr zu verstehen. Von dem Arzt gestützt, versinkt er in tiefe Bewußtlosigkeit. „Gleich ins Sterbezimmer. Der lebt höchstens noch eine halbe Stunde", rät Pfannschmidt gleichmütig und nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche. „Wollen Sie auch mal, Herr Doktor? Das desinfiziert besser als Karbolsäure und Kaliseife." Dr. Rüder wird um zwei Uhr abgelöst. Aber der lange Tag ist für ihn noch nicht vorbei. Ein Freund hat ihn gebeten, nach Ohlsdorf zu kommen und seiner Frau zu helfen, die mit Lungenentzündung und hohem Fieber im Bett liegt. Gibt es denn in Hamburg wirklich noch andere Krankheiten als diese Cholera . . . ? Der Ohlsdorfer Friedhof, an dem Rüders Kutsche vorüberfährt, strahlt in hellem Licht. Zum erstenmal brennen in dieser Nacht die Laternen. Ein ganzes Heer von Arbeitern schaufelt Gräber. Aus den Möbelwagen werden viereckige Kisten mit flachem Deckel abgeladen. Särge gibt es in Hamburg schon seit langem nicht mehr. Betrunkene torkeln zwischen Gräbern und Möbelwagen hin und her.- Es sind die Leichenträger, die sich in pausenlosem Dienst seit dem frühen Morgen zu stark unter Alkohol gesetzt haben. Etwas Schemenhaftes hat diese nächtliche Betriebsamkeit auf dem sonst so stillen Friedhof. Als irrten die Abgeschiedenen ruhelos umher . . . 27
Die Wagen der großen Brauereien fahren durch die Straßen und geben kostenlos das klare Wasser aus. Sie haben viele Abnehmer, seitdem sich herumgesprochen hat, daß das Leitungswasser den Tod ins Haus bringt. Die Warnung vor dem Genuß von verunreinigtem Leitungswasser hat gewirkt. Selbst die Barbiere haben große Plakate vor ihre Türen gehängt, auf denen sie „dem p. p. Publicum mitteilen, daß zum Rasieren nur abgekochtes Wasser" benutzt werde. „Platz da, Kinder", ruft eine befehlsgewohnte Männerstimme. Ein Desinfektionstrupp ist mit dem Handwagen voller Eimer vorgefahren. Die Straßenjungen lächeln den Arbeitern in den weißen Leinenkitteln dreist entgegen und wollen nicht weichen. Für sie sind all diese Geschehnisse höchst interessant, solange der Tod nicht in ihren eigenen Familien Einkehr hält. Die Schulen sind längst geschlossen, und jede Kraft wird gebraucht. Desinfektion ist das große Zauberwort geworden. Die ganze Stadt riecht nach Karbol. Man desinfiziert die Wohnungen, die Häuser und Straßen. Eine Frau spricht den Kolonnenführer an und meldet ihm, daß aus ihrem Haus ein Kranker abzuholen sei. Der Mann notiert sich die Adresse. Die Wohnung wird zur Desinfektion vorgemerkt. „Die Kleider des Kranken nehmen wir gleich mit in die Turnhalle. Die werden dort in großen Bottichen desinfiziert. Rühren Sie inzwischen nichts an, liebe Frau, und sorgen Sie dafür, daß Kalkmilch und gelöste Kalijeife im Haus sind. Wir müssen doch mit diesen Bazillen fertig werden . . ." Sie werden wirklich mit der Unsauberkeit und den Bazillen fertig. Die Wirkung der leider um viele Tage zu spät gekommenen Seuchenabwehr macht sich bemerkbar: Von Sonntag, dem 28. August, an sinken die Krankenzahlen merklich ab. Die schwärzeste Woche dieser großen Cholcraepidemie des Abendlandes ist vorüber. Den ganzen September über hält zwar das Sterben an. Aber es ist nur noch der Nachhall der Katastrophe in der letzten Augustwoche. 16 850 Menschen sind während der Epidemie erkrankt, 8576 gestorben. Jeden vierzigsten Einwohner Hamburgs hatte die Seuche befallen, jeden achtzigsten gelötet. 2>i
Aber fast alle Ärzte sind am Leben geblieben, obwohl sie die Kranken ständig aus nächster Nähe überwacht und gepflegt haben. Die Hygienemaßnahmen haben sie geschützt.
Der Irrtum Pettenkofers Im Hygienischen Institut der Universität München sitzt ein weißbärtiger alter Mann grollend an seinem Schreibtisch. „Haben Sie das .gelesen, Emmerich?" brummt er seinen Assistenten an. „Da behauptet dieser Koch, nicht der Dreck und die Ausdünstungen, sondern Kommabazillen wären für die Cholera verantwortlich gewesen. Und jeder glaubt es ihm unwidersprochen." „Wir sollten unsere Ansicht über die Ursachen der Hamburger Epidemie unmißverständlich niederschreiben", schlägt Pettenkofers Assistent Dr. Emmerich vor. „Niederschreiben?" knurrt der Alte. „Nachdem Koch an Ort und Stelle Untersuchungen angestellt hat, glaubt uns kein Mensch mehr. Schreiben nützt da nichts, wir müssen Beweise beibringen. Was hat denn der Koch bisher bewiesen? Daß der Erreger der Cholera ein kommaförmiger Bazillus sei. Na schön. Das spricht nicht gegen unsere Erfahrungen. Was da aus dem Erdboden kriecht und uns krank macht, haben wir nie genau definiert. Mag es also ein Bazillus sein. Wenn Koch jetzt aber in Abrede stellt, daß der Bazillus aus dem Erdboden stammt, dann ist das eben eine Behauptung und kein Beweis." „Natürlich." „Bazillen, die allein mit der Wasserleitung ins Haus geschwemmt werden, können nicht achttausend Menschen töten. Nicht einmal einen. Das werde ich beweisen." Jetzt zeigt der ungebeugte Greis, daß er nicht aus Altersstarrheit an seiner Überzeugung festhält. Er läßt sich von Koch eine Bazillenkultur schicken. Am 7. Oktober, knapp sechs Wochen nach der Katastrophenzeit der Hamburger Epidemie, schluckt er im unteren Kursaal seines Instituts vor Zeugen Bicarbonat, das die Magensäure neutralisieren soll, und anschließend mehr als eine Milliarde Cholerabazillen des Kochschen Stammes. Er ist überzeugt, daß ihm die Bazillen nicht schaden können, weil sie nicht im Erdboden gereift sind. Zwei Tage später beginnt es in 29
seinen Därmen zu rumoren, ein starker Durchfall setzt ein. Aber ] er geht vorüber. Am 17. Oktober wiederholt sein Schüler Dr. Emmerich das gleiche Experiment an sich selbst. Wieder heftiger Durchfall und starke Symptome der Cholera, aber keine Nachwirkungen. Jetzt kann Pettenkofer triumphieren: Eine Infektion ist nur möglich, wenn die Cholerakeime durch den Boden gegangen sind. Aber der Ausgang des todesmutigen Experiments ändert nichts an der Tatsache, daß Pettenkofer unrecht hat. Später sterben Wissenschaftler, die sich im Laboratorium ungewollt infiziert haben. Die beiden Münchner Forscher haben nur viel Glück gehabt, daß < sie nach leichter Erkrankung mit dem Leben davongekommen sind. Kochs Mitarbeiter Gaffky hat nachträglich verraten, daß man in Berlin ahnte, was Pettenkofer plante. Koch habe deshalb einen milderen Stamm ausgesucht. Vielleicht war es aber auch Pettenkofers Rettung, daß er 1854 schon einmal die Cholera überstanden und sich eine gewisse Immunität erworben hatte. Pettenkofers Lehre von der Entstehung der Cholera hatte sich als ein Irrtum erwiesen; aber daß er durch die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Städten entscheidend für die Ausmerzung der Seuche beigetragen hat und daß er für die Erforschung der wahren Ursachen der Cholera ohne Zögern sein Leben einsetzte, hat ihm die Hochachtung der ganzen Welt eingetragen. |
Die Cholera ist noch nicht tot. In den Niederungen Hinterindiens schwelt sie weiter, und gelegentlich bricht sie aus diesem Schlupfwinkel hervor. 1913 tobte sie während des Balkankrieges in Südosteuropa. 1947 suchte sie Ägypten heim. Obwohl in Ägypten fast achttausend Menschen starben, kam in Europa kein Cholerafall vor. Der Schutzwall gegen die Seuche ist heute fest gefügt. Das Verdienst daran gebührt Robert Koch, dem Entdecker des Kommabazillus. Und es gebührt den Männern der Forschung, voran Louis Thuillier, die im Kampf um die Überwindung der Seuche ihr Leben ließen. Es gebührt in gleichem Maße Max von Pettenkofer, dem „Vater der Hygiene", der die ersten wirksamen Schutzmaßnahmen veranlaßt hat. 30
Lebensdaten Max von Pettenkofers 1818 am 3. Dezember, in Lichtenheim bei Neuburg, Donau, als Sohn eines Bauern geboren; Hütejunge. 1027 Der Achtjährige kommt in die Obhut seines Onkels Fr. X. Pettenkofer, Hofapotheker in München. 1837 Abitur mit Auszeichnung, Beginn des Studiums der Naturwissenschaften und der Heilmittelkunde, 1839 Lehrling in der Kgl. Hofapotheke, wo auch Karl Spitzweg gelernt hat. 1840/41 Ein Jahr lang Schauspieler in Regensburg und Augsburg. Eine Kusine, seine spätere Gattin, führt ihn in den Beruf zurück. 1843 Apothekerexamen mit Auszeichnung und Promotion zum Dr. med.; Weiterstudium in Würzburg bei einem Schüler Liebigs 1845 Assistent am Hauptmünzamt in München (Entwicklung eines Goldausscheidungs- und Glasfärbeverfahrens); Heirat. 1847 außerordentlicher Professor der Chemie; Beschäftigung mit Gesundheitsfragen, mit Nahrungsmitteln, Hygiene des Wassers, der Luft, Kleidung, Wohnung; Verfahren zur Verwendung von Holzgas für Lampen; Verfahren zur Bilderresitaurierung (das heute noch angewandt wird); Arbeiten zur Atomlehre. 1850 Nachfolger seines Onkels an der Hofapotheke, Wohnung in der Münchner Residenz. 1853 Ordentlicher Professor für Chemie in München. 1854 Cholera in München; Pettenkofer bezeichnet Unreinlichkeit und Ausdünstungen als Ursache der Seuche. 1856 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1858 Beginn der Kanalisation in München zur Bereinigung des Bodens (Vorbild für andere Städte). 1865 Professor für Hygiene; Hygiene wird wissenschaftliches Studienfach. In der Folge Förderung der Kanalisation, der Trinkwasserverbesserung, der Grünanlagen, des Schlachthofwesens, der amtlichen Gesundheitsüberwachung; Cholerastudien im Ausland. 1876 Berufung ins Reichsgesundheitsamt Berlin. 1879 Gründung des Hygienischen Instituts, München. 1C83 Zuerkennung des Adelstitels; Errichtung der Pettenkofer-Stiftung durch die Städte Leipzig und München zur Förderung von Arbeiten auf dem Gebiet der Hygiene. 1890 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1892 Selbstversuch mit Cholerabazillen. 1894 im Alter von 76 Jahren Ende der Lehrtätigkeit. 1896 Niederlegung des Amtes als Hofapotheker. 1901 'am 10. Februar, gestorben. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Ullstein-Bilderdienst, Lux-Bildarchiv L u x - L e s e b o g e n 307
(Geschichte)
H e f t p r e i s 25 Pfg.
Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München.
31