Wolf Singer ist einer der weleweit führenden Hirnforscher. Matthieu Ricard war Molekularbiologe, wurde dann buddhistisch...
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Wolf Singer ist einer der weleweit führenden Hirnforscher. Matthieu Ricard war Molekularbiologe, wurde dann buddhistischer Mönch - und Bestseller-Autor. Für dieses Buch treten beide in Dialog über die Beziehung zwischen Hirnforschung und Bewußtseinstraining. Sie sprechen darüber, welche mentalen Zustände mit meditativen Praktiken herbeigeführt werden sollen, welche neuronalen Vorgänge diesen zugrunde liegen, und sie fragen, ob regelmäßiges Meditieren zu nachweisbaren Veränderungen von Hirnfunktionen führt. Ihr Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu, den Austausch zwischen Naturwissenschaften und den kontemplativen Wissenschaften anzuregen, denn Buddhismus wird hier als eine »Wissenschaft des Geistes« verhandelt und nicht als eine Religion. Ein Thema, das in der Diskussion zentral behandele wird, sind die Methoden, mit denen der Geist und menschliche Werte trainiert werden können, zum Beispiel Aufmerksamkeit, Altruismus, emotionale Ausgeglichenheit und Glück. Darüber hinaus sprechen Singer und Ricard über die Langzeitwirkungen solchen Trainings. Die Fähigkeit des Gehirns, sich an veränderte Umstände anzupassen, wird meist im Kontext sich verändernder Außenbedingungen untersucht, aber bei der Meditation kommen die Impulse von innen und sollen eine systematische Veränderung der eigenen mentalen Dispositionen bewirken, und folgerichtig wird diskutiert, ob sich zentrale Fragen über die menschliche Natur überhaupt mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen verbinden lassen. Wolf Singer, geboren 1943, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, Gründungsdirektor des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS). Publikationen u. a.: Der Beobachter im Gehirn und Ein neues Menschenbild? Matthieu Ricard, geboren 1946, war Molekularbiologe am Institut Pasteur in Paris, bevor er buddhistischer Mönch wurde: seit 35 Jahren lebt er im Himalaja. Mehrere internationale Bestseller, darunter Der Mönch und der Philosoph (mit seinem Vater, dem Philosophen Jean-Franyois ReveI) und Quantum und Lotus (mit dem Astrophysiker Trinh Xuan Thuan).
Hirnforschung und Meditation Ein Dialog Wolf Singer Matthieu Ricard Aus dem Englischen von Susanne Warmuth und Wolf Singer
Suhrkamp
Die edition unseld wird unterstützt durch eine Partnerschaft mit dem Nachrichtenportal Spiegel Online. www.spiegel.de
edition unseId 4 Erste Auflage 2008 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Libro, Kriftel Druck: ePI - Ebner & Spiegel, Ulm Umschlaggestaltung: Nina Vöge und Alexander Stublic Printed in Germany ISBN: 978-3-518-26004-3 2 3 4 5 6 - 13 12 II 10 09 08
Inhalt Eine Wissenschaft des Geistes ................... Schulung des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Sich nicht mit Emotionen identifizieren . . . . . . . . . . . . Gefühle soll man weder unterdrücken noch ungehemmt zum Ausbruch kommen lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich mit sich vertraut machen ................... Allmähliche und dauerhafte Veränderungen .. . . . . . . . Was bedeutet »Meditation«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Anregungen von innen und von außen. . . . . . . . . . . .. Die Möglichkeit, neuronale Programme zu verändern .. Emotionale Nuancen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mühelose Fertigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Aufmerksamkeitsstudien ....................... Üben mit Kindern ........................... Mit seinen Gedanken umgehen . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Arbeit mit Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Mentale Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Aufmerksamkeit und kognitive Kontrolle . . . . . . . . . . . Binokularer Wettstreit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Unbewußte und bewußte Reizverarbeitung ......... Aufmerksamkeit, gerichtet auf hirninterne Vorgänge . .. Lernprozesse und die Entwicklung von Fertigkeiten. . .. Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Modulation mentaler Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Wahrnehmen von Gesichtsausdrücken. . . . . . . . .. Achtsames Verweilen im gegenwärtigen Augenblick ... Grübeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Mit der Schreckreaktion arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . .. Internes Geplapper oder Verweilen im Hier und Jetzt..
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Gewahrsein und Ablenkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Verschiedene Speichermechanismen . . . . . . . . . . . . . .. Kontinuierliches Training und Lernen im Schlaf. . . . .. Verringertes Schlafbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Erforschung des Geistes: Versuchsanordnungen ... Klare und stabile Geisteszustände. . . . . . . . . . . . . . . .. Freier Wille ................................ Nach der Meditation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Mitgefühl und Handeln ....................... Meditation der Anteilnahme und neuronale Kohärenz.. Innere Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Altruismus und Wohlbefinden. . . . . . . . . . . . . . . .. .. Magische Augenblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Kann Rückkopplung mentales Training ersetzen? ..... Entspannung und mentales Geplapper . . . . . . . . . . . .. Wo liegen die Grenzen für mentales Training? ....... Neurobiologische Begrenzungen ................. Meditieren und Handeln: Sich selbst verändern, um die Welt zu verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Matthieu Ricard und WolfSinger begegneten sich zum ersten Mal in London im Jahr 2005 bei einer Podiumsdiskussion, die sich mit dem Thema Bewußtsein befaßte. Sie trafen sich dann wieder in Washington bei einer Diskussion über die neuronalen Grundlagen der Meditation und die Auswirkungen mentalen Trainings auf körperliche Funktionen. Diese Diskussion wurde vom »Mind and Life Institute« organisiert und fond in Gegenwart des Dalai Lama vor einem großen Auditorium statt. Im Frühjahr 2007 trafen sich die beiden Autoren dieses Buches, diesmal in der Residenz des Dalai Lama in Dharamsala, wo ein sehr breites Spektrum von Themen behandelt wurde, von der Astrophysik bis hin zu ethischen Fragen, immer mit dem Ziel, Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen östlichen und westlichen, beziehungsweise kontemplativen und wissenschaftlichen Erkenntnisquellen herauszuarbeiten. Im Anschluß an dieses Symposium trafen sich Matthieu Ricard und WolfSinger erneut, einmal in FrankfUrt und dann in Kathmandu, um die in den vorangegangenen Diskussionen angeschnittenen Fragen wieder aufzugreifen und im Dialog zu vertiefen. Für das vorliegende Buch wurden diejenigen Teile des Gesprächs ausgewählt, die sich mit Wesen und Ziel meditativer Praktiken auseinandersetzen und nach möglichen neurobiologischen Grundlagen dieser mentalen Übungen fragen. Der besondere Reiz dieser Begegnung liegt darin, daß hier zwei Menschen aufeinandertreffen, die zunachst den gleichen Weg gegangen sind, sich dann aber for die Auslotung ganz unterschiedlicher Erkenntnisquellen entschieden haben. Matthieu Ricard arbeitete bis weit nach seiner Promotion als Molekularbiologe am Pariser Institut Pasteur in der Arbeitsgruppe des Nobelpreisträgers Franr;ois Jacob, entschied sich aber dann, kontemplative Erkenntnisquellen zu nutzen, um die Bedingtheit des Menschseins weiter zu ergründen. WolfSinger verfolgte das gleiche Ziel, setzte jedoch 9
den eingeschlagenen weg der Erforschung des menschlichen Gehirns mit naturwissenschaftlichen Methoden fort. WS Matthieu, du und ich, wir haben komplementäre Ansätze zur Erforschung der menschlichen Psyche gewählt, du den kontemplativen, ich den wissenschaftlichen. Vielleicht sollten wir diese unterschiedliche Expertise nutzen und uns zunächst auf die Beziehungen zwischen kontemplativen Praktiken, insbesondere der Meditation, und neurobiologischen Erkenntnissen konzentrieren. Möglicherweise gelingt es uns herauszufinden, ob und wie die veränderten Bewußtseinszustände, die durch Meditation herbeigeführt werden können, 'mit neurobiologischen Erkenntnissen zu verbinden sind. MR Auch ich freue mich, daß unsere Freundschaft und unsere gemeinsamen Interessen zu diesem Dialog geführt haben. Und ich möchte gleich zu Beginn erwähnen, daß ein Dialog zwischen westlicher Wissenschaft und Buddhismus wenig mit den üblichen Dialogen zwischen Wissenschaft und Religion gemeinsam hat, von denen es schon viele gibt und die häufig von großer Unsicherheit geprägt sind. Das liegt vor allem daran, daß der Buddhismus keine Religion im allgemein gebräuchlichen westlichen Sinn des Wortes ist, denn er gründet sich nicht auf einen Schöpfergott und erfordert keine Glaubensakte. Man könnte den Buddhismus vielmehr als eine Wissenschaft des Geistes und einen Weg zur Transformation bezeichnen. Er erforscht den Geist empirisch und das schon seit über 2500 Jahren. Und er legt großen Wert auf den Zugang über die eigene Erfahrung, über die Perspektive der ersten Person, das heißt Introspektion unter Anleitung eines erfahrenen geistigen Lehrers.
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Eine Wissenschaft des Geistes MR Der Buddhismus strebt nicht im selben Maß wie die westlichen Zivilisationen nach einer Vermehrung des Wissens über die physische Welt und die belebte Natur. Dafür hat er sich 25 Jahrhunderte lang sehr intensiv mit der Erforschung des Geistes beschäftigt und auf empirischem Weg eine Vielzahl an Erkenntnissen gewonnen. Im Lauf der Jahrhunderte haben unzählige Menschen ihr ganzes Leben dieser kontemplativen Wissenschaft gewidmet. Die moderne westliche Psychologie dagegen begann erst mit William James vor wenig mehr als hundert Jahren. Dazu fällt mir eine Bemerkung von Stephen Kosslyn ein, dem derzeitigen Dekan des Fachbereichs Psychologie in Harvard. Im Jahr 2003 fand die Mind-andLife-Konferenz am MIT (Massachusetts Institute ofTechnology) statt, und Kosslyn leitete seinen Vortrag mit den Worten ein: »Voller Demut und Bescheidenheit stehe ich vor der reinen Datenmenge, die die kontemplativen Wissenschaften in die moderne Psychologie einbringen.« Es genügt nicht, angestrengt darüber nachzudenken, wie der Geist funktionieren könnte, und dann komplexe Theorien aufZustellen, wie es Freud beispielsweise getan hat. Solche intellektuellen Abenteuer können 2000 Jahre direkter Erforschung der Arbeitsweise des Geistes anhand ergründender Introspektion nicht ersetzen, durchgeführt von erfahrenen Praktikern, die bereits zu Stabilität und Klarheit gelangt sind. Selbst die ausgefeilteste Theorie eines brillanten Denkers kann, wenn sie nicht auf empirischer Evidenz beruht, nicht mit den gesammelten Erfahrungen von Hunderten von Personen verglichen werden, von denen jede Dutzende Jahre damit zugebracht hat, die subtilsten Aspekte des Geistes durch direkte Erfahrung ausII
zuloten und so - mit diesem empirischen Ansatz und mit dem Instrument des geübten Geistes - einen Weg gefunden hat, Gefühle, Stimmungen und Wesenszüge allmählich zu transformieren und die am tiefsten verwurzelten Neigungen zu beseitigen, die einer optimalen Lebenseinstellung im Wege stehen. Wenn wir das erreichen, indem wir die fundamentalen menschlichen Qualitäten stärken, wie Liebe und Güte, innere Freiheit, inneren Frieden und innere Stärke, kann sich jeder Augenblick unseres Lebens qualitativ verbessern. Es kommt zu einer Win-win-Situation, da wir selbst ein glücklicheres oder erfüllteres Leben führen und außerdem zum Glück an- ' derer beitragen können. WS Mir erscheint das als eine recht kühne Behauptung. Kannst du sie weiter begründen? Warum sollte, was uns die Natur mitgegeben hat, apriori schlecht sein und spezieller mentaler Übungen bedürfen, um eliminiert zu werden, und warum sollte dieser Ansatz konventioneller Erziehung oder, wenn es im Lauf des Lebens tatsächlich zu schweren Konflikten kommt, der Psychotherapie in ihren verschiedenen Ausformungen überlegen sein?
Schulung des Geistes MR Was die Natur uns mitgegeben hat, ist nicht negativ, ganz im Gegenteil. Weil die eigentliche Natur des Geistes »reines Gewahrsein« oder »reine Kognition« ist, haben wir aus buddhistischer Perspektive immer das Potential, uns zu verändern, unabhängig davon, was wir jetzt sind und was wir waren. Diese Grundüberzeugung ist eine sehr mächtige Quelle der Inspiration, aus der wir die Kraft schöpfen, uns mit unseren inneren 12
Veränderungen zu befassen. Dies ist nicht immer leicht, aber schon das Vertrauen auf die Möglichkeit an sich setzt so viel Energien für den Transformationsprozeß frei, daß allein dies schon heilende Wirkung hat. Es bedarf einer besonderen Anstrengung, weil eingeschliffene Muster Schritt für Schritt verändert werden müssen. Konventionelle Erziehung ist nicht schlechter, aber sie konzentriert sich doch mehr auf Informationsvermittlung und die Ausbildung von Intelligenz. Beides, das Wissen und die Intelligenz, damit umzugehen, können sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein. Die konventionelle Erziehung konzentriert sich eben nicht darauf, die Persönlichkeit zu verändern und die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Wie wir später sehen werden, weisen die kontemplativen buddhistischen Techniken Gemeinsamkeiten mit kognitiven Therapieverfahren auf. Dies gilt besonders für solche, die »mindfulness«, also Achtsamkeit, als Grundlage für die Heilung mentaler Konflikte ansehen. Was die Psychoanalyse angeht, so fühle ich mich hier nicht wirklich kompetent, aber es scheint mir doch, daß die thematisierten Tiefen des Unbewußten aus kontemplativer Perspektive lediglich die äußeren Schichten von Wolken sind, die durch geistige Verwirrung hervorgerufen werden und einen daran hindern, mit der Tiefenstruktur des Geistes in Berührung zu kommen. Wie kann es in einem Zustand »reinen Gewahrseins« so etwas wie einen unbewußten Zustand geben? Es wäre, als ob man sagte, im Licht verberge sich Dunkelheit. Aus dieser Perspektive betrachtet scheint mir die Psychoanalyse gerade das »Wiederkäuen« genau der Inhalte zu befördern, aus denen die Wolken mentaler Verwirrung und Selbstbezogenheit bestehen. Sie werden in einem endlosen Prozeß thematisiert, ohne die Wolken aufZulösen, welche die tiefsten Gründe des Geistes verbergen. 13
WS Das »Wiederkäuen« wäre also genau das Gegenteil von
Meditation. MR Das völlige Gegenteil. WS Hier besteht also ein bemerkenswerter Kontrast zwischen Kulturen. Ich denke auch, daß Meditation oft mißverstanden wird. Ich habe nur wenig Erfahrung damit, aber mir ist sehr klar geworden, daß es sich dabei nicht um eine Nabelschau handelt. Ganz im Gegenteil. MR Wenn man sich vor Augen hält, was beim Wiederkäuen geschieht, wird sofort deutlich, wie schädlich es ist. Wir müssen uns von den mentalen Kettenreaktionen frei machen, die durch die Grübelei ins Unendliche fortgesetzt werden. Wir müssen lernen, die Gedanken kommen und gehen zu lassen, statt ihnen zu gestatten, immer wieder von uns Besitz zu ergreifen. Wir müssen lernen, in der Frische des Augenblicks zu verweilen - das Vergangene ist vorbei, die Zukunft noch nicht erschlossen, und wenn man in reiner Achtsamkeit und Freiheit verharrt, dann kommen die störenden Gedanken, aber sie gehen auch wieder, ohne Spuren zu hinterlassen - das ist Meditation. WS In einer deiner früheren Ausführungen hast du die Überzeugung geäußert, daß jedes menschliche Wesen in seiner Seele ein »nugget of gold« trägt, ein Goldkorn, einen reinen Kern, dessen positive Eigenschaften aber von einer Fülle negativer Züge und Emotionen verdeckt und überschattet werden, die unsere Wahrnehmungen verfälschen und Hauptursache für das Leiden in der Welt sind. Mir erscheint dies als eine sehr optimistische und überdies ungeprüfte Hypothese. Es erinnert an Rousseaus Träume und steht im Widerspruch zu dem, was uns Fälle wie Kaspar Hauser lehren. Wir sind, was uns die biologische Evolution über die Gene und die 14
kulturelle Evolution über Erziehung aufgeprägt hat. Wo ist da das Goldkorn? MR Nein, dieser Vorstellung liegt keine naiv-optimistische Einschätzung der menschlichen Natur zugrunde, sondern Nachdenken und introspektive Erfahrung. Die erste Überlegung ist, daß es einen gemeinsamen Nenner für alle Gedanken, alle Emotionen, alle Gefühle und alle mentalen Vorgänge gibt: die Erkenntnisfähigkeit. Buddhisten bezeichnen das auch als die »Lichtnatur des Geistes«, weil sie durch unsere Wahrnehmungen gleichsam ein Licht auf die äußere Welt wirft und unsere innere Welt durch die Erinnerung an die Vergangenheit, die Vorstellung von der Zukunft und das Gewahrsein der Gegenwart erhellt. Sie ist licht im Vergleich zu einem unbelebten Objekt, das kognitiv gesehen stockfinster wäre. Diese grundlegende Eigenschaft, die wir als »Basiskognition«, »ungetrübtes Bewußtsein«, »reine Bewußtheit« oder als das »wesentlichste Element des Geistes« bezeichnen könnten, diese Eigenschaft kann durch die Inhalte der Gedanken, welcher Art sie auch sein mögen, Liebe oder Wut, Freude oder Eifersucht, weder bedingt noch verändert werden. Wenn es sich um Charakteristika der Basiskognition handelte, dann wären sie stets vorhanden und würden auf jedes mentale Geschehen abfärben, so wie eine gelbe Lampe alles, was sie beleuchtet, gelb färbt. Ich will ein paar Beispiele geben, die verdeutlichen, was ich meine. Wasser, H 20, kann Giftstoffe wie Blausäure transportieren, aber auch medizinisch wirksame Substanzen; doch Wasser selbst ist weder giftig noch heilsam. Oder nehmen wir ein anderes Licht-Bild: Wenn du mit einer Fackel ein schönes, lächelndes Gesicht oder eine wutverzerrte Fratze, einen Berg von Juwelen oder einen Müllhaufen beleuchtest, I5
dann wird das Licht davon nicht schön, häßlich, wertvoll oder schmutzig. Ein letztes Beispiel: Das Besondere an einem Spiegel ist, daß er alle Arten von Bildern reflektiert, aber keines gehört zu dem Spiegel, durchdringt ihn oder bleibt in ihm. Denn wenn das der Fall wäre, würden sich alle diese Bilder überlagern und der Spiegel würde nutzlos. In ähnlicher Weise sorgt die erwähnte Basiseigenschaft des Geistes dafür, daß alle mentalen Gebilde entstehen können, ohne daß er selbst dadurch verändert wird. Mentale Phänomene gehören nicht wirklich zum Wesen des Bewußtseins. Sie treten einfach nur innerhalb des »Bewußtheitsraums«, im Rahmen verschiedener Bewußtseinszustände in Erscheinung und werden von dieser Grundbewußtheit ermöglicht. WS Was du sagst, hat für mich zwei Implikationen. Ein~ ist, daß du Stabilität beziehungsweise Objektivität einen Wert an sich zuschreibst, sie als Validierungskriterium verstehst. Die zweite ist, daß du offenbar zwischen Bewußtsein und seinen Inhalten eine deutliche Trennung vornimmst. Du nimmst an, es gebe im Gehirn eine Plattform der reinen Bewußtheit, welche die Eigenschaften eines idealen Spiegels hat, der selbst keinerlei Verzerrungen der Inhalte bewirkt und diese lediglich reflektiert, ohne davon beeinflußt zu werden. Für mich klingt das so, als nähmest du eine klassische dualistische Position ein, als gingest du von einer Dichotomie aus zwischen dem unbefleckten Geist oder Beobachter auf der einen Seite und den Inhalten, die in dieser reinen Bewußtheit aufscheinen, auf der anderen. Nur diese Inhalte wären allen möglichen schädlichen Interferenzen und Verzerrungen ausgesetzt. Ich habe große Schwierigkeiten mit dieser Betrachtungsweise, denn wenn ich mir die Organisation des Gehirns vor Augen halte, vermag ich keine klare Trennung zu erkennen zwischen sensorischen 16
und exekutiven Funktionen, zwischen störanfälligen Wahrnehmungsvorgängen und einer über all diesen Prozessen schwebenden Plattform der Bewußtheit, die für sich allein existieren kann und unberührbar bleibt. Ich kann mir kein von allen Inhalten entleertes Bewußtsein vorstellen. Wenn es leer ist, würde es nicht existieren, es wäre schlicht nicht definiert. MR Es handelt sich dabei nicht um Dualität, nicht um zwei getrennte Ebenen des Bewußtseins, sondern mehr um die verschiedenen Aspekte von Bewußtsein: eine Basiseigenschaft, die immer da ist, das reine Gewahrsein und die mentalen Konstrukte, die sich darin entfalten und ständig verändern. Statt von Dualität würden wir eher von Kontinuität sprechen. Das Bewußtsein ist auf allen seinen Ebenen ein dynamischer Strom aus Momenten reiner Bewußtheit mit oder ohne Inhalt. Hinter der Trennwand aus Gedanken liegt immer und zu jeder Zeit ein reines Bewußtsein, das nicht von seinem Inhalt getrübt ist. WS Dies würde dann zumindest zwei deutlich unterschiedene Entitäten erfordern, einen leeren Raum, wie immer er auch definiert sein mag, und seinen Inhalt, ein Gefäß mit all den kristallinen Eigenschaften, die du beschrieben hast, und dann den jeweiligen Inhalten, die, wie sehr sie auch kontaminiert sein mögen durch Affekte und IllUsionen, das Gefäß selbst nicht beflecken. MR Statt von separaten Entitäten würden wir eher von fundamentalen und spezifischen Aspekten sprechen. Das reine Bewußtsein ist nicht auf etwas festgelegt, ähnlich wie das Reflexionsvermögen des Spiegels. Vergleiche sind hilfreich, hinken aber natürlich immer. Hier ein weiterer: Die reine Bewußtheit könnte mit Töpfererde verglichen werden und die mentalen 17
Konstrukte mit den verschiedenen Formen, in die der Ton gebracht werden kann. Gleichgültig, welche Form der Ton annimmt, er bleibt selbst im wesentlichen unverändert. WS Erfordert die Kultivierung eines solchen unbefleckten inneren Auges, eines idealen Spiegels, der von Affekten und Emotionen nicht berührt werden kann, nicht eine Dissoziation der Persönlichkeit? Wäre da nicht auf der einen Seite der unberührbare Betrachter, dessen Blick weder durch Emotionen, Affekte und Fehlwahrnehmungen getrübt werden kann, und auf der anderen der abgespaltene, fehlbare Teil des Ichs, der inneren und äußeren Konflikten ausgesetzt ist, Bedingungen falsch wahrnimmt, weil er sich leidenschaftlich verliebt oder große Enttäuschungen erfahren hat? Ist es das Ziel mentaler Praktiken, so eine Dissoziation des Ichs herbeizuführen? Was ist deine Erfahrung? Und siehst du in der Beförderung dieser Dissoziation - falls Meditation dieses Ziel hat - nicht ein gefährliches Experiment?
Sich nicht mit Emotionen identifizieren MR Es handelt sich nicht wirklich um zwei verschiedene Dinge, eher um zwei verschiedene Ebenen oder Aspekte. Die Persönlichkeit ist nicht gespalten. Dem Geist wohnt die Fähigkeit inne, sich selbst zu beobachten. Eine Flamme braucht keine zweite Flamme, um sich selbst zu beleuchten. Ihr eigenes Licht reicht dafür aus. Was ich sagen will: Man kann seine Gedanken betrachten, starke Emotionen eingeschlossen, wenn man mit dem Aspekt der reinen Achtsamkeit arbeitet, der nicht mit den Gedankeninhalten verknüpft ist. Gedanken sind Manifestationen der reinen Bewußtheit wie die Wellen 18
des Ozeans, die sich aus ihm erheben und dann wieder in ihm auflösen. Die tiefsten Stellen eines Ozeans sind nicht verschieden von den Wellen, doch sie werden nicht von ihnen beeinflußt. Der Ozean und die Wellen sind nicht wirklich verschieden. Normalerweise sind wir so mit den Gedankeninhalten beschäftigt, daß wir den grundlegenden Aspekt des Bewußtseins, die reine Bewußtheit, nicht bemerken. Das ist der Grund, weshalb wir uns leicht täuschen lassen und in der Folge unter einer falschen Interpretation der Realität leiden. Beim buddhistischen Weg geht es um nichts anderes als um verschiedene Methoden, wie man mit solchen Täuschungen fertig wird. Nehmen wir überschäumende Wut als Beispiel. Wir werden eins mit der Wut. Die Wut erfullt unser ganzes Denken und Fühlen und überträgt ihre Verdrehung der Wirklichkeit auf Menschen und Ereignisse. Wenn wir von der Wut überwältigt werden, können wir uns nicht von ihr lösen. Und wir bewegen uns in einem quälenden Teufelskreis, da die Wut jedesmal wieder neu entfacht wird, wenn wir die Person sehen, die uns geärgert hat, oder auch wenn wir nur an sie denken. Obwohl Wut alles andere als ein schöner Geisteszustand ist, halten .wir sie am Leben, gerade so als ob wir immer wieder Feuerholz nachlegen. Manchmal werden wir fast süchtig nach der Ursache unseres Leidens. Doch 'wenn wir uns von der Wut lösen und sie leidenschaftslos mit reiner Achtsamkeit betrachten, dann erkennen wir, daß es sich eigentlich nur um einen Wust aus Gedanken handelt. Wut trägt keine Waffen, sie brennt nicht wie Feuer, und sie zerschmettert auch nicht wie ein Fels: Sie ist nichts weiter als ein Produkt unseres Geistes. WS Wie Empathie. MR So wie Empathie und alle anderen mentalen Gebilde. 19
WS Also auch wie positive Emotionen. Folgt daraus nicht,
daß
positive Emotionen ebenso schädliche Auswirkungen haben, weil auch sie zu Fehlwahrnehmungen Anlaß geben und folglich Leiden bewirken? MR Es hängt alles von ihren Folgen ab, ob sie die Wahrnehmung verzerren und Ursachen von Leid werden. Wenn der Geist von altruistischer Liebe erfüllt ist, dann stimmt sein Weltbild, denn er erkennt die Bande zwischen allen fühlenden Wesen, ihren Wunsch, Leid zu meiden und Glück zu erfahren. Wenn zudem altruistische Liebe frei ist von Bevorzugung, Besitzenwollen und Klammern, dann hat sie keine negativen Folgen. Aber laß mich auf den Ärger zurückkommen. Statt zuzulassen, daß wir selbst zu Wut werden, sollten wir verstehen, daß wir nicht »Wut sind«, ebensowenig wie die Wolken Himmel sind. Wenn wir mit der Wut fertig werden wollen, müssen wir als erstes verhindern, daß sich unser Geist immer und immer wieder der Person zuwendet, die die Wut auslöst. Anschließend betrachten wir die Wut selbst und richten unsere Aufmerksamkeit ganz allein auf sie. Was passiert? Wenn wir aufhören, Holz ins Feuer zu legen, und nichts weiter tun als zusehen, dann wird das Feuer schon bald verlöschen. Kurz gesagt: Die Wut erträgt den konzentrierten achtsamen Blick nicht. Sie schmilzt hinweg wie Rauhreif unter der aufgehenden Sonne. WS Und so erginge es auch allen anderen Emotionen, der Liebe, der Empathie, der Trauer. Geht es dir um ein klares, von allen emotionalen Färbungen befreites Bewußtsein? Ich bezweifle sehr, daß solche emotionslose Menschen überleben könnten, es sei denn, sie hätten das Privileg, in einer sehr geschützten Umgebung zu existieren. Vermutlich wären sie nicht bereit, die Mühe auf sich zu nehmen, Kinder in die 20
Welt zu setzen und diese bis ins Erwachsenenalter zu begleiten, verliehe ihnen nicht Liebe und Leidenschaft jenen verklärten Blick auf die Welt - du würdest ihn als verzerrten bezeichnen -, der für dieses Wagnis erforderlich ist.
Gefühle soll man weder unterdrücken noch ungehemmt zum Ausbruch kommen lassen MR Es geht nicht darum, keine Emotionen zu haben, sondern sich nicht von ihnen versklaven zu lassen. Lasse die Emotionen zu, aber halte sie frei von konfliktträchtigen Affekten: der Verzerrung der Wirklichkeit, mentaler Verwirrung, Festhaltenwollen und Leid. Es hilft einfach, von Zeit zu Zeit den Zustand reinen Gewahrseins aufZusuchen und sich innerlich auf ihn zu beziehen, wenn sich die konfliktbeladenen Emotionen einstellen. So läßt sich verhindern, von ihnen erfaßt und weggeschwemmt zu werden, und der Zustand reinen Gewahrseins im gegenwärtigen Augenblick kann erhalten bleiben. Indem man sich vom Ärger befreit, sobald er sich ankündigt, hat man schon zwei unproduktive Methoden vermieden, mit Wut umzugehen. Indem wir es nicht zu einem Wutausbruch kommen lassen, bleiben auch all die negativen Folgen aus, die ein solcher Ausbruch mit sich bringt, wie etwa die Verletzung anderer, die Zerstörung des eigenen inneren Friedens oder die Verstärkung der Neigung, immer öfter und immer leichter wütend zu werden. Hätten wir die Wut einfach unterdrückt, sozusagen einen Deckel auf den Topf gelegt, ohne sie selbst anzurühren, dann hätten wir irgendwo in einer dunklen Ecke unseres Geistes eine Zeitbombe abgelegt. Nein, das Feuer verlöschen zu lassen, war ein intelligenter Weg, mit 21
der Wut umzugehen. Wenn wir diese Strategie beibehalten, wird die Wut immer seltener und immer schwächer auftreten. Die schlechte Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit in Rage zu geraten, wird allmählich beseitigt, und unsere Wesenszüge werden transformiert. WS Was es zu lernen gilt, ist, scharf zwischen Ursache und Wirkung zu trennen, eine distanziertere Haltung gegenüber den eigenen Emotionen einzunehmen und die verschiedenen Konnotationen der Gefuhle besser zu unterscheiden. MR Anfangs ist es schwierig, sofort zu handeln, wenn sich Wut aufbaut. Aber wenn man sich erst einmal an diese Herangehensweise gewöhnt hat, wird sie ganz selbstverständlich. Wir merken es gleich, wenn es anfangt, in uns zu brodeln, und greifen ein, bevor die Wut übermächtig wird. Angenommen, du weißt, daß jemand ein Taschendieb ist. Du wirst diese Person erkennen, selbst wenn sie sich in einer zwanzig- oder dreißigköpfigen Menschenmenge bewegt. Und du wirst sie fest im Auge behalten, damit sie nicht an deine Geldbörse kommt. WS Das Ziel ist also, das Auflösungsvermögen des inneren Auges zu erhöhen, seine Empfindlichkeit fur die Signale aus dem emotionalen Untergrund zu vergrößern, um dem Ansturm von Emotionen begegnen zu können, bevor er bedrohlich oder überwältigend wird.
Sich mit sich vertraut machen MR Ja, je mehr man mit der Arbeitsweise des Geistes vertraut wird und je besser es gelingt, die Achtsamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu richten, desto seltener wird sich eine 22
negative Emotion von einem Funken zu einem verheerenden Waldbrand entwickeln, der außer Kontrolle gerät und dann dein Glück und das von anderen zerstört. Anfangs muß man sich wirklich bewußt darum bemühen, später wird dieses Verhalten ganz natürlich. WS Somit geht es um eine Verfeinerung kognitiver Leistungen, nur daß die analytischen Bemühungen auf die innere anstatt auf die äußere Welt gerichtet werden. Auch die Wissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisse dadurch, daß sie die Empfindlichkeit und das Auflösungsvermögen ihrer Instrumente erhöhen und komplexe Phänomene in immer kleinere Komponenten zerlegen. MR In den buddhistischen Lehrtexten heißt es, es gibt keine schwierige Aufgabe, die sich nicht in kleine einfache unterteilen läßt. ws Dein Forschungsobjekt ist also der mentale Apparat selbst, und dein Analyseinstrument ist die Introspektion. Dies ist ein interessanter selbstreferentieller Ansatz zur Erforschung der Bedingtheiten mentaler Prozesse, der sich von der Hirnforschung, die ähnliche Ziele verfolgt, schon sehr deutlich unterscheidet, weil er die Erste-Person-Perspektive betont und dabei Subjekt und Objekt der Forschung vermengt. Auch der westliche Ansatz nutzt natürlich die Erste-Person-Perspektive für die Definition der zu erforschenden mentalen Phänomene, aber zur Erforschung dieser Phänomene zieht er sich dann auf die Dritte-Person-Perspektive zurück. Ich bin gespannt, ob die Ergebnisse kontemplativer, analytischer Introspektion mit denen übereinstimmen, welche die kognitiven Neurowissenschaften zutage fördern. Haben doch beide Ansätze verwandte Ziele, beide versuchen einen differenzierten und realistischen Blick auf das Wesen kognitiver Prozesse zu erlangen. 23
Vielleicht ist unsere westliche Art, Introspektion als Erkenntnisquelle einzusetzen, nicht hinreichend entwickelt. In diesem Fall könnten wir sicher für die Definition der zu untersuchenden mentalen Phänomene vom Erfahrungsschatz lernen, den kontemplative Techniken gehortet haben. Ich muß gestehen, daß ich mich ungern auf die Introspektion als alleinige Wissensquelle verlassen würde. Der Grund ist, daß die Konzepte über die Organisation unserer Gehirne, die aufIntuition und Introspektion basieren, in eklatantem Widerspruch zu Konzepten stehen, die sich der naturwissenschaftlichen Erforschung von Hirnfunktionen verdanken - es ist dieser Konflikt übrigens einer der Gründe, die gegenwärtig zu mitunter recht heftigen Auseinandersetzungen zwischen Hirnforschern und Vertretern der Geisteswissenschaften führ~n. Woher nimmst du die Gewißheit, daß die introspektiven Techniken, die du zur Erforschung mentaler Phänomene anwendest, verläßlich sind? Wenn das Kriterium lediglich der Konsens zwischen jenen ist, die sich als Experten verstehen, was in gewissem Umfang natürlich auch für die westlichen Wissenschaften gilt, dann stellt sich doch das besondere Problem, daß hier ausschließlich subjektive mentale Zustände als Vergleichsgrundlage herangezogen werden können. Es gibt keine zweite Person, die auf das blicken könnte, was man selbst erfährt, und dies als zutreffend validieren könnte. Die Beobachter können sich nur auf verbale Berichte über subjektive Zustände berufen. Hier liegt in meinen Augen ein Problem.
Allmähliche und dauerhafte Veränderungen MR Nimm das Beispiel von Mathematik oder theoretischer Physik. Zunächst mußt du dich auch hier auf die Behauptung der Wissenschaftler verlassen, sie hätten dies oder jenes Elementarteilchen gefunden oder eine bestimmte Gleichung gelöst, ohne diese Behauptung gleich selber überprüfen zu können. Aber du könntest dich in Mathematik und Physik ausbilden lassen und die Behauptung dann selbst überprüfen. In den kontemplativen Wissenschaften ist es dasselbe. Du mußt nur erst dein geistiges Teleskop verfeinern und die Beobachtungstechniken über viele Jahre hinweg verbessern, um dann selbst bestätigen zu können, was die kontemplativen Forscher entdeckt und worauf sie sich geeinigt haben. Nimm das Phänomen reinen, inhaltsleeren Bewußtseins, mit dem du Schwierigkeiten hast. Das ist etwas, was alle Meditierenden erfahren haben, es ist nicht nur eine buddhistische Theorie. Jeder, der sich die Mühe macht, seinen Geist zu stabilisieren und zu klären, wird diese Erfahrung machen. Was am Ende wirklich zählt, ist die allmähliche Veränderung eines Menschen. Wenn wir im Lauf von Monaten oder Jahren feststellen, daß wir weniger ungeduldig, weniger reizbar, weniger zwischen Hoffnungen und Ängsten hin- und hergerissen werden, wenn wir merken, daß wir uns gar nicht mehr vorstellen können, jemandem bewußt Schaden zuzufügen, daß wir einen natürlichen Hang zu altruistischem Verhalten entwickeln, dann haben wir das mentale Rüstzeug, um mit den Höhen und Tiefen des Lebens fertig zu werden. Das ist die Probe aufs Exempel. Wie heißt es in den Lehrtexten? »Es ist einfach, ein guter Meditierer zu sein, während man mit vollem Bauch in der Sonne sitzt. Unter schwierigen Umständen müssen sich 25
Meditierende wahrhaft bewähren.« Erst in einer solchen Situation kannst du wirklich ermessen, wie stark sich deine Lebenseinstellung verändert hat. Wenn dich jemand kritisiert oder beleidigt und du es schaffst, nicht in die Luft zu gehen, sondern innerlich ruhig zu bleiben, so als ob du nur einem leisen Echo lauschen würdest, dann hast du tatsächlich ein gewisses emotionales Gleichgewicht erreicht und bist weniger verletzlich geworden. Aus einer derzeit laufenden Studie geht hervor, daß meditierende Versuchspersonen, wie jeder andere, der nicht zerstreut ist, zwischen angenehmen und unangenehmen Reizen unterscheiden können, daß sie aber offenbar weniger stark emotional reagieren als Kontrollpersonen. Sie' können sich weiterhin voll auf etwas konzentrieren, ohne sich von ihren emotionalen Reaktionen hinreißen zu lassen. Normale Versuchspersonen nehmen bei Aufmerksamkeitstests, wenn sie zum Beispiel eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe lösen müssen, störende Reize entweder nicht wahr und reagieren nicht, oder sie nehmen sie wahr und reagieren dann sehr heftig. WS Ich sehe den Nutzen dieser Haltung bezüglich negativer Emotionen durchaus. Aber negative Emotionen haben auch außerordentlich wichtige Funktionen für das Überleben des Organismus. Sie sind vermutlich kein sinnloses Nebenprodukt der biologischen Evolution, sondern blieben erhalten, weil sie dem Überleben dienen. Sie schützen uns und helfen uns, aversive oder gefährliche Situationen zu meiden. Bis jetzt haben wir nur darüber gesprochen, daß es darum geht, die Wahrnehmung der Welt vor Verzerrungen durch negative Emotionen zu schützen und gleichzeitig die positiven, wie .Empathie, Liebe und Mitleid, zu stärken. Aus Gründen der Symmetrie sollte man annehmen, daß positive Emotionen den unverstellten Blick auf die Welt ebenso stark verzerren
können wie die negativen. Ich würde vermuten, daß die positiven Affekte bei dem Versuch, ein klares Bewußtsein zu kultivieren, ebenfalls in den Hintergrund treten. MR Wenn Liebe und Empathie durch Besitzenwollen kontaminiert sind und zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit führen, dann sind sie aus buddhistischer Sicht nicht »positiv«, weil sie Leid erzeugen werden. Genauso wie du dich daran gewöhnt hast, mit aufkommenden negativen Gedanken umzugehen, genauso kannst du dir auch angewöhnen, gute Gedanken zu hegen und zu verstärken. Warum man das tun sollte? Jedenfalls nicht, weil irgend jemand gesagt hat, sie seien gut, sondern weil du aus eigener Erfahrung weißt, daß sie zu einer Win-win-Situation führen. Ganz und gar von Liebe und Güte erfüllt zu sein ist wohl der positivste Geisteszustand, den man haben kann, und er bewirkt eine optimale Lebenseinstellung. Das heißt, du fühlst dich dauerhaft wohl, du verhältst dich anderen gegenüber altruistisch, und sie nehmen dich als guten Menschen wahr. All das kann man lernen, so wie andere Fertigkeiten auch.
Was bedeutet »Meditation«? MR Betrachten wir die Etymologie der asiatischen Worte für »Meditation«: Das Sanskritwort bhavana bedeutet »pflegen«, »fördern«, »kultivieren«, das tibetische gom heißt »vertraut werden«; das kann sich auf neue Eigenschaften und Einsichten beziehen, aber auch auf eine neue Lebenseinstellung. Man darf Meditation also nicht auf die weitverbreiteten Klischees »Entspannung« und »Leerwerden des Geistes« reduzieren. Wir alle spüren immer wieder Liebe und Güte, Freigebigkeit, 27
inneren Frieden und Freiheit von Konflikten in uns. Doch diese Gedanken und Gefühle durchströmen uns und werden schon bald durch andere, unter Umständen auch negative ersetzt, wie Zorn und Eifersucht zum Beispiel. Damit Altruismus und Mitgefühl zu dauerhaften Bestandteilen unseres Bewußtseinsstroms werden, müssen wir sie über eine längere Zeit kultivieren. Wir müssen sie uns bewußt machen und sie dann fördern, wir müssen sie wiederholen, bewahren, verstärken, so daß sie unser Denken und Fühlen allmählich dauerhaft ausfüllen. ws Wie sollen wir uns einen Prozeß vorstellen, der vom Gehirn initiiert wird und auf es selbst zurückwirkt? Es geht doch offensichtlich darum, eine dauerhafte Veränderung von Hirnfunktionen herbeizuführen, um das Bewußtsein verläßlich gegen schädliche Intrusionen zu schützen. Der Versuch, das eigene Gehirn umzuprogrammieren, ist somit, wie ich bereits anmerkte, nur um den Preis einer gewissen Dissoziation möglich. Es müssen bestimmte Ebenen voneinander getrennt werden, es wird ein Agent benötigt, der auf einer anderen Ebene agieren muß als die Prozesse, die verändert werden sollen. Diese Frage ist eng mit dem Problem verknüpft, wie man sich in unserem Gehirn die Konstitution des intentionalen Ichs vorstellen soll und wie das Gehirn sich seiner eigenen Funktionen bewußt werden kann. Die Hirnforschung hat große Probleme mit der Beantwortung dieser Fragen. Was sagen die kontemplativen Wissenschaften dazu?
Anregungen von innen und von außen MR Du mußt üben, üben, üben. Skifahren lernt man auch nicht, indem man sich jeden Monat für 15 Sekunden auf die Piste stürzt. Hier ist langfristiger Einsatz gefragt, und das Ziel heißt »Anregung von innen«. Soviel ich weiß, entwickeln sich die Gehirnfunktionen durch den Kontakt mit der Außenwelt. Bei einem blind geborenen Menschen werden sich die visuellen Areale nicht entwickeln, sie werden sogar von den auditorischen Regionen übernommen, die für einen Blinden viel nützlicher sind. Bei Ratten, die in einer einfachen Pappschachtel gehalten werden, vermehren sich die Nervenzellen kaum noch. Setzt man sie jedoch in eine Art Rattenvergnügungspark mit Laufrädern, Röhren und einigen netten Artgenossen, dann weist ihr Gehirn binnen eines Monats eine starke Neurogenese auf. Man könnte das als »halbpassive« Beschäftigung mit der Welt bezeichnen. Du wirst mit einer Situation konfrontiert und reagierst darauf; dadurch wächst deine Erfahrung. Das wäre ein weitestgehend von außerhalb kommendes Reizangebot, eine »Anregung von außen«. Bei Meditation und Geistestraining verändert sich die äußere Umgebung unter Umständen nur minimal. Im Extremfall hältst du dich in einer schlichten Klause auf, in der sich nichts verändert, oder du sitzt allein vor einer weißen Wand. Dann sind die »Anregungen von außen« gleich Null. Aber die »Anregung von innen« ist maximal. Du trainierst deinen Geist den ganzen Tag und fast ohne Ablenkung. Eine solche Anregung ist nicht passiv, sondern absichtsvoll und methodisch zielgerichtet. Wenn du acht oder zwölf Stunden am Tag darauf verwendest, bestimmte Geisteszustände zu kultivieren, die du kultivieren 29
willst und die du zu kultivieren gelernt hast, dann sollte das auch zu einer Umprogrammierung des Gehirns führen. Doch das geschieht hier nicht auf zufällige Art und Weise, als hättest du einen Monat in Disneyland zugebracht, sondern aufgrund von Methoden, die in über 2000 Jahren kontemplativer Wissenschaft verfeinert wurden. ws Du machst also dein Gehirn zum Objekt eines hochdifferenzierten kognitiven Prozesses, der nach innen anstatt auf die äußere Welt gewandt ist. Dabei kommen offenbar dieselben kognitiven Mechanismen ins Spiel, die das Gehirn anwendet, wenn es sensorische Signale zu kohärenten Wahrnehmungen verarbeitet. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf einen ganz bestimmten Inhalt, im Fall der Meditation müssen dies gespeicherte Inhalte beziehungsweise hirninterne Zustände sein. Es folgt eine Auswahl und Bewertung, ganz so wie bei der Wahrnehmung von Objekten der Außenwelt. Da ein wesentliches Element meditativer Bemühungen offenbar die zusätzliche Umprogrammierung gewisser Hirnfunktionen ist, sollten wir uns vielleicht kurz vor Augen halten, wie sich sich entwickelnde Gehirne an ihre Umwelt anpassen, weil dieser Entwicklungsprozeß ebenfalls als ein Programmierungsvorgang von Hirnfunktionen gesehen werden kann. Nach der Geburt wird die weitere Entwicklung des Gehirns im wesentlichen vom Aufbau und erfahrungsabhängigen Umbau der Verbindungen zwischen Nervenzellen getragen. Es erfolgt eine massive Vermehrung neuronaler Verbindungen, und parallel dazu läuft ein Prozeß ab, der jenen Teil der neugebildeten Verbindungen wieder vernichtet, die gewissen funktionellen Kriterien nicht standhalten. Auslesekriterium ist dabei die elektrische Aktivität in den Nervennetzen. Da Sinnessignale und Interaktionen mit der Umwelt diese Akti-
vitäten massiv beeinflussen, wirkt Erfahrung auf die Entwicklung neuronaler Verschaltungen ein. Auf diese Weise paßt das sich entwickelnde Gehirn seine funktionelle Architektur, seine Verschaltung, an die realen Gegebenheiten der Umwelt an. Diese Entwicklungsphase dauert beim Menschen etwa bis zum 20. Lebensjahr. In den frühen Phasen werden sensorische und motorische Funktionen optimiert, später vollzieht sich dieser Auf- und Umbauprozeß vorwiegend in Strukturen, die soziale Fähigkeiten verwalten. Nachdem dieser Entwicklungsprozeß zum Abschluß gekommen ist, können Verschaltungen im Gehirn nur noch in sehr begrenztem Umfang verändert werden. MR In begrenztem Umfang? ws Veränderungen der funktionellen Architektur, also der Funktionsabläufe im Gehirn sind dann nur noch durch die Modifikation der Effizienz bestehender Verbindungen möglich, wie dies bei Lernprozessen der Fall ist. Neue Langstrekkenverbindungen können nicht mehr geknüpft werden. Es entstehen zwar in bestimmten Regionen des Gehirns auch noch nach der Geburt und selbst im Erwachsenenalter neue Nervenzellen, die sich in bestehende Schaltkreise integrieren könne~. Aber diese Neubildung von Nervenzellen und Verbindungen ist auf einige wenige Strukturen beschränkt. Sie spielt in der Großhirnrinde, welche die höheren kognitiven Funktionen realisiert, die uns hier interessieren, kaum eine Rolle. MR Das heißt, das Gehirn muß eine andere Möglichkeit der Veränderung zulassen. WS Natürlich bleibt auch das ausgereifte Gehirn programmierbar - wäre dem nicht so, wir wären nicht lernfähig. Diese Modifikationen der Funktionsabläufe erfolgen dann über eine 31
Verstärkung oder Abschwächung synaptischer Verbindungen. In komplexen nichtlinearen Systemen wie dem Gehirn können auch kleine Veränderungen der Kopplungen zwischen den Elementen zu Phasenübergängen führen, die radikale Veränderungen der Systemeigenschaften nach sich ziehen. Beispiele sind der plötzliche Beginn einer Psychose oder die dramatischen Verhaltensänderungen, die nach kathartischen Erfahrungen oder nach einer Elektroschocktherapie auftreten können. Vermutlich bewirkt die Meditation aber keine Phasenübergänge dieser Art. denn sie scheint nur sehr langsame graduelle Veränderungen zu bewirken. MR Man könnte auch den Aktivitätsfluß der Neur~nen verändern, also gleichsam die Verkehrsdichte in einer Straße deutlich erhöhen.
Die Möglichkeit, neuronale Programme zu verändern WS Der fluß neuronaler Aktivität kann entweder durch Ver-
stärkung und Abschwächung der Verbindungen gelenkt werden, oder aber durch die selektive Strukturierung raumzeitlicher Erregungsmuster. Auch ohne Veränderungen der Verbindungsarchitektur, also der Hardware, kann Aktivität flexibel einmal von A nach B oder von A nach C geleitet werden. Dies läßt sich dadurch erreichen, daß der Aktivität von sendenden und empfangenden Neuronen eine bestimmte zeitliche Struktur aufgeprägt wird. Auf diese Weise wird verhindert, daß Signale auf diffuse Weise zu allen mit dem jeweiligen Sender in Verbindung stehenden Strukturen gesandt werden. Es lassen sich gewissermaßen virtuelle Straßen bahnen. Es fin32
det dasselbe Prinzip Anwendung, das wir nutzen, wenn wir im Radio einen bestimmten Sender auswählen. Der Empfänger wird auf dieselbe Oszillationsfrequenz eingestellt wie der Sender. Im Gehirn sind Milliarden von Sendern gleichzeitig aktiv, und ihre Botschaften müssen hochselektiv zu ganz bestimmten Zielstrukturen gelangen, und dabei müssen die jeweiligen Routen sehr schnell und bedarfsabhängig geändert werden. Nur so ist es möglich, vom einen Augenblick zum anderen neue funktionelle Netzwerke zu konfigurieren. Diese Wechsel zwischen verschiedenen Programmen erfolgen auf viel schnelleren Zeitskalen als die langsamen, lernbedingten Änderungen der Effizienz bestehender anatomischer Verbindungen. Es ist durchaus denkbar, daß bei der Meditation auch diese Mechanismen zum Tragen kommen, um bestimmte Straßen zu öffnen oder zu schließen. Die aufmerksamkeitsabhängige Auswahl der zu bearbeitenden Inhalte beruht vermutlich auf diesem dynamischen Selektionsmechanismus. MR Du könntest beispielsweise die Haß-Straße nach und nach verengen und die Straßen des Mitgefühls weit öffnen. Die Studie mit den erfahrenen Meditierern deutet an, daß sie die Fähigkeit besitzen, eindrucksvolle, saubere und wohldefinierte . Zustände zu erzeugen. Diese Fähigkeit muß an bestimmte Muster im Gehirn gekoppelt sein. Mentales Training ermöglicht es, solche Zustände willentlich zu erzeugen und ihre Intensität zu modulieren, sogar wenn Störungen, wie positive oder negative emotionale Reize, hinzutreten. Auf diese Weise erwirbt man die Fähigkeit, alle Erschütterungen abzupuffern und die Kontrolle über eine emotionale Situation zu behalten, was zu innerer Stärke und zum Frieden führt. ws Das heißt also, daß Meditierende ihre kognitiven Kontrollmechanismen einsetzen, um die verschiedenen emotiona33
len Zustände in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen, sie klar unterscheiden zu lernen und die Kontrollsysteme, die sich vermutlich im Frontalhirn befinden, so weit zu trainieren, daß es möglich wird, die Aktivität der Subsysteme, die für die verschiedenen Emotionen zuständig sind, selektiv zu verstärken oder abzuschwächen. MR Du kannst deine Kognition nicht für die Introspektion deines Gehirns benutzen! Subjektiv wissen wir nicht einmal, daß wir ein Gehirn haben. Im besten Fall können wir ein Feedback unserer Gehirnaktivität erhalten. WS Aber wir können uns doch gewisse Hirnzustände bewußtmachen, sie also doch zum Gegenstand unserer Kognition wählen? MR Was wir machen können, ist unser Wissen über die mentalen Prozesse an sich vertiefen. WS Sicher, sobald wir uns ihrer bewußt werden, können wir uns mit ihnen vertraut machen, sie mit Aufmerksamkeit belegen, sie unterscheiden lernen, Kategoriengrenzen ziehen, genauso, wie wir bei der Wahrnehmung von Objekten der äußeren Welt vorgehen. MR Du kannst auch erkennen, welche geistigen Prozesse zu Leid führen und welche zum Wohlbefinden beitragen, welche die. mentale Verwirrung erhöhen und welche das klare Gewahrsein befördern. WS Ein Analogon für diesen Verfeinerungsprozeß könnte die lernbedingte Differenzierung der Objektwahrnehmung sein. Wer nur wenig Erfahrung mit Hunderassen hat, wird nur erkennen können, daß es sich bei dem bellenden Vierbeiner um einen Hund handelt. Durch Erfahrung und Übung verfeinern sich dann die Unterscheidungskriterien, bis man schließlich in der Lage ist, verschiedene Hunderassen zu un34
terscheiden, auch wenn sie sich sehr ähnlich sind. Vielleicht gelingt durch mentales Training dasselbe für die Unterscheidung emotionaler Zustände. Im naiven Zustand, und ich würde vermuten, daß dies bei Kleinkindern der Fall ist, gelingt nur die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gefühlen. Durch Übung und Erfahrung schärft sich dann das Differenzierungsvermögen, bis mehr und mehr Nuancen erkennbar werden. Wenn Menschen aus Kulturkreisen, die mentales Training als wichtige Wissensquelle nutzen, solche Unterscheidungen tatsächlich besser vornehmen können als Untrainierte, sollten Kulturen mit kontemplativer Erfahrung ein reicheres Vokabular für mentale Zustände entwickelt haben als Kulturen, die sich mehr für Phänomene in der Außenwelt interessieren.
Emotionale Nuancen MR Ich gebe dir ein Beispiel. Eine gestrichene Wand sieht aus der Entfernung sehr homogen aus. Wenn du sie aber aus der Nähe betrachtest, erkennst du eine Menge Unebenheiten: Die Oberfläche ist nicht so glatt, wie es schien, sie hat Buckel und Löcher. Auch die Farbverteilung ist nicht gleichmäßig: Auf dem weißen Grund tauchen schwarze oder gelbe Flecken auf. Das gleiche stellen wir fest, wenn wir unsere Emotionen näher betrachten, wir entdecken viele Nuancen. Wut zum Beispiel. Sie wird oft von dem Wunsch begleitet, jemandem zu schaden. Manchmal handelt es sich aber auch um die berechtigte Entrüstung über eine Ungerechtigkeit, ein Massaker oder ein anderes nicht akzeptables Verhalten. Wut kann auch schlicht eine Reaktion sein, um schnell ein Hindernis aus dem 35
Weg zu räumen, das uns davon abhält, etwas zu bekommen, was uns wichtig ist, oder um etwas zu beseitigen, das uns bedroht. Doch Wut enthält auch die Aspekte Klarheit, Fokussierung und Tatkraft, die an und für sich nicht schädlich sind. Ähnlich gibt es auch in der Lust ein Element des Glücks, das von Liebe verschieden ist. Stolz, ein Element des Selbstvertrauens, kann stark ausgeprägt sein, ohne in Arroganz abzugleiten. Neid ist eine Triebfeder, die nicht mit der ungesunden Unzufriedenheit verwechselt werden darf, die sie mit sich bringt. So schwierig es auch sein mag, diese Aspekte auseinanderzuhalten, es ist möglich, die positiven Facetten eines normalerweise als negativ erachteten Gedankens zu erkennen und zu nutzen. Das, was einer Emotion den schädlichen Charakter verleiht, ist das fiktive Selbst, das sich mit ihr identifiziert und an ihr festhält. Das löst eine Kettenteaktion aus, in deren Verlauf der ursprüngliche Funke von Klarheit und der Fokus zu Wut und Feindseligkeit werden. Mit entsprechender Erfahrung können wir jedoch eingreifen, bevor die Reaktion in Gang kommt. Es fällt in der Tat schwer zu erkennen, daß Emotionen nicht negativ an sich sind, sondern daß sie es erst in dem Augenblick werden, wenn wir uns mit ihnen identifizieren und uns an ihnen festhalten wollen.
Mühelose Fertigkeiten MR Wenn man seine geistigen Fähigkeiten regelmäßig pflegt, muß man sich nach einiger Zeit gar nicht mehr groß anstrengen. Du kannst mit geistigen Störenfrieden umgehen wie die
Adler, die ich von meiner Klause im Himalaja aus beobachte. Die Krähen attackieren sie oft, obwohl sie viel kleiner sind. Sie stürzen sich von oben auf die Adler und versuchen, sie mit dem Schnabel zu treffen. Die Adler jedoch werden keineswegs nervös oder starten irgendwelche akrobatischen Ausweichmanöver, sie legen lediglich im lerzten Moment ihren Flügel an, lassen die Krähe vorbeischießen und breiten den Flügel wieder aus. Die ganze Aktion erfordert nur minimalen Aufwand und verursacht fast keine Störung. Wenn man genügend Erfahrung hat, funktioniert der Umgang mit plörzlich hochkochenden Emotionen ganz ähnlich. Mit klarer Achtsamkeit siehst du sie kommen, dann läßt du sie passieren, ohne sie anzurühren, ohne sie zu blockieren oder zu verstärken, ohne weitere emotionale Wellen zu verursachen. WS Dies erinnert mich an Strategien, die wir wählen, wenn wir in große Schwierigkeiten geraten, die schnelle Lösungen erfordern, wie zum Beispiel eine komplizierte Situation im Straßenverkehr. Wir greifen sofort auf ein großes Repertoire von Verhaltensreaktionen zurück, die wir erlernt und eingeübt haben, und wir wählen eine aus, ohne daß wir viel darüber nachdenken. Ohne vorherige Übung wäre dies nicht möglich. Würdest du sagen, daß jemand, der keine Erfahrung mit mentalem Training hat, sich so verhält wie jemand, der nicht durch die Fahrschule für die Bewältigung emotionaler Konflikte gegangen ist? Wäre dies eine Analogie? MR Ja. Komplexe Situationen werden durch Training und mühelose Bewußtheit sehr viel einfacher. Wenn du reiten lernst, zum Beispiel, hast du am Anfang ständig Angst herunterzufallen, und jede Bewegung des Pferdes, vor allem wenn es in den Galopp fällt, versetzt dich in Alarmstimmung. Doch erfahrene Reiter, ich denke etwa an die Reiter Osttibets, reiten 37
nicht nur, ohne sich Sorgen zu machen oder überhaupt groß nachzudenken, sie können dabei auch noch allerlei akrobatische Übungen absolvieren, zum Beispiel Pfeile auf ein Ziel schießen oder etwas vom Boden aufheben, während sie im vollen Galopp dahinrasen. Die Studie zur Vigilanz, die mit Meditierenden durchgeführt wurde, offenbart, daß sie die Fähigkeit besitzen, die Aufmerksamkeit ohne Ermüdungserscheinungen auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten - und zwar bis zu 45 Minuten. Sie verspannen nicht, und sie werden keinen Augenblick abgelenkt. Als ich es selbst versuchte, habe ich festgestellt, daß ich in den ersten paar Minuten etwas Mühe aufwenden mußte~ Doch sobald du den Zustand des »Aufmerksamkeitsstroms« erreicht hast, schaffst du es ganz problemlos. WS Dies ähnelt einer allgemeinen Strategie, die das Gehirn verfolgt, wenn es neue Fertigkeiten erwirbt. Zunächst erfordert die Ausübung der zu erlernenden Fertigkeit eine bewußte Kontrolle der Aktionen. Die Aufgabe wird in eine Reihe von Untersegmenten aufgeteilt, die dann der Reihe nach ausgeführt werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, ist zeitraubend und anstrengend. Später, wenn die Fertigkeit eingeübt worden ist, kann sie nahezu automatisch ausgeführt werden. Sehr oft beteiligen sich an der Ausführung eingeübter Fertigkeiten andere Hirnstrukturen als jene, die für die Einübung der Fertigkeit zuständig waren. Einmal eingeübt, können erlernte Fertigkeiten schnell, mühelos und ohne kognitive Kontrolle ausgeführt werden. Viele von ihnen laufen dann unbewußt ab. In schwierigen Situationen sind es oft gerade diese automatisierten Fertigkeiten, die uns retten, weil wir sie sehr schnell aufrufen und einsetzen können. Diese meist unbewußten Abläufe können überdies weit mehr Va-
riablen gleichzeitig verarbeiten als die bewußten, weil sie mehr als letztere die Option der Parallelverarbeitung nutzen. Die Frage ist, ob dieselben Lernsuategien für das Einüben emotionaler Haltungen eingesetzt werden können, ob Meditierende zunächst aufmerksamkeitsabhängige Mechanismen einsetzen, um zwischen verschiedenen Emotionen besser zu unterscheiden, um sich mit ihnen vertraut zu machen, die Kontrolle dann aber mit der Zeit automatisierten Reaktionsweisen übertragen, die ihnen später im Falle von Konflikten zu Hilfe kommen. MR Es klingt, als würdest du den Meditationsprozeß beschreiben. In den Lehrreden heißt es: Wenn jemand damit beginnt, über Mitgefühl zu meditieren - also den innigen Wunsch, daß fühlende Wesen von Leid und den Ursachen des Leids frei sein mögen -, dann ist das zunächst eine theoretische, künstliche Form des Mitgefühls. Erst wenn man das Mitgefühl wieder und wieder in sich erzeugt hat, wird es zur zweiten Natur. Um dahin zu gelangen, muß man seine Achtsamkeit verbessern und die Aufmerksamkeit jedesmal zurückführen, wenn sie abschweift. Unser Geist ist wie ein Schmetterling. Eine Weile bleibt er auf der Blüte, seinem Zielobjekt, sitzen, dann fliegt er ohne ,ersichtlichen Grund weg, um doch wieder zu dieser Blüte zurückzukehren. Sobald das Mitgefühl Bestandteil deines Bewußtseinsstroms geworden "ist, mußt du es nicht mehr jedesmal wieder neu erzeugen und aufrechterhalten. Wir nennen das »Meditieren ohne Meditation«: Du bist nie aktiv mit Meditieren »beschäftigt«, aber du hörst auch nie mit der Meditation auf. Du hältst dich einfach ohne Ablenkung in diesem heilsamen Geisteszustand auf.
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Aufmerksamkei tsstudien WS Es wäre wirklich sehr interessant, mit neurobiologischen
Verfahren zu untersuchen, ob es auch bei meditativen Übungen zu einem Funktionswandel zwischen verschiedenen Hirnstrukturen kommt, so wie dieser beim Lernen zu beobachten ist. Wie bereits erwähnt, läßt sich mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie nachweisen, daß gut eingeübte Fertigkeiten, sobald sie automatisiert und unbewußt erbracht werden können, von anderen Hirnstrukturen verwaltet werden als jenen, die zu Beginn des Trainings involviert waren. MR Eine Studie von Julie Brefczynski and Antoine Lutz legt nahe, daß einigermaßen erfahrene Meditierende Gehirnbereiche, die mit Aufmerksamkeit zu tun haben, sehr viel stärker aktivieren können als Neulinge. Bei sehr erfahrenen Meditierern ist die Aktivierung jedoch geringer, obwohl ihre Aufmerksamkeit konstant hoch bleibt. ws Dies paßt zu dem Befund, daß die zuständigen Hirnstrukturen weniger aktiv werden, sobald eine gewisse Fertigkeit erworben wurde. Es wird dann offenbar ein ökonomischerer neuronaler Code eingesetzt. Ich entnehme deiner Beschreibung, daß die Meditation ein hohes Maß an kognitiver Kontrolle erfordert. Nun ist es aber so, daß diese Funktion erst spät in der Entwicklung von Menschenkindern ausreift. Kognitive Kontrolle wird vorwiegend vom präfrontalen Kortex verwaltet, und diese Struktur reift erst in der späten Adoleszenz zur vollen Funktionstüchtigkeit aus. Bedeutet dies dann, daß Meditation nur von Erwachsenen praktiziert werden kann? Und wenn nicht, wäre es nicht vorzuziehen, mit meditativen Praktiken so früh wie möglich zu beginnen, um die hohe Plastizität des jungen Gehirns aus4°
zunutzen und die Meditation damit zu einem integralen Bestandteil frühkindlicher Erziehung zu machen? Wissen wir doch, daß das Erwerben anderer Fähigkeiten wie zum Beispiel die Beherrschung eines Musikinstrumentes oder das Erlernen einer zweiten Sprache in frühen Lebensphasen viel leichter fällt. Mich würde interessieren, ob eine Technik, die so viel kognitive Kontrolle erfordert wie die Meditation, überhaupt von Kindern erlernt werden kann. Oder laß mich die Frage noch einmal mit anderen Worten formulieren. Eine mentale Übung, die zum Ziel hat, das Auflösungsvermögen des inneren Auges zu erhöhen, um die Unterscheidung zwischen verschiedenen Emotionen zu verbessern, benötigt ein hohes Maß an kognitiver Kontrolle, weil sich das Gehirn in diesem Fall auf seine eigenen, internen Zustände konzentrieren muß. Dies erfordert anderes, als die Aufmerksamkeit auf Sinnessignale zu richten. Hier helfen uns äußere Ereignisse, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, eine Auswahl zu treffen. In der Regel stehen gleichzeitig verfügbare visuelle, taktile und auditorische Signale miteinander im Wettbewerb um unsere Aufmerksamkeit. Es geht dann in der Regel darum, eine dieser Modalitäten auszuwählen und die entsprechenden Signale selektiv weiterzuverarbeiten. Oft geschieht diese Auswahl ohne unser aktives Zutun, weil der stärkste Reiz zunächst die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wir können unsere Aufmerksamkeit jedoch auch willentlich auf schwächere Signale richten, wenn diese uns wichtig scheinen. Hinsichtlich der zugrundeliegenden neuronalen Prozesse bedeutet dies, daß die Signalübertragung in dem ausgewählten Sinneskanal erleichtert wird, gleichgültig, auf welche Weise, passiv oder aktiv, er mit Aufmerksamkeit belegt wurde. Wenn es aber darum 41
geht, die Aufmerksamkeit auf hirninterne Prozesse zu lenken, dann müssen zunächst ganz bestimmte innere Prozesse in der Vorstellung wachgerufen werden, und erst dann läßt sich zwischen ihnen eine Auswahl treffen und die Aufmerksamkeit auf bestimmte Inhalte fokussieren. In diesem Fall wird Aufmerksamkeit nicht genutzt, um Verarbeitungsprozesse in bestimmten sensorischen Subsystemen wie dem auditorischen oder dem visuellen zu begünstigen, sondern es müssen jene höheren Hirnstrukturen angesprochen werden, die für die Erzeugung von Vorstellungen, Emotionen und für die Bewertung derselben zuständig sind. In der Folge, und das ist dann der Lernschritt, muß der Meditierende sich mit diesen ZuStänden vertraut machen, lernen, ihre besonderen Merkmale zu unterscheiden, und schließlich die Kontrolle über sie erlangen. Mir scheint, daß diese Strategie metakognitive Fähigkeiten erfordert, die bei Kindern noch nicht enrwickelt sind. Ich kann nachvollziehen, daß Kinder von Eltern durch Assimilation lernen können, feine Unterschiede zwischen emotionalen Zuständen zu erkennen und durch erzieherische Maßnahmen, Belohnung und Bestrafung, aber auch durch eigenes Ausprobieren von schädlichen und nützlichen Folgen schließlich dahin gelangen, ihre Emotionen zu kontrollieren und in Schach zu halten. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, daß die Eltern ihre Emotionen durch Gestik, Mimik und Prosodie auf differenzierte Weise ausdrücken können. Hierfür wiederum könnte es hilfreich sein, wenn die Eltern Meditationserfahrung haben, vorausgesetzt, diese Erfahrung verbessert nicht nur die Kenntnis, sondern auch die Mitteilbarkeit von Emotionen. Übrigens ließe sich dies experimentell überprüfen. Umgekehrt könnte man sich vorstellen, daß hoch trainierte meditationserfahrene Menschen die emotionale Gestimmt42
heit ihres Gegenübers besser erfassen können, auch das eine testbare Hypothese. Aber vielleicht sollten wir erst die Frage klären, ab welchem Alter Kinder überhaupt mit der Meditation beginnen können.
Üben mit Kindern MR Ja, das ist richtig. In der frühen Jugend ist das Beispiel von Eltern, Lehrern und Erziehern der wichtigste Faktor. Was sie sagen und tun und vor allem, was sie sind, ist wesentlich. Die Bedeutung der Übertragung von Emotionen, ich würde sogar sagen der Übertragung von Lebenseinstellungen, kann gar nicht unterschätzt werden. Die inneren Qualitäten einer Person beeinflussen das Leben der Menschen, die ihr nahestehen, ganz enorm. Das gilt sowohl für den positiven Einfluß von Weisheit und Mitgefühl als leider auch für Gewalt und den Mangel an Liebe und Güte. In einer traditionellen buddhistischen Gesellschaft werden menschliche Werte und emotionales Gleichgewicht weniger durch Worte als vielmehr durch beispielhaftes Vorleben weitergegeben. Gandhis Forderung "Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen woll~n« gilt für Eltern und Erzieher noch mehr als für alle anderen. Aber in der buddhistischen Tradition wird der Dialog generell höher geschätzt als die Gewalt, die nicht als Stärke, sondern als Schwäche gilt, und die Suche nach dem inneren Glück höher als das Streben nach Reichtum und Bequemlichkeit. Schon früh in der Erziehung werden die Tugenden Einfachheit und Bescheidenheit in materiellen Dingen betont, während man gleichzeitig große Sorgfalt bei der Kultivierung der inneren Qualitäten walten läßt. Grund43
legende buddhistische Unterweisungen erhalten die jungen Leute erst später, dann lernen sie eventuell auch, wie man den Geist schult. Mit am wichtigsten ist, daß die Kinder lernen, ihre Gefühle und die anderer zu erkennen, und daß man ihnen einfache Wege zeigt, mit Gefühlsausbrüchen umzugehen. WS Genau das ist eines der Ziele unserer Erziehungsbemühungen, die Fähigkeit zu stärken, unsere Emotionen im Zaum zu halten.
Mit seinen Gedanken umgehen MR Ja, aber erst mußt du sie erkennen. Es ist sehr wichtig, die Gedankenkette genau in dem Moment wahrzunehmen, in dem sie beginnt. Zuerst muß man sich darüber klarwerden, welche Geisteszustände zu innerem Leid führen und welche zu Wohlbefinden. Außerdem muß man, wie vorhin erwähnt, feine Nuancen unterscheiden, etwa Nächstenliebe von sexuell motivierter Liebe oder zerstörerische Wut von berechtigter Empörung. WS Und du gehst davon aus, daß Menschen mit großer Meditationserfahrung besser als andere zwischen den verschiedenen Schattierungen von Liebe unterscheiden können, Leidenschaft, Verlangen, Besirzenwollen, Abhängigkeit und Altruismus. MR Das gehört zum Training. WS Wenn dies wirklich möglich ist, wäre es von großer Bedeutung. Auch die Psychoanalyse nimmt fur sich in Anspruch, einem erkennbar zu machen, daß das, was man mitunter für reine Liebe hält, Zuneigung und Leidenschaft, Folge eines 44
grandiosen Mißverständnisses sem kann, emer projektiven Sehnsucht, endlich Zugang zur Mutter zu finden, die das kleine Kind vernachlässigt hat, eine Sehnsucht, die natürlich mit völlig anderen emotionalen Konnotationen einhergeht als die reife Liebe. Es wäre in hohem Maße wünschenswert, zwischen reifen und regressiven Neigungen unterscheiden zu können. Glaubst du, daß mentales Training ähnliche Effekte haben könnte wie die Psychotherapie oder das ebenfalls schmerzvolle Lernen durch Erfahrung, das Erleben der dramatischen Folgen falscher Projektionen? MR Dramatische Ereignisse können einem sicherlich drastisch vor Augen führen, was geschieht, wenn man zuläßt, daß der Geist von seinen eigenen Konstrukten und Projektionen überwältigt wird. Und was die Psychoanalyse angeht: Aus der Perspektive einer kontemplativen Tradition wie dem Buddhismus betrachtet, die Methoden entwickelt hat, um vorbehaltlosen Altruismus und Mitgefühl ohne geistige Verwirrung und negative Emotionen zu kultivieren, ist es ziemlich traurig und falsch, den jedem Menschen innewohnenden echten Altruismus mit schrecklichen, verzerrten Geisteszuständen in Zusammenhang zu bringen, wie es die Psychoanalyse tut. Kurz gesagt, das Schulen des Geistes führt zu einer extrem verfei~erten Wahrnehmung, ob ein Gedanke oder ein Gefühl negativ ist oder nicht, ob er beziehungsweise es der Wirklichkeit entspricht oder auf einer völlig verdrehten Wahrnehmung der Realität beruht. Mit etwas Übung spürt man sofort, ob die geistige Gelassenheit, das emotionale Gleichgewicht und die innere Freiheit von einem bestimmten Gedankengang erschüttert wird, ob man in negative Geisteszustände hineingezogen wird, die über kurz oder lang schädlich sind. Gleichzeitig spürst du sofort den Nutzen von Zuständen, die das 45
Wohlbefinden fördern und eher der Wirklichkeit entsprechen. WS Worin genau unterscheiden sich die beiden Zustände? Du betrachtest die affektiven Zustände als versklavend, als einengend, als die Kognition verzerrend - kurzum als grundsätzlich negative Zustände, die den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Aber ist es nicht so, daß diese Affekte erst die Kraft freisetzen, die erforderlich ist, um aversive Bedingungen durch eigenes Handeln zu verändern? Ich verstehe, daß deine Strategie wirksam ist, solange die Quelle des Konflikts ausschließlich in der eigenen »Pathologie« liegt, aber die meisten Konflikte entstehen durch die Interaktion mit der Welt, und diese Interaktion ist grundsätzlich nicht frei von Konflikten. Gehst du nicht vielleicht davon aus, daß es eine ideale und gute Welt gibt und daß es ausreichen würde, diese lediglich mit klarem Bewußtsein wahrzunehmen, und daß dann alle Schwierigkeiten beseitigt wären? MR Man kann das auf verschiedene Weisen sehen. Die erste Option ist, die Fehler und Unvollkommenheit der Welt zu erkennen, deren Bewohner meist von mentalen Verwirrungen, vernebelnden Emotionen und Leid besessen sind. Die andere besteht darin, zu erkennen, daß jedes fühlende Wesen das Potential hat, solche Affekte loszuwerden und Weisheit, Mitgefühl und andere Qualitäten zu kultivieren. Negative Geisteszustände beginnen mit Selbstbezogenheit, wobei die Kluft zwischen mir und den anderen immer größer wird. Menschen halten sich dann für äußerst wichtig und klopfen sich ständig selbst auf die Schulter, andere interessieren sie dagegen herzlich wenig, möglicherweise haben sie Angst vor anderen oder hegen Ressentiments, oder sie klammern sich an andere oder an Äußerlichkeiten in dem hoffnungslosen Ver-
such, ihr selbstsüchtiges Glück zu finden, was natürlich nicht funktioniert. Solche Zustände gehen mit einem hohen Maß an Realitätsverzerrung einher. Die äußere Welt wird zementiert, und man sieht in allem und jedem irgendwelche Eigenschaften, gute und böse, wünschenswerte und verwerfliche. Doch dabei handelt es sich fast immer um Einbildung. Nimm auf der anderen Seite einen Akt überströmender Liebe, reiner, uneigennütziger Hochherzigkeit, zum Beispiel wenn du ein Kind glücklich machst, wenn du einem Menschen in Not hilfst, womöglich ein Leben rettest, ohne Bedingungen zu stellen, vielleicht sogar wenn niemand erfährt, was du getan hast - solches Tun wärmt das Herz und erzeugt ein Gefühl tiefer Befriedigung und Erfüllung. Es bedarf keiner hochtrabenden philosophischen Erörterung, um das an sich selbst festzustellen. Solche Geisteszustände sind die natürlichen Begleiter unseres Strebens nach Glück. WS Was mich dabei fasziniert, ist der Umstand, daß du eine so starke Betonung auf die Entwicklung eines autonomen Ichs legst. Nicht eines Ichs im Sinne eines selbstsüchtigen possessiven Egos, aber es scheint doch, als ginge es darum, ein starkes Ich zu entwickeln, das in sich ruht, nicht affizierbar ist, sich selbst genügt. MR Ich würde es nicht die Stärke des Egos nennen, das Ego macht immer Ärger, sondern ein Gefühl tiefen Vertrauens, das daher rührt, daß man die inneren Mechanismen von Glück und Leid besser kennt, daß man weiß, wie man mit Emotionen umgeht, und daher immer die inneren Ressourcen erlangt hat, um mit allem fertig zu werden. WS Dies erfordert die kognitive Kontrolle und Souveränität einer reifen Persönlichkeit, sich seiner selbst bewußt zu sein, Selbstbewußtsein. 47
MR Sicher bedarf es eines reifen Gehirns, um dauerhaft Stabilität in der emotionalen Kontrolle zu erreichen. Aber es scheint möglich zu sein, mit diesem Prozeß bereits in jungen Jahren zu beginnen. Kinder finden durchaus Wege zu Ausgeglichenheit und innerem Frieden, nachdem sie schwere seelische Belastungen erlebt haben. Die Existenz von Bewältigungsprozessen belegt diese Möglichkeit. Einer meiner Lehrer, Yongey Mingyur Rinpoche, hat ein Buch mit dem Titel The Joy o[Living (Die Freude am Leben) geschrieben. Als Kind war er extrem ängstlich und litt oft unter Panikattacken. Damals lebte er nahe der tibetischen Grenze in den Bergen Nepals. Er stammt aus einer liebevollen Familie und hatte kein traumatisches Erlebnis gehabt, dennoch wurde er immer wieder von diesen Ausbrüchen innerer Furcht überwältigt. Sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren hervorragende Meditierer. Als Yongey Mingyur Rinpoche etwa sechs Jahre alt war, ging er regelmäßig in eine nahe gelegene Höhle, setzte sich dort hin und meditierte ein bis zwei Stunden ganz allein und auf seine eigene Art und Weise. Er verspürte endlich Frieden und Linderung, so als ob jemand das Feuer gelöscht hätte, und er liebte diese kontemplativen Momente. Aber seine Ängstlichkeit verschwand nicht ganz; sie kam immer wieder zurück. Schon im Alter von 13 Jahren verspürte er den starken Wunsch, an einer kontemplativen Klausur teilzunehmen, und schloß sich einer der im tibetischen Buddhismus häufig praktizierten dreijährigen Klausuren an. Zunächst ging es ihm sogar schlechter, doch eines Tages beschloß er, all die Unterweisungen, die er von seinem Vater erhalten hatte, darauf zu verwenden, um in die tiefsten Tiefen des Geistes und seines Problems vorzudringen. Er meditierte drei Tage lang ununterbrochen, ohne sein Zimmer zu verlassen. Danach war er seine Ängste rur immer los.
Wenn du diesen unglaublich netten und offenen Menschen heute siehst, strahlt er Wohlbefinden und innere Ruhe, gepaart mit Humor und Herzenswärme, aus, und er unterrichtet die Natur des Geistes mit absoluter Klarheit. Man mag es kaum glauben, daß er je so etwas wie Angst verspürt hat, wie er es in seinem Buch schildert. Er ist ein lebendes Beispiel für das, was die Schulung des Geistes zu bewirken vermag. Außerdem zeigt es, daß man damit schon in jungen Jahren beginnen kann - selbst wenn solche Fälle durchaus ungewöhnlich sind.
Die Arbeit mit Kindern MR Natürlich verläuft unsere emotionale Entwicklung in Stadien, aber ich glaube, daß es durchaus möglich ist, schon früh mit einem gewissen Training zu beginnen. In unserem Kloster beispielsweise unterweisen wir Kinder und junge Novizen (zwischen 8 und 14 Jahren) nicht in Meditation. Aber sie nehmen an langen Zeremonien im Tempel teil, die einer Gruppenmeditation ähneln und während derer eine sehr beruhigende Atmosphäre von innerer Stille und emotionaler Ruhe herrscht. Auf diese Weise bekommen die Kinder einen Vorgeschmack darauf, ganz ohne theoretische Konzepte. Ich bin sicher, daß es hilfreich ist, eine Umgebung zu schaffen, die den Geist besänftigt und beruhigt, statt die Emotionen immer wieder hochzupuschen, wie es im Westen mit Lärm, Gewalt im Fernsehen, Videospielen und ähnlichem oft der Fall ist. Das könnte den jungen Leuten enorm helfen, den Boden für weitere emotionale Kontrolle und Ausgeglichenheit zu bereiten, wenn sie älter werden. 49
Mentale Verzerrungen WS Genau das meinen wir, wenn wir sagen» Komm zu dir«, was soviel bedeutet wie: Löse die Fesseln, die dich an etwas binden, die an dir zerren, die bewirken, daß du tust, was andere wollen, die dich glauben machen, was andere glauben, die dich zu Wohlverhalten bringen, nur weil andere dies verlangen. Wenn du in dieses Netz der Abhängigkeiten gerätst, sagen wir »Du verlierst dich«. Wir haben also die gleichen Wahrnehmungen und Diagnosen, und es versteht sich von selbst, daß eine behütende Umgebung wohltuend oder sogar unerläßlich ist für die Entwicklung von Tugenden, solange die kognitiven Kontrollmechanismen nicht hinreichend entwickelt sind, um den jungen Menschen zu schützen. MR Nach einem Wutanfall sagen wir auch »Ich war außer mir« oder »Ich war nicht mehr ich selbst«. WS Wir sagen »Ich war außer mir« und versuchen dann, uns aufs neue zu sammeln, und dies erfordert Rückzug und Ruhe. Mit einiger Übung kann jeder Bewältigungsstrategien entwikkeln, die er einsetzen kann, wenn er die Bedrohung spürt, in solche dissoziierten Zustände zu geraten. MR Das wäre das Ergebnis langer Übung: Heftige Gefühlsregungen erscheinen zwar noch am Rand der Bildfläche, aber sie dringen nicht mehr in den Geist ein, sondern verklingen wie ein leises Flüstern. WS Das klingt wunderbar. Denn normalerweise braucht es seine Zeit, bis wir in einen ausgeglichenen Zustand zurückfinden, nicht zuletzt, weil die Streßhormone nur langsam zurückgehen. MR Nein, es muß nicht lang dauern. Wenn du die überkochende Milch vom Feuer nimmst, fällt sie sofort zusammen. Und 50
wenn du eine Emotion durch deinen Geist gleiten läßt, ohne ihr Nahrung zu geben, dann kann und wird sie nicht dableiben. ws Ich schließe daraus, daß die buddhistische Philosophie starke Emotionen als einen, wenn nicht den kontaminierenden Faktor unserer kognitiven Leistungen ausgemacht hat. Ist die Grundannahme, daß starke Emotionen einen daran hindern, ein realistisches Weltmodell aufzubauen, und ferner, daß, wer mit einem unrealistischen Modell lebt, Leid in die Welt bringt, für sich und andere, weil alle Handlungen dann in Konflikt mit der eigentlichen Wirklichkeit stehen? MR Genau, negative Gefühle sorgen stets für eine ungewöhnlich starke Verzerrung der Wirklichkeit. Sie überlagern die Wirklichkeit und lassen etwas zum Beispiel als unendlich begehrenswert oder absolut widerwärtig erscheinen. Die Wurzel dieser Fehlinterpretation der Wirklichkeit ist das Festhalten an dem mentalen Konstrukt eines Selbst, das sich wie eine autonome Einheit im Innersten unserer Erfahrung befindet. Nach buddhistischer Auffassung ist dies der erste fundamentale Fehler, der sämtliche negativen Emotionen nach sich zieht und letzten Endes zum Leid führt.
Aufmerksamkeit und kognitive Kontrolle WS Wir sprachen über die Möglichkeit, mentales Training als Werkzeug zu benutzen, als ein Instrument, um das Auflösungsvermögen des inneren Auges, seine Unbestechlichkeit zu erhöhen, um die Fähigkeit zu erlangen, mit Hilfe von Introspektion die kognitiven Funktionen des Gehirns auszuloten, eine bessere Unterscheidung verschiedener emotionaler 51
Zustände zu ermöglichen, und das in ebenderselben Weise, wie sich die Wahrnehmung der äußeren Welt verfeinern läßt. Eskimos unterscheiden eine viel größere Zahl unterschiedlicher Schneearten als wir. Wenn zutrifft, daß mentales Training denselben Effekt hat, sich aber als Objekt der Wahrnehmung die kognitiven Fähigkeiten des Gehirns selbst vornimmt und sich derselben Aufmerksamkeitsmechanismen bedient, die wir normalerweise für die Wahrnehmung der Vorgänge in der äußeren Welt einsetzen, dann sollten meditative Übungen mit Gehirnaktivitäten einhergehen, die für Zustände konzentrierter Aufmerksamkeit charakteristisch sind. Und dies scheint in der Tat zuzutreffen. Es gibt inzwischen belastbare neurobiologische Hinweise darauf, daß sich das Gehirn während der Meditation in einem Zustand großer Wachheit und konzentrierter Aufmerksamkeit befindet. Ich spiele auf die Pionierarbeit von Richard Davidson und Antoine Lutz an, die bei dir elektroenzephalographische Ableitungen vorgenommen haben, während du meditiert hast. Ich habe diese Daten zum ersten Mal auf einer Konferenz in Paris gesehen, die zum Gedenken an Francisco Varela, einen guten Freund von uns beiden, abgehalten wurde und die neurobiologischen Grundlagen des Bewußtseins zum Thema hatte. Ich war in hohem Maße überrascht, als ich sah, daß, während du dich in die Meditation versenkt hattest, die Amplitude oszillatorischer Hirnaktivität in einem Frequenzbereich zwischen 40 und 60 Hertz, dem sogenannten GammaFrequenzband, dramatisch zunahm. Wir hatten diese Oszillationen vor etwa 15 Jahren in der Sehrinde entdeckt und vermuteten, daß die zugrundeliegende Synchronisation der Hirnaktivität eine wichtige Rolle bei kognitiven Prozessen spielen könnte. Inzwischen sind zahlreiche Studien durchge-
führt worden, um die möglichen Funktionen dieser Oszillationen und der damit verbundenen Synchronizität zu identifizieren. Dabei hat sich herausgestellt, daß eine von vielen Funktionen dieser zeitlichen Strukturierung neuronaler Aktivität mit der Steuerung von Aufmerksamkeitsprozessen zusammenhängt. Diese Funktion scheint in unserem gegenwärtigen Kontext von besonderer Bedeutung, ich möchte deshalb etwas ausholen. Eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen hat inzwischen Hinweise darauf gefunden, daß das Fokussieren von Aufmerksamkeit mit einer Zunahme von Gamma-Oszillationen und neuronaler Synchronizität einhergeht. Wenn die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Teilsystem des Gehirns gelegt wird, um es für die Verarbeitung erwarteter Signale vorzubereiten, findet sich eine Zunahme synchroner Gamma-Oszillationen in diesem System. Richtet sich die Aufmerksamkeit auf ein visuelles Objekt, nimmt die Amplitude synchroner Gamma-Oszillationen in Hirnbereichen zu, die sich mit der Verarbeitung visueller Informationen befassen, insbesondere in der Hirnrinde. Steht dagegen zu erwarten, daß es in Kürze darum gehen wird, auditorische Signale wahrzunehmen und diese mit einer motorischen Reaktion zu beantworten, dann sorgen aufm~rksamkeitsabhängige Mechanismen dafür, daß die Verarbeitungszentren im Gehirn, die mit dieser Aufgabe befaßt sein werden, antizipatorisch synchron zu oszillieren beginnen. In diesem Fall treten die Oszillationen in der Hörrinde, in Assoziationsarealen und in den motorischen Rindenbereichen des Frontalhirns auf und werden untereinander synchronisiert. Wir vermuten, daß dieses Einschwingen in synchrone Oszillationen die Kommunikation zwischen diesen Arealen selektiv verbessert und für die notwendige Koordination zwi53
schen sensorischen und exekutiven Strukturen sorgt. Die neuronalen Antworten auf erwartete Reize werden verstärkt und besser synchronisiert als Antworten auf Reize, denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diese aufmerksamkeitsabhängige Bahnung neuronaler Antworten ist notwendige Voraussetzung für schnelle Informationsverarbeitung und die sichere Übertragung der Verarbeitungsergebnisse innerhalb der Netzwerke der Hirnrinde. Ferner gibt es Hinweise darauf, daß die Synchronisation oszillatorischer Aktivität im Gamma-Frequenzband eine notwendige Voraussetzung für die bewußte Verarbeitung von Information sein könnte. Da auch dieser Aspekt für die hirnphysiologische Interpretation meditativer Zustände von erheblicher Bedeutung sein könnte, möchte ich ihn etwas eingehender beleuchten.
Binokularer Wettstreit, WS Die enge Beziehung zwischen synchroner oszillatorischer Aktivität, Aufmerksamkeit und bewußter Wahrnehmung offenbart sich auch bei dem Phänomen des binokularen Wettstreits. Wenn den bei den Augen zwei Muster dargeboten werden, die nicht zu einem Bild fusioniert werden können, wird jeweils nur immer eines der beiden Muster wahrgenommen, entweder das Muster, das dem rechten Auge dargeboten wird, oder das Muster, welches das linke Auge sieht. Wenn zum Beispiel dem rechten Auge ein vertikales und dem linken ein horizontales Gitter gezeigt wird, nimmt man nicht die Überlagerung der beiden Gitter wahr, was dann wie ein Schachbrettmuster aussähe, sondern man sieht entweder das 54
vertikale oder das horizontale Gitter, und diese beiden Wahrnehmungen alternieren nach einem ganz bestimmten, vom Gehirn festgelegten Rhythmus. Die Frage ist nun, wie diese Auswahl und der Wechsel zwischen den Wahrnehmungsinhalten auf neuronaler Ebene realisiert ist. Hier interessiert vor allem die Beobachtung, daß dieser Wechsel in der Wahrnehmung auf frühen Stufen der visuellen Informationsverarbeitung, also zum Beispiel in der primären Sehrinde, mit einer Veränderung der Synchronisation neuronaler Antworten auf die jeweiligen Muster einhergeht. Das jeweils wahrgenommene Muster bewirkt oszillierende Antworten im Bereich von 40 Hertz, die wesentlich besser synchronisiert sind als die Antworten auf das jeweils nicht wahrgenommene Muster. Bedeutsam ist dabei, daß sich die physikalischen Eigenschaften der bei den Muster nicht verändern. Die Entscheidung darüber, welcher der beiden Reize zur bewußten Verarbeitung gelangt, fällt das Gehirn selbst. Beide Augen »sehen« immerfort jeweils dieselben Muster, aber das beobachtende Subjekt nimmt entweder nur das vertikale oder das horizontale Gitter wahr. Diese Experimente legen die Schlußfolgerung nahe, daß Sinnessignale die Ebene der bewußten Verarbeitung bevorzugt dann erreichen, wenn sie gut synchronisiert sind. MR Warum funktioniert dieses Umschalten, ohne daß wir uns dessen bewußt werden oder es kontrollieren können? WS Weil diese Selektion ein natürlicher Prozeß ist und den normalen Sehvorgang begleitet. Betrachtet man seinen Daumen in einer Entfernung von etwa 50 Zentimetern, dann werden Objekte, die mehrere Meter entfernt sind, oder Objekte, die sehr viel näher an den Augen liegen als der Daumen, Bilder auf der Retina erzeugen, die nicht fusioniert werden können, weil sie sich räumlich nicht mehr genügend überlappen. In 55
diesem Fall werden die Signale entweder vom rechten oder vom linken Auge unterdrückt, um Doppelbilder zu vermeiden. Wir führen diese Unterdrückung ständig durch, ohne uns dessen gewahr zu sein. Wir bemerken das Phänomen der interokularen Suppression beziehungsweise des binokularen Wettstreits erst unter experimentellen Bedingungen. Weil dieses Phänomen auf Entscheidungsmechanismen beruht, die festlegen, welche sensorischen Signale Zugang zum Bewußtsein erhalten, wird es häufig benutzt, um jene Merkmale der neuronalen Aktivität zu identifizieren, die bewirken, daß Signale die Ebene der bewußten Verarbeitung erreichen. Bevor ich darauf zurückkomme, wie diese Befunde mit dem zusammenhängen, was man bei der Meditation beobachtet, möchte ich gerne noch ein anderes Experiment schildern, dessen Ergebnisse ebenfalls auf den engen Zusammenhang zwischen Bewußtsein und synchronen Aktivitätszuständen verweisen. In diesem Experiment haben wir Versuchspersonen visuelle Reize gezeigt, im speziellen Fall die Namen von Tieren, die durch vorangehende und darauffolgende Muster maskiert worden waren. Die Masken sahen so aus wie das, was man auf einem Fernsehschirm sieht, wenn das Programm zu Ende ist, also weißes Rauschen. Und wenn man solche Rauschmuster zeigt ... MR Und was ist der Zweck dieser Maskierung?
Unbewußte und bewußte Reizverarbeitung WS Der Zweck der Masken besteht darin, den Reiz unsichtbar zu machen. Wenn man auf dem Bildschirm eine Maske präsentiert, unmittelbar darauf ein Wort, in unserem Fall einen
Tiernamen, und dann eine weitere Maske, dann läßt sich durch geschickte Wahl der Zeitintervalle erreichen, daß die Betrachter das Wort nur in etwa der Hälfte der Darbietungen wahrnehmen. In den übrigen Durchgängen sehen die Versuchspersonen nichts als die Masken. Interessant ist nun, daß auch in den Fällen, in denen die Versuchspersonen behaupten, nichts gesehen zu haben, das Gehirn die Informationen über das maskierte Wort trotzdem aufgenommen und sogar seine Bedeutung verstanden hat. Wir haben den Versuchspersonen am Ende dieser ersten Darbietung, nach einem gewissen Intervall, wieder Namen oder Bilder von Tieren präsentiert und sie gebeten, durch Tastendruck zu signalisieren, ob es sich bei den dann gesehenen Namen oder Bildern um dieselben handelt wie jene, die zwischen den Masken gezeigt worden waren. In Fällen, wo die Versuchspersonen keine Namen zwischen den Masken wahrgenommen hatten, lautete der Auftrag, einfach zu raten und so schnell wie möglich die entsprechende Taste »gleich« oder »verschieden« zu drücken. Dabei hat sich gezeigt, daß die Reaktionszeiten für den Tastendruck kürzer waren, wenn die Testmuster am Ende des Versuchs mit den zwischen den Masken gezeigten Worten übereinstimmten, und dies auch dann, wenn die Versuchspersonen angaben, das erste Wort gar nicht gesehen zu haben. Dieses Phänomen wird als subliininale Wahrnehmung bezeichnet und legt den Schluß nahe, daß das Gehirn durchaus in der Lage ist, Reize zu verarbeiten, ihre Bedeutung zu erkennen und entsprechende Reaktionen auszulösen, ohne daß sich die handelnde Person dabei bewußt wird, die Reize gesehen zu haben. Wir haben also zwei Bedingungen: In der einen wird das dargebotene Wort zwar verarbeitet, aber nicht bewußt wahrgenommen, und in der anderen wird dasselbe 57
Wort verarbeitet und zusätzlich bewußt gesehen. Es läßt sich somit untersuchen, worin die Unterschiede zwischen den neuronalen Antworten auf identische Reize bestehen, die einmal bewußt und einmal unbewußt verarbeitet werden. Wir verfügen über verschiedene Möglichkeiten, die neuronalen Aktivierungsmuster beim Menschen zu messen, die einen, wie die funktionelle Kernspintomographie, erfassen die regionale Verteilung der Aktivitäten mit relativ guter räumlicher, aber sehr schlechter zeitlicher Auflösung, die anderen, wie die Magnetoenzephalographie oder die Elektroenzephalographie, erfassen die elektrische Aktivität der neuronalen Netzwerke mit einer sehr hohen zeitlichen, aber sehr geringen räumlichen Auflösung. Da wir vorwiegend an Synchronisationsphänomenen interessiert waren, haben wir die letzteren Verfahren gewählt. Dabei hat sich gezeigt, daß, wie erwartet, nach der Darbietung der Reizmuster oszillatorische Aktivität im Gamma-Frequenzband auftritt, und zwar über den Hirnrindenarealen, die visuelle Signale verarbeiten. Diese oszillatorische Aktivität trat unabhängig davon auf, ob die gezeigten Wörter bewußt oder unbewußt verarbeitet wurden. Wir haben die abgeleiteten oszillatorischen Signale deshalb noch einer weiteren Analyse unterzogen, mit der sich bestimmen läßt, wie gut diese zwischen unterschiedlichen Hirnrindenarealen synchronisiert sind. Wir haben die Phasenbeziehungen zwischen diesen Oszillationen bestimmt. Dieses Maß ist von der Amplitude der Oszillationen unabhängig und gibt die Präzision der Synchronisation an. Was damit erfaßbar ist, wird deutlich, wenn man sich klarmacht, wie sich zwei schwingende Pendel zueinander verhalten können. Wenn sie völlig unabhängig sind, werden ihre Schwingungen keine konsistenten Phasenbeziehungen aufweisen. Wenn sie aber miteinander verkop-
pelt sind, zum Beispiel mit einem Gummiband oder einer Spiralfeder, dann werden sie früher oder später ihre Schwingungen synchronisieren, und diese Schwingungen werden eine konstante Phasenbeziehung aufWeisen. Bestimmt man nun solche Phasenbeziehungen zwischen oszillierender Hirnaktivität, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen unseren beiden experimentellen Bedingungen, der bewußten und der unbewußten Reizverarbeitung. Wenn die gezeigten Wörter nicht bewußt wahrgenommen werden, ist die Synchronisation zwischen den oszillatorischen Aktivitäten der am Verarbeitungsprozeß beteiligten Hirnrindenareale nur gering ausgeprägt. Wenn die Versuchspersonen die gezeigten Wörter jedoch bewußt wahrnehmen, sind die Schwingungen in den beteiligten Hirnrindenregionen hochsynchron. Schon 200 Millisekunden nach der Darbietung des Wortes synchronisieren sich die oszillatorischen Antworten in weitverteilten Hirnrindenregionen mit erstaunlich großer Präzision. Es scheint also so, als wäre diese Zunahme der Synchronisationen das neuronale Korrelat des Prozesses, der den Zugang zur bewußten Wahrnehmung ermöglicht. Nach dieser Phase erhöhter Synchronisation folgt eine Sequenz zusätzlicher elektrographischer Ereignisse. Ungefähr 300 Millisekunden später tritt eine charakteristische Welle auf, die wahrscheinlich von Prozessen herrührt, welche mit der Übertragung von Informationen in das Kurzzeitgedächtnis befaßt sind. Ferner kommt es zu einer Zunahme hochsynchroner niederfrequenter Oszillationen im Bereich von 7 Hertz, die ebenfalls über einer Vielzahl von Hirnrindenarealen auftreten. Diese kohärente Aktivität bleibt während des gesamten Intervalls erhalten, über welches die Versuchspersonen das gespeicherte Wort im Bewußtsein halten müssen, um die geforderte Antwort vorzubereiten. Das 59
erste und damit für die Bewußtwerdung entscheidende neuronale Ereignis scheint also die plötzliche und starke Zunahme präziser Phasensynchronizität von Gamma-Oszillationen zu sein, eine starke Zunahme der Kohärenz oszillatorischer Gehirnaktivität. Dies legt die Vermutung nahe, daß es besonders hoch geordneter globaler Zustände bedarf, damit neuronale Aktivitäten Zugang zur bewußten Verarbeitung erlangen. MR Das ist doch dasselbe wie mit den »Mooney faces« in Francisco Varelas Experiment? WS Ja, es weist in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit Franciscos Experimenten auf. Francisco fand in seinen Untersuchungen eine Zunahme synchroner Gamma-Oszilhitionen über bestimmten Hirnrindenarealen, wenn die Versuchspersonen in der Lage waren, ein menschliches Gesicht in Piktogrammen zu entdecken, die aus Schwarz-Weiß-Kontrasten bestanden. Waren die Versuchspersonen nicht in der Lage, ein Gesicht zu erkennen, sondern sahen nur uninterpretierbare Konturen, hatten die Gamma-Oszillationen wesentlich kleinere Amplituden und waren weniger gut synchronisiert. Dies war jetzt ein etwas langer, aber notwendiger Ausflug in die Neurobiologie, doch wie du gleich sehen wirst, weisen diese Befunde enge Bezüge auf zu den neuronalen Korrelaten der Meditation, die Richard Davidson beobachtete, als er dein Gehirn untersuchte, während du meditiert hast. MR Nicht nur meines, sondern auch das von ein paar anderen Meditierenden ... WS Glücklicherweise auch das von anderen, weil es in der Wissenschaft auf Wiederholbarkeit ankommt - was er also sah, war eine überraschende Zunahme hochkohärenter oszillatorischer Aktivität im Gamma-Frequenzbereich zwischen 40 und 60 Hertz. 60
Aufmerksamkeit, gerichtet auf hirninterne Vorgänge WS Besonders interessant war dabei, daß diese Zunahme syn-
chroner Gamma-Oszillationen vorwiegend über zentralen und frontalen Hirnregionen zu beobachten war und nicht, wie es der Fall ist, wenn man die Aufmerksamkeit auf Objekte in der äußeren Welt lenkt, über sensorischen Arealen der Hirnrinde. Dies legt nahe, daß du deine Aufmerksamkeitsmechanismen eingesetzt hast, um Aufmerksamkeit auf Prozesse in höheren Hirnrindenarealen zu fokussieren, Arealen, die bereits abstrakte Konzepte, Symbole verarbeiten können und vielleicht auch benötigt werden, um sich Gefühle un