Michael Schmidt
Heute gehört uns die Straße… Der Inside-Report aus der Neonazi-Szene Einleitung von Ralph Giordano
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Michael Schmidt
Heute gehört uns die Straße… Der Inside-Report aus der Neonazi-Szene Einleitung von Ralph Giordano
ECON Verlag
Düsseldorf • Wien • New York • Moskau
Titel der französischen Originalausgabe: Néo-Nazis. L’enquête terrible Originalverlag: JC Lattès, Paris Copyright © 1993 by JC Lattès, Paris Bildnachweis: Sämtliche Fotos und Abbildungen, soweit nicht anders angegeben: © Michael Schmidt
Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe by ECON Verlag GmbH, Düsseldorf, Wien, New York und Moskau. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Gesetzt aus der Sabon, Linotype. Satz: Lichtsatz Heinrich Fanslau, Düsseldorf. Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim. Druck und Bindearbeiten: Bercker, Graph. Betriebe, Kevelaer. Printed in Germany. ISBN 3-430-18003-1
Mehrere Jahre lang hat sich der Journalist und Filmemacher Michael Schmidt immer wieder inkognito unter Neonazis begeben. Er nahm an geheimen Versammlungen im In- und Ausland teil, war bei Ausschreitungen und Aufmärschen dabei, filmte, fotografierte und führte Gespräche mit den Drahtziehern. In einem beklemmenden Bericht zeigt er nun, wie gut organisiert die »Feinde der Demokratie« mittlerweile sind, und macht deutlich, da »längst ein schlagkräftiges Nazi-Netzwerk« entstanden ist.
Der Zivilcourage gewidmet!
Einleitung
1. Da hat sich einer buchstäblich in die Höhle des Löwen gewagt, hat körperliche Unversehrtheit und seelisches Gleichgewicht aufs Spiel gesetzt und – ist fündig geworden: Michael Schmidt hat ein Buch über den deutschen Rechtsextremismus geschrieben, von dem ich überzeugt bin, daß es lange nachhallen wird – »Heute gehört uns die Straße«. Eine höchst beziehungsreiche Abwandlung des musikalischen NSPamphlets »Heute (ge)hört uns Deutschland – und morgen die ganze Welt«. Dabei zur Seite gestanden hat ihm Graeme Atkinson, Journalist und Berater der Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments für Fragen des Neofaschismus und Rassismus. Dem Buch vorangegangen war eine in mehreren europäischen Ländern ausgestrahlte Fernsehsendung gleichen Themas mit dem Titel »Wahrheit macht frei« – eine rechtsextremistische Losung, die sich perverserweise orientiert an dem unüberbietbar zynischen, in Metall gegossenen Begrüßungsspruch über dem Portal von Auschwitz: »Arbeit macht frei.« Also im Klartext: Es heißt zwar »Rechtsextremismus«, eine gebräuchliche Formel, die sich eingebürgert hat. Aber kein Zweifel, daß Michael Schmidt der zeitgenössischen Variante des Nationalsozialismus nachgestellt hat, einem historischen Monster, von dem die gesittete Menschheit 1945 glauben mochte, es hätte sich zu Tode geröchelt, nachdem es in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Europa und der Welt die
fürchterlichsten Wunden geschlagen hatte, nicht zuletzt den Deutschen selbst. Diesen Irrtum korrigiert das vorliegende Buch auf geradezu Entsetzen erregende Weise: Das totgeglaubte Untier gibt sich bis hinein in unsere Gegenwart sowohl höchst lebendig als auch höchst gefährlich. Wobei die aufgedeckten und aufgespürten Zusammenhänge erkennen lassen, daß es auf deutschem Boden niemals, zu keinem Zeitpunkt, sein Leben wirklich ausgehaucht hatte, sondern unter der Sonne vorwiegend konservativer Nachkriegsherrschaft erst seine Wunden lecken und dann erneut zum Angriff übergehen konnte. Die letzte Offensive war die verheerendste, und ihre stellvertretenden Namen sind Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln. Am Anfang also war der Film. Michael Schmidt hatte beschlossen, das Netzwerk des internationalen Rechtsextremismus vor die Kamera zu bekommen – seine Organisationsformen und seine Personifizierungen. »Wahrheit macht frei« erregte im Ausland großes Aufsehen, stieß jedoch bezeichnenderweise in Deutschland auf beträchtliche Schwierigkeiten, ausgestrahlt zu werden. Als es dann schließlich doch geschah, widerwillig, eher eine Pflichtübung, sah sich »Wahrheit macht frei« in die Nachtstunden zweier regionaler Fernsehprogramme verbannt. Der junge Autor wollte es aber dabei nicht belassen. Die Erfahrungen bei der Filmarbeit hatten Michael Schmidt etwas gelehrt, was irgendwann jedem Profi hinter oder neben der Kamera begegnet, nämlich die Erkenntnis, daß von all dem Erlebten nur ein Ausschnitt widergespiegelt wird. Zu knappe Sendedauer, aber auch der Zwang, trotz allem subjektiven Engagement nicht zu persönlich zu werden, sie stellen natürliche Grenzen der Mitteilung über die Leinwand
oder den Bildschirm dar. So entsteht die Idee, zu schreiben. Diesem Impuls ist Michael Schmidt nachgegangen – und es hat sich gelohnt. Der erste Teil »In der Szene« bringt die Konfrontation – der Nazigegner Michael Schmidt sucht die Nazis von heute auf. Von seiner wahren Überzeugung, seinem eigentlichen Vorhaben, einen Film gegen sie zu drehen, dürfen die Kühnen und Hess, die Remer und Küssel nichts wissen, natürlich nicht! Aber das bringt Schwierigkeiten mit sich, äußere und innere. Der Autor dramatisiert nichts, wenn er, aus dieser getarnten Situation heraus, Angst gesteht. Angst davor, dennoch entdeckt, trotzdem entlarvt zu werden, als Gegner, als Feind, der er in Wahrheit ja auch ist. Schließlich würde solche Erkenntnis in diesen Kreisen wohl kaum als Kavaliersdelikt hingenommen werden… In diesen Kreisen… Bis zum Eingeständnis der Schmidtschen Angst kennt man sie längst, ihre Denk- und Verhaltensweisen – die kalten, hirnlosen Schlagetots, die nicht viel Federlesens machen. Aber auch die pseudointellektuelle Inhumanität, die scheinbar argumentativ arbeitet, ist längst aufgetaucht, Schlips-undKragen-Nazis, die gefährlichere, die kältere Sorte, potentielle Schreibtischtäter, die wieder nicht selbst die Blutarbeit leisten würden, Krypto-Heydrichs von morgen – wenn man sie ließe. Die entscheidenden Leute, mit denen Michael Schmidt sich der selbstgestellten Aufgabe wegen einlassen muß, halten ihn für einen potentiellen Sympathisanten, wenn auch mit gelegentlichen Zweifeln an dieser Einschätzung. Andere, mit weniger Grips übrigens, lassen sich nicht bluffen und mißtrauen dem Fremden mit seiner Kamera, aus dem dumpfen Instinkt derer, die eine untrügliche Nase haben für alle, die nicht ihresgleichen sind. Da gibt es Momente, die einen die kalten Schauder den Rücken herunterrieseln lassen, wenn das
Befürchtete kurz bevorzustehen scheint – und dann schließlich doch noch jedesmal abgewandt werden konnte. Es ist sehr fraglich, ob Michael Schmidt im gegenteiligen Fall fähig gewesen wäre, seinen Film zu Ende zu führen, geschweige denn, die Buch-Idee zu verwirklichen. Aber da sind noch andere Barrieren, weitere Hindernisse für den konfliktlosen Verlauf der Arbeit, werden innere Abläufe sichtbar, die nur in Worte, nicht in Bilder gefaßt werden können. Denn unvermeidlich entstehen, bei einem so langen Zusammensein wie diesem, gewisse persönliche Beziehungen – auch gegenüber Gegnern, auch gegenüber Feinden. Die Kluft, die sich da auftut zwischen Aufgabe und Begegnung (und die sehr hohe Anforderung an die eigene Prinzipientreue stellt), sie beschränkt sich keineswegs allein auf den Autor dieses Buches. Erinnere ich mich doch noch sehr genau an das, was meine Freundin Carola Stern mir einmal bei der Arbeit an ihrem Buch über den Ersten Sekretär der SED und Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, gesagt hatte – diese erklärte Gegnerin des Systems und seiner Individualisierung durch den von ihr schriftstellerisch Porträtierten: »Ob du es glaubst oder nicht – der Ulbricht ist mir auf irgendeine Weise fast sympathisch geworden!« Nämlich dadurch, daß Carola Stern bei ihren Recherchen sozusagen auf einen Walter Ulbricht in Pantoffeln gestoßen war, jenseits des plakativen und propagandistischen Öffentlichkeitsbildes, jenseits des »Zoon politikon«, also der bloßen Politmaschine Ulbricht. Die war selbst dieser knöcherne Sachse nicht, und das hinterließ auch bei einer so kritischen Biographin wie Carola Stern Spuren. Natürlich verschweigen dabei weder Carola Stern noch Michael Schmidt die historische Belanglosigkeit privaten Daseins von Personen der Zeitgeschichte. Schrecken da doch die fürchterlichsten Beispiele, etwa von dem vorbildlichen
Familienvater Heinrich Himmler oder von Adolf Hitler, dem Liebhaber deutscher Schäferhunde. Die Geschichte hat dafür keinen anderen Befund als ihr »Na und?« Es sind die Akteure der rechtsextremistischen Szene selbst, die alle Zweifel über ihre Person zerstreuen: inhumane Geschichtsklitterer, für die Deutschland und die Deutschen nichts sind als Opfer der Geschichte. Deutschland als Täter erscheint in ihrer Vorstellungswelt überhaupt nicht. Wie ein roter Faden zieht sich diese Ansicht durch alle historischen Interpretationen, und zwar in gefährlicher Nähe von konservativen Positionen. Das beginnt mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – Deutschland, das Opfer der Einkreisungspolitik Frankreichs, Englands, Rußlands; nach 1918 dann das Opfer von »Versailles« und der von den USA ausgehenden Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Dabei bleibt es nicht, die These setzt sich fort: Deutschland – das Opfer der Nachgiebigkeit der französischen und britischen Regierungen unter Daladier und Chamberlain gegenüber Hitler bei dem Münchener Abkommen vom September 1938; im Zweiten Weltkrieg dann das Opfer des alliierten Luftkrieges (Dresden!); danach das Opfer von Jalta und Potsdam, der »Sieger-Justiz«, der Besatzungsmächte schlechthin, der Vertreibung endlich und, über allem, das Opfer des »internationalen Judentums«. Deutschland als agierende und nicht bloß auf äußere Bedrohungen reagierende Geschichtsmacht, Deutschland als der Primär- und Haupttäter der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, als entscheidender Verursacher seiner mörderischen Verheerungen – all das taucht in dem Weltbild des deutschen Rechtsextremismus überhaupt nicht auf. Dies ganz im Stile der Nationalzeitung des Gerhard Frey, die beide Weltkriege als »Vernichtungszüge gegen Deutschland«
interpretiert. Der Imperialismus des deutschen Kaiserreiches, dieses Vorläufers nazistischer Weltherrschaftspläne, existiert darin ebensowenig wie Hitlerdeutschland als tödlichster Aggressor der Menschheitsgeschichte. In dem Schmidtschen Buch sind es zunächst Gesprächsfetzen historisch Ungebildeter, die solchen Ungeist artikulieren. Wir erfahren aber, daß dahinter mehr steckt, nämlich eine konservative Geschichtsphilosophie, die in einflußreichen Kreisen immer noch herrschende Idee ist: nämlich die eigene, die nationale Geschichte, besonders aber deren Katastrophen, in die Verantwortung fremder Mächte zu delegieren! Denn nichts anderes bedeutet die These von »Deutschland als Opfer der Geschichte«. Diese Fähigkeit zur Verlagerung historischer Verantwortlichkeit existiert nirgendwo anders, sie ist spezifisch deutsch. Daß sie vor nichts zurückschreckt, hat der sogenannte »Historikerstreit« in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bewiesen: Ohne das Vorbild des GULag, des sowjetischen Lager- und Repressionssystems, hätte es Auschwitz nicht gegeben – so der Kerngedanke der konservativen Auslöser des Streits. Zwar haben sie eine Abfuhr, ja eine öffentliche Niederlage hinnehmen müssen, aber wir sehen: Selbst ein so urdeutsches, ein weltgeschichtlich so singuläres Verbrechen wie der Holocaust, der Völkermord an den Juden im deutschbesetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges, wird noch in die Verantwortung einer fremden Macht delegiert. Die »Szene«, in die Michael Schmidt tief eindringt, ist sozusagen der Mikrokosmos jenes akademischen Makrokosmos, in dem sich Figuren wie David Irving, aber auch Ernst Nolte, Michael Stürmer oder Hellmut Diwald tummeln.
Das Grundgefühl des rechtsextremistischen Fußvolks, um das es hier meist geht, ist Radikalität, und zwar in jeder Form, mental, brachial, politisch. Sichtbar wird eine ungeheure Friedensfeindlichkeit, deren Hoffnung sich auf einen ersehnten und mit allen Mitteln angestrebten Zustand konzentriert: auf die große Krise! Sie schwebt sozusagen über all den trüben Wassern des deutschen Rechtsextremismus, spukt in all ihren Reden, Aufrufen, Gedanken wie ein magisches Zentrum (das übrigens in bezeichnender Übereinstimmung mit einer ähnlichen These von Franz Josef Strauß). Die Krise soll das Sprungbrett sein, zunächst zu mehr politischem Einfluß als dem gegenwärtigen, dann aber Sprungbrett auch – Fernvision, jedoch keine allzu futuristische – für die Übernahme der politischen und staatlichen Macht. Michael Kühnen: »Alle Mittel der Demokratie müssen genutzt werden, um sie zu beseitigen.« Genau das ist das Kalkül des deutschen Rechtsextremismus, sein Ziel, seine Charta, zugegeben oder nicht. Franz Schönhuber frißt bekanntlich, an diesem Punkt angelangt, Kreide, andere »Republikaner« sind ehrlicher. Die »Szene« des deutschen Rechtsextremismus, in die der Leser hier Einblick gewinnt, ist unverfälscht für die Aufhebung der parlamentarischen Demokratie, und sie macht keinerlei Hehl daraus. Nun könnte man sagen: Wenn ein Volk es mehrheitlich so will, soll es die Folgen tragen. Nur, wie in jedem andern Falle, so erst recht in dem der europäischen Großmacht Deutschland, würden sich die Konsequenzen nicht auf das eigene Land beschränken. Einmal ganz abgesehen davon, was innenpolitisch mit einer oppositionellen Minderheit geschähe – natürlich ergäben sich außenpolitisch eminente Folgen, besonders für die osteuropäischen Länder. Denn nicht Revisionismus hat diese Rechte auf ihre Fahnen geschrieben, sondern offenen Revanchismus. Und wer wissen möchte, was
das im Falle solcher »Machtergreifung« bedeuten würde, der braucht sich nur bekannt zu machen mit dem wilden Triumph, in den diese Kreise von »Wiedereroberern« nach der Spaltung der ehemaligen Tschechoslowakei unter der Devise »Die sudetendeutsche Frage bleibt offen!« ausgebrochen sind. Ebenso selbstverständlich ist für die rechtsextremistische »Reconquista« die Re-Germanisierung des ehemaligen Ostund Westpreußens, Pommerns sowie Nieder- und Oberschlesiens, diesmal unter dem scheinheiligen Mißbrauch des »Europa ohne Grenzen«. Was Hitler militärisch verspielte, soll nun mit der Übermacht der Deutschen Mark wiedererlangt werden – die Umtriebe sind in vollem Gange, und ihre Grundlage sind unverblümte territoriale Forderungen im Stile der Hitlerschen Annexionspolitik. Da hat sich nichts, nicht das geringste geändert. Man könnte sich also ausrechnen, was die Folge eines solchen »Machtwechsels« sein würde: die hoffnungslose und gefährliche Konfrontation Deutschlands mit seinen Nachbarn, mit Europa, mit der Welt. Also ein abermaliger »Sonderweg«, die dritte und endgültige Niederlage Deutschlands. Karthago läßt grüßen… Eine andere Perspektive können die Figuren und ihre Hintermänner, die in Michael Schmidts Buch auftauchen, der Nation nicht bieten. Daß das klar wird, habe ich als eines der Verdienste von »Heute gehört uns die Straße« empfunden. Dabei weiß der Mann mit der Tarnkappe in der Höhle des braunen Löwen ganz genau, daß er nach konventioneller Moral etwas durchaus Verbotenes, Ehrenrühriges unternimmt: nämlich die Täuschung von Leuten, die sich ihm, wenn auch oft genug widerwillig, zur Verfügung stellen. Er tut das in dem Bewußtsein, der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, indem er auf eine Gefahr aufmerksam macht, die alle betrifft, wenn
die politische Kraft, in deren Labyrinthen er sich risikovoll bewegt, die Macht in die Hände bekäme. Dann nämlich müßten keineswegs nur Ausländer, Fremde und Juden »dran glauben«, sondern alle, die nicht so sind, wie die rechte Szene »ihre« Deutschen haben will. Das ist eine exakte Charakteristik, und sie legitimiert Michael Schmidt vollständig. Wem zuliebe sollte dieses unheimliche Buch denn ungeschrieben bleiben? Doch nur der »Szene« selber zuliebe – und jenen Politverhältnissen, die ihr Überdauern nach 1945/49 überhaupt erst möglich gemacht haben. Wovon nun die Rede sein wird.
2. Denn die Zündler von Hoyerswerda, die Brandstifter von Rostock-Lichtenhagen und die Mörder von Mölln – sie sind nur die Spitze des Verhängnisses. Die eigentliche Gefahr von rechts ist der Dschungel klar als nazinah erkennbarer Organisationen, die im Schutze bundesdeutscher Legalität seit Jahrzehnten ihr Unwesen treiben. Das Verbot einiger von fast achtzig solcher Verbände durch das Innenministerium ist nichts weiter als alibihafte Politkosmetik, Feigenblatt-Dekor. Dieses Dschungels und seiner Gesinnungen nimmt sich der zweite Teil des Buches an – »Zur Lage der Nation«. Es ist eher eine Schieflage, und sie wird nun intensiv aufgelistet. Erst dieser haarsträubende Katalog macht erklärlich, wieso es schließlich zu dem geradezu vulkanhaften Ausbruch von Fremdenhaß und Antisemitismus kommen konnte, einem wahren Krakatau epidemischer Ausländerfeindlichkeit (die genauer Menschenfeindlichkeit genannt werden sollte), einem
rassistischen Flächenbrand, dessen Stich-Saison vom Herbst 1991 fest in die Annalen deutscher Unrühmlichkeiten eingegangen ist. Sichtbar werden in der akribischen Auflistung Michael Schmidts die ideologischen Wegbereiter dahin, die großen Apostel der Verdrängung, die deutschen Entsorger vom Dienst. Da ist zunächst, wenn auch nicht überraschend, Alfred Dregger von der CDU-Stahlhelm-Fraktion, der unverzagt deutschtümelnde Cicerone unreflektierter Geschichtsauffassungen mit lippenbekenntnishaften Ausfällen gegen den Nationalsozialismus, die allesamt aufgehoben werden durch Aussprüche wie: das deutsche Volk sei »zwölf Jahre lang einer braunen Diktatur unterworfen gewesen« oder »Wir müssen endlich aus dem Schatten Hitlers heraustreten« (darin erinnerlicherweise assistiert von dem Übervater der deutschen Verdrängungskünstler, Franz Josef Strauß). Welch ungeheure Infamie hinter den Thesen von Dregger und Strauß steckt, und wie lange sie »akademisch« vorbereitet waren, geht aus einem Zitat des Historikers Ernst Nolte hervor – des gleichen Nolte, der 1986 dann einer der Auslöser des »Historikerstreits« werden sollte. Schon zwölf Jahre zuvor hatte er in seinem Buch »Deutschland und der Kalte Krieg« abgesondert: »In der Tat hat jeder bedeutende Staat der Gegenwart, der sich ein außerordentliches Ziel setzte, seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt…« Also »Hitler überall« und Auschwitz ein »außerordentliches Ziel« – fast zwanzig Jahre vorher werden die verantwortlichen Schreibtischtäter für die Brandsätze und Molotowcocktails der neunziger Jahre erkennbar. In die gleiche Kerbe des NS-Revisionismus schlägt der Mitherausgeber der konservativen Frankfurter Allgemeinen
Zeitung, Joachim Fest, wenn er schreibt, Hitler sei im Vergleich mit anderen Politikern der Weimarer Republik »die gewiß modernere Erscheinung« zu nennen. Ach ja? Die tendenziösen »Differenzierungen« des staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus durch die Brille konservativer Historiker, sie hatten Methode. Ihre Folgen: Das enthemmte Ende bis dahin ohnehin nur mühsam gewahrter Tabus – jetzt machte es sich unverblümt Luft. Unvergessen Herrmann Fellner, innenpolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, mit seiner Bemerkung, daß »die Juden sich stets schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert«. Unvergessen auch, wie die Frankfurter Allgemeine die negativen Reaktionen aus Israel auf die Provokation von Bitburg kontern zu müssen glaubte: »Das Schicksal Israels hängt von der Verteidigungsfähigkeit des Westens ab, und diese wiederum von der moralischen Einheit seiner Nationen. Wenn die Bundesrepublik aus dieser Gemeinsamkeit hinausgedrängt würde, wäre in dem Gewölbe strategischer Maßnahmen, das gegebenenfalls auch Israel schützt, der Schlußstein entfernt.« Eine eindeutigere Definition für politische Erpressung kann es nicht geben: Mit solcher Kritik an dem deutschen Kanzler stehe Israels Schutz auf dem Spiel – so Michael Schmidts logische Folgerung. Und ich füge hinzu: Die Israelis werden den Teufel tun, die deutsche Tabuisierung und Entnazifizierung der Hitlerwehrmacht und des nazistischen Angriffskrieges zu tolerieren und einzugehen auf die Drohung aus Bonn, Israel ansonsten die äußere Hilfe zu entziehen! Ein ganz entscheidendes Segment konservativer Geschichtsauffassung (und zwar in voller Übereinstimmung mit der rechtsextremistischen) ist die ideologische Einebnung des Nationalsozialismus in den endlosen Katalog von
Gewaltregimes. Dazu wird noch einmal Alfred Dregger zitiert: »Wir müssen begreifen, daß die Konzentrationslager Hitlers und Stalins, daß die Vertreibung der Ostdeutschen und der Ostpolen, daß der millionenfache Tod deutscher Soldaten und ihrer soldatischen Gegner Teil ein und derselben Katastrophe waren.« Da ist es heraus, nackt und ohne Umschweife – Ursachen und Wirkungen in einen Topf, Angreifer und Angegriffene ununterschieden, Opfer und Täter erfahren dieselbe Bestattung. Der Einsatzgruppen-Pistolero also gebettet neben jener jüdischen Frau mit dem Kind auf dem Arm, die beide, in unendlich hilfloser Schutzsuche halb abgewandt von dem SSMörder, Sekunden später von ihm erschossen werden – ein global bekanntes Foto. Für Alfred Dregger sind es die Angehörigen einer gleichberechtigt trauerwürdigen Gemeinschaft, eingedickt in die Aufhebung aller Unterschiede durch den Tod – so die Verkommenheit dieser Gesinnung. Die Entsorgung von Auschwitz und allem, was dieser Name symbolisiert und materialisiert, die »Napoleonisierung« Hitlers, sie sind längst System, und zwar nicht nur des deutschen Rechtsextremismus, sondern auch seiner Ziehmutter, des deutschen Konservatismus. Wie sehr beide sich treffen, beide im Innersten Fleisch vom gleichen Fleische sind, zeigte sich an einer gespenstischen Szene, die ich am Bildschirm selbst miterlebt habe. In ihrer unglaublichen Infamie mir lange nachgegangen, finde ich sie zu meiner großen Befriedigung aufgenommen in dem zweiten Teil des Buches – eine empirische Bestätigung, wie sehr rechtsextremistischer Revanchismus und Konservatismus hierzulande miteinander korrespondieren. Tatort: die Wartburg bei Eisenach. Tatdatum: der 1. Dezember 1992. Tatanlaß: das Treffen einer schlagenden
Burschenschaft in Wichs und Montur (aber auch ohne diese Attribute hätten die Physiognomien alles verraten). Täter: Wolfgang Schäuble, ehemals Innenminister, heute seines Zeichens Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Schäuble spricht, eine Art Grußwort. Dabei stockt er plötzlich, und zwar an einer bestimmten Stelle. An ihr nämlich wird er sich, vor dieser Versammlung, der unbedachten Wortwahl seines geschriebenen Textes blitzschnell bewußt – und korrigiert: »Die Deutschen, hier im Osten Deutschlands…« – erschrockene Pause, irritiert hochgeblickt, dann die Augen niedergeschlagen und sich fassend weiter: »… wie wir jetzt sagen, obwohl es in der Mitte Deutschlands liegt…« Donnernder Applaus! Und in den hinein lächelt Wolfgang Schäuble, der Mann hinter dem Kanzler. Es wird ein abgründiges Lächeln, stigmatisiert von dem inneren Widerstreit, etwas gesagt zu haben, was gegen die offizielle Etikette verstößt, dem Redner vor diesem Auditorium jedoch unumgänglich schien. Ein Lächeln, in dem sich Opportunismus und Zustimmung zu dem soeben abgegebenen Bekenntnis die Waage zu halten versuchten, schlechtes Gewissen und Trotz miteinander rangen – diabolische Sekunden, in denen für mich und für immer der Demokrat Wolfgang Schäuble auf der Strecke geblieben ist. Die Gesichtsverrenkung des CDU/CSU-FraktionsVorsitzenden sollte signalisieren: »Über Königsberg, Ost- und Westpreußen, über Pommern, Nieder- und Oberschlesien ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.« Das war die revanchistische Botschaft dieses gewissen Lächelns! Hier ist also die Rede von der Aufbereitung jenes giftigen Humus, der Düngung des in langen Jahrzehnten durch eine
komplizenhafte Exekutive und Legislative bräunlichen Mutterbodens, aus dem dann nach der Vereinigung der beiden Teilstaaten die Skinheads und die Baseballschläger-Typen entsprossen. Hier ist die Rede von der finstersten Seite der dritten deutschen Demokratie (nach der ersten von Weimar und der zweiten der alten Bundesrepublik). »Zur Lage der Nation«: Es meldet sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts sein eigentlicher Sieger – Deutschland. Oder genauer: der deutsche Konservatismus. In seinem Windschatten segelt, kregel und zu allen Schandtaten bereit, der deutsche Rechtsextremismus. Weiß er doch, daß er, mit geringen Ausnahmen erst neuerdings, von der Fakultät amtierender Juristen nichts zu befürchten hat. Man muß sich die aufgeführte Liste der Urteile gegen angeklagte Ausländerfeinde einmal genauer ansehen. Hier vorn schon ein Beispiel: Der Mord an einem Angolaner durch einen 19jährigen Skinhead wird mit einer Jugendstrafe von 5 Jahren »geahndet« – wegen Totschlags und mit bedingtem Vorsatz. Man habe davon auszugehen, »daß die Hautfarbe des Opfers wesentlich dazu beigetragen hat«. Dazu Michael Schmidts lapidarer Kommentar: »Die volle Härte des Gesetzes trifft demnach nur, wer ›Arier‹ erschlägt.« Angesichts der notorischen Richterhärte gegen die Attentäter der RAF läßt sich die ansonsten unverständliche juristische Milde gegen rechtsextremistische Täter nur erklären aus der exemplarischen Befindlichkeit bundesdeutscher Rechtsprecher: Links – das sind Todfeinde, die dann auch von der vollen Wucht des Gewaltmonopols, der polizeilichen Machtmittel und der juristischen Strenge getroffen werden. Rechts – ungezogene Verwandte. Der Staat als Papiertiger… Hinter allem, quasi als Fazit, steckt der ebenso gigantische wie verfehlte Verdrängungsversuch, nach den
eigenverschuldeten Erosionen des nationalen Selbstgefühls deutsche »Identität« über das Verschwinden des NS-Traumas »gesunden« zu lassen – eine Schlußfolgerung von Michael Schmidt, der ich restlos zustimme. Schuld nicht als Verpflichtung, sondern als Last. Sich von ihr zu befreien ist die eigentliche Anstrengung des deutschen Rechtsextremismus – womit er neue Schuld vorbereitet. Das ist das große Thema des letzten Buchteils, und zwar in Zusammenhang mit der Internationalität des Rechtsextremismus, also seinem Netzwerk.
3. Die ersten Seiten dieses Abschnitts gehören zu den gespenstischsten des ganzen Werkes. Der Schauplatz ist nicht zufällig der Löwenbräukeller in München, einst Tagungsstätte der »alten Kämpfer«. Die Versammelten sind fossile und neue Nazis aus vielen Teilen der Welt, eine Art Politmafia, die von Schmidt hier »die Familie« genannt wird. Es geben sich im Löwenbräukeller, neben dem Gros unverbesserlicher Deutscher beiderlei Geschlechts, ein Stelldichein: Angehörige der britischen »National Front« und der französischen »Front National«, Nazis aus der Schweiz, aus den Niederlanden und aus der »Ostmark« (so die selbstverständliche Umbenennung der Republik Österreich). Aus diesem Kreis spinnen sich die Fäden auch zum Ku-KluxKlan in den USA; zum »Institute for Historical Review«, einer der wichtigsten Organisationen des internationalen Neonazismus; zu noch gesuchten NS-Verbrechern; zu Konspiratoren in der arabischen Welt, neben anderen Metastasen des »Netzwerkes«. Hier, im Löwenbräukeller,
kann man eine Ahnung von seiner Dimension bekommen, wird einem aber auch klar, wie verkommen das politische Klima in einem Staat sein muß, in dem eine solche Bande gefährlichster Zeitgenossen legal tagen darf. Es ist das schamlose Selbstbewußtsein der »Familie«, ihre ungeheure, in allem zum Ausdruck kommende, offen demonstrierte Verachtung der Demokratie, die einem unweigerlich die Frage aufzwingt: Kann denn eine Gesellschaft, die solche Versammlung ihrer potentiellen Verderber zuläßt, überhaupt mit ihnen und ihrem Netzwerk fertig werden? Und doch zeigen sich trotz allen großmäuligen Auftretens schwache Stellen, gibt es sozusagen eine Achillesferse am Körper des deutschen und des internationalen Rechtsextremismus, eine schwere innere wie äußere Gefährdung. Ihr Name: Auschwitz. Außer den Überlebenden des Holocaust (mit völlig anderer Motivation) gibt es niemanden auf der Welt, der sich mit ihm häufiger beschäftigt, als diese faktischen Täter von einst und ihre Möchtegern-Nachfolger. Es ist wie eine Obsession, ein manischer Zwang – alle Verdrängungsstraßen laufen auf Auschwitz zu. Das Aberwitzigste daran: die fanatischsten Antisemiten unserer Epoche; jene politische Tradition, die die Juden zum bösen Prinzip der Weltgeschichte erklärt hat; gerade jene also, die, wenn sie könnten, ein zweites Auschwitz errichten würden – ausgerechnet sie leugnen das historische! Sie leugnen die geschichtliche Existenz einer Stätte, mit der ihr Rassismus lichtdicht übereinstimmt, die sie herbeiwünschen, herbeireden und auf die sie sich in den unzähligen Morddrohungen und anonymen Anrufen an jüdische Adressen immer wieder beziehen (»Ihr kommt nach Auschwitz, ihr werdet alle vergast!«) Auschwitz – das ist der ideologische Mittelpunkt,
der eigentliche Fokus des Rechtsextremismus, die Sonne, um die – hochverräterisch! – das gesamte System der Leugnung und Verdrängung kreist. Auf diesen Mechanismus weist Michael Schmidt hin, auf ihn lenkt er die Aufmerksamkeit. Die Täter, soweit sie noch leben, und Angehörige nachgewachsener Generationen mit gleicher Gesinnung, sie wollen sich von deutscher Schuld erlösen, indem sie deutsche Schuld bestreiten. Da sich aber schließlich doch nicht alles verleugnen läßt, deutsche Schuld also unvermeidlicherweise partiell zugegeben werden muß, wird sie grundsätzlich mit fremder Schuld aufgerechnet, mit dem Tenor, daß um jedes Opfer getrauert werden müsse. Tatsächlich jedoch wird kompensiert, und das ganz ununterdrückbar. Die spezifische Instabilität, die jeder Verdrängung innewohnt, kommt auch hier unfreiwillig zum Vorschein: Jeder nicht von Deutschen verursachte Leichenberg entsetzt nicht, er tröstet! Und so liegt denn das Wesen des Täuschungsversuches in dem vorgespiegelten Erbarmen mit allen Opfern. Inhumanität pur im Gewande eines Verfechters der unteilbaren Humanität. Obszöner geht es nicht mehr. Wie kommt es nun, daß Rassisten, daß Antisemiten, ausgesprochene Judenhasser, so notorisch Auschwitz bestreiten, obwohl der Begriff doch gerade ihrem Gesinnungshabitus wie niemandem sonst entspricht? Es ist eines der Verdienste dieses Buches, daß es darauf eine überzeugende Antwort findet. Die eigentliche Sensation von »Heute gehört uns die Straße« ist aber Michael Schmidts Begegnung mit Thies Christophersen, dem ehemaligen SS-Sonderführer mit dem Standort Auschwitz und Verfasser des Buches »Die Auschwitz-Lüge« – der Täter als authentischer Chronist.
Denn es ist wahr, es ist Thies Christophersen, der Geschichtsklitterern wie David Irving und seinesgleichen als Kronzeuge der »Auschwitz-Lüge« gilt, als die Zentralfigur des deutschen und internationalen Rechtsextremismus in dieser »Frage«. Und den, gerade den legt Michael Schmidt dann aufs Kreuz… Nur, wie er das macht, wie er ihm das Eingeständnis entlockt, das »Missing link«, das fehlende Letztglied, herstellt, das zur Selbstüberführung des Lügners Thies Christophersen, Autor des Buches »Die Auschwitz-Lüge«, führt – das soll in seiner unnachahmlichen Mischung aus Zufall und Geistesgegenwart des Interviewers hier vorn nicht schon verraten werden. Solcher Streich gelingt einem politischen Publizisten, wenn überhaupt, nur ein einziges Mal im Leben.
4. Noch ein Epilog im Prolog. Mit dem Vorspiel von Michael Schmidts Film »Wahrheit macht frei«, den ich seinerzeit gesehen hatte, lief für mich die gesamte Lektüre von »Heute gehört uns die Straße« auf die Frage hinaus: Kann Deutschland, dieses vereinigte, mächtige Deutschland, wieder gefährlich werden – für sich selbst, für Europa, für die Welt? Und diese Hauptfrage wiederum zieht einen ganzen Katalog von Nachfolgefragen hinter sich her. Ist Deutschland willens und imstande, der braunen Renaissance und ihrem Spuk ein schnelles Ende zu bereiten? Oder kann es die Gespenster, die die Verdrängung rief, nicht mehr bannen? Wird Deutschland, und dann zum drittenmal, einen Sonderweg gehen, an dessen Ende wieder nur eine nationale Katastrophe stehen könnte? Weiß es, wie hauchdünn
die Decke ist, unter der das Erinnerungsvermögen der ehemals deutsch besetzten Länder vibriert, und wie heftig es provoziert und vitalisiert werden würde, sollten die Schönhubers und Freys 1994 in den nächsten, den 13. Deutschen Bundestag einziehen? Ist Deutschland sich darüber im klaren, daß es für Europa und die Welt eben nicht das gleiche ist, ob Le Pen in die französische Nationalversammlung Einzug hält oder ob sich die Abgesandten des deutschen Rechtsextremismus in das höchste Gremium der demokratischen Republik integriert sehen dürfen? Vor allem aber dies: Wird sich wiederholend bestätigen, daß Deutschland in Krisen- und Notzeiten, in den Phasen von Rezession und Massenarbeitslosigkeit wie derzeit, nach rechts rückt, ungeachtet aller historischen Erfahrungen, daß von dieser Seite nichts als Blut und Tränen kommen können? Wird sich der Argwohn bewahrheiten, daß Deutschland letztlich doch nur eine »Schönwetter-Demokratie« sei und daß, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Zeichen auf Sturm stehen, größere Wählermassen tatsächlich wieder unter das Dach des braunen Ungeistes von gestern flüchten werden? Und, letztens, wäre die Grenze des Erträglichen nicht schon weit überschritten, wenn eine große Koalition zwischen Konservativen und Sozialdemokraten das einzige Mittel sein würde, um im kommenden Deutschen Bundestag den organisierten Rechtsradikalismus nicht zum Zünglein an der parlamentarischen Waage werden zu lassen? Ich bin nicht geneigt, auf diese Fragen pessimistisch oder fatalistisch zu antworten. Weit eher vertrete ich die Ansicht, daß sich die Mehrheit der Deutschen von heute so viel gesunden Menschenverstand und politischen Instinkt bewahrt haben dürfte, daß sie den rechten Gewalttätern und ihren politischen Unter- und Hintermännern die Abfuhr erteilen wird, die sie verdient haben.
Ich will die Bedeutung der mächtigen Lichterketten von Hamburg und Köln, von Berlin und München, um nur sie zu nennen, nicht überschätzen. Aber hier hat eine Majorität Flagge gezeigt, hier haben Millionen Deutsche unmißverständlich und öffentlich erklärt: »So nicht!« Und zwar auch dann, wenn das Problem der Zuwanderung große Teile der Demonstranten durchaus beunruhigt, und das nicht ohne Gründe. Denn wenn wir von einer »Zwei-DrittelGesellschaft« sprechen, dann geht es einem Drittel von heute 80 Millionen Deutschen, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gut, und das ist eine bestürzende Zahl und ein gefährlicher Zustand. Gleichwohl hat sich die deutsche Demokratie von unten vehement aufgereckt und den rechtsextremistischen Gewalttätern die Parole »Wir sind das Volk!« aus den blutigen Händen geschlagen. Auch haben die Lichterketten und die Haltung, die dahintersteckt, der Regierungskoalition klargemacht: Wenn sie bei der Bekämpfung der Gewalttäter gezögert und gezaudert hat, weil sie eine rechte Wählerklientel nicht verärgern wollte, so könnte sie nunmehr gerade deshalb in der Mitte und auf der anderen Seite der politischen Palette eine weit größere Zahl von Stimmen rechtschaffener Deutscher einbüßen! Dennoch – die Gefahr ist groß genug, und sie zielt auf die Grundfesten der dritten deutschen Demokratie. Deshalb an den Schluß eine Warnung von Michael Schmidt, aufgeschrieben unmittelbar nach jenem »Familientreffen« im Münchener Löwenbräukeller, gleichzeitig aber auch das Destillat seiner mehrjährigen Arbeit an dem Film »Wahrheit macht frei« und an dem nun entstandenen Buch »Heute gehört uns die Straße«: »Ich habe soeben ein winziges Stück von der Spitze jenes Eisbergs gesehen, dessen wahre Größe niemals festgestellt werden kann und dessen virulente Fähigkeit, erneutes Leid
über die Menschheit zu bringen, auch von uns, den Demokraten, abhängig ist. Wenn wir ihnen eine Chance geben – sie werden sie nutzen. Sofort und gnadenlos.« Ja! Köln, im Februar 1993
Ralph Giordano
Vorwort
Neonazis: Im Herbst 1988 begann ich ganz zaghaft, mich für dieses Thema zu interessieren. Ein halbes Jahr später gab es kein anderes Thema mehr für mich. Das Ziel: einen Film herzustellen, der die Nazis zeigt, wie sie wirklich sind. Sommer 1991: Für den Film »Wahrheit macht frei« standen über 110 Stunden Rohmaterial im Schneideraum zur Auswahl. Zweieinhalb Jahre Recherchen und über neunzig Drehtage mußten auf knapp sechzig Minuten Länge komprimiert werden. Es gelang. Der Film wurde bis heute in 16 Ländern gezeigt. Daß er so erfolgreich geworden ist, habe ich Birgitta Karlström zu verdanken. Die Chefredakteurin aus Stockholm hatte mich für das schwedische Fernsehen »an Land gezogen« und half mir mit professionellem Rat und engagierter Tat. Ohne ihre Hilfe würde ich noch heute mit meinen Recherchen hausieren gehen, um zu hören, was ich immer noch gelegentlich höre: »Alles nichts Neues!« Das Jahr 1992 bescherte mir ein weiteres Ziel: ein Buch, das auch auf Hintergründe eingehen kann. Auch dieses Buch wird für diejenigen, die abwiegeln, verharmlosen und mit den Fingern auf andere zeigen wollen, »nichts Neues« sein. Viel wichtiger ist mir die Klarstellung, daß dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und will. Es handelt sich um einige Fäden in einem riesigen Netzwerk; niemand hat »alles« gesehen. Was ich gesehen habe, reicht mir allerdings, um gelegentlich aus Alpträumen hochzuschrecken. Paris, im Februar 1993
Michael Schmidt
In der Szene
»Die zweite Revolution«
Mit leisem Knacken öffnet sich die schwere Tür. Vorsichtig schaue ich durch den Spalt in den Verhandlungsraum. Dort spricht gerade ein schwarzgekleideter schlanker Mann. Der Angeklagte ist mitten im Satz: »Ich bin eben Nationalsozialist, dazu bekenne ich mich auch öffentlich…« Ich bin richtig. Nicht München 1924, sondern Landgericht Frankfurt am Main im Frühjahr 1989. Der Kopf des Gerichtsdieners erscheint, und ich zücke eilig meine Pressekarte. Mit einem Wink läßt er mich ein und bedeutet mir, mich auf die Zuschauerbank zu setzen. Es sind nur noch zwei weitere Besucher im Gerichtssaal, von denen der eine wiederholt mißbilligend seinen Kopf schüttelt, als der Angeklagte seine Ausführungen fortsetzt. Der andere schreibt eifrig mit. Im Prozeß geht es um Nazipropaganda, die nach deutschem Strafrecht verboten ist. Angeklagter ist Michael Kühnen. Er wird als Urheber von volksverhetzenden und gewaltverherrlichenden Schriften verdächtigt: Schriften, die das Dritte Reich hochpreisen, die Kriegsschuld und Verbrechen der Nazis leugnen. Da gibt es zum Beispiel den NS-Kampfruf, in dem Kühnen selbst publiziert. Mit Reichsadler und Hakenkreuz ist das Blatt als »Kampfschrift der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Auslands- und Aufbau-Organisation« wie eine Zeitung aufgemacht. Rechts neben dem Datum steht in Klammern die Zahl 100. Das markiert Adolf Hitlers hundertsten Geburtstag.
Und man kann lesen: »Nach 1918 stellten Historiker und Forscher in aller Welt sehr bald fest, daß Deutschland keinen Krieg gewollt hatte (…) Nach 1945 bis zum heutigen Tag sieht dies leider ganz anders aus (…) Eine Revision der ›Kriegsschuldfrage‹ und ein Abzug der Feinde Deutschlands wird heute weder geplant noch erwogen. Es gilt die Moral eines Siegers und eines Volkes, deren Menschen es fertigbrachten, Atombomben zu bauen und gegen Menschen einzusetzen (…) Und Historiker? Die brd [Kleinschreibung im Original, d. Verf.] und die anderen deutschen Staaten sind politische Gebilde minderen Rechts…« Daß die Nazis den Zweiten Weltkrieg begannen, ist eine historische Tatsache. Es ist auch Tatsache, daß die USAmerikaner die erste Atombombe einsetzten. Das ist »unmoralisch«, sicher. Nur darf man dann nicht verschweigen – worauf man sonst doch eher stolz ist –, daß es die Deutschen waren, die mit Hochdruck an der Raketen- und Nukleartechnik arbeiteten, um mit Hilfe der »Vergeltungswaffe« den Kriegsverlauf im letzten Moment noch zu wenden. In einem anderen Artikel heißt es: »Geschichte wiederholt sich nicht in genau derselben Form! Deshalb erstreben wir weder eine Kopie des Dritten Reiches, noch lassen wir uns von einem Hinweis auf die angeblichen Greueltaten der Vergangenheit beeindrucken…« Diese Schriften, die den verwalteten Massenmord und Verbrechen an der Menschlichkeit als »angebliche Greueltaten« zu leugnen versuchen, werden herausgegeben von einer Organisation namens NSDAP-AO mit Sitz im Bundesstaat Nebraska in den Vereinigten Staaten. NSDAP meint nicht anderes als: »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei«. »AO« steht für »Auslands- und AufbauOrganisation«. Eine gewisse Bekanntheit erhielt die NSDAPAO durch die massenweise Versendung illegaler Propaganda
in alle Welt. Daß mehr als Propaganda dahintersteckt, sollte ich später von demjenigen erfahren, der heute auf der Anklagebank sitzt. Kühnens Platz ist in der Mitte des Verhandlungsraumes. Immer wieder greift er zu seiner verspiegelten Sonnenbrille auf dem Tisch, rückt sie zurecht, während er spricht. Er ist blaß, was durch seine schwarzen Haare noch betont wird. Aber er spricht ruhig und nutzt geschickt jede Möglichkeit zu politischen Ausführungen, in denen deutlich wird, daß er überzeugt ist von seiner Sache – dem Nationalsozialismus. Das Gericht und die Staatsanwältin sind bemüht, das Verfahren gegen ihn sachlich und mit Sorgfalt abzuwickeln. Das ist nicht einfach, denn Kühnen ist auf Effekte aus. Als ihn der beisitzende Richter befragt, warum er denn so viel vom streng totalitären, an einer Person ausgerichteten »Führerprinzip« halte, bringt Kühnen die Rede auf seine Bundeswehrzeit. Der Beisitzer fragt fast irritiert: »Was hat das denn mit der Bundeswehr zu tun?« Kühnen wittert die Chance: »Also, ich weiß nicht, wie Sie sich die Armee vorstellen. Aber wenn eine Kompanie an der Front steht, werden die Soldaten sicherlich nicht vorher demokratisch darüber abstimmen, ob jetzt angegriffen werden soll oder nicht.« Allgemeines Gelächter. Der Protokollführer war fast eingenickt und schreckt hoch. Die Staatsanwältin und die Richter verziehen verlegen die Mundwinkel. Kühnen, seinen Punktsieg genießend, streift mit dem Blick über den Zuschauersaal, um zu sehen, wie er dort ankam. Ein Abklatsch Adolf Hitlers. Des Angeklagten Hitlers, der seine Auftritte im Prozeß wegen des Putschversuchs von 1923 inszenierte, um den militärischen Mißerfolg in einen politischen Erfolg zu verwandeln. Die Atmosphäre wird heiter. Sogar mein
kopfschüttelnder Nebenmann grinst kurz. Kühnens Anwalt lacht hämisch. Das Lachen läßt die Vergangenheit so leicht in Vergessenheit geraten. Ich blättere in meinen Notizen. Kühnens Anwalt Loebe ist interessant. Kollegen erzählten mir im Vertrauen und hinter vorgehaltener Hand, daß er in einer Kanzlei arbeite, die auch Angelegenheiten von Josef Mengele, dem berüchtigten Arzt von Auschwitz, in Deutschland verwaltete. Über Kühnen selbst habe ich gleich seitenweise Informationen. Jahrgang 1955, aus gutbürgerlichen Verhältnissen, katholisch erzogen. Seit dem 15. Lebensjahr politisch aktiv. Er war sogar kurz bei den Maoisten. Dafür hat er eine eigene Erklärung parat: »Ich halte den Maoismus noch heute für eine Art chinesischen Nationalsozialismus«, sagt er dem Gericht dazu. Man könnte meinen, Kühnen sei ein unrealistischer, radikaler Spinner, den man nicht ernst zu nehmen braucht. Im Gerichtssaal unterschätzt ihn jedoch niemand, und auch sein bisheriger Weg spricht dagegen. Von seinen 18 Jahren in der Extremistenszene hat er siebeneinhalb im Gefängnis zugebracht, meist wegen Straftaten, wie sie ihm auch heute vorgeworfen werden: Volksverhetzung, NS-Propaganda, »Verunglimpfung des Staates« und »Tragen einer verbotenen Uniform« (braunes Hemd der SA, kombiniert mit Koppelschloß und Knobelbecher), dann einmal »gefährliche Körperverletzung«. Kühnen war immer Rädelsführer. Ein gefährlicher Mann. Ein Mann, von dem man sich fernhalten sollte, würde der Rat meiner Eltern lauten. Daß ich trotzdem hier sitze, um ihn kennenzulernen, liegt an einer Verkettung von Zufällen. Wie Millionen anderer Deutscher las und sah ich im November 1988 eine Fülle von Berichten zum 50. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1938. Bis heute wird der Auftakt des Naziregimes zur gnadenlosen Verfolgung der Juden, die in der historisch
singulären staatlich verwalteten Massenvernichtung von Millionen Menschen enden sollte, verharmlosend »Reichskristallnacht« genannt. Wie viele andere war ich zwar betroffen. Aber es handelt sich ja schließlich »nur« um etwas Vergangenes, dachte ich damals. Einer der Fernsehberichte änderte alles. Ein Dr. Fritz Hippler trat auf, ein weißhaariger alter Herr. Der erklärte, Grund der Judenverfolgung sei doch einfach Neid gewesen. Neid der Nazis auf die Begabteren und Wohlhabenden. Der Mann machte auf mich einen seriösen Eindruck. Kurz darauf wurde im selben Programm ein Ausschnitt aus einem Film gezeigt, den Hippler einst für Goebbels hergestellt hatte: »Der ewige Jude«. Ein Hetzfilm, in dem Juden mit Ratten verglichen werden. Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte dieser Mann heute mit einer solchen Gelassenheit von der Judenverfolgung sprechen? Das war der Anstoß, in der nächsten Zeit alles, was ich an Literatur über das Dritte Reich finden konnte, zu studieren. Dabei blieb es nicht. Schnell stieß ich auf andere Bücher, deren Lektüre mich noch mehr betroffen machte. Ganz besonders »Die kalte Amnestie« von Jörg Friedrich und Ingo Müllers »Die furchtbaren Juristen«. Im ersten wird breit dokumentiert die Wiedereingliederung der Nazitäter in die deutsche Gesellschaft nach 1945 beschrieben. Im zweiten geht es um Richter und Anwälte, die im Dritten Reich Terrorurteile fällten und in der Bundesrepublik entweder ihre juristische Karriere gleich fortsetzen konnten oder von ihren »Kollegen« denkbar milde behandelt wurden. Und selbst den Schwerverbrechern wurde mit haarsträubenden juristischen Konstruktionen buchstäblich Gnade vor Recht zuteil. So verurteilte zum Beispiel das Landgericht Stuttgart im März 1957 den Danziger Gestapochef Dr. Günter Venediger wegen »Beihilfe zum Totschlag« zu zwei Jahren Zuchthaus. Venediger hatte vier
englische Kriegsgefangene ermordet. Aus dem Urteil: »Täter bezüglich der Tötung dieser 4 Offiziere in Danzig war der ehemalige Führer und Reichskanzler Adolf Hitler. Er handelte dabei rechtswidrig und vorsätzlich.« Dieses nur zu offenbare Unrecht löste bei mir tiefe Erschütterung aus. Wie steht es mit den alten Nazis heute? Und dann diejenigen, die heute »Deutschland den Deutschen« rufen – sie sind doch aus dem gleichen Holz geschnitzt. Das sind neue Nazis, so dachte ich. Und das Bewußtsein stärkte sich immer mehr, daß ich mich selbst schuldig fühlen würde, wenn ich nichts tun würde dagegen… Nur was?
Monate später betrachte ich diesen Angeklagten hier in Frankfurt, der die Zeiten nationalsozialistischer Terrorherrschaft, ebenso wie ich, nicht selbst erlebt hat. Und doch ist sein Vorbild dieser »Führer«, dem Millionen folgten, der »sein« Volk skrupellos und fanatisch ins Unglück führte und soviel Leid verursachte. Und seit Monaten recherchiere ich nun schon über die Neonazis, zusammen mit Graeme Atkinson, dem Europaredakteur der englischen Zeitschrift Searchlight. Graeme ist Berater der Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments zu rassistischen und faschistischen Bestrebungen in Europa. Er hat sein Leben der Aufklärung neofaschistischer Aktivitäten gewidmet und hat sich bei seiner Arbeit mehrfach verdeckt bei Nazigruppen eingeschleust. Graeme ist Experte. Seine Erfahrung sollte mir noch viel wert sein. Heute begegne ich zum erstenmal einem echten Vertreter dieser Gattung. Sogar einem, von dem Graeme weiß, daß er eine wichtige, wenn nicht eine Zentralfigur der deutschen Szene ist.
Wie zusammen mit Graeme geplant, nehme ich mit Kühnen bei der nächsten Verhandlung in einer Pause Kontakt auf. Kühnen verzieht keine Miene, als ich ihn anspreche. Fast habe ich das Gefühl, er hat es schon erwartet. Sofort ist er einverstanden, mir ein Interview zu geben. Zeit und Ort: nach der nächsten Verhandlung, in der Nähe des Gerichts.
Vier Tage später, wieder in Frankfurt. Trotz des Hochbetriebs finden wir in einem Café auf der Zeil, der Einkaufsstraße im Zentrum, den richtigen Platz. Im hinteren Teil des Raumes hinter einer künstlichen Barriere aus Blumen werden wir ungestört sein. Kühnen ist nicht allein. Eine richtige »Mutti« ist mitgekommen, um die Fünfzig, klein, dunkle kurze Haare, freundliches Gesicht. Sie war heute Zeugin in der Verhandlung. Da konnte man den Eindruck bekommen, sie sei eine flüchtige Bekannte von Kühnen. Die meisten Dinge, über die sie befragt wurde, waren ihr »nicht bekannt«. Doch in Wahrheit ist sie eine Schlüsselfigur. Sie heißt Christa Goerth und ist die Vorsitzende der HNG. Die »Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V.« ist eine wichtige neonazistische Sammelorganisation. Über die wirklichen Aufgaben der HNG werde ich später etwas erfahren. Heute bin ich mehr an Kühnen und seiner Organisation interessiert. Doch Christa Goerth weiß, mit welchem Thema man Interesse und Aufmerksamkeit erregt, vielleicht sogar Sympathien gewinnt: »Die Atomkraft ist sowieso ein Verbrechen! Das ist so unverantwortlich, da Hunderte von Atomkraftwerken laufen zu lassen, die jeden Tag und jede Minute so viel Gift produzieren, was nie, nie wieder kaputtgemacht werden kann, was nicht beherrscht wird.«
Nazis gegen Atomkraft – das müßte man mal den Grünen erzählen. Christa Goerth bemerkt meine Verwunderung und sagt: »Das ist also ein solches Verbrechen, daß man da wirklich nur mit aller Gewalt und Macht… da geht eigentlich gar nicht mehr ‘ne sanfte Tour – da geht nur totschlagen.« Vielleicht doch nichts für die Grünen. Kühnen stimmt eifrig zu. Aufmerksam mustert er mich, während Christa Goerth ihr Leipziger Allerlei der Energiepolitik zubereitet. Kühnen zeigt didaktisches Geschick bei seinen Erläuterungen, wie ernst er und seine »Bewegung« es meinen. Er beweist mir im Handumdrehen, daß Neonazis nicht die radikalen Spinner sind, für die ich sie gehalten habe. Radikalität ist Konzept: »Unsere Chancen sehe ich gut: Dieses System löst keines seiner Probleme. Und Probleme, die nicht gelöst werden, die man vor sich herschiebt, die werden nicht kleiner, sondern größer. Und je länger sie vor sich hergeschoben werden, um so mehr wird eine Situation eintreten, die wirklich dann einmal die Lebensumstände der Masse der Bevölkerung so negativ und so einschneidend verändert, daß eine breite Massenunzufriedenheit eintreten wird.« Kühnen übergeht meine Reserviertheit und folgert: »Und daß dann die Massen, wenn sie total unzufrieden sind, wenn sie auf Rebellion und auf Revolution gestimmt sind, sich an denen orientieren werden, die vorher am glaubwürdigsten, längsten, konsequentesten und härtesten Opposition betrieben haben.« Kühnen redet mit Nachdruck. Im Spiegel hinter ihm kann ich beobachten, daß andere Gäste zu uns herüberschauen. Kühnen sieht sich um. Leiser, doch nicht weniger nachdrücklich, setzt er fort: »Und da sehe ich heute meine Aufgabe darin, nichts anderes zu erreichen, als daß jeder, der sich halbwegs für Politik interessiert, weiß, daß es diese Alternative gibt. Dann, wenn diese Krisensituation kommt, werden sie sich daran
erinnern. Da bin ich also ganz sicher. Nur wann die eintritt, da kann ich keine Prognosen abgeben.« 1923 unternimmt Hitler mit wenigen Anhängern einen aufsehenerregenden Putschversuch. Der mußte zwar scheitern, doch damit und durch die Propaganda, die er während seines Prozesses verbreiten darf, macht er die gesamte Bevölkerung auf sich aufmerksam. Hitler wird zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach neun Monaten wird er entlassen und ist zehn Jahre später an der Macht. Kühnen orientiert sich ganz offensichtlich an Hitler. Er will suggerieren, daß die Situation der zwanziger Jahre mit der heutigen vergleichbar sei. Man muß kein Neonazi sein, um dies zu tun. Ein vielzitierter Ausspruch, der sich mit genau diesem Vergleich der Weimarer Republik und der Bundesrepublik auseinandersetzt, lautet: »Bonn ist nicht Weimar.« Damit wird meistens warnenden Stimmen begegnet, die auf eine aufkommende Gefahr für unsere Demokratie durch Rechtsradikalismus hinweisen. Solche Schlagworte sind aber irreführend – denn was zählt, ist die Taktik, mit der vorgegangen wird: geschickt aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung politisches Kapital zu schlagen. Früher war es das »Joch von Versailles« und der »Einfluß des Judentums«, 1989 war es noch die Teilung Deutschlands und das »Ausländerproblem«, heute ist es »Maastricht als Versailles ohne Krieg« und das »Asylantenproblem«. Die Argumente der rechten Parteien sind die gleichen. REP (»Republikaner«), NPD (»Nationaldemokraten«) und DVU (»Deutsche Volksunion«) sowie die offen nazistische FAP (»Freiheitliche Arbeiterpartei«) unterscheiden sich in ihren Aussagen nur durch die Deutlichkeit, die Radikalität, mit der die »Probleme« angeprangert werden. »Die Republikaner sagen, was viele im Volk denken, und ich sage, was viele Republikaner denken.« Kühnen sitzt mir
gegenüber. Mit forschenden Augen registriert er jede meiner Reaktionen. Spielerisch dreht er zwischendurch an seinem silbernen Kettchen, das er am Handgelenk trägt. Er trinkt »Spezi«, eine Mischung aus Coca-Cola und Orangenlimonade. Dankend lehnt er meine Zigaretten ab. Er raucht »Menthol«. Die Zigarette glüht auf, er inhaliert tief und setzt fort: »Ich hab’ gerade vor zwei Tagen in Bielefeld ‘ne kleine Versammlung gehabt, wo die Hälfte Mitglieder von NPD und DVU und Republikanern gewesen sind. Da kam ein sehr aktiver Mann der örtlichen Republikaner zu mir. Er sagt: ›Ich bin Republikaner, ich gehöre der Partei an, ich hoffe, daß ich damit was erreichen kann für meine Vorstellung, aber so kann ich das dann bei den Republikanern natürlich nicht sagen.‹« Im Hintergrund Gläserklirren und Jazzmusik. Kühnen streift die Asche seiner Zigarette ab und fixiert mich: »Und diese Leute sind froh, daß es eben Menschen wie mich gibt, daß es Plattformen gibt, Publikationsmöglichkeiten, ähnliches, wo sie sich aussprechen können. Unsere Existenz führt dazu, daß sich Menschen, die ansonsten in gemäßigten Zusammenhängen sind, eine Art innere Radikalität bewahren. Weil sie eben sehen, andere sagen das so direkt. Und wir profitieren davon, daß eben allgemein die gesellschaftliche Atmosphäre sich ändert. Es ist ein Unterschied, ob man eine Vorstellung vertritt als kleine Minderheit…« Kühnen hat seine Hand auf dem Tisch zur Faust geballt. Jetzt dreht er sie langsam herum und spreizt die Finger. Es sieht aus wie das Aufblühen einer Blume. Oder wie das Öffnen eines Hydra-Rachens. »… oder ob man sich in einer psychologischen Situation weiß, in der 10 Prozent ›national‹ wählen.« Kühnen war schon längst überzeugt: Wenn erst die Teilung Deutschlands überwunden ist, sind alle Weichen gestellt für eine »großdeutsch« völkische Politik. Leider sollte er auf fatale
Weise recht behalten. Eine Untersuchung des INFAS Instituts (Bad Godesberg) vom 12. September 1992 ergibt Alarmierendes: 51 Prozent, also über die Hälfte der Deutschen stimmen mit der Formel »Deutschland den Deutschen« überein. Ein Slogan, der 1989 noch ausschließlich von Rechtsextremisten verwendet wurde. Ich erzähle Kühnen, daß ich vorhabe, einen Roman zu schreiben. Deswegen brauche ich einige Hintergrundinformationen. Von Haus aus arbeite ich aber mit Film. Kühnen steigt sofort darauf ein. »Ja, Filmaufnahmen sind natürlich viel interessanter!« sagt er begeistert. Er weiß, daß Fernsehauftritte einen größeren Effekt erzielen können als Romane. Wie mit Graeme geplant, verspreche ich ihm zunächst, darüber nachzudenken. Das würde mir in der Zukunft immer den Vorteil einbringen, daß meine Filmarbeit eigentlich Kühnens Idee gewesen sei. Und damit könnte ich aufkommendes Mißtrauen abwiegeln. Bei unserem nächsten Treffen, wieder nach der Verhandlung, bringe ich eine Videokamera mit. Wieder ist Kühnen nicht allein. Diesmal ist er in Begleitung von Thomas Brehl, seinem zeitweiligen Stellvertreter. Der war heute als Zeuge der Verteidigung geladen und braucht erst mal – nach der anstrengenden »Entlastungsaussage« – ein Bier. Und genauso sieht er auch aus. Als ich erfahre, daß er eine Wehrsportgruppe aufgebaut hat, frage ich mich, wie er seinen überdimensionalen Bierbauch in eine Uniform gezwängt bekam. Seine Haut ist aufgedunsen, rötlich verfärbt. Kein Wunder, denn er trinkt schon vormittags flaschenweise Bier. Brehl hat nichts von Kühnens Niveau und Ausstrahlung. Im Gegenteil: Er entspricht genau dem Bild des »häßlichen Deutschen«. Brehl ist erst 32, aber er sieht aus wie 45. Ein spröder Oberlippenbart, verbunden mit entsprechend gescheiteltem Kurzhaarschnitt – seine Erscheinung gleicht der eines zu klein
geratenen Ernst Röhm. Der war SA-Führer und enger Vertrauter Hitlers. In NS-Kreisen umstritten wegen seiner Homosexualität, wurde er schließlich Opfer seiner eigenen Gesinnungsgenossen. Im Juni 1934, in einer »Säuberungsaktion«, der sogenannten Nacht der langen Messer, entledigte sich Hitler seines »Kampfgefährten« Röhm und dessen Führungsstab, weil diese ihm nicht mehr ins Konzept paßten. Kühnen und Brehl favorisieren die SA als Sozialrevolutionäre, romantisch zu verklärende, »pure« NSKämpfertruppe. Demnach steht die einst von Röhm geforderte »zweite Revolution« noch aus: die sozialistische. Die »erste Revolution« (die »nationale«) ist der von Hitler und Röhm gemeinsam durchgeführte »Kampf« bis zur Machtergreifung 1933. In diesem »Kampf« räumte Röhm mit seiner SA (Sturmabteilung) den Weg frei für die NSDAP Adolf Hitlers. Es waren brutale Schlägerbanden, die alles niederknüppelten, was sich ihnen in den Weg stellte. Ich schaue Brehl fragend an, doch er spürt meine Abneigung und lehnt die Mitwirkung an dem Interview dankend ab. Für das Gespräch mit Kühnen hatte ich zusammen mit Graeme einen umfangreichen Fragenkatalog erarbeitet. Jetzt sitzen wir in einem Park in der Nähe des Frankfurter Gerichts. Immer wieder wandern seine wachen Augen interessiert zwischen Kamera und mir hin und her. Kühnen erweist sich als rhetorisch sicher. Er hat, wie Hitler, seine Gefängnisaufenthalte genutzt, um seinen liebsten Hobbys nachzugehen: Er schrieb Propagandamanifeste. Und vor allem: Er las. Er ist ein »exzessiver« Leser, verschlingt alles, was er in die Hände bekommt. Sein Lieblingsautor ist aber nicht Hitler. Er schwärmt für Nietzsche und – Science-fiction. Sein selbstverfaßtes Buch heißt »Die zweite Revolution«. Wie
»Mein Kampf« ist es in der Haft geschrieben worden. Diese Parallelen sollen zum »Kühnen-Mythos« beitragen. In unserem Interview bestätigt er seine Kontakte zu den Republikanern und erklärt einige Zusammenhänge der internationalen Naziszene. Als Graeme und ich anschließend die Aufzeichnungen analysieren, stellen wir erstaunt fest, daß Kühnen überaus gut informiert ist. Unsere Suche nach Lügen oder Verdrehungen bleibt erfolglos. Anders verhält es sich freilich, wenn es um die historische Darstellung des Nationalsozialismus geht. Kühnen präsentiert beispielsweise die These, daß die Nazis den Krieg gar nicht angefangen hätten. Der »Beweis« ist ein Faksimileabdruck der englischen Zeitung Daily Express vom 24. März 1933. Darin prangt die Überschrift: »Judea declares war on Germany« (Das Judentum erklärt Deutschland den Krieg). Das Faksimile stammt aus der Deutschen Nationalzeitung, dem Hausblatt der rechtsextremen DVU. Diese Überschrift reicht offenbar aus, den Juden die »Kriegsschuld« in die Schuhe zu schieben. Wider besseres Wissen, denn im gleichen Artikel wird die reißerische Überschrift relativiert. Es handelt sich lediglich um einen Aufruf zum Handelsboykott gegen Deutschland wegen zunehmender Repressalien gegen die Juden. Kühnen haßt die Demokratie und wirft ihr vor, sie sei heuchlerisch, verlogen und selbstsüchtig. Wie Hitler in »Mein Kampf« macht er aus seinen wahren Absichten kein Geheimnis. Er gibt offen zu, daß »alle Mittel der Demokratie genutzt werden müssen, um sie zu beseitigen«. Er bemüht sich, möglichst viele seiner Leute bei den Republikanern und anderen rechten Parteien einzuschleusen und umgekehrt Mitglieder dieser Organisationen für sich zu gewinnen. Mit wechselndem Erfolg. Daß diese Parteien sich, aus taktischen Gründen, offiziell von ihm abgrenzen, ist ihm recht. Enttäuscht ist er allerdings über Harald Neubauer. Der sei durch seinen
Sitz im Europaparlament »etwas größenwahnsinnig geworden. Auch so ein Heuchler. Denn letztendlich war er ja mal froh, zu uns gehören zu dürfen…« Wer ist Harald Neubauer? Der zweite Mann der Republikaner, Franz Schönhubers Kronprinz, Abgeordneter im Europaparlament? »Ja, genau der!« Kühnen lehnt sich zurück. Eine Anspielung, keine weiteren Auskünfte. Ich werde später mehr darüber herausfinden. Zunächst darf ich bei einer »Aktion« dabeisein, die Kühnen vorhat.
Der Bahnhof von Langen ist ein so typischer Bahnhof einer kleinen Stadt, daß er auch der Bahnhof jeder anderen Kleinstadt sein könnte. Die Nähe Frankfurts und Darmstadts machen Langen zur Provinz. Schnellzüge rauschen vorbei, und die Kunden des Bahnhofskiosks werden mit Namen begrüßt. Die traurige Besonderheit des Langener Bahnhofs ist die regelmäßige Anballung von grimmig dreinblickenden Bomber Jackenträgern. Wenn man sich zur rechten Zeit dorthin wagt, dann erkennt man, warum Langen auch »Hauptstadt der Bewegung« genannt wird – natürlich nur in entsprechenden Kreisen und immer mit einem Augenzwinkern. Denn die wahre »Hauptstadt der Bewegung« bleibt München, von wo aus einst Hitler seine Aktivitäten unternahm. Auf der anderen Seite der Straße vor dem Bahnhof befindet sich eine Gaststätte und schräg gegenüber ein italienisches Restaurant, in dem auch schon mal bestimmte Leute vom Kellner mit ausgestrecktem Arm empfangen werden – Mussolini läßt grüßen. Mit einem angemieteten Opel und einem Filmteam finde ich mich pünktlich um 9 Uhr morgens ein. Es gilt, eine von Kühnen initiierte »Aktion« zu filmen. Da Kühnen nicht zu
sehen ist, beschließen wir, uns die Ansammlung von stiefeltragenden Deutschen aus der Distanz anzusehen. Bei unserem Rundblick entdecken wir einen anderen Opel, dessen Insassen, wie wir, das Geschehen aufmerksam beobachten. »Bestimmt die Polizei!« errät der Kameramann und ist erleichtert. »Dann kann uns wenigstens nichts passieren.« Recht hat er. Da kann ich’s ja wagen, die Burschen einmal anzusprechen, denn mittlerweile ist es schon weit über der Zeit. Pünktlichkeit ist nicht gerade ihre Stärke, was ich die nächsten Jahre immer wieder feststellen sollte. Der Junge mit dem braunen Hemd scheint wichtig zu sein. Er erteilt Anweisungen und sieht sich immer wieder mißtrauisch um. Ich stelle mich brav vor und erfahre, daß er hier das Kommando hat und daß »hier gar nicht gefilmt wird, bis der Chef da ist«. Worauf ich mich wie ein begossener Pudel zu meinem Wagen zurückbegebe. Keine zwei Minuten später klopft es am Seitenfenster. »Polizei. Ihre Ausweise bitte!« Weil da ja jeder kommen könnte, bitten wir um seine Legitimation, und man betrachtet gegenseitig Dienstausweis und Pressekarte. Ich nutze die Gelegenheit zum Gespräch mit dem Beamten. Der zeigt sich jedoch zugeknöpft, und ich erfahre nur, daß ich vorhin mit einem Gerald Hess gesprochen habe. Der sei schon bekannt, die anderen nicht so sehr, und Kühnen komme ja auch noch, und im übrigen sei der Hess ein kleiner Raufbold, und er, der Beamte, frage sich, was wir hier eigentlich wollen. Sprach’s und verschwindet im Dienstwagen. Mittlerweile haben sich etwa zwanzig Nazis eingefunden. Und jetzt kommt auch Kühnen in seinem Wagen, ebenfalls einem Opel, einem roten. Er ist in voller Montur, mit Braunhemd, schwarzer Hose und seiner Spiegelbrille, der »Faschistenbrille«, wie der Kameramann bemerkt.
Auf einmal geht alles ganz schnell. Die Hälfte der Gruppe ist plötzlich verschwunden. Sie wollen nicht gefilmt werden. Dann macht sich die Gruppe oder vielmehr das, was übrig ist, auf den Weg, per Automobil. Vornweg Kühnens Wagen, dahinter ein gelber Opel aus Köln, jeweils vollgestopft mit Kühnen-Anhängern, dann wir, das Filmteam im Miet-Opel, und mit leichtem, unauffälligem Abstand der Opel der Ordnungshüter, gefolgt von einem weiteren Polizei-Opel (auch zivil). Doch nach all der konspirativen Stimmung bewegt sich, wie in einem mißlungenen Werbespot, die Opel-Kolonne von Dorf zu Dorf. Regelmäßig wird angehalten, die Nazis verteilen einfach ihre Flugblätter (»Deutsche – wacht auf! – Ausländer raus!«). Wir filmen, die Polizei fotografiert. Ein »ausgeglichenes« Verhältnis: zehn Nazis, drei Journalisten und sechs Polizisten. Es ist einfach lächerlich.
Drei Jahre später sollte mir das Lachen endgültig vergangen sein. 34 Menschen werden in dieser Zeit von Rechtsradikalen umgebracht. Flüchtlingsheime gehen in Flammen auf, und die Polizeipräsenz sollte nicht mehr sechs zu zehn betragen, sondern ganze Einsatzzüge der Polizei werden bereitstehen, aber zögern einzugreifen. Nicht zuletzt aus Angst, dabei selber von einer Übermacht haßerfüllter Schläger Prügel zu beziehen. Ich sollte dabeisein und zusehen müssen, wie der harte Kader für den Straßenkampf eingeschworen, Jugendliche indoktriniert und der Haß ungebremst geschürt wird.
Im Reich des Hasses
Der Kommentar dröhnt aus dem Lautsprecher: »Die Ratten begleiten als Schmarotzer den Menschen von seinen Anfängen an. Ihre Heimat ist Asien. Von dort aus wandern sie in riesigen Scharen über Rußland und die Balkanländer nach Europa.« Beunruhigend breitet sich ein Netz von Linien auf dem Bildschirm aus. Die braune Wanderratte überschwemmt Europa. Schnitt. Die gleichen Linien, aber diesmal ist es die Wanderbewegung der Juden. »Gibt’s ja nicht!« Der Jugendliche neben mir ist empört über die »Frechheit« der Juden, sich einfach so auszubreiten. Der Film flackert unruhig. In dem abgedunkelten Raum sitzen die Zuschauer gebannt. Hin und wieder schimpft jemand lautstark. Die Ratten laufen im Bildschirm auf uns zu. Der Kommentator belehrt in entschiedenem, betont informativem Tonfall: »Wo Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land, zerstören sie menschliche Güter und Nahrungsmittel, verbreiten sie Krankheiten: Lepra, Pest, Typhus, Cholera, Ruhr usw…. Sie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen, unterirdischen Zerstörung dar, nicht anders als die Juden unter den Menschen.« Damit erfolgt eine Blende von dem Rattengewimmel auf eine Gruppe von Juden. Dann folgen Großaufnahmen der Gesichter. Weil man gerade die Ratten gesehen hat, kommen einem die Gesichtszüge plötzlich auch irgendwie »heimtückisch« vor. Die meisten im Raum geben ihrem
Abscheu Ausdruck. Einer schüttelt sich sogar angewidert. Die Musik wird unangenehm, zerrend. Als sei dies noch nicht genug, setzt der Kommentar noch eins drauf: »Diese Physiognomien widerlegen schlagend die liberalistischen Theorien von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt.« Allgemeine Zustimmung. So ähnlich könnte die Atmosphäre bei einer Vorstellung des Filmes »Der ewige Jude« im Jahre 1941 gewesen sein, als er im größten Filmpalast Berlins gezeigt wurde. Aber diese Szene spielt sich 1990 ab. Wie »Jud Süß« und »Juden sehen dich an« gehört dieser Film nach wie vor zum Standardprogramm der Indoktrination. Die Zuschauer sind Schüler und Lehrlinge, junge Arbeiter und Gesellen. Ich schätze ihr Alter auf 15 bis 20 Jahre. Gerald Hess hat neue Anhänger bei sich zu Hause versammelt. Sie haben sich auf Flugblätter gemeldet oder wurden von »Kameraden« mitgebracht. Für einige ist es das erste Kennenlernen. Kühnen, Gerald Hess und sein Vater Wolfgang Hess sitzen parat, um etwaige Unsicherheiten auszubügeln und die Botschaft des Films in die heutige Zeit zu transportieren. Ich kann es kaum glauben: Der Hetzfilm zeigt Wirkung. »Ich hab’ nicht viel von den Juden gehört«, sagt einer, dem noch die Pickel auf den Wangen blühen, »hab’ gehört, daß das eben Geschäftsleute sind. Aber daß das solche Leute sind…« Ein anderer hat die Rituale des Judentums nicht richtig verstanden: »Juden schlachten Schweine«, stellt er fest und gibt entrüstet kund: »Aber daß die die Tiere so quälen, das finde ich Scheiße.« Ihn haben die blutrünstigen Szenen des Films beeindruckt, in denen Rinder geschächtet werden. Eine Großaufnahme des jüdischen Schächters, der in die Kamera lächelt, während er das Messer wetzt, unterstützte dabei die vorgebliche
Grausamkeit der Juden, denn im Anschluß sieht man einen tiefen Schnitt in die Halsschlagader des Tieres. Eine Szene, die sogar Goebbels, Hitlers raffinierter Propagandaminister, der diesen Film in Auftrag gab, nur für ein ausgesuchtes Publikum zuließ. Welcher Haß dabei entsteht, zeigt der Skinhead neben mir, der sich in brutaler Rächerpose gefällt: »Den Juden müßte man den Hals abschneiden, bis sie auch verbluten…« Ein Mädchen nickt bestätigend, als ihr Freund erbost zu der Erkenntnis kommt: »Das ist totale Tierquälerei.« Und der hagere Jüngling mit Flaum auf der Oberlippe faßt zusammen, was er daraus gelernt hat: »Das sind doch alles Schweine!« Einer, der sich bis jetzt scheu zurückgehalten hat, beweist mir, wie perfekt diese Indoktrination bei ihm funktioniert. Der Junge ist vielleicht 17 Jahre alt und sieht überhaupt nicht aus, als könnte er jemals gewalttätig sein. Eher schüchtern, verschämt druckst er herum, schiebt sich die Brille zurecht, und mit fast piepsiger, heller Stimme vermerkt er, beinahe wie zu sich selbst: »Man kann sich jetzt wenigstens hineinfühlen, auch wenn ich nicht in der Zeit damals geboren bin…« Gerald Hess bestärkt ihn: »An sich kannst du 90 Prozent von dem auf die heutige Zeit übertragen…« Sein Vater Wolfgang ist sich der Präsenz meiner Kamera bewußt. Als sei dies ein Fortbildungskurs, fragt er mit seiner tiefen, schneidenden Stimme in die Runde: »Was sagt euch dieser Film?« – Die Frage hat sich bereits erübrigt. Wolfgang Hess, eine eher brutale Erscheinung, Mitte Vierzig, mit tätowierten Armen und Dreitagebart, ist manchmal arbeitslos, manchmal Dachdecker. Er ist »Antizionist« (er betont, er sei kein Antisemit), Waffenexperte, vorbestrafter Knastbruder. Mißtrauisch und schlau, ein alter Fuchs.
Aber auch Kamerad und Familienvater. Sein jüngstes Kind ist gerade zwei Jahre alt. Die Mutter des Kindes, seine Freundin, könnte fast seine Tochter sein. Die beiden sind fast überall dabei, wo Wolfgang Hess auftritt. Wolfgang Hess ist Anführer der AZA (»Anti-Zionistische Aktion«) und pflegt Beziehungen zu Nazis in Südafrika. Nebenbei betätigt er sich als »Pfadfinder«, wenn Räumlichkeiten für Versammlungen beschafft werden müssen. Heute übernimmt er die Rolle des Sachverständigen für den Zionismus. Er ist gefährlich, weil radikal genug, um anerkannt zu werden, und schlau genug, sich nicht zu oft von der Polizei dabei erwischen zu lassen. Während Wolfgang Hess über die Juden schwadroniert (»In Politik und Wirtschaft: alles Juden!«), kommt in mir ein Gefühl der Resignation auf.
Dieser Film, der ja der Initialzünder für meine ersten Recherchen in die Vergangenheit war, wirkt nach wie vor. Der von Haß fast explodierende und darüber hinaus auch noch völlig verlogene Text wurde von einem Dr. Eberhard Taubert geschrieben. Nicht nur, daß er dafür nie verurteilt wurde: Nach dem Krieg arbeitete er ungestört für die Bundesregierung und ab 1980 für die Bundeswehr weiter, Abteilung »Psychologische Verteidigung«. Und der für die Produktion verantwortliche »Gestalter« des »Ewigen Juden«, Dr. Fritz Hippler, rühmt sich in seinen Memoiren (»Die Verstrickung«, 1981) der guten Bekanntschaft mit Walter Scheel, dem ehemaligen Bundespräsidenten. Sogar ein Foto von ihm mit Scheel bei sich zu Hause läßt er darin abdrucken. Als Propagandist versteht es sich fast von selbst, nach dem Krieg als Werbeleiter zu arbeiten. In seinem Fall nicht etwa bei einer
Rechtsaußenpartei, sondern bei keiner anderen als der FDP, der liberalen Partei, wo er im Landesverband NordrheinWestfalen unter anderem mit »Walter Scheel eng zusammenarbeitet«. Dann wird er literarisch. Kostprobe aus seinem Buch »Meinungsdressur« (1985): »Gewiß ging es den Negern Afrikas nie schlechter als in der kurzen Zeit nach ihrer ›Befreiung‹. Wo es ihnen aber besser geht denn je, nämlich in Südafrika, werden sie von den Progressiven über das Untragbare ihres Elends aufgeklärt und zum ›Freiheitskampf‹ angestachelt…« Heute schreibt Hippler wieder für »nationale«, das heißt reaktionäre und neonazistische, Blätter wie Nationalzeitung oder Nation. Dieses »politische Magazin für Deutsche« bezeichnet die beiden Weltkriege als »zwei Vernichtungsfeldzüge gegen Deutschland« und freut sich über die neue deutsche Dominanz in Europa: »Diesen europäischen EG-Saftladen beherrschen die Deutschen noch in ihren letzten völkischen Zuckungen.« Hippler und Taubert, der Reichsfilmintendant und der Hetzpropagandist. Sie sind Stehaufmännchen der Verdrängung wie viele andere. Ihre Saat von damals ist gesät und wuchert und gedeiht. So haben sie noch heute Erfolge mit ihrer Hetze zu verzeichnen. Ganz ungestraft, fünfzig Jahre nach der Herstellung des Films, trotz verlorenem Krieg, trotz Verbot, trotz Demokratie.
»Und welcher Feind auch kommt mit Macht und List, bleibt ewig treu, ihr Kameraden…« Schrille Pfiffe lassen den Rest des Liedes untergehen. Dazu ein Polizeihubschrauber, der unmittelbar über unseren Köpfen dröhnt.
Als am 19. August 1989 in einer kleinen Stadt in Bayern das »nationale Lager« aufmarschiert, gibt es Proteste: »Nazis raus, Nazis raus!« rufen die, die nicht pfeifen. Doch die Nazis, sie singen unverdrossen weiter. Zwischen den Häuserfronten des Städtchens drängen sich etwa fünfhundert »Rechte« und ungefähr ebenso viele gegnerische »Linke«. In der Mitte der engen Straße marschieren die jungen und alten Hitleranhänger fahnenschwenkend, teils uniformiert mit Schwarz- oder Braunhemd und bemüht gemessenen Schrittes. Außen die Gegendemonstranten, ungewollt im gleichen Schritt. Dazwischen weißbehelmte Polizisten. Aus den anliegenden Häusern beglotzen die Bewohner das Spektakel; eine ältere Frau hat es sich mit einem Kissen auf dem Fenstersims bequem gemacht. Sie blickt neugierig herunter auf den langen Zug skandierender Demonstranten, der sich mit ohrenbetäubendem Lärm durch das Städtchen zwängt. »Jetzt ist aber Schluß damit, kapiert?!« ermahnt der schlagstockbewehrte Polizist lautstark den Skinhead, der ausscheren wollte, um einen Gegendemonstranten mit Prügel zu bedenken. Immer wieder kommt es zu Rangeleien zwischen den Demonstranten, die von den Polizisten schnellstens wieder getrennt werden. Die Antifa, die Antifaschisten, begleiten den Aufmarsch, um den Nazis zu zeigen, daß ihr öffentliches Auftreten nicht einfach so geduldet wird. Die Bürgerschreckrolle übernehmen buntgekleidete Punker mit grellgefärbten Phantasiefrisuren. Kein Wunder, daß sie mit den kahlrasierten Naziskins aneinandergeraten. Andere Antifaschisten sehen selbst eher bürgerlich aus. Trotz der gegenseitigen Ablehnung kommt es hin und wieder zu »Gesprächen«, die aber meist im allgemeinen Radau untergehen. Ein junger Antifaschist in Bundeswehrparka versucht den Dialog: »Mein Opa war auch im Krieg, der hat mir aber was
anderes erzählt!« ruft er über die Polizeikette einem weißhaarigen Marschteilnehmer zu. Der wedelt mit seiner papiernen Minifahne, Marke Deutsches Reich – SchwarzWeiß-Rot, und singt: »Vaterland, wir kommen schon!« Mit einem resignierenden »O Gott« greift sich der Junge demonstrativ an den Kopf und wendet sich ab. Der Slogan des Tages ist »Rudolf Heß – Märtyrer für Deutschland«. Hundertfach prangt sein Bild von den Plakaten der Marschteilnehmer. Wunsiedel im August 1989. Wir sind im Norden Bayerns. Bayreuth ist nicht fern. Hier ist das Grab des Stellvertreters von Adolf Hitler. Rudolf Heß, der im Mai 1941 nach England flog, wird von den Neonazis deshalb fälschlich als »Friedensflieger« bezeichnet. Denn sein einziges Anliegen war, England zu einem Waffenstillstand zu bewegen, damit Deutschland den Rücken frei gehabt hätte, um ungestört mit Rußland fertig zu werden. Sein eigenmächtiger, naiver Plan scheiterte, Hitler ließ ihn für verrückt erklären, und Hess war von da an Kriegsgefangener der Alliierten. Er starb 1987 als letzter Häftling der Nürnberger Prozesse im alliierten Militärgefängnis Berlin-Spandau. Selbstmord, sagen die Behörden. Mordvorwürfe werden von den Neonazis erhoben, das macht sich besser zur Legendenbildung. Fest steht, daß Rudolf Heß 92 Jahre alt wurde. Jetzt liegt er hier und macht Wunsiedel zum Wallfahrtsort der Rechtsextremisten. Mittlerweile hat der Aufmarsch internationale Bedeutung. Ich kann Fetzen von Spanisch, Englisch und Französisch verstehen. Das erstemal stoße ich auf ausländische Neofaschisten, die hier die Gelegenheit nutzen, ihre deutschen Gesinnungsgenossen zu treffen.
Mitglieder des »British Movement« sind dabei, der FNE (»Faisceaux Nationalistes Européens«) aus Frankreich und der CEDADE (»Circulo Espanol de Amigos de Europa«) aus Spanien. Außerdem sieht man die Anhänger des VMO (»Vlaamese Militanten Orden«) um den Belgier Bert Eriksson sowie der holländischen ANS/NL (»Aktionsfront Nationaler Sozialisten – Gau Niederlande«). Ähnliche Treffen finden auch regelmäßig in Diksmuide in Belgien und Spanien statt. In den folgenden Jahren avanciert der Wunsiedel-Marsch zu einem der größten internationalen Treffen, was in der öffentlichen Berichterstattung zum großen Teil gar nicht wahrgenommen wird. Als ein Jahr später bereits Gastreden von spanischen und französischen Neofaschisten zu hören sind, ist man sich der Brisanz internationaler Kooperation immer noch nicht bewußt. Immer wieder weiche ich mit meiner Kamera den Störattacken der Ordner aus, denen Kameraleute und Fotografen nicht passen. Sie greifen mit Vorliebe in die Optik oder stellen sich mit dem Rücken dicht vor die Kamera. Später, nachdem man sich kennengelernt hat, sollte ich bei solchen Aufmärschen aber von den gleichen Ordnern sogar vor den eigenen Leuten geschützt werden. Da sollte der unangenehme Effekt eintreten, daß ich fühle, wie mich die Passanten ebenfalls für einen Nazi halten. Auch sollte ich mehr als einmal Angst verspüren, bei einer drohenden Schlägerei in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Doch das gehört zum Berufsrisiko. »Ich hatt’ einen Kameraden, einen besseren gibt es nicht…«, singen rund vierhundert Stimmen, im Karree aufgestellt, gegen den brummenden Hubschrauber an, der in endlosen Schleifen seine Kreise zieht. Ein schwarzhaariger schlanker Mann, etwa Mitte Dreißig, steht vorne. Er war auch schon an der Spitze des
Zuges marschiert, zusammen mit Wolfgang Hess (weder verwandt noch verschwägert mit Rudolf) und Thomas Brehl. Jetzt führt er sein Megaphon zum Mund. Kameras um mich herum klicken. Leise höre ich die Frage eines Reporters an seinen Kollegen: »Wer ist denn das schon wieder?« »Der Worch, glaube ich.« »Woich?« »Nee, W-o-r-c-h, mit ›r‹.« »Vorname?« »Christian! Kommt aus Hamburg.« »Wichtig?« Weiter kommen sie nicht, denn Christian Worch setzt sich, elektronisch verstärkt, lautstark durch: »Es ist jetzt das dritte Jahr im August, daß deutsche Menschen, die sich ihr Deutschtum, ihr deutsches Bewußtsein erhalten haben, nach Wunsiedel kommen.« Worchs Stimme klingt hell. Wie Aluminium, denke ich. Worch ist Notargehilfe und enger Vertrauter von Michael Kühnen. Er klagt die Haltung der Behörden an, die den Naziaufmarsch verbieten wollten und eine Gegendemonstration zuließen, und deren Teilnehmer werden in Worchs – vor haßvoller Empörung etwas konfuser – Rede so bezeichnet: »Die Haltung nämlich, daß sich der Pöbel auf der Straße, von betrunkenen Asozialen über Gestalten, deren beste Freunde Ratten zu sein scheinen – weiße, graue, zweibeinige –, daß dieser Pöbel sich leisten kann, was immer er sich gerade leisten möchte.« Mir fällt der Begriff LTI ein, den Victor Klemperer prägte. »Lingua Tertii Imperii«, die Sprache des Dritten Reichs.∗ ∗
Die Terminologie des Nationalsozialismus ist geprägt durch das Verwenden von biologischen Vergleichen (»Ratten«, »Zecken«, »Geschmeiß«) zur Herabsetzung der Aggressionshemmung gegenüber
Worchs scharf angerolltes, schneidendes »R« paßt zum entrüsteten aburteilenden Ton. Seine Zuhörerschaft ist bunt gemischt. Skinheads, Bundhosenträger, alte Männer mit Filzhut und Gamsbart, grimmige Schlägertypen und sauber gekämmte, blonde »Kerle« im Trachtenjanker, die vor Arierblut fast platzen. Mädchen sind dabei, sowohl im Dirndl als auch im Nazilook mit schwarzem Rock und weißer Bluse, manche sogar mit Bomberjacke wie ihre Freunde, die Skins. Viele haben auf Uniformierung verzichtet, und ihre Anwesenheit ist fast noch beängstigender, denn sie sehen so »normal« aus. Anonym und unauffällig repräsentieren sie einen Teil unserer Bevölkerung, von dem niemand weiß, wie groß der Anteil ist, wie viele so denken. Hier sind sie vereint im Haß. Worch, der Glattrasierte, er ist der »Herrenmensch«, Elite: »Ich brauche nur einen Blick in die Runde zu werfen, und ich brauche mir nur die Gestalten in Erinnerung zu rufen, die unseren Weg links und rechts säumten – wie in den Dürerschen Bildern die Teufel aus der tiefsten Hölle –: Was ich hier sehe, ist anständiges, positives, kerndeutsches Menschenmaterial…«
»biologisch Minderwertigen«. Weiterhin durch Singularisierung (»der Russe«, »der Jude« usw.) als Inbegriff ganzer (Volks)-Gruppen, wodurch pauschale Vorurteile vereinfacht werden (»Der Neger stinkt«, »Der Pole ist faul«). Drittes Merkmal ist die Verwendung von Tarnbegriffen, die harmlos klingen und meist mörderische Vorgänge bezeichnen (»Sonderbehandlung« = Exekution, T4 = »Euthanasie« = »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, benannt nach dem Sitz der Organisation in der Tiergartenstaße 4 in Berlin, »Zigeunerbaron« = Deportation und Massenerschießung im Rahmen der Partisanenbekämpfung im Osten). Ein typisches Tarnkürzel der Neonazis ist z.B. »88« (der achte Buchstabe im Alphabet ist »H«), 88 bedeutet HH = Heil Hitler.
Gerald Hess zupft mich am Ärmel: »Wir hauen ab hier, kommst du mit?« Ich habe genug vom Menschenmaterial. »Klar!« sage ich. »Wohin?« Gerald, mit dem ich seit ein paar Wochen regelmäßig telefoniere, lädt mich ein, zum »Durstlöschen«. Eine gute Idee, denn mir klebt von dem Umhergerenne die Zunge am Gaumen. Kurz darauf sitzen wir in einer überfüllten Kneipe. Neben mir ein tätowierter Skinhead. Er hat seine Koteletten so weit herunterwachsen lassen, daß es aussieht wie ein Backenbart. Seine blonden Haare sind bereits etwas schütter, so daß er nicht mehr viel abrasieren muß, um skinheadgemäß auszusehen. Ich schätze ihn auf etwa 35. Gerald stellt ihn mir vor: »Thomas Hainke aus Bielefeld. Gau Ostwestfalen-Lippe.« Wie Gerald Hess ist Hainke ein Unterführer Michael Kühnens: Gauleiter. Die Neonazis haben (konsequenterweise) die alten Begriffe des Dritten Reichs auch in die Kaderstruktur übernommen. Ein »Gau« ist ein geographischer Bereich, zum Beispiel »Gau Franken« oder »Gau Hamburg«. Es stellt sich heraus, daß er erst 21 Jahre alt ist. Ich bin erstaunt. »Tja, kannste mal sehen«, sagte er grinsend, »so ein Job macht alt!« Die Spannung des Tages fällt von uns ab. Das kalte Bier schmeckt wunderbar. Gegen Biertrinken ist nichts einzuwenden. Bei den Skinheads jedoch ist es Ritual, sich regelmäßig zu betrinken. Hainke trinkt selbst zwar nicht übermäßig, aber er hat Verständnis für die »Dröhnung seiner Jungs«. Hainke, vielleicht verblüfft von meiner Zudringlichkeit, läßt sich darauf ein, daß ich seine Tätowierungen filme. »Die hab’ ich aber am ganzen Oberkörper«, deutet er mir mit einer Kreisbewegung an. »Na dann – runter mit dem Hemd!« fordere ich ihn auf.
»Was, hier vor all den Leuten? Nee, nee!« »Ja, was sonst?« sage ich, während ich schon die Kamera auspacke. Gerald Hess, von der Idee begeistert, schlägt vor, in das obere Stockwerk zu gehen. Gesagt, getan. Wir finden ein Plätzchen im Flur, Gerald besorgt zwei Stühle, und schon geht’s los. Thomas Hainke, der Gauleiter, zieht sein Hemd über den Kopf und präsentiert mir die bunte Pracht. Meisterwerke eines Tätowierers. Drachen, Spinnennetze, Adler und Sensemann. Dazwischen ein Wappen, natürlich in Schwarz-Weiß-Rot, und auf der Schulter ein Hinweis, dessen es nicht unbedingt bedurft hätte: »Skins«. Thomas Hainke beugt sich auf seinem Stuhl nach vorn, als ich mit meiner Kamera dicht an ihn herangehe. Da stoppe ich plötzlich. Eine kreisförmige, noch blutverkrustete tiefe Narbe verunstaltet seine Schulter. »Ein Glas…«, erklärt er. »Schlägerei. Ein Punker!« Keine Frage: Hainke ist militant. Nicht umsonst wird er als »Skinheadchef« angesehen. Er ist einer der aktivsten Anhänger Michael Kühnens und geht »Schwierigkeiten« nicht aus dem Wege. Seine Truppe ist straff organisiert und von Ausländern und Linken wegen ihrer Gewalttätigkeit gefürchtet. Ich werde Hainke noch oft treffen. Es wird wie ein Ritual werden, daß ich mich dabei jedesmal nach seinen neusten Blessuren erkundige. Trotz seiner Gewaltbereitschaft ist Hainke ein ernsthafter junger Mann, der sich seiner Widersprüchlichkeit bewußt ist. Er wird später eine Schlüsselrolle in der Irak-Affäre spielen: Das Vorhaben, eine nazistische Söldnertruppe in den Golf krieg zu senden, erregt internationales Aufsehen. Hainke fädelt dafür die Kontakte zur irakischen Botschaft ein. Später geht er wiederholt als paramilitärischer Söldner nach Kroatien, wo faschistische Schützenhilfe schon Tradition hat. Im Großraum Osijek will Hainke für die »Erhaltung der weißen Rasse gegen das
Serbentum« kämpfen. Stolz brüstet er sich mit einer militärischen Auszeichnung, die er »für sechzehn erschossene Serben« erhält. Er ist felsenfest überzeugter Nationalsozialist, war dies schon mit 13 Jahren, als er Kühnens Organisation beitrat. Wie die meisten wird er bestärkt durch die Ablehnung, die er durch die Gesellschaft erfährt. Mehrfach wurde ihm als Arbeiter gekündigt, wofür er sogar Verständnis hat. Er will seinen Weg gehen mit der Vision, einmal selbst auf der Seite der Macht zu stehen. Auch er bestätigt die Verwebung des harten Naziuntergrundes mit der Grauzone der Parteiorganisationen, die in den Parlamenten sitzen. »Natürlich haben wir auch gute Kontakte zu den Republikanern und der NPD, DVU und so weiter«, erklärt er ruhig – wie Kühnen vor einigen Wochen. Hainke redet konzentriert. Von Zeit zu Zeit kneift er die Lippen zusammen oder zieht die Augenbrauen hoch, wenn er mir von seinen Verhaftungen und Schlägereien erzählt. »Meistens passiert was mit Punks oder Niggern«, sagt er verächtlich, »wenn man sich auf der Straße begegnet, dann wechselt man eben die Straßenseite nicht! Aber das geht doch ziemlich schnell dann. Entweder die oder wir…« Hainke sitzt mit heruntergezogenem Hemd vor mir. Gerald Hess hat sich neben uns auf den Boden gesetzt. Es ist eine vertrauliche, fast intime Atmosphäre im Raum. Als ich frage, wie ich ihn in Zukunft erreichen kann, erhalte ich als Kontaktstelle nur Christa Goerths Telefonnummer. Das ist die Frau, die ich beim ersten Gespräch mit Kühnen kennengelernt habe. Er vergißt keinen Augenblick lang: Ich gehöre zu seinen Feinden wie alle, die nicht Freunde sind: Außenstehende, »Demokröten«.
Der Gasthof »Waldfrieden« ist eine abgelegene kleine Landkneipe in der Nähe von Wunsiedel. Im Schummerlicht der rustikalen Gaststube haben sich etwa 35 Personen eingefunden. Es geht ausgelassen zu. Man trinkt, feiert, singt. Außer den 35 sind nicht viele Gäste da. Und die wenigen, die nicht dazugehören, sehen dem Treiben ruhig zu. Bei alledem ist man in unmittelbarer Nähe Bayreuths, des Wagnerorts. Und hier hat man für Musik immer etwas übrig, besonders wenn sie deutsch ist. Was da gesungen wird, ist allerdings mehr als deutsch: Ein kräftiger, etwa 30jähriger Österreicher mit Nickelbrille und kurzgeschorenem Haar hat seine Gitarre gezückt und stimmt eine lustige Melodie an, die Melodie des Schlagers »Pretty Bellinda«. Der neue Text dazu aber ist voller Haß: »Mit dem Parlament, da ist’s ein Jammer, in zwanzig Jahren ist eine Gaskammer, dann kann man durch Reden nichts mehr erreichen, und es gibt einzig schöne Gasleichen. Und sind wir dann die alleinige Führung, dann weinen sie alle im Tode vor Rührung, die Juden, die andern, die nötige Reife, sind prädestiniert zu – schöner Kernseife.« Den Refrain kennt man hier schon, alle singen mit: »Wartet, ihr Brüder, weil wir kommen wieder und hauen das rote Gesindel darnieder, wartet, ihr Brüder, denn jetzt kommt die Rache, Juda verrecke, und Deutschland erwache!« Die hier versammelten Nazis wollen ungestört sein. Der Wirt, drei andere Gäste und die Kellnerin verhalten sich, als sei das gespenstische Geschehen dieses Abends normal. Routiniert werden die großen Biergläser serviert und bayerische Schlachtplatten mit Sauerkraut aufgetragen. Die Gäste tragen das braune Uniformhemd im SA-Stil oder andere Uniformteile, der Haarschnitt ist allgemein kurz, meist der sogenannte Stahlhelmschnitt (bis über die Ohren rasiert), oder gleich ganz Glatze, die Skinheadfrisur. Einige der Jüngeren sehen aus wie
Statisten in einem schlechten Film. Mit verschobenem Kinn und starren Augen wirken sie wie eine Persiflage auf sich selbst. Wenn sie zu den Marschmelodien auf den Tisch hauen, daß das Bier in den Gläsern hochschwappt, dann könnte das zwar auch ein Anblick im Münchner Hofbräuhaus zur Zeit des Oktoberfestes sein. Doch die hier Versammelten sind noch »deutscher«: Sie sehen aus wie zum Leben erwachte Fossilien des Dritten Reichs, mit Runenzeichen auf den Hemdsärmeln, mit Hakenkreuzanhängern, ledernem Schulterriemen und dem entschlossenen Gesichtsausdruck von Hitlerjungen. Das Gesangsrepertoire reicht vom selbstkreierten Schlagerverschnitt mit verändertem Text über Nazilieder des Dritten Reiches bis zum mittelalterlichen Landsknechtlied. Da niemand stört, ist die Stimmung zunehmend ausgelassen. Der einzige Fremdkörper bin ich, und ich ziehe es vor, »die Schnauze zu halten«. Deshalb und weil Gerald Hess mich eingeführt hat, werde ich akzeptiert. Ich kann mit dem Österreicher, Gottfried Küssel, ein Interview führen und darf alles mit meiner Videokamera filmen. Zusätzlich stelle ich an seinem Tisch ein kleines Tonbandgerät auf. Er ist der »Bereichsleiter Ostmark« (so nannten die Nazis Österreich). Und sein fleischiges Gesicht verrät, daß er dabei keinen Hunger leidet. Gottfried Küssel aus Wien ist aber nicht fett, er ist massiv. Auch sein Gesichtsausdruck. Die Backenpartie ist wuchtig im Vergleich zu Nase und Mund, dessen leichte Geschwungenheit in seltsamem Kontrast zum starken Kinn steht. »Ich bin kein Faschist!« erklärt er mir. »Ich bin Sozialist, aber kein internationaler Sozialist, ich bin Nationalsozialist.« Mir leuchtet das ein, aber ich frage ihn trotzdem nach seinen internationalen Kontakten, wobei er Kontakte mit »amerikanischen Nationalisten« angibt. Er überlegt kurz, dann
setzt er hinzu: »Wir haben auch Kontakt zu Vertretern der Black Muslims.« »Black Muslims«, sage ich, »das sind doch Schwarze?« Er nennt keine Namen. Aber angeblich will er bereits Verhandlungen mit dem zweiten Mann der US-amerikanischen Schwarzenbewegung geführt haben. Gleiche Ziele: Separatismus zwischen Schwarzen und Weißen, also keine »Rassenvermischung« – und zwar radikal. Ein Wesenszug der Radikalität ist Intoleranz. Toleranz wird als Schwäche ausgelegt, und so ist zu verstehen, daß die Rechten weltweit alle diejenigen unterstützen, die sich durch Intoleranz und Brutalität hervortun. Le Pen in Frankreich unterstützte den Diktator Saddam Hussein genauso, wie es die deutschen Neonazis taten. Weitere »Vorbilder« sind so blutrünstige Figuren wie Pol Pot, der Führer der kommunistischen Roten Khmer in Kambodscha, die einen Genozid am eigenen Volk verübten, und der frühere rumänische Diktator Nicolae Ceauçescu sowie der in Terroristenkreisen angesehene libysche »Revolutionsführer« Muammar Al Kadhdhafi. So gesehen ist durchaus möglich, daß auch Verbindungen zwischen Neonazis und den radikalen Black Muslims bestehen. Küssel arbeitet also mit Leuten zusammen, die er eigentlich als »rassisch minderwertig« betrachtet. »Politics makes strange bedpartners« – in der Politik gibt es seltsame Liebschaften. Und das nicht nur in Amerika, Kontakt und Zusammenarbeit pflegt seine Organisation auch mit Nationalisten in Afrika. »Auch was Afrika betrifft, der Antisemitismus der schwarzen Bevölkerung wächst spürbar…«, leitet er die weidlich bekannte Theorie der »Ausbeutung durch eine verschworene Clique der internationalen Finanzwelt« ein. Manchmal habe ich Schwierigkeiten, seine Augen zu sehen, denn die Gläser der Nickelbrille reflektieren stark. Doch er schaut mich
durchweg mit etwas spöttischem Blick an. Manchmal hebt er kurz den Kopf und bläst seine Backen auf, wenn er überlegen muß. Die gestaute Luft entfährt ihm, sobald er weiterweiß, mit leichtem »Phhf«. Immer wieder schüttelt er verneinend den Kopf, wenn ihm eine Frage unpassend erscheint. »Die Neger…«, faßt er schließlich zusammen, »kommen mittlerweile drauf, daß diese Herren krummere Nasen haben als Durchschnittsbürger und ihre Heimat in Israel besitzen.« »Also die Juden«, sage ich müde. »Natürlich die Juden, na klar!« erwidert er fröhlich. Ob er denn Juden kennt, will ich wissen. Küssel schaut mich mitleidig an. Da er in Wien lebt, so klärt er mich auf, sei es normal, den einen oder anderen Juden zu kennen. Allerdings ist er nicht in der Lage, mir auch nur eine einzige schlechte persönliche Erfahrung mit einem Juden zu nennen. Doch bei den Gesprächen am Tisch habe ich immer wieder die abfälligen Begriffe »Krummnase« und »Judenbengel« gehört, sein Haß muß also etwas anderem entspringen als eigener Erfahrung. Ich frage nach. »Ich bin Antisemit«, sagt Küssel. Er sieht mich vorwurfsvoll an, als ob das doch etwas Normales wäre. Nur seine Nasenflügel bewegen sich, während er auf meine Reaktion wartet. Das sieht sehr komisch aus, und ich werde unvorsichtig: »Was würden Sie sagen, wenn ich Jude wäre?« Küssels Augen werden für einen Augenblick schmal. Mir wird klar, daß meine Frage ungeschickt war, aber nun ist es zu spät. Küssel antwortet blitzschnell und scharf: »Gestatten, Küssel«, sagt er, als wolle er sich vorstellen. Und während er leicht den Kopf zur Seite nimmt, als nähme er mir mein Untermenschendasein nicht allzu übel, setzt er hierzu: »Normalerweise stellt man sich vor, vor Beginn des Gesprächs.«
Also: »Guten Tag. Mein Name ist Schmidt, Jude.« Das wäre für ihn die korrekte Ansprache gewesen für den Fall, daß ich Jude wäre. Bin ich aber nicht, und ich beeile mich auch, ihm das zu sagen. Später habe ich mich gefragt: Warum eigentlich? Feigheit, mangelnde Zivilcourage, Angst…? Vermutlich eine Mischung aus allem. Küssel ist jetzt mißtrauisch geworden und mustert mich, als ob er an meiner Nase oder den Ohren feststellen könne, ob ich Jude sei oder nicht. Dann lenke ich das Thema doch lieber noch mal auf seine Kontakte in Afrika. Als ich wissen will, wer denn diese Schwarzen sind, die mit Nazis zusammenarbeiten, fängt er an: »Das sind Vertreter von nationalpolitischen Organisationen, die also im Fahrwasser eines…« Hier gerät er ins Stocken. Er überlegt peinlich lange und kommt zu dem Schluß: »Das kann ich jetzt nicht sagen, ich kann den Namen nicht nennen… Es ist ein weltweit bekannter Freiheitskämpfer.« Er weiß, was ich fragen will, und fügt hinzu: »Der Mandela ist es nicht!« Als in den nächsten Jahren von Massakern und blutigen Kämpfen in Südafrika berichtet wird, bei denen Anhänger des Zuluhäuptlings Buthelezi, dieses mittlerweile weltweit berüchtigten »Freiheitskämpfers«, beteiligt sind, wundere ich mich überhaupt nicht mehr. Stunden vergehen. Es wird spät, die meisten sind bereits betrunken. Da stelle ich fest, daß die Kassette aus dem Tonbandgerät fehlt. Da ich mittlerweile auch schon einigen Alkohol intus habe, werde ich dreist. Ich nehme Gerald Hess beiseite und beschwere mich über die Entwendung des Tonbands. Er verspricht sofortige Klärung. Keine zwei Minuten später steht Berthold Dinter, ein ehemaliger SSMann, auf und setzt zur Rede an. Mir fällt auf, daß er auch schon bei dem Wunsiedel-Aufmarsch als Organisator
fungierte. Jetzt gibt er bekannt, daß dem Journalisten Schmidt ein Tonband gestohlen wurde und daß Herr Schmidt hier eingeladen sei, als Gast behandelt werden müsse, und überhaupt sei Herr Schmidt ein anständiger Kerl, fast ein Kamerad, nachdem er mitgegessen, mitgetrunken habe (zwar nicht mitgesungen, aber das könne ja noch kommen), und einem Kameraden stiehlt man nichts. Ja, dies sei »Kameradendiebstahl, und zu meiner Zeit war der Fall ganz klar: Wer Kameraden bestiehlt, der gehört aufgehängt!« Hei, denke ich mir. Das läßt sich ja gut an. Es würde allerdings auch ausreichen, wenn man mir diskret die Kassette zurückgäbe. Ich sehe mich im Raum um und überlege, wer wohl der Dieb sein könnte. Die vier Holländer vorne rechts waren es bestimmt nicht. Sie haben ja noch nicht einmal mitbekommen, daß ich Aufnahmen gemacht hatte. Daneben die Gruppe von »SA-Männern« in ihrer Uniform. Sie waren doch vorher recht aufgeschlossen. Jetzt sind sie zwar schon stockbetrunken, aber eigentlich haben sie ja meine Filmerei sogar begrüßt. Links davor, an dem langen Tisch, die Gruppe von entschlossen blickenden HJ-Imitatoren – möglicherweise war es einer von ihnen, aber warum? Ich sehe nach links, wo ich vorher gesessen habe. Küssels Tisch ist verwaist. Nur das leere Tonbandgerät liegt vorwurfsvoll auf der Mitte der Tischplatte. Küssel hat sich mit seinen Gefährten in die andere Ecke begeben, von wo aus sie interessiert das weitere Geschehen betrachten. Küssel fand den Diebstahl »auch nicht gut«. Die beiden Skinheads an meinem Tisch lassen sich keine Meinung anmerken. Ich denke mir, es wird das beste sein, stillschweigend über die Sache hinwegzugehen, damit keine Mißstimmung entsteht. Doch es kommt anders. Ganz anders. Peter Ziehl, genannt »Pit«, steht auf und hält noch eine Rede. Pit ist schon gehörig betrunken wie die meisten im Raum, die mit glasigen Augen
unmutig zuhören. Die Sache wird lästig und überhaupt. Was will der Demokratenscheißer hier? Diesem Stimmungsumschwung gibt Pit nun Zunder: »Der Journalist hier ist unser Gast. Gut! Aber: Hier muß man sich uns anpassen. Der Journalist tut hier filmen. Auch gut. Aber: Hat er jeden von uns gefragt, ob es ihm recht ist? Dann tut der des alles aufnehmen. Und jetzt fehlt ihm ein Band. Des is net gut. Aber: So schlimm is des auch net. Grade hat man gesagt – er ist ein Kamerad. Aber: Ein Kamerad beklagt sich net!« Ich merke, wie sich mein Magen zusammenkrampft. Verdammt, was soll das? Pit kommt zum Schluß: »Des is kein Kamerad, der will uns gegeneinander aufwiegeln. Und wer so was macht, der gehört aufgehängt!« Alles läuft wie in Zeitlupe ab. Ich merke, wie mich einige haßerfüllt ansehen. Andere palavern weiter, als ob nichts wäre. Ich spüre meine Schläfen pochen. Langsam gleite ich mit der Hand in die Jackentaschen, zum Autoschlüssel. Jetzt fallen mir alle Fehler ein. Auto falsch herum geparkt. Ich sitze zu weit von der Tür weg. Ich bin allein, kein Mensch weiß, wo ich bin. Wo ist Gerald Hess? Nichts von ihm zu sehen. Pit zündet sich eine neue Zigarre an und wartet auf die Wirkung seines Aufrufs. Werde ich überhaupt bis zum Auto kommen? Soll ich so tun, als wollte ich nur was holen, oder ist es das beste, einfach wegzulaufen, so schnell, wie ich kann? Mein Rechtsanwalt hatte gesagt: »Also, da würde ich nie alleine hingehen!!!« Graeme hatte mich gut vorbereitet (»Don’t drink too much!«), aber nicht auf das. Es wird still, ich bemerke, daß man sich nun auf mich konzentriert. Ich muß etwas sagen. Und zwar sofort. Und das Richtige. »Also, dazu möchte ich aber auch noch was sagen…«, fange ich an. Ich merke, wie mir der Schweiß ausbricht. Ich werde fast ärgerlich, weil ich die Situation nicht im Griff habe. Was kann mir passieren? Aufhängen werden sie mich nicht. Oder
doch? Zu viele Zeugen – und dann wegen eines Tonbands! Also bitte! Aber im Krankenhaus enden könnte ich schon, wenn mir jetzt nichts einfällt! »Don’t be intellectual!« sagte Graeme. Na, das fällt mir wenigstens nicht schwer: »Ich bin alleine hierhergekommen, und wenn ich euch tatsächlich gegeneinander ausspielen wollte, dann würde ich das sicherlich anders anfangen. Aber im Ernst…« Mist, denke ich, mache ich vielleicht Spaß? Die beiden Skins an meinem Tisch lassen immer noch keine Reaktion erkennen. Wie stumpf man schauen kann… Oder kommt mir das alles nur so vor? Vielleicht reagieren sie, wenn an der »Ehre« gekitzelt wird. Also erkläre ich, so feierlich wie möglich: »… Ich bin alleine hier, weil ich den Eindruck gewonnen hatte, man könne euch vertrauen! Und ich wäre sehr enttäuscht, wenn sich jetzt rausstellen würde, daß eure Feinde recht haben (enttäuscht ist gut!) und man euch nicht vertrauen kann.« Meine kurze Ansprache wirkt bei einigen, die jetzt bedächtig nicken, und plötzlich ist auch Gerald Hess wieder da. Er verkündet, man werde das alles unter sich lösen, und nimmt mich beiseite. Draußen auf dem Flur verspricht er mir, er werde sein möglichstes tun, schon allein um sein Ansehen und das seiner Kameraden aufrechtzuerhalten, »falls noch möglich«. Ich muß vor der Tür warten, und dabei fällt mir ein, daß ich drinnen ja noch die Kamera liegen habe, mit den gesamten Aufnahmen. Wenn die jetzt auch noch hopsgeht, dann war der ganze Einsatz vergebens. Gerald kommt nach ein paar Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erscheinen, zurück. Er sieht erleichtert aus und zeigt mir eine Kassette. »Kann es sein, daß dies hier dein Band ist?« Damit drückt er es mir in die Hand und fügt fast verlegen hinzu: »Ich kann dir aber nicht sagen, wer es geklaut hat…« »Das will ich ja gar nicht wissen«, versuche ich meine Freude auszudrücken. Mir ist sowieso klar, daß es eigentlich nur
Küssel gewesen sein kann, der seine Lieder nun doch lieber nicht verewigt wissen will. »Ein Jude steht im Walde, ganz still und stumm, da kommt ein deutscher Panzer und fährt ihn um…«, gesungen zu der Melodie des Kinderliedes, war so ziemlich der Höhepunkt seiner Kreationen an der Gitarre. Aber Gerald Hess hört gar nicht zu: »Ich hab’ mir schon gedacht, wer es gewesen sein könnte, aber ich werde es dir nicht sagen, verstehst du? Derjenige hat seinen Grund gehabt, und ich hab’ ihm das Band wieder geklaut.« Gerald hat für mich eine weitere Überraschung: Er hat in dem Gasthof eine Übernachtung für mich arrangiert. Die ganze Gruppe schläft dort, und auch ich bin, nach einem Blick auf die Uhr – 2 Uhr morgens –, schon so geschafft und plötzlich auch müde, daß ich sein Angebot dankbar annehme. Allerdings – die Sache hat einen Haken: Ich bekomme natürlich kein Einzelzimmer. So muß ich mir mit Gerald und einem weiteren »Kameraden« das Zimmer teilen. Auch recht, denn so würde ich mit ihm weitere Gespräche führen können. Wir trinken ein letztes Bier und beziehen dann unser Zimmer. Der andere hatte sich bereits zu Bett begeben und schnarcht gewaltig. Bei näherem Hinsehen entdecke ich: Es ist Pit. Nachdem ich mich von dem Schock etwas erholt habe, überlege ich – jetzt kann ich nicht mehr zurück. Also verstaue ich meine Ausrüstung im Schrank und lege mich aufs Bett. Gerald hatte noch zwei Flaschen Bier mitgenommen, die er nun öffnet. Beim Zuprosten habe ich das erstemal das Gefühl, in diesen Reihen jemandem zu begegnen, bei dem sich nicht alles um »Volk und Führertum« dreht. Eigentlich paßt Gerald gar nicht zu seinen »Kameraden«. Eingeschlafen wird nicht. Pit könnte ja aufwachen. Es ist 4 Uhr, ich habe die Schuhe angelassen, und wir reden. Seit zwei Stunden führen wir ein äußerst spannendes Gespräch. Ein
Frage-und-Antwort-Spiel, wir sind Gegner und Partner zugleich. Gerald will mehr über mich wissen, ich mehr über ihn. Beide sind wir uns über die Rollen klar, in denen wir uns befinden. Keiner darf zuviel erzählen, vertrauen darf man dem Feind nie. Denn, wir wissen es beide, wir sind Feinde. Jeder, der kein Freund ist, ist für sie ein Feind. Aber wir suchen beide nach Berührungspunkten, gemeinsamen Auffassungen. Gerald fragt mich, was ich sonst mache. Ich lüge ihn an, weil er nicht wissen soll, daß diese Arbeit meine erste richtige journalistische Erfahrung ist. Ich fasele etwas von Recherchen über Tierversuche. Damit ist er zufrieden. Gerald ist 20 Jahre alt. Wie sein Vater Wolfgang arbeitet er als Dachdecker. Schon mit zwölf war Gerald in der WikingJugend. Dort werden Kinder und Jugendliche im Pfadfinderstil auf nazistischen Kurs gebracht. Weil es sich dabei auch um Minderjährige handelt, geschieht dies unter strengstem Ausschluß der Öffentlichkeit. Seit zwei Jahren ist er Anhänger Michael Kühnens und – weil er fleißig und zuverlässig ist – bereits »Bereichsleiter« (Chef der »Gaue«) in Hessen. Warum ist er Nazi? Was zieht ihn an? Ist es Gewohnheit, Indoktrination oder Veranlagung? Ich weiß, daß Gerald öfter bei Schlägereien dabei ist. Mag er Gewalt? Darauf will er nicht antworten. Er weicht aus, bietet politische Parolen an von Volkstum und Faschismus. »Sei gehorsam, sei tapfer… Glaube – gehorche – kämpfe.« Gerald merkt, daß der Schaum der Parolen zu dieser Stunde nichts bringt. Es war ohnehin nur ein halbherziger Versuch. Ich will ihn kennenlernen als Mensch: »Warum hat du soviel Haß in dir?« »Was meinst du mit ›Haß‹?« »Ihr habt vorher gesungen, daß Juden und Schwarze keine Menschen seien, daß man sie ›kaputtmachen‹ müsse…« »Das ist doch nur Spaß gewesen!« Das regelmäßige Schnarchen aus Pits Bett wirkt beruhigend.
»Den Spaß würdest du doch nicht machen, wenn du Juden und Schwarze als Menschen akzeptieren würdest!« »Darum geht’s doch gar nicht…« »Doch, genau darum geht’s!« Gerald verstummt. Ich befürchte für einen Augenblick, zu weit gegangen zu sein. Doch es ist nicht so. Im Gegenteil. Es bricht aus ihm heraus, lange aufgestaute Emotionen. Er ist plötzlich wütend, und er will, daß ich ihn richtig verstehe: »Wir werden doch nicht akzeptiert, von niemandem!« Gerald erzählt mir, daß er sich ständig Repressionen ausgesetzt fühlt. Er suchte Freunde und Kameradschaft, weil er ein geselliger Typ ist. Bei der Wiking-Jugend wurde ihm das geboten. Allerdings wurde er dort auch mit den »Feindbildern« vertraut gemacht: Kommunisten und, noch viel schlimmer, Demokraten. Er lernte, daß er nicht »frei« sei. Die »Demokröten« unterdrückten angeblich alle Andersdenkenden, vor allem alle, die ihr Volk lieben – die »Nationalen«. Als Beispiel für diese Unterdrückung, an die er tatsächlich glaubt, führt er an: »Wir können ja gar nicht unsere Meinung sagen!« Ich verstehe nicht recht: »Wieso?« »Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, daß es keine Gaskammern im Konzentrationslager Auschwitz gab. Das darf ich nicht öffentlich sagen. Dafür werde ich bestraft!« sagt er wütend. Ich nippte an meinem Bier. Ich muß vorsichtig sein, was ich jetzt sage. Aber auf diesen Blödsinn muß ich etwas sagen: »Und das zu Recht. Weil du damit den Überlebenden des Holocaust allein durch diese Unterstellung neues, tiefes Leid zufügst. Überleg doch mal: Das ist mehr als eine Beleidigung. Das ist, als ob jemand sagt: Deine Eltern, die gab’s gar nicht. Du bist das Produkt einer Lüge!« »Es gab keinen Holocaust, das ist doch alles Propaganda!« antwortet Gerald schnell und routiniert, wie einstudiert. Ich
merke, daß er selbst seine Zweifel hat, aber er will es nicht wahrhaben. Er will glauben, daß es nie Gaskammern gab. Warum er und seine Gesinnungsgenossen so verbissen an der Leugnung der Massenvernichtung festhalten, sollte mir erst viel später klarwerden. Jetzt wird mir nur klar, daß er sich in einem Teufelskreis befindet. Einmal Nazi, immer Nazi. Nicht weil es so schön ist, sondern weil man nicht aussteigen kann aus der Spirale der Gewalt und Repression. Verbote locken. Verhaftungen folgen, Verhöre, Frustration, Gewalt, erneute Verhaftung, erneute Frustration, erneute Gewalt. Die Fronten und »Feinde« sind klar und festgemacht: die »Linken« – der politische Widersacher. Die Polizei, der Staatsschutz und der Verfassungsschutz (im Nazijargon »Schmutz«) als Vollstrecker der verhaßten Demokratie, die den Linken vermeintlich mehr Spielraum zugesteht als den Rechten. Daß es in Wirklichkeit genau andersherum ist, will er nicht wahrhaben. Er fühlt sich belogen, verfemt, mißverstanden. Gerald ist fasziniert, als ich ihm von meinem Lieblingsfilm erzähle. »Das goldene Zeitalter« von Luis Bunuel. Er weiß nicht, daß kurz nach der Uraufführung des Films in den dreißiger Jahren das Kino von Rechtsradikalen kurz und klein geschlagen wurde. Ich sage es ihm auch nicht. Gerald erkennt aber sofort die anarchistischen und antiklerikalen Züge des Films aus meiner Schilderung. Besonders die Szene, in der die katholischen Geistlichen »so lange beten, bis sie Skelette sind«, gefällt ihm. Aus meiner Vorliebe für diesen – surrealistischen – Film leitet er plötzlich ab, daß ich ja »auch« gegen diesen Staat sein müsse. Und er will, daß ich das zugebe. Als ich schweige, gibt er sich selbst eine Erklärung: »Du darfst es nicht zugeben, ganz klar. Aber du denkst ein bißchen so wie wir. Wenn so was dein Lieblingsfilm ist, dann denkst du ein bißchen so wie wir!«
Als ich nicht antworte, lehnt er sich zurück. Nach einer Weile der Stille sage ich ihm: »Ich will wissen, wie ihr wirklich seid. Vom Nationalsozialismus halte ich nichts, und ich fürchte, ihr seid gefährlich. Aber ich lasse mich vom Gegenteil überzeugen, wenn ich falschliegen sollte.« Gerald ist jetzt unsicher. Einerseits will er ja, daß man ihn und seine Leute fürchtet. Aber andererseits – jeder braucht Sympathien… »Weißt du«, gesteht er, »es gibt nicht viele Reporter, die so mit uns reden wie du. Ich meine auch, die sich soviel Zeit nehmen wie du…« Pit, der vorübergehend still war, sägt nun wieder mit voller Kraft. Gerald schaut mich an, seine Augen werden immer größer, fast als ob er mich hypnotisieren wollte. Mit ruhigem, forschendem Ton fragt er: »Warum machst du das?« Er würde mir diese Frage noch oft stellen. Und immer wieder die gleiche Antwort erhalten: »Weil mich das interessiert. Ich glaube, daß es wichtig ist, herauszufinden, wer und wie ihr wirklich seid!« Sein Blick scheint mich jetzt zu durchbohren. Er erwartet keine Antwort auf die Frage, die er mir stellt: »Du bist ganz schön neugierig, nicht wahr?«
Gerald Hess wird von da ab neben Kühnen mein wichtigster Kontakt zur Szene sein. Ich besuche ihn häufig, und wir haben lange Gespräche, bei denen sich herausstellt, daß er weltanschaulich nicht so festgefahren ist, wie er sich nach außen gibt. Er verabscheut Gewalt, die für ihn nur Ausdruck der Hilflosigkeit ist. Er möchte, daß alle Menschen in Frieden miteinander leben. Er ist wirklich ein Idealist, der seiner Umgebung Konzessionen machen muß. Irgendwann habe ich die fixe Idee, ihn da rauszuholen. Nicht ihn »umzudrehen«,
sondern ihm dabei zu helfen, seine Achtung vor Menschen in die Tat umzusetzen und aus der Szene auszusteigen. Es sollte mir nicht gelingen. Gerald Hess wird das nächste Jahr nicht überleben.
»Vor uns liegt Deutschland…«
Das ehemalige »Reichsparteitagsgelände«, der Luitpoldhain in Nürnberg, ist heute ein beliebtes Ausflugsziel für Spaziergänge mit der ganzen Familie. Weitläufig erstreckt sich das parkähnlich angelegte Areal mit einem kleinen See, Spielplätzen und Promenaden. Ein geschichtsträchtiger Ort. Heute, nachdem die Stadt nicht mehr stolz darauf ist, würde mancher diese erhalten gebliebenen Bauwerke am liebsten verstecken. Doch die kolossale Steintribüne mit den Seitentürmen und einem mit einer Art Riesenbalkon versehenen Mittelteil ist einfach zu groß. Und die gigantischen Relikte ehemaliger Machtfülle zerfallen nur langsam, schließlich wurden sie ja auch für »tausend Jahre« gebaut. Wenn man sich auskennt, findet man sogar eine Gedenkstätte und Informationstafeln unter dem Motto: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« Vor der riesenhaften Tribüne befindet sich der überdimensional angelegte Aufmarschplatz, in dem man mehrere Fußballfelder unterbringen könnte. Hier ließ vor einem halben Jahrhundert Hitler den Höhepunkt alljährlicher Parteitage der NSDAP zelebrieren. Heute ist es still. Angesichts der überwältigenden Dimensionen der Anlage ist es aber nicht schwer, sich vorzustellen, welches Getöse die Menschenmassen hier wohl mit tausendfachen »Heil!«-Rufen verursachten, sobald der »Führer« auftrat. Es ist das gleiche Geräusch, das aus dem Lautsprecher des Videogerätes ertönt, das im rückwärtigen Raum der Tribüne aufgestellt ist. Heute wird diese kleine Halle als Gedenkstätte genutzt, mit einer Ausstellung »Faszination und Gewalt«. Der Lehrfilm läuft nonstop, den ganzen Tag. So auch heute, im
August 1989. Immer wieder erfüllen Hitlers Stimme, Bombenexplosionen und Sirenen, massenhafter Jubel und Marschmusik den hohen Raum, wo sie mit langem Hall von den Wänden zurückvibrieren. Zwischendurch ist es so still, daß sogar die Schritte der Besucher wie Schleifgeräusche durch die in ein Dämmerlicht getauchte Ausstellung gleiten. Flüsternd erklärt ein Vater seinem kleinen Jungen die Bedeutung der Bilder. Andere Besucher betrachten eine Zeitlang den Film, bevor sie sich den weiteren Ausstellungsstücken zuwenden. Der Stadtbedienstete steht für Fragen zur Verfügung und wacht ansonsten über die Ruhe und dieser Einrichtung angemessene Bedächtigkeit. Wie elektrisiert greift er jedoch zum Telefon, als er die Gruppe von Besuchern wahrnimmt, die sich jetzt gerade im Halbkreis vor dem Videobildschirm aufstellt und interessiert zuschaut. Er wählt die Nummer der Polizei und flüstert hastig in den Hörer des Apparates. »Siegen für Deutschland…«, tönt Hitler, »dann weiß ich: Ihr schließt euch den Kolonnen an! Und wir wissen: Vor uns liegt Deutschland, in uns marschiert Deutschland, und hinter uns kommt Deutschland…« Die letzten Worte kommen nicht nur aus dem Lautsprecher. Wie ein Echo sprechen einige der zuschauenden Neonazis mit. Sie kennen die Worte ihres Idols auswendig. Wer bis jetzt nicht sicher war, was die uniformähnliche Aufmachung der jungen Leute zu besagen hat, dem wird gleich lautstark nachgeholfen. Die Melodie aus dem Lehrfilm, zur Mahnung und Information abgespielt, ist eingängig wie ein Ohrwurm: »In die Zukunft gehn wir Mann für Mann. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not…« Keine zwei Zeilen sind gesungen, da schließen sich die Stimmen der hier Versammelten an, während der Vater seinen Jungen an der Hand packt und eilig den Raum verläßt. Noch
draußen, während er entsetzt das Weite sucht, hallt es ihm nach: »… mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot. Unsere Fahne flattert uns voran, unsere Fahne ist die neue Zeit. Unsere Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja die Fahne ist mehr als der Tod…« Zehn Minuten später trifft die Polizei ein. Im Protokoll, das ich später einsehen kann, heißt es unter anderem: »Am 20.08.89, gegen 15.45 Uhr, wurde die PI Nürnberg-Süd verständigt. Die Besatzung von Pegnitz 12/15 stellte die Personengruppe hinter der Steintribüne fest. Die Personen wurden zwecks Identitätsfeststellung angehalten und bis zur vollständigen Klärung der Identität festgehalten. Die Personen waren deutscher, österreichischer und holländischer Nationalität. Da vom Zeugen weder die Personen, die den ›Hitlergruß‹ zeigten, noch der Rädelsführer identifiziert werden konnten, wurden die Personen zwischen 16.45 Uhr und 17.20 Uhr wieder entlassen. Unter den festgehaltenen Personen befand sich auch… Schmidt, Michael…« Ich bin noch nie festgenommen worden. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man plötzlich als »Verdächtiger« gilt: Die Polizisten durchsuchen zuerst nach Waffen. Und irgendwie muß ich etwas falsch gemacht haben, denn ich bin der erste, der durchsucht wird, nachdem ich mich als Journalist ausgewiesen habe. Das ist für Küssel und seine »Mannen« ein köstliches Amüsement. Gleichzeitig überprüfen die Polizisten den Ausweis mit der anschließenden Frage: »Sie sind der Herr Schmidt… Was machen Sie denn hier…?« Die Nazis hat die Festnahme nicht beeindruckt. Erstens sind sie so etwas gewöhnt, und zweitens wissen sie, was dabei in der Regel herauskommt: nichts. So wie es sich später auch in diesem Fall herausstellen sollte. Und falls es überhaupt zu einer Verhandlung oder gar einer Verurteilung kommt, denn können Neonazis meistens mit der gleichen Milde rechnen, die
– man kann schon sagen: traditionell – den NS-Tätern zuteil wurde. Es ist traurig, nach intensiver Recherche nur wenige Urteile gegen Rechtsextremisten zu finden, die in der Härte der Strafe an Verurteilungen von linksextremistischen Straftaten heranreichen. Die Ausnahme ist Michael Kühnen, der für seine Propagandastraftaten relativ hohe Haftstrafen verbüßte. Es scheint, daß für viele Richter die Weimarer Zeit eher als Vorbild denn als Warnung dient. Denn schon zu jener Zeit war es ein Markenzeichen der Rechtsprechung, auf dem rechten Auge blind zu sein. Doch davon später… Es ist zwar zu erwarten, daß nach den Ausschreitungen von Rostock und den Morden in Mölln im Jahre 1992 die Justiz den Beteuerungen der Politiker folgt, wonach »endlich hart durchgegriffen wird«, aber geht es nach der bisherigen Praxis, dann wird man erstaunt feststellen müssen, daß Rechtsextremisten stets mildernde Umstände wie Alkoholeinfluß und Jugend eingeräumt werden. Und daß man sie häufig als »Einzeltäter« bestraft, ohne ihre Verbindungen zur organisierten Naziszene zu berücksichtigen. Doch gerade diese Verbindungen sind die Triebfedern für den Terror. Kommt es dann zu Haftstrafen, ist es für sie auch noch ehrenvoll, im Dienst der gemeinsamen Sache zu »sitzen«. Es braucht daher nicht zu wundern, daß die Nazis sich nicht mehr verstecken. Auftritte in der Öffentlichkeit sind neben solchen wie diesem in Nürnberg eher zufällig zustande gekommene meist gezielte »Aktionen« und Demonstrationen, aus denen die Anhänger Stärke und Motivation beziehen. Das sind die Ereignisse, die man dann im Fernsehen zu sehen bekommt, meist im Zusammenhang mit den Berichten über Brandanschläge oder Grabschändungen, und dabei versprechen sich die führenden Köpfe der Szene auch Propagandaerfolge. Zum Teil sind diese Hoffnungen sogar berechtigt, wenngleich der Anblick rechtsradikaler Uniformen und Redner die
Zuschauer keineswegs zu Gleichgesinnten mutieren läßt, wie manche Fernsehredakteure befürchten. Es gibt auch Ereignisse, bei denen Journalisten nicht so erwünscht sind. Treffen, bei denen auf Propagandaeffekte kein Wert gelegt wird, wo Beteiligte nervös werden, wenn jemand nach »Presse« aussieht. Wo der seriös wirkende Herr mit den grauen Schläfen blitzschnell seine Zeitung vor dem Gesicht entfaltet, wenn jemand eine Kamera dabeihat. Genau das sollte ich etwas später erleben. Die Gaststätte »Zum schwarzen Roß« in einem Dorf nahe Fulda in Nordhessen ist für den Zweck der Versammlung wie geschaffen. Die Anfahrtswege sind durch die zentrale Lage günstig. Das Dorf ist groß genug, die Fahrzeuge der anreisenden Teilnehmer zu beherbergen, ohne aufzufallen. Und es ist klein genug, unerwünscht auftauchende »Besucher« beizeiten entdecken zu können. Es gibt einen geräumigen Saal neben der Gaststube. Das Essen ist schmackhaft und preiswert, und der Wirt hat nichts gegen die Versammlung in seinen Räumen. »Denn«, sagt er bierzapfend, »irgendwo müssen sie sich ja treffen.« Sie – das sind Angehörige fast aller nazistischen Splittergruppen, die sich heute eingefunden haben, um »im stillen« eine Versammlung abzuhalten. Kühnen ist da und Wolfgang Hess, mit Schaftstiefeln und Koppelschloß; Thomas Hainke ist mit Christa Goerth angereist; Berthold Dinter unterhält sich bereits angeregt mit einem seriös wirkenden Herrn im dunklen Anzug, Christian Worch erscheint mit seinem Vertrauten Thomas Wulff, genannt »Steiner«. Viele andere Personen, insgesamt etwa sechzig an der Zahl, sind mir völlig unbekannt, obwohl ich bereits über ein Jahr intensiv in der Szene recherchiere. Einige kenne ich inzwischen dem Namen nach. Von daher könnte man dieses Treffen auch als »Elefantenrunde« bezeichnen, denn wie ich erfahre, sind
führende Aktivisten des gesamten rechtsextremen Spektrums anwesend. Eingeladen hat die HNG, eine der wichtigsten nazistischen Organisationen; im Vorstand ist auch Christa Goerth vertreten. Einerseits ist die HNG ein eingetragener Verein (Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V.) mit wechselnd starker Mitgliederzahl. Aber Mitgliederzahlen bedeuten hier gar nichts. Denn andererseits ist die HNG eine Dachorganisation, bei deren (meist konspirativ angelegten) Versammlungen selbst rivalisierende oder verfeindete Gruppierungen einander sozusagen »auf neutralem Boden« begegnen können, um im Sinne der »gemeinsamen Sache« konzertierte Aktionen und Strategien zu verabreden. Offiziell geht es der HNG um die Betreuung »ihrer« Gefangenen. Briefe werden geschrieben und Besuche getätigt, um den Inhaftierten Solidarität und Treue zu beweisen und sie auch, nicht zuletzt durch die Zusendung von Propagandamaterial, bei der Stange zu halten. Für die Neonazis ist es überdies ehrenhaft, eine Haftstrafe abzusitzen, die im »Kampf um die Wiederaufrichtung des Nationalsozialismus« eingehandelt wurde. Dabei erinnere ich mich an Kühnen, wie er einem Prozeß einer seiner Anhänger, dem Bruder seiner Freundin Lisa, beiwohnte. Beruhigend redete er auf ihn ein: »Eine politische Vorstrafe macht sich nach der Revolution ganz gut…« Die Älteren werden sich erinnern: Niedrige NSDAPParteimitgliedsnummern versprachen Nazi-»Adel«, frühe Haftstrafen in der »Kampfzeit« bedeuteten nach der Machtübernahme hohe Ehren für die »alten Kämpfer«. Die HNG hat Mitglieder und Kontaktleute aus nahezu allen rechten Parteien und Organisationen. Da Gefangenenbetreuung als durchaus ehrenwert gilt, die HNG im Vereinsregister
eingetragen ist und die »Betreuung« ein hervorragender Kontaktweg zu inhaftierten Kriminellen bedeutet, fällt dieser Organisation eine Schlüsselrolle zu. International, so erzählt mir Kühnen später, habe man auch wichtige Verbindungen aufgebaut: In den USA, Frankreich und Belgien gibt es Schwesterorganisationen,∗ und auch finanzielle Unterstützung aus dem Aus- und Inland für »Einzelaktionen« werden durch Kontaktpersonen der HNG eingefädelt. Dabei werden deutsche und französische Mitglieder der Geheimorganisation »KuKlux-Klan« (KKK) ebenso in der Haft unterstützt wie ausgemachte Terroristen des rechten Untergrundes. Ich bin wirklich gespannt, was auf dieser Versammlung zu hören sein wird. Vor allem erstaunt es mich, daß so viele absolut seriös aussehende ältere Damen und Herren nacheinander in den Versammlungsraum eintreten. Und dabei scheinen sie sich ausgezeichnet mit den brutal aussehenden kampfstiefelbewehrten Skinheads zu verstehen. Während der Kameramann, den ich mitgebracht habe, seine Ausrüstung klarmacht, gehe ich auch rein. Christa Goerth hatte mich eingeladen. Aber ich sollte schnell erfahren, daß ich trotzdem nicht willkommen bin. Denn es baut sich, kaum daß ich im Raum bin, ein älterer Herr vor mir auf: »Sie sind der Herr von der Presse?« fragt er mit blinkenden Goldzähnen. »Ja«, sage ich nichtsahnend. »Raus!« Das ist so deutlich, daß ich seiner »Bitte« unverzüglich nachkomme. Nicht einmal zu protestieren wage ich. Der Kameramann, den ich mitgebracht habe, berichtet mir beunruhigt von einem Gespräch am Nebentisch. Danach hat ∗
USA: COFPAC (»Committee for free Patriots and Anticommunist Political Prisoners«); Frankreich: COBRA (»Comite Objectif entraide et solidarite avec les Victimes de la Repression Antinationaliste«); Belgien: HNG (»Hulpkomitee voor Nationalistische politieke Gevangenen«).
einer der seriös aussehenden alten Herren einem Skinhead 250 Mark versprochen, falls er »die Kamera samt Personal neutralisieren« würde. Also gehen wir nach draußen und halten wenigstens die Kennzeichen der Fahrzeuge fest, um bei einem »Zwischenfall« Anhaltspunkte zu haben, wer dahinterstecken könnte. Zum Glück passiert nichts dergleichen. Christa Goerth ist das alles »sehr peinlich«. Ihre Erklärung, daß da »eben Leute sind, die schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht haben«, wirkt so wortgetreu mit den Erklärungen Christian Worchs und anderen abgestimmt, daß ich ihnen kein Wort glaube. Wenigstens gelingt es mir, auf der Rückfahrt Michael Kühnen in unseren Wagen zu lotsen. Ich hatte schon gedacht, der Tag wäre verpfuscht, aber Kühnen ist redselig. Er ist beschwingt, weil er gerade ein Abkommen mit einem seiner Erzrivalen getroffen hat. Seine und die Gruppe des anderen würden von nun an enger zusammenarbeiten. Während der zweistündigen Autofahrt erfahre ich einiges, das meinen Eindruck der »Szene« verändert. Manches widerspricht früheren Beteuerungen von »rein politischem Kampf«. Es ist dunkel geworden. Der Kameramann fährt, Kühnen ist auf dem Beifahrersitz, ich sitze auf der Rückbank so, daß ich Kühnens Profil stets gut im Blick habe. Kühnen genießt es, gefahren zu werden. Da kann ich ja das Thema Waffen ansprechen. Er ist entspannt und raucht seine geliebten Mentholzigaretten, während er erklärt: »Waffenlager haben wir ja offiziell keine. Aber du kannst mal davon ausgehen, daß jeder verantwortungsvolle Kamerad ein Versteck hat, in dem eben auch Waffen sind.« »Wozu sollen die Waffen denn sein?« frage ich möglichst harmlos.
Das amüsiert ihn: »Du bist doch sonst so ein schlaues Kerlchen. Da kannst du dir ja denken, daß wir kein Schrebergartenverein sind. Aber momentan gibt’s ja keine Notwendigkeit, denn alles läuft erstaunlich gut in unserem Sinne. Im Gegenteil, ich habe ja sogar die Kameraden angewiesen, momentan keine Schußwaffen oder ähnliches mit sich rumzuschleppen.« Dieses freimütige Geständnis gibt mir den Mut, ihn auf ein Thema zu bringen, das wir bisher noch nie angeschnitten haben: »Und das Geld?« frage ich beiläufig. »Wie meinst du das? Für die Waffen oder…?« »Ja, genau – und überhaupt!« Kühnen wird zögerlich. Aber er erzählt schließlich, daß die Finanzierung ein »schwieriges Kapitel« ist. Das glaube ich ihm aufs Wort, denn oft war Kühnen froh, wenn er mal von jemandem zum Essen eingeladen wurde. Im Alltag ist seine Organisation von Mitgliedsbeiträgen und Spenden abhängig. Kühnen erzählt mir, daß es auch Leute gibt, die mit Drogen handeln. Meistens in Verbindung mit südamerikanischen »Connections«. Das steht ebenfalls im krassen Gegensatz zu offiziellen Sprüchen seiner Anhänger, die den Drogenhandel angeblich »bekämpfen« wollen. Kühnen findet dabei keinen Fehler: »Wenn die Abhängigen sich totspritzen wollen, wir hindern sie nicht daran. Und wenn es der Sache nutzt, dann ist mir egal, woher die Gelder kommen.« Dann gibt es auch wohlhabende »Kameraden«, die auch schon mal größere Anschaffungen tätigen können, zum Beispiel den reichen Erben Christian Worch. Weiterhin fließen Gelder von der NSDAP-AO in den Vereinigten Staaten und »anderen Kreisen«, doch da nur dann, erklärt Kühnen, »wenn diese Kreise davon überzeugt sind, daß diese Gelder wirksam eingesetzt werden«. »Was für Kreise sind das?« will ich wissen.
»Kann ich dir nicht sagen.« Dafür habe ich mich schlau gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich viele SS-Leute mit gegenseitiger Hilfe, mit Unterstützung des Vatikans und des Internationalen Roten Kreuzes sowie des amerikanischen Militärgeheimdienstes CIC (»Counter Intelligence Corps«) der Verhaftung und Anklage entzogen, nicht ohne bereits vorher das nötige Kleingeld beiseite geschafft zu haben. Die Fluchtrouten führten über Österreich, Italien und die Schweiz nach Südamerika und in den Nahen Osten, aber auch nach Spanien und Skandinavien. Weil diese Fluchtroute mit Hilfe hoher Würdenträger der katholischen Kirche ausgestattet war, wurde sie von den Kriegsverbrechern selbst »Vatikan-Linie« genannt. Der amerikanische Geheimdienst, der sich der einschlägigen Kenntnisse der SS- und Gestapomänner gegen die Kommunisten bediente, während er sie vor der Verhaftung schützte, hatte ein anderes Wort dafür: »Rattenlinie«. Die so in Sicherheit gebrachten SS-Leute gründeten ihrerseits eine Hilfsorganisation, die manchmal »Spinne« genannt wurde. Bekannt geworden ist die ODESSA (»Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen«) aber durch den – auf Akten basierenden – Roman »Die Akte ODESSA« von Frederick Forsyth. Die ODESSA ging auch, wie Graeme Atkinson mir erläutert hatte, in eine Nachfolgeorganisation in Deutschland über. Sie nennt sich HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit). Dazu kommen wir später noch. Auf jeden Fall ranken sich viele Gerüchte und Mythen um diesen Geheimbund. Von den Nazis wird er meist schlichtweg abgestritten, als wäre alles reine Phantasie. Vielleicht kann Kühnen etwas Licht in die Sache bringen. »ODESSA? Südamerika?« frage ich wie selbstverständlich. Doch er schüttelt nur den Kopf.
»Ich kann es dir wirklich nicht sagen«, sagt er fast entschuldigend. Nach einer kurzen Pause setzt er aber hinzu: »Die ODESSA gibt es ja nicht mehr. Aber…« Kühnen zögert. Ich beschließe, etwas nachzuhelfen: »Gelder gibt es ja sicherlich noch dort…« »Hmm, wir haben aber auf die Verteilung keinen großen Einfluß. Da sind schon Leute dabei, die eben aus diesen Reihen hervorgegangen sind. Aber wenn wir überhaupt Geld bekommen von denen, dann nur gezielt für Einzelaktionen, von denen sich die einen Erfolg versprechen.« »In welchen Größenordnungen?« »Für eine Aktion, zum Beispiel großangelegte Plakat- und Flugblattverteilung, kann man so 10000 bis 15000 Mark rechnen. Mehr als 40000 sind nie drin.« »Zum Beispiel für Waffen?« Kühnen dreht sich zu mir um. Er hat mir soeben indirekt bestätigt, daß es eine Nachfolgeorganisation der legendären Kriegsverbrecherorganisation ODESSA gibt, die gelegentlich Gelder an die Neonazis fließen läßt. Auch Drogenhandel und Waffenlager passen nicht in das Bild, das er gerne über seine »Bewegung« dargestellt sehen würde. Trotzdem meint er, daß meine Arbeit wichtig sei. Ach ja? Warum? »Nach der Machtübernahme wird dein Filmmaterial von unschätzbarem Wert sein. Soviel wie du hat noch keiner bei uns gefilmt, und Archivmaterial aus der Zeit vor der Machtübernahme wäre dann sehr gefragt«, sagt Kühnen scherzhaft. Ich lache. So habe ich die Angelegenheit noch nie betrachtet. Doch Kühnen weiß, daß die »Chancen« dafür nicht gerade gut stehen. Er wird ernst: »Aber in anderer Hinsicht könnte deine Filmerei noch eine Wertsteigerung erfahren: Wer weiß, es ist schon möglich, daß in ein paar Jahren einige, die du jetzt gefilmt hast, nicht mehr so leicht zu filmen sind.«
»Warum?« frage ich erstaunt. »Weil sie als Terroristen gesucht werden und untergetaucht sind«, sagt Kühnen und fügt nach kurzem Überlegen hinzu: »Hm. Es wäre durchaus denkbar. Aber soweit sind wir ja jetzt zum Glück noch nicht.« Ich will natürlich wissen, wen seiner »Kameraden« er als potentiellen Terroristen einschätzt, aber Kühnen hält dicht. Er merkt, daß er mir sowieso schon zuviel erzählt hat, und versucht abzulenken. Dann sagt er fast spöttisch: »Gut, daß du nur einen Film machst. Wenn du ein Buch vorhättest, würde ich da schon so meine Bedenken haben. Du bist etwas gefährlich: So langsam weißt du eine ganze Menge über uns, vielleicht zuviel.«
Was Neues im Osten?
»Damit ist die Bewegung aber antiparlamentarisch, und selbst ihre Beteiligung an einer parlamentarischen Institution kann nur den Sinn einer Tätigkeit zu deren Zertrümmerung besitzen, zur Beseitigung einer Einrichtung, in der wir eine der schwersten Verfallserscheinungen der Menschheit zu erblicken haben.« Das schrieb Adolf Hitler in »Mein Kampf«. Unmißverständlich kündigte er damit die Beseitigung der Demokratie an, nachdem er mit ihrer Hilfe an die Macht gekommen sein würde. Was bekanntlich auch geschah. Nach dem Niedergang der Nazidiktatur wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschaffen – die Verfassung. Dadurch sollte eine Wiederholung der Terrorherrschaft für immer unmöglich gemacht werden. Doch ein Artikel, der einzige, der die Neonazis wirklich interessiert, könnte ihnen den parlamentarischen »Ausweg« bieten. Ursprünglich wurde er für den Fall der Wiedervereinigung geschaffen; man kann ihn aber auch anders interpretieren. Es ist der Artikel 146. Da liest man: »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«
Januar 1990. Etwa hundert Rechtsextremisten haben sich in der Nähe von Bonn in einer Hinterhofkneipe versammelt. Die Anfahrt war in einem Schleusensystem erfolgt. Auf einem Autobahnrastplatz trifft man sich, holt weitere Anweisungen
ein und erfährt den nächsten Treffpunkt. Bei diesem Verfahren dauert es zwar Stunden, bis die Versammlung losgehen kann, aber dafür können die Veranstalter relativ sicher sein, unerwünschte Verfolger entweder abzuschütteln oder zumindest ausmachen zu können.∗ Der Anlaß des konspirativen Spektakels: »Parteitag« einer im Mai 1989 gegründeten »nationalen Protestpartei«: Die »Deutsche Alternative« mit dem Kürzel DA ist eine neue »Vorfeldorganisation« der NSDAP-AO. Angestrebt wird die legale Machtergreifung mit anschließender Aushebelung des Grundgesetzes nach Artikel 146. Kühnen erklärt es mir: Solange die NSDAP als Partei verboten ist, bleibt es bei einer illegalen Untergrundorganisation – der NSDAP-AO (Auslands- und Aufbau-Organisation). Eine NSDAPAuslandsorganisation gab es bereits im Dritten Reich, wie Kühnen stolz hinzufügt. Offizieller Sitz ist in Lincoln/Nebraska. Die AO, wie sie kurz genannt wird, ist in ein »Zellensystem« gegliedert. Das bedeutet, daß sich die Mitglieder untereinander zumeist nicht kennen. Wie in einem Geheimbund wird auch der Kontakt zur »Zentrale« nach Lincoln gehandhabt. Man arbeitet mit Codenummern und Decknamen. Sehr wichtige Kontakte verfügen sogar über »saubere« Adressen, das heißt Adressen, die der Polizei nicht ∗
Christian Worch ist Experte auf diesem Gebiet. Schließlich ist sein Vorbild Reinhard Heydrich. Worch gibt bei solchen Gelegenheiten Anweisungen schriftlich in militärisch präzisem Stil, mit angelegtem Lageplan und Landkarte (Auszug): »Wenn Sie sich verfahren haben… rufen Sie eine der Kontaktnummern an… Melden Sie sich mit Namen und der dazugehörigen Kennummer. Wenn Sie mit einem Konvoi fahren: Achten Sie auf den Anschluß an das Vorderfahrzeug… wenn Sie hinter sich als letztes Fahrzeug einen unserer Funk-PKWs haben, brauchen Sie kein Signal zu geben, sofern dieser den Anschluß verliert. Gut wäre in einem solchen Fall aber, wenn Sie darauf achten, ob Sie verfolgt werden. Gute Fahrt.«
einschlägig bekannt sind. All das macht eine Infiltration und Überwachung durch die Behörden schwierig und meist sogar unmöglich. Die NSDAP (und damit auch die AO) ist verboten. Da aber der Aufbau dieser Partei angestrebt wird, braucht man Vorfeldorganisationen, die keinen anderen Sinn haben, als das Verbot zu umgehen. Wird eine dieser Vorfeldorganisationen ebenfalls verboten, weicht man eben auf eine andere aus, die meist schon vor diesem Verbot gegründet war. Zu diesen Vorfeldorganisationen gehört z. B. die FAP (»Freiheitliche Arbeiterpartei«), DA (»Deutsche Alternative«), NL (»Nationale Liste«) usw. Als z.B. die ANS (»Aktionsfront Nationaler Sozialisten«) im Dezember 1983 verboten wurde, fanden sich später dieselben Aktivisten in einer NS (»Nationale Sammlung«) zusammen, die ebenfalls verboten wurde. Danach hat die DA diese Funktion übernommen und wird nun besonders im Gebiet der ehemaligen DDR verstärkt aktiv. Im Dezember 1992 wird auch die DA verboten, was nicht weiter stört, denn selbst im Falle eines Verbotes aller Organisationen gibt es noch eine weitere Zwischenebene, die mangels eingetragener Mitglieder gar nicht verboten werden kann. Diese nennt sich lapidar »Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front« (GdNF), eine »Gemeinschaft von überzeugten und bekennenden Nationalsozialisten, die die Überwindung des NS-Verbots und die Neugründung der NSDAP als legale Partei erstrebt«, wie die Selbstdarstellung in der Untergrundschrift Die Neue Front lautet. Viele Beobachter der Szene meinen, man müßte zwischen den einzelnen Organisationen genau unterscheiden und sie unterschiedlich bewerten. Auch wird angeführt, daß die Szene durch Rivalitäten zersplittert sei. Das kann sich jedoch ganz schnell ändern – was wirklich zählt, ist doch die gemeinsame
Grundhaltung. Und die Verwirrung, die bei Unterscheidungsversuchen automatisch entsteht, ist gerade Absicht der Organisatoren. Gleichzeitig gehört diese Taktik zu den juristischen Spitzfindigkeiten, die bei Prozessen den Ausschlag über Freispruch oder Verurteilung, Legalität oder Verbot geben können. Für die betroffenen Opfer ist es letzten Endes auch egal, ob der Brandsatz von einem »Rechtsradikalen«, einem »Rechtsextremisten« oder einem »Neonazi« geworfen wurde. Das gleiche ergibt sich bei der Frage, ob die Gefahr für unsere Demokratie von »Rechtsradikalen« oder »Neonazis« usw. ausgeht. Wenn man sich nichts vormachen läßt, dann reicht die reine Logik: Die Organisation der Nazis schlechthin ist und bleibt die NSDAP. AO, NS, NL, NO, FAP oder sonstige Organisationen, die hier als Vorfeldorganisationen bezeichnet sind, existieren doch nur, weil die NSDAP illegal ist und so auf »legalem« Weg weiterbetrieben wird. Deshalb laufen einfache Verbote solcher Organisationen auch ins Leere. Denn außer einer kurzfristigen Beeinträchtigung der »Arbeit« ändert sich an der personellen Struktur rein gar nichts. Mit Vorfeldorganisationen wir der FAP, die sogar Parteienstatus haben, könnte eines Tages der »demokratische« Weg zur Machtergreifung beschritten werden. Und dann: weg mit dem Grundgesetz. Das stört nur. Artikel 146. Der »Volkswille« macht’s möglich. So gibt es beispielsweise eine Vorfeldorganisation namens »Initiative Volkswille«. Einziges Mitglied: Michael Kühnen. Die meisten der heute Anwesenden sind Mitglieder mehrerer Vorfeldorganisationen. Wer Mitglied der illegalen NSDAPAO ist, weiß demzufolge nicht, ob sein Platznachbar auch Mitglied ist, wenn er es nicht von diesem selbst erfährt. Viele Gesichter sind mir bereits bekannt. Doch einer der Älteren fällt mir auf, der sich zwei Tische weiter mit seinen
jugendlichen Nachbarn angeregt unterhält. Eine außerordentlich abstoßende Gestalt mit riesigen abstehenden Ohren und einer dicken Brille, die seine blauen Augen überdimensional groß erscheinen läßt. Seine braunen Haare sind nicht schütter, aber sehr kurz geschnitten. Auch der Schnurrbart ist kurz getrimmt. Auf dem Kinn befindet sich noch ein Streifen Bartes, ähnlich einem »Musketier«-Bärtchen, aber breiter. Er ist schlank, und seine Kleidung ist gepflegt, sicherlich teuer. Ich setze mich zurecht, so daß ich ihn besser sehen kann, und beobachte ihn zwischen den Köpfen der anderen hindurch. Er schaut sich ständig um wie ein Geheimagent. Als sich unsere Blicke begegnen, sehe ich weg und spüre, daß auch er mich jetzt neugierig mustert. Wer ist das? Mein Tischnachbar kennt ihn auch nicht. Also frage ich Kühnen. »Das ist ein Kamerad aus der Niederlande, Et Wolsink.« Wolsink! Von Graeme hatte ich schon viel über diesen Holländer gehört. Immer mit dem Hinweis verbunden: »Whenever you meet him – be careful, he’s bad news.« – »Vorsicht, gefährlich!« Graeme hatte für Searchlight schon mehrfach über Wolsink berichtet. Allerdings gelang es bisher noch nicht, ein Interview mit ihm zu führen oder Filmaufnahmen von ihm zu machen. Unvermutet könnte ich nun einen der wichtigsten Hintermänner der Szene kennenlernen. Doch Kühnen muß das einfädeln. Ich habe ein kleines Tonband dabei und mache mich jetzt daran, es betriebsbereit zu kriegen. Dieses Gerät habe ich immer »für alle Fälle« eingesteckt, und jetzt ist es soweit. Ich versuche, dabei nicht mehr als nötig aufzufallen, und hantiere mit dem Tonband, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Schließlich hatte ich mich ja gerade mit dem »Chef« unterhalten. Und ich setze mich weiter nach vorne.
Heinz Reisz steht da, den ich auch schon länger kenne. Grauhaarig, dicker Schnauzbart, breite Schultern. Er ist ein Lokalmatador aus Langen und geübt im Umgang mit »Außenstehenden«. Eine seiner Hauptfunktionen besteht darin, Journalisten »weiterzuhelfen«. Eine Anlaufstelle für viele Reporter, die »mal eben was über Neonazis machen« wollen. Die meisten Interviews mit Michael Kühnen finden beispielsweise in Reisz’ Wohnung statt. Privat ist er umgänglich und hat sogar Humor. Auch sein Auftritt hier ist eher humoresk. Ein richtiger Show-Nazi. Er sieht das Mikrofon in meiner Hand und zwinkert mir zu. Sehr gut. Jetzt sind die Aufnahmen offiziell gutgeheißen, und es ist höchst wahrscheinlich, daß mich nun niemand mehr von der Seite anquatschen wird. Reisz’ Rede ist, wie immer, »kernig«, eine Parodie auf sich selbst, auf einen Naziredner, wie Fritzchen sich den Naziredner vorstellt, laut, aggressiv, brüllend: »Freunde, ich möchte es kurz machen. Man kann getrennt marschieren, doch man muß vereint schlagen…« Dann zitiert er auch noch Bismarck: »›Die Voraussetzung jeder völkischen Politik ist der Mut zur Wahrheit.‹ Und die Wahrheit ist: Wir sind ein Volk, wir bleiben ein Volk und…« Der Rest seines Satzes geht im Applaus und Gejohle der etwa hundert Anhänger unter. Verschmitzt zwinkert Reisz seinen Gefährten zu. Und plötzlich dieses rhythmische »Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil…« Wie eine wildgewordene Maschine skandieren die Skinheads, angriffslustig, mit Betonung auf das »Sieg«, was ganz anders klingt als das bekannte, vielstimmige »Heil« der Massen im Dritten Reich. Heinz Reisz’ Rede enthält keine Botschaft. Es ist, als ob er aus einem deutschnationalen Zitatenlexikon abgeschrieben hätte. Das macht er aber durch die Lebendigkeit seines Vortrags wieder wett. Wenn Reisz redet, steigt die Stimmung: »Wer hat noch nicht in Gefängnissen gesessen, wer hat noch
keine Diäten bezahlt für das Weltjudentum? Wer hat noch nicht den Verfolgungsterror ausgehalten?« Die Skinheads nicken begeistert. Denn Reisz bestärkt sie: »Das soll uns alles nicht erschüttern. Wir antworten mit einem Satz: Viel Feind, viel Ehr!« Jetzt ist Wolsink aufgestanden. Noch während Reisz seinen Applaus mit angedeutetem »deutschen Gruß« entgegen nimmt, kommt Wolsink nach vorn. Irgend jemand brüllt: »Unseren Kameraden aus der Niederlande ein dreifaches Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil!« Ich hätte nie geglaubt, daß hundert Leute so laut werden könnten. Wohlweislich hat man einen abgelegenen Ort für diese Veranstaltung gefunden. Wolsink spricht mit einer dünnen Fistelstimme: »Liebe Kameradinnen und Kameraden, nach dem Sturm, den mein Kamerad Heinz Reisz hier ausgeübt hat, sind meine Worte nur von einem schwachen Sprecher…« Da hat er recht. Wolsink hat den typischen Akzent eines Holländers und verspricht sich häufig. Dennoch kann man genau fühlen, daß er sich seiner Sache ganz sicher ist. Graeme hatte mir erzählt, daß Wolsink Offizier in der SS war. Als Wolsink aber jetzt keine fünf Meter von mir entfernt steht, scheint er mir dafür jedoch sehr jung zu sein. Ich schätze ihn jetzt auf höchstens 65. Das würde bedeuten, daß er 1941 gerade 15 Jahre alt war, zu jung, um in der SS zu dienen. Später erfahre ich dann, daß er sich mit 16 Jahren mit gefälschter Altersangabe freiwillig zur SS gemeldet hat. Im Moment kann ich nur aufpassen, daß mein Tonband richtig läuft, während Wolsink spricht. Er bezieht sich auf die Reihe von Hausdurchsuchungen, die die niederländische Polizei kurz vorher vorgenommen hatte. Dabei wurden Waffen und Propagandamaterial gefunden, und die Nazigruppe wurde teilweise verhaftet.
»Ihr wißt, was wir erlebt haben, so ungefähr, es war nichts Wichtiges!« sagt Wolsink lässig. Das scheint sein Stil zu sein. Ist es Untertreibung, oder findet er das wirklich nicht wichtig? Wolsink schildert das Geschehen mit zynischem Lächeln: »Also, ich kann euch berichten: So schwer haben wir nicht gelitten; man hat unsere Häuser ausgeraubt, man hat uns sieben Tage in eine kalte Zelle gesteckt und doch nicht viel rausbekommen: Es war viel Lärm um nichts… Der Gau Niederlande in der völlig zionisierten Niederlande, diese ANS Niederlande, bleibt stehen und bleibt bei Michael Kühnen…« Da bekommt er Applaus. Er gehört also der ANS an. Die Aktionsfront Nationaler Sozialisten wurde in Deutschland verboten, in Holland dagegen wird unter diesem Namen weiterhin die NSDAP-AO vertreten. Wolsink muß unterbrechen, der Applaus geht über in ein euphorisches Gejohle: »Kühnen, Kühnen, Kühnen…«, bevor Wolsink weitersprechen kann: »Ich höre mit dem größten Vergnügen, daß die Deutsche Alternative jetzt ein Aufblühen erlebt, wie wir nie erwartet haben, wie wir in den Niederlanden vielleicht nie machen können, nur durch eine Revolution! Aber: Wir zwei gehen heute abend und morgen früh gestärkt zurück, und wir schwören: Wir bleiben dem Chef treu – bis aufs Letzte! Heil Hitler!« Wolsink zeigt nun den Hitlergruß, den »echten«.∗ Die Jungen brüllen wieder das aggressive »Sieg Heil«. Unaufhörlich, immer wieder. Das ist keine Show – er führte diese Bewegung aus wie einen Reflex. Wie selbstverständlich dieser Veteran ∗
Weil der Hitlergruß mit ausgestreckter Hand in Deutschland verboten ist, umgehen die Neonazis das Verbot oft mit dem »Widerstandsgruß«. Dabei werden nur Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger gespreizt, was wie ein »W« aussieht. Dieser Gruß, oft auch als »Kühnengruß« bezeichnet, ist durch diese Abwandlung nicht mehr strafbar, der Sinn ist jedoch derselbe wie der Hitlergruß.
die Riten des Dritten Reichs fortführt! Plötzlich habe ich das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. In einer Welt, von deren Existenz ich bis vor einem Jahr noch gar nichts wußte. Hier wird Hitler verehrt, und das allen Ernstes. Im geheimen, verschworenen Kreis verfolgt man nur ein Ziel: die Zerstörung der Demokratie und die Wiederaufrichtung der Diktatur. Mit allen Mitteln und mit aller Kraft. Da ist keine verwirrte Romantik, das ist knallharte Überzeugung. Ich habe aber noch nicht alles gehört: Nach Wolsink spricht noch ein anderer Aktivist. Walter Matthaei (»Capitan Walter«), ein ehemaliger SS-Ordensjunker, nach dem Krieg in Spanien führend in der CEDADE tätig. Der Circulo Espanol de Amigos de Europa ist eine der einflußreichsten europäischen nazistischen Organisationen. Der schlanke, fast hagere Matthaei spricht in rheinischem Akzent. Seine Lippen sind auffallend groß, wobei die Unterlippe so abgerundet ist, daß er aussieht, als würde er ständig lächeln. Trotz der vielen Falten hat sein Gesicht etwas Jugendliches. Matthaei ist schon sehr alt, außerdem krank. Trotz seines Bemühens, schneidig zu wirken, sind seine Ausführungen eher ermüdend. Bis er schließlich energisch die momentane Lage beurteilt: »Da formiert sich hier im Herzen des Kontinents wieder einmal das, was immer wieder als Ordnungsmacht wirksam geworden ist in der Geschichte. Das heißt: das heilige, unser Reich.« Matthaeis ganzer Körper vibriert, als er beschwörend ruft: »Was wir wollen, das ist dieser mythische Begriff einer Ordnungsmacht im Herzen Europas, und das ist, was uns zunächst bewegt. Ob das viel Geld kostet oder ob das vielleicht auch einigen von uns Schmerzen und Blut kosten wird, das ist egal. Das Reich, das ist unsere Religion, das ist das, zu dem wir uns verschworen haben.« Derlei Worte kommen gut an bei den Jungen. In der Tat, auch ich spüre die Kraft der Gruppe, die Dynamik des
Verschworenen, und es wird mir unheimlich. Am Nebentisch sitzt eine fünfköpfige Skinhead-Delegation aus der – noch bestehenden – DDR. Schon vor dem Fall der Mauer hatte es Kontakte gegeben. Sie kommen aus Dresden, und es ist das erste Mal, daß sie an einer »West«-Veranstaltung teilnehmen. Wie in einem Riefenstahl-Film sitzen die Jungen mit begeisterten Augen da. Während ich die Gesichter um mich herum betrachte – die wenigsten entsprechen dem Ideal des »arischen Herrenmenschen« –, bleibt mein Blick immer wieder bei Wolsink hängen. Er zeigt sich von dem ganzen Geschehen seltsam unbeeindruckt. Er weiß genau, was hier vorgeht, und ich habe das Gefühl, er mag dieses ganze Tamtam gar nicht. Es ist lästige Pflicht für ihn. Das Gefühl verstärkt sich, als ich nach der Versammlung mit Wolsink ins Gespräch komme und einer der »Kameraden« sich unvermutet einmischt: Pit, der Dachdecker. Derselbe, der in Wunsiedel den Vorschlag gemacht hatte, mich aufzuhängen, weil ich Zwietracht säen würde. Und nun, beschwingt durch Bier und Mythos, hat er in dieser Hinterhofatmosphäre abermals eine blendende Idee: »Also, was ich nicht versteh’, ist, was wir alsfort gegen die Judde’ hawwe. Des sin’ doch alles auch Menschen.« In breitem hessischem Akzent präsentiert er die reine Logik. Unklar ist nur, ob er dies trotz oder wegen seines offensichtlichen Alkoholpegels zur Diskussion stellt. Sogar Wolsink zeigt sich beeindruckt. Er schaut Pit mit einem halb verwunderten, halb angeekelten und trotzdem fast amüsierten Gesichtsausdruck an. Seine Augen werden riesengroß und beobachten den Dachdecker durch die dicken Brillengläser. Wolsink legt unvermittelt los, unterbricht Pit, sein Ton ist leise, aber schneidend: »Mein lieber…« Wolsink zögert kurz, bevor er weiterspricht: »… Kamerad. Sie sprechen
hier die Sprache eines Liberalen, eines Humanisten. Was Sie da sagen, ist Humanismus. Aber hören Sie mal, da sind Sie bei uns vollkommen verkehrt.« Keinem war entgangen, daß Wolsink ihn mit »Sie« ansprach, nicht mit dem hier üblichen Du. Er fixiert Pit, der seinem Blick nicht lange standhält, verstummt und verlegen eine Zigarre aus seiner Jackentasche zupft. Eine peinliche Stille tritt ein. Wolsink wendet sich mir zu und sagt verwundert: »Was wollen Sie von mir? Ich bin völlig uninteressant!« »Sie sind von der älteren Generation, ein Zeitzeuge. Und von den Jungen werden Sie verehrt. Das finde ich schon mal ganz interessant«, gebe ich möglichst harmlos zurück. »Da gibt’s doch viel Interessantere als mich. Ich bin alt und krank. Mit mir können Sie nicht viel anfangen.« Wolsink reagiert höflich, aber ablehnend. Ziert er sich nur, oder ist er wirklich vorsichtig? Ich muß in die Offensive: »Aber Sie sind doch der Verbindungsmann nach England. Das ist ein sehr interessantes Thema.« Wolsink mustert mich mißtrauisch. Seine Augen werden immer größer, und ich bekomme das Gefühl, er verkrampft sich fast genauso wie ich. Ohne mich aus den Augen zu lassen, redet er jetzt in holländischer Sprache mit Tonny Douma, der neben ihm sitzt. Tonny und ich kennen uns schon länger, denn wir sind in Nürnberg »zusammen« verhaftet worden. Tonny legt offenbar ein Wort für mich ein. Mir ist nicht klar, was das soll, da ich die Sprache nicht verstehe. Aber da fällt das Wort Searchlight. Wolsink ist wirklich verflucht clever. Sein Mißtrauen ist berechtigt, und ich muß ihn schnellstens vom Gegenteil überzeugen. Ich erkläre ihm, daß ich eine Langzeitreportage machen will. »Ich würde gerne ein Interview mit Ihnen machen. Es wäre sehr wichtig für die Reportage, jemanden wie Sie zu befragen.«
Wolsink läßt mich keinen Moment aus den Augen. Wie gut, daß er nicht weiß, was ich denke. Wir mustern uns gegenseitig wie in einem Agententhriller, doch das hier ist Realität. Spöttisch verzieht er die Mundwinkel, als er antwortet: »Ja, für Sie vielleicht. Schauen Sie, ich bin völlig unwichtig. Und über meine Verbindung nach England, I won’t talk. Do you speak English? It’s so hard for me to speak German.« Die Höflichkeit verlangt, nun Englisch zu sprechen, aber ich muß darauf achten, möglichst gebrochen zu sprechen, um seine Idee, ich könnte mit Searchlight, der verhaßten Zeitschrift aus England, in Verbindung sein, nicht weiter zu füttern. Das »Problem mit Searchlight« hat mir Kühnen schon vorher geschildert, nicht ahnend, daß ich selbst mit einem Journalisten von Searchlight zusammenarbeite. Die führenden Aktivisten der Szene (und nur die sind befugt, ausführliche Interviews zu geben) unterscheiden drei Arten von Reportern: einmal die »Sensationsgeilen«. Die sind besonders bei Geldknappheit beliebt, weil sie für Informationen, Interviews und Auftritte Geld bezahlen. Weil sie von Sensation zu Sensation eilen, fällt die Recherche meistens dünn aus, und deshalb, so freut sich Kühnen, »kann man die auch noch herrlich manipulieren«. Zweitens die »Bekannten«. Sie recherchieren schon länger und wiederholt, und sie veröffentlichen regelmäßig Berichte. Jeder ein »Experte« für sich, jeder auf seine Art – und aus taktischen Gründen – »neutral« oder »objektiv«, mit mehr oder weniger guten Kontakten »zur Szene«. »Man kennt sich.« Zu dieser Kategorie werde ich während meiner Recherchen gezählt (obwohl ich noch keinen richtigen Filmbericht »abgeliefert« habe). Die dritte Art sind die »Dreckschweine«. Das sind Journalisten, in deren Reportage keine schonenden Auslassungen vorkommen. Die erwähnte »Neutralität« fällt bei ihnen flach. Ihre Arbeit ist eindeutig gegen die Faschisten
gerichtet. Deshalb dienen ihre Berichte meistens »kein bißchen der Propaganda«, und würden diese Kollegen dann offen bei den Nazis auftreten, wäre ihr Leben, zumindest aber ihre Gesundheit ernstlich gefährdet. Als Beispiele nennt Kühnen: »Günter Wallraff und dieser Gerhard Kromschröder∗ vom Stern. Und besonders die Leute von Searchlight. Die sind echt gegen uns. Da gibt’s also kein Pardon…« Wolsink befürchtet nun offenbar, daß ich ein »Dreckschwein« sein könnte. Zuerst muß ich ihm eine Erklärung geben, woher ich weiß, daß er Verbindungsmann nach England ist. Ich kann mich erinnern, daß in irgendeiner Nazischrift ein Beitrag über Wolsink erschienen war. Und möglicherweise war da auch seine Verbindung zum »British National Socialist Movement« erwähnt. Das ist die Lösung: »In der Neuen Front habe ich genug Interessanten über Sie gelesen. Sie brauchten mir nur das zu bestätigen, was ja sowieso schon publiziert wurde. Wie Sie wissen, arbeite ich ja schon länger an diesem Film, über Michael Kühnen usw.« Wolsink überlegt kurz. Wir gehen beide höflich miteinander um. Und er sieht offenbar keinen Grund, einen möglicherweise wohlgesinnten Reporter zu verprellen: »Herr… Schmidt: Ich gebe keine Interviews, aber wenn der Chef das will – bitte! Aber ich werde nicht über Verbindungen sprechen!« Jetzt aber ran. Versuchen kann man es ja mal: »Was sind denn das für Verbindungen, über die Sie nicht sprechen möchten?«
∗
Gerhard Kromschröder schlüpfte für seine sehr authentischen Reportagen häufig in verschiedene Rollen, u.a. auch in die Rolle eines Neonazis. Aufgrund seines Berichtes über ein Treffen von ehemaligen SSAngehörigen wurde einer der Teilnehmer, Otto-Ernst Remer, wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener angeklagt und verurteilt.
»Ich werde nicht sprechen über meine Kontakte in Amerika und Südamerika, in Südafrika und Australien oder England.« Unglaublich. Er sagt, wohin er Verbindungen hat. Vermutlich kommt es ihm darauf an, nicht zu sagen, mit wem. Doch wissen wir erst einmal, wohin die Kontakte gehen, dann kann man den Rest leicht herausfinden. Aber irgendwie kokettiert er ständig damit, daß er gar nicht wichtig sei. Vielleicht wegen Searchlight. Was wird Wolsink dazu sagen? Frechheit siegt, denke ich mir: »Sie haben vorher Searchlight erwähnt. Ich habe davon schon gehört. Kennen Sie die Searchlight?« Wolsink zieht eine Grimasse. »Zionisten. Nicht weiter wichtig.« Für die Nazis sind alle, die gegen Nazis sind, »Zionisten«. »War da nicht auch dieser Typ von der ›National Front‹, der war doch von Searchlight?!« frage ich Wolsink. »Hill. Wir könnten ihn liquidieren, aber er ist nicht wichtig genug.« Ray Hill war jahrelang führender Aktivist in verschiedenen Naziorganisationen in England. In den frühen Achtzigern wechselte er die Seite, blieb aber offiziell weiterhin Naziaktivist. Und zwar auf höchster europäischer Ebene. Jahrelang war Ray Hill ein »Maulwurf« und belieferte die Behörden sowie Searchlight mit wichtigen Informationen. Dann wurde er in einen Plan eingeweiht, nach dem ein Bombenattentat im Stile der 1980 ausgeführten Bombenanschläge auf den Bahnhof von Bologna (85 Tote) und auf das Oktoberfest in München stattfinden sollte: im Herzen Londons, beim Karneval von Notting Hill. Der Plan wurde daraufhin vereitelt, aber Ray Hill flog dabei auf. Nur er konnte der »Verräter« gewesen sein, der die Behörden informiert hat. Ray Hill und Searchlight werden seither von den Nazis mit besonderem Haß bedacht. Der Umstand, einen Antifaschisten
in den eigenen Reihen gehabt zu haben, hat Ray Hills Ex»kameraden« am Nerv getroffen. Das zeigen auch Briefe, die nach den Veröffentlichungen zugestellt wurden. »Du widerwärtiger verräterischer Feigling«, beginnt ein Robert Reif seine Klage, und er fragt sich, was man Hill wohl gezahlt habe, »um seine Freunde zu betrügen«. Dann droht er: »Man sagt, Du schreibst gerade Deine Memoiren – ich würde mich beeilen, wenn ich Du wäre, Du stinkender Bastard, denn irgendwie fühle ich, daß es Deine Todesanzeige ist, die bald geschrieben wird.« Von den Aufdeckungen waren nicht nur englische Nazigruppen betroffen. Das klandestine Netz der europäischen Szene war unvermittelt transparent geworden. Und bis heute wissen die Nazis nicht, ob und wo noch weitere »Maulwürfe« weiterarbeiten, die Ray Hill damals »umgedreht« hat. Wolsink sprach von »liquidieren«. Als ich nachfrage, beeilt er sich zu erklären, daß er mit »liquidieren« nicht umbringen meint. Ich frage mich allerdings, was das sonst noch heißen kann. In der Sprache der Nazis, der Lingua Tertii Imperii, bedeutet ja sogar schon »Sonderbehandlung« die geheime Hinrichtung. Für den Augenblick, so spüre ich, muß es genug sein. Aber immerhin: Ich verabrede mit Wolsink, das »interessante« Gespräch fortzusetzen. Ich würde also später einmal nach Amsterdam kommen und – »wenn der Chef es so will« – ein Interview mit ihm führen. Er überreicht mir seine Visitenkarte mit der Telefonnummer, und wir vereinbaren ein Codewort, das ich sprechen soll, falls ich ihn anrufen würde. Das Codewort ist das Datum unseres ersten Treffens: 13. Januar. Februar 1990. Vor drei Monaten ist die Mauer gefallen. Die Deutsche Demokratische Republik ist auf dem Weg in die Demokratie. Ein harter Weg. Die Euphorie der neugewonnenen Freiheit wird bald der Gedrücktheit weichen,
die sich einstellt, als die Arbeitslosenziffern in die Höhe schnellen, als sich nach der hektisch vollzogenen »Wiedervereinigung« die vollmundigen Versprechen der regierenden Politiker als unerfüllbar herausstellen. Michael Kühnen, der seine Strategie auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung baut, hat das »Protestpotential in der DDR« schon beizeiten erkannt. Zwei Punkte sind es, die er jetzt verstärkt vorantreiben will: erstens den Aufbau einer »Kadertruppe« im Osten und zweitens die Zulassung seiner Deutschen Alternative als politische Partei in der DDR, die als Auffangbecken für Enttäuschte, Unzufriedene und Orientierungslose bereitstehen soll. Es ist der 14. Februar 1990. In dem Frankfurter Vorort Fechenheim treffen sich führende Aktivisten der Naziszene aus der DDR. Ein Geheimtreffen, das jedoch nicht in dem Frankfurt stattfindet, das an der Oder nahe der polnischen Grenze gelegen ist. Wir sind in Frankfurt am Main, im Westen. Das bemerkenswerte an dieser Versammlung ist, daß sich die meisten Teilnehmer noch nie vorher gesehen haben. Sie kommen aus verschiedenen Städten der DDR: aus Magdeburg, Halle, Dresden, Rostock, Cottbus, Frankfurt/Oder und Berlin. Eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen hat es bisher kaum oder gar nicht gegeben. Und genau das soll sich jetzt ändern. Im »Napoleon«, einer einschlägig bekannten Kneipe, im Nebenzimmer, sitzen an den zu langer Tafel zusammengerückten Wirtshaustischen etwa vierzig junge Männer, um Michael Kühnens Anweisungen entgegenzunehmen. Sie tragen fast ausnahmslos grüne Bomberjacken und Springerstiefel, das Haar ist bei einigen penibel gescheitelt und HJ-gerecht gestutzt, andere sind Skinheads. Gemeinsam ist ihnen die brutale Ausstrahlung. Der Blonde zum Beispiel, mit der schlechten Haut, schiebt ständig
seinen Unterkiefer nach vorn, als gelte es, Mussolini zu imitieren. Und die Tätowierungen am Hals des Skinheads am gleichen Tisch lassen an Deutlichkeit nichts offen: »HASS« steht da, die beiden »S« gezackt wie die SS-Runenzeichen. Die Inhalte des »1. Koordinierungstreffens Ost« sind so geheim, daß ich draußen warten muß, bis man mir für fünf Minuten Filmaufnahmen gestattet. Notgedrungen spiele ich mit und verlasse den Raum. Es ist ohnehin klar, daß sie Zusammenarbeit beschließen werden, Informationsaustausch verabreden und sich Gedanken darüber machen, wie man den Aufbau einer Untergrundstruktur vorantreiben kann. Irgendwann, da bin ich sicher, werde ich auch von den Inhalten dieser »Konferenz« erfahren, ohne daß ich »zu neugierig« erscheine. Wie aber war es möglich, daß innerhalb so kurzer Zeit nach dem Fall der Mauer ein solches Treffen stattfinden konnte? Und warum haben sich die Ostnazis untereinander noch nicht bekannt? Wer hat die Verbindungen hergestellt? Wie konnte überhaupt Neonazismus in der DDR entstehen – in einem Staat, der in seiner Verfassung felsenfest behauptet, auf seinem Gebiet sei der »deutsche Militarismus und Nazismus ausgerottet«? Hat nicht jahrelang die Führungsriege der DDR von der Jugend geschwärmt, die sich »des Vermächtnisses der besten Söhne und Töchter des deutschen Volkes, des Strebens nach Freiheit und Recht gegen Krieg und Faschismus würdig« erwiesen habe? Hat nicht Honeckers Frau Margot noch im Juni 1989, also fünf Monate vor dem Fall der Mauer, in ihrer Eigenschaft als Ministerin für Volksbildung auf dem IX. Pädagogischen Kongreß der DDR in Ostberlin im Brustton der Überzeugung und voller Stolz erklärt, »die Saat, die die Pädagogen unseres Landes ausbrachten und täglich neu ausbringen«, sei »aufgegangen«?
Welche Saat ist da im Osten aufgegangen – oder ist alles vom Westen aus nach Osten »übergeschwappt«? Vage erinnere ich mich an Zeitungsmeldungen, die von antisemitischen Schmierereien in Ostberlin weit vor dem November 1989 berichtet hatten. Vereinzelt hörte ich von drakonischen Strafen gegen Skinheads, die als Ausdruck des antifaschistischen Charakters des gesamten DDR-Staates gewertet wurden. Es sollte lange dauern, bis sich die kleinen Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammenfügten, das so gar nicht zu dem »antifaschistischen Bollwerk« Marke DDR passen sollte.∗ 1987 mußte die DDR-Führung zum erstenmal zugeben, daß auch auf ihrem Gebiet militante Skinheads ihr Unwesen gegen Andersaussehende und -denkende treiben. Anlaß dazu war ein brutaler Überfall auf ein Konzert in der Ostberliner Zionskirche. Die Kirche im Stadtteil Prenzlauer Berg beherbergte nicht nur die oppositionelle Umweltbibliothek, sondern war auch ein beliebter Treffpunkt für Ostberliner Punks. Am Abend des 17. Oktober 1987 fand dort ein Punkkonzert statt, doch der Musikgenuß fand ein abruptes Ende. Etwa 25 Skins aus Westund Ostberlin traten mit ihren schweren Stiefeln die Kirchentüre ein, stürmten unter Rufen wie »Sieg Heil«, »Judenschweine« und »Diese Sorte müßte man vergasen« mit Fahrradketten bewaffnet in die Kirche, zerstörten das Inventar und verletzten einige Besucher zum Teil schwer. Die Volkspolizei wußte längst Bescheid. Sie war präventiv wegen des Konzerts mit drei Mannschaftswagen und fünf Funkwagen ∗
Als weiterführende Literatur ist hier ganz besonders das Buch »Auferstanden aus Ruinen« von Bernd Siegler zu empfehlen (Berlin 1991), eine hervorragend recherchierte Analyse des Rechtsextremismus in der DDR.
am Ort des Geschehens postiert. Doch bevor die Polizei eingriff, verschwanden die Skins wieder. Die DDR-Medien schwiegen den politischen Hintergrund des Überfalls tagelang tot. Es war nur von »Rowdytum« die Rede, nie von den skandierten Parolen und der Herkunft der Schläger. Der Vorfall führte schließlich zum ersten Prozeß gegen Skinheads in der DDR, der überhaupt in den Medien dargestellt wurde. Sechs Wochen später wurden vier Tatbeteiligte, alle Anfang Zwanzig, zu Strafen zwischen einem und zwei Jahren verurteilt – wegen »Rowdytum« und »Zusammenrottung«. Die für DDR-Verhältnisse milden Urteile stießen auf scharfe Kritik. Der Staatsanwalt legte gegen das Urteil Revision sein, in der zweiten Instanz fielen die Strafen jeweils um acht Monate höher aus. Kaum waren die Urteile gesprochen, wurde im gleichen Stadtteil der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee geschändet. Bis zum März 1988 sollte er insgesamt fünfmal heimgesucht werden. 222 Grabsteine wurden teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Auch hier griff die Polizei nicht ein, obwohl die Volkspolizei-Inspektion Prenzlauer Berg direkt neben dem Friedhof liegt. Alle Fenster auf der Rückseite der Polizeiwache gehen direkt auf den Friedhof hinaus. In der Anklageschrift schrieb die Staatsanwaltschaft in bemerkenswerter Offenheit, die Jugendlichen hätten »unter Alkoholeinfluß sich gegenseitig bestärkend faschistische und antisemitische Parolen« gegrölt. Und keiner sollte etwas gehört haben? Die Urteile vom 5. Juli 1988 gegen die zum Teil erst 15jährigen Täter waren hart. Die Höchststrafe lautete sechseinhalb Jahre. Die Richter hielten sich nicht lange bei den Hintergründen der Tat auf. Für sie war der Fall klar: Die Jugendlichen hätten sich an »durch westliche Medien
vermittelten faschistischen und neonazistischen Leitbildern« orientiert. Punkt. Die DDR-Medien berichteten in einer zuvor nicht gekannten Ausführlichkeit über das Verfahren, schließlich verhandelte die DDR-Staatsführung zur gleichen Zeit mit dem Jewish Claims Committee über symbolische Wiedergutmachungszahlungen, um so den Weg für amerikanische Wirtschaftshilfe frei zu machen. Abseits dieser bewußt spektakulär geführten Verfahren gab es aber eine ganze Kette von rassistischen und antisemitischen Gewalttaten und Bestrebungen, die verständlich macht, daß nach dem Fall der Mauer sich nicht nur zwei Staaten, sondern auch zwei wohlorganisierte Naziszenen vereinigt haben. In Oranienburg existierte eine Gruppe, die über drei Jahre hinweg ungestört in Zügen, Gaststätten und auf offener Straße Menschen angreifen konnte. In Wolgast im Bezirk Rostock bestand eine »SS-Division Walter Krüger« zum Teil aus angesehenen Bürgern der Stadt, Lehrern und Beamten. In Erfurt wurde ein Mädchen gewaltsam mit einem Judenstern markiert. In Königs Wusterhausen versuchten Skinheads, von einem ihrer Opfer mit Faustschlägen das Geständnis zu erzwingen, daß dieser Jude sei. Im Mai 1988 wurden zwei Afrikaner im Personenzug von Riesa nach Elsterwerda im Bezirk Dresden angepöbelt. Ein Mosambikaner wurde aus dem fahrenden Zug geworfen und schwer verletzt. Die Täter wurden nur wegen unterlassener Hilfeleistung und versuchter Körperverletzung zu Bewährungsstrafen verurteilt. Seit die DDR Anfang der sechziger Jahre mit der Aufnahme griechischer Partisanen ihre »ausländerfreie Phase« beendet hatte, wurden Übergriffe auf Ausländer verzeichnet. Seit 1983 wußte die Polizei von organisierten Skinheads oder sogenannten Nazi-Punks und von antisemitischen Parolen der Fußballfans des Berliner Stasiklubs »BFC Dynamo«. Seit den
harten Urteilen operierten die Neonazis vorsichtiger und konspirativer. Sie änderten ihr Aussehen und ihre Strategie. Ein flächendeckendes Netz von Kleingruppen entstand. Aufgrund ihres ordentlichen Äußeren, ihrer Disziplin sowie ihres Leistungswillens am Arbeitsplatz und in der Freizeit waren die Jungnazis gerngesehene Mitglieder bei der SEDJugendorganisation FDJ, insbesondere in deren Ordnertruppe. Die hatte die Aufgabe, »überall dort, wo die Jugend ihre Freizeit verbringt und sich zu jugendpolitischen Höhepunkten versammelt, für eine saubere Atmosphäre, für Ordnung und Disziplin« zu sorgen. So steht es im offiziellen »Handbuch der gesellschaftlichen Organisationen der DDR«. Um kraftvoll für Ordnung sorgen zu können, trainierten die Jungmannen bei der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik oder in den Turnhallen des Deutschen Turn- und Sportbundes. Dort wurde dann der Nahkampf gegen Ausländer, Punks und Linke erprobt. Während die Staatssicherheit sich akribisch mit oppositionellen Kräften wie beispielsweise mit friedensbewegten oder antifaschistischen Gruppierungen beschäftigte, kam es ihr sehr gelegen, wenn sogenannte »Faschoskins« für Sauberkeit und Ordnung auf den Straßen der DDR sorgten und nebenbei Punker sowie andere unangepaßte Jugendliche in Angst und Schrecken versetzten. Der Beifall der Bevölkerung konnte ihnen dabei sicher sein. Ungenügende Bewältigung der eigenen Vergangenheit, latenter Rassismus, geschürt durch die schlechte Behandlung der in der DDR lebenden Ausländer, vor allem der Vertragsarbeiter aus befreundeten sozialistischen Staaten, und die antizionistische Staatsdoktrin bildeten einen fruchtbaren Nährboden für rassistische und antisemitische Umtriebe. Unterstützt wurden die DDR-Jungnazis dabei von ihren Westkameraden. Nicht nur ideologisch. Ausrüstungsgegenstände wie Baseballschläger, Springerstiefel
oder Reichskriegsflaggen passierten per Kurier problemlos die Grenze. Hier entstanden jene Kontakte, die nach dem Fall der Mauer die Grundlage für die reibungslose Ost-WestZusammenarbeit bilden sollten. Viele der schon in der sozialistischen DDR aktiven Nazis setzten ihre Tätigkeiten nach dem November 1989 ungestört fort. Deutsche Kontinuitäten. Zwei der Angeklagten aus dem Zionskirchen-Prozeß tauchen als führende Mitglieder der in Ostberlin aktiven und schnell mit Kühnen-Anhängern kooperierenden Nationalen Alternative (NA) auf. In Cottbus bilden einschlägig vorbestrafte Ost-Skinheads den Kern der dortigen Deutschen Alternative. Das Bindeglied zwischen Ost und West stellt jedoch eine andere illustre Gruppe dar: die von der westdeutschen Regierung freigekauften »politischen« Häftlinge der DDR oder – im offiziellen Fachjargon – die Häftlinge, die »im Rahmen der besonderen Bemühungen der Bundesregierung im humanitären Bereich entlassen« worden waren. Im Jahre 1963 begann das große Geschäft von sogenannten »politischen« Häftlingen gegen harte Westmark. In den 26 Jahren bis 1989 gab die Bundesregierung für diese »besonderen Bemühungen« 3,5 Milliarden Mark aus. Knapp 38000 Häftlinge wurden damit freigekauft, 2000 Kinder zu ihren Eltern gebracht und 250000 Menschen die Ausreise in den Westen ermöglicht. In seinem Buch »Freikauf« gibt der ehemalige Staatssekretär des innerdeutschen Ministeriums Ludwig Rehlinger Einblick in diesen »Menschenhandel«. Rehlinger weiß Bescheid, schließlich hat er von Beginn an die Verhandlungen mit der DDR geführt. Er hat den Einheitspreis pro Häftling von 40000 DM (Stand 1963) und die Abwicklung über Warenlieferungen ausgehandelt. »Wer es mit der Moral ernst meint, muß gelegentlich tief schlucken«, kommentiert Rehlinger seine Geschäfte.
Die Preise blieben über die Jahre hinweg nicht konstant. Schon ab 1977 mußte mehr als das Doppelte (knapp 96000 DM) pro Häftling auf den Verhandlungstisch geblättert werden. Rehlinger beschreibt detailliert, welche Hürden bei den jeweiligen Freikäufen aus dem Weg zu räumen gewesen waren. Als bevorzugte Delikte, die bei dem Freikauf ausschlaggebend waren, nennt er nur »Republikflucht«, »subversive Aktivitäten«, »Hetze gegen den sozialistischen Staat«, »asoziales Verhalten« und »systemkritische Zusammenrottungen«. Der Staatssekretär spricht von einer »breiten Palette aller nur denkbaren Handlungen, die überall auf der Welt von einseitig ideologisch fixierten Regimen als mißliebig betrachtet werden, die sie fürchten und die von ihnen um des Machterhalts willen verfolgt werden«. Bis zuletzt lief der Häftlingsfreikauf auf Hochtouren. 1986 wurden 1450 und 1989 sogar 1840 Häftlinge freigekauft. Bis heute hat das dafür zuständige Bundesinnenministerium keine Liste vorgelegt, aus der die den Häftlingen in der DDR zur Last gelegten Straftaten im einzelnen hervorgehen. Es kann nicht behauptet werden, daß von Seiten der DDR mit Vorliebe Neonazis zur Verfügung gestellt wurden. Tatsache ist aber, daß so manche Biographie der im Westen aktiven Neonazis in der DDR beginnt. Sie wurden als »Kriminelle« in den Westen abgeschoben oder freigekauft. Die wenigsten waren geflohen. So war die Truppe um den Nürnberger Neofaschisten Karl-Heinz Hoffmann, den Gründer der gleichnamigen Wehrsportgruppe, ein Sammelbecken für ExDDR-Häftlinge. Hoffmanns Sicherheitschef Ralf Rößner stammt aus Sondershausen aus Thüringen. 1971 wurde er wegen Republikflucht zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die letzten neun Monate davon verbrachte er in Dunkelhaft, bevor er im Dezember 1974 als gerade 18jähriger in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.
Im gleichen Jahr wurde der spätere Hoffmann-Vertraute Uwe Behrendt für 50000 DM von der Bundesregierung als »politischer« Häftling freigekauft. Er war wegen versuchter Republikflucht zu zwanzig Monaten Haft verurteilt worden. Kurz nach seiner Ankunft schloß er sich in Tübingen dem rechtsextremen »Hochschulring Tübinger Studenten« um den ebenfalls aus DDR-Strafhaft freigekauften Axel Heinzmann an. Behrendt fand dadurch Kontakt zu Hoffmann und ermordete schließlich – als »Einzeltäter«, so die Ermittlungsbehörden – im Dezember 1980 einen jüdischen Verleger und dessen Lebensgefährtin. Auch die HoffmannAktivisten Uwe Mainka und Rudolf Klinger stammen aus der DDR. Ihre Wege in den Westen sind jedoch ungeklärt. Kein Geheimnis ist dagegen die Biographie von Arnulf Winfried Priem. Priem wird 1968 als 20jähriger von der Bundesregierung aus der DDR-Strafhaft freigekauft. Er war dort wegen neofaschistischer Umtriebe verurteilt worden. Kaum im Westen angelangt, kandidiert er für die NPD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und wechselt 1971 zur Deutschen Volksunion (DVU). Doch Parteiarbeit genügt dem neofaschistischen Rocker mit langen Haaren und schwarzem Stirnband nicht. 1974 gründet er in Freiburg seine »Kampfgruppe Priem«, mit der er für »die Neuerrichtung des Deutschen Reiches« kämpfen wollte. Drei Jahre später zieht er nach Berlin-Wedding und wird dort »Aktionsführer« im Orts vorstand der illegalen NSDAP. In seinem 1980 veröffentlichten »Kampfprogramm« fordert er die »Sterilisation erbkranker Menschen«. Nach mehreren Bewährungsstrafen wird er 1983 schließlich zu achtzehn Monaten Haft verurteilt. Heute ist Priem Anführer der Motorradgang »Wotans Volk«. Priem war der Kontaktmann Kühnens zu den Ost- und Westberliner Nazis und bei nahezu jedem Aufmarsch in Ostdeutschland dabei. Zuletzt war Priem
Berliner Landesvorsitzender der Deutschen Alternative, nach dem Verbot im Dezember 1992 kann er auf die anderen Vorfeldorganisationen der NSDAP-AO ausweichen. Gerade die Deutsche Alternative hätte ohne das Zusammenwirken von aktiven DDR-Neonazis, eingekauften und im Westen geschulten Ost-Neonazis und West-Neonazis nicht die Bedeutung erlangt, die sie bis zu ihrem Verbot innehatte. Ihr Bundesvorsitzender, der 27jährige Frank Hübner, wurde 1984 in der DDR wegen »illegaler Kontaktaufnahme« verhaftet. Seine Briefe an den westdeutschen Fernseh-Journalisten und notorischen Antikommunisten Gerhard Löwenthal waren von der »Staatssicherheit« (Stasi) gefunden worden. Vierzehn Monate verbrachte Hübner im Bautzener Gefängnis, bevor ihn die Bundesregierung am 3. April 1985 freikauft. Mit ihm wird sein zwei Jahre älterer Bruder Peter freigekauft, der wegen Gründung einer neonazistischen Wehrsportgruppe eine Haftstrafe zu verbüßen hatte. Der Weg der Neonazibrüder verläuft auch weiterhin gemeinsam. Sie gründen zunächst in Frankfurt eine Jugendgruppe eines »Soldaten-Verbands«. Frank Hübner, der sich zum Bürokaufmann umschulen läßt, schließt sich der DVU an und engagiert sich noch als DVU-Mitglied mit seinem Bruder bei der Nationalen Sammlung in Langen, der Truppe von Heinz Reisz, Gerald Hess und Michael Kühnen. Alle sind von Frank Hübner, seinem Äußeren und seinem Auftreten begeistert. Der Fall der Mauer katapultiert ihn in der internen Nazihierarchie weit nach oben. Zusammen mit seinem Bruder nimmt er die erste Möglichkeit wahr und fährt mit großen Mengen von Propagandamaterial nach Cottbus. Dort trifft er die DDR-Neonazis Karsten Wolter und René Koswig wieder. Schon im Dezember 1989 gründen sie eine DA-Ortsgruppe in Cottbus. Frank Hübner lädt die Cottbuser nach Frankfurt ein,
um dort zusammen mit den Westkameraden die Grundzüge der zukünftigen Strategie auszuarbeiten. Zusammen mit Rainer Sonntag, den die DDR als Kriminellen in den Westen abgeschoben hat, der danach ebenfalls bei der Nationalen Sammlung Fuß gefaßt hat und nach dem Fall der Mauer in Dresden seine neonazistischen Aktivitäten fortsetzte, bilden die Brüder Hübner die entscheidenden Bindeglieder zwischen den Nazis aus Ost und West. Peter Hübner wird Kameradschaftsführer in Langen, Bruder Frank wird unumstrittener Chef der Deutschen Alternative. Ein anderer gebürtiger DDR-Bürger wird Hübners rechte Hand und Landesvorsitzender von Sachsen: der 26jährige Roman Dannenberg. Auch der hat einschlägige Westerfahrung. Wegen rechtsextremer Aktivitäten wird der Mann aus Hoyerswerda in der DDR zusammen mit Freunden verhaftet und in die BRD abgeschoben. Dort engagiert sich Dannenberg bei der NPD und avanciert zum Bundestagskandidaten. Über Heinz Reisz gerät er an die DA, siedelt nach dem Fall der Mauer nach Hoyerswerda zurück und organisiert in seiner Heimatstadt die neonazistischen Umtriebe. Mit Erfolg. Im September 1991 greifen in der Braunkohlestadt Nazis unter dem Beifall der Anwohner ein Flüchtlingswohnheim an. Nach tagelanger Belagerung, wobei die Polizei nur zögernd einschreitet, werden die Flüchtlinge aus Hoyerswerda abtransportiert, nicht ohne daß dem Bus noch die Scheiben eingeworfen werden. Dannenberg und seine Kumpane haben in Hoyerswerda das geschafft, was Kühnen, Hess und Reisz in Langen schon längst vorhatten: die Stadt »ausländerfrei« zu machen. Wie einst manche Gauleiter ihrem »Führer« eifrig ihre Region »judenrein melden« konnten, so erfüllt es Dannenberg mit Stolz, daß er und seine »Kameraden« sich nun brüsten können: »Hoyerswerda ist ausländerfrei.«
Die Stationen der »freigekauften« bzw. abgeschobenen DDRNeonazis im Westen beweisen, wie fließend die Übergänge zwischen den rechtsextremen Parteien und den militanten Gruppierungen sind. Auch bleiben die Fragen offen, warum die Bundesregierung aktive Neonazis mit Summen zwischen 50000 und 90000 Mark freikaufte! Und daß geduldet wurde, daß diese ihre rechtsextremen Aktivitäten im Westen nahtlos fortsetzen und später im Osten ausbauen konnten. Gerade die aus der DDR stammenden und dann im Westen aktiven Rechtsextremisten waren ideologisch prädestiniert. So wurde schon in den siebziger Jahren in der konservativen Tageszeitung Die Welt die Theorie lanciert, die DDR hätte letztendlich den bundesdeutschen Rechtsextremismus unterwandert, würde ihn steuern, um dem Ansehen der Bundesrepublik zu schaden. Bundesdeutsche Neonazis als Agenten der Sowjetunion und östliche Fernsteuerung der Neonazis in der Bundesrepublik, das wurde als ein weiteres Beispiel für die Niedertracht des Sozialismus dargestellt. Die Frage nach den Motiven des Freikaufs gerade solcher Häftlinge ist damit sicherlich nicht ausreichend beantwortet. Die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit von Neonazis aus Ost und West ist damit aber personell sichergestellt. In weiteren Koordinierungstreffen überwiegend im Osten Deutschlands sollte sie kontinuierlich vertieft werden.
16. März 1990. Wir sind in Berlin, der alten, neuen Hauptstadt Deutschlands. Der Stadtteil Steglitz war eine Hochburg von Hitlers NSDAP. Und genau hier treffen sich heute die neuen Nazis. Die Gaststätte »Elefant« dient an diesem Tag als Versammlungsort für Aktivisten der »Bewegung« aus allen Teilen Deutschlands und Österreichs. Ein
»Koordinierungstreffen«. Wie bei solchen Anlässen üblich fließt das Bier im Strömen. Das ist die einzige Beruhigung für den Inhaber der Gaststätte, der eine politische Versammlung erwartet hat und gerade mit offenem Mund feststellen muß, daß ganze Wagenladungen voller Skinheads anfahren und in sein Lokal einfallen. Nicht alle werden mit dem Auto hergelotst. Wie üblich gab es wieder Treffpunkte und Schleusenpunkte auch an den Bahnhöfen, an denen nach Gesichtskontrolle weitergeleitet wurde. Außerdem besteht bei solchen Veranstaltungen auch ein Kontakt-Telefon für »alle Fälle«. Ruft man die Berliner Kontakt-Telefonnummer an, so meldet sich zunächst der Anrufbeantworter: »Hier ist das Hauptschulungsamt Wotans Volk… Es wird zurückgerufen. Beginn nach der MG-Salve.« Dann ertönen Schüsse aus einem Maschinengewehr. Man ist mit Arnulf-Winfried Priem verbunden. Meldet sich der Anrufer mit dem Namen bzw. dem richtigen Codewort, dann wird ihm telefonisch »weitergeholfen«. Im »Elefanten« sitzt heute ein Teil des harten Kerns um Michael Kühnen und Gottfried Küssel. Dazu kommen dann noch neue Anhänger. So sind es insgesamt etwa 150 Leute, davon viele im SA-Look mit braunem Hemd und Koppelschloß. Tätowierte Skinheads sind da und Mädchen der »Deutschen Frauenfront« (DFF) mit schwarzem Rock und strammem Blick. Und ungefähr die Hälfte davon kommt aus der DDR. Auch dabei: Heinz Reisz aus Langen und Gerald Hess. Kühnens Freundin Lisa begrüßt mich erfreut. Eigentlich heißt sie Esther, aber in diesen Kreisen macht sich Lisa dann doch besser. Sie ist ein fröhliches, hübsches Mädchen mit dunklen, mittellangen Haaren, etwa 19 Jahre alt und »begeisterte Nationalsozialistin«. Schließlich ist sie ja auch die »Führerin« der DFF.
Die Naziszene ist eigentlich eine reine Männergesellschaft – mit allen dazugehörenden Bestandteilen wie Chauvinismus, Militarismus und auch Homosexualität. Die ebenso dazugehörende latente Schwulenfeindlichkeit entspringt dabei oft schlichter Rivalität. In diesen Fällen ist die Denunziation der (vorgeblichen oder echten) Homosexualität anderer ein Instrument der eigenen Machtgelüste mit dem Ziel, den Rivalen auf diese Weise zu diskreditieren, was bei der spießbürgerlichen Einstellung vieler Anhänger dann auch tatsächlich gelingt. Der nicht geringe Anteil homosexueller Aktivisten, besonders in Führungspositionen, dürfte ungefähr dem bei den Funktionären im Dritten Reich entsprechen. Wie auch im Dritten Reich wird die Rolle der Frauen bewußt auf bestimmte Bereiche festgelegt. Die Deutsche Frauenfront steht daher in der Tradition der »NS-Frauenschaft«. Zu den »Arbeitsthemen« zählt neben der traditionellen »Familienpolitik« und »Reinhaltung der Rasse« seit dem Reaktorunglück in Tschernobyl auch »Kernkraft«. Zu den wenigen Mitgliedern der DFF gehören meist die Partnerinnen von Naziaktivisten, wie Ursula Worch, die Exgefährtin von Christian Worch. Die Organisation existiert zwar, schon aus »Alibigründen«, denn »man ist ja nicht frauenfeindlich«, faktisch ist die DFF jedoch bedeutungslos. Nur etwa ein Fünftel der Szene ist weiblich. Die Männer, homosexuell oder nicht, bestimmen die Richtung. »Terror« steht auf dem Hemd eines kahlgeschorenen Kerls in blutroter Schrift mit Totenkopf. Daneben sitzt Frank Hübner. Er hat sein weißes Hemd mit einer schwarzen Krawatte kombiniert. Einige haben sich gutbürgerlich ausstaffiert. Zugleich sieht man aber Runenaufnäher mit der Aufschrift »Gau Hessen« oder »Wien«, die auf uniformähnlichen Braunhemden angebracht sind. Manche tragen ein einfaches, kariertes Baumwollhemd, das uns als »Holzfällerhemd«
bekannt ist. Sie nennen es »Arbeiterhemd«. Dazu tragen sie Schiebermützen oder Wehrmachtskappen mit langem Sonnenspiegel. »Berlin, wir sind da! Wir sind in der Reichshauptstadt…«, tönt Gottfried Küssel mit österreichischem Akzent; immerhin hat er in dieser Hinsicht etwas vom »Führer«. Er stimmt die Anhänger ein, die in langen Bänken aufgereiht vor ihm sitzen. Nachdem sie durch das Schleusensystem bis hierher durchgekommen sind, weist er auf die harte Realität der »politischen Soldaten« hin. Der »politische Soldat« war schon im Dritten Reich das heroische Selbstbild eines opferbereiten Kämpfers, mit dem das sinnlose Blutvergießen des Krieges gerechtfertigt werden sollte. Dieses Selbstbild geben sie sich auch heute. Die harte Realität könnte jeden Moment über sie hereinbrechen, denn die »Antifa« – die Linken – haben mobil gemacht und sind in der mehrfachen Überzahl. Sollten sie diesen Ort herausfinden – eine wüste Massenschlägerei wäre gewiß. Das weiß auch der Kellner, der nervös die Bierpaletten serviert und versucht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, während Küssel breitbeinig brüllt: »Wir wissen, daß wir nicht nur Freunde auf dieser Welt haben. Die Welt besteht aus Feinden. Und wenn sie nicht unsere Freunde sein wollen, dann sind sie eben unsere Feinde. Ist auch in Ordnung. Dann müssen sie mit unserer geballten Kraft rechnen. Und dann müssen sie damit rechnen, daß es mal Haue gibt. Und dann darf man nicht draußen stehen auf der Straße und schreien: ›Tod dem Faschismus‹ und sich aufregen, wenn wir daherkommen und ihnen aufs Maul hauen…« Küssels Stimme überschlägt sich fast. Er steht da wie ein Klotz: mächtig, gewaltig, gewalttätig. Sein Zeigefinger, den er von Zeit zu Zeit unterstützend erhebt, wandert auf und nieder. Dann wieder ballt er die Faust und wedelt mit dem ganzen
Unterarm wie beim Schattenboxen. Seine Zuhörer grölen dankbar. Seine Rede hat nicht viel Inhalt, aber dafür um so mehr Aggression. Und das ist so richtig nach ihrem Geschmack. Küssel heizt weiter ein: »Wenn diese deutsche Volksseele mal so richtig kocht! Das Ding ist noch zu lau! Heiß werden muß es, kochen muß es! Es muß voll Liebe glühen…« Jetzt gerät Küssel selbst in Ekstase. Er hämmert seine Worte förmlich in den Raum: »Gemeinsam sind wir unausstehlich. Wir sind unausstehlich für die Systeme in Ost und West. Und laßt uns unausstehlich bleiben, laßt uns weiter dranbleiben, laßt uns hungern nach dem Sieg, laßt uns nicht satt werden! Laßt uns dranbleiben, ganz knallhart: ihr im Osten, wir im Westen, wir in der Ostmark. Und – pfeifegal – auch hinüber nach Breslau wird es gehen, nach Königsberg wird es gehen. Und den Gorbatschow will ich vor den Knien haben!« Ein Marktschreier? Ein Clown? Ein Wahnsinniger? Ein Schauspieler? Oder ein gefährlicher Hetzer, der mit dem Haß und den Ängsten der »Orientierungslosen« spielt? Mag alles sein, aber Küssel ist kein Einzelfall, er ist nur ein Beispiel!
Die Nazis arbeiten im Mai 1990 bereits mit Hochdruck an dem Aufbau der Organisationen, die einen Deckmantel für die NSDAP-AO darstellen sollen, den Vorfeldorganisationen: allen voran die Deutsche Alternative. Ich bekomme immer mehr Hinweise, daß es einen Geheimplan gibt, der diesen Aufbau vorschreibt. In dieser Zeit treffe ich mich mit Gerald Hess. »Es wird ja sowieso irgendwann an die Öffentlichkeit gehen. Aber bis dahin – kein Wort, daß du es von mir hast!« Gerald Hess drückt mir einen Umschlag in die Hand. Nach langem Hin und Her bekomme ich ein Dokument, das die Taktik der
Untergrundarbeit belegt. Ich zwinkere ihm zu. Wir sitzen in seiner Wohnung in Langen. Gerald hat uns zwei Bierflaschen auf den Couchtisch gestellt. Sein 1-Zimmer-Appartement befindet sich im 13. Stock eines häßlichen Hochhauses nahe dem Bahnhof. An den Wänden Fotos: Gerald und Kühnen. Gerald und Lisa. Gerald in Uniform. Gerald und seine Kameraden. Dann das obligatorische Porträt Adolf Hitlers. Manchmal hängt auch eine Hakenkreuzfahne daneben, wenn sie nicht gerade »anderweitig gebraucht« wird oder von der Polizei konfisziert wurde. Gegenüber der Sitzecke ein riesiger Schrank mit Schubladen, Bücherborden und Schranktüren mit dunklen Fensterscheiben, daneben eine Kochnische und die Glastür zum kleinen Balkon. Das Verhältnis zwischen Gerald Hess und mir ist mittlerweile fast freundschaftlich. Ich finde ihn wirklich sympathisch und überlege seit längerer Zeit, wie ich es anstellen kann, ihn zu »retten«, ihn aus der Szene rauszuholen. Ich warte auf ein Signal von ihm. Aber auch heute scheint er mehr auf ein Signal von mir zu warten, daß ich seiner Organisation beitreten will. Da kann er lange warten. Ich zupfe das Dokument aus dem Umschlag. Auf der ersten Seite ist ein runenhaftes »W« abgebildet, für »Widerstand«. Darunter in großer Frakturschrift »Die Neue Front«. Der Rest des Papiers ist mit Schreibmaschine geschrieben. Es ist datiert vom »21.1.1990/101«. Wieder die »101« für das 101. Jahr seit Hitlers Geburt. Darunter steht: »BEREICH OST – ARBEITSPLAN OST«. Ich sehe Gerald an und frage skeptisch: »Und wieso gibst du mir das jetzt, wenn es denn so vertraulich ist? Ist das nicht schon längst veröffentlicht?« Gerald zündet sich eine Zigarette an. »Du auch?« fragt er und hält mir die Schachtel entgegen. »Im Prinzip ja, aber es ist eher was Internes. Du sagst doch immer, ich kann dir trauen!«
Stimmt. Aber das meinte ich eigentlich mehr für den Fall, daß er aussteigen will. Ich lese weiter. Es geht um den »Aufbau der Bewegung« in der DDR. Über den Kaderaufbau steht da, daß »hinter allen legalen Aktivitäten eine stahlharte, weltanschaulich gefestigte Kadertruppe stehen soll«. Und dann: »Nach außen hin soll möglichst wenig über den Kader und seine weltanschauliche Haltung gesprochen werden. Der Kader bleibt im Untergrund.« Die NSDAP-AO-Vorfeldorganisation Deutsche Alternative soll der legale Überbau werden. Dazu »wird ein eigenes DDRParteiprogramm für die DA in Mitteldeutschland ausgearbeitet, das so gemäßigt formuliert werden muß, daß eine Registrierung als legale politische Partei möglich ist«. Das Gebiet der DDR nennen die Rechtsextremisten generell »Mitteldeutschland«, schließlich will man die »ostdeutschen« Gebiete – das heutige Polen – nicht aufgeben. Um gemäßigte Formulierungen bemühen sich in ihren Parteiprogrammen auch die DVU oder die Republikaner, doch wer sucht, findet Ähnlichkeiten zum Parteiprogramm von Hitlers NSDAP – natürlich zwischen den Zeilen.∗ ∗
Im »25-Punkte-Programm der NSDAP« heißt es z. B.: »Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremdengesetzgebung stehen.« Bei der DVU wird daraus, sehr schön demokratisch: »Die DVU-Liste befürwortet eine Politik, die es ausländischen Jugendlichen erlaubt, die nationale und kulturelle Identität zu erhalten sowie Teil ihres Volkes zu bleiben und somit den Weg zur Rückkehr in ihre Heimat offenzuhalten.« Man kann sich vorstellen, wieviel Kopfzerbrechen diese Formulierung bereitet haben muß, denn schließlich mußte ja auch klar bleiben, was der Anführer der DVU, Dr. Gerhard Frey, in seinen Reden dann auf den Punkt bringt: »Deutschland den Deutschen!« Das gleiche gilt für die Republikaner. Sie fordern pauschal: »Zuzugssperre für Ausländer. Nur in engen Grenzen sind Ausnahmen zulässig.«
1991. Aus dem Arbeitsplan Ost geht auch hervor, wie klein die Gruppierungen anfänglich sind: »Erstes Aufbauziel sind einhundert Parteigenossen in der DDR (bisher sind es neun…)«, heißt es da. Schon ein Jahr später gibt es Hunderte von Mitgliedern, fast explosionsartig steigen auch die Anhängerzahlen anderer rechter Gruppierungen an. Polizei und Verfassungsschutz werden beim Nachzählen erst bei 1500 angelangt sein, da marschieren im Juni schon allein 2 000 Nazis durch Dresden, weil einer von ihnen bei einem Zuhälterstreit erschossen wurde. Von den Mitgliedszahlen der Republikaner und der DVU ganz zu schweigen, die die 50000 bereits überschreiten. Weiter folgen im Arbeitsplan Ost dezidierte Anweisungen, mit Tarnund Täuschungsmanövern legale Parteiorganisationen aufzubauen, Mitglieder anzuwerben, Propaganda zu betreiben, sowie die Anweisung, »sich an Demonstrationen zu beteiligen und zu versuchen, diese zu radikalisieren, ohne sich selbst zu isolieren«. Solche Anweisungen werden später entscheidend zu den Ausschreitungen gegen Asylsuchende beitragen, die in Hoyerswerda und Rostock zu regelrechten Pogromen ausarten.
Die Deutsche Alternative meint feststellen zu können: »Es sind zu viele Ausländer im Land. Die DA wendet sich gegen jede primitive Ausländerfeindlichkeit, wehrt sich aber – in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit unseres Volkes – gegen die massenhafte Ansiedlung geschlossener fremder Volksgruppen.« Um diesem »Mißstand« abzuhelfen, wird gefordert: »… nicht ›Ausländer-Stopp‹ oder ›Ausländer-Begrenzung‹, sondern eine humane, aber konsequente Ausländerrückführung.«
Gerald Hess hat seinen Kassettenrecorder angestellt. Das Horst-Wessel-Lied ertönt. Durch die schlechte Tonqualität und die brummenden Lautsprecher klingt alles etwas flach, fast lächerlich. Plötzlich erschrecke ich über mich selbst: Ich habe gerade mitgesummt! Mir wird klar, daß ich über den Hintergrund dieser Märsche und Lieder beim Zuhören nicht mehr nachdenke. Dazu kommt, daß einige dieser Lieder eingängig wie Ohrwürmer sind. Zuweilen geht es sogar so weit, daß ich mich dabei ertappe, wie ich unter der Dusche die Melodie von »Vorwärts! Vorwärts! Unsere Fahne flattert uns voran« pfeife! Seit über eineinhalb Jahren arbeite ich nun ausschließlich an diesem Thema, und jetzt ist es soweit: Ich spüre, daß ich im Begriff bin, die Distanz zu verlieren. Genau davor hatten mich alle, die von meinem Vorhaben wußten, gewarnt. Ich merke, daß es mir Spaß macht, Gerald zu besuchen. Aber einige dieser Besuche wären für die Arbeit gar nicht nötig gewesen. Auch mein anfängliches Entsetzen über diese »Haßwelt« ist gelegentlich schon in ein fast wohliges Gruseln übergegangen. Es ist ein Gewöhnungseffekt eingetreten, der meine Persönlichkeit verändert hat. Um Freundlichkeit im Umgang mit den Neonazis muß ich mich nicht mehr bemühen. Man kennt sich und respektiert sich. Gleichzeitig wird mir bewußt, daß sich mein eigentlicher Freundeskreis auf eine Handvoll vertrauenswürdiger Personen reduziert hat. Es wird Zeit, meine Situation zu überdenken. Es gibt auch noch ein weiteres Problem: die Finanzierung. Alle Reserven und Ersparnisse sind erschöpft. Da ich aus Sicherheitsgründen auch nicht mit meiner Geschichte »hausieren« gehen will, habe ich noch keinen Produzenten für mein Vorhaben, den »großen Film«, gefunden. Die wenigen, die Graeme und ich um Unterstützung baten, lehnten ab. Ein Vertrag mit dem Privatprogramm »Spiegel-TV« über einen 30-Minuten-Bericht
kann zwar zwei bis drei Monate überbrücken. Aber auch gelegentliche Rechercheaufträge ausländischer Fernsehanstalten können an meiner fatalen Finanzlage nichts ändern. Immer wieder muß ich Geld von Freunden und Verwandten ausleihen. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Soll ich, wie mir ein Freund rät, die ganze Arbeit »einfrieren« und darauf warten, bis das Thema »aktuell genug« ist? Gerald schaut mich neugierig an. Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon nachdenklich an seinem Tisch sitze. Er hat die Musik abgeschaltet und sieht seine eingegangene Post durch. Als ich zu meinen Zigaretten greife, gibt er mir stumm Feuer. Gerald merkt, daß ich Probleme habe. Wir sitzen eine Weile da und rauchen, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich rafft er sich auf und fragt: »Dir geht’s aber auch nicht so gut im Moment?!« Ich nicke und beschließe, einen Monat zu pausieren.
Vier Wochen später, im Juni 1990, bin ich in Cottbus. Die ersten Resultate des Arbeitsplans Ost sind zu besichtigen. Im Hinterzimmer einer muffigen Gaststätte hält die Deutsche Alternative ein Kameradschaftstreffen ab. Karsten Wolter beißt sich auf die Lippe. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge, die aus einer Propagandabroschüre für die »Aktion Lebensborn«∗ entstammen könnten, entgleisen immer mehr. Zwar reckt der 20jährige den Kopf noch stolz aus dem ∗
Mit der Aktion Lebensborn wurde im Dritten Reich eine SS-Organisation eingerichtet, die vorwiegend in »nordischen« Ländern Entbindungs- und Säuglingsheime für verheiratete und unverheiratete Mütter unterhielt. Um »rassisch wertvollen« Nachwuchs heranzuzüchten, wurden nicht nur blonde, blauäugige »Mädel« mit ebensolchen SS-Männern zusammengeführt, sondern auch »geeignete« Kinder mit verbrecherischen Methoden den Müttern aus »besetzten Gebieten« geraubt.
Kragen seines Braunhemds, an dem ein SS-Totenkopf angebracht ist, doch im übrigen sagt seine Körpersprache etwas anderes. Mit der linken Hand versucht er »unauffällige« Zeichen zu geben, welche den Versammelten wohl Mäßigung signalisieren sollen. Doch hilft ihm das genausowenig wie sein beschwörender Blick. Durch den Sucher meiner Kamera sehe ich, wie Wolter aufgibt. Für einen Moment gleitet sein Blick an die Decke. Die Mundwinkel zucken. Er holt Luft und – schweigt. Langsam schwenke ich die Kamera von Wolter weg in die Mitte des Raumes. An einer langgezogenen Tafel sitzen Wolters Anhänger, die sich partout nicht mäßigen wollen. Im Gegenteil. Die Stimmung wird immer aggressiver, der Lärmpegel steigt. Dabei geht es doch nur darum, mir zu demonstrieren, daß alle hier Versammelten einzig für Recht und Ordnung eintreten. Eine Show, in der für einen Moment das Parteiprogramm der Deutschen Alternative eine Rolle spielen soll. Eine Show, die gerade mißlingt. Denn den Anhängern ist das eigene Parteiprogramm zu lasch. Daß es, wie im Arbeitsplan Ost befohlen, aus taktischen Gründen »gemäßigt« formuliert wurde, ist dem Lehrling mit der dicken Brille egal. Quer durch den Saal der Gaststätte ruft er: »Da könnt ihr quatschen, was ihr wollt: ›Von uns geht keine Gewalt aus‹ – Von wegen: Ich bin der erste, der die Nigger plattmacht, wenn sie an mein Mädel gehen.« Wolter sieht hilfesuchend seine drei Kollegen an, die mit ihm den Führungskader darstellen. René Koswig, Jahrgang 1966, ist der »Kameradschaftsführer«. Ein großer Bursche mit dünnen Lippen und breiten Schultern. Er brüllt im Dialekt der Brandenburger Region: »Ruhe, jetze!« Man gehorcht. Wolter versucht, die Chose zu retten. Mit bemühter Autorität sagt er, was er in solchen Fällen sagen soll: »Wir treten zum Schutz unseres Volkes ein!«
Er sieht kurz zu mir und meiner Kamera. Und stellt fest, daß das Lichtlein für »Aufnahme« leuchtet. Da setzt er hinzu: »Manche verstehen das falsch…« »Ja, was denn?!« grölt einer aus dem Saal. »Jeder weiß, daß von uns keine Gewalt ausgeht«, sagt Wolter, und man kann ihm ansehen, daß er das nicht einmal selber glaubt. Aber sein Nebenmann, der »Führungskaderkollege«, meint, den salomonischen Ausweg aus der Gewaltfrage zu finden: »Wenn wir angegriffen werden«, sagt er und bleckt die schlechten Zähne, »dann können wir uns natürlich zur Wehr setzen!« Die anderen haben verstanden. Allgemeine Heiterkeit. Er grinst breit und präsentiert wieder den erschütternden Anblick eines Gebisses, das nur Resultat kombinierter Widrigkeiten sein kann: schlechter Zahnarzt, schlechte Ernährung und schlecht gepflegt.
Cottbus ist im Osten, nahe der polnischen Grenze, gleich neben Hoyerswerda. Noch besteht die DDR. Doch ein Ende ist absehbar. Dann ist es aus mit dem staatlich verordneten Antifaschismus. Wie man sieht, hat es sowieso nichts genützt. René Koswig, der »Führer« der Kameradschaft, hat ein »geschlossenes nationalsozialistisches Weltbild«. So nennen Soziologen und Psychologen, was man auch einfacher sagen kann: Er ist ein überzeugter Nazi. Das war er auch schon, lange bevor er die Möglichkeit hatte, mit dem damals so bezeichneten »imperialistischen Westen« überhaupt in Berührung zu kommen, wie sein DDR-Vorstrafenregister beweist. Nach der »Wende« jedoch nutzen er und Karsten Wolter im Sommer 1990 die Präsenz eines Fernsehteams des Süddeutschen Rundfunks, um die Richterin von damals für das »Unrechtsurteil« in Bedrängnis zu bringen. Im
Verhandlungssaal des Bezirksgerichts Cottbus treffen Richterin und Verurteilte wieder aufeinander, offensichtlich durch die Vermittlung der Fernsehleute. Koswig und Wolter dürfen vorwurfsvoll dreinblicken, als die Richterin das Vorgehen gegen die beiden Nazis erklärt. Und plötzlich haben sich die Rollen vertauscht. Die Richterin sieht sich unversehens genötigt, ihr Urteil auch noch zu verteidigen. Die Kamera dokumentiert in Großaufnahme ihr Händeringen, als sie verunsichert hervorbringt: »Ich will nicht verneinen, daß wir bei der Strafe nicht ganz den Hintergedanken verbergen konnten: ›Wehret den Anfängen!‹« Als ob sie sich dafür schämen müßte! Das war eine tolle Sache für die Cottbuser Nazis. Und Propaganda zudem, denn der Eindruck, hier sei einst kommunistisches Unrecht gesprochen worden, verbleibt auch nach der Fertigstellung des Filmes »Deutschland erwache«. Laut Frank Hübner sollen die Reporter angeblich auch noch 750 Mark für die Kooperation der Cottbuser Nazigruppe auf den Tisch gelegt haben, »für Getränke und so…« Ihm glaube ich das zwar nicht, aber das gleiche höre ich zwei Wochen später von Michael Kühnen. »Das passiert öfters«, sagt er da und bedankt sich für die Mahlzeit, die ich ihm gerade spendiert habe. Ich schüttle den Kopf. Noch weiß ich nicht, daß ich einige Zeit später selbst einmal in die Tasche greifen werde, um ein Interview mit einem Mann zu bekommen, der per Haftbefehl gesucht wird. Frank Hübner und René Koswig sind die Drahtzieher für die Umtriebe der Deutschen Alternative. Sie lernen schnell dazu, und vermutlich werden sie sich in Zukunft weniger dämlich anstellen, wenn es um Anwendung und Eingeständnis von Gewalt geht. Koswig fühlt sich einer Elite zugehörig. Er bestreitet den Holocaust und haßt Juden. Ich frage ihn, was er denn sagen
würde, wenn er feststellen müßte, daß »jüdisches Blut in seinen Adern fließt«. Koswig lehnt sich zurück, seine mit Spinnweben tätowierten Hände öffnen sich leicht. Seine Augen werden schmal, als er den Kopf auf die Seite legt und mit Nachdruck antwortet: »Also wenn mir einer sagen würde, ich wäre Jude: Ich würd’ ihm den Hals rumdrehen!« Am 20. Oktober 1990 ist der Himmel über Dresden bedeckt. Es sind erst wenige Tage nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Heute, so habe ich beschlossen, investiere ich meine allerletzte Finanzreserve und miete ein teures Filmteam an. Es geht um den ersten neonazistischen Aufmarsch im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung – eine »historische« Stunde, die dokumentiert werden soll. Ich will auch sehen, wie die Bevölkerung reagieren wird und wie die Behörden. Wird es überhaupt zu einem Aufmarsch kommen? Selbstverständlich sind bei der Aktion – wie immer, wenn Christian Worch mit von der Partie ist – alle rechtlichen Kniffe berücksichtigt worden. Allerdings bin ich gespannt, wie die Einsatzleitung der Polizei reagiert, wenn sie gewahr wird, wer da aufmarschiert. Denn angemeldet wurde der Aufmarsch von einem – völlig unbekannten – Edgar Meyer. Die Taktik ist bei solchen Anmeldungen immer die gleiche: Der bei den Behörden noch nicht einschlägig bekannte Aktivist meldet eine Demonstration nach einem neutralen Motto an, wie etwa »Wir demonstrieren für soziale Gerechtigkeit«. Er fügt hinzu, daß dann noch ein »Prominenter« eine Rede halten wird, eine Kundgebung also. Der Name des Prominenten stehe noch nicht fest. Man wartet angeblich noch auf Zusagen. Daraufhin wird die Demonstration genehmigt. Wenn nun die Dresdner Behörden vom Verfassungsschutz nicht rechtzeitig über den Trick in Kenntnis gesetzt wurden, dann werden die Sicherheitskräfte heute staunend mit ansehen, daß nicht »soziale Gerechtigkeit« das Motto sein wird, sondern
»Deutschland den Deutschen« und der »prominente« Redner der Kundgebung kein anderer als der NSDAP-AOOrganisationsleiter Michael Kühnen. Die Spannung steigt. Doch bis zum Beginn der Veranstaltung ist es noch eine Zeit hin, denn wir sind sicherheitshalber zu früh losgefahren. Das nutzen wir für Stadtbilder von Dresden und ein paar Straßeninterviews. Das letzte Gespräch führen wir mit einem stämmigen Herrn, etwa vierzig Jahre alt. Frage: Haben Sie Angst vor Neonazis? Antwort: Nö. Frage: Warum? Antwort: Warum sollte ich? Ich bin doch Deutscher! Er läßt uns stehen. Der Kameramann, der Tontechniker und ich, wir sehen einander verdutzt an. Kurze Zeit später, am Hauptbahnhof, wimmelt es von Skinheads, Hooligans und Neonazis. Es findet auch noch ein Fußballspiel statt, deswegen die Hooligans. Die Polizei ist auch schon da und umstellt gerade den Bahnhofsvorplatz. In der Bahnhofshalle ist kein Polizist zu sehen, dafür hält sich dort offenbar der harte Kern der Nazis auf. Schon von draußen hört man immer wieder das Gebrüll »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!« und dazwischen: »Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil…« Als jetzt auch noch Michael Kühnen eintrifft, mit Freundin Lisa und zwei Leibwächtern, kann an dem Charakter der Veranstaltung kein Zweifel mehr bestehen. Christian Worch, Thomas Hainke und Gottfried Küssel weisen bereits ihre Ordnertruppe ein. Da interessiert mich, was der Einsatzleiter der Polizei dazu meint. Ich finde ihn etwa dreißig Meter vor dem Haupteingang der Bahnhofshalle, in dem die Skinheads gerade mit »Sieg-Heil«Gebrüll Hitlergrüße zeigen. Polizeihauptkommissar Wunsch hat ein freundliches, rundliches, etwas blasses Gesicht. Er hat
sich schon mit Helm und Funkgerät bewaffnet, als ich ihn anspreche: »Für mich ist es doch erstaunlich, daß Neonazis hier in Dresden einfach so demonstrieren dürfen!« Wunsch zeigt sich rechtsstaatlich und will differenzieren: »Sie haben eine angemeldete Versammlung. Nach dem Versammlungsgesetz. Und damit ist es eindeutig rechtmäßig legitimiert. Und – im Moment wäre der Unterschied zu klären: Wo sind Neonazis?« Wie bitte? Es wimmelt doch nur von ihnen. Ich hake nach: »Wie meinen Sie das? Das habe ich jetzt nicht verstanden!« »So, wie ich’s gesagt hab’!« Ich rätsele langsam, für wie doof mich dieser Polizist hält. Zeit für eine grundsätzliche Frage: »Also Sie finden, das sind keine Neonazis – oder es wird sich noch rausstellen…?!« Wunsch beschreitet auch die goldene Brücke nicht. Er beharrt auf die Nichtexistenz dessen, was sich vor unseren Augen abspielt: »Es hat sich noch niemand zu erkennen gegeben, in dem Sinn…« Welchem Sinn? Man muß es ihm halt erklären: »Ja, aber es werden doch permanent Hitlergrüße gemacht…« »Wo?« fragt er. Dabei schaut er sich um, plustert etwas die Wangen und zuckt mit den Schultern, als würde er nicht genau sehen, daß gerade dreißig Meter von uns entfernt die Arme zum »deutschen Gruß« gereckt werden. Heftig fotografiert von der Presse, produzieren sich die Skinheads so selbstbewußt, als wäre kein einziger Polizist zu sehen. Immerhin ist der Hitlergruß in Deutschland verboten. Ich merke, daß der Kameramann weiterhin den Polizeihauptkommissar filmt, also schildere ich für die Kamera, was wir gemeinsam sehen: »Da vorne – für die Fotografen sogar, da sind Fotografen, und dann machen die den ›deutschen Gruß‹, den Hitlergruß – das ist doch eindeutig neonazistisch, oder nicht?« »Ich hab’ noch nichts festgestellt! Muß ich Ihnen so sagen!«
Schnitt. Das reicht. Zumal derselbe Polizeihauptkommissar Wunsch kurz zuvor mit Michael Kühnen und Rainer Sonntag zusammengekommen war. In der Bahnhofshalle zeichnete ich das folgende Gespräch auf, bei dem Wunsch inmitten von Kühnens Anhängern stand. Freundlich teilt er Kühnen mit: »Da können Sie Ihre Versammlung abhalten. Dann würden wir Ihnen denselben Weg wieder zurück anbieten. Wenn Sie damit einverstanden sind.« Michael Kühnen ist einverstanden. Und Wunsch empfiehlt sich selbst: »Dann können Sie sich an mich halten, und dann würden wir…« Bei soviel Entgegenkommen will Kühnen dann doch wissen, wen er zu gegebener Zeit bedenkenlos mit höheren Aufgaben betreuen könnte: »Ihr Name ist noch mal?« fragt Kühnen interessiert. »Mein Name in Wunsch…« »Wunsch ist gut!« freut sich der Neonazichef. »Jawohl, Hauptkommissar Wunsch«, schärft ihm der Beamte noch ein, da mischt sich Rainer Sonntag ins Gespräch. Der rundgesichtige, etwas untersetzte Mann mit schütteren Haaren und eingegipsten Fingern an der Spiel- bzw. Schlaghand sieht gar nicht so aus, als sei er Karatekämpfer. Doch aus seiner Hoffnung auf Gewalt macht er keinen Hehl: »Sollten die Linken zu aggressiv werden, wir lassen uns das nicht gefallen.« Wunsch beruhigt ihn: »Wenn Sie Ausschreitungen zu erwarten haben, dafür sind wir auch da.« So einfach will Sonntag sich sein Vergnügen aber nicht nehmen lassen: »Ist klar, dann machen wir’s gemeinsam.« Die Dreistigkeit, mit der Rainer Sonntag vorgeht, nimmt Wunsch hin. Sonntag verfügt übrigens über seltsam gute Kontakte zur Polizei, denn er ist, wie sich später herausstellen
wird, gelegentlich Informant der Kripo Dresden. Im Volksmund: ein Spitzel. Polizeihauptkommissar Wunsch scheint jedoch an nichts anderem gelegen zu sein als an einem reibungslosen Verlauf der Nazidemo. Er wendet sich wieder an Kühnen: »Sind Sie einverstanden?« »Wir sind dann einverstanden«, bestätigt Kühnen sichtlich erstaunt über die wohlwollende Behandlung. Doch Polizeihauptkommissar Klaus Wunsch sagt nun noch etwas, was man schon nicht mehr mit »Wohlwollen« umschreiben kann: »Dann würden wir uns so distanziert zurückhalten, und ich würde Sie bitten, keinen Anstoß an den Polizisten zu nehmen…« Und so kommt es, daß etwa fünfhundert Neonazis zur Semper-Oper marschieren können, wobei eine Polizistenreihe wie der Schützenverein »Traute Eintracht« vor dem Aufmarschzug einherschreitet. Karsten Wolter marschiert mit seiner Reichsflagge so dicht hinter den Polizisten, daß man den Eindruck hat, die Fahne werde von den grünuniformierten Ordnungshütern selbst geschwenkt. Diese Provokation, bei der sogar Christian Worch Bedenken hat (»Ich weiß ja nicht, ob das nicht ein bißchen zu dick ist«), wird von der Ordnungsmacht nicht beachtet – vielleicht sogar nicht als solche empfunden. »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!« hallt es durch die Dresdner Innenstadt. Und: »Breslau, Königsberg, Stettin – deutsche Städte wie Berlin!« Einige der Skinheads schreiten gleich zur Tat. Sie scheren aus der Demo aus und gehen »Fidschis klatschen«. Das heißt, sie schlagen wahllos alle Menschen zusammen, die irgendwie asiatisch aussehen. Und dieses Werk »verrichten« sie planvoll und fast ungestört. Die Polizei marschiert ja bei Herrn Kühnen mit!
So und genau so empfinde ich es als Zuschauer. Zwangsläufig, denn als Sprechchöre rufen: »Wir wollen keine Judenschweine!«, da marschieren die Polizisten seelenruhig nebenher, ohne einzuschreiten. Nicht einmal verwarnt werden die Volksverhetzer. Wie gut, denke ich mir immer wieder, daß ich das alles mit der Videokamera festhalten kann. So können also, kurz nach der Wiedervereinigung, Kühnen und Küssel in Dresden vor der Semper-Oper eine Kundgebung abhalten. Die Leipziger Montagsdemonstrationen, mit denen die DDRBürger friedlich das Ende der kommunistischen Herrschaft erzwangen, sind noch kein Jahr alt, da beginnt Gottfried Küssel in der an seine Jungnazis gerichteten Rede schon mit der Geschichtsklitterung: »Es war diese revolutionäre deutsche Jugend, die in der ehemaligen DDR auf die Straße gegangen ist. Die hier auch in Dresden die Demonstrationen begonnen haben, die schlußendlich zur Vereinigung der BRD und DDR geführt hat.« Als ob die Nazis den Fall der Mauer eingeleitet hätten. Das ist Geschichtsverständnis im Nazistil. Wenn Demokratie eine Chance hat, so sagt man, dann nur durch mündige Bürger. Meine letzte Hoffnung heute gilt den Dresdner Bürgerinnen und Bürgern. Wie werden sie auf diesen Aufmarsch reagieren? Die meisten sehen dem skandierenden Zug stiefeltragender Extremisten bemerkenswert ungerührt und derart unbeteiligt zu, daß nicht erahnt werden kann, ob sie Angst, Ablehnung oder gar stille Sympathie bewegt. Erschreckend wenige äußern sich zum Geschehen; absolute Ausnahme ist der unverdrossene Antifaschist, der immer wieder »Nazis raus!« ruft. Er hat eine braune Lederjacke an, seine langen Haare und der Dreitagebart heben ihn schon allein optisch von den Umstehenden ab. Niemand unterstützt seinen Protest. Wohlgemerkt, er ist der einzige von etwa hundert
Passanten an dieser Straßenecke, der sich überhaupt laut gegen die Nazis äußert. Die vorbeimarschierenden Skinheads quittieren seine einsamen Rufe mit einem vielstimmigen »Linke Schweine!« Gleich darauf fällt mir ein junges Mädchen in Wildlederjacke auf, das verärgert über die »Ausländer-raus«-Sprechchöre zu sein scheint. Sie schüttelt ihr rotgefärbtes Haar, und ich denke, ich höre nicht recht, als sie den Faschisten empört zuruft: »Sehe ich vielleicht aus wie ein Nigger, oder was?« Sie will also nur nicht mit Ausländern und »Niggern« in einen Topf geworfen werden. Eigentlich könnte sie sich problemlos bei den Nazis einreihen. Dann ist da der ältere Herr, der den »real existierenden« Nationalsozialismus sicherlich noch selbst erlebt hat. Nicht ohne Nachwirkungen, wie sein Kommentar erkennen läßt, als er mißmutig diese »Jugend von heute« an sich vorbeiziehen sieht: »So ein Gesindel!« schimpft er. Und setzt zu meinem Erstaunen mit der Forderung »Die gehören alle ins Lager!« einen gewagten Kontrapunkt. Eigentor. Später, viel später, am Schneidetisch des schwedischen Fernsehens, bei der Montage dieser »Dresdner« Sequenz, entschließe ich mich, keine dieser drei Reaktionen zu verwenden. Sie ergäben im Kontext des Geschehens einen – gelinde gesagt – frustrierenden (und möglicherweise falschen) Eindruck von der öffentlichen Reaktion. Wir greifen auf eine Ausnahme zurück, auf die Reaktion einer Passantin, wie ich sie so leider nur ein einziges Mal erlebt habe. An dieser Stelle möchte ich mich bei dieser Dame bedanken, die wir im Schneideraum dann »unser Schatz« nannten. Mit ihrer spontanen Reaktion setzt sie dem deprimierenden Bild dumpfen Deutschtums etwas entgegen: Sie steht plötzlich vor mir, mit entsetztem Gesicht.
Sie ist um die Vierzig, der sie begleitende Herr, offenbar ihr Mann, ist etwas älter. Die beiden sehen sich den Zug der Demonstranten ran, die gerade fordern: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus…« Die Passantin wischt mit der Hand vor ihrem Gesicht hin und her, um den Nazis zu zeigen, daß sie diese für verrückt hält. Ihr Mann, der offenbar aus Angst vor Repressalien der Nazis nicht will, daß sie gefilmt wird, versucht vergeblich, sie wegzuziehen. Ebendieser Reflex – »nur nicht auffallen« – muß es gewesen sein, der es vor einem halben Jahrhundert möglich gemacht hat, daß Hunderttausende von Juden vor den Augen der geflissentlich wegsehenden Nachbarn verprügelt, verschleppt und abtransportiert werden konnten. Die Angst um die eigene Haut ist es, die Zivilcourage so rar macht. Das wissen die Neonazis: »Wir kriegen euch alle!« heißt ein vielgerufener Sprechchor. Wie sagt mir doch die etwa 70jährige Dame dabei hinter vorgehaltener Hand: »Wenn ich jetzt protestiere und die kommen dann womöglich an die Macht, dann bin ich ja schon ›vorbelastet‹. Unsere Politiker, die haben leicht reden von ›Zivilcourage‹. Die haben ihre Schäfchen im trockenen. Die können abhauen. Aber wohin soll ich denn?« »Wir kriegen euch alle!« ist eine Einschüchterung, die bereits wirkt, ohne daß die Nazis überhaupt politische Macht haben. Das ist das niederträchtige Grundprinzip und Vorbedingung für totalitäre Herrschaft. Es erfordert nicht viel Mut, auf die Demokratie zu schimpfen, jedoch marschierende Nazis lassen den braven Bürger verstummen. Eine nur zu menschliche Reaktion, die skrupellos ausgenutzt wird. Um so wichtiger sind daher die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, bei denen im Winter 1992 Hunderttausende von deutschen Bürgern zeigen, daß sich die
Nazis keineswegs so sicher sein können, eine »schweigende Mehrheit« hinter sich zu haben. Doch 1990, in Dresden, da glotzt das Volk stumpf und teilnahmslos, als die Hitlergrüße gezeigt und rassistische Parolen gegrölt werden. Deshalb ist die Passantin in Dresden so besonders: Sie läßt sich nicht wegziehen und sagt laut, was sie denkt: »Wahnsinn ist so was! Die jungen Menschen, die hier aufgewachsen sind, wie können die bloß so irr’ sein und solches Zeug reden?! Ich begreif das nicht!«
Wie man Märtyrer wird
Gerald Hess sitzt mir genau gegenüber. Wir haben in der äußersten Ecke des Lokals einen ruhigen Platz gefunden. Der Gastraum ist gerammelt voll mit Rechtsradikalen jeglicher Couleur. Der Wirt der »Alten Mühle« in der Nähe Hamburgs ist überhaupt nicht erbaut über seine Kundschaft. Mir ist jedoch die verkniffene Miene eines getäuschten Gastwirts mittlerweile ein vertrauter Anblick. »Hör mal, Gerald«, flüstere ich meinem Gegenüber zu, »du weißt, daß es mir darum geht, über euch so zu berichten, wie ihr wirklich seid.« Gerald runzelt seine Stirn. »Ja und?« »Das kann ich aber nicht!« flüstere ich vorwurfsvoll. »Wieso? Was ist denn los?« Gerald flüstert jetzt auch. »Ich darf hier nicht filmen!« eröffne ich ihm. Der »britische Historiker« David Irving soll in Kürze hier erscheinen und einen Vortrag vor ausgesuchtem Publikum halten. Ausgesucht von Christian Worch im Auftrag eines Ewald Althans aus München, der die Tournee des Engländers in Deutschland organisiert. Da heute zu dem ausgesuchten Publikum aber der Neonazichef Michael Kühnen gehört, besteht Irving, der die Existenz von Gaskammern in Auschwitz bestreitet, darauf, daß Journalisten ferngehalten werden. »Wenn es wahr ist, daß Kühnen und Irving hier aufeinandertreffen, dann ist es doch verlogen, daß ich das nicht filmen kann, nur weil Irving um sein Ansehen bedacht ist, oder?« gebe ich Gerald zu verstehen. Gerald überlegt kurz. Er gibt zu, daß er ganz meiner Meinung ist. Und so kommt es, daß innerhalb von zehn Minuten mit Kühnens Einverständnis
etwas beschlossen wird, was unglaublich klingt und wovon die anderen nichts merken dürfen: Ich werde David Irving mit versteckter Kamera filmen, Gerald und einer seiner Gefährten werden mir dabei helfen. Kurz darauf befinden wir uns im Freien. Es ist dunkel. Die Lampen am Eingang werfen ein fahles Licht auf die Szenerie. Ich habe Geralds schwarze Jacke über den Kopf gezogen und kauere hinter den beiden Nazis, während Gerald das Objektiv meiner Kamera in Ellbogenhöhe zwischen Arm und Oberkörper eingeklemmt hat. Auf diese Weise ist nichts von mir oder der Kamera zu sehen. Nach einiger Zeit, die wir so unauffällig wie möglich in kurzer Distanz zum Eingang warten, wird Gerald lebhaft: »Achtung, er kommt!« »Mehr nach links!« kommandiere ich flüsternd. Gerald Hess gehorcht und dreht behutsam seinen Oberkörper nach links. Sein Gefährte folgt dieser Bewegung, ohne meine »Deckung« zu vernachlässigen. Durch den Sucher der Videokamera verfolge ich die händeschüttelnden Schatten der etwa zwanzig Meter entfernten Personen. Ich verfluche mein Zittern, das sich leicht auf das Bild überträgt. Aber man filmt schließlich nicht jeden Tag mit versteckter Kamera. »Ist er das?« frage ich leise. »Ich glaub’ schon«, gibt Gerald zurück. Wunderbar! Ich kann die Umrisse erkennen. Kühnen, daneben die hochgewachsene Figur dieses Ewald Althans. Verschiedene andere Figuren, da ist Wolfgang Hess. Jetzt kommt Christian Worch und erteilt Kommandos. Und da ist er. Irving! Ich hab’ ihn. Ich hab’ ihn, zusammen mit den anderen, mit denen er partout nicht fotografiert oder gefilmt werden wollte. Jetzt unterhält er sich mit Christian Worch… »Du, die gucken schon! Paß auf!«
Gerald wird nervös. Keiner weiß, wie die anderen reagieren würden, wenn wir entdeckt werden. Auch mir wird langsam mulmig. Geralds Nervosität steckt mich an. Außerdem kann ich vor Zittern die Kamera kaum noch ruhig halten. »Wenn die jetzt was merken, dann verpissen wir uns lieber schleunigst«, kündigt Gerald an. Ich versuche mit dem Zoom näher an Irving zu kommen und schinde Zeit: »Einen Augenblick noch!« »Wir müssen aufhören, die schauen schon her. Bitte, mach Schluß!« O. k. Ich hab’ es ja auch im Kasten. Mit dem Daumen drücke ich auf den Aufnahmeschalter der Kamera, um sie abzustellen. Da trifft mich fast der Schlag: Ich hab’ sie damit eingeschaltet! Das bedeutet, daß sie vorher ausgeschaltet war. Und das bedeutet, ich hab’ zwar Irving durch den Sucher gesehen, ihn aber nicht aufgenommen. Es war alles vergebens! Trotz des Mißgeschicks war die Aktion in anderer Hinsicht ein Erfolg. Die seltsame Kollaboration verbindet uns menschlich ungemein. Gerald findet es gut, »den Heuchler einmal festzunageln«. Ich finde es gut, daß Gerald so denkt.
Am 21. Juli 1990 treffe ich Gerald Hess bei einem »Kameradschaftsabend« seiner Gruppe. Nach der Versammlung steigt er zu mir ins Auto, und wir fahren zu einer Gaststätte in Langen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können. Ich brauche Informationen von ihm, denn es hat Schwierigkeiten gegeben. Vor wenigen Tagen verhinderte die Polizei in dem kleinen Ort Maintal bei Frankfurt am Main mit massivem Aufwand ein geplantes Interview mit Naziskinheads. Es sollte um neonazistische Computerspiele gehen. Laut Verfassungsschutzbericht stoßen »die Nachforschungen nach
Herstellern und Vertreibern dieser Machwerke… nach wie vor auf große Schwierigkeiten«. Es besteht also auch amtlicher Aufklärungsbedarf. Zu meiner Beunruhigung wurden meine journalistischen Recherchen polizeilich unterbunden. Die Skinheads wurden verhaftet, bevor ich am vereinbarten Treffpunkt eintraf. Am 21. Juli 1990 weiß der Maintaler Tagesanzeiger zu berichten: »Passanten, Nachbarn und an der Aktion beteiligte Beamte meldeten zwar Zweifel an, ob so ein Aufwand (mehr als ein halbes Dutzend Einsatzfahrzeuge) betrieben werden müsse, um sage und schreibe fünf junge Männer vorläufig festzunehmen, doch die Staatsanwaltschaft hat die Aktion ausdrücklich angeordnet.« Eigenartigerweise trifft dann der Eifer der Behörden auch mich. Der weitere Vorgang sei einem Bericht der Zeitschrift Publizistik und Kunst der Gewerkschaft der Medien vom August 1991 entnommen (Auszug): »Anfang September 1990 erhält Michael Schmidt über seinen Rechtsanwalt Kenntnis von einer Strafanzeige, in der ihm die Staatsanwaltschaft Hanau ebenfalls ›Anstiftung zur Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhaß…‹ vorwirft. Grundlage für diese Vorgänge ist die Zeugenaussage von Andreas Reuhl, in der dieser angibt, Schmidt habe ihn angestiftet, verbotene Disketten aufzunehmen. Der ehemalige Kontaktmann Reuhl hat sich demnach zum Belastungszeugen gewandelt. Gegenüber Schmidt gibt er jedoch an, er habe diese Aussage auf Drängen des Staatsanwaltes gemacht, der ihm Vorteile in Aussicht gestellt habe, wenn er gegen Schmidt belastend aussage (…) Die Staatsanwaltschaften müssen sich fragen lassen, warum ihnen derart obskure Informanten als Beweisquellen für Anklagen gegen Journalisten ausreichen.« Aus der Zeugenvernehmung des Neonaziskinheads Andreas Reuhl ist später zu entnehmen: »Ich habe nicht gesagt, daß es
besser für mich ist, daß ich gegen Herrn Schmidt aussagen soll. Es wurde mir gesagt, daß es für mich in meinem Prozeß vorteilhafter wäre.« Am 11. Mai 1992 ergeht die lapidare Verfügung der Staatsanwaltschaft Hanau: »Das Ermittlungsverfahren gegen Michael Schmidt wegen Anstiftung zu einem Vergehen nach § 131 StGB wird eingestellt.« Zurück zu meinem Treffen mit Gerald Hess im Sommer 1990. Von ihm erhoffe ich mir jetzt erste Hintergrundinformationen dazu. Er erzählt mir, daß der Vater einer dieser Skinheads SPD-Mitglied sei und wohl auch befreundet sei mit einem der Polizisten – auch er sei Sozialdemokrat –, der an der Verhaftungsaktion beteiligt war. Und so sei es wahrscheinlich, daß ein Parteifreund den anderen um den Gefallen gebeten habe, irgendwie das Erscheinen seines Sohnes im Fernsehen zu verhindern. Denn er hatte von dessen Plänen erfahren, ein Interview zu geben. Eine gewagte Theorie. Doch Gerald wird auf einmal sehr ernst. Der Kellner stellt uns zwei Bier auf den Tisch. Gerald nimmt eine meiner Zigaretten und überlegt. Das Lokal ist gut besucht. Hinter uns dudelt ein Spielautomat. Ein Pärchen steht in einer Ecke des Lokals. Sie spielen »Darts«. Immer wieder ist das Auftreffen der Wurfpfeile auf der Zielscheibe mit einem dumpfen »Blubb« zu hören. »Du mußt aufpassen!« sagt er plötzlich. Er merkt, daß ich die Sache noch nicht ernst nehme. »Ist dir nicht klar, daß es bei uns Polizeispitzel gibt?« »Und was hat das mit mir zu tun?« »Ganz einfach. Dann weiß die Polizei, was du vorhast. Und wenn denen das nicht paßt, dann kriegst du Ärger. Du wirst es schon sehen.« Jetzt bin ich regelrecht alarmiert: »Wer ist denn der Spitzel?«
Gerald zieht an seiner Zigarette. Dann schüttelt er den Kopf und sagt bedauernd: »Ich habe keine Beweise. Aber wir wissen natürlich, wer es ist. Vielmehr: welche es sind. Ich sag’ dir aber die Namen nicht, weil…« Gerald gerät ins Stocken. Ich warte gespannt, bis er schließlich weiterspricht: »Das geht dich nichts an.« Irgend etwas finde ich hier völlig unlogisch, ich frage nach: »Wenn ihr schon wißt, daß da ein Spitzel ist, warum laßt ihr ihn dann weitermachen?« Gerald grinst breit und sagt: »Besser können wir die Bullen und den ›Schmutz‹ doch gar nicht verarschen. Der Kamerad bekommt gezielte Informationen: Und die müssen ja nicht immer stimmen! Oder für wie blöd hältst du uns?« Ich bestelle ein neues Bier. Eine Zeitlang sitzen wir uns schweigend gegenüber. Ziemlich lang sogar, bis das frische Bier auf den Tisch gestellt wird. Ich proste Gerald zu. Doch er reagiert nicht. Plötzlich sagt er: »Du weißt, daß ich dich gut leiden kann. Aber ich traue dir nicht mehr!« Mir wird es abwechselnd heiß und kalt. In was bin ich denn jetzt hineingeraten? Gerald erläutert es mir eindringlich: »Wir kennen uns jetzt über ein Jahr. Und ich weiß immer noch nicht, was du genau vorhast. Bisher hat noch nie jemand soviel rumgefilmt wie du. Und du weißt Dinge, die ich noch nicht mal gewußt habe. Zum Beispiel über Organisationen im Ausland. Die kennst du alle, Namen, Orte, all das. In Kameradenkreis wird man langsam mißtrauisch, weil du deinen Film nicht fertigmachst. Und ich wundere mich, woher du alle diese Informationen hast über uns! Wer bist du?« »Ich bin Michael Schm…«, will ich sagen, doch er unterbricht mich scharf: »Glaube ich dir nicht! Bist du vom ›Schmutz‹ oder von der Antifa? Ein normaler Reporter bist du jedenfalls nicht.«
Ich merke, wie ich schwitze. Die Sache wird heikel, Gerald ist nun todernst geworden. Meine Antwort muß logisch und überzeugend sein: »Du weißt genau, wenn ich vom Verfassungsschutz oder den Antifaschisten wäre, dann würde ich es dir nicht sagen. Ich kann dich nur darum bitten, mir zu vertrauen und mir zu glauben: Ich bin weder Beamter, noch bin ich Autonomer. Außerdem: Würde ich als Verfassungsschützer solche Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen?« »Das kann auch ein Trick sein!« sagt er aggressiv. Gerald sieht sich von Feinden, Agenten, Spitzeln und falschen Freunden umzingelt. Er hat nicht ganz unrecht, wie sich zeigen wird. Im Verlauf unseres Gesprächs gelingt es mir, Gerald zu besänftigen. Und er schüttet mir sein Herz aus: Er hat Geldprobleme, Beziehungsprobleme mit einer Freundin und fühlt sich überfordert von seinem Posten. Er hat es satt, die organisatorische Arbeit alleine zu übernehmen, während die anderen nur in Erscheinung treten wollen, wenn es um »Aktionen« oder Saufgelage geht. Die politische Polizei, so deutet er an, will ihn »weich« kriegen, setzt ihn unter Druck, vielleicht um ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen. Und er hat Ärger mit einem seiner »Kameraden«. Wer es ist, will er mir nicht sagen. Man könne ihm jedenfalls nicht mehr trauen. Denn er sei nämlich »auch ein Spitzel«. Gerald hat mittlerweile sein siebtes Bier intus und wird langsam schwer betrunken. Ich packe ihn ins Auto, fahre ihn nach Hause und versichere ihm eindringlich, daß er sich immer an mich wenden kann, wenn er nicht weiterweiß. Gerald bedankt sich, drückt mir die Hand und sagt: »Mal sehen. Vielleicht…« Fünf Tage später ist er tot.
Ich erfahre es über meine Kontaktadresse. Heinz Reisz hat angerufen. Die Nachricht, daß man Gerald erschossen aufgefunden habe, schockiert mich. »Ich bestätige Ihnen«, sagt mir der zuständige Polizeibeamte am Telefon auf meinen verstörten Anruf hin, »daß heute nacht in der Wohnung des Gerald Hess ein Selbstmord stattgefunden hat. Für uns ist die Sache schon abgehakt.« Auf Nachfrage erfahre ich, daß die Obduktion und weitere Untersuchungen noch ausstünden. Sie sollten den vermuteten Tathergang und die polizeilich festgestellte Todesursache untermauern – »oder auch nicht untermauern, aber in diesem Fall werden sie es untermauern!« verspricht mir der Beamte. Mir ist nicht klar, wie er da jetzt schon so sicher sein kann, aber er wird es ja wissen. Ich rufe Wolfgang Hess an, der für mich in diesem Augenblick ganz einfach der Vater seines Kindes ist. Er sieht die Sache anders: »Das paßt natürlich in deren Konzept: Gerald Hess begeht Selbstmord!« Seine Stimme ist nur mühsam beherrscht. Seine Verbitterung kann ich verstehen. »Das ist ja nur ein ›dreckiger kleiner Neonazi‹ gewesen! Das paßt ja ins Klischee! So einer muß ja Selbstmord begehen mit seinem kranken braunen Gehirn!« sagt Wolfgang Hess. Er ist schwer getroffen. Er hatte seinen Sohn noch lebend gefunden, mit gräßlich zerfetztem Brustkorb – und sah ihn sterben. Wolfgang Hess erzählt mir, daß der Einschuß einer abgesägten Schrotflinte von unten links vorne kam: »Mein Sohn ist ermordet worden!« Wenig später erscheint ein Flugblatt von Michael Kühnen. Unter der Überschrift »Opfertod für Deutschland« heißt es: »Es war ein freiwilliger, bewußter Opfertod für Deutschland. Kamerad Gerald Hess wollte ein Fanal setzen (…) Soweit wir wissen, starb Gerald Hess von eigener Hand. Aber trotzdem ist er ermordet worden: Seine Mörder sind das herrschende
System, das unserer nationalen Jugend nicht nur keine Werte und Ideale bietet, sondern sie verfolgt und schikaniert (…) Seine Mörder sind die feigen satten Spießer…« Gerald wird nun also – es war nicht anders zu erwarten – als Märtyrer gehandelt. Seine »Kameraden« teilten die Selbstmordthese. Daß er auch erschossen worden sein könnte, davon ist zunächst nur der Vater Wolfgang Hess überzeugt. Doch kurze Zeit später ändert sich die Betrachtungsweise. Kühnen läßt eine Sonderausgabe der Untergrundzeitung Die Neue Front herausgeben. Darin heißt es dann: »Auch wenn die hinterlassenen Schriften auf einen freiwilligen politischen Opfertod deuten, so sei doch nicht verschwiegen, daß es Rätsel um diesen Tod gibt… Als er gefunden wurde, hatte er eine Schnittwunde am Bein und auffallend rote Druckstellen im Gesicht. Wo kommen diese Verletzungen her?! Auch die Polizei hat sich seltsam verhalten und wollte die Akte schnell und ohne öffentliche Beachtung schließen. Erst eine Mordanzeige (…) brachte weitere Entwicklungen in Gang.« Ein Brief, der später bei einer Hausdurchsuchung gefunden wird, gibt Aufschluß über das interne Verhältnis zwischen Gerald Hess und dem Mann, dem er als »Spitzel« nicht mehr trauen wollte. Der Mann, mit dem Gerald so viele Schwierigkeiten hatte. Vom 24. August 1990 »102 JdF« (102. Jahr des Führers) datiert ein Schreiben von Michael Kühnen an den Dresdner Neonazi Rainer Sonntag. Dort geht es im Klartext weiter: »Hier in Langen glauben sehr viele, daß Du den Gerald erschossen hast. Es gibt auch Gerüchte, daß Du in der fraglichen Zeit wieder in Langen warst. Es wäre schon schwierig gewesen, nachdem Du uns damals so sang- und klanglos verlassen und im Fernsehen gegen uns Stellung genommen hast (von dem Geld, das Du Kameraden schuldest, ganz zu schweigen), Dich wieder sozusagen in Ehren aufzunehmen.
Gerade Gerald war da unerbittlich… Wir trauen Dir nicht (…) Wenn Du etwas mit dem Tod von Gerald zu tun hast, wird das früher oder später herauskommen. Und wie wir dann zu Dir stehen, kannst Du Dir sicher vorstellen, denn Gerald war einer unsrer Besten (…) Unter der Voraussetzung, daß Du nichts mit Geralds Tod zu tun hast, bin ich damit einverstanden, daß Du Deine Kameraden in Treue zu mir und unserer Gemeinschaft erziehst, unser Propagandamaterial verteilst und daß Du und Deine Kameraden in eine der Vorfeldorganisationen eintreten…« Wer nun ist Rainer Sonntag? Der kräftig gebaute und rauflustige Rainer Sonntag wurde 1973 als 18jähriger in seiner Heimatstadt Dresden von der Abteilung »Arbeitsgebiet 1« der Kriminalpolizei, zuständig beispielsweise für die »Verhinderung ungesetzlicher Grenzübertritte«, als »inoffizieller Mitarbeiter« angeworben. Mit Mühe hatte er die Schule hinter sich gebracht, seine Lehre brach er ab. Sonntag ist zu der Zeit ein Spieler, ein Trinker und findet rasch Zugang zum Halbweltmilieu der Elbestadt. Wegen »versuchter Republikflucht« wird er im gleichen Jahr zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt, und durch Spitzeldienste verschafft er sich im Gefängnis Vorteile. Dann folgen Gefängnisstrafen wegen Diebstahls. 1986 schiebt ihn die DDR als »Kriminellen« in die Bundesrepublik ab. Schon im Auffanglager Gießen prahlt er damit, er sei als »politischer Häftling« freigekauft worden. Sonntag zieht nach Langen und knüpft schnell Kontakte zur Kühnen-Gruppe. Sonntag kandidiert zu den Kommunalwahlen auf Platz drei der von Kühnen initiierten Nationalen Sammlung (NS). Sein Porträt erscheint in der Wahlkampfzeitschrift Der Sturm: »Bekannt für seine direkte Art und seine unverblümten
politischen Bekenntnisse zu Deutschland, gewinnt er schnell das Ohr und die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Er kennt die sozialen und seelischen Probleme seiner (und unserer) Volksgenossen aus Mittel- und Ostdeutschland.« Als Chef des internen »Sonderkommandos Sicherheit« der NS macht Sonntag Jagd auf Ausländer und steht schließlich wegen Körperverletzung und unerlaubtem Waffenbesitz vor Gericht. Kurz vor den Wahlen, am 9. Februar 1989, wird die NS verboten. In seiner »direkten Art« hat Sonntag schon zu diesem Zeitpunkt längst herausgefunden, wie er im Westen an das schnelle Geld kommen kann. Er verdient sich seinen Unterhalt im Frankfurter Bahnhofsviertel und bezeichnet sich selbst als »Nuttenbetreuer«. Als Bordellrausschmeißer kann er seine Kampfqualitäten unter Beweis stellen. Der Versuch, seinen aufwendigen Lebenswandel auch aus den Kassen seiner »Kameraden« zu finanzieren, fliegt auf. Er nutzt den Fall der Mauer und setzt sich nach Dresden ab. Obwohl er mit Gerald Hess im Streit liegt, dem er fast 6000 DM gestohlen hat, prahlt er mit seinen guten Verbindungen zum Nazichef Kühnen. Schnell gelingt es Sonntag in Dresden, eine Truppe junger Neonazis um sich zu versammeln. Der Mann, der gern mit seinem weißen japanischen Geländewagen herumkutschiert und stets einen deutschen Schäferhund an seiner Seite hat, ist in der Folge federführend an der Gründung verschiedener neofaschistischer Gruppierungen in Dresden beteiligt: »Schutzstaffel-Ost«, »Verband der Sächsischen Werwölfe« und »Nationaler Widerstand Deutschlands« (NWD). Mit dem NWD hat Sonntag Großes vor. Der NWD sollte eine »Partei für Recht und Ordnung« werden. Man wollte sich als »Kämpfer gegen den Sozialabbau« profilieren. Unter der Flagge der NWD und mit Spruchbändern »Dresden wird kein Bordell« marschieren im März 1991 etwa dreihundert Rechtsextremisten und Skins »gegen Arbeitslosigkeit, Drogen,
Prostitution und Kriminalität« durch die Straßen der Stadt. Der »Nuttenbetreuer« Sonntag marschiert vorneweg. Sonntags Truppe wird mit der Zeit salonfähig. Er führt Gespräche mit dem Staatsschutz, und Dresdens Ausländerbeauftragte lädt ihn zum Plausch angesichts einer Vielzahl von rassistischen Übergriffen auf Ausländer und Ausländerinnen in der Stadt. In der Naziszene Ost ist Sonntag jedoch nicht unumstritten. Zusehends beäugt man den Westimport mißtrauisch, er »quatscht« zuviel, gilt als Hochstapler und Großmaul. Man durchschaut ihn schnell. Sonntag glaubt, sich durch Taten profilieren zu müssen. Er plant, eine eigene Drogenpolizei aufzubauen. »Wir wollen unsere Kinder vor dem Teufelszeug bewahren«, diktiert er den Journalisten der Lokalpresse ins Notizbuch. Dann macht sich Sonntag auf die Jagd nach Glücksspielern in Dresdens Einkaufspromenade. Dort, in der Pragerstraße, verdienen sich insbesondere ausländische »Hütchenspieler« ihr Geld mit der Risikobereitschaft der Deutschen und deren törichter Gier auf die schnelle Mark. Die so betrogenen Toren applaudieren begeistert, als Sonntag mit seinen Kumpanen in mehreren »Aufräumaktionen« ungarische Hütchenspieler niederknüppelt. Einen kettet er gar an einen Laternenmast und übergibt ihn publicityträchtig der Polizei. Die hat gegen diese »Amtshilfe« nichts einzuwenden. Eine Hand wäscht die andere: Sonntag übersteht eine Reihe von Personalienüberprüfungen und Festnahmen unbeschadet. Der Höhepunkt der Polizei-Nazi-Kooperation in der Kulturstadt Dresden ist erreicht, als ein Beamter der zentralen Schutzpolizei Sonntags Mannen sogar in seinem Privatwagen zu deren Einsätzen chauffiert. Mit Aufräumaktionen gegen Hütchenspieler, illegale Straßenhändler und Prostituierte kann sich die Truppe um Rainer Sonntag auch des stillen und manchmal offenen
Beifalls der Dresdner Bürger sicher sein. »Ich bin Auge, Ohr und Mund der Bevölkerung«, faselt Volksgenosse Sonntag einem ZDF-Team ins Mikrofon. Während er zum Kampf für »deutsche Sauberkeit«, also gegen Ausländerinnen und Ausländer, Drogenhandel, Kriminalität, Prostitution, Homosexualität und Linke aufruft, verdient der Naziführer längst sein Geld mit Schutzgelderpressungen. Eine Reihe von vietnamesischen Zigarettenverkäufern muß erhebliche Summen »abdrücken«, um von Sonntags Schlägerbanden nicht »geklatscht« zu werden. Sonntag ist an Waffenschiebereien beteiligt, und während seine Anhänger »gegen Pornographie« demonstrieren, verlangt er Schutzgelder im Bordellmilieu. Diese Doppelstrategie wird ihm in Nacht zum 1. Juni 1991 zum Verhängnis, in dieser Nacht, knapp ein Jahr nachdem Gerald Hess durch eine Ladung Schrot ein gewaltsames Ende fand, versammelt sich vor dem Kino Faunpalast in der Dresdner Innenstadt eine halbe Hundertschaft von Sonntags NWD. Sie sind überwiegend schwarz gekleidet, haben ihre Köpfe kahlrasiert und tragen schwere Soldatenstiefel. Der Anführer Rainer Sonntag hat sie herbestellt, um an diesem Abend ein in der Nähe liegendes Bordell in der Moritzburger Straße »plattzumachen«. Hinter der geplanten Aktion »gegen die Prostitution« verbirgt sich jedoch die Weigerung des Bordellbesitzers, an den ehemaligen »Nuttenbetreuer« Sonntag Schutzgelder in fünfstelliger Höhe zu zahlen. Doch aus Sonntags Plänen wird nichts mehr. Kurz vor Mitternacht gleitet ein schwarzes Mercedes-Coupe heran. Der Fahrer hält den Wagen abrupt an. Der Beifahrer springt heraus, es kommt zu einem Wortgefecht. Sonntag zeigt keine Angst, als der andere eine abgesägte Schrotflinte anlegt – da fällt der Schuß. Sonntag wird tödlich am Kopf getroffen und fällt blutüberströmt auf den Bürgersteig, während der Schütze in den Wagen springt und davonrast.
Nachdem sich seine »Kameraden« vom ersten Schock erholt haben, decken sie die Leiche ihres Führers mit einer Reichskriegsflagge zu und schwören »Blutrache für Rainer Sonntag«. Da die Täter im Augenblick nicht greifbar sind, gehen sie »Ausländer klatschen«. Am nächsten Morgen geht die Jagd auf Hütchenspieler und Vietnamesen weiter. Einen Tag später wird das Bordell in der Moritzburger Straße »plattgemacht«, sozusagen postum zu Ehren Rainer Sonntags. Wenige Tage später werden nach einer Interpolfahndung zwei in Zuhälterkreisen bekannte 23- und 25jährige Männer in Bangkok als mutmaßliche Mörder des Nazis festgenommen. Nach dem Tod von Sonntag ist der Streit um die Führung in der »Kameradschaft« Dresden begraben. Die gesamtdeutsche Naziszene will Sonntags Tod als Fanal für die neofaschistische Bewegung im Osten des Landes nutzen. Sonntags Tod ist ideal für Propagandazwecke: Endlich wurde ein Neonazi auf offener Straße erschossen. Zwar nicht vom politischen Gegner – doch da gibt es das Vorbild Horst Wessel. ∗ Und wie Horst Wessel wird ein kleiner Zuhälter zum großen Märtyrer stilisiert. Vergessen ist Kühnens Schriftwechsel nach dem Tod von Gerald Hess. Vergessen ist Sonntags »Kameradendiebstahl« und die Gerüchte, daß er seinen Mördern drei Wochen vor der Tat die Tatwaffe für weniger als 400 DM verkauft haben soll. ∗
Der Pfarrerssohn Horst Wessel, ein gescheiterter Student, trat 1926 der SA bei. Dort rückte er zum »Sturmführer« auf. Er verfaßte ein Lied: »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen…« Wessel betätigte sich als Zuhälter in Berlin. Im Frühjahr 1930 wurde er in der Wohnung einer Prostituierten in Berlin erschossen. Die Nazis schlachteten seinen Tod propagandistisch aus, wobei der wahre Hintergrund natürlich verschwiegen wurde. Goebbels schuf den »Horst-Wessel-Mythos«. Zahlreiche filmische Apotheosen und Stücke wurden ihm gewidmet. Das Lied »Die Fahne hoch…« wurde als Horst-Wessel-Lied zum »Lied der Bewegung« und war faktisch eine »Nationalhymne – Zweiter Teil«.
Vergessen sind Sonntags kriminelle Machenschaften und seine Spitzeldienste. Einmütig bereiten nahezu alle größeren deutschen Nazigruppierungen einen Aufmarsch in Dresden anläßlich Sonntags Beerdigung vor. Einen Trauermarsch könne er gar nicht verbieten, begründet Dresdens christdemokratischer Oberbürgermeister Wagner die neuerliche Genehmigung einer rechtsradikalen Demonstration, obwohl er doch schon vorher dem israelischen Botschaftsrat Aviv Shir versprochen hatte, er werde in Dresden nie wieder eine Kundgebung der Neonazis zulassen. Schließlich ziehen am 15. Juni 1991 etwa 2000 Nazis durch Dresden. Auf den Transparenten steht »Rainer Sonntag – Blutzeuge des Reiches«. Vor dem Faunpalast fliegen die Arme hoch zum Hitlergruß, »Sieg-Heil«-Rufe erschallen. Die Polizei schaut wieder untätig zu, und mancher Bürger applaudiert verstohlen. Heinz Reisz entblödet sich nicht, wider besseres Wissen seinen Zitatenschatz auch hier zu bemühen: »Sonntag ist wie ein Soldat gestorben«, schwört er am Grab des »Nuttenbetreuers« theatralisch Rache. Sonntag sei in Dresden »von Meuchelmördern hingeschlachtet worden wie einst die Dresdner von den alliierten Bombern«. Das gleiche Spektakel wiederholt sich, nachdem die beiden Zuhälter vom Mordvorwurf an Sonntag freigesprochen werden. Die Richter gestehen ihnen zu, den Nazi in eindeutiger Notwehr erschossen zu haben. Der Freispruch paßt ausgezeichnet zur weiteren Legendenbildung um den »Märtyrer« Rainer Sonntag. Ihm wird sogar, wie es sich für einen »Märtyrer« auch gehört, ein eigenes Lied gewidmet: »Die Mauer fiel, das Land ward frei. / Er spürt, daß die Zeit des Kampfes nun gekommen sei (…)/ Für deutsche Ordnung, deutsches Recht stand Rainer auf zum Streite. / Wir Dresdner
Kameraden standen ihm dabei zur Seite. / Für deutsche Treue, deutschen Mut / floß Rainer Sonntags Heldenblut. / Der Tag der Rache findet uns zur letzten Schlacht bereit. / Vorwärts für das Vierte Reich, für eine bessere Zeit.« Beide jedoch, Gerald Hess und Rainer Sonntag, waren genausowenig »Märtyrer«, wie sie »richtige Nationalsozialisten« waren. Gerald Hess war kein »Echter«, sondern zutiefst unsicher und zweifelnd. Und Sonntag? Weiterer Kommentar erübrigt sich.
Die Todesreihe ist damit aber nicht beendet. Der nächste kennt sein Schicksal schon längst und weiß, daß sein Ableben einen Machtkampf in der Szene auslösen wird. Während meiner Recherchen hatte mir Michael Kühnen Türen zur Szene geöffnet, die vielen anderen verschlossen geblieben waren. Da Kühnens Taktik auf »Öffentlichkeitsarbeit« aufgebaut war (»Bevor man beliebt werden kann, muß man erst mal bekannt sein«), war dies zunächst nicht verwunderlich. Doch heute stellt sich die Frage, ob er sich von meiner Arbeit nicht auch ein persönliches »Denkmal« versprochen hat. Ein filmisches Monument seines »Freiheitskampfes« mit ihm selbst als Zentralfigur. Nur so ist zu erklären, daß er mir bei Küssel, Worch und anderen ein Entree verschafft und dabei in Kauf genommen hat, daß ich vielleicht mehr erfuhr, als für ihn oder seine »Bewegung« gut war. Denn Kühnen wußte genau, daß ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Schon Vor Jahren hatte er erfahren, daß er HIV-positiv ist. Noch während seiner Haft bis 1988 kursierten Meldungen über seine Ansteckung, und seither hatte Kühnen es verstanden, trotz sichtbarer Gewichtsabnahme weiteren Gerüchten mit vehementen Dementis und Gegendarstellungen
entgegenzuwirken. Bis auf die anhaltende Gewichtsabnahme ist Kühnen in der Tat erstaunlich lange aktiv. Er betreibt seine Aktivitäten weiterhin verbissen und mit kräftezehrender Energie. Wie einst sein Vorbild Adolf Hitler sieht er sein baldiges Ende kommen und ist entschlossen »weiterzukämpfen«. Doch bei ihm ist es ein sehr persönlicher Kampf, und Kühnen weiß, daß sein Aids-Tod denkbar ungeeignet sein wird, ihn zum Märtyrer zu stilisieren. Doch er hat keine Wahl: Er macht weiter, bis es nicht mehr geht, um dann auf ein schnelles Ende zu hoffen. Bei seinem letzten Fernsehinterview im Januar 1991 ist er dann sichtbar krank. Er spricht mit heiserer Stimme und ist stark abgemagert. Kühnen erwirbt ein Haus in dem kleinen Ort Zimmern in Thüringen und verbringt dort zusammen mit seiner Freundin Lisa die letzten Monate seines Lebens. Jetzt schreitet sein Leiden rapide voran. Doch selbst seinem engsten Vertrauten Christian Worch bestätigt er seine Krankheit erst Anfang März 1991. Wie Worch mir erzählt, »in einem so hinfälligen Zustand, daß eine Bestätigung gar nicht mehr nötig gewesen wäre«. Am 11. April 1991 wird das Haus von der Polizei durchsucht, die Kühnen im Bett liegend vorfindet; er ist im Endstadium der Krankheit. Da gegen ihn wegen »Fahren ohne Pflichtversicherung« ein Haftbefehl vorliegt, wird er festgenommen. Doch Kühnen ist nicht mehr fähig, zu gehen oder zu stehen. Nachdem ihn der Amtsarzt für »absolut haftunfähig« erklärt, wird Kühnen in das städtische Krankenhaus in Kassel eingewiesen. Vierzehn Tage später, am 25. April 1991, stirbt Michael Kühnen an den Folgen der Immunschwächekrankheit Aids.
Damit geht, so Christian Worch, »eine Ära der politischen Entwicklung zu Ende… die sich nicht mehr wiederholen wird«. Das stimmt allerdings. Denn damit endet die von Kühnen befohlene Phase der »waffenlosen Politik«. Nach einer Reihe von Terroranschlägen in den frühen achtziger Jahren hatte er seinen Leuten befohlen, aus taktischen Gründen den »Kampf« zunächst mehr mit Propaganda und weniger mit Waffengewalt fortzusetzen. Er nannte das die »Phase der politischen Provokation«. Der offizielle »Verzicht« auf bewaffnete Aktionen, verbunden mit einem Streit wegen Kühnens Homosexualität, führte 1986 zu einer Spaltung der »Bewegung«. Diese Spaltung setzte sich bis zum Tode Kühnens fort, wenn auch vorübergehend Stillhalteabkommen vereinbart wurden. Doch zu einer wirklichen Einigung kam es nicht. Die durch Rivalitäten zersplitterte Szene kann sich nach seinem Tod, diesmal im geheimen, neu formieren. Die Resultate lassen nicht lange auf sich warten. Der von Kühnen selbst bestimmte Nachfolger ist Gottfried Küssel. Küssel ist in diesem Jahr fast mehr in der ehemaligen DDR unterwegs als bei sich zu Hause in Österreich. Er zieht von Ort zu Ort, organisiert, weist ein, »säubert«, und wo immer er auftaucht, zieht er eine Spur von Haß und Gewalt hinter sich her. Sind Küssel oder seine Statthalter in einem Ort erst organisatorisch tätig, bleibt es für etwa drei Wochen still. Dann beginnen die Ausschreitungen. Das macht Schule. Die Überfälle, Anschläge und Schlägereien in den Städten der ehemaligen DDR sind bald nicht mehr zu zählen. Und die Polizei scheint meistens gar nicht zu wissen, wo und wie sie mit ihren Ermittlungen anfangen soll. Hinzu kommt ein überraschend ausgeprägter Rassismus vieler Polizeibeamter, so daß den Überfällen auf Schwarze oder Vietnamesen häufig
nicht mit der nötigen Energie nachgegangen wird. Und Küssel & Co. die Drahtzieher im Hintergrund, sind natürlich schon längst woanders. Für Graeme Atkinson und mich bedeutet der Tod von Michael Kühnen einen Einschnitt in den Recherchen. Von seinen Nachfolgern werde ich kaum das gleiche »Entgegenkommen« erwarten können. Der »Schutz«, den ich bei heiklen Situationen – wenigstens subjektiv – empfand, ist weg. Mein Verhältnis zur Szene wird anders. Was ich von da an »von außen« beobachte, ist der stete Wechsel der Führungspersönlichkeiten ohne sichtlichen Wandel der Umstände. Etwas ändert sich: Es werden immer mehr, viele Junge stoßen dazu, und sie gehen offen zur Gewalt über. Ich will auch nicht verschweigen, daß mich nach dem Tod von Gerald Hess auch der Tod von Michael Kühnen betroffen gemacht hat. Nach einer intensiven Zeit der Recherche, in der mir beide tiefe Einblicke in die Extremwelt der neuen Nazis ermöglicht hatten, wäre es falsch, die menschliche Nähe, die sich dabei entwickelte, zu verschweigen. Es gab Momente, in denen die Grenzen verschwammen, in denen Sympathie aufkam, besonders gegenüber Gerald Hess. Es ist vielleicht übertrieben, bei einem 21jährigen von rauher Schale und weichem Kern zu sprechen, aber mir gegenüber zeigte Gerald Hess mehrfach tiefe humane Regungen. Manchmal verzweifelte er fast an den Widersprüchen und der Gewalttätigkeit seiner Sozialrevolutionären »NS-Heilslehre«. Zwar funktioniert die Indoktrination so gut, daß Gerald Hess sich oft sogar selbst richtiggehend »zensierte«, aber seine Achtung vor allen Mitmenschen hätte eines Tages seinen Ausstieg aus der Szene durchaus denkbar gemacht. Ob ich mit diesem Gefühl richtig oder total verkehrt lag, wird sich nicht mehr erweisen können. Vielleicht war es mehr subjektiver Wunsch als reale Wahrscheinlichkeit. Ein Strohhalm der
Humanität, an den ich mich klammern konnte, der mir den Umgang mit den Nazis überhaupt erträglich machte. Wer Michael Kühnen persönlich gut gekannt hat, wird nachvollziehen können, daß es seine Kooperationsbereitschaft und Zugänglichkeit sowie eine gewisse Form von Integrität gelegentlich schwermachten, das vorgeformte Bild des »bösen« Neonazis auf ihn zu übertragen. Der verstorbene jüdische Dichter und Schriftsteller Erich Fried, ein erklärter Feind des Rechtsextremismus, unterhielt einen regen Briefwechsel mit Kühnen. Das geschah, nachdem bei einer Fernseh-Talk-Show beide als Diskussionsteilnehmer eingeladen, Kühnen jedoch kurzerhand wieder ausgeladen wurde. Die Beziehung zwischen ihnen ging so weit, daß Fried ihn 1984 im Gefängnis besuchte und anbot, vor Gericht zu Kühnens Verteidigung auszusagen. Danach äußerte er sich dazu auch öffentlich: »Was ich geschrieben habe, ist: daß er in dieser Diskussion mit mir nicht nur ein vorbildlich ehrlicher Diskussionspartner war, sondern auch weit entfernt von jeder Verstocktheit und Unbelehrbarkeit. Und daß ich nach dieser Begegnung ihm jederzeit mein Leben anvertrauen würde. Das war mein Eindruck. Und ich habe keine andere Möglichkeit, als dazu zu stehen.« Das trug Fried den Vorwurf ein, er nehme Partei für Neonazis. Diese Kritik scheint naheliegend, hat aber bei differenzierter Betrachtung keinen Bestand. Denn ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, was Erich Fried damit im Kern gesagt hat: Michael Kühnen persönlich empfand ich als durchaus vertrauenswürdig, ja sogar integer. Und das hat nichts damit zu tun, welche politische Einstellung er hatte. Ihm deswegen aber politisch eine Chance zu geben wäre töricht gewesen.
Michael Kühnen war eine Zentralfigur – auch für meine Recherchen. Er taucht in diesem Buch, das nicht immer der Chronologie eines Tagebuches folgt, sondern weitgehend nach Themen geordnet ist, daher noch einige Male auf.
Gewehr bei Fuß
Der Regen peitscht unangenehm hart gegen die Windschutzscheibe des gemieteten BMW. Aber Jo, der Fahrer, hat das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt. Jo ist einer der Kameramänner, die mir abwechselnd bei den Dreharbeiten helfen. Jo fährt gerne. Er kann ganze Nächte lang durchfahren. Jetzt genießt er es, bei Regen und Wind über die holprige ostdeutsche Autobahn zu preschen und die Trabbis auf die rechte Seite zu jagen. Weil ich seinen Fahrstil kenne, habe ich mich gleich auf die Rückbank des Wagens begeben. Sophie sitzt vorne und verkrampft ihre Hand gelegentlich in den Türgriff, wenn Jo mit 180 Stundenkilometern an den gestikulierenden Trabbifahrern vorbeizieht. Sophie kommt aus London und ist ein Geschenk des Himmels. Von ihrer Produktionsfirma bekam ich einen bezahlten Rechercheauftrag, just in dem Augenblick, als ich finanziell am Ende war. Sophie ist die Reporterin der Firma, und sie will möglichst viel über Neonazis in Deutschland erfahren. Da ist sie bei uns genau richtig. Das weiß sie auch und zwinkert mir gelegentlich zu. Mehr nicht, denn wir haben einen von ihnen im Wagen. Der angehende Parteivorsitzende der Deutschen Alternative, Frank Hübner, sitzt neben mir. Wir waren in Cottbus, um ein »Kameradschaftstreffen« zu filmen. Frank Hübner fährt mit uns zurück nach Wiesbaden, wo er wohnt und wo auch Sophie ihr Quartier aufgeschlagen hat. Hübner hat hohe Wangenknochen. Daß sein »Babyface« aber eher füllig ist, das fällt erst bei näherem Hinsehen auf. Seine Lippen sind gut durchblutet, doch dünn. Frank Hübner ist nicht sehr groß, und auch seiner Figur verleihen kleine Reste von
Babyspeck einen harmlosen Eindruck. Aber das macht er wieder wett. Er erzählt vom neonazistischen Wehrsportleben. Und da wird man anscheinend gestählt. »Also der Worch ist der schlimmste Schleifer dabei!« Frank Hübner rekelt sich auf dem Rücksitz des Wagens, während er sich an seine letzte Wehrübung unter Christian Worchs Führung erinnert: »Der muß mit seiner Gruppe immer der Beste sein. Sonst ist er nicht glücklich. Und einen Kommandoton hat der am Leib. Junge, Junge!« Wir hören ihm gerne zu. Hübner hat noch wenig von seiner larmoyant-konspirativen »Parteivorstands«-art, die er später entwickeln würde. Im Gegenteil: Er verhält sich reichlich ungeschickt und plaudert Dinge aus, die er im Interesse seiner Gesinnungsgenossen vielleicht besser für sich behalten hätte. Er erzählt mir begeistert von den Zeltlagern und Wehrübungen in der Lüneburger Heide. Aber auch in »Mitteldeutschland« wird es jetzt erst richtig losgehen. Man hat schon geeignete Örtlichkeiten ausfindig gemacht, »wo einen keiner stört, verstehste?« Klar! Und wer zieht solche Übungen ab? Wer trainiert die Kerle? Hübner ist immerhin schlau genug, nicht zu sehr ins Detail zu gehen. Aber »Übungsmunition gibt’s von der Bundeswehr«, spuckt er dann doch noch aus. Grund genug, da weiter zu recherchieren. Aber Hübner, so denke ich, ist eine Nummer zu klein. Ich setze ihn an seiner Wohnung bei Wiesbaden ab und bedanke mich für das Gespräch. »Bitte, bitte. Und wenn du mal wieder was willst – Anruf genügt!« sagt er und steigt aus. Wir winken uns zu, und irgendwie habe ich das Gefühl, daß Hübners aufdringlichfreundliche Art mir gegen den Strich geht. Vergiß ihn, der ist unwichtig, denke ich. So ein Schleimer… Eine fatale Fehleinschätzung, zumindest was seine Wichtigkeit betrifft. Denn unter seiner Führung sollte sich
innerhalb von zwei Jahren die Deutsche Alternative zu einer der größten militant-terroristischen Vorfeldorganisationen der eigentlichen »Partei« entwickeln. Hübner wird kaltlächelnd Interviews geben, mit einer Selbstsicherheit, die mich vom Hocker haut, wenn ich an sein mühsam gestammeltes »Wir stehen hier vor dem ehemaligen Schloß von Fürst Pückler in Cottbus« denke, das er mit zittriger Stimme dort in die Kamera gemurmelt hat. Die DA wird ein Mitteilungsblatt namens Brandenburger Beobachter herausgeben, das durchaus professionell geschrieben und aufgemacht ist. Und als ich schließlich am 4. September 1992 im Fernsehen miterleben muß, wie der sozialdemokratische Ministerpräsident Stolpe ihm vor der versammelten Presse die Hand schüttelt und sich zum Gespräch mit Hübner an den Tisch setzt, als gelte es, mit der Gewerkschaft die Tarife zu verhandeln, da muß ich sagen: Ich habe Hübner völlig unterschätzt. Am 9. Dezember 1992 wird Hübners Deutsche Alternative vom Innenminister der Bundesrepublik Deutschland verboten. Damit ist er sozusagen Diplom-Staatsfeind – die höchste Ehre für den harten Kader. Ich hätte mich mal eher an ihn halten sollen, nicht nur, wenn es um Wehrsport geht. Doch da gab es auch noch andere Quellen.
»Urrräääh, Urrräääh!« brüllt der Dicke im Tarnanzug und geht zum Angriff über. In Serien schnellen die Farbkugeln aus der Übungswaffe. Ich ziehe es vor, in Deckung zu gehen. Das Gehölz knackt, während er sich durch den Mischwald arbeitet. Dann wird er gestoppt. »Bist’ narrisch?« ertönt es aus dem Unterholz in bester Wiener Mundart: »Dort vorne ist der Feind!« »Oh!« spricht der Imitator russischer Partisanen und wechselt die Schußrichtung. Im Ernstfall hätte er allerdings bereits das
Zeitliche gesegnet. Damit eben das nicht passiert, nimmt er an Wehrsportübungen teil. In abgelegener Lage eines privaten Waldgrundstücks bei Langenlois nahe Wien trainieren die Getreuen des NSDAPAO-Funktionärs Gottfried Küssel den Waffengebrauch. Normalerweise wird »Schlagstocktraining«, »Nahkampf« und manchmal auch das Schießen mit scharfer Munition geübt. Weil ich heute mit meiner Kamera und einem zweiten Kameramann anwesend bin, beschränken sich die paramilitärisch exerzierenden Neonazis auf sogenannte »Paintball«-Spiele. Dabei wird der Gegner mit preßluftbeschleunigten Farbkugeln abgeschossen, was zumindest bei roten Kugeln ziemlich echt aussehen kann. Der am Kopf getroffene Blondschopf muß mich jedenfalls anlachen, bevor ich mich aus meiner Schreckstarre lösen kann, die der Anblick seiner riesigen »Wunde« bei mir ausgelöst hat. Wehrsport hat mit Sport nicht mehr zu tun, als daß man sich dabei bewegt. Der Rest ist tödlicher Ernst. Oder etwa nicht? Man erinnere sich an Franz Josef Strauß’ Worte, zitiert aus dem Sozialdemokratischen Pressedienst vom 1. Oktober 1980: »Mein Gott, wenn jemand Spaß daran hat, am Sonntag mit einem Rucksack und im Kampfanzug mit Koppelschloß durchs Gelände zu spazieren, soll man ihn in Ruhe lassen.« Diese Fehleinschätzung ist symptomatisch für die Verharmlosung und Verleugnung der Terrorgefahr von rechts. Denn die vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Strauß angesprochenen Spaziergänger waren Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann. Der Anführer, der Grafiker KarlHeinz Hoffmann, hatte immer wieder gegenüber den Behörden betont, er wolle »junge Leute vor einer geistigen und körperlichen Verwahrlosung bewahren und erfülle damit nur einen Auftrag der bayerischen Verfassung«.
Die Behörden, allen voran das bayerische Innenministerium, glaubten ihm offenbar gern und behandelten den Wehrsportführer mit seltsamer Zurückhaltung. Obwohl Hoffmann und seine mit Armeematerial ausgestattete Truppe ihr Unwesen nicht nur in den Wäldern um Nürnberg herum trieben, brauchte er nichts zu befürchten. Er soll dank seiner guten Beziehungen, insbesondere zu Polizeidienststellen, regelmäßig »Wind« von bevorstehenden Hausdurchsuchungen bekommen haben. Die Gerichte ignorierten seine internationalen Beziehungen zu belgischen, französischen, italienischen, englischen und amerikanischen Neofaschisten, man behandelte ihn schlichtweg als »harmlosen Waffennarren«. Zwar durchliefen nahezu alle zentralen Figuren der illegalen NSDAP-AO Hoffmanns Wehrsportschulung, zwar prügelten sich Hoffmanns Schlägertruppen durch die ganze Republik, doch noch wenige Monate vor dem Verbot der Truppe Ende Januar 1980 durch das Bundesinnenministerium äußerte Bayerns Innenminister Tandler: »Der Wehrsport selbst ist nicht strafbar.« Hoffmann verlagerte nach dem Verbot seine Aktivitäten mit Hilfe der PLO in den Libanon. Obwohl schon seit 1984 bekannt war, daß der westdeutsche Neonazi Odfried Hepp in der DDR Unterschlupf und Unterstützung fand, und obwohl genauso bekannt war, daß über einen gewissen Udo Albrecht Kontakte zur PLO auch mit Hilfe der ostdeutschen »Staatssicherheit« (Stasi) eingefädelt wurden, stürzte sich die bundesdeutsche Presse im Sommer 1991 auf den »Skandal« wie auf eine Neuigkeit. Schlagzeile: »Stasi unterstützte auch Neonazis«. Glücklich, auch mal andere für den aufkommenden Rechtsextremismus verantwortlich machen zu können, wurde mit Inbrunst die Stasi als Drahtzieher von neonazistischen OstWest-Kontakten dargestellt. Dabei ist daraus nur zu folgern,
daß dem israelfeindlichen DDR-Geheimdienst jedes Mittel recht war. Hinweise für weitergehende oder fortgesetzte Verbindungen sind jedoch nicht bekannt. Auch gingen die ansonsten so gut informierten Reporter nicht darauf ein, daß Hepp und Albrecht auch mit dem westdeutschen Geheimdienst BND und dem Verfassungsschutz Verbindungen gehabt haben sollen. 1981 wird Hoffmann verhaftet. Geldfälschung, Nötigung und gefährliche Körperverletzung, Verstöße gegen das Waffenund Sprengstoffgesetz sowie mehrere Fälle von Freiheitsberaubung bringen den damals 48jährigen Wehrsportchef schließlich im Sommer 1986 für neuneinhalb Jahre hinter Gitter. Als »vorbildlicher« Häftling, ordentlich, diszipliniert, schnell in der Lage, sich dem autoritären System im Gefängnis unterzuordnen, und von Gefängniswärtern dankbar mit Aufgaben betraut, wird Hoffmann 1989 wieder freigelassen. In keiner Weise aber hat er »seine Gesinnung geändert«, wie er Fernsehreportern offen gesteht. Neun weitere Mitglieder der Truppe werden kurz nach ihrem Chef verurteilt, nachdem im Prozeß gegen Hoffmann abscheuliche Einzelheiten aus dem Leben der Truppe im Lager Bir Hassan in Beirut herauskamen. Hoffmann hatte in seinem Lager ein Terrorregime aufgebaut, das ein Paradebeispiel für neonazistische Brutalität und Mentalität abgibt. Angehörige seiner WSG-Truppe wurden von den eigenen Leuten bestialisch gefoltert. Sie mußten Nikotintee sowie Öl trinken und wurden mit glühenden Bajonetten gequält. Die sogenannte »Wasserkur« gehörte zum Alltag. Dem gefesselten Opfer wird dabei ein Tuch über das Gesicht gelegt. Dann wird Wasser darüber gegossen. Die löst beim Opfer Atemnot und Todesängste aus. Der Hamburger Kai-Uwe Bergmann, erst 20 Jahre alte, überlebt diese Torturen nicht. Man legte ihm einen brennenden Esbit-Brennstoffwürfel auf den Bauch, peitschte
ihn aus und prügelte mit allem, was zur Verfügung stand, auf ihn ein. Der Grund: Bergmann hatte mehrmals gegen das Rauchverbot von Hoffmann verstoßen. Seine Leiche wurde nie gefunden. Die Tat hatte kaum Folgen. Die WSG-Kämpfer FranzJoachim Bojarski, Walter-Ulrich Behle und Uwe Mainka kamen mit Strafen zwischen neunzehn Monaten auf Bewährung und zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis davon. Am härtesten erwischte es bei den Folgeprozessen den Heidelberger Drucker Horst Röhlich. Er hatte in Hoffmanns Auftrag nicht nur dessen Kampfpostille Kommando gedruckt, sondern auch Falschgeld in Höhe von 800 000 Dollar. Damit wollte Hoffmann seine terroristischen Aktivitäten finanzieren. Viereinhalb Jahre schickte das Gericht den Drucker hinter Gitter. Und der Mord an dem jüdischen Verleger Shlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frieda Poeschke in der Nacht vom 19. Dezember 1981 in Erlangen? Mit acht Schüssen wurden die beiden regelrecht hingerichtet – nur wenige Kilometer von Hoffmanns Wohnsitz entfernt. Am Tatort fand man die Sonnenbrille von Hoffmanns Freundin, die Tatwaffe war bereits fünf Jahre zuvor bei einem Hoffmann-Vertrauten beschlagnahmt und ihm später wieder ausgehändigt worden. In ihren Plädoyers gingen die Staatsanwälte noch davon aus, daß Hoffmann seinen Vertrauten Uwe Behrendt mit dem Mord beauftragt hatte. Triebfeder sei demnach ein »militanter Radikalismus faschistoider Prägung« gewesen. »Im Zweifel für den Angeklagten«, entscheidet aber das Gericht zugunsten von Hoffmann. Wie gut, daß der zum »Einzeltäter« erklärte Uwe Behrendt im Sommer 1981 im Libanon gestorben ist. »Selbstmord«, behauptet der WSG-Chef.
Und der Bombenanschlag, bei dem am 26. September 1980 auf dem Oktoberfest dreizehn Menschen starben und über zweihundert zum Teil schwer verletzt wurden? Schnell führt auch diesmal die Spur zu Hoffmann. Doch kein Geringerer als Bayerns oberster Verfassungsschützer Hans Langemann gibt ihm für die Tatzeit ein Alibi. Hoffmann sei den ganzen Tag in Neuburg an der Donau gewesen und vom Verfassungsschutz überwacht worden. Hoffmann selbst behauptete aber von sich, den ganzen Tag in Nürnberg verbracht zu haben, und bot eine Reihe von Zeugen dafür auf. Dies sollte nicht die einzige Ungereimtheit bleiben, die bei den Ermittlungen nach den Urhebern des bislang folgenschwersten Attentats in der Geschichte der Bundesrepublik auftrat, so daß eine lückenlose Aufklärung unmöglich gemacht wurde. Schnell legten die Behörden sich auf die Theorie fest, daß die Tat nur von einem Einzeltäter verübt worden sein könne. Schnell einigte man sich auf den beim Attentat tödlich verletzten Gundolf Köhler als Täter. Der war zwar Mitglied der WSG Hoffmann. Doch sein Tatmotiv wurde in anderer Richtung »gefunden«: Ärger mit der Freundin. Schnell verschwanden Spuren und Zeugenaussagen auf Nimmerwiedersehen, die darauf hindeuteten, daß Köhler nicht alleine am Tatort war. Köhlers Einbindung in die neonazistische Szene wurde nie gründlich untersucht. Aussagen, die Hoffmann direkt belastet hatten, wurden von den Ermittlern als »alkoholbedingte Aufschneiderei« gewertet. Obwohl Experten es ausschlossen, daß einer allein die schwere Bombe habe herstellen, am Tatort anbringen und zünden können, wurden die Ermittlungen 1982 lapidar mit dem Hinweis eingestellt: »Konkrete Hinweise für eine Mitwirkung Dritter sind nicht vorhanden.« Einen kriminalistischen »Erfolg« konnte das bayerische Landeskriminalamt aber doch verbuchen: Auf Seite 185 des
amtlichen Abschlußberichts wird vermerkt: »Gegen einen beim Anschlag verletzten Italiener mußte eine Anzeige wegen Verdachts eines Vergehens nach 171 StGB (Doppelehe) erstattet werden.«
Doch zurück in den Wald, nach Österreich, im Jahre 1990. Da hat Gottfried Küssel seine Wehrsportgruppe fest im Griff. Und er hat fachmännische Hilfe. Die Formalausbildung übernimmt Hans Jörg Schimanek. Ende Zwanzig, ist er ein gutaussehender, hellblonder »Bursch« mit Söldnererfahrung in Surinam und jetzt angeblich auch Kroatien. Bis Mitte der Achtziger war er als Berufssoldat Ausbilder des Österreichischen Bundesheeres in Wien. Dann verschwanden mehrere Gewehre in der Wiener Maria-Theresien-Kaserne, und Schimanek wurde nach einigem juristischen Tauziehen schließlich entlassen. Der Wiener Staatsanwalt sieht ihn zwar eher als »Angsthasen«, aber für die heutige Übung reicht es allemal: »Links… um!… Nein, das war nicht gut.« Schimanek klopft mit seiner Stiefelspitze das aneinandergereihte Schuhwerk der strammstehenden Paramilitärs zurecht. Küssel steht im Hintergrund, sein mit Volltarnung bemaltes Gesicht signalisiert Wohlwollen. Die Bäume und Sträucher am Rande der kleinen Lichtung färben das Geschehen in diffuses Grün. Die Stille des Waldes wird erfüllt von Vogelgezwitscher und Schimaneks Kommandos. Falls Schimanek einmal nicht weiterwüßte, so könnte er sich auch von Reinhold Kovar aushelfen lassen, der mit Schnurrbart und HJ-Frisur gleich neben mir strammsteht. Seine Tarnbemalung mit grünen und braunen Streifen im Gesicht ist wirklich professionell. Kein Wunder, denn er ist Stabswachtmeister (Unteroffizier) im Bundesheer.
Die Gruppenstärke beträgt hier allerdings nur 15 Mann, zwei Frauen und ein Hund. Mit Ausnahme des Hundes sind alle Anhänger der VAPO (»Volkstreue Außerparlamentarische Opposition«). Die VAPO ist die NSDAP-AOVorfeldorganisation in Österreich. Wehrsportgruppen gibt es fast überall dort, wo es Nazis gibt. Daß ich heute Küssels »Wehrübung« dokumentieren kann, liegt an Michael Kühnens Fürsprache, nach der Küssel mir das Filmen gestattet. Ursprünglich wollte ich derartige Aktivitäten bei Christian Worch »ergattern«, doch bei meiner telefonischen Anfrage gibt sich Worch zunächst ahnungslos. Erst als ich ihm sage, daß Kühnen mich an ihn verwiesen habe, gibt er überhaupt erst zu, daß er etwas mit Wehrsport zu tun hat. Doch Filmaufnahmen, so wendet er ein, seien ausgeschlossen. Es folgt die alte Leier von den »schlechten Erfahrungen mit der Presse«. Doch als ich weiterbohre, rückt er mit der Wahrheit heraus: »Bei diesen Übungen sind zum Teil aktive Soldaten der Bundeswehr beteiligt. Und du kannst dir denken, daß die sehr wohl etwas dagegen haben, wenn da ein Pressejournalist Aufnahmen macht.« Kann ich mir. Worch bedauert nicht gerade aufrichtig, daß deshalb dieser Aspekt des »nationalen Freiheitskampfes« von mir »leider« nicht dokumentiert werden kann. Es bleibt auch nicht bei Wehrsportübungen. Am 12. November 1992 teilt das deutsche Verteidigungsministerium mit, daß bereits über zwanzig Zwischenfälle »mit rechtsextremistischem Hintergrund« in der Bundeswehr bekannt geworden seien. Dabei wurden drei Menschen ermordet. Im Februar 1993 hat sich die Zahl schon auf über achtzig erhöht. Auch wird bekannt, daß »in Kiel-Holtenau… drei Offiziere und ein Fähnrich« eine Übungsgranate vor ein Asylbewerberheim warfen. Daß dabei »niemand zu Schaden« gekommen sei, kann nicht so recht beruhigen. Wer garantiert
denn, daß nicht ganze Waffenarsenale aus Bundeswehrbeständen zusammengestohlen werden? Oder im »richtigen Augenblick« bereitstehen? »Es ist kein Problem, Waffen zu beschaffen. Hat’s noch nie gegeben.« Küssel hat es sich auf seiner Couch bequem gemacht, als ich ihn nach den Wehrsportübungen zu Hause besuche. Durch die Spiegelung seiner Nickelbrille bekommen die Augen etwas Unruhiges, Rastloses. Ein seltsamer Kontrast zu Küssels massiger Figur. Seine Mundwinkel kräuseln sich, als er mir folgendes wie eine Selbstverständlichkeit präsentiert: »Jede Bürgerkriegsarmee hat ihre Waffen. Und auch Leute, die nicht wußten, woher sie die bekommen, haben im Moment, wo sie’s gebraucht haben, bekommen. Das ist sicher kein Problem.« Gottfried Küssel ist brandgefährlich. Ebenso wie Christian Worch. Der Unterschied zwischen ihnen ist, daß Worch sich extrem vorsichtig ausdrückt. Der Notargehilfe versteht es, bei heiklen Interviews so konzentriert »nichts« zu sagen, daß selbst bei mehrfachem Nachfragen das Resultat gleich Null bleibt. In seinem Mitteilungsblatt Index (herausgegeben von der NL) werden neuerdings unter dem Begriff »Anti-Antifa« die Adressen »feindlicher« Organisationen und Personen veröffentlicht. Es versteht sich von selbst, daß der Aufruf zum »Plattmachen« dieser Lokalitäten nur zwischen den Zeilen steht. Beide, Küssel und Worch, haben mich mehrfach durch ihre Präsenz verblüfft. In Sekundenschnelle fällen sie Entscheidungen und fühlen sich in neue Situationen ein. Man könnte Worch zum Beispiel in eine Redaktionsstube einer beliebigen Zeitung setzen – er würde sich augenblicklich der »Lage entsprechend« verhalten und auf seine Art die Situation kontrollieren. Das ist ein logisches Resultat langjähriger
»Kampferfahrung« mit den Gegnern. Worch ist so vorsichtig, daß er es vorzieht, im Hintergrund zu bleiben. Im Sommer 1990 organisiert er mit Küssel die Verwaltung eines von Nazis besetzten Hauses in Ostberlin. Just zu dieser Zeit, so Worch, »kostet eine Handgranate umgerechnet eine Flasche Wodka«. Denn die Sowjetarmee ist im Begriff, aus Deutschland abzuziehen. In all dem organisatorischen Durcheinander verkaufen russische Soldaten jetzt massenweise Waffen und Sprengstoff. Worch würde nun betonen, daß er damit ja nicht gesagt habe, er hätte welche gekauft. Hat er wahrscheinlich auch nicht. Das überläßt er lieber den anderen vor Ort… Da man 1992 auch noch erfährt, daß er ein Millionenvermögen geerbt hat, ist anzunehmen, daß er Mittel und Wege finden wird, seine Machenschaften weiterhin – zwar nicht unbehelligt, aber doch ungestraft – fortzusetzen. Mit Geld, das hatte auch Hitler früh erfaßt, läßt sich so manches »revolutionäre« Potential aus dem Hintergrund aufbauen. Man wird sehen, was Worch damit anfängt.
Am 7. Januar 1992 wird Worchs »Kamerad« Küssel in Wien verhaftet. Vorgeworfen wird ihm ein Delikt, das in Österreich mit »lebenslänglich« und neuerdings mit einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren geahndet wird: »Verbrechen der Wiederbetätigung im nationalsozialistischen Sinn«. Wenn es nach diesem Gesetz geht, müßten Küssel und seine Gefolgschaft schon seit fünfzehn Jahren auf Nimmerwiedersehen im Justizvollzug verschwunden sein.
Denn seit 1977 ist Küssel Mitglied der NSDAP-AO, was er mir vor laufender Kamera bestätigt. Enge Verbindungen bestehen zu dem Berliner Terroristen Ekkehard Weil. Dessen Bombenanschläge Anfang der achtziger Jahre, unter anderem auf Simon Wiesenthals Haus, bezeichnet Küssel mir gegenüber als »Knallfrösche, dös sollt’ ihn halt amol erschreck’n«. Die österreichische Justiz gab sich bisher jedoch human. Es versteht sich von selbst, daß man einen Jugendlichen nicht lebenslänglich einkerkern sollte, weil er einen Hakenkreuzaufkleber bei sich führt. Doch für solche Fälle wurde das Gesetz ja auch nicht geschaffen. Es wurde geschaffen, um unverbesserlichen, gewalttätigen, überzeugten und organisierten Nazis keine Chance mehr zu geben. Da all diese Kriterien auf Küssel & Co. zutreffen, darf man gespannt sein, wie das Urteil ausfällt. Bisher wurde jedenfalls von der ganzen Härte des Gesetzes noch kein Gebrauch gemacht. Küssel seinerseits müßte Verständnis aufbringen für eine drakonische Strafe, würde er selbst doch im Falle einer Machtübernahme das Lagersystem wieder einrichten, um »der kompletten Regierung einmal« klarzumachen, »wo der Fehler gelegen hat«. Wie auch immer: Küssels Nachfolger, der militante Gerhard Endres (genannt »Earp«) in Wien und der hochintelligente Jürgen Lipthay in Salzburg, stehen schon parat und führen die »Arbeit« in gewohnter Weise fort. Küssel ist, wie man sieht, keineswegs unersetzbar. Und solange die mit guten Gründen geschaffenen Gesetze nicht auch angewendet werden, ist ein Ende neonazistischer, rechtsradikaler und terroristischer Aktivitäten nicht abzusehen.
Und dann könnte eines Tages der »Grundgedanke und Leitsatz« der neuen Nazis, veröffentlicht in Die Neue Front, wieder bittere Realität werden: »ALLE MACHEN MIT – KEINER IST VERANTWORTLICH!«
Der ›Leibwächter des Führers‹
Immer wieder fährt die gespaltene Zunge prüfend aus dem Maul der Riesenboa. Es ist erstaunlich, wie teilnahmslos Schlangen schauen. Eigentlich schauen sie gar nicht, sie tasten ihre Umgebung ab. Das Tier ist etwa zweieinhalb Meter lang und in der Mitte etwas dicker als ein kräftiger Männerarm. Momentan ist sie ganz kregel. Den größten Teil ihres geschmeidigen, braun-golden gefleckten Leibes hat sie auf dem Schoß ihres Besitzers eingerollt. Weil da aber nicht alles draufpaßt, hängt sie auf beiden Seiten kokett über beziehungsweise herunter, wobei ihr Endstück sich sichernd um den Sesselfuß geschlungen hat. Man weiß ja nie… »Und das ist das Trudchen«, sagt der weißhaarige Senior liebevoll und patscht der Schlange den schlanken Rücken, als wär’s ein Schäferhund. Den hat er aber auch. Und Katzen. Sie sind nur gerade nicht im Raum – wegen Trude, der Boa. Sie könnte versehentlich eine Katze aufessen. Der rüstige Sudetendeutsche mit den Ledersandalen paßt schon auf. Zweifel sind ausgeschlossen: Ritterkreuzträger Otto Riehs ist Tierliebhaber. »Wie Adolf Hitler!« bekennt der 70jährige stolz. »Der war ja auch Tierliebhaber. Und überhaupt: Als Nationaler ist es ja ausgeschlossen, daß man kein Tierliebhaber ist, denn wir lieben ja die Natur. Wir lieben ja auch die Völker. Völker sind ja auch Natur. Wir sind also Naturliebhaber, aber nicht so wie die Umweltschützer, die ja nur gegen Neonazis sind…« Da sind ihm schon die Republikaner lieber. Mit deren Parteivorsitzendem Franz Schönhuber versuchte er jüngst, eine Brieffreundschaft aufzubauen. »Damit endlich mal deutsche
Politik gemacht wird…« Doch der Schönhuber-Franz ist ein ganz Schlauer. Nicht umsonst war der Waffen-SS-Mann Hauptabteilungsleiter beim öffentlich-rechtlichen Bayerischen Rundfunk. Und Vorsitzender des Bayerischen Journalistenverbandes. Er weiß also ganz genau, wie man einem Otto Riehs antworten muß, damit die verhaßte liberale Presse ihm keine Allianz mit den Nazis beweisen kann. Schönhuber, selbst Träger des Bayerischen Verdienstordens, läßt antworten: »Herr Schönhuber (…) weiß es in der Tat zu schätzen, daß ein so hoch dekorierter Mann wie Sie ihm Ihre Überzeugungen sagten.« Oder: »Bitte haben Sie Verständnis für seine politische Linie und die Abgrenzung gegenüber rechten Parteien. Tragen auch Sie, in dieser so wichtigen Stunde unseres Landes, bitte zur Konsolidierung der Partei zum Wohle des Ganzen bei.« Ja, und nach der Konsolidierung? Trude ist das egal. Viel interessanter ist doch der schwarze Schaumgummi an meinem Mikro. Trude strebt beängstigend gezielt auf mich zu. Sie hält, ja, jetzt sehe ich es auch, das dunkle Ding für eine appetitliche Maus. Otto Riehs, der sein »Ritterkreuz«, das er für das verwegene Abschießen von Russenpanzern erhielt, auf dem Tisch dekoriert hat, bemerkt meine leichte Panik und zieht Trude zurück: »Ein liebes Tierchen, gell?« Otto Riehs ist, wie schon erwähnt, Sudetendeutscher. Das heißt, er stammt aus Böhmen. Da man einst zum Großreich Österreich-Ungarn gehörte, erfolgte die »Befreiung« durch Hitler bald nach dem »Anschluß« von Österreich an das Deutsche Reich. In vielen Ländern gab es zu dieser Zeit Faschistenführer, die mit Hitler kollaborierten und die Stimmung im Lande anheizten. Ante Pavelic in Kroatien zum Beispiel oder Miklos von Horthy in Ungarn. Und im »Sudetenland« war es ein Konrad Henlein. Da Otto Riehs
Zeitzeuge ist, frage ich ihn, wovon die Sudetendeutschen »befreit« wurden. »Vom tschechischen Joch«, sagte er, als müsse man das doch wissen. Also wurden die Sudetendeutschen unterdrückt? Riehs meint ja. Aha. Und wie zum Beispiel? »Ja, wir durften zum Beispiel keine weißen Strümpfe tragen!« Alles klar. Das rechtfertigt einen Einmarsch allemal! Warum eigentlich ausgerechnet weiße Strümpfe? Den Hintergrund erklärt mir Riehs freundlicherweise korrekt: Markenzeichen der »Henlein-Bewegung« waren ebenjene weißen Strümpfe. Und als Ausdruck nationalsozialistischer Gesinnung wurden sie verboten. »Befreit« wurden also nicht die Sudetendeutschen, sondern die dort lebenden Nazis. Die revanchierten sich durch den Abtransport aller Juden, deren man habhaft werden konnte, und behandelten viele unschuldige Zivilisten so gnadenlos, daß die Tschechen sich ihrerseits wenig zimperlich zeigten, als die »Befreiung« kriegsbedingt beendet war. Nach kurzer Internierung trieb man die Sudetendeutschen kurzerhand aus dem Land heraus, egal, ob sie Nazis waren oder nicht. Dies erging übrigens auch den Pommern, Schlesiern und anderen so. Seitdem bezeichnen sie sich als »Heimatvertriebene« – auch ihre Kinder und selbst die Enkel begreifen sich oft noch als »vertrieben«. Und diejenigen, die sich auf Dauer mit dem Ausgang des Krieges nicht abfinden konnten, gründeten »Vertriebenenverbände« und »Landsmannschaften«. Dort werden die Traditionen gepflegt, wogegen sicherlich niemand etwas einzuwenden hat; aber es wird auch regelmäßig die Forderung nach Rückgabe der »verlorenen Gebiete« formuliert. »Schlesien bleibt unser!« heißt es dann, und in einigen Rundschreiben solcher Verbände sieht man »Deutschland in den völkerrechtlichen Grenzen« –
es sind die Grenzen von 1937, manchmal sogar von 1939, die weite Teile der Tschechoslowakei, Polens und neben sonstigen kleineren Gebieten auch Österreich umfassen. Otto Riehs ist nicht nur Vertriebener, er ist auch Videoamateur. Und nachdem er sich aus Trudes liebevoller Umschlingung gelöst und sie zurück zu ihrer nicht minder großen Gefährtin hinter Glas verstaut hat, präsentiert er mir stolz seine Aufnahmen von einem der letzten Treffen seiner Landsmannschaft. Wie nicht anders zu erwarten, sieht man Trachten, Fahnen und Reden, die er mir gnädigerweise nicht in voller Länge zumutet. Dann folgt Liedgut inklusive Deutschlandlied, erste Strophe. »Deutschland, Deutschland über alles…«, einige Teilnehmer haben den Arm zum Hitlergruß gereckt. Alles ganz nett, aber ich bin auf der Jagd nach »härterem Stoff«. Und ich weiß: Riehs kann mir dabei helfen. Denn kennengelernt habe ich ihn bei Michael Kühnen. Für den vertritt er in Frankfurt am Main die FAP. Der Ritterkreuzträger und Taxiunternehmer Otto Riehs ist Held und Symbol für die Nazibewegung. Da hat er auch die entsprechenden Kontakte. Fragen kann man ja mal: »Der Leibwächter von Hitler, General Remer, kennen Sie den?« »Den Otto-Ernst? Natürlich kenn’ ich den!« Riehs ist wirklich zuvorkommend. Auf meinen Wunsch greift er zum Telefon und ruft Otto-Ernst Remer an. Den Mann, der den Aufstand vom 20. Juli 1944 in Berlin niederschlug. Nach kurzer Begrüßung (»Hier ist der Otto, ist der Chef da?… der Chef, der Meister, sag’ ich!… Einen Gruß von Otto zu Otto… von Otto zu Otto, sag’ ich! Die Fotos sind fertig… wie?… die Fotos, ja!… Ja, sind fertig!…«) stellt er mich vor, und ich habe den offensichtlich auch schon betagten Remer am anderen Ende der Leitung. Remers Stimme wirkt alt, aber
schneidig. Als ich ihm mein Anliegen vorbringe, ein Interview zu drehen, unterbricht er mich: »Wie alt sind Sie?« »Äh, achtundzwanzig«, gebe ich verdutzt zurück. »Und Sie heißen?« »Michael Schmidt.« »Und was wollen Sie fragen?«
Erst einige Monate später sitze ich ihm gegenüber. Ein schmales, markantes Gesicht, mit sportlicher Brille und hoher Stirn. »War Hitler für Sie ein Demokrat?!« frage ich ihn. »Ja, war er. Im Grunde war er ein Demokrat.« General a.D. Otto-Ernst Remer hat sich feingemacht. Ein schmucker Janker mit Lederaufsätzen verleiht ihm trotz gestärktem Kragen und Schlips ein forsches, jugendliches Ambiente. Er ist immerhin Jahrgang 1912. Weil er groß und schlank ist und überdies eine hervorragende Körperhaltung bewahrt hat, spürt man sein hohes Alter nur, wenn er sich aufregt. Das sollte er aber nicht, denn nach einem Schlaganfall hat ihm der Arzt Aufregung verboten. Seine Frau Anneliese wacht aufmerksam über den Erregungsgrad des Gesprächs. »Wird dir das nicht zuviel, Otto-Ernst?« sagt sie immer wieder besorgt; aber wenn es um Politik geht, dann ist Otto-Ernst halt nur schwer zu bremsen. Es gilt nämlich, die deutschen Werte zu verteidigen: Schließlich heißt sein hauseigenes Mitteilungsblatt Recht und Wahrheit. Ich bin heute schon das drittemal zu Gast in Remers Haus. Seine Frau und seine Colliehündin kennen mich bereits. Auch diesmal können wir keineswegs so einfach das Interview aufnehmen. Wie schon beim erstenmal wird ein Zensor eingeschaltet. Recht und Wahrheit sollen nicht unkontrolliert verbreitet werden dürfen. Der Kameramann und sein
Techniker dürfen zwar im ledermöblierten Wohnzimmer ihre Kabel verlegen, Lampen und Geräte startklar machen, doch dann heißt es warten auf den Zensor. Wenn es um Remer geht, dann ist seine Person untrennbar mit einem gewissen Karl Philipp verknüpft. Das macht alles etwas kompliziert. Denn Philipp ist ein schwieriger Mensch. Und er ist der Zensor. Er sollte schon längst dasein, aber… Der Kameramann schaut ab und zu mit hochgezogenen Augenbrauen in den Nebenraum, wo mir Remer zum Zeitvertreib seine alten Wochenschauaufnahmen vorführt (»Da bin ich!… Da bin ich wieder!«), aber ich kann auch nur mit den Schultern zucken. Er ist ein guter Kameramann, wird nicht ungeduldig und strahlt souveräne Ruhe aus. Genau das brauche ich jetzt. Schon bei unserem ersten Interview veranlaßte Philipp die Ausarbeitung eines Vertrages, nach dem die Veröffentlichung bei Strafandrohung von 100 000 Mark nur nach erfolgter Zensur ermöglicht werde. Der Beitrag wurde bis jetzt noch nicht gesendet. So ist man zum zweiten Interview bereit. Diesmal wird freundlicherweise auf nachträgliche Zensur verzichtet, denn sie findet vor Ort statt. Nur: Bevor Philipp nicht anwesend ist, um die Fragen zu genehmigen, darf die Kamera nicht an Remer ran. Warum diese hysterische Prozedur? Remer ist mehrfach verurteilt wegen seiner Aussprüche. Ein Beispiel aus einem Urteil vom Amtsgericht Kaufbeuren: »Der Angeklagte Otto Remer stand nunmehr am Tisch auf, zog sein Feuerzeug heraus, ließ das Gas ausströmen und schnüffelte an diesem Gas. Dabei fragte er: ›Was ist das?‹ Nach einer kurzen Kunstpause bemerkte er: ›Das ist ein Jude, der sich nach Auschwitz sehnt.‹« Als ich mich mit Remer über diesen Ausspruch unterhalte, bestreitet er heftig, das gesagt zu haben, und bezeichnet den Stera-Journalisten Gerhard Kromschröder, der als Zeuge dieses
Zitat vor Gericht bestätigte, als »Dreckschwein«. Da er auch nicht davon ablassen kann, die Widerstandskämpfer um Stauffenberg, dessen Attentat am 20. Juli 1944 mißlang, fortgesetzt als »Lumpen«, »Volksverräter« und »Gesindel« zu bezeichnen, was in der Bundesrepublik strafrechtliche Konsequenzen haben kann, verlegen er und seine »Berater« sich auf die Vorabzensur seiner Aussagen. Gezwungenermaßen, muß man sagen, denn Remer schäumt unbremsbar über, wenn es um die »Scheißdemokratie« mit ihrem »verdammten Parteiengewurschtle« geht. Und deshalb saß das letztemal ein »Berater« Remers daneben, der in solchen Fällen mit Zeige- und Mittelfinger eine Scherenbewegung andeutete: »Schnipp, schnapp, schneiden, schneiden!!« Dabei grinste der Kerl auch noch selbstgefällig. Das passiert mir auch nur einmal. Hoffentlich. Es klingelt, Frau Anneliese öffnet, und der neue Zensor, der »Berater« Karl Philipp, drängt sich an Remers anschmiegsamer Colliehündin vorbei. Verspätet, aber doch… tritt er lächelnd ein. Remer hat mir gerade noch über ihn gesagt: »Hervorragender Mann. Mein Nachfolger! Wir haben große Dinge vor!« So sieht er aber überhaupt nicht aus. Der mittelgroße, etwa 50jährige Mann hat etwas Pastorenhaftes. Sein schütteres Haar und die leicht untersetzte Figur machen ihn unscheinbar, auch seine Kleidung ist nicht schick, nicht schlampig. Er ist einfach unauffällig. Und sein rundes Gesicht muß man länger betrachten, um markante Züge darin zu entdecken. Auch was er sagt, ist gar nicht mal so interessant, sondern schon eher das, was er ist. Das frage ich ihn doch einfach mal… »Journalist«, sagt er trocken. Hallo Kollege. Doch er setzt fort: »… und Hobbyhistoriker.« Dann zieht er ein Flugblatt aus seiner Mappe, auf der ein – für Insider altbekanntes – infames Zahlenspiel aufgeführt ist,
wonach die Ziffer von acht Millionen von den Nazis ermordeter Juden stufenweise auf eine Summe von – je nach Version – 40000 bis 300000 herunter »bewiesen« wird. Gekonnt hat er sich damit auch sofort für den »Hobby«status qualifiziert. Philipps geballte Unscheinbarkeit hatte mich schon längst zu weiteren Recherchen verleitet. Ich frage nach: »Und sonst, wovon leben Sie?« frage ich, weil – unter »freien« Journalisten darf man das. »Artikel schreiben«, sagt er, und ich kann sehen, daß er kurz überlegt. Ob man davon überhaupt leben kann? Das wird Herr Philipp auch nicht nötig haben: Christian Worch, der mit ihm eine regelmäßige Telefaxkorrespondenz unterhält, erzählte mir nämlich, daß Philipp Honorarkonsul sei. Wo man Seine Exzellenz findet? Worch meinte, die Fidschiinseln seien bestimmt ein guter Tip. Philipp schaut mich fragend an. Ob er weiß, was ich weiß? Ich kann zwar keine Gedanken lesen, aber ich weiß zumindest, was im TID-Touristik-Kontakt der deutschen Reisebüros, 26. Jahrgang, auf Seite 503 steht: Fiji Air Ltd. Direktion für Europa (Adresse in Frankfurt am Main) GL: Karl Philipp Und dann blättert man doch noch zur Seite 528, um dort zu erfahren, wie man sonst noch in die Südsee kommen kann: Solomon Airlines Direktion Europa… Direktor Europa: Karl Philipp Res.-Lt: Anita Philipp Verheiratet ist er auch. Ach ja, richtig, da war doch was: Bei Pomorin/Runge, »Die Neonazis, Teil II«, von 1979 lesen wir auf Seite 98: »Karl Philipp, NPD-Kreisvorsitzender von Darmstadt… Links von ihm seine Freundin: Sie fotografiert
mit Vorliebe Antifaschisten und gibt sich, wenn Polizei kommt, als englische Touristin aus.« Man spricht Englisch, ist international. Das ist von Vorteil bei Missionen im Ausland. Deshalb lesen wir auch in der Tribune Nationalisten dem »Organe de Combat des Nationalistes Français« (Kampforgan französischer Nationalisten), Nr. 47, November 1990, auf Seite 3: »Die British National Party (BNP) hielt ihren erfolgreichsten Aufmarsch aller Zeiten… mit Mitgliedern der PARTIE NATIONALISTE FRANÇAIS ET EUROPÉEN (PFNE)… in London… Der deutsche Redner Karl Philipp sprach hochinteressante… Worte über die wachsende Aufmerksamkeit bezüglich der Wahrheit um die angebliche Vergasung von sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs.« Richtig! Sein Hobby: die Leugnung der Massenvernichtung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Und da tanzt Philipp offenbar auch auf dem internationalen Parkett. Über Gaskammern würde ich ja auch gerne mit Otto-Ernst Remer sprechen, aber bedauerlicherweise findet Philipp, daß Remer zu diesem Thema keine Fragen gestellt werden dürfen. Genausowenig wie zum Thema »Neonazis« oder »David Irving« oder Remers »Zeit im Nahen Osten« oder »Waffenhandel«… All diese Themen würden »General Remer emotional überfordern«. Ich verstehe: Er würde unflätig werden. Oder, wie der letzte Zensor sagte: »Er ist halt Soldat! Das schneiden wir raus…« Heute bin ich fest entschlossen, daß nicht eine Sekunde herausgeschnitten wird. Wir sind doch nicht im Dritten Reich. Remer hat den Aufstand vom 20. Juli 1944 in Berlin niedergeschlagen. Und er wurde dafür vom »Führer« persönlich belohnt: Fortan war er der Leibwächter Hitlers.
Darüber könnten wir reden. Philipp nickt wohlwollend. Genehmigt. Über Hitler. Also gut. Remer erinnert sich: »Rückblickend kann ich nur sagen, daß ich in meinem ganzen Leben niemand mit dem Format eines Hitlers erlebt habe, wie ich es auch heute noch vor Augen habe. Das war nicht irgendwer – das war ein bedeutender Mann, der vielleicht einmal in hundert Jahren geboren wird. Und die Geschichte mag heute noch so entstellen, wie sie will!« Remers Stimme wird schneidig, und er spricht jedes Wort einzeln, eine förmliche Offenbarung: »Hitler wird ein bleibender Faktor der deutschen Geschichte sein.« Wer würde da widersprechen? Kurz nachdem der bleibende Faktor deutscher Geschichte am 30. April 1945 seinem Leben ein Ende setzte, war auch für Otto-Ernst der Krieg vorbei. In seinem Buch »Kriegshetze gegen Deutschland« beschreibt er sein letztes Treffen mit dem »Führer«. Danach hat dieser ihm noch die Worte des preußischen Kriegsphilosophen Clausewitz mit auf den Weg gegeben: »In einem ehrenvollen Untergang liegt der Keim des Aufstiegs.« Im »Wer war wer im Dritten Reich« von Robert Wistrich ist nachzulesen, wie Remer in den letzten Kriegstagen seiner Division befahl, »nach Süden in Richtung Dresden durchzubrechen«. Er selbst begab sich jedoch lieber »in Zivilkleidung über die westlich gelegene Elbe, wo damals bereits amerikanische Truppen standen«. Mochten seine Soldaten in die gefürchtete russische Kriegsgefangenschaft geraten, er hatte Größeres vor. Es galt, dem »Keim des Aufstiegs« zur Entfaltung zu verhelfen. Dazu gründete Remer mit anderen »Helden« 1949 die »Sozialistische Reichspartei« (SRP). Sie bekam bei Landtagswahlen 1951 spektakuläre 11 Prozent in Niedersachsen. Doch die nationalsozialistischen
Umtriebe der SRP wurden im Oktober 1952 als verfassungswidrig verboten. Den schweren Schlag empfindet Remer heute noch als ungerecht, denn schließlich ging er sogar aus dem Entnazifizierungsverfahren »unbelastet« hervor. Dann wird er auch noch wegen Beleidigung des Ansehens Verstorbener zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte die Widerstandsbewegung als »Flecken auf dem Ehrenschild des deutschen Offizierskorps« verunglimpft. Das ist zuviel für ihn. Wieder setzt er sich ab. Diesmal allerdings gleich nach Ägypten, wo man zu dieser Zeit mehr Sympathie für Nazis aufbringt. Remer wird der Nahe Osten zu einer zweiten Heimat. Er freundet sich mit allen an, die gegen Israel sind. Vom Großmufti von Jerusalem bis hin zu Gamal Abdel Nasser, für den er die Aufgabe eines sicherheitspolitischen Beraters übernimmt. Und er handelt eifrig mit Waffen. In Syrien und dem Libanon ist er gerngesehener Weggefährte des Deportationsspezialisten Alois Brunner, zu dieser Zeit einer der meistgesuchten Kriegsverbrecher. Brunner war Assistent von Adolf Eichmann, dem Organisator der »Endlösung«. Im Dezember 1992 wird gemeldet, daß Brunner in Syrien verstorben sei. Er wurde für seine Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen. Brunner und Remer hatten – Remer bis heute – Kontakte zu einem USamerikanischen Institut, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Kriegsverbrechen und Massenvernichtung der Nazis als Propagandalügen zu »überführen«. Auch von dieser Organisation, dem »Institute for Historical Review« (IHR), wird noch die Rede sein. Zwischendurch, in der Mitte der fünfziger Jahre, hält sich Remer wieder in Deutschland auf. Dann baut er mit einer »Orient Trading Company« (OTRACO) seine Waffengeschäfte in Ägypten aus. Die Firma hat ihren Sitz in Damaskus, Syrien. Anfang der sechziger Jahre ist Remer
wiederum in Deutschland zu finden, wo er weitere »Geschäftsbeziehungen« mit dem Nahen Osten ausbaut. Er vertritt zeitweise die Firma »Komazu«, die Bauraupen herstellt. Ihm liegt eben alles, was sich stählern auf Ketten vorwärts bewegt. 1981 kehrt er endgültig nach Deutschland zurück. Vermutlich von nostalgischen Gefühlen getrieben, nennt er seine neugegründete Organisation »Brigade Remer«, im Angedenken an die »Führer-Begleitbrigade«, mit der er einst Leib und Leben Adolf Hitlers bewachte. Und jetzt verknüpft Remer seine Nahostkontakte mit Verbindungen zu deutschen und europäischen Rechtsextremisten, zum Beispiel dem französischen Rechtsterroristen Mark Frederiksen, einem Angehörigen der FANE, nach deren Verbot der Nachfolgeorganisation FNE. Seine Gruppe wurde für den Bombenanschlag auf eine Pariser Synagoge am 3. Oktober 1980 verantwortlich gemacht. Sechs Menschen wurden dabei getötet. Später heißt Remers Organisation DDF (»Die Deutsche Freiheitsbewegung«). Remer hat seine Kontakte, wie von ihm nicht anders zu erwarten war, sorgfältig ausgebaut: »Ich hab’ ja viele Verbindungen gehabt und habe auch viele Leute kennengelernt. Diese Dinge waren immer für mich aktuell. Aber ich bin auch kein Dummkopf, ich sah, daß zur Zeit nichts drinliegt, daß gar keine Rede davon sein konnte – bis jetzt plötzlich über Nacht der Umschwung kam und sich damit Perspektiven eröffnen, die wir noch gar nicht absehen können.« Remer bemüht sich nicht nur um Kontakte zu faschistischen Organisationen in Rußland, wie etwa der antisemitischen Pamjat-Bewegung. Er hat Größeres im Sinn: In einem Papier des Institute for Historical Review aus dem Frühjahr 1990 gibt Remer an, den sowjetischen Botschafter Valentin Falin
getroffen zu haben. Danach versandte Remer eine Denkschrift zur deutsch-russischen Kooperation nach Moskau und diskutierte dies auch mit – angeblich wohlwollenden – Vertretern der sowjetischen Botschaft. Und wie Kühnen, mit dem ihn ansonsten eine herzliche Feindschaft verbindet, sieht Remer nun ganz neue Möglichkeiten für »deutsche Politik«. Das betont Remer immer wieder. Er behauptet tatsächlich, er sei »nicht links, nicht rechts, nur Deutscher«. Was dahintersteckt, muß ich anderweitig herausfinden, denn Philipp läßt ja keine Fragen über »Neonazismus« zu. Und Remer selbst sagt dazu: »Keiner kann mir vorwerfen, daß ich auch nur annähernd die Ambition habe, Kommunist zu sein oder sonstwas zu sein. Ich streite auch ab: Was heißt Nationalsozialismus, ich bin nie in der Partei gewesen…« Noch während ich überlege, warum er etwas abstreitet, was keiner im Raum behauptet hat, kommt er zum Schluß: »Ich bin immer unabhängig gewesen, aber ich mache (mir) meine eigenen Gedanken…« Die verbreitet er auch weiter. Remer, der mich glauben machen will, daß er keinen Kontakt zu Neonazis habe, daß er noch nicht einmal wisse, was Neonazismus ist, überführt sich selbst als Lügner: Auf einem internen Neonazivideoband ist Remer nämlich zu sehen. Neben Thomas Brehl, Kühnens Stellvertreter. Und die Rede, die er da an die versammelten Neo-Nationalsozialisten der FAP richtet, ist nicht weniger eindeutig: »Ihr müßt euch hier in eurem schweren politischen Kampf, der noch schwerer ist als der damalige von uns, bewußt sein, indem ihr diszipliniert, verantwortungsbewußt in einer nicht auseinanderzubringenden Kameradschaft, eine Elite für das Gerippe (sie!) für eine deutsche Jugend werdet.« Auf Remer und Philipp, das spüre ich, werden wir bei unseren Recherchen noch häufiger stoßen.
Graeme Atkinson, der für Searchlight seit mehr als fünfzehn Jahren die Umtriebe europäischer Neofaschisten recherchiert, gibt mir den Anstoß, darüber nachzudenken, was Michael Kühnen mir in unserem ersten Gespräch gesagt hatte. Daß »eben allgemein die gesellschaftliche Atmosphäre sich ändert«. Wie konnte es dazu kommen, daß Rechtsextreme wieder gesellschaftsfähig geworden sind? Welche Atmosphäre ist das? Welche Gesellschaft? Wie ist die Lage der Nation?
Zur Lage der Nation
Neuerdings machen wir Deutschen uns verstärkt Gedanken über unsere »nationale Identität«. Dabei ist das konkrete Wissen um die deutsche Vergangenheit erschreckend dürftig. Noch könnten die letzten noch lebenden Opfer des NS»Volksgerichtes« der Jugend erzählen, was sich hinter den Worten »Sonderbehandlung«, »Aktion Reinhard« und »T 4« verbirgt. Doch sie werden nicht allzuoft gefragt. Dabei kann man es gar nicht oft genug erzählen. Ich weiß aus meiner eigenen Schulzeit nämlich mehr vom Rittertum als von den Mechanismen des Dritten Reiches. Nicht, daß andere Epochen deutscher Geschichte unwichtig wären. Aber es darf nicht gleichgültig hingenommen werden, daß der Lehrplan dem Zeitverzug zum Opfer fallen kann, wonach das Mittelalter ausführlich behandelt wird und plötzlich die Zeit von 1900 bis 1950 in ein paar Monaten abgehandelt werden soll. Wobei dann gerade noch die Fakten – nicht aber die Ursachen und Erklärungen – abgespult werden, wenn überhaupt. In deutschen Schulen wurde die Aufarbeitung des Dritten Reichs in gleichem Maße versäumt wie in Gesellschaft und Politik. Viele der »ehemaligen« Nazis empfanden die Demokratie als Zwang, dem sie sich nur ungern anpaßten. Ein Bumerang: Das Versäumnis der Zwangsdemokraten rächt sich bereits bitter. Man erfährt als junger Mensch kaum etwas über das Dritte Reich, wenn man sich nicht selbst dafür interessiert. Und nur so konnte es dazu kommen, daß es bei nicht wenigen jungen Leuten schick ist, »national« zu sein. Warum manche Überlebende noch heute zusammenzucken, wenn das Wort »Abtransport« oder »Sondereinsatz« fällt – das verstehen zu können wäre heute wichtig.
Denn die Zeit vergeht. Neue Geschichte geschieht, ohne daß die alte bewältigt wurde. Die Nachkriegszeit neigt sich dem Ende zu.
Das Ende der Nachkriegszeit
»Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!« Rhythmische Sprechchöre von Tausenden von Menschen erschallen Ende September 1989 in Leipzig, der deutschen »Heldenstadt«. Dort, auf dem Platz hinter der Oper, versammeln sich Montag für Montag Tausende von DDRBürgern. Sie sind dem Aufruf der Opposition in dem »realsozialistischen« Land gefolgt, um ihren jahrelang angestauten Unmut über das SED-Regime zu artikulieren. Von Woche zu Woche werden es mehr, die sich auf dem spärlich beleuchteten Platz treffen, bis dieser die Menschenmenge von hunderttausend Demonstrierenden nicht mehr fassen kann. Die »friedliche Revolution« – unter diesem Begriff wird sie später in die Medien Einzug halten – nimmt in der DDR ihren Lauf und zeigt erste Erfolge. Langsam mischen sich aber auch andere Töne unter die Parolen. Zu dem basisdemokratisch verstandenen »Wir sind das Volk!«, das eine stärkere Beteiligung der Bürger anmahnt und sich gegen autoritäre Tendenzen und Willkürherrschaft von oben zur Wehr setzt, gesellen sich Ende Oktober die ersten Rufe wie »Die Mauer muß weg!« Nach der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 ertönen am Montag darauf in Leipzig Sprechchöre »Deutschland, einig Vaterland« und »Wir sind ein Volk«. Schnell sind diejenigen in der Minderheit, die noch »Wir sind das Volk« skandiert hatten. Sie, die die Umwälzung mit Aussprüchen von Rosa Luxemburg (»Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden«) in Gang gebracht haben, werden von denen überrollt, die nur nach dem westlichen Reichtum schielen und sich schon immer als Opfer des
Systems gefühlt haben. Eines Systems, in dem sie es sich vierzig Jahre lang ohne Widerspruch gut eingerichtet hatten. Genau so aber haben die Urheber sich ihre »friedliche Revolution« nicht vorgestellt. Schwarzrotgoldene Fahnen dominieren nun auf dem Leipziger Opernplatz, angeheizt von Verlockungen und Verheißungen westdeutscher Politiker, von den Begrüßungsgeldern und den damit eiligst erstandenen Südfrüchten, Video- und Kassettenrecordern. Betrunkene Skinheads mischen sich unter die Demonstranten und baden sich in der aufkommenden deutschnationalen Stimmung. Jetzt treten auch bundesdeutsche Rechtsextremisten auf den Plan. Sie versuchen, den Stimmungsumschwung für sich zu nutzen und zu forcieren. Ab Mitte Dezember 1989 verteilen in Leipzig und in anderen Städten der DDR westdeutsche Funktionäre der rechtsextremen Republikaner (REP) ihre Flugblätter auf den Montagsdemonstrationen. Sie fordern die »sofortige Wiedervereinigung« sowie skurrilerweise das »Ende der Vergangenheitsbewältigung«, als ob jemals damit angefangen worden wäre. Parteichef Franz Schönhuber, der ehemalige Waffen-SS-Mann, zeigt sich in einem Interview mit dem Quotidien de Paris von dem reißenden Absatz der REPPamphlete begeistert: »Für uns ist die DDR die Quelle der Erneuerung.« Das am 5. Februar 1990 von der Volkskammer der DDR ausgesprochene Betätigungsverbot der REP wird von der Volkspolizei in dumpfer Schlichtheit ignoriert. Tonnenweise fahren bayerische REP-Funktionäre ihr Propagandamaterial in Privatfahrzeugen über die Grenze und bringen es an die begeisterten DDR-Bürger. Im Anschluß an die Montagsdemonstration vom 29. Januar 1990, zu der sich wieder 150 000 Menschen versammelt
haben, rufen die REPs zur Gründung ihres ersten Stützpunktes in der DDR auf, dem Kreisverband »Leipzig Stadtmitte«. Die Bierbar des Hotels am Lisztplatz wird vom stellvertretenden bayerischen REP-Landesvorsitzenden Franz Glasauer aus Landshut und dem DDR-Koordinator der REPs, dem Bad Tölzer Reinhold Rade, mit Fahnen, Parteiplakaten (»Sozialismus ist Beschißmus«) und Aufklebern schnell zum Parteilokal umgemünzt. Die schummrige Bar ist mit siebzig Sympathisanten bis auf den letzten Platz gefüllt. Begeistert applaudieren diese den Ausführungen von Glasauer, der klarmacht, daß »Pommern und Schlesien zu Deutschland gehören«. Der REP-Funktionär fordert ein »Europa der Vaterländer« und hetzt gegen »Scheinasylanten«. Das kommt an. Zaghaft melden sich Kandidaten für die Vorstandswahlen. Unbeholfen nehmen sie das Mikrofon in die Hand, um sich den Versammelten vorzustellen. Einer bekundet, daß sein »Herz für Deutschland und die Partei schlägt«, eine andere ist angetreten, damit »die Ausländer hier rauskommen«, ein nächster stammelt, sein Ziel sei es, »in die Republikaner einzutreten und dafür einzutreten«. Der letzte, ein Maler und Lackierer, sucht händeringend nach den passenden Worten: »Ich möchte mich für die Partei voll arrangieren… (Pause)… mich einsetzen… (lange Pause)… und beziehungsweise bin ich für die Einheit Deutschlands und… (Pause)… ja und.« Dann fällt ihm nichts mehr ein, er gibt das Mikrofon zurück. Das genügt, um gewählt zu werden. Franz Glasauer ist froh, den formalen Akt hinter sich gebracht zu haben, schließlich geht es an diesem Tag um die Symbolik: »Mit dieser Kreisverbandsgründung sind die Republikaner die erste wirklich gesamtdeutsche Partei, die ohne Hilfstruppen und Ableger in der DDR agiert.«
Kurz nach den Vorstandswahlen bereiten vermummte Gegendemonstranten dem REP-Spuk ein Ende und schlagen das Versammlungslokal kurz und klein. Die Wirtin jammert anschließend, sie habe doch nur an den Umsatz und an das kleine Extraentgelt von den Herren Republikanern gedacht. Fassungslos angesichts der Scherben schüttelt sie den Kopf. An diesem Montag sind die REPs nicht die einzigen aus dem goldenen Westen angereisten Montagsmarschierer, die den »Ossis« zeigen wollten, wo es langgeht. Vertreter verschiedenster neofaschistischer Organisationen wie z. B. der »Nationalistischen Front«, der NPD und der »Patrioten für Deutschland« mischen sich unter die unzufriedenen DDRBürger. Die nationalrevolutionäre Zeitung Wir selbst aus Koblenz beendet eigens wegen der Umwälzungen in der DDR ihre bis dahin ein Jahr andauernde Produktionspause. Man sieht wieder Neuland, verteilt in Leipzig Werbeprospekte und sucht neue Mitarbeiter. Die »Wiking-Jugend« verteilt den Text der Deutschland-Hymne in allen drei Strophen. Mitglieder der Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP) sind mit ihrem vielfach wegen Waffen- und Sprengstoffdelikten vorbestraften Anführer Friedhelm Busse angereist, um auf Flugblättern und in Diskussionen ein »freies Deutschland, frei von Unterdrückung, Kommunismus und fremder Einmischung« zu fordern. Gegner dieser Gruppierungen und Ausländer leben auf den Montagsdemonstrationen inzwischen gefährlich. Schon eine Woche vor der REP-Gründung werden sie als »Stasikinder« oder »Stasischweine« beschimpft und mit dem Ruf »Rote raus aus der Demo« quer durch die Stadt gejagt. An den Massenkundgebungen für ein »einig Vaterland« beteiligen sich mittlerweile bis zu 2000 Nazis und Skinheads. Sie bilden separate Blöcke und ziehen unangefochten mit Reichskriegsflagge oder REP-Parteifahne an der Spitze der
Demonstration durch die Straßen Leipzigs. Sie skandieren »Goebbels, wir lieben dich«, »Deutschland den Deutschen!«, »Ausländer raus!«, »Gysi, Modrow an die Wand!« und singen das »Horst-Wessel-Lied«. Sie belagern Ausländertreffpunkte, werfen die Scheiben von Homosexuellenbars ein, verbrennen unter johlendem Beifall der Umstehenden »linke«, aber auch christliche Flugblätter und Informationsschriften. Lange vor der staatlichen Einheit sind die Neonazis Ost und West auch schon auf der Straße bereits vereint. Bis zur wirklichen Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 gibt es in der noch existierenden DDR eine Fülle von Übergriffen auf Ausländer, Flüchtlinge, Juden, Punker, Kommunisten – auf alles, was anders aussieht und denkt. Sie werden begleitet und angeheizt von nationalistischen Tönen, mit denen die CDU und der CSU-Ableger DSU (Deutsche Soziale Union) den Volkskammerwahlkampf bestreiten. Kaum ein Fußballoberliga-Spieltag vergeht in diesen Wochen ohne ausländerfeindliche Randale. Die Volkspolizei schaut in der Regel zu, wenn es zur Hatz auf Ausländer geht. So auch am 8. Juli, als Deutschland mit einem Elfmetertor knapp gegen Argentinien die Weltmeisterschaft in Italien gewinnt. Kaum war im Olympiastadion in Rom der Schlußpfiff ertönt, beginnt in Ostberlin – und nicht nur dort – die Jagd auf Ausländer. Die Grenzen zwischen Normalbürgern und Rechtsradikalen verwischen dabei völlig. Unter Anfeuerungsrufen von Umstehenden werden am Ostberliner SBahnhof Alexanderplatz Libanesen durch die Gänge gejagt und verprügelt. Im Laufe des Abends versammeln sich auf dem Alexanderplatz etwa fünfhundert Skinheads. Ausstaffiert mit Deutschlandfahnen, Reichskriegsflaggen und Baseballschlägern, gehen sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: »Fidschis klatschen«, wie sie im Einklang mit großen Teilen der DDR-Bevölkerung die Vietnamesen verächtlich
nennen. Sie feiern Deutschland als den Weltmeister, als die Größten der Welt, und hauen so bestärkt wahllos alles nieder, was nicht deutsch aussieht. Und Fußballnationaltrainer Franz Beckenbauer gießt – mit natürlich nur auf den Rasensport gemünzten Worten – Öl ins Feuer, als wisse er nicht, wie der Pöbel seine Worte verstehen wird: »Wir sind die Nummer eins in der Welt. Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so.«
Nach drei ausgiebigen Besuchen in Zeitungsarchiven kann ich feststellen: Was dem Fußball recht ist, ist den Politikern billig. Die wissen natürlich, daß das Wort von Günter Grass richtig ist: »Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken.« Sie wissen, daß das Ausland sehr genau auf das größere Deutschland schaut, sie wissen, wozu deutsches Großmachtdenken fähig ist, und sie wissen, daß man im Ausland den Unterton genau heraushört, wenn Bundeskanzler Helmut Kohl im Hinblick auf die Vereinigung am 3. Oktober 1990 erklärt: »Wir sind dann nicht nur nach der Zahl, sondern nach allen anderen Daten das stärkste Land in Europa.« Genau das aber beunruhigt die Engländer, Franzosen, Polen und alle anderen. Sie fürchten, daß das, was Deutschland in zwei Weltkriegen nicht bekommen hat, ihm nun bald friedlich aufgrund der ökonomischen Stärke zufällt: die Vorherrschaft und Führung in Europa. In England geht das Wort vom »Vierten Reich« um. Margaret Thatchers Berater Nicholas Ridley nennt Helmut Kohl gar in einem Atemzug mit Adolf Hitler. Das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek meldet, daß die Deutschen beim Anschluß der DDR einen
kapitalistischen »Blitzkrieg« gewonnen hätten. »Blitzkrieg«, ein Wort, das selbst ins Englische Aufnahme gefunden hat. Gerade beim Staatsakt zur Vereinigung müht sich die deutsche Regierung, jeden Verdacht des Strebens nach einem deutschen Sonderweg auszuräumen und sich besonders in die europäische Verantwortung zu stellen. Die Festredner geben peinlich darauf acht, sich in dieser historischen Stunde keinen Fauxpas zu leisten. In ihren knapp sieben Minuten langen Fernsehansprachen an die Nation am Vorabend der Vereinigung werden Helmut Kohl und der knapp sechs Monate amtierende DDR-Interimsministerpräsident Lothar de Maiziere aber schon deutlicher. »Für mich geht ein Traum in Erfüllung«, bekennt Kanzler Kohl dem Volk, er wolle »aber vor Freude nicht die Vergangenheit« vergessen. Wenn jemand meint, daß damit die Schreckensherrschaft der Nazis gemeint ist, die zur Teilung Deutschlands führte, der hat wieder mal weit gefehlt. Nein, es geht nicht um die Millionen von Juden, die nicht nur »im Namen Deutschlands«, sondern von Deutschen umgebracht worden sind. Nein, es geht auch nicht um den Zweiten Weltkrieg, der schließlich nicht nur »von deutschem Boden« ausgegangen ist, sondern von vielen Millionen Deutschen begrüßt, in die Tat umgesetzt und dann verloren worden ist. Kein Wort davon. Dem Bundeskanzler geht es in dieser Stunde nicht um die Vergangenheit, die die deutsche Einheit in einem anderen Licht erscheinen lassen könnte. Es geht ihm um den Sieg der Bundesrepublik – der sozialen Marktwirtschaft – und um die Menschen, »die unter der Teilung Deutschlands besonders zu leiden hatten«. Die Deutschen als Opfer der Teilung. Es geht ihm darum, daß »Familien grausam auseinandergerissen, in Haftanstalten politische Häftlinge eingekerkert und an der Mauer Menschen erschossen« worden sind. Das solle sich
»niemals wiederholen, deshalb dürfen wir es auch nicht vergessen«, appelliert Kohl. Anderes dürfen wir anscheinend vergessen, denn der Bundeskanzler hat es in seinen sieben Minuten Redezeit deutlich aufgezeigt, was dem Vergessen anheimfallen darf und was nicht. Sein »Kollege« de Maiziere macht es keinen Deut besser. Er schwärmt, daß die »Einheit mit dem Herzen gewonnen sein« wolle, und kommt auf die Vergangenheit zu sprechen. »Wir wissen sehr wohl, was uns die Vergangenheit angetan hat«, hebt er an. Wir sind also Opfer einer Vergangenheit, Opfer eines unausweichlichen Schicksals, ohne etwas dazu getan zu haben? So habe ich das bislang nicht gesehen. »Wir wollen die Vergangenheit nicht verdrängen, und wir haben sie ehrlich und verantwortungsvoll aufzuarbeiten«, fährt de Maiziere fort. Das klingt gut. Doch dann: »Aber sie darf nicht auch noch unsere Zukunft teilen.« Ja, jetzt verstehe ich: Es geht auch ihm nicht um die deutsche Vergangenheit 1933 bis 1945, sondern nur um die letzten 45 Jahre. Wo de Maiziere, der wenig später nach seiner Entlarvung als Stasi-Informant seine Karrierechancen im vereinten Deutschland begraben muß, mit »Freude und Zuversicht der deutschen Einheit« entgegenblickt, da darf allzuviel Vergangenheit nicht stören, denn: »Wir stehen vor dem Beginn einer neuen Zeit.« Das predigt uns auch die Mehrzahl der deutschen Medien. Dort wird die Vereinigung der beiden deutschen Staaten genutzt, um den so sehnlich gewünschten Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Helmut Kohl läutet das »Ende der Nachkriegszeit« ein. Nichts ist angeblich mehr so, wie es einmal war. Warum dann überhaupt noch diese leidigen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus? Jetzt kann
man doch den Kommunismus »bewältigen«. Das macht viel mehr Spaß. Und man ist geübt. Die millionenfach verbreitete Bild-Zeitung titelt zum Tag der Einheit 1990 in schwarzrotgoldenen Lettern: »Es ist wahr geworden Deutschland« und wünscht in der zum Schleuderpreis von 10 Pfennig erhältlichen Sonderausgabe »Deutschland Glück und Segen«. Das »Elend der deutschen Teilung« sei nun zu Ende. Es habe mit der Hissung der »roten Fahne über dem Reichstag am 30. April 1945 mittags« begonnen. Das Boulevardblatt bastelt ein neues Geschichtsverständnis: Die Befreiung vom Nationalsozialismus wird bereits als der Beginn des Elends apostrophiert. Die Deutschen waren selbstverständlich nur Opfer. Man kann keine vergasten Familien beklagen, keine »Tragödie« des Holocaust (an Deutschen!), aber jetzt läßt die Bild-Zeitung »die Tragödie der zerrissenen Herzen« beginnen, als Berlin von den Russen eingenommen wird. Und schuld daran war auch nur einer: »Adolf Hitler, der Mann, der Deutschland in die Katastrophe geführt hatte«. Da schlägt ein triebhafter Entschuldigungsdrang zu: Nicht wir Deutschen waren schuld, nicht NSDAP-Mitglieder und SS-Schergen, sondern nur einer: Adolf Hitler. Dann brauchen wir uns ja nicht mehr zu schämen! Aber ich verstehe nicht, wie man unsere Geschichte als lästiges Unglück empfinden kann, statt sie als Verpflichtung zu akzeptieren. Doch warum überhaupt noch in die Vergangenheit schweifen? Am Tag nach dem feierlichen Festakt in der Berliner Philharmonie verkünden die schwarzrotgoldenen Lettern auf der Titelseite: »Deutschland! Mein Gott, ist das schön.« Der Kommentar von Horst Fust macht dann auf der nächsten Seite klar, wohin die zukünftige Reise geht: »Alles ist anders. Wir erleben die Gnade der Stunde Null.«
Es geht also alles von vorne los, bei Null. Vor uns liegt die Zukunft, die Vergangenheit ist gelöscht, hinweggefegt von der »friedlichen Revolution«; die Vereinigung heilt die Wunden. Wie sagte doch Lothar de Maiziere bei seiner Festrede: »Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Zeit.« Endlich ist die Saat aufgegangen, die lang zuvor ausgebracht worden war. Die Bestrebungen, die deutsche Vergangenheit endgültig rückstandsfrei zu entsorgen, gehen schon Jahre zurück.
Die nationale Identitätskrise
Ich erinnere mich noch genau, wie Helmut Kohl in seiner ersten Regierungserklärung 1982 verdeutlichte, er werde die »geistigmoralische Erneuerung« Deutschlands in Angriff nehmen. Und an den damaligen CDU/CSUFraktionsvorsitzenden Alfred Dregger, der anmahnte, Deutschland müsse »endlich aus dem Schatten Adolf Hitlers heraustreten«. Und an den CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, der beim politischen Aschermittwoch 1988 in der Passauer Nibelungenhalle vom Leder gezogen hatte: »Wir müssen heraustreten aus der giftigen Atmosphäre Adolf Hitlers. Wir müssen wieder ein Volk werden, das nicht mehr den gebeugten Gang des Sträflings der Weltgeschichte geht, sondern den aufrechten Gang bewußter Bürger, die stolz sind, daß sie Deutsche sind.« Ihnen allen ging es um die Wiederherstellung der deutschen nationalen Identität. Schluß mit dem Büßergang, Schluß mit dem ewigen Erinnern. Schließlich waren es ja nur zwölf Jahre in der tausendjährigen Geschichte der Kulturnation Deutschland, oder? Der kurze Abschnitt, in dem die Regierung von Willy Brandt unter dem Motto »Mehr Demokratie wagen« antrat, war zu diesem Zeitpunkt schon längst vorbei. In Deutschland gab es wieder Berufsverbote. Übrigens ist dies ein weiteres Wort für eine deutsche Spezialität, das Eingang ins Englische (the berufsverbot) und ins Französische (le berufsverbot) fand. Demokratische Grundrechte wurden der inneren Sicherheit geopfert, die man aufgrund der Aktivitäten der RAFTerroristen in Gefahr wähnte; Willy Brandt mußte gehen, und
Helmut Schmidt kam. Der Sozialdemokrat, von dem viele Konservative sagten, er sei »eben in der falschen Partei«, um ihm damit ihren Respekt für seinen konservativeren Kurs zu zollen. Dann kam Helmut Kohl und wollte eine »geistigmoralische Erneuerung«. Wohin sollte die Reise gehen? Waren wir nicht schon längst unterwegs?
Archive sind geduldig, und ich bin es auch. Mir fällt ein Zeitungsausschnitt in die Hände, aus dem Jahre 1977. Am 6. August sollte in Nürnberg – wo sonst, wenn Rechtsextremisten sich an historischer Stätte treffen wollen – ein »AuschwitzKongreß« stattfinden. Erklärtes Ziel dieser Veranstaltung war es, die »Jahrhundertlüge über die Massenvergasungen in Auschwitz zu widerlegen«. Die Begleitmusik zu diesem Kongreß spielte die Nationalzeitung mit Überschriften wie »Hitler – Genie oder Wahnsinn? Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht« oder »6 Millionen vergaste Juden – die Lüge des Jahrhunderts«. Als Veranstalter fungierten der ehemalige SSMann Thies Christophersen, der 1973 seine Schrift »Die Auschwitz-Lüge« veröffentlicht hatte, und ein Erwin Schönborn. Der setzte in Flugblättern eine Belohnung von 10 000 DM für »jede einwandfrei nachgewiesene ›Vergasung‹ in einer ›Gaskammer‹ eines deutschen KZs« aus. »Wir akzeptieren keine KZ-Zeugen aus Polen, Israel oder den USA«, hieß es darin weiter. Referieren sollten neben Christophersen und Schönborn ein Udo Walendy von der NPD oder ein Wilhelm Stäglich aus Hamburg. Halt, wo bin ich denn da gelandet?! Alles Nazis, sogenannte »Ewiggestrige«, die bestimmen doch nicht das Klima in Deutschland. Über diese »Ewiggestrigen« werden wir später noch mehr erfahren.
Aber werfen wir doch einen Blick in das renommierte Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Im Sommer 1978 wird da ein Mann als salonfähig präsentiert, dem es schon damals um die Rehabilitierung Hitlers und des Nationalsozialismus gegangen ist und der deshalb eine steile Karriere innerhalb der Szene von Alt- und Neonazis vor sich haben sollte – auch bei meinen Recherchen sollte ich ihn immer wieder treffen. Das erstemal versuchte ich vergeblich, ihn (versteckt) zu filmen, aber später sollte es mir gelingen. Der Mann heißt David Irving, ist englischer Historiker, und der Spiegel widmet ihm eine ganze Serie. Unter dem Titel »Das Ende einer Legende« liefert das Magazin einen Vorabdruck seines im Herbst 1978 erscheinenden Werkes über den Generalfeldmarschall Erwin Rommel, den »Wüstenfuchs«, der in Afrika für Hitler kämpfte. Die Serie in dem Nachrichtenmagazin, das sonst soviel Wert auf seine aufklärerische Wirkung legt, verhilft Irving zu breitem Renommee. Einem Mann, der in seinem 1977 erschienenen Buch »Hitlers Krieg« die These vertrat, Hitler habe lange Zeit von der Ausrottung der Juden nichts gewußt. Einem »Historiker«, der schon damals behauptete, Konzentrationslager wären »unverzichtbar für die politische Erziehung« gewesen, oder in dessen Werken sich Passagen finden wie die folgenden: »Hitler schuf ein Deutschland mit gleichen Chancen für Hand- und Kopfarbeiter, für Reich und Arm (…) (Er) stellte das Vertrauen der Nation in die Zukunft wieder her (…) Alle Krebssymptome des industriellen Kampfes – Streiks, Blaumachen, Krankfeiern – wurden zu Phantomen der Vergangenheit.« All das wußten die Redakteure des Spiegel, hatten sie doch im Herbst 1977 detailliert und kritisch über Irvings Buch »Hitlers Krieg« berichtet. Und jetzt stellen sie in einer »Hausmitteilung« David Irving nicht nur einfach als »britischen Historiker« vor, sie feiern ihn gar als »Meister im
Aufspüren bis dahin ungenutzter Quellen«∗ . Sie zitieren Rommels Sohn Manfred, derzeit Oberbürgermeister von Stuttgart, der Irving bescheinigt, er habe Leben und Tod seines Vaters Erwin »lebendig und eindrucksvoll« geschildert. Vor seiner Spiegel-Serie war Irving, der nicht einmal ein Historikerdiplom vorweisen kann, bereits bei RechtsextremenKongressen erschienen und hatte dort zum Thema »Verrat und Widerstand im Dritten Reich« referiert. Und jetzt gelingt es diesem Autor, dank Spiegel, mit seinen Thesen in den Kreis der »Seriösen«, der »Respektablen« vorzudringen!
Da muß doch noch mehr passiert sein. Ja richtig, Mitte der siebziger Jahre zog eine richtige Hitlerwelle durch die Bundesrepublik. Der Publizist Joachim C. Fest etwa hatte 1973 sein Werk »Hitler – Eine Biographie« herausgegeben, vier Jahre später folgte die Verfilmung (»Hitler – Eine Karriere«) und 1978 die »Anmerkungen zu Hitler« von dem Journalisten Sebastian Haffner. Beide Bücher wurden Bestseller, der Film ein Kassenhit, obwohl sie umstritten waren. Oder vielleicht gerade deshalb. Dem Publizisten Fest, der wenig später Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) würde, ging es darum, Hitlers geschichtliche Größe nicht als Tabu zu behandeln und »ohne Scheuklappen« darzustellen. Er beschrieb dessen »revolutionären Gedanken auf ›Erneuerung‹, auf Umwandlung von Staat und Gesellschaft in eine konfliktfreie, militant ∗
Wie später noch deutlich werden wird, sind Irvings Kontakte und Bekanntschaften derart beschaffen, daß von »Aufspüren« eigentlich nicht die Rede sein kann: Seine alt- und neonazistischen Bekannten händigen ihm ihre Familiendokumente mit Kußhand aus, nutzen sie doch wieder der Propaganda – spät, aber doch.
geschlossene ›Volksgemeinschaft‹«. Man könne seiner Meinung nach nicht umhin, Hitler im Vergleich zu anderen Politikern der Weimarer Republik »die gewiß modernere Erscheinung« zu nennen. In einem Leitartikel in der FAZ vom 9. Januar 1974 lobte Fest dann Alexander Solschenizyn, dessen erster Band des »Archipel GULag« gerade in der Bundesrepublik erschienen war. Solschenizyn hätte sich nicht zu sagen gescheut, daß »die Judenvernichtung Hitlers die Wiederholung jenes von der Sowjetunion erstmals angewandten Terrorprinzips gewesen (sei), das nicht nach Schuld oder Unschuld fragt, sondern eine Gruppenzugehörigkeit mit Deportation und Ausrottung bestrafte«. Fest nahm damit eine Kontroverse vorweg, die er als Mitherausgeber der FAZ maßgeblich in seinem Blatt im Jahre 1986 initiieren sollte. In seinem Buch »Deutschland und der Kalte Krieg« hatte der Historiker Ernst Nolte – auch er sollte 1986 eine tragende Rolle spielen – schon 1974 Hitler und den Nationalsozialismus relativiert: »In der Tat hat jeder bedeutende Staat der Gegenwart, der sich ein außerordentliches Ziel setzte, seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt, und es hing nur von seiner Größe und seiner Situation ab, welche Folgen daraus für die Welt im ganzen resultierten.« So einfach ist das also mit den »Ungeheuerlichkeiten«. Die systematische Vernichtung der Juden wird in eine Reihe gestellt mit anderen Greueltaten. Millionen ermordete Juden werden relativiert. Das Ergebnis eines Programms mit dem Titel »Endlösung der Judenfrage«, umgesetzt mit allen dazu notwendigen Ressourcen Deutschlands, umgesetzt auch noch, als Deutschland schon fast am Ende war, als sich Deutschland mitten in einem Krieg an allen Fronten befand und dennoch einen Großteil seiner Transportkapazitäten für die Deportation
der Juden einsetzte, umgesetzt mit beispielloser Bürokratie, mit »deutscher« Gründlichkeit, Ausdauer und Disziplin. Sebastian Haffner, ein hoch angesehener politischer Publizist, widmete gar ein Drittel seiner Anmerkungen zu Hitler den »Leistungen und Erfolgen« des Faschismus. So habe beispielsweise die »Frauenemanzipation« unter Hitler »große Sprünge« gemacht. Eine, wie ich finde, recht eigenwillige, ja chauvinistische Betrachtungsweise. Für ihn war Hitler gar »unzweifelhaft Sozialist – ein sehr leistungsstarker Sozialist sogar«. Es ist mir unheimlich, solche Worte von einer Persönlichkeit wie Haffner lesen zu müssen. Im gleichen Jahr präsentierte der Erlanger Historiker Hellmut Diwald, der 1990 die Präambel des Parteiprogramms der rechtsextremen Republikaner formulieren sollte, seine neue »Geschichte der Deutschen«. Hitler war demnach kein rassistischer Antisemit. Der Judenmord demnach nur ein Racheakt und der Holocaust »in zentralen Fragen noch immer ungeklärt«. Auch dieses Buch wurde ein voller Erfolg. Wen wundert es da noch, daß die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Juni 1981 nach der Verkündung des MajdanekUrteils∗ in völliger Verkennung der bisher (kaum) geleisteten justitiellen Aufarbeitung des NS-Regimes feststellte: »Die nationalsozialistischen Verbrecher werden vor Gericht gestellt, die kommunistischen aber bekleiden in ihren Ländern Ämtern, bekommen Titel und Orden, und manche führt man im Westen zu Banketten.« ∗
Im Juli 1942 errichteten die Nazis in Majdanek (Polen) ein Vernichtungslager, in dem mindestens 200 000 Personen getötet wurden. Die Staatsanwaltschaft Ludwigsburg beendete ihre Ermittlungen im Januar 1962 und übergab das Verfahren nach Düsseldorf. Dreizehn Jahre vergingen, bis der Prozeß schließlich 1975 eröffnet wurde. Nach sechsjähriger Dauer erfolgte das Urteil im Juli 1981. Acht Personen wurden wegen nachgewiesener Teilnahme an 17438 Morden zu einmal lebenslanger Strafe und zu zusammengerechnet nur 46,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Die Gleichsetzung des NS-Regimes mit anderen und damit seine Relativierung bis hin zur Exkulpation zeichnete sich in solchen Kommentaren schon deutlich ab. Ein neues Klima wurde geschaffen. Ein Klima, in dem solche Traktate zu Bestsellern und solche Meinungen zu Leitartikeln werden, begünstigt natürlich die Akzeptanz von ganz anderen Propagandisten wie z.B. eines David Irving. Solche »Erkenntnisse« stiften erst einmal Verwirrung. Sollen sie das nicht auch? Scheinbare Tabus werden damit gebrochen, um vermeintlich »neuen« Erkenntnissen Platz zu machen. Eine Strategie von »geistigmoralischer Erneuerung«, die sich Jahre später auszahlen sollte und die immer wieder flankiert wird von der offiziellen Politik. Alfred Dreggers Rede zur Lage der Nation im Juni 1983 ließ schon keinen Zweifel daran, was unter dieser »Erneuerung« zu verstehen ist: »Zwischen 1965 und 1975 hat ein Bruch mit der Mehrzahl der Traditionen stattgefunden, die zur Substanz unserer nationalen Identität gehört haben und gehören. Das berührt die Einheit der Nation unmittelbar. Die deutsche Identität insgesamt wurde ins Zwielicht gerückt. Aber mehr noch: Auch die deutsche Geschichte wurde hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt gesehen, inwiefern sie zur nationalsozialistischen Herrschaft führen konnte. Das hatte zur Folge, daß die deutsche Geschichte insgesamt abgewertet wurde. Seitdem gibt es ein Trauma in unserer Selbsteinschätzung. Die Wende, die wir politisch erreicht haben und durchsetzen wollen, wird ihre Bewährungsprobe nicht zuletzt darin zu bestehen haben, unsere nationale Identität in der Identität unserer Werte wiederherzustellen.« Das muß ich zweimal lesen, aber dann ist es eigentlich ganz klar. Damit die deutsche nationale Identität »gesunden« konnte, mußte das »Trauma« der NS-Zeit verschwinden.
Da paßte es gut, daß Bundeskanzler Helmut Kohl auf seiner Israelreise 1984 stellvertretend für die Nachkriegsdeutschen die »Gnade der späten Geburt« für sich reklamierte. Da paßte es gut, daß das Magazin Quick sein Titelblatt am 25. April des gleichen Jahres nicht einem nackten Mädchen, sondern der Story »Die Macht der Juden« überließ. Darin geht die Illustrierte der Frage nach »Wie also beeinflussen sechs Millionen amerikanische Juden 209 Millionen nichtjüdische Amerikaner?« Sie führt dazu die jüdische »Meinungsherrschaft« an, denn die großen Fernsehsender ABC, CBS und NBC würden »von jüdischen Vorstandsmitgliedern dirigiert«. Gott sei Dank, meint Quick, können sich die Amerikaner mit dieser Frage »unbefangener« auseinandersetzen; den Deutschen dagegen sei »eine wirklich objektive, wertfreie Beschäftigung mit diesem Thema durch die Hypothek der jüngeren Vergangenheit verwehrt«. Gerade diese »Hypothek« wollte Quick, die immerhin über eine Million Leser hatte, abbauen. Da waren alle Mittel recht, sogar die Diffamierung des Staates Israel: »Amerikas Juden lassen sich ihren Nostalgie-Staat zusätzlich rund 300 Millionen Spenden-Dollar jährlich kosten.« Von einem Aufschrei der Empörung anderer Zeitungen und Magazine in Deutschland als Reaktion auf die Quick-Story ist nichts bekannt. Genausowenig, als Quick 1991 nach den neonazistischen Terrorangriffen auf Flüchtlingsheime in bezeichnender Verdrehung der Tatsachen textet: »Asylanten: Linke Chaoten und Stasi-Pöbel schüren den Haß«. 1984 erhielt Bundeskanzler Kohl nicht nur die »Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen« als Verdienst dafür, daß er die »deutsche Frage« für »offen« erklärte. Auf dem Deutschlandtag der CDU-Jugendorganisation »Junge Union« (JU) fiel ein Antrag des JU-Bundesvorstandes durch, der die Verbindlichkeit der Westgrenze Polens, der Oder-
Neiße-Grenze, enthielt. Noch im Dezember 1984 erschien ein Kalender des Bundespresseamtes, in dem die Gebiete östlich von Oder und Neiße als »unter polnischer Verwaltung stehend« gekennzeichnet waren.
Das Jahr 1985 bescherte dann eine Kette von Ereignissen, die weit über die Grenzen Deutschlands hinaus Aufsehen erregen sollten. Da gab der innenpolitische Sprecher der CSULandesgruppe im Bundestag Hermann Fellner seinem Antisemitismus freien Lauf und formulierte, daß »die Juden sich schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert«. Dann schritten am 5. Mai Bundeskanzler Kohl und USPräsident Ronald Reagan über den Soldatenfriedhof von Bitburg, wo über 2000 Tote der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS begraben sind. Der Staatsakt, mit dem aus Tätern Opfer gemacht wurden, ließ schon im Vorfeld die Wogen hochschlagen. Jüdische Verbände und Kriegsveteranen in den Vereinigten Staaten protestierten energisch gegen den Auftritt von Reagan und gegen die damit verbundene Rehabilitierung der NS-Verbrecher. Die Reaktionen daraufhin in Deutschland sprachen für sich. In Bonn wurde für den Fall einer Absage ein »schwerer Rückschlag für die deutsch-amerikanischen Beziehungen« angekündigt. Kohls Regierungssprecher Peter Boenisch machte deutlich, daß es nicht darum ginge, »wer im einzelnen auf dem Bitburger Friedhof« liege. Beim Lesen des Zeitungsausschnittes frage ich mich, warum man dann nicht diplomatischerweise auf einen anderen Friedhof auswich. Aber Boenisch wollte offenbar doch die SS-Männer betrauert wissen, denn er meinte, es müßte doch »möglich sein, bei einem solchen Besuch eine Geste der Versöhnung und der Freundschaft zu machen«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
fand die jüdischen Proteste zwar verständlich, aber gab deutliche Fingerzeige: »Gewisse jüdische Kreise müßten von einsichtigen Leuten gewarnt werden, sich von schrecklichen Erinnerungen dazu bewegen zu lassen, gewisse Gedanken überzustrapazieren.« Die FAZ folgerte weiter: »Das Schicksal Israels hängt von der Verteidigungsfähigkeit des Westens ab, und diese wiederum von der moralischen Einheit seiner Nationen. Wenn die Bundesrepublik aus dieser Gemeinsamkeit hinausgedrängt würde, wäre in dem Gewölbe strategischer Maßnahmen, das gegebenenfalls auch Israel schützt, der Schlußstein entfernt.« Schluß mit den Schuldvorwürfen also und her mit der moralischen Einheit inklusive Deutschlands, sonst steht der Schutz Israels auf dem Spiel! Kurz vor dem Reagan-Besuch in Bitburg legte FAZMitherausgeber Fritz Ullrich Fack mit seinem Leitartikel »Ein Scherbenhaufen« noch einmal nach: »Präsident Reagan hatte den richtigen Instinkt, daß so zu verfahren sei. Aber eine mächtige publizistische Maschinerie seines Landes pflegte die Verfolgung bis ins siebte Glied und ist für jeden Anlaß dankbar, das Zerrbild des häßlichen Deutschen wieder auszugraben und alte Wunden aufzureißen. Den Betreibern macht es nichts aus, selbst die Toten noch zu sortieren und den Präsidenten zur Marionette zu machen.« Es ist gleichgültig, wer Täter und Opfer sind, im Tod sind alle gleich, lautete die Botschaft. Und das Gerede von »gewissen Kreisen« und einer »mächtigen publizistischen Maschinerie« ist mir auch nicht geheuer, zumal die FAZ selbst zu den größten und einflußreichsten deutschen Zeitungen gehört. Auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel beteiligte sich an der unheimlichen Debatte. Herausgeber Rudolf Augstein griff zur Feder, und heraus kam ein Beitrag unter dem in
geschmacklos-genialer Anlehnung an eine Bierwerbung getexteten Titel »Bitte kein Bit!« »Wer, um Himmels willen, könnte ein Interesse haben, den 8. Mai 1945 zu begehen?« fragte Augstein gleich zu Beginn seines Artikels und gab die Antwort selbst: »Nun gut, die Sowjetrussen hatten ein echtes politisches Interesse. Sie müssen jede Erinnerung an die Kriegskoalition per Mund beatmen, um Keile und Keilchen zwischen ihre jetzigen Feinde zu treiben.« Aber die »Sowjetrussen« sind nicht allein: »Auch die Israelis haben (…) ein echtes politisches Interesse. Sie wollen die Erinnerung an die deutsche Schuld wachhalten, um materieller und rüstungstechnischer Geräte willen.« Ja, ja, die Juden, wenn’s um Geld geht…! Aber »warum sollen wir feiern«, fragte Augstein weiter, was gehe »uns die Feierei an?« Alles rhetorische Fragen, denn auch hier folgte die Antwort Augsteins auf dem Fuß: »Am albernsten wird die Begehung des 8. Mai, weil dieses Datum nicht nur die Befreiung von Millionen Menschen, sondern auch die Versklavung von Millionen Menschen signiert. Wollen wir nun wirklich noch ein Seminar abhalten, wer mehr Menschen umgebracht hat, Hitler oder Stalin?« Was wollte uns Augstein damit sagen? Wohl das: Ab auf den Müllhaufen der Geschichte mit diesem 8. Mai 1945, die Befreiung vom Faschismus ist kein ausreichender Grund zum Feiern. Inzwischen hatte auch Alfred Dregger einen Brief an 53 USSenatoren mit eindeutigem Inhalt verfaßt: »Wenn Sie Ihren Präsidenten auffordern, die von ihm geplante noble Geste auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg zu unterlassen, muß ich das als Beleidigung meines Bruders und meiner gefallenen Kameraden empfinden. Ich möchte Sie fragen, ob man den toten Soldaten, deren Leiber verwest sind, die letzte Ehre
verweigern darf? Ich frage Sie, ob Sie in dem deutschen Volk, das zwölf Jahre lang einer braunen Diktatur unterworfen war und das seit vierzig Jahren an der Seite des Westens steht, einen Verbündeten sehen?« Dregger findet es offenbar unnötig, die latenten neofaschistischen Erscheinungen zu berücksichtigen, die mit derartigen »Feiern« Rückenwind bekommen. Den Gefallenen, ob Helden, arme »Frontschweine« oder SS-Schlächter, nützt diese letzte »Ehre« jedenfalls überhaupt nichts. Ronald Reagan stand in der Tat die antikommunistische Allianz gegen den »Todfeind Sowjetunion« zusammen mit dem Volk, das »einer braunen Diktatur unterworfen war«, näher als die jüdischen Proteste im eigenen Land. Allein 250 000 Menschen demonstrierten in New York gegen seinen Besuch in Bitburg. Da aber über den Gräbern der Kriegstoten die deutschamerikanische Waffenbrüderschaft beschworen werden sollte, beharrte Reagan auf dem ihm von Kohl vorgeschlagenen Bitburg-Auftritt und verzichtete dafür auf einen Besuch im KZ Dachau. Und so marschierten sie beide dann über den blumengeschmückten Ehrenfriedhof »Kolmeshöhe« in Bitburg, vorbei an den 49 Gräbern der Waffen-SS-Kämpfer, begleitet von einem einsamen Trompeter, der »Ich hatte einen Kameraden« intonierte. Das ganze Spektakel dauerte nur sechs Minuten, aber das waren sechs Minuten mit immensem Symbolgehalt. Die Polizei hatte unterdessen die 12500 Einwohner zählende Stadt in dichte Sicherheitszonen unterteilt und hielt die jüdischen Demonstranten auf Abstand zu den Regierungschefs. In seiner Rede im Anschluß an seine Visite auf dem Soldatenfriedhof ließ Reagan keinen Zweifel daran, worum es ihm gegangen war: »Vor 40 Jahren führten wir einen großen Krieg, um die Welt aus der Dunkelheit des Bösen zu
befreien… Es war ein großer Sieg, und die Bundesrepublik Deutschland, Italien und Japan gehören nun der Gemeinschaft der freien Nationen an. Aber der Kampf für die Freiheit ist noch nicht zu Ende, denn heute befindet sich immer noch ein großer Teil der Welt in der Finsternis des Totalitarismus.« Im Antikommunismus sind also die Feinde von damals vereint, die Verbrechen der einstigen Kriegsgegner spielen in dieser neuen Allianz keine Rolle mehr, sie sind offenbar relativiert durch die Verbrechen des aktuellen Feindes. Und was hatte der deutsche Regierungschef zu sagen? Um es sich zu ersparen, den Nationalsozialismus beim Namen zu nennen, wählte Kohl auf dem Friedhof ebenfalls den Ausdruck von der »totalitären Herrschaft«. Dies macht es ihm möglich, so der deutsche Philosoph Jürgen Habermas ein Jahr später, »sich und uns dem amerikanischen Präsidenten als die ältesten Kämpfer gegen den Kommunismus in Erinnerung zu bringen«. Ein denkwürdiger Tag in der deutschen Nachkriegsgeschichte, es sollten noch viele folgen. Ich erinnere mich noch genau an den 8. Mai 1985. Obwohl ich damals politisch nur wenig interessiert war – das ließ mich aufhorchen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte soeben eine viel beachtete Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus gehalten. In vielen Zeitungen war die Rede im Wortlaut abgedruckt. Auch ich war beeindruckt. Das sollte sich beim näheren Lesen ändern. Weizsäcker sprach zwar vom menschenverachtenden System des Nationalsozialismus und erinnerte an die Millionen Opfer. Er betonte aber auch, daß Hitler das Volk zum Werkzeug seines Hasses gemacht hätte und die Ausführung der Verbrechen in der Hand weniger gelegen hätte. Damals wären letztendlich alle Opfer geworden: »Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.«
Immerhin, und das sollte bald nicht mehr selbstverständlich sein, sprach Weizsäcker noch eindeutig von einem von Deutschland ausgehenden Krieg. Er plädierte für Erinnerung, denn ohne die gäbe es keine Versöhnung. Es käme aber jetzt darauf an, die »Chance des Schlußstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu nutzen«. Der Schlußstrich – auch bei ihm. Trotzdem sind seine Warnungen vor dem Wiedererstarken des Faschismus, die er in jüngster Zeit wiederholt ausspricht, wichtig. Selbst und gerade dann, wenn er dafür aus den eigenen (christdemokratischen) Reihen gerügt wird. Die Weizsäcker-Rede vom Mai 1985 war kaum gehalten, da trat Helmut Kohl als erster Bundeskanzler seit zwanzig Jahren wieder auf dem »Schlesier-Treffen« auf. In letzter Minute war dessen Motto »Schlesien bleibt unser« in »Schlesien bleibt unsere Zukunft in einem Europa freier Völker« geändert worden. Eine wenig bedeutsame Änderung. Daß deutsche Identität immer etwas mit den sogenannten Ostgebieten und revanchistischen Gelüsten zu tun hat, beweist die Tatsache, daß die Exkulpation der deutschen Vergangenheit stets mit eindeutigen (Gebiets-)Ansprüchen einhergeht. Auf einer Kundgebung des Bundes der Vertriebenen sprach Alfred Dregger deutliche Worte: »Es ist auch wahr, daß durch die Verbrechen Hitlers die Verbrechen anderer weder gerechtfertigt noch entschuldigt werden.« Deshalb dürften »keine Verbrechen verschwiegen werden, auch die der Sieger nicht«. Und dann: »Wir müssen begreifen, daß die KZ Hitlers und Stalins, daß die Vertreibung der Ostdeutschen und der Ostpolen, daß der millionenfache Tod deutscher Soldaten und ihrer soldatischen Gegner Teil ein und derselben Katastrophe waren.« So deutlich hatte vor ihm noch selten ein ranghoher Politiker Hitler mit Stalin verglichen und Täter wie Opfer als »Teil ein
und derselben Katastrophe« gleichgesetzt. 1986 sollte er Gesellschaft bekommen. Ein Jahr nach Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung hielt es die FAZ für nötig, einen Beitrag des Washingtoner Rechtsanwalts Franz Oppenheimer unter dem Titel »Vorsicht vor falschen Schlüssen aus der deutschen Vergangenheit – Die Verführungen einer kollektiven Schuldbesessenheit« aus der US-Zeitschrift The American Spectator nachzudrucken. Oppenheimer betrachtete darin Hitlers Machtübernahme als einen »historischen Zufallstreffer«. Nur »eine kleine Minderheit« der Nazis wären »wütende Antisemiten« gewesen. Antisemitismus sei in Deutschland nicht populärer gewesen als anderswo. »Hitler war so gut wie allein – selbst in der Nazihierarchie.« Die große Mehrheit der Deutschen hätte »keine größere Schuld an Hitlers Verbrechen als andere an denen Stalins von gestern und des lieben Herrn Gorbatschow heute«. Ein halbes Jahr später, im November 1986, verglich Bundeskanzler Kohl dann den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, was international Stirnrunzeln hervorrufen sollte.∗ Es lag etwas in der Luft. Etwas, das selbst beim Durchstöbern
∗
Was er zunächst abgestritten hatte, wurde dann am 6. November 1986 per Tonbandprotokoll des Nachrichtenmagazins Newsweek veröffentlicht. Bundeskanzler Helmut Kohl: »Ich sag’s Ihnen: Die Frau Gorbatschow, das ist eine attraktive Frau. Und sie geht nach Paris und kauft sich ein schönes Kostüm. Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun. Das ist ein moderner kommunistischer Führer. Der (Gorbatschow, d. Verf.) war nie in Kalifornien, nie in Hollywood, aber versteht was von PR (Public Relations, d. Verf.). Goebbels verstand auch was von PR. (Auf dem Band ist an dieser Stelle Gelächter zu hören, d. Red.) Man muß doch die Dinge auf den Punkt bringen.«
der Archive wiederauflebt. Diese dauernden Vergleiche und diese Relativierung der Naziverbrechen… wozu? Mit Oppenheimers Essay hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Anfang zu der Debatte gemacht, die später als Historikerstreit in die Annalen der Bundesrepublik eingehen sollte. Aufgerüttelt worden war die FAZ von Elisabeth NoelleNeumann, der langjährigen Kanzlerberaterin in Sachen Demoskopie vom Allensbacher Meinungsforschungsinstitut. Ihre Studie zum Thema »Nationalgefühl und Glück« hatte soeben ergeben, daß »die Deutschen im Weltmaßstab den geringsten Stolz auf ihre Nationalität äußerten«. NoelleNeumann schlug Alarm. Die Deutschen seien eine »verletzte Nation«, sie hätten »jahrelang die Demütigung einer Besetzung dulden müssen« und trauten sich aufgrund ihrer Vergangenheit nicht, auf ihre Nationalität stolz zu sein. »Die Schwächung der nationalen Idee schwächt ein Land nach innen und außen.« Die Meinungsforscherin nahm die Geschichtswissenschaft in die Pflicht: »In Deutschland wird das Extrem der SelbstDemütigung gesucht. Es wird der Bevölkerung verwehrt, genau zu wissen, daß nie eine Mehrheit in einer freien Wahl für Hitler gestimmt hat. Im Übereifer wird das Bild noch verzeichnet.«∗ Am 25. April 1986 nahm sich Professor Michael Stürmer, Kanzlerberater in Sachen Geschichte, die Alarmrufe aus Allensbach in der FAZ zu Herzen: »In einem Land ohne ∗
Frau Noelle-Neumann selbst war im Dritten Reich jedoch keineswegs im »Widerstand«: Sie war Journalistin bei der Zeitung Das Reich, wo sie beispielsweise 1941 in einem Artikel über Amerika schrieb: »Ohne Verzug ins Dunkel zu greifen nach dem Juden, der sich hinter der Chicago Daily Times verbergen muß, heißt, seine Hand in ein Wespennest zu stecken. Bei vierzig gleichzeitigen Stichen hört man auf, sich für die einzelne Wespe zu interessieren. Juden schreiben in den Zeitungen, besitzen sie, haben Anzeigenagenturen (…) monopolisiert…«
Erinnerung ist alles möglich. Die Meinungsforschung warnt, Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister.« Es gewönne die Zukunft in Deutschland, »wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet«. Das ließen sich die FAZ-Herausgeber nicht zweimal sagen. So hoben sie den einen um den anderen Beitrag ins Blatt, um die Geschichte für die deutsche Zukunft zu präparieren. Am 6. Juni 1986 beispielsweise den Beitrag »Vergangenheit, die nicht vergehen will« von Professor Ernst Nolte. Ich darf mir die Anmerkung gestatten, daß ich schon bei der Überschrift das Gefühl habe, da wird vorweg als Last empfunden, was Verpflichtung sein sollte. Unter der Zwischenüberschrift »Archipel GULag und Auschwitz« fragte sich der Historiker: »Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ›asiatische‹ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ›asiatischen‹ Tat betrachteten?« Wie bitte? Vielleicht hilft wieder zweimal lesen. Tatsächlich, Nolte meinte es auch so, denn er fragte rhetorisch weiter: »War nicht der ›Archipel GULag‹ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmord‹ der Nationalsozialisten?« Wer da nicht mit Nein antwortet, der weiß also, wer die wirklichen Schuldigen an den Verbrechen des Nationalsozialismus sind. Endlich wissen wir, daß die Nationalsozialisten die eigentlichen Opfer waren und nur deswegen zum Täter geworden sind. Alles, was im Dritten Reich geschehen ist, ist quasi als Prävention gegen die zu erwartenden kommunistischen Verbrechen geschehen – eine Entschuldigung par excellence; Notwehr hieße das im Strafrecht, und Notwehr bleibt straffrei. Wer den Krieg angefangen hat, interessierte Nolte schon nicht mehr – oder?
Von wegen! Ein Jahr zuvor hatte Nolte in einem in England erschienenen Aufsatz die These veröffentlicht, daß Chaim Weizman, der Präsident der Jewish Agency, im September 1939 Hitler quasi den Krieg erklärt hatte, als er sagte, die Juden stünden in dem soeben von Hitler begonnenen Krieg auf Seiten Englands und aller anderen Demokratien. Damit hätte Weizman Hitler »berechtigt«, die deutschen Juden als Kriegsgefangene zu behandeln und zu internieren. Das habe ich doch schon einmal gehört?! Richtig, in meinem zweiten Interview, das ich mit Michael Kühnen im Park nahe des Frankfurter Gerichts führte, hatte der Neonazichef das gleiche zum besten gegeben. Er fand sogar eine »Kriegserklärung« von 1933. Ist man da nicht schon sehr nahe ans Original herangekommen? »Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.« SS-Chef Heinrich Himmler meinte damit in seiner Rede auf einer SS-Gruppenführertagung am 4. Oktober 1943 in Posen die Juden. Und das folgende kennen wir doch aus Noltes rhetorischen Fragen: »In dieser Auseinandersetzung mit Asien müssen wir uns daran gewöhnen, die Spielregeln und die uns lieb gewordenen und uns viel näher liegenden Sitten vergangener europäischer Kriege zur Vergessenheit zu verdammen.« Diesen Satz hämmert Himmler am 5. Mai 1944 seinen Generälen in Sonthofen ein. Im Krieg mit Asien müssen doch asiatische Taten erlaubt sein – nicht wahr, Herr Nolte? In der großen Tageszeitung Die Welt trug Bundeskanzler Helmut Kohl leider auch seinen Teil dazu bei und erklärte, was alles für ihn zur deutschen Geschichte gehört: »Die Rache, die im deutschen Namen in Polen und anderswo geübt wurde, die Rache, die Deutsche dann durch Polen erfahren haben.« Man beachte die feinen Unterschiede: Es gibt eine Rache, die »im
deutschen Namen« geübt wurde, aber keine deutsche Rache oder Rache durch Deutschland – und es gibt eine »Rache durch Polen«, aber keine, die im polnischen Namen geübt wurde. In der Welt erschien im April 1986 auch der Vorabdruck von Andreas Hillgrubers Werk »Zweierlei Untergang – Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums«. Man beachte auch hier: Das Deutsche Reich wurde zerschlagen, das Judentum hat bloß geendet. Geendet! Eine Redewendung, die mir später aus dem Munde des Neonaziführers Althans noch einmal begegnen sollte.∗ Hillgruber identifizierte sich in seinem Buch mit »den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich, die die Bevölkerung des deutschen Ostens vor den Racheorgien der Roten Armee, den Massenvergewaltigungen, den willkürlichen Morden und den wahllosen Deportationen zu bewahren suchten«. Er sprach vom »Abwehrkampf« des »großdeutschen Heeres«, als ob nicht dieses Heer zuvor die Sowjetunion überfallen hätte und dann zurückgedrängt worden wäre. Am 31. Juli 1986 war es dann dem Historiker Klaus Hildebrand vorbehalten, die FAZ-Reihe der bundesdeutschen Geschichtswäsche fortzusetzen. Er stellte klar, daß die Zeit, in der die »rassenpolitischen Untaten des ›Dritten Reiches‹« als ∗
Interview des Journalisten Marc Fisher für das schwedische Fernsehen: Auf die Frage, ob denn der Holocaust nicht genau das gewesen sei, was Hitler wollte, antwortet der Neonazi: »Nein.« Aber Hitler, ist die nächste Frage, habe doch mehrfach von einer Vernichtung der Juden gesprochen. Althans verfälscht Hitlers Zitat: »Nein. Er sprach über das Ende des Judentums in Europa.« Hier das Zitat Hitlers in seiner Rede vom 30. Januar 1939: »Wenn es dem internationalen Finanz-Judentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht (…) der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!«
singulär anzusehen wären, endgültig vorbei sei: »Mit voranschreitender Forschung sehen wir nun allerdings, daß Hitlers Reich nicht allein zu dem Zweck besiegt wurde, um die Deutschen zu befreien, zu zähmen und zu erziehen. Die Eigenständigkeit der sowjetischen Kriegsziele, teilweise aber auch die der Briten und Amerikaner, ging weit darüber hinaus.« Die gefährliche Geschichtsverfälschung, daß der Zweite Weltkrieg ein normaler Krieg wie jeder andere auch gewesen wäre, daß andere Länder nicht nur potentiell zu den gleichen Untaten fähig wären wie die Deutschen, sondern auch die gleichen Untaten begangen hätten, setzte sich fort. Mitte August stellte Günther Gillessen in der FAZ – mittlerweile kann man sagen: wo sonst! – die Frage: »Der Krieg der Diktatoren – Wollte Stalin im Sommer 1941 das Deutsche Reich angreifen?« Die Deutschen hätten demnach also nur einen Präventivkrieg geführt. Zudem hätte Hitlers Überfall Stalin die Gelegenheit gegeben, »den Krieg, ohne Rücksicht auf seine komplizierte Vorgeschichte, als Krieg der Verteidigung Rußlands, als Großen Vaterländischen Krieg darzustellen«. Spätere sowjetische Führungen versuchten dann, »die schweren Verluste an Leben und Zerstörungen an Gut in eine besondere Friedensschuld der Deutschen gegenüber der Sowjetunion umzumünzen und außenpolitisch-propagandistisch zu operationalisieren«. Und: »Die Fortsetzung fiele nicht mehr so leicht, wenn sich mehr Klarheit über die Vorgänge der Jahre 1940/41 gewinnen ließe.« Mit seltener Offenheit gab Gillessen sein Ziel preis: Es geht darum, es der Sowjetunion durch Geschichtsklitterung unmöglich zu machen, weiterhin eine besondere Friedensschuld der Deutschen reklamieren zu können.
Jetzt wurde es offenbar höchste Zeit, daß sich »HitlerExperte« Joachim C. Fest selbst in die Debatte einschaltet. Unter dem Titel »Die geschuldete Erinnerung« stellt Fest die rhetorische Frage, ob sich denn wirklich sagen ließe, »daß jene Massenliquidierungen durch Genickschuß, wie sie wegen des roten Terrors über Jahre hin üblich waren, etwas qualitativ anderes« seien als die Judenvernichtung. Fest bleibt nicht bei Rußland stehen. Algerien, Vietnam, Kambodscha, Chile und Argentinien stehen auf seiner Liste. Zudem werde die These von der Einzigartigkeit der NS-Verbrechen »zuletzt auch durch die Überlegung in Frage gestellt, daß Hitler selbst immer wieder die Praktiken der revolutionären Gegner von links als Lehre und Vorbild bezeichnet hat«. Fest zählt sich in seinem Beitrag zu den »Pessimisten« im Gegensatz zu den Utopisten, die noch immer an das Gute im Menschen glauben würden. Als Pessimist oder Realist gebe es aber nur eines: »Unter diesem Blick schrumpft Auschwitz dann in der Tat auf den Rang einer ›technischen Innovation‹.« Auschwitz soll offenbar so lange relativiert werden, bis es so weit geschrumpft ist, daß sich daraus keine besondere Schuld mehr ableiten ließe. Nach Fest trat dann wieder Kohls Berater, der Historiker Michael Stürmer, am 6. September als FAZ-Leitartikler an. Er erinnert an den Beginn des kalten Krieges vor vierzig Jahren: »Ohne es zu wissen, trat Amerika dadurch in die Erbschaft des Deutschen Reiches ein.« Die US-Army als Nachfolger der Hitler-Wehrmacht in ihrem »Abwehrkampf« gegen den Kommunismus. Damit hat der Historiker des Kanzlers exakt den Punkt getroffen, den schon Kohl und Reagan in Bitburg anvisiert hatten. Die Gemeinsamkeit des Antikommunismus als Ferment für die Entsorgung der Vergangenheit. Eine Triebfeder für Geschichtsrevisionisten ganz anderen Kalibers – doch dazu später.
Den Widerpart zu Nolte, Hillgruber, Stürmer und Hildebrand bildeten 1986 Jürgen Habermas in der Zeit, Heinrich August Winkler in der Frankfurter Rundschau und Hans-Ulrich Wehler in seinem Essay »Entsorgung der deutschen Vergangenheit?« Auch im Ausland warf der Historikerstreit lange Schatten. Das New York Times Magazine widmete ihm im November 1986 die Titelgeschichte »Ausradieren der Vergangenheit – Europas Gedächtnisschwund gegenüber dem Holocaust«. In seiner Abhandlung über den Historikerstreit schrieb der Hamburger Rechtsanwalt und Publizist Heinrich Senfft, in dessen 1990 erschienenem Buch »Kein Abschied von Hitler« ich viele der hier aufgeführten Zitate gefunden habe: »Da das deutsche Bürgertum mit dem Makel ›Holocaust‹ nun nicht mehr weiterleben will, wird er generalisiert, internationalisiert, bis man schließlich da ankommt, wo unser Bundespräsident schon am 8. Mai 1985 gestanden hat: daß wir schließlich alle Opfer geworden sind.« Im rechten Lager der Bundesrepublik war man höchst zufrieden über die Wirkung des Historikerstreits. Man hatte zwar nicht recht bekommen, man hatte die Mehrheit der historischen Zunft nicht hinter sich gebracht. Man hatte weit mehr Staub aufgewirbelt, als Erkenntnisveränderung bewirkt. Aber, so resümierte das rechtsintellektuelle Magazin Criticon, das den rechtsextremen Republikanern nahesteht: Man könne »nicht übersehen, daß von Nolte und Hillgruber wichtige Anstöße für eine differenziertere und damit gerechtere Sicht der jüngsten deutschen Geschichte ausgegangen sind. Im Bewußtsein der bundesdeutschen Öffentlichkeit scheint sich tatsächlich ein langsamer, aber sichtbarer Wandel zu vollziehen.« Mitte November 1986, am Volkstrauertag, rief der CDUPolitiker Dregger die deutsche »Schicksalsgemeinschaft« aus:
»Wir müssen uns miteinander versöhnen, mit unserer Geschichte und mit dem Schicksal unserer Nation.« Kurz darauf ermutigte der damalige Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble die »Vertriebenen« im Namen der Bundesregierung, ihre vermögensrechtlichen Ansprüche gegenüber der Sowjetunion und Polen aufrechtzuerhalten. Sechs Jahre später – Schäuble ist inzwischen vom Innenminister zum Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSUFraktion im Bundestag avanciert – beweist er Kontinuität. In einem TV-Beitrag des Fernsehmagazins »Kennzeichen D« war am 1. Dezember 1992 die folgende Szene zu sehen: Schäuble spricht vor Burschenschaftern in Wichs und Montur auf der Burg von Eisenach: »Die Deutschen… (er stockt)… hier im Osten Deutschlands, wie wir jetzt sagen, obwohl es in der Mitte Deutschlands ist…« Weiter kommt er nicht. Donnernder Applaus. Schäuble weiß, daß er einen Volltreffer gelandet hat. Er greift zum Wasserglas, trinkt betont langsam, läßt jeden Schluck genüßlich auf der Zunge zergehen. Er kostet den Beifall voll aus, befriedigt über seinen Publikumserfolg mit einem nicht ausgesprochenen, aber von jedem verstandenen Hinweis darauf, daß das letzte Wort der Geschichte noch lange nicht gesprochen sei. Eisenach liege, so Schäuble, »in der Mitte Deutschlands«. Mehr sagt der Mann, dem durchaus kein Ruf eines Scharfmachers vorauseilt, nicht. Das ist auch nicht nötig, denn jeder im Saal weiß, daß er »Mitteldeutschland«, wie es die Rechten jeder Couleur nennen, gemeint hat und »Ostdeutschland«, also Königsberg, Pommern oder Schlesien, das immer noch nicht zu Deutschland gehört. Aber das kann ja noch werden. Doch zurück. 1987 wurde es gleich nach Neujahr turbulent. Kohls Worte von den »politischen Gefangenen in den Konzentrationslagern in der DDR« stießen auf heftige Kritik
seitens der SPD-Opposition. Bundesinnenminister Zimmermann (CSU), der vorher schon klargestellt hatte, daß er unter Faschismus sowieso nur einen »politischen Kampfbegriff, den vor allem Kommunisten verwenden«, verstehe, legte gleich nach. Er nannte die DDR »das größte Gefangenenlager der Welt«. Die letzte Steigerung blieb schließlich dem CSU-Europaabgeordneten Otto von Habsburg vorbehalten: »Die sogenannte DDR hat nicht nur KZs eingerichtet, sie ist selber ein einziges riesiges Konzentrationslager.« Otto von Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaisers, ist übrigens Präsident der ultrarechten Pan-Europa-Union (PEU). Auch war er Mitglied in einem Hilfskomitee »Freiheit für Rudolf Heß«. Ein halbes Jahr später betonte Ottfried Hennig, Staatssekretär beim Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, vor der »Schlesischen Jugend« zum Wohlwollen seiner Zuhörer, daß die Teilung Deutschlands und die Vertreibung »nahezu ausschließlich Unschuldige« getroffen hätten. Über die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze zu Polen stellte er fest, daß man durch »unrechtmäßige Ansässigkeit kein Heimatrecht« erwerbe. Durch den bundesdeutschen Blätterwald ging diesmal kein Rauschen. Im Gegenteil. Solche Äußerungen gehörten zur deutschen Normalität 1987. Ein Erfolg der Bemühungen »gemäßigter« Historiker und der inzwischen reputierlichen Rechtsradikalen. Wenig später resümierte der gleiche Hennig – völlig zu Recht –, daß neben dem »Schutz des ungeborenen Lebens« inzwischen die Wiederherstellung des »gesunden nationalen Selbstbewußtseins« zum zweiten wichtigen Thema der Konservativen in Deutschland geworden wäre. Und Criticon, dessen Bewertung ein Barometer für die Einschätzung des extrem rechten Lagers ist, konnte gar in Teilen des
konservativen Lagers »eine Aufbruchstimmung, die man hier schon lange nicht mehr kannte«, verzeichnen. Es paßte durchaus in die politische Landschaft, daß Bundestagspräsident Philipp Jenninger in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1988 nicht nur vom »Faszinosum« des Faschismus fabulierte. Mit völlig unangebrachter Einfühlsamkeit erklärte er, daß Hitler »das Elend der Kindheit, Demütigungen der Jugend, die ruinierten Träume des gescheiterten Künstlers, die Deklassierung des stellungs- und obdachlosen Herumtreibers und die Obsessionen des sexuell Gestörten« erdulden mußte. Im Judenhaß gönnte Hitler sich danach quasi einen Ausgleich. Der arme Adolf tut mir beinahe schon leid. Und beste Geschichtsklitterung, wenn Jenninger im folgenden davon spricht, daß sich ja die Bevölkerung bei den Pogromen vor fünfzig Jahren weitgehend passiv verhalten hätte, daß sie ja im Gegenteil entsetzt gewesen wäre. Davon haben die betroffenen Juden damals nun wirklich nichts verspürt. Sie waren es, die entsetzt waren, wie begeistert viele Deutsche den Plünderungen und der Zerstörung von jüdischem Eigentum nachgingen, während diejenigen, die nicht mitmachten, geflissentlich wegschauten! Jenninger mußte zurücktreten, doch der Erfolg der Geschichtsfälscher war nicht mehr aufzuhalten. Der Historikerstreit sollte nach dem Fall der Mauer in die nächste Runde gehen – mit der Hoffnung auf den »Endsieg«.
Von Aufwieglern und Verharmlosern
In unveränderter Schärfe, ja sogar mit neuem Auftrieb, quasi voller Siegeszuversicht, wird nach dem Fall der Mauer und der Vereinigung Deutschlands die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Vergangenheit gestellt. Als Objekt, mit der eigenen unrühmlichen Vergangenheit ins reine zu kommen, scheint sich nicht nur der Niedergang der DDR geradezu anzubieten, sondern auch der sich anbahnende Golfkrieg und die Diskussion über die Rolle des neuen, größeren Deutschlands in der Welt. Optimistisch prognostiziert FAZKommentator Eckhard Fuhr genau eine Woche nach der offiziellen deutschen Vereinigung: »Auschwitz wird nicht jene Bannformel bleiben, bei der die Deutschen augenblicklich in eine angestrengte Selbstbetrachtung verfallen.« Eifrig stürzen sich Politiker und Historiker auf das untergegangene DDR-System, Vergleiche werden gezogen, die nur einen Effekt haben: die Geschichte und Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren und damit letztendlich zu verharmlosen. Mit Entsetzen stelle ich fest, daß das DDRRegime nicht nur mit dem NS-System verglichen, sondern gleichgesetzt wird, nach der alten totalitaristischen Formel: Rot gleich Braun. Langsam ermüdet mich meine Archivwühlarbeit, denn sie entmutigt mich. In der Gesamtschau ergeben die einzelnen Puzzleteilchen ein Umschreiben der Geschichte, das ich in diesem drastischen Ausmaß nicht für möglich gehalten habe. Das große Vergleichen im Zuge der Wiedervereinigung hat begonnen. Der bayerische Innenminister Edmund Stoiber bezeichnet den PDS-Politiker Hans Modrow als »Gauleiter«.
Der frühere DDR-Schriftsteller Jürgen Fuchs erklärt gegenüber der Welt, die DDR-Staatssicherheit habe ein »Auschwitz in den Seelen« angerichtet. Der stellvertretende Chefredakteur der Welt, Enno von Loewenstern, nennt die Führung der ehemaligen DDR eine »politische Mordmaschine« und den SED-Chef Erich Honecker »den obersten deutschen Mörder und Kriegsverbrecher« – den obersten! Ach so: Hitler war Österreicher. Oder meint Enno von Loewenstern das anders? Dann schöpft er neue Begriffe: Die DDR-Bodenreform heißt bei ihm »Arisierung in Rot«. FAZ-Kommentator Friedrich Karl Fromme betont im Hinblick auf die DDR-Vergangenheit, daß dieses »Unrecht weder in der Genugtuung über die Vereinigung untergehen noch im Vergleich mit dem Nationalsozialismus relativiert werden« könne. Also waren die Kommunisten in der DDR sogar schlimmer als die Nazis.∗ Wir sind in der Zeit zwischen März und Oktober 1990. Deutsche Regierungsmitglieder reagieren empfindlich auf alle Versuche aus dem Ausland, den reibungslosen Anschluß der DDR zu stören. Die Opposition im Inland ist längst ∗
Zur Erinnerung: Aus der Rede Himmlers an die SS-Gruppenführer in Posen, 4. Oktober 1943: »Ein Grundsatz muß für den SS-Mann absolut gelten: Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. (…) Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen. (…) Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar. Wir Deutschen, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen, damit unsere Söhne und Enkel es noch schwerer haben mit ihnen…«
gemaßregelt und aus dem Konsens der deutschen »Demokraten« ausgeschlossen worden. Zum Beispiel Günter Grass. Was ist er gescholten worden für seinen Satz »Wer Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken.« Der »selbsternannte Schwarzseher der Nation« wurde er genannt, der »notorische Feind der deutschen Einheit«, er hätte »Auschwitz instrumentalisiert«, um das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen einzuschränken. Jetzt werden offene Drohgebärden gezeigt. Michael Stürmer schreitet im Juli 1990 in der FAZ voran: »In jeder Dämonisierung liegt die Gefahr der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, in jeder Diskriminierung Deutschlands die Gefahr des Sonderwegs.« Wehe dem, der es wagt, Deutschland zu diskriminieren. Herbert Kremp, Chefkorrespondent der Welt, läßt gar im September seinen Großmachtphantasien freien Lauf: »Das künftige Deutschland steht als Großmacht vor den Trümmern Osteuropas, und die Halde reicht bis in die Tiefen Rußlands.« Bis dorthin reichten schon einmal deutsche Truppen – das waren noch Zeiten! Ernst Nolte ist, wie immer, wenn es um die Entsorgung der Geschichte geht, schnell zur Stelle. Die DDR sei lediglich »viel zu klein und zu abhängig gewesen«, um Angriffskriege zu führen und andere Völker auszurotten. Sie habe aber immerhin »zu jeder Zeit jene vergessenen Angriffskriege bejaht, durch welche die Sowjetunion zustande kam«. Da wird munter Auschwitz mit Bautzen verglichen, die Gestapo mit der Stasi und die sechs Millionen ermordeten Juden mit den – welch ein Zufall – »sechs Millionen Stasi-Opfern«.
1991. Im Januar tischt Nolte in der FAZ seine These vom Historikerstreit von 1986 noch einmal auf: »Daher sollte das
Jahr 1933 nicht mehr als ein autonomes Epochenjahr gelten, vielmehr muß es als feindselige Imitation des wichtigeren russischen Jahres 1917 verstanden werden.« So weit, so bekannt. Doch dann: »Dennoch darf und muß weiterhin von einer Singularität der späteren nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen schon deshalb die Rede sein, weil die Ausrottung relativ kleiner und für fremd erklärter Gruppen einen abstoßenderen Charakter trägt als die quantitativ umfassendere sowjetische Klassenliquidierung.« Die ästhetischen Kriterien (»abstoßend«), die hier angelegt werden, bleiben rätselhaft. Denn wenn demzufolge Hitlers Schergen doch nur etwas ästhetischer, nicht so abstoßend gemordet hätten… ja was dann? Und: Bei den ermordeten Juden habe es sich doch nur um eine »relativ kleine Gruppe« gehandelt. Kleine Gruppe? Sechs Millionen! Irgendwoher höre ich wispern: »Es waren gar nicht sechs Millionen.« Ja, bravo. Reihen wir uns jetzt auch noch bei den Reduzierern ein, die auf weniger als sechs Millionen Juden beharren?! Etwa fünf Millionen, wie Adolf Eichmann schätzte, der Organisator der Transporte für die »Endlösung«? Oder darf es noch etwas weniger sein? Doch davon später…
Im Februar 1992 kommt Nolte in der FAZ zu dem Schluß: »Aber die DDR war auch der Staat, den Hitler fürchtete, wenn er in seinen frühen Reden immer wieder vom ›Blutsumpf des Bolschewismus‹ sprach, in dem Millionen von Menschen zugrunde gegangen seien; und sie war der Staat, den 1933 alle die zahllosen ›bürgerlichen‹ Organisationen meinten, wenn sie sich selbst und anderen versicherten, der ›Volkskanzler Hitler‹ habe Deutschland im letzten Augenblick vor dem ›Abgrund des Bolschewismus‹ gerettet.« Nolte endet: »Diejenigen,
welche die DDR vor ihrer faktischen Entstehung fürchteten und haßten, waren nicht von vornherein im Unrecht.« Das muß man einmal scharf analysieren: Sagt da nicht ein in seriösen deutschen Zeitungen publizierender Historiker, auf den sich auch Bundeskanzler Kohl hin und wieder beruft, daß Hitler und seine Kumpane »nicht von vornherein im Unrecht« gewesen wären? Sagt er nicht, daß Hitler lediglich einen notwendigen Präventivkampf gegen den Bolschewismus geführt habe? Benutzt er nicht die DDR, um das Vorgehen Hitlers zu rechtfertigen? Unglaublich. Wo bleibt der Aufschrei der Geschichtswissenschaftler, wo bleibt die Entschuldigung der Bundesregierung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus? Es passiert nichts dergleichen – im Gegenteil. Man sattelt noch drauf. Arnulf Baring, auch er ein Historiker, der bevorzugt in der FAZ zu Wort kommt, gibt kund, daß »wir Deutschen« aufgrund unserer Vergangenheitsbewältigung »unsere ganze Geschichte vor 1945 in den Abfallkorb geworfen« hätten, »aus dem wir sie jetzt mühsam wieder herausklauben müssen«. In diesem Papierkorb läßt Baring beim Wühlen keine Schicht aus, und er klaubt jede Menge heraus. Das Ergebnis nimmt er gleich vorweg: »Wir erleben jetzt die Wiederkehr Deutschlands.« Vor allem des Deutschlands, von dem Baring offenbar träumt. Sofort stellt sich für ihn die Frage, ob »der Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen wirklich für alle Zukunft gelten sollte«. Postwendend erhält Baring Unterstützung von SpiegelHerausgeber Augstein. Der kann sich Situationen vorstellen, in denen die Deutschen sich »unter Bruch bestehender Verträge in den Besitz von Atomwaffen bringen« müßten. Zeitgleich kommt eine Gruppe junger Historiker um den Berliner Rainer Zitelmann mit der Erkenntnis auf den Markt,
Hitler habe sich nicht nur selbst als Revolutionär verstanden, sondern sei auch wirklich einer gewesen. Hitler ein sozialer und ökonomischer »Modernisierer« also. Er habe für »mehr Chancengleichheit innerhalb der Volksgemeinschaft« gekämpft, »egalitäre Tendenzen der Sozialpolitik« angestrebt und »sozialstaatliche« Ansätze verfolgt. Hitler habe »bereits ein Konzept gegen die Arbeitslosigkeit gehabt, als Keynes mit der Erklärung der Ursachen noch nicht fertig war«, und sich »in verblüffend moderner Weise mit ökologischen Fragestellungen beschäftigt«. Adolf als Vorreiter der Grünen. Schlimmer geht’s nimmer. Oder doch? Hat nicht der österreichische Chef der rechtsextremen »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ), Jörg Haider, Hoffnungsträger vieler bundesdeutscher rechtsextremer Parteien und Stargast bei einer FDP-Tournee durch Deutschland im Herbst 1992, die »ordentliche Beschäftigungspolitik« der Nazis gelobt?! Hat nicht der Herausgeber der liberalen Wirtschaftswoche, Wolfram Engels, schon im Juli 1991 die scheinbaren Vorzüge nationalsozialistischer Ökonomie entdeckt?! Er fordert den Bruch des »Tabus der Nazizeit«, denn »die Wirtschaftsgeschichte der Nazizeit ist von ganz besonderem Interesse (…) Die Wachstumsrate des realen Sozialprodukts lag bei knapp 10 Prozent (…) Diese Zahlen sind (…) aufregend (…) Können wir auf Erfolgsrezepte nur deshalb verzichten, weil Adolf Hitler sie angewandt hat?« Die Antwort liefert er gleich mit: »Wir verzichten schließlich auch nicht auf die Teilnahme an Olympischen Spielen, auf deutsche Schäferhunde und auf Chorgesang.« Hatte nicht schon 1985 der Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat, erklärt, daß die Verbrechen in der NS-Zeit nicht bedeuten können, daß »den zahlreichen Modernisierungsbestrebungen ihre geschichtliche Bedeutung
allein durch die Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus genommen« werden könne?! Hitler also ein »Modernisierer« der deutschen Gesellschaft. Modernisierung völlig wertfrei gebraucht, gereinigt von ihren brutalen, menschenverachtenden Bedingungszusammenhängen. Sind wir damit nicht schon auf Stammtischniveau angelangt, wonach Hitler auch seine guten Seiten gehabt habe? Er habe ja Autobahnen gebaut, die Arbeitslosigkeit bekämpft und so fort. Kann man solche »Modernisierungseffekte« überhaupt losgelöst betrachten von dem Vernichtungsfeldzug der Nazis? Haben sie nicht den Nazis zur Stabilisierung ihrer Herrschaft nach innen gedient? Haben sie nicht dazu gedient, die »Volksgemeinschaft« zusammenzuschweißen? Kann man eine verstärkte Einbeziehung der Frau ins gesellschaftliche Leben durch Organisationen wie Bund Deutscher Mädel, NS-Frauenschaft oder Lebensborn wirklich als »emanzipatorische Fortschritte« feiern? Ich könnte das nicht. Warum? Ich bin kein Historiker, der sich um die deutsche Identität verdient machen will. Sätze wie »Das Dritte Reich war ein außerordentlich moderner Staat, in vielerlei Hinsicht der modernste Staat Europas« (aus dem Buch »Deutschland, was nun?«, herausgegeben von Arnulf Baring) kommen mir selbst als Zitat nur schwer ins Manuskript. Dem Duisburger Literaturwissenschaftler Wilhelm Hortmann kommen in der FAZ noch ganz andere Sachen in den Sinn: »Wenn wir die 16 Millionen Deutschen der DDR zu Beginn ihres Eintritts in Gesamtdeutschland nicht wegen ihres Mitläufertums kritisieren wollen, sind wir gezwungen, das Mitläufertum ihrer Eltern und Großeltern unter Hitler nachträglich zu entkriminalisieren und uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß die Deutschen 1933 nicht BergenBelsen gewählt haben.«
Als ob nicht alles, was Hitler wollte und unter dem Hitler angetreten war, nicht schon in seinem 1924 geschriebenen Werk »Mein Kampf« nachzulesen gewesen wäre.
Als am 15. Januar 1991 das UNO-Ultimatum für den Rückzug des Irak aus Kuwait abläuft und eine militärische Intervention am Golf nicht mehr verhindert werden kann, da werden die Karten neu gemischt. Was tun mit der neugewonnenen deutschen Souveränität und dem größeren Gewicht der neuen Weltmacht Deutschland? Das beschäftigt jetzt die WendeHistoriker. Joachim C. Fest kritisiert die »moralisierende Sonderrolle, an der die Deutschen dieser Tage soviel Gefallen« fänden, und vermißt das politische und militärische Handeln der neuen Weltmacht. Unter dem Titel »Selbstsüchtig – Die Sonderrolle der Deutschen« betont FAZ-Autor Eckhard Fuhr, daß die Deutschen sich »nicht länger auf ihre historischen Traumata herausreden und auf ihrer historischen Schuld ausruhen« dürften. Kurz darauf publiziert der Spiegel unter dem Titel »Hitlers Wiedergänger« einen Essay des Literaten Hans Magnus Enzensberger, in dem dieser die NS-Zeit auf den »Menschenfeind Hitler« reduziert. Der habe jetzt in »Saddam Hussein einen veritablen Nachfolger gefunden«. Die Relativierung und Exkulpation, die Geschichtsklitterung nimmt ihren Lauf: Man habe es bei Hitler und Saddam »nicht mit einer deutschen, nicht mit einer arabischen, sondern mit einer anthropologischen Tatsache zu tun«. Hatten wir das nicht schon einmal? »Jedes Volk hat seine Hitlerzeit«, oder so ähnlich, bei Nolte und Hillgruber. Auschwitz als Symbol für die Vernichtungsmaschinerie wird systematisch relativiert und damit faktisch zum Betriebsunfall verniedlicht: Einige Historiker und gewisse Medien haben es
sehr eilig, die deutsche Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen. Hier die Bild-Zeitung, wie selbstverständlich, hier die Welt und die FAZ, aber immer wieder stoße ich auf den Spiegel. Ein Nachrichtenmagazin, das doch Woche für Woche mehr oder weniger große Skandale aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft aufdeckt. Ein Magazin, das als unbestechlich und absolut seriös gilt. Eine Publikation, die letztlich die Themen für die Sonntagsnachrichten und die Montagsausgaben der Zeitungen bestimmt. Im Spiegel nun die Irving-Serie, im Spiegel das »Bitte kein Bit!« von Augstein, im Spiegel die Hussein-Hitler-Gleichsetzung. Muß ich meine Meinung über dieses Nachrichtenmagazin, von dem sein Herausgeber Augstein behauptet, es habe »seit 45 Jahren aufklärerisch zu wirken sich bemüht«, revidieren? Ich beschließe, mir die Ausgaben der beiden letzten Jahre daraufhin mal durchzusehen. Schon bei der Nummer 2/1990 stockt mir zum erstenmal der Atem: »Stunde Null« nennt Augstein seinen Essay. Er, der einst die Herren Nolte, Hillgruber, Stürmer und Hildebrand scharf in die Mangel genommen hat, scheint jetzt konvertiert zu sein. Rudolf Augstein: »Ob die Deutschen die Vergangenheit vergessen dürfen oder sollen oder müssen, kann nicht verordnet werden. Der Ansatz Noltes, um den sich der sogenannte ›Historiker-Streit‹ rankt, war ja philosophisch richtig, so überflüssig man dieses Gerangel auch finden mag.« Das fängt ja gut an. Von der folgenden Nummer blickt mir vom Titelbild der SED-Vorsitzende Gregor Gysi mit Schiebermütze entgegen, darunter der Titel: »Der Drahtzieher«. Rechtsanwalt Gysi wird öffentlich angefeindet, weil er den schnellen Anschluß der DDR ablehnt, weil er überhaupt noch etwas vom Sozialismus retten und nicht mit fliegenden Fahnen überlaufen will. Gysi ist ein »Linker«. Und er ist Jude. Dieser Gysi wird jetzt im
Spiegel porträtiert – und wie. Als ob den Redaktionen nicht bewußt wäre, welche Untertöne viele Qualifizierungen haben, mit denen der jüdische Rechtsanwalt Gysi hier bedacht wird, finden sich zwischen den Zeilen der ausgefeilten SpiegelSprache lupenreine antisemitische Klischees: Er sei ein »Trickser, dem die biedere Schiebermütze als Tarnkappe dient«, ein »Drahtzieher«, ein »mit klassischjuristischer Dialektik« beschlagener »Advokat«, der »vornehmlich intellektuelle Kälte ausstrahlt und auf die ostdeutschen Arbeitermassen eher abschreckend wirkt«, der aber im »besten Demagogen-Stil vor der vermeintlichen Gefahr von rechts« warnt und sich ansonsten »kühl kalkuliert« mit geschickten »Winkelzügen« ganz »frech der Pfründe« des SEDVermögens, »das eigentlich dem Volk gehört«, bedienen wollte. »Der forensisch begabte Anwalt ist der Vollstrecker. Er hat mehr Macht, als er sich selbst bei seiner Wahl hat träumen lassen, und er ist inzwischen auch gewillt, sie zu nutzen.« Was will der Spiegel eigentlich bewirken, wenn die Worte von einer »vermeintlichen Gefahr von rechts« formuliert werden? Was ist daran bitte vermeintlich? Und zur Person Gysis kann sich aufdrängen: Gregor Gysi sei ein Winkeladvokat, ein volksfremdes Subjekt. Bei solch einer Charakterisierung und solch einer Auswahl des Titelbildes ist es unnötig, Gysis jüdische Abstammung zu erwähnen. Der geneigte Leser merkt es auch so. Im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main findet man folgendes: Ein »typischer Jude« ist auf einem Propagandaplakat der Nazis abgebildet. Er dirigiert die »kleinen Leute« an Fäden. Überschrift: »Der Drahtzieher« – der Vergleich mit dem Spiegel-Coverbild drängt sich auf. Schon möglich, daß man beim Spiegel davon nichts gewußt hat. Doch betrachtet man sich das Titelbild genau, so fällt auf: Die Ausleuchtung des Fotos ist Zwielicht. Und jeder Fotograf weiß, was das bewirkt – das so
ausgeleuchtete Objekt, in diesem Fall Gregor Gysi, wirkt eben »zwielichtig«. Man könnte nun sagen, daß diese Spiegel-Story ein Fauxpas war, ein Ausrutscher. Das mag sein, doch gewollt oder ungewollt begab sich dieses weltweit geachtete Nachrichtenmagazin damit auf unheimliche Weise in die Gesellschaft der »respektablen« Antisemiten – denn Antisemitismus schien wieder salonfähig zu werden. Oder sollte ich besser von »unbefangenem Umgang« mit der antijüdischen Terminologie des Dritten Reiches sprechen? Hatte nicht erst sechs Wochen zuvor Helmut Kohls Regierungssprecherjohnny Klein (CSU) verärgert das »internationale Judentum« für eine Änderung im Besuchsprogramm der Polenreise des Bundeskanzlers verantwortlich gemacht?! Und hatte nicht eine Woche vor der Spiegel-Titelgeschichte der Chef der rechtsextremen Republikaner, der Waffen-SSMann Franz Schönhuber, auf seinem Parteitag im bayerischen Rosenheim Heinz Galinski, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, aufgefordert, er solle »endlich mit der Verleumdung deutscher Patrioten« aufhören: »Schalom, Herr Galinski, lassen Sie uns jetzt endlich zufrieden, stellen Sie Ihr Geschwätz ein. Wir wollen es nicht mehr hören, wir können es nicht mehr hören und lassen uns nicht weiter demütigen. Sie sind schuld, wenn es wieder den verachtenswerten Antisemitismus in diesem Land geben sollte.« Es ist offenbar: Der Spiegel folgt einem bestimmten Trend. Ich spreche jetzt gar nicht von Antisemitismus – es ist etwas ganz anderes, das mich beim Lesen des Magazins beunruhigt. Ich blättere weiter. Im Juli des gleichen Jahres finde ich einen Text von Herausgeber Rudolf Augstein mit dem Titel »Deutschland und die Deutschen«. Hitler und die Nazizeit
werden darin als »weltgeschichtlicher Unglücksfall« dargestellt. Das Unglück habe darin bestanden, daß ein »haßerfüllter und zu kurz gekommener Wiener Postkartenmaler« – Gott sei Dank kein Deutscher – »nach 1918 die Juden für den verlorenen Weltkrieg verantwortlich machte und die ganz anders gesinnten preußisch-deutschen Generäle vor seinen Karren spannte (…) Preußen-Deutschland war nicht antisemitischer als etwa Frankreich oder Polen (…) Der eigentlich Schuldige aber war (…) Adolf Hitler.« Wieder mal. Da ist es dann lediglich konsequent, wenn nur einer schuld war, daß die Ermordung von Millionen von Juden dann zur »befohlenen Juden-Ausrottung« wird. Ganz rechts außen ist solcher Geschichtsrevisionismus höchst hilfreich. Wie schon der Neonazi Gottfried Küssel erkannt und zur Strategie erhoben hat: »Alle machen mit – keiner ist verantwortlich!« Anfang 1991 dann Enzensbergers Essay »Hitlers Wiedergänger« mit der Hussein-Hitler-Gleichsetzung. Und dann avanciert Joseph Goebbels ab Sommer 1992 postum zum Spiegel-Serienautor und darf seine von ihm selbst zu Propagandazwecken verfaßten und noch dazu von ihrer Authentizität und Interpretation her umstrittenen Tagebuchaufzeichnungen unters Millionenpublikum streuen. Daß dabei der Schweizer Bankier François Genoud, der sich selbst als »kritischer Nationalsozialist« bekennt und alle Rechte an den persönlichen Aufzeichnungen des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda beansprucht, hochdotierte Tantiemen aus dem Hamburger Verlagshaus einstreicht, stört das Hamburger Nachrichtenmagazin nicht. Dabei ist ausreichend bekannt, daß Genoud in der neofaschistischen Szene eine Schlüsselrolle innehat. Er war schon bei der Gründungsveranstaltung der schattenhaften Naziorganisation »Europäische Neuordnung«
(ENO) in der Schweiz dabei. Und für Otto-Ernst Remer ist Genoud »mein bester Freund«.
Im Herbst 1991 brennen in Deutschland zwischen Hoyerswerda und Saarlouis die Flüchtlingsheime. Da hat der Spiegel am 9. September ein Titelbild parat, das die Stimmung auf gespenstische Weise spiegelt. Und es ist durchaus geeignet, die rassistische Stimmung nicht zu stoppen, sondern am Kochen zu halten: »Ansturm der Armen – Flüchtlinge – Aussiedler – Asylanten«, heißt es da. Abgebildet ist ein überquellendes Boot. Die Stammtischparole »Das Boot ist voll«, sonst vorwiegend von REP und DVU angeführt, läßt grüßen. Dann geht es um Roma und Sinti. In der Reportage »Skinheads, Straßenräuber, Einbrecher – kapituliert die Polizei?« berichtet das Magazin über den Hamburger Stadtteil »Karolinen-Viertel«, wo »gewalttätige Roma-Kinder die meist älteren Einheimischen terrorisieren. Aus Angst entwickeln die Deutschen ›ungeheure Haßgefühle‹, so daß auch ›nette, pazifistische Leute so etwas wie eine Bürgerwehr‹ wollen.«Da ist von Kindern »mit schwarzbraunen Haaren und dunklen Augen« die Rede, die in »delinquenten Trauben« auftreten. Von »riesigen Sippen mit Scharen von Kindern« und von »Irrwischen, die umherjagen«. Von ähnlichem Niveau beseelt ist auch die Quick vom 14. November 1991. Ein Manfred Hart zieht alle Register: »Es sind fremde, dunkle Gesichter. 76 Menschen, die unsere Sprache nicht verstehen. Menschen, die in Deutschland den Wohlstand suchen.« Hart bastelt sich einen unheimlichen, bösen Scheinasylanten. Logisch, daß eine Schlagzeile nicht fehlen darf, die nicht mehr zu überbieten ist: »Wäre ich nicht Polizist, wäre ich auch Skinhead.«
Nur ein Jahr sollte nach der Zigeunerstory des Spiegel vergehen, bis rechtsextreme Jugendliche mehrere Tage lang ihren Haß auf Roma und Sinti in Rostock an wehrlosen Flüchtlingen abreagieren und ein Haus in Brand stecken sollten, in dem sich 150 Vietnamesen aufhalten. Am 6. April 1992 liegt der Spiegel erneut ganz aktuell auf der Linie des vermeintlichen deutschen Volksempfindens. Exakt einen Tag nach den triumphalen Wahlerfolgen der rechtsextremen Republikaner bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg mit 10,9 Prozent und der Deutschen Volksunion in Schleswig-Holstein mit 6,6 Prozent hat man auch ein merkwürdiges Titelbild gewählt. Die beiden Landtagswahlen standen ganz unter dem Thema der Bekämpfung der vermeintlichen »Scheinasylantenflut«. Jetzt prangt auf dem Spiegel-Cover in großen Lettern »Asyl«, darunter die von REP und DVU benutzte Parole: »Die Politiker versagen«. Bildlich kommt eine unübersehbare Menge von »Fremden«, die sich gerade durch ein offenstehendes Tor drängen, einer Flut gleich direkt auf den Betrachter zu. Die Wahlplakate von REP oder DVU waren nicht so gut gestaltet. Nur zu gerne wird von einigen Sozialwissenschaftlern und vielen Verharmlosern in den Medien die angebliche »Orientierungslosigkeit« als Wurzel allen Übels herangezogen. Und gleichzeitig werden mit haarsträubenden Umschreibungen die mörderischen Terroraktionen von erwachsenen Männern zur Jugendsünde reduziert. Der Spiegel Nr. 50/1992 berichtet: »Auch der bislang brutalste Anschlag geht wohl auf das Konto von jungen Leuten. Der 19jährige Lars Christiansen und der 25jährige Michael Peters haben in der vergangenen Woche den Brandanschlag von Mölln gestanden, bei dem drei Türkinnen starben. Kein Zweifel: Die neue Gewalt von rechts ist vor allem von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden.«
Mit 25 Jahren! Für die Übergriffe auf Ausländer und Flüchtlinge hat das deutsche Nachrichtenmagazin selbstverständlich Erklärungen parat. Heft für Heft kommen ganz bestimmte bundesdeutsche Jugendforscher und Soziologen zu Wort, die nur eines im Sinn haben: nämlich die rassistischen Straftaten als Jugendprotest zu werten, ihnen einen rechtsextremen Hintergrund abzusprechen und die Täter als orientierungslose, perspektivlose, arbeits- und wohnungslose Opfer hinzustellen. »Es ist fatal, die derzeitigen Krawalle einfach in die Schublade mit der Aufschrift Rechtsextremismus zu packen«, gibt der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann in einem Spiegel-Interview zum besten. Die Jugendlichen, um die es bei den Übergriffen gehe, könnten sich »verbal nicht so toll artikulieren«, ihr »eigentlicher Antrieb ist eine tiefsitzende Verunsicherung«. Wie schön zu wissen, daß die Schläger eigentlich nur »verunsichert« sind. Die nächste Stufe würde wahrscheinlich einen »unüberwindlichen Spieltrieb« zur Entschuldigung der Täter heranziehen. Ich konnte selbst mehrfach erleben, wie sich die Neonazis über derlei Analysen vor Lachen auf die Schenkel geklatscht haben.
Im Sommer 1992 dann wieder scheinbar objektive, bei näherem Hinsehen jedoch intellektuell verbrämte Stimmungsmache gegen Roma und Sinti, der zu dieser Zeit am stärksten angefeindeten Flüchtlingsgruppe in Deutschland. Der Spiegel konstatiert einen »Antiziganismus«, Bürger klagten überall über Diebstähle, Belästigung, Radau, Bettelei und Chaos, wo Roma auftauchen. »Ausgerechnet dieses nonkonformistische Nomadenvolk, die wohl am schwersten integrierbare aller Zuwanderergruppen, stellt mittlerweile das
größte Kontingent« der Flüchtlinge in Deutschland dar, lamentiert das Nachrichtenmagazin. »Das teilweise noch archaisch anmutende Verhalten der Einwanderer kollidiert allerorten mit dem Normenkodex deutscher Normalbürger.« Die wenige Wochen später stattfindenden Pogrome in Rostock und anderen Orten Deutschlands – »Kollisionen« mit »Normalbürgern«? Um den Normalbürger geht es auch der Nationalzeitung, die vom DVU-Chef Gerhard Frey herausgegeben wird und die sich zum Anwalt der »von Scheinasylanten bis aufs Blut gereizten Einheimischen«, der »bis aufs Blut ausgesaugten Steuerzahler« und der angeblich »zahlreichen deutschen Opfer der Ausländerkriminalität« macht. »Gewalt gegen Ausländer – Rezept für Deutschland?« Hinter dem Fragezeichen versteckt lauert am 28. August 1992 der Lockruf zu neuen Pogromen; Rostock sei »die Warnung« der Bürger gewesen an die Adresse der »etablierten Parteien« in Bonn, um den »immer gigantischer anschwellenden Strom von zumeist kriminellen Ausländern, der sich über die Bundesrepublik Deutschland ergießt«, ein Ende zu bereiten. Denn das »deutsche Volk ist nicht bereit, die galoppierende Invasion vor allem von Zigeunern« länger zu dulden. Ende November 1992 – die ausländischen Zeitungen sind voll von Berichten über das »häßliche« Deutschland – wird es auch dem Exgeneralsekretär der CDU, Heiner Geißler, zuviel. Angesichts von 4000 rassistisch motivierten Straftaten seit Jahresanfang, bei denen bislang achtzehn Menschen ermordet und achthundert verletzt wurden, stellt der CDU-Politiker im Rückblick fest, daß »der eigentliche Grund für diese Verbrechen in der Enttabuisierung rechtsradikaler Themen« liege. Endlich wird das von einem Christdemokraten auch auf den Punkt gebracht. Es paßt zur Lage der Nation wie die Faust aufs Auge. Nicht nur die Frage der »gesunden nationalen
Identität« gehört dazu, sondern auch die Diskussion über Flüchtlinge und der Umgang mit der neuen Größe Deutschlands. »Beim Streit um die Fremden hat sich die Seele des Volkes verbogen«, fährt Geißler fort und spricht von der »enthemmenden« Wirkung der »unseligen Diskussion über Asylbewerber«. Diese »Asyl«-diskussion gehört seit Jahren zu den Hauptthemen nicht nur an den Stammtischen, sondern auch in der offiziellen Politik und den Medien. Die »Ausländerfrage«, das Thema schlechthin der Rechtsradikalen, wurde damit salonfähig gemacht, bewußt zugespitzt und die Hemmschwelle gesenkt, so daß die Selbstjustiz meist jugendlicher Neonazis auf den Beifall der Normalbürger stoßen konnte. Die Jugendlichen konnten relativ ungeschoren die Sehnsüchte des Kleinbürgers ins Reich der Realität holen. Ich erinnere mich genau an den Endspurt bei den Kommunalwahlen in Frankfurt 1989. Zu der Zeit wohnte ich in Darmstadt und war oft in Frankfurt. Zwei Wochen vor den Wahlen starteten die hessischen Christdemokraten (CDU) eine Offensive. An jeder Straßenecke prangten in Frankfurt Plakate mit Riesenschlagzeilen in den Farben Schwarz-Weiß-Rot (den Farben des Deutschen Reiches) gegen »Asylmißbrauch«, »Scheinasylanten« und »Ausländerwahlrecht«. Man versuchte damit, den Erfolg des damaligen Oberbürgermeisterkandidaten Walter Wallmann zu kopieren. Der hatte schon 1985 an die Frankfurter Bürger appelliert: »Sie haben die Ausländerprobleme in der Hand« und war Oberbürgermeister geworden. 1989 brach dann eine richtige Parolenflut über die hessische Metropole herein: »Scheinasylanten stoppen«, »Wir sind für ein weltoffenes Frankfurt, aber gegen den Mißbrauch des Asylrechts«, »SPD und Grüne wollen immer mehr Asylanten in die Stadt holen!« oder schlicht »Zuhause, Zukunft, CDU« und »Paß auf Hessen! Jetzt erst recht CDU«.
Die Terminologie war die der NPD bzw. der REPs. Das haben die Wähler verstanden. Viele wählten lieber gleich das Original und nicht die Kopie. Die NPD gewann in Frankfurt 6,6 Prozent und zog mit sieben Abgeordneten in den Römer ein. Zwei von ihnen mit nachweislichen Kontakten zu Michael Kühnen und der NSDAP-AO. Der eine plaudert mir in die Kamera: »Ich bin nationaler Sozialist.« In anderen Gemeinden und Kreisen erzielten die Rechtsextremen teilweise zweistellige Ergebnisse. Keine Wahl vergeht seitdem mehr ohne die Auseinandersetzung über das Grundrecht auf Asyl, kein Sommerloch mehr ohne die große Asyldebatte. Das sollte sich nach der Vereinigung noch verschärfen. Im Bundestagswahlkampf im Herbst 1990 können die christlichen Unionsparteien CDU/CSU einen ersten Erfolg verbuchen. Die Phalanx der Verteidiger des Asylgrundrechts innerhalb der sozialdemokratischen Partei fängt zu bröckeln an. SPDKanzlerkandidat Oskar Lafontaine, Ministerpräsident im Saarland, hält eine entsprechende Änderung im Sinne einer Einschränkung für »notwendig«. Die Flüchtlingszahlen steigen an. Kein Wunder, Osteuropa zerbricht, Nationalitätenkonflikte brechen aus, Jugoslawien zerfällt, der Bürgerkrieg beginnt. Jetzt werden auch innerhalb von SPD und Grünen die Forderungen nach einer Quotenregelung immer lauter. Der rechte (Mehrheits)-flügel der Union schießt sich auf die »Scheinasylanten« ein, die Armutsflüchtlinge, die sich »ja nur am Wohlstand der Deutschen bereichern« wollen; manche Parole erreicht damit das Niveau der Nationalzeitung. Die Angriffe auf Flüchtlinge und auf das Grundrecht auf Asyl werden derweil immer massiver, flankiert von einer unglaublichen Medienkampagne, insbesondere der BildZeitung. Nur in Bremen stehen Wahlen an, und dort versucht sich SPD-Bürgermeister Klaus Wedemeier als Scharfmacher
zu profilieren: Er verweigert eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen. Die Ernte fährt die rechtsextreme DVU ein. Sie kommt am 20. September auf 6,1 Prozent, in Bremerhaven gar auf 10 Prozent. Die Debatte erreicht eine neue Qualität. Die bayerische CSU versucht die Rechtswegegarantie für Flüchtlinge einzuschränken und hat inzwischen nahezu das gesamte REPParteiprogramm als Forderungskatalog übernommen. Im Sommer hatte Bayerns Innenminister Stoiber bereits gefordert, das Asylgrundrecht zum »Gnadenrecht« zu machen. Kurz darauf hatte der damalige CDU-Generalsekretär und heutige Verteidigungsminister Volker Rühe ein ausführliches Schreiben an die Mandatsträger seiner Partei in den Stadträten, Landtagen und im Bundestag versandt. Er fordert darin die Zuspitzung der Asyldebatte, um eine Grundrechtsänderung mehrheitsfähig zu machen. In einem »Muster für einen Antrag der CDU-Rathausfraktion« empfiehlt Rühe den CDUKommunalpolitikern, den Stadtrat feststellen zu lassen, »daß eine weitere Aufnahme von Asylbewerbern unterbunden werden« müsse. Beigefügt sind Musterfragen an die Stadtverwaltungen zur »örtlichen Lage der Asylbewerber« und eine »Muster-Presseerklärung« für eine Grundrechtsänderung. Solche Serviceleistungen für die CDU-Kommunalpolitiker werden flankiert von mehreren Serien der Bild-Zeitung, beispielsweise »Asylanten im Revier – Wer soll das bezahlen?« Oder am 7. August 1991 mit der dicken Überschrift auf der Titelseite: »Die Asylanten – Report über ein deutsches Problem«. Das Millionenpublikum kann darin folgendes lesen: »Stellen Sie sich diesen Fall vor: Ein Mann klingelt bei Ihnen, möchte hereinkommen. Der Mann sagt, daß er mächtige Feinde habe, die ihm ans Leben wollen. Sie gewähren ihm Unterschlupf. Doch schnell stellen Sie fest: Der Mann wurde gar nicht verfolgt, er wollte nur in Ihrem Haus
leben. Und: Er benimmt sich sehr, sehr schlecht. Schlägt Ihre Kinder. Stiehlt Ihr Geld. Putzt sich seine Schuhe an Ihren Gardinen. Sie würden ihn gerne los. Sie werden ihn aber nicht los. Deutsche Asyl-Wirklichkeit 1991. Das Haus ist die Stadt Frankfurt, der Mann ein Jugoslawe, der in der Unterwelt nur ›Cento‹ genannt wird.« Ohne Worte!
Im Herbst 1991 wird das sächsische Hoyerswerda »ausländerfrei« gemacht. Statt die Neonazis mit aller staatlichen Gewalt zu bekämpfen, wie das eigentlich angebracht gewesen wäre, werden die Flüchtlinge nach tagelangen Angriffen von der vorher wegen vorgeblichen Personalmangels »notgedrungen« untätigen Polizei evakuiert. Die üblichen Polizeihundertschaften, die sofort zur Stelle sind, wenn die Antifa und die militanten Antifaschisten anrücken, sind merkwürdigerweise nicht greifbar, als sich der rechtsradikale Mob austobt. Dann mobilisiert die Antifa. Schwupp! Die Hundertschaften stehen parat, um die Linken einzukesseln. Wie eine erfolgreiche Generalprobe ist Hoyerswerda das Signal für eine Welle von Übergriffen und Anschlägen. Derweil beschwört Bundeskanzler Kohl das Ausland, daß Deutschland ein »ausländerfreundliches Land« sei und auch bleibe. Die Asyldebatte wird aber nicht heruntergefahren, sondern noch verschärft. Die Politiker sehen sich in ihrem Glauben bestätigt, die Ängste und Nöte der Bevölkerung wirklich ernst zu nehmen. Schon argumentieren sie damit, nur eine Grundrechtsänderung und eine Abschottung Deutschlands sei das geeignete Allheilmittel gegen rechtsextreme Übergriffe. Währenddessen nehmen die Ausschreitungen an Intensität und vor allem an
Brutalität zu. Insbesondere Ausländer, Flüchtlinge, Juden, Obdachlose und Behinderte sind davon betroffen. Oktober 1991. Die Rechtsextremen können sich getrost als Sieger fühlen. Denn CDU, CSU, FDP und SPD handeln eine Beschleunigung des Asylverfahrens aus, ohne jedoch das dazu notwendige Personal in den zuständigen Behörden aufzustocken. Die Verfahren werden also nicht schneller, Hunderttausende von unerledigten Fällen häufen sich an. Das Chaos ist zwar ein selbst angerichtetes, dient aber trefflich als Munition für das Begehren nach Änderung des Grundgesetzes. Die Debatte verschärft sich weiter. In Bild jagen sich die Schlagzeilen. »Wohnraum beschlagnahmt: Familie muß Asylanten aufnehmen«, »Deutschlands unglaublichste Stellenanzeige: Asylantenheim sucht deutsche Putzfrau«, »Asylanten jetzt auf Schulhöfe«, »Notstand! AsylantenZeltdorf im Hessen-Park«. Die Haudraufmeldungen wirken: Ausschreitungen sind an der Tagesordnung. In Rostock kommt es Ende August 1992 tagelang unter dem Beifall der Bevölkerung zu Übergriffen rechtsextremer Jugendlicher auf ein Ausländerwohnheim und die »Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge in MecklenburgVorpommern« sowie zu Straßenschlachten mit der unentschlossenen, zaudernden Polizei. 150 Vietnamesen entkommen nur mit viel Glück dem Feuer. Einen Tag vor dem Brand bekundet die SPD ihre Bereitschaft zur Änderung des Grundrechts auf Asyl. Zwei Wochen danach spricht Exbundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau von einem Fehler, überhaupt »mit Fleiß und allen möglichen Instrumenten ausländische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik hineingesogen zu haben«. Er hält die Vorstellung, aus Deutschland könne eine multikulturelle Gesellschaft werden, für schlichtweg »abwegig«. »Man kann
aus Deutschland mit immerhin einer tausendjährigen Geschichte seit Otto I. nicht nachträglich einen Schmelztiegel machen (…) das ertragen diese Gesellschaften nicht. Dann entartet die Gesellschaft.« Tatsächlich, der Sozialdemokrat Helmut Schmidt, den ich immer hochgeschätzt habe, gebraucht den aus der NSTerminologie wohlbekannten Begriff »entarten«. Der Exkanzler ist besorgt: »Wir werden de facto überschwemmt.« Ganz Staatsmann, sieht er die »Stabilität der Demokratie« in Gefahr, wenn man »alle zwölf Monate eine halbe Million Ausländer nach Deutschland hereinlassen« sollte. Helmut Schmidt dramatisiert fahrlässig – das ist Munition für Stammtische und Brandstifter. Mitte September feiert Bundesinnenminister Seiters den Abschluß eines Vertrags mit Rumänien. Dieser sieht vor, daß die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber nach Rumänien erleichtert wird. Der Titel klingt vornehm: »Rückübernahme von deutschen und rumänischen Staatsangehörigen«. Faktisch sind jedoch keine Deutschen betroffen, sondern vor allem Sinti und Roma. Rumänien verpflichtet sich, abgelehnte Asylbewerber auch dann aufzunehmen, wenn diese keine gültigen Papiere besitzen. Die Romavereinigungen sprechen von »Massendeportationen« von über 40 000 Roma und Sinti und erinnern an die Verpflichtung der Bundesrepublik gerade für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma. Derartige Kritik findet im Inland wenig Echo. Nur das Ausland reagiert empört. Englische und französische Zeitungen sprechen von einem »Deportationsvertrag«, Innenminister Seiters dagegen von einem »wirkungsvollen Schritt zur Eindämmung der illegalen Einwanderung«. »Jetzt schieben wir ab«, kommentiert Seiters den Vertrag in der Bild-Zeitung vom 24. September 1992. Für ihn sind Roma und Sinti also offenbar »Scheinasylanten«. Ungeachtet ihrer Verfolgung und der
Pogrome in Rumänien und ungeachtet der Tatsache, daß in Deutschland nur 0,1 Prozent, in Frankreich aber 16 Prozent der aus Rumänien stammenden Asylbewerber anerkannt werden. Die CSU in Bayern fordert weiter die Abschaffung der Rechtswegegarantie. Ihr Ministerpräsident Streibl zieht eine Kneippkur vor, anstatt am 8. November in Berlin zusammen mit Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl für die Unantastbarkeit der Menschenwürde auf die Straße zu gehen. REP-Chef Schönhuber bekundet ihm dafür seinen Respekt. Nur wenige Tage zuvor hat Helmut Kohl vom drohenden Staatsnotstand gesprochen. Aber nicht etwa wegen den mittlerweile zur deutschen Normalität gehörenden Angriffen auf Flüchtlinge, Brandanschlägen und antisemitischen Tendenzen, sondern wegen des Zustroms von Flüchtlingen. Kohl spricht von einer »Gefahr einer tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber unserem demokratischen Staat«, weil »durch die Ausländerzuwanderung die Grenze der Belastbarkeit überschritten« sei. Bayerns Innenminister Stoiber ist zufrieden und sattelt drauf. Man müsse notfalls »unter bewußter Umgehung der Verfassung« Deutschland abschotten. Wird hier die Demokratie nicht als Zwang empfunden? Dafür gibt es ein treffendes Wort: »Zwangsdemokraten«. Auf dem CSUParteitag am 6. November treibt diese Art von politischer Kultur dann Blüten. Umweltminister Gauweiler hetzt gegen das »Explosionsgemisch« Multikultur, fordert ein »Mindestmaß an kultureller Identität«, wettert gegen »Einheitsmensch und Einheitsgesicht«. Ein Delegierter erhält für seinen Beitrag langen Beifall: »Das Grundgesetz wurde 1949 geschaffen. Ich komme aus der Automobilbranche. Glauben Sie, wir könnten heute noch ein Modell aus dem Jahr 1949 verkaufen?«
Vor dem Parteitag hatte schon der bayerische KultusStaatssekretär Otto Wiesheu einen Beweis seiner Stammtischqualitäten abgeliefert. Seiner Meinung nach sei politische Verfolgung allein kein Grund, Asyl zu gewähren. »Auch wir von der CSU werden politisch verfolgt von den Grünen und von der SPD und haben deshalb noch lange keinen Asylanspruch«, gibt er zum besten. Anfang Dezember schließlich die große Asyl-Einigung. Das Grundrecht bleibt zwar erhalten, hat aber de facto keine Bedeutung mehr. Denn nur wer nicht über ein sogenanntes »sicheres Drittland« in die Bundesrepublik kommt, hat hier Anspruch auf Asyl und Anspruch darauf, das weitere Verfahren von hier aus zu betreiben. Elegant erklärt man aber alle Nachbarn inklusive Polen und der Tschechischen und Slowakischen Republik für sicher, so daß Flüchtlinge nur noch per Flugzeug, Fallschirm, Gleitflieger oder Boot nach Deutschland kommen können. Das Grundrecht ist endgültig ausgehebelt. Jetzt will Bundesinnenminister Seiters prüfen lassen, ob man nicht die Bundeswehr zur Abschottung der deutschen Grenzen einsetzen könnte. Parallel zu dieser Entwicklung – wen wundert es – sprießen innerhalb der Union Zirkel und Arbeitsgemeinschaften aus dem Boden, die eine Zusammenarbeit mit den rechtsextremen REPs nicht mehr ausschließen wollen. CSU-Chef Theo Waigel hatte bereits erklärt, daß die Wahlen 1994 nur mehr »rechts von der Mitte« gewonnen werden könnten. Diese Zirkel fordern jetzt ein klares Nein zur multikulturellen Gesellschaft, polemisieren gegen das »verschwommene Konzept einer konturlosen europäischen Einheitssuppe« und wollen ein »Europa der Vaterländer«. Baden-Württembergs Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder gibt die Parole aus: »Wer die Lufthoheit über dem Stammtisch hat, der hat die Mehrheit im Land« und präsentiert gleich, auf welches Niveau
er zu tauchen gedenkt: »Wir müssen uns nicht pausenlos Asche aufs Haupt streuen, nur weil wir Deutsche sind.« Die rechtskonservativen Unionsmitglieder erstreben mit ihrem »Deutschland-Forum« jene geistig-moralische Erneuerung, die Kohl ihnen vor Jahren versprach und die ihrer Meinung nach noch nicht eingetreten ist. Obwohl Kohl in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991, ausgerechnet am Jahrestag der Machtergreifung Hitlers, zu entdecken glaubt: »Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen. Es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten.« Doch damit sind die Rechtsausleger des »DeutschlandForums« nicht zufrieden. Was wollen sie denn noch? Die Geschichte ist also »abgeschlossen«. Warum soll man dann nicht am 3. Oktober 1992, dem Tag der deutschen Einheit, in Peenemünde dem Start der ersten Hitler-Rakete V2 als »50. Geburtsstunde der Raumfahrt« gedenken dürfen? Das mag sich Wirtschaftsstaatssekretär Erich Riedl gedacht haben. Die Feier wird abgesagt, aber Riedl versteht den Grund nicht. Der CSU-Mann nennt die internationalen Proteste eine »absurde hysterische Reaktion«. Auch als am 1. Juni 1992 die englische Königinmutter das Denkmal für den britischen Luftwaffengeneral Sir Arthur Harris enthüllen will, hagelt es aus deutschen Landen zahlreiche geharnischte Proteste. Harris habe den »ersten vornuklearen Massenmord aus der Luft« organisiert, schreibt der Spiegel. Und die Welt nennt den Briten einen »Architekten der Vernichtung«. Harris, der seine Bomberoffensive als einzige Möglichkeit in dem fortgeschrittenen Kriegsstadium gesehen hat, Deutschland physisch und psychisch zu schwächen, so daß eine Invasion von Erfolg gekrönt sein könnte, wird systematisch als »Menschenschlächter« denunziert. Dabei führte er nur das aus,
was Hitler und seine Kumpane selbst gerne mit den englischen Städten angestellt hätten. »Wollt ihr den totalen Krieg?« (Goebbels) – »Ja!« (das »Volk«). Wer »totaler Krieg« sagte, sollte auch damit leben und sterben müssen. Diese Konsequenz mußten die Zehntausende von unschuldigen Zivilisten mit dem Tod bezahlen, als Dresden zerstört wurde. Am 9. Mai müht sich FAZ-Redakteur Günter Gillessen gar, die Nazi-Luftwaffe zu rehabilitieren. Als habe es Guernica oder Coventry nicht gegeben, schreibt er, die NS-Luftwaffe habe im Gegensatz zu Harris »im großen und ganzen an der herkömmlichen Unterscheidung zu militärischen Zielen« festgehalten und »suchte Nichtkombattanten zu schonen«. Nach einem Protestbrief der Oberbürgermeister mehrerer im Zweiten Weltkrieg bombardierter Städte greift sogar Außenminister Genscher in die Debatte um das Denkmal ein: »Das Vorhaben ist geeignet, alte Wunden aufzureißen.« Ganz im Zeichen der Revision der Geschichte stehen im Herbst 1992 die »Vertriebenen«-Kundgebungen zum Tag der Heimat. Das Motto ist eindeutig: »Für Recht und geschichtliche Wahrheit«. Der Landesverband Thüringen findet es trotzdem nötig, in seinem Mitteilungsblatt Ruf der Heimat vom 11. August 1992 den Slogan zu verbreiten: »Die Hauptaufgabe wird es sein, daß zunächst die Deutschen selber aus der Rolle des reumütigen Sünders herausfinden und ein gesundes Selbstvertrauen wiedererlangen. Nationale und Gruppenidentität wird auch in einem vereinten Europa ohne Grenzen das stützende Gerüst einer rechtmäßigen Ordnung sein. In dieser gerechten Ordnung wollen die Vertriebenen endlich das Recht auf freie Selbstbestimmung und das Recht auf die Heimat verwirklicht wissen.« Also, auf gen Osten, oder?
»Wenn in Deutschland ein jüdischer Friedhof geschändet wird, dann ist das der New York Times immer ‘ne Schlagzeile wert!« schwätzt mir im Sommer 1992 ein Kölner Fernsehredakteur in die Telefonmuschel, dem unser dort gezeigter Film »Wahrheit macht frei« sauer aufgestoßen war. Diese dauernden Grabschändungen sind aber auch lästig. Während die Schändungen jüdischer Friedhöfe zunehmen, trifft sich Kanzler Kohl Ende März 1992 mit dem wegen seiner Kriegsvergangenheit in aller Welt umstrittenen österreichischen Staatspräsidenten Kurt Waldheim. Kohl weist die Kritik des Jüdischen Weltkongresses barsch zurück: »Mit wem ich mich hier in München gemeinsam mit meinem Freund Max Streibl treffe, bestimme ich als Bundeskanzler. Da brauche ich keinen Ratschlag.« In der Nacht vom 22. auf den 23. November 1992 fallen im schleswig-holsteinischen Mölln eine türkische Frau und zwei türkische Mädchen einem von organisierten Rechtsextremisten verübten Brandanschlag zum Opfer. Die Familie lebt schon seit langem in Deutschland, die Mädchen sind hier geboren. Das verändert, nach einem Jahr voller brutalster rassistischer Übergriffe, die öffentliche Behandlung des Rechtsextremismus. Noch unmittelbar vor den Morden von Mölln hielt der Journalist Klaus Hartung im Feuilleton der Wochenzeitung Zeit ein Plädoyer »Wider den linken Alarmismus« für nötig. Der drohende Rechtsruck gehörte in der alten Bundesrepublik »zum Selbstverständnis linker Kultur«, stellt er dahin. Seit den Pogromen von Hoyerswerda habe sich »die linke Defensivkultur wieder restrukturiert. Es wird wieder gewarnt, Kassandras umschreiten den Horizont kommender Verhängnisse.« Hartung denunziert solche Mahnungen als »alarmistisches Geschwätz«. Er spricht dem Historikerstreit jegliche Wirkung ab und kritisiert die »Riten linker
Defensivkultur«. Das Bild vom »allseits drohenden Rechtsruck« sei »bequem«. Der Feuilletonist zollt den rechten Ideologen Anerkennung, die »das gesellschaftliche Vakuum als Chance und die zusammengebrochene Ordnung als Terrain erkannt« hätten. Und dann werden die Exzesse des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien mit den Nazis verglichen: »Wer hätte vor 1989 sich vorstellen können, daß mitten in Europa ein Land einen Eroberungskrieg vorbereitet und auf der Basis einer nationalsozialistischen Ideologie entfesselt, KZ einrichtet und deportiert, Massenerschießungen organisiert…« Es reicht! Solche Vergleiche sind fahrlässig und werden zunehmend unerträglich, denn die Bedingungszusammenhänge sind völlig anders. Im Herbst 1992 wird durch verschiedene Umfrageergebnisse offenbar, wie falsch Hartung auch mit seinen Prognosen zur Lage in Deutschland liegt. Die Stimmung in der Bundesrepublik hat sich verändert. Ergebnisse werden bekannt, die erschrecken lassen. Nach einer von der Firma IBM in Auftrag gegebenen repräsentativen »Jugendstudie 1992« sind etwa 30000 Deutsche im Alter von 16 bis 24 Jahren zur Gewaltanwendung gegen Ausländer und Flüchtlinge bereit. Fast ein Drittel der Heranwachsenden kann nach dieser Studie als »konsequent ausländerfeindlich oder zumindest anfällig für fremdenfeindliche Gedanken« eingestuft werden. 13 Prozent seien »am ehesten mit einer faschistischen Nachfolgegruppe« gleichzusetzen. 35 Prozent der Schüler vertreten die Forderung nach einem »Großdeutschland einschließlich der Ostgebiete«, und jeder dritte Lehrling ist davon überzeugt, daß »die Deutschen schon immer die Größten waren«. Der von Elisabeth NoelleNeumann beklagte »Mangel«, daß »die Deutschen im Weltmaßstab den geringsten Stolz auf ihre Nationalität
äußerten«, ist also endlich behoben. »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!« heißt es jetzt. Weil es zwei stolze Deutsche stört, daß ein 53jähriger Mann Adolf Hitler als großen Verbrecher bezeichnet, erschlagen sie ihn. Der Mann war ein deutscher Kapitän, die Tat geschieht am 23. März 1992 in Buxtehude. Die Skins sind 19 und 25 Jahre alt. Die Jugendforscher konstatieren auch, daß die Zunahme rechtsextremer Orientierungen mit einer starken Tendenz zur Verharmlosung der NS-Zeit zusammenfällt. 17 Prozent der befragten 4300 Jugendlichen aus Sachsen und Sachsen-Anhalt hielten die Schilderungen über den Holocaust für »weit übertrieben«. Ein Viertel der Schüler und 40 Prozent der Lehrlinge schlossen sich der Auffassung an, das Dritte Reich habe auch »seine guten Seiten« gehabt. 11 Prozent der Schüler und rund ein Viertel der Lehrlinge stimmen der Behauptung zu: »Die Juden sind Deutschlands Unglück.« Die Universität Köln kommt nach einer Untersuchung des Soziologen Alphons Silbermann zu dem Ergebnis, daß die jüdischen Mitbürger in Deutschland wieder in Angst leben. Ein Viertel der 18- bis 24jährigen Juden fühlt sich in Westdeutschland »persönlich bedroht«. Gleichzeitig kommt das INFAS-Institut in einer Repräsentativumfrage zu dem Ergebnis, daß etwa jeder dritte Bundesbürger der Ansicht ist, Juden seien an ihrer Verfolgung in der Geschichte mitschuldig. In dieser Zeit beklagt die Leiterin der KZ-Gedenkstätte in Dachau, Barbara Distel, einen deutlichen Rückgang der Besucherzahlen. 1991 hatten rund 30 Prozent weniger Menschen Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Der Anteil der deutschen Besucher sank um 14 Prozent. Barbara Distel führt den Rückgang auf die »Umbruchsituation« zurück. In Deutschland werde der Begriff »Vergangenheitsbewältigung« zunehmend auf die Diskussion
um die Nachkriegsgeschichte des östlichen Landesteils und seines Staatssicherheitsdienstes (Stasi) bezogen. Die Verdrängungshistoriker haben in der Tat ganze Arbeit geleistet – leider. Kurz nach Rostock kommt INFAS zu einem Ergebnis, das zeigt, wie groß der »Background« der rechtsextremen Gewalttäter bereits ist. 37 Prozent der Deutschen sind der Meinung, daß »die Deutschen sich im eigenen Land gegen die Ausländer wehren müssen«. 51 Prozent stimmen der Aussage »Deutschland den Deutschen« und 26 Prozent der Parole »Ausländer raus« zu. Nach dem verheerenden Brandanschlag in Mölln und ersten staatlichen Maßnahmen gegen das Nazitreiben gingen die Zahlen etwas nach unten, doch das beruhigt mich nicht. Der Punkt ist, daß eine Anfälligkeit für rechtsextreme Orientierungen bei einer Bevölkerungsmehrheit besteht. Statistiken hin oder her. Selbst Hamburgs Verfassungsschutzpräsident Ernst Uhrlau hat ausgemacht, daß die Themen der neunziger Jahre Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus sein werden: »Mehr als 20 Prozent der Jugendlichen sympathisieren mit den rechtsextremen Parteien. Wenn die sich erst einmal etabliert haben, werden sie die Gesellschaft mit umgekehrten Vorzeichen mehr verändern, als es die Linken nach 1968 getan haben.« Uhrlau hinkt seiner Zeit nach. Die Themen sind längst etabliert, nicht nur bei den rechtsextremen Parteien, sondern in der Mitte der Gesellschaft.
Die Zwangsdemokraten
Seit dem Pogrom in Hoyerswerda im September 1991 achte ich bei meiner Zeitungslektüre vor allem auf die Spalten mit den Kurzmeldungen oder die letzten Absätze der Meldungen zur aktuellen Asyldebatte. Dort finde ich dann in der Regel die Nachrichten über die ausländerfeindlichen Anschläge und Übergriffe. Ich habe den Eindruck, daß es täglich mehr Gewalttaten, die Meldungen darüber aber immer kürzer werden. Hier nur zwei willkürlich ausgewählte Beispiele aus dem November 1992: »In Friedland in Neubrandenburg griffen sechs Jugendliche ein Asylbewerberheim mit Steinen an. Es entstand Sachschaden, die Täter konnten unerkannt entkommen.« Und »In Lehrte bei Hannover haben nächtliche Randalierer einen Brandanschlag auf eine Unterkunft für Asylbewerber geworfen. Die Bewohner konnten das Feuer selbst löschen, es entstand geringer Sachschaden.« Sachschaden, geringer Sachschaden – wenn es nur das wäre. Randalierer – wenn sie das nur wären. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, was in diesen Nächten passiert ist. Flüchtlinge werden von jungen Männern, die Naziparolen grölen, aus dem Schlaf gerissen. Die Ausländer haben Angst, Kinder schreien und weinen. Alle werfen sich auf den Boden, um nicht von Wurfgeschossen getroffen zu werden. Sie riechen Rauch, merken, daß ein Molotowcocktail ins Innere geflogen ist. Der Weg zur nächsten Telefonzelle, um dort die Feuerwehr zu verständigen, ist blockiert, denn draußen wartet der Mob. Hektisches Durcheinander in der Unterkunft, verzweifelte Löschversuche… Und dann, die nackte
Nachrichtenmeldung: »nur geringer Sachschaden«. Später dann nur ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung oder versuchter Brandstiftung für die Täter, wenn sie denn überhaupt gefaßt werden. Es mußten erst die beiden türkischen Mädchen Yeli und Ayshe und die türkische Frau Bahide Arslan bei dem Brandanschlag in Mölln in Schleswig-Holstein in den Nacht vom 22. auf den 23. November 1992 bei lebendigem Leib verbrennen, daß die zuständigen deutschen Staatsanwaltschaften endlich kapierten: Der einzige Unterschied zwischen den knapp 500 Brandanschlägen im Zeitraum vom Januar 1992 bis zum 22. November und dem von Mölln ist ausschließlich der, daß das Vorhaben der Täter in Mölln geklappt hat. Endlich fangen die Staatsanwälte und Ermittlungsrichter an, einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft nicht mehr nur als Sachbeschädigung oder Brandstiftung, sondern als das zu werten, was er ist: Mord und Mordversuch. Erst dann werten sie das Herstellen von Molotowcocktails als vorsätzliche Handlung, als Teil einer Tatplanung. Erst dann zog der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl die Ermittlungen an sich. Er hatte zuvor nicht die Gefahr im Auge, die der Rechtsextremismus für die Ausländer bedeutet, sondern nur die Gefahr für den Staat, und die hielt er nicht für gegeben. Jetzt, nach Mölln, reichen dem obersten Ankläger der Republik plötzlich die Worte »Heil Hitler« am Ende des Bekenneranrufs der Täter, um daraus zu schließen, daß die Täter mit ihrer Straftat zur Wiedererrichtung einer nationalsozialistischen Diktatur hätten beitragen wollen. Weit über 2000 rassistisch motivierte Straftaten wurden 1991 begangen, im Jahr darauf über 4000. Trotzdem betonte Bundespräsident Richard von Weizsäcker noch zum Jahresende 1991: »Die Welle der Gewalt ist kein Anzeichen
für eine Wiedergeburt rassistischer oder nationalistischer Ideologien, sondern eine Krise der menschlichen Verständigung.« Gleichzeitig ist die Bundesregierung noch im Herbst 1992 felsenfest davon überzeugt, daß es »keinen Hinweis« darauf gebe, daß sich hinter den Gewalttaten »ein organisiertes Vorgehen« verberge. »Das sind spontane Taten von einzelnen oder lokal begrenzten kleinen Gruppierungen«, heißt es. Im Spiegel »erklärt« der Hamburger Psychologieprofessor Reinhard Tausch die Welle von Übergriffen nach Hoyerswerda so: »Die Aufnahme von Hunderttausenden Einwanderern führt naturgemäß zu deutlichen Streßreaktionen bei denjenigen, die in der Nähe großer Gruppen von Einwanderern wohnen. Diese Streßreaktionen als Ausländerhaß zu bezeichnen bedeutet, die Realität nicht wahrzunehmen.« Auch das folgende klingt gut: »Wer mit den jugendlichen ›Rechtsradikalen‹ spricht (…), stößt häufig auf orientierungslose Menschen, deren ›politisches Weltbild‹ nur aufgesetzt ist, die provozieren möchten auf Teufel komm raus, die auf ihre mangelnden Zukunftsperspektiven so aufmerksam machen möchten, daß man es nicht übersehen kann.« Dieses Zitat entstammt aber nicht etwa der Feder eines Soziologen, sondern dem Deutschen Beobachter im Sommer 1991 – dem Propagandablatt der Neonaziorganisation »Nationale Offensive«. Gerade unter den Naziskinheads ist es fast schon ein Sport, Pädagogen und Beobachter der Szene an der Nase herumzuführen. Sie machen sich selbst zu Opfern, und viele nehmen ihnen das auch noch ab. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat dem nichts entgegenzusetzen. In einem internen Papier heißt es: »Der fremdenfeindliche Skinhead stammt im Regelfall aus kaputten Familien. Er ist ohne
Perspektive und ohne Anerkennung durch die Gesellschaft. Er hat viel Langeweile im Alltag.« Und Generalbundesanwalt von Stahl, der schon früher ein Zeichen hätte setzen können, wenn er nur gewollt hätte, verharmlost ebenfalls bis kurz vor der Möllner Mordnacht: »Die Anschläge haben mit Rechtsterrorismus nichts zu tun. Der Rechtsterrorismus ist keine aktuelle Gefährdung. Die Anschläge sind spontane Aktionen von aufgeputschten, fehlgeleiteten Jugendlichen mit rechtsradikalem Hintergrund, werden aber nicht von Organisationen verübt.« Politik, Wissenschaft, Staatsschutz und Justiz und nicht zuletzt die Propagandisten der Naziszene selbst sind sich also einig: In unserem Land gibt es sehr viele spontan handelnde, vereinzelte Ausländerfeinde, die von den Einwanderern so gestreßt sind, daß sie gar nicht anders können, als aus Langeweile oder mangels anderer Verständigungsmöglichkeiten Ausländerinnen und Ausländer halb oder ganz totzuschlagen oder Flüchtlingsheime abzufackeln. Die Taten selbst haben natürlich keinerlei politischen, geschweige denn organisatorischen Hintergrund. Die Rechtsprechung korrespondiert dabei mit der offiziellen Politik. Gerade der Umgang der Justiz mit Rechtsextremisten spielt aber eine entscheidende Rolle, was den Spielraum und die Möglichkeiten rechtsextremistischer Aktion und Propaganda betrifft. Dabei beeinflussen sich Justiz, Ermittlungsbehörde und Polizei gegenseitig. Es mußte erst Mölln passieren, bevor sich ansatzweise etwas geändert hatte. Bis dahin mußten seit dem Fall der Mauer 31 Menschen sterben, weil es rechtsextreme Gewalttäter so gewollt haben. Die Behörden reagieren so, als hätten sie jetzt erst von der Existenz von Neonazis in der Republik erfahren. Die jährlichen dreißig bis vierzig bekannt gewordenen
Schändungen jüdischer Friedhöfe seit 1980, die Morde und Übergriffe von Skinheads beispielsweise in Hamburg 1985 und 1986, das Oktoberfestattentat 1980 oder die SINUSStudie, die bereits 1981 zu dem Ergebnis gekommen war, daß 13 Prozent der deutschen Wähler ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben – alles verharmlost, verdrängt und vergessen. Selbst nach dem Pogrom von Hoyerswerda im Herbst 1991, nachdem eine gewisse Sensibilisierung der Öffentlichkeit für rassistische Überfälle eingetreten ist und sich prominente Deutsche im Rahmen der Plakatkampagne »Ich bin ein Ausländer« öffentlich mit den Opfern solidarisiert hatten, hielten deutsche Gerichte noch immer nicht viel davon, hart gegen die Täter durchzugreifen. Die Richter wollten beweisen, daß es gerade nicht um politische Prozesse ginge. Sie bemühten ihre Phantasie, um strafmildernde Gründe für die Täter zu benennen. Insbesondere Alkohol und das jugendliche Alter wurden dazu herangezogen. Plötzlich, wenn es um Angriffe auf Ausländer geht, entdeckten sie die resozialisierende Wirkung möglichst kurzer Bewährungsstrafen. Aus der Fülle von Urteilen blieben mir einige besonders im Gedächtnis haften. Im Dezember 1991 will die Justiz das Pogrom von Hoyerswerda ahnden. Beim Prozeß gegen drei der Initiatoren dieser Ausschreitungen (Naziskinheads zwischen 22 und 28 Jahren) beschränkt sich das Gericht auf eine Strafe von achtzehn Monaten mit Bewährung. Strafmildernd nimmt man die Unzurechnungsfähigkeit der Angeklagten zur Tatzeit »wegen Alkoholkonsums« an. »Wir haben die politische Dimension des Verfahrens nicht zu beurteilen«, bekräftigt der Richter mehrmals. Ganz nebenbei ergibt die Beweisaufnahme, daß die drei Rädelsführer während der gesamten
Ausschreitungen von einem Polizeifahrzeug begleitet wurden. Die Polizisten griffen nicht ein. Der erste Prozeß gegen rechtsextreme Gewalttäter im Osten Deutschlands überhaupt findet im November 1991 vor dem Jugendschöffengericht in Zittau statt. Vor Gericht stehen acht Angeklagte im Alter zwischen 18 und 34 Jahren, darunter der Kreisvorsitzende der örtlichen Republikaner. Sie müssen sich wegen schwerem Landfriedensbruch, Körperverletzung und Volksverhetzung vor Gericht verantworten. Sie hatten am Himmelfahrtstag ein Kinderheim überfallen, in dem strahlengeschädigte Kinder aus Tschernobyl untergebracht waren, und dabei den sowjetischen Betreuer verletzt. Während die Verteidigung den Vorfall als »entartete Männertagsfeier« bezeichnet, liefert auch das Gericht Grund zur Freude für die im Gerichtssaal zahlreich anwesenden Gesinnungsfreunde der Angeklagten. Ein Jahr für den REP-Vorsitzenden, zweimal fünfzehn Monate ohne Bewährung und vier Bewährungsstrafen lauten die milden Urteile. Der Richter dazu: »Das ist schließlich kein politischer Prozeß.« Im Dezember 1991 steht der Deutschkanadier Ernst Zündel, ein Hauptprotagonist der »Auschwitz-Lüge«, in München vor Gericht. Er bezeichnet sich als »Revisionist« und leugnet die Existenz der Gaskammern in den Vernichtungslagern der Nazis. Selbst das Bundesinnenministerium hält inzwischen den Revisionismus für eine ernsthafte Gefahr. Zündel wird wegen Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhaß und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu einer Geldstrafe von 12 600 DM verurteilt. Strafmildernd wertet es das Gericht, daß die »Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit so gefestigt sind, daß vom Angeklagten und seinen Mitstreitern keine ernste Gefahr ausgeht«. Am 12. Februar 1992 kommt ein 19jähriger Skinhead, der in Friedrichshafen am Bodensee einen Angolaner erstochen hat,
mit einer Jugendstrafe von fünf Jahren davon. Das Gericht verurteilt ihn nur wegen Totschlags mit bedingtem Vorsatz, da man davon ausgehen müsse, »daß die Hautfarbe des Opfers wesentlich zu der Tat beigetragen« habe. Daß die Richter mit dieser Strafmilderung ein rassistisches Urteil par excellence fällten, scheint ihnen selbst nicht klar zu sein. Die volle Härte des Gesetzes trifft demnach nur, wer »Arier« erschlägt. Zwei Wochen später muß sich das Landgericht Koblenz ebenfalls mit einem rassistisch motivierten Mord befassen. Ein 18jähriger Skinhead hatte im Dezember 1990 in einer rheinland-pfälzischen Kleinstadt einen 17-jährigen Kurden mit dem Messer von hinten erstochen. Er wurde wegen Totschlags mit bedingtem Vorsatz zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. Der Skinhead hatte sich bei der Polizei als Rädelsführer der »Taunusfront«, einer Naziskinheadgruppe, bezeichnet und war dem Verfassungsschutz schon mehrfach bei überregionalen Aufmärschen und Skinheadtreffen aufgefallen. Trotzdem wertet die Staatsanwaltschaft die Tat als Ergebnis von »Reibereien in der Schule«. Der 18jährige Skin sei zwar in der Taunusfront gewesen, sein Lebensinhalt aber habe »in der Zeit vor dem Mord aus Saufen und Rumhängen« bestanden. Das Gericht übernimmt diese Version. Von meinen Treffen mit Kühnen weiß ich genau, daß dies exakt die Taktik ist, Strafmilderung zu schinden. »Immer sagen: ›Ich war besoffen. Mir war langweilig. Ich wurde provoziert.‹ Dann kriegst du nur die Hälfte!« wurde den Skinheads bei verschiedenen Treffen, bei denen ich anwesend war, geraten. Was ich nicht verstehe: Polizisten wissen das, dadurch auch Staatsanwalte, dadurch auch Richter. Man weiß es. Trotzdem folgt man der schalen Behauptung: »Ich war betrunken…« So auch hier. Das Landgericht Koblenz konstatiert zwar einen »gewissen ausländerfeindlichen und rassistischen,
möglicherweise auch rechtsradikalen Hintergrund«, aber das Mordmerkmal der niederen Beweggründe sei nicht erfüllt. Dem Angeklagten könne nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, daß er »zum Zeitpunkt des Messerstichs rassistische Motive verinnerlicht« hätte. Wann sonst? Im Mai 1992 stehen in Dresden zehn junge Männer vor Gericht. Sie waren sechs Monate zuvor zur Jagd gegen Ausländer losgezogen, hatten einem Mosambikaner mit einer Gasdruckpistole aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Anschließend vermummte sich die Hälfte der Gruppe und brach in die Wohnung einer hochschwangeren Vietnamesin ein. Sie raubten Zigaretten, dann schlugen sie die Frau nieder und traten ihr gezielt in den Bauch. Der Arzt nennt es später ein Wunder, daß Mutter und Baby überlebt hatten. Die zehn Angeklagten, unter den drei aus Bayern gar ein »Schützenkönig«, haben Glück. Sie finden einen milden Richter. Alle können den Gerichtssaal als freie Männer verlassen. Das Gericht entscheidet auf Bewährungsstrafen zwischen 6 und 21 Monaten. Der politische Hintergrund, daß beispielsweise zwei der Skins aus dem Westen eigens zur Gründung der rechtsextremen »Sächsischen Nationalen Liste« nach Dresden gekommen waren und der andere einen Tag vor dem Überfall ein Plakat der NSDAP-AO am Dresdner Bahnhof angebracht hatte, interessiert das Gericht nicht. Statt dessen werden Alkoholkonsum und das jugendliche Alter als strafmildernd berücksichtigt. Im September 1992 werden fünf Skinheads zu Jugendstrafen zwischen vier Jahren Freiheitsentzug und zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Sie hatten im November 1990 in Eberswalde den Angolaner Antonio Amadeu Kiowa erbarmungslos totgetreten. Zuvor hatten sie sich in einer Disco getroffen und waren dann losgezogen, »Neger zu klatschen«. Unterwegs demolierten sie Autos, die Polizei folgte ihnen im
Sicherheitsabstand. Als Kiowa seinen späteren Mördern in die Hände lief, betrachteten drei Zivilbeamte der Polizei aus sicherer Entfernung das Geschehen. Sie schauten zu, als die Skinheads mit Baseballschlägern auf den Angolaner einschlugen, mit ihren schweren Stiefeln zutraten und ihm auf den Kopf sprangen. Erst als der Angolaner in einer Blutlache regungslos auf der Straße lag, ließen die Skins von ihm ab. Erst dann traten die Zivilbeamten aus ihrem Versteck heraus und vertrieben die Skins. Die Täter an Ort und Stelle festzunehmen, daran dachten sie nicht. Antonio Amadeu Kiowa erwachte nicht mehr aus dem Koma. Das Gericht in Frankfurt/Oder wertet den mörderischen Überfall schließlich als »jugendtypische Verfehlung«. Nicht als Totschlag, sondern nur als schwere Körperverletzung mit Todesfolge. Als strafmildernd führen die Richter die politischen und gesellschaftlichen Umstände in den »fünf neuen Ländern«, wie Ostdeutschland jetzt auch genannt wird, an. Ebenfalls im September 1992 wird ein Fall in einer kleinen Stadt namens Wittenberge verhandelt. Ein rechtsradikaler Mob von etwa vierzig Schlägern hatte in der Nacht zum 2. Mai 1991 ein Haus bedroht, in dem Namibier wohnten. Sie drangen in das Haus ein und stießen zwei Namibier vom Balkon des vierten Stocks in die Tiefe. Beide überlebten schwer verletzt. Wegen versuchten Totschlags, nicht wegen Mordversuch, wird der Hauptangeklagte zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Er stellt der Polizei kein gutes Zeugnis aus, die von dem geplanten Überfall in dieser Nacht gewußt hatte: »Die Polizei hat mir an jenem Abend nicht das Gefühl gegeben, mich an einer Straftat zu beteiligen.« Auch nach der Tat ermittelte die Polizei sehr nachlässig. Von den etwa vierzig Beteiligten konnte sie nur neun Personen ausfindig machen. Ende November 1992 wird ein 23 jähriger Mann vom Amtsgericht Rostock zu sechs Monaten auf Bewährung
verurteilt. Er hatte ein Asylbewerberheim mit Steinen beworfen und dabei einen Wachmann verletzt. Der Richter begründet die Bewährung unter anderem damit, daß die Polizei den Fall mit einer »sehr laschen Einstellung« über ein Jahr lang unbearbeitet liegengelassen habe. Im gleichen Monat werden Beteiligte an den schweren Pogromen von Rostock Ende August 1992 zu Jugendarrest oder zur Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs verurteilt. Die Richter haben dabei stets die »erzieherische Wirkung« und weniger den Gedanken der sogenannten Generalprävention, also der Abschreckung, im Sinn. Erst wenn einem Täter nachgewiesen werden kann, daß er ein Polizeifahrzeug demoliert hat oder einen Polizisten mit einem Stein getroffen hat, fallen die Strafen merklich höher aus. Die körperliche Unversehrtheit eines Flüchtlings ist also offenbar weniger wert als die eines Polizeibeamten – in den Augen der Richter. Und nicht nur dort. Wie konnte es denn sonst in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992 so weit kommen, daß die Polizei in aller Ruhe ihren Schichtwechsel durchführte und sich für zwei Stunden zurückzog, während mehrere hundert gewalttätige Rechtsextremisten das Ausländerwohnheim in RostockLichtenhagen belagerten? Diese wunderten sich nicht nur über den Rückzug, sondern freuten sich über ihren Sieg. Das Verhalten der Polizei spornte sie geradezu zu neuen Taten an. Sie stürmten daraufhin das Heim, plünderten die Wohnungen und zündeten sie an. Daß sich zu der Zeit noch 150 Vietnamesen in dem Haus befanden, die sich mit viel Glück über das Dach ins Freie retten konnten, wollten die zuständigen Einsatzleiter hinterher nicht gewußt haben. Sie hatten lediglich die Polizeibeamten in Gefahr gewähnt. Dies geht aus dem Bericht des damaligen Rostocker Polizeichefs Siegfried Kordus hervor: »Die im
Nachbarhaus befindlichen vietnamesischen Staatsbürger schienen weniger in Gefahr als die Polizei, die sich als größtes Feindbild der Störer herausgestellt hatte.« Einsatzleiter Jürgen Deckert sagte, »daß die Polizei ein Abkommen mit den Störern habe und daß sie sich vor Ort nicht sehen lassen dürfe«. Das steht im Protokoll eines Polizeihauptkommissars. Erst im Februar 1993 wird bekannt, daß dem Schweriner Innenministerium seit September 1992 diese Polizeiprotokolle vorlagen, die einen »Waffenstillstand« mit den Gewalttätern belegen (siehe Faksimile auf der nächsten Seite). Genau solche Vermutungen wurden aber die ganze Zeit vehement dementiert. Innenminister Seiters vermeldet sogar kurz nach dem Pogrom der Presse, in Rostock sei es zum erstenmal zu »einer Zusammenarbeit von Autonomen und Rechtsradikalen« gekommen. Auf Nachfrage gibt Innenstaatssekretär Eduard Lintner zu verstehen, daß man dies vermutet habe, weil das »Werfen lebensgefährdender Brandsätze gegen Menschen bislang nur im Zusammenhang mit Ausschreitungen durch autonome/linksextremistische Straftäter bekannt geworden war«. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es aber seit Jahresbeginn 405 Brand- und Sprengstoffanschläge gegeben – nicht von links, sondern von rechts. Trotz steigender Zahlen von Übergriffen kommt das Bundesinnenministerium zu dem schlichten und selbstzufriedenen Ergebnis: »Der erarbeitete Maßnahmenkatalog hat sich auch in der Praxis bewährt.« Katastrophale Fehleinschätzungen und Desinformation Hand in Hand. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: zum Beispiel eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren für einen 21jährigen arbeitslosen Maurer Anfang November 1992, der im brandenburgischen Ketzin ein Flüchtlingswohnheim in Brand gesetzt hatte. Die 44 Bewohner konnten sich gerade noch in
Sicherheit bringen. Obwohl der Staatsanwalt auf versuchten Mord plädiert hat, verurteilt das Gericht ihn trotzdem nur wegen schwerer Brandstiftung.
Obwohl der Staatsanwalt auf versuchten Mord plädiert hat, verurteilt das Gericht ihn trotzdem nur wegen schwerer Brandstiftung. Aber auch noch nach Mölln gibt es folgendes: Im rheinlandpfälzischen Frankenthal überfallen Jugendliche ein Asylbewerberheim und skandieren dabei Naziparolen. Trotzdem sieht die Staatsanwaltschaft für diesen Überfall mit Baseballschlägern und Feuerlöschern keinen Anhaltspunkt für einen rechtsradikalen Hintergrund. Die Jugendlichen hätten statt dessen lediglich ein »verbrämtes Nationalbewußtsein«. Frau Noelle-Neumann scheint nachzuwirken. Ermittelt wird nicht einmal wegen Landfriedensbruch, sondern nur wegen Sachbeschädigung. Ich glaube nicht, daß dem Rechtsextremismus nur mit dem Strafrecht beizukommen ist. Aber ich halte es für höchst problematisch, wenn in Urteilen nur nachvollzogen wird, wie Rechtsextremisten in Politik und Wissenschaft gehandelt werden – als Spontantäter ohne politischen Hintergrund, ohne gefestigte Ideologie und Organisation, als Modernisierungsverlierer, als entwurzelte Jugendliche, als Opfer der Arbeitslosigkeit oder als Opfer hoher Scheidungsraten, als Perspektiv- und Orientierungslose mit zu geringen Freizeitmöglichkeiten. Mit einem Wort: nicht als Täter, sondern als Opfer. Die Opfer dieser Täter interessieren dabei genausowenig wie Tatsachen, die dieser offiziellen Betrachtungsweise widersprechen. Stimmt es etwa nicht, daß Führungsmitglieder des Ku-Klux-Klan durch Deutschland reisen und Wehrsportübungen mit Neonazis abhalten? Gibt es wohl keine internationalen Netzwerke von ehemaligen SS-Kämpfern, die Jungnazis unterstützen? Ist »Blood & Honour« kein internationales Netz von Skinheadgruppierungen? Hatte Michael Kühnen und seine Truppe keine internationalen
Kontakte? Haben die verschiedenen Nazigruppen, die es in Deutschland gibt, rein gar nichts miteinander zu tun, oder was wollen uns »Experten« und Staatsschützer in Allianz mit den Justizbeamten eigentlich weismachen? Zu Zeiten der linksterroristischen RAF entwickelte die Bundesregierung ein Instrument, das seitdem zur Ausforschung der linken Szene bis zum Exzeß angewandt worden ist: den § 129 a. Dieser Paragraph betrifft die Gründung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Ein bequemes Instrument für alle Ermittler, denn geht man einmal von der Existenz einer solchen Gruppe aus, muß sich die ganze Gruppe die Taten einzelner Gruppenmitglieder voll verantwortlich anrechnen lassen. Der meist komplizierte Nachweis des Tatbeitrags jedes einzelnen entfällt so. Nun ist dieser Paragraph dem Wortlaut nach durchaus nicht nur für linksterroristische Gruppen ausgelegt. In der Praxis findet er aber auf Rechtsterroristen kaum Anwendung. Weder die Wehrsportgruppe Hoffmann, weder das »Kommando Omega« des heutigen FAP-Chefs Friedhelm Busse noch Kühnens »Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten« oder andere Gruppen wurden als terroristische Vereinigung strafrechtlich belangt. Unter den wenigen Ausnahmen befinden sich Manfred Roeder und die Mitglieder seiner »Deutschen Aktionsfront«, die 1982 bereits wegen Anschlägen auf Flüchtlingsheime nach § 129 a verurteilt wurden. In den Jahren 1990 und 1991 hat die Generalbundesanwaltschaft insgesamt 297 derartiger Verfahren gegen sogenannte Linksterroristen eingeleitet, 157 allein wegen Werbens für eine derartige Vereinigung, 50 wegen Unterstützung. Insgesamt 41 Beschuldigte wurden in Untersuchungshaft genommen. Die blieb den Rechtsterroristen
gänzlich erspart. Obwohl in diesen beiden Jahren rassistische Straftaten sprunghaft zunahmen, wurden nur ganze sechs Verfahren nach § 129 a gegen elf Beschuldigte von rechts eingeleitet. Gegen keinen einzigen wurde wegen Werbens für eine derartige Vereinigung ermittelt, obwohl in nahezu jeder einschlägigen Nazi-Postille Hoyerswerda als Erfolg gefeiert und obwohl öffentlich vor laufender Fernsehkamera zu neuen Straftaten und Brandstiftungen aufgerufen wurde. Es fällt auf, wie sehr die juristische Praxis hier mit politischen Stellungnahmen von interessierter Seite übereinstimmt: Rechte Attentate werden von »Einzeltätern« verübt, national und international vernetzte militant rechtsextreme Strukturen sind angeblich nicht vorhanden oder relevant. Ein Umfeld haben diese Gruppen sowieso nicht: Begriffe wie »Sympathisant« oder »Unterstützer« finden bei Rechtsextremisten keine Anwendung. Finanzstarke Hintermänner oder Herkunft der Waffen interessieren Richter und Ermittler ebensowenig, wie sie politische Bekenntnisse als Indizien werten. Schließlich handele es sich ja um »keine politischen Prozesse«, heißt es immer wieder. Die stete Leugnung nationaler und internationaler Verflechtungen nazistischer Gruppen führt logischerweise zur beliebten Einzeltätertheorie; präsentiert werden meist »psychopathische«, von jeglichen Gruppenzusammenhängen losgelöste Einzeltäter. Den Fall des 19jährigen Lehrlings Josef Salier habe ich dabei noch sehr gut im Gedächtnis. Diesen Josef Salier »überkam« es in einer Dezembernacht 1988, ein überwiegend von türkischen Familien bewohntes Haus in der Schwandorfer Innenstadt anzuzünden. Drei türkische Staatsangehörige und ein Deutscher kommen in den Flammen ums Leben. Die polizeiliche Desinformation beginnt bereits kurz nachdem die Glut erloschen ist. Die Schwandorfer Polizei schließt zwar Brandstiftung nicht aus, dementiert jedoch sofort
Meldungen, wonach ein politisch motivierter Anschlag verübt worden sei. Einen Tag nach dem Brand finden Ermittler den Aufkleber »Türken raus« an einem benachbarten Haus. Die Spur führt sie zu dem stadtbekannten Rechtsextremisten Josef Salier. Am 5. Januar 1989 legt der Lehrling ein umfassendes und detailliertes Geständnis ab. Sein Motiv: Er habe Ausländer »ärgern« wollen. Durch das Geständnis des Rechtsextremisten ist die Polizei gezwungen, in einer Pressemitteilung eine neue Version des Tathergangs zu verbreiten. Fest stehe demnach, daß »an dem Verbrechen kein zweiter Täter beteiligt war, auch keine rechtsradikale Gruppierung im Hintergrund mitwisserisch oder anstifterisch tätig war«. Noch bevor eine Hausdurchsuchung bei Salier umfangreiches Adressenmaterial und Propagandaschriften der militanten Nationalistischen Front (NF) und der FAP zutage fördert, noch bevor Sallers aktive Mitgliedschaft in gehobener Position bei der NF bekannt wird und lange bevor Kontaktpersonen aus dem rechten Spektrum überhaupt vernommen werden, setzt die Kripo die Version vom Einzeltäter in die Welt. Eine Version, die sie bis zum Ende der Ermittlungen konsequent durchhält und die schließlich auch vom Amberger Landgericht übernommen wird. Systematisch werden Hinweise ausgeblendet, die auf Salier als organisierten Neofaschisten hingedeutet hatten. Bei Salier gefundene Briefumschläge wandern ungeöffnet in die Asservatenkammer. Erst auf Drängen der Nebenkläger öffnete man sie und fand darin revisionistisches Propagandamaterial eines führenden österreichischen Neofaschisten. Bundesbahnfahrkarten, die darauf hindeuten, daß Salier unmittelbar vor der Tat zum 4. »Bundesparteitag« der NF nach Bielefeld gefahren ist, finden keinen Eingang in die Gerichtsakten. Die Führer von NF und FAP werden niemals zu
ihrem »Kamerad Josef«, wie sie ihn nachher in ihren Publikationen bezeichnen, befragt. Kontakte zu örtlichen Republikanern fallen unter den Tisch, entsprechende Kontaktpersonen werden nicht einmal vernommen. Die Nähe der hetzerischen rassistischen Propaganda der NF zu Sallers todbringender Aktion interessiert weder die Kripo noch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht. Salier wird als Einzeltäter, der sich »vom Einzelgänger zum Einzelkämpfer entwickelt« habe, nicht wegen Mordes zu »lebenslänglich«, sondern wegen schwerer Brandstiftung zu zwölf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Seitdem findet sich sein Name auf der Liste der »nationalen Gefangenen« in der Zeitschrift NS-Kampfruf der NSDAP-AO. In »Interviews« mit neonazistischen Skinheadmagazinen wie Querschläger oder Frontal meldet sich Salier aus der Zelle zu Wort. Sein »größter politischer Wunsch« sei demnach ein »besatzer- und ausländerfreies Deutschland in germanisch-preußischer Tradition in den Grenzen von 1938, ein Europa ohne Neger, Rote und Hakennasen« und »vor allem, daß sich der Nationalsozialismus wieder durchsetzt«. So Josef Salier, Einzeltäter, ohne behördlich erkannten rechtsextremen organisatorischen Hintergrund. Der Fall Salier macht noch etwas anderes deutlich: Die Justiz ist abhängig von den Ermittlungsergebnissen der Polizei, und diese bezieht einen Großteil ihrer Motivation aus den Ergebnissen der Justiz. So beklagen sich Polizeiführer im Osten Deutschlands nicht nur lautstark, sie seien auf derartige Übergriffe nicht vorbereitet, sondern auch darüber, daß die von ihnen festgenommenen Täter oft schon nach wenigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Doch so einfach können Polizei und Staatsschutzstellen den Schwarzen Peter nicht weitergeben. Auch sie haben einen Großteil dazu beigetragen, die Situation eskalieren zu lassen. Polizeibeamte haben
weggeschaut. Nicht nur bei der Ermordung des Angolaners Antonio Amadeu Kiowa in Eberswalde. Wenn Polizeibeamte das Opfer für betrunken halten und vergessen, die Täter am Tatort festzunehmen, wie im Fall des in Dresden ermordeten Mosambikaners Jorge Gomondai, dann spricht das eine eigene Sprache. Polizeibeamte wußten von geplanten Überfällen und blieben nicht nur in Wittenberge inaktiv (wo zwei Namibier vom Balkon gestoßen wurden). Polizeibeamte schritten nicht ein, als Gottfried Küssel trotz eines im Mai 1991 ausgesprochenen Einreiseverbotes in die Bundesrepublik einreiste und seine Umtriebe als »Aufbauarbeit« vorantrieb. Polizeibeamte sahen teilnahmslos zu, als am 3. Oktober 1992 etwa fünfhundert Sympathisanten der rechtsextremen Nationalen Offensive in Dresdens Innenstadt den verbotenen »Hitlergruß« zeigten, obwohl das Verwenden von nazistischen Kennzeichen mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft werden kann. Und Polizeibeamte haben Desinformation betrieben, nicht nur im Fall Josef Salier. Desinformation auch, als am 9. Juli 1992 in Ostfildern bei Stuttgart der Jugoslawe Sadri Berisha von sieben Skinheads brutal erschlagen und sein 46jähriger Kollege Sahit Elezaj lebensgefährlich verletzt wurde. Trotz umfassender Geständnisse gibt die Polizei zunächst eine Erklärung ab, wonach »eindeutig« feststehe, »daß für die Tat keine politischen Hintergründe in Betracht kommen«. Als Ende November 1992 der Berliner Drucker Silvio Meyer von Skinheads erstochen wurde, weil er deren Aufnäher »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« kritisierte, hält es die Polizei für nötig, in ersten Mitteilungen an die Presse von einer »Messerstecherei« und Streitigkeiten innerhalb der linken Szene hinzuweisen. Kein Wort zu dem rechten Täterkreis. Desinformation auch von seiten der ostdeutschen Behörden, als diese Ende Oktober tagelang einen Brandanschlag auf das
ehemalige Frauen-KZ Ravensbrück der Öffentlichkeit verschweigen. Die Staatsanwaltschaft untersagt es den Mitarbeitern der Mahn- und Gedenkstätte gar, gegenüber der Presse Angaben zum Sachverhalt zu machen. Der Hintergrund: Man wollte der zu der Zeit auf Staatsbesuch in Berlin weilenden englischen Königin Elizabeth II. ein geläutertes Deutschland präsentieren. Desinformation auch von seiten des Bundesinnenministeriums. Seit Mai 1992 weigert man sich dort hartnäckig, auf parlamentarische Anfragen hin statistische Zahlen zu Übergriffen und den daraus resultierenden Ermittlungsverfahren zu veröffentlichen. Es fehle ein Sondermeldedienst, lautet die stereotype Begründung. Dieser Meldedienst wurde bereits nach dem Pogrom in Hoyerswerda vom Bundeskriminalamt gefordert, von den Innenministern in Bund und Ländern aber wieder verworfen. Ein Jahr später, nach Rostock, taucht der Meldedienst wieder in dem von Bundesinnenminister Seiters flugs der Öffentlichkeit präsentierten »Sofortprogramm gegen rechtsextreme Gewalt« auf. Getan hat sich bislang nichts. Warum soll sich bei alledem die Polizei überhaupt Vorwürfe machen, sie habe die Eskalation in Rostock in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992 durch ihren Rückzug und gemütlichen Schichtwechsel just zum gefährlichsten Zeitpunkt heraufbeschworen, wenn ihr oberster Dienstchef, Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lothar Kupfer, danach vor die Presse geht und erklärt: »Die Polizei hat ihren Einsatzauftrag erfüllt, keinem Asylbewerber wurde auch nur ein Haar gekrümmt.« Ich habe die Fernsehbilder der um ihr Leben bangenden Vietnamesen, des ZDF- Kamerateams und des Rostocker Ausländerbeauftragten vor Augen, die alle in dem brennenden Haus eingeschlossen waren.
Warum sollten die Polizisten sich für die Flüchtlinge einsetzen, wenn ihr oberster Dienstherr verlauten läßt, die Ausländer selbst hätten den »berechtigten Zorn der Bevölkerung« provoziert, indem sie »auf der Wiese campierten und in den umliegenden Geschäften und Häusern kriminelle Handlungen begingen«? Warum sollten Polizisten sich mit Neonazis anlegen, wenn der Dienstvorgesetzte aller Berliner Polizisten, der CDUInnensenator Dieter Heckelmann, nach dem Pogrom betont: »Was sich in den Zustimmungsbekundungen in Rostock geäußert hat, ist nicht Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit oder gar Rassismus, sondern der vollauf berechtigte Unmut über den Massenmißbrauch des Asylrechts«? Mecklenburgs CDU-Fraktionschef Eckhardt Rehberg setzt noch eins drauf und erntet stürmischen Beifall bei seinen Parteifreunden im Landtag von Schwerin: »Daß die Ausländer unsere Sitten und Gebräuche nicht kennen und vielleicht gar nicht kennen wollen, stört die Befindlichkeit unserer Bürger.« Immerhin sollte nach Rostock einer aus der bisher vertretenen Linie ausscheren: Hans-Ludwig Zachert. Der Chef des Bundeskriminalamts stellt nach den Auseinandersetzungen in Rostock fest, die Randale sei »gesteuert und organisiert« gewesen. Prompt wird ihm von höchster Stelle widersprochen. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Eckart Werthebach und Bundesinnenminister Seiters wiegeln die Erkenntnisse des »Nestbeschmutzers« ab. Unisono erklären sie, von einer Organisierung könne keine Rede sein. Warum soll sich die Polizei überhaupt Vorwürfe machen, wenn Großrazzien nicht den gewünschten Erfolg bringen, weil sie vorher von profilierungssüchtigen Innenministern in der Presse angekündigt worden waren? Auch der Bundesinnenminister, der das Verbot der Nationalistischen
Front im November 1992 einen Tag zuvor indirekt bekanntgab, braucht sich hinterher nicht zu wundern, daß die rechtsextreme Organisation genug Zeit hatte, belastendes Material zu vernichten; der Chef Meinolf Schönborn konnte in aller Ruhe untertauchen. Warum soll die Polizei überhaupt nach Organisationszusammenhängen forschen, wenn der oberste Ermittler von Sachsen, Generalstaatsanwalt Jörg Schwalm, konstatiert, daß Übergriffe »fast ausnahmslos aufgrund spontaner Verabredungen, häufig nach Wirtshausbesuchen« erfolgten. Hat nicht die Polizei von vornherein schlechte Karten, wenn bei Anschlägen gegen Ausländer deutlich weniger Hinweise aus der Bevölkerung kommen als bei anderen schweren Straftaten? Der Chef des saarländischen Landeskriminalamtes, Gregor Lehnert, umschreibt vornehm diesen alltäglichen Rassismus: »Der Grad der Identifizierung mit den Opfern ist nicht hoch.« Angesichts dieser Situation ist schließlich auch im Spiegel von einer »merkwürdigen Mischung von Unfähigkeit und Kumpanei der Polizei mit den Tätern« zu lesen, die die »Krawallmacher zu neuen Taten ermutigt«. Die Kumpanei bei der Ordnungstruppe ist ja kein Wunder, sympathisieren doch bis zu 30 Prozent der Polizeibeamten mit der rechtsextremen Law-and-order-Partei Republikaner. Nach einer Studie der Gewerkschaft der Polizei erklärte sich gar die Hälfte der bayerischen Polizeibeamten mit den Zielen der REPs einverstanden. Stolz verkündet REP-Chef Franz Schönhuber bei jedem öffentlichen Auftritt seinen Dank an »unsere Kameraden und Freunde von der Polizei«. In Hessen meldeten Ortsverbände der Republikaner, bis zu 15 Prozent ihrer Mitglieder seien Polizisten. Der seit Oktober 1992 amtierende Landesvorsitzende des REP-Landesverbands von Rheinland-
Pfalz, Jürgen Schröder, ist Kriminalbeamter, nicht der einzige in den Führungsetagen der Partei – und nicht der einzige Rechtsextremist in der Polizei. Soll man sich also bereits über die dankenswerte Klarheit freuen, mit der Andreas Schuster, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei von Brandenburg, nach seiner Kritik an Ausstattung und Ausbildung der Polizei in Ostdeutschland bekundet: »Es wird ein zweites und ein drittes Rostock geben, und es kann sich überall wiederholen«? Es ist anerkennenswert, und es ist wichtig für die Demokratie, daß im Dezember 1992 in Deutschland Tausende von Polizeibeamten gegen Neofaschismus und Ausländerfeindlichkeit demonstriert haben. Von ihnen soll jetzt aber nicht die Rede sein. Es geht hier vielmehr um solche, die offenbar vergessen haben, daß wir in einer Demokratie leben. Das habe ich und das haben Kollegen von mir unversehens deutlich erfahren müssen: Am 25. Januar 1991 ist die Kneipe »Napoleon« in einem Ort bei Frankfurt am Main wieder einmal der Treffpunkt für die Nazis vom »Gau Hessen«. Es sind auch Mitglieder der Deutschen Alternative aus »Mitteldeutschland«, der ehemaligen DDR, anwesend. Der »Kameradschaftsabend« der etwa vierzig Extremisten findet heute aber im Beisein der Polizei und eines TV-Teams des Hessischen Rundfunks statt. Heinz Reisz, der schnauzbärtige Vorzeigenazi, ist mitten in seiner Ansprache. Er parodiert sich wieder einmal selbst: »Ich bin ein Germane, und Gott schütze die germanischen Raketen unseres Vielvölkerglaubens!« ruft er mit rauher Stimme. Die umstehenden Nazis grinsen. Reisz läßt seine Standardsprüche los, in der Version ohne »Sieg Heil« und Hitlergruß, da die Kamera läuft: »Es lebe Deutschland, es lebe die Bewegung…« Und jetzt macht er klar, welchen Hintergrund das Treffen hat: »… es lebe der Kampf für Saddam Hussein, es lebe dieses
Volk, es lebe der Führer, Gott schütze die arabische Region! Danke.« Die Journalisten Ulrike Holler und Herbert Stelz dokumentieren die Vorkommnisse, führen Interviews, recherchieren Hintergründe und kommen in ihrem TVMagazin-Beitrag zum Ergebnis: »Mitglieder der KühnenGruppe beabsichtigen, eine internationale Freiwilligenarmee für Saddam Hussein aufzustellen.« Fünf Freiwillige treten bereits in der Reportage auf, die im politischen Fernsehmagazin »Panorama« und der regionalen »Hessenschau« ausgestrahlt wird. Die beiden Journalisten haben schon vor den Dreharbeiten mit der Polizei Kontakt aufgenommen. Auch bei den Dreharbeiten sind Polizeibeamte anwesend, zum Einschreiten sehen sie jedoch keinen Grund. Business as usual. Die Sendung am 29. Januar löst keine übermäßige Resonanz aus. Man betrachtet Neonazis als Spinner, die ohnehin nicht ernst genommen werden können. Ob sie für den Irak in den Krieg ziehen oder nicht, das ist den deutschen Behörden scheinbar so gleichgültig wie den Politikern. Ein paar Tage später ist die ganze Angelegenheit schon fast vergessen. Dann ändert sich die Lage schlagartig. Der TV-Bericht wird auch im israelischen Fernsehen ausgestrahlt. Just zu dieser Zeit, am 4. Februar, besucht die Präsidentin des Deutschen Bundestages Israel. Rita Süssmuth kam, um deutsche Sympathie zu bezeugen. Doch statt tiefer Dankbarkeit findet sie aufgebrachte Mienen vor. Daß nun neben Raketen, die mit deutscher Technik hergestellt wurden, auch noch deutsche Neonazis gegen den Judenstaat in Stellung gehen, erfüllt viele Israelis mit ohnmächtiger Wut. Rita Süssmuth bleibt nichts anderes übrig, als sich auch aufzuregen. Und jetzt, hinter den Kulissen, wird so manches Beamtengesäß in ungewohnt spontane Bewegung gebracht. In
hektischer Eile wird ein schon vor Tagen bestellter Bericht des Frankfurter Polizeipräsidenten fertiggestellt und an das Innenministerium weitergeleitet. Nun wurden die Nazis also unverzüglich mit ihrem Vorhaben ausgebremst? Weit gefehlt. Der Polizeipräsident von Frankfurt, Karlheinz Gemmer, empfiehlt, »eine Gegenveröffentlichung zu erwägen«. Und zwar »wegen der internationalen Resonanz«. Gemmer will nämlich wissen, daß es den Journalisten Holler und Stelz »im wesentlichen« darum gegangen sei, »das in diesen Tagen weltpolitisch gehandelte Bild vom ›häßlichen Deutschen‹ zu untermauern«, und fügt seiner Bewertung den zwölfseitigen Observationsbericht seiner Beamten bei, der die elf Tage zurückliegenden Dreharbeiten als »Show« darstellt. Ganz sicher ist sich Polizeipräsident Gemmer seiner Sache aber auch nicht, denn er schlägt vor, »weiterführende landesweite Maßnahmen« im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft und Staatsschutz durchzuführen. Die Folge ist ein typisches Beispiel bundesdeutscher Verdrängungspolitik. Während Thomas Hainke in Bielefeld, Gerrit Et Wolsink in Amsterdam und Gary Rex Lauck in Lincoln/Nebraska die Söldnermobilisierung koordinieren und mit dem Franzosen Michel Faci alias »Leloup« Grüppchen für Grüppchen in den Irak schleusen, beschuldigt der Frankfurter Polizeipräsident die Journalisten, den Kameradschaftsabend »inszeniert« und den Rechtsradikalen »zwischen 4000 und 5000 Mark« bezahlt zu haben. Einzige Quelle dieser Information: Heinz Reisz. Am 3. März legt Heinz Reisz eine eidesstattliche Versicherung ab, wonach er solche Äußerungen gemacht habe, »um zu prüfen, welches Geistes Kinder sie (die Polizisten) sind, um ihnen einen Bären aufzubinden. Solche Versuche
habe ich auch bei anderen Fernsehaufnahmen bereits gemacht, diesmal hat es geklappt.« Ein trauriges Bild liefert auch die lokale Presse, welche die Dimension dieses Skandals überhaupt nicht erfaßt. Blauäugig den haltlosen Vorwürfen des Polizeipräsidenten Gemmer folgend, ist man sofort mit Begriffen wie »ScheckbuchJournalismus« bei der Hand. Die einzige Ausnahme liefert die Bild-Zeitung schon am 27. Februar: »Jetzt scheint sich die Frankfurter Polizeiführung schon wieder zu weit aus dem Fenster gehängt zu haben!« Ulrike Holler und Herbert Stelz verklagen den Polizeipräsidenten auf Unterlassung seiner unwahren Behauptungen. Am 5. April zieht der Polizeipräsident Karlheinz Gemmer seine Vorwürfe zurück. Er bestätigt »gerne« in einem Brief an den Intendanten des Hessischen Rundfunks, »daß auch die Nachforschungen der Polizei (…) den Verdacht der Honorarzahlung an Neonazis durch den Hessischen Rundfunk erfreulicherweise nicht erhärtet haben«. Es tue ihm leid, »daß die Angelegenheit so wie geschehen in der Öffentlichkeit gehandelt wurde«. Die Frankfurter Lokalpresse meldet den Rückzug des Polizeipräsidenten. Nur eine Erörterung der politischen Dimension des Falls, so Herbert Stelz, steht noch aus. Bis auf weiteres. Schwamm drüber? Schwamm drüber! Und die Söldner? Der Verfasser einer polizeilichen Bewertung gibt sich ahnungslos: »Es ist unerklärlich, wie KÜHNEN zu der Aussage kommen kann, daß auf Anforderung durch Hussein etwa 300 bis 400 Kameraden seiner Gruppierung für mögliche Kampfhandlungen bereitstehen würden.«
Noch unerklärlicher ist allerdings, wie trotz reger Telefonund Telefaxkorrespondenz zwischen Kühnens Mittelsmännern und der irakischen Botschaft in Bonn der Polizeibewerter zu folgender Einschätzung kommen kann: »Inwieweit z.Z. überhaupt Kontakte zur Vertretung des Irak bzw. anderen Staaten/Organisationen des arabischen Bereichs bestehen, kann nicht gesagt werden.« Und das, obwohl bereits Mitte Juli des vorhergehenden Jahres von Thomas Hainke per Telefax der Kontakt zur irakischen Botschaft aufgenommen wurde. Kühnen erzählte mir auch, daß er bereits im September 1990 in der irakischen Botschaft zu Besuch war und daß Christian Worch als Ansprechpartner für die Iraker vorgesehen sei. Im April 1991 findet die Polizei bei der Verhaftung des todkranken Michael Kühnen in Thüringen den Entwurf zu einem Vertrag zwischen der »Antizionistischen Legion« und der »Regierung der Republik Irak«. Danach wollten die Neonazis den Irak »gegen die derzeitige Aggression zionistischer und US-imperialistischer Kräfte unterstützen und hierzu eine internationale Freiwilligeneinheit« einsetzen. Der Polizeichef von Stockholm ist höchst erstaunt, als er nicht von seinen deutschen Kollegen, sondern von mir im Interview erfährt, daß »Kopenhagen oder Stockholm« als Sammlungsort der »Freiwilligen für den Weitertransport in den Irak« vorgesehen war. Das bedeutet nämlich nichts anderes, als daß sowohl in Kopenhagen wie auch in Stockholm die logistischen Möglichkeiten vorhanden sein müssen, »bis zu 100 deutsche Freiwillige« für mindestens eine Nacht sicher unterzubringen. Und zwar bei gleichgesinnten Nazis, denn es ist kaum anzunehmen, daß sich die Paramilitärs mit ihrem Sturmgepäck im Hotel Ambassador einnisten würden. Mit leichter Bestürzung betrachtet der Stockholmer Polizeichef den Vertragsentwurf, den ich ihm über seinen
Schreibtisch reiche. Aber er findet seine Fassung schnell zurück. »Wenn die so etwas vorgehabt hätten«, versichert er, »dann wüßten wir davon!« Er überlegt kurz, legt den Kopf auf die Seite und fügt hinzu: »Wenigstens danach hätten wir davon gewußt.« Das beruhigt! In dem Vertragsentwurf heißt es weiter, daß »nach dem Eintreffen der ersten Freiwilligen« innerhalb von vier Wochen »bis zu 100 weitere Freiwillige aus verschiedenen westlichen Ländern (darunter Staatsangehörige der USA und Großbritanniens) in den Dienst der LEGION treten«. Auch diese Söldner sollen über Stockholm oder Kopenhagen geschleust werden. Als Ort für den Vertragsabschluß sind ebenfalls beide Städte alternativ vorgesehen. Ob es je zur feierlichen Unterzeichnung des Vertrages gekommen ist, bleibt ungeklärt. Fest steht, daß im Mai 1992 ein gewisser B. E. Althans mit tatsächlich geschehenen Söldnereinsätzen Geschäfte zu machen sucht. Per Telefax bietet er »spektakuläre ActionFotos« in Zusammenhang mit einer internationalen »NeonaziVerbindung nach Kroatien und dem Irak« zum Verkauf an. Auf Althans und seine Aktivitäten kommen wir später noch zurück. Es steht weiterhin fest, daß der Einsatz von vielleicht einigen hundert Neonazis militärisch keinerlei Relevanz haben konnte. Warum, so muß gefragt werden, war der Irak an einer solchen Zusammenarbeit überhaupt interessiert? Als ich mich mit Kühnen im September 1990 – noch lange vor Ausbruch des Krieges – darüber unterhalte, hat er eine einleuchtende Erklärung: »Von unserer Seite her ist es nach dem Motto: ›Der Feind meiner Feinde ist mein Freund‹, und für die Iraker ist es innenpolitisch recht nützlich.
Sie können eben in der Propaganda hervorheben, daß nicht die ganze Welt gegen sie ist, sondern daß Patrioten gerade aus den Feindländern wie England oder den USA anders darüber denken. Und dann eben auch handeln.« Die eingesetzten internationalen Verbindungsmänner sind Et Wolsink für die »Kameraden« aus England und der NSDAPAO-Chef Gary Rex Lauck für die US-amerikanischen »Freiwilligen«. Angekurbelt wurde die ganze Aktion aber von Hainke und drei weiteren Aktivisten, die alle den Behörden einschlägig bekannt sind. Einer davon, Roland Tabbert, wird von manchen seiner eigenen »Kameraden« sogar als Informant des Verfassungsschutzes betrachtet, war er doch früher selbst bei der Organisation Gehlen, dem Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND). So ist davon auszugehen, daß alle grundsätzlichen Informationen den zuständigen Behörden sehr wohl bekannt gewesen sein dürften. Also auch Karlheinz Gemmer, dem Frankfurter Polizeipräsidenten. Rupert von Plottnitz, Abgeordneter der Grünen im hessischen Landtag, stellt fest: »Dem Frankfurter Polizeipräsidenten scheint völlig entgangen zu sein, daß die Polizei im demokratischen Rechtsstaat die Aufgabe hat, die öffentliche Sicherheit und die Rechtsordnung vor möglichen Beeinträchtigungen durch die Umtriebe von Neonazis à la Kühnen zu schützen, daß es ihr aber keineswegs zusteht, journalistische Berichte über solche Umtriebe zu zensieren oder politisch zu bewerten.« Dem ist nur hinzuzufügen, daß dieser unglaubliche Vorgang leider kein Einzelfall ist. Es ist nur ein Beispiel, mit welchen Methoden unbequeme Journalisten mundtot gemacht werden können. Selber konnte ich ja bereits kurz zuvor eine ähnliche Erfahrung machen. Wie weiter vorn beschrieben, wurde da bereits die Planung eines Interviews als »Anstiftung zur Volks
Verhetzung« kriminalisiert. Meine Recherchen wurden massiv blockiert. Das offenbare Ziel, eine Veröffentlichung zu verhindern, wurde in diesem Fall erreicht. Es nützt gar nichts, wenn das Ermittlungsverfahren nach einem dreiviertel Jahr lapidar eingestellt wird. Auf den Punkt bringt es die Zeitschrift Publizistik und Kunst (Nr. 8, 1991): »Recherchen wurden als »Anstiftung«, Berichterstattung als »Propaganda« uminterpretiert. Nach dieser Auffassung ist offenbar ein Volksverhetzer nicht nur, wer den rechten Arm zum Hitlergruß hebt, sondern auch, wer darüber berichtet.« Auch die jüdische Journalistin Margitta Fahr wurde in Berlin wegen der Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen verfolgt. Sie hatte einem Kollegen am 14. Oktober dieses Jahres per Telefax Informationen über Neonaziaktivitäten, darunter einen Naziaufkleber mit einem Porträt von Rudolf Heß, geschickt. Das Wort »Hess« wurde mit SS-Runen geschrieben. Dieses Fax hatte der Staatsschutz auf bislang unbekannten Wegen erhalten und zur Anklage gebracht. Doch nicht nur Journalisten sind betroffen. Während rechte Jugendliche in der Regel nach ihren Überfällen und Brandstiftungen auf freien Fuß gesetzt werden, verbringen zwei Jugendliche in München knapp vier Wochen in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, einem Rechtsextremisten eine mit nazistischen Aufnähern übersäte Jacke abgenommen zu haben. Die Polizei begründet ihr Vorgehen damit, man wolle »Kämpfe von links gegen rechts in München im Keim ersticken«. Auch als eine Gruppe französischer Juden am 19. Oktober 1992 in Rostock eine Gedenktafel anbringen und gegen das deutsch-rumänische Abschiebeabkommen protestieren wollte, sollte sie eine ganz andere Polizei erleben als die Flüchtlinge und Ausländer wenige Wochen zuvor. Zunächst hatte die Gruppe am Rathaus eine Gedenktafel angebracht, die an die
rassistischen Krawalle in Rostock und an die Verfolgung von Juden sowie Roma und Sinti im Dritten Reich mahnen sollte. Nachdem einige Demonstranten ins Rostocker Rathaus eindringen, um dort Transparente mit der Aufschrift »Germany, don’t forget history« und »Damals vergast, heute abgeschoben« aus den Fenstern zu hängen, werden vier von ihnen festgenommen. Sie werden von anderen aus dem Polizeigewahrsam befreit. Daraufhin umstellt die Polizei den Bus der Demonstranten und nimmt alle fest. Gegen 46 von ihnen leitet die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren wegen Hausfriedensbruchs ein, gegen drei Franzosen erwirkt sie einen Haftbefehl wegen Gefangenenbefreiung und besonders schweren Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Sie bleiben neun Tage in Haft. Die Gedenktafel am Rathaus wird unmittelbar nach der Verhaftung der Juden wieder entfernt. »Wir konnten diesen Text nicht akzeptieren, weil es in Rostock keine rassistischen Gewalttaten gegeben hat«, begründet ein Pressesprecher das Vorgehen. Ein Flugblatt, das in München am 11. Jahrestag des Oktoberfestattentats während einer Mahnwache verteilt wird, ruft ebenfalls eine übereifrige Justiz auf den Plan. Der Satz, daß bei einem derart schweren Verbrechen wie dem Oktoberfestattentat die »Gesinnungsjustiz« die naheliegenden Ermittlungen gegen weitere Täter aus dem rechten Spektrum absichtlich vernachlässigt hätte, ließ den Staatsschutz aufhorchen. Vier Verteiler und der presserechtlich Verantwortliche des Flugblatts werden zu Geldstrafen wegen Verunglimpfung von Staatsorganen verurteilt. »GesinnungsJustiz«, das will sich die Justiz denn doch nicht gefallen lassen. Aber wenn man in die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zurückschaut, fallen doch gewisse Traditionen ins Auge. Gerade die politische Justiz in der Weimarer Republik spielte angesichts der Hetze gegen die Republik, angesichts von
Putschversuchen und einer Vielzahl von politisch motivierten Morden eine große Rolle. Die Urteile in derartigen Verfahren sprechen eine eindeutige Sprache. Wer beispielsweise das Deutsche Reich als »deutsche Schieber- und Judenrepublik« bezeichnet hatte, mußte 100 Mark Geldstrafe bezahlen. Wer aber in einer politischen Versammlung einen Heerführer »Schlachtmeister« und Hindenburg »Oberschlächtermeister« genannt hatte, kam gleich sechs Wochen ins Gefängnis. Das gleiche Bild bei den politisch motivierten Morden. Von 1919 bis 1922 gab es zwanzig von links, aber 354 von rechts begangene politische Morde. So betrug die Gesamtstrafe bei den zwanzig von links begangenen Morden zehnmal die Exekution, rund 248 Jahre Haft sowie dreimal lebenslänglich Zuchthaus. Und bei den 345 Morden von rechts: keine Todesstrafe, rund neunzig Jahre Haft, einmal lebenslänglich. Blieben von zwanzig von links begangenen Morden nur vier ungesühnt, waren es bei den 354 von rechts begangenen gleich 326. Das gleiche Bild beim Tatbestand des Hochverrats, das heißt beim juristischen Umgang mit dem rechten Kapp-Putsch im Frühjahr 1920 und der linken Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919. Von den Mitgliedern der Kapp-Regierung wurde nur der damalige Innenminister von Jagow zu fünf Jahren verurteilt (nach drei Jahren begnadigt), alle anderen blieben in Freiheit und im Amt. Währenddessen blieb kein einziger von 52 angeklagten Mitgliedern der bayerischen Räteregierung in Freiheit und Amt. Die Gesamtstrafe betrug hier 135 Jahre und zwei Monate. Alle sechzig angeklagten Militärs der Kapp-Regierung blieben in Freiheit, zwei von ihnen flüchteten ins Ausland. Von den 72 angeklagten Militärs der Räterepublik blieb keiner in Freiheit. Zwei wurden erschossen, die übrigen wurden insgesamt zu 276 Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt.
Das gleiche Bild beim Umgang mit der NSDAP. Hatte im Frühjahr 1923 der Staatsgerichtshof noch das Verbot der NSDAP bestätigt, sah es nach dem Putschversuch von Hitler und Ludendorff im November 1923 ganz anders aus. Hitler wurde zwar am 1. April 1924 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, das Gericht gestand ihm aber »vaterländischen Geist und edelsten Willen« zu und verzichtete auf die Anwendung des Republikschutzgesetzes. »Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler, kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift des Republikschutzgesetzes keine Anwendung finden«, hieß es im Urteil. Schon Mitte Dezember 1924 wurde Hitler entlassen, sein weiterer Werdegang ist bekannt. Die Situation kurz nach Hitlers Machtergreifung war dann gekennzeichnet von Amnestien für »nationale« Straftäter und der Anwendung des Strafrechts als politisches Kampfinstrument. SS und SA wurden großzügig rechtsfreie Räume gewährt. Die Richtervereine sandten Ergebenheitsadressen an die nationalsozialistischen Machthaber. Bis zum Zusammenbruch arbeitete die Justiz »pflichtgemäß«. Noch im Frühjahr 1945 wurden Zweifel am Endsieg rigoros von Sondergerichten geahndet. Als letzter Akt wurden belastende Akten vernichtet. Und nach Kriegsende? Im Westen gab es nur einen einzigen gerichtlichen Versuch, die Justiz des Dritten Reiches als Ganzes strafrechtlich aufzuarbeiten: die Nürnberger Juristenprozesse gegen vierzehn Justizbeamte, drei ehemalige Staatssekretäre und Richter. Am 3. und 4. Dezember 1947 wurden die Urteile gefällt: viermal »lebenslänglich«, viermal zehn Jahre, einmal sieben und einmal fünf Jahre. Die meisten Verurteilten waren aber bereits 1950 wieder in Freiheit, der letzte wurde 1956 entlassen. Zum ersten- und zum letztenmal sprach ein Gericht von der aktiven Mitschuld der Justiz und der Beteiligung an den Verbrechen des NS-Regimes. In der
Urteilsbegründung hieß es: »Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.« Darüber hinaus gab es jedoch keine Aufarbeitung der Geschichte der Justiz im Dritten Reich. Mit einem im Mai 1951 verabschiedeten Gesetz wurde den ehemaligen Beamten ein Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung zugebilligt. Damit war der Schlußstein zum Wiederaufbau der bundesdeutschen Justiz gesetzt. Die personelle Kontinuität, welche die Entnazifizierung eigentlich hatte verhindern wollen, fand damit ihre rechtliche Absicherung. Vierzig Jahre Verdrängen und Vergessen haben schließlich eine Amnestie für Justizverbrecher auf biologischem Weg, das heißt durch das Ableben der Beteiligten, bewirkt. Selbst der damalige Bundesjustizminister Engelhard (FDP) hielt in seinem Geleitwort für einen Ausstellungskatalog zum Thema »Justiz und Nationalsozialismus« 1989 diese Flucht vor der Vergangenheit »für die Fehlleistung der bundesdeutschen Justiz überhaupt«. Die Frage nach der Verantwortung für die schnelle und nahezu widerstandslos erfolgte Pervertierung des Rechts nach 1933 wurde beiseite geschoben. Nach dem Schema »Gesetz ist Gesetz« und »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein« wurden die Richter entlastet. Den Rest erledigte der starke Korpsgeist unter der Richterschaft. Kein Richter verurteilt einen anderen Richter. Eher werden – wenn die Gelegenheit günstig scheint, wie nach dem Fall der Mauer und der Vereinigung – alte Rechnungen beglichen. Am 18. Mai 1992 wird in Hamburg der 86jährige Gerhard Bögelein zu lebenslanger Haft verurteilt. Man warf ihm vor, in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager im Jahre 1947 den NS-Oberstabsrichter Erich Kallmerten erschlagen zu haben. Kallmerten war NS-Militärrichter an der Ostfront und
unterzeichnete für diesen Bereich mindestens 176 Todesurteile gegen Deutsche, Russen, Esten, Letten und Litauer. 1951 hatte der Hamburger Ermittlungsrichter Kurt Steckel, einst Staatsanwalt beim berüchtigten Sondergericht in Königsberg (heute Kaliningrad), mit seinen Ermittlungen im Fall Kallmerten begonnen. Er scheute weder Kosten noch Mühe, 112 Zeugen aufzusuchen und zu verhören, darunter zwanzig in der Sowjetunion verurteilte Kriegsverbrecher. Kein Zeuge hatte Kallmertens Tötung mit eigenen Augen gesehen, und die Aussagen widersprachen sich, doch dies reichte für einen Haftbefehl und ein Auslieferungsbegehren an die DDR aus. Die lehnte jedoch ab. Einen Monat nach der deutschen Vereinigung wurde dem mittlerweile kranken Bögelein der Prozeß gemacht. Obwohl es weder Tatzeugen noch Indizien gab, obwohl das Gericht Steckels Vernehmungsmethoden und Vergangenheit kritisierte, verurteilte es Bögelein wegen heimtückischen Mordes zu »lebenslang«. Seitdem sitzt Bögelein in Haft. Möglich gemacht hat dies die deutsche Einheit. Der mehrfach von NSGerichten zum Tode verurteilte Deserteur und Antifaschist Bögelein hat »lebenslänglich« erhalten, während die deutsche Justiz es nicht fertigbrachte, einen einzigen Richter des berüchtigten nationalsozialistischen Volksgerichtshofs nach Kriegsende zur Rechenschaft zu ziehen, der in weniger als neun Jahren 5234 Todesurteile ausgesprochen hatte. Die deutsche Justiz, die es fertigbrachte, alle an der Ermordung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann im KZ Buchenwald beteiligten SS-Männer von Strafe frei zu halten, und damit zugelassen hat, daß eine grausame Straftat zu einen perfekten Mord werden konnte. Die deutsche Justiz, die vor kurzem einem Mann den Status des »Deutsch-Seins« aberkannt hat, weil er als Wehrmachtssoldat in Kriegsgefangenschaft geraten war und
sich daraufhin zur polnischen Exilarmee gemeldet hatte. Seine Kriegsgegnerschaft zu Deutschland wertete das Oberverwaltungsgericht in Koblenz als »Bekenntnis gegen das deutsche Volkstum«. Die Folge: Seinem aus Polen übergesiedelten Sohn, der sich auf seine deutsche Abstammung berufen wollte, wurde der Vertriebenenausweis entzogen. Das sind Kontinuitäten. Derweil ärgert man sich im Dezember 1992 über einen ehrenamtlichen Richter in Bochum. Mehrere Versuche, den NPD-Anhänger Peter Markert zu suspendieren, schlagen fehl. Seine Richterkollegen wollen ihn im Amt belassen; erst das Landesarbeitsgericht Hamm enthebt ihn zwei Monate später seines Amtes. Markert hatte folgende »Stellungnahme zum völkischen Kollektivismus« unterschrieben: »Wir wollen nicht, daß unsere Enkel und Urenkel als Halbasiaten durch unsere Heimat streifen.« Für Markert, den Arbeitsrichter in Bochum, scheint das auf der Hand zu liegen: »Denn das ›Blut der Deutschem ist ein besonderer Saft und unterscheidet sich gründlich von übelriechendem Schleim‹.« Wenn die Rede davon ist, daß die deutschen Behörden »auf dem rechten Auge blind« seien, dann ist dies weder übertrieben noch zufällig, sondern auch das logische Resultat einer ganz bestimmten Geisteshaltung. Nämlich der, die Ralph Giordano in seinem Buch »Die zweite Schuld« als »perversen Antikommunismus« beschreibt: »Professionell, doktrinär, erklärt militant, ist seine bundesdeutsche Variante dazu noch im Hochofen des Dritten Reiches hartgebrannt worden. Zwischen ihm und einer human und demokratisch motivierten Ablehnung des Sowjetsystems gibt es keinerlei Beziehungen.« Ein Hintergrund: 1955 wurde eine Organisation in Bundesnachrichtendienst (BND) umbenannt, die ursprünglich Fremde Heere Ost (FHO) hieß. Sie wurde zwischen 1941 und 1942 von einem Nazioberst i. G. Reinhard Gehlen als
Spionageeinheit des Dritten Reiches zum Ausspähen der Sowjetunion aufgebaut. Im Mai 1945 stellte die Generalstabsabteilung FHO kurzfristig ihre Tätigkeit ein. Doch nicht für lange. Denn hinter den Kulissen arbeitete man schon längst mit den US-amerikanischen Geheimdiensten zusammen. 1946 ging es schon weiter in fast identischer personeller Besetzung. Und in die gleiche Richtung. Der kalte Krieg hat es möglich gemacht. Reinhard Gehlen nutzte die Gunst der Stunde: Eingefleischte Antikommunisten waren gefragt. Ob eine nationalsozialistische Grundhaltung dahinterstand, interessierte nicht. Jetzt nannte man sich »Organisation Gehlen«. Die »Jungs« vom Nazi-Reichssicherheitshauptamt (RSHA) wurden mit dem 1950 gegründeten Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) brüderlich aufgeteilt. Die Gestapoknechte waren wieder wer. Doch Geister, die man ruft, sind anhänglich. So wurden die bundesdeutschen Geheimdienste mit antikommunistischen Zwangsdemokraten angereichert, die schließlich mangels drohenden Russen-Feindbilds immer unbeweglicher werden. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Wer will von Geheimdiensten mit einer derartigen Historie erwarten, daß über demokratische Werte auch nur nachgedacht wird? Machen wir uns nichts vor: Wen wird sich ein alter Nazi als Zuarbeiter und Nachfolger ins Amt holen? Einen liberalen Scheißer? Womöglich noch einen mit der Tendenz, in den Russen keine Ungeheuer und in den Friedensbewegten keine Kommunisten zu erblicken? Ach was! Der Feind steht links! Rechts sind wir selbst. Punkt. Ich übertreibe? Dann muß ich wohl alles falsch verstanden haben, wenn sich im Oktober 1992 der oberste »Verfassungsschützer« einen neuen Namen für seine Behörde wünscht: Bundessicherheitsamt soll sie heißen. Der Präsident des BfV, Eckart Werthebach, weist daraufhin, daß der Klang
des Wortes »Verfassungsschutz« in Deutschland »historisch als Abwehr gegen den Kommunismus gesehen« werde. Der Gleichklang von Reichssicherheitshauptamt und Bundessicherheitsamt scheint ihn dagegen nicht zu stören.
»General Gehlen, mein alter Freund, der Jahrzehnte hindurch maßgebende Geheimdienste, zuletzt den Bundesnachrichtendienst, erfolgreich leitete, hat mir mehr als einmal ein interessantes System antideutscher Geheimdienste anschaulich geschildert«, schreibt der rechtsextreme Dr. Gerhard Frey (DVU) in seiner Nationalzeitung am 17. April 1992. Gehlen (BND) und Frey (DVU): alte Freunde, vereint im Geschwätz von »antideutschen« Bestrebungen. Noch deutlicher kann man es eigentlich nicht präsentieren. Auf den BND näher einzugehen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Doch zum Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sind noch Anmerkungen nötig. Das BfV gibt alljährliche Verfassungsschutzberichte heraus, in denen über links- und rechtsextremistische Bestrebungen, sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern sowie Spionageabwehr referiert wird. Ein »wichtiger Beitrag zur Information der Bürger und ein wesentlicher Bestandteil praktizierter wehrhafter Demokratie«, wie der damalige Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im Bericht von 1990 formulierte. Schaut man sich die Berichte des BfV dann genauer an, so entdeckt man entlarvende Unterschiede in der Terminologie bei der Aufzählung extremistischer Untaten. In den Berichten heißt »Mord/Mordversuche« bei den Linksextremen, was bei den Rechtsextremen gleichzeitig mit dem milden Wort »Tötungsdelikte« umschrieben wird.
Bei der Erfassung von Personen und Organisationen gehen die Verfassungsschützer bei den »Linken« ebenfalls drastischer ins Detail als bei den »Rechten«. Vor allem in der Friedensbewegung sieht man Erfassungsbedürfnis. Bei den »Rechten« dagegen läßt man Schlüsselorganisationen wie die HIAG einfach durch das Raster fallen. Ganz zu schweigen davon, daß es neun Jahre, bis zum Dezember 1992, dauern sollte, bis die Republikaner endlich vom Verfassungsschutz mitbeobachtet werden, obwohl bekannt war, wie stark diese Partei seit ihrer Gründung von überzeugten Neonazis und kriminellen Rechtsextremisten durchsetzt war. Mit der HIAG hat es auch noch eine besondere Bewandtnis. Diese Organisation war nämlich schon einmal im BfV-Bericht aufgelistet. Doch das änderte sich. Und das kam so: Als die Nazikriegsverbrecher und SS-Mörder nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Geheimdienste und des Vatikans in sichere Regionen entschwunden waren, da verblieb nach erfolgreichem Vollzug der Rettungsaktion ein gut eingespieltes Netzwerk zur Disposition. Die Angehörigen der ODESSA ließen das Verbindungsnetz nicht lange brachliegen. Doch zunächst mußten Tarnorganisationen gegründet und bestehende Vereine unterwandert werden: Vorfeldorganisationen. Stellvertretend sei hierfür die HIAG genannt. Man kann nur in groben Zügen andeuten, wie die 1950 gegründete HIAG als »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit« allmählich zur Schlüsselorganisation der »alten Herren« wurde. Immer mehr radikale Nazis gesellten sich in den Verein, der ursprünglich Hinterbliebenenhilfe und Verschollenen-Suchdienste leisten wollte. Die ODESSADrahtzieher politisierten den »Bundesverband der ehemaligen Soldaten der Waffen-SS e.V.« und wirkten, offenbar mit Erfolg, auf die ehemaligen Kollegen von Gestapo und FHO entsprechend ein. Das führte dazu, daß die HIAG ab 1983
nicht mehr vom Verfassungsschutz observiert wurde, obwohl bei den Treffen so bemerkenswerte Figuren wie General a. D. Otto-Ernst Remer präsent sind. 1984 berichtete die Bild-Zeitung: »Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Heribert Hellenbroich (46) hat seit längerem ein Auge auf eine Organisation, die am Rande der Verfassungsfeindlichkeit operiert. Das Pikante: Geschäftsführer dieser Organisation ist sein jüngerer Bruder Anno Hellenbroich.« Gemeint ist die EAP (»Europäische Arbeiterpartei«), die zum rechtsradikalen Organisationsspektrum des US-Amerikaners Lyndon LaRouche gehört. Bereits am 8. Dezember 1978 schrieb dieser in seinem EAP-Blatt Neue Solidarität: »Die verächtliche, aber leidenschaftliche Sophisterei, die die zionistischen Demagogen allen anbieten, die dumm genug sind, durch solchen Schwindel beeindruckt zu werden, ist die ›Holocaust‹-These.« Und Bild hat richtig recherchiert: Anno Hellenbroich war Geschäftsführer der Executive Intelligence Review, ein Mitteilungsblatt, von dem z.B. »Sonderberichte« wie »die grüne Nazi-Internationale« erhältlich waren. Auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag, ob »die Einstellung der Observierung« der EAP durch den Verfassungsschutz auf das Bruderverhältnis zurückzuführen sei, antwortete die Bundesregierung am 1. April 1985 mit »Nein«. Und weitere Kontakte der EAP zu staatlichen Überwachungsdiensten? »Der Bundesregierung sind keine derartigen Kontakte bekannt.« In diesem Klima der Narrenfreiheit gedeiht, was von einigen Konservativen des Landes so gerne als »chaotische Randgruppe« abgetan wurde, wobei der Einfachheit halber stets die »Linken« gleich mit einbezogen wurden. Als 1989 zum Beispiel die Nationale Sammlung des Michael Kühnen verboten wurde, versäumte der Staatssekretär des Innenministeriums Spranger nicht, darauf hinzuweisen, daß
man ein »deutliches Zeichen an alle Links- und Rechtsextremisten« setzen wolle. Für aufmerksame Beobachter der »Szene« zeichnete sich jedoch seit Jahren eine Eskalation der rechtsextremen Gewalt ab. Warum sich so viele Journalisten, also »Meinungsmacher«, und Politiker, also »Gesetzgeber«, aus dem gesamten demokratischen Spektrum der Einsicht dieser aufkommenden Gefahr vehement und mit den verschiedensten Argumenten verschlossen haben, bleibt offen. Es bleibt sogar offen, ob den Verharmlosern ihre Fehleinschätzung überhaupt bewußt geworden ist. Und es ist symptomatisch, daß auf Rechtsextremismus spezialisierte Experten, wie der ehemalige Leiter der Staatsschutzabteilung im Bundeskriminalamt der fünf neuen Bundesländer Ende 1991, »abgewickelt« werden, ohne daß sich ein Sturm der Empörung erhebt. Bernd Wagner, einer der wenigen Experten mit tiefen Einblicken in die Szene Ostdeutschlands, wird schlichtweg seines Amtes enthoben. Wagner hatte es gewagt, Analysen zu präsentieren, die Querverbindungen zwischen Neonazis und etablierten Parteien aufzeigten. Auch sonst reihte sich Wagner nicht in die allgemeine Betrachtungsweise ein, daß es doch hauptsächlich um »Orientierungslose« gehe. Wagner wird herausgedrängt. Das ist ein Triumph für die Verharmloser und Zwangsdemokraten. Sie werden sich nach den mörderischen Anschlägen im Jahre 1992 nur ungern an Bertolt Brecht erinnern lassen, geschweige denn ihm zustimmen. Denn Brecht warnte schon kurze Zeit nach dem »Untergang« des Dritten Reiches: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.«
Der fruchtbare Schoß
»Es wäre komisch, wenn es nicht so schrecklich wäre.« Zwei Tage nachdem rechtsextreme Jugendliche unter dem Beifall der Anwohner das Wohnheim der Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen in Brand gesteckt haben, beginnt mit diesen Worten ein Kommentar von Enno von Loewenstern in der bürgerlichen Welt. Der Titel: »Triumph des Faustrechts«. Auch das Weiterlesen läßt mich schaudern. In bekannter Manier wird Unvergleichbares gleichgesetzt: »Was sich in Rostock abgespielt hat, haben wir von Brokdorf bis Wackersdorf, von der Hafenstraße bis Freiburg hundertfach erlebt.« Also, meine Damen und Herren vor allem im Ausland, warum überhaupt die Aufregung? Von Loewenstern weiß auch, wer schuld an solchen Dingen wie in Rostock ist: »Der Rechtsstaat hat jahrelang systematisch das Recht gebrochen. Er hat Milliarden an Steuergeldern ohne Rechtsgrundlage ausgegeben für Personen, die keinen Anspruch darauf hatten, hier geduldet und versorgt zu werden.« Die Ausländer und Flüchtlinge sind also letztendlich schuld sowie die Politiker, die nicht »für ein Ende der Überflutung gesorgt« hätten. Dann rechnet Enno von Loewenstern mit der Vergangenheitsbewältigung ab: »Kein Volk verdient mehr Anerkennung für anständige, rechtsstaatliche, nichtfaschistische Haltung als die Deutschen. Kein Volk ist übler von den eigenen ›Intellektuellen‹, Kanzelrednern, Politikern heruntergemacht worden.« So, Herr von Loewenstern, das wäre geschafft, jetzt kann es ans Praktische gehen: »Es ist bitter, wenn die Verfassungsänderung nicht vom Verstand, sondern vom
Verbrechen diktiert wird, aber deswegen darf der rechtswidrige Zustand nicht aufrechterhalten werden.« Krokodilstränen sind unnötig: Wenn das Verbrechen recht hat, hat es recht. Und das Grundrecht auf Asyl ist also »rechtswidrig«? Interessant. Da fehlt eigentlich nur noch die Forderung: »Scheinasylanten raus«, aber so etwas schreibt man natürlich nicht in einem Welt-Artikel. Die Botschaft versteht man trotzdem. Herr von Loewenstern braucht sich nur noch drei Monate zu gedulden, dann folgt die Regierung der Stimme des »Verbrechens« und schränkt das Grundrecht auf Asyl bis zur Bedeutungslosigkeit ein. Die Opfer von Rostock, die Vietnamesen, müssen auch gehen. Jahrelang gut genug als »Werkarbeiter« in der DDR, wird ihnen jetzt die rechtliche Gleichstellung mit den West-»Gastarbeitern« verwehrt. Die eiskalte Begründung des Bundesverwaltungsgerichts: Es sei »mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit« davon auszugehen, daß es in Vietnam zu keiner Bestrafung der Betroffenen kommen werde. In der Tat, das Klima in Deutschland hat sich gewaltig geändert. Es ist Platz für eine Rechtspartei neben der Union, und der Boden ist bereitet für militante Aktionen und Organisationen. Während Unternehmerverbände – in Sorge um ausländische Investitionen und Absatzmärkte – vor dem anwachsenden Rassismus warnen, drohen einzelne Firmenchefs, ihren Betrieb zu verlagern, falls in der Nähe ihrer Privathäuser Asylbewerber untergebracht werden. Bayern im Herbst 1992: Während in Bamberg eine 23jährige Inderin, die zuvor in der Lokalpresse als 8000. Studentin in der Domstadt begrüßt worden war, von drei Deutschen überfallen wird, die ihr die Bluse aufreißen, den Büstenhalter durchtrennen und sie danach mit Messerstichen am Unterleib verletzen, da sehen die bayerischen Fernsehzuschauer bei der
bundesweiten Übertragung der Trauerfeier für die Möllner Todesopfer nur das Testbild. Während behinderte Menschen zusehends Opfer von rechtsextremen Schlägern werden, bekommen Urlauber Schadenersatz zugesprochen, weil sie in ihren Ferien den Anblick von Behinderten ertragen mußten. Während Bundeskanzler Kohl den Brandanschlag von Mölln mit dem allgemeinen Kriminalitätsanstieg erklärt, werden in Berlin schon zehnjährige Kinder von Skinheads mit Prügeln zum Hitlergruß genötigt. Täglich geschehen, mit steigender Brutalität, Übergriffe auf Flüchtlinge, Ausländer, Juden, Behinderte, Punker und Linke. Es scheint keinerlei Hemmschwellen mehr zu geben. Ein Zustand, der nicht nur meinen ausländischen Freunden, sondern auch mir ganz persönlich angst macht. Und diese Angst wird noch verstärkt durch die notorische Abwiegelei derjenigen, deren einziges Problem das schlechte Bild Deutschlands im »Ausland« zu sein scheint. Heinz Reisz aus Langen zeigt sich angesichts dieser Situation dagegen hoch erfreut und bekennt offen, daß es ihm und seinesgleichen zur Zeit nicht darum gehe, an die Macht zu kommen. »Das wäre unrealistisch. Aber unsere Aufgabe ist es, die Parteien dazu zu drängen, daß sie nach rechts abdriften müssen. Und wir haben es erreicht, denn die CDU und erst recht die CSU stehen mit ihren Aussagen heute so weit rechts wie die NPD vor zwanzig Jahren.« Auch Kühnens Nachfolger in der NSDAP-AO-Vorfeldebene Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GDNF) können sich befriedigt zurücklehnen.
In der niederländischen Stadt Delfzyl wird die GdNF-Postille Die Neue Front vertrieben, die Gelder laufen über die örtliche Bondsspaarbank. Von dort aus wollen die GdNF-Kader »die Flamme der deutschen Revolution von Rostock, Cottbus und Dresden nach Hamburg, Frankfurt und München tragen«. Mit einem klaren »Weiter so, Deutschland« feiern sie die Ausschreitungen als »Widerstand«, der in Rostock geleistet wurde. Während militante Gruppierungen bei Wahlen noch chancenlos sind, kommen rechtsextreme Parteien wie die Republikaner um Franz Schönhuber und die Deutsche Volksunion um den millionenschweren Münchner Verleger und Großgrundbesitzer Gerhard Frey in die Parlamente. Schon bei den bayerischen Landtagswahlen 1986 hatten die drei Jahre zuvor aus enttäuschten CSU-Mitgliedern gegründeten REPs einen Achtungserfolg mit 3 Prozent der Stimmen erzielt. In der Folge füllte Schönhuber die Bierzelte, war gerngesehener Stargast bei Feuerwehrfesten oder Jubiläumsveranstaltungen von Schützen- und Gesangsvereinen. Er sagte das, was die Leute hören wollen. »Scheinasylanten raus«, »Wir sind nicht das Sozialamt des Mittelmeerraumes« und »Wir wollen den ökologischen Lebensraum des deutschen Volkes sichern – auch gegen fremde Unterwanderung«. Hauptthema der REPs neben der Ausländerfrage ist die Vergangenheitsbewältigung. Da fordert der Parteichef klar und eindeutig: »Schluß mit dem deutschen Büßergang!« »Wir wollen nicht mehr, daß man im Fernsehen im 1. Programm Dachau zeigt, im 2. Programm Treblinka und im 3. Programm Auschwitz. Wir sind nicht mehr bereit, die permanente Nestbeschmutzung in den deutschen Medien hinzunehmen. Der deutsche Soldat war kein Verbrecher, er hat seinem Land genauso gedient wie der Franzose, der Engländer und der Sowjetsoldat. Wir erklären feierlich die Umerziehung
der Deutschen für beendet, den Fahrkartenschalter nach Canossa endgültig geschlossen.« Seine Zuhörer sind begeistert, sie jubeln ihm zu. Schönhuber weiß genau, warum: »Es mußte einmal einer in diesem Lande kommen, der öffentlich die Wahrheit sagt, nicht nur in versteckten Zirkeln.« Frenetischer Applaus. Der geschickte Rhetoriker Schönhuber setzt beim Bundesparteitag 1990 in Rosenheim noch eins drauf: »Der Wind dreht sich, er dreht sich nach rechts.« Jetzt kennt der Jubel keine Grenzen mehr. Die Leute stehen auf, die Maßkrüge werden emporgehalten, Siegeszuversicht macht sich breit. Die als »Erneuerer Deutschlands« angetretene Partei, die für die »deutsche Selbstfindung« und gegen einen »zügellosen, volkszersetzenden Liberalismus« zu Felde zieht, sollte auch gleich Schlagzeilen machen. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Februar 1989 geben knapp 90 000 Westberliner ihre Stimme der rechtsextremen Partei. Diese 7,5 Prozent brachten nicht nur elf Sitze im Abgeordnetenhaus, sondern eine halbe Million Mark Wahlkampfkostenrückerstattung in die Parteikasse. Die Partei baute damit ihre Organisation aus und stürzte sich in den Europawahlkampf. Bundesweit 7,1 Prozent und in ihrem Stammland Bayern gar 14,6 Prozent – die REPs haben die anderen Parteien das Fürchten gelehrt. Doch parteiinterne Querelen, Führungskämpfe und ein gescheiterter »Putsch« gegen den Parteivorsitzenden brachten die REPs von der Erfolgsspur. Der Schönhuber-Kontrahent Harald Neubauer mußte die Partei verlassen und orientierte sich mit führenden Funktionären von NPD und DVU neu bei der »Deutschen Liga für Volk und Heimat«. Schönhuber verkaufte den Ausschluß von ihm untreu gewordenen Mitgliedern und Funktionären zwar geschickt als »Läuterung« der Partei, als Kampf gegen den »Extremismus«, aber die
REPs konnten vom Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung, der Erfüllung einer ihrer Hauptforderungen, nicht unmittelbar profitieren. Sie erreichten zwar bei den bayerischen Kommunalwahlen im März 1990 noch einmal zweistellige Ergebnisse und sind seither in den Rathäusern aller Großstädte vertreten, verfehlten aber im Oktober den Einzug in den bayerischen Landtag denkbar knapp mit 4,9 Prozent. Bei den ersten Bundestagswahlen im vereinten Deutschland stimmten schließlich nur 2,1 Prozent der Wähler für die Schönhuber-Partei. Doch das sollte sich schlagartig ändern. In der langen Pause bis zu den nächsten anstehenden Wahlen 1992, den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, lief die Zeit für die REPs. Das Klima für rassistische und antisemitische Agitation war günstig. »Wir kämpfen für ein zweistelliges Ergebnis«, hatte der einstige Waffen-SS-Mann gewohnt vollmundig vor dem Urnengang verkündet. Er sollte recht behalten. Mit 10,9 Prozent wurden die REPs zur drittstärksten Kraft in Baden-Württemberg. Für Schönhuber war das »der Durchbruch«, für die Parteikasse satte vier Millionen Mark und für die Partei die Bestätigung, mit den Themen Asyl, Innere Sicherheit, Bekämpfung des Drogenproblems, Abtreibungsverbot sowie Rettung der Deutschen Mark vor dem ECU im Trend zu liegen. Der nächste Erfolg kam bei den ersten gemeinsamen Kommunalwahlen im Mai 1992 in Ost- und Westberlin. Die Medien haben sich an die Erfolge der REPs inzwischen so gewöhnt, daß die Zeitungen trotz der 8,3 Prozent für die rechtsextreme Partei in der ganzen Republik getitelt haben: »Rechtsruck in Berlin blieb aus.« Als ob man sich erst dann Sorgen zu machen brauchte, wenn die REPs 25 Prozent kassierten.
Franz Schönhuber konnte also mehr als zufrieden sein. Binnen zweier Jahre hatte er das Gesicht seiner Partei nach außen hin radikal verändert. Das Image der krachledernen, bierseligen Bayern-Partei haben die REPs nach ihren Erfolgen in Baden-Württemberg und Berlin abgelegt. Auf dem Parteitag im Juni 1992 in Deggendorf regieren die Intellektuellen mit Schlips und Kragen. Statt »Ausländer raus« heißt es jetzt vornehm, man wolle »für die kulturelle Identität« kämpfen. Schließlich will man ja salon- und koalitionsfähig werden. Daß der neugegründete Republikanische Jugendverband eine »totale Absage an die multikulturelle Gesellschaft« vertritt, von »Reinhaltung der deutschen Sprache« und »Rückgabe der Ostgebiete« spricht sowie Schulausflüge zu »sogenannten Gedenkstätten« vollständig streichen will, da diese »Massenvergangenheitsbewältigung« ein »Verbrechen an den Seelen der Schüler« sei, spricht Bände über die »demokratische« Läuterung der Partei. Nach Rostock erzielen die REPs bei der Wiederholungswahl zum Stadtrat von Passau satte 11,34 Prozent, und Franz Schönhuber vermeldet für seine Partei, die derzeit bei 23 000 Mitglieder rangiert, einen »stürmischen Zulauf«. Vieldeutig fügt er hinzu: »Die Zeit arbeitet für uns.« Die Zeit arbeitete auch für die DVU. Im September 1991 erreichte die 1971 von Gerhard Frey gegründete Partei bei den Landtagswahlen in Bremen 6,1 Prozent, in Bremerhaven sogar 10 Prozent. Ihren Erfolg von 1987 (3,4 Prozent) konnte die »Ausländer-raus«-Partei damit noch ausbauen. Die Partei, die mit ihren Aktionsgemeinschaften wie »Initiative für Ausländerbegrenzung«, »Aktion Oder-Neiße« oder »Deutscher Schutzbund für Volk und Kultur« mittlerweile zirka 26000 Mitglieder hat, war damit zum erstenmal in Fraktionsstärke in einem deutschen Länderparlament vertreten. Der Millioneneinsatz von Frey, der sein Geld nicht nur durch seine
Zeitungen und Immobilien, sondern auch durch einen schwunghaften NS-Devotionalienhandel verdient, hatte sich rentiert. Ein halbes Jahr später zog die Frey-Partei mit 6,3 Prozent (93 000 Stimmen) in den Landtag von SchleswigHolstein ein und feierte ihren »Durchbruch« als »Sieg für die gerechte Sache des deutschen Volkes«. Dort im Landtag fallen sie derzeit durch Anträge auf wie »gemeinnützige Arbeit für Asyl-Ausländer«, »Reinigung von Schulbüchern von antideutschem Schmutz und Schund« oder die Verteilung von Landkarten in Schulen, die »Deutschland in seinen rechtmäßigen Grenzen« zeigen, also inklusive Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien. »Wir werden niemals zulassen, daß wir wieder in eine Situation kommen, in der Leute wie Sie und Ihresgleichen uns wieder den Strick um den Hals binden können. Dann schlagen wir vorher zu«, empört sich der Abgeordnete der dänischen Minderheit, Karl Otto Meyer, als solche Anträge der DVU gestellt werden. Mit dem ihr zustehenden Fraktionsetat von 1,15 Millionen DM (1993) finanziert die DVU ihren Parteiapparat in München. Von dort aus kommen auch die meisten Anträge, als Redevorlagen ihrer Abgeordneten dienen oft Artikel aus den Frey-Blättern. Mit diesen Geldern bezahlt die DVU aber auch die Reisen des Vorsitzenden, insbesondere in die »neuen Länder«, um dort neue Kreisverbände aufzubauen. Zwei Monate vor dem Pogrom in Rostock tauchte die DVU samt Frey in der Hansestadt auf. Dort hetzten sie gegen die »Asylantenflut« und die »Zigeunerschwemme«. DVU-Mitglieder mischten in der »Bürgerinitiative Lichtenhagen« mit, die Ende August in der Ostsee-Zeitung die Rostocker aufforderte, »das Asylantenproblem selbst in die Hand zu nehmen«. Sie riefen zu einer öffentlichen Kundgebung vor der Mecklenburger
Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in RostockLichtenhagen auf, aus der sich dann das Pogrom entwickelte. Es waren DVU-Mitglieder, die am Morgen dieses ersten Tages die Logistik für die Kundgebung bereitgestellt hatten. Der Weg von Agitation zur Aktion ist nicht weit, ist der Boden einmal bereitet.
Spezialisiert auf ideologische Fragen hat sich die sogenannte Neue Rechte, deren Ideologie inzwischen überall Eingang gefunden hat, in nahezu allen rechtsextremen Parteien und in konservativen Kreisen. Ihr Vorbild ist die Gruppe der »Konservativen Revolution«, die sich in der Weimarer Zeit aus Jungkonservativen, Nationalrevolutionären und Völkischen zusammengesetzt hat. Sie gelten als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Ihr Mentor, der Staatsrechtler Carl Schmitt, hatte von Anfang an die parlamentarische Demokratie der jungen Republik bekämpft und war für einen autoritären, von Eliten geführten Staat eingetreten. Schmitt war nicht nur NSDAP-Mitglied und wurde von Hermann Göring protegiert, sondern auch einflußreicher Herausgeber der Deutschen Juristenzeitung. In dieser Eigenschaft feierte er die Nürnberger Rassengesetze.∗ Endlich sei der »Staat ein Mittel der völkischen Kraft und Einheit«.
∗
Zwischen 1933 und 1938 wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, welche die »Reinhaltung der arischen Rasse« gewährleisten und die »Beseitigung« der Juden juristisch flankieren sollten. Dazu gehörten das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 4. April 1933, das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« und das »Reichsbürgergesetz« vom 15. September 1935 sowie die »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« vom 12. Dezember 1938.
Die Renaissance des 1985 gestorbenen Schmitt ist derzeit nicht nur in Deutschland zu spüren. Seine Schriften werden in Italien und Frankreich neu aufgelegt und diskutiert. Auch in Deutschland stehen sie wieder hoch im Kurs, nicht nur beim stellvertretenden REP-Bundesvorsitzenden Rolf Schlierer aus Stuttgart. Der 37jährige Arzt und Jurist brüstete sich nach dem Wahlerfolg seiner Partei in Baden-Württemberg damit, daß er Schmitts Werke noch »aus dem Giftschrank des juristischen Seminars« habe holen müssen. Gemäß ihrem Vorbild aus der Weimarer Republik bekämpfen die »Neuen Rechten« den Liberalismus als Hauptfeind. Der Mensch sei von Natur aus nicht frei, demzufolge bedürfe es einer gesellschaftlichen Regelung der Freiheit unter Berücksichtigung der menschlichen Ungleichheit. »Freiheit durch Ordnung« heißt denn auch das Zauberwort der Neuen Rechten, also ein autoritärer Staat, in dem sich der einzelne dem Volkswillen unterzuordnen habe. Nation, Volk, Familie und Ordnung sind die zentralen Säulen dieser Ideologie. Dementsprechend schreiben sich die Neuen Rechten den Befreiungsnationalismus der Völker und den Ethnopluralismus (getrenntes Nebeneinander der Völker) auf ihre Fahnen. Im Sinne des Antiliberalismus kämpfen sie gegen die »WodkaCola-Kultur«, gegen den »westlichen Materialismus« und propagieren den »Dritten Weg« jenseits von Kommunismus und Kapitalismus. Vorzeigemedium in Deutschland ist die überwiegend von Studenten mit rechtsextremer Vergangenheit erstellte Zeitschrift Junge Freiheit. Innerhalb von fünf Jahren konnte das Monatsmagazin seine Startauflage von vierhundert Stück auf derzeit 35 000 steigern, ab Januar 1994 will man wöchentlich erscheinen. Dabei geholfen haben ihr prominente Autoren. Einträchtig neben Parlamentariern der CDU und CSU (z. B. Heinrich Lummer, Hartmut Koschyk, Eduard Lintner)
kommen in der Jungen Freiheit der österreichische FPÖ-Chef Jörg Haider, die deutschnationale Professorenriege um Hellmut Diwald, Robert Hepp, Wolfgang Seiffert und Klaus Hartung sowie NPD-Chef Günther Deckert, der »Historiker« David Irving, der Chef der rechtsextremen Deutschen Liga für Volk und Heimat, Harald Neubauer, und Funktionäre der Republikaner zu Wort. Diese Mischung verschaffte dem Blatt das nötige Renommee, um Berührungsängste zwischen Konservativen, Nationalen und Nationalrevolutionären abzubauen. Im Sinne des »Antiliberalismus« kämpft die Junge Freiheit für die vollständige Souveränität Deutschlands. Dazu gehöre auch die »seelische Befreiung« Deutschlands, also die Entsorgung der Geschichte. Eigens dafür hat die Zeitschrift die Seitenrubrik »Zeitgeschichte« eingerichtet, für die ein Alfred Schickel verantwortlich zeichnet. Schickel ist Chef der »Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle in Ingolstadt« und Spezialist in Sachen Geschichtsrevision. Er hat es geschafft, so eine Laudatio der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die »Historiographie aus dem Ghetto der Siegergeschichtsschreibung« herauszuführen. Auf seinen Seiten in der Jungen Freiheit wird dann nicht nur die »Auschwitz-Lüge« weitergestrickt, sondern die deutsche Wehrmacht wird systematisch rehabilitiert und der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion als Akt der Notwehr hingestellt. Alfred Schickel, der Mann, der nicht nur in der Jungen Freiheit, sondern auch in anderen rechtsextremen Magazinen wie Mut, Europa vorn und Zeitenwende publiziert und bei der »Rudolf-Heß-Gesellschaft« referiert, ist jüngst zu hohen Ehren gekommen. Aus der Hand des bayerischen Staatsministers Gebhard Glück erhielt er für seine Arbeit gegen »Unkenntnis, Vorurteil und Desinformation« den Verdienstorden der
Bundesrepublik Deutschland. Und niemand kam auf die Idee, dies öffentlich und vehement zu kritisieren. Welch beredter Ausdruck für das Klima in Deutschland! Solche Erfolge blieben der von enttäuschten REP-, DVUund NPD-Funktionären am 3. Oktober 1991 im Kursaal in Stuttgart-Bad Canstatt als Vereinigte Rechte gegründeten Deutschen Liga für Volk und Heimat bislang vorenthalten. Die neue »Sammlungsbewegung« fiel bei den Wählern durch. Während die Mannen um Harald Neubauer und den ehemaligen NPD-Vorsitzenden Martin Mußgnug neidvoll den Triumph von REPs und DVU anerkennen mußten, ließen sie alle Hemmschwellen gegenüber der militanten Rechten fallen und probten dort den Schulterschluß. In ihrem Parteiorgan Deutsche Rundschau feierten sie Rostock als »gesunde und natürliche Regungen in unserem Volk«. »Kein Staat, kein Volk hält eine derartige Einwanderung auf Dauer aus.« Und ganz klar: »Unsere Aktivitäten müssen das Volk selbst zum Widerstand gegen die ungeliebten Etablierten ermuntern.« Gesagt, getan. In Villingen-Schwenningen im Schwarzwald riefen DLFunktionäre zur Bildung einer »Bürgerwehr« auf, im Juli 1992 konferierten sie im brandenburgischen Groß Gaglow mit Funktionären der Deutschen Alternative über ein »gemeinsames Vorgehen in der Zukunft«. Im Oktober warben sie für eine »Deutsche Kampfsport-Initiative« in Solingen, »die es sich zum Ziel gesetzt hat, im nationalen Lager Kampfsport und Kampfkunst zu verbreiten«, und veranstalteten in Eberswalde eine Demonstration »gegen linke Zecken« zusammen mit der militanten Nationalistischen Front.
»Wir müssen den Ausländern den Aufenthalt so unbequem wie möglich machen.« Der Hamburger Rechtsanwalt und
Hintermann mehrerer rechtsextremer Organisationen Jürgen Rieger gab dies im April 1991 beim Bundestreffen der Nationalistischen Front (NF) im hessischen Niederaula als Stoßrichtung der Neonaziorganisation an. In ihrem »9-PunktePlan zur Ausländerrückführung« fordert die NF, nicht nur »kriminelle Ausländer unverzüglich abzuschieben«, sondern auch die Zahlung einer »Integrationssteuer von 50 000 DM pro Jahr für jeden Ausländer, den ein Arbeitgeber beschäftigt«, die Zuweisung von Sozialwohnungen »nur an Deutsche« sowie die Einstellung von Kindergeld- und Erziehungsgeldzahlungen an Ausländer. Doch mit solchen Maßnahmen geben sich die laut Bundesamt für Verfassungsschutz etwa 130 Mitglieder der 1985 in der Nähe von Bielefeld gegründeten Kaderorganisation schon lange nicht mehr zufrieden. Der 19jährige Josef Salier, der 1988 – als »Einzeltäter« und »Einzelgänger« – im oberpfälzischen Schwandorf ein Haus anzündete, war NFAktivist. Genau der Salier, der »Ausländer ärgern« wollte und vier Menschen damit ermordete. Organisatorische Zusammenhänge zur NF spielten vor Gericht bekanntlich keine Rolle, obwohl das Motto der NF lautet: »Ein NFKamerad ist selbstbewußter, revolutionärer und nationalistischer Einzelkämpfer, der – immer das große Ziel vor Augen – unbeirrt seinen Weg geht.« Auch die beiden Skinheads, die Mitte November 1992 in einer Wuppertaler Gaststätte einen 53-jährigen Mann – weil sie ihn für einen Juden hielten – verprügelten, anschließend mit Schnaps übergossen, anzündeten und die Leiche über die Grenze nach Holland brachten, sollen Mitglieder der NF gewesen sein. Im letzten Jahr waren NF-Mitglieder bei Anschlägen auf Flüchtlingswohnheime in und um Bremen dabei, ebenso wie NF-Mitglieder in vorderster Front an Ku-
Klux-Klan-Aktivitäten im westfälischem Herford sowie in Königs Wusterhausen beteiligt waren. Die steigende Zahl solcher Umtriebe ist kaum noch einzuordnen, geschweige denn aufzulisten. Als mein Kollege Graeme Atkinson für Searchlight im November 1992 eine Chronik der Gewalttaten nach England übermittelt, beschränkt er sich nur noch auf Ort, Zeit und Schäden, statt wie üblich Namen und Hergang mit aufzulisten. Die Liste wird immer umfangreicher, und er muß ständig aktualisieren, weil jetzt jeden Tag Ausschreitungen und Überfälle aus allen Teilen Deutschlands gemeldet werden. »They’re going mad! – Die drehen durch!« brummt er immer wieder, während er Meldung für Meldung sortiert und in den Computer einspeist. In Graemes Chronik taucht die NF fast ständig auf. Die Nähe von aggressiver, menschenverachtender Propaganda und entsprechender Tat wird wohl bei kaum einer neonazistischen Gruppierung so deutlich wie bei der NF. Sie sieht sich als Nachfolgeorganisation der SA, als »neue vereinigte Kraft aller revolutionären Nationalisten«. Ihre Mitglieder, die 5 Prozent ihres Bruttoeinkommens in die Parteikasse zahlen müssen, wollen keine »Kaffee- oder Bierhausnationalisten« sein, sondern »kämpfende Nationalisten«. Sie propagieren einen »völkischen Sozialismus« und geben sich antimperialistisch sowie antikapitalistisch. Mit dieser Ideologie gelang es der NF problemlos, nach dem Fall der Mauer auch im Osten Fuß zu fassen. Die NF versteht sich selbst als Kaderorganisation, aufgebaut in »Zellen« und »Stützpunkten«. Neben ideologischen Schulungen und Hitler-Geburtstagsfeiern werden alljährlich paramilitärische »Ausbildungslager« mit vielsagenden Titeln wie »Junge Kolonnen marschieren für das 4. Reich« veranstaltet. Im letzten Jahr versuchte die NF sich an die
Spitze der revisionistischen Bewegung zu setzen und wollte mit internationaler Besetzung im Juni 1991 in Roding einen Kongreß zur »Auschwitz-Lüge« organisieren. Die Veranstaltung wurde verboten. Nach dem Verkauf ihres Hauses in der Bielefelder Bleichstraße ist derzeit das Zentrum aller NF-Aktivitäten ein Haus in Detmold-Pivitsheide. Der gleich angrenzende Bundeswehr-Truppenübungsplatz Senne bietet ideale Voraussetzungen für spontane Wehrsportübungen. Um ihre Inhalte zu verbreiten, gibt die NF das Mitteilungsblatt Aufbruch sowie die Zeitschrift Revolte heraus. Darin sympathisiert man offen mit rassistischen Gewalttaten. Karikaturen zeigen Skins, die mit ihren Stiefeln einen am Boden liegenden Türken treten. Ein in der JVA Ottweiler inhaftierter Leser bekannte in einem Leserbrief: »Dieses Kampfblatt weckt in mir das Gefühl: Los, steh auf und kämpfe mit!« Feuerrituale, schon im Nationalsozialismus bewährtes Mittel zur Faszination der Massen, spielen in der NF-Propaganda eine bedeutende Rolle. »Helft mit, das Holz zusammenzutragen, aus dem wir ein Feuer machen wollen«, mobilisierte die NF ihre Anhänger für die Teilnahme an der Europawahl 1989. »Sonnwend«- oder »Julmondfeiern« zusammen mit der von Jürgen Rieger geführten rassistischen »Artgemeinschaft« gehören ebenfalls zum NF-Programm. Ein von NF-»Generalsekretär« Meinolf Schönborn verfaßter Aufruf zur Gründung von »Nationalen Einsatzkommandos« (NEK) löste ein Ermittlungsverfahren der Generalbundesanwaltschaft wegen Verdachts auf Gründung einer terroristischen Vereinigung aus. Diese »kadermäßig gegliederten hochmobilen Verbände« sollten den »Kampf für ein völkisches Deutschland besser, zielgerichteter, sicherer und noch erfolgreicher durchführen können«. Trotz einer Vielzahl
von Hausdurchsuchungen im ganzen Bundesgebiet treten die Ermittlungen immer noch auf der Stelle, so daß die NF sich in aller Ruhe umorganisieren und an den Landratswahlen im bayerischen Kelheim beteiligen konnte. Bei einer »Ausländerraus«-Demonstration in der schmucken Kleinstadt marschierte an der Spitze Pedro Varela, Führer der international operierenden spanischen neofaschistischen Organisation CEDADE, mit. Am 27. November 1992 verbietet Bundesinnenminister Seiters die NF. Bei Hausdurchsuchungen im ganzen Bundesgebiet finden Polizeibeamte nicht nur Propagandamaterial, sondern Waffen, Sprengstoff und eine Todesliste. Trotzdem wird kein NF-Mitglied inhaftiert. Dank vorheriger Ankündigung in der Presse kann NF-Chef Schönborn rechtzeitig untertauchen. Führende »seriöse« NFKontaktleute wie der Rechtsanwalt Jürgen Rieger, der über Christian Worch auch mit der NSDAP-AO in Kontakt ist, bleiben wie selbstverständlich unbehelligt. Eine Woche später meldet sich Meinolf Schönborn aus dem Untergrund. Die NF sei »Opfer einer riesigen medialen Vergewaltigung unseres Volkes und von besatzer- und ausländerhörigen Politikern« geworden. Er kündigt an, daß das Verbot »völlig ohne Wirkung« sei, weil »wir historisch im Recht sind, wir Deutschland lieben, das deutsche Volk auf unserer Seite ist, dieses Verbot HASS [Großschreibung im Original, d. Verf.] erzeugt« und weil »wir den Willen zur Macht haben und SIEGEN wollen«. Schönborn betrachtet das Verbot als »Bestätigung unserer bisherigen politischen Arbeit«, denn es bezeuge »eindrucksvoll die absolute Richtigkeit unserer Weltanschauung«. Mit dem kurz vorher gegründeten Förderwerk Mitteldeutsche Jugend steht bereits eine Ersatzorganisation bereit.
Zwei Wochen nach dem NF-Verbot beantragt Bundesinnenminister Seiters, der anscheinend jetzt erst entdeckt hat, daß es in Deutschland Neonazis gibt, den Nazis Heinz Reisz aus Langen und Thomas Dienel aus Weimar wesentliche politische Grundrechte abzuerkennen (darunter passives Wahlrecht und Recht auf freie Äußerung der Meinung). Der 31jährige Dienel ist Chef der »Deutsch Nationalen Partei« (DNP) mit etwa sechshundert Mitgliedern und hat hervorragende Verbindungen zum Hamburger Notargehilfen und NSDAP-AO-Kontaktmann Christian Worch. Dienel, der sogar von einigen seiner Mitstreiter als Psychopath erachtet wird, hat immer einen markigen Spruch parat, insbesondere vor laufender Kamera. »In Auschwitz wurde niemand umgebracht – leider!« krakeelt der Mann, für den es »nur ein Deutschland gibt: das Deutschland von der Maas bis an die Memel«. Auch vor Gericht schwingt Dienel große Reden. Als er sich Anfang Dezember vor dem Kreisgericht Rudolstadt wegen Volksverhetzung rechtfertigen muß, erklärt er: »Wir werden dafür sorgen, daß Kanaken, daß Chinesen, daß Vietnamesen, daß Neger hier in Deutschland nicht mehr existent sind.« Solche Töne bringen ihm zwei Jahre und acht Monate Haft ein. Dienel dazu: »Meinungen kann man nicht verbieten.« Auch seine Meinung nicht, daß in Deutschland Bürgerkrieg herrsche und er und seine Truppe berufen seien, »in diesem Lande aufzuräumen« mit Ausländern, Flüchtlingen und Juden. Als Mittel gegen »dieses Pack« findet er Wehrsportgruppen adäquat, die mit Sprengstoff hantieren können und im Nahkampf »Mann gegen Mann« trainiert sind. Dienel vermittelt stolz Fernsehreportern Aufnahmen von seiner Wehrsportgruppe und tönt via TV, man habe »die Polizei völlig im Griff«.
Nach dem Tod von Michael Kühnen war Dienels große Stunde in Ostdeutschland gekommen. Er, der jahrelang FDJSekretär und hernach »Geschäftsführer« eines Sexclubs in Thüringen war, wird Vorsitzender der NPD-Thüringen. In dieser Eigenschaft organisiert er in den folgenden Monaten zusammen mit Christian Worch, Ewald Althans, Heinz Reisz und Frank Hübner nazistische Aufmärsche in Halle, Leipzig und Dresden. Zusammen mit Worch führt er im August dieses Jahres den verbotenen Rudolf-Heß-Gedenkmarsch mit etwa 2000 Nazis in Rudolstadt durch. Aus solchen Aufmärschen beziehen die Nazis einen Großteil ihrer Stärke. Es ist wohl kein Zufall, daß knapp sechs Wochen nach dem großen Rudolf-Heß-Gedenkmarsch in Bayreuth 1991 das Pogrom in Hoyerswerda stattfinden sollte und daß nicht einmal zwei Wochen nach dem Marsch durch Rudolstadt in Rostock das Wohnheim der Vietnamesen in Flammen steht. Stilecht hatte Dienel seine DNP am 19. April 1992, also einen Tag vor dem Hitlergeburtstag, gegründet. Nicht nur die anschließende Führergeburtstagsfeier, sondern auch Hakenkreuz- und Odalsrunenfahnen offenbarten den neofaschistischen Charakter der nach eigenen Angaben »radikal nationalen Partei«. Die DNP-Flugblätter sind mit »Heil Deutschland« unterzeichnet, in ihnen ist von »Völkermord durch Rassenmischung« die Rede, und sie machen »schwarzafrikanische Asylbetrüger« für die »Verseuchung des deutschen Volkes mit AIDS« verantwortlich. Bereits bei der Parteigründung rief Dienel zur »Untergrundarbeit« auf und zum »Kampf den Feinden im Landesinneren«. Bevorzugte Mitstreiter von »Kamerad« Dienel sind die Anhänger der Nationalen Offensive (NO), einer weiteren militanten Gruppierung, die ihren Schwerpunkt von Süddeutschland Richtung Osten verlegt hat. Nicht nur nach
Ostdeutschland, insbesondere nach Dresden, sondern auch gleich in die »deutschen Ostgebiete«, nach Schlesien. Wie die Truppe um Kühnen entstand die NO aus unzufriedenen Mitgliedern der FAP. Am 3. Juli 1990 gründeten sie mit dem bayerischen FAP-Vorsitzenden Michael Swierczek an der Spitze die neue rechtsextreme Partei. Deren Motto lautet: »Offensiv sein heißt, alles in die Waagschale zu werfen, denn: Wer nicht setzt sein Leben ein, dem wird das Leben nie gewonnen sein! Angriff!« In ihrem Parteiprogramm fordern sie die »Rückführung der Ausländer in ihre Heimatländer«, denn »Kulturvermischung ist Völkermord«. Sie fordern: »Drogendealer ins Arbeitslager« mit dem Hinweis: »Orientalisch ist aber nicht nur die Droge, sondern oft auch der Drogenhändler.« Da die NO »die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in seinen historischen Grenzen« propagiert, verteilen sie nicht nur Aufkleber »Deutschland uns Deutschen«, sondern auch »Schlesien bleibt deutsch«. Zusammen mit NPD-Funktionären hat sich NO-Aktivist Günter Boschütz im polnischen Dziewkowice (früher: Frauenfeld) ein Haus gekauft und baut dies zur Zentrale der NO in Schlesien aus. Seit Oktober 1991 gibt es dort auch den monatlich erscheinenden SchlesienReport, »die einzige rein deutschsprachige Zeitschrift aus Schlesien für Schlesien«. Auch das »Schlesien-Radio« sendet bereits aus Zabrze (früher: Hindenburg) sein 24-StundenProgramm. Im Aufruf heißt es: »Sein Programm wird einigen Hunderttausenden Deutschen neuen Mut geben, auf eine Zukunft in ihrer angestammten Heimat zu vertrauen, und es wird ihnen das Gefühl vermitteln, von Deutschland nicht etwa vergessen, verraten und verkauft zu sein, sondern als Schlesier zum deutschen Kulturkreis zu gehören.« Bei all ihren Aktivitäten, beispielsweise der Aufstellung von zweisprachigen Ortsschildern oder der Restaurierung deutscher
Kriegerdenkmäler in Schlesien, arbeiten die NO-Aktivisten eng mit den aus Bundesmitteln unterstützten Deutschen Freundeskreisen in Polen und den der NPD nahestehenden Germania-Reisen zusammen. Der NO-Bundesschatzmeister freut sich, potentiellen Spendern 1992 »ein erfolgreiches Geschäftsjahr« vermeiden zu können. Bald werde es ein ähnliches »nationales Zentrum« wie in Frauenfeld auch im »russisch besetzten Ostpreußen« geben. Mitte Dezember wird Günter Boschütz von den polnischen Behörden zur »unerwünschten Person« erklärt und ausgewiesen. Kurz danach wird die NO verboten…
So weit ein kurzes Streiflicht durch die rechte deutsche Realität 1992. Rolf Schmidt-Holz, der Chefredakteur des Magazins Stern, faßt in seinem Editorial am 10. Dezember zusammen, was zur Lage der Nation im Winter des Jahres 1992 zu sagen ist, ohne daß es weiterer Worte bedarf: »Sie meinen, liebe Leser, die Politiker hätten auch dramatisch versagt? Stimmt. (…) Es gibt keine Ausrede mehr. Wir alle sehen, was täglich in Deutschland los ist. Wir müssen uns selbst darum kümmern.« Das stimmt. Ob die Lichterketten genügen, wird sich allerdings erst noch erweisen müssen, denn die Feinde der Demokratie meinen es ernst. Bereits im Juni 1990 wird in einer abgelegenen Waldlichtung in Bayern, etwa eine Autostunde von München entfernt, ein heimlicher Akt zelebriert. Es ist eine der letzten »Taten« von Neonazi-»Chef« Michael Kühnen. Er hat sich in voller Montur, mit braunem Hemd, schwarzen Hosen und Schaftstiefeln, vor seine ähnlich gekleideten Getreuen gestellt, die in Reih und Glied strammstehen.
Kühnen hält eine Ansprache an die etwa dreißig vor ihm angetretenen Aktivisten. Er bedauert, daß »nur so wenige durchkamen«, denn ursprünglich sollten an die hundert Anhänger teilnehmen. Aber »trotz Verfolgung durch die Polizei« ist er stolz, daß es »heute zum Gedenken an Ernst Röhm« zu so einem »Appell der Härtesten von den Harten« kommen kann. Die Ruhe des sommerlichen Waldes dämpft alle Geräusche. In der Hitze der Mittagssonne halten die Vögel weitgehend den Schnabel, nur die Grillen zirpen unverdrossen von der angrenzenden Wiese herüber. Die Arme der angetretenen Nazis fliegen nach oben zum Hitlergruß. Kühnen stimmt das »Horst-Wessel-Lied« an. »Die Fahnen hoch, die Reihen dicht geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt. Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unseren Reihen mit.« Die Männer singen ernsthaft und bedächtig. Keine Spur von Gegröle oder falschen Tönen. Sie singen gedämpft und feierlich, daß alle »zum Kampfe bereitstehen« und bald »Hitlerfahnen über Barrikaden« wehen. Denn »die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit«. Dann ergreift der »Bereichsleiter« das Wort. »Ich rufe auf: Kamerad Thomas.« Einer der Strammstehenden löst sich aus seiner Reihe und nimmt vor Kühnen und dem »Bereichsleiter« mit Hitlergruß Stellung. »Du bist in den Kader aufgenommen.« »Kamerad« Thomas schüttelt beiden die Hand und geht zurück in seine Reihe. Die Prozedur wiederholt sich etwa zehnmal mit anderen »Kameraden«, die »in den Kader aufgenommen« werden.
Dann nimmt Kühnen einen Eid ab, der nicht an ihn persönlich gebunden ist, denn er weiß, daß er nicht mehr lange zu leben hat. Doch es erfüllt ihn mit Stolz, die Worte vorzugeben, die den Kader einschwören für die kommende Zeit des »Kampfes«. Für Propagandalügen, für Gewalt, für Terror. »Bei meiner Ehre als Deutscher«, spricht Kühnen vor, und die Strammstehenden wiederholen seine Worte, »gelobe ich der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Treue und Tapferkeit. Ich gelobe den mir von der Partei bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod. Ich gelobe Verschwiegenheit gegenüber allen Außenstehenden. Deutschland erwache! Juda verrecke! Sieg Heil!« Die Zeremonie ist beendet. Die neugegründete Sturmabteilung SA hat ihren Kader erweitert. Ein deutsches Phänomen? Nein – nur Teil eines international operierenden Netzwerks.
Im Netzwerk
Die SA und die SS wurden von den Alliierten nach Kriegsende und dann in den Nürnberger Prozessen zu verbrecherischen Organisationen erklärt. Ihre organisatorische Fortsetzung oder Neugründung ist seitdem verboten. Das schert jedoch die Rechtsradikalen aller Länder nicht im geringsten. Sie bauen Kadergruppen auf, welche Ideologie und Struktur von SA und SS nachempfinden. Daneben hat sich ein Netzwerk internationaler Rechtsextremisten entwickelt, das die SANostalgiker schon fast zur Dekoration reduziert. Deutlich sichtbar wird dieses Netzwerk nur bei ganz seltenen Gelegenheiten. Da sind plötzlich die Vertreter ansonsten streng voneinander abgegrenzter Organisationen am selben Ort zu sehen. Dort werden neue Verbindungen hergestellt und alte vertieft.
Im Frühjahr 1990 habe ich die Gelegenheit, mehrere Teile dieses gigantischen Extremistenpuzzles zu entdecken. Einige Hauptfiguren aus verschiedenen Ländern sind zu diesem Anlaß angereist. Ich brauche einige Zeit, bis mir klar wird, daß jenes Treffen, zu dem ich auf Michael Kühnens Vermittlung hin eingeladen wurde, eine der wichtigsten Etappen bei meinen Recherchen sein wird.
»Wahrheit macht frei«
Die Szene gleicht einem Familientreffen – wie die Vorbereitung zum Erinnerungsfoto. Alle sind da: die Alten, die Jungen, die guten Tanten und Onkel, die Angeheirateten und der Nachwuchs, sogar die Vetter aus England sind gekommen. Gestern hat Großonkel Adolf Geburtstag gehabt, die Älteren erinnern sich gerne an ihn. Die ganze Familie hat gefeiert. Ein paar Junge sind noch immer verkatert. Schwager Manfred hat seine Videokamera mitgebracht. Der greise Onkel Otto-Ernst und Cousin Michael sind verkracht. Aber Vetter Ewald hat sie diplomatisch an verschiedene Tische gesetzt. Die liebe Tante Christa hat Kuchen mitgebracht, wie immer. Gottfried und sein Cousin Thomas wetteifern, wer der Tollere ist. Thomas’ Blessur ist größer, dafür kann Gottfried schon Gitarre spielen. Cousine Uschi ist ganz aufgeregt, weil Großcousin David, ihr heimlicher Schwarm, gleich eine Rede halten wird. Und der kleine Arno sieht wieder mal entzückend aus in seinem neuen Matrosenanzug. Bewundernd schaut er zu Onkel Ekkehard, der immer so feine Knallkörper dabeihat. Vetter Anthony aus England geht es gar nicht gut. Er steckt gerade in einer Persönlichkeitskrise und besteht darauf, daß er gar nicht Tony sei, sondern Mickey. Die Momentaufnahme zeigt den »Löwenbräukeller« in München am 21. April 1990. Eine große Familie. Achthundert »Verwandte« geben sich ein Stelldichein, das mit allen Raffinessen organisiert wurde. Sogar mit Polizisten, die überhaupt nicht zur Familie gehören, hat man sich im Löwenbräukeller arrangiert.
Ja, im Löwenbräukeller – nicht irgendeine obskure Lokalität, sondern eine der ganz großen Bierhallen in Bayern. Ach, Bayern! Hier gibt es Trachten und Dirndl, Schweinshaxe und Oktoberfest. Hier gehört Bier zu den Grundnahrungsmitteln. Hier herrschte der sagenumwobene Märchenkönig Ludwig II. dem die Förderung schöner Künste wichtig war. Ihm haben die Bayern das Märchenschloß Neuschwanstein zu verdanken. Hier herrschte auch, viel später dann, der bejubelte Franz Josef Strauß (CSU), dessen enge außenpolitischen Kontakte zu rassistischen und faschistischen Diktaturen (Südafrika, Chile) nur noch von seiner »Freundschaft« mit Herrn SchalckGolodkowski∗ übertroffen wurden. Man erinnert sich: Der DDR-Stasi-Unterhändler, der soviel Dreck am Stecken haben soll, daß man ihm erst gar nicht den Prozeß zu machen traut. Schalck-Golodkowski, der in diesem Fall zweifellos eine Skandallawine losträte, lebt heute übrigens auch in Bayern – in einem schmucken Haus am schönen Tegernsee. Und dem öffentlich-rechtlichen Bayerischen Rundfunk entstammt schließlich auch Franz Schönhuber. Der Mann, der Franz Josef Strauß rechts überholte, was bis dahin als unmöglich galt. Schönhuber war bis 1983 ∗
Alexander Schalck-Golodkowski war DDR-Staatssekretär, hochrangiger Offizier der »Staatssicherheit« und wichtigster »Devisenbeschaffer« des SED-Staates. Dazu hatte er ein regelrechtes Firmenimperium mit Schweizer Briefkastenadressen unter dem Namen »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo) aufgebaut. Zu seinen finanziellen Transaktionen gehörten Geschäfte mit Waffen und Antiquitäten aus »grauen« Quellen. Er fädelte 1983 zusammen mit Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit ein, was der bereits maroden DDR nochmals eine Fortexistenz sicherte. Eine Reihe von bundesdeutschen Unternehmen und Einzelpersonen profitierte auf Kosten der Steuerzahler von Provisionen und Vergünstigungen bei diesen »Geschäften«.
Hauptabteilungsleiter des Fernsehsenders. Dann bekannte er sich mit einem lauten »Ich war dabei« in Buchform zu seiner Angehörigkeit in der Waffen-SS. Dort brachte es der Metzgerssohn nämlich einst zum eindrucksvollen Rang eines Unteroffiziers (Unterscharführer). Das war zuviel für den Bayerischen Rundfunk. Schönhuber mußte gehen und tat es auch – nicht ohne üppige Abfindung von fast 300000 Mark. Heute streicht er in Bayern bis zu 18 Prozent bei Kommunalwahlen ein: Seine neue Berufung ist, den Republikanern vorzustehen. Einer Partei, an der nur der Name demokratisch klingt, nicht aber die Parolen. Der damalige stellvertretende bayerische Landesvorsitzende der Republikaner Franz Glasauer wurde im März 1990 wegen Volksverhetzung verurteilt. Er hatte ein Jahr zuvor Aussiedler aus Polen als »zu dumm und zu faul zum Arbeiten« bezeichnet. Weiter forderte er Internierungslager »für das Gesindel und den Abschaum… Es kommt der Tag der Rache und Vergeltung.« Doch das heißt noch lange nicht, daß der bayerische Verfassungsschutz eine Überwachung der Republikaner vornimmt. Man wartet ab. Worauf, weiß niemand – jahrelang. Im Dezember 1992 hat sich das Warten gelohnt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ordnet die Observierung der Republikaner an, merkwürdigerweise recht spontan – nach den Morden von Mölln. Die Grenze nach ganz rechts in Bayern ist hart, aber herzlich. Offen auftretende Nazis sind nicht gern gesehen. Demonstrieren sie mit »Ausländer-raus!« -Sprüchen, dann greift die Polizei drastisch ein. Konkurrenz von rechts wird nicht geduldet. Denn eine »asylantenfreie Zone« fordern, das
kann man schließlich selbst, bei der regierenden CSU – der Christlich-Sozialen Union.∗ Das ist die Atmosphäre, die hier in der Luft liegt. Im Herzen Bayerns, in München. Und besonders im Löwenbräukeller, wo gerade das Familienfoto entsteht. Heute, am 21. April 1990, da schwingt noch etwas anderes mit. Es ist ein Tag nach dem Geburtstag von »Großonkel Adolf«. Es war nämlich auch im schönen München, wo Adolf Hitler 1923 seinen Marsch zur Feldherrenhalle inklusive Putschversuch unternommen hatte. Fast siebzig Jahre später ist man sich, zumindest hier im Löwenbräukeller, völlig einig: München ist und bleibt die »Hauptstadt der Bewegung«.
∗
Zitat von Erich Riedl, CSU, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Im April 1992, kurz nach den Rekordgewinnen der Republikaner in Baden-Württemberg und der DVU in Schleswig-Holstein, äußert Riedl öffentlich: »Die Lage ist chaotisch und fast aussichtslos. Der Münchner Süden muß ab sofort zur asylantenfreien Zone erklärt werden.« Auf einer der nächsten CSU-Kundgebungen erweitert Riedl sogar seine Forderung – zunächst auf das gesamte Münchner Stadtgebiet, dann auf den Freistaat Bayern als solchen. Riedl erregt 1992 nochmals, diesmal internationales Aufsehen, als er die Schirmherrschaft für eine geplante Feier des 50. Jahrestages des ersten Starts der V2-Rakete übernehmen will. Nur nach erheblichen Protesten aus dem Ausland, vor allem aus England, Frankreich und Belgien, wo die V2Rakete verheerende Schäden unter der Zivilbevölkerung anrichtete (13 000 Opfer), sagt er ab. In Peenemünde an der Ostsee wurde 1942 unter strenger Geheimhaltung die »Vergeltungswaffe« gebaut. Der Bau der V2 kostete 20 000 KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern das Leben. Im Nazijargon: »Vernichtung durch Arbeit«. Initiator der geplanten V2-Feier ist Riedls Freund Karl Dersch, Vorstandsmitglied der Deutschen Aerospace (einer Tochtergesellschaft von Daimler-Benz). Welcher Couleur Dersch zuzuordnen ist, demonstriert er seit Jahren eindrucksvoll, indem er in seinem Garten die Reichskriegsflagge hißt. Sie wird heute fast ausschließlich von Neonazis benutzt.
Hohe, große Fensterwände an der Vorderseite des Saales lassen das Tageslicht bis zur Mitte des Raumes fließen, wo es sich bläulich mit dem Orange der Stubenlampen vermischt. Der hohe Raum mit Emporen, Tribüne und Seitenteil faßt mühelos die achthundert Personen. »Wahrheit macht frei!« liest man Buchstabe für Buchstabe auf den Plakatschildern, die von den aufgereihten Bomberjackenträgern an der Vorderseite der Rednertribüne hochgehalten werden. Assoziationen mit »Arbeit macht frei« sind erwünscht. Vor ihnen, im Saal, sitzen die Gäste, an großen Tischen mit blauen und weißen Tischdecken. Sie könnten die netten Leute von nebenan sein. Es ist wie ein großer Familienklan, ohne Kleinkinder zwar, dafür aber in völkischer Eintracht. Rechts auf dem Gang neben dem Büchertisch stehen die beiden Damen mit den entzückenden weißen Spitzhunden. In schickrustikalem Landhausstil gekleidet, plauschen sie angeregt; von denen würde man sich doch ohne weiteres die Blumen gießen lassen, wenn man den Jahresurlaub antritt. Alte Herren hüsteln, mit Pfeife und Zigarre, im trauten Gespräch mit sauber gescheitelten Jünglingen, die ihre Freundinnen am Nebentisch das Bier bewachen lassen. Ab und zu schaut man auch hinüber zum Seitenflügel des Saales, wo junge Männer in braunen Hemden und Militärhosen sitzen. Sie haben ihre Totschläger in der Jackentasche und sind zum Eingreifen bereit, falls eine Störung auftreten sollte. Und gelegentlich werden die Blicke zu den martialischen Ordnern auch erwidert: »Hallo!« Die nette Dame mit dem Dirndl kennt einen von ihnen. »Ja, ja, wie geht’s?« – »Danke, gut!« brummt es zurück.
Jung und alt verstehen sich blendend. Generationskonflikte scheint es hier nicht zu geben. Denn man hat etwas gemeinsam: Mit Bierhumpen, Weißwürschteln und Sauerkraut ausgestattet, warten die Ultradeutschen auf den Redner, der ihnen sagt, was sie hören wollen. Sie warten in Lodenjanker und Dirndl, in dunklem Anzug und Baumwoll-Seiden-Gemisch-Kostüm, in Bomberjacke und Mädelbluse. Und was sie hören wollen, ist die Revision der Geschichte. »Revisionismus« – eine neue Fassung der Vergangenheit. Neue »Wahrheiten« sind gefragt, denn sie sind es leid, die Last der Schuld auf sich zu spüren. Die Schuld am Weltkrieg, die Schuld an Kriegsverbrechen, die Schuld am Holocaust. Sie empfinden diese Schuld nicht im entferntesten als Verpflichtung, sondern als Last. Diese Last wird bald von ihnen genommen. Die Revision der Geschichte naht. Der »Revisionist«, der Erlöser, kommt aber nicht aus Bayern. Es ist ein ehemaliger Erzfeind, ein Engländer. David Irving heißt das neue Mitglied der Familie. Ein Historiker, der gerne als »umstritten« bezeichnet wird. In Deutschland erreichte er erste Bekanntheit, wie schon erwähnt, durch das Nachrichtenmagazin Spiegel. Seither ist er ein richtiger Bestsellerautor geworden. Seine Bücher verkaufen sich millionenfach auf der ganzen Welt. Und sie werden von angesehenen Verlagen veröffentlicht: Ullstein in Deutschland zum Beispiel. Ullstein genießt wohl nicht mehr den Ruf von einst; das Haus wird heute von Herbert Fleissner, einem bekannten Rechtskonservativen, geführt, zu dessen Imperium über zwanzig Verlage gehören. Schönhubers »Ich war dabei« erschien z. B. in Fleissners Langen-Müller Verlag. Und in Fleissners Herbig Verlag erschien auch David Irvings Hitlertrilogie – samt der Behauptung, der »Führer« habe von
den Judenvergasungen nichts gewußt. Doch der Name Ullstein zählt noch zu den großen. Den Verlag Legenda in Schweden kann man durchaus als seriös bezeichnen. Auch MacMillan in London ist über jeden Verdacht erhaben, genauso wie Albin Michel in Frankreich. David Irvings Bücher werden so von vielen Leuten gelesen, die sich über die politische Identität des »bekannten englischen Historikers« gar nicht im klaren sind. Man hört zwar hin und wieder, er sei »umstritten«. Aber viel mehr wissen die Käufer seiner Werke offenbar nicht. Wie sollten sie auch, wenn sogar Bundeskanzler Kohl einem seiner Mitarbeiter zu Weihnachten ein Buch von David Irving überreicht, wie im März 1991 in der englischen Zeitung Independent on Sunday unter der Überschrift »Ein Reich, ein Irving« berichtet wird. Wenn also der Kanzler scheinbar nicht weiß, was es mit Irving auf sich hat, dann ist es nicht verwunderlich, daß Irvings umfangreichen Publikationen die Bücherschränke ahnungsloser Bürger füllen, in der Annahme, er sei zwar sehr konservativ, aber respektabel. In Bayern wird David Irving sogar von der Autofahrer-Radiowelle »Bayern 3« als respektabler Historiker gehandelt. Im Frühjahr 1992 heißt es dort über Irving, er sei »Experte für die Bombardierung Dresdens«. Die Anhänger der Deutschen Volksunion (DVU) wissen da schon eher, wie es um Irving steht. Denn dort taucht der Londoner oft und gerne gegen gutes Honorar bei den Veranstaltungen des Vorsitzenden Gerhard Frey auf, um den dumpf-teutonisch Gestimmten unter fahnenschwingendem Applaus zu bestätigen, daß die Engländer Dresden bombardierten. Und daß dies gar nicht nötig gewesen wäre. Hier bei der Familie, im Löwenbräukeller, einen Tag nach dem Führergeburtstag, da kennt man sich genau aus! Dresden interessiert hier nur so weit, wie man die Zahlen der Opfer
gegen die Zahlen anderer Opfer aufrechnen kann, etwa die des Holocaust. Und das haben die Tanten und Onkel aus dem engsten Kreis der Familie schon längst besorgt. Hier muß David Irving, der Engländer, sich ganz anders ins Zeug legen, um mit offenen Armen im Kreise der Familie aufgenommen zu werden. Jetzt geht es »an die Substanz«. Der Holocaust ist das Thema – Auschwitz! Majdanek, Sobibor, Belzec, Kulmhof, Treblinka, Babi Yar, Chelmno und viele andere Orte… das wird jetzt reduziert auf Auschwitz. Genauer gesagt: die Gaskammern dort. Irvings Rezept dagegen: »Wahrheit macht frei!« Nur die Art von »Wahrheit«, die diese Hauptschuld von ihnen nimmt, »macht frei«. So wartet man auf ihn. Nervös läßt der füllige Herr mit Strickweste seine Knöchel auf dem Tisch spielen. Das Geraune im hinteren Teil des Saales schwillt an, als sich an Irvings Bücherstand etwas bewegt. Minute um Minute verstreicht. Die Spannung wird fast unerträglich. Selbst wenn jeder weiß, was David Irving sagen wird. Michael Kühnen schaut auf die Uhr. Sein Getreuer Gottfried Küssel hat sich angemeldet, ist aber auch noch nicht da. Thomas Hainke, der »Gauleiter Ostwestfalen-Lippe«, verzieht nur ganz kurz die Miene, als ich ihn angrinse. Er ist im Dienst. Direkt neben dem Rednerpult steht er gestreng, dem Anlaß angemessen ganz in Schwarz mit Schaftstiefeln. Erhobenen Hauptes hält er die schwarzweißrote Reichsfahne in dekorativem Winkel hoch. Er bewacht das Rednerpult – wie lustig! Ich überlege noch kurz, ob ich ihn gleich oder später nach seiner neuesten Kampfblessur frage, doch David Irving ist im Anmarsch. Dann eben später. Richard Strauss’ »Zarathustra« ertönt aus den Lautsprechern. Gnadenlos monumental rauschen die Bläsersätze durch die Halle. Dann vermischen sich die Fanfarenklänge mit Beifallsbezeugungen. Und David Irving schreitet den Gang zwischen den Zuschauerbänken hindurch, mit der Grazie des
Applausgewohnten. Daß ihm die älteren Damen nicht die Hand ergrapschen und abküssen, ist alles. Irving trägt einen dunklen Anzug. Mit festem Blick und weißem Hemd strahlt er die souveräne Kompetenz aus, die man braucht, um die Revision der Geschichte zu vollziehen. Er war als 21 jähriger bei Thyssen in Deutschland – als Stahlarbeiter. Deshalb gleitet ihm das Deutsch fast mühelos von der britischen Zunge. »Ich habe die Wahrheit!« tönt Irving nach langem Vortrag. Und dann macht er es spannend. Noch sagt er »es« nicht. »Wir wissen…«, verkündet er schließlich, »… das brauche ich hier nur als Fußnote zu erwähnen…« – aber auf diese Fußnote, auf das »Detail«, da warten alle. Irving weiß es. Die achthundert im Saal halten die Luft an. Irving befreit sie: »… daß es nie Gaskammern in Auschwitz gegeben hat!…« »Jaaahhhü!« brüllt das Volk, selig vor Erlösung. Irving muß unterbrechen, denn der Jubel ist anhaltend. Gleich einer finalen Klimax nach quälender Erregung ergießt sich das Glück der neugewonnenen Unschuld aus den Mündern der Zuhörerschaft. Keine Gaskammern, keine Massenvernichtung, keine Schuld. »Bravo!« ruft der rüstige Pensionär mit dem Schmiß auf der Wange. »Bravo!« In der Mitte des Saales erheben sich einige. Stehender Beifall für die »Befreiung«. Die Dame mit der Dauerwelle und dem Spitzenkragen putzt sich die Nase. Dankbar, von Rührung gebeutelt. Welche Wonne, welche Lust! Irving legt hier offenbar keinen Wert darauf, als seriöser Historiker angesehen zu werden. Deshalb legt er nahe, was ihm logisch erscheint: »So wie die Gaskammer in Dachau in den ersten Nachkriegsjahren eine Attrappe war, so sind die Gaskammeranlagen, die man jetzt als Tourist in Auschwitz sehen kann, von den heutigen Polen nach dem Zweiten
Weltkrieg errichtet worden. Die Beweise liegen vor, die Anlagen sind chemikalisch untersucht worden, die Dokumente haben wir jetzt in der ganzen Welt veröffentlicht darüber – ich kann Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Das wirbelt einen Staub auf, da wird unseren Feinden das Hören und Sehen vergehen.« Das Versprechen, die Botschaft auch noch bis zur Ohnmacht der Gegner zu verbreiten, verursacht erneute Ovationen: »Ahhh!« – »Jawooohhl!« – »Genau!« – »Bravo!« – »Richtig!« Die Beifallsbezeugungen werden individueller, doch nicht weniger anhaltend. Irving am Rednerpult wartet stumm, während der Applaus tobt. Neben ihm hält Thomas Hainke mit demselben energischen Ernst seine Reichsfahne fest. »Es gibt nur eine Wahrheit«, verkündet Irving mit der Redekunst des Erleuchteten, »und das ist die totale Wahrheit! Wahrheit macht frei!« Jetzt hält die befreiten achthundert Zuhörer nichts mehr auf ihren Stühlen. Stehende Ovationen. »Totale Wahrheit« wie »totaler Krieg«, »Wahrheit macht frei« wie »Arbeit macht frei«, das ist genau, was man jetzt braucht. Vorwärts, dem Feind entgegen! Die »Judenbengel« werden sich umsehen, wenn man sie mit den erdrückenden Beweisen konfrontiert, die Irving auf den Tisch zu legen vermag! Die »Beweise«, die Irving da erwähnt, sind jedoch alles andere als »erdrückend«. Es handelt sich dabei nämlich in erster Linie um den sogenannten »Leuchter-Report«. Ein französischer »Revisionist«, der Literaturprofessor Robert Faurisson, kam auf die Idee, die Nichtexistenz der Gaskammern wissenschaftlich »nachzuweisen«. Man suchte nach einem »Spezialisten«, und man fand Leuchter. Der Amerikaner Fred A. Leuchter dürfte auch zweifellos ein passabler Sachverständiger für die Tötung von Menschen sein, beschreibt er sich doch als »Spezialist in der Konstruktion und
Fertigung von Hinrichtungsgeräten« und hat »speziell an solchen Einrichtungen gearbeitet und diese entworfen, wie sie in den Vereinigten Staaten zur Hinrichtung von zum Tode verurteilten Personen mittels Zyanwasserstoffgas verwendet werden«. Diese Qualifikationen schienen den »Revisionisten« zu genügen, um ihn zum »Ingenieur« zu erheben und im Februar 1988 gegen ein Honorar von 37000 Dollar mit einem »Dokumentationstrupp« nach Polen zu schicken. Hier sind die seit einem halben Jahrhundert Wind und Regen ausgesetzten Reste der Vernichtungslager Auschwitz, Birkenau und Majdanek zu finden. Dort angekommen, ließ er sich durch anhaltend schlechtes Wetter nicht entmutigen und rutschte, wie der eigens hergestellte Videofilm beweist, im aufgeweichten Schlamm der Lageranlagen herum. Akribisch entnahm er »Proben«, um sie auf den Gehalt von Zyklon-B-Giftgas zu untersuchen. Wie bestellt und nicht anders zu erwarten war, »findet der Autor die Beweise überwältigend. Es gab keine Exekutions-Gaskammern an irgendeinem dieser Orte. Es ist die beste Ingenieursmeinung dieses Verfassers, daß die angeblichen Gaskammern an den inspizierten Plätzen weder damals als ExekutionsGaskammern verwendet worden sein konnten noch daß sie heute für eine solche Funktion ernsthaft in Betracht gezogen werden könnten.« Fred Leuchters Name erscheint zwar nicht auf der Liste der eingetragenen Ingenieure in Massachusetts, wo er registriert sein müßte. Doch das macht er dadurch wieder wett, daß er sich in der Unterschrift seines Berichtes noch selbst zum »Oberingenieur« befördert.
Einen weiteren Beweis seiner analytischen Fähigkeiten liefert er in seinem »Gutachten« mit der eindrucksvollen Erkenntnis, daß in den von den Nazis zur Hinrichtung ebenfalls verwendeten Gaswagen »angeblich Kohlenmonoxyd-Gas verwendet worden sei. Wie bereits zuvor dargestellt, ist Kohlenmonoxyd-Gas kein Hinrichtungs-Gas. Der Verfasser glaubt, daß, bevor das Gas wirksam werden könnte, alle vorher erstickt wären.« Messerscharf schließt der »Oberingenieur« daraus, »daß niemand durch Hinrichtung mittels CO gestorben ist«. Die dummdreisten »Feststellungen« des »Leuchter-Reports« werden allerdings noch durch den anderen »Beweis« übertroffen, den die »Revisionisten« aufbieten, um die Schuld an der Massenvernichtung weglügen zu können. Ein »Erlebnisbericht« des »Zeitzeugen« Thies Christophersen trägt den vielsagenden Titel »Die Auschwitz-Lüge«. Der ehemalige SS-Sonderführer schreibt, daß er von Massenvernichtungen in Auschwitz nichts bemerkt haben will, obwohl er dort stationiert war. Dieses Buch und sein Autor tauchen bei meinen Recherchen immer wieder auf. Hier in München jedoch, im Löwenbräukeller, ist Thies Christophersen nicht anwesend, denn er wird in Deutschland mit Haftbefehl gesucht. Irvings Rede ist beendet, doch die Veranstaltung im Löwenbräukeller schreitet fort. Viele Gesichter des Familienfotos sind mir schon bekannt.
Die Einladung zu diesem »Revisionistenkongreß« erging von Ewald Althans, einem hochgewachsenen, blonden Mann. Er ist Mitte Zwanzig und überzeugter Nationalsozialist. Gerade unterhält er sich mit David Irving, der neben ihm auf dem
Podium Platz genommen hat. Ich kenne Althans bereits seit dem mißlungenen Versuch, David Irving in Hamburg mit versteckter Kamera zu filmen, wobei mir Gerald Hess geholfen hatte. Althans hatte damals – wie übrigens auch heute – mit Christian Worch zusammengearbeitet. Bela Ewald Althans war als Teenager schon Mitglied in Kühnens FAP. Mit dreizehn wurde er bereits von alten Hitleranhängern ausgewählt und systematisch auf seine Führerrolle vorbereitet. Zum Beispiel von einer Helene Prinzessin von Isenburg, die schon in den fünfziger Jahren mittels der ODESSA-Vorfeldorganisation Stille Hilfe die TopNaziverbrecher mit Eingaben und Bittschriften bis hin zu Papst Pius II. aus den Fängen der Justiz zu befreien suchte. Die Aufgaben der »Stillen Hilfe« übernahm später die HNG. Das Vorstandsmitglied Christa Goerth ist heute auch anwesend. Weitere Förderung erhielt Althans durch Otto-Ernst Remer, den »Leibwächter des Führers«, der heute ebenfalls unter den Zuschauern sitzt. Althans wurde nicht nur systematisch aufgebaut, er wurde auch ins Ausland geschickt. Er spricht fließend Englisch, passables Französisch und angeblich Italienisch sowie ausreichend Spanisch, um bei den Treffen der CEDADE in Madrid keinen Dolmetscher zu benötigen. Althans entspricht weitgehend dem »arischen« Ideal: Er ist groß, blond, hat graublaue Augen, und sein Gesicht ist ebenmäßig. Zwar ist er homosexuell,∗ wofür er im Dritten Reich im KZ gelandet wäre, doch Hitler hält er trotzdem für den »perfektesten Mann aller Zeiten«. Althans hat Talent. Rhetorisch und organisatorisch. Seine organisatorischen ∗
Althans steht – eine Ausnahme in seinen Kreisen – offen zu seiner Homosexualität. Aus seinem Leserbrief an das Gay-Magazin Don und Adonis: »Ich bin Nazi – na und? (…) Meine schwulen Freunde stehen auch weiter zu mir, haben sie doch eh gewußt, wo die Wahrheit steht.«
Fähigkeiten stellt er immer wieder durch »Kongresse« mit David Irving und anderen »Revisionisten« unter Beweis. Im Privatleben ist er »Journalist«. (Übrigens eine der am häufigsten mißbrauchten Berufsbezeichnungen. Sogar Michael Kühnen bezeichnete sich gelegentlich so. Auch Geheimdienstmitarbeiter benutzen gern den Deckmantel des – berufsmäßig neugierigen – »Journalisten«.) Er schreibt angeblich, unter Pseudonym, für Lifestyle-Magazine »über Champagner, Essen und so weiter…« Seine Firma heißt AVÖ – Je nach »Kunde« bedeutet das dann »Amt für Volksaufklärung und Öffentlichkeitsarbeit« oder alternativ »Althans Verkauf und Öffentlichkeitsarbeit«. Das kann er. Im Frühjahr 1992 zeigt er genau, wie man das Geld macht, mit dem er Telefax, Funktelefon und Computeranlage in seinem Münchner Büro unterhalten kann. Er versendet an verschiedene Zeitungen ein in englischer Sprache abgefaßtes Angebot, von dem im Zusammenhang mit der Kühnen-IrakAffäre schon die Rede war: »PRESSE-INFORMATION SPEKTAKULÄRE ACTION-PHOTOS ZU VERKAUFEN Betr: Internationale Neonazi-Verbindung nach Kroatien und dem Irak. Über 100 Fotos sind für Sie erhältlich…« Für einen Preis von 5000 US-Dollar bietet er dem Kurzentschlossenen (»nicht später als 26. Mai«) »Action«Aufnahmen von paramilitärischen Neonazis an, die in Kroatien und dem Irak zu Zeiten des Golfkriegs ihre Kampfeslust stillten. Diese Bilder, so verspricht der Neonazi weiter, »wurden noch nie in den Medien gezeigt«. Dann bietet er eine Dienstleistung an, die den Uneingeweihten mit ehrfürchtigem Respekt erfüllt: Auch Namen und »Hintergrundinformationen« sind erhältlich, und sogar den Kontakt zu solchen Söldnern kann »B. E. Althans« vermitteln.
Wenn er nicht gerade mit solchen Tricks seine Kumpel gewinnbringend an die Medien verhökert, ist er oft und gern auf Reisen. Althans’ meistbesuchter Ort ist Toronto/Ontario in Kanada. Dort lebt ein deutschkanadischer Nazi, der sich selbst zum »Revisionisten« ernannt hat, nachdem er genügend Geld mit dem Verkauf neonazistischer Schriften und Materialien über einen Verlag namens »Samisdat«∗ eingenommen hatte. Dazu gehörten z.B. Tonbänder mit Reden von NS-Größen. Seine eigenen literarischen Anstrengungen unterschrieb er mit dem Pseudonym »Christoph Friedrich«. Sein richtiger Name ist Ernst Christoph Friedrich Zündel. Von ihm stammt ein Verherrlichungsbuch mit dem vielsagenden Titel »Den Hitler, den wir liebten und warum«. Zündel ist Jahrgang 1939 und wanderte mit 18 Jahren nach Kanada aus. Der aus dem Schwarzwald stammende Ernst Zündel, ursprünglich Werbefachmann, Fotograf und Retuscheur, ist ein virulenter Judenhasser. Er hat ein weltweites Netz von gleichgesinnten »Antizionisten« aufgebaut, dem »respektierte« Historiker wie David Irving ebenso zugehören wie der kriminelle und mit Terroristen kooperierende Engländer Anthony Hancock. Der ist heute auch hier im Löwenbräukeller. Der mollige »Tony«, wie Hancock von seinen »engen Verwandten« genannt wird, hat Hitleraquarelle mitgebracht. Die zeigt er jetzt einigen anderen »Familienangehörigen« vorne am Pressetisch neben dem Podium. Mir war vorher schon aufgefallen, daß er stets meiner Kamera auswich. Seine Hitlerschen Kunsterzeugnisse läßt er gerne filmen, doch als ich mit der Kamera auf ihn hochschwenke, wird er nervös. Woher er kommt, frage ich ihn auf englisch. Aus London, sagt ∗
Samisdat ist das russische Wort für »Eigenverlag«. Der Begriff Samisdat wurde von russischen Oppositionellen seit den sechziger Jahren verwendet, die unter Lebensgefahr Kritik am Sowjetsystem veröffentlichten.
Anthony Hancock. Seine schmutzigen Fingernägel deuten auf grafische Arbeiten und Beschäftigung mit Buchdruck hin. Für wen druckt er denn? Oder: Zu welcher Organisation gehört er? »Ich bin mit keiner Organisation verbunden, ich bin, hm… Ich bin so eine Art Freund von einem Freund«, stottert er herum. Gerne helfe ich ihm. Seine Aquarelle hat er wohl vergessen: »Sie sammeln…?« Glücklich greift er die Idee auf: »Oh, ich sammle Bücher und verschiedene Dinge…« »Darf ich nach Ihrem Namen fragen?« bitte ich ihn. Tony Hancock zögert kurz. Scheinbar steckt er gerade in einer Persönlichkeitskrise. Doch dann teilt er lächelnd mit: »Ja, ich heiße Michael!« »Michael…?« »… Yeah!…« Auf die Schnelle einen Nachnamen zu finden ist auch wirklich schwierig. Zumal ich nicht lockerlasse: »Michael…« »Carter.« Jetzt hat er’s! »Michael Carter?!« wiederhole ich den Namen, der in England den Seltenheitswert von »Max Müller« besitzt. Tony Hancock alias Michael Carter fühlt sich bemüßigt, seine Person als Randfigur der »Familie« erscheinen zu lassen: »Ich bin nur ein Freund von einem Freund, wissen Sie, und ich, hm… ich sammle antiquarische Bücher. Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Vorkriegszeit und so… Ich bin einfach eine Art Sammler…« »Also haben Sie nichts mit der National Front zu tun?« »Nein, nein!« lügt er hastig. »Ich bin nur ein unabhängiger…« Hancock muß nachdenken, was er sein könnte. Die Idee mit dem Sammeln war scheinbar gar nicht schlecht. Er bestätigt: »… ‘ne Art Sammler. Ich bin hier für ein Wochenende, nette Tage in München, Sie verstehen?!«
Kurz nach den netten Tagen in München wird er in England verhaftet und wegen Scheckfälschung in Millionenhöhe sowie Paßfälschung angeklagt. Aus Hancocks Druckerei nahe Brighton in England stammt das infame Holocaust-LeugnungsHeftchen »Starben wirklich sechs Millionen?«, das in Englisch, Französisch und Deutsch verbreitet wurde. Für die Verbreitung in Kanada sorgte Ernst Zündel, der kanadische Freund von Ewald Althans. Althans hat die Gabe, sowohl mit »gemäßigten« Rechtsextremisten als auch mit den terroristischen Untergrundnazis gleichermaßen guten Umgang zu pflegen. Das wird hier, im Löwenbräukeller am 21. April 1990, besonders deutlich. Die Kellner tragen immer wieder neue Tabletts schäumenden Bieres in den Saal, wo Althans’ große Familie in trauter Eintracht tafelt wie die Biedermänner und die Brandstifter. Nicht alle wollen auf das Familienfoto. Der etwas untersetzte Herr mit Spitzbart etwa, der hektisch mit dem Zeigefinger wedelt, als er meine Kamera auf sich gerichtet sieht. Und sich dann mit paranoider Wendigkeit hinter den Köpfen der zwischen uns sitzenden Männer versteckt. Er entpuppt sich später beim Analysieren der Aufnahmen als Ekkehard Weil. Dieser 1949 in Ostberlin geborene ehemalige Krankenpfleger saß mehrfach wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Bombenanschlägen im Gefängnis. Nachdem er zweimal seine Freiheitsstrafen dadurch abkürzte, daß er aus dem ihm (aus unerfindlichen Gründen) gewährten Hafturlaub nicht zurückkehrte, setzte er sich nach Österreich ab. Dort freundete er sich mit Gottfried Küssel an. Küssel selbst ist schon brutal. Aber Weil trägt seine psychopathische Gewaltbereitschaft offen zur Schau. Fotografen, die ihn ablichten wollen, bekommen auch schon mal folgendes zu hören: »Wenn du abdrückst, bring’ ich dich um!«
Wer sein Strafregister kennt, läßt die Kamera behutsam sinken. Leider weiß ich das alles noch nicht, als ich die Kamera in seine Richtung halte. Aber wir haben Glück. Er braucht mich nicht umzulegen. Ich wollte mich sowieso gerade nach vorne begeben, wo die Hautevolee der Familie dicht am Podium plaziert ist. Rechts vor dem Podium sitzt nämlich ein weißhaariger Brillenträger, der aussieht wie ein Biedermann par excellence. Er wurde vorher von Althans öffentlich und unter großem Applaus willkommen geheißen. Bitte recht freundlich: Es ist Manfred Roeder, Jahrgang 1929. Er unterhält sich gerade angeregt mit seinen Tischnachbarn, die aussehen, als hätte Papa Roeder zum Sonntagsnachmittagskaffee eingeladen. Zur Linken ein Mädel in fescher Spitzenbluse, zur Rechten ein dunkelblonder Jüngling mit Lodenjacke, die überhaupt nicht zu seinen Militärstiefeln paßt. Roeder selbst vermittelt mit seinem dünnlippigen Lächeln und dem knitterfreien Anzug überhaupt nicht den Eindruck eines Terroristen, der gerade erst aus langjähriger Haftstrafe entlassen wurde. Der fanatische Christ begann mit dem Attackieren von Pornogeschäften und setzte seiner Karriere 1980 mit mehreren Brand- und Sprengstoffanschlägen, die von Mitgliedern seiner Gruppe ausgeführt wurden, einen Höhepunkt. Der Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim bei Hamburg kostete zwei Vietnamesen das Leben. Röder wurde zu dreizehn Jahren Haft verurteilt. Nach neun Jahren läßt man ihn laufen. Ob die Haft etwas bewirkt hat, darf bezweifelt werden. Denn seine Reisetätigkeit, vor allem nach England, wo er sich mit Extremisten der dortigen Untergrundszene trifft, läßt eher darauf schließen, daß man von ihm noch Unangenehmes hören wird. Im Löwenbräukeller hätte ich ihn fast übersehen, aber er ist wichtig – ist er doch schon lange im »Geschäft«.
Plötzlich steht Roeder auf und winkt Tony Hancock zu. Der lächelt kurz und verschwindet hinter einer Säule, als er meine Kamera sieht. Nicht hektisch, aber auffällig unauffällig geht er mir aus dem Weg. Tony alias Michael ist immer noch in der Persönlichkeitskrise. Und er haßt es, fotografiert zu werden. Gerade das aber reizt mich. Hat er sich erst an einem Tisch niedergelassen, von dem er denkt, er sei im toten Winkel der Kamera, dauert es keine zehn Minuten, bis ich unversehens wieder vor ihm stehe – mit gezücktem Objektiv. So umflattern wir uns quer durch den ganzen Saal, vorbei an den Knödel und Schweinshaxen verspeisenden Verwandten der Großfamilie. Vorbei an Maßkrügen und Schnapsgläsern, an tuschelnden Tanten und asthmatischen Onkeln. Vorbei an dem Skinhead mit dem eingegipsten Mittelfinger und an Christian Worch, den ich natürlich begrüßen muß: »Schönen guten Tag!« – »Alles klar?« – »Na klar!« Tony nutzt meinen kurzen Plausch mit Worch und verzieht sich hinter der Plakatwand, von der Irvings Konterfei die Wahrheit verspricht, die frei macht. Am Tisch davor stoßen gerade zwei Skinheads die Bierkrüge aneinander. »ADF!« sagt der eine, und der andere, schon mit weißem Bierschaum an der Nasenspitze, wiederholt die Trinkformel der Neonazis. ADF heißt »Auf den Führer«. Außenstehenden erklärt man jedoch gerne, ADF bedeute »Auf die Frauen«. Im vorderen Teil des Löwenbräukellers ist plötzlich aufgeregtes Treiben. Endlich bekommt Tony Hancock eine Verschnaufpause. Ich eile nach vorn. Drei junge Familienmitglieder machen sich für das Erinnerungsfoto zurecht. Sie wollen offenbar geknipst werden. Wenigstens verdrücken sie sich nicht sofort hinter die nächste Säule, so wie Tony. Aber das hier ist ja auch ein Propaganda-Stunt: Mit Plastikmasken, die Eselsköpfe darstellen, haben sie sich publikumswirksam postiert und lassen ein Blitzlichtgewitter
über sich ergehen. Auf dem Schild, das sie vor sich hochhalten, steht: »Ich Esel glaube noch immer alles, was man mir so erzählt!!« Damit wird »demonstriert«, daß diejenigen Esel seien, die den »Geschichtslügen« glauben. Spontan erinnert diese Aktion an das bekannte Foto aus der Nazizeit, auf dem einer Frau das Plakat mit der Aufschrift »Ich bin am Ort das größte Schwein und lass’ mich nur mit Juden ein« um den Hals gehängt wurde. Sie mußte sich fotografieren lassen, bevor die SA sie mit ihrem ebenso behandelten jüdischen Freund zum Spießrutenlaufen trieb – wegen »Rassenschande«. Die Assoziation mit dem Plakat, das die Eselskopfträger hochhalten, gehört zum Konzept. Schock und Empörung über diese Verkehrung der Verhältnisse sind als »Provokation« beabsichtigt. Wichtig ist, Aufmerksamkeit damit zu erregen; die Ablehnung vieler Bürger nimmt man dafür gerne in Kauf. Die Idee dazu stammt von Michael Kühnen. Bereits 1978 ließ er Christian Worch mit seinen Getreuen so durch die Hamburger Innenstadt marschieren: mit Eselsmasken und Plakaten, auf denen stand: »Ich Esel glaube noch, daß in deutschen KZ Juden vergast wurden!« Die Empörung und gleichzeitig die Propagandawirkung waren enorm. Kühnen schwärmt noch zehn Jahre später davon. Doch hier im Löwenbräukeller empört sich kaum jemand. Im Gegenteil: Mit allgemeiner Heiterkeit begrüßt man die Aktion. Auch die meisten Fotografen grinsen. Obwohl drei Tische in der Nähe der Bühne mit »Presse« gekennzeichnet wurden, scheint der größte Teil dieser »Journalisten« nicht gerade der demokratischen Presse anzugehören. Das stellt auch mein Tischnachbar fest, der für die Münchener Abendzeitung arbeitet. Nach kurzem Rundblick raunt er mir zu: »Ich glaub’, wir sind die einzigen normalen Journalisten hier!« Da hat er recht. Die anderen gehören alle zur Familie. Der etwa
40jährige Herr, der sich gerade so köstlich über die »Eselsaktion« amüsierte, nimmt wieder an unserem Tisch Platz. Er betrachtet mich mit seinen auffällig hervorstehenden Augen und wendet sich an seinen wohlfrisierten Nachbarn im Seidenjackett. Während ich an meiner Kamera hantiere, höre ich ihn sagen: »Ja, ja. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’!« »Was für Brot essen Sie?« frage ich ihn gereizt zurück und halte meine Kamera auf ihn. Für diese Bemerkung wird er gefilmt! »Weißbrot!« sagt er und gluckst vor Lachen. »Also gegen Schwarz?« interpretiere ich ihn. »Sag’ ich ihnen doch: Weißbrot«, bestätigt er und versucht, sein Grinsen unter dem gepflegten Oberlippenbart zu unterdrücken. Er findet das Wortspiel toll. Auch sein ebenfalls der weißen Rasse zugehöriger Kollege mit der hellbraunen Lederjacke, der neben dem Tisch steht, feixt jetzt. Die beiden haben schon die ganze Zeit mit ihrer eigenen Videokamera Aufnahmen gemacht. Der Kollege heißt Manfred Lating. Er ist Mitte Vierzig, von kleiner Statur und trägt eine dicke Brille. Er dokumentiert »für das Institut«, wie er sagt, die Atmosphäre mit einer Videokamera. Das »Institut« ist eine Organisation, die in Costa Mesa/Kalifornien in der Nähe von Los Angeles in den Vereinigten Staaten den Hauptsitz hat. Institute for Historical Review – »Institut für historische Nachforschungen«. Das Kürzel ist IHR. So nennt sich eine der wichtigsten Organisationen im Netz des internationalen Neofaschismus. Unter dem Vorwand wissenschaftlicher Forschung haben sich in dieser Organisation Rechtsextremisten, Rassisten und Antisemiten zusammengefunden, die mit »dokumentarischen Beweisen« das Dritte Reich von Schuld freiwaschen und Hitler rehabilitieren wollen.
Zu dem »Freundeskreis« des IHR gehören neben den »Revisionisten« und Nazis aus der ganzen Welt auch Angehörige des Ku-Klux-Klan, Angehörige einiger arabischer Staaten und eine Reihe von zum Teil noch gesuchten Naziverbrechern. Echte Dokumente sind beim IHR nur wenig zu finden. Dafür gibt es jede Menge von mehr oder weniger raffinierten Fälschungen. Die berüchtigten »Protokolle der Weisen von Zion« beispielsweise, die eine Weltverschwörung der Juden »beweisen« sollen, wurden bereits Ende der zwanziger Jahre als Fälschung der zaristischen Geheimpolizei entlarvt. Fred A. Leuchters lächerlicher »Leuchter-Report« ist als »endgültiger Beweis« zur Wahrheitsfindung auch im Katalog der Holocaust-Leugnungsorganisation zu finden. Die »Beweisfindung« dafür, daß der Holocaust ein Mythos sei, verzichtet auf Zeugenaussagen der Opfer – höchstens einige widersprüchliche Aussagen werden angeführt. Fast sämtliche »Zeugenaussagen« stammen von den Tätern oder ihren Kollaborateuren – wobei nicht zu wundern braucht, daß die Verbrechen kategorisch abgestritten werden. Alle anderen Dokumente werden als »gefälscht« abgetan. Selbst die von den Kriegsverbrechern selbst eingestandenen Verbrechen wollen die Mitarbeiter des IHR noch weglügen. »Das Geständnis wurde durch Folter erpreßt«, heißt es dann in völliger Ignoranz der Tatsache, daß die Folter von jeher eine Spezialität totalitärer Systeme war. Die Nazis hatten sogar einen amtlichen Begriff dafür: »verschärftes Verhör«. Flugs wird den Gegnern der Nazis dieselbe Grausamkeit unterstellt. Und für »Anfänger« des Revisionismus gibt das IHR ein Heftchen in mehreren Sprachen heraus, das »66 Fragen und Antworten über den Holocaust« auflistet. Frage Nr. 14 lautet: »Wie viele Gaskammern gab es in Auschwitz?« Antwort: »Keine!« Frage Nr. 53: »Welche Beweise gibt es dafür, daß
Hitler ›Bescheid‹ wußte?« Antwort: »Keine!« – Daß das schon ein Widerspruch in sich ist, fällt den »Revisionisten« offenbar gar nicht auf. Worüber nämlich Bescheid wissen? Über das, was es angeblich gar nicht gab? Oder meinen sie mit »Bescheid wissen« die Kenntnis der Existenz von Konzentrationslagern an sich? Im Zweifelsfalle weiß man von nichts… Dagegen wird zu Frage 56 (»Ist das Anne-FrankTagebuch authentisch?«) auf »umfassendes Beweismaterial« für die Behauptung hingewiesen, das Tagebuch sei gefälscht. Fragt man nach, ist zu erfahren, daß »Teile mit Kugelschreiber« geschrieben sind, und Kugelschreiber gab es bekanntlich damals nicht. Daß es sich bei den »Teilen« um einen Notizzettel handelt, der später eingelegt wurde, das verraten die Herren »Revisionisten« wohlweislich nicht. Die deutschen Mitarbeiter des IHR sind der pensionierte Jurist Wilhelm Stäglich und der »Historiker« Udo Walendy, ein ehemaliger Volkshochschullehrer und NPD-Mitglied, der sich auf die »Kriegsschuldfrage« spezialisiert hat. Stäglich, dem sein Doktortitel vor kurzem abgesprochen wurde, ist auch im Löwenbräukeller. Michael Kühnen, der gerade sein »Spezi« trinkt, gibt mir den Tip. Der hagere Mann mit der großen Nase, der gerade in der Nähe des Ausgangs irgendein Buch durchblättert – »Das ist er«, sagt Kühnen und weiß zu berichten, daß Stäglich »im Osten gekämpft hat. Da hat er wohl ziemlich viel gesehen. Erschießungen und so…« Wie schön für Stäglich, jetzt Freunde zu haben, die alle gerne glauben, daß alles nicht so schlimm gewesen sei. Stäglich gehört eindeutig zum engeren Kreis der großen Familie im Löwenbräukeller. Und er hat schon einen Blutsbruder ausfindig gemacht, der sich in der Demokratie ebenfalls äußerst unwohl fühlt. Er schüttelt General a. D. OttoErnst Remer die Hand. Der wurde bereits ehrfurchtsvoll von den anderen Umstehenden gegrüßt. Remer hat sogar einen
eigenen Bücherstand im Foyer des Löwenbräukellers, wo man einige seiner Schriften findet. Doch seine Frau Anneliese ist nicht dabei. Sie muß sich um die neuesten Bücher kümmern, die zu verschicken sind. Remers verdienen sich nämlich noch durch Buch- und Videovertrieb eine Aufbesserung der Generalspension. Bei ihnen kann man Broschüren bestellen wie »Ausländer-Integration ist Völkermord« oder Videos wie »Das Schlüsseldokument« (Fred Leuchters Probenentnahme im verregneten Schlamm der KZ-Überreste). Um eventueller Strafverfolgung entgehen zu können, erfolgt der Hinweis: »Achtung: Die Filme (…) bezweifeln nicht den Holocaust an den Juden.« Das könnte hier im Löwenbräukeller als glatter Fauxpas gelten, ist man doch vom Gegenteil gerade eben erst wieder überzeugt worden. Doch bei Otto-Ernst drückt man gerne mal ein Auge zu, denn daß er trotzdem vor nichts haltmacht, belegt er in seinem Heftchen Recht und Wahrheit, 6. Jahrgang, Nr. 1 + 2, wo wir unter dem Titel »Das künstlich erzeugte Pogrom« erfahren, wer die Schuld an den »Ausschreitungen« am 9. November 1938∗ trägt, denn als »in Deutschland in jener Nacht ›Schaufensterscheiben klirrten‹, waren die Führenden ahnungslos«. ∗
Am 7. November 1938 erschoß ein 17-jähriger polnischer Jude namens Herschel Grynszpan einen deutschen Botschaftsangehörigen in Paris. Der Attentäter wollte sich für das seiner Familie angetane Unrecht rächen. Wie viele andere war die Familie Grynszpan zwangsdeportiert worden. Die Nazis ergriffen die Gelegenheit, um das Attentat als »Anschlag des Weltjudentums« darzustellen, und nach einer geifernden Hetzrede von Goebbels mobilisierten die SA und andere Schlägereinheiten zum gnadenlosen Pogrom, das in der Nacht vom 9. auf den 10. November (»Reichskristallnacht«) in der Zerstörung und Plünderung fast aller jüdischen Synagogen gipfelte. Über 7000 jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert, Zehntausende von Juden verhaftet; fast hundert Juden wurden erschlagen und unzählige niedergeknüppelt, angeschossen und zusammengeschlagen. Ein weiterer Schritt hin zur »Endlösung«.
Ach ja? Hat sich der Pöbel selbständig gemacht? Weit gefehlt! Ein Gerd Festerling kommt nach viereinhalb Seiten massiver Geschichtsklitterung zu dem Schluß: »Der Hintergrund zu dem Ereignis ›Reichskristallnacht‹ wird nun immer klarer. Die Umrisse derjenigen, die das Pogrom künstlich erzeugten, werden immer deutlicher sichtbar: der international sich ausbreitende Zionismus und die hinter ihm stehende jüdische Finanz- und Kapitalmacht.« Nachdem erst einmal klargestellt ist, daß die Juden die Reichskristallnacht selbst herbeiführten, packt Recht und Wahrheit den arischen Leser an der Wurzel: »Deutsche, öffnet eure Augen! Der Zweite Weltkrieg war nicht der unsrige! Er wurde vom internationalen Judentum unter Mißbrauch europäischer Hegemonialinteressen gegenüber Deutschland bewußt angezettelt und diente zur Vernichtung unseres germanischen Selbstbehauptungswillens.« An Remers Bücherstand kann man auch seine persönliche Version der Geschichte in verdichteter Form unter dem Titel »Kriegshetze gegen Deutschland« käuflich erwerben. Die Umschlaggestaltung des Werkes besorgte Jürgen Mosler, ein Grafiker. Er ist ein Intimfeind Michael Kühnens. Seine grafischen Talente brachte Mosler schon in einem Zeichentrickvideo zum Ausdruck. Kühnen erzählte gerne von Moslers Urheberschaft an einem widerlichen 3-Minuten»Comicstrip«, in dem sich ein »typischer Jude« in StürmerManier∗ zu den Klängen eines jüdischen Volksliedes in einen Totenkopf verwandelt. Das Video wird bei Vorführungen von Filmen wie »Der ewige Jude« gern als Vorfilm gezeigt. ∗
Der Stürmer wurde im Dritten Reich von dem Nürnberger Gauleiter Julius Streicher herausgegeben. Das primitiv-antisemitische Hetzblatt mit Schwerpunkt auf sexuell angehauchten Horrorphantasien tat sich besonders durch die entstellend karikierte Darstellung von »häßlichen« Juden hervor.
Jürgen Mosler, der einst die gegnerische Fraktion (den Flügel der »Schwulengegner«) gegen Kühnen anführte, steht OttoErnst Remer nahe. Die gute Verbindung bleibt bestehen, obwohl Mosler sich, wie Kühnen zu berichten wußte, neuerdings »mehr ins Privatleben zurückgezogen« habe, was auf seine Bange vor diversen Gerichtsverfahren zurückzuführen ist, die auf ihn zurollen – wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung, Volksverhetzung und anderen Straftaten. Da könnte ihm Otto-Ernst Remer mit Rat und Tat zur Seite stehen, denn er kennt sich aus mit den Gepflogenheiten der Justiz. So fordert Remer beispielsweise 1989 in einem Brief an das Landgericht München respektvolle Milde: »Im übrigen warte ich es gelassen ab, ob unsere ›Rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit‹ (…) es tatsächlich fertigbringt, einen alten Mann wie mich wegen seines Eintretens für RECHT und WAHRHEIT für sein Volk ins Gefängnis zu stecken.«
Im Löwenbräukeller halten Otto-Ernst Remer und Wilhelm Stäglich unterdessen Plausch mit netten Verwandten der großen Familie. Das runde Gesicht mit lockigem Haarkranz kam mir doch vorhin schon so bekannt vor: Wo Remer sich aufhält, ist meist auch Karl Philipp anzutreffen, der Berater und »Nachfolger« des Generals. Richtig! Der pastoral angehauchte Philipp zeigt lächelnd seine Zähne, als er sich empfiehlt, um mit Ewald Althans interessiert das Treiben am Rande des Podiums zu begutachten, wo Christian Worchs martialische Mannen ihre Plakate ordnen. »Macht kaputt, was euch kaputtmacht!« steht da. Und natürlich immer wieder »Wahrheit macht frei!« Später begibt sich Philipp auch zu Irving auf das Podium. Zufrieden blicken sie herunter auf die vollbesetzten Tische vor
ihnen. Die Zuhörerschaft hat das Mittagsmahl eingenommen, und man geht nun zum Kaffee über. Der dickbäuchige Bayer mit dem Trachtenjanker besteht auf »Café au lait«; da muß der Kellner noch mal nachfragen. Ja, die Veranstaltung hat eben internationalen Rang. Philipp weiß, daß er da unbedingt mithalten kann, denn schließlich vertritt er in seinem Büro im Frankfurter Westend die Fiji Airlines und die Solomon Airlines. Philipp ist nicht nur international, er ist multifunktional. Denn auch er ist »Journalist«. Immerhin haben wir ihm den Bericht in der rechtsradikalen Monatszeitschrift CODE, Nr. 4/1990, zu verdanken, wo er freundlicherweise aufdeckt, daß David Irving auch andernorts die »Auschwitz-Lüge« in Deutschland verbreiten durfte: dieses Mal in Dresden. Philipps Jubelartikel, der sich auch in einer Reihe anderer rechtsradikaler Schriften findet – bis hin zur nazistischen Bauernschaft des SS-Sonderführers Thies Christophersen –, kann man Fakten entnehmen, die einer Erwähnung wert sind: David Irving wurde 1990 vom »Kulturdirektor der Stadt Dresden« und der »Vorsitzenden des Magistrats« mit Blumen begrüßt. Es sei »eine Ehre, dem verdienten Zeitgeschichtler den großen Saal des Kulturpalastes für seinen Vortrag am 13. Februar zur Verfügung zu stellen«. Der Vortrag handelte selbstverständlich von der Bombardierung Dresdens durch die Engländer. Daß ausgerechnet David Irving zum 45. Jahrestag der Zerstörung der Stadt eingeladen wurde, zeugt von einem dumpfen Desinteresse, wenn nicht sogar stillem Einverständnis mit den neonazistischen Aktivitäten des »Revisionisten« Irving. Offenbar mühelos vollzieht der »Kulturdirektor der Stadt Dresden« – in Wahrheit Direktor des Kulturpalastes –, ein gewisser Matschke, den rechtsradikalen Schulterschluß und läßt im Februar 1990 nach vierzig Jahren Antifaschismus den Vorzeigehistoriker der Nazis ungestört vortragen: »Der
Holocaust an den Deutschen in Dresden war echt. Der an den Juden in den Gaskammern von Auschwitz ist frei erfunden.« So geschehen am 13. Februar 1990 in Dresden, zu einer Zeit, als Irving in Österreich mit Haftbefehl gesucht wurde, weil dort die Leugnung des verwalteten Massenmordes verboten ist. Zu einer Zeit, als die DDR noch »real« existierte. So weit die Fakten. Was Irvings Haftbefehl betrifft, findet Philipp das Verhalten der österreichischen Behörden »merkwürdig«, wie er in CODE schreibt. Der Chefredakteur von CODE, Ekkehard Franke-Gricksch, ist auch im Löwenbräukeller. Auf dem Familienfoto wäre er oben rechts, der Dicke mit dem schicken Anzug und der Brille. Er hat sogar noch echte Verwandte: Ein Alfred FrankeGricksch, ehemaliger SS-Obersturmbannführer, war in den fünfziger Jahren führend in der »Bruderschaft«, einer der vielen Nebenorganisationen der ODESSA, aktiv. Gute Verbindungen scheinen den Franke-Grickschs wichtig zu sein. Ein Blick ins Impressum läßt erahnen, daß CODE zum Netzwerk der internationalen rechtsextremen Szene einige Fäden beitragen kann. Es werden Redakteure u. a. in Argentinien, Mexiko, Kanada und den Vereinigten Staaten aufgeführt. Ein Victor Marchetti wird da zum Beispiel als »Nahost«-Redakteur angegeben. Der war früher Mitarbeiter des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA und schon immer ein besessener Antikommunist. Daher sein Schwerpunkt: sowjetisches Militär. Er brachte es bis in den Führungsstab der CIA. Seit seiner Entlassung läßt er durchblicken, daß die CIA eine Bande von skrupellosen Fälschern sei – um darauf zu kommen, muß man kein Angehöriger des Geheimdienstes sein. Heute, nach langjähriger Mitgliedschaft in der »Firma«, ist Marchetti »Journalist« und Mitarbeiter des Institute for Historical Review und stellt seine einschlägigen Kenntnisse in die Dienste des »Revisionismus«.
Hier beim »Revisionistenkongreß« am 21. April 1990 konzentriert sich unterdessen der »Journalist« Karl Philipp auf die kommenden Höhepunkte. Er wird heute ebenfalls eine Rede halten; schließlich hat er an der Organisation der Veranstaltung mitgewirkt. Philipp würde das zwar gerne abstreiten, aber ein Rundbrief von Ernst Zündel beweist, daß er mit NSDAP-AO-Kontaktmann Christian Worch, AVÖWerbefachmann Ewald Althans und anderen als Ansprechpartner für die Versammlungen angegeben ist: »Ich möchte alle Kameraden und Kameradinnen bitten (…) sich umgehend bei mir oder Karl Phillipp, ebenso wie Ewald Althans, zu melden (…) Ich baue auf euch! Ernst Zündel.« Dann wird Philipps Adresse im Frankfurter Westend angegeben, obwohl dieser sonst gewissenhaft mit Bad Reichenhaller Adresse arbeitet, besonders wenn er als »Journalist« auftritt, denn in Frankfurt haben ja Fiji- und Solomon-Airlines ihren Sitz für Europa. Ein kleiner Kunstfehler. Mir gegenüber betont Philipp, daß er »finanziell ziemlich schlecht« mit dem Revisionismus fährt. Aber was tut man nicht alles der Wahrheit zuliebe. Sein schöner dunkler Mercedes hat eine Frankfurter Nummer. F – PH… fängt das Kennzeichen an (man läßt die Initialen im Nummernschild der Nobelkarosse ausstanzen), doch Philipp behauptet: »Der Wagen gehört Freunden.« Er verfügt wirklich über erstaunliche Verwandlungskünste, und das zeigt er auch bei seiner Rede, die er jetzt begonnen hat. Die Zuhörer lassen sich gerade ihr Nachmittagsbier schmecken. Und Gauleiter Thomas Hainke mit der Reichsflagge bleibt standhaft neben dem Rednerpult stehen, als Philipp vom laienpriesterhaften Spießbürger zum überschäumenden Hetzer mutiert. Eine Steigerung, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Sein hessischer Akzent mit rollendem »R« klingt jetzt scharf, der Haß quillt hervor: »Es gab noch nie
so viel Freiheit in diesem Lande – für Heuchelei, für Lüge, für Entrechtung aller Deutschen. Für die Selbstaufgabe, für die Kindesmörder.« Zustimmung im Publikum. Empört nickt der Herr mit der Seidenkrawatte. Auch seine Frau Gemahlin schüttelt angewidert den blonden Haarknoten. Es ist auch zum Verzweifeln mit diesen schlappen Demokraten. Aber Philipp hat schon ein Gegenmittel parat: »Überall formieren sich die Nationen, begehren auf gegen ein gleichmachendes Unterjochungssystem und fordern ihre nationale Identität.« Ich kann mir nicht helfen: Irgendwie muß ich dabei an Frau Noelle-Neumann denken, die Demoskopin, die beklagte, daß die Deutschen den »geringsten Stolz auf ihre Nationalität äußerten«. Leider ist sie nicht da, um diese Art von Stolz untersuchen zu können. Dafür verschluckt sich die stattliche Matrone am zweiten Tisch links fast an ihrem Tortenstück, als Philipp leidenschaftlich seine Angriffe herauspeitscht: »Die sogenannten heutigen Realpolitiker wissen noch nicht, daß sie von diesem Geschehen bereits eingeholt sind. Und wir stellen den Antrag – Petitionsausschuß im Bundestag –, diesen Menschen eine Fahrkarte zu kaufen. Nach Anatolien oder nach Mosambik oder sonst irgendwohin, dahin, wo der Pfeffer wächst!« Philipp, der »European Director« der Solomon Airlines, kennt sich halt mit Tourenreisen aus. Bei soviel Sachverstand kann er auch den begeisterten Beifall der achthundert Zuhörer gelassen entgegennehmen. Auch sein General applaudiert anerkennend. Sein Tisch ist natürlich in der ersten Reihe vor dem Podium, gleich neben dem Tisch der Familie Roeder. Auch Roeder, der grauhaarige Terrorist, klatscht sachkundig. Er reist ja auch gerne, vorzugsweise nach England, zu seinen
Kontaktleuten der British National Party und der National Front. Am Nachbartisch, neben General a. D. Otto-Ernst Remer, der sich mit seinen ebenfalls betagten Tischnachbarn gerade ein Schnäpschen genehmigt, sitzt ein junger Mann, dessen Verklemmtheit meine Aufmerksamkeit erregt. Eigentlich wollte ich nur den »Führerleibwächter« filmen, doch der Blaßgesichtige rutscht nervös auf seinem Platz hin und her, senkt den Kopf und hält die Hand – wie zufällig – vor sein Gesicht. Als er schließlich nach mehrfachem Hochschielen sicher ist, daß ich wirklich ihn filme, steht er auf und will mit britischem Akzent sicherstellen: »Das ist nur Zufall, daß wir hier neben Herrn General sitzen…« Er und sein Kumpel kämen aus England, sagt er, und seit drei Jahren sei er in München. Und er sei wirklich nur rein zufällig hier. »Wissen Sie, ich bin sonst auf Veranstaltungen der CDU. Es ist reiner Zufall, daß ich hier…«, stottert er herum. Dabei hat er einen Anstecker der britischen Naziorganisation National Front am grauen Baumwollpullunder festgemacht. Darauf angesprochen, verheddert er sich endgültig: »Das ist nichts, äh, ich meine, ich schreib’ nur für die Zeitung von der National Front.« Noch ein »Journalist«? Klar doch! Im Vanguard, das sich dem »Fortschritt des Britischen Nationalismus« verschreibt und wirre rassistische Thesen zusammenbastelt, findet sich auch gleich ein Artikel von ihm. Er signiert da mit dem Namen I. S. Taylor und schreibt über die positive Entwicklung, die die Bemühungen des Republikaner-Chefs Schönhuber und des Chefs der französischen Front National, Jean-Marie Le Pen, für eine Einigung der »Europäischen Rechten« bedeuten. Genau hier beginnt die Grauzone bzw. Braunzone, in der »anständige« Patrioten und fanatische Nazis auf denselben Pfaden schreiten. Übrigens: Le Pens enger Mitarbeiter und
Parteiideologe Yvan Blot trifft zum Beispiel ein Jahr später, im Frühjahr 1991, mit Ewald Althans zusammen. Daß Blot an dem Kongreß des Neonaziführers teilnimmt und sich dabei auch noch fotografieren läßt, wird im Nachrichtenmagazin Stern am 12. März 1992 dokumentiert. Das müßte Monsieur Le Pen, den Meister des »Details«,∗ eigentlich ärgern. Denn offiziell will die Front National ja nichts mit Neonazis zu tun haben. Wie alle, die offiziell »nur Patrioten« sind. Und offiziell natürlich nur »Gäste«. »Viele Gäste aus England« begrüßt der frischgescheitelte »Kamerad« von Organisator Ewald Althans. Im Löwenbräukeller applaudiert man den aus dem Ausland angereisten Gesinnungsgenossen. Althans’ blonder Assistent mit der schicken Brille, Anzug und Krawatte zählt Gäste »aus den Bergen, aus der Schweiz«, auf, aus der »Ostmark«, aus Holland, Kanada und den Vereinigten Staaten. Die Münchener Veranstaltung verdeutlicht damit einen Punkt, den die meisten Medien und Behörden bislang entweder heruntergespielt oder gar nicht erfaßt haben. Neonazismus ist kein deutsches Problem. Es gibt zwar starke, tiefe »Wurzeln« in Deutschland, aber es wäre töricht, den aufkommenden Rechtsextremismus in anderen Ländern als vorübergehende Zeiterscheinung abzutun. Mittlerweile existiert ein Netz von international operierenden Extremisten. Sie sind weder hierarchisch gegliedert, noch bewegen sich die verschiedenen Organisationen auf ein und demselben Niveau. Jede Gruppe, jede Einzelperson baut Verbindungen zu Gleichgesinnten in benachbarten Ländern auf und unterhält Kontakte zu »extremeren« und »gemäßigteren« Rechtsradikalen. Dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel um sich gegenseitig ∗
Jean-Marie Le Pen äußerte 1987 in einer französischen Fernsehsendung, daß der Holocaust ein »Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges« gewesen sei.
propagandistisch »Schützenhilfe« zu geben oder um Terroristen Unterschlupf zu gewähren. Bei alledem haben sie eine gemeinsame Geisteshaltung. Und dafür gibt es eine Reihe von Merkmalen. Auffällig ist das eifernde Eintreten für »Recht und Ordnung«, während kriminellen Aktionen und terroristischen Anschlägen aus den eigenen Reihen stiller oder offener Beifall gespendet und sie als Ordnungsmaßnahmen gutgeheißen werden. Die Gemäßigteren bringen »irgendwie Verständnis« auf für Ausschreitungen gegen Asylsuchende, während sie härteste Strafen bei Vergehen mit »linkem« Hintergrund fordern. Da wird dann schon ein Eierwerfer zum Terroristen. Antisemitismus in Variationen gehört immer dazu. Es können hier nur Beispiele genannt werden: angefangen beim antiisraelischen »Antizionismus«, wobei die ungerechte Behandlung der Palästinenser als Vorwand dient, um sich über die Juden empören zu können, ohne Widerspruch zu ernten. Dabei sind ihnen die Palästinenser ansonsten herzlich egal, denn alle »dort lebenden vorderasiatischen Völkergemische« sind schließlich »keine Weißen«. Auch der arabische »Antizionismus« basiert ausschließlich auf dem Feindbild Israel als ungeliebter Nachbarstaat. Ginge es den »Antizionisten« um Menschenrechte, dann wäre der Umstand, ob es sich bei den Peinigern der Palästinenser um Juden oder Nicht-Juden handelt, völlig unerheblich, und man könnte getrost bei Amnesty International mitmachen. Aber es geht ja nicht um Menschenrechte, es geht gegen die Juden. Weiterhin gibt es die volle Bandbreite des »politischen« Antisemitismus (»Nichts gegen den einzelnen Juden…«) von der Neidvariante (»Die Juden haben das Geld«) bis hin zum dumpfrassistischen Judenhaß à la Drittes Reich, wo die Juden
als Ratten oder Satansbrut verteufelt werden. Diese Form nennt sich heute »Identity«.∗ Oft trifft man einen reaktionären Antikommunismus in pervertierter Übersteigerung an. Alle werden pauschal zu »Kommunisten« erklärt, die »links« oder »liberal« denken. Man denke an die McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten. In Europa dient der »perverse Antikommunismus« häufig als Vorwand für Kriegsschuldleugner und Naziverbrechens»Verharmloser«. Diese zwangsdemokratische Version des Antikommunismus bemüht sich daher auch stets um die Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit dem dann so bezeichneten »verbrecherischen DDR- Regime«. Ich sage »dann so bezeichnet«, weil dies meist in beharrlicher Ignoranz der Tatsache geschieht, daß das DDR-Regime weder einen Weltkrieg verschuldet noch Millionen von Menschen in Vernichtungslagern ermordet hat. In dieser Kategorie sind auch die meisten fließenden Übergänge zwischen Nazis und ∗
Die Anhänger der in den frühen achtziger Jahren vorwiegend in den USA entstandenen Identity-Kirchen behaupten, daß die Angelsachsen das »auserwählte Volk« seien. Juden seien demnach Töchter und Söhne Satans und Nichtweiße seien keine Menschen, sondern auf der Stufe der Tiere mit»menschenähnlichem Aussehen«. Die ideologischen Wurzeln dieser »Religion« liegen im England des 19. Jahrhunderts und sind Fachleuten als »Anglo-Israelismus« bekannt. Eine deutsche Variante wurde im Dritten Reich von Heinrich Himmler geschaffen. Das »Untermenschentum« wird in einer Schrift des SS-Hauptamtes beim Reichsführer SS, 1935, so beschrieben: »Der Untermensch – jene biologisch scheinbar gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund – ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen – geistig, seelisch jedoch tieferstehend als jedes Tier (…) Nie wahrte der Untermensch Frieden, nie gab er Ruhe. Denn er brauchte das Halbdunkle, das Chaos. (…) Und diese Unterwelt der Untermenschen fand ihren Führer – den ewigen Juden!«
»Demokraten« zu finden, wie ich es ja auch schon im zweiten Teil dieses Buches darzustellen versucht habe. Auch der Drang zur Rehabilitierung des Faschismus mit den Mitteln der Relativierung (»KZ sind ja eine Erfindung der Engländer«, »Andere haben auch Kriegsverbrechen begangen«, Gleichsetzung »GULag-Auschwitz«) oder gleich der Leugnung von Naziverbrechen (»Die Auschwitz-Lüge«) verbindet hochdotierte Historiker über die »Revisionisten« mit radikalen Neofaschisten. Die Grundsäule des rechtsideologischen Gedankengebäudes ist Rassismus in jeder Form. Oft bemüht man sich, Vorurteile »wissenschaftlich« zu untermauern. Als Vorzeigerassisten rangieren der amerikanische Erziehungswissenschaftler Arthur B. Jensen und der englische Psychologe Hans Jürgen Eysenck. Auch wird in den neurechten Propagandaschriften gerne der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bemüht. Die rassistische Ablehnung geht bis hin zum Haß auf Fremde, Flüchtlinge, Sinti und Roma, Behinderte, ethnische Minderheiten und allen, die anders sprechen, eine andere Religion haben oder einfach nur anders aussehen. Dauerthemen, die mit einer Vielzahl von »Argumenten« untermauert werden, sind »völkische« Werte und »Ungleichheit« der Rassen. Vom Schweizer Nazi G. A. Amaudruz stammt ein Buch mit dem vielsagenden Titel »Ist Rassebewußtsein verwerflich?« Komplettiert wird die Gedankenwelt durch Nationalismus, bei (zwangsdemokratischem) Bedarf formuliert als »Patriotismus« (»Es muß doch erlaubt sein, das Vaterland zu lieben!«) und Nationalismus als Ersatz für Nationalsozialismus (»Deutschland den Deutschen«). Die hier im Löwenbräukeller versammelten Deutschen und ihre ausländischen Gäste weisen durchweg mehrere der vorgenannten Merkmale auf. Am Abend dieses 21. April 1990, im Löwenbräukeller in München, wird mir klar: Ich habe
soeben ein winziges Stückchen von der Spitze eines Eisberges gesehen, dessen wahre Größe niemals festgestellt werden kann und dessen virulente Fähigkeit, erneutes Leid über die Menschheit zu bringen, auch von uns, den Demokraten, abhängig ist. Wenn wir ihnen eine Chance geben – sie werden sie nutzen. Sofort und gnadenlos.
Der Abschluß der Veranstaltung offenbart nochmals anschaulich, wie einhellig und gleichzeitig verschieden die Leute, die unsere Nachbarn sein könnten, ihre Gesinnung demonstrieren. Es war ein langer Tag hier im Löwenbräukeller. Das Familientreffen ist – nach achtstündiger Dauerpropaganda – bald beendet. Doch die Anwesenden sind glücklich, gelöst. Die Last der Schuld wurde von ihnen genommen, und jetzt macht sich eine fast euphorische Stimmung breit, während die letzten Kuchenteller und Brezelstücke entsorgt werden. Ein »Revisionist« aus Österreich übernimmt die abschließenden Worte des Tages. Er steht am Rednerpult und beschwört die Gemeinsamkeit: »Steht auf in diesem Saal!« fordert er flammend. »Steht alle auf, auf mit euch! Auf, auf, steht auf, und seid mutig und setzt eine mutige Tat. Steht auf!« Achthundert Stühle werden gerückt. Wie eine Wellenbewegung vom vorderen Teil bis in den letzten Winkel der hintersten Ecke erheben sich die Biedermänner und die Brandstifter. Der ältere Herr, seriös mit grauem Haar und Brille, und seine hübsche Frau direkt vor mir sehen sich kurz an und stehen auch auf. Was wird nun kommen? Der Redner fordert die Anwesenden auf, sich spontan nach draußen zu begeben, hinauszugehen »in das schöne München« und dort zu demonstrieren, weshalb man hierhergekommen
sei: »Wir lassen uns die Lüge nicht mehr gefallen, wir wollen die Wahrheit, denn die Wahrheit macht uns frei, frei, frei…« Da hält es die Skinheads und die Braunhemden nicht mehr. Sie reißen die Arme hoch zum »Gruß« und singen: »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt, wenn es stets zum Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!« Sie singen die erste Strophe des »Deutschlandliedes«. Seit 1949 wird bekanntlich die dritte Strophe als deutsche Nationalhymne gesungen: »Einigkeit und Recht und Freiheit…« Die erste Strophe darf bei offiziellen Anlässen nicht gesungen werden, wird aber mit Vorliebe von Deutschnationalen und Rechtsradikalen verwendet.∗ Vereinzelte Kehlen stimmen schon ein. Es werden rasch mehr, und schließlich singen die achthundert, Deutsche wie »Gäste«, gemeinsam, was sie empfinden: »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt…« ∗
Als unser Film »Wahrheit macht frei«, der die beschriebene Szene enthält, im Mai 1992 auf der internationalen Programmkonferenz INPUT in Baltimore vor Delegierten der öffentlichen Fernsehanstalten aus der ganzen Welt gezeigt wurde, regte sich vehemente Kritik von deutscher Seite. Der Film enthalte »nichts Neues« und würde »übertreiben«, da Neonazismus »kein Problem in Deutschland« darstelle. Abends, an der Hotelbar, sprach mich derselbe Delegierte, ein Angestellter des Bayerischen Rundfunks, an: »Kennen Sie die deutsche Nationalhymne – das Deutschlandlied?« Ich gab es zu – sie ist mir bekannt! Seine nächste Frage: »Wissen Sie, daß der Text von Hoffmann von Fallersleben stammt, einem großen deutschen Dichter?« Auch das, mußte ich eingestehen, ist mir bewußt. »Ja, dann«, sagte er vorwurfsvoll, »dann wissen Sie auch, daß Sie die deutsche Nationalhymne in Ihrem Film mißbraucht haben?!« Die Umstehenden, die dem Gespräch zuhörten, ließen die Cocktailgläser sinken. Wie bitte? »Ja!« sagte er in patriotischem Ernst. »Dadurch, daß Sie diese Chaoten zeigen, wie sie das Deutschlandlied singen. Dieser Film mißbraucht die deutsche Nationalhymne!«
Ich habe meine Kamera eingeschaltet und schwenke von den hitlergrüßenden Skins im Seitenflügel hinüber zur Mitte des Saales. Vereinzelte Arme sind dort ebenso gereckt. Auch der des seriösen Herrn direkt vor mir. In alter Treue zum »Führer« ist sein Arm unaufhaltsam nach oben gewandert und entbietet einen vollendeten Hitlergruß, während er mit Rührung und Inbrunst zur nächsten Strophe ansetzt: »Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang sollen in der Welt behalten ihren alten, schönen Klang…« Doch er wird gestört. Denn die hübsche Begleiterin, wohl seine Frau, sieht das Auge meiner Kamera gefährlich direkt auf sich und ihren Gatten zuschwenken. In panischem Reflex, doch zu spät, viel zu spät, reißt sie ihm den erhobenen Arm nach unten. Sie zischt ihn strafend an. Dem Leidenschaftsdeutschen bleibt nun nichts anderes übrig, als die Hände in den Taschen zu vergraben und – gleich einem zur Strafe seines Spielzeugs beraubten Kind – mit leicht gesenktem Kopf weiterzusingen: »… und zu edler Tat begeistern unser ganzes Leben lang. Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang.«
›Auschwitz ist das Problem‹
Ein wohlhabender Autor wie David Irving oder ein Literaturprofessor wie Robert Faurisson verbreiten die Mär von der Nichtexistenz der Gaskammern. Warum? Diese prominenten »Revisionisten« könnten auf gemäßigteren Wegen sicherlich angenehmer fahren. Faurisson wurde zum Beispiel im September 1989 in Vichy von einer militanten jüdischen Gruppe überfallen und schwer verletzt. Warum trotzdem die Leugnung einer historischen Tatsache, die so klar und unzweifelhaft ist, bezeugt durch Tausende von Opfern und Hunderte von Tätern? Es muß einen weiteren Grund dafür geben. Einen Grund, der tiefer geht als Schuld- oder Haßgefühle. Bei der Suche nach diesem Grund werden wir bald auch auf fundamentale Werte wie die Würde des Menschen und die Freiheit der Meinungsäußerung stoßen. Das Standardwerk der Holocaust-Leugnung stammt von einem 70jährigen Landwirt. Ein Landwirt mit Bankkonten in Kopenhagen, Hamburg, Brüssel, Wien, Amsterdam, Johannesburg und Irvine/Cal. (USA). Er war SS-Sonderführer in Auschwitz. Sein Name ist Thies Christophersen. Er lebt in Dänemark, wo er sich auch Tiis Christensen nennt. Er wird in Deutschland mit Haftbefehl gesucht, weil er ein Buch verfaßt und in Umlauf gebracht hat, das die Existenz der Gaskammern in Auschwitz abstreitet. Dieses mittlerweile verbotene Buch heißt Die »Auschwitz-Lüge«. Buch und Autor sind schon mehrfach erwähnt worden. Im demokratischen Deutschland gibt es ein Verbot der offenen Leugnung der Massenvernichtung im Dritten Reich, der Leugnung des
Holocaust. Angeprangert wird das Verbot der »AuschwitzLüge« und ihrer revisionistischen Varianten von den Nazis stets als Beispiel für »Meinungsdressur« oder »die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der sogenannten Demokratie«. Damit wollen wir uns kurz beschäftigen. Abgesehen davon, daß Buchverbrennungen und Ausschaltung ideologischer Gegner ebenso wie die Folter Spezialitäten des Nationalsozialismus waren, ist das Argument »Meinungsdressur« nämlich allein durch das Heucheln demokratischer Empfindungen schon niederträchtig. Denn nichts wäre ihnen lieber als die sofortige Abschaffung der Demokratie. Doch wenn es um das Recht geht, ihre Propaganda betreiben zu dürfen, dann pochen die Nazis und ihr revisionistischer Anhang auf demokratische Rechte, die ihnen vermeintlich zustehen. Mit dem Pochen auf Meinungsfreiheit legen sie jedoch bewußt die Demokratie falsch aus. Denn beispielsweise garantiert die demokratische deutsche Verfassung eben gerade den Schutz vor Volksverhetzung, wie dies auch in den meisten anderen demokratischen Staaten selbstverständlich ist, wo die Würde des Menschen zu den Grundrechten zählt. Intellektuelle wie der – durchaus nicht rechtsgerichtete – amerikanische Linguist und Publizist Noam Chomsky verteidigen mit fundamentalistischen Argumenten das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, wonach jeder alles sagen darf. Unfreiwillig erhält er dabei Applaus aus den Reihen der Extremisten. Er mag dazu sagen: »So what?« – Na und? –, die Folgen ungebremster Haßpropaganda kann er weder absehen noch dafür Verantwortung übernehmen. Aber die Meinungsfreiheit sehe ich auch nicht in Gefahr, wenn man den Nazis das unerträglich verhetzende Lügen verbietet. Und kein Nazi wird bestraft, wenn er beispielsweise öffentlich sagt: »Ich finde den Nationalsozialismus gut. Ich
hasse Juden. Ich hasse Intellektuelle.« Seine Meinung wird niemand verbieten, denn Meinungen kann man nicht verbieten. Wenn er jedoch sagt: »Es gab keinen Holocaust. Schluß mit den Geschichtslügen, den Erfindungen des Weltjudentums!«, dann muß man ihm Einhalt gebieten können. Denn er lügt. Und zwar so, daß aus dieser Lüge neuer Haß entsteht. Und er lügt nicht versehentlich, er lügt wider besseres Wissen, aus Motiven, die zu ergründen sind. Warum wird also der Holocaust geleugnet? Der Holocaust wird von den Nazis nicht abgestritten, weil sie Scham dafür empfänden. Im Gegenteil, manche sind insgeheim noch stolz auf die organisatorische Meisterleistung, die mit der Einrichtung und dem Betrieb der KZ-Anlagen verbunden war. Die »Revisionisten« vereinigen sich jedoch in perfekter Symbiose mit denen, die Schuld an der Massenvernichtung als Last empfinden. Dankbar, von beiden Seiten dankbar, lügen die einen ebenso schamlos, wie die anderen schamlos den offenbaren Lügen glauben. Denn sie wollen es glauben. Bis hin zu einem Zustand, in dem der Zweifel am Geschehen des Holocaust wirklich eintritt. Aber damit ist der eigentliche Grund für den Revisionismus noch nicht erklärt. Ein Statement des Neonaziführers Ewald Althans führt uns auf die richtige Spur: »Auschwitz muß fallen, dann erst können die Leute akzeptieren, was wir wollen. Die Leute sagen alle, he, der Althans, das ist ein netter Typ. Aber Auschwitz: das ist das Problem.« Darum! Mit der Schuld am Holocaust sind die Chancen gleich Null, für nationalsozialistische Politik jemals wieder die Sympathie breiter Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Denn die Bilder, die man sieht, wenn man heute an das Dritte Reich denkt, sind Berge von ausgemergelten Leichen, Berge von Brillen, Schuhen und Haaren der ermordeten Opfer. Jüdische Frauen, nackt mit ihren Kleinkindern, auf dem Weg zur
Gaskammer. Das sind die Bilder, die eine mögliche Faszination der Massenaufmärsche und Uniformfetische, der entschlossenen blonden Gesichter und jubelnden Menschenmengen relativieren können. Das sind die Bilder, die solche Faszination zurechtrücken zu der Erkenntnis, daß sich diese Art von Politik niemals wiederholen darf. Genau das aber haben die Nazis vor. Und deshalb, und zwar nur deshalb, darf der Holocaust nicht mehr in den Köpfen der potentiell sympathisierenden Bevölkerung präsent sein. Reine Taktik. Der Holocaust muß verschwinden, damit Platz ist für ihre »Freiheit«. Es geht ihnen daher weder um »Wahrheitsfindung« noch um Meinungsfreiheit. Es geht ihnen einzig um die Wiederaufrichtung des Nationalsozialismus. Und daß ausgerechnet dafür die Worte »Wahrheit« und »Freiheit« mißbraucht werden, ist schon niederträchtig.
Die Niedertracht der »Auschwitz-Lüge« selbst geht aber noch tiefer. In diesem »Erlebnisbericht« des SS-Sonderführers Thies Christophersen wird der Eindruck erweckt, das Konzentrationslager Auschwitz sei eine Art Internat für Schwererziehbare, in dem es den Internierten besser geht als den Aufsehern: »Wir hatten in unserer Wetterstation eine SS-Helferin, die sich einmal ein paar seidene Strümpfe organisiert [gestohlen; d. Verf.] hatte. Sie kam deswegen vor ein Kriegsgericht… wegen Plünderung. Die Häftlinge selbst aber, die dort arbeiteten, klauten wie die Raben. Mir fiel es auf, wie elegant unsere Häftlinge gekleidet waren. Zwar mußten sie ihre Sträflingskleidung tragen, aber ihre Wäsche, Strümpfe und Schuhe waren einwandfrei und tipptopp. Auch an Schönheitspflege fehlte es nicht. Lippenstift, Puder und
Schminke gehörten mit zu den Utensilien der weiblichen Häftlinge.« Es fällt mir schwer, dazu einen Kommentar zu schreiben. Zu sagen, daß er die Verhältnisse auf den Kopf stellt, wäre wohl objektiv. Nur ein einziges Bild der ausgemergelten Gestalten in den KZ, deren Augen die schreckliche Angst widerspiegeln, reicht aus, um zu wissen: Dieser Mann ist entweder verrückt oder absolut scheußlich. Er selbst hält sich natürlich für gutmütig. Der »Herrenmensch«, der »Nichtarier« als Tiere betrachtet: »Nein, gehungert haben die Häftlinge in Raisko [Nebenlager von Auschwitz; d. Verf.] nicht. Und wenn wir einen Neuzugang hatten, der unterernährt und mager ins Lager kam, so hatte er bereits nach einigen Tagen ein glattes Fell.« Seine Leibsklavin (er selbst schreibt »Zofe wäre ein passender Ausdruck«) war Polin. Sie hieß Steffa. In seinem Buch nennt er sie Olga. Sie war »außerordentlich dienstbereit«. Und zwar so sehr, daß es sogar ihm zuviel wurde: »Auf die Dauer fiel mir diese Frau mit ihrem ewigen Gerede auf die Nerven. Ihre Dienstbereitschaft war mir zu untertänig, zu knechtisch. Ich mochte das nicht. Sie bekam eine neue Aufgabe, um die ich sie nicht beneidet habe. Sie wurde als ›Aufpasser‹ ins Frauenlager bestellt und sollte darüber wachen, daß keine männlichen Häftlinge unbefugt ins Frauenlager kamen. Olga konnte so wunderbar schimpfen, und es war eine Freude zu sehen, wie sie die Männer aus dem Frauenlager beförderte. Die Mithäftlinge nannten sie ›Zerberus‹ (Höllenhund).« Der Mann, der solches schreibt, ist »Kronzeuge« der »Revisionisten«. Da die Geschichtsfälscher nicht die überlebenden Häftlinge, sondern nur Kollaborateure und SSMänner wie Thies Christophersen als aufrichtige Zeitzeugen betrachten, berufen sich Irving, Faurisson, Zündel und alle anderen auf ihn. Er ist eine Zentralfigur im internationalen
Neofaschismus. Er ist eines der wichtigsten Glieder in der Kette der Lügen. Deshalb beschließe ich im Sommer 1990, daß ich mit ihm reden muß. Die Chance wird mir durch Kühnen geboten. Er erzählt mir von einem geplanten Treffen mit Gary Lauck, dem Chef der NSDAP-AO in den Vereinigten Staaten. Das Treffen soll irgendwo in Europa stattfinden – und zwar wahrscheinlich in Dänemark. Und »zufälligerweise« lebt dort auch Thies Christophersen. Ich bekunde mein Interesse, mit Lauck und Christophersen Interviews zu führen. Doch Kühnen verlangt Geld. Etwas überraschend für mich, denn bisher hatte ich keinen Pfennig gezahlt und war auch weiterhin nicht bereit dazu. Also bitte ich mir Bedenkzeit aus. Kühnen will für die Vermittlung des Interviews mit Lauck 8000 Mark. »Was kommt dabei raus?« sagt Graeme Atkinson, als ich mit ihm darüber beratschlage. Und ich muß zugeben: »Möglicherweise gar nichts. Ich kenne Lauck ja nicht.« Doch Graeme bringt es auf den Punkt: »Wenn du es schaffst, beide, Lauck und Christophersen, zu interviewen, dann wäre das schon ein wichtiger Schritt. Aber 8000 sind nie und nimmer vertretbar. Wir finanzieren ihnen doch nicht ihre nächste Veranstaltung! Um realistisch zu sein: Du kannst ihm so viel geben, wie es dich kosten würde, selbst in die Staaten zu fliegen. Denn schließlich sparst du diese Kosten, wenn du ihn hier vor die Linse kriegst.« Eine Woche später treffe ich Kühnen wieder. Ich deute meine Bereitschaft an, eine Summe bis zur Höhe von 3000 Mark zu zahlen. Das entspricht ungefähr dem, was mich ein Trip nach Lincoln/Nebraska kosten würde. Doch Kühnen bleibt hart. Er will 8000, und zwar im voraus. Wir trennen uns ohne Einigung.
Drei Stunden später sitze ich in Stuttgart, in Graemes Appartement. Graeme verdreht die Augen zur Decke: »I saw that Coming!« – Ich hab’ es geahnt. »Und jetzt?« frage ich entmutigt. Meine Finanzreserven gehen sowieso gerade zur Neige. Selbst 3000 sind noch ein dicker Brocken für mich. Graeme drückt mir seinen Zeigefinger auf den Brustkasten: »Sag ihm, 3000 ist alles, was du aufbieten kannst. Take it or leave it – dann kann er es nehmen oder seinlassen. Aber ihr kennt euch schon so gut, er wird darauf eingehen. Und wenn nicht – auch recht. Dann brauchst du dir wenigstens nie vorzuwerfen, du hättest ihnen Geld bezahlt.« Diesen Vorwurf muß ich mir jetzt aber machen. Im nachhinein betrachtet, könnte ich mich ohrfeigen dafür. Es ist zwar ein Unterschied, ob man »auf die Schnelle« für Hitlergrüße oder das Absingen von NS-Liedern Honorare bezahlt, um den Nachrichtenbeitrag »attraktiver« zu machen, oder ob man, wie in meinem Fall, nach eineinhalbjähriger Recherche die Flugkosten für ein wichtiges Interview übernimmt. Allerdings blieb dies auch eine einmalige Sache, und das Resultat der »Investition« steht durchaus dafür. Dem Journalistenethos aber entspricht es in keiner Weise: Kühnen kassiert 3000 DM für Laucks Reisekosten von mir. Bezahlt ist bezahlt. Geschehen ist geschehen. Gary Rex Lauck ist 1953 in Milwaukee/Wisconsin (USA) geboren. Mit elf will er bereits »völkisches Bewußtsein« verspürt haben, mit dreizehn las er Hitlers »Mein Kampf«, womit er sich »identifizieren« konnte. Mit achtzehn nennt er sich »Gerhard« und ist bereits in der US-Naziszene aktiv.
Kurz darauf ist er Mitbegründer der NSDAP-AO in Lincoln/Nebraska. Seitdem versorgt er die deutschen »Kameraden« mit Propaganda, Aufklebern, Büchern, Fahnen, Video- und Tonkassetten, sowie mit Geld und organisatorischer Unterstützung, z. B. dem Herstellen von Kontakten. Obwohl der Schwerpunkt der Aktivitäten auf Deutschland gerichtet ist, hat die NSDAP-AO Mitglieder und Sympathisanten weltweit. Besonders gute Kontakte bestehen nach Schweden, Österreich, Ungarn, Australien und Südafrika. Lauck hat das »Zellensystem« eingeführt, wonach sich die Mitglieder untereinander nicht kennen. Das erschwert Ermittlungen der Behörden und ermöglicht die Vorbereitung terroristischer Aktionen. Unregelmäßig soll Lauck Gelder über ein Schweizer Konto an seine deutschen Gesinnungsgenossen weiterführen. Die Gewinne macht er mit Devotionalienhandel. Wie Kühnen mir erzählt, gibt es z. B. Firmen, die Modellflugzeuge der deutschen Luftwaffe herstellen. Die Hakenkreuzaufkleber dafür liefert die NSDAP-AO. Für derlei »seriöse« Geschäfte firmiert Lauck auch als »R.J.G. Engineering, Inc. – Lincoln, Ne. U.S.A.«. Lauck hat Kontakt zum Ku-Klux-Klan und zu Terrororganisationen wie »The Order«. Diese Terrorgruppe verübte bis 1984 eine Serie von Banküberfällen, Morden und Bombenanschlägen in den Vereinigten Staaten. Laucks Szeneblatt The New Order, Nr. 82, hat die Überschrift: »ACTION PROGRAM FOR ARYAN SKINHEADS – Dedicated to David Lane«. Gewidmet: David Lane. Der ehemalige Ku-Klux-KlanAktivist David Eden Lane sitzt derzeit eine 150jährige Haftstrafe für Mord, Raub und andere Verbrechen ab. Er war an der Ermordung des jüdischen Radiomoderators Alan Berg beteiligt. Der wurde 1984 in Denver erschossen, nur weil seine offensive Art zu moderieren den Nazis von The Order nicht
gefiel. Die Terroraktionen nannten sie »Race-War«: Rassenkrieg gegen das »ZOG« (»Zionist Occupied Government« – zionistisch besetzte Regierung). Und genau darum geht es auch in diesem »Aktionsprogramm für arische Skinheads«. Dort gibt Lauck die Parolen aus, die für die »kommende Phase des Rassenkrieges, wenn Mann zu Mann gekämpft wird«, zu berücksichtigen sind. Da heißt es dann, daß »alle Skins ihre rassistische Literatur vor den Eltern verstecken sollen. Skinheads lassen solche Dinge nicht zu Hause, sondern hinterlegen sie im sicheren Appartement älterer Skins.« Über Schußwaffen heißt es: Skinheads »verbergen ihre Kenntnisse davon und lagern ihre Waffen an entlegenen Orten«. Für »Anfänger« gilt: »For Starters, don’t vote, don’t buy Jew alcohol and dope, don’t attend Jew movies, don’t read Jew magazines and books« – Nicht wählen, keinen jüdischen Alkohol und Rauschgift kaufen, schau dir keine jüdischen Filme an, lies keine jüdischen Zeitschriften und Bücher. Die Indoktrination des Hasses soll von liberaler Aufklärung, denn das ist mit »jüdischen Zeitschriften« gemeint, möglichst ungestört vonstatten gehen. In Deutschland ist Lauck »beruflich« das letztemal 1976, wo er in der Nähe von Mainz mit großen Mengen illegaler Propaganda verhaftet und anschließend abgeschoben wird. 1979 wird ihm freies Geleit gewährt, damit er eine entlastende Aussage für den angeklagten Michael Kühnen abgeben kann. Aufgrund diverser Delikte, die das NS-Verbots-Gesetz betreffen, bestehen gegen Lauck mittlerweile mehrere Haftbefehle.
Am 4. Juli 1990 bin ich mit einem Kamerateam in Dänemark. Lauck ist eingetroffen. Christian Worch hat ihn in Kopenhagen vom Flughafen abgeholt und des Nachts
hergefahren, weil Laucks Flug Verspätung hatte. Worch achtet peinlich darauf, in Dänemark zu bleiben, denn Lauck wird in Deutschland immer noch gesucht. Erst als Christian Worch auf der Suche nach dem Haus von Thies Christophersen unversehens an einen deutschen Grenzübergang gerät, bekomme ich eine Ahnung vom Ernst der Sache. Worch schlägt in panischem Reflex das Steuer nach links und holpert mit durchdrehenden, quietschenden Reifen auf die gegenüberliegende Fahrbahn. »Sicher ist sicher…« Wir sind nahe der deutschen Grenze, in Kollund, keine zwei Autominuten von Thies Christophersen entfernt, im »Albatros«, einer heruntergekommenen Pension »mit Tanzlokal«. Der attraktivste Komfort besteht in einem herrlichen Blick auf die Ostseebucht mit den winzigen Backsteinhäusern auf der anderen, der deutschen Seite. Hier findet die Versammlung statt. Lauck ist mindestens eins neunzig groß und hat dichte, dunkle Haare, die sich nur widerspenstig in die Scheitellage fügen. Mit seinem Schnauzbart und der Metallbrille sieht er eigentlich harmlos aus, ein Vertretertyp. Grauer Anzug, langweilige Krawatte und schwarze Schnürsenkelschuhe vervollkommnen das Bild des Biedermanns. Doch Laucks Ansprache an die versammelten führenden Anhänger und Angehörige der NSDAP-AO läßt ihn in einem anderen Licht erscheinen: »Ich meine, daß die Juden sowieso im KZ ein bißchen zu human behandelt worden sind, und ich glaube persönlich, daß wir diesen Fehler nie wieder wiederholen dürfen.« Seine dazu applaudierende Zuhörerschaft ist hochkarätig: Michael Kühnen, Gottfried Küssel und Christian Worch sind da. Die immer freundliche Christa Goerth von der HNG und
SS-Veteran Berthold Dinter, der die »Rudolf-HeßGedenkmärsche« in Wunsiedel organisiert.∗ Neben ihm sitzt Günter Reinthaler alias »Hrouda«, der »Gauleiter« von Salzburg, dessen Markenzeichen sein dunkelblonder Pferdeschwanz und ein ständig um ihn herumstreichender Dobermann sind. Die Komplexe, die er wegen einer mißgestalteten Hand hat, kompensiert er durch forsches Auftreten. Im Oktober 1990 wird sein BMW von militanten »autonomen« Antifaschisten in Brand gesetzt. Eine unangenehme Panne. Denn die Polizei findet im Kofferraum des halb ausgebrannten Wagens eine Maschinenpistole mit 390 Schuß Munition, eine 9-mm-Pistole und ein Schrotgewehr. Aus Österreich sind noch drei weitere »Kameraden« anwesend, die ich auch schon früher gesehen habe. Tonny Douma aus Groningen von der ANS Niederlande, den ich bereits aus Nürnberg kenne und der bei Wolsink ein Wort für mich eingelegt hat, begegnet meinem Blick mit leichtem Kopfnicken. Thomas Hainke, der Skinheadchef aus Bielefeld, hat mir schon seine neueste Blessur gezeigt, einen Schnitt an der Oberlippe, schon fast verheilt. Worchs Frau Ursula, attraktiv und kaltblütig, mustert mich argwöhnisch – sie haßt Journalisten. Ihr liegen eher »Revisionisten« wie David Irving, mit dem sie sich auf einschlägigen Versammlungen stets angeregt unterhält. Wie man später hinter vorgehaltener Hand ∗
Dinter gibt ein Mitteilungsheftchen mit dem aufmunternden Titel Wehr’ Dich heraus. Dort liest man auch »Gedichte« mit Sätzen wie: »Die Anette in der achten Klasse, blond, vom Blut her deutsche Rasse… Den Negern erfüllt sie die perversesten Wünsche, man sollte diese Schweine lynchen. Als Asylantenjunge nehme ich nur deutsche Mädchen mit auf’s Zimmer, die Zustände werden immer schlimmer. Mit fünf Ghanesen muß die Anette heut Anal ins schmierige Bette… Zion ist der Einzige, der darüber lacht, aber warte nur, wenn Deutschland erwacht… ›Nazis raus‹ wird dann keiner mehr schrei’n, sonst brechen wir sein Nasenbein…«
erzählt, soll Irving sogar einer der Gründe gewesen sein, weshalb sie sich von ihrem Mann trennt. That’s life. Lauck schärft den Funktionären der »Gesinnungsgemeinschaft« ein, daß eine Trennung der Aufgaben wichtig ist: »Zum Beispiel die Revisionistengeschichte. Ich glaube, das ist wichtig. Das ist gut. Aber wir lassen das die revisionistischen Historiker machen. Die können das besser als wir. Vielleicht gibt es andere Aufgaben, die nationalkonservative Gruppen genauso oder noch besser machen können als wir. Es gibt aber Aufgaben, die nur Nationalsozialisten erfüllen können, und das müssen sie tun.« Welche das sind, sagt er nicht. Seine Zuhörer wissen es sowieso. Im Zweifelsfall geht es aus den Propagandaaufklebern hervor, die man bei ihm bestellen kann. Einer davon sagt in der Überschrift: »Freiheit oder Revolution! NS-Verbot aufheben!« Darunter ist ein Mann mit Hakenkreuzbinde abgebildet, der einen Fernsehsendemast samt Zuschauer mittels eines Fernzünders in die Luft sprengt. Lauck ist stolz auf die Illegalität: »Es ist weder dem Stasi noch dem ›Verfassungsschmutz‹ gelungen, uns in zwanzig Jahren zu beseitigen. Wir sind da. Wir bleiben da. Wir kämpfen bis zum Ende. Ob es ein Jahr dauert oder ob es hundert Jahre dauert. Wir haben mehr Ausdauerkraft als die Bonner Politiker, denn wir haben auch mehr Idealismus, mehr Opferbereitschaft. Und auch mehr Kampfwillen. Heil Hitler!« Lauck spricht mit starkem amerikanischen Akzent. Sein Deutsch ist ziemlich gut, schließlich ist er »deutschstämmig«. Und im Englischen hat er sich auch einen Akzent angewöhnt – einen deutschen. Nach seiner Rede kann ich das Interview mit Lauck führen. Er zeigt sich auskunftsbereit, solange es um generelle Fragen geht. Da bestätigt er mir die meisten Sachverhalte, die Graeme
und ich recherchiert hatten. Bei der Frage, ob Leute seiner Organisation in sogenannten »respektierten« Parteien Mitglieder sind, antwortet er noch mit fröhlichem »O ja!«, doch bei der direkten Frage nach dem Europaparlament wird er schon vorsichtiger: »Ich würde mich nicht so definitiv ausdrücken in diesem Bereich. Natürlich würde man sagen, na ja, wenn er einen hat, dann ist es bestimmt nicht einer, der ganz links ist. Man würde sagen, wer ist am rechtesten im Parlament? Und würde dann sagen: Das ist der Mann!« Doch ich weiß von Kühnen – da gibt es etwas. »Gibt es jemanden im Europaparlament, der zu Ihrer Organisation gehört hat?« Lauck wird wortkarg, Verschwiegenheit gehört zu den Statuten: »Kein Kommentar.« »Es geht um Harald Neubauer. Der ist seit 1989 Abgeordneter im Europaparlament, mit einer langen rechtsextremen Karriere: NPD, Aktion Neue Rechte, DVU, schließlich zweiter Mann der Republikaner, damit Einzug ins Europaparlament. Nach einem Krach mit Schönhuber tritt er aus der Partei aus. Heute ist er führend in der Sammelorganisation tätig, die sich Deutsche Liga für Volk und Heimat nennt. Bis 1994 wird Neubauer Abgeordneter bleiben. Und Michael Kühnen, im Frühjahr 1990 darüber informiert, daß Neubauer ihn für einen »Idioten« hält, packte daraufhin aus und beschuldigte Neubauer vor laufender Kamera: »Harald Neubauer war Anfang bis Mitte der siebziger Jahre ein Funktionär der NSDAP-AO in Norddeutschland und meines Wissens Gaukassenwart in Schleswig-Holstein.« Und darum geht’s. Doch Lauck verstummt tapfer. Sogar beim zweiten Teil des Interviews, in dem ich Lauck und Kühnen nebeneinandersitzen lasse. Einer von beiden muß jetzt Farbe bekennen. Doch Lauck schweigt sich aus: »Kein Kommentar!«
Kühnen hat jetzt genug. Seine Integrität steht auf dem Spiel: »Also jetzt möchte ich mich da mal einschalten in diese ganze Geschichte. Ich weiß, daß Neubauer Mitglied ist.« Laucks Gesichtszüge entgleisen kurz. Denn nach den Statuten der NSDAP-AO darf niemals jemand, der Mitglied ist oder war, verraten werden. Doch Kühnen setzt bestimmt fort: »Und das ist nicht aus der Luft gegriffen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, und ich habe es von zwei Kameraden bestätigt bekommen, mit denen ich zusammengearbeitet habe und mit denen auch Neubauer zusammengearbeitet hat zu seiner Zeit.« Kühnen erklärt auch, wie man sich das vorstellen muß. Während Lauck fassungslos über Kühnens Offenheit nur noch mit den Augenlidern zuckt, erklärt dieser, daß es »Einzelzellen gibt und gab, die völlig unabhängig arbeiteten, und daß es ein Geflecht von losen Kontakten gegeben hat, die eben auch auf Gauebene – das entspricht etwa den Bundesländern in der heutigen Gliederung – arbeiten, und auf dieser Ebene, d. h. nicht der lokalen, sondern der regionalen, hat sich diese Tätigkeit abgespielt«. Punkt. Er hat gesprochen. Kurz darauf schalten wir die Kamera ab, das Band ist zu Ende. Da sagt Lauck zu Kühnen: »Und der ist jetzt bei den Republikanern? Das wußte ich gar nicht.« »Ja«, sagt Kühnen, »ein Heuchler ist er. Dabei war er ja mal froh, daß wir ihm den Ordnerdienst organisierten. Da kannste den Wrobel fragen oder den Rohwer. Aber jetzt will er nichts mehr mit uns zu tun haben. Deshalb betrachte ich ihn als politischen Gegner. Selbst wenn er noch in der AO [NSDAPAO, d. Verf.] ist.« Der von Kühnen angesprochene Rohwer wurde 1979 wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung zu neunjähriger Haft verurteilt. NSDAP-AO-Kontaktmann Uwe Rohwer und Harald Neubauer sind nachweisbar alte Bekannte.
Lauck ist etwas verstört, doch er muß sich gleich wieder zusammenreißen, denn inzwischen hat der Kameramann das Band gewechselt. Die Kamera läuft weiter. Zu Laucks Erleichterung wechseln wir das Thema und sprechen, jetzt in Englisch, über etwas, wovon Lauck wirklich Ahnung hat – Antisemitismus: »Ich habe nichts gegen die Juden als Rasse und Kultur«, sagt er wie auswendig gelernt, »aber wenn sie systematisch versuchen, meine Rasse auszurotten, werde ich meine Rasse verteidigen. Wenn es dazu nötig werden sollte, ein paar von ihnen zu vernichten – prima! Und wenn es darauf ankommt, ob der letzte Weiße auf diesem Planet stirbt oder ob man den letzten Juden umlegt, dann heißt es: ›Tschüs, Jude!‹« Nachfragen habe ich dazu keine. Zumal ein solcher Grad der Besessenheit weder Argumentationslust noch weitere Neugier bei mir auslöst. Das, was er sagt, kann man nur zur Kenntnis nehmen, bestärkt in der Auffassung, daß man Nazis keine Chance geben darf. Weitaus interessanter wird es, als sich auf einmal die Tür öffnet und ein Fotoapparat klickt. Lauck dreht seinen Kopf in Richtung der Tür und sagt erfreut: »Heil Hitler, Thies!« Ein alter Mann steht da, mit hellem Hut auf dem Kopf. Ein Spazierstock hängt mit dem Griff um seinen Ärmel, als er an der Blende seiner Kleinbildkamera fummelt. Es ist Thies Christophersen. Der Autor der »Auschwitz-Lüge«. Er ist Jahrgang 1918. Das erste, was mir an ihm auffällt, ist eine tiefe, kinderfaustgroße Eindellung an der Nasenwurzel, zwischen den Augen. Eine Kriegsverletzung, die ihn zu der Feststellung bringt: »Ich habe einen Dachschaden. Den kann man sehen. Bei Ihnen sieht man das nicht.«
Wie, denke ich, das ist der hochgerühmte Zeitzeuge? Thies Christophersens Gesicht ist länglich. Das linke seiner blauen Augen ist von der Verletzung auch in Mitleidenschaft gezogen, das Lid hängt etwas über. Aber durch die Brille erkennt man es nicht so genau. Nachdem er den Hut abgenommen hat, sieht man seine Halbglatze. Wenn er spricht, sind seine Mundwinkel merkwürdig nach unten gezogen, selbst wenn er lacht. »Können wir mit Ihnen auch ein Interview machen?« frage ich ihn. Offenbar wußte Christophersen noch gar nichts von den Filmaufnahmen, denn er gibt sich überrascht. Jetzt schaltet sich Michael Kühnen ein und beginnt zu erklären: »Die machen eine Langzeitdokumentation…« Christophersen nickt anerkennend. Da wird Kühnen von seinen Kollegen gerufen. Er entschuldigt sich und verläßt mit einem freundlichen »Ihr könnt ja schon mal…« den Raum. Lauck folgt ihm. Wir sind allein mit Thies Christophersen. Der ist so frei und nimmt auf Laucks Stuhl Platz. Bewundernd betrachtet er die Kamera, irgendwie habe ich das Gefühl, er hat nicht richtig mitbekommen, wer wir sind. Michael Kühnen hat sich mittlerweile so an mich gewöhnt, daß er offenbar demselben »Gewöhnungseffekt« unterliegt, den ich vor einigen Monaten bei mir selbst feststellte. Ein Distanzverlust. Da Kühnen mich wie einen »Kameraden« behandelt und ich mich ebenso vertraulich benehme, entgeht Christophersen offenbar, daß wir gar keine Nazis sind. Er spricht den Kameramann und den Tontechniker mit »Kameraden« an, während er die Fernsehkamera mustert: »Ist sicher teuer, so ein Gerät. Was, Kameraden? Ich hab’ ja hier meine Lütte, hier«, sagt er und deutet auf seinen Fotoapparat. Er spricht gerne Plattdeutsch. Er kommt vom Land, schließlich heißt sein Mitteilungsblatt Die Bauernschaft.
Dann will er wissen, worum es gehen soll. Als ich ihm sage, daß es um die »Auschwitz-Lüge« geht, winkt er ab: »Nee, das wird nix.« »Warum?« frage ich erstaunt. Schließlich ist das sein »Hauptwerk«. Seine Erklärung macht mich erst recht stutzig: »Das bringen Sie doch nicht unter! Das klappt nicht. Das haben wir schon mal versucht.« Mein Verdacht verstärkt sich, daß Christophersen uns für Gleichgesinnte hält, die den Film als versteckte Propaganda im Fernsehen unterbringen wollen. Ich unternehme einen letzten Test, um sicher zu sein, und sage ihm: »Wir schaffen das. Das kriegen wir hin. Ganz sicher!« Nachsichtig lächelt er mich an: »Versuchen kann man es ja mal. Das beste wäre, wenn ich sagen würde, daß ich bloß das Recht haben will, meine Meinung zu sagen. Das macht sich immer gut.« Volltreffer! Der hält uns für Nazis. Und so kommt es, daß Thies Christophersen ein Interview gibt, das ihm noch Kopfzerbrechen bereiten wird. Denn »Kamerad Thies« fühlt sich jetzt unter seinesgleichen, er achtet nicht auf Widersprüchlichkeiten, er vertraut auf die Selbstzensur seiner vermeintlichen Gesinnungsgenossen. Seine Ausführungen sind so, als ob er einem »Kameraden« von seiner Zeit als SS-Sonderführer in Auschwitz erzählt: »Ich wurde abkommandiert zur Abteilung Pflanzenzucht. Und die wurde in Auschwitz gemacht, weil da so viele Arbeitskräfte waren.« Christophersens Hände sind ineinander verkrampft. Ein Zeichen innerer Anspannung. Aber seine Stimme hält den Ton sachlicher Erklärung: »Ich habe selektiert. Ich habe mir in Birkenau meine Arbeitskräfte ausgesucht. Ich sagte: ›Wer hat in der Landwirtschaft gearbeitet?‹ Und dann kamen sie, und
dann sag’ ich: ›Dich und dich und dich – dich nehme ich.‹ Wissen Sie, wie ich das gemacht habe? Ich hab’ ihnen in die Augen geguckt – und wer Weißes in den Augen hat, der kann arbeiten.« Christophersen lacht kurz auf, als er sich an seine eigene Findigkeit erinnert. Das waren eben lustige Zeiten: »Aber ich hab’ immer ein paar Zigeuner mitgehabt, denn die Zigeuner machten Musik.« Ich spiele die Rolle des »Gleichgesinnten« voll aus, indem ich auch mal die Kamera abschalten lasse, um ihn zu fragen, ob er es gut fände, über dieses und jenes zu reden. Und er nimmt es mir ab: »Dänemark wäre gut.« Ich frage ihn also, warum er in Dänemark lebt. »Ich wurde in Deutschland wieder angeklagt«, sagt er, »da bin ich ins Exil gegangen. Dänemark ist ein sehr liberales Land. Hier darf man Zigeuner sein und Jude sein und Nazi sein.« Da zu befürchten ist, daß Kühnen jeden Augenblick hereinkommen und das »Mißverständnis« aufklären könnte, muß ich zum Kern kommen, und der Kern sind die Gaskammern in Auschwitz. Die Massenvernichtung. »Jetzt stelle ich Ihnen eine harte Frage«, bereite ich ihn »schonend« vor, während ich ihm vielsagend zuzwinkere. Dann ändere ich den Tonfall, wir sind wieder »offiziell«: »Hat es Vergasungen gegeben, oder hat es keine Vergasungen gegeben?« »Über Vergasungen habe ich in meinem Bericht nichts geschrieben«, sagt er und setzt fort: »Ich habe aber gehört das Gerücht von Feuer und daß Menschen verbrannt wurden. Und daraufhin habe ich das Lager untersucht nach allen Feuerstellen. Ich wußte, daß es Krematorien gab. Aber ich habe keine Leichenverbrennungen gesehen und auch nichts davon gewußt.«
Wie immer: Keiner hat etwas gewußt. Noch nicht mal der SS-Sonderführer. Über Vergasungen hat er natürlich »nichts geschrieben«. Das ist der Kronzeuge von Faurisson und Irving, dem »berühmten britischen Historiker«. Steht Christophersen mit David Irving in Kontakt? »Ich kenne David Irving seit vielen Jahren«, sagt er. »Was halten Sie von David Irving?« »Er wird immer noch angegriffen, denn er ist Engländer, und wir hören es nicht gerne, wenn er auch von deutschen Greueltaten erzählt. Die es sicherlich auch gegeben hat. Aber ich gebe zu, ich bin parteiisch.« Christophersen wirkt zunehmend hilflos. Er weiß nicht mehr, was er sagen soll. Denn schließlich geht es ja um die Massen Vernichtung von Menschen durch Gas. Und er behauptet in seiner »Auschwitz-Lüge«, das hätte nie stattgefunden. Hier aber, bei seinen vermeintlichen »Kameraden«, gibt er sich Blößen. Er versucht zu erklären, warum er lügt. Und er spricht uns persönlich an; ein Statement, das ihn und seine »Auschwitz-Lüge« entlarvt: »Ich will uns entlasten und verteidigen, dann kann ich das nicht mit dem, was wir tatsächlich getan haben. Ich leugne das nicht. Aber jeder Verteidiger, der was zu verteidigen hat, der wird doch nicht das Belastende aufführen.« Ich höre ihm zu. Er hat sich gerade selbst hereingelegt. Und er hat es noch nicht einmal bemerkt. Er erklärt mir, daß er schon viel leiden mußte »wegen des Buches«. Aber trotz Verhaftung, trotz »Exil« (»Jetzt haben sie meine Konten gepfändet, stellen Sie sich das mal vor!«) will er Vorbild sein im Kampf um die »Wahrheit«. »Meine Ehre heißt Treue«, so lautet der Schwur der SS. Und ein SS-Mann gibt nicht auf: »Aber alles das trifft mich nicht. Ich mache weiter. Ich käme mir vor als Verräter an meinen Freunden, wenn ich jetzt widerrufen würde, das habe ich nie getan.«
Am 18. September 1991 wird in Schweden die Premiere unseres Filmes »Wahrheit macht frei« mit Christophersens entlarvenden Aussagen ausgestrahlt. Eine peinliche Panne für die Holocaust-Leugner. In der Naziszene herrscht verdatterte Funkstille. Manche empfinden den Film zwar immer noch als »Propaganda«, doch die Mehrheit ist »enttäuscht«, und alle, die nicht im Film erscheinen, atmen auf. Binnen weniger Monate läuft der Film in den meisten europäischen Ländern. Und nun bekommt Christophersen Ärger. In der Bauernschaft vom Dezember 1991 sieht sich Christophersen genötigt, seine »Kameraden« zu beruhigen: »So wird gefälscht«, beginnt er. Und dann: »Am 18.9.91 sendete das schwedische Fernsehen in seinem 20.00-UhrProgramm ein Interview mit mir. Meine Aussage wurde genau in das Gegenteil verkehrt. Folgende Gegendarstellung wurde nicht beantwortet.∗ Natürlich hat die Sendung mir einige empörte Zuschriften von schwedischen und dänischen Lesern gebracht. Dieses Beispiel zeigt aber deutlich, zu welchen primitiven Betrügereien unsere Gegner nun in ihrer Bedrängnis greifen müssen.« Christophersen glaubt offenbar immer noch, daß er von seinen eigenen Gesinnungsgenossen interviewt wurde. In seiner Erinnerung mutiere ich gar zum Neonaziführer Kühnen: »Ich habe dem schwedischen Fernsehen nie ein Interview gegeben. Richtig ist, daß ich Herrn Michael Kühnen einmal ein Interview gab.« Im weiteren Verlauf seiner »Gegendarstellung« verheddert er sich ganz in seiner Erinnerung und erfindet einfach: »Ferner ∗
Das schwedische Fernsehen erhielt nie eine Gegendarstellung. Von seiner »Gegendarstellung« erfuhr man später zufällig, als ein Mitarbeiter von Searchlight Christophersens Mitteilungsheftchen Die Bauernschaft überflog.
habe ich gesagt, daß ich aus Altersgründen meine Arbeit einstellen würde. Aber ich käme mir als Verräter an meinen Freunden vor, wenn ich ihre Hilfe annehme und dann nichts mehr dafür tun würde. Von den Gaskammern habe ich gesagt, es hat sie gegeben, aber nur für die Vergasung von Läusen…« So weit zu Thies Christophersen, dem Zeitzeugen der »Revisionisten«. Seiner koketten Feststellung bezüglich seines »Dachschadens« am Beginn unserer kurzen Bekanntschaft ist nichts hinzuzufügen. Doch Christophersen, verrückt oder nicht, ist ein Drahtzieher im Netzwerk des internationalen Rechtsextremismus.
Fäden im Netz
Einen Tag nach dem Fall der Mauer in Deutschland am 9. November 1989 trifft sich der Freundeskreis von Thies Christophersen in Frankreich. Die »Herbsttagung« am 10. und 11. November 1989 findet in der kleinen Stadt Haguenau im französischen Elsaß statt. Es ist nicht das erste Mal, daß sich hier Neofaschisten aus ganz Europa im »Hotel National« ein Stelldichein geben. Die Gastgeber haben ein ausgezeichnetes Verhältnis zu den Extremisten. Sie »bedauern, daß Herr Christophersen nicht beiwohnen« kann.∗ Der bleibt fern, weil er in Deutschland immer noch mit Haftbefehl gesucht wird und man befürchtet, daß die französische Polizei ihn schnappen und ausliefern könnte. Zwar vermutet man die Polizei weit weg, aber man will nichts riskieren. Zwar ist man sich sicher, daß es in dem geschlossenen Kreis keine ungebetenen Zuhörer gibt. Zwar ist die Presse ausgeschlossen, der Wirt hält dicht, und die Teilnehmer sind ohnehin eine verschworene Gemeinschaft. Doch Christophersen hat Glück, daß er trotzdem nicht kommt. Denn der deutsche Verfassungsschutz und Beamte des französischen Innenministeriums haben den Saal des »Hotel National« mit Abhörmikrofonen bestückt. Der »Gastgeber im ∗
Laut veröffentlichtem Brief an Thies Christophersen in der Bauernschaft 4/1989: »Wir bedanken uns für Ihren lieben Brief und freuen uns, daß Frau Christophersen sowie die Teilnehmer mit ihrem Aufenthalt im Elsaß zufrieden waren. Wir bedauern, daß Herr Christophersen nicht beiwohnen konnte, und laden Sie herzlichst ein bei Ihrer nächsten Durchreise. Die Gastgeber im Elsaß«.
Elsaß« wurde wie in einem schlechten Agentenroman zur Zusammenarbeit bewegt. Und so haben die Nachrichtendienste der deutschen und französischen Regierung die Gelegenheit, den »britischen Historiker« David Irving einmal anders zu erleben. Denn hier, vor dem ausgesuchten Publikum, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, da macht »Revisionismus« erst so richtig Spaß: »Oder es ist auch einmal wiederum eine Einmanngaskammer gewesen!« trägt Irving unter dem amüsierten Gehüstle der etwa hundert Versammlungsteilnehmer vor. »Eine Einmanngaskammer von zwei Landsern, und die hatten die in der polnischen Landschaft herumgetragen – auf der Suche nach einzelnen Juden…« Irvings Publikum kichert erwartungsvoll. Das wird bestimmt noch besser. »Diese Einmanngaskammer, das sah etwa aus wie ein Sedansessel, glaube ich, wurde aber getarnt als eine Telefonzelle.« Die Stimmung steigt. Gleich darf gelacht werden. Irving, der »Historiker«, weiß, wie man Geschichtchen erzählt: »Und man fragt sich: Wie brachte man das armselige Opfer dazu, daß es sich selbst freiwillig in diese Einmanngaskammer hineinbegab? Antwort: Wahrscheinlich war eine Telefonklingel drin. Und es hat geläutet, und da sagten ihm die Landser: ›Ich glaube, es ist für Sie!‹« Unter denen, die jetzt schenkelklopfende Heiterkeit äußern, sind hochkarätige Drahtzieher der internationalen Szene: Der »Führer« der World Union of National Socialists (WUNS) mit guten Verbindungen in südamerikanische Staaten, Povl Rijs Knudsen, Dänemark. Der Schweizer Gaston Armand Amaudruz, der in der schattenhaften Europäischen Neuordnung (ENO) eine Führungsposition einnimmt. Der ehemalige Literaturprofessor Robert Faurisson aus Vichy in Frankreich, der den »Leuchter-Report« initiierte und wegen
der Leugnung von Naziverbrechen gegen die Menschlichkeit bereits mit einer Strafe von 100000 Franc belegt wurde. Der US-Amerikaner Professor Arthur Butz aus Texas, Autor des berüchtigten »Hoax of the Twentieth Century«, in dem er den Holocaust als jüdische Lügenerfindung darstellt, er ist Mitarbeiter des Institute for Historical Review in den Vereinigten Staaten. Und aus Deutschland: Christa Goerth von der HNG, Christian Worch, der Hamburger Kontaktmann der NSDAPAO, der »Journalist« Karl Philipp und der Jurist Wilhelm Stäglich, der einen Vortrag hält, wie man die Klippen der Gesetze umschiffen kann, um die »Auschwitz-Lüge« zu verbreiten. (»Auf diesem Gebiet besteht erhebliche Rechtsunsicherheit…«) Auch der selbsternannte Politwissenschaftler Udo Walendy, ehemals NPD, ist dabei, er fungiert sogar als Versammlungsleiter in Vertretung für Christophersen. Ein unerwarteter Gast aus Kanada wird mit großem Hallo begrüßt, von Faurisson sogar mit herzlichem »Ich bin überrascht, hier auch meinen ganz besonderen Freund Ernst Zündel zu treffen; wenn ich gewußt hätte, hier Ernst Zündel zu treffen, hätte ich ihm ein Geschenk mitgebracht«: Ernst Zündel, der Deutschkanadier, der seine Nazischriften unter dem Pseudonym »Christoph Friedrich« herausgibt. Bei Gerichtsprozessen erscheint Zündel auch schon mal in KZHäftlingskleidung. Seine Telefonnummer hat er dabei an der Mütze angebracht, zusammen mit einem Schildchen: »Political Prisoner« – politischer Gefangener. Zündel, der Propagandatechniker, freut sich jetzt, daß Faurisson ihn als besonderen Freund bezeichnet. Er betitelt Professor Faurisson nun seinerseits als seinen »Lehrmeister«. Robert Faurisson ist neben Irving überhaupt der Star der Veranstaltung.
Faurisson versuchte stets, sich als »Linker« auszugeben, um damit seinen revisionistischen Thesen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Heute funktioniert das nicht mehr so ohne weiteres. Dafür vergleicht er sich jetzt gerne mit Galileo Galilei.∗ In Nazikreisen wird er tatsächlich als Genie angesehen. Kein Wunder, denn nach seiner glänzenden Idee, 1988 Fred Leuchter zum Experten zu ernennen, hat Faurisson schon wieder etwas Neues auf Lager: »Im Einvernehmen mit Ernst Zündel wollen wir eine internationale Kampagne lancieren. Dafür habe ich hier eine Unterlage vorbereitet.« Faurisson hat »Fragen« zur »Auschwitz-Lüge« vorbereitet, die von möglichst vielen Anhängern »bei gewissen Persönlichkeiten der Öffentlichkeit, Politikern, Juristen und Polizisten…« immer wieder in der gleichen Form eingereicht werden sollen, um die »Diskussion« in Gang zu halten. Das Treffen in Haguenau ist eine der vielen »Tagungen«, in denen die »Auschwitz-Lüge« propagiert wird. Und in denen die Verbreitung der Lüge koordiniert wird. Ernst Zündel treibt an: »Jetzt liegt es an euch, daß ihr Flugblätter verteilt und auch eure Nachbarn aufklärt, damit wir uns als Deutsche anderen Problemen zuwenden können.« Die gesamte »Herbsttagung« verläuft ohne Störung. Die mithorchenden Beamten schreiten nicht ein. Auch nicht, als Ernst Zündel unter Beifall seine Hetztiraden losläßt: »Warum sollen wir anständigen deutschen Menschen in diesem Dreck, ∗
Galileo Galilei (1564 – 1642) fand heraus, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Dafür wurde er als Ketzer von der Kirche verfolgt und verdammt. Galilei wurde erst im Jahre 1992 (!) rehabilitiert. Faurisson will mit diesem »Vergleich« andeuten, daß sich die »Wahrheit«, die er vertritt, eines Tages durchsetzen wird. Ein weiterer gern hergenommener Vergleich ist der zwischen Napoleon und Hitler. Auch da hofft man darauf, daß Hitler einst als Volksheld gelten wird.
diesem Saustall uns pfuhlen. Diese teuflisch gemeinen Lügen über unser Volk, die dieses Judenpack verbreitet hat. Das hängt mir zum Hals raus.« Die »Herbsttagung« geht erfolgreich zu Ende. Und das alles hätte bis heute vermutlich niemanden weiter interessiert, wenn nicht Otto Riehs, der sudetendeutsche Schlangensammler, ein so begeisterter Videoamateur wäre. Denn außer den Kameras von Ernst Zündels Privatcrew und den dezenten Linsen der deutschfranzösischen Observierungsgruppe verewigte auch Otto Riehs die »Herbsttagung« in Haguenau. Wie ein Profi vergaß er, weder die Außenaufnahmen noch einige »Stimmungsbilder« der Veranstaltung auf Magnetband zu archivieren. Otto Riehs war schon so liebenswürdig, mich mit dem Leibwächter des »Führers« zusammenzubringen. Er sollte sich noch ein zweites Mal als außerordentlich hilfreich erweisen. Gegen das Versprechen, »keinen Blödsinn« mit dem Material anzustellen, und 50 Mark für ein neues Band darf ich seine Kassette kopieren und die Aufnahmen »weiterverwenden«. Darüber lasse ich mir, deutsche Gründlichkeit, auch eine Quittung ausstellen. Ab jetzt verwende ich weiter… Keinen blassen Schimmer habe ich dabei natürlich von der Abhöraktion der Verfassungsschützer. So ist dann die Ausstrahlung unseres Filmes »Wahrheit macht frei« auch in Frankreich eine gewaltige Überraschung für alle Beteiligten. Auf den Film, der unter dem Titel »La Peste Brune« am 12. Dezember 1991 von »Antenne 2« gesendet wird, reagiert die elsässische Bevölkerung mit Empörung. Der Wirt, der um sein »Hotel National« fürchtet, enthüllt die polizeiliche Abhöraktion. Und die Nazis sehen sich nicht nur abgefilmt im Fernsehen, sondern werden gewahr, daß ihre Holocaust-Leugnung auch das besondere Interesse der Behörden geweckt hat. Am meisten überrascht aber sind die Polizisten selbst. »Es hat alles auffliegen lassen«, zitiert die
Tageszeitung Liberation einen Beamten. »Die kommen nicht wieder, und wir müssen ganz neu anfangen«, beschwert er sich. Dabei fanden laut AP-Nachrichtenmeldung vom 19. Dezember 1991 die Renseignements Generaux (PolizeiNachrichtendienst) nicht mehr heraus, als daß Faurisson, Irving und Christophersen als »Revisionisten« und Antisemiten »identifiziert« werden konnten. Ob zu solch kriminalistischer Meisterleistung eine derartige Abhöraktion nötig ist, darf bezweifelt werden. Die jüdische Gemeinde im Elsaß sieht das jedenfalls anders. Sie erwartet mit Recht, daß die Behörden in Zukunft »alles veranlassen, um derartige Zusammenkünfte, die gegen das französische Recht verstoßen, zu verhindern«. Professor Robert Faurisson hat viele Freunde im Ausland, mehr als in Frankreich. Einer davon ist Ahmed Rami in Stockholm. Vor fast zwanzig Jahren kam er nach Schweden – als politischer Flüchtling. Rami stammt aus Marokko. Dort war er einer der Offiziere, die 1972 ein Attentat auf König Hassan von Marokko planten. Doch der Coup mißlang. Fast alle wurden hingerichtet, Rami gelang die Flucht. In Schweden angekommen, setzt er »seinen Kampf fort«, wie er sagt, »gegen andere Könige«. Wen er damit meint, läßt er nicht lange im unklaren. Er betreibt antisemitische Propaganda zunächst unter dem immer wieder gern gewählten Deckmäntelchen des »Antizionismus«. Doch schließlich wird seine Stockholmer Radiostation »Radio Islam« zum Podium für Holocaust-Leugner und Judenhasser aus aller Welt. Wegen »Aufstachelung zum Rassenhaß« wird er 1989 in Stockholm zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt. Dort hat er offensichtlich interessante Zellennachbarn, denn neuerdings kann er mit echten Neonazis in Radio Islam plaudern. Einer seiner bevorzugten Gäste ist Tommy Ryden, der den Titel Kreativistens Kyrka (»Kirche des Schöpfers«) für seine
Neonazigruppe wählte. Nach dem Vorbild der USamerikanischen »Church of the Creator« ist die Gruppe dem Identity Movement zuzurechnen. Die Neonazigruppe hat enge Kontakte mit der kleinen, aber gefährlichen Extremistengruppe VAM (»Vit ariskt Motstand« -Weißer arischer Widerstand), die ebenfalls eine US-amerikanische Nazigruppe gleichen Namens zum Vorbild hat: WAR – »White Aryan Resistance«, wobei das Akronym WAR gleichzeitig »Krieg« bedeutet. Die VAM-Gruppe in Schweden besteht aus etwa fünfzig bis sechzig Aktivisten, die zum Teil beunruhigende psychopathische Eigenarten aufweisen, weshalb es immer wieder vorkommt, daß Mitglieder aussteigen, weil sie das Benehmen ihrer »Kameraden« nicht mehr ertragen können. Nach mehreren Morden, Bombenanschlägen und Überfällen auf Banken (einmal sogar auf eine Polizeistation) sitzt mindestens die Hälfte des Führungskaders im Gefängnis. Doch die schwedische Naziszene hat für Ahmed Rami anläßlich eines Stockholmbesuches von Faurisson im Frühjahr 1992 noch genügend Personal, um ihm zwei Skinheads als Leibwächter zur Verfügung zu stellen, die sich im ungewohnten Schlips und Kragen sichtlich unwohl fühlen. Einer der beiden bestätigte kurz vorher in einem Interview, daß Terroraktionen geplant sind: »Leider wird dabei auch viel weißes Blut vergossen werden!« Aber Faurisson tönt bei seiner Pressekonferenz: »Ich habe keinen Kontakt zu Neonazis!« Dabei stehen die Naziskinheads einen Meter links von ihm. Sie sind seine Leibwächter. Allerdings können sie später nicht verhindern, daß beherzte Antifaschisten Monsieur Faurisson nachdrücklich zum spontanen Verlassen des abendlichen Versammlungslokals in Stockholm bewegen. Die beiden »Leibwächter« beschließen, Faurisson auf dem Rückzug durch den Hinterausgang beizustehen, da vorne nur noch Prügel für sie ansteht.
Bei solch überzeugtem Widerstand im liberalen Schweden ist es für Rami extrem wichtig, wenigstens im Ausland gute Kontakte zu pflegen. Die Tageszeitung Expressen nimmt Rami schließlich genau aufs Korn und berichtet serienweise über Ramis internationale Kontakte, wie zu Muammar Al Kadhdhafi in Libyen oder moslemischen Fundamentalisten im Nahen Osten. Hinzuzufügen ist nur noch, daß er in der NSDAP-AOZeitung The New Order als »White Power Prisoner« neben anderen Naziaktivisten als Märtyrer für die Sache des Nationalsozialismus eingestuft wurde, als er seine Haftstrafe absaß. Ramis Kontakt zur NSDAP-AO dürfte heute sowohl über schwedische »Kameraden« als auch über den Verbindungsmann Christian Worch in Hamburg laufen. Rami versteht es, die Menschenrechtsverletzungen in Israel gegen die Palästinenser für seine Zwecke auszuschlachten. Dabei erhält er hochkarätige Schützenhilfe. In Ramis Gerichtsverhandlung 1989 traten zwei schwedische Universitätsprofessoren als Zeugen der Verteidigung auf, um Ramis Hetzpropaganda wissenschaftlich zu untermauern. Im Sommer 1991 treffe ich Ahmed Rami in Stockholm. In der Cafeteria des schwedischen Fernsehens wird das Zusammentreffen arrangiert, wobei ich größten Wert darauf lege, daß Rami möglichst wenig über mich weiß. Da wir schon den Film »Wahrheit macht frei« bearbeiten, will ich kein Risiko mehr eingehen. Nach kurzer Begrüßung einigen wir uns auf Englisch. Ein Kollege stellt uns vor, und schon läuft die Kamera. »Ich bin Revisionist«, sagt er gut gelaunt. »Und ich bin froh, Revisionist zu sein.« Ich habe es eilig, deshalb komme ich direkt zur Sache: »Aber Sie behaupten, keinen Kontakt mit Neonazis zu haben.«
»Nein!« lügt er und schaut mich mit erstaunten braunen Augen an, als hätte ich ihm etwas Obszönes unterstellt. Rami ist von kleiner Statur. Er hat ein freundliches Gesicht, das tiefe Stirnfalten entwickeln kann, wenn er unangenehme Gespräche führt. Na, denke ich mir, dann helfe ich ihm mal etwas auf die Sprünge: »Vielleicht kennen Sie den Namen Ernst Zündel?« frage ich hinterhältig, denn für diesen Kontakt habe ich Beweise, falls er es abstreitet. Doch Rami hält Zündel wohl nicht für einen Neonazi, denn er sagt: »Ja. Ich hab’ ihn aber nie getroffen. Als ich nach München kam, war er bereits verhaftet. Ich hab’ ihn nie getroffen – aber ich respektiere ihn.« Rami war also auch beim »Revisionistenkongreß« dieses Jahres in München, wo die Polizei dankenswerterweise an Ernst Zündel ihre Pflicht erfüllte. Doch Ramis Einstellung zu Zündel verlangt nach einer Definition. »Er ist ein Neonazi!« sage ich ihm. Rami will antworten, aber ich bin noch nicht zu Ende: »Und ein Antisemit!« Rami setzt nun an, Zündel zu verteidigen. »Ich will Ihnen was sagen…«, fängt er an, doch ich unterbreche ihn wieder, weil mir eingefallen ist, wie man ihm am schnellsten klarmacht, daß Zündel ein Neonazi ist: »Er spricht über ›Judenpack‹!« Rami runzelt die Stirn. Er scheint mir nicht zu glauben. Verblüfft fragt er: »Sind Sie sicher?« Bin ich. Ich bin mir nur nicht sicher, ob er wirklich kapiert hat. Schließlich sprechen wir beide Englisch nur als Fremdsprache: »Verstehen Sie, was ich sage?« »Nein«, sagt Rami. Also erzähle ich ihm nochmals Wort für Wort, was Zündel in Haguenau gesagt hat (»Lügen, die dieses J-u-d-e-n-p-a-c-k über uns verbreitet hat…«).
Doch Rami zeigt sich über Zündeis Ausfälle nicht beeindruckt. Ihn interessiert jetzt etwas anderes: »Kann ich Sie fragen: Sind Sie Jude?« »Nein«, sage ich ihm und werde langsam sauer. Muß man Jude sein, um Zündeis Hetze abscheulich zu finden? Doch Rami hat offenbar für sich beschlossen, mir jetzt die Meinung zu sagen. Da ihm das Englisch dafür ausgeht, schaltet er um auf Schwedisch. Mein Kollege übersetzt. Rami würdigt mich keines Blickes, als er dem Kollegen kundgibt: »Es gab keine Gaskammern. Aber das zu sagen, ist nicht erlaubt…« »Aber es gab sie!« sage ich ihm erstaunt, als mir seine Behauptung übersetzt wird. »Ich war dort. Ich habe sie selbst gesehen!« Rami schüttelt den Kopf. Sein Zeigefinger erhebt sich, und er beklagt sich bei meinem Kollegen über diese freche Feststellung: »Sie können ihm sagen: Ich muß das Recht haben zu sagen, daß er nicht die Wahrheit sagt. Daß er nichts gesehen hat. Er lügt nur. Aber ich will ihn deshalb nicht verurteilen. Ich betrachte ihn als Opfer einer Gehirnwäsche. Ich finde, wir sollten ein Umprogrammierungsinstitut einrichten, um den Opfern des Judentums zu helfen.« Ich schaue meinen Kollegen an, der die Übersetzung besorgt hat und mich jetzt etwas hilflos anblickt. Er ist ein richtig netter Schwede. Fast schämt er sich für das, was er da gerade übersetzt hat. Ich nicke ihm zu. Machen wir Schluß! Ahmed Rami, der so gerne ein Umprogrammierungsinstitut einrichten würde, muß weiterhin mit seinen Gesinnungsgenossen auch auf andere Tricks zurückgreifen, um die »Auschwitz-Lüge« unter das Volk zu bringen. Nicht ohne Teilerfolge. Ein abschließendes Musterbeispiel für die Taktik der »Revisionisten« führt uns wieder einmal ins schöne Bayern. In einem Anzeigenblatt namens Münchner Anzeiger, das nach eigenen Angaben bis zu 200000 Stück Auflage
auswirft, wird am 30. April 1991 eine ganzseitige Anzeige einer »J. G. Burg-Gesellschaft« abgedruckt. Diese Organisation »führt das Lebenswerk des jüdischen Publizisten J. G. Burg in Verbindung mit der Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen auf der Grundlage der Wahrheit« weiter. Und veröffentlicht wird daneben ein langes redaktionelles Interview mit Ahmed Rami, der laut Münchner Anzeiger in Stockholm viermal die Woche »insgesamt 700 000 Zuhörer« mit Radio Islam erreicht. Das dürfte etwas hoch gegriffen sein, aber dafür wird Rami in dem Interview ausführlich Gelegenheit gegeben, die Massenvernichtung zu leugnen. Der Name des interviewenden Journalisten ist mit »Joachim Gross« angegeben. Die Fragestellung ist bemüht »antifaschistisch«, aber eben wie gewollt und nicht gekonnt: »Das hört sich alles so an, als verteidigten Sie Hitlers Nationalsozialismus?« sagt Gross, als Rami über die »Entrechtung« des deutschen Volkes schwadroniert. Und dann folgt noch eine sonderbare Formulierung von Herrn Gross: »Tatsache ist, daß sechs Millionen Juden planmäßig und kaltblütig vergast wurden.« Holla! Das ist die Handschrift der »Revisionisten«: Jeder weiß, daß nie die Rede davon sein konnte, daß sechs Millionen Juden vergast wurden. Es geht um die Millionen von Ermordeten: die Vergasten, die Erschossenen, Erschlagenen, Totgespritzten, Verhungerten, durch »Arbeit vernichteten« und vor Erschöpfung oder von Seuchen dahingerafften Opfer der »Endlösung«. Einen staatlich verwalteten Massenmord, der von Hitler selbst angekündigt und befohlen wurde. Die Zahl sechs Millionen entstammt den Angaben der Täter. Allein Adolf Eichmann brüstete sich damit, »lachend« seinen fünf Millionen Opfern »in die Grube« nachspringen zu wollen. Doch die »Revisionisten«-taktik geht so: Wenn erst einmal festgestellt werden kann, daß gar nicht so viele vergast
wurden, dann hat man »schon die erste Übertreibung« bewiesen. Dem so »mißtrauisch« Gewordenen wird dann eine Fülle von vermeintlichen Fakten vorgelegt, die nicht oder nur schwer überprüfbar sind. Geschickt werden dabei auch seriöse Quellen zitiert. Aus dem Zusammenhang gerissen, sind damit weitere »Widersprüche« mit Leichtigkeit »nachzuweisen«. Der nächste Schritt ist dann, mit dem »Leuchter-Report« die Nichtexistenz der Gaskammern als solche zu »beweisen«, um durch weitere Zahlenspielchen gegen Null zu gelangen. Aber nicht ganz auf Null. Denn noch wird ja nicht die Existenz der KZ selbst bestritten. So schlau sind die »Revisionisten« allemal, die »natürliche Sterblichkeit« nicht außer acht zu lassen, die dann mit Zahlen zwischen 40000 und 300000 »zugestanden« wird. Was in diesem Interview des Herrn Gross auch so geschieht. Rami kommt sogar »runter« auf 15 000 in Auschwitz. »Warum«, fragt Gross den Zahlenjongleur, sollen »die Gaskammern erfunden worden sein«? Auf die Frage hat Rami auch gewartet: »Es ist sehr viel Geld im Spiel. Sie haben das während des Golfkrieges erleben können. Kaum zogen die Israelis die Gasmasken übers Gesicht, floß das Geld aus Deutschland.« Reporter Gross imitiert Empörung: »Eine solche Wortwahl kann ich nicht tolerieren. Immerhin litten die Juden unter Hitler. Bei allem, was recht ist.« Wie bitte? Hinter dieser Formulierung steckt nur zu offenbar der Gedanke: Sie haben zwar gelitten, aber sie haben es verdient, und alles, was Rami sagt, sei richtig – nur die Wortwahl könne er nicht »tolerieren«. Bei allem, was recht ist: Wer, bitte schön, ist dieser Journalist namens Joachim Gross? Ich greife zum Telefon und rufe den Münchner Anzeiger an. Der Chefredakteur weiß sofort, um was es geht. Man habe »das« veröffentlicht, sagt er mit bajuwarischem Charme, weil man »das« gut fände.
»Was?« »Na, eben das mit Auschwitz«, druckst er herum. »Was mit Auschwitz?« bohre ich nach. »Ja, also, äh, daß das nicht so war.« »Daß was nicht so war?« »Na ja, das mit den Vergasungen.« »Wer ist denn eigentlich der Herr Joachim Gross, kann ich den mal sprechen?« Erleichtert antwortet der Chefredakteur, der wäre gerade nicht da, aber der sei ein »sehr guter Journalist«, der für große Tageszeitungen schreibt. Und begabt sei er! Aha. Ich will schon auflegen, doch da sehe ich wie durch Zufall in der Anzeige die Adresse der ominösen J. G. Burg-Gesellschaft, welche »auf der Grundlage der Wahrheit« arbeiten will: Bad Kissingen! Da wohnt Otto-Ernst Remer, des »Führers« launiger Leibwächter! Dessen Zeitung Recht und Wahrheit heißt und der mit dem Wort »Wahrheit« so gerne seine eigene Geschichte bastelt. Gross muß mit Remer in Verbindung stehen! Mein Groschen fällt endlich, und ich frage den Chefredakteur des Münchner Anzeigers: »Heißt der Joachim Gross in Wirklichkeit Karl Philipp?« Stille – Treffer, versenkt. Er bringt nur noch raus: »Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß ja nicht, wer Sie sind.«
Ein Kreis ist geschlossen: Philipp (»Journalist«) – Remer (Kontakte Nahost) – Althans (Koordinator) – Worch (Sicherheit, Kontakt zu NSDAP-AO) – Zündel (Finanzierung, Propaganda) – Irving (Repräsentation) – Faurisson (Strategie) – Rami (»oppositioneller Aufklärer«) – Philipp…
Nur ein Faden im Netz des Hasses. Ein Faden von Tausenden. Auf verschiedenen Ebenen für das gleiche Ziel. Mit verschiedenen Mitteln und mit gleichem Fanatismus.
Der Verbindungsmann
Die weiter vorn beschriebene Verbindung zwischen Ahmed Rami und den schwedischen Neonazis ist nur ein Beispiel, wie reibungslos der »Revisionismus« mit dem Terrorismus verwebt ist. Das verläuft über persönliche Kontakte. Es gibt jedoch auch den international organisierten Untergrund. Da werden Terroristen wie der Italiener Roberto Fiore und andere nach dem Bombenanschlag in Bologna (1980) bei englischen »Kameraden« untergebracht. Beziehungen werden geknüpft: Obwohl Fiore in Italien gesucht wird und Searchlight seine Identität in London aufdeckt – er wird nicht ausgeliefert. Der englische Geheimdienst MI6 macht’s möglich. Fiores Kenntnisse über die Ausbildungslager der Fatah im Libanon scheinen den britischen Sicherheitskräften wichtig genug zu sein, den Terroristen in London auch noch drei Firmen unterhalten zu lassen, wie Searchlight berichtete. Da muß noch mehr dahinterstecken! Auch die deutschen Rechtsterroristen Walther Kexel und Ulrich Tillmann fanden 1983 nach einer Serie von Bombenanschlägen auf US-amerikanische Einrichtungen (die übrigens zunächst der RAF untergeschoben werden sollten) bei ihren »Comrades« in England Unterschlupf, bevor sie geschnappt wurden. Kühnen kam auf der Flucht bei Mark Frederiksen in Paris unter. Andere gesuchte Rechtsterroristen setzten sich zu ihren Schweizer »Kameraden« ab. »Safehousing« ist die englische Bezeichnung für »Unterschlupf gewähren«. Agentensprache. Undercover. Wie spannend! Aber die Realität ist banal. Es ist schlichtweg ein Organisationsproblem. »Safehousing« muß koordiniert
werden. Genauso wie die Terroraktionen selber. Dafür gibt es »Linkmen« -Verbindungsleute. Einer davon, ein wichtiger, lebt in Amsterdam. Wir haben ihn schon kennengelernt. Er ist ein erfahrener Kämpfer, ein »Soldat des Führers«. Unter der Voraussetzung, ihn nicht nach solchen Kontakten zu fragen, wird mir ein Gespräch gewährt. Ich gehe darauf ein. Nach einem Telefonat mit Angabe des Codeworts »13. Januar« vereinbaren wir ein Interview.
»Was waren Ihre schönsten Jahre im Leben?« Gerrit Et Wolsink bewegt sich nicht. Er ist wie erstarrt. Dann löst er sich aus seinen Erinnerungen: »Am besten haben mir die Kriegsjahre gefallen, ja.« Amsterdam, im Sommer 1990. Wolsinks Wohnung ist überfrachtet mit Mobiliar und Blumen. Er hat sich auf seinem Plüschsofa zurechtgesetzt. Ein schwarzer Hund wuselt gelegentlich zwischen unseren Beinen hin und her. Hinter Wolsink zwitschert ein fröhlicher Kanarienvogel. Kaffee habe ich dankend abgelehnt. Auf dem zweiten Plüschsofa, rechts neben Wolsink, sitzt der mit Hakenkreuzen tätowierte »Bereichsleiter Niederlande« Eite Homann zusammen mit Michael Kühnen, dem »Chef«, der unser Treffen eingefädelt hat. Gerade hat ein Richard van der Plaas in hektischer Eile die Wohnung verlassen. Er wollte auf keinen Fall gefilmt werden, denn er ist führendes Mitglied der Centrums-Demokraten, die wie die französische Front National oder die Republikaner in Deutschland ständig abstreiten, es gäbe Naziverbindungen oder gar Nazis unter ihren Mitgliedern. Doch jetzt ist Ruhe eingekehrt in Wolsinks geräumiger Wohnung. Ich schaue auf meinen Notizzettel, auf dem vermerkt ist, was ich bisher über Wolsink erfahren habe. Jahrgang 1926. Er stammt aus einer niederländischen
Nazifamilie. Schon als Kind Wehrsport. Mit 16 Jahren unter falscher Altersangabe Freiwilliger der Wehrmacht, Freiwilliger der allgemeinen SS und Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Und Angehöriger der Division Brandenburg, die aus freiwilligen Draufgängern und strafversetzten Gewalttätern zusammengesetzt wurde. Die Brandenburger wurden vorwiegend zu sogenannten Himmelfahrtskommandos und zur »Partisanenbekämpfung« eingesetzt, wo es, vor allem im Osten, zu unglaublichen Gewaltexzessen kam. Ganze Dörfer wurden dabei »ausgerottet«. Bei der Ardennenoffensive wurden die Brandenburger in Feinduniformen hinter den feindlichen Linien abgesetzt, um dort aus dem Hinterhalt zu kämpfen. Unter der Leitung des SS-Gruppenführers Joseph »Sepp« Dietrich wurden am 17. Dezember 1944 bei Malmedy gut hundert amerikanische Kriegsgefangene exekutiert. Letzter Dienstgrad Wolsinks: SS-Hauptsturmführer (Hauptmann). Wolsinks unverwechselbare Physiognomie fasziniert mich erneut: Musketierbärtchen, auffallend abstehende Ohren und durchdringender Blick. Obwohl er nach eigenen Angaben schwer magenkrank sei, hat er sich eine Zigarette in die lange Filterspitze gesteckt und raucht genüßlich, als ich ihn frage: »Sie haben also bei den Brandenburgern Einsätze mitgemacht, die ›undercover‹ abliefen, die unter anderem in fremder Uniform durchgeführt wurden, Spezialkommandos…« Wolsink nickt: »Ja, meistens.« Homann und Kühnen schauen bewundernd zu ihrem Vorbild rüber, dem SS-Hauptsturmführer. Ist er einer der SS-Killer? »Haben Sie auch Liquidationen durchgeführt?« frage ich nach. Er legt den Kopf nach hinten. Dann druckst er herum: »Hmm… Das ist noch immer schwierig, darüber zu sprechen, weil das als Kriegsverbrechen gesehen wird.« Wolsink, der in seinem »Kameradenkreis« die Erschießungen sicherlich immer
als Heldentaten dargestellt hat, wird jetzt zögerlich. Aber er wird nicht nervös. Er sucht nur nach Worten: »Äh… ich will mich nicht entschuldigen, aber…« Seine Zigarette verglüht, ohne daß er daran zieht. Er murmelt vor sich hin, will ablenken. Bisher hat er mir immer direkt in die Augen gesehen. Doch jetzt schaut er weg, irgendwohin im Raum. Dann plötzlich ist sein Blick wieder da. Vorsichtig sagt er: »Wenn ich’s gemacht habe, dann nur… dann war es, um zu säubern. Um deutsche Soldatenleben zu bewahren.« Er zögert ganz kurz, dann sagt er: »Um weiter Krieg zu führen.« Für die Teilnahme an Kriegsverbrechen wurde Wolsink nicht verurteilt. Wie er selbst in der NS-Untergrundzeitung Die Neue Front schreibt, »wegen Beweismangel, falschem Kampfnamen und Geburtsdatum«. Wegen Mitgliedschaft bei den Brandenburgern wird er in einem zweiten Prozeß 1946 zu acht Jahren verurteilt. Ein Jahr später wird er freigelassen, »unter der Bedingung der Teilnahme am ›kalten Kriegs unter alliiertem Kommando‹, also aufgrund seiner Kenntnisse, die er als Sabotage- und Terrorspezialist bei den Brandenburgern einbrachte. Wolsink schreibt: »Diese Tätigkeit hatte ich mir von meinem höchsten Nachkriegsvorgesetzten, Gruppenführer DIETRICH billigen lassen.« Für seine neuen, alliierten »Arbeitgeber« nimmt er an »verschiedenen Aktionen im Sowjetbereich teil – nach dem Vorbild der Brandenburger«. Wolsink ist in der Werwolf-Bewegung∗, die bei den geplanten ∗
»Werwölfe« waren Hitlergetreue, die noch nach Kriegsende Terror- und Sabotageaktionen durchführen sollten. Die Aktion wurde schon lange vor Kriegsende vorbereitet. Die »Erfolge« blieben jedoch hinter allen Erwartungen zurück. Der Wolf war übrigens Hitlers Lieblingssymbol, das Stärke, Einsamkeit und Angriffslust verbinden sollte. Engste Vertraute durften Hitler mit »Wolf« ansprechen. Sein Pseudonym bei Artikeln im Völkischen Beobachter war »Wolf«. Seine Hauptquartiere hießen
Sabotageaktionen gegen die »Besatzer« nicht den gewünschten Erfolg erzielt. Um so erfolgreicher geht es mit dem Aufbau des ODESSA-Netzwerkes voran, das in Holland unter dem Deckmantel der niederländischen HIAG operierte. Offiziell arbeitet Wolsink im Hotelgewerbe. Daneben baut er die niederländische Fraktion der Wiking-Jugend (VikingJeugd) auf und ist in der »Northern League«, einer international operierenden Naziorganisation, tätig. Sonst hält er sich »zurück«. Aber später, weil er »das Neger- und Araberproblem zu rassegefährdend« empfindet, tritt er der NVU (»Nederlands Volks-Unie«) bei, tritt 1986 aber wieder aus. Seit 1985 ist er mit der ANS-Niederlande verbunden. Wolsinks Nummer auf der Mitgliedskarte der NSDAP-AO: 688463. Heute ist Wolsink der internationale Koordinator und »Linkman« der neofaschistischen Szene mit Kontakten in Südafrika, Australien und den Vereinigten Staaten. Sein wichtigster Kontakt dort ist James K. Warner, Louisiana (USA). Ein Mitglied des Ku-Klux-Klan. Er gründete 1971 eine Organisation mit dem Namen NCCC (»New Christian Crusade Church«). Bald hatte diese Organisation eine Untergruppierung: die militante CDL (»Christian Defense League«). Die Organisationen gehören zum Identity Movement. CDL-Kontakte bestehen z.B. zum VorzeigeNeonazi und früheren Ku-Klux-Klan-Anführer (»Grand Wizard«) David Duke, der in Louisiana bei den Gouverneurswahlen antrat und es dabei in den Vorwahlen auf 44 Prozent und bei der Wahl selbst auf 39 Prozent der Stimmen brachte. Wolsink ist auch Ehrenmitglied im streng konspirativ arbeitenden »British National Socialist Movement« (BNSM). »Wolfsschanze« und »Wolfsschlucht«. Heute läßt sich zum Beispiel der französische Neofaschist Michel Faci »Leloup« nennen: »Wolf«.
Der Anführer der geheimen Kadertruppe des »British Movement« heißt Danny Tolan, wird aber selbst in internen Kreisen mit seinem Decknamen »O’Dan« angesprochen. Das British Movement hatte in den sechziger Jahren einige Publicity, als 1963 der Anführer Colin Jordan die französische Parfumerbin Françoise Dior heiratete – unter einem Bild von Adolf Hitler. Der harte Kern legt keinen Wert auf Publicity: Die Mitte der achtziger Jahre gegründete Untergrundorganisation BNSM ist militantterroristisch und läßt nur »bewährte Kameraden« in ihren Kader. Internationale Aktionen – wie etwa die Bereitstellung von Söldnern für den Irak – werden über »Comrade Wolsink« fachgerecht koordiniert. Wolsink sieht sich selbst auch als Untergrundmann, weshalb er nur nach Kühnens Fürspruch und selbst dann nur widerstrebend zum Gespräch bereit ist. Er ist nicht auskunftsfreudig, und es wird mir klar, daß es mir schon genügen muß, ihn überhaupt vor die Kamera zu bekommen. Seine »Teilnahme« am kalten Krieg scheint interessant zu sein. Besonders weil Wolsink sich als »Soldat des Führers« bezeichnet – den Widerspruch zu seiner Kollaboration mit den Alliierten muß er mir erklären: »Sie haben nach dem Krieg für die Alliierten gearbeitet. Die waren doch eigentlich Feinde?« Wolsink schaut mich mit großen, wäßrigblauen Augen an, die hinter seiner Brille noch größer wirken. Für ihn ist das nicht unlogisch: »Also, die genaue Frage war: entweder tot – oder frei und ungefähr in dieselbe Richtung arbeiten…« »… gegen den Kommunismus«, hake ich ein. Wolsink wackelt mit dem Kopf. Das liegt doch auf der Hand: »Ja, was würden Sie getan haben als 21 jähriger oder 22jähriger? Da kann man doch besser arbeiten. Und dann konnte ich gleich meine NS-Arbeit auch fortsetzen.« Genau wie für Klaus Barbie, den »Schlächter von Lyon«, und andere Top-Gestapoleute und SS-Spezialisten wurde für
Wolsink der antikommunistische »kalte Krieg« Rettung und Segen. Daß er seine Naziaktivitäten weiterführte, wurde hingenommen. Gentlemen’s Agreement: »Ich habe es nie durcheinandergeworfen und hatte damals auch nicht viel Anlaß dazu.« Wolsink lächelt süffisant. Die Erinnerung an gute Zusammenarbeit mit den »Feinden« amüsiert ihn auch heute noch. Ich will wissen, wie seine Arbeit ausgesehen hat. Doch Wolsink blockt: »Da kann ich nicht drüber sprechen, das müssen Sie (mir) abnehmen, das geht nicht.« »Also das ist so, daß Sie heute noch nicht über diese Aufträge sprechen können?« frage ich ihn. Wolsink schließt kurz die Augen. Dann schüttelt er den Kopf: »Nein. Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Das müssen Sie doch verstehen, das läuft noch immer.« Wolsink behauptet, daß er das beweisen kann. Aber er sieht keinen Grund, es mir zu beweisen. Für weitere Auskünfte ist er nicht bereit. Das Gespräch ist beendet. Als ich Kühnen später frage, was es mit diesem Kalten-Krieg-Spiel auf sich hat, zuckt er mit den Schultern. Ihm sei das auch ganz neu. Das Interview mit Wolsink findet im Juli 1990 statt. Meine Recherchen sind an eine Grenze gestoßen, weiter komme ich nicht. Drei Monate später, im Oktober 1990, sollte die Aufdeckung eines Skandals in Italien das erste Stück eines Puzzles bilden, in dem Wolsink vermutlich nur ein winziges Teil ist. Ein Puzzle, das sich aus Bruchstücken aus ganz Europa zusammensetzt. Viele Teile des Puzzles sind für sich schon erschreckend, zusammengesetzt könnten sie uns möglicherweise das Fürchten lehren. Nur wird die Komplettierung schwierig sein. Weil niemand, der dabei wirklich behilflich sein könnte, auch nur die geringste Lust dazu verspürt.
Das ungelöste Puzzle
In diesem letzten Kapitel geht es um antidemokratische Umtriebe ganz besonderer Art. Es geht um die Aufdeckung eines Skandals größten Ausmaßes. Wahrgenommen hat ihn jedoch kaum jemand. Das liegt sicherlich an der Berichterstattung, aber es liegt auch daran, daß das Thema heikel ist. Sehr heikel. Ein Beispiel, wie empfindlich auf dieses Thema überhaupt reagiert wird, liefern wenige Nebensätze eines Telefoninterviews, das ich im Sommer 1991 nach mehreren Anfragen mit einem hochrangigen Beamten des Verfassungsschutzes führe. Eigentlich geht es um den BfVBericht und die deutschen Neonazis, doch dann fällt mir noch etwas ein, was Graeme Atkinson vor kurzem im Gespräch angedeutet hatte. Ich frage den Verfassungsschützer: »Sagen Sie, können wir kurz über Gladio reden?« »Über was?« »Gladio!« Kurze Stille. Dann antwortet der Verfassungsschützer: »Ja, also das hat mit Rechtsextremismus nun überhaupt nichts zu tun!« »Finden Sie?!« Wieder ist es für einen Augenblick peinlich still. Dann ist seine Stimme deutlich verärgert: »Äh, natürlich hat das irgendwie…« Und der Beamte besinnt sich darauf, daß dieses Thema »gar nicht abgesprochen sei«. Daß man das so nicht machen könne. Obwohl wir uns nie gesehen haben, spricht er mich plötzlich
mit »junger Freund…« an und beharrt darauf, daß er »darüber« keine Stellungnahmen abgeben will. So weit eine Spontanreaktion auf das Thema Gladio. Doch was, zum Kuckuck, ist Gladio?
Ich treffe Graeme Atkinson, um mehr über Gladio zu erfahren, denn das Thema ist für mich, wie für die meisten, absolut neu. »Hast du Zeit?« fragt er mich. Ich nicke nicht sehr glaubwürdig. Ein kurzer Überblick wäre mir lieber. »Okay. Versuchen wir, es so kurz wie möglich zu machen«, sagt er und beginnt: »Am 17. Oktober 1990 werden in Italien Einzelheiten über eine hochgeheime und ebenso illegale Unterabteilung der NATO bekannt. Die Unterabteilung wird unter dem Decknamen Gladio geführt.« Der Untersuchungsrichter Felice Casson aus Venedig stößt auf diese Unterabteilung, als er Hintergründe des Rechtsterrorismus und Erkenntnisse über den Mord der »Roten Brigaden« an Aldo Moro mit neuesten, alarmierenden Informationen aus den Reihen der italienischen Geheimdienste in einen Zusammenhang stellt. Graeme zeigt mir die Untersuchungsberichte. Daneben Zeitungsartikel. Das meiste wurde von dem italienischen Magazin Panorama aufgedeckt. »Danach existiert seit über vierzig Jahren«, sagt Graeme und betont dabei die Vierzig, »eine geheime Guerilla-Armee, die – ›antikommunistisch‹ ausgerichtet – aus dem Untergrund Sabotage, Terror und ›Liquidierungen‹ erledigen würde, falls der Warschauer Pakt zum Angriff übergeht.« Die etwa tausend Mann starke Truppe setzt sich aus »überzeugten« Antikommunisten zusammen, die »patriotisch« und »im geheimen« den »bewaffneten Widerstand hinter den Linien« und »aus dem Untergrund« organisieren.
»Doch das ist nicht alles«, sagt Graeme, »Felice Casson stößt auf Zusammenhänge, wonach Mitglieder dieser Truppe, Gladiatoren, an Bombenanschlägen ebenso beteiligt gewesen sein sollen wie an der Ermordung Aldo Moros.« Die Motive wären eines Goebbels würdig: Die Terroraktionen sollten den Linksextremisten in die Schuhe geschoben werden, um die Forderung nach einem »starken Staat« zu bestärken. Graeme zieht verärgert die Mundwinkel nach unten, als er hinzufügt: »Links- und rechtsextreme Gruppen wurden infiltriert. Aldo Moro wurde ›ausgeschaltet‹, weil er eine Zusammenarbeit zwischen Christdemokraten und der Kommunistischen Partei anstrebte. Ebenso verstrickt in die teuflischen und mörderischen Intrigen war die rechtsradikale Geheimloge P2, die durch den Skandal um die Mafia-VatikanConnection bereits bekannt war.« Der mysteriöse Tod des liberalen Papstes Johannes Paul I. im Jahre 1978 und die betrügerischen Finanzmachenschaften seines Gegners, Erzbischof Marcinkus, sind bis heute noch nicht vollständig geklärt. Marcinkus, der den Vatikan nicht verlassen konnte, weil gegen ihn ein Haftbefehl der italienischen Justizbehörden vorlag. Marcinkus, der Chef der Vatikanbank IOR, war nachweislich in die Mafiageschäfte des Finanz Jongleurs Michele Sindona verwickelt – in Verbindung mit der P2. Papst Johannes Paul I. ließ durchblicken, daß er gedenke, diese Machenschaften zu beenden, und »verstarb« plötzlich, obwohl er sich bis dahin bester Gesundheit erfreut hatte. Eine Schlüsselrolle in dieser Affäre spielte Licio Gelli, der Chef der Geheimloge P2 (Propaganda Due). »Licio Gelli?« frage ich Graeme. »Genau!« sagt Graeme und erzählt weiter: »Gelli traf sich mit US-Präsident Nixons Stabschef und späteren NATOOberbefehlshaber Alexander Haig. Das Treffen fand in den frühen siebziger Jahren in der US-Botschaft in Rom statt.«
Wie aus Graemes Unterlagen hervorgeht, war einer der Gesprächspunkte, daß die starke kommunistische Partei unter allen Umständen aus der Regierung herausgehalten werden solle. Die P2 ließ sich ihren Auftrag dazu natürlich gut bezahlen. Die »Propaganda Zwei« beschloß, Terroraktionen zu fördern, um propagandistisch die politische Linke dafür verantwortlich zu machen, Italien zu destabilisieren, und letztendlich den Staat reif zu machen für einen rechtsradikalen Militärputsch. Sie finanzierte die neonazistische Terrorgruppe NAR (Nucleii Armati Rivoluzionari – Bewaffnete revolutionäre Zellen). »Der Bombenanschlag im September 1980 auf den Bahnhof in Bologna – 85 Tote, über 200 Verletzte – war das Werk der NAR«, sagt Graeme, »und wie wir heute wissen, war es geplant von Hintermännern der P2 und der NATOUntergrundtruppe Gladio. Die Bombenleger wurden zunächst nicht verhaftet – dank Gellis Einfluß.« Ich frage Graeme: »Und warum wollte der Verfassungsschützer mir nichts sagen?« Graeme zündet sich eine Zigarette an. »Eins nach dem anderen!« sagt er. »Bis jetzt ist dir klar, daß die CIA und andere Geheimdienste darin verwickelt sind?« Ich überlege. »Eigentlich nicht«, gestehe ich. »Was glaubst du, wer das Treffen zwischen Alexander Haig und Licio Gelli organisiert hat? Der Weihnachtsmann? Es war die CIA. Und damit fängt die Geschichte erst richtig an! Diese Gladiatoren gibt es nämlich nicht nur in Italien. Es gibt sie in fast allen westeuropäischen Staaten. Sogar in der Schweiz und in Schweden.« Überall in Europa wurden – finanziert durch die NATO, die CIA und die Geheimdienste der betroffenen Länder – solche illegalen Untergrundgruppen aufgebaut. Sie setzten sich, wie sollte es anders sein, auch aus Ex-SS-Kämpfern und Nazis
zusammen. Graeme weist auf eine Besonderheit dabei hin: »Diese Personen haben alles, was nötig ist, solch eine Truppe zu bilden…« »Und das wäre?« Graeme zählt auf: »Antikommunistisch müssen sie sein. Mit Waffen umgehen können, möglichst mit Kampferfahrung. Sie müssen extrem ›patriotisch‹ eingestellt sein und fähig, im geheimen zu arbeiten. Sie müssen die Einstellung haben, daß sie eine gute Tat vollbringen, wenn sie ›für ihr Vaterland‹ morden, bomben und sabotieren.« Graeme zieht jetzt die Augenbrauen hoch und schaut mich fragend an: »Was ergibt das unterm Strich?« »Ja«, nicke ich, »das ist schon ziemlich das Ebenbild eines Nazis…« »Ziemlich? Das ist genau das Profil eines Faschisten. Ob die auch noch Antisemiten sind, ist der CIA doch völlig egal.« Er fährt fort: »Nicht in allen Ländern wurden Faschisten dafür verdingt, aber in den meisten.« Graeme zeigt mir Zeitungsausschnitte, die er dazu gesammelt hat. Der niederländische Premier Ruud Lubbers gab bekannt, daß eine niederländische Sektion von Gladio existiert und daß man weitere Untersuchungen anstellen werde. »Da können sie gleich bei Wolsink anfangen«, brummt Graeme, »der wäre doch wie prädestiniert für so was.« Jetzt verstehe ich Wolsinks Worte: »Das läuft noch immer.« Das würde passen. In Griechenland gab der Verteidigungsminister Yannis Varvisiotis bekannt, daß die CIA eine Gruppe namens »Schafspelz« aufgebaut habe. Aufgedeckt 1988. Ähnliche Eingeständnisse kamen nun aus Portugal, der Türkei und Frankreich. Graeme kommentiert lakonisch: »Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevenement erklärte, daß es ›erst kürzlich bekannt geworden sei‹. Wer das glaubt, wird selig. Jedenfalls
war es in Deutschland, Belgien und Schweden, wo die GladioAffäre unter dem Namen ›Stay Behind‹ den spezifisch ›italienischen‹ Verhältnissen am meisten glich. Mein Kontakt zur CIA, ein hoher Offizier in der ›Company‹, bestätigte mir, daß ein ›US Office of Policy Co-Ordination‹ mit dem Bundesnachrichtendienst-Chef Reinhard Gehlen die Sache organisierte. Damals wurde es auch ›Schweigenetz‹ genannt. Später wurden die ›Stay-Behind‹- Gladiatoren auch vom englischen Geheimdienst SIS ausgebildet und trainiert. Für Sabotage, Meuchelmord und Sprengstoffanschläge.« Ich zünde mir jetzt auch eine Zigarette an. »Das sind ja nette Demokraten!« »Die deutschen Gladiatoren hatten sogar eine Todesliste, wer ›präventiv umgelegt‹ werden würde, falls die Russen kommen oder vielleicht auch nur zu kommen drohen. Einer auf der Liste war zum Beispiel Herbert Wehner, der Sozialdemokrat.« Graeme steht auf und schaut aus seinem Wohnungsfenster. Es regnet schon den ganzen Tag. Die Stimmung färbt ab. Er dreht sich um und sagt: »Der verdammte dickste Fisch war Klaus Barbie. Der rekrutierte die Gladiatoren, bevor er nach Südamerika abzwitscherte. Die SS lieferte sowieso die meisten Gladio-Kämpfer. In Schweden zum Beispiel wurden schwedische Waffen-SS-Freiwillige verwendet. Die Organisation heißt dort ›Sveaborg‹. Es gibt sie heute noch!« In Belgien machte 1989 eine parlamentarische Untersuchungskommission die Existenz einer geheimen rechtsextremen Gruppe aus, die in »Vorfälle« von Gewalt, Subversion, Terror und Mord involviert war. Man machte die Gruppe verantwortlich, bereits in den frühen achtziger Jahren 23 Menschen ermordet zu haben, was »linksextremen Terroristen« in die Schuhe geschoben wurde. »Die Organisation hieß ›Gruppe G‹, hatte Mitglieder aus Polizei und Heer, und du brauchst nur zwei und zwei zusammenzählen, um
darauf zu kommen, wer dahintersteckt! Dieses ganze illegale Untergrundnetz kreuz und quer durch Europa wurde von CIA, NATO und den Geheimdiensten finanziert und mit Waffen, Sprengstoff und Ausrüstung versorgt.« Graeme sieht mich prüfend an. So etwas klingt unglaublich, aber ich sehe die Dokumente vor mir auf dem Tisch. Die Dokumente eines unglaublichen Skandals. Graeme erzählt weiter: »So, und das wurde alles aufgedeckt. In ganz Europa. Natürlich war keiner verantwortlich. Die gute, alte Deniability∗. Man tönte, die Gruppen werden aufgelöst, aber passiert ist nichts! Nicht, daß ich wüßte.« Und in Deutschland? Der Verfassungsschützer hatte bei meiner Anfrage geblockt. Aber das kann man doch auf Dauer gar nicht geheimhalten! »Wieso dringt nichts nach draußen?« frage ich Graeme. »Warum erschüttert dieser Skandal nicht die Republik? Warum liest man so gut wie gar nichts in den Zeitungen darüber?« Graeme zieht an seiner Zigarette und schnippt nervös die Asche beiseite. Er setzt sich wieder auf seinen Stuhl, zuckt mit den Schultern und sagt: »Das weiß ich nicht. Alle Eingeweihten waren wahrscheinlich froh, als im Herbst 1990 der Golfkonflikt die Schlagzeilen beherrschte. Das ›Timing‹ hätte nicht besser sein können. Ein paar Zeitungen berichteten, meistens sogar bemerkenswert lasch. Ein paar Journalisten recherchierten. Ich kenne welche, die recherchieren bis zum ∗
»Deniability« (Leugnungsfähigkeit) ist der Fachbegriff für die in Geheimdienstkreisen häufig praktizierte professionelle Methode, hochrangige Politiker im Zweifelsfall aus einer Affäre herauszuhalten. Dabei werden Akten und Protokolle so abgefaßt, daß dem Betreffenden keine Kenntnis der (illegalen) Aktionen nachgewiesen werden kann. Das antidemokratische dabei ist, daß sich der Betreffende so aus seiner politischen Verantwortung ziehen kann, obwohl er eigentlich genau dafür zuständig wäre.
heutigen Tag und haben bisher so gut wie nichts herausbekommen.« Graeme schaut mich an. Er steht auf und klopft mir mit der Hand auf die Schulter. Dann geht er wieder zum Fenster und schaut in den Regen. Nach einer Weile dreht er sich um. Leise sagt er: »Erst als 1945 das Dritte Reich zerschlagen war, wurde das Ausmaß deutlich, in dem ›demokratische‹ Politiker und Bankiers, ›demokratische‹ Armee-Offiziere und Polizisten, ›demokratische‹ Akademiker und Industrielle den Nazis Förderung, Unterstützung und Beistand zuteil werden ließen. Ohne diese ›Demokraten‹ wäre Hitler nie an die Macht gekommen. Wenn sich so etwas nicht wiederholen soll, dann darf man die Demokratiefeinde nicht zulassen, egal, ob es sich dabei um ›Gladiatoren‹, eigenmächtige ›Geheimdienstler‹, ›Neonazis‹ oder sonstwas handelt. Über eines müssen sich alle Demokraten, Antifaschisten, alle Opfer und potentiellen Opfer von Naziterror doch klarwerden: Nur von Demokratie reden reicht nicht aus. Man muß sie praktizieren. Diesmal kann keiner sagen, er wäre nicht gewarnt worden!«
Dank
Ich möchte denen danken, die mit moralischer und fachlicher Unterstützung dieses Buch mitgeschrieben haben: dem französischen Übersetzer. Und ganz besonders einem netten Kollegen, der mir seine Unterlagen zur Verfügung gestellt und Zitate und Zusammenhänge noch mal »abgeklopft« hat, aber aus verschiedenen Gründen ungenannt bleiben soll. Den Leuten vom Lattès-Verlag, die mich überredet haben, doch ein Buch zu schreiben, obwohl ich eigentlich »die Schnauze voll« hatte. Den drei Demokraten, die mit Moral und Glühwein das Schreiben beflügelten. Very Special thanks to a good friend – Graeme Atkinson. Und Birgitta Karlström, ohne die es keinen Film und damit auch kein Buch gegeben hätte.