KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ BAUMER
HERMANN HESSE Der Di...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ BAUMER
HERMANN HESSE Der Dichter und sein Lebenswerk
VERLAG MURNAU
SEBASTIAN
-MÜNCHEN
LUX
-INNSBRUCK- ÖLTEN
Im Zauberbann des Elternhauses In dem kleinen Schwarzwaldstädtchen Calw an der Nagold ist am 2. Juli 1877 der große Dichter Hermann Hesse geboren worden. Seine verträumte Heimatstadt mit ihren Blumenwiesen und Forellenbächen, ihren Fachwerkhäusern und ihrem herrlich überbrückten Fluß, ihren Türmen und Kastanienbäumen, ihren Volksliedern und ihren Festen zur Kelterzeit, alles das hat Hesse selbst immer wieder in seinen Büchern geschildert, viel schöner, als wir es je vermöchten. Die Calwer Kinderjahre zählen zu den kostbarsten Erinnerungen des Dichters. Er sagt über diese Jahre selbst: „Sie sind nicht klar und einzeln erkennbar, aber sie tragen alle denselben köstlichen Duft von damals, da zwischen mir und jedem Stein und Vogel und Bach ein inniges Leben und Verbundensein war, dessen Reste ich eifersüchtig zu bewahren bemüht bin." 2
Tiefste Wurzeln seines Wesens sind in der Kindheit und frühen Jugendzeit zu finden. Für Hesses Leben und Denken bestimmend wurde schon seine Herkunft als der Sohn pietistischer*) Eltern, die ihr Leben der christlichen Mission gewidmet hatten. Bis nach Ostindien weist der Weg, wo Hesses Mutter, Marie Gundert-Dubois, geboren wurde; sie war bereits Tochter einer Missionarsfamilie. Auch Hesses Vater hatte eine Zeitlang in Indien gewirkt. Zwei Züge geben so dem Elternhaus das Gepräge und üben ihren Einfluß auf den sehr empfänglichen Knaben aus: die beinahe mönchische Frömmigkeit der Eltern und die buntschillernde Farbigkeit der östlichen Welt, in der Vater und Mutter gelebt haben. Die Beziehungen zum Osten sind auch in Calw noch lebendig, werden doch immer wieder einmal Besuche aus Indien empfangen. Zudem erinnern viele Dinge im Hause, Kleider, Figuren und Buddha-Bildnisse an diese ferne Welt, deren fremdländischer Zauber mächtig auf den kleinen Hesse einwirkt. Er schreibt später darüber: „Magie* — eine seltsame Verzauberung — „war heimisch in unsrem Hause und in meinem Leben. Außer den Schränken des Großvaters gab es noch die meiner Mutter, voll asiatischer Gewebe, Kleider und Schleier, magisch war auch das Schielen des Götzen, voll Geheimnis der Geruch mancher alten Kammern und Treppeiiwinkel. Und in mir innen entsprach vieles diesem Außen." Eines ist von Anfang an für Hesse bedeutsam: nichts erlebt er, was nicht sogleich im eigenen Innern widerklingt. Alle Geheimnisse, alles Rätselhafte, alles das, was in der Umwelt von geahntem, verborgenem Leben umwittert ist, findet Widerhall in seiner Seele. So tief lebt er in der Welt des Märchens und der Träume, daß die Welt der Erwachsenen ihn oft stört und er ihre nüchterne Wirklichkeit wegwischen oder verwandeln, verzaubern will. Im tiefen Brunnen jeder Kindheit ruhen 6chon die heimlichen Wünsche, von denen das Herz eines Menschen erfüllt sein muß, der einst zum Dichter werden will. Was aber sind das für Wünsche, wie äußern sie sich in Hermann Hesses Jugend? Wieder sagt es uns der Dichter selbst: „Weitaus am liebsten aber wäre ich ein Zauberer geworden. Dies war die tiefste, innigst gefühlte Richtung •) Pietismus = eine religiöse Bewegung des Protestantismus, die eine innerliche, gefühlsbetonte Glaubenshaltung erstrebt.
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meiner Triebe, eine gewisse Unzufriedenheit mit dem, was man die ,Wirklichkeit' nannte und was mir zuzeiten lediglich wie eine alberne Vereinbarung der Erwachsenen erschien; eine gewisse, bald ängstliche, bald spöttische Ablehnung dieser Wirklichkeit war mir früh geläufig, und der brennende Wunsch, sie zu verzaubern, zu verwandeln, zu steigern. . . Blicke ich zurück, so ist mein ganzes Leben unter dem Zeichen dieses Wunsches nach Zauberkraft gestanden; wie die Ziele der Zauberwünsche sich mit den Zeiten wandelten, wie ich sie allmählich der Außenwelt entzog und in mich selbst einsog, wie ich allmählich dahin strebte, nicht mehr die Dinge, sondern mich selbst zu verwandeln, wie ich danach trachten lernte, die plumpe Unsichtbarkeit unter der Tarnkappe zu ersetzen durch die Unsichtbarkeit des Wissenden, welcher erkennend stets unerkannt bleibt — dies wäre der eigentliche Inhalt meiner Lebensgeschichte."
Verworrenheit des Lebens Recht gerne hätte der junge Hesse auch die „Wirklichkeit" der Schule verzaubert. Er fühlt sich gar nicht wohl in der beengenden Luft der uralten Schule Maulbronn, wohin er nach Bestehen des sogenannten „Landexamens" als Zwölfjähriger gekommen war. Aber schon von Göppingen aus, wo er die Lateinschule besuchte, wäre er am liebsten zurück in die Heimat gelaufen. In einem Knabengedicht aus dieser Zeit stehen die Verse: Die Welle rauscht so frisch, so kalt, Ihr Sang ergriff mich mit Himmelsgewalt. Wer wollte da in die Fremde gehn, Wenn's in der Heimat so wunderschön. Wie sangen die Nixen so wunderbar, Wie zog mir der Abendwind durchs Haar. Es glühte der Berg in goldenem Schein. Ich sollte die Heimat verlassen? Neinl Nun aber ist er in Maulbronn. Das ist eine Auszeichnung, denn nur besonders Begabte erhalten in dem berühmten Stift, aus dem schon ein Hölderlin und ein Mörike hervorgegangen sind, kosten4
lose Ausbildung. Von seinen Eltern ist Hesse zum Studium der Theologie bestimmt worden, doch erlebt er im Maulbronner Seminar keine glückliche Zeit. Seine Erinnerungen daran sind in der Erzählung „Unterm R a d " lebensgetreu aufgezeichnet. Es ist die Zeit erster seelischer Leiden und Wirrnisse, die Zeit gefährlicher Krisen, die den Fünfzehnjährigen schließlich zur abenteuerlichen Flucht aus dem Stift veranlassen. Mit schwäbischem Humor hat der Großvater diese Flucht als „Geniereisle" bezeichnet. Aber so harmlos, wie der Großvater glaubte, ist es um den jungen Hesse damals gar nicht bestellt. Neben frischer, bubenhafter Lebenslust mit Indianerspiel und Feuerwerk würgt ihn zuzeiten dunkelste Schwermut. Früh schon erlebt und erleidet er im eigenen Innern die Doppelgesichtigkeit allen Lebens, erfährt er, daß fast immer jedem Hell ein Dunkel, jeder Freude eine Trauer beigemischt ist. Nach der Flucht aus der Schule folgen einige vergebliche Versuche, sich' in irgendeinem Studium oder Beruf zurechtzufinden, bis er schließlich als Lehrling in einer Turmuhrenfabrik seiner Heimatstadt landet, wo er eineinhalb Jahre, vom Frühjahr 1894 bis zum Herbst 1895, das Schleifen von Turmuhrenrädern erlernt. Aber das ist natürlich wieder nicht der rechte Beruf für ihn. Erst als er, achtzehnjährig, nach Tübingen geht und Buchhändler wird, eröffnet sich ihm das angemessene Betätigungsfeld. Jede freie Minute benutzt er, um zu lesen und wieder zu lesen. Er strebt nach echter Bildung und einer eigenen Gedankenwelt; dieser Hang zur Selbständigkeit des Denkens ist schon früh in ihm.
Erster Ruhm Schon zu Hause hat der Knabe alles, was ihm aus der reichen Bibliothek der Eltern und des Großvaters in die Hände fiel, gelesen. In Tübingen ist es vor allem das Studium Goethes und; Shakespeares, das es ihm angetan hat. „ I n meinem Lesewinkel auf der Dachbodenkammer, wohin nur das Stundenschlagen vom nahen Turmgestühl und das trockene Klappern der daneben nistenden Störche drang, gingen die Menschen Goethes und Shakespeares bei mir ein und aus." 5
Aber nicht nur aufnehmend genießt er Wissen und Kunst der andern. In Tübingen erscheint ein Prosawerk aus seiner Feder, das zum ersten Male die Aufmerksamkeit auf den jungen Buchhändler lenkt. Im September 1899 steht im „Boten für die deutsche Liter a t u r " : „Es verlohnt sich wohl, von einem Buche zu reden, welches fürchtig ist und fromm und von einer dunklen, betenden Stimme; denn die Kunst ist nicht ferne von diesem Buche. Der Anfang der Kunst ist Frömmigkeit: Frömmigkeit gegen sich selbst, gegen jedes Erleben, gegen alle Dinge, gegen ein großes Vorbild und die eigene, ungeprobte Kraft . . . In diesem Gefühl entstand Hermann Hesses Buch." Gemeint ist die Skizzensammlung „Eine Stunde hinter Mitternacht" des noch unbekannten Dichters. Der Kritiker ist kein Geringerer als der Dichter Rainer Maria Rilke, der die große Begabung des jungen Hesse bereits richtig erkannt hat. In dieser frühen Tübinger Zeit entstehen auch die „Romantischen Lieder". Sehnsucht und Schwermut atmen die Verse und immer wieder Trauer über die Vergänglichkeit — auch über die Vergänglichkeit der eigenen Jugend: Der müde Sommer senkt das Haupt Und schaut sein falbes Bild im See. Ich wandle müde und bestaubt Im Schatten der Allee. Durch Pappeln geht ein zager Wind, Der Himmel hinter mir ist rot, Und vor mir Abendängste sind — Und Dämmerung — und Tod. Ich wandle müde und bestaubt, Und hinter mir bleibt zögernd stehn Die Jugend, neigt das schöne Haupt Und will nicht fürder mit mir gehn. Das Erschauern vor dem „Urwald von schönen und schauerlichen Geheimnissen", die das Leben darbietet, aber auch die Ehrfurcht, die „Frömmigkeit gegen sich selbst, gegen jedes Erleben, gegen alle Dinge. . .", das ist es, was schon in diesen frühen Werken sieh ausspricht. 6
Buchhändler in Basel Mit 22 Jahren geht Hermann Hesse nach Basel. Er ist noch immer Buchhändler. Mit BaseL sind von jeher die schwäbischen Theologen eng verbunden, denn Basel ist die Mutterstadt der evangelischen Mission. Indem der junge Hesse dorthin übersiedelt, folgt er einem Zuge seiner Vorväter. In Basel nun entsteht jenes wunderbare Gedicht, das einer fernen Geliebten zugedacht ist und das bereits jenen dem Dichter eigenen Sprachzauber, die wundersame Sprachmagie, besitzt, die im zarten Musizieren mit Worten und Vokalen sich verströmt. Es ist das Gedicht von Elisabeth und der fernen, weißen Wolke: Wie eine weiße Wolke Am hohen Himmel steht, So weiß und schön und ferne Bist du, Elisabeth. Die Wolke geht und wandert, Kaum hast du ihrer acht, Und doch durch deine Träume Geht sie in dunkler Nacht. Geht und erglänzt so silbern, Daß fortan ohne Rast Du nach der weißen Wolke Ein süßes Heimweh hast. Von jeher sind die Wolken die besonderen Lieblinge des Dichters. Sie sind ihm — wie auch das Wasser — Gleichnisse für innere seelische Vorgänge und allgemein-menschliches Schicksal. Darum sagt er auch von den Wolken: „Und wie sie zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit." Gewand der Sehnsucht sind die Wolken ihm: O schau, sie schweben wieder Wie leise Melodien Vergessener schöner Lieder Am blauen Himmel hinl
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Kein Herz kann sie verstehen, Dem nicht auf langer Fahrt Ein Wissen von allen Wehen Und Freuden des Wanderns ward. Ich liebe die Weißen, Losen Wie Sonne, Meer und Wind, Weil sie der Heimatlosen Schwestern und Engel sind. Basel ist aber nicht nur die Zeit solcher Gedichte. Mit dieser Stadt verbunden sind die Namen des kämpferischen, aufbegehrenden Friedrich Nietzsche und des Kulturkritikers Jakob Burckhardt; ihrem Studium hat Hesse sich mit Leidenschaft gewidmet. So wie einst Nietzsche, der Philosoph eines neuen, kraftvollen Lebensstils und zugleich des sehnsüchtigen Herzens, in seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" den Gegensatz zwischen Apollinisch und Dionysisch deutlich machte, so erfährt nun auch der junge Dichter diesen ewigen Gegensatz in sich selbst. Apollo und Dionysos sind griechische Götter, zugleich aber auch Sinnbilder verschiedener Seelenkräfte und verschiedener Lebensauffassungen. Apollo ist der Lichtgott, der Gott des Schönen, des hohen, geistigen Seins, wie ihn die griechischen Bildhauer in, klassischem Ebenmaß und harmonischer Schönheit oft dargestellt haben. Dionysos dagegen ist der Gott des Rausches, der Gott des unbegrenzten Gefühls, der Maßlose, der den rätselhaften Urgründen des Seins entsteigt und unaufhaltsam durch das Naturreich dahinbraust; der Gott der Verzückung, wie er die antiken Mysterienspiele beseelt hat. Beide Kräfte, die lichten und verworrenen, die bewahrenden und die vorwärtsstürmenden, die harmonischen und die bedrängenden sind in der Seele des Menschen am Werk. Die Dichter erleben diese tiefe Gegensätzlichkeit am stärksten. Und so erfährt auch Hesse in Basel den quälenden Widerspruch und die Gegensätze des Daseins als schmerzvolle Zerrissenheit im eigenen Innern. Am 10. September 1900 schreibt er in sein Tagebuch: „O diese Nacht! Zehn Stunden ohne Schlaf, jede Minute ein Kampf meiner unterdrückten Seele mit dem grausamen,
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gewaltherrischen Gedanken, ein Kampf mit Zähneknirschen und Schluchzen, ein Ringen ohne Waffen, Brust an Brust, mit allen Listen und Grausamkeiten der Verzweiflung. Alle Dämme und Grenzen, die ich meinem inneren Leben gezogen hatte, alle mühsam vorbereiteten Saaten, alle gelegten Grundsteine sind in diesen Stunden zertreten und vernichtet worden."
Der Weg nach Innen Diese Sätze stehen in dem frühen Büchlein ,,Hermann Lauscher", das man Hesses erstes Bekenntnisbuch genannt hat. Des Wunders begierig, in sich selbst hinein,tauschend" und dem Geraune der Seele nachspürend, zeigt sich darin der Dichter. Es ist ein versponnenes Buch von Träumen, Phantasien und Seelenbekenntnissen. Diese Bekenntnisse sind aber mehr als bloßer Ausdruck jünglinghaften Weltschmerzes. Sie führen uns tief in Hermann Hesses Wesen ein. Denn Hesses ganzer Lebensgang ist ein einziger langer „Weg nach Innen", eine Bezeichnung, die er selbst einem Sanx-i melbande seiner Erzählungen gegeben hat. Der Weg nach Innen macht das Bewußtsein überhell, so daß es zum Kampf des kritischen Gedankens mit der träumerischen Seele kommt und der Dichter früh schon hinter die Oberflächlichkeiten des Lebens und hinter alles Unehrliche, Unwahrhaftige, hinter alles Maskenhafte blickt. Auch sich selbst, den eigenen Charakter, nimmt er davon nicht aus. Und so lesen wir im „Hermann Lauscher" auch: Das ist mein Leid, daß ich in allzuvielen Bemalten Masken allzugut zu spielen Und mich und andre allzugut Zu täuschen lernte. Keine leise Regung Zuckt in mir auf und keines Lieds Bewegung, In der nicht Spiel und Absicht ruht. Der Weg nach Innen ist nicht immer leicht. Nichts ist schwerer und oft enttäuschender, als sich selber zu finden, sich selber zu begegnen; deckt man dabei doch oft im eigenen Ich zunächst nur Zwiespältigkeit auf. Daraus aber erwächst auch die Sehnsucht nach Versöhnung der Gegensätze und des Feindlichen im Leben. 9
Dieser Versöhnung ist letztlich Hermann Hesses ganzes Werk gewidmet. So stellt er der modernen Welt der Technik mit ihren Maschinen und Apparaturen, ihren Turbinen und Generatoren, ihrer Nüchternheit und Berechnung, die auch den Menschen zu mechanisieren droht und ihn allzu oft nur als Gegenstand naturwissenschaftlicher Versuche und mathematischer Überlegungen ansieht, — so stellt er dieser Welt das reiche Wunderland der Seele gegenüber, einer Seele, die sich wehrt gegen die Tyrannei des bloßen Verstandes und die nie müde wird, immer wieder das Lied von der bunten Mannigfaltigkeit und Ganzheit des Lebens zu singen, zu der nicht nur das Hirn, sondern auch das Herz gehörtj. Und diese Seele weiß sich eins mit allen Leidenden der Welt. So entsteht in dieser frühen Baseler Zeit das Gedicht: Die ihr meine Brüder seid, Arme Menschen nah und ferne, Die ihr im Bezirk der Sterne Tröstung träumet eurem Leid, Die ihr wortelos gefaltet In die blaß gestirnte Nacht Schmale Dulderhände haltet, Die ihr leidet, die ihr wacht, Arme, irrende Gemeinde, Schiffer ohne Stern und Glück — Fremde, dennoch mir Vereinte, Gebt mir meinen Gruß zurück!
Knulp Bis 1903 bleibt Hesse Buchhändler. Ein Jahr später heiratet er und zieht an den Bodensee, in ein bescheidenes Bauernhaus des stillen Dörfchens Gaienhofen: „ I n Gaienhofen, wohin mein Tübinger Freund Ludwig Finckh mir folgte, lebte ich acht Jahre, im Versuch, ein natürliches, fleißiges, der Erde nahes Leben zu führen." Tagelang finden wir ihn nun im Boot auf dem weiten See, wo er jede seiner Farben und Stimmungen, seiner Sonnenhimmel und
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Gewitterwolken in sich aufnimmt. Nachdem er sich selbst ein Haus gebaut hat, weilt er besonders gern draußen im Garten, wo er sich Nutzpflanzen und Blumen zieht. Der große dichterische Niederschlag aus dieser Zeit ist der Roman ,,Peter Camenzind". Dieser Peter Camenzind — in dem sich wieder, wie in allen Dichtungen, Hesse selbst verbirgt —, dieser Camenzind hegt den Wunsch, den modernen Menschen wieder zu lehren, „auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben als Ganzes teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind." Laut und ungebrochen redet ihm die Natur die Sprache Gottes: „Ich hörte den Wind vieltönig in den Kronen der Bäume klingen, hörte Bäche und Schluchten brausen und leise, stille Ströme durch die Ebene ziehen, und ich wußte, daß diese Töne Gottes Sprache waren, und daß es ein Wiederfinden des Paradieses wäre, diese dunkle, urschöne Sprache zu verstehen." Leise pocht auch schon die Ahnung in ihm, daß er zu besonderem Amte ausersehen sei: „Und allmählich, je mehr ich las und je wunderlicher und fremder mich das Hinunterblicken auf Dächer, Gassen und Alltag ergriff, tauchte des öfteren zaghaft und beklemmend das Gefühl in mir auf, auch ich sei vielleicht ein Seher und die vor mir ausgebreitete Welt warte auf mich, daß ich einen Teil ihrer Schätze höbe, den Schleier des Zufälligen und Gemeinen davon löse und das Entdeckte durch Dichterkraft dem Untergang entreiße und verewige." Aber auch die Einsicht überfällt ihn, daß er in der Welt wohl ewig ein Fremdling sein würde. Und ein Fremdling im lauten Getriebe der Öffentlichkeit ist Hesse auch immer geblieben. Er hat nie den Lärm der großen Welt geliebt. Die selbstgewählte und ihm notwendige Einsamkeit hat in ihm die Frucht seines Werkes zur Reife gebracht, eines Werkes, in dem das geistige Europa sich selber widerspiegelt. Auf den „Peter Camenzind", durch den Hesse mit einemmal berühmt geworden ist, folgen die Erzählung „Unterm Rad", dann einige Sammelbände kleinerer Erzählungen, der Musikerroman „ G e r t r u d " und der Malerroman „Roßhalde" und endlich die ergreifend schlichte Landstreichererzählung „ K n u l p " . 11
Knulp ist der ewige Wanderer, der die Kinder und die Blumen liebt und dem die Freiheit der Landstraße lieber ist als das gesicherte Leben des Philisters; lieber zieht er mit Fransen an den Hosen und mit knurrendem Magen seines Weges, als daß er auf die Freiheit des naturnahen Lebens verzichtet, überall, wohin Knulp kommt, spendet er Trost, empfängt er etwas Spott und gibt dafür Güte, bis er endlich, körperlich aufgezehrt, im winterlichen Walde zum Sterben niedersinkt und noch einmal Zwiesprache hält mit Gott. Diesem herzhaften Wandergesell hat Hesse das Gedicht nachgesandt : Auf Wanderung (Dem Andenken Knulps) Sei nicht traurig, bald ist es Nacht, Da sehn wir über dem bleichen Land Den kühlen Mond, wie er heimlich lacht, Und ruhen Hand in Hand. Sei nicht traurig, bald kommt die Zeit, Da haben wir Ruh. Unsre Kreuzlein stehen Am hellen Straßenrande zu zweit Und es regnet und schneit Und die Winde kommen und gehen. Hesse hat schon in dieser Zeit ein furchtloses Verhältnis zum Tod, der zum Ganzen der Welt gehört wie Geburt und Liebe, wie Glück und Leid, wie alles Geschehen. Den Tod betrachtet Hesse als Gnade: „Einschlafen dürfen, wenn man müde ist, und eine Lajst fallen lassen dürfen, die man sehr lang getragen hat, das ist eine köstliche, eine wunderbare Sache." — Dieses Wort aus einem Spätwerk des Dichters klingt zusammen mit einem Gedicht aus der Zeit, da der „ K n u l p " entstanden istl Der Wanderer an den Tod Auch zu mir kommst du einmal, Du vergißt mich nicht, Und zu Ende ist die Qual, Und die Kette bricht. 12
Noch erscheinst du fremd und fern, Lieber Bruder Tod, Stehest als ein kühler Stern Ober meiner Not. Aber einmal wirst du nah Und voll Flammen sein. Komm, Geliebter, ich bin da, Nimm mich, ich bin dein! Auch den Tod bezieht der ewige Wanderer Hermann Hesse in sein Streben und Leben ein. In seinem Buche „Wanderung", das eines seiner liebsten Bücher ist, sagt er: „Wandersehnsucht reißt mir am Herzen, wenn ich Bäume höre, die abends im Winde rauschen. Hört man still und lange zu, so zeigt auch die Wandersehnsucht ihren Kern und Sinn. Sie ist nicht Fortlaufenwollen vor dem Leide, wie es schien. Sie ist Sehnsucht nach Heimat, nach Gedächtnis der Mutter, nach neuen Gleichnissen des Lebens. Sie führt nach Hause. Jeder Weg führt nach Hause, jeder Schritt ist Geburt, jeder Schritt ist Tod, jedes Grab ist Mutter." Dieses lebenlange Wandern nach Hause macht einsam und zwingt zu Entscheidungen, die nur der einzelne treffen kann; sie spielen sich in seinem Innern ab. Durch die Wirrnis immer neu aufsteigender, versinkender, abermals hochwachsender, sich verwandelnder, ewig webender Erscheinungen seiner Selbst hindurch gilt es, das Schicksal zu meistern. Das ist nicht immer leicht, und die Ängstigung, sich im Labyrinth und Dunkel der eigenen Seele zu verlieren, läßt den Dichter zuweilen todmüde werden. Aus einer solchen Stimmung heraus schreibt er die Verse: Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein, Kein Baum sieht den andern, Jeder ist allein. Voll von Freunden war mir die Welt, Als noch mein Leben licht war; Nun, da der Nebel fällt, Ist keiner mehr sichtbar. 13
Wahrlich, keiner ist weise, Der nicht das Dunkel kennt, Das unentrinnbar und leise Von allen ihn trennt. Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, Jeder ist allein. Der so in sich versponnene Dichter ist auch im eigenen Hause am Bodensee bald ein Fremdling geworden. „Aus lauter innerer Not' : flieht er 1911 von Haus und Familie fort nach Indien. Ein schönes Tagebuch mit vielen wertvollen Aufzeichnungen ist dabei entstanden. Im großen und ganzen aber ist Hesse vom modernen Indien enttäuscht. Er suchte das heilige Indien der Tempel und der Upanishads — der altindischen Geheimlehren und Offenbarungen; er wünschte im Schatten heiliger Haine die Gebete der Gläubigen und die Sprüche der Gurus, der indischen Weisheitslehrer, zu hören; ihn dürstete nach der stillen Weisheit des Ostens. Aber er fand das Indien unserer Tage mit seiner politischen Wirklichkeit, seinen Wirren und Kämpfen und seiner geschäftlichen Tüchtigkeit an Orten, die einst nur den Göttern dienten. Als das letzte und größte Erlebnis dieser Reise verzeichnet der Dichter die „kleine, uralte Binsenwahrheit, daß es über die Volksgrenzen und Erdteile hinweg eine Menschheit gibt". Im Jahre 1912 kehrt er wieder zurück und übersiedelt mit seiner Familie nach Bern.
Jahre ohne Segen Ein neuer Abschnitt beginnt. Nicht nur für den Dichter, sondern für die ganze Welt. Die Zeit rüstet sich, alles zu zerschlagen, was dem Jahrhundert vorher, in dem Hesse seine Jugend erlebte, noch als ewig und unzerstörbar gegolten hat. Noch träumt zwar die Zeit von Idylle und Waldeinsamkeit, noch glaubt der harmlose Bürger, von seinem Plüschsessel aus, der mit fein gehäkelten Spitzendeckchen überzogen ist, dem unaufhaltsamen Fortschritt sicher gewachsen zu sein; die Spannungen im sozialen Leben, das Aufbe-
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gehren der Arbeiterschaft, die Gewitterstimmung im Leben der entzweiten Völker nimmt er nicht zur Kenntnis oder setzt sich darüber hinweg. Der Dichter aber spürt die furchtbaren Erschütterungen, die im innersten Körper Europas zum Ausbruch drängen. Er spürt die Stöße, die aus der rätselhaften Schicksalstiefe der Geschichte kommen und heimlich pochen, wie die Finger von zerstörerischen Dämonen, die den Festigkeitsgrad dessen prüfen, was sie zu vernichten gesonnen sind. Der erste Weltkrieg wirft seine grausigen Schatten voraus. Als das Chaos dann wirklich hereinbricht, ist es für Hesse nur die Bestätigung dessen, was er längst geahnt und befürchtet hat. Freiwillig meldet er sich zur Betreuung der Kriegsgefangenen. Je mehr das Leid in der Welt ansteigt, desto mehr steigt auch seine innere Not. Während die grauen Bataillone marschieren und Europa sich anschickt, das erste große Harakiri zu vollziehen im Kampf aller gegen alle, während die Erde von Granattrichtern zerfurcht wird und der Tod seine Sense schärfer wetzt, erhebt Hermann Hesse seine Stimme. „0 Freunde, nicht diese T ö n e ! " ruft er im September 1914 einer Welt des Hasses zu; es ist ein Aufruf zum Frieden, der mit den Worten abschließt: ..Menschliche Kultur entsteht durch Veredelung tierischer Triebe in geistigere, durch Scham, durch Phantasie, durch Erkenntnis. Daß das Leben wert sei, gelebt zu werden^ ist der letzte Inhalt und Trost jeder Kunst, obgleich alle Lobpreiser des Lebens noch haben sterben müssen. Daß Liebe höher sei als Haß, Verständnis höher als Zorn, Friede edler als Krieg, das muß ja eben dieser unselige Weltkrieg uns tiefer einbrennen, als wir es je gefühlt. Wo wäre sonst sein Nutzen?'' Der Aufruf ist vor allem an die Schriftsteller und Dichter gerichtet, die ihre Stimme nicht dem Krieg und dem Haß leihen sollten. Aber Hesse erntet nur Anfeindungen und Schmähschriften, wenn er in immer neuen Kundgebungen seine Stimme gegen den Krieg und gegen das Töten erhebt. Wie die Schreckenskurve des Krieges ansteigt, so schreitet seine innere Vereinsamung vor. Er zieht sich völlig in sich selbst zurück. Und er schreibt die Verse, die in dem Bändchen „Musik des Einsamen" stehen: 15
Jahre ohne Segen, Sturm auf allen Wegen, Nirgends Heimatland, Irrweg nur und Fehle. Schwer auf meiner Seele Lastet Gottes Hand. Es ist die Zeit, über die er später einmal sagt: „Oft .schien Hiob mir mein Bruder zu sein." In diesen Jahren zerbricht auch das Familienleben des Dichters. Die tiefste Erschütterung von Hermann Hesses innerer Welt fällt zusammen mit dem Zusammenbruch der äußeren Welt im Jahre 1918/19. Aber aus dieser stärksten Bedrohung erwachsen dem Dichter auch schon wieder heilende Kräfte. Wege findet er jetzt, die ihn hinunterführen in noch tiefere Schächte der Seele, so tief, daß er sich den Urkräften alles Lebendigen nahe glaubt. Nun ist er auf dem Wege, seinen Jugendwunsch zu verwirklichen und ein Zauberer zu werden. Er betritt die Pfade der Verzauberung und Verwandlung — der Magie. Aber nicht die der „Schwarzen Magie", einer finsteren, trügerischen Scheinkunst, sondern die der lichten, die darin besteht, sich selbst zu verwandeln, Leiden zu überwinden und ein Wissender zu werden.
Der Mensch im Weltganzen Es ist eine uralte Vorstellung, und immer wieder haben Dichter sie uns nahegebracht: die Vorstellung, daß die Seele des Menschen ins Unendliche reiche und daß geheime Beziehungen beständen zwischen ihr und dem All. Hesse, der sich diese Gedanken zu eigen macht, ist der Überzeugung, daß der Mensch mit teilhaben kann an der ganzen Schöpfung. Es scheint ihm nicht mehr unmöglich, Werke von gleichsam unsterblichem Charakter zu schaffen, mehr noch, er vermag zu glauben, daß zwischen seiner unsterblichen Seele und der Welt, zwischen ihm als kleines Einzelwesen — als Mikrokosmos — und der gesamten Natur — dem Makrokosmos — Beziehungen walten, daß Seelenraum und Weltraum, unser Inneres und das ganze große Außen der Welt miteinander ver16
bunden sind durch eine einzige große göttliche Kraft. Solche Gedanken haben vor Hermann Hesse schon viele Magier und Mystiker durchdacht und vorgetragen. Wir finden sie in der Kabbala, dem mystischen Lehrbuch der Juden, bei Albertus Magnus ebenso wie bei Paracelsus, bei Meister Eckehart und Jakob Boehme und bei manchen Romantikern. Goethe hat ähnliche Gedanken im ,,Faust" niedergelegt. Im Zeichen des Weltgeistes, des Makrokosmos, läßt er den Wahrheitssucher Faust erschauern vor der Offenbarung: Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt. Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen! Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen Harmonisch all das All durchklingen! Die einheitliche Kraft, die harmonisch das ganze All durchwirkt und alles zum göttlichen Ganzen verbindet, wird nach dieser Weltauffassung in der Seele erlebt. Und das eben ist es, was nunmehr auch Hermann Hesse erfährt: die große Harmonie hinter allen Lebensspannungen, hinter allem Leid. Diese Erfahrung wird ihm als Frucht der Versenkung in die eigene Seele geschenkt. Magisch verbindet er jetzt die beiden Welten, die des eigenen Innen mit der des Außen, und er weiß: In mir und außer mir Ist ungeschieden, Welt und ich ist eins. Wolke weht durch mein Herz, Wald träumt meinen Traum, Haus und Birnbaum erzählen mir Die vergessene Sage gemeinsamer Kindheit. Ströme hallen und Schluchten schatten in mir, Mond ist und bleicher Stern mein vertrauter Gespiele. Nun fühlt er den Zeitpunkt gekommen, um sagen zu können: „Ich war ein Suchender und bin es noch, aber ich suche nicht mehr auf den Sternen und in den Büchern, ich beginne die Lehren zu hören, die mein Blut in mir rauscht." 17
Das neue Buch, das er schreibt, heißt „Demian". Tief führt es hinein in die Welt der Seele. Immer neue Urbilder drängen aus dem Unbewußten herauf, und alle bewirken sie die Versöhnung des Ich mit den Leiden der Welt. Hier steigt auch zum erstenmal eine Gestalt in ihm auf, die fortan in seiner Dichtung immer wiederkehrt: die Gestalt der Urmutter. Sie ist verwandt mit Goethes „ M ü t t e r n " im „ F a u s t " , die das ewig Webende, ewig Werdende, das Bewahrende und Urbildhafte alles Seins versinnbildlichen. Goethe sieht in ihnen die Quellen des Lebens, die nie versiegen, auch mit dem Tode nicht. Bei Hermann Hesse ist die Urmutter das Sinnbild des Bleibenden, des sich ewig erneuernden Lebens inmitten der Vergänglichkeit der Welt. Als die Ewige, Immerseiende, durchwirkt sie auch das Gedicht „Vergänglichkeit": Vom Baum des Lebens fällt Mir Blatt um Blatt. O taumelbunte Welt, Wie machst du satt, Wie machst du satt und müd, Wie machst du trunken! Was heut noch glüht, Ist bald versunken. Bald klirrt der Wind. ü b e r mein braunes Grab, Über das kleine Kind Beugt sich die Mutter herab. Ihre Augen will ich wiedersehn, Ihr Blick ist mein Stern, Alles andre mag gehn und verwehn, Alles stirbt, alles stirbt gern. Nur die ewige Mutter bleibt, Von der wir kamen, Ihr spielender Finger schreibt In die flüchtige Luft unsre Namen. In immer neuen Gestalten sucht der Dichter nunmehr das Erlebnis unvergänglicher Urbilder des Daseins zu bannen, und alle tragen sie Züge seiner eigenen inneren Welt. 18
über seine Bücher und sein Schaffen sagt er: „Bei der Art von Dichtung, wie ich sie übe, gibt es eine eigentlich rationale, vom Willen abhängende, durch Fleiß zu erringende Arbeit kaum. Eine neue Dichtung beginnt für mich in dem Augenblick zu entstehen, wo eine Figur sichtbar wird, welche für eine Weile Symbol und Träger meines Erlebens, meiner Gedanken, meiner Probleme werden kann. Die Erscheinung dieser mythischen Person (Peter Camenzind, Knulp, Demian, Siddhartha, Harry Haller usw.) ist der schöpferische Augenblick, aus dem alles entsteht. Beinahe alle Prosadichtungen, die ich geschrieben habe, sind Seelenbiographien, in allen handelt es sich nicht um Geschichten, Verwicklungen und Spannungen, sondern sie sind im Grunde Monologe, in denen eine einzige Person, eben jene mythische Figur, in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird." Auch Demian, der in der gleichnamigen Erzählung die Rolle des Freundes und geistigen Führers spielt und schillernd, geheimnisvoll und von Magie umwittert ist, auch er ist nur ein Stück des Dichters selbst. Nicht immer gelingt es, die unruhige Oberfläche des Ich zu durchbrechen und zum wesenhafteren Teil der Seele vorzustoßen. „Aber", so heißt es zum Schluß der Erzählung, „wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunkeln Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz ihm gleicht, ihm, meinem Freund und Führer." Der Dichter verwandelt sich jetzt selbst, und er dringt so tief unter die Oberfläche der äußeren Welt, daß er im tiefsten Innern, in sich selbst, die Bilder hervorzuzaubern vermag, an denen er beispielhaft Welt und Menschentum deutet. Es ist, als habe er nun Verbindung mit den wirkenden Kräften der Erde, und er ist wieder, wenn auch in reiferer und geistigerer Weise, eins mit jedem Stein und Vogel und Bach wie einst in der Kindheit. Das erscheint ihm höhere Weisheit zu sein als alles das, was sein bisheriges Suchen und Forschen in Büchern und Schriften ergeben hat. Alle Bücher dieser Welt Bringen dir kein Glück, 19
Doch sie weisen dich geheim In dich selbst zurück. Dort ist alles, was du brauchst, Sonne, Stern und Mond, Denn das Licht, danach du frugst, In dir selber wohnt. Weisheit, die du lang gesucht In den Bücherein, Leuchtet jetzt aus jedem Blatt — Denn nun ist sie dein.
Zwischen den Weltkriegen Im Jahre 1919 erscheint Oswald Spenglers Buch vom „Untergang des Abendlandes", ein Werk, das ungeheures Aufsehen erregt. Und im selben Jahr geschieht eine wissenschaftliche Revolution sondergleichen: dem englischen Physiker Ernst Rutherford gelingt es, mit ausgeschleuderten Alphateilchen Stickstoffatome zu zerschmettern, durch radioaktive Strahlung ein Stickstoffatom in ein Sauerstoffatom umzuwandeln; es ist der erste künstliche Eingriff in die ungeheuren Bindungskräfte, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Alle bisher gültigen Maßstäbe kommen nun ins Wanken. Das winzigste Gebilde des Atoms, das man so lange für unteilbar und ungegliedert gehalten hat, offenbart sich in der Folgezeit als eine Welt, in der ähnliche Kräfte wirken und ähnliche komplizierte Verhältnisse bestehen wie im Weltall. Groß und Klein, Innen und Außen scheinen keine unbedingten Gegensätze mehr zu sein. Was Weise und Mystiker immer wieder ahnten, die Verflechtung der kleinsten und der größten Welt, scheint die Wissenschaft jetzt zu bestätigen. Selbst die nüchternen Naturwissenschaftler werden von den neuen Einsichten überwältigt und erkennen, daß das Wunder der Schöpfung noch viel wunderbarer ist, als sie bisher geglaubt haben. Die Ehrfurcht vor dem Geheimnis, dem Mystischen, überkommt sie. So schreibt Albert Einstein, der große Wissenschaftler und Weise, einmal: „Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir 20
fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits t o t . " Wo bleibt da der Dichter? Was tut Hermann Hesse? Versenkt er sich immer nur in sich selbst, oder nimmt er teil an den Wandlungen der Welt? Ja, er nimmt daran teill Hermann Hesse steht auf der Höhe der Zeit! Ihm wird nun das eigene Innere zur Sinndeutung der großen äußeren Welt. Und so schreibt er jetzt über einige seiner Schriften den tiefsinnigen Spruch: Nichts ist außen, nichts ist innen, denn was außen ist, ist innen. Alles, was in der Unendlichkeit des Weltganzen liegt, so will der Dichter sagen, liegt auch in den unermeßlichen Räumen der Seele. Es ist die gleiche Anschauung, der vor ihm bereits Goethe auf Grund seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in ähnlichen Worten Ausdruck gegeben hat: Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis. Hesse sieht hier das Geheimnis der einheitlichen Lebenskraft der Welt. Wer dieses Geheimnis erfasse, der bleibe in Verbindung mit den Kräften der Seele, der lasse sich nicht abdrängen vom Quell des vollen Lebens, um bloß noch Zahnrad zu sein im Riesenräderwerk der immer stärker technisierten Welt. Aber nur zögernd öffne der Mensch unserer Zeit dem Geheimnisvollen seine Tore. Der Dichter sei es, der darauf hinweisen und immer wieder das erstarrende Denken aufrütteln müsse; er sei der Seher, der das Verhängnis prophezeie für den Fall, daß die Welt sich der gro-' ßen neuen Erkenntnis verschließen sollte. Heftige Worte der Kritik werden nun in den Schriften des Dichters laut am alten, am starren Europa, am Europa des Weltkriegs: „Hundert Jahre lang hat Europa bloß noch studiert und Fabriken 21
gebaut! Sie wissen genau, wieviel Gramm Pulver man braucht, um einen Menschen zu töten, aber sie wissen nicht, wie man zu Gott betet, sie wissen nicht einmal, wie man eine Stunde lang vergnügt sein k a n n . " Und auch der Gedanke, daß dieses sich nicht besinnende Europa dem Unheil entgegengehe, klingt in dieser Zeit an: „Daß unsere Welt recht faul ist, wissen wir, das wäre noch; kein Grund, ihren Untergang zu prophezeien. Aber ich habe seit mehreren Jahren Träume gehabt, aus denen ich schließe, odejfühle, oder wie du willst — aus denen ich also fühle, daß der Zusammenbruch einer alten Welt näher rückt. Es waren zuerst ganz schwache, entfernte Ahnungen, aber sie sind immer deutlicher und stärker geworden. Noch weiß ich nichts anderes, als daß etwas. Großes und Furchtbares im Anzug ist . . ." Und an anderer Stelle sagt Hermann Hesse: „Die Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein. Aber die Wege und Umwege sind belanglos, wenn nur die wahre Not der Seele zutage kommt, die man seit so langem immer wegliigt und betäubt." Solche Worte schreibt der Dichter zwanzig Jahre vor dem kommenden, zweiten Weltkrieg nieder. Nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der bildenden Kunst tut sich in dieser Zeit die Not der Seele schreiend kund. In der Kunst der expressionistischen Maler vor allem wird sie sichtbarste, erregendste Gestalt. Die Künstler leiden am ehesten und am meisten unter dem Verfall der Kultur, unter der Oberflächlichkeit des Lebensstils, der Ungerechtigkeit, Unwahrhaftigkeit und Unmenschlichkeit. Bilder, Zeichnungen werden zu wilden Kundgebungen für die ewigen Aufgaben, die dem Menschengeschlecht gestellt sind, werden zur Anklage und oft genug zum ohnmächtigen Aufschrei. Die Kunst wirkt nicht mehr in den herkömmlichen Formen, sie reisheil nicht aus, um das auszusagen, was der Welt not tut. Hesse gesellt sich diesen Warnern und Streitern zu. In seiner expressionistischen Malernovelle „Klingsors letzter Sommer" zeichnet er den Maler, wie er verzweifelt in Farben und Lichtern kundtun will, was ihn im Innersten bedrängt: „Voll Haß riß er eine Furche Pariserblau unter den grünen Zigeunerwagen. Voll Erbitterung schlug er die Kante Chrom22
gelb auf die Prellsteine. Voll tiefer Verzweiflung setzte er Zinnober in einen ausgesparten Fleck, vertilgte das fordernde Weiß, kämpfte blutend um Fortdauer, schrie Hellgrün und Neapelgelb zum unerbittlichen Gott. Stöhnend warf er mehr Blau in das fade Staubgrün, flehend zündete er innigere Lichter im Abendhimmel an. Die kleine Palette voll reiner, unvermischter Farben von hellster Leuchtkraft, sie war sein Trost, sein Turm, sein Arsenal, sein Gebetbuch, seine Kanone, aus der er nach dem bösen Tode schoß. Purpur war Leugnung des Todes, Zinnober war Verhöhnung der Verwesung. Gut war sein Arsenal, glänzend stand seine kleine, tapfere Truppe, strahlend läuteten die raschen Schüsse seiner Kanonen auf. Es half ja nichts, alles Schießen war ja vergebens, aber Schießen war doch gut, war Glück und Trost, war noch Leben, war noch Triumphieren." Mit solcher Gewaltsamkeit wehrt sich das Leben gegen den Untergang. Es ist die Zeit, in der kurz nach den Schauern desi Ersten Weltkrieges der Hunger die einen zermürbt, und schnell erraffter Reichtum die andern das Leben in Gier genießen läßt — die Zeit der Zerrissenheit, des Unfriedens trotz der Friedensschlüsse, der Ungewißheit des einzelnen. Der Dichter leidet darunter, und im „Klingsor" malt er das zerquälte Selbstporträt des Zeitmenschen. Und wieder ist es nicht nur das Antlitz eines Einzigen, sondern zugleich das Antlitz Europas, so wie Hermann Hesse es 1919 sieht: „Das ist es . . . was einige Freunde an dem Bilde besonders lieben. Sie sagen: es ist der Mensch, ecce homo, der müde, gierige, wilde, kindliche und raffinierte Mensch unserer späten Zeit, der sterbende, sterbenwollende Europamensch: von jeder Sehnsucht verfeinert, von jedem Laster krank, vom Wissen um seinen Untergang enthusiastisch beseelt, zu jedem Fortschritt bereit, zu jedem Rückschritt reif, ganz Glut und auch ganz Müdigkeit, dem Schicksal und dem Schmerz ergeben wie der Morphinist dem Gift, vereinsamt, ausgehöhlt, uralt, Faust zugleich und Karamasow, Tier und Weiser, ganz entblößt, ganz ohne Ehrgeiz, ganz nackt, voll von Kinderangst vor dem Tode und voll von müder Bereitschaft, ihn zu sterben." Aber auch dieser Zerfall bedeutet für Hesse Antrieb zu neuein Leben. Während Klingsor noch ringt mit Tod und Verzweiflung, 23
bereitet eine neue mythische Gestalt sich im Dichter vor: der Brahmanensohn „Siddhartha". - Auch er ist ein Suchender, ein Ringender, ein Verzweifelnder. Aber durch alle Not hindurch erfährt er das Geheimnis der heiligen Lebensganzheit: das Wirken Gottes überstrahlt schließlich das Leid der Welt. ; Wie der verlorene Sohn zieht Siddhartha aus, verläßt das Vaterhaus, geht in die Fremde, wird Kaufmann, Spieler und zuletzt Schüler Buddhas, doch nirgends findet er Erlösung. Verzweifelnd am eigenen Schicksal, kommt er an einen stillen Fluß. Ermattet wirft er sich dort nieder, unbesorgt, ob ein wildes Tier ihn finden und zerreißen wird. Der Fluß wird gleichsam sein Lehrer, und Vasudeva, der Fährmann, sein Freund. Und Siddhartha fragt den Fährmann: „Nicht wahr, o Freund, der Fluß hat viele Stimmen, sehr viele Stimmen? Hat er nicht die Stimme eines Königs, und eines Kriegers, und eines Stieres, und eines Nachtvogels, und eines Seufzenden, und noch tausend andere Stimmen? . .. Und weißt d u . . . welches Wort er spricht, wenn es dir gelingt, alle seine zehntausend Stimmen zugleich zu h ö r e n ? " „Glücklich lachte Vasudevas Gesicht, er neigte sich gegen Siddhartha und sprach ihm das. heilige Om ins Ohr. Und eben dies war es, was auch Siddhartha gehört hatte." Das „heilige O m " aber („Om mani padme hum") ist die religiöse Formel des Brahmanen für den Glauben an die Einheit alles Seins. Diese Einheit in den Gleichnissen der Kunst zu gestalten, ist auch weiterhin das Uranliegen des Dichters. Im „Kurgast", den ,Aufzeichnungen von einer Badener Kur', schreibt er darüber: „Ich möchte einen Ausdruck finden für die Zweiheit, ich möchte Kapitel und Sätze schreiben, wo beständig Melodie und Gegenmelodie gleichzeitig sichtbar wären, wo jeder Buntheit die Einheit, jedem Scherz der Ernst beständig zur Seite steht. Denn einzig darin besteht für mich das Leben, im Hin und Her zwischen den beiden Grundpfeilern der Welt. Beständig möchte ich mit Entzücken auf die selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern, daß dieser Buntheit eine Einheit zugrunde l i e g t . . .
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Die beiden Pole des Lebens zueinander zu biegen, die Zweistimmigkeit der Lebensmelodie niederzuschreiben, wird mir nie gelingen. Dennoch werde ich dem dunklen Befehl in meinem Innern folgen und werde wieder und wieder den Versuch unternehmen müssen. Dies ist die Feder, die mein Ohrlein treibt." Zu dem Glauben an die Einheit des Lebens gelangt auch der Angestellte Klein in der Erzählung „Klein und Wagner". Ertrinkend wird ihm offenbar: „Jedes Leben war ein Atemzug, von Gott ausgestoßen. Jedes Sterben war ein Atemzug, von Gott eingesogen. Wer gelernt hatte, nicht zu widerstreben, sich fallen zu lassen, der starb leicht, der wurde leicht geboren. Wer widerstrebte, der litt Angst, der starb schwer, der wurde ungern geboren." Immer glaubt der Dichter an die Verbindung von Leben und Tod. Zwischen beiden aber ist Wanderschaft, Kampf, Wandlung.
Der Steppenwoli Die Jahre 1926/27: Die Reiter der Apokalypse brechen gegen das Abendland auf. Aber noch verbergen sie sich hinter Wolkenschleiern; hinter Wolken der Propaganda, der großen politischen Versprechungen. In Deutschland feiert ein fehlgeleiteter Nationalismus seine ersten Triumphe, in China und in Japan gärt es, in Rußland ertönt immer fordernder das kommunistische Kampflied, die Internationale. In tiefer Einsamkeit entstehen in diesen Wirren die Werke großer Künstler. In ihren Büchern, ihren Bildwerken, ihrer Musik wächst eine neue Geistigkeit heran, die in die Zukunft weist, oder sie sind der Spiegel, in dem die Welt den Widersinn ihres Gehabes erkennen könnte, wenn sie überhaupt die W a h r heit erkennen wollte. Aber alle mahnenden Stimmen verhallen. Die Zeit wehrt sich davor, in ihr eigenes Antlitz zu blicken, und sie erklärt die Künstler, die es wagen, der Umwelt die Augen öffnen zu wollen, für Außenseiter, Schwarzseher, Lebensfremde. Laut tönen die Stimmen der Zeit in Hermann Hesse. Die so oft gepriesene Zweistimmigkeit der Lebensmelodie löst sich ihm nun auf, wird wirrstimmig, mißtönend, grell, wild. Im Menschen ist 25
das Ungezähmte hervorgebrochen, alle Werte der Vergangenheit werden mit Füßen getreten, und so stellt Hesse den Menschen zum Tier geworden dar, als Wolf. Ich Steppenwolf trabe und trabe, Die Welt liegt voll Schnee, Vom Birkenbaum flügelt der Rabe, Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh! Und nun trab ich und träume von Rehen, Trabe und träume von Hasen, Höre 'den Wind in der Winternacht blasen, Tränke mit Schnee meine brennende Kehle, Trage dem Teufel zu meine arme Seele. Tiefe Verzweiflung spricht aus der Dichtung, in der solche Verse stehen, aus dem Roman „Der Steppenwolf". Der Blick des Steppenwolfes „durchdrang unsre ganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberflächliche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit — ach, und leider ging der Blick noch tiefer, ging noch viel weiter als bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unsrer Zeit, unsrer Geistigkeiten, unsrer Kultur. Er ging bis ins Herz alles Menschentums, er sprach beredt in einer einzigen Sekunde den ganzen Zweifel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus an der Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt. Dieser Blick sagte: .Schau', solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!' und alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften des Geistes, alle Anläufe zu Erhabenheit, Größe und Dauer im Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel." Und dennoch ertönen auch in dieser Dichtung neben solch harten Urteilen und Verurteilungen, neben den Stimmen der Verzweiflung immer wieder kristallklare, heitere Klänge, herkommend aus erhabener Musik. Es ist Mozart, der liebenswürdige Meister, der mit wehendem Rokokozopf auftaucht, um die Zagenden und Leidenden Heiterkeit aus tiefstem Herzensgrund und aus ursprünglicher Weltfreudigkeit zu lehren. So stehen sich auch im Steppenwolf zwei Welten gegenüber: Die sinnliche, brodelnde Welt vergänglichen Spiels, vergänglicher Freuden und bald welkender 26
Lust, die dem Dichter im Jazz und seiner wilden Musik am deutlichsten ausgeprägt erscheint, und die Welt der ewigen Ordnungen des Geistes und jener Schönheit, in der die Musik der „Zauberflöte" erklingt. Und beide Welten werden miteinander versöhnt. Durch alle Erfahrungen, die leidvollen, schmerzlichen und die begnadeten, belehrt, kommt schließlich Harry Haller, der Steppenwolf, zur Erkenntnis der Zusammenhänge und zur Selbsterkenntnis. Und Gelassenheit und Heiterkeit werden ihm zuteil. Aber Zufriedenheit und Frieden kommen niemals von ungefähr. Sie müssen immer wieder aufs neue erstritten werden. In der Erzählung „Narziß und Goldmund" läßt Hesse Narziß, den Mönch und Wissenden, deshalb zu dem Künstler Goldmund sagen: „Es gibt keinen Frieden, so wie du es meinst. Es gibt den Frieden, gewiß, aber nicht einen, der dauernd in uns wohnt und uns nicht mehr verläßt. Es gibt nur einen Frieden, der immer wieder mit unablässigen Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag neu erstritten werden muß . . . " Wie oft aber ist der Dichter einsam und ohne Gefolge in diesem Ringen! Einmal, in der Steppenwolfzeit, bricht es erbittert aus ihm heraus: Sagt, seid ihr alle so scheußlich allein, Oder muß nur ich auf der schönen Welt so einsam und wütend und traurig sein? Aber das sind vorübergehende Augenblicke des Zagens und Verzagen*. Immer wieder rafft er sich auf und beginnt aufs neue die Wanderschaft. Und er fragt und antwortet wie eineinhalb Jahrhunderte vor ihm der romantische Dichter Novalis: „ W o gehen wir denn hin? Immer nach Hause." Immer nach Hause, das heißt für Hesse: zu den seelischen Quellgründen des Menschen hin. Da die Seele sich in unendliche Weiten öffnet, so bedeutet es auch: ins Land der Märchen und der Wunder, ins Land der Jugend, quer durch Bäume und Zeiten, überall dahin, wo sich Geist, Kunst und Leben in Vielfalt und Einheit offenbaren. Es entsteht ein neues Buch: „Die Morgenlandfahrt." Es ist eine
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Fahrt durchs Land der Seele und der Sehnsucht; denn, so heißt es in dieser Erzählung, „unser Ziel war ja nicht nur das Morgenland, oder vielmehr: unser Morgenland war ja nicht nur ein Land und etwas Geographisches, sondern es war die Heimat und Jugend der Seele, es war das Dberall und Nirgends, war das Einswerden aller Zeiten."
Musik des Weltalls Längst, seit dem Frühjahr 1919 schon, lebt Hermann Hesse in dem stillen Tessiner Dörfchen Montagnola in der Schweiz. Den Zauber dieser Landschaft hat der Dichter im „Bilderbuch" und in dem Buche „ W a n d e r u n g " eingefangen, wo in Betrachtungen und Gedichten, aber auch in zarten Aquarellbildern — Hesse ist auch begnadeter Maler — vieles Gestalt geworden ist, was an Menschen, Pflanzen, Häusern, Weinbergen, Wegen, Mauern und Terrassen die bunte Farbigkeit dieser südlichen Landschaft ausmacht.
* Seit dem „Steppenwolf" sind Jahre vergangen. Immer noch stehen die Zeichen der Zeit auf Sturm. Drei Jahre noch, und der zweite Weltkrieg wird unter den Menschen wüten. Während draußen in den Waffenschmieden und Rüstungsfabriken, in Hüttenbetrieben, Walz- und Stahlwerken Panzer, Geschütze, Flugzeuge und kriegstechnische Feingeräte entstehen, lauscht Hermann Hesse im stillen Garten seines Hauses anderen Tönen, den drängenden Stimmen ewiger Harmonien. Vor eine neue Aufgabe weiß er sich gestellt: er will der aus den Fugen geratenen Welt ein Werk schenken, das beispielhaft sein soll durch den Ausgleich aller Gegensätze im geistig-seelischen Bereich. Vor seinem rauchenden Meiler verbringt der Dichter jetzt Stunden innerer Einkehr und Sammlung, Stunden der Betrachtung. Als Lehrer und Diener fühlt er sich, wenn er Holz und Kraut zu Asche verwandelt; sein Tun erscheint wie das Wirken der Zaubermeister der „Alchymie", der Alchimisten, die einst aus mannigfaltigen Stoffen einen neuen geläuterten Stoff höchster Veredlung magisch hervorgehen lassen wollten: 28
So vollzog Alchymie die Prozesse und Opfer des Läuterns Einst am Metall überm Feuer, erhitzte es, ließ es erkalten, Gab Chemikalien zu, wartete Neumond ab oder Vollmond, Und indes am Metall sich vollzog die göttliche Wandlung, Die es zum edelsten Gute, zum Stein der Weisen veredelt, Tat der fromme Adept im eigenen Herzen das selbe, Sublimierte und läuterte sich, vollzog die Prozesse Chemischer Wandlung in sich, meditierend, wachend und fastend, Bis am Ende der Übung, nach Tagen oder nach Wochen, Gleich dem Metalle im Tigel auch seine Seele entgiftet, Seine Sinne geläutert und er bereit war zur mystischen Einung. , Adept: in das Geheimnis Eingeweihter — sublimierte: verfeinerte; meditierend: nachdenkend, nachsinnend. In dieser Zeit der Versenkung, wie sie aus der Dichtung „Stunden im Garten" wiederklingt, versucht der Dichter, sich von aller Bitternis zu entgiften und eins zu werden mit den göttlichen Kräften der Schöpfung. In dieser Zeit webt er am feinsten Geflechte seiner Gedanken, baut er das große Romanwerk „Das Glasperlenspiel." Schreie und Lärm von draußen stören ihn jetzt nicht mehr. In seinem Innern verwandelt, verzaubert er alle Mißklänge zur Harmonie. Trommelwirbel und Fanfarenklang, Kommandopfiff und Schlachtgesang gehen unter in einer neuen Musik vollkommenster Geistigkeit. Es entstehen zunächst die Verse des „Orgelspiels", in denen die kommende Welt des „Glasperlenspiels" bereits vorgeahnt ist. Und der, der diese Orgel spielt, ist wieder der Dichter selbst: Und nun spielt der Organist, es lauschen Im Gewölb die Seelen hingegangener Frommer Meister, mit vom Bau umfangener, Den sie gründen halfen und errichten. (Denn derselbe Geist, der in den Fugen Und Toccaten atmet, hat einst die besessen, Die des Münsters Maße ausgemessen, Heiligenfiguren aus den Steinen schlugen. Und noch vor den Bau- und Steinmetz-Zeiten Lebten, dachten, litten viele Fromme, 29
Halfen Volk und Tempel zubereiten, Daß der Geist herab auf Erden komme.) Wille von Jahrhunderten gestaltet In der klaren Töneströme Rauschen Sieh, im Bau der Fugen und Sequenzen Wo der schöpferische Geist der Grenzen Zwischen Tun und Leiden, Zwischen Leib und Seele waltet. In den geistbeherrschten Takten dichten Tausend Menschenträume sich zu Ende, Träume, deren Ziel war: Gott zu werden, Träume, deren keiner je 'auf Erden Sich erfüllen darf, doch deren dringliche Einheit Stufe war, darauf das Menschenwesen Sich enthob aus Notdurft und Gemeinheit Nahe bis zum Göttlichen, bis zum Genesen. Niemand weiß, ob noch der alte Meister Drinnen spiele, ob die zarten leisen Toiigeflechte, die im Räume kreisen, Nur noch Spuk sind überbliebener Geister, Nachhall und Gespenst aus anderen Zeiten. Manchmal aber bleibt ein Mensch beim Dome Lauschend stehen, öffnet sacht die Pforte, Horcht entrückt dem fernen Silberstrome Der Musik, vernimmt aus Geistermunde Heiter-ernster Väterweisheit Worte, Geht davon mit klangberührtem Herzen, Sucht den Freund auf, gibt ihm flüsternd Kunde Vom Erlebnis der entrückten Stunde Dort im Dom beim Duft der Kerzen. Und so fließt im unterirdisch Dunkeln Ewig fort der heilige Strom, es funkeln Aus der Tiefe manchmal seine Töne: Fuge: mehrstimmiges Musikwerk, in dem das Thema nacheinander von allen Stimmen gebracht wird. — Toccata: Musikstück in freier Form. — Sequenz: lat. Kirchengesang in Stropheniorm.
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Wer sie hört, spürt ein Geheimnis walten, Sieht es fliehen, wünscht es festzuhalten, Brennt vor Heimweh. Denn er ahnt das Schöne. 1943, mitten im Kriege, erscheint in der Schweiz das große Werk „Das Glasperlenspiel". Drei Jahre darauf erhält Hermann Hesse den Nobel-Preis dafür. Mit diesem großen Bildungsroman schließt sich der Kreis von Hermann Hesses Lebensdramatik. Nun ist es ihm gelungen, die Pole des Lebens zueinander zu biegen, die Gegensätze zu vereinen, Leiden zu überwinden, Hirn und Herz, Hell und Dunkel zu versöhnen. Musik und Mathematik, Ton und Zahl, sind die beiden wirkenden Kräfte in dieser großen Dichtung. Tiefes, dunkles Gefühl und taghelle Geistigkeit werden miteinander verschmolzen. Die ganze Welt in ihren reinsten Schöpfungen des Geistes hat zu diesem Werke mit beigesteuert. Gedankengut des alten Chinas und Indiens, der alten Griechen und des Christentums, der Philosophen, Mathematiker und Musiker aller Jahrhunderte, ja Jahrtausende, ist in kunstvoller Harmonie darin vereint. Was aber ist das Glasperlenspiel selbst, was ist das für ein Spiel ? Es ist ein gleichnishaftes, ein geistiges Spiel unendlich vieler Möglichkeiten, einer Riesenorgel vergleichbar mit zahllosen Registern, ein Spiel, das immer wieder nur eines bezweckt: Gleichnis zusein für die Erhabenheit des Geistes. Hesse läßt „Weise und Dichter und Forscher und Künstler einmütig bauen am hunderttorigen Dom des Geistes". Und immer werden Meister und Schüler weiterbauen müssen, werden vielleicht verzagen, aber dann wieder zum Hammer greifen und Diener sein an dem großartigen Werk der Einheit des Geistes, des Seelenlebens, der Kunst. „Heilige Mitte der W e l t " nennt der Dichter diese Einheit, der alle am Bau Beteiligten zugeordnet sind. Darum stehen in dieser letzten großen Dichtung Hermann Hesses, deren Held bezeichnenderweise den Namen Josef Knecht — Diener des Geistes — trägt, die Verse: Musik des Weltalls und Musik der Meister Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören, Zu reiner Feier die verehrten Geister Begnadeter Zeiten zu beschwören. 31
Wir lassen vom Geheimnis uns erheben, Der magischen Formelschrift, in deren Bann Das Uferlose, Stürmende, das Leben Zu klaren Gleichnissen gerann. Sternbildern gleich ertönen sie kristallen, In ihrem Dienst ward unserm Leben Sinn, Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen, Als nach der heiligen Mitte hin.
* mit
Die bekanntesten Werke Hermann Hesses den Jahreszahlen ihrer erstmaligen Veröffentlichung
Romantische Lieder 1899 j Eine Stunde hinter Mitternacht 1899 Hermann Lauscher 1901 \ Peter Camenzind 1904 / Unterm Rad 1906 I Diesseits, Erzählungen 1907 / Nachbarn, Erzählungen 1908 Gertrud 1910 / Umwege, Erzählungen 1912 j Aus Indien, Aufzeichnungen von einer indischen Reise 1913 j Roßhalde 1914 j Knulp 1915 I Musik des Einsamen - Gedichte 1916 / Demian 1919 Märchen 1919 / Klingsors letzter Sommer 1920 / Wanderung 1920 Blick ins Chaos 1921 j Siddhartha 1922 j Kurgast 1924 / Bilderbuch 1926 j Die Nürnberger Reise 1927 / Der Steppenwolf 1927 Betrachtungen 1928 j Eine Bibliothek der Weltliteratur 1929 / Narziß und Goldmund 1930 / Weg nach Indien - Die vier Erzählungen: Siddhartha —• Kinderseele — Klein und Wagner — Klingsors 'letzter Sommer 1931 / Die Morgenlandfahrt 1932 j Fabulierbuch 1935 I Stunden im Garten 1936 j Gedenkblätter 1937 / Orgelspiel 1937 I Die Gedichte, Sammelband 1942 j Das Glasperlenspiel 1943 I Traumfährte 1945 / Der Europäer 1946 und noch viele andere Erzählungen, Betrachtungen und Erinnerungen bis in die Gegenwart. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bild auf der inneren Umschlagseite: Hermann Hesse, Ullstein-Bild — Bild Seite 2: Zeichnung von Gunder Böhmer „Hermann Hesse im Garten"
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(Dichtung)
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