Henker-Beichte
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 174 von Jason Dark, erschienen am 26.09.1995, Titelbild: Mónica Pasa...
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Henker-Beichte
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 174 von Jason Dark, erschienen am 26.09.1995, Titelbild: Mónica Pasamón
Auguste Cresson war der letzte Henker in einem afrikanischen Terror-Staat. Auf sein Konto gingen unzählige Hinrichtungen, an denen er reichlich verdient hatte. Kurz vor dem Zusammenbruch des Systems hatte er sich nach Paris absetzen können. Jahre später holte ihn die Vergangenheit ein. Aus Afrika kam der mörderische Rächer in der Gestalt und mit dem Gesicht eines längst Hingerichteten. Er wollte Cresson mit seiner eigenen Waffe köpfen. Der Henker konnte fliehen. Unterschlupf fand er bei den Templern. Dort legte er in meinem Beisein seine schreckliche Beichte ab...
Drei Uhr morgens! Selbst eine Stadt wie Paris mußte mal durchatmen, um für den neuen Tag wieder Kraft zu schöpfen, und so war es in der Millionenmetropole an der Seine ziemlich ruhig geworden, was sich aber in den nächsten Stunden rasch wieder ändern würde. Die nächtliche Ruhe breitete sich nicht allein in der Oberwelt aus, auch in der Unterwelt der Stadt herrschte nicht mehr diese Hektik. Die Bahnen fuhren seltener, und wer sich jetzt in den Schächten herumtrieb, gehörte entweder zu den Frühaufstehern oder zu denen, die die Nacht unten in den warmen Schächten verbracht hatten. Geisterhafte Züge rauschten durch die Tunnels, fuhren die Bahnsteige an und wirkten in dieser Leere wie Wesen aus Stahl und Glas, die aus der Zukunft gekommen waren, um zurück in die Vergangenheit zu fahren. In einem der Wagen saß Auguste Cresson! Er hockte zusammengesunken auf der Bank, hatte viel Platz und fühlte sich trotzdem nicht wohl, denn immer wieder hob er den Kopf und schaute sich um. Dabei zuckte er jedesmal zusammen, sein Gesicht verzog sich, und er wirkte sehr ängstlich. Sein Gesicht war schweißnaß. Er fuhr die Stationen ab, wäre gern an einer ausgestiegen und in seine Wohnung gegangen, doch er traute sich nicht mehr nach Hause. Der Fluch hatte ihn eingeholt. Der Ruch seiner Vergangenheit, die für ihn mit Blut und Tod geschrieben worden war. Jetzt war Cresson alt geworden, aber nicht zu alt, um sich schon mit dem Tod abfinden zu können. Er wollte leben! Achtundfünfzig war doch noch kein Alter. Im Spiegel schaute er allerdings wesentlich älter aus. Sein Gesicht schwamm darin. Die Züge blieben nicht klar, Sie verzerrten sich und nahmen plötzlich den Ausdruck einer anderen Person an. Die Haut dunkelte nach, wurde schwarzbraun, und seine Augen weiteten sich. Das Weiße war jetzt deutlicher zu sehen. Gleichzeitig erschien auf der Stirn die bunte Bemalung, und die Lippen nahmen an Dicke sowie an Breite zu. Auch die Nase wurde wulstiger, die Oberlippe drängte sich in die Höhe. Eine Zahnreihe war zu sehen. Sie schimmerte gelblichweiß. Nein, das war nicht er, das war ein anderes Gesicht, das sich im Spiegel abzeichnete. Eine Fratze, die Cresson hatte vergessen wollen, aber nicht vergessen konnte, da der Fluch stärker war und ihn selbst in seinem Heimatland verfolgte. Cresson stöhnte auf. Er hob die Arme an und preßte für einen Moment seine kräftigen Hände gegen das Gesicht. Sehr schnell sanken sie wieder nach unten, und so konnte er abermals in den Spiegel schauen. Die Fratze war verschwunden. Cresson sah wieder sein Gesicht. Alles war okay. Er brauchte keine Furcht mehr zu haben. Das andere Gesicht hatte er sich wohl nur eingebildet, glaubte er. Alles Quatsch! Ich mache
mir was vor, es gibt ihn nicht wirklich, es sind einzig und allein meine bösen Träume, die mich da verfolgen. Ich muß mich zusammenreißen und ruhig bleiben! Er wußte, wie die Dinge standen, und doch brachte er es nicht so fertig, wie er es sich vorgenommen hatte. Denn es gab nicht nur die Tage, es kamen auch die Nächte, und sie waren für ihn schlimm. In der trügerischen Ruhe breiteten sich die Bilder der Vergangenheit aus. Sie wurden immer klarer, beinahe schon brutal klar, so daß der Mann seine Schwierigkeiten hatte, damit zurechtzukommen. Er fröstelte. Er dachte plötzlich an sein Leben, während der Zug in eine Station nahe Montmartre einlief, aber nur einen Fahrgast entließ. Drei Leute stiegen in den ersten Wagen ein. Auguste Cresson war froh darüber, daß sie vorne eingestiegen waren, denn er wollte möglichst allein bleiben. In jedem Mitreisenden sah er einen potentiellen Feind. Er kannte die Stärke seiner Gegner zwar nicht genau, aber er wußte schon, daß sie mit allen Wassern und auch magischen Tricks gewaschen waren, um ihre Rache vollenden zu können. Dabei hatte er gehofft, ihr entgehen zu können, aber die blutigen Jahre in Afrika ließen sich nicht so ohne weiteres wegwischen. Sie waren für sein Leben prägend gewesen und würden es sogar noch bleiben. Der Zug war wieder angefahren und hineingeglitten in den nächsten Tunnel. Wieder erschienen vor den Fenstern die dunklen Schatten, und Cresson wollte nicht mehr hinschauen. Manchmal hatte er den Eindruck gehabt, als wären Lücken in die Schatten hineingerissen worden, in denen sich dann Gesichterzeigten. Die Gesichter der Toten, umrahmt von kleinen Blutseen, in denen sie lagen. Er fluchte. Er wischte über sein Gesicht. Er drehte seinen Körper weg vom Fenster, um in den leeren Mittelgang zu starren. Sein Herz schlug wummernd und wuchtig. Ihm war heiß und kalt zugleich, und eine Schicht aus Eis schien sich auf seine Knochen gelegt zu haben. Hinter seiner Stirn tuckerte es. Irgendwo schien ein kleiner Mann mit einem Hammer zu sitzen, der ihn durch Schläge malträtierte. Der Boden war schmutzig. Zeitungen, Dosen und anderes Zeug wurde umhergewirbelt, rollte mal in die eine Ecke, dann wieder in die andere, je nachdem, wie der Wagen schwankte. Der Schatten war plötzlich da, doch Cresson beschäftigte sich damit nicht, weil er ihn als normal ansah. Licht war gegen eine Stange gefallen, und ihr Schatten malte sich auf dem Boden ab. Nein, das konnte es nicht sein, dann nämlich hätte er den Schatten schon früher sehen müssen.
Er war neu! Cresson atmete schneller, als er den Schatten genauer betrachtete. Er sah den langen Stiel… Ja, genau, einen Stiel, der sogar eine leichte Biegung zeigte, die ihm bekannt vorkam. Plötzlich saß der einsame Mann noch starrer auf seinem Sitz. Er traute sich kaum, den Schatten weiter zu verfolgen, weil er ahnte, was da auf ihn zukam. Trotzdem blickte er hin. Er verfolgte ihn bis zum Ende und entdeckte dort den Wulst, der nach einer Seite hin wegstand und eine bestimmte Form aufwies, die ihm nicht unbekannt war. Bei allen Heiligen, das war kein normaler Wulst. Das war die Klinge eines Beils! Cresson war nahe daran zu schreien. Er wußte, was es bedeutete, denn dieser Abdruck auf dem Boden des Wagens war so verflucht endgültig, denn damit hatte ihn seine Vergangenheit exakt eingeholt. Der Schatten entsprach dem Aussehen der Waffe, die ihn jahrelang begleitet hatte und zu seinem beruflichen Werkzeug geworden war. Dem Beil des Henkers! *** In den folgenden Sekunden war Auguste Cresson nicht fähig, sich zu rühren. Er zuckte nicht mal, er starrte nur auf den Schatten des Beils und wartete darauf, daß dieser wieder verschwand. Er hoffte zudem auf eine Halluzination, wischte über seine Augen, aber als er wieder hinsah, war der Schatten geblieben. Nicht weg, nicht verschwunden! Eine gefährliche Drohung, die sich auf dem Boden abzeichnete und sich im schaukelnden Rhythmus des Wagens bewegte, ohne je wieder zu verschwinden. Er stöhnte auf. Sein Blick bewegte sich. Panik hatte sich darin festgesetzt. Er hoffte, so rasch wie möglich die nächste Station zu erreichen, denn dort wollte er unter allen Umständen raus. Noch rumpelte der Zug durch den Tunnel, noch blieb der Schatten des Beils, aber er verkürzte sich intervallweise, als wäre eine unsichtbare Hand dabei, ihn auszuradieren. Und dann war er weg. Urplötzlich verschwunden, ohne daß Cresson dafür eine Erklärung gehabt hätte. Zugleich rumpelten die Wagen in die nächste Station, wo sie langsamer wurden und ratternd anhielten. Für Cresson war dieser Stopp eine
Fügung des Schicksals. Wenn er es jetzt nicht schaffte, dann nie mehr, und deshalb mußte er so schnell wie möglich raus. Zischend öffneten sich die Türen. Cresson war der einzige, der mit einem langen Schritt auf den Bahnsteig trat, sich dort umschaute und auf der Stelle stehenblieb. Sein Blick war gehetzt. Er suchte den Schatten, der aber nicht zu sehen war. Andere Schatten ignorierte er, zum Beispiel die Wand, vor der drei junge Männer lagen, eingewickelt in mehrere Decken. Ein Hund bewachte sie und knurrte leise zwei arabisch aussehende Typen an, die vorsichtig an den Schlafenden vorbei schlichen. Auguste Cresson wischte über seine Stirn. Danach war die Handfläche so naß, daß die Schweißtropfen abperlten und zu Boden fielen. Keiner griff ihn an. In der Leere der frühen Morgenstunde kam er sich auf dem Bahnsteig verloren vor. Es war kalt und zugig. Das Frühjahr hielt sich auch mit einem Besuch in Paris zurück, und die Witterung schreckte sogar Touristen ab, die diese Stadt längst nicht mehr so stark bevölkerten, wie es in früheren Jahren gewesen war, wo die Sonne geschienen hatte. Cresson war es egal, ob Paris voll oder leer war. Für ihn zählte allein sein Schicksal, das den schwergewichtigen Mann auch äußerlich gezeichnet hatte, denn er ging stets nach vorn gebeugt, wie jemand, der auf seinem Kreuz die Last der Welt zu tragen hatte. Cresson wollte wissen, wo er ausgestiegen war. Auf dem Schild las er den Namen der Station. St. Denis. Dieser Stopp lag zwischen dem Ostbahnhof und der Seine, und seine Bude konnte er durchaus zu Fuß erreichen. Als er daran dachte, fing er an zu zittern. Seine Kehle trocknete aus. Der Schweiß drang stärker aus den Poren, und Cresson störte sich an dessen Geruch. Er zog seine alte Jacke fester um den Körper, als könnte diese ihn schützen. Das war wohl Illusion. Das alte Beil war scharf genug, um alles zu durchdringen. Er wußte es aus Erfahrung, denn es war jahrelang sein Begleiter gewesen. Es hatte kein Mitleid mit den Delinquenten gekannt, ebensowenig wie er selbst. Noch einmal schaute er sich um. Gefahr sah er nicht. Der Boden in seiner Nähe blieb schattenlos. Cresson schaute sicherheitshalber auch zur Decke, doch dort war das verfluchte Beil ebenfalls nicht. Sein Gesicht verzog sich. Jemand hatte ihm mal gesagt, daß er Ähnlichkeit hätte mit dem großen Mimen Jean Gabin, der leider viel zu früh verstorben war. Ob es dem jetzt besser ging als Cresson, darüber dachte der Mann nach. Gabin hatte es zumindest hinter sich, während Cressons Zukunft sehr problematisch werden würde.
Er war im zehnten Arrondissement ausgestiegen. Fragte ein Fremder einen Einheimischen nach dem Reiz dieser Gegend, würde ihn der Pariser auslachen oder nur die Schultern heben, denn mit touristischen Attraktionen war dieser Stadtteil nur dünn gesät. Nord- und Ostbahnhof, das war alles, was die Leute zu diesem Gebiet sagten. Dabei vergaßen sie zumeist eine der erlessensten Schönheiten von Paris, den Canal Saint-Martin, mit seinen Brücken und Schleusen sowie den alten Häusern. Profitgeier schreckten nicht davor zurück, die alte Kulisse zu zerstören. Sie rissen die schönen alten Häuser ab und setzten neue, größere hin. Aber es war noch genug Flair geblieben, auch wenn die Huren in der Rue Saint Denis weniger geworden waren. Cresson wohnte nicht weit von diesen Nachfolgerinnen der Irma la Douce entfernt, deren Probleme er kannte, da er sich oft genug mit ihnen unterhielt. Er würde sich zu Fuß auf den Heimweg machen und wie ein Dieb an den alten Fassaden entlangschleichen. Man kannte ihn hier im Viertel, man wußte, wie er hieß, und man nahm ihm ab, wenn er erzählte, daß er aus dem Südosten stammte und jetzt als Rentner lebte, der sich einiges zusammengespart hatte. Das war tatsächlich der Fall. Als Henker hatte er gut verdient und sein Geld praktisch all die Jahre anlegen können. Wenn er nicht zu aufwendig lebte, würde es bis zu seinem Lebensende reichen, wobei er darüber freudlos lachen mußte, denn sein Leben konnte schon in der nächsten Minute beendet sein. Dann erbte niemand sein Geld, und die Bank-Geier würden noch reicher werden. Mit müden Schritten bewegte er sich auf die Treppe zu. Kalte Luft drang ihm entgegen. Paris atmete aus und war voller Gerüche. Fremde Gewürzmischungen drangen in seine Nase. Es roch nach Knoblauch und auch so wie in Afrika. Deshalb fühlte er sich in diesem Viertel so wohl. Wie lange noch? Cresson stieg die Stufen hoch. An der Wand gegenüber standen zwei Huren und rauchten einen Joint. Sie schauten kurz nach unten, als sie die Gestalt sahen, doch dann erkannten sie den Mann. »Ach, du bist es, Auguste!« Cresson hob die Hand. Die Sprecherin, eine Frau mit blonder Perücke, grinste über den breitgeschminkten Mund. »Kannst du nicht ein paar Kunden herzaubern?« fragte sie. »Ich würde es gerne, Nadine, wenn ich es könnte. War ‘ne miese Nacht, wie?« »Beschissen.« Beide nickten. Cresson hob die Hand. »Dann bis später mal. Ich denke, wir werden uns noch sehen.«
Auguste Cresson war froh darüber, wenig später wieder die Oberwelt betreten zu haben. Der Himmel war finster. Es schimmerte kein Stern. Nur die Laternen boten der Finsternis Paroli. Der Kanal war zu riechen. Stehendes Wasser gab gerade bei tiefem Luftdruck einen fauligen Geruch ab, an den sich die Menschen in dieser Gegend allerdings gewöhnt hatten. Sie nahmen ihn kaum noch wahr. Die Nacht war zudem gnädig. Sie verdeckte die alten Fassaden und zeigte nicht, wie schlimm sie tatsächlich aussahen. In einem dieser Häuser lebte auch der ehemalige Henker. Er bewohnte eine kleine Bude im dritten Stock und hatte sich in einem Zimmer, in der Küche, noch eine Dusche einbauen lassen. Entsprechend eng war es seitdem in der >KücheMerde Legionär< traf er. Der war nie in der Legion gewesen, aber Jean hatte, ebenso wie er, lange in Afrika gelebt, und wenn die beiden sich trafen, tauschten sie Gedanken aus und sprachen von den alten Zeiten, die sie glorifizierten. Jean war über siebzig, aber noch nicht verbraucht, im Gegensatz zu seinen anderen Mitstreitern. Er lebte zusammen mit einer Frau, die an ihm einen Narren gefressen hatte. Sie war jünger als er, auch schon fünfzig, und er hatte sie aus Korsika mitgebracht. Jean hatte den Henker schon gesehen. Er wußte nicht, welchen Job Cresson in Afrika ausgeübt hatte. Er glaubte noch immer, daß Auguste der Leibwächter eines hohen Tieres gewesen war, und Cresson ließ ihn gern in dem Glauben. »Wie geht es dir, Auguste?« Er winkte ab und ließ sich neben Jean nieder. Dabei setzte er sich auf den Boden. »Wie immer.« »Mal so, mal so – oder?« »Oui.« »Bei mir ist es ähnlich.« »Und was macht deine Frau?« »Zaza? Ha, sie hat mich rausgeworfen. Wollte ihre Ruhe haben, hat sie mir gesagt.« »Du hast wenigstens eine.« Jeans Pergamentgesicht zerknitterte noch mehr, als er lächelte. »Kannst du auch haben, Auguste. Hol dir ein Weib! Du bist doch noch jung, mon ami. Ich kann mir denken, daß viele Weiber gerade Männer wie dich suchen. Das wirst du schaffen.« »Vielleicht will ich das nicht.«
Jean überlegte einen Moment und drückte den Schirm der flachen Mütze nach vorn, um die Augen gegen die Sonne zu schützen. »Kann sein, daß du recht hast. Aber wenn du noch älter wirst, brauchst du jemand. Das solltest du dir überlegen.« »Mal sehen.« Jean lachte. Er nahm einen Schluck Pastis pur, schüttelte sich und zog die Nase hoch. »Ja, ja, ich habe die Zukunft hinter mir, mon ami, was aber nicht heißt, daß ich mit geschlossenen Augen durch die Gegend laufe, wenn du verstehst.« »Noch nicht.« »Sie sind wieder unterwegs.« »Wer?« »Die Apachen natürlich«, erklärte Jean und gab seiner Stimme einen verächtlichen Klang. »Früher habe ich auch zu ihnen gehört, aber die heutigen sind nicht mehr meine Welt. Zu brutal und abgebrüht. Zu viele Drogen und Gewalt.« »Haben sie denn etwas getan?« »Nein, aber ich konnte in ihre Augen schauen. In ihnen habe ich gelesen, daß sie nur auf Opfer warten. Halte die Augen offen!« »Ich wohne hier im Viertel.« »Schon richtig, aber die drei stammen nicht aus unserer Gegend. Sie sind wohl aus dem Norden gekommen. Na ja, ich wollte es dir nur gesagt haben.« »Danke, Jean.« Auguste klopfte dem Angler auf die Schulter und erhob sich. »Ich wünsche dir noch einen guten Fang.« »Merci.« Auguste Cresson nahm seine Korbtasche und setzte seinen Weg fort. Immer am Ufer des Kanals entlang, vor den Bänken, die zum Teil besetzt waren. Zwei Pärchen knutschten herum und fühlten sich unbeobachtet. Hemmungen hatten sie wohl keine… C’est la vie – das ist Paris! Lächelnd ging er weiter. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Sie fand genug Lücken im Astwerk der noch zum Teil kahlen Bäume. Der Wind war sanft, als wollte er streicheln, und Auguste, der sich in Gedanken befand und darüber sinnierte, ob er sich eine Frau nehmen sollte oder nicht, zuckte plötzlich zusammen, als er das laute Gelächter hörte, in das sich einige Stimmen mischten. Er blieb stehen und schaute nach vorn. Jean, der Angler, hatte von den neuen Apachen gesprochen. Auch Cresson kannte sie, und jetzt sah er sie zwei Bänke weiter. Dort umstanden drei von ihnen eine Bank, wobei diese bestimmt nicht unbesetzt war. Nur konnte Cresson nicht erkennen, wer dort saß, da ihm die Körper der Apachen die Sicht nahmen.
Sie hatten ein Opfer gefunden! Auguste schoß das Blut in den Kopf. Er mußte sich jetzt entscheiden. Entweder ignorierte er die Typen, oder er ging hin und mischte sich ein. Auguste hatte seinen guten Tag. Er wollte nicht, daß dieser herrliche, späte Morgen durch ein böses Ereignis befleckt wurde. Und diese drei sahen ihm nicht eben aus, als gehörten sie zu den Preisboxern. Außerdem waren sie noch recht jung. Langsam ging Cresson näher. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Er konnte jetzt hören und auch sehen, daß es ein Opfer gab. Auf der Bank saß ein Mann, der seine Beine nach vorn gestreckt hatte. »He, Pfaffe, kannst du schwimmen?« »Bitte, laßt mich in Ruhe.« »Scheiße, wir wollen wissen, ob du schwimmen kannst?« »Nein!« Die drei bemalten Gestalten lachten wieder. Ihre langen Haare lagen seitlich auf den Schultern. Sie amüsierten sich über die Antwort des Pfarrers, und einer von ihnen sprang in die Höhe, wobei er seinen Zeigefinger nach vorn streckte und auf den Geistlichen deutete. »Wenn du nicht schwimmen kannst, werden wir dir es beibringen. Heute ist ein toller Tag, um durch den Kanal zu schwimmen. Du kannst auch paddeln wie ein Hund, wenn dir das lieber ist.« »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.« »Packt ihn!« befahl der Anführer. Darauf hatten die beiden anderen gewartet. Sie standen schon rechts und links des Opfers, schoben ihre Hände in die Achselhöhlen des Mannes und zerrten ihn brutal in die Höhe. Wenn jemand nicht schwimmen konnte, sah es für ihn nicht gut aus. Der Kanal wurde an beiden Seiten von Mauern eingerahmt. In gewissen Abständen gab es Leitern, über die man ans Ufer klettern konnte. Cresson war wütend auf die Halbstarken, die sich auf einen Wehrlosen gestürzt hatten. Er ging jetzt schneller, direkt auf die Gruppe zu. Wie würden sie reagieren, wenn er sich einmischte? Würden sie ihn ebenfalls ins Wasser werfen? Der dritte Apache drehte Cresson den Rücken zu. Er hatte nur Augen für seine Kumpane und den älteren Mann zwischen ihnen, der den Kopf schüttelte und sich auch anders zu wehren versuchte, aber gegen die Griffe der Jüngeren nicht die Spur einer Chance hatte. »Laßt ihn los!« Auguste Cresson hatte nicht sehr laut gesprochen, aber seine Stimme reichte aus, um zumindest bei dem Anführer Wirkung zu erzielen, denn der erstarrte zur Salzsäule, und aus seinem Mund drang kein einziges Wort. Dann drehte er sich um.
Auguste stand zwei Schritte von ihm entfernt. Er schaute in das mit roten und schwarzen Farben bemalte Gesicht des Apachen, der seine Waffe, eine Würgekette, offen am Gürtel trug. »Wer bist du denn?« »Der Sheriff!« Der Apache lachte los. Es hörte sich an, als wäre er im Stimmbruch. »He, Krieger!« rief er seinen Freunden zu. »Schaut mal her, wen ich hier habe!« Sie drehten sich um, ohne den alten Mann loszulassen. »Was ist denn?« »Er ist Sheriff, behauptet er.« »Wo hat er denn seinen Stern?« »Den brauche ich nicht!« erklärte Cresson. »Kann ein Sheriff auch schwimmen?« Der Anführer kicherte. »Können wir ja mal ausprobieren. Dann paddeln sie gemeinsam über den Kanal. Ein Pfaffe und ein Sheriff. Ist mal was Neues.« Er kicherte wieder. Und dann kicherte er nicht mehr, denn der Henker hatte ohne Vorwarnung zugeschlagen. Der Anführer kaute plötzlich auf seinen eigenen Zähnen. Er schmeckte das Blut, und seine Lippen platzten auf wie zwei Rosen. Auguste war ein Mensch, hinter dessen Schlägen viel Dampf steckte, schließlich hatte er jahrelang das schwere Beil geschwungen. Der Anführer wußte überhaupt nicht mehr, was überhaupt los war. Er hatte die Orientierung verloren. Er torkelte zurück, anstatt nach vorn zu laufen. Hinter ihm befand sich der Rand. Und darunter das Wasser. Die Warnschreie seiner Kumpane ertönten, als der bemalte Anführer einen Fehltritt machte und in den Kanal klatschte. Einer der beiden Indianer wollte die Schmach nicht auf sich sitzen lassen, ließ den älteren Mann los und rannte auf Cresson zu. Dabei hatte er ein Stilett gezogen. Die Klinge funkelte im Sonnenlicht. Das sah Auguste, als er sich bückte und in den Korb griff. Er riß die Rotweinflasche hervor und schleuderte sie noch aus seiner gebückten Haltung gegen den anrennenden Apachen. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch Können. Jedenfalls erwischte die volle Rotweinflasche genau den Schädel des Mannes. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls hörte Auguste, und er sah auch zu, wie der Typ fiel, als wären ihm die Beine unter dem Körper weggerissen worden. Er landete auf dem Rücken, stieß sich dabei hart den Hinterkopf und verabschiedete sich für eine Weile. Der dritte Apache kriegte das große Hosenflattern. Er ließ den Pfarrer los und rannte weg, als wäre der Teufel mit einer Horde Dämonen hinter ihm her.
Cresson schaute auf die Rotweinlache und die Scherben, die sich auf dem Boden verteilten. Dann nahm er seine Korbtasche wieder hoch und trat auf den Fremden zu. Es war ein weißhaariger Mann mit einem sehr klaren Blick in den Augen. »Es hat wohl sein müssen«, sagte Cresson. »Kommen Sie, ich bringe Sie von hier weg.« »Aber sie werden doch überleben?« »Das denke ich schon. Sie sind wie Raubtiere, die im Dschungel der Großstadt ihre Nahrung finden. Sie haben es auch gelernt, ihre Wunden zu lecken. Im Prinzip sind sie mir ja egal, nur hasse ich ungleiche Verhältnisse.« »Merci, Monsieur.« »Keine Ursache. Kommen Sie.« Cresson kannte sich aus. Er führte den Geistlichen, so sah er seiner Kleidung nach zumindest aus, durch eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern der gegenüberliegenden Seite auf einen Hinterhof, in dem Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, und dann durch eine weitere Gasse wieder auf eine Straße, in der das Leben pulsierte. »Darf ich Sie denn einladen, Monsieur? Ich bin Abbé Bloch.« »Oh – ein Pfarrer.« »So ähnlich. Stört Sie das?« »Kaum, sonst hätte ich Ihnen nicht beigestanden.« »Apachen?« Bloch krauste die Stirn. »So werden die Typen genannt.« »Gab es die nicht schon mal in Paris?« »Ja, das ist aber lange her.« »Ich war noch ein Kind«, erklärte der Abbé. Die beiden so unterschiedlichen Männer betraten ein kleines Bistro, in dem Auguste bekannt war und auch mit Vornamen begrüßt wurde. Sie setzten sich an einen freien Tisch, wo der Abbé meinte, daß er zwar jetzt den Vornamen wüßte, aber nicht den Nachnamen. »Ich heiße Auguste Cresson.« »Aha, dann habe ich wenigstens den Namen meines Retters erfahren.« Bloch hob die Schultern. »Es ist wohl meine Schuld, daß ich in diese Lage hineingeraten bin. Ich habe mich verlaufen. Ich war in Gedanken. So ist das eben.« Der Patron stand am Tisch, und seine dunklen Augen stellten stumme Fragen. »Was nehmen Sie, Auguste?« »Einen Roten.« »Für mich auch, bitte.« »Gut, zwei Rote.« Der Patron verschwand und gab einer Kellnerin die Anweisung, beide Männer zu bedienen.
Der Wein stand schnell vor ihnen. Sie prosteten sich zu, und der Abbé bedankte sich noch einmal für seine Rettung, was Auguste peinlich war. Er bekam sogar einen roten Kopf. »Hier mag man wohl keine Priester«, sägte Bloch, als er das Glas auf den runden Tisch stellte. »Wie kommen Sie darauf?« »Nun ja, Sie haben mit unserem Beruf oder unserer Berufung auch nicht eben viel am Hut, wie ich Ihren Worten vorhin entnehmen konnte.« »Das kommt Ihnen nur so vor.« »Wirklich?« Bloch war skeptisch. Auguste strich über sein Gesicht. »Ich bin kein Kirchgänger. Ich habe auch mein Leben gelebt und nicht eben nach den Gesetzen der Kirche.« Er grinste, als er an seine Vergangenheit dachte. »Die eine Tat hat gereicht.« »Wie meinen Sie das?« »Sie gleicht vieles aus.« Cresson wußte nicht, ob der Mann es ihm gegenüber ehrlich meinte. Er schaute in dessen Gesicht und entdeckte weder darin noch in den Augen irgendwelchen Argwohn. Dann dachte er wieder an seine Vergangenheit und schüttelte den Kopf. »Für mich nicht.« »War es so schlimm?« Auguste hob sein Glas an und schaute in das Gesicht des Abbés. »Oui, sehr schlimm.« »Möchten Sie darüber sprechen?« Cresson leerte das Glas und schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht, Abbe.« »Das akzeptiere ich. Es ist Ihre Sache. Aber ich möchte Ihnen trotzdem etwas sagen.« »Bitte.« »Wir kennen uns noch nicht lange. Wir sind sicherlich unterschiedlich, aber trotz aller Differenzen stehe ich in Ihrer Schuld, und das werde ich nicht vergessen.« »Das ist Quatsch.« »Für mich nicht.« »Wie Sie wollen.« »Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, daß Sie sich vertrauensvoll an mich wenden, wenn Sie einmal Hilfe brauchen. Ich lebe zwar nicht in Paris, meine Heimat ist Alet-les-Bains, aber…« »Das ist im Süden, nicht?« »Richtig.« »Was machen Sie dort? Leiten Sie eine Gemeinde?« »So ungefähr. Aber ich schweife ab. Sollten Sie Sorgen und Schwierigkeiten haben, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen. Und denken
Sie daran, daß seelische Sorgen oft stärker sein können als körperliche.« Cresson lächelte. »Das muß ich mir erst mal durch den Kopf gehen lassen, Abbe.« »Tun Sie das.« »Ich nehme noch einen Wein.« »Gern, aber ich nicht.« Während Auguste bestellte, holte der Abbé einen Zettel aus seiner Innentasche und einen Kugelschreiber. In gestochen scharfen Buchstaben schrieb er eine Adresse auf und eine Telefonnummer. Cresson bekam den Zettel gereicht, warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte ihn weg. »Verlieren Sie ihn nicht, Auguste.« »Keine Sorge.« Als der Wein serviert wurde, zahlte der Abbé. »Sie wollen schon gehen?« »Ich muß weiter, Auguste. Ich bin hier in Paris mit einem Bruder verabredet.« Er erhob sich, und auch Cresson stand auf. Bloch lehnte eine weitere Begleitung ab, und beide Männer reichten sich die Hände. Bloch lächelte. »Auf ein gesundes Wiedersehen, Auguste.« »Mal sehen.« »Bestimmt.« »Was macht Sie so sicher?« »Wissen Sie«, sagte der Abbé lächelnd. »Manche Dinge hat man eben im Gefühl.« »Wenn Sie das sagen.« »Bestimmt.« An der Tür drehte sich Bloch noch um und winkte. Dann war er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Auguste blieb noch sitzen. Er nuckelte gedankenverloren an seinem Wein und schrak zusammen, als plötzlich der Patron neben ihm stand. »Das war ja ein komischer Kauz, Auguste. Ich wußte gar nicht, daß du Priester als Bekannte hast.« »Wußte ich vor zwei Stunden auch noch nicht.« »Und?« »Er ist in Ordnung.« »Kommt aber nicht aus dieser Gegend.« »Nein, aus dem Süden.« »Das ist weit weg.« Der Patron nahm wieder seinen Platz hinter der Theke ein. Auguste aber dachte über den Mann nach. Er holte sogar den Zettel aus der Tasche, las noch einmal den Namen, die Anschrift und auch die Telefonnummer. Dann lächelte er, steckte den Zettel wieder weg und nahm zugleich den Geruch der frischen Baguettes wahr. Er bekam Hunger und war der
erste, der eines bestellte. Dazu trank er seinen dritten Roten, denn er war der Meinung, daß er sich diesen Schluck verdient hatte. Außerdem war eine Flasche zerbrochen. Essen und Trinken konnte an manchen Tagen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehören. So war es auch heute. Nur wunderte er sich darüber, daß ihm der Abbé nicht mehr aus dem Kopf ging. Einen derartigen Eindruck hatte noch nie ein Fremder bei ihm hinterlassen. Selbst in den blutigen, alten Zeiten nicht. Er hob sein Glas an und sagte, bevor er einen weiteren Schluck nahm: »Sante, Abbé…« *** Der Henker wachte auf wie aus einem tiefen Traum. Die Erinnerungen waren schon sehr deutlich gewesen. Als Filmbilder, die immer wieder gestoppt wurden, waren sie vor seinem geistigen Auge erschienen, und er wunderte sich darüber, wie stark er sich an die Einzelheiten doch hatte erinnern können. Zwischen den Fingern seiner rechten Hand hörte er das Knistern des Papiers. Ihm war nicht aufgefallen, daß er den Zettel regelrecht zerdrückt hatte. Cresson strich ihn wieder glatt, damit er jeden Buchstaben und jede Zahl lesen konnte. Der Abbé hatte ihm Hilfe angeboten, für den Fall, daß er mal in Schwierigkeiten steckte. Das war jetzt der Fall. Nur fragte er sich, ob er den Mann damit überhaupt belästigen konnte. Schließlich ging es um Dinge, die unnatürlich waren, sogar übernatürlich. Er hatte einen Spuk erlebt, eine Halluzination gehabt… Nein, das nicht, denn wie auf Kommando meldeten sich wieder die Schmerzen an seinem rechten Ohr. Also keine Halluzination. Alles war echt gewesen. Und wenn das so stimmte, dann steckte er auch in echten Schwierigkeiten. Sein Blick fiel auf das schwarze, altmodische Telefon mit der Wählscheibe. Sollte er anrufen, sollte er es nicht tun? Lief er nicht Gefahr, sich lächerlich zu machen? Er wußte es nicht. Die Nervosität nahm zu, er bekam feuchte Hände, wieder die trockene Kehle. Er starrte die Zahlenreihe an, bis sie vor seinen Augen verschwamm. Er fühlte sich elend – und auch wieder allein. Jean, der Angler, kam ihm in den Sinn. Er hatte ihm geraten, sich eine Frau zu suchen. Das hatte er bisher nicht getan. Ein Fehler? Möglich. Unter Umständen hätte sie ihm raten können. Anrufen oder nicht?
Cressons Gedanken drehten sich um seine Vergangenheit. Wenn er anrief, würde er sich offenbaren und all seine furchtbaren Taten zugeben müssen. Eine schlimme Vorstellung, die nur noch von der des Todes übertroffen wurde. Vernichtet durch das Henkersbeil. Ihn schauderte, wenn er daran dachte. Das Beil war da. Das Beil gab es noch. Er wußte nicht, wieso und weshalb. Es war nicht nur ein Schatten, hervorgehuscht aus der Erinnerung, nein, das Beil war etwas anderes. Es war ein Rächer. Es war aus diesem verdammten Land herausgekommen, und er hatte dafür keine Erklärung. Der Abbé? Es würde ein langes Gespräch werden. Doch die Beichte, in der er alle Einzelheiten preisgab, die würde später folgen. Und er hoffte jetzt schon, daß man ihm verzieh. Mit zitternden Fingern wählte er die Nummer, wobei er sich jede Zahl laut vorsagte, wie ein kleines Kind. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich auch so. Hilflos… *** Der Abbé hatte an diesem Tag etwas geruht, als an seine Zimmertür geklopft wurde. Auf sein schwaches »Herein« betrat einer der jüngeren Templer-Brüder den Raum. Er trug die Tracht der Templer mit dem roten Kreuz auf dem weißen Grund. Bloch richtete sich auf. »Was gibt es?« »Telefon.« »Wer ruft an?« »Jemand aus Paris.« »Einer unserer Vertrauten oder Brüder?« »Nein, jemand, dessen Namen ich nicht kenne, der aber behauptet, dich zu kennen.« »Wie heißt er?« »Auguste Cresson. Er fügte noch hinzu, daß ein Gespräch sehr wichtig für ihn wäre.« Der Abbé dachte nach. Er murmelte den Namen mehrmals vor sich hin, und er mußte zugeben, daß er ihm nicht fremd war. Momentan allerdings konnte er sich nicht erinnern, woher er den Namen kannte. »Der Mann hat gesagt, es schien ihm sogar peinlich zu sein, daß er dir vor gut einem Jahr in Paris einmal das Leben gerettet hat…«
Plötzlich war der Abbé hellwach. Er fiel dem anderen ins Wort. »Natürlich, Auguste Cresson, jetzt weiß ich es wieder. Himmel, wie konnte ich das nur vergessen!« Der Bote lächelte, reichte dem Abbé das tragbare Telefon und zog sich zurück. »Auguste?« »Sie erinnern sich noch?« »Natürlich.« »Das ist allerhand.« Cresson schwieg, weil er einfach zu überrascht gewesen war. »Was kann ich für Sie tun, Auguste?« »Haben Sie mir nicht mal gesagt, daß ich mich an Sie wenden kann, wenn ich Hilfe brauche?« »Das habe ich, und das habe ich auch nicht vergessen.« Er hörte, wie der andere Mann aufstöhnte. »Wunderbar, es ist schon der erste Schritt. Und ich brauche Hilfe, das können Sie mir glauben.« »Sprechen Sie.« »Es wird aber ein langes Gespräch werden.« Bloch lachte leise. »Für andere Menschen sollte man sich immer Zeit nehmen.« »Gut, dann werde ich mal beginnen…« Es wurde ein langes Gespräch, und das Gesicht des Abbés nahm im Laufe der Erzählung immer härtere Züge an. Er glaubte dem Mann, denn Cresson berichtete mit klaren Worten, und er war kein überdrehter Psychopath, die redeten anders. Er sprach auch von einer Verletzung am Ohr, die er sich bestimmt nicht selbst beigebracht hatte. »Lachen Sie mich nicht aus, Abbe!« »Ich lache Sie nicht aus.« »Danke. Und was soll ich jetzt tun? Ich sitze hier in Paris. Ich habe Angst, denn ich kenne hier niemanden, der mir in dieser Angelegenheit zur Seite stehen könnte. Das begreifen Sie doch.« »Selbstverständlich.« »Gibt es denn eine Chance für mich?« »Ja.« »Und welche?« »Sie kommen her!« Cresson schwieg, denn mit diesem Vorschlag hatte er kaum gerechnet, ihn sich höchstens gewünscht. Er mußte sich erst den Kloß aus der Kehle räuspern, bevor er wieder sprechen konnte. »Sie haben keinen Witz gemacht, Abbe?« »Auf keinen Fall, Auguste. Ich spüre, daß Sie in Schwierigkeiten stecken, und ich weiß selbst, daß es gewisse Dinge gibt, die wir uns kaum erklären können, die aber existieren. Das Böse lauert überall, und
immer wieder erleben wir, daß es zuschlägt. Es wird sehr wichtig sein, daß Sie zu uns kommen.« »Dann werde ich bis Toulouse fliegen.« »Das ist gut.« »Morgen bin ich dann bei Ihnen.« »Nehmen Sie sich einen Leihwagen und geben Sie acht, bitte. Vor allen Dingen in der Nacht.« »Ich werde mich bemühen und mir auch ein Hotelzimmer nehmen.« »Das wird vielleicht am besten sein. Gott segne Sie, Auguste.« »Danke.« Damit war das Gespräch beendet, und ein sehr nachdenklicher Abbé Bloch blieb auf der Kante seiner Liege sitzen. Er hatte die Stirn gerunzelt und hing bestimmten Gedanken nach. Er überlegte, ob der Fall so schwerwiegend war, eine weitere Person mit einzubeziehen. Dieser Jemand lebte nicht in Frankreich, sondern in London. Er gehörte zu den besten Freunden des Abbés. Mit Tatsachen konnte Bloch noch nicht aufwarten, doch er hatte ein gewisses Gespür und ging davon aus, daß der Anruf aus Paris eine Lawine ins Rollen gebracht hatte. Bevor die alles verschüttete, wollte er Gegenmaßnahmen ergreifen, und er wählte deshalb eine bestimmte Nummer in London, wie er es schon öfter getan hatte… *** Suko hatte mich zwar nicht gerade für verrückt gehalten, war allerdings auch nicht begeistert gewesen, als ich ihn von meiner bevorstehenden Reise in Richtung Frankreich informierte und ihm auch den Grund nannte. »Glaubst du dem Abbe?« wollte er wissen. »Ja.« »Warum?« »Ich weiß es nicht.« »Mal wieder das Gefühl?« »So ähnlich.« »Ihr habt aber beide nichts Konkretes in der Hand. Ein Mann, der von einem Beil verfolgt wird, das aus dem Nichts entsteht… Ist das nicht zu weit hergeholt?« Ich schaute meinen Freund an und verdrehte die Augen. »Suko, ich weiß nicht, was du hast. Erinnere dich daran, wie oft wir das schon gedacht haben, dann haben sich die Dinge plötzlich zu einem Wunderwerk des Grauens entwickelt. Der Abbé hat mich gerufen, und er hat es sicherlich nicht grundlos getan, wie ich ihn kenne.« »Das weiß ich auch. Aber diesmal hat er nichts in den Händen gehabt. Er ging nur seinem…«
»Schon gut, schon gut, Suko, du schaffst es nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Und wenn wirklich nichts ist, dann habe ich zumindest einem Freund guten Tag gesagt und werde im Refugium der TemplerBrüder etwas Ruhe haben.« »Stinkt dir London?« »Hin und wieder.« »Mal hören, was Glenda und Jane dazu sagen.« »Du brauchst es ihnen ja nicht unbedingt unter die Nase zu reiben.« »Das muß ich mir noch überlegen.« Auf jeden Fall war ich von London nach Paris geflogen und wartete nun auf die Maschine nach Toulouse, zusammen mit anderen Passagieren hielt ich mich im Warteraum auf. Bis zum Abflug hatte ich noch mehr als eine halbe Stunde Zeit und hatte es mir bequem gemacht. Mit großem Gepäck war ich nicht geflogen. Neben mir stand eine große Aktentasche, die neben den Toilettenartikeln noch genügend Platz für ein Hemd und eine Ersatzhose bot. Die Tasche ging als Bordgepäck durch. So erübrigte sich für mich ein langes Warten am Gepäckband. Ich nahm mir die Zeit, die eintretenden Fluggäste zu beobachten und hing mit meinen Gedanken dem Gespräch nach, das ich mit dem Abbé geführt hatte. Ich wußte im Prinzip, um was es ging. Der im Mittelpunkt stehende Mann hieß Auguste Cresson. Er war mir auch von meinem Freund Bloch beschrieben worden. Viele Maschinen flogen nicht gerade nach Toulouse, so rechnete ich damit, daß wir uns möglicherweise in derselben Maschine befanden. Das wäre prima gewesen, denn von meiner Existenz ahnte Cresson natürlich nichts. Ich behielt den Eingang im Auge, aber bisher war noch niemand eingetroffen, der dem großen Mimen Jean Gabin ähnelte. Die meisten Passagiere zählte ich vom Outfit her zu den Geschäftsreisenden. Nahe Toulouse lag das Zentrum der europäischen Luftfahrtindustrie, und dorthin >pilgerten< viele Firmenrepräsentanten. Ich streckte die Beine aus. Einen Kaffee hatte ich schon getrunken, wollte keinen zweiten und entspannte mich. Ich freute mich auf den Abbé. Er, meine Freunde und ich, wir waren ein Team, das zahlreiche Gefahren zusammengeschweißt hatte. Außerdem stand bei ihm noch der Knochensessel. Ihn wollte ich auch gern wiedersehen. Ich hoffte noch immer darauf, dank seiner Hilfe eines Tages die Nebelinsel Avalon zu erreichen, wo ich dann endlich wieder Nadine Berger traf, die dort ihr Glück gefunden hatte. Das war Zukunftsmusik, ich mußte mich mehr mit der Gegenwart beschäftigen, und die holte mich plötzlich ein, als ich den Mann mit der abgeschabten Reisetasche in den Warteraum eintreten sah. Das mußte Auguste Cresson sein!
Dieser Mann bewegte sich sehr unsicher. Er kam mir beinahe vor wie jemand, der zum erstenmal flog und dabei Furcht vor seiner Reise hatte. Er ging noch nicht weiter, blieb stehen, hielt seine Tasche dabei krampfhaft fest und schaute sich um. Wahrscheinlich suchte er nach irgendwelchen Verfolgern, die nicht zu entdecken waren. Ich folgte seinem Blick, ohne daß es ihm auffiel. Die meisten Passagiere waren männlich, Kinder befanden sich nicht auf dem Flug. Ein junger Neger fiel mir auf. Er trug eine Brille, war elegant gekleidet und strich hin und wieder über die beiden Revers seines dunkelblauen Anzugs, als hätte er Angst davor, daß ihn die Zeitung, die er las, beschmutzte. Cresson stand noch immer an seinem Platz und knetete mit der linken Hand seine Gesichtshaut. Endlich raffte er sich auf, tiefer in den Warteraum hineinzugehen, war sich aber noch unsicher, wo er seinen Platz einnehmen sollte. Schließlich kam er auf die Reihe zu, in der ich saß, aber er setzte sich nicht direkt neben mich. Zwischen ihm und mir blieben drei Sitze frei. Die Tasche klemmte er zwischen die Beine und schaute stur geradeaus. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn anzusprechen. Er schaute nach links und sah mein Lächeln und mein knappes Nicken. Sofort blickte er wieder nach vorn. Dann suchte er in seinen Taschen, fand einen Zettel, schaute darauf, als wollte er sich das, was dort geschrieben stand, einprägen. Er hatte den Zettel kaum weggesteckt, als wir die weibliche Stimme hörten, die uns aufforderte, die Flugkarten bereit zu halten. Gelassen erhoben sich die Passagiere von ihren Plätzen und bewegten sich auf den Ausgang mit der Kontrolle zu. Eine junge Frau stand dort, das Lächeln wirkte wie eingefroren. Auch der Mann, den ich als Auguste Cresson ansah, war aufgestanden. Ich sorgte dafür, daß ich in seine Nähe geriet, aber nicht so dicht an ihn herankam, daß es auffiel. Ich blieb hinter ihm, zwischen ihm und mir ging eine Frau im gelben Kostüm. Bis auf Cresson hielten alle anderen Passagiere die Tickets in den Händen. Er fummelte in den Taschen seiner hellgrauen Windjacke herum. Ich hörte sein heftiges Atmen. Er war nervös. Die Kontrolleurin zeigte sich geduldig, und Cresson atmete auf, als er sein Ticket endlich gefunden hatte. Er konnte passieren, vor mir ging die Frau her, die auf dem Weg zum Bus Cresson überholte, so daß ich wieder direkt hinter ihm war. Ein steifer Wind fegte über das Rollfeld und zupfte auch an meinen Haaren. Hinter uns stiegen noch zwei Passagiere in den Bus, der sofort abfuhr. Die Maschine würde nicht voll werden. So konnte ich die Chance bekommen, einen Platz zu tauschen und mich in die Nähe des Mannes
zu setzen, vorausgesetzt, das Schicksal hatte uns nicht schon > sitzmäßig < zusammengeführt. Cresson hielt sich an einer Haltestange fest, den Bügel der Tasche in der Hand. Ich hatte mich gesetzt und ließ den Mann nicht aus den Augen. Er schaute ins Leere oder wie jemand, der voll und ganz mit seinen eigenen Problemen beschäftigt ist. Eine Viertelstunde später hatten wir längst den Bus verlassen und befanden uns in der Maschine. Die Plätze waren schnell gefunden. Ich saß am Fenster, und Cresson hatte seinen Platz auf der anderen Gangseite eingenommen. Seine Tasche hatte er verstaut, sich angeschnallt und hockte irgendwie gottergeben in seinem Sitz, den Blick auf seine Knie gerichtet. Sein Platz befand sich schräg vor mir. Ich konnte ihn im Auge behalten, wenn ich mich zum Gang hin umsetzte. Keiner der Fluggäste interessierte sich für den anderen. Die meisten Passagiere lasen und ließen sich auch nicht stören, als der Clipper anrollte. Auguste Cresson veränderte seine Haltung nicht. Die Maschine bekam Fahrt, wurde noch schneller und hob dann ab. Steil stieg sie dem blauen Himmel entgegen, wo sie in eine Kurve flog und südlichen Kurs nahm. Der Flug dauerte etwa eine gute Stunde, aber auch in dieser Zeit konnte viel passieren. Ich wunderte mich selbst über diese Gedanken, wartete zunächst ab und schnallte mich los, als wir die Flughöhe erreicht hatten. Auf diesen kurzen Strecken wurde nur ein kleiner Imbiß gereicht. Eine dunkelhäutige Stewardeß mit Mandelaugen schob den Wagen durch den Mittelgang, war zu jedem freundlich, auch zu Cresson, der regelrecht zusammenschrak, als er sich angesprochen fühlte. »Nein, ich möchte nichts.« »Wie Sie wünschen, Monsieur.« Wenig später war ich an der Reihe und entschied mich für Gebäck und Eis. Bei dem Wetter konnte ein Flug nur ruhig verlaufen, und so war es dann auch. Es gab keine Turbulenzen, doch drinnen sollte bald ganz schön was los sein. Dafür war Cresson verantwortlich. Es fing relativ harmlos an. Da es in seiner Umgebung ziemlich ruhig war, hörte ich sein schweres Atmen. Ich schaute zu meinem >Schützling< hin. Cresson bewegte sich ziemlich unruhig. Er ruckte auf seinem Sitz von rechts nach links, schaute mal zur Decke, dann zum Fenster hin und in den Gang, und er machte alles in allem den Eindruck eines Menschen, der schon unter Druck stand oder unter Flugangst litt. Letzteres konnte ich mir bei ihm nicht vorstellen, es schien der Druck zu sein. Plötzlich stand er auf. Er war förmlich in die Höhe geschossen, als hätte jemand mit einer Nadel in seinen Allerwertesten gepiekt. Er drehte sich um. Ich sah den
Schweiß auf seinem Gesicht, den geöffneten Mund, aus dem nur ein Keuchen drang. Der Stewardeß war nichts aufgefallen, sie hatte sich hinter den Vorhang verzogen, aber Cresson senkte den Kopf und starrte mich mit einem irren Blick an. »Was haben Sie?« fragte ich. Er beugte sich vor und umklammerte mit einer Hand den oberen Rand eines Sitzes. »Er ist da!« Sein Verhalten war den anderen Passagieren nicht verborgen geblieben. Einige von ihnen hatten ihre Sitzposition verändert und schauten in die neue Richtung. »Wer ist da?« fragte ich gerade so laut, daß mich der Mann verstehen konnte. »Der Rächer!« »Wo?« »Weiß nicht!« Er hatte wieder geantwortet, dann zuckte er vor mir zurück. »Verdammt, was sage ich da? Was spreche ich überhaupt mit Ihnen, einem Fremden?« »Weil es gut für Sie ist, Monsieur Cresson!« Die Antwort hatte gesessen. Als er seinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörte, zuckte er zusammen, als wäre er mit einer Peitsche geschlagen worden. Ich wußte, was er fragen wollte, aber er bewegte zunächst nur seinen Mund. Dann klang es aus ihm hervor. »Sie… Sie… kennen meinen Namen, Monsieur?« »Sicher.« »Wieso?« »Wollen Sie sich nicht erst mal setzen?« Ich erhob mich und rückte einen Platz weiter, wieder hin zum Fenster, damit der Mann neben mir sitzen konnte. Noch zögerte er. Er war sich unschlüssig. Sein Blick zeigte die reine Panik. Er mußte etwas gesehen und gespürt haben, was mir verborgen geblieben war. Ich wollte es ihm erleichtern und erklärte ihm, daß wir einen gemeinsamen Bekannten hätten, zu dem ich ebenfalls unterwegs war. »Wieso?« »Abbe Bloch!« Cresson schnaufte. Dann blickte er sich um, als wollte er sichergehen, daß mich auch niemand gehört hatte. Er beugte den Oberkörper nach vorn und machte zwei tappende Schritte. »Hören Sie, Monsieur…« »Sinclair, John Sinclair.« »Kein Franzose?« »Engländer, aber bitte, nehmen Sie doch Platz. Der Abbé hat mich Ihretwegen alarmiert.«
Das mußte er erst mal verkraften. Wie eine Schlange wand er sich auf den freien Sitz zu. Er stand unter Strom. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Als er neben mir saß, preßte er die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« erkundigte ich mich. »Nein.« »Was ist der Grund für Ihr ungewöhnliches Verhalten?« »Sie haben gut reden. Mein Verhalten ist gar nicht so ungewöhnlich, denn er ist noch immer da.« »Von wem reden Sie?« »Ich meine den Feind!« »Den Rächer?« »Ja.« »Den haben Sie gesehen?« Zuerst schluckte er, dann sah ich ihn heftig nicken. »Der Feind ist hier. Ich kann ihn spüren, aber nicht sehen. Ich weiß es nicht. Er kann sich hinter jedem Gesicht verbergen, auch hinter dem Ihrigen Monsieur Sinclair.« Er drückte sich zur Seite, als wollte er bewußt von mir Abstand gewinnen. »Nein, nein, Sie brauchen keine Sorgen zu haben.« Ich holte meinen Ausweis hervor und ließ ihn lesen. »Sie sind Polizist, nicht?« »Scotland Yard.« Cresson schien beruhigt zu sein. »Und der Abbé hat Sie tatsächlich informiert. Das alles wegen mir?« »So ist es.« »Mein Gott.« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben. Was hat er Ihnen denn alles gesagt?« »Nicht mehr als Sie ihm, aber Ihre Worte müssen bei ihm eingeschlagen haben wie eine Bombe.« »Ja, kann sein, ich habe mich nämlich auch schon gewundert, daß er mich nicht auslachte.« Er strich über seine Stirn. »Und Sie glauben mir und ihm?« »Sonst säße ich nicht hier.« Cresson drehte den Kopf. Starr blickte er in mein Gesicht. »Ich kann es kaum fassen«, flüsterte er. »Eigentlich müßte ich mich besser fühlen, aber ich tue es nicht. Ich habe immer das Gefühl, als würde mich die Klinge des Beils berühren.« »Hat es Sie verletzt?« »Wie kommen Sie darauf?« Ich übergab der Stewardeß meinen noch vollen Eisbecher und deutete auf Cressons rechtes Ohr, als sie sich umgedreht hatte. »Deshalb?« »Ja, es ist das Beil gewesen, und ich kann mir nicht erklären, woher es gekommen ist. Verflucht noch mal, Sinclair, es verfolgt mich. Es ist mir auf der Spur. Nicht nur als Schatten, sondern verdammt echt. Vorhin,
da… da habe ich es wieder gespürt. Da hatte ich das Gefühl, als wäre es in meiner Nähe, und ich habe auch eine Flüsterstimme dicht an meinem verletzten Ohr gehört, obwohl niemand in der Nähe war. Das Beil ist ein Fluch, es ist mein Tod.« »Noch leben Sie!« Er funkelte mich an. »Das ist kein Trost, Sinclair, denn niemand wird es stoppen können.« »Meinen Sie?« »Ich weiß es.« Er senkte den Kopf. »Es ist ein Fluch, ein Fluch aus der Vergangenheit, der auf mir liegt. Meine Zeit in Afrika hat mich eingeholt, Sinclair.« »Darüber sollten Sie berichten. Vielleicht gelingt es uns, das Problem gemeinsam zu lösen.« »Daran glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Nein, nein und nein. Ich kann es nicht glauben. Es ist zu schrecklich. Ich werde Sie damit nicht belasten, sondern nur mit dem Abbé darüber reden. Ich habe es ihm versprochen. Ich werde bei ihm meine Beichte ablegen.« Er nickte. »O ja, das werde ich, und es wird mich erleichtern. Seelisch, meine ich, wenn Sie verstehen.« Dann lachte er. »Nie hätte ich gedacht, daß ich, ausgerechnet ich, einmal einen Priester konsultieren würde, aber so ist es nun mal gekommen, und ich kann es nicht ändern, wobei ich froh bin, daß ich mich zu dem Schritt entschlossen habe.« »Das liegt an Ihnen, Auguste. Ich will Sie nicht drängen. Sie sollen nichts tun, was Sie nicht vor sich selbst verantworten können.« »Danke, ich danke Ihnen.« »Keine Ursache.« Cresson saß noch immer abgespannt und leicht nach vorn gebeugt. Er schnappte nach Luft. Seine Wangen bewegten sich, als würde er auf Gummibärchen kauen. In den letzten Minuten hatte er sich wieder relativ beruhigt, das änderte sich schlagartig, denn plötzlich nahm seine Haltung wieder jene Gespanntheit an, die ich bei ihm schon kannte. Er wirkte wie erstarrt, den Mund behielt er offen, dann aber drehte er den Kopf und suchte seine Umgebung ab. »Was ist mit Ihnen, Auguste?« »Es ist da… es ist da, Sinclair.« »Wer oder was?« »Das Henkersbeil…« Ich hatte die Antwort sehr wohl verstanden, allein mir fehlte der Glaube daran, denn als ich mich in der näheren Umgebung umschaute, sah ich davon nichts. »Pardon, Auguste, ich will Ihnen ja nicht unbedingt widersprechen, aber ein Beil sehe ich nicht.« »Ich spüre es auch nur.«
»Wie denn?« Er flüsterte und bewegte dabei seine Hände. »Es hat bereits das Innere des Flugzeugs erreicht. Es kommt näher und näher. Seine Kraft wird stärker, jemand muß hier sein, der es unter Kontrolle hält. Einer der Passagiere sitzt hier in der Maschine und ist mein Todfeind. Da können Sie sagen, was Sie wollen.« »Ich werde mich hüten.« Er machte mir einen sehr ernsten Vorschlag. »Gehen Sie lieber von mir weg, Sinclair. Setzen Sie sich woanders hin. Es gibt noch genügend freie Plätze.« »Und warum soll ich verschwinden?« »Weil es Sie sonst auch erwischt! Wollen Sie ohne Kopf in Toulouse landen?« »So schlimm wird es schon nicht werden.« »Doch, das ist es aber.« Er holte schnell Luft. Dann schraubte er sich etwas in die Höhe, um sich besser umschauen zu können. Die Augen bewegten sich hektisch, was auch ich wahrnahm, und allmählich begann ich, mir um diesen Mann Sorgen zu machen. Plötzlich zuckte sein rechter Arm hoch. Er streckte auch den Zeigefinger aus. »Da!« keuchte er. »Da ist es ist!« Ich blickte ebenfalls hoch zur Decke. Verdammt, er hatte recht. Ein Schatten zeichnete sich dort ab. Nein, nicht einfach nur ein Schatten. Es war ein Beil! *** Nicht echt, wohl als Schatten zu sehen, aber die Formen des Henkersbeils konnten einfach nicht verdrängt werden. Der lange Griff oder Stiel und dazu das halbrunde Eisen, das sehr scharf sein mußte. Ich sah auch kein echtes Beil, das diesen Schatten hätte werfen können, und für mich sah die Welt plötzlich anders aus. Ich mußte die Aussagen des Mannes aus einem anderen Blickwinkel bewerten. Der Schatten schwebte genau über uns, das heißt, wenn er fiel, dann würde er nicht mich erwischen, sondern meinen Nebenmann. Auguste Cresson verging fast vor Furcht. Er hockte tief in seinem Sitz, hatte die Beine angezogen, die Arme erhoben und an den Körper gelegt und seine Hände rechts und links gegen die Wangen gepreßt. Er schien eine fötale Haltung einnehmen zu wollen, wie im Mutterleib. »Ruhig«, murmelte ich, »bleiben Sie bitte ganz ruhig. Nur so können Sie uns einen Gefallen tun.« Er schwieg.
Ich war nicht aufgestanden, noch nicht, denn ich wollte etwas anderes tun. Ich griff unter mein Hemd und streifte wenig später die Kette über meinen Kopf. Jetzt lag das Kreuz frei, und sehr langsam stemmte ich mich von meinem Sitz hoch. Es war mir egal, was die anderen Passagiere dachten, aber ich mußte es einfach versuchen. Das Kreuz in der rechten Hand hielt ich hoch. Es sollte nur nahe an diesen Schatten herangeführt werden und mir einen bestimmten Beweis liefern. Den bekam ich zu sehen. Plötzlich fing der Schatten an zu zucken. Zuerst nur leicht. Als ich den Arm noch höher schob, wurde aus dem Zucken ein Tanzen. Ich brauchte nicht erst auf den Sitz klettern, um den Schatten zu vertreiben, denn urplötzlich war er weg. Er schien durch das Dach der Maschine in den Himmel gestiegen zu sein. Nur wenige Passagiere hatten meine Aktion mitbekommen. Sie schauten wieder weg, als ich mich setzte. Auguste Cresson saß noch immer in derselben Haltung, ohne sich zu rühren. Erst als ich ihn anstieß, schreckte er auf. »Was ist passiert, Sinclair?« »Der Schatten ist weg!« »Wie bitte?« »Er ist verschwunden«, antwortete ich und lächelte. »Ob Sie es nun glauben oder nicht.« Das konnte er nicht begreifen. Er schaute mich ungläubig an, dann schielte er nach oben, und die Erleichterung erfaßte ihn intervallweise. Cresson wurde beinahe wieder normal. Diesmal wischte er sein Gesicht mit dem Taschentuch trocken. »Aber… aber… Sie haben den Schatten doch auch gesehen, nicht?« »So ist es.« »Wunderbar, dann bin ich zufrieden. Ich habe ihn mir nicht eingebildet. Ich spinne nicht, und ich bin echt froh darüber, daß sich dieser Schatten nicht verändert hat. Sie wissen schon.« Er deutete auf sein verletztes Ohr. »Da hat er mich erwischt, als er kein Schatten mehr war, sondern ein normales Beil.« »Zumindest beweist es uns, daß man Sie verfolgt, Auguste. Sie werden von einer unheimlichen Macht verfolgt.« »Das ist richtig.« »Und diese Verfolgung muß auch einen Grund gehabt haben.« Für einen Moment schaute er mich nur an. Dann nickte er. »Es hat auch einen Grund gegeben, Sinclair, aber ich kann und will Ihnen den nicht nennen.« »Weshalb nicht?« »Ich rede nur mit dem Abbé darüber und mit niemandem sonst. Haben Sie verstanden?«
Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Beruhigen Sie sich, es ist auch nicht so dringend. Sie sollen selbstverständlich nur dem Abbé beichten. Nur können Sie wahrscheinlich nicht verhindern, daß ich Ihre Beichte erfahre. Es müßte so sein, wenn wir den Fall lösen wollen.« »Kann sein. Sie sind Polizist, nicht?« »Sicher, warum?« »Nur so. War eine Frage, mehr nicht.« Das glaubte ich ihm zwar nicht so recht, aber es spielte auch keine Rolle. Ich wollte sowieso auf etwas anderes hinaus. »Sie haben vorhin davon gesprochen, daß er in der Nähe ist. Haben Sie damit den Schatten gemeint?« »Auch, aber eigentlich nicht.« »Wen denn?« Er hob die Schultern. »Sie werden mich vielleicht auslachen, aber mir ist etwas passiert, als ich in den frühen Morgenstunden mit der U-Bahn durch Paris fuhr.« »Was war es denn?« Er überlegte sich seine Worte. »Schwer zu sagen, Sinclair oder John…« »John ist besser.« »Gut. Ich saß in dem leeren Zug und schaute aus dem Fenster. Dabei sah ich in der Scheibe nicht nur mein Gesicht, das sich darin spiegelte, sondern noch ein anderes.« »Und was für eines?« »Das eines Schwarzen, eines Menschen aus Afrika, das eines Medizinmannes.« »Den Sie kennen oder kannten?« Er nickte betroffen. »Ich kannte ihn. Ich hatte mit ihm zu tun, aber ich will mit Ihnen nicht darüber reden, John. Erst mit dem Abbé, das ist für mich wichtiger.« »Es ist Ihre Entscheidung.« »Danke.« »Wofür?« »Daß Sie mich nicht weiterhin noch mit irgendwelchen Fragen quälen, John.« »Nein, nein, ich will niemanden zwingen, aber bleiben wir trotzdem bei dem Gesicht. Ist der Mann, dem es gehörte, tot?« »Ja!« stieß er so laut hervor, daß sich einige Passagiere zu uns umdrehten. »Gestorben durch Ihre Hand?« Cresson nickte. »Er ist also ein Medizinmann gewesen, und wenn mich nicht alles täuscht, dann sind afrikanische Medizinmänner allein durch ihr geheimnisvolles Wissen sehr mächtig.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich habe lange Jahre auf diesem Kontinent verbracht.«
»Kennen Sie den Namen des Medizinmannes?« »Nein. Ich wußte ihn mal, habe ihn aber im Laufe der Jahre wirklich vergessen. – Er kannte sich aus, hat bis kurz vor seinem Tod zahlreiche Beschwörungen durchgeführt, die mir Angst einjagten, aber es war eben mein Job, ihn zu töten.« »Waren Sie der Henker?« Cresson schwieg. Er deutete ein Nicken an, er stöhnte und preßte die Hände vor sein Gesicht, als schämte er sich. »Dann haben Sie noch mehr Menschen exekutiert?« Wieder das Nicken. »Warum?« fragte ich. »Warum taten Sie es?« »Man hatte mich eingestellt.« Sein Gesicht wurde zu einer Grimasse, als er den Kopf hin- und herwarf. »Quälen Sie mich nicht so, John. Ich wollte Ihnen das alles nicht sagen.« »Das kann ich gut verstehen, nur liegt bei Ihnen der Schlüssel zur Gegenwart in der Vergangenheit.« »Das weiß ich jetzt auch.« »Aber der Medizinmann ist tot?« »Ja, geköpft durch mein Beil. Nur sah ich plötzlich das Gesicht in der Scheibe. Und vor nicht allzu langer Zeit hatte ich den Eindruck, es wieder zu sehen. Flüchtig nur, aber es war da.« »Auch in einer Scheibe?« »Nein, diesmal nicht.« »Wo dann?« »Sie können mich auslachen, aber ich hatte den Eindruck, dieses Gesicht unter den Passagieren zu sehen. Ein elegant gekleideter Schwarzer mit einer Brille hat eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Medizinmann.« »Den habe ich gesehen.« Er krallte sich an meinem Arm fest. »Und? Was sagen Sie dazu, John? Bitte…« »Nichts.« »Das enttäuscht mich«, flüsterte er. »Moment mal, Auguste. Sie müssen mich verstehen, aber für mich sah der Mann völlig normal aus, wie ein Geschäftsreisender.« »Klar, wenn jemand damit nichts zu tun hat…« »Wissen Sie was?« Ich lächelte ihn an. »Ich werde den Mann jetzt suchen.« »Hinter uns«, gab mir Cresson den Tip. »Gut.« Ich drückte mich schon hoch, aber Cresson blieb noch sitzen. »Und was wollen Sie von ihm? Ihn ansprechen?« »Nein, nicht unbedingt. Ich will feststellen, wie er auf meinen Anblick reagiert.« »Wie sollte er schon reagieren? Normal, wo er Sie nicht kennt.«
»Warten wir es ab.« Ich schob mich in den Mittelgang und ging nach rechts. Da ich mich sehr langsam bewegte, schauten einige Passagiere auf. Sie nahmen mich einfach nur zur Kenntnis, ohne sich großartig zu verändern. Den Schwarzen sah ich an einem Fenster sitzen. Er schaute hinaus und schien das Land tief unter uns mit seinen Blicken absuchen zu wollen. Als ich in seine Nähe geriet, räusperte ich mich bewußt, was er hörte. Er drehte auch den Kopf. Wir sahen uns an. Für einen Moment nur, und hinter den Brillengläsern verengten sich seine Augen. »Monsieur, ist etwas?« »Nein, nein, pardon. Ich habe mich geirrt, denn ich glaubte, in Ihnen einen Bekannten gesehen zu haben. Ein Irrtum. Entschuldigen Sie nochmals, bitte.« »Das kann vorkommen.« Ich kam mir etwas dumm vor, als ich wieder zurückging. Er hatte völlig normal reagiert, und von Cresson wurde ich bereits voller Spannung erwartet. »Nun?« fragte er, als ich mich gesetzt hatte. Ich hob die Schultern. »Es war nichts, alles normal.« »Wie normal?« »Seine Reaktion.« »Ah, verstehe.« Er nickte. »Ist doch klar. Er hat sich nichts anmerken lassen.« Cresson verengte die Augen. »Das ist ein raffinierter Hund, kann ich Ihnen sagen. Der ist wie sein Vater, denn auch der hat es geschafft. Raffiniert und…« Er hob die Schultern. »Jedenfalls wird er uns nicht aus den Augen lassen. Ich bin fest davon überzeugt, daß er mich verfolgen wird. Er beherrscht das Beil. Er hat von seinem Vater den alten Zauber gelernt, ich spüre es.« »Zunächst einmal warten wir ab.« »Das müssen wir ja.« Auguste Cresson dachte wieder etwas normaler. »Sie kennen sich bestimmt aus in Toulouse?« »Wenn Sie fragen wollen, ob ich den Weg von Toulouse nach Alet-lesBains kenne, dann muß ich Ihnen zustimmen. Ich bin die Strecke schon einige Male gefahren.« »Gut. Ich wollte mir einen Leihwagen nehmen und…« »Wir brauchen nur einen.« »Bezahlen Sie ihn?« Ich lächelte knapp. »Der Staat.« »Das ist gut.« Es ging ihm wieder besser, das sah ich meinem Nebenmann an. Er hatte auch wieder eine normale Sitzhaltung eingenommen, die Beine ausgestreckt und fragte dann: »Interessiert es Sie eigentlich, wie ich den Abbé kennengelernt habe?«
»Es würde mich interessieren, Auguste, wenn ich es nicht schon wüßte. Der Abbé hat es mir berichtet. Wir haben lange miteinander telefoniert. Und er war noch heute sehr beeindruckt von Ihnen. Er hat nicht vergessen, was Sie für ihn taten.« »Das war halb so schlimm.« »Sagen Sie das nicht, Auguste. Was Sie gemacht haben, hätte nicht jeder getan, glauben Sie mir das, denn damit kenne ich mich aus.« Cressons Gesicht rötete sich, denn derartige Komplimente war er wohl nicht gewohnt. Dabei hatte ich es ehrlich gemeint. *** Die Landung in Toulouse war ebenso glatt verlaufen wie der Flug. Empfangen wurden wir von einem blauen Himmel und höheren Temperaturen als in Paris. Mein Begleiter sagte zwar nichts, die Nervosität aber war ihm schon anzusehen, denn immer wieder blickte er sich um, suchte mögliche Verfolger und hatte natürlich den Schwarzen mit der Brille nicht aus den Augen gelassen. Der Mann aber gab sich gelassen oder normal. Jedenfalls fiel er nicht auf, und er kümmerte sich auch nicht um Auguste Cresson, zumindest gönnte er ihm nicht mal einen Blick. Im Gegensatz zu uns wurde er abgeholt. Ebenfalls von einem Schwarzen, der ihn sehr herzlich begrüßte. Der neue Mann sah aus wie ein Modellathlet, sicherlich trieb er sich die Hälfte des Tages in irgendwelchen Fitneßstudios herum. Der Mann war lockerer gekleidet als der Passagier. Eine braune Wildlederjacke, darunter trug er einen dunkelblauen Pullover. Beide Männer verschwanden sehr schnell, während wir uns dem Tresen der Leiwagenfirma zuwandten. »Haben Sie besondere Wünsche, was das Fabrikat eines Wagens angeht?« wollte ich von Cresson wissen, der nur den Kopf schüttelte. Ihm war es egal. Die Bedienung war sehr freundlich und erklärte uns, daß bis auf ein Fahrzeug alle anderen schon vermietet waren. Wir hätten vorbestellen sollen. »Solange es kein Lastwagen ist.« »Nein, nein, Monsieur. Es ist ein Renault Laguna.« »Ist mir auch recht.« »Ein schönes Auto«, erklärte die freundliche Dame. »Das sagt sogar der deutsche Formel-1-Weltmeister.« »In der Werbung?« »Wo sonst?« »Sicher. Wo sonst?« Mir wurden die Unterlagen zugeschoben. Ich zahlte mit der Kreditkarte, und uns wurde erklärt, wo der Wagen parkte.
»Merci, den werden wir finden.« Frühling in Südfrankreich. Ein herrliches Gefühl, ins Freie zu treten und endlich mal einen warmen Sonnenschein zu erleben, auf den wir in London so lange gewartet hatten. Bis zu unserem Ziel war es nicht sehr weit. Wir konnten das erste Stück über die Autobahn fahren. »Ich bin froh, daß Sie sich auskennen, John. So brauche ich wenigstens nicht zu steuern.« Ich winkte ab. »Das packen wir schon.« »Haben Sie Verfolger gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht.« Dann schnallte ich mich an und startete. »Aber Sie werden darauf achten?« »Immer.« »Das ist gut.« Auguste Cresson war nicht mehr so nervös, wie ich ihn aus dem Flugzeug her kannte. Es ging ihm jetzt besser. Zwar stand er noch unter Druck, aber die Nähe des Abbes und die Hoffnung auf eine schnelle Hilfe hatten ihn doch gelöster werden lassen. Zudem hatte er sich an einem Kiosk noch eine Dose Wasser gekauft, die er trank, während wir den Parkplatz verließen, auf die Umgehungsstraße westlich des Flughafens gerieten und im Südwesten schließlich die Autobahn erreichten. Verkehr herrschte kaum. »Jetzt können Sie entspannen, Auguste«, sagte ich. »Wieso?« »Oder glauben Sie, daß man uns auf der Autobahn attackieren wird?« Er hob die Schultern. »Was ich glauben soll, weiß ich nicht. Mir ist nur klar, daß sie alle Möglichkeiten haben. Einfach alles, verstehen Sie? Das sind doch keine normalen Menschen, verflucht! Das sind… das sind Wesen oder Geister.« Er schaute mich an, als könnte ich ihm die perfekte Erklärung geben. »Wir werden sehen.« »Haben Sie denn keine Vorstellung, was das sein könnte?« »Sollte ich das?« »Jeder macht sich mal Gedanken.« »Stimmt. Sie haben sich mir gegenüber schon teilweise offenbart. Darüber kann ich mir dann Gedanken machen. Die neuen Ereignisse hängen mit einem alten Fluch zusammen, und Sie sind praktisch das Zentrum dieses Fluchs. Hat man Sie denn verflucht?« »Ich weiß es nicht. Dann hätte ich doch etwas hören müssen – oder?« »Kann sein.« »Ist das denn nicht so?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Auguste. Es gibt da verschiedene Wege. Nur das Gesicht, das Sie in der Scheibe gesehen haben, weist natürlich auf einen Fluch hin. Vorausgesetzt, es stimmt, daß Sie das
Gesicht eines Medizinmannes erkannt haben, der unter Ihrem Beil starb.« »Ich habe es tun müssen«, sagte er leise. »Es war mein Job. Ich bin von der Legion dorthin gekommen. Es war schwer genug, da rauszukommen. Außerdem wurde ich gut bezahlt. Ich hatte alles frei und bekam noch jeden Monat eine Summe auf ein Konto in der Schweiz überwiesen. Davon lebe ich noch heute. Das Geld wird sogar bis zu meinem Lebensende reichen, denke ich mir.« »Dann haben Sie ja vorgesorgt.« »In dieser Hinsicht schon.« Er wechselte das Thema und wollte wissen, wie lange ich den Abbé bereits kannte. »Oh, das sind schon einige Jahre.« »Und Sie beide sind befreundet.« »Das kann man sagen. Wir haben zusammen schon so manchen Fall gelöst, wenn ich mal im Polizeijargon bleiben darf.« »Alles Fälle wie meine?« »In der Tat.« Über die letzte Antwort mußte der Mann erst nachdenken. Ich sah es ihm an, wie schwer es ihm fiel, damit zurechtzukommen. Schließlich meinte er: »Dann sind Sie ein besonderer Polizist, denn die beschäftigen sich sonst nicht mit derartigen Fällen.« »Das kann man so sagen.« »Sie glauben an das Übernatürliche?« Ich lächelte, als ich seine Skepsis aus der Frage hervorhörte. »Ich habe tagtäglich damit zu tun. Ohne den Abbé und mich loben zu wollen, kann ich Ihnen sagen, daß wir beide für Sie genau die richtigen Partner sind. Wir werden Sie von dem Druck befreien. Von Ihrem Gewissen aber können wir Sie nicht befreien. Die Taten müssen Sie schon mit sich selbst ausmachen.« »Das weiß ich«, flüsterte der Mann neben mir und bestätigte es durch ein schwerfälliges Nicken. »Aber es ist komisch. Früher habe ich kein Gewissen gekannt. Heute aber, wo ich älter geworden bin, holt mich meine schreckliche berufliche Vergangenheit ein. Ich… ich… habe es verdammt schwer, aber ich will mich nicht darüber beklagen. Schließlich trage ich den größten Teil der Schuld daran.« »Es ist gut, wenn Sie es so sehen, Auguste. Dann wird es Ihnen leichter fallen, darüber hinwegzukommen.« »Ich hoffe es.« Toulouse und seine Umgebung lagen längst hinter uns, und auch der Verkehr dünnte allmählich aus. Wir kamen zügig voran, wobei ich durch eine bekannte Gegend fuhr und mich trotz aller Sorgen darüber freute, dem Abbé die Hand schütteln zu können. Cressons Wachsamkeit hatte um keinen Deut nachgelassen. In jeden Wagen, den wir überholten, schaute er hinein, auf der Suche nach
irgendwelchen bekannten Personen, die sich auf unsere Fersen geheftet hatten. Er entdeckte keine bekannten Gesichter. Der Afrikaner aus dem Flugzeug war für uns nicht mehr existent. Beruhigt war Cresson trotzdem nicht. Er leerte den Rest Wasser aus der Dose und drückte sie dann zusammen. »Meinen Sie, daß uns dieses Beil auf den Fersen bleibt?« »Keine Ahnung.« »Aber Sie glauben doch daran. Sie haben es gesehen. Den Schatten an der Flugzeugdecke.« »Stimmt.« »Und er kann sich materialisieren, wenn es darauf ankommt. Ich habe es erlebt. Bei jeder Bewegung spüre ich die Schmerzen in meinem rechten Ohr.« »Das wird vergehen.« »Oder ist erst der Anfang.« Ich wußte auch nicht, wie ich diesen Mann trösten sollte. Aber brauchte er wirklich Trost? Einer wie der, ein Henker, der zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Natürlich braucht jeder Mensch irgendwann einmal Trost, das gehört zum Leben, doch es kostete mich bei Cresson schon eine gewisse Überwindung, denn er war ein Mensch, der mir im Prinzip überhaupt nicht lag. Auf der anderen Seite hatte er dem Abbé selbstlos beigestanden und ihn gegen drei Angreifer verteidigt. Das wiederum tat auch nicht jeder. Mich interessierte natürlich das geheimnisvolle Beil, und ich rechnete eher mit einer Verfolgung dieses Killerinstruments, als mit der des Schwarzen, den wir nun wirklich nicht gesehen hatten. »Wenn Sie Hunger haben und etwas essen wollen, können wir anhalten«, schlug ich vor. »Unsere Zeit drängt nicht. Ich habe mit Bloch keinen genauen Zeitpunkt ausgemacht.« »Hunger?« Er lachte. »Nein, John, fahren Sie ruhig. Ich möchte so schnell wie möglich mein Ziel erreichen und mit dem Abbé über alles reden.« Er nickte. »Ich werde beichten. Ich werde eine Henkersbeichte ablegen, und ich hoffe, daß mir der Himmel vergibt. Ich selbst kann es nicht. Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal so unter meinem Schicksal leiden würde. Aber das ist die Gerechtigkeit. Irgendwo ist das Leben immer gerecht.« Die Philosophie stimmte. Ich konnte ihm mit keinem Gegenargument antworten. Rechts der Bahn, Richtung Süden, war der Blick frei. Wir schauten über eine einsame, hügelige Landschaft hinweg, sahen hin und wieder einen kleinen Ort in der Ferne, dessen Häuser wirkten, als wären sie in die Landschaft hineingestellt und vergessen worden. Später, wenn wir die Berge südlich von Limoux erreichten und wir auf der Landstraße fuhren, wurde es kurvig.
Der ehemalige Henker wirkte wie ein Bewacher oder Leibwächter meiner Person. Er konnte einfach nicht ruhig sitzen. Immer öfter blickte er in die verschiedenen Richtungen, aber auch in den Himmel hinein, als erwarte er von dort ebenfalls eine Gefahr. Ein Beil, das sich blitzend und schnell aus der Bläue löste und wie ein Raubvogel sein Opfer suchte. Ich hatte Durst und auch Hunger, deshalb schlug ich eine kurze Rast vor. »Wo denn?« »Dort, wo wir abfahren müssen. Bei Carcassonne.« »Wie lange haben wir dann noch vor uns?« »Eine knappe Stunde.« Aus dem Radio, das ich einstellte, dudelte leise Musik. Angenehme Melodien, nichts, was uns aufputschte, denn harten Rock oder Techno konnte ich heute nicht vertragen. Cresson war so erschöpft, daß er trotz der Bedrohung einschlief. Der Körper fordert eben sein Recht, und der Mann hatte verdammt viel durchmachen müssen. Er kippte gegen die rechte Tür und schnarchte leise vor sich hin. Auch wenn mir das Geräusch auf die Nerven ging, ich ließ Cresson schlafen und stellte nur das Radio etwas lauter. Der Laguna fuhr sich gut. Hier im Süden stand alles in voller Blüte. Die Bäume und Sträucher boten eine wahre Pracht für das menschliche Auge, als wollten sie sich gegenseitig übertreffen. Kein Tag, um sich zu fürchten oder dem Grauen zu begegnen. Mehr ein Wetter, um einen Urlaub zu genießen. Ich genoß es, auch wenn ich im Dienst war. An das Beil dachte ich ebenfalls, und meine Gedanken beschäftigten sich auch mit dem Afrikaner. War er so harmlos, wie er sich gegeben hatte? Ich erinnerte mich an das Treffen der beiden Männer in der Flughafenhalle. Der zweite Mann hatte schon gefährlich ausgesehen, wie jemand, der einem Action-Film entstiegen war. Die Pause wollte ich auch nutzen, um kurz mit dem Abbé zu telefonieren. Am Flughafen war ich darüber hinweggekommen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis ich die Stadt an der linken Seite der Bahn liegen sah. Die Autobahn führte daran vorbei, aber das Rasthaus konnten wir anfahren. Der ehemalige Henker wachte wie auf Kommando auf, als ich auf den Parkplatz rollte. »Schon da?« fragte er und rieb seine Augen. »Am Parkplatz und am Rasthaus.« »Wieso? Wir…« Er winkte ab. »Ich bin ein alter Esel. Wir wollten ja eine Rast einlegen.« »Und telefonieren.« »Mit wem?« Ich gab ihm die Antwort draußen. »Mit unserem gemeinsamen Freund, dem Abbe.« »Das ist gut.«
Telefonzellen gab es in der Nähe. Auf dem Weg dorthin erkundigte sich Cresson, ob ich noch immer Hunger hätte. »Warum?« »Wenn wir lange essen, dann…« »Werden wir nicht. Mir reicht ein Imbiß.« »Mir auch. Soll ich etwas besorgen?« »Das wäre gut.« Eine Telefonkarte hatte ich mir besorgt. Während Cresson verschwand, schob ich die dünne Scheibe in den Schlitz und tippte die Nummer des Refugiums der Templer in Alet-les-Bains ein. Sekunden später hatte ich Bloch an der Strippe. Er lachte laut, als er meine Stimme hörte, und dann sagte er: »Mein Schützling aus Paris ist noch nicht eingetroffen.« »Kann er auch nicht. Wir fahren zusammen.« »Also hat es doch geklappt.« »Wie du hörst, Abbe.« »Wo seid ihr jetzt?« Ich sagte es ihm. »Das ist gut, dann sehen wir uns ja bald. Gab es Probleme?« »Im Prinzip nicht…« »Das hört sich fast beunruhigend an.« »Wie man’s nimmt.« »Erzähl schon, John.« Ich berichtete von meinem Erlebnis im Flugzeug und auch von Cressons Angst. Ich kam auch auf die afrikanische Magie und den Medizinmann zu sprechen und bat den Abbé, die Augen offenzuhalten, weil damit gerechnet werden konnte, daß sich möglicherweise genau dieser Mensch in Alet-les-Bains zeigte, zusammen mit einem zweiten, den ich dem Abbé als Leibwächter verkaufte. »Das ist ja schon was«, sagte er. »Aber es fehlen die Beweise.« »Was sagt dein berühmtes Gefühl, John?« »Nichts.« »Das ist selten.« »Stimmt. Dieser Mann ist entweder ein eiskalter Typ, oder er ist harmlos. Jedenfalls deutet alles auf eine afrikanische Magie hin. Ich denke da an Voodoo.« »Eine Rache?« »Ja. Die Rache eines Menschen, der durch den Henker Cresson geköpft worden ist.« »Mit Logik kommen wir da wohl nicht weiter.« »Nein, aber es gibt eine Lösung, dessen bin ich mir sicher. Wir reden dann später darüber. Ich habe dich nur kurz vorwarnen wollen. In einer Stunde werden wir wohl bei euch sein.« »Wir warten.«
Auguste Cresson stand schon an der Zelle, als ich auflegte und sie verließ. Er hatte zwei Baguettes mit Käse besorgt und auch etwas zu trinken. »Setzen wir uns auf die Bank«, schlug ich vor. »Genau.« Erst als wir saßen, fragte er: »Was hat der Abbé denn so alles gesagt?« »Er freut sich auf uns.« »Danke. Und sonst?« Ich trank den Kaffee aus der Papptasse, von der ich zuvor den Deckel entfernt hatte. Dann schluckte ich den zweiten Bissen und wischte über meine Lippen. »Ich habe ihm natürlich davon berichtet, was uns widerfahren ist.« »Ja, ja… und?« Er wurde plötzlich hektisch. »Der Abbé wird die Augen offenhalten.« »Das heißt, er schaut nach den Schwarzen.« »Ich habe es ihm geraten.« Cresson starrte mich an. Er lächelte, aber nicht freundlich, mehr wissend. »Dann sind Sie mit mir einer Meinung, daß diese beiden Männer nicht ganz einwandfrei sind?« »Wir müssen eben alles im Auge behalten und wachsam sein.« Wir aßen die Baguettes und schwiegen in der restlichen Zeit. Von der Bank aus schauten wir nach Süden, und wir sahen im Licht der Sonne die Landschaft liegen, in die wir hineinfahren mußten. Ein Erdkundelehrer hätte die Ausläufer der Pyrenäen seinen Schülern als Mittelgebirge verkauft. Wir blickten in die Richtung, wo auch der kleine Ort Alet-les-Bains lag und nicht weit davon entfernt die Kathedrale der Angst, eine schmale Felsschlucht, in der das silberne Skelett des Hector de Valois lag, des Mannes, der praktisch in mir wiedergeboren war. Wir stopften die leeren Tassen in einen nahen Papierkorb und gingen wieder zu unserem Wagen zurück. »Der Rest ist ein Kinderspiel«, sagte ich und lächelte. Cresson verzog die Lippen. »Hoffentlich, John.« »Sie sind skeptisch?« »Bin ich immer in den letzten Tagen. Diese Stunden wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.« Bevor er einstieg, durchsuchte er den Wagen ziemlich genau. »Was ist los?« »Ich habe nur an die beiden Schlangen gedacht, die wie durch Zauberei in mein Zimmer gelangt sind. Könnte ja sein, daß man sie uns auf die Sitze gelegt hat.« »Die sind leer.« »Glücklicherweise.« Wir stiegen ein, ich startete, und als wir vom Parkplatz rollten, wunderte ich mich über Cressons Verhalten. Ich sprach ihn darauf an, und er hob
die Schultern. »Genau erklären kann ich Ihnen das auch nicht, John, aber es ist schon etwas daran. In der letzten Zeit fühle ich mich wirklich unwohl.« »Wie?« »Na ja, es ist schwer zu erklären. Ich habe den Eindruck, als käme da etwas auf uns zu, das wir noch nicht sehen können. Es ist wie eine gewaltige Wolke, die sich noch im Hintergrund hält, aber nicht mehr lange auf sich warten läßt.« »Meinen Sie?« »Ja!« »Wir werden sehen.« Sehr schnell hatte sich die Landschaft verändert. Abgesehen davon, daß die Straße längst nicht mehr so breit war wie die Autobahn, mußte ich den Laguna auch durch zahlreiche Kurven lenken. In Serpentinen ging es hinauf nach Alet-les-Bains. Zunächst lag der größere Ort Limoux vor uns. Die Straße führte direkt hindurch, und wir erlebten das typische Flair des Südens. Diese Leichtigkeit, mit der die Menschen lebten. Die Straßencafes hatten längst geöffnet, und viele Tische waren besetzt. Mit sehnsüchtigen Blicken beobachtete Cresson das bunte Treiben, seufzte hin und wieder, gab aber keinen Kommentar. Wir durchfuhren die Stadt. Wieder dünnte der Verkehr aus. Wir schienen die einzigen zu sein, die den Weg nach Alet-les-Bains suchten. Wer in den Süden wollte, der fuhr Strecken, auf denen er schneller vorankam. Eine herrliche Landschaft präsentierte sich uns. Sie stand in voller Blüte. Bäume zeigten ihr Frühlingskleid, die Luft war warm, der Wind weich, und ich hatte mein Fenster nach unten fahren lassen, um etwas von der frühlingshaften Frische zu genießen. Dabei kannte ich diese Landschaft auch anders. Sowohl im Winter im Schneekleid als auch im Sommer, wo die Sonne gnadenlos schien und den Boden verbrannte, wie jetzt im Süden Spaniens, wo das Trinkwasser bereits knapp geworden war. Hoch über uns blitzte etwas am blauen Himmel, als wären Sonnenstrahlen von einem Flugzeug reflektiert worden. Ich merkte, daß mich Cresson von der Seite her anschaute. »Haben Sie das auch gesehen, John?« »Sie meinen das Schimmern?« »Ja.« »Was sagen Sie?« »Nichts. Zunächst einmal nichts.« »Ich befürchte einiges.« Er rieb seine schweißfeuchten Handflächen gegeneinander. »Was denn?« »Abwarten.«
Wir hatten ein kleines Tal durchfahren und rollten wieder bergauf. Die Gräser zu beiden Seiten der Straße zitterten im Wind, als wollten sie uns Grüße schicken. Ich hatte es meinem Begleiter gegenüber nicht direkt zugeben wollen, aber das Blitzen war für mich schon irritierend gewesen. Ich rechnete damit, daß es sich irgendwann wiederholen würde, vielleicht sogar aus kürzerer Distanz. Wir hatten die kleine Anhöhe erreicht. Der Motor des Laguna schnurrte wie eine zufriedene Katze, und auch wir hätten zufrieden sein können, wäre da nicht das Schimmern gewesen. Diesmal tiefer und auch vor uns. Auguste Cresson beugte sich der Frontscheibe entgegen. Die Stirn hatte er dabei in Falten gelegt. Die Augen lagen wie Kugeln in den Höhlen. Dann schüttelte er langsam den Kopf und flüsterte etwas, das ich nicht verstand. Es verschwand wieder. »Haben Sie das gesehen, John?« »Sicher.« »Sie sind so ruhig.« Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken. »Was sollte ich denn tun? In Panik verfallen?« »Nein, ich dachte eher an einen Stopp.« »Beim nächsten mal vielleicht.« »Dann glauben Sie daran, daß es so etwas gibt?« »Natürlich.« Ich hatte Cresson mit meinen Worten alarmiert. Da ich fahren mußte, konnte er sich umschauen. Er duckte sich, als er sich auf dem Sitz drehte und nach draußen starrte, um den Gegenstand zu entdecken, der uns durch sein Schimmern und Blitzen irritiert hatte. Zu entdecken gab es für uns nichts. Blau und seidig präsentierte sich der Himmel. Die Gegend war leicht zu überblicken. Eine blühende Landschaft, erfüllt von einem wunderbaren Frühlingsduft. »Ich wollte, wir wären schon da und hätten alles hinter uns«, sagte der ehemalige Henker. »Ja, da kann ich nur zustimmen.« »Da, John!« schrie er plötzlich. Einen Augenblick später wußte ich den Grund. Es blitzte wieder. Diesmal vor uns, sehr gut zu sehen. Was im Flugzeug für uns nicht mehr als ein Schatten gewesen war, hatte sich nun materialisiert. Vor uns schwebte das Beil des Henkers, und seine blitzende Schneide zielte genau auf die Frontscheibe… ***
Was mir in zwei Sekunden durch den Kopf schoß, war in Worte kaum zu kleiden. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Entweder jagte das Beil auf uns zu, um den Wagen und uns gleich mit zu zerstören, oder aber es fegte darüber hinweg, um unsere Furcht wachsen zu lassen, weil es Zeit benötigte für einen heimtückischen Angriff. Ich bremste. Ziemlich hart sogar. Beide wurden wir von den Gurten aufgefangen. Wir waren nicht mit dem Wagen in die Klinge hineingefahren, denn sie richtete sich nach unseren Verhaltensmustern, also wartete sie darauf, daß wir eine Schwäche zeigten. Neben mir wollte Cresson aussteigen. Ich hielt ihn fest und sagte: »Bleiben Sie hier.« »Und dann?« keuchte er. »Das Beil muß angreifen.« »O ja, es muß angreifen. Es muß zuerst den Wagen und dann uns zerhacken, wie?« Cresson gebärdete sich schlimm. »Keine Panik, Auguste.« »Ich erkenne es wieder. Ich erkenne es genau. Es ist mein Beil, mein verfluchtes Beil! Das Beil, mit dem ich getötet habe. Dicht über der Klinge ist es dunkel. Da hat sich etwas in das Holz hineingefressen. Wissen Sie, was das ist? Was diese dunkleren Flecken zu bedeuten haben?« »Blut«, sagte ich. »Ja. Das Blut meiner Opfer.« Er schüttelte sich. »Verdammt noch mal, könnte ich doch alles rückgängig machen!« Ich verstand ihn, aber es war nicht möglich. Zudem hatte es keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Tatsache war das verfluchte Beil, das vor uns schwebte. So leicht ließ es sich nicht vertreiben. Es reagierte nach eigenen Gesetzen, nach Befehlen, die uns fremd waren. Ich gab mich gelassen, innerlich herrschte jedoch Alarmstufe eins. »Was tun wir?« »Ich steige aus.« »Und dann?« »Werde ich mich dem Beil stellen.« Cresson lachte. »Das ist Wahnsinn, John! Das schaffen Sie nicht. Es wird Ihnen den Kopf abschlagen! Denken Sie daran, daß es nicht von einer normalen Hand geführt wird, sondern Befehlen gehorcht, mit denen wir nicht zurechtkommen. Hinter ihm steht ein mächtiger Zauber.« »Stimmt«, sagte ich und löste den Gurt. Obwohl es nur ein Beil war, ging ich davon aus, daß es uns – wie auch immer – beobachtete. Cresson stimmte ich zu.
Dieses Beil konnte durchaus der verlängerte Arm einer fremden Kraft sein, die auch durch die Klinge beobachtete. Wie sonst hätte sie uns dann so schnell finden können? Ich stieg aus. Vorsichtig, immer auf dem Sprung, die Hand in der Nähe der Waffe haltend, obgleich ich mit einer Kugel kaum etwas gegen das Henkersbeil würde ausrichten können. Es war wirklich eine gefährliche Mordwaffe. Ich erinnerte mich an einen Fall, der in der Nähe von London, auf einem Grillplatz im Wald, für Furore gesorgt hatte.* Da war ein unheimlicher Henker erschienen, der die Menschen mit einem ähnlichen Beil erschlagen hatte. Ich kam gut aus dem Fahrzeug heraus und drückte die Tür leise hinter mir zu. Stille umgab mich. Auch der Motor lief nicht mehr. Ich hätte gern die frische Frühlingsluft eingeatmet und mich an der Landschaft erfreut, aber ich sah nur dieses verdammte Beil in der Luft schweben und fühlte mich wie von einem Eisblock umgeben. Die Mordwaffe zitterte nicht mal. Sie stand starr in der Luft und schien mich zu belauern. Sie wartete auf einen Fehler, auf eine Bewegung, die ihr nicht gefiel, um dann zuschlagen zu können. Hinter der Scheibe hockte der Henker wie ein graues Gespenst, das sich nicht zu bewegen wagte. Ich hatte einen schnellen Blick auf sein Gesicht erhascht, wo die Augen weit aus den Höhlen gequollen waren und seine Züge verfremdeten. Das Beil wartete. Ich ebenfalls. Aber ich blieb nicht lange starr. Irgend etwas wollte ich tun, zudem trug ich mein Kreuz bei mir, mit dem ich schon einmal den Schatten vertrieben hatte. Würde es mir auch im Kampf gegen das echte Beil helfen? Der Atem floß zischend über meine Lippen. Ich konzentrierte mich auf das Kreuz und hatte den Eindruck, es als großen Druck auf meiner Brust zu spüren. Vorsichtig bewegte ich meinen rechten Arm in die Höhe, um die Kette mit dem Kreuz hochzuziehen. Es tat mir gut, das dünne Metall zwischen den Fingern zu spüren. Einen Moment später wanderte das Kreuz an der Brust in die Höhe, um sich dem Hemdausschnitt zu nähern. Meine Chancen stiegen, so dachte ich.
* Siehe Sinclair-Taschenbuch 73.164: »Totenplatz«
Es war der falsche Gedanke, denn urplötzlich löste sich die Waffe aus ihrer Ruhe. Es war mit keinem Zeichen zuvor zu erkennen gewesen, sie ruckte vor und wischte auf mich zu. Ich flog nach links. Es war ein gewaltiger Sprung gewesen. Ich wischte über die Straße hinweg, der Graben kam näher, und einen Herzschlag später landete ich in dieser schmalen Mulde, hörte rechts von mir ein sausendes Geräusch, das mich warnte. Blitzschnell tauchte ich unter. Der Graben schluckte mich, während dicht über mir das Beil hinwegwischte. Der Schreck ließ mein Herz rasend schnell schlagen. Ich war heilfroh, ihm entwischt zu sein, aber der nächste Angriff würde folgen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Auf allen vieren kroch ich durch den leicht feuchten Graben nach vorn, holte fieberhaft das Kreuz hervor, behielt es in der Hand und kletterte an der der Straße abgewandten Seite aus dem Graben und hielt sofort nach dem Beil Ausschau. Es war noch da und schwebte wie das berühmte Damoklesschwert über dem Dach des Laguna. Das hatte seinen Grund. Aus Alet-les-Bains war ein großer, dunkler Wagen gekommen und hatte in respektabler Nähe unseres Leihwagens gehalten. Ein Mann war ausgestiegen, ein Schwarzer, den ich zum erstenmal auf dem Flughafen gesehen hatte. Er trug noch immer die braune Jacke und das blaue Hemd, aber auch eine Maschinenpistole, deren Mündung auf mich zeigte. Zu sagen brauchte er nichts. Ich verstand die Drohung und schaffte es noch, das Kreuz in die Hosentasche zu schieben. Die Lage wirkte wie eingefroren und änderte sich erst, als der Mann aus dem Flugzeug den Wagen verließ. Er trug die gleiche Kleidung, rückte seine Brille zurecht, schaute auf seinen Leibwächter und deutete mit einem Lächeln an, wie zufrieden er war. Dann sprach er seinen Mann an, und ich verstand kein Wort von der Sprache. Aber die Mündung blieb auf mich gerichtet, auch dann noch, als der Brillenträger einen Bogen schlug und auf mich zukam. Er geriet nie in die Schußlinie hinein und baute sich an der anderen Seite des Grabens auf. Wenn jetzt ein anderes Fahrzeug gekommen wäre, dann wäre kein Platz mehr gewesen, aber wir blieben allein, und alles wirkte wie abgesprochen. »Ich möchte Ihnen meinen Namen sagen, Monsieur. Ich heiße Okuba.« »Und ich John Sinclair.« »Damit wären wir bekannt.« Der Mann hatte eine wohlklingende Stimme, was mir bereits im Flugzeug aufgefallen war. Er redete weiter. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie vorhaben. Ich weiß nicht, wie Sie zu dem
Henker Cresson stehen, aber ich kann Ihnen nur den Rat geben, sich aus diesen Dingen herauszuhalten. Was hier geschieht, ist die Begleichung einer alten Rechnung. Ich habe versprochen, alles in die Wege zu leiten, um den Mörder meines Vaters zu töten. Und ich bin bekannt dafür, daß ich meine Versprechen halte. Er wird durch seine eigene Waffe umkommen, das steht fest.« »Die Sie beherrschen?« »Ja.« »Und wie?« »Nennen Sie es Zauberei, Monsieur Sinclair. Aber Sie sollten auch wissen, daß mein Vater zu den besten Magiern und Medizinmännern gehörte, die es je in diesem Land gab. Seinen Körper zu töten, war ein großer Fehler, der nur aus Nichtwissen begangen werden konnte. Der Geist meines Vaters lebte weiter, und ich habe für eine gewisse Weile sein Erbe übernommen. Es hat lange gedauert, bis ich das Beil fand und später auch den Besitzer der Mordwaffe, aber jetzt ist es soweit. Ich werde mich von niemandem aufhalten lassen.« »Gehorcht Ihnen das Beil?« »Ja!« »Sie können es führen?« »Nicht nur ich, auch der Geist meines Vaters, der den Leib überlebt hat.« »Dann wollen Sie hier einen Mord begehen?« »Nein, nicht hier. Ich denke, Sie haben einen falschen Eindruck von mir bekommen. Wissen Sie, ich habe lange genug Zeit gehabt, um mir einen Plan auszudenken. Ich will es diesem Mörder nicht zu leicht machen. Er ist der Henker gewesen, das weiß er selbst. Er hat getötet, weil man es ihm befahl. Er war wie eine Maschine. Er hat sich nicht an der Angst und den Schreien der Menschen gestört. Er hat genau das getan, was ihm der Diktator befahl, der letztendlich sein Volk ins Elend geführt hat. Ich könnte ihn jetzt auf der Stelle töten, aber ich werde es nicht tun, denn er soll so leiden, wie seine Opfer gelitten haben. Ich werde ihm die Chance geben, um zu bereuen oder an seiner Angst zu ersticken. Aber ich sage hier vor Zeugen, daß ein Mann wie Auguste Cresson den nächsten Sonnenaufgang nicht erleben wird. Irgendwann zwischen dem Abend und dem Morgen wird ihn das eigene Beil erwischen und köpfen. In der Zwischenzeit aber wird er schreien, jammern, zu seinem Gott beten oder was auch immer. Ich habe ihn beobachten lassen, ich war über jeden seiner Schritte informiert, und ich weiß auch, wo er Schutz suchen wird. Aber er kann ihn dort nicht finden. Derjenige, der versucht, ihn zu schützen, wird ebenfalls ein Opfer seiner Mordwaffe werden.« »Gilt das auch für mich?« »Sie haben Glück gehabt.« »Wieso?«
»Wären Sie am Ziel, würde es für Sie gelten. Ich will kein unnötiges Blut vergießen, deshalb habe ich Sie noch einmal gewarnt. Ich hoffe, Sie werden die Chance nutzen.« »Können Sie sich genauer ausdrücken?« »Ja, das kann ich, und ich will Ihnen auch beweisen, wie mir diese Mordwaffe gehorcht.« Okuba erstarrte für einen Moment. Zuvor hatte er den Kopf gegen das Beil gedreht. Die Bügel seiner Brille blitzten, weil sie vom Licht getroffen wurden. Die Augen hinter den Gläsern zuckten, bevor sie sich weiteten, und dann bewegte sich das Beil nach unten. Die Klinge berührte den Lack des Autodachs, blieb für einen Moment in dieser Lage, bewegte sich nach vorn und kratzte über das Dach hinweg. Dann zuckte das Beil in die Höhe, wobei es vor der Windschutzscheibe und dicht über der Kühlerhaube schwebte. »Reicht diese Demonstration, Monsieur Sinclair?« »Mir schon.« »Dann wissen Sie hoffentlich, daß Sie keine Chance haben. Kehren Sie um, es ist besser für Sie.« »Und was ist mit Cresson?« »Er kann weiterfahren. Er will doch einen Besuch machen. Noch einmal, ich will nur ihn und keinen anderen. Sollte sich aber jemand zu stark für ihn engagieren, ist er schon so gut wie tot.« Mir war schon die ganze Zeit über die kultivierte Sprache des Afrikaners aufgefallen, und ich wollte wissen, wer er war und was hinter ihm steckte. Auf meine Frage erntete ich zunächst ein Lächeln. »Sagen wir so, Monsieur Sinclair. Ich bin Diplomat.« Aha. »Und der Typ mit der Waffe…?« »Heißt Drack und ist mir ergeben. Wir haben in etwa das gleiche Schicksal erlitten, auch seine Eltern wurden durch das Regime getötet.« »Aber nicht durch den Henker?« »Nein.« Drack drehte kurz den Kopf. Es war genau der Blick, auf den Okuba gewartet hatte. Er flüsterte ihm einige Worte zu. Drack blickte mich wieder an, nickte und kam auf mich zu. »Was soll das?« rief ich. »Eine Vorsichtsmaßnahme, Monsieur Sinclair. Ich habe für Menschen einen Blick bekommen. Ich kann sie einschätzen, auch Sie, und ich weiß, daß Sie nicht aufgeben werden. Aber ich möchte nicht unbedingt als Schlächter dastehen, dann würde ich mich mit einer Unperson wie Cresson auf eine Stufe stellen. Drack wird sich um Sie kümmern.« Und Drack grinste niederträchtig, als er die Worte seines Chefs vernommen hatte. Er hatte bereits den Graben übersprungen und näherte sich mir mit den geschmeidigen Schritten eines durchtrainierten
Kämpfers. Die MPi hielt er locker, davon allerdings wollte ich mich auf keinen Fall täuschen lassen. Dann stieß er zu! So schnell, daß ich nicht wegkam. Ich war auch überrascht worden, und der Lauf seiner Waffe drückte sich tief in meinen Bauch. Mir wurde übel. Ich würgte, und die Bewegungen meiner Hände waren fahrig. Von oben her, für mich nicht sichtbar, erwischte mich der nächste Schlag. Diesmal traf er meinen Kopf, und es wurde dunkel um mich herum… *** Auguste Cresson kam sich vor wie in einer Sauna. Er schwitzte buchstäblich seine Angst aus. Er war völlig von der Rolle. Ihm war übel, er hatte Angst, geriet in Panik, und er hatte nicht nur das Kratzen der Klinge auf dem Dach gehört, er mußte jetzt auch mit ansehen, wie dieser Leibwächter auf Sinclair zuging. Wegen des offenen Seitenfensters hatte er der Unterhaltung zuhören können und wußte nun Bescheid. Sie wollten ihn, sie würden ihn bekommen, und sie würden ihn fertigmachen, bevor sie ihn ins Reich der Toten schickten. Das war nicht nur die Rache eines Sohnes. Am liebsten hätte Cresson den Wagen verlassen, um zu flüchten. Doch er wußte auch, daß es nicht klappen konnte. Das Beil war immer schneller als er. Im Lauf würde ihm der Kopf abgeschlagen werden. Obwohl er bald sterben sollte oder mußte, konnte er sich nicht zur Flucht entscheiden. Die Luft roch nicht mehr frisch und blumig, sondern nach Tod und Verderben. Er hatte den Eindruck, Moder und Fäulnis einzuatmen, ein Vorbote der endgültigen Vernichtung. Dann sah er zu, wie Sinclair nach dem ersten Schlag zusammensackte. Man hatte ihm die Mündung in den Magen gestoßen. Der zweite Hieb traf seinen Kopf und löschte das Bewußtsein aus. Damit war wieder eine Hoffnung zerplatzt wie die berühmte Seifenblase. Aus und vorbei. Es gab nur noch ihn und seine beiden Todfeinde. Cresson überlegte, er mit dem Laguna einen Fluchtversuch wagen sollte, das wäre wohl schiefgegangen. Er hätte erst wenden müssen, fast ein Ding der Unmöglichkeit. Weitere Zeugen waren noch nicht erschienen, doch im Rückspiegel entdeckte er ein ankommendes Fahrzeug. Diese Tatsache trieb seine Hoffnung wieder in die Höhe, aber auch die Schwarzen hatten den Wagen schon entdeckt, und sie handelten. Okuba war plötzlich am Wagen und riß die Fahrertür des Laguna auf. Blitzschnell stieg er ein, während Drack den dunklen Chrysler enterte und ihn zur Seite fuhr.
»Wie fühlt man sich neben dem Sohn eines Opfers?« flüsterte Okuba. Cresson schwieg. Beide hörten, wie das Beil seitlich über das Dach hinwegschabte und dann zu Boden fiel, wo es auch liegenblieb. Der andere Wagen war jetzt da. Ein gelber, staubiger und ziemlich alter Fiat rollte an ihnen vorbei. Zwei junge Leute saßen darin und schauten verwundert aus den Fenstern. Sie hielten aber nicht an, sondern rollten weiter. Ein Weinkrampf schüttelte den Henker. Er hatte verloren, das wußte er. Die Finger des Schwarzen klemmten sein Kinn ein. »Du heulst wie ein altes Weib, Henker! Früher hast du nie geweint. Du hast niemals Mitleid gehabt. Du hast sie alle getötet. Du bist herzlos gewesen. Es war dir auch egal, wen du getötet hast, selbst zwei Frauen starben unter den Hieben deiner Axt. Und dafür wirst du bezahlen…« »Das ist vorbei!« jaulte Cresson. »Nicht für mich.« Auguste versuchte es trotzdem. »Es waren andere Zeiten.« »Nein, nur andere Menschen. Schau mich an!« Als Cresson nicht gehorchte, drehte Okuba seinen Kopf so, daß er ihn anschauen mußte. Und dabei passierte etwas Unheimliches, denn die Züge des Sohnes alterten in Sekundenschnelle. Wie Cresson es schon in der Scheibe des U-Bahn-Fensters gesehen hatte, so passierte es auch hier. Das Gesicht blieb nicht mehr das gleiche. Ein anderes schob sich darüber, ein älteres und ein bekanntes. Es gehörte dem Medizinmann, das wußte Cresson, denn er war schließlich der Scharfrichter gewesen. Vater und Sohn wurden zu einer Person. Ein Toter und ein Lebender schoben sich zusammen, und etwas Kaltes wehte wie ein Eishauch aus dem Jenseits durch den Wagen. Jemand sprach. Es war nicht Cresson, aber auch nicht Okuba. Eine neue Stimme war entstanden, und auch sie hörte sich an, als wäre sie aus zwei Stimmen zusammengesetzt worden. Vater und Sohn eben… »Ich habe die alten Rituale erlernt und übernommen. Ich wußte, wie man den Tod kontaktiert. Der Weg ins andere Reich, in das Reich der Götter und Geister wurde mir freigemacht, und ich habe den Geist meines Vaters zurückholen können, der keine Ruhe finden konnte. Er wird erst seinen Frieden erhalten, wenn der nicht mehr lebt, der ihn getötet hat. Und das wird bald der Fall sein.« Cresson konnte keine Antwort geben. Er kam sich vor wie jemand, der aus seiner Welt hervorgerissen worden war und irgendwo zwischen den Zeiten schwebte. Wasser floß aus seinen Augen, Schleim aus der Nase, dann spürte er einen Schlag an der Stirn. Mit dem Hinterkopf prallte er gegen die
Seitenscheibe. Verschwunden waren die Kälte, die Stimme, das fremde Gesicht. Er schaute wieder in die Züge des Sohnes. »Du kannst jetzt fahren!« sagte Okuba. »Fahre dorthin, wo man dich erwartet und selbst ein Mann wie du noch Freunde hat. Aber sage ihnen, daß du den nächsten Morgen nicht erleben wirst. Daß wir immer auf dich achtgeben werden. Sage ihnen auch, daß sie dem Beil nicht entkommen können.« Er lachte und verließ den Wagen. Auguste Cresson kam nur langsam zu sich. Er wischte mit einem Taschentuch sein Gesicht trocken, konnte wieder normal sehen und starrte durch die Scheibe. Dort wartete Drack. Seine Maschinenpistole war verschwunden. Er hatte sie mit dem Henkersbeil vertauscht. Nahezu locker hielt er es in der rechten Hand und ließ es wie ein Pendel leicht über den Boden schwingen. Sein flaches Gesicht sah aus wie eine Maske, und die Haut wirkte so, als wäre sie mit alter Asche bestäubt worden. Sein Chef stand bereits am Chrysler. Beide Männer warteten darauf, daß Cresson startete. Das wollte er auch, nur mußte er zuvor den Platz wechseln. Er zitterte noch immer und fragte sich, ob er seelisch und körperlich überhaupt in der Lage war, ein Fahrzeug zu lenken, doch das war jetzt zweitrangig. Er mußte es einfach versuchen, wollte er noch einige Stunden am Leben bleiben. Als er den Motor gestartet hatte, trat Drack locker zur Seite und gab den Weg frei. Er konnte es aber nicht lassen, das Beil einzusetzen. Die Klinge schrammte über die rechte Seite hinweg und hinterließ dort eine weitere Macke. Schweigend und zitternd fuhr Auguste Cresson weiter. Er passierte auch den pechschwarzen Chrysler, der ihm vorkam wie ein rollender Sarg. Okuba war wegen der dunkeln Scheiben nicht zu sehen. Er lauerte wie ein Raubtier im Fond. Dann lagen die beiden hinter ihm. Vor ihm fiel der Blick auf die blühende Landschaft, die dem einsamen Fahrer vorkam wie ein gewaltiger Friedhof… Ich kam wieder zu mir. Irgendwie ging es ja immer weiter. Zwar hatte ich keinen Schädel aus Eisen, aber dieser Drack hatte nicht zu fest zugeschlagen, und auf der anderen Seite mußte es mir auch gelungen sein, den Kopf im letzten Augenblick noch zu drehen, so daß der Schlag teilweise an meinem Schädel abgerutscht war. Wie dem auch sei, man hatte mich ausgeschaltet, und ich lag bäuchlings und mit dem Gesicht im Dreck. Luft hatte ich trotzdem bekommen, denn ich hatte mich mühsam auf den Rücken gewälzt. Nun starrte ich in die blendende Sonne.
Es war zum Heulen. Außerdem war ich mir meiner Sache zu sicher gewesen. Ich hätte schneller und besser reagieren müssen. Statt dessen lag ich neben der Straße auf dem Feld und wußte nicht, ob ich mich gleich übergeben mußte. Verdammt übel war mir jedenfalls. Der Lauf der Waffe hatte sich tief in meinen Magen gebohrt. Später war dann noch der Kopftreffer hinzugekommen. Mein Schädel brummte, mein Magen revoltierte, und ich übergab mich… Danach ging es mir ein wenig besser. Über dem rechten Ohr war die Haut aufgerissen. Die Waffe hatte dort eine lange Schramme hinterlassen, aus der noch immer Blut quoll. Mein Kreislauf war nicht okay. Es war einfach zu warm. Ich kroch ein Stück vor und drehte mich schließlich so, daß ich über den Graben hinweg auf die Straße schauen konnte, die vor mir als graues, leeres Band entlanglief. Einsamkeit umgab mich. Ich kam mir verlassen vor. Ich war reingelegt und ausgeschaltet worden. Da half kein Fluchen, kein Ärgern, es war nun mal so. Aber ich mußte weiter. Ich durfte auf keinen Fall hier liegenbleiben und mich ausruhen. Die Worte des Diplomaten hatte ich nicht vergessen. Er würde sich rächen und den Henker zunächst leiden lassen. Und er würde außerdem all diejenigen töten, die es wagten, Cresson zu beschützen. Davon war ich weit entfernt, nicht aber meine TemplerFreunde. Ich ging davon aus, daß die beiden Afrikaner Cresson hatten fahren lassen. Sie wollten ihn ja quälen und an seiner eigenen Angst vergehen lassen. Und sie waren durch ihre verfluchte Voodoo-Magie so stark, um alle Hindernisse überwinden zu können. Wie viele Kilometer lagen noch vor mir, bis ich Alet-les-Bains erreichte? Ich konnte mir darauf keine Antwort geben und dachte daran, daß es zu viele waren. Dennoch wollte und konnte ich nicht auf diesem verdammten Feld liegenbleiben. Ich mußte mich aufraffen und losziehen. Schwankend, erschöpft, mit Kopf- und Leibschmerzen, aber es blieb mir nichts anderes übrig. Außerdem gab es da noch den Begriff Glück. Die Strecke nach Alet-lesBains war nur wenig befahren. Ich setzte meine Hoffnung trotzdem darauf, daß ein Autofahrer Mitleid bekam und mich einsteigen ließ – wenn er mich sah. Ich raffte mich auf, mußte mich jedoch mehrmals abstützen, sonst wäre ich gefallen. Auf dem unebenen Untergrund blieb ich breitbeinig stehen, schwankend, nach einem Halt suchend, den es nicht gab. Den Graben konnte ich nicht überspringen. Ich durchkletterte ihn und war froh, endlich Asphalt unter den Füßen zu spüren, der mir doch einen gewissen Halt gab. . Erst jetzt kam mir der Gedanke, nach meinen Waffen zu forschen.
Es gab mir Mut, als ich die Beretta fand. Der Leibwächter hatte sie mir nicht abgenommen. Ein Fehler? Darauf hoffte ich, aber noch war es nicht soweit. Die ersten Schritte fielen mir schwer. Ich schaute nach unten und beobachtete zunächst den eigenen Schatten. Dann blickte ich in die Weite vor mir, wo die Luft im Licht der klaren Sonne tanzte, aber die Häuser von Alet-les-Bains waren noch nicht zu sehen. Wie zum Hohn erschien wenig später eine Bushaltestelle. Ich überlegte, ob ich auf den Bus warten sollte, doch das dauerte mir zu lange, deshalb schleppte ich mich weiter. Immer der Straße folgend, in der Hoffnung, bald an das Ziel zu gelangen. Die Beine und Füße waren schwer. Oft genug schleiften sie über den leicht angerauten Straßenbelag, und ich kam mir vor wie ein Bär. So wurden Helden gemacht, aber sehr traurige, wie ich einer war. An die Stille der Landschaft hatte ich mich gewöhnt. Ich lauschte meinem Atem und den Tritten. Fremde Geräusche würden mir sehr schnell auffallen. In der Tat hörte ich eines. Ich baute mich am Straßenrand auf, drehte mich um und schaute einem Wagen entgegen, der in meiner Richtung fuhr. Ich hob beide Hände und hoffte. Vergeblich. Der Wagen rauschte an mir vorbei. Und der Fahrer lachte mir sogar noch zu. Den Fluch, den ich dem Fahrzeug nachschickte, hörte der Fahrer zum Glück nicht. Er hätte ihm bestimmt das Lachen verdorben. Dann kam ich auf die Idee, mal nach der Zeit zu sehen. Die Zeiger der Uhr verschwammen, ich mußte schon genauer hinschauen und stellte fest, daß der Nachmittag weit fortgeschritten war. Die Sonne bewegte sich in Richtung Westen. Ich ging weiter. Immer am Rand der Straße entlang. Ich wollte dabei meine Gedanken ausschalten und einfach nur gehen. Die Beine in Bewegung halten, die mich irgendwann ans Ziel brachten. Ein Dröhnen schreckte mich aus meinem Tran. Sofort hämmerten die kleinen Bohrer in meinem Kopf stärker. Ich drehte mich mühsam um und entdeckte hinter mir ein Ungeheuer, einen modernen Saurier. Dabei war es nur der normale Linienbus. Der Fahrer hatte mich gesehen, und er hatte nicht nur gehupt, er war auch dabei, seine Geschwindigkeit zu senken. Für mich der Beweis, daß er stoppen wollte. ‘ Ich blieb stehen. Der Busfahrer hatte die Bremse bereits betätigt. Ich hörte das Zischen, und dann stoppte der Bus direkt neben mir. Die Tür öffnete sich, ich konnte einsteigen, und die großen Augen des noch jungen Fahrers schauten verwundert zu, wie ich mich in das Fahrzeug hineinquälte. Zum Glück gab mir eine Stange Halt. »Himmel, was ist denn mit Ihnen los?« Ich stöhnte, verzog das Gesicht und gab die Antwort ziemlich krächzend. »Ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
»Das ist gut. Wo wollen Sie denn hin?« »Alet-les-Bains.« Ich legte eine Handvoll Kleingeld hin. »Merci.« Der Bus war beinahe leer. Nur im hinteren Bereich saßen zwei ältere Frauen und unterhielten sich leise. Ich suchte mir einen Platz in der Mitte aus und ließ mich erschöpft in den Sitz fallen. Erst als ich saß, startete der Fahrer. Ging es mir gut? Nein, aber es ging mir besser. Ich brauchte nicht mehr zu laufen, und ich konnte darauf hoffen, bei meinen Templer-Freunden die richtige Behandlung zu finden, wobei ich Cresson und eigentlich uns allen die Daumen drückte, daß sich Okuba bisher mit seiner Rache zurückgehalten hatte. Über meine nächsten Gedanken mußte ich selbst grinsen. Im wilden Westen war der Held immer auf einem Pferd in die Stadt geritten. In SFFilmen kam er im Raumschiff oder durch ein Schwarzes Loch, wie auch immer. Ich aber fuhr mit dem Bus, obwohl ich ihn auf dem Fahrplan übersehen hatte. Nun ja, Helden sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren… *** Er hatte es geschafft, aber Cresson hatte sich nur wenig beruhigen können. Zumindest war die große Furcht verschwunden, und er hatte auch das Refugium der Templer gefunden, wo der Abbé ihn schon vor der Haustür begrüßt und auch in die Arme geschlossen hatte. Dann aber hatte er die Frage gestellt, vor der sich Cresson fürchtete. »Wo ist John Sinclair?« Der Henker schaute den Templer an. Er wollte reden, konnte aber nicht. Er schluckte, und Bloch merkte sehr schnell, daß mit seinem Besucher etwas nicht stimmte. »Kommen Sie erst mal rein.« Er führte seinen Gast in den kühlen Flur und dann durch bis zu seinem Arbeitszimmer, wo Cresson auf einem Stuhl Platz fand und ins Leere starrte. Jemand brachte Wasser. Cresson trank, hatte den Kopf dabei angehoben und hätte den Knochensessel sehen müssen, was wahrscheinlich auch der Fall war, aber er schaute einfach hindurch oder an ihm vorbei. Er leerte das Glas, goß nach und trank wieder. »Geht es Ihnen jetzt besser?« »Ja.« »Das ist gut.«
Cresson hob die Schultern. »Wir haben wohl beide versagt, John und auch ich.« »Lebt er denn?« »Das hoffe ich.« Der Abbé blieb ruhig. »Sehr hoffnungsfroh hat das aber nicht geklungen.« »Das weiß ich.« Cresson senkte den Kopf, schüttelte ihn und flüsterte dann. »Ich werde in dieser Nacht sterben.« Bloch hatte die Worte sehr wohl gehört, ging aber nicht auf sie ein, sondern wollte wissen, was auf der Fahrt in den Ort geschehen war, und Auguste antwortete mit einem schlichten Satz: »Wir sind überfallen worden!« »Was? Von wem?« »Von zwei Afrikanern, Abbé. Von denen, die die Rache wollen. Ich war ein Feigling. Ich war nicht mehr so gut wie noch vor einem Jahr, als ich Sie aus dem Wasser fischte. Diesmal habe ich nicht eingreifen können, um John aus der Patsche zu hauen…« »Wissen Sie, Auguste, Sie dürfen das nicht so eng sehen. Es waren sicherlich andere Verhältnisse als damals in Paris.« »Das stimmt«, gab er zu. »Würden Sie mir genau berichten, was Sie auf der Straße erlebt haben?« »Das werde ich.« »Sie können sich Zeit lassen, Auguste, wir sind hier sicher und auch unter uns!« Cresson hob den Kopf. »Sicher?« flüsterte er und gab sich selbst die Antwort. »Nein, wir sind auf keinen Fall sicher, Abbé. Man ist vor dem Beil nie sicher. Wenn die anderen es gewollt hätten, dann wären John und ich schon längst tot.« »Aber sie wollten es nicht?« »So ist es.« »Kennen Sie den Grund?« »Der wurde uns genannt«, murmelte Cresson, »eigentlich mir, weil es mich ja etwas anging. Ich soll nicht sofort sterben, sondern Todesqualen erleiden, wie es meine Opfer damals getan haben. Wenn ich darüber nachdenke, finde ich es sogar irgendwie gerecht. Ich war eine Mordmaschine, ich war ein…« »Bitte, drücken Sie die Emotionen zurück. Bleiben Sie bei der Sache, Auguste.« »Von Beginn an?« »Gern.« Cresson überlegte. Er faltete die Hände zusammen wie jemand, der betet. Während er sprach, schaute er den Abbé nicht an. Er schämte sich, er redete ins Leere und über den Tisch hinweg, aber er ließ keine
Einzelheit aus, und Bloch hörte gespannt zu, später auch weniger sorgenvoll und erleichtert, weil er einfach davon ausging, daß sein Freund John Sinclair nicht tot war. »So, jetzt wissen Sie alles.« »Merci, mon ami, das war sehr gut. Aber Sie entschuldigen mich für einen Moment.« »Wo wollen Sie hin.« »Nur den Freunden Bescheid geben, daß sie sich in den Wagen setzen und John Sinclair suchen sollen. Ich möchte ihn so rasch wie möglich hier bei uns haben.« »Das ist eine gute Idee.« Der Abbé ging nach draußen und ließ seinen Gast allein zurück. Kurz bevor die Tür zuschlug, wehte aus dem Flur noch ein kühler Luftzug durch den Raum und ließ Cresson schaudern. Er schaute schnell zur Tür, entdeckte dort aber nichts Verdächtiges. Es war klar, daß sich seine Gedanken ständig um das tödliche Beil drehten. Er wußte selbst, wie höllisch scharf es war, schließlich hatte er es lange genug benutzt. Sein Mund war vom langen Reden wieder trocken geworden. Er goß Wasser in sein Glas und trank wieder. Es ging ihm rasch besser, und als er einen Blick auf seine Hände warf, da sah er, daß sie nicht mehr so stark zitterten. Es ging ihm besser. Würde es auch so bleiben? Cresson schaute sich endlich richtig um. Er sah die Bücher in den Regalen, er sah auch das spartanische Bett oder mehr eine Liege, auf der sich der Abbé hin und wieder ausruhte, er sah das Fenster, und er sah auch den Sessel. Zum erstenmal nahm ihn der Mann richtig wahr. Er konnte kaum fassen, daß dieser Sessel nicht aus einem normalen Material bestand, wie es üblich war, sondern aus Gebein! Knochen – dunkel und leicht glänzend. Der Sessel bildete einen regelrechten Körper. Die Schultern waren als Lehnen ausgelegt, und in deren Mitte ragte ein Totenschädel hoch. Der Anblick des Knochensessels wühlte den Mann auf. Er war kurz davor, sich in die Höhe zu stemmen, um das Zimmer zu verlassen. Durch den Sessel war es für ihn zu einem Horror-Kabinett geworden, und er fragte sich zwangsläufig, in was er da hineingeraten war. Wie konnte ein so frommer und ausgeglichener Mensch, wie der Abbé es war, sich nur einen derartigen Gegenstand in den Raum stellen? Das wollte ihm nicht in den Kopf. Das war einfach nicht zu fassen. Schon beim Eintreten hatte er den Eindruck gehabt, nicht in ein normales Kloster zu gelangen. Dies hier war etwas anderes. Es war
geheimnisvoller, düsterer und durch die Existenz des Sessels auch erklärbarer geworden. Die dunklen Gebeine hatten keine einheitliche Farbe. Mal changierten sie heller, mal dunkler, und als er den Kopf betrachtete, da hatte er den Eindruck, als läge in den tiefen und leeren Augenhöhlen ein geheimnisvolles und finsteres Leuchten, vergleichbar mit einem unheimlichen Feuer, das seinen Weg von der Hölle her in die normale Welt gefunden hatte. Ein derartiges Sitzmöbel verursachte bei einem sensiblen Menschen Alpträume, und auch Auguste Cresson mußte sich einfach schütteln. Hinter dem Sessel befand sich ein hohes Fenster, groß genug, um einen Schwall Tageslicht in den Raum fallen zu lassen. Das Skelett sah im Licht aus, als wäre es dabei, allmählich ins Leben zurückzukehren. Cresson hatte eine Gänsehaut bekommen, und die wiederum verstärkte sich, als er den Schatten sah. Er war durch das Fenster gedrungen. Ein langer und düsterer Schatten, ein Streifen im Licht des Tages, der sich auch auf dem Boden abzeichnete. Der Schatten des Beils! Auguste Cresson stieß einen jammernden Laut aus. Er wußte plötzlich, daß sie ihn gefunden hatten, daß er nicht mehr allein war. Ihm war klar, daß ihm der Abbé und seine Freunde keinen Schutz bieten konnten. Der Schatten und das verfluchte Henkersbeil überwanden jedes Hindernis. Es war da, aber es materialisierte sich nicht. Das Beil blieb als Schatten bestehen, als wollte es dem starren Zuschauer klarmachen, daß er keine Chance hatte. Auguste zitterte wieder. Seine Hände konnte er nicht ruhig halten. Die Kuppen der Finger trommelten auf die Tischplatte, ohne daß er es bewußt wollte. Er wollte aber auch nicht mehr in diesem Raum bleiben, wo dieser Knochensessel stand und sich der Schatten der Mordwaffe abzeichnete. Es dauerte ihm auch viel zu lange, bis der Abbé zurückkehrte. Wenn er jetzt hiergewesen wäre, dann hätte er sehen können, daß alles keine Hirngespinste waren. Auguste hatte sich endlich überwinden können und sprang auf. Er rutschte für einen Moment an der Tischkante entlang, bekam freie Bahn und stürzte auf die Tür zu, die genau in diesem Moment geöffnet wurde. Zum Glück langsam, sonst wäre sie gegen den Körper des Mannes geschlagen. Im letzten Augenblick konnte Cresson zurückweichen, und dann stand der Abbé vor ihm. »Was ist los, Auguste?« Cresson konnte nicht reden. Der ehemalige Henker mußte erst nach Worten suchen. Dabei schaute er sich scheu um, und Bloch folgte dem Blick des Mannes in Richtung Fenster, wo aber nichts zu sehen war,
abgesehen von dem Knochensessel. Es war möglich, daß ihn dieser Gegenstand erschreckt hatte, aber glauben konnte es der Abbé nicht so recht. »Er… er… war da!« stieß Cresson schließlich hervor. Bloch schloß die Tür. »Wer war da?« »Der Schatten!« »Bitte?« »Ja, ja!« schrie Cresson und schlug mit den flachen Händen auf seine Oberschenkel. »Der Schatten des Beils. Ich habe ihn gesehen. Er drang durchs Fenster in dieses Zimmer. Er hat sich mir gezeigt. Er wollte mir beweisen, daß ich nicht sicher bin. An keinem Platz der Welt. Auch bei euch nicht, verdammt!« Der Abbé schwieg, drückte Cresson aber zurück, so daß sich dieser wieder an den Tisch setzen konnte. Der Raum war leer, es gab keine Schatten, außer den normalen, und Bloch trat an einen schmalen, dunklen Schrank heran, wo er eine Tür öffnete. Er holte eine Flasche und zwei Gläser hervor. Beides stellte er auf den Tisch. Cresson saß in gekrümmter Haltung da, Arme und Kopf auf dem Tisch. Er stöhnte leise vor sich hin und schaute erst hoch, als er das Gluckern hörte, mit dem der Selbstgebrannte in die Gläser lief. »Sie sollten einen Schluck trinken.« »Ha – das hilft auch nichts.« »Man weiß nie.« »Ein Selbstgebrannter Schnaps.« »Bon.« Auguste nahm das Glas. Er schaute kurz hinein und kippte das Zeug in die Kehle, zugleich mit dem Abbé, der ebenfalls einen Schluck vertragen konnte. Beide stellten die Gläser sofort ab und schüttelten sich auch, als hätten sie sich abgesprochen. »Nun?« Cresson hob die Schultern. »Ich bleibe bei meiner Aussage«, flüsterte er. »Der Schatten war hier.« »Das bestreite ich auch nicht.« »Ja«, murmelte der Henker, »warum auch? Ich bin nur froh, daß ich nicht mehr allein hier hocke. Was haben Sie denn erreicht?« »Nun ja, ich habe zwei meiner Brüder losgeschickt, um Sinclair zu suchen. Dann sind einige unterwegs, um den Ort zu durchforsten, denn ein Wagen, so wie Sie ihn beschrieben haben, muß eigentlich auffallen. Niemand fährt hier einen schwarzen Chrysler.« »Er ist bestimmt schon da«, sagte Cresson leise. »Diese Hundesöhne sind schnell. Sie haben ihre Rache von langer Hand vorbereitet – und ich…« Er hob die Schultern. »Verflucht noch mal, ich kann es ihnen nicht mal verübeln. Ich habe Okubas Vater getötet, einen Medizinmann, der mir noch kurz vor seiner Hinrichtung Rache schwor, aber ich habe
damals nur darüber gelacht. Ich nahm ihn nicht für ernst. Ich hielt das alles für primitiven Mist. Jetzt muß ich das ernten, was ich damals gesät habe.« Er drehte seine Hände um und legte sie mit den Handrücken auf die Tischplatte. »Schauen Sie sich die Hände an, Abbé. Schauen Sie bitte genau hin. An ihnen klebt Blut, viel Blut, auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Es ist die Wahrheit. Ich habe die Menschen umgebracht, ich habe sie geköpft, und ich bin dafür bezahlt worden. Hätte ich es nicht getan, dann wäre mein Leben vorbei gewesen. Wer nicht in der Stromlinie des selbsternannten Kaisers Bokassa schwamm, der wurde vernichtet.« »Sie haben etwas gesagt, das ich genau verstanden habe, Auguste. Ich bin Ihnen etwas schuldig. Sie haben sich für mich eingesetzt, aber ich kann Ihnen nicht sagen, daß ich Sie verstehe oder Verständnis für Sie habe.« »Das ist vollkommen klar, Abbé, denn uns trennen wirklich Welten.« Er verzog die Lippen. »Sie stehen auf der positiven Seite, ich auf der negativen. Das Leben hat die Karten gemischt, und ich habe die falschen gezogen.« Auch der Abbé hatte sich wieder gesetzt. »Sie haben gesündigt, Auguste, das steht fest. Sie haben das Blut zahlreicher Unschuldiger vergossen, damit müssen Sie fertigwerden. Niemand kann Ihnen dabei helfen und Ihr Gewissen beruhigen, das wissen Sie so gut wie ich. Es ist alles klar, was die Vergangenheit angeht, doch nun sollten wir in die Zukunft schauen, und damit meine ich die nächsten Stunden und die vor uns liegende Nacht, die wir beide überstehen müssen.« »Das schaffen wir nicht!« »Abwarten und Kopf hoch. Denken Sie daran, daß wir nicht allein sind und einen Mann wie John Sinclair…« »Der nicht hier ist, Abbe.« »Er wird kommen!« »Was macht Sie so sicher?« »Ich kenne ihn.« »Er wurde niedergeschlagen. Man weiß nicht, wie schwer er verletzt ist.« »Das wird sich alles herausstellen, aber John Sinclair besitzt eine Waffe, die sehr stark ist. Vielleicht haben Sie schon einen Bück auf sein Kreuz werfen können und…« »Ja, im Flieger.« Er räusperte sich. »Der Schatten ist schnell verschwunden. Ob es allerdings an der Existenz des Kreuzes gelegen hat, weiß ich auch nicht. Es kann auch andere Gründe gegeben haben.« »Ich gebe Ihnen recht, wir wollen darüber nicht weiter diskutieren. Ich möchte noch einmal auf den Schatten zurückkommen. Sie haben ihn gesehen, ohne den Gegenstand entdeckt zu haben, der den Schatten geworfen haben könnte.«
»Das stimmt.« Cresson hob den Finger. »Aber Sie müssen eines bedenken. Der Schatten kann sich zeigen, ohne daß etwas vorhanden ist, das ihn zeichnet. Das ist der Unterschied. Wir haben es hier mit einem nicht erklärbaren Phänomen zu tun, zumindest ist es das für mich. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken…« »Ich nehme es hin.« Cresson schwieg. »Und was werden wir noch unternehmen?« fragte er nach einer Weile. Der Abbé lächelte. »Wissen Sie, mein Lieber, ich bin für einige Zeit blind gewesen. Es war schlimm für mich, aber ich habe auch dabei gelernt, geduldig zu sein. Vielleicht auch demütig, wer kann das schon genau sagen? Jedenfalls müssen wir die Zeit nützen, solange noch nichts passiert ist. Der Schatten wird zurückkehren, dessen bin ich mir sicher, und ich glaube auch daran, daß er sich materialisiert und plötzlich das Henkersbeil über uns schwebt.« »Uns, sagen Sie?« »Ja, warum nicht?« »Aber ich bin gemeint.« »Ich werde an Ihrer Seite sein!« sagte Bloch. Cresson lehnte sich zurück. »Wissen Sie, Abbé, es ist alles so schwer für mich, so schrecklich schwer zu ertragen. Ich komme mit diesen Dingen nicht zurecht. Sie haben mich erwischt wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ich kann nur noch versuchen, Reue zu zeigen, bevor ich sterbe.« »Rechnen Sie denn mit Ihrem Tod?« »Ja, Abbé, ja!« Cresson schaute sein Gegenüber fest an. »Damit rechne ich!« »Sie sollten etwas Optimismus zeigen. Klar, ich verlange da viel von Ihnen, aber…« »Bitte, ich möchte noch eines.« »Und was?« Auguste Cresson schluckte erst seine Kehle frei, bevor er eine Antwort gab. »Ich möchte beichten, Abbe«, flüsterte er. »Ja, ich möchte hier bei Ihnen meine Beichte ablegen.« Beinahe flehentlich schaute er den Freund an. »Sind Sie einverstanden?« Bloch brauchte nicht lange, um seine Antwort zu geben, und sie klang auch ehrlich. »Ja, ich bin einverstanden.« »Gut, gut«, flüsterte Cresson. Er faßte an seine Brust. »Der Stein ist weg, und ich möchte Sie bitten, daß wir mit der Beichte beginnen…« »Dem steht nichts im Wege.« ***
Der Bus hatte wieder gehalten, und zwei Typen waren noch zugestiegen. Sie gehörten zur jungen Generation und waren so gekleidet, als wollten sie zum Baseballspiel gehen. Schirmmützen verkehrt herum, sie trugen Jeans, die Löcher und Risse zeigten, hatten auch Sweatshirts übergestreift und benahmen sich cool und lässig, wie man so schön sagt, was im Endeffekt bedeutete, daß sie überhaupt kein Benehmen im eigentlichen Sinne hatten, denn sie gingen durch den Mittelgang und sahen alles, was fest verankert war, als ihre Feinde an. Mit den hohen Schuhen, die Springerstiefeln ähnelten, aber weicher waren, traten sie gegen die Sitze und Stangen. Auch vor mein Schienbein. Ich hatte es im letzten Augenblick noch ein Stück zurückziehen können, so wurde ich nur gestreift. Trotzdem zuckte ich zusammen und schaute in die Höhe. Zwei grinsende Gesichter starrten auf mich nieder. Ich gab keinen Kommentar ab und drückte mich ein Stück zum Fenster hin. Ich wollte keinen Ärger, sondern nur einfach in Ruhe gelassen werden, denn die tat meinem malträtierten Kopf gut und auch dem Magen, der noch unter den Folgen des Treffers zu leiden hatte. Lachend gingen die beiden Typen weiter. Irgendwo hinter mir lümmelten sie sich auf die Sitze. Der Bus war wieder angefahren, und ich kriegte die Unebenheiten der Straße doppelt zu spüren. Immer dann, wenn sie zu stark waren, zuckten Stiche durch meinen Kopf. Wir rollten durch die leere, aber wunderschöne Landschaft, und die am Himmel stehende Sonne hatte allmählich einen anderen Farbton bekommen. Das grelle Gelb war verschwunden und hatte einem satten Eierfarbton Platz geschaffen. Von dem schwarzen Chrysler und den beiden Afrikanern hatte ich bisher nichts gesehen. Sie waren und blieben verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Da dies nicht der Fall war, ging ich davon aus, daß sie Alet-les-Bains längst erreicht hatten. Einmal kam uns ein Wagen entgegen, in dem zwei Männer saßen. Ich hatte zwar nur einen flüchtigen Blick auf das Fahrzeug werfen können, glaubte aber, die beiden erkannt zu haben. Sie gehörten zu der Gruppe der Templer, die der Abbé um sich versammelt hatte. Ich überlegte und kam zu dem Schluß, daß sie mich möglicherweise suchten. Sie würden Pech haben. Wenn sie mich nicht fanden, konnten sie sich ihre eigenen Gedanken machen. Als ich nach rechts schaute, fiel mir die Felskette auf, die sich wie ein mächtiger Block aus der Landschaft abhob und eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Stellen in den Dolomiten aufwies. Die Felsen kannte ich, denn dort befand sich auch die Kathedrale der Angst, die schmale Schlucht zwischen den beiden Wänden.
Ich schickte einen stummen Gruß zu dem dort liegenden silbernen Skelett des Hector de Valois und fühlte mich besser, denn von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Ziel. Hinter mir lärmten die beiden >coolen< Typen. Ich hörte Papier knistern, und dann hatten sie sich meinen Kopf als Zielscheibe ausgesucht. Die beiden älteren Frauen im Hintergrund waren verstummt. Wenn ich mich recht erinnerte, konnten die jungen Kerle nicht älter als achtzehn sein, aber sie waren mit den Gehirnen von Kindern ausgestattet. Ich kümmerte mich nicht um sie, was ihnen auch nicht recht war, denn einer von ihnen stand auf und kam auf mich zu, was ich an dem durch den Mittelgang wandernden Schatten erkannte. Neben meinem Sitz blieb er stehen. »He du!« »Was ist?« »Da liegt was auf dem Boden.« »Bitte?« Der Knabe zog den Mund in die Breite. »Papier.« »Stimmt, das sehe ich.« »Klasse, Mann. Heb es auf!« »Ich habe es dort nicht hingeworfen.« »Wer dann?« »Du – oder dein Freund.« Auf diese Antwort hatte er gewartet. Seine Hände schössen plötzlich vor, er zerrte mich aus dem Sitz hoch, und mein Kopf schien durch diese heftige Bewegung in Stücke zu fliegen. Vielleicht sah ich auch deshalb rot und hämmerte dem > coolen < Typ die Faust dicht über der Gürtelschnalle in den Leib, daß der Knabe grün wurde und zusammenbrach. Mit einem Tritt beförderte ich ihn weiter im Gang zurück, wo sein Kollege aufgesprungen war. »Willst du auch was?« fragte ich ihn. Er starrte mich eine Weile an, dann schüttelte er den Kopf. »Aber ich will, daß du das Papier aufhebst, und alles andere auch noch.« »Ja, ja, Monsieur!« riefen die beiden Frauen synchron. »So ist es richtig. Zeigen Sie den Leuten mal, daß nicht alles geht. Ihnen gehört die Welt nicht allein.« Der zweite Kerl zog das stöhnende Bündel weiter zurück, damit er freie Bahn hatte. Plötzlich kam auch der Fahrer. Ich hatte nicht bemerkt, daß wir angehalten hatten. »Gut gemacht!« lobte er mich. »Diese Arschgeigen verstehen eben keine andere Sprache.« »Was traurig ist.« »Ja, aber so ist die Welt nun mal.« Da hatte er recht. Oder auch nicht, denn nicht alle jungen Leute waren so.
Wir setzten die Fahrt fort. Da ich die Gegend kannte, wußte ich, daß nach der nächsten großen Kurve der Ort Alet-les-Bains vor uns liegen mußte. In der Tat konnte ich in die Mulde oder den kleinen Talkessel hineinschauen, wo sich die Häuser zusammendrängten. Weiter oben an den Hängen standen die neueren Bauten, die Bungalows der Fremden, die hin und wieder den Urlaub hier verbrachten. Als die nächste Haltestelle in Sicht kam, war der Boden sauber. Ich stieg als erster aus, der Fahrer bedankte sich bei mir, und ich gab den Dank zurück. Ich befand mich bereits in Alet-les-Bains, wo ich fast wie zu Hause war. Ich brauchte auch nicht weit zu gehen, um das Haus der Templer zu erreichen, was natürlich wichtig für mich war. Absolute Priorität jedoch hatten für mich die beiden Afrikaner und natürlich deren Auto. Der Chrysler konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Er mußte hier irgendwo abgestellt worden sein, vorausgesetzt, sie hatten ihn nicht vor dem Ort in ein Versteck gefahren. In der Nähe befand sich ein alter Brunnen, der längst kein Wasser mehr führte. Er stand auf einem kleinen Platz, eine alte Eiche wuchs dort, und die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schein auf Platz, Baum und Brunnen. Es waren Menschen draußen. So hatten sich um den Baum herum Jugendliche versammelt, die ihre Spaße trieben, aus einem Restaurant klang Musik, und dann sah ich einen Mann über den Platz hasten, der die Kutte der Templer trug. Vom Ansehen her kannte ich ihn. Er kannte mich ebenfalls, schrak aber trotzdem zusammen, als ich ihm in den Weg trat. »Mon Dieu… Sie…?« »Oui.« »Oh, der Abbé hat auf Sie gewartet.« »Hat er denn schon Besuch bekommen?« »Ja.« »Und weiter?« »Er hat zwei meiner Brüder weggeschickt, um nach Ihnen zu suchen, Monsieur Sinclair. Sie sind mit dem Wagen gefahren.« Ich lächelte verkrampft. »Da werden Sie Pech haben. Was anderes noch, Sie sehen mir aus, als hätten Sie ebenfalls einen Auftrag bekommen.« »Wir haben nach einem Wagen gesucht.« »Chrysler? Schwarz?« »Genau nach dem.« »Haben Sie ihn gefunden?«
Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht, und seine Antwort elektrisierte mich. »Sie haben ihn zwar versteckt abgestellt, aber nicht versteckt genug.« »Reden Sie schon!« »Es gibt da eine Gärtnerei, die leersteht. Der Chrysler befindet sich in einem der Gewächshäuser.« »Beschreiben Sie mir den Weg.« Das war in wenigen Sekunden geschehen. Ich gab dem jungen Mann noch mit auf den Weg, dem Abbé zu sagen, wo ich mich befand, und machte mich dann auf die Suche. Vielleicht hatte ich ja Glück und fand beide. Eines nahm ich mir jetzt schon vor. So überraschen wie beim erstenmal würden sie mich bestimmt nicht… *** Das Gelände der Gärtnerei wirkte wie ein verlassener und dabei noch ausgetrockneter Friedhof. Eine breite Zufahrt mündete in einen Parkplatz. Das Fahrzeug in dem Gewächshaus sah verlassen aus. Trotzdem wollte ich vorsichtig bleiben und mich nicht täuschen lassen. Von der linken Seite her schlich ich auf das Haus zu. Eine Umzäunung des Geländes war nicht vorhanden, und es spielten auch keine Kinder auf dem Grundstück. Es war tatsächlich gemieden worden, als hätte sich dort etwas Furchtbares versteckt. Wer immer die Gärtnerei besessen hatte, beim Aufräumen hatte er nicht alle Pflanzen verkauft oder mitgenommen. Es standen noch genügend verödete Bäume herum, die meisten nur kopfhoch, aber sie gaben mir zumindest etwas Schutz. Ich hatte festgestellt, daß ich von der linken Seite aus gut in das Gewächshaus mit dem dort stehenden Chrysler gelangen konnte. Da war das Glas aus seinem Verbund geschlagen worden. Die riesigen Löcher präsentierten sich wie große Mäuler, und ich brauchte beim Betreten nicht mal den Kopf einzuziehen. Eine der breiten Tischreihen, die normalerweise mit Erde und Pflanzen gefüllt waren, stand noch. Sie bildete nicht mehr als ein starres, dunkles Skelett. Von mir aus gesehen hinter ihr ragte die Karosserie des Autos hoch. Der Boden war mit matschigen und verfaulten Resten aus Blättern und kleinen Zweigen bedeckt. In der Luft hing ein Geruch der Fäulnis, die auch der Wind nicht hatte vertreiben können. Ich war stehengeblieben und hatte mich geduckt. Ich lugte über die breite Kante des langen Pflanzentisches hinweg und wartete auf eine Bewegung.
Es war nichts zu sehen. Beide Afrikaner hatten die unmittelbare Nähe ihres Fahrzeugs verlassen. Natürlich waren sie auf der Suche nach dem Opfer. Auch ich hätte zu den Templern gehen sollen, aber ich wollte keine Chance auslassen. Es konnte ja durchaus möglich sein, daß sich die beiden Männer etwas ausgedacht hatten, um sich den Rückweg freizuhalten. Deshalb war ich auch davon ausgegangen, daß möglicherweise einer der beiden am Fahrzeug zurückgeblieben war. Bisher hatte ich keinen gesehen. Ich wollte näher an den Wagen heran, duckte mich und kroch unter den Verkaufstisch hinweg. Geräusche ließen sich nicht vermeiden, hielten sich aber in Grenzen. Der Chrysler war noch warm, wie man so schön sagt. Lange konnte er hier nicht abgestellt worden sein. Er strömte einen bestimmten Geruch aus, und ich schaute durch die Scheiben in das Innere. Leer! Das hatte ich mir gedacht. Langsam richtete ich mich, noch immer neben dem Auto stehend, auf. Ich hatte es irgendwie im Gefühl, ich war mir sicher, daß ich mich nicht allein in diesem alten Gewächshaus befand. Vor dem Henkersbeil fürchtete ich mich nicht, mir ging es mehr um die Menschen, die das Beil kontrollierten. Dann hörte ich ein Geräusch. Keinen Tritt, nichts über den Boden Schleichendes, es war ein Laut, wie er nur aus dem Mund eines Menschen dringen konnte, und ich sah in ihm so etwas wie eine Bestätigung. Meine Hand näherte sich der Waffe, aber jemand anderer hatte die Bewegung bereits gesehen. »Laß sie stecken, Mann! Du wärst sonst tot!« Der Typ hatte nur flüsternd gesprochen. Es hatte für mich ausgereicht, um zu erkennen, wen ich mir da als Gegner ausgesucht hatte. Drack – ausgerechnet Drack, der Leibwächter, die Kampfmaschine aus dem Schwarzen Erdteil oder wie auch immer. Ich blieb gelassen und drehte den Kopf nach links. In dem teilzerstörten Gewächshaus war es nicht finster. Aber es herrschte auch ein ungewöhnliches Licht, denn das schwächer werdende Tageslicht wurde von den schmutzigen Fenstern des Gewächshauses noch gefiltert. Drack mußte geduckt auf mich gewartet haben. Das war nun vorbei, denn er hatte sich in die Höhe geschoben und stand vor mir wie eine gefährliche Gestalt, die etwas in den Händen hielt, auf dem sich Lichtschimmer spiegelten. Ich wußte sofort, daß es seine Maschinenpistole war und sah ein, wie mies meine Chancen waren. Mit dem Inhalt des Magazins konnte er gleich mehrere Menschen töten, wenn er nur richtig streute.
Als er lächelte, schimmerten seine weißen Zahnreihen. Nur traute ich dem Lächeln nicht, und das zu Recht, denn seine Worte bestätigten mich. Die Stimme hatte einen etwas singenden Klang, der mir erst jetzt richtig auffiel. »Du hättest dich an unsere Warnung halten sollen, Meister. Wir haben es ernst gemeint. Es war kein Spaß. Wir haben dir sogar eine Chance geben wollen. Warum hast du sie nicht genutzt?« »Weil es meine Pflicht ist, Menschen vor dem Tod zu retten!« Welch ein Pathos, dachte ich, aber irgendwo stimmte es. Diese Verpflichtung hatte ich übernommen. »Einen hundertfachen Mörder?« »Ja!« »Was ist das für eine Logik? Erkläre sie mir, bevor auch du sterben wirst.« Den letzten Teil der Antwort wischte ich zunächst zur Seite. »Mit meiner Antwort habe ich nicht sagen wollen, daß ich diese Dinge gutheiße, das auf keinen Fall, aber damals herrschten in dem Land der Diktatur und Tyrannei andere Gesetze. Wir können diesen Henker leider nicht vor Gericht stellen, dann müßten eine Menge Politiker und Präsidenten abgeurteilt werden, aber auch Cresson ist ein Mensch, und wie jeder Mensch hat er ein Recht auf sein Leben, mag es zuvor auch noch so schlimm gewesen sein.« »Er selbst hat nie an das Recht der anderen gedacht.« »Das weiß ich.« »Dann müßtest du auf unserer Seite stehen.« »Er wird es büßen!« Drack mußte einfach lachen. »Wie soll er es büßen? Willst du mir das auch erzählen?« »Das werde ich. Er wird es durch sein Gewissen büßen. Er wird nie mehr in seinem Leben Ruhe finden, das kann ich dir versichern. Ich denke, es sollte Bestrafung genug sein. Ich habe ihn leiden sehen, er macht sich wirklich Gedanken. Er quält sich, seine Träume sind unvorstellbar schlimm, und er wird irgendwann seine Strafe finden, aber nicht durch Okuba.« »Du hast recht, Okuba selbst wird ihn nicht töten. Er hat nur das Beil mitgebracht. Cresson wird das gleiche Elend erleben, wie es seinen zahlreichen Opfern widerfahren ist. Er wird vor Angst vergehen, dann erst wird er vernichtet.« »Okuba beherrscht das Beil?« »Ja und nein.« »Wer noch?« Drack kam einen kleinen Schritt näher. Er summte dabei, wurde wieder still und sprach weiter. »Cresson beging einen Fehler, als er Okubas Vater tötete. Einen mächtigen Medizinmann, der unserem Präsidenten
ein Dorn im Auge war. Die Macht des Magiers mußte begrenzt werden. Erst sollte er nicht getötet werden, denn wer einen Zauberer und Magier tötet, den trifft der Fluch. So steht es bei uns geschrieben, aber der Medizinmann gab nicht auf. Er hetzte weiter. Er wollte den Umsturz. Da konnte der Präsident nicht anders. Er mußte handeln und ließ den Zauberer gefangennehmen. In der Gefangenschaft noch versuchte der Herrscher persönlich, den Mann von seinen Absichten abzubringen, aber er zeigte keine Einsicht. Noch in der Gefangenschaft belegte er den Präsidenten mit einem der schlimmsten Flüche. Das war sein endgültiges Todesurteil. Man holte den Henker. Und auch Cresson wurde verflucht. Ihm wurde gesagt, daß der Körper getötet werden konnte, aber nicht der Geist. Ein Geist hat Zeit, ein Geist kann warten, ein Geist vergißt die Sache nie, auch wenn es nach menschlichen Maßstäben Jahre dauert. Cresson hatte den Geist nicht töten können, nur den Körper, und er hatte auch vergessen, daß der Medizinmann einen Sohn hatte, dem viel Wissen übertragen wurde, obwohl der Sohn ein Teil der neuen Zeit war und Diplomat wurde, aber er hat den Schwur und den Fluch nicht vergessen. Und er vergaß auch nie, woher er kam. Was einmal tief in einem Menschen drinsteckt, das bleibt auch bestehen.« »Bekam er Kontakt zu seinem toten Vater?« »Ja, den bekam er, denn er war ein Erbe. Und die Erben haben auch nach dem Tod noch Kontakt. Er war in die geheimen Riten eingeweiht worden. Er kannte die Formeln und Beschwörungen. Er wußte, wie der Geist seines Vaters litt, und er schaffte es auch, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Dabei erfuhr er, wie mächtig der Geist letztendlich noch war, denn seine Kräfte hatten sich in der anderen Welt verändert. Ihm gelang es, in die normale Welt hineinzulenken, was du am Beispiel des Beils genau nach vollziehen kannst.« »Wieso?« Ich tat nur etwas dumm, tatsächlich wußte ich, daß dahinter die Telekinese aus dem Jenseits steckte, und das bekam ich auch sehr bald durch Drack bestätigt. Er erklärte mir, wie mächtig der Verstorbene letztendlich war, daß er es schaffte, die Gegenstände oder den einen wichtigen Gegenstand aus dem Jenseits zu lenken. »Damit hatte er einen erbarmungslosen Verfolger geschaffen und noch etwas mehr, denn es ist ihm gelungen, wieder zurück über die Brücke zu gehen. Cresson sah den Mann plötzlich vor sich, den er umgebracht hat. Er sah sein Gesicht, und er wurde daran erinnert, was er getan hat. Der Geist, das Beil und auch Okuba werden die Rache vollenden.« »Du nicht?« fragte ich. »Nein, ich habe andere Aufgaben.« »Welche?« »Ich werde meinen Freunden den Weg freihalten, das kannst du mir glauben. Ich habe versprochen, ihnen die Steine aus dem Weg zu
räumen. Niemand soll ihnen bei ihrer Rache in die Quere kommen. Pech für den, der es trotzdem tut.« »Damit meinst du mich?« »Einen anderen gibt es nicht!« »Da unterliegst du einem Irrtum.« Drack gab sich sicher. »Womit willst du dich jetzt noch herausreden, um deine Haut zu retten?« »Ich will mich auf diese Art und Weise nicht retten, ich möchte dir nur die Wahrheit sagen.« »Da bin ich gespannt.« »Kannst du auch. Der Grund ist simpel. Warum wollte Auguste Cresson hier in diesen Ort? Weshalb war er darauf bedacht, unbedingt nach Aletles-Bains zu kommen. Nun?« »Ich weiß es nicht.« »Aber ich, und es ist kein Zufall. Selbst ein Mensch wie Auguste Cresson ist nicht nur schlecht. Er hat Freunde hier. Menschen, denen er mal einen Gefallen erwiesen oder vielleicht sogar das Leben gerettet hat. Und diese Menschen vergessen ebenfalls nichts. Nur reagieren sie anders als Okuba. Sie wollen ihn sicher nicht töten, sie gewähren ihm Schutz. Deshalb ist er hier.« »Und du auch?« »Indirekt. Ich habe Cresson erst heute kennengelernt, aber ich bin seinetwegen gerufen worden. Seine Freunde sind auch meine Freunde, und ich werde versuchen, den Mord zu verhindern. Wir leben nicht in einem Zeitalter des Umsturzes und der Revolution, zumindest nicht hier. Woanders mag es nicht so aussehen, doch wer hier lebt, der sollte sich schon nach den Gesetzen richten. Und dieses läßt keinen Mord zu. Außerdem vertrete ich das Gesetz noch.« »Polizei?« »So ist es.« »Und weiter? Glaubst du, ich würde mich dadurch beeindrucken lassen? Auch ich bin einem gewissen Gesetz verpflichtet, und ich glaube, daß es stärker ist.« »Frankreich ist nicht dein Land.« »Stimmt, aber Frankreich hat mein Land damals unterstützt. Es hat diesen Tyrannen hochkommen lassen. Niemand hat etwas gegen ihn unternommen. Er selbst lebte in Saus und Braus und knechtete sein Volk. Diejenigen, die auf seiner Seite standen, haben nichts anderes verdient als den Tod. Du sagst, daß Cresson hier Freunde hat. Ich habe es zur Kenntnis genommen, aber ich werde dir auch darauf eine Antwort geben. Diese Freunde haben Pech gehabt, denn sie suchten sich den falschen Mann als Freund aus. Wenn sie versuchen sollten, ihn zu beschützen, werden sie sterben. So einfach ist die Rechnung, nach der wir vorgehen werden. Du hast einmal
Glück gehabt, wir haben dich gewarnt, aber du hast nicht darauf gehört. Ich hätte dich nicht niederschlagen, sondern niederschießen sollen, aber das kann man nachholen, ich verspreche es dir.« »Es kommt Ihnen auf einen Toten mehr oder weniger nicht an?« »Darum geht es nicht.« »Sondern?« »Um die Sache!« Ja, es ging ihm um die Sache. Wenn ich recht darüber nachdachte, was ich erreicht hatte, dann war es nichts, gar nichts. Ich hatte nicht zu einem Menschen gesprochen, sondern mit einem Betonklotz geredet, und dies wiederum konnte mir nicht gefallen. Wir waren allein, zwischen uns stand nur der Wagen. Drack würde schießen, und ich würde nur mehr das Knattern der Salve hören, wenn er abdrückte. Letzte Eindrücke eines verlöschenden Lebens. Gegen Dämonen zu kämpfen, gehörte zu meinen Aufgaben, aber Killer, die zudem mit einer MPi bewaffnet waren, bereiteten mir schon Sorgen, denn die konnten nicht durch irgendwelche Beschwörungen oder Bannsprüche im Zaum gehalten werden. »Deine Zeit ist vorbei, Sinclair!« erklärte er mir völlig emotionslos, »und es tut mir nicht mal leid um dich.« »Das weiß ich.« Er winkte mit der Waffe. »Du kannst wählen, Sinclair. Wo soll ich dich erschießen? Hier oder draußen? Entscheide dich rasch, denn es muß schnell gehen.« »Warum draußen?« »Da könnte deine Leiche auf weiche Erde fallen…« »Aha.« »Wo also?« Ich wollte antworten, als ich Stimmen hörte. Männerstimmen, und es waren mindestens zwei Personen, die sich dem halbzerstörten Gewächshaus näherten. Sie waren schon so nahe, daß ich einzelne Worte verstehen konnte, und sie sprachen auch meinen Namen aus. »Sinclair muß hier sein.« »Dann gehen wir hinein…« Ich war gespannt wie eine Stahlfeder, und auch Drack wußte im Augenblick nicht, was er tun sollte. Bisher hatte er mich unter Kontrolle gehalten, durch die Stimmen der beiden Männer aber war er abgelenkt worden und schaute nach vorn. Wahrscheinlich sah er die Gestalten schon, sie kamen auf dem normalen Weg, über den leeren Parkplatz vor der Gärtnerei. Er knurrte. Die MPi drehte sich. Ob er die beiden erschießen oder sie nur durch eine Garbe warnen wollte, das wußte ich nicht. Ich konnte auch kein Risiko mehr eingehen, deshalb ging ich in die Knie und riß die Beretta hervor.
Die Maschinenpistole bellte auf. Um mich herum platzten alte Scheiben weg, ich hörte die beiden Männer schreien und kroch über den matschigen Boden auf die Kühlerfront des Chryslers zu. Drack befand sich in Bewegung. Er hetzte von seinem Standort weg in den Hintergrund des Gewächshauses. Dabei lief er schräg, er schoß immer wieder und streute dabei die kurzen Kugelgarben. Die Geschosse hackten den Boden auf, vor der Mündung tanzten kleine, blasse Flämmchen, als wollten sie den Tod sichtbar machen. Ich lag flach auf dem Boden. Direkt vor der Kühlerschnauze. Der Boden war dunkel, er deckte mich, aber ich hatte meinen rechten Arm nach vorn gestreckt und stützte das Handgelenk mit der Linken ab. Drack war verunsichert worden. Er hatte weglaufen wollen und dabei nicht an seine Deckung gedacht. Ob die Männer getroffen worden waren, wußte ich nicht, aber Drack mußte ausgeschaltet werden. Alles war innerhalb weniger Sekunden abgelaufen. Lebensbedrohliche Situationen prägen sich besonders stark ein, was zur Folge hat, daß bei den Betroffenen die Zeit langsamer abläuft. Ich zielte genau, der Finger lag am Abzug der Waffe. Dann schoß ich. Zweimal drückte ich ab, dann noch einmal. Das Ziel war relativ gut zu erkennen. Drack bewegte sich vor der Glaswand wie ein springender Schatten, bei dem ich den Eindruck hatte, daß er in die Kugeln hineinsprang. Ob ihn alle erwischt hatten, wußte ich nicht. Zumindest eine hatte ihn aus der Bahn geworfen, denn freiwillig hätte er diesen krummen Bocksprung nicht getan. Es konnte sein, daß ein Geschoß in sein Bein gejagt war. Er stolperte, er fluchte, dann fiel er hin, schlug auf, aber seine Maschinenpistole ließ er nicht los. Drack benahm sich plötzlich wie eine Puppe, deren Motor nicht mehr rund lief, sondern aus dem Takt gekommen war. Er lag auf dem Rücken und drehte sich auf der Stelle. Dabei feuerte er seine Maschinenpistole ab, als könnten ihn all die Garben retten, die er gegen das Dach jagte. Dort zerstörten die Kugeln das Glas, rissen auch weitere Löcher und fetzten schmutzige Stücke in die Höhe, die dann wieder wie scharfe Messer nach unten fielen. Ich sah, wie einige Scherben auf dem Körper des Mannes landeten, aber er schoß weiter. Dann war das Magazin leer, was Drack nicht wahrhaben wollte, denn er bewegte seine Finger nach wie vor, und ich hörte das Klicken, immer wieder das Klicken, auch dann noch, als ich längst auf den Beinen stand und auf denjenigen zuging, der mich hatte ins Jenseits befördern wollen.
Es war hell genug, um alles zu sehen. Die Waffe in seinen Händen wurde ihm zu schwer, und ich sah, wie seine Arme nach unten sanken. Dabei fiel ihm die Waffe aus den Händen. Als das passierte, hatte ich ihn erreicht. Vor Drack blieb ich stehen, die Beretta zeigte mit der Mündung nach unten, aber Drack war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Die herabfallenden Splitter hatten seinen Körper und auch sein Gesicht tatsächlich böse erwischt. Aus zahlreichen unterschiedlich großen Gesichtswunden quoll Blut. Ein Stück schmutziger Scheibe steckte sogar noch in seiner Stirn. Unter ihr bewegten sich die Augen. Er hatte mich erkannt. Ich entnahm es seinem Blick, obwohl dieser bereits vom Schleier des Todes getrübt wurde. »Du hast Glück gehabt, Sinclair. Verdammtes, unverschämtes Glück.« »Das stimmt.« Er lachte mich an und hustete dabei. »Und ich habe dich unterschätzt. Mein Fehler.« »Die Rache gelingt nicht.« »Sinclair«, keuchte er, »ich bin nur ein kleines Licht. Okuba und sein Vater sind stärker, viel stärker…« Er hustete noch einmal, zuckte dabei und die in seinem Kopf steckende Scheibe brach auseinander. Sie fiel über seine Augen, als wollte sie die Starrheit des Todes darin abdecken. Drack lebte nicht mehr. Ich stand vor dem Toten und atmete zunächst einmal tief durch. Dabei versuchte ich auch, das Zittern der Knie zu unterdrücken. Was ich erlebt hatte, mußte erst verdaut werden. Es war der natürliche Schock, der stets nach derartigen Ereignissen eintrat. Zumindest bei mir und den meisten Menschen, nicht aber bei Profikillern, die reagieren sich später irgendwie anders ab. Ich wollte den Toten untersuchen und kniete mich deshalb neben ihn. Die auf seinem Kopf liegende Scheibe räumte ich zur Seite, dann sah ich die Schußwunden. In der Brust hatte ich ihn erwischt, aber auch im Bein. Dieser Treffer hatte für seinen Sturz gesorgt, und wahrscheinlich hatte er sich im Fallen den zweiten Treffer zugezogen. Drack hatte es nicht geschafft. Ein kleiner Lichtblick zumindest, aber ich wußte nicht, wie es dem Abbé und Cresson ging. Zudem hatte ich die beiden Männer nicht vergessen. Ich sah sie, als ich aufstand und mich umdrehte. Sie standen jetzt vor mir, schon innerhalb des Gewächshauses, schauten mich an und bekamen auch mit, wie ich das Magazin der Beretta wieder füllte. Ich ging auf die beiden zu und erklärte ihnen, daß sie mir wahrscheinlich das Leben gerettet hatten.
Sie schauten sich an, konnten es nicht begreifen und hoben die Schultern. »Aber wir haben doch nichts getan…« »Doch, das habt ihr. Euer Eintreffen hat den Killer abgelenkt. Nur für kurze Zeit, das hat mir gereicht.« »Ist er denn tot?« »Ja.« Die Männer schwiegen. »Ich habe es nicht gewollt, aber ich mußte mein Leben verteidigen.« »Sicher, das verstehen wir.« »Warum seid ihr gekommen?« »Wir sollten Sie holen. Man hat uns gesagt, wo Sie sind. Sie müssen kommen, der Abbé will es.« »Was ist passiert?« »Wir wissen noch nichts.« »Aber der Besucher, Auguste Cresson, ist da?« »Wenn der Mann, mit dem der Abbé zusammen ist, so heißt, dann stimmt es.« »Gut, lassen Sie uns gehen!« »Und den Toten? Sollen wir ihn hier liegenlassen?« »Zunächst ja. Um ihn können wir uns später kümmern, denn nun sind die Lebenden wichtiger.« Dagegen hatten sie nichts einzuwenden… *** Abbé Bloch fragte sich, wie ein Mensch es schaffte, derartige Laute zu produzieren. Der Henker saß vor ihm! Ein Mensch? War er ein Mensch? Ja und nein. Er war vom Äußeren her ein Mensch, auf der anderen Seite auch ein verzweifeltes Bündel, völlig aufgelöst und so gut wie am Ende seiner Kräfte. Cresson sprach, er beichtete, er mußte reden, um sich von seinem schrecklichen Gewissensdruck zu befreien. Und der Abbé saß ihm gegenüber und hörte zu. Nur einmal waren die beiden Männer gestört worden, als ein Bruder berichtete, daß John Sinclair im Ort war, wobei der Abbé wollte, daß sein Freund aus London so schnell wie möglich kam. Danach waren sie ungestört geblieben. Der Henker redete weiter. Er sprach von seinen Taten, die er fast alle behalten hatte. Sein Gehirn war zu einem Speicher des Bösen geworden. Alles konnte er mühelos abrufen, nur nahm es ihn unwahrscheinlich mit, diese furchtbaren Taten zuzugeben. Eine derartige Beichte hatte es wohl noch nie zuvor in der Welt gegeben, und selbst Bloch war nicht nur überrascht, sondern auch mitgenommen.
Er hatte sich sehr rasch einen Eindruck über das Leben dieser Person verschaffen können. Was Cresson getan hatte, das kam den Taten im finsteren Mittelalter gleich. Er hatte wie eine Maschine gemordet. Der Abbé erfuhr von mehreren Hinrichtungen, die oft an einem Tag stattgefunden hatten, und nie war es dem Henker in den Sinn gekommen, sich auch nur im Ansatz zu weigern. Es war sein >Job