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Soleiman Fayyad wurde 1929 in der ägyptischen Provinz Mansoura geboren. Er verließ die Univer sität von Al-Azhar 1956 und wurde 1959 Profes sor. Seit 1954 veröffentlichte er Erzählungen und gilt seither als einer der wichtigsten ägyptischen Autoren. Klappentext: Das kleine ägyptische Dorf Al-Darawich ist in hel ler Aufregung: Hamed, der vor dreißig Jahren von seinem Vater verstoßen wurde, kehrt zurück – er folgreich und wohlhabend. In seiner Begleitung befindet sich seine Frau, die Französin Simone. Ihr unbekümmertes Auftreten und ihre Ungezwun genheit erregen die Neugier, aber auch das Miß trauen der Dorfbewohner. Während so mancher Mann sich von ihrer ungewohnten Freizügigkeit angezogen fühlt, steigern sich die Frauen von AlDarawich immer mehr in den Haß hinein, der kurz vor der Abreise des Paares seinen Höhepunkt er reicht. Ein Roman über den Zusammenprall zweier Wel ten!
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Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier ge druckt.
Deutsche Erstausgabe Oktober 1992 © 1992 für die
deutschsprachige Ausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th.
Knaur Nachf. München
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrecht
lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Gren
zen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Titel der Originalausgabe »Clameurs«
© 1990 Editions Denoël, Paris
© Soleiman Fayyad
© 1986 Association Alif, Paris
Originalverlag Editions Denoël, Paris
Umschlaggestaltung Manfred Waller
Umschlagillustration Marc Taraskoff
Satz Ventura Publisher im Verlag
Druck und Bindung Ebner Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-426-03297-X
24531
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Soleiman Fayyad
Heimkehr
einer Fremden
Roman Aus dem Französischen von Christine Steffen
Knaur
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Rückkehr des
Abwesenden
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Der Kommissar Es war genau zehn Uhr. Ich saß an meinem Schreibtisch; es war so feuchtschwül und stickig, daß ich den Hemdkragen halb ge öffnet hatte. Die Ordonnanz hatte mir den üblichen Morgenkaffee gebracht. Ich trank ihn in kleinen Schlucken und überflog dabei meine Lieblingszeitung. Dann blätterte ich den Bericht über die Ereignisse des Vortages durch, den mir der rangniedrigere Offizier gegeben hatte. Ich fand darin nichts, was Aufmerksamkeit verdient hätte: kleine Vor fälle, übliche Delikte, die so vertraut gewor den waren, daß sie meine Neugier kaum weckten. Ich schloß die Akte wieder, stützte meine Wange in die Handfläche, ließ den Arm auf der Lehne des Stuhles ruhen und meine Gedanken in tausenderlei verschiedene Richtungen schweifen. Die Ordonnanz öffnete die Tür, schloß sie wieder hinter sich und schlug die Hacken zusammen. Es war noch nicht Zeit für die Post; doch der Soldat reichte mir einen Um schlag. Sein Aussehen und die Art, wie Titel 6
und Funktion hinter dem durchsichtigen Papierrechteck zu erkennen waren, verrieten mir sofort, daß es sich um ein Telegramm handelte. Ich war stark beunruhigt, gab mich jedoch ernst und gelassen und nahm es ent gegen. Danach zerriß ich ungeduldig den Umschlag. Ein Gefühl unendlicher Verblüf fung überfiel mich. Ich hatte plötzlich den Eindruck, aus einem langen Schlaf gerissen worden zu sein. Das Telegramm kam aus Europa, genauer gesagt aus Paris. Ich ver gewisserte mich erneut, daß es an mich ge richtet war. Tiefe Neugierde erfüllte mich. Die Botschaft lautete folgendermaßen: Herr Kommissar, ich möchte Sie bitten, mir zu helfen, die Mitglieder meiner Fami lie wiederzufinden — zumindest die noch lebenden. Als ich vor dreißig Jahren mein Dorf Al-Darawich verließ, war ich zehn Jahre alt. Seitdem hat mir Gott die Pfor ten des Wohlstandes geöffnet. Ich bin nun reich und französischer Staatsbürger. Ich verspüre heute das tiefe Bedürfnis, mein Land und meine Lieben wiederzuse 7
hen, um ihnen Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen, denn jetzt habe ich die Mittel dazu. Meine Familie ist un ter den Einwohnern von Al-Darawich wohlbekannt. Ich bitte Sie, mir telegra phisch zu antworten, und zwar an die wei ter unten angegebene Adresse. Die Ko sten für den Briefwechsel übernehme selbstverständlich ich. In der Hoffnung, Sie kennenzulernen und daß wir Freunde werden, verbleibe ich Hamed ibn Mustafa al-Buhayri. Nach dem Poststempel war das Telegramm vor einer Woche in Paris aufgegeben wor den, aber erst heute in Kairo eingetroffen. Ich nahm also an, daß mein wohlhabender Landsmann nun entweder schon tot vor Angst oder verrückt vor Hoffnung sein mußte. Normalerweise lassen mich solche Gefühle bei meinen Mitmenschen gleichgül tig, vor allem, wenn sie weder meinen Bezirk noch mein Privatleben etwas angingen. Doch die Sache erschien mir dringend und wichtig. Hamed ibn Mustafa al-Buhayri war 8
kein normaler Bürger mehr; er verdiente meine Aufmerksamkeit mehr als irgendein anderer. Sein sozialer Status verlieh ihm in meinen Augen schon Interesse, denn schließlich war ich ja für die Aufrechterhal tung der Ordnung verantwortlich. Ich sprang von meinem Stuhl und fühlte mich plötzlich von dieser ungewohnten Sache persönlich betroffen, bei der größte Tüch tigkeit angesagt war, um den Wunsch eines außergewöhnlichen Menschen zu erfüllen und zu einer glücklichen Lösung zu kom men, was ganz sicher auch meinen Interes sen nützlich sein würde. Ich überließ es also keinem anderen, diese Sache zu erledigen, hütete mich davor, jemanden zu schicken, der an meiner Stelle den Bürgermeister von Al-Darawich befragt hätte. Ich befahl der Ordonnanz, meinen Dienstwagen kommen zu lassen und mich ins Dorf zu begleiten. Der Fahrer fuhr schnell, trotz des schlechten Straßenzustandes.
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Mahmoud ibn al-Munassa Plötzlich und völlig unvorhergesehen geriet die Welt ins Wanken und benebelte unseren Geist. Plötzlich traf uns das Schicksal, ein Schlag, der aus dem Unbekannten entsprun gen war, einer düsteren und geheimnisvollen Welt, die wir weder erahnen noch begreifen konnten. Die Sonne jedoch erhebt sich in der Morgendämmerung und verschwindet am Abend wieder. Die Sterne erstrahlen ei ner nach dem anderen am Firmament. In der Morgenröte und in der Abenddämme rung tummeln sich die Vögel. Die Baumwip fel und die Pflanzen bewegen sich um uns beim leisesten Windhauch. Kinder werden am Morgen geboren, andere sterben im Dorf oder in den Nachbarorten von AlSayyala bis Kafr al-Luban, jeden Alters und beiderlei Geschlechts, Schwache wie Starke. Das Leben nimmt seinen Lauf. Das Wasser der Wäsche und der Waschungen läuft in den Sträßchen und Gassen, schwer von Sei fe, und ihm folgt ein Schwarm von Fliegen, der seinerseits die scharfen Schnäbel der En 10
ten, Gänse, Hühner und sonstigen Geflügels anzieht… Esel schreien, Hunde bellen; Kü he muhen und fordern ihr Futter. Kinder tummeln sich im seichten Wasser der Bek ken, in das schon die Körper ihrer Mütter und Väter hinabgetaucht sind, jener Mütter, die ihre Töchter auf den Dächern der Ter rassen oder vor den Häusern entlausen, ihr Haar mit Petroleum benetzen und mit gro ßen Kämmen aus schwarzen und weißen Knochen hineinfahren… Jeden Morgen in der Dämmerung ruft der Muezzin aufs neue die Gläubigen zu seiner dunklen Moschee mit den uralten Düften und verleiht so im Wechsel der Jahreszeiten dem Lauf der Sonne am Himmel unseres Dorfes seinen Rhythmus, um dann, wenn ein unbekannter Stern aufleuchtet, die Stunde der Düsternis, des Schlafes, der Fleischeslust und der Träume zu verkünden… Und alles beginnt aufs neue; die Frauen entledigen sich der be fleckten, schmutzigen Nachtgewänder und kleiden sich für einen neuen Tag in Schwarz; sie hüllen ihre Gesichter und ihren Hals in leichte, tintenfarbige Schleier. 11
Die Welt bleibt sich gleich. Bleibt dem gleich, was sie war. Vorher, bevor sich das Schicksal so brutal auf unser Dorf hernie dersenkte, kam unseren Augen alles natür lich und unseren Seelen gewöhnlich vor. Das Leben nahm seinen Lauf; das einzigarti ge Leben selbst mit seinem Gefolge aus Tod und Geburt; Lachen, das vor Gesundheit strotzt, kränkliches Gestöhne, ein Leben voll sorglosem Lächeln und voll ängstlicher Trübsal… Doch heute, ohne daß etwas Greifbares, Konkretes, Faßbares, etwas, was man mit bloßem Auge sehen könnte, pas siert wäre, heute öffnen sich unsere Augen über einem neuen Element, das uns über wältigt, überraschend und unerwartet, das von oben gekommen ist, um auf unserem Dorf niederzugehen, uns in eine Welt der Verrohung, der Schande, der Erwartung zu stürzen, in der unsere Sinne geschärft und unser Atem stockend sind. Denn wir haben Angst, uns plötzlich ganz neu wiederzuent decken, Angst, vom anderen anders gesehen zu werden, jenem anderen, der von weither kam und den keiner kennt, nur einige edle 12
Geister unter uns, die Zeitungen lesen kön nen. Diese lassen ihre von Trachomen und Nachtblindheit gequälten Augen über Geo graphiebücher und die Seiten des Atlas wan dern, stützen sich auf die Schulpulte des Or tes… Seit diesem Augenblick lebe ich mit diesem merkwürdigen Etwas, das aus Paris gekommen ist. Alle Berechnungen, ob ich beim Schulabschluß Erfolg haben oder scheitern würde, habe ich darüber vergessen. Im Dorf spricht man nur noch von Hamed ibn Mustafa al-Buhayri, Kind dieses Landes, fabelhafter Abenteurer, Wundervollbringer. Wir saßen im Café an der Brücke und spiel ten Domino, Tricktrack oder Karten. Um uns herum fuhren Busse, Taxis, Privatautos und Karren schnell vorbei, tauchten links oder rechts aus einer Seitenstraße mit locke ren Pflastersteinen auf, die tief zerfurcht war und dringend eine neue Asphaltierung oder ein wenig Besprengung mit Wasser nötig hatte. Plötzlich erblickten wir den Briefträ ger, der nicht weit von uns entfernt ohne Vorankündigung stehenblieb. Wir wußten schon, was überall geflüstert wurde, von den 13
verrücktesten Voraussagen bis zu den un sinnigsten Hypothesen und Träumen, was Hamed ibn Mustafa al-Buhayri anging. Der Briefträger stieg vom Fahrrad und stellte es auf der Stütze des Hinterrades fest. Er streckte die Hand aus und forderte ein Pfund Provision von dem einzigen Lebens mittelhändler unseres Dorfes – der gekom men war, um mit uns Tricktrack zu spielen, nachdem er den Laden seinem kleinen Sohn anvertraut hatte, Herrn Ahmad ibn Mustafa al-Buhayri, dem Bruder von Hamed ibn Mu stafa al-Buhayri. Ahmad fuhr ihn spöttisch an, doch der Briefträger überreichte ihm mit einer wegwerfenden Geste das Telegramm, das er in der Hand hielt. »Los, Am1 Ahmad! Nimm nur… Ein Tele gramm… Mô… sieur, aus Paris!« »Aus Paris!« Ahmad erstickte fast und sprang auf, als ha be ihn ein großer Schrecken erfaßt. Er wirk te gleichzeitig panisch, ungeduldig und ent zückt. Er ergriff das Telegramm, zerriß den Wörtlich »Onkel Ahmad«, als Ausdruck des Respekts, doch hier bezeichnet es paradoxerweise die Vertrautheit. 1
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Umschlag und überflog schnell die Seiten, jedoch vergeblich, denn er konnte kaum le sen und schreiben. Plötzlich erstarrte er und drohte dem Briefträger, ihn zu erschlagen, ohne daß wir die Gründe begreifen oder seinen Ärger erahnen konnten. Wir stießen spitze Schreie aus und wanden uns in unse rer Verwirrung vor Lachen. Ein Telegramm! Aus Paris! Und ausgerechnet für Ahmad ibn Mustafa al-Buhayri! Er reichte es mir. Ich begann es laut vorzulesen. Meine Zuhörer schwiegen. Man hätte glauben können, daß wir uns im Büro des Kommissars oder vor der mihrab2 einer Moschee befanden. Geliebte Mutter, Ahmad, mein lieber Bruder, ich lebe und bin gesund an Körper und Geist, verheiratet und Vater zweier Kin der, eines Jungen und einer Tochter. Ich werde Euch bald mit meiner Frau Simone für nur zwei Wochen besuchen, denn meine Arbeit erlaubt mir nicht, länger wegzubleiben. Ich schicke Euch per An 2
In einer Moschee Nische, die nach Mekka zeigt. 15
weisung zweitausend Pfund, damit Ihr mir in der Nähe der Brücke eine Wohnung baut, die meiner französischen Gattin würdig ist. Mit Hilfe eines Architekten sollte diese in zwei Wochen fertig sein. Lieber Bruder, Du kannst sofort diese Summe bei der Post abheben. Ich wün sche mir glühend, Euch wiederzusehen; Simone brennt darauf, Euch kennenzu lernen. Ich glaube, daß Ihr sie mögen werdet und daß dies auf Gegenseitigkeit beruht, vor allem wenn Ihr adrett geklei det seid und ihr Eure Zuneigung zeigt. Ihr beiden Lieben, bis bald. Nur ein Satz dröhnte uns in den Ohren. Ich schicke Euch per Anweisung zweitausend Pfund. Wir wiederholten ihn immer wieder, und die Worte überschlugen sich auf unseren Lip pen. Jemand fragte, wie man Geld über den Umweg eines Telegramms schicken kön ne… Der Briefträger forderte lautstark sei nen Anteil: Die gute Nachricht und diese hübsche Summe, die da vom Himmel fiel, waren das ja wohl wert… Ahmad riß mir 16
das Telegramm aus den Händen und ging über die kleine Brücke. Er schien höchst entzückt zu sein, froh darüber, Nachricht von seinem Bruder zu haben, zweitausend Pfund zu bekommen… Er ging, um seine Mutter zu verständigen. Der Briefträger for derte erneut sein Trinkgeld; zehn Piaster, und die Sache sei erledigt, schrie er. Ahmad blieb plötzlich stehen, betrachtete nachein ander den fernen Horizont und das Fahrrad und lief wieder auf uns zu; dabei rief er dem Briefträger zu, er solle ihn in die Stadt mit nehmen, denn es sei nun Mittagszeit und er könne die Anweisung von zweitausend Pfund abheben, bevor man daran irgend et was Anormales entdecke. Der Briefträger sträubte sich; Ahmad versprach ihm ein Pfund, sobald er die Summe abgehoben ha be, und bestieg den Gepäckträger des Fahr rades. Der Briefträger fuhr eilig in Richtung Norden los, zum Dorf hin. Ein alter Mann, den der Tod noch nicht wollte, erklärte in schulmeisterlichem Ton: »Vor dreißig Jahren stahl Hamed ibn Musta fa seinem Vater fünf Piaster. Möge Gott 17
ihm verzeihen und helfen. Der Vater ver prügelte ihn, jagte ihn aus dem Haus und befahl ihm, sich erst nach Ablauf von drei ßig Jahren wieder zu zeigen. Der Junge nahm ihn beim Wort und kam niemals zu rück.« Ohne uns übermäßig über die Geheimnisse dieser Welt zu wundern, dachten wir ande ren, ohne uns untereinander zu besprechen, daran, Hameds Mutter zu verständigen. Das Café leerte sich. Nur die Herzlosen und die Gleichgültigen blieben zurück. Die Menge drängte sich hinaus, und eilig überquerten wir die Brücke… In den nächsten zwei Wo chen wurde der bevorstehende Besuch von Hamed und Simone zum Dreh- und Angel punkt aller Aktivitäten im Dorf.
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Ahmad al-Buhayri
Ich wußte nicht, wie mein Bruder aussah. Ich sei lange nach ihm geboren, hatte mir meine Mutter gesagt, und die Dorfältesten hatten es bestätigt. Für meine senile Mutter und meinen Vater, den inzwischen die Was sersucht dahingerafft hat, hatte ich den Sohn sowie die Kinder, die nach und vor ihm ge storben waren, ersetzt. Und plötzlich trafen nun die Telegramme dieses geliebten Bruders eins nach dem an deren ein. Schiffen uns heute in Toulon nach Alex andria ein. Bringen Auto mit. Heute morgen in Alexandria eingetroffen. Fahren nach Kairo. Sind auf dem Weg. Werden wohl morgen gegen Mittag ankommen.
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Der Kommissar schickte einen seiner Gehil fen, um den umda3 und mich zu holen. Sein Privatchauffeur fuhr uns im Dienstwagen. Der Kommissar empfing uns mit äußerster Beflissenheit und zeigte sich mir gegenüber besonders geneigt. Wir begannen darüber zu reden, wie man Hamed und Simone am besten empfangen und ihnen einen angenehmen und beque men Aufenthalt bereiten könne. Der Kom missar legte Wert auf Entspannung und Wohlbefinden. Man müsse neben dem Haus auch unbedingt einen Garten anlegen. Jas minpflanzen, Pfeifensträucher, Orangenund Zitronenbäume sollten vorsichtig ent wurzelt und wieder eingepflanzt werden, als seien sie schon immer da gewesen. Es gelang mir leider nicht, dieses Haus bau en zu lassen. Der Architekt bemerkte zu nächst, daß man ein solches Projekt nicht in weniger als zwei Monaten zu Ende bringen könne. Wir blieben hartnäckig; ich flehte ihn an. Darauf verlangte er für die Ausführung Reicher Honoratior des Dorfes, den der Innenminister zum Chef bestimmt, um der Polizei zu assistieren. 3
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der gesamten Arbeiten eine horrende Sum me, die mir ziemlich übertrieben und außer dem noch höher vorkam als die, die mir Hamed geschickt hatte. Noch nie hatte je mand in Al-Darawich sich an solche Mittels leute gewandt, um sein Haus zu bauen. Der Umda, die Honoratioren des Dorfes und ich beschlossen, auf die Dienste des Architekten zu verzichten – Dienste, die im übrigen un seren traditionellen Baumeistern Hohn spra chen -, und die Behausung selber zu bauen. Doch die Arbeiter, die wir einstellten, ver doppelten ihre Preise, obwohl sie aus AlDarawich stammten. Sie wußten, wie sehr die Zeit drängte und ich in eine immer miß lichere Lage geriet, und wollten diese unver hoffte Einkommensquelle natürlich ausbeu ten. Darüber hinaus hatte ich mir an den Spekulationen der Grundbesitzer die Zähne ausgebissen und fünfhundert Pfund für ein Stück Land zahlen müssen, das nicht größer als fünfhundert Quadratmeter war. Die Sache quälte mich. Ich schlief nicht mehr und verlor jeden Zeitbegriff. Der Umda, die Scheiks von Al-Darawich, 21
der Chef der Wache, die Wachen selber, die Honoratioren, die Lehrer, die Schüler des Collège am Ort und ich beschlossen schließ lich, uns mit dem Haus der Familie zufriedenzugeben, das renoviert werden wurde. Wir setzten sofort den Kommissar davon in Kenntnis, um seine Zustimmung zu erlangen und ihn nicht zu verärgern. Ich strich die Wände neu, erneuerte Türen und Fenster, setzte neue Fensterläden und Scheiben ein, flieste den Boden an manchen Stellen neu und legte an anderen Fußboden aus, installierte ein Bad mit Dusche und eu ropäischen Toiletten und stellte in der Kü che einen kleinen Kühlschrank auf. Auf der Terrasse baute ich ein Wasserreservoir auf, das von einer Pumpe gespeist und durch ei ne Leitung mit Dusche und Toiletten ver bunden wurde. Die Schüler des Collège, die in Al-Darawich wohnten, kümmerten sich darum, die Wände zu schmücken, indem sie einige ihrer »Werke« aufhängten, die in zise lierten Goldrahmen hingen. Der Licht schacht an der Decke wurde mit einer Glas pyramide aus Milchglas verkleidet, in die ei 22
ne Öffnung eingelassen war. Zahlreiche Nä gel und Haken wurden überall an den Wän den des Wohnzimmers und der Schlafzim mer angebracht, so daß man dort Fackeln und Petroleumlampen befestigen konnte. Dazu kamen schließlich noch all die neuen Vorhänge, einige Stühle, ein Tisch, einige Tischdecken, Laken, Servietten und Hand tücher. All das erschöpfte mich. Und es kostete mich den letzten Sou. So vieles war nötig, daß ich sogar darauf verzichten mußte, mir einen winzigen Teil der angewiesenen Sum me anzueignen. Ich hatte es mit MöchtegernVermögensverwaltern zu tun; mit Leuten, die ihre Nase überall hineinsteckten und meine Konten bis auf den letzten Centime genau führten. Sie gingen sogar so weit, mich offen des Diebstahls, des Betrugs, des Geizes und der Nachlässigkeit zu beschuldi gen. Es stimmt, daß ich das Geld auch dazu be nutzt hatte, meinen Laden zu erneuern. Doch das gehörte dazu, schließlich mußten 23
wir etwas darstellen, wenn Simone hier ein traf. Mein Laden sollte ihrer und der Familie Buhayri würdig erscheinen. Ich strich die Wände und die Regale neu, beklebte den Haupttresen, reparierte die Auslagen und ließ Arabesken eingravieren. All das war ab solut notwendig. Das einzige Problem, mit dem ich nicht zurechtkam, war das Herein schwärmen von Fliegen bei Tag und von Mücken bei Nacht. Ich mochte mich mit einem Zerstäuber bewaffnen – sobald ich einen Schwarm vernichtete, tauchte ein neuer auf. So wurde dieser Besuch bald zu einer Quelle der Verbitterung und der Verzweif lung, und ich verfluchte Hamed und Simo ne, weil sie Al-Darawich schamlos durchein andergebracht hatten. Doch ich muß geste hen, daß ich vor den Leuten des Dorfes sehr stolz auf meinen Bruder war und noch hochmütiger einherstolzierte als der von sei nem Hofstaat umgebene Umda selber. Doch ich war auch eifersüchtig auf ihn. Ich verglich unsere Finanzen, unseren sozialen Status, seine Frau – die ich dabei ja noch gar nicht kannte – mit meiner… So kam es, daß 24
ich eines Nachts sogar träumte, daß ich ihn mit Freuden tötete. Beim Aufwachen weinte ich, ich ekelte mich vor mir selber und meinen bösen Absichten, die in meinem Herzen schlummerten. Ich erinnerte mich an das, was uns der Vorbeter unserer Moschee im Hinblick auf Kain und Abel gesagt hatte. Ich hatte plötzlich große Angst, jenem Mann zu ähneln, der seinen Bruder allein aus Eifersucht tötete.
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Der Umda
Der Kommissar des Dorfes bestand darauf, daß Al-Darawich Hamed und vor allem sei ner Frau im besten Licht präsentiert würde. Er wollte Hameds Ansehen in den Augen Simones heben, ebenso wie das Ansehen des Dorfes, der Provinz und ganz Ägyptens in den Augen aller Fremden, die hier in ihrer Person repräsentiert waren. Ich versprach ihm, mein Bestes zu tun und mich mit Leib und Seele diesem Ziele zu widmen. Ich in formierte ihn, daß ich zu diesem Zweck die Scheiks und Dorfaltesten zu einer außeror dentlichen Versammlung einberufen wolle. So wurde bei meiner Rückkehr nach AlDarawich der Ausnahmezustand in der ge samten Provinz erklärt; alle vertieften sich in die Vorbereitungen für den Empfang von Hamed ibn Mustafa al-Buhayri, jenes Man nes, den die göttliche Gnade in Europa hatte reich werden lassen und den seine Gattin Simone begleitete, Französin, Europäerin, mit einem Wort: Fremde. Ich erklärte den Versammelten, daß Al 26
Darawich sich der Dörfer und Provinzen würdig erweisen müsse. Ohne Diskussion stimmte man mir zu. Im Laufe der nächsten zwei Wochen befreiten wir die Kanäle von Unkraut, reparierten die Deiche – vielleicht wollte Madame Simone am Nachmittag ja Spazierengehen – und schütteten die Teiche und Sümpfe mit Erde auf. Glücklicherweise waren in der Umgebung des Dorfes keine Reisfelder; die Mücken würden also unsere Sträßchen und Häuser verschonen, zumin dest zum Teil. Wir ebneten Straßen und Wege ein, füllten Radspuren mit Erde aus der Flußböschung am Rande des Ackerlan des. Aus der Marktgemeinde ließen wir eine große Anzahl elektrischer Birnen kommen und hängten sie diesseits und jenseits der Hauptstraßen auf, damit sie sich, wenn es soweit war, in allen Nächten entzündeten, die Simone im Dorf verbrachte, und ihr so den Eindruck vermittelten, Al-Darawich sei immer erleuchtet. Wir beschlossen, die gro ße Straße mit einer passenden Sandmi schung zu bedecken, die mit Eseln und Ka melen hierhertransportiert wurde. Zuvor 27
hatte man den Sand aus der Wüste geholt, die hinter dem gegenüberliegenden Ufer des Flusses lag, und auf gemieteten Kähnen transportiert. Schließlich buchten wir in ei nem Nachbardorf ein Chalet, in dem Simo ne ein oder zwei Tage verbringen könnte, wenn sie Lust hätte… Die öffentlichen Marktschreier informierten die Gemeinde, daß es von nun an verboten sei, Schmutz wasser in die Gassen und Sträßchen zu schütten. Jeder, der dem zuwiderhandelte, müsse mit einer schweren Bestrafung durch den Kommissar der Marktgemeinde rechnen – man sehe sich also vor! Als Vorsichts maßnahme befahl ich den Wachen, sich von den Dorfbewohnern helfen zu lassen, mor gens und abends die Kuhfladen und die Äp fel der Esel von den Wegen zu räumen und die Kinder zu beaufsichtigen, damit sie nicht in die Straßen oder unter die Häuservor sprünge pinkelten. Innerhalb von zwei Wochen bemühten wir uns, die Erneuerungs- und Sanierungsarbei ten zu Ende zu bringen, die wir uns aufer legt hatten. In den Nächten, die der Ankunft 28
unserer Gäste vorausgingen, versammelten wir uns im Haus des dawar4, um alles zu klä ren. Unsere Reden waren oft geschmückt mit Anekdoten aus dem Land von Simone, der Fremden. Da waren mehrere Lehrer aus Al-Darawich; sie erinnerten an die Kriege, die wir vor hundert oder hundertfünfzig Jahren gegen die Franzosen geführt hatten. Sie erzählten unter anderem – mein Großva ter hatte es mir im übrigen auch erzählt, und meine verstorbene Großmutter (möge Gott ihr seine Barmherzigkeit gewähren!) hatte des langen und breiten davon gesprochen -, daß die Franzosen zwei Jahre in AlDarawich verbracht hätten und dabei unsere Frauen – möge Gott uns von dem Übel ver schonen! – auf äußerst unsittliche Weise aufgesucht hätten. Einige hatten sich schließlich niedergelassen, waren zum mu selmanischen Glauben übergetreten, hatten sich eine Frau genommen und waren Händ ler oder Bauer geworden… Die Alten, Men schen voller Weisheit und Scharfsinn, er zählten uns, aufgrund von Zeugenberichten 4
Wohnsitz, Arbeitsplatz und Empfangsort des Umda. 29
unserer Vorväter, daß siebzehntausend Ein wohner des Dorfes und der Region durch die Hände des Volkes von Simone umge kommen seien. Dies weckte Trauer und gleichzeitig Wut in uns. Doch wir befolgten den Rat des Vorbeters der Moschee und kamen zu dem Schluß, diese Zeiten seien vorbei, und die Stunde der Rache sei seit sieben Generationen verstrichen. So ent deckten wir, nicht ohne ein Lächeln, das Geheimnis der Blässe unserer Töchter und Frauen und die Ursache zahlreicher helläu giger Kinder in Al-Darawich und Umge bung, von Farsikur bis Izba al-Burg und von Port-Said bis Alexandria. Von da an glaubte ich – wir glaubten es alle, ohne daß irgend jemand wagte, darüber zu sprechen -, daß Hamed, der nun millionen schwer war, den Einwohnern von AlDarawich, seinem Geburtsort und seiner Heimat, schon aufgrund seiner Frau, wenn nicht aus Treue, all die Kosten schuldete, die entstanden waren, um sein Ansehen und das seines Dorfes in den Augen der Europäer zu heben, ob sie nun ins Land kamen oder 30
nicht. Denn Simone würde ganz sicher von den verschlungenen Pfaden ihrer Reise er zählen, wenn sie glücklich und erfüllt davon zurückkehrte; sie würde die schönsten Erin nerungen an dieses malerische Dorf mit nehmen, das wie eine junge Braut in den Armen des Flusses lag.
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Mahmoud ibn al-Munassa Der große Tag brach an. Die Frauen des Dorfes putzten sich seit der Morgendämme rung; Mädchen und Jungen zogen ihre schönsten Kleider an. Die Kinder sahen aus, als ob sie das herrlichste aller Feste feierten. Sicher waren die Kleider abgetragen, doch am selben Morgen frisch gewaschen und oft in aller Eile geflickt worden. Die meisten Kinder liefen barfuß herum; sie hatten es sich jedoch gefallen lassen, daß ihre Mütter oder Schwestern sie wuschen und abtrock neten, bevor sie hinausgegangen waren. Die Männer, vor allem jene, die behaupteten, es seien verwandtschaftliche Bande vorhanden; die Eitlen, denen ihr Aussehen Sorgen machte, oder aber auch die reichen Honora tioren waren in saubere Wäsche gekleidet, die geradewegs frisch gebügelt aus der Stadt gekommen war. Die Frauen, ehrbare Gat tinnen oder an die Dreißig gehende resolute Weiber, hatten ihre schwarzen Kleider an behalten und verbargen ihre Gesichter in den Falten der Schleier, trotz der Tageshitze. 32
Unter den Einwohnern des Dorfes gab es auch viele Gleichgültige. Diese hatten sich wie immer an die Arbeit gemacht, in den Häusern, auf den Wegen, manchmal auf den Feldern, das Ereignis beschäftigte sie kaum; da sie weder Verwandte noch Honoratioren waren, mußten sie wie jeden Tag ihr Brot verdienen. Im Laufe des Vormittages verlor das maleri sche Bild, das unser Dorf bot, seine Steif heit. Diejenigen, die im Café warteten, ver nachlässigten allmählich ihre Kleidung und wurden Opfer des Schweißes und der glü henden Hitze. Die Kinder machten sich bald an ihre üblichen Spiele, sie waren das lange Stillhalten nicht gewöhnt. Kleider, Sandalen und nackte Füße wurden staubig. Der feine Sand auf den Straßen, auch auf der, die zum Haus von Ahmad ibn al-Buhayri führte, wurde von groß und klein wieder unter erdi gen Torf getreten; sie war mit Kuhfladen und Eselsäpfeln übersät und von den Rä dern der Karren und Autos durchfurcht. Fliegenschwärme summten in der drücken den Hitze dieses späten Vormittags umher; 33
Insekten sammelten sich im Schatten der Mauern und Bäume. Die heißersehnte Stun de nahte. Die Menge hatte sich auf die ge teerte Landstraße gedrängt. Die Terrasse des Cafés hatte sich geleert. Die Leute schützten sich unter dem spärlichen Laubwerk, unter Schirmen und im Schatten von Schaulusti gen vor der Sonne oder kauerten sich gegen die Mäuerchen, die die Nachbarfelder um gaben, weit weg von den Autos und dem unablässigen Verkehr. Die Warterei zog sich hin, und sie setzten sich auf den Boden, in der Hocke oder im Schneidersitz. Die Ter rassen der Häuser in der Umgebung, die das Bild vom gegenüberliegenden Ufer des en gen Kanals beherrschten, füllten sich mit Frauen; sie saßen, standen oder kauerten manchmal auf Strohballen oder lehnten sich an Reisigbündel; ihre Schleier hatten sie über das Gesicht gezogen, um sich vor der Sonne und ihrem unbarmherzigen Glühen zu schützen. Die Wachen, die verstreut an bei den Seiten des Wasserarms herumgingen, mühten sich, die Kinder hinter der Brücke, uns gegenüber, zu halten. Manche schwie 34
gen; doch insgesamt verstärkte das Gemur mel der Gespräche, untermalt von einem unterschwelligen Gebrumm und Gesumm, das Gefühl intensiver Hitze, die ein Feuer ball am Himmel ausstrahlte, dessen Blau fast kreidig wirkte. Die Augen blieben nach Sü den gerichtet, dort, wo das ach so »pariseri sche« Gefährt von Hamed al-Buhayri auf tauchen würde – o unvergeßlicher Augen blick! -; wie ein Blitz würde es nach der Kreuzung von al-Adiliyya bei uns erschei nen. Dort erwarteten der Kommissar, die Offiziere des Ortes, der Umda, die Honora tioren des Dorfes und der Umgebung ge duldig die Ankunft von Simone und Hamed al-Buhayri. Von der Brücke bis zur Kreu zung, flußaufwärts und flußabwärts waren mehr als hundert Polizisten postiert, die von der gesegneten Aura träumten, in die Ha med al-Buhayri sie bald einhüllen würde… Endlich war der denkwürdige Augenblick da. Man sah den metallischen Blitz eines ro ten Wagens aufleuchten. Sein Schein schnitt durch das blendende Mittagslicht und durchbrach den Laubschatten der Bäume an 35
der Kreuzung. Das Auto blieb mit krei schenden Bremsen stehen. Die Menge, Männer und Kinder durcheinander, stürzten auf das Gefährt zu. Die Polizisten des Ortes und die Wachen vergaßen ihre Pflicht und stürzten ebenfalls auf das rote Auto zu. Selbst die, die auf den Feldern oder im Schatten der Häuser arbeiteten, liefen, von Neugierde getrieben, herbei und verließen Hacken, Vieh und Töpfe. Die Schreie der Menge vermischten sich mit dem Gejaule der Frauen und dem Gebrüll der Kinder: »Da ist Hamed, Leute! Hamed und die Französin!« Die Ankunft des Königs selber hätte nicht soviel Begeisterung hervorrufen können. Die Menge wirbelte in ihrem Eifer Staubwolken auf, die langsam verflogen, als die Zuschauer gemessenen Schrittes zurück kamen, das Fahrzeug begleiteten, es umring ten und seine Fahrt aufhielten. Die Busse und Autos, die auf der Straße zum Dorf fuhren, wurden von dieser festen Masse auf gehalten. Protestierendes Gehupe wurde laut, das sich sodann dem allgemeinen Jubel anschloß und nun ebenfalls eine Willkom 36
menshymne anstimmte, sobald Fahrer und Schaffner durch den Kellner des Cafés von der erhabenen Neuigkeit informiert waren. Aufgeschreckt durch den Lärm, verließen die Vögel den kühlen Schatten der Bäume, um flügelschlagend ihre Kreise zu ziehen… Obwohl das Fahrzeug sehr langsam fuhr, kamen die Honoratioren des Dorfes und des Marktes außer Atem und gaben sich alle Mühe, der Prozession inmitten von Schaulu stigen und Wachen zu folgen. Das Hupen der Autos, in denen der Kommissar und die offiziellen Vertreter saßen, erklang pausen los und mahnte die Gaffer, sich aus dem Weg zu machen. Das rote Cabrio fuhr an der Spitze, ebenso breit wie lang, begleitet von einer Schwadron Motorräder. Das War ten hatte mich ausgelaugt, das Schauspiel verblüfft. Ich stand wie erstarrt auf der Brücke, obwohl meine Französischkenntnis se mir eigentlich einen Ehrenplatz neben Simone, zusammen mit dem Umda und Hamed ibn Mustafa al-Buhayri, hätten si chern müssen, wenn sie endlich vereint sein würden. Das Auto näherte sich der Brücke; 37
wie angewurzelt umstand die Menge das Ge fährt. Zwei Dinge fielen mir plötzlich als Zeugnisse zweier verschiedener Welten auf: die Gesichter der Schaulustigen einerseits, und die von Simone und Hamed anderer seits. Hameds Gesicht hatte sich sowohl in Form und Farbe radikal verändert, so daß er jetzt nicht mehr so tun konnte, als gehöre er zu denen von Al-Darawich, selbst wenn er einmal eines dieser barfüßigen und in Lum pen gekleideten Kinder gewesen war, die sich ständig über Bauchweh beklagten, Blut pißten und unter Migräne, Schwindelgefüh len und Trachomen litten. Vielleicht wäre er so geblieben, so wie die anderen, wenn das Schicksal es gewollt hätte, daß er bis zu die sem Tag hier, in Al-Darawich, leben sollte… Das rote Auto hätte notfalls die Brücke überqueren können, doch die Enge der Hauptstraße hätte es sicher zum Stehen ge bracht. Hamed war das wohl klar, denn er scherte nach rechts aus, während die Polizi sten und Wachen blindlings in die Menge schlugen, damit sie zurückweiche. Er parkte auf dem unbebauten Gelände, an das er sich 38
offenbar erinnerte, zwischen dem Café und dem Blechschuppen, in dem die Mühlsteine der Getreidemühle des Dorfes unterge bracht waren. Er stieg aus dem Auto; seine Frau blieb sitzen und wartete, daß er ihr die Tür öffnete, doch der Kommissar war schneller. Er bat den Fahrgast auszusteigen und verbeugte sich: »Bitte sehr!« sagte er auf französisch. Simone streckte sich. Endlich war sie da, diese Simone, die direkt aus der Hauptstadt der Lichter, der Stadt der großen Boulevards, der berühmten Sorbonne, des Quartier Latin, des Bois de Boulogne und der Champs-Elysées kam! Der Kommissar ging uns voran und wies Simone und Ha med den Weg, ihm folgten der diensthaben de Offizier, der Umda und die Honoratio ren. Hamed war sehr elegant, strahlend vor Gesundheit, korpulent, wenn auch hochauf geschossen. Simone war nicht besonders an ziehend, weder schön noch häßlich. Sie hat te einen rötlichen, von der Reise verbrann ten Teint. Sie war rundlich, gut genährt. Doch ihr blaues Kleid mit Rankenmuster stand ihr gut, machte sie zauberhaft, fast 39
verführerisch. Sie ging leichten Schrittes da hin. Ihre blauen Augen sprühten. Sicher wa ren viele Frauen im Dorf schöner, anzie hender als sie; doch Simone sprühte vor Le ben, strahlte eine starke und bezwingende Persönlichkeit aus, in der sich Freundlich keit, Unbeschwertheit und Einfachheit mischten. Als ich sie so sah, bekam ich plötzlich Mitleid mit unseren Frauen. Wir überquerten die Brücke hinter diesem Zug, um besser die unvergeßliche und höchst seltene Szene einer Französin zu se hen, die in Al-Darawich landete. Simone! Ah! Simone! Wunderbarer und bezaubernder Vorname… Schönheit der Augen… Zauber des Fotoapparats, den sie um die Schulter gehängt hatte und der gegen die breiten Hüften schlug, die durch ihre Wes pentaille noch betont wurden.
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Aufregung in
Al-Darawich
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Hamed al-Buhayri
Die Freude über die Rückkehr in die Heimat verflog, so wie Träume beim Aufwachen in aufeinanderfolgenden Wellen verfliegen. Die Welt, die ich entdeckte, kam mir fast iden tisch vor mit der, die ich gerade verlassen hatte: Zuerst Alexandria und dann Kairo be stätigten diesen Eindruck. Die Gebäude, die Straßen waren kaum anders als die von Pa ris, Nizza oder Deauville… Doch der Rhythmus des täglichen Lebens war hier un terschiedlich, wie auch Völker unterschied lich sind. Das Volk, das ich vor langer Zeit verlassen hatte und das ich heute wieder fand, hatte sich verändert. Die Leute gingen öfter barhäuptig, Turbane und Tarabisch waren selten geworden. Man trug seltener die traditionellen Gewänder, europäische Kleidung war häufiger geworden, die Kopf bedeckungen ausgefeilter. Dieses Volk äh nelte jenem von Simone, trotz der dunklen Gesichter und der honigfarbenen Augen. Doch die Sitten, mein Gott! Die Kultur! Die Hygiene! Die Geisteshaltung! Beamte oder 42
Lastenträger, Büroangestellte oder Händler, alle flößten mir durch ihre Art, mich oder andere zu behandeln, ein Gefühl des Unbehagens ein. Ich machte die Hitze, den Schweiß, die Fliegen, den Staub dafür ver antwortlich, dessen Partikel die Atmosphäre und die Dinge durchtränkten und unter den Fingern knirschten. Doch innerlich blieb ich unzufrieden; es gab hier zuviel üblen Mund geruch, zu viele Beleidigungen und Be schimpfungen und viel, viel zuwenig Lie benswürdigkeit, Höflichkeit oder gute Ma nieren. Ich behielt Simone im Auge, versuchte in ihren Zügen oder ihrem sprühenden Blick zu lesen, welche Eindrücke von meinem Land, meinem Volk sie bekam. Doch die Freude über die Reise, die Lust an der Ent deckung faszinierten sie und gaben ihr Kraft, das Schlimmste zu ertragen. Ich verstand ihre Seelenzustände sehr gut, trotz des übermächtigen Wunsches, den ich hatte, die Meinen, mein Land, seine Kanäle, seine Brücken, seine Palmen und Maulbeerfeigen bäume wiederzusehen. Doch gab es sie 43
noch? Der Name für die Dinge war immer noch in meinem Geist verankert; in meinem Kopf purzelten die Bilder durcheinander, ungenau, schwankend stiegen sie aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf, nachdem sie mich, im Guten wie im Schlechten, mein ganzes Leben lang auf Schiffsbrücken, in Zügen, Bergwerken, Restaurantküchen und bis in dieses renommierte Hotel begleitet hatten, das ich nun in Paris besaß. Im Lauf der Reise sehnte ich mich manchmal nach dem Duft der Wälder, nach den europäi schen Landschaften und ihren zartgetupften einfarbigen Gemälden. Das Auto fuhr auf der Straße dahin, holperte von Furche zu Schlagloch, ließ Staubwolken aufsteigen, die sich hinter uns herschlängelten, nachdem sie sich mit dem Schweiß zu einem pechartigen Film vermischt hatten, der hartnäckig an un seren Nasenflügeln klebte. Armselige gelb lich-grüne Sträucher und einige Dornenge wächse standen am Rand der Straße, die am Kanal entlangführte, parallel zu der Reihe aus Telegraphenmasten und den Feldern, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. 44
Ich war überrascht, ja fast schockiert zu se hen, daß die Bauern noch mit ihren Händen arbeiteten, Seite an Seite, unterstützt von Eseln, Büffeln oder Kühen. Auch brachte mich der Anblick der niedrigen Lehmdörfer, die sich aneinanderschmiegten, ebenso aus der Fassung wie der Anblick der düsteren Gesichter mit den ausgemergelten Zügen, der erdfarbenen Hautfarbe und der eingefal lenen Wangen, die von Blutarmut, Ruhr und Vitaminmangel sprachen. So, das ist also mein Land! dachte ich. Es war erstaunlich zu sehen, wie sich Simone über alles freute, über die leuchtende und glühende Sonne, die riesige Eintönigkeit der Felder, den Anblick einer so primitiven Le bensweise. Von Zeit zu Zeit rief sie aus: »Ah! Amed, schau! Diese Weite, dieses Was ser! Ist euer Land immer so in Sonne ge taucht? Habt ihr denn keinen Winter?« Dann wieder wunderte sie sich: »Wo sind denn die Wälder? Warum sehen die Leute alle krank aus? Warum benutzen die Bauern keine Maschinen? Und diese bar füßigen Kinder! Warum?« Die Fragen zerris 45
sen mir das Herz. Darauf erriet sie meine Verlegenheit und sagte sanft, mit der Zartheit, die ihrer Rasse eigen ist: »Verzeihung, Liebling …« Dann fragte sie mich erneut aus, schoß ein oder zwei Fotos – ich wünschte so, sie wür de es lassen! -, Zeugnisse einer Wirklichkeit, die mich beschämte, mir Unbehagen bereite te und mir in Paris kaum Ehre machen wür de. Doch das war nun mal die Wahrheit die ses Landes, ich konnte nichts dafür. Oft hielt man uns auf unseren Spaziergän gen an. Meine Sprachkenntnisse und die Passierscheine, die ich mir in Kairo be schafft hatte, halfen mir sehr, trotz meines europäischen Akzents und meiner französi schen Staatsbürgerschaft. Ich mußte ständig erklären, warum ich ins Land gekommen war… Eines Tages, als wir gerade an Kafr Chukr vorbeigekommen waren, schlug Si mone vor anzuhalten, damit wir uns in dem bescheidenen Café an der Ecke erfrischen und Obst kaufen könnten, das wir dann gleich essen wurden. Ich fuhr also rückwärts und parkte am Bordstein. Wir stiegen aus, 46
Simone machte sich Gesicht und Arme naß. Wir tranken ein paar Schlucke von einem sehr lauwarmen Wasser mit Kohlensäure und bissen in die Früchte, die der Cafebesit zer unbedingt selbst hatte waschen wollen. Inzwischen hatte sich fast das ganze Dorf um uns geschart, Frauen und Kinder einge schlossen, und musterte uns, als ob wir von einem anderen Stern kämen… Wir fuhren weiter. Ich fürchtete, daß Simone Bauchweh von den Pflaumen und Aprikosen bekom men könnte, die sie im Café gegessen hatte, Früchte, von denen ich wußte, daß man sie im Wasser des Kanals gewaschen hatte. Vielleicht würde ich im übrigen selber am nächsten Tag von der Ruhr befallen werden. Ich hatte nichts von den zehn hier verbrach ten Jahren vergessen, nichts von den immer wiederkehrenden Schmerzen, deren Grund ich schließlich in Paris entdeckt hatte und die mich damals auf so eine harte Probe ge stellt hatten. Als wir an der Kreuzung von Al-Adiliyya anhielten, die voller Polizisten war, erfüllte mich Unruhe. Der Empfang, den sie mir be 47
reiteten, ihre Beflissenheit, behagten mir nicht. Vielleicht war es die Befangenheit, die sie vor Simone empfanden, mochten sie Honoratioren, arme Teufel oder Kinder sein, vielleicht war sie die Ursache meiner Verlegenheit. Ich verbarg sie, so gut ich konnte, hinter einem breiten Lächeln, als ich das strahlende Gesicht meiner Frau erblick te. Mein Bruder war endlich da, jener Bru der, den zu umarmen ich so sehr erträumt hatte, und meine Mutter, gealtert, verkrüp pelt, zusammengesunken. Ich drückte ihnen die Hand, ließ sie mich umarmen. Meine Mutter schloß Simone in die Arme, drückte ihr einen Kuß auf beide Wangen, strich ihr vor allen Leuten über die Haare, betastete das Fleisch ihrer Schultern – Simone konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Dann stieß sie einen fast schmerzlichen, abgerisse nen, erstickten Schrei aus, bevor sie in Schluchzen ausbrach. Ich fand Al-Darawich wieder, seine niedrigen Häuser aus Stampf erde, seine engen Sträßchen, die ständig Angst vor möglichen Razzien zu haben schienen, das Schwarz, das die Gesichter 48
verschleierte und die Frauen verhüllte, die staubige Erde, die trockengelegten Sümpfe und die Strohballen auf den Dächern der Häuser. Das war also der Traum, den ich gehegt hatte, der mich hierhergeführt hatte. Gegen alle Erwartungen war er in meinem Herzen verwurzelt, ungestüm, hartnäckig, und erweckte in mir gleichzeitig Ekel, Ab neigung, Liebe und Seelenfrieden. Ich dach te sogleich an Simone. War sie wirklich glücklich? Wußte sie zu lauschen, konnte sie den Duft dieses Landes erschnuppern, liebte sie es? Ich fragte sie danach. Sie nickte und antwortete mit vor Zufriedenheit leuchtenden Augen: »Sehr!« Doch ich wußte schon, daß die Trunkenheit bald verflo gen sein und uns nur einen Nachgeschmack hinter lassen würde. Ich wurde wütend, als mein Bruder, bevor ich das Auto neben dem Café zum Stehen brachte, erklärte, er habe uns keine Behausung an der Landstraße bauen können. Und ich mußte mich in mein trauri ges Schicksal ergeben, als er bei der Über querung der Brücke hinzufügte, daß er das Haus der Familie erneuert habe – in meiner 49
Erinnerung kauerte es düster am äußersten Ende einer engen Gasse, umringt von drei anderen Häusern -, es sei nun so hergerich tet, daß es Simone gefalle… Dabei vermit telte mir die Menge, die sich um uns dräng te, den Eindruck, der ruhmreiche Sieger in einem schrecklichen Krieg zu sein, der nun in die Heimat zurückgekehrt war und als Trophäe dieses fabelhafte Auto und Simone dabei hatte, die Fremde, edler Nachkomme einer illustren Familie. Ich hätte es gern ge sehen, daß jemand ihr einen Rosenstrauß oder den dicht belaubten Zweig eines Bau mes aus dieser gesegneten Erde überreicht hätte.
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Ahmad al-Buhayri
Simone verließ das Bad, ihre Haare waren frisch gewaschen und fielen auf ihre Schul tern wie bei einer jungen Braut in der Dämmerung ihres ersten Morgens, Sie zog sich in das Zimmer zurück, das Zaynab und ich den beiden überlassen hatten, während wir uns in dem meiner Mutter eingerichtet hatten. Hamed war nun ins Bad gegangen und ging dann zu seiner Frau. Als sie wieder auftauchten, schienen sie bereit zum Gehen; ich war erstaunt, daß sie schon daran dach ten, uns zu verlassen. Simone trug ein kurzes graues Kleid, Hamed einen blauen Anzug mit einer geschickt gebundenen Krawatte, wie ein Kellner aus dem Marktcafe. Wir hat ten gerade den Tisch mit unserem besten Service gedeckt. Er quoll vor Nahrungsmit teln über und hätte das ganze Viertel versor gen können. Simone stieß einen verblüfften Schrei aus, fügte sich dann und kommentier te in ihrer Sprache »die orientalische Groß zügigkeit, ihren Mißbrauch, ihre ausufernde Verschwendungssucht«. Dies waren ihre ei 51
genen Worte; zumindest so, wie sie uns Hamed übersetzte… Ihr Verhalten bei Tisch verwunderte mich sehr: Zuerst die Suppe, dann eine Speise nach der anderen. Das war die merkwürdige Ordnung, die sie uns aufer legte. Hamed übersetzte uns ihre Wünsche und jede ihrer Bemerkungen. Mich hatte man gelehrt, daß ein Fremder sich den kuli narischen Gepflogenheiten des Landes, in dem er sich aufhielt, anzupassen habe… Im Laufe der Mahlzeit versuchte ich, Simone zu unterhalten. Hamed, der höflich und auf merksam war, übermittelte ihr getreu meine Worte. Doch sie begnügte sich mit einem Lächeln und einigen »Bravos«. Bei Tisch schämte ich mich, während ich Hamed beobachtete; genauso wie ich mich für Zaynab neben Simone schämte. Und meine Mutter, nun, reden wir nicht davon… Der Schneider von Al-Darawich hatte sich alle Mühe gegeben, mir einen Kaschmiran zug zu machen, der mich wegen der Hitze und der Suppe schwitzen ließ. Madame Ra fraf hatte sich bemüht, die Frauen des Hau ses mit den schönsten Stoffen einzukleiden. 52
Doch verjagen Sie nur die Natur, sie kommt in vollem Galopp zurück! Ich ertappte mich selber mehrmals dabei, wie ich mit Wasser gurgelte – das man für diese Gelegenheit ge kocht und abgekühlt hatte – oder meine Suppe laut schlürfte, Dinge, die ich meiner Frau und meiner Mutter verboten hatte. Letztere machte sich über meine Warnungen lustig, während sich Zaynab vollkommen benahm und uns vorwurfsvolle Blicke zu warf. Sie beobachtete Simones Gesten, imi tierte sie in allem, ob sie nun ihren Löffel nahm oder ihn hinlegte oder ob sie einfach nur den Mund zum Essen öffnete. Es war zum Totlachen, zu beobachten, wie sie sich abmühte, mit dem Messer umzugehen. Mir wurde klar, daß es sehr schwierig war, die Gewohnheiten der Menschen innerhalb ei nes Tages und einer Nacht zu verändern… Irgendwann einmal streckte Simone den Arm aus und stach ihre Gabel in einen Pu tenschenkel; dabei sah man unter ihrer Ach sel ein Büschel blonder, langer, fester Haare. Ich konnte ein Ekelgefühl nicht unterdrük ken. Meine Frau bemerkte meine Verwir 53
rung und lächelte auf die zufriedene Weise eines Menschen, der sich rächt; sie warf mir einen spöttischen Blick zu. Ich konnte nur eine Grimasse ziehen und ihr insgeheim drohen, damit Hamed nichts von dem Vor fall bemerkte. Ich sagte mir, daß Schönheit ganz entschieden niemals vollkommen sei, und wunderte mich insgeheim, daß Simone ihren Körper so vernachlässigte, sie, eine verfeinerte Städterin, wo sie doch wußte, daß sie die Familie ihres Gatten im fremden Land kennenlernen sollte! Hamed und Simone aßen wenig. Sie unter hielten sich leise, und meine Mutter, die taub ist, neigte sich zu mir, um mich laut zu fra gen, was sie sagten. Hamed bemühte sich darauf, lauter zu sprechen, antwortete ihr sanft und höflich, doch stammelnd, als ob er Worte suchte, die er in dreißig Jahren Exil vergessen hatte; er rief mich zu Hilfe, damit ich sie ihm wieder ins Gedächtnis holte. Er schmückte seine Rede mit französischen Ausdrücken; meine Mutter betrachtete ihn mit offenem Mund; Zaynab unterdrückte einen Lachanfall und beäugte das Paar ver 54
blüfft. Das Mahl ging zu Ende. Hamed und ich zo gen uns ins Wohnzimmer zurück. Simone bestand darauf, Zaynab und meiner Mutter zu helfen, und erleichterte so die Aufgabe der Dienerin, die wir eingestellt hatten, um vor unseren Gästen gut dazustehen… Ha med holte ein kleines Notizbuch aus seiner Tasche hervor. Er fragte mich, wieviel Geld mir bliebe; ich gab ihm Rechenschaft über meine Ausgaben. Zu meiner großen Überra schung schien er kaum berührt von der Tat sache, daß mir nichts mehr blieb, und gab mir sogar hundert Pfund zusätzlich, um sei ne Bedürfnisse während seines Aufenthaltes zu befriedigen. Wir sprachen über dies und das. Er fragte mich nach meinem Leben, meiner Arbeit, dem Tod unseres Vaters aus. Er fragte nach Neuigkeiten von unseren Verwandten, eine Familie nach der anderen gingen wir durch: Wer Kinder bekommen habe, wer geheiratet habe, wer das Dorf ver lassen habe, wer noch geblieben sei… Er notierte meine Antworten in seinem Büch lein, schrieb von links nach rechts und nu 55
merierte jede Zeile, doch ich wagte nicht zu lesen, was er aufschrieb. Wieder holte er sei ne Brieftasche hervor, legte sie vor sich hin, holte eine lange Zigarre aus ihrem Futteral, reichte sie mir und gab mir Feuer, bevor er sich selber eine anzündete. Dann fing er an, Geldscheine zu zählen: »Ich gebe soviel demjenigen, soviel derjenigen und soviel demjenigen…« Ich betrachtete nacheinander die Zigarre und das Geld und dachte, daß er keinen vergaß und seine Gunst allen ge währte. Seine Großzügigkeit schien grenzen los; trotzdem muß ich gestehen, daß ich mir auch sagte, er sei verrückt, dieses Geld hi nauszuwerfen, daß es Eifersucht und Lei denschaften hervorrufen würde: Ein Zehntel von dem, was er da verteilte, hätte genügt, um die Augen derjenigen vor Begierde leuchten zu lassen, die sonst nur den Staub betrachteten. Ich, sein Bruder, konnte mit dem, was er mir gegeben hatte, für meinen Handel mehr Dünger, Mist, Korn, Saatgut, Öl, Baumwolle und Stoff kaufen, als das ganze Dorf brauchte. Deshalb beschloß ich, ohne etwas zu sagen, seine Freigebigkeit auf 56
meine Art zu nutzen, denn wenn ihm nicht klar war, was er tat, so kannte doch ich die Tragweite seiner Geste; meine Kinder, unse re Mutter und ich waren ihm im übrigen am dankbarsten und wußten besser als alle an deren, wie man solche Auswüchse der Großzügigkeit lenkte. Während wir im Wohnzimmer waren, kamen meine Kinder von ihrer Tante zurück. Ich stellte meine drei Jungen und meine zwei Töchter vor. Sie grüßten, man umarmte sich; dann setzten sie sich brav hin. Hamed gab jedem von ihnen fünf Pfund und begann mit ihnen zu plau dern. Mit mißbilligendem Blick riet er mir lebhaft, meine Töchter aufs Collège der Marktgemeinde zu schicken. Ich tat so, als teilte ich seine Gedanken. Er bat mich, ihn zu verständigen, wenn einer von ihnen, Jun ge oder Mädchen, kurz vor der Ehe stünde, und drängte meinen Altesten, schnell seinen Schulabschluß zu machen, damit er ihn an der Universität von Paris einschreiben kön ne. Ich war so sehr von Dankbarkeit ihm gegenüber erfüllt, daß mir plötzlich Tränen in die Augen traten. Ich dankte ihm und 57
wünschte ihm alles erdenkliche Glück, doch er brachte mit einer Geste meine Ergüsse zum Schweigen und behauptete, er erfülle nur seine brüderliche Pflicht. Unterdessen kamen Zaynab, meine Mutter und Simone herein. Letztere freute sich, meine Kinder zu sehen, und umarmte sie nacheinander alle. Sie versuchte, mit ihnen zu reden, doch ver geblich, sie verstanden nicht, was sie sagte. Ich dachte bald, es sei Zeit für sie zu gehen, und gab es ihnen mit Blicken zu verstehen. Simone bemerkte dies; es kam mir so vor, als mißbillige sie es. Meine Kinder gehorch ten jedoch, verabschiedeten sich höflich und gingen zu ihrer Tante zurück. Ich entschul digte mich einen Augenblick, hielt sie auf und nahm ihnen wieder ab, was Hamed ih nen gegeben hatte, damit sie es nicht ver schwendeten oder Zaynab sich einen Vor wand ausdachte, um an das Geld zu kom men. Ich befahl ihnen, ihrer Tante nichts davon zu sagen, und ging wieder ins Wohn zimmer zurück. Wir plauderten noch ein wenig. Es schien mir plötzlich, als mache Simone Hamed 58
schöne Augen, als begehre sie ihn schwei gend. Meine Mutter belauerte lächelnd ihre Gesten. Zaynab warf ihnen heimlich Blicke zu. Ich fürchtete, daß eine von ihnen etwas falsch machte, entschuldigte mich und ging hinaus; die zwei Frauen schleppte ich mit mir, während Hamed und seine Frau erklär ten, sie wollten sich einen Moment in ihrem Zimmer ausruhen. Auch ich begehrte Zay nab nach diesem reichhaltigen Mahl und vergaß völlig, daß wir ja für zwei Wochen das Zimmer mit meiner Mutter teilten. Es gelang uns, sie davon zu überzeugen, die Hühner oben auf der Terrasse zu füttern und bis zum Sonnenuntergang dort zu blei ben. Auf dem Gipfel der Lust stellte ich mir an diesem Abend vor, Simone in meinen Armen zu halten, sie fest an mich zu pres sen; ich bemerkte, daß Zaynab mich mit ei nem Eifer liebte, den ich lange nicht mehr an ihr gesehen hatte.
59
Der Umda
Ich hatte alles getan, damit der Abend un vergeßlich würde. Teppiche im Überfluß la gen auf dem Balkon, in dem Zimmer, das den Männern vorbehalten war, und im Prunkzimmer. Der Hof war mit Matten aus gelegt. Zahlreiche Birnen beleuchteten den Dawar wie am hellichten Tage. Ein Möbel geschäft der Marktgemeinde hatte sich um die Dekoration gekümmert: Vorhänge, Tep piche, passende Möbel, Teller und Silber, kurz alles, was man brauchte, um eine au ßergewöhnliche Nacht zu feiern, ein Fest, das in der ganzen Provinz niemals seines gleichen gefunden hatte. Wir warteten auf unsere Gäste, der Kommissar, die Honora tioren des Ortes, die von Al-Darawich, be gleitet von ihren Offizieren, und ich. Schließlich kam Simone in Begleitung von Hamed und seinem Bruder. Ihr Aufzug, der meine männlichen Instinkte zwar mit Wohl behagen erfüllte, ließ jedoch meine Seele ei nes guten Muselmanen vor Wut aufbrüllen. Ihr Rücken war halbnackt; ihre aufgesteck 60
ten Haare enthüllten einen grazilen Nacken. Ihre Brüste stachen in einem schwindelerre genden Dekollete unter dem leichten Stoff hervor, von jeglicher Fessel befreit. Ihr Kleid war rot, kurz und endete kurz über dem Knie. Kopflos ob dieses Anblicks drängten sich die jungen Leute des Dorfes und der Umgebung um das Gebäude; ich dachte plötzlich, daß die Fremde ihre schö ne Unschuld beflecken, in ihren Augen ver schleierte Frauen und tugendhafte Mädchen herabsetzen könnte. Doch wir konnten nichts daran ändern, denn so war es Sitte in ihrem Land; da sie in der Unzucht groß ge worden war, konnte sie sich weder darüber schockieren noch sich dagegen wehren. Au ßerdem war sie unser Gast und die Gattin eines in Al-Darawich Geborenen. Doch ich konnte es nicht verhindern, daß ich Hamed aus ganzem Herzen haßte; ich beschimpfte ihn insgeheim: Verflucht sei der Schamlose! Simone war die einzige Frau, die außer der Tänzerin an diesem Abend anwesend war. Wer auch im Dorf hätte es gewagt, zu so ei nem Abend mit seiner Frau zu kommen, wo 61
doch keiner aus der Marktgemeinde sich so etwas getraut hatte, nicht einmal der Kom missar, der Offizier, der Arzt, der Agrarin genieur oder der Preiskontrolleur! Wir ver sammelten uns um einen Tisch, während die Honoratioren sich etwas abseits niederlie ßen. Der Kommissar persönlich wies uns unsere Plätze zu. Er setzte Simone in die Mitte, sich selber ihr zur Linken, ihrem Mann gegenüber, und bat mich, mich ihr gegenüber auf der anderen Seite hinzuset zen. Scherzhaft bemerkte ich, daß er sich einen Ehrenplatz reserviert habe, doch er gab trocken zurück: »Das sind die Grundre geln des Anstandes, Monsieur Umda!« Schreie und Ausrufe drangen von draußen an unser Ohr. Die Wachen und Gendarmen drohten den Kindern, Frauen und jungen Leuten von Al-Darawich, die Simone verfal len waren, mit ihren Schlagstöcken. Der »Sa lon du Meuble« hatte die Armseligkeit der Gedecke dadurch wettgemacht, daß er uns zwei Dutzend davon lieferte, und ersparte uns so das Problem, dem sich einmal Ah mad al-Buhayri gegenübergesehen hatte, als 62
er kein einziges Messer und keine einzige Gabel in ganz Al-Darawich gefunden hat te… Simone handhabte ihr Besteck mit vollkommener Geschicklichkeit, ohne im geringsten die spitzen Zähne und die schar fen Schneiden dieser Werkzeuge zu fürch ten, die so leicht in das Fleisch eindrangen. Der Kommissar, die Offiziere, der Arzt und der Ingenieur taten es ihr gleich. Ahmad alBuhayri litt Höllenqualen. Ich jedoch konnte nichts herunterbekommen, da ich mir vor Simone nicht den kleinsten Mißgriff erlau ben mochte. Nacheinander tat ich so, als sei ich genügsam, satt, zurückhaltend, äußerst höflich und ein großer Stoiker, Haltungen, über die Simone im höchsten Maße erstaunt war. Der Kommissar und ich warfen jedoch heimliche Blicke auf die Honoratioren, gro be Personen, die Wasser und Suppe ge räuschvoll schlürften, ohne auf Simone zu achten. Sie packten das Fleisch und das Wei ße vom Hühnchen mit vollen Händen, so daß ihre Finger von Fett trieften; schamlos stopften sie sich voll, kauten mit offenem Mund und rülpsten lautstark, ohne sich zu 63
zu genieren. Sie schienen nie satt zu werden, forderten ständig neue Nahrung, obwohl sie keinen Sou zu diesem Festschmaus beige steuert hatten. Vergebens also all meine Empfehlungen! Ein hungriger Bauch hat keine Ohren… Simone aß wenig. Sie tupfte sich schließlich die Lippen mit einem Ser viettenzipfel ab, entschuldigte sich und ver ließ den Tisch, um sich Finger und Mund zu waschen. Sie wollte danach wieder an ihren Platz zurück und warten, bis alle fertiggeges sen hatten, doch wir versicherten ihr, daß dies nicht nötig sei. Also stand sie auf, ge folgt vom Kommissar, seinem Adjutanten, Hamed und mir; wir überließen es den ande ren, sich den Ranzen vollzuschlagen, ein be schämendes Schauspiel, dem sie sich ohne Skrupel hingaben, nachdem sie den ganzen Tag zu diesem Zweck gefastet hatten. Wir gingen nun zur Tribüne mit ihren wei chen Teppichen und ihren bequemen Sofas; Simone setzte sich mit Hamed auf den Eh renplatz. Sie begann mit einem zauberhaften bunten Fächer zu wedeln – wie ich sie manchmal in den Händen der hübschen 64
Frauen in den Cabarets von Kairo gesehen hatte -, dann bedeckte sie ihre Schultern, um sich vor den Fliegen, den Mücken und den Nachtfaltern zu schützen, die um die Lam pen herum surrten. Ich wollte mich für diese Unannehmlichkeit durch Mahmoud ibn alMunassa entschuldigen -vornehmer Student, Sohn des Feldhüters, der auf meinem Land arbeitete -, aber Hamed beruhigte mich kurz und erklärte mir, sie hätten Vorkehrungen getroffen und sich den Körper mit einer speziellen Lotion eingerieben, die die Insek ten fernhalte oder unschädlich mache. Ich dachte, daß er wirklich das Richtige zur rechten Zeit wisse. Mangosaft, Tee und Kaf fee wurden gereicht. Die Männer forderten sich beim traditionellen Knüppelspiel in der Mitte des Hofes heraus. Ibrahim, der Dich ter, sang zum Klang der Flöte ein Liebeslied. Dann wand sich die Tänzerin, die wir für diese Gelegenheit hatten kommen lassen, im Rhythmus der Querpfeifen und Tamburine, während Simone mit den Offizieren, die ihre Sprache verstanden – einer von ihnen hatte sogar ein Jahr in ihrem Land gelebt -, und 65
mit Mahmoud ibn al-Munassa plauderte, der viel über Frankreich wußte, ohne jemals dort gewesen zu sein, und der mit ihr über die Chorsänger ihres Landes sprach. Hamed – sie sprach es »Amed« aus – zeigte sich sehr großzügig: Er lud uns, den Kommissar und mich, ein, ihm in ein Zimmer zu folgen, während Simone nach Herzenslust zuschau te und auf der Tribüne zahlreiche Fotos schoß. Er drückte dem Kommissar hundert Pfund in die Hand, die er unter seinen Un tergebenen verteilen sollte – Gott allein wußte, was sie davon abbekommen wurden! -, und gab mir die gleiche Summe für die Aufsicht, die Kosten für die Erneuerung von Al-Darawich und für den Empfang. Es war dreimal soviel, wie nötig gewesen wäre. Er beauftragte mich auch, den Armen des Dorfes Almosen zu geben, eine elende Hor de, die sich draußen drängte und tanzte und sich im Schutz der Dunkelheit an die Mau ern klammerte, die nur das schwache Licht einer einzigen Lampe in der Mitte des Rat haushofes sparsam beleuchtete; jeder gab sich mit vollem Herzen der Freude hin, 66
schrie und sang, wünschte Hamed Ruhm und eine reiche Nachkommenschaft und daß Gott ihm immer seine schöne französi sche Dame erhalten möge! Was Hamed ibn Mustafa al-Buhayri an die sem Abend verteilte, hätte ausgereicht, um zwei feddans5 zu kaufen, noch dazu in einer Zeit, in der die Preise für Land, Baumwolle und Pacht besonders hoch waren. Ich erin nerte mich an die Allegorie vom »göttlichen Wohltäter, Spender aller Glückseligkeit«, und begriff nun, was der Vorbeter in der Moschee mit folgenden Worten gemeint hatte: »Vielleicht wird es euch eines Tages gesche hen, daß ihr denjenigen haßt, der euch wohl tut.« Das war wirklich wahr. Hamed hatte sein Land verlassen, verjagt und verflucht von den Seinen, und war als verlorener und geliebter Sohn zurückgekehrt, genauso wie Hassan al-Basri6, den Ibrahim, der Dichter, besang. Einen kurzen Augenblick wünschte In Ägypten Flächenmaß, das ungefähr 4046,86 m2 ent
spricht.
6 Berühmter moslemischer Vorbeter, der 642 in Medina
geboren wurde, gestorben im Exil in Basra 728.
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ich, daß Hamed für immer bei uns bliebe. Beinahe hätte ich ihm diesen Wunsch mitge teilt, doch plötzlich fürchtete ich, daß der Gedanke ihm gefallen könnte, so daß er sich womöglich für immer in Al-Darawich nie derließ und meinen Posten als Umda und meine Berühmtheit bedrohte. Ich wußte nicht mehr, ob ich ihn liebte, und dachte über die undurchschaubaren Pläne Gottes und die Wechselfalle des Schicksals nach, das uns vorbestimmt ist. Ich war die wich tigste Persönlichkeit in Al-Darawich, und nun sollte plötzlich dieser Buhayri meinen Platz einnehmen. Meine Familie war die reichste im Dorf und die mit dem besten Ruf, und da kam er und wollte uns die seine aufzwingen, zusammen mit seiner französi schen Frau, deren Benehmen keinen Zweifel aufkommen ließ über… Möge Gott uns ver schonen, Er, der den Menschen nach Sei nem Bild erschuf! Der Abend ging friedlich vonstatten. Simo ne hatte eine ganze Reihe Bilder gemacht, darunter eines von mir, in Farbe, wie sie sag te, und sie versprach, es mir aus Paris zu 68
schicken… Alle gingen heim, um sich aus zuruhen; Simones Bild verließ mich nicht mehr. Sie suchte meinen Schlaf heim. Ich sah sie abwechselnd als Huri im Paradies, als Sirene, die aus dem Meer aufsteigt, und als Verführerin und Gesandte des Teufels, die, in Begleitung von Hamed al-Buhayri, ins Dorf gekommen war… Als meine Frau sich mir an diesem Abend ungewohnt gekleidet und geschminkt näherte, viel betörender noch als am Abend unserer Hochzeitsnacht – nach fünfundzwanzig Jahren Ehe! -, erteil te ich ihr eine grobe Abfuhr und drehte ihr den Rücken zu. Ich wurde kaum lügen, wenn ich gestände, daß sie für mich in die sem Augenblick wie eine Kuh aussah, nur wie eine Kuh. Im Halbschlaf kam es mir so vor, als ob Hameds Geist sich meiner be mächtigte, ich, der plötzlich gerne seinen Platz einnehmen würde. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht und dachte dauernd dar über nach, was ich mit der Summe machen sollte, die mir Hamed gegeben hatte. Ich konnte Gott nur bitten, mich vor Simones Zauber zu schützen, vor der Faszination, die 69
ihr Land auf mich ausübte, jenes unbekannte Land, das ich mir wie einen wahren Garten Eden vorstellte.
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Ahmad al-Buhayri
Schon die Anwesenheit von Hamed und Simone im Haus und im Dorf schuf große Probleme für meine Mutter, Zaynab und mich. Zunächst einmal fanden diese verflix ten Kinder von Al-Darawich keinen anderen Platz mehr zum Pinkeln als unsere Mauern. Der Umda mußte deshalb einen Nachtwäch ter ernennen. Dann machten diese kleinen Teufel die Glühbirnen, die Lampenschirme und die Laternen kaputt, die an den Kreu zungen der Sträßchen aufgehängt waren, so daß das Dorf in tiefe Finsternis getaucht war. Im übrigen kam es mir so vor, als ob Zaynab mit Hamed flirtete und so mit Si mone rivalisierte. Sie drückte sich an ihn, lächelte oft, war immer bereit, ihn zu bedie nen, putzte sich und machte sich schön, nur um ihm zu gefallen. Zu allem Überfluß fing sie auch noch an, so zu reden wie Simone: »Oh! ›Amed‹… Verzeihung, Mônsieur ›Amed‹… Danke…« Sie antwortete Simone auf französisch, ohne irgend etwas von der Sprache zu verstehen: »Oui, Madame …« 71
Einmal, als wir allein in unserem Zimmer waren – Simone hatte ihr gerade die Haare geschnitten -, begann sie, meinen Namen französisch auszusprechen: »Verzeihung, Liebling…Ja, ›Amad‹…« Eines Nachts schaffte sie es sogar, mich zum erstenmal zurückzuweisen, unter dem Vorwand, sie sei müde, fühle sich einfach nicht danach, habe es satt, aufeinanderzu hocken wie die Hasen, sie fände, ich krieche vor unserem Gast, ich ließe ihm all seine Launen durchgehen; schließlich fügte sie wütend hinzu: »Erregt sie dich oder was?« »Wer?« »Sie. Willst du, daß ich sie rufe?« Beinahe hätte ich zur Peitsche gegriffen, um sie windelweich zu prügeln, bis sie wieder zu Verstand käme, wie an dem Tag, als sie be hauptete, von einem Dämon besessen zu sein, und wollte, daß man ihn ihr austrei be… Ich wollte sie bis aufs Blut ohrfeigen jedesmal, wenn sie meinen Namen franzö sisch aussprach; aber in Wahrheit fürchtete ich, daß Simone mich dann tadeln würde. Ich hatte Angst davor, mich ihrem Zorn 72
oder den vorwurfsvollen oder verächtlichen Blicken von Hamed auszusetzen. Meine Mutter spottete wie eine böse Hexe, wenn Zaynab und ich uns stritten. Sie ging dann auf der Terrasse unter freiem Himmel schlafen, so daß wir uns unter vier Augen aussprechen konnten. An diesem Abend konnte ich Zaynab nicht zähmen; ich hatte das Gefühl, sie sei kalt wie ein Stein im Win ter; ich spürte ihren Widerwillen und ver suchte ohne viel Begeisterung, meinen eheli chen Pflichten nachzukommen, bevor ich äußerster Müdigkeit nachgab und ihr den Rücken zuwandte, unbefriedigt und ohne ein Wort gesagt zu haben. Ich bekam die ganze Nacht kein Auge zu. Die Esel began nen zu schreien; die Hunde hörten endlich auf zu bellen. Ich sagte mir, wenn Zynab wirklich glaubte, ich sei scharf auf Simone, würde sie vielleicht aufhören, so aufmerk sam auf Hameds Wünsche zu reagieren. Ich mußte also nur mit unserem Gast flirten, um die Eifersucht meiner Frau zu erregen und sie zurückzuerobern. Doch es war verlorene Liebesmühe. Zaynab reagierte vollkommen 73
gleichgültig auf meine Strategie. Sie war le diglich eifersüchtig auf die Liebe Hameds zu Simone. Sie machte sich über mich lustig, denn sie wußte ganz genau, daß Simone sich kaum etwas aus mir machte. Eines Tages warf sie mir vor, anders als Hamed zu sein; diesmal konnte ich mich nicht zurückhalten und ohrfeigte sie heftig. Sie vergoß keine Träne, sondern verließ mich wuterfüllt und setzte sich ins Wohnzimmer, wo sie die Oh ren spitzte in der Hoffnung, die Stimmen von Hamed und Simone durch die geschlos sene Tür ihres Zimmers zu erlauschen. Mei ne Mutter dagegen ergab sich mehr und mehr einer Art sanftem Wahnsinn. So zog sie sich jeden Nachmittag zur Stunde der Siesta auf die Terrasse zurück – ohne um Simones Begleitung nachzufragen, die uns dabei doch einmal gesagt hatte, daß sie nie mals am Tag schlafe -, legte sich auf den Bauch, wobei ihr Kopf über das Dach hin ausragte, und sprach die Vorübergehenden an. Sie lud sie ein, bei ihr einzukehren, denn »es gibt zuviel zu essen, die Reste werden den Hühnern vorgeworfen, sie haben sich 74
an den Fleischgeschmack gewöhnt und leh nen jedes andere Futter ab, und so werden sie aggressiv; eines Tages, wenn alles wieder seine Ordnung hat und sie ihr gewohntes Fressen und den bitteren Geschmack der Armut wiederfinden, werden sie sich gegen seitig auffressen …« Die Worte meiner Mutter drangen zu mir, als sei ich an ihrer Seite. Ich fürchtete, Ha med könnte sie hören, obwohl sein Zimmer abseits lag und auf die Felder, das Wäldchen und den Palmenhain hinausging. Ich ging hinauf auf die Terrasse, um sie zur Vernunft zu bringen, tat so, als wollte ich nicht, daß Simone auf falsche Gedanken käme, sie zum Beispiel für verrückt hielte. Da fing sie an zu brüllen, als ob Simone sie tatsächlich belei digt hätte: »Ach ja, Simone! Ich bin verrückt! Sehr gut, du Hexe, wir werden ja sehen! Ich werde es ihr zeigen! Verdammt möge ich sein, wenn sie bleibt – wenn beide noch eine Minute länger in meinem Haus bleiben!« »Aber, Mama, ich hab das nur so gesagt, als Beispiel. Sie hat gar nichts gesagt! Aber viel 75
leicht wird sie denken, daß…« Doch sie schickte mich wütend weg und setzte ihre Ruhepause im Schatten der Glaswand des Hühnerhofes fort, zusam mengesunken, zitternd und schaudernd; die Spiegelungen des Glases auf ihrem Körper vermittelten den Eindruck, daß sie heiße Tränen weinte. Hamed säte Verwirrung und Unordnung in meinem Geist. Einerseits wiederholte mir mein Herz, er sei mein Bru der, ich war in der Öffentlichkeit stolz auf ihn, mein Ruf im Dorf und im Marktflecken war wie ein Pfeil in die Höhe geschnellt, und mein Laden lief unter der Aufsicht meines ältesten Sohnes hervorragend. Trotzdem ge lang es mir nicht, ihn wie einen Bruder an zusehen; wir hatten keine gemeinsamen Er innerungen, so weit ich auch zurückdachte. Er blieb für mich ein Fremder, im Gegen satz zu meiner Mutter, die sich noch an sei ne Kindheit erinnerte und daraus eine Men ge Anekdoten zusammenbraute, alle aus den zehn Jahren, die er in Al-Darawich gelebt hatte. Ich wußte, daß diese Anekdoten alle samt erfunden waren, doch sie wurde nicht 76
müde, sie zu erzählen, ob Hamed, den Nachbarn oder den Dorfaltesten, denen sie versicherte, daß er schon bei seiner Geburt zum Glück bestimmt gewesen sei, denn er habe die Zähne des Glücks gehabt. Sie habe begriffen, daß er schon in jungen Jahren Glück haben würde, schon als er ein Jahr gewesen war… Ich dachte, meine Mutter sei ganz sicher von Wahnsinn geschlagen, und das doppelt so schwer wie Zaynab. Eines Abends, als ich nach Hause kam, nachdem ich im Laden einen Blick auf mei ne Listen geworfen hatte, entdeckte ich die Frauen der Nachbarhäuser auf ihren Terras sen; sie blickten merkwürdig drein und wa ren umgeben von Kindern, die die Ohren spitzten, mit offenem Mund, die Augen auf die geschlossene Tür unseres Hauses gerich tet. Ich beeilte mich. Da drangen die Noten einer europäischen Melodie hinter unseren Mauern an mein Ohr. Ich verscheuchte die Gören und befahl den Frauen mit einer Handbewegung, zu ihrer Arbeit zurückzu kehren. Dann trat ich ein, zog die Tür hinter mir zu, ohne mich weiter für den wahr 77
scheinlichen Ungehorsam unserer Nachba rinnen zu interessieren. Das Zimmer war geschlossen. Die Musik verlieh den Wänden eine leichte Vibration. Zaynab und meine Mutter stritten sich um den besten Platz, um durchs Schlüsselloch zu spähen. Trocken erteilte ich ihnen einen Verweis, vertrieb sie mit einer Geste und begann nun selber zu lugen: Die beiden tanzten so gut im Takt miteinander, daß ich nicht wußte, wohin ich zuerst sehen sollte. Die Szene verwirrte mich zutiefst. Ich war gleichzeitig bezaubert und wütend. Ich drehte mich um, bereit, meine Erregung an meine Mutter und an Zaynab weiterzugeben, als ich plötzlich ent deckte, wie meine Frau tanzte, die Arme um sich selber geschlungen; so machte sie die zärtliche Umarmung von Hamed und Simo ne nach, und das alles unter dem belustigten Blick meiner Mutter. Mein Gott! Nun stellte sie sich also vor, die seine zu sein! Träumte von ihm! Ich war außer mir und suchte nach einem Gegenstand, den ich ihr ins Gesicht werfen konnte, doch die beiden dummen Gänse machten sich lieber heimlich davon. 78
Ich verschloß das Zimmer, in das sie sich geflüchtet hatten, doppelt, stieß einen wü tenden Seufzer aus, wartete einige Zeit und kehrte dann zum Schlüsselloch zurück: Si mone folgte anmutig den Schritten Hameds, alle beide bewegten sich, ohne daß einer je auf den Fuß des anderen trat! Sie hatte ihre Wange in seiner Halsbeuge vergraben; er hielt sie dicht an sich gedrückt. O wohltäti ger und barmherziger Gott! Was hast du aus deinem Leben gemacht, o Ahmad, du, der Sohn des Mustafa al-Buhayri! Ich verließ das Haus und floh schnell in den schützenden Schatten eines Baumes, um wieder zu mir zu kommen und meine aufgewühlten Sinne zu beruhigen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich Simone mit meinem ganzen Wesen liebte, daß sie die einzige Frau war, die ich jemals geliebt hatte, und daß Zaynab mich sicher nicht aus Liebe geheiratet hatte. Ich hatte den Eindruck, nur Leere zu umfassen, daß man mich betrogen hatte, als begriffe ich plötzlich, daß all dies nur ein Traum, ei ne Illusion sein konnte. Meine Traurigkeit war so groß, daß nicht einmal Weinen mich 79
getröstet hätte. So versuchte ich mich zu überzeugen, daß das Paar Hamed und Si mone uns beiden ähnelte, Zaynab und mir; schließlich kann man ja nie wissen, was die Herzen verbergen und was die Wände ver schweigen…
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Tagebuch von Mahmoud ibn al-
Munassa
Freitag, 10. August: Heute ist Hamed alBuhayri allein nach Kairo gefahren; am Steuer seines roten Cabrios, um dort ver schiedene Verträge zu unterzeichnen, die mit dem Export von Waren nach Paris zu sammenhängen, vor allem bestimmten Le bensmitteln, die für seine Pariser Restau rants und Hotels nötig sind. Er will auch ägyptische Freunde wiedersehen, die er zu fallig in Paris kennengelernt hat. Fünf Tage wird er fort sein; nach seiner Rückkehr wird er dann Vorbereitungen treffen, um AlDarawich zu verlassen, die Abreise ist für nächsten Freitag vorgesehen. Bevor er fuhr, vertraute Hamed seine Frau seinem Bruder Ahmad und mir an und emp fahl uns, ihr in allem gefällig zu sein. Er gab mir eine hübsche Summe, die für Simones Reisen in der Gegend bestimmt war. Ich war stolz darauf, so eine Verantwortung übertra gen zu bekommen, stolz, ihr einen so ge nauen Stundenplan aufstellen zu können, 81
wie ich ihn auch immer in mein Notizbuch eintrug. Hamed fügte hinzu, sein Bruder könne uns bei unseren Spazierfahrten be gleiten, wenn er Zeit und Lust habe. Simone umarmte ihren Mann mitten auf der Straße und küßte ihn. Hamed stieg ins Auto und fuhr los, während sie ein weißes Taschen tuch schwenkte und aus Leibeskräften »Gu te Reise« hinterherschrie. Ahmad al-Buhayri blieb starr stehen, verblüfft von solchem Überschwang; er schämte sich vor den Leu ten, die im Café saßen und angefangen hat ten, ungläubig in die Hände zu klatschen, während sie den Herrn anflehten, sie vor der Unwissenheit zu bewahren, sie niemals der Versuchung auszusetzen und sie von dem Bösen zu erlösen… Simone wollte eine Zeit lang mit mir auf dem Ackerweg Spazieren gehen. Sie schickte Ahmad taktvoll fort und bat ihn, sich um sie keine Sorgen zu ma chen, sie würde bald heimkommen. Er beugte sich ihrem Wunsch, grüßte höflich und ging über die Brücke zurück. Simone vertraute mir an, sie sei froh über Hameds Abreise, denn nun könne sie sich endlich 82
aller Etikette entledigen und die Einwohner von Al-Darawich und die Sitten unseres Landes wirklich kennenlernen. Sie fügte hin zu, sie hätte ihn natürlich sehr gerne beglei tet, doch er habe am Vortag versprochen, ihren Aufenthalt um eine Woche zu verlän gern, in der sie dann Luxor, Kairo, Fayum und Alexandria besichtigen wurden. Sie ge stand auch, daß es schwierig werden würde, sich mit ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin zu verständigen, denn sie selber kenne nur einige Wörter Arabisch, während das Französisch der beiden äußerst rudimen tär sei; ich müßte ihr also nach besten Kräf ten helfen, so oft wie möglich bei ihr sein, selbst in der Familie ihres Mannes. Ich ver sprach alles, was sie wollte, und versicherte ihr, daß ich nichts anderes zu tun hätte und ihr zu Befehl sei. Sie drückte zum Zeichen ihrer Dankbarkeit meinen Arm. Ganz klar, daß ich entzückt war, sie besser kennenler nen zu dürfen! Wir kehrten um und gingen nach Darawich zurück. Simone ging mit ge senktem Kopf und trauriger Miene, sie sah besorgt aus. Ich dachte, daß sie sich inmitten 83
vollkommen Fremder sehr allein fühlen mußte; ich glaubte plötzlich zu sehen, wie sie mit dem Zipfel ihres weißen Taschen tuchs eine Träne trocknete; gerade hatte sie das Tuch noch zum Abschied geschwenkt, doch sie fing sich sofort, denn sie war sich bewußt, daß wir uns dem Haus der Buhayris näherten. Zu meiner großen Überraschung verkündete sie auf der Türschwelle, sie wolle heute nicht ausgehen, denn sie wolle sich ausruhen und es genießen, mit den Frauen des Hauses einmal allein zu sein. Ich lächelte belustigt; sie drückte mir die Hand und ver abredete sich mit mir für den nächsten Tag. Als ich nach Hause ging, nahm ich plötzlich bewußt meine Umgebung wahr, auch die bedeutungsvollen Blicke der Gaffer, die ich in Simones Begleitung ganz vergessen hatte. Ich beeilte mich. Schade, daß ich nicht daran gedacht habe, mir schon seit der Ankunft von Simone und Hamed in Al-Darawich Notizen zu machen. Erst als Hamed zu seiner Reise aufbrach, kam ich auf den Gedanken. Es tut mir sehr leid, daß ich nicht Tag für Tag alle Handlun 84
gen der beiden im Lichte dessen aufgezeich net habe, was ich wußte, sah, hörte und ahn te. Doch ich muß gestehen, daß ich ganz in der Beobachtung ihrer Taten und Gesten aufging, daß ich stark verwirrt war durch Simones ungeheure Vitalität, daß ich alles vergaß, so große Mühe hatte ich, mir Ha meds Abenteuer jenseits der sieben Meere, weit, weit weg, so weit weg von AlDarawich vorzustellen. Versuchen wir also nun, uns an die Ereignisse der letzten Wo che zu erinnern. In diesen paar Tagen mußten Hamed und Simone etliche Bankette, Empfänge und Versammlungen mit ihrer Anwesenheit be ehren: bei Ahmad al-Buhayri, bei den Hono ratioren des Dorfes, dem Kommissar oder dem Provinzgouverneur. Bei jedem, der ein Mittagessen, ein Abendessen, ein Glas Tee anbot… Die meiste Zeit war meine Anwe senheit nicht unbedingt nötig, denn Hamed wich seiner Gattin nicht von der Seite, und unter den Gästen fand sich immer einer, der ein oder zwei Worte Französisch oder Eng lisch konnte, eine Sprache, die Simone per 85
fekt beherrschte. Der seltsamste unserer Ausflüge ging zu dem Haus von Ibn Luqman7. Simone war auf die Idee gekommen; und der Kommissar hatte sofort alles für den nächsten Tag orga nisiert, das heißt also letzten Mittwoch. Sie wollte das Gefängnis besichtigen, in dem einst ein französischer König gefangengehal ten worden war. Wir sahen also die Zelle und den Wächter des Ortes, bevor wir uns in den Garten von Shagarat al-Durr8 bega ben, wo wir ihr die Geschichte von jener Königin erzählten, die den Tod ihres Man nes, des Königs, verschwiegen hatte, um ih re Heimat zu retten. Bei der Rückkehr wandte Simone sich mit fragender Miene an mich: Das Haus von Ibn Luqman diente als Gefängnis für Lud wig IX. (der Heilige Ludwig), als er von den Mamelucken 1250 bei Mansura bei seinem siebten Kreuzzug besiegt wurde. Man erzählt, daß der Eunuch Sabih, sein Wärter, ihn kastrierte. Er wurde gegen ein Lösegeld und die Rück gabe von Damiette freigelassen. 8 Sklavin des ayyubidischen Sultans al-Salih Nagm al-Din (1240 bis 1249). Beim Tod des letzten Ayyubiden im Jahre 1250 wurde sie zur Sultanin ernannt und heiratete Izz alDin Aybak, den Begründer der Mameluckendynastie. 7
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Sagen Sie mir, stimmt es, daß Sabih, der Wärter, den König entmannte?« »Eigentlich weiß ich nichts darüber«, ant wortete ich verlegen, denn ihre Frage zeigte deutlich, welch ein trügerisches Bild ihr Volk von uns hatte. »Was heißt denn dann tawa chi9?« fragte sie weiter. »Ich weiß es nicht ge nau, aber ich werde fragen…« »Sehr gut, aber sagen Sie mir doch ein Wort, das dem nahekommt?« Als Zeichen meiner Hilflosigkeit nickte ich und schwor mir, eines Tages die Antwort zu geben; dabei verfluchte ich im stillen den Dichter, dessen Worte bis ins ferne Paris hatten tönen können: Wal qaidu baqin, wat tawachi Sabih…10 Darauf wollte ich ihr von den siebzehntau send Menschen erzählen, die ihr Volk in ei ner anderen Schlacht allein in dem Dorf AlDarawich getötet hatte, von den Frauen, die man als Ergebnis einer Wette ausgeweidet Eunuch »Es bleiben die Ketten und Sabih, der Eunuch.« (Als Na poleon Ägypten überfallen wollte, bedrohte ein Dichter ihn mit diesen Worten, daß er dasselbe Los erfahren könnte wie der heilige Ludwig.) 9
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hatte, um zu erfahren, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen trugen, von den Hühnern und Gänsen, die langsam dahinstarben, am Schnabel oder am Hals auf Piken aufge pfählt, wollte ihr von den ausradierten Dör fern, den von Napoleons Armee ausgelösch ten Familien erzählen… Doch sie war unser Gast; und ich war ihr einige Rücksichtnahme schuldig. Im übrigen hatte sie absolut nichts damit zu tun; als sie mich ausgefragt hatte, ließ nichts in ihrer Haltung Haß oder Ironie durchblicken. Trotzdem – wie konnte ich ihrer Unschuld sicher sein? Diese europäi schen Gesichter verstanden es zu verbergen, was das Auge nicht sehen und das Ohr nicht hören konnte. Aber warum dieser Argwohn, wo doch das Mißtrauen seinem Nächsten gegenüber eine Sünde ist, wenn auch viel leicht eine läßliche. Letzten Dienstag beim Kommissar, nach einigen Gläsern Alkohol – zum Teufel mit den Verboten! -, kam mir Hamed entspannter und natürlicher denn je vor. Er begann von seinem Leben zu erzäh len. Er war zu Fuß aus dem Dorf geflohen, war von Zug zu Zug gesprungen, ein einge 88
fleischter Schwarzfahrer, hatte sich in allen Berufen versucht und keinen lange ausgeübt; so war er von einer Stadt zur anderen gezo gen, bevor er in Alexandria strandete. Eines Tages hatte man ihm vorgeschlagen, auf ei nem Schiff Geschirr zu spülen. Er hatte ak zeptiert, war über die sieben Meere um die Welt gefahren, bis zu dem Tag, da er sich schließlich als Kellner in einer algerischen Kneipe in Paris wiedergefunden hatte. Ich habe bemerkt, daß alle ihm gebannt lausch ten. Gestern habe ich eine Zeitlang bei ihnen un ter der Veranda ihres Häuschens am Meer verbracht. Sie lagen nebeneinander, Hamed stützte sich auf den Ellbogen, und Simone lehnte an der Schulter ihres Mannes und stellte sich wohl das Land vor, das auf der anderen Seite des Meeres lag, an einem un sichtbaren und weit, so weit entfernten Ufer. Sie warf Hamed einen zärtlichen Blick zu und schämte sich keineswegs seiner Vergan genheit. Das Meer war aufgewühlt; schwarze Fahnen flatterten über den Strand. Hamed hatte nur noch Lust zu baden. Er machte 89
sich sanft los, zog sich blitzschnell aus, stürzte sich in die Wellen und teilte den Schaum mit seinen kräftigen Armen. »Oh! Amed!« seufzte Simone. Ich wollte ihn zurückholen, den Bademeister zu Hilfe rufen, doch sie hielt mich zurück: »Keine Angst; so ist er nun einmal. Übrigens schwimmt er wie ein Fisch…« Der Bademeister pfiff mehrmals und schrie, drohte und machte sich dann, während er eine Schwimmweste anlegte, bereit, den ent fesselten Wogen entgegenzutreten, als er plötzlich Hamed zu uns zurückkommen sah. Darauf begann er hemmungslos zu schimp fen; nur ein Trinkgeld brachte ihn zum Schweigen. Dann allerdings lächelte er über das ganze Gesicht und sparte nicht mit Lob über die Fähigkeiten des Schwimmers. Doch er bat Simone, ihren Mann davon abzuhal ten, das nächste Mal den Elementen zu trot zen: »Denn das Meer ist so listig und heim tückisch wie Azrael11 und der Tod.« Er erin nerte uns daran, daß Azrael sich manchmal seine Heimstatt in den Fluten erwählte, 11
Der Todesengel 90
wenn er nichts fand, was er sich zwischen die Zähne schieben konnte. »Er liebt es, sich über die lustig zu machen, die es wagen, ihn in seiner Wohnstatt herauszufordern, wenn die Wellen brüllend heranschlagen; dann spielt er ihnen eine seiner Serenaden vor, die die Macht besitzen, die Lebenden einzu schläfern…« Je mehr ich übersetzte, desto mehr wollte Simone sich vor Lachen aus schütten und untermalte so die Erzählung, die zweifellos im gleichen Moment erst erdacht worden war. Schließlich verdoppelte sie das Trinkgeld. Hamed kam und schüttel te die Tropfen ab, die von seinen Haaren und seinem Bart perlten. Er ging ins Häu schen, um zu duschen. Da kamen mir die Abenteuer, von denen er mir erzählt hatte, wieder ins Gedächtnis. »Hamed hat wohl in seinem Leben eine Menge Rückschläge er fahren und viel leiden müssen«, sagte ich voller Bewunderung zu Simone. »Ja, er ist ganz sicher ein Mann mit Erfah rung!« antwortete sie stolz. Hamed kam zu rück und setzte sich zufrieden; er kaute an einem harten Ei und einem Stück Käse. Si 91
mone schenkte ihm ein Glas heißen Tee aus der Thermosflasche ein. Alles an ihm wirkte sehr pariserisch, trotz seiner verbrannten Haut, seinen zerzausten Haaren, seiner nuß braunen Augen und seiner Ohren, die der dichte Haarschopf freiließ – eines war durchstochen, und es sah aus, als lausche er ständig; seine Augen lagen tief unter den dichten, buschigen Augenbrauen. Er hätte wirklich sehr ägyptisch gewirkt, wäre da nicht seine blühende Gesundheit gewesen und seine Haut, gerötet bis zum Kragenrand von all dem Wein, den er getrunken, und all dem Schweinefleisch, das er vielleicht geges sen hatte, oder auch von den Bädern, die er im Lauf dieser langen Jahre genommen hat te, heiße und eiskalte; es war ein gesunder Körper, der mit vitaminreichem Obst und Gemüse ernährt worden war. Er sah aus wie ein junger Hauptdarsteller, und es gelang mir nicht, die Eifersucht aus meinem Herzen zu vertreiben, die ich angesichts seiner blühen den Erscheinung und der Liebe, die Simone für ihn zeigte, empfand. Ich sagte mir, daß er seinen Erfolg dem Glück und dem 92
Schicksal verdankte. Er hatte das Abenteuer als Lebensform gewählt, eine riskante Wahl, die allzuoft in Armut, Siechtum und Ver zweiflung endete. Doch ich schaffte es nicht, dem Leben, das dieser Sproß von AlDarawich führte, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denn seit seiner Ankunft und seit wir Simone gesehen hatten, gab es keinen mehr im Dorf, der nicht von nun an von dem Elend und der Leere der eigenen Exi stenz wußte. Gestern, als ich mich von ihnen verabschie det hatte und vom Strand zurückkam, fand ich zu Hause einen Brief von der medizini schen Fakultät, in dem stand, daß meine Bewerbung zurückgehalten würde und ich mich nicht einschreiben dürfe. Ich hatte vergessen, ihnen die Neuigkeit mitzuteilen; hoffen wir, daß ich mich morgen daran er innern werde. Wenn die Aufmerksamkeit, die ich ihnen schenke, Früchte trägt, wird sich meine Zukunft verändern. Schon lange träume ich davon, meinen Doktor in Paris zu machen; sie könnten mir ein Stipendium verschaffen, wenn sie sich Mühe gäben. Sie 93
könnten mich auch in Paris unterstützen, wofür ich ihnen mein ganzes Leben dankbar wäre. Ich bin im übrigen bereit, jegliche Ar beit anzunehmen, die Hamed mir vielleicht in seinem Hotel oder in einem seiner Re staurants anvertrauen würde. Meine franzö sischen und englischen Sprachkenntnisse sind korrekt, ich werde sie nur vervoll kommnen müssen. Doch ich muß vorsichtig sein, nicht zu direkt. Ich muß die winzigsten Wünsche Simones erfüllen; vielleicht würde sie sich sogar in mich verknallen; meinen Plänen wäre das nur dienlich. Dann wird sie selbst vorschlagen, was ich mir erhoffe, und wird mit Hamed darüber reden. Vielleicht werde ich ihn ja gar nicht brauchen; sie ist Journalistin, sie hat sicher Beziehungen, Be kannte, kurz eine gewisse Macht. Ich muß mich also vorsichtig zeigen, aber auch groß zügig, intelligent und zuvorkommend, drei Eigenschaften, die hier, in Al-Darawich, kaum hoch im Kurs stehen.
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Samstag, 11. August: Heute sind wir beide zum erstenmal allein geblieben. Wir sind auf den Wegen außerhalb des Dorfes dahinspa ziert. Für diese Gelegenheit hatte ich mir wieder einen eleganten Anzug angezogen, aber Simone warf mir vor, meine Garderobe zu ruinieren. Sie bat mich, in Zukunft eine strapazierfähige Hose und ein dunkles kurz ärmeliges Hemd zu tragen. Die Einfachheit ihres Aufzugs überraschte mich sehr: Sie trug eine ärmellose Baumwolltunika und ei ne Bermuda – kürzer als die kürzesten Ho sen, die meine Mutter im Hause trug! -, und um die Schulter hatte sie sich einen Fotoap parat geschlungen. Beobachtet von vielen Augen, die uns oben von den Terrassen oder durch halbgeöffnete Türen und Fenster zusahen, verließen wir Al-Darawich. Auf dem Weg entdeckte Si mone einen alten Maulbeerfeigenbaum, der sich an ein Wasserrad schmiegte, das außer Betrieb war, seit das Dorf Jahr für Jahr mehr auf das bebaubare Land vordrang. Sie foto grafierte den Baum unter jedem Blickwinkel und bestieg ihn entzückt, während ich zö 95
gerte, ihr zu folgen, so sehr war ich in meine unpassende Kleidung eingezwängt. Danach bahnten wir uns einen Weg durch einen dichten Vorhang aus Binsen und Schilf und erreichten einen Sumpf aus stehendem Was ser, in dem es ekelhaft roch. Wir gingen die Böschung entlang, paßten dabei auf, daß wir nicht ausrutschten, und tauchten schließlich aus dem widerlichen und wilden Gestrüpp dieser Vegetation wieder auf. Simones Ge genwart an meiner Seite ließ mir die Dinge bewußt werden, die mich umgaben, ihren Geruch, ihre Farben, ihre tiefere Bedeutung; dort, am Ausgang des Gebüsches, kackten die Kinder immer hin; die glühende Sonne verbreitete dann den Gestank, je nachdem, wie der Wind stand. Plötzlich entdeckte Si mone den Fluß, der zwei Schritte vom Dorf entfernt dahintrieb. Sie stieß einen verblüff ten Schrei aus und warf mir vor, ihn ihr nicht früher gezeigt zu haben. Sie begann, das tiefe Blau, seine majestätische Breite mit dem dunklen, schlammigen Wasser der Sei ne zu vergleichen. Ich fügte hinzu, das Was ser des Nils sei trinkbar und so süß, wie man 96
es nur wolle. Sie entledigte sich ihres Foto apparats und begann ihre Tunika aufzu knöpfen. »Was machen Sie da?« fragte ich. »Ich werde den Nil durchschwimmen, hin und zurück«, antwortete sie ruhig. Ich hielt sie davon ab. Sie machte eine un willige Bewegung und fragte mich ungedul dig, ob es zufällig hier Krokodile gäbe. Ich versicherte ihr das Gegenteil, die Krokodile seien weiter im Süden, jenseits der Landes grenzen, und sie würden zurückgehalten von den Dämmen und Wasserfallen. Doch ich sagte ihr auch, daß die Bauern alle wegen des Wassers krank seien. Sie entschuldigte sich mitleidig und fotografierte darauf aus giebig die Palmen am Flußufer, die Vögel, die Maulbeerbäume und die Akazien. Wir sammelten auf einem Feld Gurken und wu schen sie mit Wasser aus der Thermoskanne – sie hatte sich nicht von ihrer Tasche tren nen wollen. Wir setzten uns in den Schatten eines Baumes auf dem Land von Al-Far. Ich hatte den Eindruck, daß alle Bauern der Ge gend sie kannten, sich an sie gewöhnt hat 97
ten. Vielleicht warteten sie sogar auf ihren Besuch; keiner wirkte überrascht, sie zu se hen, keiner wunderte sich über meine An wesenheit. Sie kamen auf uns zu, boten uns Gurken an und grillten Maiskolben. Sie sprachen mit Simone, wirkten glücklich, sie zu sehen. Sie versäumten es nicht, sich in Mitleid über ihre Frauen zu ergehen und der Fremden Schmeichelworte zu sagen, Worte, die zu übersetzen ich mich hütete. Es war nur Geschwätz. Ich war es müde, für beide Seiten zu übersetzen. Sie hievten Simone auf einen Esel, verewigten sie auf Film und lie ßen sich an ihrer Seite fotografieren. Sie dankte ihnen und drückte ihnen die Hand… Auf dem Weg gestand sie, daß sie ihr trotz ihres Elends und ihrer Krankheiten im Grunde gut vorkämen. »Warum setzen sie keine Maschinen ein?« fragte sie mich plötzlich aus heiterem Him mel. Ich antwortete ihr, so gut ich konnte, erin nerte an die Unwissenheit, die Überbevölke rung, den Mangel an Kapital, die Herrschaft der Engländer zur Zeit der Kolonien. Sie 98
erging sich in konfusen Entschuldigungen, sobald sie meine Verwirrung bemerkte, als fühle sie sich schuldig an diesem desolaten Zustand, schuldig auch, in mir eine alte und tiefe Wunde geöffnet zu haben. Wir erreich ten den Marktflecken. Simone wirkte auf mich wie eine Reisende, die plötzlich eine neue Welt entdeckte. Sie verhielt sich wie ein verwundertes Kind, sprang hin und her, war unermüdlich, fröhlich, ungestüm und plau derte pausenlos, stellte unablässig Fragen. Wir aßen im Restaurant Al-Rahwan: Fisch suppe und fritierte Fische, Reis mit Sauce. Der Besitzer bot ihr Assuan-Bier an, das ganz kühl war; sie trank, bis sie keinen Durst mehr hatte, bat mich, es ihr gleichzutun. Es war das erste Mal; ich wurde schnell betrun ken, verlor all meine Zurückhaltung, erklärte ihr, daß ich sie liebte. Sie lachte und erwider te, ohne sich zu beunruhigen: »Monsieur ›Mamoud‹, Sie sind betrunken! Auf, auf! Gehen wir nach Al-Darawich zurück!« Ich schämte mich. Wir gingen nicht ins Dorf zurück, sondern setzten uns in ein Café über einer kleinen Bucht, die einigen Booten 99
Schutz bot, darunter jenen, die die Urlauber zum Strand brachten. Wir setzten uns auf die oberste Terrasse und bestellten weiteres Bier. Mich ergriff eine derartige Euphorie, daß Simone mein Glas in den Nil leerte und sagte: »Monsieur ›Mamoud‹, es tut mir leid, aber das reicht!« Wir verließen das Café. Die Sonne ging langsam unter. Simone wollte auf dem Fluß zurückkehren. Deshalb bestie gen wir ein zerbrechliches kleines Boot, das schönste in der ganzen Bucht. Ich war kaum in der Lage zu rudern; Simone versuchte es, löste den Bootsführer ab, gab es dann auf und streckte sich hinten aus, um die weite Biegung des Horizonts zu betrachten, jen seits des Flusses und der weiten Ebenen, die ihn umfaßten. Darauf legte sie sich auf den Bauch, richtete das leichte Steuerruder aus und freute sich dabei an dem Schaum, der auf ihren Arm spritzte. Wir waren in der Mitte des Flusses, in Quellwasser; sinnlos, sie vor den Unbilden der Bilharziose zu warnen. Also begnügte ich mich damit, sie zu beobachten, mein Körper und mein 100
Kopf glühten, und ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und überließ mich Traumen, in denen sie und ich die Helden waren, wäh rend ich mich umschlossen von einer wun derbaren Stille fühlte. Ich verließ Simone auf der Schwelle des Hauses der Buhayris. Zwei Stunden später sollte ich wiederkommen, um mit den Leu ten des Hauses zu sprechen. Da wurde mir plötzlich mein alkoholisierter Atem bewußt. Ich wusch mir den Mund mit Soda aus und beeilte mich dann, das Haus zu verlassen, um noch ein wenig auf der Nebenstraße spazierenzugehen und so meinen schlecht riechenden Atem und die Trunkenheit zu verbergen, die mich noch immer gefangen hielt. Ich war pünktlich bei den Buhayris. Zaynab öffnete die Tür und erklärte spöttisch: »Komm doch bitte herein! Die ›Senora‹ sitzt schon auf glühenden Kohlen!« Ich klopfte an die Tür ihres Zimmers und trat ein, als sie mich dazu aufgefordert hatte. Sie hörte Musik und saß am Fenster, wäh rend sie einen Brief schrieb, den ich im 101
Marktflecken am nächsten Tag nach Paris aufgeben sollte. Darauf zeigte sie mir ein Fotoalbum. Die Musik lullte uns ein; unsere Gesichter waren sich so nahe, daß ihr Par füm mir zu Kopf stieg und meine Brust ein schnürte. Vergebens versuchte ich, dieser besessenen Promiskuität zu entkommen, als plötzlich die Tür aufging: Ahmad ibn Musta fa al-Buhayri stand starr in der Tür und sah wütend drein: »Wunderbar, muß ich sagen! Wirklich, sie ist schon eine! Raus mit dir! Mach dich sofort dünne!« befahl er mir. Sie fragte, was er sag te. »Er sagt, daß mein Vater mich ruft«, er fand ich. »Sehr gut, gehen Sie nur, aber kommen Sie schnell wieder!« meinte sie. Ich ging zur Tür und wollte hinaus. Ahmad wich zurück, als wolle er mich vorbeilassen, doch plötzlich fing er sich wieder und pack te mich am Arm. »Warte! Bleib da!« sagte er. »Du kannst we nigstens übersetzen.« Ich sah ihn an. Seine Augen leuchteten ge bieterisch, eine leise Hoffnung lag darin. Ich 102
ging wieder zu Simone. »Sie gehen nicht zu Ihrem Vater?« fragte sie erstaunt. »Monsieur Ahmad sagt, es sei nicht dringend. Ich wer de ihn bei meiner Rückkehr sehen…« Simone sah mißtrauisch von einem zum an deren. Dann wechselte sie das Thema und erklärte – ich übersetzte für Ahmad: »Ich möchte gerne auf der Terrasse im Mondlicht essen.« »Zu Befehl, schöne Dame!« erwiderte Ah mad. Man besprühte die Terrasse mit Eau de Cologne und Desinfektionsmittel und schloß die Tür zum Hühnerstall. Zu Zeiten von Seuchen roch es immer nach Apotheke. Wir rollten eine Matte aus und bedeckten sie mit einem Teppich und Kissen. Simone setzte sich ins blasse Mondlicht; Ahmad und ich nahmen Platz an ihrer Seite, und die Schwiegermutter und Zaynab plazierten sich gegenüber. Beide setzten alles daran, ihren Gast zu imitieren, und lächelten sich spöt tisch und komplizenhaft zu, was Simones Scharfsinn kaum entging. Die neugierigen Blicke der Nachbarn von allen näheren und entfernteren Terrassen der Umgebung bohr 103
ten sich durch die Heuballen oder Reisig bündel in uns hinein. Wir beendeten unser Abendessen. Simone öffnete einen großen Urnschlag voll mit Familienfotos, die sie ih rer Schwiegermutter und uns zeigte. Man sah sie darauf mit Hamed zu Hause, in der Schule, im Hotel, im Restaurant, auf der Straße, auf den Champs-Elysées, den großen Boulevards, am Eiffelturm, vor Museen. Ahmad betrachtete lange die Fotos vom Hotel und den Restaurants; Zaynab interes sierte sich für das pariserische Dekor, das man hinter den Personen erahnte; die Schwiegermutter dagegen vertiefte sich in den Anblick ihrer Enkel, eines Jungen und eines Mädchens; sie war angerührt von so viel Anmut und Schönheit. Simone gab ihr ein Foto, auf dem alle vier zu sehen waren, Hamed, sie und die Kinder. Sie war glück lich über die Freude ihrer Schwiegermutter; sie hatte Hamed im übrigen gebeten, einen Rahmen zu kaufen, um dieses Foto als Sou venir im Wohnzimmer aufzuhängen. Plötz lich wurde mir die unterschwellige Spannung bewußt. Ich beobachtete die Reaktionen von 104
Ahmad al-Buhayri und von seiner Frau Zay nab. In ihren Gesten, ihrem Blick sprach al les von Eifersucht. Ich hoffte, daß Simone es nicht bemerkte, sie, die, wie ich meine, diese Art von Gefühlen nicht kennt, zumin dest nicht bei solchen Lappalien… Irgendwann wechselte Simone die Stellung und faltete, den Arm aufgestützt, die Beine unter sich. Plötzlich fuhr sie hoch und schrie auf, gleichzeitig überrascht und empört: »Aber Monsieur ›Mamoud‹! Sie füßeln ja mit mir!« Ich war einen Moment wie erstarrt. Ich sah Ahmad an, der auf der anderen Seite saß, genau da, wo ihre Beine lagen, bevor ich meine Unschuld beteuerte: »Aber nein, ganz und gar nicht!« Da wandte sie sich zu Ahmad und bat mich zu übersetzen: »Sagen Sie ihm, daß ich mei nem Mann treu bin!« Ich sah nacheinander Ahmad, Zaynab, Simone an und erklärte: »Ich kann nicht.« »Und warum nicht?« »Seine Frau würde alles begreifen«, erwiderte ich. »Sie sind ja sehr empfindsam!« spottete sie. Sie wandte sich ganz an Ahmad und 105
warf ihm auf Arabisch jene einfachen Worte an den Kopf, die ich noch nie zuvor gehört hatte, die jedoch Hamed wohl ab und zu benutzte, um seine Kinder zu schelten: »Was für eine Schande!« Zaynab griff den Satz auf, sprang auf und musterte ihren Mann aus voller Höhe. Sie wollte sprechen, doch die Worte überstürz ten sich auf ihren Lippen; sie stotterte. Ah mad wurde rot und floh, dabei behauptete er, müde zu sein. Sobald er verschwunden war, lächelte Simone und erklärte: »So ist es viel besser. Das wird Zaynabs Ambitionen Hamed gegenüber und Ahmads mir gegenüber bremsen!« Die Schwieger mutter, die ein wenig schwerhörig war, hatte nichts bemerkt. Sie ging nun ebenfalls hin unter. Ich verabschiedete mich und kehrte heim.
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Montag, 13. August: Gestern konnte ich nichts schreiben. Ich war ausgelaugt. Simone hat mich durch das Dorf geschleift, von Haus zu Haus, hat sich ausgiebig mit jeder Familie, Männern, Frauen und Kindern un terhalten. Ich war auf unserem Weg über flüssig; sie hatte die Führung übernommen. Mit all den Fotos, die sie schoß, und den ganzen Unterhaltungen bereitete sie zweifel los einen Artikel über Al-Darawich und sei ne Bewohner vor. Wir setzten uns ins Café. Ich trank eine lau warme Limonade. Sie gestand mir, daß sie tatsächlich daran dachte, eine Chronik über das Leben im Dorf zu verfassen. Sie erzähl te, daß eine Frau am Tag zuvor zu ihr ge kommen sei, damit sie die Augen ihrer Tochter behandle. Sie hatte eiligst aus ihrem Koffer ein Augenmittel genommen und dem Kind einige Tropfen verabreicht. Sie fügte hinzu, daß die Kleine äußerst dreckig gewe sen sei, daß sie sie deshalb ins Bad ge schleppt habe, um sie gründlich mit Sham poo abzuwaschen. »Denken Sie nur, Monsieur ›Mamoud‹!« 107
schrie sie. »Das Kind war über und über mit Läusen bedeckt!« Eine Welle der Scham überflutete mich. »Ihre Eltern müssen sehr arm sein«, prote stierte ich schwach. »Wie können Sie so etwas sagen, ›Mamoud‹, hier ist Wasser doch keine Seltenheit! Der Nil ist nur zwei Schritte entfernt!« Als ich wieder zu Hause war, warf mir mei ne Mutter vor, meine Zeit mit »der Franzö sin« zu vergeuden; mein Vater behauptete, sie wurde mich verderben. Wütend ging ich und setzte mich ins Café. Als die Nacht he reinbrach, teilte man mir mit, daß der Umda nach mir frage. Ich hastete zu seinem Haus. Dort fand ich Simone neben der Hausherrin und den Gattinnen der Honoratioren des Dorfes sitzend vor. Meine Anwesenheit in mitten dieses Harems war unerläßlich, da ich ja Übersetzer war. Wir blieben lange auf, aßen, redeten, tranken Tee, bis wir keinen Durst mehr hatten, zum Klang der aufwüh lenden, monotonen Melodien. Die Dame Nafisa, die Friseuse, Hebamme und Klage weib des Dorfes war, begann zu tanzen. Sie 108
stimmte einige süße Melodien an, traditio nelle Gesänge, die den Rhythmus der We hen betonten, oder Totengesänge. Diese bezauberten Simone; ich übersetzte ihr die Strophen; sie notierte sie, wobei sie die Sätze falsch niederschrieb, die Worte übel zurichtete und dabei so tat, als ob sie das Unmögliche zu einem guten Ende führ te. Es war weit nach Mitternacht, als der Umda und ich sie heimbegleiteten. Auf dem Weg schlug ich ihr vor, am nächsten Tag mit dem Schiff zur Küste zu fahren. Sie lehnte ab; sie wollte diesen Ausflug mit Hamed machen. Übrigens habe sie eine Menge zu tun: Briefe schreiben, Ordnung in ihre Pa piere bringen, einige Beobachtungen auf schreiben. Sie bat mich deshalb, erst zum Mittagessen zu ihr zu kommen, das wir zu sammen mit Ahmad, Zaynab und ihrer Schwiegermutter einnehmen würden. Wir kamen bei den Buhayris an. Zaynab öffnete uns, ließ Simone eintreten, drehte sich zu uns um und sagte trocken: »Guten Abend, Herr Umda!« Dann schlug sie uns die Tür vor der Nase zu. Auf dem 109
Heimweg schickte sie der Umda zu allen möglichen Teufeln und beschimpfte sie und ihren Mann unablässig. Wir trennten uns. Am nächsten Tag war ich eine Stunde zu früh am Treffpunkt. Ich setzte mich deshalb ein wenig ins Café und wartete, bis es Mittag würde. Zur vereinbarten Zeit begab ich mich zu den Buhayris; dort traf ich eine ganze Schar von Frauen und Kindern an, die vor der Tür standen, sich im Flur drängten oder sich sogar ins Wohnzimmer gesetzt hatten. Verwirrt trat ich vor: Simone ließ sorgfaltig Tropfen in die Augen jedes Kin des träufeln, eines nach dem anderen. »Mamoud!« rief sie, als sie mich sah. »Helfen Sie mir! Ich bin schon seit der Dämmerung hier. Ich bin müde und habe fast nichts ge schrieben!« Ich gehorchte, überrascht von soviel Eifer. Wo hatte sie denn nur all diese Fläschchen gefunden? fragte ich mich. Ahmad, der in einer Ecke saß und die Szene spöttisch be trachtete, erklärte mir, daß Simone ihn am selben Morgen in die Marktgemeinde ge schickt habe, um die Tropfen zu kaufen, als 110
diese verdammten Bäuerinnen an seine Tür geklopft hatten! Kurz vor ein Uhr mittags hatten wir unsere Aufgabe beendet. Ahmad jagte die ungebe tene Horde hinaus und verschloß die Tür. Zaynab deckte den Tisch und brachte das Essen. Es war vor allem Fleisch und ge kochtes Gemüse, wie immer. Ahmad rief Simone: Das Mittagessen sei fertig! Da sie am Morgen nicht an ihren Notizen hatte ar beiten können, sagte sie unser Abendpro gramm ab und verabredete sich mit mir für den nächsten Tag.
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Die Jagd
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Ahmads Mutter Es geschah an einem Morgen. Es war ein Montag. Mehrere Freundinnen von mir wa ren zu Besuch gekommen, alle wie ich ehr baren Alters, schon betagt, die friedlich ihr geruhsames Leben lebten: Oum Khalil, Oum Ibrahim, Hagga Tafida, Dame Nazira, Saniyya hanem. Manche waren Familienmüt ter aus gehobenem Milieu, andere hatten nie das Glück gehabt, zu heiraten oder einen Sohn zu gebären, und hatten so ihr Leben auf ewig vergeudet. Wir saßen auf der Terrasse in der Hitze, weit weg von der sanften und feuchten Dämme rung des Wohnzimmers. Alles, um nur nicht Madame Simone, die Französin, zu verär gern oder zu stören, auf daß sie sich, wie es ihr gefiel, in einer milden Atmosphäre ent falten konnte! Meine Freundinnen hatten diese berühmte Fremde sehen wollen, die Frau von Hamed, hatten etwas Zeit mit ihr verbringen und mit ihr sprechen wollen. Aber Hamed und sein Bruder hatten uns befohlen, ihr unsere Gegenwart nicht aufzu 113
zwingen, sie nicht zu belästigen, sie auf uns zukommen zu lassen; sie sollte, wie es ihr beliebte, hinausgehen oder ihr Zimmer dop pelt verriegeln können. Hagga Tafida schlug sich gekränkt an die Brust: »Mein Gott, meine Liebe! Seit wann kom mandieren denn die Frauen den Männern?« Doch Saniyya hanem unterbrach sie: »Schau doch, meine Hübsche, sie ist Französin! Sie ist eine khawagaya12, eine Fremde! Jedes Land hat seine Traditionen, jedes Volk seine Sit ten!« »Wie!« empörte sich da Dame Nazira. »Ist ihr Gatte Hamed denn nicht ihr Herr und Meister? Schließlich ist er einer von uns; wie kann er sie dann machen lassen, was ihr ge fallt?« »Das Dorf, die Gegend und die anliegenden Felder mit den Haaren im Wind zu durch streifen!« überbot sie Oum Khalil. »Und dann noch mit dem jungen Ibn al-Munassa, dem Sohn des Feldhüters! Man hat sogar gesehen, wie sie sich zusammen am Markt flecken betrunken haben!« 12
Wird manchmal abwertend gebraucht. 114
»Ihr Mann enthält sich im übrigen auch nicht des Trinkens!« fügte Saniyya hinzu. »Merkwürdige Erziehung, meine Freundin nen!« Oum Ibrahim wandte sich plötzlich mit fra gender Miene an mich: »Was macht denn diese Madame Simone jetzt gerade, mein Gott?« »Sie schreibt gerade an ihre Eltern in Frank reich«, antwortete ich. »Ich glaube, sie ist auch Journalistin, nach dem, was ich gehört habe, und sie bereitet einen Artikel über AlDarawich vor…« Meine Gefährtinnen ver zogen das Gesicht. »Das bleibt abzuwarten! Aber ihr werdet schon sehen, daß sie uns mit ihrem Artikel durch den Dreck zieht!« prophezeite Oum Khalil. »Wir Armen!« seufzte Saniyya hanem. »Wir sind nie zur Schule gegangen, haben immer nur zu Hause gearbeitet! Reich oder arm, wir leben das Leben lebendiger Toter!« »So ist das Leben, meine Schwestern! Möge Gott uns wenigstens die Gnade eines sanf ten Endes gewähren!« murmelte Nazira. Diese Schlange von Oum Khalil stellte mir 115
plötzlich eine Frage über Simone, meine ei gene Schwiegertochter: »Ist sie Christin wie alle anderen, oder ist sie zu unserer Religion konvertiert?« Ich wiederholte ihr, was mir Ahmad gesagt hatte, daß sie nämlich Christin geblieben sei. »Aber die Kinder!« rief sie hinterhältig aus. »Sind sie Christen wie ihre französische Mutter oder Muselmanen wie Hamed?« »Der Sohn wird Muselmane sein und die Tochter Christin«, erwiderte Zaynab, meine Schwiegertochter, die Gattin von Ahmad, in jenem kategorischen Ton, der ihr eigen war, und mit einem Lächeln auf den Lippen. Wir lachten im Chor über diesen Einfall; Zaynab behauptete jedoch, daß mein Sohn Hamed, der Gatte von Simone, ihr selber versichert habe, daß es so wäre, daß seine Frau und er sich über diesen Punkt verständigt hatten. »Wie könnte dieses Kind, Tochter von unse rem Fleisch und Blut, Christin sein?« empör te ich mich. »Mein Gott! Aber ihr versteht ja gar nichts!« warf da Oum Khalil ein. »Ihr seht wirklich nicht weiter als bis zu eurer Nasenspitze. Ihr schwatzt wie die Elstern, 116
ohne etwas zu begreifen! Laßt doch die Zu kunft beiseite. Gut. Die wahre Frage ist die, warum Hamed unsere frommen moslemi schen Töchter abgelehnt hat, um eine Chri stin, und dann auch noch eine Ausländerin, zu heiraten!« Ich spürte, wie mir das Blut zu Kopf stieg. Ich wütete gegen Hamed und gegen Oum Khalil gleichzeitig. Ich befragte Nazira, die Gattin des Vorbeters in der Mo schee, nach den Vorschriften des korani schen Gesetzes zu diesem Thema: »Ist es einem Muselmanen gestattet oder nicht, eine Christin zu heiraten?« »Mein Gott, natürlich!« antwortete diese ehrbare Frau. »Das Gesetz erlaubt es voll kommen!« »Ich weiß!« rief Oum Khalil sofort aus. »Du und dein Mann mußtet nur eine spezielle fatwa13 ausgeben, damit das Recht auf ihrer Seite war, und damit gestatten, was verboten ist!« »Aber«, ging Nazira dazwischen, »das Gesetz des Korans sagt auch, daß eine Muselmanin Ein Beschluß, den der Vertreter der religiösen Autorität verbreitet. 13
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einem Muselmanen besser entspricht als je mand von einer anderen Religion. Ich habe selber gehört, wie der Scheich es vor weni gen Tagen bestätigt hat! « Dann fügte sie hinzu, um die Atmosphäre zu lockern: »Beim Propheten, genug mit die sen Geschichten! Lassen wir doch diese Al bernheiten, Freundinnen!« Die Versamm lung dauerte lange. Schließlich mußten mei ne Gefährtinnen unverrichteter Dinge ab ziehen; die sehr verehrte Madame Simone hatte ihr Zimmer seit dem Morgen nicht verlassen. Doch wenn wir noch etwas ge wartet hätten, hätten wir sie hervorkommen sehen, verkleidet als Krankenschwester, um die Augen der Frauen und Kinder zu heilen; sie gab Befehle, verteilte Aufgaben, während Ahmad, mein Sohn, sich mit Leib und Seele aufopferte und jedem Wink und jedem Blick von ihr gehorchte! Als ich sie so sah, kam mir tatsächlich eine Frage in den Sinn: »Soll te Hamed einen Mann geheiratet haben?« Zaynab stieß heftige Flüche und Verwün schungen aus -Simone wußte nicht, daß sie gegen sie gerichtet waren -, weil sie wieder 118
das Haus putzen und nacheinander die Spu ren der Schritte beseitigen mußte, die die Frauen und Kinder hinterlassen hatten, und das nur wegen dieser Megäre, die sich in ih rem Zimmer eingeschlossen hatte! Außer dem blieb Ahmad in seiner Ecke sitzen, stumm wie das Grab, ohne es zu wagen, Si mone zurechtzuweisen und ihr begreiflich zu machen, daß das Haus keine Arztpraxis war! Am späten Nachmittag – Simone hatte im mer noch die Tür zu ihren Gemächern ver riegelt – kam Nafisa, die Hebamme. Wir setzten uns auf die Terrasse. Plötzlich flü sterte sie mir mit einer Stimme ins Ohr, die mir merkwürdig unbehagliche Gefühle ein flößte: »Weißt du, daß Simone, deine Schwiegertochter, die Gattin deines Sohnes Hamed, sich weder die Achselhöhlen noch, zweifellos, die Scham enthaart?« Ich konnte ihr nur zustimmen. Ich hatte mit meinen ei genen Augen das Haar unter ihrer Achsel gesehen, als sie den Arm ausstreckte, um sich bei Tisch zu bedienen. Trotzdem erklär te ich, daß sie sich doch sicher ihre intimsten 119
Teile enthaarte, mit irgendeiner Paste auf Melassebasis, mit Kohle oder Zucker, ver mischt mit Zitronensaft. »Stellen wir sie auf die Probe! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!« schlug Nafisa vor. »Was willst du damit sagen?« fragte ich. Oh ne meine Frage zu beantworten, fügte sie hinzu: »Simone ist die Frau deines Sohnes Hamed; jung und reich, wie er ist, kann er sich Dut zende solcher Weiber leisten, Frauen, deren Klitoris nicht beschnitten ist und die deshalb schon im zartesten Alter ganz anders als un sere…« »Was weißt du denn davon?« fragte ich er staunt. »So ist es eben in ihrem Land!« ant wortete sie achselzuckend. Sie machte mich verrückt. Doch ohne es zu wollen, schlichen sich Zweifel in mein Ge müt. »Wenn es denn so Sitte bei ihr ist und Ha med damit zufrieden ist, sollen sie doch ma chen, was ihnen gefällt!« Nafisa kam mir noch etwas näher und säuselte mir ins Ohr: »Hör zu, meine Liebe. Wenn bei uns die 120
Frauen nicht beschnitten sind, werden sie heiß wie erregte Katzen, suchen nach dem Männchen und werden niemals satt. Sie lau gen unsere Männer in langen Nächten aus und betrügen sie, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Simone ist keine Ausnahme von dieser Regel; sie ist Hamed zweifellos schon mehrmals untreu gewesen und hat sicher schon vor ihrer Ehe Unzucht getrie ben… Mach die Augen auf«, fügte sie hinzu. »Siehst du denn nicht, daß dein Sohn Ah mad ihr hinterherläuft, genauso wie Mah moud ibn al-Munassa, der Sohn des Feldhü ters! Außerdem flirtet sie mit allen, klopft an alle Türen, besucht Cafés und trinkt Wein, ein unreines Getränk par excellence, das die Besten unter uns berauschen und verderben kann!« Ich wollte kein Wort von dem glauben, was sie mir da sagte. Ich versicherte ihr, daß die Gattin meines Sohnes ganz sicher beschnit ten worden sei, als sie noch ein Kind gewe sen war, oder aber daß sie sich dieser Sitte bei ihrer Heirat gebeugt hatte, denn Hamed war mein Sohn, er hätte es sich niemals er 121
laubt, eine derartige Frau zu nehmen, die ihren Körper dem erstbesten hingab. Doch Nafisa brach in Gelächter aus und wieder holte: »Stellen wir sie auf die Probe!« »Und wie?« wollte ich wissen. »Indem wir sie untersuchen und sie enthaa ren, wenn es nötig ist; was man nicht gese hen hat, weiß man nicht!« antwortete sie. »Wenn Hamed es erführe«, rief ich ängstlich aus, »wäre er zu allem fähig!« »Er wird nichts davon erfahren. Simone ist nur eine Frau wie wir. Sie wird es nicht wa gen zu erzählen, was passiert ist. Und dann werden wir ihm erklären, warum wir so ge handelt haben…« Nafisa war es gelungen, mich zu überzeu gen. Wir verabredeten uns für den Einbruch der Dämmerung, die Zeit, wenn Ahmad zum Beten in der Moschee war, bevor er sich mit den Männern des Dorfes zum Café begab. Ich bat sie, Oum Khalil und Oum Ibrahim zu verständigen und sie mitzubrin gen, und riet ihr, niemand anderem ein Ster benswörtchen von diesem Plan zu erzählen. Ich kümmerte mich um Zaynab; ich war si 122
cher, daß sie nichts dagegen haben würde. Ich wußte, daß sie eifersüchtig auf Simone war. Sie würde sich über unser Vorgehen freuen.
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Zaynab Ich hatte das Gefühl, Blindekuh zu spielen. Ich sagte mir, wenn Hamed erführe, was passiert war, könne er nichts mehr dagegen tun. Er wurde ein wenig wütend werden und sich schließlich vor der vollendeten Tatsache beugen und die ganze Sache vergessen. Doch er wurde auch endlich begreifen, daß seine Frau nicht mehr wert war als ich, daß sie nicht sauberer war, und daß die Ägypte rinnen hundertmal verdienstvoller waren als die Ausländerinnen. Auch Ahmad würde dann wissen, daß ich mehr wert bin als diese magere Ziege Simone, daß er Glück gehabt hat, jemanden wie mich zu heiraten, er, die ser arme Unwissende, der nicht mal an den Knöchel seines eigenen Bruders heranreich te. Und falls Hamed zornig seine Siebensachen packen und Simone mitnehmen sollte, nun, um so besser! Sollten sie doch zum Teufel gehen, er und sein Geld! Mein Kreuzweg wäre dann endlich zu Ende, ich müßte nicht mehr wie eine demütige Dienerin zu Simo 124
nes Füßen dahinkriechen, müßte nicht mehr jeden Abend Ahmad untreu und krieche risch heimkehren sehen. Ahmad war zum Abendgebet in die Moschee gegangen. Wir saßen auf der Terrasse: meine Schwieger mutter, Nafisa, Oum Khalil, Oum Ibrahim und ich. Die Französin sperrte sich immer noch in ihrem Zimmer ein, schrieb oder tanzte zum Klang der Musik. Wir hatten sie mehrmals durch das Schlüsselloch beobachtet – die Tür war nicht verriegelt; ich hatte mich des sen vergewissert, als ich ihr vor einer Stunde ein Glas Tee gebracht hatte. Sie bedeckte eine Seite nach der anderen mit Worten, wie eine Anwältin! Ich haßte sie von ganzem Herzen, neidete ihr alles, was sie besaß, was sie war. Sie hatte im Leben mehr Glück gehabt als ich; ihr Mann war hundertmal mehr wert als meiner; ihre beiden Kinder sahen auf dem Foto je des für sich besser aus als meine fünf zu sammen. Die Stunde für meine Rache war endlich gekommen, die Stunde, um das Feu er des Hasses zu lindern, das in meinem 125
Herzen brannte. Lautlos stiegen wir die Terrasse hinab, ich ging als erste. Ich öffnete die Zimmertür. Sie tanzte; sie zuckte zusammen, als sie mich sah. Vielleicht erschrak sie über meinen Ge sichtsausdruck oder über die Entschlossen heit, die man auf den Zügen meiner Gefähr tinnen lesen konnte. »Du hast Besuch!« rief ich und wußte dabei sehr gut, daß sie mich nicht verstand. Ich öffnete weit die Tür und ließ die ande ren Frauen eintreten. Sie brabbelte einige Worte in ihrer Sprache, hieß uns entweder willkommen oder stänkerte gegen uns. Nafi sa lachte spöttisch auf, Simone seufzte resi gniert und stellte mit einem Fingerdruck auf dem Tonarm des Plattenspielers die Musik aus. Sie sammelte die auf dem Schreibtisch verstreuten Blätter ein und wandte sich abrupt um, als sie die Tür zuklappen hörte, die Oum Khalil gerade hinter sich geschlos sen hatte. Wir hatten nicht die Mittel, uns verständlich zu machen. Nafisa schloß das Fenster. Wir umzingelten Simone. Sie drehte sich im Kreis und versuchte zu fliehen. Wir 126
stürzten uns auf sie, die anfing zu brüllen und sich zu wehren. Erschreckt von ihren Schreien, legte ich ihr die Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen. Wir warfen sie zu Boden, auf den Teppich, und hoben den Saum ihrer Tunika; unter ihrem Gewand war sie nackt. Wir hielten sie ganz fest. Sie kämpfte mit aller Kraft und versuchte ver zweifelt, diesen acht Händen zu entkom men, die sie umklammerten. »Ich hatte es euch doch gesagt!« rief Nafisa triumphierend aus. Und sie machte sich ans Werk, nahm nach einander Schere und Melasse zur Hand, ent schlossen, dem verhaßten Haarwuchs zwi schen Simones Schenkeln ein Ende zu ma chen. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und rief meiner Schwiegermutter zu: »Schau doch! Ich hatte es dir doch gesagt! Sie ist auch nicht beschnitten!« Nafisa machte sich immer noch an Simones zitterndem Körper zu schaffen und enthaar te sie sorgfaltig. Sie schlug uns darauf abrupt vor, die Exzision vorzunehmen. Der Ge 127
danke erregte meine Gefährtinnen, die im Chor zustimmten. »Nun, warum nicht?« erklärte meine Schwiegermutter. »Aber ich habe Angst, daß ihre Schreie das ganze Viertel in Aufruhr versetzen!« »Keine Angst, du wirst keinen Mucks von ihr hören«, meinte Nafisa entschlossen. Sie beendete ihr Werk, zog ein Fläschchen unter ihrem Kleid hervor und öffnete es; der Geruch von Bilsenkraut drang heraus. Sie tunkte einen Wattebausch hinein, den sie auch irgendwo aus ihren Kleidern gezogen hatte, und hielt ihn Simone unter die Nase. Im Schein der Lampe bemerkte ich die Au gen unseres Opfers, weit hervortretend, durch die Angst vergrößert, schreckerfüllt. Ich dachte einen Moment daran, die Frauen wegzustoßen, damit Simone sich in Ruhe von ihrem Unglück erholen konnte. Ich stellte mir vor, an ihrer Stelle zu sein, und bedauerte sie von ganzem Herzen. Doch dann dachte ich sofort wieder daran, daß sie Hamed bezauberte, nicht nur mit ihrer Intel ligenz, sondern vor allem auch mit ihrem 128
Körper – geschmeidig und cremig wie gute Milch -, und daß sie ihr Ziel aus dem einfa chen Grund erreichte, daß sie nicht be schnitten war. Simone entspannte sich all mählich unter unseren Händen. Sie hatte aufgehört, sich zu wehren, ihr Gestöhne war verstummt. Ihre Lider schlossen sich halb. Was getan war, war getan; dann sollte man auch bis zum Ende handeln, da wir ja nicht mehr zurück konnten; wir mußten bis zum Ziel gehen. Wenn wir hier stehenblieben, würde Hameds Zorn deshalb nicht geringer sein. Ich überzeugte mich, daß er die ganze Sache verschweigen würde, um nicht seinen Ruf in den Augen der Bauern zu beschmut zen und Simone auf ewig zu entehren. Nafisa machte sich frohen Herzens ans Werk. Die anderen Frauen standen schwei gend um sie herum; ihnen war bewußt, daß sie einer ehrwürdigen und erhabenen Opera tion beiwohnten; sie zitterten zwar vor Angst, waren jedoch gleichzeitig von Freude erfüllt. Mit einer Hand packte Nafisa das Objekt der Schande und zog daran; mit der anderen holte sie aus ihrer Tasche ein Mes 129
ser mit einer Klinge, die so scharf wie ein Rasiermesser war, und wischte es mit ihrem Ärmel ab; dann setzte sie es an und schnitt nah am Fleisch entlang, mit einem schnellen Hieb schnitt sie das Anhängsel ab; es blieb zwischen ihren Fingern hängen. Blut spritzte auf und floß in Strömen; wir hatten noch nie soviel gesehen, trotz all der Zirkumzisionen und Exzisionen, denen wir schon beige wohnt hatten. Nafisa drückte die ganze Watte, die sie hatte, auf die Wunde und versuchte, den Blut strom zu stillen; doch das Blut färbte schnell den Stoff und floß in stetigem Strom aus dem Körper der Unglückseligen. Sie preßte ihren eigenen Schal, dann den von Simone, schließlich alles, was ihr in die Hände fiel, auf die Wunde. Doch die Blutung hörte nicht auf; allmählich wurde die Bettwäsche blutdurchtränkt. »Welch ein Fluch!« schrie meine Schwieger mutter auf und ohrfeigte sich mit beiden Händen. Nafisa erbleichte, ebenso die ande ren erschreckten Frauen. Schreckensschreie erklangen plötzlich von allen Seiten, wäh 130
rend Simone dalag, ohne zu wissen, wie ihr geschah, was uns geschah. Nafisa rief uns zu, wir sollten schweigen, um die Leute nicht in Aufruhr zu versetzen. Sie befahl mir, den ganzen gemahlenen Kaffee und alle Um schläge herbeizuschaffen, die ich besaß. Be stürzt lief ich hinaus, stieß mich an jedem Möbelstück an, meine Beine gaben schlot ternd unter mir nach. Ich reichte Nafisa, worum sie mich gebeten hatte. Sie begann, mit beiden Händen den Umschlag aus Puder und gemahlenem Kaffee anzudrücken. Wir warteten einen Augenblick. Die pechartige Flüssigkeit färbte die Mischung, wurde dann hellrot, färbte sich mit dem Blut der Un glücklichen und dämmte schließlich den Blutfluß ein. Wir wollten Simone auf das Bett legen, doch Nafisa befahl uns, sie dort zu lassen, wo sie lag, damit sich die Wunde schlösse. Darauf spielte sich unter meinen Augen eine unvergeßliche Szene ab: Eine rachsüchtige Wut schien plötzlich im Her zen meiner Schwiegermutter zu erwachen; sie bemächtigte sich des Messers und ging drohend auf Nafisa zu. Die Frauen flohen 131
aufheulend und verließen das Haus inner halb einer Sekunde. Nafisa wich wie erstarrt zurück und sagte immer wieder: »Ich habe nichts gesagt, ich habe nichts gesehen!« Bald wurde sie gegen die Tür gedrängt; tastend suchte sie nach der Klinke, packte sie und stieß sie mit einem heftigen kurzen Schlag auf; darauf entfloh sie in Windeseile. Oum Khalil war geblieben; sie flehte meine Schwiegermutter an, wieder zu ihrer Gelas senheit zurückzufinden. »Fasse dich doch! Sie ist nicht verloren; sie wird sich wieder erholen. Gott hat es so ge wollt; wir sind alle Sklaven unseres Schick sals!« Meine Schwiegermutter drehte sich auf dem Absatz um, so daß sie Oum Khalil gegenü berstand, die schnell aus dem Zimmer floh. Wir drei blieben da, sie, Simone und ich. Meine Schwiegermutter öffnete das Fenster, spuckte auf das Messer und warf es weit in die Felder hinaus. Sie schloß das Fenster wieder. Dann wandte sie sich mir zu, packte mich bei den Haaren und schüttelte mich, ohne daß ich ihr auch nur den geringsten 132
Widerstand entgegensetzte. Ah! Und ob sie mich hätte töten können! Doch sie stieß mich brüsk zurück, wandte sich um, zerriß sich das Gesicht mit den Nägeln und setzte sich dann neben Simone, kniete sich auf den Boden, legte zart den Kopf der Unglückseli gen auf ihre Schenkel, beugte sich über das blasse Gesicht, küßte sie auf die Stirn und wiederholte dabei immer in leidenschaftli chem Ton: »Mein Liebling, meine Tochter, mein Ge liebtes…« Sie begann, sich im Takt ihrer Verzweiflung zu wiegen. »Armes Kind! Da bist du von so weit her gekommen, um die ses Martyrium zu erleben! Und du, warum stehst du da wie angewurzelt?« schrie sie plötzlich und warf mir einen wütenden Blick zu. »Warum hast du mich nicht daran gehin dert, so etwas zu tun? Ich bin alt, der Wahn sinn hat mich gepackt, ich bin mit Senilität geschlagen gewesen… Aber du, du bist noch jung und gesund am Geiste! O mein Gott! Was sage ich da? Gesund am Geiste? Du warst auf sie eifersüchtig, das ist die Wahrheit! Genauso wie Nafisa und Oum 133
Khalil! Alle, alle seid ihr vor Eifersucht ge platzt! Ach, wenn ich doch nur weinen könnte! Aber ich kann nicht, ich weiß nicht mehr, wie es geht. Ich möchte, daß mich noch in diesem Augenblick die Epilepsie trifft und daß es dann vorbei sein möge! Aber nichts geschieht… Was für eine Kata strophe! Unglück über mich! Unglück über dich, meine Tochter! Unglück über dich, Hamed, mein Sohn, mein Geliebter!« Meine Schwiegermutter schaukelte immer noch von vorne nach hinten, während sie ihre Prophezeiungen herunterleierte und mein Herz durch den Anblick ihrer Klagen zerriß. Plötzlich blieb sie unbeweglich ste hen, wandte sich zu mir um und befahl mir: »Schneide eine Zwiebel klein und bringe Eau de Cologne! Wir müssen sie wiederbe leben!« Ich gehorchte, ohne Ausflüchte an zubringen. Ich hackte die Zwiebel und brachte das Parfumfläschchen, das mir Si mone bei ihrer Ankunft geschenkt hatte – zusammen mit einer Handtasche und meh reren Kleidern. Ich ließ sie die Flüssigkeit einatmen, goß ihr ein paar Tropfen auf die 134
Stirn und die Wangen, massierte ihre Brust, druckte die Zwiebel an ihre Nasenflügel. Ruhelos warf sie den Kopf, der auf den Knien meiner Schwiegermutter lag, von ei ner Seite auf die andere; und diese rief sie mit leiser Stimme: »Simone, mein Liebling…« Simone stöhnte leise, öffnete halb die Lider und richtete ihren erloschenen, herumirren den Blick auf mich – ich stand ihr gegen über. Dann rollte ihr Kopf zur Seite, ihre Augen wurden starr, unbeweglich hinter ei nem Vorhang aus Wimpern. »Sie ist tot! Sie ist tot, Schwiegermutter!« heulte ich. Ein schmerzhafter Schrei löste sich aus meiner Brust. Meine Schwiegermut ter überhäufte mich mit Flüchen. Sie wollte es nicht glauben. Vergeblich bewegte sie die Hand der Unglücklichen und mußte sich bald in das Unvermeidliche fügen. Sie zer kratzte sich heftig die Wangen, ohrfeigte ihr Gesicht immer wieder und wiegte sich unab lässig im Rhythmus ihres Schluchzens. Si mones Gesicht ruhte immer noch auf ihren Schenkeln. 135
Der Kommissar Ich mußte schnellstens reagieren. Diese Ge schichte war eine Katastrophe! Und was für eine Katastrophe! Wenn der Umda mir die Nachricht persönlich überbracht hätte – an statt mich per Telefon zu verständigen -, hätte ich sofort eine Rechnung mit ihm be glichen, ohne viel nachzudenken. Wie hatte der sanften und hübschen Simone so ein Unglück zustoßen können? Das Opfer wel cher Barbarei war sie geworden? Für wel chen Wahnsinn mußte ich mich jetzt ver antworten? Und dann auch noch mit Aus ländern! Und Frauen! O welche Welt! O Prophezeiungen des L'Oiseau de l'Orient, der Lanterne d'Oum Hachem14! Wie sind wir so tief gesunken? Armer Hamed! Die Stimme des Blutes hat dich Länder und Meere überque ren lassen, damit du dann hier, in deinem eigenen Dorf, das Geschöpf verlierst, das dir am meisten am Herzen lag… L'Oiseau de l'Orient und La Lanterne d'Oum Hachem: zwei Werke von Tawfiq al Hakim (Kairo 1938) und Yehya Haq qi (Kairo 1944), die beide vom Zusammenprall der Kultu ren handeln. 14
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Ich holte den Arzt ab, erzählte ihm auf dem Weg die ganze Sache, wie sie mir der Umda berichtet hatte. Dann ließ ich ihn nachden ken, welche Maßnahmen zu treffen seien. Ich hatte einen Augenblick daran gedacht, den Umda, die Honoratioren des Dorfes, den diensthabenden Wachmann und Ahmad festzunehmen und sie mitleidlos durchzu prügeln. Doch ich sagte mir, daß ich mich dann wie diese verdammten Frauen von AlDarawich verhalten wurde, diese trauerum florten Weibchen… Warum hassen wir das Schöne? fragte ich mich. Warum wollen wir es ständig mit beiden Händen zerbrechen? Wie diese Glühbirnen, die doch mit ihrem Licht die Düsternis des Dorfes hatten erhel len können. Und Simone? Arme Simone! Ich versuchte, mich von Schuld freizuspre chen, indem ich mir einredete, das, was Ha med und seiner Frau passiert war, sei das Resultat von Machenschaften seiner Mutter und seiner Schwägerin und der Nachlässig keit seines Esels von Bruder. Aber wo könn te Hamed nur den geringsten Trost finden? Er war hergekommen und hatte bei uns das 137
Leid kennengelernt; wenn er zu Hause ge blieben wäre, wäre nichts von alledem ge schehen. Wenn er Paris nicht verlassen hät te, um dem Ruf des Blutes zu folgen, wäre ihm nichts zugestoßen… Wenn… Wenn… Wenn… Ich glaubte verruckt zu werden. »Was werden Sie tun?« fragte ich den Arzt. »Vielleicht lebt sie ja noch«, antwortete er, ohne den Kopf zu wenden. »Und wenn sie nicht mehr lebt?« »Dann ist sie tot!« erwiderte er schlicht. »Aber was werden Sie tun?« wiederholte ich. »Was für eine Haltung werden Sie einneh men?« Er betrachtete mich kalten Blickes und blieb schweigsam. »Hören Sie!« fuhr ich fort. »Auf jeden Fall, was auch das Motiv des Verbrechens sein mag, ich habe klar ge sagt, was es auch sei, man darf es unter kei nen Umständen verbreiten.« »Warum das?« fragte er verwundert. »Werden Sie damit fertig. Sie sind schließlich Arzt. Sie kennen tausend Krankheiten, die tödlich sein können!« Ich dachte plötzlich, das Leben an sich sei schon ein guter Grund zum Sterben… »Und die Justiz?« wollte er 138
wissen. »Hören Sie zu!« antwortete ich trocken. »Sie sind kein Richter. Denken Sie an den Skan dal! Denken Sie an meine Zukunft, an die Zukunft aller Verantwortlichen dieser Pro vinz, an die Ihrige, an die Stellung der Regie rung!« »Und wenn ich einwilligte«, setzte er wieder an, »wer wurde mich vor möglichen Rechtsmitteln schützen?« »Wenn es Rechtsmittel gäbe«, gab ich zu rück, »würden sie niemals greifen, selbst wenn sie auf dem Postweg geschickt wur den!« »Und Hamed? Was machen Sie mit dem?« »Mein Gott! Das werden wir dann ja sehen!« erklärte ich wenig verwirrt. »Wichtig ist es, die Bestattung so schnell wie möglich anzu ordnen.« »Und Hamed?« beharrte er. »Wir werden ihn verständigen, wenn alles erledigt ist«, erwiderte ich. Wir erreichten Al-Darawich. Der Unteroffi zier und der diensthabende Wachmann folg ten uns. Kurz vor der Brücke stiegen wir 139
aus. Die Welt war in völlige Dunkelheit ge taucht. Der Mond war seit mehr als einer Stunde untergegangen. Das ganze Dorf wußte, was passiert war; einige Schaulustige standen um das Haus herum. Verschiedene Kommentare wurden abgegeben. Ich befahl, daß alle nach Hause gehen sollten, beauf tragte die Wache, dafür zu sorgen, und zwar mit Entschlossenheit, ohne Furcht, eventu elle Saumselige grob zu behandeln. Dann betrat ich das Haus der Buhayris. Der Umda saß mit gesenktem Kopf im Wohnzimmer. Ich sprach ihn grob an. Er sprang auf; ich verabreichte ihm ein paar Ohrfeigen; er brach in Schluchzen aus. Dann entdeckte ich Ahmad, der in einer Ecke stand und völ lig stumpfsinnig dreinschaute. Ich hatte Lust, ihn mitten in seinen Adamsapfel zu beißen, ihn ihm mit einem einzigen Biß aus zureißen; doch ich begnügte mich damit, ihm ins Gesicht zu spucken. Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Arm zu heben, um sich abzuwischen. Der Arzt war gegan gen, um Simone zu untersuchen; etwas in mir trieb mich dazu, zu ihr zu gehen. Doch 140
ich wagte es nicht, dem Tod gegenüberzu treten – vor allem nicht dem Tod dieser Frau. Ich blieb also da und spazierte im Wohnzimmer umher. Endlich verließ der Arzt das Schlafzimmer. Er schloß die Tür hinter sich, und nach einem Moment des Schweigens erklärte er, während er uns nacheinander ins Gesicht sah: »Sie ist tot.« Er schrieb einige kurze Zeilen auf und reich te uns dann das Blatt. »Hier ist die Bestattungserlaubnis.« »Woran ist sie gestorben?« fragte ich don nernd – um sicher zu sein, daß mich alle hörten -, und beobachtete dabei den Arzt aus dem Augenwinkel. »Herzanfall, plötzlich und tödlich«, antwortete er kalt. Ich wieder holte das Urteil laut und in endgültigem Ton. »Sie haben es alle gehört! Sie ist an ei nem Herzanfall gestorben, verstanden?« Und an die Adresse des Umda fügte ich hin zu: »Holen Sie den Schreiner wegen des Sarges. Wir werden sie noch heute nacht beerdigen, im Familiengrab.« Dann wandte ich mich an Ahmad: 141
»Hörst du?« sagte ich. »Im Familiengrab! Damit ihr euch für alle Ewigkeit daran erin nert, du, deine Mutter, deine Frau und das ganze Dorf! Ihr Barbaren!« »Sie beerdigen! Ohne sie zu waschen!« rief Ahmad ungläubig aus. »Ruhe!« brüllte ich. Er verstummte auf der Stelle. Ich setzte mich und dachte an Nafisas Fall. Sie sollte ihrer Strafe nicht entgehen, was auch die Motive dieses verfluchten Verbrechens ge wesen sein mochten! Ich nahm den Arzt beiseite. Im Zimmer waren jetzt nur noch wir zwei, Ahmad und der Unteroffizier. Wir dachten an den Schmerz, der am nächsten Tag auf Hamed wartete und den er nun wie ein Kreuz sein ganzes Leben tragen mußte, ob er im Dorf blieb oder nach Paris zurück kehrte. Ich sagte mir wieder, daß Simone tot sei, für immer von uns gegangen. Der Arzt, dachte ich plötzlich, mußte den Tod doch so gut kennen wie das Leben, und ich murmel te, während ich mich zu ihm wandte: »Sagen Sie mir, wie erklären Sie den Tod?« Der Arzt sah mich an wie betäubt und brabbelte vollkommen verblüfft und durch 142
einander: »Wie? Ah ja! Aber von welchem Tod sprechen Sie? Von ihrem oder von un serem?«
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