Rosalie Deer Heart
Heilender Schmerz
Das Buch Rosalie Deer Heart geschieht das Schlimmste, was einer Mutter widerfahre...
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Rosalie Deer Heart
Heilender Schmerz
Das Buch Rosalie Deer Heart geschieht das Schlimmste, was einer Mutter widerfahren kann: Sie verliert ihren 15jährigen Sohn bei einem Unfall. Jahre des Schmerzes und der Suche nach einem Halt im Leben beginnen. Schließlich ist es der Geist ihres Sohnes selbst, der ihr neue Kraft gibt. Seine Stimme weist ihr den schwierigen Weg und begleitet sie auf ihrer langen Reise zu sich selbst. Die Erfahrungen in diesem Buch zeugen vom Wunder der Liebe über die Grenzen des physischen Todes hinaus.
Die Autorin Rosalie Deer Heart arbeitete 20 Jahre lang als Psychotherapeutin. Am Creative Problem Solving Institute der New York University in Buffalo gab sie Kurse zu spiritueller Kreativität, Seelenentwicklung und weiblichen Initiationsriten.
Rosalie Deer Heart Heilender Schmerz Wie mein Kind mir half, seinen Tod zu verstehen Mit einem Vorwort von Joan Chadbourne Aus dem Amerikanischen von Heike Rosbach Econ Taschenbuch Verlag
Diese Ausgabe entstand durch die Vermittlung von Jürgen P. Lipp und Jürgen Mellmann.
Econ Taschenbuch Verlag 2000 Der Econ Taschenbuch Verlag ist ein Unternehmen der Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München Deutsche Erstausgabe © 2000 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München © 1996 by Rosalie Deer Heart Titel der amerikanischen Originalausgabe: Healing Grief (Heart Link Publications, New Mexico) Übersetzung: Heike Rosbach, Nürnberg Redaktion: Barbara Imgrund, München Umschlagkonzept und -gestaltung: HildenDesign, München - Stefan Hilden Titelabbildung: HildenDesign, München Satz: Josefine Urban - KompetenzCenter, Düsseldorf Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany
ISBN 3-612-18005-3
Dieses Buch ist gewidmet: meinem Sohn Mike Hall, der mir beibrachte, wie man Dimensionen überbrückt, meinem Großvater Linwood Jellerson, der ein mehrdimensionales Leben führte, meiner Großmutter Shirley Jellerson, die mich von Anfang an bedingungslos geliebt hat, meiner Tochter Kelli-Lynne, die mich zu vorbehaltloser Liebe inspirierte, und den Kindern der Zukunft, die ihren Familien und unserem Planeten Heilung bringen.
In Dankbarkeit Mein tiefempfundener Dank gilt Michael Bradford, der die finanziellen Mittel für die Veröffentlichung dieses Buches bereitstellte und die Herausforderung annahm, mich in persönlicher Liebe zu unterweisen; gleichermaßen zu danken habe ich Audrey McGinnis, meiner spirituellen Mutter, die mich sanft und häufig daran erinnerte, daß der Geist »mich entwickelt«; sowie Bob Eberle - der im Geist lebt - für sein in mich gesetztes Vertrauen als Lehrerin, Freundin und Coautorin. Für ihre Liebe und Unterstützung danke ich außerdem insbesondere Alison Strickland, Maggie McClain, Louise Zubrod, Susan Lindsay, Mary Elizabeth Mason, Maryrae Means, Christinea Johnson, Anne Campbell, Anne Hubler, John Hornecker, Gary Race, Phillip Levine und Rendle Leatham. Ich empfinde für sie alle als Cheerleader meiner Seele Respekt. Ellen Kleiner, meine Lektorin, die in meinem Herzen lebte, als sie bei der Herausgabe des Buches mit Worten »zauberte«, verdient eine Auszeichnung als Engel. Schließlich bin ich meinen Eltern dankbar, die mir die Gelegenheit eröffneten, meinen Weg auf Erden zu gehen.
Inhalt
Vorwort Einführung Jahr eins Jahr zwei Jahr drei Jahr vier Jahr fünf Jahr sechs Jahr sieben Weiterführende Informationen
Vorwort Rosalie Deer Heart ist meine Lehrerin. Ihr Mentor ist das Leben selbst, das auf diesen Seiten ergreifend in allen Einzelheiten geschildert wird. Die hier aufgezeichneten Ereignisse liegen fast zwanzig Jahre zurück, als Rosie den Tod ihres Sohnes zu bewältigen versuchte. Da sie bereit war, sich dem Schmerz zu stellen, ist sie eine Seelenheilerin geworden - eine Übersetzerin und Führerin, die jene aus der Welt der Lebenden mit jenen aus dem Reich des Geistes zusammenbringt. Mit Rosies Hilfe besteht das Sterben und Trauern nicht nur aus Traurigkeit und Verlustgefühlen, sondern ist auch voller Freude, Schönheit, Intimität und tiefer Liebe. Das sind die Früchte ihrer Reise. Rosie und ich arbeiten bereits mehrere Jahre zusammen, doch diese besonderen Früchte habe ich erst in diesem Sommer, in den letzten Monaten, die meine Mutter noch zu leben hatte, gekostet. Im Juni war meine Mutter, Rose Warrington, nach einer Operation, in deren Verlauf man ihr einen Krebstumor aus dem Gehirn entfernt hatte, bettlägerig geworden. Infolge der Operation konnte sie sich zwei Wochen lang nicht bewegen und auch nicht sprechen. Erste Ansätze ihrer Bewegungs- und Sprachfähigkeit kehrten gerade zurück, als Rosie sie erstmals besuchte. Sie betrat das Zimmer, und Mom - deren Stimmbänder noch wenig Kraft hatten, so daß sie seit der Operation erst einige wenige Worte gesprochen hatte - sah hoch und sagte: »Ich habe Sie letzte Nacht gesehen.« Obwohl sich die beiden nie außerhalb von Moms Traum getroffen hatten, leuchtete ein Funken des Wiedererkennens in ihren Augen auf. Rosie vereinigte ihre Energie mit der meiner Mutter und erklärte schließlich: »Sie sind ziemlich verwirrt. Sie sehen das Licht in den Seelen der Menschen und nicht ihren
Körper. Sie haben nicht geglaubt, daß Sie das können, solange Sie noch immer in Ihrem Körper sind, stimmt's?« Nach einer langen Pause erhellte sich Moms Gesicht im Ausdruck des Verstehens und der Erleichterung, und sie flüsterte: »Ja.« Rosie kam einmal in der Woche zu einer Sitzung vorbei, die sie einige Male in Schweigen gehüllt zubrachten. Sie schien Mom dabei zu helfen, genug Energie zu fokussieren und zu konzentrieren, um ihre Gedanken zu artikulieren. Eines Tages, nach einer langen Zeit des Schweigens, bemerkte Rosie, daß Mom etwas wollte, und forderte sie auf, ihren Wunsch auszusprechen. Mom sah mir direkt in die Augen und sagte: »Ich will Teil deines Lebens sein.« Jahre, vielleicht Lebensphasen der schützenden Getrenntheit schmolzen mit diesen magischen Worten dahin. Jede Zelle meines Wesens hallte von Liebe und Gegenliebe wider. Eines Morgens Ende Juli wachte Mutter auf und sprach von »dem Baby«. Rosie kam an jenem Tag, verband sich mit Mom und half mir zu verstehen, was vor sich ging. Am Vortag, so stellte sich heraus, wäre Moms totgeborenes Kind Deborah neunundvierzig Jahre alt geworden. Als ich Mom fragte, ob sie das gemeint habe, bestätigte sie lächelnd, ja, sie sei im Schlaf mit Baby Deborah zusammen gewesen. Später an diesem Tag half Rosie Mom, mit dem Loslassen zu beginnen. Sie reiste offenbar weit aus ihrem Körper, und Baby Deborah schien sie zu führen. Mom erzählte uns, sie suchten nach ihrem »Ruheplatz«. Die Pilgerfahrt dauerte bis in den Nachmittag hinein. Die ganze Zeit über kamen Bekannte zu Besuch und konnten die heitere Gelassenheit im Zimmer spüren. Irgendwann sagte Mom weich, mit entrücktem Gesichtsausdruck und offenen Augen: »Es ist so schön.« Einige Tage später hatten wir uns zu acht um Moms Bett versammelt, wir sangen, massierten sie, beteten und weinten. Plötzlich öffnete Mom die Augen und sah direkt in die meinen. Ich erinnerte sie wie schon zuvor daran: »Ich
möchte dich in meinem Leben haben.« Dann schloß sie die Augen, tat den letzten Atemzug und starb. Rosie kam und unterstützte unsere Familie in der Trauer und den Feierlichkeiten. Sie leitet auch weiterhin die Verbindung zwischen Mom und mir. Ich bin überzeugt, daß - aufgrund von Rosies Bereitschaft vor zwanzig Jahren, aus sich herauszugehen - zwei Seelen, die sich als Mutter und Tochter abmühten, in den letzten Monaten jeweils die Schönheit der anderen erkannten und sich ihrer wechselseitigen Liebe überließen. Heilender Schmerz, Rosies Geschichte, war für mich ein Trost, als meine Mutter im Sterben lag, und sie hilft mir noch heute im Prozeß der Trauer. Es ist eine Geschichte von Leben und Tod, die mit Sicherheit allen, die auf sie stoßen, Beruhigung und Inspiration vermittelt. Joan Chadbourne, EdD Portland/Maine
Einführung
Fast zwei Jahrzehnte sind seit dem plötzlichen Tod meines Sohnes Mike vergangen. Ich war gerade dreiunddreißig Jahre alt geworden, und er sollte bald fünfzehn werden. Wochen vor seinem Tod hatte ich einer NotTotaloperation zugestimmt, und er war zum erstenmal mit einem Mädchen ausgegangen. Gemeinsam hatten wir den schmerzlichen Individualisierungsprozeß durchgestanden, der Mutter und Teenager immer in Gegner zu verwandeln scheint. Ich hatte mich gefreut, als Mike wieder zu seinem witzigen, selbstbewußten Ich zurückfand, sich in der Familie wohl zu fühlen vermochte und sich sogar seiner zweieinhalbjährigen Schwester Kelli-Lynne zuwandte. Dann war er tot, und ich hatte keine Ahnung, wie ich den Schmerz überwinden sollte. Niemand aus meinem Freundeskreis in unserer Kleinstadt in Maine hatte ein Kind verloren; auch meine Eltern und meine Großeltern hatten nie den Tod eines ihrer Kinder erlebt. Der Ort, an dem ich meiner Pein, meinen Fragen und der schrecklichen Angst, daß auch meine Tochter sterben würde, eine Stimme gab, war mein Tagebuch. Hier hielt ich auch meine Träume fest. Einer der wenigen Teile meines Lebens, der den Tod meines Sohnes wirklich überlebte, war diese Liebe zum Schreiben. Auf dem Papier war ich nicht mehr zum Lügen verdammt, hier konnte ich ehrlich sein; das Schreiben half mir, in den vielen Jahren, in denen ich versuchte, in meinem Leben und im Tod meines Sohnes einen Sinn zu finden, nicht den Verstand zu verlieren. Ich trug mich nie mit der Absicht, ein Buch zu schreiben. Ich schrieb einfach in mein Tagebuch, wie ich es tat, seit ich fünfundzwanzig war. Ich war von einer konservativen Familie aus Maine gut darin erzogen worden, meine Gefühle und meine Verletzlichkeit für mich zu behalten, und so sperrte ich sie in den Tagebüchern weg. Je mehr Zeit verstrich, desto stärker überließ ich mich jedoch einer
unbekannten Art des Wissens - einem seelischen Imperativ, könnte man sagen. Von da an empfand ich mein Schreiben und mein Leben wie unter einer Führung. Und ich spielte meine Rolle, indem ich pflichtbewußt die alltäglichen Details des Trauer- und Heilungsprozesses aufzeichnete, der mich nahezu sieben Jahre lang in Anspruch nehmen sollte und der mit vielen unerklärlichen Eingriffen aufwartete, für die ich keinen Namen hatte und auf die ich kaum vorbereitet war. Hätte ich vor knapp zwei Jahrzehnten gewußt, was ich heute weiß, ich hätte geschrien und meinen nackten Gefühlen erlaubt, meinen Körper aufzureißen; ich hätte offen geweint und meine Geschichte immer wieder Familienangehörigen, Freunden, ja selbst Fremden erzählt; ich hätte mich weniger nach den Erwartungen anderer gerichtet und stärker meinen eigenen unvorhersehbaren Gefühlen nachgegeben; ich wäre mit mir und anderen geduldiger gewesen; ich hätte mich einer langen Therapie bei einem Spezialisten unterzogen; ich hätte nicht in Büchern nach Antworten gesucht, sondern wäre einer Selbsthilfegruppe für trauernde Eltern beigetreten; ich hätte meine nächtlichen Träume und unsichtbaren Wahrnehmungen von Mike mit Leuten geteilt, die mir nahestehen; ich hätte mir selbst mehr Zeit gegeben, ohne Schuldgefühle zu entwickeln; und ich hätte mich und meine Tochter mehr geliebt. Statt dessen trauerte ich stumm und schrieb fieberhaft. Jahre später fing ich an, Abschnitte meines Tagebuches anderen Eltern vorzulesen, die den plötzlichen Tod eines Kindes überlebt hatten. Ich traf mich mit Müttern und Vätern in Maine, New York, Florida, New Mexico, Colorado, Kalifornien, England, Schottland, Ägypten und Bali. Jedesmal wenn ich ihnen meine Geschichte erzählte, weinten die Eltern. Und ich spürte wieder den Schmerz der Trauer und auch die Transformation, die das gemeinsame Durchleben einer Tragödie begleitet. Seitdem wurde mir klar, daß ich mit meinem Sohn eine Seelenvereinbarung getroffen hatte, dieses Tagebuch, das ich zärtlich »Mikes Buch« nenne, anzulegen und zu veröf-
fentlichen. Der Tod, das weiß ich jetzt, ist ein Lehrer. Und dieses Buch ist ein Werk der Liebe und des Dienens. Der Tod meines Sohnes war, genau wie sein Leben, meine Inspiration. Ich bete, daß Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ebenfalls Hoffnung und Sinn auf Ihrer Reise vom Schmerz zur Heilung finden.
Heute hat meine Welt geendet. Mein Herz singt nicht mehr. Ich falte meinen Stolz über mir zusammen, Wie Engel ihre Flügel falten. Pearl S. Buck
Jahr eins 30. März 1977 Ich war nicht in der Lage, in dieser vergangenen Woche irgend etwas aufzuschreiben. Doch ich muß in meinem Tagebuch alles aufzeichnen, damit ich mir nicht entgleite. »Es tut mir schrecklich leid. Wir konnten nichts tun. Ihr Sohn ist tot.« »Unmöglich!« sagte ich. »Das muß ein Irrtum sein.« Nur eine Stunde zuvor waren Mike und sein bester Freund, Artie B., zum Schneeschaufeln aus dem Haus geflitzt. Ich hatte ihnen zu ihrer Rückkehr als Belohnung einen Blaubeerkuchen versprochen. Meine letzten Worte an sie waren: »Seid vorsichtig.« Beide Jungen hatten Grimassen geschnitten, als sie in den Schnee hinaussprangen. »Ist alles in Ordnung?« fragte mich jemand im weißen Kittel. Ich dachte, Mike habe sich das Bein oder einen Arm gebrochen, als die Männer vom Rettungswagen mich auf schnellstem Weg ins Krankenhaus brachten. Wir hielten nebenan, um Kelli-Lynne in der Obhut meiner Nachbarin zu lassen. Der Fahrer sagte während der fünfminütigen Fahrt nichts, deshalb nahm ich an, er wisse auch nichts. Als wir in der Notaufnahme eintrafen, filmte ein Kameramann vom Fernsehen unsere Ankunft. Ich wartete allein ich weiß nicht, wie viele Minuten lang - in einem Wartezimmer und ahnte nichts, während alle anderen um mich herum wußten, daß mein Sohn bei meiner Ankunft schon tot war. Ich hatte das Gefühl, ich sähe einen schlechten Film. Dann wurde ich in ein kleines Untersuchungszimmer geführt. Ich konnte nur fragen: »Mußte er leiden?«
»Nein, Ma'am, er wurde durch einen Stromschlag getötet. Er war auf der Stelle tot.« Wie auf ein Stichwort tauchten ein Priester und zwei Krankenschwestern auf. Die Schwestern strichen um mich herum. Ich war erleichtert zu wissen, daß Mike nicht gelitten hatte. Aber er war tot, und er war allein gestorben. Ohne mich. Auf dem Schulhof unmittelbar nebenan. Warum hatte ich nicht aus dem Fenster geblickt? Warum hatte ich den ersten Rettungswagen nicht gesehen? Hätte ich ihn retten können? Wir hatten vorher noch über die abgerissene Stromleitung gesprochen. Mike und Artie B. waren in der Küche, als ich beim Elektrizitätswerk anrief und die gefährlichen Kabel meldete, und sie hörten mich mit mehreren Nachbarn über die potentielle Gefahrenquelle reden. Der Priester streckte die Hand nach mir aus, und ich brach weinend in seinen Armen zusammen. Irgendwo, irgendwie fand ich die Worte, ihn zu bitten, ein Gebet für Mike zu sprechen, auch wenn wir nicht Katholiken waren. Als ich hochblickte, sah ich die Schwestern mit ihren Händen herumfuchteln und die Gesichter von Fremden durch das Fenster des Raumes starren. Ich fühlte mich völlig allein, trotz des Priesters und der Krankenschwestern, die sich in dem winzigen Untersuchungsraum mit mir drängten. Ich konnte mich nicht dazu zwingen zu glauben, daß mein Sohn tot und ich am Leben war. Ohne Vorwarnung drückten Krämpfe mir die Brust zusammen und raubten mir den Atem. Ich war von dem Drang beseelt, davonzulaufen - in der Hoffnung, wenn ich wegrannte, würde ich aufwachen und feststellen, daß es sich um einen lebhaften Alptraum gehandelt hatte und Mike am Leben war. Nichts ergab für mich einen Sinn. Krankenhäuser, dachte ich, sollten doch Stätten der Heilung und nicht des Todes sein. In diesem Augenblick kam mein Ehemann Gil. Ich beobachtete, wie der Arzt ihn begrüßte. Ich versuchte, zu ihnen zu gehen, doch meine Füße gehorchten mir nicht. Ich konnte die Worte zwar nicht hören, doch ich sah, wie
sich der Mund und der Kopf des Arztes bewegten und dann Gil den Mund öffnete. Sein Gesicht wurde bleich. Jemand brachte uns in einen kleinen Vorraum. Gil schluchzte und sagte, jeder Vater setze große Hoffnungen in seinen Sohn, und nun … Der Rest seiner Worte ging in meinem Schluchzen unter. Dann verlangte ich mit einer Stimme, die ich nicht als meine eigene erkannte, Mike zu sehen. Eine Krankenschwester antwortete: »Sein Leichnam liegt nur zwei Zimmer weiter.« »Sein Leichnam!« schrie ich. »Nein, Sie verstehen nicht. Ich will bei meinem Sohn, nicht bei seinem Leichnam sein.« Ich mußte mich vergewissern, daß in den Augen meines Sohnes keine Schmerzen zu erkennen waren. Gil fragte die Schwester, ob es eine gute Idee sei, ihn zu sehen. Ich wartete die Antwort nicht ab. Ich war auf dem Weg zu meinem Sohn. Schwankend betrat ich den großen Raum. Ich erschauderte, als ich Mike auf dem OP-Tisch sah. Er war so still. Für einige Augenblicke beruhigte ich mich und erinnerte mich daran, wie er nach einer Augenoperation im Alter von vier Jahren ausgesehen hatte. Er ruht sich einfach nur aus, sagte ich zu mir. Natürlich ist er bleich. Seine Augen sind von der Narkose glasig. Als ich näher trat, um seinen Arm zu berühren, zuckte ich zusammen, als hätte ich mich gebrannt. Sein Arm war kalt, gipsartig. Und er bewegte sich nicht. Ich suchte seinen Körper nach Blut ab. Da ich keines entdeckte, wußte ich, daß er am Leben sein mußte. Alle hatten sich geirrt: Das war ein schlimmer Traum, und wir würden alle daraus erwachen. Dann berührte ich sein Gesicht; es war ebenfalls kalt. Und von irgendwoher tief in meinem Innern wurde mir klar, daß Mikes Körper nicht mehr Mike war. Ein Arzt kam, schob mich in den Flur und erklärte, sie hätten an Mike »gearbeitet«, obwohl er bei seiner Ankunft bereits tot war. Die Schädigung des Gehirns sei irreversibel gewesen. Wenn Mike auf die lebenserhaltenden Apparate reagiert hätte, wäre er nur noch »dahinvegetiert«. Ich sah den Arzt an, während er sprach, aber ich hatte nichts
zu sagen. Die Worte hatten ihre Bedeutung verloren. Als Gil wegging, um mit einem Mann über die Bestattung zu sprechen, drängte ich mich wieder in »Mikes Raum« und verlangte, mit meinem Sohn allein gelassen zu werden. Ich empfand einen inneren Drang, etwas zu tun, das wichtig war, wenn ich auch keine Vorstellung hatte, was das sein könnte. Als ich in dem OP stand, erschreckte mich die unerwartete Präsenz von Mikes Energie. Er war nicht mehr ein Teenager, sondern ein Energiestrom. Ein Teil meines Kopfes war wie ein Strahl geworden, der mit einem eingebauten Radar diese Energie aufspürte. Mit überwältigender Klarheit registrierte ich irgendwie, daß Mike desorientiert war, und ich überschüttete ihn mit Fragen. »Warum? Warum? Wie konntest du das tun? Wie konntest du nur so dumm sein?« Schreiend setzte ich hinzu: »Wie konntest du mich nur auf diese Art verlassen?« Ich spürte den überwältigenden Drang, ihn zu beschimpfen, in dem Schuldgefühl, daß ich nicht da gewesen war, um ihn am Leben zu erhalten, und verzweifelt, weil ich nie die Herz-Lungen-Massage gelernt hatte. Plötzlich tauchte der Aspekt meines Selbst, der instinktiv die Energie aufspürte, wieder auf, und ich merkte, daß Mike nichts von seinem Tod wußte. Ihm war nicht klar, was geschehen war oder wo er sich befand oder was überhaupt los war. Ich merkte, daß ich keine Hilfe war. Eine Welle bedingungsloser Liebe zu ihm ergoß sich aus meinem Herzen nach draußen, und ich flüsterte: »Gut, Mike. Du hast getan, was du getan hast. Jetzt bist du verwirrt, und mit meinen Fragen und meiner Wut helfe ich dir nicht. An deinem Körper festzuhalten ist nicht mehr angebracht. Deine Schwingungen sind anderer Natur. Deine Energie gehört nicht mehr länger hierher. Du mußt auf deinem Weg weitergehen. Du mußt weggehen - jetzt.« Ich beugte mich vor und küßte seine bewegungslosen Lippen. Dann gab ich ihm, mit all der Energie, die ich auf-
bringen konnte, einen geistigen Schubs, um ihm zu helfen »weiterzugehen«. Ich seufzte tief und holte dann stoßartig Luft, während mir die Tränen aus den Augen liefen. »Geh«, sagte ich zu ihm. »Verschwende deine Energie nicht auf den Versuch, uns zu trösten. Ich gebe dich frei. Ich, die dich bemutterte, ich lasse dich los.« Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, erstaunt, daß ich von irgendwoher tief in mir gewußt hatte, was ich sagen mußte. Das Wissen kam mir uralt vor. Doch, so wunderte ich mich, wenn ich das richtig machte, warum zog sich dann mein Herz zusammen? Wer war diese Person, die ihren einzigen Sohn vorsätzlich aus ihrem Leben schickte? Die Tür ging auf, und zwei Krankenschwestern kamen herein. Sie gaben mir ein Beruhigungsmittel. Dann öffnete sich die Tür erneut und gab den Blick auf Gil und einen Priester frei. Der Priester teilte uns mit, daß die Meldung über Mikes Tod im Fernsehen in den Sechs-UhrNachrichten ausgestrahlt würde. Er riet mir sanft, sofort unsere Verwandten anzurufen. Hölzern wählte ich die Nummer meiner Eltern, ohne zu wissen, was ich sagen würde, und halb wünschte ich, es würde keiner abheben. Mom ging ans Telefon. Ich schluchzte: »Oh, Mom, Mom. Mike hatte einen Unfall, und wir sind im Krankenhaus, und er ist tot.« Ich hörte meine Mutter schreien. Ihre Schmerzenslaute erinnerten mich an meine eigene Qual, und das Schluchzen raubte mir die Stimme. Gil übernahm den Hörer und sprach mit meinem Vater. Ich hörte ihn sagen: »Es geht uns den Umständen entsprechend.« Die Worte klangen singsangartig, und ich hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Wir hatten keine Zeit, vor der unpersönlichen Fernsehmeldung noch andere Verwandte anzurufen. Unfähig herauszufinden, was ich dachte oder fühlte, aber in dem Bewußtsein, daß ich es leid war, angestarrt zu werden, sagte ich Gil, daß ich gehen wolle. Im Wagen schwankte ich zwischen dem Wunsch, nach Hause zu fahren, und dem Wunsch, mit Mike zusammen-
zusein. »Ich war fast fünfzehn Jahre lang Mutter«, sagte ich laut und rutschte auf dem Sitz herum, um mich klein zu machen. Wenn ich klein wäre, dachte ich, wäre ich in der Lage, die Wirkung des Todes meines Sohnes auf mich zu verringern. Doch selbst die kalte Abendluft fühlte sich wie vom Tod erfüllt an. »Wir fahren jetzt heim«, sagte Gil ohne Gefühlsregung. »Heim«, wiederholte ich. Das Wort hatte für mich keine Bedeutung mehr. »Was ist ein Heim ohne eine vollständige Familie?« Wie wünschte ich, wir hätten unser Haus wie geplant im Januar verkauft. Wenn wir umgezogen wären, wäre Mike noch am Leben. Kinder sollen ihre Eltern überleben. Ärzte sollen Menschen heilen. Annahmen schossen durch meinen Kopf wie Feuerwerkskörper. Alles und nichts war auf einmal wichtig. Als ich durch die Vordertür das Haus betrat, begrüßten mich drei große Fotos von Mike, die er vor zwei Jahren sorgsam auf dem Kaminsims mit dem schroffen Satz plaziert hatte: »So siehst du mich überall.« Hat er sein Schicksal gekannt? Ich hatte jedoch keine Zeit, mich mit einer Flut von Was-wäre-wenn-Fragen zu quälen, denn unsere Nachbarn hatten die Nachrichten gehört und auf unsere Heimkehr gewartet. Die Eltern von Artie kamen als erste. »Wie geht es Artie?« fragte ich zitternd. Er war bei Mikes Tod dabeigewesen und war, wie ich bereits wußte, nicht verletzt worden. »Er ist am Leben«, sagte seine Mutter. Ich wollte genauer nachfragen, wie es ihm wirklich ging, aber ich hatte nicht die Energie dazu. Leute erschienen und setzten sich ruhig in unser Wohnzimmer. Alle hatten blasse Gesichter. Dann kamen meine Mutter und mein Vater, gefolgt von meinem Bruder und meiner Schwägerin. Ich weinte für mich allein in einer Ecke und wollte die Geschichte vom Tod meines Sohnes nicht erzählen. Mom setzt sich zu mir und drängte mich jedesmal, wenn mir Tränen aus den Augen schossen, stark zu sein. Das Telefon klingelte wie eine endlose
Schallplatte, obwohl mein Bruder die Anrufe abblockte. Wie schnell die Nachricht sich verbreitet hatte! Selbst unsere besten Freunde waren gekommen. Sie boten an, auf Kelli-Lynne aufzupassen. Nachbarn luden unsere Verwandten ein, bei ihnen zu bleiben. Die Leute waren großzügig und freigebig. Ich andererseits war wie in einem Nebel. Die einzige Realität, die ich registrierte, war das wunde Gefühl, das ich empfand, als ich meine Hände aneinanderklatschte und rieb. Es mußten Entscheidungen getroffen werden. Welche Art von Bestattung sollte es sein? Blumen? Die Todesanzeige? Sollte Kelli-Lynne bei der Bestattung dabeisein? Wie sagt man einem zweieinhalbjährigen Kind, daß sein großer Bruder tot ist? Was tun wir mit seinem Leichnam? In welcher Kleidung beerdigen wir ihn? Beerdigen? Was steht zur Wahl? Wahl? Er ist tot. Es gibt keine Wahl. Um neun Uhr war das Haus auf einmal leer. Ich ging nach nebenan, um Kelli-Lynne abzuholen. Da sie schon fast eingeschlafen war, entschieden wir, ihr erst am nächsten Morgen von ihrem Bruder zu erzählen. Ich hatte meine Arme zu eng um sie geschlungen. Sie zappelte sich frei und sagte, ich würde ihr weh tun. Wir brachten sie ins Bett. Ruhe breitete sich über uns aus. Gil und ich waren allein, und das Leben, wie wir es gekannt hatten, war vorbei war tot, wie Mike. Ich war wie betäubt, gebrochen, und ich schämte mich. Ich vermied es, Gil anzusehen. Ich hatte nichts zu sagen und fühlte mich zum Schweigen verurteilt. In der Nacht schlief ich wenig, und zwischendurch erwachte ich von meinem Weinen oder Zittern, manchmal war es beides. Wenn ich wach war, zwang ich mich, daran zu denken, daß ich nicht wie üblich das morgendliche Lärmen von Mikes Stiefeln Größe dreiundvierzig oder das Klappern der Teller in der Küche oder das endlose Offnen und Schließen der Kühlschranktür hören würde. Es würde keine Anrufe in letzter Minute von Artie B. geben, nicht die durch das Haus hallenden, sich überschlagenden Teenagerstimmen der drei Jungs, die an jedem Werktag mit Mike zur Schule gingen.
Wie immer kam der Morgen. Von Schweigen umgeben sah ich aus unserem Schlafzimmerfenster, um die Clique ohne Mike vorbeigehen zu sehen. Ich hörte Kelli-Lynne wimmern und erkannte, daß ich es ihr sagen mußte, bevor die Verwandten und Freunde kamen. Schluchzer aus dem Badezimmer unterbrachen meine Gedanken. Kelli-Lynne fragte, warum ihr Dad traurig sei. Jetzt ist der Zeitpunkt, drängte ich mich. Mit ruhiger Stimme bat ich Kelli-Lynne, sich neben mich zu setzen. Sie begann von ihrem Abend zu plaudern, doch die Zeit wurde knapp, deshalb beeilte ich mich. »Kelli-Lynne, dein Bruder wurde schlimm verletzt, als er ein Kabel berührte. Die Ärzte im Krankenhaus konnten ihn nicht heil machen. Medizin konnte ihm nicht helfen. Er ist tot. Das bedeutet, daß wir ihn nie wiedersehen werden.« Ich holte tief Luft und wartete. Kelli-Lynne starrte mich an. Ich begann zu weinen, und sie sagte: »Weine nicht, Mommy, oder du wirst ersticken.« Wo hatte sie das denn gehört? fragte ich mich. Sie sah verwirrt aus, dann fragte sie: »Bin ich jetzt dein Sohn?« »Nein, Kelli-Lynne. Du wirst immer meine Tochter sein.« »Ist Mikey immer noch mein Bruder, selbst wenn er tot ist? Bin ich immer noch seine Schwester?« Niemand hatte mich auf ihre Fragen vorbereitet, genauso wie niemand mich auf Mikes Tod vorbereitet hatte. Oder auf das Leben überhaupt. »Ja. Ihr seid immer noch Bruder und Schwester, aber Mike lebt nicht mehr auf dieser Erde oder in diesem Haus.« »Oh. Kann ich jetzt spielen?« Ich war von ihrer Reaktion enttäuscht und verwirrt. Ich wollte, daß sie sich genauso wie ich fühlte. Ich wollte sie halten können. Aber sie wollte spielen gehen! Ich brachte das Haus in Ordnung, bevor jemand kam. Dann gab Gil mir die Zeitung und bestand darauf, daß ich die Todesanzeige und den Artikel über Mikes Tod las. In der Todesanzeige sah ich erfreut, daß »die Familie« anstatt Blumen um Spenden für einen Fonds bat, den wir für
den diesjährigen besten Schulsportler ins Leben gerufen hatten. Doch über Mikes Tod zu lesen holte mich nicht aus dem Nebel. Wen kümmern die Fakten? fragte ich mich. Er ist tot, und Fakten ändern daran nichts. Die Verwandten kamen wieder. Dann begannen alle auf einmal zu reden und machten Vorschläge, wie ich richtig trauern sollte: »Nimm ein Beruhigungsmittel«, »sei stark«, »weine und laß alles heraus«, »weine ja nicht«, »überlaß die Details jemand anderem«, »kümmere dich selbst um alles«. Zunächst wünschte ich, daß alle still wären. Obwohl ihre Worte alle einen Sinn ergaben und ich wußte, daß sie es gut meinten, fühlte ich mich seltsam leer, und ihre Unterhaltung erfüllte mich nicht. Dann wollte ich, daß sie redeten, um mich abzulenken. Ich malte mir aus, wenn alle weiterreden würden, könnten wir den Termin in der Leichenhalle vergessen. Ich könnte dem Bestatter sagen: »Es tut mir leid, aber ich konnte bei all den Leuten hier zu Hause nicht weg.« Ich stellte mir sogar vor, daß ich sagte: »Ich komme an einem anderen Tag, wenn ich keinen Besuch habe.« Nach einer Weile gingen Gil und ich in die Aussegnungshalle. Sie war vollgestellt mit leeren Särgen - manche standen offen, andere waren geschlossen. Die Entscheidung, ob Beerdigung oder Einäscherung, war kein Problem. Vor einigen Jahren hatten Mike und ich Testamente unterzeichnet und darin den Wunsch ausgedrückt, eingeäschert zu werden, was in der Familie Protest auslöste. In der Nacht zuvor hatten Gil und ich beschlossen, Mikes Entscheidung zu respektieren, gegen den Wunsch unserer beiden Familien. Die Entscheidung für einen Sarg war ein Riesenproblem. Wieso erst einen Sarg kaufen, wenn er doch verbrannt wird? Zuerst phantasierte ich davon, einen Sarg zu mieten. Dann versuchte ich mir vorzustellen, welchen Sarg Mike sich ausgesucht hätte. Dann kam ich mir verrückt vor. Die Ironie in dem Versuch, einen Sarg auszusuchen,
der Mike gefallen hätte, brachte mich zum Kichern. Abrupt erstickten Tränen mein Kichern. Das war kein Theaterstück, in dem ich eine Rolle spielte - das war das richtige Leben, sagte ich mir. Doch was war mit Mikes Leben? Ich biß die Zähne zusammen, um nicht loszuschreien, und deutete auf einen massiven Eichensarg, und das war es dann. Der Pastor erschien und fragte, ob wir besondere Wünsche wegen des Trauergottesdienstes hätten. Ein Teil in mir reagierte auf das Ganze verletzt. Wie kann ein Trauergottesdienst ein »Dienst« sein? Was ist, wenn ich gar keinen Gottesdienst möchte? Nicht unser Tod, unser Leben soll ein Dienst sein. Einem anderen Teil in mir kamen einige Ideen. Ich teilte dem Pastor mit, ich wolle eine ökumenische Messe, die ein protestantischer Pastor und ein enger Freund namens Michael Dwinell, ein Priester der Episkopalkirche, halten sollten. Ich bestand darauf, daß der Gottesdienst das Gehenlassen, die Hoffnung und das Heilen in den Mittelpunkt stellen solle. Als wir aus der schalen Luft dieses Sargraums herauskamen, beschlossen Gil und ich, am nahegelegenen Strand ein paar Schritte zu gehen, bevor wir in unser überfülltes Haus zurückkehrten. Als wir über den Sand schritten, hielt ich kurz an, denn ich bemerkte aus dem Augenwinkel heraus ein abgerissenes Kabel. Wenn die Leitung unter Strom stand und ich hinrannte und sie berührte, wäre ich innerhalb von Sekunden tot, überlegte ich. Meine Instinkte trieben mich, sie zu berühren, denn dann konnte ich bei Mike sein; ich konnte ihn sehen, ihn halten, ja ihn dafür bestrafen, daß er so dumm gewesen war. Ich rang darum, vernünftig zu bleiben, sog tief die kalte Luft ein und beschloß, wie geplant am Strand spazierenzugehen. Dieser Strand war unser Spielplatz gewesen. Hier waren Mike und ich schwimmen gegangen, hatten nach Seegras gesucht, Hunderte von Hummerbooten beobachtet. Eines Tages hatte er sogar hier sein eigenes kleines Boot zu Wasser gelassen. Ich liebte es, ihm zuzuschauen, wenn er seine Schwester auf seinem Rücken durch den
Sand reiten ließ; manchmal rutschte er aus, und beide purzelten zu Boden. Plötzlich begann ich zu rennen. Ich blieb in Bewegung und hoffte, wenn ich so lange rannte, bis ich außer Atem war, würde ich etwas anderes als Schmerz empfinden. Mein Atem flog wie weiße Fahnen des Lebens vor mir her, aber der Schmerz verschwand nicht. Ich wollte ewig so weiterrennen. Doch nach wenigen Minuten fiel ich erschöpft zu Boden. Mehr als alles andere wollte ich, daß mich jemand hielt - mir versicherte, daß Mike in Ordnung war, daß wir überleben würden, daß ich eine gute Mutter gewesen war und daß ich nicht mit Mikes Tod bestraft würde. Ich wünschte, daß mir diese Märchenperson über das Haar strich und nicht von mir erwartete, daß ich etwas tat oder sagte oder fühlte. Am meisten wünschte ich mir, daß dieser Jemand mir sagte, warum mein Sohn gestorben war. Aber es kam niemand. Ich blieb allein, und ich fror. Als wir nach Hause kamen, schnappte ich Fetzen der Unterhaltung auf und hoffte, einen Zauberspruch zu hören, der den Schmerz auslöschen würde, doch keiner der Anwesenden hatte den Tod eines Teenagers durchlebt. Ich zog mich geistig zurück und quälte mich mit Fragen. Was wäre gewesen, wenn wir das andere Haus gekauft hätten? Was wäre gewesen, wenn das Elektrizitätswerk den Strom abgestellt hätte, nachdem ich angerufen hatte? Was wäre gewesen, wenn da draußen jemand Mike davor gewarnt hätte, zu nahe an diese Leitung heranzugehen? Oder was war, wenn sein Tod unausweichlich war und nicht verhindert werden konnte? Die Leute schauten mich an und wußten nicht, daß ich mich quälte. Ich blieb ruhig und höflich und hatte doch die ganze Zeit das Gefühl, mein Herz würde sich übergeben. Dann gab mir jemand ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket. Ich öffnete es, froh, etwas mit meinen Händen tun zu können. Es war ein Gesellschaftsspiel, das ich für Mike bestellt hatte, ein Spiel mit dem Namen »Leben«. »Gibt es ein Spiel, das Tod heißt?« hörte ich meine
monotone Stimme laut zu niemand Speziellem sagen. Ich wandte mich einer Freundin zu, die in der Nähe saß, und fragte: »Wer hat die Anleitung?« »Wozu?« gab sie zurück. »Für den Tod«, sagte ich einfach. »Oder das Leben das fühlt sich für mich gleich an.« Meine Freundin sah verwirrt aus. Ruhig griff sie herüber und drückte mir die Hand. Ich schluckte schwer und befahl meinen Tränen, nicht überzulaufen. Ich mußte mich um das Spiel namens Leben kümmern. Offenbar konnte ich in dem Spiel, das unter dem Namen Tod bekannt war, nichts tun. Ich fühlte mich orientierungslos, während ich in die Gespräche und aus ihnen trieb. Rund um mich herum erzählten die Leute Mikes Geschichte. Ich hörte zu, als sie ihre Erinnerungen austauschten. Von Zeit zu Zeit wanderten meine Augen durch das volle Wohnzimmer und blieben an Mikes Winterjacke hängen, dann an zwei Taschen aus dem Krankenhaus mit der Aufschrift »Eigentum des Patienten«, dann an den drei Schulfotos auf dem Sims. Bis zur Mitte des Nachmittags war ich wie betäubt. Meine Lippen bewegten sich, ich erwiderte die Umarmung der Leute, und ich trank, was immer man mir hinstellte. Ich kam mir wie eine Marionette vor. Irgendwann hörte ich jemanden flüstern, ich stehe unter Schock. Nachdem Gils Familie eingetroffen war, hörte ich meinen Schwager sagen: »Den Sohn zu verlieren muß schwerer sein, als die Frau zu verlieren.« Verlieren? fragte ich mich. Verlieren bedeutet, es gibt Hoffnung auf ein Finden. Tod ist nicht verlieren. Mein Bruder kam. Er gestand, daß er gerade in der Leichenhalle gewesen sei, wo er sich lange mit Mike unterhalten habe. Er hatte auf ihn geschimpft und dann seinen silbernen Fischring an Mikes Finger gesteckt, denn Mike war der Fischer in der Familie gewesen. Ich dachte zurück an die Party zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag, die Mike erst vor drei Wochen ausgerichtet und bei der er Fisch serviert hatte, den er beim Eisfischen geangelt hatte.
Ich fühlte mich wie eine tote, dreiunddreißig Jahre alte Mutter. Genau um sieben Uhr an diesem Abend versammelten sich Hunderte von Leuten in der Leichenhalle zur Totenwache. Freunde, die früher miteinander verheiratet gewesen und nun geschieden waren, kamen gemeinsam. Menschen, die in meinem Leben eine Rolle gespielt hatten, als Mike geboren wurde, waren wieder da. Zahllose Freunde und Mitschüler von Mike kamen, und Lehrer mischten sich unter ihre Schüler. Wir waren alle durch Mike miteinander verbunden, der still und schweigend dalag. Die Leute erzählten von ihren Erinnerungen an ihn und von ihrer Traurigkeit. Menschen, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, fanden sich zu Gruppen zusammen, und ich beobachtete ihr Wiedersehen voll Neid. Ich kann mich erinnern, daß ich dachte, Mike wäre sehr miesepetrig gewesen, wenn er hier hätte sein müssen. Er haßte Menschenansammlungen und wehrte sich dagegen, wenn ein großer Zirkus um ihn veranstaltet wurde. Ich ging vorsichtig in den Warteraum, wo ich mehrere von Mikes Klassenkameraden wiedererkannte. In ihrer feinen Kleidung sahen sie erwachsen und verlegen aus. »Danke, daß ihr gekommen seid«, sagte ich zu ihnen. »Ich weiß, das muß schwer für euch sein.« Indem ich auf den Sarg zuschritt, fragte ich sie ruhig, ob sie Mike gesehen hätten. Einer der Jungen flüsterte: »Wir wissen nicht, wie wir es machen sollen. Wir wissen nicht, wie wir ihn anschauen sollen.« Ich nickte und lud sie ein, mir zu folgen, damit sie anfangen konnten, sich mit seinem Tod auseinanderzusetzen. »Mike hätte es sich gewünscht«, flüsterte ich zu mir selbst. Das war alles, was ich für ihn tun konnte. Und immer noch dachte ich: Wenn ich nur Peter Pan sein könnte, der diese Kinder in ein aufregendes Abenteuer anstatt an einen Sarg führt. Zwei Stunden lang schwirrten Gesichter vor mir herum.
Menschenmassen füllten die drei Räume. Ich fühlte unsere Gemeinschaft. Mit so vielen Freunden und Familienangehörigen, dachte ich, sollten wir eine Geburt, eine Hochzeit feiern. Dann fiel mir wieder ein, warum wir alle hier waren. Ich fühlte mich eingesperrt in der Doppelrolle der Gastgeberin und trauernden Mutter. Umarmungen hielten mich auf; Worte waren hohl; Schweigen war eine Erleichterung. Ich ging auf der Suche nach Schweigen umher. Schließlich nahm mich mein Vater bei der Hand und sagte zu mir, die Besuchszeit sei vorüber. Erst da merkte ich, daß die meisten gegangen waren, und mit ihnen der stark duftende »Blumenwald«, mit dem die Luft geschwängert gewesen war. Kein Wunder, daß ich um keine Blumen gebeten hatte, sagte ich mir. Ich liebe sie, aber nicht jetzt, nicht auf diese Art. Nur der spindeldürre Farnkaktus am Sargende war angemessen. Mike hatte ihn für mich gekauft, weil er, wie er sagte, »so häßlich war, daß kein anderer ihn kaufen wollte«. In dieser Nacht fiel ich ins Bett, ohne mir erst die Mühe zu machen, mich auszuziehen. Aber ich konnte nicht schlafen. Mein Kopf ließ dauernd den Tag von Mikes Tod Revue passieren, in dem Versuch, eine Antwort zu finden. Um zwei Uhr dreißig morgens bat ich um ein Zeichen, daß es Mike gutgehe. Sofort erfüllte eine riesige weiße Taube das Schlafzimmer mit ihrem blendenden Licht. Das Kommen der Taube linderte den Schmerz in meinem Herzen, aber nicht den Zweifel in meinem Kopf. Hatte ich die Taube erfunden? wollte mein Verstand wissen. Gerade als ich diese Frage gestellt hatte, kündigte sich eine große schmutzige schwarze Krähe mit heiserer Stimme an. Ich erkannte den Vogel wieder. Erst im letzten Sommer war Mike über eine Krähe mit verletztem Flügel gestolpert und hatte sie adoptiert. Sie war anstrengend, aber Mike liebte sie. Trotz Mikes Fürsorge starb die Krähe… und nun flog sie durch mein Schlafzimmer. Mein Verstand und mein Herz verschmolzen in dem Glauben an dieses Zeichen. Nur Mike hätte diesen Sinn für Humor
gehabt, die schmutzige Krähe als seinen Abgesandten zu schicken. Die Uhr tickte weiter, und ich fing an zu verstehen, daß Mike in einem Prozeß begriffen war, über den ich nichts wußte. Und ich begann mich zu fragen, ob die Frage nach einem Zeichen immer funktionieren würde. Wer ist für all das zuständig? fragte ich mich. Der Wecker schreckte mich um sechs Uhr auf, damit ich mich für die Totenmesse fertig machen konnte. Ich weinte stumm - diesmal nicht wegen Mike, sondern wegen dem, was Gil und ich nicht gemeinsam haben. Wir sind ein Ehepaar, doch wir sind uns nicht nahe. Wir unterstützen uns gegenseitig als Freunde, aber wir empfinden keine Leidenschaft füreinander. Ich überraschte mich selbst mit dem Versprechen, daß ich nicht sterben würde, bevor ich nicht gelebt hätte. Gil rollte sich herum und erinnerte mich daran, daß ich mich entscheiden müsse, was ich bei der Trauerfeier anziehen wolle. Wen interessiert das? war mein erster Gedanke. Ich sah auf meine zerknitterten Kleider, in denen ich geschlafen hatte, dann fielen mir wieder die Taube und die Krähe ein. Ich erzählte Gil von ihnen. Er bestand darauf, daß die beiden Produkte meiner Einbildung seien. »Sie waren real«, sagte ich laut, halb hoffend, die Stärke meiner Stimme würde ihn überzeugen. Er reagierte nicht darauf. Als ich mein leuchtend orange-rot-grünes HerbstblattKleid anzog, fühlte ich mich von dem weißen Licht der letzten Nacht erfüllt. Etwas hatte sich verändert, und ich war anders. Vor drei Monaten war ich mir in meinem neuen Körper ohne Eierstöcke und Gebärmutter wie eine Fremde vorgekommen - eine Fremdheit, die schnell vorüberging. Würde auch dies vorübergehen, oder würde es für den Rest meines Lebens bei mir bleiben? Wir ließen Kelli-Lynne im Haus der Nachbarn und erklärten, wir würden Mike auf Wiedersehen sagen. Ich fragte mich, ob wir das Richtige taten, wenn wir sie nicht mitnahmen, doch sie lauerte nur darauf, mit ihren Freunden
zu spielen, und küßte mich glücklich zum Abschied. Gil und ich trafen dreißig Minuten vor der Totenmesse ein, die um acht Uhr beginnen sollte. Männer in schwarzen Anzügen öffneten die Türen und winkten uns in den Raum. Ich sah auf Mike in seinem Sarg hinab, auf dem genau wie auf den Taschen aus dem Krankenhaus auch »Eigentum des Patienten« hätte stehen können. Wenn ich mich sehr anstrengte, konnte ich mich mit seinem Geist in Verbindung setzen, aber ich spürte keine Verbindung zu seinem Leichnam. Nach und nach betraten Verwandte und Freunde den großen Raum und gingen auf den Sarg zu, als ob Mike dort wäre. Mit der Ankunft der beiden Priester begann das Abschlußritual. Von Gil und meiner Mutter flankiert, fühlte ich mich von der Mischung der Religionen angerührt und beruhigt. Die Botschaften waren einfach: loslassen, heilen, weiterlieben und wachsen und das Leben ehren, das zum Tode führt. Ich beugte mich hinüber und flüsterte meiner Mutter zu: »Denk daran, denn Ostern kommt bald.« Sie nickte, aber ihre Augen blickten verständnislos. War ich die einzige, die verstanden hatte? Das Vaterunser zeigte mir, daß der Gottesdienst zu Ende war. Die Leute stellten sich hinter uns auf, um ein letztes Mal Mikes Leichnam anzusehen. Sie unterbrachen sich, um mit uns zu reden. Ich war reserviert und fühlte mich wie eine Zuschauerin, bis Mikes Klassenkameraden den Seitengang herunterkamen. Dann stöhnte ich. Ich bemühte mich sehr, jeden Muskel an ihren Körpern zu sehen, jedes Ansteigen und Abfallen ihres Atemholens. Als ich ihre Augen suchte, entdeckte ich sowohl Schrecken als auch Zärtlichkeit - die sie empfanden, da sie die Totenfeier von jemandem besuchten, der noch zwei Tage zuvor zusammen mit ihnen in der Klasse gesessen hatte, mit ihnen die Ausgelassenheit in der Cafeteria geteilt und sich über die anstrengenden Leistungen, die ihr Trainer ihnen abverlangte, beschwert hatte. Ich ging als letzte zum Sarg und war mir bewußt, daß ich meinen Sohn nie wiedersehen würde. Ich hatte nichts
zu sagen, nichts mehr zu geben. Meine Mutter kam zu mir und küßte Mike. Ich mußte das nicht jetzt tun, denn ich wußte, Mike war nicht in seinem Körper. Um acht Uhr siebenundvierzig ging ich hinaus, ohne mich umzudrehen. Da Mike eingeäschert werden sollte, würde es keine Beerdigung geben. Statt dessen sollten sich die Verwandten und die Freunde in unserem Haus versammeln. Gil nahm meinen Arm und führte mich zum Wagen. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte er. »Fahren wir heim.« Ich wußte nicht, was ich jetzt, da die Zeremonie vorbei war, tun sollte. Würde es plötzlich Klick machen, und ich wäre wieder Rosie, die Person, die ich vor Mikes Tod gewesen war? Mehrere von Mikes Freunden standen an der Ecke und warteten bewegungslos, bis wir vorbeigefahren waren, bevor sie zur Schule zurückgingen. Als ich mir die Tränen aus den Augen wischte, hatte ich den Drang, auszusteigen und sie alle zu umarmen und ihnen zu sagen, sie sollten vorsichtig sein, da das Leben wertvoll ist. Statt dessen blickte ich zu ihnen hin, und in ihren Augen sah ich, daß sie das Leben und auch die Plötzlichkeit des Todes begriffen. Wir alle waren vom Tod berührt worden. Wir waren älter - nicht mehr unschuldig. Zu Hause unterhielten sich die Leute über Mike und füllten ein unsichtbares Album der Erinnerungen. Jeder hatte eine Lieblingsgeschichte zu erzählen. Wenn wir ihn nur wieder zum Leben erwecken könnten, indem wir all unsere Erinnerungen in einen Topf werfen, dachte ich. »Mike hätte bei diesem Essen kräftig zugelangt«, murmelte ich zu meiner besten Freundin. »Wenn er da wäre, würde es nicht reichen«, scherzte mein Vater, und wieder fiel mir ein, warum in meinem Haus so viele Menschen waren. Ich entschuldigte mich, eilte ins Badezimmer, verschloß die Tür, drehte den Wasserhahn voll auf, damit er alle Geräusche übertönte, und übergab mich. Der Briefträger machte drei Stunden früher als gewöhnlich eine Extrarunde. Er dachte, die vielen Karten, die uns geschickt wurden, würden uns trösten. Seine Hände zitter-
ten, als er sie ausstreckte, um den Berg an Post in meinen Armen abzulegen. Gil fing an, die Umschläge zu öffnen, wobei Schecks für unseren Fonds herausfielen. Ich wollte sie mir nicht ansehen. Gil las die Karten und reichte sie herum. Er schaffte es, sich zu beschäftigen. Allmählich gingen die Leute. Das Telefon schwieg still. Exakt um zwei Uhr - zu der Zeit, da die Schule aus war hörte ich Schritte an der Hintertür und sprang automatisch hoch, um Mike zu begrüßen. Vier seiner Freunde, darunter auch Artie B., standen vor der Tür. Ich ließ sie herein und hörte zu, als Artie B. seine Geschichte zum erstenmal erzählte. Nachdem sie seinen Bericht gehört hatten, tauschten die Jungen Geschichten über Mike aus. Ich war fasziniert. Ihre Erinnerungen waren mir vertrauter als die der Erwachsenen, ihre Bilder waren frischer. Ich stellte mir vor, wir seien eine Gruppe von Detektiven, die ein Puzzle zusammensetzten, zu dem jeder von uns ein wichtiges Stück besaß. Wir lachten sogar. Was für eine Erleichterung war es, an Mike in seiner Ganzheit zu denken - an seine Verrücktheit, seine Intensität, seinen Humor und seine Wut. Dazwischen schoß Kelli-Lynne herein und hinaus, froh darüber, mit den Freunden ihres großen Bruders zusammenzusein. Ich bemerkte, es hätte Mike gefallen, zu unserer Versammlung dazuzugehören. Dann bot ein Junge an, bei allem, was bei uns zu tun sei, zu helfen. Ich konnte nicht antworten; ich wußte nicht, was notwendig war. Ich wollte nur Mike haben. Als die Jungen gingen, kuschelte sich Kelli-Lynne auf meinen Schoß und sagte, sie habe unsere Schmusezeit vermißt. Ich fühlte mich schuldig, weil ich unsere spezielle Zeit zu zweit vergessen hatte, und ich war wütend auf sie, weil sie meine Aufmerksamkeit forderte - sie zog mich von meinen Erinnerungen an Mike weg. Wie konnte ich mich um meine beiden Kinder gleichzeitig kümmern? Ich schluckte schwer und war nicht sicher, ob ich versuchte, damit aufzuhören, auf Kelli-Lynne wütend zu sein, oder mich vom Weinen abzuhalten. Ich habe genug Zeit für meine Tränen, wenn Kelli-Lynne schläft, sagte ich mir. Ich
drückte sie zu fest, und sie entwand sich mir. Einen Augenblick lang existierten nur sie und ich. Ich wollte eine Garantie, daß ihr nichts geschehen würde. Das Telefon klingelte mitten in diese fixe Idee hinein, mein einziges Kind zu beschützen. Es war mein Bruder, der uns zum Abendessen einlud, und da es mir ein Greuel war, das erste Essen für unsere dreiköpfige Familie zuzubereiten, sagten wir zu. Während ich Kelli-Lynne half, ihr Hemd zu wechseln, fragte sie, was Mikey gewöhnlich gesagt hatte, als er klein war und Hilfe bei seinem Hemd brauchte. Es war die erste einer ganzen Flut von Fragen über ihren Bruder. Ich konnte mich nicht daran erinnern, was Mike gesagt hatte. Kelli-Lynne fragte weiter, zeichnete ihre eigene Landkarte des Verstehens. »Wo war ich, als du, Dad und Mike in Montreal lebten?« Ich erinnerte sie daran, daß sie damals noch gar nicht geboren war. Kichernd meinte sie: »Und jetzt sind du, ich und Dad es - also hast du immer einen von uns gehabt.« Wie einfach sie alles erscheinen ließ. Sie rutschte hin und her, machte sich aus meinem Griff frei, sah mir geradewegs in die Augen und sagte: »Zumindest wissen wir, wo Mike jetzt ist.« Ohne Zögern forderte sie mich heraus: »Du hast mir gesagt, wir würden Mike nie wiedersehen.« »Ja«, sagte ich ruhig. »Ich sagte dir, daß Mike, weil er tot ist, nicht mehr bei uns leben wird und wir ihn nie wiedersehen werden.« »Ich weiß, Mom, aber du vergißt, daß, wenn ich sterbe und bei Gott leben werde, Mike dort sein wird, denn ich weiß, wo er jetzt lebt.« Ich war sprachlos. War dies die Stimme einer Zweieinhalbjährigen? Sie hatte ihre eigenen Zusammenhänge geknüpft und sich ihre eigene Bedeutung erarbeitet. Ich zitterte, als ich erkannte, daß in den fünf Minuten, die ich von der Unterhaltung mit meiner Tochter beansprucht gewesen war, Mikes Tod in den Hintergrund getreten war. Noch immer empfand ich keine Erleichterung. Ich mußte die Gewißheit haben, daß meine Tochter, wenn ich sie
noch mehr lieb hatte, nicht auch noch sterben würde. Einen weiteren Todesfall würde ich nicht durchstehen können. Der nächste Morgen war der erste ohne festes Programm oder Besuche, die uns ablenkten. Wir waren zumindest für eine Weile eine Dreierfamilie. Kelli-Lynne plumpste noch vor Sonnenaufgang auf unser Bett. Sie legte die Hände um mein Gesicht und sagte: »Mom, ich bin wütend auf Gott, weil er Mike weggeholt hat.« Bevor ich antworten konnte, fuhr sie fort. »Ich hätte Mike Penicillin gegeben, wenn er hier gewesen wäre. Hat Gott Medizin?« Ich versuchte, wach genug zu werden, um ihr so ehrlich wie möglich zu antworten, und erwiderte: »Mike konnte keine Medizin helfen. Er war zu schwer verletzt, und es war zu spät, um ihm eine Medizin zu geben.« Ich hörte nicht auf und sah ihr forschend ins Gesicht, um herauszufinden, wie tief ihr Verständnis reichte. »Ich weiß nicht, ob Gott Medizin hat, aber ich stelle mir vor, Mike braucht sie nicht. Gott heilt ohne Medizin.« Sie fragte ernsthaft: »Glaubst du, Mikey ärgert Gott genauso, wie er mich immer ärgert?« »Was glaubst du?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen und mich von der vorhergehenden Frage zu erholen. Sie machte weiter. »Glaubst du, Gott ist ein Junge oder ein Mädchen oder ein Mann oder eine Frau?« Müde antwortete ich: »Wenn ich an Gott denke, stelle ich mir einen Mann vor.« »Gut. Das würde Mike gefallen.« Dann umarmte sie mich, rollte sich neben mir ein und meinte: »Wenn Mikey nichts mehr weh tut, bin ich froh, daß er bei Gott ist.« Ohne ein weiteres Wort schlief sie ein. Gegen vier Uhr klingelte es an der Tür. Es war Peggy, eine Frau, die ich vor sechs Monaten bei einem Workshop kennengelernt hatte. Sie wußte nichts von Mikes Tod, und zum erstenmal erzählte ich die ganze Geschichte. Ich hatte nicht gewußt, daß ihre Tochter bei einem Unfall mit Fahrerflucht vierzehn Jahre zuvor ums Leben gekommen
war. Wir hielten einander und weinten zusammen - zwei Mütter, die ihre Kinder betrauerten. Peggy war die erste Person, mit der ich sprach, die den Tod eines Kindes erlebt hatte. Als ich mir ihre Geschichte anhörte, fühlte ich mich, als würde ich von einer weisen Frau unterrichtet, die die Autorität der Erfahrung besaß. Ihre Anwesenheit hielt mich aufrecht. Sie war aus einer Laune heraus von Massachusetts nach Maine gefahren, weil sie von mir eine Zeitlang nichts gehört hatte, und ihr Timing hätte nicht perfekter sein können. Ich mußte unbedingt von einer anderen Mutter hören, daß es möglich war, das zu überleben. Peggy und ich sprachen sanft über die Zwecklosigkeit der Frage nach dem Warum, die Notwendigkeit des Trauerns und meine Erfahrung von Mikes Energie. Ich erzählte ihr von der Taube und der Krähe, und sie erzählte mir, ich müsse mir etwas Gutes tun. Sie riet mir, kleine Schritte zu machen und es zu vermeiden, schnelle oder endgültige Entscheidungen zu treffen. Sie legte Gil und mir auch ans Herz, einen objektiven Menschen zu suchen, der uns anleiten konnte, unser Leben wieder zusammenzusetzen. Dann sagte ich ihr, wie selbstgefällig ich mir vorgekommen war, als ich mich von der Totaloperation erholt und geglaubt hatte, irgendwie hätte ich mir nun das Recht gesichert, meine Kinder und deren Kinder großwerden zu sehen. »Peggy«, fragte ich, »glaubst du, daß der Tod sich an uns heranschleicht, sein Spiel mit uns treibt, uns Chancen eröffnet?« Der Briefträger unterbrach unser Gespräch mit einem weiteren Stapel Karten. Ich drängte Peggy zu bleiben, doch sie bestand darauf, Gil und ich bräuchten Zeit für uns. Als sie nach draußen ging, stieß sie fast mit Artie B.s Vater Art zusammen, der gerade auf die Tür zuschritt. Art überreichte uns einen vierseitigen Bericht, den Artie für das Elektrizitätswerk verfaßt hatte. Er sagte, wenn wir vorhätten, die Firma zu verklagen, würde er den Bericht nicht weitergeben. »Wir werden nicht klagen. Es ist sinn-
los, einen Preis für Mikes Leben festzusetzen. Das Geld wäre wertlos. Außerdem kann ich es nicht ertragen, diese schwere Prüfung noch zu verlängern. Die Wunden könnten nicht heilen; es gäbe Zeugenaussagen, Erinnerungen, die nicht ruhen würden, und ich weigere mich, mir diesen Aufwand an Energie anzutun. Mike ist tot. Warum sollen wir uns und Artie B. und die Gemeinde quälen?« Ich seufzte. »Vor allem will ich heil werden, mich erholen, weiterleben. Das kann ich nicht, wenn ich mich an Gerichtsprozesse verschwende.« Plötzlich lichtete sich der Nebel, der mich fast drei Tage lang eingehüllt hatte. Art ging mit Tränen in den Augen rückwärts zur Tür. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Sie sind etwas Besonderes. Sie haben sich um unseren Sohn Sorgen gemacht, als Sie erfuhren, daß Ihr eigener Sohn tot war. Ich konnte es nicht fassen. Und jetzt entscheiden Sie sich gegen eine finanzielle Entschädigung, damit Ihre Wunden heilen können.« Ich wollte ihm noch sagen, daß wir gar nichts anderes tun konnten, doch er stolperte aus der Tür und nahm zwei Stufen auf einmal. Ich konnte mir nur vorstellen, was seine Familie durchmachte. Beide, Artie B. und sein Bruder Scott, waren gute Freunde von Mike gewesen, und nun gab Scott Artie B. die Schuld an Mikes Tod. Ich konnte nichts weiter tun als versuchen, die Vergangenheit loszulassen. Das Elektrizitätswerk zu verklagen war nicht die Lösung. Ich wandte mich von der Tür ab und setzte mich hin, um ein paar Karten zu lesen. Die Worte kamen mir wie beruhigende Umarmungen vor: »In den Herzen und Erinnerungen jener, die wir liebten und die uns liebten, weiterzuleben ist nur ein Weg, auf dem wir das ewige Leben erlangen.« »Ich las die Meldung über den Tod Ihres Sohnes in der Zeitung, und ich dachte, ich müsse Ihnen eine Karte schicken. Ich kenne Sie nicht, aber es tut mir leid für Sie.« »Wir erinnern uns noch gut an Mike aus dem Ferienlager. Mein Sohn hatte ihn gern und nannte ihn ›Pfirsich-
flaum‹. Ich weiß noch den Tag, an dem er einen Aal aus dem Strom zog. So ein begeisterter und liebenswerter Junge…« »Mike war ein besonderer Mensch. Ich kann mir nicht helfen, ich denke einfach, er tat, was er hier tun mußte, und nun ist es an der Zeit, daß er woanders ist. Ich bin sicher, Sie werden ihn wiedersehen.« »Ich wollte Sie anrufen, um Ihnen zu sagen, was für einen feinen Sohn Sie großgezogen haben. Wir mochten Mike wirklich, und die liebevolle Fürsorge, mit der er erzogen wurde, war in allem, was er tat, zu erkennen.« »Ich erinnere mich, daß ich stets beeindruckt von Ihrem grundlegenden Optimismus in bezug auf die Menschen und das Leben war. Ich hoffe wirklich, diese besondere Gabe ist Ihnen in dieser äußerst schweren Zeit eine Hilfe.« Wieder wurde ich von der Pflicht, das Abendessen zuzubereiten, entbunden, denn wir fuhren weg, um meine Eltern zu besuchen. Kelli-Lynne spielte, während wir uns unterhielten. Als sich das Gespräch der abgerissenen Stromleitung zuwandte, explodierte mein Vater. Er war wütend, daß wir nichts vom Elektrizitätswerk gehört hatten. Und er war wütend auf uns, weil wir beschlossen hatten, nicht gerichtlich gegen es vorzugehen. »Ein Prozeß ist genau das, was sie verdienen«, fauchte er. »Ich nicht. Mike nicht«, erklärte ich sanft. »Ich will nicht, daß noch mehr Kinder einen Stromschlag erleiden. Eine Aufklärungskampagne wäre angebrachter als ein Prozeß aus Rache«, setzte ich erregt hinzu. Dann sagte ich meinen Eltern, wir planten, Mikes Asche am vierten Mai am Strand zu verstreuen - an dem Tag, für den er zur Feier seines fünfzehnten Geburtstags seine erste Party mit Mädchen geplant hatte. Wir hätten uns, erklärte ich, für den Strand im Two Lights State Park entschieden, der uns allen vieren viel bedeutete. Mom war gegen das Verstreuen von Mikes Asche im Two Lights. »Da können wir ihn nicht besuchen«, stöhnte sie. Dann fragte sie, ob wir nicht darüber nachdenken
wollten, die Asche an drei verschiedenen Orten zu verstreuen. Ich wollte, daß die ganze Asche von Mike an ein und demselben Ort verstreut würde - im Ozean, den er so liebte. Mit einer Kraft, von der ich nicht wußte, daß ich sie besaß, sagte ich, ich würde nicht die Asche teilen, die einmal Mikes Körper gewesen war. Irgendwo tief in meinem Innern stieg der Rat auf: Bleib fest in deinem Entschluß. Die Entscheidung lag bei mir; er war mein Sohn. Die Unterhaltung trieb in Erinnerungen ab. Wir sprachen drüber, daß Mike sich in den letzten drei Wochen seines Lebens ganz anders verhalten hatte. Alle waren gern mit ihm zusammen gewesen. Es erschien uns allen, als habe er die Verdrossenheit und diese Du-kannst-mir-gar-nichtssagen-Haltung abgelegt, die ihn in seinem fünfzehnten Lebensjahr größtenteils beherrscht hatten. Wie überrascht war ich gewesen, als er seiner Schwester zum erstenmal seit Monaten einen Gute-Nacht-Kuß gegeben hatte und als ich von seinen detaillierten Planungen für die Überraschungsparty anläßlich meines Geburtstags erfuhr. An die Stelle seines Schmollens waren Gespräche getreten. Allen war die Veränderung aufgefallen, doch wir wagten es nicht, sie anzusprechen, aus Angst, einen Rückfall zu provozieren. Die letzte halbe Stunde von Mikes Leben war von Spaß und Liebe erfüllt gewesen. Er, Kelli-Lynne, Artie B. und ich hatten selbstgebackene Cracker gemampft und gekichert. Die Jungs hatten versucht zu entscheiden, wie sie das Geld verwenden sollten, das sie an jenem Morgen mit Schneeschippen verdient hatten. Sie erwogen verschiedene Möglichkeiten: mit dem ganzen Betrag eine Party zu geben, eine neue Angelrute zu kaufen oder mich in einen Kochkurs zu schicken, damit das Brot, das ich zu backen versuchte, nicht mehr in Crackern recycelt würde. Was für eine Erleichterung war es, zu scherzen anstatt zu streiten. Im Rückblick scheint es, als habe der Tod gewartet, bis Mike eine positivere Einstellung gewonnen hatte.
Wir unterhielten uns mit meinen Eltern so lange, daß wir beschlossen, bei ihnen zu übernachten. Erinnerungen, entdeckte ich, schlafen nicht. Im Gästezimmer - meinem alten Schlafzimmer - wurde ich von einem Bild von Mike begrüßt, auf dem er zwanzig Monate alt war. Ich weinte. Am nächsten Tag lernte ich am Strand, daß Tränen nicht gefrieren. Kelli-Lynne war voller Leben und Unschuld. Mom bemerkte, daß der Frühling komme, und wirklich: Die Knospen an den Bäumen signalisierten, daß sich eine neue Jahreszeit entfaltete. Dennoch konnte ich mich nur auf meinen toten Sohn konzentrieren. Kelli-Lynne erinnerte mich an meine eigene Jugend und Unschuld und die Stunden der Freiheit, die ich beim Spielen am Strand verlebt hatte, doch in meinem Herzen blieb es Winter. Später trafen wir Freunde zu unserem traditionellen Sonntagsfrühstück auf der Terrasse. Unsere Töchter hüpften auf und nieder, als sie sich sahen. Zermürbt, weil KelliLynne ihre Unterhose auf der kurzen Fahrt eingenäßt hatte, fiel ich in mich zusammen. Joan zog Kelli-Lynne um, nachdem sie mir eine Tasse Kaffee gereicht hatte. Marge ergriff meine Hand. Ich fühlte mich von meinen engsten Freundinnen getrennt, als wäre ich mit einem leuchtenden Symbol gebrandmarkt, das aller Welt verkündete, daß ich die Mutter eines toten Sohnes war. Ich sah mich um, um herauszufinden, ob jemand mich mit meinem gebrandmarkten Herzen anstarrte, aber das tat keiner. Ängstlich tastende Gefühle waren mir mittlerweile vertraut, und ebenso die Fluten unausgesprochener Fragen. Wann wird die Anspannung verschwinden? Wie fange ich zu reden an? Wieviel wollen sie denn hören? Ist es schmerzlich für sie zuzuhören, zu denken, daß es eines ihrer Kinder hätte sein können, das starb? Der Tod ist ein Eindringling, er befällt die ganze nähere Umgebung. Mikes Tod drang in das Leben von uns allen ein. Ich fragte mich, worüber ich noch reden konnte, ohne zusammenzubrechen. Jemand sagte zu den Kindern, sie sollten nach oben gehen. Sarah, Joans zweieinhalbjährige Tochter, stellte
sich vor mich hin, damit ich sie hochhob. Sie flüsterte mir ins Ohr: »Mike ist tot, weißt du.« Ich umarmte sie fest und sagte: »Ich weiß.« »Jetzt werden wir alle viel mehr Speck bekommen, denn Mike hat immer das meiste davon gegessen.« Marge umarmte mich und begann zu weinen. Wir seufzten alle, und dann erzählten unsere Freunde von dem Mike, den sie gekannt hatten. Don und Dave dachten an ihre vielen Angelausflüge zurück und daran, wie aufgeregt Mike gewesen war, als er einen fast sechs Pfund schweren Blaubarsch gefangen und zubereitet hatte. Sie erinnerten an Mikes Angewohnheit, völlig überzogene Preise an den Krimskrams zu heften, den er auf den Flohmärkten der Umgebung verkaufen wollte, und an sein Schmollen, wenn die Interessenten weniger boten. Wir Frauen unterhielten uns darüber, wie abstoßend und unnatürlich er es gefunden hatte, daß wir unsere Babys stillten. Joan erinnerte sich lachend daran, wie stur und gleichgültig er sich an jenem Abend verhalten hatte, als wir ihm ein Essen in einem seiner Lieblingsrestaurants spendiert hatten. Er wollte sich einfach nicht amüsieren. Gil und Don dachten an den Tag zurück, als Mike und Artie B. dreißig Kilometer mit den Rädern bis zum Haus meiner Eltern geradelt waren, um zu beweisen, daß sie es schafften. Wir lachten darüber, wie besorgt ich gewesen war. Vier Stunden nach ihrer Abfahrt hatten sie angerufen und verkündet, daß sie angekommen waren. Als Gil und ich hinausfuhren, um sie abzuholen, war ich wütend, als ich an den belebten Highway dachte, den sie entlanggefahren waren. In dem Augenblick, als ich Mike sah, fing er an, mit seiner Leistung zu prahlen - das Adrenalin rauschte noch durch seinen Körper - und von seiner Verwirrung über meine Wut zu reden. Er hatte sich einen Traum erfüllt und Lob erwartet; und ich reagierte auf einen Alptraum, der nicht Wirklichkeit geworden war. Es war unmöglich, Mike auf ein Podest zu stellen. Er war eine starke Persönlichkeit und mußte das unweigerlich
immer wieder zum Ausdruck bringen. Jeder von uns hatte beobachtet, daß er mit kleinen Kindern keine Geduld hatte, kannte seinen Widerwillen, einen Rat anzunehmen, seine waghalsige Art, seine Individualität durchzusetzen, und seine Bemühungen, auszubrechen, damit er ganz er selbst sein konnte. Und wir lachten darüber, daß er unablässig unsere Mädchen geärgert hatte. Marge erinnerte mich daran, wie sehr ich es haßte, Maßregelungen zu erteilen. Das stimmte, aber ich wußte, daß es Mike am Verständnis der Grenzen mangelte und daß er jemanden brauchte, der ihm Grenzen setzte. Ich dachte an die vielen Male zurück, die ich ihn bestraft hatte, und wie oft ich meine Strenge bereut hatte. Doch ich hatte keine Wahl gehabt. Und letztlich hatte ich recht: Sein Mangel an gesundem Menschenverstand hatte ihn getötet. Nur hatte ich diesmal nicht die Genugtuung zu sagen: »Ich hab's dir ja gesagt. Genau das hatte ich befürchtet.« Als die Kinder Hunger hatten, gingen wir auf unsere Posten, wie wir es schon so oft getan hatten. Eine preßte frischen Orangensaft aus, die andere bestrich Bagels mit Butter. Ich maß Kaffeepulver ab und begann den Speck zu braten. Marge schlug die Eier auf. Dave und Don deckten den Tisch auf der Terrasse. Unsere Vorbereitungen für das Frühstück waren so automatisch geworden, daß Dave sogar einen zusätzlichen Teller auf den Tisch stellte. Das fiel keinem auf, bis wir uns hinsetzten. Der Teller stach uns förmlich ins Auge. Wortlos kamen wir überein, ihn stehen zu lassen. Auch hatte keiner von uns daran gedacht, die Portionen zu ändern, und deshalb hatten wir eine Menge Reste. »Mike hatte einen riesengroßen Appetit«, staunte ich, als wir mit dem Essen fertig waren. Auszusprechen, was ich dachte, empfand ich als »gesund«; es hätte mich verrückt gemacht, wenn ich weiter alle Kommentare für mich behalten hätte. Das Gespräch wandte sich dem Gemeinschaftsgarten zu. Mike hatte Samen bestellt, etikettiert und in seinem
Zimmer aufgestellt. Nicht nur das, er hatte auch eine Karte gezeichnet, die zeigte, an welcher Stelle er ausgepflanzt werden sollte. Er war uns allen weit voraus. Während die anderen am Tisch über die Pflanzen für den Garten sprachen, wurde mir klar, wie sehr ich mir wünschte, Mikes Saat umzutopfen. Doch da ich nicht in der Lage war, die Aufgabe allein zu bewältigen, bat ich Joan und Marge, mir zu helfen. Wie würde es sein, das Gemüse zu essen, dessen Anpflanzung er begonnen hatte? Ich konnte meinen Sohn nicht retten, entschied ich, aber ich konnte dafür sorgen, daß die Samen, die er gepflanzt hatte, am Leben blieben. Zumindest sie würden blühen. »Der Frühling ist nun wohl da«, sagte ich langsam, »und das war immer meine liebste Jahreszeit. Jetzt hat sich Mikes Tod vollkommen mit dem Frühjahr vermischt. Die Samen, die er gepflanzt hat, und sein Tod sind für mich völlig miteinander vermengt.« Kelli-Lynne kam herbei und patschte mir auf den Po. Sie fragte, ob ich Mike vermißte. »Ja«, antwortete ich. »Oh«, sagte sie, »aber du erstickst nicht.« Gegen Mittag gingen wir nach Hause. Nachdem wir Kelli-Lynne zu einem Mittagsschläfchen ins Bett gelegt hatten, waren Gil und ich allein. Ich seufzte. Als Antwort sagte Gil, er wolle hinausgehen, um Holz zu stapeln. Ich stand auf und sah mein Bild im Spiegel über dem Kaminsims. Ich starrte auf mein Gesicht. Meine Augen waren weit aufgerissen und eingesunken. Dunkle Ringe zogen in meinem ansonsten ausdruckslosen Gesicht Furchen. Mein Haar war ungekämmt und fettig, meine Kleider zerknittert. Zum erstenmal seit fünf Tagen sah ich mich selbst. Warum hatte mir niemand gesagt, wie grauenhaft ich aussah? Ich blickte vom Spiegel zu den Fotos von Mike. Unsere Augen sahen gleich aus, nur funkelten die seinen, und meine waren matt geworden. Ich zog mich ins Badezimmer zurück, drehte das Badewasser auf, goß eine großzügig bemessene Menge Bade-
schaum ein, zündete meine Lieblingskerze an und tauchte in das duftende Wasser ein. Der Duft der Badeperlen erinnerte mich an die duftgeschwängerte Luft bei der Totenwache. Ich sank tiefer ins Wasser. Langsam wusch ich mich. Meine Bewegungen waren nicht mehr automatisch: Ich sah mir dabei zu, wie ich darum rang, mich daran zu erinnern, wie man ein Bad nimmt. Nachdem ich mich angezogen hatte, rief ich meine Freundin Anne in Ohio an. Es war Zeit, meine Tragödie anderen mitzuteilen. Als sie sich meldete, platzte ich sofort heraus: »Mike ist tot.« Ich wiederholte den Satz und wappnete mich für ihre Reaktion, aber ich hörte nur Schweigen. Ich wußte, daß Anne an den Tod ihres ersten Ehemanns zurückdachte, dem bald darauf der Tod ihrer zehnjährigen Tochter folgte. Schließlich sagte Anne: »Ich war am Freitag in Buffalo, New York, und wäre fast nach Maine gefahren, um dich zu besuchen. Ich rief mehrmals an, aber bei euch war immer besetzt.« Sie fuhr fort, von ihren Erfahrungen mit dem Tod zu erzählen. Während ich ihr zuhörte, fühlte ich mich in einen eingeweihten Zirkel aufgenommen - eine Reaktion ähnlich der, die ich empfand, wenn ältere Frauen sich von ihren Totaloperationen erzählten. Aber, so fragte ich mich, muß es denn stets eine Vereinigung des Leids sein? »Verdammt, das ist nicht das, was ich vorhatte«, sagte ich. »Was habe ich falsch gemacht?« Dann log ich und erzählte Anne, ich hätte Mikes Tod akzeptiert. Ich wollte damit nur sagen, daß ich die Totenmesse überlebt hatte, daß ich ihn begraben hatte. Nein, rief ich mir ins Gedächtnis, das ist auch nicht wahr. Seine Asche wird erst in einem Monat verstreut. Verdammt, ich weiß nicht, was ich damit meine. Annes Stimme brachte mich zu unserem Gespräch zurück. »Rosie, du solltest nie das Gefühl haben, daß du seinen Tod akzeptiert hast.« Als ich nicht antwortete, bot sie an, zu mir zu kommen, aber ich wollte nicht noch einem Menschen gefallen müssen. Wichtiger noch, ich hatte Angst, ein emotionaler
Krüppel zu werden; ich wollte zur Normalität zurückkehren. Ich sagte, als läse ich es von einem Blatt ab: »Ich weiß, die Heilung muß von innen kommen, und ich will mich im Augenblick an niemanden anlehnen.« Ich hängte ein in dem Wissen, daß Anne gerade andere Freunde alarmierte, die sich bald melden würden. Rasch rief ich Bill an, den ich kennengelernt hatte, als ich am CPSI, dem Creative Problem Solving Institute in Buffalo, lehrte. Wie sollte ich es ihm sagen? Wie würde er reagieren? Ich brauchte mir darüber nicht weiter den Kopf zerbrechen - ich hörte seine Stimme vom Band. Ich hinterließ meinen Namen, meine Telefonnummer und eine kurze Nachricht: »Dringend.« Ich hatte Bills zwei Töchter kennengelernt, aber er hatte Mike nicht gekannt. Und nun würde er es auch nie mehr können. Was will ich eigentlich von Bill? Er soll es einfach wissen, entschied ich. Das reicht. Als das Telefon klingelte, war ich froh, Bills Stimme zu hören. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, was passiert war, explodierte er: »Verdammt noch mal!« Auf die nachfolgende Tirade von Schimpfwörtern war ich nicht vorbereitet. Sein Schreien erschreckte mich und erinnerte mich daran, daß ich meine eigene Wut nicht zum Ausdruck gebracht hatte. Ich hörte ihm zu, wand mich innerlich und wußte, wenn ich auf Bills Weise trauerte, würde ich aus tiefstem Innern stöhnen und schluchzen und schreien und schlagen, bis ich umfiel. Ich wollte ihn mit einem »Aber was ist mit mir?« unterbrechen. Er mußte meine Gedanken gelesen haben. Seine Stimme wurde sanfter, als er sagte: »Rosie, ich möchte meine Hand ausstrecken und dich berühren und mit dir am Strand spazierengehen und ein Bier trinken.« »Ich auch«, flüsterte ich, von diesem Bild getröstet. Er versprach, mir Energie zu senden. Ich tätigte noch einen weiteren Anruf - an Bob, meinen Coautor bei einem Buch, das wir für Lehrer schreiben wollten. Unser Arbeitsplan für das Buch, das wußte ich, mußte nun geändert werden. Wie konnte ich mich aufs
Schreiben konzentrieren, wenn ich nicht einmal mehr wußte, wie man ein Bad nimmt? Bob explodierte nicht und gab mir auch keine Ratschläge. Er sagte, er sei geschockt und besorgt und würde die Konzepte von vier Kapiteln wie geplant schicken. Seine Art zu trauern war es, weiterzuarbeiten. Ich sagte ihm, ich würde versuchen, meinen Teil fertigzustellen, aber ich versprach nichts. Alle, mit denen ich bis dahin gesprochen hatte, kannten ein Mittel gegen Schmerz. Ich schwankte hin und her, ob ich sie alle gleichzeitig schlucken oder mich weigern sollte, auch nur eines davon auszuprobieren. Ich hatte keine Ahnung, worin meine eigene Arznei bestand. In der Zwischenzeit hielt ich mich in Bewegung. Zumindest die Bewegung steuerte dem Tod entgegen. Ich war dankbar, daß ich am Spätnachmittag zu einer einundachtzigjährigen Frau, die ein Stück die Straße entlang lebte, Tee trinken gehen konnte. Mike hatte immer ihre Einfahrt freigeschaufelt. Sie erzählte mir vom Tod ihres Mannes und ihrer Tochter und wie sie damit zurechtgekommen war und sich verändert hatte. Sie sagte, die Leere in ihrem Herzen sei nie mehr ganz verschwunden. Ihre Weisheit machte mich ruhig. Bis dahin hatte ich mich fest an die Vorstellung geklammert, irgendwann in der Zukunft würde ich vollkommen geheilt sein. Meiner einundachtzigjährigen Mentorin zufolge würde der Schmerz, Mike nicht mehr tagtäglich zu sehen, sich legen, doch ich würde nie in der Lage sein, seine Existenz in mir auszulöschen. Ich hörte konzentriert zu, wurde sanfter und vertraute darauf, daß ich die leere Stelle in meinem Herzen nicht füllen mußte. Für immer würde ein Loch Teil meiner Ganzheit sein. Der Tee wärmte meinen Körper. Ich wurde ruhiger. Zu hören, daß ich nie zu trauern aufhören würde, gab mir die Möglichkeit zu einer Verschnaufpause. Ich umarmte die Frau, als ich ging, und sie lud mich ein, sie wieder zu besuchen, wenn ich mich nach »einem warmen Feuer und heißem Tee mit einer alten Dame« fühlte. Auf dem Heimweg traf ich einige Nachbarinnen, die auf
dem Weg zu meinem Haus waren. Sie sahen mich an, suchten mein Gesicht nach Signalen ab, die ihnen helfen konnten herauszufinden, was sie sagen sollten. Sie gaben mir eine Karte und einen Scheck für den Fonds. Als wir uns noch unterhielten, fuhr eine andere Freundin von mir ihren Wagen in meine Einfahrt. Sie hatte mir eine Pflanze mitgebracht. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Mir fiel nicht mehr ein, wie man ein Gespräch in Gang hält. Wie sollte ich erklären, daß ich manchmal Gesellschaft haben, aber nicht unterhalten werden oder auch nur sprechen wollte? Würden sie mich für verrückt halten, wenn ich sie einlud, mit mir zusammen Musik zu hören? Als ich zu entscheiden versuchte, was ich sagen sollte, bemerkte ich Tim, einen von Mikes Freunden, der auf seinem Fahrrad um das Haus herumfuhr. Ich winkte ihm zu, und er kam heran. Die Frauen sagten auf Wiedersehen und ließen mich allein auf den Stufen stehen. Ich lächelte Tim zu, und er entschuldigte sich dafür, daß er bei Mikes Totenmesse in Ohnmacht gefallen war. »Ich wollte das nicht«, sagte er. »Es ist einfach passiert. Ich bin noch nie im Leben in Ohnmacht gefallen. Ich hoffe, ich habe nicht alles verdorben.« Ich versicherte ihm ruhig, daß er für mich nichts ruiniert habe. Ich hatte den Vorfall nicht einmal mitbekommen, was mich zu der Frage veranlaßte, was ich sonst noch alles verpaßt hatte. Wir sprachen einige Minuten lang über Mike, dann fragte er ein bißchen verlegen, ob er mit KelliLynne spielen könne. »Mike hätte gewollt, daß wir mit ihr spielen, daß wir uns um sie kümmern«, sagte er schlicht. Ich nickte, erfreut über seine Aufmerksamkeit. Bevor er im Haus verschwand, sagte er über die Schulter: »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für komisch oder so, weil ich mit ihr spielen will. Ich weiß nicht, wie ich Mike ›nicht vermissen‹ soll, und mit Kelli-Lynne zusammenzusein ist wie Mike nahe zu sein.« »Komm, sooft du willst«, antwortete ich. »Sie wird begeistert sein.« Während ich ihrem Spiel im Kinderzimmer lauschte, spürte ich, wie ein nagender Schmerz mich
durchzuckte. Warum ist es nicht Mike, der sie hänselt? Ich wollte schreien. Wie einfach konnte ich mir vorstellen, daß die Geräusche, die ich hörte, von Kelli-Lynne und ihrem Bruder stammten! Eingelullt von dem vertrauten Lärmen im Kinderzimmer starrte ich durch das Küchenfenster nach draußen. Die zwei Blumentöpfe, die Mike mir zum dreiunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, rahmten das Fenster auf den Schulhof ein. Die Töpfe, hatte ich zu jener Zeit entschieden, symbolisierten Mikes wachsende Fähigkeit, seiner Liebe Ausdruck zu verleihen. Meine Aufmerksamkeit verlagerte sich vom Fenster auf den Schulhof, in dem nun an der Stelle, wo er gestorben war, Kinder spielten. Ich schwor, Kelli-Lynne würde nie auf diese Schule nebenan gehen. Ich wußte die Karten, Anrufe und Besuche von Mikes Klassenkameraden zu schätzen. Ihr Mut und ihre Einfühlsamkeit hatten mich aufrecht gehalten, und ich wollte öffentlich deutlich machen, wie wichtig ihre Unterstützung für mich gewesen war. Aber warum kann ich andere trauern lassen, fragte ich mich, während ich mir selbst genau das nicht erlaube?
1. April 1977 Der Kalender kündigte eine neue Woche an - eine Woche, deren Verlauf nicht der Tod unterbrach. Ich versprach, diese Woche so normal wie möglich zu gestalten und wieder meinen Gymnastikkurs zu besuchen. Das Autofahren war unheimlich, denn ich mußte mich auf jede Bewegung im voraus konzentrieren. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie ich mich eine Stunde nach Kelli-Lynnes Geburt zum Duschen aufgerafft hatte. Ich hatte mir laut jeden einzelnen Schritt vorgesagt: das Wasser aufdrehen, die Seife auswickeln, einen Waschlappen nehmen, den Körper einseifen. Wie das Trauma der Geburt hatte mich das Trauma des Todes meiner automatischen Reaktionen
beraubt. Da ich mir meiner Grenzen bewußt war, fuhr ich sehr vorsichtig. Ich drehte das Radio an und gefror zu Eis als Reaktion auf die Meldung von einem fünfzehnjährigen Jungen, der von einem Autofahrer, der dann Fahrerflucht begangen hatte, getötet worden war. Ich lenkte das Auto an den Straßenrand; meine Knöchel waren weiß, und meine Finger klebten am Lenkrad. Ich schaute in den Spiegel auf mein totenblasses Gesicht. Hat er leiden müssen? fragte ich mich. Meine Mutter wollte mich im Kurs treffen. Ich hatte versprochen hinzugehen. Doch ich hatte einen richtigen Widerwillen weiterzufahren und auch wenig Lust, zur vertrauten Routine zurückzukehren. Jetzt ist noch eine Mutter zu dem verurteilt, was ich schon durchmache, dachte ich. In dem Kurs war ich anonym. Niemand wußte von Mike. Die vertrauten Gesichter lullten mich in den Glauben ein, daß das Leben weitergehe. Mom und ich hielten die Augen aufeinander gerichtet. Doch nach einer Weile hörte ich, wie sie einigen Frauen anvertraute, daß ihr Enkel gestorben war. Ich schaute weg, als sie auf mich zeigte. Ich respektierte Moms Recht, auf ihre Weise mit ihrem Schmerz umzugehen, aber mir war die Anonymität lieber. Anstatt sie zu bitten, aufzuhören, den Leuten von meinem Sohn zu erzählen, strampelte ich mit den Beinen, bis sie schmerzten. Das Drehen und Dehnen tat gut. Ich löschte alle Gedanken aus, indem ich mich auf die Übungen konzentrierte, die mir früher so vertraut wie das allmorgendliche Heraushängen der Kleider für die Kinder gewesen waren. »Disziplin ist wichtig«, sagte ich laut und erkannte plötzlich, wie sehr ich mich innerhalb einer Woche verändert hatte. Nach dem Kurs beschäftigte ich mich im Haus. KelliLynne und ein Freund spielten im Sandkasten mit einem Arche-Noah-Spiel, das ich ihr am gleichen Tag bestellt hatte, als ich auch die Bestellung des »Leben«-Spiels für Mike aufgegeben hatte. Ich besorgte inzwischen das
Staubsaugen, den Abwasch und das Waschen der Schmutzwäsche. Die Routine nahm all meine Konzentration in Anspruch. Damit ich meinen Schmerz nicht fühlte, sagte ich zu mir selbst, ich würde für immer den Tisch für drei decken. »Für immer« erinnerte mich an all die Wörter, die ich aus meinem Wortschatz verbannt hatte - Wörter wie »Garantie«, »Glück«, »normal« und »Hoffnung«. Ich war immer idealistisch gewesen. Ich hatte früher einen Sohn. Ich pflegte in einer Gegenwart zu leben, die eine Zukunft hatte. Nun habe ich keinen Sinn für Versprechungen mehr. Als zu Hause alles blitzte, war es an der Zeit, zur Schule zu fahren, die Mike seit drei Jahren besucht hatte. Ich wollte, daß seine Klassenkameraden erfuhren, daß ihr Mut, zur Gedenkfeier zu kommen, mir die Kraft gegeben hatte, sie durchzustehen. Ich hatte versucht, jedem von ihnen einen Brief zu schreiben, doch mein Herz rebellierte gegen das Unpersönliche. Daher die Mission des Tages: unseren Dank über das Lautsprechersystem zu verkünden. Als Gil und ich durch die quietschende Vordertür gingen, mußte ich an die vielen Male denken, die ich dieses Gebäude bereits betreten hatte: Mike hatte das Geld fürs Mittagessen vergessen oder ein Schulbuch oder seine Badesachen am Tag eines Schwimmwettkampfes. Ich konnte mich beinahe in den Glauben hineinsteigern, daß dies auch nur ein »Notbesuch« in der Schule war, aber meine Schultern waren schwer, mein Herz klopfte wie eine Trommel und mein Hals war trocken. Es war knapp vor Schulschluß. Die Teenager standen in kleinen Gruppen in den Korridoren zusammen. Ruhig fragte ich Gil, ob er ein paar Worte vorbereitet habe. Er antwortete nicht. Es erschien seltsam, daß wir bei der Entscheidung, den Klassenkameraden von Mike Dank zu sagen, nicht besprochen hatten, welche Botschaft wir vermitteln wollten. Der Direktor begrüßte uns und versuchte, es uns leicht zu machen. Er gestand, daß unsere Bitte, zu den Schülern
zu sprechen, für ihn eine Überraschung gewesen sei. Dann verlas er mehrere Durchsagen, während ich betäubt und verängstigt wartete und mir fortwährend einredete, daß ich das, was ich sagen wollte, nicht herausbringen würde. Der Direktor wandte sich uns zu. Gil sprach als erster, und seine Stimme klang fest und stark. Ich war stolz auf ihn. Als er geendet hatte, gab er mir ein Zeichen. Ich versuchte, aus dem Herzen zu sprechen. Ich kann mich nicht an meine Worte erinnern, doch als ich mich umsah, weinten der Direktor, die Sekretärinnen und einige Schüler. Unser nächster Halt war Mikes EnglischKlassenzimmer, um einen autobiographischen Aufsatz abzuholen, den er geschrieben hatte. Im Korridor verblüffte mich, daß alles so ruhig war: keine Ausgelassenheit, keine aufgeregten Stimmen, keine zum Bus um die Wette laufenden Kinder. Artie B.s Bruder Scott hatte an der Bürotür gewartet, um uns zu Mikes Klassenzimmer zu führen; dann wartete er draußen, um mit uns heimzugehen, womit er stillschweigend sagte: »Ich bin da. Ich bin nicht Mike, aber ich bin da.« Ich sehnte mich danach, Mikes Aufsatz sofort zu lesen, aber Gil und ich mußten noch einen weiteren Zwischenstopp einlegen, bevor wir nach Hause konnten: Wir wollten Gils Chef für seine Unterstützung danken. Als ich sein Büro betrat, sprangen mir die Bilder seiner zwei Kinder, die an den Wänden hingen, in die Augen. Meine Wangen wurden naß. Er deutete auf eine Biorhythmus-Kurve, die er für Mike erstellt hatte. Er erklärte, nach der Kurve bedeute der 23. März - der Tag von Mikes Tod - »einen doppelten Übergang für physische wie geistige Prozesse«, eine Zeit, in der allerhöchste Vorsicht geboten war. Ich gab nicht vor, das zu verstehen. Mike ist tot, sagte ich mir. Die Biorhythmus-Kurve kommt zu spät. Doch ich verstaute dieses Wissen in der Ecke meines Bewußtseins, die die Aufschrift »Auffällige Vorzeichen für Mike Halls Tod« trug, weil es eine willkommene Gelegenheit war, dem Rätsel, das Mike darstellte, ein weiteres Faktum hinzuzufügen.
Als wir endlich nach Hause kamen, brach ich in mein Bett zusammen und überließ es Gil, sich um Kelli-Lynne zu kümmern. Ich hatte die Schlafzimmertür zwar verschlossen, doch die Geräusche des Telefons und die Stimmen drangen dennoch in meinen unruhigen Schlaf. Ich konnte mich nicht dazu bewegen aufzustehen. Außerdem hatte ich nicht die Kraft, mit anderen zu sprechen. Ich hatte alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Als ich so dalag, zwang ich mich, Mikes Aufsatz zu lesen. Der Anblick seiner Handschrift trieb mir Kälteschauer über den Körper. Ich stellte mir vor, wie er mir vorlas: »Ich begann letztes Jahr mit den Schwimmwettkämpfen, und ich liebe es seitdem. Doch wenn ich daran denke, wie sehr ich mich auf das Schwimmen freute, fällt mir ein, wie ich mich nach dem ersten abendlichen Training fühlte. Zwischen Aufgeben und Weitermachen lag nur ein schmaler Grat. Ich dachte darüber nach und beschloß weiterzumachen. So entscheide ich mich nun häufig. Es ist immer leichter, etwas aufzugeben, doch auf lange Sicht verliert man meistens. Wenn ich also daran denke, Biologie abzuwählen, sage ich mir: ›Nein, du kannst es schaffen.‹ Ich glaube, das ist eines der wichtigsten Dinge im Leben: nicht aufzugeben, wenn man am Boden ist.« Aber warum bist du dann gestorben? waren die Worte, die ich ihm zuschreien wollte. Gil kam herein, um gute Nacht zu sagen, und verkündete dann, er würde oben schlafen. »Damit wir uns nicht gegenseitig stören.« Ich verstand das so, daß unser öffentliches Auftreten als liebendes Ehepaar nun zu Ende war. Gegen Mitternacht merkte ich, wie mein Körper vor Energie pulsierte. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich hatte Angst und war auf der Hut. Helle Lichter erfüllten das Zimmer. Ich kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder ein bißchen, um zu sehen, ob die Lichter verschwunden waren. Sie waren es nicht. Vorsichtig spähte ich durch die halbgeöffneten Lider und wurde von einem strahlenden, orangefarbenen spiralförmigen Licht gefes-
selt, das ein leuchtendweißes Zentrum umwanderte, in dessen Mitte sich ein winzigkleiner schwarzer Tupfen befand. Als ich genau hinsah, wechselte der strahlende, orangefarbene Rand allmählich zu Gelb, während das leuchtende Zentrum unverändert blieb. Mit einem Ruck setzte ich mich im Bett auf. Ich verstand nicht, warum oder wie, aber ich spürte die Energie, die in den Farben steckte. Mein Herz reagierte auf diese Energie, und ich wußte, sie ähnelte der des Lichts in meinem eigenen Herzen. Das Verstehen kam explosionsartig, als ich erkannte, daß dieses Licht etwas mit Mike zu tun hatte. Ohne Vorwarnung begann ich zu treiben, und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich dabei war zu sterben, doch ich entspannte mich und erkannte überhaupt zum erstenmal, daß ich den Tod nicht fürchtete. Während dieses Treibens erlebte ich mich selbst als konzentrierten Energiepunkt. Ich reiste leicht durch den Raum in dem Bewußtsein, daß Mike pure Essenz und ich ein Aspekt dieser Essenz war. Wie zur Bestätigung reagierten Mikes Schwingungen auf die meinen: »Das stimmt, Mom. Es gibt keinen Unterschied. Keine Teilung, kein Getrenntsein.« Wir kommunizierten! Irgendwie war ich in der Lage, seine Botschaft zu übersetzen, obwohl sie nicht ausgesprochen wurde; und ebenso war er in der Lage, die Fragen in meinem Kopf zu hören, obwohl ich sie nicht laut geäußert hatte. »Beweise sind unwichtig, Mom. Allerdings ist es unbedingt notwendig, daß du den Eindruck, den du empfängst, verstehst. Wir haben zusammen ein Bindeglied aktiviert. Ich habe Informationen für dich und andere, die dir eine Hilfe sein und dir neues Licht bringen werden.« In diesem Augenblick wußte ich mit absoluter Klarheit, daß erst einer von uns sterben mußte, damit wir auf diese Weise in Verbindung treten konnten. Ich dachte: Ich habe dich wirklich geliebt, Mike, selbst wenn ich nicht wußte, wie ich es zeigen sollte. »Ich weiß«, entgegnete er. »Wir hatten auch das ge-
meinsam. Es ist nicht nötig, zu vergeben oder zu vergessen. Gewinne deinen Glauben an die kosmischen Gesetze wieder. Erkenne mit deinem ganzen Wesen, daß es keine Fehler gibt. Es besteht kein Grund, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen. Es gibt nur klares Verstehen.« Ich dachte über unsere Gemeinsamkeiten nach: Wir sahen uns ähnlich, wir verhielten uns auf dieselbe Weise, und wir verteidigten uns auf ähnliche Weise. Unsere Grenzen waren nur vom Menschsein bestimmt. Ich wußte intuitiv, daß die »Informationen«, von denen er sprach, sich auf beruhigende Botschaften bezogen, die ich an die Familie weitergeben sollte. Wie eine gute Mutter riet ich Mike, seine eigenen Wahrheiten zu verkünden, aber ich verstand auch, daß er aus irgendeinem Grund nicht mit anderen Mitgliedern der Familie in Kontakt stand. Warum ich? wollte ich ihn fragen. Warum kann ich unsere Energie kanalisieren, und andere können es nicht? »Ganz einfach«, antwortete er in einem Tanz von Energie. »Du erkennst und heißt den Geist willkommen. Du hast den Geist schon seit langer Zeit studiert - länger, als du weißt. Ich bin jetzt inspiriert, und du fürchtest mich nicht und lehnst mich nicht ab.« Ich erklärte mich bereit, seine Botschaften zu überbringen, aber ich fürchtete, ich würde sie bis zum Morgen vergessen. »Keine Sorge, Mom«, signalisierte Mike, als hätten ihn meine Gedanken dazu veranlaßt. »Ich gebe dir ein Erinnerungszeichen.« Sein lockerer Humor und seine ungewohnte Geduld faszinierten mich. Wir hatten die Rollen getauscht! Ich war sein Sendbote; er war mein Lehrer. Ich fühlte einen Energieschub, als diese Erkenntnis durch mich hindurchbrandete. Mike führte mir seine Geschenke für die Familie vor. Für seinen Großvater zeigte er das Bild eines weißen Handschuhs, über dem zwei gekreuzte funkelnde Silberschwerter mit Messinggriffen standen. »Er wird die Verbindung
des Handschuhs mit seinem Freimaurerritual verstehen«, instruierte Mike mich. Außerdem zeigte er mir den Mast eines Schiffes, flankiert von drei Flaggen und einem senkrecht stehenden Kompaß. »Das ergibt für dich keinen Sinn«, mahnte Mike, bevor ich die Chance hatte, zu sagen, daß ich verwirrt war. Seiner Großmutter schenkte er einen Strauß Tagetes und einen riesengroßen gebackenen Thanksgiving-Truthahn. Gil und mir gab er die schlichte Botschaft: »Ich stehe mit euch in Verbindung.« Mike beglückwünschte mich zu meinen Kräften, den Ort zu wechseln - »Transport« nannte er das -, und zu meiner Fähigkeit, telepathisch Informationen zu empfangen. Ich war es nicht gewohnt, von ihm Komplimente zu hören. Im Leben hatten wir nur selten zugegeben, daß wir uns gegenseitig beeinflußten. Mein Herz verstand, daß Mike sich darin übte, ein Heiler zu sein, und daß ich es war, die von seinen Fortschritten profitierte. Um halb drei Uhr morgens erwachte ich und sah die Umrisse der Geschenke als Silhouetten auf den Schlafzimmerfenstern. Ich hatte eindeutig nicht geträumt, sagte ich zu mir. Ich fühlte mich sicher in dem Wissen, daß Mike seinen eigenen Weg finden würde und doch uns helfen wollte, die wir im Hier und Jetzt waren. Als ich daran dachte, wie rein und leicht unser Austausch gewesen war, rollte ich mich herum und schlief zum erstenmal seit fünf Nächten wieder friedlich. Ich weiß nicht, was ich von diesen nächtlichen Begegnungen, die mich Mike nahebringen, halten soll. Dennoch nehme ich die Erinnerung an seine nächtlichen Besuche mit in meinen Alltag. Ich lebe in zwei Welten und weiß nicht, welche real ist. Wie kann ich meinen Sohn betrauern, wenn ich eine so enge Verbindung zu ihm spüre? Machen das alle Eltern durch? Am Morgen stand ich auf und rief meine Eltern an, um ihnen die Botschaften zu übermitteln. Mein Vater ging ans Telefon und blieb stumm, als ich ihm erzählte, was geschehen war. Mom wiederum schien fasziniert und fragte,
warum Mike mir und nicht ihr erscheine. »Ich weiß es nicht«, sagte ich ruhig. »Ich tue nur, was ich versprochen habe.« Auf einer nicht rationalen Ebene wußte ich, daß Mike und ich vor langer Zeit eine wechselseitige Verpflichtung eingegangen waren. Ich erschauderte bei diesem Gedanken. Als nächstes rief ich meinen Großvater an. Er war der Mensch in der Familie, der mit mir über andere Möglichkeiten des Wissens sprechen würde. Er hatte mich jedoch im Stich gelassen, als er nicht zur Totenwache kam und nicht einmal anrief. Ich fühlte mich von ihm allein gelassen, aber ich wußte, er hatte Mike angebetet. Nanny ging ran und wurde nervös, als ich darum bat, Bomp zu sprechen. Sie ermahnte mich, ihn nicht aufzuregen. Bomps Stimme rief Worte in mir wach, die tief aus meinem Innern kamen. »Ich weiß, du hast die frühen Morgenstunden mit Mike verbracht«, sagte ich, ohne mir bewußt zu sein, woher ich das wissen konnte. »Jawohl«, entgegnete er, von meiner Begrüßung nicht im mindesten überrascht. »Es geht ihm gut, Rosalie. Er macht Fortschritte, und er braucht die Gewißheit, daß wir das akzeptieren. Wir müssen ihm helfen, fortzugehen und weiterzumachen.« »Er wird ein Heiler, Bomp.« Wieder war ich von meinen Worten überrascht. Was für eine Erleichterung war es, mit jemandem zu reden, der verstand. Mein Großvater verlangte keine Erklärung: Unsere gemeinsame Erfahrung verband uns. Lange nachdem ich eingehängt hatte, wurde mir klar, daß ich vergessen hatte, ihm zu sagen, wie verärgert ich war, daß er nicht zur Totenfeier gekommen war. Andererseits gehörte das in die Vergangenheit. Ich hatte überlebt, Bomp hatte überlebt, und Mikes Energie hatte überlebt. Als nächstes rief ich meine Freundin Carole an, die es gewohnt war, in der Welt des Geistes zu arbeiten. Ich wollte hören, welche Neuigkeiten sie von Mike hatte. Carole erklärte, daß sie sich, als sie von Mikes Tod hörte, sofort auf seine Energie eingestellt hatte. Von seiner Orientie-
rungslosigkeit verblüfft, sandte sie ihm fördernde Energie, wie ich es auch im Krankenhaus getan hatte. Einige Stunden später stimmte sie sich wieder auf ihn ein. Nun war er unbelastet und entwickelte sich. »Er ist jetzt unser Lehrer«, sagte ich mit Bewegung in der Stimme. Carole erklärte weiter, daß sie am nächsten Tag vom »Geist« mehr Informationen erbeten habe. Sie erfuhr, daß Mike stets mit einem Bein in der spirituellen Welt gestanden habe, wie es bei vielen hochintelligenten Menschen der Fall ist. An einem entscheidenden Punkt gehen die intellektuellen und physischen Prozesse eine Synthese ein, erläuterten ihre Quellen, und sobald dieser Übergang abgeschlossen ist, besteht kein Grund mehr, in der physischen Dimension zu leben. Das Reich des Geistes wird zur Welt des Aufstiegs, sagten sie ihr. »Und deshalb ist er ein Lehrer und Heiler«, sagte ich einfach. Mich fröstelte bei dieser Verbindung.
4. April 1977 Marge und Joan kamen vorbei, um mir zu helfen, Mikes Setzlinge in größere Töpfe für den Gemeinschaftsgarten umzupflanzen. »Ich weiß nicht, warum mir diese Pflanzen so wichtig sind«, sagte ich zu ihnen, »aber sie sind es. Ich will Mikes Pläne zu Ende führen. Zumindest kann ich mich mit etwas befassen, das wächst.« »Rosie, auf den Grund kommt es nicht an«, antwortete Marge und umarmte mich. »Wir wissen, daß es für dich wichtig ist, das zu tun, und wir sind froh, daß du uns gebeten hast, dir zu helfen.« Ich lächelte, erleichtert zu wissen, daß ich mir keine Antworten ausdenken mußte. Während unsere drei Töchter im Wohnzimmer spielten, topften wir die Hunderte von Sämlingen in große Behälter um, wässerten sie sorgsam und unterhielten uns über Mike. Obwohl die meisten Töpf-
chen mit Etiketten versehen waren, waren doch einige nicht beschriftet. Mir gefällt die Vorstellung, daß ich davon überrascht werde, was Mike gepflanzt hat.
7. April 1977 Heute fuhr ich zur Drogerie, um die Fotos abzuholen, die wir letzten Monat bei meiner Geburtstagsparty aufgenommen haben. Diese Bilder, das wußte ich, würden mich an Mikes letzte Feier erinnern. Ungeduldig wartete ich in der Schlange. Schließlich gab ich der Frau hinter dem Ladentisch die Auftragsnummer, worauf sie nach hinten ging und mit einer Packung und einem verblüfften Gesichtsausdruck zurückkehrte. »Das kostet nichts«, sagte sie. »Wie meinen Sie das: Das kostet nichts?« fragte ich. »Offenbar ließ sich die Filmrolle nicht entwickeln«, erwiderte sie. Ich griff nach der Packung, fuhr zu einer kleinen Belichtungsfirma und fragte den Geschäftsführer, ob er die Bilder entwickeln würde. Er besah sich die Rolle, die ich ihm gegeben hatte, und sagte: »Lady, Sie müssen einen alten Film verwendet haben. Da sind keine Bilder drauf.« Die Bilder ließen sich nicht entwickeln. Das Brot, das ich am Tag, als Mike starb, buk, ging nicht auf. Die Sämlinge, die wir vorsichtig umtopften, starben innerhalb von zwei Tagen ab. An was immer auch ich mich festhalten möchte, verschwindet.
10. April 1977 Mein Herz ist gebrochen. Ich bin vom Tod überschattet. Ich schwanke zwischen dem Wunsch, daß alle, die ich sehe, von Mikes Tod erfahren, und dem Wunsch, alle, die es wissen, würden es vergessen. Zwischen mir und meinen Freunden hat sich eine tiefe Kluft aufgetan. Ich fühle
mich schuldig, wütend, ängstlich, verstört und betäubt. Innerhalb von Sekunden explodiert ein Gefühl in das nächste wie ein Knallkörper. Die ganze Zeit spreche ich in monotonem Tonfall. Der Gedanke, daß Kelli-Lynne sterben könnte, beherrscht mich. Wenn ich vielleicht aufmerksamer, gewissenhafter, geduldiger gewesen wäre - ich quäle mich mit der Suche nach der unausgesprochenen, der nicht ergriffenen, der verpaßten Gelegenheit, einen Unterschied zwischen dem toten Mike und dem lebenden Mike zu machen. Wie soll ich ohne mein ältestes Kind wieder anfangen? Wie kann ich für Kelli-Lynne da sein, wenn ich vor Schmerz wie betäubt bin? Und was ist meinem Verhältnis zu Gil? Unsere Ehe dümpelte bereits vor Mikes Tod dahin. Wie können wir jetzt miteinander zu reden anfangen, ohne noch weiter auseinandergerissen zu werden? Mir tut das Herz weh. Ich habe es satt, vorzugeben, ich sei stark, und doch habe ich Angst davor zusammenzubrechen. Ich kämpfte hart um Mikes Geburt. Mit siebzehn hatte ich mich verliebt. Ich war drei Jahre lang verliebt und wollte meinem Elternhaus entfliehen. Andy war zwei Jahre älter als ich. Als Schülerin der Abschlußklasse wurde ich schwanger und mußte die High School ohne Abschluß verlassen; meine Freundinnen benahmen sich, als würde ich gar nicht existieren. Andy und ich heirateten, und ich tat so, als sei ich glücklich. Wir lebten in einem EinZimmer-Apartment, während mein Mann aufs College ging, und ich tat so, als käme ich damit zurecht. Die Schwangerschaft zerschmetterte meine Illusionen. Mike kam in dem Augenblick im Krankenhaus zur Welt, als die Klingel ertönte, die das Ende des Schultages verkündete. Freundinnen besuchten mich, aber sie waren Fremde; vier Monate waren vergangen, seit ich das letztemal etwas von ihnen gehört hatte. Sie wollten wissen, wie es war, verheiratet zu sein und ein Kind zu bekommen. Ich wiederum fragte mich: Wann wurde ich denn wieder »legitim«? Wie konnten sie nach so einer langen
Zeit des Schweigens so tun, als seien wir noch Freunde? Mein erster Gedanke war: Wie können sie es wagen, zu erwarten, daß ich ihnen erzähle, wie die Entbindung war! Doch ich machte das Versteckspiel mit und gab vor, alles sei gut. In jener Woche bereiteten sich meine Freundinnen auf den Schulabschluß vor, während ich lernte, wie man Windeln wechselt. Die Geburt von Mike hatte ihren Preis. Ich opferte ihr meine Jugend. Ich lernte, Kompromisse einzugehen. Ich war noch nicht einmal neunzehn, als ich geschieden war. Da ich als alleinerziehende Mutter eines Einjährigen das College besuchte, konnte ich meinem Studium oder dem gesellschaftlichen Leben nicht viel Zeit widmen; ich konnte aber auch keine hundertprozentige Mutter sein. Auch konnte ich uns nicht allein über Wasser halten; ich hatte zu viele Aufgaben. Ich lebte bei meinen Eltern und tat, als sei ich zufrieden und könne den Schmerz aushalten, doch des Nachts weinte ich allein. Wenn ich die Möglichkeit hätte, mein Leben noch einmal zu leben, würde ich Mike wieder in die Welt setzen, ungeachtet all dessen, was ich dafür aufgeben müßte. Aber, bei Gott, es ist nicht fair, daß ich am Ende ihn aufgeben mußte.
16. April 1977 Heute morgen war ich entschlossen, Mikes Zimmer zu putzen. Ich wollte es nicht allein tun, und ich wollte nicht, daß Gil dachte, ich sei schwach, da ich ihn um Hilfe bat. Ich fragte ihn dennoch. »Rose, ich muß zur Arbeit«, erwiderte er. Ich bat ihn inständig: »Aber ich brauche dich hier - vor allem heute. Ich will nicht allein in dieses Zimmer gehen.« Gil zuckte mit den Achseln und sagte, er würde wie gewöhnlich zum Mittagessen heimkommen. »Heißt das, du hilfst mir nach dem Mittagessen?« fragte ich.
»Rose, ich sagte es schon. Ich muß an meine Arbeit denken.« Als ich ihm zusah, wie er wegfuhr, stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden. Wie konnte er es wagen, mich allein zu lassen, tobte ich. Dann stapfte ich in der Küche herum und versuchte den Mut aufzubringen, mich dem leeren unaufgeräumten Zimmer, das einmal Mikes Zimmer gewesen war, zu stellen. Kelli-Lynne gesellte sich mit ihrer Schmusedecke in der Hand zu mir. Ich zerrte mehrere große Plastiksäcke hervor und rollte die Ärmel auf, als würde ich mich auf einen Kampf vorbereiten. Sein Zimmer sah normal aus: In der einen Ecke stapelte sich ein Haufen schmutziger Kleiderstücke, in einer anderen lagen Angelruten und Köder, Briefmarken waren verstreut, Münzbehälter planlos auf den Schreibtisch geworfen, alle möglichen Listen auf dem Schreibtisch verteilt und ein offenes Tagebuch unter das Bett geschoben worden. Ich war nicht darauf vorbereitet, seine Handschrift zu sehen, vor allem nicht in einem Tagebuch. Fragen tauchten auf: Wage ich es, es zu lesen? Habe ich dazu das Recht? Was ist, wenn darin steht, daß er mich haßte? Noch schlimmer, was ist, wenn er seinen Tod geplant und hier einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, den ich finden soll? Gierig verschlang ich die Worte, als ob Mike auf diesen Seiten leben würde. Der letzte Eintrag war auf Januar 1977 datiert: »Schulmist. Vorsatz an Neujahr - kein Nägelkauen mehr. Beim Laufen eine Richtzeit unterboten.« Der Eintrag davor war vom ersten Januar, zwölf Uhr: »War am North Pond angeln. Fing einen Barsch, froh, nach Hause zu kommen.« Ich umarmte mich selbst, erfreut, daß er froh war, zu Hause zu sein. Nachdem ich erfolglos nach weiteren Tagebüchern gesucht hatte, beschloß ich, mit dem Einpacken seiner Kleidung anzufangen. Die Wohlfahrt würde sich darüber freuen. Mit einer Energie, von der ich nicht wußte, daß ich sie besaß, ging ich die Schubladen und den Wandschrank durch. Fünf Säcke später war ich mit den Kleidungsstücken fertig und begann, die Bücher in
den Regalen in Holzkisten zu verpacken. Seinen Polierstein und Metalldetektor ließ ich dort. Die ganze Zeit über folgte mir Kelli-Lynne. Schließlich fragte sie, ob sie »für immer« in Mikeys Bett schlafen dürfe. Ich zögerte, wußte nicht, was richtig war. »Kann das jetzt mein Zimmer sein, Mom?« Wieder zögerte ich. Sie verschwand, und ich räumte weiter Mikes Sachen aus. Das Telefon läutete, und ich ging ran. Als ich zurückkam, schlief Kelli-Lynne mit ihren drei Lieblingsstofftieren eingerollt in Mikes Bett. »Lieber Gott, ich danke dir für sie«, flüsterte ich. Sie sah so winzigklein und unschuldig aus. Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte mich zu ihr legen. Zehn Gänge später war jedes Anzeichen dafür, daß Mike Hall jemals in diesem Zimmer gelebt hatte, getilgt. Ich hatte etwas getan, das getan werden mußte, und ich wollte mich zufrieden fühlen, doch ich fühlte mich schuldig. Vielleicht hätte ich damit warten sollen? Warten worauf? fragte ich mich.
22. April 1977 Als ich heute meinen Freund Bill am Flughafen abholte, fiel mir plötzlich wieder ein, wie oft Mike und Gil hier gewesen waren, um mich abzuholen. Es war meine erste Fahrt zum Flughafen seit Mikes Tod, und sie fiel mir nicht leicht. Jemand hatte mich davor gewarnt, daß bei den »ersten Malen« Angst aufkommen würde - beim ersten Osterfest, dem ersten Geburtstag, dem ersten Muttertag, dem ersten Schultag nach den Ferien, dem ersten Erntedank, dem ersten Weihnachtsfest. Tatsächlich, als ich das erste Mal zum Postamt ging, verlangte ich automatisch einen Briefmarkenblock für Mikes Sammlung. Was mache ich, wenn mich jemand zum erstenmal fragt, wie viele Kinder ich habe?
23. April 1977 Seit Mikes Tod ist ein Monat vergangen. Feiert man die Wiederkehr des Todestages? Heute ist der zweite Tag eines Gesangsworkshops, den ich vorzubereiten half. Wir hatten den Workshop monatelang zu sechst geplant, und obwohl mein Leben völlig anders geworden ist, als es das im Vorbereitungsstadium der Veranstaltung war, begriff ich instinktiv, daß ich anwesend sein mußte, denn Mikes Seele brauchte Musik. Den Workshop leitete David Zeller, den ich letztes Jahr bei der Jahreskonferenz der Humanistic Psychology in Princeton, New Jersey, kennengelernt hatte, und die Gesänge schienen genau das zu sein, was meiner Ansicht nach Mike wie auch ich hören mußten. Während er noch auf seiner Gitarre herumklimperte, begann David einfach: »Hör, hör, hör meinem Herzenslied zu. / Hör, hör, hör meinem Herzenslied zu. / Ich werde dich niemals vergessen, ich werde niemals von dir lassen …« Als ich das Lied zum erstenmal hörte, meinte ich die drei Worte am Ende des ersten und zweiten Verses lauteten »meinem harten Lied«. In meinem Herzen zu stecken, erkannte ich, ist im Augenblick hart. Es hallt vom Schmerz wider. David fuhr fort: »Wir sind vom Geist umgeben wie die Sonne vom Regenbogen.« Die Worte riefen in mir ein Bild von Mike, meinem Sohn, hervor, der von einem Regenbogen umgeben war. Tränen befeuchteten mein Gesicht. In die Akkordfolgen versunken, erkannte ich plötzlich, daß ich keinerlei Ahnung von dem Rhythmus meines Lebens ohne Mike hatte. Musik erzeugt ein Ton-Mandala, und das Zentrum ist die heilige Leere. Ich fragte mich, ob ich hierher gehörte. Man erwartet von mir, daß ich trauere, sagte ich mir. Steht es mir zu, davon befreit zu sein? Und dann wurde ich wütend. Wie kannst du es wagen, mich freizulassen, Mike, wollte ich schreien. Ich hatte den Drang zu fliehen, beschloß jedoch, noch ein weiteres Lied anzuhören. Eine Freundin drückte
mir die Hand und lächelte. »Danke. Das hatte ich nötig«, sagte ich zu ihr und war mir bewußt, wie rasch meine Emotionen von friedlich über wütend zu schuldig wechselten. David sang: »Kinder sind die noch nicht fertigen Menschen. / Sie gehören den Göttern … « Ich nickte und fühlte diese Wahrheit in meinem Herzen. Ich wußte, daß Mike mir nie gehört hatte. Ich hatte ihn nie für meinen persönlichen Besitz gehalten. Ich wußte nur nicht, wohin ich ohne ihn gehörte.
24. April 1977 Letzte Nacht befand ich mich in meinem Traum in der Rolle einer Zuschauerin, ich beobachtete und wartete. Hände umschlossen einen Kelch. Ich verstand nicht, was das Bild bedeutete, obwohl ich mir dachte, daß es religiös gemeint war. Mein Herz reagiert, indem es warm mitfühlt, doch mein Verstand verbindet damit nichts.
25. April 1977 Ich habe einiges von Elisabeth Kübler-Ross über den Tod und das Sterben gelesen. Bei ihr steht mehr das Sterben als das Trauern im Mittelpunkt. Die Qual der Eltern, die unerwartet ein Kind verloren haben, ist nirgendwo gut dokumentiert. Ich weiß, ich muß durch Erfahrung lernen. Die vergangenen vier Monate haben mich über alles Wissen hinauskatapultiert, das ich aus Büchern oder von Menschen hätte erwerben können. Mein Bruder war heute hier. Er verkündete schroff, daß seine Frau in der fünften Woche schwanger sei. Er war aufgeregt. Ich war wütend. Könnten sie in der Nacht, als Mike starb, ein Kind gezeugt haben? Meine Gefühle waren irrational, und ich war auch eifersüchtig. Sie ist schwanger mit Leben; ich bin schwer vom Tod.
27. April 1977 Ein weiteres erstes Mal. Diesmal ein Termin beim Zahnarzt. Die letzten Termine waren für Mike, aber heute hat unser Zahnarzt ihn mit keinem Wort erwähnt. Das war schlimmer als alles, was er hätte sagen können. Ich war noch immer über den Zahnarzt verärgert, als ich mich mit einer Freundin zum Mittagessen traf. Unsere Bedienung war eine von Mikes Babysitterinnen, als er noch klein war. Ganz egal, was ich tue, ich tappe mitten hinein in die Vergangenheit. Zunächst wollte ich nicht, daß sie etwas sagte. Dann, als sie sagte, wie sehr sie an mich und Mike gedacht habe, sah ich, wie rasch meine Bedürfnisse sich ändern. Nichts fühlt sich zu dem Zeitpunkt, an dem es geschieht, richtig an.
29. April 1977 Fluß. Alles hat sich so plötzlich verändert, daß ich nicht mehr weiß, was ich glauben soll. Wenn Kelli-Lynne meinen Kopf zu ihrem Gesicht herunterzieht und fragt, ob ich verspreche, für immer und ewig ihre Mutter zu sein, weiß ich nicht, was ich ihr antworten soll. Ich möchte gleichermaßen ehrlich und einfach sein. Ich denke, sie braucht die Versicherung, daß ich nicht sterbe und sie allein lasse. Ich möchte das Richtige sagen, um das Leben für sie einfacher zu machen, aber ich muß aufrichtig sein. Wie kann ich wissen, ob ich morgen noch lebe? Also greife ich nach ihr und halte sie fest und flüstere uns beiden zu: »Ja, ich werde für immer und ewig deine Mutter sein.« »Selbst wenn du tot bist, wirst du immer noch meine Mutter sein, Mom?« »Ja, ich verspreche es. Ich werde nicht vergessen, daß ich deine Mutter bin, sogar wenn ich tot bin.« Zufrieden entwindet sie sich meinen Armen, um der Katze hinterher-
zujagen. Was mache ich mit diesem unguten Gefühl, das mein Herz überschattet? Jedesmal wenn das Telefon läutet, warte ich darauf, daß mir jemand mitteilt, noch jemand, den ich liebe, sei gestorben. Früher war ich optimistisch, idealistisch, sogar naiv. Jetzt warte ich auf schlechte Neuigkeiten. Die Behauptung des Psychotherapeuten Victor Frankl, »Leben heißt leiden, überleben heißt im Leiden einen Sinn finden«, wollte ich nie glauben. Bis jetzt.
4. Mai 1977 Heute ist, oder wäre gewesen, Mikes fünfzehnter Geburtstag - der Tag, an dem wir seine Asche bei Two Lights verstreuen wollten. Letzte Nacht hatte ich einen Traum, in dem Mike mir auftrug, seine Asche in einen Korb zu füllen, der unter einem Kleiderhaufen in einem großen Zylinder in der Garage liege. »Der Korb ist wichtig, Mom, denn ich bin ein Fischer«, sagte Mike. Der Traum erschien mir so real, daß ich, als ich aufwachte, barfuß und auf Zehenspitzen in die Garage schlich. In einer Ecke versteckt stand eine große runde Versandkiste, die genauso aussah wie die aus dem Traum. Wie in Trance bekam ich den Deckel auf und fand Stapel ausrangierter Kleidungsstücke. Ich zog die Kleider heraus, bis meine Hände einen festen Gegenstand am Boden der Kiste ertasteten. »Das muß der Korb sein«, flüsterte ich. Es war ein sonderbar geformter Strohkorb mit einem Schlitz oben, und an ihm war ein Lineal befestigt. Jahrelang hatte Mike damit seine gefangenen Fische gemessen und sie darin heimgetragen. Mein Großvater hatte ihn Mike zu seinem fünften Geburtstag geschenkt. Langsam und vorsichtig betastete ich die groben Ränder. Ich war sprachlos, denn ich hatte einen Traum geträumt, der real war. Hat Mike Verbindung zu mir? Führt er mich, beruhigt er mich, gibt er mir Zeichen? Der Tod ist für
mich nicht real, solange ich diese Verbindung habe, grübelte ich. Ich sah auf den Korb in meinen Händen hinab. Wenn der Traum und der Korb real sind, was sagt das dann über meine Beziehung zu Mike aus? Mir wird ganz schwindlig bei dem Gedanken. Gil war in der Küche, als ich ruhig die Hintertür hinter mir schloß. »Mikes Korb«, sagte ich und zeigte ihm meinen Fund. »Für die Asche.« »Wo hast du den denn gefunden?« fragte Gil. »Den habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.« Ich erzählte ihm, wo ich ihn gefunden hatte. Er blickte mich seltsam an, und ich fuhr fort in dem Drang, mich jemandem mitzuteilen. »Eigentlich, Gil, habe ich geträumt, daß Mike mir auftrug, seine Asche in den Korb zu füllen, weil er ein Fischer sei. Deshalb folgte ich seinem Rat und fand den Korb in der Garage. Es ist wichtig, Mikes Wünsche zu befolgen.« Ich wünschte mir verzweifelt, daß Gil sagte, er glaube mir. Statt dessen zuckte er mit den Schultern und verließ die Küche. Ein Klopfen an der Tür holte mich aus meinem Dilemma. Ich stellte den Korb neben der Vase mit Mikes Asche auf den Kaminsims und ging nachsehen, wer gekommen war. Es war Michael Dwinell, der Priester, der bei Mikes Totenmesse assistiert hatte. »Rosie«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber ich empfand das Bedürfnis, nachzusehen, wie es dir geht.« Ich blickte auf die dunkle, mit Asche gefüllte Urne, die seit sechs Tagen auf dem Sims stand. »Heute ist Mikes Geburtstag«, verkündete ich verwirrt. »Zumindest war er das immer. Wir wollen seine Asche verstreuen. Und ich hatte letzte Nacht einen Traum, wie wir es tun sollen. Ich verstehe nicht warum, aber Mikes Tod und mein Leben scheinen völlig miteinander verknotet zu sein.«
Michael lächelte mich an. »Okay, Rosie, jetzt verstehe ich, warum ich hier bin. Hat jemand vom Bestattungsunternehmen dich darauf vorbereitet, daß du unter der Asche Knochenstückchen oder vielleicht Teile von Zähnen finden könntest?« Ich hielt die Luft an. Nie zuvor hatte ich darüber nachgedacht, daß der Körper meines Sohnes durch Feuer zerstört worden war. »Rosie, ich will nur nicht, daß dich die Asche aus dem Gleichgewicht bringt.« »Aber, Michael, ich habe keine Angst. Schau, ich fühle mich mit Mike auf eine andere Weise verbunden. Ich begreife, daß er nicht in seinem Körper ist. Die Stimme, die ich in meinem Traum hörte, war seine.« Den ganzen Tag hindurch war ich voller Vertrauen, gestützt auf mein Wissen um eine andere Wirklichkeit, die Seite an Seite mit dem Tod existiert. Wie konnte ich gleichzeitig an die Endgültigkeit des Todes und an meine Träume glauben? Ich war bereit, das nackte Ritual auszuführen, während in meinem Herzen eine vollkommen andere Wahrheit stand. Meine Eltern, mein Bruder, meine Schwägerin, Gil, Kelli-Lynne und ich gingen gemeinsam nach Two Lights. »Ein letztes Ritual«, flüsterte ich. Ich erzählte allen von meinem Traum; niemand antwortete. Instinktiv hielt ich auf den großen Felsbrocken zu, den Mike neun Jahre zuvor zu seiner »Berginsel« erklärt hatte. Die Seiten des Felsens waren naß, und die Wellen der herandrängenden Flut umspülten uns beim Gehen. Ich lud alle Anwesenden ein zu sprechen, doch nur meine Stimme trug etwas zu dem Ritual bei. Was ich sagen wollte, hatte ich vorbereitet, und ich wußte nicht, ob es für mich oder für Mike bestimmt war. Ich las aus In den Schuhen des Fischers von Morris West vor: »Um ein vollkommener Mensch zu sein, ist so viel nötig, daß nur sehr wenige so erleuchtet oder mutig sind, den Preis dafür zu zahlen. Man muß das Streben nach Sicherheit vollständig aufgeben und beide Arme nach dem Risiko ausstrecken.
Man muß die Welt wie eine Geliebte umarmen. Man muß den Schmerz als Grundzustand der Existenz akzeptieren. Man muß Zweifel und Dunkelheit als Preis für das Wissen annehmen. Man braucht im Konflikt einen sturen Kopf, muß aber auch immer bereit sein, das Leben und den Tod mit allen Konsequenzen zu akzeptieren.« Dann fuhr ich mit einem Abschnitt aus Geheimnisse des Meeres von Rachel Louise Carson fort, einem Buch, das Mike gerade gelesen hatte: »An all diesen Küsten finden sich Echos der Vergangenheit und der Zukunft; sie hallen wider vom Lauf der Zeit, der alles, das vormals verschwunden ist, auslöscht, aber dennoch enthält; vom ewigen Rhythmus des Meeres, der Gezeiten, des Takts der Brandung; von den herandrängenden Flüssen der Strömungen, die formen, verändern und beherrschen; vom Strom des Lebens, der so unerbittlich fließt wie die Meeresströmung, von der Vergangenheit zur unbekannten Zukunft. Denn so wie sich der Verlauf der Küsten mit dem Lauf der Zeit ändert, so ändert sich auch das Muster des Lebens.« Ich hielt den Korb an den Griffen. Alle Augen waren auf mich gerichtet, als ich den Korb öffnete, den Deckel von der Urne entfernte und rasch einen Blick auf das graue Pulver darin warf. Es war nichts Erkennbares übriggeblieben. Ich blickte jedes Mitglied meiner Familie an, dann holte ich aus, so weit ich konnte, und schleuderte den Korb in den hungrigen Ozean. Schweigend sah ich zu, wie die pulvrige Asche meines Fischerkindes vom Meer verschlungen wurde. Kelli-Lynne unterbrach meine Gedanken. »Wann machen wir unser Picknick?« wollte sie wissen. »Du hast gesagt, wir könnten essen, und ich habe Hunger, und ich will Piraten spielen.« »Richtig, Kelli-Lynne, ich habe versprochen, es gibt etwas zu essen.« »Es ist doch der Geburtstag meines Bruders, warum sind alle so still? Und wo ist Mikes Geburtstagstorte?« Seit zwei Wochen hatte ich sie darauf vorbereitet, oder
ich hatte es zumindest geglaubt. Da ich meine Entscheidung, sie von der Gedenkfeier fernzuhalten, bereut hatte, hielt ich ihre Anwesenheit heute für besonders wichtig. Als ich mit ihr zum Picknicktisch ging, grübelte ich über die Ähnlichkeiten zwischen Kelli-Lynnes Leben und Mikes Tod. Die Aufmerksamkeit, die ich Kelli-Lynne schenke, ist äußerlich; meine Augen, Ohren und Hände sind für sie offen. Die Aufmerksamkeit, die ich Mike widme, ist innerlich. Seine Abwesenheit stellt an mich genauso große Anforderungen wie ihre Anwesenheit. Ich nehme Mike übel, daß er starb, daß er verlangt, daß ich trauere. Mein Schmerz trennt mich von Kelli-Lynne; dann nehme ich ihr die andauernde Fragerei übel, denn sie lenkt mich davon ab, daß ich Mike vermisse. Ich habe zwei fordernde Kinder - das eine lebt, das andere ist tot. Der Picknicktisch war mit Speisen bedeckt. Etwas abseits stand ein Blaubeerkuchen, den ich gestern gebacken hatte. Wegen des nie fertig gewordenen Kuchens, den ich an jenem Nachmittag, als Mike starb, machen wollte, hatte ich geglaubt, ich würde nie mehr den Versuch unternehmen, noch einmal einen zu backen. Doch ich tat es, und ich füllte ihn mit Blaubeeren, die Mike gesammelt und in den Kühlschrank gestellt hatte. Alle unterhielten sich, doch ich hatte keine große Lust, mich an den Gesprächen zu beteiligen. Dann entdeckte ich einen Mann, der mit einer Angelrute vorbeiging. »Noch ein Fischer«, sagte ich laut. Kelli-Lynne zog an meinem Mantel und sagte: »Mom, glaubst du, Mikey wird dem Mann beim Fischefangen helfen?« »Ich weiß es nicht. Was glaubst du?« »Ich glaube, wenn Mike ihn mag, hilft er ihm. Kann ich jetzt essen? Und wann spielst du mit mir Piraten, Mom? Du hast es versprochen. « »Jetzt, Kelli-Lynne«, antwortete ich. Während ich mit meiner voraushüpfenden Tochter auf die Felsen zuging, blickte ich hinaus aufs Wasser. Von Mikes Asche oder Korb war nichts mehr zu sehen. Da waren nur Wellen und
Gischt … und der endlos weite Ozean.
7. Mai 1977 Vertraute Schritte an der Hintertür ließen die Hoffnung aufglimmen, Mike sei nach Hause gekommen. Jubilierend dachte ich: Er ist doch am Leben! Ich beeilte mich, die Tür zu öffnen - um dann drei von Mikes Schulkameraden zu begrüßen. Ich sah in ihre Augen und begann zu weinen. Ein Junge hielt ein großes Buch. »Wir dachten, Sie würden gern Mikes Jahrbuch haben«, sagte er verlegen. Ein anderer erklärte: »Wir wußten nicht, was wir tun sollten, weil wir nicht wußten, was Sie möchten, deshalb haben wir das Jahrbuch unter seinen Freunden herumgegeben, und jeder hat darin unterschrieben. Ich hoffe, das ist in Ordnung.« »Danke«, sagte ich sanft. Ich öffnete das Buch. Alle Unterschriften und Texte waren in der Gegenwartsform verfaßt. »Was heißt ›T.F.f.i.‹?« fragte ich, als ich die Einträge durchblätterte. »Treue Freunde für immer.« Seine Stimme brach. Ich schüttelte den Kopf. Ich wußte nicht, was ich sagen oder tun sollte. Kelli-Lynne stürmte ins Zimmer und war ganz begierig darauf, mit Mikeys Freunden zu spielen. »Mrs. Hall, ich habe Mikes Abzeichen fürs Laufen und Schwimmen aufgehoben«, sagte der dritte Junge. »Ich dachte, Sie würden sie vielleicht gern in sein Sammelalbum kleben.« Meine Hände zitterten, als ich Mikes Sportembleme entgegennahm. Wie hart hatte er dafür gearbeitet! Anfang März hatte ich Wolle gekauft, um einen Pullover für diese Abzeichen zu stricken, und erst gestern war ich über den Beutel mit der Wolle gestolpert, den ich unabsichtlich unter einem Kleiderstapel begraben hatte. Ich erklärte mich bereit, bei einer BenefizTanzveranstaltung zu erscheinen, die die Schüler zu Mi-
kes Andenken ausrichten wollten. Seine Freunde, die etwas tun wollten, das sie an Mike erinnerte, hatten vor, eine Gedenktafel zu kaufen, auf der jeweils der beste Sportler des Jahres an der Schule verewigt werden sollte das gedachten sie bei der Benefizveranstaltung bekanntzugeben. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, bei einer Tanzveranstaltung zu Ehren von Mike zu erscheinen. Ich möchte dankbar sein und seine Schulkameraden wissen lassen, wie sehr ich ihre Anteilnahme schätze, aber ich weiß nicht, was ich mit meinem Schmerz machen soll. Gott, ich dachte, ich fange an zu heilen, vor allem nach dem Abschlußritual an Mikes Geburtstag. Und jetzt fühle ich mich wund und bloß.
12. Mai 1977 Ich bin von mir selbst absorbiert. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in so einem Zustand gewesen zu sein. Bis vor kurzem hatte ich meine Aufmerksamkeit fast nur auf andere gerichtet. Ich wünschte, ich könnte unter ein Mikroskop rutschen und mich so anschauen, wie es ein Biologe tun würde. Nein, das würde nicht funktionieren. Ich bin in diesen Tagen meist so, wie ich mich fühle, und Mikroskope vergrößern die Gefühle nicht. Muß immer erst eine Krise eintreten, bevor man es wagt, nach innen zu schauen?
15. Juni 1977 Ich freue mich darauf, nächste Woche wieder am CPSI zu lehren. Nach vier Jahren dort sehnt sich ein Teil von mir danach, zurückzukehren und den Versuch zu unternehmen, die zu sein, die ich vor dem Tod meines Sohnes war, und ein anderer Teil ist dazu nicht bereit. Das CPSI ist für meinen kreativen Geist eine Oase ge-
wesen. Jeden Sommer habe ich eine Woche lang gelehrt und gelernt und die zu sein gewagt, die ich gerade werde. Jetzt jedoch lebe ich mehr mit dem Schmerz als mit der Kreativität und möchte nicht an Mikes Tod erinnert werden. Mir gefällt es nicht, bleiern vor Schmerz zu sein und in mir selbst aufzugehen, aber ich habe keine andere Möglichkeit.
23. Juni 1977 Drei Monate nach Mikes Tod fange ich wieder an, zu unterrichten und meine Freunde zu treffen, die ich einmal im Jahr sehe. Ich sitze allein auf einem hohen Berg, den jemand scherzhaft »Rosies Berg« genannt hat. So viele Menschen sind auf mich zugekommen und haben mir ihre Sympathie bekundet. Mir graut davor. Ich will, daß die Leute mich wegen etwas anderem, wegen allem anderen mögen. Keiner hier kannte Mike, doch sie kennen mich jetzt als die Mutter eines Sohnes, der gestorben ist. Und es war das Jahr, in dem ich vorhatte, ihn mitzubringen, damit er intellektuell und kreativ gefordert würde. Tatsächlich stand sein Name auf der Anmeldeliste. Ich will Ferien vom Schmerz. Ich will nur Rosie sein. Mein Lachen erscheint mir hohl, und wenn ich über diesen Tag nachdenke, muß ich einräumen, daß es unangenehm ist, nicht zu wissen, wie man reagieren soll, wenn die Leute aufrichtiges Interesse zeigen. Die Menschen zu meiden und mich beschäftigt zu halten, dieses Verhalten ist zu meinem Verbündeten geworden. Es verblüfft mich selbst, wenn ich mich wie meine Verwandten benehme.
28. Juni 1977 Gestern bekam ich Angst, als ein Bestattungsunternehmer, der an meinem Tisch in der Cafeteria des CPSI saß, nebenbei erwähnte, daß 83 Prozent der Ehepaare
sich nach dem plötzlichen Tod eines Kindes scheiden lassen. Ich will nicht eine Zahl in der Statistik sein. Ich will nur genesen, deshalb halte ich mich mit dem Unterrichten, dem Muttersein und zuviel Wein auf Trab. Ich weiß nicht mehr, wie man sich echt verhält. Ich lächle viel, ich gehe schnell, und ich vermeide es, meinem Schmerz Aufmerksamkeit zu schenken.
1. Juli 1977 Diese Unterrichtswoche ist zu schnell vergangen. Warum fällt es mir so schwer, Hilfe anzunehmen? Ich fühle mich an Mikes Tod schuldig, schuldig, weil ich vorgebe, mein Leben sei in Ordnung, und schuldig, weil ich lebe, während er tot ist. Am schlimmsten ist, daß ich mich schuldig fühle, weil ich mich schuldig fühle. Morgen fahre ich nach Hause. Für heute abend haben Bob und ich acht Stunden Arbeit an unserem Buch angesetzt. Mein Verstand scheint wieder zu funktionieren. Ich kann denken. Ich kann planen. Ich kann Strategien entwickeln, um Theorien zu beweisen. Mein Herz ist begraben, und ich fühle mich in Stücke gerissen.
10. Juli 1977 Wo wäre ich ohne Kelli-Lynne? Sie lenkte mich nach Mikes Tod ab, und mir war die Ablenkung willkommen. Ohne sie hätte ich mich vielleicht in meine Arbeit gestürzt oder mich von Gil scheiden lassen, oder ich hätte der Depression nachgegeben. Kinder okkupieren mein Denken. Ich bin eifersüchtig auf meine schwangere Schwägerin, da sie dicker wird. Mein Bruder besteht darauf, falls sie einen Sohn bekommen, ihn Mike zu nennen. Ich streite mit ihm: »Das ist zu früh! Ich kann das nicht ertragen!« Ich bete darum, daß sie eine Tochter bekommen. Ich
spiele auch kurz mit der Idee, ein Kind zu adoptieren. Aber ich weiß, ich würde Mike deshalb nicht weniger vermissen und dem Kind nicht erlauben, so zu sein, wie es ist. Wir führen auch keine Ehe, in der ein weiteres Kind gedeihen kann. Am meisten von allem erfüllt mich wieder das Schreiben. Wenn ich schreibe, sehe ich mich selbst klarer und vergebe mir allmählich. Es ist einfach. Du willst, wenn du es willst. Wie klar und einfach die Antworten kommen, selbst wenn ich nicht einmal weiß, daß ich eine Frage gestellt habe. Es ist, als würde eine Quelle tief in meinem Innern eine Antwort hervorsprudeln, noch bevor ich einmal blinzeln kann. Wenn ich mir vorstelle, wo in meinem Körper diese Quelle sein könnte, spüre ich, daß sie sich in meinem Herzen befindet. Vergiß die Seele nicht. Ich komme mir unfähig vor, weil nichts von Dauer zu sein scheint. Dennoch, genau hier, genau jetzt, am zehnten Juli, bestätige ich, wie wichtig mein Herz ist. Ich glaube, die Hoffnung ruht in meinem Schmerz. Ich bin bereit zu kämpfen. Ich glaube wirklich, ich gebe das Beste, das ich im Augenblick geben kann.
28. Juli 1977 Seitdem Mikes Leichnam verbrannt wurde, sind drei Monate vergangen. Will ich für immer mein Leben am Tod meines Sohnes messen? Ein Leben ist ausgelöscht, doch überall sind noch Spuren davon vorhanden. Die Auflösung von Mikes Bankkonto zum Beispiel war ein Alptraum. Ich ging in die Bank und dachte daran, daß ich sieben Jahre alt war, als ich zum erstenmal hier ein Konto eröffnete. Einige der Kassierer haben mich groß werden sehen. Wußten sie über Mike Bescheid, oder würde ich es ihnen sagen müssen? Ich war erleichtert, als ich die Frau sah, bei der ich mein ers-
tes Konto eröffnet hatte. »Das wird leicht«, flüsterte ich. »Sie wird es verstehen.« »Ich möchte Mikes Konto auflösen«, sagte ich sanft. Ich hoffte, ich würde es ihr nicht erklären müssen. Ich flehte sie mit meinen Augen an: Fragen Sie mich nicht. Sie griff nach einem Formular und fragte. »Mike ist tot«, sagte ich mit hohler Stimme. Ich wandte mich ab und wollte wegrennen. »Vergessen Sie das Geld«, kreischte mein Verstand. »Vergessen Sie die Obligationen. Vergessen Sie den Papierkram. Ich weiß nicht, wie ich das machen soll.« Die Kassiererin entschuldigte sich. Ein Mann tauchte auf und teilte mir in offiziellem Tonfall mit, daß ich einen Totenschein bräuchte, bevor das Konto aufgelöst und das Geld auf das Konto meiner Tochter transferiert werden könnte. Was für einen besseren Todesnachweis als mich konnte es geben? »Sie brauchen einen Totenschein, bevor wir die Formulare ausfüllen können«, sagte er ruhig. »Sie meinen, ich muß noch einmal herkommen? Können Sie nicht mein Wort akzeptieren?« »Es tut mir leid, Ma'am, das ist das übliche Verfahren.« Das übliche Verfahren. Seit wann ist der Tod ein übliches Verfahren? Ich sagte zu ihm: »Ich werde einen Totenschein besorgen, aber kann man das auch postalisch abwickeln? Einmal herzukommen reicht mir.« »Unter normalen Umständen nein, aber -« »Danke«, sagte ich und stolperte fast über den Mann hinter mir, als ich flüchtete. »Rosalie!« sagte dieser Mann, als er sich wieder gefaßt hatte. »Wie geht es meinem Namensvetter?« Das gibt es nicht, dachte ich. Ich bin gerade buchstäblich in den Arzt gerannt, nachdem ich meinen Sohn benannt habe! Wieso hat er nichts davon erfahren? In diesem Augenblick hörte ich die Kassiererin rufen: »Dr. Mike.« Ich brachte hervor: »Er ist tot. Er ist vor vier Monaten hinter unserem Haus durch einen Stromschlag getötet
worden.« Dr. Mikes Gesicht wurde aschfahl. Er streckte die Hand nach mir aus, doch ich rannte durch die Tür und die ganze Strecke die Hauptstraße hinunter bis zum Strand. Ich weinte nicht, aus Angst, jemand könne es bemerken. Aber ich schämte mich, weil ich mich in der Bank nicht anständig benommen hatte und ich nicht auf den Totenschein meines Sohnes blicken wollte.
30. Juli 1977 Peggy kam zu Besuch. An Tagen wie diesem scheint Mikes Tod erst gestern passiert zu sein. An anderen Tagen scheint er ein ganzes Leben weit weg zu sein. Als ich noch eine Haut besaß, hinterfragte ich die Zeit nicht; jetzt, nachdem ich mich gehäutet habe, ist die Zeit für mich etwas Neues. Peggy verstand das alles. Während sie trauerte, lernte auch sie, daß Zeit keine Bedeutung hat. Wir sprachen über die Spannung in meiner Ehe. Peggy konnte sie im Haus fühlen. »Ich muß immer über Mike reden«, erklärte ich, »aber Gil erwähnt ihn nie. Ich halte meine Tränen zurück, weil man bei ihm nicht verletzlich sein kann, dann fühle ich mich benachteiligt und wütend. Ich glaube, wir brauchen Hilfe, aber er weigert sich, mit mir einen Berater aufzusuchen. ›Das ist etwas zwischen uns‹, sagt er. Wenn ich allein zu einer Beratung gehe, würde uns das noch weiter auseinanderbringen, denke ich.« Ich warf Peggy einen Blick zu und setzte hinzu: »Ich will in meiner Ehe hegen und gehegt werden, und das ist nicht möglich.« Es war das erstemal, daß ich es gewagt hatte, diese Worte laut auszusprechen. Peggy sagte mir, ich erlebte diese Erfahrungen zum Zwecke der Stärkung. Ich will das nicht hören. Ich will, daß mir jemand sagt, was ich tun soll. Jetzt sofort. Inneres Gleichgewicht ist der Schlüssel.
Stärke wohnt in der Sanftheit. Visionen sind sensible Synthesen. Wieder kommen die Antworten. Das ist die Verbindung: Wenn ich empfänglich für mich selbst bin, höre ich die Stimme, die aus meinem Innersten spricht. Wenn ich mich ihr überlasse, beginnt sie zu sprechen, doch wenn ich vorgebe, mich unter Kontrolle zu haben, höre ich nichts. Um ein Gleichgewicht zu erreichen, benötige ich sowohl Verwundbarkeit als auch eine neue Art der Stärke.
31. Juli 1977 Mit Kelli-Lynne und zwei ihrer Freundinnen die Landwirtschaftsmesse zu besuchen holte mich aus mir selbst. Ich sah die Welt mit den Augen der Dreijährigen. Ich kreischte mit ihnen im Gedränge der schmutzigen Schweine. Ich empfand Zärtlichkeit, als wir ein neugeborenes Kalb tätschelten. Wir genossen es, einfach herumzuwandern. Keine Uhren, keine Terminpläne … nur vier Mädchen auf der Messe. Ich freue mich auf den bevorstehenden Fortbildungsworkshop in Gestalttherapie, der morgen beginnt. Ich werde dort übernachten, obwohl ich die dreißig Kilometer dahin problemlos pendeln könnte. Ich will mich auf den Kurs konzentrieren, am Strand spazierengehen, ausruhen und von den familiären Verpflichtungen befreit sein. Ich bin noch nie bei einem Workshop zu Gruppenprozessen gewesen. Ich habe vor, die Leute nur sehr vorsichtig an mich heranzulassen. Zwei meiner Freundinnen werden auch dasein; ihr Schutz ist wichtig, denn ich fühle mich einem Zusammenbruch nahe. Ein Zusammenbruch ist manchmal die Voraussetzung für den Durchbruch. Ich habe Angst vor einem Zusammenbruch, aber ich muß unbedingt einen Durchbruch schaffen. Hier habe ich die Möglichkeit, mit Menschen zusammenzusein, die ich nicht kenne. Sie werden keine Erwartungen an mich stel-
len, deshalb werde ich mich nicht nach den Normen der anderen verhalten müssen. Nimm es an. Nimm, was dir unaufgefordert gegeben wird. Konflikte sind kein integraler Bestandteil der Existenz. Erst durch Zurückweisung, Einspruch und Projektion wird das Kämpfen mit dem Sein verknüpft. Frustration ist unverdaute Befriedigung. Glaube an dich selbst, und alles ist möglich. Du bist ein Werkzeug des Lichts und der Macht. Du bist bereit: Nur Hingabe und Glaube sind nötig, damit deine Gaben Früchte tragen. Es sind die Menschen in deiner Umgebung, die Angst vor dem haben, was du lebst. Sie werden dich entmutigen, doch deine Richtung ist vorgegeben. Du bist ein klarer Kanal, und deine Motive sind rein. Wisse, du bist beschützt. Wir konzentrieren unsere Energien auf deine Entwicklung. Wer ist »wir«? Was ist meine »Richtung«? Was bedeutet es, »ein Werkzeug des Lichts und der Macht« zu sein? Ich gewöhne mich gerade daran, Sätze aufscheinen zu sehen, und nun kommen schon ganze Absätze. Ehrlich, ich weiß nicht, was ich mit Informationen wie diesen anfangen soll. Wie verstehe ich das oder wie rede ich darüber? Ich kann nicht sagen: »Vor mir ist ein Absatz, den ich nicht geschrieben habe. Ich habe ihn getippt, aber ich bin nicht die Quelle der Worte.« Die Worte kommen einfach - woher, weiß ich nicht. Ich lege eine Pause ein, höre mit Fragen auf und hole tief Luft. In mein Herz kehrt Frieden ein.
1. August 1977 In dem Workshop hier fühle ich mich unsicher. Meine beiden Freundinnen haben in letzter Minute abgesagt. Ich fühle mich allein und verletzlich, aber ich merke, es ist ganz gut, daß ich mich in dieser Woche nicht bei Freundinnen anlehnen kann.
In der Sitzung am Vormittag war ich zwiegespalten. Ich wollte beobachten und mich ausruhen. Ich wollte aber auch arbeiten. Schließlich sagte ich, daß ich ungeduldig auf mehr Interaktion wartete. Der Leiter fragte mich sanft: »Was würdest du gern fragen, und wen?« Ich schaute eine Frau auf der anderen Seite des Raumes an und fragte sie, an welchen Themen sie arbeite. Eine andere Frau fuhr dazwischen und verlangte, daß ich darüber rede, was ich bearbeiten wolle. Ohne nachzudenken sagte ich, daß mein vierzehnjähriger Sohn vor viereinhalb Monaten getötet worden sei. Rasch versicherte ich alle, daß ich mit seinem Tod fertig würde und mich im Griff hätte. Als ich mich im Raum umblickte, bemerkte ich Leute mit Tränen in den Augen. Ein Mann griff nach meiner Hand. Der Leiter fragte, ob mir klar sei, daß ich gelächelt hätte, als ich über meinen Schmerz sprach. »Nein«, erwiderte ich. Jemand anders beobachtete, daß ich meinen Fokus vom Sprechen über den Schmerz auf das Erforschen der mich umgebenden Gesichter verschoben hätte. Plötzlich erkannte ich, daß ich ihre Gesichter wohl erforscht hatte, um zwischen denen zu unterscheiden, die sich um mich sorgten, und jenen, die Mitleid mit mir hatten. Ich wollte nicht, daß jemand Mitleid für mich empfand. Ich will Ehrlichkeit und Tiefe von anderen, aber ich bin nicht gewillt, sie meinen Schmerz sehen zu lassen. Mikes Tod ist jetzt meine Tiefe; alles andere ist Partygeschwätz. Ich will nicht emotional in ein Korsett geschnürt sein, aber ich weiß auch nicht, wie ich in Anwesenheit anderer Menschen meine Deckung sinken lassen soll. Am Ende des Tages erholten zwei Männer und ich uns am Wasser. Wir unterhielten uns über die Notwendigkeit, mehr auf die Intuition zu achten. Beim Reden entdeckte ich, daß in mir jetzt mehr ist als nur Schmerz. Mein intuitiver Prozeß ist für mich real. Heute nacht erhellt der Mond mein winziges Zimmer. Ich bade im strahlenden weißen Mondlicht. Auf dem Weg
ins Bad bemerkte ich drei Spinnennetze, die dreidimensional gesponnen waren. Wenn ich mich an einem Ort befinde, der für mich richtig ist, gibt es dort immer auch ein Spinngewebe. Spinnen faszinieren mich. Ich denke, wenn ich einer Spinne beim Spinnen ihres Netzes zusehen könnte, würde ich Leben und Tod besser verstehen.
3. August 1977 Ich wachte früh auf, fühlte mich tatkräftig und gut ausgeruht, obwohl ich nur ein paar Stunden geschlafen hatte. In einer Pause fragte heute vormittag ein Teilnehmer des Workshops, ob ich bei der Bewältigung von Mikes Tod Unterstützung wünsche. Bevor ich darauf antworten konnte, bot er mir seine Hilfe beim Trauerprozeß an. Dankbar sagte ich zu ihm, daß ich diese Arbeit nicht in der großen Gruppe machen wolle, denn mein Schmerz sei zu persönlich. Was ich eigentlich sagen wollte, war: »Verstehst du nicht? In meiner Familie trauern wir allein.« Wir unterhielten uns über das Timing. Ich sagte ihm, ich sei sicher, daß wir nicht mehr aufgepackt bekämen, als wir tragen können. Ich klang so wissend. Woher kam das? Ich hatte keine Ahnung, daß ich soviel in mir herumtrage. Als wir wieder in die Gruppe gingen, bemerkte mein Freund: »Du hättest diese Gaben, die du besitzt, oder die Erfahrungen, die du hinter dir hast, nicht bekommen und erlebt, wenn du sie nicht mit anderen teilen solltest.« Er zwinkerte mir zu und meinte: »Es gibt keine Zufälle, weißt du.«
5. August 1977 Alles ist miteinander verwoben. Ich weiß nicht, wie ich den Geburtstag meiner Tochter feiern soll, ohne an den Tod meines Sohnes zu denken. Leben und Tod sind wie Zwillinge. Ich beschließe, an Kelli-Lynnes drittem Ge-
burtstag bei der Schulung in Gestalttherapie zu sein, um etwas Abstand zwischen die Freude, die ich bei ihrer Geburt empfand, und meine Depression über Mikes Tod zu bringen. Ich begreife nicht, warum ich die beiden Ereignisse nicht trennen kann. Eine Mutter ist eine Mutter ist eine Mutter. Heute war Kelli-Lynnes Geburtstagsfest. Wie um meinen inneren Konflikt zu verstärken, stolperte ich über einen von Mikes alten Turnschuhen, während ich ihre Geburtstagstorte über die Hintertreppe nach unten trug. Der Schuh war unter die Veranda gezwängt, doch es war das erste Mal, daß ich ihn sah. Beim Stolpern dachte ich daran, wie Mike alle bei Kelli-Lynnes Party im letzten Jahr geärgert hatte. Er hatte versucht, den ganzen Kuchen aufzuessen, und den kleinen Kindern Gesichter geschnitten. Ich konnte nie verstehen, warum er sich bei Familienfesten so aufführte. Kelli-Lynnes Augen wurden groß, als sie sah, was ich in den Händen hielt. Sie hatte sich einen grünen Pandabärkuchen gewünscht, und nachdem ich mir eine Form ausgeborgt hatte, war ich in der Lage, sie mit so einem Kuchen zu überraschen. Sie und ihre Freunde jauchzten vor Glück, als ich das Meisterwerk auf den Picknicktisch stellte und die Kerzen anzündete. Unter Rufen wie »ich will ein Ohr« und »ich will die Nase« erinnerte ich Kelli-Lynne daran, daß sie sich etwas wünschen mußte. Ich war zwar dankbar, daß Kelli-Lynne sich über die Torte, die Geschenke und den Tag freute, betrauerte aber auch die Tatsache, daß ich nie mehr eine Party für Mike organisieren werde. Warum ist es so schwierig, die Gegenwart zu feiern? Wenn ich mein Leben noch einmal leben müßte, würde ich als erstes Weisheit erbitten und dann erst Kinder.
10. August 1977 Ich erinnere mich mit überwältigender Klarheit an die
Träume der letzten Nacht. Im ersten saß ich auf einem gewaltigen Riesenrad. Die Höhe machte mir genausoviel angst wie die plötzliche Talfahrt, aber ich zwang mich, an Bord zu bleiben. Im Riesenrad zu sitzen, das erkenne ich jetzt, bedeutet, etwas zu fühlen. Der zweite Traum begann mit einer Partyszene. Mike war da, und ich wußte, er würde gleich mit einem Älteren zu ringen anfangen. Die Rauferei begann im Scherz, aber Mike wurde in die Enge getrieben und fing an, im Ernst zuzuschlagen. Sein Gegner war auf einmal jünger als Mike selbst, und anstatt Mikes Mut zu bewundern, wurde ich auf ihn wütend, weil er den starken Mann markierte. Die Leute schauten mich an und wußten nicht, was sie tun sollten. Ich ging auf Mike zu, und der Kampf hörte auf. Ich sagte zu ihm in dem Wissen, daß er tot war: »Ich habe dich lange nicht gesehen. Wie geht es dir?« »Teile von mir sind tot«, antwortete er. »Und außerdem war ich dabei, dir das Leben zu rauben.« Ich versuchte ihm zu sagen, daß er das nicht tat, aber er verschwand. Ich rannte. In dem Wunsch, mich zu verstecken, flüchtete ich in den Keller, wo ich in einer Ecke neues Zeitungspapier fand. Ich mußte in dem Rätsel von Mikes Tod einen Sinn finden. Spontan blickte ich auf und sah neben mir eine Frau stehen. Plötzlich befanden wir beide uns in einem großen Raum voller Menschen. Frauen kamen auf mich zu und sagten: »Ihr Buch war genau das, was ich brauchte«, »wie kann ich noch mehr von Ihnen lernen?« und ähnliche Bemerkungen. Als ich aufwachte, fiel mir wieder ein, wie stark ich mich mit dem in mir heranwachsenden Kind verbunden gefühlt hatte, als ich mit Mike vier Wochen schwanger war. Die Integrität dieser Bindung hielt mich davon ab abzutreiben; ich respektierte den Geist des Kindes, das ich in mir trug. Doch als Mike geboren war, verlor ich das Gefühl für diese Bindung. Mir, die so hart um sein Leben gekämpft hatte, fehlte nach seiner Geburt die geistige Verbindung zu ihm. Nun, nach seinem Tod, fühle ich von neuem, wie wertvoll
diese intrauterine Bindung war.
12. August 1977 Ich mache mir um Gil Sorgen. Er arbeitet zuviel und fällt allabendlich gegen halb zehn in sein separates Bett. Er spricht nur selten von seinen Gefühlen oder über Mike. In seinen Augen sehe ich Schmerz; seine Stimme und seine Energie sind monoton. Letzte Nacht beobachtete ich, wie er schweigend in die Ferne starrte, und ich meinte, er würde weinen. Ich blieb ungefähr fünf Minuten lang unauffällig ruhig, dann fragte ich ihn sanft, an was er gerade denke. »An nichts Besonderes«, antwortete er. »An vieles.« »Es würde mich interessieren, etwas davon zu hören«, bot ich an. Er schlug vor, ein Glas Wein zu trinken, und fragte mich dann, wie mein Tag gewesen sei. Mir wurde klar, daß er, solange ich redete, nicht sprechen mußte. Wie kann ich ihm helfen, über Mike zu reden, ohne ihn zu bedrängen? Gil ging in sein Zimmer schlafen, und ich blieb in meinem allein. Meine Intuition sagte mir, daß mich ein wichtiger Traum erwartete, also legte ich mich schlafen. In dem Traum erschien ich leuchtend. Mein Körper glühte, als hätte ich einen Sonnenbrand, und ich interagierte mit jemandem, der ebenfalls vor Licht schimmerte; ich vermochte nicht zu sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Der Traum hatte weder einen Anfang noch ein Ende, nur Bilder vom Leuchten. Als ich heute morgen wach wurde, wußte ich im Innern, daß ich mich nach vorn bewegt hatte, um mein Leuchten willkommen zu heißen. Ich leuchte, wenn ich auf meine Intuition höre. Und ich weiß von derselben Stelle in meinem Bauch, die auch mit einem psychischen Schubs die Regie übernahm und Mikes Wachstum nach dem Tod unterstützte, daß er hierin irgendwie eine wichtige Rolle spielt. Dennoch fühlt sich sein Tod nach wie vor für mich
wie ein Opfer an. Ein Opfer für dich. Irgendwie weiß ich, daß Mikes und meine Entwicklung miteinander verknüpft sind. Vielleicht entwickle ich mich genau in dem Maß, wie er sich entwickelt. Wage ich die Annahme, daß auch er sich in dem Maß entwickelt, wie ich mich entwickle, oder ist das narzißtisch? Er hat mir gesagt, es gebe keine Teilung, kein Getrenntsein. Verdammt, warum mußte mein wachsender Glaube an meine Intuition mit seinem Tod verbunden sein? Involviertsein führt zu Entwicklung. Wenn ich unterrichte, bin ich inspiriert. Zum Teil bestehen mein Leben und mein Unterricht darin zu zeigen, wie man mehrere Realitäten schafft. Ich weiß, ich muß noch mehr durchleben, bevor ich mit Weisheit unterrichten kann. Zeit ist in unserer Dimension keine anerkannte Realität. Schau noch mal hin. Kannst du dir vorstellen, daß du dich entschieden hast, das Opfer zu bringen und in der physischen Dimension zu bleiben? Der Tod ist kein Opfer. Zu leben ist eines. Du beschließt zu bleiben, Spinnweben zu spinnen.
20. August 1977 Wieder neigt sich eine Jahreszeit ihrem Ende zu, und wenn Mike noch am Leben wäre, würde er sich auf sein erstes Jahr an der High School vorbereiten. Die Sommerferien waren eine Gnadenfrist: Ich mußte nicht sehen, wie die Nachbarskinder jeden Tag zur Schule gehen. Trotzdem fühlte ich mich wund und der Einbildung beraubt, daß ich meinen Verlust erfolgreich bewältige. Wenn ich am Strand Teenager im Bikini sah, setzte ich die Sonnenbrille auf, um meine Tränen zu verbergen. Unweigerlich entdeckte mich jemand und grüßte mich, und dann sahen wir beide rasch weg. Andere fragten, ob sie mir Gesellschaft leisten dürften, oder boten an, mit Kelli-
Lynne zu spielen, oder merkten an, wie gut ich aussähe. Gleichgültig, was sie sagten oder nicht sagten, ich wollte mit der Sonnenbrille mein Herz bedecken. Der Sommer hätte eine Übergangszeit sein können, doch ich sitze hier und fürchte mich vor dem ersten Schultag. Ich fühle mich, als wäre ich durchgefallen. Offenbar habe ich nicht erkannt, daß ich Erwartungen an mich selbst habe. Es ist jetzt fast fünf Monate her. Wie lange will ich so weitermachen?
25. August 1977 In einem Traum sprach ich letzte Nacht mit meiner Freundin Carole. Sie sagte zu mir: »Du fängst an zu zeigen, welche Macht in dir steckt. Ich habe das seit langem gesehen. Intuition ist stets deine Gabe der Prophezeiung gewesen.« Ich flehte: »Aber wie kann ich mich mit Mike verbinden und gleichzeitig uns beiden helfen?« Sie sah mich an, als ob sie an meinem Verstand zweifle. »Was sagt deine Intuition?« »Ich tue es bereits, aber ich muß hören, daß mir das jemand anders sagt«, entgegnete ich.
28. August 1977 An zwei Traumfragmente aus der vergangenen Nacht kann ich mich noch erinnern. Im einen hörte ich jemandem zu, der mir das Geheimnis verriet, wie man ein Zauberer wird. Im anderen konnte ich durch einen riesigen Felsbrocken aus lupenreinem Glimmer hindurchsehen. Ich versuchte herauszufinden, ob die Transparenz von dem Leuchten des quarzähnlichen Kristalls oder durch die Art, wie ich hindurchsah, bewirkt wurde. Ich erwachte mit dem Gedanken: Wenn ich die ganze Zeit auf diese Weise sehen könnte, wäre ich eine Zauberin.
Das Leben ist transparent für jene, die sehen. Die Worte erscheinen einfach auf dem Papier. Vertraue. Hab Vertrauen. Vertraue in das Sein, und alles wird für dich transparent sein.
31. August 1977 Heute nachmittag besuchte mich eine Nachbarin. Sie erzählte mir, wie schwer es ihrer Mutter falle, mit der Menopause zurechtzukommen - ihre Stimmung schwankt, sie ist nervös, macht sich Sorgen und hat Herzklopfen. Als die Nachbarin gegangen war, fragte ich mich, ob einige meiner schlechten Tage mit der Hormonumstellung zu tun hatten, die mein Körper seit der Totaloperation durchlaufen hat. Die Schmerzen in der Brust reichen manchmal bis in beide Arme hinunter und könnten Symptome eines Hormonmangels sein. Diese Schmerzen machten mir anfänglich angst. Ich dachte, ich hätte einen Herzanfall. Wenn sie jetzt auftreten, konzentriere ich mich aufs Atmen, und dann verschwinden sie schließlich. Ich schlucke täglich eine Östrogentablette. Hitzewallungen plagen mich nicht mehr, aber ich hasse es, das Hormon einzunehmen. Östrogen nehmen impliziert, daß ich über meinen Körper keine Kontrolle habe. Mikes Tod zeigt an, daß ich mein Leben nicht unter Kontrolle habe. Kein Wunder, daß mein Herz weh tut! Vor kurzem wurde ich von Träumen förmlich überschwemmt. In dem einen, an den ich mich am besten erinnern kann, nahm ich an einem Radrennen teil. Mein Fahrrad war für drei konstruiert; ich saß in der Mitte. Meine beiden Kameraden und ich strampelten schwer bergauf, aber wir kamen nicht voran. Auf einmal wußte ich, daß ich auf dem vorderen Sitz sitzen sollte. Ich verlangte, auf meine rechtmäßige Position zu wechseln, doch ein Funktionär versperrte mir den Weg und zitierte aus einem Regelbuch: »Der Vordermann …« Ich argumentierte, daß der »Mann« im Gattungssinne verwendet würde, aber er widersprach.
Da ich mich dagegen wehrte, mich von einem veralteten Regelwerk fertigmachen zu lassen, kletterte ich trotz seiner Einwände auf den vorderen Sattel. Meine beiden Teamkameraden schien die Umgruppierung zu verunsichern, sie nahmen aber dennoch ihre Plätze ein. Wir schossen voran und waren nun, da die Kraft ausgeglichen und richtig verteilt war, ohne zusätzliche Anstrengung schneller. Ich war voller Selbstvertrauen. Als wir uns dem Gipfel des Berges näherten und der Sieg zum Greifen nahe schien, merkte ich, daß ich nicht wußte, was sich auf dem Gipfel des Berges befand; ich wußte lediglich, daß das Rennen wichtig war. Hier endete der Traum. In diesen Tagen kommt mir nichts abgeschlossen vor.
5. September 1977 Heute ist der erste Schultag - ein Tag, den ich nicht allein verbringen möchte. Als sich Gil heute morgen rasierte, bat ich ihn, sich den Tag freizunehmen, aber er lehnte ab. Er riet mir, die Rollos herunterzulassen, damit ich die Kinder auf dem Schulweg nicht sähe. »Aber ich möchte, daß wir zusammen sind«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Das ist unmöglich«, antwortete er und schloß die Tür zum Badezimmer. Ich fing an zu weinen. Dann zupfte Kelli-Lynne an meinem Bademantel und fragte, ob ich mit ihr spielte, und ich sagte ja. So flüchteten wir beide nach dem Frühstück nach Two Lights. Als ich Kelli-Lynne zusah, wie sie auf der Jagd nach Schätzen über die Felsen trappelte, fühlte ich mich weniger panisch. Sie beugte sich vor, starrte intensiv in die Gezeitentümpel und hatte dieselben Gesten wie ihr Bruder. Ich fragte mich, wie sie miteinander zurechtgekommen wären und wie er in diesem Herbst gewesen wäre. Mein Gesicht fühlte sich von innen tränenfeucht an, während ich darum kämpfte, nach außen hin nicht zu weinen. Ich blickte aufs Meer, fand aber in den Wellen keinen
Trost. Statt dessen fühlte ich mich aufgewühlt, deshalb griff ich in meine Handtasche, holte ein neues leeres Buch heraus und schrieb dieses Gedicht hinein: Mikes Vermächtnis Der Schmerz des Loslassens höhlt meine Vitalität aus, Während mein Herz sich zusammenzieht und plötzlich Angstkrämpfe bekommt Und meine Augen einen wüstentrockenen Ausdruck zeigen, Die Nachwirkung ungeweinter Tränen. Echos von unbeantworteten Fragen und Worten der Liebe, Die ungesagt blieben; unaufhörliche Aktivität vereitelt meine ver-zweifelten Versuche, Mich zu lösen. Nicht einmal die Nacht bringt Trost und Lindert das Auf und Ab zeitloser Erinnerungen. Langsam und mit auf der Hut versuche ich stumm den Abstieg, Um das Zentrum zu öffnen, dort wo sich mein verwundetes Herz Matt fühlt. Und von neuem bin ich vereinigt mit Der Qual der Instant-Ewigkeit Seiner, nicht meiner. Ohne Vorwarnung weitet sich meine Vision, Und der Augenblick der Bewußtheit Zwischen dem Kummer und der Verheißung dessen, was hätte sein sollen, Taucht in einem Meer des Annehmens, Des Wunders und Geheimnisvollen empor, Da ich erkenne: Wenn er nicht wäre, wäre ich nicht ich. Beim Schreiben des letzten Wortes blickte ich auf und beobachtete, wie mühelos die Wellen in die offenen Felsspalten schwappten. Jede Welle war anders. Manche donnerten heran und spien Seetang aus; andere verur-
sachten nicht mal Spritzer. Wasser transformiert sich, beobachtete ich. Meine Tränen schmeckten nach Salz. Besitzen Tränen auch die Macht zur Transformation? In dir sind Anziehungskräfte. Trau dich, deine eigenen Gezeiten zu fühlen. Ich klappte das Buch zu, winkte Kelli-Lynne, kletterte auf die Felsen und bot ihr an, Piraten zu spielen.
9. September 1977 Noch ein Beispiel, wie ich mich selbst heile: Als sich gestern die ganze Familie bei meinen Eltern eingefunden hatte, stellte ich mir vor, wir würden Zeit finden, über Mike zu sprechen und darüber, wie wir mit seinem Tod zurechtkämen. Niemand erwähnte seinen Namen, so daß mir noch stärker bewußt wurde, daß er nicht da war. Am Morgen wanderten meine Mutter und ich in der Siedlung von einem Garagenverkauf zum nächsten, aber wir redeten nicht. Einige der Erwachsenen verbrachten den Nachmittag mit Kartenspiel, während ich Kelli-Lynne und ihrem Cousin Travis zuschaute, wie sie im Sonnenschein herumtollten. Gil schlief. Keiner der Erwachsenen sprach; tatsächlich hielten wir uns kaum einmal zur selben Zeit im selben Zimmer auf. Als ich meinen Eltern zu erzählen begann, wie schwer der erste Schultag für mich gewesen war, schaltete jemand den Fernseher ein. In dieser Nacht warf ein Traum Licht auf meine Wirklichkeit. Ich war im Zoo und betrachtete mir eine im Käfig gehaltene Frau. Sie lächelte dauernd. Ich sah sie lange Zeit an, dann wurde es mir langweilig. Ich fing an, Grimassen zu schneiden, um die Gefangene dazu zu bringen, mir zu antworten, aber sie äffte mich nur nach. Ich will dieser Person unbedingt helfen, mehr als nur ein Lächeln zu erleben. Es fällt mir immer schwerer, vor der Wahrheit davonzulaufen.
12. September 1977 Mein Kalender füllt sich mit beruflichen Terminen und privaten Verabredungen. Ich fühle mich voll ausgelastet. Meine Zeit ist bereits zu stark verplant. Ich frage mich: Ist es das, was ich möchte? Mike prägte einmal den Begriff »Vergeudung«. Sitzen war Vergeudung. Meditation war Vergeudung. Tagträumen war Vergeudung. Er und ich waren der Ansicht, daß Vergeudung nicht erlaubt sei. »Beschäftigtsein« schien das Gegenteil von Vergeudung, aber jetzt hege ich den Verdacht, daß Beschäftigtsein auch Vergeudung sein kann. So viele Dinge bei Mike sind für mich nach wie vor ein Geheimnis. Er beobachtete immer den Jungen von gegenüber und machte sich Notizen, was dieser gerade tat und um welche Uhrzeit er es tat. In Mikes Radiowecker fand ich Feuerwerkskörper versteckt. Eines Nachts schoß er mit dem Luftgewehr aus seinem Zimmerfenster und ließ es zu, daß ein anderer dafür verantwortlich gemacht wurde. Im letzten Dezember brach seine Negativität voll durch; da ich nicht wußte, wie ich ihm helfen sollte, seine Wut loszulassen, schützte ich mich einfach selbst vor ihm.
16. September 1977 Mein Zimmer hat sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Kelli-Lynne zieht die Schreibtischschubladen auf und stopft ihre Sachen hinein, kritzelt auf jedes erreichbare Blatt Papier und läßt ihre Spielsachen fallen, ohne sie wieder aufzuheben. Ich habe ihr eine Schreibtischschublade überlassen, aber das hat nicht gewirkt, und ich habe die Geduld verloren. Ich hasse es, Kelli-Lynne zu bestrafen oder Maßnahmen zu ergreifen, die ihren Geist vielleicht unabsichtlich ersticken, deshalb beiße ich statt dessen die Zähne zusammen. Seit Mikes Tod habe ich mich zur Geisel des Mutterseins gemacht. Ich will eine perfekte Mutter sein, und ich
glaube unbewußt, daß Kelli-Lynnes Leben davon abhängt, daß ich die perfekte Art, sie zu disziplinieren, finde. Das ist eine verdrehte Sicht der Elternschaft. Purpurrote Pusteln zieren meine Arme und Beine. »Die Nerven«, murmle ich. Heute erzählte ich meinen Eltern ein bißchen verschämt, daß ich depressiv bin. Ich benutzte tatsächlich dieses Wort. »Ich will nur noch schlafen«, sagte ich. Dad sagte, es ärgere ihn, daß ich es nicht schaffe. Mom bot schnell an, eine Zeitlang Kelli-Lynne zu nehmen. »Damit ist das Problem auch nicht gelöst«, sagte ich. Ich weiß zwar nicht, was ich will, aber zumindest tue ich nicht mehr so, als ob ich es wüßte. Ich mache mich selbst depressiv, etwa wenn ich mich mit der Zukunft beschäftige. Ich überlege bereits, wie bedeutungslos Weihnachten ohne Mike sein wird. Mit meiner Familie über ihn zu sprechen würde mir helfen, aber niemand will mir zuhören. Ich bilde mir ein, sie werden zu sehr versuchen, vom Geist des Weihnachtsfestes erfüllt zu sein, und Mikes Name wird nicht erwähnt werden. Der Christbaumschmuck, den er letztes Jahr anfertigte, wird jedoch an ihren Bäumen hängen, und so wird Mike in seiner Abwesenheit anwesend sein. Manchmal ist es leichter, krank zu werden, als zu versuchen, eine Familie zu ändern. Ich halte mich an die Nacht und meine Träume. Da ich nur wenig Glück damit hatte, ein Gefühl der Ganzheit in meinem wachen Leben zusammenzustückeln, halte ich mich in bezug auf Richtung und Integrität an die nächtlichen Visionen. Mein Überleben liegt in meinem Unbewußten.
20. September 1977 Was für ein Luxus - zwei freie Vormittage hintereinander, an denen Kelli-Lynne in der Spielgruppe ist. Heute morgen rief Ben an. Da er sich vor kurzem von seiner Frau
getrennt hat, konnte er den ersten Schultag seiner Töchter nicht miterleben. Ich hörte zu und verstand. Trennungen unterbrechen genau wie Todesfälle die Einheit und Kontinuität. Bill hat zu seinen Töchtern eine Fernbeziehung, und ich fühle den Drang, mich in eine Idee, ein Projekt oder eine Person zu verlieben. Ich liebe Gil nicht, auch wenn ich es versuche. Ich will Teil einer Familie sein, und ich möchte Liebe empfinden und geliebt werden. Gibt es davon für mich hier genug? Ist Gil genug? Nicht jetzt.
8. November 1977 Ein Freund rief mich an, um mir von einem Ehepaar zu erzählen, das er kennt und dessen neunjähriger Sohn beim Radfahren von einem Lastwagen überfahren und getötet wurde. Ich sandte dem Paar eine Karte, auf der ich schrieb, daß auch ich eine Überlebende sei. Ich bot ihnen meine Hilfe an und gab ihnen meine Telefonnummer. Die Mutter rief mich an. Ich ermutigte sie zu tun, was immer sie für richtig halte. Als ich ihr mit bebender Stimme bestätigte, daß sie nun anders als all ihre Freunde sei, liefen uns beiden die Tränen über die Telefonhörer. Sie sagte: »Niemand versteht, und Worte trösten nicht, sondern wirken hohl.« »Ja, ich weiß«, antwortete ich. Und sie wußte, daß ich wußte. Wir verabredeten uns noch für diese Woche zum Mittagessen. Und obwohl ich keinerlei Vorstellung habe, wie sie aussieht, weiß ich, daß ich sie erkennen werde. Eine Aura von Schmerz umgibt eine überlebende Mutter. Nachdem ich eingehängt hatte, weinte ich für sie, für mich, für alle Mütter, die noch den Tod eines Kindes erleben werden. Ich war vom Weinen erschöpft, doch ich empfand einen Funken Befriedigung. Ich hatte mit meiner Erfahrung jemandem im Schmerz geholfen.
11. November 1977 Heute hatte ich meine erste Wahrsagesitzung. Die Hellseherin verwendete ein normales Kartenspiel, und als erstes behauptete sie, ich besäße intuitives Wissen. Ich sei stets beziehungsorientiert, Emotionen seien aber auch meine Achillesferse, da ich Angst vor Zurückweisung hätte. Ich seufzte und dachte an Mikes Tod als ultimative Zurückweisung. »Haben Sie einen Sohn?« fragte sie. »Ja«, sagte ich ruhig. »Zwischen Ihnen beiden besteht eine starke geistige Verbindung. In Ihrer Beziehung ist ein spirituelles Erwachen zu erwarten. Sie haben beide starke Überzeugungen, und Ihre Beziehung wirkt sich auf die Art und Weise aus, wie Sie tragische Vorfälle und glückliche Ereignisse aufnehmen. Zum Beispiel wird Ihre Beziehung die Art und Weise verändern, wie Sie mit dem Tod umgehen.« Ich atmete aus. Mir war nicht bewußt gewesen, daß ich den Atem angehalten hatte. »Mein Sohn ist im März gestorben«, sagte ich zu ihr. »Sie werden den Tod nie wieder als etwas ansehen, das Ihnen einen Menschen wegnimmt, denn Sie merken, daß das nicht der Fall ist. Sie werden Perioden im Laufe des nächsten Jahres erleben, in denen Sie Ihren Sohn um sich fühlen. Er kann im Traum zu Ihnen kommen und Ihnen erzählen, was er gerade lernt und wo er sich befindet. Ziehen Sie diese Träume nicht in Zweifel, denn sie sind real.« Ich fühlte mich etwas ängstlich, als sie begann, meine Entscheidungskarten aufzulegen. »Sie haben hier das Herz-As, das ist die Karte der intensiven Gefühle. Es ist, als ob Sie eine große Schachtel voll Energie, Liebe, Emotion und Schmerz hätten, und Sie halten Ihren Daumen auf das Loch im Deckel. Wenn Sie Ihr mentales Gleichgewicht behalten wollen, müssen Sie das jetzt sofort tun. Sie haben keine Zeit, ihren Emotionen nachzugeben. Sie werden
sich mit den intensiven Gefühlen beschäftigen, aber nicht jetzt.« Ich seufzte. Was für einen Aufruhr hatte ich da zu erwarten! »Was Ihre Entscheidungskarten angeht … haben Sie eine Tochter?« »Ja«, entgegnete ich. »Ihre Karten, die in die Zukunft weisen, sind ein bißchen unsicher.« Wieder hielt ich den Atem an, aus Angst, sie würde mir mitteilen, Kelli-Lynne würde sterben. Ich widerstand dem Drang, aufzustehen und davonzulaufen. »Ihre kleine Tochter ist sehr übersinnlich veranlagt. Sie schlüpft oft aus ihrem Körper. Sie ist eine emotional flüchtige Person und ein offener Kanal für ihren Bruder. Noch etwas möchte ich Ihnen sagen: Sie werden sich gegenseitig sehr lieben, aber Ihr Verhältnis wird das von besten Freunden sein. Je älter sie wird, desto intensiver wird Ihre Freundschaft werden.« Es ist seltsam, daß ich mich nicht wirklich als Mutter meiner beiden Kinder fühlte. Mike war für mich wie ein Bruder, und wir stritten wie Geschwister. Kelli-Lynne ist für mich wie eine Freundin und Lehrerin. Die Hellseherin fuhr fort. »Um Weihnachten herum werden Sie Ihren Sohn vermissen, und Sie werden nochmals den ganzen Schmerz durchleben. Diesmal werden Sie sich damit befassen. Die spirituelle Unterstützung, die Sie in sich wachgerufen haben, ist Ihre Stärke gewesen, doch die Mutter in Ihnen hat den Verlust ihres Kindes noch nicht bewältigt. Die Realität seines Todes wird von neuem schmerzen. Sie können sehr wohl Ihren Sohn zu diesem Zeitpunkt um sich fühlen, und er wird da sein. Er wird auf Sie warten, damit er loslassen kann. Ihr kleines Mädchen wird Sie aus Ihrer Depression holen. Sie werden feststellen, daß sie Dinge über ihn sagt oder von ihm träumt, und sie wird Ihnen die emotionale Unterstützung geben, die Sie brauchen. Sie werden spüren, daß Sie alle drei zusammen sind. In dem Augenblick werden Sie vom Gefühl her erkennen, daß Sie noch immer eine Einheit bilden,
aber Sie werden durch die Hölle gehen müssen. Nun zu Ihrem Sohn … Er taucht in Ihren Entscheidungskarten als reiner Geist auf. Er führt Sie an einen höchst spirituellen Ort. Er kann frei wachsen und sich entwickeln. Ich nehme an, Sie machen sich um ihn keine Sorgen. Er hat so gute Aspekte.« »Nein, ich mache mir um ihn keine Sorgen. Ich habe seine Gegenwart im vergangenen Monat mehr gespürt als unmittelbar nach seinem Tod.« »O ja, denn gleich nach dem Tod eines Menschen steht man immer unter Schock. Ihre Kanäle waren nicht offen, und seine auch nicht.« »Ich glaube, was auch immer er tut oder lernt, es ist für ihn das richtige«, sagte ich mit Überzeugung. »Es muß tröstlich sein zu wissen, daß Sie einen Energiefunken bei sich haben, der stark Ihrem eigenen ähnelt.« Ich spitzte die Ohren. »Das ist interessant. Ich bekam die Einsicht vermittelt, daß es an sich keinen Unterschied macht, wer stirbt - ich oder Mike -, denn wir sind eine ähnliche Energie. Er starb, weil er in der Lage war, unsere Verbindung aufrechtzuerhalten.« »Oh, er wird die Verbindung halten. Und in Zukunft werden Sie Zeiten erleben, in denen er mit Ihnen arbeitet, und dann wird er verschwinden, um anderes zu machen. Hat Ihnen jemand gesagt, daß es nicht darauf ankam, wer starb?« »Ich habe es in einem Traum erfahren«, sagte ich rasch. »Das ist gut. Das ist beruhigend. Sobald Sie den menschlichen Teil Ihrer Trauer überwunden haben, werden Sie enorme Fortschritte machen.«
14. November 1977 Veränderungen gibt es in Hülle und Fülle. Acht Monate sind vergangen, seit Mike starb, und nichts ist gleichgeblieben, mit Ausnahme seines Todes. Und doch, auch
dieser ändert sich. Zu Zeiten fühle ich mich Mike nahe und spüre seine Energie. Ein anderes Mal denke ich an ihn, fühle aber nicht seine Gegenwart. Ich stecke insgeheim in einer Krise ohne Anker. Es kommt mir vor, als befinde sich mein Leben in einem Umbruch; ich habe immer gern unterrichtet, aber jetzt nicht mehr. Ich war gern verheiratet und hielt Familien für Unterstützungssysteme, die in einer Krise zusammenstehen, aber meine Familie ist auseinandergefallen. »Wir sind alles, was wir brauchen« war das Motto meiner Familie, solange ich zurückdenken kann, und doch brauche ich mehr. Ich wollte an ein »Auf immer und ewig glücklich« glauben, aber meine Erfahrung ist: »Sie sind alle Schritt für Schritt gestorben.« Ich will mich am Leben wärmen, anstatt vom Tod tiefgefroren zu werden. Fast jeden Tag werde ich daran erinnert, daß Intensität nicht isoliert werden kann. Die Intensität, die ich in meiner Depression spüre, ist so umfassend, daß ich meinen Humor verloren habe. Es ärgert mich, daß ich so schwer mit all dem kämpfe. Wenn ich glauben könnte, daß die Veränderung einen Rhythmus hat, würde ich mich entspannen und nicht mehr versuchen, alles zu kontrollieren. Wenn ich in der Lage wäre, mit den universellen Rhythmen zu fließen, wäre ich für diesen Prozeß der Veränderung aufnahmebereiter. Vielleicht lautet die Antwort: Sobald ich es glaube, wird es so sein. Ich kichere und füge hinzu: Bis auch das sich ändert.
23. November 1977 In einem Traum, den ich letzte Nacht hatte, befand sich Mike in einer Anstalt für Geisteskranke. Er konnte weder sprechen noch sich bewegen. Ich wollte ihn nicht so auf einen Körper reduziert sehen, der weder Verstand noch Vitalität besaß, und ich fühlte mich wegen meiner Abneigung schuldig. Ich zwang mich, ihn einmal in der Woche zu besuchen; dann sprach ich jedesmal mit ihm, starrte ihn
an und suchte nach einem Zeichen, daß er mich hörte. Er zeigte keine Regung, und ich war von Grauen erfüllt. Wie konnte das einem so energiegeladenen Menschen widerfahren? fragte ich mich. Mitten in meinem Schmerz hörte ich Mikes Stimme sagen: »Schau, Mom, es gibt im Leben Schlimmeres als den Tod.« Plötzlich wachte ich auf, und der Klang von Mikes Stimme hallte in meinen Ohren nach. Träumte ich noch? Sofort fiel mir der Arzt im Krankenhaus ein, der mir gesagt hatte, daß Mike tot sei. Er sagte, hätte Mike überlebt, dann wäre er für den Rest seines Lebens ein Fall fürs Heim gewesen. Acht Monate später fange ich an, den Horror zu begreifen, vor dem wir gestanden hätten, wenn er überlebt hätte. Ich seufzte, zog eine zweite Decke auf das Bett und grübelte resigniert: Ja, es gibt im Leben schlimmere Dinge als den Tod. Aber verdammt, Mike, warum? »Verstehst du es immer noch nicht, Mom? Ich bin ein Licht.« Wieder seine Stimme, und diesmal war ich wach. »Die Frage ist: Glaubst du an mich? An dich?« Das kann ich nicht glauben, sagte ich mir. Ich habe eine verbale Konversation mit meinem Sohn, den ich nicht mehr sehen und berühren kann! »Traust du dich zu glauben? Traust du dich zu vertrauen? Traust du dich durchzusehen?« Was soll das bedeuten? Wie ist es möglich, durch etwas zu sehen? Durch was zu sehen? fragte ich. »Ruh dich aus und vertrau auf deine Sinne.« Ich seufzte erneut. Welche Wahl habe ich? »Sich drehen, sich einlassen, sich lösen, sich entwickeln - alles ist im Gang.« Was ist das für eine Antwort? Ich will etwas, an dem ich mich festhalten kann, forderte ich. Da war nur Schweigen.
24. November 1977 Die Träume der letzten Nacht stecken noch in mir. In dem einem war ich auf einem Luxusdampfer und hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren. Viele Leute an Bord waren Bekannte, und ich war von Feierlichkeit umgeben. Auch Mike war da. Die Leute fragten mich, ob wir immer noch Freunde seien. Die Frage des Tages hieß: »Habt ihr eure Beziehung wieder aufleben lassen?« Ich wachte auf mit dem Gefühl, daß Mike Teil meiner Gegenwart und meiner Zukunft ist. Als ich ihm das erklärte, sagte er schlicht: »Alles ist gut.« Er fügte hinzu, sobald wir begännen, uns gegenseitig zu »beleben«, würde ich wissen, daß alles gut sei. Im zweiten Traum kam ich zu einem Autounfall mit Verletzten. Die Leute murmelten, der eine Fahrer sei schon tot, und für den anderen bestehe keine Hoffnung mehr. Ich beugte mich hinunter und hielt den Kopf des toten Mannes in meinen Armen. Er zeigte keinerlei Lebenszeichen, aber ich wußte, meine Anwesenheit würde ihn heilen. Mike winkte mir vom Straßenrand aus zu und forderte mich auf, mich ihm und anderen bei der Feier »des Tanzes« anzuschließen. Ich weigerte mich: »Ich kann nicht Teil deiner Welt sein. Ich muß hier sein. Jemand leidet, und ich kann helfen.« Andere gingen und schlossen sich dem Tanz an, aber ich blieb da und hielt in meinen Armen den Fremden, der tot war. Im dritten Traum brachte ich im Krankenhaus ein Kind zur Welt. Der kleine Junge wog 4263 Gramm. Ich erwachte verwirrt, weil ich mich nicht erinnern konnte, ob ich die Mutter oder das Neugeborene war. Ich bin immer noch verwirrt. Es ist alles dasselbe. Es gibt keine Trennungen. »Aber ich bin eine Frau, also sollte ich mich selbst als Mädchen gebären«, protestierte ich. Seelen haben kein Geschlecht - nur ein Wesen.
27. November 1977 Gestern abend sprach ich mit Gil über meine Depression. Er hörte zu und versuchte zu verstehen. Ich bat ihn, mit mir für ein Wochenende wegzufahren; ich kam mir wie eine Bettlerin vor. Er lehnte es ab, ohne Kelli-Lynne ein Wochenende auswärts zu verbringen. Er gibt mir alles, nur nicht sich selbst und Zeit.
28. November 1977 Meine Träume haben sich auf eine Art geöffnet, die ich nicht verstehe. Wie soll ich ihre Botschaften in mein Alltagsleben integrieren? Oder mache ich es falsch? Schickt Mike mir Träume? Im Traum der vergangenen Nacht rief mich Mikes Stimme nach unten in den Keller. Als ich halb unten war, sagte er: »Mom, ich bin wirklich froh, daß du, als du meine Asche verstreutest, daran gedacht hast zu sagen, ich sei ein Fischer gewesen.« Als ich den Keller erreicht hatte, sah ich Mike bei der Arbeit an einem wunderschönen Boot zu. »Es ist für die Familie, für Weihnachten«, sagte er stolz. »Ich habe lange am Entwurf gearbeitet.« Ich fragte: »Wird es durch die Kellertür passen?« »Ach, Mom, natürlich. Ich hab' es dir doch gesagt - ich denke jetzt voraus.« Und wir lächelten beide. Das Telefon weckte mich. »Hier spricht Commander Flynn von der Küstenwache. Es tut mir leid, daß ich Sie belästige, Ma'am, aber haben Sie einen Sohn, der Mike Hall heißt?« »Ja«, sagte ich weich. »Ich würde ihn gern sprechen«, sagte der Beamte. Ich sah mich im Schlafzimmer um und fragte mich: Bin ich wach oder träume ich? »Das ist unmöglich«, stammelte ich. »Mike ist tot. Er ist seit acht Monaten tot.« Dann fing ich an zu weinen.
»Hallo«, sagte ich, zitternd und verwirrt. »Ja, Ma'am, das tut mir sehr leid. Das wußte ich nicht. Aber das Boot wurde letzte Nacht gefunden, und das einzige Identifikationsmerkmal waren fünf Hummerreusen, die die Nummer Ihres Sohnes trugen.« »Da muß etwas nicht stimmen. Mike baute an einem Boot, aber es war nicht fertig.« Nein, das war im Traum, fiel mir ein. Bin ich wieder im Traum gefangen? »Mike hatte einen Schein für den Hummerfang«, sagte ich, »und er setzte im letzten Sommer bei meinen Eltern vierzehn Reusen aus, aber er besaß kein eigenes Boot. Er war erst vierzehn Jahre alt.« »Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie mit alldem belästigen muß, Ma'am, aber wir versuchen den Besitzer des angetriebenen Bootes zu finden. In der Sache wird ermittelt. Danke, Mrs. Hall. Ich werde den Bericht schreiben. Guten Tag.« Verwirrt und betäubt legte ich den Hörer auf. Fragen kamen hoch: Was ist los? Hat ein realer Telefonanruf meinen Traum von Mike und seinem Boot unterbrochen? Wieder läutete das Telefon. Es war meine Freundin Marge. »Rosie, ich habe dich seit fünfzehn Minuten zu erreichen versucht, aber bei dir war belegt. Du hast dich aber ziemlich lang unterhalten.« Ich hatte das nicht erfunden! Wenn die Leitung belegt war, überlegte ich, dann war der Telefonanruf echt gewesen. »Oh, Marge. Ich weiß nicht, was ich tun soll«, stöhnte ich. Ohne zu zögern, erzählte ich ihr von meinem Gespräch mit dem Commander der Küstenwache. »Hast du Gil angerufen?« fragte Marge. »Er ist in der Arbeit, aber ich könnte es probieren.« Gil war nicht erreichbar, deshalb hinterließ ich ihm die Nachricht, er solle mich anrufen. Ich wartete bis zur Mittagszeit, um es ihm zu sagen. Er hörte ruhig zu. »Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst, Rose. Du hast da einfach etwas vermengt.«
»Aber findest du es nicht seltsam, daß der Anruf genau nach meinem Traum kam, Gil?« »Seltsame Dinge kommen vor, Rose.« »Aber was ist mit -« »Schau, Rose, ich muß gleich wieder an die Arbeit. Wenn du mehr wissen willst, dann ruf doch bei der Küstenwache an.« Ich sah zu, wie er ging. Ich kam mir so allein vor, wie im Krankenhaus, als ich von Mikes Tod erfuhr. Dann rief ich bei der Küstenwache an und fragte nach Commander Flynn. »Oh, ja, Mrs. Hall. Der Fall ist abgeschlossen«, sagte der Commander. »Ihr Sohn wird nicht mehr verdächtigt, und die verantwortlichen Personen sind von den Behörden festgenommen worden.« Ich mußte mich setzen. »Nicht mehr verdächtigt welcher Sache?« »Drogenschmuggel. Offenbar lasen die Männer vom Tod Ihres Sohnes und haben ihr Boot auf seinen Namen zugelassen.« Ich weinte, legte den Hörer hin, rannte ins Bad und übergab mich. »Wie konnte jemand nur so etwas tun?« schrie ich, und dann übergab ich mich von neuem. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und dachte plötzlich daran, daß ich mich von dem Commander nicht verabschiedet hatte. Ich nahm den Hörer auf, aber die Leitung war unterbrochen. Anscheinend hatte er aufgelegt.
29. November 1977 Gestern traf ich Ilene, deren Sohn vor fünf Wochen getötet wurde, zum Mittagessen. Es war leicht, sich ihr nahe zu fühlen, da wir eine gemeinsame Erfahrung teilten. Wir sprachen offen darüber, daß wir eine Einäscherung unserer Söhne richtig fanden, daß wir uns innerlich »von der Rolle« fühlten und welche zwiespältigen Gefühle wir in
bezug auf das nahende Weihnachtsfest empfanden. Wir gaben beide zu, wenn wir nicht unsere jüngeren Töchter hätten, würden wir die Weihnachtszeit ganz auslassen. In dem Augenblick, als wir uns gestanden, wie stark wir uns den Energien unserer Söhne verbunden fühlten, erklang das Lied »Lady, weinst du?« über die Lautsprecher. Uns liefen die Tränen über die Wangen, während wir dem Text lauschten: »Ich bin zwar nicht hier, aber ich bin dir nie näher als jetzt.« Ich wollte den Zeitpunkt und die Botschaft des Liedes als Zufall abtun, aber ich schaffte es nicht. Durch das Treffen mit Ilene wurde mir deutlich, wie weit ich bisher gekommen bin und wie weit ich noch zu gehen habe. Wir sind zwei weinende Mütter, die gerade genesen. Während ich dies schreibe, spüre ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust, der, wie ich weiß, von meiner tiefen Sehnsucht nach Mike herrührt. Diesmal atme ich tief ein und lausche dem Rat meiner inneren Stimme. Dein Herzchakra öffnet sich. Normalerweise schließt es sich, um den Schmerz abzuwehren, aber du beginnst dich nun der Liebe zu öffnen. Deine Öffnung wird sich schrittweise vollziehen, solange du keinen Widerstand leistest. Ich glaube, ich verstehe. Wenn ich mehr Liebe empfinden könnte, würde ich vielleicht weniger Schmerz empfinden. Wenn ich versuchen würde, mehr mit Gil zu reden, würde ich mich ihm vielleicht näher fühlen. Du kannst alles erreichen, was du willst, solange du nur bereit bist loszulassen. Die Wörter tanzen in meinem Kopf. Wenn ich die Erwartung loslasse, daß Gil sich mir gegenüber öffnet, werde ich dann bekommen, was ich will?
4. Dezember 1977 Ich habe mehrere Entscheidungen gefällt. Es macht mir keinen Spaß, den Psychologiekurs abzuhalten, also werde ich meinen Vertrag nach der letzten Stunde nächste Woche nicht erneuern. Es ist zwar beunruhigend, nicht zu
wissen, wie ich dieses Gehalt ersetzen soll, doch ich habe noch mehr Angst davor, die Begeisterung für das Unterrichten zu verlieren, wenn ich mich weiterhin dazu zwinge, unwillige Studenten zu unterrichten. Meine Freundin Alison rief aus Florida an und bat mich, im Januar einen Workshop über das Tagebuchschreiben zu leiten. Es ist ein perfekter Zeitpunkt, der kalten Witterung zu entfliehen, also sagte ich zu. Ich war noch nie in Florida, und für die Leitung eines Workshops bezahlt zu werden, während ich mit Alison Zeit verbringen kann, erscheint mir wie ein doppeltes Wunder. Der Sonnenschein wird ein zusätzlicher Bonus sein.
20. Dezember 1977 Ich begreife: Wenn ich mich nicht mir selbst stellen will, schreibe ich nicht. Wenn ich meinen Schmerz nicht auf Papier sehe, kann ich ihn verleugnen. Auf der Veranda steht jetzt ein kleiner geschmückter Christbaum. Wenn Kelli-Lynne nicht wäre, gäbe es keinen Baum. Aber sie bestand auf einem Baum und darauf, ihn mit Muscheln, Seeigeln und Seesternen zu schmücken alles Gaben des Meeres, die Mike gesammelt hat. Während ich das letzte Stück aus dem Meer aufhängte, begann ich Kelli-Lynnes Aufregung zu spüren. Wir fädelten dann Preiselbeeren auf, hängten die fertigen Stränge über die Zweige und brachten rote Satinkugeln an. Als ich den fertig geschmückten Baum betrachtete, war er für mich gleichermaßen ein Symbol der Vergangenheit wie der Gegenwart. Bei einer kleinen Adventsfeier beklagte sich einer von Gils Freunden über das Verhalten seines Sohnes im Teenageralter. Ich verließ das Zimmer, denn ich bekam unerträgliche Sehnsucht nach Mike. Wie reagiere ich am besten, wenn sich Eltern über ihre Teenager beklagen? Entschuldige ich mich höflich? Bitte ich sie, damit aufzuhören? Bekannte vergessen entweder, daß mein Sohn tot ist,
oder sie wissen nicht, daß ich noch immer leide. Ich möchte brüllen: »Regt euch ab. Eure Söhne und Töchter sind am Leben. Nehmt, sie in den Arm, bevor es zu spät ist.«
21. Dezember 1977 Als ich aufwachte, fühlte ich mich müde und wollte nicht aufstehen. Ich fauchte Kelli-Lynne mehrmals an, nur weil ich allein sein wollte. Ein Buch über Hoffnung lag auf der Couch, wo ich es gestern abend liegengelassen hatte eine Erinnerung daran, daß ich immer noch depressiv war. Als Gil zum Mittagessen nach Hause kam, gestand ich, daß ich völlig ausgelaugt sei, und fragte ihn, ob er sich den Rest des Tages freinehmen könne, um auf Kelli-Lynne aufzupassen, während ich mich ausruhte. Er hob die Schultern und brachte fünf Gründe vor, warum ich unvernünftig sei, und meinte, es sei für alle eine deprimierende Jahreszeit. Ich kam mir wie ein Opfer vor. Sind Opfer dasselbe wie Märtyrer? Gil schlug vor, ich solle meine Mutter fragen, ob sie kommen und sich um Kelli-Lynne kümmern könne. Ich verwarf die Idee, denn die Straßen waren vereist, und ich wollte nicht, daß meine Mutter mich so sah. Ich malte mir aus, sie würde mir einen Vortrag halten, daß ich zuviel für zu viele tue, und dann pfeifend und singend in meinem Haus herumspringen, um fröhlich zu erscheinen. Für diese Art Heuchelei bringe ich kein Verständnis auf. Bin ich in der Familie die einzige, die durch Mikes Tod noch immer am Boden zerstört ist? Da stehen wir nun vor dem ersten Weihnachtsfest ohne ihn, und alle benehmen sich, als sei alles wie immer. Ich weiß nicht, wie ich damit zurechtkommen soll, ihn zu vermissen, wenn ich die einzige bin, die deprimiert ist. Schließlich machte Kelli-Lynne einen Mittagsschlaf, und ich schluckte eine Beruhigungstablette, die erste seit Mikes Tod - und die letzte, wie ich mir schwor. Da ich aber daran denken mußte, was noch alles zu tun war, konnte
ich nicht schlafen. Bald stand Kelli-Lynne auf, und ich fing an zu weinen. Ich sagte ihr, es tue mir leid, daß ich so abweisend zu ihr gewesen war, aber ich vermißte Mike eben. Sie schaute mich lange an, dann sprang sie auf meinen Schoß, schlang die Arme um mich und flüsterte: »Ich vermisse meinen Bruder auch.« Ich wiegte uns hin und her. Es wurde Abend. Ich verzichtete darauf, Essen zu kochen. Ich verzichtete darauf, Mutter zu sein. Ein Freund kam zu Besuch, und ich hörte Gil sagen, ich hätte »Grippe«. Grippe ist gestattet; Depression natürlich nicht. Wohin soll ich mich wenden?
22. Dezember 1977 Gil überraschte mich damit, daß er heute abend in mein Schlafzimmer kam. Ich war zerstreut, studierte die Zimmerdecke. In Wahrheit blickte ich direkt durch sie hindurch zum nächtlichen Himmel. Die »Zimmerdecke« war verschwunden! Die funkelnde Energie des Sternenhimmels zog mich an, und ich fühlte mich wie bei einem Orgasmus. Ich stupste Gil an und sagte: »Schau dir mal die Decke an.« Doch er sah nur weiße Farbe. Ich erzählte ihm, was ich sah. Er seufzte. Dann wachte Kelli-Lynne auf, und er ging zu ihr, um sie wieder zuzudecken. Ich wußte, er würde nicht zurückkommen. Ich konzentrierte mich auf den Nachthimmel in meinem Zimmer, hypnotisiert und gespannt, als habe mein ganzer Körper auf diese Erfahrung schon seit sehr langer Zeit gewartet. Mein Puls schlug schneller. Ich wollte alles wissen, was es zu wissen gab. Ich holte tief Luft und sagte laut: »Ich bin bereit.« Silberne und goldene Lichtfluten füllten das Zimmer. Beim Hinsehen konnte ich jede Lichtpartikel einzeln und als Teil eines Strahles erkennen. Meine Augen fühlten sich an wie die Linsen einer komplizierten Kamera. Die Fluten aus Gold und Silber verschmolzen und deckten mein Herz
zu. Und als sie das taten, wurde das Licht weiß. Mein Körper war leicht; ich war leicht. Ich befand mich nicht außerhalb meines Körpers, sondern vielmehr im Licht. Auf einmal spürte ich eine vertraute Energie. Ich blickte hoch in der Erwartung, einen Geist zu sehen. Statt dessen war ich gefangen in einem Wirbel aus Licht, dessen Zentrum sich drehte. Ich erkannte, diese vertraute, liebevolle Energie war Mike. Dann fühlte ich Mikes Stimme - nicht in meinen Ohren, sondern in jeder Faser meines Körpers. »Es stimmt«, sagte er. »Ich schicke dir die Essenz der Liebe, das ist das Licht. Ich kann das jetzt.« Als ich noch genauer hinsah, bemerkte ich winzige Strahlen weißen Lichts, die aus meinem Herzen aufstiegen und sich mit der Energiespirale, die Mike war, vereinigten. Ich versuchte nicht, etwas zu tun; die Verschmelzung geschah einfach. Ich übermittelte, was ich dachte: Ich verstehe das nicht. »Entspann dich. Bleib bei dem Licht. Du erlebst gerade, daß auch du Licht aussenden kannst.« »Aber meine Lichtströme sind nichts im Vergleich zu deinen«, klagte ich. »Das liegt daran, daß du noch nicht losgelassen hat. Du mußt die Emotion, die du in mich gesteckt hast, vollständig loslassen. Erst dann können wir mit der Übertragung beginnen.« »Wie lasse ich sie los?« fragte ich. »Du mußt meinen Übergang freudig annehmen. Du hast meinen Körper im Krankenhaus losgelassen, doch jetzt ist ein tiefergehendes Loslassen nötig - denn wenn du meiner Entwicklung deinen Segen gibst, segnest du auch deine Entscheidung, als Instrument der Heilung hierzubleiben. Und im Heilen entwickeln wir uns wechselseitig. Die Entwicklung unserer Seelen ist miteinander verbunden, und um in das Licht zu investieren, mußt du meine Wahl der Entwicklung gutheißen.« »Ich kann deinen Tod nicht gut finden«, sagte ich zu Mike. »›Tod‹ ist dein Wort«, erinnerte er mich. »Ich bin leben-
de Energie. Ich habe einen Antrieb und eine Intention. Wenn ich aufs College gegangen wäre oder geheiratet hätte, hättest du mir deinen Segen gegeben. Wir hätten beide einen Neuanfang, mehr Wissen, eine andere Art der Beziehung erlebt.« »Aber bis dahin war die Zeit noch lang«, klagte ich. »Das College lag drei Jahre in der Zukunft; und eine Heirat viele Jahre. Ich kann diesen Sprung nicht machen.« »Die Zeit ist vollkommen relativ. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - alles ist in meiner Dimension ›jetzt‹«, sagte Mike zu mir. Seine Worte der Weisheit erinnerten mich daran, daß auch unser jeweiliges Alter nicht mehr wichtig war. Unsere Wirklichkeiten waren so anders geworden. Ich meinte nicht den Sohn, den ich geboren und großgezogen hatte. »Deine Segenswünsche sind ein Zeichen des Vertrauens in unsere wechselseitige Entwicklung. Du spürst die schwingenden Vibrationen, die uns verbinden. Die strahlende Energie, die dich beeindruckt, kann tagtäglich empfangen und gesendet werden, aber erst wenn du mich in deinem Herzen losgelassen hast.« »Mit anderen Worten, es ist meine Aufgabe, die Verbindung … wieder zu lösen«, sagte ich. »Genau«, antwortete er. »Es gibt Ebenen des Freigebens, Stufen des Loslassens. Du hast jetzt einen Aspekt deiner eigenen Strahlung erhascht, aber du mußt bereit sein, mich freizugeben. Ich kann das nicht für dich tun. Das ist dein Wissen und deine Aufgabe. Du mußt begreifen, daß du im Loslassen Licht erleben wirst. Vertrau auf deine eigene Strahlung. Vertrau auf deine magnetische Strahlung.« »Warum ich? Warum ›erscheinst‹ du mir? Warum bin ich es, die dich loslassen soll?« »Ich besuche die, die dafür empfänglich sind. Ich bin ein Anfänger. Die Gesetze der Energieumwandlung sind nur mit konzentriertem Lernen zu meistern, und ich manifestiere mich bei denen, die am empfänglichsten sind, im Ver-
trauen darauf, daß sie meine Botschaft an andere weitergeben. Bitte Daddy morgen, mit dir nach Two Lights zu gehen. Ich werde dir ein Zeichen geben, das du erkennst. Vertrau darauf, daß Dad wissen wird, wohin er gehen und was er sagen muß. Er wird keine Ahnung haben, woher seine Worte kommen oder welche Wirkung sie auf dich haben. Sobald du den Glauben an die Realität meines Besuches verlierst, werde ich Licht schicken. Denk daran, einst war ich dein Sohn, und ich werde für dich ein Sonnenzeichen erscheinen lassen. Das ist unser Bund. Die Wahrheit liegt im Licht. Vertrau dem Leben. - Ruh dich jetzt aus, Mom, denn es wird ein schönes Weihnachtsfest werden.« Ich spürte, wir waren eine Einheit. Bedenkenlos sagte ich laut: »Ich gebe dich frei, Michael, mein Sohn. Ich segne deinen Geist. Ich segne dein Leben, und ich gebe dich frei.« Sofort fühlte ich mich von Energie umfangen. Mein Kopf und mein Herz waren eins. Alles schien so offensichtlich, auch meine Besuche in Two Lights. Ich lachte laut auf und erkannte mit jeder Faser meines Wesens, daß Mike und ich zwei Lichter sind. Der Gedanke des NichtGetrenntseins wurde deutlich. Ich fange an, eine andere Wirklichkeit zu begreifen.
23. Dezember 1977 Am dreiundzwanzigsten Tag eines jeden Monats erlebe ich den Tod meines Sohnes von neuem, und diesmal war es der Tag, an dem ich mit Gil nach Two Lights ging. Wir schritten schweigend die gewundene Straße zum Park hinunter. Ich fühlte mich allein, aber nicht einsam. Eine sanfte innere Stärke durchströmte mich. Am Himmel standen riesengroße Wolken, die keine Spur von Blau durchließen. Ich dachte: Licht wird nie und nimmer brechen durch dieses Grau. Doch das immense Maß an Liebe, das ich in meinem Herzen spürte, erinnerte
mich an Mikes Versprechen. Ich hatte meinen Teil getan; ich hatte losgelassen. Was nun? Ich folgte Gil, als er zu einer Klippe schritt, die hoch aus dem Meer aufragte. Ruhig, wie zu sich selbst, sagte er, er sei mit unserer Entscheidung, Mikes Asche hier zu verstreuen, zufrieden. »Jetzt ist Mike ein Teil des Ozeans und ein Teil des Universums«, erklärte er. Die Sonne brach durch, und ich begann erst zu lachen, dann zu weinen. Ich fühlte mich, als sei eine große Last von meinen Schultern genommen. Gil blickte verständnislos drein, unfähig, meine Erregung ganz zu verstehen. Ich wußte, daß Weihnachten gut würde, daß es mir gutgehen würde und daß ich in der Lage sein würde, das Baby meines Bruders willkommen zu heißen, ohne mich schuldig, selbstsüchtig oder in Kummer versunken zu fühlen.
24. Dezember 1977 Ich kehrte mit Kelli-Lynne und meinem Neffen Travis zum nahegelegenen Strand zurück. Dort tobten wir bei einer Außentemperatur von zehn Grad herum! Wir zogen unsere Mäntel aus, und die Kinder formten aus Sand einen Geburtstagskuchen für das Christkind. Wir sammelten Muscheln, Schnecken, Seegras und Tang für die Dekoration des Kuchens. Wir sangen »Happy Birthday«, und die Kinder gingen zu Weihnachtsliedern über. Kelli-Lynne fragte, ob ich ihr zeigen könne, wie man ein Rad schlägt, und so sprang ich auf, spreizte Hände und Beine und wirbelte durch die Luft. Ich schlug ein Rad nach dem anderen bis zum Wasser, während die Kinder ausgelassen in die Hände klatschten. Als ich in den nassen Sand fiel, kamen sie zu mir, und wir rollten miteinander herum und lachten unbeschwert. Für kurze Zeit war ich befreit - gedankenlos und voller Lebensfreude. Nach der Heimkehr tollten die Kinder weiter herum und schenkten den glänzenden Päckchen unter dem Baum
keinerlei Aufmerksamkeit. Wir mußten sie dazu überreden, sich hinzusetzen und ihre Geschenke in Empfang zu nehmen. Als meine Eltern und meine Großmutter kamen, sammelte Kelli-Lynne Bänder, Lametta und Papier auf und heftete sich überall an ihren kleinen Körper Christbaumschmuck. Sie tanzte durchs Wohnzimmer, stürzte über Papierrollen und Berge geöffneter Schachteln und hatte nur Sinn für ihr »Baumsein«. Mom gab mir ein Geschenk und sagte, sie hoffe, es gefalle mir. Vorsichtig wickelte ich es aus dem grünroten Papier. Sie hatte mein Gedicht »Mikes Vermächtnis« gestickt. Ich weinte. Alle sahen weg. Als ich die Worte für mich selbst las, dachte ich: Ja, endlich gehe ich über von der Resignation zur Erneuerung. Moms Stimme rief mich in die Wirklichkeit zurück. Jetzt war ich nicht mehr verärgert und verletzt, weil niemand Mike erwähnt hatte, sondern akzeptierte das Schweigen. Ich hatte ihn genug vermißt. Gil und ich gingen zu einer Vollmondmeditation und holten auf dem Weg dorthin Freunde ab. Ich mußte unbedingt die Heiligkeit von Weihnachten spüren; mit der Familie zusammenzusein, Geschenke zu öffnen, Eierlikör zu trinken und im Hintergrund Musik zu hören hatte mir dieses Gefühl nicht gegeben. Während der stillen Meditation erlebte ich Visionen von bemalten Fenstern und zwei zum Gebet gefalteten Händen. Wir besuchten einen Gottesdienst, der enttäuschend war. Meine Seele sehnte sich danach, sich an Musik zu laben, doch der Chor sang falsch. Ich versuchte, mich auf die Kerzen und den Duft des Weihrauchs zu konzentrieren, aber die plappernden Teenager, die direkt hinter uns saßen, zerstörten den Zauber. Das war das erstemal, daß ich seit Mikes Tod in einer Kirche gewesen war, und die Kirche, so entschied ich, war offenbar nicht mein Medium. Die Weite, die du suchst, ist in dir. Du bist das Mysterium. Du bist die Magie. Du selbst gibst dir Kerzen und Weihrauch und ein offenes Herz und einen offenen Kopf.
25. Dezember 1977 Am Morgen des ersten Weihnachtstages blieben Gil und ich bis neun Uhr im Bett. Ich war erstaunt, daß KelliLynne es schaffte, so lange zu schlafen, wo doch ihr Strumpf und ihre Geschenke unter dem Baum lagen und darauf warteten, geöffnet zu werden. Am Ende feierten wir dieses Jahr dreimal Weihnachten: gestern mit der Familie, heute morgen zu dritt daheim und später dann mit Gils Familie. Auf der zweistündigen Fahrt zu ihnen sangen wir Weihnachtslieder. Wir sprachen auch über die bevorstehende Geburt, denn meine Schwägerin lag in den Wehen. Wie aufs Stichwort stellte Kelli-Lynne Fragen über ihren Bruder: Was ich glaubte, wie Mike Weihnachten feiern würde? Würde er einen Strumpf haben? Würde das neue Baby wissen, daß Mike gestorben war? Was würde Mike meiner Meinung nach tun, wenn er jetzt mit uns im Wagen säße? Wie konnte sie ihm fröhliche Weihnachten wünschen? Würde er sie hören? Sie wartete die Antwort nicht ab. Später am Tag raubte Kelli-Lynne uns allen die Sprache, als sie ganz zwanglos auf ihrem neuen Spielzeugtelefon eine Nummer wählte, Mike erzählte, daß sie ihn wirklich vermisse, und ihm fröhliche Weihnachten wünsche. Dann bat sie jeden im Zimmer, mit ihrem Bruder zu sprechen, damit er wisse, daß wir alle ihn noch immer liebten. Ich staune darüber, wie sie auf sich aufpaßt. Ich zog mich mit Kelli-Lynne früh ins Bett zurück. Wir flüsterten miteinander, und ungefähr zwei Stunden lang streichelte ich ihr über Rücken und Schultern. Bei ihr spüre ich meine Heiligkeit. Nachdem ich in mein eigenes Zimmer gegangen war, schlief ich sofort ein und wachte später im Mondlicht auf. Mit einem Gefühl des Staunens krabbelte ich aus dem Bett, wickelte mich in einen Quilt und blickte aus dem Fenster. Schnee bedeckte den Boden, und das Eis auf dem See schimmerte im Mondschein. Die nächtliche Welt
war in weißes Licht getaucht, und ich betrachtete alles voller Ehrfurcht. Nach einer Weile klingelte das Telefon, und meine Schwägerin verkündete, daß ich Tante einer Nichte geworden sei. Ich war erfreut und erleichtert. Eine Tochter konnten sie unmöglich Mike nennen!
26. Dezember 1977 Weihnachten ist vorbei - das Feiern und die Sonderbehandlung, das Herumfahren, das Durcheinander. Nun kann unsere Welt wieder zur Normalität zurückkehren. Ich sah im Krankenhaus vorbei, um meine neugeborene Nichte Ellenor Ann willkommen zu heißen. Sie ist so winzig, und ihr Kopf ist wie der von Kelli-Lynne geformt. Als ich sie durch die Glasscheibe betrachtete, konnte ich mir, sosehr ich es auch versuchte, meine eigenen Kinder nicht mehr als Säuglinge vorstellen. Was geschieht mit diesen Bildern? Wie können erste bindende Erinnerungen so schnell verschwinden? Ich fragte mich, ob ich noch wisse, wie man ein Neugeborenes hält. Ich konzentriere mich jetzt wieder auf Geburt und Wachstum, erkannte ich. Tod und Kummer haben mich zu lange in ihren Klauen gehalten. Mein Traumleben explodierte in dieser letzten Woche. Es ist wie eine Unterströmung, die die Konturen meines Lebens formt. Meine Wahrheit wird vermutlich weiterhin in der Dunkelheit der Nacht hausen, bis ich in der Lage bin, mir meinen Weg ins Licht zu träumen. In dem »Rückkehrtraum«, wie er sich selbst ankündigte, sah ich das Wort Rückkehr in sieben aufeinanderfolgenden Szenen, die jeweils meine Vergangenheit zum Inhalt hatten. Die erste Szene spielte in der High School. Im engen Rock und stolz auf meinen vollentwickelten Busen, war ich auf der Suche und sehr einsam. Dann kam eine Collage aus Rainbow-Versammlungen, bei denen ich zur Beraterin gewählt wurde und stolz war, daß mir diese
Riesenehre widerfuhr; aber mir war immer noch bewußt, daß etwas fehlte. Die dritte Szene handelte von meiner Beziehung zu Andy und dem Beginn meines Sexuallebens; darauf folgten Bilder von Mikes Geburt. Die fünfte Sequenz zeigte mich auf dem College, als ich Gil traf und so tat, als ob nichts fehle. Als nächstes kam Mikes Tod: Er war allein, und ich fehlte. An die siebte Szene kann ich mich nicht mehr erinnern. Als ich aufwachte, sagte ich zu mir: »All das ist Vergangenheit. Es ist Zeit, neu anzufangen.« Ich spürte, daß Mike hinter all diesen Szenen stand. In einem anderen Traum waren Gil und ich in Montreal, auf dem Weg zu einem Schiff, das im Hafen vor Anker lag. Ich vorneweg, bewegten wir uns zentimeterweise über eine streifenartige Brücke, die ganz dicht über dem Wasser verlief. An bestimmten Stellen entlang der Brücke waren Griffe angebracht, an denen wir uns festhalten konnten; das war alles. Gehen war unmöglich, denn der Durchlaß war zu klein, deshalb schoben wir uns in sitzender Position vorwärts. Mir war kalt, und alle Augenblicke schwappte eine Welle über mich hinweg. Auf das Wasser hinunterzublicken machte mir angst, deshalb sah ich konzentriert geradeaus und behielt das Schiff im Auge. Gil und ich sprachen nicht miteinander. Plötzlich bog sich die schmale Brücke zu einer verdrehten Kurve, die zu bewältigen unmöglich schien. Gerade als ich aufgeben wollte, tadelte mich eine Stimme in mir: »Du kannst. Du mußt. Auf deine Weise. Dein Ziel ist in Sicht.« Ich holte tief Luft und schaute nach hinten zu Gil. Er zuckte mit den Achseln. Ich richtete meinen Blick wieder auf das Schiff, und mit neuer Entschlossenheit passierte ich langsam die Kurve. Sehr zu meiner Freude entdeckte ich, daß ich ganz leicht auf der Innenseite entlanggleiten konnte. Ins Wasser zu fallen erschien nun weniger schlimm, denn ich wußte, ich konnte schwimmen. Ein Mann tauchte auf und fragte uns, was wir täten. Als ich es ihm sagte, zeigte er auf eine andere Brücke - die »Verkehrsbrücke«. Ich sagte ihm, ich hätte sie nicht gese-
hen, und außerdem würde sie mich nicht dahin bringen, wo ich hinwolle. »Nein«, sagte er, »sie führt Sie zum Geschenkeladen.« Er erklärte, daß der Weg zum Schiff auf keiner Karte verzeichnet und es nicht auf »normalem« Wege zu erreichen sei. Ich war entschlossen, nicht aufzugeben. Ich schaute zu Gil und fragte mich, ob er mit mir weitermachen würde. Er sagte, er sei froh, dieses Abenteuer mit mir zusammen zu erleben, doch er habe genug. Ich nickte und entschied, allein zu gehen. Ich wachte auf, bevor ich das Schiff erreichte.
30. Dezember 1977 Gil und ich driften weiter auseinander. Er werkelt im Keller herum, während ich schreibe. Wir stellen keine Forderungen an den anderen. Um etwas für unsere Ehe zu tun, bat ich ihn, mit mir Langlaufen zu gehen. Es überraschte mich, daß er einwilligte. Dann, eine Stunde bevor der Babysitter kommen sollte, teilte er mir mit, er würde lieber mit Kelli-Lynne zu Hause bleiben. Beim Aufbruch in die schneebedeckten Wälder rief ich mir die Zeit in Erinnerung, als Mike und ich im letzten Winter zusammen Ski gefahren waren. Ich dachte an das Lächeln, das er mir jedesmal schenkte, wenn ich nach einem Sturz wieder auf die Beine zu kommen versuchte. Jetzt fuhr ich wieder Ski, allein und schwanger mit Erinnerungen. Mit Schal, Thermofäustlingen und Wollmütze ausstaffiert, folgte ich langsam jemandes Spur, während mir die ganze Zeit Sätze des Versagens aus der Kindheit durch den Kopf gingen: »Du koordinierst deine Bewegungen nicht richtig«, »deine Knöchel sind nicht kräftig genug«, »du bewegst dich nicht graziös«. Ich erstarrte bei dem Gedanken, auf Skiern einen Hügel hinunterzufahren, und sei es nur ein kleiner. »Ich kann, ich kann«, rief ich in das eisige Schweigen.
Plötzlich merkte ich, daß ich, während ich durch meine Erinnerungen wanderte, vergessen hatte, was ich tat; anstatt mir mechanisch zu sagen, ich solle einen Fuß nach dem anderen aufsetzen, glitt ich einfach voran. Die Reflexion der Sonne auf dem frischen Schnee ließ Lichtfunken entstehen. Die Umgebung wurde stellenweise breiter, flachte ab, dann gewann sie ihre Dreidimensionalität wieder. Das Schweigen der Wälder nahm mir alle Befangenheit, und ich bewegte mich auf die Stille und Schönheit mit koordinierter Harmonie zu. Der Traum, den ich letzte Nacht hatte, war irgendwie ähnlich. Ich besuchte jemanden im Gefängnis, als ich auf einmal nicht mehr wußte, auf welcher Seite der Schlösser und Riegel ich mich befand. Eine Tänzerin kam herein und tanzte, was mich noch mehr verwirrte. War ich die Besucherin, die Gefangene oder die Tänzerin? Als der Traum endete, wurde mir klar, daß nur der Tanz real war.
31. Dezember 1977 Ich habe das Jahr, in dem Mike starb, überlebt. Ich habe das Jahr überlebt, in dem ich dreiunddreißig wurde. Jemand erzählte mir einmal, im dreiunddreißigsten Jahr beschließe man, entweder zu leben oder zu sterben. Vielleicht stimmt das. Heute morgen lief ich in eine Lehrerin hinein, die ich in der Junior High School hatte. Ich hatte sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen, doch sie nannte mich bei meinem Namen. Dann stellte sie die gefürchtete Frage: »Wie viele Kinder haben Sie?« »Eines«, sagte ich ruhig und setzte schnell hinzu, daß mein Sohn umgekommen sei. Ich erzählte ihr, wie schwierig die Weihnachtszeit für mich gewesen war, und daß ich nicht erwartete, über den Schmerz jemals hinwegzukommen. Sie nahm meine Hand und antwortete: »Nein, das wer-
den Sie nicht.« Ich verbrachte einen Teil des Nachmittags versunken in das Tagebuch des letzten Jahres. Ich weiß nicht, was mich dazu trieb, die Abschnitte über meine Totaloperation zu lesen. Vielleicht glaubte ich, wenn ich das läse, würde es Licht auf meine offenbar permanente Belagerung durch Kummer in meinem Leben werfen. Als ich die Einträge aus dem letzten Winter las, fragte ich mich, ob ich eine Masochistin oder eine Realistin bin.
7. Dezember 1976 Nachdem sie mich heute untersucht hatte, verkündete meine Gynäkologin plötzlich, ich bräuchte für den Rest der Woche absolute Ruhe. Dann griff sie zum Telefon und meldete mich für eine Gebärmutter-Notoperation in einer Woche und für einen nachfolgenden achttägigen Aufenthalt im Krankenhaus an. »Warum soll ich mich ausruhen, wenn ich doch sofort an der Gebärmutter operiert werden muß?« fragte ich. »Ich fürchte, Sie könnten die Operation in Ihrem erschöpften Zustand nicht überleben«, erwiderte sie sorgenvoll. Ich hielt den Atem an, ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Sie meinen, ich k-könnte sterben?« stammelte ich. »Ja«, antwortete sie und sah mir gerade in die Augen. Ich hatte nicht geahnt, daß der nagende Schmerz in meiner Seite so ernst war. Mir fiel ein früherer Termin wegen der starken Schmerzen ein, die ich nach der Einsetzung eines Intrauterinpessars hatte. Damals hieß es, alles sei in Ordnung. Unter unerträglichen Schmerzen hatte ich es geschafft, mir einzureden, ich sei hysterisch. »Rosalie, da ist noch etwas.« Die Stimme der Ärztin holte mich in die Gegenwart zurück. »Ich muß Sie warnen; ich habe den begründeten Verdacht, daß Sie Krebs haben.«
Krebs - so ein todbringendes Wort, sagte ich zu mir. Keiner in meiner Familie hatte jemals Krebs. »Das muß ein Irrtum sein«, murmelte ich. »Sie müssen mich mit jemand anderem verwechselt haben. Ich bin erst zweiunddreißig Jahre alt.« »Rosalie«, sagte sie sanft. »Hören Sie zu. Es ist ernst. Ihr Leben steht auf dem Spiel.« »Zweifach auf dem Spiel«, murmelte ich. »Ich könnte die Operation nicht überleben, und wenn ich das tue, könnte ich Krebs haben und trotzdem sterben.« »Das ist das Schlimmste, das geschehen kann«, sagte sie ernst. Als ich die Praxis verließ, fühlte ich mich bestraft. »Ich bin zu jung für all das. Was habe ich falsch gemacht?« rief ich in die Leere des Wagens. »Herrgott, ich will in diesem Drama nicht mitspielen. Ich will doch nur normal sein - ein normales Leben führen und Teil einer normalen Familie sein. Ist das zuviel verlangt?« Wie soll ich mir nicht selbst dafür die Schuld geben? Und wie bereite ich die anderen darauf vor? Diese Fragen quälten mich, als ich in die Auffahrt einbog. Bevor ich noch die Zeit fand, mir einen Plan auszudenken, öffnete meine Mutter, die sich fast den ganzen Nachmittag um Kelli-Lynne gekümmert hatte, die Hintertür. »Du siehst gräßlich aus. Hat dir die Ärztin etwas gegen deine Schmerzen verschrieben? Hast du einen neuen Termin?« Die Fragen meiner Mutter sprudelten nur so hervor. Während ich versuchte, zur Tür zu kommen, sah ich auf Kelli-Lynne hinab, die mein Bein umschlang. Ich fühlte mich benommen und wie in Panik. Die Möglichkeit, daß ich meine Tochter niemals groß werden sehen würde, sickerte in meinen Kopf und meinen Körper. Das Geräusch von Mikes schweren Stiefeln auf der hinteren Veranda erinnerte mich daran, daß ich es vielleicht nicht erleben würde, wie er im kommenden Frühjahr an den Wettkämpfen teilnehmen würde. »So war das nicht gedacht. Das Leben soll weitergehen«, flüsterte ich bei mir.
»Rosalie, was ist los?« unterbrach mich meine Mutter. Ich mußte es jemandem sagen, denn das Klopfen in meinem Herzen fühlte sich betäubend an. Aber ich wollte meiner Mutter nicht alles erzählen, was die Ärztin mir mitgeteilt hatte. Unbewegt sagte ich: »Sie müssen mir die Gebärmutter herausnehmen.« »Wann?« stieß sie hervor. »Bald«, murmelte ich. »Ich muß mich erst ausruhen, denn im Augenblick bin ich zu schwach.« Ich hatte mit Absicht nicht gesagt: »Ich bin zu schwach, um das zu überleben.« Ich vermied es auch, von Krebs zu sprechen. Wenigstens hatte ich die Kontrolle über irgend etwas, dachte ich dankbar. »O nein, Rosalie«, antwortete meine Mutter. »Ich hatte gehofft, das würden wir nicht noch mal durchmachen müssen.« »Mom, nicht wir machen das durch, sondern ich.« Ich wollte nicht, daß sie sich mehr aufregte, als ich mich aufregte. Immerhin ging es um meine Zukunft oder um meinen Tod. Mit Sicherheit waren es meine Schmerzen. Wie wird das alles für Kelli-Lynne sein? fragte ich mich. Für Mike wird es leichter sein, denn er ist fast fünfzehn, und sein Leben dreht sich um die Schule, das Schwimmen, das Laufen und um Mädchen. »Was für ein Timing«, stöhnte ich. »Rekonvaleszentin in meiner liebsten Jahreszeit.« Mir fiel ein, wie gut ich Kelli-Lynne Heilung gesandt hatte, als sie in meinem Bauch war. Nur Augenblicke nachdem mir der Arzt verkündet hatte, daß ich mit ihr schwanger sei, riet er mir zu einer Abtreibung mit den Worten: »Rosalie, bei all den Röntgenstrahlen, die Sie in den letzten vier Wochen abbekommen haben, stehen die Chancen neunzig zu zehn, daß Ihr Kind mit starken Mißbildungen, wenn nicht gar mit einem Chromosomenschaden zur Welt kommt.« Entgegen allen Erwartungen war ich schwanger. Ich hatte nur die Möglichkeit, meinen Wunsch, dieses Baby zu
bekommen, in die Tat umzusetzen. Damals und dort beschloß ich, meinen Job als Lehrerin zu kündigen, um meine Energie auf das heranwachsende Leben in meinem Bauch konzentrieren zu können. Die Prognose von heute führte zu einer anderen Entscheidung: Ich würde nur drei Tage im Krankenhaus bleiben, nicht neun. Dafür brauchte ich Hilfe. Ich rief drei gute Freundinnen an und bat sie, mich in heilende Energien zu hüllen und mich in drei Tagen aus dem Krankenhaus zu visualisieren. Zumindest tue ich etwas Positives, überlegte ich. Doch im stillen fragte ich mich, ob es nicht zuwenig, zu spät war. »Ich werde nie mehr die alte sein«, murmelte ich, als ich in die Küche schlurfte. Meine Mutter sah mich seltsam an. Wie konnte ich erklären, daß alles um mich herum eine Aura das Wunders angenommen hatte? Ich war fasziniert von dem Dampf, der aus dem pfeifenden Teekessel strömte, und von den winzigen Händen meiner Tochter. »Ich will mich an alles erinnern, denn …« Ich hielt mich gerade noch davor zurück, das Wort Tod auszusprechen. Als Gil zum Abendessen nach Hause kam, lag ich im Bett, entschlossen, bei der Operation in guter Verfassung zu sein. Ich biß mir auf die Lippen und erzählte ihm, daß die Ärztin Krebs vermute. Es war das erste Mal, daß ich das Wort außerhalb der Arztpraxis in den Mund genommen hatte. Er schaute ausdruckslos. »Ich bin sicher, das schaffen wir, Rosie«, sagte er. Ich teilte seine Zuversicht nicht. »Was ist, wenn wir es nicht schaffen?« fragte ich. »Wir müssen darüber reden, was mit den Kindern geschehen wird.« »Das schaffen wir«, sagte er lässig. »Aber ich muß reden«, bat ich ihn. »Ruh dich aus, Rosie«, sagte er ruhig und schloß die Schlafzimmertür von außen. Ich wurde allein gelassen, ängstlich und wütend. Ich kam mir vor wie die erste Frau, die eine Totaloperation machen lassen mußte. Schlimmer noch, alle, die ich kann-
te und die Krebs hatten, waren tot. Ich schlief ein, wachte aber zwischendurch auf, verfolgt von Bildern des Todes und wie ich davor wegrannte.
8. Dezember 1976 Ich fühle mich beschämt. Ich hasse es, mich bei Freunden zu beklagen, also jammere ich im stillen und schreibe in mein Tagebuch. Ich quäle mich mit Forderungen, daß ich stärker oder wenigstens objektiver sein müsse. Ich bin wütend und entmutigt. Ich weiß nicht, wo meine Stimme ist. Fragen um Leben und Tod schießen durch mein Bewußtsein, und ich bin böse auf diese rüde Unterbrechung meines Lebens!
14. Dezember 1976 Ich stehe unter Medikamenteneinfluß. Das Kodein macht meinen Körper taub. Wenn ich schreiben kann, muß ich am Leben sein, sage ich mir. An den Beginn der Operation erinnere ich mich. Ich war erst halb anästhesiert, als die Ärztin darum betete, daß das Messer geführt werden möge und wir alle beschützt würden. Ich dachte, sie spende mir die Sterbesakramente, und versuchte sie daran zu erinnern, daß ich nicht katholisch sei, doch meine Lippen waren wie gummiartige Lakritze, und meine Worte verschliffen sich. Als ich aufwachte, sagte meine Mutter: »Es ist alles vorbei.« Was ist? fragte ich mich. Ich sah auf die Binden auf meinem Bauch hinab. Mir war heiß, dann kalt, dann heiß, als ob ich klein sei und Fieber hätte. Ich rutschte herum, um eine bequeme Lage zu finden. Als ich merkte, daß ich in meinem rechten Bein kein Gefühl hatte, bekam ich Panik. O Gott, dachte ich, was hat sie herausgenommen? Was
hat sie dringelassen? Ich sank in Schlaf, bevor die Antworten kamen. Als ich erwachte, beugte sich die Ärztin über mein Bett. »Es tut mir leid, Rosalie«, sagte sie. »Ich konnte nichts tun; es gab keine Rettung für -« An den Rest des Satzes kann ich mich nicht erinnern. Mein Leben? Meine Eierstöcke? Als ich das nächste Mal aufwachte, entdeckte ich beschämt, daß ich das Bett durchgeschwitzt hatte. Ich war desorientiert. Ich versuchte mich zu erinnern, welchen Tag wir hatten. Ich versuchte mir die Einzelheiten der Operation in Erinnerung zu rufen. Ich versuchte mein rechtes Bein zu bewegen, dann fiel mir ein, daß es nicht funktionierte. »Was hat mein Bein mit meinen Eierstöcken zu tun?« murmelte ich leise. Meine Mutter wischte mir über die Stirn. »Mir ist so heiß«, stöhnte ich. »Und ich habe Durst. War die Ärztin da oder habe ich das geträumt?« »Sie war da, um dir zu sagen, daß sie deine beiden Eierstöcke und deine Gebärmutter entfernen mußte.« Ich seufzte. »Aber was ist mit -?« Ich hielt inne, da mir einfiel, daß der Krebs mein Geheimnis war. Das Wort wirbelte in mir herum. »Aber mir ist so heiß, und ich kann nicht aufhören zu schwitzen«, beschwerte ich mich. »Und warum funktioniert mein Bein nicht?« Das ergibt keinen Sinn, protestierte ich im stillen. Keiner hat mir gesagt, daß das passieren würde! Eine Schwester kam, und ich bat sie um neue Bezüge. »Mir ist so heiß, und ich schwitze so«, sagte ich ihr. »Sie haben Hitzewallungen«, erklärte sie ruhig. »Ich hole Ihnen eine Tablette, damit Sie sich besser erholen können.« Als sie wiederkam, öffnete ich begierig den Mund, und dann trieb ich von neuem weg, bis ein sanfter Druck auf meinem Arm mich mit meiner Ärztin verband. Sie lächelte und sagte: »Kein Krebs, aber wir haben Proben ins Labor gesandt. Soweit wir feststellen können, sind Sie krebsfrei, aber in einer Woche werden wir die offiziellen Ergebnisse
haben.« Ich seufzte. Sie tätschelte meinen Arm und riet mir, mich auszuruhen. Das nächste Mal weckte mich die Krankenschwester. Sie fragte fröhlich, ob ich bereit sei, die Geburtsurkunde auszufüllen. Ich schüttelte den Kopf, unfähig zu artikulieren, daß ich nie wieder Mutter eines Neugeborenen sein würde. Offenbar hatte man mich in die Wöchnerinnenstation des kleinen Krankenhauses verlegt. Meine Mutter ging dazwischen und schob die Schwester zur Tür, und ich sank wieder in Schlaf. Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, befand sich eine andere Schwester im Zimmer. »Wann kann ich nach Hause?« fragte ich. »In ein paar Tagen«, antwortete sie und gab mir drei weitere Tabletten. Am Abend kam Gil. Ich versuchte wach zu bleiben. Er sah aus, als fühle er sich unbehaglich, deshalb versicherte ich ihm, daß alles in Ordnung sei. Ich wollte, daß er meine Hand hielt und mir sagte, daß das Gefühl in meinem Bein zurückkehren würde. Er redete über das kalte Wetter. Als Gil ging, griff ich zu meinem Tagebuch. Mein Kopf war wie Zement. Wage ich es zu glauben, daß ich nicht Krebs habe, oder warten sie auf den richtigen Zeitpunkt, um mir zu sagen, daß ich Krebs habe? Mein Inneres schmerzt jetzt nicht mehr so stark, aber natürlich betäubt das Kodein die Schmerzen. Sosehr ich auch heilsame Gedanken heraufzubeschwören versuche, kann ich doch nicht anders, ich fühle mich wie ein Opfer. Ich bin zerstückelt worden, und ich werde nie mehr in der Lage sein, ein weiteres Kind zu bekommen.
15. Dezember 1976 Die Ärztin ließ mich heute die Narbe sehen. Sie ist häßlich, und ich war überrascht, wie klein sie ist; ich hatte ein großes Loch erwartet. Eitel überlegte ich, ob ich jemals wieder einen Bikini tragen würde. Die Ärztin riß mich aus
meiner Versunkenheit, indem sie mir die Vorzüge von Östrogenpillen anpries. »Wann kann ich mit der Einnahme aufhören?« fragte ich. »In ungefähr zwanzig Jahren«, entgegnete sie, »aber wir können die Dosis jedes Jahr reduzieren.« Meine größte Hoffnung war, damit die überfallartigen Hitzeattacken, nach denen mich immer fröstelte, zu lindern, deshalb stimmte ich dem Östrogen zu. Auf diese Weise, überlegte ich, könnten auch die Gefühlswallungen, die ich hatte, sich in Luft auflösen. »Rosie, ich möchte, daß Sie fünf Wochen lang sich des Geschlechtsverkehrs enthalten«, sagte die Ärztin auf dem Weg zur Tür. Was für Geschlechtsverkehr? war mein erster Gedanke. Als sie gegangen war, fühlte ich mich verwirrt und zerknirscht. Würde ich in der Lage sein, einen Orgasmus zu haben? Wie würde ich mit diesem sensorischen Verlust klarkommen? Ich habe keine klare Vorstellung von der Person, die ich war, bevor die monatlichen Krämpfe und Blutungen einsetzten. Ich weiß nur, daß ich »meine Freundin« nie wiederhaben werde.
17. Dezember 1976 Heute wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, denn meine Mutter versicherte der Ärztin, daß sie sich um mich kümmern werde. Ich bin nach drei Tagen entkommen - ein Sieg! Ich rief meine drei Heilerfreundinnen an, und wir gratulierten uns gegenseitig. Daß ich Verstopfung habe und mein rechtes Bein immer noch taub ist, zählt nicht … Ich bin aus dem Krankenhaus raus, und ich bin am Leben.
18. Dezember 1976 Ich habe nur wenig Energie, und ich weiß nicht, wie ich
Kelli-Lynne klarmachen kann, daß sie sich zum Knuddeln nicht auf meinen Schoß setzen darf. Wenn sie mir nahekommt, halte ich ihre Hand, streiche ihr übers Haar und schütze mich davor, angerempelt zu werden. Unweigerlich plumpst sie auf meinen Stuhl oder zieht zu fest oder zu schnell an meiner Hand. Dann umkreist uns Mai-Tai, unsere acht Jahre alte Siamkatze, und versucht mir auf den Schoß zu springen. Mir geht es gut, sage ich mir; all das geht vorbei. Ich lebe. 19. Dezember 1976 Ich fühle mich alt. Es ist, als wären meine Gedächtniszellen mit meinen Eierstöcken zusammen entfernt worden. Ich habe die Kontinuität zu der, die ich vor der Operation war, verloren. Dieses Gefühl erinnert mich an das erstemal, als ich mit Mikes Vater schlief. Ich wußte, ich würde danach nie wieder dieselbe sein. Ich war verändert, neu geordnet. Wie sonderbar, den ersten Geschlechtsverkehr mit den Nachwirkungen einer Totaloperation in Zusammenhang zu bringen.
20. Dezember 1976 Ich habe Angst. Ich war bislang nicht der Meinung, daß ein Teil von mir in meinen Eierstöcken sitzt. Ich habe Angst vor einem weiteren Verlust. Rasch höre ich auf, diesen Befürchtungen weiter nachzugeben. Aber ich will sie auch nicht verleugnen. Ich habe meine Gefühle allzu lange verleugnet.
22. Dezember 1976 Es ärgert mich, Weihnachten aussitzen zu müssen. Ich bin keine Invalide, möchte ich die Leute erinnern. Aber ich bin auch nicht mein gewohntes Selbst. In diesem Augen-
blick sind meine Haare schweißnaß, und ein Schweißausbruch überschwemmt meine Brust, mein Gesicht, meinen Rücken - nur weil ich mich weigerte, eine weitere Östrogentablette zu nehmen. Ich komme mir mit diesem nassen roten Gesicht wie ein Clown vor. Ich sehe nicht einmal aus wie ich selbst. Nichts tröstet mich. Heute scherzte eine Freundin: »Denk einfach, wenn wir alle mit der Menopause kämpfen, hast du es schon hinter dir.« Ich kann nicht fünfzehn Jahre weit nach vorn blicken, vor allem wenn ich dazu verurteilt bin, ein Fünftel des Jahrhunderts lang Pillen zu schlucken, nur um nicht im eigenen Schweiß zu ertrinken. Warum kann ich nicht erleichtert sein? Meine Organe waren kaputt, also wurden sie entfernt. Jetzt fühle ich mich kaputt und entfernt. Ich kann anscheinend die Vorahnung des »Was kommt als nächstes?« nicht abstellen. Was werde ich als nächstes verlieren müssen? Ich bin zynisch geworden, und ich bereite mich nicht einmal auf Weihnachten vor. Wo sind meine Lebensgeister geblieben?
24. Dezember 1976 Mike ist eine Freude gewesen. Ich bin zu ihm in die Küche gegangen, als er aus Plätzchenteig Weihnachtsschmuck für die ganze Familie machte - Kreuze mit der Jahreszahl »1976« darauf. Kelli-Lynne schlief, deshalb hatten er und ich etwas Zeit für uns allein, was selten vorkommt. Ich spüre, daß er sich um mich Sorgen macht, aber nicht weiß, wie er das zeigen soll. Wir sind uns so ähnlich. Ich bot an, heiße Schokolade zuzubereiten, aber er wollte für uns beide Tee kochen. Ich mag es, wenn ich von ihm etwas bekomme. Mir fiel auf, wie groß seine Hände geworden waren, daß ein Pfirsichflaum auf seinem Kinn wächst und seine Stimme tief geworden ist. »Mom, meinst du, es ist in Ordnung, wenn ich Stacie ein Geschenk kaufe, oder wird sie denken, ich hab' sie
nicht alle oder so?« Ich lächelte bei der Vorstellung, wie mein vierzehnjähriger Sohn einem Mädchen ein Geschenk überreichte. »Ich denke, sie wird begeistert sein, daß du ihr ein Geschenk gekauft hast«, sagte ich zu ihm. »Ich habe noch fünfzig Dollar vom Schneeschippen, und ich kann noch mehr verdienen. Wieviel, meinst du, sollte ich ausgeben?« »Was willst du denn kaufen?« fragte ich in dem Bewußtsein, daß das für ihn ein Initiationsritual war. »Ich weiß es nicht, Mom. Was denkst du?« »Mike, ich kenne sie nicht, aber -« »Doch, das tust du«, unterbrach er mich. »Ich habe sie dir bei den Schwimmwettkämpfen vorgestellt, und sie kam einmal nach der Schule mit hierher, um sich mit Artie B., Scott und mir Platten anzuhören. Erinnerst du dich?« »Natürlich erinnere ich mich daran, Mike, aber ich kenne sie nicht so gut, um zu wissen, was sie mag.« »Ich auch nicht«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Wie wäre es mit einem Armband oder einer Anstecknadel?« schlug ich vor. »Ja, sie mag Schmuck. Sie sagte, sie würde bei mir etwas bestellen, wenn die Laufmannschaft im März ihren Schmuckverkauf hat. Gute Idee, Mom. Danke, Mom.« Mir war warm ums Herz. So sollte es zwischen Mutter und Sohn sein. Ich empfand es als Privileg zuzusehen, wie er sorgfältig an jedem Ornament arbeitete. Wie lange hatten wir uns durch dieses negative Was-weißt-denn-duschon-Stadium gekämpft. Aber hallo - wir hatten es überlebt. »Wo soll ich den Schmuck kaufen?« fragte er. »Soll ich mitkommen?« »Ich weiß nicht, wie man etwas für ein Mädchen kauft. Ich habe das noch nie gemacht, Mom. Vielleicht kannst du mir helfen, du bist ja auch ein Mädchen. Aber, Mom, du darfst doch nicht Auto fahren.« Seine Besorgtheit berührte mich. »Das ist etwas Besonderes, Mike. Wir haben es ja nicht weit. Schauen wir
mal, daß wir für deine Schwester einen Babysitter bekommen. Wir müssen uns beeilen. Wir haben schon den vierundzwanzigsten Dezember.« »Aber was mache ich, wenn ich es ihr gebe? Ich schäme mich ein bißchen. Was ist, wenn sie für mich kein Geschenk gekauft hat und sich deshalb schlecht fühlt?« Ich hatte vergessen, wie kompliziert das Leben für einen Teenager ist. »Wie wäre es, wenn wir erst mal das Geschenk finden und uns danach überlegen, wie du es ihr überreichen kannst?« »Danke, Mom. Oh, würdest du es für mich einpacken? Im Einpacken habe ich zwei linke Hände. Und ich möchte, daß es gut aussieht.« »Natürlich«, sagte ich, und wir lächelten uns an. Ich mag die Aufrichtigkeit, die wir miteinander teilen. Es hat den Anschein, als wäre ich, als Mike sich zum Jugendlichen wandelte, ein Diskussionspartner geworden. Ich bin dankbar, daß unsere Beziehung sich wieder geändert hat und daß ich nun jemand bin, den man um Rat fragt.
27. Dezember 1976 Weihnachten ist vorüber, und ich habe meine eingeschränkte Teilnahme akzeptiert, so gut ich konnte. Ich war dankbar, vom Kochen verschont zu bleiben, denn ich werde immer noch schnell müde. Kelli-Lynne erhielt so viele Geschenke, daß wir wohl werden anbauen müssen, wenn wir sie alle unterbringen wollen. Mike freute sich sehr über seine neue Angelausrüstung zum Eisfischen. Er streicht auf dem Kalender in der Küche die Tage bis zu seinem Angelurlaub im Februar ab. Am Weihnachtstag hatten wir vier Generationen unter einem Dach: meine Großeltern, meine Eltern, meinen Bruder und seine Frau plus Gil und ich sowie unsere Kinder. Was für ein Geschenk ist es doch, so zusammenzukommen. Jetzt bin ich sicher, ich werde erleben, wie mei-
ne Kinder heiraten und selber Kinder haben, und ich werde es erleben, wie meine Enkel Kinder haben werden. Ich sank in Schlaf mit dem Gedanken an die Kinder meiner Kinder und war dankbar, daß ich meinen Optimismus wiedergefunden hatte. Meine Kinder sind meine Zukunft, und wir sind alle am Leben. Das ist das Geschenk des Weihnachtsfests 1976! 1. Januar 1977 Ich frage mich, ob meine Gynäkologin einen Teil meiner Schaltkreise im Gehirn mit entfernt hat, als sie meine Organe herausnahm. Heute las ich, während Kelli-Lynne ihren Mittagsschlaf hielt, und obwohl ich die Seiten umblätterte, behielt ich nichts von dem Gelesenen im Kopf. Das Buch, an dem Bob und ich arbeiten, soll im Juni fertig sein, aber ich bringe meinen Verstand nicht zum Laufen. Ich schlage mich mit »Du solltest« herum: Ich sollte schreiben, ich sollte es ausnutzen, mit Kelli-Lynne zu Hause zu sein, ich sollte mich auf meinen nächsten Workshop vorbereiten, ich sollte mich ausruhen. Die Wahrheit ist: Ich sollte all diese »Du solltest« verbannen.
14. Januar 1977 Ich möchte mit Gil allein sein. Aber ich hatte Angst, ihn zu fragen, ob er mit mir - und sei es nur für einen Tag entflieht, denn ich gehe davon aus, daß er sagt, er sei zu müde, und ich möchte die emotionale Distanz zwischen uns nicht noch stärker empfinden, als ich es bereits tue. Wir sind in letzter Zeit beide müde gewesen, doch ich frage mich, ob meine Erschöpfung nicht zum Teil Langeweile ist. Wenn ich ausgehe, bin ich mit engen Freunden zusammen. Doch ich bin traurig und wütend, daß ich deswegen ausgehen muß. Ich will, daß die Verbindung zwischen meinem Ehemann und mir intensiv ist. Welchen Sinn hat
die Ehe sonst? Nach Gil ist seine Ehe in Ordnung; doch seine Ehe ist meine Ehe, und ich fühle mich leer.
31. Januar 1977 Heute will ich eine Dialogtechnik ausprobieren, um der Frustration, die ich in meinem Körper verspürte, eine Stimme zu verleihen. Ich: Immer wenn ich eine Östrogentablette schlucke, möchte ich aufgeben. Warum hast du, Körper, mir das angetan? Ich habe mich gut um dich gekümmert. Mein Körper: Wer hat behauptet, daß es für mich eine Garantie auf Lebenszeit gibt? Du hast dich geweigert, auf meine Signale zu hören; du hast deine Schmerzen jahrelang geleugnet, bis es zu spät war und nur noch die Operation blieb. Bedeutet ein Zusammenbruch denn, daß du alles Vertrauen verloren hast? Ich: Ich bin desillusioniert. Ich habe dich als selbstverständlich hingenommen. Ich weiß, ich bin nicht von dir getrennt, aber ich betrachte uns nicht mehr als ein Team. Ich will nicht einmal in deinem Team sein. Mein Körper: Mich als gegeben hinzunehmen war dein Problem. Ich habe dir eine Menge Hinweise geliefert, daß du nicht so gesund warst, wie du getan hast. Merkst du nicht mehr, wieviel besser du dich seit der Operation fühlst? Du hast mehr Energie, weniger Schmerzen und weißt dein Wohlbefinden zu schätzen. Was ist also so schlimm daran, Östrogentabletten zu schlucken? Oder geht es bei diesem Kampf mehr um dein Bedürfnis, dich immer unter Kontrolle zu haben? Ich: Ich nehme dir das alles übel, und ich hasse es, dazu verurteilt zu sein, zwanzig Jahre lang Tabletten aus einer Schachtel zu nehmen, auf der eine Krebswarnung aufgedruckt ist. Ist die einzige Alternative, nachts mehrmals in einem schweißdurchnäßten Bett aufzuwachen? Ich werde um den Schlaf gebracht und kann für niemanden Mitleid empfinden. Alle Frauen, die ich kenne, sind
noch im Besitz ihrer Eierstöcke und ihrer Gebärmutter. Ich komme mir allein vor. Ich bin dankbar, daß ich noch lebe, aber auf das hat mich niemand vorbereitet. Mein Körper: Ich gebe zu, ich stand nicht auf deiner Liste für die Gegenwart oder die Zukunft. Du nahmst an, ich sei perfekt, oder man könnte mich zumindest im Griff behalten, bis der Tod uns scheidet. Ich habe mein Bestes versucht. Ich: So soll das Leben nicht sein. Du hast es ruiniert! Du zerrüttest mich immer noch. Ich will Trost und Harmonie, und ich will dir wieder vertrauen. Diese Frustration verschwendet meine Energie. Ein Telefonanruf unterbrach mein Schreiben. Als ich den Hörer abhob, fühlte ich mich klarer, wenn auch noch unentschlossen.
2. Februar 1977 Die Gruppe zur Hebung des Selbstbewußtseins, die ich seit vier Jahren besuche, wird zu einem weiteren Quell der Frustration. Heute stand das Thema Altern auf dem Programm. Wir redeten über die Reaktionen auf unsere alternden Ehepartner und unser eigenes Gefühl der Hilflosigkeit. Nur zwei von uns sprachen über unsere Ängste: ich und eine Frau, die nach einer Nierensteinoperation Komplikationen hatte. Wir schilderten, wie sehr wir unserem Körper grollen, weil er uns im Stich läßt. Ich erzählte der Gruppe von meiner Beunruhigung, die jedesmal aufkommt, wenn ich mir vorstelle, daß ich in einen körperlichen Zusammenbruch hineinlaufe. Ich erklärte, daß ich es hasse, Östrogen zu nehmen. »Ich bin erst zweiunddreißig Jahre alt, und ich habe keine Eierstöcke und keine Gebärmutter mehr«, sagte ich ernst. Die Intensität meiner Gefühle erschreckte mich. Jemand beruhigte mich mit dem Hinweis, ich solle dankbar sein, daß ich nicht Krebs habe. Jemand anderes tröstete mich damit, daß ich keine Verhütungsmittel mehr
anwenden müsse. Ich nickte passiv mit dem Kopf, obwohl ich eigentlich schreien wollte: Wie kann es mein Körper wagen, mein Leben zu stören! Ich kann nachempfinden, daß manche alten Menschen streitsüchtig werden. Solange sie wütend sind und sich hartnäckig Gehör verschaffen, wissen sie, daß sie am Leben sind. Widerstand ist stärkender als Resignation. Ich möchte echt sein. Ich möchte meine Empörung zum Ausdruck bringen und mir erlauben können, irrational zu sein. Ich will angefeuert werden, wenn ich einen Wutanfall kriege. Wenn mich niemand in meiner Empörung unterstützt, erfülle ich nur die Wünsche anderer. Am meisten brauche ich Unterstützung und die Erlaubnis, am Verlust meiner Organe leiden zu dürfen. Was man mir gibt, sind Platitüden.
16. Februar 1977 Mike plante und richtete die Party zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag aus. Während der Ferien im Februar ging er eisfischen, angelte zehn Fische und versteckte sie in der Kühltruhe eines Freundes. Dann lud er Verwandte und Freunde zu einer Überraschungsparty an meinem Geburtstag bei uns zu Hause ein. Als der Tag gekommen war, war er so aufgeregt, daß er mich sogar auf die Wange küßte, als ich die Kerzen auf dem Kuchen, den er gebacken hatte, ausgeblasen hatte. »So soll es sein«, flüsterte ich zu uns beiden. Er sah verlegen drein, als ich sein Geschenk aufmachte. »Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte er. »Es erinnerte mich an Indianer und Stärke, und ich dachte, du magst Türkis. Es ist doch nicht komisch, seiner Mutter einen Ring zu kaufen, Mom, oder?« Ich lächelte, umarmte ihn und sagte: »Ich mag ihn sehr, Mike. Ich freue mich, daß du ihn mir geschenkt hast.« »Nur für den Fall, daß er dir nicht gefallen hätte, fand ich diese Blumentöpfe für das Küchenfenster. Siehst du?
Man kann sie aufhängen.« Er stolperte über seine großen Füße, als er sie mir gab, und mein Bruder knipste ein Foto. Mike verkündete dann, er hätte eine neue Filmrolle gekauft, so daß wir viele Fotos schießen könnten. Er hatte an alles gedacht. Bevor der Tag zu Ende ging, sagte ich Mike, wie glücklich ich war. Vielleicht können wir jetzt, da ich dreiunddreißig und er fast fünfzehn ist, unsere Liebe und Achtung voreinander zeigen. Ich glaube, wir haben beide die Nase voll vom Streiten.
3. März 1977 Ich habe Der Heros in tausend Gestalten von Joseph Campbell gelesen. Jetzt beginne ich, meine Totaloperation als eine Art Herointrip ins Ungewisse zu betrachten. Die Reise, die ich durchzustehen habe, scheint in vier verschiedenen Phasen abzulaufen: Erstens, die Sorge: Habe ich Krebs? Zweitens, die Erleichterung: Kein Krebs, aber nun fehlen mir Organe. Drittens, der Ärger: Warum ausgerechnet ich? Warum Hormone? Und viertens, der Neuanfang: Durch mein Schreiben und meine Übungen bringe ich mich wieder ins Leben ein. Indem ich meine Operation als eine Reise ansehe, hoffe ich, geduldiger und sensibler mir selbst gegenüber zu werden. Ich glaube an Initiationen und Rituale, aber ich weiß nicht, in welche Richtung meine Einweihung verläuft.
Das Jahr, das den Verlust meiner Gebärfähigkeit mit dem Tod meines Sohnes verband, ist jetzt offiziell vorüber. Die Phase, in der ich Leben und Tod hinterfrage, ist jedoch noch nicht zu Ende.
1. Januar 1978 Einsamkeit, Wahrheit und der kreative Prozeß sind miteinander verwoben. Wenn ich nicht meine Wahrheit ausspreche, schließe ich mit mir selbst Kompromisse. Dann werde ich wütend, unterdrücke meine Wut und isoliere mich. Am häufigsten rege ich mich über meine Familie auf. Wenn ich ihnen zu erzählen beginne, wer ich bin und was ich gerade fühle, widersprechen sie. Manchmal gebe ich nach und bin die, für die sie mich halten. Warum sage ich nicht einfach zu ihnen: »Ich fühle mich leer und allein, wenn ich mit euch zusammen bin, und ich will eine Verbindung fühlen.«
3. Januar 1978 Wieder Träume. Im ersten buk ich Brot. Statt Mehl nahm ich zermahlene Spaghetti. Der fertige Laib war einzigartig und köstlich. Jeder, der ihn probierte, war beeindruckt. »Wie hast du das gemacht?« wollten sie wissen. »Woher hast du die Idee?« - »Kann ich das Rezept haben?« Ich gab beiläufig zur Antwort: »Ich habe genommen, was da war. Alle Zutaten waren einfach nur da.« Im zweiten Traum befand ich mich auf einer Konferenz in Florida. Die Frau auf dem Podium fragte: »Wer kann Unterricht in Eltern-Effektivität geben?« Ich hob die Hand. Dann fragte sie: »Wer kann liebevolle Erziehung lehren?« Wieder hob ich die Hand. »Wer hat die Zeugnisse, einen Kurs über Tagebuchführen zu halten?« Erneut streckte ich die Hand hoch. Die Frau sah mich an und sagte: »Dann müssen Sie Dr. Fisch sein.« Bevor ich etwas erwidern konnte, bemerkte sie: »Aber Sie sehen überhaupt nicht aus wie Dr. Fisch. Sie sehen zu jung und zu normal aus.« Sie forderte mich auf zu übernehmen, und ohne Vorbereitung begann ich. Ich sprach aus Erfahrung. Ich schöpfte einfach nur aus mir
selbst. Was soll ich von diesen beiden Träumen halten? Zunächst einmal, mein Sternzeichen ist Fische. Aufgrund meines Fischwesens bin ich mit Intuition und Mitgefühl ausgestattet. Ich besitze bereits alles, was man braucht, um Unterricht zu erteilen, andere zu erreichen, zu sein. Wenn ich meine Träume als Sprungbrett zum Handeln benutze, kann ich dadurch eine Unterrichtssituation schaffen, in der ich auf das zurückgreife, was ich weiß.
5. Januar 1978 Heute morgen traf ich mich mit der Dekanin des Colleges, an dem ich lehre, und schlug ihr einen neuen Wahlkurs vor: Tagebuchschreiben als kreative Problemlösung. Sie war damit einverstanden, daß eine Beschreibung des Kurses ins neue Veranstaltungsverzeichnis aufgenommen wird. Ich freue mich darauf, mit anderen auf diese Weise zu arbeiten und dafür auch noch bezahlt zu werden! Meine spirituelle Mutter Liz überraschte mich heute nachmittag mit einem Besuch. Ich genoß die Zeit mit ihr zusammen, wenn ich mir auch wegen ihr Sorgen mache. Sie erzählte von ihren Ängsten zu sterben, bevor sie »genug Mutter gewesen« sei. Instinktiv weiß ich, daß sie sich auf ihren Tod vorbereitet. Ich bin traurig und machtlos, doch ich bin froh, daß Liz sich mir anvertraute. Dieser neue Zug in unserer Beziehung ist schön - ich bin für sie Familie, und Familien sollten Orte der Aufrichtigkeit sein.
7. Januar 1978 Kelli-Lynne weinte, als ich sie in der Bibliothek zur Märchenstunde zurückließ. Als ich wegfuhr, dröhnte mir der Satz »Furcht heißt, nicht genug von seiner Mutter zu haben« in den Ohren. Jetzt frage ich mich: Haben wir als Kinder jemals genug? Ich bin eine Vollzeitmutter, bis mei-
ne Tochter in die Schule kommt, aber ich brauche auch etwas Zeit für mich. Seit Mike starb, habe ich den größten Teil meiner Zeit und Energie Kelli-Lynne gewidmet. Ich habe ihr erlaubt, die Löcher in meinem Leben zu füllen, und habe mit allem aufgehört, was ich gerade tat, um mit ihr zusammenzusein. Ich habe sie in hohem Maß benutzt, und sie hat ihre Rolle perfekt gespielt. Wir müssen lernen, wie wir beide zusammen und auch jede für sich sein können.
8. Januar 1978 Ziehe ich mich in meine Träume zurück, weil mein Alltag so schal ist, oder vermitteln meine Träume mir einen Blick auf eine kommende Realität? In Wirklichkeit will ich an mich selbst glauben, und da meine Träume meine Helligkeit widerspiegeln, blühe ich durch sie auf? Im Traum der letzten Nacht trug ich ein langes, enges blaues Kleid und tanzte mit einem Mann, den ich nicht kannte. Wir bewegten uns ohne zu sprechen in perfektem Rhythmus. Er schwang mich hoch in die Luft. Überrascht, erregt und verlegen fragte ich mich, ob meine Unterhose zu sehen sei. Unser Tanz war eine Kunstform; zusammen bildeten wir eine Einheit. Doch plötzlich befand ich mich auf der anderen Seite des Ballsaals und verspürte das Bedürfnis, von meinem Partner unabhängige Bewegungen zu kreieren. Ich glitt in den Flügelschlag eines riesigen Vogels. Ich wirbelte solo in Kreisen umher. Dann schloß ich mich wieder meinem Partner an. Zu welchem Tanz werde ich da eingeladen? fragte ich mich, als ich um zwei Uhr dreizehn morgens aufwachte. Verschlafen bat ich um einen erklärenden Traum und bedankte mich dafür im voraus. Die Antwort folgte in Form eines riesengroßen, feuerspeienden Drachen. Ich war fasziniert, als ich mir dieses Wesen mit schimmernder Haut genau besah. »Du brauchst mich, und ich brauche
dich«, lautete seine Botschaft. Im Traum ergab diese Behauptung einen Sinn. Aber jetzt kann ich nicht ergründen, warum ich einen Drachen oder ein Drachen mich brauchen sollte. Ich verbinde Drachen mit Magie, Macht, mit Wesen, die erschlagen werden, bevor die Jungfrau gerettet wird. Wer oder was sind meine Drachen? Muß ich einen erschlagen, oder muß ich Teile meiner selbst töten? Die Wahrheit ist, ich fühle mich bereits erschlagen.
24. Januar 1978 Ich versuche zu begreifen, wie ich mich selbst sabotiere. Ich hatte eine bakterielle Halsentzündung und Bronchitis. Meine Mutter bot ihre Hilfe an, deshalb erlaubte ich ihr, mich neun Tage lang zu pflegen. Sie schüttelte mein Kissen auf, braute Eierlikör zusammen, verabreichte mir Arznei und unterhielt Kelli-Lynne, während ich schlief … und schlief. Nur einige wenige Male wachte ich auf, um im Geiste Listen anzufertigen, was getan werden mußte. Meistens vermißte ich Mike. Irgendwann kam Kelli-Lynne zu mir und sagte: »Mom, das einzige, was wir tun können, ist, Mike sehr zu lieben und wenig zu vermissen.« Ich habe keine Ahnung, woher sie wußte, was los war. Als sie später wieder auf Zehenspitzen in mein Zimmer schlich, drückte sie mir die Hand und bettelte, ich dürfe nicht auch noch sterben. Ich versprach ihr von neuem, daß ich sie nicht verlassen würde. Etwas an diesem Versprechen rief den Willen wach, gesund zu sein. Kelli-Lynne zieht mich einfach da durch! Ich bin zu erschöpft, mich dem Todeskampf meiner Ehe zu stellen. Der Verlust von Mike geschah plötzlich und unerwartet; meine Ehe kommt mir wie eine unheilbare Krankheit vor. Ich will die Möglichkeit haben, zu lieben und nicht zu verlassen. Ich will die Möglichkeit haben, zu leben und nicht zu verlieren. Ich will tanzen, aber mein Partner ist am Tanzen nicht interessiert.
Ich wühle mich auf der Suche nach einer Orientierung durch Bücher. Gleichzeitig weiß ich, daß nur ich meinen Kurs festlegen kann. Ich stelle mir vor, daß ich auf der Straße auf Leute zugehe und sage: »Verzeihung, ich habe anscheinend meinen Geist verloren. Haben Sie ihn gesehen?« Ist der Drachen in meinem Traum eine Metapher für meinen Geist? Kann man mit seinem Geist tanzen?
31. Januar 1978 Ich habe es so arrangiert, daß Kelli-Lynne ab März an drei Vormittagen der Woche einen Kindergarten besucht. Meine Aufgabe wird es sein zu vermeiden, daß ich meine Zeit anderen überlasse. Es muß ein Gleichgewicht herrschen! Letzte Woche ging alles, was ich zu tun versuchte, schief. Die Wanne schwappte über, als ich meine Kleider in der Waschküche wusch. Ich begann Plätzchen zu backen und stellte dann fest, daß ich keine Eier mehr hatte. Mein Kopf fühlt sich wie Watte an, und ich bin von den anderen Menschen losgelöst. Ich habe auch stärkere Schmerzen in der Brust. Ich ließ mir bei der Ärztin einen Termin geben, denn ich habe Angst vor einem Herzanfall. In gewisser Hinsicht ist es interessant, daß mein Herzchakra attackiert wird. Mein Herz, das direkteste Bindeglied zu meinem Geist, ist abgeschnitten. Kein Wunder, daß es mir so schwerfällt, aus den eingefahrenen Bahnen auszubrechen! Heute schritt ich zur Tat. Ich wischte die Böden, fegte, saugte Staub und staubte die Möbel ab. Aber wie immer geschieht eine Sache auf Kosten einer anderen - das Haus ist jetzt zwar nicht mehr mit Dreckkrusten überzogen, aber ich habe keine Zeit mit Schreiben und äußerst wenig Zeit mit Kelli-Lynne verbracht. Ich brauche eine Haushaltshilfe. 1. Februar 1978
Meine Ärztin bestätigte mir, daß mein Herz in Ordnung und meine Lebenszeichen gut sind. Ich erzählte ihr von Mikes Tod, und sie schlug vor, ich solle Beruhigungsmittel nehmen, bis ich mich wieder »besser unter Kontrolle« hätte. Das lehnte ich ab. Eine tägliche Dosis Östrogen ist Kränkung genug. Bin ich in den falschen Dingen streng? Ich denke, ich schließe einen Kompromiß und nehme streßabbauendes Vitamin B.
6. Februar 1978 Meine Energie nimmt zu. Vielleicht aufgrund der Vitamine oder vielleicht, weil ich weiß, daß ich mehr Zeit für mich haben werde, wenn Kelli-Lynne ab nächsten Monat in den Kindergarten geht. Heute brachte ich Mikes Schreibtisch in das leere Zimmer neben Kelli-Lynnes Kinderzimmer. Ich heftete an die Wände große Bahnen weißes Papier, die Kelli-Lynne mit ihren Wachsmalstiften verschönerte. Ich schreibe, während sie mit mir plappert und ihre Zeichnungen ausmalt. Die Zersplitterung ist in meine Tage eingebaut. Ich schaue mir andere Mütter mit Kindern zu Hause an; unser Leben ist so durchsichtig wie Hühnerbrühe. Nachdem ich jahrelang mit meiner Zeit jongliert und meine Energie verschwendet habe, bin ich entschlossen, mehr Fokus und Handeln in meinen Alltag zu bringen. Im Augenblick ist das Telefon der größte Störfaktor. Als Kelli-Lynne noch kleiner war, hängte ich den Telefonhörer aus, solange ich mich um sie kümmerte. Jetzt ist das Telefon rund um die Uhr betriebsbereit, selbst wenn sie in der Spielgruppe ist und ich mehrere Stunden Zeit für mich habe. Jetzt würde ich es nicht wagen, das Telefon auszuhängen. Was ist, wenn sie stirbt, und ich sitze hier und bin nicht erreichbar?
7. Februar 1978 Der Kampf, mir eine Zeit der Ruhe zu verschaffen, in der ich mich meinen inneren Rhythmen widmen kann, hält an. Ich brauche die Gelegenheit zuzuhören, zu weinen und wertfreie Fragen zu stellen. Ich will mich in Sanftheit und Akzeptanz üben. Ich interessiere mich für einen Wochenend-Workshop zu körperzentrierter Psychotherapie. Schulungen wie diese ließen sich leicht rechtfertigen, als ich noch ganztags arbeitete und Geld verdiente. Nun, da ich nur noch Teilzeit arbeite, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es mir zusteht, Geld in meine Ausbildung zu investieren. Als ich Gil mitteilte, ich wolle heute abend mit ihm reden, sah er beunruhigt aus, war aber dazu bereit. Ich erklärte, da ich im Augenblick nicht Vollzeit arbeitete, hätte ich Schuldgefühle, wenn ich Geld für Workshops ausgäbe, und letztendlich wolle ich frei sein, um an einigen Abenden der Woche schreiben zu können - was bedeute, daß er Kelli-Lynne übernehmen und sich um das Geschirr kümmern müßte. Zeit zum Schreiben zu fordern kam mir äußerst milde vor.
8. Februar 1978 Ich spiele mit der Idee, einen einwöchigen Workshop über Frauen und Kreativität auszuarbeiten. Er würde zwei Themen miteinander verbinden: wie Frauen dazu »erzogen« werden, das Ausdrücken von negativen Emotionen zu vermeiden, etwa Wut und Eifersucht, und wie wenig wir darauf vorbereitet sind, Beziehungen hinter uns zu lassen. Wut ist, so scheint es, in Übergangssituationen immer präsent, genau wie Traurigkeit. Solange diese Gefühle nicht erkannt und zum Ausdruck gebracht werden, bleiben alle Übergänge unabgeschlossen. Der Workshop soll kreative Möglichkeiten für die Artikulation von Wut und Traurigkeit beleuchten.
Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, fällt mir die Haltung auf, die ich pflichtschuldigst nach Mikes Tod weiterhin einnahm. Ich äußerte meinen Zorn auf das Elektrizitätswerk, auf Mike, auf Gott und Artie B., weil sie nicht eingriffen, oder auf meine Familie, weil sie so starr war, nicht laut. Statt dessen wendete ich die Wut nach innen und begann mich schuldig und depressiv zu fühlen. Mein Text lautet: »Wenn ich nur eine bessere Mutter gewesen wäre, wäre Mike noch am Leben. Folglich werde ich KelliLynne eine hingebungsvolle Mutter sein. Wenn ich keine perfekte Mutter bin, könnte sie sterben, und ich werde erneut durch den Tod bestraft.« Erst jetzt fange ich an zu sehen, daß es nicht in meiner Macht steht, für das Leben meiner Kinder zu garantieren. Daß ich es zulasse, daß Gil abends einspringt, damit ich Zeit für mich habe, kommt mir wie ein Schritt in die richtige Richtung vor. Die Eiszapfen schmelzen, und die Enge in meinem Herzen löst sich teilweise auf.
11. Februar 1978 Ich bemühe mich, auf Kelli-Lynnes Schwall an Fragen zum Tod nicht überzureagieren. Sie fragt, ob ich weiß, wann ich sterben werde, ob ich weiß, wann sie sterben wird, ob sie vor mir sterben wird, ob ich denke, daß Mike uns alle sterben sehen möchte. Ich stelle mir vor, sie weiß etwas, das ich nicht weiß, und diese Fragen sind ihre Art, mich auf diese Möglichkeit vorzubereiten.
12. Februar 1978 Ich habe nicht nur den Workshop Körperzentrierte Psychotherapie besucht, sondern dort trafen auch die Person, von der ich dachte, das wäre ich, und die Person, die ich wirklich bin, aufeinander. Die Gegenüberstellung entwickelte sich schrittweise. Wir begannen mit Entspannungs-
übungen. Als wir entspannt waren, wurden wir aufgefordert, zu uns selbst zu sagen: »Ich bin …«, und einen positiven Teil von uns selbst zu fühlen. Sofort sagte ich: »Ich bin kreativ.« Mein Körper reagierte mit einem Energieschub, Mein Gesicht fühlte sich heiß an, und mein Herz raste. Ich hatte den Drang, mich vorwärts zu bewegen. Als Ron Kurtz, der Leiter, uns sanft bat, das entgegengesetzte Gefühl zu benennen, sagte ich: »Ich bin starr.« Mein ganzer Körper zog sich zusammen - mein Becken verengte sich, meine Schultern und Knie versteiften sich, und das Atmen wurde mühsam. Während ich meine eigene Starrheit spürte, fühlte ich mich klein und zu verlegen, um zu sagen, wie winzig ich mir vorkam; durch die Weigerung, dies zu sagen, blieb ich jedoch in dieser Starre. Dann wies Ron uns an, von der positiven Einstellung (»Ich bin kreativ«) zur negativen (»Ich bin starr«) zu wechseln und auf den Punkt zu achten, an dem sich die Wandlung vollzog. Dieser Punkt war bei mir in einen nebelartigen Schleier gehüllt. Ich versuchte mir andere Bilder vorzustellen, doch das Nebelhafte blieb. Nun zerbreche ich mir den Kopf. Warum dieser Schleier? Nachdem ich diesen Punkt beobachtet hatte, sah ich das Bild eines Schmetterlings mit zusammengefalteten Flügeln. Seine Haltung erinnerte mich an die embryonale Körperhaltung mit an die Brust hochgezogenen Knien und nach unten gedrücktem Kopf, die ich oft einnehme, wenn ich erschreckt bin und hoffe, daß niemand in mich hineinsieht. Als ich den Schmetterling genauer erforschte, tauchte ein Adler auf - frei, mächtig und majestätisch in seinem Flug. Auf einmal wurde ich zum Adler und stieg, von Instinkt und Beherrschung getrieben, zum Licht auf. Auf dem Weg traf ich den schimmernden Drachen meiner Träume. Ich kicherte, denn wir tanzten harmonisch miteinander. Ich empfand den Impuls, das Lied »Me and My Shadow« zu singen, als ich mit verblüffender Klarheit erkannte, daß meine Kraft und meine Anmut tatsächlich meine Schatten waren! Nach dem Mittagessen umriß Ron seine Theorie des
Loslassens. Die Energie der Liebe kann erst fließen, nachdem der Schmerz zum Ausdruck gebracht wurde, sagte er. Sobald die Liebe realisiert und artikuliert worden ist, steht die Energie für Sex zur Verfügung, und dann folgen ganz natürlich Freude und Respekt. Ron führte uns dann durch Gehübungen, die uns dabei helfen sollten, uns bewußt zu werden, wo wir im Körper Gefühle »festhalten«. Ich entdeckte, daß die Stelle für Liebe, Kummer und Wut bei mir in der Brust, direkt neben dem Herzen, sitzt. Ich konnte zwischen diesen Gefühlen nicht unterscheiden. Um zum Kern meiner Starrheit vorstoßen zu können, das wurde mir klar, würde ich mit der Wut beginnen müssen. Ron fragte nach Freiwilligen, um eine Wutübung vorzuführen, und bevor ich noch nachdenken konnte, stand ich auf. Um mich herum wurden Kissen aufgehäuft, und drei Personen boten an, meine »Wächter« zu sein, damit ich mich nicht verletzte. Ich fing an, die Kissen mit meinen Fäusten zu bearbeiten, dann mit meinen Füßen. Ich biß die Zähne aufeinander und hielt die Lider fest geschlossen, damit ich nicht sah, was ich tat. Sofort tauchte in mir ein Bild von meinem Vater auf. Ich schrie ihn an: »Der Teufel soll dich holen!« Jemand flüsterte: »Schrei lauter« und drückte mir auf den Bauch. Ich schrie die Worte von neuem heraus und schlug noch fester auf die Kissen ein. Meine Stimme schien von meinen Zehen zu kommen. Dann kam ein Bild von Mike, und ich brüllte: »Der Teufel soll dich holen, weil du gestorben bist. Geh zum Teufel!« An diesem Punkt überschwemmten Tränen meinen Körper. Jemand drängte mich, ein bißchen länger bei der Wut zu bleiben, und nun tauchte auf einmal ein Bild von mir auf? Ich entwickelte eine heftige Wut auf mich, weil ich wütend war! Ich prügelte auf die Kissen ein, kickte um mich und schrie. Dann wurde ich von einem Bild von Mike im Sarg überwältigt, und ich begann zu weinen. Ich weinte mit weit geöffnetem Mund und fest geschlossenen Augen. Irgendwer wiegte meinen Kopf, während jemand anders
mir die Tränen abwischte. Ich war zu schlapp, um mich zu widersetzen, und zu erschöpft, um mich zu bedanken. Ich wollte die Augen nicht öffnen. Was würden sie alle von mir denken, weil ich mich so benommen hatte? Ich zitterte, denn ich hatte ein Familiengesetz gebrochen: nie eine Szene zu machen. Als ich meine Augen noch fester zusammenpreßte, hörte ich: »Es ist gut, Rosie.« Widerstrebend hob ich die Lider. Meine drei Helfer sahen mich mit feuchten Augen an. Sie waren nicht zusammengebrochen oder davongelaufen! Sogar obwohl ich wütend und am Boden zerstört war, waren sie alle bei mir geblieben. Vielleicht bedeutet das, daß ich trauern kann und die Leute werden dennoch an meiner Seite bleiben. Soviel ist klar: Ich muß meine Gefühle nicht unterdrücken, um für andere oder mich selbst sorgen zu können.
16. Februar 1978 In den vergangenen Tagen war ich mit Terminen vollgepackt. Deshalb machte ich, als Kelli-Lynne heute verkündete, sie wolle »den ganzen Tag über« im Schlafanzug bleiben und »nirgendwohin gehen«, uns beiden die Freude und sagte: »Wenn ich mich auch nicht anziehen muß.« Wir kicherten wie zwei kleine Kinder, die ein wichtiges Geheimnis miteinander teilen. Und wir verbrachten den Tag in unseren Schlafanzügen. Heute abend hatte ich einen Termin mit einem Klienten und staunte über mein Können als Beraterin. Solange ich mich auf meine Intuition verlasse, bin ich fokussiert und sanft und kann als Führerin dienen.
19. Februar 1978 Ich sah mir im Kino den Film Equus an und fand die Geschichte fesselnd, vielleicht weil die Hauptperson in
Mikes Alter war. Ich achtete genau darauf, welche Rolle die Mutter bei dem Verbrechen ihres Sohnes spielt, und fragte mich die ganze Zeit, wie meine eigene Rolle in der Geschichte von Mikes Tod aussieht. Wann werden die Fragen aufhören? Wann wird der Tod einfach nur sein? Sobald du dir das Recht absprichst, darin eine Rolle zu spielen. Ich holte tief Luft. Ich war nicht dabei, als Mike starb. Zum ersten Mal seit fast einem Jahr fühle ich mich nicht dafür schuldig, daß ich nicht in der Lage gewesen war, das Leben meines Sohnes zu retten.
22. Februar 1978 Gil und ich haben uns heute Fertighäuser angesehen. Ich hätte vorhersehen müssen, daß er behaupten würde, sie seien alle zu teuer. Ob der Preis stimmt oder nicht, ich bin entschlossen, aus diesem Haus auszuziehen. Ich will nicht auf der Veranda sitzen und auf den Schulhof schauen oder durch das Küchenfenster auf die Stelle blicken, an der mein Sohn starb. Der Tag war keine totale Enttäuschung. Wir besuchten ein Ehepaar, dessen Sohn vor ein paar Jahren durch einen Stromschlag ums Leben gekommen war. Sie hatten uns kurz nach Mikes Tod angerufen, uns Tröstung angeboten und uns eingeladen, sie zu besuchen, wann immer wir wollten. Bei ihnen fühlte ich mich sicher. Ich war nicht versucht, sie daran zu hindern, meinen oder ihren eigenen Schmerz zu spüren.
1. März 1978 Unsere Chance für einen Neubeginn hat Gestalt angenommen! Wir gaben ein Gebot für ein neues Haus ab, abhängig vom Verkauf unseres jetzigen Hauses. Heute
habe ich methodisch begonnen, alles Holz zu streichen, die Decke zu reinigen und eine Menge anderer Schönheitsreparaturen auszuführen, die ich all die Jahre aufgeschoben hatte. Dieses Haus hat noch nie so gut ausgesehen! Ich weiß, daß die ersten Interessenten, die durch die Tür kommen, es kaufen werden. Ich bin nicht nur aufgeregt, mir wird übel, wenn ich einen Umzug ohne Mike plane.
16. März 1978 Wie ich vermutete, hat das erste Pärchen, das durch das Haus ging, es auch gekauft. So nahm ich heute mit einem Ritual Abschied von dem Haus, das fünf Jahre lang mein Heim war, von dem Haus, das Kelli-Lynnes Geburt und Mikes Tod miterlebte. Ich ging mit einer weißen Kerze und einer Handvoll Salz durch alle Zimmer. Ich zählte Erinnerungen auf, wie sie kamen, und verstreute Salz, um die Energie zu neutralisieren. Ich weiß nicht, woher dieses Ritual stammt; vielleicht kenne ich es schon immer. Warum ähnelt mein Leben einem Totenlied? Carl Gustav Jung behauptete, wir würden ohne den Schmerz nicht zu Bewußtsein kommen. Andere schreiben, die Krise gehe der Transformation voraus. Ich glaube fest, daß alles Tun zweckbestimmt ist, daß eine Krise zu Wissen führen kann. Mein eigener Prozeß des Wachsens erfordert, daß ich hinter mir lasse, was ich nicht mehr brauche. Aber wie tue ich das auf kreative Weise? Auf ordentliche Weise? Ich muß eine Geographie meines Bewußtseins schaffen, damit ich zwischen Egoismus und Selbstführung unterscheiden kann.
23. März 1978 Heute vor einem Jahr starb mein Sohn. Ich weiß, wie man Geburtstage feiert, aber ich habe keinerlei Anleitung,
wie man Todestage begeht. Gil erklärte sich bereit, sich den Vormittag freizunehmen, damit wir zusammen wären. Wir lieferten Kelli-Lynne im Haus einer Nachbarin ab und fuhren zum Frühstücken. Zuerst war es unangenehm. Ich gestand, daß ich nicht wisse, wie ich tun solle, was immer wir taten. Ich wollte, daß wir über Mike redeten, uns gemeinsam an ihn erinnerten. Gil wollte über das Wetter reden. Ich wollte besprechen, wie wir als Familie überleben können. Gil wollte wissen, was in den Muffins war, die er aß. Ich wollte auf unseren Schmerz zu sprechen kommen; er beschwerte sich, das Essen sei teuer. Als ich mich abwandte, um meine Tränen der Enttäuschung zu verbergen, entdeckte ich am anderen Ende an der Wand eine Fotografie. Das Bild erinnerte mich an Mike und die Bedeutung dieses Anlasses. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich es mir näher ansehen. Es war die Darstellung eines Sonnenuntergangs über einem morastigen Sumpf; apricotfarbene und graue Wolken warfen ihre Schatten auf die Landschaft, und ein Strahl apricotfarbenen Lichts erhellte die glatte graue Wasserfläche. Die Bedeutung war einfach: Der Sonnenuntergang markiert das Ende des Tages, und der Sonnenstrahl verspricht ein Morgen. Ich bemerkte, daß die Fotografie käuflich war, und so ging ich zu Gil, damit er sie sich ansehe. Ich hoffte, er würde die Symbolik darin genauso schätzen, wie ich es tat. Statt dessen bemerkte er: »Wer soll denn für eine Fotografie dreißig Dollar zahlen?« »Ich«, sagte ich. Ich schrieb rasch einen Scheck aus und gab ihn der Kassiererin, bevor Gil mich überzeugen konnte, daß ich furchtbar sentimental sei. Als wir das Restaurant mit dem Bild verließen, sah Gil auf seine Uhr und meinte: »Wenn du mich nicht mehr brauchst - auf mich wartet eine Menge Arbeit.« »Aber es ist erst zehn Uhr«, entgegnete ich. »Rose, wir können diesen Tag nicht für heilig erklären, nur weil Mike zufällig am 23. März letzten Jahres gestorben ist.«
»Gil, ich bitte nicht darum, daß wir ihn für heilig erklären, aber ich will mit dir reden und zusammensein.« »Das haben wir getan, und jetzt ist das Frühstück vorüber«, sagte er scharf. »Dann bin ich jetzt wieder allein«, sagte ich. Er nickte. Ich setzte ihn an seiner Arbeitsstelle ab, packte zusammen und fuhr nach Two Lights. Auf einen Impuls hin hielt ich an einem Blumengeschäft und erstand eine langstielige rote Rose, die ich in den kalten Ozean werfen wollte. Nachdem ich die Rose ins Meer geworfen hatte, schrieb ich das folgende Gedicht: Ohne dich hätte ich nie die emotionale Berg- und Talbahn, einen Sohn zu bemuttern, erlebt. Ohne dich hätte ich mich niemals dem Leben und Lieben ergeben. Ohne dich hätte ich niemals die Schärfe des Kummers geschmeckt. Ohne dich hätte ich niemals den Abgrund der Einsamkeit betreten. Ohne dich hätte ich mein Leben nur halb gelebt. Sobald ich die letzte Zeile niedergeschrieben hatte, erschien am unteren Seitenrand ein kürzeres Gedicht: Heranbrandende Wellen beeilen sich, den Abgrund zu füllen. Wie ich wirbeln sie umher, um die gespaltenen Ränder des Kummers zu füllen. Im Laufe des Nachmittags blieb ich in der Nähe des Telefons, in der Hoffnung, tröstende Worte von meiner Mutter oder meiner Großmutter zu hören. Das Telefon klingelte nicht. Gil kam zum Abendessen nach Hause und verkündete dann, er gehe mit meinem Bruder noch etwas trinken, um des Tages zu gedenken. »Aber was ist mit mir?« fragte ich mürrisch. »Du magst doch kein Bier, Rose.« »Das meine ich nicht, Gil. Ich will nicht allein zu Hause
bleiben, vor allem heute abend nicht«, bettelte ich. »Du bist nicht allein. Kelli-Lynne ist da.« Ich war wütend und konnte nicht glauben, was ich hörte. Kummer wird getrennt ausgelebt. Wann werde ich begreifen, daß ich auf mich selbst gestellt bin? Als Gil ging, rief meine beste Freundin an. Sie hatte an den Tag gedacht. Nachdem ich mit ihr geredet hatte, brachte ich Kelli-Lynne ins Bett und schenkte mir ein Glas Wein ein. Wenn sich Gil betrinken kann, kann ich es auch, dachte ich, entschied aber, daß Trinken nicht meine Art war, Mike zu ehren. Statt dessen zündete ich zwei weiße Kerzen an, schwängerte die Luft mit Sandelholzduft, setzte mich auf ein Polster und hörte mir Gustav Mahlers 2. Symphonie (»Auferstehungssymphonie«) an. Als der erste Refrain erklang, nahm ich meinen Füller und schrieb: Mich windend, pulsierend, festheftend, Isolierend, beharrend, absteigend, Dringe ich zum Kern meiner Anfänge vor. Ich schlucke, würge, erbreche In meine eigene Dunkelheit. Ich taumle und beharre, Um meine Erleuchtung wiederzuerwecken. Inmitten des Echos der Ratgeber ziehe ich mich zurück, Stattdessen auf einen schwachen, vertrauten Klang zu reagieren: Auf eine Note in meinem Körpergedächtnis, Die durch die Echos der Dunkelheit widerhallt. Meine Reise zurück zu meinen Anfängen Verspricht, mich zu meinen Tiefen zu führen. Gehüllt in ein winzigkleines Zögern Verpflichte ich mich stillschweigend ein weiteres Mal, Die Bedeutung dieser Note zu suchen, Die im Innern ein Echo wirft Wie der Schatten an einem diesigen Tag. Keine Ausgänge. Verheißung ist mit Schmerz gemischt. Und Schmerz mischt sich mit Verheißung.
Ich beging den Jahrestag von Mikes Tod mit Poesie und Tränen. Meine Mutter rief nicht an. Gil ist bis jetzt nicht nach Hause gekommen. Und in achtzehn Minuten wird der Tag, an dem Mike vor einem Jahr starb, vorüber sein.
Konflikte waren für Frauen tabu. Frauen sollen der Inbegriff des Schlichters sein, sie sollen vermitteln, sich anpassen und beschwichtigen. Doch Konflikte sind notwendig, wenn die Frauen sich in Zukunft entwickeln sollen. Jean Baker Miller
Jahr zwei 19. April 1978 Ich möchte glauben, daß unsere dreiköpfige Familie überleben kann. Zweck des Kaufs eines neuen Hauses war es, uns eine Zukunft in einer neuen Umgebung zu ermöglichen, in der der Blick auf den Ozean den auf den Schulhof ersetzt. Ich mache mir wegen meiner Ehe Sorgen, aber vielleicht braucht auch sie einen Kulissenwechsel.
4. Mai 1978 Letztes Jahr verstreuten wir an Mikes Geburtstag seine Asche. Dieses Jahr zogen wir in ein Haus an der Ecke Channel und Cloister Street um, nicht einmal eineinhalb Kilometer von unserer alten Umgebung entfernt. Ich versprach unseren ehemaligen Nachbarn, ich würde sie besuchen, aber ich wußte, daß ich das nicht tun würde. Ich will mich von den Erinnerungen befreien. Nach siebenstündigem Ein- und Auspacken der Kartons erkannte ich, daß man Erinnerungen nicht entfliehen kann. Ich konnte Mikes Baseballhandschuh oder seine Aalreusen oder sein Fahrrad nicht einfach zurücklassen.
5. Juni 1978 Wir verwenden unsere ganze Energie und unser ganzes Geld darauf, dieses Haus wieder zum Leben zu erwecken. Ich mache mich mit der Renovierung des Äußeren vollständig kaputt und gebe die ganze Zeit über vor, mein Inneres durchlaufe ebenfalls eine Renovierung. Wenn ich den Mut hätte, würde ich sagen: »Ich habe wieder einen
Fehler gemacht.«
19. Juni 1978 Ich lehre wieder am Creative Problem Solving Institute. Ich werde Leute unterrichten, die früher mich unterrichteten, und ich möchte entspannt sein, denn ich weiß, daß Freude die Effektivität steigert. Mit diesem Gedanken im Kopf habe ich meine zweieinhalbstündigen Seminarsitzungen mehrfach umgestaltet. Letzte Nacht träumte ich, ich würde eine große Gruppe unterrichten. Ich war gut vorbereitet und selbstsicher. Ich legte meinen Unterrichtsplan auf den Overheadprojektor, doch dann zerriß ich ihn und sagte: »Dieses methodische Vorgehen ist genau das, was Kreativität nicht ausmacht.« Ich forderte die Teilnehmer auf, den Musikbändern zu lauschen, die ich mitgebracht hatte, und mit den zur Verfügung gestellten Kunstmaterialien ihre Eindrücke wiederzugeben. Schließlich forderte ich sie auf, ihre Einsichten zu tanzen. Ich erwachte mit einem Hochgefühl. Werde ich den Mut aufbringen, fragte ich mich, meine Traumbotschaft in die Tat umzusetzen? Ich fürchtete, zu meinem Seminar würde niemand kommen, denn zur gleichen Zeit wurden noch zehn andere Kurse angeboten. Als ich jedoch hineinging, war der Raum voll. Ich hatte mit Bedacht eine weiße Bluse und eine lange weiße Hose angezogen. Als meine ehemaligen Lehrer mich begrüßten, sagte ich mir: Sie sind zu deiner Unterstützung da, nicht um dich zu beurteilen. Die Blätter in meiner zitternden Hand raschelten wie Fächer. Ich holte tief Luft, erzählte der Gruppe meinen Traum der letzten Nacht und zerriß meinen Unterrichtsplan für diesen Tag. Wir hatten angefangen! Ohne Notizen hatte ich mehr Energie für die Gruppe. Instinktiv wußte ich, wann es an der Zeit für Stille, für Musik oder Bewegung war. Ich machte beim Bewegungsteil mit und fühlte mich tief dem Geist Mikes und meinem ei-
genen kreativen Prozeß verbunden. Unerklärlicherweise dachte ich, Mike inspiriere das Seminar.
6. Juli 1978 Ich weiß nicht, was ich von dem Traum der vergangenen Nacht halten soll, er geht mir aber auch nicht aus dem Kopf. Ich war am Strand und sah zu, wie riesige Wellen gegen die Küste brandeten. Fasziniert von der Gewalt und dem Rhythmus der Wellen merkte ich auf einmal, daß ich die Wahl hatte, mich entweder auf die Wellen oder auf die Zwischenräume zwischen den Trillionen von Wassermolekülen, aus denen sie geformt waren, zu konzentrieren. Als ich über meine linke Schulter blickte, entdeckte ich erschrocken einen gigantischen Sandberg, der sich direkt hinter mir auf dem Strand ansammelte. Ich bekam Panik, denn ich wußte, ich würde in ihm ersticken, da er sich auf mich zubewegte. Als ich verzweifelt aufs Meer blickte, bemerkte ich enorme Flutwellen. Unvermeidlich würde ich entweder durch Ersticken oder Ertrinken den Tod finden. Ich fühlte mich gleichermaßen verdammt und voller Respekt vor diesen riesenhaften Naturgewalten. Dann schuf ein Regenbogen eine Brücke zwischen dem Sand und dem Meer, und über diese Brücke vermochte ich mich in Sicherheit zu bringen. Ich räume gerne ein, daß ich über Leben und Tod keine Kontrolle habe. Ich bin zwar in dem Glauben aufgewachsen, ich sei für meine Emotionen und meine Umgebung verantwortlich, doch nun bin ich überzeugt, daß all meine Glaubenssätze nun auf dem Prüfstand stehen. Ich gestehe gern ein, daß eine größere Kraft als ich das Ruder übernommen hat und den Lauf der Ereignisse in meiner Welt lenkt.
10. Juli 1978
Mir wurde klar, daß meine Träume meine besten Lehrer sind, und so bat ich um einen, der mir eine Richtung im Leben zu finden helfen würde. Im Antworttraum fuhr ich Auto. Um an mein Ziel zu gelangen, mußte ich einen Tunnel durchqueren. Als ich in den Tunnel hineinfuhr, bekam ich Angst, wurde ungeduldig und gespannt, was mich wohl am anderen Ende erwartete. Dann merkte ich, daß die Autoscheinwerfer nicht funktionierten. Ich fuhr sehr vorsichtig weiter. Als ich drei Viertel der Strecke hinter mir hatte, sah ich eine schmale Öffnung in der Wand und ein Schild mit der Aufschrift »Mystischer Tunnel«. In diesem Augenblick drangen weiße und gelbe Lichter in meinen Körper ein. Ich fühlte mich transparent und spürte, daß dies die energetische Bedeutung des Wortes »Göttlichkeit« war. Danach wurde ich zu einem Heiltempel gebracht, wo ich die Worte hörte: »Früher hast du, wenn du heiltest, stets andere geheilt. Nun reinigst du dich mit unserer Hilfe selbst. Sei im Frieden mit dir selbst, und du wirst mit heilenden Energien schwingen.« Das Wort heilen klingt für mich arrogant. Was weiß ich schon über Mystik? Die »Göttlichkeitsenergie« scheint meiner Erfahrung besser zu entsprechen. Das erinnert mich daran, wie fasziniert ich von den transzendentalen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts war.
12. Juli 1978 Meine Großeltern und Eltern versuchen die Geschichte umzuschreiben; ich versuche, ehrlich und bei Verstand zu bleiben. Meine Großeltern haben eine große bronzene Gedenktafel in Auftrag gegeben, auf die Mikes Name, Geburtsdatum und Todestag geprägt werden. Sie wollen sie auf ihrem Grundstück aufstellen. »Damit Mike eine Ruhestätte hat und die Familie ihn besuchen kann«, sagte meine Großmutter zu mir.
»Er wurde eingeäschert, und seine Asche wurde im Two Lights State Park verstreut. Er ist nicht da begraben, wo ihr die Tafel aufstellen wollt, Nanny«, sagte ich mit einer Gefühlstiefe, die mich überraschte. »Für uns ist er das«, antwortete meine Großmutter. »Die Platte wird im September fertig sein, dann wollen wir eine Familienfeier abhalten.« »Nanny, ich werde nicht dabeisein. Ich kann nicht so tun, als ob. Und ich will nicht, daß Kelli-Lynne in dem Glauben aufwächst, ihr Bruder sei an einem Ort begraben, wo er sich nicht befindet.« Dann verkündete meine Mutter, sie hätten vor, eine gravierte Platte für Mike an seinem Lieblingsbaum in ihrer Siedlung anzubringen und ein Schild mit der Aufschrift »Mikes Schlupfwinkel« aufzustellen. Es scheint verrückt, soviel Zeit und Energie auf das Andenken eines Toten zu verwenden. Die Häuser meiner Eltern und Großeltern sind voller Bilder von Mike. Zählt das Lebende nicht auch? Ich will ihnen sagen, daß sie Mike nicht wie einen Heiligen verehren können. Ich möchte ihnen sagen, daß ich ihre Mitarbeit brauche. Ohne sie drohe ich in einer Täuschung zu versinken. Keine zwei Menschen trauern gleich. Ich kann meine Familie nicht auf die Art unterstützen, wie sie ihre Traurigkeit zeigt; und auch sie hilft mir nicht. Ich dachte, eine Tragödie bringt die Menschen einander näher.
3. August 1978 Gestern fragte mich jemand, was mein Herzenswunsch sei. »Geliebt zu werden und zu lieben«, antwortete ich ohne nachzudenken.
1. September 1978 Die Dunkelheit bricht früh herein, Nachbarn kleben an
ihren Kettensägen, und über Nacht tauchen aus dem Nichts ordentliche Holzstapel auf. Der große Ahornbaum am oberen Ende der Straße prunkt mit leuchtend orangefarbenen Blättern. Es ist Herbst geworden, und bald beginnt ein neues Schuljahr. Obwohl wir in einer anderen Umgebung leben, blieb mir nicht der Schmerz erspart, Mike zu vermissen. Wenn ich daran denke, daß er in die elfte Klasse käme, fühlt sich mein Herz so gebrochen an wie letztes Jahr. Ein Freund sagte einmal zu mir, jede Reise beginne mit einer Frage. Wenn ich nur die richtige Frage stellen könnte, wäre ich vielleicht in der Lage, mich zu bewegen. Eines der Prinzipien im 1 Ging, dem chinesischen Buch der Wandlungen, lautet, daß wir Erfahrungen mit derselben Bedeutung unendlich oft durchleben, bis wir eine bestimmte Lektion gelernt haben. Handelt meine Lektion vom Verlieren oder Verlassen oder vom Lieben? Ist das ein und dasselbe?
12. September 1978 Zur Scheidung ist ein Ritual notwendig. Ich begleitete heute eine Freundin zum Gericht. Fragen werden gestellt, der Besitz wird geteilt, und innerhalb von drei Minuten war eine vierzehn Jahre währende Ehe vorbei. Soviel zu den physischen Komponenten einer Beziehung, aber was ist mit den emotionalen? Für mich vollzieht sich das Wachstum außerhalb der Ehe, in der Ehe bin ich einsam. Selbst wenn Gil und ich am Haus arbeiten, tun wir das in verschiedenen Zimmern, wenn nicht gar auf verschiedenen Stockwerken. Wenn wir zusammen sind, frage ich mich manchmal, ob ich im Zölibat lebe. Ich bin weder erregt noch erregbar. Sex ist die Anstrengung, die er erfordert, schlicht nicht wert. Enden alle Ehen nach dem plötzlichen Tod eines Kindes, oder ist sexuelle Erregbarkeit nur eine weitere Sache, die ich gerade verliere?
15. September 1978 Als ich heute vom Gymnastikkurs nach Hause fuhr, landete ich irgendwie hinter einem Leichenwagen. Meine Knöchel wurden weiß, als ich das Lenkrad umkrampfte. Ich fragte mich, warum ich mich geweigert hatte, im Leichenwagen mitzufahren, als Mikes Leichnam vom Krankenhaus zur Leichenhalle überführt wurde, und warum ich beschlossen hatte, ihn nicht von dort bis zum Krematorium zu begleiten - für meinen Teil beides bedauerliche Entscheidungen. Eine rote Ampel stoppte den Verkehrsfluß. Um nicht weiter auf den Leichenwagen zu blicken, konzentrierte ich mich auf eine Gruppe von Teenagern, die auf dem Gehweg zusammenstanden. Ein Junge, den ich nicht erkannte, winkte und legte den Finger an die Lippen, als wolle er die anderen zum Schweigen bringen. Waren sie mit Mike befreundet gewesen? fragte ich mich. Erinnerten auch sie sich an ihn? Als die Ampel auf Grün schaltete, fuhr ich an den Straßenrand. Meine Augen waren voller Tränen. Ich fühlte den Schmerz von neuem. Diesmal beschloß ich, den Tränen freien Lauf zu lassen.
20. September 1978 Gils Urlaub beginnt in einigen Tagen, und wir haben bislang keine Pläne gemacht. Er hat nur die Reparaturen am Haus im Kopf. »Auch wir brauchen eine Renovierung, Gil«, sage ich. Er zuckt mit den Schultern und geht aus dem Zimmer. Ich schlage einige Tage bei meinen Eltern vor; er lehnt ab. Eindeutig will er nicht mit mir allein sein.
28. September 1978
Mir ist zum Heulen zumute, und ich will nicht allein weinen. Gil geht mir aus dem Weg. Er sagte heute zu mir, er habe Angst, ich würde ihn bitten, mich zu trösten, und er fühle sich hilflos. »Du mußt überhaupt nichts sagen«, kam ich ihm entgegen. »Du mußt überhaupt nichts machen. Halt mich einfach fest.« Er zuckte mit den Schultern und verschwand im Garten. Ich bin dazu bestimmt, allein zu weinen.
1. Oktober 1978 Ich mache klar Schiff. Mein Schreibtisch war mit Briefen, die es zu beantworten galt, übersät, mit Vorschlägen, die vorzulegen sind, mit Veranstaltungskonzepten und Plänen für neue Bücher. Heute beantwortete ich Briefe, beendete ein paar Strategien für Lehrer, legte einige Ideen zwecks weiterer Entwicklung ab und warf Papiere weg, von denen ich wußte, daß ich sie nie verwenden würde. Ich fühle mich im Kopf und im Herzen befriedigt!
3. Oktober 1978 Zu Chris Williamsons Song »The Changer and the Changed« und von Kleidern unbelastet strich ich mein Schlafzimmer in sanftem Blau an. Die Zeilen »Die zarte Lady hat Traurigkeit in den Augen« gemahnten mich an meine Tiefen, und »Bitte schenke ihr Glück und Seelenfrieden« erschienen mir als Ruf meines Herzens. Das ist mein Schlafzimmer, verkündete ich mir, zufrieden mit dem Ergebnis. Ich kicherte, als ich merkte, daß ich von oben bis unten voller blauer Farbflecken war.
15. Oktober 1978 Ich stand am Beginn des Unterrichts in einem
Selbstbewußtseinskurs, den ich konzipiert hatte, und ich zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Ich sagte zu meinem ersten Kurs, daß ich nervös sei. Ich erklärte auch, daß man wissen müsse, was man fühle, bevor man wissen könne, was man brauche. »Danach zu fragen, was man braucht«, betonte ich, »ist der letzte Schritt im Prozeß.« Es machte mir große Freude, auf meine Erfahrung zurückzugreifen, um Prinzipien aufzuzeigen. Die zweieinhalb Stunden verflogen wie im Flug.
18. Oktober 1978 Kurz nachdem Kelli-Lynne geboren war, versprach ich mir selbst, ich würde wieder an meiner Junior High School unterrichten. Ich tat es nicht. Und ich werde es auch jetzt nicht tun, denn ich habe wenig Lust darauf, den Mythos der starken Frau weiter aufrechtzuerhalten. Ich könnte unmöglich die Botschaft vermitteln: »Seht ihr, wie gut ich zurechtkomme? Ich kann Teenager unterrichten, die zufällig so alt wie mein toter Sohn sind.« Der Traum der vergangenen Nacht hatte die Vorbereitung zum Thema. Ich unterrichtete einen Kurs in psychologischer Entwicklung und führte Möglichkeiten vor, zerstreute Energie zu zentrieren. Gleichzeitig wurde ich von jenen im Reich des Geistes vorbereitet. Als ich aufwachte, war ich aufgeregt.
14. November 1978 »Impulsiv« - dieses Wort verwendeten zwei Frauen in der Selbstbewußtseinsgruppe, als sie von meiner Entscheidung erfuhren, an einem Workshop mit dem Thema »Musik, Meditation und LSD« teilzunehmen. Zur meiner Verteidigung versuchte ich zu erklären, warum ich, die ich noch nie Marihuana geraucht hatte, freiwillig LSD nehmen wolle. »Ich muß meine Trauerarbeit absolvieren«, sagte
ich ernst. »Ich rede um meinen Schmerz herum, und ich versuche, alles zu kontrollieren. Ich muß dieses Muster durchbrechen. Außerdem verwendet Walter - der Leiter des Workshops - LSD als Mittel, um den Teilnehmern zu helfen, ihre eigenen mystischen Qualitäten zu erfahren.« Die Frauen äußerten ihre Ängste. Ich reagierte darauf mit der Erklärung, daß vermutlich alles besser sei als die erwachende Taubheit, die ich empfände. Ich erzählte ihnen von der Autobiographie, die ich schreiben mußte, den Bildern von mir, die ich beibringen mußte, sogar von dem vierundzwanzigstündigen Einführungsfasten. Es half nichts. »Natürlich bin ich beunruhigt«, sagte ich mit zitternder Stimme, »aber das ist ein überwachter Workshop, und das LSD wurde klinisch getestet. Ich muß das machen. Ich vertraue auf mich, mein Timing und meine Absichten.« Ich schloß mit dem Hinweis, daß ich glaubte, die Reinheit der Intention sei eine Form von Schutz, doch sie blieben ängstlich. Hier sitze ich nun in einer Selbstbewußtseinsgruppe, und es gelingt mir nicht, Unterstützung zu bekommen! Ich fange an zu erkennen, daß man zwar Sicherheit im Familiären sucht - im Schoß der Familie, Ehe und der Freunde , sie aber nicht immer auch dort findet.
26. November 1978 Der Workshop begann mit einer Meditation. Danach wurden wir angewiesen, uns am »Sakrament« LSD zu beteiligen. Ich spielte mit dem Gedanken, die kleine weiße Tablette nicht zu schlucken, beschloß dann aber, meinen Widerstand zu überwinden. Bei einem Blick nach unten entdeckte ich eine winzige schwarze Spinne, die über das Glas meiner Armbanduhr huschte. Ein Zeichen der Transformation, folgerte ich. Als ich mich in meinen Schlafsack kuschelte, waren meine Augen mit einer Binde bedeckt; ich war gespannt.
Ich wollte mich der Musik, die ertönte, überlassen, doch die Tagebuchschreiberin in mir wollte unbedingt alle Vorgänge aufzeichnen. Schließlich schien mein Körper zu schmelzen, und die Spannung schwand - so sehr, daß ich meine Hände aneinanderreiben mußte, um mich zu versichern, daß ich noch etwas empfinden konnte. Die Musik vibrierte durch meinen Körper und brachte mit jeder Note Farben hervor. Eine Wolke aus wirbelndem tiefem Wasserblau und Schokoladenbraun hüllte mich ein. Ich wurde von den Farben absorbiert. Dann wurde meine Aufmerksamkeit auf ein Sandbild gelenkt. Das Muster änderte sich jedoch sehr schnell, und dabei hallte mein Körper von den Veränderungen wider. Ich verschmolz mit dem Sandbild, als würde ich durch ein Stundenglas rieseln. Im Synkopenrhythmus umkreiste mich ein Mischmasch leuchtend kolorierter Mandalas wie Buntglas und forderte mich zum Tanzen auf. Als ich mich entspannte, verwandelten sich die Mandalas in eine Vielzahl von Sandbildern. Die obersten Muster waren perfekt, doch unter einem jeden befand sich ein weiteres Sandbild, das noch mehr Schönheit und Dimension vermittelte. Ich lauschte dem Lied über ein Mädchen, das von zu Hause wegläuft. Ich erlebte mich als weglaufende Tochter, dann als Mutter, danach als Mutter der Mutter und schließlich als Tochter der Tochter. Alle gingen ineinander über, und mein Erbe erstreckte sich in die Unendlichkeit. Indem alles, so erkannte ich, einem widerfährt, widerfährt es auch allen. Wie auf ein kosmisches Stichwort tauchte Mike als weißer Lichtstrahl auf. Ich erkannte ihn als meinen Sohn, und wir verbeugten uns voreinander in einer zeitlosen Geste des Respekts. Wie zwei Kinder glitten wir in ein Spiel, flogen mühelos und schwammen dann. Wir waren durch ein tiefes und ewiges Band miteinander verbunden. Tränen flossen an meinem Lichtstrahlkörper entlang. »Wir taten beide unser Bestes als die, die wir waren«, sagte Mike. »Wie konntest du erwarten, mir einen Teil deiner selbst zu geben, den du nie kanntest?«
Er verstand mehr von mir als ich. »Ich wünschte, wir wären in der Lage gewesen, so miteinander zu reden, als wir zusammen waren«, klagte ich. »Es war die einzige Möglichkeit, die es gab«, gab er mir mit wortloser Energie zu verstehen, und die Wahrheit seiner Feststellung vibrierte durch meinen ganzen Körper. Mike winkte mit seiner »Hand« und schuf ein Mandala, das genauso aussah wie die, die ich bereits bewundert hatte. Ich winkte mit meiner »Hand« und erschuf einen Regenbogen. Wir applaudierten uns gegenseitig und tauschten weiter Zaubereien auf freie und spielerische Weise aus. Ich wußte, wir waren Verbündete. Ich wußte auch, daß wir dazu bestimmt waren, voneinander zu lernen. Wieder stiegen wir auf und nahmen diesmal unseren Platz in einem Mandalamuster ein, das sich in die Unendlichkeit erstreckte. Die Mandalas bildeten eine Kette, und Mike und ich waren die Bindeglieder, die die Kette zusammenhielten. Anstatt wie geplant an meinem Schmerz zu arbeiten, wurde ich vom Geist der Einheit und Liebe erfüllt und glühte von der Freude, die der Evolution innewohnt. Als die Musik ein zweites Mal in mich drang, verließ ich Mike mühelos. Die Noten bewirkten Farben, die unterschiedliche Teile meines Körpers erfaßten. Ich sah mich als kleines Kind, das in einer Wiege geschaukelt wurde, welche zwischen zwei Bäume gespannt war; blendendweißes Licht umgab mich. Ich befand mich hoch oben auf einem Berggipfel zusammen mit Menschen, die meine Essenz liebten und schätzten. Meine Aufpasser begriffen meine Affinität zum Universum. Endlich war ich zu Hause! Unerwartet tauchten meine biologischen Eltern auf, und ich verkrampfte mich. Als Reaktion darauf führten meine Aufpasser mir mit Spinnennetzen vor, wie ich im Muster des Universums existierte. Meine biologischen Eltern sahen und verstanden diese Assoziation, und ich vergab ihnen, daß sie den Sinn der kosmischen Vereinigung, die mein Geburtsrecht war, nicht spürten.
Dann plötzlich war ich eine vierunddreißigjährige Frau. Musik schoß durch meinen Körper. Ich tanzte ohne Anstrengung, verkörperte reine Bewegung, Sexualität und Grazie. Intensive Gefühle meiner eigenen Heiligkeit und Sinnlichkeit kamen auf. »Jetzt. Endlich. Du siehst«, verkündete jemand. Ich befand mich im Zentrum eines raffinierten Spinnennetzes und sandte Fasern meines Wesens aus, die einen grünen Dunst emittierten. Dieser Dunst, begriff ich, war eine machtvolle Heilessenz. Sofort wurde ich zu einem einsamen Leuchtturm. Ich sah mir zu, wie ich mich vom Leuchtturm in das Licht verwandelte. Als der Strahl auf ferne Länder schien, transformierten sie sich. Die Macht des Lichts belebte mich. Ohne Vorwarnung wurde ich Patientin auf einer psychiatrischen Station. Überall um mich herum konnte ich geflüsterte Unterhaltungen über meine Unfähigkeit hören, vom LSD-Trip zurückzukehren. Ein Psychiater sagte, mein Forschen nach Kreativität sei Ironie, denn ich würde nie wieder kreativ sein. Intuitiv fühlte ich, daß meine Freunde in meiner Nähe waren und besorgt auf meine Rückkehr warteten. Ich versuchte mit ihnen zu reden, aber meine Worte waren dumpf und produzierten ein Gebrabbel, das sie als weiteren Beleg für meine Verrücktheit ansahen. Mir war bewußt, daß ich von einem engen Kreis Verbündeter gehalten wurde, die mich mit Sonnenlicht tauften. Ihre Arme reckten sich ins All. Mit einem weiteren Blick bemerkte ich, daß ihre Arme Lilien und Lotusblüten geworden waren. Wunderschöne Kreise weißen Lichts umgaben mich. Ich wußte, ich sollte auf dieses machtvolle Licht schauen, um es hinter meine Augen sinken zu lassen, damit es durch meine Pupillen nach außen als Heilenergie reflektiert werden konnte. Blinzelnd, damit mir nicht die Augen brannten, sah ich hin. Zuerst wurde ich von neuem der Lichtstrahl des Leuchtturms. Dann gischte grüner Dunst sanft von meinem Kör-
per, während eine Stimme tönte: »Sie sieht sich endlich selbst als Heilerin.« Ich war von abebbenden und hochflutenden Bewegungen absorbiert. Ich schwang nach außen und nach innen ohne jede Erinnerung daran, wer ich war oder wo ich gewesen war. Ich tanzte und taumelte mit der Unbeholfenheit einer Siebenjährigen. Dann war ich siebenunddreißig und tanzte mit schwungvoller Grazie und Weisheit. Dann war ich siebenundsiebzig - ich war klein, runzlig und strahlte Schönheit aus, während ich mich hin- und herbewegte. Ich beobachtete die drei Rosies, die instinktiv in perfektem Takt zur Musik tanzten. Jedes Atom meines Wesens implodierte vor Verehrung. Mikes Stimme unterbrach mein Entzücken. »Es ist Zeit«, sagte er. Wir glucksten unisono in dem Wissen, daß Zeit kein Teil dieser Dimension war. Ich sah Bilder von mir selbst als Hohepriesterin des Kummers in Ägypten, als Orakel im antiken Griechenland, als indianische Schamanin. Die Bilder flossen im Stil eines Zeitraffers ineinander. Mike winkte mir zu. »Endlich hast du es begriffen«, erklärte er. »Ohne mich hätte es kein Du gegeben, wie du dich selbst jetzt erlebst. Siehst du? Wir sind füreinander Instrumente.« Obwohl ich in einen Tanz des Kosmos gewirbelt worden war, wurde mir nicht schwindlig. Ich stand sicher auf den Beinen im Raum, weil da nichts war, über das ich hätte stolpern können. Dann hörte ich, wie Walter mich sanft fragte, ob ich gern einen besonderen Freund von ihm treffen würde. Ich wußte, er drängte mich zur Rückkehr von meinem Trip, aber ich weigerte mich mit den Worten: »Ich bin noch nicht bereit.« Das letzte Bild, das ich hatte, bevor ich mich zu Walter gesellte, war ein leuchtender Smaragd in Form eines siebenzackigen Sterns, der zwischen meinen Augen stand. Sein Puls ging rasch und elektrifizierend. Er blinkte zur Musik der Himmelssphären. Da wußte ich, daß ich mich nicht wieder dem Tanz anschließen mußte, denn ich war der Tanz. Walter half mir sanft auf meine wackligen Füße.
Er führte mich zu einem hohen Spiegel und machte mich mit mir bekannt. Als ich mein Gesicht im Spiegel sah, sah ich zwei riesengroße Augen, die vor Schmerz, Liebe, Weisheit und dem Wissen meiner Aufgabe als Heilerin pulsierten. Ich fühlte mich, als sei ich getauft worden. Ich sah mich selbst als wunderschön in meinem Schmerz, in meiner Liebe und in meiner Weisheit. Ich sagte zu allen Anwesenden: »Der wahre Test besteht darin, ob man es sich erlaubt, das Leben, sich selbst und andere zu lieben, denn Lieben bedeutet Gehenlassen und wieder Göttlichwerden.« Integrität und Liebe sind meine Richtlinien geworden.
28. November 1978 Seit meinem LSD-Trip stottere ich bei den Zeitformen der Verben. Sie ergeben keinen Sinn mehr. Unterteilungen sind illusionär. Ich werde leicht gefangengenommen von dem Schwanken der Bäume, dem Lauf einer Ameise, sogar von Wasser, das von einem Hahn tropft. Alle Dinge besitzen ihren eigenen Puls.
25. Dezember 1978 Könnte die Wahrheit schlichter sein? Ein Blizzard durchkreuzte am heutigen Weihnachtsmorgen unsere Pläne, Gils Eltern zu besuchen; und wir drei blieben unbehaglich zusammen daheim und wußten nicht, was wir tun sollten. Kelli-Lynne und ich kuschelten uns unter den Weihnachtsbaum und studierten die blinkenden farbigen Lichter. Nach einer Weile schliefen wir beide ein. KelliLynne träumte von Mike.
31. Dezember 1978
Ein weiteres Jahr ist vorbei, und ein Gedicht ist gekommen: Liebe erscheint in vielen Verkleidungen Die erste Blume des Frühlings, Eine Geburt, ein Tod, Der flüchtige Blick eines Fremden, Die Worte eines vertrauten Liedes, Dem man noch nie wirklich zugehört hat. Familiäre Beziehungen, die man jahrzehntelang als selbstverständlich hinnahm, In denen die Liebe eingesperrt schien … Bis ein Ereignis das Ganze vereint, Und jeder die Macht und Meisterschaft Der Liebe und ihrer Anfänge erfährt.
3. Januar 1979 Jemand aus der Selbstbewußtseinsgruppe wies darauf hin, daß ich stets der Gruppe »Bericht erstatte«, anstatt sie um Hilfe zu bitten. Ich gab es zu und gestand, sich allwöchentlich zweieinhalb Stunden lang zu treffen sei zuviel für mich, mein eigentlicher Wunsch sei es, mich mit der Einsamkeit anzufreunden. Ich teilte der Gruppe mit, ich wolle nicht ihre Freundschaft verlieren, indem ich sie verlasse. Um das zu belegen, stimmte ich zu, noch einmal zu einem weiteren Treffen zu kommen. Wenn ich aufrichtig gewesen wäre, hätte ich einfach gesagt, daß ich mehr Zeit für mich selbst brauche. Ich versuche häufig, mich mit Menschen »zu versöhnen«, bei denen ich annehme, daß ich sie verletzt habe. Wenn ich wütend werde, versuche ich nett zu sein. Eine Wahrheit zu übertünchen hilft mir nicht, meine Ziele zu erreichen. Bleib hartnäckig, liebe Rosie, bleib hartnäckig. Lerne deine Lektion des Verlassens.
18. Januar 1979 In dem Bestreben, mehr über meine Treffen mit Mike zu erfahren, beschloß ich, ohne LSD auf eine musikalische Reise zu gehen. Ich drehte die Musik auf und streckte mich auf dem Fußboden aus. Ich atmete tief ein, entspannte meinen Körper, leerte meinen Kopf von Gedanken und gab meine Emotionen frei. Innerhalb von Augenblicken wurde ich damit überrascht, eine dunkle strahlende Frau in einer Mönchskutte zu sehen. Nach einem weiteren tiefen Atemzug sah ich, daß ich in einem Kokon eingeschlossen war. Meine Schmetterlingsflügel waren feucht. Stimmen warnten mich, es sei zum Fliegen noch zu früh, doch die dunkle Frau lächelte mir beruhigend zu und ließ mich wissen, daß es Zeit zum Fliegen war. Ich vertraute ihr und wußte, ich mußte bei ihr sein. Mein zarter Körper und die neuen Flügel streckten sich und wurden stark. In Sekundenschnelle flog ich. Ich atmete Schönheit ein, und als ich das tat, erinnerte mich die dunkle Frau an den Zauber der Alltagsrealität. Ich verstand sofort. Diese Frau verkörperte die Essenz der Liebe, der Weisheit und Schönheit. Als ich ihre Gesichtszüge studierte, verwandelte sich ihr Gesicht in das von Jesus Christus. Dann forderte sie mich auf, an »der Essenz« teilzuhaben, aber ich war starr vor Schreck, mich selbst zu verlieren. Ohne jede Anstrengung verwandelte sich mein Schmetterlingskörper in Licht, und Jesus streckte seine Hände aus. Es waren dieselben Hände, die ich in zahllosen Träumen gesehen hatte! »Warum ich?« fragte ich. Ich war für diese Lichtflucht nicht bereit und fühlte mich schuldig, weil ich unvorbereitet war. Jesus wurde wieder zu der dunklen Dame, und ich tanzte mit ihr - nur war ich jetzt ich selbst, und meine Hände sandten selbst ein heilendes Licht aus. Wenn ich mich bewegte, verstand ich, daß ich eine Erweiterung einer
wunderbaren Quelle des Seins war. Ich tanzte feierlich winkte anderen zu, mitzumachen, führte Neues und Leben herein und wußte: Alles ist Licht. Als die Musik endete, schrieb ich folgendes: Heilen verwandelt Energie wieder in Harmonie. Ich bin das Zentrum meines eigenen Bewußtseins. Ich brauche Raum, um in meine Räumlichkeit zu wachsen. Ich bin im Universum zu Hause.
20. Januar 1979 Ich sehne mich danach, für transzendentale Weisheiten aufnahmefähig zu sein. Mit dem Stift in der Hand öffne ich mein Tagebuch und fordere meine innere Stimme auf, mich zu führen. Du spaltest dich Schicht für Schicht auf, und du richtest dich nach deiner eigenen kreativen Spiritualität aus. Darin wohnt Weisheit. Vermeide es, dich in Verpflichtungen einfangen zu lassen, die dich vom Hören und Heilen wegführen.
27. Januar 1979 Ich hatte in der vergangenen Woche kaum Zeit zu schreiben. Ich suche anscheinend fortwährend nach einer Richtung. Laß zu, daß deine Erfahrung dir die Richtung weist, anstatt zu erwarten, daß die Richtung deine Erfahrung zum Ausdruck bringt.
23. März 1979 Heute ist der zweite Todestag von Mike. Im vergange-
nen Jahr wartete ich darauf, daß meine Eltern und Großeltern zu meiner Rettung kämen. Dieses Jahr wollte ich mit dem dreiundzwanzigsten März Frieden schließen. Das Beste wäre, überlegte ich, in die Abgeschiedenheit zu gehen und mich an Mike zu erinnern. Als ein Freund mir von einem Franziskanerkloster ungefähr hundertfünfzig Kilometer von hier erzählte, beschloß ich, mich dorthin zurückzuziehen. Ich war noch nie zuvor in einer religiösen Gemeinschaft. Doch in dem Augenblick, als ich das Kloster betrat, fühlte ich mich in einer vertrauten Umgebung, obwohl die Bewohner sich gegenseitig mit »Vater« oder »Bruder« ansprachen. Bei meiner Ankunft stellte sich einer der Patres vor und fragte, was ich während meines zweitägigen Aufenthalts zu erreichen wünschte. »Ich bin zu einem persönlichen Rückzug hier«, antwortete ich ohne nachzudenken. Er nickte, lächelte und sagte: »Falls Sie Führung benötigen - ich bin hier.« »Danke. Ich denke, ich muß allein sein.« »Seien Sie nicht zu streng mit sich, und vergessen Sie nicht, ich bin hier, wenn Sie eine spirituelle Weisung brauchen«, wiederholte er, und dann zeigte er mir den Weg zu meinem Zimmer. Ich stieg die zwei Treppen hoch und fragte mich, was er wohl mit »spiritueller Weisung« gemeint hatte. Mein Zimmer war klein und nur mit einem Bett, einem Waschbecken, einem Schreibtisch, einem Stuhl und einer niedrigen, klauenfüßigen Badewanne möbliert. Vom Fenster aus konnte ich die Meeresbrandung sehen. Ich packte meinen Koffer aus und stellte eine weiße Kerze sowie mein Tagebuch auf den Schreibtisch. Als ich bemerkte, daß der Ozean blauer als je zuvor aussah, beschloß ich, an den Strand zu gehen. Der frostkalte Wind und das unruhige Wasser belebten mich. Mike und ich haben viel Zeit am Meer verbracht, und jetzt enthält er Mikes Asche, grübelte ich, aber an diesem Strand hier sind wir nie umhergetollt.
»Ich bin hier eine Fremde«, sagte ich laut. »Ich weiß nicht, wie ich Mike an einem Ort vermissen soll, den wir nie besucht haben.« Ich ging weiter und versuchte mir vorzustellen, er sei an meiner Seite. Meine Hände waren gerötet und kalt. Ich trippelte über einen Felsen und stürzte auf die Knie. »Ich kann mich nicht mit einer Geschichte versöhnen, die wir nie erlebt haben«, murrte ich. »Ich weiß immer noch nicht, wie ich das machen soll«, schrie ich einer Seemöwe auf einem hohen Felsen zu. »Ich weiß nicht, wie ich mich an Mike erinnern und gut zu mir selbst sein soll.« Als ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, nahm ich ein langes Bad. Mein vom Wind durchgeblasener Körper prickelte in dem heißen Seifenwasser. Als meine Haut völlig verschrumpelt war, stieg ich aus der tiefen Wanne, wickelte mich in ein Tuch und ermahnte mich, es locker anzugehen. Immerhin mußte ich an kein Telefon, keine Mahlzeiten zubereiten und mit niemandem reden. Gähnend ging ich zum Bett und testete die Härte der Matratze. Dann rollte ich mich zu einem vormittäglichen Schläfchen zusammen. Ich erwachte zwei Stunden später - zu spät für das Mittagessen um 12.30 Uhr. Jetzt kann ich Mike vermissen, sagte ich zu mir, aber ich wußte nicht, wie ich diesen Zustand herbeiführen sollte. Deshalb zog ich mich an und ging nach oben, um mir die Kunstgalerie anzusehen. Es war niemand da. Die Ölgemälde an den Wänden waren riesengroß und in hellen Farben gehalten. Während ich zwischen ihnen umherging, fing ich an, meine Arme und Beine in ausgreifenden Bewegungen zu schwingen. Mein Körper reagierte auf das Licht, das kaskadenartig hereindrang, und ich folgte den Strahlen mit meinen Armen und Beinen. Plötzlich erschrak ich. Jemand räusperte sich. Ich stoppte mitten in der Bewegung. »Sind Sie eine Nonne?« fragte der Mann. »Nein«, sagte ich amüsiert. »Was machen Sie hier, außer mit meiner Kunst zu tan-
zen?« fragte er. »Ich kam hierher, um zu trauern«, sagte ich und vermied es sorgsam, in seine Richtung zu blicken. »Es ist der zweite Todestag meines Sohnes, und ich muß allein sein.« Ich legte eine Pause ein. »Ich habe eine Musik, die Sie interessieren könnte«, erzählte er. »In New Orleans spielen sie Jazz, während sie die Leichen der Verstorbenen durch die Straßen tragen. Haben Sie jemals Begräbnisjazz gehört?« »Nein«, flüsterte ich. Er schob eine Kassette in den Recorder, drehte die Lautstärke auf und ging mit den Worten hinaus: »Die Musik soll die Hinterbliebenen aufrichten. Ich bin unten, falls Sie reden wollen.« Ich strengte mich an, den Takt zu hören. Ich mag Jazz normalerweise nicht, doch aus irgendeinem Grund fand ich das harte, schnelle Tempo aufregend. Nachdem ich mich umgesehen hatte, um sicher zu sein, daß mich nicht noch jemand überraschte, begann ich mich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Meine Wangen wurden warm; meine Hände und Füße brannten. Wie konnte ich erklären, daß dieser Tanz für Mike war? Ganz einfach - da ist niemand, dem du etwas erklären müßtest, rief ich mir ins Gedächtnis zurück. Als mein Tanz zu Ende war, ging ich hinunter ins Erdgeschoß, wobei ich die kleine Kapelle am Eingang mied. Ich hörte Stimmen im Speisesaal und mied auch diesen. Ich hätte dem Künstler nie sagen dürfen, warum ich hier bin, seufzte ich im stillen. Was ist, wenn er es allen erzählt? Um weiteren Begegnungen aus dem Weg zu gehen, kehrte ich in mein Zimmer zurück, zog mir den warmen Mantel und die Fäustlinge über und stürmte zum Meer. Als meine Füße den Sand berührten, sah ich zur Sonne über mir hoch und spürte den Drang in meinem Herzen hochkommen, Mike zu lieben. Ich sagte laut: »Ich liebe dich, Mike. Und ich sende dir liebende Energie. Darum ging es in meinem Tanz.« Dann rannte ich unbeschwert den kur-
zen Strand entlang. Hier am Meer begriff ich, daß das Licht reflektierte Liebe ist … und daß umgekehrt Liebe Licht ist. Ich dachte an das erste Weihnachten nach Mikes Tod zurück, als er ein Sonnenzeichen im Two Lights State Park geschickt hatte. Damals hatte ich die Bedeutung seines Tuns nicht voll erfaßt; erst jetzt ergab es einen Sinn. Ich kehrte erfrischt und erregt, weil ich mich hatte gehenlassen, als mir danach war, ins Kloster zurück. Ich stieg die Stufen zur Kunstgalerie hoch - vielleicht um zu tanzen, vielleicht um mir die Bilder zu betrachten, vielleicht um mit dem Mann zu sprechen, der meinen Tanz mit seinem Musikgeschenk unterbrochen hatte. Als ich den Raum betrat, sah ich den Bruder malen. Erblickte zu mir her, und wir kicherten. »Jetzt sind wir quitt durch unsere gegenseitige Störung in unserer Kreativität«, sagte ich. »Wollen Sie ein Glas Wein mit mir trinken?« fragte er mit warmer Stimme. »Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.« »Ich den Ihren auch nicht.« »Sicher«, sagte ich. Letztes Jahr hatte ich allein Wein getrunken und verzweifelt versucht, damit aufzuhören, Mike zu vermissen. Jetzt liebte ich ihn mehr, vermißte ihn ein bißchen weniger und mochte die Idee, Gesellschaft zu haben. Ich sah ein Bild von Mike in einem universalen Lichttanz, und ich lachte.
Geist kann man nicht verstehen, wenn man ihn nicht erlebt. Geist kann man nur sein. Elisabeth Haich
Jahr drei 8. Juni 1979 Intimität, Wertschätzung, Heiligkeit und Ausgelassenheit - das sind die Eigenschaften, die ich bei anderen und mir suche. Ironischerweise helfe ich zwar anderen Menschen, Blockaden zu lösen, die sie daran hindern, diese Aspekte ihres Selbst zu zeigen, doch ich selbst bleibe blockiert. Bedeutet Erwachsensein, sich mit Halbwahrheiten, Mittelmäßigkeit und einem Leben ohne Zauber zufriedenzugeben?
27. Juni 1979 Meine Realität verschiebt sich. In der Vergangenheit kam ich mir, wann immer ich um etwas bat, unzureichend und schwach vor. In der Familie, in die ich geboren wurde, rangierte Selbstgenügsamkeit ganz oben. Nun fange ich an zu erkennen, daß es menschlich ist, verletzbar zu sein. Meine Anschauungen ändern sich in dem Maße, wie ich mich verändere - oder ist es umgekehrt? »Ich will, daß mein Leben meine Kunst ist«, gestand ich einem Freund. Wer ich gerade bin, ändert sich jeden Augenblick.
10. Juli 1979 Ein wiederkehrender Traum dringt in meine Nächte. Ich fahre einen Wagen über eine hohe Brücke. Plötzlich rast der Wagen über die Brüstung in das darunter befindliche Wasser. Ich öffne mit Gewalt das Fenster und beobachte voller Schrecken, wie das Wasser steigt und das Wageninnere füllt. Ich warte, bis das Wasser mir fast an der Nase steht, denn ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß ein
hoher Wasserstand in einem versunkenen Auto ein Vakuum schafft, durch das sich die Autotür öffnen läßt. Ich warte ungeduldig, versuche meine Energie zu behalten und nicht in Panik zu verfallen. Ich drücke gegen die Tür und höre ein »Wusch«, als sie nachgibt. Ich wache auf, bevor ich weiß, ob ich es an die Oberfläche geschafft habe oder nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich sei ein übersinnliches Werkzeug, bekomme ich Panik. Ich widersetze mich der Vorstellung, ein Kanal zu sein, denn ich befürchte, ich werde jemanden oder etwas opfern müssen, und ich lehne es ab, noch mehr aufzugeben. Dir bleibt vielleicht nichts anderes übrig.
6. August 1979 Einen Tag nach Kelli-Lynnes fünftem Geburtstag teilte ich Gil mit, daß ich mich von ihm trennen wolle. Das überraschte ihn nicht; er zeigte auch keinerlei Interesse daran, über die organisatorischen Einzelheiten zu reden. Ich dachte, ich wäre erleichtert, sogar erfreut, doch statt dessen graut mir davor, unsere Familien über diese Entscheidung zu informieren. Die Vorstellung, keine Ehefrau mehr zu sein, ist unheimlich. Mutter zu sein, ohne Ehefrau zu sein, ist rückständig. Immer noch wähle ich die Einsamkeit, wenn die Ehe eine soziale Lösung für Einsamkeit ist. Die finanziellen Aussichten für den kommenden Winter sind trübe, aber gibt es überhaupt einen guten Zeitpunkt, um seinen eigenen Weg einzuschlagen? Gibt es einen Zeitpunkt, zu dem das Weggehen leichtfällt? Ein Gefühl des Versagens schwebt über mir. Ich war nie eine perfekte Ehefrau, obwohl ich es versucht habe. Dabei habe ich fast meinen Geist geopfert.
20. August 1979
Unser vierzehnter Hochzeitstag war sonderbar. Nichts schien richtig zu sein - weder den Tag zu feiern noch ihn zu leugnen. Wir leben immer noch zusammen, aber wir haben nichts zu feiern. Ich bin für zwei Träume dankbar, die ich letzte Nacht hatte. Im einen wurden mir die Worte »heilig, heilig, heilig« vorgesungen. Die Töne hallten in meinem ganzen Körper wider. Anschließend wurde ich halb wach und dachte, wenn ich wüßte, daß ich von innen her gedrängt würde, heiliger zu werden, hätte ich mehr Mut. Den »heiligen« Gesängen folgte ein Traum, in dem ich auf einen steilen Berg kletterte. Zwei Personen auf dem Gipfel gaben mir Anweisungen. Die eine ließ ein Seil herunter und befahl mir, es mir um die Hüfte zu binden. Den Aufstieg mittels eines Seils zu bewältigen erschien zu riskant, deshalb sah ich mich nach einer einfacheren Möglichkeit um. Da ich keinen Pfad fand, band ich mir das Seil fest um die Hüften und lauschte genau auf weitere Anweisungen. Ich vermied es, nach unten zu blicken. Wie zuvor erwachte ich, bevor ich erfuhr, wie die Sache ausging. Ich leide wieder, nur diesmal anders, ich habe Schmerzen, weine und rede mit Freunden und bitte um Hilfe. Ich verberge nicht mehr soviel. Meine Eltern bleiben für mich unerreichbar.
25. August 1979 Ich kämpfe allein, denn mein Leben ist der Mythen beraubt. Der Begriff der »familiären Unterstützung« hat seine Macht verloren. Alle in meiner Familie haben ungeweinte Tränen, unausgesprochene Frustrationen und unerfüllte Träume. Ich breche von neuem die Regeln, indem ich aus einer Familie ausbreche, die meinen Geist nicht unterstützt, und mich in eine unbekannte Zukunft begebe.
4. September 1979 Heute abend um neun Uhr siebenundvierzig sah ich auf die Uhr und wußte, daß Liz, meine spirituelle Ziehmutter, gestorben war. Im Vertrauen auf ihre Weisheit in bezug auf alles, was vor ihr lag, sandte ich einen Energiestoß, der ihren Geist umfassen sollte. Als ich weinend mitten in der Küche stand, kam Gil herein und fragte, was nicht in Ordnung sei. Als ich ihm erzählte, was passiert war, schlug er vor, bei Liz' Ehemann anzurufen, um sicherzugehen. Das muß ich nicht, sagte ich zu ihm. Ich weiß, was ich weiß. Ich vermisse Liz bereits jetzt. Ihr Tod verursacht eine weitere Verschiebung in meinem Leben, denn sie hatte mich jahrelang mit bedingungsloser Liebe umgeben. In einer Meditation vor nur einer Woche erschien sie und bot mir ihr Mitgefühl als Geschenk. Aber jetzt, da ich es so sehr brauche, daß mich jemand berührt, ist sie für mich nicht zu erreichen.
7. September 1979 Als ich am heutigen Sonntagmorgen in den Spiegel blickte, sah ich, daß meine Augen in meinem Gesicht großen Raum eingenommen hatten. Ich sah aus wie die Wiedergabe von Rotkäppchen in dem Augenblick, als es merkt, daß ein Wolf im Bett seiner Großmutter liegt. Meine Augen spiegelten Furcht und eine ergreifende Traurigkeit wider. Das Wunder besteht darin, daß meine Augen, obwohl ich Schicht um Schicht dem Schmerz nachgegeben habe, offen geblieben sind. Wie der Held in D. H. Lawrences Söhne und Liebhaber werde ich niemals aufhören, nach dem einen Akt der Reinheit zu suchen.
13. September 1979
Heute begann ein zweitägiger Workshop über Heilen, und ich langweile mich bereits. Als wir heute morgen anfingen, über den Tod, die Vergebung und die Transformation zu sprechen, die sich aus dem Heilungsprozeß ergibt, zitierten die anderen Gruppenmitglieder aus Büchern über Schmerz. Ich erzählte ruhig über mein Leiden und wie wichtig es sei, mein Leben mit Geist und Liebe zu leben. Am Abend blieb ich allein in meinem Zimmer auf der Seeseite. Ich saß nackt in dem kleinen Raum und beobachtete die Sterne vor meinem Fenster. Da in mir keine anderen Geräusche waren, fiel es mir leicht, mich dem Wiegenlied der Wellen zu überlassen. Mein letzter Wunsch, bevor ich einschlief, war es, mit anderen zusammenzusein, die keine Angst hatten, aus dem Herzen zu sprechen.
14. September 1979 Der Leiter des Workshops forderte uns auf, folgende Fragen zu beantworten: »Wo befinden Sie sich auf Ihrer spirituellen Reise? Wann haben Sie diese Periode des Heilens begonnen?« Ich durchforschte die Erinnerungen nach Träumen vom Beginn, doch mir fiel nichts ein. Dann kam mir ein Tag vor etwa drei Monaten in den Sinn, als ich an einem »RollenStrip« teilnahm. Ich hatte meine Identitäten als Ehefrau, Mutter, Geliebte, Freundin, Tochter und Heilerin in eine Rangordnung gebracht und sie eine nach der anderen gehen lassen. »Tochter« kam an sechster Stelle, und ich stellte mir vor, wie ich mich von dieser Rolle und all der Bedeutung, die sie für mich hatte, trennte. An fünfter Stelle ging »Freundin« voraus, eine Rolle, die ich nur traurig losließ. Es schmerzte einzuräumen, daß »Ehefrau« an vierter Stelle stand, doch als ich sie dort einordnete, verspürte ich Erleichterung, Traurigkeit und Angst. Mikes Tod bereitete mich darauf vor, die »Mutter«, die nächste auf
der Liste, loszulassen - aber was für ein Kampf war es, meine mütterlichen Gefühle loszulassen. Als nächstes folgte die »Geliebte«: Wie kann ich es wagen, meine Rolle als Geliebte über die der Ehefrau und Mutter zu stellen, dachte ich, aber ich hatte mir die Erlaubnis gegeben, bei dieser Übung brutal ehrlich zu sein. Auf meine Rolle als Heilerin - meine oberste Priorität - zu verzichten, ließ mich hohl zurück, als ob mein Geist gestorben wäre. Da war nur noch Stille. Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, wollte ich allein sein. Ich entschuldigte mich und versicherte allen in der Gruppe, daß es mir gutgehe. Sobald ich einen sonnigen Fleck auf dem Rasen gefunden hatte, strömte folgendes aus mir heraus: Sei. Sei strahlend. Sei still. Sei berührt. Sei in Frieden. Einen Augenblick später erschien noch eine Zeile: Liebe ist Vergeben. Vergeben geht der Ganzheit voran. Jemand hatte im Gras Wachsmalstifte liegenlassen. Ich hob die hellen Farben zwischen den Grünpflanzen hoch, blätterte eine leere Seite in meinem Tagebuch auf und begann zu malen. Das Muster, das auftauchte, erinnerte mich an ein Buntglasfenster. Als die Zeichnung den Rand der Seite erreichte, kehrte ich zur Gruppe zurück, noch immer rollenlos, jedoch erfrischt. Heilen vollzieht sich auf höchst unerwartete Weise. Enden … Übergänge. Wenn ich nur glauben könnte, daß meine Reise außerhalb dieses Workshops in der Transformation enden wird. Wieder zu Hause, gingen Kelli-Lynne und ich am Strand entlang, wir hielten uns an den Händen und plauderten, während wir nach Seegras suchten. Meine Gefühle zu ihr sind an kein Gängelband gebunden. Ich liebe sie als die, die sie ist, nicht als die, die ich vielleicht haben möchte. Ich
wünsche mir für sie, was ich mir für mich selbst wünsche: Ehrlichkeit, Liebe, Humor und zielgerichtete Bewegung.
19. Oktober 1979 Heute rief meine Mutter an, und ich teilte ihr mit, daß ich in einer Woche ausziehe. Ich erklärte, ich würde in einem anderen Teil der Stadt einen Monat lang ein Haus sitten, während ich mich nach etwas Eigenem umsähe. »Bist du glücklich?« fragte sie. Wie kann ich mit so vielen Endungen glücklich sein? Wenn ich glücklich wäre, überlegte ich im stillen, würde ich nicht umziehen. Unbekanntes stürzt auf mich ein, und meine Mutter will wissen, ob ich glücklich bin. Sie fragte noch einmal: »Aber bist du glücklich?« »Mom, ich tue, was ich tun muß. Ich habe mich entschieden zu leben, und nun arbeite ich hart daran, mir ein ehrliches Leben zu schaffen, das meine Entscheidung zu leben rechtfertigt.« Schweigen. Dann sagte sie: »Gut, es ist dein Leben.« Ich entgegnete: »Du hast recht. Und ich lebe es auf meine eigene Weise, die nicht die deine ist. Das muß ich tun, um zu leben.« Ich sagte ihr nicht, warum; sie würde mein Bedürfnis, mir selbst verpflichtet zu sein, nie verstehen.
2. November 1979 Umzugstag! Wenn es stimmt, daß das, was man ist, davon abhängt, was man fühlt, dann bin ich eine vielschichtige Collage. Als ich mich in meinem vorübergehenden Unterschlupf einrichtete, besah ich mir interessiert die Schätze, die ich mitzunehmen beschlossen hatte: einige Kerzen, verschiedene Bücher, viele Pflanzen, ein Druck mit den Worten »Ich bin ein Kind des Universums«, meine Zither und eine
Kerze, die Mike für mich von Hand gezogen hatte, als er vierzehn Jahre alt war. Zuvor hatte ich eine lange Wanderung am Strand unternommen, der sich hier kilometerweit vor dem Haus entlangzieht. Das Wasser heilte. Ich bat um ein Zeichen, daß ich auf dem richtigen Weg sei, und stolperte sofort über einen herzförmigen Felsbrocken. Ich sang: »Hör, hör, hör meinem Herzenslied zu. / Hör, hör, hör meinem Herzenslied zu. / Ich werde dich niemals vergessen, ich werde niemals von dir lassen … « Danach fühlte ich mich mehr daheim, als ich es seit Jahren getan hatte. Heute abend suchte sich Kelli-Lynne ihr Zimmer aus. Wir füllten es mit ihren Spielsachen und ihren Stofftieren. Dann hüpfte sie herum und erkundete das Haus und stellte Fragen - sie versucht noch immer, hinter all dem einen Sinn zu finden. Kurz darauf las ich ihr eine Gutenachtgeschichte vor, wir schmusten, und ich brachte sie zu Bett; ich ließ eine kleine Nachtbeleuchtung an und versicherte ihr, daß ich im Zimmer nebenan schlafen würde. Danach machte ich Feuer, damit uns nicht kalt wurde, und ließ mich erschöpft auf der fremden Wohnzimmercouch nieder. Da bin ich nun, fünfunddreißigeinhalb Jahre alt und zum erstenmal in meinem Leben auf mich allein gestellt. Ich erschaffe gerade eine neue Welt für meine Tochter und mich. Während ich das lodernde Feuer im Kamin beobachte, frage ich mich, wie sie in der Rückschau diesen Teil ihres Lebens sehen wird. Am meisten frage ich mich, ob ich ihr gegenüber fair bin. Als wir ihr Zimmer einrichteten, habe ich Kelli-Lynne erklärt, ich hätte ihren Vater verlassen, weil ich nicht glücklich war. Sie erwiderte: »Ich war glücklich, warum mußtest du dann auch mich mitnehmen?« »Gute Frage«, meinte ich. Zu meiner eigenen Überraschung setzte ich hinzu: »Weil ich deine Mutter bin und wir zusammengehören.« In Wirklichkeit gehört Kelli-Lynne natürlich zu uns beiden, zu Gil und mir. Wir sind übereingekommen, daß sie
den größten Teil der Woche bei mir lebt, da Gil werktags von acht bis fünf arbeitet. Sie wird die Wochenenden bei ihm verbringen. Das hört sich vernünftig an, aber wie wird sich das auf Kelli-Lynne auswirken? Zu müde, um weiter nachzudenken, entspanne ich mich und lasse mir von den knisternden Kohlen das Gesicht und die Füße wärmen, während ich über die Geräusche des Kosmos phantasiere, die mich in den Schlaf lullen.
9. November 1979 Als Zeichen dafür, daß meine erste Woche allein vorüber ist, kaufte ich mir Badeperlen mit Zitronenduft und einen Luffaschwamm. Dann machte ich aus dem Eintauchen ein Ritual - eine Badewanne mit so heißem Wasser, daß ich zehn Minuten warten mußte, bevor ich hineinsteigen konnte. Ein großer Erfolg in dieser Woche war der, daß ich in der Universität um eine Gehaltserhöhung und mehr Unterrichtsstunden bat. Ich war überrascht, wie einfach es war, mich zu behaupten. Noch überraschter war ich über die Antwort: ja! Vergangene Nacht träumte ich, ich sei an einen Ort gefahren, an dem ich noch nie gewesen war. Die Fahrt ging glatt, bis ich in eine Neunzig-Grad-Kurve auf eine rutschige schneebedeckte Straße einbog. Ich fragte einen Mann nach der Richtung, worauf er auf die vereiste Straße deutete. Ich holte tief Luft und fuhr in der Dunkelheit weiter. Jeder Tag ist so, als ob man auf einer rutschigen Straße fahren würde, und ich bin entschlossen, die Regeln des Fahrens unter widrigen Bedingungen zu erlernen.
18. November 1979 Kelli-Lynne krabbelte heute um vier Uhr morgens in mein Bett. Sie rollte sich neben mir ein, und wir schliefen
wie Hundebabys. Ich bin es, die physisch aus einer Ehe gegangen ist. Ich trage die Last, eine Beziehung beendet zu haben, die meinem Geist keine Nahrung gab. Als ich auf Kelli-Lynnes Kleinmädchengesicht schaute und ihrem Atem lauschte, spürte ich meine Liebe zu ihr. Ich vertraue darauf, daß wir unser Bestes geben werden.
1. Dezember 1979 Ein weiterer Umzug - diesmal in meine eigene Wohnung. Mit der Hilfe von Freunden lud ich Möbel, Geschirr, Bücher, Lampen und noch mehr Spielsachen von KelliLynne, Gewürze und Fotoalben ein und transportierte sie hierher. Bis Sonnenuntergang war ich eingezogen. Nun umgeben mich vertraute Einrichtungsgegenstände, und ich fühle mich wohl. Ich sitze auf der gemütlichen Polstercouch und blicke zu den Sternen empor. Wie ruhig heute abend alles ist! Und wie stolz ich bin, daß ich so schnell aus diesen vier Räumen ein Zuhause geschaffen habe.
3. Dezember 1979 Kelli-Lynne und ich haben fast den ganzen Tag lang ihr Zimmer eingerichtet. Sie erzählte mir, wo sie jeden ihrer Schätze haben wollte, eingeschlossen ihre Spielzeugschachtel und jeden einzelnen ihrer Plüschfreunde. Ich hängte Vorhänge auf, während sie vorsichtig ihr Bett zu machen versuchte. Ich verstaute ihre Kleider in der Kommode, während sie ihre Bücher aufstellte. Wir kicherten zusammen über die Entdeckung, daß wir keine Uhr haben und daß keine von uns beiden jemals einen Gasherd bedient hat. Kelli-Lynne fragte sich, ob das Haus nachts knarren würde, ob in ihrem Schrank Geister wären und ob Mike wissen würde, wo wir nun beide lebten, da wir beide
neue Zimmer hätten. Ich hielt den Atem an. Ich war so beschäftigt gewesen, daß ich an Mike nicht gedacht hatte.
21. Dezember 1979 Obwohl Gil in den letzten sieben Wochen von mir getrennt lebte, ist er doch nicht von meiner Familie getrennt gewesen. In Wahrheit trägt sich jeder in der Familie mit Phantasien, wie man uns wieder zusammenbringt. Ich bin es leid, anderen zu gefallen zu versuchen, anstatt meinen eigenen Bedürfnisse nachzukommen.
25. Dezember 1979 Das war das dritte Weihnachtsfest ohne Mike und mein erstes als alleinerziehende Mutter. Der Weihnachtsabend im Haus meiner Eltern war trübe. Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf Kelli-Lynne sowie ihren Cousin und ihre Cousine. Ich strich über mein hauchdünnes schwarzes Satinkleid, um mich daran zu erinnern, daß ich bei Verstand war. Am Ende des Abends packte ich meine Geschenke zusammen und verstaute sie im Wagen; mir fehlte Kelli-Lynne schon, bevor ich noch rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Ich hatte Gil darin zugestimmt, daß sie glücklicher sei, wenn sie den traditionellen Weihnachtstag bei seiner Familie verbringe, aber ich kam mir elend vor, weil ich meine Tochter für die freien Tage, ausgerechnet jetzt, zurückließ. Ich mußte während der zwölf Kilometer weiten Fahrt zu meinem Apartment zweimal am Straßenrand anhalten, da ich durch meine Tränen nichts sehen konnte. Ich weiß, das Entwirren hat gerade erst begonnen.
12. Januar 1980
Ich setze mich so oft unter Druck und bestätige mir nur selten, was ich erreicht habe, und mache den Kreislauf noch komplizierter, indem ich mich wegen all der Dinge, die noch zu tun bleiben, schelte. Diese Woche habe ich mich zur Abwechslung entspannt. Allein zu leben ist im Augenblick richtig. Ich lerne, mich mit mir anzufreunden, mir Zeit, Geduld und die Freiheit, Fehler zu machen, zuzugestehen. Ich habe aus den in der Tragödie gewonnenen Erfahrungen gelernt, daß ich Frieden verdiene, ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen. Zum erstenmal in meinem Leben fühle ich das Wispern der Integrität. Die Suche nach dem heiligen Gral beginnt im Innern. In Wirklichkeit habe ich schon sehr viel herausgefunden. Früher empfand ich Heiligkeit und Sinnlichkeit in mir als getrennte Dinge. Infolgedessen fühlte ich mich gezwungen, mich mit dem einen oder anderen zu begnügen. Jetzt begreife ich, daß Spiritualität ein leidenschaftliches Streben und Leidenschaft ein spirituelles Gefühl sein kann. Wenn ich mich für das eine entscheide, entscheide ich mich auch für das andere. Die einzige Möglichkeit, uns rückwärts zu wenden oder vorwärts zu schreiten, liegt in uns selbst. Wahrheiten fließen auf das Blatt. Aber wie kann, frage ich mich, Schmerz inspirierend sein? Ob er das nun ist oder nicht, ich hatte genug Schmerz. Ich habe bislang mehr Endpunkte überlebt als viele Menschen in ihrem ganzen Leben. Ich möchte den Schmerz in den kleinsten Kleidersack stopfen, so wie ich Kleidung, die nicht mehr paßt, aussortiere. Wie sehr möchte ich mich rühmen, daß ich aus dem Schmerz herausgewachsen bin. Fühlen ist Heilen.
13. Januar 1980 Ich fühle mich, als sei die zarte Plazenta meines Unbewußten gerissen und kreatives Wasser mache mich
gleitfähig. Ich erschaudere angesichts einer weiteren einschränkenden Vorstellung: Ich werde noch etwas aufgeben müssen. »Ich habe genug bezahlt«, jammere ich den Wänden meines Apartments vor. »Ich habe meine Eierstöcke, meinen Sohn, meine Ehe und meine Illusionen aufgegeben. Was gibt es denn noch?« Ich mache mich selbst klein, um eine weitere Tragödie zu vermeiden. Selbstverteidigung wird ausgetrieben. Ich kann bereits erkennen, daß dies keine Neuauflage des Winters meiner Unzufriedenheit ist. Das ist der Winter zum Pflanzen des Samens.
14. Januar 1980 Ich habe mir eine Dauerwelle in meine glatten Haare machen lassen. Jedesmal, wenn ich mich im Spiegel sehe, schaue ich ein zweitesmal hin. Ich habe meinem Selbst anscheinend etwas »Elfengleiches« hinzugefügt. Die Frau und das unbekannte kreative Kind in mir werden zu Verbündeten.
17. Januar 1980 Eine schlaflose Nacht. Gegen drei Uhr morgens rief ich mir die Worte eines Gestalttherapeuten ins Gedächtnis, der sagte: »Wenn Sie nicht schlafen können, stehen Sie auf und arbeiten Sie an dem, um das Sie einen Bogen geschlagen haben.« Mit einem Stöhnen stand ich auf und fing an zu schreiben. Ich begann mit zwei Zeilen: Ich will nicht einfach arbeiten, um Geld zu verdienen. Ich will unterrichten und Menschen auf einem sehr hohen Niveau erreichen. Dann seufzte ich und sah meinem Dilemma voll ins Gesicht. Ich muß Geld verdienen, und ich muß mich zweck-
orientiert fühlen. Kurse für selbstbewußtes Auftreten vor uninteressierten Studenten zu halten, entschied ich, ist nicht zweckorientiert. Kann ein Mensch gleichzeitig wütend und kraftvoll sein? Verstandesmäßig weiß ich, daß das Zurückhalten von Emotionen den Trauerprozeß hemmt, und doch habe ich gelernt, mich meiner Wut zu schämen. Jetzt befinde ich mich inmitten eines weiteren Trauerzyklus, und bevor ich nicht meine Wut akzeptieren kann, ohne mich niederzumachen, weil ich jemandem eine Szene gemacht habe, werde ich nicht in der Lage sein, etwas anderes zu empfinden. Wieder lege ich alte Familienmythen zu den Akten, während ich für Kelli-Lynne und mich neue erfinde. Ich kann nachvollziehen, warum Kelli-Lynne am Daumen lutscht. Ich habe es gerade ausprobiert, aber mir waren meine Zähne im Weg.
28. Januar 1980 Ich bin gezwungen, mich zu ändern oder zu schrumpfen. In der Sehnsucht, ein bißchen von meinem Optimismus und meiner Unschuld zu behalten, brach ich heute morgen schluchzend auf der Couch zusammen. Ich habe nicht die Energie, meinen eigenen Körper zu unterstützen. Ich fühle mich von der Vorhersage meiner Mutter verfolgt, ich würde nach Mikes Tod einen geistigen oder körperlichen Zusammenbruch erleiden. Wenn ich zusammenbrechen muß, damit ich einen Durchbruch erziele, verdammt, dann breche ich eben zusammen! Ich werde es niemandem erlauben zu kontrollieren, wieviel ich empfinde, beharrte ich - nicht einmal mir selbst. Ich streckte mich auf den Polstern aus, als wollte ich die Voraussage meiner Mutter vertreiben. Ich weinte stark und laut und verlor mich in den Tränen - sogar meine Füße zitterten. Meine Qual wäre gedämpfter gewesen, hätte ich nicht gewußt, daß ich auf die Welt
gekommen bin, um es anders zu machen. Ich hielt mich an drei Wahrheiten: Mein Licht ist wichtig, mein Leben ist wichtig, und meine Seele wird nicht erpreßt werden. Mein Körper zitterte weiter, als ich versuchte, in dem Aufruhr einen Sinn zu finden. Ich rang nach Luft und rief mir frühe Erinnerungen körperlicher Bestrafung ins Gedächtnis. Da ich damals überzeugt war, daß ich die Schläge verdiente, blieb mir nichts anderes übrig, als mich nach vorn zu beugen und sie hinzunehmen. Jetzt, entschied ich, war der perfekte Zeitpunkt gekommen, meinem Herzen und meiner Seele Leben einzuhauchen. Nach fünfunddreißig Jahren finde ich meine Richtung. Ich entdecke meine eigenen Wahrheiten und Rhythmen. Manchmal bin ich wütend, weil ich das allein machen muß, aber ich schwöre mir, nie mehr umzukehren.
30. Januar 1980 Heute morgen wachte ich mit Fetzen eines Traums von meinem Großvater auf. Bomp bereitete mich auf seinen Tod vor. Er erzählte mir vom »engen Verständnis« der Familie, von seiner Verbindung zu mir über unsere »erweiterte Bewußtheit« und von seinem Versprechen, dieses Bindeglied nach seinem Tod aufrechtzuerhalten. »Ich werde dich auffangen«, sagte er schlicht, und im Traum verstand ich die Bedeutung seiner Worte. Ich stand auf in dem Wissen, daß Bomp körperlich erschöpft war und daß er die Heilkraft, die ich ihm gesandt hatte, nicht annehmen konnte. Ich wollte natürlich, daß er weiterlebte, denn er war in meinem Leben stets eine Schlüsselfigur gewesen; er hatte seine drei Boote nach mir benannt, und ich hatte meine Tochter nach ihm benannt. Auf dem Weg zum Telefon schwor ich, sein Schicksal zu akzeptieren, es zu vermeiden, ihn selbstsüchtig hier zu halten, und ihm Energie für seine eigenen Ziele zu senden - auch wenn sie seine Absicht zu sterben stärkte, wenn es denn sein mußte.
Gegen neun Uhr rief ich Bomp an und sprach mit ihm, meine Stimme war leise und ernst. Er sagte: »Ich war in den letzten beiden Nächten nicht in meinem Körper. Ich war woanders, mit Mike und dir, und ich wollte nicht wieder in meinen Körper zurückkehren. Ich wollte bei Mike bleiben, aber er sagte mir, es sei noch nicht soweit.« Bomp sagte auch, Mike habe Bemerkungen darüber gemacht, wie sehr er uns beide liebe. Ich atmete tief durch und wußte die Klarheit dieses Berichts zu schätzen. »Ich weiß, ich bin fast zum Sterben bereit, und ich muß mit dir sprechen«, fügte er hinzu. »Dann kann ich mich ausruhen.« Angesichts der Dringlichkeit in seiner Stimme fuhr ich hinaus, um ihn zu besuchen. Er war froh, daß ich gekommen war. Nachdem wir uns gegenseitig Vertraulichkeit versichert hatten, sprachen wir stundenlang über unser Innerstes.
1. Februar 1980 Mich um mich selbst zu kümmern hatte heute oberste Priorität. Ich legte den Telefonhörer neben die Gabel. Dann ließ ich in der Badewanne ein Schaumbad ein, legte mich hinein, wusch mir die Haare und hörte Musik. Ich topfte Pflanzen um und spielte im Schlamm herum. Ich kochte auch Hühnersuppe und beherzigte Carl Simontons Rat: Finde heraus, was du für dich selbst tust, wenn du krank bist, dann tue diese Dinge für dich, bevor du krank wirst. Ich holte den warmen Quilt hervor, schob mir Kissen hinter den Rücken, aß ein bißchen Hühnerbrühe und schrieb folgende Zeilen: Befreie mich davon, stets stark zu sein. Befreie mich davon, stets andere an erste Stelle zu setzen. Befreie mich davon, stets Einsichten bei anderen zu suchen.
Befreie mich davon, mich mit der Mittelmäßigkeit abzufinden. Befreie mich von meiner Vergangenheit. Als ich den Füller aus der Hand gelegt hatte, hatte ich eine tiefgreifende Erkenntnis. Mir wurde klar, daß ich meine eigene Befreierin bin!
2. Februar 1980 Heute, am frühen Abend, hatte ich einen aufrüttelnden Traum. Ich war in Übersee in einem teuren Kaufhaus einkaufen und mußte in den zweiten Stock. Der einzige Weg nach oben führte durch einen engen weißen Tunnel. Ich bemerkte: »Wie seltsam, daß es in so einem feinen Geschäft keinen Lift gibt.« Bei mir war eine Frau, die wußte, wie man in den zweiten Stock gelangte. Obwohl ich mich auf ihren Orientierungssinn verließ, war mir der Durchgang vertraut. Als wir auf das Ende des Tunnels zugingen, war der zweite Stock in Sicht, doch der einzige Zugang führte über ein Trapez. Jemand hinter mir bot mir an, mich anzuschieben, damit ich Schwung gewinne. Meine Freundin gab mir jedoch ein Zeichen, zuerst ihr einen Stoß zu geben; ich tat es, und sie landete im zweiten Stock. Da war die Person hinter mir verschwunden, und ich war gestrandet. Ich stieg auf das Trapez, klinkte den Sicherheitsgurt ein, schnellte mit dem Kopf nach unten weg und stellte zu meiner Überraschung fest, daß ich mich schrecklich fürchtete. Dann erschien jemand und versetzte mir einen Stoß, doch er fiel zu sanft aus. Mit zwei weiteren Stößen kam ich meinem Ziel jedesmal näher, aber noch nicht nah genug. Frustriert darüber, daß ich dazu jemand anderen brauchte, stellte ich fest, daß ich mit Hilfe meiner Beine Schwung holen konnte. Ich schwang hin und her, stieg höher - und wachte auf. Wenn Träume Botschaften der Seele darstellen, was will meine Seele mir dann übermitteln? Sie informiert mich
anscheinend, daß ich mir selbst Schwung geben kann und daß es, solange der Sicherheitsgurt angelegt ist, nicht beunruhigend ist, die Welt mit dem Kopf nach unten zu sehen. Wer ist dieser mysteriöse »Jemand«, der mich anschieben will? Wage ich es, dem Ungeschauten, dem Unsichtbaren zu vertrauen? Ich hatte so viele Träume über Brücken, Tunnel und andere enge Durchgänge. Könnten diese Bauwerke »Geburtstunnel« zu anderen Dimensionen darstellen, zu anderen Realitäten? Ich scheine Welten zu überbrücken und mich dabei ohne Straßenkarten ganz auf meine direkte Erfahrung zu verlassen.
5. Februar 1980 Kelli-Lynne krabbelte heute morgen in mein Bett, und wir kuschelten. Ich fragte, ob sie sich an irgendwelche Träume erinnern könne. Sie verneinte. Ich erzählte ihr, ich hätte von zwei Seehunden geträumt, die im Wasser herumtollten. Plötzlich wurden sie auf den Strand gespült. Sie strandeten an der Küste, und die Leute starrten sie an, aber niemand half ihnen zurück ins Wasser. Kelli-Lynnes Gesicht hellte sich auf, und sie sagte, ich solle mit ihr ein verspielter Seehund sein. Wir waren »Seehunde« und nahmen sogar ein »Seehundbad« zusammen, damit mein Traum einen glücklichen Ausgang bekam. Gestern hörte ich, als ich dem Radio lauschte, einen Priester sagen: »Nicht der Tod ist wichtig, sondern die Bedeutung, die wir ihm beimessen.« Obwohl Mike nun seit drei Jahren tot ist, tauscht er nach wie vor lebendige Energie mit mir aus. Tagsüber vermisse ich ihn; in den nächtlichen Träumen und Besuchen stehe ich mit ihm in Verbindung. Ich bin zu der einen Realität verurteilt, und meine Seele spricht von einer anderen - einem »mehrdimensionalen Bewußtsein«, von dem ich nichts hätte wissen können, wäre nicht der Tod meines Sohnes gewesen.
28. Februar 1980 Ich erstand heute eine blühende Pflanze, ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk für mich. Mir sind Blumen lieber als Speisen, denn sie nähren viele Organe gleichzeitig, vor allem die Nase, die Augen und das Herz. Als ich nach Hause zurückgekehrt war, rief ich einige Freunde an und lud sie zu meiner Geburtstagsparty am dritten März ein. Ich fand es arrogant, mich auf diese Weise selbst zu beschenken. Ich fühle mich weitaus wohler, wenn ich andere ermutige, sich etwas zu gönnen. Ich wandte mich an den Mond um Kraft, auch wenn ich keine Monatszyklen mehr habe. Ich habe aufgehört, Östrogenpillen zu schlucken, so daß ich nachts Hitzewallungen habe und das Bett durchschwitze. Ich habe es mit Ginseng versucht, aber es half nicht. Ich versuchte die Hitzewallungen als Orgasmen zu visualisieren, aber meine Vorstellung war nicht phantasievoll genug. Ich rief drei Gynäkologen an, die alle drei meinten, ich müsse noch siebzehn Jahre lang Östrogene nehmen. Bin ich die einzige Frau, der es mißfällt, synthetische Hormone aus einer Schachtel zu Schlucken, auf deren Etikett Krebs als Nebenwirkung genannt wird?
15. März 1980 Wieder eine Nacht, in der ich schwitzte und nicht schlafen konnte. Ich hatte geglaubt, ich sei immun gegen Hitzewallungen, da ich Feministin bin. Aber nein, ich kämpfe sogar im Schlaf damit. Anfang dieser Woche träumte ich vom Karma, von früheren Leben und Schlußpunkten. Ich weiß nicht, was »karmische Schuld« bedeutet, aber ich habe den vagen Verdacht, daß ich genau damit konfrontiert bin.
17. März 1980 Ich erwachte in einen dunklen Tag mit Graupelschauern, der mir aus irgendeinem Grund Furcht einflößte. Ich kam mir wie Kassandra, die Prophetin der Tragödie, vor. Das Telefon unterbrach meine morbiden Gedanken. Es war ein Freund, der verkündete, die Selbstbewußtseinsgruppe würde sich wie geplant treffen, denn die Straßen seien in gutem Zustand. Dann erkannte ich, daß die Düsternis um mich herum mit dem bevorstehenden Todestag von Mike zu tun hatte. An dem dunklen nassen Märztag, an dem er starb, war die Schule ausgefallen, nicht aber die Selbstbewußtseinsgruppe. An diesem dunklen Tag fühlte ich mich zu verletzbar, um zur Gruppe zu gehen, aber ich fuhr dennoch hin, denn es ergab keinen Sinn mehr, mir Unterstützung vorzuenthalten. Diesmal sprach ich als erste. Ich schilderte, wie abgeschnitten ich mich gefühlt hatte; erzählte von den Fragen über frühere Leben und karmische Schuld, die mich beschäftigten; und ich gestand, daß ich Mike noch immer vermißte. Ich klagte ganz frei, ohne mich auch nur einmal dafür zu entschuldigen, daß es zu lange dauerte. Freunde umarmten mich, und ich weinte. Nie zuvor hatte ich es mir gestattet, mich von dieser Gruppe trösten zu lassen! Als ich in meine Wohnung zurückkam, zogen Wellen konvulsiver Schluchzer durch meinen Körper - alte, salzige Tränen aus längst vergangener Zeit. Ich schluchzte wegen der Verluste, die ich durchzustehen hatte, und um das kleine Kind, das sich, in mir begraben, immer einsam und abgetrennt gefühlt hatte. Je mehr ich weinte, desto klarer konnte ich das verzweifelte sechsjährige Kind sehen, das in die Dunkelheit seines großen Schranks flüchtete, wo es sich allein stundenlang zusammenrollte. Ich schwankte immer zwischen der Angst, jemand könne mich entdecken, und der schrecklichen Vorstellung, niemand würde mich vermissen. Ich kam immer wieder von selbst heraus, mehr als je zuvor überzeugt davon, daß ich nicht zählte. Meinen Tränen folgten die Einsichten. Wenn ich mich
fürchte, bin ich wieder sechs Jahre alt; ich ziehe mich zurück, nicht mehr in den Schrank, sondern an einen Ort der Stille und Einsamkeit. Das zur Waise gewordene Kind in mir zu hegen ist jetzt meine Aufgabe. Gleichzeitig bin ich die Mutter meiner sechsjährigen Tochter - eines Kindes, das Fragen stellt und sich wundert, das seinen eigenen Zauber fühlt und mag. In mancher Hinsicht zeigen uns unsere Kinder neue Möglichkeiten auf.
18. März 1980 Letzte Nacht konnte ich das erstemal seit drei Wochen gut schlafen. Ich war erschöpft davon, dem Schmerz nachzugeben, mit dem ich seit so langer Zeit einen Schattenboxkampf geführt hatte. Als ich am Morgen die Augen aufschlug, war ich erstaunt, wie erfrischt und leicht ich mich fühlte. Ich glaube wirklich, ich bin mehr als eine Überlebende - ich bin eine Erbauerin! Heute morgen hatte ich Besuch; als er wieder weg war, beschäftigten mich die schmutzigen Flure dieses Gebäudes obsessiv. Jedesmal wenn ich sie entlanggehe, ziehe ich Grimassen, halte mir die Nase zu und renne, so schnell ich kann, um mein Stockwerk zu erreichen, ohne mich vom Geruch des Katzenurins kontaminiert zu fühlen. Es war mir peinlich, daß meine Freunde durch diesen Dreck laufen mußten, um zu mir zu kommen, und ich war es leid, darauf zu warten, daß die Hausbesitzer eine Reinigung vornehmen ließen. Also putzte ich mit Inbrunst und beseitigte den Müll und den Katzenkot von sechs Monaten. Als ich damit fertig war, war mein Gesicht schmierig und mein Haar vom Gipsstaub weiß. Ich sah aus wie ein Kaminfeger, aber ich hatte zumindest etwas unternommen, anstatt mich nur zu beschweren.
20. März 1980
Kelli-Lynne fragte mich gerade, ob die Tage quadratisch oder rund wie Kreise wären. Nur ein Kind kann über solche Dinge nachdenken. Ich fragte sie, was sie denn denke, und sie sagte: »Beides.« Also setzten wir uns hin und entwickelten unsere Versionen von einem runden Tag und einem quadratischen Tag. Mir würde ein spiralförmiger Tag gefallen!
23. März 1980 Wieder verstecke ich mich im Kloster, um diesen Tag des Übergangs für meinen Sohn zu begehen. Hier kann ich deutlich sehen, daß ich selbst meine einzige Ablenkung bin. Sobald ich mich dem Schreiben zuwende, erscheinen wie durch Zauberei Sätze auf dem Papier. Verletzlich sein ist gottgleich sein. Übergänge schaffen Öffnungen. Öffnungen sind Gelegenheiten, Energie freizusetzen. Das Freisetzen kündigt die Essenz an. Ich fröstle angesichts der frommen Worte und merke auf einmal, daß ich seit Mikes Tod nicht mehr gebetet habe. Von irgendwo tief in mir drin wird mir brennend bewußt, daß meine Seele der individualisierte Ausdruck meiner Essenz ist. Das ist genau das, was ich wiederzugewinnen versuchte. Stimmt es auch, daß meine Essenz versucht hat, Anspruch auf mich zu erheben? Das Rätsel ist die Magie. Echtes Gedenken entspringt der Liebe. Ich gebe zu, daß ich, wenn ich voller Liebe bin, eine Opfergabe werde - was nichts damit zu tun hat, eine Waise zu sein. Bewußt atme ich ein und aus und fülle meinen Körper und danach den ganzen Raum mit Liebe. Dabei spüre ich, wie geschäftig die Verehrung ist. Ich umarme mich, hege meine Heiligkeit und denke an meine Anfänge zurück. Da ich mich wieder hingesetzt habe, schreibe ich:
Ich begann in Schönheit. Ich begann in Liebe. Ich begann im Licht. Während ich wieder in meine Essenz investiere, wird mir der mir innewohnende Glaube bewußt, daß alles zur richtigen Zeit geschehen wird. Mit erhöhter Klarheit schreibe ich weiter: Ich bin mein eigenes Buch. Ich bin die Geschichte. Ich werde in allen auftretenden Personen widergespiegelt. Ich schaffe den Konflikt. Ich lebe die Themen. Ich bin die Moral der Geschichte. Ich entscheide, ob ich Fiktion, Rätsel oder Tragödie oder ein Schauerroman bin oder nicht. In diesem Augenblick begreife ich vollständig, wie kompliziert es für Mike war, mein Sohn gewesen zu sein, und für mich, seine Mutter gewesen zu sein. Wir waren für uns gegenseitig Lehrer, doch wir weigerten uns, voneinander zu lernen. Irgendwie hinderten uns die Rollen der Mutter und des Sohnes daran, unser Wesen zu enthüllen, bis der Tod dazwischenfuhr. Trauer ist verkleidete Verehrung. Die Stille und der Raum hier nähren mich. Der Ozean besänftigt mich; es sind Menschen in der Nähe, falls ich zerfalle; die Kapelle macht mein Herz ruhig. Es ist mir gelungen, die meisten Menschen davon zu überzeugen, daß mein Leben unter Kontrolle ist. Hier jedoch kann ich unbekümmert die nicht vergossenen Tränen weinen. Ich brauche keine Antworten; Gefühle tun es auch. Ich habe eine Schatzkiste in mir, die mit Liebe angefüllt ist.
24. März 1980 In der Nacht hatte ich starke Schmerzen in der Brust. Es war mir, als würde mir das Herz aufgemeißelt. Immer wenn ich mich meinen Gefühlen überlasse, schmerzt mein Herz. Ich erwarte, die Leichtigkeit der Erleichterung zu
spüren, aber ich spüre nur Schmerzen. Teile von mir, die zwecklos geworden sind, scheinen sich aufzulösen, wenn meine Verteidigung bröckelt, doch warum all diese Schmerzen? Hier im Kloster zu stecken stimmt mich auf einen sanften Rhythmus ein. Ich verlangsame das Tempo nicht länger, indem ich krank werde. Ich versuche nicht mehr, mich hinter dem Kummer zu verstecken. Ich weiß, daß Leidenschaft das Gegenteil von Trauer ist, aber ich fühle mich nicht leidenschaftlich, noch nicht. Heute morgen ging ich in die Kapelle, als würde ich von einem Magneten angezogen. Ich kniete mich auf den Boden, faltete die Hände, stieß einen langen Seufzer aus und sagte laut: »Lieber Gott, ich vergebe dir den Tod meines Sohnes.« Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Mein Gesicht war tränennaß. Ich atmete tief ein und war schockiert von der Kraft, die mich durchflutet hatte. Die Macht der Vergebung war orgasmusartig. Ich senkte den Kopf und empfing Wellen von Licht. Als ich das Heiligtum verließ, schritt ich nach draußen und tanzte unter freiem Himmel. Ich wirbelte herum, hatte die Hände emporgestreckt, Tränen rannen mir übers Gesicht, mein Herz hämmerte, und meine Füße folgten den einfachen Rhythmen meiner Seele. Ich tanzte, bis ich nicht mehr stehen konnte. Als ich ins Kloster zurückkehrte, streckte einer der Priester seine Arme aus und umschlang mich. Er sagte nicht ein einziges Wort. Ich wußte trotzdem, daß er meinen Tanz gesehen hatte. Heiligkeit … Vergebung … Liebe. Liebe ist Vergeben. Kein Wunder, daß sich mein Herz letzte Nacht aufgemeißelt fühlte! Wie sonst hätte ich mich auf einen derartigen Augenblick vorbereiten können? Diese drei Jahre, in denen ich insgeheim Gott die Schuld am Tod meines Sohns gegeben habe. Wie befreiend ist es doch, wieder loszulassen. Es gibt stets ein Wieder. Ja - bis deine Seele ihre Fülle akzeptiert hat.
Ein Leben, das wirklich gelebt wird, brennt fort während die Schleier der Illusion fort und enthüllt Schritt für Schritt die Essenz des Individuums. Marion Woodman
Jahr vier 25. März 1980 Ich lächle und schüttle den Kopf über die Gespräche, die ich mit meiner sechsjährigen Tochter führte. »Wirst du heiraten, wenn du erwachsen bist?« fragte sie mich, während wir den Tisch für das Abendessen deckten. »Vermutlich«, erwiderte ich. »Was ist überhaupt ›erwachsen sein‹?« »Das ist, wenn man weiß, daß man heiraten will und man nicht Mutter oder Vater fragen muß, ob man darf«, sagte sie, ohne zu zögern. Ohne eine Miene zu verziehen, erklärte ich ihr, ich sei noch nicht »erwachsen«. Später, als sie das Tafelsilber abtrocknete, bemerkte sie einige abstrakte Skizzen, die ich im Kloster gezeichnet hatte. Sie fragte, was sie bedeuteten. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Es sind nur Zeichnungen über das, was ich empfand.« Sie besah sich die Skizzen genauer und fragte dann, ob ich wolle, daß sie mir erklärte, was sie bedeuteten. Sehr ernst erläuterte sie, die erste Skizze sei ein Panthergeist, der sich wie der Geist aller Tiere von dem der Menschen unterscheide. »Worin unterscheidet sich der Panthergeist von dem des Menschen?« fragte ich nach. »Der Geist der Menschen ist verschieden groß. Der Geist eines Erwachsenen ist wie ein O geformt und von vierzig Trieben umgeben. Der eines Teenagers ist ein kleineres O mit zwanzig Trieben, und der eines Babys ist ein kleiner Tupfen ohne Triebe. Wenn du achtzig wirst, sind deine Triebe von unterschiedlicher Farbe. Aber Tiere haben keine Triebe, genau wie Menschenbabys.« Sie sprach mit Autorität. Neugierig fragte ich sie, wo sie das denn gelernt habe.
»Ich habe schon immer über den Geist Bescheid gewußt. Ich habe das vor langer, langer Zeit gelernt«, antwortete sie. »Ich bin froh, daß du dich daran erinnerst«, sagte ich.
6. April 1980 Ich fühle mich entschlossener, mich scheiden zu lassen, als ich mir jemals vorstellen konnte. Doch diese Entschlossenheit ist von Schmerz begleitet … wieder einmal. Eine vierzehnjährige Ehe ist zu Ende. Mike war vierzehn, als er starb. Lebe ich mein Leben in Zyklen von vierzehn Jahren?
25. April 1980 Es ist Frühling geworden. Ich vermisse unsere alte Umgebung am Meer. Ich erinnere mich an den Lärm der dortigen Kinder, wenn sie durch die drei aneinandergrenzenden Gärten tobten, die einen riesigen Spielplatz bildeten. Die Kinder und ich saßen stundenlang auf unserer Reifenschaukel, und wir dachten uns Geschichten über die Formen der vorüberziehenden Wolken aus. Nun empfinde ich Schuldgefühle, weil ich Kelli-Lynne entwurzelt habe. Hier gibt es keine Bäume, kein Meer, keine Kinder zum Spielen - nicht einmal einen Garten. Sie hat mehr verdient, und das gilt auch für mich. Als ich es wagte, aufrichtig zu handeln, hat mich das einen Lebensstil gekostet. Die ersten warmen Frühlingsbrisen lassen mich zwar die natürliche Ordnung, Einfachheit und Schönheit des alten Viertels vermissen, aber den Entschluß, mich scheiden zu lassen, bedaure ich nicht.
3. Mai 1980
Gil rief heute an und sagte, er wolle mit mir reden. Ich fuhr zu »seinem« Haus und aß mit ihm zu Abend. Anschließend sah ich ihn an und teilte ihm mit, ich hoffte, ich hätte seinen Geist nicht verletzt. Er war verlegen. Ich erklärte, die Scheidung bedeute, daß ich einen Fehler meinerseits anerkenne; ich sei aber nicht gewillt, die Schuld für unsere gescheiterte Ehe allein mir zu geben. Er nickte. Morgen hätte Mike seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Noch in diesem Monat hätte er außerdem seinen Abschluß an der High School gemacht. Bis dahin will ich diese Ehe abgeschlossen haben. Als ich nach Hause kam, bat mich Kelli-Lynne in ihr Zimmer. Sie erzählte mir, sie habe geweint, weil sie Mike vermißt habe. Ich hielt sie ganz fest, und wir weinten zusammen. Sie bat mich, ihr zu beschreiben, wie Mike ausgesehen habe; doch bevor ich anfangen konnte, platzte sie heraus: »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sich Mikes Stimme anhörte.« Sie zitterte. »Wie alt wäre Mike an diesem Geburtstag geworden?« »Achtzehn«, sagte ich. »Letztes Jahre habe ich ihm einen Geburtstagskuchen gebacken. Weißt du noch?« »Ja, ich weiß. Er hatte blaue Verzierungen und eine weiße Glasur, und innendrin war Schokolade.« »Er hätte ihn gemocht.« »Ja«, pflichtete ich bei. »Ich backe ihm in diesem Jahr keinen Kuchen, er kann ihn ja sowieso nicht essen. Aber ich muß etwas tun, damit ich seine Stimme nicht vergesse.« »Vielleicht können wir Blumen in der Anlage anpflanzen. Wenn sie dann zu wachsen beginnen, können wir gemeinsam an Mike zurückdenken. Weißt du, KelliLynne«, sagte ich sanft, »ich kann mich auch nicht mehr ganz genau daran erinnern, wie Mikes Stimme klang.« »Heißt das, daß wir ihn nicht so sehr liebhaben?« wollte sie wissen. »Nein, das heißt, daß ich mich an Zeiten, die wir zu-
sammen verbrachten, besser erinnern kann als an den Klang seiner Stimme.« »So geht es mir auch. Und das ist in Ordnung stimmt's, Mom?« »Ja, du Dummerchen. Das ist in Ordnung.« Wir wiegten uns, bis sie fragte: »Können wir jetzt Popcorn machen? Mike liebte Popcorn.« »Natürlich«, antwortete ich und hatte auf einmal Lust auf Popcorn.
4. Mai 1980 Mikes Geburtstag und der Muttertag fielen dieses Jahr auf denselben Tag. Kelli-Lynne und ich fuhren zur Feier das Tages zum Picknicken nach Mackworth Island. Sie buk dort zwei Sandkuchen: einen für mich und einen für Mike. Die süße Bitternis ihrer kulinarischen Absichten trieb mir Tränen in die Augen.
20. Mai 1980 Ich habe oft die Redewendung gehört: »Jemand erschreckt sich zu Tode«. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich zum Leben erschreckt würde? Ist das der Sinn, der hinter dem Beten steckt? In meinem letzten Traum wanderte ich durch ein mir vertrautes Haus. Ich öffnete eine bestimmte verborgene Tür und betrat einen großen, sonnendurchfluteten Raum. An jedem Fenster stand ein kleines Wäldchen von Pflanzen. Angesichts der Zeit und sorgfältigen Pflege, die diese Blumen erhalten hatten, wollte ich den Gärtner kennenlernen. Dann fiel mir ein langer Mahagonitisch auf, auf dem mehrere Kakteen standen, die ohne Erde und ohne Töpfe wuchsen. Jemand hatte diesen Raum sehr durchdacht geplant, schloß ich, und ich wußte, ich gehörte hierher.
Unmittelbar nach dem Aufwachen fiel mir wieder der häßliche Kaktus ein, den Mike mir gekauft hatte - die einzige Pflanze, die ich ohne Unbehagen auf seinen Sarg in der Leichenhalle stellen konnte. Schickt Mike mir Träume? Ist er der Gärtner? Kümmert er sich um meine Seele? Was würde es für mich bedeuten, der Gärtner meiner Seele zu sein? In einem anderen Traum fuhr ich im Auto auf einen Parkplatz vor dem Haus, in dem ich aufwuchs. Der Motor beschleunigte, und jedesmal, wenn ich das Lenkrad fester umklammerte, beschleunigte das Auto noch mehr. Ich trat auf die Bremse, aber es half nichts. Ich zerrte den Schlüssel aus dem Zündschloß, doch das Auto schoß noch schneller vorwärts. Ich dachte, mir bleibe nur die Wahl, das Lenkrad festzuhalten und den außer Kontrolle geratenen Wagen zu steuern. Ein Mann rief vom Straßenrand herüber: »Lockern Sie Ihren Griff um das Lenkrad. Sie verschwenden Ihre Energie.« Als ich den Griff lockerte, wurde der Wagen langsamer. Mit Sicherheit hat mein Leben an Fahrt gewonnen, und ich bin stolz darauf, auf der Fahrerseite zu sitzen. Erst kürzlich habe ich viel Energie darauf verwendet, Geld zu verdienen. Aber wer war der Mann, der mir riet, meinen Griff zu lockern? Ich kannte ihn nicht, vertraute aber dennoch auf seinen Rat.
29. Mai 1980 Im Traum der vergangenen Nacht war ich Häftling in einem Kriegsgefangenenlager. Einer der Aufseher fuhr in einem langen schwarzen Auto vor und wollte wissen, wer einen Sohn namens Mike mit einem Nachnamen, den ich nicht richtig verstehen konnte, habe. Niemand antwortete. Ich sagte, ich hätte einen Sohn namens Mike Hall. Er ließ mich in einen engen Raum marschieren, in dem eine Wärterin mir Geld anbot, wenn ich meinen Sohn ihr überschreiben würde. Ich wurde zornig!
»Bevor ich das tue, sterbe ich«, erklärte ich ihr. »Ich mag eine Gefangene sein, aber ich habe trotzdem ein wenig Macht.« Später war ich in diesem Traum eine von mehreren Häftlingen, die man draußen zu einer großen Koppel voller Tiere trieb. Ein Wärter befahl uns, zuzusehen, wie die Tiere nacheinander geschlachtet wurden. Mir gelang es, zwei Lämmer unter meinem langen Rock zu verstecken. Ich wachte auf in dem Gefühl, ich hätte einen großen Sieg errungen.
6. Juni 1980 Ich bin auf Monhegan Island, ungefähr sechzig Kilometer vom Festland entfernt, um dem zu entkommen, was Mikes High-School-Abschluß gewesen wäre. In den letzten Wochen verspürte ich jedesmal, wenn ich in eine Zeitung sah und Artikel über Abschlußfeiern entdeckte, einen heftigen Stich, als sei Mike erst gestern gestorben. Auf einen so intensiven Schmerz war ich nicht vorbereitet, und auch nicht auf die Eifersucht, die ich auf Familien mit lebendigen High-School-Abgängern empfand. Hier gibt es keine Zeitungen, keine Schulen, keine Autos, keinen Strom, keine Uhren - nur das Meer, Vögel, Hirsche, Blumen und den weiten Himmel. Heute hatten wir ein schweres Unwetter. Einen Augenblick lang schien die ganze Natur den Atem anzuhalten; dann fielen schwere Regentropfen, und die Natur tobte. Mike hätte es hier gefallen. Der Klang eines Nebelhorns begleitet mich beim Nachdenken. Wenn ich aus dem Fenster meines kleinen Cottage schaue, kann ich den weiß gischtenden Ozean und kleine Boote sehen, die dem Wind und dem stürmischen Regen die Stirn bieten. Mit den Augen verfolge ich den Weg der Regentropfen, die vom Wind aus den Dachrinnen geschleudert werden. Ich sehe den Beginn ihres Wegs und verfolge ihren Abgang, wenn sie in einer Pfütze ver-
schwinden. Ich versuche sie wieder als Regentropfen zu erleben, doch es gelingt mir nicht. Ihre Entwicklung scheint dem unumkehrbaren Prinzip Bildung-Abstieg-Absorption zu folgen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich plötzlich einen Lichtfunken. Einen Augenblick lang existiert er für sich allein, dann vermengt er sich manchmal mit der Dunkelheit und ein anderes Mal mit dem Licht. Der Funke - wie die Regentropfen - nimmt eine Form an, dann verschmilzt er, und es entsteht aus ihm eine neue Figur. Ist dieses Verschmelzen Realität oder optische Täuschung? Im Verschmelzen tauchst du auf.
22. Juni 1980 Hurra! Ich bin in die Creative Education Foundation aufgenommen. Das Kuratorium am CPSI, wo ich seit fünf Jahren unterrichte, hat mich als Mitarbeiterin auf dem Gebiet der Kreativität anerkannt. Nun habe ich ein Diplom - eine Auszeichnung, die ich in meinem Leben zuvor nicht zu erwerben vermochte.
25. Juni 1980 Ich sitze allein auf »meinem Berg« und denke über Zauberei nach. Irgendwie weiß ich, daß Zauberer sich gegenseitig mit kreativer Intimität beschenken. Außerdem erkenne ich einen Zauberer, wenn ich einen sehe, denn in dem ihn umgebenden Energiefeld tauchen plötzlich »Öffnungen« auf. Woher habe ich diese Information? Wie lange bin ich mir dessen schon bewußt? Schon immer. Doch du hast erst vor kurzem die Entscheidung getroffen, deine Kräfte einzusetzen. Mir ist bekannt, daß Zauberer sich auf die Prinzipien der Natur stützen und daß sie Öffnungen schaffen, weil sie wissen, wo sich die Schnittstellen zwischen den Dimensi-
onen befinden. Aber ich weiß nicht, ob Zauberer eingeweiht sind.
26. Juni 1980 Ich habe eine neue Lektion in bezug auf Vertrauen gelernt. Früher habe ich naiv vertraut, wurde enttäuscht und fühlte mich dann verletzt. Jetzt bin ich kritischer. Ich schenke der Stimme der Vernunft genausoviel Aufmerksamkeit wie der Stimme der Intuition. Vielleicht ist es das, was »gereiftes Vertrauen« eigentlich bedeutet.
27. Juni 1980 Während ich am CPSI lehre und lerne, vertraue ich auf meine Führung. Ich fühle mich in der Erfahrung verwurzelt, dem Saatgut, auf dem das begriffliche Wissen gründet. Vielleicht wegen dieser Verwurzelung erkenne ich, daß es meine Aufgabe ist, das Leben zu genießen. Ich habe den Refrain eines Liedes, »Es ist ein Geschenk, einfach zu sein, es ist ein Geschenk, frei zu sein. / Es ist ein Geschenk, dahin zu kommen, wo wir sein sollen«, gesummt und war mir von irgendwo tief in mir bewußt, daß die Heilung einsetzt, sobald sich die Persönlichkeit geändert hat.
3. Juli 1980 Ich beschließe, bis September, wenn Kelli-Lynne in die Schule kommt, umzuziehen. Ich stelle mir ein Haus mit Garten und mindestens einem Baum vor. Viele meiner Träume in den vergangenen Nächten handelten vom Unterrichten. Entweder zeige ich Leuten, wie sie eine Aura sehen, oder ich spreche über gebrochenes Licht.
30. August 1980 Umzugstag - mein dritter in zehn Monaten. Diesmal zog ich aus der Wohnung in mein eigenes Haus. Keine Umzüge mehr, sage ich mir und kann mir doch nicht vorstellen, wie etwas von Dauer auch nur aussieht. Mehrere hundert Male die drei Treppen hinauf- und hinunterzusteigen hat mich fertiggemacht, und ich habe nicht einmal die schweren Möbel geschleppt! Als ich zum letztenmal durch die vier Zimmer ging und nachsah, ob auch nichts vergessen wurde, entdeckte ich etwas mitten auf dem Boden des Eßzimmers: Es war eine Fotografie von Mike. Zuvor hatte sich mein Aktenschrank nicht schließen lassen, weil eine Mappe mit Mikes Gedichten im Weg war. Also ist er immer noch bei mir.
1. September 1980 Das neue Haus ist ein wahres Geschenk. Ich wasche hier sogar gern Wäsche, denn wenn ich sie zum Trocknen nach draußen hänge, riecht sie nach frischer Luft und Gras. Die zirpenden Grillen lullen mich abends ein und wecken mich morgens auf. Jetzt kann ich verfolgen, wie sich vor meinem Haus die Blätter an den Bäumen verfärben. Ich kann die Übergänge zwischen den Jahreszeiten und auch meine eigenen Übergänge spüren. Heute rief meine Mutter an. Im Verlauf unseres Gesprächs nannte sie Kelli-Lynne ihr erstes Enkelkind - eine Bemerkung, die mich gleichermaßen wütend wie traurig machte. Sie leugnet anscheinend Mikes Existenz genauso bereitwillig, wie sie meine Lebensentscheidungen ablehnt.
10. Oktober 1980
Ich habe endlich ein Büro gemietet. Der Mietvertrag ist auf ein Jahr begrenzt, und die Miete ist erträglich, denn das Gebäude soll renoviert werden. Vorrangig ist es mein Ziel, mich als Therapeutin niederzulassen. Ich gebe auch einen Kurs zum Thema »Die Psychologie des Selbstbildes«, den ich mit konzipiert habe.
15. Oktober 1980 Gott sei gedankt für die Bewegung! Ich eröffnete heute ein Kreditkartenkonto auf meinen eigenen Namen. Als Kelli-Lynne aus der Schule nach Hause kam, sah sie mir geradewegs in die Augen und sagte: »Weißt du, Mom, Mike war zur Hälfte mit an seinem Tod schuld, denn er hätte wissen müssen, daß man sich von einer abgerissenen Leitung fernhält.« Ich schluckte, bereit, ihn zu verteidigen. Warum meinte ich, ich müsse meinen toten Sohn verteidigen, wenn KelliLynne doch nur die Wahrheit gesagt hatte? Dann bemerkte sie, ich hätte ihm verbieten sollen hinauszugehen. Ich seufzte und erinnerte sie daran, daß ich ihn zur Vorsicht gemahnt hatte. Sie fuhr fort, sie habe mit einer ihrer Freundinnen in der Schule über Mikes Tod gesprochen, und ihre Freundin habe Kelli-Lynne gefragt, ob sie sich dafür verantwortlich fühle. »Wieso denn?« entgegnete sie. »Ich war doch erst zweieinhalb Jahre alt!«
16. Oktober 1980 Ein Abend in der Symphonie ließ meine Schutzmauern bröckeln, ich weinte bei mehreren Passagen. Konzertmusik ist eine Huldigung und Verherrlichung. Wie habe ich es nur so viele Jahre ohne sie ausgehalten? Es war nicht ungefährlich, sich gerührt zu fühlen, das ist alles.
27. Oktober 1980 Heute kam ein Entwurf für die Scheidungsvereinbarung von Gils Anwalt. Da ich eine faire Trennung erwartet hatte, war ich enttäuscht. Ich las kürzlich irgendwo, daß das Leben aus Verschmelzung, Trennung und Individuation besteht und sich jedesmal, wenn wir eine dieser Stufen abschließen, eine psychische Neustrukturierung vollzieht. Nach einem Trennungsjahr ohne Scheidung fühle ich mich, als würde ich von dieser Neustrukturierung abgehalten. Bis dahin wiederhole ich anscheinend den Leidenskreislauf der Verleugnung (ich will fair sein, damit Gil und ich Freunde bleiben und bei dieser Scheidung an einem Strang ziehen), der Wut (auf Gil, seinen Anwalt, meinen Anwalt und auf mich, weil ich diesen Prozeß in die Länge ziehe) und des Schacherns (ich verhandle seit elf Monaten und kann, von meinem Bankkonto einmal abgesehen, keine Veränderungen erkennen). Ich will endlich einfach entheiratet sein!
6. November 1980 Ich sehne mich danach, mit den Augen meiner Träume zu schauen. In der ersten Episode der vergangenen Nacht saß ich in einer quadratischen Holzkiste, die einer Kinderschaukel ähnelte. Doch anstatt zu schwingen, lernte ich fliegen. Solange ich entspannt blieb, verliefen meine Aufund Abschwünge ruhig. Ich muß lernen, mich am Tag zu entspannen und meiner Seele entgegenzufliegen. Im zweiten Traum übersetzte ich Poesie aus dem Geist in die Materie. Ich mußte aufmerksam, aber entspannt zuhören. Am Ende erklärte ich mich bereit, ein Gedicht mit dem Titel »Die Augen der Seele« zu schreiben. Der Traum mit der Schaukel ist nicht der erste, der davon handelt, mich höher hinaufzuschwingen; und der
Traum mit der Übersetzung ist auch nicht der erste, der vom Schreiben handelt. Soll ich glauben, daß ich auf eine Art Durchbruch vorbereitet werde?
11. November 1980 Die Träume der letzten Nacht waren einzigartig physisch. Im ersten beobachtete ich meinen Körper und bemerkte ein Röhrchen, das an meinem Schambein befestigt war. Es sah wie ein Penis aus, war aber mit Blut gefüllt. Ich begriff, daß ich vor der Menstruation stand und daß ich den Penis abnehmen und als Tampon benutzen konnte. »Immerhin ist das mein Geburtsrecht«, verkündete ich und kicherte über meinen Einfallsreichtum. Ich wachte mit der Frage auf, was wohl Freud zu diesem Traum sagen würde. Würde er ihn als Ausdruck einer Integration meiner maskulinen und femininen Aspekte verstehen? Danach träumte ich, ich sei im Kreißsaal eines Krankenhauses. Ich bereitete mich auf die Niederkunft vor und wollte allein sein. Ich sah interessiert zu, wie ich von einem mehrfarbigen Kätzchen entbunden wurde. Selbstgefällig dachte ich: »Das wird die Leute aber überraschen!« Diese Träume ergeben für mich einen Sinn. Ich habe Wehen, und ich heiße das Unerwartete willkommen. Die Weisung der Träume jedoch ist paradox: Auf der physischen Ebene möchte ich Kontrolle ausüben, vor allem was meine Scheidung anbelangt; auf der spirituellen Ebene hingegen möchte ich fliegen, ätherische Poesie übersetzen und gebären. Ich erzählte den Kätzchentraum einem Freund, der beiläufig meinte: »Manche glauben, Kätzchen und Katzen seien Symbole des Weiblichen, Intuitiven.« Und wir lächelten.
21. November 1980
Die Lektionen drehen sich stets um die Liebe. Nur was du mit Liebe gibst, zählt. Liebe ist zum Geben da. Mikes Tod hat meine Familie zersplittert. Er versuchte, uns die Liebe beizubringen, er versuchte, die Familie zu heilen und zu einen; aber seine Stimme war zu leise, um gehört zu werden. Ich bin da. Ich wohne in der Stille. Und du hörst meine Stimme. Daß meine Lehren richtig sind, ruht in dir, denn wir sind in Liebe verbunden. In Zukunft werden unsere Stimmen ineinander übergehen. Mit sechsunddreißig Jahren kämpfe ich darum, laut genug zu sein, damit ich gehört werde, und weiß doch, daß ich meine Familie nicht ändern kann. Sie sind nicht die perfekten Eltern; aber ich bin auch nicht die perfekte Tochter. Sprich dort, wo man dir zuhört. Worte der Wahrheit sind für Jene wertvoll, die für sie bereit sind. Beurteile dich nicht nach der Aufnahmebereitschaft der Familie. Dein Feld reicht, genau wie meines, weit über die Familie hinaus. Halte dich an deine anfängliche Absicht zu dienen. Das Dienen ist niemals nur auf einige wenige begrenzt. Diene jenen, die nach tieferem Verständnis streben.
5. Dezember 1980 Ich habe heute die Psychologieveranstaltung für Studenten im ersten Collegejahr gekündigt. Ein weiteres Mal habe ich gelernt, daß ein Unterschied darin besteht, ob man Leuten gibt, was sie brauchen, oder ob man ihnen gibt, was sie wollen. An dem Tag, als ich meine Kündigung tippte, wurden mir drei Verträge für die Leitung von Workshops über Streßmanagement angeboten. Ich werde weniger arbeiten und mehr verdienen!
9. Dezember 1980
Ich besuchte einen weiteren, viertägigen Workshop zur körperzentrierten Psychotherapie, der mich dazu inspirierte, einige meiner Verhaltensmuster in bezug auf die Art und Weise, wie ich mich verteidige, zu ändern. Nach Ron Kurtz, dem Leiter, wartet die Erfüllung stets schon darauf, eintreten zu können; unsere Aufgabe besteht darin, an den Punkten, an denen eine Wahl getroffen werden muß und sich die Optionen auftun, einzugreifen. Entweder verteidigen wir unsere geliebten Methoden des Widerstands, indem wir uns an diesen Punkten der Entscheidung selbst schützen, oder wir greifen danach und gehen das Wagnis ein, einen anderen, fruchtbareren Weg des Seins zu beschreiten. Als Ron einen Freiwilligen suchte, riskierte ich es, weil ich mich bei ihm sicher fühlte. Ich erzählte ihm, daß mir, wenn ich mich entspanne, zum Weinen zumute ist und daß ich, um mich von meinen Tränen nicht überwältigen zu lassen, mich schütze, indem ich stark und beherrscht dreinsehe. »Ich sorge dafür, daß du nicht zusammenbrichst«, sagte er. »Dann wirst du in der Lage sein, alles, was du willst, zu empfinden, und nicht befürchten müssen, die Kontrolle zu verlieren.« Ich gab den Widerstand erleichtert auf, während Ron mich hielt. Je mehr ich weinte, desto fester hielt er mich. Als die Tränen schließlich versiegten, war ich wütend. »Versuche die Quelle deiner Wut auszumachen«, riet er mir. »In der Vergangenheit«, sagte ich zu ihm, »wurde ich ignoriert oder man machte sich über mich lustig. Da lernte ich, meine Gefühle wegzusperren.« Meine Erfahrung anders zu kanalisieren, schlug er vor, sei fruchtbarer. Nach Rons Ansicht ist ein Therapeut jemand, der einen zur Tür bringt und einem den Mantel hält, doch durch die Tür geht man allein. Während ich durch die sprichwörtliche Tür ging, konnte ich anstatt in meinem Kopf in meinem Herzen spüren, daß ich litt, weil Mike nie verliebt gewesen
war. Ich spürte gleichermaßen seine wie auch meine Traurigkeit.
12. Dezember 1980 Ich möchte Frauen beibringen, wie sie sich selbst und einander stützen können. Ein schwesterliches Verhältnis ist für das Wohlbefinden der Frauen von entscheidender Bedeutung. Ich würde gern in einer Frauengruppe arbeiten - unsere hemmenden Überzeugungen in Frage stellen und selbst in Frage gestellt werden.
17. Dezember 1980 Ich bin übermüdet und fühle mich schuldig, weil ich dieses selbst zerstörerische Verhalten nicht abgestellt habe. Ich arbeite hart, und dann breche ich zusammen. KelliLynne war krank, und in gewisser Weise bin ich eifersüchtig auf all die Zeit, die sie zum Ausruhen hatte. Ich hege den Verdacht, daß Krankheit genau wie Überanstrengung eine Möglichkeit, passiv zu werden, ist. Kelli-Lynne und ich haben heute Weihnachtseinkäufe erledigt. Ich bemühte mich sehr, ihr unser Abenteuer so angenehm wie möglich zu machen, und ging mit ihr in ihre Lieblingsgeschäfte, aber sie beklagte sich, sie seien zu voll und hätten nichts von dem, was sie haben wollte. Als ich sie fragte, was sie denn wolle, schoß sie zurück: »Woher soll ich das wissen? Ich bin nur ein Kind.« Zur Belohnung aßen wir bei McDonald's, ihrem Lieblingsschnellimbiß, zu Abend. Sie nörgelte über das Essen und nahm kaum etwas zu sich. Als wir ihre Einkaufsliste durchsahen, um zu entscheiden, wo wir als nächstes hingehen sollten, verkündete sie, ihr sei langweilig und sie wolle ein anderes Mal einkaufen gehen. Ich sagte ihr, ich hätte dafür vor Weihnachten keine Zeit mehr, deshalb solle sie besser jetzt kaufen, was sie wolle. Sie
machte einen Schmollmund. Als wir zu Hause waren, klagte sie sofort, sie habe Hunger. Ich erinnerte sie daran, daß wir gerade erst von McDonald's kämen und ich kein Abendessen mehr zubereiten würde. Als ich sie ins Bett brachte, verkündete sie ein bißchen triumphierend: »Ich bin immer noch unglücklich.« Ich wünschte, ich könnte Schmerz und Leid aus unserem Leben verbannen.
9. Januar 1981 Ich freue mich darüber, zu einem viertägigen Workshop zum Aufspüren der eigenen Mitte mit einer Gruppe von Frauen zusammenzusein. Nach Ansicht des WorkshopLeiters gibt es drei Möglichkeiten zu existieren: sich zu fügen, Widerstand zu leisten und zentriert zu sein. Ich erkenne, daß ich mich füge, indem ich müde oder verwirrt bin, dann aber schnell Widerstand leiste und mich mit Sturheit, Rückzug, manchmal sogar Krankheit schütze. Das Erkennen der eigenen Mitte ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozeß. Bei meinen Konflikten mit anderen übertreibe ich meine Sturheit, indem ich mich versteife und meine Stimme und meine Energie zurückhalte. Dann bleibe ich in meinem Versteck, bis ich mich mißbraucht fühle. Schließlich schütze ich mich damit, daß ich meine Gefühle wegsperre, so daß sich der Kreis noch schneller schließt. Für meinen Groll bezahle ich einen hohen Preis.
12. Januar 1981 Als ich erwachte, spürte ich mein Alter. Da ich auf die Siebenunddreißig zugehe, wird mir erzählt, die Hälfte meines Lebens sei vorüber. Ich gelte als »Mittelalter«. Ich stehe selten lange vor dem Spiegel, aber heute
morgen fiel mir auf, daß ich um die Augen herum Falten habe, daß mein Körper an den richtigen Stellen nicht mehr schlank ist und daß mein Gesicht von weißen Haarsträhnen umrahmt wird. Das scheint alles so schnell passiert zu sein. Als ich mich aus der Nähe im Spiegel betrachtete, sah ich klare braune Augen voller Schmerz und Liebe. Ich habe es zweifelsohne zugelassen, daß das Leben an mir seine Spuren hinterließ. Wenn mein Alter zu spüren gleichbedeutend damit ist, daß ich meine Erfahrung akzeptiere, dann muß ich noch mehr akzeptieren. Ich habe die Freude, die früher Abschnitten meines Lebens Farbe verlieh, noch nicht wiedergefunden. Ich weiß intuitiv, daß Freude die Kehrseite von Schmerz ist, doch das finde ich im Spiegel nicht reflektiert. Die gute Nachricht ist, daß ich endlich gewillt bin zu sehen, was ich sehe, zu wissen, was ich weiß, und die zu sein, die ich bin!
17. Februar 1981 Da ich mir erlaube, so zu sein, wie ich bin, glaube ich langsam weniger an Magie und mehr an meine eigene Macht. Ich warte weniger und verlange mehr. Wie aufregend wäre es, einen Workshop genau so zu halten, wie ein Maestro ein Orchester dirigiert!
7. März 1981 Im Traum der vergangenen Nacht war Mike fünfzehn Jahre alt, und wir unternahmen gemeinsam einen Winterspaziergang entlang von Bahngleisen, die einen eisbedeckten Teich begrenzten. Als wir einen kleinen Hügel hinaufgingen, mahnte ich ihn, in der Nähe des Eises keinen Unsinn anzustellen. Als ich mich umblickte, sah ich plötzlich seinen Kopf über dem Wasser. Ich schrie und rannte den Hügel hinunter, um ihn herauszuziehen, doch
sein Körper war für mich zu schwer. Als ich um Hilfe schrie, bemerkte ich in seinem Gesicht ein gehetztes Lächeln. Ich fragte mich: Weiß er etwas über den Tod, das ich nicht weiß? Fremde kamen, und zusammen zogen wir Mike aus dem Wasser und den Hügel hinauf zu einer Autowerkstatt. Doch er war bereits tot. Dann klingelte das Telefon, und ich wachte auf. Nirgends wird etwas entschieden, grübelte ich, nicht einmal in meinen Träumen. Es ist eine Selbsttäuschung, wenn ich glaube, ich hätte den Schmerz über den Tod meines Sohnes überwunden. Ich spreche zwar nicht oft von ihm, aber ich habe sein Foto in meiner Brieftasche. Und während ich nach meiner Kreditkarte suche, erschreckt mich gelegentlich sein Gesicht. Ich halte den Atem an, als hätte man ihn aus mir herausgeschlagen, und mache weiter. Der Gedanke, sein Foto aus meiner Brieftasche zu entfernen, ist mir unerträglich. Mikes Tod war nicht fair. Ich frage mich, wie er jetzt wäre, wie er jetzt aussehen würde. Was würde er von mir, was von der Welt halten? Was hätte ihm die Zukunft gebracht? Welche Art Beziehung hätte er zu Kelli-Lynne? Vor allem stelle ich mir die Frage, ob wir in Zukunft alle wieder Zusammensein werden.
Die Frauen müssen lernen, sich selbst zu verstehen sich auf die Botschaften ihres Körpers zu stützen und ihre intuitive Art der Wahrnehmung zu akzeptieren, damit sie einer humaneren Gesellschaft den Weg bereiten können. Natalie Rogers
Jahr fünf 13. April 1981 Mein Herzklopfen wurde so stark, daß ich mir einen Termin bei meiner Gynäkologin geben ließ. Als ich heute in ihrem Wartezimmer saß, versuchte ich nach Möglichkeit, nicht auf die schwangeren Bäuche der Frauen neben mir und auf der anderen Seite des Zimmers zu blicken. Mein Bauch fühlte sich nicht von einem Kind, sondern von Kummer schwanger an. Im Rückblick erkenne ich, daß ich keine Zielscheibe für meine Wut über die Totaloperation hatte, als ich zweiunddreißig Jahre alt war, und so schluckte ich meinen Zorn und Kummer hinunter. Und dann starb Mike drei Monate später, was bei mir zu noch mehr Wut und noch mehr Schmerz führte. Mir hat es in den letzten vier Jahren an Luft und Leben gemangelt.
21. April 1981 Langsam begreife ich, daß die Reise einer Frau eine Visionssuche und in ihrem Verlauf eine Abkehr vom Vertrauten bedeutet. Vormals für unumstößlich gehaltene Wahrheiten verschwimmen und verschwinden. Früher befriedigende Antworten verlieren ihren Sinn. Auch Beziehungen wirken leer, da die alten ausgelaugten Rollen abgelegt werden. Die Reise in das Unbekannte ist immer eine einsame Angelegenheit. Und sobald der Abstieg begonnen hat, sind Kompromisse nicht mehr möglich. Wenn die Frau überleben will, braucht sie neue Mythen und eine neue Sinngebung - mit anderen Worten ausgereifte Kreativität. Meine Totaloperation beispielsweise zwang mich, meinen Glauben an die Fähigkeit meines Körpers, mich auf seine gewohnte Weise zu stützen, zu überdenken. Mikes
Tod zwölf Wochen später katapultierte mich noch weiter in die Leere. Die anstehende Scheidung veranlaßte mich schließlich, mich mit meinen eigenen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Wenn ich so zurückschaue, wird jedes dieser Ereignisse zu einer Initiation. Mit jedem neuen Verlust wurden Illusionen und Hirngespinste einem größeren Gut - nämlich einer erhöhten Verwundbarkeit - geopfert. Das Schreiben hat mir geholfen, diese Reise in eine Karte einzutragen. Nicht einmal meinen engsten Freunden erzählte ich von der Auflösung der Definitionen und von dem Schmerz, den dieser große Verlust und die innere Erosion hinterließen. Die Litanei der Einsamkeit reservierte ich für mein Tagebuch; ebenso meine Panik, wie ich die an mich allein adressierten Rechnungen bezahlen sollte, meine Leere und meine Frustrationen. Hätte ich eine Frauengruppe gekannt, so hätte sie mich vielleicht aufgefordert, um das, was mir zustand, zu kämpfen; sie hätte mich vielleicht damit konfrontiert, als ich mich als Opfer fühlte; sie hätte mich vielleicht herausgefordert, als ich meine Freunde »schützte«, indem ich schwieg, und sie hätte mir vielleicht dafür die Verantwortung gegeben, als ich mich von Schuldgefühlen aufgefressen fühlte. Wie begierig lausche ich den Geschichten von Frauen über Verlust, Zerstückelung, Betrug und Leidenschaft. Und je mehr ich zuhöre, desto mehr Selbstbewußtsein gewinne ich, meine eigene Geschichte zu erzählen. Tief in meinem Herzen weiß ich: Der Reise einen Namen geben heißt die Macht der Suche bestätigen.
23. April 1981 In vier Tagen findet die Scheidungsverhandlung statt. Ich bin nicht mehr so wütend auf Gil. Ich hatte gehofft, mich erleichtert und frei zu fühlen, doch statt dessen bin ich traurig darüber, daß ich den »Garten« nicht gut genug gehegt habe.
24. April 1981 Ich bin auf der Birdsong Farm in North Berwick, wo ich an einem Workshop zum Thema »Musik und die Reise der Seele« teilnehme. Der Zeitpunkt erscheint mir perfekt gewählt. Meine Seele sehnt sich nach Musik und einfachem Lachen. Ich komme dahinter, daß meine Seele sich wünscht, Frauen darin anzuleiten, wie sie die Erfahrung von Leben und Tod in ihre Spiritualität integrieren können. Die Musik hat in mir einen Haufen Ideen und Fragen ausgelöst, die mir anscheinend wie die Steine in einer Poliermaschine durch den Kopf gepurzelt sind: Ich will nicht mehr »erwachsen« sein. Wie reagiere ich auf die Reise meiner eigenen Seele, und inwieweit bin ich dafür verantwortlich? Übergänge sind Gelegenheiten, mit dem Heucheln aufzuhören. Wenn ich dem inneren Zwang zu verstehen nachgebe, scheine ich mehr zu wissen. Ich möchte es mir verkneifen, zuviel meiner Energie auf den Groll zu verwenden. Kann man nach Schmerz und Verlust süchtig werden? Einsicht bedeutet, eine alte Einschätzung durch eine neue zu ersetzen. Wir geben uns entsprechend den Entscheidungen, die wir getroffen haben, einen Namen. Wie lautet mein Name?
29. April 1981 Meine Scheidung ist endlich durch, und ich werde ein neues Leben beginnen. Ich habe nicht den Wunsch zu feiern, denn ich fühle mich wie eine Flickenpuppe.
4. Mai 1981
Heute wäre Mike neunzehn Jahre alt geworden. Ich überlege, daß er sein erstes Jahr am College abschließen würde. In diesem fünften Jahr, in dem ich seinen Geburtstag begehe, ohne daß er körperlich anwesend ist, habe ich mich verändert. Ich warte nicht mehr darauf, daß Verwandte anrufen, und muß mich auch nicht mehr ins Kloster zurückziehen. Ich habe sogar das Bedürfnis nach einem Ritual zu Ehren des Tages abgelegt. Ich trage Mike nun in meinem Herzen. Mich an ihn zu erinnern und ihn zu lieben reicht völlig.
2. Juli 1981 Mutter einer Tochter zu sein ist eine Herausforderung! Als Mutter von Mike verließ ich mich großteils auf dieselben Mechanismen, die bei mir angewandt wurden, als ich noch klein war. Ich war nicht zufrieden, und ich denke, er war es auch nicht. Kelli-Lynne großzuziehen ist etwas völlig anderes. Im Alter von dreißigeinhalb Jahren hatte ich die Gewißheit gewonnen, daß ich anders als meine Mutter bin und Kelli-Lynne anders als ich ist.
4. Juli 1981 Einen schönen Unabhängigkeitstag auch! Ich komme mir wie ein Feuerwerkskörper vor. Hitzewallungen haben meinen Körper und mein Leben im Griff: Was ich auch versuche - wenn ich keine Östrogentabletten nehme -, ich kann weder ihre Intensität noch ihre Dauer kontrollieren. Mir schaudert immer noch vor den Zusatzstoffen, wenn ich eine Tablette schlucke. Östrogen gibt es noch nicht einmal annähernd so lange, wie es Frauen gibt. Welche Geheimnisse haben sie? Wo sind ihre Stimmen, ihre Geschichten?
7. September 1981 Heute ist Kelli-Lynnes erster Schultag in der zweiten Klasse. Und es ist der erste Herbst, in dem ich nicht ausgerechnet habe, in welches Studienjahr Mike käme, wenn er noch lebte. Vor mir liegen meine Konzepte für Workshops über Zeitmanagement, Streßmanagement und Selbstbehauptung. Ironischerweise will ich eigentlich schreiben.
9. September 1981 Kelli-Lynne kam in mein Büro und fragte mich, was ich gerade tat. »Schreiben«, antwortete ich. »Worüber?« wollte sie wissen. »Über mein Leben«, gab ich zurück. »Du gibst immer mit dir selbst an«, erklärte sie. Ich holte Luft und lächelte. Ich hatte nichts zu meiner Verteidigung vorzubringen; und ich wußte auch nicht, wie sie zu dieser Einschätzung kam.
10. September 1981 Zeitmanagement ist angesagt. Erstens: Ich möchte schreiben. Zweitens: Ich möchte noch mehr beratend tätig sein. Drittens: Ich möchte meinen Fokus verschieben, ohne mich damit zu einer langfristigen Veränderung zu zwingen.
15. September 1981 Heute sagten zwei Klienten ihre Sitzungen ab. Ich nahm ihre Anrufe als Bestätigung für meine Absicht zu schreiben und brach deshalb über den Einkommensverlust nicht in
Panik aus. Sofort griff ich zum Füller. Immer wenn ich mir Zeit zum Schreiben nehme, bin ich voller Dankbarkeit.
21. September 1981 Ich war heute nachmittag mit Freunden beim Segeln. Ich erlag vollkommen den Launen des Windes und der tosenden Wellen und leckte die ganze Zeit hindurch das Salzwasser von meinen Lippen. Nicht ein einziges Mal tadelte ich mich dafür, daß ich mich nicht bemühte, hinter die »Technik« des Segelns zu kommen. Ich genoß einfach den Segeltörn.
1. Oktober 1981 Seitdem die Schule wieder angefangen hat, spricht Kelli-Lynne mehr über Mike. Heute teilte sie mir mit, sie habe sich überlegt, wie er wohl sein werde, wenn er zurückkomme. Überrascht erinnerte ich sie daran, daß er nie wieder bei uns leben werde. Sie schüttelte den Kopf und erzählte, ihr Vater habe gesagt, Mike lebe in einem anderen Land, und das heiße für sie, daß er irgendwann nach Hause kommen werde. Ich holte tief Luft und suchte nach einer Möglichkeit, wie ich dieser Leugnung von Tod, Leben und der Leugnung selbst entgegensteuern könne. Ich wollte sie nicht noch mehr verwirren, indem ich sagte, was ihr Vater ihr erzählt hatte, sei nicht wahr; deshalb erklärte ich, ihr Bruder lebe in einer anderen Dimension und würde nicht mehr zurückkehren, um bei uns zu leben, weil das eben nicht geschehe, wenn jemand gestorben sei. Ich erinnerte sie daran, daß Mike nun seit vier Jahren tot sei und wir ihn seitdem nicht gesehen hätten. Dann strich ich ihr über den Kopf, hielt ihre Hand und schlug vor, einen Spaziergang durch das Herbstlaub zu machen. Als wir durch die abgestorbenen Blätter am Straßenrand tobten, wies ich sie darauf hin, daß ein Blatt, das vom Baum gefal-
len ist, stirbt und nicht an den Ast zurückkehrt, an dem es einstmals hing. Kelli-Lynne nickte und meinte, das habe sie bereits gewußt. Wir hielten uns an den Händen und setzten unseren Weg durch das heruntergefallene Laub fort und lachten über die Geräusche, die die toten Blätter unter unseren Füßen machten.
30. Oktober 1981 Jemand fragte mich heute, ob ich am Leiden hängen würde. »Nein«, erwiderte ich. »Ich hänge an der Liebe, und sie hängen anscheinend auf eine Weise zusammen, die ich noch nicht richtig verstehe.« Aber ich frage mich, ob ich mir damit nicht selbst etwas vormache.
31. Oktober 1981 Auf der Birdsong Farm passierte am heutigen Halloween-Morgen etwas Beklemmendes. Alles begann damit, daß Nancy und ich beschlossen, uns eine Pause von der Aufsichtsgruppe zu gönnen. Wir nehmen uns gewöhnlich Zeit, über unser Leben zu sprechen, vielleicht weil der Tod ihres Ehemannes zufällig mit dem meines Sohnes zusammenfiel. Die Farmhündin Shiva begleitete uns; wir waren bereits rund eineinhalb Kilometer gelaufen und gerade an einem Farmhaus mit einem Schild »Warnung vor dem Hund« angekommen, als ein großer Deutscher Schäferhund vor uns herausstürzte. Ich war fürchterlich erschrocken, und selbst Shiva zitterte. Meine Nackenmuskeln entspannten sich erst wieder, als jemand vom Farmhaus den Hund zurückrief. Als wir weitergingen, entdeckte ich ein zusammengerolltes Etwas in einem hohen Busch; es sah wie eine kleine Maus aus. Als ich näher heranging, merkte ich, daß es
Flügel hatte. Ich rüttelte leicht an dem darunterliegenden Ast, aber die »Maus« bewegte sich nicht. Nancy, die mittlerweile neben mir stand, sagte: »Hast du noch nie eine Fledermaus gesehen, Rosie?« »Nur in Horrorfilmen«, antwortete ich. »Na ja, immerhin ist heute Halloween«, sagte sie leichthin. Ich schluckte und versuchte mich von meiner Angst zu befreien. »Vielleicht ist diese Fledermaus eine Art Omen«, flüsterte ich. Schweigend gingen wir weiter. Ich wußte nicht, wie ich meine Angst artikulieren sollte; außerdem dachte ich, Nancy würde mir vorwerfen, ich sei abergläubisch oder vielleicht durchgedreht. An einer Biegung rief ich nach Shiva. Als sie nicht reagierte, fragte ich mich, ob meine Unruhe vielleicht etwas mit der Hündin zu tun habe. Ich schrie nach ihr, so laut ich konnte. »Was, glaubst du, ist passiert?« fragte ich Nancy. »Sie macht wahrscheinlich das, was ein Hund so tut«, gab sie mit einer Leichtigkeit zurück, die ich nicht teilte. Auf dem Rückweg zur Farm riefen wir beide mehrfach nach Shiva, aber von ihr war nichts zu sehen. Als wir um die Biegung kamen, die zum Farmhaus mit dem Schild führte, sahen wir eine Frau, die sich über etwas am Straßenrand beugte. Als wir neben frischen Bremsspuren näher herangingen, erkennten wir, daß es der Deutsche Schäferhund war. Der Hund atmete noch, doch sein Bauch war aufgerissen, und aus der Bauchhöhle quoll Blut. »Was ist passiert?« fragte ich mit schriller Stimme. »Er rannte auf die Straße, um mit Ihrem Hund zu spielen, und wurde von einem Auto angefahren«, antwortete die Frau. Ich schaute von dem sterbenden Hund weg und fragte die Frau, ob sie einen Tierarzt gerufen habe. In diesem Augenblick sah ich aus dem Augenwinkel, wie sich die Tür des Farmhauses öffnete und ein großer Mann mit einem
Gewehr die Vordertreppe herunterstieg. Sonnenlicht blitzte vom Gewehrlauf auf und ließ alles um uns herum schimmern. Die Frau sah uns an und sagte rasch: »Sie verschwinden jetzt besser. Ich weiß nicht, was er sonst macht - er hat seinen Hund sehr geliebt.« Ich streckte meine Hand nach der ihren aus und wollte ihr sagen, daß es mir leid tue, doch sie wandte sich ab und drängte uns nochmals, sofort zu gehen. Wir eilten davon. Als wir Shiva mehrere Meter weiter oben an der Straße entdeckten, rannten wir los, um sie einzuholen. Als wir sie erreichten, hörten wir einen ohrenbetäubenden Schuß. Mein Verstand raste. Fünf Minuten früher oder später, und wir hätten von dieser Tragödie überhaupt nichts mitbekommen. Die Brutalität der Tat ließ die böse Vorahnung aufkommen, der große Mann könne uns zur Strecke bringen. Immerhin waren wir dafür verantwortlich. Wenn wir nur Shiva nicht mitgenommen hätten, wenn wir nur in die andere Richtung gegangen wären, wenn nur der Wagen nicht aufgetaucht wäre, wenn nur … Ich quälte mich auf dieselbe Weise wie damals, als Mike ums Leben gekommen war. Diese Gewalttätigkeit verwirrt mich noch immer, obwohl es schon sechs Stunden her ist, daß der Hund erschossen wurde. Wieder werde ich daran erinnert, wie zerbrechlich und unvorhersehbar das Leben ist und wie leicht es ist, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Die anderen Therapeuten in unserer Gruppe feiern unten in Kostümen Halloween. Ich fühle mich zu einsam, um mitzumachen, zu isoliert - so als würde ich auf noch mehr Todesfälle vorbereitet. Ich erschaudere in einer dieser Ganzkörperreaktionen auf die Wahrheit, denn ich spüre tief in mir, daß ein weiterer Verlust droht.
1. November 1981 Der erste Monat nach meiner Entscheidung, mindes-
tens drei Tage in der Woche nur zu schreiben, ist vorüber. Ich habe geschrieben. Ich habe mir Notizen gemacht. Und mir wurde klar, daß drei Tage nicht reichen. Wenn ich gewissenhaft arbeiten will, müßte ich zwei Monate lang nur dem Schreiben widmen. Als ich heute in mein Büro zurückkam, fand ich eine Nachricht von meiner Mutter vor, daß mein Großvater mit Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Sie nannte diese Wendung der Ereignisse »einen Segen für den alten Mann« und erinnerte mich daran, daß der Vater meines Vaters von seinem Elend erlöst wurde, als er an Lungenentzündung starb. Ich sagte meine Termine für den Nachmittag ab und fuhr direkt ins Krankenhaus. Das Bett meines Großvaters war leer, als ich eintraf. Ich bekam Panik und dachte, er sei gestorben, bevor ich noch die Möglichkeit gehabt hatte, mich von ihm zu verabschieden. Der Patient im Bett nebenan versicherte mir, Bomp sei beim Röntgen. Eine Stunde verging. Ich hielt vor dem Zimmer Wache, ging im Korridor auf und ab und lernte die Namen an den Türen auswendig. Noch eine Stunde verging. Ich wurde zappelig und quälte mich mit Fragen. Warum behält man einen kranken Mann zwei Stunden lang in der Röntgenabteilung? Eine Krankenschwester versicherte mir, er würde in spätestens zehn Minuten wieder in seinem Zimmer sein. Ich war da, als er in sein Zimmer gefahren wurde. Als er bequem lag, setzte ich mich an sein Bett und hielt seine Hand fest. »Hallo, Bomp«, sagte ich leichthin. Ich wußte, es ging ihm nicht gut. Als die Krankenschwester hinausging, stellte er mich seinem Zimmergenossen vor. »Das ist meine Enkelin, die an der Universität unterrichtet und Bücher schreibt und sich zu Exerzitien zurückzieht und…« Ich blieb still und spürte, wie sehr er mich liebte. Wie üblich machte es mich verlegen, aber auch glücklich, daß er stolz auf mein Leben war. Als er ausgeredet hatte, sagte ich ihm, wie sehr ich ihn liebte. Er starrte mich durchdringend an, als ob er sich mein Gesicht einzuprägen
versuchte. Er fragte nach Kelli-Lynne, und ich versicherte ihm, es gehe ihr gut und sie würde ihm ein heilendes Bild schicken. Als er anfing, davon zu reden, er wolle mit Mike angeln gehen, wußte ich, daß er im Sterben lag. Es war, als ob wir beide über einen Geheimcode verfügten. Ich beugte mich vor und sagte ihm, ich wisse, daß er und Mike eine wunderbare Wiedervereinigung erleben würden. Unsere Tränen vermischten sich und liefen ihm übers Gesicht. Seine Augen schlossen sich. »Noch nicht, Bomp!« wollte ich schreien. »Du darfst noch nicht sterben.« Doch ich sagte nichts, ich nahm nur seine dünnen Hände in die meinen. Er wandte den Kopf und öffnete seine Augen einen Spaltbreit. »Bist du das, June?« Ich drückte seine Hände, beugte nochmals das Gesicht zu seinem hinab und sagte sanft: »Ich liebe dich.« Ich wußte, ich vertrat meine Mutter und sprach Worte aus, die er jahrzehntelang von meiner Mutter zu hören gehofft hatte. Er schloß die Augen, und ein leichtes Lächeln huschte über seine blassen Lippen. Vor mir verschwamm alles. Eine Krankenschwester kam herein und teilte mir mit, er brauche Ruhe. Also küßte ich ihn sanft, ging zum Parkplatz und fuhr nach Hause.
2. November 1981 Meine Mutter rief mitten in der Nacht an und teilte mir mit, daß mein Großvater gestorben sei. Als ich den Hörer auflegte, war mein erster Gedanke, daß ich einen Verbündeten verloren hatte. Ich empfand Traurigkeit für mich, für ihn jedoch Erleichterung. Sein Kampf war zu Ende. Zugegeben, mein Großvater war fordernd und manchmal ein emotionaler Tyrann, aber er war wahrhaftig - man mußte nie erraten, was er gerade empfand oder dachte. Nur selten beugte er sich irgendwelchen Verpflichtungen oder besuchte Weihnachtsfeiern, Hochzeiten oder Beerdi-
gungen. Er war manchmal selbstsüchtig und erwartete, daß sich die Familie an ihn anpaßte. Ich mußte dankbar lächeln, als ich an die Geburtstagsparty dachte, die wir für ihn im September ausgerichtet hatten. Schon damals wußte ich, daß Kelli-Lynne und ich seinen Geburtstag zum letzten Mal mit ihm zusammen feierten. Liebevoll hatten wir das Fest vorbereitet, Ballons aufgeblasen und mit ihm gefeiert. Meine Großmutter - seit dreiundsechzig Jahren seine Ehefrau - holte den Kuchen, während ich ihn mit der letzten Rose des Sommers aus meinem Garten überraschte. Als Kelli-Lynne heute morgen aufwachte, sagte ich ihr, daß Bomp gestorben sei. Sie fragte, ob er nun bei Mike sei. Ich erwiderte, daß ich das nicht wisse, aber sie unterbrach mich mit der Feststellung, sie wisse, daß sie zusammen seien. Dann schlug sie vor, wir sollten Bomp heilende Energie schicken. Wir hielten uns an der Hand, wir holten lange und tief Luft, und wir überschütteten ihn mit weißem, heilendem Licht. Seine Energie fühlte sich fest und stabil an - ganz anders als Mikes Energie, kurz nachdem er gestorben war. »Ja, er ist bei Mike, Mom. Mach dir keine Gedanken«, sagte sie mit Überzeugung. Dann fuhren wir zum Haus meiner Großmutter. Als wir vor der Haustür standen, blickte ich zu dem Fenster hoch, von dem aus mich vierunddreißig Jahre lang Bomps Gesicht begrüßt hatte. Kelli-Lynne drückte meine Hand und sagte: »Bomp braucht jetzt kein Fenster mehr, um uns sehen zu können, Mom.« Woher wußte sie, was ich gerade dachte? Nanny saß in der Küche und sah verloren aus. Ich arbeitete mich an mehreren Verwandten vorbei zu ihr vor, setzte mich neben sie und nahm ihre Hand. Immer wenn sie zu weinen anfing, befahl ihr jemand, sie solle sich zusammenreißen und stark sein. Ich war entsetzt. Das klang schmerzlich vertraut. Diesmal konnte ich jedoch den Grund der Angst erkennen: Die Familie hat die größte Angst davor, daß andere gezwungen sein könnten, sich
ihren eigenen Gefühlen zu stellen, sobald auch nur einer Emotionen zeigt. Wo, fragte ich mich, bleibt die Sanftheit? Wo bleiben die Umarmungen? Wo bleibt die Familienhysterie? Ich wollte meine Großmutter trösten, denn sie sah so klein und jung aus. Ich tätschelte ihr die Hand und versicherte ihr, es sei in Ordnung, wenn sie weine, weil sie traurig sei. Dann weinte ich. Kelli-Lynne kam zu uns und fragte, warum die anderen nicht weinten. Das machte mich nur noch trauriger, und ich weinte noch stärker. Warum soll eine Frau gefaßt sein, wenn der Mann, mit dem sie mehr als sechs Jahrzehnte lang zusammenlebte, sie verlassen hat? Warum wird von ihr erwartet, daß sie es uns leichtmacht? Gewiß, ich hatte mich nach Mikes Tod bewundernswert richtig verhalten, habe dafür aber hinterher Depressionen bekommen. Niemand hat das Recht, Nanny zu befehlen, ruhig zu sein! Ich glaube nicht, daß man Emotionen würdevoll zeigen kann.
17. Dezember 1981 Nanny war die vergangenen vier Tage hier bei uns. Sie ist seit Bomps Tod beträchtlich gealtert. »Ich bin eine alte Frau«, wiederholte sie öfter, als ich zählen konnte, und fragte mich dauernd, was ich aus ihrer Wohnung haben wolle, damit sie die Sachen in ihrem Testament aufführen könne. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe«, wiederholte sie ständig, als hoffte sie, der Tod würde auch sie holen. Das einzige Mal, daß ich ihre Energie spürte, war, als sie sich über »diese Leute von der Sozialversicherung« beschwerte. Ich frage mich, ob wir sie nicht irgendwie auf Bomps Tod hätten vorbereiten können. Sie spricht und ißt und pflegt sich und weiß doch die ganze Zeit, daß sie nichts fühlt. Sie stützt sich beim Gehen auf mich. Ich könnte ganz leicht ihr Leben in die Hand nehmen, aber ich will sie nicht entehren, indem ich sie zum Kleinkind degradiere.
Mein Mutter geht davon aus, daß Nanny sich in die Gemeindearbeit stürzen wird. »Damit beschäftigen Witwen sich«, erklärte sie mir. »Warum zur Hölle sollte sie sich in irgend etwas stürzen?« fragte ich. »Um eine Beschäftigung zu haben«, sagte meine Mutter ohne jede Gefühlsregung. »Das Leben ist mehr als nur irgendeine Beschäftigung«, entgegnete ich scharf. »Nur weil sie beschäftigt ist, vergißt sie doch nicht. Sie muß fühlen, trauern, für sich wieder einen Sinn finden.« Ich war im stillen von der Leidenschaftlichkeit meines Wissens beeindruckt.
Weihnachten 1981 Nanny wünschte sich zu Weihnachten nur eines: Seelenfrieden. Beim Dinner brachte ich einen Toast auf das Leben von Mike und Bomp und die Erinnerungen daran aus.
4. Januar 1982 Der Schnee fällt in großen, schweren nassen Flocken. Ich wärme mir die nackten Beine am Feuer, während im Hintergrund Musik spielt. Auch mein Herz fühlt sich gewärmt. Welche Erkenntnisse, Träume, Beziehungen und Todesfälle wird das neue Jahr bringen? Seit Nannys Besuch bin ich von der Erkenntnis beeindruckt, daß ich nichts Besonderes bin. Vor allem wird mir klar, wie blind ich für meine eigenen Zyklen der Veränderung und des Wachstums bin, wenn ich mich an andere um Hilfe wende. Letzte Nacht suchte ich sinnlos nach einem Buch, das mir Einsicht oder Hoffnung vermitteln sollte. Ich blätterte sechs Bände durch und fand nichts, aber ich hatte eine Beschäftigung. Die ganze Zeit sah ich mir amüsiert dabei zu und dachte: »Schon wieder sucht
sie außerhalb von sich selbst nach Verständnis und Sinn.«
6. Januar 1982 Wird mein Schreiben bis zu dem Zeitpunkt aufgeschoben, wenn ich nicht mehr Geschirr spülen und Kleider waschen, mich nicht mehr um ein Kind kümmern und ans Telefon gehen muß? Zwei Jahrzehnte lang habe ich mich auf das mechanische Schreiben gestützt, doch den ernsthaften Drang zu schreiben ignoriert. Manchmal bilde ich mir ein, mich in einem Zustand der Losgelöstheit von Menschen und Plätzen zu befinden und alles zu spüren. Ein anderes Mal quält es mich, daß ich zuviel sehe und weiß.
21. Januar 1982 Ich habe meinen Rhythmus gefunden, zumindest für diese Woche. Ich kümmere mich an einem Tag um meine Klienten, und am nächsten Tag schreibe ich. Heute überraschte ich mich selbst damit, daß ich ein Mittagsschläfchen hielt. Ich werde so flexibel, daß ich alte Methoden, Dinge zu erledigen, ohne Schuldgefühl loslassen kann, vor allem solche, die meinen Neigungen nicht entsprechen.
24. Januar 1982 In einem Traum, den ich letzte Nacht hatte, traf ich an einem Gebäude ein, das nach vorn hinaus viele hohe Fenster hatte. Als ich durch den Eingang in ein großes Atrium schritt, begrüßte mich ein Mann und verkündete, die Familie komme gleich. Ich bekam einen Schreck. Ich hatte keine Ahnung, was ich da zu suchen hatte. Die »Familie« traf ein, und ich fing an, eine Beratungssitzung einer vierzigjährigen Tante und ihres zwölfjährigen
Neffen zu beobachten. Der Therapeut sagte: »Tun Sie so, als ob ich gar nicht da wäre, und benehmen Sie sich so wie immer.« Der Junge redete seine Tante mit einer sarkastischen Bemerkung an. Sie zuckte mit den Schultern und ignorierte es. Er versuchte weiter, sie zu provozieren, während sie weiter vorgab, alles sei in Ordnung. »Was passiert dann normalerweise?« forschte der Therapeut nach. Der Junge ging zu seiner Tante und fing an, sie mit den Fäusten und den Füßen zu bearbeiten. Sie wehrte sich nicht. Der Therapeut griff ein, rang mit dem Jungen und hatte ihn schnell besiegt. Die Tante blieb äußerlich ruhig. Der Junge faszinierte mich. Ich wußte intuitiv, daß er berührt werden wollte, daß sein Benehmen nichts anderes war als ein Flehen um Aufmerksamkeit und Liebe. Vorsichtig näherte ich mich ihm. Daraufhin rollte er sich zu einem winzigen Ball zusammen. Ich hielt ihn an den Armen und half ihm, sich noch enger einzurollen. Ich fragte ihn, was er brauche, um es bequemer zu haben. Er schwieg weiter. Dann legte ich meine Hände auf seine Augen, und er begann zu schluchzen. Schließlich sagte der Therapeut zu mir: »Das war eine der wunderbarsten Sitzungen, die ich je erlebt habe. Woher wußten Sie, was Sie tun mußten?« »Ich hörte auf meine Intuition und folgte seiner Energie, so daß sie sich vervollkommnen konnte«, sagte ich wahrheitsgemäß. Beim Aufwachen wurde mir klar, daß meine Worte zu dem Therapeuten zeigen, wie sehr ich arbeiten will und wie ich mein Leben zu leben beabsichtige.
24. Februar 1982 In der Gruppe gab ich bekannt, daß ich stolz darauf sei, mich dem Schreiben verpflichtet zu fühlen. Zum erstenmal hatte ich keine Angst, mich öffentlich zu bestätigen. Viel-
leicht veranlassen Affirmationen dieser Art meine siebenjährige Tochter dazu, das Familienmotto »Nicht angeben« zu wiederholen. In den vergangenen fünf Jahren rief mein Gefühl, kompetent zu sein, immer auch ein Schuldgefühl hervor. Welches Recht habe ich, stolz oder erfolgreich zu sein, wenn mein Sohn tot ist? Was werden die Leute denken? Wieder und wieder habe ich mich selbst in eine Sackgasse geführt, indem ich mir in Erinnerung rief, daß ich die Mutter eines toten Sohnes bin. Ich will Mikes Existenz nicht länger bestätigen, indem ich mein eigenes Glücksgefühl verleugne. Ich lehne es ab, mich einem Leben in Mittelmäßigkeit zu verschreiben! Das vergangene Jahr war das Jahr der Bewältigung. Dieses Jahr ist das Jahr der Tüchtigkeit.
3. März 1982 Heute bin ich achtunddreißig Jahre alt. Entschlossen, meinen Geburtstag mit Schreiben zu beginnen, setzte ich mich an die Schreibmaschine, und folgende Sätze erschienen vor mir: Ja, meine Liebe, Ruhe hebt die Lebensgeister, während das Leben schwer auf dir lastet. Nimm dir jeden Tag die Zeit, deinem Atem, der Musik und deiner eigenen Stimme, die ein Echo der Ewigkeit ist, zu lauschen.
12. März 1982 Ich entdecke neue Verbindungsmöglichkeiten. Eine davon ist Schreiben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, meine Gefühle laut auszusprechen. Auf Ehrlichkeit zu bestehen ist die dritte. Am allermeisten lerne ich, daß der Weg der Frau geheimnisvoll, voller Umwege, intuitiv, kreativ, rezeptiv und von Pausen und Unterbrechungen durchsetzt ist. Der Weg einer Frau ist wie ein Bilderteppich, der Spiralen hat und voller Versuchungen ist, zu warten, sich
anzupassen, sich um die Welt zu kümmern. Der Weg der Frau ist letztlich siegreich. Ich möchte mit den Geschehnissen meines Alltags verbunden sein.
15. März 1982 Gestern wurde ich bei einem Workshop zum Thema Familie gebeten, die Rolle einer Frau zu spielen, die sich von der Regel »Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen« leiten läßt. Wie wenig Kraft liegt doch im »Nettsein«! Heute wurde ich aufgefordert, eine Großmutter zu spielen, deren kleiner Enkel umgekommen ist. Der Tod meines Enkels hatte mir das Herz gebrochen, und ich klammerte mich an meine Tochter. Ich gab uns beiden schuld an seinem Tod und fühlte mich zu diesen Schuldzuweisungen ermächtigt. Ich wollte sie anschreien: »Wenn du mir nur erlaubt hättest, ihn großzuziehen, dann wäre er noch am Leben.« Als die verlassene Großmutter beschloß ich, mich nie wieder jemandem nahe zu fühlen. Auf der Heimfahrt fragte ich mich, ob meine Mutter und deren Mutter mir die Schuld am Tod von Mike gegeben hatten. Als ich in meinem Kopf nach Hinweisen suchen wollte, stoppte mich ein Polizeibeamter, weil ich die Scheinwerfer nicht eingeschaltet hatte.
18. März 1982 Frühlingsfieber. Ich throne mit bloßen Beinen auf der hinteren Veranda. Die Hemdsärmel habe ich hochgekrempelt, und ich bitte die Sonne, meine Haut zu bräunen und die roten juckenden Pusteln zu heilen, die sich auf meinen Armen gebildet haben. Gestern habe ich meinen Stiefeln entsagt; heute befehle ich im Geiste dem Schnee zu schmelzen, damit ich mit bloßen Füßen die Erde berühren
kann. Der Frühling ist die Jahreszeit, in der ich mich am stärksten wie ein Kind fühle, aber auch die, in der ich Mike am meisten vermisse. Während ich das Sonnenlicht gierig aufsauge, fällt mir ein, daß Mike und ich uns in jedem Frühling zusammentaten, um die am besten abzapfbaren Ahornbäume zu suchen. Die sorgfältig ausgesuchten Bäume wurden immer geheimgehalten, damit nicht andere Kinder sie räubern konnten. Wir stapften mühsam durch die verschneiten Wälder, ohne etwas zu sagen. Die Wahl des ersten Baumes war stets ein Ritual. Wenn wir einen vielversprechenden Kandidaten gefunden hatten, verrenkten wir uns die Hälse, um zu prüfen, wie hoch er sich in den Himmel reckte, dann vermaßen wir seinen Umfang, indem wir ihn mit unseren Armen umspannten, legten eine Pause ein und umarmten ihn zum Zeichen unserer Dankbarkeit. Manchmal schmatzten wir sogar, als würden wir den fertigen Ahornsirup kosten. Beim Heimgehen unterhielten wir uns flüsternd über das Aussehen der Stöpsel, die gerade in waren, und schwelgten in Erinnerungen an die vielen Jahre, die wir bereits zusammen Saft gesammelt hatten. Sobald wir zu Hause waren, zeichnete Mike eine genaue Karte von den Standorten der Bäume, und dann entwarfen wir gemeinsam die Stöpsel. Ich vermißte beim Anzapfen der Bäume, der täglichen Überprüfung der Eimer, dem Saftsammeln und dem Einkochen die Erregung, die wir bei unserem ersten Raubzug in die Wälder empfunden hatten. Wenn es warm genug wurde, gingen wir wieder zu den zugestöpselten Bäumen, verbeugten uns vor jedem und verließen den Wald - bis zur nächsten Saison. Heute zapfe ich nicht mehr. Ich umgebe mich jedoch den ganzen März hindurch zu Ehren meines Geburtstages und des Todestages von Mike mit Blumen. Ich schaue mir die Bäume immer noch mit den Augen eines Zapfers an, und ich lasse es zu, daß die Erinnerungen von acht Jahren inmitten der Bäume mich mit Mike verbinden. Ich verfolge auf dem Kalender, wie der dreiundzwan-
zigste März näher rückt. Ich weiß aus Erfahrung, daß ich den Tag durchstehen werde. Wie früher möchte ich, daß der Schmerz, Mike zu vermissen, verschwindet, aber ich versuche nicht mehr noch hoffe ich, seinem Tod »einen Sinn abzugewinnen«. Ich lebe mein Leben ehrlich, mit soviel Integrität, wie angesichts der vielen Wahrheiten, die in mir nebeneinander existieren, nur möglich ist. Auf Beständigkeit kommt es nicht mehr an, denn das Leben selbst ist unbeständig. Ich bin mir bewußt, daß die Wahrheit, die ich heute schätze, sich morgen oder im nächsten Monat oder im nächsten Jahr ändern kann. Bis dahin warte ich still und vertraue darauf, daß ich, wenn ich den Mut finde, meine Wahrheit auszusprechen, auch zu meiner Wahrheit werde … bis eine andere ihren Platz einnimmt. Und ich schreibe um der Kontinuität willen - die überhaupt nichts mit Beständigkeit zu tun hat.
22. März 1982 Kelli-Lynne ist krank. Sie weiß, daß sich morgen Mikes Todestag wieder jährt. Krankheit und Traurigkeit scheinen für sie zu verschmelzen. Bei mir ist es auch so.
23. März 1982 Mikes fünfter Todestag. Als ich die Augen aufschlug, schien die Sonne, es war nicht so ein stahlgrauer Tag wie in den vergangenen fünf Jahren. Nach dem Frühstück organisierte ich einen Babysitter und ging wie geplant zu meiner Gruppe. Gleich nach meinem Eintreffen sagte eine der Frauen, sie würde gern ein Bild von meinem Sohn sehen, darum ließ ich das Foto aus meiner Brieftasche herumgehen. Die Gruppe drängte mich, über Mike zu reden. Ich begann mit dem Gefühl der Isolation, das ich empfand, als ich mit ihm niederkam, erzählte von der Qual, nicht auf die
Mutterschaft vorbereitet zu sein, von meiner nachfolgenden Scheidung von seinem Vater und davon, wie hart es war, das College zu besuchen und gleichzeitig ganz allein für ein Kleinkind verantwortlich zu sein. Ich erklärte, daß ich mich stets eher wie Mikes ältere Schwester denn wie seine Mutter gefühlt hätte, und schilderte dann einige Kämpfe, die wir durchstanden, als er ein Teenager wurde. Alle hörten zu, und niemand verurteilte mich. In dieser Atmosphäre bedingungsloser Akzeptanz ließ ich den Schmerz und die Einsamkeit los, die ich so viele Jahre lang festgehalten hatte. Zwischen Schluchzern versicherte ich allen, daß ich mein Bestes gegeben hatte. Dann wiederholte ich das Versprechen, das ich gegeben hatte, als Mike vier Wochen und ich achtzehn Jahre alt war und sein Vater uns gerade sitzengelassen hatte: Ich würde mich, ganz gleich, was auch geschähe, um ihn kümmern. Eine der Frauen rückte näher und bat mich, sie festzuhalten und in ihre Schulter zu »lärmen«. Sofort begann mein Körper zu zittern, dann drückte ich mich in ihre Schulter und wimmerte. Ich hielt den Atem an und stammelte: »Es tut mir leid, Mike. Ich habe mein Bestes versucht.« Eine andere Frau bat mich zu erzählen, was mir an Mike am besten gefallen habe. Ich schilderte die Zeiten, wenn wir Bäume anzapften, und erwähnte, wie sehr ich seinen Witz, seine intellektuelle Neugier, seine risikofreudige Einstellung und seine Liebe zum Wald und zum Meer mochte. »In Wirklichkeit«, sagte ich, »wußte ich gar nicht, wie man liebt, als Mike noch klein war.« Ich schluchzte wieder und ließ es zu, daß ich die Tragödie in meinen Worten und meinen Mangel an Erfahrung spürte. »Ich bedaure es zutiefst, daß wir nicht in der Lage waren, mehr Liebe füreinander zu entwickeln«, erklärte ich. »Heute weiß ich alles über gebrochene Herzen.« Einige Augenblicke danach konnte ich mit absoluter Klarheit erkennen, daß ich nicht mehr die Person bin, die ich war, als Mike heranwuchs. Und mir wurde klar, daß ich
mich immer noch für Mikes Tod bestrafe, auch wenn ich mir das Gegenteil eingeredet habe. Als ich nach Hause zurückkehrte, fühlte ich mich ausgelaugt und irgendwie ganz.
Das bewußte Weibliche gewährt immer Vergebung. Brooke Alexander
Jahr sechs 13. April 1982 Ich hatte ein Mini-Klassentreffen mit vier Frauen, mit denen ich vor sechzehn Jahren am College befreundet gewesen war. Bevor wir uns trafen, hatte ich Angst, sie wüßten nichts von Mikes Tod, denn ich wollte die Geschichte nicht noch einmal erzählen. Außerdem befürchtete ich, wir hätten, von der Vergangenheit abgesehen, keine Berührungspunkte mehr. Wie sich herausstellte, wußten sie über Mikes Tod Bescheid, und wir hatten doch einige gemeinsame Erfahrungen. Nachdem wir über die Vergangenheit geplaudert hatten, trugen wir jedes »Niemals« zusammen, das Teil unseres Lebens geworden war. Je länger wir uns unterhielten, desto klarer wurde, daß wir uns, wenn wir auch alle in gewisser Hinsicht Forschungsreisende waren, auf einer jeweils anderen Stufe der Entdeckungsreise befanden. Ich beneide keine dieser Frauen. Ich ziehe meine Gegenwart und meine Vergangenheit der Geschichte der drei anderen vor. Nach diesem abendlichen Wiedersehen würde ich gern verstehen, worum es bei dieser weiblichen Reise eigentlich geht. Ich möchte andere Frauen auffordern, unsere Reisen, Mythen und vor allem unsere Initiationen zu vergleichen.
4. Mai 1982 Wenn Mike noch lebte, wäre er heute zwanzig Jahre alt geworden. Er ist nun seit fünf Jahren tot; mein Großvater ist vor sechs Monaten gestorben. Tod ist ein stagnierendes Wort, das nirgendwohin führt. Entschlossen, diesen Zustand der »Bewegungslosig-
keit« zu negieren, sitze ich am Meer und schreibe einen Geburtstagsbrief an Mike. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mike! Ich habe Dich geboren. Deine Geburt und Dein Tod haben weiterhin großen Einfluß auf mein Leben. Ich nehme mir heute frei, um am Wasser zu sitzen und Dir zu schreiben. Segelboote sind als Tupfen am Horizont zu sehen, Wolken zieren den blauen Himmel, eine Möwe gleitet auf der Suche nach Futter vorbei. Ich weiß nicht, wie ich aufhören kann, Deinen Geburtstag zu begehen. Kelli-Lynne hat Dir früher Kuchen gebacken, obwohl sie wußte, daß Du ihn nicht essen konntest. Ich beobachte, wie die Möwe kräftig in eine Abfalltüte pickt, und mir wird klar, daß auch ich mir wie ein Aasfresser vorkomme, der in der Nahrung des Lebens nach Bissen sucht. Mike, ich versuche mir Dich als separaten Geist vorzustellen, aber ich spüre meine Verbindung zu Dir als Mutter. Vom Verstand her ist mir klar, daß unsere Bindung als Mutter und Sohn nur in dieser physischen Welt bestand, aber ich weiß nicht, wie ich Dich jetzt definieren soll. In Wirklichkeit wußte ich noch nie, wie ich Dich definieren sollte. Unsere Konflikte waren oftmals die Folge meiner fehlgeschlagenen Versuche, Dich irgendwie einzuordnen. Vor ein paar Wochen wurde mir bewußt, daß ich mich selbst daran gehindert habe, mich erfolgreich, kompetent und glücklich zu fühlen. Ich gestatte mir nur gerade so viel Luft einzuatmen, daß sich meine Lungen füllen. Aber ich fülle mein Herz nicht. Ich weiß, das hört sich verrückt an, doch ich habe Deinen Tod sogar immer dann mit meinem Schmerz verknüpft, wenn ich mich an die glücklichen albernen Zeiten mit Dir zurückerinnerte. Ich habe Dein Andenken bewahrt, indem ich mir selbst meine Vitalität verwehrte. Von heute an werde ich uns beide auf eine lebensbejahendere Weise in Ehren halten: Ich werde so sprechen, gehen, tanzen und spielen, wie ich bin, und die sein, die ich bin. Es wird mir fehlen, daß Du nicht in meiner Welt bist.
Doch wenn ich Dich vermisse, wird dies mich nicht mehr bremsen oder von meinem Potential wegführen. Ich wünsche mir für mich, was ich mir stets für Dich wünschte: Liebe, Lachen, Intimität, Spontaneität, Kreativität und Wertschätzung des Lebens. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich jetzt, fünf Jahre nach Deinem Tod, noch stärker, als ich es zu Deinen Lebzeiten vermochte. Wenn ich weiter wachse und mehr vom Leben in mein Herz hineinlasse, denke ich, werde ich Dich noch mehr lieben. Im Augenblick besteht das größte Geschenk, das ich Dir geben kann, darin, die, die ich zu werden im Begriff bin, zu respektieren. Es gibt kein Wiedersehen. Ich grüße Dich ein weiteres Mal und umarme Dich. In Liebe, Mom Sobald ich geendet hatte, füllte ein Gedicht den Rest der Seite. Ich ehre dich an diesem Tag deiner Geburt, mein Sohn, Am Meer, wo ich, wenn ich feiere, Deine Geburt und dein Sterben, Auch mein Emportauchen feiere. Ich ehre dich, indem ich mich selbst liebe, Indem ich mir vergebe, Daß ich ja auch nur ein Mensch bin. Ich ehre dich mit Blumen in meinem Zuhause. Ich ehre dich, indem ich still Am Meer sitze, das stets dein Zuhause gewesen ist. Hier verstreuten wir die Asche deines Lebens. Und ich stelle mir vor, dein Geist geht dahin, wohin auch immer Wasser fließt. Ich ehre dich jedesmal, wenn ich Wasser sehe. Ich ehre dich, indem ich meine Seele beanspruche. 5. Mai 1982
Ich bin vom Traum der vergangenen Nacht erschöpft. Ich war zu Gast in einem riesengroßen Haus, das einem Immobilienmakler gehörte. Die anderen Gäste besichtigten die Räumlichkeiten und waren, wie ich, von den hohen breiten Wänden und den weißen Decken beeindruckt. Ich wußte, ohne daß es mir jemand gesagt hätte, daß ich eingeladen war, weil jemand gestorben war und ich den Menschen bei ihrem Schmerz helfen sollte. Ich kannte die Erwachsenen hier nicht, ich kannte aber die Kinder. Ich betrat ein Zimmer und tröstete ein junges Mädchen, das weinte. Ich hielt sie fest und versicherte ihr, daß es in Ordnung war zu weinen. In der nächsten Szene waren Mike und ich in der Wildnis, wir kletterten über Felsen weit oben über einem Wasserfall. Er ging voraus und war schon viel höher als ich. Ich bat ihn, vorsichtig zu sein, und dann befahl ich ihm, auf eine weniger gefährliche Höhe herunterzukommen. Er machte einen Schritt, rutschte aus und fiel in den Wasserfall. Ich beobachtete entsetzt, wie sein Körper auf spitzen Felsen aufschlug, mit der Strömung sich drehte und wirbelte, und ich konnte nicht schnell genug nach unten gelangen, um ihm zu helfen. Ich raste zum Haus und schrie um Hilfe. Jemand schlug vor, im Büro des Aufsehers anzurufen, doch es stellte sich heraus, daß der Aufseher nicht kommen konnte, weil er »völlig ausgebucht« war. Deshalb bat ich um hohe Gummistiefel und ein Mikrofon, weil ich meinte, wenn Mike meine Stimme hörte, hätte er weniger Angst. Jemand gab mir ein Paar Stiefel und ein Megafon. Als ich loszog, erinnerte mich eine Frau daran, daß ich nicht weg könne, da ich unterrichten müsse und sie just an diesem Tag entschieden habe, mir einen eigenen Kurs zu geben. Sie verlangte unerbittlich von mir, daß ich jemanden fände, der die Klasse betreue, bevor ich zu Mike ging. Zur Hölle mit dem Unterricht, sagte ich mir, ich muß Mike wissen lassen, daß ich für ihn da bin. Ich ging, und andere folgten mir. Ich suchte in der einbrechenden Dunkelheit und brüllte Mikes Namen durch
das Megafon, doch ich bekam keine Antwort. Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte ein Instrument, das seine Stimme einfangen könnte! Ich arbeitete mich durch die Büsche, die das Wasser bedeckten. Immer noch kein Zeichen von ihm. Die Sonne war bereits tief unter dem Horizont verschwunden, aber ich weigerte mich aufzugeben. Andere Leute gingen, ich aber suchte weiter. Dann sagte ich laut: »Rosie, hör auf damit; selbst wenn du ihn im Traum lebend findest, ist er in Wirklichkeit doch tot. Was bezweckst du mit dieser Hölle, die du dir da bereitest?« Da wachte ich auf. Wenn ich über die Botschaft dieses Traums nachdenke, sehe ich, wie ich versuche, mich mit Mike in der alltäglichen Erfahrungswelt zu verbinden. In Wirklichkeit überbrückt meine Verbindung mit Mike natürlich Dimensionen, und es ist unserer Bindung nicht dienlich, wenn ich ihn über gewöhnliche Kanäle zu erreichen versuche. Wir brauchen kein Megafon, um miteinander zu »sprechen«. Und ich muß dieser unfaßbaren Realität auch vertrauen, wenn ich mit Personen zusammen bin, denen das Unterrichten und andere äußere Verantwortlichkeiten mehr am Herzen liegen. Ich werde vom Geist unterrichtet.
7. Mai 1982 Kummer und Kreativität gehören zur Erfahrung jeder Frau. Wir alle lieben und verlieren, lassen gehen und verlassen, gebären und entlassen unsere Neugeborenen in die Welt. Wir alle wachsen mit Kummer auf. Kreativität andererseits ist schwerer zu greifen. Was ist ein kreativer Lebensstil? Wie können wir als Frauen den Kummer, der unserem kreativen Leben innewohnt, akzeptieren und annehmen lernen? Diese Fragen habe ich mir in letzter Zeit gestellt. Manchmal bin ich versucht, mich für ein Aufbaustudium einzuschreiben und noch einen akademischen Grad zu
erwerben. Häufiger noch weiß ich, daß das Leben mein Lehrplan nach der Promotion, meine ehrlichste Quelle der Weisheit ist. Ich spreche die Sprache der Erfahrung, um der Entfaltung meiner Seele Ausdruck zu verleihen. Wo sind die Lehrer für den »Seelensinn«?
20. Juni 1982 Hat ein Hexer die Mittel? Ist ein Hexer dasselbe wie ein Zauberer? Ich habe von Hexern und Zauberern geträumt. Wie sehr sehne ich mich danach, in dem Bewußtsein zu leben, das Henry David Thoreau pries, als er schrieb: »Am wahrhaftigsten ist unser Leben in unseren Tagträumen.« Meine Träume beleuchten Alternativen und Veränderungen. Vertrauen, stelle ich fest, ist eine Vorbedingung für den Eintritt in den Kummer wie in den kreativen Prozeß. Ich entdecke außerdem, daß eine Midlifecrisis nicht durch das Alter zustande kommt, sondern durch Ereignisse, und daß ich, seit ich dreiunddreißig Jahre alt bin, in einer Midlifecrisis versunken war.
28. Juni 1982 In der vergangenen Woche habe ich wieder am CPSI unterrichtet. Zum erstenmal arbeitete ich mit kleinen Gruppen und nicht wie üblich mit sechshundert Personen. Meine Interaktionen waren von Integrität durchdrungen; vielleicht weil ich es endlich ablehnte, dem Mythos nachzugeben, daß man stets glücklich, offen und kreativ sein sollte. Manchmal war ich müde; manchmal vermißte ich Kelli-Lynne. Ich zeigte meine Erschöpfung wie meine Traurigkeit. Eine Freundin am Institut hatte eine Vision von Mikes Energie. Sie sah ein strahlendes Licht, das den ganzen Raum erleuchtete, und erhielt diese Nachricht von ihm:
»Sag meiner Mutter, daß ich sie sehr liebe.« Als meine Freundin ihr Erlebnis schilderte, weinte ich. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich ins Planetarium, wo ich, von Dunkelheit und Zen-Musik umgeben, nur Liebe empfand. Meine Tränen waren nicht voller Traurigkeit oder Schmerz; es waren reine Gefühlstränen. Mit dem Seminar über Mythen und Rituale tauchte ich in ein Meer von Archetypen ein. Als ich wieder daraus hervorkam, verstand ich besser, warum ich die Arbeit mit Frauen attraktiv finde: Unsere Initiationen und Reisen, unsere Tänze und Zeremonien und unsere Art zu wissen sind nicht nur mit dem Universum verflochten, sondern auch mit ihm verbunden.
3. Juli 1982 In den letzten zwei Tagen pulsierte die Energie in meinen Händen und meiner Stirn. Meine Hände fühlen sich an, als würden sie brennen, und meine Stirn schmerzt. Als ich heute abend zum Stift griff, fragte ich mich, ob das, was die Leute automatisches Schreiben nennen, dasselbe Phänomen ist wie die »Wahrheiten«, die seit Mikes Tod in meinem Tagebuch auftauchen. Bevor ich noch die Möglichkeit hatte, mich weiter mit der Frage zu beschäftigen, zeigte sich folgende Botschaft auf dem Blatt vor mir: Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen. Ich komme, um dich zwischen den beiden Reichen zu führen. Ich decke dich im Schlaf zu, dick wie der Nebel, und warte. Sanft, stets so sanft. Ich hebe dich aus deiner vertrauten Welt und bringe dich zurück zu deinen wahren Anfängen, die du als Zuhause kennst. Sanft tauche ich dich in Weisheit, vorsichtig, damit ich dich nicht verwirre oder dir Anlaß zur Furcht gebe. Und ich lächle weich, wenn du dich nach der Quelle der Führung fragst. Du hast viel zu lernen und viel zu lehren. Wenn du von
dir gibst, gibst du wirklich von der Quelle. Du bist jetzt mit der Quelle von allem stark verbunden. Festige deinen Glanz mit Kerzen und Blumen. Schau tief in die pfirsichfarbene Rose. Rieche die Essenz. Achte darauf, wie jedes Blütenblatt in das nächste sich fügt, wie alle Blütenblätter zusammen die Rose formen. So wirst auch du geformt Schicht auf Schicht, Jahr auf Jahr, Traum auf Traum.
4. Juli 1982 Ich genieße die Überraschung, meinen Füller in die Hand zu nehmen und um Anleitung zu bitten. Die Worte scheinen mich zu treffen, bevor sie noch auf dem Blatt aufgezeichnet werden. Glaube an dich selbst. Wir sind hier. Sei froh über deinen Körper. Ruhe durchdringt den Geist. Denk an deine Anfänge, denn sie bergen die Funken göttlicher Intelligenz. Bleib beim Licht. Wirklich, wir sind da. Schaffe uns einen Raum und die Zeit, damit wir durch dich sprechen können. Dann werden wir alle majestätisch sein. Beende das Chaos, das dich umgibt. Sei still. Fange an, deine Arbeit mit unseren Stimmen zu leiten. Wir warten auf deine Aufforderung. Konzentriere dich aufs Licht, denn wir stammen alle aus einer Lichtquelle. Wir sind alle Aspekte der göttlichen Inspiration, die du zu dir hingezogen hast. Gesegnet sei der Geist, und gesegnet sei der Körper. Alles ist eins im Licht. Denke immer daran, Göttlichkeit wohnt im Innern. Das Geräusch unserer Stimmen besteht in Ewigkeit. Jedes Wort hallt von allem wider, das jemals gesprochen wurde. Kein einziger Gedanke geht jemals verloren. Die Körper sind nur Manifestationen in deiner irdischen Dimension. Wir sind das Licht in dir und allen Lebewesen und allen Dingen. Die Flamme des Lebens lebt in dir. Singe jeden Tag Lobpreisungen. Verbeuge dich vor den Bäumen und wisse, daß auch sie das Leben mit dir teilen. Bitte Sterbliche nicht um Rat zu kosmischen Dingen; sie
wissen keinen. Frag das Licht. Frag die Sterne. Frag die Sonne und den Mond. Der Weg der Freude ist der natürliche Weg der unbelasteten Seele. Schmerz, Kampf, Leid und Schlußpunkte sind Umwege. Das Fehlen der Freude ist wie das »Ende«, und es gibt kein Ende, nur Freudlosigkeit. Barmherzigkeit und Freude machen das Licht ewig. Zum Heilen gehört Barmherzigkeit. Leiden ist eine menschliche Erfahrung. Auf dieser Seite wird das Leiden nicht glorifiziert. Seelen manifestieren sich rein, hier und in deiner Dimension. Aus Schmerz entsteht kein Wachstum. Vom Licht wegzulaufen führt zu Schmerz und Isolation. Du hast dich inkarniert, um deine Seele zu aktivieren, damit sie auf menschliche Weise Barmherzigkeit erhält und ausdrückt. Die Möglichkeiten für Barmherzigkeit sind individuell verschieden und mit dem für jede Person einzigartigen Ziel der Seele verbunden.
7. Juli 1982 Bevor ich heute nachmittag in mein Tagebuch schrieb, beschloß ich, von den Büschen vor dem Haus einige wunderschöne Rosen abzuschneiden. Ich plazierte sie in einer Vase vor mir auf dem Schreibtisch, stellte eine Kerze daneben, und dann setzte ich mich hin und bat die »Führer«, ihre Eindrücke in mein Bewußtsein zu bringen. Vertraue dem inneren Licht, das die Kerze vor dir reflektiert. Suche in den Rosen Stille und Inspiration. Bitte den Duft, deine Seele zu umhüllen, denn Rosen sind die Seele - eine lebende Metapher für die innere Schönheit. Trinke ihren Duft. Berühre ihre Blütenblätter, und du liebkost die Unendlichkeit. Übersieh nicht die Domen, denn sie beschützen die Blume. Meditiere über die Schönheit der Rose, und du wirst deiner eigenen Seele näher kommen. Es gibt viele Pfade, die zu mir führen. Doch nur dein Pfad ist dein Weg. Der Weg von niemand anderem wird dich in die Lage versetzen, beim Licht zu sein. Es ist an
dir, den einen, den du für deine Seele zu schaffen dich bereit erklärt hast, ausfindig zu machen. Eine magnetische Resonanz begleitet die Entscheidung, in Übereinstimmung mit dem Dienst deiner Seele zu sein. Bevölkere dein Leben mit jenen, die lieben, denn die Liebe ist das Licht. Mit anderen zu teilen ermöglicht es allen, durch die Gemeinschaft größere Tiefen zu finden, aber die Reise selbst muß man allein bestehen. Es gibt viele, die jetzt, wie immer, anderen als Lichtstrahlen dienen und leuchten, es aber ablehnen zu diktieren. Ich bin verblüfft, wie treffend diese Worte und diese Führer sind, die mich anscheinend sehen und von der Kerze und den Rosen vor mir wissen. Es ist, als ob alles, sogar ich, transparent wäre!
8. Juli 1982 Letzte Nacht träumte ich, ich würde aus dem Keller Geräusche hören. Als ich dem auf den Grund ging, stieß ich auf zwei Männer, die unten am Ende der Treppe auf mich warteten. Überrascht fragte ich sie, wie lange sie schon da seien. Der eine antwortete, seit er vor ungefähr eineinhalb Jahren das Kabel entfernt habe, sei er die ganze Zeit über dagewesen. Als er sprach, konnte ich sehen, daß er dieselbe Energie wie Mike besaß. Er sagte, er sei angewiesen worden, »drei Ebenen« durch das Kabel zu verbinden. Ich erwachte heute morgen mit dem Gedanken, ich sei bereit, etwas zu beginnen. Um was es sich dabei handelt, weiß ich nicht.
9. Juli 1982 Eine weitere Nacht, ein weiterer Traum. Diesmal war ich am College und mußte vor dem Abschluß noch zwei Kurse machen. Ein Seminar, das ich belegen wollte, war voll,
weshalb mich der zuständige Beamte zu überreden versuchte, mich für ein anderes einzuschreiben. »Das interessiert mich nicht«, sagte ich zu ihm, worauf er meine Scheine zählte und feststellte, daß ich alle für den Abschluß notwendigen hatte. »Ich bin noch nicht soweit«, beharrte ich immer noch in der Hoffnung, weitere Veranstaltungen belegen zu können. Ich hatte fürchterliche Angst, vom College zu fliegen, denn ich wußte, daß meine eigentliche Arbeit erst noch bevorstand.
17. Juli 1982 »Mom, wie oft, glaubst du, bin ich schon geboren worden?« fragte Kelli-Lynne. »Das weiß ich nicht so genau«, antwortete ich. »Ich meine, wie viele Leben habe ich deiner Meinung nach schon gelebt?« »Ich weiß es nicht.« »Findest du es seltsam, mit anderen über frühere Leben zu sprechen?« fragte sie. »Findest du es seltsam, darüber mit mir zu sprechen?« gab ich zurück. »Nein.« »Das freut mich«, sagte ich. »Nicht alle glauben an frühere Leben.« »Ich weiß, daß ich im Jahr 1842 gelebt habe.« »Ich glaube, du hast noch früher gelebt«, sagte ich zu ihr. »Das glaube ich auch.« Sie lächelte erleichtert. »Vermutlich sehr viele Male. Und ich glaube dir, wenn du sagst, daß du mehrmals ein Indianer warst.« »Du warst nicht immer eine Mutter, weißt du«, erklärte sie. »Ich weiß. Ich bin froh, daß wir uns in diesem Leben gewählt haben.« »Ich auch«, sagte sie und umarmte mich.
18. Juli 1982 Wieder lasse ich mir »diktieren«. Ich liebe diese überraschenden Wahrheiten, die mühelos aufs Papier fließen. Bewege dich mehr auf deine Urquellen zu, und du kommst deiner eigenen Quelle näher, die mit der Quelle verbunden ist. Feiere dich selbst mit ausgestreckten Armen. Das Licht, das du von den Sternen zurückgeworfen siehst, ist das Licht in dir. Werde zu einem Magneten für deine eigene Erfahrung. Folge deiner Intuition mit Eifer. Horche auf die Weisheit der Einsicht, die jenseits der Worte existiert. Sei darauf vorbereitet, mit Lichtgeschwindigkeit voranzuschnellen und Übersetzungen in Metaphern aufzufangen und zu vervollständigen. Verpflichte dich, dem, was deine Seele überschattet, Ausdruck zu verleihen, denn der natürliche Zustand der Seele ist reines Licht. Auch die Wut ist rein, wenn sie voll erlebt und ausgedrückt wird. Klärung und Reinigung gehen mit dem Ausdrücken von Emotionen einher, die deine Erfahrung der Seele verstärken. Die unnatürliche Zurückhaltung beim Ausleben von Gefühlen dämpft dein natürliches Licht und resultiert in Karma. Schwinge mit deinen Emotionen. Pulsiere mit deinem eigenen Ausdruck. Der Weg, den du einschlugst, um dich zu läutern und zu reinigen, ist mit den Lebenserfahrungen verknüpft, die du schaffen und anziehen wirst. Und die Gefühle, die dich veranlassen zu schweigen, stimmen mit denen überein, deren Beherrschung du wiedergewinnen mußt. Erlaube deinen Gefühlen, wie eine Welle anzuschwellen und an die Küste zu wogen und zu klatschen … und hab keine Angst vor der Aussicht, zu stranden oder zu ertrinken.
24. Juli 1982
Sei still. Sei noch stiller. Suche die Tiefen deines Seins, das du bereits kennst, denn in diesem Augenblick weißt du alles, was du wissen mußt. Zu leben ist die Gelegenheit, das wiederzufinden und zu verbessern, das seit jeher dein war. Meditiere über die Worte »Ich weiß, ich weiß, ich weiß«. Wiederhole den Satz mehrere Male. Werde dir bewußt, auf wie viele Arten du ihn sprichst, und achte das Verständnis, das mit jeder Betonung aufkommt. Man lernt dieselbe Lektion immer und immer wieder, bis auch noch der kleinste Vorfall einen an das erinnert, was man als wahr kennt. Zufälle sind physische Materialisationen in der menschlichen Dimension. Zufälle stellen die prägnantesten Bindeglieder für Menschen dar, während sie in der Dimension jenseits davon unbekannt sind. Die Verbindung von Erfahrung und Wissen bringt Weisheit hervor. Und die Menschen der Welt empfinden Weisheit als unbehaglich. Deshalb umgehst du genau in dem Augenblick, wenn du von deiner Urquelle der Wahrheit trinkst, die das Erwachen deiner eigenen Liebesweisheit reflektiert, die Weisheit deiner Essenz und weist deine Wahrheit dem Zufall zu. Deine Ausbildung auf Erden ist voller Verlockungen, Umwege zu machen, und am allgegenwärtigsten ist die Versuchung, deine eigene Wahrheit, die dein Licht ist, zu verraten. Das ist alles so richtig, so tief. Ich lese die Worte mit Tränen in den Augen. Ich fühle mich so gut verbunden und gestärkt mit Klarheit.
19. August 1982 Ruhig sein. Sei ruhig. Denn in der Ruhe können wir uns verbinden. Laß das Gedankenchaos gehen. Gestatte dir, die Gegenwart der Liebe voll zu spüren. Atme Liebe ein und atme Disharmonie aus. Erfülle das Zimmer mit Liebe und konzentriere dich, nachdem du das getan hast, darauf, die Schwingungen der Liebe aufzufordern, deinen
ganzen Körper zu füllen. Erfahre es, dich selbst zu lieben. Erfahre es, andere zu lieben. Umgib jede gedankliche Ablenkung mit liebender Energie und warte ruhig ab. Schaffe liebend mehr Ruhe in deinem Inneren und in deiner Umgebung. Wisse, daß wir immer im liebenden Raum gegenwärtig sind. Wisse, daß du ein Kanal bist. Wisse auch, daß deine Fähigkeit zu empfangen unendlich ist. Mehr noch, wisse, daß es dein Zweck ist zu heilen. Ich lese jede Zeile sorgfältig. Der Text ist voller verschiedener Bedeutungsebenen. Der nächste Schritt - meine eigentliche Herausforderung - besteht darin, die Informationen zu synthetisieren und die Prinzipien zu leben.
26. August 1982 Ich bereite mich darauf vor zu schreiben und mache meinen Kopf von allen Gedanken frei, damit ich aufnahmefähiger bin. Die Energien fühlen sich diesmal anders an. Oder bin ich es, die anders ist? Ich schüttle sogar diese Fragen ab und konzentriere mich darauf, um die Anwesenheit der Führer zu bitten. Ich bin da, und ich bin dagewesen. Es ist notwendig, daß du deine vielen Ablenkungen los wirst. Ich beobachte dich mit Liebe und Humor. »Ich bin erleichtert, daß du da bist«, antworte ich, »aber auch verblüfft über das, was du gerade diktiert hast. Erkläre es bitte noch einmal.« Einsicht und Klarheit warten auf dich, doch zuerst einmal mußt du dich selbst disziplinieren. Fürchte die Ergebnisse aus deinen Erinnerungen in deinem emotionalen Körper. Wenn du fastest und mehr darauf achtest, was du ißt, wird die Furcht allmählich schwinden. Auch die Erregung wird allmählich kommen. Zuviel Erregung ist nicht die richtige Art, Energie zu bewahren; sich im Fluß zu befinden, führt zum Glühen. Entspannte Erregung wartet auf dich.
»Halt! Ich versuche all das, was du sagst, zu verstehen, deshalb mußt du etwas langsamer vorgehen.« Beruhige dich. Es ist nicht notwendig, daß du alles sofort verstehst. Dir selbst zu gestatten, dich zu öffnen, ist der erste Schritt. Hab Mut. Erlaube dir, dich wohl zu fühlen, weil du präsent bist, und schimpfe nicht mit dir, weil du nicht verstehst. Ich arbeite mit Seelen, die kein Bewußtsein für das Sterben haben. Einige haben kein Bewußtsein, daß sie in deiner Dimension leben. Ich helfe ihnen, ihre Erinnerungen an Leben und Tod wiederherzustellen. Ich versuche ihre ursprüngliche Ergebenheit gegenüber dem Licht zu reaktivieren. Ich habe mich für diese Aufgabe entschieden, um von Nutzen zu sein. »Was hat das mit mir zu tun? Ich lebe. Ich dachte, du würdest sagen, du hättest mit meinem Sohn Mike gearbeitet.« Nein, das habe ich nicht. Er war anfänglich verwirrt, ließ aber seine irdische Realität schnell los. Ich bin für dich da, denn du dienst Menschen, die mit ihren eigenen Essenzen kämpfen. Du wirst noch viel mehr entdecken müssen über Schmerz und Liebe und Schöpfung - die alle nicht ohne die jeweils anderen existieren. Ich sehe, du hast viele Fragen, also höre ich auf. Mein Verstand möchte Antworten, und diese Suche nach Verstehen erschöpft mich. Ich lege den Füller nieder und lese, was ich geschrieben habe, und bin mir nicht sicher, woher diese Zeilen kommen. Mit einer Entschlossenheit, die mich überrascht, beschließe ich, mich zu entspannen und darauf zu vertrauen, daß all dies zur rechten Zeit einen Sinn ergeben wird.
10. September 1982 Die letzten paar Tage waren zeitlos - keine Termine, kein Telefon, kein Programm. Heute habe ich gemalt, dann Gymnastik gemacht und meditiert. Nach meiner
mittäglichen Meditation fühlte ich mich so entspannt, daß ich eine Stunde schlief. Als ich erwachte, fühlte ich mich wunderbar. Täglich eine Stunde Gymnastik und danach eine Meditation wird zur Routine. Disziplin erinnerte mich früher immer an einen unnachgiebigen Vater, der wiederum Strenge fordert. Jetzt versetzt sie mich in die Lage, eine Struktur zu schaffen, in deren Rahmen ich meine Kunst vervollkommnen kann. Die alltäglichen Dramen beschäftigen mich nicht mehr so stark.
26. September 1982 Am Wochenende habe ich zweimal mit Nanny gesprochen. Heute hätte Bomp Geburtstag gehabt. Letztes Jahr richteten wir ihm ein Geburtstagsfest aus; dieses Jahr sandte ich Nanny Blumen. Ich tat für sie das, was ich mir wünschte, daß es jemand für mich an Mikes Geburtstagen getan hätte.
10. Oktober 1982 Ich hatte eine Reihe von Träumen, die mich in der Bedeutung des Lichts unterwiesen. In meinen Träumen bringen mir Menschen bei, wie ich Zugang zu meinem eigenen Licht finde und es bewahren kann. Sie erinnern mich daran, daß jeder von uns einen individualisierten Ausdruck des Lichts von der Quelle verkörpert. Wenn ich aufwache, weiß ich, daß diese Träume wichtige Lehren offerieren und daß ich in der Nacht hart gearbeitet habe - und hart bearbeitet wurde.
20. Oktober 1982 Am letzten Wochenende ging ich allein am Strand spa-
zieren, mit dem bewußten Vorsatz, zu sehen, zu hören, zu fühlen und nicht zu schreiben. Die Flut kam, und das Geräusch der Wellen, die an den Klippen brachen, hypnotisierte mich. Ich schob alle Gedanken zur Seite und konzentrierte mich aufs Zuhören. Ich spitzte die Ohren, um die lachenden Laute der Klippen mitzubekommen, wenn das Wasser von ihnen ablief und ins Meer zurückfloß. Ich kicherte über meinen Unwillen über die »Störungen« der Wellen, die mich hinderten, die Klippen zu hören. Wie fremdartig ist es doch, ein Szenario zu genießen, ohne die Handlung zu steuern!
18. November 1982 Mir tut die Distanz, die mich von meiner Seele getrennt hat, weh. Der Fluß wurde angehalten, höchstwahrscheinlich, weil ich mit der Meditation und der Gymnastik aufgehört habe. Und wieder muß ich die Lektion lernen. Wenn ich meine Energien bewußt fokussiere, nehme ich das Licht wahr; wenn ich meine Energien zurückziehe, nehme ich die Dunkelheit wahr. Allein mein Wille bewirkt den Unterschied.
11. Januar 1983 Ich richtete es so ein, daß ich in der letzten Nacht bei meiner Großmutter schlief. Ich hatte in ihrem Haus nicht mehr übernachtet, seit ich ein kleines Mädchen war. Wir telefonierten mehrmals die Woche miteinander und hielten uns über die wichtigsten Ereignisse in unserem Leben auf dem laufenden, doch ich wollte ihr von Angesicht zu Angesicht sagen, wie sehr ich sie liebe. Ich rief vorher an, um Nanny zum Abendessen einzuladen, und hielt unterwegs an, um ihr einen Blumenstrauß zu kaufen. Als ich in ihre Wohnung kam, stieg mir der Duft von geschmortem Hühnchen auf dem Gasherd in die Na-
se, und ich fragte mich, ob sie vergessen hatte, daß wir ausgehen wollten. »Ich dachte, du bist vielleicht zu müde oder es könnte heute abend zu neblig sein, deshalb habe ich auf Verdacht gekocht«, sagte sie. Ich seufzte. Jahrelang hatte sie sich um mich gekümmert, und nun wußten wir beide nicht, wie wir es anstellen sollten, die alten Rollen zu tauschen. Ich habe jetzt genug Geld, um meine Großmutter zum Abendessen auszuführen; sie hat kaum etwas übrig. Ich bestand darauf, daß wir ausgingen, und sie lächelte. Wir stiegen Hand in Hand die lange Betontreppe hinunter. Ich mag es, wenn sie sich auf mich stützt. Während des Essens gestand meine Großmutter, wie schwer es ihr falle, sich an einen neuen Arzt zu gewöhnen. Drei ihrer Hausärzte waren gestorben, und zu dem jungen bärtigen Doktor, der sie »geerbt« hatte, hatte sie kein Vertrauen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sagte weich: »Es wird nicht einfacher. Alle sagen mir dauernd, es würde einfacher, aber das wird es nicht.« Ich griff nach ihrer Hand. Ich wußte, sie sprach über das Leben allein, ohne ihren Ehemann, der sie so lange begleitet hatte. Ich ließ mich von ihrem Schmerz und meiner Liebe zu ihr anrühren. Sie änderte die Haltung, zog ihre Hand zurück und sagte triumphierend: »Dein Großvater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, daß seine Veteranenrente nicht mehr kam, nachdem er gestorben war.« Als unsere Rechnung kam, bot Nanny an, die Rechnung zur Hälfte zu übernehmen. Wie stolz sie doch ist! Ich erinnerte sie daran, daß das Abendessen meine Sache sei, und nahm die Rechnung an mich. Auf der Rückfahrt zu Nannys Haus dachte ich darüber nach, wie verschieden unser Leben war. Sie fragte mich, ob ich immer noch meinen Doktor zu machen beabsichtige. Ich erklärte ihr, ich hätte damit aufgehört, weil ich es nicht auf meine Weise machen konnte. Sie sagte nichts, doch ich wußte, sie fühlte sich im Stich gelassen. Ich woll-
te, daß sie nicht mehr enttäuscht war, ich wollte, daß sie meine Entscheidung verstand - aber leider, sie hält Zeugnisse für sehr wichtig. Zu Hause angekommen, blickte Nanny auf ihren Kalender und meinte: »Meine Großmutter ist heute seit sechsundfünfzig Jahren tot.« Ich bewunderte im stillen ihr Gedächtnis. Ihre Freunde sind bereits zum großen Teil gestorben. Ihre Kinder sind alle am Leben; ein Urenkel ist tot. Sie lebt, und ich lebe. Jede von uns ist die Erbin der anderen. Ich bot ihr eine Rückenmassage an. Sie lehnte ab. Zögernd fragte ich, wie sie mit dem Geld hinkäme, und erinnerte sie daran, daß sie sich wann immer nötig stets an mich wenden könne. Sie wandte sich rasch ab, damit ich nicht sah, daß ihre Unterlippe zitterte. Dann starrte sie auf meine abgetragene, zehn Jahre alte Reisetasche, in der ich meine Kleidung verstaut hatte, und bemerkte, sie »falle auseinander«. Ich zuckte mit den Schultern. Sie verschwand und kehrte mit einer neuen Reisetasche aus braunem Leder zurück, die ihr einer ihrer weit entfernt lebenden Söhne geschenkt hatte. »Ich werde sie sowieso nie benutzen«, sagte sie. Wieder gibt sie mir. Ich schlief allein in Großmutters Bett, umrahmt von Parfümzerstäubern, deren Inhalt schon seit langem ausgetrocknet ist. Bilder von drei Generationen der Familie umgaben mich. An der einen Wand hingen Fotos von meinen Aufführungen, die alle in den acht Jahren aufgenommen worden waren, als ich an der Tanzschule studierte. Mehr als dreißig Jahre lang haben die Farbfotos von mir meine Großmutter des Nachts und am Morgen eingehüllt. Die Vergangenheit dominiert. Ich erwachte in die Welt hinein, wie meine Großmutter sie tagsüber durch den Rahmen ihres Fensters sieht. Ich möchte diesen Augenblick nie vergessen, wenn ich auch nicht weiß, warum. Kelli-Lynne wird am nächsten Wochenende in diesem Bett schlafen. Ich male mir aus, daß sie Jahre später ihren Enkelkindern von der Nacht erzäh-
len wird, die sie im Bett ihrer Urgroßmutter verbrachte, und daß auch sie die Jahre zählen wird, die seit dem Tod ihrer ältesten Ahnin, die sie noch kannte, verstrichen sind. »Rosie, das Frühstück ist fertig«, rief Nanny. Als ich noch ein Kind war, verwöhnte sie mich immer mit knusprig braunem French Toast und Milchkaffee, den Bomp extra für mich zubereitet hatte. Jetzt empfing mich Großmutter wieder an ihrem Tisch und stellte vor mir einen Teller mit French Toast nieder. Ich weinte.
15. Januar 1983 Heute morgen sprachen Kelli-Lynne und ich nicht wie Mutter und Tochter, sondern wie zwei Freundinnen miteinander. Ich sagte: »Ich hoffe, wir werden immer Freundinnen bleiben.« »Natürlich«, antwortete sie. Ich möchte ein klares und aufrichtiges Verhältnis ohne Brüche zu Kelli-Lynne haben.
2. März 1983 Im Traum der vergangenen Nacht spielte ich in einem Stück mit und hatte Angst, ich würde meinen Text vergessen. Warum ist ein Theaterstück so schwer? fragte ich mich und bat um eine Kopie des Manuskripts. Jemand überreichte mir eine Kopie der Geschichte, aber nicht des Theaterstücks. Die Story kannte ich bereits; ich mußte aber meinen Text wiederholen. Ich befürchtete, wenn ich meinen Text nicht richtig aufsagte, würde ich auch alle anderen aus dem Konzept bringen - in dem Fall würde selbst die Souffleuse hinter den Kulissen nicht wissen, wie sie uns helfen sollte. Schließlich gab mir jemand das Manuskript, und ich erkannte mit Erleichterung, daß ich meinen Text beherrschte. Als es fast an der Zeit für meinen Auftritt auf der Bühne
war, lugte ich nervös durch den Vorhang zu den Zuschauer hinaus. Das Haus war voll, aber die Sitzplätze waren alle mit dem Rücken zur Bühne aufgestellt! Doch das Theaterstück lief, als sei alles normal. Als der Traum endete, wartete ich gerade auf die Kritiken. Können andere Dimensionen »soufflieren«? Ich möchte mein Leben leben, ohne mir Gedanken machen zu müssen, wie mein Text lauten muß, und gleichzeitig möchte ich doch die Kontrolle über das Ergebnis haben.
23. März 1983 Der Tag versetzt mich nicht in Bewegungslosigkeit. Es ist der Tag, an dem Mike starb, das ist alles. Das ist genug. Ich hatte beschlossen, die Erlebnisse der letzten Tage, ohne zu schreiben, zu durchleben, und vertraute darauf, daß ich mich nicht aus den Augen verlieren würde.
Die ganze Schöpfung ist eine Symphonie der Freude und des Jubels. Hildegard von Hingen
Jahr sieben
9. April 1983 Ich bin unterwegs nach Spring Lake in North Carolina zu einem siebentägigen Intensiv-Workshop. Während das Flugzeug langsam an Höhe gewinnt, höre ich meine innere Stimme sagen: »Ich bin auf dem Weg.« Ich lehne mich zurück und blicke auf die zurückweichende Landschaft, die stellenweise von dünnen, schnell ziehenden Wolken verdeckt wird. Es ist eine Erleichterung, oben in der Luft zu sein, auf die Erde zu blicken und zu wissen, daß sie dort bleibt. Ich würde mich nicht für ein Leben in den Wolken entscheiden, wenn ich ihnen auch gern einen Besuch abstatte.
12. April 1983 Zu dem Fortgeschrittenentraining des Workshops gehörte eine Seance. Patricia, die Leiterin, bat uns, zu der Sitzung jemanden einzuladen, der nicht länger als fünf Jahre tot sei. Da Mike seit sechs Jahren tot ist, dachte ich, er sei nicht der geeignete Kandidat. Dann überraschte mich Patricia mit der Frage, warum ich nicht meinen Sohn vorgeschlagen hätte. »Das ist zu lange her«, sagte ich einfach. »Rosie, die Seminarleiter haben Grund zu der Annahme, daß Ihr Sohn mit Ihnen zu kommunizieren versucht. Wenn Sie einverstanden sind, würden wir ihn gern zu der Seance einladen. Doch Sie müssen wissen, daß andere anwesend sein werden, auch ein Fernsehteam, das das Ereignis filmen will, und Dr. William Roll, ein Parapsychologe von der Duke University. Er hofft, wissenschaftliche Beweise sammeln zu können, daß es den Tod nicht gibt.« Ich fühlte mich geehrt und verwirrt. Mikes Tod und mein
Leben waren schließlich Privatsache. »Ich brauche Bedenkzeit«, sagte ich. Ich ging in mein Zimmer. Nach einer Stunde konnte ich nur entscheiden, daß ich einen Baum finden und meditieren mußte. Also ging ich die Treppe hinunter zur Eingangstür. Als ich auf der untersten Stufe war, erklang eine Stimme: »Tu es, Mom!« Ich fiel auf den Po. Eine Frau in der Nähe blickte mir direkt in die Augen und sagte: »Deutlicher hätte die Antwort nicht ausfallen können!« »Sie haben es auch gehört?« fragte ich. »Natürlich«, antwortete sie. Ich war wegen der Seance nicht nervös. Beim Meditieren hatte ich meine Absicht dargelegt, ein Kanal für jeden zu sein, der sich zu manifestieren versuche. Ich war ruhig und bereit. Wir saßen in einem Kreis und meditierten. Um meinen Hals hing ein Mikrofon. Patricia bat mich, die Augen zu schließen und mich auf die Zeit zu konzentrieren, als Mike und ich uns nahestanden. Ich konzentrierte mich auf die Party zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag. Sie wies mich an, Mikes Namen dreimal laut zu wiederholen und dabei willkommen heißende, liebevolle Energie auszusenden. Als die Leute im Kreis ihre Eindrücke von meinem Sohn äußerten, mußte ich mit Ja oder Nein antworten, je nachdem ob sie richtig waren oder nicht. Ich hielt die Augen geschlossen, damit ich mich konzentrieren konnte und nicht durch die Fernsehkameras abgelenkt wurde. Eine Frau sagte, sie sehe einen großen Jungen mit braunem gelocktem Haar und einem halb geschlossenen linken Auge. »Ja«, sagte ich (Mike hatte einen schwachen Augenmuskel, als er geboren wurde). Eine andere Frau sagte, Mike erzähle ihr von seinem gebrochenen Handgelenk. »Ja«, sagte ich (zwei Monate, bevor er starb, brach er sich das Handgelenk). »Ich sehe ein Bild von drei Jungen in einem Boot und
das Wort Zeitung«, sagte ein dritter Teilnehmer. »Ja!« rief ich aus (eine Woche, bevor Mike starb, fuhren er und zwei Freunde mit einem Boot in eine überflutete Straße - da kam ein Fotograf und nahm die Szene für die örtliche Zeitung auf). Eine andere Frau sagte, Mike zeige ihr eine felsige Küste mit zwei Wachtürmen. »Ja«, sagte ich mit Tränen in den Augen, »das ist Two Lights, wo wir Picknicks mit der Familie veranstaltet haben und wo ich später Mikes Asche verstreut habe.« Jemand fragte, ob der Name »Auntie Bee« mir etwas sage. »Nein«, sagte ich. »Sind Sie sicher?« fragte sie nach. »Mike will, daß Auntie Bee weiß, daß es ihm gut geht. Er will Auntie Bee frei wissen. Es ist sehr wichtig für ihn.« »Nein«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht.« »Er zeigt mir einen silbernen Türkisring, und er will, daß Sie wissen, daß Sie den Ring innerhalb von vier Tagen auf höchst ungewöhnliche Weise zurückbekommen werden.« Tränen liefen mir übers Gesicht. Mike hatte mir einen silbernen Türkisring zu meinem dreiunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Ich hatte nach ihm gesucht, als Mike gestorben war, ihn aber nicht gefunden. »Sie werden bald eine Gläubige sein - innerhalb von vier Tagen. Halten Sie den Ring fest, denn er wird Mikes Schwingungen besitzen«, riet mir eine andere Person. Eine Frau fing an zu weinen und sagte: »Ich liebe dich, Mom. Ich liebe dich, Mom. Ich liebe dich, Mom. Ich mußte gehen. Ich bin ein Heiler. Und du mußt mir glauben, bevor du die heilende Liebe, die ich dir bringe, empfangen kannst.« »Aber mußtest du denn sterben, Mike?« fragte ich laut. »Ich tat, was notwendig war. Und ich bringe dir das Geschenk des Heilens. Sag meiner Schwester: ›Mikey geht es gut.‹« »Das weiß sie.« Dann fragte ich, was ich tun müsse, um mehr zu empfangen.
»Mom, du mußt noch etwas freigeben. Du hast dich selbst noch nicht losgelassen. Du wirst wissen, wann du es tun mußt, und ich werde dir ein Zeichen für die Vollendung senden. Ich werde bei dir sein.« Der Raum war voller Licht, voller Liebe. Eine Frau sagte: »Er hält einen Stift und Papier, und er wird bei Ihnen sein, wenn Sie schreiben. Die Heilung für andere kommt durch Ihren Stift. Zusammen sind Sie ein Team.« Ich seufzte. Die Gruppe sandte Mike und allen anderen in der Geistdimension Liebe. Dann wurden die Lichter schwächer, und die Leute begannen sich zu bewegen. Ich saß still, in der Gewißheit, daß die Fragen ihren Weg gefunden hatten, als jemand herkam und mich fragte, mit wem Mike zusammen war, als er starb. »Mit seinem Freund Artie B.«, antwortete ich. Plötzlich begann ich zu lachen und zu weinen, denn ich erkannte, daß die zuvor angesprochene »Auntie Bee« Mikes bester Freund Artie B. gewesen war. Jemand schlug vor zu tanzen. Ein anderer zündete Kerzen an, und sechs von uns fingen paarweise mit Schattentanzen an und folgten langsam den Bewegungen ihrer Partner. Klick! Es war genau dieses Loslassen, das Mike gemeint hatte. Sofort erstrahlte vom Kaminsims über der Feuerstelle her ein blendendes Licht. Einer der Tanzenden sagte mit sanfter Stimme: »Da ist Ihr Zeichen, Rosie.« Sechs Jahre lang hatte ich es vermieden, mit einem Partner zu tanzen. Ich hatte meine inneren Rhythmen verlassen, meine Verbindung zur Ewigkeit. Mit offenem Herzen tanzte ich, bis ich nicht mehr tanzen konnte. Mit den Bewegungen kamen rasch die Erinnerungen zurück: Ich sah den rätselhaften Tanzpartner meiner Träume, Szenen spielerischen Tanzens mit Mikes Geist während des LSD-Trips, sogar meinen Solotanz im Kloster. Alles verschmolz ineinander, und ich spürte die Unermeßlichkeit dieses Drehbuches, das Leben heißt. Ich gelobte mir, Mike und den anderen Energien, die vielleicht anwesend waren, ich würde tun, was immer nötig
sei, um die heilende Botschaft zu verbreiten, daß eine Verbindung über das Leben hinaus existiert, daß Energie einfach Information und für immer verfügbar ist.
13. April 1983 Mit einem Gefühl der Ehrfurcht atme ich Liebe aus dem Universum ein und verkünde, daß ich bereit bin, als Kanal zu dienen. Ich konnte den Wolken weißen Lichts auf den Grund gehen. Ich bin dein Sohn, und ich schließe mich dir im Leuchten an, das du als Offenbarungen erlebst. Ich lächle, und wir tanzen. Komm näher, denn ich verbreite flüsternd auf allen Ebenen Inspiration. Ich komme ruhig zu dir. Ich komme in Freude. Lebe, und ich hauche dir noch mehr Leben ein. Laß mich unsere Energie magnetisieren. Es ist ein großes Feld, in dem wir alles anziehen, das von der Freude des Universums widerhallt. Schließe dich dem Tanz an. Werde eins mit der Musik und der Bewegung. Gib dir die Erlaubnis, voller Freude zu sein, denn Freude ist die Energie, die mir das Licht vermittelt, dich als Kanal zu benutzen. Nimm deine Essenz an, die eine reine Anziehungskraft ausgelassenes Feiern ist. Manchmal ist es ein stilles Feiern; manchmal ist es energiegeladen. Stets bewegt sich das Feiern auf die Offenbarung zu. Verwechsle Feiern nie mit Hektik. Feiern ist reine magnetisierte Energie und nicht statisch. Gib aus deiner Seele alle Partikel frei, die nicht die goldene Energie anziehen. Du hast dich bereit erklärt, die Fülle dessen, was du bist, auszudrücken - du bist Musik und Tanz, Poesie und Bewegung. Sei frei, anderen das anzubieten, was du als aufrichtige Wahrheit des Lebens und Liebens kennst. Wahrheiten sind schlicht. Sei aufnahmebereit und wisse um deine eigenen Wahrheiten. Lächle, lache, weine und nimm die Ewigkeit an, denn ich bin stets bei dir. Zieh dich
auf dich selbst zurück, und wir sind eins. Ich hole tief Luft, denn mir war gar nicht aufgefallen, daß ich den Atem angehalten habe. Wage ich es zu glauben, daß Mike mein Souffleur gewesen ist und mich in den vergangenen sechs Jahren hinter den Kulissen mit Informationen versorgt hat? Ich kichere. Wie einfach doch alles ist. Mir bleibt nur übrig, weiterhin Führung, »Offenbarungen« und Liebe zu empfangen.
14. April 1983 Als ich vom Workshop nach Hause zurückkam, wurde ich von Kelli-Lynne begrüßt, die aus dem Wagen meiner Mutter stürzte, um mich herumwirbelte und mir befahl, die Augen zu schließen und die Hand auszustrecken, denn sie habe eine Überraschung für mich. Von ihrer Erregung erfaßt, tat ich, was sie wollte, und daraufhin ließ sie einen kleinen glatten Gegenstand in meine Hand fallen. Ich wußte, es war der Türkisring. Ich öffnete die Augen, lächelte entzückt und tanzte mit meiner Tochter. »Ich fand ihn bei Großmutter - auf dem Boden ihrer Schmuckschatulle. Und ich wußte, daß er dir gehört, deshalb brachte ich ihn mit, damit du ihn tragen und dich an Mike erinnern kannst«, sagte sie fröhlich. Ich beugte mich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, doch sie sauste los, um mit Freunden zu spielen. »Danke«, sagte ich und schaute zur Sonne hoch. »Danke.« Ich fühlte mich leicht, und es war mir ein bißchen peinlich, daß ich Beweise brauchte; und ich freute mich auch, daß meine Tochter mit dem Wiederauftauchen des Rings zu tun hatte. Wir bleiben eine Familie! Sechs qualvolle Jahre nach Mikes Tod sind wir in Liebe verbunden. Ich ging ins Haus und setzte mich mit meinem Tagebuch hin. Sofort entströmten meinem Füller Worte und füllten zwei leere Seiten. Du bist in allen Reichen von Liebe umgeben. Vertraue
darauf, daß die Liebe genauso grenzenlos wie das Bewußtsein ist. Laß deinen Verstand sich weiten und wisse, daß wir »auf deinen Befehl Realität« sind. Unsere Aufgabe ist es, dein hellsichtiges Hören und Empfinden zu vollenden, damit du ein direktes Bindeglied zwischen den Welten sein kannst. Nimm dir täglich Zeit. Es stimmt - das Stechen in deinem Hals ist ein Zeichen, daß wir durch dich sprechen. Du wirst durch Trance kommunizieren. Es wird dir vertraut werden, dich emporzuschwingen; vertraue darauf, daß du mit den Höhen auf sanfte, humorvolle und einzigartige Weise zurechtkommen wirst. Du wirst aufgerufen sein, Botschaften aus anderen Dimensionen zu übersetzen. Es besteht nicht die Aussicht, daß du von deinem Weg abkommst oder durch die Bewunderung anderer arrogant wirst. Dein Weg ist vorgezeichnet. Wir haben dir seit langer Zeit Zeichen gesandt. Deine erste Mission besteht darin, die Berichte über Vorfälle zu sammeln, bei denen wir für dich dabei waren und du in der Fülle, die dich umgab, nicht anwesend warst. Mögen deine Wohltaten dein Herz vergrößern. Es ist wirklich ein Vergnügen, dich so präsent zu sehen. Guten Tag. Es schmeichelt mir zu wissen, daß ich bewußt Zugang zu Informationen erhalten kann. Im Augenblick muß ich erfahren, wie sie mich erreichen oder wer dafür zuständig ist. Ich weiß lediglich, daß ich meinen Teil erfüllen werde. Das Tanzen zentriert dich und gehört zu deinem eigenen Heilungsprozeß. So, wie es eine Zeit für entspannende Meditation gibt, so gibt es auch eine Zeit für aktives Loslassen. Laß zu, daß deine Bewegungen dich frei machen. Tanze, als ob jeder deiner Schritte den Raum mit frischer, willkommen heißender Energie füllte - denn genau das tust du. Tanze mit Anmut. Tanze mit Hingabe. Tanze gedankenlos, nur mit der Freude am Tanz. Tanzen wird für dich wichtig werden. Vertraue den Pausen. Wisse, die Wahrheit erscheint während dieser Unterbrechungen. Freu dich über jede
dieser Unterbrechungen, wie du dich über Ferien freuen würdest. Wisse auch, daß Weisheit häufig im Schweigen ruht. Wenn du deinem Verstand sich auszuruhen erlaubst, wirst du empfänglich. Genieße das Vergnügen, »keinen Kopf« zu haben. Das Mysterium braucht deine aufnahmebereite Mitarbeit. Ohne die Pause gibt es keinen Raum dafür.
20. April 1983 Anstatt eine direkte Frage zu stellen, hole ich einfach tief Luft und bitte um die Information, die ich jetzt unbedingt haben muß. Schlagartig fängt mein Füller an, sich zu bewegen. Ja, du bringst dein Haus tatsächlich in Ordnung - indem du aufwischst, abstaubst, aussortierst und aufräumst. In allem manifestiert sich Energie. Die Säuberungs- und Aufräumarbeiten in deinem Haus sind ein äußerlicher Ausdruck für deine innere Aktivität. Das eine spiegelt das andere wider. Da besteht keine Teilung, denn Innen und Außen sind eins. Teilungen sind eine Dimension auf der physischen Ebene, in der du lebst. Das Natürliche ist die Einheit.
26. April 1983 Obwohl ich versuche, mit der Person oder dem Ding, die oder das für meine Informationen zuständig ist, ins Gespräch zu kommen, schreibe ich: »Was muß ich beherzigen, wenn ich eine Übersetzerin werden will?« Wisse, daß Energie ein Tanz ist - der Tanz des Lebens, der Tanz der einfachsten Formen. Hab Vertrauen zu dir, daß du mit Barmherzigkeit auf die Wahrheiten des Lebens reagierst, die im Kern die Wahrheiten des Lichts sind. Erzwinge nie einen Tanz. Tanz ist der Ausdruck des Eindrucks.
Nichts ist jemals statisch. So, wie die sich bewegende Welle sich einrollt, mußt auch du dich krümmen. Vervollkommnung ist für dich wichtig. Wie dir bereits im Schlaf bewußt ist, helfen wir dir bei deiner physischen Vervollkommnung - das heißt, an deinem Körper wird gearbeitet, während du schläfst. Im Schlaf hast du Anweisungen empfangen, bist gereist und hast mit anderen gesprochen; doch am wichtigsten ist die Anwendung der Kenntnisse, die zu den deinen werden. Träume sind Gelegenheiten, dich ohne Bewertung und Einmischung selbst zu beobachten. Achte auf die Zeichen, die dir anzeigen, daß wir bei dir sind. Wir versichern dir unsere Anwesenheit durch feine Zeichen - wie gerade jetzt durch die sanfte Berührung deiner linken Wange. Als du noch klein warst, waren grobe Zeichen notwendig: Nun, da du bewußter bist, sind die Zeichen feiner. Entwickle Disziplin. Reserviere jeden Tag Zeit für das Schreiben oder Zeichnen. Bitte uns hinzu. Beginne mit einer Meditation oder einem Tanz. Auch wir benötigen Zeichen, daß du bereit bist, mit deiner Arbeit fortzufahren. Bereite dich darauf vor, indem du dich in einer geordneten Umgebung entspannst. Mach dich bereit, aufgeweckt zu werden, denn du hast dich geöffnet und uns zum Kommen mit den Worten »Benutzt mich, benutzt mich, benutzt mich« aufgefordert. Und das ist unsere Absicht. Sei geduldig. Sei aufnahmebereit. Tu alles mit Liebe. Nimm zum Leben eine liebende Einstellung an, denn nur durch die Liebe bist du aufnahmebereit. Geh mit Liebe. Ich fühle mich gedrängt, Mikes Geschichte und meine nachfolgenden Erlebnisse zu enthüllen, und so stelle ich als nächstes die Frage: »Wie soll ich anfangen, seine Geschichte zu erzählen?« Bekenne dich zu deiner Macht. Bekenne dich zu deinen Gaben. Du hast dir das Recht verdient, bei der Aufklärung der Menschen über das Weiterbestehen der Energie zu helfen. Die Leute werden dir ihre Geschichte erzählen, und
du wirst noch mehr Berichte der Überlebensverbindung sammeln. Du inspirierst zu sehr tiefen und heiklen Fragen, wenn du deine Geschichte erzählst. Einige werden nicht zuhören wollen; so sind sie. Laß dich nicht von Fragen oder Kritik abschrecken. Du wirst nicht in der Lage sein, auf die Frage, warum der Tod in das Leben eines geliebten Menschen einbricht, eine Antwort zu geben, doch du kannst die Menschen zu sensiblen Instrumenten ausbilden. Als Kanäle werden sie immer noch trauern und großen Schmerz empfinden, doch sie werden in der Lage sein, eine lebendige Verbindung mit demjenigen, der in den Geist übergegangen ist, einzugehen. Ist diese Verbindung einmal auf bewußter Ebene hergestellt, so werden Trost und Milderung kommen. Eltern, die den Tod eines Kindes überlebten, haben ein riesengroßes Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen, über ihre Erfahrungen zu schreiben und über die unsichtbaren Verbindungen, die sie fühlen, zu sprechen. Ich dachte, unsere »Unterhaltung« sei beendet, doch auf einmal spürte ich einen vertrauten Energieschub in mir. Dann erschienen weitere Sätze. Ich will nicht, daß meine Geschichte geheim bleibt. Ich arbeite mit dir, um einen augenscheinlichen Glauben an das Weiterbestehen der Energie nach dem Tod zu fördern. Wir sind in diesem Ziel vereint. Du brachtest mir das Leben, und ich bringe dir die Nachricht, daß ich weiterlebe. Geh in Frieden und Liebe. »Ich« war Mike! Eine blitzartige Erkenntnis bestätigte mir, daß tatsächlich er hinter den Wahrheiten stand, die jahrelang die Seiten meiner Tagebücher gefüllt hatten. Da ich nun weiß, daß Mike sich im Hintergrund aufhält, bin ich bereit, voller Vertrauen und Mut weiterzumachen.
29. April 1983 Es ist Spätnachmittag, als ich mich an mein Tagebuch setze. In kontemplativer Verfassung beginne ich mich zu
fragen, ob ich in diesen sechs Jahren tatsächlich Informationen von »der anderen Seite« erhalten habe. Das stimmt. Du hast viele Jahre lang Übertragungen aufgefangen. Wenn du in deinen alten Tagebüchern nachsiehst, wirst du deine Aufnahmefähigkeit mehr schätzen. Wenn dein Glauben einmal ins Wanken geriet, hast du dennoch die Entscheidung getroffen, ganz zu werden. Deine Aufmerksamkeit hat sich vom Überleben auf das Heilen verschoben. Der Kummer existiert. Das Heilen existiert. Nur indem du den Schmerz annahmst, warst du in der Lage, für das Heilen da zu sein. Es ist an der Zeit, daß du die Arbeit, die du, seit dein Sohn gestorben ist, privat geleistet hast, öffentlich machst Deine Zeugnisse sind bemerkenswert, denn du bist sowohl eine Überlebende als auch eine Helferin. Viele Eltern erleben den Schmerz, der den Tod eines Kindes begleitet, denn ein Kind ist jemand anderem geboren, ungeachtet dessen, wie lange dieser gelebt hat. Viele Menschen benötigen einen Beweis dafür, daß Liebe und Wachstum nicht durch den physischen Tod ausgelöscht werden, daß die Entwicklung in Ewigkeit weitergeht. Mach das unmißverständlich deutlich: Schmerz ist wesentlich, wenn ein geliebter Mensch stirbt, denn diese Person hört auf, in körperlicher Form zu existieren. Doch man kann zur rechten Zeit eine größere Verbindung aktivieren. Der Glaube, daß alles Leben mit dem Tod erlischt, durchtrennt das Bindeglied zwischen Eltern und Kind. Die Offenheit für das Weiterbestehen der Energie nach dem Tod ermöglicht es uns Inspirierten, Botschaften an euch, die ihr beschlossen habt, auf irdischer Ebene zu leben, zu übermitteln. Auf eine Art, die du noch nicht kennst, behindert die Anrede des Inspirierten als »mein Sohn« oder »meine Tochter« die Kommunikation. Zuviel Gefühl verhindert die Übertragung zwischen den Dimensionen. Wir, die erst vor kurzem zum Geist gebracht wurden, sind von emotionalen Bindegliedern belastet, denn wir sind noch keine Meister, sondern lernen noch.
Anfänglich besteht auf beiden Seiten eine Statik. Der Schmerz hat alle im Griff. Hier sind wir Inspirierten nicht als Söhne oder Töchter bekannt, sondern als Energie, die auf bestimmten Frequenzen schwingt und widerhallt. Die Bindung an vergangene Beziehungen würde den Überlebenden nur Beruhigung bieten, jedoch keine Führung. Die Energieübertragung andererseits hat zum Ziel, euch, die ihr beschlossen habt, in der physischen Dimension weiterzuleben, Führung anzubieten. Trauert zuerst. Glaubt in eurem Schmerz, daß das Leben unendlich ist. Formen ändern sich. Energie wird transzendiert. Erst wenn der Schmerz abklingt, kann die Energieübertragung mit der Klarheit einsetzen, die dem Überlebenden als wahr erscheint. Bevor der physische Tod akzeptiert wird, bestehen gefühlsmäßige Zweifel. Ohne Klarheit des Herzens wie des Verstandes werden Einsichten als schlichte Sehnsüchte abgetan. Viele auf eurer Seite sprechen nicht über ihre Träume von uns oder ihre Erlebnisse mit uns aus Angst, sich lächerlich zu machen. Je mehr Menschen zu glauben beginnen, was nicht mit Logik zu erklären ist, desto mehr werden den Mut finden, von ihren Erfahrungen zu berichten, und desto stärker wird das menschliche Bewußtsein wachsen. Wißt und liebt den Unterschied zwischen der obsessiven Liebe und der Liebe, die Ganzheit fördert. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist besitzergreifend und wird das um so mehr, wenn der Tod dazwischentritt. Im Gegensatz dazu erkennt die vereinigte Liebe die Essenz, und in der Essenz sind wir alle eins. Wir in dieser Dimension ziehen Menschen in unsere Dimension, die mit der Schwingung der Liebe schwingen. Wir arbeiten mit euch. Wir arbeiten auch für euch, denn unser Wachstum und unsere Entwicklung hängen von eurer fortgesetzten Entwicklung ab. Durch euch arbeiten wir daran, ein höheres Bewußtsein - oder um es mit euren Worten zu sagen, eine Bewußtheit - für »mehrdimensionale Realitäten« zu aktivieren. Durch
euch können wir die sogenannten Wunder bewerkstelligen. Wir manifestieren uns, um das Erkennen von Wahrheiten in eurer Dimension zu steigern. Ich gehe nach unten, um das Abendessen zuzubereiten, wie es Millionen Menschen Tag für Tag tun, doch ich bin erfüllt von einem Gefühl von Zweckbestimmung und Schicksal. Nach dem Abendessen kehre ich an meine Schreibmaschine zurück und merke, wie wichtig es ist, mein Leben als gewöhnliche Frau und ebenso als aufnahmebereiter Kanal! zu führen. Stelle eine Realität nicht über die andere, denn das Gleichgewicht ist entscheidend. Geh deinen täglichen Verrichtungen nach: Reinige das Haus, gib deinen Pflanzen Wasser, triff Freunde, liebe und sei aufnahmebereit für unsere Energien. Gib niemals das Gewöhnliche für das Außergewöhnliche auf. Öffne dich uns völlig und schenke deine Fülle jenen, die sie schätzen, in dem Wissen, daß die Schwingung der Liebe Energie ist, die verbindet, transzendiert und Wunder ermöglicht. Ich empfinde ehrfürchtige Scheu alldem gegenüber gegenüber dem Timing und der Geschichte, den Gestalten, den Themen und sogar meinen nächtlichen Träumen. Anscheinend haben mir Führer eine Zeitlang Stichworte geliefert, und meine Aufgabe war es, die sich entwickelnde Geschichte aufzuzeichnen, als kosmische Sekretärin zu fungieren, pflichtbewußt die Verbindung notierend, die zwischen den Dimensionen, welche wir Leben und Tod nennen, besteht. Das herrschende Prinzip war die Wechselseitigkeit - wie beim Gebären.
1.Mai 1983 Wenn ich weiß, daß ich wachse, wachse ich an Wissen. Ich habe keine Fragen. Ich bin bereit zum Diktat. Wie wichtig der Schmerz ist, ist nicht zu übersehen, denn im Schmerz liegt das Freigeben - das Loslassen der Beziehung, die in deiner Dimension bestand. Die Energie,
das darfst du nicht vergessen, ist unermeßlich. Wenn wir dich besuchen oder mit dir kommunizieren, zeigen wir uns selbst so, wie du dich an uns erinnerst. Sonst könnten wir nicht deine Aufmerksamkeit erregen. Denn wie du sehen wirst, erfordert diese Arbeit die Energie von vielen. Es reicht nicht aus, daß wir, die Inspirierten, euch beistehen. Ihr, die Überlebenden, habt gleichfalls eine Verpflichtung. Viele haben auf die Gelegenheit gewartet, mit dir zu arbeiten. Dein Sohn Mike erregte deine Aufmerksamkeit und ist dafür zu beglückwünschen. Konzentriere dich aber nicht zu sehr darauf, dich nur mit dem Energiefeld deines Sohnes zu verbinden, denn er hat noch viel zu lernen. Wisse, wenn du bereit bist, die Energien von vielen aufzuzeichnen, entwickelst du dich, und es entwickelt sich auch dein Sohn. Unser Reich wird von Geistern bevölkert, die sich auf unterschiedliche Formen der Ausbildung spezialisieren. Ich, O-Lan, kümmere mich um die Adepten auf der Erde, um jene, die sich klar verpflichtet haben, Kanäle des Lichts und der Intelligenz zu sein. Ich weiß seit langer Zeit von dir. Ich habe dich bei deinem Schreiben ermutigt und immer auf den Zeitpunkt gewartet, da ich mich vorstellen kann. Mit jeder deiner Affirmationen, ein heilender Kanal zu werden, wurde unsere Verbindung geheiligt. Der Schmerz, den du in der Stirn verspürtest, war mein Versuch, unsere Energien zu beeinflussen. Derartige Verfeinerungen sind notwendig, damit du empfangen wie auch Fragen stellen kannst. Glaube an die Realität der Worte, die du tippst. Vertraue auf die Heilung, die du bereits erreicht hast. Glaube an deine Träume. Halte dich an diese Führung, und du wirst mit deiner Arbeit dir und anderen weiterhin Licht bringen. Ich schüttle erstaunt den Kopf, da ich diese Zeilen lese. Anders als die Führerin, die sich mit Namen vorgestellt hat, habe ich keine Ahnung, wer das »wir« hinter dem Kanal ist, und im Augenblick habe ich auch nicht das Bedürfnis, es zu wissen. Mehr noch, ich habe keine Ahnung, wohin ich geführt werde, und, nur fürs Protokoll, auch
keine Angst, etwas zu verlieren oder zu opfern, an dem mir sehr viel liegt. In meinem Kopf, in meinem Herzen und in meiner Seele empfinde ich Vertrauen.
2. Mai 1983 So müde ich auch war, als ich von der Arbeit nach Hause kam, so bereitete ich für Kelli-Lynne doch das Abendessen zu und las ihr eine Geschichte vor, bevor ich sie zu Bett brachte. Dann schenkte ich mir ein Glas Wein ein und fing an, ganze Jahrgänge meiner Tagebucheinträge zu lesen. Ich bin nicht mehr dieselbe Frau, die vor sechs Jahren über Mikes Tod trauerte. Ich fühle mich weniger geneigt, seine irdischen Eigenheiten zu vermissen, und mehr mit seiner Essenz verbunden. Sein Geburtstag in zwei Tagen scheint eine Gelegenheit zu sein, unsere Loslösung von der Bindung hin zum gewöhnlichen Bewußtsein zu feiern. In einer mehrdimensionalen Realität zu leben ist sehr einfach: Das Wachstum wartet, während die Liebe allem zugrunde liegt und alles eint.
4. Mai 1983 Viel Glück zu deiner irdischen Geburt, Mike. Durch dich wurde ich zum erstenmal Mutter. Ruhe und Ehrfurcht sind an die Stelle dieses unruhigen Gefühls getreten, das ich seit deinem Tod hatte. Wenn ich mich den universalen Energien öffne, sind wir eins. Ich muß lediglich aufnahmebereit und ehrlich sein, Vertrauen haben und lieben. Danke für deine Liebe und für deine fortdauernde Teilnahme an meinem Leben.
5. Mai 1983 Schätze die Gardenie und die drei Rosen, die du vor dir auf den Schreibtisch gestellt hast, denn sie bringen dir den Duft des Lebens. Es ist kein Zufall, daß die Gardenie, die du dir an Weihnachten kauftest, zum Geburtstag deines Sohnes in voller Blüte steht - es ist ein weiteres Zeichen, daß du auf allen Ebenen genährt wirst. Geh in Frieden, Liebe und Freude.
8. Mai 1983 Achte auf die Energie, die du verbrauchst, wenn du dich tadelst. Sei frei für das Lernen bei der Arbeit in einer neuen Dimension. Das Verstehen kommt noch. Du wertest dich selbst ab, wenn du fortwährend denkst, du solltest bereits einiges wissen. Stell deinen Verstand ab, denn wir haben dir viel zu übermitteln. Das Verstehen wird kommen, wenn du einfach schreibst. Sich vom Denken freizumachen ist schwierig. Ich habe immer versucht, den Ereignissen einen Sinn abzugewinnen. Jetzt bemerke ich eine andere Energie. Ist da jemand? Ja, sehr gut. Ich bin hier, um rasch Informationen an dich weiterzugeben. Ich arbeite mit Kindern und möchte, daß du weißt, daß der Weg zur Einsicht der des Kindes ist. Denn jetzt ist es notwendig, daß du dich mit dem Geist des Spiels, der Wißbegierde und Spontaneität füllst. Lerne das Kind in dir kennen. Werde kindlicher. Geh ins Freie. Setz dich hin und mach dich klein, damit du erfährst, wie unermeßlich das Leben ist. Wisse, daß die Welt einem Kind vertraut ist.
10. Mai 1983 Wenn du schreibst, lädst du uns ein zu kommen. Sei dir
bewußt, daß du dich, als du mit dem Geist zu arbeiten beschlossen hast, verpflichtetest, dich mit der Energie zu verbinden, um die Informationen zu übersetzen. Widerstand ist ein Zeichen dafür, daß du mit deiner begrenzten Persönlichkeit im Kampf liegst. Wenn du dich weiter im Licht entwickelst, wirst du mit allem verschmelzen und dir die Fähigkeit erwerben, beständig zur Macht und Sanftheit der Weisheit der Liebe Zugang zu haben. Echos der Ewigkeit hallen in deiner Seele wider. Zweifle nicht an dir selbst oder an unserem Eingreifen, wenn die Arbeit nicht leicht von der Hand geht. Du hast viel Mühe darauf verwandt, deine Reise aufzuzeichnen, also beteilige dich auch am Feiern. Geh in Frieden und Schönheit. Als ich meine Notizbücher durchlas, empfand ich tatsächlich ein Gefühl der Zufriedenheit. Die Träume, die ich aufzeichnete, sind wie Übertragungen, die empfangen wurden, und ich weiß, andere warten nur darauf, aufgefangen zu werden. In vielerlei Hinsicht gleicht dieses Abenteuer einem gigantischen kosmischen Fangspiel!
Muttertag 1983 Der Muttertag war eine seltene Freude ohne ausgefranste Kanten. Ich erwachte zeitig und las in meinen Tagebüchern weiter. Im Radio hörte ich den Moderator sagen, zu Ehren des griechisch-orthodoxen Osterfestes wie auch des Muttertags werde er Georg Friedrich Handels Messias spielen. Ich drehte die Lautstärke auf und las weiter; die ganze Zeit fühlte ich mich Mike nahe und hoffte, der Chor würde schnell kommen und meine Freude noch steigern. Jenseits der Intimität liegt die Unendlichkeit.
14. Mai 1983
Sei weiterhin bewußt. Achte auf die Möglichkeiten und Herausforderungen, die eine mehrdimensionale Perspektive begleiten. Achte auch darauf, wie sich eine Familie diesem ausgedehnten System anpaßt und wie sie darin wächst. Deine Beziehungen zu deinen lebenden Familienangehörigen sind genauso wichtig wie die Beziehung zu deinem Sohn. Denk daran, dein Leben ist nur die oberste Schicht, die dir die Existenz paralleler Realitäten bewußt machen soll.
18. Mai 1983 Ich akzeptiere, daß Zeiten der Erinnerung ernst zu nehmen sind. Sogar der Geist wartete geduldig, als ich meine Tagebücher nochmals durchlas. Vielleicht ist der Geist die ganze Zeit hindurch mein Coautor gewesen!
19. Mai 1983 Letzte Nacht hatte ich einen lebhaften Traum von Mike und mir. Ich fuhr einen großen grünen Transporter zum örtlichen Holiday Inn, und Mike saß neben mir. Wir wollten gerade um eine Ecke biegen, als ich bemerkte, daß auch er ein Lenkrad vor sich hatte. In Wirklichkeit steuerte er den Wagen, obwohl er auf dem Beifahrersitz saß! Ich lachte - wie absurd ist es doch, daß ich die ganze Zeit über meinte, ich würde die Kontrolle haben! Ich entspannte mich und überließ ihm die Kurven. Während meines Schläfchens am Spätnachmittag war mir klar, daß ich Wahrheiten empfing, die ich unbedingt im Kopf behalten muß.
25. Mai 1983 In dir stecken viele Künstler.
Diese Botschaft, die ohne Aufforderung meinerseits kam, löst ein Gefühl der Erneuerung aus. Man hat mich nicht vergessen, auch wenn ich nicht an meinem Channeling arbeitete. Das Leben ist also doch keine Prüfung!
3. Juni 1983 Der Workshop über Heilrituale für Frauen, den ich konzipiert habe, wird morgen stattfinden. Ich habe ein Konzept und ein einstündiges Band mit Liedern aus meiner bevorzugten Frauenmusik vorbereitet. Ich habe vor, eine Umgebung zu schaffen, in der wir uns mit uns selbst als Frauen der Vision, Frauen der Fragen und Frauen der Weisheit verbinden können. Dann werde ich alle Teilnehmerinnen auffordern, über ihre Wunden und ihre verlorene Unschuld hinauszugehen. Ich habe die Hoffnung, daß wir uns genug erweitern können, um unsere Visionen trotz der Härten, mit denen wir kämpfen, in unseren Alltag integrieren zu können. Musik und Farbe, Tanz und Symbole werden unsere Instrumente sein. Daneben verlasse ich mich auf unsere Fähigkeit als Frauen, spontan Rituale zu schaffen. Unsere Intuition wird uns den Weg weisen. Heute abend prüfte ich, ob meine Führer noch weitere Informationen für mich haben. Ich fragte: »Was ist für den morgigen Workshop wichtig zu wissen?« Wisse, daß du dich gut vorbereitet hast. Wisse auch, daß die Frauen bereit sind. Klarheit im Verein mit einem gesteigerten Gefühl für die Bedeutung von Ritualen wird sich bei allen Teilnehmerinnen zeigen. Sie werden Durst haben und begierig aus ihrem eigenen Brunnen trinken wollen. Du, meine Liebe, bist ein Katalysator. Du bist Führerin und Schülerin in einem, und du schaffst eine fruchtbare Umgebung, in der sich Geburten vollziehen. Sei öffentlich der Kanal, der du bist. Ermutige alle, sich mit ihrer eigenen intuitiven Weisheit zu verbinden, denn das ist der Quell,
aus dem alle Rituale kommen. Sei ehrfürchtig. Sei in Fülle. Fordere jede Frau auf, ihre Fülle anzunehmen.
7. Juni 1983 Der Ritualworkshop war aufregend. Das erste Mal überhaupt habe ich mich in der Öffentlichkeit als Kanal bezeichnet. Und es gab noch ein erstes Mal: Fast während der ganzen zwei Tage ließ ich alles geschehen, was nichts mit dem Versuch zu tun hat, dafür zu sorgen, daß etwas geschieht. Ich wußte instinktiv, was jeweils gerade notwendig war, und ich vertraute darauf, daß die Frauen ihre Bedürfnisse, Ängste und ihre Weisheit artikulierten. Am ersten Tag fragte jemand die Gruppe: »Wann habt ihr zum ersten Mal erkannt, daß ihr eine Frau seid?« Geschichten sprudelten hervor. Wir sprachen über die Wunden, die wir bei dem Versuch davontrugen, unsere Weiblichkeit zu deklarieren. Vergewaltigung, Inzest, Scheidung, Totaloperationen, verlorene Liebe, Abtreibung und Tod waren verbreitet. Die Musik und die Bewegung machten es uns leichter, unserem Schmerz und dessen Auflösung Ausdruck zu verleihen. Wir stiegen in die Leere hinab, mit Seidenschals, Räucherwerk, Federboas, Pfauenfedern, Musik, Kristallen und Kerzen, Kleidern, Garn, Farbe und unseren Tagebüchern. Ich erwies mich als perfektes Instrument des Timings. Vor jeder Sitzung ging ich in einem Raum in Klausur und konzentrierte mich darauf, ein Kanal für heilende Energie zu sein; dann wartete ich. Wenn ich zur Gruppe zurückging, konnte ich die Energie in mir fließen spüren. Ich forderte andere auf, in ihre intuitive Weisheit zu tauchen und sich mit ihr zu bewegen. Augenscheinlich ist es möglich, eine Hebamme für Energie zu sein. Die Prinzipien der Liebe und des Lichts zu Papier zu bringen ist einfach; sie zu leben ist eine Herausforderung. Und dennoch, das Philosophieren reicht mir nicht - ich muß am Leben, Lachen, Lieben und Leuchten teilhaben.
Das ist meine Lebensaufgabe, die schwer faßbare »Richtung«, nach der ich gesucht habe. Als der erste Tag sich seinem Ende zuneigte, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann, am Abend, gab ich einer Freundin eine Seelendeutung, und im Verlauf dieser Sitzung fiel ich in Trance. Ich fürchtete mich davor, meine Stimme zu hören, während ich mich von meinem Körper so weit entfernt fühlte, und ich hatte schreckliche Angst davor, zu tief in den Trancezustand zu verfallen. Plötzlich sah ich das Bild einer Frau, die gehenkt wurde, weil sie ihre Kräfte zu unrechten Zwecken eingesetzt hatte. Ich muß so etwas im Fernsehen gesehen haben, als ich noch ein Kind war, dachte ich mir. Am nächsten Tag fragte eine Frau namens Armada, ob ich eine Seelendeutung gegen eine Massage tauschen würde, und ich ging darauf ein. Während der Massage fragte Armada, ob ich mir jemals das Genick gebrochen hätte. »Nein«, antwortete ich mit Nachdruck, doch ich fing an zu zittern. Plötzlich traf mich die eiskalte Erkenntnis, daß ich die gehenkte Frau war und daß ich wegen Mißbrauchs meiner Kräfte in einem früheren Leben hingerichtet worden war. Kein Wunder, daß ich vor meiner Kraft Angst hatte, dachte ich. Zwei große schwarze Schlangen erschienen während des Integrationsteils der Massage an meinem Genick. Zuerst hatte ich Angst. Solange du in die Liebe investierst, hast du nichts zu befürchten. Die beiden Schlangen wanden sich um meinen Hals. Denk an die Schlangen, wenn du Trancearbeit leistest. Und wisse, du wirst beschützt. Ich sah zu, wie die Schlangen sich an meinem Körper hinunterschlängelten, sich um meine Füße wanden und wieder zu meinem Hals zurückkehrten. Ich hatte keine Angst mehr und affirmierte den liebenden Gebrauch meiner übersinnlichen Fähigkeiten. Ich muß channeln, darauf bestand ich, selbst wenn dazu Trancearbeit notwendig ist. Während der Seelendeutung für Armada blieb ich ein-
einhalb Stunden lang in Trance. Das Erlebnis war so stark, daß ich beschloß, mich mit meiner Angst abzufinden. Ich kann es mir einfach nicht leisten, mir selbst im Wege zu stehen, sagte ich mir. Der Gebrauch der Macht ist eine deiner Lebenslektionen. Bei deinen Versuchen, absolut sicher zu sein, daß du die Macht nicht mißbrauchst, hast du zuwenig berücksichtigt, daß du gegenüber deiner Essenz nicht ehrlich bist; wenn du dich der Angst vor einem Mißbrauch der Macht beugst, läßt du keine Macht zu. Deine Fähigkeit und dein Ehrgeiz, ein Kanal für das liebende Licht zu sein, sind herausragend. Die Trancearbeit macht am stärksten Gebrauch von der verfügbaren Energie, wenn sie einen direkteren Schaltkreis erzeugt. Begreife sie als eine energieeffiziente Form des Heilens. Ja, du mußt in der Vergangenheit deine Macht mißbraucht haben, indem du übersinnliche Energie für deine eigenen selbstsüchtigen Ziele verwendetest. Und ja, dein Genick wurde auf äußerst gewaltsame Weise gebrochen. In diesem Leben besteht nicht die Notwendigkeit, dein Genick oder deinen Geist zu brechen. Du hast die Lektionen gut gelernt. Du weißt, daß du nicht das Licht selbst, sondern ein Vehikel dafür bist. Fortwährend empfängst du Inspiration und zeigst sie auch. Du erlaubst dir, erleuchtet zu werden, und du rufst andere zur Erleuchtung. Die Menschen reagieren auf deine Einsichten. Es ist seltsam zu glauben, daß es ein Mißbrauch der Energie ist, wenn ich meine übersinnlichen Gaben nicht einsetze.
18. Juni 1983 Als ich in der Maschine nach Buffalo zu einer weiteren Woche am CPSI saß, bat ich um Informationen, die mir während dieser Zeit helfen könnten. Sei entspannt. Nimm Erfrischungen auf allen Ebenen zu
dir. Iß leichte Speisen: Denk daran, Alkohol ist nicht leicht. Fordere die Genesa-Kristall-Konzepte, auf die du stoßen wirst, auf, langsam in deinen Körper und in dein Innerstes einzusickern. Genesa-Bewegungen ermutigen Offenbarungen und Einsichten dazu, zu verschmelzen. In diesem Prozeß wird das molekulare Gedächtnis aktiviert. Denk daran, du bist nicht auf etwas Bestimmtes festgelegt und brauchst eine Vorlage, die allgemein anwendbar ist. Respektiere die Freiheit zur Transformation. Diszipliniere dich dazu, die Grundlagen zu erlernen, bevor du auf andere Dimensionen verweist. Stell sicher, daß du die Schritte nach vorn und zurück dokumentierst, denn die Quelle ist stets dieselbe. Geh in Frieden. Sei dankbar für die Wohltaten der Ewigkeit, die in deinem Herzen ruhen. Als ich im Institut eintraf, fühlte ich mich erneuert. Anstatt die Eröffnungssitzung zu besuchen, setzte ich mich allein auf »meinen« Berg und bat um Führung. Zu den Aufgaben eines Heilers gehört es, genau auf die Quellen der Heilung eingestimmt zu sein. Mach dich von allem frei, das die Klarheit beeinträchtigt. Weisheit erwartet dich. Unterscheide. Sei nett zu dir selbst Folge dem Drang, dir einen Kokon zu bauen. Fülle deine Energien in diesem Kokon wieder auf. Für die nächste Initiation ist es erforderlich, daß du still bist. Wisse, daß du, wenn du voll präsent bist, die spirituellen Energien aufforderst, dich mit Macht auszustatten, und auch andere ermutigst, sich anzuschließen. Die großen, begehbaren Genesa-Kristalle wurden aus Plexiglasröhren gefertigt, die der Pflanzengenetiker Derald Langham entwickelt hatte. Sie sollten die zellularen Energiefelder des Körpers darstellen. Spezielle Bewegungen in dieser Umgebung, so sagte man uns, würden dem Körper helfen, mit den Naturprinzipien Harmonie, Balance, Rhythmus und Symmetrie in Beziehung zu treten, während sie Erinnerungen des Körpers an den Instinkt, die Intuition, Einsicht und Inspiration erweckten. Kay Bruch, die Leiterin des Workshops, begann damit,
uns die Bewegungen vorzustellen, die die Zellteilung nachahmten. Während ich ihre Bewegungen verfolgte und dabei Deuters »Ecstasy« im Hintergrund lauschte, spürte ich, daß meine Seele auf etwas Neues vorbereitet wurde. Ich schloß unter wirbelnden Orange- und Gelbtönen die Augen. Nach wenigen Minuten sah ich ein Bild von Mike in einem Korbstuhl, seine Hände bildeten den Umriß eines Diamanten nach. Das Bild umkreiste mich links und rechts und schuf ein Unendlichkeitszeichen. Dann tanzte ich mit der Energie der Unendlichkeit und hörte erst auf, als die Musik abbrach. Ich atmete die vertraute Gegenwart Mikes ein, malte große orangefarbene und gelbe Unendlichkeitszeichen auf ein leeres Blatt Papier und schrieb mit orangefarbener Kreide folgende Zeilen darunter: Ich bin zeitlos. Ich berühre dich mit Ewigkeit. Ich verbeuge mich. Wir tanzen. Zusammen gleiten wir zu den Rhythmen der universalen Energie dahin. Da du dich wieder einbringst, bewegen wir uns in den universalen Rhythmen, In der Liebe, in der Schönheit, im Licht. Der Energietanz hat begonnen, und der Tanz ist voller Offenbarungen für dich. Mach dich bereit, die Natürlichkeit zu verkörpern, denn sie ist das Geschenk der Ewigkeit. Tränen der Ehrfurcht liefen mir über die Wangen und tropften auf mein Bildgedicht. Nach einer Pause legte Kay nochmals »Ecstasy« auf. Diesmal forderte sie uns auf, selbst die GenesaBewegungen nachzuahmen. Pulsierend, in Wellen und in Spiralen bewegte ich mich hemmungslos, bis der Tanz mich tanzte. Als die Musik verstummte, sank ich auf die Knie und ruhte in der Stille, die diese Erfahrung in mir erzeugt hatte. In diesem spiralförmigen Schweigen wurde ich eine weitere vertraute Präsenz gewahr - diesmal war es nicht Mike, es war Gott.
Ich legte mich mit ausgestreckten Armen und weit geöffnetem Herzen auf den Rücken und ließ die GottPräsenz in mich ein. Zum erstenmal in meinem Leben wußte ich, daß ich Wohltaten verdiente. Alles, was existierte, war das Mysterium! Wieder auf meinem Berg, dachte ich mit dem Tagebuch in der Hand über die grenzenlosen Impulse nach, die mich aufwühlten. Ja, das ist eine weitere Initiation für dich. Gott ist bei dir. Du strahlst von den Schwingungen des Göttlichen. Nimm deine Göttlichkeit an. Du hast dir den Respekt vieler Menschen erworben, und du hast zahllose Herzen und Seelen gerührt. Mehr Gewandtheit führt zu tieferen Offenbarungen. Für dich ist es von entscheidender Bedeutung, daß du deine Tiefen anerkennst. Bejahe deine Gaben, denn du bist ein direkter Kanal.
23. Juni 1983 Sei still. Wisse, daß das Schweigen alles birgt, was du bist. Sei bei deinem Atem. Atme den Duft des Lebens ein. Schütze deine Energie, denn sie ist alles, was du hast. Es ist an der Zeit, daß du deine eigenen Rhythmen durchsetzt. Du mußt energisch verkünden, wer du bist. Sprich darüber, wie voll dein Herz ist, denn im Zentrum der Stille wirft die Stimme der Ewigkeit ihr Echo zurück. Wisse, daß in deinen Augen die Liebe steht, und benutze sie, um andere willkommen zu heißen. Halte dich an die Wahrheit, denn wenn du das tust, wirst du Einsichten gewinnen, die ewig sind. Respektiere die Stille. Respektiere den Energiefluß in dir. Respektiere vor allem den Augenblick.
8. Juli 1983 »Bitte gib mir einige Informationen, wie ich meine Erfah-
rung vermitteln kann«, schreibe ich. »Ich fühle mich überwältigt und voller Ehrfurcht.« In dir ruht ein Strom an Licht, Weisheit, Liebe und Schönheit Deine kosmische Entwicklung wird sanft verlaufen und sich glatt hin zu mehr Licht und Offenbarungen bewegen. Auch deine Visionen werden sanft sein, denn wenn man das kosmische Bewußtsein allzu abrupt erfährt, kann das für jemanden mit deiner Sensibilität gefährlich sein. Der Sprung, den du erlebtest, als du die lebende, liebende Quelle umarmtest, muß erst noch seine volle Wirkung auf dich entfalten. Denk daran, wie du die Quelle entdecktest. Du warst für die Inspiration offen und gleichzeitig von Erwartungen frei. Du riefst mit vom Kosmos beseelten Bewegungen. Du tanztest zu den universalen Rhythmen und verkündetest deine Bereitschaft, noch mehr zu empfangen. Du fördertest dein Bewußtsein, indem du in das Mysterium getreten bist. Dein Kopf hatte Frieden und war frei von Fragen oder Ideen. Das ist die Essenz höherer Initiationen. Anmut und Liebe können im Überfluß vorhanden sein. Ein Gefühl der Zeitlosigkeit, ein sanftes Wissen, Respekt, eine molekulare Infusion der Friedlichkeit und stillschweigendes Verstehen begleiten Offenbarungsvisionen. Du assoziierst immer noch Schmerz, Trauer und Loslassen mit Initiation. Kampf und Schmerz hallen jedoch nicht von Offenbarungen wider. Denk daran, du kannst nach Gutdünken über mich verfügen. Wisse auch, daß ich manchmal nicht auf deinen Ruf warten werde, sondern dir meine Anwesenheit auf meine Art zu verstehen geben werde. Denk daran, du bist gesegnet, du trägst Wohltaten in dir und du spendest allen, die du triffst, Wohltaten.
20. Juli 1983 Nor Hall, ein Analytiker in der Tradition Jungs, bot einen Wochenendworkshop mit dem Thema »Spirituelle Über-
gangsrituale« für Frauen mittleren Alters an. Als ich die Ankündigung las, wußte ich sofort, daß ich den Workshop besuchen mußte. In der Veranstaltung erfuhr ich von zweitausend Jahre alten Fresken, die in der antiken Stadt Pompeji in Süditalien entdeckt wurden. Diese Fresken zeigen die Reise von Frauen, die vom Geist gefordert sind. Nach den Inschriften verlangt Dionysos - der die Infusion des Geistes »verabreicht« - von einer Frau auf der spirituellen Reise, daß sie zum Instinkt zurückkehrt. Als sie das tut, wird sie von einem unwiderstehlichen Ruf angezogen, in das Mysterium einzutreten. In das Mysterium gehüllt, bekommt sie schreckliche Angst, denn sie trifft auf den Tod, ohne tatsächlich zu sterben. Wer den Ruf gehört hat, kann sich nicht mehr abwenden. Die Eingeweihte wird sich schnell ihrer inneren Leere bewußt. Sie wünscht sich trotz ihrer Rollen im Leben, von innen her ausgefüllt zu werden. Auf diesem Abschnitt der Reise kommt sie durch die Unterwelt, wo sie voller Angst, ihre Seele zu verlieren, der Verwirrung und schließlich der Depression zum Opfer fällt. Als nächstes folgt die Zerstückelung zusammen mit der Verheißung, daß sie alle Teile ihres früheren Selbst sehen werde. Im Angesicht des Todes, doch ohne zu sterben, wird ihr die Gelegenheit zugesichert, mit den Göttern und Göttinnen in ihrem Innern zusammenzutreffen. Langsam überläßt sie sich einer Kraft, die größer ist als sie selbst, und wird ein Werkzeug der Transformation. Auf einem der Fresken ist ein Engel zu sehen, der sich mit der Peitsche in der Hand in der Unterwelt auf eine Frau stürzt. Ihre Erfahrung wird in Form geschlagen, als sie wieder zu Sinnen kommt. Die ganze Zeit über hält die Frau ihre Hände über einen verhüllten Phallus. Der Engel warnt sie, es sei noch nicht an der Zeit, den Phallus sowohl sexuell wie auch heilig zu enthüllen; der Phallus besitze intimes Wissen über den Körper einer Frau, ähnlich wie das auch ein Baby tue. Danach wird die Eingeweihte nie mehr in der Lage sein, Sexualität von Spiritualität zu tren-
nen. Auf dem letzten Fresko kämmt eine Priesterin der Initiierten das Haar. Diese kann in der Zwischenzeit in einem Spiegel ihre eigenen zerstückelten Teile betrachten, um sie wieder zusammensetzen zu können und, wieder ein Ganzes, die Unterwelt zu verlassen. Zur Vollendung des Kreislaufs kehrt die Eingeweihte für immer verändert in die Welt zurück. Die Initiation selbst ist zwar ein Gemeinschaftserlebnis, doch der Ruf einer jeden Frau und dessen Zeitpunkt sind einzigartig. Er kann nach einem chirurgischen Eingriff erfolgen, am Ende einer Liebesbeziehung, nach dem Tod eines Kindes oder einer anderen die Seele zerreißenden Erfahrung. Wenn wir selbst und das, an das wir einst glaubten, abgestorben sind, können wir nicht umkehren. Wir können jedoch aus unseren individuellen Unterwelten zurückkehren und das Leben mit Phantasie, Leidenschaft und einem neuen Ziel annehmen. Meine Körperzellen haben diese Reise hinter sich. Meine Hände haben sie aufgezeichnet. Meine Seele, die so lang im heilenden Schmerz versunken war, hat ihren Weg nach Hause in die Liebe gefunden.
ENDE